Antike und Abendland
“AuA 54” — 2008/11/3 — 14:34 — page iii — #3
Antike und Abendland Beiträge zum Verständnis der ...
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Antike und Abendland
“AuA 54” — 2008/11/3 — 14:34 — page iii — #3
Antike und Abendland Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens herausgegeben von
Werner von Koppenfels · Helmut Krasser Wilhelm Kühlmann · Peter von Möllendorff Christoph Riedweg · Wolfgang Schuller Rainer Stillers
Band LIV
2008 Walter de Gruyter · Berlin · New York
“AuA 54” — 2008/11/3 — 14:34 — page iv — #4
Manuskripteinsendungen werden an die folgenden Herausgeber erbeten: Prof. Dr. Werner von Koppenfels, Boberweg 18, 81929 München – Prof. Dr. Helmut Krasser, Institut für Altertumswissenschaften, Universität, Otto-Behaghel-Str. 10, Haus G, 35394 Gießen – Prof. Dr. Wilhelm Kühlmann, Universität Heidelberg, Germanistisches Seminar, Hauptstr. 207-209, 69117 Heidelberg – Prof. Dr. Peter von Möllendorff, Institut für Altertumswissenschaften, Universität, Otto-Behaghel-Str. 10, Haus G, 35394 Gießen – Prof. Dr. Christoph Riedweg, Kluseggstr. 18, CH-8032 Zürich – Prof. Dr. Wolfgang Schuller, Philosophische Fakultät, Universität, Postfach 5560, 78434 Konstanz – Prof. Dr. Rainer Stillers, Institut für Romanische Philologie der Philipps-Universität Marburg, Wilhelm-Köpke-Str. 6D, 35032 Marburg. Korrekturen und Korrespondenz, die das Manuskript und den Druck betrifft, sind an den Schriftleiter Prof. Dr. Helmut Krasser zu richten. Buchbesprechungen werden nicht aufgenommen; zugesandte Rezensionsexemplare können nicht zurückgeschickt werden. Abstracts sind publiziert in / indexiert in: Arts and Humanities Citation Index · Current Contents Arts and Humanities · Dietrich’s Index philosophicus · IBR – Internationale Bibliographie der Rezensionen geistes- und sozialwissenschaftlicher Zeitschriftenliteratur / IBZ - Internationale Bibliographie geistes- und sozialwissenschaftlicher Zeitschriftenliteratur
ISBN (Print): 978-3-11-019672-6 ISBN (Online): 978-3-11-019673-3 ISBN (Print + Online): 978-3-11-019674-0 ISSN (Print) 0003-5696 ISSN (Online) 1613-0421 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: ptp-berlin Protago TEX Production GmbH (www.ptp-berlin.eu)
“AuA 54” — 2008/11/3 — 14:34 — page v — #5
Inhaltsverzeichnis Ernst A. Schmidt Zwei Begegnungen mit der Ilias: John Keats und Rudolf Borchardt . . . . . .
1
Eveline Krummen «Jenen sang seine Lieder der ruhmvolle Sänger … ». Moderne Erzähltheorie und die Funktion der Sängerszenen in der Odyssee . . . . . . . . . . . . .
11
Walter Nicolai Goethes Faust und die platonische Eroskonzeption . . . . . . . . . . . . . . .
43
Dieter Fuchs Diogenes the Cynic, Alexander the Great, and Menippean Satire in Gulliver’s Travels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
Victor Parker Between Thucydides and Tacitus. The Position of Sallust in the History of Ancient Historiography . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
Hans-Dieter Stoffler Tityrus in der Hirtenlandschaft. Zur Deutung des bärtigen Hirten in dem Gemälde «Gebirgslandschaft» des Paul Bril . . . . . . . . . . . . . . . . .
105
Peter Habermehl Die Dämonen der Geschichte. Trauerarbeit und historische Reflexion in der ps.-senecanischen Octavia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
113
Gesine Manuwald Senecas Schicksalslehre und die ‹Realität› auf der Bühne. Die Seneca-Figur in der Octavia und in Monteverdis L’incoronazione di Poppea . . . . . . .
129
Valérie Sinn Medea und Médée. Motivation der Rache bei Seneca und Thomas Corneille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
141
Andreas Heil Dichter in Goldener Zeit. Die Sorge des Mystes im carmen Einsidlense 2 . .
161
Michael Schramm Augustinus’ Confessiones und die (Un-)Möglichkeit der Autobiographie . . .
173
“AuA 54” — 2008/11/3 — 14:34 — page vi — #6
Mitarbeiter des Bandes Dr. Dieter Fuchs, Universität Wien, Institut für Anglistik und Amerikanistik, Spitalgasse 2, Hof 8, 1090 Wien, Austria PD Dr. Peter Habermehl, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Klassische Philologie, Unter den Linden 6, 10099 Berlin Dr. Andreas Heil, Universität Dresden, Institut für Klassische Philologie, 01062 Dresden Prof. Dr. Eveline Krummen, Universität Graz, Institut für Klassische Philologie, Universitätsplatz 3/II, 8010 Graz, Austria PD Dr. Gesine Manuwald, University College London, Department of Greek and Latin, Gower Street, London WC1E 6BT, United Kingdom Prof. Dr. Walter Nicolai, Universität Mainz, Seminar für Klassische Philologie, JakobWelder-Weg 18, 55099 Mainz Dr. Victor Parker, University of Canterbury, Department of Classics, Private Bag 4800, Christchurch 8140, New Zealand Prof. Dr. Ernst A. Schmidt, Universität Tübingen, Philologisches Seminar, Wilhelmstr. 36, 72074 Tübingen Dr. Michael Schramm, Universität Leipzig, Institut für Klassische Philologie und Komparatistik, Beethovenstr. 15, 04107 Leipzig Valérie Sinn, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Klassische Philologie, Unter den Linden 6, 10099 Berlin Hans-Dieter Stoffler, Salzgasse 15, 72116 Mössingen
“AuA 54” — 2008/11/3 — 14:34 — page 1 — #7
Ernst A. Schmidt
Zwei Begegnungen mit der Ilias: John Keats und Rudolf Borchardt Für den Freund Richard Kannicht John Keats: «Looked at each other with a wild surmise» Achill und Priamos John Keats (1795–1821) wurde im Oktober 1816 von seinem Freund Clarke mit George Chapmans Ilias-Übersetzung aus dem Jahr 1611 bekannt gemacht1 . Die beiden lasen eine ganze Nacht hindurch in ihr, und Keats ging erst am frühen Morgen nach Hause. Noch mit der Zehn-Uhr-Post schickte er dem Freund ein Sonett, welches das Gesetz der Gattung, nach Keats «swelling [. . . ] up to its climax and then dying proudly»2, wunderbar erfüllt und einen Gipfel der Sonett-Dichtung überhaupt darstellt. Darüber hinaus bezeichnet es den dichterischen Durchbruch des Zwanzigjährigen, dem bis zu seinem frühen Tod fünf Jahre später seine großen Gedichte folgen. Es bedeutet zugleich den Beginn des englischen Hellenismus des 19. Jhs. Die romantische Wiederentdeckung der elisabethanischen barokken Homer-Renaissance löste den Klassizismus der Übersetzung Popes (1720) ab, die ein Jahrhundert lang viel bewundert und maßgeblich gewesen war3 . John Keats Als er zum ersten Mal in Chapmans Homer las (Übersetzung von Werner von Koppenfels4 ) Viel goldene Lande schon hab ich durchreist, Glänzende Macht und Herrschaft sah ich viel; Im Westen manches Eiland fand mein Kiel, Freistatt den Dichtern nach Apolls Geheiß. Oft kam von einem Großreich mir die Kunde, Dort, hieß es, herrscht mit hoher Stirn Homer; Doch spürt ich seine reine Luft nicht eher Als Chapmans Kraft mir sprach mit kühnem Munde. Da fühlt ich wie ein Himmelssucher mich, Wenn ihm ein neuer Stern ins Fernglas schwebt; Wie Cortez stolz, als er mit Adlerblick Auf den Pazifik starrte – wild bewegt 1
2 3 4
Das Titelblatt der Originalausgabe: The Iliads of / Homer / Prince of Poets. / Neuer before in any lan= / guage truely translated. / With / a Comment uppon some of his chiefe / places; / Donne according to the Greeke / By Geo: Chapman / At London printed for Nathaniell Butter / William Hole sculp. Sühnel 1987, 111. Vgl. Sühnel 1958, bes. S. 181–185. Von Koppenfels/Pfister 2000, S. 303. Auch der Text des Originals nach dieser Ausgabe (S. 302).
Antike und Abendland Bd. 54, S. 1–10 © Walter de Gruyter 2008 ISSN 0003-5696
DOI 10.1515/ANTI.2008.001
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2
Ernst A. Schmidt
Sahn ahnungsvoll die Männer zu ihm hin – Schweigend, auf einem Berg in Darien. John Keats On First Looking into Chapman’s Homer Much have I travelled in the realms of gold, And many goodly states and kingdoms seen; Round many western islands have I been Which bards in fealty to Apollo hold. Oft of one wide expanse have I been told That deep-browed Homer ruled as his demesne; Yet did I never breathe its pure serene Till I heard Chapman speak out loud and bold: Then felt I like some watcher of the skies When a new planet swims into his ken; Or like stout Cortez when with eagle eyes He stared at the Pacific – and all his men Looked at each other with a wild surmise – Silent, upon a peak in Darien.
Keats’ Begeisterung sei so groß gewesen, berichtete später der Freund, daß er sogar laut geschrien habe, wenn eine Passage besonderer Energie seine Vorstellung traf, ein «delight» von einer Intensität «even to shouting aloud, as some passage of especial energy struck his imagination». Der Satz, auf den es mir hier ankommt und den ich seit langem besonders liebe – eine Liebe, die ich mit P. G. Wodehouse teile5 –, ist in der zitierten Übersetzung abgewandelt: Aus «and all his men / Looked at each other with a wild surmise» wird «wild bewegt / Sahn ahnungsvoll die Männer zu ihm hin», statt «und alle seine Männer sahen einander an, mit wilder Ahnung». Aber dieses «einander» ist entscheidend, denn mit dem Bild des Einanderansehens spielt Keats auf eine der größten Szenen der Ilias an, auf das plötzliche Erscheinen des greisen Priamos in der Hütte Achills im 24. Gesang, v. 483 f. (Übersetzung Wolfgang Schadewaldt): So staunte Achilleus, als er Priamos sah, den gottgleichen, Und es staunten auch die anderen und blickten einander an. ≥c >AqileÃc jàmbhsen d∞n Pr–amon jeoeidËa; jàmbhsan d‡ ka» älloi, ‚c Çll†louc d‡ “donto.
In Chapmans Übersetzung im fourteener, d.h. Vierzehnsilbler (Iliads 24,428–431a)6 : In such a stupefied estate Achilles sate to see, So unexpected, so in night, and so incrediblie, Old Priam’s entrie. All his friends one on another star’d To see his strange lookes, seeing no cause. 5
6
Vgl. z.B. Wodehouse 1977, mit sogar dreimaligem Zitat: S. 72, 129, 155: «I remained sotto voce and the silent tomb, my eyes bulging like those of the fellows I’ve heard Jeeves mention, who looked at each other with a wild surmise, silent upon a peak in Darien»; «And while I looked at him with a wild surmise, silent upon a sitting-room carpet in Maiden Eggesford, Somerset, he withdrew»; «I looked at it with a wild surmise, as silent as those bimbos on the peak in Darien». Nicoll 1957.
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Zwei Begegnungen mit der Ilias: John Keats und Rudolf Borchardt
3
Bei dem Staunen der Männer des Cortez, als sie zum ersten Mal den Pazifik von einem Gipfel in Panama aus sehen, spielt der Chapmanleser Keats auf die Männer Achills an, als diese plötzlich Priamos, den König Trojas und Vater Hektors, dessen Leichnam draußen liegt, in Achills Hütte erblicken. Und dieses Staunen, diese ‹wilde Ahnung›, Zeuge eines ungeheuren Ereignisses zu sein, ist neben dem Astronomen, in dessen Blickfeld ein neuer Planet schwimmt – Keats denkt sicher an Herschel, der seit 1774 Spiegelteleskope baute, 1781 den Uranos entdeckte und in den Jahren danach die Uranosmonde und viele Doppelsternsysteme – dieses Staunen, diese ‹wilde Ahnung› ist ein Gleichnis für das Erlebnis Homers in der Gestalt, die dem Gedicht der elisabethanische Dramatiker George Chapmann, Zeitgenosse Shakespeares, Marlowes und Ben Jonsons, gegeben hatte. Chapmans Homer tritt in Keats’ Blickfeld und verändert sein Welt- und Menschenbild, wie der neue Anblick des Pazifik auf Cortez und seine Männer wirkt – und wie der homerische Priamos, der plötzlich vor Achill kniet, seine Hände küßt und die Hand nach dessen Mund ausstreckt, Achill und seine Leute staunen macht – und verändert. Wenn irgendwo Homer mit den Augen und dem Herzen Pseudo-Longins gelesen worden ist, dann Chapmans Homer durch Keats. Im Geist der Schrift Vom Erhabenen erfährt er Chapmans Homer als eine große Seele, deren Widerhall das Erhabene ist (De subl. 9,2), den zu erfahren ein Staunen bedeutet wie über den Ozean (De subl. 35,4) – und Chapman sagte im Widmungsbrief zu seiner Odyssee-Übersetzung, Homers epische Dichtung «farre exceeds the Ocean», weshalb Keats im Gleichnis den Pazifischen Ozean wählt. Seit jener Lesenacht und jenem Dichtungsmorgen bleibt Chapmans Homer ein Lebensbegleiter von Keats. Die Ilias in Chapmans Übersetzung begeistert ihn in einer «noble contagion» im Sinn Longins von schöpferisch fortzeugender Tradition (so Sühnel)7 zu seiner eigenen Dichtung, indem die ‹große Natur› Homers ‹wie ein Hervorströmen aus heiliger Erdspalte seine Seele zum Enthusiasmus› bewegt (vgl. De subl. 13,2). Abschließend merke ich zu dieser Lesefrucht an, daß ich sie nicht, wie ich glaubte, als erster gepflückt habe – Lesefrüchte bleiben wunderbarerweise auch nach dem Pflücken am Baum hängen –, sondern daß sie auch im Korb der Lese des großartigen Kommentars zu den letzten vier Iliasgesängen von Nicholas Richardson liegt. Zu Ilias 24,482–4 schreibt dieser: «This is a variation on the common reaction of surprise at an unexpected visitor in such scenes.» Es folgen zwei weitere Belege aus der Ilias und drei aus der Odyssee. Richardson fährt fort: «jàmboc denotes a strong reaction […], and this is emphasized by the repetition jàmboc … jàmbhsen … jàmbhsan, rounded off by ‚c Çll†louc d‡ “donto. Cf. Keats: Or like stout Cortez when with eagle eyes He stared at the Pacific – and all his men Looked at each other with a wild surmise …»8
Verdeutlichend ist hier nur noch hinzuzufügen, daß dieses letztere Motiv, das Einanderanschauen der Männer, wie es Ilias 24,484 und Keats gemeinsam ist, in einer solchen Situation nur hier bei Homer vorkommt, nicht an den anderen fünf Stellen, die Richardson anführt9. 7 8 9
Sühnel 1958, S. 184. Richardson 1993, S. 324. Das Kolon der zweiten Vershälfte kommt jedoch in andersartigem Kontext in weiblicher Variante (die Mägde der Penelope) in Od. 18,320 vor: ‚c Çll†lac d‡ “donto. Diese Stelle führt Ameis-Hentze zu unserem Vers an, worauf mich Richard Kannicht aufmerksam macht.
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4
Ernst A. Schmidt
Rudolf Borchardt: ‹und nur wir beide› Achill und Patroklos Wenn doch, Zeus Vater und Athenaia und Apollon! Nicht einer der Troer jetzt dem Tod entginge, so viele sie sind, Und nicht einer der Argeier, und nur wir beide hervortauchten aus dem Verderben, Daß wir allein die heiligen Stirnbinden Trojas lösten! (Il. 16,97–100 in der Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt)
Das sagt Achill am Ende seiner Rede zu Patroklos, als er ihn in den Kampf ziehen läßt. Auf diesen erschreckenden Ausbruch hat in jüngerer Zeit der amerikanische Psychiater Jonathan Shay in seinem Achillbuch Achilles in Vietnam. Combat Trauma and The Undoing of Character (1994) hingewiesen (S. 28): Achill gehe in seinem Zürnen über die von Agamemnon erfahrene Kränkung einmal sogar soweit, sich vorzustellen, daß nicht nur kein Trojaner, sondern auch kein Argeier dem Tod entginge, sondern nur er selbst und Patroklos übrig blieben. Und diese furchtbaren Verse sind mir vor einigen Monaten von ganz unerwarteter Seite her und in ganz unerwartetem Zusammenhang entgegengetreten, nämlich als handschriftliche Widmung in einer Miniaturausgabe des Horaz. Mit einem Brief schickte mir Rudolf Borchardts jüngster Sohn Cornelius zum Dank für die Übersendung meiner Heidelberger Akademieschrift Rudolf Borchardts Antike Fotokopien aus diesem Büchlein und erzählte dessen Geschichte. Die Horazausgabe von Gulielmus Pickering, London 1826, 8 cm hoch, 41/2 cm breit, war zum ersten Mal im November 1871 von einem Grafen Gozzi einem Giannegro Capelli handschriftlich verehrt worden10 . Dann hatte im März 1936 der Priester («sac.» = sacerdote) Angelo Dini aus Monteggiori/Lucca sie dem Pfarrer («parroco») Don Giuseppe Freddolini von Aquilea11 «als Zeichen seiner Zuneigung» geschenkt, und dieser reichte sie am 15. August des gleichen Jahres dem mit ihm befreundeten Rudolf Borchardt weiter «in großer Wertschätzung und gleicher Zuneigung». Borchardt widmete sie im April 1939 mit jenen vier Versen aus der Ilias seinem Freund Rudolf Alexander Schröder. Nach Schröders Tod gelangte das kleine Buch an seine Nichte Marie Luise, die Witwe Borchardts, und diese schenkte sie ihrem Sohn Cornelius.12 Die vier von Borchardt aus dem Gedächtnis zitierten Verse lauten in seiner Fassung und mit seinen Fehlern so: A gÄr, Ze‹ te patòr ka» >Ajhna–h ka» >ApÏllon, M†t+ ofin t–c Trºwn jànaton f‘goi Ìssoi Íasin M†tË tic >Arge–wn, n¿in d+ ‚kd‹men Ólejron óOfr+ o⁄oi Tro–hc …er®c kr†demna l‘oimen.
Allens Text hat dort, wo Borchardt abweicht: gàr, pàter, óApollon, m†te tic ofin, m†te tic, oŸoi, …erÄ, l‘wmen. 10 11
12
Vgl. Borchardt/Schröder 2001b, S. 460 (Texte dort fehlerhaft). Cornelius Borchardt teilt mir brieflich am 2.1.2007 die folgende «Erinnerung an Freddolini» mit: «Er war Priester auf Aquilea, hoch oben über den Hügeln von Lucca. Er verehrte Borchardt glühend, lud uns alle oft ein zur «smielatura», wenn seine Bienenstöcke geerntet wurden. Dann gab es eine schier brechende Tafel mit toskanischen Schmankerln wie Feigen (keine homerischen, aber vielleicht horazische) mit Schinken und herrlichem Brot, von der «sorella» gebacken, dazu die köstlichen Honigwabenscheiben und einen Wein, «von dem Guten», di vello bono, wie er sagte (vello, für quello). Später, auf unserer Flucht, versuchten wir bei Freddolini Unterschlupf zu bekommen, aber dort waren bereits deutsche Truppenteile einquartiert.» Die auf Seite 9 f. abgebildeten Reproduktionen von Frontispiz und Titelblatt sowie zweier Seiten mit Widmungen erfolgen mit der freundlichen Genehmigung von Cornelius Borchardt.
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Zwei Begegnungen mit der Ilias: John Keats und Rudolf Borchardt
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Borchardts Widmung13 mit ihrer zentralen Botschaft «nur wir beide» steht in einer Horazausgabe. Damit spielt der Freund auf das gemeinsame Jambendichten des Sommers 1935 in Borchardts Luccheser Villa Saltocchio in der Tradition der horazischen Epoden an und darüber hinaus auf sein und Schröders gemeinsames Ausrichten geistig-musischer Zweitausendjahrfeiern zu Horazens Geburt (65 v. Chr.–1935 n. Chr.), nämlich Borchardts Jamben und Schröders Horazübersetzung. Aber in diesem Horazbüchlein stehen jetzt, im Jahr 1939, Iliasverse: Damit bezieht sich Borchardt einerseits auf Schröders Iliasübersetzung, die dieser spätestens Anfang 1934 begonnen hatte14 und die er im November 1943 an Borchardt schicken konnte15, und andererseits auf seine eigenen Homerstudien, die er von 1939 bis zu seinem Tod im Frühjahr 1945 mit monomanischer Energie betrieb. Aber der Anspruch, der in diesen Versen steckt, geht über solche konkreten Arbeiten hinaus. Er besagt, daß es für die deutsche Kultur, die sich allein in schöpferischer Restauration aus der Tradition speisen könne, nur auf sie beide, auf Schröder und ihn, Borchardt, ankomme. Das entscheidende Wort in diesen Versen ist für Borchardts produktiven Blick und den Klammergriff seines Gedächtnisses der Dual n¿in gewesen: «wir beide». In dieser Widmung als einer Emprese, einem Motto, äußert sich eine bei Borchardt auch sonst zu beobachtende merkwürdige Konstanz seines Ideenhaushalts, dessen Stärke und Lebendigkeit sich in immer neuen Variationen artikuliert. Denn bereits im November 1904, 35 Jahre früher, hatte er in einem Gedicht «An Hofmannsthal» den gleichen Gedanken ausgesprochen. Denn jenes Gedicht endete mit dem Wunsch, daß er, Borchardt, «auf tiefen Wiesen» sich «das Tier / In Zaum bereiten» könne, «pisanische / Zucht von den Stuten Pelops», und daß dieses «nah, / – Ah, nur zu weit nicht bleibe hinter dir (sc. Hofmannsthal), / Und auf der gleichen Straße uns Gespräch, / Und dich und mich das riesenhafte Ziel / Hoch in den Sätteln finde, Reitende / Durch Winter in die Nacht und Rauch von Rom». Allerdings ist auch die Differenz der beiden Gemeinsamkeitswünsche sprechend. Die Worte in dem Gedicht an Hofmannsthal, «nah, / – Ah, nur zu weit nicht bleibe hinter dir» sind noch ein indirektes Zitat der bekannten Worte des jüngeren Plinius in einem Brief an den etwas älteren und schon berühmten Tacitus, in denen dieser Vergil zitiert, einen Halbvers aus dem Buch der Wettkämpfe der Aeneis, Aen. 5, wo es in der Wettlaufepisode heißt: «longo sed proximus intervallo» (v. 320). Plinius schreibt: «Ich war noch ein Jüngling, als du schon in Ruhm und Bekanntheit blühtest, und mein Verlangen ging dahin, Dir zu folgen, Dir zwar in weitem Abstand, aber doch der nächste zu sein und dafür angesehen zu werden» (epist. 7,20,4)16 . Borchardt kannte diese Stellen natürlich, wie auch ein Zitat 13
14 15 16
Die beiden Teile dieser Miszelle besitzen neben der Ilias einen geheimen Zusammenhang noch darin, daß Borchardt das Keatssche Sonett kannte und liebte. In seinem Vortrag «Über Dichten und Forschen» (Vortrag am 3.3.1925 an der Universität Zürich, in: Borchardt 1955, S. 182–209) fragt er (S. 191 f.), ob nicht ein Leser, ergriffen von ‹Shelleys Totenklage auf Keats› (gemeint ist das Fragment on Keats), dann Keats lesen wolle und vor allem sein größtes Sonett, On First Looking into Chapman’s Homer. Und, begeistert von dieser hinreißenden Dichtung, sollte er da nicht nach Chapman’s Homer greifen, und muß dann nach der Sättigung durch diese ‹ritterlich höfische› ‹Renaissancetravestie› nicht das Verlangen nach dem echten, dem griechischen Homer entstehen? Borchardt/Schröder 2001b, S. 358. Borchardt/Schröder 2001b, S. 642. Vgl. Krasser 1993, S. 152–154. – Zu erinnern ist auch an Alessandro Manzonis handschriftliche Widmung seiner Adelchi an Goethe: Er zitiert auf deutsch aus dem letzten Akt des Egmont die Worte Ferdinands zu Egmont: «Du bist mir nicht fremd. Dein Nahme war’s der mir in meiner ersten Jugend gleich einem Stern des Himmels entgegenleuchtete. Wie oft hab’ ich nach dir gehorcht, gefragt!» (vgl. Getto 1971, Anm. 47 zu S. 197 auf S. 198).
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6
Ernst A. Schmidt
in seinem «Nachwort» zu seinem Dante / Deutsch von Rudolf Borchardt (1930) belegt17 : «Ich will mit einer Stelle neben dem altrömischen Schulmeister (sc. Livius Andronicus, dem ersten literarischen Übersetzer Roms), longo sed proximus intervallo von den Großen, mein Werk für geborgen erachten.» Im Jahre 1904 durfte und wollte er sich nur als den Zweiten sehen, gegenüber Hofmannsthal, ‹nicht zu weit hinter ihm zurückbleibend›, und er blieb gegenüber Hofmannsthal der zweite: «Hinter dir drein geordnet / Dort zu sein, wos Göttern gewehrt, Ungeheuer zu kennen.»18 35 Jahre später – Borchardt war jetzt 62 Jahre alt – und gegenüber Schröder bildete er mit diesem ein Freundespaar, und er zitiert Worte Achills, womit Schröder in die Rolle des Patroklos rückt. ‹Wir beide›, Hofmannsthal und Borchardt 1904, Schröder und Borchardt 1935 nach dem Tod von Hofmannsthal 1929: Der hybride und donquichotische Anspruch Borchardts, allein sowohl die europäische musisch-geistige Tradition als auch das wahre Deutschland zu repräsentieren, ja zu verkörpern, machte in der eisigen Echolosigkeit der Welt um ihn sein selbstgewähltes oberitalienisches Exil zu einer geradezu absoluten geistigen Einsamkeit. Daher wollte er sich doch in eine Zweisamkeit bannen, brauchte ein Du, um die Welt in ihre Schranken zu weisen. Selbst Achill, zürnend im Zelt, sich ausschließend von seinem Volk und doch auch Feind der Feinde der Seinen, war nicht ohne einen Patroklos. Da die Iliasverse als Widmung auch den gemeinsamen Bemühungen der beiden Freunde um die Ilias gelten, soll nun, nach einer Wiederholung der Achillworte im griechischen Original (in der Gestalt, die sie in Allens Oxfordausgabe haben), auch Schröders Übersetzung zitiert werden: Ilias 16, 97–100 (Allens Text) A gÄr, Ze‹ te pàter ka» >Ajhna–h ka» óApollon, m†te t–c ofin Tr¥wn jànaton f‘goi Ìssoi Íasin m†te tic >Arge–wn, n¿in d+ ‚kd‹men Ólejron Ófr+ oŸoi Tro–hc …erÄ kr†demna l‘wmen! Wenn doch, beim Zeus-Vater, beim Phoib-Apoll und Athene, Weder ein Troer dem Tod, so viel dort streiten, entrönne, Weder ein Danaer, sondern wir zwei entflöhn dem Verderben, Daß wir alleine den Gürtel der heiligen Ilion lösten!19
Wie wichtig und wie zentral diese Verse aber Borchardt in dieser Zeit waren, geht aus seiner großen Studie Grundriß zu Epilegomena zu Homeros und Homer hervor, die er Ende 1944 bis zu seinem Tod am 10. Januar 1945 in Trins am Brenner ohne Bücher und ohne Iliastext niedergeschrieben hatte und die zum ersten Mal in dem Band Prosa II (Stuttgart 1959) publiziert wurde. Die Abhandlung ist in durchnumerierte Paragraphen oder Kapitel eingeteilt. §57 (S. 47 f.) lautet: «Die Erfindung der Patroklosgestalt neben Achill ist von der Erfindung der troischen Familie neben Hektor her determiniert, nicht mehr im symmetrischen Sinne des hocharchaischen Stiles, sondern in den tief durchdachten großen Kontrasten des neuen, und stellt – im Gegensatze zu der liebevoll warmen Menschlichkeit um Hektor – neben den Einsamen auf der anderen Seite die einzige Form menschlicher Liebe, die selbst der Rohheit des Heerlagers zusteht, den Freund. Patroklos soll ihm alles sein, weil dies «Alles» 17 18 19
Unter dem Titel «Epilegomena zu Dante II: Divina Commedia» in Borchardt 1959, S. 529. Borchardt 1985, S. 30: «Schatte von Rodaun» (1935), v. 31 f. Schröder 1952.
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Zwei Begegnungen mit der Ilias: John Keats und Rudolf Borchardt
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das Einzige ist, und damit er dies Einzige, das ihm Alles ist, noch verscherze. Weil es das Einzige und Alles ist, muß es, solange Patroklos lebt, ins Vermessene überteuert werden – «Wenn doch, – gäbe das Zeus und Athenaie und Apollon! – alle Achäer zumal und die sämtlichen Troer verreckten und wir zweie alleine die troische Veste erstürmten!»20 , ein gerade durch seine Absurdität erschreckender Blitz aus überreizter Seele, denn der Wunsch wäre ein Stoß in offene Türen, wenn er sich für alle Troer erfüllte, – und als Patroklos verscherzt und unwiederbringlich dahin ist, muß die Rache ins noch Vermessenere ausarten, nicht weil der Freund den liebsten Freund in der Schlacht verloren hätte, sondern weil dieser Verlust die ganze furchtbare Mine zündet, über der und mit der täglich zu leben nur der sanfte, der treuste, der ständig schützende, der vorausfühlende und mitlebende, schmerzlich innig menschliche Freund dem Seelenkranken möglich gemacht hatte, er, der für den Bewunderten und Begriffenen zu allem bereit gewesen war – zum Mute der vollen Wahrheit und zum Mute des Opfers.» Wie die Widmung des Horaz mit den Iliasversen an Schröder nahelegt, darf man in dieser Charakteristik des Freundes Patroklos auch Borchardts Freund erkennen. Und selten ist eine Freundschaft schöner und dankender gefeiert worden als hier. Versteht man aber die Bedeutung, die Borchardt dem Patroklos in der Freundschaft mit Achill gibt, als gespeist aus der eigenen Erfahrung der Freundschaft Schröders, so schließt sich der Kreis zu einer frühen Widmung, und es bestätigt sich wieder die erstaunliche Konstanz und Treue in Borchardts Vorstellungskosmos. Denn was sagen die Verse, die handschriftlich auf den 10.12.1910 datiert sind21 , anderes als die über dreißig Jahre spätere Charakteristik des Achillfreundes Patroklos? Tausend Gesellen erbat ich vom Ewigen eh mir Gott in Einem Vergalt mit vollen Tausend die er mir weigerte Liebreich Herz, Du Geber, ich danke Dir, Rudolf Alexander Verteidiger, Bestätiger, Besänftiger.
Literaturverzeichnis Borchardt, Rudolf / Schröder, Rudolf Alexander, Briefwechsel 1901–1918. Hrsg. von Elisabetta Abbondanza (in Verbindung mit dem Rudolf-Borchardt-Archiv). München und Wien 2001a. Borchardt, Rudolf / Schröder, Rudolf Alexander, Briefwechsel 1919–1945. Hrsg. Elisabetta Abbondanza (in Verbindung mit dem Rudolf-Borchardt-Archiv). München und Wien 2001b. Borchardt, Rudolf, «Dichten und Forschen.» (1925). In: Gesammelte Werke in Einzelbänden – Reden. Hrsg. von Marie Luise Borchardt und Ulrich Ott unter Beratung von Ernst Zinn, Stuttgart 1955.
20 21
Vgl. Schmidt 2006, S. 199 und 203. Zitiert ist die Fassung (nach Wortlaut und Versabteilung) des Erstdrucks als Widmung der Jugendgedichte 1913 nach: Borchardt 1957, S. 7 mit S. 579 (dort Hinweis auf Briefwechsel Borchardt/Schröder 1901–1918, S. 304 mit der Fassung vom 10.12.1910).
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Ernst A. Schmidt
Borchardt, Rudolf, Gesammelte Werke in Einzelbänden – Gedichte. Textkritisch revidierte Neuedition der Ausgabe von 1957. Hrsg. von Gerhard Schuster und Lars Korten, Stuttgart 2003. Borchardt, Rudolf, «Epilegomena zu Dante II: Divina Commedia» und «Grundriß zu Epilegomena zu Homeros und Homer». In: Gesammelte Werke in Einzelbänden – Prosa II. Hrsg. von Marie Luise Borchardt unter Mitarbeit von Ernst Zinn, Stuttgart 1959. Borchardt, Rudolf, «Schatte von Rodaun» (1935), in: Jamben. In: Gesammelte Werke in Einzelbänden – Gedichte II / Übertragungen II. Hrsg. von Marie Luise Borchardt und Ulrich Ott unter Beratung von Ernst Zinn, Stuttgart 1985. Getto, Giovanni, Manzoni europeo, Milano 1971. von Koppenfels, Werner / Pfister, Manfred (hrsg.), Englische und amerikanische Dichtung 2: Von Dryden bis Tennyson, München 2000. Krasser, Helmut, «extremos pudeat rediisse – Plinius im Wettstreit mit der Vergangenheit. Zu Vergilzitaten beim jüngeren Plinius», Antike und Abendland 39 (1993), S. 144–154. Nicoll, Allardyce (Hrsg.), Chapman’s Homer. The Iliad. The Odyssey. And the Lesser Homerica, ed. with Introductions, Textual Notes, Commentaries, and Glossaries, 2 Bände, Band 1: The Iliad, London 1957. Richardson, Nicholas, «Volume VI: books 21–24», in: The Iliad: A Commentary. General Editor G.S. Kirk., Cambridge 1993 (reprint 2003). Schmidt, Ernst A., Rudolf Borchardts Antike. Heroisch-tragische Zeitgenossenschaft in der Moderne, Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Heidelberg 2006. Schröder, Rudolf Alexander, Gesammelte Werke in fünf Bänden – Vierter Band: Homer deutsch. Berlin und Frankfurt am Main 1952. Sühnel, Rudolf, Make It New. Essays zur literarischen Tradition, Berlin – Heidelberg 1987. Sühnel, Rudolf, Homer und die englische Humanität. Chapmans und Popes Übersetzungskunst im Rahmen der humanistischen Tradition, Tübingen 1958. Wodehouse, P. G., Aunts Aren’t Gentlemen, London 1977.
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Zwei Begegnungen mit der Ilias: John Keats und Rudolf Borchardt
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«Jenen sang seine Lieder der ruhmvolle Sänger … » Moderne Erzähltheorie und die Funktion der Sängerszenen in der Odyssee1 Ingomar Weiler Septuagenario «Homer verdient in vielen Dingen Lob, ganz besonders jedoch darin, dass er als einziger Dichter weiß, wie man bezüglich der eigenen Person verfahren soll. Der Dichter soll nämlich möglichst wenig in eigener Person reden; denn diesbezüglich ist er kein nachahmender Künstler (mimht†c). Die anderen Dichter setzen sich allgemein selbst in Szene (Çgwn–zontai) und ahmen (mimo‹ntai) nur weniges und nur selten nach. Homer dagegen lässt nach kurzer Einleitung (froimiasàmenoc) sofort einen Mann oder eine Frau oder eine andere Person auftreten (e sàgei); hiervon ist keine ohne Charakter, vielmehr verfügt eine jede über einen Charakter.» (Aristoteles, Poetik 24,1460a 5–11)
Einleitung Aristoteles unterscheidet in dieser grundlegenden Passage über das Epos in der Poetik zwei Formen des Erzählens; in der einen Form erzählt der Dichter selbst, in der anderen sprechen die Figuren. Letzteres verdiene den Vorzug, denn diese Form verfüge über ein höheres Maß an Darstellungskunst. Bei Homer sei diese Idealform am besten verwirklicht, da der Anteil an direkter Rede in der Erzählung sehr hoch sei. Homer dichte sozusagen «in der Rolle eines andern» (ÈterÏn ti gignÏmenon), wie Aristoteles gleich zu Beginn der Poetik festhält (3,1448a 21 f.). Im Grunde unterscheidet er hier, wie eine bestimmte Richtung der modernen Erzählanalyse, bereits zwischen einem auktorialen Erzähler, dessen Stimme sich immer wieder kenntlich macht, und der Figurenrede. Dieser Wechsel sei kennzeichnend für die epische Dichtung.2 Wie Aristoteles ebenfalls bemerkt, hat diese Unterscheidung 1
2
Diese Untersuchung basiert auf meiner Antrittsvorlesung am 24. Mai 2000 an der Karl-FranzensUniversität Graz. Sie ist meinem Kollegen Ingomar Weiler zu seinem siebzigsten Geburtstag am 28. April 2008 mit herzlichem Dank für die Begleitung in den Anfängen meiner Tätigkeit in Graz gewidmet. Für die Diskussion erzähltheoretischer Analysen danke ich Franz Karl Stanzel und Werner Wolf, für die sorgfältige Lektüre Wolfgang Kullmann, Peter von Möllendorff und Christoph Riedweg, für die Zusendung einzelner Teile des Manuskripts zu Aristoteles’ Poetik (Berlin 2008, im Druck) Arbogast Schmitt. Eine gute Einführung in die moderne Erzählanalyse bieten: Fludernik (2008); Nünning (2008); Martinez/Scheffel (2000); Vogt (1998); Jahn (1998); Standardwerke: Genette (1998); Stanzel (1995/1979). Im Zusammenhang mit der Diskussion zu Erzähler, Erzählperspektive und Figurenrede wird in der deutschsprachigen Erzählforschung auch der Begriff der ‹Erzählsituation› verwendet, der auf Stanzel (1955) zurückgeht und die Gestaltung a) insbesondere des fiktiven Erzählers sowie b) der Fokalisierung bzw. des Perspektiventrägers der Erzählung und c) die sich daraus ergebenden Möglichkeiten, die erzählte Welt darzustellen, umfasst. Dazu Fludernik (2008) 105–108. Vgl. noch Lämmert (1993/55) und u. Anm. 6.
Antike und Abendland Bd. 54, S. 11–41 © Walter de Gruyter 2008 ISSN 0003-5696
DOI 10.1515/ANTI.2008.002
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Konsequenzen für den Modus oder die Vermittlung der Erzählung. Tritt der Erzähler in den Vordergrund («die andern Dichter setzen sich fortwährend selbst in Szene» 24,1460a 8 f.), wird die Mittelbarkeit des Erzählvorgangs thematisiert, die Zuhörer bleiben im Hier und Jetzt des Erzählers. Wenn jedoch das Erzählte aus der Wahrnehmung einer Figur wiedergegeben wird, wie bei Homer («Homer dagegen lässt sofort … einen Mann oder eine Frau oder eine andere Person auftreten»), so wird das Erzählte unmittelbar dargestellt, die Zuhörer übernehmen die raumzeitliche Orientierung der Figur. Es entsteht eine szenische Darstellung, in der das Geschehen durch direkte Personenrede oder Dialoge unmittelbar dargestellt wird, vergleichbar der dramatischen Präsentationsform. Diese ist für Aristoteles, dessen poetologisches Konzept die Vollendung in der Tragödie findet, die beste.3 Die Frage, durch wen und wie etwas erzählt wird, ist auch für die moderne Erzähltheorie grundlegend. Sie soll zusammen mit Aristoteles’ These über die besondere Erzählform Homers im folgenden am Beispiel der Odyssee und der dort vorkommenden Erzähler par excellence, Phemios, Demodokos und Odysseus, sowie derjenigen Passagen, die einen Sängervergleich enthalten, diskutiert werden. Dazu sollen zwei weitere bedeutende Fragen der Erzählforschung kommen, nämlich der Darstellung von Raum und Zeit, wie sie in einer Erzählung zur Erzeugung der fiktionalen Welt entscheidend sind, zumal in einem Epos, das eine Zeit von zwanzig Jahren und den weiten Raum von Irrfahrtenerzählungen umfasst. Diese heften sich zu einem großen Teil gerade an die oben genannten Figuren und Passagen. Die Kombination dieser drei Fragen soll zu einem vertieften Verständnis der Erzähltechnik des Odysseedichters und der Komposition der Odyssee führen, insofern untersucht werden soll, ob die moderne Erzählanalyse uns insbesondere die Komposition eines Großepos genauer erfassen lässt und ob sie auch Aufschluss zur Funktion der Sängerszenen und -vergleiche zu geben vermag. In der Homerforschung wird seit langem diskutiert, ob sich die Sängerdarstellungen auf den zeitgenössischen Sänger und die Liedkultur zur Entstehungszeit der Ilias und Odyssee gegen Ende des 8. Jh. beziehen. Sollen die Sänger Phemios und Demodokos, die in der Odyssee prominent auftreten, den Odysseedichter abbilden, den wir uns wie Demodokos als ‹Hofsänger› vorzustellen haben?4 Verweisen Demodokos’ Lieder, die man als Improvisationen verstehen kann, auf den Vortrag der zeitgenössischen Sänger? Welchen Beitrag kann somit die Erzählanalyse als eine moderne literaturwissenschaftliche 3
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Ricoeur (1989) 150 bestimmt als den Erzähltext die «Rede eines Erzählers, der berichtet, was seine Figuren sagen», wobei sich Ricoeur ausdrücklich auf Aristoteles’ Poetik bezieht. Zum Gegensatz von ‹Bericht› und ‹szenischer Darstellung›, der in der Erzählanalyse als Gegensatz von ‹telling› (Erzählen) und ‹showing› (Zeigen) diskutiert wird und bereits auf Platon zurückgeht, vgl. Vogt (1998) 147 f. und unten Anm. 23. Platon unterscheidet folgende Erzählformen: Erstens die einfache Erzählung, die entweder nur in der Stimme des Dichters besteht oder zweitens «durch Nachahmung (mimesis) zustande kommt», insofern sie nur Personenrede kennt (Komödie, Tragödie), oder drittens «beide Arten zugleich» verwendet, wie Homer. Der Vortrag des epischen Dichters «wird beides enthalten, Nachahmung und einfache Erzählung» (resp. 3,392c–395b). Während bei Platon jedoch die mimesis aus philosophisch-ontologischen Gründen abgewertet wird, ist mimesis bei Aristoteles grundlegend für Dichtung überhaupt. Doch ist ‹Nachahmung› gerade «nicht die Kopie der Wirklichkeit, sondern der Nachvollzug des möglichen ‹Wertes› eines Charakters in einer konkreten Einzelhandlung»: Schmitt (2008) zum ‹mimesis-Begriff›. Vgl. Lucas (1968) 66 f.; 226 f.; 258–272. Der homerische Sänger sei ein ‹Hofsänger›, so Latacz (2003) 32–46, bes. 40, was vielfach unkritisch wiederholt wird, zum Beispiel bei Schuol (2006). Dagegen spricht Od. 17,382–387, dazu Burkert (1992) 6; 41–46; 221–225 und u.S. 25 f. mit Anm. 36. Die Zeugnisse aus der Homervita bei Vogt (1991) bes. 367–369; vgl. Graziosi (2002) bes. 51–89; 125–163. Garvie (1994) ad 1, 62–82. Immer noch wichtig: Schadewaldt (19593 /1943); Marg (19712 /1957); Maehler (1963) 21–34; Krischer (1990). Kaum neue Erkenntnisse bei Segal (1994) 113–163. Leierspieler sind jetzt bereits in Linear B in Theben bezeugt, Th Av 106,7: ru-ra-ta-e (Dual), dazu Aravantinos (1999) 45–78; 61; 63 Anm. 97.
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Methode zur Beantwortung traditioneller Fragen der Homerforschung, insbesondere zur Komposition und Entstehung der Odyssee sowie zur Historizität der Sängerfiguren und der dargestellten Liedkultur leisten? Die moderne Erzählanalyse oder Narratologie hat das analytische Instrumentarium vorwiegend in Bezug auf den modernen Roman entwickelt. Was Untersuchungen zur antiken Literatur betrifft, so befinden sich diese noch in einem Anfangsstadium. Bahnbrechend waren vor allem die Arbeiten und Sammelbände von Irene de Jong. So sind in der Reihe ‹Studies in Ancient Greek Narrative› je ein Band zum Erzähler und Zuhörer, «Narrators and Narratees» (2004), und zur Darstellung der Zeit, «Time in Ancient Greek Literature» (2007), erschienen. Für die Odyssee ist «A Narratological Commentary on the Odyssey» (2001) zu nennen.5 Es werden allerdings vor allem Einzelphänomene vorwiegend auf der Ebene des Erzählers und Zuhörers diskutiert, immer sehr sorgfältig und präzis, doch weitere grundlegende Fragen der Erzählanalyse, wie diejenige der Darstellung von Zeit und Raum, werden nur am Rande aufgegriffen. Auch der Aufsatz zu Homer im erwähnten Sammelband «Time in Ancient Greek Literature» schafft nicht die Abhilfe, die man erwarten würde. Es fehlt häufig die Sicht auf den umfassenden Kontext einer Passage; auch bleibt die Frage, welche Bedeutung die Erzählanalyse für die Interpretation oder Diskussion grundlegender Probleme der Homerforschung haben kann, weitgehend offen. Dieser etwas eingeschränkte Zugang mag damit zusammenhängen, dass Irene de Jong der formalistischstrukturalen Erzähltextanalyse verpflichtet ist, die im französischen und zum Teil auch angelsächsischen Sprachraum heute noch vorherrscht und auf den Arbeiten von Gérard Genette, Seymour Chatman und Roland Barthes basiert. Es handelt sich dabei um einen Ansatz, der grundsätzlich ahistorisch und akontextuell angelegt ist. Demgegenüber soll hier – neben der sorgfältigen Analyse der Einzelphänomene – geprüft werden, was die Erzählanalyse für das vertiefte Verständnis eines Werkes beitragen kann. Zu diesem Zweck wird auf das in der Terminologie etwas einfachere Modell der Erzählanalyse in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft zurückgegriffen, das letztlich auf die Untersuchungen von Eberhard Lämmert, Franz Karl Stanzel und Käte Hamburger zurückgeht, mit denen jedoch die jüngeren (strukturalistisch geprägten oder kommunikationstheoretischen) Theoriemodelle manche Überschneidungen aufweisen. Es geht hier also auch darum, in die narratologische Diskussion antiker (epischer) Literatur ein etwas anderes Modell einzuführen, das den Vorteil hat, oft näher am Text zu sein als die modernen strukturalistischen Modelle, die sich in terminologischen Verästelungen ergehen. Zudem scheint dieses Modell auch besser geeignet, die narratologischen Analysekategorien mit historischen und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen zu verbinden, wie es in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum und den modernen Philologien vorwiegend durch die Arbeiten von Astrid Erll und Ansgar Nünning geschehen ist.6 Diese Modelle 5
6
De Jong / Nünlist (2007) bes. 17–37; De Jong / Nünlist / Bowie (2004) bes. 13–24; de Jong (2001) bes. 8: «He (sc. Homer) presents an idealized picture of his profession in the singers Phemios and Demodocus»; 191 f. (zu Demodokos). Die Frage nach der Situierung der Liedtradition wird ausdrücklich ausgeschlossen (S. VI). Vgl. auch de Jong (2006), wo dargelegt wird, dass der Erzähler nicht bescheiden in den Hintergrund trete, sondern seinen eigenen Ruhm (kleos) verbreiten möchte ebenso wie denjenigen seiner Helden. De Jong (2002); Nünlist / de Jong (2000) dazu Rez. W. Kullmann, Gnomon 74, 2002, bes. 649 f. Nünning / Sommer (2004); Erll / Roggendorf (2002) bes. 75–85; 96–102. Nünning / Nünning (2002), dort auch kritisch zu den strukturalistischgeprägten Paradigmen. Nünning / Nünning sprechen von einer ‹Umorientierung› in der Erzählforschung und diskutieren neue Modelle, die sich u. a. durch eine historische und kulturwissenschaftliche Ausrichtung auszeichnen. Fludernik (2008) sieht ihre Einführung in
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eignen sich auch besonders, die Frage nach der Historizität der Sängerdarstellungen oder der kontextuellen Liedkultur zu diskutieren. Doch soll es hier keineswegs darum gehen, Modelle oder Theorien gegeneinander wertend abzusetzen. Ziel ist nicht eine Theoriediskussion, zumal es viele Überschneidungen gibt, sondern die Interpretation des Textes. Es sollen hier aber weniger einzelne Erscheinungen zu bestimmten (erzähltheoretischen) Begriffen diskutiert werden, vielmehr soll versucht werden, im Sinne einer Ergänzung und Erweiterung der Methode gerade im Hinblick auf die erwähnten kontextuellen und historischen Aspekte, längere Textpassagen zu einer bestimmten kohärenten Thematik umfassend zu interpretieren, nämlich zu den Sängern Phemios und Demodokos, zum Erzähler, wie er in der Figur des Odysseus und zu Beginn der Odyssee erscheint, sowie zu den Sängervergleichen. Daran soll sich die Frage anschließen, was uns diese Passagen zu zentralen Fragen der Homerforschung, zur Komposition, zur Entstehung der Großepen sowie zur zeitgenössischen Liedkultur sagen können.7
Phemios Die erste Sängerszene findet sich im ersten Buch der Odyssee. Erzählt wird vom Auftritt und Gesang des Phemios. Die Stimme des Erzählers berichtet uns auf die Bemerkung hin, dass den Freiern nach dem Essen der Sinn nach Unterhaltung, nach Gesang und Tanz stand, es habe ein Diener Phemios die überaus schöne Kithara in die Hand gegeben. Phemios jedoch sang vor den Freiern nur «weil er musste» (Çnàgk˘, 1,150–155). Dennoch beginnt er zu singen.8 Ein weiteres Mal ist von Phemios nach dem langen Gespräch Athenes in der Gestalt des Mentes mit Telemachos die Rede. Wieder berichtet die Erzählerstimme, dass Phemios vor den Freiern singt, die schweigend dasitzen und lauschen. Jetzt ist auch gesagt, wovon Phemios singt, nämlich von der «traurigen Rückkehr der Achaier, die ihnen Pallas Athene beschert hatte» (>Aqai¿n nÏston ... lugrÏn, 1,325–327). Formal betrachtet handelt es sich um eine typische Szene. Der Sänger tritt nach einer Essensszene auf. Sein Lied gestaltet das Thema ‹Unterhaltung›. Tanz und Gesang gelten als «Krönung des Mahls» (Çnaj†mata daitÏc, 1,152). Eine andere Form der ‹Unterhaltung› nach Essenszenen sind Reden. Vergegenwärtigt man sich diese beiden Formen, ‹Unterhaltung nach dem Essen› zu gestalten, so wird unmittelbar deutlich, wie die vorliegende Passage komponiert ist. Die Szenen mit Phemios und die Reden von Athene-Mentes mit Telemachos sind Teil derselben Situation, beide sind Formen der ‹Unterhaltung›. Dabei sind die Phemiosszenen wie ein
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8
die Erzähltheorie auch als Versuch, englische Standardwerke zur Erzähltheorie «dahingehend zu komplementieren, dass ich kontextuelle, thematische und historische Aspekte (…) in die Narratologie mit zu integrieren suche» (7 f.). Es sollen ebenfalls literaturgeschichtliche und interpretative Fragen berücksichtigt werden. Zur Geschichte der Erzähltheorie: Fludernik (2008) 19–22, 118–123, wo die neuste Literatur angeführt ist, z. B. Kindt / Müller (2003), darin Besprechung wichtiger Beiträge; gute knappe Übersicht: Fludernik / Margolin (2004) bes. 148–187. Durch die Arbeiten von Ansgar und Vera Nünning sowie von Monika Fludernik ist auch im deutschsprachigen Raum die Erzähltheorie wieder vermehrt präsent. Dass narrative Texte kontextabhängig und kulturell eingebunden sind und eine rein erzählanalytische Analyse nicht genügt, ihre Komplexität zu erfassen, setzt sich als Einsicht auch in Arbeiten durch, die von ihrer Herkunft her strukturalistisch geprägt sind, zum Beispiel Bal (1998) und Bal (1997) 220: «Theses on the use of narratology for cultural analysis.» Kullmann (2002) bes. 177 f.; 205: «Es bleibt ein Desiderat, eine Geschichte der antiken Erzähltechnik zu entwickeln, die die Narratologie im Zusammenhang mit der jeweiligen Thematik berücksichtigt». Form–zwn Çnebàlleto kal‰n Çe–dein (1,155) markiert den Beginn des Gesangs, vgl. Od. 8,266 mit Schol. ad l.: Çnekro‘eto, prooimiàzeto; vgl. 17,262; kalÏn bezeichnet den schöngefügten Gesang. Vgl. u. Anm. 32.
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Rahmen um das Gespräch von Athene-Mentes und Telemachos gelegt. Während Phemios singt, unterhalten sich Athene-Mentes und Telemachos. Die Freier sind abgelenkt durch Phemios. Die Göttin und Telemachos können sich unbeobachtet unterhalten. Wie sich bereits zeigt, hat die Phemiosszene eine Funktion, die über das vordergründige Thema der ‹Unterhaltung nach dem Essen› hinausgeht. Betrachtet man die Szene ‹Unterhaltung nach dem Essen› dagegen erzählanalytisch, so sind die Phemiosszenen als Erzählerbericht, das Gespräch Athene-Mentes mit Telemachos in direkten Reden wiedergegeben. Der Odysseedichter lässt also, nach kurzer Einleitung, die Figuren selbst reden, wie Aristoteles formuliert hat. Es handelt sich um eine szenische Präsentation. Gegenstand des Gesprächs ist Odysseus und die Aufforderung Athenes, Telemachos solle nach seinem Vater suchen (1,156–324). Es sind also ganz zentrale Inhalte, die durch die direkte Rede wiedergegeben werden, was ihre Bedeutung betont und besonders den Abwesenden dadurch, dass er direkt besprochen wird, zum unmittelbar Anwesenden macht. Besonders interessant ist der Übergang von der Gesprächsszene zur zweiten Phemiosszene gestaltet. Das Gespräch endet mit einem Erzählerbericht, wie es für die homerischen Epen typisch ist, wo Reden immer durch eine einleitende und beschließende Bemerkung des Erzählers gerahmt werden (1,319–324).9 Die Überleitung beginnt zunächst wie ein auktorialer Erzählerbericht («also sprach sie und ging», ô m‡n är+ ¡c e po‹s+ ÇpËbh, 1,319), es wird beschrieben, dass Athene wie ein Vogel davonflog und Telemachos Mut und in noch höherem Maße die Erinnerung an seinen Vater eingab. Danach wird uns von Telemachos’ Gefühlen erzählt, dass «er (sc. Telemachos) ahnte, dass es eine Gottheit gewesen sei» (Ê–sato gÄr je‰n e⁄nai, 1,323). Sogleich trat Telemachos zu den Freiern als ein «göttergleicher Mann» ( sÏjeoc f∏c). Von Athene wenden wir uns also Telemachos zu, es wird uns ein Einblick in das Innere des Telemachos vermittelt, so dass sich die Darstellung einem Gedankenbericht annähert.10 Dass Telemachos wie ein ‹göttergleicher Mann› zu den Freiern tritt, ist allerdings nicht nur Beschreibung, sondern drückt auch aus, wie sich Telemachos neu selbst wahrnimmt, ebenso wie ihn das textinterne Publikum sieht, zu dem die Aussage überleitet. Diese erfolgt denn auch genau in dem Augenblick, als Telemachos zur Gruppe der Freier herantritt. Er ist ein anderer geworden, was sich in seinem selbstsicheren Auftreten zeigt. Erzähltechnisch betrachtet wird also, obgleich der Erzähler selbst die Reden beschließt, dennoch die szenische Präsentation, wie sie in den Reden gegeben war, nicht durchbrochen, da wir weiterhin in der Szene drin, ganz nah bei Telemachos bleiben, dem wir gewissermaßen folgen. Von hier aus ist auch unmittelbar deutlich, dass die zweite Phemiosszene keinesfalls eine Doppelung der ersten ist, sondern die Erzählung weiterführt. Jetzt erst ist denn auch gesagt, wovon Phemios singt, nämlich von der erbärmlichen Rückkehr der Achaier (>Aqai¿n nÏston ... lugrÏn). Pointiert endet die Szene mit dem Namen der Göttin, die eben da war, indem im Relativsatz hinzugefügt wird, dass Pallas Athene Grund dieser traurigen Rückkehr war (Án ... ‚pete–lato PallÄc >Aj†nh). Wieder 9
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In der Odyssee werden direkte Reden immer vom Erzähler eingeleitet und beschlossen, sie erscheinen also in ‹auktorialer Rahmung›. Es gibt keine unmittelbaren Übergänge, wie z. B. in den homerischen Hymnen, der Lyrik oder Chorlyrik oder im späteren Epos bei Apollonios Rhodios, der lyrische und dramatische Formen integriert. Dennoch liegt hier eine sehr raffinierte Art vor, den langen Redeteil durch den Erzähler zu beenden, und zwar so, dass wir unmittelbar in die nächste Szene geleitet werden. Der Gedankenbericht dient zur Wiedergabe von Gedanken einer Figur durch den Erzähler, da diese nicht ausgesprochen werden können, meist eingeleitet durch ‹er glaubte›, ‹sie dachte› … allerdings stellt man bereits im Kontext fest, dass in einem gewissen Sinn Erzähler- und Figurenperspektive sich verbinden, so dass man auch von ‹interner Fokalisierung› sprechen könnte, vgl. Löschnigg (2008).
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bleiben wir ganz nah bei der Figur Telemachos. Denn es ist klar, dass Phemios die ganze Zeit, während Athene da war und mit Telemachos gesprochen hatte, dieses Lied von der ‹Heimkehr der Achaier› gesungen hat, doch nehmen wir sozusagen erst jetzt, wie Telemachos, bewusst wahr, wovon Phemios eigentlich singt.11 Es liegt eine sehr sublime Art des Szenenwechsels (vom Gespräch mit Athene-Mentes zu Phemios) vor, in der die Erzählerstimme zwar berichtend auftritt, uns jedoch immer ganz nah bei der Figur, bei Telemachos, in der Szene selbst belässt. Wir verlassen die Szene nicht, sondern folgen Telemachos wie mit einer Filmkamera. Der Erzähler ist der Regisseur im Hintergrund. Erzähltheoretisch betrachtet bilden die beiden Phemiosszenen eine einfache Rahmung des Gesprächs zwischen Athene-Mentes und Telemachos.12 Diese Rahmung hat Auswirkungen auf der Ebene der Komposition, dient sie doch dazu, einen Perspektivenwechsel (von Phemios zu Athene-Mentes und Telemachos und wieder zu Phemios) auszudrücken, der Gleichzeitigkeit des Geschehens signalisiert. Während Phemios singt, sprechen Athene und Telemachos miteinander. So wird die Linearität des Erzählens und Gleichzeitigkeit des Geschehens erzähltechnisch vereinbar.13 Der interessanteste Effekt aber ergibt sich inhaltlich. Das Lied des Phemios, von dem wir nachträglich erfahren, dass es von der ‹traurigen Rückkehr der Achaier› handelt, tritt vor einen Hintergrund, nämlich den des Gesprächs zwischen Athene und Telemachos, dessen Inhalt die Heimkehr des Odysseus war. So treten die Inhalte des Gesprächs der Göttin mit Telemachos und des Phemiosliedes in Beziehung zueinander, die eine dramatische Spannung zwischen dem Wissen des textexternen und textinternen Publikums schafft.14 Letzteres hält das Lied des Phemios für die allerneuste Nachricht über Nosten, wie aus der nachfolgenden Szene zwischen Penelope und Telemachos hervorgeht, während das textexterne Publikum weiß, dass der neueste Nostos derjenige des Odysseus ist, der gerade geschieht und dem wir zuhören (1,351 f.).15 Im zweiundzwanzigsten Buch aber, wenn Phemios wiederum auftritt (22,344–353), werden die Freier selbst Bestandteil des Liedes von der ‹neuesten› Rückkehr sein. Die Handlung der Odyssee besteht auch darin, dieses Wissensdefizit des textinternen Publikums aufzuholen, was eben im genannten Buch erfolgt, zu dem also bereits hier, im ersten Buch, eine Klammer eröffnet wird. Das erste Buch endet mit dem Bericht, dass die Nacht dunkel heraufstieg, noch aber gingen alle fröhlich nach Hause, um zu schlafen (1,423 f.). Diese Aussage, die das Vergehen der Zeit thematisiert und die Ereignisse gliedert, erhält gerade vor dem Wissen des textexternen Publikums eine übertragene und ahnungsvolle Bedeutung. Das Verhängnis für die 11
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Das Imperfekt (Çnebàlleto) drückt eine fortdauernde Handlung aus, es kann hier auch die ‹Nebenumstände› der nunmehr in den Vordergrund rückenden Haupthandlung, nämlich des Gesprächs von Athena und Telemachos, bezeichnen: vgl. Kühner / Gerth (18983 /1983) 143 f. Gesang und Gespräch finden gleichzeitig statt, das frühe Griechisch hat also andere Möglichkeiten, Gleichzeitigkeit auszudrücken, als durch adverbiale Bestimmungen. Zum Begriff ‹Rahmung› in der modernen Erzählanalyse Wolf (1999); Goffman (1974); der Begriff bei Bateson (1972/1955) 177–193. Vgl. Fludernik (2008) 39 f. Zur Frage, wie im Epos Gleichzeitigkeit ausgedrückt wird, die ein alter Diskussionspunkt der Homerforschung ist, Rengakos (1995); Seeck (1998) und o. Anm. 11. Eine Erzählung verändert sich, wenn sie vor einen Hintergrund tritt: Hölscher (1988) 90 f.; Hölscher (1939) 54–56; Hölscher (1991). ,Neu‘, nicht nur im Sinne von ‹neuen› Aussagen über die Heldenzeit, sondern auch der zeitgenössischen ‹Neuheit›; ähnlich ist in der Odyssee nicht nur vom Ruhm der vergangenen Zeit die Rede, sondern auch vom zeitgenössischen Ruhm, wenn zum Beispiel Odysseus bei den Phäaken einem Lied des Demodokos zuhört, das von seinem eigenen Ruhm erzählt, vgl. Danek (1998) 58–60. Die Heldentat erhält das ihr gebührende ‹klËoc› sogleich im Heldenlied. Insofern hat das ‹neuste› Lied auch eine gewisse Aktualität, allerdings nicht im Sinne von ‹Zeitungsaktualität›, Hölscher (1988); Latacz (2003) 103–108.
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Moderne Erzähltheorie und die Funktion der Sängerszenen in der Odyssee
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Freier naht, der Nostos des Odysseus ist in Gang gesetzt. Wie die Erzählanalyse zeigt, dient die Phemiosszene nicht nur dazu, ‹Gesang am Fürstenhof› zu markieren, sondern schafft Spannung und kompositionelle Verbindung. Doch die Funktion der Phemiosszene ist noch weitreichender. Fragt man nämlich, ob uns vom Inhalt des Phemiosliedes überhaupt erzählt wird, so wird deutlich, dass unter dessen Thematik, ‹Nostos der Achaier›, die Inhalte der Bücher drei und vier, und zwar der Heimkehrerzählungen von Nestor und Menelaos, gleichsam zusammengefasst werden, zu denen sich das Thema des Phemiosliedes wie ein ‹Titel› oder ein ‹Prooimion› verhält.16 Insofern jedoch die Nosten nicht von Phemios, sondern von den Heimkehrern selbst erzählt werden, und zwar auf Telemachos’ Frage nach dem Verbleib seines Vaters, wird ihnen eine hohe Authentizität gegeben. Gleichzeitig können sie auf das Thema ‹Heimkehr des Odysseus› zugespitzt werden. Sie erhalten dadurch die Perspektive desjenigen Nostos, dem wir zuhören. Telemachos reist gewissermaßen seinem Vater nach, der ihm als Held vor Augen gestellt wird, obgleich kein Lied von seiner Heimkehr erzählt. Nimmt man zudem zur Frage nach dem Erzähler noch die andern grundlegenden Fragen der Erzählanalyse, diejenigen nach Raum und Zeit hinzu, ergibt sich erst die volle Bedeutung der Phemiosszene. Was den Raum betrifft, kann dadurch, dass die Nosten einerseits durch die Heimkehrer selbst erzählt und andererseits auf die Frage nach dem Verbleib des Odysseus zugespitzt werden, ein weiter Raum geschaffen werden, der auch dazu dient, zu bestimmen, wo und wie weit entfernt Odysseus ist.17 Diesen Raum hat Odysseus seinerseits durchmessen und ist noch darüber hinaus gelangt, denn die Erzählungen sind so angelegt, wie Uvo Hölscher gezeigt hat, dass sie mit derjenigen des Menelaos enden, der am weitesten gekommen ist, Odysseus jedoch nicht etwa selbst gesehen, sondern von Proteus, dem Meergreis, erfahren hat, wo Odysseus ist. Auch Proteus, der selbst schon im halbmythischen Bereich angesiedelt ist, ist nicht selbst dorthin gekommen, wo sich Odysseus aufhält, sondern hat ihn gerade noch in der Ferne erblicken können, dort, wo wir Odysseus im Prooimion gesehen haben, bei Kalypso. So weit weg also ist Odysseus. An diesem Punkt kann dann die Erzählung im fünften Buch einsetzen. Von diesem Ort aber hätte uns Phemios nicht erzählen können. Was dagegen die Erzählkategorie der Zeit betrifft, so dienen die Nostenerzählungen aus dem Mund der Heimkehrer selbst dazu, auch diese Dimension darzustellen. Zuerst einmal muss Telemachos, wie man mehrfach bemerkt hat, selbst eine Reise unternehmen, er muss den Erzählungen sozusagen nachreisen. Es braucht Zeit, sie zu ‹erfahren›. Zudem können auf diese Weise sämtliche Heimkehrer ‹daheim› gezeigt werden in Kontrast zu den Verhältnissen bei Telemachos auf Ithaka. Von hier aus erfahren auch die Situationen, die Telemachos in Pylos und in Sparta antrifft, eine besondere Bedeutung. Einmal ist von einem großen Opfer an Poseidon die Rede (3,5–345), einmal von der Hochzeit der Kinder des Menelaos, Hermiones und des Megapenthes (4,3–19). Beide Situationen signalisieren einen Zeitraum. Opfern ist eine regelmäßig wiederkehrende Tätigkeit, es zeigt einen ruhenden Zustand an («immer wieder wird geopfert»), die Hochzeit Hermiones und des Megapenthes verrät die vielen Jahre, die ins Land gegangen sind, die Kinder sind erwachsen, sie heiraten bereits, 16
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De Jong (2001) ad 1,325–327, S. 34 f. Typisch für ein Prooimion sind das Substantiv mit Genetivattribut zur Inhaltsangabe, Verb des Sagens, der Relativsatz. Dazu Hölscher (1988) bes. 94–102; Schwinge (1991) bes. 492; 498. Die Ausrichtung der Nostenerzählungen auf die Frage, wo sich Odysseus aufhält, die allein die Proteusgeschichte des Menelaos beantworten kann, macht übrigens auch deutlich, dass die Reise nach Sparta von Anfang an fest zur Erzählung gehörte. Sparta kann nicht, wie es in einigen Überlieferungen enthalten ist, durch Kreta ersetzt werden. Kreta ist also wohl nachträglich aus den Lügengeschichten herausgesponnen.
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auch Telemachos sollte daran denken. Gleichzeitig ist dies der Zeitpunkt, an dem Odysseus Penelope aufgetragen hat, sich wiederzuverheiraten, sollte er nicht zurückkommen. Die Zeit vergeht und die Heimkehr drängt.18 Alle übrigen Nosten sind Gegenstand der Erinnerung und Gegenstand des Gesangs, wie das Phemioslied signalisiert. Nur der Nostos des Odysseus nicht, denn davon weiß Phemios nichts zu erzählen, nur der Odysseedichter, dem wir zuhören. Es ist deutlich, dass durch das Phemioslied, das sozusagen als Prooimion mit einem Titel, nämlich ‹Nostos Achaion› (nÏstoc >Aqai¿n), gestaltet ist, an das sich dann die Nostenerzählungen allerdings aus dem Munde der Heimkehrer selbst anschließen, eine Relation zwischen den ‹Nosten der Achaier› und dem ‹Nostos des Odysseus› geschaffen wird, den ‹Liedern im Lied› einerseits und dem ‹gegenwärtigen Lied›, der Odyssee, andererseits. Die Heimkehr des Odysseus erhält auf diese Weise eine epische Vergangenheit, nämlich alle übrigen Nosten, die bereits abgeschlossen und Gegenstand des Gesangs sind. Das Phemioslied schafft kompositionell durch sein Thema eine weiträumige Verbindung, die die ersten vier Bücher umfasst und bis ins Buch zweiundzwanzig reicht, wo Phemios im Zusammenhang mit dem Freiermord wieder vorkommt. Es erstellt eine klare Hierarchie zwischen den übrigen Nostenerzählungen und derjenigen des Odysseus, die als die neueste und die eine, die noch fehlt, in der Erzähltradition der Nostenerzählungen positioniert wird.19 Für diese Beobachtungen konnte die sorgfältige Analyse der Erzählformen die Grundlage liefern, die es erlaubt, die Beziehungen zwischen Erzähler (dem Odysseedichter) und Sänger besser zu erfassen und zu einem vertieften Verständnis der Bedeutung der Phemiosszene zu gelangen, die über die Darstellung eines Sängers am ‹Fürstenhof› hinausgeht. Das Lied und sein Thema haben eine klare poetologische Funktion.
Demodokos Im achten Buch, in dem sich Odysseus bei den Phäaken aufhält, wird das Thema der Liedszenen mit den drei Liedern des Demodokos fortgesetzt, die in der Forschung als hervorragendes Zeugnis der Improvisationskunst des Odysseedichters gelten, da sie den Eindruck erwecken, hier lasse sich die ‹Mündlichkeit› des Erzählens noch unmittelbar erleben.20 Be18
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Vogt (1998) bes. 109–117 (zu Formen der Zeitraffung). Das Eintreffen des Telemachos in Szenen des ‹Essens› (einmal des Opfermahls, einmal des Hochzeitsmahls) erlaubt es außerdem, die Gespräche mit Nestor und Menelaos in der typischen Szene der ‹Unterhaltung nach dem Essen› zu gestalten. Die Verbindung von Kulthandlung und Versammlung, wie sie zu Beginn des dritten Buches angedeutet ist, hat möglicherweise einen historischen Hintergrund, vgl. Reber (2008) bes. 53–55, wo die Zeugnisse früher Tempelanlagen aufgeführt sind (8. Jh.), die gleichzeitig als Versammlungsorte gedient haben. Es zeigt auch den Unterschied zu Ithaka auf, insofern in Pylos die große Mahlzeit gleichzeitig ein geordnetes Opfermahl ist. Zur Einrichtung von Handlungskontinuität mit Hilfe von Handlungssträngen, die zur Organisation der Erzählung dienen: Schwinge (1991) bes. 482–482 und Hölscher (1988) 94–102 sowie Hölscher (1939). Bei genauer Betrachtung werden in der Phemiosszene sogar mehrere Handlungsstränge aufgefächert, so der Odysseus- und Telemachosstrang, der im fünfzehnten Buch zusammengeführt wird, ferner ein Freier- und der Penelopestrang, die in der Phemiosszene ebenfalls auftritt. Alle Stränge werden in der Katastrophe des Freiermordes wieder zusammengeführt. Die Integration der verschiedenen Handlungsstränge und Schauplätze wird gerade durch die Ausrichtung auf das Thema des Phemiosliedes erreicht, nämlich der ‹Heimkehr der Achaier› und (implizit) des Odysseus. Diese Meinung findet man bes. in der angelsächsischen und französischen Homerforschung: z. B. Foley (1999a) bes. 115–167. In der Tradition von J. M. Foley, A. B. Lord und M. Parry stehen auch neuere Arbeiten wie Minchin (2001); Louden (1999); Nagy (1996). Kritisch zur ‹Verschriftung› mündlicher Tradition:
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vor dieser Aspekt diskutiert wird, soll die Erzählform analysiert werden. Das erste Lied gleich zu Beginn ist wiederum als eine typische Sängerszene mit Publikumsreaktion inszeniert, diesmal wird jedoch ergänzend berichtet, wie Demodokos, der blind ist, herbeigeführt wird, zu essen erhält und wie man die phorminx neben ihm aufhängt, damit er sie selbst nehmen könne (8,62–71). In einem Bericht wird danach geschildert, wie Demodokos nach dem Essen von der Muse angetrieben wird, zu singen. Es wird der Inhalt des Liedes, das vom Streit des Odysseus mit Achilleus handelt, in indirekter Rede knapp referiert. Der Streit brach beim Götterfest in Delphi aus, Agamemnon freute sich darüber, denn es erfüllte sich dadurch ein Orakel Apollons, das den Streit als Zeichen für den Ausbruch des troianischen Krieges genannt hatte, der auf Ratschluss des Zeus erfolge. Es handelt sich hier um einen Redebericht, für den gerade die Knappheit charakteristisch ist, wo die Inhalte (wenn überhaupt) nur kurz aufgezählt werden. Allerdings ist er hier als kleine Szene gestaltet, die kommunikative Situation (der Gesang des Demodokos) ist festgehalten. Wir hören Demodokos zu. Die Inszenierung ist wichtig. Denn das Lied ist auf diese Weise klar als ‹Gesang im Gesang› dargestellt (8,72–82), womit wir eine zweite Erzählebene erhalten. Obwohl der Inhalt stark gerafft wiedergegeben wird, ist er bedeutungsvoll. Das Lied verweist deutlich auf den Anfang des troianischen Kriegs, dessen Ende später im dritten Lied des Demodokos erzählt ist. Ob im Hintergrund die Ilias steht, muss offen bleiben, doch wir beobachten auf jeden Fall wiederum eine Art Titel wie schon beim Lied des Phemios, nämlich ‹der Streit des Odysseus und Achilleus› (neÿkoc >Oduss®oc ka» PhleÚdew >Aqil®oc, 8,75), der hier in das übergreifende epische Thema «Ruhm der Helden» (klËa Çndr¿n, 8,73 eingeordnet wird; dazu kommt, wie schon bei den Nostenerzählungen, die Zuspitzung des Inhalts auf Odysseus, der dem großen Iliashelden, Achilleus, gegenüber tritt.21 Die Eröffnung der Gesangsszene mit dem Hinweis auf die Muse, die den Sänger zu singen antreibt, kann man außerdem als Erzählung eines konventionellen Liedanfangs mit Musenanruf verstehen (8,73). Der Bericht des Liedes aber zielt ganz besonders auf die Publikumsreaktion, die den Gesang in der Regel beschließt. Die Phäaken sind begeistert, Odysseus dagegen weint (8,83–96). Gerade dieses Weinen sollte man als zusätzliches Argument verstehen, dass es in diesem Lied tatsächlich um Troia geht, zumal sich das Weinen nach dem dritten Lied des Demodokos wiederholt. Odysseus weint in Erinnerung an das damalige Leid. Wie die Reaktion dieselbe ist, so übrigens auch der Gegenstand des Lieds, nur ist einmal vom ‹Anfang des Unglücks› (p†matoc Çrq†) und einmal vom ‹Ende› die Rede, wenn von der Eroberung erzählt wird. Im ersten Lied geschieht die Eroberung Troias nach dem Willen des Zeus, im dritten mit Hilfe der Pallas Athene, doch immer ist sie Schicksal. Die Schilderung der Publikumsreaktion gehört zwar fest zu den Gesangsszenen, doch bildet das Weinen des Odysseus eine eigenständige Ausgestaltung und erhöht die Spannung. Wann wird man entdecken, wer der Fremde ist?
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Assmann (2000) 134–142, bes. 134 f.: «Es sind gerade nicht die heiligen und die kulturellen Texte, für die die Schrift erfunden oder als erstes verwendet wurde.» Eine gute und knappe Diskussion der Forschungsliteratur bei Danek (1998) 1–28. Die Literatur zu dieser Stelle ist sehr umfangreich. Eine gute Übersicht bietet Danek (1998) 143–150. Zuletzt Rinon (2006), wo allerdings gerade die Frage der Funktion der Gesänge in der Gesamtkomposition nicht diskutiert wird. Immer noch wichtig: Kullmann (1992 / 1955) 11–35 und 36–37 (das Lied verweise auf das Iliasprooimion); Marg (1956) bes. 24 ff. Vgl. Rüter (1969) 247–54. Taplin (1990). Zum menis-Motiv der Ilias, das mehrmals vom Odysseedichter verwendet werde, Usener (1990) 9–13; 204.
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Das zweite Lied des Demodokos (8,266–366), das vom Seitensprung des Ares mit Aphrodite erzählt und auf das berühmte Liebespaar Helena und Paris verweist, führt im Grunde das Thema des ersten Liedes weiter, denn der troianische Krieg wurde durch die Entführung Helenas ausgelöst.22 Was sich allerdings auf dem Olymp in Gelächter auflöst, führt auf der Erde zum Untergang einer ganzen Stadt. Formal betrachtet weist das Lied ebenfalls eine Art Titel auf, nämlich «die Liebschaft des Ares und der schönbekränzten Aphrodite» (Çmf+ óAreoc filÏthtoc ‚Ùstefànou t+ >Afrod–thc, 8,267). Das Lied ist über weite Strecken in direkter Figurenrede erzählt, so dass man oft angenommen hat, der Odysseedichter stelle sich hier in Demodokos selbst dar, da man den Grund der direkten Figurenrede in der Absicht des Dichters gefunden hat, sich selbst darzustellen. Analysiert man die Stelle, so liegt zunächst einmal ein Bericht vor, markiert durch die indirekte Rede (er sang wie …, 8, 268 f.); es wird in der Art einer unmittelbaren Schilderung erzählt, wie Hephaistos reagiert, als er erfährt, dass Aphrodite fremd geht, wie er die Fesseln schmiedet, die Netze um das Bett spannt, nach Lemnos geht, wie Ares reagiert. Es liegt ein ‹chronologischer Bericht› vor, der nacheinander alles Wesentliche erzählt. Die direkten Figurenreden dagegen treten erst jetzt auf, sie dienen – wie andernorts auch – der Dramatisierung. Markant finden sie sich erstmals genau dort, wo Ares Aphrodite verführt («komm Liebste ins Bett …», de‹ro, f–lh, lËktronde …, 8,292–294) oder in den Reaktionen des Hephaistos, der seine Empörung hinaus schreit, und der Götter, die herbeigeeilt sind und Hephaistos in lebhafter Wechselrede bereden, die Liebenden doch aus den Fesseln zu lösen. Das Geschehen wird uns also in einer lebhaften szenischen Darstellung ganz unmittelbar präsentiert, gerade im Unterschied zur starken Raffung des ersten Demodokosliedes.23 Die direkten Reden dienen auf der Ebene der Erzählung der Dramatisierung. Wichtig für das Verständnis des Liedes ist der Kontext, den die Diskussion kaum berücksichtigt hat. Das Lied ist in eine ausführliche Schilderung von athletischen Wettkämpfen eingebunden. Zu diesen sollen offenbar gleichwertig musische Darbietungen kommen, so wie man es zum Beispiel später von den pythischen Spielen in Delphi kennt, wo zu den Wettkämpfen der Sportler auch diejenigen der Kitharoden treten. Die musische Darbietung beschränkt sich übrigens nicht auf das Lied des Demodokos, vielmehr sind choreutische und solistische Tanzdarbietungen als Rahmen um das Lied gelegt, die eventuell das Lied des Demodokos auch begleiten. Jedenfalls wirken die Tänzer nach Abschluss des Liedes, die ihre akrobatischen Sprünge vorführen, gleichsam als Coda zum schönen Lied des Demodokos (8,370–384). Unter der Erzählkategorie der Zeit betrachtet stellt man fest, dass diese Spiele, ebenso wie der Gesang, durch die unmittelbare Schilderung dauern. Der Tag vergeht, und zwar in glücklicher Unterhaltung.24 So erregt denn auch das zweite Demodokoslied Heiterkeit. Unbeschwert ist das Leben der Phäaken. Die genaue Analyse der Erzählung zeigt somit, dass der ausführliche Gesang des Demodokos und die direkten Reden ihre Funktion in der Erzählung selbst haben. Sie sind nicht in der Absicht des Dichters begründet, sich selbst darzustellen, wenn sie auch die reale Situation eines Vortrages abbilden können. Sie entnehmen dieser realen Situation so viel, dass das Publikum den ‹Vortrag des Sängers in der Öffentlichkeit› erkennt, machen jedoch Thema und Inszenierung der eige22 23 24
Schmidt (1998); Brown (1989). Immer noch wichtig: Burkert (1960); vgl. auch Braswell (1982). Vogt (1998) 147 f. (zur szenischen Darstellung). Fludernik (2008) 47–50; 80–83. Die Wettkämpfe, an denen sich auch Odysseus beteiligt, korrespondieren als eine Präsentation der Helden in Friedenszeiten mit den Kampfschilderungen im Krieg, wie sie die Ilias erzählt; es gibt denn auch einen ‹Heldenkatalog› zu Beginn (8,109–120).
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nen Erzählung dienstbar. Insofern die Verführung der Aphrodite durch Ares auf diejenige der Helena durch Paris verweist, die den troianischen Krieg ausgelöst hat, kann das zweite Demodokoslied auch als Fortsetzung des ersten betrachtet werden und hat somit auch eine poetologische Funktion. Formal lassen sich beim dritten Lied des Demodokos (8,499–520) dieselben Beobachtungen machen wie bei den vorangehenden. Wieder gibt es einen Titel, es ist der Gesang vom «hölzernen Pferd» (—ppou kÏsmon äeison / douratËou, 8,492 f.), den der Erzähler Odysseus selbst vorschlagen und auch gleich in direkter Rede erzählen lässt, wenn auch stark raffend. Demodokos fährt danach weiter, gleichsam in Form eines Wechselgesangs, doch wird sein Gesang in indirekter Rede bloß referiert, allerdings in so unmittelbarer und lebhafter Weise, dass er hier formal beinahe einem frühen Beispiel einer sogenannten ‹erlebten Rede› nahe kommt, die höchst dramatisch in einem atemberaubenden Erzähltempo die Ereignisse in Troia erzählt und die Geschichte bei Odysseus kulminieren lässt, sozusagen in einem Zeigegestus auf Odysseus hin, den großen Troiaeroberer mit Hilfe der Pallas Athene, mit deren Name die Schilderung endet (nik®sai ka» Ípeita diÄ megàjumon >Aj†nhn, 8, 520).25 Und wie erscheint Odysseus, der dem Lied bei den Phäaken zuhört? Er erscheint gerade nicht – wie ihn das Lied am Ende darstellt – als strahlender Sieger. Denn in rasantem Szenenwechsel ist festgehalten, dass Odysseus weint, wie eine Frau, die von der eroberten Stadt weggeführt wird (8,521–531). Hier wird also eine Dimension des Krieges eröffnet, wie wir sie später aus der Tragödie kennen, das Leid der Frau und des Odysseus treffen sich. Diese Leidthematik aber, die für Sieger und Besiegte gilt, schließt nicht nur noch einmal den Bogen zum ersten Demodokoslied, wo vom ‹Anfang des Leids› (p†matoc Çrq†, 8,81) die Rede war, vielmehr wird das Leid des troianischen Krieges zum weiten Hintergrund für das Leid der Irrfahrten allgemein, von dem im Prooimion der Odyssee bereits die Rede war; davon wird uns auch Odysseus selbst in den Büchern neun bis zwölf gleich erzählen. Erzähltechnisch kann man davon sprechen, dass sich der Odysseedichter bereits die stilistischen Möglichkeiten der Mischform von dramatischem und narrativem Modus in der transponierten (indirekten) Figurenrede zu eigen macht, die einerseits eine starke Raffung der Geschehnisse erlaubt, die auch ihre Hast und Dramatik abbildet, andererseits aber auch eine große Unmittelbarkeit und Lebhaftigkeit des Erzählens erzielt, indem der beschriebene Spannungsbogen aufgebaut wird, der gleichsam bei Odysseus, dem Troiaeroberer, kulminiert. 25
Die ‹erlebte Rede› erlaubt eine Nähe zur mimetischen Figurenrede und kann gleichzeitig in einer starken stilistischen Prägung durch den Erzähler selbst wiedergegeben werden. Es lohnt sich, den Aufbau des Liedes genauer anzusehen, denn die Schilderung der Ereignisse erfolgt nach allen Regeln epischer Erzählkunst. Zuerst wird die Ausgangssituationdes Liedes wiedergegeben, indem einzelne Ereignisse nacheinander aufgezählt werden (Demodokos sang, wie die Achaier die Schiffe bestiegen, die Zelte niederbrannten, in ihrem Pferd auf der Agora saßen, 8,500–503). Darauf ist die knappe Darstellung der Entscheidungsfindung, was man tun solle, im narrativen Modus gehalten, der in die drei entscheidenden Fragen in je drei aufeinanderfolgenden Versen übergeht (ob man das Pferd zertrümmere, vom Burgberg in die Tiefe stoße oder es am Ort belasse, 8,507–509). Das ist diejenige Passage, die der erlebten Rede (dem direkten Referat des Gesangs) am nächsten kommt (8,503–513). Es folgt eine Gnomik, die das benennt, was der Stadt schicksalhaft beschieden ist, nämlich die Eroberung, wodurch gewissermaßen eine Pause entsteht. Die weiteren Ereignisse werden nunmehr in stark raffendem Stil als Referat des Gesangs gegeben («weiter besang er, wie …»), wobei die einzelnen Punkte einen Spannungsbogen aufbauen und schließlich in die Darstellung münden, wie Odysseus selbst als Kriegsgott und Sieger in Troia erschienen ist mit Hilfe Athenes (8,520). Zur erlebten Rede: Fludernik (2008) 81.
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Wie schon beim Lied des Phemios stellen wir fest, dass die Lieder des Demodokos Gesang im Gesang sind und eine klar definierte Funktion in der Erzählung selbst haben. Sie sollen das andere große Ereignis, den troianischen Krieg, bereits als Gegenstand des Gesangs zeigen. Die Geschichte wird sozusagen von Anfang an (erstes Lied) bis zum Ende (drittes Lied) mehr angedeutet als tatsächlich erzählt, die Raffung ist so organisiert, dass der Inhalt wiederum auf unseren Haupthelden, auf Odysseus, zugespitzt wird. Der troianische Krieg wird zur Geschichte des Helden Odysseus. Diese Geschichte wird auf engstem Raum erzählt. Hier kann ferner mit Hilfe der Erzählanalyse, indem eine Grundkategorie des Erzählens, nämlich die Darstellung der Zeit, berücksichtigt wird, auch ein altes Problem der Homerforschung gelöst werden, nämlich warum Odysseus zweimal weinen und Demodokos dreimal singen muss. Es kann auf diese Weise eine lange Zeit, immerhin vom Anfang des troianischen Krieges bis zum Ende, dargestellt und gleichzeitig gerafft werden. Über diesen Geschichten aber vergeht ein ganzer Tag, womit die Bedeutung dieser Erzählung gezeigt werden kann.26 Kunstvoll ist auch der Zeitpunkt der Troiaerzählung gewählt, nämlich unmittelbar vor der Nostenerzählung des Odysseus, zu der sie also nicht nur überleitet, wie man oft bemerkt hat, der sie vielmehr, wie wir jetzt sehen, vor allem auch eine epische Vergangenheit gibt. Diese Vergangenheit aber von zwanzig Jahren wird nicht einfach referiert, vielmehr wird sie den letzten Tagen vor der Heimkehr, die uns die Odyssee erzählt, in einer äußersten Ökonomie des Erzählens durch die Lieder des Demodokos sozusagen eingeschrieben. Der Troiastoff wird auf diese Weise gleichsam zum Prooimion der Apologoi des Odysseus. Gleichzeitig dienen die Lieder wiederum dazu, die Odyssee in die traditionelle Liedtradition als den neusten Gesang zu integrieren, denn nur von Odysseus als Troiaeroberer weiß Demodokos zu erzählen, jedoch nichts von seinen Irrfahrten. Das ist derjenige Teil der Vergangenheit, der immer noch fehlt und jetzt in den Büchern neun bis zwölf folgt. Die Lieder des Demodokos dienen also auch der Hierarchisierung des Erzählstoffes, insofern der Troiastoff – ebenso wie die Nostenerzählungen der übrigen Achaier – als Hintergrund in die Odyssee integriert werden, die selbst der prominente Gesang ist.
Der Erzähler Es ist bereits deutlich geworden, dass die Sänger Phemios und Demodokos eine klare Funktion in der Erzählung selbst haben. Sie dienen dazu, den traditionellen Liedstoff über Troia und die Nosten im Hinblick auf die Odysseuserzählung zu systematisieren und mit ihr zu verknüpfen, indem sie diesen Stoff gleichzeitig der Odysseeerzählung unterordnen. In welcher Form jedoch tritt uns der Erzähler der Odyssee selbst gegenüber? Aristoteles hat, wie 26
Was die Struktur des achten Buches betrifft, so liegt eine typische Essensszene mit nachfolgender Unterhaltung vor, die ihrerseits drei Formen haben kann, nämlich Reden, Gesang und Tanz, Wettkämpfe. Es sind im achten Buch zuerst Essen und Gesang (erstes Demodokoslied) und anschließend Wettkämpfe mit athletischem und musischem Teil (zweites Demodokoslied) dargestellt. Auf Wettkämpfe müssen konventionell Preisverleihung und Siegesmahl folgen, an deren Stelle treten hier die Geschenke an Odysseus und ein weiteres Mahl, das sozusagen die Stelle des Siegesmahles einnimmt, worauf wiederum Gesang folgt (das dritte Lied des Demodokos), das dann beinahe wie ein Siegeslied – nicht des Athleten Odysseus, sondern des Troiaeroberers – erscheint. Das Weinen des Odysseus ist wiederum die Ausgestaltung des typischen Erzählelementes der ‹Publikumsreaktion›. Legt man das Script ‹Essen mit nachfolgender Unterhaltung›, die auch athletische Wettkämpfe umfassen kann, zugrunde, erhellt sich, warum auf eine üppige Mahlzeit problemlos athletische Wettkämpfe folgen können. Diese Darstellung folgt dem Script, das die Erzählung organisiert, nicht aber den physiologischen Bedingungen.
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eingangs angeführt, bemerkt, dass Homer nur wenig von sich selbst spreche. Allerdings tut er dies gleich zu Beginn der Odyssee, wo immerhin Personalpronomina der ersten Person erscheinen, wenn das Prooimion mit «Muse erzähle mir von dem Mann, der … » (ändra moi Ínnepe, Mo‹sa, 1,1) beginnt und mit «von dem allem erzähle auch uns … » (t¿n ÅmÏjen ge … e p‡ ka» ômÿn) vorläufig schließt (1,1–10). Der Dichter erscheint hier, so kann man es formulieren, wie ein Sänger, es scheint geradezu eine aktuelle Aufführungssituation impliziert; man hat denn auch auf einen mündlichen Vortrag geschlossen.27 Liest man weiter, fluktuiert jedoch die Erzählerstimme bereits in Vers 11 zum Berichterstatter, der in den folgenden Versen die Geschichte einrichtet und ihren Ausgangspunkt definiert, und zwar bezüglich des Zeitpunktes (als die Frist um war und Odysseus heimkehren sollte) und der Schauplätze (bei Kalypso, auf Ithaka, auf dem Olymp, 1,11–31). Zwar profiliert sich der Erzähler in den ersten Versen als Sänger, doch eine Leibhaftigkeit, wie sie gerade die Sängerszenen zeigen, hat er nicht, es fehlt der Kontext, in dem Sänger aufzutreten pflegen, zum Beispiel das reiche Essen, die schöne phorminx, die man dem Sänger reicht. Vielmehr zieht sich der Erzähler gleich in eine unpersönliche Rolle zurück, er ist im Unterschied zu den Sängern seiner Erzählung eine Stimme, nicht eine Figur.28 Weshalb denn beginnt das Epos mit Musenanruf und erster Person, so könnte man fragen. Es geht einerseits um die Einrichtung einer Erzählperspektive, jene der Allwissenheit, die durch die Muse legitimiert ist, und andererseits um die Definition der Erzählung als eine epische Erzählung, zu der fest der Musenanruf gehört.29 Es geht darum, die Fiktion zu erstellen, dass sich dieser Gesang von Anfang an vor uns entwickelt, als ein Gesang, dem wir als dem neuesten Gesang von Anfang bis Ende zuhören. Es wird zwar eine ‹reale Szene›, diejenige des Sängervortrages, benützt, die der Zuhörer aus eigener Erfahrung gekannt hat, doch geht es nicht darum, eine aktuelle Aufführung zu beschreiben. Man könnte von einer Transformation einer Sängerszene sprechen, denn im Grunde handelt es sich um einen literarischen Zugriff auf den weiten Stoff, der erzählt werden soll. Auf jeden Fall ist deutlich, so die Folgerung, dass eine klare Rangordnung zwischen dem Erzähler und den Sängern, die Figuren der Erzählung sind, besteht. Der Erzähler macht die Sänger seiner Erzählung dienstbar.
Odysseus als Sänger vor den Phäaken Wie eingangs vermerkt, soll zur Analyse der Sängerszenen auch diejenige der Passagen, die Sängervergleiche enthalten, hinzukommen. Diese treten in der Odyssee im Zusammenhang mit dem Haupthelden, Odysseus, mehrfach auf. Dass Odysseus selbst als Erzähler er27
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Die Literatur zum Odysseeprooimion ist uferlos. Vgl. de Jong (2001) bes. 5 f. und die gute Darstellung der Problematik bei Danek (1998) bes. 29–41. Außerdem: Minchin (2001) bes. 161–180; Walsh (1995). Es liegt also im Grunde im Prooimion eine auktoriale Erzählsituation vor, wie sie die moderne Erzähltheorie gerade für den epischen Gesang als typisch erwiesen hat (englisch covert narrator, ein Erzähler, der nicht selbst in Erscheinung tritt). Vgl. Fludernik (2008) 32–44; Vogt (1998) bes. 41–66. Immer noch wichtig: Friedemann (1965/1910) 25. Hamburger (1987/1957). Wenn man berücksichtigt, dass die Zerstörung Troias, wie im Gesang des Demodokos dargestellt, Hintergrund für die Irrfahrtenerzählungen ist, erweist es sich im Hinblick auf die gesamte Komposition der Odyssee als wichtig und sinnvoll, dass die Irrfahrten des Odysseus im qualifizierenden Relativsatz zuerst genannt sind (Ác màla pollÄ plàgqjh), noch vor der Zerstörung Troias im darauffolgenden Temporalsatz. Die Irrfahrtenerzählungen sind im Sinne der aktuellen Geschichte gegenüber dem Troiastoff primär. Es sollte in der Übersetzung also nicht die Zerstörung Troias im Relativsatz stehen («der die heilige Feste / Trojas zerstörte. Er sah dann auf mannigfaltiger Irrfahrt … »), so in der weit verbreiteten Übersetzung von Weiher (2007/1967).
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scheint, ist immer wieder festgestellt worden, erstens der eigenen Irrfahrten in den Büchern neun bis zwölf, wo sich der extradiegetische Erzähler der ersten acht Bücher zum intradiegetischen wandelt und eine Binnenerzählung über vier Bücher folgt, die sich allein schon aufgrund der Länge von allen übrigen Figurenreden abhebt, zweitens von Lügenerzählungen, wenn er seine neue Identität als Bettler annimmt, wo Odysseus ebenfalls mit einem Sänger verglichen wird.30 Man hat wiederum vermutet, dass der Odysseedichter mit diesen Vergleichen nicht nur die Qualität des Vortrags, sondern auch sich selbst darstellen wolle.31 Auch hier soll deshalb, wie bei den Phemios- und Demodokosliedern, nach einer erzählanalytischen Interpretation untersucht werden, ob die Vergleiche auch eine kompositionelle und poetologische Funktion haben. Der erste ausdrückliche Vergleich mit einem Sänger erfolgt im sogenannten Intermezzo der Unterweltserzählung des Odysseus. Alkinoos lobt den Vortrag des Odysseus und vergleicht ihn mit demjenigen eines Sängers (11,368 f.). Doch bei genauer Betrachtung ist die Sängerthematik im Hintergrund längst vorhanden. Denn wie das Phemioslied und das erste und dritte Demodokoslied ist auch der ‹Gesang› des Odysseus in einen festen Rahmen eingefügt, nämlich der ‹Unterhaltung nach dem Fest- oder Gastmahl›. Buch acht hat mit einem weiteren Gastmahl am Abend geendet, bei dem Demodokos sein drittes Lied vorgetragen hat. Dieses Lied wird gewissermaßen von Odysseus fortgesetzt, nachdem Alkinoos gebeten hat, dass Demodokos mit seinem Gesang aufhöre und Odysseus nunmehr erzählen solle. Alkinoos tut dies innerhalb einer längeren direkten Figurenrede in einer Weise, wie man auch einen Sänger zum Singen auffordert, indem man ihm ein Thema vorschlägt: «Los, sage mir dies und erzähle schön der Reihe nach, wie du vom Heimweg abkamst (Çpeplàgqjhc) und zu welchen Ländern der Menschen du gekommen bist, nenne sie selbst und ihre wohnlichen Städte, welche (sc. Menschen) schwierig waren und wild und das Recht nicht kannten, und diejenigen, die gastfreundlich waren …» (8,572–576). Diese Verse formulieren im Rückgriff auf das Odysseeprooimion das Thema der Erzählung des Odysseus und definieren gleichzeitig mit dem Hinweis auf rechtlose Menschen und die Gastfreundschaft den Anfang und das Ende der Erzählungen, die durch das Polyphemabenteuer und das Verzehren der Heliosrinder markiert sind, wo die Gefährten des Odysseus ihrerseits das Gastrecht missbrauchten, indem sie – wenn auch von den Umständen gezwungen – trotz mehrfacher Warnung die Heliosrinder aßen. Diese konventionelle Einbindung der Odysseuserzählung wird zu Beginn von Buch neun noch verstärkt, wenn Odysseus Demodokos lobt und die Szene zu einer typischen epischen Szene des Gastmahls mit Gesang und fröhlicher Stimmung verallgemeinert, in die er nun seine eigene Erzählung einfügen und gleichzeitig davon abheben wird, da er nicht von der Freude, sondern vom Leid erzählt. So wie der Sänger eine Fülle von Themen kennt, so weiß Odysseus eine Fülle von Leiden. In dieser Fülle aber markiert er als Einsatzpunkt den eigenen Namen, er beginnt mit sich selbst, «ich bin Odysseus … (e“m+ >OduseÃc …, 9,19). Danach stellt er Ithaka vor, das Ziel des eigenen Nostos, nennt Kalypso und Kirke, die ihn von der Heimkehr 30
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Zur Erzählform der Apologoi: Danek (1996); Suerbaum (1993/1968). Zur erzählanalytischen Bedeutung der Ich-Erzählung: de Jong (2001) 223–227. Zur Frage, ob die Apologoi des Odysseus als Lügen zu betrachten seien vgl. Parry (1994) mit weiterer Literatur S. 1 mit Anm. 1. Zum Begriff ‹extra- und intradiegetisch›: Fludernik (2008) 171. Vogt (1998) 119 f. De Jong (2001) 284–286. De Jong verweist mehrfach auf die Bedeutung der Sängerthematik als Kompliment für Odysseus und als Bild für den Odysseedichter selbst (191 f.; 227), zum Prooimioncharakter von 9,37 und 11,382 vgl. ad l. Eine allfällige inhaltliche und kompositionelle Bedeutung der Sängerthematik wird nicht diskutiert.
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nicht abbringen konnten, stellt seinen Nostos als ein von Zeus auferlegtes Schicksal dar und legt den Ausgangspunkt der Erzählung fest, nämlich «von der Abfahrt von Troia an» (9,37 f.). Obwohl hier Odysseus nicht ausdrücklich mit einem Sänger verglichen wird, tritt seine Erzählung dennoch vor einen klar definierten Hintergrund, der anzeigt, dass alles, was Odysseus uns erzählt, wie der Gesang eines Sängers zu verstehen ist. Odysseus und seine Thematik sind durch diesen Rahmen als Sänger und Gesang stilisiert. Die Darstellung folgt einem festen ‹Script›. Thema dieses Gesangs ist der eine noch fehlende Nostos, der von Zeus auferlegt ist durch das Schicksal. In diesem Rahmen, der die Sängerthematik im Zusammenhang mit Odysseus’ Erzählung bereits eingeführt hat, wird jetzt auch der Sängervergleich, den Alkinoos innerhalb des sogenannten Intermezzos vornimmt, verständlich. Dieser Vergleich erfolgt also nicht etwa unvermittelt, sondern vor dem bereits etablierten Hintergrund. Unmittelbar vor dem Vergleich hatte Odysseus von seinen Erlebnissen und seiner Begegnung mit den Frauen der Helden in der Unterwelt erzählt (11,225–332). Als er endet, loben Arete und Alkinoos Odysseus, und zwar in direkter Rede, was der Szene Lebhaftigkeit verleiht, gleichzeitig aber auch die kontinuierliche Figurenrede des Odysseus unterbricht. Alkinoos sagt zu Odysseus, er erzähle seine Geschichten wie ein Sänger, wobei Alkinoos besonders die Wahrheit und Ordnung des Gesangs hervorhebt (m‹jon d+ ±c Ìt+ Çoid‰c ‚pistamËnwc katËlexac, 11,368).32 Alkinoos fasst auch den Inhalt der Erzählung zusammen, und zwar als «erbärmliche Leiden (k†dea lugrà) der Argeier», was an die «erbärmliche Heimkehr der Achaier», von der Phemios gesungen hat (1,326 f.), erinnert. Alkinoos wünscht daraufhin, auch von den Helden in der Unterwelt zu hören.33 Die Passage vergleicht jedoch nicht nur Odysseus ausdrücklich mit einem Sänger, sondern fügt sich auch formal in die Sängerszenen ein, da sie als typische Szene mit Publikumsreaktion, Aufforderung zum Weitersingen und Themenvorschlag gestaltet ist. Odysseus setzt mit den Helden der Unterwelt, und zwar mit Agamemnon, seine Erzählung fort, worauf ohne weitere Unterbrechung der Schluss der Abenteuer bis zu den Heliosrindern, der Untergang der Gefährten und die eigene Rettung auf die Insel der Kalypso am Ende des zwölften Buches erzählt wird. Noch ein drittes Mal ist die Sängerthematik aufgenommen, wiederum an bedeutsamer Stelle, nämlich zu Beginn des dreizehnten Buchs, wo in Form eines Berichts die Stille und Zauberstimmung im Saal geschildert wird, nachdem Odysseus geendet hatte (khlhjmƒ d+ Ísqonto …, 13,1–3). Formal handelt es sich wiederum um eine Publikumsreaktion auf den Gesang, schließt somit die Erzählung des Odysseus ab, die auf diese indirekte Weise nochmals als Gesang markiert wird. Doch auch im folgenden klingt dieser Rahmen, in den die Erzählung des Odysseus eingebunden war, nochmals an, wenn Alkinoos verallgemeinernd 32
33
Wie wird ‹Wahrheit› im Epos erkannt? Alkinoos nennt die Kriterien: an der schönen Form der Worte, am kundigen Erzählen der Dinge, die eines nach dem andern ‹hergezählt›werden (katËlexac, katàlexon, 11, 368; 370), dazu: Kannicht (1996/1980) bes. 195–200. Auffällig ist, dass die ‹Wahrheit› des Erzählten gerade an dem Punkt betont wird, der am weitesten davon entfernt sein könnte, geglaubt zu werden, nämlich dass es möglich ist, dass sich ein Lebender mit den Toten im Hades unterhält. Kein Zufall wird sein, dass das Königspaar gerade an dieser Stelle der Erzählung das Wort ergreift. Denn auf diese Weise beschließt der Name der Arete sozusagen den Katalog der Heroinen in der Unterwelt, von denen Odysseus zuletzt erzählt hat, während Alkinoos gewissermaßen denjenigen der Helden eröffnet. Arete und Alkinoos werden sozusagen in die Heroinen und Heroen der Unterwelt ‹eingegliedert›. Durch diese Organisationsform wird das Königspaar der Phäaken in die Nähe der Herrscher der Unterwelt gerückt; die Insel wird denn auch bald von einem Berg bedeckt werden, wie es Alkinoos in 8,564–571 angekündigt hatte. Zu den Relationen des Frauenkatalogs zum übrigen Geschehen vgl. Stenger (2006) bes. 229–236.
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die Gefährten als diejenigen anredet, «die ihr immer den funkelnden Wein trinkt in meinem Haus und dem Sänger zuhört» (Çkouàzesje d+ Çoido‹, 13,8f).34 Unter diesem Blickwinkel kann man die Geschenke, die auf Geheiß des Alkinoos herbeigebracht werden, nicht nur als Gastgeschenke verstehen, die Odysseus sozusagen zum Beweis, dass er bei den Phäaken war, nach Ithaka bringt, sondern auch als die Adaption einer typischen Szene, die das Beschenken des Sängers nach dem Liedvortrag vorsieht (13,10–15). Den letzten Tag verbringt man nochmals festlich. Alkinoos opfert Zeus und richtet ein Festmahl aus, das wiederum vom Gesang des Demodokos begleitet wird (13,24–28). Dieser Gesang umfasst also gewissermaßen denjenigen des Odysseus und kann jetzt ungestört erfolgen. Odysseus jedoch wartet ungeduldig, dass der Tag vergehe und er heimkehren könne (13,28–35). Es gibt also einen Rahmen, in den die Erzählung des Odysseus eingefügt ist, der diese weitausgreifende Passage strukturiert, jedoch auch eine bestimmte Funktion hat. Er bestimmt Odysseus als Sänger und seine Erzählung als ‹Lied›, das die unmittelbare Fortsetzung von Demodokos’ Lied über den ‹Troiaeroberer› bildet. So wird das Lied des Demodokos gleichsam zum Prooimion der langen Erzählung des Odysseus, der seinerseits in der Einleitung seines eigenen Gesangs die Thematik der Irrfahrten und des Leides, wie sie im Odysseeprooimion gestaltet sind, aufnimmt. Das Lied über den Troiazerstörer kann auf diese Weise unmittelbar dem Lied über die Irrfahrten gegenübergestellt werden. Doch ergibt sich eine Akzentuierung dadurch, dass Phemios und Demodokos wahrhafte Sänger sind und epische Vergangenheit erzählen, dagegen wird Odysseus nur mit einem Sänger verglichen. Die Irrfahrtenerzählung erfährt zwar durch diese Stilisierung (als Lied eines Sängers) eine Episierung, sie ist ja auch Bericht einer Vergangenheit, doch gleichzeitig ist sie Bericht von einem, der den Inhalt seiner Erzählung selbst erlitten hat. Sie wird im Augenblick des Erzählens zum Lied, während alle übrigen Erzählungen bereits zum Lied geworden sind, auch die Erzählungen von Nestor und Menelaos, da sie dem Thema des Phemiosliedes, dem nostos Achaion, subsumiert sind. Allerdings zeigt sich auch hier eine Hierarchisierung im Hinblick auf den aktuellen Gesang, insofern Phemios und Demodokos von den Irrfahrten des Odysseus gar nichts zu berichten wissen, mit ihren Gesängen aber auf diese Erzählung des Odysseus hinführen. Diese erweist sich unter den Irrfahrtenerzählungen gerade auch auf diesem Hintergrund als die wichtigste und wird am ausführlichsten mit vielen direkten Reden, die sich vorwiegend auf Odysseus konzentrieren, aktuell erzählt. Und doch ordnet sie sich als Figurenerzählung immer noch dem aktuellen Lied unter, nämlich der Odyssee selbst, der wir zuhören. Von nun an, von der Landung auf Ithaka an, werden wir kontinuierlich dem Gang der Ereignisse bis zum Freiermord und der Wiederfindung der Gatten folgen. Es zeigt sich, dass auch die Erzählung, die als Lied nur stilisiert wird, einen Ordnungsfaktor in der Gesamterzählung darstellt und sie durch die Einbindung in ein übergreifendes ‹Script› auch weiträumig strukturiert. Die Vergleiche haben wiederum eine klare poetologische Funktion und erfahren ihre Begründung nicht etwa in der Absicht des Odysseedichters, sich selbst darstellen zu wollen. Betrachtet man außerdem die Erzählung unter zeitlichem und räumlichem Aspekt, so umfasst sie einerseits einen weiten biographischen Zeitraum, dient jedoch andererseits auch der Darstellung eines weiten Raumes, der zwar geographisch beschrieben wird, jedoch ein literarischer oder mythischer Raum ist, führen doch die Irrfahrten des Odysseus weit über die bekannte Welt hinaus bis in die Unterwelt und zum märchenhaften Ort auf der Insel der Kalypso und bei den Phäaken. 34
Dieselbe Publikumsreaktion bereits 11,332–335 und auf den Gesang des Phemios in 1,325.
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Odysseus als ‹Sänger› von Lügenerzählungen Im weiteren Verlauf der Odyssee kommen noch drei Vergleiche mit Sängern vor, die sich jedesmal auf Odysseus beziehen, wenn auch nicht mehr so ausführlich wie in den Apologoi. Ein Vergleich bezieht sich auf Odysseus’ Lügenerzählungen bei Eumaios und findet sich im siebzehnten Buch, als Eumaios Penelope empfiehlt, den unbekannten Bettler, den er mitgebracht hat, nach Odysseus zu befragen. Eumaios erzählt in direkter Rede vom Bettler-Odysseus. Dieser Bettler habe ihm drei volle Nächte und Tage erzählt und sei noch nicht fertig damit, sein Leid zu berichten: «So wie ein Mann einen Sänger anblickt (±c d+ Át+ Çoid‰n Çnòr potidËrketai), der von den Göttern begabt seine Lieder, die Sehnsucht erwecken (Ípe+ …merÏenta), vor den Menschen singt, dem alle ganz unbeweglich immer nur zuhören wollen, wenn er singt, so hat jener mich mit seinem Gesang bezaubert» (≥c ‚m‡ keÿnoc Íjelge, 17,518–521). Eumaios referiert danach die wichtigsten Punkte der Erzählung. Der Bettler komme von Kreta, Odysseus lebe und bringe viele Schätze nach Hause, er sei schon in Thesprotien.35 Die Erzählkunst, die derjenigen eines Sängers gleichkommt, gehört offenbar ebenso zu Odysseus, wie das Leid, durch das er schon im Prooimion charakterisiert ist, und die List, die sich auch in der Kunst, sich zu verstellen, manifestiert. Diese Punkte enthüllen also im Grunde die Identität des ‹Bettlers›. Der Vergleich mit dem Sänger an dieser Stelle verweist auf die Apologoi, wo dieses Bild so bedeutungsvoll dargestellt wurde. Dort aber waren die Erzählungen ‹wahr›, wie auch Alkinoos betont hat, während sich hier gerade die Kehrseite zeigt. Man kann eben Wahres und Falsches schön erzählen, so dass es bezaubert. Dort war Odysseus’ Vortrag auch öffentlich (alle Phäaken hören zu), während die Lügenerzählungen in eine Wechselrede mit einzelnen Personen (oder einer Personengruppe) eingebunden und nur an diese gerichtet sind. Sie enthalten ja auch eine ‹geheime› Botschaft oder sind eine Prüfung, da sie auf die Rückkehr des Odysseus ausgerichtet sind. Ebenfalls auf Odysseus bezieht sich eine weitere Aussage des Eumaios, die dieser kurz zuvor gegenüber den Freiern machte, allerdings erscheint sie allgemeiner gehalten, weshalb sie hier an zweiter Stelle aufgeführt ist. Eumaios antwortet auf den Vorwurf der Freier, warum er einen Bettler herbeigeführt habe, dass man solche doch nicht einlade, sondern nur ‹Gemeindewerker› (dhmioergo–), den Seher, den Heiler der Übel oder den Zimmermann «oder auch den göttlichen Sänger, der Freude bereitet mit seinem Gesang (£ ka» jËspin ÇoidÏn; Ì ken tËrp˘sin Çe–dwn), diese sind diejenigen der Sterblichen, die man herbeiruft auf der endlosen Erde» (17,382–387). Diese Stelle hat man vor allem im Hinblick auf die Frage der Mobilität von Handwerkern, Ärzten, Zimmerleuten und Sängern diskutiert, von denen man sich die besten an den Fürstenhof holt.36 In unserem Zusammenhang ist wichtig, dass der Hinweis auf die Gesangskunst wiederum die wahre Identität des ‹Bettlers› enthüllt, ebenso wie derjenige auf den Zimmermann, hat Odysseus doch in ganz besonderer Weise Haus und Ehebett gezimmert, wie sich noch weisen wird. Vor allem aber ist er auch ein 35
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Insgesamt 6 Trugreden: a) 13,256–286 (vor Athena); b) 14,199–359 (vor Eumaios); c) 17,415–444 (vor Antinoos); d) mehrere Trugreden an die Freier und Mägde in 18; e) 19,172–202 (vor Penelope); f) 24,302– 314 (vor Laertes). Die ausführlichste Darstellung zu den Trugreden findet sich bei Grossardt (1998), frühere Literatur und Forschungsstand: 3–5. Burkert (1992) 41–48; West (1997) 609–611. Ein Statusunterschied zwischen mobilen und residierenden Sängern, wie ihn Latacz (2003) 41 macht, ist kaum intendiert. Den Namen ‹Demodokos› umschreibt der Dichter selbst mit: DhmÏdokon laoÿsi tetimËnon («im Volke geehrt», Od. 8,472; 9,7), Neumann (1991) bes. 317. Schadewaldt (1959/1943) 69: «Der Sänger steht im Dienste der ganzen Gemeinde».
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Heiler des Übels, wird er doch das Haus von den Freiern befreien; und schließlich ist er in gewissem Sinne ein ‹Seher›, sagt er doch seine eigene Heimkehr voraus. Unter dem Aspekt des Raumes betrachtet, kann man das Herumgehen der ‹Gemeindewerker›, und zwar der besten, als Bild für das Herumgehen des Odysseus verstehen, des besten seinerseits. Der weite Raum, durch den man geht, und der Erzählraum entsprechen sich. Ein letztes Mal kommt ein Hinweis auf den Sänger im Augenblick des Pfeilschusses, des Markenzeichens des Odysseus, das ihn wieder installiert, in Form eines Gleichnisses vor. Odysseus spannt die Sehnen des Bogens, den nur er allein spannen kann, zum entscheidenden Pfeilschuss durch die aufgestellten Beile hindurch, «wie ein Mann, ein Kenner der Phorminx und des Gesangs (±c Ìt+ Çnòr fÏrmiggoc ‚pistàmenoc ka» Çoid®c), mit leichter Hand die Saite um den neuen Wirbel spannt» (21,406–411). Bogenkunst und Gesangskunst sind miteinander verwandt. Odysseus beherrscht das eine wie das andere. Bogen und Leier sind aber auch die Attribute des Gottes Apollon, zu dessen Fest Odysseus heimkehrt. So wie der Sänger in den Musen und in Apollon seinen Bezugspunkt hat, so auch Odysseus in Apollon, dem Gott der Musik und der Bogenkunst. Es hat sich klar gezeigt, dass die Gesangskunst Odysseus charakterisieren soll, sowohl wenn er bei den Phäaken als Sänger beim Gastmahl gezeigt wird, wo er Demodokos nahe kommt, als auch als generelles Merkmal, das die Qualität der Lügenerzählungen kennzeichnet. Man hat die Lügenerzählungen mehrfach mit den übrigen Nostenerzählungen und auch den Apologoi verglichen.37 Hier kann ergänzt werden, dass sämtliche Irrfahrtenerzählungen, auch diejenigen des Nestor und Menelaos (die unter dem Thema des Phemiosliedes zu subsumieren sind), mit dem Gesang in Verbindung gebracht werden, was ihren inneren und strukturellen Zusammenhang noch unterstreicht. Von Irrfahrten – wahren oder erfundenen – zu erzählen, bedeutet somit, eine Vergangenheit wie ein Sänger zu gestalten, wenn es denn nicht der Sänger selbst ist, der vorträgt. Die Irrfahrtenerzählungen zeigen uns zudem die Zeit auf, die vergangen ist, und den Raum, der durchmessen wurde. Dabei fallen zwei Punkte auf. Die Irrfahrtenerzählungen des Bettler-Odysseus kontrastieren erstens in ihrer Auffächerung mit dem kompakten Vortrag der Apologoi vor den Phäaken in den Büchern neun bis zwölf. Der Vergleich mit dem Sänger erfolgt bei den Lügenerzählungen denn auch nur rückwirkend, sie sind nicht in den festen Rahmen des öffentlichen Singens nach dem Mahl eingefügt, sondern werden in Form der persönlichen Unterhaltung, bei der einer allerdings lange erzählt, wie nach dem Mahl bei Eumaios, gegeben. In diesem Punkt sind sie den Erzählungen von Nestor und Menelaos ähnlicher. Die Lügenerzählungen haben denn auch eine andere Funktion als die Apologoi. Sie sollen den wendigen Charakter des Odysseus zeigen, wie er sich schon im Wechselgespräch mit Athena im dreizehnten Buch offenbart hat (13,291–299), und sie dienen dazu, die Daheimgebliebenen unerkannt zu prüfen, wie es für Nostenerzählungen typisch ist. Sie haben jedoch alle einen festen Kern, nämlich die kretische Identität des Bettler-Odysseus. Betrachtet man zweitens die Irrfahrtenerzählungen unter der Erzählkategorie des Raumes, so erweist sich ihre Bedeutung auch darin, dass sie den Raum der Geschichte konstituieren helfen. Zusammen mit den Nostenerzählungen der übrigen Achaier beziehen sie sich auf 37
Vgl. mit den Irrfahrtenerzählungen noch die Erzählung des Eumaios, der zwar aus einem märchenhaften Land stammt (keine Krankheit, Tod durch Artemis und Apollon), doch die Geschichte seines Raubes ist im realen Raum angesiedelt, die Hauptrolle spielen die Phöniker und Taphier (15,403–484), die bereits die Amme des Eumaios entführt haben, dazu: Rollinger (2003) bes. 337 f.
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den realen und gerade noch bekannten Raum, zum Teil kommen auch dieselben Räume vor, wie Kreta oder Ägypten. Davon können sich dann die Apologoi abheben, die über den bekannten Raum hinaus in den mythischen oder märchenhaften Raum führen. Gerade die Betrachtung unter der Erzählkategorie des Raumes mag denn auch eine Antwort geben, warum sich die Lügenerzählungen auf Kreta konzentrieren. Nicht nur weil Kreta in der Ilias unter Idomeneus ein großes Schiffskontingent stellte – somit im Epos eine Realität ist, mit der man rechnen konnte – oder weil Kreter generell Lügner sind, so dass sich für Lügengeschichten eine kretische Identität des Erzählers anbot, vielmehr geht es in den Lügenerzählungen, wie in den Nostenerzählungen von Nestor und Menelaos oder ‹der Achaier›, um einen grundsätzlich erfahrbaren realen geographischen Raum, in dem Kreta mit seinen weiten Verbindungen nach Ost und West nicht fehlen darf. Von diesem realen Raum können sich die eigentlichen Irrfahrten des Odysseus, wie er sie in den Büchern neun bis zwölf erzählt, abheben. Zusammen betrachtet ergeben die Irrfahrtenerzählungen also den weiten literarischen und kulturellen Raum, den die Odyssee paradigmatisch konstituiert. Im Hinblick auf das Thema ‹Sänger› und ‹Sängervergleiche› in der Odyssee kann dagegen bereits festgehalten werden, dass sie eine dreifache Aufgabe erfüllen. Sie dienen der Zeitorganisation, der Raumorganisation und der Hierarchisierung der Gesänge, insofern sie die Vergangenheit innerhalb eines Liedes erzählen, nämlich der Odyssee insgesamt, das sich selbst als das aktuelle Lied darstellt. Sie haben eine poetologische Funktion. Gerade vor diesem Hintergrund erweist es sich als richtig und sinnvoll, beide Themen, sowohl ‹Sänger› als auch ‹Sängervergleiche›, für die Interpretation zu berücksichtigen.
Exkurs: Kreta und die Irrfahrtenerzählungen In der Odyssee mit ihren Irrfahrtenerzählungen ist die Konstitution eines weitausgreifenden Raumes wichtig, der Bestandteil eines fiktionalen Wirklichkeitsmodells ist, das verschiedene Grade eines (historischen) Wirklichkeitsbezugs aufweist, wie oben dargelegt worden ist. In diesem Zusammenhang sind nochmals die Irrfahrtenerzählungen des BettlerOdysseus und die besondere Stellung Kretas zu betrachten. Vergleicht man nämlich die topographischen Angaben der Lügen- und Irrfahrtenerzählungen (mit Ausnahme derjenigen der Apologoi) mit den Kenntnissen, wie man sie gegen Ende des 8. Jh. zur Zeit des Odysseedichters haben konnte, so stellt man fest, dass die genannten Irrfahrten zwar in die weite Ferne führen, doch gerade noch in der bekannten Welt enden.38 Dies betrifft nicht nur Orte im Osten, wie die Reise durch Ägypten, sondern auch im Westen. Als Beispiel sei Thesprotien genannt (19,287–307), das im äußersten Westen des griechischen Festlandes liegt und den Ausgangspunkt für die Überfahrt nach Italien oder in die nördliche Adria bildet. Von Thesprotien, so behauptet der Bettler-Odysseus, sei er über Doulichion nach Ithaka gefahren. Man hat in Thesprotien und entlang der Westküste der Peloponnes, auf den ionischen Inseln, aber auch auf Ithaka und Kephallenia, korinthische Keramik der 2. Hälfte des 8. Jh. v. Chr. gefunden, wir befinden uns also auf einem etabliertem Weg des ko-
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Einen guten Überblick besonders zur Kenntnis des levantinischen Raumes gibt Rollinger (2003) bes. 337– 348; Dougherty (2001); Sieberer (1996); außerdem: Malkin (1998). Kenntnis der ‹Griechen› (Ionier) in altorientalischen Texten: Rollinger (2007) bes. 277–279 (Taphier, vgl. Od. 1,180–185; Od. 15,427–429); 284–288. Bignasca (2008) ist sehr allgemein gehalten.
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rinthischen (und euböischen) Handelsnetzes.39 Vor diesem Hintergrund wirkt es folglich glaubhaft, dass einer von Thesprotien mit dem Schiff nach Ithaka reist. In diesem Zusammenhang ist gerade auch auf Ithaka zu verweisen, dessen Einbindung in ein weiträumiges Handelsnetz, das den Westen und Osten umfasst, jüngste Publikationen gezeigt haben. Diesen Beziehungen sind wohl auch die wenigen Prestigeobjekte zu verdanken, die man auf Ithaka und den umliegenden Inseln gefunden hat. Es sind Objekte, wie sie für Elitegesellschaften des 9. und 8. Jh. typisch sind. Nach Westen bestanden offenbar direkte oder indirekte Kontakte mit der euböischen Kolonie Pithekoussai, nach Osten besonders zum korinthischen Golf und den Gebieten in der nördlichen Peloponnes. Dies bezeugt vor allem auch eine frühe Inschrift im achaischen Alphabet der Nordpeloponnes, die sich auf die Gastfreundschaft bezieht (um 700) und auf einer Oinochoe angebracht war. Weitere Beziehungen nach außen belegen Prestigeobjekte wie die großen bronzenen Dreifüße (9./8. Jh.), die in der Polishöhle gefunden wurden, vergleichbar den Dreifüßen aus panhellenischen Heiligtümern.40 Ob diese Weihungen die Erzählung von den Dreifüßen angeregt hat, die Odysseus von den Phäaken erhalten und in der Nymphenhöhle unmittelbar nach seiner Ankunft auf Ithaka versteckt hat, ist unklar (13,13–15; 346–371). Jedenfalls war der Kult in der Polishöhle im 9. Jh. sehr wichtig. Kleinere Objekte, darunter auch Goldschmuck, aus geometrischer Zeit zeigen stilistische Beziehungen zur östlichen Ägäis und besonders zu Kreta; die wenigen figürlichen Vasenfragmente verweisen auf italischen, korinthischen und östlichen Einfluss. Die Funde belegen, wenn auch nicht unbedingt direkte Handelskontakte, so doch die Einbindung Ithakas und der ionischen Inseln, wo vergleichbare Gegenstände gefunden worden sind, in ein weitausgreifendes Handelsnetz. Auch mykenische Funde sind auf den Inseln, darunter einige wenige auf Ithaka, zu Tage gekommen. Wenn auch nicht in der Art der Herrschaftszentren von Mykene, Theben und Pylos, so waren doch die ionischen Inseln in den mykenischen Kulturkreis eingebunden. Diese Reminiszenzen mögen Odysseus und Ithaka, den Reisen des Telemachos und den Freiern, als Besitzern von kleineren oder größeren Gütern, jenen Grad von Wirklichkeit gegeben haben, der das Geschehen plausibel macht. Was dagegen Kreta betrifft, so bildet die Insel einen besonders wichtigen Punkt im Handelsnetz des 9. und 8. Jh., wie jüngste Forschungen gezeigt haben.41 Kreta war Zwischenstation auf dem Weg nach Osten, nach Zypern und Nordsyrien, aber auch Ausgangspunkt für Reisen nach Ägypten.42 Immer klarer tritt durch die jüngsten Ausgrabungen zudem die enge Verbindung von Kreta mit Kleinasien und den vorgelagerten Inseln hervor, die
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Coldstream (20032 ) 167–190, zu Ithaka: 182–184; 187. Waterhouse (1996); Ausgrabungsbefund: Robertson (1948). Zu Korinth: Morgan (1988). Zum korinthisch-euböischen Handelsnetz: Walker (2004) 141–182. Coldstream (2003) 184, wo auch Gegenstände aus Italien, Makedonien, Kilikien aufgeführt sind. Zu den Dreifüßen in der Polishöhle: Guggisberg (2008); Waterhouse (1996). Einen wichtigen Überblick über die externen Beziehungen Ithakas gibt Morgan (2007) und Morgan (2006). Bereits vor den Dreifüßen gibt es mykenische und frühe protokorinthischeKeramik aus dem 9. Jh. in der Höhle: Souyoudzoglou-Haywood (1999) 93–121; 136–143. Inschrift: um 700 v. Chr. auf einer Oinochoe: Morgan (2006) 217 mit Anm. 2; Robertson (1948) 81 f. cat. 490. Die Keramik zeigt Beziehungen Ithakas zu Messenien, wo wir vielleicht einen realen Hintergrund der Reise des Telemachos nach Sparta fassen. Grossardt (1998), der sich ausführlich mit den Lügenerzählungen und Kreta beschäftigt, diskutiert die Handelsbeziehungen als möglichen realen Hintergrund dieser Erzählungen nicht. Zu Kreta bes. Matthäus (2000a); Matthäus (1998); Niemeier / Kaiser / Pilz (2007). Kreta und Homer: Sherratt (1996). Stampolidis / Karageorghis (2003). Immer noch wichtig: Peltenburg (1989).
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ihrerseits seit Mitte des 8. Jh. Kontakte zu Ägypten hatten.43 In Kleinasien, auf Chios, in Smyrna und auf Samos beheimatet die Tradition auch ‹Homer›, der also von diesen weiten Räumen wissen konnte. Es kommen im Falle Kretas noch die Verbindungen nach Westen, zum Süden der Peloponnes, den ionischen Inseln, nach Italien, bis Sikanien oder Sizilien dazu, wo geometrisch-orientalisierende Funde bezeugt sind und der Mythos auch ein Grab des Minos kennt.44 Eine weitere Route führt nach Norden der westlichen und östlichen Küste der Peloponnes entlang, Apollon holt im homerischen Apollonhymnus seine Priester für Delphi aus Kreta.45 Für die weiträumigen Verbindungen, die über Kreta führten, waren einerseits vermutlich neben den Euboiern wiederum die Korinther zuständig, da man auf Kreta auch korinthische Keramik gefunden hat, andererseits spielten wohl auch die Phöniker eine bedeutende Rolle, die denn auch in den Lügenerzählungen des Bettler-Odysseus und den Erzählungen des Eumaios vorkommen.46 Dass einer dann, wie der Bettler-Odysseus behauptet, aus Kreta, aus Zypern oder aus Sikanien komme, wirkt auf diesem Hintergrund jedenfalls glaubhaft. Durch diese Verbindungen ist es auch möglich, von den unermesslichen Schätzen am fernen Ort zu wissen, von denen der Bettler vorgibt, dass Odysseus sie noch zu sammeln im Begriffe sei; auch dass sie hertransportiert werden können, ist glaubhaft. Längst hat man ferner die Beutezüge, die der Bettler-Odysseus unternommen haben will, als eine Anspielung auf Formen zeitgenössischer Piraterie oder Kriegsführung, wie sie assyrische Quellen zum Thema ‹Ionier› schildern, betrachtet.47 Besonders sei jedoch darauf hingewiesen, dass es auf Kreta schon sehr früh eine Poliskultur gab. Auch das Symposion mit Essen, Trinken und Musik ist bezeugt, wie denn mehrfach Sänger- und Musikdarstellungen auf eine Musikkultur verweisen.48 Eine gewisse Bekanntheit haben die Bronze- und Terrakottafiguren, die einen Sänger oder Musiker mit der Phorminx oder dem Aulos darstellen; bei der einen Bronzefigur ist dem Sänger mit Lyra sogar ein Knabe beigesellt, der den Sänger vielleicht führt.49 Diese Figuren mögen mit Sängerdarstellungen auf Zypern, wo sie einzeln oder auf Wagen oder Pferden oder in einem 43
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Zur Bedeutung Ägyptens für diesen Raum: Hölbl (2007). ‹Ionien› war in Ägypten bereits unter Amenophis III (1388–1351/50) bekannt, in archaischer Zeit kämpften Ionier unter Psammetichos um 660 v. Chr. im Nildelta (Hdt. 2,152). Ägyptische Importe beginnen in Ionien jedoch bereits früher, die ersten stammen aus der zweiten Hälfte des 8. Jh., besonders aus dem Heraion von Samos, dem Artemision von Ephesos und dem Aphroditetempel von Milet, aber auch aus Chios und Smyrna, dazu: Ebbinghaus (2006) bes. 187–203. Boardman (2006) bes. 524–531. Haider (2004). Die Gründung Milets soll von Kreta aus erfolgt sein: Niemeier (2007). Die Präsenz von Kretern in Milet ist durch archäologische Funde nachgewiesen, spätere Funde stammen besonders aus dem 7. Jh. Matthäus (2000b). Grabmal des Minos in Kamikos, überlagert vom Aphrodite-Tempel: Diod. 4,79,1–3; vgl. Hdt. 7,170. Minoisch-mykenischer Kultureinfluss äußert sich in verbreiteten ägäischen Stilelementen bis in historische Zeit, später Keramik, die mit geometrischen und orientalisierenden Motiven bemalt ist. Coldstream (2003) 271–292; bes. 288–90. Boardman (1981) 38–40; 67 ff; 132 f. Gegenstände in ägyptisierendem Stil (von Rhodos?) und Bronzen aus dem 8. Jh. mehrheitlich östlicher und phönizischer Herkunft auch in Perachora: Kilian-Dirlmeyer (1985). Eine Übersicht geben: Stampolidis / Kotsonas (2006), wo auch Niederlassungen von Phönikern auf Kreta diskutiert werden und weitere Literatur genannt ist. Niemeyer (2006); Schreiber (2003); Winter (1995). Es mag hiermit auch ein Gegenbild zur kompakten Kriegstaktik, wie sie die Belagerung Troias darstellte, entworfen werden. Vgl. Raaflaub (2003) 319–323: «Raubzüge und Kriege in den Dunklen Jahrhunderten und in der archaischen Zeit»; Rollinger (2003) bes. 334–340 (älteste Quelle um 730 v. Chr.). Matthäus (1999–2000); Matthäus (1993). Collection J. Paul Getty Museum, Malibu (inv. 90 AB.6), Höhe 0,115 m, jetzt in: Langdon (1993) 76–78 no. 17. Padgett (1995) fig. 23.1–23.7. Weitere Figuren: Herakleion, Museum, inv. 2064 (H. 0,055 m) bei Padgett (1995) 397 mit fig. 23.9. Hurwit (1982) bes. 22 f. mit figs. 7–8; Schweitzer (1971) 161 pl. 203, vgl. den makedonisch/thessalischen Aulosspieler, Abb. 4. Hagel (2008) mit weiteren Abbildungen aus mykenischer Zeit (14.–12. Jh,) und aus Zypern (11.–9. Jh.). Vgl. u. Anm. 50.
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Haus spielend erscheinen, in einer gewissen Beziehung stehen.50 Was diese Sänger genau sangen, ist nicht bekannt, sie können auch in kultischem Zusammenhang aufgetreten sein, worauf besonders die Beispiele auf Zypern verweisen. Doch sind sie auf jeden Fall Zeugnisse einer Musikkultur auf Kreta und Zypern. Auf Kreta soll auch der Tanz erfunden worden sein, und später richtet Thaletas von Gortyn in Sparta die anspruchsvollen choreutischen Agone der Gymnopädien ein.51 Der Referenzrahmen für die Topographie der Irrfahrtenerzählungen, so darf man schließen, war mit großer Wahrscheinlichkeit das zeitgenössische Weltbild des 8. Jh. v. Chr., wie es insbesondere das korinthisch-euböische Handelsnetz vorzeichnet, in das seit Mitte des 8. Jh. wohl auch Städte und Inseln Kleinasiens eingebunden waren.52 Kreta bildet auf jeden Fall einen wichtigen Punkt in diesem Handelsnetz. Auf dem Hintergrund einer ökonomisch blühenden Insel mit einer ausgeprägten Musik- und Liedkultur hat es möglicherweise auch bereits Erzählungen von Odysseus gegeben, die auf Kreta bezogen sind. Erinnert sei nur daran, dass Kreta auch in der Ilias als mächtige Insel auftritt, die unter Führung des Idomeneus ein großes Schiffskontingent nach Troia schickt. Die Odyssee aber nimmt auf die Schiffskontingente Bezug. Mit Kreta und seinen Verbindungen war also in einer Erzählung, die einen weiten Raum entwirft, der durchfahren, erobert und dargestellt werden soll, zu rechnen. In den ‹Lügenerzählungen› würde der mit Kreta verknüpften Identität des Odysseus sozusagen ihr Ort zugewiesen, nämlich als ‹Erfindungen›, die dann in spannungsvolle Relation zur ‹wahren› Irrfahrt des Odysseus treten, die fast nur den fiktionalen Raum durchfährt. Doch wäre es keinesfalls korrekt, mit der Landkarte in der Hand den Irrfahrtenerzählungen der Achaier oder des Bettler-Odysseus folgen zu wollen. Sie beschreiben weder eine Landkarte noch den präzisen geographischen Raum der Kolonisation des 8. Jh. v. Chr. Dieser dient nur als Orientierungsrahmen zur Erschaffung des episch-literarischen Raumes, den Odysseus durchmessen soll, da der Odysseedichter diesen wohl als historischen Raum der Zeit Troias versteht und auch im Sinne der Ilias und wohl weiterer Erzählungen rekonstruiert.53 Der historische Raum ist nur insofern wichtig, als er in Relation zum literarischen Raum tritt und diesen sowohl konstituiert als auch ‹wahr› und erfahrbar macht, so dass ein geographisches Weltbild mit seinen Orten und Erzählungen entsteht, die alle mit Odysseus verbunden sind. Die Odyssee ist Weltentwurf und Welteroberung.
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Tanzgruppen: Vandenabeele (1986) bes. 356 mit Tf. XXI (1050–750 v.Chr.); Reiter mit Musikinstrument auf Pferd: ebd. 60 (1. Hälfte 8. Jh. v. Chr.), aus einem Grab in Palaepaphos-Skales. ‹Lyre-Player-Group› auf Siegelsteinen aus Nordsyrien und Kilikien, die im ganzen Mittelmeerraum verteilt werden: Boardman (1990). Frühe Leierdarstellungen sind uns gerade auf Zypern bekannt: Hagel (2008) Abb. 7 (11. Jh.); Abb. 8 (950–850); Abb. 9 (2. Hälfte 9. Jh.). Athenaios 14, 630 B–631 E, vermutlich aus Aristoxenos. Einrichtung der Gymnopaedien: Ps.-Plutarch, de musica 1134. B–E. Ägyptische Importe sind für Lefkandi bereits im späten 10. und frühen 9. Jh. belegt, zu dieser Zeit beginnt die euböische Handelsexpansion nach Osten, Hölbl (2007) bes. 450 f. Das zeitgenössische Weltwissen ist also Ausgangspunkt der Rekonstruktion der früheren Zeit. Dazu kommt wohl eine Reminiszenz an die große mykenische Zeit, in die auch die Gesellschaft im Westen und Süden Griechenlands, die ionischen Inseln, Messenien und Sparta eingebunden waren, vgl. Guggisberg (2008); Deger-Jalkotzy (2008), wo besonders die frühe Eisenzeit (1050–850) als prägend für die Herausbildung des Epos dargestellt wird (105).
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Moderne Erzähltheorie und die Funktion der Sängerszenen in der Odyssee
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Erzählung und Liedkultur in der Odyssee Ausgehend von den erzähltheoretischen Analysekategorien hat sich in den wenigen Szenen zu den Sängern bereits gezeigt, dass die Odyssee zwar in einer mündlichen Tradition des Erzählens steht, die die Formelsprache und typische Szenen benutzt, gleichzeitig jedoch eine komplexe Kunst des Erzählens aufweist. Viele der in der modernen Erzähltheorie aufgeführten Erzählformen sind in der Odyssee bereits bekannt und differenziert angewendet, zum Beispiel in der Gestaltung der direkten und indirekten Figurenrede, des narrativen und szenischen Erzählmodus, der Fokussierung. Wie Aristoteles richtig bemerkt hat, tritt der Erzähler als Stimme in den Hintergrund und sogar dort, wo er berichtet, versetzt er uns unmittelbar in das Geschehen, wie beim Übergang vom Gespräch zwischen AtheneTelemachos und der Rückkehr zur Phemiosszene. Es zeigt sich, dass eine Geschichte der homerischen Erzählformen ein Desiderat wäre. Gegenüber der Analyse von Einzelphänomenen, wie sie eine vorwiegend strukturalistisch-formalistisch orientierte Erzählforschung vornimmt, hat sich zudem erwiesen, dass gerade eine Interpretation, die über die Analyse von Erzählstrukturen hinaus auch thematische und kontextuelle Aspekte berücksichtigt, eine Lücke zu füllen vermag. Auf diese Weise können präziser als zuvor Fragen zur Funktion der Sängerszenen und -vergleiche, zur Darstellung des Raumes und der Zeit diskutiert werden. Die genannten Passagen dienen dazu, Verbindungen in der Komposition zu schaffen und den epischen Hintergrund für denjenigen Gesang zu erstellen, der sich vor uns entfaltet, für die Heimkehrerzählung des Odysseus. Sie sind entscheidend für die Zeit- und Raumstruktur der Erzählung, die sie konstituieren, und richten die traditionellen Erzählungen von den ‹Nostoi der Achaier› und ‹Troia› auf das Thema Odysseus aus. So werden diese Themen zum festen Bestandteil der Geschichte von Odysseus. Phemios und Demodokos kommt dabei je ein Thema zu, einerseits die ‹Rückkehr der Achaier›, andererseits ‹der troianische Krieg›. Dazu fügen sich die Irrfahrtenerzählungen des Odysseus selbst in den Büchern neun bis zwölf, der als Erzähler mit einem Sänger verglichen wird und wie Phemios und Demodokos beim Gastmahl auftritt, nämlich in Fortsetzung der Erzählungen des Demodokos. Während sich aber die Erzählungen des Demodokos bereits als Lied erwiesen haben, wird diejenige des Odysseus im Augenblick des Erzählens zum Lied, nämlich des Odysseedichters, dem wir zuhören. Die Sängerszenen – miteingeschlossen die Erzählung des Odysseus – schaffen somit die Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart bis zu dem Punkt, wo der Odysseedichter mit den Geschehnissen auf Ithaka einsetzt. Diese präzise Strukturierung des traditionellen Materials auf die Odysseuserzählung hin darf man als individuelle Leistung des Odysseedichters ansehen. Dabei verrät er eine äußerste Ökonomie des Erzählens. Eingangs wurde festgehalten, dass hier die erzählanalytische mit einer historisch-kulturellen Fragestellung verbunden werden soll. Deshalb ist nunmehr die Frage aufzugreifen, inwiefern uns die Sängerszenen ein historisches Bild des Sängers und einen Einblick in die zeitgenössische Liedkultur des Odysseedichters vermitteln können. Es geht hier um eine zentrale Frage der Homerforschung, nämlich wie wir uns ‹Homer› und die Entstehung der Odyssee vorzustellen haben. Für die Beantwortung dieser Fragen hat die erzähltheoretische oder narratologische Analyse der besprochenen Passagen eine neue Basis geschaffen. Denn sie hat erstens gezeigt, dass die Sänger als Figuren fest zur Erzählung gehören und gerade nicht auf die Ebene des Odysseedichters treten, sie dienen nicht zur Illustration seiner Tätigkeit
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oder der mündlichen Gesangskultur, man kann aus ihnen also nicht folgern, wie es zum Beispiel Joachim Latacz getan hat, dass der Odysseedichter ein ‹Hofsänger› war. Phemios und Demodokos können Züge des zeitgenössischen Sängers aufweisen, doch es kann auch feste Vorstellungen darüber geben, wie man einen Sänger zur Zeit des Odysseus darzustellen hat. Noch wichtiger ist jedoch zweitens, dass wir in der Odyssee Erzählungen mit Titeln begegnen und die Kenntnis dieser Traditionen ins aktuelle Lied unmittelbar integriert wird. Es ist also ein Vorwissen des textexternen Publikums vorausgesetzt. Am wichtigsten für unser Verständnis der homerischen Liedkultur allerdings ist drittens, dass diese Liedinhalte nicht in Form von Zitaten in die eigene Erzählung integriert werden, sondern in Form von exakten Anspielungen, die genau auf die eigene Erzählung abgestimmt sind. Demodokos zitiert nicht aus der Ilias oder aus den Postiliaca, sondern spielt auf den troianischen Krieg in einer Form an, dass er als Erzählung erkennbar ist, sich als Vorgeschichte des Odysseus erweist und schließlich ganz unter der Leidmotivik der Odyssee gesehen wird, wie sie im Prooimion etabliert worden ist.54 Dieses Ergebnis jedoch, das allein aus der Interpretation der Odyssee gewonnen worden ist, stimmt in den Grundsätzen genau überein mit Beobachtungen, wie sie in den letzten Jahren Georg Danek an den rund zweitausend Jahre späteren bosnisch-serbischen Erzählungen zur Schlacht am Amselfeld von 1389 zwischen Serben und Osmanen gemacht hat.55 Diese Erzählungen stehen ebenfalls noch in einer Erzähltradition, die grundsätzlich auf mündlicher Vermittlung beruht und – was für uns besonders interessant ist – Referenzen auf Erzählungen kennen, die sich außerhalb der eigenen Erzählung befinden, also auf andere Lieder im Umkreis des behandelten Liedthemas verweisen. Die Voraussetzung für diese Verweise aber ist, wie Georg Danek weiter gezeigt hat, dass es bereits ein ausgearbeitetes System von fester Mythenchronologie, von Genealogien und Heldenbiographien gibt.56 Derartige Systeme darf man jedoch auch für die Zeit der Odyssee voraussetzen, wo als ein weiteres Ordnungssystem noch dasjenige der Gastfreundschaft hinzukommt, auf dem zum Beispiel die Integration der Lügenerzählungen des Bettler-Odysseus basiert. Von hier aus erfahren also die Verweise in der Odyssee auf Liedtraditionen, die außerhalb des eigenen Gesangs als feste Erzählsysteme erscheinen, nochmals eine Erhellung und Bestätigung.57 54
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Aufschlussreich ist ein Blick auf die narrative Ikonographie des 7. und 6. Jh., die auf bekannte Erzählungen anspielt, sie jedoch auf ihren ‹narrativen Kern› reduziert, der dann Ausgangspunkt der Darstellung wird. Die Erzählung wird auf die großen Linien eingeschränkt, sie soll als eine bestimmte Erzählung erkennbar sein, doch Details interessieren nicht. Bilder nehmen erst ab ca. 400 v. Chr. den Wortlaut von Erzählungen auf, erst jetzt gibt es ein Lesepublikum und schriftliche Texte, dazu: Giuliani (1998); Giuliani (2003) bes. 77–188. Wir stellen also eine Parallele in der narrativen Bildkunst und der Dichtung in der Behandlung von bekannten Erzählungen fest. So wie Bilder nur auf diejenigen Punkte rekurrieren können, die markant sind und von einem mündlichen Vortrag in Erinnerung bleiben, so auch Anspielungen innerhalb der Dichtung. Dieses Wissen von Grundzügen jedoch kann der Dichter voraussetzen, er kann bekannte Erzählungen unter einer neuen Perspektive darstellen, sie zur Argumentation gebrauchen, wie es zum Beispiel der Odysseedichter mit der Erzählung des Nostos Agamemnons macht. Und noch ein Punkt ist wichtig: Man muss unterscheiden zwischen dem, was ein Publikum ‹weiß›, und dem ‹Wissen› des Dichters, der nicht nur Erzählungen ‹weiß›, sondern sich auch in der Systematik der fiktionalen Welt auskennt und ‹weiß›, wer an welchem Ort und in welchen Beziehungen anzusiedeln ist. Die Tradition der fiktionalen Welt bildet einen Rahmen, in diesem Rahmen hat der einzelne Dichter Freiheiten. Danek (2002a) bes. 24–28, wo auch der wichtige Beitrag von Schmaus (1953) 294–320 genannt ist. Danek (2002b); Rengakos (2002). Grundsätzlich zum Problem auch: Friedrich (2002); Foley (1993). Vgl. auch Radke (2007), wo ebenfalls darauf verwiesen ist, dass die Epen nicht, wie in der späteren (hellenistischen) Zeit «intertextuell auf die vorangehende Tradition Bezug nehmen oder sich einem autoritativ gültigen Mythos unterwerfen» (64). Es wird betont, dass die Erzähl- und Mythostradition nicht fest ist, sondern vom Dichter nach den Erfordernissen seiner eigenen Argumentation, bzw. derjenigen der Figu-
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Darüber hinaus aber können diese festen Erzählsysteme, wie sie hier genannt werden sollen, nunmehr auch etwas über den Entstehungszusammenhang der Odyssee erklären und genauer zeigen, worin die Leistung des Odysseedichters liegt. Man kann davon ausgehen, dass er eine Fülle von Erzählungen zu Odysseus, von der Vorgeschichte in Troia über die Irrfahrten bis zu den Ereignissen auf Ithaka in eine klare Ordnung gebracht hat, indem er zahlreiche Erzählungen und Figuren und Handlungsstränge in seine eigene Erzählung integriert hat, so dass sich schließlich ein Gesamtbild von Odysseus ergibt und ein Großepos entsteht. Und hier ist nochmals auf die Funktion der Sängerszenen zu verweisen. Sie schaffen sowohl den epischen als auch den geographischen Raum, der der eigenen Geschichte, derjenigen des Odysseus, sozusagen eingeschrieben wird und damit eine universale Gültigkeit erlangt. Der Odysseedichter arbeitet an der Systematisierung der Erzähltradition weiter, indem er sein Lied im Netzwerk der Erzählungen plaziert und ihr die künftig normative Form gibt. Der Odysseedichter ist also ein Dichter, der mit Hilfe eines Dichtungssystems, das in einer mündlichen Tradition ausgebildet worden ist, eine Erzählung schafft, die ein Wissenspanorama, das sich sowohl in Erzählsystemen als auch in Ordnungssystemen etabliert hat, äußerst kunstvoll in der Ausgestaltung vor den Zuhörern ausbreitet. Er erscheint also nicht, wie man ihn sich lange vorgestellt hat, als der letzte Sänger in einer langen mündlichen Tradition, die er diktiert oder sozusagen als ein Endprodukt selbst schriftlich festhält. Zum oben skizzierten weitausgreifenden Raum aber stimmt gut die Beschreibung des Sängers in Buch siebzehn, wo gesagt ist, dass man sich diesen von weither holt (17, 382–387). Wie seine wichtigste Figur, wie Odysseus, durchmisst auch der Sänger weite Räume, sei es den realen Raum einer Reise oder den weiten literarischen Raum. Und noch ein weiteres Ergebnis unserer Darlegung greift genau ineinander mit einer Beobachtung, die Georg Danek an dem der Odyssee zeitlich viel näheren Schiffskatalog der Ilias gemacht hat.58 Es geht um die Frage, inwiefern historisches Wissen oder poetisch ausformulierte Inhalte im Lied exakt vermittelt werden. Georg Danek hat gezeigt, dass der Schiffskatalog sowohl genau auf die Ilias, in der er aufgeführt wird, zugeschnitten ist, als auch einen Höhepunkt der Systematisierung von Helden, Herrschern, Gefolgschaft und Herkunft in Form eines geographisch-topographischen Katalogs bildet, der den panhellenischen Aspekt des Unternehmens zeigen soll. Er ist nicht ein Versatzstück aus mykenischer Zeit, das von Sänger zu Sänger in einer festen Form überliefert und dann an einem bestimmten Punkt in der Ilias in genau dieser fest überlieferten Form eingefügt würde. Ähnliches können wir für die Lieder der Sänger in der Odyssee feststellen. Sie verweisen zwar auf be-
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ren, die er erzählen lässt, gestaltet wird (63–66), wie auch die vorliegende Untersuchung, die unabhängig von derjenigen G. Radkes entstanden ist, mehrfach gezeigt hat. Die homerischen Epen zeigen auch «keine metareflexive Bezugnahme auf allomorphe Erzählungen» (66). Doch ist zu bedenken, dass Alternativversionen auch in einer auf mündlicher Vermittlung basierenden Dichtungskultur immerhin bis zu einem bestimmten Grad der Differenzierung vorausgesetzt werden können, was darüber hinaus geht, muss in der Erzählung dargelegt werden. Wieviel vorausgesetzt werden kann, darüber gehen die Meinungen auseinander. Auf jeden Fall gilt, dass der Dichter eine Fülle von Erzählungen in ihren markanten Punkten, Themen, Inhalten und auch ein kulturelles Wissen voraussetzen kann, das uns heute entgeht, ähnlich wie es in der für uns nur wenig später fassbaren frühgriechischen Lyrik der Fall ist. Danek (2004). Ebenfalls wichtig: Eder (2003) mit Lit. in Anm. 1. Visser (1997) bes. 741–750 versucht als primäres Organisationsprinzip den Mythos, danach den geographischen Aspekt nachzuweisen, er stellt einen strikten Bezug auf den Troiamythos her, der allerdings so umfassend ist, dass fast jedes Thema hier untergebracht werden kann. – Was die Odyssee betrifft, so kann man formulieren, dass der Odysseusstoff das primäre Organisationsprinzip ist, andere Mythenkreise stehen im Hintergrund, doch gibt es so viele Verbindungen, dass praktisch die gesamten Nostenerzählungen integriert werden können.
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kannte Liedinhalte (Ilias, Iliupersis), zitieren diese jedoch nicht etwa im Wortlaut, sondern integrieren sie vollständig in die eigene Erzählung, wo sie eine bestimmte Funktion im aktuellen Lied erfüllen, wie dargelegt worden ist. Es zeigt sich somit – sowohl am Beispiel des Schiffskatalogs wie auch der Sängerlieder oder der Orte, die in den Irrfahrtenerzählungen der Achaier oder des Bettler-Odysseus vorkommen –, dass ‹historisches› (geographisches) oder ‹literarisches› Wissen weder an ein in seiner Form festes Heldenlied, das der Sänger auswendig lernt und nicht mehr verändert, noch an das Versmaß, den Hexameter, noch an die Träger der Lieder, die Sänger, oder an das Publikum, eine konstante Adelsgesellschaft, wie man vermutet hat, die immer dasselbe hören will, gebunden werden darf, sondern am ehesten an die Erzähl- und Ordnungssysteme, die jedoch, was die Vergangenheit betrifft, höchstens ein sehr spezifisches Wissen dokumentieren. Anders steht es mit der Verarbeitung von zeitgenössischem ‹Wissen›, das als Referenzsystem dienen kann und der Erzählung einen mehr oder weniger ausgeprägten Wirklichkeitsbezug gibt. So liegen vermutlich die Irrfahrtenerzählungen auf dem euböisch-korinthischen Handelsnetz auf, insofern sie die reale Welt spiegeln. Die Bedeutung Kretas in der Odyssee dagegen mag mit seiner Position als wichtiges Handelszentrum zusammenhängen, wo sich vermutlich früh eine Liedkultur entwickelt hat, wie die Sängerfiguren aus der Zeit um 700 v. Chr. bezeugen, deren Träger bereits die Polis gewesen sein konnte. Erst die moderne literaturwissenschaftliche Methode der Erzählanalyse hat die genaue Bedeutung der Sängerszenen und -vergleiche erfassen lassen, die auf grundsätzliche Überlegungen zur Sänger- und Liedkultur – wohl weniger einer mykenischen als derjenigen der (proto-) geometrischen und früharchaischen Zeit – führt, deren historische Spuren die Epen tragen. Wir beobachten die Eroberung der neuen Räume, die nicht zuletzt die entstehende Kolonisation eröffnet hat, vielleicht auf den Wegen früherer Erinnerung an weiträumige Beziehungen, die sich jedoch auch in der Mobilität der Sänger darstellt, von der im siebzehnten Buch der Odyssee die Rede ist. Die Besten kommen von weither. Die Odyssee, so kann man formulieren, zeigt die maximale Ausdehnung in der bekannten und fiktiven Welt, den panhellenischen Raum, den sich nunmehr das griechische Epos auch buchstäblich durch die schriftliche Fixierung und Tradierung erobert hat und damit der Verbreitung des Weltwissens dient, das darin enthalten ist.59
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Wirbelauer (2004) bes. 200 ff., wo die Bedeutung der Schrift für die Übermittlung von ‹Nachrichten› über eine weite Entfernung dargelegt wird. Die weite Verbreitung epischer Dichtung (auch in den Koloniestädten) würde also gerade durch die Schrift gesichert. Schriftliche Fixierung und Systematisierung sind wohl kaum zu trennen.
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Goethes Faust und die platonische Eroskonzeption1 Kaum ein spannenderes und zugleich wichtigeres Thema als die Liebe! Doch damit wir uns keinen romantischen blauen Dunst vormachen, wollen wir statt von ‹Liebe› besser von ‹Begehren› sprechen und dem Vorbild der platonischen Diotima folgen, die Eros in aller Deutlichkeit definiert als das «Verlangen nach Zeugung im Schönen» (Symposion 206). Dieses elementare Liebesverlangen also, das – um der Fortpflanzung willen – in unseren Genen fest verankert ist, spielt auch für die geistig-seelische Entwicklung und Stabilisierung des Individuums eine wichtige Rolle. Aus diesem Grund stellt sich mit einiger Dringlichkeit die Frage nach dem speziellen Nutzen und Nachteil des Eros für das Leben einerseits des Liebhabers selbst, andererseits aber auch seines Partners. P l a t o n ist der erste gewesen, der sich – in seinen Dialogen Symposion und Phaidros – theoretisch zu diesen Fragen geäußert hat, und zwar mit einer bis in die Gegenwart reichenden Nachwirkung2 . Einen abweichenden, aber gleichfalls bemerkenswerten Standpunkt hat, zur Zeit der deutschen Klassik, Goethe in seinem Faust vertreten, der, wie man längst gesehen hat, zahlreiche direkte und indirekte Bezüge zu Platon aufweist3 . Im Folgenden wollen wir beide Positionen miteinander vergleichen. Dabei möge mir – der Einfachheit halber – gestattet sein, die männliche Perspektive der beiden Autoren beizubehalten, die traditionsgemäß jeweils einen männlichen Liebhaber im Blick hatten. Nach Platons Darstellung4 bietet Eros dem Liebhaber eine einzigartige Möglichkeit, das höchste Ziel des menschlichen Lebens zu erlangen, die Glückseligkeit. Dieses oberste Lebensziel wird von Diotima im Symposion allgemein als «Besitz des Guten für immer» und genauer als «Unsterblichkeit» der Seele bestimmt (206). Im Phaidros wird es als Rückkehr der Seele in jenen göttlichen Bereich beschrieben, in dem sie ursprünglich einmal zu Hause war (246ff). Die spezifische Leistung, die Eros zur Erreichung dieses Zieles vollbringt, besteht darin, dass das Zeugungsverlangen im Liebhaber einen geistig-seelischen Entwicklungsprozess in Gang zu setzen und immer weiter voranzutreiben vermag. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist freilich – um einen Begriff von Freud zu gebrauchen – die ‹Triebsublimierung›5. Damit kommen wir von den Vorteilen zu den Gefahren des Eros. Das Verlangen des Liebhabers nach «Zeugung im Schönen» führt nämlich letzten Endes nur dann zur Unsterblichkeit, wenn es nicht im sinnlichen Genuss stecken bleibt. Ein solches Risiko besteht – nach platonischer Auffassung – grundsätzlich dann, wenn das Zeugungsverlangen sich primär
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Vorgetragen beim ‹Mittelrheinischen Symposion› in Heidelberg am 19. Januar 2007. – Für wertvolle Hinweise danke ich Christoph Riedweg. Zur Wirkungsgeschichte des Symposions siehe Schmidt 1985. Speziell zur Platon-Rezeption in der Bergschluchten-Szene in Faust II vgl. vor allem Bremer 1995; Schmidt 2001, 289ff. Dazu Price 1989 und Nicolai 1998 (dort weitere Literaturhinweise). Dazu Price 1990.
Antike und Abendland Bd. 54, S. 43–63 © Walter de Gruyter 2008 ISSN 0003-5696
DOI 10.1515/ANTI.2008.003
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auf eine Frau richtet. Wir erinnern uns, dass Platon eine päderastische6 Liebeskonzeption vertritt, die in der griechischen Aristokratie traditionell ein hohes Ansehen genoss und nicht zuletzt damit zu erklären ist, dass Frauen und Männer in der griechischen Gesellschaft strikt voneinander getrennt lebten7 . Fixierung auf den Genuss sinnlicher Liebesfreuden mit einer Frau bedeutet für Platon also – weil Frauen als sexuell unersättlich und damit als Bedrohung männlicher Triebkontrolle galten – nicht nur Festkleben an der Sinnlichkeit, sondern auch Vergeudung wertvoller Energien und gehört daher in den Bereich der ‹niederen Minne› (platonisch gesprochen: in den Bereich der ‹vulgären Aphrodite›). Ihr wahres Ziel vermag die geistig-seelische Entwicklung eines Liebhabers aber nur zu erreichen, wenn sein Verlangen nach «Zeugung im Schönen» die Erfüllung nicht im Körperlichen, sondern im Geistigen sucht. Diese Möglichkeit sieht Platon allein in der Liebe zu einem männlichen Partner gegeben: und zwar nicht, wie traditionell in Griechenland, vorzugsweise in der Beziehung zu einem Knaben, sondern eher in der Beziehung zu einem jungen Mann. Das Geheimnis, wie das Verlangen des päderastischen Liebhabers nach «Zeugung im Schönen» Unsterblichkeit zu verleihen vermag, wird im Symposion folgendermaßen erklärt: Indem der Liebhaber sich darum bemüht, in seinem Geliebten eine positive Resonanz hervorzurufen, entbindet er sein eigenes kreatives Potential. Denn wir sind offenbar von Natur aus darauf angelegt, im Zusammenspiel mit dem (oder mit der) Geliebten unsere besten Möglichkeiten zu verwirklichen. So zeugt der Liebhaber zunächst einmal – auf der Ebene des sogenannten pädagogischen Eros – sittliche Tüchtigkeit und kluge Gedanken in seinem Geliebten und prägt diesen dadurch zu seinem Schüler, der seine Lehre weiterzugeben vermag. Zweitens produziert der Liebhaber, zusammen mit seinem Geliebten, auch geistige Kinder in Gestalt kultureller Werte, etwa literarische oder philosophische Werke. Und drittens schließlich bringt er dadurch – Vorbedingung der Unsterblichkeit - seine eigene geistige Vollkommenheit zustande (208–212). Im Phaidros, wo der Seele als Belohnung für einen in idealer Weise gelebten päderastischen Eros die endgültige Rückkehr in ihre himmlische Heimat winkt, wird die segensreiche Wirkung des Liebesverlangens als Wachstum der verkümmerten Seelenflügel veranschaulicht. Die Schönheit des Geliebten, in dem der Liebhaber seinen einstmaligen Leit-Gott wiederzuerkennen meint, weckt in ihm die sehnsüchtige Erinnerung an seine ursprüngliche himmlische Heimat und verleiht seiner Seele dadurch Flügel (249–256). Doch auch auf den päderastischen Liebhaber, nicht nur auf den Liebhaber von Frauen, lauert die Gefahr, sich in Sinnenlust zu verlieren und damit seine Seele zu verderben. Im Phaidros zeigt Platon, dass diese Gefahr von der eigenen Triebhaftigkeit des Liebhabers ausgeht. Die Seele wird hier metaphorisch als ein dreigliedriges Gespann beschrieben, das vom Geist gelenkt und von zwei verschiedenartigen Pferden gezogen wird. Das eine Pferd ist gutwillig und gehorcht dem auf die Vergeistigung des Liebesverlangens bedachten Lenker. Das andere Pferd dagegen ist geil auf sinnlichen Genuss und drängt danach, diese Lust zu befriedigen. Da ein sexueller Vollzug des päderastischen Liebesverlangens (den Platon als «widernatürlich»8 bezeichnet) kontraproduktiv wäre, vermag nur ein langwieriger 6 7 8
Dazu Dover 1978; Patzer 1982; Foucault 1986; Feichtinger 2006. Dazu Cohen 1991. Phaidros 250e; Nomoi 636c. – Zur autobiographischen Deutung von Platons Eros-Konzeption vgl. Effe 1985, 154–157. Eine andere Deutung gibt Görgemanns (Görgemanns 2006, 21): «Platon gab der traditionellen Institution» der Knabenliebe im Symposion «einen neuen Sinn; im Hintergrund steht die Tatsache, dass sie in der gesellschaftlichen Wirklichkeit angefochten war. Sie stieß offenbar zunehmend auf Unver-
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Domestizierungsprozess schließlich die Erlösung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten zu gewährleisten. So viel zu Nutzen und Nachteil des Eros für den platonischen Liebhaber selbst. Nun zu seiner Verantwortung gegenüber dem Partner. Insgesamt fällt auf, dass dieses Thema bei Platon wenig problematisiert wird. Im Symposion scheint es überhaupt keine Rolle zu spielen. Als Diotima ihren wissbegierigen Schüler Sokrates in die höheren Weihen des Eros-Kults einführt9, lehrt sie ihn, dass ein vollkommener Liebhaber in seiner erotischen Entwicklung folgende Stufen nacheinander absolvieren muss: Zuerst soll er den schönen Leib eines einzigen Geliebten begehrenswert finden, um dann bald einen Sinn auch für die ästhetische Attraktivität aller schönen Körper zu entwickeln, danach soll er – zweitens – seelischer Schönheit den Vorzug vor körperlicher geben und endlich – drittens – lernen, dass die Faszination, die von der Schönheit vorbildlichen ethischen Handelns und der Schönheit geistiger Erkenntnis ausgeht, seiner Liebe noch weit würdiger ist (210f). Krönender Abschluss dieser erotischen Stufenleiter ist die Schau der Idee des Schönen selbst. Dass aber der karrierebedingte Abschied von jenen Freunden, auf die der ideale Liebhaber einst zuerst sein körperliches und später sein seelisches Liebesverlangen gerichtet hatte, diese möglicherweise gekränkt haben könnte (jedenfalls wenn sie nicht imstande waren, mit ihm mitzuwachsen, also den gleichen geistigen Entwicklungsprozess zu vollziehen), das bleibt im Symposion ganz außer Betracht. Der Vorwurf des Alkibiades, dass der (vorgebliche) Liebhaber Sokrates seinen eigenen verliebten Annäherungsversuchen verächtlich die kalte Schulter gezeigt habe (219), widerspricht dieser Feststellung nur scheinbar; denn wie Szlezák10 gezeigt hat, befand Sokrates sich seinerzeit bereits zwei ‹Stufen› über dem noch auf der Ebene körperlichen Begehrens verharrenden Alkibiades, so dass von einer Liebesbeziehung zwischen den beiden nicht die Rede sein kann, sondern nur von einem Lehrer-Schüler-Verhältnis (bei dem der Lehrer sein Begehren aus pädagogischen Gründen bloß vorspiegelt). Im Phaidros spielt die Verantwortung gegenüber dem Partner eine größere Rolle. Hier wird erstens sorgfältig differenziert zwischen dem wahren Liebhaber, der uneigennützig auch auf die Förderung seines Geliebten bedacht ist, und einem falschen egoistischen Liebhaber, der nur sein eigenes Vergnügen im Auge hat. Zweitens wird im Phaidros der Geliebte als potentiell gleichrangiger Partner akzeptiert. Die freundschaftliche Fürsorge des Liebhabers vermag in ihm Gegenliebe zu wecken, wodurch der Geliebte gleichfalls zu
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ständnis und Ablehnung […] Damit hängt wohl auch zusammen, dass Platon die körperliche Sexualität bei diesem philosophischen Eros immer deutlicher ablehnte.» Ausführlicher dazu Görgemanns 2001. Dazu vgl. Riedweg 1987, 2ff. – In diesem Zusammenhang mag sich die Frage stellen, ob es eine tiefere Bedeutung hat, dass Sokrates seine Belehrung gerade von einer Frau erfährt. Die nächstliegende Antwort ist, dass göttliche Inspiration häufig (nicht immer) aus weiblichem Mund spricht; Beispiele bieten die Musenweihe, die Weissagungen der Pythia in Delphi und die dem Parmenides zuteil werdende Offenbarung der Göttin. Abgesehen von mancherlei anderen geistreichen Vermutungen, «weshalb es eine Frau sein muss, der Sokrates sein Wissen verdankt» (siehe Sier 1997, 10–13), lassen sich auch spezifisch weibliche Aspekte der von Diotima verkündeten Lehre anführen, etwa «the reciprocal and (pro)creative erotics of (male) philosophical intercourse» (Halperin 1990, 297). Doch der oft (u. a. von Dover 1980, 137) betonte ironische Charakter dieses Lehrgesprächs warnt vor jeder eindeutigen Festlegung. Es ist daher kaum verwunderlich, dass Halperin am Ende zu dem Schluss kommt: «to ask why Diotima is a woman is to pose a question that ultimately has no answer» (298). – Dass die platonische ‹Diotima› dann in der Rezeption der Goethezeit, vor allem bei Hölderlin, zu einer Symbolfigur für die sublimierende Kraft des ‹Ewig-Weiblichen› werden konnte, steht jedoch auf einem anderen Blatt (siehe Schmidt 1985, 183–186). Szlezák 1985, 265f.
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einem Liebhaber wird und damit allererst die Chance erlangt, auch selbst in den Genuss einer Wiederbeflügelung zu kommen (255c-e). Und drittens, so heißt es, bleibe ein solches Liebespaar, auch wenn eines Tages das Liebesfeuer erlösche, lebenslang in unverbrüchlicher Freundschaft verbunden (256d). Die Kürze allerdings, mit der Platon auch hier hinweggeht über den kritischen Punkt eines möglichen Partnerwechsels (der vom Verlassenen ja auch dann als Liebesverrat empfunden werden könnte, wenn eine Freundschaft bestehen bleibt), macht deutlich, dass Platon hier kein Interesse an einer Problematisierung hat, dass seine Philosophie vielmehr – wie Helmut Kuhn11 einmal gesagt hat – grundsätzlich «anti-tragisch» ist, weil sie nämlich auf der Überzeugung beruht, dass «keine menschliche Angelegenheit wert ist, sehr ernst genommen zu werden» (Politeia 604b, Nomoi 803b). Machen wir nun einen großen Sprung, über mehr als zwei Jahrtausende hinweg, zu G o e t h e und seinem Faust. Auch die Titelfigur Faust (in der zwar manches vom Autor selbst steckt, die man aber nicht mit ihm gleichsetzen darf) wird von einem tief eingewurzelten Verlangen getrieben, das – insofern es sich mit irdischen Gütern und Genüssen nicht zufrieden gibt – unbeschadet aller Unterschiede im Einzelnen durchaus mit dem platonischen Wiederaufstiegsverlangen verglichen werden kann. Ja mehr noch: Faust steht, insofern seine Seele von einem fortwährenden Streben geleitet wird, das ursprünglich und letzten Endes auf Gott gerichtet ist, offensichtlich immer noch in einem Traditionszusammenhang, der von Platon über den Neuplatonismus und den Florentiner Platonismus um Marsilio Ficino12 bis zu Goethe reicht. Fausts Streben ist von Anfang an auf Höheres13 gerichtet, wobei allerdings der speziell erotische Sonderweg zum Göttlichen für ihn zunächst keine Rolle spielt. Als erstes wirft er sich mit aller Inbrunst auf die Wissenschaft, bis er einsehen muss, dass die akademische Buch- und Stubengelehrsamkeit seinen Erkenntnisdrang nicht zu stillen vermag14 . Dann wendet er sich, um zu erkennen, «was die Welt / Im Innersten zusammenhält» (382f), der Magie zu (377), vielleicht besser gesagt: einer Art höherer Magie15 . Er versucht, in grotesker Verkennung seiner Möglichkeiten, den Erdgeist zu beschwören, der in Goethes pantheistischer Naturphilosophie für das oberste Lebensprinzip steht, für die alles schaffende und auch wieder alles verschlingende natura naturans, die «der Gottheit lebendiges Kleid» webt (509)16 . Doch auch auf diesem gleichfalls nach 11 12
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Kuhn 1969, 251. Dazu Kristeller 1972, 158–186. Zum vielfältigen Einfluss Ficinos auf Goethes Faust vgl. die Hypothesen von Gaier 1999b 114–119 und vielerorts. Auch Trunz spricht davon, dass Fausts Sehnsucht «ursprünglich» ins Religiöse «hinstrebt» (Trunz 1986, 474). Ähnlich Schmidt 2001, 66f: in seinem Streben drücke sich «der innere Drang nach höchster Erfüllung und Sinneserfahrung aus» und entlade sich «das Ungenügen an allem Erreichten und Erreichbaren», weshalb es «vom Herrn bejaht» werde. Es handelt «sich nicht nur um eine für die historische Situation jener Jahre typische Bewusstseinskrise der gebildeten Schicht, sondern auch um eine paradigmatisch moderne Krise», da «der Zivilisations-, Verwissenschaftlichungs- und Spezialisierungsprozess unaufhaltsam voranschreitet» (Schmidt 2001, 71). Faust «will Beziehung zu Geistern haben und will durch sie Erkenntnisse gewinnen. Diese Erkenntniswünsche beziehen sich auf Weltzusammenhänge (382–384) und sind an sich nichts Böses» (Trunz 1986, 513f). Das «mit der Faust-Sage überkommene Moment der Magie» verwendet Goethe für Fausts «Sehnsucht nach Ganzheitserfahrung und Ganzheitserkenntnis» (Schmidt 2001, 73). «Die Magie der Renaissance, auf Philosophie, Geheimlehren und Praktiken des Altertums aufbauend, verstand sich keinesfalls als Zauberei, sondern als universale Naturwissenschaft» (Gaier 1999b, 296f). «Das lebendige ‹Kleid› der pantheistischen Gott-Natur ist die gestalthafte Natur (natura naturata), die vom innersten Lebensprinzip (natura naturans) ‹gewirkt› wird». Die «Vision des Erdgeistes […] entspricht Goethes Vorstellung von der schaffenden und wieder alles verschlingenden, polare Gegensätze umfassenden ‹Natur›» (Schmidt 2001, 85f). Ob der Dichter Fausts Anrufung des Erdgeists allerdings negativ als
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oben gerichteten Weg vermag er nicht zu seinem Ziel – den «Brüsten» (456) «der lebendigen Natur» (414), den «Quellen allen Lebens» (456) – vorzudringen; denn der Erdgeist verweigert ihm höhnisch die gewünschte Kommunikation und weist ihn in seine irdischen Schranken zurück (489–513). Die zweimalige Enttäuschung löst bei Faust eine melancholische Resignation aus, die ihm den Freitod als einzigen Ausweg erscheinen lässt, auf dem er (immer noch nach ‹Höherem› strebend) «Auf neuer Bahn den Äther zu durchdringen / Zu neuen Sphären reiner Tätigkeit» hofft (704f)17 . Seine Kurzschlussreaktion wird gerade noch durch das Erklingen der Osterglocken verhindert. Nachdem sich so der unmittelbare Weg nach oben – der vertikale Aufstieg vermittels Geisteskraft – als versperrt erwiesen hat, bleibt ihm nur18 die Expansion auf der horizontalen, der irdischen Ebene, anders gesagt: die vita activa19 . Man wird annehmen dürfen, dass diese – von der Faustsage vorgegebene – Richtungsverlagerung20 nicht nur der eigenen Wesensart des Autors entgegenkommt (der ja ebenfalls kein Philosoph, sondern Dichter, Naturwissenschaftler und Minister war), sondern auch dem Willen des christlichen Gottes entspricht21 , der den Menschen nach ihrer Erschaffung den Auftrag gab: «Seid fruchtbar und mehret euch, und füllet die Erde und machet sie euch untertan» (1. Moses 1,28) und der im Prolog seine Sorge äußert, «des Menschen Tätigkeit» könne «allzu leicht erschlaffen» (340)22 . Das besonders für Faust (und in gewisser Weise für den Menschen überhaupt) charakteristische Streben, das sowohl die Zustimmung des Herrn im Prolog findet («Es irrt der Mensch, solang’ er strebt», 317) als auch die der Engel in der Schlussszene von Faust II («Wer immer strebend sich bemüht, / Den können wir erlösen», 11935f), dieses Streben kann
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«Wendung zum Irrationalismus» charakterisieren wollte (ebenda 73f), scheint mir zweifelhaft. Bei seiner positiven Deutung des Anfangs von Wald und Höhle (als «Zeugnis für Goethes Naturreligiosität») muss Schmidt denn auch konzedieren, dass «das Göttliche» (scil. der Herr des Prologs) «und der pantheistisch begriffene Erdgeist» in eins zusammenfallen (168). Schmidt 2001, 100: Goethe gestaltet hier «die Bipolarität des melancholischen Temperaments in Fausts exzentrischem Wechsel von tiefer, tödlich angreifender Depression zu euphorischer Exaltation». Vgl. auch Trunz 1986, 525. «An die Stelle seines übermenschlichen Erkenntnisdranges, der das Ganze der Natur zu fassen wünschte, hat sich sein titanisches Verlangen nach dem Ganzen des Lebens gesetzt: sein ‹eigen Selbst› zu ‹ihrem›, der ‹Menschheit›, ‹Selbst› zu ‹erweitern› » (Lohmeyer 1975, 27). «Weil er am Geist und an Geisteshilfe verzweifelt, lässt sich Faust aufs Leben ein und zwar mit der gleichen unendlichen Begierde» (Keller 1980, 260). Auch solche Doppelgleisigkeit ist bereits in der Tradition vorgebildet, etwa bei Ficino: «Für Ficino ist Gott das universale Gute, die irdischen Dinge aber sind partikulare Güter, und da das Gute schlechthin allem einzelnen Guten zugrunde liegt, so ist das Gefallen, das wir an irdischen Dingen finden, in Wahrheit ebenfalls auf Gott gerichtet. Auf diese Weise kann also der Mensch seinem natürlichen Streben im eigentlichen Sinne nie zuwiderhandeln, da die Gottheit als das allgemeine Gute stets das Ziel seiner Handlungen bleibt, aber er kann seinem Ziel auf dem geraden und richtigen oder auf einem mittelbaren und irrtümlichen Weg folgen» (Kristeller 1972, 180). Schmidt 2001, 111 hat zwar in gewisser Weise recht, wenn er Fausts «Aufbruch in die Welt […] den Charakter […] eines Ersatzes für eine letztlich unerreichbare Erfüllung» zuschreibt, weil Faust ja zunächst den direkten Zugang zum Absoluten sucht. Dass aber Goethe diese «Hinwendung zum Erlebnis, zur Welt der Erfahrungen von Anfang an skeptisch relativiert, indem er sie als […] illusionär erscheinen lässt», kann ich nicht nachvollziehen. Der Dichter lässt Faust vielmehr gar keine andere Wahl und billigt diese somit als quasi gottgewollt und zweckdienlich. «Fausts ruheloser Aktionsdrang rechtfertigt den göttlichen Schöpfungsentwurf; Faust ist das menschliche Ebenbild der in unaufhörlichem Wandel begriffenen tätigen Gott-Natur» (Keller 1991, 337). «Die Ferne des Prologs zur christlichen Ethik ist in der Umwertung der Grundwerte greifbar: Das Böse, die Negation Gottes durch menschliche Selbstsucht, wird durch die Sünde der ‹unbedingten Ruh› ersetzt» (Keller 1980, 253).
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sich demnach in verschiedene Richtungen bewegen und dementsprechend unterschiedliche Ziele verfolgen, irdische so gut wie überirdische. Ähnliches gilt für das griechische Wort eros, das im Griechischen nicht nur im engeren Sinn des erotischen Begehrens verwendet wird (wie wir es vorhin beim platonischen23 Symposion und Phaidros gesehen haben), sondern im weiteren Sinn auch das Verlangen nach allen möglichen anderen Dingen bezeichnen kann24. Etwas verwirrend wirkt es allerdings, wenn in der Faust-Literatur gelegentlich (so etwa in dem ausführlichen neuen Kommentar von Ulrich Gaier25 ) das Wort eros, mit dem man im Deutschen gewöhnlich nur die engere erotische Bedeutung verbindet, nun im weiteren allgemeinen Sinn als Äquivalent für das gesamte faustische Streben benutzt wird. Eine solche Verallgemeinerung des Begriffs Eros ließe sich zwar damit rechtfertigen, dass der platonische Eros im Neuplatonismus und in der Renaissance die Umdeutung zu einem universalen appetitus naturalis26 erfahren hat. In Marsilio Ficinos Kommentar zum platonischen Symposion27 wird Eros dabei «als amor Platonicus28 um» seine «sinnliche Basis verkürzt und verschmolzen mit der christlichen Vorstellung der Liebe als Zugang zu Gott»29 , während gute hundert Jahre später – in einer Gegenbewegung – Giordano Bruno in seiner Schrift Über die heroische Leidenschaft30 für dieses auf Unendlichkeit zielende Streben ein harmonisches Verhältnis zwischen Vernunft und Sinnlichkeit postuliert31 . Aber 23
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Auch Platon verwendet eros (bzw. eran oder erotikos) natürlich gelegentlich in diesem weiteren allgemeinen Sinn. Es ist aber irritierend, wenn man im Deutschen dann z.B. bei der Paraphrase von Platon, Politeia 485b-d, den Begriff Eros dafür verwendet (wie dies Bremer 1995, 303 tut). Im Symposion schränkt Diotima den zunächst im weiteren Sinn gebrauchten Begriff ausdrücklich auf die engere (erotische) Bedeutung des Wortes eros ein (205d). Dafür nur ein Beispiel: Den verhängnisvollen Entschluss der Athener (im Jahr 415 v. Chr.), eine militärische Expedition nach Sizilien zu entsenden, erklärt Thukydides folgendermaßen: «Ein eros (eine Gier) befiel alle miteinander: die Älteren, um Städte zu unterwerfen; die jungen Männer aus Sehnsucht, ferne Länder zu sehen und kennen zu lernen […]; und die große Masse aus materieller Gewinnlust» (VI 24). So etwa Gaier 1999a, 1036: «der Eros, die ständige Lebens- und Liebesmühe, die rastlos drängende Energie, die auch die Kraft zum Streben und Irren gibt»; Gaier 1999b, 663: «es liegt auf der Hand: die Energie, die im Streben wirkt, ist Eros». Platons Eros ist «terminologisch in der aristotelisierenden Prägung eines universalen appetitus naturalis an die Renaissance vermittelt» worden (Bremer 1995, 303, mit Verweis auf Kristeller 1972, 158–186). Der «Begriff der Sehnsucht» ist bei Ficino «synonym mit Streben und Tendenz, so dass die Deutung der Liebe ohne weiteres auf die Lehre vom appetitus zurückgeführt werden kann» (Kristeller 1972, 246). Fausts «‹Streben› trägt […] die ganze Bedeutung des aristotelischen Begriffs: des Drangs (orexis) alles Lebendigen, sich in seinem Ziel (telos) zu verwirklichen (entelecheia)». Der Begriff ‹Streben› «ist leitend geworden für das ‹unendliche Streben› im Platonismus der Neuzeit (Giordano Bruno, Ficino, Spinoza), in dessen Tradition Goethes Naturphilosophie steht» (Hölscher-Lohmeyer 1997, 1177). Sopra lo amore o ver’ Convito di Platone. Florenz 1544 (die verlorene lateinische Erstfassung entstand «wahrscheinlich schon in den Jahren 1468/69»; so Schmidt 1985, 168). Deutsche Ausgabe: Ficino 1984. Man kann «Ficino gleichsam als den Erfinder der platonischen Liebe bezeichnen», da der Ausdruck «zum ersten Mal bei» ihm «begegnet» und bei ihm auch «eine klare und fassbare Bedeutung» hat: «Es ist die geistige Freundesliebe, welche die Mitglieder der ‹Akademie› zu einer Gemeinschaft zusammenschließt, welche auf der Liebe des Einzelnen zu Gott beruht und welche im Hinblick auf das Symposion als platonische, d. h. im Sinne Platons verstandene Liebe bezeichnet wird» (Kristeller 1972, 269). «Der Terminus ‹platonische Liebe› […] ist als Bezeichnung für den Sachverhalt des Überspringens, Vernachlässigens oder Verdrängens der sinnenfälligen Leiberfahrung ein neuplatonisierender Modernismus, der keinen tragfähigen Anhaltspunkt im Denken Platons finden kann» (Bremer 1995, 303). Bremer 1993, 11. De gli eroici furori. Paris 1585. Bremer 1980, 527; ebenda 512f: «Der im Bild des Prometheus als des intellektuellen Heros sich selbstbewusst werdende Mensch gewinnt seine beherrschende Weltstellung nicht in der reinen Erkenntnis der theoretischen Vernunft, sondern zugleich in der Fähigkeit zur Weltveränderung, wie sie auf seine leibsinnliche Konstitution begründet ist». Bremer 1995, 303: «Die neuzeitliche Rezeption von Platons Eros
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dennoch: Auch wenn der Begriff Eros (bzw. amor) bei Ficino und Bruno im weiteren allgemeinen Sinne von Streben verwendet wird, sollte er im Deutschen – um der Klarheit willen – auf die engere Bedeutung des erotischen Begehrens beschränkt bleiben. Nun zurück zur Umbiegung von Fausts ursprünglich vertikal gerichtetem Aufstiegsverlangen in eine horizontale Bewegung, die zur Folge hat, dass der anschließende Osterspaziergang sein Streben zwar erneut erwachen, sich nun aber nach einer Ausweitung der Möglichkeiten im weltlichen Bereich sehnen lässt. Er wünscht sich Flügel, um der untergehenden Abendsonne in fremde Länder «nach und immer nach zu streben» (1075), muss jedoch schmerzlich feststellen: «Ach! zu des Geistes Flügeln wird so leicht / Kein körperlicher Flügel sich gesellen!» (1090f) und wendet sich deshalb abenteuerlustig erneut der Magie zu, diesmal einer ‹niederen›32 : «O gibt es Geister in der Luft, Die zwischen Erd’ und Himmel herrschend weben, So steiget nieder aus dem goldnen Duft Und führt mich weg, zu neuem, buntem Leben! Ja, wäre nur ein Zaubermantel mein Und trüg er mich in fremde Länder!» (1118–1123)
Das muss er nicht zweimal sagen; denn alsbald kommt ein schwarzer Pudel33 gelaufen. Zunächst aber kehrt er an sein Schreibpult im Studierzimmer zurück, wo er den Einfall hat, den Beginn des Johannes-Evangeliums nicht traditionell zu übersetzen «Am Anfang war das Wort», sondern – wie es zu seinem neuen Unternehmungsgeist passt – «Am Anfang war die Tat». Nach den vorangegangenen Enttäuschungen äußert sein Streben sich jetzt also als Suche nach lebensweltlichen Erfahrungen. Und als ihm Mephisto die Mittel dazu bietet, greift er zu, lässt aber keinen Zweifel daran, dass es ihm nicht um Genuss, sondern um Erweiterung seiner Betätigungsmöglichkeiten geht. Diese männliche Selbstverwirklichung wird im ersten und im zweiten34 Teil des Dramas auf zwei Feldern stattfinden: einmal im Bereich des Eros (Stichwort: Gretchen und Helena35 ) und zum andern im Bereich von Finanzwesen, Politik, Krieg und Kolonisation (Stichwort: Faust am Kaiserhof). Am Ende
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durch Brunos ‹heroische Leidenschaft› ist eine historische Voraussetzung für Goethes ‹Wer immer strebend sich bemüht›.» Die Differenzierung zwischen ‹höherer› und ‹niederer› Magie mag moderner Provenienz sein, entspricht jedoch einer Unterscheidung, die auch U. Gaiers Kommentierung zugrunde liegt: «Die von Faust gerufenen Geister in Vor dem Tor sind niedrige Dämonen in der naturmagischen Hierarchie. Während der Erdgeist, ohne dass dies dem schlecht vorbereiteten Faust bewusst war, nicht ein dem Element Erde zugeordneter Dämon, sondern der alle Gestaltung und Veränderung im Kosmos bewirkende Herrscher im Urelement terra ist […], sind die Luftgeister dem Element Luft zugeordnet und besorgen dessen schädliche und nützliche Aufgaben […]. Der Hund, den Faust unmittelbar nach Wagners Warnung erblickt, ist […] ein dämonisches Mischwesen, das die ganze elementische Natur in sich befasst und überdies einem bösen Geist» (Mephisto!) «beliebige Gestalten verleiht» (Gaier 1999b, 328). Mit diesem schwarzen Hund «kommt zum ersten Mal die ‹schwarze› Magie ins Spiel» (Schöne 1994, 242). – Zum (naturwidrig-gewaltsamen) «manipulatorisch-magischen Verhalten» Mephistos (besonders in Faust II) Schmidt 2001, 231–233. Im zweiten Teil erscheint «die Welt im ganzen als eine Summe von Weltphänomenen. […] die Folge, in der Faust die einzelnen Welten durchmisst, steht durch ihre Polarität für die Gesamtheit: Gesellschaft (1. Akt) gegen Herrschaft (4. Akt); Kunst (Mütter) gegen Wissenschaft (Studierstube); Wissenschaft (Studierstube) gegen Natur (Klassische Walpurgisnacht); Natur (Klassische Walpurgisnacht) gegen Kultur (Helena-Akt)» (Lohmeyer 1975, 30). «Wenn Goethe das Göttliche im weiblichen Symbol geschaut hat, so begegnet es in Helena als die Gottwerdung des Menschen durch das Schöne, in Gretchen aber als die Erlösung des Menschen durch die Liebe» (von Wiese 1964, 169).
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seines Lebens bereut Faust zwar, sich der Hilfe der Magie bedient zu haben («Könnt’ ich Magie von meinem Pfad entfernen», 11404), doch bezieht sich diese Absage wohl nur auf die niedere Magie (den gescheiterten Versuch mit der höheren Magie, der dem Erdgeist gegolten hatte, bereut er nicht). Die letzte Szene von Faust II lässt seine Seele dann allerdings überraschenderweise doch dorthin gelangen, wohin sie sich von Anfang an sehnte, nämlich nach oben, zurück an ihren «Urquell» (324). Dies aber hat er, wie wir sehen werden, nicht primär sich selbst, sondern in erster Linie Gretchens fortdauernder Liebe und darüber hinaus göttlicher Gnade zu verdanken. Bleiben wir aber zunächst noch beim ersten Teil des Dramas. Wenn Faust, bei seiner Abgrenzung vom weltfremden Stubengelehrten Wagner, den berühmten Zwiespalt in seiner Brust erwähnt: «Du» <Wagner> «bist dir nur des einen Triebs bewusst; O lerne nie den andern kennen! Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, Die eine will sich von der andern trennen; Die eine hält, in derber Liebeslust, Sich an die Welt mit klammernden Organen; Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust Zu den Gefilden hoher Ahnen.» (1110–1117),
dann sind damit die beiden Grundrichtungen seines Strebens bezeichnet: einerseits die Sehnsucht himmelwärts nach oben («zum höchsten Dasein», 4685) bzw. nach unten (zum «Innersten», 383, oder wie es in Faust II, beim Gang zu den ‹Müttern›36, heißt: zum «tiefsten, allertiefsten Grund», 6284)37 und andererseits die Expansion auf der innerweltlichen Ebene38 . Diese grundverschiedenen Bestrebungen sind, wie wir gesehen haben, nicht gleichrangig, sondern der vertikalen kommt in Fausts Einschätzung eindeutig die Priorität zu; die horizontale besitzt für ihn zunächst nur Ersatzfunktion. Als irdisches Geschöpf kommt er jedoch nicht darum herum, sich auf dieser Bühne des Lebens bewähren zu müssen. Als Mephisto anbietet, ihn in die weite Welt zu führen und ihm alle erdenkbaren Wünsche zu erfüllen, bleibt er skeptisch: «Was willst du armer Teufel geben? Ward eines Menschen Geist, in seinem hohen Streben, Von deinesgleichen je gefasst?» (1675–1677).
Er ist sich also bewusst, dass sein aus Frustration erfolgter Entschluss zu männlicher Welteroberung nur zweite Wahl ist und dass er, weil er von seinem ursprünglichen hohen Ziel nicht ablassen kann, auf seiner Selbsterfahrungsexpedition zur Ruhe kommen weder darf noch wird39 . Daher spricht er jenen fürchterlichen Fluch40 über die Welt aus, den selbst ein Platoniker kaum überbieten kann: 36
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«Die Mütter sind das Reich der Urformen der Natur, der ewigen, von der Vergänglichkeit ihrer stofflichen Substrate unabhängigen Formprinzipien» (Hölscher-Lohmeyer 1997, 757). Vgl. v. 6275f: «Versinke denn! Ich könnt’ auch sagen: steige! / s’ist einerlei». Schon Mephisto spricht im Prolog (304f) von diesen beiden unterschiedlichen Seiten Fausts: «Vom Himmel fordert er die schönsten Sterne / Und von der Erde jede höchste Lust». Bremer 1980, 518, hält eine Beeinflussung Goethes durch Giordano Bruno für möglich: «Die Unendlichkeitsidee wird, von Bruno radikal naturalisiert, nun zum Ausgangspunkt des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses. Aus der anthropologischen Fassung der Unendlichkeitsidee folgt: Es gibt keine endgültige Erfüllung und Befriedigung von Liebe und Erkenntnis, sondern nur das unendliche Streben, dem
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«So fluch’ ich allem, was die Seele Mit Lock- und Gaukelwerk umspannt, Und sie in diese Trauerhöhle Mit Blend- und Schmeichelkräften bannt!» (1587–1590)
Er verflucht nicht nur alles, woran wir im Leben unsere Freude haben können: Stolz und Selbstbewusstsein, Sinnenlust, Ruhm und Ehre, Besitztümer und Familienglück, sondern auch alles, was ein schweres Leben erträglich zu machen hilft: «Fluch sei dem Balsamsaft der Trauben! Fluch jener höchsten Liebeshuld! Fluch sei der Hoffnung! Fluch dem Glauben, und Fluch vor allen der Geduld!» (1603–1606)
Da es ihm um alles Mögliche, aber jedenfalls nicht um Genuss als Selbstzweck zu tun ist, fragt er Mephisto provozierend: « … hast du Speise, die nicht sättigt, hast Du rotes Gold, das ohne Rast, Quecksilber gleich, dir in der Hand zerrinnt, Ein Spiel, bei dem man nie gewinnt, Ein Mädchen, das an meiner Brust Mit Äugeln schon dem Nachbar sich verbindet, Der Ehre schöne Götterlust, Die, wie ein Meteor, verschwindet? Zeig mir die Frucht, die fault, eh’ man sie bricht, Und Bäume, die sich täglich neu begrünen!» (1678–1687)
Weil er sich demnach ganz sicher ist, dass sein Streben durch keinerlei Sinnenfreuden zum Erschlaffen gebracht werden kann, lässt er sich ohne Bedenken auf die Teufelswette ein: «Und Schlag auf Schlag! Werd’ ich zum Augenblicke sagen, Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn!» (1698–1702)
Wenn es noch einer letzten Bestätigung bedürfte, wie schwer Faust der Verzicht auf das Aufwärtsstreben fällt und mit welch verzweifeltem Mut er sich anfangs in die ‹rastlose Betätigung› innerhalb der Sinnenwelt stürzt, dann finden wir sie in den Versen, die geradezu ein Verlangen nach Selbstbetäubung41 durch Hyperaktivität aussprechen: «Du hörest ja, von Freud’ ist nicht die Rede. Dem Taumel weih’ ich mich, dem schmerzlichsten Genuss, Verliebtem Hass, erquickendem Verdruss. Mein Busen, der vom Wissensdrang geheilt ist, Soll keinen Schmerzen künftig sich verschließen, Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist,
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in seiner vollkommensten Form als heroische Leidenschaft des Geistes auch in der Sättigung ein Begehren und im Begehren eine Sättigung bleibt.» «Die nihilistische Verfluchung alles Irdischen […] ist nur die Kehrseite» seines «hohen, idealistischen Strebens» (Schmidt 2001, 132f). Vgl. Schmidt 2001, 133f.
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Will ich in meinem innern Selbst genießen, Mit meinem Geist das Höchst’ und Tiefste greifen, Ihr Wohl und Weh auf meinen Busen häufen, Und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern, Und, wie sie selbst, am End’ auch ich zerscheitern!» (1765–1775)42
Doch dann bringt ihn Mephisto auf andere Gedanken. Bei der Verjüngungskur in der Hexenküche erblickt Faust im Zauberspiegel eine schöne Frau, die augenblicklich sein Verlangen weckt (2429ff). Damit sind wir – nach langem Umweg – wieder bei unserem Thema ‹Chance und Risiko des Eros› angelangt. Das heißt: An der Gretchen-Handlung wird zu prüfen sein, ob Fausts Streben nach Höherem von seinem Liebesbegehren eher profitiert oder Schaden leidet. Da ist als erstes festzustellen, dass auch seine Liebe zu Gretchen (wie sein ganzes Streben überhaupt) sich in zwei sehr unterschiedlichen43 Erscheinungsformen äußert: einerseits als unverhülltes sexuelles Verlangen (der Mann sieht in der Geliebten nur das Lustobjekt und will nichts anderes als Genuss), andererseits aber auch als reine – sozusagen platonische – Liebe (der Mann sieht in der Geliebten etwas Göttliches und fühlt sich in seinen edelsten Anlagen und Bestrebungen angesprochen). Dieser inneren Widersprüchlichkeit wegen (die mit dem Gegensatz zwischen edlem und lüsternem Pferd in der Seelengespann-Metapher des Phaidros vergleichbar ist) wird Faust von Mephisto als «übersinnlicher, sinnlicher Freier» bezeichnet (3534). Auf Belege für Fausts fleischliche Gelüste kann ich gewiss verzichten. Für die komplementäre Spielart demütiger Anbetung nur ein einziges Beispiel. Als er heimlich Gretchens – in seiner Schlichtheit und Reinheit rührend anmutendes – Mädchenzimmer besichtigt, stellt er erschrocken fest: «Wie innig fühl’ ich mich gerührt! Was willst du hier? Was wird das Herz dir schwer? Armsel’ger Faust! ich kenne dich nicht mehr! Umgibt mich hier ein Zauberduft? Mich drang’s, so grade zu genießen, Und fühle mich in Liebestraum zerfließen! Sind wir ein Spiel von jedem Druck der Luft? Und träte sie den Augenblick herein, Wie würdest du für deinen Frevel büßen! Der große Hans, ach, wie so klein! Läg’, hingeschmolzen, ihr zu Füßen.» (2718–2728)44
Solche Skrupel sind freilich bald überwunden, Faust und Gretchen kommen sich im Garten der Frau Marthe näher, verlieben sich und schwelgen danach in seliger Liebessehnsucht. Überraschend folgt allerdings die Szene Wald und Höhle (3217ff). Überraschend nicht nur, weil wir Faust hier, statt in der Nähe seiner Geliebten, allein in abgelegener Natureinsamkeit wandeln finden45 , sondern auch weil er dem Erdgeist, der ihn in der Eingangsszene aus 42 43 44
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Ähnlich äußert sich Faust auch in seinem Lebensrückblick 11433–11452. Die Einheit dieser beiden Pole wird demgegenüber betont in den Versen 6495–6500. «Die anfängliche Besitzgier des Mannes verwandelt sich in Gretchens Zimmer; der sublimierende Eros beginnt die junge Frau und ihre kleine Welt zu spiritualisieren» (Keller 1980, 272). Das Bedürfnis nach periodischem Wechsel von Nähe zur Geliebten und Rückzug in die Einsamkeit der Natur wird u. a. in dem Gedicht «Rastlose Liebe» explizit thematisiert.
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seinem schönen Traum einer Teilhabe am Göttlichen (614–621) so grausam ins Erdendasein zurückgestoßen hatte (628f), jetzt seinen Dank ausspricht: «Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles, Warum ich bat. Du hast mir nicht umsonst Dein Angesicht im Feuer zugewendet. Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich, Kraft, sie zu fühlen, zu genießen. Nicht Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur, Vergönnest mir, in ihre tiefe Brust, Wie in den Busen eines Freunds, zu schauen.» (3217–3224)
Offenbar, so müssen wir annehmen, hat das Liebesfeuer in Faust auch sein ursprüngliches Streben nach «ew’ger Wahrheit» (615), nach dem Aufstieg in göttliche Sphären (der sich für den Pantheismus vorzugsweise in der Begegnung mit der Natur46 vollzieht), wieder zum Leben erweckt47 , wenn auch nur vorübergehend, bis Mephistos Verlockungen ihn erneut ins Irdische herabziehen. Zwar beklagt sich Faust beim Erdgeist: «O dass dem Menschen nichts Vollkommnes wird, Empfind’ ich nun. Du gabst zu dieser Wonne48 , Die mich den Göttern nah und näher bringt, Mir den Gefährten, den ich schon nicht mehr Entbehren kann, wenn er gleich, kalt und frech, Mich vor mir selbst erniedrigt und zu Nichts, Mit einem Worthauch, deine Gaben wandelt.» (3240–3246)49
Und auch sich selbst macht er den Vorwurf, dass er seine Geliebte unvermeidlich ins Unglück stürzen wird: «Bin ich der Flüchtling nicht? Der Unbehauste? Der Unmensch ohne Zweck und Ruh’, Der wie ein Wassersturz von Fels zu Felsen brauste Begierig wütend nach dem Abgrund zu? […] Und ich, der Gottverhasste, Hatte nicht genug, Dass ich die Felsen fasste und sie zu Trümmern schlug! Sie, ihren Frieden musst’ ich untergraben! Du, Hölle, musstest dieses Opfer haben!» (3348–3361)50 46 47
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«Beglückendes Erfassen der Natur, des Unendlichen im Endlichen» (Trunz 1986, 557). Fausts «Ganzheits- und Einheitssehnsucht» erfährt «durch das Liebeserlebnis eine – wenn auch nur augenblickshafte – Erfüllung». Diesen «Genuss, der das eigene Selbst erweitert, […] verdankt er der Liebe zu Gretchen» (Schmidt 2001, 164f). – Nach Auffassung von Schöne 1994 (314) sind die Verse 3217 f «gar nicht auf jene Nacht-Szene zurückzubeziehen, sondern» meinen «das, was ihm erst jetzt in Wald und Höhle zuteil wird». Gemeint ist: seine ‹Liebeswonne›. Zu der vieldiskutierten Frage, wie der bereits im Prolog aktive Mephisto vom Erdgeist gesandt werden kann, siehe Trunz 1986, 558: «Damit ist nicht gesagt, dass Mephistopheles von dem Erdgeist kommt, sondern nur dass Faust es so denkt. Der Leser, der den Prolog im Himmel kennt, weiß es besser.» Dazu Schmidt 2001, 172: «Faust ist unfähig zu dauerhafter Bindung. Er empfindet dies als Schuld, aber sie erscheint nicht als eine triviale Verfehlung, vielmehr als ein Fehlverhalten, das in seinem Wesen begründet
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Doch dann siegt erneut die Begierde, und alle Gewissensbedenken sind hinweggefegt: «Was muss geschehn, mag’s gleich geschehn! Mag ihr Geschick auf mich zusammenstürzen Und sie mit mir zugrunde gehen!» (3363–3365)
Für dieses verzweifelte Hin und Her zwischen übersinnlichem Aufschwung und sinnlichem Absturz hat Mephisto nur beißenden Hohn übrig: «Ein überirdisches Vergnügen! In Nacht und Tau auf den Gebirgen liegen, Und Erd’ und Himmel wonniglich umfassen. Zu einer Gottheit sich aufschwellen lassen, Der Erde Mark mit Ahnungsdrang durchwühlen, Alle sechs Tagewerk’ im Busen fühlen, In stolzer Kraft ich weiß nicht was genießen, Bald liebewonniglich in alles überfließen, Verschwunden ganz der Erdensohn, Und dann die hohe Intuition – (mit einer Gebärde) Ich darf nicht sagen, wie – zu schließen!» (3282–3292)
So kommt es, wie es kommen muss: tödlicher Schlaftrunk für die Mutter, Schwängerung der Geliebten, Tötung des Bruders, Kindesmord, Todesurteil. Und was tut Faust unterdes? Er macht mit Mephisto einen Ausflug zur Walpurgisnacht und amüsiert sich mit Lilith51, bis eine Vision des zum Tod verurteilten Gretchens (4183ff) ihm gründlich den Spaß verdirbt. Plötzlich wird er sich seiner Schuld bewusst, wirft Mephisto vor, ihm das Unglück der Geliebten verheimlicht zu haben und beschwert sich wiederum beim Erdgeist über ihn: «Wandle ihn, du unendlicher Geist! wandle den Wurm wieder in seine Hundsgestalt!»
und weiter: «Großer, herrlicher Geist, der du mir zu erscheinen würdigtest, der du mein Herz kennest und meine Seele, warum an den Schandgesellen mich schmieden, der sich am Schaden weidet und am Verderben sich letzt?» (Szene Trüber Tag – Feld)
Zum Schluss wird also die gute Seite des Liebhabers Faust wieder sichtbar: Von Mitleid tief bewegt zwingt er den zögerlichen Mephisto, alle Mittel zu Gretchens Befreiung52 bereitzustellen. Doch für einen guten Ausgang in letzter Minute ist es – nach allem, was geschehen – zu spät53 . Gretchen ist über ihrem Leid wahnsinnig54 geworden, besitzt aber noch genügend Geisteskraft, um sich dem «Gericht Gottes» anzuvertrauen (4605)55 und
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liegt. Diese Konzeption provoziert Fragen, nicht zuletzt nach der halbverhüllten Rechtfertigungsstrategie, die durch die Dämonisierung des männlichen Wesens den Vorwurf menschlichen Versagens suspendiert.» Zu verschiedenen Interpretationen von Fausts Treulosigkeit vgl. Keller 1980, 274. Faust «will Gretchens Rettung, doch kann er keine Lebensgemeinschaft mit ihr wollen, denn er gäbe leichter sein Leben als sich» (Keller 1980, 274). Goethe hat die letzte Szene «ganz auf tragische Erschütterung» angelegt, «die den Leser und Zuschauer […] ebenso ergreift wie Faust selbst» (Schmidt 2001, 206). Dazu Schmidt 2001, 207f. «Die Verurteilte» schlägt «die Fluchtmöglichkeit aus: Ihre Schuld ist es, die sie nirgends frei ließe» (Keller 1980, 272).
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Gott um die Rettung ihrer Seele zu bitten (4607), worauf dann die «Stimme von oben» ertönt: <sie> «Ist gerettet!» (4611). Bemerkenswert ist, wie Gretchens Verhältnis zu Faust in dieser letzten Szene des Ersten Teils dargestellt wird. Zunächst vermag sie, in ihrer geistigen Verwirrung, ihn gar nicht zu erkennen, hält ihn zuerst sogar für ihren Henker. Doch dann weckt der Klang seiner Stimme ihre Erinnerung; sie macht ihm seltsamerweise aber gar keine Vorwürfe, sondern sieht in ihrem Wahn eine Zeit lang sogar ihren Retter in ihm und verlangt nach seinen Küssen, bevor sie sich der Tötung ihres Kindes erinnert und jeden Fluchtversuch als aussichtslos erkennt. Zuletzt aber, und darauf kommt es mir an, vertröstet sie Faust auf ein ‹Wiedersehen› (4585), das nur im Jenseits stattfinden kann. Als Mephisto zum Schluss Faust mit sich fortzieht, sind ihre letzten Worte der zweimalige Ausruf: «Heinrich! Heinrich!» (4612), mit dem das Stück endet. Aller Treulosigkeit ihres Liebhabers zum Trotz ist Gretchens Liebe offenbar nicht erloschen. Fragen wir uns nach dem Grund, so vermutlich deshalb, weil dem Autor wichtig ist, dass sie, ungeachtet aller seiner Fehler, dennoch – ähnlich wie der «Herr» des Prologs – den edlen Kern seiner Seele erkannt hat. Hier wollen wir innehalten für eine kleine Zwischenbilanz hinsichtlich Chance und Risiko von Fausts Liebe zu Gretchen. Beginnen wir mit den Risiken. Eine theoretisch denkbare Gefahr für Faust könnte sein, dass er sich bei ihr ‹verliegt›: dass er ganz im Genuss von Sinnenlust und Familienglück aufgeht und damit sowohl seine Wette mit Mephisto verlieren als auch den «Herrn» des Prologs enttäuschen würde (der ja auf sein unablässiges Streben und Nicht-Erschlaffen setzt, 317 und 340). Doch gegen diese Gefahr, die das platonische Symposion speziell bei heterosexuellen Männern gegeben sieht, ist Faust – obwohl kein Päderast – immun. Ein zweites, ernster zu nehmendes Risiko für ihn ist moralischer Art, nämlich seine Versündigung an Gretchen, zumal Mephisto alles dafür tut, um sein Schuldkonto so zu belasten, dass er der Hölle dereinst schwerlich entgehen kann. Aber im letzten Moment erinnert sich Faust dennoch seiner im Stich gelassenen Geliebten und unternimmt alles Menschenmögliche zu ihrer Befreiung (das reicht zwar, mögen wir denken, bei weitem nicht zu seiner moralischen Rehabilitierung; doch der Autor hat das, als Mann, anders gesehen und räumt seinem Helden trotz dieses Versagens eine zweite Chance ein). Im übrigen wollen wir unsere Augen nicht davor verschließen, dass nicht wenige gesellschaftlich hochangesehene Persönlichkeiten sich bekanntermaßen – um ihrer weltlichen, geistigen oder geistlichen Karriere willen – nicht viel honoriger, wohl aber sehr viel selbstgerechter als Faust verhalten haben (ich nenne, beispielshalber, nur den Briefwechsel zwischen Abälard und Héloïse, der - selbst wenn nicht authentisch – so jedenfalls typisch dafür ist). Eine verzweifelte geschwängerte Geliebte zurückzulassen, das kann dem päderastischen Liebhaber im Symposion bei seinem Aufstieg auf der Stufenleiter des Eros, wo ebenfalls ein Abschiednehmen von der Fixierung auf einzelne Individuen verlangt ist (210b-d), selbstverständlich nicht passieren; dass aber auch ein verlassener homoerotischer Partner unter Verlustschmerz leiden kann, wird bei Platon ganz ausgeblendet. Nun zu dem Nutzen, den Faust aus seiner Liebesbeziehung zieht und der – anders als bei der im Phaidros geschilderten päderastischen Beziehung – durch den sexuellen Vollzug der Liebe zwischen Mann und Frau prinzipiell nicht beeinträchtigt wird. Dieser Nutzen müsste, falls die Eroskonzeptionen Platons und Goethes wirklich eine nennenswerte Gemeinsamkeit aufweisen, vor allem ja darin bestehen, dass Faust durch die Liebe zu Gretchen wesentlich an Höhe gewinnt in seinem vertikal gerichteten Streben. Dafür gibt es im Text
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allerdings kaum Belege. Zwar findet der verliebte Faust zu Beginn der Szene Wald und Höhle (3220–3239) – ähnlich wie wir es auch bei Goethe selbst in Zeiten glücklicher oder unglücklicher Verliebtheit beobachten können56 – wieder Zugang zur pantheistisch gedeuteten Natur und damit indirekt auch zu Gott (immerhin bezeugt er dort, dass ihn die Wonne «den Göttern nah und näher bringt», 3241f). Aber das ist ungefähr alles, was in Faust I darauf hindeutet, dass seine aufwärtsstrebende Seele durch die Liebe eine Beflügelung erfährt. Und es ist sehr wenig gemessen an dem, was es in Goethes Gesamtwerk sonst an hymnischem Lobpreis auf die veredelnden Wirkungen der Frauenliebe gibt. Müssen wir resignierend daraus den Schluss ziehen, dass Faust eben doch nur wenig mit dem Liebhaber bei Platon gemeinsam hat? Ich meine, es gibt eine bessere Erklärung. Wenn in Faust I von der aufstiegbeflügelnden Kraft des Eros so wenig die Rede ist, dann deshalb, weil dieser Aspekt in der Gretchentragödie, wo es um Verführung und Verführbarkeit der Unschuld und deren fatale Folgen geht, fehl am Platz wäre und deshalb ganz ausgeblendet wird. Anders sieht es nämlich aus, wenn wir unseren Blick nun auf Faust II richten. Dort erinnert sich Faust zwar nur noch ein einziges Mal an Gretchen, dies aber zu einem bedeutsamen Zeitpunkt, als ihn nämlich die schöne Helena57 (nach dem Tod des gemeinsamen Sohnes Euphorion) verlassen hat und in die Unterwelt zurückgekehrt ist. Da erinnert ihn ein Wolkengebilde am Himmel plötzlich an seine Jugendliebe und weckt seine Sehnsucht: «Täuscht mich ein entzückend Bild, Als jugenderstes, längstentbehrtes höchstes Gut? Des tiefsten Herzens frühste Schätze quellen auf: Aurorens58 Liebe, leichten Schwungs bezeichnet’s mir, Den schnellempfundnen, ersten, kaum verstandnen Blick, Der, festgehalten, überglänzte jeden Schatz. Wie Seelenschönheit steigert sich die holde Form, Löst sich nicht auf, erhebt sich in den Äther hin Und zieht das Beste meines Innern mit sich fort.» (10058–10066)59
Erst an dieser Stelle (und dann natürlich in der Schlussszene) finden wir gewissermaßen unseren ‹Zwischenkieferknochen›, das missing link zwischen Faust und dem platonischen Liebhaber, das wir in Faust I vermissen. Auch für Faust bedeutet die Geliebte also im «tiefsten Herzen» ein unvergessliches «höchstes Gut». Es ist «das Beste» seines «Innern», das sich von ihr angesprochen und von ihr mit nach oben hinaufgezogen fühlt. In Faust I dagegen ist von dem Gewinn, den Faust aus seinem Eros, aus seiner Liebe zu Gretchen, zieht, nicht die Rede, weil dieser Aspekt der Wirkungsabsicht der Gretchentragödie zuwiderlaufen würde. Doch was unausgesprochen bleibt, ist nicht notwendigerweise inexistent. Im Gegenteil: Das in Faust I Ausgesparte bildet – so paradox es klingen mag – geradezu das Fundament für die Schlussszenen von Faust II. Wie viel Faust dem Eros 56
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«Dann verstehen wir erst die Gnade der Goetheschen Liebe ganz, wenn wir bedenken, dass sich in ihr dem Herzen das All der Schöpfung erschließt» (Staiger 1960, 57). «Die Helena-Liebe ist» – im Gegensatz zu Gretchen – «abgeschlossne Episode, nicht fortwirkende Lebenskraft» (Arens 1989, 756). Die Göttin der Morgenröte für die «früheste Liebe, die Faust zuteil geworden» (Schöne 1994, 655). Dazu Trunz 1986, 700: der Monolog «weist […] zurück auf Fausts Leben mit seinen zwei Höhepunkten der entgrenzenden Liebe» (nämlich Gretchen und Helena). «Was war das Entgrenzende? Die Liebe; sie allein hebt empor.»
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verdankt, wird erst deutlich, wenn es darum geht, ob seine Seele – ungeachtet aller Schuld, die er im Verlauf seiner rastlosen Betätigung auf der innerweltlichen Ebene auf sich geladen hat – doch noch dem Teufel entgeht und das Ziel ihres ‹hohen› Strebens erreicht: die Loslösung vom Irdischen hin zu «höhern Sphären» (12094). Dieser Kampf um seine Seele nach dem Tod60 spielt sich zunächst in der Szene Grablegung ab (11604–11843). Auf der einen Seite feuert Mephisto eine Schar von Hilfsteufeln dazu an, die Seele sofort nach Verlassen des Körpers zu ergreifen61 , ihr die für die Auffahrt zu «höhern Sphären» erforderlichen Flügel ‹auszurupfen› (11660f) und sie dann in die Hölle zu bringen. Von der andern Seite, vom Himmel her, naht eine Abteilung der himmlischen Heerscharen, die Rosen (als Symbol der Liebe62 ) über den Teufeln ausstreuen und diese damit in die Flucht schlagen. Die Engel verlassen den Kampfplatz als Sieger; Mephisto kann nur noch resignierend feststellen: «Mir ist ein großer, einziger Schatz entwendet: Die hohe Seele, die sich mir verpfändet, Die haben sie mir pfiffig weggepascht!» (11829–11831)
Es folgt die Schlussszene des Dramas, Bergschluchten (11844–12111), die «in stufenweise höher führenden Sphären […] drei Gruppen übereinander» anordnet63. Die erste Gruppe sind Anachoreten (also einsiedlerisch hoch oben im Gebirge lebende Mönche), «deren Weltabkehr am Anfang des Weges zu Gott steht». Oberhalb der Anachoreten folgt die Gruppe der Engel, die hier die Aufgabe haben, «Faustens Unsterbliches» (das in einer Handschrift auch aristotelisch als «Faustens Entelechie» bezeichnet wird64 ) weiter nach oben zu tragen. Die dritte Gruppe schließlich, die bemerkenswerter Weise noch über den Engeln rangiert, ist den Frauen vorbehalten. Die Engel erklären ihren Sieg über die Teufel folgendermaßen: «Gerettet ist das edle Glied Der Geisterwelt vom Bösen: Wer immer strebend sich bemüht, Den können wir erlösen! Und hat an ihm die Liebe gar Von oben teilgenommen, Begegnet ihm die selige Schar Mit herzlichem Willkommen.» (11934–11941)65
Die Rettung von Fausts Seele wird also doppelt begründet: einmal mit seinem ‹immer strebenden Bemühen› (womit nicht zuletzt auch sein rastloser Tätigkeitsdrang auf der ho60
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Unmittelbar vor seinem Tod unterläuft Faust eine grobe – vom Autor ironisierte – Selbstüberschätzung: 11579–11586 (dazu Trunz 1986, 721–724; Keller 1991, 331f; Schmidt 2001, 283–285; Gaier 1999a, 1032f). Zumal «das Genie» – seinem hohen Streben entsprechend – «gleich obenaus» will (11675)! «Liebe verbreiten sie», Vers 11728. Schmidt 2001, 292. Dazu Trunz 1986, 737; Schmidt 2001, 287f (zur hierarchischen Organisation der Szene sowie zur Entmythologisierung der ‹katholischen Mythologie› ebenda 292ff). «Die ganze Schlussszene ist von einer zentralen Idee getragen: von der Idee der Liebe». Das ist «nicht Liebe im christlichen Sinne, nicht Agape oder Caritas, sondern Eros.» Dieser «trägt Faust immer weiter empor. Das ist […] ein platonisches» bzw. neuplatonisch umgeformtes «Konzept» (Schmidt 2001, 289ff). Goethe fasst den Begriff der Erlösung (11937) «nicht christlich, sondern neuplatonisch […] Erlösung ist für ihn einfach Lösung, Reinigung vom Irdischen, und dies ist ein Prozess – bis zur vollkommen ‹reinen› Vergeistigung» (ebenda 296). Zum Einfluss der neuplatonischen Eroskonzeption vgl. auch Bremer 1995, 289ff.
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rizontalen Ebene gewürdigt wird, die ihm nach der Zurückweisung durch den Erdgeist als einziger Spielraum geblieben war) und zweitens mit der Anteilnahme einer «Liebe […] von oben»66 , die vom Chor der «jüngeren Engel» anschließend genauer erläutert wird: «Jene Rosen aus den Händen Liebend-heiliger Büßerinnen Halfen uns den Sieg gewinnen, Uns das hohe Werk vollenden, Diesen Seelenschatz erbeuten.» (11942–11946)
Die wunderwirkenden Rosen, vor denen die an Fausts Leichnam lauernden Teufel Reißaus nehmen, waren den Engeln demnach von «liebend-heiligen Büßerinnen» zur Verfügung gestellt worden, zu denen – wie wir bald erfahren – auch das einstige Gretchen gehört. In der Begründung für Fausts Rettung differenziert Goethe also zwischen dessen eigener Leistung einerseits und hinzukommender unverdienter Hilfe bzw. Gnade andererseits67 . Sein eigenes Verdienst ist, dass er «immer strebend sich bemüht» hat und dadurch, gemäß den ‹Herrenworten› im Prolog («Es irrt der Mensch, solang er strebt» 317 und «Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange / Ist sich des rechten Weges wohl bewusst» 328f), seine Verfehlungen teilweise zu kompensieren vermag. Darüber hinaus aber ist er, wenn er zu «höhern Sphären» aufsteigen will, auf Gretchens Hilfe angewiesen, auf ihr Verzeihen und ihre fortdauernde Liebe, die wohl nur so zu erklären sind, dass sie ihn – trotz allem – noch immer dieser Liebe für wert erachtet68 . Von der Gruppe der Engel kommen wir so zur obersten Gruppe, den Frauen 69 , in deren Mitte die Himmelskönigin Maria schwebt, umgeben von einer Schar von Büßerinnen. Der Doctor Marianus beschreibt voll Mitgefühl, wie diese – zuvor schon als «liebend-heilige Büßerinnen» (11943) charakterisierten – Seelen sich vertrauensvoll an die Jungfrau Maria wenden: «Um sie [um Maria] verschlingen Sich leichte Wölkchen, Sind Büßerinnen, Ein zartes Völkchen, Um ihre Kniee 66
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Goethe «nimmt in der Gestalt des Faust die von Platon präformierte, als Liebes-, Macht- und Erkenntnisstreben differenzierte Grundbewegung des emporstrebenden Eros auf und damit zugleich die darin implizierte Tendenz zur Selbsterlösung; zugleich aber integriert er diese antike Konzeption mit der christlichen Vorstellung des Erlösungsaktes als einer sich herabneigenden göttlichen Liebe» (Bremer 1995, 304). Es mag zutreffen, dass Goethe in der Schlussszene Elemente der Lehre des Origenes von der Apokatastasis panton (also von der Rückführung aller Wesen zu Gott) verwendet hat, so Henkel 1991. Ihm schließen sich an Keller 1991, 341; Schöne 1994, 788–792; Schmidt 2001, 286f. Andererseits ist Bremer 1995, 298f, Recht zu geben, dass diese Lehre den Blick «auf Goethes eigene Konzeption» eher «verstellt», weil es in der Schlussszene nicht um eine ‹Wiederbringung aller›, sondern «um ein besonderes Individuum, die Entelechie Fausts und ihre Wesensvollendung» geht. Außerdem wäre Gretchens Mithilfe bei der ‹Erlösung› eigentlich überflüssig und der konditionale Relativsatz «Wer immer strebend sich bemüht» (11936) verlöre seine Prägnanz, wenn sowieso alle ‹wiedergebracht› werden. «Dass sich Gretchen ihm liebend geopfert hat, das ist der Beginn jener Wirkung, die dem Faust der letzten Szene als Gnade zuteil wird» (Kommerell 1942, 126). Goethe «lässt die ganz vom Eros erfüllte Seele, die hier nicht einfach die christlich-geschlechtslose menschliche Seele, sondern die Seele des Mannes ist, über die Engelsphäre hinaus nach der Sphäre der Frauen, Marias und schließlich zum ‹Ewig-Weiblichen› als dem zum Höchsten sublimierten erotischen Erfüllungsziel streben» (Schmidt 2001, 300).
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Den Äther schlürfend, Gnade bedürfend. Dir, der Unberührbaren, Ist es nicht benommen, Dass die leicht Verführbaren Traulich zu dir kommen. In die Schwachheit hingerafft, Sind sie schwer zu retten; Wer zerreißt aus eigener Kraft Der Gelüste Ketten? Wie entgleitet schnell der Fuß Schiefem, glattem Boden? Wen betört nicht Blick und Gruß, Schmeichelhafter Odem?» (12013–12031)
Anschließend treten drei dieser christlichen Büßerinnen auf, nämlich die im Lukas-Evangelium (7,36–39) erwähnte Sünderin, die Jesus die Füße wäscht, trocknet und salbt, dann die im Johannes-Evangelium (Kapitel 4) genannte Samariterin, mit der Jesus ein Gespräch am Brunnen führt, und schließlich die aus einer Heiligenlegende70 stammende Ägyptische Maria, die 40 Jahre lang in der Wüste Buße für ihre Sünden tut. Diese drei Büßerinnen treten, in schöner weiblicher Solidarität, vor die Mater gloriosa und beschwören sie, in Anbetracht der von ihnen vollbrachten großen Bußleistungen auch Gretchens Seele Gnade widerfahren zu lassen: «Die du großen Sünderinnen Deine Nähe nicht verweigerst Und ein büßendes Gewinnen In die Ewigkeiten steigerst, Gönn auch dieser guten Seele, Die sich einmal nur vergessen, Die nicht ahnte, dass sie fehle, Dein Verzeihen angemessen!» (12061–12068)
Zuletzt erscheint sie selbst: «Una poenitentium, sonst Gretchen genannt» und betet zur Heiligen Jungfrau für Fausts Seele71 : «Neige, neige, Du Ohnegleiche, Du Strahlenreiche, Dein Antlitz gnädig meinem Glück! Der früh Geliebte, 70 71
Acta Sanctorum, Bd. 1. Antwerpen 1643, 61. Wir mögen uns allerdings skeptisch fragen, ob dies wohl mehr als ein Wunschtraum des Autors sein kann. Denn entwicklungspsychologisch könnte man den Gegensatz zwischen dem tragischen Ende des Ersten Teils und dem versöhnlichen Abschluss des Zweiten Teils ja so deuten, dass der Autor in jungen Jahren, weil er in Sesenheim und anderswo die Autorschaft der Vaterschaft vorgezogen und die Familiengründung der Selbstfindung geopfert hat, die daraus resultierenden Schuldgefühle im Urfaust (und ebenso in Faust I) aufarbeitet, indem er sein alter ego Faust mit der Schuld an Gretchens Untergang belastet, dass er im Alter seine Jugendsünden aber in einem milderen Licht sieht und Faust daher bei der verlassenen Geliebten nicht nur Vergebung, sondern sogar Unterstützung finden lässt.
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Nicht mehr Getrübte, Er kommt zurück.» (12069–12075)
Gretchens Gebet wird gnädig erhört, die Gottesmutter antwortet: «Komm! hebe dich zu höhern Sphären! Wenn er dich ahnet, folgt er nach.» (12094f)
Mit anderen Worten: Nicht nur die Bitte der drei Büßerinnen für Gretchen, auch Gretchens Bitte für Fausts Seele wird von Maria erhört. Gretchen ist zwar in der Kette von Una poenitentium über die drei heiligen Büßerinnen bis zur Mater gloriosa nur das unterste und schwächste Glied. Und doch wird man mit einigem Recht daran zweifeln dürfen, dass die rettende göttliche «Liebe […] von oben» Fausts Seele – ohne Gretchens Mithilfe72 – je würde erreichen können. Wenn die Retterin Maria vom Doctor Marianus73 zum Schluss nicht nur «Jungfrau, Mutter, Königin», sondern sogar «Göttin» tituliert wird (12102), dann rückt diese weibliche Form der Gottheit am Ende von Faust II an die Stelle des «Herrn» im Prolog und erfüllt dessen Ankündigung, er werde Faust zuletzt «in die Klarheit führen» (309). Was das Drama exemplarisch an Fausts Schicksal demonstriert und der Autor in seinem Leben selbst erfahren hat, fasst ein Chorus mysticus in den Schlussversen verallgemeinernd in die Worte: «Das Unbeschreibliche, Hier ist’s getan; Das Ewig-Weibliche Zieht uns hinan.» (12108–12111)74
Deutlicher kann die alleinseligmachende Kraft des Eros nicht ausgedrückt werden. Ich fasse das Ergebnis meines Vergleichs zwischen den Eroskonzeptionen in Platons Dialogen und in Goethes Faust kurz zusammen. Auffälligster Unterschied ist natürlich, dass bei Goethe an die Stelle der griechischen Knabenliebe das abendländische Paradigma der Veredlung des Mannes durch die Frauenliebe75 tritt und dass im Zusammenhang damit 72
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«Nicht die himmlische Liebe rettet bei Goethe vor den Gefährdungen der irdischen, sondern die irdische wächst noch in den Himmel hinein und wird Trägerin einer erotischen Mystik, die die Tragik des Mannes durch das übertragische Symbol des Weiblichen auflöst» (von Wiese 1964, 145). «Ein Heiliger, der sich vor allem der Verehrung Marias widmet» (Trunz 1986, 739). «Gott strömte sich aus in die Welt […] Als Schöpfergott erscheint er menschlichen Augen männlich. Aber alles Irdische sehnt sich ins höchste Licht zurück und wird wieder zu ihm emporgehoben. Hier aber, wo das Göttliche sich offenbart als das Liebende, Gütige, erscheint es menschlichen Augen weiblich» (Trunz 1986, 733). «Goethe, indem er abschließend den obersten Punkt des neuplatonischen Systems umbesetzt,» rückt «das ‹Ewig-Weibliche› an die Stelle Gottes» und suspendiert «damit auch zugleich die oberste christliche Heilsvorstellung» (Schmidt 2001, 300). «Wenn im Binnenspiel der Tragödie das irrend Strebende, Tätige und Gewaltsame geradezu als ein ‹Ewig-Männliches› vorgestellt wird, erscheint diese gnädige, hilfreiche, rettende Liebe jetzt als das Ewig-Weibliche» (Schöne 1994, 786). Dass «alle Leserinnen und Leser zu ‹uns› gehören» (Gaier 1999a, 1132), ist heute gewiss eine ‹korrekte› Lesart; ob der Autor es so gemeint hat, bleibt ungewiss. Bereits Plutarch hat in seinem Dialog über die Liebe (Erotikos) die platonische Eroskonzeption, verbunden mit der «altstoischen Begriffsverbindung Eros - Philia - Arete», «auf die Frauenliebe übertragen» (Görgemanns 2006, 26). Zur Erklärung dieses Phänomens aus historisch-politischen Gründen vgl. Feichtinger 2006, 248f (der Unabhängigkeitsverlust der griechischen Polis habe zur Folge: «Dem traditionellen Ethos des virilen Agon» um den Eromenos «war der Boden entzogen. Stattdessen wurde die Ehe als Symbol für politisch erwünschte Concordia zunehmend attraktiv»).
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auch das Tabu der Sexualität76 (die im Kontext der ‹hohen Minne› nicht länger als ‹widernatürlich› zu gelten braucht) aufgehoben ist. Gemeinsam dagegen ist beiden Autoren die Vorstellung, dass die menschliche Seele von Natur aus zumindest potentiell (sofern sie nicht unter Verkümmerung leidet oder auf Abwege gerät) einen Zug zum Höheren, zum Überirdischen, Göttlichen besitzt, wobei dieses Aufstiegsverlangen bei Platon, mythisch gesprochen, erst nach erfolgreicher Bewährung in zahlreichen Wiederverkörperungen an sein Ziel zu gelangen vermag, bei Goethe dagegen schon nach einem einzigen gelungenen Lebenslauf. Das Wachstum der Flügel, ohne die der vertikale Aufschwung nicht zustande kommt, verdankt die zunächst erdgebundene Seele bei Platon einerseits dem Eros, der sie – in Gestalt des Geliebten – an ihre verlorene Heimat erinnert und sich nach einer Rückkehr dorthin sehnen lässt, und andererseits der Vernunft, die sie zur Triebzügelung befähigt. Faust demgegenüber zeichnet sich von Anfang an durch ein hohes Streben aus, dem alles Irdische nicht genügen kann und dessen Erkenntnisdurst auch durch Wissenschaft nicht gestillt wird; er muss erst durch den Erdgeist in seine Grenzen zurückgestoßen werden und lernen, dass man – mit Kommerell gesprochen – «nicht anders zu Gott» kann «als durch die Welt» und dass «man nicht zu Gott» kann, «indem man die Welt umgeht»77 . Faust muss sich daher auf einen langen Marsch der Selbstverwirklichung durch rastlose Betätigung in der Erfahrungswelt begeben. Erst hier kommt bei Goethe (und zwar in Faust I nur sehr andeutungsweise) Eros ins Spiel: Der verliebte Faust findet (in Wald und Höhle) Zugang zum Göttlichen in der Natur, er erlebt die Wirkungen der Liebe gemeinsam mit Gretchen, erkennt (freilich erst im Rückblick des vierten Akts von Faust II und deshalb mit Bedauern), dass «das Beste» seines «Innern» (10066) schon immer Gretchen zugewandt und von ihr gewiss auch mitentwickelt worden war, vor allem aber bekommt er von ihr nach dem Tod die entscheidende Fürsprache für den endgültigen Aufstieg seiner Seele zu «höhern Sphären» (12094). Dieser Aufstieg gelingt bei Goethe wie bei Platon im übrigen nur mit göttlicher Unterstützung: Bei Goethe bedarf er der (aus christlicher Vorstellungswelt stammenden) teilnehmenden «Liebe […] von oben» (11938), bei Platon setzt er die zwischen Gott und Mensch vermittelnde Assistenz des ‹Dämon› Eros voraus (Symposion 202f), wobei hier große Bedeutung freilich auch der eigenen geistigen und sittlichen Leistung beigemessen wird. Während jedoch Platon, der mit seinen Dialogen eine protreptische, d.h. zur Philosophie hinwendende78, Absicht verfolgt, seinen Lesern eine klare ethische Zielvorgabe und Wegbeschreibung sowie Hinweise zur Überwindung dabei auftretender Hindernisse bietet, alles Kontroverse aber, das nur Verwirrung und Irreleitung bewirken könnte, ausblendet, thematisiert Goethe in seiner Tragödie – gattungsgemäß – gerade solch Strittiges und Problematisches. Er stellt, in einer ansatzweise bereits pluralistischen Gesellschaft, Fausts paradigmatische (ebenso spektaku76
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In G. Radkes schöner Würdigung der philosophischen Bedeutung des platonischen Eros (Radke 2004) heißt es, Platons «Liebeskonzept» enthalte «nicht die Aufforderung zur Abstinenz von körperlicher Liebe» (39). Leider vermisst man jede Erklärung, wie diese These sich – jedenfalls was die Knabenliebe betrifft – vereinbaren lässt mit der geforderten Domestizierung des ‹schlechten› Pferdes (Phaidros 254) und mit der Empfehlung, auf sexuellen Verkehr mit dem Geliebten grundsätzlich zu verzichten (Phaidros 256), geschweige denn mit dem Verdikt gegen den gebräuchlichen Analverkehr (Nomoi 636c) und mit dem Verbot der Knabenliebe überhaupt (Nomoi 835–842). Und was die Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau betrifft, so trifft zwar zu, dass bei ihr kein «Verzicht auf körperliche Liebe und […] entbehrungsreiches Ausblenden dieses Aspektes» (10) gefordert wird; dafür wird ihr aber auch nirgends eine philosophische Dimension bzw. eine Bedeutung für die geistige Entwicklung zugebilligt. Kommerell 1942, 110. Dazu Gaiser 1959; Szlezák 1993, 158.
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läre wie moralisch fragwürdige) Verhaltensweise in Teufelswette, Gretchentragödie und anschließendem Wirken in der großen Welt zur Diskussion und lässt jeden Rezipienten sich seinen eigenen Reim darauf machen.
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Goethes Faust und die platonische Eroskonzeption
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Diogenes the Cynic, Alexander the Great, and Menippean Satire in Gulliver’s Travels During his stay in Lilliput, an ancient temple serves as a shelter for Gulliver. Out of use for a long time, and with a gate that is «almost two Foot wide» (GT, p. 27), the building is just large enough for the giant persona to crawl into and to lie down. In order not to threaten the commonwealth of dwarfs, Gulliver is chained to the building so that he can only move «backwards and forwards in a Semicircle» (GT, p. 27). Quite obviously, the narrator is reduced to the state of a dog tied to its kennel. Such canine imagery supports the well-known fact that Gulliver’s Travels is deeply rooted in the tradition of Menippean satire, a literary mode developed by the Cynics.1 Like Cynicism in general – which translates as ‹dog-philosophy› and popularizes the Socratic notion of man as an intellectually pretentious but ignorant being – the Menippean mode may be classified as anthropological satire. It debates human nature and stresses the lower passions, or animal traits of our species in a seriocomic manner. Following in the footsteps of dog-sages such as Antisthenes, Diogenes and Crates, Menippean satire reveals the shakiness of intellectual systems of all kinds and sheds light on the vanity of man’s overreaching disposition.2 The pedigree of Menippean, or Cynic satire on mankind goes back to Menippus of Gadara (3rd cent. B. C.) – a disciple of Crates – and his imitator Lucian, who became an important model for more recent Menippeans such as Erasmus of Rotterdam, Thomas More, François Rabelais, Cyrano de Bergerac, and Jonathan Swift.3 Like Lucian – who calls Menippus «a really dreadful dog» («The Double Indictment», p. 147) – Swift fashions himself as a representative of the dog-philosophical mode when he applies canine traits to Gulliver. In what follows, this paper will argue that Gulliver’s voyage to Lilliput – which up to now has been discussed as topical rather than anthropological satire – is self-consciously aware of the Menippean tradition. It will point out that the personae of Gulliver and the Lilliputian 1
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Concerning the Menippean mode in general, cf. Bakhtin ([1929]1984), pp. 106–122 and Frye (1957), pp. 308–314, which are still the two most influential studies on that topic. More recent approaches include Korkowski (1973), Relihan (1993), Fuchs (2006), pp. 7–26, and von Koppenfels (2007). With regard to GT as a text written in the Menippean mode, cf. Elliott (1960), pp. 184–222 – an excellent study which compares Swift’s polyphonic «management of perspective» to that of Petronius (pp. 192–200). Like Elliott, Yeomans (1966) follows Frye, who stresses the fact that, in contrast to the novel, Menippean satire deals with intellectual attitudes rather than realistic characters. Whereas Elliott focuses on Swift’s ironic indirection, Yeomans regards the fourth part of GT as a ‹utopian› affirmation of pure reason. Halewood (1966) rejects Elliott’s (and Frye’s) archetypal approach in favour of classicist studies on formal verse rather than Menippean satire: Randolph (1942) and Weinbrot (1965). Other treatments of that topic include Wang (1995), Knowles (1996), pp. 16–28, and Donoghue (1996). Cf. Niehues-Pröbsting (1988), Bracht & Goulet-Gazé (1996), Navia (1996), and Luck (1997). As this paper concentrates on the Lucianic, or Hellenistic, tradition of Menippean satire and its imitators, ‹Roman› Menippists such as Varro, Seneca, and Petronius are not mentioned. Owing to the fact that the main emphasis lies on the seriocomic debate of human nature from a Cynic vantage point (spoudogeloion) and on the ironic indirection of the ‹Menippean gaze› (ductus obliquus), this article does not focus on the mixture of prose and verse (prosimetrum) as a further characteristic of the Menippean mode.
Antike und Abendland Bd. 54, S. 65–75 © Walter de Gruyter 2008 ISSN 0003-5696
DOI 10.1515/ANTI.2008.004
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king may be attributed not only to 18th century politicians such as Bolingbroke and George I, but also to Diogenes of Sinope – the most famous of all Cynics – whose meeting with Alexander the Great is the subject of a well-known anecdote. It will demonstrate that the encounter of Gulliver and the emperor of Lilliput refers to this episode and elucidate that this set of allusions includes two classical sources on Diogenes and Alexander: the life of Diogenes the Cynic as it is recorded in the book on the Lives of Eminent Philosophers written by Diogenes Laertius, and the account of the life of Alexander the Great in Plutarch’s Lives of the Noble Grecians and Romans.4 Then the paper will show how the intertextual references found in the first part of Swift’s book support the macro-structure of Gulliver’s Travels as a Menippean satire. It will claim that the set of allusions found in the initial part not only debates the nature of man from a Cynic vantage point, but contributes to a series of radical shifts of perspective that continues throughout the four books of Gulliver’s Travels. It will show that Swift’s representation of the world from various, and unreliable, points of view may be considered as the structural device of a narrative rhythm, which – by means of authorial irony – reveals the epistemological limitations of man’s intellect.
Diogenes Laertius’s Account of the Life of Diogenes the Cynic in Lives of Eminent Philosophers As Gulliver’s ‹metamorphosis› into a dog corresponds with the Cynic notion of man as a species determined by bodily instincts rather than intellect, Swift’s satire on mankind turns the hierarchy of spirit and body upside down. Long before the Houyhnhnm-Yahoo debate in the final part of Gulliver’s Travels shows that man takes an intermediary position between pure intellect and the world of bodily drives, the narrator’s caninification at the beginning of Gulliver’s Travels challenges the Aristotelian definition of man as an animal rationale. As Swift famously puts it in one of his letters to Alexander Pope in 1725, our species shares not the divine state of absolute reason. It is rationis capax5 , but this capability is subject to vanity, error, and illusion – an aspect which is foregrounded by Gulliver’s zeal and naivety: in contrast to an intellectual watchdog and a Cynic satirist proper – «who bites unexpectedly because he grins when he bites» («The Double Indictment», p. 147) – Gulliver turns out to be the Lilliputian king’s giant, but ‹gullible› puppet dog. By means of ironic indirection, Swift fashions his canine persona as a parody of Diogenes of Sinope, the dog-philosopher who managed to overcome such epistemological fallacies by radical 4
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According to Passmann & Vienken (2003), Swift owned text-editions of the works of Diogenes Laertius (Passmann & Vienken Vol. I, pp. 525–8), Plutarch (Passmann & Vienken Vol. II, pp. 1467–77), and Lucian (Passmann & Vienken Vol. II, pp. 1114–20). In «The Examiner» 16 (23/11/1710), pp. 19–24, Swift refers explicitly to Plutarch’s «Alexander». Halewood (1966), who reconstructs intertextual references to Plutarch’s «Life of Lycurgus» in the sixth chapter of the first part of Gulliver’s Travels [cf. also Knowles (1996), pp. 17 and 71], states that «Swift was an appreciative reader of Plutarch» (p. 423) [cf. also Eddy (1923), p. 41 n. 5: «Plutarch was one of Swift’s favorite authors»]. With regard to «other debts to Plutarch», Halewood lists Hanford (1910), pp. 181–4, Fink (1947), pp. 151–61, Eddy (1923), pp. 40–1, and his own article on «Plutarch in Houyhnhnmland» (1965). It is interesting to note that Plutarch is not only known as a biographer, but also as a Menippean satirist: As Hanford has shown, Plutarch’s Gryllus, a Menippean dialogue between Ulysses and one of his comrades converted into a swine by Circe, the sorceress, serves as an intertext for the fourth book of Gulliver’s Travels. With regard to Gryllus as a Menippean source-text for Swift’s GT, cf. footnote 16. Cf. Swift’s Letter to Alexander Pope written on 29/09/1725.
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changes of perspective. As Diogenes Laertius mentions over and over again, Diogenes the Cynic is known as a paradoxist who looked at the world from an inverted, ‹underdog› point of view in order to show the truth hidden beneath the appearance of things. When he was asked how he wished to be buried, for instance, he said, «On my face» and when he was asked why, «because, after a little time down will be converted up» («Diogenes», p. 33)6 – a statement which reoccurs in Gulliver’s account of the customs of Lilliput: They bury their Dead with their Heads directly downwards; because they hold an Opinion, that in eleven Thousand Moons they are all to rise again; in which Period, the Earth (which they conceive to be flat) will turn upside down, and by this Means they shall, at their Resurrection, be found ready standing on their Feet. (GT, p. 27)
As a matter of authorial irony, neither Gulliver nor the inhabitants of Lilliput are aware of the origin, or cultural significance of this dog-philosophical figure of thought. Although Gulliver and Diogenes turn out to be parallel characters in intertextual terms, Swift’s canine persona remains absolutely ignorant of the fact that his deeds and encounters correspond with aspects known from the life of Diogenes the dog-sage. As Swift deliberately blurs these analogies with contrasting elements, the reader is presented with a text that – by means of ‹conflicting parallels› – dialogically confirms and subverts its own intertextuality: like Lucian’s ‹true› stories, Swift’s Menippean satire reveals the contingency of truth by calling its own authority ironically into question in order to shed light on man’s ignorance. As can be seen from the following examples, this technique of blurred allusions – which presents the characters with faulty perspectives – reoccurs throughout Gulliver’s Travels. Like Diogenes – who «took for his abode the tub» in the temple of Cybele («Diogenes», p. 25)7 – Gulliver lives in an ancient temple. In contrast to the dog-philosopher – who inhabited a sacred building as a public demonstration of the Cynic outlook at life – Gulliver retreats into the temple as private hideaway from the public eye in order to maintain his dignity and to fashion himself as a rational rather than creatural being: I had been for some Hours extremely pressed by the Necessities of Nature; which was no Wonder, it being almost two Days since I had last disburthened myself. I was under great Difficulties between Urgency and Shame. The best Expedient I could think on, was to creep into my House, which I accordingly did; and shutting the Gate after me, I went as far as the Length of my Chain would suffer; and discharged my Body of that uneasy Load. But this was the only Time I was ever guilty of so uncleanly an Action; for which I cannot but hope the candid Reader will give some Allowance, after he hath maturely and impartially considered my Case, and the Distress I was in. (GT, p. 29)8
As he cannot suppress his bodily functions, Gulliver is forced into the role of Diogenes who consciously turned god’s house into a ‹doghouse› to highlight the ironic distance between the spiritual sphere of the deities and animal-like man. This set of blurred allusions continues 6
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As an allusion to the rise of the Macedonian empire, which turned the Greek world ‹upside down›, the quotation continues «This because the Macedonians had now got the supremacy, that is, had risen from a humble people». As Frischknecht (2006), pp. 34–5 has noted, Swift’s A Tale of a Tub also alludes to the tub of Diogenes the Cynic. Cf. also «[I felt the urge] to ease myself with making Water; which I very plentifully did, to the great Astonishment of the People; who, conjecturing by my Motion what I was going to do, immediately opened to the right and left on that Side, to avoid the Torrent which fell with such Noise and Violence from me.» (GT, p. 25).
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when Gulliver becomes accustomed to defecate like a dog «in open Air, at the full Extent of [his] Chain» and performs this disgraceful business in the solitude of the early morning (GT, p. 29) rather than Diogenes the Cynic, who deliberately exposed his intimate self in the public sphere: At a feast certain people kept throwing all the bones to him as they would have done to a dog. Thereupon he played a dog’s trick and drenched them. («Diogenes», p. 49) […] It was his habit to do everything in public, the works of Demeter and Aphrodite alike. […] Behaving indecently in public, he wished, «it were as easy to banish hunger by rubbing the belly.» («Diogenes», p. 71)
Although Gulliver remains ignorant of his Cynic role profile, his canine – or all too human – disposition is once more revealed by means of dog-philosophical irony when the text scatologically foregrounds the excremental functions of his grotesquely enlarged body and states that his stool is «carried off in Wheel-barrows, by two Servants appointed for that Purpose» (GT, p. 29) at the beginning of every morning. A further ironic parallel between Swift’s satirical persona and Diogenes the dog-sage can be observed from Gulliver’s failure to perceive the sinister side-effects lurking behind the Lilliputian king’s self-proclaimed ‹mercy›. Although he refuses to become literally blinded by the emperor’s surgeons as an act of impeachment at the end of his voyage to Lilliput, he is not really shocked by the ‹enlightened›, but barbarian follow-up plan to starve his blinded self to death so that only a part of the original mass of the giant corpse will remain to be cleared away.9 Whereas the naïve Gulliver is euphemistically expected to «gratefully and humbly submit to» the king’s surgeons – who will be «discharging very sharp pointed Arrows» into his eyeballs (GT, p. 72) – Diogenes turns a metaphorically sharp eye on the hidden egotism and the imminent dangers of such an ‹operation›: When Didymus, who was a rake, was once treating a girl’s eye, «Beware», says Diogenes, «lest the oculist instead of curing the eye should ruin the pupil.» («Diogenes», p. 71)
As can be seen, the intertextual references to the life of Diogenes in the first book of Gulliver’s Travels may be regarded as a structural principle of contrasting analogies. Also known as ductus obliquus10, this kind of Menippean indirection throws light on man’s ignorance by the trompe l’oeil-like fallacies involved in faulty perspectives. Whereas the Cynic founding fathers of the Menippean mode self-consciously fashioned themselves as intellectual watchdogs in order to look at the world from unaccustomed vantage points, Gulliver quite literally becomes a giant, but ignorant dog – an alazónic creature dominated by the drives and unruly functions of his grotesquely enlarged body rather than his intellect.
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This kind of irony recurs in A Modest Proposal (1729) where a social ‹reformer› elaborates on the idea of selling Irish babies as food for the English market. Pedantically concerned with reason and the economics of the common weal but ignorant of human commitment, the speaker claims to be a «lover of mankind». Cf. More, «Utopia» pp. 98–102.
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Plutarch’s Account of the Life of Alexander the Great in Lives of Noble Grecians and Romans Swift’s most ‹obvious› blurred allusion to Diogenes the Cynic refers to the famous anecdote of the encounter of the dog-philosopher with Alexander the Great, which is recorded in Plutarch’s Lives. Rather than kneeling before the king at court, Diogenes is sitting in his tub and enjoying the sun when Alexander comes to see him in the street. Being offered a royal gift, Diogenes asks the emperor – who throws a shadow on him – to step aside so that he will be able to continue with his sunbath («Alexander», p. 259). As a matter of Menippean irony, Swift inverts the perspective and presents the dwarfish king of Lilliput – who «is taller […] than any of his Court» (GT, p. 30) – as a parody of Alexander the Great, and giant Gulliver as Diogenes the dog. In mock-heroic contrast to his littleness, the emperor refers to his royal self in terms of Alexandrian greatness as [the] Delight and Terror of the Universe, whose Dominions extend […] to the Extremities of the Globe: Monarch of all Monarchs: Taller than the Sons of Men; whose Feet press down to the Center, and whose Head strikes against the Sun: At whose Nod the Princes of the Earth shake their Knees; (GT, p. 43)
Although the king claims that his «head strikes against the sun», and Gulliver, like Diogenes, faces the eye of heaven when he meets the new Alexander, Swift’s self-proclaimed ruler of the world is, in fact, so tiny that he fails to throw a shadow at the dog-philosopher: I could only look upwards; the Sun began to grow hot, and the Light offended mine Eyes. I heard a confused Noise about me, but in the Posture I lay, could see nothing except the Sky. […] when bending mine Eyes downwards as much as I could, I perceived it to be a human Creature not six Inches high, with a Bow and Arrow in his Hands, and a Quiver at his Back. (GT, p. 21)
In ironic contrast to Diogenes – who asks Alexander to step out of the sun – Gulliver remains exposed to full daylight. As the sun «offends» his eyes, he does not share the ‹enlightened› gaze of the famous dog-philosopher as a key to deeper knowledge – an aspect which is once more emphasized by the fact that Gulliver remains entirely ignorant of the ridiculous state of the dwarfish king’s verbal gigantism and display of linguistic grandeur.11 Again, the principle of ‹contrasting parallels› as an example of deliberately blurred intertextuality can be observed: Swift refers to Cynic archetypes that are to be found in the source-text mentioned above, but recomposes these allusions in a highly idiosyncratic manner in order to present his reader with faulty perspectives as a means of authorial irony. Like Gulliver, the reader of Swift’s book is confronted with distorted points of view over and over again in order to experience – and maybe acknowledge – the epistemological limitations of the human condition. As a further example of this technique, Swift includes the contrasting element of an ‹Austrian lip› in Gulliver’s description of the Lilliputian emperor’s physical appearance, which – in every other aspect – echoes Plutarch’s portrait of Alexander, who died young and who is famous for melting occidental and oriental cultures: 11
As the sun hurts his eyes, Gulliver turns out to be a Platonic caveman who fails to see the true nature of things in contrast to Diogenes whose eyes eagle-like focus on the eye of heaven. Although Gulliver applies optical instruments such as a «Pocket Perspective Glass» (GT, p. 51) and a «Pair of Spectacles» (GT, p. 52) to sharpen his eyes, he becomes increasingly blinded by his zeal and vanity: cf. von Koppenfels (2004).
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His Features are strong and masculine, with an Austrian Lip, and arched Nose, his Complexion olive, his Countenance erect, his Body and Limbs well proportioned, all his Motions graceful, and his Deportment majestick. He was then past his Prime, being twenty-eight Years and three Quarters old, of which he had reigned about seven in great Felicity, and generally victorious. […] His Dress was very plain and simple, and the Fashion of it between the Asiatick and the European; but he had on his Head a light Helmet of Gold, adorned with Jewels, and a Plume on the Crest. He held his Sword drawn in his Hand, to defend himself, if I should happen to break loose; it was almost three Inches long; the Hilt and Scabbard were Gold enriched with Diamonds. (GT, p. 30–1)12
Like the Lilliputian king – who is identified by a golden helmet decorated with jewels and a plume – Plutarch’s Alexander «was conspicuous by […] his helmet’s crest, on either side of which was fixed a plume of wonderful size and whiteness.» («Alexander», p. 265–7). In partial accordance with Swift’s parody, Plutarch also states that: His helmet was […] of iron, but gleamed like polished silver […]; and there was fitted to this a gorget, likewise of iron, set with precious stones. He had a sword, too, of astonishing temper and lightness. […] He wore a belt also, which was too elaborate for the rest of his armour. («Alexander», p. 323)
As far as the Lilliputian emperor’s dress-code as a go-between between the «Asiatick and the European» (GT, p. 30) world is concerned, Swift echoes Plutarch’s statement that in the province of Parthia, Alexander first put on the barbaric dress. […] However, he did not adopt the famous Median fashion of dress, which was altogether barbaric and strange, nor did he assume trousers, or sleeved vest, or tiara, but carefully devised a fashion which was midway between the Persian and the Median, more modest than the one and more stately than the other. («Alexander», p. 355)13
In addition to that, Gulliver’s Travels recalls Plutarch’s account that young Alexander managed to tame an unmanageable colt owing to his extraordinary skills as a horseman: [Alexander] ran to the horse, and took hold of his bridle-rein, and turned him towards the sun; for he had noticed, as it would seem, that the horse was greatly disturbed by the sight of his own shadow falling in front of him and dancing about. And after he had calmed the horse a little in this way […], with a light spring safely bestrode him. Then, with a little pressure of the reins on the bit, and without striking him or tearing his mouth, he held him in hand; («Alexander», p. 239) 12
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As an intertextual source for the king’s ‹olive› complexion, Plutarch states that «Apelles, […] in painting him [Alexander] as wielder of the thunder-bolt, did not reproduce his complexion, but made it too dark and swarthy. Whereas he was of a fair colour, as they say, and his fairness passed into a ruddiness […] in his face.» («Alexander», p. 231–3). Lucian’s Dialogues of the Dead – a series of underworldly interviews whose list of speakers includes Menippus, Diogenes and Alexander the Great – may have functioned as an additional sourcebook for Swift’s characterization of the Lilliputian king’s Indo-European dresscode. An English translation of this text with a preface written by John Dryden appeared in 1711. In Dialogue XII, the persona of Alexander’s father Philipp addresses his son as follows: «Furthermore, you discarded the Macedonian cloak, they tell me, for a Median doublet, and took the [Persian] tiara worn upright on your head, and expected Macedonians, free men, to bow down before you. And most ridiculous thing of all, you aped the habits of your defeated foes.« («Dialogues of the Dead», p. 63). With regard to Swift and Lucian, cf. Compean (1976).
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Although the horse of Lilliput’s emperor fears Gulliver’s size rather than its own shadow, the ‹contrasting parallelism› of the text-passage quoted from Plutarch and the following one taken from Swift should not be overlooked: The Emperor was […] advancing on Horseback towards me, which had like to have cost him dear; for the Beast, although very well trained, yet wholly unused to such a Sight, which appeared as if a Mountain moved before him, reared up on its hinder Feet: But that Prince, who is an excellent Horseman, kept his Seat, until his Attendants ran in, and held the Bridle, while his Majesty had Time to dismount. (GT, p. 30)
The Macro-Structural Importance of the Intertextual Framework of the First Book of Gulliver’s Travels As has been shown with regard to the first part of Gulliver’s Travels, the intertextual references to the lives of Diogenes and Alexander represent the world from faulty perspectives in order to expose the ignorance and vanity of mankind by means of anthropological satire. When Gulliver as an unconscious impersonation of Cynicism, or underdog-philosophy, is presented as a canine giant and Alexander the Great as a dwarf, the world is paradoxically turned upside down. Seen from a Cynic point of view, the Macedonian emperor of the world is reduced to human or even dwarfish terms and his aspirations to omnipotence and glory are revealed as a great illusion. Looked down at from a cosmic vantage point – a Menippean focus known as kataskopía – the notion of the earth as the axis and centre of the world is revealed as a fallacy of the human point of view.14 With regard to the macro-structure of Gulliver’s Travels as a Menippean satire, it is important to note that – as already mentioned – these initial shifts of perspective may be considered as part of a multi-focal network which continues throughout the book and constitutes a narrative rhythm regulated by paradoxy of the Menippean gaze. When Gulliver travels to Brobdignag in the second part of Swift’s book, his vantage point as a canine giant among a crowd of Lilliputians dwindles into that of a dwarf. Although Gulliver then sees the world microscopically enlarged, this inverted point of view has no effect on his mental capacity, and he remains as naïve and ignorant as he has been presented throughout his first voyage to Lilliput. Whereas the journey in book one presents the bodily enlarged Gulliver as a gullible, but benevolent giant, this ingénu-like disposition deteriorates into the faulty vantage point of megalomanian arrogance when he recommends the sophisticated technology of European warfare to the peaceful king of Brobdignag in the second book. Like the Lilliputian emperor, dwarfishly diminished Gulliver becomes a Menippean parody of Alexander the Great in his boastful ignorance. Like Plutarch’s Alexander – who employs perfectly engineered battering engines («Alexander», p. 293) – his dwarfish counterpart Gulliver becomes carried away in his enthusiasm for mechanized warfare and the mass-destructive force of the English artillery. It is no wonder that the benign king of Brobdignag doubts Gulliver’s humanity and reduces him to vermin on that occasion:
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Cf. von Koppenfels (2007), pp. 31–65.
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The King was struck with Horror […]. He was amazed how so impotent and groveling an Insect as I (these were his Expressions) could entertain such inhuman Ideas, and in so familiar a Manner as to appear wholly unmoved at all by the Scenes of Blood and Desolation, which I had painted as the common Effects of those destructive Machines; whereof he said, some evil Genius, Enemy to Mankind, must have been the first Contriver. (GT, p. 134–5)
As the subsequent «Voyage to Laputa, Balnibarbi, Luggnagg, Glubbdubdrib, and Japan» shows, this kind of mechanical ‹progress› seems to be brought to absolute perfection in the third book of Gulliver’s Travels. Similar to his one-sided enthusiasm for English war enginery in Brobdignag, Gulliver fails to perceive the inhuman side-effects lurking behind the rise of the new sciences. Although he possesses a «Perspective Glass» and «Spectacles» (GT, p. 51–2) and was offered a microscopic and a macroscopic point of view in the previous parts of his travels, he still fails to put his observations into the right focus. Having studied «Mathematicks» and «Physick» (GT, p. 19), in his «younger Days» and considering himself as «a sort of projector» (GT, p. 178) Gulliver blindly embraces the work of the natural philosophers he encounters during this journey. Even when he witnesses the colonial abuse of power and knowledge in Laputa, or the foolishness of the virtuosi of the academy of Lagado – who, among other non-sensical projects, try to reconstruct food from excrements – he continues to reject the ethical commitment of the humanist tradition of the ancients in favour of the ‹mechanical turn› of the moderns. As a further hint at the faultiness of Gulliver’s points of view, the third part of Swift’s book presents a dialogue with the spirits of the dead. When the sorcerers of the enchanted island of Glubbdubdrib offer an otherworldly interview, Gulliver wishes to see the ghost of Alexander the Great, whom eighteenth century culture regarded as a despotic tyrant and a scourge of mankind. Although the Macedonian emperor entertains him «with Scenes of Pomp and Magnificence» (GT, p. 195), Gulliver fails to see the already noted parallels between the great Alexander, the Lilliputian king, and his own susceptibility to megalomania as a mise en abˆıme. Being the first of a series of dialogues with the ghosts of famous men, Gulliver’s spooky interview may be regarded as a variant of the Menippean device of the descent into Hades known as Nekya – as an underworldly shift of perspective that can be traced back to Lucian’s Nekyomantia and the infernal counsel of the Homeric Odysseus.15 Gulliver’s meeting with the Strudlbrugs – who like the inhabitants of Hades live an eternal but joyless life in death – may be considered as another variant of that motif also known as mortificatio: although he is offered a further change of perspective that may be attributed to the multi-focality of the Menippean gaze, Gulliver fails to acknowledge the vanity of man as a creature whose life is overshadowed with death from its very beginning. As a final shift of perspective, the fourth part of Gulliver’s Travels presents a semi-human vantage point – a Menippean device that can be traced back to Lucian’s The Cock and Plutarch’s Gryllus, which expose the vanity of man by a narrator metamorphosized into an animal. Whereas the satirical personae of these texts ironically expose the folly of mankind as unnoticed observers and ironists, Gulliver turns out to be a sheep in wolf’s clothing – a naïve alazón rather than a dog-philosophical eiron when he meets the Yahoos and the Houyhnhnms during his final voyage: Similar to his canine disposition at the beginning of 15
As Glubbdubdrib is presented as an enchanted island ruled by sorcerers, Swift’s text quite obviously alludes to the island of Circe, the sorceress whose magic helps Odysseus to contact the spirits of the underworld.
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Swift’s book, Gulliver remains entirely ignorant of the dog-philosophical implications of the semi-human focus and takes the ironies involved in the Menippean gaze at face value: Rather than acknowledging the fact that man is a go-between between the realm of pure reason and the world of bodily drives, he blindly identifies the passion-driven species of the Yahoos with mankind and the Houyhnhnms as super-human beings gifted with an absolute rationality unattainable for man. As in Laputa and Lagado, he fails to realize the inhuman side-effects of pure reason and becomes a zealous imitator of the Houyhnhnms. In contrast to dog-philosophy as a foregrounding of the animal part of the nature of man and the blind spots of absolute reason, he ignores that aspect completely and becomes a hater of his own kind, who in his one-sided pursuit of knowledge turns out to know absolutely nothing about his human self. Like the Yahoos as a representation of man’s unruly passions, Gulliver becomes passionately absorbed with misanthropy when he claims to be better than the rest of mankind, loses his humanity, and strives to become a Pre-Nietzeschean superman rather than an everyman. Once more he is revealed as a satirist satirized who turns out to be as vain and arrogant as his archetypal counterpart Alexander, the great overreacher. This aspect is most conspicuously revealed when the Houyhnhnm-master draws a parallel between Gulliver’s account of human society and the anti-social behaviour of the Yahoos. Although Gulliver blindly embraces the super-human wisdom of the horses, he fails to acknowledge the sad, but obvious truth expressed by his interlocutor, saying that: I durst make no Return to this malicious Insinuation, which debased human Understanding below the Sagacity of a common Hound […]. (GT, p. 263)
Feeling deeply humiliated, Gulliver scorns the fact that his master aligns human intellect «below the sagacity of a common Hound» – a sardonic statement which may, of course, be attributed to the Cynic movement, which sheds light on the intellectual limitations of man and stresses the animal traits of that species. Although in accordance with the Gryllus-tradition of Menippean satire16 animals are presented as morally and intellectually superior beings, Gulliver – who is absolutely ignorant of the dog-philosophical dimension of his comment – zealously affirms the superiority of his own species as a satirist satirized: whereas the dog-sages follow the Socratic maxim that the highest wisdom attainable for man is to acknowledge his own ignorance, Gulliver turns out to be a pseudo-Cynic who literally knows absolutely nothing.17
Conclusion As the intertextual analysis of Diogenes Laertius’s Lives of Eminent Philosophers and Plutarch’s Lives of Noble Grecians and Romans has shown, ironic references to these works are to be found in the first part of Gulliver’s Travels, which simultaneously affirms and sub16
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As von Koppenfels (2007), pp. 103–9 has pointed out, Plutarch’s Gryllus as the foundational text of the Menippean inversion of the hierarchy of man and beast is of utmost importance for the fourth part of GT, which likens Gulliver to a beast and his equine master to a super-human being. Another – not yet canonized – Menippean source-text for this part of Swift’s book is Giambattista Gelli’s La Circe (1549) – a witty rewriting of Gryllus that anticipates the Houyhnhnm-master’s famous phrase «To say the thing which is not»: cf. von Koppenfels (2007), pp. 107–8. With regard to Menippean satire and Socratic irony, cf. Fuchs (2006), pp. 7–25. As far as Socratic dialogue in the fourth book of Gulliver’s Travels is concerned, cf. Reichart (1968).
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verts its allusive source material. As this section draws a very close link between the universal stance of Menippean mockery of mankind and topical satire, the principle of intertextual analogy is welded with that of satirical distortion. Owing to this tension – which oscillates throughout the book in varying degrees and deserves to be looked at within the scope of a paper in its own right – the personae of Diogenes the Cynic and Alexander the Great do not only foster the Swiftian debate of the human condition by means of Menippean analogy, but also function as vehicles of topical satire on eighteenth century English politics.18 With regard to the design of Gulliver’s Travels as a whole, the intertextual technique found in the first part may be considered as a structural device that recurs throughout the four main intersections of Swift’s book and constitutes a narrative rhythm regulated by the multi-focality of the Menippean gaze which represents the world from shifting, and often faulty, perspectives – an aspect that has been referred to as the principle of deliberately blurred allusion. As a final observation, it should be noted that, being presented with the unreliability of Gulliver’s shifting perspectives, the reader of Swift’s book has to come to terms with the same dilemma: sharing the narrator’s canine, but uninformed point of view, he becomes Gulliver’s Doppelgänger, and thus another ironic counterpart of Diogenes the Cynic, who popularized the Socratic maxim that the only wisdom attainable for the human species is to acknowledge its ignorance. As a consequence, the reader may either fall victim to Swift’s authorial irony and remain as ignorant as Gulliver the alazón, or recognize this strategy as a means of dog-philosophical, or Menippean satire on man. In the latter case, he becomes an eiron who identifies the ‹contrasting parallels› of Swift’s canine, but ‹gullible› persona and Diogenes the dog-sage as a brilliantly fashioned game of Menippean, or even Socratic irony.
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Owing to this syncretism, Gulliver – who fails to see the all too obvious difference between the dwarfish Lilliputian king and Plutarch’s Alexander – may not only be considered as a Menippean analogy of ignorant mankind in general, but also as a persona of political satire who fails to perceive the topical link between the pseudo-Alexandrine emperor of Lilliput and George I, the unpopular Hanoverian king of England. Whereas Alexander’s greatness is ironically contrasted with the ‹Augustan› shadow-king manipulated by his prime minister Walpole by means of topical satire, Gulliver’s representation as a canine, but ignorant counterpart of Diogenes the Cynic may again be attributed to Menippean, or dog-philosophical satire on mankind.
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Between Thucydides and Tacitus. The Position of Sallust in the History of Ancient Historiography Cassius Dio’s schoolmasters1 drummed Thucydides’ style into their pupil such that Photius, the eleventh-century A. D. Patriarch of Constantinople, remarked upon this imitation as follows: ‚n dË ge taÿc dhmhgor–aic äristoc ka» mimhtòc Joukud–dou plòn e“ ti pr‰c t‰ safËsteron Çforî. sqed‰n d‡ kãn toÿc älloic Joukud–dhc ‚st»n aŒtƒ Â kan∏n.2 «In the speeches in particular [Dio] is at his best especially as an imitator of Thucydides, except when he strives for greater clarity here or there. Generally speaking, for him Thucydides is the model in other respects also.» Modern scholars have more than concurred: in particular Emil Litsch shewed just how broadly Dio depended on Thucydides for vocabulary (both actual words and connotations of words), for phraseology, and for syntax – not just in the speeches but throughout.3 But the dependence runs deep as well: Dio’s near-pathological need to use Thucydidean words and phrases helped determine how he described events. Johann Melber, for example, shewed long ago how Dio could insert not entirely understood Thucydidean turns of phrase into an account such that there emerged a very different course of events from that which had stood in the source which Dio was otherwise copying out – without Dio’s seeming to notice.4 Whether uolens or nolens, Dio allowed his imitation of Thucydides to influence even his pattern of thought.5 1
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On the importance of Thucydides in rhetorical education in late republican and imperial times see Strebel 41–68. Photius, Bibl. cod. 71. Words unique to Thucydides and Dio (Litsch 4–6); words unique to Thucydides, Dio, and passages in other authors modelled on Thucydides (ibid. 6–8); words drawn by Thucydides from older poets occurring also in Dio and in passages in other authors modelled on Thucydides (ibid. 8–9); words with a connotation unique to Thucydides, Dio, and passages in other authors modelled on Thucydides (ibid. 9–10); word-formations common to Thucydides and Dio but (generally) absent from other writers (ibid. 10–11); phrases and idiomata in the narrative portions of Thucydides as well as in those of Dio (ibid. 11–29); phrases and idiomata in the speeches of Thucydides as well as in those of Dio (ibid. 29–39); quirks of syntax, morphology, and grammar common to Thucydides and Dio (ibid. 39–44). Litsch’s thoroughness apparently gave Kyhnitzsch 6, who published his own dissertation a mere year later, some cause for concern, but, by focussing on Dio’s speeches, Kyhnitzsch could indeed bring to attention dozens of borrowings from and allusions to Thucydides which had escaped Litsch – Kyhnitzsch helpfully marks these with marginal asterisks. When one considers that Litsch (and Kyhnitzsch) as well as the previous editors on whose observations he of necessity relied was working in an age before scanned texts and computer-driven searches, his collection becomes all the more impressive. Doubtlessly one might now find e. g. words which Litsch missed, or examples of words which he did include in non-Thucydidean contexts also, and so on; but the effort would stand out of all proportion to the return given the low likelihood of altering the essential result: that Dio imitated Thucydides’ style closely. At any rate, the last century’s scholarship in these matters saw fit to rest on Litsch’s (and Kyhnitzsch’s) laurels – see e. g. Millar 40–46. Melber 1891B, 290–297 (the source is Caesar, Bell.Gall. III 13–15, with which cf. Dio, XXXIX 41–43); id. 1891C, 211–236. Here, the ahistoricity of Dio’s description (XLIX 1–11) emerges, frankly, of its own internal inconsistency. Comparison of Dio’s account with the parallel account at Appian, Bell.ciuile, V 97–122, reveals two things: first, Appian’s internally consistent account wants the sense-altering Thucydidean borrowings present in Dio; second, various correspondences between Dio and Appian shew that
Antike und Abendland Bd. 54, S. 77–104 © Walter de Gruyter 2008 ISSN 0003-5696
DOI 10.1515/ANTI.2008.005
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Now Dio does not make an exception amongst the imperial historians; and we could shew something similar (if less pervasive) for Appian: Thucydides provides the ostensible model.6 Herodian, to take the least of the imperial historians (if that even be a name to call him by), actually feels impelled to imitate Thucydides’ preface (which he singularly failed to understand; or had schoolboy memories grown dim with passage of time?).7 Arrian may have thought himself particularly clever for giving an ostentatious nod to Herodotus8 – especially in the Indica, in which he actually writes in Herodotus’ Ionic dialect.9 But one
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Dio was working with an account which if not identical to that underlying Appian at least stood close to it.) See Flach 1973B, 130–131, and Millar 42, for additional examples. N. b., e. g., how Thucydides’ famous description of Pericles’ «monarchy» in nominally democratic Athens (II 65) can affect Dio’s reflexions on the republican fa¸cade which Augustus erected in front of his own rather more real monarchy: Thus, in Maecenas’ fictive speech (Dio, LII 15,5) we read of the politicians of the dying Republic that t¿n ... prwte–wn ÊregÏmenoi, «they were striving after the primacy» – all of which Octavian’s assumption of power will put a stop to. According to Thucydides, II 65,10, as soon as the restraint of Pericles’ «monarchy» vanished, the leading politicians in Athens ÊregÏmenoi to‹ pr∏toc Èkastos g–gnesjai, «were each of them striving to be the first.» Thuc. II 65,8 states that Pericles, paradoxically, kateÿqe t‰ pl®joc ‚leujËrwc, «restrained the masses in freedom»; and Dio, LII 14,4–5, likewise develops the paradox whereby an autocrat, precisely by restraining the masses’ freedom (ô to‹ Óqlou ‚leujer–a), may deliver to them a secure freedom (ô ‚leujer–a ô Çsfal®c). After Maecenas’ speech we read how Augustus wished to appear dhmotikÏc, «democratic» (LIII 12, 1), whilst ±c Çlhj¿c katajËsjai tòn monarq–an, «in reality establishing a monarchy» (LIII 11, 5). To this one might simply add Thucydides’ sentence, ‚g–gnetÏ te lÏg˙ m‡n dhmokrat–a, Írg˙ d‡ Õp‰ to‹ pr∏tou Çndr‰c Çrq†, «and what was in name a democracy, was in reality the rule of the first man.» See Strebel 73–92: «Beilage. Nachahmung des Thukydides bei Appian.» Herodian, I 1,1–3: n. b. jarro‹ntec, ±c e“ ti ka» m u j ¿ d ec lËgoien, t‰ m‡n ôdà t®c Çkroàsewc aŒto» karp∏sontai, «they [i.e. Herodian’s predecessors] were confident, that even if they told somewhat romantic stories, they would still reap the pleasure accorded a public reading» (cf. Thuc. I 21,1) and ‚g∞ d+ …stor–an oŒ par+ ällwn Çpodexàmenoc ägnwstÏn te ka» Çmàrturon, «I have not accepted any story from others, unchecked and uncorroborated (cf. Thuc. I 22,2). Yet Herodian goes on to say oŒk Ç t e r p ® tòn gn¿sin ka» toÿc ’steron Ísesjai prosdok†sac Írgwn megàlwn te ka» poll¿n, «I expect that the knowledge of deeds both great and numerous will be quite pleasurable especially to future generations.» Thucydides, I 22,4, however, had expressly disavowed pleasure as a goal: his history t‰ mò m u j ¿ d ec aŒt¿n Ç ter pËster on fa–netai, «appears less pleasurable than [his predecessors’] since it is not romantic.» Instead, ≤fËlima kr–nein aŒtÄ Çrko‘ntwc Èxei, «it will suffice that [readers] deem this history useful.» Herodian, in composing his preface, remembered some things which Thucydides had said, but forgot that history was supposed to be «useful» rather than «pleasurable.» Grundmann, delivered an apparently exhaustive compilation of Herodotean stylistic devices (in particular a heavy reliance on repetition of words straightforwardly or in slightly different usages or in schemata etymologica: 199–232), of Ionic usages (pertaining in particular to pronouns but also to the moods: 232– 248), and finally of Herodotean words and phrases: 248–263) which Arrian borrowed. See now Bosworth 34–35. Arrian had read his Thucydides also (see Grundmann 192–198; Meyer) and occasionally turned to him as a model – especially (though both Grundmann and Meyer fail to note the point) where Herodotus had less to offer the imitator, i. e. in the speeches. After all, Thucydides, not Herodotus (who, to take a striking example, contented himself with the briefest of paraphrases of Themistocles’ speech to rally the troops before Salamis: VIII 83), had established speech-writing as an essential part of the historian’s craft. Thus, Alexander’s speech before Gaugamela (Anab. III 9,5–8) spectacularly orientates itself on Thucydides’ speeches (n. b. the abundant use of neuter articles with adjectives); and other speeches contain Thucydidean elements as well (e. g. before Tyre: Anab. II 17,2; cf. Thuc. I 34,3 or III 43,2). On the speeches in the Anabasis see now Bosworth ad loc. (before Tyre: 238–239; before Gaugamela: 295). Incidentally, we may as well here note that Cassius Dio in like wise had read his Herodotus too and occasionally, though much less pervasively, allowed Herodotean depictions to colour his own: see Melber 1891A, 81–83. Appian also occasionally turned to Herodotus as a model: see Zerdik 1–48 (De Appiano Herodoti imitatore).
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thing Arrian has in common with the more numerous Thucydidean imitators such as Dio: the imitation stopped at style if it even got that far.10 Dio, for example, never understood how Thucydides prejudiced his readers, forced his opinions on them, tried to make them see things his way. After all Thucydides wrote for people who still remembered many of the events at issue. Possibly they remembered things differently; or at all events remembered some things which tended to run counter to Thucydides’ considered judgement. Thucydides’ conscious decision not to treat of the (distant) past, but, for the most part, to confine himself to «contemporary» or «modern» history11 placed him in an invidious position: arguing to those amongst whom stood some who knew enough to contradict him or at all events to have formed views opposite to his. To his credit Thucydides took even such readers into account; and he devised means to convince them also of the rightness of his views.12 Such means any historian might usefully employ. We might justly look for their employment in an historian who took Thucydides as his model. Yet with Dio – to remain with him – the imitation never proceeded beyond style. In all bluntness Dio wanted the perspicacity to unterstand the argumentative means which Thucydides had used to so great effect. Yet one ancient historian clearly did read Thucydides with the necessary acuity and learned from him how to employ those selfsame methods: not Polybius,13 but Sallust. Sallust passed the methods on to Tacitus; and in stating that we also place Sallust correctly into the history of ancient historiography: the connective link between Thucydides and Tacitus.
I. Let us begin by giving some examples of Thucydides at work.14 In his view the Lacedaemonians had determined to go to war against Athens at an assembly during the year 432, 10
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Arrian’s heavy dependence on two main sources in the Anabasis (his use of Megasthenes in the Indica – cf. Indica, XI-XII with Diod. II 40–41 and Strab. XV 1,39–41 and 45 [last sentence only]-49; or Ind. III 6–8 with Strab. XV 1,12 – speaks volumes about his use of Ptolemy and Aristobulus in the Anabasis), whom, notwithstanding stylistic revision, he in essence copied out, precluded any genuinely Herodotean weaving together of disparate material from many sources, often for the sheer joy of it. Arrian does add, it is true, some stories from elsewhere (n.b. Anab. IV 12,3–5 = Plut. Alex, 54 = Chares of Mytilene, FGrHist 125, Fr. 14) that are, in Herodotean phrase, Çxiap†ghtoc, but nowhere near as many as we find in Herodotus and in nowhere near as sophisticated a grammatical treatment calibrated to indicate varying degrees of credence (Bosworth 21). Nor do we find the Herodotean love of digressions in Arrian, who, to take an extreme example, did not compose and probably would never even have considered composing a book-length digression on Egypt to provide the background for Alexander’s conquest of that land as Herodotus had done for Cambyses’ in book II of his work. See Thuc. I 20–22, esp. 22,2. In a fundamental, otherwise excellent article Wallace 258–259, states, «It does not occur to [Thucydides] that any serious student would ever really consider him mistaken.» Quite the contrary, it seems to us: Thucydides worried indeed that his contemporaries might call him wrong. Polybius’ use of Thucydides as a model emerges most clearly in certain programmatic passages such as IV 2,1–3 and II 56,10 which with its rejection of Thucydides’ license to compose speeches for characters actually strives to be more Thucydidean than Thucydides. (Granted, Polybius had precedent to follow in the point: the [unfortunately anonymous] Oxyrhynchus Historian, whose continuation of Thucydides’ history orientated itself strongly according to Thucydides, so far as we can tell eschewed speeches entirely. See Bruce 18–19.) On Polybius see also below to n. 56. Badian 1993, 125–162, fundamentally altered views both on Thucydides as an historian and on the outbreak of the Peloponnesian War and has become the basis for farther discussion.
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approximately one year before they actually invaded Attica.15 To demonstrate that this was indeed so (and it may well have been so, for all we know), Thucydides had to bear in mind that some of his readers might know that the Lacedaemonian assembly in question had voted on a particular motion. Because it did not follow immediately and incontrovertibly from that motion that the Lacedaemonians were now decided upon war against Athens – far from it: the motion, as we shall see, allowed for a far more benign interpretation, namely that the Lacedaemonians merely intended to seek redress from the Athenians for what, in the Lacedaemonians’ view, they had done wrong16 –, Thucydides needed to add some argumentative steel to his (genuinely held17 ) view that the motion was tantamount to a declaration of war. The trick he employed was astonishingly simple. First, he in all honesty stated the motion before the Lacedaemonian assembly: lel‘sjai a… sponda» ka» o… >Ajhnaÿoi Çdikeÿn, «that the treaty had been broken and that the Athenians had done wrong.»18 However, he then placed before it four speeches which he composed himself19 and placed into the mouths of an anonymous Corinthian embassy, an anonymous Athenian embassy,20 the Lacedaemonian king Archidamus, and the Lacedaemonian ephor Sthenela¨ıdas. All speeches imply or indeed state outright that the Lacedaemonian assembly is considering whether or not to go to war against Athens.21 The final speech at least leaves no doubt: yhf–zesje ofin, ¬ LakedaimÏnioi, ... t‰n pÏlemon, «vote, O Lacedaemonians, for war.»22 Even when scholars do notice that the motion which Sthenela¨ıdas placed before the assembly after that rousing oration makes no mention of war, they still take it as implying war.23 And after speeches from Corinthian, Athenian and Lacedaemonian mouths that the motion concerns war, it surely does imply 15
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See esp. Thuc. I 88. (The page heading for this section in the Penguin translation reads, incidentally, «The debate at Sparta and the Declaration of War 432.») In fact, the Lacedaemonians did, futilely as it proved, send repeated embassies to Athens over the course of the next year – see below. I think that we need not challenge the sincerity of Thucydides’ view: he may have «lied» to make his case in the details, but he believed in the case itself, the greater truth of which may well, in Machiavellian manner, have justified the smaller terminological inexactitudes. Badian 1993 at least does not shrink from phrases such as «patently dishonest» (133), «prevaricating» (140), and «catch … out in lies» (145). Thuc. I 87,2. This statement should nowadays require no special argumentation, and its import will emerge clearly from the following comments anyway. Doubt as to the Athenian embassy’s historicity must arise since Thucydides (I 72,1) declines to state of which ambassadors it consisted and to what purpose it had come to Sparta: it just «happened to be present» (tugqànw) in Sparta «on other matters» (per» ãllwn). Even Gomme (233) and Hornblower (117) admit an awareness of such doubt what though they will not deign to entertain it themselves. Speech of the Corinthians: Thuc. I 68–71, n.b. 71,4: bohj†sate katÄ tàqoc ‚sbalÏntec ‚c tòn >Attikòn , «come to [the other allies’ and the Potidaeans’] aid at once by invading Attica»; Speech of the Athenians: Thuc. I 73–78, n.b. 78,1 (to‹ d‡ polËmou t‰n paràlogon, Ìsoc ‚st–, pr»n ‚n aŒtƒ genËsjai prodiàgnwte, «take forethought concerning the extent to which the fortunes of war turn on matters which are unpredictable – before you find yourselves in one» and 78,4 (tÄ d‡ diàfora d–k˘ l‘esjai katÄ tòn xunj†khn. e d‡ mò, ... peirasÏmeja Çm‘nesjai polËmou ärqontac, «resolve differences by arbitration, as stipulated in the treaty. But if you won’t do that, …then we will endeavour to go out to meet you who have begun war»); Speech of Archidamus: Thuc. I 80–85, n.b. 83,1 Çnandr–a mhden» polloÃc miî pÏlei mò taqà ‚peljeÿn doke–tw e⁄nai, «let no-one account it cowardice if we, in spite of our numbers, do not rush out to attack a single city.» Speech of Sthenela¨ıdas: Thuc. I 86,5. E.g. Bury-Meiggs 247: «Sthenelaidas, in a short and pointed speech, put the question, not, Shall we declare war? but Has the treaty been broken and are the Athenians in the wrong? It was decided that the Athenians were in the wrong, and this decision necessarily led to a declaration of war.» Hammond 322: «Although the Spartans had not voted a declaration of war, they had committed themselves to war.»
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war.24 Third, Thucydides has in yet another way interpreted the exact motion for us in advance, has prejudiced our understanding of it. He interjects a vote of the Lacedaemonian assembly, on apparently the same matter, between the Athenians’ speech and Archidamus, a vote that Çdikeÿn te toÃc >Ajhna–ouc ¢dh ka» polemhtËa e⁄nai ‚n tàqei, «both that the Athenians had already done wrong and that war had speedily to be begun» (Thuc. I 79,2). We note that the first half of this last phrasing corresponds to the second half of Sthenela¨ıdas’ motion, and the insinuation that the other halves of the two phrasings mean substantially the same thing does slip into the mind. Finally, Thucydides, having suggested ahead of time how to take Sthenela¨ıdas’ motion, sums it up shortly after giving it: ‚yhf–santo d‡ o… LakedaimÏnioi tÄc spondÄc lel‘sjai ka» polemhtËa e⁄nai, «the Lacedaemonians voted that the treaty had been broken and that war had to be begun» (Thuc. I 88). The three formulations on Thucydides’ presentation can hardly do other than mean the same thing each time; and the reader, even the one who keeps straight in his mind which formulation genuinely was Sthenela¨ıdas’ (the better for Thucydides, of course, the more often polemhtËa e⁄nai stuck in a reader’s mind as a part of Sthenela¨ıdas’ actual motion) can hardly help thinking that they actually do. To get round the inconvenient fact – a motion which did not state what he wanted it to mean and might seem to imply something very different – Thucydides took good care to place a flea in his reader’s ear (the Corinthian and Athenian ambassadors imply one thing), to advert to that same flea from another perspective (King Archidamus’ speech), and then to state it outright in a ringing endorsement in a fourth speech (Sthenela¨ıdas’). On a separate line of track Thucydides reformulated the motion as well, both in advance and in retrospect, to what he wanted the reader to think it meant. The reader naturally enough hears the wording of the motion – if he hears it at all – with an infestation of fleas springing in his ear. But we note, of course, that Thucydides felt constrained to mention how the actual motion ran. He knew that others knew of this25 ; and he clearly believed it necessary to pre¨empt any challenge to his view on that ground. Thucydides, however, had other tricks up his sleeve. When he felt that others might not easily have access to exact information which might contradict him, he wisely enough refrained from supplying it. Instead of laying out the evidence clearly for all to see and consider, he merely made assertions about it. Thus the entire question of guilt for the outbreak of the Peloponnesian War turns on the Thirty Years’ Treaty. The Lacedaemonians’ allies – and the Lacedaemonians apparently agreed – argued that the Athenians violated the treaty by their actions against Potidaea and Aegina (the Treaty contained some sort of clause 24
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Thucydides’ view does not entirely lack diplomatic credibility, we should note in all honesty. After all, when the Athenian assembly in 378 voted (presumably!) to go to war against Sparta, the phrasing ran lel‘sjai tàc spÏndac, «that the treaty had been broken» (Diod. XV 29,6). We should not, however, pretend that diplomatic protocol of 378 applied in 432: in 378 war between Athens and Sparta began in earnest almost immediately, in 432 negotiations lasted for another year before a Lacedaemonian army entered Attica. Finally, one piece of diplomatic evidence may demonstrate the difference between protocol in 432 and that in 378: in 419 the Athenian assembly, while the Peace of Nicias was still in force, voted and officially recorded that the Lacedaemonians had violated the peace treaty (Thuc. V 56,3) – yet the Peace continued in force until the next year. Cf. Badian 1993, 146–147. If one indisputable fact emerges from all of this for the modern historian of these events, it is the wording of the motion before the Lacedaemonian assembly. Thucydides would not have laboured so tirelessly against that wording had he been able simply to replace it with something which fit his view better.
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which guaranteed autonomy to the allies of both Athens and Lacedaemon26) and also by one of their two decrees against Megara (the Treaty apparently contained some sort of clause which guaranteed the right of entrance of members of one alliance into the territory of the other; and the decree which forbad the Megarians from entering into any harbour within the Delian League was alleged to run afoul of that clause27 ). Thucydides, however, felt that the Lacedaemonians had flouted that clause of the Treaty which stipulated that Athens and Lacedaemon were to submit all disputes to arbitration. Thucydides makes sure that the Athenian ambassadors at the previously discussed assembly at Sparta – which, on Thucydides’ view, was to decide whether or not to go to war – refer to this arbitration clause (Thuc. I 78,4). Next, King Archidamus more or less concedes the same thing and suggests that the Lacedaemonians bring their grievances before the Athenians and attempt a diplomatic resolution.28 Then Sthenela¨ıdas inveighs against such diplomacy (Thuc. I 86,4) whereupon, on Thucydides’ presentation, the Lacedaemonians indeed vote for war (rather than for arbitration).29 Thucydides leaves the final word to Per26
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Thuc. I 67,2, because of its specific reference to Aegina, was once taken as implying the presence in the Treaty of a special clause regarding Aegina alone (e.g. Gomme 225). Badian 1993, 137–142, exploded this view. Thuc. I 144,2 has Pericles state tÄc d‡ pÏleic Ìti aŒtonÏmouc Çf†somen, e ka» aŒtonÏmouc Íqontec ‚speisàmeja, «that we shall allow the cities to be autonomous, if they were autonomous then also when we made the treaty,» which strongly suggests that the Treaty contained a general guarantee of autonomy to Athens’ allies: debateable were alone the circumstances under which Athens had to vouchsafe that autonomy. Against Badian, however, a case can be advanced that Pericles stood on ground of some solidity: after all, in the course of the negotiations which preceded the Peloponnesian War, the Lacedaemonians eventually backed away from the demands relating to possible violations of the general autonomy clause (Thuc. I 139,1: Aegina and Potidaea). Thucydides’ compression of the account of the negotiations (see below) precludes clarity, but one might argue that the Lacedaemonians implicitly conceded the point to the Athenians in this matter. Some years prior to the Peloponnesian War the Lacedaemonians apparently had considered taking action against Athens during the Samian revolt. If we infer correctly from the Corinthians’ speech at Thuc. I 40,5, that an assembly of the Peloponnesian League did take place on that occasion, and if we assume that the Lacedaemonians had some legal pretext (however flimsy) for intervening militarily against Athens, then one can hardly imagine another pretext than an invocation of the autonomy clause (see Badian 1993, 138–139). Yet the League assembly voted to take no action. Purely pragmatic reasoning may have informed its decision, and Thucydides does have the Corinthians give one such reason while others suggest themselves from modern history – as Chamberlain did not want to go to war to save Czechoslovakia, few on the Peloponnese in 440 may have desired war for the sake of Samos. All the same we should not discount the possibility that Athens might have had an argument, however technical, to reconcile its actions with the wording of the treaty; and that some Philadelphia lawyer even laid out the case for the Lacedaemonians not necessarily to convince them, but to allow them to save face. Although Thucydides mentions only one decree in regard to Megara (Thuc. I 139,1 and 2; 140 3 and 4; cf. 67,4), Aristophanes, Acharnians, 514–539, makes clear that the assembly passed two separate decrees, one which forbad the importation of Megarian goods into the Athenian «Empire» (519–522) and a second which forbad the Megarians themselves from entering (532–534). To the second Thucydides refers. Both Megarians and Lacedaemonians omitted to protest against the first decree, but claimed that the second violated the treaty. Their forbearance in protesting against the first lends a degree of credence to their allegations concerning the second: us thinks the Megarians did perhaps protest too little! (Badian 1993, 144–145, fails to make this argument.) Moreover, the Lacedaemonians, although they backed away from their other demands in the course of the negotiations with Athens, held fast to this one (Thuc. I 139,2) as though convinced that here they stood on the firmest ground possible. Aristophanes, op.cit., 539, at least confirms that refusal to rescind the Megarian decree proximately caused the war. Thuc. I 82 and 85,2. Badian 1993, 142–143, argues that Thucydides has King Archidamus advert to a diplomatic solution as consonant only with general principles of justice (i. e. not as something specifically mandated by the relevant clause of the Treaty) – and thereby presents Archidamus as one who reduces sworn obligations to a matter of «customary practice» in line with a generalised Lacedaemonian disregard of oaths and treaties. Badian’s position has merit, but Archidamus’ purported phrasing (oà nÏmimon) does admit of the stronger interpretation «contrary to law» and might thus count as a reference to the Treaty. See above to Nn. 18–24.
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icles who in two quick sentences rejects the Lacedaemonians’ arguments in respect of the autonomy clause and the free-access clause and then adverts to the Lacedaemonians’ refusal to take the matter to arbitration (despite the Athenians’ willingness so to do) (Thuc. I 144,2). Since we have already seen the refusal of the Lacedaemonians to consider arbitration, we accept that, however the case might stand with the other two clauses, the Lacedaemonians are violating the treaty by going to war before they give arbitration a chance. Thucydides’ argument is pellucid. Its correctness, however, one might dispute if one knew the exact wording of the Treaty. That we do not know since Thucydides, despite his oft demonstrated ability to cite treaties and even drafts of treaties verbatim,30 chooses not to quote the Thirty Years’ Treaty although everything which he had to say concerning the apportionment of blame for the outbreak of the Peloponnesian War turned on the interpretation of this particular treaty. Strain as we will, we gain little leverage against Thucydides’ view because we lack the proverbial locus standi. And Thucydides meant for it to be that way. Related to this method – withholding of vital information which readers might not easily ascertain – is the slow narration of non-essential events followed by rapid summary of relevant ones followed by something dramatic. The important information suffers thereby serious abridgement; and Thucydides directs the readers’ attention elsewhither. Thus Thucydides, who has argued that the Lacedaemonians had decided on war already at the aforementioned assembly a year before the war actually broke out, must attempt to prevent us from thinking much about the ensuing negotiations which, in his view, were just pro forma anyway (Thuc. I 126,1). The Lacedaemonians opened negotiations with a routine sacral sally,31 and Thucydides records this matter at some length (Thuc. I 126,2–135, 1). He digresses into lengthy accounts of the Cylonian conspiracy and the (mis)adventures of Pausanias (Thuc. I 126,2–12 and 128–135,1). These last lead even farther astray into tales of Themistocles.32 While interesting in their own right, these stories have little relevancy for 30
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V 18–19 (Treaty for Peace of Nicias = SVA II 188); V 23–24 (Treaty of Alliance between Lacedaemonians and Athenians = SVA II 189); V 47 (Treaty of Alliance between Athenians, Argives, et al. = SVA II 193); V 77 (draft of Treaty between Lacedaemonians and Argives = SVA II 194); V 79 (Treaty of Alliance between Lacedaemonians and Argives = SVA II 194); VIII 18 (draft of Treaty of Alliance between Peloponnesian League and «Persia» – mistaken by Thucydides for an actual treaty = SVA II 200); VIII 37 (draft of Treaty of Friendship between Peloponnesian League and «Persia» – mistaken by Thucydides for an actual treaty = SVA II 201); VIII 58 (Treaty between Peloponnesian League and «Persia» = SVA II 202). Odd though they seem to us, these charges of sacral offenses played an important role ˆ in opening diplomatic representations and exchanges in Greece. Although Thucydides compresses the story of how Argos forced war on Epidaurus in 419 B. C. (V 53), it still emerges that Argive diplomats opened complicated diplomatic manœuvres by first demanding (evidently at Epidaurus) that Epidaurus make certain offerings at a temple administered by Argos. Once Epidaurus refused (there may or may not have been counter-claims and counter-embassies), then Argive diplomats presented this refusal as a diplomatic justification for going to war. Important in our context is that the sacral charge opened an exchange which might then proceed to issues which we would view as (politically) substantive. Once the negotiations between Athens and Sparta in 432 B. C. had moved past the sacral claims and counter-claims to substantive points (e. g. the rescission or maintenance of the second Megarian Decree), even such a sub-discussion could be opened with a sacral claim: Athens’ opening statement in that sub-discussion maintained that Megara had brought sacred land under cultivation (Thuc. I 139,2). Such charges helped a state claim the moral high ground as negotiations and diplomatic exchanges got underway, but never precluded discussion of the non-sacral matters of substance. Thuc. I 135,2–138. In fact, the stories of Pausanias and Themistocles form an indissoluble unit (see e.g. Konishi 52–69) which Thucydides lifted from a work of Charon of Lampsacus (see Westlake 95–110; and also Parker 2005, 3–4 with n. 8).
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the negotiations between the Lacedaemonians and the Athenians.33 The entire initial embassy, for all that it teaches us about Greek diplomatic procedure, also has, strictly speaking little bearing on the substantive negotiations. Yet all of this takes up some 289 lines in the Oxford text. After all this Thucydides reports on the substantive negotiations: Embassies go back and forth34 ; and the Lacedaemonians in the course of these give up their demands in respect of Potidaea and Aegina, but in the end refuse to back down on their last demand, the revocation of the second Megarian Decree. We receive no farther details for Thucydides sums this up in precisely nine lines. We do not even learn the number of embassies which came from Sparta for Thucydides contents himself with the verb foitàw to describe these embassies’ travels. Over these vital negotiations Thucydides skips with gay abandon till he comes to the final embassy: The Lacedaemonians make an ultimatum which the Athenians cannot and which, indeed, they are clearly not meant to accept (Thuc. I 139,3). Thucydides’ garrulity suddenly picks up apace and he informs us in all solemnity i. a. of the ambassadors’ names – details withheld for the previous substantive negotiations – and even cites verbatim the text of their ultimatum. Immediately thereafter Thucydides gives us Pericles’ dramatic speech (Thuc. I 140–144) and, caught up in its rhetoric, we forget about the negotiations, as indeed Thucydides meant us to do, because dwelling too much on them might cause us to suspect that the Lacedaemonians in their assembly in 432 had voted no more and no less than what the motion under debate stated – that the Treaty had been broken and that Athens was in the wrong – and then, as enjoined by the treaty, had attempted to resolve those differences by peaceful means.35 Thucydides’ methods, when analysed so baldly, lose their persuasiveness – much as the prestidigitator’s trick, once explained, has no longer any charm to entertain. For good reason do magicians guard their secrets. But the astute may still, through careful observation, discern whence the rabbit came and learn to do the trick themselves: for it takes more to be a magician than to don the cylinder and black tails.
II. We now pass on to Sallust. Like Dio, Sallust put on the magician’s garb and imitated Thucydides’ style and often his general attitudes. The similarity of the two authors, on which the ancient scholars had already commented,36 received sustained attention in a series of dissertations and gymnasial Programmata in the closing decades of the nineteenth and opening 33
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Xenophon puts this basic method – digression so as to keep the reader from connecting certain dots for himself – to good use in the Hellenica: for one such case see Parker (in press). The use of the verb foitàw (Thuc. I 139,1) indicates that several embassies came between the initial embassy (with the sacral charge) and the one which delivered the ultimatum (Thuc. I 139,3). Badian 1993, 154, rightly emphasises the multiplicity of embassies. Since Thucydides never cites the treaty, we have no way of knowing exactly what sort of arbitration it required: theoretically it might have foreseen arbitration by a third party (as, e.g., in the Treaty between Sparta and Argos: Thuc. V 79,4 = SVA II 194), but it might have merely enjoined Athens and Sparta to make a good faith effort at resolving their differences betwixt themselves at the negotiating table. One may compare, e. g., the Treaty between the Acarnanian and the Aetolian Leagues (SVA III 480), admittedly of a much later date, namely the mid-third century, which for regulating a particular dispute betwixt the two leagues, prescribed as a last resort a commission of ten judges from Acarnania and ten for Aetolia whose decision was to be final – see lines 9–11. Theoretically the Thirty Years’ Peace between Athens and Sparta might have envisaged some such arrangement (whether or not directly defined). See Seneca, Cont. IX 1,13; Suas. VI 21; Vell. Pat. II 36,2; Quintilian, X 1,101; X 2,17.
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years of the twentieth centuries. In matters of style Johannes Robolski’s dissertation of 1881 seems to have established a consensus as to what Sallust owed to Thucydides and, by general implication, what to older Latin writers such as Cato and Sisenna.37 Silvius Dolega and others meanwhile put together an impressive list of passages in Sallust which in their wording follow passages in Thucydides closely.38 After these works scholarship concentrated on the somewhat hazier subject of the two historians’ shared conception(s) of history and historiography.39 The matter of style at any rate seems to us, as in the case of Cassius Dio, settled. Unlike Dio, however, Sallust studied the magician closely and taught himself the master’s tricks. Sallust had the need so to do. When Sallust decided to write about the Jugurthine War, for instance, he faced the daunting prospect of a subject about which many others had put forth their views: Sempronius Asellio (HRR I 179–184), M. Aemilius Scaurus (HRR I 185– 186), P. Rutilius Rufus (HRR I 187–190 and FGrHist 815), P. Cornelius Sulla Felix (HRR I 195–204), Q. Claudius Quadrigarius (HRR I 205–237), Valerius Antias (HRR I 237–275), C. Piso,40 and the Greek Posidonius (FGrHist 87), to name only those of whom we know. Others no doubt existed.41 Given that some of these were eyewitnesses (Scaurus, Rufus, Sulla) or at all events near contemporaries, what might Sallust legitimately have expected 37
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Robolski, especially since he was analysing the notoriously dense styles of two of the most difficult authors of antiquity, deserves a more than parenthetical compliment on his own straightforward and efficient one. In brief, Robolski shewed that Sallust accepts into his Latin numerous Graecisms, mostly in point of grammatical constructions (e. g. use of the casus obliqui, 12–21, or the use of various constructiones ad sensum, 31–33), all of which Thucydides presents in a superabundance which distinguishes his own style from that of other Greek writers. Other scholars – esp. Schultze and Brunnert – had earlier analysed Sallust’s ¨ debt to Cato and Sisenna and other older Latin writers: here the debt inheres mostly in orthography and vocabulary. Other matters which Schultze and Brunnert had attempted to attribute to older Latin authors ¨ Robolski convincingly traced back to Thucydides instead (e. g. Sallust’s use of decet with the Dative – see Robolski, 19, against Schultze, 66). Schild, 9–16, has little to add to Robolski’s collection. Whether we should view Sallust’s brevity, however, as deriving mostly from Thucydides (so Robolski, 37–44) or, alternately, from the language of the older Latin authors (so Brunnert, 48–49), is probably best left to each ¨ individual’s own judgement. In fact, T. F. Scanlon, 53, can casually speak of Sallust’s debt in this regard to Cato and, still on the same page, blithely treat Thucydides as Sallust’s model for brevity. The ancient scholars for their part clearly viewed Thucydides as Sallust’s model (see above n. 36). Yet, of moderns, Martin 122, traces it back to Cato without so much as a mention of Thucydides. See Dolega, Mollmann – largely conceived as a critical commentary on Dolega’s dissertation –, and Schild 1–8. (Both Dolega 48–59, and Mollmann 27–28, incidentally included a brief treatment of the Graecisms in Sallust’s style, a treatment which that of Robolski superseded.) Finally, Mack 3–5, attempted to establish a clearer methodology for recognising which passages Sallust genuinely modelled on Thucydidean ones and presented his own list of parallel passages in which he occasionally found a better Thucydidean parallel for a Sallustian passage which Dolega had already declared inspired by Thucydides (e. g. Dolega 35–36, suggested Thuc. II 63,2 as the model for Sall. Bell.Iug. 31,22; but Mack 11, shewed that the Sallust-passage was actually based on Thuc. II 61,1). To a degree, of course, it remains open to scholars to evaluate the closeness of the parallels for themselves; and one passage (Con.Cat. 2,1 = Thuc. I 13,1) which Dolega 15, alleged as a genuine parallel, but which Mack 5, excluded as a commonplace, appears in Scanlon 51, again as a genuine parallel. Scanlon 47–48, rightly acknowledges the many differences between Thucydides’ specific historiographical aims and general historical attitudes on the one hand and those of Sallust on the other, but with a degree of conviction does argue that the common presence of combined habits in both historians (e. g. not just the tendency to generalise from the specific nor, in isolation, the use of the antithesis of lÏgoc and Írgon, but rather the use of that antithesis to make generalisations [64–83]) attests Thucydidean influence on Sallust beyond mere imitation of style and occasional borrowing of arresting passages. Only Plut. Marius, 45,8, mentions him: see HRR I, p. CCCLXXX. The case of C. Piso, of whom we know thanks only to a chance remark in Plutarch, provides the cautionary example: without that remark we would never so much as suspect his existence. See Parker 2007 for arguments that other such accounts once existed.
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to do better? What new evidence might he have hoped to unearth or new facts to bring to light? In actuality Sallust could hope for nothing of the sort: as Wolf Steidle pointed out some time ago, Sallust’s predecessors had long since established all «the essential facts.»42 But Sallust could pour old facts into new interpretative skins. That is easier said than done, of course; but Sallust had read Thucydides, and with understanding. Although Sallust was working against a different set of circumstances – he had no contemporaries to worry about who still remembered events, but rather senatorial readers who knew e.g. the memoirs of M. Aemilius Scaurus and P. Rutilius Rufus –, the basic problem remained: how to persuade those who knew many of the essential facts that his interpretation surpassed others’. That Sallust succeeded in solving this problem has perhaps helped his work survive: all the rest have perished but for a few pathetic fragments. Let us now see how Sallust employed what he learnt from Thucydides. The famous statement uenalia Romae omnia esse provides an easy example.43 Sallust genuinely believes that bribery routinely influenced the Senate’s decisions, that the senators voted to the benefit of those who paid the most. Like Thucydides, Sallust suggests his thesis early: from ambitious and dissolute young nobiles Jugurtha, who is serving the Romans as an ally during the Numantine War, learns that «at Rome everything is for sale» (Bell.Iug. 8,1). In Thucydidean manner (the Lacedaemonian Assembly voted for war in 432) Sallust keeps repeating his interpretation (at Rome one could buy anything) so that the flea becomes ever more deeply implanted. Thus, a few chapters after the original statement we read it again with only the order of the words modified: omnia Romae uenalia esse; a little after that we read the following of Jugurtha: quoi Romae omnia uenire in animo haeserat, «in whose mind it had stuck that at Rome everything was for sale» (and, indeed, Sallust means it to stick in his readers’ minds also); and shortly after that Sallust has the tribune Memmius remark: res publica uenalis fuit, «the state was up for sale.»44 In the same way in which Thucydides drives home his view that the Lacedaemonians were voting on war in the assembly in 432 by repeating his interpretation from various perspectives (the Corinthians’ speech; the Athenians’ speech; Archidamus’ speech; Sthenela¨ıdas’ speech), Sallust too has arranged matters so that readers hear his interpretation from all sides: from the nobiles; from the tribune Memmius who, on behalf of the populus, combats the nobiles; and of course from the Numidian King himself. In other words, we hear the view not just from a non-Roman, but from the Romans themselves; and those Romans from whom we hear it stand on both sides of the political divide at Rome. But Sallust, when it comes to concrete examples of how Jugurtha got his way through bribery, often faced an inconvenient fact which did not prove what he wanted. For example, after Jugurtha killed his adoptive brother Hiempsal and drove his other adoptive brother Adherbal from Numidia and was, in fact, as Sallust puts it, omnis Numidiae potiebatur, «in charge of all Numidia» (Bell.Iug. 13,5), Adherbal appealed to the Senate. Jugurtha, naturally, resorted to buying up senators (Bell.Iug. 13,5–9) and, according to Sallust, succeeded in this admirably: when it came to a vote, uicit …in senatu par illa, quae uero pretium aut gratiam anteferebat, «in the senate that part prevailed, which preferred money and favour to the truth» (Bell.Iug. 16,1). Jugurtha has clearly gotten away with his expulsion of Adherbal 42 43 44
Steidle 53. On this see Parker, 2004, 408–423. Sallust, Bell.Iug. 20,1; 28,1; 31,25. On the scene in which Jugurtha describes Rome as an urbs uenalis (35,10) see below n. 52.
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and his seizure of all Numidia. Yet Sallust now – like Thucydides with the Lacedaemonian assembly’s vote – desperately needs us to see not what actually happened next, but rather what he believes happened or, otherwise phrased, what he wants us also to believe happened. Like Thucydides with the four speeches prior to the motion put, all of which suggest to and finally tell the reader how to think about what happened next, Sallust too has prepared the ground carefully by constant iteration of how we are to think about the senate’s decisions, that they are bought. The Senate – so the indisputable facts which Sallust had to mention – decides to send a commission to Numidia. The commission brings Adherbal back to Numidia, whence Jugurtha had driven him, and gives him half of the Kingdom and re¨ınstates him there as ruler. Moreover, Adherbal gets the eastern, far more valuable half of Numidia.45 These actions do not prove that Jugurtha had the Senate in his pocket. Quite the contrary, they suggest that the Senate was consciously slighting Jugurtha: instead of affirming his control of all Numidia, it took the richer half (quae portuosior et aedificiis magis exornata erat, «which had more harbours and was rather better decked out with buildings» – Bell.Iug. 16,5) from him and gave it to his detested opponent. This Sallust must prevent us from seeing; hence the Thucydidean method of informing us in advance of how we are to view the Senate’s actions. But in case we do wonder about the re¨ınstatement of Adherbal in the richer half of Numidia, Sallust informs his readers apodictically that Adherbal received illam alteram specie quam usu potiorem, «that part [of Numidia] which was better more according to appearance rather than actual utility» whereas Jugurtha received pars…agro uirisque opulentior, «the part richer in fields and men» (Bell.Iug. 16,5). Sallust speaks as the former governor of the province of Africa Nova which included most of the old Kingdom of Numidia and reassures readers, most of whom have never been to Numidia and have no real appreciation of its geography, that their superficial knowledge thereof misleads: if one looks past appearances, then Adherbal clearly received the worse half, Jugurtha the better. Sallust takes advantage of his readers’ lack of close knowledge – which they could not easily gather for themselves to refute him – and so steers them towards his way of thinking. The Thucydidean method shines through: where readers cannot easily ascertain the information necessary, there make the assertions which one’s argument requires, assertions which they however cannot refute without first acquiring that information. (There remains one «beauty mark» in Sallust’s argumentation, of course; namely that the Senate re¨ınstated Adherbal at all: but so successful has Sallust been overall in imposing on readers his thesis that few commentators have noticed that the whole story provides an excellent example of how the Senate was, in fact, not susceptible to Jugurtha’s bribes.) But perhaps we should proffer, in addition, an example when Sallust refers to a document which he does not cite, but about which he makes assertions or at all events implies something. An interesting example comes from the Bellum Catilinae. We refer to the documents which Cicero presented at a meeting of the Senate on Dec. 3rd , 63 B. C., – discussed by Cicero in the Third Catilinarian, so we have independent evidence with which to confront Sallust –, documents which allegedly proved the guilt of various co-conspirators of Catiline’s (Cethegus, Statilius, and Gabinius). Since most of us read the Catilinarians only as 45
Sallust, Bell.Iug. 16,2–5. (On the quality of the land given to Adherbal see, e.g., Gsell, 146, or Paul 70–71. On Sallust’s opinion see immediately below in text.)
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school exercises, we rehearse the matter briefly: The conspirators had approached envoys from the Allobroges, a Gallic tribe, to persuade them to aid the rebellion. The envoys, however, double-crossed the conspirators and through the mediation of their Xenos in Rome, one Q. Fabius Sanga, passed all of this on to Cicero, then consul. According to Sallust, Cicero asked the envoys to demand letters from the conspirators, so that hard evidence of the conspiracy would henceforth exist.46 The conspirators in any case provided the letters to the envoys, and Cicero set a guard at the Mulvian Bridge to seize the evidence. One conspirator, Volturcius, had accompanied the envoys with another letter from Lentulus, meant to be delivered to Catiline.47 Rarely do conspirators or others acting without the law display the necessary stupidity to commit illegal plans to writing. (For good reason did the recording in Mission: Impossible self-destruct in five seconds.) The conspirators in Rome, for their part, seem to have practised some elementary caution. Cicero paraphrases one of their letters, that of Cethegus: Allobrogum senatui et populo sese quae eorum legatis confirmasset facturum esse; orare ut item illi facerent quae sibi eorum legati recepissent, «that he would do for the senate and people of the Allobroges what he had promised their envoys, and begged them likewise to do what their envoys had arranged with him» (In Cat. III, 5). Frankly, the letter by itself proves nothing about any conspiracy as Cethegus, for reasons which should be perfectly obvious, confined himself to the vaguest of statements. In fact, Cicero, who omits to quote the letter verbatim, may have helpfully fleshed its meaning out a bit in his paraphrase.48 Only with a great deal of expository argumentation and supplemental evidence – the envoys’ statements, some of the conspirators’ confessions – can Cicero turn these vague letters into evidence of a conspiracy. Cicero himself perhaps confesses some embarrassment at how little the letters yielded by themselves: he is at pains to explain, before discussing them, that despite the advice of some, he had declined to open them in advance of the session of the Senate.49 Now, what use did Sallust make of these letters? Unlike Cicero, Sallust does not paraphrase their contents. Having stated that some of the conspirators, nihil suspicantes, «suspecting nothing,» provided the letters which the envoys had requested (Bell.Cat. 44,2), Sallust reverts to these letters in his account of the Senate’s debate. He notes: perlectis litteris, quom prius omnes signa sua cognouissent, senatus decernit, uti …in liberis custodiis habeantur, «when the letters had been read out, after each conspirator had first acknowledged his own seal, the Senate decided, that [the conspirators involved] should be kept under house arrest» (Bell.Cat. 47,3). The impression arises that the letters contained convincing proof (we know they did not); and Sallust has actually stated that their authors had 46
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Sallust, Bell.Cat. 44,1. (Cicero himself apparently would have us believe that the conspirators wrote the letters on their own initiative.) Sallust, Bell.Cat. 44,4. Although Cicero claims that he knew that Volturcius was carrying a letter for Catiline (In Cat. 3,2), this does not emerge from Sallust, Bell.Cat. 44,3–4. The Allobroges surely knew that Volturcius was going with them to mediate between them and Catiline; but why should Lentulus have told them of that additional letter which not even Cicero claims concerned them? The letter of Lentulus’, given to Volturcius, Cicero quotes in full at In Cat. 3,5: while vague, it at least has a suitably conspiratorial tone (Quis sim scies ex eo quem ad te misi; «who I am you will know from him whom I have sent to you») and a shocking reference to fomenting a slaves’ revolt. In Cat. 3,3. It is irrelevant whether or not Cicero had actually opened the letters: Lucian, Alexander, 20–21, explains the techniques for undoing and redoing seals so as to make a letter appear unopened. If Cicero had opened the letters, then he was possibly prepared to use them to best effect by introducing them well and by not relying on them exclusively.
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entertained no suspicions (we know they clearly did, else they would not have confined themselves to unmeaning generalisations). Had we only Sallust’s account – without Cicero’s to set beside it – we might think that these letters had indeed contained convincing proof. Both Cicero and Sallust, incidentally, quote in full for us a letter of Lentulus’, seized by co¨ıncidence on the Mulvian Bridge at the same time, a letter which yields rather more than the others, since it contained a reference, this time disturbingly clear, to fomenting a slaves’ rebellion (auxilium petas ab omnibus, etiam ab infumis, «seek support from all, even from the lowest»).50 Sallust, who clearly had Cicero’s speech before him as he wrote, consciously retained the quotation of Lentulus’ letter, but with equal purposefulness removed the paraphrase of the others: Sallust had learnt well from Thucydides that documents which do not prove what one needs, but which cannot readily be checked51 have far greater effect when one confines oneself to assertions, implicit or explicit, about them. We have moreover also seen how Thucydides might with a bit of rhetorical prestidigitation direct the reader’s attention away from inconvenient data so that the latter will fail to apprehend their significance. Sallust understands to employ that trick as well. To take but one example: The Senate sent M. Aemilius Scaurus, the princeps senatus, to Numidia at the head of a commission to investigate affairs there (Bell.Iug. 25,4). Upon his return the Senate voted to assign Numidia as one of the consular provinces for the incoming consuls of that year (Bell.Iug. 27,3–4). In other words the Senate was reckoning with the necessity of war in Numidia in the very near future and was laying the groundwork accordingly. Upon neutral reflexion this might have something to do with Aemilius’ report back to the Senate after his return. Sallust, however, tells us nothing of any such report, whether formal or informal. It simply vanishes down the memory hole as Sallust moves the narrative rapidly forward: Scaurus returns to Rome having done nothing in Numidia to speak of (for Sallust); the Senate too would have done nothing, but right at this moment a flamboyant tribune designate, one C. Memmius, uir acer et infestus potentiae nobilitatis «a right firebrand and one inveterately opposed to the nobility’s dominance» (Bell.Iug. 27,2), stirred the populus up and thus forced the Senate for once to do something. We have seen how Thucydides manages the inconvenient embassies from Sparta to Athens in a similar way, employing the means of a passionate speech to deflect the reader’s attention from inconvenient imformation to something else. Sallust, it is true, does not actually bring a speech of Memmius’ at precisely this point: he introduces Memmius for the first time here, perhaps to increased diversionary effect so that readers may wonder who Memmius was and how through his activities he could have compelled the Senate to act. We get a sample of Memmius’ oratory just a little later, in chapter 31; and Sallust, through a cross-reference, connects the passages for us: quoius de libertate ingeni et odio potentiae nobilitatis supra diximus, «of whose dedication to liberty and of whose hatred for the nobility’s dominance we have spoken above» (Bell.Iug. 30,3). Through a speech such as that in chapter 31 we are to imagine Memmius’ inciting the crowds and so compelling the Senate to act in chapter 27. One final example regarding the compression of a problematic account combined with the inflation of colourful yet irrelevant material. Thucydides, to stay with the story of the 50
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Cic. In Cat. 3,5; Sallust, Bell.Cat. 44,5. (N.b. that Sallust rephrases the letter a bit to make it fit his own style – seen most clearly in the excerpt above in the spelling infumi as opposed to infimi. See McGushin 220–222.) Nothing guarantees us that the conspirators’ letters themselves remained in the Senate’s files. Cicero’s speech was indeed published, but it had only paraphrased.
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inconvenient embassies, offers only an abbreviated account of them whilst expanding his treatment of a related yet strictly speaking irrelevant embassy, that on the sacral charge. That embassy, of course, opened the door to far more entertaining and for precisely this reason: both distracting and memorable material. While in Rome for negotiations to end the war in Numidia, Jugurtha has a minion pay bravos to do in a claimant to the throne, also in Rome. However, one bravo falls into the clutches of the law: the trail leads back to Jugurtha’s minion and thence, by elementary deduction, is supposed to lead to Jugurtha himself. Jugurtha has his minion smuggled out of Rome. Thereafter the Senate orders Jugurtha himself to leave, and the war against him continues. This is the episode in which Sallust, with consummate literary skill, describes for us the famous scene in which the foreign prince, a few miles from the city, turns back to gaze upon it. He contemplates its walls and hills in the distance and at last states urbem uenalem et mature perituram, si emptorem inuenerit, «yonder lies an entire city up for sale and ripe for destruction so soon it finds a buyer.»52 Sallust’s problem: Jugurtha has failed to achieve a single object on his trip; the Senate has just unceremoniously ejected him from the city and will now resume the war against him. Sallust solves the problem, first, through Catonic repetition of statements on the Senate’s susceptibility to bribery (readers, prejudiced on the point, ignore the facts in front of them53 ); but also by a bit of apt Thucydidean expansion and compression. The important facts (expulsion from Rome) stand in fewer than two lines of the Teubner text. But the cloak-and-dagger story of Jugurtha’s cold-blooded murder of his rival and his shameless spiriting away of his henchman from justice? Thirty-three lines. The supreme literary merit of the following scene with the urbs uenalis does its part as well. So readily do readers assume that an author will give full, detailed treatment to that which has importance and will pare down the less relevant, that they easily fall for this trick, that the author has swelled an account precisely to make them think it important and to distract them from what actually does have relevance. Thucydides managed the trick well, so did Sallust. The basic methods as we see remain the same. Now lest any wilfully misunderstand us, let us state clearly that we do not believe that either Thucydides or Sallust is attempting to foist an untruth upon the reader – at least not according to their lights. Both Sallust and Thucydides believed that they were pleading for the true (truest?) opinion: that money was constantly corrupting the venal Senate; that the Lacedaemonians started the Peloponnesian War. But certain pieces of evidence got in the way or failed to demonstrate what «truly» was the case. Moreover, some readers knew of those pieces of evidence. An homologous historiographical situation meant that the methods which Thucydides had developed and employed for coping with this came in useful for Sallust also. A quick digression will shed more light on why: Roman historiography, to give one example, maintained that Hannibal had started the Second Punic War with his attack on Saguntum.54 Unfortunately, the diplomatic protocol governing Roman and Carthaginian relations in Spain consisted of an undertaking of the Carthaginian commander Hasdrubal’s that the Carthaginians would not cross the River Ebro for the purpose of waging war (Pol. III 29). As most have admitted, implicit within this undertaking is the understanding
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Sallust, Bell.Iug. 35 (urbs uenalis at 35,10). See above to n. 43. E.g. Livy, XXI 1sqq.; Appian, Hann. 1. Cf. Pol. III 6,1.
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that the Carthaginians retained for themselves a free hand to wage war south of the Ebro and intended on so doing.55 Now Saguntum lay to the South of the Ebro. We have no intention here of rehearsing many of the old debates related to this passage. We desire to look only at the historiographical strategies employed in dealing with the problem. Polybius, methodical to a (in the case in point: literal) fault, quoted all the relevant treaties and protocols governing Carthaginian and Roman relations (Pol. III 22–27). He then tied himself in knots trying to solve the impossible task which he had set himself: proving on the basis of the treaties and protocols that Hannibal somehow violated an agreement when attacking Saguntum. The chapter in which Polybius’ argumentation stands accordingly does his reputation as a systematically logical thinker little good.56 Yet the problem which Polybius faced was real and required solving by all who treated of the beginning of the Second Punic War. Thus some Roman annalists solved it to their satisfaction by lying straightly and claiming that Saguntum lay to the North of the Ebro (Appian, Hann. 1,3). Their solution does have the merit of internally consistent logic even if rudi55
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Thus, e. g., Badian 1956, 50, n. 2. Cf. even Livy’s understanding of the so-called Ebro-Treaty per se in his paraphrase at XXI 2,7): ut finis utriusque imperii esset amnis Hiberus, «The River Ebro was to be the boundary of each ‹empire› » – i. e. neither party was to interfere with the other’s dominion on its side of the river. Pol. III 30: Polybius opens by arguing that the Saguntines stood under Roman protection. However, he had no document to shew this: if he had found one, he would surely have cited it. As evidence he can adduce only a Saguntine appeal to Rome (not Carthage) in a time of civil strife. This appeal must be that mentioned at III 15,7 which clearly postdated the Ebro-Treaty. Even allowing that the appeal proves that the Saguntines had earlier placed themselves under Roman protection, we constate a chronological problem which Polybius (as well as others of lesser sophistication) saw: If Rome had entered into a relationship with Saguntum after the Ebro-Treaty, then Rome was clearly inviting trouble with the Carthaginians by impinging on their activities in an area in which they viewed themselves as having (by right) a free hand. But if Rome already stood in some sort of relationship with Saguntum at the time of the Ebro-Treaty, then Hasdrubal’s undertaking mò diaba–nein Karqhdon–ouc ‚p» polËm˙ t‰n óIbhra potamÏn, «that the Carthaginians would not cross the Ebro in arms» would merely define the area in which the Carthaginians had a free hand more closely – i. e. the two diplomatic protocols would supplement each other. But Polybius will not date the beginning of the relationship with Saguntum with reference to the Ebro-Treaty: he says instead that Saguntum had stood under Roman protection ple–osin Ítesin ¢dh prÏteron t ¿ n k a t+ >A n n – b a n k a i r ¿ n, «for many years before the time of Hannibal» (III 30,1). He can have but one reason for giving this irrelevant chronological reference-point, «the time of Hannibal»: he wishes to fudge the issue. That he was purposefully being evasive is clear from a glance at Livy XXI 2,7, who (or at least whose source) saw very clearly, as indeed anyone must have, that Rome, to have the moral and legal high ground, could not have entered into a relationship with Saguntum after the Ebro-Treaty: Livy at least faced the issue in an logical way and lied straighforwardly (see below in text) where Polybius weaseled with extraordinary lack of logic. Incidentally, Polybius also stretched what ple–h Íth can mean for the Saguntines appealed to Rome only a year or so before Hannibal actually attacked them. At any rate Polybius proceeds then to argue that the Carthaginian attack on Saguntum violated the clause in the treaty ending the First Punic War which stated, tòn Çsfàleian Õpàrqein par+ ·katËrwn toÿc ·katËrwn summàqoic, «that both parties’ allies shall have security from attack by the other party» (Pol. III 27,3). However, this holds only if one accepts that the clause applies also to allies made at a later date; and it is difficult to argue that Carthage’s attack on Saguntum violated a treaty made between Rome and Carthage before anyone in Rome had even heard of Saguntum; before the Carthagians had built up their Spanish «empire»; before Rome had become interested in Spain. Aware of the need for some other line of argument Polybius accordingly proceeds with the statement that the Carthaginian attack on Saguntum violated the Ebro-Treaty (Çd–kwc ‚xenhnoqËnai t‰n pÏlemon Karqhdon–ouc ... katÄ ... tÄc ‚p+ >Asdro‘bou [sunj†kac], kaj âc oŒk Ídei diaba–nein t‰n óIbhra ... «the Carthaginians began the war wrongfully according to the treaty with Hasdrubal which stipulated that they were not to cross the Ebro … » (III 30,3). Since Polybius is fully aware that Saguntum lies to the South of the Ebro (e.g. III 14,9), this makes no sense; nor does Polybius bother to explain. Instead he moves on to another historiographical consideration of a possible cause of the war; a consideration which bears no relevance whatsoever to the preceding discussion. That is the best that Polybius can do to pin the blame for the war on Carthage.
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mentary knowledge of Spanish geography suffices to discover its falsity. Other annalists solved the problem by inventing a new clause for the Ebro-Treaty which specifically mentioned Saguntum such that Saguntiisque mediis inter imperia duorum populorum libertas seruaretur, «and the ‹liberty› of the Saguntines, who lay between the ‹empires› of the two peoples, was to be preserved,» so that Hannibal’s attack on it would without cavil violate that treaty (Livy, XXI 2,7). Of course, they do not cite the treaty verbatim since quotation would expose their assertion for a blank lie, on the same order of fraud as the redrawing of the map of Spain. Unfortunately for them Polybius did cite the treaty, so we can detect the lie all too easily. Even had he not cited the treaty, we probably would still suspect lies on the annalists’ part given the two different ways in which they were trying to make the Carthaginians violate the Ebro-Treaty: if the Carthaginians had violated a clear clause in the Treaty, all the annalists’ accounts would have agreed. As Daniel demonstrated long ago in exemplary fashion, widely divergent accounts by witnesses all trying to prove the same story strongly indicate falsehood. Yet let us note that very clearly the annalists were in fact dealing with a difficult historiographical problem which bedeviled Polybius also, in every point their better. His intellectual sophistication precluded cheap and easily refutable lies; and his methodical habits the refusal to cite all the relevant evidence. Therein, of course, lay the problem: he had evidence which did not shew what his opinion demanded. Thucydides, however, had demonstrated how to deal with such a problem in his treatment of the outbreak of the Peloponnesian War: do not cite the treaty, merely allude to it and make assertions about it. Polybius, had he been an apt pupil, would have followed suit; and modern scholarship would know as little about the Romano-Carthaginian treaties as about the Thirty Years’ Peace. But what matters for us in this context is the difficulty of coping with the actual problem: inconvenient data. Polybius honestly gives us such data in full and flounders miserably in explaining them persuasively: hence the interminable modern discussion of the Kriegsschuldfrage. The Annalists tell lies and, in part thanks to Polybius, ones in which we can easily catch them out. They too fail. Thucydides took on inconvenient data also; and has fared far better with his interpretations. So has Sallust, of course; and the reason why should now be clear. Sallust was Thucydides’ apt pupil.
III. We now come to the final section of this paper: Tacitus’ dependence on Sallust. This, of course, is well-trodden ground, though, again, mostly in point of style.57 We have here no intention of tracing how, for example, Tacitus initially modelled his use of the historical 57
Schonfeld provided the basic analysis of Tacitus’ imitation of Sallust in point of word formation (e. g. a ¨ preference for the type claritudo rather than claritas: 4–7; or Tacitus’ pointed use of a series of negative adjectives such as incuriosus which are first attested in Sallust: 14–15); in point of usage of words (e. g. the use of consultor in the sense of one who gives rather than receives counsel: 27); and in point of syntax (e. g. use of the relative genitive with adjectives: 34–39). Schonfeld also added a brief discussion of similarities ¨ in the structure of Tacitus’ and Sallust’s work (47–52) together with a list of Tacitaean passages containing proposed verbal echoes of Sallustian ones (52–59). Apart from Schonfeld’s focussed work, others of that ¨ age tended to handle the matter in «asides» or in works dedicated to a specific grammatical or literary device: for a guide to them see Schneider 11, n. 2. See now also the summary by Hellegouarc’h 2423–2428. On deeper correspondences (in matters of presentation and historiographical outlook) between Tacitus and Sallust see Schneider.
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infinitive precisely upon Sallust’s before developing it farther in independence of his predecessor’s guidance.58 What we wish to demonstrate in all brevity is Tacitus’ acquisition from Sallust of modes of argument. Scholars have occasionally drawn a line from Thucydides to Sallust to Tacitus (mostly in point of style)59 or have otherwise noted that Tacitus somehow gives a «Thucydidean» impression.60 That impression concerns us here. We draw attention to Tacitus’ treatment of Tiberius, treatment long acknowledged as unfair and overly censorious.61 We choose not to assail that verdict, but rather to investigate Tacitus’ means of foisting his view of Tiberius on readers.62 Tacitus, for example, firmly believed – we need not doubt his sincerity63 – that the evil of the treason trials, under which he and his class had suffered terribly during the reign of Domitian, had begun under Tiberius. With zeal and wrath Tacitus ground his axe. But he too had to contend with evidence which contradicted his case and which he could not well deny: although we know even less of them than of Sallust’s predecessors,64 Tacitus too faced the awful historiographical 58 59
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See Perrochat, 1932, 53–70; also 1935, 261–265, and 1936, 43–48. Thus, e. g., Kornemann 1904, 152. Already in 1873 Laureck 28, could write: Inter Sallustium, Thucydidem Tacitumque…coniunctio quaedam constat, quum Sallustius Thucydidem, Tacitus utrumque imitatus sit, «amongst Sallust, Thucydides, and Tacitus … a certain connexion may be noted for Sallust imitated Thucydides, and Tacitus imitated both.» Nearly a century later, another doctoral candidate could write: «Wie Sallust sich an Thucydides angeschlossen und gebildet hat, so hat Tacitus Sallust zum Vorbild gew¨ahlt»: Schneider 11. E. g. Paratore 40, states, without much argument, that Tacitus’ «mentalita` e` simile a quella di Tucidide» or, 32, calls Tacitus «lo storico latino piu` vicino a Tucidide.» Strebel 33, remarks, in all terseness, that Tacitus ¨ «in seiner Geistesrichtung mit dem griechischen Historiker [i. e. Thucydides] sehr viel Ahnlichkeit hat.» Strebel brings no substantiating argumentation. Mendell 35, notes that «there is …in the Athenian writer [i.e. Thucydides] much that can hardly have failed to exercise an effect on the Roman writers [speaking mostly of Tacitus],» but mentions no more concrete comparandum than Thucydides’ and Tacitus’ use of a chronological framework relying on campaigning seasons in the Peloponnesian War and the Agricola respectively. Syme 1958, 358, whilst denying any direct Thucydidean influence on Tacitus, applies to the latter words penned by Dionysius of Halicarnassus (De Thuc. 24) for Thucydides’ style. Finally, let us note that not all scholars have seen this «Thucydidean» quality in Tacitus: Poschl 167, pointedly distinguishes ¨ Tacitus’ Geistesrichtung from Thucydides’. E. g. Fraenkel 28: «An der ungeheuerlichen Verzerrung dieses Bildes [von Tiberius] zweifelt heute kein Versta¨ ndiger mehr.» Both F. B. Marsh and E. Kornemann 1960 (to take two examples) composed biographies to counteract that Verzerrung. Inevitably, our analysis will overlap with a vast literature, out of which we can only name a few works: Sinclair 2795–2831, discusses and summarises the better part of the older literature on the question. However, already Sinclair’s title – esp. the phrase «the problem of innuendo» – indicates what has most occupied the scholarship on the question (e. g. Ryberg 383–404); and we here do not desire to investigate why Tacitus commonly presents rumours (which quidem, plerique, and alii repeat) or alternative possibilities about Tiberius’ and his contemporaries’ deeds in a welter of utrum … an, -ne …an, and siue …siue (cf. on this Whitehead, 474–495 esp. 493–494, and Develin 64–95 esp. 85–87). Notwithstanding J. Cousin’s instructive attempt, 228–247, to explain these things not as a means specifically invented and employed for the blackening of Tiberius’ reputation, but as an integral part of Tacitus’ historiographical purpose, we cannot fail to note (as does Shatzman 578) that they do consistently suggest the worst about that emperor; and that result of their use by Tacitus seems to us neither unintended by nor unwelcome to him. Klingner 1940, 17, also distinguishes sharply between the truth as Tacitus saw it and historical truth. Whatever sins Tacitus may have committed against the latter, he remained unswervingly true to the former. See the review of the question by Flach 1973C, 92–108 (there bibliographical references), as well as the important treatment of Klingner 1958, 194–206. By name Tacitus mentions in the books relevant to Tiberius C. Plinius Secundus (I 69: HRR II 109–112) and A. Cremutius Cordus (IV 34: HRR 87–90) only. In later books the names of M. Cluvius Rufus (XIII 20 and and XIV 2: HRR II 114–115), Fabius Rusticus (XIII 20 and XIV 2; XV 61: HRR II 112–113), and Servilius Nonianus (XIV 19: HRR II 98) appear. Tacitus may, of course, have consulted others whom he does not name in the Annals for ancient writers scarcely felt any obligation to acknowledge their sources: Aufidius Bassus (whose work Tacitus mentions in the Dialogus, 23: HRR II 96–98) and L. Annaeus Seneca the Elder (HRR II 98) have variously figured in discussion.
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reality that his readers might easily have ascertained many of the facts from other writers already. Thus, the first attempts to charge people under the treason laws during the reign of Tiberius had demonstrably led to nothing – at Tiberius’ express insistence. When busybodies brought charges of treason against one Falanius for admitting a comic actor and prostitute called Cassius to his household cult of Augustus and of selling a statue of Augustus along with some property, Tiberius personally saw to it that the case received the short shrift it deserved. Likewise with a charge of perjury by the name of Augustus against one Rubrius (Ann. I 73). Prima facie Tiberius was nipping pernicious sycophancy in the bud.65 Tacitus did not want to let readers interpret the material thus straightforwardly, so had instead to re¨ınterpret it for them in advance. His proceeded on distinctly Sallustian and Thucydidean lines. First, he adverted early to Tiberius’ studied inscrutability; the emperor’s near compulsive need to cloak his intentions by vague or intentionally misleading statements lest others understand him: Tiberioque etiam in rebus quas non occuleret, seu natura siue adsuetudine, suspensa semper et obscura uerba: tunc uero nitendi ut sensus suos penitus abderet, in incertum et ambiguum magis implicabantur, «now with Tiberius there was always something obscure in his words, kept swinging in the balance66 , as it were; whether by nature or by habit, even when he was not trying to conceal something: at this juncture, when he was genuinely striving to hide his true thoughts, his statements became even more involved in their equivocation and ambiguity.»67 Tiberius, so Tacitus asserts again and again, common-
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Although most scholars have emphasised that Tacitus’ predecessors had pre-painted for him a deeply hostile portrait of Tiberius (e. g. Fraenkel 28), few have bestowed equal emphasis on Tacitus’ attestation to the existence of accounts which presented Tiberius in (one assumes) glowing terms: Tiberii Gaique et Claudii ac Neronis res florentibus ipsis ob metum falsae…compositae sunt, «lying histories were composed of the reigns of Tiberius and Gaius as well as of Claudius and Nero during their respective lifetimes owing to the fear [sc. in which those emperors were held]» (Ann. I 1). Cf. Ann. I 81 where Tacitus admits that the opinions apud auctores, «expressed in various writers’ works,» on Tiberius’ manner of appointing consuls, diverged. Tacitus also mentions in this passage Tiberius’ own speeches (however published) which surely put forward a positive image of the emperor. Finally, Tacitus had recourse to the acta senatus, for the use of which Syme 1982, 68–82, argued emphatically. These official documents must have contained much which toed the official line; certainly Tacitus makes much of senators’ toadying to emperors during sessions of the senate: e. g. Ann. I 12 as Tiberius takes charge of the Empire officially, senatu ad infimas obtestationes procumbente, «the senate descended to the lowest level of fawning»). It will not do to refer (as e. g. Koestermann 1955, 83 with n. 28, does) to Domitian’s aphorism that qui delatores non castigat irritat, «who does not punish the delatores, spurs them on,» and to argue that since Tiberius did not expressis uerbis discourage the bringing of such cases, he was in reality encouraging them. Yet how much public egg did the prosecutors of Falanius and Rubrius have on their faces when the Emperor personally intervened to scuttle their prosecutions? (As a modern parallel we may refer to the acute embarrassment suffered by prosecutors recently in Britain when the Queen personally intervened to scuttle the prosecution of Paul Burrell.) Is not the visible application of public embarrassment a rather potent form of discouragement which speaks far more loudly than words? In any case, even if Tiberius had stated generally that he did not wish such prosecutions to proceed, who does not imagine that Tacitus would have found a way to turn that against Tiberius by adverting to the way in which Tiberius’ public utterances so commonly stood at variance to his actual wishes? On suspensus Koestermann 1963, 106: «in der Schwebe gehalten.» Ann. I 11. See Daitz 34–37, who emphasised the importance of Tacitus’ «direct» statements about a man’s character in understanding Tacitus’ literary technique. Cf. Pippidi 35, who whilst noting Tacitus’ use of this means of presenting his case about Tiberius, goes on to emphasise another means, namely the use of «innuendo,» about which most of the subsequent literature has revolved (see Sinclair). Finally, we need not here raise the question as to how far the historical Tiberius equivocated as much as the Tacitaean: only the latter concerns us in this context.
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ly contrived to let his actions and words give the opposite impression of what he truly thought: non uultu alienatus68 , non uerbis commotior (adeo iram condiderat), «his face did not betray his hostility nor his words the violence of his emotion; he concealed his wrath completely.»69 Because of this thesis – presented on various occasions also when it makes an overtly credible impression70 – readers become accustomed to not seeing the meaning of Tiberius’ actions on the surface, but rather to assuming that their true meaning lies below and indeed gives the lie to how things do appear on the surface. Tacitus found the leitmotif of Tiberius’ inscrutability useful on many occasions: When the senators Q. Haterius and Mamercus Aemilius Scaurus cross Tiberius in the Senate, Tacitus could record that Tiberius in Haterium statim inuectus est, «tore into Haterius right there and then» (Ann. I 13). Yet Tacitus found himself unable to state the same of Scaurus; here Tiberius’ inscrutability came into play: Scaurum, cui inplacabilius irascebatur, silentio tramisit, «Scaurus, against whom he waxed more inexorably wroth, he ignored in silence» (Ann. I 13). Tiberius’ failure to administer a public rebuke to Scaurus does not prove, as it might on the face of things, that Tiberius had taken no offence at Scaurus’ words; rather, given what Tacitus has invited us to believe about the Emperor’s mask, his silence looms the more ominously and betokens even greater hostility towards Scaurus than any word from him might have. But to return to the treason trials. Tacitus slowly convinces us never to take Tiberius at his word, never to assume that his actions are open to straightforward interpretation. Thus, on initial reading, we find it credible when Tacitus, in introducing the first treason 68
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Koestermann 1963, 301, takes alieno too weakly whilst noting that it generally means «entfremden». We suggest that basic meaning here as well (see also Goodyear 272): «durch keinen Gesichtsausdruck ließ sich Tiberius anmerken, wie sehr er dem Manne innerlich bereits entfremdet war» uel sim. Ann. II 28. (Tacitus is here speaking of a man whom Tiberius just appointed to the praetorship: the appointment does not reflect Tiberius’ true intentions, of course; Tacitus means us to look past the overt act to the trap which Tiberius is allegedly laying for Libo. N. b. the way in which Tacitus guides the reader away from interpreting Libo’s preferment straightforwardly as a sign of Tiberius’ favour.) Thus, at Ann. II 26 Tiberius recalls Germanicus (whom Augustus had forced him to adopt as his son) from Germany and sends out as the new commander Drusus, his biological son. Even a limited experience of human nature suffices to arouse the suspicion that Tiberius was slighting his adopted son in favour of his real one; and Tacitus accordingly makes the most of such suspicions so as to minimise the highly honourable circumstances of the recall which came with the award of a second consulship (Ann. II 26) and with a new, far more important assignment for Germanicus than the one which Drusus was getting (adumbrated, intentionally – see below to n. 78 – in separate, later contexts at Ann. II 43 and 56). To iterate, Tacitus’ insinuation of a concealed motive for Tiberius has a degree of plausibility prima facie. — To take another example: when Augustus dies, Tacitus records Tiberius’ official statement that the obsequies of his father were idque unum ex publicis muneribus usurpare, «the one matter of state which he was taking up.» (Ann. I 7). Yet subsequent events proved that Tiberius took up rather more matters of state; and Tacitus does not omit to mention immediately thereafter a rather less public act of Tiberius’ which shewed the official statement up for a lie: defuncto Augusto signum praetoriis cohortibus ut imperator dederat, «no sooner had Augustus died than Tiberius had given the watchword to the praetorian guard as ‹emperor› ». I. e. he had assumed control over the «Empire». Tiberius’ official words merely mask his true intention which his taking over the guard reveals with perfect clarity – cf. Koestermann 1963, 88 («Tiberius [habe sich] im Widerspruch zu seiner scheinbaren moderatio faktisch in den Besitz der Macht gesetzt»). At any rate, the idea here to draw a contrast between Tiberius’ words and actions probably did not originate with Tacitus: both Suetonius (Tib. 24) and Dio (57,2,1–3) pointedly make the same contrast. At any rate, Klingner 1953, 16–24 and 26–37, has argued persuasively that in their accounts of Tiberius’ assumption of rule Tacitus, Suetonius, and Dio all drew on (a) common tradition(s). (For farther discussion of the date and background of Tiberius’ accession see Hohl 106–115; Koestermann 1961, 330–355; and Flach 1973A, 552–569. For farther discussion of Tacitus’ use of his source material, esp. in regard to the Totengericht of Augustus, see Tra¨ nkle 108–130, Manuwald 352–374, and Mehl 54–64.)
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trials, reminds us that Tiberius never acted openly, but always had in view some hidden object. Tacitus mentions the first treason trials – those of Falanius and Rubrius described above – ut quibus initiis, quanta Tiberii arte grauissimum exitium inrepserit, «since here lay the beginnings of this very grave evil which infected [the state] by ever how much cunning of Tiberius»71 (Ann. I 73). Tacitus, with cunning of his own, insinuates that his readers should not look at the surface (the concrete details of the cases, which shew Tiberius doing everything he can to put a stop to pointless trials), but rather should look at Tiberius’ nefarious purpose in artfully fostering such trials. Therein lies an allegation, of course, for which also Tacitus laid the groundwork. Just before mentioning the trials of Falanius and Rubrius, Tacitus (adverting to the thesis of Tiberius’ habit of always maintaining a fa¸cade) states that Tiberius non tamen ideo faciebat fidem ciuilis animi; nam legem maiestatis reduxerat72 , «nonetheless could not credibly feign republican sentiment; for he brought back the treason law» (Ann. I 72). We learn that when a praetor asked Tiberius if treason cases were to proceed, the latter responded that exercendas leges esse, «the laws must be applied» (Ann. I 72). Ostensibly, Tiberius was merely following, as was his wont,73 established law.74 But Tacitus has staged matters such that Tiberius appears consciously to have chosen to allow treason trials to take place, bringing back the law and insisting on its application. After all this, we hardly notice when Tiberius, during the trial of Aemilia Lepida on various charges, expressly asked the Senate not to consider the charge of treason (Ann. III 22). Or that when C. Cominius was actually convicted for writing verses critical of Tiberius, 71
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On the difficulty in interpreting this sentence as it proceeds see Koestermann 1963, 239, and Goodyear 154, whose comment in particular, possibly inadvertently, gets at the heart of Tacitus’ meaning here: «Arte Tiberii seems dishonestly unfair when the charges were dismissed, but T[acitus] might claim that in itself indicated ars.» On the metaphorical translation of inrepo see Goodyear 1981, 154. Much innuendo inheres even in the choice of the verb reduco, «bring back,» since Tiberius in reality merely maintained a law already in place – of which we in fact know that it saw use only two years before Tiberius’ accession (Dio, LVI 27,1). On straightforward interpretation of reduco, however, Tiberius had re¨ıntroduced an abolished law. Koestermann 1963, 236, here actually assumes an in Tacitus otherwise unattested connotation of reduco to make some sense of Tacitus’ phrasing – to bring back «etwas aus dem Gebrauch Gekommenes» and adds «so nur hier bei Tacitus.» Curiously, however, Koestermann 1955, 77, had previously written of «das neue Majesta¨ tsgesetz, das anscheinend erst in den allerletzten Jahren des Augustus in Funktion getreten war» – i. e. it was manifestly not something «aus dem Gebrauch Gekommenes.» Cf. an incident which Tacitus records at Ann. II 30 when Tiberius has Libo’s slaves sold so that ex seruis saluo senatus consulto quaereretur, «evidence might be obtained from slaves without infringing upon a senatorial decree». Tiberius, rather than introducing a legal innovation, was here acting in perfect accordance with long established law: see Rogers 16–17. What Tacitus misunderstood here concerns us not a whit (though see Goodyear 276–278); relevancy have alone the following reflexions: Tacitus, first, despite his glaring failure to understand the legal situation, provides us with information that lets us see that Tiberius followed the law’s dictates exactly. Next, Tacitus presents Tiberius as actually engaged in an elaborate legal dodge to achieve his ends while still maintaining a fa¸cade of respect for the senate. Even Tacitus’ transmogrification of Tiberius’ actions shews Tiberius as pedantically interested in legal niceties. Third, Tacitus, precisely because he failed to understand what was happening with the sale of the slaves, can only have been following some predecessor’s account which had mentioned that sale (a similar account albeit concerning Augustus does stand in Dio, LV 5): i. e. this account of Tiberius’ observance of law existed independently of Tacitus’ work. Finally, on the assumption that Tacitus tailored his use of that predecessor’s material to appear prima facie believable, the view of Tiberius as a legal stickler also existed independently of Tacitus. Several lines of argument thus converge on one point: Tiberius took laws seriously and followed them to the letter without innovating. Yet see Cuff 136–7, who has argued that the statement exercendas leges esse encouraged prosecutions under the treason law.
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Tiberius pointedly spared him (Ann. IV 31). Or that Tiberius put an immediate stop to the prosecution of L. Ennius for melting down a privately owned statue of himself (Ann. III 70). Or that one senator was actually punished for falsely accusing his sister of treason (Tiberius in the end spared him the imposed penalty of exile, but did allow his expulsion from the Senate) (Ann. IV 31). Of the prosecution of Caesius Cordus for extortion we read, initially, that addito maiestatis crimine, quod tum omnium accusationum complementum erat, «the charge of treason was added, which by that time rounded out every prosecution» (Ann. III 38). We do not question that comment, nor do we note that, when we much later learn of Cordus’ conviction, it was for extortion only (Ann. III 70). We could go on.75 The facts which Tacitus felt constrained to report shew Tiberius ostensibly thwarting prosecutions for treason – yet Tiberius had brought the law back and had stated exercendas leges esse. And that remains Tacitus’ point: Tiberius may have stopped this or that specific trial, but secretly he wished such trials in general to proceed and quanta arte encouraged the development of this grauissimum exitium. As Sallust with Jugurtha’s repeated inability to bribe the Senate to do what he wanted, so Tacitus had to deal with an Emperor who time and again quashed treason trials. Both Sallust and Tacitus used the same overall methods to prejudice readers, to keep them from seeing the actual facts mentioned and interpreting them in a straightforward manner. Sallust learnt the tricks of the trade from Thucydides and passed them on to Tacitus. Let us now conclude by looking at two incidents relating to Germanicus, Tiberius’ adopted son and heir apparent. At the end of the year A.D. 16 Tiberius recalled Germanicus from Germany, where he had been waging war against the native tribes – on Tacitus’ (possibly wishful) presentation with considerable success.76 (N.b. that on Tacitus’ presenta75
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The treason trials under Tiberius have inspired a diluvian out-pouring of ink. Walker 82–109, in our view correctly refers to a «divergence of factual and non-factual material» in regard to Tacitus’ presentation of these trials. In the main we agree with Walker and others (e. g. Marsh 289–295 and Rogers) that the facts which Tacitus alleges do not bear the interpretative weight which he places upon them. (The counterarguments of, e. g., Koestermann 1955, 72–106, and Goodyear 141–150, we find unconvincing.) Walker has farthermore attempted to analyse how Tacitus strove to inculcate his own view in the reader, but limited herself to observations on style and choice of word. It seems to us beyond doubt that Tacitus views Germanicus in a positive light and Germanicus’ campaigns as basically successful, and intends readers to share those views. Unfortunately, as many have pointed out, the facts which Tacitus mentions do not always support his thesis. At any rate modern opinions on the efficacy of Germanicus’ campaigning in Germany have diverged. Marsh 1931, 69–78, has argued that Germanicus possessed only minimal competence as a general whereas Koestermann 1957, 429–479, has energetically pled the opposite case. Koestermann 1957, 469–470, has also suggested that various circumstances may have led Tiberius to judge Germanicus’ military ability unfairly, which would allow for the development of a view that Tiberius recalled Germanicus, despite the latter’s successes, on the basis of false impressions. Others have noted that Tiberius may have deemed a military solution in Germany, for various reasons, an impracticality (e. g. D. Schotter 1968, 200–202; 1974, 234) and at the end of the day wished Germanicus out of Germany for this reason (regardless of a strictly military evaluation of these campaigns’ success). Now Koestermann 1957, 477, observed that Tacitus’ source(s) (amongst whom with a degree of probability stood Pliny the Elder: Ann. I 69) may have drawn him into its (or their) current(s); for this reason Tacitus may have tarried longer at the German campaign as well as in greater detail than he necessarily intended – or than was necessarily good for the development of his thesis. Farthermore, Walker 9, seems to us to suggest the right track in approaching a solution to this nearly intractable problem: «the facts were against Tacitus here, and he did what he could for Germanicus, with difficult material.» While no-one, so far as we know, has followed up her suggestion (the influence of Tacitus’ source material on his treatment plays no role ˆ in the latest articles on Germanicus: Pelling 59–85; Rutland 153–164), we find it essentially correct; yet since space prohibits us from demonstrating how Tacitus here employed the same tricks which we are discussing in the text of this essay in order to achieve his goals, we must defer extended treatment to another occasion. Tacitus’ deployment for his own purposes of material put together by his source for
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tion, Drusus wrapped affairs up in Germany the next year with little ado.) Now in the year A. D. 17 Tiberius appointed Germanicus to a wide-ranging command in the Near East, a command which saw the latter take precedence over the regular provincial governors. Germanicus’ mission involved settling affairs in the client kingdom of Armenia, overseeing the conversion of the erstwhile client kingdom of Cappadocia into a senatorial province, arranging for the annexation of the erstwhile client kingdom of Commagene to Syria, and besides all this engaging in high-level diplomacy with the Parthians. On straightforward interpretation of what Tacitus presents, Tiberius was placing his right-hand man there where he was most needed; was now entrusting Germanicus, who had done good work in Germany and had brought matters there to the point at which another might easily enough lead them to their successful conclusion, with another, even greater and more important mission.77 At all events bare mention of the facts does not indicate that Tiberius was, as Tacitus firmly believed, secretly plotting Germanicus’ downfall. How did Tacitus present this information so that his opinion forms itself in the reader’s mind rather than the idea that Tiberius was promoting Germanicus? First, Tacitus used a simple trick to get readers to look away from Tiberius’ entrusting of a greater mission to Germanicus once the latter had already proved himself in one difficult theatre of operations. Tacitus placed no fewer than seventeen chapters between Germanicus’ recall from Germany at the end of A. D. 16 (Ann. II 26) and his receiving a mission to the Near East in the start of A. D. 17 (Ann. II 43). The reader does not necessarily see the close chronological and causal connexion between the two events. Next, Tacitus compresses the account of Germanicus’ receiving the command to some six and a half lines in the Oxford text.78 Third, Tacitus then immediately introduces a flamboyant new character, Cn. Calpurnius Piso (ingenio uiolentum et obsequii ignarum, insita ferocia a patre, «a violent-spirited man and insubordinate, who got his ill temper from his father»), whom Tiberius at the same time appoints as the new governor of Syria.79 For some sixteen lines Tacitus discusses this less important appointment which he presents as a chess-move
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entirely other purposes obviously both raises and strengthens the barriers to arriving at a just appraisal of Germanicus’ campaigns. The true situation need hardly have been straightforward, and a vast literature (how could it otherwise?) has overgrown this issue; see in particular Koestermann 1958, 331–375, and Schotter 1974). Part of the problem surely arose of Tacitus’ own devising: Tacitus wished to present Germanicus as successful in Germany and Tiberius as churlish, jealous, and spiteful in recalling him; but then had to explain why Tiberius entrusted him with an even greater mission in the East. After all, many disagreements in detail notwithstanding (e. g. in particular concerning Tiberius’ intentions for Cn. Calpurnius Piso whom he may have set beside Germanicus as a sort of co¨adjutor), most modern commentators have concurred in this, that Tiberius, when he sent Germanicus out to the East, intended this to appear as a «promotion»: Koestermann 1957, 477; Shotter 1968, 203–204. However, they fail to appreciate in its full weight that it did appear as a promotion. Let us here simply note that Tacitus had to argue against that appearance so that we might leave aside the question of whether or not the appearance deceived: to some extent it almost surely did though not necessarily in the way in which Tacitus thought. (I. e. without the least desire to alter Germanicus’ position as heir apparent, Tiberius may have wanted to move Germanicus out of one theatre, where he profoundly disagreed with Germanicus’ methods and possibly aims, without affronting him and then to transfer him into another where Germanicus might, with guidance, gain the experience necessary to see the wisdom of Tiberius’ position; all of which required tact and skill in carefully fostering a certain perception of the matter credibly.) ¨ Koestermann 1957, 331, comments that the notice of Germanicus’ appointment is «auf das Außerste zusammengedra¨ ngt,» but never enquires as to why. Tacitus, Ann. II 43; Cf. here Sallust’s use of C. Memmius (Bell.Iug. 27, 2). On Piso see generally Shotter 1974, 229–245.
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of Tiberius’ against Germanicus: Piso, Tacitus tells us, believed that he had received the governorship of Syria for the precise purpose of thwarting Germanicus. Some alleged, Tacitus continues, that Tiberius had given Piso secret instructions to this effect; and the Augusta had without doubt given advice to Piso’s wife Plancina. This allows Tacitus to digress into some background explanation of the political infighting at court during this period. By this time we are far from Germanicus’ appointment; Tacitus now brings nine chapters on everything from Drusus’ mopping-up operations in Germany to an annoying revolt in Numidia. Only then do we return to Germanicus and his arrival, followed closely by Piso, in the East. The techniques should by now be familiar from Thucydides and Sallust: insertion of tangentially relevant material to guide the mind elsewhither; dramatic introduction of a new character to distract farther; compression of the truly important. All of this together helps keep the reader from interpreting the information about Germanicus’ appointments straightforwardly; and it gives Tacitus a chance to underlay his own interpretations. This too proceeds in ways with which we already have a more than passing familiarity. Bluntly, Tacitus tells us how we must think about these matters well in advance. That he has already insinuated into readers’ heads the idea that Tiberius’ intentions never lie on the surface aids him, as usual.80 In advance he lets us know that Tiberius welcomed the deteriorating situation in the East, ut ea specie Germanicum suetis legionibus abstraheret nouisque prouinciis impositum dolo simul et casibus obiectaret, «for under this pretext he might remove Germanicus from his accustomed troops and, by placing him into new provinces, expose him to intrigue and danger alike» (Ann. II 5). Tacitus has just described in detail the problems brewing in Armenia. When we come to Tiberius’ appointment of Germanicus to the Eastern command, lest we have forgotten Tacitus’ prejudicial insinuation, he provides for us a cross-reference so as to recall it to mind: igitur haec et de Armenia quae supra memoraui, «these things, therefore, as well as the matters concerning Armenia, of which I spoke earlier…» (Ann. II 43).81 At the very same time as he pulls apart material which he does not want us to see integrally, Tacitus helpfully connects for us the dots which he does want connected, reminds us of the earlier insinuation which lets us know how to think of Tiberius’ action. One final point. In making his case that Tiberius had appointed Piso as a stumbling-block to Germanicus, Tacitus early suggests that Piso may have received certain occulta mandata, «secret instructions» from Tiberius.82 To these Tacitus returns. When Piso stood accused of 80
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Thus Tiberius states, coram Senatu, that nec posse motum Orientem nisi Germanici sapientia conponi, «the troubles in the East could not be set right, but by the skill of Germanicus» (Ann. II 43). On the other hand credidere quidam data et a Tiberio occulta mandata, «some believed that Tiberius himself had given secret instructions [to Piso in regard to Germanicus]» (Ann. II 43). Continually Tacitus reminds us that we must not place too much reliance on what Tiberius says and does in public. We refer to a nearly exact parallel for such employment of a cross-reference in Sallust. We have already adverted to Sallust’s presentation of the mission of M. Aemilius Scaurus to Numidia in Bellum Iugurthinum, 25 (above to n. 51). That was not Sallust’s first mention of Scaurus, however. At 15,4 we read of Scaurus that he was nobilis inpiger factiosus, auidus potentiae honoris diuitiarum, ceterum uitia sua callide occultans, «noble, tireless, and much given to partisanship; hungry for power, office, and riches; yet clever at hiding his vices.» When Scaurus emerges as the leader of the Senate’s mission to Numidia, Sallust, on purpose to undermine the Senate’s sincerity in sending out this mission, makes sure that readers remember what sort of man Scaurus was and provides them with the cross-reference: M. Scaurus, de quo supra memorauimus, «M. Scaurus, of whom we spoke earlier …» (25,4). On this see (briefly) Cameron and Parker 33–35. Tac. Ann. II 43. (The relevant senatus consultum – editio princeps: Eck, Caballos, and Fern´andez – does mention [l. 38] mandata given by Tiberius to Piso; but these mandata clearly belong amongst the documents
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Germanicus’ untimely death, both Piso and Tiberius declined to turn over certain documentation.83 Tacitus goes on to mention a document in Piso’s possession which allegedly (old men of Tacitus’ acquaintance repeated that friends of Piso had said this) litteras Tiberii et mandata in Germanicum contineri, «contained a letter of Tiberius’ and instructions relating to Germanicus» (Ann. III 16).84 Now Tacitus never quotes this letter and has, in fact, arranged matters such that no-one could expect him to quote it. Documents which readers cannot peruse for themselves may, in a clever author’s hands, suggest or even serve as proof for many things. Because both Tiberius and Piso, according to Tacitus, refused to hand over this document when the Senate was investigating Germanicus’ untimely death, the suspicion implants itself in the reader’s mind that the document contained information which tended to incriminate either one of the two or possibly both in the matter of Germanicus’ death. But could it have? We here leave open whether or not any private (i. e. non-official) memoranda between Tiberius and Piso ever existed, but cannot forbear to record our view that Tiberius, tantis rebus exercitus (Ann. IV 11), was far too old a fox to incriminate himself in writing85 – even the bungling Catilinarian conspirators, mostly, knew better. If Tiberius actually had written such a memorandum and Tacitus had quoted it for us in full, would it have proved what he needed it to prove? We have seen how Sallust, dealing with documents which did not yield what he needed, deleted even a paraphrase of them, present in his source, so that he could implicitly make an assertion about them more convincingly. Tacitus presumably took the point rather well. Where no-one can easily check a document, use it to make assertions; just do not quote.86
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seen by the Senate [though otherwise Eck et al., 165] and therefore do not qualify for the occulta mandata which Tiberius allegedly gave to Piso. A vast literature has already sprung up about this senatus consultum; see esp. the articles in the first issue of AJP, 120, 1999.) Tac. Ann. III 14. The text here is corrupt; and it is strictly speaking uncertain what document(s) Tiberius and Piso wished to withhold. See now Woodman and Martin 158–162. (The Senatus consultum de Cn. Pisone Patre for its part emphasises – perhaps officially to counter the belief that occulta mandata existed – that Tiberius made all things necessary for determining the truth available to the Senate – Ll. 15–17. See on this also Potter 72–73; Eck et al. 143, note that stark disagreement between the official reality and Tacitus’ allegations of withholding of evidence.) Woodman and Martin 171, also connect the occulta mandata mentioned at Ann. II 43 with the withheld document(s) mentioned at III 14 and with Tiberius’ letter to Piso mentioned at III 16. Cf. Goodyear 325; Koestermann 1958, 338 and 371. Otherwise, however, Eck et al. 183, who connect the document(s) which Tiberius and Piso wished withheld with a purely hypothetical answer which Tiberius they allege sent to Piso in response to Piso’s libellus (l. 59 of the senatus consultum [above n. 82) to Tiberius about Germanicus – a libellus which clearly arrived after Germanicus’ death. Given the circumstances – Tiberius could hardly have failed to see that a fearsome storm was brewing which he would need to ride out – it does not strike us as probable that Tiberius, who maintained circumspection even in calm waters, would have now dashed off an incriminating or even embarrassing letter to Piso which he later wished to suppress. The way in which Tiberius deposed Sejanus shews, after all, just how cannily and prudently the old man proceeded when in turbulent seas. Cf. Woodman and Martin 171: «The likelihood of Tiberius’s having incriminated himself either in writing or orally is nil.» Otherwise, however, Koestermann 1958, who (338) considers that the occulta mandata did exist and that (371) the written material allegedly held by Piso did incriminate Tiberius. We constate, by the by, a strong reluctance to fabricate documents: historians routinely composed speeches for their protagonists as well as – perhaps by way of logical extension from oral to written speech – personal correspondence (e. g. Scipio’s letter to Micipsa at Bell.Iug. 9,2), but they shrank from composing official texts and the like. Not only were the former commonly literary efforts and understood as such by readers, while the latter were supposed to stand without the literary sphere, but these latter also served as evidence as opposed to argument: the historian advanced his case by both, but evidence he did not alter. Therein inheres an implicit claim first to honesty and consequently to credibility. Granted, we possess many
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Thucydides had first demonstrated the efficacy of the method. Tacitus innovated by using in this way a document which may never even have existed.
IV. We conclude. We hope to have made clear a line of historiographical development from Thucydides to Sallust and from him to Tacitus. The development involved more than style (or even historical outlook) – which previous investigations have taken as their focus. Sallust’s dependence on Thucydides, whilst including style, ran far deeper. An historiographical situation which posed similar challenges (albeit of a differing origin) inspired Sallust to employ certain methods of argument which he had seen Thucydides use. Sallust’s use of those methods speaks volumes about his ability to read and to analyse his predecessors – and represents his true debt to Thucydides. Tacitus learnt to use those selfsame methods from Sallust, from whom, almost incidentally, he learnt much in the way of style also. Our analysis, we hope, undergirds a scholarly edifice constructed largely of discussions of the three authors’ style. We moreover hope that it contributes to a larger re¨evaluation of their intellectual ability as well as to an understanding of an historiographical «meeting of the minds» across some six centuries. Next, and almost as a by-product, the position of other historians such as Polybius in the greater constellation of ancient historians may shift a bit as a result of this improved understanding of Sallust. Finally, certain unspoken «rules» of historical argumentation – what constituted «fair play» – in ancient historiography may be beginning to emerge. Applying all this to our reconstruction of the history of the periods in question lies, of course, beyond the bounds of this small essay.
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Hans-Dieter Stoffler
Tityrus in der Hirtenlandschaft. Zur Deutung des bärtigen Hirten in dem Gemälde «Gebirgslandschaft» des Paul Bril Fortunate senex! ergo tua rura manebunt. Et tibi magna satis, quamvis lapis omnia nudus1 Verg. Ekl. I, 46 Die Landschaft der Eklogen Vergils ist Kulturlandschaft und nicht so bunt mit mythologischen Figuren besetzt wie die Landschaften Ovids. Es ist eher Struktur und Stimmung des «Locus amoenus» (E. R. Curtius) und das Schicksal der Hirten, die die Landschaft Vergils charakterisieren. Das lässt sich figürlich schwer belegen. Umso interessanter sind Gemälde, die auch ikonografisch eindeutig auf eine Vergilekloge bezogen werden können. Dies gilt für die «Gebirgslandschaft» Paul Brils2 im Landesmuseum Mainz (Abb. 1), ein kleines Gemälde, das anlässlich einer Ausstellung mit dem Thema «Die Entdeckung der Landschaft, Meisterwerke der Niederländischen Kunst des 16. u. 17. Jahrhunderts» in Stuttgart 2005/2006 gezeigt wurde. Zentrale Gestalt im schattigen, dunklen Vordergrund der «Gebirgslandschaft» des Paul Bril ist ein alter Hirte, der seelenruhig bei seinen Ziegen sitzt. Wanderstab und geschnürtes Bündel hat er beiseite gelegt, dagegen hält er die Syrinx auf dem Schoß und sinnt. Eine Ziege liegt zu seinen Füßen, andere stehen auf der mageren Weide. Es ist ein felsiger Ort mit abgehauenen Bäumen und Stockausschlägen, daneben in den Felsen ein Quellgewässer. An der Basis des großen Baumes, der vom linken Rand her die Szene etwas überschattet, singen bunte Vögel, gleich dem Hirten in rotem Wams. Der Hirt selbst ist in diesem düsteren Vordergrund besonders hervorgehoben. Elsbeth Wiemann vermutet die Absicht Brils, mit dem «antikisierenden Hirten einer antiken Vorlage seine Reverenz zu erweisen».3 Aber welche antike Vorlage hat der Maler im Blick oder vor seinem geistigen Auge? Diese Frage ist bisher noch nicht beantwortet worden. Elsbeth Wiemann rätselt in diesem Zusammenhang über antike Attisstatuetten, verwirft diesen Gedanken aber wieder, weil Attis stets knabenhaft wiedergegeben werde. Antike Hirten sind jugendliche Hirten; das gilt für alle mit einer gewichtigen Ausnahme: Tityrus in der I. Ekloge Vergils.
1
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Du bist wol glückselig in deinem Alter! so höre ich / dein Gut wird dir bleiben welches dir dann groß genug ist zu deiner Nahrung: Obschon ein steinicht und kiesichter Grund … all deinen Weidgang umzeucht In der Übersetzung von Johann Valentin, 1705. Alle folgenden deutschen Zitate aus der ersten Vergilekloge verdanke ich der Übertragung von Johann Valentin. Paul Bril (1554–1626), flämischer Maler, reiste um die Mitte der siebziger Jahre nach Rom und lebte und wirkte dort bis zu seinem Tod. Führendes Mitglied der Accademia di San Luca. Zu den Gemälden Paul Brils: Andrea Berger, 1991. Elsbeth Wiemann, 2005/2006.
Antike und Abendland Bd. 54, S. 105–112 © Walter de Gruyter 2008 ISSN 0003-5696
DOI 10.1515/ANTI.2008.006
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Hans-Dieter Stoffler
Man kann nur immer wieder die Bedeutung Vergils für das Verständnis der Landschaft betonen. Schon lange vor Petrarca und Dante, erst recht aber danach bis zum Ende des 18. Jhdts. war Vergil das nächste Vorbild und zwar nicht nur seine Aeneis,4 sondern gerade auch die ländlichen Gedichte mit ihrer poetischen Stimmung. Mehr noch als Horaz und Ovid und mehr als Homer war Vergil der Dichter schlechthin. Auch wenn Ovids Metamorphosen für Künstler zahlreiche mythologische Motive beitragen konnten, so waren doch gerade für Landschaftsmaler die Eklogen des Dichters von großem pastoralem Gewicht. Das gilt vor allem für die erste Ekloge. «Bis zur Goethezeit hat alle lateinische Bildung mit der Lektüre der ersten Ekloge begonnen. Man sagt nicht zuviel, wenn man behauptet, daß demjenigen ein Schlüssel zur literarischen Tradition Europas fehlt, der dieses kleine Gedicht nicht im Kopf hat.»5 In der ersten Ekloge Vergils ist Tityrus mehrfach als Greis (Ekl. I, 46, 51) und zunächst als graubärtig (Ekl. I, 28) beschrieben. Corydon, Menalcas, Daphnis und alle anderen Hirten der Eklogen außer Tityrus sind jung und bartlos. Aber wenn man erst einmal im alten Hirten auf dem Gemälde Paul Brils den vergilischen Hirten Tityrus erkannt hat, wird diese Beobachtung zum Paradigma, das uns bei der weiteren Betrachtung begleitet und weiterhilft, auch seine anderen Hirten, ihre Stimmung und ihre Landschaft zu verstehen. Tityrus ruht dann unter dem Dach der ausladenden Buche (Verg. Ekl. I, 1). Dem glücklichen Alten bleibt sein karges, steiniges Land erhalten (Verg. Ekl. I, 47) und wir beglückwünschen ihn wie Meliboeus (Ekl. I, 51, 52): «Mein lieber alter Tityre, allhie zwischen den zweyen bekannten Wassern Mincio und Pado und bey den Brunnen, allwo die Götter gern wohnen, wirst du dich fein können außkühlen.» (Johann Valentin)
Im Gegensatz dazu müssen die anderen Hirten ihre Heimat verlassen (Ekl. I, 3, 4). Sie treiben ihre Ziegen fort (Ekl. I, 12, 13). Hirten und Herden ziehen abends nicht heim ins Tal, sondern fort übers Gebirge. Bezeichnend ist «die zeitgenössische Umsetzung» (Elisabeth Wiemann). Tityrus, der antike Hirte, hat Glück, andere Hirten müssen die Heimat verlassen. Was meint Bril mit diesem existentiellen Vergleich? Obwohl es doch Abend ist, sind die Hirten aller Zeiten unterwegs in die Ferne über Weg und Steg; die erste Brücke ist noch aus Stein, die zweite weit schlechter gebaut. Die letzten Hirten sieht man kaum noch mit ihrer Herde auf felsigen Pfaden. Wo wird das enden? Das Gemälde Paul Brils zeigt den Anfang der I. Ekl. und der Betrachter sieht sich in der Rolle des Meliboeus, der den Dialog beginnt: Mein Freund Tityre! du ligst da unter einem kühlen Buchbaum an der Ruh / und dichtest auff einer reinen und hell=lautenden Flöthen ein Wald = oder Hirten = Lied; Wir arme Leut aber von Mantua / müssen unser armes Vatterland / Haab und Gut verlassen: Wir müssen jetzund das Elend bauen; Aber du / mein Freund Tityre / hast dich da in den Schatten gestrecket / und lehrest die Bäume im Wald / das Lied von der schönen Amaryllide wieder erschallen.
Der Dialog selbst wird nicht im Bild gezeigt, wird nicht als Genre dargestellt. Maler und Betrachter sind selbst wie Meliboeus als Flüchtlinge betroffen.
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Die im o. a. Katalog ausschließlich zitiert wird. Ernst Robert Curtius, 1948.
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Tityrus in der Hirtenlandschaft
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Der dunkle Vordergrund kontrastiert zu der sich anschließenden lichten Fernlandschaft. Eindrucksvoll ist diese ferne Hirtenlandschaft über den Felsen im Hintergrund des Gemäldes mit feinem Pinsel gemalt. Die Blätter eines tief beasteten, ausladenden, alten Laubbaumes leuchten fern im Abendlicht (in Abb. 1 rechts oben). Das ist der Typ (nicht unbedingt die Art) jener alten Buche, welche die ländlichen Gedichte Vergils einrahmt. Wie ein alter Grenzbaum steht am Eingang dieser Welt eine alte Weidbuche6 und am Ende erinnert der Dichter uns wieder an diese Buche und an den alten Hirten, der dort der Muse des Waldes7 sein Lied flötet (Georg. IV, 666). Es ist eine Rotbuche mit weit ausladenden Ästen und Zweigen. Diese Eigenschaft kann ein Laubbaum und vor allem die Rotbuche nur dort entwickeln, wo der Wald zum lichten Weidewald wird, in dem sich die Bäume zu Solitären entwickeln können. Hier begegnen sich Baum, Strauch und Weiderasen oder Wiese. Hier beginnt die bukolische Landschaft als Zelle, ein Vegetationskomplex großer Artenvielfalt, die in der Struktur des Bildes von Paul Bril aus den Zusammenhängen erschlossen werden kann. Die Landschaft der Hirtenwelt Vergils ist in sich realistisch, schlüssig und authentisch. Sie beruht auf der Lichtung des Waldes. Ohne Lichtung gibt es weder Gras und Kräuter noch blühende Sträucher noch ein ausladendes Kronendach. Ohne Lichtung gibt es weder Nahrung noch Zelt, weder Vieh noch Hirten, weder Schatten noch Schutz, Rast und Muße. Die «Gebirgslandschaft» von Paul Bril ist zusammen zu sehen mit seiner «Felslandschaft»8 (Abb. 2). Sie bezieht sich ebenfalls auf die I. Ekloge Vergils und zwar vor allem auf deren Schluss: Tityrus lädt Meliboeus ein, noch einmal bei ihm zu rasten und zu ruhen, da es Abend geworden ist. Tityrus ist farblich genauso hervorgehoben wie im vorigen Gemälde, die Flüchtlinge sind dunkel und wie dort abseits orientiert. Tityrus weist den Hirten, der zunächst steht, einladend auf seine schlichte Behausung hin, die andern ziehen fort. In den letzten Versen der ersten Ekloge sagt Tityrus zu Meliboeus: Jedoch kannst du dich allhie diese Nacht über bey mich auf diese grüne Wellen9 an die Ruhe legen / ich habe milde Äpfel / gebratene Castanien / genug frische Käse. Und die Schornstein auff den Häusern fangen nun dort von Fernen an zu rauchen / Und die Schatten von den hohen Bergen ergrössern sich / das ist / es wird Abend10
Der Holzschnitt (Abb. 3) geht nachdrücklich auf den Text der I. Ekloge ein. Auch hier wird die Landschaft einbezogen. Die Vergilekloge wird aber mehr im Detail erzählt, während Paul Bril die Gegensätzlichkeit der Stimmung wiedergibt. Der ältere Hirte Tityrus sitzt 6
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Zum Begriff und zum Verständnis aus geobotanischer Sicht: Angelika Schwabe / Anselm Kratochwil, 1987. Wald im weitesten Sinne und nicht etwa im Sinne eines Forstes. In diesem ursprünglichen Sinne ist Wald eine mehr oder weniger von Bäumen besiedelte Fläche, die vielseitigen Bedürfnissen der Bauern und Hirten dient, vor allem auch der Viehweide. Öl auf Kupfer 18 × 23,5 cm, signiert und 1594 datiert, Deutsche Privatsammlung. Beschrieben bei Andrea Berger, 1991. Das Gemälde ist auf 1594 datiert. Damit ergibt sich auch ein Hinweis auf eine entsprechend frühere Datierung des Bildes «Gebirgslandschaft» wie Elsbeth Wiemann (vgl. Fußnote 2 S. 204) vermutet hat. Beide Bilder gehören zusammen. Zum Vergleich mit den Tafelbildern Paul Brils wird unten eine Kopie des Holzschnittes zur I. Ekl. aus der Vergilausgabe des bekannten Grüninger-Drucks (erstmals verwendet 1502), hier der ersten Lyoner Badius-Ausgabe (1517) angefügt (Kristeller, 1888). Wellen sind Bündel von Zweigen (Anm. d. Verf.). Ekl. I, 79–81 in der Übersetzung von Johann Valentin, 1705.
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unter einem solitären Baum und spielt auf der Sackpfeife. Genau wie bei Paul Bril ist das linke über das rechte Bein geschlagen. Das fortgeschrittene Alter des Hirten ist deutlich zu sehen. Seine Tasche und sein Stecken liegen auf dem Boden. Das Vieh befindet sich hinter einem Pferch aus starkem Rutengeflecht. Auf dem Baum sitzt ein Vogel. Der jüngere Meliboeus steht da, deutlich zum Aufbruch gerüstet, neben ihm seine versammelte Herde. Er hat einen spitzen, geflochtenen Hut auf. Obwohl sich beide Hirten einander gegenüber befinden, sind sie doch voneinander weit entfernt. Meliboeus blickt auf den meditierenden Tityrus und wundert sich. Bemerkenswert sind die Quellbäche, die einschließlich Felsentor deutlich an den Quellbach Brils als Vorlage erinnern (Ekl. I, 51, 52). Einen der eigentümlichen Quellbäche wollte Bril offenbar in sein bukolisches Bild im Hinblick auf Vergil Ekl. I, 52 neben dem Ruheplatz des Tityrus übernehmen. Die übrigen Bäche und Flüsse sind bei Bril in die Gebirgslandschaft und die Talaue harmonisch eingebunden und bis auf den Quellbach im Vordergrund nicht so hart und prätentiös herausgestellt wie auf dem Holzschnitt. Links im Vordergrund bemerkt man die zwei auf nacktem Fels verlassenen Zicklein des Meliboeus (Ekl. I, 15) und im Hintergrund steht mit einer Heppe der «Lauber» (frondator), wie er sich gerade anschickt, zur Futtergewinnung Zweige von einem Baum abzuhauen (Ekl. I, 56)11 . Die Reminiszenz an die Stadt ist im Grüninger Druck stark betont. Auch das hängt mit dem narrativen Charakter des Holzschnittes zusammen, der ganz auf die Übertragung des Vergiltextes ausgerichtet ist. Denn es handelt sich wie bei Vergil um zwei Städte, die miteinander verglichen werden. Die linke ist kleiner und hat reichsstädtischen Charakter, die rechte ist viel größer und deutet auf Rom. Bemerkenswert ist der Kuppelbau. Bril aber hat eindeutig die Hirtenlandschaft und die verschiedene Stimmung der Hirten im Blick, die sich in der Landschaft wieder finden lässt. Dies erreicht der Künstler durch den starken Gegensatz von dunklem Vordergrund und lichter Weite. Kehren wir zum Schluss nochmals zu dieser Landschaft zurück. Bewundernswert ist die Subtilität, mit der Paul Bril die fernsten Gegenstände malt. Um dies zu erreichen, rückt er den großen Baum (Ekl. I, 1) an den Rand. Dieser wird dadurch näher und höher, gibt aber den Blick in die Ferne frei. Der schöne, differenzierte Weidewald oberhalb der Felsen wirkt wie ein von der Abendsonne beschienener, beleuchteter Park in der hochmontanen Gebirgswelt. Man sieht die Ziegen von Ferne in den Sträuchern am Felsen (Ekl. I, 76). «In der Sehweise Brils entsteht aus Betonung Schmückung, die Oberflächen beginnen zu glänzen.» Details der fernen Bäume werden zu «leuchtenden Kleinoden» (Andrea Berger). Dieser Waldesmuse gilt die Melodie des Tityrus (Ekl. I, 2). Glanz liegt auf den Kronen der Bäume und Büsche inmitten der Bergweiden. Ihnen singt Tityrus sein Liebeslied vor und lehrt sie, im Wiederhall «schöne Amaryllis» zu antworten (Ekl. I, 2, 5). Das Tafelbild Paul Brils ist etwa hundert Jahre jünger als der Vergilholzschnitt. Abgesehen von der Verschiedenheit der künstlerischen Mittel zeigt der Vergleich auch etwas von der Entwicklung der Landschaftsmalerei am klassischen Beispiel der ersten Ekloge Vergils.
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Auf dem Holzschnitt schneidet der Lauber (d. i. der Laub erntet) gerade Zweige von einem Baum. In der Tat kann das Schneiteln (Fachbegriff für das Schneiden von Laubzweigen aus der Geschichte der Viehwirtschaft) der Laubbäume unabhängig vom Weinbau erklärt werden. Es diente üblicherweise wie das knappe Gras der notwendigen Futtergewinnung.
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Tityrus in der Hirtenlandschaft
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Die Baumwiesen-Landschaft der I. Vergilekloge war zur Zeit Brils weit verbreitet. Große Teile Europas waren Weidelandschaften mit unterbrochenen Weiderasen und lockeren Wäldern, mit ausladenden Bäumen, mit Büschen und Viehtränken zwischen Berg und Tal.12 Aber was zu Beginn der Neuzeit selbstverständlich war, ist heute in vielen Berggebieten Europas selten geworden. Wo aber alte Bäume und Lichtungen mit ihrer Artenfülle verschwinden, zieht sich auch die Schönheit aus der Landschaft zurück.
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12
Zum Verständnis aus geobotanischer und historischer Sicht: vgl. Heinrich Ellenberg, 1996. Auf das Buch von Ellenberg sei vor allem auch im Hinblick auf die Erklärung der bukolische Parklandschaft verwiesen. Zur geobotanischen Seite der bukolischen Landschaft vgl. auch den Exkursionsführer von Otti Wilmanns, 2001.
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Hans-Dieter Stoffler
Abbildung 1 Paul Bril, Gebirgslandschaft Um 1600, Öl auf Kupfer, 17,5 × 23 cm Mainz, Landesmuseum Mainz (Elsbeth Wiemann 2005/2006)
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Tityrus in der Hirtenlandschaft
Abbildung 2 Paul Bril, Felslandschaft 1554, Öl auf Kupfer, 18 × 23,5 cm
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Abbildung 3 Holzschnitt aus der Vergilausgabe 1502
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Peter Habermehl
Die Dämonen der Geschichte. Trauerarbeit und historische Reflexion in der ps.-senecanischen Octavia1 Es dämmert. Der Morgen kündigt sich an. Es ist jene Stunde des Zwielichts, die Roms berühmtester Elegiker so einfühlsam beschworen hat: «Welche Lust, jetzt in den zarten Armen der Herrin zu ruhn (…), jetzt auch ist der Schlaf eine Labsal, und die Luft kühl, und perlend singt mit samtener Kehle ein Vogel.»2 Es ist die Stunde der Liebenden. Doch sehen wir Liebende? Unser Blick fällt in ein edles Schlafgemach auf dem Palatin, auf eine junge Frau – von der Nacht gezeichnet, doch nicht von der Liebe. Denn allnächtlich sucht der immer gleiche Alptraum sie heim und martert ihre Seele: «Der traurige Schatten des Bruders steht mir vor Augen, wenn der Schlummer die Glieder gelöst und die vom Weinen matten Augen Schlaf bezwungen hat. Erst wappnet er mit schwarzen Fackeln die schwachen Hände und zielt wehrlos auf Augen und Antlitz des Bruders. Alsbald wieder flieht er zitternd in meine Gemächer zurück. Der Feind setzt ihm nach und ihm, der mir im Arm liegt, treibt er gewalttätig das Schwert durch unsere Flanke.»3
Zwei verfeindete Brüder, und zwischen ihnen die Schwester. Die Rede ist von Claudia Octavia, Kaiser Claudius’ Tochter mit seiner dritten Gattin Messalina, die in zarten Jahren4 mit ihrem Adoptivbruder vermählt wird, Lucius Domitius Ahenobarbus, Claudius’ Adoptivsohn und baldigem Thronfolger: Nero. Der andere, ihr leiblicher Bruder, ist Britannicus, den Nero kurz nach der Machtergreifung als potentiellen Konkurrenten am kaiserlichen Kindertisch vergiften läßt – eine Szene, die Tacitus und Sueton unsterblich gemacht haben.5 In diesem allnächtlichen Trauma verdichtet sich das Los, an dem Octavia zu tragen hat, die Tragödie ihrer Familie: ihre Mutter Messalina, die das Spiel mit ihrem Buhlen auf die Spitze treibt und unter Claudius’ Schwert kommt; ihr Vater Claudius, den ihre Stiefmutter 1 2
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Für seine umsichtige Lektüre dieser Seiten bin ich Ernst August Schmidt zutiefst verpflichtet. Ov. am. 1,13,1ff., bes. 5–8 nunc iuuat in teneris dominae iacuisse lacertis: / si quando, lateri nunc bene iuncta meo est. / nunc etiam somni pingues et frigidus aër, / et liquidum tenui gutture cantat auis. 115–122 quam saepe tristis umbra germani meis / offertur oculis, membra cum soluit quies / et fessa fletu lumina oppressit sopor! / modo facibus atris armat infirmas manus / oculosque et ora fratris infestus petit, / modo trepidus idem refugit in thalamos meos: / persequitur hostis atque inhaerenti mihi / uiolentus ensem per latus nostrum rapit. – Infestus (119) ist hier passivisch gedeutet (vgl. OLD s.v. 5; aktiv, im Sinne von «feindselig», 229, 232, 531, 614, 688). – Der Text wird zitiert nach der neuen Ausgabe von R. Ferri, Octavia. A play attributed to Seneca, Cambridge 2003. Die Übersetzungen aus der Octavia stammen von Theodor Thomann (Seneca, Sämtliche Tragödien. Übers. und erl. von Th. Thomann. Bd. 1, Zürich 1961), sind jedoch in aller Regel bearbeitet. Sie war damals (53 n.Chr.) etwa vierzehn Jahre alt. Tac. ann. 13,15f.; Suet. Nero 33,2f.
Antike und Abendland Bd. 54, S. 113–128 © Walter de Gruyter 2008 ISSN 0003-5696
DOI 10.1515/ANTI.2008.007
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Agrippina beseitigt; schließlich Britannicus. Die Schicksalsschläge fügen sich zur Kette, deren letztes Glied – hellsichtig ahnt sie es von Anfang an – sie selbst bilden wird.6 Das einzige, das sie diesem Alptraum entgegenzusetzen hat, ist ihr Klagelied, die Litanei ihrer Leiden, die sie jeden Morgen anstimmt, Ventil ihres übergroßen Schmerzes wie Analyse ihrer ausweglosen Lage – und ihren Haß auf den kaiserlichen Gemahl, den Bruderund Muttermörder, den Usurpator, den das mütterliche Attentat auf den Thron hob.7 Für einen Moment blitzt Mordlust in ihrem Auge.8 Daß die Tragödie sich in ihr vollenden wird, nimmt Octavia gleichsam vorweg, wenn sie sich als «Schatten eines großen Namens»9 bezeichnet und damit bereits in der Schattenwelt sieht. Bei den Toten ist sie mehr zuhause als bei den Lebenden. An sie richten sich ihre Worte; allein von ihnen erhofft sie Beistand.10 In der Analyse ihres Loses verschmelzen ein ominöser göttlicher Zorn und die Verfehlungen ihrer von Venus verführten Mutter zur wirkmächtigen «ersten Ursache (ihrer) Leiden», zum Geschlechterfluch, der die Erbsünde der Claudier von Glied zu Glied fortpflanzt.11 Die böse Saat vollendet sich in jenem Monstrum, das zur Nemesis der Claudier wird: Nero. Als Wiedergänger Typhons, des mythischen Erzfeindes der Olympier, vertreibt er die Götter, vergiftet die Welt, und bereitet einer Katastrophe den Weg, deren Vorzeichen das Reich längst erzittern lassen.12 Octavias verzweifelte Frage, warum der Göttervater Nero nicht richte – das klassische Problem der Theodizee –, sie verhallt ungehört.13 Der Himmel verstummt; die Götter haben die Sterblichen vergessen.
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Sie faßt ihr Los eindringlich zusammen (102–105): genetrice caesa, per scelus rapto patre, / orbata fratre, miseriis luctu obruta, / maerore pressa, coniugi inuisa ac meae / subiecta famulae, luce non grata fruor. – Für Octavias Ende sorgen nicht nur Neros Haß, sondern auch Poppaeas Nachstellungen, die Nero zum Muttermord ermutigte und nun den Kopf der Rivalin fordert (bes. 132f. pretium stupri / iustae maritum coniugis captat caput. Unbemerkt blieb bislang der realhistorische Bezug, vgl. Tac. ann. 14,64,2 additurque atrocior saeuitia, quod caput amputatum latumque in urbem Poppaea uidit). Zu Todesahnungen im Text vgl. auch 55f. heu quam nefandum prospicit noster timor / scelus; 106f. trepidante semper corde non mortis metu / sed sceleris. «Octavia fühlt ganz als Claudierin und als Teil der Familie muß sie Neros Herrschaft als Usurpation, ihre Ehe als Gefangenschaft, den Gatten als Tyrannen empfinden.» Schubert 259. Vgl. 174 extinguat et me, ne manu nostra cadat! Zum Haß auf Nero vgl. bes. 108–110 poena nam grauior nece est / uidere tumidos et truces miserae mihi / uultus tyranni, iungere atque hosti oscula. Der physische Ekel vor dem Brudermörder läßt ahnen, wie es um die Ehe der beiden bestellt ist (aus Neros Sicht Tac. ann. 13,12,2 uxore ab Octauia, nobili quidem et probitatis spectatae, fato quodam, an quia praeualent inlicita, abhorrebat). 71 magni …nominis umbra (vielleicht nach Lucan 1,135 stat magni nominis umbra; vgl. auch Quint. inst. 12,10,15 umbra magni nominis). Tantali umbra bzw. Thyestis umbra heißen die beiden Geister aus der Unterwelt in Senecas Agamemnon bzw. Thyestes. 12f. tristes questus natae exaudi, / si quis remanet sensus in umbris; 134f. emergere umbris et fer auxilium tuae / natae inuocanti, genitor. Die Vergeblichkeit eines solchen Unterfangens steht für Octavias Amme außer Zweifel (137–139): frustra parentis inuocas manes tui, / miseranda, frustra, nulla cui prolis suae / manet inter umbras cura (ähnlich argumentiert Anna gegenüber Dido, Verg. Aen. 4,34 id cinerem aut manis credis curare sepultos?). 11 prima meorum causa malorum; 257–261 graui deorum nostra iam pridem domus / urgetur ira, prima quam pressit Venus / furore miserae dura genetricis meae, / quae nupta demens nupsit incesta face, / oblita nostri, coniugis legum immemor (vgl. Smith 406). Für Octavias Amme beginnt das Unheil mit Claudius, der Nero dem eigenen Sohn vorzieht und nicht zurückschreckt vor dem Inzest mit seiner Nichte (bes. 139ff.). Als entscheidendes Omen gilt der Komet des Jahres 60 (231f. uidimus caelo iubar / ardens cometen pandere infestam facem, und Ferri ad loc.). 227ff. utinam nefandi principis dirum caput / obruere flammis caelitum rector paret eqs.
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Nicht aber die Mächte der Finsternis, die sich gegen ihre Familie verschworen haben. Denn die Geschichte des Hauses steht unter dem Stern der Erinnye. Als fleischgewordener Fluch sucht die Dämonin der Rache die Hochzeiten des Clans heim:14 Als Claudius Messalina ehelicht, und später Agrippina, wartet beide Male die schlangengegürtete Furie am Altar. Bei Octavias Vermählung schließlich gibt Agrippina sich die Ehre: «Sie, die finstere Erinnye, trug bei meiner Hochzeit die stygischen Fackeln voran.»15 Ein Bild, das die böse Schwiegermutter ins Dämonische überhöht – und damit ihr wahres Wesen entlarvt. Octavias Ätiologie bewegt sich im Kreis der Familie. Die politische Dimension bringt der Chor ins Spiel, der an Volkes statt spricht. Aus seinen Worten schlägt Octavia gebrochene Sympathie entgegen; Neros Pläne hingegen – die Scheidung von Octavia, die Hochzeit mit Poppaea – erregen Empörung, in der sich ein unerwarteter Verantwortungssinn verrät: Einzig die legitime Erbin des Claudius garantiere den Bestand des Kaiserhauses, Claudia Octavia; deshalb gehöre sie an Neros Seite.16 Die Monarchie stellt das Volk nicht in Frage. Eben weil es sich den Claudiern verbunden fühlt, begreift es, daß Neros erotischer Egoismus die Legitimation seiner Herrschaft aufs Spiel setzt, ja die Institution des Prinzipats. Und Erinnerungen an die altrömische Historie weckt der kaiserliche Übergriff: an lüsterne Zwingherren, die das Heiligtum der Ehe schänden, und an die wahre virtus von einst, die solchen Tyrannenhochmut brach. Die Altvordern haben als würdige Söhne des Mars «die vermessenen Könige aus dieser Stadt vertrieben», deren Untaten an Verginia und Lucretia gerächt und damit die Geburt der Republik eingeläutet.17 Zwischen den Versen gewinnt eine unerhörte Aussicht Gestalt: daß es auch heute zwischen Volk und Thron zur Konfrontation kommen könnte. Aufruhr liegt in der Luft – zumal noch ein älterer Kummer das Volk aufwühlt: Neros unsäglicher Muttermord. Ihm setzt der Chor in einer barocken Ekphrasis ein Denkmal (309–376) – als wolle er sich selbst bestärken zu einer der Ahnen würdigen Antwort auf ein solches Verbrechen. Octavias Blick bleibt im Palast gefangen. Der Chor erfaßt die historische Dimension der Geschehnisse. Senecas Analyse schließlich rückt die Zeitläufte vor die universale Kulisse des Firmaments.18 Das Uhrwerk der Gestirne lehrt ihn die kosmischen Zusammenhänge begreifen, den ewigen Kreislauf der Welt.19 Die klassische Lehre von den vier Zeitaltern exemplifiziert die fatale Dichotomie menschlicher Geschichte: aller zivilisatorische Fort14
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Dieses ominöse Motiv erscheint bereits bei Didos Hochzeit mit Aeneas – in Ovids Lesart (her. 7,95f. audieram uocem: nymphas ululasse putaui; / Eumenides fati signa dedere mei). Es kehrt wieder bei Medeas Hochzeit (Sen. Med. 13–18; vgl. auch Ov. met. 6, 428–432; Lucan. 8, 90–92). 23f. illa, illa meis tristis Erinys / thalamis Stygios praetulit ignes (vgl. 153f.). Zu Claudius’ Hochzeit mit Messalina vgl. 262–269, zu der mit Agrippina 160–164. Im Text erscheinen die Beispiele in verkehrter Chronologie: Octavia verfolgt den Faden zurück. Bes. 276ff. Für die dynastische Sorge freilich, die Nero (dazu unten) wie Octavia umtreibt (181 expectat aliam principis subolem domus), weiß auch der Chor nur eine utopische Hoffnung: den ersehnten Stammhalter möge Octavia gebären (279–281) – eine Aufgabe, die ihre vom Chor gepriesene Virginität kaum zuläßt (286f.). 291–308a, bes. 294–294a illi reges hac expulerant / urbe superbos. Das Verbrechen der Tullia, die den Leichnam des von Tarquinius’ Schergen erschlagenen Vaters schändet (304–8a; vgl. Liv. 1,46–48; Ov. fast. 6,587–610), liefert den altrömischen Präzedenzfall für Neros Muttermord, dessen Erzählung auf dem Fuß folgt. Beide Zeitalter erleben ein furchtbares Parrizid im Königshaus. Vgl. Bruckner 33: «Wie der größte von drei konzentrischen Kreisen schließt Senecas umfassende Darstellung zwei kleinere Kreise ein.» 385ff. Das tröstliche Schauspiel des Weltalls schildert Seneca Helv. 8,6.
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schritt wird erkauft mit moralischer Regression.20 Die Krisis spitzt sich zu im vierten, gegenwärtigen Zeitalter, das dem Schoß der Erde die Metalle entreißt. Eisen und Gold gebären Luxus und Verschwendung, Gewalt und Krieg: «Ein schweres Jahrhundert lastet auf uns, in dem Verbrechen regieren, rasender Frevel tobt, Wollust einer schändlichen Venus machtvoll herrscht und die Verschwendung als Bezwingerin des Erdkreises unermeßliche Schätze schon lange mit gierigen Händen rafft, um sie zu verschleudern.»21
Rettung bringt allein die kosmische Katastrophe, wenn über die greise Welt der Jüngste Tag hereinbricht, «der ein ruchloses Geschlecht begraben soll unter des Himmels Einsturz, auf daß er, besser wiedergeboren, abermals ein neues Geschlecht erzeuge.»22 Diese negative Eschatologie verknüpft die Geschicke des Kaiserhauses und des Reichs mit der quasi naturgesetzlichen Degeneration der Menschheit – und bricht damit den Stab über den Princeps, wie ein Bild schlagend belegt. Die Menschen der vierten, eisernen Zeit verheeren die anthropomorph beschriebene Erde.23 Wie der Kaiser die leibliche Mutter, so vergewaltigt und mordet das gefallene Zeitalter die Mutter Erde und übersetzt Neros Verbrechen ins Makrokosmische. Das bedeutet nicht nur die radikale Absage an die kaiserliche Propaganda, die Neros Krönung zum Anbruch des goldenen Zeitalters verklärt.24 Nero wird zur Inkarnation der entfremdeten Geschichte, seine Herrschaft zur Endzeit, die verglühen wird im apokalyptischen Kataklysmos, dem Weltenbrand. Der Jüngste Tag steht vor der Tür.25 In welchem Maße aber der böse Zeitgeist sich in seinem kaiserlichen Protagonisten materialisiert, führt dem Zuschauer ein brillanter dramaturgischer Schnitt vor Augen.26 Kaum ist Senecas Philippika gegen das Pandämonium der Gegenwart verklungen, tritt diese in Fleisch und Blut auf die Bühne, «zornig, mit finsterer Miene».27 20
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Das Vorbild liefert v. a. Ovid met. 1,89–150 (vgl. u. a. Bruckner 34–36). Auch Seneca kommt auf die Zeitalterlehre zu sprechen (bes. ep. 90,35–46; Phaedra 525–558). 430–434 saeculo premimur graui, / quo scelera regnant, saeuit impietas furens, / turpi libido Venere dominatur potens; / luxuria uictrix orbis immensas opes / iam pridem auaris manibus, ut perdat, rapit. 391–395 qui si senescit, tantus in caecum chaos / casurus iterum, tunc adest mundo dies / supremus ille, qui premat genus impium / caeli ruina, rursus ut stirpem nouam / generet renascens melior. Verwandte Vorstellungen finden sich auch im philosophischen Werk Senecas (e. g. Marc. 26,6f.; Polyb. 1,2; nat. 3,29,2– 30,8) – wobei er die Idee eines universellen Niedergangs und der moralischen Überlegenheit des Goldenen Zeitalters zum Teil revidiert (den Menschen der Urzeit fehlte die Weisheit, die erst die Philosophie entdeckt, ep. 90,35f. 44. 46). Die Octavia-Passage ist eher von Senecas Tragödie inspiriert (bes. Thy. 828–884; Herc. Oet. 1102–1127), und von Ovid (met. 1,253–258; 2,171–328). Zur stoischen Ekpyrosis vgl. M. Pohlenz, Die Stoa. Göttingen 2 1959, I 77–80. – Laut Armisen-Marchetti 205f. begründe die Octavia das Weltende kausal mit der menschlichen Schlechtigkeit. Doch Seneca beschreibt im Stück einen naturgesetzlichen Prozeß, der im Weltende seinen natürlichen Abschluß findet. Eine politische Parallele findet die kosmische Teleologie in der Hoffnung des Chors auf eine Regeneration des degenerierten Roms (Smith 410). 416–418 sed in parentis uiscera intrauit suae / deterior aetas; eruit ferrum graue / aurumque, saeuas mox et armauit manus. Die vermenschlichte Erde (404–406a) nimmt Ovid vorweg (met. 1,138 itum est in uiscera terrae). Wichtige Passagen sind u. a. Sen. Apoc. 4,1; Calp. Sic. 1,42ff.; Tac. ann. 16,2,2. Ein geistesverwandtes Bild der Ära taucht in einer anderen zeitgenössischen Eschatologie auf, der Offenbarung des Johannes. Dort steht das Tier aus dem Meer (Kap. 13) auch für den Christenverfolger Nero. Ihn haben bereits die frühesten Exegeten des Stücks gewürdigt. 435f. sed ecce gressu fertur attonito Nero / trucique uultu – die Inkarnation des Zorns, wie Seneca sie in seinem Traktat De ira schildert (Williams 182).
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‹Bringt mir den Kopf von Plautus und Sulla!›28 Dieses Machtwort an die Exekutive eröffnet Neros Auftritt. Von seiner allerersten Zeile an zeigt sich der Kaiser als Autokrat und Tyrann, als der wahre Majordomus des eisernen Zeitalters. In dem Disput mit Seneca, der sich nun entfaltet, findet das Stück seinen architektonischen und geistigen Schwerpunkt. Eine Frage v. a. umkreist er: wie soll der Herrscher seine Macht ausüben, im Geist der Humanität (so Seneca) oder der Repression (so Nero)? Seneca folgt dem kategorischen Imperativ seines Manifests De clementia. Er plädiert für Gerechtigkeit und Milde. Denn wer Haß sät, wird durch den Haß umkommen.29 Doch in Neros staatsmännischem Credo hat Gerechtigkeit keinen Platz. Seine Despotie gründet auf Furcht: seiner Furcht um den Thron, und der Furcht seiner Untertanen vor dem Thron – die einander in fataler Dialektik bedingen. Deshalb besteht er auf absoluter Macht über rechtlose Subjekte, auf bedingungslosem Gehorsam, auf den entmündigenden Mechanismen des Terrors. Gewalt soll Furcht erzeugen, getreu der Maxime oderint, dum metuant. Und jeden potentiellen Gegner gilt es zu vernichten: die Politik des Präventivschlags.30 All dies ist nüchtern argumentiert – auch wenn sich da und dort ein Anflug von Hybris ins Bild stiehlt: wenn Nero seine Herrschaft zum Göttergeschenk erklärt31 – um sich im gleichen Atemzug blasphemisch über die Götter zu stellen: «Töricht wäre ich, die Götter zu fürchten – schaffe ich doch selbst Götter!»32 (gemeint ist die Vergöttlichung seines Adoptivvaters Claudius; was diese bei Hof galt, lehrt schon ein flüchtiger Blick in Senecas Apocolocyntosis), oder wenn er Fortuna, die ihm «alles erlaubt», als ultima ratio seines Handelns ausmacht.33 Beschreibt er doch nur mit zynischem Kalkül die ungeahnte Machtfülle, die das Kaisertum spätestens seit Caligula usurpiert hat.34 Und ein für alle Mal wirft er das lästige Joch des alten Schulmeisters ab: «Ich will tun, was Seneca mißbilligt.»35 Dieses Streitgespräch hat die Leser der Octavia zu allen Zeiten fasziniert (noch in Monteverdis L’incoronazione di Poppea hallt es nach wie fernes Donnergrollen) – und zugleich die unterschiedlichsten Wertungen erfahren. Ist Seneca der Held des Treffens – um die 28
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437f. perage imperata, mitte qui Plauti mihi/ Sullaeque caesi referat abscisum caput. Gemeint sind Rubellius Plautus und Faustus Cornelius Sulla Felix, zwei Verwandte des Kaisers, die Nero ihrer noblen Abkunft und ihres hohen Ansehens halber in einer dynastischen Säuberung ausmerzt (vgl. Tac. ann. 14,57–59). Daß zwischen ihrem und Octavias Tod ein Zusammenhang besteht, zeigt neben der Octavia auch Tacitus (a. O.): in aufeinander folgenden Szenen fordert Nero erst die Ermordung der beiden Verwandten, dann die seiner Frau (Kragelund 1988, 492f.). Eine exakte Analyse seiner Argumentation (samt der Bezüge zu De clementia) liefert Manuwald 2002. – Auch ein realpolitisches Argument führt Seneca ins Feld: das Volk werde die Scheidung und den neuen Ehebund nicht dulden; Neros Pläne seien politischer Selbstmord. Ähnlich grundsätzlich verwahrt sich der Prätorianerpräfekt Burrus gegen Neros Scheidungspläne. Einer historischen Anekdote zufolge fordert er den Kaiser auf, in diesem Falle Octavia ihre Aussteuer zu erstatten. Gemeint ist natürlich das Reich (Dio Cassius 62,13,2). 462–471, bes. 469–471 tollantur hostes ense suspecti mihi; / inuisa coniunx pereat et carum sibi / fratrem sequatur: quicquid excelsum est cadat. 492f. munus deorum est, ipsa quod seruit mihi / Roma et senatus. 449 stulte uerebor, ipse cum faciam, deos. 451 Fortuna nostra cuncta permittit mihi. Nero verkörpert die pervertierte Antithese des stoischen Idealherrschers, den tyrannus, dem die Kerntugenden des stoischen sapiens abgehen (Weisheit, Gerechtigkeit, Selbstbeherrschung, Tapferkeit), und der die hierarchische Pyramide Bürger – Kaiser – Götter zum Einsturz bringt. Zur Gestalt Neros vgl. Bruckner 37–40 (zum Streitgespräch a. O. 40–127); Schubert passim. 589 liceat facere quod Seneca improbat. Hier klingen die Einflüsterungen nach, die nach Burrus’ Tod Neros Ohr erreichen (Tac. ann. 14,52,4): certe finitam Neronis pueritiam et robur iuuentae adesse: exueret magistrum, satis amplis doctoribus instructus maioribus suis.
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Bandbreite der Exegesen in ihren beiden Polen anzudeuten –, der im Rückgriff auf ‹sein› philosophisches Œuvre dem verstockten Schüler einen Fürstenspiegel vors Gesicht hält? Oder Nero, der als überlegener Zyniker der Macht den weltfremden Theoretiker samt seiner anämischen Buchphilosophie zu Recht links liegen läßt? Die Frage ist spannend – und aktueller denn je. Doch die Szene läßt sich noch aus anderer Warte betrachten. Kann der Seneca des Stücks mit seinem Bild der zeitgenössischen Welt überhaupt auf eine Wirkung seiner Worte hoffen? Wohl kaum. Zumal zum historischen Zeitpunkt dieses Disputs (was der Autor der Octavia zweifelsohne wußte) sein politischer Einfluß längst erodiert war. Gerade deshalb gewinnt die Szene eine eigene Qualität. Den Schlüssel zu ihrem Verständnis bietet ein anderes Gespräch, das die beiden bei Tacitus führen, und in dem der Philosoph den Kaiser um die Entpflichtung von seinen Ämtern bittet.36 Zwei markante Parallelen fallen ins Auge: die wohlgesetzte Argumentation der beiden – und der Schüler, der seinen Meister schlägt, rhetorisch wie intellektuell. Die Umstände legen zudem nahe, «daß das taciteische Rededuell zwischen Seneca und Nero zu einem dramatischen Moment verdichtet hat, was in Wahrheit über einen längeren Zeitraum hinweg (…) vor sich gegangen ist».37 Gleiches gilt in der Octavia: Exemplarisch läßt jener Disput Senecas langjährige pädagogische Bemühungen Revue passieren, die keine Frucht getragen haben, und zeigt als Momentaufnahme, wie Senecas Stern sinkt, seine Ära endet.38 Nero hingegen tritt uns als höchst pragmatischer und geschichtsbewußter Herrscher entgegen, der sich mit Fragen der Moral nicht lange aufhält, der das politische Tagesgeschäft ebenso kennt wie die in die Jahre gekommene Predigt seines Ziehvaters Seneca, und der selbst seine Schwächen – die Furcht um seinen Thron, und seine Faszination für Poppaea – offensiv zu vertreten weiß.39 An dieser Rhetorik der Macht, die sich an den schwärzesten Tyrannen der senecanischen Tragödie inspiriert, muß Senecas Idealismus notwendig zerschellen. Die Würfel sind gefallen, die Tragödie nimmt ihren Lauf. Hier – auf dem Scheitelpunkt, der akme des Stücks – bricht in das so irdische Geschehen eine jenseitige Macht ein. Mit dem untrüglichen Instinkt des blutrünstigen Dämons spürt sie in Neros Vermählung mit Poppaea ihre Stunde nahen, die Stunde der Vergeltung.40 Als leibhaftige Erinnye betritt die tote Kaiserinmutter die Bühne, Agrippina, und verwandelt das Hochzeitsfest prophetisch in ein Begräbnis. Sie verflucht die neue Ehe und nimmt in einem berühmten vaticinium ex eventu die Frucht ihres Fluchs vorweg: Neros erbärmliches Ende, vor dem kein
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Tac. ann. 14,53–56. Fuhrmann 268–275 (zit. 274f.). Ferri ad 437 (S. 251) erwähnt diese Szene, freilich ohne aus ihr Schlußfolgerungen zu ziehen. Im Monolog erleben wir Seneca gewissermaßen vor seinem Sturz. Doch gleich die ersten Worte signalisieren das Ephemere seiner Position: die wankelmütige Fortuna erhob ihn nur zum Mund und Mentor des jungen Kaisers und (an Burrus’ Seite) zum Reichsverweser, um ihn um so tiefer stürzen zu lassen (377–380). Zugleich zeichnet der Monolog ein versöhnliches Bild des elder statesman und entlastet ihn stillschweigend von jeder Mitverantwortung für die kaiserlichen Untaten, besonders den Muttermord (ein Urteil über den historischen Seneca fällt Fuhrmann 249f. 252f.). Vgl. Schubert 273. Agrippina wird die Rächerin, die Octavias Amme herbeisehnt (596; vgl. 255). Ihre Vergeltung gilt vornehmlich dem Muttermord, der in der Octavia gleich dreifach stattfindet: auf dem Todesschiff, in ihrem Schlafgemach, zuletzt in der damnatio memoriae, die Nero über die Mutter verhängt.
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märchenhafter Reichtum, keine goldnen Paläste, keine Leibstandarte ihn werden schützen können.41 Diese Szene hat ein Vorbild in den Geistererscheinungen, mit denen zwei Stücke Senecas beginnen. Dort setzen Geschöpfe der Hölle (Tantalus im Thyestes, Thyest im Agamemnon) die Tragödie in Gang und inspirieren die Protagonisten zu ihren Untaten, in einem Kreislauf des Bösen, in dem das Böse stets aufs Neue Böses gebiert.42 Die Nähe zu Seneca zeigt sich in der Octavia in zwei gewichtigen Details.43 Den Entschluß, Poppaea zu ehelichen und Octavia hinzurichten, hat Nero längst aus eigenen Stücken gefaßt. Agrippinas Geist inspiriert das Böse nicht. Er nimmt nur prophetisch die Ereignisse vorweg, die Neros Akt in Bewegung setzt. Er verbürgt gewissermaßen – über den abgezirkelten Rahmen des Stücks hinaus –, daß die Rache zu ihrem Ziel kommt und das Böse ein böses Ende nimmt.44 Und Agrippina ist nicht die Stimme einer höheren Macht, einer sittlichen Autorität. Sie entstammt, wie Senecas Dämonen, dem Reich der Finsternis. Ihr Erscheinen bestätigt Octavias Klage: daß die Götter – so es sie denn gibt – sich schon längst zurückgezogen, daß sie die Menschen sich selbst überlassen haben: ihrer eigenen Hölle. Agrippinas Auftritt zeigt alsbald Wirkung. Ein Gesicht martert Poppaea in der Hochzeitsnacht, in dem die Erde aufreißt und sie in den Hades stürzen läßt, und in dem sie mit ihrem früheren Gemahl Crispinus Zärtlichkeiten austauscht, «als bebend in meine Gemächer eindrang / und das rasende Schwert in der Kehle barg Nero.»45 Unter Agrippinas Bann schaut auch Poppaea die Zukunft. Die finstere Vision, in der die süße Erinnerung an die Ehe mit Crispinus sich vermischt mit Todesahnungen, pervertiert die neue Vermählung zur Leichenfeier. Als furchtbare Brautjungfer setzt Agrippina ihre Rache in die Tat um und zieht – nicht unähnlich dem steinernen Gast Don Giovannis – Poppaea hinab in die Hölle. Die Bilder sprechen für sich: diese Hochzeit wird ihr und Nero den Tod bringen. Alle Versuche der Amme, die bösen Omen in fast absurder Weise optimistisch zu lesen, rücken die finstere Botschaft nur um so schärfer ins Relief.46 41
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619–631. Zu den historischen Anspielungen auf Neros Ende vgl. Bruckner 4–6; Kragelund 1982, 31; Kragelund 2000, 505–509; Ferri ad 619–621. Am eindringlichsten gestaltet dieses Motiv der Thyestes. Von einer Furie gezwungen, vergiftet Tantalus’ Schatten sein verfluchtes Geschlecht mit seinem Haß – Bild einer alten Erbschuld (28–32 longum nefas / eat in nepotes; nec uacet cuiquam uetus / odisse crimen: semper oriatur nouum, / nec unum in uno, dumque punitur scelus, / crescat). Einen Sonderfall stellt Junos Auftritt im Hercules furens dar. Vgl. zu diesen drei Prolog-Szenen Heldmann 1–62. Es bleibt ein gewichtiger formaler Unterschied. In der Octavia rückt diese Szene ins Zentrum des Stücks und gewinnt damit dramatisch an Gewicht. Agrippinas Auftritt markiert die Peripetie der Herrschaft Neros. – Ernst A. Schmidt (in epist.) unterstreicht die Parallele zur ebenfalls zentralen Laius-Nekromantie (Sen. Oed. 619–658), die sich auch im Detail zeigt. Laius will eine Erinys pronuba mitbringen (644); in der Octavia wird die ermordete Mutter selbst zur Erinys pronuba (vgl. ferner Oed. 643 inultus – Oct. 599f. manibus …inultis, und Oed. 645 uerbera – Oct. 620 uerbera). Ähnlich gedenkt Thyests Schatten im Agamemnon seiner Untaten, insbesondere seines im Inzest gezeugten Sohns Ägisth, der nun Agamemnons Mörder wird. – Auf Rache (wie Agrippina) besteht auch der Geist des Laius, Sen. Oed. 619–658 (Poe 453f.). 732f. irrupit intra tecta cum trepidus mea / ensemque iugulo condidit saeuum Nero (der Höllensturz insgesamt 724ff.). In einem Detail spiegelt Poppaeas Traum den Nachtmahr Octavias. Dort – so die ambivalente Formulierung – durchbohrt Nero Britannicus und sie (121f.; vgl. oben S. 1 Anm. 3). Noch irritierender ist das blutige Bild am Ende von Poppaeas Gesicht. In wessen Kehle senkt Nero sein Schwert: in die des Crispinus, oder in die eigene? Die Ambivalenz des Traumbildes scheint gewollt: in der persona von Poppaeas erstem Gemahl (Crispinus) richtet Nero zugleich sich selbst (Kragelund 1982, 9–20).
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Doch zuerst wird Octavia ihren Kopf verlieren, in Neros Augen die Rädelsführerin des niedergeschlagenen Volksaufstandes.47 Im letzten Aufzug des Stücks ist nur noch der Chor an ihrer Seite, der Octavia zu trösten sucht mit einer consolatio historiae, die zwei Facetten ihres Schicksals beleuchtet:48 die Sympathie des Volks, die seit den Tagen der Gracchen schon so vielen zum Verhängnis wurde, und der im Kaiserhaus gepflegte Haß, dem gerade die julisch-claudischen Frauen Tribut zollen, von Agrippina der Älteren über Livia und ihre Tochter Julia zu Octavias Mutter Messalina und ihrer Stiefmutter Agrippina (so der Chor in einem veritablen Heroinenkatalog).49 In Octavias Tragödie überschneidet sich ein zwiefaches Verhängnis, dem sie nicht entkommen kann und das sich nun vollendet. Der Himmel über ihr aber wird leer. Es gibt keine Götter, Pietas ist ohnmächtig, und «auf Erden herrscht die finstre Erinnye.»50 Ihr bleiben, wie schon im Prolog, nur zwei Instanzen: die Unterwelt und ihre Toten. Allein von ihnen kann noch Gerechtigkeit kommen.51 Und Octavia, die kurz schwankt, ob Verbannung oder Hinrichtung sie erwarten, läßt alle Hoffnung fahren, als sie in dem Schiff, das sie wegführen wird, visionär die «Todesbarke» erkennt, die Neros Mutter zur Falle werden sollte, vor allem aber «des Bruders Nachen»: den Nachen Charons, der nun sie übersetzen wird.52 In einer Szenerie, die Arnold Böcklins Toteninsel entlehnt scheint, wird ihre letzte Fahrt zur Jenseitsreise. Gilt der oft gehörte Einwand gegen das Stück: die Octavia ziele nicht ernstlich auf die Zeitgeschichte, denn die Porträts ihres Personals würden historiographischen Standards kaum gerecht? In der Tat: Das aufrührerische Volk, dessen Beweggründe den aristokratischen Historiographen kaum ein Wort wert sind,53 wird im Chor der Octavia mit seinen beiden eloquenten, hoch reflexiven Stimmen zur auktorialen Projektionsfläche, die den verbürgten Ereignissen eine programmatische eigene Deutung unterlegt. Seneca wiederum wirkt über weite Strecken wie ein Destillat stoischer Maximen aus dem Werk eines gleichnamigen Philosophen. Nero verkörpert den Tyrannen alter (und das heißt hier: tragischer) Schule. Welten trennen ihn von dem quecksilbrigen, labilen, zusehends in seinem Traumreich gefangenen Wesen, das uns aus den Historikern entgegentritt.54 47
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Die eigene Verantwortung für die Eskalation verkennt Nero und schreibt die Erhebung vielmehr Octavias Macht über das Volk zu, ihrer ihm von Anfang an so verdächtigen Popularität (vgl. auch Tac. ann. 14,59,3 Octauiam …nomine patris et studiis populi grauem). Die Straße bestätigt ihm den verzerrten Blick auf die Gattin. Den basso continuo bilden populärphilosophische Gemeinplätze: Was emporragt, bringt Fortuna zu Fall; über uns herrscht das Schicksal (897f. 924–931). Agrippina die Ältere (932–940a); Livia und Julia (941–946); Messalina (947–951); Agrippina (952–957). Zu diesem Katalog (der eine Parallele hat Tac. ann. 14,63,2f.) vgl. Bruckner 114f.; Billot 138. 911–913 nullum Pietas nunc numen habet / nec sunt superi: / regnat mundo tristis Erinys (vgl. Sen. Thy. 1021 fugere superi). 964–967 Tartara testor / Erebique deas scelerum ultrices / et te, genitor, / dignum tali morte et poena. «Des Bruders Nachen»: 907 fratris cerno miseranda ratem (zur «Todesbarke» vgl. 311 rate ferali). Schon beim Verlassen des Palasts verwirft Octavia ihre naive Hoffnung, der Tod bliebe ihr erspart: Sie ist das Opferlamm, das auf dem Altar dieser Hochzeit dargebracht wird (663f. hos ad thalamos seruata diu / uictima tandem funesta cades; vgl. zu diesem Passus auch Bruckner 113; dieses Motiv findet sich auch Sen. Herc. Oet. 348f. me nuptiali uictimam feriat die / infestus). Zu den historischen Hintergründen des Aufstands, den der einzige Botenbericht des Stücks ausmalt (780– 805), vgl. Tac. ann. 14,60f., und Schmidt 1438. Vergleichbares gilt für Neros Mutter. Bei Tacitus (ann. 14,5) bewahrt Agrippina im Chaos des Anschlags zur See einen kühlen Kopf, während eine lauthals um Hilfe rufende Hofdame für die Kaiserinmutter gehalten und – prompt erschlagen wird. In der Octavia hingegen bricht sie in eine melodramatische Anklage ihres Sohnes aus, bis die Fluten ihr den Mund versiegeln.
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Octavia schließlich ist fast die Antagonistin der Figur, die uns Tacitus vorstellt.55 In den Annalen ist sie schon in jungen Jahren ein Geschöpf des Hofs, das die Kunst der Selbstbeherrschung verinnerlicht, das Spiel der Verstellung vervollkommnet hat. Den Todeskampf des vergifteten Bruders am Nachbartisch verfolgt sie mit steinerner Miene.56 Die Maske fällt erst in ihrer Todesstunde auf Pandataria, wenn sie in rührend naiver Geste um ihr Leben fleht.57 In dem Drama hingegen begehrt sie auf gegen ihr Los und macht aus ihrem Haß und Abscheu gegen Nero keinen Hehl.58 Im Angesicht ihres Endes aber faßt sie sich und geht erhobenen Haupts in den Tod – eine zweite Antigone.59 Der Kontrast zu Tacitus’ Skizze könnte schärfer nicht ausfallen. Doch die Regeln antiker Literatur definieren sich anders. Schon die Historiographie gönnt sich bei der Schilderung geschichtlicher Ereignisse beachtlichen Spielraum, der ihren Quellenwert entsprechend trübt. Um wieviel mehr dies für Epos oder Drama gilt, mag Lukans Bellum civile veranschaulichen oder das einzige erhaltene Historiendrama der griechischen Bühne, die Perser des Aischylos. Kurzum: als Ikonen ihrer Epoche sind die Figuren der Octavia ernstzunehmen. Dieser Befund verweist uns mit Nachdruck zurück auf den geschichtlichen Kern der Octavia. Ungeachtet ihrer dramatischen Struktur und ihrer tragischen Potenz ist die Octavia ein Stück, das vor allem historisch gesehen werden will. Es gibt uns Auskunft über einen traumatischen Moment der Zeitgeschichte, der zum Wendepunkt, zur Peripetie der Herrschaft Neros wird: die Verstoßung und Ermordung Octavias, in denen die Ereignisse des Jahres 62 (der Tod des Burrus,60 Senecas innere Emigration, die Hinrichtungen von Plautus und Sulla) ihre traurige Klimax erreichen. Das Stück, das die Ereignisse mehrerer Wochen, ja Monate dramatisch auf drei Tage verdichtet,61 sucht zu erklären, was damals geschehen ist, in den Straßen und auf den Plätzen Roms, hinter den Kulissen des Palastes, hinter der Larve der Herrschenden – und warum es geschehen ist. Die historische Erkenntnis wird dabei nicht von außen in das Stück verpflanzt. Sie wird zum Prozeß: sie entfaltet sich vor den Augen der Zuschauer, wenn die Polyphonie der vielen Figuren sich allmählich verdichtet zum Urteil über die Epoche.62 Die eigentliche 55 56 57
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Wobei es im Grunde nur zwei kleine Szenen sind, in denen sie für die Nachwelt lebendig wird. Tac. ann. 13,16,4 quamuis rudibus annis, dolorem caritatem, omnis adfectus abscondere didicerat. Tac. ann. 14,64,1 paucis dehinc interiectis diebus mori iubetur, cum iam uiduam se et tantum sororem testaretur communesque Germanicos et postremo Agrippinae nomen cieret, qua incolumi infelix quidem matrimonium, sed sine exitio pertulisset. Zur Sterbeszene vgl. Bruckner 116f.; Bastomsky. Daß Octavia ihren Schmerz nicht zu verbergen vermag, unterstreicht auch ihre Amme (46–50). Zu einseitig Bruckner 13: «Angesichts der Sinnlosigkeit, sich gegen das fatum der domus Claudia (…) aufzubäumen, verhält sie sich passiv. Dieses Verhalten stimmt ganz mit dem Octaviabild überein, das aus der uns vorliegenden historischen Tradition überkommen ist.» (Ausgewogener urteilt er 112f.). Vgl. Ferri ad 892–895 und 924. Er stand wohl Modell für den namenlosen Präfekten der Szene 846–876 (den Kragelund 1988, 498–503 scharfsinnig als Tigellinus identifizieren möchte; an Faenius Rufus denkt Ferri ad 844–845). Die Octavia enthebt Burrus nicht nur aller Mitverantwortung für Neros Vergehen (Tac. ann. 14,7,4 hält Burrus die Prätorianer aus der Ermordung Agrippinas heraus; zu Seneca vgl. oben Anm. 38), sondern porträtiert ihn als mäßigende Kraft. Namenlos bleibt Burrus, da er zum Zeitpunkt der im Stück geschilderten Ereignisse bereits tot war. Daß v. a. die Scheidung und die neue Vermählung von rund zwei Wochen auf einen Tag komprimiert werden und damit zur Deckung kommen, unterstreicht Octavias Los sinnenfällig. Besonders aufschlußreich ist die Aufspaltung des Chors. Während der erste Chor sich zu Taten gegen das Kaiserhaus hinreißen läßt, präsentiert der zweite Chor, der gleichfalls zur Bürgerschaft rechnet, die Kräfte, die sich aus Furcht mit Neros Herrschaft abgefunden haben, ohne deshalb die kaiserliche Politik
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Handlung – Neros Hochzeit, der Aufstand, das Gericht über Octavia und Rom – tritt daneben fast in den Hintergrund. Im Brennpunkt der Geschichte steht die kaiserliche Familie. Unter dem Vergrößerungsglas der Octavia wird der Clan der Claudier zum Mikrokosmos der römischen Gesellschaft und des Reichs. Der Palast entlarvt sich als Welt des Trugs, der Eifersucht, der Unterdrückung. Hier setzt der Kreislauf von Haß und Gewalt ein, der wie eine Pandemie auf Rom übergreift und das Reich vergiftet. Der Geschlechterfluch, Octavias idée fixe, ist also kaum realhistorisch zu verstehen. Als fatalistische Metapher aus der Welt des Mythos und der Tragödie fixiert er die Zwanghaftigkeit, mit der unter den herrschenden Verhältnissen altes Unheil in verhängnisvoller Verkettung neues Unrecht gebiert, die immer gleichen Verbrechen sich perpetuieren.63 Aus diesem Grund bleiben auch die Götter in dem Stück blasse Chiffren, und nur ein Wesen der anderen Welt wird lebendig – die tote Agrippina. Denn auch als Dämon ist und bleibt sie letztlich Mensch. Ihren Einstand als Furie feiert sie zu Lebzeiten, bei Neros Hochzeit mit Octavia64 – eine Rolle, der sie nach ihrem Tod treu bleibt, wenn sie über Nero und Poppaea Unheil bringt. Eine historische Nachricht kommt hier ins Spiel. Wie wir aus Sueton erfahren, glaubte Nero sich von Wahnbildern der erschlagenen Mutter verfolgt.65 Suetons Psychogramm liefert uns einen Schlüssel zur Figur Agrippinas. Als Macht der Unterwelt verbildlicht sie in der Octavia die Abgründe der Psyche, die depressiven oder destruktiven seelischen Prozesse der Protagonisten.66 Mit anderen Worten: Agrippina ist kein Fabelwesen. In einer Art Euhemerismus unter negativen Vorzeichen dämonisiert die Octavia die Kaiserinmutter, ohne sie aus ihrer menschlichen Verantwortung zu entlassen. Diese Rückbindung des Dämonischen an die Menschenwelt, genauer: die Familie, birgt eine unheimliche Botschaft: Das Böse, das Agrippina und ihresgleichen in die Welt tragen, ist stets Menschenwerk, und im Fall der Octavia sogar hausgemacht.67
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uneingeschränkt zu befürworten (das beweisen schon die Sympathiebekundungen für Octavia, bes. 976f.). Wie die Klagen Octavias und ihrer Amme sich ineinander verschränken und ergänzen, hat fast schon musikalische Qualität. Vgl. Schubert 283. In einem verwandten Bild beschreibt Tacitus Octavias Ehe als Hölle auf Erden: «für sie wurde gleich der Tag der Hochzeit wie zu einer Leichenfeier, da sie in ein Haus geführt wurde, in dem sie nichts als Gram erleben sollte.» (Ann. 14,63,3 huic (sc. Octauiae) primum nuptiarum dies loco funeris fuit, deductae in domum, in qua nihil nisi luctuosum haberet, erepto per uenenum patre et statim fratre; tum ancilla domina ualidior et Poppaea non nisi in perniciem uxoris nupta; postremo crimen omni exitio grauius.) Nach dem Muttermord geht die Kunde von unheimlichen Begebenheiten am Grab der Mutter (Tac. ann. 14,10,3 erant qui crederent sonitum tubae collibus circum editis planctusque tumulo matris audiri), ja Nero glaubt sich vom Geist der Mutter und den Furien verfolgt (Suet. Nero 34,4 neque tamen conscientiam sceleris …aut statim aut umquam postea ferre potuit, saepe confessus exagitari se materna specie uerberibusque Furiarum ac taedis ardentibus). Vgl. Schubert 273: «Das Unterweltsgeschehen ist (…) bildlicher Ausdruck für Vorgänge, die sich in der Tiefe der Psyche abspielen.» – Ähnlich verhält es sich nach verbreiteter Lesart in den Tragödien Senecas (vgl. Heldmann 57 zu dem Fluch, der im Thyestes und Agamemnon auf dem Haus der Pelopiden liegt: «Seine gleichsam entmythologisierte Form ist der Gedanke einer sich forterbenden verbrecherischen Veranlagung des Pelopsgeschlechts.»). Fast unausweichlich fühlt man sich an einen klassischen Aphorismus der modernen Bühne erinnert: «L’enfer c’est les autres.»
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Fast beiläufig wird das Stück damit auch zur Meditation über Macht und Ohnmacht der Paideia. Schon Platon verzweifelte über der Frage, warum die Söhne eines Perikles so aus der väterlichen Art schlagen, warum selbst ein Sokrates einen Alkibiades nicht zum Guten habe anleiten können. Der tief pessimistische Blick auf die kaiserliche Familie in der Octavia gibt eine Antwort. Macht vergiftet die Seele – in deren Tiefen eine Verderbnis lauert, die nur ihre Fesseln abwerfen muß (im Falle Neros Agrippina, Burrus und Seneca), um unwiderruflich zum Ausbruch zu kommen. An ihr scheitert alle Erziehung – und damit jede Hoffnung auf eine Besserung der Verhältnisse, auf ein humanes Kaisertum. Die Octavia lehrt aber auch Skepsis im Umgang mit der Geschichte. Das zeigt symptomatisch der Streit um Augustus. Seneca stilisiert Neros kaiserlichen Ahnherrn zum Philosophenkönig, der nach blutigen Anfängen die Maximen eines stoischen Prinzipats verwirklicht habe.68 Diese idealisierende Lesart hat freilich ein pädagogisches Anliegen. Seneca will Nero, den er in panegyrischem Gestus zur Wiedergeburt der augusteischen Ideale verklärt, einschwören auf seine Rolle als neuer, besserer «Vater des Vaterlands».69 Nero aber setzt Senecas Idyll eine Umdeutung des historischen Befunds entgegen, die Augustus machiavellistisch-pessimistisch liest (nicht unähnlich Ronald Syme in seinem Klassiker The Roman Revolution) – und diesen Principe sich selbst zum Vorbild kürt.70 Die wunden Punkte in Senecas historischer Didaktik deckt Nero mit diabolischem Vergnügen auf und zieht aus Caesar und Augustus die eigenen Lehren: vergöttliche deinen Vorgänger (was geschehen ist), herrsche mit Furcht und Gewalt (der status quo), und begründe eine eigene Dynastie, die dich vergöttlicht (hier tritt Poppaea auf den Plan). An Augustus scheiden sich die beiden Geister. Die grundsätzliche Differenz im politischen Urteil Senecas und Neros: im historischen Präzedenzfall kehrt sie wieder. Und auch im Streit um die Vergangenheit behält Nero das letzte Wort. Die Macht über die Geschichte, ihre autorisierte Lesart liegt in den Händen derer, die über die Gegenwart gebieten.71 Aus diesem Grunde scheitert auch der Chor mit seiner Deutung der Vergangenheit, wenn er sein Recht auf Widerstand aus Roms glorioser Frühzeit schöpft. Nicht weil er die Geschichte falsch verstanden hätte, sondern weil die historischen Verhältnisse sich dramatisch verändert haben: die Republik ist unwiederbringlich verloren; ein absolutistisches Regime lenkt die Geschicke einer Welt, die am Abgrund taumelt (Senecas vier Zeitalter liefern hier den philosophischen Subtext). Der Rückgriff auf die Frühgeschichte Roms wird zur tragischen Illusion, die die Katastrophe erst auslöst. Das Volk, das den Tyrannen 68
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472–478 pulchrum eminere est inter illustres uiros, / consulere patriae, parcere afflictis, fera / caede abstinere, tempus atque irae dare, / orbi quietem, saeculo pacem suo. / haec summa uirtus, petitur hac caelum uia, eqs. – In De clementia (1,10f.) schildert Seneca den Octavian der Bürgerkriege in düsteren Farben, als Paränese für den jungen Nero, sich von Anfang an am gereiften, ‹geläuterten› Augustus zu orientieren. In der Octavia blendet Seneca diese blutigen Anfänge fast aus und konzentriert sich auf den späteren Kaiser. Um so dankbarer greift Nero hier zum Arsenal von De clementia (dazu gleich). Vgl. Bruckner 62–64 und 89f. Nero, dem die Macht in den Schoß gefallen sei, den der consensus des Volks und der Väter trage, dem aller Liebe und Verehrung gelte, möge sich seines von Augustus ererbten Titels als «Vater des Vaterlands» (490 patriae parens) würdig erweisen: «Daß du diesen Namen bewahrest, bittet Rom, und anvertraut dir ihre Bürger.» (490f. quod nomen ut serues petit / suosque ciues Roma commendat tibi). Vgl. unten Anm. 82. 492–532. Wohin Milde führe, lehre der Fall Caesars, der in Brutus seinen späteren Mörder begnadigt habe. Augustus habe diese Lektion gelernt. Hier wird gewissermaßen der Grundstein gelegt für Orwells Ministry of Truth.
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zur Rechenschaft ziehen, das Octavia helfen will, es führt Octavias Ende herbei72 – und den infernalischen Brand, der Rom verschlingen wird.73 Eine alptraumhafte Welt ersteht vor unseren Augen, der nicht mehr zu helfen ist, ein Reich der Finsternis und Gewalt (wie es nicht unähnlich manche Stücke Senecas schildern), in dem stets das Böse herrscht und nur durch das Böse zu Fall kommt.74 Zu dieser Wirkung trägt auch der Mythos bei, der in dem Stück eine auffällige Rolle spielt – wohl nach dem Vorbild Senecas, dessen Tragödie ganz in die Welt des Mythos getaucht ist. Senecas Bühnenwerk reflektiert die neronische Gegenwart in mythischer Maske. Sie verschleiert die Aktualität ihrer historisch-philosophischen Botschaft und entlarvt zugleich die tiefere Wahrheit der alten Mären: denn im blutdurstigen Achill-Sohn Pyrrhus, im lüsternen Despoten Lycus, im dämonischen Atreus erahnt der Leser schaudernd das Antlitz des eigenen Herrschers.75 Einen ähnlichen Weg beschreitet die Octavia – in umgekehrter Richtung. Sie spiegelt die Gegenwart zurück in den Mythos, und erzielt den gleichen schwindelerregenden Effekt: Indem Rom vor der Folie Thebens und Mykenes erscheint, wird deutlich, daß Neros Welt düsterer, grausamer, hoffnungsleerer ist als alle Fabrikationen des Mythos.76 Zwei Beispiele für viele mögen genügen.77 In der Eingangsszene vergleicht Octavia ihr Los mit Elektra.78 Dieser Blick in die Welt der Atriden rückt zugleich Kaiser Claudius in die Rolle Agamemnons, der in Agrippina seine Klytaimnestra findet. Auch Orest hat seinen Platz in diesem Gruppenbild – in einer kühnen Spaltung. Der Muttermörder Nero verkörpert seine dunkle Hälfte; die lichte, den potentiellen Rächer des erschlagenen Vaters, verkörpert Britannicus. Doch anders als im Mythos kann die römische Elektra ihren Orest nicht retten. Sie trifft ein ungleich härteres Los: sie verliert den Bruder, ihre einzige Hoffnung – und anders als Elektra bleibt ihr die öffentliche Klage um ihre Toten verwehrt.79 72
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Vgl. Schubert 283. Diese Tragik erfaßt bereits der zweite Chor, der für Octavias Ende auch den ersten Chor verantwortlich macht (892–895). Bereits im voraus hatte er das Scheitern des Aufstands vorhergesagt. Ähnlich ergeht es Seneca. Sein Versuch, Nero zu zügeln und für Octavia zu erwärmen, bewirkt das genaue Gegenteil – und beschleunigt so die Katastrophe. Zu optimistisch Smith 430, der das Stück als retrospektive politische Utopie beschreibt: an einer kritischen historischen Schnittstelle habe sich dem Volk die Gelegenheit geboten, die Geschichte zu revidieren; und diese Gelegenheit habe es verpaßt. Eine solche Chance hatte das Volk in der Octavia nie. Der Octavia zufolge war der verheerende Brand des Jahres 64, «der sich im Gedächtnis der Menschheit wie kein anderes Ereignis mit der Herrschaft Neros verbunden hat» (Fuhrmann 310), das kaiserliche Strafgericht über die rebellische Hauptstadt. Im Vergleich zu Seneca übt sich die Octavia, was Gewaltszenen angeht, in Zurückhaltung. Ein Detail ersetzt alle grellen Effekte der senecanischen Tragödie – die Obsession mit Hinrichtungen, die sich wie ein roter Faden durch das Stück zieht (vgl. auch oben Anm. 6) und in einem berüchtigten Bild aus den Bürgerkriegen gipfelt, das Neros Skizze seines augusteischen Regimes krönt: «Die auf der Rednerbühne zur Schau gestellten Häupter der Ermordeten sahen ihre Väter voller Trauer; und die Ihren zu beweinen war ihnen nicht erlaubt, noch zu seufzen, als von greulicher Verwesung das Forum besudelt ward, da gerinnender Eiter über die faulenden Gesichter troff.» (510–513 exposita rostris capita caesorum patres / uidere maesti, flere nec licuit suos, / non gemere dira tabe polluto foro, / stillante sanie per putres uultus graui). Auch auf einen gewalttätigen Schlußakkord à la Seneca – die Hinrichtung Octavias (Tac. ann. 14,64,1f.) – verzichtet das Stück, und gewinnt durch dieses offene Ende deutlich an Eindrücklichkeit. Vgl. Fuhrmann 205–208. 250f. (zit. 205): «Vor der Folie der julisch-claudischen Dynastie mit ihrer Verruchtheit, ihren hemmungslosen Gelüsten und ihren niederträchtigen Verwandtenmorden gewannen die altersgrauen Geschichten aus Mykene und Theben plötzlich eine geradezu bestürzende Aktualität, und die längst als Metaphern kursierenden Stoffe ließen sich beinahe im Wortverstande auf die Gegenwart beziehen.» Zur Rolle des Mythos in der Octavia vgl. bes. Herington.
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In der Schlußszene hofft der Chor für einen flüchtigen Moment, der Mythos siege über die Geschichte, und freundliche Winde entrückten Octavia – wie einst in Aulis Iphigenie – in die Sicherheit eines exotischen Landstrichs: «Milder als unsere Kapitale sind Aulis und der Taurier barbarische Erde. Des Fremdlings Mord stimmt dort gewogen der Himmlischen Macht; an Bürgerblut aber weidet sich Rom.»80
Die Wirklichkeit siegt. Denn gnädige göttliche Mächte gibt es nicht mehr, der Mythos entstammt einer Welt, die so fern liegt wie das mythische Tauris; die Heimat aber, so das Paradoxon, zeigt sich grausamer als alle Barbarei an den Rändern des Reichs.81 Im düsteren Schlußbild wird Rom zum Moloch, der seine Kinder verschlingt wie Goyas Saturn – Emblem neronischer Grausamkeit wie der Bürgerkriege, die sein verwaister Thron entfesseln wird.82 Nur zweimal fällt ein Strahl unwirklicher Hoffnung ins Zwielicht der Octavia – in einem Blick in die Zukunft, und einem Blick zurück. Senecas historisches Panorama kulminiert in der schreckensschwarzen Endzeit, unter die der Weltenbrand den Schlußstrich setzen wird. Doch steht dem Kosmos die Ekpyrosis tatsächlich bevor?83 Wer auf die feinen Widerhaken in dem Text achtet, darf zweifeln.84 Senecas kosmische Erlösung wird zum Prinzip Hoffnung, dessen Verwirklichung offen-, und wahrscheinlich ausbleibt (nicht unähnlich der Parousie-Erwartung der Urkirche). Nero mag untergehen; Rom aber, das Herz der Finsternis, schlägt weiter. 77
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An anderer Stelle vergleicht Nero sich implizit mit Juppiter, dem Göttervater, der einzig Amor unterliege (543–546). So unterstreicht er seinen imperialen Machtanspruch, und entschuldigt zugleich mit dem himmlischen Präzedenzfall die eigenen erotischen Extravaganzen. Der (zweite) Chor überbietet diese Botschaft noch, wenn er Nero mit Amor identifiziert und seine Macht ins Grenzenlose wachsen läßt (762–779; 806–819). Doch anders als der klassische Liebesgott wirkt Nero nicht mehr Heil (wie bei Lukrez Venus), sondern universelles Verderben. Sein feuriger Zorn kommt über die Stadt. – Ein vernichtendes Urteil über Nero fällt eine Anspielung auf Oedipus (371f. [zit. unten Anm. 85], ein Echo von Sen. Oed. 1038f. hunc, dextra, hunc pete / uterum capacem, qui uirum et gnatos tulit). Sie macht Nero zum Zwilling des Königs von Theben – und zugleich zum monströseren Ungeheuer: Oedipus wird unwissend zum Vatermörder und Mutterschänder – der römische Kaiser mordet und schändet die Mutter besten Wissens und Gewissens (vgl. Suetons Nachricht von Neros Autopsie des mütterlichen Leichnams, Nero 34,4 ad uisendum interfectae cadauer accurrisse, contrectasse membra, alia uituperasse, alia laudasse; kritischer Tac. ann. 14,9,1 aspexeritne matrem exanimem Nero et formam corporis eius laudauerit, sunt qui tradiderint, sunt qui abnuant). Bei Sophokles beklagt Elektra gleichfalls allmorgendlich vor dem väterlichen Palast den erschlagenen Vater. Zum Einfluß der ersten Szene der sophokleischen Elektra auf die Octavia vgl. u. a. Ladek; Herington 564; Bellandi; Ferri ad 1 (S. 121f.). 65–67 me crudeli sorte parentes / raptos prohibet lugere timor / fratrisque necem deflere uetat. 977–981 Vrbe est nostra mitior Aulis / et Taurorum barbara tellus: / hospitis illic caede litatur / numen superum; / ciuis gaudet Roma cruore. Zu Beginn der Octavia begegnen wir einem verwandten Paradoxon: Kaiser Claudius erobert den Erdkreis, um zuletzt in seinem Palast zu Rom einer häuslichen Bluttat zum Opfer zu fallen (25–28; vgl. 34–44). Exakt in der Werkmitte beschwört Seneca Nero, die Bürger, die Roma ihm anvertraut habe, vor allem Unheil zu bewahren (490f.; zit. oben Anm. 69). Hier erteilt der Chor ihm Antwort – seine Hoffnung hat sich zerschlagen (Wilson 64–66). Nero hatte bereits vorher abgewunken: Rom sei Bürgerkrieg allemal gewohnt (503f. quantum cruoris Roma tunc uidit sui, / lacerata totiens!). So z. B. (für etliche andere Stimmen) Tschiedel 407f. Vor allem auf die konditionale Färbung der Schlüsselpassage 391ff. (zit. oben Anm. 22; der Text ist verderbt überliefert, doch von Scaliger und Ritter überzeugend wiederhergestellt; vgl. Ferri ad loc.).
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Und der Blick zurück? Ihn wirft – paradox genug – die Furie. Einst (so der Chor) bat Agrippina sterbend ihren Henker, «das schreckliche Schwert in ihrem Schoß zu versenken. ‹Ihn durchbohrte›, sagt sie, ‹mit dem Stahl, ihn, der mit einem solchen Ungeheuer schwanger ging›.»85
Nero – so das unmißverständliche Urteil ihrer (womöglich historischen)86 letzten Worte – hätte nie geboren werden dürfen. Aber auch als Geist flucht sie seiner und verkündet sein nahes Ende. Doch plötzlich schlägt ihr Ton um. Die Todesstunde des Sohns vor Augen, erwacht zuletzt ihr mütterliches Herz – und sie hebt den alten Richtspruch auf. Trotz allem, was er ihr angetan hat, empfindet sie im Innersten Scham und Schmerz über ihren Sohn, der die Seinen und sich ins Unglück stürzt, und findet Trost in einer nostalgischen Utopie: ihrem Tod in der Schwangerschaft, den das Ungeborene unschuldig teilt, und das stille Glück, das Mutter und Kind auf immer vereint im Hades genießen: die Schau der großen Ahnen.87 Mehr Seligkeit hat die Octavia nicht zu offerieren. Tragische Vergeblichkeit liegt über allem. Neros Untergang schafft keine Erlösung. Octavia und Rom, sie bleiben ungesühnt. Denn für Unrecht dieser Dimension gibt es keine Wiedergutmachung – eine Botschaft, die an die Fundamente des Prinzipats rührt und der Octavia, bei aller Historizität, etwas beunruhigend Universelles verleiht, das über die claudische Ära weit hinausweist.88 Kehren wir zuletzt noch einmal zurück zur Schlußszene des Stücks, in der Octavia melancholisch Abschied nimmt von der Welt: «Wer kann würdig beweinen meine Leiden? Welche Nachtigall liehe unseren Tränen ihr Klagelied? O schenkte doch ihre Flügel mir Elenden das Geschick! Entfliehen würde ich fernab, beflügelt mit fliegendem Fittich, meinen Qualen und der Menschen traurigem Verein und ihrem wilden Morden. Einsam in verlassenem Hain auf zartem Aste mich wiegend, könnte ich aus klagender Kehle meinen schluchzenden Sang verströmen.»89 85
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370–372 utero dirum condat ut ensem: / ‹hic est, hic est fodiendus›, ait / ‹ferro, monstrum qui tale tulit›. – Gebrochen erscheint das Motiv Sen. Herc. Oet. 1678f. nefas est ubera atque uterum tibi / laniare, qui me genuit (vgl. ebend. 1805f. utinam meis uisceribus Alcides foret / exsectus infans!). Vgl. Tac. ann. 14,8,5 iam ad mortem centurioni ferrum destringenti protendens uterum ‹uentrem feri› exclamauit multisque uulneribus confecta est; Dio Cassius 61,13,5. 632–645 (nach dem Vorbild von Verg. Aen. 6,756ff.). Daß Agrippina auch ihren gescheiterten Weltmachtplänen nachtrauere (so Tschiedel 410f.), beschreibt nur den geringsten Teil ihrer Gefühle. Ebenso wenig geht es um ein utopisches ‹Zurückspulen› der Geschichte in eine Zeit, in der Nero nie geboren war (so Wilson 80f.). Die vieldiskutierte Frage nach der Entstehungszeit des Stücks sei hier nur gestreift. Naheliegend scheint eine Genese in flavischer Zeit (unter Domitian?). Doch bei einem Stück, das wohl kaum für die Bühne gedacht war, sondern am ehesten privat zirkulierte (als eine Art Samisdat?), erscheint auch eine deutlich spätere Abfassung realistisch. Die gerne betonte stilistische Abhängigkeit von Seneca taugt als chronologisches Argument nur bedingt. Auf welches andere tragische Corpus römischer Provenienz hätte der Verfasser der Octavia denn zurückgreifen sollen?
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Die Dämonen der Geschichte
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Schon in ihren ersten Worten, gleich eingangs, will Octavia mit ihrem Schmerz die mythischen Sänger des Leids überflügeln, Eisvogel und Nachtigall.90 In klassischer Ringkomposition greift sie dieses Motiv zuletzt wieder auf und malt es zu Ende. Der Kreis schließt sich. In diesem beziehungsreichen Vexierbild verschmelzen mehrere Botschaften: in der Metamorphose die Sehnsucht nach Rettung in der Geborgenheit des Mythos; in der Identifikation mit Philomela die Trauer um ihre Toten, allen voran den geliebten Bruder; in dem «schluchzenden Sang» (dem maestum murmur) der übermächtige Schmerz, dem sie nur als die emblematische Schmerzenskreatur gerecht werden kann, verschmelzend mit, sich auflösend in der Natur.91 Vor allem aber hat das Bild poetologische Qualität. Der Schlag der Nachtigall steht programmatisch für die Dichtung, insbesondere das elegische Lied – so bei Catull und Ovid.92 Wäre es denkbar, daß im Bild der Nachtigall wie in einer Sphragis auch der Dichter der Octavia sich spiegelt? Oder (um diese Möglichkeit zumindest einmal aufzuwerfen) ihre Dichterin? In jener Nachtwelt des Prinzipats, die weder auf Besserung im Irdischen hoffen darf noch auf eine kosmische Katharsis, bleibt ihr (oder ihm) nur eine Aufgabe: der Grabgesang auf eine verlorene Epoche, und die Beschwörung ihrer einsamen Heroine.93 Man sähe sie gerne einmal auf der Bühne.
Literaturverzeichnis (sowie neuere Arbeiten zur ‹Octavia›) Armisen-Marchetti, M., Le Sénèque de l’Octavie: Pallas 49, 1998, 197–209. Bajoni, M. G., Alcune osservazioni sull’impianto drammatico dell’Octavia: AC 56, 1987, 275– 278. Bastomsky, S. J., Tacitus, Annals 14,64,1. Octavia’s pathetic plea: Latomus 51, 1992, 606–610. Bellandi, F., Tra Seneca e Sofocle. Sulla scena d’apertura dell’Octavia di Ps.-Seneca: Paideia 7, 1997, 31–56. Billot, F., Tacitus responds. Annals 14 and the Octavia, in: The tragedy of Nero’s wife, 126–141. 89
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914–923 Quis mea digne deflere potest / mala? quae lacrimis nostris questus / reddere aedon? / cuius pennas utinam miserae / mihi fata darent! / fugerem luctus ablata meos / penna uolucri procul et coetus / hominum tristes caedemque feram. / sola in uacuo nemore et tenui / ramo pendens / querulo possem gutture maestum / fundere murmur. 5–9 age, tot tantis onerata malis / repete assuetos iam tibi questus / atque aequoreas uince Alcyonas, / uince et uolucres Pandionias: / grauior namque his fortuna tua est. – Zum Namen des Eisvogels vgl. J. André, Les noms d’oiseaux en latin, Paris 1967, 25–27; zur Nachtigall a. O. 98. Poe 458f. Catull 65,11–14 vergleicht seine Trauersänge mit dem Schlag der Nachtigall. Bei Ovid stellt eine elegisch gestimmte Sappho mit ihrem Klagelied sich an Proknes Seite (her. 15,151–156; die epistula Sapphus darf m. E. als authentisch gelten). Schon der hellenistische Poet Hermesianax (Leontion 7,49 Powell, Coll. Alex.) nennt Sappho ‹Nachtigall›. Zu Ovid vgl. G. Rosati, Sabinus, the Heroides and the poet-nightingale: CQ 90 = n.s. 46, 1996, 207–216. Das Thema der Trauer(arbeit), gerade auch der verwehrten, durchzieht das Stück wie ein roter Faden. Nero persönlich hält fest, in den Blutbädern des Bürgerkriegs sei Volk und Vätern jede Trauer um die Toten verwehrt worden (511 flere nec licuit suos). Zu den besonderen Grausamkeiten ihrer Todesumstände rechnet Agrippina, daß ihr nicht einmal Zeit zum Trauern blieb (604f.). Der Chor erinnert daran, daß die erschlagenen Gracchen von ihrer Mutter beweint wurden – und deutet damit an, um die tote Octavia werde niemand trauern (Harrison 123). Octavia vor allem evoziert das Motiv wie ein Leitbild (u. a. 65–67, zit. oben Anm. 79; vgl. auch Schubert 259: Dank Philomelas werde Nero zu einem zweiten Tereus – «wie dieser Prokne, so macht es Nero Octavia unmöglich, die Verbrechen, die er an ihr beging, beim Namen zu nennen.»).
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Peter Habermehl
Bruckner, F., Interpretationen zur Pseudo-Seneca-Tragödie Octavia, Phil. Diss. ErlangenNürnberg 1976. Ferri, R., Octavia’s Heroines. Tacitus Annales 14.63–64 and the Praetexta Octavia : HSCPh 98, 1998, 339–356. Ferri, R., Octavia. A play attributed to Seneca, Cambridge 2003. Fuhrmann, M., Seneca und Kaiser Nero. Eine Biographie, Berlin 1997. Grazzini, S., La visione di Ottavia. Nota ad Octavia 906ss.: Maia 50, 1998, 89–94. Harrison, G. W. M., Forms of intertextuality in the Octavia, in: The tragedy of Nero’s wife, 112–125. Heldmann, K., Untersuchungen zu den Tragödien Senecas, Wiesbaden 1974. Herington, C. J., Octavia praetexta. A survey: CQ n.s. 11, 1961, 18–30; zit. nach der dt. Übers. in: E. Lefèvre (Hrsg.), Senecas Tragödien, Darmstadt 1972, 559–582. Kragelund, P., Prophecy, populism, and propaganda in the Octavia, Copenhagen 1982. Kragelund, P., The prefect’s dilemma and the date of the Octavia: CQ 82 = n.s. 38, 1988, 492–508. Kragelund, P., Nero’s luxuria, in Tacitus and in the Octavia: CQ n.s. 50, 2000, 494–515. Kragelund, P., Historical drama in ancient Rome. Republican flourishing and imperial decline?: Symbolae Osloenses 77, 2002, 5–51. 88–102. Ladek, F., Die römische Tragödie Octavia und die Elektra des Sophokles: Wiener Eranos, Wien 1909, 189–199. Manuwald, G., Fabulae praetextae. Spuren einer literarischen Gattung der Römer, München 2001, 259–339. Manuwald, G., Der ‹Fürstenspiegel› in Senecas De clementia und in der Octavia: MH 59, 2002, 107–126. Poe, J. P., Octavia praetexta and its Senecan model: AJPh 110, 1989, 434–459. Schmidt, P. L., Die Poetisierung und Mythisierung der Geschichte in der Tragödie Octavia: ANRW ii 32.2, Berlin 1985, 1421–1453. Schubert, Ch., Studien zum Nerobild in der lateinischen Dichtung der Antike, Stuttgart 1998, 254–289. Smith, J. A., Flavian drama. Looking back with Octavia, in: A. J. Boyle u. a. (Hrsg.), Flavian Rome, Leiden 2003, 391–430. Sutton, D. F., The dramaturgy of the Octavia, Königstein/Ts. 1983. The tragedy of Nero’s wife. Studies on the Octavia Praetexta. Ed. by M. Wilson, Auckland 2003. Tschiedel, H. J., Agrippina – ultrix Erinys. Zur Bedeutung ihres Auftretens in der Praetexta ˇ Octavia : Ziva antika 45, 1995, 403–414. Vozza, P., Paradigmi mitici nell’Octavia: AC 59, 1990, 113–138. Williams, G., Nero, Seneca and Stoicism in the Octavia, in: J. Elsner u. a. (Hrsg.), Reflections of Nero, London 1994, 178–195. Wilson, M., Allegory and apotheosis in the Octavia, in: The tragedy of Nero’s wife, 60–88. Nicht mehr verwendet werden konnten: Beck, J.-W., Octavia anonymi. Zeitnahe praetexta oder zeitlose tragoedia?, Göttingen 2007. Boyle, A. J., Octavia, attributed to Seneca, Oxford 2008.
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Gesine Manuwald
Senecas Schicksalslehre und die ‹Realität› auf der Bühne Die Seneca-Figur in der Octavia und in Monteverdis L’incoronazione di Poppea 1. Einleitung Seneca der Jüngere hat bekanntlich in seinen philosophischen Schriften wie den Dialogi oder den Epistulae ad Lucilium Grundsätze für ‹richtiges› menschliches Verhalten in verschiedenen Lebenslagen entwickelt. Vor diesem Hintergrund wird seit der Antike kritisch diskutiert, inwiefern Senecas eigenes Leben mit den in seinen Werken ausgesprochenen Lehren übereinstimme oder diesen widerspreche.1 So berichtet beispielsweise Tacitus in seinen Annales einerseits von Senecas Anteil an Neros Vorhaben, seine Mutter ermorden zu lassen (vgl. Tac. ann. 14,7,1–5; 14,10,3–11,3); andererseits erscheint Senecas Haltung bei seinem Freitod in Tacitus’ Darstellung wie eine Umsetzung seiner philosophischen Lehren (vgl. Tac. ann. 15,60–64).2 Für die Wissenschaft stellt sich darüber hinaus, seit die Identität des Philosophen Seneca mit dem Tragiker anerkannt ist, auch die Frage nach der Relation zwischen Senecas philosophischen Prinzipien und dem Verhalten der Figuren in seinen Dramen angesichts der Schicksalsschläge, die sie erfahren. Das Problem, ob bzw. wie Seneca selbst sich seinen philosophischen Grundsätzen gemäß verhalten hat, wird besonders relevant, wenn er als Person in einem Theaterstück über Ereignisse, an denen er beteiligt war, auf die Bühne gebracht wird. Diese Figur ‹Seneca› muss agieren und sich artikulieren, um die durch die Dramenhandlung von ihr geforderten Entscheidungen zu motivieren. Ein Dichter, der eine derartige ‹historische› Figur konzipiert, ist daher als ein Interpret anzusehen, der die ihm zugänglichen Fakten aus Senecas Leben und das aus dessen Werken gewonnene Wissen rezipiert und deutet. Theaterstücke, in denen ‹Seneca› zum dramatischen Personal gehört, können daher als aufschlussreiche Zeugnisse der Seneca-Rezeption der jeweiligen Zeit angesehen werden. Unter diesem Aspekt haben sie allerdings in der modernen Forschung bisher kaum Interesse gefunden. Aus der klassischen Antike ist nur ein Beispiel einer solchen Reflexion über Seneca erhalten, und zwar das im Corpus der Seneca-Tragödien überlieferte, aber wahrscheinlich nicht von Seneca stammende3 Drama Octavia, in der ‹Seneca› zum ersten Mal in der Theatergeschichte als dramatische Figur auftritt. Der Verfasser ist nicht zu identifizieren, und auch die Entstehungszeit ist unsicher; einige Indizien legen jedoch die Vermutung nahe, dass das Stück in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts n. Chr., vermutlich kurz nach
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Für eine Zusammenstellung von Testimonien zur Rezeption Senecas in der Antike mit knapper Diskussion vgl. Trillitzsch 1971. Zu dieser Szene vgl. Zimmermann 2005. Vgl. aber noch Gamba 2000, 68–80.
Antike und Abendland Bd. 54, S. 129–140 © Walter de Gruyter 2008 ISSN 0003-5696
DOI 10.1515/ANTI.2008.008
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Senecas (und Neros) Tod, verfasst wurde.4 Die Dramenhandlung zeigt ‹Seneca› in einer längeren Szene, die seinem historischen Lebensumfeld entspricht: Vergeblich versucht er, der frühere Erzieher Kaiser Neros, dessen tyrannische Herrschaftsausübung abzumildern und ihn von einer Eheschließung mit seiner Geliebten Poppaea abzubringen. Relativ früh muss Seneca also als Persönlichkeit rezipiert worden sein, die geeignet erschien, bestimmte politische und ethische Positionen glaubhaft vorzuführen.5 Die Perspektive, die durch die Beteiligung einer Seneca-Figur am dramatischen Geschehen ermöglicht wird, war offenbar auch für Dichter und Publikum späterer Epochen attraktiv. In der Oper des 17. und 18. Jahrhunderts erfuhr die Geschichte von Nero, seiner verstoßenen Ehefrau Octavia und seiner Hochzeit mit Poppaea – häufig unter Einbeziehung ‹Senecas› – eine regelrechte Blüte.6 Die erste neuzeitliche Oper, in der dieser Stoff aufgenommen wurde, und gleichzeitig die erste historische Oper überhaupt ist L’incoronazione di Poppea von 1642/43, mit einem Libretto von Giovanni Francesco Busenello (1598–1659) und Claudio Monteverdi (1567–1643) zugeschriebener Musik.7 Da diese Oper die einzigen ‹historischen› Vorgänge aus der Antike auf die Bühne brachte, für die ein klassisches dramatisches Vorbild vorlag, ist eine Beziehung zur Octavia von vornherein anzunehmen, und in der Tat lässt sich wahrscheinlich machen, dass der Librettist die Octavia kannte und für wesentliche Handlungsstrukturen zugrunde legte.8 Zu den Anlehnungen an das Vorbild gehört die Einbindung der Bühnenfigur ‹Seneca›; allerdings ist gegenüber der Octavia ein deutlicher Unterschied in der Konzeption dieser Figur festzustellen, was auf eine gewandelte Rezeption Senecas als handelnde Person und Lehrer philosophischer Maximen schließen lässt. Die Veränderungen gegenüber der Octavia sollen im Folgenden vor dem Hintergrund der durch Senecas philosophische Schriften vermittelten Lehre vom ‹richtigen› menschlichen Verhalten gegenüber dem Schicksal (2)
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Vgl. z. B. Manuwald 2001, 338–339; Kragelund 2002, 13; für einen Zeitpunkt in der flavischen Epoche vgl. z. B. Ferri 2003, 5–30; Smith 2003; Boyle 2006, 226, 227–228; für einen Überblick über vorgeschlagene Datierungen vgl. Wilson 2003, 5–6. – Wiseman (2004, 264–265) nimmt an, dass die Octavia erstmals an den ludi plebeii am 4. November 68 n. Chr. im Marcellus-Theater aufgeführt worden sei. Eine so konkrete Annahme muss jedoch mangels Belegen Hypothese bleiben (zur Aufführbarkeit der Octavia vgl. auch Smith 2003; Boyle 2006, 226). Vgl. Habinek 2000. Die Entwicklung der Bühnen- oder Opernfigur ‹Seneca› ist schlecht aufgearbeitet: Die meisten Opernlexika oder motivgeschichtlichen Nachschlagewerke enthalten keinen Eintrag zu ‹Seneca›; und die einzige Studie zu ‹Seneca in der Musik der Neuzeit› (Schubert 2004) beschränkt sich, was die Einbeziehung Senecas als Person angeht, auf die bekannte Oper L’incoronazione di Poppea. Eine Diskussion über die Rezeption von Senecas Tod in Trauerspielen des 17. und 18. Jahrhunderts, ausgehend von Rubens’ Gemälde Der sterbende Seneca (1611/12), bietet Hess (1981). – Eine umfassendere Untersuchung zur Rezeption des Nero-Octavia-Stoffes in der Oper wird gegenwärtig von mir erarbeitet. Ob die Musik der Oper insgesamt von Monteverdi stammt, ist in der musikwissenschaftlichen Forschung umstritten. Wahrscheinlich wurde Monteverdi durch jüngere Komponisten unterstützt, wie es damals üblich war (für eine genauere Diskussion vgl. Manuwald 2005, bes. 150 mit Anm. 4, mit Literaturangaben). Die Frage muss aber im vorliegenden Zusammenhang nicht berücksichtigt werden, da es im Wesentlichen um die durch das Libretto gegebene Struktur geht. Zugrunde gelegt ist die letzte Fassung des Libretto von 1656 (s.u. Anm. 9). Zur Beziehung zwischen der Octavia und L’incoronazione di Poppea vgl. Manuwald 2005 (mit Literaturangaben); zur Octavia vgl. z. B. Schubert 1998, 254–289; Manuwald 2001, 259–339; Ferri 2003; Smith 2003; Wilson 2003; Kragelund 2005; Boyle 2006, 223–229; zu L’incoronazione di Poppea vgl. bes. Kapp 1983; Rosand 1985; Fenlon / Miller 1992; Carter 2002. – Die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur ist hier, da es um einen bestimmten Aspekt der beiden Stücke geht, auf das Notwendigste reduziert.
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Senecas Schicksalslehre und die ‹Realität› auf der Bühne
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herausgearbeitet werden (3–4); eine kurze Schlussbetrachtung fasst dann die Ergebnisse zusammen (5).9
2. Lehren des historischen Seneca ‹Führe mich, Vater und Herrscher des hohen Himmels, / wohin auch immer du bestimmst. Es gibt kein Verzögern im Gehorchen. / Ich bin bereit, ohne Verzug. Gesetzt, ich wollte nicht, dann werde ich unter Klagen folgen / und als (sittlich) Schlechter erleiden, was mir als Gutem freigestanden hätte. / Es führt das Schicksal den Willigen, den Unwilligen schleppt es fort.› (Sen. epist. 107,11).10 Mit dem Zitat dieser an Zeus gerichteten Verse des Stoikers Kleanthes (SVF I 527) versucht Seneca, den Adressaten seiner Epistulae morales, Lucilius, davon zu überzeugen, dass alles, was geschehe, geschehen müsse und dass es am besten sei, ohne Klagen hinzunehmen, was man nicht zum Besseren wenden könne (vgl. epist. 107,9). Die richtige Haltung gegenüber positiven wie negativen Lebensumständen kann durch Verzicht auf jede Form von Affekten erreicht werden (vgl. epist. 116);11 der Lohn dafür ist – gemäß der von Seneca vorgeführten Ursachenkette – ein glückliches Leben: ‹Wer klug ist, ist auch selbstbeherrscht; wer selbstbeherrscht ist, ist auch beständig; wer beständig ist, ist frei von Affekten; wer frei von Affekten ist, ist ohne Traurigkeit, wer ohne Traurigkeit ist, ist glücklich; also ist der Kluge glücklich, und Klugheit ist zum glücklichen Leben genug.› (epist. 85,2).12 Gemäß den von Seneca Lucilius gegenüber entwickelten Prinzipien bedeutet auch der Freitod kein moralisches Problem; vielmehr kann er die logische Konsequenz eines von der Philosophie bestimmten (glücklichen) Lebens sein: ‹Das [Leben] ist, wie du weißt, nicht unter allen Umständen festzuhalten; denn nicht zu leben ist ein Gut, sondern sittlich zu leben. Daher wird ein Weiser leben, solange er muss, nicht, solange er kann.› (epist. 70,4).13 Eine Freiheit der Entscheidung sieht Seneca auch dann gegeben, wenn der Tod gewaltsam von anderen angedroht wird (epist. 70,8–12). Die Bereitschaft zum Sterben gehört für ihn zu den wichtigsten Wegen zu einem freien und selbstbestimmten Leben.14 Solche Überzeugungen sind für das Bild von Seneca entscheidende Faktoren: An ihnen lassen sich die realen Lebensumstände des historischen Seneca messen und beurteilen, und sie können als Grundlage einer stilisierten Präsentation des Philosophen und seines Todes dienen. 9
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Zitiert werden Senecas Epistulae morales nach der Ausgabe von L. D. Reynolds (Oxford1965), die Octavia nach der von O. Zwierlein (Oxford 1986) und L’incoronazione di Poppea nach der von A. Curtis (London / Sevenoaks 1989), die auf VL, der Fassung von 1656, basiert (vgl. 1989, xi). Vgl. Sen. epist. 107,11: duc, o parens celsique dominator poli, / quocumque placuit: nulla parendi mora est; / adsum inpiger. fac nolle, comitabor gemens / malusque patiar facere quod licuit bono. / ducunt volentem fata, nolentem trahunt. Zu Senecas Äußerungen über Emotionen vgl. z. B. Motto 1970, 73–75. – Vgl. auch Sen. De ira (dial. 3–5) 1,16,7; 2,12,3–6; De clementia 2,5,4–5. Vgl. Sen. epist. 85,2: ‹qui prudens est et temperans est; qui temperans est, et constans; qui constans est inperturbatus est; qui inperturbatus est sine tristitia est; qui sine tristitia est beatus est; ergo prudens beatus est, et prudentia ad beatam vitam satis est.› Vgl. Sen. epist. 70,4: quae, ut scis, non semper retinenda est; non enim vivere bonum est, sed bene vivere. itaque sapiens vivit quantum debet, non quantum potest. Vgl. dazu z. B. Motto 1970, 206–207; Leeman 1971, bes. 329–332; Griffin 1976, 367–388; Grisé 1982, bes. 206–218; Rist 1989, 2004–2006; Inwood 2005, bes. 305–312 (jeweils mit weiteren Literaturangaben). – Vgl. auch Sen. epist. 12,10; 26,4–10; 51,9; 61; 77; De ira (dial. 3–5) 3,15,3–4; De providentia (dial. 1) 6,7–9; De tranquillitate animi (dial. 9) 11,4–6.
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Gesine Manuwald
3. Octavia Die pseudo-senecanische Octavia ist, da sie nicht ein Geschehen aus dem Mythos zum Inhalt hat, sondern einen Stoff aus der römischen Geschichte dramatisiert, der spezifisch römischen Gattung der Praetexta, des historischen Dramas mit politischem Bezug, zuzurechnen.15 Der Handlungsausschnitt beginnt mit der Situation, dass Nero seine rechtmäßige Frau Octavia, die Tochter des Kaisers Claudius, die die bis auf Augustus zurückgehende dynastische Linie garantiert und vom Volk geschätzt wird, verstoßen will, um seine Geliebte Poppaea heiraten zu können. Am Schluss des Dramas ist dieses Ziel erreicht. Neros Vorhaben erschüttert nicht nur Octavia, sondern es wird auch als politisch brisant dargestellt, da es bei Teilen des durch Chöre repräsentierten Volks auf Ablehnung stößt (vgl. z. B. Oct. 273–376; 669–689; 877–898). Als Hauptexponent des Widerstandes wird ‹Seneca› in die Ereignisse einbezogen. Sein Auftritt ist auf ein langes Streitgespräch mit Nero beschränkt (Oct. 377–592), das dessen Entscheidung allerdings nicht beeinflusst und damit endet, dass Nero ‹Seneca› befiehlt, mit seiner lästigen Argumentation aufzuhören (Oct. 440–592). ‹Seneca› erscheint zunächst allein mit einem langen Auftrittsmonolog (Oct. 377–436). Dieser beginnt mit der hadernden Frage an Fortuna, warum sie ihn trügerisch hoch erhoben habe, um ihn jetzt umso tiefer fallen zu lassen (Oct. 377–380).16 Sehnsüchtig denkt Seneca an die zurückliegende Phase seiner Verbannung nach Korsika zurück, die ihm Zeit für seine Studien und die Bewunderung der Natur gelassen habe (Oct. 381–390).17 Über den Lobpreis der Natur kommt er zur Entwicklung einer Zeitalterlehre, die in einer Abstiegsbewegung bei der durch Verbrechen und Laster gekennzeichneten Gegenwart endet (Oct. 391–434)18 – und dem Hinzukommen Neros (Oct. 435–436). Angesichts der Ansichten des historischen Seneca mag dieser Auftritt des Bühnen-Seneca etwas überraschend sein: Denn dieser wird zwar als Philosoph gekennzeichnet, der sich mit naturwissenschaftlichen und ethischen Überlegungen befasst, aber von Anfang an gibt er sich nicht ruhig seinem Schicksal hin, akzeptiert also nicht die Veränderungen seiner Stellung als unausweichlich und macht sich so davon unabhängig (vgl. Sen. epist. 4,7–9; 51,9; 94,73–74). Bei seiner Klage beschränkt sich ‹Seneca› allerdings nicht auf die eigene Person; vielmehr ist er in Sorge um das Gesamtwohl des Staatswesens, das er zumindest auch von Nero gefährdet sieht, wie man aus seinem angstvollen Kommentar zu dessen Erscheinen schließen kann (Oct. 435–436). Und wie zur Bestätigung ist Nero bei seinem Auftritt gerade dabei, einem Präfekten den Auftrag zur Ermordung zweier römischer Adeliger zu erteilen (Oct. 437–439). Im Unterschied zu dem den Befehl ausführenden Präfekten lässt ‹Seneca› das nicht widerspruchslos 15
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So z. B. Manuwald 2001; Kragelund 2002, bes. 5, 6, 41; Smith 2003; Wilson 2003, bes. 3–4; Boyle 2006, 223–225; vgl. aber Schmidt 1985. Zum Verhältnis zwischen den Äußerungen ‹Senecas› im Drama und Aussagen in den philosophischen Schriften des historischen Seneca vgl. bes. Bruckner 1976; vgl. auch Williams 1994. – Wenn ArmisenMarchetti (1998) meint, dass der ‹Seneca› im Drama als Typ eines Philosophen gekennzeichnet sei, als imago imaginis, aber nicht als Abbild der realen Persönlichkeit, ist das teilweise zutreffend, berücksichtigt jedoch nicht die Funktion, die dieser ‹Seneca› im Stück erfüllen soll. Vgl. auch Consolatio ad Helviam (dial. 12) 20. – Williams (1994, 180–181) meint, dass das ruhige Leben im Exil Seneca ermöglicht habe, «to cultivate a distinctively Stoic peace of mind». Diese Überlegungen stehen möglicherweise in Beziehung zu der stoischen Vorstellung von periodischer Zerstörung und Wiedergeburt der Welt (vgl. Bruckner 1976, 20; Williams 1994, 181; Smith 2003, 409).
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Senecas Schicksalslehre und die ‹Realität› auf der Bühne
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geschehen, sondern mahnt Nero, sich als gerechter und milder Herrscher zu zeigen, der von der Akzeptanz des Volkes getragen werde (vgl. z. B. Oct. 442; 444; 454; 459b).19 Nero bekennt sich jedoch im Vertrauen auf Fortuna zu einer Zwangsherrschaft, die auf der Furcht der Untergebenen beruhe (vgl. z. B. Oct. 443; 451; 455a; 457a; 458a). Während ‹Seneca› Augustus – in seiner Beschreibung – als Vorbild für Nero versteht, weil dieser sich nach Kriegswirren gemäßigt und dem Erdkreis Frieden gebracht habe (Oct. 472–491), besteht Nero ungerührt darauf, dass die Götter ihm Rom als Untertanen geschenkt hätten und Augustus – trotz der von Nero aufgezählten Untaten – schließlich durch Waffengewalt geschützt und von seinem Sohn zum Gott gemacht worden sei. Das erwarte auch er, wenn er Nachkommen habe (Oct. 492–532). Auf dieses Stichwort hin wechselt die Thematik des Gesprächs (Oct. 533–592), da ‹Seneca› eine legitime, der Herrschaft würdige Nachkommenschaft nur durch Octavia garantiert sieht, da so das julisch-claudische Haus fortgesetzt werden könne (vgl. Oct. 533–535). Nero dagegen äußert seine Unzufriedenheit mit Octavia und bekennt sich zu seiner leidenschaftlichen Liebe für Poppaea, die er sogar als vom Schicksal (fata) für sich geschaffen versteht (Oct. 551–552). ‹Seneca› widerspricht ihm unter Hinweis auf die Unbeständigkeit der Liebe (Oct. 553; 557–565) und die politischen Konsequenzen, da das Volk nur Octavia akzeptiere (Oct. 572–573; 578). Nero hingegen verweigert sich ‹Senecas› Forderung, um des Volkes Willen Verzicht zu üben (Oct. 574; 576–577; 579), und beendet die Unterredung, indem er ihn schließlich als lästigen Mahner abtut mit den Worten: ‹Es sei erlaubt zu tun, was Seneca missbilligt.› (Oct. 589: liceat facere quod Seneca improbat). Da ‹Seneca› später im Stück nicht mehr auftritt und von ihm auch nicht mehr die Rede ist, kann man nicht sagen, welche Dimension das verärgerte Zurückweisen hat, dem sich ‹Seneca› widerspruchslos fügt.20 Möglicherweise bedurfte es für zeitgenössische Rezipienten keines weiteren Hinweises auf Senecas späteres Schicksal. In dem dargestellten Streitgespräch mit Nero ist ‹Seneca› zwar in seiner Funktion als Ratgeber konzipiert, der in dieser Eigenschaft Nero zu einer anderen Herrschaftsausübung bewegen könnte; aber es wird erkennbar gemacht – und bei ‹Seneca› selbst ist diese Ahnung angedeutet –, dass er keinen Einfluss mehr auf den Gang der Ereignisse nehmen kann. ‹Seneca› empfindet seine Position als eine von Fortuna gewollte Niederlage, dennoch erscheint er im Dialog mit Nero nicht als ein Mann, der willens ist, den Gang der Ereignisse in Rom unwidersprochen hinzunehmen.21 Das Ziel seiner Ausführungen, das Wohl des römischen Volkes, sieht ‹Seneca› gewährleistet allein durch die Herrschaft eines verantwortungsvollen ‹Vaters des Vaterlandes› (patriae parens), der im Konsens mit Senat und Volk agiert (vgl. Oct. 460b; 472–491). Hier fungiert die Bühnenfigur ‹Seneca› als Vermittler der weiterentwickelten Idee der gerechten und milden Herrschaft, wie sie in Senecas Schrift De clementia ausgeführt ist.22 Ebenso kann man in den gegenüber Nero geäußerten Aufforderungen zu Selbstbeherrschung, Zurückhaltung, ruhiger Überlegung und Berücksichtigung von Gerechtigkeit philosophischeLehren des historischen Seneca erkennen (vgl. z. B. Sen. epist. 113,31–32; De ira [dial. 3–5] 1,14; 3,41; De beneficiis 5,7,5). Die Figur insgesamt aber wirkt nicht wie eine Verkörperung des 19
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Der historische Seneca befürwortete ein entsprechendes Verhältnis zwischen Herren und Sklaven (vgl. Sen. epist. 47,17–19). Vgl. auch Ferri 2003, 74–75. Vgl. auch Trillitzsch 1971, 47. Zum Verhältnis von Octavia und De clementia vgl. Manuwald 2002.
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Weisen, der sich dem Geschehen hingibt, bevor es ihn mit sich reißt. Im Gegenteil, sie ist die wortgewaltige Instanz des Widerstandes, deren philosophischeKompetenz und moralische Kraft von einem Gegner wie Nero nicht erschüttert werden kann.23 Dass der ‹Seneca› in der Octavia mit seiner Opposition gegen Nero nicht allein steht, wird evident durch den in späteren Szenen beschriebenen Aufruhr im Volk, das sich aus Treue zu Octavia und der eingeführten Dynastie auf die Seite der legitimen Ehefrau und Herrscherin stellt. Der von Nero mit der Niederschlagung des Aufstandes beauftragte Präfekt folgt diesem Befehl nur mit innerem Widerstreben (vgl. Oct. 846–858). Dagegen wird Neros moralische Perversität auch dadurch anschaulich demonstriert, dass gleich nach der Seneca-Szene der Schatten Agrippinas auftaucht, seiner Mutter, die er hatte umbringen lassen (Oct. 593–645). Agrippina, die selbst um Neros willen ihren Gatten getötet hatte, klagt über Neros Verworfenheit, die sogar den Vorfahren bei den Unterirdischen ewige Scham bereite. Neros Frau Octavia ist das aktuelle Opfer seiner Machenschaften; in mehreren Klageszenen gibt sie ihrem unendlichen Schmerz Ausdruck (vgl. Oct. 1–272; 646–668; 899–923; 958–970) und zeigt so kein den Lehren Senecas entsprechendes stoisches Verhalten. Diese extensive Trauer wirkt – über mögliche Dramenkonventionen hinaus – als emotionalisierendes Signal, das die Solidarität mit der rechtmäßigen Herrscherin und Erbin aus der julisch-claudischen Familie herausfordert. Der Seneca-Figur kommt in diesem Kontext die Funktion zu, als gedankliches Zentrum des Dramas die positive Alternative zu den gegenwärtigen Zuständen vorzuführen. Gegenüber dieser Vermittlungsfunktion der politischen Botschaft tritt eine sich konsequent an den philosophischen Schriften Senecas orientierende Stilisierung der Figur zurück.
4. L’incoronazione di Poppea Knapp 1600 Jahre später wird ‹Senecas› Widerstand gegen Neros Heiratspläne im venezianischen Karneval auf der Bühne präsentiert. Der Librettist Busenello hielt die Geschichte offenbar für so geeignet, dass er in L’incoronazione di Poppea (1642/43) (erfolgreich) den Versuch machte, erstmals für eine Oper einen historischen Stoff zugrunde zu legen.24 Der Haupthandlungsstrang und das Ergebnis des Geschehens entsprechen im Prinzip der Octavia; die Ereignisse im Einzelnen laufen jedoch durch die Einbeziehung zusätzlicher 23
24
Hingegen meint etwa Williams (1994, bes. 180), dass ‹Senecas› Misserfolg gegenüber Nero zeige, dass «the Stoic code of moral conduct as presented in the play by the character Seneca is a lofty ideal which, as we shall see, Nero attacks with no little justification because of its failure to address the simple pragmatics of autocratic rule in the conspiratorial atmosphere of imperial Rome». Entsprechend kommt er zu dem Schluss: «But my conviction that the play is not Senecan allows for the Stoic position of Seneca’s dramatic persona to be treated with critical detachment by an author who depicts not just Nero’s autocratic excesses, but also the weaknesses in Seneca’s own doctrine.» (vgl. auch 1994, 185). – Dass es im damaligen Rom eine ‹conspiratorial atmosphere› gab, wird in der Octavia eindeutig auf Neros unangemessenes Herrschaftsverhalten zurückgeführt. Insofern wird man nicht sagen können, es solle gezeigt werden, dass ‹Seneca› es mit seinen moralischen Grundsätzen an der notwendigen Pragmatik fehlen lasse. Er versucht vielmehr, Nero eine andere, moralisch legitimierte Basis zu vermitteln, die nach den Hinweisen im Stück auch erfolgreich wäre. ‹Senecas› politisches Engagement angesichts seiner eigenen hoffnungslosen Position macht ihn glaubwürdig, wenn die Dramenfigur dadurch auch nicht vollständig mit den philosophischen Lehren des historischen Seneca zur Deckung gebracht werden kann. Interessanterweise gibt Wiseman (2004, 265) seinen jüngsten Ausführungen zur Octavia die Überschrift «Grand opera».
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Personen und Nebenhandlungen anders ab, gemäß Busenellos Vorstellungen vom Recht auf freien Umgang mit Quellen und Vorlagen. Auf Tacitus beruft er sich ausdrücklich im ‹Argomento› zu der Oper, wobei er gleichzeitig die Unterschiede in seiner Fassung betont. Da das damalige intellektuelle Leben in Venedig stark von der neostoisch beeinflussten Accademia degli Incogniti bestimmt wurde, der auch Busenello angehörte, kann man bei ihm wie bei dem Publikum aus diesen Kreisen eine Vertrautheit mit Seneca- und TacitusTexten voraussetzen. Wie in der Octavia gibt es auch in L’incoronazione di Poppea eine Szene mit einem gedanklich zentralen Dialog zwischen den Bühnenfiguren ‹Seneca› und Nerone, in dem ‹Seneca› Nerone von seinem Vorhaben, Poppea zu heiraten, abzubringen versucht (Pop. I 9). Darüber hinaus ist ‹Seneca› als Persönlichkeit, die mit Zügen des historischen Seneca individualisiert ist, in das Bühnengeschehen involviert: Er tritt noch in weiteren Szenen auf, und andere Figuren bilden sich ein Urteil über ihn.25 So ist vor das Gespräch mit Nerone eine Szene eingefügt, in der ‹Seneca› der klagenden Ottavia ebendas rät, was den an Lucilius ergangenen Lehren des Philosophen Seneca entspricht, nämlich ihre Situation ruhig und willig hinzunehmen (Pop. I 6). ‹Senecas› Trostworte, dem Schicksal dafür zu danken, dass sie in ihrer Situation die ruhmbringende Tugend der Standhaftigkeit (fortezza) beweisen könne (vgl. auch Sen. De providentia [dial. 1] 4,1–8), empfindet Ottavia in ihrer Lage allerdings als ‹gelehrte Künstlichkeiten› (studiati artifici). Ihr Page Valletto reagiert entsprechend mit einer Schimpfsuada auf ‹Senecas› Worte (Pop. I 6): Er bezeichnet ihn als ‹verschlagenen Philosophen, falschen Prediger› und als ‹kleingeistigen Erzeuger netter Bemerkungen› (filosofo astuto, gabba Giove und miniator de’ bei concetti). Seine Trostworte seien bloße ‹Erfindungen› und ‹Litaneien› (invenzioni und canzoni). ‹Senecas› Autorität wird also von vornherein als lebensfremd angezweifelt, obwohl er sich so äußert, wie man es nach der Lektüre der Schriften des historischen Seneca erwarten kann. ‹Senecas› Versuch, im Gespräch mit Nerone diesen von seinen Plänen abzubringen, bleibt – wie in der Octavia – erfolglos (Pop. I 9): Bei der relativ kurzen Auseinandersetzung mit Nerone geht es weniger um konkrete politische Implikationen des Konflikts (Senat und Volk werden nur am Rande erwähnt), sondern um den Gegensatz von vernunftgeleitetem Handeln und willkürlicher Gewalt. ‹Seneca›, der behauptet, dass Vernunft Menschen und Götter lenke und das Nachgeben gegenüber einer Frau als plebejisch abtut, treibt Nerone argumentativ so in die Enge, dass dieser sich nur in zornigen Trotz flüchten kann. Er bricht die Unterredung mit der wütenden Beschimpfung ‹Impertinenter Lehrer, unverschämter Philosoph!› (Maestro impertinente, Filosofo insolente!) ab. ‹Seneca› kann da nur resigniert konstatieren: ‹Die schlechtere Seite siegt immer, / wenn Gewalt auf Vernunft trifft.› (Il partito peggior sempre sovrasta / Quando la forza alla ragion contrasta.). ‹Seneca› äußert sich also gemäß den Grundsätzen des Philosophen Seneca und fügt sich entsprechend der Gewalt. Das erscheint jedoch auch deshalb als mehr oder weniger persönliche Niederlage, als bis auf einige allgemein gehaltene Klagen über die gegenwärtigen Zustände, die zu Beginn des Stücks Wachsoldaten vor dem Haus der Poppea vorbringen (Pop. I 2), Reaktionen im Volk keine Rolle spielen. 25
Zu den unterschiedlichen Forschungsmeinungen zu der Seneca-Gestalt in der Oper vgl. z. B. Kapp 1983; Rosand 1985; Fenlon / Miller 1992; Mehltretter 1994, 127–141; Carter (1997) 2000; Giuntini 1998; Heller 1999, 62–73; Schubert 2004, 392–397. – Vgl. auch den Überblick über die ältere Forschung bei Mehltretter 1994, 123–126.
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Daher geht es im weiteren Verlauf der Oper lediglich um die Beseitigung des Störfaktors ‹Seneca›: Nach Poppeas Diffamierung, ‹Seneca›, dieser ‹schlaue Stoiker› und ‹verschlagene Philosoph› (stoico sagace und filosofo astuto), behaupte, Nerones Herrschaft hänge allein von ihm ab, ist er für Nerone nur noch ein ‹altersschwacher Narr› (decrepito pazzo), der sterben solle (Pop. I 10). Gegen die Chronologie in der historischen Überlieferung wird Senecas Freitod anschließend auf die Bühne gebracht (Pop. II 1–3). Sein Sterben vollzieht sich würdig, geradezu paradigmatisch entsprechend den Vorstellungen, wie sie der historische Seneca in den Lucilius-Briefen dargelegt hat (vgl. z. B. epist. 12,10; 26,4–10; 51,9; 61; 70; 77).26 Allerdings wird die Wirkung dieses lehrgerechten Handelns der Seneca-Figur wie in der Ottavia-Szene konterkariert durch das Verhalten weiterer Bühnen-Figuren: ‹Senecas› Bereitwilligkeit und Stärke angesichts des nahen Todes (vgl. auch Pop. I 8) führen nicht dazu, dass seine anwesenden Freunde, davon beeindruckt, ihm im Sinne seiner Lehren folgen mögen. Im Gegenteil ist für sie das Leben zu schön, und sie fordern ihn auf, er solle es nicht verlassen. So muss ‹Seneca› sie (nach dem nicht in allen Fassungen vollständig vertonten Text) zum Ablegen ihrer ‹fehlenden Standhaftigkeit› (incostanza) ermahnen (Pop. II 3). Wenn man aus diesen Aspekten in der Konzeption der Seneca-Figur schließen wollte, dass durchgängig eine kritische Sicht vermittelt werde, die auf die Person des historischen Seneca zielen könnte, wäre das zu einseitig. Denn es gibt auch Signale, die zu einem gegenteiligen Eindruck führen. Die Todesbotschaft wird ‹Seneca›, schon bevor ihn Nerones Befehl erreicht, vom Gott Mercurio überbracht, der ‹Seneca› wegen seiner Tugend (virtù) preist und ihm den Weg in die Ewigkeit verheißt (Pop. II 1). Auf menschlicher Ebene findet ‹Senecas› Freude, dass er im Sterben die Lehre seiner Schriften erfüllen könne (Pop. II 1: Or confermo i miei scritti, Autentico i miei studi; […]), eine Entsprechung in der Gewissheit des Liberto, der ‹Seneca› den Todesbefehl überbringen muss, dass nach ‹Senecas› Tod dessen Schriften befruchtend für andere Schriften sein werden (Pop. II 2: […], Così alle tue scritture Verran per prender luce i scritti altrui.). Auch wenn der ausdrücklich ausgesprochene Nachvollzug der eigenen Lehren aufgesetzt wirken mag, wird durch den Kontext – über die Bühnenhandlung hinaus – die Bedeutung von Senecas Schriften als eine wesentliche Dimension dieser Figur positiv bewusst gemacht. Diese Hervorhebung von Senecas Lehre in Zusammenhang mit seiner auf die Bühne gebrachten Selbsttötung verdient insofern besondere Beachtung, als im Gegensatz zum historischen Seneca, der den Freitod als Weg in die Freiheit verstand, die Neostoiker den Selbstmord eigentlich nicht billigten. Außerdem wurde er von der Kirche als Sünde angesehen, weswegen die Todesszene in einer Librettofassung von den päpstlichen Zensoren gestrichen ist.27 Busenello wollte aber wohl mit dieser Szene dem historischen Seneca seine Reverenz erweisen, in dessen Lehre der Freitod eine besondere Rolle spielt. 26
27
Zur Rezeption von Senecas Tod (als wichtiger Bestandteil seiner Biographie) in der Kunst sowie in deutschen und lateinischen Trauerspielen vgl. Hess 1981. Vgl. Morford 1991, 169: «The work [Lipsius› Manuductio] also deals with suicide, an important subject missing from the De Constantia. The Stoics (Seneca in particular) justified suicide in certain cases, but Lipsius parted company with them here: ‹I do not give my vote to the Stoics on this matter.› »; vgl. Rosand 1985, 45: «That Seneca’s suicide had moral implications for seventeenth-century Catholicism is confirmed in the Naples libretto of L’incoronazione di Poppea, a libretto published in conjunction with a performance in that city in 1651. Marked by the heavy hand of the papal censors, a number of words and lines are altered or replaced by ellipses (words like «Paradiso», «coscienza», and «beato»). Only one complete scene is cut: Seneca’s farewell to his followers. Although his decision to take his own life has been announced in the preceding scene with Liberto, his sinful act itself is deemphasized by the absence of his powerful farewell scene.»
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Außerdem kann man den weiteren Verlauf der Dramenhandlung (nach ‹Senecas› Tod) als eine indirekte Bestätigung für ihn lesen: Ottavias Zurückweisung von ‹Senecas› Ratschlägen und ihre Hingabe an ihre Emotionen bringen ihr keinen Ruhm; im Gegenteil, sie führen zu katastrophalen Folgen für sie und andere. Denn Ottavia begnügt sich nicht mit ihrer Klage (Pop. I 5), sondern versucht durch ein raffiniert eingefädeltes Mordkomplott gegen ihre Rivalin, sich derer zu entledigen (Pop. II 7). Das wird zwar durch göttliches Eingreifen vereitelt (Pop. II 11–12), aber die von Ottavia zu dem Komplott gezwungenen und ertappten Täter, Ottone, Poppeas Gatte, und das ihn liebende Hoffräulein Drusilla, geraten in Nerones Gewalt. Diese Situation wird zur Bewährungsprobe für die beiden: In der sich gegenseitig übertreffenden Selbstbezichtigung vor Nerone, mit der sie jeweils den anderen retten wollen (Pop. III 4), wird die Übereinstimmung zwischen ihnen manifest. Nerone reagiert auf Ottone eher mit Verachtung; Drusillas mutiger Einsatz für Ottone hingegen beeindruckt ihn. Mit der Würdigung ihrer ‹Stärke› und ‹Standhaftigkeit› (fortezza und costanza) wird ihr – ausgerechnet von Nerone – eine Verhaltensweise attestiert (Pop. III 4), die ein Leitbegriff neostoischer Ethik ist. Dass Nerone solche Qualitäten würdigen kann, ist auffällig; da sein Urteil in Bezug auf die von Drusilla bewiesene Haltung jedoch zutreffend ist, soll es wohl aus seinem Munde besonderes Gewicht erhalten. Anders als ‹Seneca›, der sich für sein Verhalten an der Vernunft orientiert, lässt sich Drusilla für ihre costanza von ihrer aufopfernd standhaften Liebe leiten. Die vom historischen Seneca postulierte und von der Bühnenfigur nicht eben beispielgebend praktizierte Tugend der costanza wird auf diese Weise als Wert bestätigt. Es ergibt sich, dass sie auf unterschiedliche Weise bewiesen werden kann. Innerhalb der Gesamtthematik der Oper, dem Wettstreit zwischen den Gottheiten Fortuna, Virtù und Amore, in dem sich Amore siegreich durchsetzt, kommt es auch auf verschiedene Formen von Liebesbeziehungen an. Durch die positive Resonanz auf Drusillas Mut und Standfestigkeit wird erkennbar gemacht, dass Liebe einen Menschen (zumindest punktuell) zu einer ethischen Qualität führen kann, die der der Bühnenfigur ‹Seneca› und den vom Philosophen Seneca dargelegten Prinzipien entspricht. Der Wert von Senecas Schriften bleibt also unstrittig, auch wenn ‹Seneca› in der Oper bei unterschiedlichen Figuren auf Skepsis stößt.
5. Schlussbetrachtungen Überblickt man die beiden dramatischen Versionen der Person ‹Senecas›, der als Bühnenfigur in ein gleichsam ‹reales› historisches Umfeld eingefügt ist, kann man feststellen, dass in keinem Fall ‹Seneca› lediglich als Sprachrohr der philosophischen Lehren des historischen Seneca konzipiert ist. Elemente seiner schriftlich fixierten Lehren werden der Figur in den Mund gelegt bzw. bei ihrer Charakterisierung benutzt; sie sind jedoch jeweils unterschiedlich zusammengesetzt, ponderiert und entwickelt, je nach der Funktion, die der Figur im Stück zukommt. In beiden Fällen ergibt sich dadurch ein nicht mit dem historischen Seneca kongruentes, aber doch wieder relativ einheitliches Bild der Figur ‹Seneca›. In der Octavia, die als Praetexta mit ihrer Aussage einen konkreten Bezug zur politischen Lebenswelt hat, steht die politisch ausgerichtete Philosophie, wie sie ähnlich in De clementia fassbar ist, im Vordergrund. Das Plädoyer der Bühnenfigur ‹Seneca› für eine Regierungsform, die man als eine Art ‹konstitutiver Monarchie› verstehen könnte, dient als
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Kontrast zu Neros absoluter Willkür- und Gewaltherrschaft. Im Gegensatz zu den Maximen des historischen Seneca akzeptiert die Bühnenfigur die bestehende politische Situation in Rom nicht als schicksalsgegeben; vielmehr versucht sie aktiv, eine Änderung zu erreichen. Diese Aktivität ist wiederum auf der Basis der schriftlichen Lehren des historischen Seneca glaubwürdig und wird durch den Handlungskontext gestützt. Da sie sich jedoch nicht auf Seneca selbst bezieht, sondern der Gesamtsituation des Staatswesens dient, bleibt er als Persönlichkeit eher im Hintergrund. Sein Schicksal dürfte jedoch den Zeitgenossen präsent gewesen sein; umso überzeugender wirkt er als Figur auf der Bühne bei der Vermittlung seines Herrschaftskonzepts. In L’incoronazione di Poppea steht die Bühnenfigur ‹Seneca› deutlich mehr als Person und Moralphilosoph im Vordergrund. ‹Senecas› Bemühungen, andere Menschen gemäß seiner Philosophie zu lenken, und auch sein eigenes Sterben werden allerdings durch die Reaktionen weiterer Bühnenfiguren problematisiert, vielleicht weil sie in der vorgeführten Radikalität realitätsfremd wirken und nicht ohne Weiteres vermittelbar sind. Dennoch wird Seneca selbst nicht zu einer lächerlichen Figur, sondern es wird gezeigt, dass er wirklich konsequent seiner Lehre entsprechend lebt, seine Schriften zur Weiterentwicklung anregen und seine philosophische Lehre als solche aktuell und relevant ist. An der neu eingeführten Figur der Drusilla erweist sich, wie man ohne spezifisch philosophisches Wissen stoische Tugenden leben und damit Erfolg haben kann. Hinter diesen Differenzierungen wird man vielleicht den Einfluss von Iustus Lipsius (1547–1606) vermuten können, der in seinen philosophisch-staatstheoretischen Hauptwerken De constantia libri duo (1584) und Politicorum sive civilis doctrinae libri sex (1589) eine neostoische Lehre vertritt: Danach sind nicht Resignation und Flucht, sondern ein sittlich starkes, politisch aktives Handeln, ein stoisch gegen die Unbilden der Zeit ankämpfendes Bewusstsein anzuraten. Diese Individualethik im Sinne einer praktischen Philosophie der constantia weitete Lipsius zur Staatslehre aus und versuchte, unter Rückgriff auf eine stoische Tugendethik ein Modell für seine Zeit zu entwickeln.28 Eine solche Auffassung konnte Busenello die Seneca-Figur nicht vertreten lassen, weil die Diskrepanz zu den aus den Schriften des historischen Seneca bekannten Positionen evident gewesen wäre. So lässt er ihn geradezu strikt seine eigene Lehre vorführen und leben, ohne dass er seine ‹Mitmenschen› von deren Richtigkeit überzeugen kann. Wie gezeigt wird, ist das jedoch nicht gleichbedeutend mit einer Abwertung stoischer Grundprinzipien. In der Oper L’incoronazione di Poppea erscheint die Seneca-Figur daher trotz ihrer persönlich stärkeren Präsenz als in der Octavia weniger gewichtig gegenüber den sich eigendynamisch entwickelnden stoischen Tugenden. Und sie vermittelt auch keine konkrete politische Botschaft: Die Ereignisse, die auf die Bühne gebracht werden, liegen inzwischen lange zurück. Aber gerade durch diese Veränderungen gegenüber der Octavia, ihrem dramatischen Modell, bietet die Oper möglicherweise mehr Anknüpfungspunkte für das Publikum der Neuzeit, die L’incoronazione di Poppea – neben ihren sonstigen Vorzügen – mehr Bekanntheit und Beliebtheit verschafft haben als der Octavia.
28
Zu Lipsius vgl. z. B. Brechenmacher 1993; zu Lipsius’ Philosophie vgl. Abel 1978, 67–113; zu Lipsius’ Rezeption von Tacitus und Seneca vgl. auch Morford 1991, 139–180.
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Valérie Sinn
Medea und Médée. Motivation der Rache bei Seneca und Thomas Corneille Senecas Einfluss auf die tragische Produktion der gesamten Renaissance ist ein bekanntes Phänomen. Es hat dazu geführt, dass bis heute in nahezu allen Medeatragödien aus dieser Epoche Anklänge, Zitate, Parallelen und Anzeichen intertextueller Kommunikation gesucht und gefunden werden. Freilich gibt es innerhalb dieses Feldes auch Unebenheiten: Die Orientierung Pierre Corneilles (1606–1684) an der senecanischen Tragödie ist bekannt, daher ist seine Médée bereits des öfteren mit der römischen Vorlage verglichen worden. Hingegen hat die Präsenz Senecas im Libretto seines jüngeren Bruders Thomas (1625–1709) für die Oper Marc-Antoine Charpentiers nur wenig Beachtung gefunden. Doch auch die Figuren dieser beiden Werke sind längst Teile gleichsam textübergreifender Charaktere, sie antworten, ergänzen und widersprechen einander, und es soll hier der Versuch unternommen werden, diese Kommunikation zu fördern.1 Das Rezeptionsverhältnis von Thomas Corneille und Seneca ist durch ein komplexes Ineinandergreifen direkter und indirekter Bezugnahmen charakterisiert. Gewiss sollte man sich fragen, ob der jüngere Verfasser das Werk des römischen Dichters kannte und in Auseinandersetzung mit diesem, Elemente übernehmend oder bewusst verändernd, Leerstellen2 füllend und andere schaffend, seine eigene Darstellungsweise gefunden hat und ob ihm andere Werke (zusätzlich) als Vorbild gedient haben. Eine wichtige Vorlage, mit der sich Thomas Corneille als Librettist der Oper Médée, einer Gemeinschaftsproduktion mit dem Komponisten Marc-Antoine Charpentier (uraufgeführt im Dezember 1693), auseinanderzusetzen hatte, war die 1634, also 59 Jahre zuvor verfasste, dem Publikum immer sehr präsente und für den Stoff in Frankreich bahnbrechende gleichnamige Tragödie seines älteren Bruders Pierre Corneille.3 Dieser hat zu seiner Médée (wie auch zu seinen anderen Tragödien) ein Examen verfasst, das – ganz in unserem heutigen Sinne – über bewusst vorgenommene Transformationen Auskunft gibt, aus denen sein Werk entstanden ist. Er führt hier aus, dass er sich mit der römischen und der griechischen Tragödie auseinandergesetzt, teilweise den senecanischen Text regelrecht übersetzt, teilweise aber auch wesentliche Veränderungen vorgenommen habe, die er in diesem Zusammenhang erklärt und begründet.4 Thomas Corneille hat sich diesbezüglich nirgendwo schriftlich geäußert, doch ist nicht zuletzt durch die Examens Pierre Corneilles und entsprechende Abfassungen Jean Racines 1
2 3
4
Eine kleine Auswahl der zahlreichen späteren Medea-Rezeptionen sorgt stellenweise für die Verdeutlichung oder Ergänzung eines Aspekts; vor allem aber werden die noch erhaltenen Vorlagen zu den hier im Mittelpunkt stehenden Werken, die Medeia des Euripides und Pierre Corneilles Médée, immer wieder herangezogen, um die beiden Werke in die sie umgebenden Medea-Darstellungen einzubetten und zugleich die Interaktion zu beleben. Vgl. grundsätzlich Iser (1970) 15–21. Cessac (1988) 387; Labie (19932 ) 39; Rauseo (2000) 228f. Die erste französische Médée wurde 1553 von Jean-Bastier de La Péruse in starker Anlehnung an Seneca verfasst (vgl. Wanke [1978] 186), doch hatte diese Fassung auf die weitere Rezeption des Stoffes offenbar wenig Einfluss. P. Corneille: Examen, 137–140.
Antike und Abendland Bd. 54, S. 141–159 © Walter de Gruyter 2008 ISSN 0003-5696
DOI 10.1515/ANTI.2008.009
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bekannt, dass die Tragödien Senecas und auch des Euripides im Frankreich des 17. Jahrhunderts gelesen wurden und vor allem Seneca, als «einziger Repräsentant vollständiger antiker lateinischer Tragödien»,5 den Dichtern bis zum Ende des Jahrhunderts als Grundlage und Orientierung diente.6 Überdies hat Thomas Corneille zwar nichts direkt zitiert, was er nicht der Tragödie des Bruders entnommen haben könnte, doch taucht ein wichtiges, nicht von Pierre entlehntes Detail bei ihm auf, das als strukturelles Element die Annahme stützt, dass er sich selbst mit den Werken Senecas und denen des Euripides beschäftigt hat:7 Während in den mittleren Akten andere Arten von Chören (z. B. ein Chœur des Captifs d’Amour und ein Chœur de Démons) und allegorischen Figuren die Handlung retardieren und zugleich interpretieren, kommentiert in den beiden rahmenden Akten genau wie auch bei Seneca (aber eben nicht bei Pierre Corneille), gleich einer kurzen Hommage an den römischen Dichter, ein im Verborgenen bleibender, prokorinthischer Chœur de Corinthiens die Geschehnisse auf der Bühne, bringt die anfängliche Hoffnung der Korinther Bürger auf Rettung zum Ausdruck und artikuliert schließlich die Verzweiflung über das unvorstellbare Desaster (I/3,6; V/2f.). Wie sein Bruder legt auch Thomas Corneille gegenüber Seneca deutlich mehr Wert auf die Ausgestaltung der äußeren Umstände und gleichzeitig auf die Charakterisierung der Figuren.8 Der jesuitisch geprägte Pierre Corneille lässt dabei aber seine Helden selbstbestimmt und in erster Linie auf ihre Ehre und die «unhintergehbaren Anforderungen der Pflicht»9 bedacht handeln. Bei Thomas Corneille hingegen, der sich damit als Zeitgenosse Racines zu erkennen gibt,10 wird, gleichsam in Analogie zum antiken fatum, die – nicht selbst gewählte, den Menschen gewaltsam ergreifende und der Ehre womöglich zuwiderlaufende – Liebe zum alles entscheidenden Element.11 Somit hat der Librettist den Handlungsrahmen insgesamt eigenständig und in mancherlei Hinsicht geradezu in Opposition zu seinen Vorgängern gestaltet,12 um die drastischen Rachemaßnahmen Médées – den zeitgenössischen Vorstellungen und Anforderungen entsprechend – vraisemblant zu machen und zu rechtfertigen.13
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Schubert (2004) 372. Zur Präsenz und literarischen Autorität Senecas seit der Renaissance bis zum Ende des 17. Jahrhunderts vgl. Braden (1985); Jacquot (1964); Lefèvre (1978); Schubert (2004); Tobin (1971); Wanke (1978). Davon gehen, ohne genauere Begründung, ebenfalls aus Fischer (1997) 114f.; Leopold (1998) 136. Leopold betont dabei die Erstmaligkeit solcher Quellenforschung in der Operngeschichte. Labie (1993S ) 40: «L’un et l’autre des deux Corneille modifieront l’image de Médée pour la rendre acceptable à l’éthique de la société dans laquelle ils vivent.» Vgl. auch Jacquot (1964) 306f. Kuhnle (2003) 234; zu Pierre Corneille vgl. auch Bénichou (1948) 15–67. Rauseo (2000) 231. Zu den Veränderungen der französischen Tragödie des 17. Jahrhunderts vgl. J. de La Bruyère 84; Fuhrmann (1973) 240, 243; Nies/Stierle (1985); Grimm (1999) 164f. Krauß (2003) 250 merkt in einer Untersuchung zu Racine an, dass die «Zeitgenossen […] Liebe als wichtiges Ingrediens oder Movens der dramatischen Handlung geradezu einforderten». In Hinblick auf Corneilles und Charpentiers Oper Médée auch besonders interessant die Zusammenfassung in: Lagarde/Michard (19982 ) 295: «Irrésistible, la passion est dévorante et dévastatrice. Elle porte en elle un germe de mort. Dans la tragédie racinienne, on tue et on meurt par amour. […] les héros de Racine ne peuvent se sacrifier pour sauver l’ˆetre aimé ou pour assurer son bonheur.» McDonald (2000) 105 hält das Libretto für eine Adaptation mit einigen «minor changes»; etwas ausführlicher und – m. E. mit Recht – als deutlich weniger «minor» beschreibt Cessac (1988) 387 die Unterschiede zwischen den Werken der beiden Brüder. Zur vraisemblance vgl. Fuhrmann (1973) 226ff., 244–247. Zur Zeitgebundenheit der vraisemblance bemerkt Auerbach (19643 ) 365: «Daß man im 17. Jahrhundert die Kunst Racines nicht etwa nur als meisterhaft, sondern auch als vernünftig, dem gesunden Menschenverstand entsprechend, natürlich und wahr-
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Warum rächt sich Medea/Médée? Die senecanische Medea wie auch die Médée Thomas Corneilles nennen als wesentlichen Grund für ihre verbrecherische Rache, dass es in ihrem eigenen Interesse gilt, sich von dem treulosen Ehemann und ihrem gemeinsamen Leben zu lösen. Medea ist gut über die – zudem bei Seneca schon weit fortgeschrittenen – Vorgänge informiert und weiß, auch wenn sie in den folgenden Unterredungen mit Creo und Iason noch eine Änderung herbeizuführen versucht, von Beginn an, was sie gegebenenfalls tun wird (53ff.): quo uirum linques modo? hoc quo secuta es. rumpe iam segnes moras: quae scelere parta est, scelere linquenda est domus.
Die Médée Thomas Corneilles, die sich gutgläubiger zeigt und zudem weit weniger im Bilde über das ist, was sich in Wirklichkeit abspielt, nimmt während der gesamten ersten Hälfte der Oper den schlimmstmöglichen Fall nicht an und stößt im Verlauf der ersten beiden Akte nur wenige und recht vage Drohungen aus. Erst in der zentralen Szene der Oper beschließt sie (III/4, S. 152): Et que le crime nous separe, Comme le crime nous a joints.
Diese pointierte Ankündigung findet sich auch – hier ebenfalls bereits in Médées wildem Anfangsmonolog – bei Pierre Corneille (240): Qu’un forfait nous sépare ainsi qu’il nous a joints.
Den Ankündigungscharakter und die Tragweite dieser Feststellung hat der Librettist allerdings weniger ernst genommen als seine beiden Vorgänger. Seine Médée scheint hier die Werke Senecas und Pierre Corneilles eher zu zitieren14 als die bei diesen zugrunde liegende Motivation der Rache wirklich zu übernehmen. Tatsächlich führt sie diesen Gedanken weder weiter aus noch erwähnt sie ihn während der Racheausübung jemals wieder. Da es sich hierbei um eine zentrale Variante des jüngeren Corneille handelt, lohnt es sich, diesen Aspekt eingehender zu betrachten. Seneca betont in seiner Tragödie, dass Medea sich durch die aus Liebe (135f.) für ihn begangenen Verbrechen an Iason gekettet sieht und jetzt aber der Überzeugung ist, sich durch weitere – nunmehr aus Hass begangene – Verbrechen von dieser Bindung wieder befreien zu müssen (397f.): Si quaeris odio, misera, quem statuas modum, imitare amorem.
Daher werden ihre «Rachegedanken […] ganz von der Vergangenheit angetrieben»,15 nämlich von den für Iason gebrachten Opfern: Heimatlosigkeit, Verlust des Vaters und Bru-
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scheinlich empfand, läßt sich nur aus der Perspektive der Zeit selbst erklären; sie hatte andere Maßstäbe als wir für das Vernünftige und Natürliche.» Dies scheint geradezu ein Grundzug der Medea-Figur zu sein; vgl. zur Medea Senecas WilamowitzMoellendorff (1906) 162: «Diese Medea hat offenbar die Medea des Euripides gelesen.» Zur Medea Ovids Schmitzer (2003) 27. Schmidt (1998) 150.
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dermord (20f., 118ff., 125). Sie verlangt von sich sogar eine Steigerung der bereits verübten Taten (49f.): haec uirgo feci; grauior exurgat dolor: maiora iam me scelera post partus decent.
Mit dieser Feststellung legt sie bereits das Ausmaß fest, ohne jedoch inhaltlich konkret zu werden.16 Wie besonders durch das Auftauchen des toten Bruders Absyrtus (als Schatten) deutlich wird, fallen hier Rache und Sühne zusammen: Iason muss nicht nur für seine Untreue und Undankbarkeit Strafe erleiden, sondern auch den um seinetwillen verübten Mord an Absyrtus sühnen.17 Zugleich bestraft sich Medea selbst für die Tötung des Bruders18 und befreit sich durch die vollständige Zerstörung ihres Umfeldes «von ihren letzten menschlichen Bindungen».19 Die Médée Pierre Corneilles erwähnt ebenfalls oft und ausführlich ihre Vergangenheit (z. B. 405–439, 789–816) und greift klar und bestimmt, durch direkte Senecazitate zusammenfassend artikuliert, diesen Aspekt der Rache als Sühne bereits in ihrem ersten Monolog auf (238–250), ganz so, als wisse sie aus der Literaturgeschichte tatsächlich schon jetzt, was für sie im Verlauf dieser Tragödie zu tun sei. Die gründlichen Überlegungen der senecanischen Medea bleiben weg, scheinen aber die Grundlage zu bilden, auf die sich Pierre Corneille lediglich zu beziehen braucht, um sie bei seinem gebildeten Publikum in Erinnerung zu bringen.20 Thomas Corneille übernimmt diesen Aspekt der Sühne für die um Jasons willen begangenen Verbrechen nicht konsequent: In den divertissements und manchen Bemerkungen seiner Figuren zeigt er eher auf die Macht der Liebe als auf den Fluch oder Willen des Schicksals, dem die Menschen hier zum Opfer fallen. Da zudem die Motivation der Handlung stärker aus der Gegenwart genommen wird, werden die von Médée verübten forfaits zwar erwähnt, jedoch kaum weiter aufgeschlüsselt. Corneille versucht statt dessen, Médées ungeheuren Racheakt verständlich zu machen, indem er einerseits ihre Liebe zu Jason, andererseits das an ihr verübte Unrecht ausgestaltet, womit er ihr eine Motivation gibt, die der Zuschauer sympathetisch erfassen kann.21 Es findet eine weitgehende Entlastung statt: Je mehr die anderen Personen agieren, d. h. intrigieren, heucheln und lügen, desto mehr persönliche Schuld tragen sie an ihrem Ende, zumal Médée bei ihrer Rache schrittweise vorgeht und zumindest den Korinthern die Möglichkeit der Einsicht und Umkehr gewährt. 16
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Doch spielt sie immerhin auf ihre Kinder als mögliches Mittel der Rache an, und in der Tat: Möchte sie sich von dem gemeinsamen Leben mit Iason lossagen, so impliziert dies – vor allem in Anbetracht ihrer bisher begangenen Verbrechen, welche ebenfalls, zwecks Lösung von dem damaligen Leben, Verwandte trafen – die Vernichtung aller Gemeinsamkeiten, also auch der gemeinsamen Familie. Zur zyklischen Struktur sowie ihrer Bedeutung für das Verständnis der Rache Medeas vgl. Haß (1997) 52f. Anm. 7, 61–66. Die Erscheinung des toten Bruders ist vielleicht wiederum von Ovid inspiriert, vgl. dazu Ov. epist. 12,162. Schmidt (1998) 169. Haß (1997) 61 bestreitet allerdings den Aspekt der Selbstbestrafung. Herr (2000) 229. Keiner der beiden Corneillebrüder lässt den Schatten des Bruders auftauchen, doch spielt Pierre Corneille möglicherweise auf dieses Element an, indem er in den letzten beiden Versen Jason Créuses – wie Absyrtus ebenfalls Sühne fordernden – Schatten ansprechen lässt. Anders als die senecanische Medea kommt Jason jedoch dieser Forderung nicht nach, sondern entscheidet sich für den Selbstmord. Durch ihre Art zu lieben und durch ihre Eifersucht wirkt Thomas Corneilles Médée insgesamt schwächer und menschlicher als die senecanische Medea, die stolz und sicher ist und sich mit eifersüchtigen Gefühlen überhaupt nicht herumschlagen muss.
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Nachdem sie von dem Komplott in Kenntnis gesetzt worden ist, hat sie zunächst vor allem das Gefühl, sich verteidigen zu müssen (III/4, S. 152): Pour qui cherche ma mort, je puis estre barbare.
Hier zeigt sich eine – in Anbetracht der Popularität des Werkes und der Gattung seit der frühen Neuzeit22 vielleicht bewusst geschaffene – Parallele zu der Medea aus Ovids Heroides: Wie diese reagiert Thomas Corneilles Médée auf die ihr begegnende Xenophobie,23 indem sie das gegen sie verwendete Schimpfwort24 aufgreift und in gewisser Hinsicht annimmt, jedoch den Spieß quasi umdreht, da sie zum Ausdruck bringt, dass sie nicht a priori durch ihre Herkunft, sondern infolge äußerer Zwänge zur «Barbarin» geworden ist.25 Die Médée Thomas Corneilles, den Blick in die Zukunft gerichtet, verwandelt die abfällige Bezeichnung zudem in eine bittere und zugleich selbstbewusste Drohung. Doch erst, als Créon und Créuse ihrer Forderung nach einer Hochzeit Créuses mit Oronte26 nicht nachkommen und sich weiterhin respektlos, ja missachtend zeigen, löst sie, gewissermaßen gezwungen und reagierend, jeweils die Katastrophe aus (IV/8, S. 186; V/4, S. 204). Es ist daher zentral für Thomas Corneilles Motivation der Rache, dass Vater und Tochter sich derart uneinsichtig zeigen; Médée würde andernfalls in Konflikte geraten, denn der Mord an Jasons neu gewählter Familie ist zwar auch, aber eben nicht nur als Rache an ihm gedacht. Ihre Motivation ist immer auch aus dem Unrecht der späteren Opfer gewonnen und trifft keine Unschuldigen. Nur Jason selbst, den sie so vertrauensvoll und aufopfernd geliebt hat, bekommt keine weitere Chance; ihn will sie in jedem Fall leiden lassen für das, was er ihr angetan hat (III/5, S. 156): Qu’il souffre, s’il se peut, cent tourments à la fois En voyant souffrir ce qu’il aime.
Eine Zielsetzung, die Medeas (1006): Hac qua recusas, qua doles, ferrum exigam entspricht.27 Während Senecas Medea jedoch neben dem Wunsch, Iason zu treffen, vor allem die Vernichtung aller gemeinsamen Bande und die Sühne für alle ihm zuliebe begangenen Verbrechen im Sinn hat, «zitiert» die Médée Thomas Corneilles zwar aus dem Werk Pierres, womit sie zum Ausdruck bringt, dass auch sie sich durch Verbrechen von Jason lösen will, doch konzentriert sie sich dabei auf die Vergeltung aktueller Schuld bzw. der – für sie vernichtenden – Vorhaben Jasons, an denen sie ihre Rache bemessen will (III/4, S. 152): Faisons tomber sur luy les maux qu’il me prepare.28 22 23
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Vgl. Dörrie (1968). Ein Motiv, das vielleicht schon früh die Rezeption des Stoffes in Rom gesteuert hat, vgl. Vogt-Spira (2000). Es findet sich in der Literatur häufig, bei Ovid: epist. 6,19;81; bei Thomas Corneille: V/4, S. 202. Ov. epist. 12,105: tibi sum nunc denique barbara facta. Rauseo (2000) 231 meint zwar: «Sie will ihren Jason zurück, nichts anderes» und in der Tat betont sie zunächst nur (IV/4, S. 172): Jason n’en sera l’Epoux, doch gibt sie später (V/2, S. 194, 196) deutlich zu verstehen, dass es ihr nicht genügt, den treulosen Ehemann zurückzubekommen; sie will das bis dahin sich glücklich wähnende neue Paar (eine Vorstellung, die Thomas Corneilles Médée quält, für die senecanische Medea hingegen eher nebensächlich ist) durch die erzwungene Hochzeit bestrafen und endgültig auseinandertreiben. Vgl. Eur. Med. 817. Auch wenn Médée hier sicher an vergleichbares Leid denkt, welches sie Jason zufügen will oder Corneille womöglich wieder zum Ausdruck bringen wollte, dass Médée lediglich angemessen auf das ihr zugefügte Unrecht reagiert, könnte sie auch, gerade für das Publikum der Zeit naheliegend, auf den Jason Pierre
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Medea-Sein Über ihre Verbrechen definiert Medea ihre Beziehung zu Iason – und auch sich selbst. Hier gleichen sich Medea und Médée, denn dass sie sich rächen werden, steht für beide fest. «Medea-Sein» bedeutet für sie das Gleiche. Medea spricht in der dritten Person von sich, orientiert sich offenbar, wie auch andere Helden senecanischer Tragödien, «für ihr Handeln an einem gleichsam außerhalb ihrer selbst stehenden Bild»,29 einer verpflichtenden Vorstellung außerhalb ihrer selbst. Diese bei Euripides noch nicht vorhandene,30 vielleicht von Ovid inspirierte31 conscience de soi,32 dieses Selbst-Bewusstsein Medeas ist zu ihrem wesentlichen Charakteristikum, zum Topos und zum entscheidenden Erklärungsmuster für ihre Rache geworden. In unzähligen Rezeptionsdokumenten wurde und wird bis heute ihr Medea superest (166), Medea fiam (171) und Medea nunc sum (910) aufgegriffen, variiert und weiterentwickelt. Vielleicht schon bei Seneca hat sich Medea damit nicht nur auf ihre mythische, sondern bereits auf ihre literaturgeschichtliche Identität bezogen,33 im Verlauf der Tradition jedenfalls nimmt sie immer mehr auf die aus ihrer literaturgeschichtlichen Biographie resultierende Verpflichtung Bezug und setzt sich mit dieser auseinander.34 So warnt auch z. B. Pierre Corneilles Médée in ihrem ersten Monolog (237): je suis encor moi-mˆeme
und erklärt ihrer confidente, was das bedeutet (318ff.), als diese, des Mythos offenbar unkundig, auf Médées stolzes französisches Pendant zum senecanischen superest (316f.): Nérine: Dans un si grand revers que vous reste-t-il? Médée: Moi, Moi, dis-je, et c’est assez.
erstaunt ausruft (317): Quoi ! vous seule, madame !
Thomas Corneille hat diesen Topos ebenfalls – ob nun von Seneca, von seinem Bruder oder von beiden – für seine ansonsten so ungleiche Médée übernommen: Auch sie legt, trotz der
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Corneilles anspielen, der selbst an Kindermord denkt, um Médée für den Mord an Créuse und Créon zu bestrafen (1565–1569). Seidensticker (1969) 95. Guastella (2001) 198 stellt für die Medea Senecas im Unterschied zur euripideischen Medeia fest: «In Seneca’s version, however, there is an additional dimension to this story of vengeance and criminality: Medea’s actions now become a way of reconstructing her own identity». Medea spricht auch hier in der dritten Person von sich (Ov. epist. 12,183f.) und wird zudem von Hypsipyle als Maßstab für ihre eigenen Rachegedanken herangezogen (Ov. epist. 6,151): Medeae Medea forem. Tobin (1971) 28. Benton (2003) 277 deutet Medeas Art, über sich selbst zu sprechen, als bewusste Wahrnehmung ihres Fremdseins und ihrer Außenwirkung bei den Korinthern. Christoph (1997) 68 ist jedoch der Ansicht, bereits die senecanische Medea wolle einer «literarischen Vorlage» gerecht werden. Die Médée Anouilhs (1946) z. B., welche die senecanischen Aussagen immer wieder aufgreift und variiert, bemerkt Créon gegenüber (376): «C’est un reˆ ve de Jason tout cela! […] il sait que son nom et le mien sont liés ensemble pour les siècles. Jason-Médée! Cela ne se séparera plus.» Jason deutet die Verpflichtung des Mythos und die entsprechende Konnotation ihres Namens an (382): «Et ton cas est réglé pour toujours. Médée! C’est un beau nom pourtant, il n’aura été qu’à toi seule dans ce monde. […] il n’y aura pas d’autres Médée, jamais, sur cette terre.»
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überwiegenden Verzweiflung, bereits in der ersten Szene dieses Selbst-Bewusstsein an den Tag (I/1, S. 80): De plus grands efforts feront voir, Ce qu’est Medée et son pouvoir,
doch hat sie ein etwas anderes Verhältnis dazu: Statt Medea fiam heißt es bei ihr, als sie sich durch die Entwicklung der Geschehnisse zum Handeln gezwungen sieht (III/4, S. 152): on m’y force. Sie versucht vergeblich, sich bei Créon und Créuse mit Hilfe ihres Namens den ihr gebührenden Respekt zu verschaffen, dessen sich die senecanische Medea trotz aller Antipathie Creos sicher ist (V/4, S. 204; IV/6, S. 178): Souviens-toy que je suis Médée.
Sie versucht also nichts anderes, als ihre Macht nicht einsetzen, ihre gefährliche zerstörerische Rolle nicht spielen, sich nicht «remythisieren»35 zu müssen.
Wie rächt sich Medea/Médée? Sowohl Medea als auch Médée wollen neben der eigenen Loslösung ihren Gatten treffen, ihm etwas antun, das für ihn schlimmer ist als der eigene Tod.36 Entsprechend liegt für Medea der Schwerpunkt ihrer Rache auf dem Kindermord, für Médée aber, in deren Wertekosmos wie oben beschrieben die Liebe zwischen Mann und Frau avanciert wird, auf dem Tod Créuses. Auch das Vorgehen während des Racheaktes wird unterschiedlich dargestellt: Die Medea Senecas rast von Anfang an und betont, wozu sie fähig, willens, ja als Medea gleichsam verpflichtet ist. Sie macht bereits in ihrem ersten Monolog deutlich, dass neue, noch schlimmere Verbrechen in jedem Fall ihre Antwort sein werden und spielt daher hier bereits mit dem Gedanken, alles auszulöschen. Es geht ihr, wie Lefèvre feststellt, nicht darum, Iason in oberflächlicherem Sinne «adäquat»37 zu bestrafen – ihr Maßstab sind die eigenen scelera, die sie für Iason beging und die er jetzt ablehnt, die also gesühnt und gewissermaßen wieder ausgeglichen werden müssen, um den gemeinsamen Bund zu lösen.38 Von Anfang an spielt sie immer wieder in mehrdeutigen Bemerkungen auf die später eintretenden Ereignisse und somit auf die monströse Dimension der Rache an (23f., 40, 17f., 35f., 147ff.). Der Médée Thomas Corneilles hingegen ist ein solches Ausmaß der Rache in den ersten beiden Akten kaum zuzutrauen. Bei ihr kommt es erst spät zu einem regelrechten Bruch, nachdem sie lange gehofft hatte, die Situation würde sich auflösen, ohne dass sie zu den drastischen Mitteln greifen muss, derer sie fähig ist. Letztlich jedoch gezwungen, geht sie eher schrittweise vor und orientiert sich dabei einerseits, wie sie sagt, an dem, was Jason
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Friedrich (1967) 49 bemerkt, Euripides habe Medea «in einer Weise entmythisiert, daß die Nachfahren glaubten, sie unbedingt remythisieren, in ihre alten Würden einsetzen zu sollen: das Medea fiam ist ein Teil dieser Restauration». In dem Moment, in dem es wirklich ernst wird, geht Medea quasi über ihre anfängliche präventive Drohung hinaus, die sie bei Ovid in den Metamorphosen ausstößt (Ov. met. 7,42f.): si facere hoc aliamve potest praeponere nobis / occidat ingratus! Lefèvre (1997) 72. Guastella (2001) 214f.: «Medea does not intend only to deprive Jason of his progeny, but also obtain compensation for the losses that she suffered in order to marry Jason in the first place.»
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ihr anzutun gedachte, und nimmt andererseits, im Unterschied zu Medea, zugleich auch persönliche Rache an Créon und Créuse.
Der Mord an der korinthischen Königsfamilie Anders als in der Oper ist der Mord an der Königstochter Korinths in der senecanischen Tragödie, wie bereits deutlich wurde, weder durch Eifersucht der Kolcherin auf Creusa noch durch deren Intrigen und Beleidigungen gegen Medea39 motiviert. Wie Euripides lässt Seneca den Tod Creusas und Creos durch einen Boten mitteilen, welcher sich jedoch, anders als der Bote der attischen Tragödie, sehr viel kürzer fasst und auf jegliche narrative Details verzichtet (879–891).40 Seneca konzentriert sich, was die Umstände der Ermordung angeht, auf die bei Euripides überhaupt nicht ausgeführte Magie, das Präparieren der Geschenke; er interessiert sich also – hier zeigt sich deutlich die monozentrische Anlage des Stückes – sehr viel detaillierter für Medeas Handlungen und ihren Zustand bei den Vorbereitungen für diesen Teil der Rache als für den tatsächlichen Vollzug. Das Motiv der Magie verbindet die Tragödie aus der Kaiserzeit mit dem Libretto des 17. Jahrhunderts. In beiden Epochen war der Umgang mit Giften und Magie ein präsentes, ernst genommenes und zugleich faszinierendes Phänomen. Immer wieder sorgten Giftmischeraffären – auch in königlichen Kreisen – für Aufsehen. Zur Zeit der Entstehung der Oper gab es in Frankreich (sowie auch in Deutschland und anderen Teilen Europas) zudem immer noch Hexenverfolgungen und -verbrennungen.41 Sowohl Seneca als auch Charpentier und Corneille trafen daher mit dieser Akzentuierung der kolchischen Zauberin auf einen gewissen Zeitgeschmack42 und stellten zugleich die bedrohlichen, gefährlichen Fähigkeiten der Titelheldin auf eindringliche Weise dar: Seneca durch seine sehr detailreiche, die Phantasie anregende Schilderung der Geschehnisse, die Verfasser der Oper durch direktere, dem Genre eher entsprechende Effekte: allegorische Figuren, entsprechende Regieanweisungen sowie eine die Bedrohlichkeit eindrucksvoll veranschaulichende musikalische Untermalung.43 In der senecanischen Tragödie wird das Kleid, das Medea verschenkt, weder von Creusa gewünscht oder gefordert, noch soll es (wie bei Euripides) die Königstochter Korinths den Kindern der Kolcherin gewogen machen. Die Darstellung der Geschehnisse Senecas wird 39
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Ein Unterschied zur Creusa – oder zur Medea – Ovids (Ov. epist. 12,180f.): Medea stellt sich die neue Frau Iasons hämisch und schadenfroh vor und will sie dafür büßen lassen. Vgl. Eur. Med. 1136–1221. F. Graf/ S. I. Johnston: s.v. Magie, Magier. Kaiserzeit bis Constantinus I., DNP 7, Stuttgart 1999, Sp. 670; Ogden (2002); Herr (2000) 26–29; Hitchcock (1995) 27. Schubert (2004) 397; Maurach (1966) 308. Schmidt (1998) 163ff., 171ff. regt an, unter Verweis auf die entsprechenden Parallelen bei Tacitus, die auffallende Gewichtung der magischen Fähigkeiten Medeas bei Seneca als Anspielung auf Agrippinas Situation und ihre Giftmorde zu verstehen. Entsprechend kommt er 165 zu dem Schluss, der «Verzicht auf eine Schilderung der Todesumstände des Königs und seiner Tochter könnte durchaus ein Indiz für die Adressaten des Stückes und damit zugleich auch die Umstände seiner Präsentation sein.» Auch Hitchcock (1995) 27 legt mit seinem Verweis auf entsprechende Verstrickungen Madame de Montespans einen ähnlichen Gedanken für die Oper zumindest nahe. Die Anrufungen von Göttern und Erzsündern in der senecanischen Tragödie sowie die auch bei Pierre Corneille relativ detaillierten Ausführungen der Hilfsmittel und Zutaten sind hier deutlich kürzer zusammengefasst, doch braucht und sucht auch Médée den Beistand Hecates. Zur musikalischen Gestaltung der Zauberszene und der Verhexung Créons vgl. Cessac (1988) 398f., 401f.; Duron (19932 ) 87f.
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weder von Pierre noch von Thomas Corneille übernommen;44 sie hat jedoch den Effekt, dass Medea noch stärker und bestimmender wirkt: Es ist ihre Idee, Geschenke zu schicken, sie reagiert nicht von außen gezwungen, sondern agiert und treibt die Handlung nach ihrem Belieben voran. Auch den Tod Creos handelt Seneca (anders als Ovid) geradezu elliptisch ab, obwohl sich Medeas Zorn hierauf doch anfangs konzentriert hatte und Creo, im Unterschied zu Creusa, sich auch persönlich schuldig gemacht hat (freilich weniger als Corneilles Créon). Der Bote erwähnt seinen – von Medea mit ihren magischen Vorbereitungen ja nicht einmal explizit intendierten – Tod nur knapp im Zusammenhang mit Creusas Ende und dem großen Brand (880): nata atque genitor cinere permixto iacent.
Ohne sich mit Details aufzuhalten, hat Seneca somit die Vernichtung der von Iason angestrebten Zukunft dargestellt und widmet sich nunmehr dem Kernstück der Rache seiner Titelheldin, dem Kindermord. Pierre Corneille holt den Mord an Créon und Créuse in seiner Tragödie – aus eher pragmatischen Gründen, wie er in seinem Examen erklärt – auf die Bühne und beschreibt dort auch, welche Wirkung er sich dabei vorstellt: «Ces deux mourants importunent plus par leurs cris et par leurs gémissements, qu’ils ne font pitié par leur malheur. La raison en est qu’ils semblent l’avoir mérité par l’injustice qu’ils ont faite à Médée, qui attire si bien de son coté ˆ toute la faveur de l’auditoire, qu’on excuse sa vengeance après l’indigne traitement qu’elle a reçu de Créon et de son mari, et qu’on a plus de compassion de désespoir où ils l’ont réduite, que de tout ce qu’elle leur fait souffrir.»45 Er übernimmt von Euripides den Botenbericht, der Médée über die Wirkung des vergifteten Kleides in Kenntnis setzt, lässt jedoch den Zuschauer miterleben, wie Créon einer Art Wahnsinn verfällt und sich schließlich das Leben nimmt, wie Jason hinzukommt und Créuse in seinem Beisein stirbt. Thomas Corneillle hat sich von diesem Ende der Königsfamilie in der Tragödie seines Bruders offenbar inspirieren lassen, jedoch einige Änderungen vorgenommen. Die Abschiedsszene Jasons und Créuses, die seiner Betonung des Liebesmotivs in der gesamten Oper entspricht, sowie den Tod Créuses auf der Bühne behält er bei und macht sie zum Höhepunkt der Rache. Während jedoch bei Pierre Corneille wie auch bei Euripides und Seneca Créon durch das Kleid Créuses zu Schaden kommt,46 trennt Thomas Corneille die beiden Todesfälle voneinander und ermöglicht sich und dem Komponisten dadurch zahlreichere effektvolle Szenen sowie mehr inhaltliche Verwicklung, da auf diese Weise Médée ihre Zauberkünste öfter unter Beweis stellen, Créon auf der Bühne wahnsinnig werden und schließlich, wie Créuses confidente Cleone berichtet, Oronte mit in den Tod reißen kann. Zudem kann der Dichter dadurch sowohl Créon als auch Créuse jeweils vor ihrem Ende in der Auseinandersetzung mit Médée noch einmal persönlich an ihr schuldig werden lassen, so dass die Bestrafung nicht nur durch das Verlangen, Jason zu treffen, sondern auch durch
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P. Corneille: Examen, 137f.: «les présents des ennemis doivent eˆ tre suspects». P. Corneille: Examen, 140. Interessanterweise sieht sich hier der Dichter in einem Konflikt: Zwar rechtfertigt er Médées Rache durch eindeutigere Schuld der anderen, doch verdienen diese dadurch bei ihrem Tod seiner Meinung nach kein Mitleid, so dass er «l’effet que demande la tragédie» (P. Corneille: Examen, 140) nicht erreichen kann. Vgl. P. Corneille 1319–1332, 1445ff ; Eur. Med. 1204–1219.
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das persönliche Verhältnis Médées zu Créon und Créuse motiviert wird. Médée wird so zur Anwendung ihrer Zauberkräfte regelrecht gezwungen. Denn während Medea sich von Creo in ihren merita zwar verkannt fühlt, jedoch weiß, dass ihm ihre Taten sehr gegenwärtig sind, er sie als Medea fürchtet und ihre Macht anerkennt, sieht Médée sich hintergangen und missachtet. Bis zuletzt springt Créon derart herablassend und unverschämt mit ihr um, als sei sie nicht Médée, sondern nur eine verbannenswerte barbare. So übergibt sie sich schließlich gezwungen der fureur, deren Erscheinen den Auftakt zu der eindrucksvollen und dem Zeitgeschmack entsprechenden Wahnsinnsszene Créons bildet (IV/8, S. 186):47 Vien, Fureur, c’est à toy d’achever mon ouvrage.48
Die Tatsache, dass er Médées Fähigkeiten völlig verkennt, obwohl sie diese so nachdrücklich und an sich überzeugend unter Beweis stellt, ist der historisch gebundenen vraisemblance geschuldet:49 Ein rationaler, zivilisierter Herrscher fürchtet nicht die barbarische Hexenmacht einer Frau,50 die gleichzeitig «in magischen Opern um 1700» ein Ausdruck innerer Stärke ist.51 So behält die Magierin doch die Oberhand und der Zauber siegt. Es mag hier durchaus auch intendiert gewesen sein, am Hof herrschende hypocrisie anzuprangern und die Unvernunft eines Herrschers zu exemplifizieren. Während Seneca Creusas Anteile an dem Geschehen völlig offen und sie selbst überhaupt nicht zu Wort kommen lässt, wertet Thomas Corneille, wohl um Médée zu entlasten und ihr eine Antagonistin gegenüberzustellen, ihre Rolle deutlich auf.52 In der Oper wird erkennbar, dass Créuse offenbar eine Beziehung mit Jason selbst angestrebt (II/3, S. 110, 112), das Leid Médées also wissend mitverschuldet hat und zudem selbst rachsüchtig und «bloodthirsty»53 ist. Außerdem hat sie ein Auge auf «cette robe fatale» (III/4, S. 154) Médées geworfen, sähe sie gern in ihrem Besitz (I/2, S. 88)54 und ist eitel, oberflächlich und arro47
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McDonald (2000) 109. Auf die außergewöhnliche Orchestrierung und anschauliche musikalische Gestaltung weisen Cessac (1988) 401f.; Duron (19932 ) 92f. hin. Hier zeigt sich eine Gemeinsamkeit der beiden Werke: Lefèvre (1978) 7 stellt fest, dass die senecanischen Gestalten, indem sie ihre Affekte quasi personalisieren, römischem Denken entsprechen und zitiert dazu Hegels Ausdruck von der «Herrschaft der Abstraktion». Corneille und Charpentier übernehmen für ihre Médée diese Eigenart, abstrakte Begriffe anzusprechen und veranschaulichen z. B. Vengeance, Jalousie und auch l’Amour durch allegorische Figuren, welche in der Oper des 17. Jahrhunderts unabkömmlich sind (vgl. dazu Fischer [1997] 115; McDonald [2000] 107). In gewisser Hinsicht greift Anouilh auf diese Personalisierung der Affekte zurück, indem er Médée ihren Hass wie ein Kind auf die Welt bringen lässt (322ff.). Vgl. oben Anm. 13. Vgl. Duron (19932 ) 95: «Il faut remettre toute cette situation dans son contexte historique, la monarchie absolue, qui ne peut supporter aucune faiblesse du souverain.» Herr (2000) 57 Anm. 204. Vgl. dazu Herr (2000) 188f. Auch bei Pierre Corneille trägt Créuse bereits ihren Teil der Schuld. Eine andere Art der Aufwertung erfährt die Rolle der Créuse z. B. bei Luigi Cherubini, der seine Oper Médée (1797) damit beginnen lässt, dass nicht Médée, sondern die neue Braut Jasons Zweifel an seiner Treue hegt. Eine differenziertere Psychologisierung unternimmt z. B. Grillparzer, in dessen Tragödie Kreusa für die Fremde Partei ergreift, freundlich zu ihr ist und in den gemeinsamen Gesprächen mit dem König sowie mit Jason versucht, integrativ zu wirken und Medea einzubinden (369–418, 874–908). McDonald (2000) 108; vgl. dazu V/4, S. 202; V/6, S. 208. Die ständige Präsenz und kontrastreiche Wirkung des Kleides in der Oper fasst Duron (19932 ) 96 zusammen: «La robe, cette menace obscure, qui planait depuis l’acte I, que Médée avait promis d’offrir à Créuse, cette robe que Médée avait trempée dans une chaudière infernale […], cette robe dans laquelle Créuse resplendissait […], cette robe empoisonnée, torture à présent la Princesse.»
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gant genug, um der betrogenen Ehefrau Jasons gegenüber kein schlechtes Gewissen zu haben.55 Créuses Tod scheint für den ausführlich als verliebt gezeigten Jason der schmerzlichste Teil der Rache zu sein,56 der ihn veranlasst auszurufen (V/6, S. 208): Pouvoit elle mettre en usage Un supplice plus propre à m’arracher le cœur?
Bildet also in der senecanischen Tragödie der Mord an Creo und Creusa in seiner sparsamen Schilderung lediglich den «Auftakt zur großen Tat»,57 so legt Thomas Corneille gerade hier seinen Schwerpunkt. Zwar haben ihn sicher auch pragmatische, dem Genre der Oper geschuldete Gründe zu dieser Gewichtung und Art der Gestaltung bewogen: Die Symmetrie des Gesamtaufbaus erfordert Spiegelungen zu dem in den ersten beiden Akten an Médée begangenen Unrecht, der Wechsel von Liebes- und Racheszenen sorgt für die «tensions désirées»58 sowie für retardierende Momente vor den katastrophalen Ereignissen, die Liebesszenen bieten außerdem die Möglichkeit zu innigen Arien, die Zauber- und Sterbeszenen ermöglichen, ja fordern eine ausdrucksvolle musikalische Gestaltung.59 Seine Art der Gewichtung ergibt sich jedoch auch inhaltlich schlüssig aus dem Gesamtaufbau der Oper mit der Akzentuierung des an Médée begangenen Unrechts und der Betonung der neuen, auf Lügen und Verrat basierenden Liebe Jasons und der unglücklichen Liebe Médées. Pierre Corneille streitet für seine Tragödie ab, das Ende Créons und Créuses könne Mitleid erwecken. Für die Oper aber ist Duron in seiner – allerdings recht eigenwilligen – Untersuchung der Ansicht, die Gestaltung der Charaktere sowie auch die musikalische Stellungnahme lasse den Zuhörer nicht vergessen, dass diese neue Liebe auf dem Schmerz Médées begründet und der Tod Créons und Créuses daher vollends gerechtfertigt sei.60 Gewiss kann während der Abschiedsszene noch sehr präsent sein, dass diese Liebe auf Médées Schmerz basiert61 und Créuse die ihr zugefügte «violence extrˆeme» (V/6, S. 206) mitverschuldet hat. Ihr Ende jedoch wird in der Oper ausführlich und in einer Weise gezeigt, die Cessac dazu veranlasst, diese Szene als «page bouleversante et d’une émotion rare, aux limites du soutenable»62 zu beschreiben. Gerade die Logik der Oper, die ihre Emotionen immer wieder an autonomen Einzelszenen aufbaut, lässt daher erwarten, dass der innige und tragische Ausdruck dieser Szene doch mitleidig stimmen kann, auch wenn bei Thomas Corneille ebenso wie bei seinem Bruder Créuse insgesamt keine Sympathieträgerin ist. Diese eventuell etwas ambivalente Wirkung der Abschieds- und Sterbeszene ist berechtigt und erklärlich: Zum einen bilden die beiden Szenen einen wirkungsvollen Kontrast 55 56
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Vgl. Herr (2000) 56, 188–192. Zwar weiß er zu diesem Zeitpunkt noch nichts vom Tod seiner Kinder, doch in Anbetracht der Gewichtung der Racheelemente und der Betonung seiner Liebe zu Créuse ist anzunehmen, dass die Vernichtung dieser neuen Liebe für ihn tatsächlich das schlimmste Glied in der Kette der Rache bedeutet. Dieser Meinung ist auch McDonald (2000) 109. Pierre Corneille macht dies deutlicher als sein Bruder, indem er Jason selbst erwägen lässt, die Kinder umzubringen und in seinem Schlussmonolog hauptsächlich um Créuse trauert (1617, 1637–1660). Haß (1997) 53 Anm. 10. Duron (19932 ) 78. Vgl. dazu Cessac (1988) 399, 403; Duron (19932 ) 88, 90, 96f.; Herr (2000) 193. P. Corneille: Examen, 140; Duron (19932 ) 79, 90, 93ff., 97. Duron (19932 ) 90. Cessac (1988) 403.
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zu den Wutausbrüchen und dem Rachevollzug vorher und nachher, zum anderen passt sie zu der für den Handlungsverlauf der Oper maßgeblichen idealisierten Vorstellung von der Liebe. Und nicht zuletzt ist und bleibt dieser Racheakt eine ambivalente Angelegenheit. Die Amme aus Grillparzers Medea bringt es Iason und dem König gegenüber auf den Punkt (2255f.): Laßt Andere, mich laßt ihre Tat verdammen Euch Beiden widerfuhr nur euer Recht.
Der Kindermord Für alle Autoren nach Euripides, die sich des Medeastoffes annehmen, bedeutet die Motivierung des Mordes an den Kindern eine besondere Herausforderung, «als gelte es nicht mit einem Stück Literatur, sondern mit einem aufregenden und verwirrenden Vorkommnis fertig zu werden».63 Es wird sich zeigen, dass dies für den Dichter Seneca mehr gilt als für den Opernlibrettisten. Seneca widmet sich gerade dem Element des Kindermordes in Medeas Rache ausführlich und zeigt ihn, von der Entscheidung Medeas bis zur retardierend geteilten64 Durchführung und der letzten Auseinandersetzung mit Iason – als einziger der hier behandelten Autoren – coram populo.65 Im Unterschied zu den Werken des Euripides (und auch Thomas Corneilles) wird bei Seneca die Sorge um die Kinder erst im zweiten Akt, während des Gesprächs mit Creo, zum ersten Mal thematisiert. Medea bittet zunächst um Bleiberecht für die Kinder, welches Creo ihr gewährt (282ff.);66 später verlangt sie dann, sie mitnehmen zu dürfen.67 Infolge der Weigerung Iasons, mit der verhängnisvollen Begründung seiner – bereits zuvor (437ff.) als Grund für seine Entscheidung angeführten68 – pietas (544–549), lässt Seneca «den Mordgedanken blitzartig aufleuchten und in einem a parte aussprechen»69 (549f.): Sic natos amat? bene est, tenetur; uulneri patuit locus.
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Friedrich (1967) 53f.; vgl. dazu auch Kenkel (1979) 29: «<M>an kann sich nicht genug darüber wundern, daß Euripides es fertiggebracht hat, einerseits den Kindermord fast willkürlich in den Mythos einzubetten, andererseits aber so vorzugehen, als wäre er schon Bestandteil des Mythos; als müsse er nur erklärt und verstanden, im Grunde aber hingenommen werden». Dass Euripides den nicht aus dem Mythos stammenden Kindermord vermutlich nicht erfunden, sondern vorgefunden hat, erläutert Manuwald (1983) 41–56, der die Tragödie des Neophron für die frühere hält. Boedeker (1997) 127 ist der gleichen Ansicht, fasst jedoch zusammen: «Euripides may not have originated this plot […] but it was his heroine who became the point of reference for later versions.» Steidle (1943/44) 291. Cf. Hor. ars 182–185. Anders interpretiert diese Stelle Thurn (2002) 330 Anm. 7. Friedrich (1967) 15: Die euripideische Version, dass Medeia ihre Kinder hätte mitnehmen können, wird von keinem der «selbständigeren» späteren Medea-Autoren übernommen. Allerdings bedeutet das nicht unbedingt, dass sie sich alle bewusst von Euripides abgrenzen, sondern evt. nur, dass sie sich vorwiegend oder ausschließlich an Seneca orientiert haben, der hierin möglicherweise wiederum Ovid folgte. Vgl. dazu Grewe (2001) 68–71; Heldmann (1974) 168f. Heldmann (1974) 177. Regenbogen (1963) 16 Anm. 16 hebt hier auch die pointierte Darstellung Senecas hervor und hält als Gegenbeispiel die s. E. vergleichsweise langatmige Fassung Pierre Corneilles daneben.
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Medea behält den Gedanken im Hinterkopf (809f., 848), beginnt, nachdem die erste Mordsequenz abgeschlossen ist, sich für diesen so wichtigen letzten Teil der Rache zunächst erneut selbst aufzureizen (897f.) und fasst schließlich wieder nescio quid ferox (917) ins Auge. Sie muss jedoch einen langen inneren Kampf ausfechten, der durch ihre unvereinbaren Rollen als Mutter und verschmähte Ehefrau70 und durch ihre daraus resultierenden extremen, widerstreitenden Gefühle, odium, amor, dolor, pietas und ira, bedingt ist. Anders als bei Euripides findet erst jetzt ihre emotionale Beziehung zu den Kindern Ausdruck, nachdem der Aspekt der Mutterliebe (wie ja auch der ihrer tatsächlichen Zuneigung zu Iason) zuvor kaum explizit angesprochen wurde. Von Vers zu Vers hin und hergerissen versucht sie, sich mit verschiedenen Argumenten zu der Tat zu überreden und schreckt immer wieder davor zurück (920–948).71 Doch will sie aus den oben genannten Gründen unbedingt ihre Rache fortführen. Indem sie sich bewusst macht, dass die Kinder durch den Verbannungsspruch für sie ohnehin schon verloren sind (950f.),72 «erstickt sie die Rührung»73 und sorgt dafür, dass Schmerz, Hass und Zorn sich durchsetzen.74 Nun kann sie sich innerlich von den Kindern lösen und, von dem Sühne fordernden Schatten des Bruders heimgesucht, sich dazu durchringen, sie – ohne Hilfe ihrer magischen Kräfte, sondern mit eigenen Händen75 – umzubringen. Zwar wird nicht vollends deutlich, wie sehr Iason wirklich an den Kindern hängt, zumal die pietas wohl kaum sein einziges Motiv ist, sich gegen Medea und für Creusa zu entscheiden.76 Doch legt Seneca durch die Gewichtung dieser Szene, durch die Aussparung der Beziehung Iasons und Creusas sowie durch die Tatsache, dass Iason auch in der langen Auseinandersetzung mit Medea den Tod Creusas und Creos mit keinem Wort erwähnt, die Vermutung nahe, dass für ihn im Unterschied zu Jason bei Pierre und Thomas Corneille der Verlust seiner Kinder am schwersten wiegt.77 Seneca folgt hier Euripides insofern, als auch sein Iason durch den Tod der Kinder am schwersten getroffen wird (817); neu ist jedoch der Aspekt echter Vaterliebe, da für den euripideischen Iason «die Zerstörung seines Lebensentwurfes»78 die eigentliche Katastrophe ausmacht. Thomas Corneille ist bezüglich der Motivierung des Kindermordes deutlich weniger ausführlich und eindringlich als Seneca oder sein Bruder Pierre Corneille; zudem zeigt er sich auch weniger innovativ und eigenständig als bei der Rechtfertigung der anderen Morde in seinem Libretto: Zum einen spricht auch seine Médée davon, sich von Jason 70
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Guastella (2001) 211 erwähnt «the incompatibility of her identity as a mother with the reality of her divorce»; vgl. auch Schmidt (1998) 167. Vgl. dazu Herr (2000) 238f.; Steidle (1943/44) 288f. Schmidt (1998) 168. Friedrich (1967) 25. Sen. Med. 951ff.: rursus increscit dolor / et feruet odium, repetit inuitam manum / antiqua Erinys – ira, qua ducis, sequor. Dem entspricht Médées (IV/5, S. 174): Venez, venez, fureur, je m’abandonne à vous. Vgl. dazu oben Anm. 48. Vgl. dazu Herr (2000) 25, 233. Heldmann (1974) 179. Die Meinungen gehen hier auseinander (vgl. Haß [1997] 53 Anm. 8). Friedrich (1967) 17f. meint, der Entschluss sei Iason, der «wirklich nur oder doch vorwiegend das Heil der Kinder suchte», wirklich schwer gefallen. Lefèvre (1997) 79 hingegen vermutet: «Er will nur seine Ruhe haben und läßt sich in die Richtung eines leichteren Schicksals treiben.» Der bleibende Interpretationsspielraum ist z.B. daran zu erkennen, dass Medeas an Iason gerichteten Worte (1020): lumina huc tumida alleua nicht ausschließlich so verstanden werden, dass Iason weint, sondern auch die Möglichkeit erwogen wird, seine Augen könnten aus Zorn oder Hochmut angeschwollen sein, vgl. Zwierlein (1986) 169f. Manuwald (1983) 29.
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lösen zu wollen, führt diesen Gedanken aber weit weniger zwingend und konsequent fort als die Medea Senecas (s. o.). Zum anderen ist die Sorge um die Kinder zwar hier, ähnlich wie bei Euripides, von Anfang an Thema (I/1, S. 80), doch scheint sie hauptsächlich der Ausgestaltung der Intrige zu dienen: Es ist eigentlich Jason, der die gutgläubige Médée auf den Gedanken bringt, ihn zu bitten, er solle Créuse um der Kinder willen hofieren (I/2, S. 86); auch sie selbst fleht Créuse an, für die Kinder zu sorgen (II/2, S. 110); Créon nutzt den Schutz der Kinder als Argument für Médées Verbannung (II/1, S. 104). Dass Jason aber mehr an Créuse als an seinen Kindern hängt, ergibt sich aus einigen deutlichen Indizien: Jasons Behauptung, er werbe der Kinder wegen um Créuses Gunst (I/2, S. 82), erweist sich sehr bald als offenkundiger Vorwand (die beiden kommen, wenn sie unter sich sind, wahrlich nicht auf die Kinder zu sprechen); im weiteren Verlauf wird nicht seine Vaterliebe, sondern ausschließlich die Liebe zu Créuse gezeigt und in der – ohnehin sehr knappen – Schlussszene drückt er keinerlei Schmerz über den Tod seiner Kinder aus. Die Vaterliebe wird mehr behauptet als gelebt, sie ist eher ein dramatisches Requisit, wenn sie Médée auf den zunächst noch vagen Gedanken des Kindermords bringt,79 der sie sofort in den bereits bekannten Rollenkonflikt Medeas stürzt (IV/5, S. 174): Puis-je me souvenir que je suis mère et femme? […] C’est par l’endroit le plus sensible Qu’il faut porter les derniers coups.
So lässt Thomas Corneille Médée, auch ohne dass Jason vorher Entsprechendes betont, das senecanische sic natos amat übernehmen und ihren Schluss daraus ziehen (V/1, S. 190): Il aime ses Enfants, ne les épargnons pas
Gleich darauf beginnt sie in einem introspektiven Monolog80 zu schwanken, sich selbst zu provozieren und sofort danach wieder zurückzuschrecken. Corneille hat also diesen durchaus operntauglichen Moment von Seneca und/oder seinem Bruder81 – nur in gekürzter Form – übernommen. Es ist erst der Komponist Charpentier, der die Tragik dieses Augenblicks wirklich zum Ausdruck gebracht hat: «Durch eine Wiederholung der Worte ‹ne les épargnons pas›, mit denen Medea sich durch ein zunächst fast unbedachtes Wort gleichsam selbst erst auf die Idee des Kindesmordes bringt, gibt der Komponist dieser Szene eine Dimension, die der Librettist nicht einmal vorgesehen hatte. Das psychologische Einfühlungsvermögen, mit dem Charpentier sie ihren Worten entsetzt noch einmal nachspüren ließ, sprengte den traditionellen Rahmen nicht nur der bisherigen musikalischen Darstellung der Medea, sondern auch der Tragédie en musique.»82 79
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Zwar könnte hier auch der Mord an Créuse zumindest inbegriffen sein, doch scheint sie sich m. E. hier bereits auch mit dem Gedanken zu tragen, ihre Kinder zu töten, da sie zuvor schon feststellte (III/4,S. 154): il faut briser les nœuds, nun hier ihre Mutterrolle erwähnt und zudem die der Szene beiwohnende Nérine, ähnlich wie Medeas nutrix (670–675) Schlimmes (quasi aus der Literatur bereits Bekanntes) befürchtet (IV/5, S. 174): Ses yeux sont égarez, ses pas sont incertains. / Dieux, détournez ce que je crains. Obgleich in ihrer Entscheidung allein, ist doch wie fast immer (einzige Ausnahme: III/3) ihre confidente anwesend. Auch Pierre Corneilles Médée fällt ihre Entscheidung in einem noch stärker an Seneca angelehnten Monolog voller Antithesen (1347–1378). Leopold (1998) 137f.; Cessac (1988) 402f.: «Après un long silence, elle reprend les mˆemes mots dans un toute autre climat: allongement et régularité des valeurs, immobilisme de la mélodie, soutien de l’orchestration sur le mˆeme rythme que le chant, modulation à la sous-dominante, avec une cadence
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Für Médée ist es schließlich der Gedanke an den treulosen Vater der Kinder und die Aussicht, diesen leiden zu sehen, die sie endgültig (auch musikalisch hörbar) zur Entscheidung treiben (V/1, S. 190, 192): Leur crime est assez grand d’avoir Jason pour Pere […] C’est mon sang, il est vray, mais c’est le sang d’un traitre. Puis-je trop acheter, en les faisant perir, La douceur de le voir souffrir?
Resümee Der Kindermord bedeutet für jede Medea-Gestalt die Vernichtung der letzten sie noch mit Iason verbindenden Gemeinsamkeit und damit zugleich, trotz aller Ungeheuerlichkeit, eine Art eigener Katharsis. Seneca verdeutlicht diesen kathartischen Effekt durch das zwingende, wenngleich etwas abstrakte Sühnemotiv sowie die oben angesprochene Vollendung der Identität (Medea fiam). Dabei kommt zum Ausdruck, dass dieser letzte Teil der Rache der für den liebenden Vater schmerzlichste ist. Pierre Corneille fügt als weiteres Motiv die eifersüchtige, getäuschte Liebe hinzu, schreibt es aber noch nicht aus: Wenn Médée offenkundig einer neuen Frau wegen verlassen wird, verlagert sich der Schwerpunkt der Rache zwar tendenziell in Richtung dieser Frau, doch behält Pierre Corneille den Aspekt der Sühne begangener, die beiden verbindender Verbrechen bei.83 Thomas Corneille fokussiert die Motivation fast ausschließlich auf dieses Motiv der verratenen und verletzten Liebe und baut es aus, indem er Jason ernsthaft lieben lässt und aus Médée weniger eine rasende Verbrecherin als eine provozierte Zauberin macht. Die Vaterliebe deutet er als Grund für den Kindermord zwar an, doch bleibt seine Motivation in der Oper eigentlich auf der Strecke. Bei Thomas Corneille «verdienen» die Opfer in der Regel ihre Strafe. Das ist freilich bei den Kindern, den einzig unschuldigen Gestalten der Geschichte, schwer zu machen. So wirkt der Schluss bei ihm im wahrsten Sinne des Wortes aufgesetzt: Wenn die Hexe, ausgerechnet nach der innigen Liebes- und Sterbeszene, auf einem Drachen sitzend den Kindermord verkündet, erscheint sie eigentlich erstmalig als eine «gefühllose Furie.»84 Vielleicht ist dies Absicht und die Ambivalenz, die nicht zu lösende Grundsituation des Mythos, sollte bewusst erhalten bleiben. In Anbetracht des gesamten Aufbaus und Schwerpunkts der Oper, der auffallend kurzen Schlussszene und der musikalischen Gestaltung ist es jedoch gut möglich, dass Corneille mit der Einflechtung des Kindermordes und dem triumphierenden Verschwinden Médées eher dem Mythos Genüge getan85 und sich ansonsten ausgiebiger der Liebesleidenschaft und der höfischen Intrige zugewandt hat.
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suspensive à la place de la cadence parfaite du premier énoncé.» Vgl. dazu auch Duron (19932 ) 96; Herr (2000) 243–247; Leopold/ Maska (1997) 211. Auch den psychologischen Effekt bringt er auf den Punkt (1573f.): Ce poignard que tu vois vient de chasser leurs ames ˆ / Et noyer dans leur sang les restes de nos flammes. Leopold (1998) 138. So sehen dies auch Herr (2000) 228f.; Leopold (1998) 136.
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Dabei ist der Aspekt des Medienwechels nicht zu vernachlässigen: Die Oper lebt von starken Kontrasten und Effekten, wie sich in der musikalischen Umsetzung, in der Anordung und Gestaltung der Szenen und nicht zuletzt auch in der Psychologisierung Médées zeigt. In der senecanischen Tragödie handelt es sich nicht um die Darstellung einer deutlich erkennbaren äußeren Schuld, sondern eher im Gegenteil darum, die Entstehung und Entwicklung eines durch komplexe Schuldverhältnisse ausgelösten Affekts, des rasenden Zorns, zu beleuchten. Die Entwicklung des Affekts spielt in der Oper hingegen eine weniger zentrale Rolle; die Entscheidungsphasen sind kürzer und bei der Entscheidung zur Rache handelt es sich um ein kaum vorbereitetes, sondern eher plötzliches Umschlagen der Gefühle. Die in der senecanischen Tragödie so faszinierend komplex verzahnte Schuld scheint hier, zumindest auf den ersten Blick, exakter zugewiesen werden zu können (und zwar – eben mit Ausnahme der Kinder – den Opfern Médées: Jason, Créon, Créuse). Trotz der vielen Veränderungen ist auch die Médée Thomas Corneilles jedoch letztlich unverkennbar eine «echte» Medea, mächtig und komplex. Wie die senecanische Medea hat sie einander bekämpfende Rollen zu vereinbaren und sieht sich ihrer biographischen und literarischen Reputation verpflichtet. Überdies interessieren sich sowohl Seneca als auch Thomas Corneille in ihren Werken vor allem für die condicio humana und zeigen «Grenzsituationen, in denen sich das, wozu der Mensch fähig ist, was ihn überhaupt ausmacht und bestimmt, enthüllt.»86 Beide Dichter verdeutlichen die geradezu zwingende menschliche Neigung, von der zur Verfügung stehenden Macht, zumal wenn sie derart verkannt wird wie in dem Fall Médées, absoluten Gebrauch zu machen.87 Zwar meinen Medea und Médée, damit ihr wahres Ich zu verwirklichen, doch beruht dieser Gedanke, wie Maurach ausführt, eben nicht auf echter Selbsterkenntnis.88 Auch wenn die Verfasser der Oper mit ihren Veränderungen versuchen, die Rache Médées verstehbarer zu machen und weitestgehend zu rechtfertigen und ihnen dies bezüglich des Mordes an Créon und Créuse auch gelingen mag, bleibt doch letztlich auch hier die Unlösbarkeit der Situation bestehen. «Médée est entraˆınée une fois encore dans son drame; meurtrière ou victime, le jury des poètes n’a pas osé rendre un verdict définitif.»89
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Ch. Schubert (1998) 208. Als ein Beispiel aus jüngster Zeit sei Lars von Triers Dogville (2003) genannt: Wie Medea und Médée nutzt und genießt die Protagonistin hier ihre Möglichkeiten der Rache, da diese ihr ermöglichen, diejenigen leiden zu sehen, die ihr selbst so viel Leid zugefügt haben. Auch sie wählt dafür u. a. das Mittel des Mordes an (allerdings nicht ihren eigenen) Kindern, deren Mutter wie der senecanische Iason dem Morden beiwohnen muss. Maurach (1966) 311–318. Labie (19932 ) 41.
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Dichter in Goldener Zeit. Die Sorge des Mystes im carmen Einsidlense 2 Für Peter Witzmann zum 70. Geburtstag Das zweite der sogenannten Carmina Einsidlensia gibt in dramatischer Form ein Gespräch zwischen zwei Figuren wieder.1 Der Hirte Mystes, der «Eingeweihte», wird von Sorgen und Angst gequält. Diese Sorgen überfallen ihn gerade in Situationen, in denen er allen Grund hätte, ausgelassen und heiter zu sein, beim Essen und Trinken (cura dapes sequitur, magis inter pocula surgit: 2).2 Glyceranus versteht nicht, was sein Gesprächspartner Mystes sagen will (Non satis accipio: 4).3 Er vermutet, daß Mystes sich um seine Herde Sorgen macht (Forsitan imposuit pecori lupus?: 5). Dieser antwortet wie Antonio in The Merchant of Venice (1,1): «my merchandise makes me not sad». Einen Grund aber, so beharrt Glyceranus, muß es für die Traurigkeit geben (8). Die elegante Lösung, die Shakespeares Solanio bereithält («Then let us say you are sad / because you are not merry.») trifft für Mystes nicht zu. Dieser nennt endlich den entscheidenden Begriff (Quod minime reris, satias mea gaudia vexat: 9)4 , der bereits in der ersten Antwort des Glyceranus wie zufällig angeklungen war (Non satis accipio: 2). Glyceranus führt die «Sättigung» des Mystes auf sein otium zurück (Deliciae somnusque solent adamare querellas: 10). Diese offenbar falsche Unterstellung veranlaßt Mystes zu einer längeren Erklärung, die er allerdings erst nach einem Ortswechsel abgeben will. Mystes fordert seinen Gesprächspartner auf, den Schatten eines Baumes aufzusuchen (… quae spargit ramos, tremula nos vestiet umbra: 12).5 Nachdem beide dort angekommen sind, wiederholt Glyceranus seine Eingangsfrage (14): tu dic, quae sit tibi causa tacendi (vgl. Quid tacitus Mystes?: 1). Die Frage nach dem Schweigen bildet den Rahmen, der das Vorgespräch ringkompositorisch zusammenhält. Wie sich zeigen wird, ist es kein Zufall, daß das Schweigen in einem setting thematisiert wird, das in der bukolischen Welt als prädestiniert für das Vortragen und Anhören von Liedern gilt. Mystes beantwortet die Frage nach den causae curarum mit einer 24 Verse umfassenden Schilderung seiner Gegenwart, die deutliche Züge des Goldenen Zeitalters trägt: Der Krieg, insbesondere auch der Bürgerkrieg, ist in Vergessenheit geraten (27–34), die Erde trägt von 1
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Einen kommentierten Überblick über die Literatur zu den Carmina Einsidlensia gibt Verdière 1985 (bis 1972 mit Nachträgen). Die wichtigsten Deutungen diskutiert ausführlich Merfeld 1999, 18–21. 112–160. An neuerer Literatur sind außerdem zu nennen die Beiträge von Binder, in: Effe/Binder 1989, 130–143 und 2 2001, 114–126 sowie Hubbard 1998, 140–150. Ich zitiere nach der Ausgabe von Korzeniewski 1971. Herangezogen wurde daneben die Ausgabe von Amat 1997. Es ist möglich, daß das Gespräch bei einem Gelage stattfindet, so u. a. Merfeld 1999, 148. Diese Annahme ist aber nicht zwingend. Auf jeden Fall wäre dieses Gelage in einem ländlichen Kontext zu denken. Zu den sprechenden Namen und zur Charakterisierung der Gesprächspartner im Vorgespräch vgl. Amat 1997, 139 und Merfeld 1999, 146–150 mit Anm. 1 auf S. 149. Die Bedeutung dieser Antwort wird, wie Fuchs 1958, 366 betont, durch das einleitende Vergil-Zitat (quod minime reris: Aen. 6,97) unterstrichen. Der genaue Wortlaut läßt sich an dieser Stelle wegen einer Textlücke nicht ausmachen. Amat 1997 weist den Vers 12 Glyceranus zu.
Antike und Abendland Bd. 54, S. 161–171 © Walter de Gruyter 2008 ISSN 0003-5696
DOI 10.1515/ANTI.2008.010
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selbst Früchte, das Meer ist ungefährlich und die wilden Tiere zahm (35–37). Es bleibt allerdings – auf den ersten Blick zumindest – völlig unklar, ob und, wenn ja, inwiefern diese Beschreibung eine Begründung für die Sorge und das Schweigen des Mystes enthält. Zwei Lösungsansätze sind denkbar: (1) Das Gedicht ist vollständig überliefert und enthält doch irgendwie die Begründung.6 (2) Das Gedicht ist unvollständig. Die eigentliche Begründung ist verlorengegangen.7 Zur zweiten Lösung sollte man nur Zuflucht nehmen, wenn eine überzeugende Antwort auf die Frage nach den causae curarum im überlieferten Text nicht ermittelt werden kann. Daß eine solche Antwort möglich ist, soll im folgenden gezeigt werden. Wichtig für das Verständnis sind die Bemerkungen von Merfeld, die die Reminiszenzen am Anfang und am Ende des Gedichtes in die richtige Beziehung setzt. Mit den Eingangsworten Quid tacitus, Mystes (1) knüpft der anonyme Autor an den Beginn der vierten Ekloge des Calpurnius an (Quid tacitus, Corydon … : 1). Der Schlußvers (casta, fave, Lucina, tuus iam regnat Apollo!: 38) verweist auf die vierte Ekloge Vergils (ecl. 4,10). «Damit hat der Anonymus zu Beginn und zum Schluß seines Gedichts die entscheidenden Signale gesetzt. Vergil hatte in seiner 4. Ekloge die Hoffnung auf Beendigung der Bürgerkriege ausgedrückt, indem er versprach, daß ein puer das Goldene Zeitalter der Vorzeit wiederbringen wird. Die 4. Ekloge des Calpurnius beschreibt den Anfang der Regierungszeit Neros als Rückkehr des Goldenen Zeitalters. Was bei Vergil noch Hoffnung war, ist bei Calpurnius Realität geworden.»8
In den Eklogen von Vergil und Calpurnius wird aber nicht nur das Goldene Zeitalter thematisiert, es geht auch um die Rolle, die der Dichter bei dessen Wiederkehr spielt. Indem Vergil die Weissagung der Sibylle poetisch gestaltet, wird er selbst zum Propheten. Am Ende spricht er die Hoffnung aus, es möge ihm ein so langes Leben vergönnt sein, daß er die Taten des herangewachsenen puer besingen könne (ecl. 4,53–55): 6
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So Schmid 1953, Scheda 1969, Binder, in: Effe/Binder 1989 und 2 2001, Hubbard 1998 und Merfeld 1999. Schmid verweist auf Lucr. 4,1133–1134: … medio de fonte leporum / surgit amari aliquid, quod in ipsis floribus angat … Das Unglück entstehe paradoxerweise aus übermäßigem Glück. Ebenso Scheda. Binder knüpft an die Deutung von Fuchs 1958 an (siehe die folgende Anm.). Ebenso Hubbard, der aber eine wichtige Ergänzung macht (S. 145, Anm. 9): «The best discussion … is that of Fuchs … , who rightly assimilates satias here to the Greek concept of kÏroc. But he does not recognize that the Greek concept has exactly the ambiguity I have outlined: in addition to the sense of prosperity and overindulgence leading to arrogant behavior and ruin, koros can also have overtones of encomiastic overindulgence leading to tedium and satiety on the part of the audience.» Vgl. S. 149: «This rhetorical excess must in some sense be what Mystes meant in worrying about satias.» Richtig ist, wie ich im folgenden zeigen möchte, daß sich die satias auf die Dichtung bezieht, allerdings nicht auf der Seite der Rezipienten, von denen ja zunächst gar nicht die Rede ist, sondern auf der Seite des Produzenten Mystes. Amat 1997, 137f. bemerkt: «Le secret de son inquiétude réside peuteˆ tre dans son nom de Mystes ou l’‹initie›, celui qui ne doit pas ‹tout dire›.» Zur Deutung von Merfeld 1999 siehe unten Anm. 31. So Fuchs 1958 und Korzeniewski 1966. Fuchs ist der Ansicht, daß im verlorenen Teil ausdrücklich auf die Gefahren hingewiesen worden sei, die sich in Frieden und Wohlstand aus der Übersättigung entwickeln. Korzeniewski glaubt, daß die Erklärung des Mystes eine Kritik an Nero enthalten habe, die bereits früh unterdrückt worden sei. Merfeld 1999, 143. Vgl. Binder, in: Effe/Binder 2 2001, 120: «Alltagsrealität ist, was nach Vergils 4. Ekloge gerade zu werden beginnt … » und ebd., 123 zum abschließenden Vergilzitat: «Nicht für die Geburt des einen, die goldene Zeit wiederbringenden Kindes wird die Göttin Lucina angerufen, sondern für jegliche Geburt in der bereits voll, ja in beängstigender Überfülle realisierten goldenen Zeit; und Apollo wird nicht als jene strahlende Gottheit angerufen, die das alte Saeculum in das neue überführt, sondern als Herrscher des Goldenen Zeitalters – Apollo als Kaiser Nero.»
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o mihi tum longae maneat pars ultima vitae, spiritus et quantum sat erit tua dicere facta! non me carminibus vincet nec Thracius Orpheus nec Linus …
Genau in dieser Situation befindet sich der Corydon des Calpurnius. Er ist Zeitzeuge der großen Umwälzung. Die poetische Herausforderung besteht für ihn darin, die Herrschaft des göttlichen iuvenis (vgl. 1,44; 4,85.137; 7,6) in angemessener Weise zu preisen. Deshalb sitzt er «schweigsam» unter der Platane (4,5–8): {Corydon} Carmina iam dudum, non quae nemorale resultent, volvimus, o Meliboee; sed haec, quibus aurea possint saecula cantari, quibus et deus ipse canatur, qui populos urbesque regit pacemque togatam.9
Die Vermutung liegt nahe, daß das erklärungsbedürftige Schweigen des Mystes ebenso wie im Fall des Corydon nicht so sehr ein Nicht-Sprechen, sondern vielmehr ein Nicht-Singen bzw. Nicht-Singen-Können impliziert. Allerdings scheinen im Gedicht weitere Hinweise darauf zu fehlen, daß der Hirte Mystes zugleich ein Dichter ist. Dieser Schein trügt aber. Tatsächlich ist sogar von einem Gedicht des Mystes die Rede (15–16): {Mystes} Cernis ut attrito diffusus caespite pagus [Baehrens cortice fagus E] annua vota ferat sollemnisque imbuat aras?
Das Verständnis dieser Stelle wird durch die von Baehrens vorgeschlagene Konjektur caespite pagus, die breite Zustimmung gefunden hat, erschwert. Überliefert ist cortice fagus.10 Dazu bemerkt Schmid: «Daß in fagus ein Fehler stecken muß, darin ist man sich meistens einig; natürlich nimmt man nicht am maskulinen fagus Anstoß, das zur Not tragbar wäre, sondern erkennt die Unmöglichkeit, in fagus das Subjekt der beiden in V.16 genannten Tätigkeiten zu sehen (annua vota ferat sollemnisque imbuat aras).»11 Meine Verteidigung der Überlieferung beruht auf zwei Punkten: (1) Der Baum ist hier nicht als Baum, sondern als Träger eines Textes angesprochen. (2) Von einem Text kann man durchaus in figürlicher Rede sagen, daß er ein Opfer darbringt, nämlich dann, wenn in diesem Text ein Opfer beschrieben wird. Baumrinde ist bereits bei Vergil der bevorzugte Beschreibstoff dichtender Hirten (ecl. 5,13–15): {Mopsus} Immo haec, in viridi nuper quae cortice fagi carmina descripsi et modulans alterna notavi, experiar …12 9 10
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Ich zitiere nach der Ausgabe von J. Amat, Paris 1991. Amat 1997 liest mit Giarratano cortice Bacchus und bemerkt dazu (S. 220): «Il s’agirait alors d’une libation, faite sur un arbre sacré, qui peut d’ailleurs porter des inscriptions, ou uota, comme le hˆetre consacré à Faunus, dans la première bucolique de Calpurnius. Ceci expliquerait l’usure de l’écorce.» Schmid 1953, 74. Schmid verweist (74, Anm. 41) auf ThlL 6,1, s. v. fagus, 172, Z. 83 (Wulff), wo für maskulines fagus nur unsere Stelle angegeben wird, und auf die Bemerkungen von R. Kühner (Ausführliche Grammatik der Lateinischen Sprache, Erster Teil, Bd. 1, Hannover 2 1912, 265, Anm. 5) über den Wechsel zwischen Femininum und Maskulinum bei den der zweiten Deklination angehörenden Namen der Bäume und Pflanzen. André 1956, 133 gibt ohne Belege beide Geschlechter an. Dazu bemerkt Servius (z. St.): CORTICE FAGI ubi enim debuit magis rusticus scribere? Vgl. ThlL 4, s. v. cortex, 1070, Z. 12–18 (Probst). Siehe außerdem Verg. ecl. 10,53–54, Prop. 1,18,22 und Ov. epist. 5,23–28 (Oenone an den Hirten Paris): incisae servant a te mea nomina fagi, / et legor Oenone falce notata tua, / et
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Die Buche bzw. die Buchenrinde als Beschreibstoff macht das, was auf ihr beschrieben ist. Sehr gut belegt ist diese Figur, die Godo Lieberg13 ausführlich untersucht hat, in Bezug auf Autoren: Autoren machen das, was sie beschreiben. Zwei schöne Beispiele finden sich gerade in den Eklogen Vergils. In der sechsten Ekloge wird das Lied des Silenus referiert (61–63): tum canit Hesperidum miratam mala puellam; tum Phaethontiadas musco circumdat amarae corticis atque solo proceras erigit alnos.
Der Dichter selbst vollzieht die Metamorphose, die er beschreibt. In der neunten Ekloge heißt es von dem Hirtendichter Menalcas, dessen Besitz und Leben bedroht sind (17–20): heu, tua nobis paene simul tecum solacia rapta, Menalca! quis caneret Nymphas? quis humum florentibus herbis spargeret aut viridi fontis induceret umbra?
Der Dichter ‹bestreut den Boden mit blühenden Kräutern›. Gemeint ist hier nicht, daß Menalcas sich auch als Landschaftsgärtner hervorgetan hat. Vielmehr: Er singt besonders anschaulich von blühenden Landschaften. Die Figur unterstreicht die Lebendigkeit und Anschaulichkeit (evidentia) der dichterischen Gestaltung. Es ist kein Zufall, daß Vergil diese außergewöhnliche Begabung gerade Silenus und Menalcas zuschreibt: Silenus ist ein göttliches Wesen, und von dem Hirtendichter Menalcas erwartet zumindest sein Verehrer Lycidas nichts Geringeres als die Rettung der bukolischen Welt (vgl. ecl. 9,7–10). Zur neunten Ekloge bemerkt Lieberg zusammenfassend: «Wenn sich Lycidas fragt, wer nach dem Tode des Menalcas die Erde mit Pflanzen hätte bestreuen können, so soll das die Fähigkeit des großen Dichters bezeichnen, der genannten Tätigkeit durch den Gesang eine neue Wirklichkeit zu verleihen, in der das materielle Geschehen zur geistigen Gestalt wird.»14 Diese Fähigkeit scheint auch Mystes für sich zu reklamieren. Allerdings setzt er an die Stelle des Dichters metonymisch den Träger des Textes, die Buche, auf deren Rinde er sein Ge-
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quantum trunci, tantum mea nomina crescunt. / … popule, vive, precor, quae consita margine ripae / hoc in rugoso cortice carmen habes … Zur Bedeutung von Schriftlichkeit in den Eklogen Vergils vgl. jetzt Breed 2006, 15: «These references to reading and writing within the pastoral world are more than just violations of supposed generic norms. They are all, for one thing, markers that the Eclogues are ‹concerned with the making of poetry in the real world›. They are also reflections within the text of the experiences of a reader of the Eclogues specifically as a reader.» Lipka 2002 plädiert dafür, daß fagus in den Eklogen Vergils generell nicht mit «Buche» zu übersetzen sei, sondern dem griechischen fhgÏc entspreche und also eine Eichenart bezeichne. Eichenrinde ist allerdings als Beschreibstoff weit weniger geeignet als Buchenrinde, wie Lipka selbst einräumen muß (S. 136): «Fagus as an inscription material points not to an oak, but to the beech because it was easier to work … and its bark smoother.» Vgl. Plin. nat. 16,35 (zitiert unten in Anm. 34). Man müßte also annehmen, daß fagus in ecl. 5,13–14 und vielleicht in 3,36–37 (pocula ponam / fagina) die Buche, an den anderen vier Stellen aber eine Eichenart meine (neben quercus, das insgesamt fünfmal vorkommt), was nicht sehr wahrscheinlich ist. Lieberg 1982 und 1985 (mit zahlreichen weiteren Beispielen). Zu den zitierten Stellen aus der sechsten und neunten Ekloge Vergils siehe Lieberg 1982, 5–14. Vgl. außerdem etwa Hor. carm. 2,1,17–18 (iam nunc minaci murmure cornuum / perstringis auris = Verfassen einer Bürgerkriegsgeschichte), Prop. 2,1,18 (ut possem heroas ducere in arma manus = Verfassen eines Epos) und Ov. am. 2,1,15 (in manibus nimbos et cum Iove fulmen habebam = Verfassen einer Gigantomachie). Lieberg 1982, 14. Vgl. Serv. ecl. 6,62: mira autem est canentis laus, ut quasi non factam rem cantare, sed ipse eam cantando facere videatur. Die Wendung cantando facere könnte Dante inspiriert haben, der seinen Stazio sagen läßt (Purg. 22,88–89): E pria ch’io conducessi i Greci a’ fiumi / di Tebe poetando, ebb’ io battesmo …
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dicht notiert hat. Die Buche wird zum Buch: Dieser bukolische liber (im doppelten Sinn des Wortes) «bringt Opfer und benetzt die Altäre», weil auf bzw. in ihm ein ländliches Opferfest beschrieben wird.15 In vergleichbarer Weise personifiziert Ovid sein Gedichtbuch (trist. 2,1,303–304): et procul a scripta solis meretricibus Arte summovet ingenuas pagina prima manus.
Die «erste Kolumne hält die Hände freigeborener Frauen fern», wie ein Priester Unreine aus seinem Heiligtum fortschickt. Diese Analogie wird im folgenden Distichon explizit gemacht (305–306): quaecumque inrupit, qua non sinit ire sacerdos, / protinus huic dempti criminis ipsa rea est.16 Die pagina führt gleichsam in persona die Weisung aus, die der priesterliche Liebesmystagoge Ovid an den Anfang seines Werkes gesetzt hat (1,31): este procul, vittae tenues … Vergleichbar sind weiterhin einige Stellen bei Cicero, in denen von Werken der Literatur gesagt wird, daß sie das «pflanzen» bzw. «wachsen lassen», was in ihnen beschrieben wird. In De oratore erinnert Scaevola an die berühmte Platane, unter der Sokrates und Phaidros (Phaidr. 229a–b) einst saßen (1,28): Nam me haec tua platanus admonuit, quae non minus ad opacandum hunc locum patulis est diffusa ramis, quam illa, cuius umbram secutus est Socrates, quae mihi videtur non tam ipsa acula, quae describitur, quam Platonis oratione crevisse … 17
Mit fagus führt der Anonymus also einen Baum als Textträger ein. Für die Rezipienten erleichtert die Anspielung auf die Vergilische Junktur cortice fagi, die durch ihren Kontext in der fünften Ekloge18 das Schreiben auf Baumrinde evoziert, das Verständnis. Das Attribut diffusus ist offenbar bewußt gewählt, paßt es doch auf Baum (vgl. oben De orat. 1,28: platanus … diffusa ramis; Sen. Oed. 544) und Buch (vgl. OLD, s. v. diffusus 2: «[esp. of writings, topics, etc.] Covering a wide field, extensive.»). Im nachhinein wird so auch der Ortswechsel verständlich: Mystes geleitet Glyceranus zu dem Baum, in den sein Gedicht eingeritzt ist, also sozusagen in sein Arbeitszimmer, um ihm den Grund seiner satias zu zeigen. Die Erklärung, die ja nicht als Lied vorgetragen wird, hätte Mystes eigentlich auch am ursprünglichen Treffpunkt abgeben können. Die hier vorgetragene Vermutung kann durch einen Vergleich mit einer Stelle aus der ersten Ekloge des Calpurnius noch weiter gestützt werden. Carmen Einsidlense 2 beginnt und 15
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Möglicherweise ist das Gedicht zugleich auch selbst ein votum, das der Dichter-Hirte Mystes den Göttern versprochen hat. Vgl. I. Ciccarelli, Commento al II libro dei Tristia di Ovidio, Bari 2003, 203: «L’espressione non sinit ire sacerdos sancisce solennemente, attraverso il sigmatismo e la collocazione in clausola di sacerdos, il divieto di accesso ad uno spazio sacro, che richiama quello imposto nell’Ars da Ovidio/Musarum sacerdos alle donne libere: egli, dunque, allude qui all’immagine arcaica del poeta-vate, investito della sua missione dalle Muse … e nello stesso tempo la ‹dissacra›, in quanto paragona un caso di sacrilegio alla violazione da parte delle donne ingenuae di uno ‹spazio letterario› che espone precetti erotici degni esclusivamente di meretrices.» Vgl. den Anfang von De legibus (bes. 1,1 und 1,3). Das Gespräch dreht sich um die Frage, ob die Eiche, die Cicero in seinem Epos Marius beschrieben hat, nur in der Dichtung existiert oder mit dem alten Baum in Arpinum identisch ist, unter dem Atticus, Marcus (Cicero) und sein Bruder Quintus gerade verweilen (leg. 1,3): {Atticus} Sed hoc iam non ex te, Quinte, quaero, verum ex ipso poeta, tuine versus hanc quercum severint, an ita factum de Mario, ut scribis, acceperis. Diese Stellen behandelt ausführlich Lieberg 1985, 13–20. Hubbard 1998, 145 hat darauf hingewiesen, daß die unmittelbar folgende Beschreibung des ländlichen Festes an die Opfer für den vergöttlichten Daphnis in der fünften Ekloge erinnert.
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endet, wie wir gesehen haben, mit einer Reminiszenz. An die entscheidende Scharnierstelle – den Anfang der mit Spannung erwarteten Erklärung des Mystes – hat der Anonymus eine weitere Anspielung gesetzt, und zwar auf einen Text, der das Schreiben auf Baumrinde in weit eindrucksvollerer Weise thematisiert als die bereits erwähnte Vergilstelle. In der ersten Ekloge des Calpurnius entschließen sich die Hirten Corydon und Ornytus, im Hain des Faunus zu musizieren. Dort angekommen, entdecken sie eine Inschrift, die in die Rinde einer Buche eingeritzt ist. Der Text stammt vom Gott Faunus selbst und kündet von der Goldenen Zeit, die unmittelbar bevorsteht, ja bereits angebrochen ist (19–25): {Ornytus} Et iam captatae pariter successimus umbrae. Sed quaenam sacra [NHV sacro Gps] descripta est pagina fago, quam modo nescio quis properanti falce notavit? Aspicis ut virides etiam nunc littera rimas servet et arenti nondum se laxet hiatu? {Corydon} Ornyte, fer propius tua lumina: tu potes alto cortice descriptos citius percurrere versus …
In beiden Gedichten wird das Erreichen des angestrebten Ortes – der Hain des Faunus bei Calpurnius, der durch die Textlücke zunächst nicht näher bestimmte Baum im carmen Einsidlense 2 – durch ein Verb im Perfekt markiert (successimus: Calp. 1,19; venimus: Eins. 2,13 ; vgl. successimus antro: Verg. ecl. 5,19). Das cernis ut (15) des Anonymus nimmt das aspicis ut (22) des Calpurnius auf.19 Bei diesem ist die Buche die stumme Hauptperson der Ekloge. Die Prophezeiung des Faunus, die Ornytus seinem Bruder laut vorliest (nicht singt), umfaßt immerhin 56 Verse. Um den umfangreichen Text fassen zu können, muß die fagus also auch hier diffusa oder eben doch diffusus sein: In drei Zeugen aus zwei verschiedenen Handschriftenfamilien (G und ps) ist statt sacra … fago überliefert sacro … fago. Mystes verweist Glyceranus auf die Verse, die gut sichtbar in seinen Baum eingeritzt sind (cernis), und nennt zugleich das Thema, indem er das Gedichtbuch als handelnde Person einführt (15–16): Cernis ut attrito diffusus cortice fagus annua vota ferat sollemnisque imbuat aras? «Siehst du, wie die weitläufige Buche auf abgenutzter Rinde die jährlichen Opfer bringt und die festlichen Altäre benetzt?»
Im Anschluß daran zitiert20 Mystes wörtlich aus seinem Werk (17–20), um sich endlich selbst zu unterbrechen (21–24): 19
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Vgl. Nem. ecl. 1,27–29: Sed quia tu nostrae laudem deposcis avenae, / Accipe quae super haec cerasus, quam cernis ad amnem, / Continet, inciso servans mea carmina libro. Das Fehlen einer eindeutigen Markierung in der handschriftlichen Überlieferung hat im Carmen Einsidlense 2 dazu geführt, daß das Zitat als solches überhaupt nicht erkannt und in der Folge die eigentliche Pointe des Gedichtes nicht richtig verstanden wurde. Um Zitate im Text kenntlich zu machen, kann der moderne Herausgeber auf Anführungszeichen nicht verzichten. Vergleichbare Markierungen finden sich bereits in antiken Handschriften. Vgl. dazu Wildberg 1992. Das gängigste Zeichen war das Winkelhäkchen am linken Rand, die dipl® (>). Hinzu kommen konnten Paragraphenstriche, Spatia und/oder das Aus- bzw. Einrücken von Zeilen. Betont werden muß allerdings, daß die genannten Markierungen nur sporadisch vorkommen und in ihrer Bedeutung keineswegs eindeutig sind. Geht man davon aus, daß das Gedicht für den Einzelvortrag bestimmt war, so mußte der Rezitator die beiden Rollen (Mystes, Glyceranus) und innerhalb der Rolle des Mystes das Zitat durch eine entsprechende Modulation der Stimme kenntlich machen. Professionelle lectores konnten, wie Ehlers 1998 gezeigt hat, bis zu sieben Stimmen unterscheiden.
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Dichter in Goldener Zeit. Die Sorge des Mystes im carmen Einsidlense 2
Cernis ut attrito diffusus cortice fagus annua vota ferat sollemnisque imbuat aras? –: «Spirant templa mero, resonant cava tympana palmis, Maenalides teneras ducunt per sacra choreas, tibia laeta canit, pendet sacer hircus ab ulmo et iam nudatis cervicibus exuit exta.» Ergo num dubio pugnant discrimine nati et negat huic aevo stolidum pecus aurea regna? Saturni rediere dies Astraeaque virgo, totaque in antiquos redierunt saecula mores.
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Mystes singt nicht, er zitiert. Daß ein Selbstzitat an die Stelle des eigentlich zu erwartenden Liedes tritt,21 ist auffällig und erinnert an die bereits kurz erwähnte neunte Ekloge Vergils.22 Lycidas bittet Moeris wiederholt, Lieder des Menalcas zu singen. Doch Moeris – «schweigsam» wie Mystes – hat die Gedichte vergessen (37–38): Id quidem ago et tacitus, Lycida, mecum ipse voluto, / si valeam meminisse; neque est ignobile carmen. Das Schweigen ist unmittelbar bezogen auf die Gefährdung des Hirtendichters Menalcas (11–20), mit dessen Abwesenheit auch der bukolische Gesang verstummt zu sein scheint: «Zunächst und zu allererst ist Menalcas der Hirte, dessen Lieder Lycidas und Moeris zu singen versuchen. Doch die völlige Unfähigkeit der beiden, auch nur ein einziges carmen vollständig zu singen, führt zu einer totalen Desintegration dieses bukolischen Liedercorpus. So zerfällt in den fünf Zitaten, die, ihres virtuellen Ursprungskontextes beraubt, den Fortgang der neunten Ekloge bestimmen, das ØEuvre des Menalcas in schemenhafte Bruchstücke.»23
Mystes hat nicht die Lieder eines anderen vergessen, er leidet auch nicht an einer Schreibsperre. Er verweist ja auf sein eigenes Gedicht. Es gibt auch keine Gefahren mehr, welche die bukolische Welt von außen bedrohen, wie die Landenteignungen, die den dunklen Hintergrund der neunten Ekloge Vergils bilden. Warum also singt Mystes nicht? Warum ist er verstummt? Die Antwort geben die folgenden Verse (21–22): Ergo [E nostri Korz.] num [E non Hagen]24 dubio pugnant discrimine nati et negat huic aevo stolidum [Hagen solidum E] pecus aurea regna?
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Daß ein gesungenes Lied integraler Bestandteil eines bukolischen Gedichtes ist, konnten die lateinischen Dichter bereits den antiken Theokrit-Kommentaren entnehmen, wie Steinmetz 2000 (= 1967), 246 mit Anm. 9 betont: «Auf den Anfang dieser Lieder wird in den Scholien oft hingewiesen: Schol. in Theocr. I 64 (55, 12 Wendel), V 80 (170, 20) VI (188, 8ff., 189, 1ff.), VI 20 (196, 12) u. ö.» Zur neunten Ekloge Vergils bemerkt Steinmetz 2000 (= 1967), 252: «Vergil hat die Fragmente übrigens als Torsos gestaltet, und zwar so, daß in jedem Torso das Ganze eines Gedichts gleichsam in nuce enthalten ist. Jeder Torso läßt die Schönheit des vollendeten Ganzen erahnen und weckt im Hörer die Sehnsucht nach diesem Ganzen. Es ist, wenn ich richtig sehe, das einzige Mal in der Antike, daß man dieses Experiment gewagt hat.» Rupprecht 2004, 50. Auch in der neunten Ekloge ist die Abgrenzung der Zitate umstritten. So zählt etwa Rupprecht, 45–47 die Verse 32b–36 als «Menalcas fragmentum 3». Zu ergo num vgl. Schmid 1953, 76, Anm. 50: «Die übliche Wortstellung wäre num ergo, wie der Thes. ling. Lat. s. v. ergo, col. 769, 60 sqq. beweist. Aber die dort stehenden, zahlreichen Beispiele entstammen fast nur der Prosa. In der Poesie scheint mir ergo num durchaus tragbar … »
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Auch hier ist die Bedeutung der Verse umstritten.25 Korzeniewski liest am Anfang nostri num und übersetzt: «Streiten noch jetzt unsre Söhne im Kampf mit fraglichem Ausgang?»26 Ich beziehe dubio … discrimine nicht auf pugnant, sondern auf nati, das ich als Partizip auffasse. Mit discrimen ist hier die «Zeitenwende» gemeint, der Übergang von der Eisernen zur Goldenen Zeit (vgl. OLD, s. v. discrimen 1 c «a dividing point or interval in time»): «Bestreiten27 sie (scil. die Menschen)28 es denn, an zweifelhafter Grenze geboren, und verneint denn das dumme Vieh29 den Anspruch der heutigen Zeit auf die Goldene Herrschaft?» Beim Eintreten der großen Veränderung waren Zweifel noch möglich. Diese Zeit der Unsicherheit ist in der Gegenwart des Mystes ein für alle Mal vorbei (23): «Die Tage des Saturn sind zurückgekehrt … » Dazu bemerkt Merfeld: «Im Gegensatz zum Präsens bei Calpurnius läßt der Verfasser von Carmen II Mystes im Perfekt sprechen. Die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters wird nicht mehr für die unmittelbare Zukunft erwartet bzw. als gerade begonnen gefeiert, sondern diese Phasen gehören der Vergangenheit an.»30 Die Beschreibung ländlicher Feste gehört seit Theokrit zum Inventar bukolischer Dichtung. Ländliche Feste spielen aber auch in den Schilderungen der zurückkehrenden Goldenen Zeit eine zentrale Rolle. Calpurnius preist den Kaiser, weil er es den Landbewohnern ermöglicht, ihre traditionellen Opfer für Ceres und Bacchus zu bringen (4,122– 123): Ille dat, ut primas Cereri dare cultor aristas possit et intacto Bromium perfundere vino …31
Ein solches Fest für Bacchus (pendet sacer hircus ab ulmo: 19) beschreibt auch Mystes in seinem Gedicht. Der Unterschied zu Calpurnius besteht darin, daß eine poetische Versicherung dieser Art inzwischen gar nicht mehr notwendig ist. Selbst die größten Ignoranten haben die Zeichen der Zeit erkannt, haben begriffen, daß sie die «jährlich wiederkehrenden Opfer» (annua vota: 16) ohne Angst vor Gewalt und Bürgerkrieg (vgl. 32–34) den Göttern darbringen dürfen. Ja, für die Kinder sind Waffen ein Gegenstand der Verwunderung geworden (30–31): tardoque puer domifactus aratro / miratur patriis pendentem sedibus ensem. 25
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Vgl. zu den problematischen Versen 21–22 die Ausführungen von Schmid 1953, 76–80, Korzeniewski 1966, 356–357, Balzert 1971, 37–42 und Merfeld 1999, 154–155. Korzeniewski 1971, 83. Vgl. die Übersetzung von Amat 1997, 161: «Est-ce donc que nos fils combattent dans une situation périlleuse et incertaine et le bétail obtus nie-t-il que cette époque soit l’ˆage d’or?» Das Simplex pugnare steht hier für das Kompositum repugnare («widersprechen, sich widersetzen»). Vgl. Serv. zu Aen. 4,38 (placitone etiam pugnabis amori?): … numquid etiam placito amori repugnabis? et est Graecum ‹pugno tibi›: nam nos ‹pugno tecum› dicimus. Ebenso Prop. 1,10,21: tu cave ne tristi cupias pugnare puellae … Zum unbestimmten Plural vgl. F. Bömer, Ovid. Metamorphosen, Heidelberg 1977 (zu Ov. met. 8,732). Das zunächst unbestimmt bleibende Subjekt wird im zweiten Hauptsatz konkretisiert. Mit stolidum pecus bezieht sich Mystes meiner Ansicht nach nicht so sehr auf das tierische Vieh als vielmehr auf besonders verstockte Exemplare der Spezies Mensch. Merfeld 1999, 156. Diese Verse sprechen gegen die Erklärung, die Merfeld 1999 für die Sorgen des Mystes vorgeschlagen hat. Merfeld ist der Ansicht, daß Mystes traurig ist, weil die Bauern immer noch ihre alten ländlichen Götter (insbesondere Bacchus) und nicht den neuen Heilsbringer Nero verehren (S. 160): «Der Garant des universellen Friedens und der Garant dafür, daß die Bauern ihr Fest für Bacchus feiern können, ist Apollo in der Person Neros. Als Heilsgott werden ihm vota geschuldet. … Die Festteilnehmer dagegen haben die Zeichen der Zeit nicht verstanden. Sie bedenken in ihrem Fest nur Bacchus, wie sie es zu allen Zeiten getan haben, verletzen damit die (aktuell geforderte) religio und fordern den Zorn und die Rache des Gottes heraus.» Die Vorstellung, daß Nero einerseits die ländlichen Feste in ihrer traditionellen Form garantiert, andererseits aber zürnen soll, wenn er nicht selbst bei jedem Fest verehrt wird, erscheint problematisch.
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Bedeutungsvoll ist vor diesem Hintergund das automaton, das den Höhepunkt der von Mystes zitierten Passage bildet: Der Ziegenbock «entblößt» (exuit: 20) nach vollzogenem Opfer von selbst seine Eingeweide für die Opferschau. Es ist kein Zufall, daß der Dichter gerade hier abbricht: Die Eingeweide können eben nichts Neues vermelden. Mystes kann in seinem Gedicht nur das mimetisch abbilden, was – wie die folgenden Verse (23–38) erläutern – allenthalben Wirklichkeit geworden ist.32 Der Dichter ist nicht mehr länger ein vates, ein mystes, der seinen staunenden Hörern verkündet, «which grain will grow and which will not». Das Dichten des Mystes unterliegt wie das ländliche Fest, das er beschreibt, dem Zwang zur Wiederholung (15–16): fagus / annua vota ferat sollemnis que imbuat aras.33 Bei Calpurnius standen die Hirten mit heiligem Schauder (… iam dudum velut ipso numine plenum / me quatit et mixtus subit inter gaudia terror: 1,89–90) vor den frisch eingeritzten Schriftzeichen (virides etiam nunc littera rimas / servet et arenti nondum se laxet hiatu: 1,22– 23).34 Mystes füllt den ganzen Baum, dessen Rinde bereits «abgenutzt» (attrito … cortice: 15) ist, mit Versen und kann doch nur sagen, was allen bereits bekannt ist. Der deskriptive Ablativ attrito … cortice bekommt vor diesem Hintergrund erst seine eigentliche, prägnante Bedeutung. Rupprecht hat gezeigt, daß die Buche in den Eklogen Vergils die bukolische Dichtung symbolisieren kann. Der Verfall der Buchen in der neunten Ekloge (veteres, iam fracta cacumina, fagos: 9) deutet hin auf die Gefährdung des Gesanges, der ohne die Präsenz des Menalcas zum bloßen Zitat zu erstarren droht: «Das Scheitern der Hirten in diesem Gedicht, die Unmöglichkeit des Singens, die Unfähigkeit des Erinnerns lassen in den gealterten bzw. beschädigten fagi auch die Bukolik als Gattung selbst zerbrechen.»35 Im carmen Einsidlense 2 ist die Buche nicht mehr nur symbolisch auf die bukolische Dichtung bezogen, sie wird als physischer Träger des Textes gleichsam eins mit dieser. Die Gebrauchsspuren auf der Rinde verweisen auf die bukolische Tradition, in der auch Mystes noch dichtet. Allerdings hat sich diese Tradition, die den Weg zur Goldenen Zeit bereitet (Vergil) bzw. die Menschen auf diesem Weg begleitet (Calpurnius) hat, in der erfüllten Gegenwart des Mystes überlebt. Vor diesem Hintergrund läßt sich vielleicht auch die auffällige Verwendung der maskulinen Form von fagus erklären: In der antiken Botanik wurden Pflanzen, insbesondere Bäumen, männliche und weibliche Eigenschaften zugesprochen. Die Unterscheidung wurde in der Regel durch den Zusatz der Adjektive ärrhn und j®luc bzw. mas (masculus) und femina ausgedrückt36 : «Generally, male-gendered plants/trees were believed to be wild, rough, dense, dry, compact, knotty and … often less fruitful or unfruitful (Theophr., Hist. pl. 5.4.1).»37 Die Buche (fagus), auf die Mystes sein Gedicht notiert, gehört 32
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Hubbard 1999, 146–148 hat Übereinstimmungen zwischen Theokrits Enkomion auf Hieron (eid. 16) und der Schilderung des Mystes (23–38) herausgearbeitet. Auch hier gilt (S. 148): «What was a wish in Theocritus is here made a present reality.» Vgl. Serv. Aen. 2,202: SOLLEMNIS ARAS: anniversario sacrificio religiosas. Auch Mopsus schrieb «auf grüner Rinde» (in viridi … cortice: ecl. 5,13). Vgl. Plin. nat. 16,35: Cortex et fagis, tiliae, abieti, piceae in magno usu agrestium. vasa eo corbesque ac patentiora quaedam messibus convehendis vindemiisque faciunt atque protecta tuguriorum. scribit in recenti ad duces explorator incidens litteras a suco. Rupprecht 2004, 52. Vgl. Calp. 7,4–6: O piger, o duro non mollior axe, Lycota, / qui veteres fagos nova quam spectacula mavis / cernere, quae patula iuvenis deus edit harena. Gelegentlich erscheinen Pflanzennamen auch als Substantiva mobilia (z. B. Â und ô foÿnix). Vgl. Hdt. 1,193. Foxhall 1998, 65. Freilich kommt auch gerade der umgekehrte Fall vor (Theophr. hist. plant. 3,8,1): Pàntwn dË, πsper ‚lËqjh, t¿n dËndrwn ±c kaj+ Èkaston gËnoc labeÿn diafora» ple–ouc e s–n; ô m‡n koinò pêsin, ≠ diairo‹si t‰ j®lu ka» t‰ ärren, ¡n t‰ m‡n karpofÏron t‰ d‡ äkarpon ‚p– tinwn. ‚n oŸc d‡ ämfw karpofÏra t‰ j®lu kallikarpÏteron ka» polukarpÏteron plòn Ìsoi ta‹ta kalo‹sin ärrena, kalo‹si gàr tinec. Vgl. zu
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zur männlichen Sorte – nicht so sehr in botanischem, vielmehr in metaphorischem Sinn: In der Goldenen Zeit ist der Baum der Bukolik zur Unfruchtbarkeit verdammt. Fassen wir zusammen: Als «Dichter in dunkler Zeit» hat Vergil die aurea aetas als Gegenentwurf zum Chaos der Bürgerkriege prophetisch beschworen. Sein bukolischer Nachfolger Calpurnius hat als Zeitzeuge den Beginn der neuen Zeit verkündet. Jetzt ist das Wunder eingetreten: Saturni rediere dies. Was soll der «Eingeweihte» singen, wenn das Glück mit Händen zu greifen ist? Die Rückkehr der Goldenen Zeit ist eine evidente Wahrheit, die niemanden braucht, der sie ausspricht. Die Gnade der späten Geburt ist für den Dichter Mystes eine Ungnade. Er lebt in einer Zeit, die keine Dichter nötig hat. Wie Silen und Menalcas – darauf deutet die Verwendung der oben besprochenen Figur des handelnden, die Welt, die er beschreibt, hervorbringenden Dichters – hat Mystes die Gabe, im Gesang eine neue Wirklichkeit zu schaffen, aber die in seinem Lied sich gestaltende poetische Welt steht immer schon im Schatten der Goldenen Zeit Neros. Dies ist der Grund für seine satias: Er ist das Dichten leid, weil es nichts mehr zu verkünden gibt. Das Glück der Gegenwart ist so vollständig und so offensichtlich, daß es nicht mehr gepriesen werden muß – ein größeres Kompliment kann ein Dichter einem Herrscher wohl nicht machen.
Literaturverzeichnis Amat, Jacqueline (Hrsg.), Consolation à Livie, Elégies à Mécène, Bucoliques d’Einsiedeln, Texte établi et traduit, Paris 1997. André, Jacques, Lexique des termes de botanique en latin, Paris 1956. Balzert, Monika, Hirtensorgen im Goldenen Zeitalter. Eine Interpretation des carmen Einsidlense II, AU 14.3, 1971, 24–42. Breed, Brian W., Pastoral inscriptions: reading and writing Virgil’s Eclogues, London 2006. Effe, Bernd, Gerhard Binder, Die antike Bukolik. Eine Einführung, München [u.a.] 1989. Effe, Bernd, Gerhard Binder, Antike Hirtendichtung. Eine Einführung, 2., überarb. u. erw. Aufl. Düsseldorf [u. a.] 2001. Ehlers, Widu-Wolfgang, Auribus escam oder Der intendierte Rezitator – Produktions- und rezeptionsästhetische Aspekte der Mündlichkeit antiker Texte, in: L. Benz (Hrsg.), ScriptOralia Romana. Aspekte der Mündlichkeit in der römischen Literatur, Tübingen 1998, 11–42. Foxhall, Lin, Natural sex: the attribution of sex and gender to plants in ancient Greece, in: Lin Foxhall, John Salmon (Hrsgg.), Thinking men. Masculinity and its self-representation in the classical tradition, London/New York 1998, 57–70. Fuchs, Harald, Der Friede als Gefahr. Zum zweiten Einsiedler Hirtengedichte, HSPh 63, 1958, 363–385. Hubbard, Thomas K., The Pipes of Pan. Intertextuality and Literary Filiation in the Pastoral Tradition from Theocritus to Milton, Ann Arbor 1998. Korzeniewski, Dietmar, Die ‹panegyrische Tendenz› in den Carmina Einsidlensia, Hermes 94, 1966, 344–360. Korzeniewski, Dietmar, Hirtengedichte aus neronischer Zeit, Darmstadt 1971. Lieberg, Godo, Poeta creator: Studien zu einer Figur der antiken Dichtung, Amsterdam 1982. Lieberg, Godo, Zu Idee und Figur des dichterischen Schöpfertums, Bochum (Selbstverl.) 1985. Lipka, Michael, Notes on fagus in Vergil’s Eclogues, Philologus 146, 2002, 133–138. diesen Ausnahmen von der Regel Foxhall 1998, 64. Dieselben Klassifizierungen finden sich auch beim älteren Plinius. Vgl. etwa nat. 16,65: In tilia mas et femina differunt omni modo. namque et materies maris dura rufiorque ac nodosa et odoratior, cortex quoque crassior ac detractus inflexibilis. nec semen fert aut florem ut femina, quae crassior arbore, materie candida praecellensque est.
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Dichter in Goldener Zeit. Die Sorge des Mystes im carmen Einsidlense 2
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Merfeld, Beate, Panegyrik – Paränese – Parodie? Die Einsiedler Gedichte und Herrscherlob in neronischer Zeit, Trier 1999. Rupprecht, Kai, Warten auf Menalcas. Der Weg des Vergessens in Vergils neunter Ekloge, A&A 50, 2004, 36–61. Scheda, Gunther, Studien zur bukolischen Dichtung der Neronischen Epoche, Bonn 1969. Schmid, Wolfgang, Panegyrik und Bukolik in der neronischen Epoche. Ein Beitrag zur Erklärung der Carmina Einsidlensia, BJ 153, 1953, 63–96. Schmid, Wolfgang, Nochmals über das zweite Einsiedler Gedicht, Hermes 83, 1955, 124–128. Steinmetz, Peter, Eclogen Vergils als dramatische Dichtungen, in: ders., Kleine Schriften: aus Anlaß seines 75. Geburtstages, hrsg. von S. Koster, Stuttgart 2000, 245–255. Wildberg, Christian, Simplicius und das Zitat. Zur Überlieferung des Anführungszeichens, in: Symbolae Berolinenses, hrsg. v. F. Berger [u. a.], Amsterdam 1992, 187–199.
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Michael Schramm
Augustinus’ Confessiones und die (Un-)Möglichkeit der Autobiographie Die Confessiones des Augustinus werden gemeinhin als «Leitparadigma der Autobiographiegeschichte» angesehen.1 In der Augustinus-Forschung ist diese literaturwissenschaftliche Klassifizierung mittlerweile umstritten. Denn während Augustinus in den ersten neun Büchern sein Leben, insbesondere seine geistige Entwicklung bis zur Konversion zum Christen, beschreibt, folgen darauf zwei Bücher mit philosophischen Untersuchungen zu Gedächtnis und Zeit und zwei Bücher mit einer Bibelexegese. Im Hinblick auf die formale Einheit und das Ziel des Textes ist die Forschung daher weitgehend dazu übergegangen, die Confessiones in Analogie zu Ciceros Hortensius, durch den Augustinus mit 19 Jahren zur Philosophie geführt worden war, als einen «christlichen Protreptikos» zu deuten.2 Dagegen wurde mit Recht eingewandt, daß sich die Lebensbeschreibung des Augustinus nicht, wie bei einem Protreptikos üblich, an Nicht-Christen richtet, die für das Christentum gewonnen werden sollen, sondern an Mit-Christen.3 Außerdem seien für einen Protreptikos die starken autobiographischen Anteile ungewöhnlich.4 Unabhängig von dieser Diskussion um die genaue literaturwissenschaftliche Klassifizierung hat die literarische Rezeption der Confessiones diese zumeist unter autobiographischem Interesse betrachtet.5 Nicht nur von ihren unmittelbaren Lesern wurden die Confessiones als Lebensbeschreibung des Kirchenvaters gelesen.6 Sie wurden bis in die Neuzeit hinein zum Prototyp der Autobiographie, am prominentesten vielleicht für Rousseau mit seinen Confessions. 1
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M. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, Stuttgart/Weimar 2 2005, 112. In diesem Sinne hat schon G. Misch die Confessiones in seine umfassende Geschichte der Autobiographie (Bd. I, Leipzig 1907; Bd. I, 2, Frankfurt/M. 3 1950 (mit Zusätzen), 4 1974) eingeordnet. Vgl. E. Feldmann, «Das literarische Genus und das Gesamtkonzept der Confessiones», in: N. Fischer/ C. Mayer (Hg.), Die Confessiones des Augustinus von Hippo. Einführung und Interpretation zu den dreizehn Büchern, Freiburg/Br. 2004, 11–59 (bes. 32–50) (mit einer Übersicht über die Forschungsgeschichte zur Gattungs- und Einheitsfrage); C. Mayer, «Confessiones 12. Caelum caeli: Ziel und Bestimmung des Menschen nach der Auslegung von Genesis 1,1f.», in: Fischer/Mayer (Hg.), Confessiones, 553; V. Drecoll, Die Entstehung der Gnadenlehre Augustins, Tübingen 1999, 268 spricht von einem «Protreptikos mit apologetischer Tendenz». Vgl. J. Brachtendorf, Augustins «Confessiones», Darmstadt 2005, 293 f. Vgl. Drecoll, Gnadenlehre, 263–267. Eine vermittelnde Position hinsichtlich Autobiographie oder Protreptikos vertritt neuerdings B. Zimmermann, «Augustinus, Confessiones – eine Autobiographie? Überlegungen zu einem Scheinproblem», in: M. Reichel (Hg.), Antike Autobiographien. Werke – Epochen – Gattungen, Köln/Weimar/Wien 2005, 237– 249. Er verweist schon auf die Rezeption als Argument, in der Frage nach der Gattungszuweisung «Autobiographie» ein «akademisches Scheinproblem» zu sehen (238, Anm. 7). Th. Fuhrer, «De-Konstruktion der Ich-Identität in Augustins Confessiones», in: A. Arweiler/M. Möller (Hg.), Vom Selbst-Verständnis: Notions of the Self in Antiquity and Beyond, Berlin/New York 2008 (im Erscheinen), klassifiziert die Confessiones im Anschluß an Gérard Genette als «autodiegetische Erzählung» und spezifiziert sie durch die Art ihrer literarischen Technik, der sie sowohl eine «Authentifizierungsstrategie» als auch eine «dokumentarische Funktion» zuweist. – Ich danke Frau Fuhrer für die freundliche Überlassung des Manuskripts. Vgl. dazu P. Courcelle, Les Confessions de saint Augustin dans la tradition littéraire. Antécédents et postérité, Paris 1963.
Antike und Abendland Bd. 54, S. 173–192 © Walter de Gruyter 2008 ISSN 0003-5696
DOI 10.1515/ANTI.2008.011
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Michael Schramm
Auch Jacques Derrida hat mit seinem Text Circonfession Bezug auf seinen großen Landsmann genommen. Dabei handelt es sich um 59 «Perioden und Periphrasen», kurze Textfragmente, die unter einem Text von Derridas Freund Geoffrey Bennington mit dem Titel Derridabase gedruckt sind.7 Darin wird die Philosophie Derridas, die sich gerade jedem Systemanspruch zu entziehen sucht, systematisch dargestellt. In der Circonfession spricht Derrida hingegen von sich selbst, von seiner jüdischen Herkunft, seiner Kindheit in Algerien und von seiner im Sterben liegenden Mutter. Der Titel Circonfession spielt auf seine Beschneidung (frz. circoncision) und zugleich die Confessiones des Augustinus an, deren Geste der Selbstoffenbarung und deren intimen Ton er nachahmt und die er im Zitat immer wieder in den eigenen Text einflicht. Es handelt sich hierbei um ein Spiel mit der eigenen Identität, daher die Erinnerung an die eigene Kindheit und das Judentum, mit dem ihn biographisch ein eher zweideutiges Verhältnis verband, aber auch ein Zerbrechen des suggerierten Systemanspruchs der Derridabase. Derrida wird zum Randgänger seiner eigenen Philosophie und unterminiert jeden Anspruch auf die Möglichkeit, «den Mann und sein Denken» eindeutig festzulegen. Derrida bestreitet – genauso wie auch Paul de Man – die Möglichkeit einer Autobiographie schlechthin und zwar aus sprachphilosophischen Gründen. Demnach bleibt das erzählende Ich stets in Distanz zum erzählten Ich. Das liegt für ihn nicht nur an der zeitlichen Entfernung zu zurückliegenden Ereignissen, sondern daran, daß auch im Augenblick des Ich-Sagens das bezeichnende Ich und das bezeichnete Ich nicht identisch sein können. Das wiederum liegt am Wesen des sprachlichen Zeichens, daß es die Sache in ihrer Abwesenheit zwar repräsentiert, aber in ihrer Bedeutung nicht durch diese als Referenten, sondern durch die Einheit von Bezeichnendem und Bezeichnetem (in der Terminologie de Saussures signifiant und signifié) konstituiert ist.8 Die Vorstellung, daß die außerhalb der Sprache liegenden Gegenstände den Wörtern Bedeutung geben, wird von Derrida abgelehnt, weil es keine nicht-sprachliche Hinweisfunktion oder Bezugnahme auf die Gegenstände geben könne. Um ein Wort in seiner Bedeutung zu bestimmen, brauche es stets die Erklärung, Beschreibung, Definition mit Hilfe anderer Worte, d. h. anderer Bedeutungen, die wiederum durch andere Worte in ihrer Bedeutung bestimmt sind. Letzte Ur-Bedeutungen oder UrSätze, auf die sich alle Bedeutungen zurückführen lassen, gebe es nicht, sondern vielmehr nur den prinzipiell unendlichen Prozeß bzw. das «Spiel» der wechselseitigen Verweisung der Bedeutung.9 Somit wird der Strukturalismus de Saussures durch den Poststrukturalismus überwunden, wonach Bedeutungen stets durch Bedeutungen erklärt werden können, das Denken also der Gebundenheit an Sprache nicht entgehen kann. Das bedeutet für die Autobiographie, daß das erzählende Ich sein Leben, seine Gedanken, Gefühle und Taten stets nur in Worten und Sätzen ausdrücken kann, die ihre Bedeutung in anderen Sprachgefügen entfaltet haben und entsprechend vorgeprägt sind. Bedeutung als Geschichte der bisherigen Verwendungen ist die Grundlage für die neue Verwendung in diesem Fall, die der Bedeutungsgeschichte eine neue Facette hinzufügt. Sie ist also, um es mit einem Ausdruck von Gilles Deleuze zu sagen, zugleich Differenz und Wiederholung;10 Erzählen wäre demnach 7
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G. Bennington/J. Derrida, Jacques Derrida. Ein Porträt, Frankfurt/M. 1994 (frz. Dies., Jacques Derrida, Paris 1991). G. Bennington, Derridabase, in: Ders./J. Derrida, Jacques Derrida, 32 f. J. Derrida, Grammatologie, Frankfurt/M. 6 1996, 17 f. (frz. Ders., De la grammatologie, Paris 1967). G. Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 2 1997 (frz. Différence et répetition, Paris 1969).
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Augustinus’ Confessiones und die (Un-)Möglichkeit der Autobiographie
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nichts weiter als ein Spiel von Bedeutungsdifferenz und -wiederholung. Im Fall des Erzählens von sich selbst würde daraus ein Spiel mit bereits vorgeprägten Rollen, hinter denen das beschriebene Individuum faktisch verschwindet, weil es sprachlich nicht aussagbar ist.11 Schon Therese Fuhrer sieht in Augustinus’ Confessiones eine «De-Konstruktion der IchIdentität» am Werke, da sich Augustinus in seiner Hermeneutik skeptisch gegenüber den Möglichkeiten einer sprachlichen Vermittlung der Intention eines Autors zeige und man bei ihm von daher ein Bewußtsein für die Unzulänglichkeit einer authentischen Selbstdarstellung annehmen könne, das «sich im Ansatz durchaus mit poststrukturalistischen Theorien vergleichen läßt».12 Im Folgenden soll die These von der Unmöglichkeit der Autobiographie an Augustinus’ Confessiones erprobt werden. Um die These von der Unmöglichkeit der Autobiographie zu prüfen, sollen die den Confessiones immanenten Prinzipien herausgestellt werden, die Augustinus für sein Schreiben für notwendig hielt. Dazu gehört zunächst die memoria als Voraussetzung der Selbstreflexion, d. h. des Bezugs von erzählendem und erzähltem Ich. Dann soll die für das autobiographische Schreiben problematische Frage nach der Glaubwürdigkeit durch die Erörterung des spezifischen Wahrheitsbegriffs der Confessiones erörtert und abschließend in der caritas, dem Grundprinzip der Augustinischen Hermeneutik, ein Ansatzpunkt gesehen werden, um den dekonstruktivistischen Textskeptizismus in seinem Anspruch einzuschränken.
1. Die Paradoxien der memoria und die Differenz des Ichs Für die Confessiones und die darin suggerierte Identität des erzählten Ichs mit dem erzählenden Ich ist die vis memoriae bedeutsam, der Augustinus das zehnte Buch der Confessiones widmet. Das zehnte Buch wird im Aufbau des Gesamttextes oft als eine Art Scharnier betrachtet, das den autobiographischen Teil der ersten neun Bücher mit dem exegetischen Teil der letzten drei Bücher verbindet.13 Die Untersuchung der memoria ist eingebettet in die Reflexion auf die Möglichkeit der Selbsterkenntnis. Gegenstand ist hier nun nicht mehr die Vergangenheit, sondern die Gegenwart des Schreibenden, also «wer ich jetzt zum Zeitpunkt meiner Bekenntnisse bin» (quis adhuc sim ecce in ipso tempore confessionum mearum), d. h. «was ich selbst im Innern bin» (quid ipse intus sim) (conf. 10,3,4).14 Die Antwort fällt vielfältig und vielgestaltig aus: «Was also bin ich, mein Gott? Was für ein Wesen bin ich? Ein unterschiedsreiches, vielgestaltiges Leben und gänzlich unermeßlich» (varia, multimoda 11
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Das ist die Schlußfolgerung, die Derrida in Mémoires: für Paul de Man, Wien 1988 (frz. Mémoires – pour Paul de Man, Paris 1988) zieht. Paul de Man hatte in «Autobiography as De-Facement» (in: Modern Language Notes 91 (1979), 919–930; dt. «Autobiographie als Maskenspiel», in: P. de Man, Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt/M. 1993, 131–146) in der autobiographischen Verdoppelung des Subjekts eine Form von Maskenspiel (de-facement) gesehen. Für Derrida folgt aus dem Wechselspiel von Maskierung und Demaskierung die Auslöschung (effacement) der sichtbaren Gestalt. Th. Fuhrer, «De-Konstruktion der Ich-Identität in Augustins Confessiones», in: A. Arweiler/M. Möller (Hg.), Vom Selbst-Verständnis: Notions of the Self in Antiquity and Beyond, Berlin/New York 2008 (im Erscheinen) E. Williger, Der Aufbau der Konfessionen Augustins, in: ZNW 28, 1929, 81–106 (bes. 103–106) sah in Buch 10 einen nachträglichen Einschub zwischen den beiden anderen Buchblöcken, ähnlich auch P. Courcelle, Recherches sur les Confessions de Saint Augustin, Paris 2 1968, 19–25. Einen Überblick über die Interpretationsvorschläge, die Bücher 1–9, 10 und 11–13 in eine sinnvolle Anordnung zu bringen, gibt E. Feldmann, Art. «Confessiones», in: Augustinus-Lexikon 1, 1134–1193. Die Übersetzungen der Confessiones stammen von K. Flasch und B. Mojsisch (Aurelius Augustinus, Bekenntnisse, Stuttgart 2003).
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vita et immensa vehementer, 10,17,26). Die unendliche Vielgestaltigkeit des menschlichen Lebens, die das Wesen des Ichs ausmacht, hat ihren Grund letztlich in der Struktur seines Bewußtseins. Dieses steht nicht außerhalb der Zeit, sondern ist durch das Zusammenspiel von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gekennzeichnet. Der Bezug des erzählenden Ichs der Gegenwart bleibt stets in einer unüberbrückbaren zeitlichen Distanz zum erzählten Ich der Vergangenheit. Die Diagnose ist für Augustinus also die gleiche wie für die Dekonstruktivisten, jedoch erklärt sich für jenen die Distanz zwischen dem Autoren-Ich und dem dargestellten Ich nicht aus den Eigenschaften der Sprache bzw. dem Wesen des sprachlichen Zeichens, in denen sich die Selbsterkenntnis dem Erkennenden und dem Leser mitteilt, sondern aus der Zeitlichkeit des Bewußtseins selbst und der Diskontinuität seines Selbstverhältnisses. Für Augustinus in den Confessiones steht – anders als in De trinitate, da er zusätzlich intelligentia und voluntas als Aspekte des menschlichen (und göttlichen) Geistes herausstellt (trin. 10) – allein die memoria für das gesamte Bewußtsein des Menschen und seine Inhalte.15 So bezeichnet er die memoria als «Geist» (animus ... etiam ipsa memoria, conf. 10,14,21), «gleichsam als Bauch des Geistes» (quasi venter ... animi, ebd.) und als «Sitz unseres Geistes» (animi mei sedem, 10,25,36) und umschreibt sie mit räumlichen Metaphern als «Felder und weite Lagerhallen» (campos et lata praetoria memoriae, 10,8,12) bzw. als «riesige Halle» (aula ingenti memoriae meae, 10,8,14). Die memoria zeichnet sich durch Ordnung und Unbegrenztheit aus: Alle Gedächtnisbilder werden «gleichsam in wunderbaren Zellen gelagert» (miris tamquam cellis reponuntur, 10,9,16), sie werden «alle verschieden und nach ihrer Art getrennt aufbewahrt» (omnia distincte generatimque servata, 10,8,13) – diese Ordnung nach verschiedenen Räumen, Zeiten und Gegenstandsarten erlaubt erst die Erinnerung an frühere Eindrücke. Andererseits ist die memoria ein «weiter, unendlicher Innenraum» (penetrale amplum et infinitum, 10,8,15), und die «unzähligen Felder, Grotten und Höhlen» des Gedächtnisses sind «auf unzählige Weise angefüllt mit unzähligen Arten von Dingen» (in memoriae meae campis et antris et cavernis innumerabilibus atque innumerabiliter plenis innumerabilium rerum generibus, 10,17,26). Das Gedächtnis enthält drei Arten von Inhalten: 1. die Bilder (imagines), in denen frühere Sinneseindrücke äußerer, körperlicher Gegenstände eingeprägt werden (10,8,13), 2. die «Dinge selbst» (res ipsae), also das durch unmittelbare Präsenz (per praesentiam) gegebene apriorische Wissen z. B. der Dialektik (10,9,16) und der Mathematik (10,12,19); 3. Gemütsbewegungen (affectiones) wie Begierde, Freude, Furcht und Trauer, die als «Begriffe der Sachen selbst» (rerum ipsarum notiones) gegenwärtig sind (10,14,22), aber auch die Erinnerung an vergangene Gemütsbewegungen (10,14,21).16 Ob diese als Bilder erinnert werden oder ob sie als solche im Gedächtnis enthalten sind, läßt Augustinus offen (10,15,23). Das Gedächtnis erlaubt dem Geist also die Erkenntnis der ganzen Welt, d. h. der sinnlich wahrnehmbaren, der geistig denkbaren Welt und der Welt der Emotionen, die aber im Sinne der Stoiker nur als «Verwirrungen des Geistes» (perturbationes animi), also als Störungen im Selbstbezug des Geistes verstanden werden. Das Gedächtnis enthält also genauso die 15
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Ch. Horn, Augustinus, München 1995, 72 sieht in der memoria die Grundlage einer umfassenden Theorie des Bewußtseins, das als «Vermögen der Anschauung» sehr große Ähnlichkeit zum kantischen Begriff der Sinnlichkeit habe. Vgl. Horn, Augustinus, 72f. Eine Vierteilung vertritt L. Hölscher, Die Realität des Geistes. Eine Darstellung und phänomenologische Neubegründung der Argumente Augustins für die geistige Substantialität der Seele, Heidelberg 1986, 105. Acht Kategorien von Gedächtnisinhalten nimmt H.-J. Kaiser, Augustinus. Zeit und «memoria», Bonn 1969, 38 f. an.
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Außen- wie die Innenwelt, wobei es sich selbst als Bestandteil seiner selbst gegenwärtig ist, offensichtlich nicht als Bild, sondern «durch sich selbst» (per se ipsam) (10,15,23). Die Selbstgegenwart des Selbstbezugs ist allerdings problematisch. Das Paradigma der Gedächtnistätigkeit ist die Erinnerung an vergangene Sinneseindrücke. Die in der Wahrnehmung gesehenen Gegenstände prägen sich «wie feste Spuren» (velut vestigia) als Bilder im Gedächtnis ein und werden dort gespeichert; in der Erinnerung werden diese Bilder bzw. Worte, die mit den Bildern konzeptuell verbunden sind, nicht die Gegenstände selbst, wieder hervorgeholt (11,18,23). Dieses Bild ist «a presently existing image of a past object of consciousness»,17 und der Akt der Erinnerung ist ein gegenwärtiges inneres Betrachten des hervorgeholten Bildes. Dies markiert einen unüberbrückbaren Hiatus zwischen Gegenwart und Vergangenheit, denn der Erinnernde erinnert nicht das Vergangene als solches, sondern ein prinzipiell fallibles gegenwärtiges Bild von Vergangenem. Wenn nicht das Vergangene als solches, sondern nur sein Bild erinnert werden kann, gibt es keine Möglichkeit, zwischen einem abbildungsgetreuen und damit wahren Bild und einer bloßen Einbildung zu unterscheiden.18 Augustinus selbst scheint sich dieses Problems nicht bewußt gewesen zu sein. Für ihn ist es offenbar so, daß man in seinem Gedächtnis nichts anderes als den Gegenstand selbst sieht und zwar so, «als sähe ich ihn draußen» (quasi foris viderem 10,8,15). Die Redeweise vom Bild drückt offenbar lediglich aus, daß die äußeren, körperlichen Gegenstände nicht selbst ins Gedächtnis gelangen, sondern nur ihre unkörperlichen Bilder.19 Durch das Bild wird die Dichotomie von Innen und Außen im Gedächtnis reproduziert und zugleich die Differenz zwischen der Vergangenheit des erinnerten Inhalts und der Gegenwart der erinnernden Tätigkeit klar. Es handelt sich also um eine doppelte, nämlich räumliche und zeitliche Differenz des Geistes in sich selbst und damit zugleich um die Konstitution seiner eigenen Realität. Paradigmatisch geschieht dies in der Zeitwahrnehmung: Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart haben an sich kein Sein, denn das Vergangene ist nicht mehr, das Zukünftige ist noch nicht (11,14,17), und die Gegenwart hat keine zeitliche Ausdehnung, sondern ist nur der ausdehnungslose Moment des Übergangs von Zukunft in Vergangenheit (quod tamen ita raptim a futuro in praeteritum transvolat, ut nulla morula extendatur, conf. 11,13,20). Zeit als solche existiert für Augustinus nur im inneren Zeitsinn, der distentio animi, einer Distanznahme des Geistes in sich selbst, indem der Geist erst die Vergangenheit als innere Gegenwart von Vergangenem in der Erinnerung (memoria) und Zukunft und Gegenwart als innere Gegenwart von Zukünftigem und Gegenwärtigem in Erwartung (expectatio) und Anschauung (contuitus) hervorbringt (11,20,26). Der innere Zeitsinn produziert, etwa beim Anhören einer Melodie, den Eindruck einer zeitlichen Kontinuität durch das unmittelbare Zusammenspiel von Erinnerung, Anschauung und Erwartung und macht so erst die Messung einer äußeren Zeitdauer möglich.20 In ähnlicher Weise bringt die Erinnerung vergangener Bilder, aber auch die Vergegenwärtigung der an sich erkannten, apriorischen Wissensgehalte Erkenntnis hervor durch «die 17
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Vgl. D. Ferrari, «Retention – Memory. Perception and the Cognition of Enduring Objects», in: Aletheia II (1981), 100. Vgl. Ferrari, Retention, 100. Vgl. Hölscher, Realität, 103–105. Zur Augustinischen Zeittheorie vgl. K. Flasch, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones, Frankfurt/M. 1993; F.-W. v. Hermann, Augustinus und die phänomenologische Frage nach der Zeit, Frankfurt/M. 1992; W. Mesch, Reflektierte Gegenwart: eine Studie über Zeit und Ewigkeit bei Platon, Aristoteles, Plotin und Augustinus, Frankfurt/M. 2003.
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denkende Verbindung und aufmerksame Sammlung der Bestandteile, die das Gedächtnis zerstreut und ungeordnet enthielt», und den «geistigen Hinblick» (intentio) auf die verstreuten Gedächtnisinhalte (10,11,18).21 Die Erinnerung umfaßt dabei bei einem Vorrang der inneren Vergegenwärtigung alle Dimensionen der Zeit, da jede Erinnerung an einen Gegenstand von der Erinnerung daran begleitet wird, wie er eingeprägt wurde oder – im Falle apriorischen Wissens – daß er schon öfter eingesehen wurde und daß das Erinnerte auch zukünftig erinnert werden kann (10,13,20). Das Erinnern ist also stets iterativ auf sich selbst bezogen und hebt sich als gleichzeitiger Re- und Progreß in gewissem Sinne von der Sukzession der äußeren Welt in der Zeit ab.22 Wie also das Bewußtsein in der Zeitwahrnehmung eine Kontinuität aus an sich diskontinuierlich getrennten Elementen herstellt, produziert die Erinnerung als inneres Gewärtigen eines vergangenen Eindrucks oder eines dem Gedächtnis innewohnenden Wissensgehalts allererst die Kontinuität des Bewußtseins, ohne die Erkenntnis als solche oder die konstruierte Kontinuität verifizieren zu können. Die Realität des Geistes unterliegt einer Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit, insofern der Geist an sich selbst stets Gegenwart und Anwesenheit ist, aber nur, indem er der Bezug auf Abwesendes ist und damit in sich selbst eine grundlegende, unaufhebbare Differenz trägt, aus der sich überhaupt erst die spezifische Form dieser Anwesenheit ergibt. Der Geist beruht auf der Differenz in sich selbst, welcher auch der Ursprung seiner spezifischen Zeitlichkeit ist. Das, was der Geist erkennt, ist immer von seiner Verfassung in einer jeweiligen Gegenwart abhängig. Diese Form von Reflexivität zeigt sich besonders gut an der Erinnerung an vergangene Emotionen. Die einmal empfundene Begierde, Freude, Furcht und Trauer werden in der Erinnerung von ihrem ursprünglichen Erlebnishorizont abgetrennt und vor dem augenblicklichen Erfahrungshintergrund in der Rückschau neu bewertet. So kann eine frühere Freude nicht nur mit Freude, sondern auch mit Trauer erinnert werden, eine vergangene Trauer auch mit Freude oder eine vergangene Lust ohne Lustempfinden (10,14,21). Das Gedächtnis kann damit als «metastufiges Gefüge» bezeichnet werden, in dem auf objektsprachliche Freude oder Trauer unterschiedliche «Reflexionsstufen» bzw. «Metaprädikate» von Freude und Trauer angewendet werden können.23 So ergibt sich die paradoxe Struktur, daß derselbe emotionale Zustand zu verschiedenen Zeiten verschieden erinnert wird. Das widerspricht nicht dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, wonach ein Prädikat und sein Gegenteil nicht zugleich zur selben Zeit und in derselben Hinsicht vom selben Subjekt ausgesagt werden dürfen, was eine logische Unmöglichkeit wäre. Es ist vielmehr ein Beispiel für eine «praktische selfrefutation»24 , d. h., daß eine eindeutige, mit sich selbst identische Struktur praktisch unmöglich ist. Die Kontinuität des Ichs erweist sich somit als störungsanfällig.
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(…) ea, quae passim atque indisposite memoria continebat, cogitando quasi colligere atque animadvertendo curare, ut tamquam ad manum posita in ipsa memoria, ubi sparsa prius et neglecta latitabant, iam familiari intentioni facile occurant. Vgl. J. Kreuzer, «Der Abgrund des Bewußtseins. Erinnerung und Selbsterkenntnis im zehnten Buch», in: N. Fischer/C. Mayer (Hg.), Die Confessiones des Augustinus von Hippo. Einführung und Interpretation zu den dreizehn Büchern, Freiburg/Br. 2004, 457 u. 461 f. Vgl. H. Radermacher, «Zum Begriff der Parasubjektivität bei Augustinus», in: Philosophisches Jahrbuch 92 (1985), 266–272, bes. 269. Radermacher, Parasubjektivität, 268. Die paradoxe Struktur, die sich in der «praktischen selfrefutation» ergibt, nennt Radermacher «Parasubjektivität», die insbesondere das Thema «Störung von Ich» einschließt.
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Vollends problematisch und paradox wird die Gegenwart des Gedächtnisses durch das Vergessen: «Wenn ich mich also an das Gedächtnis erinnere, ist es durch sich selbst bei sich anwesend; wenn ich mich aber an das Vergessen erinnere, dann sind sowohl Gedächtnis wie Vergessen zugegen – das Gedächtnis, weil ich mich mit ihm erinnere, das Vergessen, weil ich mich an es erinnere. Aber was heißt Vergessen anderes als: Ausfall des Gedächtnisses (privatio memoriae)? Wie also ist das Vergessen anwesend (adest), so daß ich mich an es erinnere, wo ich doch, wenn es anwesend ist, mich nicht erinnern kann?» (10,16,24). Im Vergessen spitzt sich die paradoxe Situation der Anwesenheit eines Abwesenden noch einmal zu: «Ist Vergessen da, vergessen wir; aber es muß da sein, damit wir nicht vergessen» (ebd.). Mit der Bildtheorie des Gedächtnisses im Hintergrund ist das Vergessen nicht selbst im Gedächtnis, sondern nur das «Bild des Vergessens», d. h. das gegenwärtige Leer-Bild eines vergangenen Bewußtseinsobjekts, das als solches nicht mehr bestimmt werden kann. «Als die Dinge gegenwärtig waren, da nahm das Gedächtnis von ihnen Bilder ab, damit ich sie als gegenwärtig anschauen und geistig wiedervornehmen könnte, wenn ich mich an sie in ihrer Abwesenheit erinnere. Wenn das Vergessen also durch sein Bild und nicht durch sich selbst im Gedächtnis festgehalten wird, mußte es jedenfalls da sein, damit sein Bild erfaßt werden konnte. War es aber da, wie konnte es dann sein Bild ins Gedächtnis einschreiben, wenn das Vergessen doch sogar das, was es schon vermerkt vorfindet, durch seine Anwesenheit zerstört? Und doch bin ich mir gewiß, auf irgendeine Weise mich auch an das Vergessen selbst zu erinnern, das unsere Gedächtnisinhalte auslöscht, wenn diese Weise auch unbegreiflich und unerklärlich ist» (10,16,25). Zunächst zeigt diese Aporie, daß eine platonische Abbildtheorie an ihre Grenze kommt, wenn sie dem Vergessen einen Wahrnehmungsgegenstand zuordnen möchte. Dennoch kann das Vergessen von einmal eingeprägten Gedächtnisinhalten nur so vorgestellt werden, daß sie am Vergessen teilhaben; das Vergessen wird also wie eine platonische Idee konzipiert, deren Eigenschaft andere Prädikate bzw. Gegenstände durch Teilhabe annehmen können. Ein totales Vergessen bedeutet sogar die Auslöschung der Erinnerung, daß etwas vergessen ist. Dies ist der radikale Gegenbegriff zum Vollbewußtsein einer ungetrübten Erinnerung. Die Erinnerung ist damit ein Vergessen des Vergessens, eine Negation der Negation, und erst vor diesem Hintergrund überhaupt möglich, während das partielle Vergessen die Negation eines einstmals Gewußten bedeutet und das totale Vergessen das Vergessen des Vergessens. Da diese beiden Phänomene, totales Vergessen und totale Erinnerung, identisch sind, sind sie die Ermöglichungsbedingungen sowohl für das partielle Vergessen als auch für das partielle Erinnern. Das Vergessen ist die Bedingung der Möglichkeit von Erinnerung, weil das Gedächtnis zwar im Prinzip unendlich ist, aber die Ordnung nur aufrecht erhalten werden kann, wenn die Gedächtnisspuren überschaubar und in gewisser Weise geordnet bleiben. Das Suchen von verlorenen Gegenständen außerhalb von uns geht so vonstatten, daß wir das im Gedächtnis festgehaltene Bild von ihm mit dem aktuellen Bild eines gegenwärtigen Wahrnehmungsgegenstands vergleichen (10,18,27). Das Erinnern von vergessenen Gedächtnisinhalten wiederum kann nur so ablaufen, daß man «aus einem Teil, den man behalten hat, den anderen [sc. vergessenen] Teil suchte» (ex parte, quae tenebatur, pars alia quaerebatur), z. B. das Bild eines Bekannten und sein Name, weil sie beide gewohnheitsmäßig verbunden sind und die Erinnerung nur eines Teils von ihnen ohne den andern somit nicht vollständig, sondern «gleichsam hinkend» (quasi detruncata) ist (10,19,28). «Wenn wir uns auch nur daran erinnern, etwas vergessen zu haben, haben wir es nicht völlig (omni modo) vergessen» (ebd.). Das partielle Vergessen ist praktisch auf die Prä-
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senz eines Erinnerten angewiesen, die Erinnerung hat also einen psychologischen Vorrang vor dem Vergessen. Das Ich als «der Geist, der sich erinnert» (ego sum, qui memini, ego animus, 10,16,25), kann in der Selbstreflexion nicht auf ein stabilen Ich-Kern, sondern nur auf einen «Schacht von Ich, genannt Gedächtnis»25 rekurrieren, also ein fragmentarisches, labiles Ich mit Lücken, Selbsttäuschungen und unbestimmten Rändern. Insbesondere die Bedrohung durch das Vergessen und das Paradoxon der Erinnerung an Emotionen zeigen, daß das erinnernde Ich auf eine gebrochene Kontinuität zurückgeworfen ist. Offenbar kann das Ich sich selbst nicht als Bild erinnerlich sein, sondern ist im Erinnern «durch sich selbst bei sich anwesend (per se ipsam sibi praesto)», «weil ich mich mit ihm erinnere (qua meminerim)» (10,16,24). Die Erinnerung ist sich selbst wie das apriorische Wissen als Gegenstand gegeben und zwar ohne Vermittlung durch Bilder und ohne Bezug auf eine Vergangenheit. Jedoch ist es sich niemals als Ganzes gegeben: «Ich selbst fasse nicht das Ganze, das ich bin» (nec ego ipse capio totum, quod sum, 10,8,15). Das ist nicht möglich, weil das Gedächtnis sowohl in Quantität als auch in Qualität unbegrenzt und unfaßbar ist (10,17,26). Wenn das Ich seine Unendlichkeit nicht als ganze erfassen kann, bleibt ihm nur das partielle, perspektivische Verständnis seiner selbst: «Ich laufe frei umher (discurro) in den zahllosen Feldern, Grotten und Höhlen meines Gedächtnisses (...) und fliege hierhin und dorthin (volito hac illac), ich dringe ein (penetro), soweit ich komme, und nirgends ist ein Ende (finis nusquam)» (10,17,26). Aufgrund seiner eigenen Zeitlichkeit und Endlichkeit kann das Ich sich selbst nur in flüchtigen, der Zeit unterworfenen Ausschnitten gegeben sein und niemals zu seiner Vollendung gelangen. Da eine vollendete Selbsterkenntnis prinzipiell unmöglich ist, versucht das Ich das Gedächtnis, d.h. sich selbst zu überschreiten zu Gott: «Was werde ich also tun, mein Gott, du mein wirkliches Leben? Ich werde auch diese meine Kraft übersteigen (transibo), die ‹Gedächtnis› heißt. Ich werde sie übersteigen, um zu dir zu gelangen, geliebtes Licht. Was sagst du mir? Siehe, wenn ich auf dem Weg über meinen Geist aufsteige (ascendere) zu dir, der du über mir (desuper mihi) bleibst, werde ich auch diese meine Kraft übersteigen, die ‹Gedächtnis› heißt, denn ich will dich berühren (attingere), wo du zu berühren bist, will mich an dich heften (inhaerere), von wo aus man sich an dich heften kann» (10,17,26). Die Erinnerung als Rückgang in sich selbst führt den Geist über sich selbst hinaus, «der Sinn der Erinnerung ist erinnerte Selbsttranszendenz».26 Die Selbsttranszendenz eröffnet sich aber erst in der Offenheit für die Transzendenz Gottes, der «in dir über mir» (10,26,37), nicht im Gedächtnis, aber auch sonst an keinem Ort ist. Das angesprochene Du Gottes ist die eschatologische Perspektive oder der transzendentale Horizont, vor dem die Diskontinuität und Instabilität des zeitlichen Ichs möglicherweise und zukünftig aufgehoben ist zugunsten der Einheit, Ganzheit und Stabilität der Überzeitlichkeit Gottes. Diese dynamische Relation zwischen Gott und Mensch kommt schon zu Anfang der Confessiones in dem berühmten Satz programmatisch zum Ausdruck: «Und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir» (1,1,1). Das meint keine Verschmelzung der menschlichen Seele mit Gott wie etwa bei Plotin, sondern eine «Teilhabe an Gottes ewiger Herrlichkeit».27 Es bleibt lediglich bei einer «Berührung» und einem «Anhaften» an Gott. Der Mensch 25 26 27
Radermacher, Parasubjektivität, 267. Kreuzer, Abgrund, 468. K. Pollmann, Doctrina christiana. Untersuchungen zu den Anfängen der christlichen Hermeneutik unter besonderer Berücksichtigung von Augustinus, De doctrina christiana, Freiburg/Schweiz 1996, 129 f.
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steht für Augustinus nicht schon in einer apriorischen Relation zu Gott innerhalb einer ontologischen Hierarchie, in der er mit dem nous als Wesenskern gleich unterhalb Gottes positioniert ist. Vielmehr betont Augustinus stets die radikale Differenz zwischen Gott und Mensch qua Schöpfer und Geschöpf. Selbst als Christ ist der Mensch noch radikal von Gott entfernt.28 Wie das Ich dynamisch und zeitgebunden ist, ist auch die Relation des Menschen zu Gott dynamisch und der Zeitlichkeit und Veränderlichkeit unterworfen. Entsprechend weist auch der Text, der von dem Ich, der Erkenntnis seiner selbst und seiner Beziehung zu Gott Zeugnis ablegt, eine offene Struktur auf, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
2. Gott als transzendentales Du und die Wahrheit des Bekenntnisses Im Zentrum der Confessiones steht die Beziehung von Gott und Mensch. Der Titel confessiones, den Augustinus selbst seinem Werk gegeben hat, wird zumeist in zweierlei Hinsicht gedeutet: als confessio peccati und confessio laudis.29 Diese Deutung kann sich schon auf Augustinus’ Selbstauskunft in den Retractationes stützen, in denen er davon spricht, daß seine Confessiones das Schlechte und Gute betrachten, das der Autor an sich findet, daß sie darin Gott als gerecht und gut loben und daß sie so Geist und Sinn seiner Hörer zu Gott erheben wollen.30 Die confessio peccati und confessio laudis sind nicht zwei verschiedene Momente oder Abschnitte des Werks, sondern das Sündbekenntnis ist zugleich schon Gotteslob, da Augustinus noch in seinen Verfehlungen Gott subkutan anwesend und am Werke sieht. Als weitere Bedeutungen von confessio sind die confessio fidei und die confessio scientiae et imperitiae namhaft gemacht worden, nämlich das Bekenntnis des Glaubens an Gott sowie das Bekenntnis der eigenen Erleuchtung bzw. Finsternis, in der sich Augustinus lange befunden hat.31 Diese beiden Bedeutungen hängen wiederum mit den beiden ersten Bedeutungen zusammen, denn Erleuchtung und Finsternis sind vom Glauben bestimmt, den wir wiederum nicht aus uns selbst, sondern von Gott haben.32 Das Bekenntnis des eigenen Wissens bzw. Glaubens ist also nichts anderes als ein Schuldbekenntnis, soweit es sich um Unwissen und Unglauben handelt, und Gotteslob, soweit Wissen und Glauben erlangt worden sind. Daher sind die Confessiones keine einfache Beschreibung von Stationen aus Augustinus’ Leben, sondern diese ist eingebettet in ein Gespräch mit Gott.33 Gott ist angerufen, schon mit dem ersten Satz, der das Gotteslob als Ziel des Textes benennt: «Groß bist du, Herr, 28
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Man kann hier besonders an die drei Hauptsünden des Menschen, Fleischeslust (concupiscentia carnis), Neugier (curiositas) und Stolz (superbia) denken, denen auch noch der getaufte Mensch als Mensch unterliegt und deshalb von Gott zurückgestoßen wird (conf. 10,41,66). Zuerst H. Böhmer, Die Lobpreisungen des Augustinus, NKZ 26 (1915), 419–438 u. 487–512, vgl. zum neuesten Forschungsstand C. Mayer, Art. «Confessio, confiteri», in: Augustinus-Lexikon 1, 1122–1134. Retr. 2,6,1: confessionum meorum libri tredecim et de malis et de bonis meis deum laudant iustum et bonum, atque in eum excitant humanum intellectum et affectum. G. Pfligersdorffer, «Augustins ‹Confessiones› und die Arten der Confessio», in: Ders., Augustino Praeceptori. Gesammelte Aufsätze zu Augustinus, hrsg. v. K. Fostner u. M. Fussl, Salzburg 1987, 59–77; F.-W. v. Hermann, Augustinus und die phänomenologische Frage nach der Zeit, Frankfurt/M. 1992, 24. Z. B. conf. 10,5,7: confitear ergo quid de me sciam, confitear et quid de me nesciam, quoniam et quod de me scio, te mihi lucente scio, et quod de me nescio, tamdiu nescio, donec fiant tenebrae meae sicut meridies in vultu tuo. Vgl. R. Herzog, «Non in sua voce – Augustins Gespräch mit Gott in den Confessiones», in: K. Stierle/R. Warning (Hg.), Das Gespräch, München 1984, 213–250 (Poetik und Hermeneutik XI).
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und höchsten Lobes würdig. (…) Dich will loben ein Mensch, irgend so ein Stück deiner Schöpfung. Du treibst ihn an, daß er seine Freude daran finde, dich zu loben, denn auf dich hin hast du uns gemacht, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir» (1,1,1).34 Der Anruf an Gott (invocatio) ist die Anwort des Menschen auf den Anruf Gottes an den Menschen, die excitatio, die ihn allererst zum Gotteslob veranlaßt.35 Gott ist damit nicht der eigentliche Adressat der Confessiones, denn Gott kennt Augustinus’ Sünden. Nicht ihm, sondern den Menschen werden sie bekannt, allerdings in Gottes Gegenwart: «Wem erzähle ich das? Dir fürwahr nicht, mein Gott, aber vor dir (apud te) erzähle ich das meinem Geschlecht, dem Menschengeschlecht (…)» (2,3,5).36 Die Confessiones sind damit kein persönliches Bekenntnis im Sinne eines stillen Gebets, sondern eine öffentliche, pastoral eingekleidete Rechtfertigung des Lebenswegs des Autors und seiner Beziehung zu Gott. Der Text übernimmt damit eine Funktion in der konkreten Lebenssituation des Autors zur Zeit seiner Abfassung und kann daher nicht unabhängig von seinem pragmatischen Kontext betrachtet werden, in dem sowohl Freunde als auch Gegner des Augustinus implizit angesprochen sind.37 Wenn Gott nicht der Adressat der Confessiones ist, sondern explizit die Gemeinde, deren Geist und Sinn zum noch tieferen Glauben an Gott angestachelt werden soll,38 und implizit Gegner Augustinus’, dann stellt sich die Frage, ob die Anrufung Gottes mehr als eine rhetorische Figur im Sinne einer Beglaubigungsinstanz ist,39 d.h. welche Funktion diese für die Confessiones hat. Wenn man Augustinus’ lebhaftem Gottesbekenntnis nicht die Authentizität und Glaubwürdigkeit absprechen will, kann hier eine Deutung helfen, die Derrida dem Begriff des «Bekenntnisses» als «Bitte um Vergebung» gegeben hat: «(…) when one asks for forgiveness, when one confesses (…) it’s not a question of truth, at least not a question of constative truth. When I ask, when I confess, I’m not reporting a fact. I can kill someone. I can hijack a plane and then report; it’s not a confession. It becomes a confession only when I ask for forgiveness and, according to the tradition, when I promise to repent, that is, to improve, to love, to transform my hatred into love, to transform myself, and to do so out of love. (…) That’s what perhaps Augustine calls ‹to make the truth›. Not to tell the truth, not to inform – God knows everything – but to make the truth, to produce the truth. (…) even if one agrees that confession has nothing 34
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Magnus es, domine, et laudabilis valde. (...) laudare te vult homo, aliqua portio creaturae tuae. tu excitas, ut laudare te delectet, quia fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te. Auch die eigenen Bemühungen Augustinus’, der mit seinen Confessiones den Leser zu Gott «ermuntern» (excitare) möchte, gehen letztlich von Gott aus, vgl. B. Kursawe, «Die Bedeutung von ‹excitare› im Werk Augustins», in: Signum Pietatis (Festschr.f. C. Mayer), Würzburg 1989, 217–230. Cui narro haec? neque enim tibi, deus meus: sed apud te narro haec generi meo, generi humano (…). Die Funktion der Confessiones, den Lebensweg des vom Manichäismus zum Christentum bekehrten Bischofs gegenüber gegnerischen Anfeindungen hinsichtlich der persönlichen Integrität Augustinus in den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen um 400 in Nordafrika zu rechtfertigen, stellt Th. Fuhrer heraus (in: Dies., Augustinus, Darmstadt 2004, 124 f., vgl. auch «De-Konstruktion der Ich-Identität»). Am Beispiel von De civitate Dei arbeitet Ch. Tornau (Zwischen Rhetorik und Philosophie, Berlin 2006) eine Grundfigur der apologetischen Rede heraus, die zwischen dem unmittelbaren Adressatenbezug und dem impliziten Bezug auf einen abwesenden Gegner unterscheidet. Dieses Muster läßt sich gut auch auf die Confessiones anwenden. Drecoll, Gnadenlehre, 268 nennt die Confessiones daher einen «Protreptikos mit apologetischer Tendenz». Augustinus bezeugt in der Rückschau auf die Rezeption seiner Confessiones, daß sie viele Leser gehabt hätten, von denen aber nur die «Brüder» wichtig sind, weil sie im richtigen Sinne gelesen hätten (vgl. Retr. 2,32: quid de illis alii sentiant, ipsi viderint; multis tamen fratribus eos multum placuisse et placere scio.). In diesem Sinne sieht B. Zimmermann, Augustinus, Confessiones, 242 f. in Gott den «Garant für die Glaubwürdigkeit des Erzählten», der «gleichsam die Rolle der Muse als Inspirationsquelle» einnimmt.
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Augustinus’ Confessiones und die (Un-)Möglichkeit der Autobiographie
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to do with truth in the theoretical constative mode, nor perhaps with truth in some performative mode, there is something true with the event.»40
Derridas Interpretation des Augustinischen veritatem facere,41 die einerseits den Unterschied von konstativer und performativer Wahrheit aus der Sprechakttheorie, andererseits den Heideggerschen Wahrheitsbegriff qua Ereignis zugrunde legt, zeigt in bemerkenswerter Weise eine strukturelle Ähnlichkeit zu Ratzingers Deutung der Formel: Im Bekenntnis geschehe das Tun der Wahrheit als Wirken der Gnade, das sowohl die «Anerkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit» als auch die «volle Anerkenntnis der Alleinherrlichkeit Gottes» bedeutet.42 Durch dieses Bekenntnis trete der Mensch in eine «Urteilsgemeinschaft mit Gott» und ermögliche so die «Seinsgemeinschaft der Gnade».43 In diesem Begriff vom «Tun der Wahrheit» geht es wie für Derrida nicht um einen konstativen bzw. performativen Begriff von Wahrheit im Sinne einer Übereinstimmung von Gedanken oder Aussagen mit der Wirklichkeit bzw. der Form ihrer Äußerung, sondern um ein dynamisches Wahrheitsgeschehen, das von einer Instanz außerhalb des Menschen abhängt. Während Ratzinger diese mit dem christlichen Gott und seiner Gnade identifiziert, sieht sie Derrida im namenlosen Anderen, der im Bekenntnis bekannt und um Vergebung gebeten wird.44 Denn eine Bitte um Vergebung oder ein Bekenntnis, das an ein bestimmtes Gegenüber gerichtet wäre, würde die Offenheit des Ereignisses und die unkalkulierbare Gabe der Vergebung unmöglich machen.45 Gott ist in beiden Deutungen also nicht wie die Gemeinde oder die Gegner der eigentliche Adressat des Bekenntnisses, sondern die Instanz, von der der Mensch in seinem Bekenntnis Vergebung erbittet bzw. Gnade erfährt. Er läßt sich nur bekennen in der Bitte und im Anruf, sei es eines anonymen Anderen oder eines namentlich bekannten Wesens, so daß das Bekenntnis selbst einen anderen performativen Status als etwa ein Bericht annimmt. Während dieser Aussagen über vergangene oder gegenwärtige Ereignisse macht und seine Wahrheit durch einen Vergleich mit der Tatsächlichkeit dieser Ereignisse festgestellt werden kann, wie es eine klassische Korrespondenztheorie der Wahrheit beanspruchen würde, ist jenes als Bitte oder Versprechen in die Zukunft gerichtet und in seiner Wahrheit offen und erst von dieser her bestimmbar. Die Wahrheit der Beschreibung autobiographischer Details ist daher nicht an der Authentizität und Historizität eines Berichts zu messen, sondern an der Offenheit des Versprechens für die Zukunft, in dessen Licht auch die Vergangenheit interpretiert wird, also einem hermeneutischen Wahrheitsbegriff. Eine Forschung, die nach der historischen Wahrheit von Augustinus’ Lebensbeschreibung fragt, muß daher von vorn-
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J. Derrida, «Composing ‹Circumfession›», in: J. D. Caputo /M. J. Scanlon (Ed.), Augustine and Postmodernism. Confessions and Circumfession, Bloomington 2005, 19–27, Zitat s. p. 23 und 26. Vgl. ders., Zirkumfession, in: G. Bennington/J. Derrida, Jaques Derrida. Ein Porträt, Frankfurt/M, 1994 (frz. Dies., Jaques Derrida, Paris 1991), 55–60. Qui facit eam [= veritatem], venit ad lucem. volo eam facere in corde meo coram te in confessione, in stilo autem meo coram multis testibus (conf. 10,1,1). J. Ratzinger, «Originalität und Überlieferung in Augustins Begriff der ‹confessio›», in: REAug 3 (1957), 375–392, zum Begriff des veritatem facere bes. 385–389. Ebd. 386. Derrida, Composing ‹Circumfession›, 25: «When one confesses, one always confesses the other. (…) I cannot confess myself. If I confess that I did so and so, that is the other. (…) It’s always the other in me who confesses». Derrida, Composing ‹Circumfession›, 24.
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herein fehlgehen.46 Die Intention auf den Anderen bedeutet mit Derrida, daß Bekenntnis, Bitte und Versprechen nur vom Anderen her möglich sind. Gott als dieser Andere ist im phänomenologischen Sinne die Bedingung der Möglichkeit des Bekenntnisses oder dessen transzendentaler Horizont und im theologischen Sinne das konkrete Du eines persönlichen Gottes, der im Gebet angerufen und im Bekenntnis bekannt werden kann. Derridas von Heidegger und Levinas übernommene Terminologie von Wahrheit als Ereignis, das durch den Anderen ermöglicht wird, wird theologisch gedeutet als Eröffnung von Wahrheit durch die Gnade Gottes und die Offenheit für Wahrheit als Angewiesenheit des Menschen auf die Gnade. Der Andere oder die Gnade Gottes ermöglicht das menschliche Sündenbekenntnis und das Lob Gottes, die confessio peccati und confessio laudis, und zugleich die Erkenntnis der Gnade Gottes und ihre Anerkenntnis als entschiedene Bejahung im Glauben, also die confessio fidei und confessio scientiae. Das Tun der Wahrheit zerfällt in zwei Bekenntnisakte: das innere Bekenntnis «in meinem Herzen vor dir» (in corde meo coram te) und das öffentliche, schriftlich niedergelegte Bekenntnis «in meinem Buch vor vielen Zeugen» (in stilo autem meo coram multis testibus) (conf. 10,1,1). Das menschliche Herz ist der eigentliche Ort der nicht zu täuschenden Wahrheit des Bekenntnisses, wie Augustinus mit einem Zitat aus dem 1. Korinther-Brief (2,11) sagt: «Kein Mensch weiß, was im Menschen vorgeht, außer dem Geist des Menschen, der in ihm ist (spiritus hominis, qui in ipso est)» (conf. 10,3,3). So ist der Geist des Menschen der Anteil des Menschen, der seine Gottebenbildlichkeit ausmacht. Eine unerschütterliche Gewißheit und echtes, notwendiges Wissen gibt es hier nur in der Einheit und Ganzheit des göttlichen Geistes, der im fleischlichen Menschen jedoch stets in Zerstreuung von sich selbst lebt und im inneren Bekenntnis im Herzen des Menschen gleichsam in die Einheit Gottes proleptisch zurückläuft, ohne diese jemals erreichen zu können.47 Im diesseitigen Leben ist die Selbsterkenntnis des Menschen nur als hermeneutisches Geschehen von Anruf Gottes und Antwort des Menschen darstellbar. So verweist schon der Beginn des 10. Buchs mit einer Reminiszenz an den 1. Korinther-Brief (13,12), in dem hauptsächlich über die Liebe (caritas) gehandelt wird, auf diese asymmetrische Relation: «Erkennen will ich dich, mein Erkenner, erkennen will ich, sowie ich erkannt bin» (conf. 10,1,1). Der menschlichen Selbsterkenntnis, die dem Bekenntnis vorausgeht, geht der Anruf Gottes voraus: «Von dir etwas über sich selbst hören heißt doch nichts anderes als: sich selbst erkennen» (ebd.). Das Leben selbst wird zu einem Dialog Gottes mit dem Menschen, wenn auch nicht zwischen gleichberechtigten Gesprächspartnern, da der Mensch von der Gnade Gottes abhängt. Das Bekenntnis ist daher nur die notwendige Antwort des Menschen, genauso wie seine Bitte, sein Anruf Gottes und sein Gebet nur Reaktionen auf die Ansprache Gottes sind. «Und auch wenn ich dir nicht bekennen wollte – was, Herr, vor dessen Augen der Abgrund 46
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Bis zum Beginn der historisch-kritischen Forschung, die mit Adolf von Harnack und Gaston Boissier um 1888 einsetzte, wurde in den Confessiones eine hervorragende Quelle zur Rekonstruktion der Augustinischen Biographie gesehen. Davon sind die meisten Forscher mittlerweile abgerückt, vgl. E. Feldmann, «Das literarische Genus und das Gesamtkonzept der Confessiones», in: N. Fischer/C. Mayer (Hg.), Die Confessiones des Augustinus von Hippo. Einführung und Interpretation zu den dreizehn Büchern, Freiburg/Br. 2004, 12–18. Vgl. N. Fischer, «Sein und Sinn der Zeitlichkeit im philosophischen Denken Augustins», in: REAug 33 (1987), 230: «Gerade weil es in der Welt Erkenntnis im Sinne der göttlichen Illumination nicht gibt, weil es demnach auch keine Garantie für die Wahrheit des Glaubens gibt, ist das gläubige Leben, das auf die Erfüllung des menschlichen Weltdaseins in der Ewigkeit ausgerichtet ist, eine wohl für den Glaubenden risikobeladene, aber in sich sinnvolle (…) Möglichkeit.» Die Möglichkeit des Lebens entspricht der Zukunftsgerichtetheit und Offenheit des Versprechens im Bekenntnis.
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des menschlichen Gewissens (abyssus humanae conscientiae) bloßliegt, wäre dir dann verborgen? Ich würde dann nur dich vor mir verstecken, nicht mich vor dir» (10,2,2). Die Unverborgenheit der menschlichen Seele vor Gott und ihre Abgründigkeit für sich selbst macht ein Bekenntnis der Sünde des Menschen und der Gnade Gottes notwendig, da der Verzicht auf ein Bekenntnis nur ein Beharren in der Sünde bedeuten würde. Das Begriffspaar placere – displicere zeigt den abgrundtiefen Unterschied zwischen Gott und Mensch und die Wahlmöglichkeit des Menschen zwischen einem gottgemäßen und einem gottfernen Leben auf: «So aber bezeugt mein Stöhnen, daß ich mir selbst mißfalle. Du gefällst mir in deinem Lichtstrahl, du wirst geliebt und ersehnt, so daß ich mich meiner selbst schäme, mich verwerfe und dich erwähle. Dir wie mir will ich nur noch gefallen in dir» (ebd.). Die Diskrepanz zwischen dem sündigen Menschen und dem gnädigen Gott kann nur durch das Bekenntnis zu Gott, d. h. durch den Glauben und das Eingeständnis der Sünde, geheilt werden, wobei das Böse allein dem Menschen zuzurechnen ist und das Gute der Gnade Gottes (ebd.).
3. Caritas als hermeneutisches Prinzip des Schreibens und Hörens Wie dem Erkanntwerden durch Gott ein Erkennen Gottes im Bekenntnis nachfolgt, so entspricht der Liebe Gottes nur die Liebe des Menschen zu Gott. Wo das öffentliche Bekenntnis für das innere Bekenntnis unerheblich ist, da Gott die Lebenswahl des Menschen bereits auch ohne Worte kennt, so ist es notwendig «aus Liebe zu deiner Liebe» (11,1,1), also als Vergeltung der Liebe Gottes mit der Liebe des Menschen zu den Menschen, gemäß dem doppelten Liebesgebot aus Mt 22,37–40, daß der Mensch Gott und den Nächsten liebt.48 Die Liebe (caritas) ist das Tun der Wahrheit, das sowohl für den Erzähler das Motiv für sein öffentliches Bekenntnis ist als auch für den Hörer bzw. Leser, dem Bekenntnis Glauben entgegenzubringen, ja die Liebe ist sogar der hinreichende Beweisgrund für die Wahrheit des Bekenntnisses: «Aber da die Liebe alles glaubt, so will ich dir, Herr, wenigstens unter denen, die sie miteinander zur Einheit verbindet, diese meine Bekenntnisse so ablegen, daß die Menschen mich hören können. Ich kann ihnen nicht beweisen (demonstrare), daß ich Wahres bekenne; aber diejenigen werden mir glauben, denen die Liebe die Ohren öffnet» (10,3,3). Die Christengemeinde, der unmittelbare Adressatenkreis des Bekenntnisses, ist – und das ist die zweite Funktion Gottes für das Bekenntnis neben der, die Selbsterkenntnis und das Selbst des Menschen überhaupt in Einheit und Ganzheit transzendental zu ermöglichen, ohne sie faktisch zu verwirklichen – nur durch den gemeinsamen Bezug auf Gott in der Liebe miteinander und mit dem Erzähler verbunden. Daher ist ihr Hören von einem gemeinsamen Vorverständnis getragen, wie der Erzähler sich in seinem Bekenntnis um das rechte, verständige Wort bemüht. Die Liebe öffnet die Ohren, das will sagen, daß die Gnade Gottes auch im rechten Hören, in der liebenden Mit-Freude und im Mit-Leid mit dem bekennenden Mit-Bruder und in dessen liebendem Anruf der Gemeinde und in seiner
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In De doctrina christiana 1,22 und 1,26,27–27,28 werden die beiden in der Bibel parallel genannten Gebote der Gottes- und der Nächstenliebe in eine teleologische Ordnung zueinander gebracht und darauf eine «abgestufte Liebe» (ordinata dilectio) von Gottes-, Nächsten-, Feindes- und Selbstliebe gegründet, vgl. Pollmann, Doctrina christiana, 122 f.
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Zuwendung zu ihrem Heil wirkt.49 Wo kein deiktischer Verweis auf gegenwärtige Tatsachen oder ein juristischer Indizienbeweis vergangener Ereignisse die Glaubwürdigkeit der Bekenntnisrede garantiert, tritt die Liebe ein und führt das gemeinsame Vorverständnis eines christlichen Lebens zum rechten Verständnis der Augustinischen Lebensbeschreibung. Dabei ist die Versicherung der Liebe als Beglaubigung zunächst nur ein Appell an das rechte Hören bzw. ein Anruf der Liebe, analog dem menschlichen Anruf Gottes im Bekenntnis. Dieser Appell ist offen, als Bitte vorgetragen und unbestimmt; das Ausbleiben des Hörens oder das Mißverständnis sind prinzipiell immer möglich, allerdings ist der Glaubende hoffnungsvoll, daß Gottes Gnade auch die rechte Liebe des Hörens bewirkt. Sprachphilosophisch gewendet, ist die Liebe die Mindestvoraussetzung für eine gelingende Kommunikation und die Existenz einer Kommunikationsgemeinschaft und wird von daher etwa in der modernen sprachanalytischen Philosophie als principle of charity zur notwendigen Bedingung des Sprach- und Zeichenverstehens.50 Die caritas ist auch das Universalprinzip der Augustinischen Hermeneutik, insbesondere seiner Bibelhermeneutik. Im ersten Buch von De doctrina christiana finden sich die umfangreichsten zusammenhängenden Äußerungen Augustinus’ zur caritas und ihrer hermeneutischen Funktion. Nach Karla Pollmann entwirft Augustinus hier «eine theozentrische Caritas-Ethik», die er für seine Hermeneutik so nutzbar macht, daß die caritas «das Auslegungsresultat und zugleich der hermeneutische Normenhorizont einer jeglichen Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Aussagegehalt der Bibel» ist, d. h. sie ist «sowohl deren Ziel als auch deren Voraussetzung».51 Der Inhalt und das Ziel (plenitudo et finis) der Bibel ist die caritas gemäß dem doppelten Liebesgebot (DC 1,35,39,84), und verstanden hat die Aussageabsicht der Bibel nur derjenige, der die Liebe zu Gott und zum Nächsten aufbaut (aedificet) (1,36,40,86). Während die Liebe, die «die Menschen wechselseitig miteinader mit einem Band der Einheit verbindet» (sibi homines invicem nodo unitatis astringit), die Mindestvoraussetzung für wechselseitiges Lernen, Kommunikation und Verständigung ist (prol. 6,13), besteht die Schrift bzw. die Sprache nur aus «konventionellen Zeichen (data signa), die sich alle Lebewesen wechselseitig geben, um nach besten Kräften die Bewegungen ihres Geistes oder irgendwelche Wahrnehmungen oder Gedanken anzuzeigen» (2,2,3,3). Der Zeichengebrauch hängt von der Übereinkunft einer Kommunikationsgemeinschaft ab und ist notwendig und hinreichend begründet dadurch, «das hervorzuholen und in den Geist eines anderen hinüberzubringen, was der im Sinn hat, der das Zeichen gibt» (ebd.). Sprache beruht also auf einer sozialen Übereinkunft und auf Zeichen, die den inneren Sinn eines Menschen nach außen an die Gemeinschaft vermitteln. Das Verstehen findet zwar nach Vermittlung durch die Zeichen, aber letztlich unabhängig von ihnen im inneren Sinn des Menschen statt. Folglich können die Zeichen auch das Verständnis fehlleiten oder gar behindern, etwa wenn sie unbekannt oder doppeldeutig sind.52 Das rechte Verständnis des Augustinischen Bekenntnisses findet also vorsprachlich statt, wenngleich es auch durch sprachliche Zeichen mitgeteilt wird und den inneren Sinn des Au49
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B. Zimmermann, Augustinus, Confessiones, 244 spricht daher mit Recht von «sympathetischer Identifikation» als rezeptionsästhetischem Ziel der Augustinischen Darstellung und von einer Transformation der paganen verisimile bzw. eikos-Poetik durch die caritas. In diesem Sinne ist das principle of charity von Donald Davidson formuliert worden, vgl. K. Glüer, Donald Davidson zur Einführung, Hamburg 1993, 63–80. Pollmann, Doctrina christiana, 122, 124 u. 136. Zur hermeneutischen Valenz der caritas vgl. ebd. 135–143. Zum Umgang mit solchen Zeichen entwickelt Augustinus in Buch 2 und 3 von Doctrina christiana entsprechende Strategien.
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tors seinen Hörern anzeigen soll. Augustinus legt sein Bekenntnis daher nicht «mit Worten und Lauten des Fleisches» (verbis carnis et vocibus) ab, sondern «mit Worten der Seele und dem Schrei des Denkens (verbis animae et clamore cogitationis), den dein [d.i. Gottes] Ohr kennt» (conf. 10,2,2). Der Unterschied zwischen Worten des Fleisches und Worten der Seele oder des Geistes besteht darin, daß «durch den Körper auf mannigfaltige Weise bezeichnet wird (multipliciter significari), was durch den Geist auf eine Weise (uno modo) begriffen wird» (und umgekehrt: ein mannigfaltiges Begreifen durch den Geist, was vom Körper auf eine Weise bezeichnet wird). Ein Beispiel für diesen Fall ist die Einfachheit der Gottes- und Nächstenliebe, die auf körperliche Weise in unzähligen Sprachen und in jeder von diesen wiederum in unzähligen Ausdrucksweisen bezeichnet wird (13,24,36). Die lautlich-semantische Dimension der sprachlichen Zeichen ist der Grund für ihre Vielheit und Äußerlichkeit, die Augustinus «Körperlichkeit» nennt, während pragmatisch die Verständigung durch die Einheit des Geistes, d. h. durch die Übereinstimmung hinsichtlich des gemeinten Inhalts zustande kommt. Dies ist letztlich das «innere Wort» oder der gemeinsame Logos, der sowohl im inneren Bekenntnis des Menschen vor Gott und in der Liebe zu ihm auftritt als auch im öffentlichen, sprachlich geäußerten Bekenntnis, das jedoch nur recht verstanden werden kann durch die Einheit und Gleichheit des Geistes von Autor und Rezipient. Wie die Liebe für Augustinus Ziel, Inhalt und Voraussetzung der Bibel ist, so ist sie dies auch für sein Bekenntnis und zwar nicht nur für das öffentliche, sondern auch für das stille im Herzen des Menschen vor Gott. Die Pointe dieser Betrachtung rückt Augustinus nahe an eine Einsicht Derridas: Richtiges und falsches Hören sind unterschiedslos zu richtigem und falschem Schreiben. Die literarischen Instanzen des Autors und des Interpreten bzw. Rezipienten fallen ineinander, indem der Autor eines Textes im Augenblick des Schreibens zugleich auch sein eigener Interpret ist.53 Für Augustinus ist die richtige Interpretation von einer falschen durch ein geistiges Erfassen der Autorenintention zu unterscheiden, das dem Autor aus caritas und zum Zweck der caritas das Erfassen der Wahrheit unterstellt (12,18,27 u. 12,30,41). Bei jeder Interpretation sind das Zusammenspiel von Autor und Interpret und die Möglichkeit einer Interpretationsgemeinschaft vorausgesetzt, in der sich die Wahrheit eines Textes und sein Verständnis entfalten können. Hierin unterscheidet sich die Autobiographie strukturell nicht vom Bibeltext, denn der Autor des Bibeltextes, z. B. Moses, wird angesehen als «dein Diener, der sachkundige Verfasser der Schrift, voll vom deinem Geist» (12,30,41). Die Autorenintention des Moses zu erfassen, bedeutet also, den Text unter der Voraussetzung der göttlichen caritas und mit dem Ziel ihrer hiesigen Verwirklichung zu interpretieren. Ebenso erfährt sich Augustinus nicht im eigentlichen Sinne als Autor seines Lebens, denn «was gut ist an mir, hast du gewirkt und ist dein Geschenk; was schlecht ist an mir, ist mein Vergehen und wird von dir bestraft» (10,4,5). Der Autor der Confessiones folgt also einem seinem Leben zugrunde liegenden Text, den er im Leben wie auch im Schreiben interpretiert, nämlich dem Heilsplan Gottes mit dem Menschen. Wie die Bibel das Buch des Lebens Gottes mit dem Menschen ist, sind auch die Confessiones das Buch eines Menschen 53
Vgl. J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 6 1994 (frz. Ders., L’écriture et la difference, Paris 1967), 23 und Bennington, Derridabase, 61 f. In Otobiographie. L’enseignement de Nietzsche et la politique du nom propre (Paris 1984) geht Derrida so weit zu sagen, daß der Autobiograph zuallererst sich selbst seine Lebensgeschichte erzählt und sich damit selbst zuhört. Auch Augustinus sagt, daß seine Confessiones ihr literarisches Ziel, Gott zu loben und Verstand und Gefühl zu ihm zu erheben, schon während des Schreibens erreicht haben, wie auch später bei der eigenen Lektüre (vgl. Retr. 2,32: interim, quod ad me adtinet, hoc in me egerunt, cum scriberentur, et agunt, cum leguntur).
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mit Gott, das dieser anderen Menschen mitteilt – unter der Voraussetzung und zum Ziel einer gemeinschaftsstiftenden Verwirklichung der caritas, die als Gnade Gottes an Augustinus gewirkt hat und im Leben eines jeden Menschen wirkt. Der Text der Confessiones verweist damit stets auf den Hypertext der Bibel und auf deren Interpretation durch die Augustinische Theologie.
4. Augustinus und Derrida Augustinus’ Lebensbeschreibung könnte man also mit Derrida als eine «Form der Theologie als Autobiographie»54 beschreiben, weil die Autobiographie von der Theologie her determiniert ist. Es steht nicht wie in der modernen Autobiographie, etwa in Goethes Dichtung und Wahrheit oder Rousseaus Confessions, das einmalige Individuum und die Zeitumstände, die zur Herausbildung seiner Individualität geführt haben, im Mittelpunkt der Betrachtung. Vielmehr handelt es sich um den exemplarischen Lebenslauf eines Konvertiten, den Augustinus folgerichtig mit der Taufe enden läßt, da zu dem hierin erreichten Wirken Gottes im Leben des Menschen erst mit der direkten Schau Gottes im Jenseits etwas Neues hinzutritt. Daher fehlt Augustinus das Interesse für im eigentlichen Sinne biographische Details, wie etwa die Nennung von Namen oder Geburtsorten und -tagen, oder für die exakte Reihenfolge biographischer Daten.55 Für den Augustinus, der sich als zeitliches, leibliches Ich in «Worten des Fleisches» beschreibt, gilt die These von Derrida und de Man von der «Unmöglichkeit» bzw. «Unlesbarkeit» der eigenen Autobiographie. Der Mensch erfährt sich und sein Leben als zerrissen, fragmentarisch und entfernt von Gott. Sein Selbstbezug ist stets gebrochen, weil er der Vergänglichkeit der Zeit nicht entrinnen und sich selbst nie in seiner Totalität gegeben sein kann. In seiner Erinnerung ist eine eigentümliche Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit, von intentio und distentio am Werke, die das Ich stets in Differenz zu sich selbst setzt. Der Grund für diese Erfahrung der Differenz liegt im ontologischen Status des Menschen als Zwischenwesen zwischen vergänglicher und ewiger Sphäre: Als Körper gehört der Mensch zum Vergänglichen, als Geist zum Unvergänglichen, wobei seine Seele als Lebensprinzip des Körpers und in ihrer höchsten Form als Vernunft sowohl am einen wie auch am anderen teilhat. Für Augustinus wäre jedoch ein Insistieren auf der Differenz einseitig, weil sie die Ausrichtung auf eine metaphysische Einheit leugnen würde. In der theologischen Interpretation, in die Augustinus seine Lebensbeschreibung einbettet, wird die Autobiographie schließlich möglich und der Mensch für sich selbst verständlich, allerdings nur im Hinblick auf die Gnade Gottes und in «Worten des Geistes», also das, was die Dekonstruktivisten als Logos- und Präsenzmetaphysik bezeichnen und kritisieren würden. Ihrem fundamentalen Einwand, daß sich auch der Mensch selbst nur in sprachlichen Zeichen zugänglich ist und damit deren Uneindeutigkeit und Ambivalenz unterliegt, kann Augustinus nur mit Evidenzerlebnissen wie in Ostia begegnen, da das «innere Wort» bzw. der Logos in nichtsprachlicher Weise die Einheit und Ganzheit der Welt und darin des Menschen mit Gott vergegenwärtigt. 54 55
Derrida, Zirkumfession, 99. Darauf hat J. Holzhausen, «Augustin als Biograph und Exeget. Zur literarischen Einheit der Confessiones», in: Gymnasium 107 (2000), 534 f. hingewiesen.
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Augustinus’ Confessiones kann man jedoch einen Hinweis entnehmen, wie eine Autobiographie auch unabhängig von einer theologischen Deutung des Menschen und einer metaphysischen Sprach- und Zeichentheorie möglich ist: Das Individuum versteht und vermittelt immer ein Bild seiner selbst zu einem gegebenen Zeitpunkt im Blick auf seine mögliche Einheit und Ganzheit und im Hinblick auf einen Adressaten, um dessen Verständnis oder sogar Vergebung für sein Leben es bittet. Auch wenn Derrida die Einheit und Ganzheit der Person und ihrer Selbstdarstellung leugnet, muß er dennoch zugestehen, daß das Bild von sich selbst – wie er es etwa in den 59 Periphrasen seiner Circonfession entwickelt – abhängig ist von der Intention auf den Andern, der als Leser der Autobiographie um Verständnis gebeten wird. Der Text ist also im Hinblick auf eine Verständnis- und Lebensgemeinschaft mit dem Leser konzipiert. Insofern sich der Mensch im Hinblick auf das Verständnis des Anderen entwirft, ist der Andere schon im Text als transzendentaler Horizont anwesend.56 Wie für Augustinus dieser Andere in einer positiven Theologie der christliche Gott und die christliche Gemeinde ist, die er zu lieben aufgefordert ist, ist es für Derrida in einer negativen Theologie der Andere schlechthin als uneinholbare, sich jedem Zugriff entziehende Singularität, die ihm in der konkreten Situation etwa als seine im Sterben liegende Mutter begegnet oder begegnet ist und ein Fragment seiner Erinnerung ausmacht, wie etwa der Cousin, der Onkel etc., aber auch er selbst als Anderer seiner selbst, die er allesamt schreibend bekennt und um Vergebung bittet. Neben dieser Strukturanalogie ist Augustinus und Derrida auch die zentrale Rolle der Liebe für die Verständigung und das Zusammenleben gemeinsam. In seiner Politique de l’amitie57 hat Derrida nach einer Dekonstruktion wichtiger Theorien der Freundschaft von Aristoteles bis Nietzsche ein eigenes Konzept der Freundschaft vorgestellt: Er unterscheidet eine symmetrische, bedingte und eine asymmetrische, unbedingte Form von Freundschaft und verdeutlicht dies am Beispiel der Gastfreundschaft. Ein Besuchsrecht bedeutet, daß der Gastgeber den Besuchenden empfängt und dieser sich nach dessen Regeln richten muß, während bei der unbedingten Gastfreundschaft der Gastgeber offen ist für jeden beliebigen Besucher, den namenlosen Anderen, und ihm keine Regeln vorschreibt. Diese Unvoreingenommenheit bzw. Offenheit für den Anderen ist die Ermöglichungsbedingung einer echten Begegnung, die Derrida in Heideggerscher Terminologie «Ereignis» bzw. «evenement» nennt.58 Für unseren Zusammenhang ist bedeutsam, daß auch für Derrida, der hinsichtlich der Zeichengebundenheit unseres Sprechens und Denkens skeptisch ist, jene Form von bedingungsloser Liebe zur Voraussetzung aller Verständigung – vor aller Sprache – wird. Sprachlich ist sie nur als an die Zukunft gerichtete Bitte mitteilbar, wie auch für Augustinus das Bekenntnis nur durch die Bitte um die Liebe zum rechten Hören und den Anruf des Anderen wahr wird. Augustinus’ caritas ist genauso wie Derridas amitié sans amitié die Voraussetzung wie auch das Ziel der Gemeinschaft, wenn auch die christliche Brüderlichkeit
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Diesen Bezug zum Anderen hat auch R. Smith, Derrida and Autobiography, Cambridge/New York/ Melbourne 1995 aus den verstreuten Bemerkungen in Derridas Schriften als Charakteristikum seiner Theorie der Autobiographie herausgearbeitet. J. Derrida, «The Politics of Friendship», in: The Journal of Philosophy 1988, 632–644 (dt. Übs. in: K.D. Eichler (Hg.), Philosophie der Freundschaft, Leipzig 1999, 179–200); ders., Politik der Freundschaft, Frankfurt/M. 2002 (frz. Politique de l’amitié, Paris 1994); ders., Von der Gastfreundschaft, Wien 2001 (frz. De l’hospitalité, Paris 1997 ). Vgl. dazu ausführlicher Verfasser, «Politik der Freundschaft. Zur Aristoteles- und Heidegger-Rezeption bei Derrida», in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 6 (2007), 275–308.
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in Gott und in seinem offenbarten Liebesgebot begründet ist und die zukünftige universale Brüderlichkeit sich dem Appell des unbekannten, unbenannten Anderen verdankt. Sowohl für Augustinus als auch für Derrida ist eine Autobiographie prinzipiell unmöglich, in der der Schreibende sich selbst in seiner singulären historischen Individualität als Ganzes schriftlich erklären will, obwohl er doch zu jedem anderen Zeitpunkt des Schreibens anders sein wird. Eine Autobiographie kann im Bezug auf die eigene Vergangenheit und die eigene gegenwärtige Verfassung nur fragmentarisch sein und die Konstruktion eines vorläufigen Selbstbildes geben. Sie ist als Text daher prinzipiell offen, zunächst im Hinblick auf die Unabgeschlossenheit des eigenen Lebens, die im Text als Erwartungshorizont ausgedrückt werden kann, dann aber auch in der Offenheit für eine unbekannte Vielzahl möglicher Leser. Der Text ist daher weniger als historisches Dokument mit einer bestimmten Referentialität zu lesen denn als ein Versuch der Selbstverständigung und eine Bitte um Verständnis für das bisherige, so und so dargestellte Leben. Dies soll einen dynamischen, prinzipiell unabschließbaren Verständigungs- und Wahrheitsprozeß zwischen dem Autor und dem Leser einleiten. Dabei ist der Autor als Konstrukteur seines Selbstbildes selber Rezipient dieser Konstruktion, er ist in der Konstruktion Autor und Rezipient in einer Person. Daher ist Augustinus auch der Rezipient seiner selbst als Teil des Textes, der auf Gott als letzten, absoluten Autor zurückgeht und den der Mensch interpretieren muß.59 Der Autor Augustinus ist im Verhältnis zu seiner eigenen Vergangenheit genauso ein Rezipient wie im Verhältnis zum Wort Gottes – daher entspricht es durchaus einem einheitlichen Konzept, wenn nach der Selbstinterpretation des Menschen als Teil der göttlichen Schöpfung und seines Heilsplans in den ersten neun Büchern der Confessiones eine Interpretation des Anfangs der biblischen Schöpfungsgeschichte folgt.60 Das rechte, geistige Hören auf das Wort Gottes setzt eine ähnliche rezeptive Grundhaltung voraus, gewissermaßen eine fundamentale Passivität vor der Unterscheidung zwischen der Aktivität des Autors und der Passivität des Rezipienten, wie sie auch Derrida für seinen Begriff der Spur verlangt, der den ursprungslosen Ursprung eines unaufhörlich sich selbst differenzierenden Geschehens in der Schrift meint, welche der jeweils geschriebenen Schrift den Text vorgibt.61 Zu schreiben heißt, sich der Schrift einzuschreiben. In diesem Sinne interpretiert Augustinus sich selbst in den Worten der Bibel, wie auch Derrida immer wieder Zitate aus Augustinus’ Confessiones wie einen cantus firmus verwendet. In der Schrift wird sich der Mensch selbst zu einem offenen, unlesbaren Zeichen, das wiederum der Interpretation bedarf und auf eine Interpretationsgemeinschaft 59
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Schon E. Vance, «Augustine’s Confessions and the Grammar of Selfhood», in: Genre 6 (1973), 1–28 stellt in den Mittelpunkt seiner Betrachtung die Tatsache, daß das Ich als indexikalischer Ausdruck immer erst durch den Bezug auf einen bestimmten Kontext oder die Verwendung innerhalb einer bestimmten Sprachkonfiguration Bedeutung hat. Sich selbst zu verstehen, heißt daher für Augustinus, die Grammatik des Wortes Gottes zu verstehen. Dies mag hier als Hinweis auf eine mögliche Erklärung der Einheit der Confessiones genügen. Schon J. Holzhausen, Augustin als Biograph und Exeget, 532, sieht die Zusammengehörigkeit der beiden Buchblöcke in der Augustinischen Theologie: «Nach Augustins Verständnis ist eine christliche Autobiographie, die die Bekehrung eines Menschen darstellt, eine Unmöglichkeit; sie kann nur geschrieben werden, wenn sie zur ‹Biographie› Gottes wird.» Da Gott der eigentliche Akteur im Leben eines Menschen sei, erkläre sich der Wechsel im Aufbau der Confessiones als «Wechsel der Blickrichtung auf ein letztlich identisches Geschehen»: «Der erste Teil der Confessiones widmet sich der Heilsgeschichte aus einer individuellen, menschlichen Perspektive, in den Büchern 11–13 läßt Augustin Gott selbst zu Wort kommen» (527 f.). Vgl. Derrida, Grammatologie, 116; ders., Schrift und Differenz, 259–301 und Bennington, Derridabase, 62 f.
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Augustinus’ Confessiones und die (Un-)Möglichkeit der Autobiographie
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hofft. Hierfür hat Augustinus mit seinen Confessiones den Prototyp geschaffen, dessen Spur auch Derrida in seiner Circonfession folgt.
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