Antike und Abendland Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens
herausgegeben von
Wolfgang Harms · Werner von Koppenfels Helmut Krasser · Christoph Riedweg · Ernst A. Schmidt Wolfgang Schuller * Rainer Stillers
Band XLVH
2001 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Manuskriptsendungen werden an die folgenden Herausgebet erbeten: Prof. Dr. Wolfgang Harms, Institut für Deutsche Philologie, Universität, ScheÜingstr. 3* 80799 München - Prof. Dr. Werner von Koppenfels, Boberweg 18, 81929 München - Prof. D* Helmut Krasser/Institut für Klassische Philologie, Universität, Otto-Behagel-Stt. 10, Haus G, 35394 Gießen - Prof. Dr. Christoph Riedweg, Kluseggstr. 18, > CH-8Q32 £ * rieh - Prof. Dr. Ernst A. Schmidt, Philologisches Seminar, Universität, Wjlhelmstr; 36, 72074 Tübingen Prof. Dr. Wolfgang Schuller, Philosophische Fakultät, Universität, Postfach 5560, 78434 Konstanz - Prof. Dr. Rainer Stillers, Leinerstr. l, 78462 Konstanz. Korrekturen und Korrespondenz, die das Manuskript und den Druck betrifft, sind an den Schriftleiter Prof. Dr. Helmut Krasser zu richten. Die Mitarbeiter erhalten von ihren Beiträgen 25 Sonderdrucke kostenlos; weitere Sonderdrucke können vor der Drucklegung des Bandes gegen Berechnung);beim Verlag bestellt werden. Buchbesprechungin werden nicht aufgenommen; zugesandte Rezensionsexemplare gönnen nicht zurückgeschickt werden.
ISBN 3
016968 l
ISSN 0003-5696 © Copyright 2001 by Walter de Gjuyter GmbH & Co. KG, D-I0785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen' Und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Arthur Collignon, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin
Inhaltsverzeichnis Werner v. Koppenfels, München oder der Blick von der Höhe: Ein menippeischer Streifzug....
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Rainer Thiel, Marburg Philosophie als Bemühung um Sterben und Tod. Tugendlehre und Suizidproblematik bei Platon und den Neuplatonikern . . . .
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Stefan Büttner, Marburg Psychologie und Poetik bei Platon. Argumente für die Einheit der Platonischen Dichtungstheorie
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Roman Dilcher, Heidelberg Die Einheit der Aristotelischen Rhetorik
66
Markus Asper, Konstanz Gruppen und Dichter: Zu Programmatik und Adressatenbezug bei Kallimachos
84
Mathias Eicks, Tübingen Triptychon der Liebe - die Oden III, 26-28 des Horaz
117
Alexander Rubel, Konstanz Caesar und Karl der Große in der Kaiserchronik. Typologische Struktur und die translatio impeni ad Francos
146
Hans Bernsdorff, Göttingen Goethes erstes Venezianisches Epigramm und seine antiken Vorbilder
164
Werner Schubert, Heidelberg Trimaichio ad symphoniam ailatus. Petrons Satyrica und Bruno Madernas Oper Satyricon
176
Anna Christoph, Bozen Der Horatier, Aeneas und das ExempeL Heiner Müllers Horatier als Lehrstück über die Verantwortlichkeit der Literatur 191 Klaus Döring, Bamberg Sokrates auf der Opernbühne
198
Mitarbeiter des Bandes Dr. Markus Asper, Untere Laube 43, 78462 Konstanz PD Dr. Hans Bernsdorff, Seminar für Klassische Philologie, Humboldtallee 19, 37073 Göttingen Dr. Stefan Büttner, Philipps-Universität Marburg, Seminar für Klassische Philologie, Wilhelm-Röpke-Str. 6, 35039 Marburg Anna Christoph, Münzbänkweg 19,1-39100 Bozen Dr. Roman Dilcher, Hauptstr. 139, 69117 Heidelberg Prof. Dr. Klaus Döring, Universität Bamberg, Kapuzinerstr. 16, 96045 Bambefg Mathias Eicks, Breuningstr. 30, 72072 Tübingen Prof. Dr. Werner von Koppenfels, Boberweg 18, 81929 München Dr. Alexander Rubel, Universitätsstr. 10, Postfach D3, 78457 Konstanz Prof. Dr. Werner Schubert, Plöck 81a, 69117 Heidelberg PD Dr. Rainer Thiel, Philipps-Universität Marburg, Seminar für Klassische Philologie, WilhelnvRöpke-Stt. 6, 35039 Marburg
WERNER VON KOPPENFELS ΚΑΤΑΣΚΟΠΟΣ oder der B ck von der H he: Ein menippeischer Streifzug F r Rudolf S hnel υψηλού τίνος ήμϊν δει χωρίου Was wir brauchen, ist ein hochgelegener Standort (Lukian, Charon, 2) iuvat ire per alt a astra, iuvat terris et inerti sede relicta nube vebi validique umeris insistere Atlantis, palantesque homines passim et rationis egentes despectare procul... (OvidL, Λ&/. XV, 147 ff.)
/. Paradoxie und Ex^entrik der menippeischen Standpunkte Das Bewu tsein f r die neuzeitliche Kontinuit t der Menippeischen Satire, die von den Humanisten und Aufkl rern wiederentdeckt und weiterentwickelt wurde, hat seit der romantischen Epochenwende stark abgenommen*. Doch die satirisch-phantastische Erz hlliteratur von der Renaissance bis hin zur Antiutopie und Science Fiction der Gegenwart lebt in erstaunlichem Ma e immer noch von ihren Konventionen. Freilich: der Umfang des Begriffs Satura Menippea ist schon f r ihre antike Entfaltung, und erst recht f r ihr h chst vitales Fortleben seit der Renaissance, notorisch schwer einzugrenzen. Bedeutende Kritiker wie N. Frye und M. Bachtin haben sich bekanntlich mit einem gewissen Erfolg bei ihrer Anwendung des Begriffes auf die neuzeitliche Literaturen bem ht, durch Definition von Strukturmerkmalen der proteischen Gattung etwas' festere Konturen zu geben.1 Die Zunft ist dieser Anregung, wenn berhaupt, nur sehr z gerlich gefolgt. «When I started writing on such subjects,» schreibt Frye zwanzig Jahre danach, «there was not one in a thousahd university teachers of Gulliver** Travels who knew what Menippean Satire was: now there must be two or three.»2 , Die Existenz einer intrikaten und teilweise schwer zug nglichen Texttradition, die man erst einmal lesend und analysierend zur Kenntnis nehmen m te, steht dabei der abstra* Die folgende Untersuchung ber hrt sich stellenweise mit einigen meiner fr heren Studien zum Fortleben der Menippea, auf die jeweils in den Fu noten verwiesen wird. 1 VgJ. N. Frye, Anatomy of Crit'msm, Princeton 1957, S. 308-312; S. 232-236; M. Bachtin, Probleme der Poetik Dosiojevskijs, M nchen 1971, S. 125-136; erg nzend Vf., Bild und Metamorphose, Darmstadt 1991, S. 144-151. 2
Zit. bei E. P. Kirk, Menippean Satire: An Annotated Catalogue o/Tcxts and Criticismt New York 1980, S. xxxi.
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hierenden Verallgemeinerung störend im Wege^ Das Verschwinden des Lateinischen aus dem geistigen Horizont hat zentrale Mittlerfiguren wie Erasmus zu schattenhafter Existenz verdammt; ein weiteres tat die Altphilologie, zumal die deutsche, mit ihrer chronischen Unterschätzung der unklassischen Tradition - ohne Rücksicht auf die Weite und Tiefe ihrer literarischen Wirkung. Die lange Vernachlässigung Lukians ist nur ein besonders frappantes Beispiel unter vielen; die angelsächsischen Classical Studies haben sich freilich mittlerweile des Themas Lukian und Menippea mit einigem Erfolg angenommen.3 Wie die Dinge nun einmal liegen, wird man weder von einer modisch über den Niederungen der Texte schwebenden allgemeinen Literaturwissenschaft, noch von den nationalliterarisch ausgerichteten, und ihrer klassischen Wurzeln beschnittenen Sparten der Anglistik, Romanistik oder Germanistik viel Verständnis für die hier zu erforschenden Zusammenhänge erwarten dürfen, doch laßt die vielbeschworene komparatistisebe Öffnung dieser Fächer auf bessere Zeiten hoffen. Daß die formale Bestimmung der Menippea durch die Vermischung von Vers und Prosa, das prosimetrum, das heute noch gern von den Minimalisten zum alleinigen Gattungsmerkmal erhoben wird, nicht hinreicht, hat bereits Erwin Rohde in einer länglichen Fußnote seines Buches zum griechischen Roman vor einiger Zeit festgestellt: Hört man die Worte des Probus [über die Beziehung zwischen Varro und Menippos], so sollte man meinen, Varro habe von Menipp nichts als die Vermischung von Vers und Prosa herübergenommen ... doch die societas ingenii kann nicht einfach durch eine ziemlich nebensächliche Gemeinsamkeit in der äußeren Form begründet werden ... Denn Varro verbindet mit Menipp die Gemeinschaft der Sinnesweise ...4 Und die wiederum ist in ihrer paradoxen Bildhaftigkeit kynischen Ursprungs: der (die kynische Wendung, Gesinnung, Metapher, Perspektive) bedeutet Verrückung der vertrauten Sehweise zu umstürzlerischen Zwecken. Anders gesagt: die Menippea macht mit den Mitteln fiktionaler Phahtastik die philosophische Subversion des Überkommenen erlebbar, und zugleich als konische Verbildlichung anschaulich: ihre Fiktionen und Bilder sind letztlich Gedankenfiguren. Sie ist eine scherz-ernste Mischform, ein kynischer Färbung, und als erklärte Vermengung heterogener Bestandteile satura im ursprünglichen Wortsinn. Das Lehrziel des Kynikers Diogenes, das Überkommene und Festgesetzte exemplarisch umzustoßen und auf den Kopf zu stellen, von seiner anekdotischen Biographie nachdrücklich bezeugt, ist für das Genre, dem die literarische Schocktaktik als Denkanstoß dient, von hoher Relevanz. Da die Schriften des Gattungsbegründers Menippos völlig, die des römischen Hauptvertreters Varro weitgehend verloren sind,' darf das satirische Werk Lukians (freilich nicht in seiner Ganzheit) als das vollständigste Textkorpus der antiken Menippea gelten. In erster Linie bei Lukian setzen daher auch die Neumenippeer aus Renaissance und Aufklärung an.
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Vgl. M. Coffey, Roman Satire, London 1976, Part III: «Menippean Satire»; J. G Relihan, Ancient Menippean Satire, Baltimore 1993. Auf den Spuren von Frye.und Bachtin wandelt H. K. Rükonen in Mtnipptan Satire · äs a Uterary Genre with special reference to Seneca's Apoc.ohcyntosis, Helsinki 1987. - Der Impuls für eine Neubetrachtung der Menippea kam aus den neueren Literaturwissenschaften und erreichte relativ spät die Altphilologie, für die immer .noch Relihans Feststellung gilt: «There is a general unwillingness among the classicists to treat Menippean Satire äs a genre in and of itself which Spans both Greek and Latin literature» (S. 3). - Zur deutschen Geringschätzung Lukians, einem post-Wielandschen Phänomen, vgl. N. Holzberg, «Luciap and the Germaris», in A. G Dionisotti et al., ed., The Uses of Greek and Latin, London 1988, S/199-209. Der griechische Roman und seine Vorläufer, Leipzig 1914^ S. 267, Anm. 1.
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Im Gegensatz zur klassischen Verssatire ist die Menippea prosaisch und handlungsbetont; genauer, sie bedient sich vorwiegend der erz hlenden oder dialogischen Prosa und erstellt Fiktionen, die durch ihre scheinbare Inkoh renz und Phantastik auf ihre bertragene Bedeutung verweisen. Das urspr ngliche formale Merkmal der Vers-/Prosamischung ist nur ein Aspekt — und kein notwendiger - ihrer parodistischen Buntheit des Stils. Und die wieder bedeutet Aufk ndigung der sprachlichen Hierarchien, eine Art Umsturz im Stilbereich, und zugleich satirische Mimesis des verr ckten irdischen <Schauspiels> (die Theatermetapher erscheint regelm ig), wie es sich dem Menippeer pr sentiert. Vom Mond auf die Erde herabschauend nennt etwa der luftreisende Menipp (im Ikaromenippos des Lukian) bzw. sein Gespr chspartner das Erdenschauspiel «bunt und mannigfaltig», «einen Mischtrank», «ganz und gar l cherlich und wirr» und einen «paradoxen Anblick».5 Die Menippea versteht sich als paradox, d. h. gegen die g ngigen Anschauungen gerichtet, und sie spielt ihre Paradoxie lustvoll, manchmal auch mit einem kr ftigen Schu von erkenntnisf rderndem Sarkasmus aus.
als weise Narrheit ist die Grundbefindlichkeit des Menippeers; Diogenes (den Plato einen «rasenden Sokrates» nannte), Demokrit (der hohnlachende Philosoph) und Momus (der Miesmacher unter den G ttern) sind seine Leitbilder. Da die Menippea jede Tats chlichkeitsillusion f r ihre Handlungen letztlich untergraben mu , will sie sich nicht um ihre aufkl rerische Wirkung bringen, wird neben der Phantastik der Fiktion ihre konische Vermittlung zum entscheidenden Strukturmerkmal. Ihre Situationen und Handlungen sind nicht einmalig, sondern metaphorisch zu verstehen, denn sie ist nicht mit Individualit t befa t, sondern mit geistigen Haltungen. Mit konischer Selbstverst ndlichkeit hebt sie die Grenzen zwischen Alltag und Mythos, Erde, Himmel und H lle, Gegenwart, Vergangenheit und selbst Zukunft auf, um ber-, unterund au erweltliche Standpunkte zu beziehen - oder sie schafft Situationen innerweltlicher Exzentrik. Das Totengespr ch, die kosmische Reise, die phantastische Vision, das saturnalische Gastmahl, die Tierperspektive, die Konfrontation mit Riesen und Zwergen sind nur die bekanntesten Beispiele solcher ber sich selbst hinausweisenden Situationen, in denen das Exzentrische, Skandal se, also der Normbruch als Moment der Entlarvung, inszeniert wird. Verk rzt gesagt: die Menippea ist eine Schockperspektive auf kdische Dinge, die die Verr cktheit der vermeintlich normalen Welt enth llt.
2. Schrumpfung der Menschheit unter dem olympischen Blick In vielen Texten der Gattung werden demnach exzentrische — und das hei t oft ganz konkret: ber- und unterirdische - Standpunkte eingenommen, und dies unweigerlich zum Zweck einer satirischen Teleskopie der vertrauten Welt. Diese wird durch die phantastische Fiktion des radikal fremden B ckes auf sie ihrer Hybris berf hrt, durch eine (bis zur Erfindung des Luft- und Raumschiffes) rein imagin re H hen- und Au enperspektive. Die Teleskopie bedingt eine drastische Wertreduktion: die Schrumpfung vertrauter Gr e durch Ferne und Verzerrung beansprucht mit der optischen zugleich moralische G ltigkeit. 5
ποικίλη και παντοδαπή τις ην ή 0·έα (16). - ό κυκεών ούτος (17). - Παντάπασιν ... παγγέλοιος και τεταραγμένη [ή φδή] (17). - "Ω της παραδόξου θέας (19),
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Schon Lukian geht es in einigen seiner charakteristischen Texte um diese optische Distanz vom irdischen Schauplatz^ die eine Weltbetrachtung im Sinne der kynischen Herabschau, und ihres Agenten, des oder «Spähers Von oben> erlaubt.^ Der Blick aus der Höhe umfaßt, wie gesagt, die Totalität der Welt um den Preis ihrer Schrumpfung. (Das Motiv taucht offenbar, wie die gefundenen Bruchstucke nahelegen, auch bei Varro auf, als kosmische Fernsicht und als Herabschau auf das verrückte Rom7). Bei Lukian präsentiert sich in Charon oder die Herabscbauenden ebenso wie im Ikaromenippos aus der Höhe dem Betrachter jeweils das gleiche Bild einer in ihrem zivilisatorischen Anspruch drastisch verkleinerten Menschheit. In einem Prozeß sekundärer Verbildlichung setzt die Menippea für diese Verkleinerung niedere Insektenmetaphorik ein: Der Freund: Aber ich bitte dich, die Städte selbst und die Menschen darin, wie kamen dir diese aus solcher Höhe vor? Mentppos: Du hast doch schon manchmal eine Ameisenwirtschaft gesehen, wie das alles durcheinanderwimmelt, die einen im Kreis herumlaufen, andere hinausgehen, andere zurückkommen, diese einen Unrat hinausschafft, jene mit einer irgendwo aufgelesenen Bohnenhülse oder einem halben Gerstenkorn im Munde dahergerannt kommt: und wer weiß, ob es nicht auch Baumeister, Vplksredner, Ratsherren, Musiker und Philosophen nach ihrer Weise unter ihnen gibt? Wie dem auch sei, ich fand zwischen diesen Ameisennestern und den Städten mit ihren Einwohnern die größte Ähnlichkeit. (Ikaromenippos > 19; Wielands Version) Diese Ameisen-Perspektive, die das vermeintlich Weitbewegende radikal verkleinert und zum massenhaften Gewimmel entindividualisiert, ist ihrem Wesen nach eine niederburleske Verzerrung, die ihren Gegenstand, die alltägliche Existenz der Menschen mit ihren verzehrenden Ambitionen, jener Lächerlichkeit aussetzt, die ihm unter dem olympischen Blick zukommt.8 All die irdischen Tragödien und Heldentaten werden dabei zur buntscheckigen 6
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Die (ursprünglich kynische) phantastische Kataskopie wird m. W. in den neueren Untersuchungen zum Genre nicht als zentraler, über Jahrhunderte hinweg klär ausgeprägter menippeischer Bildkomplex erkannt und verfolgt; zur älteren Forschung vgl. die knappen Bemerkungen in R. Heim, Lucian und Mtnipp, Leipzig 1906, S. 94, und K. Mras* «Varros menippeisehe Satiren und die Philosophie», Neue Jahrbücher, 33, 1914, S. 408. Die Bruchstücke dreier Menippeen Varros lassen einen deutlichen Bezug auf die Kataskopie erkennen: In den Eumenides beobachten mehrere Kataskbpoi von einer Warte (speculä) aus, wie das Volk von den Furien der Leidenschaft gepeinigt wird; Marcipor scheint eine Luftreise zu enthalten; zu Endymiones bemerkt L. Alfonsini bei seiner Rekonstruktion der Handlung: «la satira va indubbiamente collegata al motivo menippeo della osservazione degli uomini e delle loro azioni da un luogo elevatö quäle potrebbe essere la luna» («Le <Menippee> di Varrone», in H.Temporini, ed., Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Teil I, Bd 3, Berlin 1973, S. 41 f.); v$. dazu auch Relihan (s. Anm. 3), S. 68: «This is a use of the Cynic catascopia-, the attempt to spy on human life resembles the end of Lucian*s Callus^ Im Hermotimos (6) untergräbt skeptische Ironie den philosophischen) Aufstieg zum Gipfel der Weisheit, von dessen Höhe der unerleuchtete Rest der Menschheit als Ameisen- und Pygmäengewimmel, als· erscheint, und entlarvt den in diesem Bild enthaltenen Überlegenheitsanspruch der (falschen) Weisen als posenhaft. Hier gilt die Irohisierung dem philosophischen Topos der Weisheitsschau von der Höhe, wie er zu Beginn des 2. Buches von Lukrez* De rerum natura begegnet: sed nil dulcius est bene quam munita tenere / edifa doctrina sapientium templa serena, / despicere unde qmas aliaspassimque videre / errare aique viampalantis quaerere vitae... (II, 7ff.). Zum Nachleben dieses Bildes vgl. das ovidianische Motto der vorliegenden Studie, sowie H. Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt 1979.'- Enttäuschend einseitig und beliebig ist der historische Rückblick auf die Kataskopie im 1. Kapitel von Th. Ziolkowski, The Viewjrow the Tower, Princeton 1998.
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Kom die (17) oder wie es im Charon (15) hei t, zum bunten Zeitvertreib und Wirrwarr: Όρώ ποικίλην τινά την διατριβήν και μέστον ταραχής τον βίον. Im selben Atemzug vergleicht Charon die St dte der Menschen mit Bienenschw rmen, in denen jeder einzelne seinen Stachel hat und auf den Nachbarn einsticht, w hrend andere wie Wespen die Niedrigergestellten plagen und auspl ndern: hier erh lt die Tierbildlichkeit einen Zug ins Aggressive. Die Menschheit bei ihren mehr oder minder heroischen Verrichtungen erscheint dem Blick von oben als Gewimmel sinnlos zappelnder und aufeinander einstechender Insekten. Da dieser Blick von oben urspr nglich der kynisch-h ndische Blick von unten war, zeigt die Figur des Charon als typisch kynische Persona: der F hrmann der Unterwelt l t sich vom G tterboten Hermes, in Parodie des Gigantensturmes, einen Hochsitz aus bereinanderget rmten Bergen bauen, der ihm nicht als Himmelsleiter, sondern, als Standort f r den R ckblick, f r die irdische Herabschau, dient; seine Perspektive der irdischen Dinge sub specie mortis wird durch die paradoxe Umkehr von unten nach oben nur um so eindringlicher. Die phantastisch-satirische Herabschau auf eine verkleinerte und verfremdete Menschenwelt geh rt zu den Bildkomplexen von au erordentlicher L ngen- und Tiefenwirkung, die die bildfreudige, respektlose und relativistische kynische Diatribe den europ ischen Literaturen vermacht hat; ein Verm chtnis, das in weit auseinanderliegenden Epochen und Texten dank seiner prototypischen Motivik identifizierbar bleibt und dabei seine urspr nglich philosophische Pr gung nicht verleugnet. So sieht etwa Johann Fischart, ausschweifender bersetzer des Menippeers Rabelais und Zeitgenosse einer von Kriegen heimgesuchten Epoche, im 1. Kapitel seiner Geschichtklitterung die gro en historischen V lkerbewegungen auf der Erde als M use-, Schnaken- und Hornissenschw rme, «wie ein Hafen voll Beelzebubmucken: also da es dem Wolffio im Scipionischen Himmel noch ein lust herab zusehen gibt, da die Mirmidonische zweibeynige Omeysen hie unten noch also durch einander haspeln und graspeln».9 Der «Scipionische Himmel» erinnert daran, da auch Ciceros Traum des Scipio mit seiner Umkehr der Perspektive und Verkleinerung des Irdischen letztlich der hier verfolgten menippeischen Tradition angeh rt. Scipios posthume Herabschau auf die parva terra erffnet eine lange Reihe spezifisch philosophischer, sp ter christlicher Adaptionen der menippeischen Kataskopie. In diese Reihe geh ren u. a. Senecas Erde als orbis angustus aus der Vorrede der Quaestioms naturales, ein blo er Punkt vom Himmel aus betrachtet, dazu die angustissima area, in mintmi puncn quodam puncto aus der Consolatio Philosophiae des Boethius (II, Prosa 7), ferner Dantes Blick aus dem «Paradiso», nach seinem Aufstieg ber die sieben Planetenhimmel, zur ck auf die Erde als (aiuola\ Boethius' area, an die diese Stelle anschlie t, hei t zugleich und ): L'aiuola ehe ci fa tanto feroci ... Tutta m'apparve dai colJi alle foci ... Die Tenne, drauf wir uns so wild bekriegen ... Ich sah sie ganz von Berg bis Meerflut liegen.10 9
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Geschichtklitterun& (Ausgabe letzter Hand, 1590), cd. U Nyssen, D sseldorf 1963, S. 34. <Wolffms> ist der . Aiigsburger Humanist Hieronymus Wol£ der 1569 Schotten zum Somnium Scipionis ver ffentlichte. Paradiso, XXII, 151; deutsche Version von R. Zoozmann, Darmstadt 1958, S. 417. - Ein weiterer bedeutsamer mittelalterlicher Beleg zu dem menippeischen Komplex «Erde als Tenne> findet sich im Kontext der
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Und da ist schließlich noch der litel spät oferthe, zu dem Ghaucers Troilus nach Liebesenttäuschung und Schlachtentod bei seiner abschließenden Himmelfahrt die Erde und seine Ambitionen geschrumpft sieht - eine eindringliche Perspektive auf die Eitelkeit irdischer Dinge: And down from thennes fast he gan avyse This litel spot of erthe, that with the se Embraced is, and fully gan despise This wrecched worid, and held al vanite ... And in hymself he laugh right at the wo Of hem that wepten for his deth so faste ,..n (Charon, 16): aus solchen planetarischen Höhen werden die irdischen Tragödien unversehens lachhaft. . Die kosmische Distanz in all diesen Zitaten ist letztlich eine satirische Hyperbel, die durch die absurd heroischen Ambitionen der mikroskopisch kleinen Menschlein, soweit sie nicht darüber hinaus auf Insektenstatus reduziert worden sind, verstärkt wird. Die Erdenwürmer fuhren sich absurderweise wie himmelstürmende Giganten auf; etwa in dem folgenden Barocksonett von Jean de Sponde: Je voy ces vermisseaux bastk dedans leurs plaines Les monts de leurs .desseins, dont les cimes hautaines Semblent presque esgaler leurs coeurs ambitieux. Geants, ou jpoussez-vous ce beaux amas de poudre? Vous les amoneelez? Vous les verrez dissouclre. Ils montent de la Terre? Bs tomberpnt des Cieux. Ich seh, wie dies Gewürm in seiner Niederung Intrigen-Berge türmt, und mit entschlossenem Schwung Steigen sie fast so hoch wie ihre stolzen Herzen. Riesen, wohin stoßt ihr von Staub die schönen Haufen? Hoch werft ihr sie empor? Wie rasch sie sich verlaufen! Von Grund aufwachsen sie? Seht sie vom Himmel stürzen.1^ Das parodistische Riesentum der Zwerge begegnet uns in Swifts Ulliput W* anderer Gestalt wieder. Antike, Mittelalter, Barock, Aufklärung - alle Epochen setzen die menippeische Strategie der Herabschau zur Deflation des verrpeintüchen menschlichen Heldentums für ihre jeweiligen weltanschaulichen Ziele ein. Ob die vertraute Welt aus der lunareri Distanz betrachtet wird wie im Ikaromenippos, oder von einem Hochsitz aus übereinandergetürmten Bergen wie im Charon, oder aus der Riesenperspektive wie bei Rabelais, in Swifts Brobdingnag oder in Voltaires Mioromegas — immer wird uns als Lesern eine paradoxe Persönlich-
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und eben auch das Luftreich gehört Im lateinischen Prototyp De preliis (10. Jh.) sieht Alexander aus seinem von Greifen in schwindelnde Höhe emporgetragenen Sitzgestänge, den ganzen Erdkreis in Gestalt ' einer «area in qua tunduntur frugcs», d. h. er begreift die Nichtigkeit seines Eroberertums (vgl. Der altfränkische Prosa-Akxanderroman ... nebst dem lateinischen Orignai..., ed. A. Hüka, Halle 1920, S, 299). In einem mittelhochdeutschen Alexander sieiht der Hjmmelsreisende, daß «der erjle breite» auf den Wassern schwebt «als ein deiner huoD>; das letzte Wort steht für den Helm oder <Eisenhut> und bezeichnet eindringlich die Schrumpfung militärischer Größe aus dem Blickwinkel der Kataskopie (vgl. Ulrich von Eschenbach, Alexander, ed. W Toischer, Tübingen 1888, V 24719 ff., S. 657). Troilfts and Criseyde, V, 1814; The Works ofC. Chaucer, ed. F. N, Robinson, London 1957, S. 479. OSt/vres litteraires, ed; A. Boase, Genf 1978, S. 255; Übs. vom Vf.
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keitsspaltung abgefordert: denn wir sollen den irdischen Ameisenhaufen mit jenen außerund überirdischen Augen der phantastischen menippeischen Persona sehen - und zugleich uns selbst tief unten, winzig und absurd herumzappelnd, im Insektengewimmel erkennen. 3. Satirischer Voyeurismus Der menippeische Hochsitz bietet, wie wir sahen, den Betrachtern in excelsis, die probeweise die göttliche Perspektive einnehmen dürfen (der Gesprächspartner tituliert Ikaromenipp konisch als [2]), eine Totale der optisch entsprechend verkleinerten irdischen Dinge: Realität erscheint dabei als massenhafte Variation des immergleichen negativen Prinzips, und das heißt, als satirischer Katalog. Doch die kosmische Fernsicht bedarf auch einer besonderen Scharfsicht zur Fokussierung der exemplarischen Fälle. Durch magisch-optische Vorrichtungen stattet Lukian seine Weltbeschauer mit jener Sehschärfe aus, die die Götter von Amts wegen besitzen: im Charon geschieht dies durch einen entsprechenden Homervers, im Ikaromenippos durch die Adlerschwinge, die Adlerblick verleiht.13 Eng mit letzterer verwandt ist die Schwanzfeder des pythagoreischen Hahns im Traum, die alle Türen der nächtlichen Stadt öffnet und zugleich die Betrachter, eben den philosophischen Hahn und seinen (der zu seinem Schüler wkd), den Schuster Mikyllos, unsichtbar macht wie ein zweiter Ring des Gyges. Damit wkd die Persona, und mit ihr der Leser, in die Position eines satirischen Voyeurs versetzt, unter dessen heimlichem Blick sich Gknz und Reichtum der Welt schamlos entkleiden, und der sich am kreatürlichen Schock dieser Entblößung delektiert. Der voyeuristische Einblick ist zugleich philosophische Herabschau, denn die tierische, Perspektive mit kontaminiert, ist der Hinkende Teufe/ (El diablo cojuelo) des Spaniers Luis Velez de Guevara von 1641, der in der freien Nachahmung durch Lesage als Le Diable boiteux 17.07 ein europäisches Erfolgsbuch wurde. In dieser originellen Verbindung des Pikaresken mit dem Phantastischen befreit der Student Don Cleofas in einer Madrider Dachkammer den in der Flasche eines Magiers gefangenen hinkenden Teufel und wird von diesem zum Dank auf eine Luftreise entführt, deren erster Haltepunkt die Turmspitze der Salvatorkkche ist, «der bedeutendste Leuchtturm von Madrid.» Die Turmuhr zeigt ein Uhr nachts — die Stunde, zu der die Bewohner der vergnügungssüchtigen Stadt sich zur Ruhe begeben, ehe der Schlaf als Vorwegnahme des Todes sie alle gleich macht («media que a todos hace iguales»): sie legen Schuhe und Strümpfe, Wams und Hose, Kleid und Reifrock ab - eine Vorwegnahme der satirischen Entkleidung, die sie unter den Augen 13
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Charon, 7; Ikaromenippos, 14; Voltaires Micromegas erfindet das Teleskop neu, als er einen Riesendiamanten aus seiner Halskette zufällig als Vergrößerungsglas benützt und darunter Menschenatome entdeckt VgL dazu Plutarchs (menippeischen) Dialog Gryllos (Das Ferkel) aus den Mora/jat in dem ein von Kirke in ein Schwein verwandelter Gefährte des Odysscus dessen Angebot, ihm die Menschengestalt zurückzugeben, ausschlägt, da der Mensch moralisch der Tierexistenz stehe; ein vergleichbares Argument findet sich in Lukians Traum.
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der Herabschauenden vollführen werden, nachdem der Hinkende mit diabolischer Magie die Dächer der Häuser abgedeckt hat. Die Ankündigung des Teufels, er werde die Perspektive Menipps (als Typus des Luftreisenden) noch übertreffen, signalisiert den generischen Zusammenhang und dient zugleich als barocke Geste der Überbietüng: «Don Cleofas, desde esta picota de las nubes, que es ei lugar mas eminente de Madrid, malano para Menipo en los dialogos de Luciano, te he de ensenar todo mas notable que a estas horäs pasa en esta Babilonia espanola, que en la confüsion fue esotra cori ella segunda deste nombre.» levantando a los techos de los edificios, por arte diabolica, lo hojaldrado, se descubrio la carne del pastelon de Madrid como entonces estaba, patentemente, que por el mucho calor estivo estaba con menos celosias ... . «Don Cleofas, von dieser wolkendurchbohrenden Turmspitze aus [das Wort bedeutet auch <Schandpfahl>], dem hervorragendsten Ort von Madrid, will ich dir jetzt (Schande aufs Haupt des Menipp in den Gesprächen Lükians) die erstaunlichsten. Begebenheiten offenbaren, die sieh zur Stunde in diesem spanischen Babylon; verworfener als die andere Stadt gleichen Namens, zutragen.» Und indem er mit diabolischer Kunst von den Dachstühlen der Gebäude die oberste Schicht abhob, deckte er das ganze Fleisch der Madrider Riesenpastete auf, so wie es gerade war, offen und der großen Sommerhitze wegen ziemlich ungeschützt daliegend ...1S Das Schauspiel, das sich den ebenso überlegenen wie unsichtbaren Betrachtern bietet, wird mit Lukianischer'Metaphorik als Theater, als figurenreiche Komödienauffuhrung charakterisiert («este teatro donde tantas figuräs representan»). Der-hinkende Teufel dient dem Studenten als Schauspielfuhrer («Mira allil»), wie der Hahn für Mikyllos und Hermes für Charon -=· die presenter-Pigar gehört als wegweisendes Gegenüber zum Kataskopös. Sie wählt Bedeutsames aus der Fülle des Geschauten aus und beantwortet die Fragen des in den Lauf der Welt einzuweihenden ingenu. Zu lebenden Bildern erstarrt, emblematisieren die Akteure unten auf der Bühne den ewigen Abstand von Schein und Sein, die Fratzen der materiellen und sexuellen Gier unter der Maske der Wohlanständigkeit, und die Selbstverderbnis des Lasters, und dienen so zur Witzigung und moralischen Erbauung des Herabschauenden. Die statische Herabschau von der Hohe des Kirchturms verwandelt sich im folgenden in eine Luftreise, in deren Verlauf die beiden menippeischen Voyeure mühelos größere Entfernungen zurücklegen, ihre pikareske Reise durch verschiedene Schichten der Gesellschaft fortsetzen, und dabei stärker von Beobachtenden zu Handelnden werden. Spätere Autoren derselben Tradition haben die phantastisch überlegene und mobile Beobachterinstanz gleichsam abstrahier^ wie Smollett in seinen Adventures of an Atom (1769)1 oder Wilhelm Busch in seiner originellen, einer entfesselten Traurhlogik folgenden Geschichte Eduards Traum (1891). Deren durchdringt als bloßer Punkt alle Mauern und überspringt alle horizontale und vertikale Entfernung; dabei rückt er einmal den zeitgenössischen Spießbürgern eng auf den Leib, ein andermal durchstößt er die «äußerste Kruste» ,c)es Weltsystems, fliegt hinaus in den leeren Raum, und während er rückblickend die Welt unter sich liegen sieht, stellt er erleichtert fest, daß sie doch endlich ist: «Sie hatte wirklich ein Ende und sah von 15 16
Eldiablo cojuek, Madrid 1950 (Coleccion Austral), S. 20 f.. Diese massive Politikersatire, die Smollett nicht mit letzter Sicherheit zuzuschreiben ist, beginnt gut menippeisch mit* deutlichen Anklängen an die pythagoreische Seelen Wanderung in Lükians Traum, um sich auf wenig schlüssige Weise in einen tonte omntal zu verwandeln.
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weitem aus wie ein nicht unbedeutender Knödel, durchspickt mit Semmelbrocken.»17 Der menippeische Höhenflug erschließt wie Dimensionen menschlicher Verkleinerung, und die burlesken (hier küchenhumoristischen) Elemente - Guevaras Pastete, Buschs Semmelknödel - dienen als Merkzeichen gattungsgemäßer Ironie. 4. Höhenflüge aufklärerischer Phantasie Die menippeische Reise ist Chiffre für einen Erkenntnisprozeß, bei dem die Grenzen des Vorurteils überschritten werden. Ikaromenipp, der Ahnherr aller Astronauten, gewinnt aus eigener Kraft — kraft seiner philosophischen Neugier - genügend kosmische Höhe, um die Welt in ihrer wahren, entzauberten Gestalt zu betrachten, die sich nur dem illusionslosen Blick von oben erschließt. Einem Galilei dient das neuentwickelte Fernrohr als Sternenbote (sidereus nuntius) und Medium von Höhenflügen, die die irdische Position wissenschaftlich und philosophisch (beide Begriffe sind zu seiner Zeit noch ungetrennt) relativieren. Kepler verbindet in seinem 1634 posthum veröffentlichten Traum die wissenschaftliche mit der menippeischen Teleskopie: in dieser essayistischen Fiktion beschwört der Astronom Duracotus, eine Figur mit autobiographischen Zügen, im fernen Thule den Dämon des Mondes und läßt sich von ihm den Himmelskörper und die Reise dorthin beschreiben. Dabei mischen sich stenographische Genauigkeit und Phantastik aufs suggestivste, etwa wenn Kepler über die monströse Vegetation der Mondoberfläche fabuliert und sich die lunaren Bewohner - man begann in dieser Zeit, über die Bewohnbarkeit der Sterne nachzudenken - als amphibische Riesengeschöpfe ausmalt, die vor der Hitze des Mondtages in Höhlen im Inneren des Planeten zurückweichen. Noch Jules Verne und H. G. Wells ließen sich von dieser frühen Sience Fiction anregen, deren literarische Quellen in Plutarchs Moratia (De fade in orbe lunae} und bei Lukian zu finden sind; denn Kepler erklärte, er habe sich von den Wahren Geschichten inspirieren lassen, «adjutus jucunditate audacissimae fabulae, quae tarnen aliquid de totius universi natura innuebat».18 Während bei Plutarch, in der dialogischen Vielfalt der geäußerten Meinungen über das , die varronische, enzyklopädisch gelehrte und kaum satirische Variante der Menippea vorliegt, der sich auch Kepler verbunden weiß, überwiegt in den Wahren Geschichten mit ihrer münchhausenartigen Himmelsreise das paradox-phantastische Element die Satire. Keplers Gattungsmischung ist ihrerseits ein menippeischer Akt. Auf den Spuren Lukians und Keplers wandelnd, veröffentlicht der astronomisch interessierte spätere Bischof und Mitbegründer der Royal Society Francis Godwin 1638 mit The Man in ihe Aioon die erste Mondreise als wissenschaftlich-phantastischen Abenteuerroman und Utopie. Sie macht erlebnismäßig anschaulich, was «unsere Galileos» mit Hilfe ihrer Ferngläser entdeckt und errechnet haben: die Herabschau des Reisenden auf die schrumpfende Erde dient bei diesem Frühaufklärer ganz der kopernikanischen Vernunftpropaganda. Dasselbe gilt für die leicht burlesken Bilder irdischer Verkleinerung: die Erde erscheint als Globus, der sich gemächlich unter den Augen des Astronauten dreht, wobei der afrikanische Kontinent aus der Höhe wie eine angebissene Birne erscheint.19 Doch die 17 18 19
Eduards Traum, ed. E. Ackerknecht, Stuttgart 1959 (Reclam), S. 41 f. Soimtium, seu optts posthumum de astronomia Ittnari, ed. M. List/W. Gerlach, Osnabrück 1969, S. 30. Gedr. in Short Fiction ofthe 17th Century, ed. Ch. C Mish, New York 1963, S. 235-283; hier S. 258 f.
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moralische Herabschau auf den Menschen fehlt bei diesem ikaromenippeischen Höhenflug keineswegs, denn der Mond beherbergt eine Eutopie von Riesen, deren Statur, Langlebigkeit und überirdische Position gleichermaßen Ausdruck ethischer Vollkommenheit ist, und deren Überlegenheit den fortschrittsstolzen Reisenden gewaltig demütigt. Wie schon bei Kepler überlagern sich auch hier Plutarchs Monddiskurs und Lukians Wahre Geschichten: Godwin hat Lukians Riesen-Seleniten mit den reinen Geistern, die bei Plutarch den Mond bevölkern, gekreuzt. Cyrano de Bergeracs Möndmenschen, Gulliver unter den Zwergen, samt den Riesen von Brobdingnag, und nicht zuletzt Voltaires Micromegas sind die direkten Nachkommen dieser Kreuzung, und dienen gleichfalls dem aufklärerischen und erzmenippeischen Ziel, durch ihren Blick von der Höhe auf die Kleinheit der Menschlein deren Zivüisationshochmut zu dämpfen und ihrem Größenwahn den Spiegel der Relativität vorzuhalten. Der Himmelsreisende als Vertreter der dystopischen Alten und Entdecker der eutopischen Neuen Welt kann die erreichte Höhe nicht halten - die Utopie ist kein Ort zum Verweilen — und muß wieder in seine angestammten Niederungen zurückkehren. Diese Erfahrung macht auf seine Art auch ein phantastischer Reisender des französischen Aufklärers Louis-Sebastien Mercier, der seiner berühmten Zeitutopie LJAn deux mille quatre-cent quafante von 1770 zwei Jahre zuvor im Rahmen eines
Die zweibändige Ausgabe von UAn 2440, London 1785, enthält in Bd 2 die. menippeischen Songespbilosophujuesvon 1768 (die als phantastische Gedankenreisen in Bd 32 der Vayagciimaginaires> Amsterdam 1788, erneut veröffentlicht wurden), dazu eine Reihe verwandter Schriften; 2Ütat S. 186. — Erwähnung der Mondreise Godwins in «Le Ballon Montgolfier», einem Hymnus auf den soeben erfundenen Luftballon, ibid., S. 218 f. (ursprünglich in Bonnet de nuit, 1784). - Zum Zusammenhang von Utopie und Menippea vgl. Vf., «Mundus alier et idtm»> in Bild und Metamorphose (s. Anm. 1), S. 139-190.
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saiJles, die den Sturz der Tyrannis verkörpern (und deren Sinn ihm der Geist Ludwigs XIV. als presenter erläutert), von einer Schlange gebissen wird, um wieder im Paris des Anden Regime zu erwachen.21
5. Menippeischer Höhenrausch Die geistig befreiende Wirkung, die die Menippeer von Renaissance und Aufklärung an den einschlägigen Texten eines Lukian zu schätzen wußten, beruht wesentlich darauf, daß ihre ein philosophisches Sich-Erheben über die Pseudodoxien der Zeit auf phantastisch-phantasievolle Art verbildlicht. Mit dem Fortschrittsdenken der neuen Naturwissenschaft und einer Philosophie menschlicher Perfektibilität wuchs der imaginativen Aufwärtsbewegung des Menippeers und seinem Blick von der Höhe der Vorurteilsfreiheit, die zugleich zum Ausguck in eine bessere Zukunft wird, eine neue und neuzeitliche Dynamik utopischer Befreiung zu. Doch es gibt auch individuellere, weniger lehrhafte menippeische Luftreisen, bei denen der Blick nach unten zum rauschhaften Freiheitsgenuß der eigenen Höhe führt, zum Hochgefühl einer aus den Niederungen entlassenen und entfesselten Phantasie. Ein solcher Text ist die in Robert Burtons Anatomy ofMelancholj (1621 — 1651), eine gelehrte, enzyklopädische, medizinisch-theologisch-philosophische Menippea, eingefügte «Digression on Air». In der buchlangen Vorrede seiner Anatomy schlüpft Burton als «Democritus Junior» in die Rolle des lachenden Philosophen und wirft einen wahrhaft olympischen Blick auf die traurige Verrücktheit der Welt, um auf den Spuren des älteren Demokrat die universelle schwarze Galle zu sezieren und die eigene Bücherwurm-Melancholie durch die Heiterkeit philosophischer Distanz zu lindern; immer in dem Bewußtsein, zugleich oben und unten, Diagnostiker und Patient zu sein. Wie seinem Vorbild Montaigne wird ihm der Bücherturm zum Ausguck auf die Welt, wobei sein Demokrit in menippeischer Kontamination mit Lukians Weltbetrachter Charon verschmilzt und sich dessen Optik und Fazit gleichermaßen zu eigen macht. Hier der demokriösch-charontische Blick auf das irre Treiben der Welt: Some were brawling, some fighting, riding, running, sollicite ambientes, callide litigantes, for toys and trifles, and such momentary things; their towns and provinces mere factions, rieh against poor, poor against rieh, nobles against artificers, they against nobles, and so the rest In conclusion, he condemned them all for madmen, fools, idiots, asses, O stulti, quaenam haec est amentiat22 21
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Aus komparatistischer Sicht gibt sich das Versailles' als Variante der menippeischen Ruinenschau im Charon (23; s. u., S. 14) zu erkennen. Dieses Schlußtableau der Eutopie Merciers, das die architektonische Verkörperung absolutistischer Königsmacht als Ruine in eine erlöste Zukunft projiziert, wird in dem Text «Que deviendra Paris?» (ibid., S. 340-346; ursprünglich aus Tableau de Paris, 1781) wieder in eine Gedankenfigur übersetzt; sie stellt das durch eigene Machtgier zerstörte Paris der Zukunft in eine Rohe mit den historischen Trümmerstätten Theben, Tyrus, Persepolis, Karthago und Palmyra: «Et ne puis-je pas ... pleurer d'avance sur cette süperbe ville?» (346). Hier dürfte der gedankliche Keim für Volneys im Hinblick auf das romantische Europa so folgenreiche Ruines (s. u.) liegen. The Anatomy ofMe/ancholj, 3 Bde, ed. H. Jackson, London 1964, l, 47 (Seitenhinwcise nach dieser Ausgabe). - Zu Burton als Menippeer - freilich ohne Einbezug der «Digression on Air» - vgl. W. S, Blanchard, Scholar's Btdlam: Mtntppean Satire in tbt Renaissance^ Lewisburg 1995, Kap. 5.
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Bei Erörterung der Heilmethode für Melancholie im zweiten Buche kommt Democritus/ Burton auf die therapeutische Wirkung von Höhenluft, verbunden mit weiter Aussicht, zu sprechen, und schwingt sich bei dieser guten Gelegenheit auf zur Luftreise einer enthusia^ stischen Digression, wobei ihm die eigene Phantasie Flügel verleiht: so will l, having now come at last into these ample fields of air, wherein I may freely expatiate and exercise myself for my recreation, awhile rove, wander round about the world, mount aloft to those ethereal orbs and celestial spheres, and so descend to my former elements again. In which progress ... if meet obiter with the Wandering Jew, Elias Artifex, or Lucian's Icaromenippus, they shall be my guides ... (II, 34 f.) Die durch die Bücher ungemein angeregte imaginative Schaulust des Gelehrten, im Verein mit seinem unstillbaren Erkenntnisdrang, läßt ihn im Höhenflug der Phantasie gewaltig ausschweifen, um nicht nur mit einem Blick die geographischen Welträtsel wie die Lokalisierung des Magnetbergs am Nordpol, der Nordwestpassage, der Terra Australis Incognita oder des Irdischen Paradieses zu lösen, sondern auch mit Odysseus, Herkules, Orpheus und Lukians Menipp in die Unterwelt herabzusteigen und das Brdinnere, also die Hölle, zu erforschen (11,43), um danach in (die höchsten Himmelshöhen aufzusteigen: «If the heavens then be penetrable ..., and no lets, it were not amiss in this aerial progress to make wings and fly up ... and ... with a Galileo's glass, or Icaromenippus' wings in Lucian, command the's'pheres and heavens, and see what is done amongst them» (H50). Doch in diesen unendlichen Höhen, bei Betrachtung der astronomischen Theorien von Kopernikus, Galilei, Kepler, Bruno, Campanella und vielen anderen, bei der Frage, ob die Erde auch nur ein Stern sei wie alle anderen, und nicht einmal ein besonders zentraler, und ob die anderen Sterne auch bewohnt seien — bei dem Versuch, die Unendlichkeit des Weltraums zu-ergründen, schlägt der menippeische Höhenrausch um in metaphysischen Schwindel; die Lust des Fragens mündet in radikale Wissenschaftsskepsis, die hier den antiklimaktischen Abstieg zu den irdischen Regionen einleitet: Dum vitant stulti vitia in contraria currunt, äs a tinker stops one hole and makes two ... reforms some and mars all. In the meantime, the world is. tossed in a blanket amongst them [unter den Theoretikern der neuen Astronomie], they hoist the earth up and down like a ball, make it stand and go at their pleasure: one saith the sun Stands, another he moves; a third comes in at rebound, and, lest there should any paradox be wanting, he finds certain Spots and clouds in the sun, by the help of glasses ...: and so,whilst these men contend about the sun and moon, like the philosophers in Lucian, it is to be feared that sun and moon will hide themselves ... and send another message to Jupiter, by some newfangled Icaromenippus, to make an end of all those curious controversies, and scatter them about. (11,57f.) ' ., Auf die Copernican giants, die mit ihren Fengläsern und Berechnungen den Himmel durchdringen, folgen die theologischen gigantical Oyc/opes, die Gott selbst ausspionieren und drangsalieren: naturwissenschaftliche Neugier, zur Hybris gesteigert, und Glaubenskrise gehen Hand in Hand. Während ihm die schrankenlosen astronomischen Luftreisenden zu himmelstürmenden Giganten werden, kehrt der menippeische Kundschafter oder Kataskopos, der sich schon im Chafon die diametrale Gegenposition zur grassierenden Hybris zugewiesen hatte, in menschliche Regionen zurück, und die Ratschläge des Seelenarztes für erhöhte, aussichtsreiche, luftbegünstigte Orte der Welt, die dem Melancholiker aus
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der Depression helfen, lösen das Erschrecken des Theologen Burton vor einer hybriden Naturwissenschaft ab. Eine späte, von der Aufklärung zur Romantik ausgreifende Form des Höhenrausches bietet Jean Pauls einzigartiges «Seebuch» des Luftschiffers Giannozzo aus dem komischen Anhang zum Titan (1801). Der ungestüme, durchreisende Giannozzo, satt seines prosaischen Jahrhunderts ohne Theokratie und eines Lebens ins Deutsche übersetzt - ... sich ekelnd vor jeder Mattigkeit — anbetend jede derbe Kraft und die Hände ausstreckend nach dem Äther der Freiheit, — dieser Mensch, den die Sättigung an der tiefen Kerker- und Gassenluft aufgejagt in die Bergluft,23 wie der Autor seine Persona in der Vorrede charakterisiert, um sich auf gut menippeische Art von ihren Anschauungen zu distanzieren -, dieser Giannozzo sagt von sich selbst: «Wahrlich, blos zur Lust leb' ich oben und aus Ekel am Unten» (83). Zwischen dem Freiheitsrausch der Höhe mit ihren Wolkentumulten der Unendlichkeit und der spießerhaften Enge und Kleinheit des darunterliegenden Deutschland, wo Giannozzo seine satirischen Zwischenlandungen macht, verläuft diese verrückte, alle fixen Begriffe verrückende Luftreise: «es wurden mir doch, wenn ich so luftseefahrend ... um den großen Kerker aller kleinen reiste, Mittel und Wege gezeigt, besser auf die Menschen zu wirken, es sei nun daß ich einige Steine meines Ballastes auf sie werfe oder daß ich als herabkommender revenant wie ein Falke auf ihre Sünden stoße, oder daß ich mich ihnen unsichtbar mache und fest in solcher Lufthohe und Barometertiefe» (5). Der Blick aus den Wolken auf die «Ameisen-Congresse» der Menschen (2) weitet und verdüstert sich ins Apokalyptische, als Giannozzo das höllische Gewimmel einer Schlachtszene von oben erfaßt, und sich zugleich seiner Verwandtschaft mit diesem mörderischen Geschlecht der Tiefe bewußt bleibt: «ich bin ja auch einer von denen drunten» (108).24 In diese Niederungen, die die schaurige Rückseite des harmlos-absurden deutschen (menschlichen) Spießertums darstellen, gibt es keine Rückkehr, keinen Abstieg in menschliche Regionen, sondern nur den grandiosen kosmischen Schiffbruch. Ein gewaltiger Gewittersturm reißt am Ende den Ekstatiker der Höhe mit seinem «Charonkahn in den braunen Qualm hinab» (111).
6. Die Demontage des martialischen Heldentums Freilich, der über die Schlachtfelder Europas schwebende Giannozzo ist genauso wenig wie Burtons Persona ein über die menschliche Komödie aus der philosophischen Höhendistanz hohnlachender Demokrit, sondern ein leidenschaftlich am irdischen Irrsinn leidender Melancholiker: «Bei jeder lebendigen Schlechtigkeit fühl' ich, daß meine Anthropo23 24
Jean Pau/'s sämmtlicht Wtrke, Bd 32, Berlin 1827, S. VI (Seitenhinweise nach dieser Ausgabe). Diese Schlachtschilderung erscheint als Reflex von Merciers Vision «De la guerre» aus den Songs pbilosophiques (cd. cit. II, 61-84), die später Jean Pauls «Traum von einem Schlachtfeld» (1813) inspirieren sollte. Der Flugenthusiasmus Giannozzos könnte von Merciers erwähntem Preis der Montgolfiere (s. Anm. 20) angeregt sein. Vgl. A. D. Streckeisen, «Le Romantisme aüemand et Mercier», in H. Hofer, ed., L· S. Mercier precurseur et safortune, München 1977, S. 117-130, hier S. 122: «L'eloge que fait Mercier de ITieroique fait irresistiblement penser au <]*urtschiffer> Giannozzo ...»
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visa est, ut me irnpeni nosfri qno quasi punrtum eins attingimus paeniteret. Doch noch eine weitere Kataskopie wird im gleichen Atem von Seneca anzitiert: ein Insektengleichnis aus Aeneis IV, 402, .mit dem Vergil den unheroischen Abschluß der Dido-Handiung auktorial kommentiert, indem er für die zur Abfährt rüstenden, zu den Schiffen ausschwärmenden Trojaner das Bild einer schwarzen, beutegierigen Ameisenschar wählt (// nigrum campis agmen praedamque per herbas convectanf). Vergil hat dem Gleichnis proleptisch die unheilerwartende Sicht der Dido einkomponiert, von der es unmittelbar darauf heißt, sie betrachte das Schauspiel vom höchsten Burgturm aus. Die Nichtigkeit römischer Größe und Militärmacht ist freilich für den Stoiker und Zeitgenossen Neros in anderer Weise aktuell als für Scipio bei seiner Himmelsvision, die letztlich eine Apotheose des Römertums bedeutet, oder für Dido, die sich vom künftigen Begründer des Weltreichs verlassen sieht. Um zu erkennen, wie enorm reaktivierbar in völlig anderen Epochen und Konstellationen solch menippeische Komplexe sind; genügt es, auf das relativistische Kernstück der Montaigneschen Essays zu blicken, auf &e Apologie de Raimona Sebond(II,xii). Hier verbindet an zentraler Stelle -der Autor drei oder vier klassische Passagen .zu einer mockheroischmenippeischen Pointe, und bringt damit; seine Erfahrung als Zeuge zeitgenössischer Schlächtereien einschließlich der Hugenottenkriege auf den. Punkt: das Ameisengleichnis aus Aeneis IV, dazu die zitierte Deutung Senecas, und Vergils hochburleske Schilderung der Bienenschlacht in Georgica IV, die Montaigne mit dem: Bienengleichnis aus Charon 15 kontaminiert: Je ne voy jamais cette divine description [der Bienenschlacht] qü* il ne rn'y semble lire peinte Tineptie et vanite huriiaine. Gar ces rriouvemens guerriers qui nous ravissent de leur horreur et espouventement... il est plaisänt ä considerer par combien vaines occasions eile est agitee et par combien legietes occasions esteinte ... Or ce grand corps, ä tant de visages et de mouvemens, qui semble menasser le ciel et la terre ... ce furieux mostre ä tant de bras et a tant de testes, c'est tousjours homme foyble, calamiteux et miserable. Ce n* est qu'une fourmilliere esmeue et eschaufee, It nigrum campis agmen ... qu' on luy esvante seulement im peu de poussiere aux yeux, comme aux mouches a miel de notre poete, voyla toutes nos enseignes, nos legions, et le grarid Pompeius mesmes ä leur teste, rompu et fracasse ...29 Hier ist die Herabschau nicht mehr explizit gemacht, sondern nur noch im anzitierten Kontext, und natürlich in der Insektenbildlichkeit, .präsent; und doch ist es überdeutlich, daß Montaigne als Philosoph sich des bedient - Diogenes gehört zu seinen Lieblingsphilosophen — und daß diese Hundeperspektive die reduktive Vogelschau einschließt. ·· . Die Aufklärung hat sich gerade seine Demontage des heroischen Leitbildes zum Modell genommen. Ihre überlebensgroßen Personae fallen ein analoges Urteil über den krieg-,. fuhrenden Menschen; so etwa der König von Swifts Riesenreich Brobdingnag, der nach Gullivers Panegyrik abendländischer Kriegskunst den Menschen· als «the most pernicioiis, sort of odious little vermin» bezeichnet, «that nature ever suffered to crawl on the siirfäce of the earth.»30 Und ganz in diesem Sinne nennt auch Voltaires Weltraumriese in Micromegas die zivilisierte Welt «une foürmiliere d'assässins ridicules», einen wimmelnden Haufen mör29 30
Essais, ed. M. Jlat, Paris o. J. (Classiques Garnier), Bd 2, S. 158 ff.; zum Kontext vgl. Vf., «Parva componm magnis>\ in Bild und Metamorphose (s. Anm. 1), 223-244; hier S. 230-238. Galliver's Travels, Buch II, Kap. 6.
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derischer und zugleich lächerlicher Ameisen.31 Auch die paradoxe Doppelsicht komischer Mordlust ist wichtig: der maßlose Zerstörungstrieb des Insektenschwarms verfällt dem befreienden und richtenden Gelächter. Die Aufklärung - siehe Shaftesburys Sensus Communis: An Essay on the Freedom of Wti and Humour (1707) - erinnerte sich sehr wohl an den menippeischen Grundsatz, die Lächerlichkeit als Prüfungsinstanz überzogener Geltungsansprüche einzusetzen, als letztes Kriterium der Wahrheit. Doch die aufklärerische Kritik an einem pervertierten Begriff menschlicher Größe kann sich auch mit utopischer Zukunftshoffhung am Vorabend der Französichen Revolution verbinden. Dies geschieht in Fran9ois de Volneys Buch Les Raines, ou meditation sur les revolutions des empires von 1791, einem besonders einflußreichen Beispiel menippeischer Ruinenschau. Ausgangspunkt ist eine melancholische Betrachtung der Ruinen von Palmyra in der Abenddämmerung vom Hochsitz eines benachbarten Hügels aus. Das lugubre squektte der einst mächtigen Stadt wird für den Herabschauenden — wie Troja und Mykene für Lukians Charon — zum Sinnbild der Erde als Totenacker, d. h. der geschichtlichen Vergeblichkeit, die als Fluch eines blinden Fatums auf der Welt zu liegen scheint. Doch der genius loci, der sich als genie de la liberte zu erkennen gibt, lehrt den Betrachter, den wahren Sinn der Ruinenschrift auf der Erdoberfläche zu entziffern. Zu diesem Zweck entführt er ihn auf eine Luftreise, und zeigt ihm die Erde in menippeischer Schau aus kosmischer Distanz - als eine Art Mond, nur weniger leuchtend (Kap. 4). Eine Berührung des
Micromegas, Kap. 7; ed. cit., S. 120. Les Raines, Kap. 12; Ausg. Paris 1821, S. 69; Seitenhinweise nach dieser Ausgabe. - Zur Inspiration dieser Kataskopie aus einem Text von Mercier s. o., Anm. 21,
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vtennent de la cupidite et de Fignorance, /es hommes ne cesseront d* etre tourmentes qu*ils ne soient eclaires et sages .... (Kap. 12; S. 88) Zu lachen gibt es bei dieser apokalyptischen Kataskopie nichts mehr. Doch wird den insektenhaften, versklavten, aufeinander losgehetzten Massen ihre Souveränität mit dem Appell, diese unerschrocken zu beanspruchen, gleichsam zurückerstattet. Mit dem Blick aus der Höhe auf das
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My soul looked down from a vague height with Death, As unremembering how I rose, or why, And saw a sad land, weak with sweats of dearth, Gray, cratereci like the moon with hollow woe, And pitted with great pocks and scabs of plagues.
Tbt Collected Leiters, ed. H. T. Moore, London 1962, Bd l, S. 337 f.
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Across its beard, diät Horror of harsh wire, There moved thin caterpillars, slowly uncoiled. It seemed they pushed themselves to be äs plugs Of ditches, where they writhed and shrivelled, killed. By them had slimy paths been trailed and scraped Round myriad warts that might be little hüls. From gloom's last dregs these long-strung creatures crept And vanished out of dawn down hidden holes. (And smell came up from those foul openings As out of mouths, or deep wounds deepening.) On dithering feet upgathered, more and more, Brown strings toward strings of gray, with bristling spines, All migrants from green fields, intent on mire. Those that were gray, of more abundant spawns, Ramped on the rest, and ate them, and were eaten. I saw their bitten backs curve, loop, and straighten, I watched those agonies curl, lift, and fktten Whereat in terror what that sight might mean, I reeled and shivered earthward like a feather. And Death feil with me, like a deepening moan. And He, picking a manner of worm, which half had hid It bruises in the earth, but crawled no further, Showed me its feet, the feet of many men, And the fresh severed head of it, my head.34 Die Erde ist hier zugleich Mondlandschaft und ein gräßlich verwesender Organismus. Ein Feldpostbrief Owens vom 19. Januar 1917 charakterisiert das militärische Niemandsland, um das es hier geht, folgendermaßen: «It is like the eternal place of gnashing teeth ... It is pock-marked like a body of foulest disease ... No man*s land under snow is like the face of the moon, chaotic, crater-ridden, uninhabitable, awful, the abode of madness.»35 Die phantastische Perspektive aus kosmischer Höhe auf eine zum Mond verfremdete Erde kommt uns ebenso bekannt vor wie die Figur des menippeischen Cicerone - nur daß als presenter der geschrumpften Welt diesmal der Tod selber fungiert. Der alte kynische Gleichmacher läßt noch im abgründigen Zynismus der phantastisch realistischen Szene seine Herkunft erkennen: seine krasse Debds verrät den Moralisten. Es ist nicht mehr die ironische Demütigung menschlicher Überhebung, was die menippeische Herabschau hier leistet, sondern die Vision eisiger, kosmischer Verlassenheit einer Welt, die dem Humanen keinerlei Raum 'mehr gewährt. Das Harmonieversprechen des Reims ist in Dissonanzen zerbrochen: why reimt mit woe> uncoiled mit kiüedy scraped mit crept, falls mit boles und so weiter. Das Wortmaterial ist zur Kakophonie (de)komponiert. Eine aufs äußerste radikalisierte Fremdheit wird durch diese Kataskopie erzeugt, und eine Häßlichkeit von apokalyptischem Ausmaß ist unter dem Schock des Zivilisationsdebakels poesiefähig geworden.
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The Poems, ed. E. Blunden, London 1966, S. 59 £ CoUtcted Letten, cd. H, Owen/J. Bell, London 1967, S. 429.
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Werner von Koppenfels
Das Bild der heranschleichenden, sich windenden, sich auf Stacheldraht aufspießenden, Gräben mit ihren Leibern stopfenden^ sich aufbäumenden, einander totbeißenden und auffressenden schleimigen Kleinreptilien, die aus dem Dunkel ihrer Pestlöcher an die fahle Nachduft kriechen, die grünen Felder fliehend, dem Schlamm zustrebend (intent on mire), zugleich mörderisch, und im Sog des Todes wie Lemminge, - diese widerwärtige Fauna der Letzten Tage ist, wie die Schlußstrophe enthüllt, nichts anderes als die moderne europäische Menschheit in ihrer äußersten, massenhaften, tierischen und mörderischen Reduktion des Krieges - eine Totalisierüng der großen vaterländischen Desillusion, die uns heute ungleich wahrhaftiger erscheinen mag als der zeitgenössische Massenausstoß hurrapatriotischer Lyrik, oder die heroischen Stahlgewitter deutscher Provenienz. Die Schlußpointe des Gedichts versetzt uns den allerletzten, wiederum echt menippeischen Schock der Szene: der Sprecher ist zugleich au-dessus und au^dedans de la melee\ er steht hoch über dem Gewimmel, und muß sich mitten darin erkennen — als Toten. Die lunare und posthume Außenperspektive sind sarkastisch - d. h. ins Fleisch schneidend -*- miteinander kontaminiert Der Menippeer spricht hier das Post-^mortem seiner Zivilisation,
RAINER THIEL Philosophie als Bem hung um Sterben und Tod Tugendlehre und Suizidproblematik bei Platon und den Neuplatonikern* Philosophie als Flucht vor dem K rper und die Behandlung der Suizidproblematik im Platonischen Wer sich in rechter Weise mit Philosophie befa t, scheint sich unvermerkt vor den anderen um nichts anderes zu bem hen als darum, zu sterben und tot zu sein. Wenn dies also wahr ist, dann w re es doch wohl merkw rdig, sich das ganze Leben lang nichts anderes zu w nschen als dies, wenn es aber kommt, ber das unwillig zu sein, was man zuvor gew nscht und worum man sich bem ht hat.l Mit diesen Worten fa t Sokrates kurz seine Position zu dem Geschehen zusammen, das zu Beginn des Platonischen (58 a l — c 5) berichtet wird: Da die Festgesandtschaft zum Delischen pollon, w hrend derer in Athen keine Hinrichtungen stattfinden d rfen, l ngere Zeit aufgehalten worden war, war die Zeit zwischen Sokrates' Verurteilung zum Tode und seiner Hinrichtung im Gef ngnis lang geworden. Jetzt aber steht f r ihn der Tag seines Todes an. Der Tod aber ist — jedenfalls f r den Philosophen — die endg ltige L sung von Seele und Leib, der Vorgang, bei dem die Seele v llig ihrer Gebundenheit an den K rper und an seine Bed rfnisse und Leidenschaften entledigt wird.
F r n tzliche Hinweise und f rderliche Kritik danke ich Chr. Riedweg, Arbogast Schmitt und H.-U Wiemer. - Als allgemeinere Darstellung der Auffassungen vom Suizid in der Antike grundlegend M. M. von Baumhauer, Περί της ευλόγου εξαγωγής. Vetentm phihsophorum pratcipue Stoicorum doctrina de morte voluntaria, Utrecht 1842, aus dessen Stellensammlung alle Sp teren reichlich gesch pft haben. Die Arbeit entwirft auf ber 200 S. ein System der stoischen Lehre, entwickelt daraus die stoische Lehre (samt excmpla) vom Suizid (220—265) und tr gt nach einem Exkurs ber Cato Uticensis (266—287) die Anschauungen der anderen Philosophenschulen und einzelner griechischer und r mischer Autoren zusammen — einschlie lich Olympiodors, den er noch aus einer Hs. zitiert. Au erdem wichtig: K. A. Geiger, Der Selbstmord im klassischen Altertum, (Diss. theol. M nchen) Augsburg 1888; R. Hirzel, «Der Selbstmord», Archivf. RtL-Wiss. 11,1908,75-104,243-284,417-476 (Ndr. Darmstadt 1966); Th. Thalheim, «Selbstmord», REU l, 1921, Sp. 1134f.; E.Berneker, «Selbstmord», KL Pauly 5, 1979, 81 f.; R. Garland, Tbt Greek Weg ofDtaib, London 1985, 95-99 (knappe, aber gute bersicht); A. J. L. van Hooff, FromAutothanasia to Suiade. Seif-Kiliing in Classical Antiquity, London-New York 1990 (bietet vor allem umfassende und h chst n tzliche Fallstudien; mit Bibliographie der einschl gigen Literatur); E. P. Garrison, «Attimdes towards Suidde in Ancient Greece», TAPhA 121,1991,1-34 (Behandelt neben Inschriften, Stellen aus den Rednern und wenigen sp teren Zeugnissen f r historische Suizidf lle Herodot und Thukydides, Platon [ausfuhrlicher nur die ] und Aristoteles sowie besonders ausf hrlich die Trag die). Plat. Phd. 64 a 4-9 Κινδυνεύουσι γαρ όσοι τυγχάνουσιν ορθώς άπτόμενοι φιλοσοφίας λεληθέναι τους άλλους δτι ουδέν άλλο αυτοί έπιτηδεύουσιν ή άποθνήσκειν τε και τεθνάναι. ει ούν τούτο αληθές, άτοπον αν εΐη προθυμεΐσθαι μεν εν παντί τφ βίφ μηδέν άλλο ή τούτο, ήκοντος δε δη αυτού άγανακτεΐν δ πάλαι προυθυμοΰντό τε και έπετήδευον.
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Zur neuplatonischen Tugendlehre Da die Behandlung der Suizidproblematik bei den Neuplatonikern, insbesondere bei den sp teren Neuplatonikern, eng mit der Behandlung des neuplatonischen Systems der Tugendlehre verbunden ist, ist zun chst ein Blick darauf n tig. Wie ich an anderer Stelle7 schon einmal etwas n her ausgef hrt habe, kennt die entwickelte neuplatoiiische Tugeridlehre, die in den Grundz gen bereits Plotin (l, 2) entworfen und Porphyrios (Senf. 32) systematisch dargestellt hat und die im sp teren Neupl toriismus vielfach erw hnt und vorausgesetzt ist, sechs «Tugendgrade». Diesen Begriff hat O. Schissel von Fieschenberg8 als bersetzung der Formulierung βαθμοί των αρετών () eingef hrt, die m. W. so erst im -Kommentar Olympiodors, des letzten heidnischen Philosophieprofessors in Alexandri etwa zwischen 529 und 564 vorkommt.9 Die sechs Tugendgrade hei en sp ter - etwa in der von dem Leiter der neuplatonischen Schule in Athen Marinos verfa ten enkomiastischen Lebensbeschreibung geradezu hagiographischen Charakters ber seinen Lehrer und Vorg nger Proklos10 - physische (φυσικαί), ethisch-politische (ήθικαί, πολιτικαί), kathartische (καϋαρτικαί), theoretische (θεωρητικοί) und theurgische (θεουργικαί) Tugenden, ber denen die paradigmatischen Tugenden als die dem Menschen gew hnlich unerreichbaren intelligiblen Prinzipien der theoretischen Tugenden angenommen werden. Von diesen Tugenden kennen Plotin und Porphyrios nur die ethischpolitischen, die kathartischen (von Plotin καθάρσεις genannt), die theoretischen und die paradigmatischen (die Plotin allerdings nicht nennen mag11); die wegen ihrer geringen Bedeutung f r den Aufstieg des Menschen weniger wichtigen physischen Tugenden, die st rker k rperliche Qualit ten wie gutes Sehverm gen ebenso wie nat rliche Charakteranlagen einschlie en, begegnen in diesem System zuerst in Marinos' ProklosVtiei, die theurgischen, zu wei er Magie bef higenden hat nach deren Zeugnis (625 f. M.) erst der Porphyrios-Sch ler Jamblich eingef hrt. Wichtiges Merkmal dieser Tugendlehre ist, da auf jeder dieser Ebenen die vier Kardinaltugenden Weisheit (σοφία), Tapferkeit (ανδρεία), Besonnenheit oder besser Ma halten (σωφροσύνη) und Gerechtigkeit (δικαιοσύνη), die Platon im vierten Buch seines <Staates> annimmt,12 in einer der jeweiligen Ebene gem en Auspr gung wiederkehrt: So ist etwa das Ma halten (im einzelnen Menschen) nach Platons Darstellung im <Sta t> der Zustand, in dem die Begierden einfach und ma voll, weil mit Einsicht und richtiger Meinung von 7
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R. Thiel: «Stoische Ethik und neuplatonische Tugendlehre. Zur Verortung de? stoischen Ethik im neuplatonischen System in Simplikios* Kommentar zu Epiktets Encbiridion»* in: Th. F hrer/M. Erler (Hrsgg.), Zur Rezeption der hellenistischen Philosophie in der Sp tantike (Philosophie der Antike; 9), Stuttgart , 1999,93-103. O. Schissel von Fieschenberg, Marinos von Neapo s und die neuplatonischen Tiigendgrade, Athen 1928. Vgl. auch RE2 XIV 2, Sp. 1759-1767 s. v. <Marinos 1)> und L Hadot, Leprobleme du ntopl tonisme Alexandrin? ' Hierocles et Simplicius, Paris 1978, 150-152. . Olymp, in Phd. l, 4,9. 8,2,1 £ 12 f. W. Zu den Darier ngsfragen vgl. jetzt L. G. Westerink, ProUgomlnes a la pbihsophie de Platon, texte etabli par L. G. Westerink f et traduit par J. Trquillard, Paris 1990, xvii-xxii. Marino di Neapoli, Vita di Procio, testo critico, introd,, trad. e comm. a cura di R. Masuilo, Napoli 1985. Dazu u. S. 25 und Thiel, «Tugendlehre» (wie Anm. 7), 99, Plat. Rep. 427 e,10 f.: Δήλον δη ότι σοφή τ' εστί και ανδρεία και σώφρων και δικαία (se. ή πόλις). Eine ausf hrlichere Behandlung der einzelnen Kardinaltugenden folgt unmittelbar im Anschlu : σοφία 428all, ανδρεία 429 a8, σωφροσύνη 430c 8, δικαιοσύνη 432b2-434d 1.
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der Vernunft geleitet sind,13 liegen also - nach Porphyrios' Formulierung14 im Anschlu an die Tugendlehre von Aristoteles' sagen, scheint Plotin selbst gar nicht betrieben, allerdings auch nicht in allen ihren Formen strikt abgelehnt zu haben, wenn er der Beschw rung seines Schutzgeistes, der sich dann als ein Gott oder h hergestellter D mon erwies, «bereitwillig zustimmte».18 Ebenso hatte Porphyrios, wie aus Augustin (citi 10,9-11) noch kenntlich ist, eine vorsichtig differenzierte Haltung gegenber der Theurgie, die von ma voller Zustimmung (c. 9, p. 415,17 —19) und der Zuweisung einer gewissen positiven Rolle beim Aufstieg der Seele (c. 9, p. 415,29-32) bis hin zu 13 14 15 16 17 18
431 c 5 £ τάς δε γε άπλας τε καί μετρίας (sc. επιθυμίας και ήδονάς τε, vgl. b 9), αϊ δη μετά νου τε και δόξης ορθής λογισμφ άγονται, εν ολίγοις επίτευξη κτλ. Satt. 32, ρ. 23,4-6. 9 £ Lam^erz. 25,2 f. L. το δε γε μη όμοπαθεΐν συνίστήσι το σωφρονείν. 28,2 f. L. σωφροσύνη δε ή είσω προς νουν στροφή. 1,2,6,14-17 κάκεί μεν ουκ αρετή, εν δε ψυχή αρετή, έκεΐ ούν τί; ενέργεια αύτοο καί δ εστίν ενταύθα δε το εν άλλφ εκείθεν αρετή. Porph. Plot. 10,19 έτοίμως ύπακούσαντος. Gegen Versuche, Passagen aus Porph. P/of. 10, Plot. 4, 4 und andere Stellen aus den Enneaden in dem Sinne zu deuten, da Plotin theurgische Praktiken aktiv bef rwortet oder betrieben h tte, E. R. Dodds, Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 1970, Anhang 11, 152-158 und dann A. Hilary Armstrong, «Was Plotinus a Magician?», Pbronests l, 1955, 73^79 (jetzt auch in ders., Plotinian and Christian Studtes, London 1979). bertrieben Dodds' (153. 156-158) Skepsis gegen ber der Historizit t der von Porphyrios berichteten Beschw rung.
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einfache Sache selbst, die sie ins Nacheinander ausfaltet, die wissenschaftliche Ausrichtung der rationalen Seele nicht auf das Vorstellbare, Wahrnehmbare, Verg ngliche, sondern auf das Intelligible und Ewige. Es sind mit ndern Worten die theoretischen Tugenden. Damit aber ist deutlich, da jedenfalls nach Pl tin lind nach Porphyri s, der v llig analog und unter exakter Aufnahme von Plotins Worten argumentiert (Sent. 32, p. 26,6—10), zwar mit dem Abschlu der Reinigung der Status der G ttergleichheit erreicht ist^ die kathartischen Tugenden aber gleichwohl nicht die Tugenden der g ttergleichen Seele sind; diese sind vielmehr die theoretischen Tugenden. Zwar besitzt jeder, der die Kathar$is abgeschlossen hat, auch die theoretischen Tugenden, begrifflich aber sind beide unterschieden wie der negative Bezug auf ein Fremdes und die positive Bet tigung des Eigenen.
Zur Sui%idprobkmatik im NeHplatonhmus Wie die Tugendlehre seit Pl tin ihren systematischen Ort in der Frage hat, welche Vollkommenheiten es eigentlich sind; die uns dazu fuhren und die es ausmachen, da wir als rationale Seelen einem Gott gleich werden, so ist die Behandlung der Suizidproblematik bei den Neuplatonikern, jedenfalls deren Ha ptstrang, eigentlich die Behandlung der Frage, warum nur die "Abwendung vom K rper im Leben und die Zuwendung zum Intelligiblen, zum νους im Leben, nicht aber das gewaltsame Ausscheiden aus dem Leben uns dem Ziel des wahren Philosophen zufuhrt, die Seele rein f r sich, in ihrer erkennenden Ausrichtung auf den Intellekt, der sie bestimme, zu haben.
Pl tin und Porphyri s Die neuplatonische Auseinandersetzung mit dieser Frage beginnt mit Pl tin, der der εύλογος εξαγωγή,23 also dem Problem eines vernunftgem en willentlichen Scheidens aus dem Leben, einen eigenen, den k rzesten seiner Traktate (l, 9) mit ka rh einer OxfordSeite Umfang widmet. W hrend der Terminus εξαγωγή (bzw. έξάγειν εαυτόν [του βίου]) als euphemistische Umschreibung f r den Freitod offenbar schon auf den Sokratiker Antisthenes zur ckgeht, jedenfalls aber dann in der Junktur εύλογος εξαγωγή in die stoische Diskussion eingeht24 (aus der Pl tin sie bernimmt), Ist die Verbindung des Problems mit der platonischen Seelenlehre f r uns zuerst bei Pl tin fa bar. Da der Traktat in seiner K rze recht dunkel ist, sich aber von einigen Stellen bei Plotins Sch ler Porphyri s her gut erhellen l t, m chte ich damit anfangen und danach erst etwas ausf hrlicher zu Plotiri l, 9 zur ckkehren. 23
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Als Titel von l, 9 selbst ist zwar nur περί εξαγωγής berliefert. Doch zitiert ihn Porphyri s, der die Titel ja hinzugef gt hat, ah den beiden Stellen seiner Vita Piotini (4,53- und 24,34), an denen er die Schriften Plotins auflistet, als περί (της εκ του βίου) ευλόγου εξαγωγής, und unter dem Titel περί ευλόγου εξαγωγής war die Schrift auch sp terhin bekannt, vgl. Olymp, in Phd. l, 8,17 W. und Anon. («Elias») C4G" XVIII i 15,23. . Antisthenes, frg. 165 D. G (Antistbenis fragnenta, coll. F.Decleva Caizzi, M ano 1966) = Ath. 4, 157 b έξάγειν εαυτούς του βίου; zur Stoa etwa D; L. 7,130 ευλόγως ... έξάγειν εαυτόν του βίου.
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Porphyrios nimmt zur Frage der Selbstt tung einerseits ganz kurz und pr gnant und auch eher implizit in zwei seiner <Sentenzen>, andererseits an zwei Stellen in seiner Schrift < ber die Abstinenz vom Fleischgenu ) Stellung. In Senf. 8 schreibt er: Was die Natur gebunden hat, das l st die Natur, und was die Seele gebunden hat, das l st sie selbst; gebunden hat aber die Natur den Leib an die Seele, die Seele aber sich selbst an den K rper. Die Natur also l st den Leib von der Seele, die Seele aber l st sich selbst vom K rper.25 Und darauf aufbauend, aber mit deutlichem Bezug auf den , schreibt er unmittelbar darauf in der n chsten Sentenz, in Senf. 9: Der Tod ist zweifach, einmal der allgemein als solcher anerkannte, wenn der K rper von der Seele gel st wird, zum anderen der der Philosophen, wenn sich die Seele vom K rper l st; und keineswegs folgt der eine [Tod] dem anderen.26 Porphyrios nimmt also hier in Sentenz 8 zun chst aus dem den Gedanken auf, da die Verbindung zwischen rationaler Seele und K rper teils von der Seele, teils nicht von der Seele verursacht ist. Dies ist im berall und auch an den bereits erw hnten Stellen vorausgesetzt, insbesondere in der Weise, da immer wieder betont wird, da die L sung der Seele vom K rper - vom Suizid zun chst abgesehen - nur bis zu einem gewissen Grade m glich ist und da Sokrates von sich sagt, seine Seele habe im Leben mit dem K rper jedenfalls mlknttich keinerlei Gemeinschaft gehabt.27 Da die willentliche Gemeinschaft darin besteht, sich ber das Notwendige hinaus auf die Bed rfnisse, L ste und Leidenschaften des K rpers zu richten und sich ihnen zu ergeben, wird im deutlich genug. Diese willentliche Gemeinschaft mit dem K rper geht also auf eine Aktivit t der Seele zur ck, die sich dem K rper ergibt, und in diesem Sinne kann Porphyrios sagen, da dies etwas ist, was die Seele gebunden hat und nat rlich auch - mit der von Sokrates erw hnten und vorbildlich gelebten philosophischen Askese - wieder l sen kann. Es bleibt aber ein Rest der Verbindung zwischen rationaler Seele und Leib, den die Seele nicht oder jedenfalls nicht als Seele, nicht durch R ckzug auf das ihr eigene, aufl sen kann, sondern nur die Physis, also die Natur oder die G tter oder wen immer man f r die tats chliche Verbindung von Seele und Leib verantwortlich machen will. Da der Definition des Platonischen zufolge der Tod die Trennung von Leib und Seele ist, kommt Porphyrios aufgrund des bereits Ausgef hrten in Senf. 9 nun zur Unterscheidung zweier verschiedener Formen des Todes. Die naheliegende Unterscheidung eines physischen und eines willentlichen oder prohairetischen Todes, also einer von der Natur und einer von der Seele gem eigenem Vorsatze durch eigene seelische T tigkeit erreichbaren Trennung von Leib und Seele, eine Unterscheidung, die bei den sp teren Neuplatonikern fester Bestandteil der Diskussion der Suizidproblematik ist, ist zwar implizit mit Seni. 8-9 gegeben, wird aber so von Porphyrios hier nicht durchgef hrt. Porphyrios unterscheidet die beiden Formen des Todes so, da der allgemein als Tod anerkannte, also 25
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"Ο έδησεν ή φύσις, τοοτο φύσις λύει, και δ έδησεν ή ψυχή, τοΟτο αύτη λύει· έδησε δε φύσις μεν σώμα εν ψυχή, ψυχή δε έαυτήν εν σώματι, φύσις μεν δρα λύει σώμα εκ ψυχής, ψυχή δε έαυτήν λύει από σώματος. Ό θάνατος διπλοος, ό μεν ούν συνεγνωσμένος λυομένου του σώματος από της ψυχής, ό δε των φιλοσόφων λυομένης της ψυχής από τοο σώματος* και ου πάντως 6 Ετερος τφ έτέρω έπεται. Pbd. 80 c 2 f. ουδέν κοινωνούσα αύτφ (sc. τφ σώματι) εν τφ (Κω έκοΰσα γ' είναι.
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der von der Physis herbeigef hrte Tod eher eine Trennung des K rpers von der Seele ist, der im ausf hrlich beschriebene asketische «Tod» der Philosophen dagegen eher eine Trennung der Seele vom Leib. Es scheint also so, da beim Philosophentod die Seele die Initiative, die Aktivit t bei der Trennung tr gt, beim physischen Tode dagegen der Leib. Dies ist beim «Tod der Philosophen», der philosophischen Askese, unmittelbar einsichtig; inwiefern jedoch der K rper das movens beim physischen Tode ist, wird sich gleich anhand von Plotin l, 9 genauer zeigen. - Porphyrios schlie t jedoch Senf. 9 mit der Bemerkung, da der eine Tod dem anderen keineswegs folge, da also offenbar weder der philosophisch-asketische «Tod» den physischen zur Folge hat, was ja wiederum unmittelbar einsichtig ist, noch aber auch der physische Tod die rationale Seele schon von ihrer Gebundenheit an die wahrnehmbare Welt befreit. Dieser letztere Aspekt l t sich anhand zweier Stellen in Porphyrios' De abstinentia, also der o. e. Schrift ber die Enthaltung vom Fleischgenu , noch etwas n her beleuchten.28 Durch den physischen Tod wird n mlich nach Porphyrios die Ausrichtung einer Seele auf den K rper keineswegs aufgehoben. Zwar besitzt eine Seele nach dem physischen Tod nicht mehr die F higkeit, in ihrem alten K rper zu wirken, von dem sie ja getrennt ist; aber da die Seele nichts davon abhalten kann, dort zu sein, wohin sie das ihr Verwandte zieht, bleibt die schlechte Seele, die sich nicht vom K rper abgewandt hat, der K rperlichkeit und ihrem K rper durchaus verhaftet. Dieser Gedanke wird mit der Erfahrung gest tzt, die schon Sokrates im (81 c 8-d 4) in hnlicher Form anf hrt, da die schlechten Seelen, eben weil sie der K rperlichkeit und ihrem K rper verhaftet bleiben, nach ihrer gewaltsamen Trennung vom Leib bei ihm bleiben und Geistererscheinungen hervorrufen. Im unmittelbaren Kontext von De abstinentia gewinnt Porphyrios daraus ein Argument gegen den Fleischgenu , weil man die Gegenwart der Seelen der get teten Tiere f rchten m sse, die die eigene reine Begegnung mit dem Gott st ren k nne. - Wie aber dem auch sei, Porphyrios zieht daraus, wenn auch nur in einem Nebensatz, auch ausdr cklich ein Argument gegen das Suizid, insofern eben das Ziel des Philosophen, die Beendigung der Ausrichtung der Seele auf den K rper, durch den gewaltsamen Entzug des K rpers nicht erreicht werden kann, sondern diese Ausrichtung der Seele vielmehr bestehen bleibt. Oder wie Porphyrios an der anderen Stelle, nat rlich wiederum mit Bezug auf Sokrates7 Bemerkung betreffs Buenos, sagt: «Mit Gewalt freilich wird der; Philosophierende sich nicht aus dem Leben f hren. Denn wenn er sich Gewalt antut, bleibt er nichtsdestoweniger dort, von wo mit Gewalt wegzugehen er sich zwingen will.»^ Plotins Traktat l, 9 ber die Zul ssigkeit des Suizids beginnt mit zwei S tzen, die z. T. so dunkel sind, da man sie - wie wir von Psellos wissen ^ sp ter als aus den Ende des 2. Jhd. n. Chr. entstandenen sogenannten «Chald ischen Orakeln» entlehnt betrachtet hat,30 jener deutlich mittelplatonisch beeinflu ten Sammlung von Spr chen, die die sp te— 28 29 30
Es handelt sich um Porph. Abst. 2,47 u. l, 38,2; vgl. l, 32,1. . Porph. Abst. l, 38, 2 βία μεν τοίνυν εαυτόν 6φιλοσόφων ουκ έξάξει1 βιαζόμενος γαρ ουδέν ήττόν'έκεΐ μένει» όθεν άπελ-itetv βιάζεται. Frg. 166 in der Ausgabe von des Places (Oracles CbaldaXques, avec un cftoix de commentaires anciens. Texte etabli et trad. par 6d. Des Places, S. JM Paris 1996): ... μη 'ξάξχις, ϊνα μη τι έχουσα / έξίη ... (Des Places: έξίη έχουσα τι codd.). Indessen ist ganz unsicher, ob Plotin, der die Chald ischen Orakel sonst nirgendwo, jedenfalls nicht f r uns erkennbar, zitiert, hier ein λόγιον aufnimmt, wie Psellos meint (Expos, or. ChaM.t jetzt in Michaelis Pselli Philosophien minora, edd. J. M. Duffy et D. O'Meara, 11: Opusctila psyebol., Ibeol., daemoml. N° 38, pp. 128,18-129,16 = PC 122,1125/1128; auch abgedruckt in Des Places' Appen-
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ren Neuplatoniker als g ttliche Offenbarung betrachtet und kaum weniger hoch gesch tzt haben, als die zeitgen ssischen Christen die Heilige Schrift: Du sollst sie [sc. die Seele] nicht hinausf hren, damit sie nicht hinausgeht; denn hinausgehen wird sie, indem sie etwas an sich hat, damit sie berhaupt hinausgeht, und hinauszugehen ist ein bergehen an einen anderen Ort. Sondern sie wartet, da der Leib ganz von ihr abl t, wenn sie nicht bergehen mu , sondern ganz au erhalb ist.31 Auf dem Hintergrund der oben besprochenen Porphyrios-Stellen ist deutlich, was hier gemeint ist: Das Hinausgehen der Seele aus dem K rper ist gar nicht das, was der Philosoph w nschen kann. Wohl ist Philosophie Bem hung um den Tod, wohl ist die Abl sung der Seele vom K rper Ziel der Philosophie, aber dieses Ziel kann durch ein gewaltsames Scheiden aus dem Leib gar nicht erreicht werden. Die Seele, die sich auf diese Weise aus dem K rper entfernt, «geht», wie Plotin sagt, «hinaus», sie beendet ihre Bindung allenfalls an diesen bestimmten K rper, aber nicht ihre Bindung an die K rperlichkeit, die sich - wie gesehen — nur durch die Vervollkommnung der Seele durch die kathartischen und theoretischen Tugenden aufl sen l t. Wenn die Seele dagegen aus dem K rper scheidet, indem sie ihn gewaltsam verl t, dann wird dadurch ihre Bindung an die K rperlichkeit nicht aufgehoben. Im Gegenteil, sie setzt diese Bindung voraus; denn wie «hinauszugehen» ein « bergehen an einen anderen Ort» bedeutet, so ist dieser Ortswechsel nicht ohne Gebundenheit an die materielle Welt m glich, in der allein es «Ort» im blichen, hier gemeinten Sinne gibt. Ein Ausscheiden aus dem Leib durch bergang an einen anderen Ort ist also f r Plotin das einzige, was der Freitod bewirken kann. Dieses Ergebnis ist aber nichts, was der Philosoph wollen und w nschen kann, der sich doch — nach Traktat 1,2- um die R ckwendung der Seele auf sich selbst und ihre Ausrichtung ber sich selbst hinaus auf den νους bem ht. Das gewaltsame Ausscheiden aus dem K rper ist aber nicht nur etwas, was nach Plotin nicht zu dem ersehnten Ziel, der Losl sung der Seele vom K rper f hren kann. Denn w re es nur so, da der Freitod nicht zum Aufstieg der Seele fuhren kann, dann w re er zwar kein geeignetes Mittel, die Vollendung der Seele herbeizuzwingen und sozusagen auf einer bequemen Abk rzung das zu erreichen, was der Philosoph nur unter gr ten M hen in der asketischen Abwendung vom K rper erlangt. Gleichwohl w re nicht einzusehen, warum der Philosoph, der die Reinigung seiner Seele bereits erreicht hat, der bereits den βίος θεωρητικός f hrt und so seine Seele vervollkommnet hat, sich nicht durch Freitod des Rests von Gebundenheit an den K rper entledigen sollte, der ihr auch dann verbleibt, wenn sie sich nach M glichkeit vom K rper entfernt hat - immerhin mu sich auch der Philosoph dem K rper ein St ck weit zuwenden, um m glichst wenig von ihm behindert zu werden, etwa dadurch, da er Vorkehrungen trifft, Hunger und Durst zu stillen. Warum also soll nicht der Philosoph, der durch asketische Abwendung vom K rper schon eine Vollkommenheit erreicht hat, die durch den Freitod freilich nicht erreichbar ist, dann,
dice) oder ob das Wort umgekehrt aus Plotin in den Zweig der Tradition der Chald ischen Orakel, der Psellos noch vorlag, eingedrungen ist. VgjL dazu Des Places 165 Anra. l und die dort genannte Literatur. Piot. l, 9,1 -4 ουκ έξάξεις, ίνα μη έξίη- έξελεύσεται γαρ έχουσα τι, ίνα και έξέλΟη, το τε έξελΟεΐν εστί μεταβήναι εις άλλον τόπον, αλλά μένει το σώμα άποστηναι παν αυτής, δτε μη δεΐται μετελϋεΐν, αλλ* εστί πάντη £ξ(α
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wenn er vollkommen ist, den Freitod w hlen, um die Vollkommenheit, die ihm zwar nur auf andere Weise erreichbar war, dann unbel stigt zu. genie en? Warum ist nicht f r den Philosophen der Freitod ein konsequenter, aus der asketischen Vollendung der Seele und auf sie folgender Schritt?32 Eine Antwort darauf hat Plotin eigentlich schon gegeben: «Die Seele hat» dabei «etwas», wie er im ersten Satz kurz, aber ganz treffend sagt. Die Seele ist, wenn sie sich aus dem K rper treibt, eben nicht blo sie selbst, rein rational, sondern eben durch den Akt der Selbstt tung, die den K rper unf hig macht, die Seele zu beherbergen, wendet sich die rationale Seele ber das notwendige Ma dem K rper zu. Der von der rationalen Seele vorgenommene Akt der Entleibung ist — so Plotin ausdr cklich33 — stets von einem Unwillen, einer Unlust oder einem Zorn begleitet und beraubt daher die Seele ihrer απάθεια, ihrer Freiheit von k rperbezogenen Affekten, die sie vorher durch Erlangung der kathartischen Tugenden gehabt haben mag. Denn eine solche Einwirkung auf den K rper ist ohne einen Affekt gegen den K rper nicht zu haben. Die rationale Seele, die sich des K rpers entledigen will, bindet sich paradoxerweise willentlich an den K rper. Auch f r den Philosophen ist.daher nicht der Freitod, sondern nur der nat rliche Tod erstrebenswertes Ziel, auf das er «daher warten mu . Im physischen Tod aber l st sich, wie Plotin sagt — und dies ist nat rlich das Vorbild f r das, was Porphyrios in den <Sentenzen> schreibt ·— nicht die Seele vorn K rper wie beim «Philosophentod» durch Askese, sondern der K rper von der Seele^34 indem der K rper sich als unf hig erweist, die rationale Seele zu halten. Wenn der K rper nicht mehr an die Seele gebunden ist, wenn der K rper seine αρμονία, die bereinstimmung seiner· Teile zu einem funktionierenden Einen und Ganzen verliert, dann verliert er auch die Seele, die er hatte, als er « wie Plotin unter ausdr cklichem R ckgriff auf den Platonischen (85 e 3 ff.) sagt -^ jene Harmonie besa . Bei Plotin dient diese berlegung nur dazu, den nat rlichen Tod von dem gewaltsamen, von der rationalen Seele durch Zerst rung des K rpers erzwungenen, zu unterscheiden; bei den sp teren Neuplatonikern wird daraus ein weiteres Argument gegen den Freitod gewonnen, das ebenfalls eng mit der auf das Ziel der «Angleichung an einen Gott» gegr ndeten Tugendlehre zu tun hat. Macrobius bleibt in seinem Kommentar zum Somnium Sdpionis vollkommen im Rahmen des von Plotin und Porphyrios Vorgegebenen und soll deshalb anhangsweise kurz im Zusammenhang mit ihnen besprochen werden.35 Als seine Quellen nennt Macrobius einerseits (l, 13, 5 f r l, 13, 5-8) den Platonischen , andererseits (l, 13, 9 f r l, 13, 918) — als Ausfaltung der Platonischen Position - den Traktat l, 9 Plotins, der sich auf32
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Diese Zielrichtung der Plotinischen Argumentation erkennt richtig Pse bs /. c. j>. 129,8—10 O'M. μη' προανέλης σαυτόν του φυσικοο θανάτου, καν πάνυ πεφιλοσόφήκας· οοπω γαρ της τελεωτάτης καθάρσεως έτυχες. . 1, 9,9 f. και δτε λύει, ουκ απαθής, αλλ' ή δυσχέρανσις ή λύπη ή θυμός. Plot. 1, 9,3-5. Da Plotin hier sagt, da def Leib sich von der Seele entfernt und nicht umgekehrt, ist also nicht blo eine Frage des Blickwinkels, wie R. Harder (Phtins Schriften, I, Hamburg 1956) zu l, 9 (16),3 άποστήναι offenbar voraussetzt. Hier liegt vielmehr schon die Unterscheidung zwischen dem physischen Tod als der Trennung des K rpers von der Seele und dem asketischen «Tod» als der Trennung der Seele vom K rper vor, die wif dann explizit aus Porph, Seat. 9 kennen. Macr, soma. l,13" zu Cic. rep. 6,15. Einen Vergleich zwischen Macrobius und den Passagen ber die Selbstt tung bei Aug. ακ l, 17-27 bietet P.W. van der Horst, «A Pagan Platonist and a Christian Platonist on Suicide», J/
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grund von Macrobius* enger Paraphrase als eine dkekte Quelle ansehen läßt.36 Im ersten Teil ist Porphyrios' Einfluß mit Händen zu greifen, etwa in der Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Formen des Todes, einem natürlichen und einem durch die (kathartischen) Tugenden bewirkten, wo Anleihen bei Porph. Senf. 7-9 (mit 32) unübersehbar sind. Der zweite Teil paraphrasiert und deutet in erstaunlicher Präzision Plot. l, 9, wobei die beiden Hauptargumente des Traktats gegen den Freitod aufgenommen sind: 1. Die Seele bindet sich durch den Freitod an den Körper, so daß sie selbst dann, wenn sie vorher vom Körper frei war, diese Freiheit wieder verliert; 2. da die Stellung der Seele nach dem Tode sich nach dem Grade der hier erlangten Vollkommenheit bemißt, ist die Lebenszeit zur Vervollkommnung zu nutzen und nicht vorzeitig zu beenden. Als drittes Argument wird über Plotin hinaus, aber ganz auf seiner Linie, der Gedanke, der bereits vollkommen gereinigte Philosoph müsse also Hand an sich legen, sobald er dies erreicht hat, da er keinen Grund mehr zum Bleiben habe, außer durch Verweis auf (1) auch dadurch abgelehnt, daß die spesfruendae beatitudinis (l, 13,17) selbst eine Leidenschaft ist, die ebendiese Glückseligkeit der Seele trüben muß. Dabei handelt es sich um eine zwar unwesentliche, aber doch merkliche Erweiterung der Plotinischen Argumentation, die man sich gern in einer auf Plot. l, 9 zurückgehenden Porphyrischen Schrift vorstellen mag. Die späteren Neuplatoniker37 Im späteren Neuplatonismus seit Proklos ist im Lehrbetrieb ein festes Curnculum bezeugt, das mit der Lektüre der Porphyrischen Isagoge begann und nach der Behandlung des Aristotelischen Organon in streng geregelter Reihenfolge Platonische Dialoge vorsah, die dem Erwerb bestimmter Tugenden nach dem oben skizzierten System der Tugendgrade zugeordnet wurden.38 Die Professoren, die Philosophie lehrten, pflegten diese Lektüre mit Erläuterungen zu begleiten, denen auch Einleitungen vorangestellt waren, und zwar sowohl Einleitungen in die Philosophie überhaupt, die der Lektüre der Isagoge vorausgingen, als auch Einleitungen in die Philosophie Platons zur Vorbereitung auf die Platon-Lektüre. Von diesen Einleitungen sind aus der neuplatonischen Schule in Alexandreia mehrere erhalten, so in der Vorrede zum Isagqge-Kornmentax des Ammonios und etwa zwei Generationen 36
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Unter anderen Umständen würde man wohl sagen: «erweisen läßt». Doch pflegt Porphyrios Plotin bisweilen wörtlich zu zitieren. Es ist daher nicht auszuschließen, daß Macrobius Plotin vielmehr über Porphyrios' verlorenen -Kommentar zitiert, den Dam. (olim Olymp.) in PheL 124 W. bezeugt. Die wichtigsten in diesem Abschnitt behandelten Texte [Amm. in Porph. Prooem. (CAG IV üi, bes; 4,15-5,27), Olymp, in Pbd. 1,2,2-8 W, Anon. («Elias») in Porph. (C^CXVIIIi) 12,3-16,8, David in Porph. (CAG XVIII ii) 29,12-34,12, Ps.-Elias in Porph. (abgesehen von einem Auszug in CAGXV1U ii, pp. XXI £ erstmals ediert von L. G. Westerink: Pseudo-Elias (Pseudo-David), Lectures on Porpbyry's Isagoge, Amsterdam 1967), in allem Wesentlichen mit David übereinstimmend, vgl. Westerink, s. u., 97], hat bereits L G. Westerink, «Eüas und Plotin», By^Z 57, 1964, 26-32 (jetzt auch in ders., Texfs and Stodies in Neoplatonhm and Byipntine Uterature. Collected Papers, Amsterdam 1980, 93-99) zusammengestellt, der dort nachweist, daß die Darstellung des Anonymus (CAG XVIII i 15,23-16) nicht, wie dieser angibt (/«//.), Plotin, sondern wohl eher (über Olympiodor) Proklos entnommen ist. Zu diesem Curriculum vgL jetzt vor allem I. Hadot, Simplidus, Commentain sur /es Categories, trad. commentee sous la direction de I. Hadot, fasc. I: introduction, premicre partie (p. l -9,3 Kalbfleisch) (Philosophia Antiqua, 50), Leiden u. a. 1990, 32 und die Übersicht über das Curriculum 44-47; nützlich auch die Tabelle über die Abfolge der Dialoge und ihre Zuordnung zu den verschiedenen Tugendgraden in L. G. Westerink, ProUgomtms (wie Anm. 9), Paris 1990, Ixxiil
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sp ter des Olympiodor-Sch lers David und eines Anonymus39 sowie eines weiteren anonymen Kommentators (Ps.-Elias), der in denselben Umkreis geh rt. Die Suizidproblematik wird in diesen Einleitungen in die Philosophie — und brigens auch schon in Olympio^ dors -Kommentar — anhand einer der Definitionen der Philosophie behandelt, n mlich der aus Platons (81 a l, vgl. 64 a) als μελέτη Φανάτου, als (Bem hung um den Tod>. Die Argumentation gegen die Zul ssigkeit der Selbstt tung wird in diesen Schriften im wesentlichen mit den Argumenten gefuhrt, die Porphyrios in den <Sentenzen> vorgepr gt hatte, da n mlich zwischen einer willentlichen und einer unwillentlichen Bindung zwischen Seele und K rper zu unterscheiden sei und nur die willentliche — die Gebundenheit der Seele an die K rperlichkeit - auch von der Seele, n mlich durch asketische Abwendung von der K rperlichkeit, wieder gel st werden d rfe, w hrend die unwillentliche — die physische Bindung des K rpers an die Seele — auch nur unwillentlich gel st werden d rfe, d. h. da man dies dem Demiufgen oder Gott, der diese Verbindung geschaffen habe, anheimstellen m sse. Neben diesem Hauptstrang der Argumentation gegen den Freitod, der durch diese Unterscheidung zwischen einem physischen Tod und dem in Askese sich vollendenden deutlich macht, da das Ziel des Philosophen, die Abl sung der rationalen Seele von der K rperlichkeit, durch gewaltsames Ausscheiden aus dem Leib nicht erreichbar ist, gibt es noch ein weiteres besonders wichtiges Argumentationsmuster, das ebenfalls aus der neuplatonischen Tugendlehre stammt und dann vor allem von Olympiodor, David und dem Anonymus («Elias») f r die Argumentation gegen den Freitod nutzbar gemacht wird Dieser Argumentationsstrang geht wiederum von der Bestimmung der Philosophie als όμοίωσις Φεφ, also Angleichung an einen Gott aus und weist dem Gott, an den sich der Philosoph angleichen will, zwei Aktivit ten zu: einmal die θεωρία, das hei t die philosophische Betrachtung der ganzen, insbesondere der h heren, intelligiblen Welt, und zum anderen die Vorsehung und F rsorge (πρόνοια) f r das, was geringer ist als er selbst, also f r die materielle Welt. Der Philosoph wird sich also — so die Argumentation — nicht nur durch Erwerb und Besitz der kathartischen und theoretischen Tugenden erkennend auf das G ttliche ausrichten, sondern sich auch f rsorglich der materiellen Welt zuwenden, ohne freilich selbst mit ihr mitzuleiden. Der Gedanke, da der Philosoph wie eben die G tter, denen er gleich werden will, nicht nur erkennend nach oben^ sondern auch f rsorglich nach unten blicken m sse, findet sich bereits bei Ammonios,49 und sein Zeitgenosse Marinos, der Proklos-Biograph, lobt seinen Lehrer Proklos daf r, da er diese F rsorge f r die Weltj die er als selbstverst ndlichen Bestandteil der philosophischen Nachahmung der G tter voraussetzt, nicht nur gem den politischen Tugenden, sondern auch theurgisch, also mit wei er Magie und damit genau auf dieselbe Weise wie ein Gott verwirklicht hat.41 39 40
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Die genauen Stellenangaben aller Texte sind o. Anm. 37 nachgewiesen. Zum Verh ltnis Davids, des Anonymus und des Ps.-Elias zu Olympiodor s. u. S. 37 mit Anm. 51. Ammon. /// Porph. ό δε φιλόσοφος κατ' αμφω βούλεται έξρμοιουν εαυτόν τφ θεφ· βούλεται γαρ και θεωρητής είναι των πάντων (πάντα γαρ επισκέπτεται), και μέντοι και πρόνοιαν των καταδεεστέρων ποιείται (ό γαρ πολιτικός φιλόσοφος δικάζει και νόμους τίθησιν)· ώστε είκότως ή φιλοσοφία όμοίωσίς εστί Όεφ. Marin. Procl. 673-677 Μ. ουδέ κατά Όάτερον των εν τοΐς θείοις διττών ιδιωμάτων έζη, νοών μόνον και άνατεινόμενος είς τα κρείττονα, πρόνοιαν ήδη και των δευτέρων ετίθετο θειότερόν τίνα και ου κατά τον έμπροσθεν είρημένον πολιτικόν τρόπον.
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Aber weder Ammonios noch Marinos verwenden diesen Gedanken in der Auseinandersetzung mit der Suizidproblematik. Soweit ich sehen kann, geschieht dies für uns faßbar erst im -Kommentar Olympiodors und in allem wesentlichen gleich auch bei seinen Schülern David und dem Anonymus.42 Dabei ist vorausgesetzt, daß Philosophie, daß die Bemühung des wahren Philosophen es ist, sich (einem) Gott anzugleichen, und wieder ist, wie schon bei Ammonios und Marinos, der Gedanke leitend, daß diese Angleichung an einen Gott gemäß beiden Aktivitäten Gottes oder der Götter geschehen sollte, also sowohl in ihrem anagogischen, auf rationale Zuwendung zum Einsehbaren, zum Intelligiblen bedachten Aspekt, als auch in ihrem providentiellen Aspekt, demgemäß sie für die Welt Fürsorge tragen. Beide Tätigkeiten, das ist der Kern der Argumentation, die anagogische und die providentielle, stehen bei den Göttern (oder Gott) keineswegs in Widerspruch zueinander. Also kann und soll auch der Philosoph, der (einem) Gott gleich ist, für seinen Leib, sein persönliches Umfeld und gegebenenfalls auch den Staat, in dem er lebt, Fürsorge treffen, ohne deshalb seine , den Zustand, in dem er mit dem Körper und der Welt als die Seele, die er eigentlich ist, nicht mitleidet, einbüßen zu müssen; und sicher ist es kein Zufall, daß in den beiden längeren Philosophenbiographien, die uns aus der Spätantike vollständig erhalten sind — Porphyrios' Plotin-V/ ? und Marinos' Proklos- Vita - neben der asketischen Abwendung von der Welt und der theoretischen Zuwendung zum Intelligiblen auch die tätige Fürsorge für die Welt stark betont ist. Das Göttliche entzieht sich nicht der Welt, sondern steht jedem zu Gebote, der in der Lage ist, es zu fassen. Es ist — wie der Anonymus sagt (15,28—16,2) — wie die Sonne, die über alles scheint, auch wenn die Fledermäuse sie nicht ertragen können und vor ihr fliehen. Ebenso soll auch die Seele des Philosophen sich dem Körper nicht entziehen, sondern ihm zu Gebote stehen, solange er sie fassen kann. Der Philosoph scheidet deshalb nicht willentlich aus dem Leben, sondern erst dann, wenn sein Leib nicht mehr fähig ist, die Seele zu beherbergen. Damit ist prägnant verstanden, was Plotin sehr kurz angedeutet und Porphyrios ebenso kurz, aber etwas systematischer festgehalten hatte: der physische Tod soll Entfernung des Leibs von der Seele aus eigener Unfähigkeit sein, die Seele zu halten, und diese Entfernung des Leibs muß die rationale Seele abwarten; daß sie etwa selbst den Körper unfähig machte, sie zu halten, widerspricht ihrer providentiellen Verpflichtung gegenüber dem Körper.
Zusammenfassung Ganz dem entsprechend, was schon Platon im ausführt, ist für Plotin und Porphyrios Philosophie zwar Bemühung um Sterben und Tod; diese Sicht und die Suizidproblematik, die sich aus irjr ergeben könnte, wird von den späteren Neuplatonikern entwickelt und systematisiert, bewegt sich aber in allem wesentlichen auf den von Plotin und Porphyrios vorgezeichneten Bahnen. Der Tod, den der Philosoph sucht, ist der, der seine Seele durch die kathartischen und theoretischen Tugenden vom Körper entfernt und sie so von den Belangen der Welt und des Körpers durch asketische Zuwendung zum Intelligiblen frei macht, das zu tun, was ihrem eigentlichen Wesen als rationaler Seele entspricht: rationale, wissenschaftliche Erkenntnis des Intelügiblen; nicht derjenige, der den Körper Olymp. inPbd. l, 2,3-16 W.; David in Porph. 30,8-21; Anoit. («Elias») in Porpb. 15,23-16,2.
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v llig von der Seele fortrei t und ihm die Providenz seiner Seele entzieht. Beide Formen des Todes sind unabh ngig voneinander, und es ist -nicht Sache der Seele, dem K rper ihre Providenz zu entziehen. Auch n tzt es der Seele nichts, diese Providenz zu beenden, sondern im Gegenteil ist der Freitod eine niemals leidenschaftslose, stets unn tige Zuwendung zum Leib und zur K rperlichkeit. Anhang: Zum εκ περιστάσεως ^l ssigen Suizid bei Platon und den Neuplatonik&rn Neben der sich aus der Systematik des Platonischen Philosophiekonzeptes und der neuplatonischen Tugendlehre ergebenden Frage ist auch das Problern einer Zul ssigkeit des Suizids unter bestimmten Umst nden (in stoischer Formulierung: εκ περιστάσεως) von Platon und den Neuplatonikern gelegentlich angesprochen worden. So rechnet etwa Platon den, der ein Suizid begangen hat, zwar unter die sphlirhmsten43 Verwandtenm rder (Lg. 873 c 2-d 1) - weil er n mlich sich selbst als den allern chsten Angeh rigen gemordet hat —, nimmt jedoch diejenigen aus, die (wie Sokrates)44 von gerichtlicher Anordnung staatlicherseits, qualvollem und unabwendbarem Ungl ck oder einer unentrinnbaren Schande, mit der man nicht leben kann,4^ betroffen sind. Als Kriterium darf man angesichts von R. 406 d—407 d (einer Stelle, die sich freilich nicht unmittelbar mit der Selbstt tung besch ftigt) die Unm glichkeit einer angemessenen Bet tigung der Seele in ihrem K rper vermuten. Im Gefolge Platons erlauben auch die Neuplatoniker in solchen Ausnahmesituationen das Suizid, wobei dort als Kriterium kenntlich wird, da ein solcher Schritt dann Zustimmung finden kann, wenn die Seele vom K rper daran gehindert ist, sich gem ihrer bereits aktual erreichten F higkeit erkennend zu bet tigen, so da der K rper als das geringerwertige Gut und damit auch, die Pflicht der Seele zur Providenz ihm gegenber zugunsten der Seele zur cktreten mu . So nennt Plotin etwa als einen hinreichenden Grund f r ein vernunftgem es Ausseheiden aus dem Leben (εύλογος εξαγωγή) die Einsicht, wahnsinnig werden zu m ssen (l, 9,11 — 14), und erw gt auch f r andere bedr ngte Lebenslagen wie etwa die Kriegsgefangenschaft^ die die Eudaimpnie m glicherweise unerreichbar machen, den Freitod als stets zu Gebote stehende M glichkeit (l, 4, 7,43—45. 16,18-29), freilich nicht ohne anzudeuten, da gew hnlich — und gar auch im genannten Falle - wohl auch eine andere, bessere Wahl offensteht.46 Da Porphyrios in seinem Brief an Marcella als Mittel, den Leidenschaften Zu entfliehen, etwa den Freitod empf hle,47 ist 43 44 45 46 47
873 c 2-4 Τον δε δη πάντων οικειότατον και λεγόμενον φίλτατον δς αν άποκτείνη, τί χρή πάσχειν; λέγω δε δς αν εαυτόν κτείνη .... Vgl. Plat. Pbd. 62 c 6—8 "Ισως τοίνυν ταύτη ουκ αλογον μη πρότερον αυτόν άποκτεινύναι δεΐν, πριν ανάγκην τινά θεός έπιπέμψη, ώσπερ και την νυν ήμΐν παροοσαν. ' · . . ' . 873 c 4-7 μήτε πόλεως ταξάσης δίκη, μήτε περιωδύνω άφύκτφ προσπεσοόση τύχη αναγκασθείς, μηδέ αίσχύνης τινός απόρου καΐ αβίου μεταλαχών. Gut Hirzel (wie Anm. *), 467 Anm. 2. So deutet Geiger (wie Anm. *) 30 mit Anm. 2 die Stelle Porph. Marc. 34 f., bes. p. 36,22-24 (Porphyrios, Προς Μάρκελλαν, hrsg., bers., eingel. u. erkl. von W P tscher, Leiden 1969; vgl. auch Porfirio, Vangelo M unpagano: Letter a Marcelk, Contro Boeto, Su//'amma, Sul Conosci te stesso\ Eunapio, Vifa dt Por rio, a cura di Raffaele Sodano, Milano 1993) πολλάκις κόπτουσί τίνα μέρη επί σωτηρία· της <δέ> ψυχής <ένεκα> έτοιμος δσο το όλον σώμα αποκόπτει ν. Zu Porphyrios* Kritik am Suizid vgl. o. S. 29^-30. Die Deutung Geigers wird immerhin nahegelegt von der Porphyrischen Unterscheidung (Seat. 9) einer Trennung des
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mir angesichts des Kontextes und seiner Kritik am Suizid als Mittel zum Entfliehen aus der K rperlichkeit sehr zweifelhaft. Doch scheint Porphyrios in der Tat mit seinem Lehrer in der Zulassung eines Suizids unter bestimmten Umst nden durchaus bereinzustimmen, wenn er in seiner Plotin-HAz kommentarlos berichtet, Plotin habe nicht nur seine damalige Suizidneigung erkannt, sondern auch den Umstand, da dieser Zustand krankhaft und nicht aus einer von sachgerechter Einsicht geleiteten Disposition entsprungen (11,14 εκ νοεράς καταστάσεως) sei, was den Umkehrschlu erlaubt, da es solche F lle in seinem Sinne grunds tzlich gibt. Von einer Versch rfung der Ablehnung des Suizids im sp teren Neuplatonismus48 kann jedenfalls nicht in dem Sinne die Rede sein, da es im paganen Neuplatonismus selbst eine Entwicklung hin zu einer kritischeren Haltung dem Freitod gegen ber gegeben h tte. Vielmehr f hrt noch im 6. Jhd. der Ammonios-Sch ler Olympiodor ohne kritischen Kommentar die f nf stoischen Umst nde an, unter denen ein Freitod erlaubt sei,49 und gibt als eigenes Kriterium f r die εύλογος εξαγωγή die Abwendung eines Schadens von der Seele an.50 Wenn David und der Anonymus («Elias») bzw. Ps.-Elias, wohl alle Sch ler Olympiodors,51 sich deutlich bis scharf gegen ein Suizid auch aus solchen Gr nden wenden,52 dann ist dies als weiteres Indiz zu nehmen, da sie im Gegensatz zu ihrem Lehrer Christen waren, was bei David schon wegen seines Namens naheliegt.53 Da Olympiodor als Heide vor einer H rerschaft lehrte, der auch Christen angeh rten, k nnen wir aus seinen eigenen
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K rpers von der Seele im physischen Tod von einer Trennung der Seele vom K rper im Philosophentod, vgl. o. S. 29 f. Doch legt der Kontext nahe, da hier mit dem άποκόπτειν το όλον σώμα nur philosophische Askese gemeint ist. Einen solchen Eindruck erweckt Thalheim (wie Anm. *) 1135: «Gegen den S. erkl ren sich die Neuplatoniker, anfangs noch milder, beinahe wie die Stoa, Plotin. 14,7.16 I 9, sp ter ganz entschieden, Proleg. Philos. ed. Busse 16,2 [...]». Olymp, in Phd. l, 8,19-39. Olymp, in Phd. l, 9,3 f. εολογον έξάγειν εαυτούς δια μείζον άγα^θον συντελοΰν τη ψυχή, οίον ως ήνίκα βλάπτεται υπό του σώματος. Mit einiger Sicherheit l t sich das f r David und den Anonymus («Elias») sagen. So zitiert David mehrfach Bemerkungen Olympiodors, die nur aus der m ndlichen Lehrtradition stammen k nnen: in Porph. 16,3-5. 3134-32,5. 64,32-65,2. Anon. («Elias») in Porph. fuhrt die beiden Hexameter, die, wie wir von David in Porph. 31,34—32,5 wissen, Olympiodors- Entgegnung auf Kallimachos' KleombrotosEpigramm darstellen, an, als stammten sie von ihm (14,8 εγώ δε τάναντία έκείνω φημι έπη ούτως); dazu gleich u. S. 38 im Haupttext. Ps.-Elias stimmt eng mit David berein (vgl. auch L. G. Westerink, («Elias und Plotin» [wie Anm. 37], 30), so da er aus demselben Umfeld stammen mu . David in Porph. 32,10-34,12, bes. 34,1 ούτε ευλόγως (sc im Sinne der genannten Positionen, bes. der ausf hrlich bek mpften stoischen) ούτε άλόγως δει τίνα άναιρεΐν εαυτόν. hnlich Anon. («Elias») in Porph. 14,14-16,8 und Ps.-Elias CAGXVIIIu p.XXI, vgl. LG. Westerink, «Elias und Plotin» (wie Anm. 37) 30. - Die Zuschreibung des Kommentars zu Porphyrios' Uagoge (mit vorausgehenden Prolegomena phihsopbiae) und des in den Handschriften unter dem Namen Davids laufenden Kategorien-Kommentars an Elias durch den Herausgeber von CAG XVIII i Busse beruht auf unzureichenden Gr nden. Siehe dazu jetzt: L Hadot, Simplidus (wie Anm. 38), VII Anm. 2 und in demselben Band J.-P. Mache, «David rinvincible dans la tradition Armenienne», 189-207. Die von den (sowohl griechischen als auch armenischen) Handschriften David zugeschriebenen Werke geh ren ihm demnach, die in CAG XVIII i publizierten Proltgomtna m ssen bis auf weiteres anonym bleiben. bertrieben G Wildbergs («Three Neoplatonic Introductions to Philosophy: Ammonius, David and Elias», Hermathena 149, 1990, 33-51, hier 44) Skepsis gegen ber dem in den griechischen und armenischen Handschriften berlieferten Namen David. VgL o. Anm. 52.
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Worten schlie en.54 Man darf deshalb in David, dem Anonymus und Ps.-Elias christliche Sch ler Olympiodors sehen. Aus paganen Residuen schlie en zu wollen, da David und der Anonymus («Elias») Heiden waren,55 hie e, den Charakter der Lehrtradition zu verkennen, die wir hier vor uns haben: Hier werden nicht nur die wesentlichen Prinzipien der Erkl rungstradition, sondern - wie die bereinstimmung der erhaltenen Texte zeigt — auch die Texte selbst in Form von Kollegheften und Mitschriften vom Lehrer auf den Sch ler tradiert und dann, wo dies ratsam scheint, ver ndert und umgearbeitet, sonst aber auch unver ndert bernommen. So erkl rt sich auch, da Olympiodors Verse in Antwort auf Kallimachos' Kleombrotos^Epigramm, deren Autor nach David Olyrnpiodor ist, von dem Anonymus zitiert werden, als stammten sie von ihm selbst Da David sich mehrfach in einer Weise auf Olyrnpiodor beruft, die nur den Schlu zul t, da er ihn selbst geh rt hat,56 ist es undenkbar, da er sich ber die Urheberschaft der Olyrnpiodor zugeschriebenen Verse get uscht h tte.57 Da der Anonymus sie in eigenem Namen zitiert, l t sich dagegen leicht so erkl ren, da er seine Nachschrift von Olympiodors Kurs zu seinem Kollegheft umgearbeitet hat, wobei Olympiodors Einf hrung zu den Hexametern anders als bei David unver ndert stehengeblieben ist.53 Ein εκ περιστάσεως zul ssiges Suizid wird zwar auch in Ammonios* Kommentar zu Porphyrios' Isagoge nicht erw hnt. Dies ist jedoch an sich nicht auff llig, da im gegebenen Kontext nur der Sinn von Platons Definition der Philosophie als μελέτη -θανάτου erl utert zu werden hatte. Dies, also wie diese «Bem hung um den Tod» zu verstehen sei, gibt Ammonios ausdr cklich als σκοπός, als Gegenstand seiner Ausf hrungen an.59 Ammonios behandelt daher konsequent nur diejenigen Argumente, die deutlich machen, da sich die «Bem hung um den Tod» im Sinne Platons nicht als Streben nach dem Suizid verstehen l t. Eine «unbedingte Ablehnung» des Suizids60 wie bei David und dem Anonymus findet sich" bei Arnmonios indessen nicht. Er behandelt vielmehr das Suizid εκ περιστάσεως gar nicht. Die Vermeidung dieses Themas kann man darauf zur ckfuhren, da Ammonios bei der Behandlung dieser Frage zu hnlichen Ergebnissen h tte kommen m ssen wie vor ihm 54 55
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Olymp, in Crg. 246,7-12 W. und L. G. Westerink, Prottgomenes (wie Anm. 9), xxii-xxv. So W dberg, «Neoplatonic Introductions» (wie Anm. 53), 44. Zudem sind Residuen blo paganer Provenienz von solchen, die mit der christlichen Lehre wirklich unvereinbar sind, klar zu unterscheiden. Nur eines der von W dberg angef hrten Indizien, die von David (in Porph. 6,2-21) vorausgesetzt^ Ewigkeit der Welt, fallt in die letztere Kategorie. Die brigen von W dberg angef hrten Stellen sind als Indizien f r Davids mutma lich pagane Konfession recht kurios: Da neben Engeln auch δαίμονες erscheinen (vgl. Busses Index), ist nicht auff llig und nachweislich selbst in einem markant christlichen Kontext m glich (f r δαίμων [neutral] bzw. πονηροί δαίμονες vgl. etwaPhlp. aet. 643*15 bzw. 644,2 f. und 635,15); die Unsterblichkeit der Seele ist gemeinsame pagan^plat nische und christliche berzeugung (vgl. etwa Phlp. Op. 279,16 f. R. 282,6-9; die Beispiele lie en sich fast beliebig vermehren). Die Bezeichnung der Gestirne als θεία (David /// Porph. 151,13-17) steht nun gerade in einem Kontext, der sie christlichen Ohren akzeptabel machen soll, wird sie doch durch Platons Praxis entschuldigt, auch Menschen -θεΐοι. zu nennen; dadurch wird ihnen eine G ttlichkeit mit der m glichen Folge kultischer Verehrung gerade abgesprochen, was sie als Indiz f r Davids Heidentum denkbar ungeeignet macht. Vgl. o. Anm. 51. Dies mu Wildberg, «Neoplatonic Introductions» (wie Anm. 53), 38 Anm. 28 und 43 mit Anm. 64 annehmen, wenn er die Hexameter dem Anonymus («Elias») gibt und Davids Zuschreibung an Olyrnpiodor bestreitet. Vgl. o. Anm. 57: . Ammon. in Porpb. 4,17 δπως δει της τοο -θανάτου μελέτης άκούειν. So Westerink, «Elias und Plotin» (wie Anm. 37), 28.
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Plotin und Porphyrios und nach ihm sein Sch ler Olympiodor und da dergleichen zu lehren sich aufgrund seiner bereinkunft mit dem Patriarchen von Alexandria61 verboten h tte. Der einzige Fall eines jedenfalls geplanten Suizids eines Neuplatonikers findet sich in Eunaps Lebensbeschreibung von Kaiser Julians neuplatonischem Lehrer Maximos, und seine Umst nde werden auch von Themistios und offenbar Libanios erw hnt.62 Demnach wird Maximos unter Valentinian und Valens der Bereicherung beschuldigt und zu einer immensen Geldzahlung verpflichtet, die sein Verm gen bei weitem bersteigt. Als er nach Asia verbracht wird, wohl um Gelegenheit zu erhalten, auf seinen dortigen G tern Geld aufzutreiben, wird er von den ihn begleitenden Soldaten - offenbar zur Steigerung seiner Zahlungsbereitschaft: - den grausamsten Foltern unterworfen. «Und seine wunderbare Frau war bei ihm und litt dar ber Schmerzen. Als es aber kein Ende nahm und sich ausdehnte, sagte er: Sie aber kaufte es und war damit wieder bei ihm.» Den kuriosen Ausgang der Episode teilt Eunap ebenfalls kommentarlos mit: «Da verlangte er danach, [das Gift] zu trinken, doch wollte sie zuvor [davon] trinken. Und als sie sogleich starb, begrub sie ihr Gefolge; Maximos aber trank nicht mehr davon.»63 Da die Umst nde, unter denen sich Maximos zum Suizid entschlie t, Platons und Plotins Kriterien f r die Zul ssigkeit eines Suizids εκ περιστάσεως erf llt, kann keinem Zweifel unterliegen: Maximos befindet sich in einer unertr glichen Situation best ndiger, f r ihn unabwendbarer, furchtbarer Schmerzen, und ein Ende ist nicht abzusehen. Schwieriger ist schon zu sagen, wie sein Sinneswandel nach dem Tod seiner Frau zu beurteilen ist. Das Urteil der Forschung schwankt zwischen dem als einem Akt der Feigheit und dem als einer Besinnung zum Besseren.64 Zwar ist auff llig, da Eunap, der Maximos sonst sehr positiv zeichnet, diese Episode nicht zu dessen Lob ausbeutet, obwohl er alle Umst nde anfuhrt, die aus platonischer Sicht das Suizid rechtfertigen k nnten. Andererseits kommt jedoch ein Akt der Feigheit wegen des schnellen Todes der Frau und der unertr glichen Schmerzen des Maximos auf der Folter kaum in Betracht. Obwohl es - wie gesehen - im heidnischen Neuplatonismus eine unbedingte Verwerfung des Suizids nicht gibt, ist angesichts von Maximos weiterem Leben doch wahrscheinlich, da seine Entscheidung berwiegend positiv oder doch mindestens ambivalent beurteilt werden soll: Maximos wird von Proconsul Klearchos gerettet und kommt durch dessen Verwendung f r ihn sogar beim Kaiser zun chst wieder zu Ehren, au erdem zu Wohlstand
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Vgl. Dam. IsuL frg. 316 mit § 179. Da sich Damaskios mit dieser bereinkunft (όμολογίαι) euphemistisch auf eine Konversion des Ammonios zum-Christentum bezieht, wie Haas, Altxandria in LateAntiquity. Topograpby and social con ct, Baltimore-London 1997, 326 m. Anm. 113 meint, ist deshalb unwahrscheinlich, weil die Haltung der Athener Neuplatoniker gegen ber dem Christentum dann eine sehr viel sch rfere Reaktion des Schulhaupts Damaskios erwarten lie e. Eun. VS1,4,16f. 5,5-9; Them. or. 7,99 d-lOOa; b. or. 18,287; K. Praechter, RE XIV 2 s. v. <Maximus> 40, Sp. 2563-2570. Eun. W T, 4,16 f. καί <ή> θαυμάσια γυνή παρήν καΐ ύπερήλγει. ως δε ην άπειρον, και έπετείνετο, «πριαμένη,» φησίν, «ώ γύναι, φάρμακον, έπίδος, καί ελευθέρωσαν.» ή δε καί έπρίατο και παρήν έχουσα. ένταΟθα 6 μεν ήτει πιεϊν, ή δε ήξίωσεν προπιεΐν, και αύτίκα γε άπολομένης, την μεν οι προσήκοντες έθαπτον ό δε Μάξιμος έπιεν ούκέτι. J. Geffcken, Der Ausgang du griecbisch-romischtn Heidentums, Heidelberg 1929, 169 f. mit Anm. 97: «eine beraus feige Handlung»; Praechter (wie Anm. 62), Sp. 2569 Anm.: «Wiederbesinnung auf die platonische und neuplatonischc Verwerfung des Selbstmordes».
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und zu hohem Ansehen in Konstantinopel65 Obwohl er schließlichgerade durch sein Ansehen als Theurg und Orakeldeuter wieder in Ungnade fallt und hingerichtet wird, ist es daher nicht unwahrscheinlich, daß Eunap die Entscheidung für das Suizid zwar für verständlich und nicht unangemessen^ den Sinneswandel aber angesichts der Wirksamkeit, die er späterhin noch entfalten konnte, für die richtige Wahl gehalten bat.
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STEFAN BÜTTNER Psychologie und Poetik bei Platon Argumente für die Einheit der Platonischen Dichtungstheorie* Die Platonische Dichtungstheorie hat viele Grundgedanken abendländischer Literaturkritik maßgeblich beeinflußt. Angefangen mit Aristoteles' Poetik wurden Begriffe wie Nachahmung), <Enthusiasmus>, , usw. bald zustimmend aufgenommen, bald kritisch abgelehnt, fast immer in ihrem Bedeutungsgehalt kreativ umgeformt und fortentwickelt. Eine Beschäftigung mit Platons Dichtungstheorie ist daher nicht nur für sich selbst lohnend, sondern auch dafür, wichtige Positionen, die unser eigenes Denken über Literatur mit konstituieren, und d. h. letztlich auch uns selber, besser verstehen zu können. Die Kriterien, nach denen Pkton die Dichtung bewertet, sind allgemeiner Ansicht nach allerdings sehr verschieden voneinander: Im 10. Buch der Poltieia spreche er stark abwertend vom Dichter als Mimeten, der bloß die wahrnehmbare Welt kopiere. Diese sei selber nur ein Abglanz der allein dem Verstand zugänglichen Welt der Ideen; der Dichter richte sich also nach einem weitgehend vernunftfreien und trügerischen Schein, seine Produkte stünden, von der Wahrheit aus betrachtet, erst an dritter Stelle und seien daher für die Bürger des Staates gefährlich. In anderen Dialogen, etwa im Ion und im Phaidros, verstehe Platon den Dichter als Enthusiasten, der eine besondere ästhetische Empfindsamkeit habe und gerade deshalb besonders gut dichte. Im Pbaidros sage Platon ausdrücklich, daß der inspirierte Dichter den mit Hilfe des Verstandes dichtenden Regelpoeten weit hinter sich lasse. Bald, so sieht es aus, verwirft Platon also die Dichter, weil sie nicht nach den Regeln des Verstandes vorgehen, sondern sich dem Sinnlichen zuwenden - Stichwort <Mimesis> —, bald lobt er sie, weil sie ein Gespür für eben dies Sinnlich-Ästhetische haben und so die Verstandesregeln hinter sich lassen - Stichwort <Enthusiasmus>. Bei diesen Aussagen ist es nur verständlich, wenn Platons Auffassungen als höchst widersprüchlich charakterisiert werden.1
* Das Folgende ist der leicht erweiterte Text eines Vertrags, der im Rahmen des 30. Symposiums für Klassische Philologie im Januar 1998 in Mainz gehalten wurde. 1 Vgl. z. B. U v. Wilamowitz-MoeUendorff: Platon, Berlin 51959, 376: «Wie kann diese Anerkennung der Poesie (*c. in Phdr. 245 a), die sich nicht nur auf die Schönheit erstreckt, sondern auch von erziehlicher Wirkung redet, neben dem Verbannungsurteil des Staates bestehen, der Homer und die Tragödie aus dem gerechten Staate ausweist?» E. N. Tigerstedt: Plato's Idea of Poetical Inspiration, Commentationes Humanarum Litterarum, vol. 44, no. 2, Helsinki: Societas Scientiarum Fennica 1969, 66: «That Plato thus takes two different, mutually incomparible attitudes to poetry is a fact which the Interpreter should loyally accept, however unpalatable to him it rnay be.» W. Söffing: Deskriptive und normative Bestimmungen in der Poetik des Aristoteles, Beihefte zu Poetica 15, Amsterdam 1981,11: Platons «Äusserungen zu diesem Thema sind viel zu heterogen, als daß sie sich auf einen Nenner bringen ließen», und M. Fuhrmann: Dichtungstheoric der Antike, Darmstadt 21992, 72: Die «platonischen Kunstlehren (sc. bieten), wenn
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Diese weitverbreitete Interpretation setzt für Platons Dichtungstheorie implizit eine Seelenlehre voraus, in der die Seele in eine zwar vorbewußte und rezeptive, aber reiche Sinnlichkeit und einen zwar bewußt-reflektierenden, aber abstrakten, inhaltlich armen Verstand geteilt ist.2 Platons Unterscheidung von Logistikon und Alogiston bzw. Logos und Pathos scheint diese Interpretation zu bestätigen.3 So ist, möchte man vermuten, durch den Kampf des Philosophen Platon mit dem Künstler Platon innerhalb von Platons Werk der Konflikt präfiguriert, der in der Neuzeit zwischen verschiedenen Theorien, der rationalistischen Regelpoetik und der irrationalistischen Genieästhe.tik, ausgetragen wird.4 Gegen die Anwendung dieser erkenntnistheoretischen und psychologischen Kategorien (die strikten Gegensätze: vorbewußt ^- bewußt, rezeptiv — spontan, sinnlicher Reichtum — man sie als Ganzes zu betrachten versucht, unauflösliche Widersprüche dar.» Die Konzepte von Mimesis und Enthusiasmus für vereinbar halten dagegen u. a. G. Krüger: Einsicht und Leidenschaft, Frankfurt/ M. 61992, bes. 29-48 (bei ihm fallt die Mimesis mit dem Enthusiasmus zusammen: «Wer die Dichtung als Nachahmung begreift, kennt ihren religiösen Sinn .... Nachahmung ist das Wesen des heidnischen Außersichseins, ... totale, selbstvergessene Weltlichkeit.», ebd. 37) und J. Dalfen: Polis und Poiesis, München 1974, 77-137; P. Murray: Plato on Poetry, Cambridge 1996, 6-12 <(ihnen gilt der Enthusiasmus als bloße Umschreibung dafür, daß1 dem Mimeten das Wissen von dem, was er darstellt, fehlt). Die beiden Konzeptionen für unterschiedlich, aber vereinbar, wenn auch nicht in einer formalen Poetik, hält H. Flashar: Der Dialog Ion als Zeugnis platonischer Philosophie, Berlin 1958, bes. 106-139. Wie sich Platon selbst als Dialogdichter versteht, bei dem Mimesis und Enthusiasmus zusammenwirken, zeigt K. Gaiser: Platone come scrittore filosoficq, Neapel 1984. 2 Explizit formuliert findet sich diese Ansicht etwa bei M, Fuhrmann: Dichtungstheorie der Antike, Darmstadt 21992, 79: Der Enthusiasmus stehe «als unbewußte Treffsicherheit der bewußten Einsicht gegenüber»; vgl. H. Gundert: Enthusiasmus und Logos bei Platon, Lexis 2, 1949, 36: «Spiegelung des Wahren im Unbewußten - das also ist das Wesen dieses Enthusiasmus», eine Spiegelung der Wahrheit, «die der Seele unmittelbar, nicht durch das Urteil des Logos, zuteil wird». Ähnlich G. Krüger: Einsicht und Leidenschaft, Frankfurt/M- 61992: Platon unterscheide, z. B. in R. 602 c-d, zwei Seelenteile, das Vermögen «der sinnlichen, puren Rezeptivität« und «das Herrschaftsrecht des frei betätigten Denkvermögens« (45, Sperrungen von Krüger). Der Dichter lebe ganz in der sinnlichen Sphäre und gebe sich in mythischer Selbstvergessenheit «dem süßen Reiz des Begegnenden» hin.· Er lasse sich so «mit der unbeschränkten Empfänglichkeit des vernunftlos Ergriffenen» in das zu Sagende versetzen (36). Diese unbeschränkte Empfänglichkeit des Nachahmenden umfasse den ganzen Reichtum auch dessen in sich, was wir den geistigen Gehalt von Kunst nennen würden: «Wo die Dichtung nicht ist, sondern schon alles rindet, was ihr Tiefe und Glanz gibt, wo der Stoff den Gehalt in sich selbst hat, da (sc. in der Mimesis) fallt die Beseelung der Dinge, die wir vom Künstler erwarten, den Göttern anheim» (ebd. 37). Den abstrakten-armen Charakter des Mimeten betont .dagegen G. Finsler, Platon und die Aristotelische Poetik, Leipzig 1900, 190: «Über diese Art von Dichtung» - gemeint ist die Dichtung, die ein Dichter nicht durch ein «Schauen», sondern nach den Regeln der Aristotelischen Poetik anfertige - «hat Platon selbst das Urteil gesprochen, wenn er den Dichter, den er im Staate allein noch brauchen kann, trocken und reizlos nennt und den Verstandesmenschen^ der nur nach der Theorie der Kunst arbeitet, durch den Begeisterten ruhmlos in den Schatten stellen läßt.» In ähnlicher Terminolo-' gie beschreibt auch O. Apelt Platons Mimesislehre (Platonische Aufsätze, Leipzig/Berlin 1912, 71): «Ein merkwürdiger Gegensatz. Platon, der Priester der Musen, dessen Busen-von dichterischem Schwung belebt war, raubt der Kunst allen Reichtum, auf den sie Anspruch hat. Aristoteles, der nüchterne Denker, weit entfernt, ihr das Blut abzuzapfen und sie'arm und dürftig zu machen, zeigt sich eifrig bemüht, ihr die innewohnenden Gesetze abzufragen.» 3 R. 439 d7 und 441 c2, 603 al -a8, 604 alO-bl. 4 Demgemäß berufen sich auch beide Parteien auf Platon als Kronzeugen, vgl. passim K. Borinski: Die Antike in Poetik und Kunsttheorie. Vom Ausgang des Klassischen Altertums bis auf Goethe und Wilhelm von Humboldt, 2 Bde., Leipzig 1914 (Nachdruck Darmstadt 1965) sowie E. Panofsky: Idca. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, 2., verbesserte Aufl. Berlin 1960 (Leipzig/Berlin J 1924).
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abstrakte Leere des Verstandes) auf die Platonischen Aussagen ergeben sich jedoch folgende, grundsätzliche Einwände: 1. Bei Untersuchungen, die nicht die Kunsttheorie, sondern die Erkenntnistheorie betreffen, besteht Einigkeit darin, daß Platons Begriff von Denken und Erkennen von dem der Neuzeit fundamental verschieden ist. Die Trennung der Seele in eine rezeptive, reiche Sinnlichkeit und einen spontanen, abstrakten Verstand gilt dann, völlig zu Recht, als Bestandteil spezifisch neuzeitlicher Positionen, etwa von Leibniz, Baumgarten oder Kant; spezifisch deshalb, weil sie, im Gegensatz zu antiken und mittelalterlichen Positionen, auf der Unhintergehbarkeit des Ich-Bewußtseins als Kriterium für Rationalität beruht, deren Entdeckung oder zumindest wirksame Manifestierung meistens Descartes zugesprochen wird.5 Platon erscheint dann als Vertreter eines gegenständlichen, unreflektierten Denkens, weil er nicht auf die Voraussetzungen des Denkens reflektiert habe.6 Fest steht, daß für Platon Denken nicht in einer Bewußtheit besteht, die gegebene Inhalte repräsentiert und abstrahiert. Jede Form des Erkennens ist für ihn ein aktives, vom Bewußtsein unabhängiges Erfassen von Unterschieden ( )7, dessen Erkenntnisinhalt nicht von außen empfangen, sondern dadurch, daß sich der Erkennende implizit oder explizit an einem Kanon intelligibler Sachgehalte orientiert, und somit zwar subjektiv, aber nicht beliebig konstituiert wird.8 Diese Sachgehalte versteht Platon als Bedingungen unendlich vieler Entfaltungsmöglichkeiten; so umfaßt z. B. die sachliche Bestimmtheit des Dreiecks unendlich viele, jeweils eingeschränkte Instanziierungsmöglichkeiten - jedes einzelne Dreieck ist ja auf eine bestimmte Größe, auf Spitz-, Stumpf- oder Rechtwinkligkeit festgelegt. Das Denken, das sich am intelligiblen Sachgehalt orientiert, hält Platon daher für reicher als die Wahrnehmung, die bestenfalls einzelne eingeschränkte Instanzen erfassen kann. Daß dies nicht nur für Belange der Wissenschaft und der Ethik gilt, wo Pktons Ansicht nach der vernünftige Seelenteil stets als Korrektiv für die fehlergefahrdete Wahrnehmung eintreten muß, sondern auch für den Bereich des Schönen, zeigt sich deutlich im Symposion, wo Diotima vom Schönen sagt, das Denken bemächtige sich seiner in einer Weise, die das «weite Meer des Schönen» ( ) 9 und einen reichen Inbegriff des Schönen zu erfassen vermöge und auf diese Weise weit den Erkenntnisgehalt von wahrgenommenem Schönen (schöne Körper u. ä.) übertreffe. 5 6
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Vgl. exemplarisch G. Krüger: Die Herkunft des philosophischen Selbstbewußtseins, Logos 22, 1933, 225-272. Es ist wohl angemessener, davon zu sprechen, Platon habe auf andere Weise auf die Voraussetzungen aller Erkenntnis reflektiert, vgL K. Oehler: Die -Lehre vom noetischen und dianoeüschen Denken bei Platon und Aristoteles. Ein Beitrag zur Erforschung der Geschichte des Bewußtseinsproblems in der Antike, München 1962 (2. Aufl. Hamburg 1985), bes. 2-9 und 252-261, sowie ders.: Subjektivität und Selbstbewußtsein in der Antike, Würzburg 1997; A. Schmitt: Zur Erkenntnistheorie bei Platon und Descartes, Antike und Abendland 35, 1989, 54-82. R. 523 a!0-b4, 524 d9-525 a2: von Wahrnehmung und Denken, Tht. 170 dl -e3,201 b5-c7: der Meinung. Zu diesem Erkenntnisbegriff Platons vgL A. Schmitt: Zur Erkenntnistheorie bei Platon und Descartes, Antike und Abendland 35, 1989, 54-82; ders.: Das Bewußte und das Unbewußte in der Deutung durch die griechische Philosophie (Platon, Aristoteles, Plotin), Antike und Abendland 40, 1994, 59-85; M. Cludius: Grundlegung der Erkenntnistheorie in Pktons Politeia. Ein Kommentar zu Platons Unterscheidung von Meinen und Wissen und zum Liniengleichnis, Diss. Marburg 1998. Smp. 210 d4.
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2. Wenn der Enthusiasmus von Platon als heftiges und erhebendes Gef hl bezeichnet wird (πάθος, θείον πάθος, μανία)10, so bedeutet dies nicht, da er auch ein ausschlie lich sinnlicher und geistfreier Zustand sein mu . Nach Platon entspringt jedes Gef hl einem Erkenntnisakt und ist jeder Erkenntnisakt von Lust und Unlust begleitet.11 Die moderne Ansicht, der Verstand sei kalt, abstrakt und emotion$los, ergibt sich aus seiner Bestimmung als Bewu tsein, das seinen Gegenst nden distanziert gegen bersteht." Das Denken im Platonischen Sinne hat hingegen seine eigenen Gef hle und Bestrebungen.12 Die mit dem Denken einhergehenden L ste gelten ihm sogar als die gr ten und besten L ste, die den Denkenden, wegen seiner hnlichkeit mit Gott, in besonderer Weise gl cklich (διαφερόντως ευδαίμων) machen.13 3. Dazu kommt, da Platon selbst, z. B. im Liniengleichnis, nicht nur zwischen den Unterscheidungsverm gen des Denkens und der Wahrnehmung differenziert, sondern auch innerhalb des Denkens das Verm gen des Intellektes (νους) und das Verm gen der Ratio (διάνοια) unterscheidet, wobei er den Intellekt der Ratio berordnet. Wenn Platon davon spricht, da der Enthusiasmus ein nicht-rationales Ph nomen ist, so ist damit also nicht notwendig ein Ph nomen des sinnlich- sthetischen Bereiches gemeint, sondern es k nnte auch auf die ber der Ratio gelegene InteUektivit t hingewiesen sein. Der menschliche Intellekt wird von Platon des fteren — als Derivat des g ttlichen Intellektes — το θείον bzw. θειότατον genannt.14 So k nnte vielleicht bereits die Bezeichung ενθουσιασμός, also: g ttliche Begeisterung^ andeuten, da der Mensch deswegen ein erhebendes und g ttliches Gef hl erlebt, weil er dasjenige Verm gen in sich bet tigt, das dem Denken Gottes am n chsten verwandt ist. F r Platon ist also die Sinnlichkeit weder rein rezeptiv noch reich; das Denken grenzt sich nicht als das Gegebenes repr sentierende Bewu tsein von einer vorbewu ten Sinnlichkeit bzw. einem vorbewu ten Gef hl ab; es gilt weder als emotionslos noch als abstraktarm, sondern als im Verh ltnis zur Sinnlichkeit reich und von den erhebendsten Gef hlen begleitet. Das Enthusiasmuskonzept bei Platon als Lob des reichen, vorbewu ten, sthetischen Gef hls des Dichters zu verstehen, das nicht mit dem Mimesiskonzept, das die Dichtung aus Verstandesgr nden verwerfe oder zumindest durch Anwendung bewu ter, rationaler Regeln der F lle und Authentizit t beraube, vereinbar sei, ist also deshalb nicht legitim, weil Platon die Leistungen der seelischen Verm gen in ganz anderer Weise bestimmt als die moderne Bewu tseinsphilosophie, die bislang h ufig die Kriterien daf r abgibt, wie Platons u erungen zur Dichtkunst eingeordnet werden. '° Phdr. 238 c6: hier spricht Sokrates vom θείον πάθος, das ihn beim Reden ergriffen habe und das sp ter mit dem Enthusiasmus identifiziert wird (241 e5). Dabei ist es f r die Deutung des Ph nomensVEnthusi-^ asmus> gleichg ltig, ob Sokrates in diesem Moment wirklich g ttlich begeistert ist oder nur vorgibt, es zu sein. Desweiteren s. Phdr. 245 al-a3, 250 b7 u. . J1 Genaueres dazu im folgenden Abschnitt zu Platons Seelenlehre. 12 R. 475 b8-blO, 485 d3-d8, 490 b2, 580 d7-d8, 585 a8-e5. 13 R. 583 al -a3, 587 b!4, Ti. 90 b6-dl. 14 Diese Ausdr cke werden meist f r das Logistiken, das Intellekt zusammen mit der Ratio umfa t, gebraucht, biswe en nur f r den Intellekt, vgl. z. B. R. 518 e2, 589 dl, e4, 590 dl, d4, Plt. 309 c8, Ti. 41 c7, 45 al, 69 d6, 72 d4, 73 7, 88 b2, 90 a8, c4, c7, Lg. 950 b7, Alc.1 133 cl-c2; vgl, die Stellenangaben nicht nur f r Platon, sondern f r die griechische Antike berhaupt bei D. Wagner: Das Problem einer theonomen Ethik 'bei Aristoteles, Bamberg 1970, 104 Anm. l und 126-132. Der Ausdruck als bersetzung f r νοος ist eine Notlpsung, da ein wirkliches quivalent in unserer Sprache fehlt, vgl. das im folgenden zur Psychologie Platons Gesagte sowie Anm. 65.
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Um dem von Platon zur Dichtung Gesagten gerecht werden zu k nnen, mu zuerst genauer untersucht werden, wodurch sich seiner Ansicht nach die einzelnen Seelenverm gen unterscheiden. So kann pr ziser festgestellt werden, welche Erkenntnisweise er im Mimesiskonzept kritisiert und welches seelische Ph nomen berhaupt mit dem Enthusiasmus gemeint ist. Erst nach einer solchen, umfassenden Analyse darf ber die Kompatibilit t der Konzepte ein Urteil gesprochen werden. Die hier vorgelegte These besagt, da sich bei genauerer Analyse der Leistung der Seelenverm gen der vorgebliche Widerspruch von Mimesis- und Enthusiasmuskonzept aufl st. Um diese Behauptung, soweit das in diesem Rahmen m glich ist, zu st tzen, sollen im folgenden kurz und thesenartig einige Grundz ge erstens der Platonischen Seelenlehre und zweitens der Mimesiskritik des 10. Buchs der Politeia vorgetragen werden; in einem dritten Schritt soll auf das kontrovers diskutierte Enthusiasmuskonzept Platons eingegangen werden.
Einige Grund^ ge der Platonischen Psychologe Erkennen hei t f r Platon ein aktives Unterscheiden von etwas Bestimmtem (κρίνειν τι). Bei jedem Erkennen sind somit zwei Komponenten beteiligt, der aktiv Erkennende und der immer gleichbleibende Unterschied, an dem sich der Erkennende orientiert.15 Das Erkennen teilt sich in zwei grundlegende Arten, Wahrnehmung (αΐσθησις) und Denken (νόησις), die bei gemeinsamer T tigkeit die Mischform der Meinung (δόξα) hervorbringen.16 Mit Wahrnehmung ist im strengen Sinne die Unterscheidung der Qualit ten gemeint, die f r die jeweiligen Sinne spezifisch sind, z. B. die Unterscheidung von Farben durch die Augen, von T nen durch das Ohr, von Drucknachgiebigkeit und Temperatur durch den Tastsinn usw.17 Diese Art des Unterscheidens ist auch bei allen komplexeren Wahrnehmungsvorg ngen beteiligt. Die n chsth here hier relevante Wahrnehmungart ist die Gegenstandswahrnehmung. Sie setzt an dem Punkt ein, wo die unmittelbare Wahrnehmung 15
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Belegstellen daf r, da der Erkennende immer etwas Bestimmtes erkennt, s. in Anm. 7 und zus tzlich R. 476 e7 -478 d4, Tht 188 e5-189 a!4. Die Termini Unterschied) und <sachliche Bestimmtheit) stehen hier und im folgenden nicht nur f r τι, sondern auch f r το δν im Griechischen, da der Begriff des Seins (auch der Seinserkenntnis oder gar der Wesensschau) im Deutschen von Bedeutungen berfrachtet ist, die dem Verst ndnis des von Platon Gemeinten im Wege stehen (z. B. Sein als Existenzaussage, als Kopula; das Sein bzw. Wesen als perfekter Gegenstand; vgl. die Untersuchungen von U H lscher: Der Sinn von. Sein in der fr hgriechischen Philosophie, Heidelberg 1976). Ein besonders deutlicher Beleg f r den Sprachgebrauch von ov als bestimmter Unterschied) bei Platon findet sich in Sph. 237 dl ff., wo gesagt wird, da , wer ber Seiendes ( v) redet, damit immer ein Eines (εν) und Bestimmtes (τι) meint Als Musterbeispiel daf r nennt der elcatische Fremde die Zahl (αριθμός), weil sie das, was sie ist, auch pr zise und immer ist. So ist etwa die Zahl 2 eine ganz bestimmte, mit dem Denken unterschcidbare Sache, aber kein existierender Gegenstand. Die vielen Zweiheiten, ein Paar Schuhe zum Beispiel, existieren zwar, haben aber Eigenschaften, die gar nicht zum Zweisein geh ren, z. B. aus Leder zu sein, zum Gehen verwendet oder schmutzig werden zu k nnen. An diesen Eigenschaften k nnen auch keine anderen Zweiheiten erkannt werden. Die Schuhe sind somit (in verschiedener Hinsicht) zugleich zwei und nicht-zwei, die Zahl 2 dagegen immer und nur der bestimmte Unterschied der Zweiheit und Erkenntniskriterium f r alle Zweiheiten. Vgl. z. B. IL 523 alO-524 dl, Ti. 27 d5-29 bl. Es ist zu beachten, da der Terminus αίσθητόν dabei oft im Sinne von δοξαστόν verwendet wird (aber nicht immer, vgl. die Timaiosstelle, wo zwischen Wahrnehmen und Meinen vermittels der Wahrnehmung ausdr cklich differenziert wird). Zur Beschreibung dieser Wahrnehmung vgL z. B. Phlb. 33 d2-34 a6, Tht. 163 b8-c5,184 b8-185 a3,
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allein nicht mehr hinreicht, n mlich bei der Frage, was eigentlich das z. B. als braun, hart, rechteckig usw. Wahrgenommene ist (τί ποτ' εστί το φαντάζαμενον).18 Zur Beantwortung dieser Frage mu bereits das Denken hinzutreten. Es erfa t an der Vielheit der wahrnehmbaren Merkmale die nicht wahrnehmbare^ einheitliche, sachliche Bestimmtheit (έργον, δύναμις, αρετή, είδος),19 in diesem Falle etwa, da dieses braune, harte und rechteckige Etwas eine T r ist. Das Eingreifen des Denkens ist hier aber noch kein Denken im strengen Sinn, da es nicht einen intelligiblen Sachgehalt f r sich betrachtet - z. B. was das Spezifikum von T r berhaupt ist, was das Dreieck f r sich, was Zahl f r sich ist usw. — ^ sondern das Erfassen einer einzelnen Instanz des Sachgehaltes ist. Diese auf den Einzelfall eingeschr nkte Denkt tigkeit nennt Platon Meinung (δόξα). Wenn wir sagen «ich sehe einen Tisch», «ich sehe eine T r» usw., ist diese Rede daher seines Erachtens unpr zise. Im strengen Sinn sehe ich nur «braun» und «viereckig» usw.; da das Braune und Viereckige eine T r ist, ist eine Interpretation meines Denkens, das den wahrnehmbaren Qualit ten eine bestimmte Funktion zuordnet. Diese Funktion ist aber nicht durch Wahrnehmungsqualit ten beschreibbar: eine T r kann auch durchsichtig und abgerundet sein und dieses Braune und Eckige kann ich auch mit nach drau en nehmen, es in die Erde rammen und mich dahinter setzen, um es als Sonnenschutz zu verwenden. Wenn aber die Funktion bzw. das spezifische Leistungverm gen eines Gegenstandes nicht wahrnehmbar ist, sondern nur durch das Denken erfa t werden kann, liefert nicht die Sinnlichkeit so etwas wie Bedeutung und Inhalt in einer Gegenstandswahrnehmung, sondern das Denken. Habe ich erst einmal begriffen, was eine T r zur T r macht - etwa die F higkeit, den Zugang zu einem Raum sowohl er ffnen als auch verschlie en zu k nnen -<·, so werde ich die verschiedensten T ren als T ren an diesem Kriterium erkennen k nnen (Zimmert r, Haust r, Autot r). Ich habe zudem die M glichkeit, unendlich viele verschiedene T ren zu entwerfen. D. h. die Sache T r ist nicht ein aus den Sinnen abgezogener abstrakt-armer Begriff, sondern die Bedingung unendlich vieler Entfaltungsm glichkeiten. Das Denken, das, an diesem Kriterium festhaltend, verschiedene Instanzen von als T ren erkennt bzw. kreativ immer neue M glichkeiten aus ihm herausholt, h lt Platon daher f r reicher als die Wahrnehmung und auch als die Meinung, die nur je einzelne Instanzen erkennen kann. Diese Wertung gilt, wie bereits am Symposion gezeigt, auch f r die Erkenntnis des Sch nen. Da die Meinung Wahrnehmungsmerkmale zu intelligiblen Sachgehalten in Beziehung setzt, gibt es hier die M glichkeit einer T uschung und Verwechslung. Denn jemand, der einen Gegenstand wahrnimmt, steht in der Gefahr, die einzelne Instanz zum Ma stab der Erkenntnis des intelligiblen Sachgehaltes zu machen, indem er entweder erstens Eigenschaften der Instanz, die nicht notwendig zum intelligiblen Sachgehalt geh ren, diesem zuschl gt oder zweitens andere Instanzen der Sache, denen solche Eigenschaften fehlen, nicht als Instanzen der Sache anerkennt. So kann er z. B. erstens, wenn er eine braune und rechteckige T r vor sich hat, vermuten, zum Wesen der T re geh re notwendig, da sie braun und rechteckig sei, oder zweitens .eine abgerundete Glast r nicht als T r identifizieren, weil sie nicht braun und rechteckig ist.20 18 19 20
Phlb. 38 eil -dl. Die T tigkeit wird danach mit einem Schreiber in der Seele verglichen, der den Wahrnehmungen Bedeutungen zuschreibt und so λόγοι und δόξαι in der Seele erzeugt (39 al-a7). Grg. 503 e2 und 504 d5, R. 352 d8-353 e6, 477 cl -d6, 596 b7, Cra. 389 a6-b4 u. . Zu den Fehlerquellen der δόξα vgl. A. Schmjtt: Die Bedeutung der sophistischen Logik f r die mittlere Dialektik Platons, W rzburg 1974, bes. 149-166.
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Die Komplexität von Meinungen kann erheblich unterschiedliche Niveaus annehmen. Über die Gegenstandswahrnehmung hinaus geht die Situationsbewertung. In ihr werden mehrere Gegenstandswahrnehmungen als eine Situation erfaßt, die als gut oder schlecht, günstig oder bedrohlich, gerecht oder ungerecht usw. bewertet wird.21 Diesen Bereich ethisch relevanter Erkenntnis setzt Platon deutlich von der Gegenstandswahrnehmung ab, indem er Menschen, die hier besonders treffsicher sind, dämonisch oder göttlich nennt,22 wie er auch die Tugenden prinzipiell als göttliche Güter ( ) bezeichnet.23 Das nächste, über der Meinung stehende Erkenntnisvermögen ist das aus Ratio und Intellekt bestehende Denken. Auch diese Art des Erkennens nennt Platon. göttlich.24 Die Ratio schließt als diskursives Vermögen aus intelligiblen Vorgaben auf daraus folgende Urteile, die, wenn es sich um rationales Denken im strengsten Sinn handelt, notwendigallgemeingültig sind.25 So bestimmt sie z. B. mit Hilfe des Intellektes, von den Prinzipien der Geometrie ausgehend, das Dreieck schließlich als «geradlinige, ebene Figur mit der Innenwinkelsumme zweier rechter Winkel». Der Intellekt ist dabei das einheitsstiftende Vermögen, an dessen einheitlichem und ungeteiltem Erfassen sich die explizierende und im Nacheinander agierende Ratio orientiert.26 Er ist bei diesem Beispiel sowohl dafür nötig, Begriffe wie Linie, Ebene, Figur, Winkel usw. je als Einheiten zu erfassen, als auch dafür, sie alle in bestimmter Weise auf den genau bestimmbaren Sachgehalt Dreieck zu beziehen. Jemand, der sich nur auf die Meinung stützt, kann dagegen nur einzelne Instanzen wie dieses rechtwinklige oder jenes stumpfwinklige Dreieck aufzählen. Er steht dabei immer in der Gefahr, auf die Frage, was die Sache Dreieck ist, eine Instanz von Dreieck zum genauen Maßstab für die Sache machen zu wollen. Richtet er sich z. B. auf ein rechtwinkliges Dreieck, kann er zu der Annahme kommen, es gehöre zur Sache Dreieck, daß sie rechtwinklig sei, wodurch er danach die stumpf- und spitzwinkligen Dreiecke nicht mehr als Dreiecke anerkennen dürfte. Diese Verwechslung unterläuft, genauso wie bei dem oben genannten Beispiel mit der Tür, kaum jemandem; in anderen, komplexeren Bereichen, vor allem dann, wenn es um die Bestimmung von Sachverhalten wie gerecht, tapfer, weise usw. geht, tritt sie wesentlich schneller ein. Für häufige richtige Entscheidungen in diesem Bereich ist daher zunächst der Wissende prädestiniert; der vermittels der Ratio und des Intellektes methodisch und unbeirrt am richtigen Entscheidungskriterium festhalten kann. Platon spricht aber auch von Menschen, die, ohne rational davon Rechenschaft ablegen zu können, im ethischen Bereich äußerst treffsicher sind; z. B. im Menony wo ihre Erkenntnishaltung richtige Meinung ( ) und sie selber göttlich ( ) genannt werden.27 In der Polifeia schildert Adeimantos die 21 22 23
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Z.B.R.479el-e5. R. 500 c9-501 c3, Smp. 203 a5 u. ö., vgL das Folgende. Lg. 631 c5ff., R. 500 c9-501 c3. VgJ. Anm. 13. R. 510 cl- 511 b2. Zur Tätigkeit des Intellektes im Unterschied zur Ratio vgl. bes. K. Oehler: Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken bei Platon und Aristoteles. Ein Beitrag zur Erforschung der Geschichte des Bewußtseinsproblems in der Antike, München 1962 (2. Aufl. Hamburg 1985), bes. 103-129. Men. 99 a f£ Wenn diese Textstelle ironisch formuliert sein sollte, dann hinsichtlich der Tatsache, daß die Staatsmänner neben die nahezu ganz unkontrollierten Mantiker gestellt werden. Ihre Göttlichkeit (im Sinne einer Intellekttätigkeit) soll dadurch aber nicht diskreditiert werden, vgl. die im Haupttext folgenden Belege, die aus ironiefreiem Kontext stammen, sowie Lg. 691 e2, 696 bl, 811 c8-c9, 951 b4-c3.
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Situation der Staaten seiner Zeit. Dort werde durch die Erziehung, die die Gerechtigkeit nicht wegen ihres Eigenwertes, sondern wegen ihr folgender G ter wie Ruhm und Ehrengaben lobe, niemand auf die Idee kommen, das Gerechtsein sei f r sich besser als ein Ungerechtsein, das seiner Strafe entgeht. Nur zwei Personengruppen werden ausgenommen: diejenigen, die wirkliches Wissen erworben haben (επιστήμην λαβών), also Philosophen wie Sokrates (und Platon), und diejenigen, die durch eine g ttliche Natur (θεία φύσει) das Unrechttun als unangenehm empfinden.?s Sokrates best tigt diese Aussage sp ter, indem er sagt, die Rettung eines Menschen in einem solchen Staat sei nur durch g ttliche Zuteilung (θέοΰ μοίρα) m glich.29 Im Politikos hei t es, im guten Staat seien die B rger durch ein g ttliches Band verbunden, das in der wohlbefestigten richtigen Meinung ber das Sch ne, Gerechte und Gute bestehe. Diese Meinung sei g ttlich und werde ein Habitus im d monischen Seelenteil (δντοος ούσαν αληθή δόξαν μετά βεβαιώσεως ... θείαν φημι εν δαιμονίφ γίγνεσθαι γένει).30 Auch wenn es dort nicht explizit gesagt wkd, kann es von der erkenntnistheoretischen Systematik (und der Benennung des g ttlichen Seelenteiles) her nur der die Meinung erzeugende, am Einzelfall t tige Intellekt sein, der bei ihnen das richtige Entscheidungskriterium durchgehend festh lt und mit der g ttlichen bzw. d monischen Natur umschrieben wird. Die Wahrnehmung ist zu einer solchen Erkenntnis prinzipiell nicht in der Lage. Diesem Verst ndnis des Enthusiasmus bzw. G ttlich-Seins soll sp ter noch genauer nachgegangen werden. Platon unterscheidet also vor allem drei verschiedene Erkenntnisweisen, die Wahrnehmung, die Meinung und das Denken; Jede dieser Erkenntnisformen wkd unmittelbar von Lust und Unlust begleitet: schmecke ich einen Wein, schmeckt er mk zugleich entweder gut oder schlecht, meine ich, jemand tut mk Unrecht, betr bt mich dies zugleich, bemerke ich, da jemand einen hochanst ndigen Charakter hat, erf llt mich diese Betrachtung mit Freude usw. — Platon nimmt also kein vom Erkenntnisverm gen getrenntes Gef hlsverm gen f r Lust und Unlust an; Lust ergibt siqh aus der erf llten Erkenntnist tigkeit. Da wir oft annehmen, kognitive Akte seien kalt und gef hllos, liegt an unserem Begriff vom Erkennen, das wir mit dem Bewu tsein gleichsetzen. Das Bewu tsein repr sentiert nur schon Unterschiedenes, sorgt so f r Distanz und l t den Bezug auf das eigene, konkrete Wohl oder Weh vermissen. Es ist f r Platon daher eine blo sekund re Form des Erkennens. Mit den prim ren Erkenntnisformen der Wahrnehmung, des Meinens und des Denkens sind dagegen nicht nur unmittelbar Lust und Unlust verbunden, sondern es h ngt sogar die Art und Intensit t des Gef hls entscheidend von der Erkenntnisweise ab. Dabei unterscheidet Platon zwischen Gef hlen, die sich aus dem momentanen Erkennen ergeben, und Gef hlen, die er Bestrebungen nennt und die sich aus der Projektion von Vorstellungen in die Zukunft ergeben. Hat man z, B. Durst, so mu man zun chst einen Mangel des,K rpers an Fl ssigkeit bemerken, der Unlust bereitet und der zugleich ein Streben nach der Auff llung mit Getr nk hervorruft. Dieses Streben kann aber nur zustande kommen, wenn man sich sowohl den Zustand des Angerulltseiqs vorstellt und daran eine Vorlust hat, die zur Verwkklichung dr ngt, als auch die Meinung hat, dieses Ziel sei erreichbar. Die Vorstellung des Angefulltseins kann 28
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R.366c3-d!2. ' R. 493 al -a2, vgl. 492 a5 und Lg. 642 c8. Plt. 309 c5-d5.
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man aber nur mit der Erinnerung erzeugen, die wiederum voraussetzt, daß man einen solchen angenehmen Anfullungszustand schon einmal wahrgenommen hat; außerdem muß man folgern, daß das, was damals für einen gut war, auch diesmal wieder gut sein wird usw.31 D. h. schon eine so schlichte Begierde wie der Durst bestimmt sich in ihrer Art aus einer spezifischen Verwendung von Unterscheidungsakten - Wahrnehmungen, Erinnerungen, Meinungen, rationalen Folgerungen usw. Erkennt man einen großen Flüssigkeitsmangel - wir würden weniger genau sagen: hat man das Gefühl eines großen Mangels -, ist der Durst groß, erkennt man einen kleinen, ist er klein, d. h. auch die Intensität des Gefühls ist vom Erkennen abhängig. Andere Begierden als der Durst haben andere Ziele, z. B. der Hunger die Auffüllung mit fester Nahrung usf. Hunger und Durst haben aber wiederum mit anderen Begierden eines gemeinsam: die Lust, die sie anstreben, entspringt aus der Erkenntnisweise der Wahrnehmung.32 Wie die Wahrnehmung, so haben auch Meinung und Denken ihre spezifischen Bestrebungen. In den Bereich der Meinung gehören Affekte wie Zorn, Mitleid, Scham usw. Auch hier ist die Erkenntnis für Art und Intensität des Gefühls maßgeblich - nur wenn ich meine, ungerecht behandelt zu werden, zürne ich, und das Ausmaß meines Zornes hängt von meiner Meinung darüber ab, in welchem Maß ich ungerecht behandelt worden bin.33 Auch das Denken hat seine eigene Lust und sein eigenes Streben. Es hat Platons Ansicht nach auch den Überblick über die drei verschiedenen Arten von Bestrebungen und weiß durch eine umfassende, das jeweilige Gut in richtiger Weise einordnende Abwägung der Art, Intensität, Dauer usw. der vom Menschen gleichzeitig angestrebten Lüste die beste Möglichkeit zu ermitteln. Diese Tätigkeit des Denkens, die den Menschen dazu führt, das zu tun, was er wirklich will, weil es ihn am glücklichsten macht, ist oft nötig, weil die größere Lust einem Menschen nur allzuoft als die geringere erscheint, während sich die 31 32
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VgL die Analyse der Begierde in Phlb. 34 dl -36 c2. Das zugehörige Strebevermögen nennt Platon Epithymetikon, es erstrebt die körperbezogenen Lüste ( ), R. 442 a7-bl, 585 dl-d4. Die Erklärung der Seelenteile bei Platon ist nicht selten von denselben Interpretationskategorien überformt wie die der Dichtungstheorie. Sie werden dann gemäß den modernen Vermögenlehren, die auf der Bewußtseinsphilosophie basieren und die Vermögen als selbstursprünglich verstehen, bald als Verstand ohne Gefühl einerseits und vernunftloses Gefühl andererseits bzw. als Vernunft und Trieb gedeutet (z. B. E. Groag: Platons Lehre von den Seelenteilen, I, Wiener Studien 35, 1913, 323-352; II, Wiener Studien 37, 1915, 118-141; für Timaios und Nomoi nimmt dies an A. Graeser: Probleme der platonischen Seelenteilungslehre, Zetemata 47, München 1969, 105 und 108; A. Neschke-Hentschke: Zur platonischen und aristotelischen Seelenlehre, Sacris Erudiri 31,1989-1990, 337-346), bald als Denken, Fühlen und Wollen (U. v. WilamowitzMoellendorff: Platon, Berlin 51959, 310). Daß dagegen auch Epithymetikon und Thymoeides erkennend tätig sind, betonen zu Recht A. Graeser: Probleme der platonischen Seelenteilungslehre, Zetemata 47, München 1969 (für die frühen und mittleren Dialoge),]. Moline: Plato on the Complexity of the Psyche, Archiv für Geschichte der Philosophie 60, 1978, 1-26; C H. Kahn: Plato's Theory of Desire, Review of Metaphysics 41,1987-1988, bes. 78-79, 85-86,91, 98-101; G. Lesses: Weakness, Reason, and the Divided Soul in Plato's Republic, History of Philosophy Quarterly 4,1987,147-161, und W. Wroblewski: Dir Seelenteilungslehre im Ethischen bei Plato und Aristoteles, Wissenschaftliche Zeitschrift der Wilhelm-Pieck-Universitat Rostock, Gesell, und sprachwiss. Reihe 37,1988, 7-11. Wichtige Belegstellen dafür sind R. 442 clO-d3, 560 b7-c4, 602 clO-604 dll, bes. 603 al-a2, dl-d3. R. 440 cl -d3, 549 e2-550 al, Phlb. 48 a8-50 b6. Diese Affekte sind Bestrebungen des Thymoeides, dessen Aufgabe es ist, auch gegen äußere Einflüsse und innerseelische Bestimmungsgründe (z. B. vorschnelle Affekte) dem vom Denken Empfohlenen zu folgen und, in der Bewahrung der für ihn spezifischen Erkenntnisweise der richtigen Meinung ( ), durchzusetzen, daß alle Seelenteile das Ihre tun, vgl R. 429 a8-430 c2.
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kleinere in den Vordergrund drängt, oft deshalb, weil sie für den Moment lustvoller ist. Folgt der Mensch dem aus dem Denken hervorgehenden Willen, so tut jeder Seelenteil das Seine, d. h. der Mensch ist gerecht und hat zugleich die höchste ihm erreichbare Lust.34 Aus diesen Überlegungen darüber, was die menschliche Seele ist, d. h. welche Vermögen sie umfaßt, stammt die platonische und auch aristotelische Maxime, daß, wer gerecht ist, d. h. bei wem alle Seelenvermögen so weit als möglich ihre Aufgaben erfüllen, so glücklich wie möglich lebt, und wer ungerecht ist, unglücklich lebt. Die Aufgabe der Dichtung besteht für Platon därin^ daß die Heranwachsenden in einem Alter, in dem sie noch nicht alle Faktoren, die das eigene Glück und Unglück ausmachen, einschätzen können, schon an die richtigen Lüste und Bestrebungen (d. h, an die Lust am gerechten Handeln) gewöhnt werden und so die Basis für ein möglichst glückliches Leben erhalten. Ziel ist eine Kultivierung der Lust hin zur Lust am gerechten Handeln.35 Welche Lüste man anstrebt, hängt aber davon ab> welche Erkenntnishaltung man einnimmt. Die richtige Erkenntnishaltung wird nun in der Kunst nicht durch Belehrung mit dem moralischen Zeigefinger vermittelt, sondern unvermerkt durch das sympathetische Miterleben des Schicksals anderer, das in der Kunst dargestellt wird, eingeübt36 Kunst ist für Platon deshalb sowohl für die· persönliche Entwicklung des Einzelnen als auch für das Wohl und Wehe des Staates in hohem Maße von Bedeutung. Von der Dichtung erhält in den Staat gemäß Buch 2 und 3 der Politeia daher nur derjenige Teil Einlaß, dessen Darstellungen sich einerseits an die Regeln ( ) für die Schilderung der Götter halten37 und sich andererseits bei der Darstellung von Menschen und Heroen nach der eben genannten Maxime (Gerechtigkeit fuhrt zu Glück, Ungerechtigkeit führt zu Unglück) richten und so die Handlungsprämissen der Rezipienten in richtiger Weise formen. Im Gegensatz zum Gesagten sqheint Platon im 10. Buch der Politeia die Dichtung komplett aus dem Staat zu eliminieren. Es soll daher Ziel des folgenden Abschnitts sein, die Einheitlichkeit der in der Politeia zur Bewertung von Dichtung verwendeten Kriterien zu erweisen, um dann dieses Konzept mit den Äußerungen zum Enthusiasmus der Dichter abzugleichen.
Mimesis im 10. Buch der Politeia Auf die beschriebene Seelenlehre rekurriert Sokrates zu Beginn des 10. Buches der Politeia ebenso wie auf die Dichterkritik der Bücher 2 und 3, die für die Erziehung nur einen Teil der Dichtung zuläßt. Diese Regelungen zur Dichtkunst im vorgelegten Staatsentwurf seien völlig richtig gewesen. Sokrates faßt die Bestimmungen in dem Au$spruch zusammen, von· 34 35 36 37
R. 441 b3-c2, 442 c6-c8, 586 d4-e3. So das Bildungsprogramm der Bücher 2 und 3 der Politeia^ sowie Lg. 653 bl — c4. Vgl. auch Lg. 662 bl ff., wo der Athener energisch darauf drängt, das gerechteste Leben sei zugleich auch das lustvollste. R. 395 b8-d3, 401 bl -d3, Lg. 655 d5-656 b7. Die Götter sind gemäß ihrem jeweiligen Charakter als einfach, wahr und unwandelbar darzustellen, als gut und Ursache nur von Gutem. Diese Attribute stimmen mit denen, die Platon den Ideen beilegt, überein, so daß der Dichtung mit der Darstellung der Götter das Ziel gesetzt sein dürfte, die Ideen, als von Platon bereinigte homerische Götter, in Vorstellungsbildern verstehbar zu machen, vgl. P. Murray: Plato on Poetry, Cambridge 1996, 147.
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der Dichtung d rfe nichts aufgenommen werden, sofern sie mimetisch sei (όση μιμητική). Kurz danach fordert er zu einer Untersuchung von Mimesis im allgemeinen auf (μίμησις όλως), da nicht klar genug sei, worum es sich bei ihr eigentlich handele (ότι ποτ' εστίν), um in der darauffolgenden Betrachtung Mimesis als etwas, das sich nur nach Empirischem richte, zu bestimmen, den Dichtern diese Mimesis zuzusprechen und deren Produkte f r den Staat abzulehnen. Viele Interpreten halten dies, da f r Platon ja Dichtung immer Mimesis sei, f r ein Verdikt jeder nur m glichen Dichtung und letztlich sogar jeder Kunst.38 Folgende Tatbest nde machen diese Ansicht jedoch sehr unwahrscheinlich: 1. Die Aussage, Dichtung solle ausgeschlossen werden, sofern sie mimetisch sei, hat eindeutig einen die F lle aller m glichen Dichtung einschr nkenden Charakter.39 Der Begriff Mimesis ist also in einem spezifischeren Sinn gebraucht als an anderen Textstellen, wo er oft ganz allgemein bedeutet40, worunter Platonischem Verst ndnis nach wirklich jede Dichtung und sogar die gesamte musische Kunst zu fassen ist.41 Das wird zum einen dadurch best tigt, da am Ende der Argumentation zur Dichtung, genau wie am Anfang, zustimmend auf die Ergebnisse der B cher 2 und 3 Bezug genom38
. Zuletzt z. B. M. H. Partee: Plato's Poetics. The Authority of Beauty, Sah Lake City 1981, 2-3 und 107; A. Nehamas: Plato on Imitation in Republic 10, in: Plato on Beauty, Wisdom, and the Arts, ed. by J. Moravcsik and P. Temko, Totowa 1982,47; J. Annas: Platon, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, hrsg. von I. Fetscher und H. M nkler, Bd. l, M nchen/Z rich 1988, 383; S. HalliweU: Plato: Republic 10, Warminster 1988, 5-6; W. Kersting: Platons «Staat», Darmstadt 1999, 304-314. 39 So schon v llig zu Recht Proklos (in Platonis rem publicam commentarii, ed. W. Kroll, Leipzig 1899, Bd. l, 197,18—19): το τε γαρ πασαν οίόμενον είναι μιμητικήν τοοτο προστιθέναι περιττόν. Ebenso J.Tate: Plato and , Classical Quarterly 26, 1932, 161. 40 Zum Mimesis-Begriff bei Platon vgl. bes. J. T te: in Plato's Republic, Classical Quarterly 22, 1928,16-23; ders.: Plato and , Classical Quarterly 26,1932,161-169; H. Koller: Die Mimesis in der Antike, Bern 1954; G. F. Eise: in the Fifth Century, Classical Philology 53, 1958, 73-90; U Zimbrich: Mimesis bei Pkton. Untersuchungen zu Wortgebrauch, Theorie der dichterischen Darstellung und zur dialogischen Gestaltung bis zur Politeia, Frankfurt/M. 1984; M. Kardaun: Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike, Verhandelingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschapen, Afd. Letterkunde, N. R. 153, Amsterdam/New York/Oxford/Tokyo 1993. Bei Platon sind mindestens sieben Verwendungsweisen des Wortes zu bemerken. Zum einen bezeichnet Mimesis das Herstellen eines Bildes, bei dem das Bild selbst intelligibel ist (Bild meint dann nichts Anschauliches, sondern eine hnlichkeitsrelation zwischen zwei Sachen, bei der die eine als Qualit t an sich hat, was die andere von sich her ist), wobei erstens das Verh ltnis der Einheit zu den Zahlen bzw. Ideen (R. 516a7, 532 cl -c3, Arist, Metaph. 987 blO-bl3, b20-b22), zweitens die Erschaffung der Weltseele durch den Demiurgen (TL 28 c2-29 b2) und drittens Formung der Einzelseelen durch den Philosophenherrscher (R. 500 b8-501 c3) zu unterscheiden sind. Zum anderen spricht Platon in vierfacher Weise von einer Mimesis, deren Produkte wahrnehmbar (also Bilder im blichen Sinn des Wortes) sind. Im Sophistes wird die mimerische Kunst in einem so weiten Sinn gefa t, da ihr alles zugeh rt, was Menschen durch Abbildung hervorbringen, wie z. B. Statuen, Gem lde, aber auch jede Art von Sprache (Sph. 235 c8236 c8 und 264 c4f£). Auf die K nstler im modernen Sinn eingeschr nkt ist diese Mimesis im zweiten Buch der Politeia, wo unter die Mimeten - noch ohne negative Konnotation - Maler, Musiker, Dichter, Rhapsoden, Schauspieler, Schmuckhersteller u. v. a. gez hlt werden (R. 373 b5-cl). Diejenigen K nstler, die sich in der Darstellung nach dem wahrnehmbaren Anschein richten, in der bildenden Kunst etwa die Maler, die einen K rper nicht in allen drei Dimensionen wiedergeben, werden im zehnten Buch der Poliieia gleichfalls Mimeten genannt; hier allerdings verbunden mit einer scharfen Kritik. Zu guter Letzt hei t auch jede Art von Darstellung, bei der jemand etwas durch seine Stimme oder Gestik nachahmt, Mimesis. Bei der Dichtung meint diese Mimesis die im Drama verwendete Darstellungsweise (R. 393 c5c6, 397 bl, Sph, 267 a7-a8, Cra. 423 cll-dlO.). 41 Lg.668a6-a7.
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men42 und bestimmter Dichtung ein Platz im Staat einger umt wird; sie sei n mlich aufzunehmen (ποίήσεως παραδεκτέον είς πόλιν, 607 a4—a5 vs. το μηδαμη παραδέχεσθαι αυτής, 595 a5), sofern sie Hymnen auf die G tter und Lobges nge auf gute Menschen hervorbringe (όσον μόνον ύμνους θεόΐς και εγκώμια τοις άγαθοίς, 607 a3-^a4 vs. όση μιμητική, 595 a5). An strukturell wichtigen Stellen des 10. Buches wird also mit gleicher Wortwahl und gleicher Grammatik dasselbe zum Ausdruck gebracht, wobei zu Beginn gesagt wird, inwiefern die Dichtung auszuschlie en, am Schlu , inwiefern sie aufzunehmen ist. Die am Schlu genannten G tter und guten Menschen sind eine Kurzformel f r das in Buch 2 und 3 ausgearbeitete Programm der Dichtung, das gute Charaktere favorisiert.43 Zum anderen hat Platon. durchg ngig vorausgesetzt, da die Dichter Mimesis — im weiten Sinn von — betreiben;44 er mu diese allgemein anerkannte Tatsache45 gar nicht beweisen; «eine tautologische Darlegung, da die des nachahmenden K nstlers) tats chlich nur sei, h tte f r das zeitgen ssische Publikum kaum eine berraschende Einsicht enthalten, und 20 Oxfordseiten w ren auch ziemlich viel Aufwand, um etwas klarzumachen, das die Zeitgenossen ohnehin schon gewu t h tten.»46 Wenn Sokrates in R. 595 c7 dazu auffordert, <Munesis> allgemein zu bestimmen, wird also, ausgehend vom Terminus der <mimetischen> Dichtkunst als Teil der Dichtkunst in R. 595 a5, nach der Bestimmung dieser <mimetischen> Art (der Kunst) berhaupt gefragt (im folgenden wird der spezifische, peiorative Gebrauch des im 10. Buch der Politeia definierten Terminus <Mimesis> durch Anf hrungszeichen markiert* um ihn von anderen, wertungsneutralen Verwendungen abzugrenzen, wie sie, parallel zum abwertenden <Mimesis>-Begriff, auch im 10. Buch zu finden sind, z. B. in R. 598 b3-b4, 604 e3-e6).47 42
^ R. 607 bl -b3~595 al -a5. Gegen den Einwand, Hymnen und Enkomien seien keine echte Dichtung oder ihre "Erw hnung sei zu vernachl ssigen (z.B. J. Annas: An Introduction to Plato's Republic, Oxford 1982, 344; A. Nehamas: Plato on Imitation in Republic 10, in: Plato on Beauty, Wisdom, and the Arts, ed. by J. Moravcsik and P. Temko, Totowa 1982, 69; M. H. Partee: Plato's Poetics. The Authority of Beauty, Sah Lake City 1981, 107), spricht sowohl die exponierte Stellung und der R ckbezug zum Beginn der Argumentation und zu Buch 2 und 3 als auch Platons Sprachgebrauch in der Politeia und in arideren Dialogen. Enkomion kann bei Platon einen' Lobpreis gro er Taten in metrischer Rede (Homer als Enkomiendichter in La. 191 b2, Prt. 326a2, R. 599b7, Min. 319cl ff.) oder sogar in Prosa (R. 358d2, Ti. 19d2, 21 a3, Smp. 198 c5 —199 b5 passim u. .) bedeuten. Hymnos meint bei Platon ebenfalls Verehrung einer g ttlichen bzw. guten menschlichen Lebensweise (Mx. 239 b8, R. 468 d9, Tht. 176 al), die auch in Prosa ausgef hrt werden kann (Phdr. 265 cl, Smp. 193 c8-dl). Zum Bedeutungsfeld der Termini Hymnos und Enkomion in der griechischen Literatur vgl. H. F rber: Die Lyrik in der Kunsttheorie der Antike, M nchen 1936, 28-31 und 35-36, A, E. Harvey: The Classification of Greek Lyric Poetry, Classical Quarterly 5, 1955, 162—164 und 174 f., zur nicht zu marginalisierenden Bedeutung von Enkomion und Hymnos vgl. H. Koller: Die Mimesis in der Antike, Bern 1954, 173-184. 44 R. 373 b5-b7. 45 Lg 668 b9-c2: και μην τοοτό γε πας δν ομόλογοι περί της μουσικής, δτι πάντα τα περί αυτήν εστί ποιήματα μίμησίς τε και άπεικασία1 κάϊ τούτο γε μών ουκ &ν σύμπαντες όμολόγοϊεν ποιηταί τε και άκροαταί και ύποκριταί; — και μάλα. — «Ath. Dies wird nun woTil bei der Musik jeder zugeben, da alle ihre Hervorbringungen Darstellung und Abbildung sind: d rften dies nicht alle Dichter und Zuh rer und Schauspieler zugeben? — Kl. Und zwar sehr.» 46 M. Kardaun: Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike, Verhandelingen der Koninklijke Ncderlandse Akademie van Wetenschapen, Afd. Letterkunde, N. R. 153, Amsterdam/New York/Oxford/Tokyo 1993, 65. 47 Das Adjektiv'μιμητικός, das vorher nur in R. 394 el und 395 a2 auftaucht, wird im 10. Buch ausschlie lich peiora v gebraucht. Da es an den beiden Stellen im 3. Buch im -Kontext der dramatischen Darstellungsweise verwendet wird, liegt die Vermutung nahe, mit dem eingeschr nkten <Mimesis>-Begriff des
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2. Der Staat, den Platon entwirft, ist ohne musische Vorbildung berhaupt nicht m glich, da selbst diejenigen, die zu Philosophen ausgebildet werden sollen, nach Platons Planung ein durch Erziehung gebildetes, solides charakterliches Fundament mitbringen m ssen. Die Erziehung besteht aber in Gymnastik und Musik, wobei vor allem letztere f r die charakterliche Ausbildung verantwortlich ist. Der wichtigste Teil der Musik ist die Dichtung. W rde die Dichtung wegen ihres Abbildcharakters entfernt, so fehlte mit der seelischen Erziehung die Grundlage f r den ganzen Staatsentwurf.48 3. Bei der Besprechung der Wirkung der Dichtung wird sogar im 10. Buch der Politeia ein guter von einem schlechten Dichter unterschieden (R. 604 el -605 a7). Der gute Dichter habe die Aufgabe, einen vern nftigen und ausgeglichenen Charakter darzustellen. Diese Aufgabe sei nicht leicht (ούτε ράδιον μιμήσασθαι) - das hei t aber auch, da sie nicht per se unm glich ist. Der <mimetische> Dichter dagegen (ό μιμητικός ποιητής) verlege sich auf die leicht darzustellenden, weil allt glichen, wechselhaften, von Leidenschaften berm ig getriebenen Charaktere.
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10. Buches k nnte der im 3. Buch definierte Fachterminus der dramatischen Darstellungsweise gemeint sein, der ja ebenfalls nur einen Teil von Dichtung berhaupt umfa t (zuletzt M. Kardaun: Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike, 1993, 63 Anm. 154). Dagegen sprechen folgende Argumente: a. Im 10. Buch der Politeia sagt Sokrates, der Begriff <Mimesis> m sse erst noch gekl rt werden (R. 595 c7-c8). Dieser Begriff ist zwar ein Oberbegriff, der neben der Dichtung auch die bildende Kunst umfa t, Ziel seiner Einf hrung ist aber die Definition von dichterischer . Diese neue, langwierig durchgef hrte Definition w re aber v llig berfl ssig, wenn es sich um die dramatische Darstellungsweise handelte, die im 3. Buch als Vortragsweise genau definiert worden war. b. Unter die μιμητικοί werden im 3. Buch auch die Rhapsoden gerechnet, die nicht ausschlie lich dramatisch darstellen (R. 395 a8). c. Ein B rger des Staates verh lt sich dann richtig, wenn er bei der Aus bung von Musik im Handeln und Reden rechtschaffene Charaktere zum Ausdruck bringt (R. 396 c5-e2). Diese dramatische Darstellungsweise soll zwar in der Gesamtdichtung einen kleineren Raum einnehmen (R. 396 e5—e7, in R. 397 d4—d5 wird diese Mischung dann eine — mit weiteren dramatischen Zus tzen — unvermischte Dichtungsweise genannt), sie wird aber keineswegs ausgeschlossen. Das best tigt auch das Fazit der gesamten Passage in R. 398 a8-b2 (ποιητή χρφμεθα και ώφελίας ένεκα, ος ήμΐν την του επιεικούς λέξιν μιμοΐτο). Wenn Sokrates in R. 595 al-a5 und 607 bl-b3 bekr ftigt, dieselbe Dichtung zu verurteilen wie in den B chern 2 und 3, so bedeutet das, da die dramatische Darstellungsweise auch im 10. Buch nicht ausgeschlossen wird und nicht mit <Mimesis> gleichzusetzen ist. d. Die im 10. Buch zugelassenen Hymnen und Enkomien sind Dichtungsarten, in denen nicht selten direkte Rede als dramatische Darstellungsweise vorkommt; also ist sie nicht ausgeschlossen. Hymnen und Enkomien werden zudem oft mit dem dramarischen Vortragsmittel des Tanzes verkn pft (vgl. Lg. 801 el ff.). - Der dramatische MimesisBegriff aus dem 3. Buch ist also nicht mit dem <Mimesis>-Begriff des 10. Buches identisch. Eine wichtige Beobachtung ist gleichwohl, da gerade die dramatisch-mimetischen Dichter nicht selten zugleich <mimetischo Dichter werden, da sie oft dazu neigen, ungepr ft «alles» - und das hei t eben auch: viel Empirisches, viel nicht Ideales, viel im Sinne Platons Schlechtes und schlecht Wirkendes - darzustellen (R. 397 a3, wie der Mann mit dem Spiegel, R. 596 c9), nicht zuletzt wegen der Erwartungshaltung des (ja nicht nach platonischen Prinzipien) erzogenen Publikums (R. 604 et-605 a6). Die dramatische Darstellung des guten Charakters h lt Platon f r eine zwar schwierige, aber nicht unm gliche Aufgabe (R. 604 e2-e3). Er d rfte seine eigenen Dialoge (mit der Schilderung des Sokrates) f r solche Dichtung gehalten haben. Bisweilen wird dagegen eingewendet, Platon habe durch die Untersuchungen in den zwischen den B chern 3 und 10 liegenden B chern neue psychologische und ontologische Argumente gegen die Dichtung gefunden, die eine ver nderte Sicht zur Folge gehabt h tten. Abgesehen davon, da Platon im 10. Buch affirmativ auf die Bestimmungen der B cher 2 und 3 rekurriert, betont er genau nach den Passagen, die in Buch 4 (Psychologie) und 7 (Ontologie) angeblich die Grundlage f r ein h rteres Vorgehen gegen die Dichtung bilden, die weiterhin g ltige Wichtigkeit der musischen Erziehung f r den Staat (R. 441 e8442 a3 und 522 a3-bl sowie 546 d6-d8 und 548 cl -c2).
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So wird der gute Dichter im 10. Buch der Politeia durch die Entgegensetzung zum <mimetischen> Dichter genauso charakterisiert, wie in R. 472 c4^473 b3 und R. 500 b8— 501 c3 der Zeichner der sch nsten Zeichung (καλλίστη γραφή) beschrieben ist. Der Zeichner steht hier f r den Staatsgr nder, der de facto oder, wie Sokrates, in seinen Gedanken49 einen gerechten Staat mit gerechten Menschen einrichtet. Auch dieser Zeichner kopiert nicht die empirische Wirklichkeit, sondern richtet sich beim Zeichnen des sch nsten Menschen (κάλλιστος άνθρωπος) nach den Ideen der Tugenden. So bringt er einen vollendet gerechten Menschen hervor, wie er sein k nnte (οίος αν εΐη), den es unter normalen Umst nden nicht oder nur ann herungsweise gibt.50 Der Vergleich des Malers mit dem Dichter im 10. Buch der Politeia soll also nicht das Wesen der Kunst als solcher verdeutlichen, sondern das Wesen der schlechten, <mimetischen> Kunst. Im Grunde schlie t schon die Beschreibung des besten Zeichners in Buch 5 und 6 der Politeia aus, Platon k nne jede Kunst nur f r eine sklavische Kopie der empirischen Welt halten. Der <mimetische> Maler dagegen kopiert wie ein Spiegel die empirische, dreidimensionale Welt, ben tigt daf r nur F rb- und Formwahrnehmung und produziert dadurch einen perspektivisch verzerrten, zweidirnensi iialen Schein, den t richte Menschen f r die dreidimensionale Wirklichkeit halten. Der <mirnetische> Dichter, dessen Gegenst nde Charaktere, deren Handlungen und das Gl ck oder Ungl ck, das sich daraus ergibt, sind,51 richtet sich nach dem, was in der Empirie gut, gerecht, gl cklich usw. scheint, es aber oft nicht wirklich ist. D. h. er richtet sich nach undifferenzierten Meinungen und dem ihn umgebenden, oberfl chlichen Common sense. So kann er (um einige typisch Platonische Beispiele aus dem Anfangsbuch der Politeia zu referieren) zu der Ansicht kommen, er schildere einen Herrscher, wenn er einen Tyrannen schildert, dem alle gehorchen m ssen, oder einen Hirten, wenn er jemanden schildert, der seine Schafe m stet, um sie gut verkaufen zu k nnen; oder er h lt den Tyrannen f r gl cklich. In allen diesen F llen werden Merkmale, die bei Instanzen einer Sache auftreten k nnen (oft aber noch nicht einmal auftreten m ssen), zum hinreichenden Kriterium f r die Sache gemacht: bei einem Herrscher als Herrscher gibt es in der Regel ebenso ein Befehlen wie beim Tyrannen, aber zu dem Zweck, die B rger m glichst gut zu machen, w hrend der Tyrann, der oft solche Befehle gibt, durch die er sich ohne R cksicht auf das Wohl der B rger bereichert^ eigentlich ein R uber ist. Ein Hirte als Hirte wird seine Tiere so f ttern, da die Entwicklung der spezifischen Verm gen und die artgerechte Lebens49
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Und wie Platon in seinem Dialog Po teia bzw. in den N moi, die der wortfuhrende Athener als Darstellung der sch nsten und besten Lebensweise (μίμήσις του καλλίστου και αρίστου βίου) und als sch nste und , wahrste Trag die (καλλίστη και αρίστη τραγφδίά) bezeichnet, so da die Vermutung naheliegt, Platon habe sich wegen seiner Dialoge f r den besten Dichter gehalten (eine differenzierte Interpretation dieser und hnlicher Textstellen siehe bei K. Gaiser: Platone come scrittore filospfico, Saggi sulPermeneutica * dei dialoghi platonici, Neapel 1984). . . · · · Dieselbe Formulierung rindet sich in derselben Bedeutung auch im 9. Kapitel der Aristotelischen Poetik zur Unterscheidung von Dichtung und Geschichtsschreibung; und bei Plotin Enn. 5,8,1 zur Beschreibung der spezifischen Leistung der Kunst, die, wie bei Platon, dann wirkliche Kunst ist, wenn sie sich nicht nach dem Wahrnehmbaren richtet (ούχ απλώς το όρώμενόν μιμοΟνται, αλλ* άνατρέχουσι επί τους λόγους). So habe Phidias seinen Zeus nicht nach einem sinnlich-historischen Vorbild entworfen (προς ουδέν αίσθήτόν ποιήσας), sondern danach, wie beschaffen sich Zeus zeigen d rfte (οίος αν γένοιτο), k me er wahrnehmbar auf die Erde. R. 603 c4-c9 ~ R, 399 -a5-c4 u. .
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weise der Tiere gewährleistet werden; der Tiermäster füttert auch, aber so, daß die Tiere zwar fett und träge werden, aber beim Verkauf viel Geld einbringen. Er ist insofern gar kein Hirte, sondern ein Händler. Der glückliche Mensch wird neben den Lüsten des Logistikon und des Thymoeides - also der Lust am Denken und an der Wahrung eines gerechten und ihn in angemessener Ehre belassenden Zustandes - auch die notwendigen körperbezogenen Begierden befriedigen. Auch der Tyrann, der in Sinneslust schwelgt, bedient körperbezogene Begierden, aber vor allem die nicht-notwendigen, die wie ein Faß ohne Boden nie völlig gestillt werden können; von den höheren Lüsten, die er gar nicht anstrebt, einmal ganz zu schweigen. Der Tyrann ist also in Wirklichkeit ein unglücklicher Verbrecher. Der <mimetische> Dichter ist somit ein Sonderfall des Meinenden, der, sofern er an einzelnen Instanzen die falschen Kriterien für einen guten oder schlechten, glücklichen oder unglücklichen Charakter abliest und daher mit falschen Meinungen dichtet, das, was einen guten bzw. glücklichen Charakter ausmacht, verzerrt und falsch darstellt, nicht ohne daß viele Menschen so töricht sind, den dargestellten Charakter für wirklich gut bzw. glücklich zu halten und so, durch die unbemerkte Übernahme falscher Handlungsprämissen während des Kunstgenusses, Schaden an ihrer Seele nehmen. • Platons Kritik an der <mimetischen> Literatur richtet sich demnach nicht prinzipiell gegen die Eigenart der Dichtung, ein Abbild zu sein oder zu illusionieren,52 sondern gegen Dichtung, deren Darstellung von der Erkenntnishaltung der falschen Meinung des Schriftstellers geprägt ist.53
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Tatsächlich wird die Dichtung im ersten Argumentationsgang immer nur auf die Frage hin überprüft, welche Erkenntnishaltung der Dichter hat Selbst dort, wo Sokrates einwendet, wenn die Dichter ein Wissen von der Tugend hätten, hätten sie schöne Taten statt Abbildungen von Taten zurückgelassen (R. 599 b3-b7), ist dieses Argument nur als Mittel eingeführt, um im folgenden durch das Fehlen der Taten oder von Schülern die Unwissenheit der Dichter zu beweisen. Neben dem Anfang des 10. Buches sind es vor allem zwei weitere Stellen, aus denen das Verwerfen jeder nur möglichen Kunst gefolgert wird. Erstens wird dazu R. 597 e6-e8 herangezogen, wo, nachdem der Spiegel-Maler als <Mimet> und dritter hinter der Wahrheit bezeichnet wurde, das Ergebnis angeblich sofort auf die Dichter übertragen wird (z. B. M. Fuhrmann: Dichtungstheorie der Antike, Darmstadt, 2., überarb. und veränd. Auflage 1992, 87: «Platon überträgt nunmehr das Ergebnis, das er der Malerei abgewonnen hat, auf die Dichtkunst; er versichert ohne Umschweife, daß auch das von der Dichtkunst Dargestellte der dritten Seinsstufe angehöre.» Desgl. P. Murray: Plato on Poetry. Ion; Republic 376 e398 b; Republic 595-608 b, Cambridge 1996, 197, die übersetzt: «Consequently then the tragic poet, too, s i nee he is an imitator, will be äs it were, third frorn the king and from truth»; Hervorhebung von mir). Sokrates aber sage «Folgendes wird also auch der Tragödiendichter sein, wenn er wirklich ein <Mimet> ist ( ): dritter hinter dem König und der Wahrheit; und alle anderen <Mimeten> auch.» Es ist hervorzuheben, daß hier lediglich behauptet wird, daß, da jeder <Mimet> der jetzigen Definition nach dritter hinter der Wahrheit ist, der Tragödiendichter unter der Voraussetzung, daß er ein <Mimet> ist, auch dritter hinter der Wahrheit ist; es ist nicht gesagt, es sei hier bereits bewiesen, daß er ein <Munet> ist Die Verallgemeinerung des Maler-Beispiels und der Beweisgang dafür, daß Homer und andere Dichter <Mimeten> sind, erfolgt erst ab R. 598 d7. Zweitens ist in R. 600 e4—c5 gesagt, alle Dichter seien, von Homer angefangen, als unwissende Darsteller der Empirie erwiesen worden. Diese Formulierung besagt aber nicht, daß jede nur mögliche Dichtung zu verwerfen ist Zudem ist sie selbst aus Platons ausdrücklichem Beweisziel heraus zu weit gefaßt; Sokrates betont immer wieder, die Tragiker und Homer, also noch nicht einmal die gesamte traditionelle Dichtung, prüfen zu wollen (R. 595 blO-c2, 597 e6, 598 d7-d8, 602 b8-b9, 605 eil, 607 a2-a3). So bleibt Platz für Dichter wie Pindar oder Solon, der im Beweisgang gegen Homer und die Tragiker explizit als Wissender (und damit zu guter Dichtung Fähiger) genannt wird (R. 599 e3). Man muß aller-
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Diesem Bewertungskriterium scheint das Enthüsiasmuskonzept zunächst entgegenzustehen, da die enthusiastischen Dichter —' zu. denen auch der in der Politeia kritisierte Homer zählt - zwar für ihre Ergebnisse gelobt, aber zugleich für ihre Unfähigkeit, rational Rechenschaft über das Gesagte ablegen zu können, getadelt werden. Ist also der Irrationalismus der Dichter beide Male derselbe und vertritt Platon zwei widersprüchliche Konzepte, was die Qualität der Erzeugnisse nicht-rationalen Dichtens betrifft, oder ist das Lob der guten Dichtungen, die durch Enthusiasmus entstehen, eine bloße Ironie, so daß auf diese Weise Platons Aussagen über die Dichtung auf einen Nenner'gebracht werden können, oder sind noch andere Losungsvorschläge in Betracht zu ziehen?
Der Enthusiasmus Die Erklärung des Enthusiasmuskonzeptes ist deshalb so schwierigj weil Platon fast nirgendwo sagt, was Enthusiasmus eigentlich ist bzw. wie er en detail abläuft. Bevor gleich ein eigenes Erklärungsmodell vorgestellt wird, soll zumindest derjenige Forschungsansatz besprochen werden, der abstreitet, daß Platons Lob des Enthusiasmus überhaupt eine ernsthafte Würdigung der dichterischen Leistung darstellt. Mit Platons Lob der enthusiastischen Dichter geht regelmäßig die Aussage einher, die Dichter hätten kein Wissen von den Themen, über die sie dichten. Daraus ist bisweilen - bereits im Poetikkommentar Castelvetros54 — der Schluß gezogen worden, die Rede vom Enthusiasmus sei eine ironische Aufnahme des Musenanrüfes der Dichter und somit lediglich eine etwas vornehmere Art, die Dichter für inkompetent zu erkläre^ als die direkte Kritik in der Poltieia. Ab dem 19. Jahrhundert erhält diese Deutung, ausgehend von Nietzsche,55 eine entwicklungsgeschichtliche Begründung: Sokrates als aufgeklärter Philosoph suche einen Weg aus der Befangenheit der mythischen Anschauung, der auch die Dichter unkritisch anheimfielen, hin zur ethischen Autonomie gegenüber dem Staat und der Religion.
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dings zugeben, daß Sokrates' Argumentation in R. 598-^601 darauf hinausläuft* Homer und die Tragiker müßten ausschließlich mit falschen Meinungen gedichtet haben, da von> ihnen weder gute Taten noch Schüler bekannt seien (was Sokrates als Signum für Kenntnisse um und <schlecht> festsetzt). Das widerspricht gelegentlichen Hinweisen auf richtige Charakterdarstellungen durch Homer im 2. und 3, Bück Man kann daher vermuten, daß Platon im 10. Buch der Polheiü die traditionelle Dichtung -· in einseitiger Weise -r von ihrem negativen Aspekt her benennt, der in den früheren Büchern ah Beispielen · aufgewiesen worden war: Wenn einem Charakter in der Dichtung nicht ausschließlich Handlungen zugesprochen werden, die seinem Wesen (vor allem dem ) angemessen sind, ist der Charakter <mimetisch> dargestellt. Sind in einer. Dichtung Charaktere nicht ausschließlich angemessen dargesteift' (wie z. B. die Heroen in Epos und Tragödie), so wird die ganze Dichtung <mimetisch> genannt. Positive Ansätze in der Charakterschilderung, v. a. bei Homer, werden so ausgeklammert. Das Kriterium der Bewertung, das Wissen um oder zumindest die richtige Meinung über gute und schlechte Charaktere und deren Geschick, das sich in der Dichtung manifestieren soll, bleibt aber nach wie vor dasselbe. L, Castelvetro: Poetica d'Aristotele Vulgarizzata e Sposta, hrsg. v. W. Romani, Rom-Bari 1978-1979, 1,91-93. . . . . F. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in ders.: Werke, Kritische Gesamtausgabe hrsg. von G. Colli und M. Montinari, III.1, Berlin/New York 1972, 71 -116; ähnlich W. Nesde: Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 21942, 529 ff.; J. Dälfen: Polis und Poiesis, München 1974, bes. 77-118.
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Die Basis der Interpretation bildet auch hier der spezifisch bewu tseinsphilosophische Gegensatz zwischen den seelischen Verm gen der sinnlichen Anschauung und des Verstandes, ein Gegensatz, der hier historisiert und in bestimmter Weise prononciert wird: bei der Anschauung wird nun nicht ihr Reichtum, sondern ihre Kritiklosigkeit, beim Verstand nicht seine abstrakte Leere, sondern seine bewu te und geradezu autonome Kontrolliertheit hervorgehoben. Wie bedenklich es ist, diese Interpretationskategorien auf Platons u erungen anzuwenden, wurde oben bereits gezeigt. Gegen diese Interpretation des Enthusiasmus ergeben sich au erdem folgende Einw nde: 1. Dem Logos zu folgen bedeutet f r Platon keinen R ckzug in ein autonomes, sich an nichts au erhalb seiner selbst orientierendes Subjekt, sondern meint ein Erkennen, das sich an bestimmten, immer gleichbleibenden und im Platonischen Verst ndnis sogar g ttlichen Sachgehalten orientiert. Ein solches Erkennen und die aus ihm resultierende Ethik w rde etwa in Kantischer Terminologie nicht autonom, sondern heteronom zu nennen sein. F r Platon schlie en sich Wissenschaft und Religion nicht aus, im Gegenteil, die Philosophen sollen ber das G ttliche und immer Gleichbleibende auf methodische Weise Erkenntnisse gewinnen und sich ihm auch charakterlich ann hern.56 2. Nicht nur vor Platon haben die Dichter ihre Abh ngigkeit von den Musen artikuliert sowie Demokrit den Dichtern Enthusiasmus zugesprochen; auch Sch ler Platons, die jahrzehntelang in seinem engsten Umfeld gelebt haben, wie Philipp von Opus, Xenokrates und Aristoteles, beziehen sich auf Platons Aussagen zum Enthusiasmus, ohne deren Ernst in Zweifel zu ziehen.57 In der Akademie wurden auf Veranlassung Platons von Anfang an die Musen kultisch verehrt, f r die Platon eigens ein Museion errichten lie ;58 sein Neffe und Nachfolger Speusipp lie dort Statuen der mit den Musen eng verbundenen Chariten aufstellen;09 von dessen Nachfolger Xenokrates (den Platon oft ermahnt haben soll, den Chariten zu opfern)60 werden auch Opfer f r die Musen berichtet.61 Wenn Platon sich ber die Realit t und Wirkmacht der Musen bei den Dichtern in ironischer Weise lustig gemacht haben sollte, w re dies ein ebenso zynisches wie von der von ihm gef hrten Lebensgemeinschaft zugleich unbemerktes (und auf sie in gegenteiliger Weise wirkendes) Verhalten gewesen — was alles reichlich unwahrscheinlich ist. 3. Nicht zuletzt zeigen zahlreiche Textstellen ber enthusiastische Personen bei Platon, da die Benennung der Dichter als enthusiastisch sehr wahrscheinlich ein ernstgemeintes Lob einschlie t. Um zus tzlich zu den oben genannten nur zwei auszuw hlen: In Phdr. 245 a ff. wird der Enthusiasmus der Dichter mit dem der Philosophen parallelisiert, der offenbar ernst gemeint ist; weiterhin spricht Sokrates von seinem Daimonion, das er auch θεία μοίρα nennt,62 gem dem er oft richtig handelt und spricht, ohne zu wissen, warum; 56
R. 500 b8-c7: σχολή τφ γε αληθώς προς τοις ούσι την διάνοιαν εχοντι... κατά ταύτα αεί έχοντα ... μιμεϊσθαί τε και δτι μάλιστα άφομοιουσθαι. Tht. 176bl: όμοίωσις θεφ. Aristot ΕΝ 10,7. 57 Zu den in allen Lebensbereichen wirkenden Daimones bei Philipp und Xenokrates vgl. R. Heinze: Xenokrates, Leipzig 1892, 92-96, zu Aristoteles v. a. die im folgenden besprochene Textstelle in EE 8,2 zum mantischen Enthusiasmus (f r den dichterischen Enthusiasmus vgl. die Texte bei D. Moraitou: Aristoteles ber Dichter und Dichtung au erhalb der Poetik, Stuttgart/Leipzig 1994, bes. 83-100). 58 Vgl E. M ller-Graupa: Museion, RE 31. Hbbd., Stuttgart 1933,799-801, und U v. Wilamowitz: Antigonos von Karystos, Philologische Untersuchungen, T. 4, Berlin 1881, 279-288. 59 D. L. 4,1 und Acad. index CoL VI, S. 37,30-38,1. 60 D. L. 4,6. 61 Acad. index CoL VII, S. 41,44-45. '»2 Ap. 33 c4-c7.
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d. h. es wird dasselbe Phänomen wie bei den Dichtern mit demselben Terminus beschrieben.63 Aus all diesen Gründen ist eine Deutung, die Platons lobende Bezeichnung der Dichter als enthusiastisch für Ironie und bloße Umschreibung von deren inhaltlicher Inkompetenz hält, ausgesprochen problematisch. Um nun die Frage, inwiefern Platon Teile der traditionellen Dichtung bzw. Abschnitte oder Charakterzeiehnungen eines Werkes eines Dichters (wie etwa Homer) enthusiastisch nennen kann, einer Lösung zuzuführen, ist es nötig, sowohl die anderen bei Platon genannr ten Enthusiasmusarten als auch die Äußerungen des Aristoteles über die göttliche Begeisterung mit einzubeziehen.64 Die bereits angedeutete, noch weiter zu belegende These ist, daß Platon eine Person dann enthusiastisch nennt, wenn sie häufig durch die Benutzung des Intellektes ( ) erfolgreich ist.65 Außer dem Dichter nennt Platon.z. B. Mantiker, politisch Handelnde und 63
Eine Fülle solcher Belegstellen hat E. G. Berry: The History and Development of the Concept of and down to and including Plato, Diss. Chicago 1940, 49-85, in einer kaum beachteten Arbeit gesammelt und interpretiert. 64 Bei den Interpreten, die Platons Äußerungen über den Enthusiasmus ernst nehmen, sind vor allem drei Gruppen zu unterscheiden. 1. Interpreten wie H. Gundert: Enthusiasmus und Logos bei Platon, Lexis 2, 1949, 25-46 (auch in ders.: Platonstudien, Amsterdam 1977, 1-22), und G.Krüger: Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens, Frankfurt/M. 61992 (M 939), bes. 29-48, verstehen den Enthusiasmus als Selbstvergessenheit des Dichters, der in der völligen Rezeptivität des Sinnlichen die Welt in ihrem Reichtum erfaßt; die Argumente dagegen wurden bereits zu Beginn vorgetragen (vgl. o. S. 42-44). 2. W. J. Verdenius: Mimesis, Plato's Doctrine of Artistic Imitation and its Meaning to us, Leiden 1962, 4-5, und H. Flashar: Der Dialog Ion als Zeugnis platonischer Philosophie, Berlin 1958, . 136—137, meinen, wie die Ausführungen über Platons Erkenntnistheorie zu zeigen verbuchten, zu Recht, daß beim Enthusiasmus göttliche und menschliche Aktivität zusammenwirken. Beide bestimmen jedoch das Vermögen des Menschen, das dabei aktiv ist, nicht genauer und gehen davon aus, daß der Dichter, sofern er enthusiastisch ist, das, was die Götter mitteilen, verfalschen könnte. Dagegen spricht Platons Aussage, die Dichter würden nur dann Schönes und Wahres dichten, wenn sie enthusiastisch seien (Ion 533 e5ff., Men. 81 a7-b2, Phdr. 245 a5-a8), und der Satz, jede .göttliche Mania (und damit auch die dichterische) bringe Gutes und Schönes hervor (Phdr. 245 bl -cl). 3. Die Neuplatoniker und besonders Proklos in seinem Kommentar zur Politeia (zum folgenden vgl. I,,l 77,4—192,3 sowie zu den Neuplatonikern W Bernard: Spätantike Dichtuhgstheorien. Untersuchungen zu Proklos, Herakleitos und Plutarch, Stuttgart 1990) erläutern den Enthusiasmus ebenfalls als gemeinsames Werk von Gott und Mensch und, in Differenzierung der von Platon unterschiedenen Erkenntnisvermögen, als suprarationale Erkenntnisleisrung des Dichters; diese Überlegungen wurden von der vorliegenden Untersuchung als heuristisches Hilfsmittel genutzt. Gegen Proklos ist aber einzuwenden, daß er den enthusiastischen Dichter noch über die Intellekttätigkeit hinaushebt und gleichsam zum Lehrer Platons macht, der «nun> ein rationaler Entfalter dessen sei, was vor allem Homer verschleiert und allegorisch verborgen gesagt habe. Er.geht dabei davon aus, daß alle bei Homer geschilderten Skandala der Götter eigentlich absichtlich verschlüsselte und richtige Aussagen über die intelligible Welt seien. Ein solches überaus positives Homer-Verständnis widerspricht jedoch allem, was wir bei Platon, besonders in der Potiteia und den Nomoiy über Homer lesen. 65 Die Bezeichnung ist hier als Behelfslösung gewählt, indem sie die mittelalterliche Standardübersetzung von aufgreift, wird dort regelmäßig mit wiedergegeben. Es ist schwierig, im Deutschen ein echtes Äquivalent für zu finden, das dessen spezifische kognitive, emotionale und voluntative Implikationen zugleich umfaßt per Terminus käme ihm nahe, wenn Intuition dabei nicht als instinktiver, passiver Akt verstanden würde. Im Begriff (ähnlich verhält es sich mit bzw. ) klingt hingegen eine Diskursivität und Gefühllosigkeit mit, die dem nicht wirklich angemessen ist. Nur wenn man die Erkenntnistätigkeit des: «Intellektes) als nicht-diskursives, unmittelbares Erfassen sachlicher Bestimmtheit versteht und die mit dem intellektiven Erkennen einhergehende starke Emotionalität miteinrechnet, kann man verstehen, wie der Enthusiasmus der Dich-
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die Philosophen enthusiastisch.66 Im folgenden soll an vier Textstellen gezeigt werden, da Platon das Zustandekommen des Enthusiasmus dieser Personen auf eine T tigkeit des Intellektes zur ckfuhrt. 1. Eine besonders deutliche Stelle ist bereits genannt worden: in Plt. 309c5-d5 wird die Erziehung der normalen B rger geschildert, die feste, richtige Meinungen ber Gutes und Gerechtes gewinnen sollen. Sie werden vom Philosophenherrscher unterschieden, der ihre Erziehung organisiert und im Unterschied zu ihnen in der Lage ist, genau begr nden zu k nnen, warum diese und jene Handlung gut und gerecht ist. Gleichwohl wird die konstante, in der Regel das Richtige treffende Meinung der B rger eine g ttliche richtige Meinung genannt, die ihre Heimstatt im d monischen Seelenteil hat. Damit kann nur das Logistikon gemeint sein, das hier aber nicht rational im Sinne von <streng methodisch) vorgeht. Das bedeutet wiederum, die B rger haben vor allem ihren (die bestimmte Einheit einer Sache erfassenden und festhaltenden) Intellekt darin gesch rft, das Gerechte und Gute an den verschiedensten Einzelfallen immer wieder zu erkennen.67 2. Eine weitere wichtige Gruppe enthusiastischer Personen sind die Mantiker. Sie erfassen berproportional h ufig, wie jemand zu seinem Nutzen oder Schaden handeln soll oder wird. Zu Beginn des 9. Buchs der Politeia kommt Platon auf das Wahrsagen w hrend des Schlafes, also die ingeni se Mantik, zu sprechen und erkl rt, welche Rolle welcher Seelenteil dabei spielt.68 Die besten Chancen auf Wahrtr ume haben demnach besonnene Menschen, die vor dem Schlafen den vern nftigen Seelenteil, das Logistikon, zur T tigkeit anregen. Wenn das Logistikon dann im Schlaf ganz allein und in reiner Weise Betrachtungen anstellen und danach streben darf, etwas zu bemerken, was es nicht wei , etwas aus der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft (έα αυτό καθ' αυτό μόνον καθαρόν σκοπεϊν και όρέγεσθαί του αίσθάνεσθαι δ μη οιδεν, ή τι των γεγονότων ή όντων ή και μελλόντων), ist die Chance am gr ten, da ein Mensch im Schlaf die Wahrheit erfa t
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ter und dessen die Dichtung durchstrukturierende Kraft (μυρία των παλαιών έργα κοσμούσα) von der n chternen Besonnenheit eines Regelpoeten (ή ποίησις ... ή του σωφρονοΰντος) abgegrenzt werden kann (Phdr. 245 a5-a8). Mit dieser Besonnenheit ist nicht die eigentliche Tugend, sondern eine kleinliche Vern nftelei und Fixierung auf dichterische Mittel gemeint; jedenfalls wird bei der analogen Frage im Pbaidros, ob man sich auf den Verliebten oder den Nicht-Verliebten einlassen soll, gesagt, der NichtVerliebte besitze nur <sterbliche> Besonnenheit (θνητή σωφροσύνη) und verhalte sich kleinkariert und berechnend (θνητά τε και φειδωλά οικονομούσα, Phdr. 256 e5-e6). Der Wahnsinn der Verliebten f hre dagegen, wenn er richtig entwickelt sei, zur eigentlichen Selbstbeherrschung und geordneten Strukturiertheit der Seele (εγκρατείς αυτών και κόσμιοι δντες, Phdr. 256 bl -b2). Und die Telestiker, im Phdr. 245 bl -b2 spricht er sogar davon, noch viel mehr Arten von Enthusiasmus aufzahlen zu k nnen: έτι πλείω... καλά έργα. Der Philosoph ist im Gegensatz zu den anderen Enthusiasten auch rational und methodisch t tig. Das Gerechte, Besonnene, Tapfere usw. und deren Gegenteile in allen Einzelfallen scharf zu bemerken ist das Ziel der Erziehung und dabei vor allem der musischen Erziehung, vgl. R. 401 d5-402 c4. Zum Folgenden vgj. R. 571 d6 - 572 b6. Bei der Behandlung des Wahrsagens durch Tr ume in Ti. 70 d7 72 b5 wird die Funktion der in den Bereich des Epithymerikon geh rigen Leber in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt. Die Leber bringt jedoch keine Vorstellungen aus sich selbst hervor, sondern reagiert, einem Spiegel gleich, auf aus dem Denken kommende Vorstellungen (71 b3-b5 und c3-c4). Vgl. Philon v. Alex, de speciaL legg, l § 219 und de migr. Abr. § 190, der die u erungen der Politeia und des Ttmaios kombiniert, hnlich Aelian VH 3,11 f r die Peripatetikcr. Auch die Vorbereitung f r das Wahrtr umen wird an allen genannten Stellen gleich beschrieben in einer m glichst gro en Bes nftigung und Beruhigung der unteren, der Sinnlichkeit verhafteten Seelenvcrm gen. Vgl. dagegen F. Pfeffer Studien zur Mantik in der Philosophie der Antike, Meisenheim am Glan 1976, 35, der beide Stellen f r nicht vereinbar h lt
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und sich ihm am wenigsten unmoralische Traumbilder zeigen (οίσθ* ότι της τ' αληθείας εν τω τοιούτφ μάλιστα άπτεται και ήκιστα παράνομοι τότε αί όψεις φαντάζονται των ενυπνίων). Die Erw hnung der Traumbilder sowie der Bereich der Wahrtr ume — Einzelsituationen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft — (und auch alle unsere Erfahrungen ber das Tr umen) zeigen, da mit der T tigkeit des Logistikon im Schlaf nicht ein methodisches rationales Denken gemeint sein kann; auch der besonnene Mensch kann nur m glichst g nstige Bedingungen f r W hrtr ume schaffen. Da Platon hier als Subjekt des Wahrsagens das Denken des Logistikon nennt, dieses Denken rationale und intellektive T tigkeit umfa t und eine Nationalit t im strengen Sinne nicht'gemeint sein kann, mu es wiederum eine besonders erfolgreiche intellektive T tigkeit am Einzelfall sein, die hier mit der Nennung des Logistikon beschrieben wird.69 3. Im Dialog Menon untersucht Platon die Frage, ob die Tugend und das richtige praktische Handeln durch die Naturanlage (φύσις), die gew hnende Erziehung (τροφή) oder durch rationale Unterweisung (als τέχνη bzw. επιστήμη) erreichbar sind. Da die Faktoren als Bedingungen von Arete jeweils absolut gesetzt werden, droht dieser Dialog in der Aporie zu enden (im 6. und 7. Buch der Politeia wkd dagegen das Zusammenspiel dieser Komponenten zum Erwerb der Arete eindringlich vorgef hrt). Am Schlu des Dialogs kommt es jedoch zu einem Vorschlag, der zumindest die historischen Gegebenheiten erkl ren soll.70 Es wird als empirisches Faktum festgehalten, da es tats chlich gute B rger gegeben habe. Da diese ihre Tugend nicht weitergeben konnten, h tten sie kein Wissen (επιστήμη) von der Tugend gehabt, aber, da ihr Erfolg .auch nicht blanker Zufall gewesen sei (τύχη),.sei zumindest die wahre Meinung (δόξα αληθής) die Lenkerin ihrer Handlungen gewesen. Sie unterschieden sich darin in keiner Weise von den Mantikern und Dichtern, die ebenfalls viele sch ne Dinge richtig machten (πολλά και μεγάλα κατορθοϋσιν), ohne ein Wissen von dem Getanen zu haben, und seien ebenso wie diese g ttlich und gottbegeistert zu nennen (φαΐμεν αν θείους τε είναι και ένθουσιάζειν). Die.se Erkl rung des richtigen Handelns, die oft nur als Ironie verstanden wird, obwohl anderej unverd chtige Stellen bei Piaton hnliches sagen,71 kehrt in berraschend hnlicher Wortwahl im Kapitel 8,2 der Endemischen Ethik wieder. 69
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Es ist nicht gemeint, da in solchen F llen die Ratio berhaupt keine Rolle spielt; sie ist nur nicht methodisch kontrolliert t tig, genauso wie wir in der durchschnittlichen Wahrnehmungserfahrung, z. B. wenn wir sagen «ich sehe einen fisch», von Farbunterscheidungen ausgehend, unvermerkt, nicht methodisch und bisweilen nicht nachvollziehbar eine ganze Reihe von Schl ssen ziehen und insofern die Ratio — partiell, nicht im strengen Sinne — beteiligt ist. Men. 99 al ff. . Vgl. o. S. 47 f. und Anm. 27. Wenn in Men. 99 a8 gesagt wird, die betroffenen Menschen h tten νουν μη έχοντες richtig gehandelt (genauso Men. 99 e6: άνευ vo ), so ist νους hier, wie bei Platon oft (vgl. G.J ger: «NUS» in Platons Dialogen, G ttingen 1967, 13-22), nicht im.Sinne von Intellekt, sondern von Ratio, d. h. der F higkeit, ber das Getane genau Rechenschaft ablegen zu k nnen, gebraucht, wie die inhaltlich parallelen. Formulierungen in Men/ 99 c4 (ϊσασι ουδέν) und d5 (μηδέν είδότες)" zeigen. Sokrates vergleicht zudem die angesprochenen Politiker mit einem Philosophenherrscher, der die anderen ber das Gute belehren k nnte. Zu ihm verhalten sie sich wie die Schatten zu dem wirklichen Ding, das den Schatten wirft (Men. 99 e4-100 a7). Das ist schon ganz die Sprache der Politeia, mit der dort die Wissenden von den Meinenden unterschieden werden, vgl. z. B. R. 506 c6-c9> wo Sokrates von den richtigen Meinungen spricht, denen eine rationale Begr ndung fehlt (αϊ δνευ επιστήμης δόξαι). Die Erkennenden nennt er dann οι άνευ vo αληθές τι δοξάζοντες. Ein richtiges Meinen ber , usw. aber mu , wenn es nicht rational gegr ndet ist, aus einer unmethodischen Anwendung des Intellektes am Einzelfall hervorgehen.
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Dort untersucht Aristoteles das Ph nomen, da es Menschen gibt, die, ohne Wissen und Kunstfertigkeit (επιστήμη) zu haben, auf einem Gebiet dennoch so h ufig erfolgreich sind (ως επί το πολύ)72, da der Zufall (τύχη) nicht die Ursache sein kann. Ohne Ratio sind sie vielfach erfolgreich (άφρονες γαρ οντες κατορθοΰσι πολλά,73 also ganz dieselbe Problematik und Wortwahl wie im Menori). Aristoteles nennt diese Personen gl cksbeg nstigt (ευτυχείς) im Sinne von naturbeg nstigt (ευφυείς); die Naturbeg nstigung nennt er in der Nikomacbischen Ethik sogar auch g ttliche Zuteilung (θεία μοίρα,74 wie der Enthusiasmus oft auch bei Platon hei t). Aristoteles geht nun noch einen Schritt weiter als Platon im Menon und nennt in EE 1248a24ff. das seelische Verm gen, das f r diese nichtrational erzielten Erfolge verantwortlich ist: το δε ζητούμενον τοΰτ' εστί, τίς ή της κινήσεως αρχή εν τη ψυχή; δήλον δη ώσπερ εν τω όλω θεός καν έκείνφ. κινεί γαρ πως πάντα το εν ήμΐν θείον λόγου δ' αρχή ου λόγος, αλλά τι κρεΐττον· τί ούν αν κρεΐττον και επιστήμης εΐη πλην θεός; ή γαρ αρετή του νου όργανον, και δια τούτο, δ οι πάλαι έλεγον, ευτυχείς καλούνται οι αν όρμήσωσι κατορθοΰσι άλογοι οντες, και βουλεύεσθαι ου συμφέρει αύτοϊς. έχουσι γαρ αρχήν τοιαύτην ή κρεΐττον του νου και της βουλεύσεως (οι δε τον λόγον τούτο δ' οόκ έχουσι) και ενθουσιασμό ν. τούτο δ' ου δύνανται* άλογοι γαρ οντες έπιτυγχάνουσι.75 Und dieses ist ja die Frage, welches der in der Seele befindliche Anfang der Bewegung ist. Es ist nun klar, da , wie ein Gott im Universum (sc. Anfang der Bewegung ist), so auch in der Seele (sc. ein Gott Anfang der Bewegung ist): Denn in gewisser Weise bewegt alles (sc. in uns). Anfang des rationalen Denkens ist also nicht das rationale Denken, sondern etwas St rkeres. Was d rfte demnach wohl st rker sein als rational abgesicherte Erkenntnis au er einem Gott (d. h. <dem G ttlichen in uns>)? (sc. Jedenfalls nicht die Tugend.) Denn die Tugend ist (sc. nur) Werkzeug des Intellektes76
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EE 1247 b27-b28. EE 1247 a4. EN 1099 b9-b25 und 1179 b20-b23. Text nach P.J. van der Eijk: Divine Movement and Human Nature in Eudemian Ethics 8,2, Hermes 117, 1989, 24-42. Ob mit dem θεός εν έκείνφ der menschliche Intellekt gemeint ist (wie es meine bersetzung vorschl gt), ist umstritten, aber fiir das Folgende nicht relevant. Entscheidend ist, da eindeutig das 0£tov εν ήμΐν, der menschliche Intellekt, als Ursache der Treffsicherheit und des Enthusiasmus benannt wird. Wie H. Seidl: Der Begriff des Intellektes (νους) bei Aristoteles im philosophischen Zusammenhang seiner Hauptschriften, Meisenheim am Glan 1971, bes. 137-161, mit vielen Textbelegen gezeigt hat, verwendet Aristoteles den Terminus νους bald im Sinne von , bald im Sinne von . Dabei kann die Wortbedeutung auch dann wechseln, wenn der Terminus νους mehrmals kurz hintereinander gebraucht wird, so da man die Verwendung jedesmal hinterfragen mu . F r diese Stelle hilft eine Textpassage aus den Problemata 'Physica weiter (Pr. 955 b22-956 alO, A. Kenny. The Aristotelian Ethics, Oxford 1978, 9 Anm. l hat, von D. J. AHan daraufhingewiesen, darauf aufmerksam gemacht). Auf die Frage, warum die Menschen im Alter eine h here (theoretische und praktische) InteUektivit t/Einsichtsiahigkeit (νους) haben, wird die Antwort gegeben, der Intellekt geh re der Seele von Natur aus an, w hrend das Wissen und die K nste erst mit der Zeit erworben seien (αί δε άλλαι έπιστήμαι και τέχναι των ύφ* ημών ποιητών είσίν, ό δε νους των φύσει). Wie die menschlichen H nde, die von Geburt an zum K rper geh ren, beim Heranwachsenden immer geschickter w rden, so entfalte der Intellekt, der von Natur aus der Seele angeh re, erst mit der Zeit seine volle Bl te. Dabei entwickle der Intellekt seine volle Entfaltung sp ter als die H nde, weil die H nde allerlei schon vorhandene Dinge als Werkzeug n tzen k nnten, die Werkzeuge des Intellektes (τα του vo δργανα) aber sp ter zu Diensten st nden als die der H nde: «Denn das Wissen ist ein Werkzeug des Intellektes; denn es ist ihm n tzlich, wie die Fl ten dem Fl tenspieler» (Εστί γαρ νοδ μεν δργανον επιστήμη· τούτφ γαρ εστί χρήσιμος, καθάπερ
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Stefan B ttner
(d. h. des ). Und deswegen werden, wie es schon die Fr heren sagten,77 gl cksbeg nstigt diejenigen genannt, die, wenn sie nach etwas streben, richtig handeln, auch wenn sie nicht rational veranlagt sind, und rational abw gend zu planen n tzt ihnen nichts. Denn sie haben einen solchen Anfang der Bewegung, der st rker ist als Ratio78 und abw gendes Planen, — die anderen aber haben die Ratio, und dieses (sc. den st rkeren Anfang) nicht — und Enthusiasmus, sind aber dazu (sc. zu rationaler Planung) nicht in der Lage; denn ohne Ratio sind sie erfolgreich. (EE 1248 24—a34) Bei gleichzeitiger Schw che der rationalen F higkeiten ist es also το εν ήμΐν θειο ν, das , das f r den h ufigen Erfolg und den Enthusiasmus der Gl cksbeg nstigten verantwortlich ist. Das steht in den Schriften des Aristoteles regelm ig f r den menschlichen Intellekt.79 Die enge thematische und terminologische Anbindung an Platon macht sehr wahrscheinlich, da wir mit der Nennung des Intellektes als spezifischen Erkenntnisverm gens beim Enthusiasmus ein Platonisches Lehrst ck vor uns haben. W hrend der Text im Menon mit der Nennung der h ufig (als Ergebnis) eintretenden wahren Meinung (δόξα αληθής) schon indirekt auf die kontinuierliche Intellektt tigkeit im Einzelfall verwies, gibt uns die Endemische Ethik in expliziter Weise dieselbe Auskunft. Eine Art des Enthusiasmus wird in den Schriften des Aristoteles am h ufigsten besprochen, n mlich der mantische Enthusiasmus.80 Aus der Beschreibung desselben kann man eventuell auch darauf schlie en, wie Platon sich den Vorgang des Enthusiasmus vorstellt; es sei angemerkt, da dieser Schlu eine mehr oder weniger wahrscheinliche Hypothese bleiben mu , da der entscheidende Text bei Aristoteles, De divinatione per somnum^ kontrovers diskutiert wird. Aristoteles spricht davon, da die Mantiker von melancholischer Natur seien, was bewirke, da sie eine extrem rege Vorstellungsgabe bes en. In bestimmten Situationen assoziierten sie viele m gliche Folgevorstellungen, aus denen sie dann eine der
αυλοί αυλητή). Die Tugend ist ein Habitus und somit ebenso etwas erst im Leben Erworbenes wie das Wissen und die K nste. Deshalb mu der Vorschlag in EE 1248 a29, sie k nnte etwas sein, das fr her als das ist, ebenso abgelehnt werden, wie die Annahme, die επιστήμη sei schon der Anfangspunkt der Seelenbewegung (EE 1248 a28). Wenn man die Wortbedeutung einsetzt, wird das Verst ndnis der Stelle ungleich schwieriger: «Nur ein Gott ist st rker als das Wissen, da ja schon die Tugend nur ein Werkzeug der Ratio ist, so da sie, da die Ratio aus einem Gott hervorgeht, erst recht diesem Gott untergeordnet sein mu .» Dabei w rde zudem nicht klar, wieso die Ratio fr her sein soll als die Tugend, da beide (miteinander) erworben werden m ssen. 77 Vermutlich sind die Pythagoreer gemeint, die, nach Aristoxenos, ebenfalls eine Gl cksbeg nstigung kennen, die auf Naturbegabung beruht (vgl. M.J. Mills: Τύχη in Aristoxenus, fr. 41, and Eudemian EthicV θ. 2., American Journal of Philology 103, 1982, 204-205). 78 Da νους hier mit wiedergegeben werden mu , ergibt sich aus der unmittelbar folgenden Verwendung von λόγος f r dasselbe Gemeinte, vgl. etwa auch EE 1247 a30, wo das, was vorher als λόγος und τέχνη beschrieben wurde, νους genannt wird. 79 De An. Γ5 mit GA 736 b27-b29, EN 10,7; weitere Belege bei D, Wagner: Das Problem einer theonomen Ethik bei Aristoteles, Bamberg 1970, 104 Anm. 2. Vgl. auch die gleichlautende u erung Theophrasts bei Simpl. in Ph. 964,30-965,4. Da der «st rkere Anfang» das Verh ltnis des Intellektes zur Ratio meint, zeigen auch APo, 100 b5-b!5, wo gesagt ist, da wissenschaftliche Erkenntnis (επιστήμη) nicht Prinzip'wissenschaftlicher Erkenntnis sein k nne, sondern der Intellekt (νοος) und dessen Erkennen der Prinzipien dieser Anfang (αρχή) sei, und EN 1177 b26-b31, wo Aristoteles das theoretische, intellektive Leben des Philosophen als h chste Lebensform preist (βίος κρείττων ή κατ' άνθρωπον). 80 Vgl, bes. EE 2,8; 8,2; MM 2,8; Div. Somn.
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Situation entsprechende (mit dem Intellekt)81 ausw hlten. Das alles geschehe ohne rationale Methode und nahezu zwanghaft, so da sie auch keine Rechenschaft ber ihre Visionen geben k nnten. Auf den Enthusiasmus bei wichtigen Handlungsentscheidungen bertragen, von denen ja sowohl in der Eudemiscben Ethik als auch im Menon die Rede ist, bedeutet das, da die jeweiligen Personen ihre guten und gerechten Handlungen aus m glichen Vorstellungen von der Zukunft in einer Weise, die die ganze Bedeutung der Lage erfa t, ausw hlen, ohne jedoch ber die ethischen Obers tze hinreichend Rechenschaft ablegen zu k nnen. F r den traditionellen enthusiastischen Dichter bedeutet das, da er, wenn er gut dichtet, aus dem Erfassen bestimmter Charaktere heraus sowohl die guten oder schlechten Handlungen «vorhersehen» kann, die sie ihrem Charakter gem in einer bestimmten Situation ausf hren w rden, als auch, da er erkennen kann, welches Wohl oder Wehe ihnen aus diesen Handlungen folgen wird — und dies alles, ohne da er, wie der Philosoph, formulieren k nnen m te, was das Gerechte f r sich ist und warum diese spezielle Tat gerecht oder ungerecht, gut oder schlecht ist. 4. Im Phaidros wird als vierte Art der Enthusiasmen die erotische Mania ausfuhrlich beschrieben. Sie beruht auf der Erkenntnisleistung des Wagenlenkers des Seelengespannes, des Logistikon. Der philosophische Mensch - als oberster der Liebenden - ist in der Lage, das in den Meinungen implizierte Intelligible auf das jeweils eine Intelligible f r sich (εις εν) zur ckzuf hren — und zwar ber methodische Schlu verfahren (λογισμφ), so da er dar ber auch Rechenschaft ablegen kann. Diese Erfassung des Intelligiblen nennt Platon hier Wiedererinnerung (άνάμνησις) - und wegen der rationalen Absicherung der Intellektleistung die beste aller Enthusiasmusarten (αυτή μανία πασών των ενθουσιάσεων αρίστη).82 Obwohl als Ziel der erotischen Mania das philosophische Leben beschrieben wird, umfa t sie auch die im Symposion genannten Vorstufen der Philosophie. Die im Vorfeld der besten Mania befindlichen Liebenden erkennen zwar auch mit dem Wagenlenker der Seele, dem Logistikon, aber nicht auf streng rationale Weise. Sie gleichen darin den vorhin beschriebenen Mantikern. Diese richtig Liebenden achten am sch nen Geliebten nicht auf dessen k rperliche, sondern auf dessen seelische Sch nheit. Dabei sprechen verschiedene Menschen auf verschiedene Charaktere an, so da die einen Anh nger von zeusartigen, andere von ares-, hera- oder apollonartigen Menschen sind. Haben sie solche Seelen, die zu ihnen passen, gefunden, so konzentrieren sie sich ganz auf die T tigkeiten, die dem dazugeh rigen Gott entsprechen; sie «erkennen die (sc. intelligible) Natur ihres Gottes» (άνευρίσκειν την του σφετέρου θεού φύσιν). Indem sie ihn «durch die Erinnerung (gemeint: Wiedererinnerung) erfassen» (εφαπτόμενοι αυτού τη μνήμη) - d. h. indem sie mit dem Intellekt die spezifische Eigenart, des Charakters erfassen - nehmen sie von ihm, dem Gott, her g ttlich begeistert (ένθουσιώντες εξ εκείνου) dessen Gewohnheiten und Bet tigungen an, soweit dies menschenm glich ist.83 Hier sind alle wichtigen, am Entfcl
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Da der Intellekt diese Auswahl trifft, steht nicht explizit im Text von Div. Somn. und wird auch z. B. von P. J. van der Eijk: Aristoteles: de insomniis, de divinatione per somnum, Berlin 1994, ausgeschlossen. Vgl. dazu dagegen Ver£: Die Literaturtheorie bei Platon und ihre anthropologische Begr ndung, T bingen/Basel 2000, 295 ff. Alles Phdr. 249 b6-el. Alles Phdr. 252 eS- 253 a5.
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stehen des Enthusiasmus beteiligten Komponenten genannt - erstens das Unterscheidbare, der Gott bzw. der wirkmächtige intelligible Sachgehalt,84 zweitens der aktiv und inteUektdv erkennende Mensch und drittens die aus der Größe des Erkenntnisgegenstandes folgende bedeutende emotionale Wirkung dieser Erkenntnis. Besonders hervorzuheben ist dabei die Einschränkung der Liebenden auf bestimmte Betätigungsfelder. Ihr entspricht die immer wieder, vor allem im Ion und in den Nomoi, genannte Einschränkung der enthusiastischen Dichter auf besondere Musen und damit auf besondere Charakter- und Darstellungsmöglichkeiten.85 Auch in der Poltieia sagt Sokrates, daß Dichter und Schauspieler nur in speziellen Dichtungsgattungen dichten bzw. auftreten.86 Die Sonderbegabung der Enthusiasten grenzt :sie von den sich auf viele einzelne Erfahrungen berufenden Empirikern ( ) ab, denen wie den Enthusiasten die Begründungsfahigkeit für ihr Handeln fehlt und die sich ebenfalls auf Meinungen stützen. Sie unterscheiden sich darin, daß die Erkenntniskraft der Enthusiasten sehr stark von einer Naturbegabung des Intellektes und der Vorstellungskraft abhängt, die die besondere Treffsicherheit auf ein Sondergebiet einschränkt - die Liebenden begeistern sich für ganz bestimmte, apollinische, zeusartige, artemisische usw. Charaktere, die korybantischen Tänzer werden von bestimmten Rhythmen und Melodien (dann aber gewaltig) bewegt,87 und die Dichter stellen bestimmte Charaktere mit bestimmten Ausdrucksmitteln besonders gut dar. Die ingeniösen Mantiker vertrauen allein auf ihre Naturbegabung und sind schon von daher von den Empirikern verschieden. Ein Empiriker dagegen kann sieh prinzipiell auf jedes dieser Gebiete einlassen und wird bei gleicher Anstrengung im Verhältnis zu den jeweiligen Enthusiasten einen immer gleich geringen Erfolg erzielen. Denn der Empiriker bewertet Situationen nach bestimmten Rastern und Regeln, der Enthusiast kann bestimmte Situationen auf die inteliigiblen Voraussetzungen (auch der Regeln) hin durchblicken». In der beide Male nicht streng methodischen Analyse einer Situation besteht also ein erheblicher gradueller Unterschied. Das bedeutet nicht, daß ein Enthusiast nicht auch Erfahrungen sammeln kann oder soll. Im Gegenteil wird gerade jemand, der eine Sonderbegabung hat, neue Erfahrungen auf seinem Gebiet besonders schnell richtig einordnen können. Vor allem für das richtige ethische Verhalten, aber auch für den Philosophen und den Dichter ist das richtig einordnende Sammeln von Erfahrungen von großer Bedeutung. Als ein Dichter, der nicht auf diese Sonderbegabungen eingeschränkt ist, kommt, so Sokrates am Schluß des Symposion, nur eine Person in Frage, die über gute und schlechte Seelen auch rationales Wissen hat und daher mit wirklicher Kunstfertigkeit ( ) dichtet.88 Platon denkt hier vermutlich an sich selbst. . 84
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Die Hierarchie der Götter und die der Intelligibilia ist identisch. Vgl. bes. Sph. 248 e6-249 d5, wo den* inteliigiblen Sachgehalten Leben, Seele und Denken zugesprochen wirdi Proklos (Gommentarium in Platonis Parmenidem, Hildesheim 1961, Nachdruck von Paris 1864, 907,13-908,5) kombiniert drei Platonstellen, um die Identität von Göttern und Ideen nachzuweisen: \ Alle Ideen ruhen ( ), Prm. 132 dl-d2; 2. Alles, was .ruht, verhält sich'bezüglich desselben immer in derselben Weise, Sph. 249 bl2-cl> 3. Alles, was sich bezüglich desselben immer in derselben Weise verhält, ist das Göttlichste, Plt. 269 d5-d6. Also sind die Ideen das Göttlichste. Vgl. auch Smp. 211 e3: die Idee des Schönen ist das göttliche Schöne selbst ( ) u. ö. Ion 534 b7-c5, 536 a7-d3, Lg. 700 a7-70! b4. R.395al-b7. · . Zu den Korybanten bei Platon vgl. I. M. Linforth: The Corybantic Rites in Plato, Univ. of Calif. Publ. in Class. Phüology, Bd. 13, 1946, Nr. 5, 121-162. Smp.223d3-d6.
Psychologie und Poetik bei Platon
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Fa^it Wenn man zusammenfa t, was Platon ber den Enthusiasmus der traditionellen Dichter sagt, erweist sich das Gesagte als durchaus ernstgemeintes Lob der traditionellen Dichtung, sofern die Dichter bestimmte Charaktere mit Hilfe ihres Intellektes - 2war nicht in einer im strengen Sinne rationalen, so doch in einer ber ein blo es Schematisieren einzelner Erfahrungen weit hinausgehenden Weise — erfassen und so in der Lage sind, die Handlungen dieser Charaktere und das Wohl und Wehe, das aus diesen Handlungen folgt, richtig darzustellen.89 Der Enthusiasmus gr ndet somit nicht in einem irrationalen, sthetischen Gefuhlsverm gen, das entscheidende Bewertungskriterium f r die Qualit t von Dichtung ist beim Enthusiasmuskonzept ebenso wie beim Mimesiskonzept der Erkenntnisgehalt, den der Dichter in die Dichtung hineinzuformulieren in der Lage ist. Mit Mimesis ist im 10. Buch der Politeia nicht dichterisches Darstellen berhaupt und auch nicht die dramatische Darstellungsweise gemeint, sondern dasjenige Darstellen, das meint, allein an Menschen der empkischen Welt und den Vorurteilen des Common sense die Kriterien f r gute und schlechte, gl ckliche und ungl ckliche Charaktere ablesen zu k nnen, und das dabei sowohl unkontrolliert und f r Fehler in der Darstellung anfallig als auch nicht dazu imstande ist, reine und vollendete Charaktere, die Platons Ansicht nach im Mittelpunkt der Dichtung stehen sollten, zu entwerfen. Die traditionelle Dichtung wird also gem ihrem Erkenntnisgehalt bald als gut, bald als schlecht bewertet, die neue, philosophische Dichtung der Tradition insgesamt vorgezogen. Das Enthusiasmuskonzept ist somit mit dem Mimesiskonzept vereinbar. Wenn dies so ist, mu einerseits das Verh ltnis von Pkton zu Aristoteles und Plotin, deren Poetik bzw. Lehre vom Sch nen man gerne als Polemik gegen Platons Mimesiskonzept versteht, neu berdacht werden, andererseits mu Platon selber als Vertreter einer weitgehend konsistenten Psychologie und Poetik ernster genommen werden, als es gew hnlich zu geschehen pflegt.
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Platon h lt die Dichter nicht in allen ihren Werken oder allen Abschnitten eines Werkes f r enthusiastisch. Die traditionelle Dichtung zu lesen, ist f r einen Rezipienten also immer risikobehaftet, oder, um es mit den Worten des Atheners in den Nomoi zu sagen, «jeder (sc. dieser Dichter) sagt zwar Vieles auf sch ne Weise, Vieles aber auch wieder nicht» (πολλά μεν έκαστον τούτων είρηκέναι καλώς, πολλά δε και τουναντίον, Lg. 811 b2-b3). In den Nomoi konkretisiert Platon daher die Bestimmungen der Politeia dergestalt, da er den Athener manche der traditionellen Werke ganz bernehmen l t (am ehesten ist hier an die Lyrik zu denken, z. B. Elegien Solons, Oden Pindars, berhaupt an traditionelle Hymnen und Enkomien); manche werden von diesem f r weiterverwendbar gehalten, wenn sie nach den τύποι f r Dichtung verbessert werden, f r manche Werke gjbt es nicht einmal diese M glichkeit (Lg. 802 bl -c4). Homer hat damit, bei aller Wertsch tzung, die Platon im einzelnen f r ihn hegt, als erzieherisches Paradigma ausgedient. Seine autoritative Geltung wird durch die der (philosophisch gepr ften) Dichtung nach dem Muster der platonischen Dialoge ersetzt (Lg. 811 c3-812 a3). Das bezieht sich weniger auf die Form des Dialoges als auf die Einhaltung der geforderten Darstellungsrichtlinien; so ist z. B. die fortlaufend erz hlende Schilderung bewundernsw rdiger Taten der Urathener das Ziel des Kr ias (μεγάλα και θαυμαστά έργα, Tu 20 e4-e5), der somit als Fragment eines Prosaepos zu verstehen ist.
ROMAN DILCHER Die Einheit der Aristotelischen Rhetorik
Aristoteles eröffnet seine Abhandlung über die Redekunst mit der Bestimmung, daß die Rhetorik, ebenso wie die Dialektik, von allgemeinen Formen des Argurhentierens handele, mit denen jedermann vertraut sei und in gewisser Weise umgehe. Für diesen alltäglichen Umgang mit dem Logos, der planlos oder durch Gewohnheit geleitet vonstatten gehe, ließen sich nun auch die Ursachen des Erfolgs ausfindig machen; und dies sei die Aufgabe der rhetorischen Technik, die auszumessen Aristoteles sich anschielet. Doch anstatt, wie er es gemeinhin hält, mit Wohlwollen die bislang erreichten Einsichten auf diesem Feld aufzugreifen und zu diskutieren, ergeht Aristoteles sich zunächst in einem Angriff gegen "die Redelehrer, der an Schärfe der platonischen Kritik kaum nachsteht. Die «Techniker» hätten nur den geringsten Teil der Theorie ausfindig gemacht, da sie das Enthymem, die spezifisch rhetorische Argumentationsforrn, nicht behandelt hätten. Statt dessen beschäftigten sie sich mit nicht zur Sache Gehörigem, nämlich vor allem mit der Frage der Affekterregung. Der Richter solle so verwirrt und von der rechten Beurteilung des Sachverhaltes abgelenkt werden. Es schließen sich Überlegungen über· die rechte Gesetzgebung an, die diesen Widersinn durch strenge Ausrichtung auf die anstehende Sache, nämlich ein gerechtes Urteil zu fallen, möglichst ausschließen solle. Entgegen der Erwartung arbeitet Aristoteles nun jedoch keine streng an der Sache orientierte Theorie der Argumentationsformen aus, die entschlossen die affektive und unsachliche Seite des Überredens hintansetzt. Vielmehr macht er sogleich deutlich, daß zur Rhetorik nicht minder als die argumentative Darlegung des Sachverhaltes auch das überzeugende Auftreten des Redners und die Affekterregung gehören. Diese drei Grundbestimmungen geben die Gliederung des Hauptteiles der vorliegenden Rhetorik vor.· Ihnen wird offensichtlich gleicher Rang eingeräumt. Wie konnte Aristoteles also die soeben noch als unsachlich verworfenen Seiten der Rhetorik zulassen, und nicht nur zulassen, sondern sogar zum Gegenstand der theoretischen Betrachtung machen? An dieser Frage entlang bewegt sich seit langem die Diskus*· sion um die innere Einheit der aristotelischen Rhetorik. Die radikalste Antwort wurde durch die entwicklungsgeschichtliche These geliefert, indem die Rhetorik in chronologisch unterschiedene Schichten gesondert und das Problem kurzerhand in eine gedankliche Reifung des Aristoteles aufgelöst wurde. * In einer frühen, noch platonisierenderi Phase habe Aristoteles eine strenge, sachorientierte Auffassung der Rhetorik vertreten; später habe er dann zunehmend ihrem «empirischen» Zustand Aufmerksamkeit geschenkt und so auch die unsachliche Seite aufgenommen.
Friedrich Solmsen, Die Entoicklung der aristotelischen Logik und Rhetorik* Berlin 1929, S. 208 ff.
Die Einheit der Aristotelischen Rhetorik
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Doch auch ohne die mittlerweile aufgegebene entwicklungsgeschichtliche Hypothese zeichnet sich in dieser Richtung ein Konsens ab: Zu Beginn habe Aristoteles eine ideale Rhetorik vor Augen gestanden, wie sie allein in einer idealen Staatsverfassung betrieben werden könne. Nur dort sei es möglich, in einer Art idealen Kommunikationsgemeinschaft, den leidenschaftslosen Diskurs der Vernünftigen zu pflegen. Auf die sachfremden Mittel der Beeinflussung könne darum verzichtet werden, und nur das Enthymem als eigentliches Überzeugungsmittel im engeren Sinne werde gebraucht. Gegenüber dieser Rhetorik wie sie sein solle, trage Aristoteles hingegen im Fortgang der Abhandlung dem tatsächlichen Zustand Rechnung und habe daher, wie die Erfahrung es nahelege, auch die Selbstdarstellung des Redners und die Affekterregung als Überzeugungsmittel im weiteren Sinne zugelassen. Er habe eingesehen, daß die Rhetorik andernfalls, unter realistischen Bedingungen, zur Erfolglosigkeit verurteilt sei.2 Diese Erklärung läßt sich freilich nur um den Preis aufrechterhalten, daß man die ausdrücklich behauptete Dreiheit und Gleichrangigkeit der Überzeugungsmittel ignoriert.3 Eine Abstufung der drei Mittel in «eigentliche» und «uneigentliche» ist im Text nicht zu finden. Doch schlimmer noch: was soll man von einer Verteidigung der Rhetorik halten, die deren charakteristische und in die Augen stechende Eigenschaften für ein bloßes Zugeständnis an die unverbesserliche Realität ausgibt? Die Theorie wkd zwangsläufig eben jene Realität verfehlen, die sie doch begreifen soll. Die aristotelische Lösung wäre so eine Halbheit zwischen Platon und den Sophisten, nicht aber deren gedankliche Vermittlung. Ein alternativer Vorschlag lautet, die Diskrepanz durch die aristotelische Unterscheidung von technischen und untechnischen Beweismitteln zu erklären.4 Der Kritik würde demnach nur die untechnische, und das heißt nicht durch die Rede selbst hervorgebrachte Affekterregung unterzogen, wie etwa die im griechischen Gerichtswesen geübte Praxis, die Richter durch Vorführung der klagenden Angehörigen zu einem milden Urteil zu bewegen. So bestechend diese Lösung sich auf den ersten Blick ausnehmen mag, wäre dies doch eine Verzeichnung der voraristotelischen Theorie, deren Bemühen doch gerade der Seelen2
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So in ausführlicher Darlegung Jürgen Sprute, Die Entbymemtheorie der aristotelischen Rhetorik, Göttingen 1982, Kp. I, und nochmals «Aristotle and the Legitimacy of Rhetoric», in: David Furley/Alexander Nehamas (Hg.), Aristotle's Rhetoric, Proceedings of the twelfth Symposium Aristotelicum, Princeton 1994. Ähnliche Erklärungen bieten E. Schütrumpf, ebendort; G Reeve, «Philosophy, Politics, and Rhetoric in Aristotle», in: Essays on Aristotle's Rhetoric, hg. v. A. Rorty, Berkeley & Los Angeles 1996; Antje Hellwig, Untersuchungen ?ur Theorie der Rhetorik bei Platon und Aristoteles, Göttingen 1973, S. 108; und bereits Cope/ Sandys, The Rhetoric of Aristotle, Cambridge 1877,1 S. 6, S. 29. Trotz ihrer Bemühung, Ethos und Pathos größeres Gewicht zu verleihen, bleibt auch Mary McCabe im Grundsätzlichen bei dieser Auffassung, wenn sie das Technische der Rhetorik am Ende doch nur in einem «formal account of argument» sieht, dem die «Kontextualisierung»' durch Berücksichtigung der Seiten des Redners und Hörers - «to save the phenomena» - zur Seite steht («Aristotle's Defense of Rhetoric», in: Furley/Nchamas, S. 164). Da Aristoteles jeweils nach Zusammenhang die Bedeutung eines der Überzeugungsmittel besonders hervorhebt, ist es nicht angängig, die verschiedenen diesbezüglichen Äußerungen gegeneinander auszuspielen. Während der Nachdruck zunächst auf dem Enthymem liegt, welches als Körper der Glaubhaftmachung, (1354 a!5), ja als eigentlicher und hauptsächlicher Überzeugungsgrund, (1355 a7), bezeichnet wird, heißt es später, die Rechtschaffenheit des Redners bewirke schlechthin am meisten (1356 a6ff.), das Ethos besitze die hauptsächliche Überzeugungskraft, (al3). Schließlich wird auch dem Pathos der entscheidende Anteil an der Überzeugung zugeschrieben (1377 b32). So Brunschwig S. 87 f., Cooper S. 194 £ (beide in Furley/Nehamas, op. dt.), und bereits D. Ross^w/o//?, London 1923, S. 270.
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lenkung durch die Macht des Logos galt.5 Durch diese Deutung wäre wiederum die Herausforderung, vor die die sophistische Rhetorik die Philosophie stellt, ebenso wie die Entschiedenheit der platonischen Zurückweisung unterschätzt. Man könnte nun freilich den kritischen Auftakt für sich belassen und ihn der angeblich flüchtigen Machart der aristotelischen Schrift zuschreiben6 oder gar in ihm eine selbst nur «rhetorische» Anpreisung erblicken, mit der Aristoteles seine eigenen Verdienste um die Enthymemtheorie vor dem athenischen Publikum habe herausstreichen wollen.7 Doch nicht ohne Grund hat die scheinbare Diskrepanz des ersten Kapitels zu dem weiteren Gang der Abhandlung die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Läßt man sie unverstanden durchgehen, so erläßt man es sich zugleich, sich von der gedanklichen Konzeption der aristotelischen Rhetorik Rechenschaft zu geben. Erst indem die Kritik sowohl an Platon wie an der üblicherweise betriebenen Rhetorik nachvollzogen wird, gewinnt die aristotelische Konzeption als philosophisch durchdachte Begründung an Kontur. Im Problem der textlichen Einheit liegt daher die Frage nach dem Sinn der Rhetorik. Die gegenüber der wissenschaftlichen Verpflichtung auf Wahrheit Zwielichte Stellung der Rhetorik, die naheliegende Möglichkeit des Mißbrauchs, ihre Nähe zum bloßen Wortzaubef verfangen nach einer durchdachten Antwort. Eine philosophische Begründung der Rhetorik, die nicht dieser anscheinenden Unsachlichkeit einen Sinn abgewinnen kann, ist keine.
Im. Gegenzug gegen die planlose oder bloß auf Gewohnheit beruhende Ausübung der Rhetorik, die er bislang vorherrschen sieht, geht Aristoteles daran, sie als genuine zu begründen. Er stimmt also der platonischen Kritik, die Rhetorik sei kein rechtes Wissen, insoweit zu, als die bisherige theoretische Bemühung betroffen ist, jedoch nicht im Grundsatz. Darum ist zunächst geboten, zu verstehen, was dieser Schritt bedeutet. Die ist für Aristoteles, allgemein gesprochen, eine eigenständige Art des Sich-Auskennens und Wissens, und zwar eine solche, die auf ein Hervorbringen ( ) abzielt.8 Ihren Ursprung hat sie in der Erfahrung ( ), aus welcher sie langsam hervorwächst. Aus Kenntnis vieler Einzelfalle weiß der Erfahrene, wie sich dies und wie sich jenes.ausgewirkt hat, und in diesem Sinne hat er bereits Wissen. Jedoch verbleibt das Erfahrungswissen auf der Stufe des Einzelnen und der Anwendung. Erst sobald sich die Einzelfalle zu einer allgemeinen Vorstellung zusammenschließen, ist das technische Wissen erlangt. Der Arzt z. B., der darüber verfügt, hat einen Begriff von der Gesundheit. So kann er die verschiede-1 nen Einzelfälle auf ein bestimmtes Kränkheitsbild zurückfuhren, über dessen ursächliche 5
Gorgias. - Bei Einfuhrung des Pathos als technischem Überzeugungsgrund vermerkt Aristoteles sogleich, daß nur dies von den bisherigen Redelehrern berührt worden war (1.2, 1356 a!6f.). 6 So fuhrt etwa George Kennedy die Diskrepanzen auf den «haphazard way the chapters on pathos and ethos are integrated into the whole» zurück (Anstatt*, OnRheforic, Oxford 1991, S. 299 f., S. 303); J. Barnes läßt die Schrift gar nur als Fragmente zu drei verschiedenen Künsten gelten .(«Rhetoric and poetics», in: The Cambridge Companion to Aristotk, hg. v. dems., Cambridge 1995, S. 259 ff.). 7 So G.Most (in Furley/Nehamas, op. cit. S. 188); ähnlich bereits Jakob Wisse, Ethos and Pathos from Arisiotle Cicero, Amsterdam 1989, S. 74; Hellwig, op. cit. S. 49. 8 Für das folgende s. EN VI 4 und Met. I 1.
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Zusammenh nge er Rechenschaft geben kann. Mit einem Wort, die τέχνη hat es nicht mit dem Einzelnen, sondern dem Typischen zu tun, dessen Ursachen sie kennt;9 im Unterschied zur Erfahrung verf gt sie ber den λόγος und kann daher ihr Wissen weitergeben und lehren. W hrend die τέχνη der Erfahrung dieses Mehr an Wissen voraushat, unterscheidet sie sich jedoch hinsichtlich der Aus bung von ihr kaum. Der Techniker kann sogar hinter dem Erfahrenen zur ckstehen, wenn ihm die bung und der h ufige Umgang mit den Einzelf llen abgeht.10 Dem technischen Wissen des Allgemeinen eignet daher eine gewisse Abst ndigkeit von der konkreten T tigkeit, die stets dem einzelnen Fall gilt. Das ausweisbare Wissen wird erst dann zu einer erfolgreichen und unter Umst nden verbesserten Aus bung f hren, wenn es mit der Erfahrung zusammengeht. Diese Bestimmungen der τέχνη als des Wissens um die Ursachen sind nun im weiteren im Auge zu behalten. Denn um eben diesen Schritt aus der Erfahrung zum genuinen Wissen geht es Aristoteles offenkundig in der Rhetorik. Nicht vermeint er, einen g nzlich neuen Sachzusammenhang allererst zu entdecken; denn die Sache der Rhetorik ist ja in gewisser Weise bereits jedermann vertraut. Noch weniger will er sich vermessen, aufgrund berlegenen Wissens die erfahrenen Redner in die Schranken zu weisen.11 Vielmehr gilt es, deren T tigkeit des berzeugenden Redens auf die wi baren Gr nde hin zu untersuchen und seine Ursachen herauszuheben. Daher betont Aristoteles durchweg den Wissenscharakter der gesuchten Technik.12 Die bisherigen Bem hungen der Rhetoriker werden nicht deswegen so scharf bem ngelt, weil sie in der Aus bung ihr Ziel nicht oder nur st mperhaft erreichten, sondern weil sie es nicht vermochten, ihr Erfahrungswissen zur Allgemeinheit des Ursachenwissens zu erheben und die ihm innewohnenden Gr nde als solche zu erkennen. In dieser Absicht macht sich Aristoteles daran, die Rhetorik begrifflich zu entfalten. Die Redekunst hat ihren Bereich im πείθειν, dem «Glaubhaftmachen».13 Insofern es um die Rhetorik als τέχνη geht, ist jedoch nicht das Glaubhaftmachen schlechthin ihre Aufgabe, sondern vielmehr das Erkennen des Glaubhaften (πιθανόν) an jeder Sache (1355 blO). W hrend das Ziel des Redners selbstredend ist, berzeugung schlechthin zu bewirken (so wie der Arzt Gesundheit), erschlie t sich dem technischen Wissen im Abstand von der tats chlichen Aus bung im Glaubhaften als solchen das Gebiet der Rhetorik. Dies zeigt 9 10
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So wird auch Rhet. 1356b 30 £ mit ausdr cklichem Bezug auf die Rhetorik gesagt: ουδεμία τέχνη σκοπεί το καθ' έκαστον. Met 981 a!2 ff.; ΕΝ 1141 b!7 £ Gegen die Aristoteles sich wendet, sind nicht die «Rednen> schlechthin, sondern die Techniker, oi τάς τέχνας των λόγων συντιθέντες, 1354 al2, οί τεχνολογοΟντες 1354 bl7; b26; 1355 a!9; 1356 a!7. Ausdr cklich zeigt sich dies daran, da die Rhetorik zuweilen als επιστήμη bezeichnet wird, Rhet. 1355 b!9; b32; Top. 1.3,101 blO. Dies in dem Sinne, wie Aristoteles allgemein von der herstellenden Wissenschaft, επιστήμη ποιητική, spricht (Met. VI l, 1025 b; XI 7, 1064 a). - Dem widerspricht nicht, da Rhetorik und Dialektik in Absetzung vom sachgegr ndeten wissenschaftlichen Wissen im eigentlichen Sinne nur als δυνάμεις τινές τοο πορίσαι λόγους (1356 a32£) gelten d rfen; wor ber unten mehr. Dieser juristische Terminus (der ja einer genuin rhetorischen Situation entstammt) trifft den Sinn am ehesten, da er gegen die g ngige Alternative der neuzeitlichen Sprachen (« berredung» oder « berzeugung») gleichg ltig bleibt Man siehe etwa Platons m hsamen Versuch, das πείθειν in diese beiden, in etwa dem Deutschen entsprechenden Bedeutungen aufzuspalten, Gorg. 454 de. Die in W rterb chern anzutreffende Auseinanderhaltung verfehlt daher den Sinn des griechischen Wortes (z. B. LSJ s. v., AI «persuade, usually by fair means», II «in bad sense, talk over»J. Zum semantischen Zusammenhang vgL auch A. Mourelatos, The Route of Pament st New Haven, London 1970, S. 136f£
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sich am deutlichsten daran, da Aristoteles neben das Glaubhafte auch das nur scheinbar Glaubhafte (το φαινόμενον πιθανόν) stellt, das durch einen Fehlschlu erzeugt wird, - ein Unterschied, der der anwendungsbezogenen Perspektive, der am Ergebnis im berzeugtsein der H rer gelegen ist, gleichg ltig bleiben mu . Damit ist das Glaubhafte als eine eigene Sachqualit t umrissen, welche an jedem beliebigen Gegenstand gefunden werden kann und, insofern sie jeglichem erfolgreichen Glaubhaftmachen zugrunde liegt^ damit das Sachgebiet der Rhetorik darstellt. Aus dem Begriff des Glaubhaften flie t nun alles Weitere. Drei Formen der GJaubhaftmachung, των πίστεων τρία είδη (1356al), unterscheidet Aristoteles: von Seiten des Redenden das Ethos, das das glaubw rdige Auftreten ausmacht; von Seiten der H rer das Pathos, die dem Argument g nstige Stimmung; und schlie lich den Logos als das berzeugende an der vorgebrachten Sache selbst. Diese drei «Formen» d rfen nun keineswegs als blo e Aufz hlung von « berzeugungsmitteln» (wie die schiefe bersetzung von πίστις meistens lautet) verstanden werden. Die mannigfache Bedeutung des zentralen Wortes πίστις hat oft Verwirrung gestiftet, insofern damit bald die T tigkeit des Glaubhaftmachens bezeichnet ist, bald das «Mittel», wekhes eingesetzt wird, bald das erzielte Ergebnis im berzeugtsein der H rer.14 Oft l t sich die «genaue» Bedeutung nicht festlegen. Dies kann nun kaum verwundern, wenn man den inneren Zusammenhang im Auge beh lt. Die prim re Bedeutung ist die des Vertrauens in etwas oder jemanden, und erst von daher auch dasjenige, was Vertrauen stiftet.15 Dieses Vertrauenstiftende kann allein in einem abgeleiteten Sinn als « berzeugungsmittel» aufgefa t werden, insofern der Redner durch seine Rede und mittels ihrer kunstgem en Gestaltung berzeugung schafft. Die drei «Formen» bezeichnet Aristoteles hingegen durchg ngig und geradezu formelhaft als das Woher oder Woraus der Glaubhaftmachung (εξ ων, όθεν oder hnlich)16, also als urs chlichen Herkunftsbereich, woraus das Glaubhafte entsteht und woher der Redner seine berzeugungskraft bezieht. Die g ngige bersetzung der drei Formen der πίστις durch « berzeugungsmittel» verk rzt mithin die aristotelische Konzeption zu einem blo instrumenteilen Zusammenhang. Anstelle von Einsicht in die Sache des Rhetorischen wird die τέχνη als Arsenal von anzuwendenden Mitteln verstanden, sie wird also wieder auf jenes erf hrungsgebundene Niveau des angewandten Wissens herabgesetzt, wor ber Aristoteles sie. erheben wollte. Eines Mittels kann man sich bedienen oder auch nicht bedienen (und man k nnte etwa auf das Mittel der Affekterregung aus moralischen Gr nden verzichten). Doch was Aristoteles hier als είδη bezeichnet, ist offensichtlich in einem grundlegenden Sinne gemeint. Zur Begr ndung des technischen Wissens ist erforderlich, die ersten Ursachen anzugeben, die am Zustandekommen der Sache beteiligt sind, und um diese Ursachen der Glaubhaft-» machung handelt es sich hier. Aristoteles stellt nicht die m glichen und gebr uchlichen Arten, berzeugung zu erreichen, billigend nebeneinander, sondern er versucht, an der rhetorischen Situation selbst die konsumtiven Momente herauszuheben. Die zugrundeliegende Einsicht wird ein wenig sp ter ausgesprochen. Der λόγος, so hei t es zusammenfassend, setze sich aus dreierlei zusammen, aus dem Redenden, dem Wor ber der Rede und dem, an den sich die Rede wendet: σύγκειται μεν γαρ εκ τριών ό *4 Vgl. Sprute, Entlymemtheorie S. 59 ff. 15 Vgl. LSJ. s. v.: I «trust, faith» etc.; II «that which gives confidence». 16 1358 al; 1365 b!9; 1366 a!8; 1368 a33, bl, b25; 1377 bl; 1388 b29; 1403 bl; 1419 bl8.
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λόγος, εκ τε του λέγοντος και περί ου λέγει και προς ον (1.3, 1358 a37). Unter dem λόγος ist hier zun chst nicht die Rede als Wortgebilde .gemeint, sondern im weiteren Sinne die rhetorische Situation im Ganzen. Rede ist nicht denkbar ohne den, der die Rede h lt, ohne die Angelegenheit, ber die er redet, und ohne die jeweilige Zuh rerschaft, an die er sich richtet Unschwer lassen sich in dieser Struktur die bekannten aristotelischen Ursachen wiederfinden. Vom Redner geht die Herstellung aus, in ihm liegt somit das Woher der Bewegung. Er hat das Ziel, sein Publikum von einer bestimmten Sicht der Sache zu berzeugen. Die gegebene, in der Situation vorausgesetzte Angelegenheit, ber die verhandelt wird, mu als das ύποκείμενον gelten, an dem die τέχνη ausge bt wkd. Das Wor ber der Rede l t sich so genauer als die stoffliche Ursache bestimmen, an der das είδος, n mlich das Glaubhafte, hervorgebracht wird. Dieses bestimmt sich aus dem τέλος, welches (wie ausdr cklich 1358bl festgestellt) im H rer liegt. Das berzeugtsein der Zuh rer ist mithin das Worumwillen der gesamten Bewegung, das herzustellende έργον, das der Redner in Blick nimmt und woraufhin er seine Rede verfertigt. Die drei Formen der Glaubhaftmachung sind nun offenkundig aus dieser Dreifalt der rhetorischen Situation abgeleitet. Der λόγος im engeren Sinne, die eigentliche Rede, mu aus diesem Spannungsfeld, in dem er sich entfaltet, verstanden werden. Die Rede ist durch diese dreifache Hinsicht gepr gt, insofern jedes der Momente in sie Eingang findet und f r ihre Glaubhaftigkeit ausschlaggebend ist. Dies ist denn auch von der Sache her sogleich einsichtig: Wkkt die Rede von der Person des Redners her unglaubw rdig, so wird sie nicht berzeugen, auch nicht, wenn die vorgebrachte Sache unschl ssig erscheint, und ebensowenig, wenn sie an den Erwartungen der H rer vorbeiredet. Im Sinne der Begr ndung technischen Wissens sind die drei «Formen» mithin als konstitutive Ursachen der Glaubhaftmachung zu begreifen, als die wesensnotwendigen Aspekte der spezifischen Qualit t glaubhaftmachender Rede. In den ersten Kapiteln der Rhetorik sieht man Aristoteles also einen Begr ndungszusammenhang entfalten, der den Anforderungen technischen Wissens gen gen soll. Die gedanklichen Schritte sind zwar nur knapp angedeutet und nicht im Einzelnen ausgef hrt, doch sind sie hinreichend erkennbar, sobald man den methodischen Hintergrund ber cksichtigt, den Aristoteles hier wie selbstverst ndlich voraussetzt. Hat man sich einmal vom Irrglauben an den «ungenauen» Charakter der Rhetorik frei gemacht, so f llt es nicht schwer, den beraus systematischen Aufbau der aristotelischen Abhandlung wieder sch tzen zu lernen.17 Kaum ein anderes Werk ist so sehr von dem Bestreben begrifflicher Einteilung gepr gt. Dies gilt zumal von der Heraushebung der drei είδη als den urs chlichen Wesensmomenten des Glaubhaften. Gem der aristotelischen Bestimmung des Ursachenwissens wird die Glaubhaftmachung hier als ein Ganzes angesehen, das in die 17
F r die zeitgen ssische Besch ftigung mit der Rhetorik scheint vornehmlich deren Ungenauigkeit, als Alternative zur wissenschaftlichen Rationalit t, von Interesse zu sein. Die Urteile des 19. Jahrhunderts lauteten hingegen anders. So etwa Schopenhauer: «Des Aristoteles 3 B cher Rhetorik sind ein Muster von wissenschaftlicher Methode, durchweg: Die architektonische Symmetrie darin erinnert an die Kantische.* Ahnlich auch C. Brandis: «Unter allen uns aufbehaltenen Schriften des Aristoteles ist keine vollst ndiger, ebenm iger und folgerechter durchgef hrt als die Rhetorik, keine, in welcher Gedanke und Ausdruck einander mehr entspr chen. Sie ist ein Werk aus einem Gusse.» (beide Zitate bei H. NiehuesPr bsting, <«Kunst der berlistung» oder «Reden mit Vernunft)?», Phil Rasch. 37, 1990, S. 133). Nicht nur der Aristoteles-Exegese, auch der modernen Bem hung um die Sache der Rhetorik d rfte es vorteilig sein, zu jener strengeren Auffassung zur ckzufinden.
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«Teile» 2erlegt wird, aus denen es sich zusammensetzt.18 Im Hintergrund leitend bei dieser Zergliederung ist offenbar das in der Akademie gebr uchliche Verfahren der gedanklichen «Mitaufhebung» (συναναίρεσις) eines Ganzen durch die Aufhebung eines seiner Wesensmomente. Ausdr cklich wird diese Logik der gedanklichen Aufhebung von Aristoteles bei der Er rterung der Glaubhaftigkeit des Redners eingesetzt (Π.1). Dieses Moment wird abermals in drei Teile zerlegt, so da sich drei Ursachen (τρία τα αίτια, 1378 ao) f r die glaubw rdige Selbstdarstellung ergeben: Klugheit, Tugend und Wohlwollen. «T uschung», und d. h. Vereitelung der Glaubhaftigkeit, — so die berlegung — entstehe n mlich entweder durch diese drei Gr nde zusammen oder durch einen von ihnen (ή δι9 άπαντα ταύτα ή δια τούτων τι, a9 —10). Entweder sagen, die Redner Falsches aus Unverstand; oder sie sehen das Rechte wohl, sagen es aber aus Verdorbenheit nicht; oder aber, selbst wenn sie Klugheit und Tugend besitzen, geben sie aus Mangel an Wohlwollen den H rern doch nicht den besten Rat. So schlie t Aristoteles, da notwendigerweise den H rern glaubw rdig sei, wer diese drei zu haben scheine. Dar ber hinaus kann es keine weiteren Ursachen geben (και παρά ταύτα ουδέν, a!4). Entsprechend l uft der Gedanke auch beim dritten Moment des Pathos. Wiederum wird eine weitere Teilung in drei Momente vorgenommen: δει διαιρεΐν περί εκαστον είς τρία (1378 a22). Zum Zustandekommen eines Affektes ist dreierlei vonn ten, n mlich eine bestimmte Disposition zum Affekt, ein typischer Personenkreis, auf den der Affekt sich bezieht, sowie die unmittelbare Veranlassung. Die Affekterregung kann nicht gelingen, wenn nur eines oder zwei der urs chlichen Momente vorliegen (l 378 a24 f.). Eine hnliche Herleitung der πίστεις liegt, wenn auch nicht ausdr cklich vorgef hrt, auch f r die drei konstitutiven Ursachen des Ganzen der Rhetorik von In der r ckblickendeh Zusammenfassung, die Aristoteles zu Beginn des dritten Buches gibt, wird dies folgenderweise ausgesprochen: Es seien nun, d. h. in den ersten beiden B chern, die Gr nde, aus denen Glaubhaftmachung erfolge (εκ τίνων αί πίστεις έσονται, 1403b7), behandelt worden, - und zwar, da deren dreie seien, und welche drei, und weswegen nur diese drei.19 Noch einmal werden die drei Momente aufgez hlt, mit der Begr ndung, durch sie 18
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Man vgl. besonders die Bestimmungen, die Aristoteles eingangs der Physik gibt: Wissen wird auf jederlei Gebiet erlangt, indem man dessen Gr nde, Ursachen und Elemente (άρχαί ή άιτίάι ή στοιχεία, 184a2) erkennt. Zun chst ist die Sache nur in unabgehobener und mannigfaltiger Komplexit t deutlich, sie begegnet als ein Zusammengesch ttetes (συγκεχυμένον, 184 a22). Durch Zergliederung (διαίρεσις) werden nun die Gr nde sichtbar gemacht, das unabgehobene Ganze wird in seine Teile zerlegt. Es erweist sich so als ein Zusammengesetztes (σύνθετον), welches dann erkannt ist, wenn man wei , aus welchen und wievielen Bestandteilen es besteht (εκ τίνων και πόσων εστίν, 187bl2). Sobald man schlie lich die Vielfalt-eines Sachgebietes auf seine ersten Ursachen zur ckfuhren kann, ist das Weshalb (το δια τί, 194 b!9) begriffen. . Die Dihairesis wird in dieser Zerlegung nicht nach dem bekannten Schema der Gattungsbestimmung und -untergliederung gebraucht (wie etwa in der Einteilung in die drei «Redegattungen», I 3), sondern zur n heren Bestimmung eines, komplexen Ganzen durch seine είδη und μέρη (oft promiscue gebraucht). Vgl. etwa Met. V 25, Μέρος ... είς & το είδος διαιρεθείη αν (1023 bl7); ... είς α διαιρείται ή εξ ων σύγκειται το όλον (ib. 19-20). Auch eine Ursache kann Teil genannt werden (z. B. Met. VII, 1034 a25). Zum gemeinakademischen Hintergrund und dem Verfahren des συναναιρεϊσθαι s.v. H.J. Kr mer, «Aristoteles und die akademische Eidoslehre», Arcb. Gesch. Phil. 55> i 973,119-90, bes. S. 138 ff. Allgemein zum (entgegen verbreiteter Meinung) h ufigen Gebrauch der Dihairesis durch Aristoteles vgl. A. v. Fragstein, Die Dihairesis bei Aristoteles, Amsterdam 1967. 1403b9f.: δτι εκ τριών είσι, και ταύτα ποία, και δια τί τοσαυτα μόνα, dies zu vergleichen mit der in der vorigen Anmerkung herangezogenen Passage der Physik. Dieser Anspruch einer vollst ndigen
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w rden alle berzeugt: ή γαρ τω αυτοί τι πεπονθέναι οι κρίνοντες, ή τω ποιους τινας ύπολαμβάνειν τους λέγοντας, ή τφ άποδεδεϊχθαι, πείθονται πάντες (t>10-13). Die disjunktive Reihung darf nun nicht zu der Auffassung verfuhren, jedes einzelne der Momente verm ge durch sich schon zur berzeugung zu f hren. Vielmehr werden sie - denn der Satz soll ja ihre Vollst ndigkeit darlegen - durch diese Formulierung in der Weise voneinander abgehoben, da deutlich wird, da , wenn ein einziges von ihnen wegfallt, auch schon das Ganze nicht mehr sei. Die res mierende Passage gibt zugleich Aufschlu ber das Verh ltnis der ersten beiden B cher der Rhetorik zur Thematik des nachfolgenden dritten Buches, in dem vornehmlich die Lehre von der Redeweise (λέξις) und der Anordnung der Redeteile (τάξις) behandelt wird. Gegen ber dem «Woher» der Glaubhaftmachung als dem «der Natur nach ersten» (1403 b!8 f.) soll nun als «Zweites» er rtert werden, wie dieses Glaubhafte in Sprache umzusetzen sei (ταύτα τη λέξει διαθέσθαι, 1403 b20). Pr gnant wird der gesamte Gehalt der ersten zwei B cher als das «Was des Sagens» (α δει λέγειν) bezeichnet, dem nun die sprachliche Gestaltung als das «Wie des Redens» (ως δει ειπείν, 1403 blo) nachfolgt. All das, dem die traditionelle Rhetorik, vor wie nach Aristoteles, die gr te Aufmerksamkeit schenkt, wird damit gegen ber dem Glaubhaften an der Sache selbst als nachrangig begriffen. Aristoteles verkennt freilich nicht, da die sprachliche Ausgestaltung der Rede einen eigenen Faktor f r den rhetorischen Erfolg darstellt und «viel dazu beitr gt, dem Logos ein bestimmtes Gepr ge zu geben» (συμβάλλεται πολλά, 1403 b!7). «Denn auch die passende Redeweise macht die Sache glaubw rdig» (1408 a!9). Dies macht sie, indem sie die Sache besser oder schlechter verdeutlichen kann (1404 alO). Das Wie mu dem Was folgen, und aus dem so begriffenen Verh ltnis erkl rt sich, warum Aristoteles allein Klarheit und Angemessenheit als allgemeine Stilkriterien des guten Redens gelten l t (1404 bl ff.). Alle Fragen der Gliederung, Ausarbeitung und konkreten Pr sentation der Rede sind damit gegen ber dem Glaubhaften selbst abgesetzt und systematisch an es als seine Grundlage zur ckgebunden. S mtliche Anweisungen, die Aristoteles im dritten Buch gibt, m ssen daher aus diesem mehr pragmatischen Blickpunkt verstanden werden. Dies gilt auch f r die verstreuten Bemerkungen zur Verwendung der drei πίστεις, die hier - aber auch nur hier20 — als einzusetzende Gestaltungsmittel zur. Sprache kommen: so wird etwa geraten, man solle das Enthymem nicht gleichzeitig mit der Affekterregung oder der «ethischen» Gestaltung verwenden (1418 a!2f£); bei Fehlen geeigneter Beweise solle man hingegen vornehmlich «ethisch» verfahren (1418 a39f.); nach der Sachdarlegung sei es angebracht, Affekte zu erregen (1419 b 24 f.). Verkehrt w re es, diesen Bemerkungen ein systematisches Gewicht zu verleihen, das sie in Widerspruch zur einheitlichen Grundbestimmung setzte. Es zeigt sich vielmehr, wie in der Anwendung die drei Momente insofern auseinandertreten k nnen, als die Rede bald das eine, bald das andere st rker hervortreten l t. Die Zuh rer werden meistens zun chst der Person des Redners Aufmerksamkeit schenken, dann der
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Bestimmung, wofern man ihn bemerkte, ist mit Kopfsch tteln aufgenommen worden, da man einen solchen Beweis nirgends finden konnte, z, B. Sprute, Entlymemtheorie S. 66; J. Cooper, «Rhetoric, Dialectic, and ihe Passions», OSAP 11,1993, S. 176 £ Eine Ausnahme macht allein der Satz ber die N tzlichkeit des Ethos vor allem in der Volksversammlung, des Pathos vor Gericht (1377 b28—31), der sich in das zweite Buch verirrt hat. Bereits Kassel hat ihn, aus syntaktischen Gr nden, als sp tere Einf gung erkannt (Der Text der aristotelischen Rhetorik, Berlin 1971, S. 131 f.).
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Argumentation folgen, um schließlich affektivisch bewegt zu werden. Auch die typische zeitliche'Abfolge folgt also dem inneren Gefuge des rhetorischen Logos. Die innere Konsistenz einer guten Rede verbürgt, daß eines natürlich ins andere übergeht und so tatsächlich stets jedes der drei Momente präsent, wenn auch nicht eigens betont ist.
Die drei unterschiedenen Momente müssen also durchweg aus dem Ganzen der Glaubhaftmachung heraus verstanden werden, als die aus der Dreifalt der rhetorischen Situation sich ergebenden Hinsichten, durch die eine Rede glaubhaft wird. Die drei Titel Logos, Ethos und Pathos gilt es nun im einzelnen als diese unterschiedenen Seiten der Glaubhaftigkeit der Rede zu verstehen. Bei näherer Betrachtung erweist sich, wie in der Tat die drei Momente im rhetorischen Prozeß auf das engste ineinandergreifen. Insbesondere im Wechselbezug zwischen der Sachdarlegjing und der rednerischen Selbstdai;stellung wird dies deutlieh. Zwar mag ein Redner im Lauf seiner Rede ausdrücklich auf seine besonderen persönlichen Vorzüge aufr merksam machen, jedoch wird dies in der Luft hängen, wenn es nicht durch die vorgetragene Ansicht der Sache eingelöst wird. Die zu fordernde Klugheit und Einsicht des Redners wird sich vornehmlich in der argumentativen Schlüssigkeit der Rede und der einsichtigen Sachdarlegung zeigen, seine Tugend in den moralischen Gesichtspunkten, unter denen er die Sache behandelt, und in den Handlungsweisen, zu denen er rät. Ebenso wird sein Wohlwollen gegenüber den Hörern weniger durch diesbezügliche Beteuerungen glaubhaft vermittelt als vielmehr dadurch, daß die Sache in ihrem Sinne und zu ihrem Besten verhandelt zu werden scheint. Weniger eindeutig erscheint zunächst der Zusammenhang zwischen «Logos» und «Par thos». Jenes dritte Moment, die Hinsichtnahme auf die Hörerschaft^ muß als die Zielbestimmung des rhetorischen Prozesses den beiden anderen in gewißer Weise vorgeordnet sein. Denn das Glaubhafte, welches die Rhetorik beträchtet, bestimmt sich in seiner Glaubhaftigkeit allein von demjenigen her, für den es glaubhaft ist, von den Hörern also, in denen Überzeugung erzeugt werden soll. Das Glaubhafte ist, wie Aristoteles prägnant formuliert, immer für jemanden glaubhaft, vt (1356 b28). An ihm, dem zu überzeugenden Hörer, muß sich also die gesamte Rede orientieren. In welcher Weise der Redner sich selbst als glaubwürdig präsentieren und unter welchen Gesichtspunkten er seine Sache überzeugend vorbringen kann, hängt mithin an der jeweiligen Verfassung und Eigenart seiner Hörerschaft. An ihrem Verständnis^ und Erwartungshqrizont wird er die Auswahl' der Topoi, die als Prämissen der Argumentation benutzt werden, ausrichten. Wenn nun die Berücksichtigung der jeweiligen Disposition der Hörer gemäß der Grundeinsicht unabdingbar zum Geschäft des erfolgreichen Redens gehört, so ist damit nun freilich noch nichts über die besondere Wendung entschieden, die Aristoteles diesem dritten und wichtigsten Moment der Glaubhaftmachung verleiht, indem er es kurzerhand unter den Titel des Pathos stellt. Auch hier könnte man zunächst noch allein an die vom guten Redner ebenfalls zu fordernde Berücksichtigung auch der augenblicklichen emotionalen Verfassung der Hörer denken, in ähnlicher Weise wie etwa die Unterschiede der jeweiligen Hörerschaft nach Alter, Lebensumständen, sozialem Ansehen, Reichtum und Macht zu beachten sind, welche Aristoteles in der charakterliohen Typologie im Anschluß an die
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Affektenlehre durchgeht. In diesem Sinne lie e sich auch die Begr ndung, die Aristoteles f r die Wichtigkeit der Kenntnis der Affekte gibt, verstehen, n mlich da ein und die gleiche Sache unterschiedlich beurteilt werde, je nachdem, in welchem Affekt man steht (II.l, 1377 b31 ff., entsprechend 1.2, 1356 al5 f.): ein Sachverhalt wird z. B. in den Augen eines Wohlwollenden anders erscheinen als in denen eines feindlich Gesonnenen; und wer guten Mutes ist, wird den wahrscheinlichen Erfolg eines Unternehmens g nstiger einsch tzen als ein Verdrossener. Vom guten Redner ist daher zu fordern, da er diese urteilsbeeinflussende emotionale Voreingenommenheit f r oder gegen eine Person oder Sache erkenne und bei seinem Reden in Rechnung stelle. Jedoch hat Aristoteles nicht nur die Ber cksichtigung der affektiven Lage im Auge, sondern geradezu die Beeinflu ung des emotionalen Zustandes der H rer. Das Moment des H rers wird damit eingef hrt, da es gelte, ihn in gewisser Weise zu disponieren und «zuzubereiten» (τον άκροατήν διαθεϊναί πως, 1356 a3; τον κριτή ν κατασκευάζειν, 1377 b24). Dies wird ohne weiteres dahingehend erl utert, da die H rer durch die Rede zum Affekt gebracht werden sollen (εις πάθος υπό του λόγου προαχθήναι, 1356 al4). Die affektive Verfassung der H rer ist also nicht nur Vorgabe und Blickpunkt des gekonnten Redens, sondern sie zu beeinflussen ist zugleich das angestrebte Ziel. Der affektive Zustand erscheint damit als eine Voreingenommenheit, die zwar nicht notwendigerweise, aber doch ihrer Tendenz nach zu einer Verzerrung der rechten Einsch tzung der Lage fuhrt. In diesem Sinne hatte Aristoteles die bisherige rhetorische Praxis der Affekterregung verurteilt, da sie zu einer Verdunkelung des Urteils f hre (1.1, 1354 blOf.). Mit keinem Wort wird nun in der ausgef hrten Affektenlehre angedeutet, der Redner solle die H rer m glichst aus ihrem affektiven und tendenziell verzerrten Urteil zu einer vern nftigeren Einsch tzung der Lage fuhren. Im Gegenteil werden die Affekte durchg ngig mit dem ausdr cklichen Ziel analysiert, den Redner zu bef higen, sie jeweils nach Belieben hervorzurufen oder aufzuheben. Schwerlich wird man sich des Eindrucks erwehren k nnen, da der Redner gewisserma en ber die K pfe der H rer hinweg auf ihren Gef hlen spielen soll. Das Moment des Zuh rers wkd also vornehmlich unter der Ma gabe der Affekterregung begriffen. Nachdem Aristoteles die Rhetorik anscheinend im Unterschied zu seinen Vorl ufern auf sachbezogenes Argumentieren gr nden will, so mu es nun geradezu widersinnig erscheinen, da die H rer offenbar keineswegs als ein verst ndiges Gegen ber aufgefa t werden, auf deren Meinungen und Ansichten durch rationalen Diskurs Einflu genommen werden soll. Wenn Aristoteles mithin die Beeinflu ung des emotionalen Zustandes ausdr cklich als w nschenswertes Ziel des Glaubhaftmachens darstellt, so stellt sich also die Ausgangsfrage nach Sinn und Einheit der aristotelischen Rhetorikkonzeption nun nochmals in unverminderter Sch rfe. Zu kl ren ist, in welcher Verbindung Sachdarlegung und Affekterregung in der aristotelischen Rhetorik gedacht werden. Mu die Abh ngigkeit der Urteilsf higkeit von der emotionalen Verfa theit als ein unumg ngliches bel aufgefa t werden, dem Aristoteles hier Rechnung tr gt? W re also die Affektenlehre doch eine Anbequemung an die wenig vern nftige Wirklichkeit?21 21
Also so, wie Aristoteles wegen der vorauszusetzenden «Einfachheit» des normalen H rers ein zu anspruchsvolles Beweisverfahren ablehnt (1357 a3f.; all f.) oder die berm ige Aufmerksamkeit auf die Vortragsweise der «Verdorbenheit der B rgen» zuschreibt (1403 b34 £). Auf diese Einsch tzungen beruft sich die anfangs skizzierte cotnmums piriw.
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In der breit und bis ins Detail ausgeführten Affektenlehre der Rhetorik legt Aristoteles eine einheitliche, wiederum triadische Struktur zugrunde. Für das Zustandekommen jedes Affektes ist von einer typischen Disposition, die für den jeweiligen Affekt anfällig macht, auszugehen ( , 1378 a23), ferner von einem bestimmten Personenkreis ( ), in Bezug auf den man zum Affekt neigt, und schließlich von dem konkreten Anlaß ( ), der den Affekt auslöst. Die Affekte sind damit in einer jeweilig bestimmten, fest umrissenen, typischen Situation verwurzelt, aus der heraus sie sich, bei Vorliegen aller drei Momente, entfalten. Sie sind über die klar angebbaren Bezugspunkte der Situation, in der der Affizierte sich vermeint, zu begreifen. Der Zorn, beispielsweise, wird von Aristoteles definiert als «mit Schmerz einhergehendes Streben, nach Rache aufgrund des Anscheins einer gegen sich (oder etwas von sich) gerichteten Kränkung, wenn das Kränken nicht zusteht» ( .2,1378 a30-32). Der Zornesaffekt ist damit von einer zuvor erfahrenen oder vermuteten Kränkung seitens einer anderen Person, auf die der Zorn und die Rachbegier sieh dann richtet, ursächlich abhängig. Demgemäß bestimmt Aristoteles die den Zorn verursachenden Momente aus den verschiedenerlei Vorkommnissen der Kränkung, die aus keinem berechtigten Grund zu erfolgen scheint. Zum Zürnen ist disponiert, wer einer verletzenden Kränkung zugänglich ist, und dies ist der Fall, wenn man im Streben nach etwas behindert werden kann, oder wenn etwas, das man hochschätzt, dem Spott oder der Verachtung ausgesetzt ist. Unberechtigt erscheint eine Kränkung vornehmlich dann, wenn kein nachvollziehbarer und anerkennenswerter Grund für die Handlung erkennbar ist. Man zürnt also vor allem gegen solche, die ein nachlässiges, übermütiges oder mutwilliges Betragen, an den Tag legen. Aus diesen Charakteristika ergeben sich die mannigfachen Konstellationen zwischen Freunden, Feinden, Untergebenen, Gleichrangigen und Höherstehenden, in welchen der Affekt gedeihen kann. Bereits die knappe Skizze läßt erkennen, welch eine komplexe Deutung einer Handlungslage für das Zustandekommen eines Affektes vorausgesetzt ist. In die Aufwallung des Affektes ist bereits ein wie auch immer vages Verstehen der eigenen Lage inmitten der Handlungskonstellation eingegangen. Um in Zorn zu geraten, muß ich mich nicht nur gekränkt fühlen, sondern in einem damit schon die Handlung eines anderen als Kränkung gedeutet haben, und dies setzt wiederum voraus, über dessen Absichten wie über deren Berechtigung eine Meinung zu haben. Das Gefühl, die empfundene Kränkung sei unberechtigt, setzt wiederum ein Verstehen der eigenen wie der sozialen Stellung des anderen voraus, und mehr noch einen Maßstab für das, was in einer solchen Situation als unberechtigt gelten mag. Die komplexe Handlungslage mag klar erfaßt oder eher in Form eines vagen Eindruckes nur erfahren sein> - sie ist, ob nun richtig oder falsch erfaßt, die Ursache, die für das Empfinden des Affektes konstitutiv ist. Das triadische Schema der Ursachen, mit dem Aristoteles das Feld der Affekte durchmißt, ermöglicht die Gliederung der alltäglich bekannten Situationen von affektivem Verhalten unter einheitlichen Gesichtspunkten. Die Erklärungskraft dieses Verfahrens - und damit seine erstaunliche Präzision - rührt aus dem Nachweis, daß bei Fehlen eines der drei Momente auch der Affekt nicht mehr sei.22 22
Atigesichts dessen ist es schier unbegreiflich, wie man hat meinen können» die Affektenlehre stelle lediglich .eine Sammlung aufgeraffter Topoi der allgemeinen Meinung über Affekte dar, gebe aber noch nicht Aristoteles* durchdachte Ansicht wieder, vgl. etwa die Diskussion bei W. Fortenbaugh, «Aristotle's Rhetoric on Emotion» (Arch. Gesch. PhiL 52, 1970, 45-53) und J. Cooper, «An Aristotelian Theory of the Emotions» (Essays on Aristotle's Rhetoricy op. cit., 238-57). - Auch die Frage, ob es sich um eine
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Gelange ich etwa zu der Überzeugung, daß, was ich als Kränkung erfahren habe, nicht in herabsetzender Absicht geschehen ist, daß der andere etwa aus Zwang oder aus einem berechtigten Interesse heraus gehandelt hat, so wird der Zorn schwinden. Erweist sich der andere als nicht überheblichen Charakters, etwa durch Bedauern der die Kränkung herbeiführenden Handlung oder falls er bereit ist, eine Strafe anzunehmen, so bin ich alsbald besänftigt. Imgleichen, wenn ich zu der Auffassung gelange, die Kränkung berühre nicht wesentliche Interessen von mir. Durch den Aufweis der in den Affekt eingegangenen situationsdeutenden Leistung ist der Affekt also nicht als in sich widervernünftig oder vernunftfern zu verstehen. Seine Vernünftigkeit ist vielmehr abhängig von der situationsbezogenen Angemessenheit der Deutung, also dem Maß an Umsicht und Klugheit, mit dem die Handlungslage durchschaut ist. Damit stellt er, als Einheit von Strebens- und Erkenntnisvermögen,23 eine aus der Situation heraus erfolgende und situativ deutende Reaktion dar, in der die Konstellation der eigenen Handlungslage mit der der anderen aus gegebenem Anlaß konkretisiert und erfahren ist. In dieser ihnen eigenen Weltoffenheit stellen die Affekte die Basis dar, auf welcher in konkreten, jeweilig gedeuteten Handlungssituationen gehandelt werden kann. Die aristotelische Affektenlehre ist also von der Absicht getragen, den Zusammenhang zwischen menschlicher Befindlichkeit und Deutung der konkreten Handlungslage darzutun. Sie gewährt damit einen vertieften Einblick in den Nexus der Handlungszusammenhänge, in denen jeder Handelnde steht und in die er, zumeist ohne daß sie ihm völlig durchsichtig sind, verstrickt ist. In der Thematisierung der Affekte ist somit die jeweilige Handlungslage in Blick genommen, insofern sie durch vielschichtige Konstellationen bestimmt und vom Handelnden auf sein weiteres Handeln hin gedeutet ist. In der affektiven Stimmung konkretisiert sich die Befindlichkeit des Handelnden hinsichtlich der Vorfindlichkeit der Handlungslage, sie ist also die Grundlage allen Handelns, insofern sie den Ausgangspunkt für das weitere Handeln bildet. Freilich ist durch den Affekt als augenblickliche Befindlichkeit das künftige Handeln nur vorgezeichnet, durch den Zorn etwa die Tendenz'zur Vergeltung. Welche Handlungsweise im weiteren ergriffen wird, kann eigens zum Gegenstand der Überlegung und Beratschlagung gemacht werden, und eben hier liegt der Einsatzpunkt der Rhetorik. In der Überlegung mag sich die vorhergehende Deutung der Situation bestätigen oder auch wandeln. Der Zürnende mag etwa gewahr werden, daß
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«wissenschaftliche» Behandlung der Affekte handele, scheint mir an der Sache vorbeizugehen. Sicherlich ist es wahr, daß die Affekte hier von den Erfordernissen der Rhetorik aus in Blick genommen werden. Gleichwohl ist nicht zu sehen, in welcher Weise die Definitionen «wissenschaftlicher» geraten könnten, wenn man bedenkt, daß die Affekte als Reaktionen auf Typen von Handlungssituationen gedacht werden, die ihrerseits nur im Umriß darstellbar sind. Stellen diese Situationen (bzw. genauer der subjektive Eindruck einer solchen Situation) die Ursache für das Auftreten eines Affektes dar, so ist mit ihrer möglichst präzisen Kennzeichnung der des Affektes gegeben. Man vergleiche nur die Zornesdefinition in De Anima (I l, 403 a25-27) mit der der Rhetorik. Aus diesem Grund ist es nicht angängigj im Anschluß an Heidegger den Affekten für sich, d. h. in Gegenüberstellung zum Logos, eine «welterschließende» Funktion zuzuweisen, wie dies zuweilen in hermeneutisch geprägten Versuchen anklingt. Wenn Heidegger die Affekte als daseinserschließende Stimmungen eigenen Rechtes im Sinne der Existenzialanalytik deutet, so bedeutet dies auch, daß sie nicht unbesehen wieder in die aristotelische Vermögenspsychologie zurückübersetzt werden dürfen. Heideggers vielzitierte Sentenz, die aristotelische Rhetorik sei, entgegen ihrer traditionellen Einschätzung, «die erste systemarische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins» (Sem und Zeit, § 29), hat hingegen noch zu wenig gedankliche Aufnahme gefunden.
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ein Anlaß zum Zorn nicht recht gegeben war, oder, anders, daß Rache im Blick auf die Situation untunlich wäre. Der Zornesaffekt kann so durch den ihm korrespondierenden Gegenaffekt, die Besänftigung ( ), abgelöst werden. Das aristotelische Verständnis der Affekte als handlungsbezogener Situationsdeutung wird durch nichts deutlicher als dadurch, daß den einzelnen Affekten nicht eine vermeintlich nüchternere Lageeinschätzung gegenübergestellt wird, sondern ein Gegenaffekt, der auf einer anderen Deutung der gleichen Lage beruht, dem Zorn die Besänftigung, der Furcht die Zuversicht, dem feindseligen Gefühl das freundschaftliche. Praktische Vernünftigkeit liegt nicht im Freisein von affektiver Wallung, sondern in der Angemessenheit des jeweiligen Affektes zur Handlungslage. Wenn zu Beginn der Affektenlehre nur auf die Färbung und eventuelle Verzerrung des Urteils durch den Affekt hingewiesen wird, so ist dies offenbar nur als ein erstes Indiz auf den engeren Zusammenhang von Urteil und Affekt zu nehmen. Der Affekt wkd nicht als eine tendenzielle Trübung des Urteils verstanden, in dem Sinne, wie man etwa sagt, man habe aus einer Stimmung heraus, ohne klare Gründe gehandelt. Vielmehr gilt es zu verstehen, daß die affektive Stimmung der Hörer allein deswegen «urteilsbeeinflussend» ist, da Affekte ihrem Wesen nach auf einem Urteil über Handlungssituationen beruhen. Die eingehende Darlegung des sie bestimmenden Zusammenhangs mit der Handlungslage enthebt die Affekte des Verdachts des Irrationalen und rückt sie ins Zentrum menschlicher Praxis. Die affektive Seite des Rhetorischen ist darum weit davon entfernt, eine bloße Zutat zu sein, die der Rede nur ein wenig mehr Schwung verleiht. Im recht verstandenen Affekt sind jeweilig Ausschnitte des Handlungsnexus greifbar, innerhalb dessen die Entscheidungen für das weitere Handeln anstehen^ Auf die Affekte der Hörer zu achten bedeutet für den Redner daher nichts anderes, als sich die konkreten Umstände der Handhingslage, die für die zu fassende Entscheidung relevant sind, zu vergegenwärtigen, und er wird, sobald er das entsprechende affektveranlassende Urteil bestärkt oder bestreitet, unweigerlich auch auf die Stimmung Einfluß nehmen. Die Sacherörterung, welche der Redner vorträgt, wird zum Großteil in der umsichtigen Einschätzung eben dieser Handlungsumstände bestehen. Das Nebeneinander von Sache als dem Worüber der Rede und der Erregung von Pathos ist damit schließlich aufgehoben.24 Sofern der Rhetor seine Einsdiätzüng der Handlungsumstände vorträgt, wird er in einem damit auch die Stimmungslage berühren. Um Affekte zu erregen bedarf es nicht erst einer zusätzlichen rhetorischen Operation neben der Sachdarlegung, denn es ist bereits die natürliche Folge glaubhafter Rede. Die Beeinflussung der Affekte kann damit schließlich zu Recht als das letzte Ziel des Redens gelten. Die affektive Stimmung ist sowohl als gegebene Situationsdeutung der Hörer der Ausgangspunkt der rhetorischen Tätigkeit wie auch als angestrebte Einflußnahrrie auf eben diese Deutung ihr Zielpunkt. Die vom Redner angesonnene Ansicht über das zu Tuende ist erst dann für die Hörer wahrhaft überzeugend geworden, wenn sie die Situation in entsprechender Weise sehen und seine ihnen glaubhaft gewordene Sicht in ihre "eigene Befindlichkeit übernehmen. Der durch die Rede erzielte Affekt ist somit das letzte Glied des Glaubhaftmachungsprozesses. 24
Im Text findet diese Deutung darin ihre Bestätigung, daß, wie bereits angeführt, Aristoteles den Gehalt der ersten zwei Bücher (also nicht nur das Moment des Logos) 4s das «Was» des Sagens (1403 blo) und, noch unmißverständlicher, als das «Woher die Sachen selbst ( ) glaubhaft werden» (1403 bl9) bezeichnet.
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Die philosophische Begr ndung der Rhetorik, die Aristoteles gegen ihre Verkennung sowohl durch Platon wie durch die professionellen Redelehrer anstrengt, beruht auf vertiefter Einsicht in die Verfassung des Rhetorischen. Indem Aristoteles die Auffassung, Redekunst bestehe lediglich im gekonnten Schmackhaftmachen einer Ansicht, zur ckweist, tritt das Glaubhaftmachen als eigenst ndiges Feld allererst in Deutlichkeit hervor. Gegen Platon stimmt Aristoteles den Rhetorikern zu, da ihre Kunst darin bestehe, auch ohne Fachwissen ber alles und jedes glaubhaft reden zu k nnen. Es ist das Eigene der Rhetorik, da sie sich (wie die Dialektik) ohne rechte Zust ndigkeit f r ein Sachgebiet allein im Bereich des Redens bewegt.25 Recht verstanden, bedeutet dies nun jedoch nicht, da ihr mit Platon jegliches Wissen abzusprechen ist. Die Sachunabh ngigkeit der Rhetorik in Abgrenzung zum sachgegr ndeten Wissen ist vielmehr in ihrer Eigenart festzuhalten. Wer die Rhetorik zu sehr auf Wissen um die zugrundeliegende Sache st tzt, geht dazu ber, die jeweilig zust ndige Wissenschaft, nicht mehr aber Rhetorik zu betreiben.26 Eine philosophische B ndigung der Rhetorik, wie sie Platon im Phaidros durch ihre R ckbindung an das philosophische Wissen versucht hatte, wird damit zur ckgewiesen. Der Sache der Rhetorik ist es unangemessen, sie nur als Kunst der rechten Vermittlung einer Sache anzusehen, die zum eigentlichen Sachwissen das Wissen um die Zubereitung des Wortkleides der Rede sowie eine umf ngliche Seelenkenntnis hinzubringt. Wenn Aristoteles somit die Rhetorik ihrer Eigenst ndigkeit wegen nicht in den Dienst der Vermittlung einer auch auf andere Art zug nglichen Sache stellt, so bedeutet dies umgekehrt, da auch der Rhetoriker diese Grenze zu beachten hat: er kann sich nicht anma en, in der Vermittlung von Sachwissen an die Stelle des Fachmannes zu treten. Die bermittlung von Wissen durch Lehre bleibt in der Zust ndigkeit der jeweiligen Wissenschaft oder Technik.27 Wenn nun jedoch zugleich gilt, da ber jegliches gegebene Thema die Rhetorik verhandeln k nne, so mu dies bedeuten, da ihr diese unbeschr nkte Redemacht in einer bestimmten, ausgezeichneten Hinsicht zukommt. Die ausgezeichnete Hinsicht, worin die Rhetorik in ihr Eigenes kommt, herrscht dort, wo das sachgebundene Wissen versagt. Zur Redekunst greifen wir, wenn wir keine Technik mehr haben und die Sache sich so oder anders verhalten kann.28 Der eigentliche Ort der Rhetorik ist mithin die Beratung, und der inhaltlich beliebige Gegenstand, der ihr vorgegeben ist, ist das, wor ber jeweils beratschlagt wird.29 Allein dort, wo Rat gesucht wird, wo also eine Handlungsentscheidung in Ungewissen Umst nden getroffen werden mu , macht sich die Unverzichtbarkeit der Rhetorik geltend. berlegen ist der Rhetoriker darin, da er an jeglichem Thema, auch dem, wof r ein Fachmann zust ndig ist, das f r die praktischen Belange Relevante heraussehen kann, indem er es fallweise aus der konkreten Handlungslage heraus auf die Handlungsinteressen der ratsuchenden H rer hin er rtert. 25 26 27 28 29
Vgl. 1.1,1356 a30 ff.; 1.4,1359 b!2 f£: man d rfe sie nicht als έπιστήμας υποκειμένων τινών πραγμάτων, άλλα μη μόνον λόγων ansehen. L2,1358 a23f£; 1.4.1359 bl2ff. Vgl. 1355 a26: διδασκαλίας γαρ εστίν ό κατά την έπιστήμην λόγος; 1355 b27 f: των γαρ άλλων εκάστη περί το αυτή ύποκείμενόν εστίν διδασκαλική και πειστική. 1357 al ff.: περί τοιούτων περί ων βουλευόμεθα και τέχνας μη έχομεν, und das ist περί των φαινομένων ένδέχεσθαι άμφοτέρως έχειν, 1359 a30ff. 1356 b37 f.: εκ των ήδη βουλεύ,εσθαι εΐωθότων.
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In der Bestimmung der eigentümlichen Sache der Rhetorik gelangt Aristoteles also zugleich zur Einsicht in die Eigenständigkeit der genuin praktischen Weltorientierung gegenüber den theoretischen Wissensformen, und es spricht angesichts der vermutlichen Frühdatierung der Rhetorik innerhalb der aristotelischen Schriften einiges dafür, daß ihm diese wegweisende Unterscheidung am Leitfaden der rhetorischen Problematik zugekommen ist. In der Bestimmung des Wissens der Rhetorik kommt dies freilich nur Unvollkommen dadurch zum Ausdruck, daß sie als «Teil» bzw. «Seitensproß» der Dialektik einerseits und der Wissenschaft vom Ethos und der Politik anderseits bestimmt wird.30.Der Äußerlichkeit dieser Bestimmung zum Trotz liegt ihr Sinn darin, daß sie die Weise des Argumentierens in praktischer Hinsicht ist. Unzureichend wäre es daher, sie nur als eine Zusammenstükkung von zweierlei Wissensbeständen zu verstehen, die in den beiden vorausgesetzten Disziplinen auf kenntnisreichere Weise betrieben; werden. Vielmehr bestimmen sich die rhetorische Argumentationsform und das benötigte ethisch-politische Wissen in ihrer Eigenart allein aus ihrer praktischen Situierung. In diesem präzisen Sinne kann die Rhetorik als das «Gegenstück» zur Dialektik ( , 1354 al) im Bereich des Praktischen bezeichnet werden. Nur aus dieser praktischen, auf Entscheidung in Handlungssituationen zielenden Zwecksetzung läßt sich die rhetorische Vernunft in ihrer spezifischen «Ungenauigkeit» fassen. Denn auch gegenüber der Ethik und der Politik, mit der sie ihren Bezugsbereich gemein hat, bleibt sie an Genauigkeit und Wahrheitshaltigkeit zurück. Gemeint ist damit der Unterschied zwischen der theoretischen Behandlung des Gebietes von Ethos und Polis und demjenigen Wissen darüber, das für ein erfolgreiches Argumentieren innerhalb der praktisch-politischen Zusammenhänge vorausgesetzt werden muß. Der Bereich jier Praxis muß soweit verstanden sein, daß der Redner das jeweilig Glaubhafte in einer Situation erkennen und für die Situation darstellen kann. In dieser Hinsicht vermag er es freilich besser und genauer, beispielsweise in der Erörterung der entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte von Problemen, über die der Fachmann zwar fachkundig informieren, im Zweifelsfall aber an den Bedürfnissen der.Hörer und den Anforderungen der Handlungslage vorbei reden würde. Größere Genauigkeit besitzt die Rhetorik zumal im Wissen um die situative Befindlichkeit von Handelnden, wie es sich in der umfangreichen und an Präzision kaum überbietbaren Affektenlehre niederschlägt. Gegenüber den umrißhaften Bestimmungen der Praxis, wie sie in der Ethik gegeben werden, zeichnet die Rhetorik ein weitaus reichhaltigeres und detaillierteres Bild menschlichen Handelns, welches für das Verständnis der praktischen Philosophie des Aristoteles noch kaum ausgewertet wurde. Aus der Einsicht in die Verfaßtheit des Praktischen ist nun die aristotelische Antwort auf den doppelten platonischen Vorwurf gegen die Rhetorik zu verstehen, nämlich daß sie einerseits ohne wahres Wissen nur innerhalb von Meinungen; sich bewegt und daß sie andererseits durch diese unkontrollierbare Verführungskraft der Amoralität Vorschub leistet. Indem Aristoteles den Mangel an Sachwissen geradezu als Eigenart der praktischen Orientierung erkennt, verliert die Kritik augenblicklich an Stoßkraft. Untergraben wird damit die Platon wie dem allgemeinen Verständnis gemeinsame Annahme, es gehe in der Rhetorik nur um die sprachliche Vermittlung einer unabhängig und prinzipiell auf genauere Weise bestimmbaren Sache. Indem ihr Einsatz gerade in den Bereich des Strittigen und 30
1356a25ff.;1359b8ff.
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Ungewissen, wiewohl praktisch Relevanten gesetzt wird, erweist sich ihr Wert darin, die Form der ffentlichen Orientierung ber Handlungsalternativen zu sein. Indem Aristoteles zugleich eine Typologie der rhetorischen Situationen entwirft, gibt er ihr ein festes Gepr ge, das sie zu einem eigenen Wissen werden l t. So ist es von einer tiefen Ironie, wie hier ein der platonischen Akademie Entsprungener mit den begrifflichen Mitteln der Akademie sich auf die sophistisch-rhetorische Gegenseite schl gt, nur um diese sogleich auf ihrem eigensten Gebiet des g nzlichen Unverstandes zu berf hren. Die Rhetorik ist damit vor einer idealisierenden Inanspruchnahme zu bewahren. Begriffen werden kann die Rhetorik allein aus ihrem Operieren im Bereich des Anscheins.31 Das φαίνεσθαι ist die Grundbestimmung, welche die gesamte Rhetorik durchzieht: Anschein bei den H rern zu bewirken ist ihre letzte Zweckbestimmung, an der sich die Pr sentation der Rede zu orientieren hat. Verfehlt ist es daher, die aristotelische Rettung der Rhetorik auf eine besondere moralische oder intellektuelle Qualifikation des Redners zu bauen.32 Wessen der gute Redner bedarf, ist allein die F higkeit, sich selbst als tugendhaft und einsichtig bei einem jeweiligen Publikum darzustellen, gleich, ob seine tats chliche ethische Haltung dem durch die Rede erzeugten Anschein entspricht oder nicht. Auch wird man nicht behaupten k nnen, da sittliche Integrit t f r sich genommen den berzeugungserfolg auch nur bef rdere. Eine solche Auffassung erweist sich angesichts des erfolgreichen Demagogen als eine leere und realit tsferne Versicherung, die vor der rhetorischen Verfa theit des ffentlichen die Augen verschlie t. L ge hierin die aristotelische Antwort, so w rde sie hinter das von den Sophisten er ffnete Problem zur ckfallen. Ebensowenig ist es ang ngig, das Glaubhafte in seiner Form der sacherschlie enden und umsichtigen Er rterung der Handlungssituation an die sittliche Valenz der φρόνησις zu binden. Auch hier gilt, da die Rede dem Publikum nur sachhaltig und einsichtsvoll erscheinen mu . Selbst die tats chlichen handlungserschlie enden Einsichten, die ein Redner vorbringen mag, fuhren noch nicht auf die Tugend der φρόνησις im eigentlichen Sinne, da sie ebensogut jenem sittlich neutralen, mit guten gleicherma en wie mit schlechten Zwecken einhergehenden intellektuellen Verm gen entstammen k nnen, das Aristoteles in Abgrenzung δεινότης nennt33 Damit fallt schlie lich auch jene Auffassung dahin, da die Verpflichtung auf Sachlichkeit und argumentative Darlegung, also das Moment des Logos, die Rhetorik vor blen Machenschaften bewahren k nne.34 Die Sache der Rhetorik ist es, in einer ffentlichen Angelegenheit, vornehmlich vor Gericht oder in der Volksversammlung, f r einen umstrittenen Standpunkt zu werben und das Publikum f r eine Entscheidung in diesem Sinne 31 32
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Ausdr cklich 1404 a l f.: όλης ούσης προς δόξαν της πραγματείας της περί την ρητορική ν. In der Verteidigung des aristotelischen Konzeptes wird diese Bestimmung der Scheinhaftigkeit h ufig stillschweigend fallengelassen (ausdr cklich z. B. bei Markus W rner, Das Ethische in der Rhetorik des AnstottltSt Freiburg/M nchen 1990, z. B. S. 332: «Andererseits ist die tats chliche gute Beschaffenheit des Redners selbst derart unabdingbar fiir eine glaubw rdige Rede erforderlich, da sie ohne ihr Vorhandensein ihrer spezifischen Funktion berhaupt nicht zu entsprechen vermag»). Zur Befreiung der aristotelischen Konzeption von dem klassisch gewordenen Bild des «vir bonus diccndi peritus» vgl. v. a. P. Ptassek, Rhetorische RationaKt tt M nchen 1993. Vgl. ENVI.13, 1144a23f£ So eine verbreitete Annahme, ausdr cklich z. B. M. McCabe, A. Nehamas (beide in Furley/Nehamas, S. 163 und S. 268).
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zu gewinnen. Ob die vertretene Sache die bessere und wahre ist, ist durch die abstrakte Berufung auf Sachlichkeit nicht zu entscheiden. Noch weniger vermag das eigentlich Logische, also der rhetorische Syllogismus, für die Wahrheit der vorgetragenen und nahegelegten Ansicht bürgen. Es ist schlechterdings nicht einsichtig, daß die Überredung zum Schlechten auf logischen Fehlschlüssen beruhen soll. Einem Volksverführer ist durch das Kriterium formaler Richtigkeit nicht beizukommen, sondern nur durch das Halten einer Gegenrede, die die bessere Einsicht glaubhaft vorzutragen vermag. Der Mißbrauch der Rhetorik bleibt jederzeit möglich und ist weder durch ihre Verächtlichmachung noch durch philosophischen Aufruf zur Sittlichkeit aus der Welt zu schaffen. Dies ist insbesondere darum zu betonen, da in dem Maße, wie die Einsicht in die Ursachen der Giaubhaftrnachung die rhetorischen Fähigkeiten verbessern kann, selbstredend auch die mißbräuchliche Nutzung davon profitiert. Gleichwohl huldigt Aristoteles mit dieser Auffassung nicht einem zweckneutralen Amoralismus des Erfolges. Denn - wie er sagt - man soll nicht zum Schlechten überreden (1355 a31). Dies ist denn wohl-auch das einzige, was vernünftigerweise zu diesem die Rhetorik stetig begleitenden Vorwurf zu sagen ist. Zunächst mag diese Auskunft der schwächlichen Versicherung des platonischen Gorgias ähneln, er habe seinen Schülern die Kunst nur zum rechtmäßigen Gebrauch übergeben (Gorg. 456e-457c). Doch anders als für Gorgias bedeutet für Aristoteles dieser Verweis auf die persönliche Verantwortung des Redners keineswegs die Nivellierung der ethischen Frage. Im Gegenteil ist darin die Erkenntnis der strukturellen Unterschiedenheit von und vorausgesetzt. Daß ein Gut bei ungerechtem Gebrauch zum Schaden ausschlägen kann, hat die Rhetorik mit allen Gütern gemein — «außer der Tugend» (1355 b2ff.). Die Frage der Rechtmäßigkeit liegt daher nicht in der Kunst selbst, sondern im moralischen Vorsatz ( ) ihrer Ausübung (1355 b!7 ff.). Die Eigenständigkeit der Orientierung an dem Guten wird daher nicht nur nicht beschnitten, sondern gerade herausgehoben, indem sie vom technischen Wissen unterschieden wkd. Zwar unterhält die Rhetorik im Vergleich zu den übrigen Künsten ein inniges Verhältnis zum praktisch Guten, da es ihre Aufgabe ist, das jeweilig zu Tuende in öffentlicher Beratung zu erörtern; sie ist, aristotelisch gesprochen, das Para^ dox einer zur Beförderung der gemeinschaftlichen Ausübung von . Dennoch ist das technische Wissen vom moralischen Gesichtspunkt getrennt zu halten. Es bietet Einsicht in den Bereich und die Grundverfassung des Rhetorischen, vermag aber kein Kriterium dafür zu bieten, ob ein erfolgreiches Reden im Einzelfall auch moralisch vertretbar ist. Ob Rhetorik zum Guten angewandt wird oder nicht, läßt sich nur fallweise in konkreter Beurteilung sagen. Der Gewinn dieser Scheidung erweist sich in der Realitätsnähe der aristotelischen Rhetorik. Unbefangen und durch keinerlei Moralisieren getrübt, vermag sie den ganzen Bereich der Giaubhaftrnachung in den verstehenden Blick zu nehmen. Dies zeigt sich in aller Deutlichkeit daran, daß sie all jenen strategischen rhetorischen Operationen Raum läßt, welche eine auf Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit verpflichtete Rhetorik übersehen muß. So mag es durchaus gut s^in, ein Publikum eher simplen Zuschnittes durch unwahre oder einseitige Argumente zu einer Entscheidung zu verführen, die entweder unter einem allgemeinen Gesichtspunkt oder auch für sie selbst das Bessere ist. Aus ähnlichen Gründen mag es gut sein, auf eine moralisch verdorbene Gruppe durch Maximen einzuwirken, die, für sich genommen, nicht zu billigen sind. So wie erfolgreiche Giaubhaftrnachung nicht an gute Zwecke gebunden sein muß, so fällt umgekehrt der Gesichtspunkt des Guten und
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Wahren nicht notwendig mit dem rhetorisch erzeugten Schein zusammen. Die mögliche Differenz zwischen den Absichten des Redners und der beim Publikum erwirkten Meinung ist in keiner Weise einzuebnen. Wenn Aristoteles der in dieser Differenz liegenden Möglichkeit des Mißbrauchs ungerührt ins Auge sieht, so also deshalb, weil die Einsicht in die Ursachen der Glaubhaftmachung zugleich die Funktion der Rhetorik besser verstehen läßt. Wenn das eigentümlich Rhetorische nicht in einem Aufputz der Worte zu suchen ist, sondern im Glaubhaftmachen einer entscheidungsrelevanten und auf andere Weise nicht bestimmbaren Sache, so kann der pauschale Verdacht gegen die Rhetorik Vernünftigkeit nicht mehr für sich beanspruchen. Denn im Schielen auf die Möglichkeiten des Mißbrauchs unterschlägt er die gelungene Verständigung, auf der das Miteinanderleben beruht. Wenn Aristoteles glaubt, daß das Wahre im Regelfall auch das besser zu Beweisende ist und daß die Menschen zum Erkennen des Wahren hinlänglich befähigt sind,35 so spricht daraus kein wohlfeiler «Optimismus». Vielmehr beruht diese Einschätzung auf einer Ausweitung des Blickes: Nicht die Ausnahmeerscheinung des brillierenden Demagogen ist der geeignete Blickpunkt für das Verständnis des Rhetorischen, sondern die Normalität des alltäglichen Meinungsaustausches. Indem die Rhetorik von dem Glaubhaften an der Sache her verstanden wird, wird zugleich verständlich, daß die rhetorische Situation die Grundverfassung des alltäglichen Miteinander-Redens ist.
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Rhet.1355a36-38;al4^l8.
MARKUS ASPER Gruppen und Dichter: Zu Programmatik und Adressatenbezug bei Kallimächos* Alexandriner wie Philitas, Kallimächos und Apollonios, aber auch Lykophron und Eratosthenes, später dann Euphorien gelten den Literaturhistorikern seit jeher als Archegeten einer literarischen Avantgarde! Die cömmunis öpinio schreibt diesem Kreis eine elitäre, ästhetisierende Poetik zu, propagiert und konkretisiert zumal in poetischen Werken. Vorwiegend anhand aztAitien als eines typischen Texts dieser Richtung soll diese Position im folgenden überprüft werden. Dabei werden zunächst der Status des kallimacheischen Programms im Schlüsseltext, dem sog. Aitienprolog (i), dann das Verhältnis von Dichter und Zielgruppe (ii-m) behandelt. Unsicher bleibt übrigens, in welchem Sinne die genannten Autoren sich überhaupt als eine Gruppierung im literaturspziologischen Sinne, etwa als <Sezession> oder
* Die folgenden Thesen wurden an den Universitäten Bielefeld und Frankfurt vorgestellt. Den damaligen Gastgebern, Jürgen Paul Schwindt und Thomas Schmitz, den Herausgebern Heimut Krasser und Christoph Riedweg sowie meinem Konstanzer Kollegen Kai Tfärhpedach danke ich für vielfältige Anregungen, Claudia Möcks für ihre Kritik: 1 Zu derartigen Begriffen siehe R. Kolk, Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises, Tübingen 1998, 108 ff.; zu jetzt J. P. Schwindt, Römische Avantgarden), in: ders. (Hg.), Zwischen Tradition und Innovation, München/Leipzig 2000, 25-42, hier 25 f. 2 Soweit ich sehe, erwähnt keiner der genannten Literaten einen der anderen namentlich. Das Gefühl, einer Gruppe anzugehören, läßt sich demnach allenfalls indirekt und vereinzelt erschließen: etwa bei Kallimächos (Ait., Fr. l .9 ff. Pf.) aus der wähl von Mimnermos und Philitas als Exponenten einer Rieh- · tung, zu der er sich auch selbst wohl zählt (1.29 verrät ein, wenn aucn wenig spezifisches, Zugehörigkeitsgefuhl); lamb. 4, Fr. 194 Pf. zeigt ebenfalls ein Gruppenbewuß.tsein, das sich gegen Außenstehende abzuschotten versucht (allerdings weist nur v, 113 ] darauf hin, daß es sich um Dichtergruppen handelt). Weiter äußert sich Kallimächos in Dichtung und Prosa enthusiastisch über Arat (Fr. gramm. 460 Pf., Epigr. 27 Pf.). Im Sängerwettstreit der Thalysien Theokrits (Id. 7.40) scheint wie bei Kallimächos Philitas, hier neben Sikelidas/Asklepiades, unter den behertschenden Integrationsfiguren der Gruppenbildung zu sein; Theokrit und Kallimächos zeigen bemerkenswert ähnliche Metaphernkonstruktionen bei der Bewertung von Dichtung (Id. 7.45 ff. entsprechen Kallimächos, Ait.t Fr. 1.19 ff. Pf. und Hymn* 2.106 ff.), vielleicht ein Zugehörigkeitssignal; dazu.M. Asper, Qnomata allotria> Stuttgart 1997, hier 191 ff. 3 Dazu vgi. L. L. Schücking, Die Soziologie der Geschmacksbildung, München 1923, 78. 4 Vor allem der medizinischen und philosophischen Sekten; siehe z. B. G. E. R. Lloyd, Adversaries and Authorities, Proc. ofthe Cambr. Philol. Soc. 40 (1994), 27-48, hier 37.
Gruppen und Dichter: Zu Programmatik und Adressatenbezug bei Kallimachos
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erst lange nach seinem Tod greifbar — und dann als pedantischer Rtzgrammatiker* Allerdings gibt es einen triftigen Grund dafür, im Rahmen der hellenistischen Dichtung einige Dichter zusammenzustellen: die Werke der genannten Autoren gleichen sich nämlich darin, daß sie sich durch zwei Merkmale von anderer Dichtung dieser und der vorhergehenden Zeit unterscheiden:6 erstens inhaltlich durch entlegene mythologisch-antiquarische Themen mit besonderem Interesse an Aitiologien; zweitens formal durch eine Stilistik, die intertexruell die eigene Tradition verarbeitet, wozu sie auf philologische Instrumentarien zurückgreift. Zwar treten beide Züge nicht erst bei diesen Dichtern auf - geschweige denn, daß sie mit ihnen verschwänden -, doch liefert ihre enge Verbindung und die enorme Häufigkeit ihres Auftretens Abgrenzungsmerkmale zu anderen Dichtergruppen und (Epochenoder Lokal-)Stilen.
Die poetologische Programmatik des Kallimachos ist uns nur in seinen Gedichten greifbar: vor allem dem Hymnus auf Apollon, den Epigrammen 27 und 28 Pfeiffer, dem 1. und 13. Jambus, am massivsten natürlich im Aitienprolog. Aus den sog. fragmenta grammatica^ also den Resten der Wissenschaftsprosa, gewinnen wir dagegen wenig für unseren Zusammenhang.7 Ist es nun schon mißlich genug, daß keine traktatähnliche Artikulation dieser poetologischen Grundsätze, sondern nur eine poetische vorzuliegen scheint, so kommt es bei näherem Hinsehen noch schlimmer: alle diese poetologischen Aussagen sind Metaphern. Der Aitienprolog vermittelt den deutlichsten Eindruck: Hier führt der Dichter bekanntlich ohne weitere Einleitung maligne Zwerge ein, die Teichinen, die ihn anbrummen, warum er keinen Gesang über Könige oder Heroen in vielen tausend Versen produziere, sondern wie ein ABC-Schütze stockend vor sich hin kritzele.8 Es muß sich dabei um einen unmöglichen, sicher unhistorischen Vorwurf handeln, dessen Wirkung darin liegt, diese Angreifer als Ignoranten bloßzustellen: Die apodiktische Forderung der Telchinen nach einem herkömmlichen Epos widerspricht nämlich in seiner Ausschließlichkeit der zeitgenösssischen literarischen Praxis9 und ist dazu von keiner theoretischen Poetologie gedeckt. Derartiges dürfte im Ernst schwerlich jemand geäußert haben. Also fuhrt Kallimachos hier am Anfang seines Hauptwerks fiktive Gegner, gewissermaßen poetologische Pappkameraden, ein, die 5
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Philippos Ep. 60 £ Gow/Page, Antiphanes Ep. 9 Gow/Page. Aus demselben grammatisch-antiquarischen Funktionsbereich stammt offenbar die Bezeichnung des Hermippos (vgl. Athenaios 2.58F; 5.213F). Daß Kailimachos sich von einem andersartigen Hauptstrom hellenistischer Dichtung abhebt, hat K. Ziegler, Das hellenistische Epos, Leipzig 21966,13 u. ö. (meines Brachtens immer noch überzeugend) gezeigt. Zu gewinnen ist aus der Schrift (Fr. 460 Pf.) immerhin eine Debatte mit dem Peripatetiker Praxiphanes, den auch die sog. Florentiner Scholien zu den zählen (Pap. Soc. Ital. 1219, Fr. 1.7 f. bei Pfeiffer Bd. l, S. 3), über die Wertung Arats. Bezeichnend ist, daß diese Debatte sich nicht ohne Willkür in Beziehung zur poetologischen Programmatik des Kallimachos setzen läßt (vgl. Asper [Anm. 2] 212). Diese Interpretation der umstrittenen Verse begründet bei Asper (Anm. 2) 145-152, 211-224. Daß man ein Epos schaffen müsse, um als Literat anerkannt zu sein, klingt angesichts der alexandrinischen Blüte des Epigramms schon sonderbar unzeitgemäß; dieser Eindruck wird zur Gewißheit, wenn wir A. Cameron folgen, nach dem in dieser Zeit in Alexandria praktisch keine Epen produziert wurden (Callimafhus and His Critics, Piinceton 1995, 263-302).
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er sich selbst diskreditieren läßt. Ihre Bloßstellung sichert ihm einen Sympathiegewinn, der Einvernehmen mit dem Rezipienten schafft.10 Uns interessiert aber vor allem die Antwort, die Kallimachos erteilt. Zunächst folgt die sofortige Widerlegung des absurden Vorwurfs: Unhomerisches in wenigen Versen ist sehr beliebt, wie jeder weiß - die Werke des Philitas und des Mimnermos beweisen es.11 Dann aber folgt nach der nochmaligen Ablehnung quantitativer Normen der Teil des Prologs, den man üblicherweise als Verlautbarung poetologischer Normvorstellungen betrachtet: Hier wird wieder eine fiktive Szene eingelegt: Apollon erschien Kallimachos, als dieser gerade schreiben lernte, und gebot ihm ).1? Im Falle der poetologischen Metapher spricht der Kontext also über Dichtung (in unserem Prolog garantiert das erstens die Prologizität, die der Leser in den Text projiziert, weil er sieht, daß es sich um einen Prolog handelt, zweitens die einleitende Telchinenszerie) woran der Rezipient erkennt, daß nicht-poetologische Begriffe, wie etwa unsere Muse, das
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Asper (Anm. 2) 145 ff. Verwandte Interaktionen zwischen Autoren und Publikum der Zweiten Sophistik hat Th. Schmitz, Bildung und Macht, München 1997, 171 ff. nachgewiesen. Asper (Anm. 2) 153 ff. J. R. Searle, Mctaphor, in: A. Or-tony (Hg.), Mttapbor and Thought, Cambridge 21993 [1979], 83-111, hier 83; davor schon H. Weinrkhs Metapherndefinition als «Wort in einem konterdeterminierenden Kontext» (Semantik der Metapher, Folia JJnguistica \ [1967], 3-17, Zitat 6).
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an anderer Stelle im GBuvre, Selbstkommentare, persönliche Befragungen usw. bieten. Wenn er diesen unabhängigen Zugang nicht hat, kann er ihn sich textimmanent nicht verschaffen. D. h. die Metapher ist dem Leser nur als illustrierender Begriff kenntlich, doch der Zugang zum illustrierten Begriff ist ihm versperrt. Zunächst muß der Text also unklar, offen, unbestimmt erscheinen, wofür sein Reichtum an unaufgelösten Metaphern verantwordich ist. Die Metapher selbst fungiert in ihm als Lücke oder . Diesen Begriff hat Wolfgang Iser im Rahmen seines Konzepts der Offenheit oder Unbestimmtheit literarischer Texte entwickelt. Unbestimmtheit ermöglicht es, so Iser, den eigentlich unveränderlichen Text in jedem Leseakt wieder jeweils individuellen Leserdispositionen zu adaptieren.13 Metaphern behandelt Iser nicht; aber unter unseren Bedingungen, d. h. ohne sicheren Zugang des Lesers zum illustrierten Begriff, bilden sie natürlich überwiegend die Unbestimmtheit unseres vorliegenden literarischen Texts, des Aitienprologs. Auf alle also, die nicht in direktem Kontakt zu Kallimachos standen, alle, denen der Text nicht direkt vom Autor erläutert wurde, also auch Zeitgenossen, die den Prolog lediglich lasen, und auf die späteren griechischen Kommentatoren, erst recht die fremdsprachigen Rezipienten des Textes von Ennius und Lucilius bis hin zu uns, wirken diese scheinbar klaren autoreferentiellen Äußerungen demnach als Leerstelle. Was aber fängt der Rezipient mit so einer Leerstelle, mit so einer peinlichen Lücke im semantisch kohärenten Kontext an? Die Antwort ist einfach: solche Leerstellen werden im Lektürevorgang ausgemerzt, «normalisiert», d. h. auf eigene Erfahrungen reduziert14 und mit diesen gefüllt. Um einen kohärenten Sinn zu schaffen, muß der Leser aktiv werden: seine Rezeptionssituation, seine Erwartungen und sein Vorwissen, etwa über Autor, Bildtraditionen usw., ermöglichen die jeweilige konsistenzbildende Lektüre, die durch ihre Aktualisierungsakte dann auch die Aktualität des Gelesenen garantiert Leerstellen fungieren demnach als «Beteiligungsangebot» an den Leser, der das Ausgesparte projektiv besetzen muß.15 Auf die Metaphern des Aitienprologs übertragen bedeutet das, der Leser füllt sie mit denjenigen Assoziationen, die der illustrierende Begriff in seiner Vorstellung erzeugt, schließt die Lücke, vermeidet so auf der illustrierten Ebene die Konterdetermination, d. h. er übersetzt die Metapher und liest befriedigt weiter in dem Bewußtsein, den Text verstanden zu haben. Insofern dieser Vorgang das weitere Verständnis bedingt, kann er sich im Lektürefortgang zu einer regelrechten Allegorese ausweiten. Vom Autor aus betrachtet, der als Verfasser eines schriftlich zu tradierenden Werkes ja gerade auf Rezipienten zielt, die nicht in sein unmittelbares 13
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W. Iser, Die Appellstruktur der Texte [urspr. Konstanz 1969], in: R. Wartung (Hg.), Re^eptionsästbetik, München 21979, 228-252, hier 233 ff.; ders., Der Akt des Lesens, München 41994, 267-315. Den Begriff der «Leerstelle» verwendet Iser allerdings nur für makrostrukturelle Unbestimmtheiten; Th. Schmitz,
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Umfeld gehören, denen er seine Bilder also nicht deuten kann, müssen Metaphern, erst recht poetologische, erst recht in einem Prolog, demnach als beabsichtigter Appell an den Rezipienten verstanden werden. Die .Suggestionskraft eines Textes kann nun durch die Menge seiner Leerstellen gesteigert werden, weil gerade diese Unbestimmtheit dazu fuhrt, daß der Rezipient im Lektürevorgang mehr von sich einbringen muß, und so den Text als vertraut, als unmittelbar appellativ erlebt. Die Rezeptionsgeschichte von besonders dunklen, also leerstellenreichen, Texten zeigt das: Man denke an Heraklit oder Heidegger. Trotz der Unbestimmtheit des leerstellenreichen Textes kann er von den Individuen einer homogenen Gruppe intersubjektiv einheitlich aufgefaßt werden: Diese intersubjektive Einheitlichkeit hat dann den Status einer .16 In diesem Sinn sorgt also für zeitlose Adaptabilität. Aus .dieser Sicht ließe sich die anhaltende Faszination, die der Aitienprolog von seinen frühesten Rezipienten bis heute ausgeübt hat> gerade durch seine Offenheit, d. h. seine vielen zunächst unbestimmten, oder sagen wir vorsichtiger: wenig bestimmten, Metaphern erklären. Was die Interpretation des Prologs betrifft, lassen sich daraus folgende Schlüsse ziehen: Metaphern, zu deren illustrierten Begriffen der Autor seinem Leser bewußt die Auflösung verweigert, sind schwerlich geeignet, poetologische Normsetzurigen zu vermitteln.17 Also lassen sich Kallimachos* Wirkungsabsichten auch nicht als die eines <poetologischen Gurus> verstehen,18 jedenfalls nicht anhand dieses Prologtextes. Es verbietet sich also, erstens diesen .Prolog als quasi-theoretischen Text zu lesen,, zweitens andere metaphorische Leerstellen im Werk des Kalümachos und seiner Zeitgenossen im Lichte unseres Prologs zu interpretieren: Man ersetzt dabei nur eine Unbekannte durch eine andere. Was bisher als poetologisches Programm galt, wird nun als «strategisch placierte Unscharfe» erkennbar.19 Strategie und Unscharfe dienen hier der Ausgrenzung einer fiktiven «out-group», im Gegensatz zu der sich die potentielle Leserschaft als homogene Gruppe konstituieren kann.20 Der Aitienprolog mit seinem gesamten elaborierten Szenario läßt sich also ganz einfach als Appellstruktur mit einem Beteiligungsangebot verstehen: Dieser geht es um Rezipientensteuerung, eine der traditionellen Aufgabeln proömialer Texte. 2* Der Prolog ist also einfach ein Paratext, der nur dazu dient, die Funktion des folgenden, ungleich wichtigeren Textes zu sichern, indem er diesem ein geneigtes Ohr verschafft.22 Die Reihe metapho16
Begriff und allgemeines Prinzip-bei S.J. Schmidt, Gedächtnis - Erzählen - Identität, in: A. Assmann/ D. Harth (Hgg.), Mnemosyne, Frankfurt am Main 1991, 378 ·* 397, hier 389. 17 Man vergleiche z. B. das Programm des frühen Stefan George: die Einleitungen und Merkspriicbe der Blätter für die K/mst, Nachdr. Düsseldorf/München 1964: lakonische Festlegungen, die offenbar um Eindeutigkeit bemüht sind. · 8 > A. Griffiths, Rezension von A. Cameron (Anm. 9), Times JUf. Suppl. No. 4854 (1996), 10. Die Rezension steht unter dem Titel «Guru poet of the Aegean». /' 19 N. Luhmann, Das Kunstwerk und die Selbstproduktion der Kunst,, in: H. Ü Gumbrecht/K. L. Pfeiffer (Hgg.), Stil, Frankfurt am Main 1986, 620-672, hier 625. 20 Unabhängig von meinen Versuchen (Asper [Anm. 2]passim, zusammenfassend 247) kommt jetzt Schmitz (Anm. 13) 156 ff., 163 ff., zu einem ganz ähnlichen Schluß. Unsere Argumentationen weichen im Detail ausreichend voneinander ab, um sich im Ergebnis gegenseitig bestätigen zu können. Ich übernehme von ihm den Begriff der «out-group» (163). 21 Siehe z. B. Aristoteles, Rhet. III 1-4.1415 a 35 ( ... ) und Cicero, De oraf. 2.80 (/// tuat qui attdiat henivolum nobis faaatnus). 22 G. Genette, Paratexte, Das Buch vom Beiwerk des.Buches [orig. Seuils, Paris 1987], Frankfurt am Main/New York 1989, 190 ff. zum «Originalvorwort» (191 «Die Hauptfunktion [...] besteht darin, eine gute Lektüre des Textes %/ gewährleisten.»). - Die Paratextualität des Prologs wird auch darin deutlich, daß es sich bei
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rischer Polaritäten hat genau diese Wirkung: Der Autor, sein Werk und der Leser finden sich in einer vertrauten Allianz, nämlich der der Kenner, wieder und stehen gemeinsam dem Ignoranten Kritiker oder Gegner, d. h. aus der Sicht des Prologs jedem Kritiker oder Gegner, gegenüber. Diese Scheinpolemik hat also in Wirklichkeit die Funktion interner Homogenisierung des Leserkreises; eine Strategie, die heute noch begegnet.23 Sieht man aber den Prolog als weitgehend autonomen Text an, verkennt also seine Paratextualität, wie es seit seiner Entdeckung häufig geschieht,24 muß man seine elementare Funktion übersehen. Wer als Hauptanliegen des Kallimachos poetologische Stellungnahmen annimmt, wird dieses Ergebnis als rein negativ ablehnen. Dem ist entgegenzuhalten, daß in der heutigen Diskussion und Einschätzung des Dichters Kallimachos seine Metaphern ganz unverhältnismäßig viel Raum beanspruchen (was übrigens einfach an ihrem hohen Appellationsgrad, d. h. ihrer Leerstellenhaftigkeit, liegen könnte, die paradoxerweise gerade dazu gefuhrt zu haben scheint, daß man sich des Metapherncharakters nicht ausreichend bewußt blieb). Dabei scheint es gelegentlich so, als ob Poetologie das eigentlich und einzig Wichtige am Werk des Kallimachos sei, der Rest nur zur Illustration diene oder gar ebenfalls Metapher oder poetologische Allegorie sei. Das hieße in unserem Fall, oieAitien als Paratext, nämlich als Beispielsanhang, des Prologs zu verstehen, nicht umgekehrt. Wenn man dagegen den Prologmetaphern nur einen paratextuellen Charakter zuschreibt, drängt sich die Frage nach der Funktion der Aitien plötzlich auf, die bisher meist von poetologischen Fragestellungen verdeckt war.
Während in Deutschland und Italien ein regelrechter fervore callimacheo tobte, wurde Clemens Lugowski 1931 in Göttingen mit einer Arbeit über den Roman promoviert, die erst lange nach seinem frühen Tod breite Beachtung fand.25 Hier ist nur sein Ausgangspunkt von Belang, der, grob skizziert, die Rezeption von Dichtung als soziales, d. h. gemeinschaftsstiftendes, Erlebnis betrachtet.26 Seine neuerdings stark beachtete Bestimmung des Dichterischen als eines <mythischen Analogon> zielt nämlich gerade auf die Weise, in der die formale Seite eines Gedichts, er spricht auch vom <Stil>, den gemeinschaftsfördernden Rezeptionsakt bedingt (wie es analog die inhaltliche Seite im Mythos tut).27 Die Funktion
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ihm um einen von der folgenden Traumszene abgesetzten Text gehandelt zu haben scheint: dazu vgl. A. Kerkhecker, Ein Musenanruf am Anfang der Äitia des Kallimachos, ZPE 71 (1988), 16-24; Asper (Anm. 2) 21 f. Zum «außerhalb des Kreises stehendefn] gemeinsame[n] Gegner» als Konstituens der «Realität eines Dichterkreises» vgL H. N. Fügen, Die Hauptrichtungen der Uteratursoqologe und ihre Methoden, Bonn 1964, 192; siehe auch Schwindt (Anm. 1) 29. P. Maas, A. Körte, E. Cahen und andere.hielten den Prolog zunächst sogar für eine selbständige Elegie (dazu G. Benederto, Sogno e l'invettiva. Momenti di storia delFesegen callimacheay Firenze 1993, 23 ff.). Zur Rezeption seiner Dissertation Die Form der Individualität im Roman siehe M. Martinez, Formaler Mythos. Skizze einer ästhetischen Theorie, in: ders. (Hg.), Formaler Mythos% Paderborn 1996, 7-24, hier 7-ll,vgJ. auch 229 f£ C Lugowski, Die Form der Individualität im Roman [urspr, Berlin 1932], eingel. v. H. Schlaffer, Frankfurt am Main 1976, 9-13, hier 9. Dazu Lugowski bereits 1929 an Rudolf ünger (hg von Martinez [Anm. 25] 229-232, hier 232) und Schlaffer (Anm. 14) 102-114, besonders 111.
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der Schriftlichkeit in diesem Kommunikationsakt ließe sich darin erkennen, diese gerneinschaftsstiftende Wirkung räumlich und zeitlich auszudehnen.28 Daß Kunst in einer bestimmten Ausprägung, also genauer <Stil>, nicht zuletzt durch Abgrenzung, durch Distinktion, eine Funktion als gruppenrepräsentierendes und gruppenstäbilisierendes Medium erfüllt, wird von ethnologisch-soziologischer Seite bestätigt.29 So bietet etwa Irenäus EiblEibesfeldt zahlreiche Beispiele dafür,30 wie Kunst, speziell Dichtung, das Gruppenethos stärke und regelrechte Mechanismen zur Festigung von Gruppenidentität ausbilde.31 Schon Lugowski wendet sein Prinzip exemplifizierend auf die attische Tragödie an.32 Aus dieser Perspektive stellt sich die Frage, welche Wirkung die Werke unserer alexandrinischen Literaten auf verschiedene gesellschaftliche Gruppen beabsichtigt haben könnten. Ließe sich daraus eine soziale oder politische Funktion .dieser Dichtung ableiten, bedeutete das noch nicht, daß deshalb ihr ästhetischer Charakter zu leugnen wäre;33 wohl aber eine ausschließlich autonomieästhetische Zielsetzung. In der Beschäftigung mit alexandrinischen Dichtern ist eine funktionsorientierte Textbetrachtung in der Regel durch eine verbreitete Vorannahme blockiert worden, die zuerst ausgeräumt werden muß: die Bestimmung dieser Werke als pour l'art in mehr oder weniger deutlicher Analogie zur entsprechenden zeitgenössischen Strömung desselben Namens.34 Die' frühesten Beispiele rinden sich in der französischen Altphilologie.35 Für die deutsche Hellenismusforschung sei nur Werner Jaeger zitiert: er legt in seiner Paideia Kallimachos und seine Kollegen auf einen ästhetizis tischen Solipsismus fest,3<* womit er 28
So (ohne Bezug auf Lugowski) schon R. Harder, Bemerkungen zur griechischen Schriftlichkeit, Die .Antike 19 (1943), 86-108, hier 107 (= Gesammelte Schriften, München I960, 79). Zum soziologischen Stilbegriff vgl. H.-G. Soeffner, Stil und Stilisierung. Punk oder die Überhöhung des Alltags, in: Gumbrecht/Pfeiffer (Anm. 19), 317-341, hier 318 und 321: <«Stü> wird so zu einem Ausdrucksrnittel und zu einer Darstellungsform sozialer Abgren%tn& Er veranschaulicht <Mitgliedschaft in ...> und ^Abgrenzung von ...> durch bewußte Präsentation und Stilisierung eines Selbst für interpretierende andere (Beobachter).» Zur Funktion von Stil im System Kunst Luhmann (Anm. 19) 645; sehr plastisch zur Selbstabgrenzung sozialer Gruppen durch Kunst P. Bourdieu, La distincthn. Critique sodale dujugement, Paris 1979, 31 ff., 59 ff., 250 f. 30 I. Eibl-Eibesfeldt, Die Biologe des menschlichen Verhaltens, München 31997, 923 f., 932 f. und 938 behandelt das Phänomen «Stil» als «kulturell aufgeprägte Wahrriehmungsweise [...], | deren Aufgabe es ist, Gruppenidentität zu fördern.» (Zitat 932 f.). · 31 Eibl-Eibesfeldt (Anm. 30) 948 und 950; vgL auch M. A. Seiler, . Akxandrinische Dichtung in strukturaler und humanefholqgscher Deutung, Stuttgart/Leipzig 1997, 234 f. 32 Lugowski (Anm. 26) 9 mit Rekurs auf E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 1925, besonders 220 und 240. W Barner, Neuphilologische Rezeptionsforschung und die Möglichkeiten der Klassischen Philologie, Poetica 9 (1977), 499-521, wies früh auf derartige Fragestellungen als Desiderat hin· · (502-504). 33 Berechtigt wendet sich A. Hörn, Grundlagen der Literaturästhetik, Würzburg.1993, 89 f. gegen den «instrumentalistischen Einwand» als einzig möglichen Zugang zu (vormoderner) Literatur. 34 Z. B. E.-R. Schwinge, Künstlichkeit von Kunst, München 1986, bes. 44-47; siehe auch Hörn (Anm'. 33) 123-152 grundsätzlich zur «Ästhetik des Selbstzwecks». 35 Z. B. E. Legrand, La poesie alexandrine, Paris 1924, der Kallimachos und seine Zeitgenossen als «Jes lointains precurseurs des Parnassiens, des Decadents, les premiers fervents de l'Art | pour TArD> bezeichnet (167 f.). 36 W. Jaeger, Padtia. The Ideals of Greek Culture, transl. by G. Highet, vol. I, New York 21945, 427 Anm. 4: «The poets of the Hellenistic age, ;such äs Callimachus and Theocritus, no longer claimed to be the teachers of the whöle nation. They were artists in the modern sense, livingin a purely aesthetic world of their own. [..., Hervorhebung M. A.] Thus they had retüred 4efinitely to the realm to which Plato's criticism of poetry had relegated them.» Die Anmerkungen in dieser Auflage wurden zwar von
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akkurat die Position der radikalen Dichterzirkel um Mallarme oder den frühen Stefan George skizziert.37 Konrat Ziegler etwa benutzt in seinem Essay Das hellenistische Epos von 1932 die Formel des l'artpour l'art geradezu, um Kallimachos zu charakterisieren.38 Diese Gleichsetzung der alexandrinischen Dichter mit zeitgenössischen Ästhetizisten wird früh als Bestandteil der Allgemeinbildung verfügbar, wie eine Begriffsgleichung verrät, die wir bei dem Kultursoziologen Helmuth Plessner um 1924 finden: für ihn sind «Weltfremdheit, sinnloses Spezialisten- und Alexandrinertum, [...] Part pour 1'art» offenbar selbstverständlich Synonyme.39 Die Gleichsetzung von Kallimachos und zeitgenössischem Ästhetizismus lag offenbar nahe: Vergleicht man nämlich die Selbstbeschreibung Georges mit den Standardattributen von hellenistischen Dichtern wie Kallimachos in den gängigen modernen Literaturgeschichten, die wiederum dessen Selbstdarstellung verallgemeinern, so treten verblüffende Parallelen zutage. So etwa der Gegensatz von wenigen und unreiner <Masse>40 oder das vermeintlich kallimacheische Kriterium der .41 Tiefer geht die Bestimmung von Autoreferentialität als eines der zentralen Merkmale des Ästhetizismus, gerade auch in impliziter, d. h. narrativer Form,42 und ebenso hellenistischer Dichtung. Die Ästhetizisten postulieren den Primat des Ästhetischen, kurz ein Konzept der «Gegenöffentlichkeit»,43 dessen Formensprache sich gelegentlich der religiösen bedient: Man stilisiert sich zum «Kunstpriester», dem es vor allem um Abgrenzung zum «Bildungspöbel» zu tun ist.44 Für all dies ließen sich Kallimachos-Lektüren beibringen. Die Erklärung dieser Koinzidenzen sei den George-Spezialisten überlassen. George dürfte Kallimachos wohl kaum gelesen haben. Immerhin bietet sich die Vermutung an, diese Motive und Topoi der Selbstdarstellung seien über die lateinische Kallimachosrezeption vor allem bei Horaz bereits Jaeger auf Englisch neu verfaßt und fanden keinen Eingang mehr in die deutschen Auflagen (vgl. xi). Aus Bd. l, 282 Anm. l der ersten deutschen Auflage (Berlin/Leipzig 1934) geht jedoch hervor, daß Jaeger das Material, das er später in Paideia verarbeitete, bereits vor 1928 in seinen Vorlesungen publik machte. 37 Vg|„ die Formel «eine Kunst für die Kunst» bei S. George, Einleitungen und Merksprüche, in: Blätter für die Kunst. Eine Auslese aus den Jahren 1892-1898, Berlin 1899, 10. Dazu auch Kolk (Anm. 1) 16 und 49. Ab 1901 allerdings gibt der Kreis um George seinen Isolationismus zunehmend auf und wendet sich der Kulturkritik zu, vgl. Kolk 126 f. und z. B. W. Kraft, Siefan George, München 1980, 130 f. 38 Ziegler (Anm. 6) 9. M. Fantuzzi entwickelt im Vorwort zu seiner Neuausgabe des Büchleins (L'epos elknistico, übers, v. F. de Martino, Bari 1988, xxxi) einen kurzen Vergleich zwischen Baudelairescher Literaturkritik, Kallimachos selbst und zeitgenössischer Kallimachos-Sicht in Frankreich und Italien (v.a. Croiset, Cessi, Legrand, Rostagni), der unsere folgenden Ausführungen ergänzt und bestätigt. G. Bonelli (Decadentismo antico e moderne, Torino 1979) versucht, Beziehungen zwischen Figuren wie D'Annunzio und KaUimachos herzustellen. 39 Zur Soziologie der modernen Forschung und ihrer Organisation in der deutschen Universität [zuerst 1924], in: H. Plessner, Diesseits der Utopie, Frankfurt am Main 1974,121 -142, hier 139. Im Rahmen eines halbfikriveri Reiseberichts vergleicht E. Vietta, Romantische Kyrenaika, Hamburg 1941, 73 ein modernes Double des Kallimachos direkt mit Mallarmc. 40 Dazu W. Braungart, Ritual und Literatur, Spr. & IJt. in Wiss. & Unierr. 23 H. 69 (1992), 2-31, hier 29; weiteres Material bei Kolk (Anm. 1) 31-35, 46. Man vergleiche z.B. auch den «degoüt du » moderner Ästhetizisten (dazu Bourdieu [Anm. 29] 566-69) mit Kallimachos' Ep. 31 Pf. 41 Kolk (Anm. 1) 57 Anm. 169 f. 42 Zu Georges A&Mutbt Kolk (Anm. 1) 32 f. 43 So M. Dimpfl über den George-Kreis: Die Zeitschriften Der Kunstoart, Freie Bühne/Neue Deutsche Rundschau und Blätterfür die Kunst Organisation literarischer Öffentlichkeit um 1900, in; dies./G. Jäger (Hgg.), Zur Soqalgeschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert, 2. Teil, Tübingen 1990, 116-197, hier 157 f. 44 Schücking (Anm. 3) 47-49 charakterisiert diese Gruppen mit treffendem Witz.
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dem Gymnasiasten George bekannt geworden.45 Ein Vers etwa wie odi profanum vulgus et arceo (Horaz, c. 3.3.1) liefert bereits ein später für den George-Kreis typisches Schema und basiert bekanntlich auf Kallimachos* Selbstbeschreibung < ).46 So ergibt sich der Befund, daß man in den späten 20er und frühen 30er Jähren^ als sich seit der Veröffentlichung des Aitienprologs das moderne Kallimachos-Büd formierte, die Bewertung dieses antiken Dichters schwer von der moderner Richtungen zu trennen vermochte, die ihm vermeintlich so ähnlich waren. Daraus folgte, daß angeblich antiker l*art pour l'art in der Zunft keine allgemeinen Sympathien erweckte: Altertumswissenschaftler haben dieses Prädikat meist pejorativ gebraucht.47 Was Wilamowitz von Ästhetizismus und zeitgenössischem l'art pour Pari hielt, entnehmen wir seinen wie stets deutlichen Ausführungen zu Staat und Gesellschaft der Griechen: dort zieht er über die «Ästheten von heute» und deren «nichtiges Kunstspielen» her.48 Dies war eine noch recht zahme Reaktion auf massive Angriffe gegen ihn seitens des George-Jüngers Kurt Hildebrandt im selben Jahr in dem Pamphlet .49 Die Frontlinien verlaufen klar: eben die moralischpädagogische Indienststellung der schönen Literatur, die etwa Mallarme und George so leidenschaftlich ablehnen, fordert die Philologie ein, stellvertretend für das gesamte Spektrum der Geisteswissenschaften. Hierin lag bereits ein Aspekt des Streits um Die Geburt der Tragödie*® der'sich nun unter anderen Vorzeichen fortsetzt. Wenn man das geistige Klima kennenlernen möchte, in das hinein der Aitienprolog 1927 publiziert wurde, lese man etwa den 1929 erschienenen Essay Uartpour Part von Karl Scheffler mit seinen Polarisierungen zwischen <^Masse» und «Geistigen», Kunst und Zweck usw. (z. B. 37 ff.). Je nach politischem Standpunkt stand man auf der einen oder der anderen Seite: die konservative Philologenschaft mehrheitlich auf der Seite, die l'artpour l'art für dekadentes Gefackel hielt und vom moralisch-sittlichen Nutzwert gerade der schönen Literatur nicht abrücken wollte. Solche Werte entdeckte man aber bei Kallimachos im Gegensatz zur klassischen griechischen Dichtung nicht; außerdem bot dessen Selbstdarstellung manche Ähnlichkeit zu derjenigen Georges; deswegen seine Verurteilung nach Analogie der l'art pour /^-Dichter in diesen Kreisen, faßbar etwa bei Jaeger. Auch der Begriff des «leeren Spiels»51 gehört ins 45
Zu George und Horaz siehe E. Salin, Um Stefan George, München/Düsseldorf 1954, 36, 251, 287. Ep. 28.4 P£ Man wird auch mit funktioneUen Parallelen rechnen dürfen, die aus der gemeinsamen Tradition entstehen: .So wäre die Ähnlichkeit von Georges Weihe mit antiken Dichterweihen zu erklären; besonders ähnlich wird sie dem Somnium des Kallimachos (Fr. 2 Pf.) durch tue gemeinsame Prologfunktion. Die Weihe leitet den frühen Gedichtband Hymnen Pilgerfahrten Aigabäl (1890) ein; zit. nach: St. George, Hymnen, Pilgerfahrten, AlgabaL Gesamt-Ausgabe der Werke. Endgültige Fassung, Berlin 1928,12 f. 47 Im Überbück Schwinge (Anm. 34) 46. 48 Staat und Gesellschaft der Griechen, in: U. v. W-M. u. a., Staat und Gesellschaft der Griechen und Römer bis ^um Ausgang des Mittelalters (Die Kultur der Gegenwart, T, 2, Abt. 4.1), Leipzig/Berlin 1910, 205; ygl. U. K. Goldsmith, Wilamowitz arid the Georgekreis, in: W. M. Calder III u. a. (Hgg.), Wilamowit^ nach 50 Jahren, Darmstadt 1985, 583-612, hier 606 Anm'. 88. 49 K. Hildebrandt, Hellas und Wilamowitz. Zum Ethos der Tragödie, Jahrb. f. d.geist. Bew. l (1910), 64-117; ders., Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreisy Bonn 1965, hier 36. * 50 Den berühmten Nietzsche-Verriß (1872) beendet Wilamowitz mit dem legitimierenden Verweis auf die Verantwortung gegenüber «Deutschlands philologischer Jugend»: zit. nach K. Gründer (Hg:), Der Streif um Nietzsches Geburt der Tragödie, Hildesheim 1969, 55. Zum Konflikt von Moral bzw. Ethik und Ästhetizismus siehe Bourdieu (Anm; 29) 49 f. 51 Z. B. bei U v. Wilamowitz-Moellendorff, Hellenistische Dichtung in der Zeit des Kallimachos, 2 Bde., Berün 1924,1.72,159; siehe zu E.-R. Schwinge, Wüamowitz* Verständnis der hellenistischen Poesie, in: Wilamowt^ nach 50 Jahren (wie Anm. 48), 151-177, hier 168. 46
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Schablonenarsenal dieser antd-ästhetizistischen Polemik. Suchte man die hellenistischen Literaten dagegen historisch zu würdigen (wie Couat oder insgesamt auch Wilamowitz), verglich man sie mit Romantik oder Barock.52 Nun läßt sich die Auffassung, Kallimachos und einige seiner Zeitgenossen seien als Vorläufer der modernen Fort pour /kr/-Bewegung und in Analogie zu dieser zu verstehen, bereits mit dem Hinweis auf ihre Nähe zum Hof und seinen Institutionen widerlegen: Die Maxime l'art pour l'art markiert eine radikale Verweigerungshaltung des Dichters gegen jede außerästhetische Instrumentalisierung,53 vor allem merkantile, moralisch-pädagogische oder politische.54 Die ersten Verfechter des fort pour l'art wie Theophile Gautier pochen auf ihre Autonomie als Künstler,55 gerade weil sie dem System der Künstlerpatronage durch die Mächtigen entkommen sind - und das erst seit kurzem. In einem solchen System aber lebt und arbeitet Kallimachos, bei dem der Leser auf entsprechend panegyrische Stilisierungen des Herrscherhauses stoßen kann, die jedesmal vollkommen integriert erscheinen.56 Nichts spräche dafür, diese Äußerungen als bloßes Pflichtprogramm abzuschwächen oder gar subtil versteckte Kritik in ihnen zu suchen.57 Die gesamte Annahme einer hellenistischen Autonomieästhetik führt also in die Irre, zumal nirgends auch nur der Begriff autonomer Dichtung kenntlich wird.58 Ästhetisches Autonomiestreben mitsamt seinen Begleiterscheinungen muß weiterhin als typisch neuzeitliche Erscheinung gesehen werden.59 Zwar soll nicht mit Jauß behauptet werden, daß alle vormoderne Kunst durch außerästhetische Zweckbestimmung gekennzeichnet sei (doch besitzt eine derart klare Grenzziehung Attraktivität),60 ebensowenig, daß sie nur einem außerästhetischen Zweck diene. Doch soll für die Frühhellenisten um Kallimachos ein solcher funktionalistischer 52
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Zu Auguste Couats einflußreichem Buch La poesie alexandrine (l 882) siehe R. Pfeiffer, The Future of Studies in the Field of Hellenistic foctry9JHS75 (1955), 69-73, hier 70; zu Wilamowitz siehe Schwinge (Anm. 51) 158-163 (Barock), 163 £f. (Romantik). N. Kohl, L'Art pour l'art in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts, JJli. Zs. f. LJt.wiss. & Ltng. 8 H. 30/31 (1978), 159-174, hier 159; E. Heftrich, Was heißt l'art pour l'art?, in: R. Bauer u. a. (Hgg.), Fin de siecl«> Frankfurt am Main 1977, 16-29, hier 23 f.; K. Heisig, L'art pour l'art. Über den Ursprung dieser Kunstauffassung, Zs.f. Rel.- & Geisiesgesch. 14 (1962), 201 -229, 334-352, hier 203f. Zur Geschichte des Begriffs Kohl (Anm. 53) 160 f.; Heisig (ebd.) 202 und Heftrich (ebd.) 21. Der Begriff findet sich zuerst 1804 bei B. Constant, das Programm zuerst 1835 bei Th. Gautier. Zu soziologischen Aspekten Bourdieu (Anm. 29) 33 mit Anm. 26, 438; insgesamt auch Luhmann (Anm. 19) 626. Z. B. Hymn. 4.160 ff. (der noch ungeborene Apollon prophezeit, daß auf Kos dereinst ein Gott geboren werde: gemeint ist Ptolemaios II.); Fr. 228.40 ff. Pf.· (Philotera, die jüngere Schwester des Ptolemaios II. und der Arsinoe, bewegt sich selbstverständlich in der Gesellschaft der Götter). Hierin liegt auch die grundsätzliche Problematik der Arbeit Schwinges (Anm. 34), der die «neue Dichtung» der «absoluten Künstlichkeit» einerseits ganz wie U an pour l'art im Gestus der Funktionslosigkeit versteht, andererseits diese Künstlichkeit politisch als \7erweigerungshaltung, also versteckte Opposition, interpretiert. Paff Schwindt (Anm. 1) 32 f., 42. Unterhaltung und Belehrung sind die Pole, zwischen denen im Frühhellenismus die Diskussion schwankt; Funkrionslosigkeit liegt offenbar außerhalb des theoretischen Horizonts: zu diesem Neoptolemos bei Philodem, Depotm. 5, coL 3.25 ff., 4.31 f. ed. C. Mangoni; Eratosthenes bei Strabon, Gtogr. 1.2.3 (15 Casaub. = Fr. I A 20 ed. H. Berger). Daß Kunst sich selbst gern als runkrionslos denkt, ist ohnehin «nichts weiter als eine Geste der Abwehr gegen Vereinnahmungsansprüche anderer Funkrionsbereiche» (Luhmann [Anm. 19] 623). Umgekehrt bedeutet Autonomie der Kunst nicht gleichzeitig Funktionslosigkeit (ebd. 661). H. ^}K&yÄstbtfucbeE&brungmdlit€rariscbtHtrmtntutik, Frankfurt am Main 41984,103-165; 191 -207; dazu die Gegenposition von Hörn (Anm. 33) 88 f£
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Ansatz wenigstens einmal probeweise durchgespielt werden. Der w rde gest tzt, wenn sich auch die philologisch-antiquarischen Z ge dieser Literatur au erliterarisch funktionalisieren lie en.61
Die Frage nach der Wirkung von Texten sieht sich sofort mit einer weiteren konfrontiert, derjenigen nach ihrem Publikum. F r Kallimachos scheint es angebracht, eine Prim r- von einer Sekund rrezeption zu unterscheiden. Von Ap llonios Rhodios ist bezeugt, da er Teile seinetArgpnattfi&a durch Rezitation bekannt machte.62 Als Ort einer solchen Rezitation k me das Symposion ebenso in Frage wie ffentliche Lesungen, eventuell sogar Dichter gone. Dasselbe l t sich f r Kallimachos annehmen, wobei Kurzformen wie die Epigramme vermutlich eher dem Symposion zuzuweisen w ren.63 Die Hymnen mag man sich hnlich vorgetragen denken wie den Adonis-Hymnus in Theokrits Adoniaytsen (Id. 15), also im Kontext ffentlich inszenierter Feste; aber auch die Aitien zerfallen in kleinere Abschnitte, die sich f r derartige Vortr ge bestens geeignet h tten. Das Publikum, das man sich bei derartigen Anl ssen -vorstellen darf, d rfte durch enge Verbindiung zum ptolem ischen Hof und zum Mouseion ausgezeichnet gewesen sein:64 eine relativ homogene Gruppe von griechischen Angeh rigen der Oberschicht, also die φίλοι und συγγενείς des K nigs. Die Philologoi des Museions und andere Intellektuelle sind dazuzuz hlen: das Museion geh rte zum k niglichen Palast.65 Im folgenden sei von diesem Publikumskreis einfach als von der (kleinen Gruppe) die Rede: ihr gerneinsames Kennzeichen ist ihr sozialer Status als Einwanderer aus der gesamten griechischen Welt, deren Spezialistenkenntnisse das Regime ben tigte; sie standen als ξένοι unter dem Schutz des K nigshauses, nahmen aber keine B rgerrechte in Alexandria wahr. Kallimachos und seine Kollegen geh ren zu dieser Gruppe (Ap llonios eventuell aber nicht), ebenso wie die meisten Intellektuellen im Alexandria des 3. Jh.66 Es ist nun aber wesentlich, diese kleine Gruppe der Prim rrezipienten nicht als das einzige Publikum des Kallimachos aufzufassen,67 wie es blicherweise unisono geschieht. Gerade f r Kallimachos l t sich n mlich auf indirektem Wege noch eine Sekund rrezeption nachweisen: So wie uns die Aitia vorliegen, lassen sich strukturelle urid inhaltliche 61
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Barner (Anm. 32) 503 mit Anra. 20 vermutet brigens, die in der Klassischen Philologie so beliebte autonomie sthetische Perspektive sei ihrerseits durch die «werk sthetische Zentrierung der alexandrinischen Philologien» beeinflu t. Vita Apollonii b 6 f.: συντάξας ταοτα τα ποιήματα έπεδενξατο (ed. C Wendel, S. 2). Wenn auch die meisten Fakten dieser Viten erheblichem Zweifel unterliegen (vgl, M. R.-Lefkowitz, Ttje Uves ofthe Greek Poets, Baltimore 1981, 117 ff:), ist diese Information doch plausibel. Zu Agon und Symposion als Rahmen hellenistischer Dichtung vgl. Cameron (Anm. 9) 24—103; M. Hose, Der alexandrinische 2eus. Zur Stellung der Dichtkunst im Reich der ersten Ptolem er, Pbilologtts 141 (1997), 46-64, hier 54; Dichter gone erw hnt auch etwa Vitruv, De arth. l^praef. ber diesen Personenkreis jetzt A. Kerkhecker, Μουσέων εν τάλάρφ. Dichter und Dichtung am Ptolem erhof, A &A 43 (1997), 124-144, hier 132 f. Strabon 17.Γ.8 (793 Casaub.): των δε βασιλείων μέρος εστί και το μουσεϊον; dazu P. M. Fr ser, Ptokmaic Akxandria, 3 Bde., Oxford 1972, 2.470 Anm. 74 und G. Weber, Dichtung und hofsche GeseUscbaft, Stuttgart 1993, 74 f. Summarisch D. L. Seiden, Alibis, Oass. Ant. 17 (1998), 289-412 (und Tafeln), hier 300. So auch Cameron (Anm. 9) 30 ff.
Gruppen und Dichter: Zu Programmatik und Adressatenbezug bei Kallimachos
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Bezüge feststellen, die mindestens Aitien und Jamben^ insgesamt immerhin eine ursprüngliche Versmenge von etwa 4000 bis 6000 Versen, miteinander verklammern: Der Anfang der Aitien verweist auf Anfang und Ende der Jamben, das Ende der Aitien weist auf den Prolog zurück und kündigt den Anfang der Jamben an usw. Noch der Branchos (Fr. 229 Pf.) bietet einen deutlichen Rückbezug auf den Aitienprolog.68 Ohne weiter ins Detail zu gehen, läßt sich doch feststellen, daß diese Gesamtmenge als Einheit dargeboten wurde, vielleicht erst in einer Neubearbeitung älteren, ursprünglich vielleicht in Einzelstücken präsentierten Materials durch den Dichter selbst, gewissermaßen einer und der Gruppe ist natürlich Teilmenge der , d. h. ihre Anliegen müssen teilweise übereingestimmt haben.) Anfangs war darauf hingewiesen worden, daß diese Art von Dichtung, wie wir sie hier betrachten, sich durch zwei auffallende Hauptmerkmale auszeichne: antiquarisches Interesse, das sich besonders in der Figur der Aitiologie zeige, und Intertextualität. Im folgenden sei die These verfochten, daß diese beiden Merkmale jeweils eine identitätsstiftende Funktion erfüllten, die Aitiologie für alle Adressaten, also die große Gruppe, das Lesepublikum, die Intertextualität dagegen für die kleine Gruppe, das Primärpublikum.71 Unter der
Asper (Anm. 2) 59 f., anders Cameron (Anm. 9) 143-162. Mit anderer. Argumenten ebenso P. Bin& The Well-readMuse, Götringen 1988,17; Schmitz (Anm. 13) 173 f. 70 Überlegungen zu diesem Kreis bei H. C Youtie, Smptiunctdae II, Amsterdam 1973, 611-651. 71 P. Bing, Aratus and His Audiences, Mater. & discuss. 31 (1993), 99-109, hier 103, 108, unterscheidet «r passani ebenfalls zwei des Arat. - Hose (Anm. 63) 47 bemüht sich, beide Gruppen als Lesepublikum zusammenzusehen. 72 D. Delia, Egyptians and Greeks, in: F. B. Titchener/R. F. Moorton, Jr. (Hgg.), The Eje Expanded. Life and thtArtsin Greco-Roman Antiqttity, Berkeley u. a. 1999,147-154, hier 153 Anm. 18; daneben trat noch ein System von griechischen Reservisten in Erbfolge ( ): siehe N. Lewis, Greeks in Ptobmaic Egypt, Oxford 1986, 21 f£ 73 Diese Gruppe analysiert für die ersten drei Ptolemäer auch Weber (Anm. 65) 130-154. Abgesehen von Mancthon, der des Ptolernaios L war, scheint es hier keine Ägypter gegeben zu haben. 69
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bestimmten gerade das alexandrinische Stadtbild.74 Sie wurden aus der gesamten griechir sehen Welt systematisch angeworben75 und hatten natürlich nur dem Monarchen loyal zu sein. Polybios berichtet, daß 222/21 v. Chr. 4000 griechische Söldner in Alexandria stationiert waren, die peloponnesischen und kretischen Ursprungs gewesen seien.76 Etliche der in den kallimacheischen Epigrammen genannten Personen gehören mit großer Wahrscheinlichkeit zu diesem Personenkreis.77 Wem es nicht behagt, sich Kallimachos in Exerzierpausen von Berufssoldaten gelesen zu denken, der sei daran erinnert, daß wir den GallusPapyrus von Qasr Ibrim vermutlich einem ähnlichen Milieu verdanken. Die Ptolemäer mußten aber damit rechnen, daß diese für ihren Machterhalt so wichtigen Gruppen ihren Herkunftsorten in einem gewissen Umfang verpflichtet blieben. Noch im 3. Jh. gaben viele griechische Einwohner Alexandrias die Bindung an ihre Herkunftsstädte im alten Griechenland nicht auf.78 Diese zentrifugalen lendenzen führten zu den , in denen sich Griechen derselben Herkunft in Alexandria organisatorisch zusammenschlössen,79 Sie verhielten sich also im wesentlich so wie bisherige Kolonisten, was beinhaltet, daß sie aufgrund ihrer vielfachen Bindungen an die alte Heimat den Ptolemäern schwerlich ungeteilte Loyalität entgegenbringen konnten. Für die Heterogenität der griechischen Gruppen in Ägypten seien nur zwei Indizien, mehr oder minder zufällige Ausschnitte, angeführt: Eine Inschrift von 267 v. Chr. führt die Sieger eines an den Basileia abgehaltenen Agons auf:80 Nur der Veranstalter, ein Heräkleitös, bezeichnet sich als - alle 16 Sieger dagegen, vermutlich Kleruchen aus der Chora, geben ihre griechischen Herkunftspoleis und -regionen an.81 Das zweite Indiz ergibt sich aus den Grabund Votivepigrammen des Kallimachos, deren Entstehungszeit insgesamt etwas später liegen dürfte. Hier bietet sich dasselbe Bild: 21 Personen werden mit Herkuriftsbezeichnung genannt, nur einer stammt aus Alexandria, einer aus Naukratis,82 doch alle anderen, obwohl vermutlich ebenso in Ägypten ansässig, geben ihre griechischen Herkunftspoleis an.83 Beide Dokumente zusammen geben trotz aller Ausschnitthaftigkeit84 einen verläßlichen Hinweis darauf, daß die Griechen in Ägypten sich auch mehrere Generationen nach der
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Siehe z. B. Theokrit, Id. 15.51 f. Bei Herondas, Mim. 1.23-26 und Theokrit, Id. 14.58-68 findefi sich vielleicht noch Reflexe der entsprechenden Werbung; dazu vgl. Lewis (Anm. 72) 10 f.; Seiden (Anm. 66) 290. Polybios 5.36.4 über die Machtbasis des Kleomenes; zur Garnison vgl. Fräser (Anm. 65) 1.69 f. Siehe Ep. 11 Pf., wahrscheinlich 22, 34, vielleicht 60, 61, 62. Fräser (Anm. 65) 1.78. Siehe z. B. D. Delia, «All Army Boots and Üniforms?» Ethnicity in Ptolemaic Egypt, in: Alexandria and Alexandrianism, Malibu 1996, 41 -53, hier 47. Suppl. epigr. gr. 27 (1977), Nr. 1114; vgl. Nr. 1305 und Suppl. epigr. gr. 33 (1983), Nr. 1361. Sechs Thraker, vier Makedonen, ein Thessaüer, ein Boioter, ein Tarcntiner, ein Samier, ein Halikarnassier, ein Naukratite (der letzte zugegebenermaßen ein Grenzfall). Die Inschrift ist von L. Koenen, Eine agonistiscbe Inschrift aus Ägypten Hndfrübptolemäische Königsfeste, Meisenheim am Glan 1977, umfassend interpretiert worden (Analyse der Siegernamen 23 ff.). Timarchos aus der Phyle Ptolemais (vermutlich der alexandrinischen, Ep. 10 Pf.); Timokrates aus Naukratis (Ep. 39 Pf,), Wir begegnen fünf Kretern (Ep. Pf., evtl. 22, 34, 37, 62), zwei Kyreneern (Ep. 13, 20); weitere Herkunftsangaben: Ainos (Ep. 61, Thrakien), Akanthos (Ep. 9, Chalkidike), Ambrakia (Ep. 23, Epirus), Amphipolis (Ep. 24), Elis (Ep. 60), Methymna (Ep. 15; Lesbos oder Kreta), Naxos (Ep. 18), Rhodos (Ep. 49), Samos (Ep. 16), Smyrna (Ep. 5), Thessalien (Ep.'30). Weitere Indizien für dasselbe Phänomen bietet Seiden (Anm. 66) 298.
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Einwanderung noch mehrheitlich über ihre Heimatpoleis definierten.85 Den ptolemäischen Machthabern kann das nicht gleichgültig gewesen sein: um eine verläßliche Machtbasis zu bieten, mußten diese zentrifugalen Tendenzen kompensiert werden. Diese Intention läßt sich erschließen: Erstens galt Homogenität der Bürgerschaft durch Autochthonie schon der Polisideologie des klassischen Athen als besonderer Vorzug;86 dieser Gedanke muß auch den Beratern der ersten Ptolemäer zumindest bekannt gewesen sein. Zweitens läßt sich ein ähnliches Homogenisierungsunternehmen in der Zusammenstellung des ptolemäischen griechischen Rechts aus älteren Rechtskorpora verschiedener Poleis erkennen: man verzichtete offenbar darauf, ein neues Recht zu schaffen oder das einer bestimmten Polis in toto zu übernehmen.87 D. h. die Griechen in Ägypten mußten erstens zu einer Gruppe homogenisiert werden, d. h. mit einem neuen, intensiveren, (ethnischem statt polisgebundenen Gruppenbewußtsein ausgestattet werden. Außerdem mußten ihre alten Loyalitäten von ihren zahlreichen Heimatpoleis auf die neuen Machthaber übertragen werden. Beides kann man als Konstruktion einer neuen kulturell-politischen Identität verstehen.88 Als Anknüpfungspunkt dafür boten sich nur die bereits vorhandenen, ohnehin panhellenischen Aspekte der griechischen Sprache und Überlieferungen an. Diese Konstruktion einer (ethnischem Identität durch die Ptolemäer bediente sich offenbar vor allem zweier Instrumente, wie im folgenden gezeigt werden soll: Abgrenzung gegen die ägyptische Umwelt, um die Griechen zu einer Gruppe zusammenzuschließen, und Betonung der Kontinuität mit panhellenischen Vergangenheitskonzepten,89 um sie mit einer homogenen Gruppenidentität auszustatten. Betrachtet man die Kulturpolitik der Ptolemäer in der Wirkungszeit unserer Literaten, also von etwa 270 bis 200 v. Chr., gewinnt man ein Bild, für das sich der Begriff (Kolonialismus) so manchem aufgedrängt hat. Diese Kulturpolitik scheint nach ersten Anfängen der 85
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Doch finden sich auch Indizien, daß Kallimachos bereits an ein herkunftsunabhängiges Gruppengefuhl appelliert (in Ep. 61 P£ wird Menekrates als angesprochen, der noch gar nicht lange , i h. in Alexandria, gewesen sei; in Ait, Fr. 178 Pf. lädt der Athener Pollias anläßlich des Anthesterienfestes Griechen verschiedenster Herkunft ein). Vgl. Isokrates, Or. 8 (De pace\ 89; Reflexe bei Thukydides 1.2.5 und Euripides, Erechtheus Fr. 50 (nach C. Austin, Nova fragmenfa euripidea in papjris reperta, Berlin 1968); siehe mit weiterem Material Seiden (Anm. 66) 291 £ Fräser (Anm. 65) 1.110-112: Neben attischen lassen sich vor allem rhodische und kleinasiatische Einflüsse feststellen: «Alexandrian private law [...] was thus a complex of elements drawn from the different civü codes of the Greek world.» (112). Die abrupten Umschichtungen der sozialen Gefuge, die mit der Einwanderung in Ägypten verbunden waren, dürften zusätzlich zu einer «Identitätsdiffusion» beigetragen haben. Dazu allgemein H. Lübbe, Der Fortschritt und das Museum, London 1982, 18. Eine solche Diffusion kann aber in unserem Fall keinesfalls zu einer pauschalen Vergangenhcits-, d. h. Polissehnsucht, geführt haben, wie R. Hunter, Homo Hellenisticus, Times Lit. Suppi No. 4802 (1995), 7 zu Recht betont Zum allgemeinen Prinzip (kollektive Identität durch Vorstellung einer gemeinsamen Vergangenheit siehe H.-J. Gehrke, Verschriftung und Verschriftlichung im sozialen und politischen Kontext. Das archaische und klassische Griechenland, in: Ch. Ehlcr/U. Schaefer (Hgg.), Verschnftung und Verschriftlichung, Tübingen 1998, 40-56, hier 50; und E. Flaig, Kinderkrankheiten der Neuen Kulturgeschichte, Rtchishisi. Journ. 18 (1999), 458-476, hier 474 f. zum Begriff
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Annäherung unter Alexander und Ptolemaips L,90 die auf ägyptische Kooperation, d.h. Kooperation vor allem der Priesterschaft, noch angewiesen waren und dementsprechend lebhaftes Interesse an Ägypten zeigten,91 nur eine Generation später dann aber eine der Abgrenzung von Ägyptischem, fast möchte man sagen: der Apartheid, gewesen zu sein.92 Diese Umstellung findet eine Parallele im Wechsel der Verwaltungsspräche von Demotisch auf Griechisch, die durch eine aktive Schulpolitik ermöglicht wurde. Griechen hatten kein Interesse an Ägyptisch, Ägypter sollten vielmehr Griechisch lernen93 (wie auch andere Volksgruppen: hieraus könnte sich die Förderung der Septuaginta-Übersetzung erklären,94 sofern man dem Aristeas-Brief wenigstens darin glauben kann).95 Zwar richtete sich die kultisch-politische Repräsentation der Ptolemäer natürlich an alle Bevölkerungsgruppen, doch bediente sie sich dazu verschiedener, voneinander weitgehend separierter Medien: An die Gesamtbevölkerung richtete sich noch unter Ptolemaiös L die Einrichtung des Sarapiskults, einer neuen, integrativen Staatsreligion, die griechische und ägyptische Elemente vereinte, die von den Ägyptern allerdings erst nach Raphia (217 v. Chr.) akzeptiert worden zu sein scheint.96 Die vollständige Trennung von griechischem und ägyptischem Herrscherkult dagegen spricht bereits für eine mediale Separierung:97 Daß sich Ptolemaiös I.
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Manethon und Hekataios von Abdera stehen für viele damalige Versuche (vgl. Diodor 1.46.8), die Griechen mit ägyptischer Überlieferung vertraut 2u machen: vgl. C. Roberts, Literature and Society in the Papyri, ///10 (1953), 264-279, hier 264 f.; G. Fowden, The Egyptian Hermes, Cambridge 1986, 5254; J. Assmann, Ägypten, München 1996, 413. 91 C. Bradford Welles, The Role of the Egyptians under the First Ptolemies, in: D. H. Samuel (Hg.), Proc. ' ofthe 12th Intern. Congr. of PapyroL, Toronto 1970, 505-510, hier 509 f.; Beispiele bei D. J. Thompson, Language and Literacy in Early Hellenistic Egypt, in: P. Bilde u. a. (Hgg.), Ethniciiy in Hellenistic Egypt, Aarhus 1992, 39-52, hier 44 f.; siehe auch P. Parsons, Identities in Diversity, in: A. Bulloch u. a. (Hgg.), Images and Ideologie*, Berkeley u.a 1993, 152-170, hier 155. 92 Dieser Ausdruck auch bei F. W. Walbank, The Hellenistic World: New Trends and Directions, Scripta Oassica Israelica 11 (1991/1992), 90^113, hier 102. Grundsätzlich zu diesem Einstellungswechsel gegenüber «indigenefi Eliten». G. Weber, Interaktion, Repräsentation und Herrschaft. Der Königshof im Hellenismus, in: A. Winterling (Hg.), Zwischen und <Staat>, München 1997, 27-71, hier 33 f. 93 Dazu das Material bei Thompson (Anm. 91) 46 £, bes. 48-51. 94 Immerhin bildeten die Juden 40 % der Einwohnerschaft Alexandrias (diesen Wert entnehme ich vertrauensvoll R. Merkelbach, Philologca. Ausgewählte Kleine Schriften, Stuttgart/Leipzig 1997, 240-254, hier 241): eine Übersetzung ihrer heiligen Schriften ins Griechische mußte also eine erhebliche Ihtegrationsleistung erbringen. Ob ähnliche Mammutübersetzungen auch von anderen heiligen Texten (wie denen des Zoroaster: Plinius, Nat. bist. 30.4, allerdings mit unmöglichen Details) angefertigt wurden, ist noch weniger sicher (skeptisch Parsons [Anm. 91] 159): Auch in diesem Fall wäre allerdings als Intention die kulturelle Integration entsprechender ethnischer Gruppen, hier der sog; <Magusioi>, denkbar (vgl. das Material beT Fräser [Anm. 65] 2.436 Anm. 745). 95 Zu diesen Fragen jetzt A. van der Kooij, The Origin and Purpose of Bible Translations in Ancient Judaism,^ihv&./ ReLgesfh. l (1999), 204-214, der 208, 213 f. als Intention der Septuaginta nachweist, im Milieu von «study/school» die Lektüre des hebräischen Originals zu fördern. Er hält die Beteiligung der Ptolemäer an solchen Unternehmungen zu Recht für eine Fabel. Das Gegenteil behauptet jetzt wieder die wenig überzeugende Arbeit von N. L. Collins, The Library in AJexanäna and the Bible in Greek, Leiden u. a. 2000, besonders naiv 178-181. 96 A. Dihle bei G. Zanker, Gurrent Trends in the Study of Hellcnic Myth in the Early Third-Century Alexandrian Poetry: The Gase of Theocritus, A &A 35 (1989), 83-103, hier 99 Anm, 95. - Nach W Huss, Der makedonische König und die ägyptischen Priester, Stuttgart 1994, 65-68 war der Sarapis-Kult offenbar ohnehin nur für die nichtagyptiscbe Bevölkerung Alexandrias gedacht, spricht also ebenfalls Jur mediale Separation. 97 Fräser (Anm. 65) 1.214f.
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vielleicht, wahrscheinlich aber Ptolemaios II. und III. zum Pharao krönen ließen,98 richtete sich wie ihre Teilnahme an ägyptischen Riten sowie ihre Beteiligung an Bau und Restauration ägyptischer Heiligtümer" also ausschließlich an die ägyptische Bevölkerung, insbesondere die Priesterschaft, was sich den jeweiligen Inschriften entnehmen läßt: 10° der Ort und demnach die Zielgruppe dieser Aktivitäten dürfte übrigens außerhalb Alexandrias zu suchen sein.101 Dagegen scheint sich die zielstrebige Kreation einer neuartigen, speziell alexandrinischen Festkultur vorwiegend an Griechen gerichtet zu haben,102 wie etwa die große Prozession des Philadelphos zeigt (anläßlich der Ptolemaieia, wahrscheinlich 279/78), die offenbar für griechische Betrachter konzipiert war.103 Gelegentlich hat man hier als Motiv die Bindung der (griechischen Mittelschicht* ans Königshaus vermutet,104 eher noch könnte dem Königshaus an einer Homogenisierung der Griechen insgesamt gelegen haben. So förderten die Ptolemäer eine spezifisch griechische Kultur, die allein Griechen vorbehalten war und die sich ausschließlich mit griechischer Traditionspflege befaßte. Hier drängt sich als augenfälligstes Beispiel die Gründung des Mouseions mitsamt seiner sagenumwobenen Bibliothek auf.105 Ein griechisches Schulbuch aus der Chora zeigt für das 3. Jh. dasselbe Bild: Betonung der Kontinuität mit der griechischen Vergangenheit, Nichterwähnung des ägyptischen kulturellen Umfelds.106 Resultat dieser grundsätzlichen Zweigleisigkeit einer (teils symbolischen) Repräsentationsebene für Griechen und einer von dieser strikt getrennten für Ägypter ist ein Zustand, den man als «janusköpfig» oder «bicephalous» beschrieben 98
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Zur gesamten Krönungsdiskussion vgl. D. Mendels, The Polemical Character of Manetho's Aegyptiacay in: H. Verdin u. a. (Hgg.), Purposes of History, Leuven 1990, 91-123, hier 104 mit Anm. 44. Generell skeptisch für die Ptolemäer vor Ptolemaios V. bleibt S. M. Burstein, Pharaoh Alexander: A Scholarly Myth,^. Soc. 22 (1991), 139-145, besonders 140. Einen bequemen Überblick bietet Huss (Anm. 96) 19, 25 f£ So überzeugend Zanker (Anm. 96) 91 f. Aus ägyptologischer Sicht ebenso J. Baines, Kingship, Definition of Culture, and Legitimation, in: D. O'Connor/D. P. Silverman (Hgg.), Ancient Egyptian Kingshipt Leiden u. a. 1995, 3-47, hier 39f. Huss (Anm. 96) 26-39 listet 244 Fälle von inschriftlich bezeugter Beteiligung der Ptolemäer am Bau ägyptischer Tempel aufj von Ptolemaios I. bis Kleopatra VII.: nur ein Projekt liegt in Alexandria (erst unter Ptolemaios IV., die , siehe Huss 30). Vgl. z. B. Athenaios 7.276A—C zu den Lagynophoria, aus dem auch hervorgeht, daß das Königshaus und der inner drcle der Macht diese Feste nicht recht ernstnahm; siehe Hose (Anm. 63) 53; Weber (Anm. 65) 165-182; Kerkhecker (Anm. 64) 135. - Zur Bedeutung der Königsfeste als Identitätsbestätigung gerade für die Griechen in der Chora vgl Koenen (Anm. 81) 1. Kallixeinos bei Athenaios 5.196A-203B (= FGrHist 627 F 2), dazu E. E. Rice, The Grand Proeession of Piolemy Philadelphus, Oxford 1983, hier 180-182, der aber doch meint, ein «ideal syncretism» sei beabsichtigt gewesen; J. Köhler, Pompait Frankfurt am Main u. a. 1996, 114 mit Anrn. 405; zur rein griechischen Bildersprache 117-140, vor allem 131 f. Anm. 461.; zur Zielgruppe 165-168, vor allem 166 mit Anm. 582. So Koenen (Anm. 81) 23; Hose (Anm. 63) 53; doch vgl. R. Netz, The Shaping of Deducfiony Cambridge u. a. 1999, 282. G. Cambiano, Sapere e testualita nel möndo antico, in: P. Rossi (Hg.), La memona de/ sapere, Roma/ Bari 1988, 69-98, hier 82, deutet bereits die Verbindung von Bibliothek, nationaler Identität und Herrschaftssicherung für die Ptolemäer an. P. Kairo inv. 65445 (= Pack2 2642), ein Lehrerhandbuch (217-210 v. Chr., vielleicht aus dem Fayum) bietet u. a. eine umfangreiche IJste griechischer Eigennamen, die für die griechische Kulturgeschichte des 5. - 3. Jh. wichtig sind (Kallimachos begegnet uns in Z. 99); siehe B. Legras, L'enscignement de ITustoire dans les ecoles grccques d'Jigypte, in: B. Kramer u. a. "(Hgg.), Akten des 21. intern. PapyroLkongr. 1995, Stuttgart/Leipzig 1997, 586-600, hier 590. Ab dem 2. Jh. ändert sich das Büd: Legras 591 f., 600; allgemein Roberts (Anm/90) 265.
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hat107 und der sich auch in der bildlichen Repräsentation belegen läßt, an den Herrscherporträts und Münzbildern.10^ Der Januskppfigkeit politischer Symbolik entspricht der sozialgeschichtliche Befund, daß die gesamte ptolemäische Zeit hindurch mit der ägyptischen und der griechischen offenbar zwei Kulturen nebeneinander existierten, die wenig Neigung zeigten, einander zu durchdringen.109 Daß Ägypter vor der Schlacht von Raphia, in der Ptolemaios IV. Philopator 217 den Seleukiden Antiochos III. unter Aufbietung ägyptischer Truppenkontingente besiegte, höhere Verwaltungsämter und Militärposten nur sehr selten bekleideten, überhaupt in den Kreisen der griechischen Oberschicht nur ausnahmsweise anzutreffen waren,1*0 mag sich noch allein aus Sicherheitsgründen erklären. Daß Heiraten zwischen griechischen und ägyptischen Familien der oberen Klassen von beiden Seiten nicht gern gesehen waren und so gut wie nie bezeugt sind (die Nachkommen hätten auch in Alexandria keine bürgerlichen Rechte erlangt), schon weniger.111 Ägypter blieben auch aus dem Gymnasium und damit dem Ephebat, d. h, dem Zugang zu den; Bürgerrechten, faktisch ausgeschlossen.112 Das Mouseipn und seine Bibliothek waren rein griechische Institutionen, ägyptisches Wissen wurde hier allenfalls in griechischer Bearbeitung gehortet.113 Mit einer Selbstverständlichkeit, die der Attitüde einer kolonialen upper class der Neuzeit ähnelt,114 überließ die griechische Oberschicht die Zweisprachigkeit den aufstiegswilligen unter clen Ägyptern; nicht einmal als Lehnwörter übernahm sie Ägyptisches.115 Der erste Ptolemäer, dem Kenntnisse des Ägyptischen zugetraut wurden, war gleichzeitig 107
W. CJarysse bei Weber (Anm. 65) 387 Anm. 4; L. Canfora, La biblioteca scomparsa, Milano 1986, 178; Mendels (Anm. 98) 93; L. Koenen, The Ptolemaic King äs a Rejigious Figure, in: A. Bulloch u. a. (Hgg.), 'Images and Ideologes, Berkeley u.a 1993, 25-115, hier 25 (Anm.2 zur Begriffsgeschichte); Seiden (Anm. 66) 293. 108 Siehe R. R. R. Smith, HellemsttcXoya/Portraits, Oxford 1988, 39-45, 86-92. 109 So die derzeitige communis apinior. 2. B. Lewis (Anm. 72) 4, 26^ 29, 154 u. ö. mit zahlreichen Beipielen; Forschungsübersicht bei Koenen (Anm. 107) 26 Anm. 2. 110 Delia (Anm. 65) 149 mit Anm. 19. W. Peremans, Un groupe d'officiers dans l'armee des Lagides, Anc. Soc. 8 (1977), 175^-185, hier 181 f., weist nur sechs ägyptische Offiziere aus griechisch-ägyptischen Familien nach, alle erst aus dem 2./1. Jh. v. Chr. Strategen ägyptischer Abstammung rinden sich erst ab 150 v. Chr. (Lewis [Anm. 72] 57). Überblick dazu auch bei Weber (Anm. 65) 23 f.; 134. - G. Herman, The Court Society of the Hellenistic Age, in: P. Cardedge u.a (Hgg.)> Heüenistic Conrtructs, Berkeley u. a. 1997, 199-224, hier .223, liefert denselben Befund für alle hellenistischen Höfe abgesehen vom makedonischen. 111 Fräser (Anm. 72) 1.71 f. Lewis (Anm. 72) 28 f. stellt fest, daß intermarriage je weiter entfernt von Alexandria, desto früher und häufiger begegnet: die (wenigen) ptolemäischen Beispiele stammen aus Oberägypten. 112 Fräser (Anm. 65) 1.7.3 mit Anm. 281; G, Zanker, The Nature and Origin of Realism in Alexandrian Poetry,^ &A 29 (1983), 125-^145,139; Lewis (Arim. 72) 163 Anm. 21..Zum Gymnasium und Prosopograpischem vgl. Weber (Anm. 65) 148 Anm. 3, 155 f. 113 Die Traditionen über die nichtgriechisclien Literaturen in der Bibliothek sind spät und dubios: .dazu allgemein Fräser (Anm. 65) 1.330. Sichere Anklänge an die Septuaginta bei den hellenistischen Literaten finden sich meines Erachtens nicht (pace Canfota (Anm. 107] 111); ebenso J. Meleze Modrzejewskj, The T Jcws ofEgypt, Edinburgh 1995, 67. 114 Zum Problem, inwieweit Kolonialismus) als Begriff und Analogie zur Beschreibung des ptolemäischen Ägypten taugt, jetzt R. S. Bagnall, Decölonizing Ptolemaic Egypt, in: Cartledge (Anm. 110) 225-241, besonders 235 f. · 115 Vgl. Lewis (Anm. 72) 153 ff. Grundsätzlich dazu A; Momigliano, Alten Wisdom. The Limits of Hellenization, Cambridge u. a. 1975, hier 148 f., und B. Rochette, Sur le bilinguisme dans TEgypte greco-romaine, Cbron. d'Eg. 71 N° 141 (1996), 153-168, hier 155£ Natürlich hat es stets pragmatische Zweisprachigkeit gegeben: Übersicht bei Koenen (Anm. 107) 26 Anm. 2.
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der letzte Souverän der Dynastie: Kleopatra VII. Philopator.116 Übrigens fand ebenso eine vor allem religiös begründete Abgrenzung seitens der Ägypter gegen die Eindringlinge statt117 (welche dieser beiden analogen Abgrenzungstendenzen man als Ursache und welche als Reaktion ansehen muß, brauchen wir hier nicht zu entscheiden);118 doch scheint auf längere Sicht die ägyptische Gesellschaft stärker von der griechischen beeinflußt worden zu sein als umgekehrt.119 Daß Griechen noch im 2. Jh. v. Chr. die Bevölkerung Alexandrias in verschiedene, deutlich voneinander getrennte Gruppen unterteilten, wird aus einem Bericht des Polybios deutlich.120 Dieser an die Griechen gerichteten ptolemäischen Politik kultureller Abgrenzung gegen Ägyptisches steht gleichberechtigt die Betonung kultureller Kontinuität mit dem Stammland zur Seite. Nicht nur, daß die Ptolemäer (wie andere Diadochen auch) sich an die mythische Genealogie anschlössen,121 kann hier angeführt werden, sondern es ließen sich auch Maßnahmen wie der des attischen Staatsexemplars der Tragiker oder die Beerdigung Alexanders im Palastbereich in Alexandria nebst Einrichtung eines zugehörigen Kults122 in unmittelbarer Nachbarschaft des Mouseions aus dieser Sicht betrachten. Was sind schließlich Museion und Bibliothek anderes als Institutionen griechischer Identitätsund Kontinuitätspflege, also letztlich politisch-soziale Machtinstrumente, die ja deshalb auch in den Palastbereich integriert waren?123 (Mit dieser Funktion der Institutionalisierung von Museion und Bibliothek läßt sich durchaus vereinbaren, daß die Verbindung von Herrscher und Bibliothek enge Parallelen im Alten Orient findet, aus Griechenland hingegen nicht bekannt ist.124 Vielleicht übernehmen die Ptolemäer also dem Geist nach eine ältere Institution, deren Organisation allerdings vermutlich der Peripatetiker Demetrios anregt, die also nicht in dieser Tradition steht.) 116
Plutarch, Anton. 27 (927 F); Fräser (Anm. 65) 1.70 f.; skeptisch Kerkhecker (Anm. 64) 137. Für eine neue Zählung der Ptolemaioi und Kleopatrai siehe übrigens Huss (Anm. 96) 10. 117 Siehe z. B. die Kulttexte aus Dendera bei J. Assmann (Anm. 90) 437; allgemein Roberts (Anm. 90) 272. Es dürfte zu ständigen Reibereien zwischen den Bevölkerungsgruppen gekommen sein, wie etwa die Fälle aus der Kanzlei des Strategen Diophanes zeigen (222-218 v. Chr.; siehe Lewis [Anm. 72] 58-68). 118 Kai Trampedach hält die griechische Abgrenzung für eine Reaktion auf die ägyptische (dazu vielleicht Diogenes Laert 1.11 [= Manethon FGrHist 609 F17]). Für die Reaktivität des griechischen Desinteresses spricht immerhin, daß es sich um eine zweite Phase nach den Kontakten der Anfangszeit handelt (zu denen siehe oben). 119 Thompson (Anm. 91) passim, bes. 45 ££ 120 p0iybios bei Strabon 17.1.12 (797 Casaub.) unterscheidet als Bevölkerungsgruppen Alexandrias Ägypter, Söldner und ansässige Griechen. 121 Die Ptolemäer leiten sich von Herakles und Dionysos her (siehe z. B. die Adulis-Inschrift [Orient. Graf f. Inscr. SylL ed. W. Dittenberger , Nr. 54]; Satyros FGrHist 631 F 1); dazu U Huttner, Die politische Rolle der Heraklesgestalt im griechischen Hemchertum^ Stuttgart 1997, 124-129. 122 Dazu Pausanias 1.6.2 f.; vgj. z. B. Fräser (Anm. 65) 1.215; A. W Erskine, Culture and Power in Ptolemaic Egypt: The Museum and the Library of Alexandria, G& R 42 (1995), 38-48, hier 41 mit Anm. 18; Y. L. Too, The Idea ofAncient Library Criitcism, Oxford 1998, 117. 123 Zu dieser Perspektive siehe Canfora (Anm. 107) 167; Erskine (Anm. 122) 42 f£ und Too (Anm. 122) 122 f. Ähnlich sieht Lübbe (Anm. 88) übrigens noch die Funktion heutiger Musealisierung, 124 Allgemein dazu Canfora (Anm. 107) 190, der zu Recht die ägyptischen Parallelen betont. Daß bereits Peisistratos eine Bibliothek in Athen gründete, wie Gellius und Athenaios berichten, ist ganz unwahrscheinlich; siehe R. Pfeiffer, Geschichte der Klassischen Philologe* München 1978,23 f. Bibliotheksanekdoten, wie z. B. Erzählungen über die Sammelwut der Ptolemäer, finäen Parallelen in den Selbstdarstellungen assyrischer Könige (vgl. E. Speiser in: G H. Kraeling/R. M. Adams [Hgg.], Gty Invincible, Chicago/ Illinois 1960,108).
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Wenn also mit den Stichworten und
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Siehe Lewis (Anm. 72) 6. Soweit ich sehe, gibt es nur drei, evtl. vier Ausnahmen: die Erw hnung des δρόμος Ιερός Άνούβιδος in Heliopolis (Fr. ine. sed. 715 Pf.) und das Fr. ine. auct. 811 Pf. (Johannes Tortellius behauptet in seiner 1471 erschienenen De Orthographie da Kallimachos Quelle f r Senecas Schrift de sacris Aegyptiorum gewesen sei). In Fr; 383.16 Pf. (254.16 Suppl. hell.} findet sich au erdem eine Anspielung auf den Apisstier, dessen Name aber vermieden wird; ein Parallelfall im Fr. ine. sed. 655 Pf. (siehe unten Anm. 143). Der Nil in Fr. 384 Pf. dagegen erscheint als griechischer Flu , der Gl ckw nsche der griechischen Bev lkerung an Sosibios berbringt. Zu Isis und Sarapis als Adressaten von Votivepigrammen siehe unten Anm. 137. FGrHist 609 F14 und besonders F 15 (Περί εορτών); dazu Thompson (Anm, 91) 44. Eine Vorstellung von dieser Schrift vermittelt der Priester Kalasiris bei Heliodor, Aith. 2,78.1 ff. Fowden (Anm. 90) 53, So bietet z. B. der Hymnus auf Zeus 16—25 acht verschiedene Fl sse Arkadiens, die sich vermutlich auch in der Schrift Περί των εν τ$ οίκουμένη ποταμών fanden (Fr. gramm. 457-459 Pf.); hier w ren augh die vielen Gr ndungs- und Umbenennungsaitien zu erw hnen (z. B. Ait. I, Fr. 11.5 Pf.; Ait. II, Hr. 43 Pf.passim) und die Schrift Κτίσεις νήσων και πόλεων και μετονομασίαι (Pfeiffer Bei. l, S. 339). Eratosthenes bei Strabon 1.4.9 (66 Casaub.). So J. Blomquist, Alexandrian Science: The Gase of Eratosthenes, in: Bilde* (Anm. 91), 53^73, hier 64 ff. Immerhin stammt vielleicht die Rolle des Hermes als eines Weisheitslehrers in Eratosthenes* Hermes letztlich aus der gyptischen Vorstellung von Thot. Id. 15.46-50; doch auch diese Bemerkung dient erstens wieder der k niglichen Selbstdarstellung (Ptolemaios sorgt f r die Sicherheit der Stra en: v. 46 £) und stammt zweitens aus der griechischen Tradition: Gows Kommentar (S. 280 f.) fuhrt Aischylos, Kratinos und Platon an. «Theocritus seems to participate thereby with Callimachus in a conspiracy never to reveal that Egypt is not a Greek land.» (F. T. Griffiths, Theocritus at Court, Leiden 1979, 85).
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überstanden, darf man ohnehin bezweifeln: Die pharaonische Tradition der Geschwisterheirat134 wird von Sotades derart deutlich als Inzest geschildert, daß das Herrscherhaus einschreiten muß;135 der heilige Vogel Ibis gerät dem Kallimachos wegen seiner angeblichen Schmutzigkeit zum allegorischen Subjekt eines wilden Schimpfgedichts. Einige dieser Züge hat man als «Hellenic chauvinism» den Ägyptern gegenüber gebrandmarkt.136 Vielleicht am deutlichsten faßt die Tendenz dieser Einzelindizien der Befund zusammen, daß Sarapis und sein Kult nie den alten Göttern und ihren Kulten an die Seite gestellt werden, von keinem der Dichter eben des Hofes, der diesen Kult selbst eingerichtet hatte!137 Daß daneben einige Motive bei Kallimachos auch einen ägyptischen Hintergrund haben könnten^ kann den eben geschilderten Eindruck kaum entkräften, weil die entsprechenden Texte auch vor einer rein griechischen Tradition konsistent gelesen werden können und sogar primär gelesen worden sein müssen. Vor allem die Königsideologie der Ptolemäer weist auch in ihren griechischen Artikulationen bei unseren Hofdichtern deutliche Anklänge an die pharaonische Selbstdarstellung auf, in griechische Anschauungsformen übersetzt.138 Nur klingen diese Passagen in ihrer Unaufdringlichkeit nicht so, als ob sie Griechen mit einem neuen, ihnen widerstrebenden Konzept vertraut machen sollten,139 sondern eher, als ob Selbstverständliches, Allgegenwärtiges unwillkürlich miteinfließe. Allen Griechen in Ägypten war doch selbstverständlich bewußt, daß die Ptolemäer auch für Ägypter repräsentierten; sie sahen aber, wie die Werke unserer Dichter deutlich zeigen, keine Notwendigkeit, diese Repräsentation ihres Souveräns für die ägyptischen Untertanen als integralen Teil ihres eigenen griechischen Selbstverständnisses zu betrachten. 14°
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Doch siehe Assmann (Anm. 90) 413. Fr. l ColL Alex. Powell; Plutarch, De Kk educ. 14 (Mor. 11 A), Athenaios 14.620A. Dazu jetzt G. Weber, Hellenistic Rulers and Their Poets. Silencing Dangerous Cnucs?,Anf. Sot. 29 (1998/99), 147-174, hier 163 f£ Die Geschwisterehe im Herrscherhaus wurde von den Hofdichtern allerdings affirmativ behandelt: Theokrit, Id. 15.64; 17.131 ff; Kallimachos, Ait. 3, Fr. 75.4 f. Pf.; Fr. 392. Griffiths (Anm. 133) 85. Dazu Fräser (Anm. 65) 1.274; ders., Two Studies on the Cult of Sarapis in the Hellenistic World, in: OpusculaAtheniensia, 3. Bd., Lund 1960, 9 f. Das einzige Mal in den alexandrinischen Hofdichtern findet sich Sarapis als Adressat einer Bogenweihung von Kallimachos in Ep. 37 P£ erwähnt, Isis in Ep. 57 Pf., dort aber als Inachostochter, also in mterpretaüo graeca mit gleichgesetzt. Hymnen auf die neuen Götter hat unser Personenkreis also vermieden; ganz anders dagegen der Maiistas-Hymnus auf den delischen Sarapis (ColL Alex. S. 68-71 Powell). Das betrifft vor allem den 4. Hymnus und die Coma Berenices (Fr. 110 Pf.): vgl. dazu vor allem Koenen (Anm. 107) 81-84, 89-113 und jetzt Seiden (Anm. 66) 331-354, 401 f.; ein schlagendes Beispiel bei Koenen (Anm. 81) 60 Anm. 123 (Parallele zu Ptolemaios-Panegyrik [Hymn. 1.87) auf der Kubanstele über Rhamses II.). Diese Intention wird ihnen aber von den <Egyptianisers> (der Ausdruck nach R. Hunter) gerade zugeschrieben: Vgl. z. B. R. Merkelbach, Das Königtum der Ptolemäer und die hellenistischen Dichter [zuerst 1981], in: ders., Hestia und Erigone. Vortrage und Aufsaß Stuttgart/Leipzig 1996, 162-179, hier 173, 179. L. Koenen, Die Adaptation ägyptischer Königsideologie am Ptolemäerhof, in: E. van't Dack u. a. (Hg&), Egypt and the Hellenistic World, Leuven 1983, 143-190, besonders 157 ff.; neuerlich sehr überzeugend Koenen (Anm. 107) 29, 62 f., 81 und 113£ Natürlicher Adressat der von Merkelbach und Koenen angenommenen Integrationsbemühungen wäre vielmehr eine ägyptische Oberschicht mit Hellenisierungstendenzen gewesen, wie Walbank (in Erwiderung auf Koenen [Anm. 107], hier 123 fc; ähnlich jetzt Seiden" |Anm. 66] 349) treffend anmerkt. Dasselbe ergibt sich meines Erachtens aus der Analyse der ptolemäischen Herrschernamen, die Koenen (Anm. 107) 65 f. vorlegt.
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So gewinnt man den Eindruck, Kallimachos und seine Kollegen f hlten sich in einer ΆτίΚς εν Αίγυπτίοις.141 Der Kontrast zu dem starken Interesse griechischer Intellektueller an gyptischem, an das die Aigyptiaka des unter Tiberius schreibenden Apion (FGrHist 616) appellieren oder das noch sp ter der Romanautor Heliodor so lebhaft zeichnet,142 k nnte deutlicher kaum sein. Die wenigen u erungen ber gypten zeichnen berdies das Bild einer rigorosen interpretatio graeca.143 Insgesamt bleibt also ein deutliches Desinteresse seitens unserer Dichter gegen ber allem gyptischen festzustellen.144 Dieses Desinteresse l t sich als Teil oder Folge der ptolem ischen Abgrenzungspolitik verstehen. Ein summarischer Blick auf die Aitien als exemplarisches Werk zeigt, was sie zur offiziellen Politik der Kontinuit tspflege beizutragen hatten. Die Aitien bestehen bekanntlich aus einer F lle aitiologischer Kurzerz hlungen, jeweils noch angereichert durch untergeordnete Aitiologien. Einen Eindruck von der Vielf ltigkeit des verarbeiteten Materials kann schon die Reihe nur der bekannten Hauptarnen des ersten Buches vermitteln: Auf Paros wird den Chariten unbekr nzt und ohne Fl tenbegleitung geopfert (Frr. 3-7.18 Pf.), auf Anaphe praktiziert man Aischrqlqgie im Apollonkult (7.19-21 Pf.), im rhodischen Lindos dasselbe im Herakleskult (22 f. Pf.), die Dryoper siedeln sich auf der Peloponnes an und hei en nun (24 f. Pf.), in Argos t tet man im L mmermonat Hunde (26 ff. Pf.), damit verbunden die Gr ndungssage von Tripodiskos bei Megara (29-31 a Pf), die Artemisstatue in Leukadia tr gt einen M rser auf dem Kopf (31b-e Pf). Nun begegnet uns aber Aitiologisches durchaus nicht nur in diesem Werk: Mit Ausnahme der Epigramme liebt Kallimachos berall solche Aitiologien, wobei bemerkenswerterweise in der Regel einer Rahmenerz hlung mehrere Aitia zugeordnet werden, die entweder aus einem Bereich stammen und dann einander illustrieren (wie z. B. in der Hekale)145 oder in Kontrast zueinander stehen (wie z. B. in der Victoria Bere141
In Anlehnung an Meleagers Bezeichnung seiner Heimatstadt Gadara als *Ατθίς εν Άσσυρίοις (Anth. gr. 7.417.2 = Ep. 2.3985 Gow/Page). 142 Aith. 2.27: Hier best rmen Griechen den gyptischen Priester Kalasiris mit typisch Fragen, unter anderem auch nach den Pyramiden; mit einem Wort: συνελόντι των κατ* Αΐγυπτον ουδέ εν άπελίμπανον ίστοροοντες· Αίγυπτιον γαρ άκουσμα και διήγημα παν Ελληνικής ακοής έπαγωγότατον. Dieses Interesse d rfte in die allgemeine gyptenbegeisterung der Zeit einzuordnen sein. 143 bersicht ber das Material bei Weber (Anm. 65) 398; ein frappantes Beispiel daf r bietet auch Fr. 655 Pf. ( ber die alte gyptische Pflanze Persea, die von den Griechen auf Perseus zur ckgef hrt und von Alexander und den Ptolem ern genealogisch-kommemorativ vereinnahmt wurde: siehe Plinius, Nat. bist. 15.46). Diese Rigorosit t erstaunt um so mehr, als es ja bereits eine starke Tradition der interpretatio^ aegyptiaca griechischer. Religion und Kultur etwa durch Herbdot und Pl ton gab, woran mich Christoph' Riedweg erinnert. 144 Fr ser (Anm. 65) 1.685; Parsons (Anm, 91) 159. - Ch. G. Heyne stellte· schon 1763 fest, da in der hellenistischen Dichtung nichts gyptisches zu finden sei, kam aber auf eine andere Begr ndung; Poesis nihil ab Aegjptiis mutuari potuit; quandoquidcm ea gern nullam omnino poesin habtttsst videtor (De genio saeculi Ptolemaeorum, in: Qpuscula acad. coll,, vol. l, Gottingae 1785, 76-134, hier 92). Heyne st tzt sich auf antike Quellen, die aber gerade Zeugen f r das von uns postulierte Desinteresse sind, da der ethnologische) Befund Heynes nat rlich falsch ist. 145 Hier sind in die Erz hlung vom Ursprung des attischen Demos Hekaleios und eines entsprechenden Zeusheiligtums (dazu die Diegesis 11.4 ff., S. 65 Hollis), der auf die Begegnung von Theseus und Hekale zur ckgef hrt wird, andere mit Attika und Theseus verbundene Aitien eingelegt: z. B. warum ein bestimmter Haarschnitt Tbeseis hei t (Fr. 14 f. Hollis), warum es keine Kr hen auf der Akropolis gibt (Fr. 73 Hollis), warum der Rabe heute so schwarz ist (fr her, zur Zeit des aitiologischen Geschehens, war er bekanntlich schneewei : Fr. 15 ff. Hollis).
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nices).146 Von den Jamben sind der siebte bis zehnte als Aitien aufgebaut, der elfte erklärt ein Sprichwort (Fr. 197-201 Pf. mit den jeweiligen Diegeseis). Aitiologisches begegnet reichlich auch in den Hymnen.147 Man könnte diese Fixierung auf Aitiologie noch als Marotte eines Sonderlings abtmij wenn es sich nicht bei Apollonios ganz ähnlich verhielte: Die Reise der Argonauten ist gespickt mit Aitien;148 keine Rast, auf der nicht irgendein Kult eingerichtet, irgendein Wettkampf begründet oder ein Ort benannt wird, die noch in der Gegenwart des Apollonios eine Rolle spielen. Für Eratosthenes* Erigone und Euphorion ließe sich ähnliches zeigen. Bei dieser massierten Durchsetzung des Heldenmythos mit Aitien handelt es sich offenbar um ein beherrschendes Charakteristikum der hier betrachteten Literatur. Obwohl Aitiologien auch früher schon mythische Vergangenheit mit der Gegenwart verbanden und damit die Gegenwart deuteten (man denke etwa an den Schluß der aischyleischen Eumeniden oder des euripideischen Hippoljtos)^ nimmt das Aition erst bei Kallimachos eine derart prominente Stellung ein, daß es eine eigene literarische Form findet, eben die Aitien, und in beinahe jeder der anderen verwendeten Formen begegnet. Man könnte also für Kallimachos von einer obsessiven Beschäftigung mit der Vergangenheit sprechen. Das hat man schon früh gesehen - sich dann aber damit zufriedengegeben, diesen Zug als zu klassifizieren (in Analogie zum Interesse der deutschen Romantiker am Mittelalter)150 statt nach einer literaturexternen Funktion dieses Rückbezugs zu fragen (übrigens hätte von einer solchen Frage vermutlich auch die Betrachtung der deutschen Romantiker profitiert). Vor allem ging man davon aus, daß diese Dichtungen «alle ganz losgelöst von ihrer Zeit, zumal von dem Getriebe der Politik, von den Staaten und allem öffentlichen Leben» erscheinen.151 In der Struktur des Aitions jedoch liegt es, einen gegenwärtigen Zustand durch eine Handlung in der Vergangenheit zu erklären, so daß in der aitiologischen Erzählung die Gegenwart dem damaligen Rezipienten stets präsent geblieben sein muß. Diese Präsenz wkd durch die Aitiologizität ja gerade erst garantiert. Die aitiologisch zu erklärenden Fakten stammen in den Aitien alle aus der griechischen Welt, wobei nicht nur das griechische Stammland gut vertreten ist, sondern auch die Inseln, Kreta, das kleinasiatische Griechenland und die Kolonien.152 Die nötigen Fakten, das heißt Bräuche, Namen, Ereignisse, entnimmt Kallimachos Lokalhistorikern, von denen er einen, Xenomedes von Kos, auch nennt.153 Dasselbe gilt vermutlich für die Fülle von topographischen Einzelheiten, die den jeweiligen Erzählungen das nötige Kolorit verleihen. Etymolo146
Hier steht die Erzählung von der Begründung der Nemeischen Spiele durch Herakles (Fr. 265.5 f£ Suppl. hell.} neben einem Aition für Mausefallen (Fr. 259.32 ff. Suppl. beil.), die Molorchos konstruiert, ein armer Bauer, bei dem Herakles einkehrt Zu diesem Kontrast siehe Hose (Anm. 63) 56-58. 147 Z. B. Hymn. Ul -15; Hymn. 2.47-49; Hymn. 4.275 f£ 14 * Z. B. Ar&n. 1.1075-77; 2.713, 717-19; 3.203ff.; 4.990f., 1217-19, 1770-72. 149 Aischylos, Eum. 804 ff.; Euripides, Hipp. 1423 ff. Das früheste Beispiel bietet der Homerische Hymnus auf Hermes (v. 508); dazu allgemein G. Codrignani, U nella poesia greca prima di Callimaco, Conmium 26 (1958), 527-545. 150 Wilamowitz (Anm. 51) 1.88 f., 137,150,177; dazu Schwinge (Anm. 51) 165. 151 Wikmowitz (Anrn. 51) 1.3. 152 Als Ausnahmen sind die Behandlung der römischen Frühgeschichte (Ait. IV, Fr. 107 Pf.) und die Etymologie des Namens der Kelten (Galateia, Fr. 379 £ Pf.) zu nennen. 153 Ait. 111, Fr. 75.54 f£ P£ Weitere teils erschlossene, teils von antiken Kommentaren genannte Quellen: Timaios von Tauromenion, die argivischen Lokalhistoriker Agias und Derkylos, für Attika Philochoros, die Politeiai des Aristoteles: siehe Fräser (Anm. 65) 1.775.
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gien und Umbenennungen bilden innerhalb der Aitiologien eine gewisserma en sprachgeschichtliche Klasse f r sich, zu der aus allen Teilen der griechischen Welt gesammelte Glossen hinzukommen.154 Die sogenannten Schriften des Kallimachos sammeln solche Einzelfakten nach Sachgruppen (z. B. Umbenennungen, Gr ndungen) oder Objekten (z. B. Fl ssen, V geln, Nymphen, Monatsnamen) und lassen sich also als Vorarbeiten interpretieren.155 Die bei sorgfaltiger Verkn pfung der Erz hlstr nge konsequente und artifizielle Ordnungslosigkeit der vier B cher Aitien resultiert, in einem dichten, geradezu enzyklop dischen Netz aitiologischer Referenzen, die den griechischen Heroenmythos und die Fr hzeit mit der Gegenwart des Erz hlers und also auch des Rezipienten verklammern, der der aitiologisch zu erkl rende Sachverhalt ja entnommen wird. Durch die Vielzahl der Orte, genealogischen Bez ge und chronologischen Verschachtelungen entsteht in den Aitien eine gewisse Totalit t des Bezugs auf die griechische Vergangenheit: Anaphe steht neben Ikos, Herakles neben Koroibos (Fr. 30 P£), iilyrische Gr ndungssagen neben argivischen Monatsnamen; all das st ndig unterwandert von der Stimme des gegenw rtigen Erz hlers und sorgf ltig gerahmt durch Bez ge auf das alexandrinische Herrscherhaus.156 Welche Funktion k nnte solche Literatur f r die
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F r die Heikaie hat A. S. Hollis in seinem Kommentar darauf hingewiesen (Oxford 1990, S. 13). Siehe die oben Anm. 129 zitierten Jragnenta grammatica\ unter anderem sind auch Περί όρνέων (Fr. 414-428 Pf.), Περί νυμφών (Fr. 413 Pf.), Μηνών προσηγορίαι κατά έθνος και πόλεις (Pfeiffer Bd. l, S. 339) bezeugt. Prologus Fr. 1.40 Pf. (Schol. Lond.: Arsinoe macht Zehnzahl der Musen); A/t. IV, Fr. 110 Pf. (Coma Berenices)\ dazu Fr. 254-268 Suppi bell (Victoria Berenices, vermutlich der Anfang von Ait. HI) und schlie lich der Epilog der Aitien (Fr. 112.2 Pf. άνάσσης [unsicher, ob Berenike oder Arsinoe gemeint sind], 8 bittet Kallimachos f r den οίκος άνάκτων Zeus um Segen). P. Veyne, Les Grecs ont-ils cnt
leurs mytbes?, Paris 1983, 87;
Strukturell hnlich erkl rt Zanker (Anm. 112) 141 und 145 (vgl. auch ders., Realism inAlexandnan Poetry, London u, a. 1987, 229 f. u. .) das Interesse der Alexandriner an aitiologischer Literatur, die er als zu kompensieren, die von der erdr cken-' den kulturellen bermacht der gyptischen Hochkultur ausgel st sei ( hnlich Erskine [Anm. 122] 43). Drei Einw nde lassen sich erheben: 1. Griechen dominierten das Land milit risch, hatten mit Hilfe einer pragmatischen Schriftlichkeit eine straffe Verwaltung etabliert und durch Einfuhrung des Geldes eine leistungsf hige Wirtschaft aufgebaut, was gypter aus eigener Kraft nicht geschafft hatten. Pragmatiker h tten wohl keinen Grund f r eine Identit tskrise gesehen. 2. Gegen die pauschale Einsch tzung dieser Literatur als erheben sich Bedenken vor allem aus der Sicht der (unten besprochenen) antiquarisch-intertextuellen Eigenarten dieser Dichtung (dazu Asper [Anm. 2] 169 Anm. 163; insgesamt gilt Parsons [Anm. 91] 166), deren Wirkung viel eher eine «absichtsvoll erkennbare Verfremdung» sein d rfte (dazu in moderner Kunst Luhmann [Anm. 19] 625). 3. Realismus, d.h. sthetische Mimesis, dient in der Kunst nicht der Wirklichkeit, sondern fuhrt im Gegenteil von ihr weg (so berzeugend Schlaffer [Anm. 14] 149, der Aristoteles, Poet. 4.1448 b 9 ff. anfuhrt). So gesehen, w re realistische Kunst gar nicht in der Lage, das von Zanker diagnostizierte praktisch-politische Problem zu l sen (selbst wenn es tats chlich existierte). Da die hellenistische Dichtung es vielleicht doch k nnte, deutet
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auff llige Vielfalt der Herkunft dieser Aitien von Kyrene bis Milet und ihre abrupte Parataxe rindet eine Entsprechung in der vielfaltigen Herkunft der Griechen in gypten. Der Leser sieht sich gerade durch die Regellosigkeit der Anordnung mit einer Vielfalt konfrontiert, aus der infolge des aitiologischen Gedankens eine Einheit wird. Da die Aitien vorwiegend Kult- und Festaitien bieten, l t sich mit der Praxis der Griechen in gypten verbinden, ihre heimischen Feste auch im Ausland zu feiern (z. B. Fr. 178 Pf.) und sich so ein Zugeh rigkeitsgefiihl zu ihrer Heimatstadt zu erhalten. Ihre Feste haben also geradezu den Status kommemorativer Rituale.159 Die aitiologische Struktur des «auch jetzt noch» hat die Wirkung, das pers nliche Kulturwissen des einzelnen mit Gestalten etwa wie Herakles oder Theseus und lokalen Traditionen zu verbinden. Noch Polybios bezeugt, da die alexandrinischen Griechen sich an die gemeinsamen Br uche der Griechen zu erinnern versuchten160 und (das legt der Kontext der Stelle nahe) sich so von anderen Bev lkerungsgruppen Alexandrias abgrenzten, also einen identifikatorischen R ckbezug bten - einen R ckbezug als ethnische Gruppe, nicht nur als Auswanderer einer bestimmten Region. Von einer hnlichen Intention k nnte auch die Lekt re der Aitien geleitet gewesen sein, eines panhellenischen Diskurses ber Feste, Namen oder Sprachformen161 und Mythen, all das durch die poetic voice und mancherlei Panegyrik in engen Bezug gebracht zur alexandrinischen Gegenwart. F r diese These l t sich der beste Beleg aus den Aitien selbst beibringen: Kallimachos schildert ein Symposion anl lich eines Anthesterien-Fests, das der Athener Pollias in Alexandrien ausrichtet und wozu er andere, in Alexandrien fremde Griechen einl dt, unter ndern auch den Ich-Erz hler selbst.162 Wor ber aber unterh lt man sich beim Wein? ber Kultaitien aus den jeweiligen Heimatorten! Da man sich in dieser Runde angeregt ber Aitiologisches austauscht, fordert in diesem Zusammenhang nat rlich die Funktion des wohl fiktiven Symposions als Rahmen f r das aitiologische Gedicht. Vielleicht darf man sich aber auch Leseakte der Aitien selbst in dieser Weise vorstellen. Damit w rde das Werk seine eigene Funktion antizipieren und als Strukturmittel einbauen. Griechischer Vergangenheitsbezug, panhellenischer Rezipientenkreis und Ausgrenzung der nichtgriechischen Umwelt fanden in der Feier griechischer Feste und der gemeinsamen Erinnerung an die Gesamtheit der griechischen Herkunftsorte eine einfache Erkl rung. Die Gegenwart erh lt damit eine Perspektive in eine heroische, einheitliche, d. h. panhellenische Vergangenheit. So wird auch verst ndlich, warum die Ptolem er sich berhaupt um eine neue, nicht den alten Polisfesten verschiedenster geographischer Herkunft verpflichteten Festkultur bem hten: um die zentrifugalen Tendenzen der Einwanderer, die ihre verschiedenen, traditionellen Feste feierten, zu brechen und neu zu b ndeln. Damit lie e sich auch das spezielle Interesse an Gr ndungslegenden (κτίσεις) bei Apollonios und Kallimachos erkl ren.163 berall ist in der geradezu mutwilligen Kombination des Materials gegen zeitliche eben darauf, da sie nicht durchg ngig als einzusch tzen ist (was Zanker in seiner Monographie auch einr umt [wie oben, hier S. 230]). 159 Der Begriff nach Giesen (Anra. 89) 45. 160 p0iybios bei Strabon 17.1.12 (797 Casaub.) έμέμνηντο τοο κοινού των Ελλήνων έαους. 161 Die gemeinsame Sprache und damit die Abgrenzung von βάρβαροι bleibt nat rlich die n chstliegende Idendt tsbestirnrnmung: vgL z. B. Kallimachos Ait. I, Fr. 11.5 f. P£; Fr, ine. std. 515 Pf. 162 Fr. 178 P£ (= Fr. 89 bei G. Massimi a, Pisa 1996). 163 Die Fragmente der Κτίσεις des Apollonios (Alexandria, Kaunos, Knidos, Naukratis, Rhodos, Lesbos) in Cott. Alex. S. 5-8 PoweU. Zu Kallimachos vgl. Anm. 129.
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und örtliche Kontiguitätserwägungen der Wille zu einer neuen Einheit, einer Summe zu spüren. Der antiquarische Charakter der Aitien und ähnlicher Werke läßt sich also mit einer konkreten Funktion verbinden: der Rekonstruktion einer gemeinsamen vergangenen Umwelt und dem Nachweis, daß diese Vergangenheit in die gemeinsame Gegenwart hinein^ wirkt. (Zu dieser Funktion paßt der Nachweis, daß in hellenistischer Zeit die Kulte homerischer Heroen intensiver gepflegt wurden, von denen man ebenso annehmen darf, ihre Funktion sei es gewesen, Identitätsbildung durch Kontinuitätsnachweise zu fördern.164) Das Resultat dient zugleich als Demonstration einer gemeinsamen kulturellen Identität aller modernen Griechen.165 Aus einer ähnlichen Intention ließe sich möglicherweise .auch der Ajitrieb zu antiquarisch-philologischer Forschung überhaupt ableiten,166 als Kompensa^ tion einer Diskontinuitätserfahrung, durch die historisches Bewußtsein vielleicht erst entsteht.167 Mit anderen Worten: in der antiquarisch-aitiologischen Erzählung und der massiven Rekombination solcher Aitien zu neuartigen Erzählfolgen läßt sich die Fortsetzung der ptolemäischen Kontinuitäts-, Abgrenzungs- und Homogenisierungspolitik durch Kallimachos mit anderen Mitteln erkennen, und zwar literarisch-antiquarisqhen. Dieser Befund fugt sich dem Eindruck, den alle die Ptolemäer oder Zeitpolitisches direkt erwähnenden Passagen vermitteln.168 Allgemein gefaßt: , oder besser bestimmte Merkmale, die einen <Stil> ausmachen können, entpuppen sich also als Medium für Identitätskonstitution im Rezeptionsakt, wie es Lugowski169 und Eibl-Eibesfeldt generell festgestellt hatten. In diesem funktioneilen Bezug auf die wird der Öffentlichkeitscharakter dieser Literatur evident.170 Dieser wiederum kann erklären, warum die Ptolemäer ihre Dichter so engagiert gefördert haben: neben der mäzenatischen Repräsentation171 konnte^ wie in anderen Repräsentationsformen, auch in diesem Medium ein politisches Programm kommuniziert werden.172 164
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Dazu vgl. z. B. S, E. Alcock, The Heroic Fast in a Hdlenistic Presentj in: Cartledge (Anm. 110) 1997, 20-34, besonders 22,33 f.; M. Flashar, Panhellenische Feste und Asyl ·*· Parameter lokaler Identitätsstiftung in Klares und Kolophon, Klio 81 (1999), 412^436, hier 414. Ähnlich denken schon Roberts (Anm. 90) 267 und 271; sowie A. Dihie bei Zanker (Anm. 96) 103 Anm. 133; entgegengesetzt Seiden (Anm. 66) 325, 358. - O. Nikitmski, Kallinuuhos-StAdien, Frankfurt am Main u. a. 1996, versucht, an Einzelstellen und durch lexikalische Untersuchungen das Verhältnis des Kallimachos zur Vergangenheit zu fassen (103-124, 157-206). Tpo (Anm. 122) 117-150 versucht jetzt, alle Züge alexandrinischer Philologie und ihrer Institutionen auf diesen politischen Zweck zurückzuführen. Als generelle Regel für moderne «Identitätsdiffusion» bei Lübbe (Anm. 88) 18. So berührt sich in Fr. 379.2 Pf. die Formulierung ' * über die Galater unter Brennos sogar mit offiziellen Inschriften: dazu G. Petzl, Kein Umsturz/beim Galater-Überfall auf JQelphi, ZPE 56 (1984), 141 -144. Lugowski (Anm, 26) 10 und 14 zur Ausgrenzung anderer als Mittel zur Gruppenidentität. Vgl. Flashar (Anm. 164) 413 zur Verbreitungstendenz von Identitätskonstruktionen. Meines Erachtens hebt also Weber (Anm. 65) 165 ff., 319ff. und 41 i ff. mäzenatische Repräsentation etwas zu einseitig als Motiv hellenistischer Dichterförderung hervor. — Folgenreich war Pfeiffers Annähme, der hellenistische Dichter habe in einem totalitären) Regime wie dem ptolemäischen seinen Wirkungskreis möglichst klein gehalten (Anm. 52, S. 73). Sie geht offenbar von der (unbegründeten) Prämisse aus, Dichter könnten solche Regimes nie unterstützen. Anders Seiden (Anm. 66) 409-411, der wie Schwinge (Anm. 34) passim wieder an Opposition durch Artifizialität denkt. - Daß Texte politisch überhaupt wirken konnten, setzen wir voraus. M. I. Finley, Censorship in Classical Antiquity, Times Lit. SuppL 76 (1977), 923-925, hier 924 bestreitet das für das
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Nun war oben von dieser noch eine ), ist allein schon durch die Institutionalität von Museion und Bibliothek gewährleistet, die Steuerbefreiung, materielle Sicherheit und andere Privilegien mit sich brachte und genügend Gelegenheit zur Selbstabgrenzung geboten haben dürfte.173 Man beneidete diese Leute, was in mancherlei Polemik noch faßbar ist,174 auf die unsere reagiert haben dürfte: die elitistische Selbstbeschreibung des Kallimachos findet hier eine soziologische Erklärung. Das Bewußtsein der Zugehörigkeit zu dieser kleinen Gruppe spiegelt sich direkt in einigen Fragmenten, am deutlichsten im 1. Jambus, der als Beispiel dafür diene, wie solche Texte auf unsere Gruppen gewirkt haben könnten: Hier erscheint der versammelten Philologenschaft in Alexandria der archaische Jambiker Hipponax, auferstanden von den Toten. Er kam herauf, um die notorische Zerstrittenheit der Philologenschaft durch einen Appell zur Einigkeit zu beenden: Dieser Appell besteht aus der Parabel, wie die Sieben Weisen, vor das Problem gestellt, einem von ihnen den ersten Preis zuzuerkennen, diesen in vorbildlicher Bescheidenheit von einem zum anderen geben. Mit besonderem Augenmerk auf Gemeinschaftsstiftung ließen sich etwa folgende Wirkungen ausmachen: Der (kleinen Gruppe) wird exklusiver Status zugebilligt; ihr erscheint offenbarungsgleich ein toter Dichter. Außerdem wird ihnen die Ehre eines Vergleichs mit den Spitzenköpfen der archaischen Zeit, den Sieben Weisen zuteil - was läge näher, als daß die bei der Rezeption dieses Textes sich als Avantgarde des modernen Wissens fühlten? In beiden Fällen wird die Distinktion durch implizite Abgrenzung von der großen Gruppe gewährleistet. Doch kommt auch diese bei der Lektüre auf ihre Kosten: Erstens werden einzelne Philologen in lebendigen Farben und mit parodistischer Absicht geschildert, zweitens läßt sich der Einigkeitsappell natürlich in einem naheliegenden allegorischen Schritt auf alle Griechen in fremder Umwelt ausdehnen. So werden die Sieben Weisen ethisches Paradigma des Griechentums. In ein und demselben Text sieht sich also die als Gruppe bestätigt, auf deren Kosten die sich amüsiert, und schließlich wird ihnen ihre Zusammengehörigkeit vor Augen geführt. (In gewisser Hinsicht erinnert das Funktionieren dieses Texts etwa an den modernen Campusroman, der in der Regel die Universität als Institution bejaht, aber bestimmte Entartungsformen karikiert und kritisiert, so daß sein Erfolg bei Universitätsangehörigen wie l^icht-Universitätsangehörigen gleichermaßen garantiert ist.) Eine solche Appellstruktur ist allerdings ein Sonderfall auch innerhalb des kallimacheischen Werks; in den Aitien etwa kommen so direkte Selbstbezüge offenbar nicht vor. Und doch übernehmen sie eine spezifische Funktion auch für die
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Athen des 5. Jh. Die Situation dürfte sich allerdings später geändert haben: man denke nur an das Töpferorakel (ca. 130 v. Chr.). Fräser (Anm. 65) 2.470 f. Anm. 84, 2.870 Anm.2; Canfora (Anm, 107) 111; Überblick bei Erskine (Anm. 122) 38. Zum Gruppenbewußtsein der alexandrinischen Philologen Parsons (Anm. 91) 156 mit Hinweisen auf Philikos Fr. 677, Timon Fr, 78tf SuppL M.; siehe auch Asper (Anm. 2) 144.
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Nicht anders als die (große Gruppe> war auch die in ihrer alexandrinischen Umwelt ein Resultat neuartiger Möglichkeiten. Gruppenstützende Mechanismen, ja eine Identität als mußten erst entwickelt werden. Man war zwar privilegiert durch den Zugang zu Hofkreisen und zum Wissen, aber gerade das Bewußtsein von literarischer Tradition, das sich bei der Organisation der alexandrinischen Bibliothek notwendig und mit neuartiger Radikalität eingestellt haben muß, barg auch eine unwillkommene Konsequenz. Wer war man denn im Vergleich zu den literarischen Heroen der Vergangenheit, den Klassikern?175 In einem agonalen literarischen System, das Neuheit traditionell so hoch bewertete wie das griechische,176 mußte hier eine Gefahr liegen. Die Schwierigkeit, seine eigene Identität aus einer, aber gleichzeitig^^/? eine übermächtige Tradition zu bestimmen, ist eine, die sich notwendig aus der schriftlichen Überlieferung und Akkumulation von Wissen mit ihrem Variations- und Innovationsdruck ergibt. Das können ebenso altägyptische wie moderne Parallelen zur berühmten Epigonieklage des Choirilos zeigen,177 die sich aus demselben Verhältnis von Schrifttradition und Originalitätsgebot ergeben. Wiederholung und Innovation werden sinnvolle Kategorien erst in einer schriftlichen Tradition.178 In dieser Problemlage wird nun das zweite Hauptmerkmal unserer Werke relevant, ihr eminent intertextueller Charakter, der einen wesentlichen, vielleicht den auffälligsten Zug der neuen Qualität älexandrinischer Dichtung ausmacht. Man könnte ihn als «Rückzug auf eine nicht referentialisierte Autonomie der Sprache» verstehen,179 das hieße im Sinne der l'artpour /W-Einschätzung letztlich als Funktionsverweigerung. Eine Alternative dazu bietet wieder die Suche nach einer außersprachlichen, übertextuellen Funktion dieser im Sinne Lugcws\asforwa/en EigentümHchkeiten. Unsere These lautet, daß die Funktion dieser extremen Intertextualität einerseits in der Abgrenzung von der liegt (das ist fast banal), andererseits in der Selbstbe$timmung gegenüber der literarischen Tradition. Wie nun das? Intertextualität läßt sich bestimmen .als Gewinn von Bedeutung durch den Bezug auf andere Texte; derartiges begegnet in älexandrinischer Dichtung in zwei Formen: einmal als Bezug auf Gattungen durch Anklänge an deren typische Elemente. So zeigt die oben bereits erwähnte Victoria Berenices mancherlei Parallelen zu Pindars. Epinikien. In den Götterhymnen des KalHmachos finden wir Elemente, die auch die Homerischen Hymnen bieten und die Kalliniachos und sein Publikum vermutlich auch dorther kennt. Diese Art von Intertextualität arbeitet mit vagen Ähnlichkeiten, um Assoziationen auszubeuten, die mit den jeweiligen Prätexten verbunden werden. Um sie zu verstehen, ist aber keine philologische Kenntnis dieser Prätexte nötig, sondern.nur eine allgemeine Vertrautheit mit deren 175
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Der Begriff des ist hier strenggenommen hoch eine anachronistische Kategorie: ein literarischer Kanon hat sich erst in der Folgezeit herausgebildet. Vgl. überblicksNveise meinen Artikel , in: Hist worterb, d. Khet. 4 (1998), 869 - 882, r>ier 872 f. Dazu Asper (Anm. 2) 72 mit Anm. 207; Parsons (Anm. 91) 163 f. Choirilos von Samos Fr. 317 SuppL bell, mit deutlichen Parallelen zur «Klage des Chacheperreseneb> bei J. Assmann, Kulturelle und literarische Texte* in: A. Loprieno (Hg.), Äncient Egyptian Literatur*, Leiden u. a. 1996, 59-82, hier 73 f.; etwas anders deutet diesen Text G. E. R. Lloyd, The Revolution* of Wisdom, Berkeley/Los Angeles 1987, hier 55 f. Anm. 21. Zum Phänomen aus komparatistischer Sieht A. Assmann, Die bessere Muse, in: W. Haug/B. Wachinger (Hgg.), Innovation und Originalität, Tübingen 1993,175-195, hier 175-178. Anders Luhmann (Anm. 19) 631 und 641 f. E. Kleinschmidt, Gleitende Sprache, München 1992, 212 über einen typischen Zug der literarischen Moderne.
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Gattungen in ihren Funktionsbezügen. Wer gelegentlich ein pindarisches Epinikion gehört hat, wird sich bei der Lektüre des Berenike-Gedichts daran erinnern und unwillkürlich die Spannung von Ähnlichkeit und Differenz zu dieser Gattung empfinden. Diese Art von genetischer Allusion, die Genette nennt,180 dürfte auch die ,182 ihrer Selbst-Definition.183 Diese Architextualität muß demnach als eine affirmative Intertextualitätsform betrachtet werden, die das «Abgetrenntsein von der eigenen Geschichte»184 kompensiert, sich also in die Politik der Kontinuitätspflege eingliedert.185 Auf diese Weise läßt sich auch erklären, wieso im Werk des Kallimachos so wenige offensichtliche Bezugnahmen auf die großen Werke der athenischen Klassik begegnen: die archaische Zeit war ja viel besser für eine identitätsschaffende Anknüpfung ptolemäischer Ideologie geeignet, einmal wegen der dezidiert panhellenischen Tendenz ihrer Werke, dann wegen ihres monarchieorientierten Gesellschaftsbildes.186 Beides findet eine sehr konkrete Entsprechung in den zwei oben bereits erwähnten Personenkreisen, auf die das ptolemäische Regime vor Raphia seine Macht stützte: den griechischen Söldnern und den griechischen in der Nähe des Hofes. Ihrer aller Loyalität galt in erster Linie dem Monarchen.187 Ein Mittel, sich der Loyalität dieser Gruppen zu versichern, bot der Appell an ein panhellenisches Gemeinschaftsgefühl, in dem sich griechische ortsansässige Bürger, Söldner und auswärtige Spezialisten als Einheit fühlen konnten. Am Beispiel der Adressaten und 180
G. Genette, Palimpsestes. La Ktierature au seconddegre, Paris 1982, 7 und 11; zu Intertextualitätsdebatte und hellenistischer Dichtung jetzt Ch. Cusset, La muse dam la bibliotbeque. Reecriture et intertextualite dans la poesie alexandrine, Paris 1999, hier 7-14. 181 Siehe auch Bing (Anm. 69) 75, der allerdings nicht nach Adressatengruppen differenziert. 182 Der Begriff stammt von Clifford Geertz und meint Texte, die kulturelle Identität reproduzieren und vermitteln: vgl. J. Assmann (Anm. 177) 68 f., der auch Homer als Beispiel anfuhrt (69); zu dessen Funktion im hellenistischen Ägypten vgl. schon Roberts (Anm. 90) 268. Zu kulturellen Textern allgemein siehe auch A. Assmann, Was sind kulturell^ Texte?, in: A. Poltermann (Hg.), Literaturkanon Aiedienereifftis - Kultureller Text, Berlin 1995,232-244, hier 237 ff., 241: «Adressat des kulturellen Textes ist der Leser als Repräsentant eines Kollektivs f...].» 183 Jetzt ähnlich Schmitz (Anm. 13) 168. t84 Schwinge {Anm. 51) 177; er verweist auf U v. Wilamowitz-Moellendorff, Die griechische Literatur des Altertums, in: ders. u. a., Die griechische und lateinische Literatur und Sprache, Leipzig/Berlin 31912, 140: «die Vergangenheit der eigenen Nation redet zu ihm nur aus Büchern.» 185 Daß natürlich eine sympathielenkende Wirkung auch darin Hegen dürfte, den Leser Anspielungen erkennen zu lassen, hat Schmitz (Anm. 13) 157 gezeigt Das bedeutet allerdings, daß Anspielungen in diesem Sinne generell sympathielenkend sind, weil unentschlüsselbare Anspielungen, jedenfalls für dieses Milieu, nicht denkbar sind. 186 So auch Merkelbach (Anm. 139) 170. 187 Dementsprechend klassifiziert Kerkhecker (Anm. 64) 141 ff. unsere Dichter wegen ihrer Fixierung auf eine Person eher als «dynastisch», weniger als höfisch. Ptolemäische Dichterpatronage und Söldnersystem bringt Too (Anm. 122) 119 und 121 in Analogie.
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wahrscheinlich Auftraggeber der Epigramme des KalJimachos haben wir oben gesehen, wie heterogen diese Gruppe gewesen sein dürfte. Möglicherweise erklärt sich übrigens auch das neue Interesse an griechischen Dialekten, das sich gerade bei Kallimachos im Nebeneinander verschiedener Dialekte in einer Gattung äußert,188 aus der heterogenen griechischen Einwandererschaft. Auch etwa das Lehrpensum des Gymnasiums in der Chora läßt sich als Versuch interpretieren, an Identitätsstiftung £u arbeiten,189 ebenso die Entstehung und Verwendung von Anthologien klassischer und zeitgenössischer Texte. 19° Ein solches Publikum wäre gewiß entzückt gewesen etwa von der Lektüre des Zeüshymnos, der eine Fülle kretischer und arkadischer Orte nennt, oder von der Schilderung eines Ritus auf Lindos (Ait. I, Fr. 22 f. Pf.). Der Appell, den die Nennung der Herkunftsorte erzeugte, verband sich mit dem Nebeneinander dieser Herkunftsorte in der neuen Dichtung; Atchitextualitätj so schließen wir, muß also nicht notwendig ausschließlich als selbstreferentielles Spiel esoterischer Zirkel betrachtet werden; in diesem Fall kann die Lektüre intertextueller Texte auch eine außerliterarische Funktion unterstützt haben, nämlich die Aktualisierung politisch-ideologischer Programme mit Hilfe bestimmter Prätexte. Neben dieser für alle Leser bestimmten Architextualität findet sich aber noch eine weit exklusivere Form der Intertextualität bei den alexandrinischen Dichtern: Bezüge auf Sekundärliteratur öder Streitfragen vor allem der Homerphilologie, d. h. die Zenodots, konstituieren durch Allusion eine zweite Bedeutung bestimmter Wortverbindungen. Abseits der jeweiligen narrativen Information bieten die Werke unserer Dichter ihren Lesern stets auch eine Reiseführung durch den Homertext,191 in ständiger Nachahmung und variierender Bezugnahme auf lexikalische Raritäten, metrische Eigentümlichkeiten, Motive oder Szenen. Dafür findet sich eine Fülle von Beispielen; man hat das als <arte allusiva> seit langem genau erforscht.192 Ihre Anspielungskunst ist so allgegenwärtig, daß sie sogar erfolgreich zur Rekonstruktion des voraristarchischen Homertexts und seiner Diskussion eingesetzt werden kann. Auch dieser Zug ist nicht auf Kallimachos beschränkt, wir finden genauso eindrucksvolle Beispiele bei Apollonios, Arat oder Lykophron.193 Aus dieser Sicht ist alexandrinische Dichtung (mit den Ausnahmen Theokrit und Herondas) stets «prak-
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KalJimachos experimentierte mit Dialekten genauso wie mit Metren und Gattungen: So ist z. B. der 6. Hymnus in literarischem Dorisch abgefaßt, ebenso wie Ep. 46 Pf. Die Jamben zeigen am deutlichsten die Variation literarischer Dialekte (ionisch in lamb. l -5, 8, 10,12,13; dorisch in 6, 9,11; ein äolisierendes Dorisch in 7); in lamb. 13 (Fr. 203 Pf.) präsentiert sich Kallimachos in Auseinandersetzung mit einem anonymen puristischen Kritiker, der diese Dialektmischung angreift (dazu jetzt A. Kerkhecker, Callimacbus' Book o/lambi, Oxford 1999, etwa 257). . R. S. Bagnall, ^Administration ofthe Ptölemaic Possessions Outside Egypt, Leiden 1976, 238. Zu einem Beispiel (P. Firmin Didot) D. J. Thompson, Memphis under the Ptolemies, Princeton 1988, -259 f.; A. Carneron, The Greek Anihology, Oxford 1993, 7. Ähnlich über Apollonios R. Hunter, The Argonautica of Apollomus. Uterary Stodies, Cambridge 1993, 172; von Kallimachos ließe sich dasselbe behaupten. Der Begriff nach G. Giangrande. Zur Sache verweise ich nur auf A. Rengakos, Homerische Wörter bei KalJimachos, ZPE 94 (1992), 21—47; ders., Der Homertext und die hellenistischen Dichter, Stuttgart 1993, vor allem 38-48, 169 ff.; einen systematischen Überblick der Verwendung homerischer durch hellenistische Autoren liefert jetzt Cusset (Anm. 180) 29-116, typischer Szenen 263-288. Vgl. die Liste «Homerischer Wörter in den Argonautika» bei A. Rengakos, Apollonios Rhodios and die antike Homererklärung, München 1994, 28-150; zu Arat und Lykophron ders,, Homertext (Anm. 192), 165 ff.
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tizierte Philologie».194 Im Unterschied zu ist bei dieser Form von Intertextualität nicht nur eine präzise Kenntnis des Prätexts, sondern auch noch die seiner philologischen Erforschung unverzichtbar, um diesen Zug wahrzunehmen und damit die verschiedenen Bedeutungsebenen und ihre Interaktion zu erkennen. Das bedeutet aber, daß dieser Zug sich nur an die (kleine Gruppe> richten kann. Solche Allusivität ist verantwortlich für die Bestimmung des Kallimachos als eines elitären Literaten,195 mit der aber eben nur eine partielle Beschreibung seines GEuvres erreicht wird.1% Doch zurück zu unserer Funktionsfrage! Die abzusetzen,197 für die eine solche Bedeutungsebene nicht existierte (die den Text aber natürlich auf der primären, d. h. einer narrativen, Ebene verstanden haben wird). Intertextualität bekommt so den Status eines «jeu distinctif»,198 eines Abgrenzungsspiels. Außerdem hat diese Intensität des philologischen Bezugs auf andere Texte und Kommentierungsprozesse die Wirkung, Reflexionen über Texte anzuregen und damit autoreferentiell zu wirken,199 zumal die eigene Institution ja der Ort dieser prätextuellen Sekundärliteratur ist. Man könnte mit Lugowski einwenden, daß durch Reflexion über Dichtung ihre gemeinschaftswirkende Funktion zerstört werde.200 Doch wenn sich eine Gruppe gerade durch Textpflege selbst als Gruppe versteht, muß für sie ein solcher Text im Gegenteil Identitätsbestimmung in potenziertem Maße bedeuten. (Zweifellos ist das der Grund für die gegenwärtige Beliebtheit der Alexandriner ausschließlich in Philologenkreisen.) Möglicherweise suchte eine von der Suda dem Kallimachos zugeschriebene Schrift namens derartige Wirkungen.201 Die Gruppe der Kenner konstituiert sich in der Lektüre also ebenso wie die der Nichtkenner, die der Kenner über Merkmale, die der Nichtkenner gerade nicht wahrnimmt, die seine Identifikationsarbeit also auch nicht behindern können. Doch darüberhinaus wird hier natürlich auch eine Möglichkeit dokumentiert, wie man aus der übermächtigen Tradition, für die vor allem Homer steht, der unerreichbare Heros,202 gerade Originalität gewinnen kann, worin der Fortschritt gegenüber der literarischen Vergangenheit liegt Der Ausweg aus der Epigonalität liegt gerade in der vollständigen Aneignung der Klassiker, aufgrund der ja gerade erst Epigonalität entstehen konnte. Auch hier wird das grammatische Schrifttum, speziell Homerzetematik, zu Vorarbeit und Parallelaktion von Dichtung. Man hat sich gefragt, ob diese, präzise Intertextualität affirmativen 194
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Rengakos, Apollonios (Anm. 193) 179. Wie sich diese philologischen Bemühungen bei der Konstitution eines neuen Sinns auswirken, hat P. Kyriakou, Homeric Hapax Legomena in ibe Argonautica ofApollonius Rhodius, Stuttgart 1995, an Einzelszenen zu zeigen versucht. Wilamowitz (Anm. 51) 1.52, 51. Das ist inzwischen communis opinio\ vgl. z.B. G.Mastromarco, TJje Public of Herondas, Amsterdam 1984, 74-77. Das gilt für Kerkheckers Bonmot «Diese Dichtung ist Fußnotendichtung.» (Anm. 64, S. 143) ebenso wie für Cussets «la Muse s'est refugiec dans la Bibliotheque» (Anm. 180, S. 379). Dazu vgj. auch Schmitz (Anm. 13) 164 f. Zu diesem Begriff siehe Bourdieu (Anm. 29) 431. Also keineswegs realistisch (pace Zanker [Anm. 112]), da die vermeintliche (= fiktive) Realität wieder auf einen Prätext zurückgeworfen und damit als Fiktion enttarnt wird. Dieser Gedanke Lugowskis (Anm. 26, S. 11) rekurriert auf W. Dilthey, Einleitung in die Geistesnissenscbafien, 1. Bd. (Gesammelte Schriften \. Bd.), Göttingen/Stuttgart 71973, 141. Pfeiffer Bd. l, S. 339 fuhrt sie unter denfragmentagrammatica\vgl. auch das (Fr. 380 Pf.), aus dem aber ein Distichon überliefert ist. Material bei Asptr (Anm. 2) f22 £ mit Anm. 66.
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oder destruktiven Intentionen entspringt, d. h. Affirmation der literarischen Tradition oder ihre Destruktion zugunsten einer Moderne bezweckt.203 In die Falle dieser scheinbaren Alternative braucht man aber jetzt gar nicht mehr zu tappen: eine Form der Intertextualität, die die Reflexion über Klassiker wiederum poetisch umsetzt, kann eben gleichzeitig den Klassiker feiern (denn der bedingt letztlich die intertextuelle Bedeutung des modernen Texts), und sich daneben trotzdem selbst behaupten (denn der moderne Literat konstituiert ja erst die Bedeutung des neuen Textes in Dtfferm^ zum Klassiker).204 Somit ist auch für dieses Merkmal hellenistischer Dichtung eine Funktion erkennbar geworden; ein markantes Beispiel für die oben postulierte Rezeptionswkkungj&/>5%z/
IV. Die Aitien und ähnliche frühhellenistische Literatur richten durch Abgrenzung nach außen, enzyklopädische Sammlung von Vergangenheitserzählungeh und Kontinuitätskonstruktionen einen homogenisierenden Appell einerseits an die , durch Abgrenzung gegen diese und Intertextualitätsmechanismen andererseits einen Appell an die . Die vielen Prosaschriften unserer Dichter unterstützen dabei, so viel sich aus den Fragmenten noch erkennen läßt, nicht nur die Abfassung der poetischen Werke,205 sondern sind auch von einer auffalligen Gleichartigkeit der Tendenz gekennzeichnet: sie erforschen eine panhellenische206 Vergangenheit mit sprachlich-antiquarischem Interesse^ Nur von der Warte unserer philologischer! Tradition gesehen, geraten sie in die Nähe von <Sekundärliteratun.207 Die auf Philitäs geprägte Formel könnte eben nicht nur das dialektische Zusammenspiel zweier grundverschiedener Betätigungsfelder bezeichnen,208 sondern gerade das Verfolgen desselben Ziels, nämlich die Anknüpfung an Vergangenheit zum Zwecke der Identitätsbildung, nur in unterschiedlichen Medien.209 Ziel dieser Aktivitäten ist es offenbar gewesen, über die Konstruktion einer gemeinsamen Tradition (in der Philologie) und ihre öffentliche Etablierung (in der Dichtung) die heterogenen Grüppchen der eingewanderten Griechen mit ihren zentrifugalen Tendenzen zu homogeni-
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Für Destruktion siehe den «effetto deepicizzante» bei Bonelli (Ahm. 38) 10-14; B. Effe, Klassik als Provokation. Tradition und Innovation in der alexandrinischen Dichtung, in: W Vosskamp (Hg.), Klassik im Vergleich, Stuttgart/Weimar 1993^ 317-330, Vgl. auch Too (Anm. 122) 129; Diese Gewichtung kehrt Kerkhecker (Anm. 64) 136 f£ jetzt um: Gegenstand der Förderung sei eher die Forschungstätigkeit als die Dichtung gewesen. Auch too (Anm. 122) 117-150 scheint die Dichtung eher als Appendix der «grammatischem Tätigkeit aufzufassen als umgekehrt. Siehe Erskine (Anm. 122) 45: «Callimachus' Tabks are divided by genre^not by geography.» Schlaffer (Anm. 14) 128 f. zu ähnlichen neuzeitlichen Erscheinungen. So faßt man es heute meist auf: vgl. Schwinge (Anm. 51) 172, während Wilamowitz (Anm. 51) 1.161 von einer technischen Ähnlichkeit ausgeht. - Über Philitas weiß man wenig: Er kam mit der ersten Ptolemäergeneration ins Land und etablierte am Hof oder am Mouseioa offenbar die charakteristische Doppelstruktur von Gelehrsamkeit und Dichtung: Vermutlich verfolgte er also bereits die Intentionen, die ich' hier KalJimachos zuschreibe. J. Goody, Tfje Interface beteten the Written an4 tbe Oral, Cambridge u. a. 1987, 285 findet eine ähnliche Wirkung übrigens bereits in den Archaismen altägyptischer Schriftlichkeit.
Gruppen und Dichter: Zu Programmatik und Adressatenbezug bei Kallimachos
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sieren, zu einer <Erzählfamilie> zusammenzuschließen.210 Dabei scheint der Versuch einer Selbstvergewisserung durch den Aufbau und die Präsentation eines kollektiven Gedächtnisses vorzuliegen.211 Die charakteristischen Züge unserer Dichtung verfolgen also eine deutliche Intention.212 Bei Kallimachos und seinen Kollegen wird der Bezug zum zeitgenössischen Publikum entgegen verbreiteten Einschätzungen besonders deutlich: Sie arbeiteten, wenn unsere Hypothesen stimmen, in einem kulturellen Klima, dessen Grundzüge, die skizzierte deutliche Gruppentrennung und gemeinsame Abhebung von einer kulturell andersartigen Umwelt vorher nie und auch im griechischen Ägypten selbst schon im 2. Jh. v. Chr. nicht mehr gegeben waren: Denn Einheimische stiegen ab dem Ende des 3. Jh. zunehmend in die ehemals griechischen Funktionseliten auf, korrespondierend nahm die Immigration von Griechen ab.213 Demnach sind auch die Charakteristika dieser hellenistischen Dichtungen, d. h. Exklusivität der Totalentschlüsselung für eine kleine Gruppe bei gleichzeitig hoher narrativer Kunst, die ein Teilverständnis attraktiv auch für eine größere Gruppe bleiben läßt, mit diesem Epochencharakteristikum der Ausdifferenzierung einer Spezialistengruppe, eben unserer Philologen, zu erklären. Zuspitzend könnte man behaupten, daß derartige Literatur zu ihrer vollen Entfaltung eines heterogenen Publikums geradezu bedarf: wenn die Formel tow durch Stil findet offenbar noch nicht statt.215 Das scheint die Kallimachos-Rezeption in Ägypten zu bestätigen, die gerade nicht nur auf die Zentren der Gelehrsamkeit oder überkompetente Leser beschränkt ist.216 Kallimachos hatte auch in der Chora 210
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Der Begriff bei Schmidt (Anm. 16) 390; auch seine Funktionsbestimmung («Erzählfamilien werden zur Begründung, Bewertung und Legitimation gegenwärtigen Verhaltens eingesetzt») läßt sich leicht auf unsere übertragen. Schmidt (Anm. 16) 393 zum Zusammenhang zwischen «sozialer Autobiographie» und «gedächtnisbasierten Erzählungen». Pace Parsons (Anm. 91) 169, der «bibelot poetry and folkloristic antiquarianism» lediglich als Reaktion auf die Unsicherheit der Zeit» als «cultural agoraphobia», versteht. Dazu vgL das Material bei Weber (Anm. 92) 40, 52 ff., 60 f. Für Alkaios hat W. Rösler, Dichter und Gruppe. Eine Untersuchung %u den Bedingungen und yttr historischen Funktionfrühergriechischer Lyrik am Beispiel Alkaios, München 1980 das beispielhaft gezeigt. Für das 5. Jh. würde eine Untersuchung etwa der Voraussetzungen der Pointen und targets der Alten Komödie vermutlich ein ähnliches Ergebnis erzielen. Heterogenität des hellenistischen (Lese-)Publikums im Gegensatz zur relativen Homogenität eines archaischen und klassischen Publikums wird mittlerweile generell angenommen: siehe z. B. Bing (Anm. 69) 17; Schmitz (Anm. 13) 175. Auch dies also ein Mißverständnis vor dem Hintergrund der modernen Ästhetizisten; zu deren Publikumsseiektion durch Stil Luhmann (Anm. 19) 649 f. Schmitz (Anm. 13) 170 spricht sich jetzt ebenfalls dagegen aus, daß nur jemand, der alle Anspielungen entschlüsseln konnte, von unseren Dichtern als Adressat angestrebt wurde. Parsons (Anm. 91) 157 (siehe auch 153 mit Verweis auf den alexandrinischen Homertext, der sich ebenfalls über ganz Ägypten und weiter verbreitet); vgl. auch den Kallimachos kreativ zitierenden Steuerbeamten aus Karanis im P. Mich. 223.2265 (dazu Youtie [Anm. 70] 1039 ff.) und die interlineare Prosaparaphrase im Papyrus der l/ictoria Bmnices (Fr. 255 £ Suppl. beli\ dazu Parsons 169), die ja beweist, daß der Inhalt des Werks Interesse auch bei denen fand, die vielleicht nicht allen sprachlichen Finessen gewachsen waren.
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Griechen oder später Einheimischen, die sich als Griechen verstehen wollten, etwas zu bieten: Die Vermutung liegt nahe, daß seine Attraktivität immer noch in der Vermittlung einer kulturellen Identität lag. Wenn man Kallimachos aus seiner Zeit verstehen möchte, drängt sich die Frage auf, worin der Unterschied zwischen frühhellenistischer Identitätskonstruktion durch Vergangenheitsbezüge und parallel gelagerten Bestrebungen der Zweiten Sophistik zu sehen wäre: Pausanias etwa, Dion von Prusa oder Favorin bieten ihrem Publikum ja ebenfalls Identitätskonstruktionen mittels einer panhellenischen Vergangenheit.217 Stark vereinfachend lassen sich vielleicht zwei Differenzen vor anderen benennen: Erstens schätzten die alexandrinischen Frühhellenisten im Gegensatz zu den Intellektuellen der Zweiten Sophistik218 ihre politische Gegenwart nicht als defizitär ein, was auch mit ihrer politischen Funktion im Rahmen der ptolemäischen Herrschaftsrepräsentation unvereinbar gewesen wäre. Zweitens scheint es den kulturellen Akteuren der Zweiten Sophistik um eine Integrationsleistung im wesentlichen aller Untertanengruppen der hellenisierten Reichsgebiete gegangen zu sein: Indigene Bevölkerungsteile waren ja längst in die lokale Verwaltungsaristokratie aufgestiegen. Es gab also keine Umwelt konkurrenzfähiger Identitätssysteme mehr — oder besser: sie brauchten nicht mehr wahrgenommen zu werden —, die als nichtgriechisch griechischen Eliten für Abgrenzungstechniken hätte herhalten können. Folgerichtig finden sich diese nur noch als rhetorische Strategie.219 Die Funktion von Wissen liegt jetzt nicht mehr in der Vermittlung einer exklusiven Gruppenidentität durch Ausgrenzung anderer und Stabilisierung dieser , sondern darin, Anschlußmöglichkeiten auch für andere ethnische Gruppen zu schaffen, also inklusiv zu wirken: Bildung macht zum Griechen.220 Für die heutige, landläufige Sicht der alexandrinischen Dichter ist dagegen ihre römische Rezeption ausschlaggebend gewesen: in der Sullazeit wird Kallimachos von den Neoterikern in Rom wieder begeistert gelesen. Ihre Begeisterung resultiert aus der Möglichkeit, ihn über seine vermeintliche Esoterik für ihre eigenen Identitätsstrategien einspannen zu können, die nun gerade einen Bntch mit der eigenen, der römischen Vergangenheit anstreben.221 Kallimachos wird so zum Archegeten der polemischen Antithese von poetischem Ich und verständnisloser Umwelt, einem Formular von nahezu unbegrenzter Adaptivität.222 In Reaktion auf diese Selbstdarstellung gilt er den Philologen bis heute als verspielter, tendentiell unernster und dabei elitärer Neuerer,223 — eine Ironie det Literaturgeschichte, wenn man unserer These zustimmt, ihm und den meisten seiner Leser sei es um Kontinuitätspflege gegangen.
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Siehe die Ausruhrungen bei Schmitz (Anm. 10) 177 ff. mit reichern Material. Ebd. 191 ff. Siehe Anm. 10. Schmitz (Anm. 10) 179 f. mit Belegen. Dazu jetzt Scnwihdt (Anm. 1) 33, 41. Dazu R. F. Thomas, Callimachus Back in Rome, in: A. Marder u. a. (Hgg.), CalUmacbtts^ Groningen 1993, 197-215, hier 20lff. Z. B. Griffiths (Anm. 18) 10: «We thought Callimachus was in some sense a revolutionary [...]», ähnlich mit der Betonung auf Spiel und Neuerung jetzt Cusset (Anm. 180) 371 -379.
MATHIAS EICKS Triptychon der Liebe - die Oden III, 26-28 des Horaz1 /. Einleitung Die Gedichte III, 26-28 kurz vor dem Ende der ersten Horazischen Odensammlung sind unverkennbar Variationen des Themas Liebe. Bei solch offenkundigem Befund an so prominenter Stelle im lyrischen QEuvre muß es überraschen, daß diese Oden in der reichen Horaz-Forschung bislang einer gründlichen Interpretation ihres Zusammenhanges als Gedichtgruppe nicht gewürdigt worden sind. Diese kritische Einschätzung erscheint zumindest dann berechtigt, wenn man das Wesen einer Gedichtgruppe auf nicht weniger als drei Bedeutungsebenen sich konstituieren sieht: Zunächst und vordergründig erwächst der Zusammenhang verschiedener, für sich bestehender einzelner Gedichte natürlich aus dem gemeinsamen Bezug auf ein verbindendes Allgemeines, sowie an zweiter Stelle aus der je individuellen Ausprägung dieses einigenden Prinzips. Drittens aber sollte sich, wenn wir denn im Falle unseres Dichters zu Recht eine absichtsvolle Anordnung dreier bewußt verschieden gestalteter Gedichte unterstellen dürfen, die Gruppe in ihrer Vielfalt zu einer geplanten und sinnvollen Einheit ergänzen, in der die einzelnen Teile aufeinander und auf das Ganze abgestimmt sind.2 Demnach wäre mit Blick auf die Gedichte III, 26-28 zu fragen: 1) Was ist das allgemeine Thema dieser Gedichte? 2) Welche Möglichkeiten und gleichsam Kategorien zur Variation des Themas verwendet Horaz, und wie gestaltet er sie im einzelnen? 3) Welche Beziehungen bestehen zwischen den einzelnen Variationen untereinander? Welche Bedeutung besitzt das je einzelne in seiner Besonderheit für das Ganze der Gedichtgruppe, und warum wählt Horaz gerade diese Einzelheit, gerade diese Situation als exemplarischen Teil eines Ganzen aus? Läßt sich ein «schöner, versteckter Plan», den Lessing für jede einzelne Ode des Horaz postulierte,3 auch für unsere Geoichtgruppe aufzeigen? 1
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Der vorliegende Aufsatz ist die überarbeitete Fassung meiner Zulassungsarbeit zum 1. Staatsexamen aus dem Sommersemester 1997. Dem Betreuer der Arbeit, Prof. Dr. E. A. Schmidt, gebührt mein Dank für Ermunterung, Kritik und das unverhoffte Angebot zur Veröffentlichung meiner Forschungsergebnisse. Ferner danke ich Pro£ Dr. H. Krasser, dessen Engagement und kritisches Interesse dieser Arbeit ebenfalls sehr förderlich waren. A. Kerkhecker: Zur Komposition des vierten Horazischen Odenbuches (in: A&A 34, 1988, 124-143), unterscheidet generell zwischen einer rein «ornamentalen» und einer durch die Reihenfolge im Buch konstituierten «diskursiven» Anordnung der Gedichte zur Formung eines übergreifenden Zusammenhangs und demonstriert für das vierte Odenbuch dessen Diskursivität, indem er nachzeichnet, wie hier ein Thema in der Abfolge der fünfzehn Gedichte «sukzessiv, kohärent und argumentierend entfaltet» werde (a. a. O. 125). Die Frage, ob von einer solchen diskursiven Anordnung auch mit Bezug auf die sehr kurze Reihe unserer drei Gedichte die Rede sein kann, soll im Schlußabschnitt erörtert werden. G. E. Lessing: Briefe, die neueste Literatur betreffend, 3. Teil, 51. Brie£ (16. 8.1759). In: Dcrs., Werke, hrsg. von H. G. Göpfert, Bd.*5, 178.
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Mancherorts in der Horazliteratur sind die Gedichte , 26-^28 gemäß obiger erster Bestimmung als eine Gruppe von Liebesgedichten angesehen worden.4 Spärlich gesät sind jedoch Bemühungen, diese Gedichte darüber hinaus im Sinne unseres zweiten und dritten Kriteriums auf die Formen ihrer Variation und Weisen ihres Zusammenhanges zu analysieren.5 Die erste und einzige eingehendere Untersuchung unserer Gedichte als planvoll arrangierter Gruppe lieferte F. Altheim 1953.6 Er versteht die Gedichte III, 26-28 als von ihrer unmittelbaren Nachbarschaft unterschiedene «Mädchen- und Liebeslieder»,7 als einheitliche Gruppe, deren Zusammenhang er im folgenden als Einheit von Einheit und Differenz nachzuweisen unternimmt. Ausgangspunkt hierfür ist eine pointierte Interpretation von III, 27, in der er nicht nur en passant die Einheit des vielumstrittenen Gedichts demonstriert, sondern vor allem herausarbeitet, daß die Lebenssituation der angeredeten Galatea an der Schwelle vom Mädchendasein zum Leben als erwachsener, verheirateter Frau ein zentrales Thema des Gedichtes bildet. Vor diesem Hintergrund deutet er in III, 26 Chloe als jugendliches Mädchen, in III, 28 Lyde als reife Frau, um damit diese drei Lebensstationen als exemplarische «Entfoltungsmöglichkeiten»8 im Dasein einer jeden Frau zum zentralen Inhalt der .einzelnen Gedichte, sowie zum Leitgedanken der Gedichtgruppe zu machen. So richtig mir auch diese eine Variable zur näheren Erläuterung unserer Gedichtgruppe erkannt zu sein scheint, die Betrachtungsweise bleibt hier gleichsam eindimensional, da nur eine Kategorie zur Beschreibung bereitgestellt und kurzerhand zum alleinigen Ordnungsprinzip der Gruppe erklärt wird. Doch nicht nur die Ebene der Adressatinnen bietet Möglichkeiten zur gestalterischen Variation und somit Vertiefung des Kardinalthemas, vielmehr sollten auch die jeweilige Rolle des lyrischen Ichs, die gesamte SprechhaTtung — Inhalte, Einstellungen, Rhetorik —., die Beziehung von Sprecher-Ich und angeredetem Du zueinander, die Rahmensituation — um hier einmal nur .das Feld grob abzustecken - sorgsam in den Blick genommen werden, Je mehr dieser Gestaltungsprinzipien beobachtet und angemessen beschrieben werden können, desto komplexer die Zusammenhänge in diesem kleinen Kosmos Horazischer Dichtung, desto deutlicher der Einblick in die unsichtbare Architektur einer Horazischen Gedichtgruppe. Der Schlüssel zu diesem Ziel ist — in Vertiefung des methodischen Ansatzes von Altheim - eine gründliche Interpretation der Ode III, 27: Nicht nur-übertrifft ihr Umfang von 19 Strophen bei weitem den der beiden anderen Oden von insgesamt 7 Strophen; vor allem zählt diese Ode zu den umstrittensten und angefochtensten Gedichten des Horaz überhaupt, die Reihe ihrer Verächter ist ebenso lang wie illuster, und die unternommenen Rehabilitationsversuche sind nicht immer so gut gelungen wie gemeint, so daß es gilt, 4
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So zu verstehen die Charakteristik bei A. Kiessling/R. Heinze: Q. Horatius Flaccus, Öden und Epoden, Berlin 71930, 361. Für G. Thome: Die späte Liebeslyrik des Horaz, in: Römische Liebeskunst. Interdisziplinäres Kolloquium zum 85. Geburtstag von Viktor Pöschl. Heidelberg 1995, 131-154, und H Zehnacker: Horaz, Carmen III, 27, in: RhM 138,1995, 68-82, gilt, daß sie den Zusammenhang der Gedichte eher unter den Rubriken «erotischer Inhalt» (vgl. a. a. O. 139) bzw. «Abscliied von der Liebesdichtung» (a. a. O. 78) konstatieren denn analysieren. Ansätze dazu finden sich bei M. S. Santirocco: The order of Horace's «Ödes», Books II and III, Columbia University 1979, UMI Arm Arbor 1981, 235-.240, der weibliche Adressatinnen, das Motiv des Meeres, die Präsenz der Venus und den Abschiedscharakter als Verbindungsglieder aller drei Gedichte nennt, ohne jedoch die Art und Weise der Variation näher zu erklären. In: F. Altheim: Römische Religionsgeschichte II, Baden-Baden 1953, 270 -27'5, A. a. O. 270. A. a. O. 275.
Triptychon der Liebe - die Oden III, 26-28 des Horaz
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zuerst im Anschluß an einige überzeugende Interpretationsvorschläge die Einheit dieser Ode gründlich darzulegen, um .-dann auf dieser Basis zu einer kohärenten Gesamtinterpretation von III, 27 zu kommen. Nachdem auch die beiden im Wesentlichen unstrittigen flankierenden Gedichte der Erinnerung halber in ihren Grundzügen nachgezeichnet worden sind, soll abschließend in einer Synopse versucht werden, die erarbeiteten Einzelergebnisse aufeinander zu beziehen und zu wechselseitiger Erhellung und Bereicherung, zu einem wohldurchdachten Ganzen zusammenzufügen.9
2. Die Ode III, 27
2.1. Zur Forschungssituation Zwar herrscht, abgesehen von radikaler Ablehnung des Gedichtes,10 deren Kurzsichtigkeit und Unangemessenheit sich auf dem Wege meiner Interpretation von selbst entlarven soll, Einigkeit immerhin darüber, daß es zu den strittigsten und schwierigsten des corpus Horatianum gehört, doch erstellen die Interpreten die unterschiedlichsten Diagnosen. E. Fraenkel gehört zu jenen Kritikern, die das Gedicht wenigstens genauer unter die Lupe nehmen, bevor sie ihm fehlende Einheit attestieren.11 Ihm gilt der einführende Teil der Ode (Vers 1-24) nur als ein etwas nachlässig gewählter und ausgearbeiteter Aufhänger für den angeblichen Hauptteil und Zweck des Gedichtes: «... to recast the old tale of Europa in the new style of his lyrics.»12 Diese Perspektive, die den Zusammenhang des Gedichtes nur in einer oberflächlichen Einzelheit erblickt,13 erinnert an die in der älteren Kommentierung üblichen Versuche, den Zusammenhang mit einer Marginalie zu erklären und sich damit allzuschnell zufriedenzugeben: 9
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Die Interpretation der Gedichte III, 26-28 als Gruppe will nicht besagen, daß sich der Sinn dieser Gedichte in ihrer Bedeutung für und durch diese Gedichtgruppe erschöpfte. Einerseits bleibt jede Ode auch immer für sich allein ein selbständiges Ganzes, andererseits steht sie im Rahmen der ersten drei Odenbücher in vielfältigen weiteren Bezügen: Erstens gehört unsere Gedichtgruppe in den größeren Zusammenhang aller der im Jahre 23 v. Chr. veröffentlichten Sammlung, zu welcher übergeordneten Gruppe unsere Trias wiederum nur einen Teil beisteuert; zweitens lassen sich unsere Gedichte je einzeln thematisch oder motivisch auch in andere Gruppenzusammenhänge einordnen; drittens besteht in der ganzen Streuung von locker bis verbindlich ein «weites Feld» von Assoziationen und Anspielungen auf andere Gedichte, die das vermeintlich Fertige stets neu bereichern. Vor allem Philologen des 19. Jahrhunderts haben sich darin hervorgetan: R Hofmann Peerlkamp: Q. Horatii Flacci carmina, Harlemi 1834, VI; 347; KL Lehrs: Q. Horatius Flaccus. Mit vorzugsweiser Rücksicht auf die unechten Stellen und Gedichte, Leipzig 1869, 124; L· Müller: Q. Horatius Flaccus. Oden und Epoden. 2 Teile, St. Petersburg und Leipzig 1900,245 und 247. Vgl. auch U v. Wilamowitz-Moellcndorff: Die Textgeschichte der griechischen Bukoliker, Berlin 1906, 101; dcrs.: Sappho und Simonides. Untersuchungen über griechische Lyriker, Berlin 1913, 314, und L. P. Wilkinson: Horace and his lyric poetry, Cambridge 21951, 134. E. Fraenkel: Horace, Oxford 1957, 192 f£ A, a. 0.193. Die vermeintliche Notwendigkeit eines solchen Aufhängers begründend, fahrt er fort «His [sc. Horace'sj pretended feelings for Galatea provided a suitablc pretext for giving the poem a semblance of spontaneiry and making it conform to the majority of his ödes.» Die Ode I, 15 wäre dann freilich ein
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Sei es nun die Warnung vor trügerischen Umständen14 oder vor schlechtem Wetter15, sei es die Warnung vor unüberlegtem Handeln,16 die als Knotenpunkt des Gedichtes gefaßt wird, in all diesen Fällen verbindet sich interpretatorisches .Dunkel mit großzügigen Konzessionen an die dichterische Freiheit. Um die behauptete Gedichteinheit auf ein breiteres Fundament zu stellen, haben andere zu zeigen versucht, daß sich der gesamte Mythos im Sinne einer Warnung auch und vor allem auf Galatea beziehe, Der gängige Interpretationstopos besagte nunmehr, daß sich der Dichter17 von seiner Geliebten verabschiede, die einem anderen über das Meer folge, und daß er aus gewissen - verschiedentlich konstruierten -=· Gründen dabei seine heimliche Absicht, der Scheidenden Furcht einzuflößen und sie somit zum Bleiben zu bewegen, eingangs hinter günstigen Prophezeiungen und später hinter dem Schmuck des Mythos verberge.18 Doch stolpert eine solche Interpretation über zwei grundsätzliche Bedenken: 1) Wie paßt der Schluß, die gewaltige Glücksverheißung der Venus, zu der vorgeblichen Intention des Sprechers, Galatea von der Reise abzuhalten?19 2) Mit welchem Recht wird hier behauptet, der Sprecher meine das Gegenteil dessen, was er sagt, und verstelle sich prinzipiell? Anders gefragt: Was hindert eigentlich, den Sprecher beim Wort zu nehmen?20 14
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Vgl. die Paraphrase der Ode im Kommentar von Orelli/Baiter: Q. Horatius Flaceus. Recensuit atque interpretatus est . G. Orellius, editio tertia, emendata et aucta, curavit . Geprgius Baiterus, vol. I, Turici 1850, 489. Vgl. die Inhaltsparaphrase bei E. G Wickham: Horace's Ödes, Oxford 1896, 265. Vgl. F. W Doering: Q. Horatii Flacci opera omnia, 1. Teil, Leipzig 41829, 258, oder das argumentum im Kommentar W. Dillenburgers: Q. Horatii Flacci opera omnia, Bonn 51867, 225. Da ich -^ im Gegensatz zur weitverbreiteten Redeweise von «Horaz» und dem. «Dichter» in bezug auf Gedichtsituation und -Sprecher — zwischen fiktionaler Textebene und historischer Realität strikt unterscheide, ziehe ich es vor, nur bezogen auf letztere vom Dichter Horaz, ansonsten aber vom lyrischen Ich oder Sprecher(-lch) zu reden. Auf eine solche Interpretationsschiene gehören: G. Pascjuali: Orazio lirico, Firenze 1920, vgl. 275 ff.; K. Büchner, in: Gnomon 14, 1938, 636-639; H. P. Syndikus mit seinem Kommentar zu , 27 in: Die Lyrik des Horaz. Eine Interpretation der Oden, 2 Bde., Därmstadt 1972/73, Bd. 2, 228-239; F. Cairns: Generic Composition in Greek and Roman Poetry, Edinburgh 1972, 189-192; C W. MacLeod: A Use of Myth in Ancient Poetry, in: CQ 24, 1974, 82-93; H. Zehnacker, a. a. O. 75 ff. Manche glaubten dieser Schwierigkeit entgehen zu können, indem sie kurzerhand erklärten, daß der Schluß mit Galatea nichts mehr zu tun habe. Doch wird mit einem solchen Eingeständnis jegliche Einheitsbehauptung des Gedichtes ad absurdum geführt Dagegen sieht Cairns zwar in der Unvereinbarkeit des Schlusses mit der Galatea- gerade einen Beweis für seine -Theorie, es wirkt aber wenig überzeugend, zur Stützung der These, daß im ersten Gedichtteil just das Gegenteil dessen, was gesagt ist, gemeint wird, zu behaupten, daß im zweiten Teil ein Bruch vorliege und der Schluß sich gerade^ dadurch auf Galatea beziehe, daß er sich nicht auf· sie bezieht (vgl. Cairns 191 f,). Andere wiederum werteten das Ende als Witz (so Päsquali, a. ä. O. 276) oder «Scherz» (Syndikus^ a. a. O. 239). Doch obwohl eine solche Deutung sich immerhin an den heiter-ironischen Ton des Gedichtes anschlösse, scheint sie mir gleichfalls den Schluß zu isolieren und vor einer einheitlichen Gedichtinterpretatiqn zu kapitulieren. Die dritte und gleichzeitig raffinierteste Deutungsvariante versucht, dem Ende allen Glanz zu nehmen, ja auch hierin ein Menetekel für Galatea zu erblicken. MacLeod spricht von «cold comfort» (a. a. O. 90), und Quinn räsoniert, daß auch Galatea ihren Liebhaber nicht wiedersehen werde, nachdem er sie einmal verlassen, und sich 2u trösten habe mit dem Ruhm, den ihre Affäre ihr eingebracht habe (vgl. K. Quinn: Latin Explorations. Critical Stüdies in Roman Literature, London 1963, 75). Dann wäre der Schluß, wäre damit das ganze Gedicht eine böswillige, sarkastische Verspottung der Adressatin. Aber soll die Ode III, 27, an einen so auffälligen Ort am Ende der Odensammlung gestellt, denn wirklich ein kleinmütiges - bei einer scheidenden Geliebten sogar beleidigtes - Hohngelächter über eine junge Frau sein? Auch die intensivste Auseinandersetzung mit III, 27 gemäß dem hier in Rede stehenden Interpretationsmodell, W-H. Friedrich: Europa und der Stier. Angewandte Mythologie bei Horaz und Properz, in:
Triptychon der Liebe - die Oden III, 26-28 des Horaz
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Als untauglich erweisen sich in meinen Augen auch Versuche, die Einheit des Gedichtes auf anderer Ebene zu installieren: C. Buscaroli beispielsweise meinte den Zusammenhang beider Gedichtteile im scherzhaften Ton und in einem «clima di superiore eleganza» verankern zu können.21 Daß er allerdings die Europa-Geschichte für eine unabhängige Eingebung und Ausarbeitung hält, auf der materialen Ebene also keine Gedichteinheit herzustellen vermag, entlarvt den Vorschlag formaler Einheit, so richtig dies als einzelne Beobachtung auch sein mag, als bloßen Notbehelf.22 Im Gegensatz zu allen bisher skizzierten Deutungsversuchen möchte ich in meiner Interpretation auf dem von Altheim eingeschlagenen Pfade fortschreiten. Er deutete im
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Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Götringen. l, Philologisch-historische Klasse 5 (1959), 81-100, vermag die Kluft zwischen dem angeblich warnenden Charakter des Gedichts einerseits und den in der Venusrede kulminierenden Glücksomina andererseits nicht überzeugend zu schließen, wie Friedrich selbst indirekt zugibt: «Auch in Horaz' Galatea-Gedicht (carm. 3, 27) soll ein Mythus einer Warnung Nachdruck verleihen. Allerdings emanzipiert er sich bald von dieser Aufgabe und kehrt infolgedessen ... nicht zu ihr zurück.» (a. a. O. 88) Die meines Erachtens irrige Grundannahme, daß der Sprecher im Gedicht ein verlassener Liebhaber sei, führt auch bei Friedrich zu symptomatischen Ungereimtheiten. So erklärt es sich, daß er, obwohl um allegorische Deutung des Mythos bemüht (vgl. a. a. O. 92), das Motiv der (verlorenen) Jungfräulichkeit Europas geflissentlich übersieht, statt dessen über einen «anscheinend hochgestellten Nebenbuhler Horazens» (a. a. O. 94) spekuliert und die glücksverheißenden Worte der Venus nicht näher zu interpretieren, sondern nur mit einem «trotz allem» (a. a. O. 97) zu versehen versteht. Gegen Friedrichs «Durchallegorisieren» wehrt sich T. Berres: Zur Europaode des Horaz (c. 3, 27), in : Hermes 102, 1974, 58-86, hier 63. Zwar folgt auch seine Interpretation dem Schema: , sieht aber den Zusammenhang beider Teile gerade darin sich konstituieren, daß der Mythos derart verfremdet und die Worte der Europa ihrem überlieferten Geschick derart unangemessen seien, daß sich deren eigentlicher Sinn und Bezug auf Galatea auf das deutlichste aufdrängten (a. a. O. 81). Vor der kontrastierenden Hintergrundfolie eines situationsfremden Mythos also offenbare sich in greller Form die Haupthandlung des Gedichtes. Jedoch bleibt auch in Berres' Deutung so viel von der behaupteten Einheitlichkeit des Gedichtes auf der Strecke, daß auch seine Interpretation zwangsläufig an Widersprüchen leidet: So wird der mutmaßliche Sinn des Gedichtes, den Berres nicht müde wird als «Scherz» zu deklarieren (vgl. 81 — 85), je nach Argumentationszusammenhang völlig unterschiedlich charakterisiert; der Auftritt der Venus besitzt hier keine unmittelbare Beziehung zum Mythos, sondern fungiert nur als Sichtbarwerden des Horazischen Gelächters über Galatea (vgl. a. a. O. 81 f.); zudem sucht Berres, die Deutung Büchners, Horaz* Ode sei eine Parodie auf hellenistische Gedichte (s. a. a. O. 639), des langen und breiten abzuwehren, um dann unversehens zu behaupten: «In der heimlichen Angleichung des Europamythos an die doch sehr verschiedene Sage von Ariadne liegt das eigentlich parocÜstische Element.» (a. a. O. 86) Am Ende erscheint das Gedicht durch Berres' Ausführungen als ein solches Potpourri launischer Gehässigkeit, Parodie und Travestie, daß man ihm eher das Gegenteil seines Schlußwortes glauben wollte, daß nämlich die Ode III, 27 kein «Gipfd horazischer Dichtung» (a. a. O. 86) sei. Er widmete III, 27 einen rund 70seitigen Kommentar: Perfidum ridens Venus. V öde iii 27 di Orazio con versione ritmica cd esegesi, Bologna 1937. Hier 14 f. VgL a. a. O. 16, vor allem in dem Happy-End sieht er keinerlei Bezug auf Galatea (a. a. O. 12). Wohl könnte formale Einheit eine zugrundeliegende inhaltliche stützen, aber man wird ihr kaum zumuten können, disparate Gedanken zu einem solchen sinnvollen Ganzen zusammenzufügen, das man sonst in einer Horazischen Ode zu erkennen glaubt. Die gleiche Kritik verfangt bei G. Williams, der die Gedichteinheit im Atmosphärischen realisiert rindet (vgl G. Williams: The Third Book of Horace's Ödes, edited with a tramlaoon und running commentary, Oxford 1969, 140). Während aber diese Erklärungen als unzureichend anzusehen sind, nehmen die Versuche R. S. Kilpatricks, die Gedichteinheit zu erweisen, indem er das Gedicht nur desto gründlicher zerschneidet, nachgerade absurde Züge an (R. S. Kilpatrick: Remember us, Galatea: Horace, carm. 3.27, in: GB 3, 1975,191-204): Die Unterscheidung zwischen einer anonymen Abreisenden und der Nymphe Galatea, die um Beistand angerufen werde - eine Unterscheidung, für die es im Text selbst keinen einzigen Hinweis gibtl -, stellt das Gedicht schlichtweg auf den Kopf.
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Rahmen der beiden angrenzenden Gedichte die Situation Galateas als den am mythischen Vorbild Europas illustrierten Übergang -" um nicht zu sagen die <Überfahrt> — eines Mädchens zur Frau und sah in Horaz keinen verlassenen Liebhaber, sondern einen «väterlichen Freund».23 Diese Perspektive wurde von A. Bradshaw aufgegriffen.24 Er hört, ebenso wie in III, 7 und 11, einen wohlmeinenden Berater sprechen, der im Fall von III, 27 seiner Adressatin durch die Erzählung eines anspielungsreichen und auf emotionale Beteiligung abzielenden Mythos künftige Erfahrungen im voraus zu vermitteln sucht, um sie auf spätere Gefährdungen vorzubereiten und ihr damit — wie ein Therapeut — auf ihrem Lebensweg zu helfen.25 Am engsten wird sich meine Interpretation an den Aufsatz: «Providus auspex: Horace, Ode 3.27» von Jenny Strauss Clay anschließen.26 Sie führt darin den entscheidenden Nachweis, daß das Gedicht tatsächlich in den Kontext eines bestimmten epochalen Lebenseinschnitts, nämlich den der Hochzeit gehört, indem sie den offenkundigen, dennoch aber zuvor fast völlig unbemerkt gebliebenen Zusammenhang des providus auspex (v. 8) mit dem altehrwürdigen römischen Brauch eines
2.2. Kommentar und Interpretation Die Ode III, 27 zerfallt prima facie in zwei ungleiche Hälften. Will man jedoch dem Urheber des denique slt quodvis, Simplex dumtaxat et utium (ars poetica, v. 23) Gerechtigkeit widerfahren lassen, tut man gut daran, die Einheit des Gedichtes zu unterstellen - als eine Arbeitshypothese, die es zu verifizieren gilt.29 Was denn sollte mit horazischer Elle gemes23
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Vgl. a. a. O. 271 f. VgL A. Bradshaw: Horace and the Therapeutic Myth: Ödes 3, 7; 3, 11 and 3', 27, in: Hermes 106, 1978, 156-176. Vgl. a. a. O. 171 £ Zwar legt Bradshaw den Mythos als ein «example ofrunaway marriage» (z. a. O. 157) zu pedantisch aus, doch werden immerhin Sprechhaltung und -Intention überzeugend gegen die gängige Fehldeutung in besseres Licht gerückt. J. S. Clay: Providus auspex: Horace, Ode 3.27, in: CJ 80, 1992-93, 167-177. A. a. O. 171 f. Einzig Kiessling/Heinze fanden die richtige Fährte, ohne jedoch, da ihre Deutung ganz in der Vorstellung der scheidenden Freundin des Dichters sowie einer tatsächlichen Reise und Fahrt über das Meer verhaftet bleibt, aus der wichtigen Einsicht interpretatorisches Kapital zu schlagen: «auspex, ursprünglich mit augur identisch, hat sich in der eigentlichen Bedeutung fast ganz beschränkt auf den, der vor der Hochzeit die Zustimmung der Götter im Namen des Brautpaares, also auspiciaprivaia einholt; so hier H. für die Abreisende» (a. a. O. 366). Vgl. a. a. O. 172. Dieser hermeneutische Vorgriff stellt die vorliegende Arbeit in diametralen Gegensatz zur jüngsten Erörterung von, III, 27: MLowrie: Horace's Narrative Ödes, Oxford 1997» 297-316. Die Autorin tritt mit ihren interpretatofischen Leitgedanken und in die Fußstapfen von Peerlkamp, Lehrs, Müller und Wilamowitz, nur daß sie eben das, worüber jene indigniert die Nase rümpften, als besonderes Raffinement des Dichters goutiert Ihre sonderbare Vermutung: «Europa herseif misreads her own -story, perhaps because she has rtad too wuchs* (a. a. O. 308, meine Hervorhebung) erfüllt den psychologischen Tatbestand der Projektion.
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sen werden dürfen, wenn nicht dessen eigenes Gedicht, das er selbst bei solch augenfälliger Länge als Mittelstück einer Dreiergruppe so kurz vor dem stolzen Schlußstein der Odensammlung (III, 30) plaziert hat? Am Beginn unserer Ode, deren erster Teil (v. l -24) in Inhalt und Form viele Anklänge an den Typus des Propemptikon bietet, findet sich eine Reihung schlechter Omina, verschiedener Tier, die den impii angewünscht werden (v. l — 7 a).30 Im Blick auf den weiteren Gedichtverlauf sind dabei vor allem die gehäuften Anspielungen auf die sexuelle Sphäre von Bedeutung: Hündin und Füchsin begegnen als Trächtige, lupa läßt die primäre Bedeutung aus der Richtung des luno-Sospita-Tempels gelaufen ... Insgesamt läßt der Auftakt eine Engführung von Unfrömmigkeit, Frevelhaftigkeit einerseits und andererseits anklingen. Dieser allgemein gehaltene und sehr unbestimmt klingende Beginn wird jetzt unvermittelt vom Sprecher präzisiert, indem er nicht nur als erste konkrete Person sich selbst ins Spiel bringt (egoy v. 7), sondern zugleich die Gegengruppe der imp'ii bezeichnet (cui timebo, v. 7): «meine Schützlinge».31 Sich selbst apostrophiert der Sprecher dabei als providus auspex (v. 8).32 Im Kontext des Gedichtbeginns, mit den Tierangängen und den jetzt folgenden Vogelzeichen, scheint sich die buchstäbliche Bedeutung (Seher, Vogelschauer> für auspex wie von selbst nahezulegen, doch wenn sich im weiteren Gedichtverlauf der Mythos als narrative Metapher auf die Situation Galateas und dazu die metaphorische Ebene der (Reise>33 Galateas (wie Europas) herauskristallisieren, kommt man nicht mehr umhin, den auspex als (auspex nuptiarum> zu verstehen.34 Die Annahme, daß das lyrische Ich hier ein wenig spielerisch sich selbst die Rolle eines (Hochzeitspaten oder -patrons> zumißt, läßt den Aufbruch schlagartig in anderem Licht erscheinen, die angeführten Vorzeichen kommen in den Rang der (prima omina> 30 31
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Hierzu die entscheidenden Verweise auf mitschwingende Untertöne bei Clay, 171. Man beachte die raffinierte Ambivalenz dieser Fortfuhrung: Zwar wird durch den schroffen asyndetischen Anschluß und das nach der Mittelzäsur betont einsetzende ego die Abhebung vom Vorigen deutlich markiert - zudem durch das Nebeneinander von Personal- und Relativpronomen auch in der Wortstellung die enge Verbundenheit des Sprechers mit seinen <Schützlingen> angezeigt -, gleichzeitig jedoch wird dies dadurch konterkariert,, daß das cm timebo keinen direkt-logischen, also kontradiktorischen Gegensatz zu den impä bildet, wie es etwaige pii, boni oder andere gewesen wären, vielmehr ist der Gegensatz durch den Kontext impliziert, so daß die beiden Gruppen zwar konträr zueinander stehen, doch für den Augenblick in seltsamer Schwebe verharren. Das Verdienst, diesen Zusammenhang als erste angemessen gewürdigt und ausführlich erörtert zu haben, gebührt, wie bereits erwähnt, J. S. Clay, a, a. O. 171 ff. Hier auch die einschlägige Literatur. Ein erster Hinweis, die Reise Galateas metaphorisch zu verstehen, ergibt sich aus dem Gedichtanfang. Das Bild einer konkreten Reise wird nämlich erst allmählich aus einem ganz allgemein gehaltenen Beginn heraus entwickelt: Erst sind es nur Tierangänge, die für jedes Unterfangen relevant sein können, dann taucht am Ende von Vers 2 ein Feld au£ Ende Vers 3 ein konkreter Ort, in Vers 5 sehen wir einen Weg, in Vers 7 das Pferdegespann. Später treten noch die Vorstellungen von Adriabucht und tosendem Meer hinzu. Zur Zeit des Horaz war aus dem auspex nuptiarum, der ursprünglich über die vor einer Hochzeit einzuholenden Auspizien wachte, eine Art
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der Hochszeitszeremonie:35 Die Reise der späteren Adressätin, Galatea, fuhrt dann nicht mehr oder allenfalls vordergründig über die Via Appia nach Brundisium und von dort aus über das Adriatische Meer, richtig verstanden ist es: «the ... journey frorh childhood into maturity, a journey that will culminate in her marriage.»36 Im folgenden (v. 9—12) verspricht das lyrische Ich - als wollte es .seine Profession unter Beweis stellen —, kraft seines Amtes nicht nur ein regen- also unheilkündendes Vogelzeichen von seinen Schützlingen fernzuhalten, sondern auch ein schönwetter- sprich glücksverheißendes Omen für deren Weg heraufzubeschwören.37 Nach dieser wohlwollenden Übertreibung folgt (v. 13 — 14) die zentrale Aussage des ersten Gedichtteiles, nicht von ungefähr in dessen Mitte am Anfang der vierten von sechs Strophen stehend. Der Sprecher nennt hier nicht nur die Angeredete, Galatea, beim Namen, er wünscht ihr auch in bescheidener, freigebender Geste Glück und Segen auf ihrem weiteren Lebensweg. Das ein timebo wird also durch Galatea konkretisiert, sie ist Gegenstand der Sorge des Sprechers, die anfängliche Spannung - das erschreckende inpios als Auftakt! — und die durch die allgemein gehaltene Redeweise erzeugte Unklarheit sind fürs erste einer persönlichen Ermunterung und Bestätigung gewichen. Doch wie.sind die Verse 13-14 genauer zu verstehen? Sind sie nicht der resignierte Verzicht eines Mannes, der seine Geliebte für einen anderen freigibt (ubicumque mavis\ eines genarrten oder gehörnten Polyphem, der sich im Gegensatz zum mythischen Vorbild38 nur ruhiger gibt, um desto ausschweifender auf subtile Weise Rache nehmen zu können? Auffallend ist vor allem die Ähnlichkeit mit folgender Passage eines SapphoFragments:39 ' *·
Ein Vergleich mit diesem Gedicht, aus dessen erhaltenen Teilen auf ein Propemptikon zu schließen ist, in dem Sappho den Abschied von einer Freundin aus ihrem Mädchenkreis - höchstwahrscheinlich um deren Verheiratung willen - beschreibt, offenbart verblüffende Parallelen: In beiden Fällen steht ein älterer, überlegener Mensch einer jungen Frau, die vor der einschneidendsten Veränderung in ihrem Leben zurückschreckt, gegenüber und sucht ihr zu diesem Schritte Mut zu machen; hier wie dort nimmt der Sprecher sich selbst hinter einem ganz 35
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Vgl. Verg. Aen. I, 345 f.: .;. atipater intadam dederat primisque iugarat/ominibus ... Eine Anspielung auf die Hochzeitsauspizien findet sich bei Properz: contineant nobis omina primafdem (HI, 20,24). Vgl. auch Catuils (Hochzeits)carmen 61, 159 ff.: transfer omine cum bono/Urnen aureolos pedesjrasikmqm subifonm. Clay, a.a.O. 172. ;. . Vers 11 ist möglicherweise ein spielerischer Anklang an H, 10, 1.8ff.: ... athara tacentem/suscttatMusam .../ ...Apollo. Wie dort Apollo mit seiner Kitharä die schweigende Muse (des Dichters) erweckt, den Dichter also zum Dichten befähigt, so scheucht hier umgekehrt das lyrische Ich, hinter dem wir den Dichter vermuten dürfen, mit seinem Gebet den weissagenden Vogel des Sehergottes zu glücksverheißendem Gekrächz auf, d. h. er bittet Apoll um ein gutes Omen in Form des Gedichts, das er gerade für Galatea zu dichten gedenkt. Solls ab orttt (v. 12) ließe sich im Sinne der Metaphorik des in der folgenden Ode III, 28 auch als Zeitangabe verstehen und bedeutete dann für Galateas , daß die Segenswünsche des Sprechers vom Morgen ihres Lebens, sprich von jetzt an für ihr ganzes Leben gälten. Vgl. Theocr. 11 oder ., met. XIII 750-897. Sappho frg. 216 (Page), hier v. 7-8. Obwohl bei einem Gedicht in sapphischen Strophen diese Spur nicht allzu ferne liegt, ist auch hier Clay die erste, die den Bezug herausstellt. Das memor nostri (v. 14) ist im übrigen eine stehende Wendung für den Abschied seit Homer (vgl. 461 f.) und evoziert keineswegs zwingend ein erotisches Verhältnis.
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auf die Befindlichkeit der Adressatin zu konzentrieren. Doch ebenso sprechend die Unterschiede: W hrend bei Sapphos M dchen der Trennungsschmerz im Vordergrund steht, der vornehmlich aus dem Vergessen der gemeinsamen Vergangenheit resultiert und folglich durch Vergegenw rtigung derselben geheilt werden soll, zaudert Galatea aufgrund ihrer Unkenntnis und darum Angst vor der Zukunft und mu dar ber vom Sprecher belehrt und dazu ermuntert werden. Schlie lich bei Sappho der Ausruf: τεθνάκην δ 5 άδόλως θέλω (ν. 1). In der Erinnerung an die ferne Freundin wird die Sprecherin selbst vom Schmerz berw ltigt und vergegenw rtigt sich also den Abschied und ihre tr stenden Worte zu ihrem eigenen Trost. Wie wahrhaft gel st dagegen das Loslassen des lyrischen Ichs bei Horaz! Auch der Vergleich mit einem anderen Propemptikon, Properz I, 8, verdeutlicht die innere Haltung des Sprechers in unserer Ode: Beim Elegiker eine Kaskade aufgebrachter, erregter Fragen und Klagen des lyrischen Ichs, die sich ber Cynthia ergie en, aufbrausende Ungeduld, offen ausbrechende Eifersucht, Verw nschungen, Vorw rfe,41 dann ein j hes Einschwenken auf gute W nsche f r die Reise, Treueschw re und unbedingtes Festklammern an der Geliebten.42 Wie spielerisch-heiter und gelassen dagegen das Gebaren des Sprechers bei Horaz, der die Spannungen in seinen Worten k nstlich arrangiert, um die Zerrissenheit Galateas zu spiegeln, ihr die Augen dar ber zu ffnen und sie aus ihrer Malaise zu befreien. Jedweder Gedanke an einen Hebeskranken Kyklopen verbietet sich da von selbst. Doch hei t dies, da auch die Nereide Galatea g nzlich fernzuhalten, mithin Bradshaw recht zu geben w re, der behauptet: «Her name does not teil us anything ,..»43? F r eine solch unbek mmerte Erkl rung scheint mir der singul re Gebrauch dieses Namens im Odencorpus zu auff llig. Es fugt sich, da in den zwei gerade besprochenen Propemptika des Properz und Ovid die Nereustochter Galatea je einmal , indem sie in ihrer Eigenschaft als Seenymphe metonymisch f r das Meer angesprochen wird: sit Galatea tuae non aliena viae (Prop. I, 8, 18) aequa tarnen puppi sit Galatea tuae (Ον., am. II, 11, 34).
Nimmt man hier den Gedanken an die alte Metaphorik der Liebe als Seefahrt, also des Meers als Meers der Liebe hinzu44 — eine Metaphorik, die ja gerade bei Horaz von zentra41
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So beginnt die Elegie beispielsweise mit acht ungeduldig hervorgesto enen Fragen in den ersten acht Versen; die Eifersucht bricht gleich anfangs, in den Versen 3 f., hervor, wobei der Rivale als ein ver chtlicher (quicumque esf, iste ...; v. 3) bezeichnet wird; Cynthia mu sich die Attribute Jemens (v. 1), (vgL Hes., Theog. 188 f£), die daher auch als G ttin des Meeres und Schutzg ttin der Seefahrenden verehrt wurde. Diese beiden Eigenschaften lie en sich spielend zusammenfuhren: Εϊ τους εν πελάγει σφζεις, Κυπρί, κάμε τον εν γφ ναυαγόν, φιλίη, σωσον άπολλύμενον, (AP Vr 11; anonym) Vgl. Nisbet/Hubbard: A Commentary on Horace: des, Book l, Oxford 1970, 79£, mit reichem Belegmaterial, allerdings im Kommentar zu I, 5, indem sie einer u erst fragw rdigen Konjektur Zielinskis (deae statt deot v. 16), also Venus statt Neptun, folgen, die mich schon deswegen nicht berzeugt, weil sie den evidenten Zusammen-
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ler Bedeutung ist: I, 5! -, ferner das Geschick der Adressatin unserer Ode, einer jungen Frau an der Schwelle zu Hochzeit und Ehe — ein Lebenseinschnitt, von dem in beiden Gedichtteilen im Bild einer Fahrt über das Meer gesprochen wird! -, liegt da nicht der Schluß nahe, hier in Galatea eine exemplarische Bewohnerin des zu sehen, eine Liebende schlechthin?45 Nicht zu vergessen ist hier auch der übergeordnete Kontext unserer Ode, ihr Platz am Ende des Corpus: Wie wir sehen werden, verkündet das lyrische Ich in III, 26 vixi puellis, weiht der Venus seine ausgedienten Liebes<waffen> mitsamt der Leier und sagt der Liebe Lebewohl, eine Geste, die bei ihrer Nähe zum Ende der Sammlung als poetische Einkleidung des Horazischen Entschlusses gedeutet werden kann, von erotischer Dichtung, und damit - pars pro toto - gar der Lyrik insgesamt zu lassen.46 Dann jedoch kippt der Vorsatz im letzten Augenblick, der Abschied ist nur äußerlich, nicht innerlich vollzogen. In III, 27 nun entläßt das lyrische Ich ein Mädchen aus freien Stücken, nicht irgendeine ex multis, sondern den Inbegriff einer jungen und schönen Liebenden, und verabschiedet sich damit auch innerlich von der Liebe, nicht ohne ihr immerwährendes Gedeihen zu wünschen und verheißen. HoraZj so ließe sich dann folgern, hat sich von der Liebe als wesentlicher Bedingung des eigenen Dichtens gelöst. Doch zurück zum Gedicht, wo nach diesen unverkennbaren Worten der Freigabe und Affirmation neue Beunruhigung einsetzt (v. 17 f.). An der Oberfläche vernehmen wir Galäteas Furcht vor der von Herbststürmen aufgepeitschten See und hören, wie der Sprecher dieser neuerlichen Besorgnis unter Hinweis auf seine persönliche Erfahrung zu Meere begegnet (v. 18 b—20), um schließlich in entschiedener die drohenden Unbilden der kommenden Überfahrt hostium uxores puenque an den Hals zu wünschen (v. 21—24). Wenn man aber die mannigfachen Anspielungen und Untertöne dieser Zeilen registriert, bestätigt sich der Eindruck der ersten vier Strophen, daß die gesamte Reise Galateas im übertragenen Sinne aufzufassen ist und die geschilderten Turbulenzen deren seelisches Durcheinander widerspiegeln: Motive des Anfangs werden hier aufgegriffen und verstärkt, um im mythischen Teil des Gedichtes vollends entfaltet zu werden. Gleich die Eingangs frage, die Galateas ängstlichem Blick zum Sternbild des Orion Ausdruck verleiht, schildert dieses in furchterregender Personifikation: Unter lautem Tosen schießt Orion dahin. Tumufai^ womit das Tosen des Meeres wiedergegeben wird, läßt ebenso an inneren Aufruhr und Gefühlswallüngen denken;47 trepidan gebraucht Horaz an anderer Stelle vom dahineilenden Wasser, wodurch sich der Eindruck rascher (Jeschwindig-
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hang von I, 5 und III, 28, des ersten und letzten Liebesgedichtes im Corpus, auf so schnöde Weise zerschneidet. Horaz selber hat an die Engfuhrung von Meer und Liebe gerade im vorigen Gedicht, , 26, erinnert, wenn dort das lyrische Ich seine Waffen im Tempel der Meerehtsprossenen, der manna Venus (v. 5.) Implikationen vgl. H. Dörrie: Die schöne Galatea, München 1968, 73 ff. Doch wenn auch Goethe natürlich zum Kronzeugen einer Horas-Interpretation nicht taugt, so könnte immerhin die 2000 Jahre strahlende Schönheit und Reinheit Galateas ein Indiz dafür sein, daß die Namensgebung in unserer Ode alles andere als zufällig ist. So Kerkhecker, a. a. O. 130 f. Vgl. die recüsatio I, 6, wo das lyrische Ich sich zu Symposion und Liebe als Inhalten eigenen Dichtens bekennt (v. 16-20), sowie die Wiederaufnahme der Lyrik in IV, l, die sich an das neuerliche Erscheinen der Venus knüpft Vgl. II, 16, 10f.: ... miseros tumultus/mmtis ...;'S. II* 3, 208: ... sctlmsque tumultu.
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keit noch verstärkt;48 der Orion des Mythos schließlich ist für seinen sexuellen Frevelmut berüchtigt: Seinen Versuch, sich an Diana, der Hüterin und Schutzgöttin der Jungfrauen, zu vergehen, büßte er mit seinem Leben.49 Wiederum wird jetzt, wie im ersten Teil (v. 7 b), die Beschwichtigung asyndetisch, mit unvermitteltem ego nach der Mittelzäsur eingeleitet. Das lyrische Ich rekurriert auf seine eigene Erfahrung, um Galatea ihre Ängstlichkeit zu nehmen, und es fällt auf, daß auch jetzt die Beruhigung nur zögerlich verläuft, indem die Gefahr in dieser Strophe ja noch offen gehalten und erst in der nächsten wird. Auch bleiben in den folgenden sieben Versen die irrlichternden Zwischentöne erhalten, die immer mehr den eigentlichen Charakter der Reise verraten. So dürfte die Erwähnung der Adria50 besonders erschrecken, zumal zwei weitere Odenreminiszenzen abermals den metaphorischen Kontext stützen können;51 die Rede vom tückischen oder trügerischen Wind kann ebenfalls die einschlägige metaphorische Bedeutung annehmen,52 wobei peccet, das hier in singulärer Verwendung personifizierend von einem Wind ausgesagt wird (und damit den lapyx wie einen Unhold erscheinen läßt), zudem den ganz offensichtlichen Doppelsinn einer sexuellen Verfehlung zur Schau trägt.53 Wenn also der Sprecher von sich behauptet, er kenne die finstere Adria und trügerischen Wind, so meint er natürlich:
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YgjL , 3, 11 f.: ... quid obliquo laborat/lymphafugax trepidare rivo?\ Epist. I, 10, 21: quam quae per prorntm trepidat cum murmure rivum? Das Bild vom dahinschießenden Wasser als Umschreibung einer sexuellen Verfehlung gebraucht Th. Mann in «Joseph und seine Brüden) mehrfach zur Bezeichnung Rubens, des ältesten Sohnes Jaakobs, der sich an einer Nebenfrau seines Vaters, der Sklavin Bilha, vergangen hatte. So läßt er einmal Rüben selbst über sich sagen: «Mir sagt man wohl nach, daß ich sei wie ein dahinschießend Wasser, und die Sünde ist mir nicht fern.» (Bd. l, 371) Vgl III, 4, 70 ff. und E. A. Schmidt: Amica vis pastoribus: Der lambiker Horaz in seinem Epodenbuch (in: Gymnasium 84, 1977, 401 -423), 409 ff. zu Epode 10. Bei Horaz stets als stürmische und äußerst gefährliche See präsent, vgi. II, 14,14; III, 3,5; 1,3,15; 28,22. An diesen beiden Stellen wird die Wildheit menschlicher (Liebes-)Leidenschaft mit der Wildheit der Adria verglichen:... Mjrfale/Iibertina>JretisamorHadriae/curvaniis Calabros sinus. (I, 33, 14— 16);... inprobo/ iracundior Hadria ... (III, 9, 22£). Wie in I, 5, l Off.: ... semper amabikm/sptrat, nescius aurae/fallacis. VgL neben 1,27,17 vor allem serm. II, 7, 60; 62; 64. Vgl. auch J. N. Adams: The Latin Sexual Vocabulary, London 1982, 202. Und zwar in der ganzen Bandbreite, die hier vom sprichwörtlichen Gegensatzpaar albus und ater (vgl. Epist U, 2, 189) eröffnet wird. Der Leser der ganzen Sammlung denkt sofort an das patschnasse lyrische Ich aus l, 5! Auffällig, daß in vergleichbaren ParallelstelJen der römischen Literatur die Epipompe nur auf die Feinde als solche gerichtet ist, vgl.: Ver&, georg. III, 513; Prop. II, 4, 17; III, 8, 20; ., am. II, 10, 16. Warum in Vers 21 der Feinde Frauen und Kinder apostrophiert werden, liegt auf der Hand: Dahinter versteckt sich ein indirekter Bezug auf Galatea, die auf dem Wege eine Gattin zu werden doch noch ein Kind ist (so auch Clay, a. a. O. 174). ... oritntis Aitstri tt/aequoni nijtri frtmtum et trementis/verbere ripas. (v. 22 ff,). Caecus werden oft Affekte, namentlich Leidenschaften und Begierden, genannt. Vgl. epod. 7,13; Blindheit vor Liebe, serm. I, 3,38 f.; Cat. 67,25; vgl. auch Cic, de inv. 1,2. Zu motus als Gefühlsregungen vgl. Verg.,
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offen bleibt auch der Sinn von sentiant',5® aequoris nignfremitum verlebendigt das Walten der Elemente;60 verbere bkgt die Assoziation ganz bestimmter Schläge ...;61 so ist es kein Wunder, daß die Ufer hier gleichsam verängstigt erzittern (trementis/... npas,v. 23 f.).62 An diesem Punkte angelangt, kann die Gediditbewegung des ersten Teiles wie folgt beschrieben werden: Der Beginn stiftet Verunsicherung und Erschrecken (v. l ^7 a), dann setzt mit ego eine gegenläufige Bewegung ein, die die geschürten Unsicherheiten langsam auflöst und schließlich die Adressätin in ihrem Handeln vollauf bekräftigt und stärkt (v. 7b-16); darauf wird abermals eine Irritation wachgerufen (l7^-18a), die gleichfalls schrittweise abgebaut wird und mit entschiedenem Bekenntnis zu Galateas Gunsten ausklingt (18b^-24). Wenn auch auf dem Grunde des Gedichts immer noch eine Spannung schwelt - das Feuer darf nicht ausgehen, soll es doch, jetzt erst richtig entfacht werden! —, so läßt sich dennoch die formale Struktur bis hierhin angemessen als Durchführung eines Themas (1.—4. Strophe) und deren Reprise (5.^-6. Strophe) bezeichnen.63 Der Tori des Gedichtes klingt , ist geprägt von Güte und Wohlwollen, worunter sich leise (Abschieds-)Melancholie mischt,· ebenso wie von ironisch-spöttischer Distanz, die es sich erlaubt, ohne Preisgabe einer tiefen Sympathie mit der Unerfahrenheit und Schreckhaftigkeit des Gegenübers ein wenig Schabernack zu treiben. Sie et Europe> mit dieser Eröffnung eines Vergleichs setzt nun der zweite^ ungleich größere Teil des Gedichtes (v. 25-76) ein. Die Verbindungen zum Anfang sind dabei vielschichtiger Natur. Rein oberflächlich-assoziativ schlägt das Motiv der Seefahrt die Brücke zwischen beiden Teilen, das noch dazu durch die Kontinuität von Raum und Zeit auf elegant-beiläufige Weise gestützt wird;64 psychologisch verbindet die Gleichzeitigkeit, das Ineinander von Kühnheit und Angst die beiden Heldinnen.65 Diese beiden Aspekte zusammengenommen erzeugen eine einheitliche Stimmung, mit deren Hilfe der Gedichteinschnitt <übermalt> wird und die die Zusammengehörigkeit beider Teile suggeriert, indem georg. I, 420 ff.; Cic, Tusc. IV, 10. Zudem liegen im .Wortfeld <movere> auch sexuelle Konnotationen, s. Adams, a. a. O. 195; vgL besonders Lucr. IV, 1268-71 (mit metaphorischer Entsprechung). 59 Vgl. ., met VI, 118-120. 60 Der Gedanke an ein wutschnaubendes wildes Tier liegt nicht fern ...; vgl. luv. 8, 36f. Daneben läßt die obige Wendung I, 5, 6 f. anklingen: ... aspera/nigris aequora ventis, die eindeutige Verwendung, des Bildes und dieselbe Konstellation - Reife vs. Unerfahrenheit - wie in III, 27. Zum gesamten Bild vgl. außerdem die Meeresbrandung in I, 11, 5f.: quae nunc oppositis debilitat pumiabus mare/Tyrrhewrt ... 61 Nämlich der Peitschenhiebe der Venus aus III, 26, 11 f., siehe dort zum Initiationsritus der Lupercalien. Dessen Symbolik wird hier durch eine noch direktere Anspielung überdeckt: serm. II, 7, 49 bietet die unzweideutige Wendung: ... turgentis verbtra caudae (vgl. Adams, a. a. O. 149), die hier durch wotus orimtis« Ausfri im Verein mit verbere variiert wird. 62 Vgl. I, 23, 8 und serm. II, 7, 57. 63 Inhaltlich wird der erste Teil durch den Verweis auf die Gegengruppe der imaginären Frevler eingefaßt, wobei die emphatische Stellung von inpios und hostium diese Markierung noch unterstreicht. So bilden Anfang und Ende als Hintergrundfolie den Rahmen und das Zentrum, in dem Galateä und der ihr zugerufene Segenswunsch des Sprechers zu stehen kommen (v. 13 f.). » 64 Während wir zu Beginn im Bilde Galateas Aufbruch (von Rom), ihre Reise im Wagen bis an die Adriatische Küste und schließlich am Ende des ersten Teiles Galateä am Strand stehen und angstvoll auf das Toben der Elemente blicken sahen, so fugt sich jetzt nahdos die Beschreibung einer Überfahrt und Landung an neuen Ufern an. Außerdem herrscht bei der Überfahrt noch die Nacht (nocte sublustri, v. 31), die schon vorher über die Reisende hereingebrochen war (pronus Oriont v. 18). 65 Die Befindlichkeit Europas wird durch palluit audax (betont im Adoneus der ersten <Europa-Strophe>, v. 28) pointiert hervorgehoben. Von ebensolcher Ambivalenz zeigte sich die psychische Verfassung Galateas, die genauso das Wagnis der Reise zwar eingeht, aber gleichsam auf Schritt und Tritt erschrickt.
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sie auf der bildhaften Ebene eine fließende Gedichtbewegung garantiert. Doch diese vordergründige Einheit verweist auf noch wesentlichere Zusammenhänge, wie auch die Wortfolge sie et Europe (mit dem betonten sie an der Spitze) - wodurch der Sprecher ein Gleichnis zur Untermauerung des Vorigen und nochmaligen deutlichen Belehrung Galateas einführt noch mehr verspricht: Sie verbindet die gesamte nachfolgende Erzählung mit dem Vorhergehenden; die Beziehungen zwischen beiden Teilen müssen tiefer an den Kern der intendierten Aussage reichen, wenn mit Recht von wirklicher Gedichteinheit gesprochen werden soll. Noch deutlicher als der erste Teil erweist sich die Europageschichte durch ihre formale Struktur, ihre exakt symmetrische Binnengliederung, als eigenständiger Abschnitt. In einem Rahmen von jeweils zweieinhalb Strophen an Anfang und Ende, der zum einen die geraffte Schilderung der Überfahrt und Landung auf Kreta, zum anderen Auftritt und Rede der Venus enthält, rindet sich als zentrales Mittelstück der ausladende Verzweiflungsmonolog der Europa (acht Strophen). Unter den erhaltenen Bearbeitungen des Europastoffes besitzen wir'im Epyllion des Moschos (2. Jh. v. Chr.) die früheste und zugleich umfangreichste. Da die Schilderung in Ovids «Metamorphosen» in den wesentlichen Zügen keine Abweichungen von der Erzählung des Moschos aufweist,66 können wir diese mit einigem Recht als traditionelle Version der Europageschichte ansehen und als Kontrastfolie mit der Fassung des Horaz vergleichen. Dessen Veränderungen lassen sich dann als bewußte Neuerungen verstehen, als eine produktive Umgestaltung des Mythos, die vom Kontext des Gedichtes einerseits gefordert wird, andererseits Sinn und Bedeutung des Gesamtgedichtes erst hervorbringt. Eine kurze Beschreibung der entsprechenden Passagen bei Moschos legt die Eigenart der Horazischen Anverwandlung des Mythos offen zutage: Während bei Moschos die entführte Europa noch auf dem recht idyllisch gezeichneten Ritt über das Meer (v. 113 — 30) eine Klagerede hält, in der sie sich teils über das gottgleiche Verhalten des Entführers wundert, teils darüber beschwert (v. 135-152), dann dieser ihr antwortend sich zu erkennen gibt und ihren künftigen Ruhm prophezeit (v. 154-161), schließlich die beiden auf Kreta landen und die Vermählung vollzogen wkd (v. 162-166), steht die Europa des Horaz nach einer wilden und unheimlichen Überfahrt (v. 25—34 a) einsam, vom Stier verlassen, am Strande Kretas und hält einen melodramatischen Monolog, in dem Selbstvorwürfe über ihr eigenes und also selbstverschuldetes Tun, Rachegelüste an dem Stier und Reue bis hin zu Selbstmordphantasien nacheinander hervorschießen (v. 34 b-66 a), bis unversehens Venus erscheint, um sie über die Rückkehr des Stieres, ihre wahre Situation und künftige Unsterblichkeit aufzuklären (66b-76). Demnach sind die Verlassenheit Europas am Strande Kretas und ihre daraus resultierende Verzweiflung sowie die Verheißung des künftigen Glücks durch Venus als wesentliche Horazische Inventionen anzusehen. Doch die Erzählung hebt an mit einer gerafften und zugespitzten Schilderung von Raub und Oberfahrt (v. 25-34a).67 Nicht, daß die Darstellung am vertrauten Handlungsplot prinzipiell etwas änderte, sie weist aber einige im Blick auf Galatea bedeutsame Besonderheiten auf. Zum einen ist der Fokus gänzlich auf Europa gerichtet, die dadurch in den 66
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VgL ., met H, 846 ff. Im Vergleich mit Moschos erscheinen die Gewichte geradezu vertauscht: Bei einer Gesamtzahl von 166 Versen finden wir in Vers 113.den Antritt der Seereise, in Vers 162 die Landung auf Kreta; bei den 52 Versen des Horaz ist schon mit dem zweiten das Wasser, mit dem neunten Kreta erreicht.
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Anschein einer aktiv Handelnden ger t, w hrend der Stier fast v llig im Hintergrund verbleibt;68 zum anderen wird kontrastierend ein gespenstisches Szenario entworfen, das Europa Angst und Schrecken einjagt.69 B ndig zusammengefa t gibt, diese ambivalente Stimmung das paradoxe^////// audax wieder.70 Ein weiteres Mal erleben wir also, wie vom Sprecher Spannung und Ungewi heit gesch rt werden. Unmittelbar nach der Ankunft auf Kreta stimmt Europa ihre lange, verzweifelte Klage an (v. 34 b — 66 a), aus der nur nach und nach der wahre Grund ihres Jammers ersichtlich wird: Sie steht pl tzlich verlassen da, um ihre Hoffnungen betrogen, aller Perspektiven beraubt. Es ist oft fruchtlos dar ber ger tselt worden, warum Hofaz hier umst ndlich einen allbekannten Mythos verfremde, um ihn an sein Gedicht anzupassen, statt sich aus dem bereitstehenden Angebot der verlassenen Fr uengest lten des Mythos an geeigneterer Stelle zu bedienen. Die Erkl rung daf r kann nur im ausgew hlten Europamythos selber liegen, und zwar darin, da er die einmalige Chance er ffnete, den Umschlag von tiefster Verzweiflung zu h chstem Gl cke darzustellen. F r ein Warnungsgedicht, f r H me und Rache w ren andere Vorbilder tauglicher gewesen - allein diese Feststellung sollte zeigen, da es darum in unserer Ode nicht gehen kann! Dennoch scheint der Hinweis auf andere , verschm hte Heroinnen berechtigt, die aus guten Gr nden eine hnliche Rede h tten halten k nnen. Namentlich die Klagerede Ariadnes aus Catulls carm. 64 klingt nicht nur an, sie hat unserem Monolog Pate gestanden, wie Mendell berzeugend nachgewiesen hat.71 Aber neben den Parallelen 68
-So ist Europa auch ber die gesamte Passage hin grammatisches Subjekt der Schilderung, alle Verben beziehen sich auf sie (credidit, v. 26;/>*//////, v. 28; vidii, v. 32; tetigit, v. 33; schlie lich dixit, v. 35, mit nachfolgendem Monolog); dazu sehen wir ihren schneewei en K rper (niveum .../... /afus, v. 25 f.) und blikken zur ck auf ihr Bl menpfl cken (studiosa florum, v. 29; zur Blume als ausgewiesenem Symbol der Jungfr ulichkeit vgl. z. B. CaL 62, 46) und Kr nzebinden (ppifex coronae, v. 30). Hingegen wird vom Stier nur einmal gesprochen (fauro, v. 26) — mit dem verr terischen Beiwort doloso (v. 25) —, danach jedoch verschwindet er im Dunkeln. Vgl. dazu die Darstellung des Moschos, der den eigentlichen Raub in allen Einzelheiten beschreibt, v. 72-130. 69 Mit doloso ... tauro k ndigt sich zwar schon $pannung an, vollends unheimlich aber wird dann das Szenario der berfahrt: scatentem/beluis pontutn, v, 26 f.; mediasque fraudes, v. 27; nocte sublustri^ v. 31, Vgl. auch hier wieder Moschos, dessen Beschreibung eher an eine Spazierfahrt denken l t, v. 113-130. W hrend hier die gro en Tiere der See lustig springen und sich tummeln (vgl. v. 116), wimmelt dort das Meer von ebensolchen. Einzig die Verse 132 f. erinnern ein wenig an die Stimmung der Ode (und scheinen in III, 27, 31 f. ihr Echo zu haben): φαίνετο δ' ουτ' ακτή τις άλίρροθος ούτ* ορός αιπύ, αλλ* αήρ μεν ΰπερθεν, ένερθε δε πόντος απείρων. Doch wirkt der Passus der Ode viel eindringlicher: Durch den Lakonismus des Ausdrucks, das n chtliche D mmerlicht, die schroffe Gegen berstellung des vor* maligen Idylls, dazu das zwischen astfa und undas gestellte vidity wodurch in abbildender Wortstellung die ngstliche Europa ins Bild kommt, die ber sich die Sterne und unter sich die Wogen sieht. (Zu sprachlicher Visualisierung durch Wortstellung vgl. Verg., ed. 2, 12 f.: at mecum raucis, tua du/n vtstigia lnstro,/sole snb ardenti nsonant arbusta acadis, wo durch die immense Sperrung von raucis und atadu der von allen Seiten umt nte Raum des Waldes gleichsam vor Augen steht.) Denkbar, da hier zudem eine m gliche bertragene Bedeutung von aslra und undas verf ngt: Wenn as/ra metonymisch die rauschhafte Nacht (vgl. III, 21, 21 -24), undas aber metaphorisch inneren Aufruhr (vgl. Cat, 64, 62: ... magnis curantm uctuat utidis, Verg., Aen; 12, 831 und v. 42 £ unserer Ode) bezeichnen kann, sehen wir hier Europa eingeschlossen im .Widerstreit ihrer Gef hle. Vgl. zu «#/>auch v. 17 (sed vides ...), wo die bangen Blicke der Adressatin auf Sterne und Meer wiedergegeben werden: Nunmehr verschmelzen die Blicke der beiden zu einem ... 70 Pallescere kann auch das Bleichwerden vor Liebe bezeichnen, vgl. Prop. I, 13, 7 f. 71 C W. Mendell: Catullan Echoes in the des of Horace, in: CPh 30, 1935, 289-301. S. hier 291 -294. Mendell arbeitet eine solche F lle von Gemeinsamkeiten im signifikanten Wortmaterial zwischen unserer
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in Wortmaterial und Gedankenfiguren variiert Horaz in unserer Ode das Catullische Carmen 64 in noch ganz anderer, bislang unentdeckt gebliebener Weise, die seine Aneignung zur echten imitatio macht.72 Es ist nämlich die Klage der Ariadne (mitsamt der ganzen Theseusgeschichte) eingelegt in ein Hoch^eitscarmen, und zwar die Hochzeit des Peleus und der Nereustocbter Thetis, und dieses endet mit einer Glücksverheißung der Parzen für das Paar; die Klage der Europa ist eingelegt in ein Hocb^eitscarmen für ein Mädchen, das den Namen einer anderen Nereustochter, Galatea, trägt, und es endet mit einer Glücksverbeißung der Venus für Europa, eine Glücksverheißung, die zwingend auch auf Galatea zu beziehen ist! Doch ist innerhalb dieses gemeinsamen Gerüsts besonders auf die signifikanten Unterschiede achtzugeben. Denn es brechen zwar sowohl Ariadne als auch Europa als Jungfrauen in ihr Abenteuer auf,73 während aber jene schon die Geliebte des treulosen Theseus geworden ist, sprechen im Falle Europas deutliche Textsignale dafür, daß sie zum Zeitpunkt ihrer Klage immer noch unberührt ist.74 Warum aber jammert und klagt Europa so, als ob sie sich bereits einem treulosen Geliebten hingegeben hätte?75 Wenn man sich erinnert, daß der Mythos zur Illustration der Lage Galateas vom Sprecher eingeführt wurde, die wir oben als Schwellenüberschreitung charakterisierten, liegt der Sinn des sich bietenden Melodramas offen zutage. Schon im gewählten Bild manifestiert sich auf das anschaulichste der Moment der äußersten Krisis: Das weite Meer trennt Europa von Heimat und Vaterhaus, ihre Vergangenheit ist durch die Überfahrt unwiederbringlich hinter ihr abgeschnitten; gleichzeitig erscheint ihr die Zukunft dunkel, ja unwegbar, sie steht unwissend und darum voller Angst an neuen Ufern. So ist allein schon das Verlassen des Vaterhauses die virginum culpa, die alles weitere Übel nach sich zieht76 Nahdos fugt sich
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Europaerzählung (v. 25—76) und der Ariadnegeschichte Cat. 64, 52—264, insbesondere zwischen beiden Klagereden (bei Catull v. 132-201), heraus, daß bei der weitgehenden Übereinstimmung der Schicksale — zwei Königstöchter, die Vaterhaus und Heimat verlassen haben, einsam an fremdem Strand, ihrer Verzweiflung in langer Klage Ausdruck gebend, schließlich von einem Gott getröstet — die direkte Anlehnung des Horaz an Catulls Gedicht nicht geleugnet werden kann. Daher irrt Mendell, wenn er behauptet «One thing seems certain at the outset. The first six stanzas of Horace's öde are different from the last thirteen in that they do not show any reminiscences of the sixty-fourth poem of Catullus ...» (a. a. O. 292). VgL Cat. 64, 86£: ... virgo/regia ...; bei Horaz das Bild des blumenpflückenden Mädchens (v. 29 f.; 43f.) und virginum culpae (v. 38). Da die gleichnishafte Einführung des Mythos und alle Indizien des Textes auf eine prinzipielle Gleichsetzung Europa = Galatea deuten, genügt schon der Hinweis auf die Jungfräulichkeit Europas, um die bei vielen Interpreten beliebte These, daß Galatea die einsäge Geliebte des Sprechers gewesen sei, ad absurdum zu führen. VgL Cat. 64,147: std simul ac cupidae mentis satiata libidost...; bei Horaz quae simul... tetigtt... (v. 33), bent te secuia (v. 59), die offenkundige Unwissenheit Europas über ihren Entfuhrer, die sich im ganzen Monolog indkekt, am direktesten in Vers 45-48 (tuvencum, v. 45; monstri, v. 48) ausdrückt, sowie cum übt invisus laceranda reddtt/cornua taurus (v. 71 £). Besonders der Ausruf levts una mors tst/virgnum culpae (v. 37 f.) scheint dies nahezulegen. Hinzu kommen turpe conmissum (v. 39), litiis (v. 39), infamem (v. 45), womit die rechtliche Degradierung eines Römers bezeichnet werden kann, die gerade auch bei sexuellen Straftaten verhängt wurde, schließlich die ausschweifenden Selbstmordphantasien, die den in v. 37 f. enthaltenen Imperativ gedanklich ausführen. In ihrer Rede kommt dies dadurch zum Ausdruck, daß ihre Klage mit der Anrufung des verlassenen Vaters und des verratenen kindlichen Pflichtgefühls beginnt (v. 34 f£) und diese Verfehlungen dann kurz darauf in virgnum cuipa übersetzt werden (v. 37 £). Ganz deutlich werden Schuld und Strafe in Vers 49 £ ausgesprochen: inpudens liquipatriospenattr./inpudem Ortum moror..., wobei die anaphorische Betonung auch eine Steigerung signalisiere Sie hat sich nicht allein des Todes schuldig gemacht, ihre Schuld wächst dadurch noch, daß sie ihre verdiente Bestrafung aufschiebt.
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dieses Bild eines von Gewissensnöten und Ängsten gepeinigten, im Niemandsland zwischen Vaterhaus und Bräutigam verirrten Mädchens an die Darstellung Galateas, die wir so unsicher zu ihrer Hochzeit aufbrechen sahen. ^ Nähdos auch fugen sich Haltung und Tonfall des Sprechens an die <joviale> Redeweise zu Beginn, wenn in der Klage der Europa aufrichtige Gefühle mit solch exaltiertem Pathos vermischt werden, daß Mitgefühl und Ironie einander die Waage zu halten scheinen. Pater, mit dieser Anrufung (v. 34) beginnt die Klage der Europa und sie endet mit der imaginierten Antwort des Vaters auf ihr schändliches Tun (v. 57—66 b). Von diesem Rahmen eingefaßt, läßt sich der ganze Monolog Europas als eine an ihren Vater gerichtete Rede, eingedenk des im Geiste antwortenden Vaters gar als Dialog mit diesem verstehen. Wenn aber der Sprecher einen Dialog Europas mit ihrem Vater Agenor fingiert und zugleich verdeutlicht hat, daß er dem Mädchen Galatea Worte in den Mund legt, wenn wir uns zudem Galatea in einer Redesituation mit dem Sprecher vorstellen^ was läge näher, als die Konstellation beider Gedichtteile zur Deckung zu bringen und in Europas Dialogpartner Agenor ein Pendant des Sprechers zu sehen?78 Das lyrische Ich setzt also das Gespräch, das es auf der des Gedichts mit Galatea führt, auf einer fiktiven Ebene fort, es.läßt Galatea sich antworten, wobei es sich selbst in die Rolle des Vaters, einer personifizierten Gewissensinstanz, kleidet. Diese spielerisch angenommene Rolle paßt gut zum väterlichen Ton der gesamten Ode und stimmt zu einer weiteren Anspielung in diese Richtung, denn es scheint, als spielte das lyrische Ich auch mit der Rolle des Nereus. Dieser war uns nicht nur als Vater der Thetis in Cat. 64, sondern auch als Vater von deren mythischer Schwester, Galatea, begegnet, die wiederum nicht nur Namensgeberin unserer Galatea zu sein schien. Nereus galt als Seher, das lyrische Ich aber nennt (providus auspex, v. 8) und geriert sich ebenso! Noch dazu gibt es eine horazische Ode — I, 15, die einzige rein als Mythos gestaltete Ode der Sammlung —, in der Nereus seine Profession unter Beweis stellt, als Wahrsager auftritt und Paris und Helena mit einem Dyspemptikon auf ihre weitere Reise entläßt.79 Wie sollte da nicht der verheerende Fluch über diese Liebe mit der Glücksverheißung von III, 27 als Gegenstück, korrespondieren? 77
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Zudem spiegelt sich im Bilde der Überfahrt von Küste zu Küste die rechtlichrsoziale Stellung der Frau in Rom, die in der Tat weitestgehend von den Kontinenten der <patria potestas> einerseits und der <manus> des Ehemannes andererseits abhing, und deren Verheiratung unter diesen Vorzeichen die Überfahrt, d. h. den Wechsel des Familienverbandes, zur Folge hatte, der in der hochzeitlichen deductio vom Vaterhaus zum Hause des Bräutigams seinen Ausdruck fand (vgl. Catulls Darstellungen in den Carmina 61 und 62). Die passive Rolle der Frau bei dieser Zeremonie läßt das Bild des Raubes erkennen, vgl. Cat. 62( · 20-24. ' · .'. Allein die Ökonomie unseres Gedichtes erfordert diese Gleichsetzung: Die Leerstellen des einen Gedieh tteiles sollten nämlich jeweils aus den Hinweisen des anderen,gefüllt werden. Die Konstellation des ersten Teiles aber weist erstens das lyrische Ich, zweitens Galatea und drittens einen unbekannten zukünftigen Bräutigam auf; die Konstellation des zweiten Teiles bietet Agenor, Europa und Jupiter. Wenn Galatea und Europa gleichzusetzen sind und Jupiter die vakante dritte Rolle des ersten Teiles übernehmen wird, spricht alles dafür - zumal bei der Emphase der Vaterrolle im zweiten Teil -, daß das lyrische Ich den ansonsten Part Agenors übernimmt. Von hier aus enthüllt dann auch uxorespueriqve,(y. 21) seinen feinen Doppelsinn, indem es auf Galatea als Gattin ihres noch unbekannten Zukünftigen und des Sprechers anspielt. Mit der Rolle der Venus hingegen hat es seine eigene Bewandtnis, da sie oberhalb dieser Konstellation rangiert. ... maJa duds am domum/quam multo repetet Gratcia milite/conturata tuas rumpere nuptias/tt regnut?/ Priemt vetus (I, 15, 5-8). Diese Ode hatte Goethe in der
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Doch sollen wir diese Verweise auf die des lyrischen Ichs beim Buchstaben nehmen oder mit einer übertragenen Bedeutung rechnen? Erinnert man sich des (Programms) der Ode , 680 und vor allem der Eröffnungsverse des dritten Buches81, dann ließe sich von einem ebensolchen <Patronat> auch in III, 27 sprechen. Die Verabschiedung Galateas, das Loslassen der Liebenden, würde dann bedeuten, daß sich das lyrische Ich der Liebe als der Möglichkeit und Bedingung des eigenen Dichtens begibt und seine Profession wahrhaft an den Nagel hängt.82 Die Rede, die der Sprecher Galateas mythischer Doppelgängerin in den Mund legt, klingt bei der Häufung von Geständnissen und Verwünschungen wie ein moralischer Offenbarungseid. Gleich zu Beginn benennt sie ihr Vergehen und das Maß ihrer Schuld.83 Das Motiv der pjetas, betont am Anfang der Rede, verweist auf das erste Wort der Ode (inpios) und zeigt abermals deutlich die Verklammerung beider Gedichtteile an. Damit ist es zugleich ein wichtiges Indiz für die Wertung des ganzen Monologs, denn da im ersten Teil der Sprecher Galatea vom Verdacht der impietas freigesprochen hat, entlarvt sich diese fiktive Selbstbezichtigung als haltlos, und alle Anklagen, die aus ihr erwachsen, müssen ebenso ins Leere zielen. So gibt der Sprecher schon jetzt ein leises Signal, daß auch die neuerliche Verunsicherung nur zum Schein erfolgt. Ironisch wird das Pathos der Rede immer wieder durchbrochen oder aber ins Groteske und damit Komische übersteigert. Wenn beispielsweise Europa sich fragt, ob ihr Traum oder Wirklichkeit widerfahre (v. 38 b—42 a), liegt darin ein witziges Spiel mit den zwei Arten der Tore des Traumes: Während sie noch rätselt, ob ihr aus elfenbeinerner Pforte Lug und Trug vorgegaukelt werden, weiß der Betrachter, daß sie sich wirklich am Hörn des Stieres festgehalten hat ... Besonders tragikomisch, weil auf das schärfste die Kluft zwischen Europas eingeschränkter Wahrnehmung und den tatsächlichen Verhältnissen bezeugend, wirkt natürlich der Zornesausbruch in Richtung Stier (v. 45 — 48), der in der zweideutigen Drohung lacerareferro etfrangere ... cornua monstngipfelt.84 Doch ist der Bösewicht ja nicht zur Stelle, so daß sich ihre Aggressionen erneut gegen sie selbst wenden müssen und in Selbstmordphantasien Bahn brechen.85 Indessen nimmt ihr schlechtes Gewissen die Gestalt ihres Vaters an, der sie aus ihren phantastischen Visionen (v. 50-56) heraus zu den an Ort und Stelle praktikablen Selbstmordwegen anzutreiben scheint (v. 57 f.):86 Erhängen
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... nos aonviiia, nos proelia virgnum/sectis in iuvenes unguibus amum/cantamus vacui, sive quidurimur (v. 17 ff.). Odi profanum volgus et arcco./favete linguis: carmina non prius/audiia Mttsarum sacerdos/virginibus puerisque canto (111,1,1-4). VgL die Besprechung von III, 26, ... reticfum/ßliac nomen pietasque .../vicfafurore (v. 34ff.); km una mors est/virgmum culpae (v. 37 f.). Zur sexuellen Konnotarion von cornu ( ) vgl. Adams, a. a. O. 21 £ Durchaus im Sinne der der Selbstmordwege (vgl. E. Fraenkel: Selbstmordwege, in: Kleine Beiträge zur klassischen Philologie, Bd. l, Rom 1964, 465-67). An unserer Stelle beschränkt sich die Aufzählung nicht, wie Fraenkel behauptet (vgl a. a. O. 466), auf Schlinge und Abgrund. Zwar hat Europa tatsächlich kein Schwert zur Hand, doch in hyperbolischem <Sarkasmus> übernehmen dessen Aufgabe in ihrer Phantasie wilde Tiere (vgl. Cat. 64, 152 f. oder ., ars am. III, 35 f.). Die Heftigkeit dieser Attacken, hinter denen sich, wie wir gesehen haben, zum Schein der Sprecher verbirgt, wird durch den paradoxen Ausdruck urgtt absens (v. 57) noch verstärkt Die Wendung mori ffssas (v. 58) nimmt mit ironischem Wortspielt Orntm moror (v. 50) wieder auf, das seinerseits eine Pointe auf Kosten von Europas Unwissenheit enthielt Denn während sie noch glaubt, Orcus warte längst ungeduldig auf sie, ist doch schon die Vermählung mit einem ganz anderen Gort beschlossene Sache.
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(v. 58 b—60) 87 oder Todessturz (v. 61-63 a) seien nunmehr die einzigen. Alternativen zum drohenden Schicksal als Kebsweib und Sklavin einer Barbarin (v. 63 b—66a). 88 Nachdem Europa in diese äußerste Enge getrieben ist, zerplatzt plötzlich der Spuk durch das Erscheinen der Venus.89 Obwohl sie schon die ganze Zeit mit ihrem Sohn Europa zur Seite gestanden hat (aderat> v. 66), läßt doch der Sprecher jetzt erst Galatea und uns sie jäh erkennen, auf daß wir Europas Überraschung teilen. Und jetzt erst, übt lusit satis (v. 69), beendet sie ihr Spiel und klärt Europa über ihre wirkliche Lage auf. Daß sie genug gespielt hat, ist ein Hinweis darauf, daß wir das, was sie nun erklärt, ernst zu nehmen haben,90 wenn sie sich auch anfangs noch einen Spaß erlaubt und nur allmählich den Nebel verscheucht.91 Wir können also im mythischen Hauptteil das gleiche Spiel wie in der zweifachen Durchführung des ersten Teiles beobaqhten: Die Inszenierung von Unsicherheit und. Schrecken, die schließlich einer allmählichen Auflösung und Verkehrung in ihr Gegenteil weichen. Nur, daß sich hier Venus höchstselbst als Drahtzieherin des Spieles entpuppt hat. Dies aber ist der Clou des 87
Daß Europa ihren Gürtel noch bei sich hat, ist als Zeichen ihrer Unberührtheit zu verstehen; vgl. Cat 2 b, 3: qiiod ypnam solvit diu Ugatam\ 67, 28: quodposset %pnam solvere pirgineam\ ., met. V, 468 f£ 88 Mams (v. 63) ist als spöttisches Echo zu verstehen: Im ersten Gedichtteü hatte ja der Sprecher mit großherziger Geste (ubicumque mavist v. 13) allem Anspruch auf Galatea entsagt und in deren freie Lebensund Liebeswahl gewilligt. Jetzt legt er seinem vorgegaukelten alter ego einen Richtspruch in den Mund, der Galateas Doppelgängerin nurmehr die freie Wahl zwischen Regen und Traufe läßt. Die Wendung farpere pensum (v. 64) klingt wie eine bittere Parodie auf carpe dkm (I, 11, 8): Statt ,<Spinne dein Tagespensuml>. Schließlich zeugt auch noch die Vorstellung der Juno als barbara domina (vgl. Vers 65 f.) von der ironischen Brechung des Monologs. 89 Auffällig das unvermittelte Auftreten der Venus. Aderat (v. 66) bringt einen ebenso abrupten Wechsel wie zu Beginn ego (v. 7/18), das an der gleichen Stelle im Vers, nach der Mittelzäsur, zu stehen kam und gleichfalls eine Umkehrbewegung initiierte; In dieser Parallele (auch der Name der Venus wird an jene bedeutsame Versstelle gerückt, v. 67) kündigt sich eine vielsagende Verbundenheit zwischen lyrischem Ich und Liebesgöttin an, die gemeinsame Sache zu machen scheinen. Es ist, als teilte das lyrische Ich ihren Platz auf der Kommandobrücke. Venus wird, wie üblich, von ihrem Sohn begleitet, vgl. I, 32, 9 f.; I, 30, 5; daneben die pluralische Ausdrucksweise (vgl. I, 19, 1; zitiert in IV, l, 5). Dieser hat, woran wir nochmals erinnert werden (remisso/'...arcu, v. 67 f.), seines Amtes gewaltet (vgl. H, 8, 14ff.): Der Pfeil ist längst abgeschossen (wir haben ihn bereits am Anfang durch das Gedicht fliegen gesehen: serpens.../ .. .similis sagittae/terruit mannos, v. 5 ff.). Höchst verblüffend, daß Venus bei ihrem ersten Auftritt im Odencorpus (I, 2, 33 f.) mit den gleichen Attributen versehen ist wie an unserer Stelle. Zwar wird dort die Mütter des Aeneas als Schutzgöttin des römischen Staates angerufen, doch trotz der Ernsthaftigkeit der Lage umgibt sie auch auf ihrer politischen Mission die typisch erotische Aura: sive tu mavis, Erycina ridens,/ quam locus drcum volat et Cupido\ vgl. damit perfidum ridens (v. 67), lusit (v. 69) undß/tus (v. 68) unserer Ode/ Diese Koinzidenz belegt, daß schon in den Odenbuchern I-III Horaz damit arbeitet, in der Gestalt der Venus die öffentlich-politische und privat-erotische Sphäre als Bedingung'und Gehalt seiner lyrischen Dichtung engzufiihren, ein Modell, das im 4. Odenbuch tragende, konzeptuelle Bedeutung gewinnt (so Kerkhecker, a. a. O.). · 90 So ist auch perßdum ridens (v. 67) nicht auf den Schluß zu beziehen, denn ihr verschlagenes Lächeln begleitete ja nur ihre Beobachtung des Spiels. 91 Ihre Ankündigung: cttm litt invisus laceranda rcddct/cornua taurus (v. 71 f.) äfft ironisch Europas Zornesausbruch gegen den Stier (v. 45-48) nach. Besonders effektvoll ist die weite Sperrung invisus ... taurus: Hierdurch drängt.sich zum einen das Wortspiel invisus = a) ungesehen, b) verhaßt, auf; in der ersten Bedeutung läge dann:
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Mythos und die Erklärung dafür, daß Venus die Wahrheit enthüllt; der Sprecher spielte mit Galatea das Spiel der Venus, es ist ebendieses Spiel, das der Sprecher Galatea zu erklären sucht, indem er ihr zuletzt, wie sich angesichts des tragödienreifen Verzweiflungsmonologes der Europa und der dea ex machina vielleicht formulieren lassen dürfte, ein Stück imaginiertes vorfuhrt. Die letzte Strophe bringt mit knappen, bestimmten Worten die Aufklärung des Spiels: Europa wird über die wahre Identität ihres Bräutigams belehrt (v. 73),92 zu würdiger Haltung ermahnt (v. 74—75 a) und mit der Aussicht auf Unsterblichkeit mehr als getröstet (75 b f.).93 Die genaue Beobachtung von Komposition94 und Inhalt der gesamten Ode läßt keinen anderen Schluß zu, als daß diese Glücksverheißung auch auf Galatea zu beziehen ist und gerade darin ihren eigentlichen Sinn findet.95 Der Sprecher hat durch seine Vorausschau alle Bedenken des unerfahrenen Mädchens zerstreut, sie unter günstigsten Auspizien zum Aufbruch ermutigt und ihre eigene Vermählung unter den Prospekt der Unsterblichkeit gestellt. Mit diesem letzten Stichwort klingt freilich noch eine ganz andere Dimension in unserer Ode an. Unsterblich wird die Liebe, unsterblich werden alle Taten der Menschen erst durch die Leistung des Dichters, ja es ist überhaupt die Unsterblichkeit dessen ureigenstes Privileg.96 Wenn sich also in unserer Ode der Sprecher von Galatea und damit der Liebe als Grundlage eigenen Dichtens verabschiedet, dann ist es, als rufe er mit dem Hinweis auf Europas Unsterblichkeit zum Abschied dem Mädchen nach: <Sei unbesorgt, nach dir wird dereinst ein lyrischer Kontinent benannt werden!) Mit dieser Wendung hat der Sprecher kunstvoll die Kraft und Unvergänglichkeit des dichterischen Werkes und so des Dichters eigene Unsterblichkeit ins Spiel gebracht.97
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Aus dem invisus taurus wird kurzerhand der invictus luppiteA Mit tua sectus orbis/nomina ducet wird der Anfang der Europaklage wiederaufgenommen und in emphatischer Weise korrigiert. Dort jammerte sie, daß sie ihren Tochtersnamen verwirkt habe (o relictum/ßliae nomm> v. 34 f.), jetzt bekommt sie im Tausch unsterblichen Ruhm. Als ein letztes Beispiel für den wohldurchdachten Aufbau der Gesamtode sei auf die Verwendung des unscheinbaren Verbs hingewiesen. Es begegnet uns dreimal, jeweils in der 3. Pers. Sing., doch mit bedeutsamer Variation in Modus und Tempus: ducat (v. 2), ducit (v. 42) und ducet (v. 76). Diese Folge symbolisiert die Bewegung der ganzen Ode. Am Anfang steht im Modus Konjunktiv die Verwünschung, cÜe negative Sphäre der Unfrommen; dann folgt in der Mitte im Indikativ Präsens die Frage, die den Zustand der Unsicherheit Galateas markiert; zuletzt (ducet das letzte Wort des ganzen Gedichts!) steht futurisch ausgedrückt die Verheißung, die positive Lösung des Konfliktes, in scharfer Antithese zum Anfang. Kaum glaublich, daß dieser sinn- und strukturstiftende Gebrauch des Wortes zufällig ist in einem Gedicht, das vom
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3. Die Ode III, 26
Das Auftaktgedicht unserer Gruppe macht sich in produktiver Weise Elemente des literarischen Weihepigramms zueigen, die es in formaler wie inhaltlicher Hinsicht entscheidend transformiert. Während nämlich das traditionelle Epigramm in Form der Beischrift 2um Weihgeschenk den bloßen Vollzug einer Weihung bestätigt, hören und sehen wir in III, 26 ein Drama en miniature. Außerdem wird hier mit der Darbringung der Arbeitsinstrumente für die zugehörige Schutzgottheit das Ende der Berufstätigkeit von keinem der aus dieser Spielart der Gattung vertrauten Protagonisten -* allerlei Handwerker und Soldaten, gelegentlich auch ausgediente Hetären oder ein Buhlknabe finden sich unter dem pensionswilligen Volk ~-, sondern von einem Liebesveterän begangen.98 Den Mädchen zu leben habe er verstanden und sich dabei große Ehren erworben (v. l f.).99 Wir sehen also einen in die Jähre gekommenen Mann vor uns, der die Zeichen der Zeit erkannt hat und um so leichter seinen scheint zu können, als er voller Stolz auf seine erfolgreiche Karriere> zurückzublicken vermag. Jedenfalls zeigt sich der Sprecher beherrscht und fest entschlossen (babebti, V; 4), seine Waffen (arma> v. 3) 10° und die ausgediente Leier (defunctumque bello/barhifon, v. 3 f.) im Tempel der Venus zu weihen, um der Liebe seinen Rücken zu kehren. Die Leier gehört nicht nur ins Arsenal der , sie ist vor allem Instrument und Auszeichnung des Dichters;101 Außerdem zeigt unsere Ode deutliche Reminiszenzen an das spiegelbildlich plazierte erste Liebesgedicht der Sammlung (l, 5): Dort wejhte ein auf dem Meer der Liebe Schiffbrüchiger Neptun seine Gewänder; hier bringt ein Liebessoldat der Venus seine Waffen und Leier dar.l02 Wie jenes den Reigen der Liebesgedichte eröffnete, scheint dieses auf dessen Ende zu weisen und, eingedenk der in I, l so feierlich ergriffenen Leier und der pars-pro-toto-Funktiön der Liebesdichtung, auf den Abschied vom lyrischen Dichten insgesamt vorbereiten zu wollen. So meint der Betrachter, schon im voraus die nun folgende feierliche Abschiednahrhe, Dankesworte, viel98
Vgl. Syndikus, a. a. O. 224 f., der zahlreiche Belegstellen literarischer Vorläufer, auch für das Motiv der Opfergabe eines Liebhabers nach Beendigung einer glücklichen oder unglücklichen Liebe* bietet. Vgl. auch Prop. II, 14, 25-28: Das lyrische Ich legt zum Dank für eine..Liebesnacht vor dem Tempel der Venus nieder. Der Abschied von der Liebe wird in III, 26 ganz im Sinne der Soldaten- und Kriegsmetaphorik zelebriert, die schon in der Komödie Verwendung rindet, vor allem aber in der Liebeselegie sich größter Beliebtheit erfreut: Militat omnis amans, et habet stta castra Cupido ( ., am I„ 9, 1). Bei Horaz wird diese Metaphorik zu Beginn des 4. Odenbuches wiederaufgenommen (IV, I, l f.) und damit* offenkundig ein Bogen zu dieser Ode und dem Ende der früheren Sammlung geschlagen. 99 Vnd steht emphatisch an erster Stelle und erweckt den Eindruck, als ob das Leben des Sprechers tatsächlich (mit den Mädchen) dahingegangen sei (vgl, die Klage der Dido, Verg., Aen. IV, 653). Gleichzeitig klingt aber auch die zufriedene Selbstbestätigung eines <Epikureers> durch, der sich bewußt ist, dem Gebot des (Lebens-)Tages - Carpe diem! - gerecht geworden zu sein: ... ilkpolws sui/ lattttsqae deget, cui licet in diem / dixisse
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leicht auch eine Bitte um «friedliches und heiteres Alter»103 zu vernehmen. Doch zunächst setzt noch eine retardierende Gedichtbewegung ein, in deren Verlauf die kleine Szene allmählich beleuchtet wird:104 Mit Wand und Statue rückt die Örtlichkeit ins Bild (v. 4 ff.), dann treten Sklaven auf, die unter Anweisung des Sprechers die Weihgaben ablegen (v.off.). 105 Erst jetzt folgt die geschickt verzögerte Anrufung der Venus mit altehrwürdiger Formel (v. 9 f.).106 Mitten in dieser gehobenen Feierlichkeit jedoch fallt der Sprecher völlig aus der erwarteten Rolle. Wie unwillkürlich platzt ihm der brennende Wunsch heraus, daß die Göttin mit ihrer Geißel der spröden Chloe (Chloe: die Grünende, das junge Sproß, das noch unreife Mädchen) einmal einen Streich verpassen möge (v. 11 f.): Chloe soll wenigstens einmal die Macht der Liebe zu spüren bekommen.107 Für wen aber soll Chloe ihr Herz öffnen, wenn der Schlag der Venus sie trifft? Nach der communis opinio erfleht der Sprecher für sich selber zumindest eine Chance bei dem abweisenden Mädchen und wirft damit seinen anfanglichen Entschluß über Bord. Dagegen versucht C. P. Jones108 zu zeigen, daß der Sprecher lediglich an eine Vergeltung seiner Leiden dergestalt-denke, daß auch Chloe einmal in unglücklicher Liebe zu jemand anderem entbrenne.109 Nach dieser Interpretation werde der Widerspruch zum Gedichtbeginn vermieden. Doch Jones' einziges wirkliches Argument, die Ode III, 26 sei als Abschied von der Liebesdichtung und somit dem lyrischen Schaffen insgesamt zu verstehen und es dürfe deswegen der Verzicht nicht widerrufen werden, steht auf tönernen Füßen. Er übersieht, daß noch zwei Liebesgedichte 103 104 105
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Mit welcher Aussicht Hölderlin seine «Abendphantasie» beschließt (F. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. G. Mieth, München/Wien 51970, 238). Vgl. Syndikus, a. a. O. 225. Das retardierende Moment tritt in der scherzhaften Aufzählung handfester Gerätschaften (junalia et vertis et arcus^ v. 7) besonders deutlich zutage. Dabei sind funatia et vectis als Variation zu arma, arcus als Variation zu barbiton (zwischen dessen die Saiten wie Sehnen gespannt sind, vgL I, l, 34: ... tendere barbiton} aufzufassen. Durch diesen Scherz raffiniert überdeckt, küngt zum erstenmal das Motiv des widerspenstigen Mädchens an. Mit oppositis foribus (v. 8) wird die klassische Situation eines Paraklausithyron evoziert (vgl III, 10): Die Widersetzlichkeit der Tür symbolisiert den spröden Sinn der Bewohnerin des Hauses, vgl. auch die Anspielung in I, 11, 5: oppositis ... pumicibus, die Ansturm und Abwehr im Bilde beschreibt. Das auf den ersten Blick als bloßer Zierat erscheinende Epitheton zu Memphin (v. 10) enthält in Wirklichkeit eine Anspielung auf eine wichtige Eigenschaft der Venus: Sie ist die Feindin jedweder Kälte in der Natur. Daran wird sie hier <erinnert>, auf daß sie sich berufen fühle, auch das Chloes aufzutauen. VgL das frostige Szenario der Ode , 10, das in ähnlicher Weise die Gefühlskälte der Adressatin illustriert. Daneben weckt nive...carmtem noch eine zweite Assoziation, die den Sprecher selbst zum der Venus stempelt: In IV, 13,12 werden die weißen Haare als capitis aives umschrieben, Venus schließt also auch das Alter aus ihrem Reich aus (vgl. l, 30, 7)! Schon das nach sublimflagellounerwartete fange spricht dafür, daß an unserer Stelle der Gedanke einer Belehrung im Vordergrund steht, vgl. Tib. I, 8, 5 f.: fpsa Venus magifo rtltgatum braccbia nodo/Perdocult nmltis non sine vtrberibus. Die übertragene Bedeutung des Schlages illustriert das Geschehen am Lupercalienfest (15. Febr.), dessen mythische Hintergründe Ovid, Fast. II, 267-452, beschreibt. An diesem Tag liefen zwei leichtbekleidete Priester (Luperci) um die palatinische Altstadt und schlugen mit Riemen, die aus den Fellen zuvor geopferter Böcke geschnitten waren, alle ihnen entgegenkommenden Frauen zum Zeichen ihrer künftigen Fruchtbarkeit. G P. Jones: Tange Chloen semel arrogantem, in: Harvard Studies 75, 1971, 81-83. Die von Jones bemühten Oden I, 25, IV, 10 und 13 taugen nicht als Belegmaterial für diese Gedankenfigur, da in ihnen explizit eine andere Situation vorliegt: Hier sind es jeweils alte Menschen, die für ihren vormaligen Hochmut büßen; in unserer Ode aber hat der Sprecher das gegenwärtige spröde Mädchen im Visier, nicht eine Greisin in ferner Zukunft.
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folgen, die auch vom Abschied handeln, daß mithin das Abschiedsthema angeschlagen, aber keineswegs durchgeführt wird. Für diese vereitelte Durchführung steht gewissermaßen der Rückfall des Sprechers. Der Odenschluß signalisiert aber in jedem Fall — auch bei der Annahme eines bloßen Rachegelüsts ~ die innere Unfreiheit, die, obschon zuvor kaschierte, immer noch andauernde emotionale Gebundenheit des Sprechers, die sich nicht verleugnen läßt. So wirft der Schluß nicht nur ein entlarvendes Licht auf den anfänglichen Vorsatz, der Liebe zu entsagen, da es nunmehr beinahe scheint, als habe der Mißerfolg den Sprecher zum notgedrungenen und unfreiwilligen Verzicht getrieben. Er statuiert zugleich ein Exempel, wie sehr die nur äußerlich vollzogene Lösung vergeblich bleibt. Gerade weil aber der Abschied nur äußerlich erprobt wurde, steht auch der plötzliche Umschwung in gar keinem Widerspruch zum Beginn des Gedichtes, so daß Jones* Argument der zu vermeidenden Inkonsistenz nicht verfängt. Am Ende zeigte sich, daß der (Liebes-)Dichter noch nicht völlig befreit ist aus den Banden der Liebe und daher ebensowenig schon ganz vom (Liebes-)Dichten lassen kann.
4. Die Ode III, 28
Mit der rhetorischen Sorge und Frage des Sprechers, wie der Festtag des Neptun am angemessensten zu begehen sei, beginnt das letzte Gedicht unserer Gruppe.110 Die anschließende Aufforderung an Lyde (v. 2 f.) liefert prompt die längst beschlossene Antwort: Das Beste ist es, in trauter Zweisamkeit mit einem edlen Tropfen ein intimes Symposion abzuhalten.111 Doch der forsche Imperativ läßt nicht nur auf die Entschlossenheit des Sprechers schließen, er deutet auch die zögerliche Haltung der Adressatin an, so daß der Sprecher seiner Forderung mit martialischer Metaphorik Nachdruck verleiht (v. 4): Niederreißen solle sie doch die Mauern ihrer Vernühfrigkeit!112 Damit ist schon in den Eingangsversen das Feld einer klassischen Liebeskonstellation, nämlich Zudringlichkeit und Abwehr,113 abgesteckt — ein Motiv, das in der folgenden Strophe aufgegriffen und in einen größeren Zusammenhang überführt wird. Die rhetorische Doppelfrage der Verse 5-8 begründet gewissermaßen die Ungeduld und den harschen Befehlston des Sprechers. Um aber Lyde zum Einverständnis mit seinem Vorhaben zu bewegen, fahrt er nun viel subtilere und darum wirkungsvollere Geschütze 110
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Zu dieser Ode liegt eine schöne Interpretation V Pöschls vor, in: V. Pöschl: Horazische Lyrik, Heidelberg 21991, 180-96. Eine neuerliche Besprechung der Ode kann allenfalls Pöschls Häuptgedanken nachzeichnen und um ein paar Marginalien erweitern. Neptun dient hier offenkundig als Brückenschlag zum ersten Liebesgedicht der Sammlung (I, 5), wodurch nicht nur auf den besonderen Charakter des bevorstehenden Symposions geschlossen werden darf, sondern auch die Erwartung eines sich schließenden Kreises sich einstellt. Zum Rückzug ins Private vgl. I, 17; 20; 38; , 6; III, 14; 29. Die Umdeutung eines offiziellen Anlasses in einen privaten Sinn findet sich auch in der Ode , 8, an deren Ende eine Aufforderung an Maecenas steht, die genauestens zu unserer Ode stimmt: dona praescntis cape kutus horav/linque severa ( , 8, 27 f.); vgl. auch I, 31, wo das lyrische Ich in Abgrenzung zu anderer Leute Wünschen von Apollo sich das erbittet, was das lyrische Ich in III, 28 einlöst: fruiparatis (I, 31, 17). Der ganze Vers evoziert die Belagerungsmetaphorik von III, 26. Zur symposiastischen Umwertung von Torheit und Vernunft vgl I, 11, 6 ff.; IV, 12, 27 f. Vgl. 1,11; 23; III, 10; 11; 26.
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auf. Mit anspielungsreichem Witz erinnert er sie daran, was die Stunde geschlagen hat: Es ist, wie sie ja weiß, bereits Nachmittag (indinare mmdiem/sentis^ v. 5£)! Allein diese Besinnung auf die Tageszeit soll Lyde davon überzeugen, daß sie im Begriff ist, ein schweres Versäumnis zu begehen, ein schwerstes, nämlich den Augenblick nicht zu ergreifen. Nur daß der Sprecher eben noch, um ganz sicher zu gehen, daß die Angeredete ist, an den alten Topos der flüchtigen Zeit erinnert (v. 6). Spätestens mit diesem Wink ist klar geworden, was der Nachmittagsstunde solch gewaltige Brisanz verleiht, es ist der Nachmittag des Lebenstages, den zu versäumen die Zaudernde Gefahr läuft.114 Daher auch sentis, denn die Angesprochene fühlt den sich neigenden Mittag in sich. Die Verweigerung des Weinholens bedeutete also einen törichten Verstoß gegen das Gebot des Lebensgenusses, und doch zögert... die Amphore (cessantem ... amphoram, v. 8)! Der Sprecher überträgt das Verhalten Lydes auf einen Gegenstand, in kühner, personifizierender Enallage, doch nicht ohne Grund, wie E. A. Schmidt demonstriert.115 Wie sich bei Horaz im allgemeinen Verbindungen herstellen lassen zwischen den Altersangaben des Weines und den Zusammenhängen des Festes und Gedichtes, versteckt sich im Hinweis Bibuli consulis (v. 8) nicht nur der Jahrgang (59 v. Chr.) des Weines, sondern auch das Geburtsjahr Lydes. Und die Gemeinsamkeiten gehen noch weiter: Auch der sich sträubenden Amphore gegenüber soll Lyde zur Gewalt greifen (deripere, v. 7)116 wie schon vorher gegen sich selbst (v. 4). Der Sprecher treibt die scherzhafte Identifikation beider so weit, daß ihre Konturen ineinander zu verschwimmen beginnen. Welches ist denn nun der wohl verwahrte, zu würdigem Anlaß aufgesparte gute Tropfen?117 Wer ist denn hier aus <süffigem> Jahrgang zum Trinken gedacht? Was eigentlich sieht der Sprecher in der zögernden Amphore, ist es ihm am Ende gar nicht um Wein zu tun? Jedenfalls scheint es doch ein wenig, als sähe der Sprecher schon vor dem Zechen doppelt ... Mit der dritten Strophe wechselt der Sprecher das Thema; er verkündet den weiteren Verlauf des Tages, entwirft ein gemeinsames Gesangsprogramm (nos cantabimusinvicem^ v. 9), und spürbar hebt sich der Ton des Gedichtes.118 Die entstehende Kluft zum Vorherigen wird aber kunstvoll durch den Reichtum der sich fortsetzenden feinen Anspielungen ge114
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Man beachte die Schlüsse der Verse l (die)> 5 (meridiem) und 6 (dies). Es ist, als wollte der Sprecher Lyde den Tag mit aller Macht vor Augen und wie eine reife Frucht (carpe diem (!), I, 11, 8) unter die Nase halten. Zur Thematik vgl. auch III, 29, 41 ff., die Verkürzung des Lebens auf einen (jeden) Tag, und Pöschl, a. a. O. 183£ Durch die paradoxe Formulierung stet volums (v. 6) wird das Tempo des Zeitverlustes noch dramarisch gesteigert. VgL den ebenfalls mit der Aufforderung zum Lebensgenuß verbundenen Hinweis auf die Zeit in 1,11, 7 f., sowie , 14, l £, IV, 7, 7£ und IV, 13, 16: ... volums dies. Die Aufforderung zu gegenwärtigem Genuß angesichts der enteilenden Lebenszeit finden wir auch noch in I, 9, 13 f£, II, 3,13-16 und II, 11, 13-17. E. A. Schmidt: Alter Wein zum Fest bei Horaz (in: A&A 26, 1980, 18-32), hier 23f. In deriprn liegt sowohl eine scherzhafte Intensivierung dcspromere (als gälte es jetzt wirklich kein Sekündchen mehr zu verlieren) als auch ein Anklang an die Kriegsmetaphorik (v. 4; vgl. IV, 15, 6 f.). Damit wiederholt die rhetorische Frage beide obigen Imperative in gesteigerter Ungeduld. Vgl. die Wortstellung: ... prome nfondittim./Lyde, ... (v. 2f.). Die Gedichtbewegung vollzieht sehr anschaulich den Übergang vom Alltag in die Festlichkeit: Am Anfang das simple Begehren nach Wein (1. Strophe), das sich dann verwandelt in ein neckendes Spiel mit anzüglichen Zweideutigkeiten (2, Strophe); dieses wird auf die höhere Ebene des Gesangs gehoben (3. Strophe), die wiederum in die Sphäre der Liebe fuhrt (4. Strophe, v. 13-15). Ganz am Ende jedoch gleiten die Liebe in den Tod, der Tag in die Nacht und der Festgesang in ein Trauerlied über (v. 16). Mit dieser letzten Wendung hat die Bewegung der kleinen Ode einen großen Bogen um das ganze Leben geschlossen.
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schlössen: Zwar kleidet sich das Liebeswerben des Sprechers jetzt in eine neue und feierlichere Metaphorik, doch genauso wie das Trinken (Strophe l und 2) nicht nur Trinken war, ist das Singen (Strophe 3 und 4) nicht nur Singen! Die Verteilung der Liedthemen auf die beiden Gesangsstimmen und deren durch die Blume des Mythos gesprochene Bedeutung erläutert Pöschl, dessen Deutung ich hier folge.119 Während Vers 9 im Plural den Vorsatz wechselseitigen Singens in nuce vorausschickt, werden die einzelnen Gesangspartien in Vers 10 und 12 den Solisten zugeteilt. Da beide Verse parallel gebaut sind und Lyde die Lieder auf Latona und Diana zukommen (tu .... recines, v. 12), gehört der Gesang auf den Gott der festlichen Gelegenheit und dessen bevorzugtes Jagdrevier sicher ihrem männlichen Widerpart. So verbirgt sich hinter den mythischen Namen und Themen der Einzelpartien wieder das neckende Spiel von Werbung und Widerstand. 12° Im krönenden Lied soll dann die Liebesgöttin besungen werden (v. 13 f£), deren Bedeutung für das singende Paar sich von allein entschlüsselt.121 Unnötig zu erldären, daß es jetzt beide sind, die gemeinsam den letzten Gesang anstimmen, ja, das Fehlen eines Verbs erweckt sogar den Eindruck, als seien die beiden Sänger verschwunden und singe das Lied der Liebe sich ganz von selbst.122 Da aber kommen zwei Schwäne ins Bild, .das Gespann, das den Wagen der Venus zieht (iunctis ... ölonbus^ v. 15). So sehen wir die Sänger des Hymnus auf Venus noch einmal, verwandelt und in Liebe vereint.123 Das Fest der Liebe endet im Wohlklang des Schwanengesanges, dessen Schönheit seit alters gerühmt wurde.124 Den größten Ruhm jedoch trug ihm sein letzter, reichster und schönster Gesang vor dem Tode ein.125 Und so verwandelt sich auch noch der Liebeshymnus in ein allerletztes Lied, die nenia> den der Nacht geschuldeten Klagegesang (v. 16). Das Bild des Anfangs, der emphatisch beschwörene Lebenstag, läßt keinen Zweifel, daß zuletzt im gleichen Bude die Nacht des Todes über die Liebenden hereinbricht, düsterer Hintergrund und Movens der Forderung zur Hingabe an den Augenblick.126 So stehen lichtvoller Anfang und finsterer 119
Vgl. a.a.O. 188ff. .° Neptun an seinem Festtage mit einem Hymnus die Ehre 2u erweisen heißt übersetzt, das Heute-Hierund-Jetzt zu ergreifen, versinnbildlicht in den smaragdgrünen Haaren der Nereiden (vgl. Cat. 64, 14— 21!); doch Lyde droht noch in Abwehrhaltung mit den Pfeilen der Diana, die die Frevler Orion und Tityos niedergestreckt haben. Vgl. Schmidt, Horazische Liebeslyrik, a. a. O. 52, zu I, 17,. 18 ff. 121 Auch wenn der Name der Venus ungenannt bleibt, ist doch bereits mit Cnidon (v. 13, vgl. I, 30, 1) der Inhalt des Schlußgesanges evident. Die leuchtenden Kykladen (fulgentisque ... Cycladas, v. 14) wecken ebensosehr die Assoziation nächtlichen Sternenglanzes (vgl. II, 16, 3 f.) wie die Erinnerung an das Strahlen der schönen Augen eines geliebten Menschen: ... dicere lucidum/fulgentis oculos ..., II, 12, 14f. Hier ist es der Glanz des Marmors, der das Fest der Liebe illuminiert. .·. 122 Während dicetor(y. 16) auf Naxzu beziehen ist, wurde das sinngemäß passende cantabimus (v: 9) bereits durch meines (v. 11) syntaktisch abgelöst, das seinerseits für den Fortgang ab Vers 13 keinen Sinn machen würde. 123 Zum Doppelsinn des und zum Bild des .Tiergespanns als Metapher für Liebesvereinigung oder <Joch> der Venus vgl. H, 5, 1-4, und l, 33, 7--12. Die <Metamorphose> der beiden Liebenden in ein Schwanenpaar erinnert an das Ende des 2. Buches (H, 20), die Verwandlung des lyrischen Dichter-Ichs in einen Schwan. Die Engführung von Liebe.und Lyrik findet sich somit im Bilde des Schwanes ein weiteres Mal veranschaulicht (bei Properz und Ovid hat dann der Jüebesdichter kurzerhand das Schwanenge;»pann der Venus geerbt, vgl. Prop. , 3, 37-40; ., ars 111; 809 f.). 124 Vgl. Eur., Iph. T. 1104 f.: Lucr. U, 505; Verg., Aen. VII, 699 ff. 125 Vgl. Pkt, Phaid. 84e4-85al, und den ältesten Beleg, Aisch., Ag. 1444ff. In lateinischer Dichtung beispielsweise ., met. XIV, 430; Fast. II, 109 f.; Sen., Phaed, 302. 126 Vgl. I, 4, 16; I, 28, 15 f.; Cat. 5, 5 f. Gleichwohl schwingt die Assoziation mit: Wie schon iunctis .,. oloribus von eigentümlicher Ambiguität geprägt war, von Eros und Thanatos, der sich in die 12
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Schluß der Ode in größtmöglichem Kontrast zueinander; der Metaphorik von Tag und Nacht zugeordnet sind die Pole des (Lebens-)Festes (festo) und der (Toten-)Klage (neniä) als Eingangs- und Schlußwort der Ode.127 Doch gehören sie auch, das verdeutlicht die bruchlose Gesamtbewegung der Ode, einander ergänzend in den einen Lebenszusammenhang: Es ist die Düsterkeit der Nacht, die den Tag so schön erstrahlen läßt, und es ist dieses Tageslicht, das die Nacht so schaurig finster macht.
5. Synopse: Die Oden III, 26-28 als Gruppe Altheims Beobachtungen zur Einordnung einer jeden Adressatin in eine bestimmte Lebensphase haben sich uns bestätigt: Chloe, das noch unreife, spröde Mädchen, Galatea, die ängstlich Zögernde an der Schwelle, am Vorabend ihrer Hochzeit, Lyde, die selbstbewußte und reife Frau - mit diesen drei Kurzportraits sind in der Tat exemplarische Lebensstationen abgeschritten, so daß sich die Gedichte gleichsam an ihrer Fassade schon zu einer vernünftigen Abfolge ordnen. Welche Gestaltungsprinzipien aber liegen dahinter, um den Aufbau unserer Gedichtgruppe zu tragen? Die letzten drei Liebesgedichte der Sammlung beschreiben aus der Perspektive des Sprechers drei grundsätzlich verschiedene Weisen der Liebeserfahrung. III, 26 entwirft das negative Szenario, die vergebliche Mühe, das Scheitern; als Pendant hält III, 28 die Waagschale der positiven Erfahrung: Erfüllung und Liebesglück; dazwischen steht mit III, 27 gewissermaßen die neutrale Position: Der Sprecher hat der Liebe entsagt, er ist allein, weder im Guten noch Schlechten gebunden. So wird auch auf dessen Seite die Bahn der Liebe mit großen Schritten durchmessen, doch nicht als aufsteigende Stufenreihe menschlicher Entwicklung, sondern als Zusammenschau exemplarischer Möglichkeiten des modus amandi. Die Variation dieser Grundfigur wird durch vielfältige Details zusätzlich gestützt. Das abweisende Mädchen aus III, 26 ist in der Situation des Gedichts gar nicht anwesend; der Sprecher redet nur über sie, nicht mit ihr; die Sprachlosigkeit bringt die negative Erfahrung zum Ausdruck. Dagegen ist Lyde selbstverständlich zur Stelle, der Sprecher befindet sich in scherzendem Dialog mit ihr, später wird daraus ein heiterer Wechselgesang, bis ihre Stimmen zu einer verschmelzen; ihre innige Gemeinsamkeit scheint sogar bis an die Stunde des Todes zu reichen. In III, 27 entsteht der Eindruck, als ob der Sprecher einen langen Monolog an die Adresse des Mädchens halte, der zwar Dialogisches aufgreift oder simuliert, doch in Wahrheit von starkem Ungleichgewicht zeugt. Das lyrische Ich spricht zwar zu Galatea, allerdings letzte Abschiedsworte, daher ist Galatea noch anwesend und schon abwesend zugleich.
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Liebesvereinigung heimlich hincinzumengen schien, so funkelt noch in die Nacht ein letzter Abglanz der Liebe hinein, bevor dieser vollends von der nenia überdeckt wird. Diese hat schon kein singendes Subjekt mehr (dicetur, v. 16), sie steht am Übergang vom Leben in den Tod. Daß die nenia (vgl II, l, 38) hier nur als Trauerlied, Totenklage verstanden werden kann, beweist der bereits hergestellte Zusammenhang zu II, 20: Dort hatte sich nämlich das Dichter-Ich im Blick auf seinen künftigen unsterblichen Ruhm (vgl. III, 30) neniae/luctusque turpts et qufrimoniat (II, 20, 21 f.) an seinem leeren Grabmal verbeten; aber die Liebe, das Fest, das Leben haben ein Ende, dem daher ein klagendes Ued gebührt (nitrita ... neniä). Vgl. G. Thome, a. a. . 14 "
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Auch der Ton des Sprechens weist bezeichnende Unterschiede auf. In > 26 gibt sich das lyrische Ich eingangs selbstsicher, begeht mit scherzhafter Weihgabe das Ende seiner Karriere als Liebhaber, aber nur, um jäh aus der Haut zu fahren und um einen letzten Trost der Venus zu betteln; der anfänglich zur Schau gestellte Humor ist verbissenem Ernst gewichen, die Ode spiegelt in ihrem scharfen Kontrast ein zerissenes Innenleben. Wie anders dagegen das weidlich ausgekostete Necken und Scherzen mit Lyde, die mit gleicher Waffe pariert; zwar klingt auch diese Ode ernsthaft aus, wk verfolgen aber ein allmähliches Übergleiten von den heiteren zu den ernsten Gefilden, die Spannungen und Pole der menschlichen Existenz erscheinen in höherer Einheit aufgehoben. In , 27 klingen die Worte des Sprechers nach wohlwollender Belehrung, er verkündet dem Mädchen sein Wissen, das er mit einer kräftigen Portion Ironie würzt. Auch diese Ode ist geprägt von Spannungen, sie sind aber künstlich — und kunstvoll — vom Sprecher arrangiert, um die Zerrissenheit der Adressatiri zu spiegeln. Der Sprecher selbst verdeutlicht durch seinen spielerischen Umgang mit der Materie, daß er gleichsam über sie hinaus ist. Die verschiedenen Sprechhaltungen lassen sich demnach auch an verschiedenen Orten ansiedeln: , 26 demonstriert die Gebärde der Abhängigkeit und Auflehnung, läßt uns Zeuge werden.eines dramatischen Vorfalls im Tempel der Venus, in deren Reich, so das Bild, der Sprecher (noch immer) gefangen ist. III, 28 hingegen ist beseelt vom Rausch des Weines und der Liebe und lädt zur Feier eines epikureischen Lebensfestes ein in das angemessene Ambiente eines Privathauses. Die Mitte hält , 27, dessen Sprecher getragen wkd von ruhiger Erkenntnis; der Augenblick der Trennung scheint in einer merkwürdig offenen Lokalität zu schweben, die nicht nur die Ortlosigkeit der Reise zwischen Aufbruch und Ankunft, sondern auch das Überall-und-Nkgendwo einer wahren Erkenntnis bezeichnet, wie sie hier als Bedingung des Loslassens fungiert. Ferner zeigt sich, daß auch die Präsenz der Venus in unseren Oden mit den entworfenen Möglichkeiten der Liebeserfahrung aufs schönste korrespondiert. In HI^ 26 begegnen wk der feindlichen, hinderlichen Venus, die darum, um Gnade angerufen werden muß. Die Konfrontation versinnbildlicht sich in dem Gegenüberstehen ihrer Stsatue (v. 5), vor allem aber erscheint sie als Gegenüber im. Gestus des Gebets, in dem sie in der zweiten Person gleichsam ihren Auftritt hat (Mnes, v. 9). Im Gegensatz dazu steht die verbindende Venus in III,· 28: Sie wkd im Gesang verherrlicht, der zur Metapher der LiebesvereLtiigung wkd. Hier wkd Venus vollzogen und ist darum Gegenstand des Gesanges. Sie erscheint also in dritter Person (tenet, v. 14) und verbindet die beiden Schwäne der Liebe - man beachte die Wortstellung: iunctis visit oloribus (v, 15)! In III, 27 teilt der Sprecher das Wissen der Venus und kann daher mit Galatea das Spiel der Venus spielen. Es fügt sich, daß sie in der Unterweisung einen eigenen Auftritt bekommt: Ihr selbst überläßt es der Sprecher, das täuschende Spiel zu enthüllen, und so begegnet sie uns in der ersten Person als handelnde, redende Figur, die ihr eigenes Wesen (... Erycina ridensjquam locus arcum vokt ei Cupido, I, 2, 34 f.) mit dem Zerreißen des Scheines zur Sprache bringt (III, 27, 69-76). Doch sind die drei Gedichte mehr noch als Liebesgedichte, 'sie sind zugleich allesamt Gesten des Abschieds von der Liebe, von der (Liebes-)Dichtung. III, 26 begann als feierlicher Entschluß.zum Abschied. Dann aber wurde uns höchst dramatisch vorgeführt, wie dieses Vorhaben im letzten Augenblick scheiterte; der Rückfall hatte erwiesen, daß der Vorsatz nur äußerlich gefaßt, in Wahrheit aber der Sprecher immer noch in den Banden der Liebe gefangen und damit der (Liebes-)Dichtung verpflichtet war. In III, 27 ein erneuter Abschied, diesmal als innerlich vollzogene Zurücknahme: Das lyrische Ich entläßt das
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liebende Mädchen und mit ihr Liebe und (Liebes-)Dichtung in innerer Freiheit und bleibt allein zurück am Meer des Lebens und der Liebe, aus dem auch die eigene Dichtung entsprungen ist. Doch diese Einsamkeit ist keine endgültige, wohin zieht sich der Dichter nach Abschluß des lyrischen Werkes denn wirklich zurück? Am Ende des 4. Odenbuches (IV, 15, 25-32) erleben wir eine <spätere> Zurücknahme des Dichters, die A. Kerkhecker folgendermaßen beschreibt: «Das persönliche Engagement des Lyrikers aber ist mit der Auflösung der recusatio obsolet geworden ... und so meinen die in der Schlußstrophe anvisierten Gesänge gar nicht mehr Horazens eigene Kunst. Das Lied am Schluß ist sowenig das Lied des Lyrikers Horaz, wie der Aeneaden-Mythos ein Stoff für lyrisch-persönliche Poesie ist: So wird im Schlußgedicht selbst der Abschied Horazens von der Lyrik vollzogen ... Die Aufgabe des Lyrikers ist erfüllt ... Der Dichter tritt zurück in die Reihe der römischen Bürger.»128 Hier also der Rückzug des Dichters ins Untertanendasein, in die römische Bürgergemeinschaft, ins gemeinschaftliche Singen nichthorazischer Lieder. Am Ende des 3. Odenbuches ist der Rahmen noch weitaus persönlicher gestaltet, doch der Gestus des Rückzugs sehr ähnlich. Diesmal ist es der Rückzug in die epikureische Lebensform, die den Dichter nach Vollendung seiner Aufgabe trägt.129 Es ist die Wahl der Lebensweise und -Weisheit, die im Werk ihren emphatischen Ausdruck fand und die den Dichter wie selbstverständlich aufnimmt in Form eines stillen Winkels, eines Lebensfestes, eines intimen Wechselgesangs. Daher scheint es nur ein Widerspruch, wenn nach dem Abschied von der Liebe, die die eigene Dichtung ins Werk gesetzt hat, eine neue, andere Liebe steht, denn der Dichter hatte ja nur seine Dichtung, doch nicht sein Leben beendet. Den Geboten des Tages aber, der festlichen Stunde, dem Singen gemeinsamer Lieder,130 den Augenblicken des Liebesglücks will er sich anvertrauen, bis zum allerletzten Abschied, da die Nacht hereinbrechen wird. Wie ein solcher Durchgang durch unsere Odengruppe lehrt, macht ihre Reihung also auch in bezug auf das lyrische Ich Sinn, wenn wir die Hinweise auf die Verknüpfung der Themen Abschied und Dichtung ernst nehmen und die Oden im Kontext des Endes der Sammlung als sinnvoll angeordnete Wegmarken der Lösung vom lyrischen Werk begreifen. Gleichwohl hat sich uns auch noch eine neuerliche Perspektive eröffnet: Die Gruppe beginnt vordergründig mit einem Gedicht, das den Abschied von der Liebe darzustellen scheint, und sie endet vordergründig mit einem Gedicht, das Liebe in glücklicher Erfüllung schildert. Aber in III, 26 steckte der Liebesstachel in den letzten Versen wie in III, 28 der Todesstachel im letzten. Diese Wendungen symbolisieren die Ambiguität, den steten Wechsel des Daseins, sie entfalten die Endlichkeit der menschlichen Existenz als Hintergrundfolie für III, 27, das an seinem Ende den Horizont der Unsterblichkeit aufscheinen ließ. Bei dieser Fülle von sinnstiftenden Figuren der Variation, die sowohl unserer Gedichtgruppe ein komplexes und doch wohlstrukturiertes Gefuge verleihen, als auch diese in den größeren Bedeutungszusammenhang des gesamten Odencorpus einbinden, könnte man 128 129 130
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Nicht ohne Grund wird auch die Ode III, 29 noch einmal ein eindruckliches Bekenntnis zur epikureischen Lebensphilosophie verkünden. Der <Wechsel> der Lieder laßt sich gut am dritten Odenbuch nachvollziehen. Am Anfang stand das Singen des <Musenpriestcrs> für sein : .,. carmina tronprius/attdita Musetrutn saferdos/virginibus puensque canto (111, l, 2f£). Am Schluß steht, wie am Ende des 4. Buches (nosqut... cancvtus, 15, v. 25/ 32), die Erwartung gemeinschaftlichen Singens: nos cantabintus invicem (III, 28, 9). des Eigenen für die anderen wird der gemeinschaftliche Gesang gemeinsamer Lieder mit anderen.
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allzuleicht geneigt sein, in jenem Gliederungsmoment, das den Ausgangspunkt unserer Beobachtungen bildete, der in drei Portraits illustrierten Entwickung vom Mädchen zur Frau, tatsächlich nur ein Merkmal ornamentalen Schmuckes zu sehen. Es liegt allerdings auch hierin noch ein Schlüssel zu gründlicherer Analyse verborgen. Die Ode III, 27 hatte sich aufgrund der Gemeinsamkeiten in Sprache, Inhalt und Aufbau als imitatio von Catulls carm. 64 erwiesen. Doch ahmt Horaz sogar den übergeordneten kompositionellen Zusammenhang seiner Vorlage auf höchst verblüffende Weise nach! Bereits mit Blick auf III, 27 ist augenfällig, daß ebenso, wie das Gedicht über die Hochzeit des Peleus und der TFhetis im Zentrum der carmina maiora steht, die inhaltlich im wesentlichen durch den gemeinsamen Bezug auf die Liebesthematik als Gruppe bestimmbar sind,131 die Galatea-Ode als Hochzeitsgedicht den Mittelplatz einer Gruppe von Liebesgedichten einnimmt. Wie aber ist das Ensemble der carmina maiora genauer angeordnet? Auf der einen Seite liegen die Ereignisse der carm. 61 — 63, die dem hochzeitlichen PeleusEpyllion vorangestellt sind, tatsächlich auch einer Hochzeit oder möglichen Liebesvereinigung voraus, auf der anderen Seite folgen die carm. 65/66 — 68 a/68 b, die diese Erfahrung zur Voraussetzung haben.132 Damit tritt an der Oberfläche deutlich eine Struktur zeitlicher Abfolge zutage, die sich in Horazeris Trias getreu widerspiegelt. Seine volle Bedeutung erhält dieses imitierende Verfahren allerdings erst dadurch, daß es zu einer produktiven Aneignung wird> in der Horaz auf entscheidende Weise die Gewichte verschiebt. So lassen sich nach Most133 die carm. 61-63 unter der Überschrift «erptic consummation» (wobei sich das Attis-Gedicht ex negativo einfügt), die carm. 65/66-68 a/68 b unter «erotic deficiency» subsumieren, während Horaz , 26 und 28 genau andersherum pointiert. Ja, es hat den Anschein, als habe Horaz insgesamt die negativen Vorzeichen umgekehrt, die die Sequenz der carmina maiora für Catulls Sicht der conditio humana zum Ausdruck bringt. Denn dieser beschließt schon die erste, verheißungsvoll beginnende Trias mit der düsteren, verzweifelten Stimmung des Attis-Gedichtes, bricht auch die Festesfreude seines eigentlichen Hochzeitsgedichts gerade zum Ende hin durch pessimistische Töne, läßt dann in der zweiten Hälfte seine Elegien um die Themen Trennung und Scheitern kreisen und stellt somit gewissermaßen in abfällender Linie gerade die hoffnungsvolle, idealische Sphäre der carm. 61 und 62 am Anfang in schärfsten Kontrast zum melancholischen Blick auf die eigene, leidvolle Erfahrung (carm. 68 a/68 b) am Ende der Gedichtgruppe. Im Gegensatz dazu steht nicht nur die Hochzeit aus III, 27 unter einem unzweifelhaft günstigen Stern, sondern es beschreibt auch die Sequenz III, 26-28 über Scheitern, Loslassen und Finden eine aufsteigende Linie. An die Stelle des schmerzvollen Rückblicks auf die Vergangenheit, (carm. 68 a/68 b) tritt erfüllte Gegenwart (III, 28), die pessimistische Sicht auf Gefährdung und Leid menschlicher Existenz ist in die epikureische Balance inneren und äußeren Friedens überführt. So wurden aus den carmina. maiora des Cätull die carmina Catulliana des Horaz! A. Kerkhecker hat für das 4. Odenbuch einen diskursiven Zusammenhang der Gedichte herausgearbeitet, indem er darlegt, wie sie sich in ihrer Abfolge Stück um Stück zu einer
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Vgl. G. W. Most: On the Arrangement of Catullus' Carmina Maiora (in: Phüol. 125, 1981, 109-125), 118 f.; 124, und E. A, Schmidt, Catuü, Heidelberg 1985, 87. Vgl. Schmidt, a. a. O. 100 f. A, a. O. 124.
Triptychon der Liebe - die Oden III, 26-28 des Horaz
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sinnvollen, argumentativ verknüpften Reihe ergänzen.134 Auch in unserer Gruppe haben sich lineare Bezüge aufzeigen lassen, wie etwa die Stufung menschlicher Entwicklung, die Stationen des Abschieds und der Beendigung des lyrischen Werks und die Umkehrung des Catullischen Vorbildes. Da aber der Terminus den Zusammenhang dreier Gedichte zu überfordern scheint, ließe sich besser von einer diachronen Anordnung reden, die das Nacheinander in der bestimmten Reihenfolge unabdingbar macht. Doch in diachroner Perspektive sind nicht alle beobachteten Strukturmerkmale zu erfassen. Die .deutliche Kontrastierung von III, 26 und 28 sowie die überbordende Länge des Mittelstücks legen noch eine zweite Perspektive auf unsere Gedichte nahe. Die sorgfältige Nebeneinanderstellung exemplarischer Liebeserfahrungen, die jeweils die Extreme am Rand und die neutrale Position betont in der Mitte plaziert, erlaubt auch eine synchrone Gesamtschau der Oden. So finden sich diachrone und synchrone Strukturen in unserer Gruppe kombiniert, die sich damit als ein weit über Altheims simples Gliederungsschema hinaus gelegenes, hochkomplexes Ensemble präsentiert. V. Pöschl nannte die Ode III, 29 mit Blick auf ihren Strophenaufbau (4-8-4) ein Triptychon.135 Was sich dort als Binnendreigliederung zeigt, erleben wir zuvor auf eine Trias von Venus-Gedichten verteilt. Die Oden III, 26-28 sind ein Triptychon der Liebe.
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S.Anm.2. A. a. O. 238.
ALEXANDER RUBEL Caesar und Karl der Große in der Kaiserchronik Typölogtsche Struktur und die translatio imperii ad Francos
L Die frühestens 1147 in Regensburg fertiggestellte, von einem Geistlichen verfaßte Kaiserchronik berichtet die Geschichte von 36 römischen und 18 deutschen Kaisern, bei Caesar beginnend und bei Konrad III. mit dem Jahr 1147 endend1. Die mittelhochdeutsche Chronik stellt sich selbstbewußt in die Tradition der lateinischen Chronik und verkündet ihren seriösen Anspruch im Prolog: Ein buoch ist %e diute getihtet / da^ uns Romisces riches ml beribtet, /gehalten ist i% chrdnicä, (V. 15-17). In der Volkssprache will der anonyme Regensburger ein Geschichtswerk präsentieren, das römische Reichsgeschichte mit der Verbindlichkeit der bedeutenden Werke der Gattung auslegt. Die Geschichte des römischen Reiches ist also das Sujet, dem der Verfasser sein Schaffen gewidmet hat. Mit der Bejtonung von Geschichte als Reichsgeschichte stellt die Kaiserchronik einen neuen Aspekt der Geschichtsbetrachtung in den Vordergrund und weicht von der üblichen Gliederung der Geschichte in aetates ab2. Besonders bemerkenswert an der Regensbuirger Chronik ist aber die im Prolog vorgetragene Absicht, heilsgeschichtliche warheit in Volkssprache zu verkünden. Als erstes volkssprachiges Geschichtswerk, das nicht über die Autorität der lateinischen Sprache verfugt, muß die Kaiserchronik sich daher programmatisch von den als lugene geschmähten Machwerken der Heldenepik absetzen (V. 26-42)3. Dem erhobenen Anspruch, eine seriöse cbronica vorzustellen, wird der Autor aus moderner Sicht jedoch nicht gerecht. Da das Werk wegen der Neigung seines Verfassers zur konsequenten Übernahme von Legenden und Wunderberichten und seines laxen Umgangs mit der Chronologie als historische Quelle für die moderne Geschichtswissenschaft wenig tauge, hat man das opus des Regensburgers häufig heftig kritisiert. Dem Werk fehle «im Ganzen ein historischer Begriff», weswegen der unbekannte Autor allenfalls «daherfabelt», aber nichts historisch Bedeutsames zu verkünden habe. Die einzelnen Teilerzählungen 1
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Das Werk des Regensburger Anonymus wird nach der kritischen Ausgabe von E. Schröder in den MGH (Deutsche Chroniken l, 1) Zitiert Ebenso folgen Zitate des Annoliedes (ed. M. Rödiger, Deutsche Chroniken l, 2), der Chronik Otto von Freisings (ed. A. Hofmeister SS 45) und Einhards Vita Karoli Magni (ed. G. Waitz SS 25) den MGH. Die Kirchenväter und geistliche Gelehrte des Mittelalters werden nach J. P. Mignes Patrologiae cursus completus, Series latina (PL), die Vulgata nach der Ausgabe von R. Weber/B. Fischer, Biblia Sacra iuxta Vulgatam versionem, Stuttgart 19833, zitiert. Zur nicht zu klärenden Datierungsfrage siehe F. Neumann, Wann entstanden .und ? ZdA 91 (1961/62), S. 263-329. Zu Weltaltern als chronikalischem Gliederungsprinzip siehe weiter unten. Zur Abgrenzung von der Heldenepik siehe E. Hellgar th, Dietrich von Bern in der deutschen (Kaiserchronik). Zur Begegnung mündlicher und schriftlicher Traditionen, in*. A. Fiebig/H.-J. Schiewer (Hgg.), Deutsche Literatur und Sprache 1050-1200, FS f. U Hennig, Berlin 1995, S. 93-110.
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seien daher auch nur «Legenden, deren historischer Zusammenhang locker und eigentlich beliebig ist»4. Auf den ersten Blick kann ein solcher Eindruck tatsächlich entstehen, da sich als Grundlage des Werkes, soweit sich die Quellen der einzelnen Episoden bestimmen lassen, ein buntes Gemisch aus in moderner Sicht ernstzunehmenden lateinischen Vorlagen (verstärkt für die Kaiser nach Karl dem Großen) und Heiligenlegenden, Sagen und Mirabilienliteratur, für die der Verfasser eine besondere Sympathie hegte, belegen läßt. Friedrich Ohly hat indessen in seiner grundlegenden Studie «Sage und Legende in der Kaiserchronik» nachgewiesen, daß der Verfasser die ihm vorliegenden Quellen, sofern man sie noch zum Vergleich heranziehen kann, in einer oft recht eigenwilligen Weise bewertet, gewichtet und verändert, um sie in ein sinnvolles System von Weltgeschichte als Heilsgeschichte zu integrieren5. Nach Ohly ist es vor allem ein Netzwerk typologischer Beziehungen innerhalb der Kaiserchronik, das die Herrscherfiguren des anonymen Regensburgers sinnstiftend zusammenhält und aus den einzelnen Episoden einen Conspectus von Weltgeschichte in heilsgeschichtlicher Auslegung macht6. Demnach seien die Figuren in Form 4
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So K. Bertau, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter Bd. I, München 1972, S. 337 u. S. 341. Zur modernen Kritik an der der Chronik siehe auch V. Mertens/ U. Müller, Epische Stoffe des Mittelalters, Stuttgart 1984, S. 50 f.; Bertau, S. 337: «Was wir bisher im XII. Jh. an Gedanken, an Gefühlen, an Gestaltungen haben finden können, scheint sich in unendlicher Entfernung von diesem vulgärsprachlichen Gedicht [sc. Kaiserchronik] abgespielt zu haben.», S. 341: «Die Kaiserchronik dagegen entbehrt als Ganzes der Wölbung und des historischen Atems.» F. Ohly, Sage und Legende in der Kaiserchronik, Münster 1940 (ND Darmstadt 1968). Im folgenden Ohly (1940) zitiert Von der neueren Literatur werden die folgenden, häufiger benutzen Arbeiten im weiteren unter Angabe des Verfassernamens zitiert: A. Fiebig, vier tier wilde. Weltdeutung nach Daniel in der , in: dies./H.-J. Schiewer, Deutsche Literatur und Sprache 1050-1200. FS f. U. Hennig, Berlin 1995, S. 27-49; K. E. Geith, Carolus Magnus. Studien zur Darstellung Karls des Großen in der deutschen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts, München 1977; G Gellinek, Die deutsche Kaiserchronik. Erzähltechnik und Kritik, Frankfurt 1971; W. Goez, Translatio imperii, Tübingen 1958; E. Hellgarth, s. v. , in: W. Killy (Hg.) Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache Bd. IV, München 1990, S. 193-195; M. W. Hellmann, Fürst, Herrscher und Fürstengemeinschaft. Untersuchungen zu ihrer Bedeutung als politische Elemente in mittelhochdeutschen Epen. Annolied - Kaiserchronik — Rolandslied — Herzog Ernst — Wolframs <Willehalm>, Bonn 1969; E. Nellmann, s. v. , Frankfurt 1993. Weitere bibliographische Angaben bei Nellmann und bei H. Schmidt, Quellenlexikon zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 15, 1998, S. 417-419. Die Frage, ob ein oder mehrere Verfasser für die Abfassung der Chronik verantwortlich waren, wird hier nicht berührt, weshalb vom Verfasser/den Verfassern im folgenden immer im Singular gesprochen wird, dazu Nellmann, Sp. 951 f. Schon die Anzahl der in der Chronik behandelten Kaiser gibt einen Hinweis auf die bewußt durchkonstruierte Komposition der Kaiserchronik. So beschreibt der Verfasser nur die Viten von 36 römischen und 18 deutschen Kaisern, obwohl es in Wirklichkeit 68 römische und 25 (nach Ottos Chronik) deutsche gewesen sind. Abgesehen von dem augenfälligen 2:1 Verhältnis der römischen zu den deutschen Kaisern, ist vor allem folgender Aspekt interessant Addiert man jeweils die vom Verfasser angegebenen Regierungszeiten der Kaiser vor Karl dem Großen (nur in sechs Fällen stimmen die Angaben mit der historischen Überlieferung überein) und die Regierungszeiten der Kaiser nach Karl, kommt man zu dem erstaunlichen Ergebnis, daß die Regierungszeiten von Caesar bis Karl in ihrer Summe genau die gleiche Zahl von Jahren (398) ergeben wie die Zeit von Karl bis zum Abbruch der Dichtung (Kreuznahme Konrads III., 1147), was den klaren Formwillen der Chronik erkennen läßt VgL Hellgarth, S. 193 ff., Ohly (1940), S. 17 f. Gegen eine Überbewertung der Zahlensymbolik argumentiert Nellmann Sp. 955. Seit Ohlys Arbeit, dessen Erkenntnisse über den inneren Zusammenhang des Werks in weiteren Studien bestätigt wurden, kann die schöpferische Leistung des Regensburger Dichters jedoch als anerkannt gelten.
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von Typus- und Antitypusrelationen vom Dichter sinnvoll verknüpft worden, die römischen Sagenvorbilder der Chronik bilden Typen, «die der antitypischen Ergänzung durch die christlichen Legendenepisoden bedürfen». Damit ist das römische Heidentum, zumindest wo es in der Chronik auf der Seite der Gerechtigkeit (iustitia) steht, in erster Linie «als typologische Präfiguration der christlichen Welt» zu verstehen7. Allerdings ist Ohly bei seiner Untersuchung typologischer Verbindungen nicht auf die beiden bedeutendsten Kaisergestalten der Kaiserchronik, Caesar und Karl der Große, eingegangen, denen als Beginn bzw. Mittelpunkt, gewissermaßen als den Stützpfeilern des Werkes, besonderes Gewicht zukommt. Dabei scheint gerade das vom Regensburger kunstvoll ausgearbeitete typologische Verhältnis zwischen Caesar als Typus und Carolus Magnus als Antitypus den Dreh- und Angelpunkt des Werkes zu markieren. Caesar und Karl sind die beiden Pole, um die herum der Verfasser der Chronik die anderen Herrscherfigureri gruppiert hat. Daß sich die bewußte typologische Konzeption von Figura und Implementum in den Erzählungen über die Kaisergestalten Caesar, der als der Reichsgründer eingeführt wird, und Karl, der als neuer christlicher Reichsvollender dargestellt ist, im Sinne von Reichsgeschichte als Heilsgeschichte erkennen läßt, soll im folgenden ausgeführt werden.
Dem ersten Kaiser der Chronik, zugleich dem Gründer des Reiches, kommt eine für das eschatologische Geschichtsverständnis des Werkes ganz besonders bedeutende Rolle zu. Dies dokumentiert sich in den vielen bewußten Umdeutungen und Veränderungen der Ohly (1940), S. 240 f. Dagegen erkennt E. Nellmaiin, Die Reichsidee in deutschen Dichtungen der Salierund frühen Stauferzeit, Berlin 1963, S. 89 ff, in der gemeinsamen Verantwortung von Papst und Kaiser für das Reich die Leitidee des Werkes. Der diesem Aufsatz zugrundeliegende Typologiebegriff orientiert sich an den Arbeiten Ohlys. Ausgehend von Typologie als einer bibelexegetischen Methode, die in Be.gebenheiten des Neuen Testaments Erfüllungen von präfigurierenden Vorausdeutungen des Alten erkennen will (so präfiguriert e. g. das Opfer Isaacs - als Typus - das Opfer Christi), hat Ohly in der Vorstellung von Typen, die in späterer Zeit durch Antitypen erfüllt werden, ein prinzipielles mittelalterliches Denkmodell erkannt, das durch Bibelkommentare und Predigten weite und allgemeine Verbreitung fand. Entsprechend erkennt er in vielen Bereichen mittelalterlicher Literatur (und Ikonographie) typologische Motive, die nicht mehr auf die beiden Testamente beschränkt sind, sondern einen biblischen Pol (Typus, Figura) haben können, dem ein außerbibliseher (Antitypus, Implementum) als Erfüllung entspricht (e. g. der hl. Benedikt als alter Moses). Es können, aber auch beide Pole außerhalb der biblischen» Exemplarik angesiedelt sein, so stellt beispielsweise Ambrosius in de itirgnibus. antiken Vorbildern, die als Typen gedacht sind, Märtyrerinnen als Antitypen gegenüber, die das vorausweisende Exemplum qualitativ überbieten (PL 16, e. g. 193B-194B). Entscheidend für das typologisehe Denken ist die von der Exegese kommende Auffassung, daß der Typus durch den Antitypus übertroffen wird, dieser muß unbedingt qualitativ auf einer höheren Stute angesiedelt sein als der Typus. Er muß die vorausdeutende Figura tatsächlich <erfüllen> (adimp.lere, nach Mt 5, 17). Ohly hat diese Überlegungen am klarsten in «Typologie als Denkform der Geschichtsbetrachtung», in: V. Bohn (Hg.), Typologie, Frankfurt 1988, S. 22-63 dargelegt. Siehe auch F. Ohly, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, darin besonders: Halbbiblische und außerbiblische Typologie, S. 361-400. Ohlys Ansatz geht auf Einflüsse seines Lehrers J. Schwietering (Typologisches in mittelalterlicher Dichtung, in: FS f. G. Ehrismann, Berlin 1925, S. 40-55) und E.Auerbachs (Typologische Motive in der mittelalterlichen Literatur, Krefeld 19642) zurück Zuletzt könnte S.S.Tschopp nachweisen, daß typologische Denkstrukturen bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges gängig.waren: Argumentation mit Typologie in der protestantischen Publizistik des Dreißigjährigen Krieges, in: W Harms/J.-M. Valentin (Hg&) Mittelalterliche Denk- und
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Vorlage, dem Annolied8. Besonders deutlich ist an der eigenwilligen Interpretation des bekannten Traumes des Propheten Daniel zu sehen, wie der Regensburger gängige Geschichtsmodelle, hier die Weltreichslehre nach dem commentanus in Danielem des Hieronymus und nach Orosius, seinen Vorstellungen konsequent anverwandelt9. Zunächst soll aber dargestellt werden, mit welchen erzählerischen Mitteln der Verfasser Caesar als ersten Kaiser beschreibt, und in welchen weiteren markanten Punkten der Verfasser von seiner Vorlage abweicht, um die Caesarepisode und den mit ihr verbundenen Anfang der Reichsgeschichte besonders wirkungsvoll herauszustellen. Denn der Gestalt Caesars kommt aufgrund der Plazierung im Werk und seiner vorausdeutenden heilsgeschichtlichen Bestimmung, wie noch gezeigt werden soll, eine ganz besondere Bedeutung für die Entwicklung des Reiches zu: nämlich als einer Präfiguration des idealen Herrschers Karl in typologischem Sinne. Sein besonderes Verhältnis zu den germanischen Stämmen (in der Kaiserchronik als Dütisc volch - V 246 - bezeichnet), das ebenfalls untersucht werden soll, weist darüber hinaus klar auf die translatio imperii ad Francos voraus. Als Caesar noch Consul ist, so hebt die Kaiserchronik an, wird das mächtige Rom durch das Bekanntwerden einer Empörung der germanischen Stämme erschüttert. Zur Niederschlagung der Empörung betraut der Senat Caesar mit dem Oberbefehl, dieser macht sich mit dem Heer auf und besiegt nacheinander die Schwaben, Bayern, Sachsen und Franken. Er belagert Trier, übt nach dem Sieg Großmut und schont die Unterlegenen, um darauf sogleich nach Rom zurückzukehren, wo man ihn abweist, weil er zuviele Verluste hat hinnehmen müssen und weil er %e Dütisken landen / an ir [sc. Romaere] urloup %e lange waere bestanden (V. 459 f.). Zornig kehrt er zu den Germanen zurück, um sie um Beistand zu bitten, den diese ihm auch großzügig gewähren. Dann macht er sich mit dem neuen Heer auf, um Rom einzunehmen. Das gelingt ihm auch, da die Römer gegen Juljus mit Tütiscer Rtterscephte (V. 480) nicht die geringste Chance haben. Nachdem Pompeius und Cato besiegt sind, hat er das ganze Reich in seiner Gewalt. Es folgt eine Unterbrechung der Handlung, die der Verfasser dazu nutzt, seine eigenwillige Interpretation der visio Danielis einzuschieben. Nach fünf Jahren der Herrschaft, so der Dichter weiter, wird Caesar ungetrüwliche (V. 601) erschlagen10.
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Schreibmodelle in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit, Amsterdam u. Atlanta 1993, S. 161173. Ohlys Position ist dabei nicht unumstritten geblieben. So findet HeUgardt, S. 195 den typologischen Ansatz für die Analyse der Kaiserchronik unbrauchbar. Generell hat sich vor allem W. Schröder gegen die typologische Interpretation gewandt Zum Typologie-Begriff und Typologie-Verständnis in der mediävistischen Literaturwissenschaft, in: H. Scholler, The Epic in Medieval Society, Tübingen 1977, S. 64-85, (dort weitere Lit. zur Kritik an Qhlys Typologiedeutung). Der Kritik begegnet Ohly überzeugend mit einer Fülle von eindeutigem Material (1977), S. 338-400. Zu den Quellen der Kaiserchronik siehe Nellmann, Sp. 951 f. Hieronymus PL 25, Sp. 617 ff.; Oros. Hist. 2, l, 3-6 u. passim. Die visio Danielis und die jüdische Weltreichsinterpretation in Dn. 2, 31-34; 7, 2-27; 8, 2-26; vgl. auch 1. Makk. 8, 1-16. Die ältere, von der jüdischen unabhängige antike Tradition der Weltreichsabfolge begannt bei Herodot, der eine Abfolge der Reiche der Ägypter, Medcr gefolgt von den Persern erkennt (Hdt l, 95 u. 130). Rom wurde zuerst von Aemilius Sura (bei VcD. Pat. l, 6, 6) als weiteres Weltreich in die Monarchienlchre eingegliedert (nach der Schlacht bei Magnesia, 189 v. Chr.). Dazu auch J.-M. Alonso-Nunez, Herodotus' ideas about world empires, Anc Soc 19 (1988), S. 125-133 und ders., Aemilius Sura, Latomus 48 (1989), S. 110-119. Zum historischen Caesar siehe allgemein M. Geizer, Caesar. Der Politiker und Staatsmann, Wiesbaden I9606 und mit der neueren Literatur W. Will, Julius Caesar, Eine Bilanz, Stuttgart 1992. Zu Caesar und den germanischen Stämmen etwa E. Norden, Der Germanenexkurs in Caesars Bellum Gallicum. Die ethnographischen Abschnitte Caesars über Suebi und Germani, in: D. Rasmussen (Hg.), Caesar, Darm-
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Das Bild Caesars, das uns in der Kaiserchronik entgegentritt, ist durchweg positiv; damit weicht der Regensburger klar von seiner Vorlage, dem Annolied ab, das den römischen Staatsmann eher unbestimmt zeichnet (AL V. 265—482). Lediglich zu Beginn des dortigen Caesarabschnitts wird er als den edelin Caesarem (AL, V. 273) beschrieben. Caesar werden vom Verfasser der Chronik die edelsten Tugenden und Charaktereigenschaften zuerkannt: Er sei ain vermengen helt /von dem da% buoch mickil tugent %elt (V. 249 f.), außerdem habe er ain staetigen muot und en allen wis was er ein beltguöt (V 255 f.). Andere Eigenschäften, mit denen der Dichter ihn ausstattet, sind z. B.: gereht (V. 368), edele unt kuone (V. 437) milt unde guot (V. 450). Sein Auftreten als rex iustus wird noch dadurch gesteigert, daß er nach dem Fall der Stadt Trier die Herren der Stadt in ihren Ämtern beläßt und mit Belohnungen, auch für die ärmsten Stadtbewohner, nicht geizt. Der Grund für dieses Verhalten liege in der Demut Caesars (V. 449 diemuof). Abgesehen von den anderen lobenswerten Tugenden des Caesar bringt die ihm attestierte diemuot noch eine andere Dimension in das Herrscherbild ein, denn Demut ist die christlichste Tugend, die unter den in der Kaiserchronik erwähnten Heidenherrschern nur Caesar allein besitzt. Die Darstellung Caesars in der Regensburger Chronik weicht in einigen entscheidenden Punkten stark· vom Annolied, der direkten Vorlage für die Caesarepisode, ab. Wenn dort der Charakter Caesars schon nicht in dem Maße übertrieben positiv dargestellt ist wie in der Kaiserchronik, so ist besonders die von der Vorlage abweichende und vom Verfasser eigenständig entwickelte Sonderbeziehung zwischen Caesar und den germanischen Stämmen bemerkenswert, die über die in der Vorlage angedeuteten Berührungspunkte hinausgeht1*. Das Annolied nennt zürn einen nicht die Namen der in Caesars Zug gegen die Germanen verwickelten Herzöge und der Trierer Stadtherren (Prenne, Boimunt, Ingram, Labian, Lignator, Dulzmär), zum anderen wird den germanischen Stämmen, in der Kaiserchronik ein wesentlich höheres Prestige eingeräumt. So zeichne sich beispielsweise ihre prinzipielle Gleichrangigkeit gegenüber den Römern dadurch aus, daß sie keine leichten Gegner für Caesar seien, und die Truppen des Römers herbe Verluste hinzunehmen hätten (auch V. 447 f.): Der Kampf mit dem Schwabenherzog Prenne dauert drei Stunden, in denen auf beiden Seiten viel Blut fließt (V 275-281). Der Kampf endet erst, als Caesar mit minnen Verhandlungen anstrengt: die Swabe werten wol ir lani, si Julius mit minnen rebat %e aim teidinge. ir lant si da gaben
in sinegenade (V 283-286)1?
Auch die Milde, die Caesar gegenüber den Trierern walten läßt, findet sich nicht im Annolied. Von seiner Vorkge übernahm der Verfasser der Kaiserchronik jedoch die Stammesstadt 1967, S. 116^137 (Erstpubl. 1920). Die Rezeptionsgeschichte wird ausgezeichnet dargestellt bei K. Christ, Caesar. Annäherungen an einen Diktator, München 1994f Die Bemerkungen zum Caesarbild des Mittelalters sind jedoch recht knapp gehalten (S. 114 f.). Ausführlicher dazu: U. Schulze et ah, s. v. Caesar im Mittelalter, LexMA (1983), Sp. 1352-1359. " Vgl Pezsa, S. 59, Hellmann, S. 65 f. 12 Hervorhebungen A. R.; teidinge erscheint nach Auskunft des kritischen Apparates in anderen Handschriften als tegedinge bzw. als deghendinge und ist daher mit Schröder als zu übersetzen. Die Darstellung des ist ebenfalls eine Erfindung der Kaiserchronik.
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mythen der germanischen Stämme. Erwähnenswert ist dabei besonders die Herleitung der Franken von den Trojanern, was weiter unten noch ausführlicher betrachtet werden soll. Entscheidend wird die Rolle des Dütisc volch aber erst in dem Bericht von Caesars Zug gegen Rom, der nur mit Hilfe der Tütiscenriterscepbtegelingt: als ainfluot vuoren st %e Rome in da% lant. do i% Romaere gesahen, wie harte si erchomenl do ervohrt im ml manic man, duojuljus mit Tutiscer riterscepbte so herlichen chom (V. 476-480) Die , und darin geht der Regensburger wieder über die Vorlage hinaus, sind demnach direkt und maßgeblich an der Gewinnung des Reiches für Caesar beteiligt und sind seine treuen Verbündeten, denen der Römer zu Dank verpflichtet ist. Für die Germanen hat der Einsatz für das Reich auch Vorteile gebracht: Juljus di triskamere üfprach, er vant dar inne michelen sca% ergebete Dütiscen holden mit silber unt mit golde. von diu waren Dütisce man %e Rome ie liep unt lobesam. (V 591-596) Bei der Schilderung der Einnahme Roms durch Caesar wird, so läßt sich zusammenfassen, den deutschen Stämmen eine besondere Rolle an der Seite Caesars zugesprochen. Es liegt offenbar im Interesse des Autors, mit den intensiven Schilderungen römisch-germanischer Kooperation eine frühe Bindung an das römische Reich zu postulieren13. Daß aber dem römischen Feldherrn nicht nur aufgrund seiner intimen Beziehungen zu den deutschen Stämmen besonderes Gewicht zukommt, soll im folgenden an der biblischen Danielvision, die vom Regensburger direkt mit Caesar in Verbindung gebracht wird, verdeutlicht werden. Die Geschichtsvorstellung des Mittelalters war bestimmt durch die Erkenntnis, daß Geschichte immer nur Heilsgeschichte sein kann, und ihr im Gegensatz zu den zyklischen Vorstellungen der Antike14 eine lineare Entwicklung hin zum Jüngsten Gericht und zum Reich Gottes zugrundeliegt15. Die von den christlichen Gelehrten der Spätantike und des Mittelalters entwickelte Vorstellung von der nach göttlichem Heilsplan verlaufenden Welt13
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Auch Otto v. Freising erwähnt Germanen an der Seite Caesars, wenngleich nicht mit der gleichen Betonung ihrer Leistungen und ohne Unterschlagung der Gallier: «Inde reversus ad legiones, quas in Arimino reliquerat, Alpes transiit ibique tarn Gallis quam Germanis, quos paulo ante subiecerat, magnificientissime donaris contumelias sibi a civibus irrogatas deplorat auxiliumque poscit et impetrat. [...] Nam Caesare cum Gallorum et Germanorum viribus venientc Pompeius patriam defensare volens gcntes et reges quos in Oriente subegcrat, in auxilium per filium asdsdt.» Chron. 2, 48 £ E. g. Polyb. 6, 4, 11-13; 6, 9, 10-14. Polybios greift v. a. auf die Politik des Aristoteles und die von ihm und seinen Schülern erforschten Staatsverfassungen (e. g. die Athenaion Politeia) zurück, Vgl. Arist. Pol. 3,7 (bes. 1279 a 23 f£, 1279 b l ff.; 1286 b 7). Dazu G. W. Trompf, The Idea of Historical Recurrence in Western Thought From Antiquity to the Reformation, Berljcley 1979. Dazu etwa H. von Campenhausen, Die Entstehung der Heilsgeschichte. Der Aufbau des christlichen Geschichtsbildes in der Theologie des ersten und zweiten Jahrhunderts, in: ders., Urchristliches und Altkirchliches, Tübingen 1979,' S. 20-62.
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geschickte konnte zum einen mit dem Gewicht auf Augustinischer Tradition als die Abfolge von sechs Weltaltern (aetates) entsprechend den sechs Schöpfungstagen gedeutet werden, deren sechstes und letztes, dem Ende aller Zeiten unmittelbar vorausgehendes mit Christi Geburt anzusetzen sei16. Andererseits konnte man aber der Vision des Propheten. Daniel und deren Auslegung durch Hieronymus folgend Weltgeschichte auch als die Folge von vier Weltreichen interpretieren, als deren letztes das Imperium Romanum zu verstehen sei, welches der Ankunft des Antichrist unmittelbar vorausgehe17. Die Einteilung der Geschichte in Weltalter hat sich, vor allem in den Weltchroniken^ als grundlegendes Gliederungsprinzip weitgehend durchgesetzt. Dieser Tradition, die besonders durch Isidors von Sevilla und Bedas einflußreiche Übernahme der Augustinischen Weltzeitalterlehre verbindlich wurde, folgen bis zu Beginn des 12. Jahrhunderts alle wichtigen Chronisten und Gelehrten18. Geschichte als Abfolge von Weltreichen, wie sie vor allem das vielbenützte Geschichtswerk des Orosius darstellt, wird Mitte des 12. Jahrhunderts wieder von Otto von Freisings Weltchronik vertreten*^. Entscheidend ist dabei jedoch, daß sowohl in der Gliederung nach Weltzeitaltern als auch in der Weltreichslehre der Geburt Christi eine zentrale Bedeutung beigemessen wird. Daher konzentrierte man sich in der Chronisiik auf die Augusteische Zeit als dem neuen Zeitalter der Inkarnation und hob Augustus als den Verwirklicher der pax Romana hervor20. Um so mehr verwundert 16
E. g. Aug. de civ. Dei 22, 30, 5 (PL 41). Dn. 2 u. 7, dazu Hieronymus PL 25, Sp. 498 ff. u. 527 ff. Die Lehre von den Weltzeitaltern hat wie die .Lehre von den vier Monarchien einen griechischen Ursprung. Die Abfolge von fünf Zeitaltern mit dem sprichwörtlichen goldenen beginnend wird bei Hesiod, Erga 106-201 dargelegt.* Grundlegend zu Weltzeitalterlehre und Chronistik: R. Schmidt, Aetates mundi. Die Weltalter als Gliederungsprinzip der Geschichte, ZKG 67 (1955/56), S. 288-317; A.-D. v. den Brincken, Studien zur lateinischen Weltchronistik bis in das Zeitalter Ottos von Freising, Düsseldorf 1957; A. Dempf, Sacrum Imperium. Geschichts- und Staatsphilosophie des Mittelalters und der politischen Renaissance, München 19623, S. 116 ff. Einen Überblick und weitere Lit. bietet M. Gerwing, s. v. Weltende, Weltzeitalter, LexMA VIII (1997), Sp. 2168-2172. Zur Deutung der vier Weltreiche der Danielvisipn siehe J. W Swain, The Theory of the Four Monarchies: Opposition History under the Roman Empire, CPh 35 (1940), S. l ^-21, der bis zu Hieronymus und Orosius gelangend die Idee der Weltreichsabfolge als wesentlich von der heidnischen Geschichtsschreibung und weniger durch die Danielexegese beeinflußt beschreibt; auch A. Momigliano, Daniele e la teoria greca della successione degli imperi, in: ders., Settimo contributo alla storia degli studi classici e del mondo antico, Rom 1984, S. 297^304; H. H. Rowley, Darius the Mede arid the Four World Empires in the Book of Daniel, Cardiff 1959. Siehe aucjh Brincken, S. 46 ff., bes. aber die ausgezeichnete Zusammenfassung von Fiebig, S, 31 ff. und ausführlicher K. Koch, Das Buch Daniel, Darmstadt 1980, S. 182 ff. 18 Schmidt, S. 289; Brincken, S. 235 f., auch Tafel V (beide Anm. 17), vgl. Ohly (1940), S. 43. Zu Isidors Geschichtstheorie siehe: J.-M. Alonso-Nunez, Aspectos del pensamiento historiografico de San Isidoro de Sevilla, in: M. van Uytfanghe (Hg.), Aevum inter untrumque, FS f. G. Sanders, Den Haag (Instrumenta Patristica XXIII) 1991, S, 1-10. Fiebig, S. 38 "betont, daß die Weltreichslehre auf Basis des Danieltraums und der Hieronymusinterpretation anders als die Lehre von den aetafes im Hochmittelalter weniger als Gliederungsprinzip der Geschichte, sondern hauptsächlich zur Begründung von Herrschaftsübertragungen diente. 19 Zu Orosius siehe H.-W. Goetz, Die Geschichtstheologie des Orosius, Darmstadt 1980, S. 71 ff., jetzt auch J. M. AJqnso-Nunez, Die Auslegung der Geschichte bei Paulus Orosius, Wiener Studien 106 (1993), S. 197-213. Zu Ottos Chronik ist H.-W Goetz, Das Geschichtsbild Ottos von Freising, München 1984, einschlägig (zu Zeiteinteilungen und Weltreichslehre S. 137 ff.). 20 Z. B.: Honorius beschreibt im dritten Buch von de imagm wmdi die Geschichte der sechsten aeias und gibt eine recht genaue Abfolge der Kaiser seit Augustus an; auch er beginnt mit -Augustus (PL 172, 180B): «Sexta aetate regnavit Augustus Caesar quinquaginta sex annos, et sex nienses. Huius tempore
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es, daß die Kaiserchronik als unzweifelhaft von geistlicher Hand geschriebenes Werk mit Caesar beginnt und die Zeit des Augustus nur knapp abhandelt (nur 67 Verse, Caesars Geschichte findet indes in 335 Versen Raum), ohne Christi Geburt als herausragendes Ereignis dieser Epoche zu feiern21. Der Grund dafür liegt offenbar in der deutlichen Tendenz der Kaiserchronik, die Reichsgeschichte, wie im Prolog schon programmatisch festgelegt, in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen22. Weshalb die Caesargeschichte und nicht der Bericht vom Leben des Augustus am Anfang der Kaiserchronik zu finden ist, wird an der eigenwilligen Ausdeutung des Danieltraums in der Kaiserchronik deutlich. Nachdem der Verfasser berichtet hat, wie Caesar das Reich unter seine Macht gebracht hat, flicht der Verfasser nur scheinbar motivationslos seine eigenwillige Interpretation des Danielschen Reichstraums in die Erzählung ein, um dem C. Julius als Reichsgründer den heilsgeschichtlich richtigen Platz in der Geschichte zuzuweisen23. Bei seiner Darstellung des Traumes und dessen allegorischer Auslegung handelt es sich um die kühnste Umgestaltung des Verfassers, der sogar die vorgegebene Reihenfolge der im Traum auftauchenden Tiere umstellt. In der Vulgata, wie auch im Annolied ist ursprünglich von einer Löwin, einem Bär, einem Leoparden und einem vierten, nicht näher bestimmbaren gräßlichen Tier die Rede (in dieser Reihenfolge). Dieses vierte Tier ist aufgrund des Hieronymuskommentars zu Daniel 7, 7 als Eber gedeutet, wobei der Kirchenvater die Erklärung für das Schweigen der Schrift zu diesem Tier in einem Psalm sucht, der die fehlende Bezeichnung der Bestie liefert: «Hoc quod hie tacitum est, Hebraei in Psalmis dictum putant: Devastavit eam aper de silva; et singularis ferus depastus est eam (Ps. LXXIX,14).»24
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Christus nascitur. Hie veneno interüt. Johannes Baptista clarus, et Vergilius, et Horatius, et Ovidius poetae.» Otto von Freising verwendet das gesamte Vorwort zum dritten Buch seiner Chronik darauf zu erklären, warum Christus zur Zeit des Augustus geboren werden wollte. Dabei wurde Augustus als Friedensrurst gefeiert, der ttiepax Romana verwirklicht habe. In der Predigt de nativitate Domini des Honorius heißt es (PL 172, 818A): «Nunc, karissimi, summa brevitate volo vobis mysteria harum rerum reservare. Cur Unigenitus Dei tali modo nos voluerit visitare; quod hie praepotens .Rex [sc. Augustus] frena sui imperii omni populo imposuerit, significat quod Rex natus Universum mundum loris fidei sub jugum Eyangelii trahere cÜsposueraL Quod autem mundus maxima pace claruit, designat quod vera pax Christus apparuit qui inimicicias inter Deum et homines dissolveret et humanam naturam ad angelicam dignitatem sanguine suo attolleret» (Hervorhebungen A. R.). Vgl. auch Oros. Hist 7, 2, 16 und Vergils berühmte 4. Ekloge. Abgesehen von folgender Bemerkung, die im Zusammenhang mit Steuerzahlungen unter Augustus steht (V. 638-641): «der eins stuont unz an den tac / daz der wäre hailant / von himele wart gesant / uns allen ze tröste». Im Annolied hingegen wird die Geburt Jesu unter der Herrschaft des Augustus als zentraler historischer Wendepunkt gefeiert (AL, V. 521 -536). Das Ereignis kündige ein niuwe kunincrichi an (AL, V. 535). VgL vor allem Hcllmann, S. 64 ff. u. Ohly (1940), S. 43: «Durch ihren Beginn mit Caesar erweist die Kaiserchronik ihre Eigenart, die sie weder Weltchronik, noch Chronik des sechsten Weltalters sein läßt, wie sie seit der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert begegneten. Sie ist die erste abendländische Chronik des römischen Reiches, die älteste .» Zur Deutung des Danieltraums in der Kaiserchronik siehe Gellinek, S. 148 ff., dem aber Ohly (1940) S. 46 ff., E. Marsch, Biblische Prophetie und chronographische Dichtung, Berlin 1971, S. 18-51 und vor allem der Aufsatz von A. Fiebig vorzuziehen sind. Hieronymus, PL 25, Sp. 530.
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Dieser Auslegung entsprechend wird sowohl im Annolied25 als auch in der Kaiserchronik das betreffende Tier als der Eber in Gottes Weinstock vorgestellt26. Das schreckliche Wesen, das mit zehn Hörnern ausgestattet ist und dem sogar noch ein elftes vor den Augen des Erzählers wächst, wird in der Schriftauslegung als die Verkörperung des Antichrist, gedeutet. In Daniel 7, 17-24 werden die Tiere auf vier Weltreiche bezogen. Die allegorische Auslegung dieses Traumes nach Hieronymus wurde zum Vorbild, er interpretierte die vier Reiche (in der Reihenfolge der Tiere) als Babylon, Persien, Griechenland und Rom27. Der Regensburger verwirft nun diese Tradition und gestaltet den Traum um: Er beginnt mit dem Leoparden, danach kommt der Bär, dem wiederum folgt der Eber. Die Tierreihe endet mit der Löwin. Bei der Auslegung weicht der Verfasser ebenfalls von der Tradition ab. Das Annolied hatte noch — entsprechend der Danielstelle - davon gesprochen, daß die Tiere vier künincriche (V. 11), regna^ (darstellten. Die Kaiserchronik interpretiert nun so: die vier tier wilde*/ diu be^aichenet vier chunige riche (V. 533 f.), d. h. also, daß die Tiere nicht mehr auf vier Königreiche, sondern auf vier mächtige Könige verweisen. Der Leopard bezeichnet Alexander den Großen, der Bär bleibt ungedeutet, da^ wilde swm (V 577) bezeichnet Caesar, dentiurltchenJuljum (V. 572), und die Löwin steht für den Antichrist, der noh in die werlt kunßich ist (V. 586)28. Außerdem verpaßte der Regensburger das als Antichristattribut verstandene elfte Hörn, das in der Vulgata und im Annolied den schon über zehri Hörner verfügenden Eber schmückt, der Löwin, die nun die Erscheinungsform eines Einhorns annimmt. Auch die den Antichrist auszeichnenden menschlichen Augen sowie der menschliche Mund, sind nun nicht mehr dem Eber, sondern der Löwin eigen. Dem Eber der Kaiserchronik fehlen auch die übrigen negativen Attribute wie eiserne Klauen und Zähne, mit denen er noch im Annolied (V. 239-241) und in der Bibel versehen war. Warum unternahm der Dichter gegen seine Vorlagen diese entscheidende Uminterpretation? Kühne apokalyptische Varianten des Danielträums, die erheblich von der Version der Vulgata abweichen, sind an und für sich für das Mittelalter nichts 'Ungewöhnliches. Eine angesichts der Autorität der Schrift und der Kommentare zunächst verblüffende Freiheit der Bearbeiter bestand grundsätzlich. Neben griechischen und altkirchenslavischen visiones Danie/is29 ist auch eine christlich-arabische Variante der Träume des Propheten überliefert, die besonders stark von der Vulgataversion abweicht30, Einen sehr freien Umgang mit dem Reichstraum Daniels bezeugen auch die eigenständigen byzantischen Traditionen der Apokalyptik, die Podskalsky und Alexander detailliert untersucht haben31. Als Somnialia 25 26 27 28
29 30 31
Im Annolied ist die Wiedergabe des Danielschen Traumes allerdings auf das vorgeschichtliche Jerusalern bezogen (Annolied, V. 179-262). Siehe dazu auch W. Schouwink, Der wilde Eber in Gottes Weinberg. Zur Darstellung des Schweins in Literatur und Kunst des Mittelalters, $igmaringen 1985. Hieronymus PL 25, Sp. 528 ff. Oros. Hist. 2, l, 3^-6 hat in Abwandlung dieser Deutung die Abfolge der Reiche als Babylon, Makedonien, Karthago, Rom dargestellt Erstaunlicherweise findet diese Periodisierung der Weltreiche durch die Personen Alexander und Caesar einen Vorgänger in Diodors Geschichtswerk, (l, 4), wo dieser dem Einteilungsmuster Trojanischer Krieg Alexander der Große — Caesar folgt. P. J. Alexander, The Byzantine Apocalyptic Tradition, Berkeley, Los Angeles u. London 1985, S. 61 ff. Siehe hierzu die Diskussion bei H, Möhring, Der Weltkaiser der Endzeit Entstehung, Wandel und Wirkung einer tausendjährigen Weissagung, Stuttgart 2000, S. 120-127. G. Podskalsky, Byzantinische Reichseschatologie. Die Periodisierung der Weltgeschichte in den vier Großreichen (Daniel 2 und 7) und dem tausendjährigen Friedensreiche (Apok. 20). Eine motivgeschichtliche Untersuchung, München 1972 und Alexander (Anm. 29).
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Danielis wurde der Prophetenname gar zur Bezeichnung eines gesamten Typus von Traumbüchern apokalyptischer Prägung32. Betrachtet man die mittelalterliche Apokalyptik und die Kommentare zu einschlägigen Bibelpassagen hinsichtlich gewissermaßen (kanonischer) Gemeinsamkeiten, so läßt sich der Eindruck nicht vermeiden, daß hier wenige Regeln und wenige unumstrittene Übereinstimmungen in der Tradition bestehen und Auslegungsunterschiede und Textvarianten oft individuelle und werkkonzeptionelle Gründe gehabt haben müssen33. Im Falle der byzantinischen Danielexegese lassen sich beispielsweise handfeste ideologische Motive ausmachen34. Was bedeutet das nun für die Interpretation der in der Kaiserchronik ausgebreiteten Version des Reichstraums nach Daniel? Fiebig konnte darauf hinweisen, daß eine «noch unfeste Danieltradition zum Entstehungszeitpunkt der Kaiserchronik» den Dichter befähigte, kreative Umdeutungen im Sinne seiner heilsgeschichtlich-typologischen Deutung vorzunehmen3:>. Offenbar wird hier eine für das riche entscheidende Neuinterpretation der Tradition geboten, die den Reichsgründer Caesar — die Traumerzählung steht ja in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Bericht der Chronik über den lulier — in einen heilsgeschichtlichen Sinnzusammenhang stellt. Wie schon gezeigt, \var der Regensburger sichtlich bemüht, Caesar entgegen der Darstellung seiner Quellen als Reichsgründer mittels Tugendprädikaten in ein äußerst positives licht zu stellen. Durch die Umgestaltung des Danieltraums gewinnt Caesar für den Regensburger noch größere Bedeutung. Indem er das der Allegorese unterzogene Bibelpendant des luliers, das Wildschwein, einerseits als gewaltig beschrieb, andererseits aber auf die Ausgestaltung des Tieres mit negativen Attributen verzichtete, die nicht zu Caesars milte und diemuot paßten36, konnte er ihn als den heilsgeschichtlich bedeutsamsten heidnischen Kaiser darstellen, und somit «Caesars Herrschaft als den Beginn des römischen Reiches in das Licht prophetischer Verheißung [...] stellen», wie bereits Ohly betont hat37. Der Eber ist somit als positives Symbol der durch Caesars Herrschaft eingeleiteten Gründung des Reiches zu verstehen, so daß Titus in der 32 33
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37
Siehe neben Alexander, S. 61 ff. (Anm. 29) N. F. Palmer/K Speckenbach, Träume und Krauter, Köln u. Wien 1990. Siehe hierzu neben Möhring, Podskalsky und Alexander (Anm. 29-31) auch J. Adamek, Vom römischen Endreich der mittelalterlichen Bibelerklärung, Würzburg 1938, K Koch/J. M. Schmidt (Hgg.), Apokalyptik, Darmstadt 1982 und die zahlreichen und mit umfänglichen Literaturangaben versehenen Publikationen von B. McGinn; repräsentativ etwa die Aufsatzsammlung B. McGinn, Apocalypticism in the Western Tradition, Aldershot 1994, sowie: B. McGinn, Visions of the End. Apocalyptic Traditions in the Middle Ages, New York 19982. und besonders, B. McGinn (Hg.), The Encyclopedia of Apocalypticism, Vol. 2: Apocalypticism in Western History and Culture, New York 1998. Podskalsky (Anm. 31), S. 73. Fiebig, S. 39. Vor allem das den Antichrist auszeichnende schreckliche elfte Hörn des vierten Tieres mußte dem Eber genommen werden, «et de cornibus decem quae habebat in capite / et de alio quod ortum fuerat / ante quod ceciderant tria cornua / de cornu illo quod habebat oculos et os loquens grandia et maius erat ceteris / aspiciebam et ecce cornu illud faciebat bellum adversus sanctos et praevalebat eis» Dn. 7, 20 f. Ohly (1940), S. 48. Auf der Basis von Ohly erkennt Marsch (Anm. 23), S. 49 im wilden Eber des Regensburgers «die Bestimmung des neuen Reiches, dessen Entwicklung zum Reiche Christi heilsgeschichtlich vorbestimmt ISD>, versinnbildlicht. Die positive Besetzung des mit Caesar gleichgesetzten Tieres verweist auf die Bedeutung des Reiches im oräo salutis. Das Reich Gottes ist immanent schon im römischen Reich wirksam (S. 51). Fiebig, S. 46, vgj. S. 39 ff. hat Ohly folgend festgestellt, daß die Danielsvision in der Chronik des Rcgcnsburgers nicht dazu dient, Geschichte nach vier Weltreichen chronologisch einzuteilen, sondern die Funktion hat, «den epochalen Einschnitt durch Caesar zu betonen».
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Kaiserchronik folgerichtig auch unter dem zehrihöriiigen Eber als dem römischen Wappentier (V. 5263 ff.) gegen die Heiden zu Felde zieht38. Zusammengefaßt läßt sich sagenj daß der Dichter der Kaiserchronik bewußt verschiedene Änderungen an seiner Vorlage vorgenommen hat, unter denen die Umdeutung des Danieltraums nur eine *- wenn auch die kühnste - ist, und so der Figur Caesars ein besonderes Gewicht für den heilsgeschichtlichen Prozeß gegeben hat, dessen Beschreibung sein Anliegen ist: 1. Caesar erscheint als tugendhafter rex iustus und wird mit den verschiedensten positiven Prädikaten näher bestimmt39. In jeder Beziehung ist sein Verhalten vorbildlich, sogar durch die erzchristliche Tugend der Demut zeichnet er sich aus. 2. Die germanischen Stämme und die Römer sind prinzipell gleichwertig. Die zeichnen sich durch besondere Stärke im Kampf aus und sind nach Caesars Sieg dessen treue Bundesgenossen. 3. Rom kann von Caesar nur -mit Hilfe dieser germanischen Stämme zurückgewonnen werden. Erst als sich Caesar unter maßgeblicher Beteiligung der in Rom an die Macht gebracht hat, hat er, der ursprünglich (auch laut Kaiserchronik!) nur als vom Senat bestellter Feldherr fungierte, die Herrschaft über das gesarnte römische Weltreich gewonnen, und ist somit nur mit germanischer Hilfe Kaiser und Reichsgründer geworden. 4. Entsprechend wird dem lulier vom Dichter eine besondere heilgeschichtliche Relevanz eingeräumt, die sich in der kühnen Interpretation des Danieltraums niederschlägt. Die Tiere symbolisieren nicht mehr Reiche, sondern sind personalisiert worden und stellen Kpnige vor. Der Eber, der seiner negativen Attribute beraubt wurde, steht dabei für Caesar. Zuungunsten des Augustus, unter dessen Friedensherrschaft der wäre hallant zur Welt kam, wird sein Adoptiwater als Reichsverwirklicher in den Mittelpunkt gestellt.
Die Geschichte Karls des Großen in der Kaiserchronik ragt durch Umfang und Gewicht aus den anderen Kaisererzählungen heraus, was sicherlich auch «der Bedeutung des großen Herrschers in der geschichtlichen und legendären Überlieferung» entspricht40. Darüber hinaus markiert Karls Kaisertum aber auch einen heilsgeschichtlich bedeutsamen Wende38
39
40
JC Speckenbach, Der Eber in der deutschen Dteratur des Mittelalters, in: H. Fromm/W Harms/U Ruberg (Hgg.) Verbum et Signum, FS f. F. Ohly, Bd: I, München 1975, S. 425-476 hat das Motiv des Ebers aus der visio Daniefa von der Patristik ausgehend durch die mittelaterliche Literatur verfolgt Die Kaiserchronik betreffend gelangt er in enger Anlehnung an Ohly zu der Überzeugung, daß der Eber das ideale Wappentier des Titus im Feldzug gegen Babylon sei: «Der Eber ist zum Reichszeichen Roms geworden und bezeichnet dessen siegreiche Weltherrschaft, die sich auch gegen Babylon durchsetzen wird» (S. 427). Vgl. Fiebig, S. 47 f. Abgesehen von seinem unrühmlichen Tod durch die Römare, die in ungetriaveftche sluogen (V. 601). Dieser Tod scheint nur vordergründig ein Widerspruch zu sein. Denn obwohl in der Kaiserchronik die Todcsart (übrigens ganz nach antikem Vorbild, 2. B. Tacitus) oft ein Indiz für die moralische Wertigkeit eines Kaisers darstellt (vgl, auch Ohly, 1940, S. 20), so konnte sich der Dichter, «der sich in anderen Fällen des öfteren über seine Quellen hinwegsetzte, bei solch einem berühmten Herrscher und solch einem bekannten Mord (vielleicht der bekannteste Mord der Geschichte) im Fall Caesars m. E. nicht über die allgemein bekannte Tradition hinwegsetzen. Geith, S. 83.
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punkt durch die mit ihm vollzogene translatio imperii ad Francos. Dieser herausragenden Bedeutung des Franken will der Regensburger gerecht werden, wenn er ihn in seinem Bericht panegyrisch feiert. Im folgenden soll die positive Zeichnung der Karlsfigur näher betrachtet werden, um sie darauf mit der ebenfalls in hellem Licht geschilderten Caesarfigur zu kontrastieren. Das Ergebnis der Textuntersuchung wird Caesar deutlich als die vom Verfasser konzipierte Präfiguration Karls offenbaren, der das durch den Römer verheißene positive Bild der Kaiserherrschaft über das Reich erfüllt und die schon in der Heraushebung der germanischen Stämme angelegte translatio impeni vollzieht. Das Bild, das der Regensburger Dichter von Karl dem Großen entwirft, läßt sich folgendermaßen beschreiben: Über die ganzen 810 Verse der Karlsgeschichte (V. 14282-15092) hinweg wird Karl dem Leser als ein überaus frommer und mächtiger Beschützer der Christenheit vorgestellt. So zeichnet er sich besonders durch sein äußerst enges Verhältnis zu Gott aus, das sich vor allem in häufigen Begegnungen mit Engeln manifestiert. Auch seine Eigenschaft, wunderbaren Beistand aus dem Himmelreich zu erfahren, unterstreicht die Ausnahmestellung, die er unter den Sterblichen einnimmt. Karl tritt uns als ein von Gott auserwählter Herrscher entgegen, dessen Tugendhaftigkeit, gepaart mit seiner Sonderbeziehung zu Christus, ihn zur Übernahme des Reiches aus der Hand des Stellvertreters Gottes auf Erden prädestiniert. Dabei verwertete der Dichter nur die Teile seiner Quellen, die ihm heilsgeschichtlich bedeutsam erschienen. Obwohl er die fundiertere Vita KaroliMagni Einhards kannte41, legte er bei der Gestaltung seiner Karlsfigur gesteigerten Wert auf legendenhafte Ausschmückung und Berichte von Wundern im Umkreis des Franken. Die Handlung der Karlsgeschichte ist folgendermaßen aufgebaut: Karl wird als der leibliche Bruder des Papstes Leo eingeführt. Zu diesem, also nach Rom, wird er durch ein göttliches Traumgesicht befohlen, wo er einen Streit um die pfrounde seines Bruders schlichten muß. Nachdem er dies erfolgreich getan hat, kehrt er wieder zurück ins fränkische ngnum, um bald danach wieder einen Zug nach Rom unternehmen zu müssen, weil die Römer Leo nach Karls Scheiden geblendet und vertrieben haben, und der Frankenkönig daraufhin seinen päpstlichen Bruder rächen und wieder einsetzen will. Nach der Einnahme Roms bestraft Karl die Schuldigen. Durch ein Gebet erreicht Karl die Gesundung seines päpstlichen Bruders, der ihn daraufhin zum Kaiser krönt. Aus dieser Position ordnet Karl nun mit Hilfe eines ihm beistehenden Engels die Verhältnisse in Rom neu (Verse 14757 — 14761): Karl sayte dö die pfähle, der engel si im vor übte, die waren rede von gote. des half im der bimeliske bofe vil dike tougenliche.
Nach der Rechtsetzung in Rom läßt der Kaiserchronikdichter Karl mit seinen Kriegszügen beginnen. In einem sehr kurzen Abschnitt von nur 45 Versen werden die Langobarden-, Friesen-, und Sachsenfeldzüge Karls abgehandelt (Verse 14827-14914). Die einzelnen Darstellungen dieser Feldzüge weisen alle dasselbe Grundmuster auf: Es werden vom Den historischen Kern des Berichtes von Karls erster Fahrt nach Rom, um dem Papst in einem Streit über pjrwnde und Abende beizusrehen, hat der Regensburger offensichtlich Einhards Bericht über den Raub des Kirchenguts durch den Langobardenkönig Desiderius im Jahre 773 entnommen: Einhard, Vita Karoli Magni, 6.
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Autor lediglich der Ort des Feldzuges, der Name des gegnerischen Anführers und der Ausgang der Kampfhandlungen zu Gunsten .Karls inklusive der erwähnt (z.B. der vurste wart gehoubetot; die Sahsen wurden reslagen. Verse 14836 u. 14870). Danach beschreibt der Autor schließlich den Zug gegen die Navarren und die Eroberung der von heidnischen Sarazenen besetzten Stadt Arles. Diesen Kriegszugsbeschreibungen schließen sich verschiedene, besonders reizvolle Episoden über Zeichen und Wunder an, die der Legendendichtung entnommen sind, um die enge Beziehung Karls zu Gott zu dokumentieren, wie die legendenhaften Motive der Geschichten vom Lanzenwald und dem Mädchenheer belegen42. Mit einem Lobpreis Karls endet die Episode, in der der Dichter den Frankenkönig panegyrisch überhöht und ihn als dienestmann Gottes, als rex iustus und rex christianus bezeichnet. Karl ist für den Verfasser der Kaiserchronik somit das Sinnbild des idealen christlichen Herrschers.
IV. Wir haben gesehen, wie der Verfasser der Kaiserchronik die Figuren Caesar und Karl konzipiert hat und welche Änderungen er an seinen Vorlagen vornahm, um die Figuren in das von ihm beabsichtigte Bild einzupassen. Im folgenden soll nun gezeigt werden, daß Caesar als .Präfiguration Karls in typölogischem Sinne verstanden werden kann. Caesars Tugenden und die Ereignisse während seiner Herrschaft als Begründer des Imperium Romanum verweisen auf die in gesteigerter Spiegelung dargestellten positiven Eigenschaften des großen Franken und auf die für das Imperium Christianum bedeutsamen Ereignisse während seiner Herrschaft. Dabei erfüllt Karl das in der Schilderung Caesars noch unvollkommen Angelegte. Führen wir uns noch einmal die einzelnen Punkte der Caesarepisode und ihre Entsprechungen in der Karlsgeschichte vor Augen: 1. Caesar wird als rex iustus beschrieben, der sich durch die edelsten Charaktereigenschaften hervortut und dessen Milde und Güte ihn auszeichnen. — Karl wird als rex christianus dargestellt, als überaus frommer und guter Herrscher, der in seiner christlichen Tugendhaftigkeit den positiven Charaktereigenschaften, die auch Caesar besitzt, durch seinen Glauben erst die richtige Bedeutung gibt Der am Ende der Karlsgeschichte plazierte Tugendkatalog des Kaisers findet fast gänzlich seine oft wörtlichen Entsprechungen als Charakterisierungen Caesars in der Anfangserzählung der Kaiserchronik (Hervorhebungen A. R.): > Karl was chuone (V. 15075) — Cesar was edele unt kuone (V 437) Karl was genaedic (V. 15077) - Niederlage der Schwaben: ir lanf si da gaben in sine genäde. (V. 285 f,). Nach Caesars Sieg über Trier:-*w/ diu lie% er die herren / in den selben eren / da er sie vor inne vant [...] den ebensten herren / den leb er-guotiu leben [usw.] (V. 439ff.), diese Textstelle dokumentiert Caesars gnädiges Handeln. * Karl was staete, /unt bete iedoch die guote (V. 15080 f.) - er [sc, Caesar] het am staetigen muot / en allen wts.was. er ein helt guot (V. 255 f.) Juljus was ain guot kneht (V. 267). Karl was tcumuote (V 15079) ·- di aller ermisten diet / die lie% er [s.c. Caesar] äne gebe niet. / da% lert in sin diemuot. (V. 447 ff.) 42
Zu den Quellen der Motive siehe Geith, S. 76 ff.
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Einzig an der saelde hat Caesar im Gegensatz zu Karl dem Großen nicht teil (Karl was sae/zc, V. 15078). Hierin übertrifft der Antitypus Karl ganz deutlich und im entscheidenden Punkt, der Teilhabe am Heil, seinen Typus Caesar, wiewohl die als durch Gott und Nähe zu Gott motivierte Tugendhaftigkeit Karls auch ansonsten die heidnische Tugendhaftigkeit Caesars übersteigt. 2. Caesar wird vom Kaiserchrönikdichter mit der christlichen Kardinaltugend, der Demut, versehen, obwohl das als Vorlage benutzte Annolied einen solchen Charakterzug Caesars nicht vorsieht. Diese Tugend wird auch Karl dem Großen zugesprochen; sowohl direkt im die Karlsepisode abschließenden Lobpreis des Frankenkönigs (Karl was teumuote V. 15079), als auch indirekt durch das die ganze Episode durchziehende christlich-demütige Verhalten des Kaisers. In seiner christlich motivierten Demut übersteigt Karl wiederum seine Präfiguration. 3. Caesar unternimmt zwei Romzüge. Beim ersten kann er seine Ziele nicht durchsetzen, wird abgewiesen und muß wieder auf germanisches Territorium zurückkehren, wo er um Hilfe bei den jetzt mit ihm verbündeten Germanenstämmen nachsucht. Sein zweiter Zug wird ein Erfolg: Er besiegt seine Feinde und wkd erster Kaiser von Rom, Begründer des vierten Weltreiches und ordnet die römischen Dinge in seinem Sinne: Juljus bedwanch elliu lant / si dienten elliu siner hant (V. 575 f.). Karl unternimmt ebenfalls zwei Romzüge. Der erste gilt der eher geringen Aufgabe, seinen päpstlichen Bruder in einem Rechtsstreit zu unterstützen, bei seinem zweiten Feldzug jedoch besiegt er seine Feinde, nimmt Rom ein und wird zum ersten deutschen Kaiser des vierten Weltreiches gekrönt: der [sc. Karl] gewan den namen scone / da^ er der erste kaiser wart %e Rome / von Dlutiscen landn. (V. 14817 — 14820). Auch er ordnet die Dinge in Rom in seinem Sinne, indem er tiepfaht (V. 14757) setzt. Im Unterschied zu Caesar kommt bei Karl wieder die unmittelbare Gottbezogenheit seiner Handlungen zur Geltung. Der zweite Romzug wkd dkekt von Gott befohlen, der über die Römer geurteilt hat und sie nur noch mittels seines Werkzeuges Karl zu bestrafen gedenkt43. Der Sieg ist also nicht bloß eine persönliche Leistung des Franken, sondern geht dkekt auf Gottes Willen zurück Auch die pfabt wkd Karl von einem Engel diktiert (V. 14758). Daher sind diese in der Caesarepisode vorgezeichneten Ereignisse durch die unmittelbare Gottbezogenheit qualitativ auf einer höheren Stufe als der Sieg Caesars, der gleichwohl die Grundlagen des Reiches geschaffen hat. 4. Die Kriegszüge, die Caesar unternimmt, werden — obwohl die Römer siegreich sind — von schweren Verlusten auf römischer Seite begleitet. Die Kämpfe und Siege sind von einem ganz normalen Ablauf geprägt: Die Parteien kämpfen, die Römer siegen. Bei den Kriegszügen Karls werden Siege nicht nur unter normalen Umständen erfochten; vielmehr berichtet der Regensburger von wahren Wundern, die sich ereignet haben sollen. Die schönsten Beispiele hierfür sind die schon weiter oben erwähnte Legende vom Lanzenwald und besonders die Geschichte vom Mädchenheer. Nach einer verlorenen Schlacht in Galatiam** (V. 14916), bekommt der verzweifelte Karl von einem Engel den Auftrag, ein Mädchenheer aufzustellen, angesichts dessen die Sarazenen in dem Irrglauben, es handele sich 43 44
got von himele / gebuitet dir chunige / niht langer du nebit / hin ze Rome du rit / diu urtaile ist vor gotc getan / diu räche so! über si regan (V. 14591 -14596). Bei der Schlacht von Gatattam handelt es sich offensichtlich um die Schlacht von Ronccvaux: «Nul doute que ce grand desastre soit cclui de Roncevaux», R, Folz, Lc souvenir et la legende de Charlemagne dans l'empire germanique medieval, Paris 1950, S. 166.
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um Männer, den Mut verlieren und kapitulieren. An dieser Stelle ist das direkte Eingreifen der göttlichen Macht zu Gunsten des rex cbristianus besonders evident und hebt diesen über seinen auf <normale> Siege angewiesenen Typus weit hinaus. Anhand der Übersicht der fast wörtlichen Entsprechungen läßt sich die vom Verfasser intendierte Verbindung zwischen dem großen Römer und dem großen Franken klar nachvollziehen und der zwischen diesen beiden Polen waltencle Sinnbezug gegenseitiger Bedeutsamkeit erkennen. Die vielen Entsprechungen deuten darauf hin, daß Caesar als Präfiguration Karls in typologischem Sinne der gesteigerten Spiegelung zu verstehen ist: Ein rex iustus, dem die Ehre zuteil wurde, .erster Kaiser des römischen Weltreiches zu werden, der aber von dem rex cbnstianus in den Schatten gestellt wird, der erster deutscher Kaiser des römischen Reiches wurde, und auf den er und sein gerechtes Kaisertum vorausdeutend verweisen. Somit ordnet er sich perfekt in den göttlichen Heilsplan der Geschichte ein und hat dort seinen bedeutungsvollen Platz als Präfiguration Karls. Der Bedeutung seiner Person wird auch der Regensburger gerecht, wenn er ihn als ersten Kaiser seiner Chronik beschreibt.
V. Ein weiterer Aspektj der die Caesarepisode typologisch an die Karlsgeschichte anbindet, ist die Vorausdeutung auf die translatio itnperii, die mit Karl vollzogen wird. Hinter dem Begriff der translatio imperii steckt die schon erwähnte Vorstellung von Geschichte als Folge von Zeitaltern/Weltreichen. Das Mittelalter lebte in dem Glauben, daß nach dem römischen Reich, dem letzten Weltreich (bzw. der letzten aetas, die mit der Geburt Christi begann), die Zeit des Antichrist, des Jüngsten Gerichts und des Reichs Gottes anbreche. Von dieser Vorstellung wurde das politische Prinzip abgeleitet, daß das römische Reich unter deutscher Vorherrschaft durch Übertragung der Herrschaft erhalten geblieben sei45, Der Translationsgedankej der in der Krönung Karls des Großen im Jahre 800 die Übertragung der Reichsherrschaft auf die Franken begriff, wurde ursprünglich schon in bescheidenem Ausmaße in karolingischer Zeit vertreten. Zu der eigentlichen Ausprägung des Begriffes kam es jedoch erst seit etwa 1100, motiviert durch das Aufleben der Chronistik und die propagandistischen Auseinandersetzungen im Investiturstreit46. Am ausgefeiltesten formuliert Otto von Freising die Translationslehre in seiner berühmten Historia de duabus avitatibus betitelten Chronik47. Vor diesem Hintergrund ist das Bemühen des Verfassers der Kaiserchronik zu verstehen, die translatio^ die mit der Krönung Karls durch seinen Bruder Leo vollzogen wird, schon 45 46
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Einschlägig dazu die Arbeit von Goez, vgl Geltinek, S. 156, Goez, S. 72 ff. u. 104 ff. Besonders die Chronik Frutolfs, die auch als Quelle der Käiserchronik belegt ist (Nellmann, Sp. 956 mit Ut). und die den Translationsgedanken um 1100 befördert, ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung. «Ita nimirum potestas temporalis a Babylone devoluta ad Medos, inde ad Persas, post ad Graecos, ad ultimum ad Romanos et sub Romano nomine ad Francos transläta est» Chron. 5, 36; Otto erwähnt auch noch die Zwischenstufe der translatip ad Graecos·. «[.,.) et post ad Romanos rursumque sub Romano nomine ad Graecos derivatum sit, sät dictum arbitror. Qualiter vero inde ad Francos, qui occidentem inhabitant, translatum fuerit, in hoc opere dicendum restat.» Chron. 5, Prologus. Dazu Goetz, Geschichtsbild (Anm. 19), S. 148 ff., und Goez, S. 111 ff.
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zu Beginn des Werkes als eine sinnvolle, fast logische Entwicklung typologisch vorzuzeichnen. Der Fortbestand des Reiches mußte also mittels des Kunstgriffs der Übertragung gesichert werden, da das Ende des Reiches auch gleichzeitig das Ende der Welt bedeuten würde. Die Übertragung der Herrschaft auf Karl erscheint in der Kaiserchronik interessanterweise ohne längere Erklärungen, hinter ihr stehen keine Legitimationsansprüche wie in Ottos Chronik, die den Herrschaftsanspruch der sich auf die Karolinger zurückführenden Staufer untermauern will48. In der Regensburger Chronik erscheint die translatio mehr als eine logische Folge von Karls Verdiensten, seiner Frömmigkeit und seines direkten zur Gottheit, den die mannigfachen Wunder in seiner Umgebung nachdrücklich belegen. Er ist für die Übernahme der Reichsherrschaft prädestiniert. Sie ist aber auch Folge des gleichzeitigen Versagens der griechischen Vorgänger Karls: Von dannen wartRomisc riche /gesceiden von den Cnechen [...] / si [sc. Romaere] woltn kunige haben / ü^ anderen riehen (V. 14278 f. u. 14293 f.). Bemerkenswert ist dabei, daß bis zur Übernahme der Reichsgewalt durch Karl für den Kaiserchronikdichter die Herrschaft über das riche immer bei den (West-)Römern, nicht aber bei den byzantinischen Basileis gelegen hat. Eine Translation auf die Griechen, die Otto von Freising in seiner vierfachen Translationslehre erläutert, kennt die Kaiserchronik nicht. Alle Kaiser werden in Rom gewählt, der einzige in Konstantinopel zum Kaiser erhobene Herrscher, Constantius VI., wird nicht anerkannt, der Anspruch auf das Reich bleibt immer bei den <echten> Römern. Ohly hat diese prinzipielle «antigriechische Tendenz» des Regensburgers beschrieben49. Die Episode über den korrupten Constantius, dem Karl 48
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Eine polirische Ausrichtung der Kaiserchronik, die in Teilen der Forschung als prostaufisches Geschichtswerk interpretiert worden ist, muß mit Geith, S. 82 £ u. 260, zurückgewiesen werden. Der Translationsgedanke tritt hier in seiner heilsgeschichtlichen und nicht in politischer Bedeutung hervor. Ohly (1940), S. 226 f.; vgl. Nellmann, Sp. 955 u. 958. Ganz andere Wege geht man dagegen naturgemäß in Konstantinopel bei der Adaption des Romgedankens und der Übertragungslehre. In byzantinischem Verständnis war Konstantinopel die Verkörperung Roms, die Stadt am Bosporos hatte die am Tiber auch als Träger des Imperiums beerbt. Der Gedanke von der translatio. i/xperiiist zuerst im 6. Jahrhundert entwickelt worden, wobei man die Theorie vortrug, Konstantin der Große habe sein Kaisertum auf Konstantinopel übertragen. Gerade die Kaiserproklamation Karls und die Weltherrschaftsansprüche seiner ottonischen und staufischen Nachfolger hat die byzantinischen Ideologen auf den Plan gerufen und der griechischen Variante der Tranlationsidee neue Impulse gegeben, weshalb der östlichen Kaisertitulatur (Basileus) nach Karls Krönung der Zusatz «der Römer» beigefügt wurde. Als «nea Rome» wird Konstantinopel daher folgerichtig bezeichnet. Dazu E Dölger, Rom in der Gedankenwelt der Byzantiner, ZKG 36 (1937), S. 1-42; O. Treitinger, Die oströrnische Kaiser- und Reichsidee. Vom oströmischen Staats- und Reichsgedanken, Darmstadt 19693, S. 160 ff. u. 262 £ Die Eigenständigkeit Ostroms und der alleinige Anspruch auf die Translationsidee wurde von den Byzantinern, die sich trotz des Primats der griechischen Sprache immer Romäer nannten, stets betont Jedoch gab es auch immer wieder Unionsbestrebungen wie die des Kaisers Johannes V. Palaiologos, der sich 1369 (in politischer Bedrängnis), ganz im Sinne unseres Regensburger Mönches, in Rom dem Papst unterworfen und unter Kniefall im Petersdom zum Katholizismus bekannt hatte. Dazu O. Halecki, Un empereur de Byzance a Rome, London 19722. Als Reaktion auf den Fall Konstantinopels (1453) wurde schon im 16. Jahrhundert (e. g. durch Philotheos von Pskov/Pleskau) Moskau als das dritte Rom betrachtet, auf das der Reichsgedanke nun übergegangen sei, eine Vorstellung, auf die sich der Panslawismus, ähnlich dem bis 1806 politisch bedeutsamen Reichsgedanken im Westen, bis ins 19. Jahrhundert hinein gründet. Philotheos entwickelt seine Auffassung vom dritten Rom ebenfalls am Traum des Propheten Daniel. Dazu D. Strcmooukhoff, Moscow the third Rome: sources of the doctrine, Speculum 28 (1953), S. 84-101; bes. aber H. Schacdcr, Moskau das dritte Rom. Studien zur Geschichte der politischen Theorien in der slawischen Welt, Darmstadt 1957 (die relevanten Texte des Pleskauer Mönchs sind in Übersetzung S. 198-215 abgedruckt); W. Lettenbauer, Moskau das dritte Rom. Zur Geschichte einer politischen Theorie, München 1961. Die
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Alexander Rubel
nachfolgt, dient im wesentlichen «der erzählerischen Vorbereitung der translatio injpefii ad francos«50. Die verwaiste Krone wird von den Römern während des Interregnums auf dem Altar der Peterskirche niedergelegt und harrt dort ihres neuen Trägers (V. 14282-^14294). Karl bietet sich für die Übertragung aufgrund seiner hervorragenden Leistungen und Tugenden an, sein germanisch-fränkisches Volk ist zur Übernahme der Reichsgewalt unter seiner Herrschaft wegen seiner in der Caesarepisode präfigurierten positiven Eigenschaften prädestiniert. Die Germanen erwiesen sich - wie gezeigt worden ist — in den Kämpfen mit Caesar als ausgesprochen tapfer und deri Römern prinzipiell; gleichwertig. Nachdem sie von Caesars Truppen überwunden worden sind, haben sie nichts eiligeres zu tun, als im ersten entscheidenden Moment für das Reich, nämlich seiner Grundlegung als letztes Weltreich durch Caesar, für die Angelegenheit dieses Reiches als treue Bundesgenossen des ersten römischen Kaisers zu kämpfen. Da verwundert es auch nicht mehr, daß ein deutscher Stamm, die Franken, mit den Römern blutsverwandt sein soll: Die Franken, denen ja bekanntlich unter Karl .die Herrschaft angetragen werden wird, bekommen vom Regensburger einen trojanischen Stammbaum angedichtet51. Sie sind also nicht nur durch ihren Mut und ihre Stärke den Römern ebenbürtig, sie sind sogar mit; ihnen verwandt:
*
Caesar begunde do haken %u sinen alten mögen, %u Franken den ml edelen. ir biderben vorderen körnen von Troje der alten dt di Crichen %ervalten. (V. 343-349).
Neben der vom Verfasser expnssis verbis verdeutlichten Verwandtschäftsbeziehung werden die edelen Franken noch als Caesars «alte Heeresmacht»52 in ein direktes Freundschaftsverhältnis gestellt. Von Kämpfen zwischen Caesar und den Franken (abgesehen von der Auseinandersetzung mit dem rheinfränkischen Trier) -berichtet die Kaiserchronik nicht. Es wird lediglich lapidar bemerkt, daß die Franken Caesar Untertan wurden: dm [sc. Frenkisken] wurden Cesari undertän (V. 377). Diese Beobachtung und vor allem das vorn Regensburger aufgestellte Verwandtschaftsverhältnis der beiden Völker lassen nur "den Schluß zu, daß der Verfasser die beschriebenen Elemente in die Caesarerzählung integriert hat, um auf diese Weise schon zu Beginn seines Berichts die translatio impeni ad Francos als vorbestimmte und für den Leser auch nachvollziehbare Folge der besonderen Stellung der Franken darzustellen, die sie zur späteren Übernahme der Reichsgewalt prädestiniert53.
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maßgebliche Edition der Philotbeosbriefe und eine grundlegende Studie bei y. Maünin, Starec Eleazarova monastyria Filifej i ego poslanija, 1901. Pezsa,S.116 Zum gängigen schon in der Fredegarcbronik auftauchenden Motiv der trojanischen Herkunft der Franken siehe: F. Graus, Troja' und die trojanische Herkünftssage im Mitcelalter, in: W. Erzgräber (Hg.), Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter, Sigmaringen 1989, S. 25-43. Die genealogische Verbindung zwischen Franken und Trojanern war dem Verfasser zumindest aus dem Annolied bekannt (AIvV. 349-354). E. Schröders Übersetzung von wagen im Glossar der Kaiserchronikausgabe (S. 431). Dies hat Goez, S. 126, der die Vorstellung einer Translation auf Karl in der Kaiserchronik nicht verwirklicht sieht, nicht erkannt. Hellmann, S. 64 ff. u. 74 f. verweist zwar auf die große Bedeutung des riebe für die Kaiserchronik und auf die bewußte Annäherung von römischem Herrscher und germanischen Stämmen (insbesondere der Franken), vermeidet jedoch einen Rekurs auf die Transktionsidee.
Caesar und Karl der Große in der Kaiserchronik
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Anhand der Textzeugnisse ist deutlich geworden, daß die Caesar- wie die Karlsepisode innerhalb der Anlage des Werkes eine Art Scharnierfunktion erfüllen. Durch zwei entscheidende Elemente sind daher Anfang und Mittelpunkt des Werkes vom Verfasser miteinander in Verbindung gebracht worden. Einerseits präfiguriert der rex iustus Caesar in typologischem Sinne den rex cbristianus Karl, wie die Analyse der Textentsprechungen gezeigt hat. Darüber hinaus verweist die historisch nicht haltbare Herausstellung der Germanen, besonders aber der Franken, die mit den Römern gemeinsame Vorfahren teilen, als wichtige Helfer und Freunde Roms und seines Consuls auf die unter seinem Antitypus vollzogene translatio impeni. Hinter dieser Konzeption von Historie verbirgt sich die heilsgeschichtliche Auffassung von Vergangenheit und Zukunft, welcher der Regensburger Dichter konsequent gefolgt ist. Damit wird deutlich, daß der Dichter nicht einfach «daherfabelt»54, sondern einem Konzept folgt, welches das riebe als Träger historisch-eschatologischen Sinnes begreift. Mit den ihm zur Verfugung stehenden Mitteln der Exemplarik und der typologischen Anordnung von Figuren versucht er, Geschehnisse der Vergangenheit in den göttlichen ordo salutis zu integrieren, wobei er durch die beschriebene typologische Verflechtung Caesars und Karls an prominentester Stelle den im Prolog geäußerten Anspruch der Chronik, Reichsgeschichte heilsgeschichtlich zu deuten, unterstreicht55.
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Bertau (Anm. 4), S. 337. ss pür Wertvolle Hinweise bin ich Dr. O. Blanchard (Bielefeld) und Prof. DL J. M. Alonso-Nufiez (Madrid) zu Dank verpflichtet.
HANS BERNSDORFF Goethes erstes Venezianisches Epigramm und seine antiken Vorbilder* Das erste V(enezianische) E(pigramm) Goethes liegt in zwei gedruckten Fassungen vor. Die frühere entstammt der anonymen Veröffentlichung der VE in ScWletsMusen-A/Manacb für das Jahr 1796, erschienen im Dezember 1795 (FAI l,. 443): [i] Sarkophagen und Urnen verzierte der Heide mit Leben, Faunen tanzen umher, mit der Bacchantinnen Chor Machen sie bunte Reihe, wir sehen lebendig den Marmor; Flatternde Vögel! wie schmeckt herrlich dem Schnabel die Frucht! 5 Und so ziere denn auch den Sarkophagen des Dichters Diese Rolle, die er reichlich mit Leben geschmückt. Für die Publikation in den Neuen Schnften (1800) überarbeitete Goethe in Zusammenarbeit mit August Wilhelm Schlegel den Versbau der Epigramm-Sammlung, fügte ein Lobgedicht auf Herzog· Carl August hinzu und erweiterte einige der Stücke, darunter auch das erste
(FA I 2, 208): (2j Sarkophagen und Urnen verzierte der Heide mit Leben. Faunen tanzen umher, mit der Bacchantinnen Chor Machen sie bunte Reihe; der ziegengefüßete Pausback Zwingt den heiseren Ton wild aus dem schmetternden Hörn.
Aus Scandulae^ der ungedruckten Festschrift zum 65. Geburtstag von U. Schindel, Göttingen 2000. Ich danke A. Bartels, Chr. Bernsdorff-Engelbrecht, J. Bergemann, G J. Classen, K. Nickau und besonders K. Rahe für die Durchsicht früherer Versionen des Manuskripts. Folgende Literatur wird nur mit dem Autorenname oder dem angegebenen Sigel zitiert: Düntzer, H.: Goethes lyrische Gedichte, 3. Auflage Leipzig 1896-1898; FA = Goethe, J. W.: Sämtliche Werke: Briefe, Tagebücher und Gespräche, Frankfurter Ausgabe, Herausgegeben von H. Birus u. a., Frankfurt 1985 ff.; Fechner, J.-U: Die alten Leiden des jungen Werthers, Goethes Roman in petrarkistischer Sicht* Arcadia 17'(1982), 1-^15; FGE = Page,» D. L: Further Greek Epigrams, Cambridge 1981; Friedländer, R: Johannes von Gaza und Paulus Silentiarius, Kunstbeschreibungen justinianischer Zeit, Leipzig/Berlin 1912; GP = Gow, A. S. F./Page, D. L: The Greek Anthology, The Garland öf Philip, Cambridge 1968; Grümach, E.: Goethe und die Antike, Berlin 1949; Heller, H.J.: Die antiken Quellen von Goethes elegischen Dichtungen, Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik 88 (1863), 300-312; 351 -371; 401-426; 451 -471; 493-519; Koch, G./ Sichtermann, H.: Römische Sarkophage, München 1982; Matz, F.: Die dionysischen Sarkophage (= Die antiken Sarkophagreliefs 4), Berlin 1968-1975; MA = Goethe, J. W: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgäbe, Herausgegeben von K. Richter, München 1985-1998; NA = Schillers Werke, Nationalausgabe, Hrsg. von J. Petersen u.a. Weimar 1943 ff.; Ruppcrt, H.: Goethes Bibliothek, Weimar 1958; Schöne, A.: Götterzeichen, Jüebeszauber, Satanskult, Neue Einblicke in alte Goethetexte, 3. Auflage München 1993; Schwindt, J, P.: Werther und die
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s Cymbeln, Trommeln1 erklingen; wir sehen und hören den Marmor. Flatternde Vögel! wie schmeckt herrlich dem Schnabel die Frucht! Euch verscheuchet kein Lärm, noch weniger scheucht er den Amor, Der in dem bunten Gewühl erst sich der Fackel erfreut. So überwältiget Fülle den Tod; und die Asche da drinnen 10 Scheint, im stillen Bezirk, noch sich des Lebens zu freun. So umgebe denn spät den Sarkophagen des Dichters Diese Rolle, von ihm reichlich mit Leben geschmückt. Die antike Herkunft der wichtigsten formalen und inhaltlichen Elemente des Gedichts ist offenkundig. Goethe bewegt sich in einem aus dem Altertum übernommenen Metrum, dem elegischen Distichon, und der damit verbundenen Gattung, dem Epigramm. Dessen wichtigster antiker Vertreter, Martial, ist in den VE Goethes Hauptmodell. Unter den Indizien dafür2 sei angesichts des vorliegenden Gedichts nur das erste der beiden Mottos zitiert, die Goethe für die Publikation im Musen-Almanach wählte3: 13] Hominem pagina nostra sapit. Dieser aus Martial 10, 4, 10 stammende Versteil deutet bereits auf das Thema des ersten Epigramms, (Lebendigkeit) des bildnerischen und literarischen Kunstwerks4. Abgesehen davon, daß der Hauptgegenstand des Gedichtes, die figürlichen Verzierungen von römischen Sarkophagen und Urnen, ganz antik ist, sei noch darauf hingewiesen, daß sich auch im semantischen Detail antikisierende Tendenzen finden, so, wenn Goethe im letzen Vers von der Epigramm-Sammlung als diese[r] Rolle spricht5 oder wenn er in 5 Marmor - ganz in antiker Manier - metonymisch im Sinne von (Kunstwerk aus Marmor) verwendet6. Mein Hauptaugenmerk soll freilich auf dem gedanklichen Gehalt des Gedichtes liegen; dazu sei zunächst sein Aufbau kurz betrachtet: 1
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So der Text, den Goethe seit dem Abdruck in den Werken (1806) nicht mehr geändert hat, übernommen auch WA I l, 307. In der vom Sekretär Geist geschriebenen Handschrift H5, die als Vorlage für den Druck der Neuen Schriften (1800) und (unter Zusätzen Goethes und Riemers) für den Druck der Werke diente, sowie in den Neuen Schriften selbst findet sich die sinnlose Zusammenziehung Cymbelntrommeln (übernommen von Dewitz MA 3.2,123). Goethe meint die antiken Cymbala, zwei hohle Erzbecken, die zusammengeschlagen einen gellenden Ton erzeugten und schwerlich als Trommeln aufgefaßt werden können; mit Trommeln sind die antiken Tympana gemeint Vgl. B. Hederich: Gründliches mythologisches Lcxicon, Leipzig 1770, 521: «In seinem [d. h. des Bacchus] Gefolge hörete man Trommeln und Cymbeln, womit der Lärmen angezeiget wurde, den besoffene Leute machen.» Der Dichter führte wahrscheinlich eine Martialausgabe im Gepäck seiner Venedigreise mit (MA 3.2,487, mit Verweis auf eine Stelle im Brief an Herder vom 3. April 1790, FAII 3, 524, 19-20, wo Goethe auf den Maroahext [3] anspielt, den er später als Motto verwenden wird); im Vorsatzpapier und Innendeckel dieser Ausgabe notierte er Entwürfe zu den VE (Ruppert Nr. 1409, MA 3.2, 490). In einem Werkverzeichnis für den Grafen St. Leu nennt Goethe die VE Epigramme* Venitiens d'apres le sens de Martial (WA I 53, 209). Das zweite ist Hör. sät l, 4, 137-140. In den Neuen Schrißen entfallen die Mottos. In diesem Sinne Dewitz MA 3.2,495; in dem Epigramm Martials hat der Vers eine etwas andere Bedeutung: seine Dichtung erhebt den Anspruch, keine Fabelwesen, sondern Menschen darzustellen, und sei daher nützlich. Von den Kommentaren bereits vermerkt Vgl ThLL8, 409, 84-410,79 (Brandt): opus ex marmort faetum, z.B. Cic, S. Rose. 133 quid pictarum tabularum, quid signorum, quid marmons apud illum putatis esfe?
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Der erste Hexameter hebt mit Leben (durch Stellung am Versende besonders betont) allgemein hervor, was dem Dichter an den beschriebenen Kunstwerken besonders wichtig ist. In den Versen 2-8 werden dann Details geschildert, zunächst (2-5) das Treiben des dionysischen Gefolges, dann (6-7 a) Vögel, die Früchte fressen, und schließlich (7b-8) Amor mit seiner Fackel als Teil des Gedränges. Goethe gelingt es, die beiden letzteren, kleineren Szenen mit der dionysischen Anfangsszene zu verbinden, indem er sagt, weder die Vögel noch Amor würden durch den Lärm verscheucht. Hier ist natürlich die iri der antiken Ikonographie und Literatur weit verbreitete Vorstellung von Amor als einer Art Vogel impliziert7. Das Distichon in 9^-10 resümiert das bisher Gesagte und bezieht auch die sterblichen Überreste in die Betrachtungen ein. Dabei steht die Formulierung im stillen Bewirk* in paradoxer Spannung zu dem vermeintlichen Lärm^ den der (eigentlich stumme und tote) Marmor zuvor von sich gegeben hat. Bis Vers 10 war das Epigramm ganz auf die Beschreibung bildender Kunst konzentriert; erst aus dem Schlußdistichon wkd die Funktion des Stückes als Eröffnung eines Gedichtbuches deutlich: Die beschriebenen Verzierungen werden mit der Rolle des Dichters verglichen, die Leben enthält, auch wenn ihr Schöpfer längst tot ist. Das Schlüsselwort Leben wird dabei im letzten Vers ringkompositorisch aus dem ersten Vers aufgenommen, nachdem es schon der die Bildbeschreibüng resümierende Vers 10 wiederholt hatte. Für das Verfahren, gerade an so markanten Stellen wie dem Anfang oder Ende eines Werkes den Wunsch nach Dauer und Unsterblichkeit zu äußern, lassen sich reichlich antike Belege anführen. Auch der Vergleich der Poesie mit der bildenden Kunst ist in diesem Zusammenhang schon in der Antike topisch9. Gleiches gilt für die Betonung der Lebensechtheit, die Goethes Beschreibung der Sarkophag-Verzierungen so sehr bestimmt. Das Spiel mit der Illusion des Lebendigen im eigentlich leblosen Kunstwerk begegnet schon in der ersten antiken Bildekphrasis, der Schildbeschreibung im 18. Buch der Iliaslp, und bleibt für die Subgattung die gesamte Antike über bestimmend. Gerade auch diejenigen Epigramme, die Kunstwerken gewidmet sind, bieten dafür Beispiele11. Besonders beeindruckend sind zwei Sequenzen aus 30 bzw. 6 Epigrammen im 9. Buch der Antfologia Palatino, (713-742; 793-798)12, in der sich Dichter verschiedener Zeiten darin zu übertreffen versuchen, die Lebensechtheit der berühmten, uns freilich verlorenen Kuh des Bronzegießers Myron13 herauszustellen. Dabei kann, wie
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Vgl. J. D. Rced: Bion of Smyrna, The Fragments and The Adonis, Cambridge 1997, zu fr. 13, 4 Gow. Mit der Formulierung ... die Asche ...im stillen Beqrk knüpft Goethe wohl an die in Elegie und Epigramm der Antike begegnende Vorstellung von der stummen Asche des Toten an, ygl. Antipater von Sidon AP 7, 467, 8 = HE 539; Catull. 101, 4; Tib. 2, 6, 34; Prop. 2, l, 77. Als Beispiele seien nur angeführt Verg. georg. 3, l -48 oder das berühmte exqf monumtntttm ampennmus Horazens (carrn. 3, 30). Zu diesem Zug der homerischen Schildbeschreibung grundsätzlich Friedländer 2. Dazu ausfuhrlich M. Lausberg: Das Einzeldistichon, Studien zum antiken Epigramm, München 1982, 223-245. Im römischen Bereich vgl. Auson. epigr. 63-71 Green; die Epigr. Bob. 10-13 sind lateinische Übersetzungen von griechischen Anthologieepigrammen auf Myrons Kuh. Laut Tagebuch vom 26.12.1812 las Goethe diese Epigramme mit Riemer (Grumach 313), und 1818 veröffentlichte er eine Abhandlung, in der er die Gestalt der Bronzeplastik aus den literarischen Zeugnissen zu rekonstruieren versuchte (Grumach 515-518); zu weiteren Einzelheiten E. Beutler: Vom griechischen Epigramm im 18. Jahrhundert, Leipzig 1909,103 -104.
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bei Goethe, der Eindruck der akustischen Wahrnehmung auftauchen (Tullius Geminus AP 9, 740 = GP 2362-2365): [4] ή βάσις ή κατέχουσα το βοίδιον ήι πεπέδηται* ην δ' άφεθήι ταύτης, φεύξεται εις άγέλην. μυκαται γαρ ό χαλκός* ΐδ" ως Ιμπνουν ό τεχνίτας θήκατο* καν ζεύξηις άλλον, ίσως άρόσει. Das, was die Kuh festh lt, ist die Basis, an die sie gebunden ist. Wenn sie davon befreit wird, wird sie zur Herde fliehen. Denn es br llt das Erz: siehe, wie beseelt der K nstler sie schuf, und wenn du eine andere neben sie schirrst, wird sie vielleicht pfl gen. Oder es kann, dem Goethischen Schl sselwort Leben entsprechend, die ψυχή der Bronzeplastik hervorgehoben werden (Buenos AP 9, 717 = GP 2332-2333): [5] ή το δέρας χάλκειον όλον βοΐ τάιδ' επίκειται εκτοθεν ή ψυχάν ένδον ό χαλκός έχει. Entweder liegt dieser Kuh eine ganz eherne Haut von au en auf oder das Erz hat innen eine Seele. Hier taucht brigens derselbe metonymische Gebrauch <Stoff = daraus hergestellter Gegenstand) auf wie in Goethes Marmor ([1], 3; [2], 5). Dadurch wird der rein materielle Charakter des Kunstwerkes betont und die Paradoxie seiner Belebung verst rkt. Zweifellos gebraucht Goethe diesen Topos der Ekphrasis. Freilich l t sich dar ber hinaus zeigen, da er bei der konkreten Ausgestaltung in zwei der dargestellten Szenen, n mlich dem dionysischen Umzug und den fr chtefressenden V geln, auf zwei f r das Thema der Lebenswahrscheinlichkeit von Kunst zentrale Texte der Antike anspielt. In der j ngeren Version [2] ist die Schilderung des Thiasos erheblich erweitert: in [1], 2 hatte Goethe mit tanken umher nur die vermeintliche Bewegung der Figuren hervorgehoben14, in [2], 3 b—5 fugt er akustische Eindr cke hinzu. Entsprechend modifiziert er das Res mee in [2], 5 b wir sehen und h ren den Marmor, gegen ber der blasseren Formulierung in [1], 3b: wir sehen lebendig den Marmor. Die beiden akustischen Verben erklingen und h ren bekommen einen besonders starken Akzent dadurch, da sie vor bzw. nach den metrischen Haupteinschnitten in Vers 5 stehen: erklingen vor der syntaktisch gest tzten caesura κατά τρίτον τροχαΐον, h ren nach der bukolischen Dih rese. Die sp tere Fassung wirkt durch die Figur des hornblasenden Silen15 und die Aufz hlung der sonstigen Musikinstrumente anschaulicher. Dionysische Themen begegnen h ufig auf antiken Sarkophagen16, darunter auch der Thiasos. In diesem Zusammenhang tauchen nicht selten die typischen Musikinstrumente auf17. So spielen auf einem Sarkophag der Sammlung Maffei18, die Goethe auf seinen beiden Italienreisen besuchte19, Mitglieder eines Ariadne und Dionysos feiernden Thiasos 14 15 16 17
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... machen sie bunte Reihe ... (3) impliziert nicht notwendigerweise Bewegung. Zur Identifizierung der Figur vgL unten Anm. 31. Koch/Sichtermann 419-422, Matz passim. Vgl. z. B. Nr. 447 und 449 bei Koch/Sichtermann (zwei dionysische Sarkophage in Istanbul), beschrieben ebd. 419-420. Nr. 83 bei Matz. Tagebuch der Italienischen Reise f r Frau von Stein (1786), 16. September 1786, FA l 15, l, 644-646. Goethes Ausgabenbuch vermerkt f r den 26. M rz 1790 den Besuch des Aiuseo (= Sammlung Maffei); im Tagebuch beschreibt Goethe unter demselben Datum ein anderes dionysisches Objekt: Ingleichen ein runder
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neben Doppelflöte und Lyra auch die in [2], 5 erwähnten Tympana und Zimbeln. Es fehlen aber Hörn und früchtefressende Vögel. Ein Pan tritt zwar auf, doch ohne Instrument, so daß man im Epigramm nicht diesen konkreten Sarkophag beschrieben sehen dürfte - wie überhaupt die generelle Aussäge des ersten Verses dafür spricht, daß Goethe zwar Motive aus dionysischen Sarkophage-Reliefs vor Augen gehabt hatte, aber kein spezielles Objekt beschreiben wollte. Bei dem die akustischen Elemente des Thiasos beschreibenden Zusatz in [2], 3b-5a scheint Goethe durch ein bestimmtes literarisches Vorbild der Antike beeinflußt zu sein, nämlich eine Passage aus Catulls 64. Gedicht, dem Epyllion über die Hochzeit von Peleus und Thetis. Die Annahme einer Orientierung an antiken Mustern gerade an dieser Stelle des Epigramms ist nicht neu, sie wurde bereits 1863 von Heller vorgetragen, seither aber meines Wissens nicht mehr geäußert. Heller listete insgesamt fünf antike Parallelstellen auf, darunter auch die Passage aus CatulL 6420. Aber während Heller es unbestimmt läßt, ob einer der Texte Goethe stärker beeinflußt hat als die anderen - er spricht nur pauschal von «Stellen der Alten», die Goethe «beim Aufsetzen jener Beschreibung .., die Hand führten» ?· - glaube ich, wahrscheinlich machen zu können, daß die Verse aus Catull. 64 vor allem wegen ihres - von Heller nicht beachteten - weiteren Kontexts als Hauptmodell Goethes betrachtet werden dürfen. Ein detaillierter Nachweis scheint auch deswegen angebracht, weil Hellers Parallelensammlüngen zu Goethes elegischen Dichtungen vielfach wahllos wirken und daher im Verdacht stehe^ insgesamt von geringem Wert zu sein. Betrachten wir die Stellen, die Heller anführ t?2: Catull. 63, 21-26 (ein Kybelepriester spricht von den heiligen Hainen der Göttermutter in Phrygien): 16] ubi cymbalum sonat vox, ubi tympana reboant, tibicen ubi canit Phryx curvo grave calamo, ubi capita Maenades vi iaciunt hederigerae, ubi sacra sancta acutis ululatibus agitant, ubi suevit illa divae volitare'vaga cohors, quo nos decet citatis celerare tfipudiis. Catull. 64, 261 -264 (Bacchus und sein Thiasos nähern sich Atiadne, die am Strand von Naxos steht): [7] plangebant aliae proceris tympana palmis, aut tereti tenuis tinnitus aere ciebant; multis raucisonos efflabant cornua bombos barbaraque horrihili stridebat tibia cantu. Altar eine Art von Bacbanal aber sehr gemäßigt und sittlich, die Frauen bekleidet, anständig, ruhig, die Männer wild doch nicht unanständig (zitiert nach R. Steiger: Goethes Leben von Tag zu Tag, Zürich 1982-1996, 3, 70). Zu Goethes Besuch der Sammlung Maffej ausführlich G, Rodenwaldt: Goethes Besuch im Museum Maffeianum zu Verona, Berlin 1942. 20 Heller 498-499. 2 » Heller 498. 22 Die von Heller 499 zitierten Stellen aus Martial (3, 35. 40; 8, 50, 9-14) sind vom Goethetext so >veit entfernt, daß ich sie im folgenden vernachlässige.
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Prop. 3, 17, 33-36 (in einem Hymnus auf Bacchus): [8] mollia Dircaeae pulsabunt tympana Thebae, capripedes calamo Panes hiante canent, vertice turrigero iuxta dea magna Cybebe rundet ad Idaeos cymbala rauca choros. Gemeinsam ist diesen Stellen, daß sie unter Erwähnung des Katalogs typischer Instrumente das Gefolge des Bacchus oder der Kybele23 beschreiben. Über das von Heller Gesammelte hinaus lassen sich noch folgende andere Beispiele aus den römischen Dichtern der späten Republik und frühen Kaiserzeit finden24: Lucr. 2, 618-623 (vom ekstatischen Kult der Kybelepriester)25: [9] tympana tenta tonant palmis et cymbala circum concava, raucisonoque minantur cornua cantu et Phrygio stimulat numero cava tibia mentis, telaque praeportant violenti signa furoris ingratos animos atque impia pectora vulgi conterrere metu quae possint numini' divae. Ov. met. 3, 532 b—537 (Pentheus zu seinen Untertanen, die dem Bacchus folgen): [10]
aerane tantum aere repulsa valent et adunco tibia cornu et magicae fraudes, ut, quos non bellicus ensis, non tuba terruerit, non strictis agmina telis, femineae voces et mota insania vino obscenique greges et inania tympana vincant?
Ov. met. 4, 391—393 (kurz bevor die Minyastöchter von Bacchus in Fledermäuse verwandelt werden): lii] Tympana cum subito non apparentia raucis obstrepuere sonis et adunco tibia cornu tinnulaque aera sonant et olent murraeque crocique. Ov. met. 4, 28-30 (Bacchus wird angesprochen): [12] quacumque ingrederis, clamor iuvenalis et una femineae voces inpulsaque tympana palmis concavaque aera sonant longoque foramine buxus. 23
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Zur Vermischung der Bereiche beider Götter, wie sie sich im Auftauchen von Mänaden in [6] und der Mitwirkung Kybeles an der Verherrlichung des Bacchus in [8] zeigt, vgL F. Bömer: P. Ovidius Naso, Metamorphosen, Heidelberg 1969-1986, zu Ov. met 3, 532-533. Nicht berücksichtigt sind die zahlreichen Stellen, an denen nur Zimbeln und Tympana zusammen genannt werden, z. B. Ov. ars l, 537-538; fast. 4,183-184; Liv. 39, 8, 8, vgl. F. Bömer: P. Ovidius Naso, Die Fasten, Heidelberg 1957-1958, zu Ov. fest. 5, 441. Grumach 390 sieht in Priap. 26, 3-4 ein mögliches Vorbild für VE 1: die Zirkustänzerin Quintia weiht Priap ihre Musikinstrumente, unter denen von den in [2] erwähnten freilich nur Zimbeln und Tympana auftauchen; zudem liegt kein dionysischer Zusammenhang vor. Diese Stelle diente Catull wohl als Vorbild für [7], vgj. J. Godwin: Catullus: Poems 61-68, Warminster 1995, zu Catull. 64, 263-264.
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. fast; 4, 211-214 (bei der Aitiologie der Korybanten und Kuretenmusik): [13l res latuit, priscique manent imitamina facti: aera deae comites raucaque terga movent. Cymbala pro galeis, pro scutis tyrnpana pulsant tibia dat Phrygios, ut dedit ante, modos. Diese SteUensammlung zeigt, daß der Katalog bestimmter Instrumente bei der Schilderung des Bacchus- und Kybelegefolges topischen Charakter besitzt. Um ausschließen zu können, daß Goethe nicht bloß diesen Topos allgemein variiert, ohne eine bestimmte Textstelle vor Augen zu haben, muß gefragt werden, ob zu einer oder mehrerer dieser Passagen wörtliche Anklänge über die Instrumentennamen hinaus bestehen. Hier fallt zunächst die Verwendung von raucus oder raudsonus in [7], [8], [9], [11] und [13] auf, die an den Gebrauch von haser im Goethetext erinnert. Diese Berührung scheint mir deshalb besonders auf eine literarische Beeinflussung hinzudeuten, weil die Charakterisierung nicht zu dem schmetternden Hörn paßt26. Hier einen Rückgriff auf die in der römischen Dichtling übliche27 Anwendung von raucus auf cornua zu sehen, liegt also von vornherein nahe28. Unter den angeführten Passagen sind [7] und [9] besonders nahe am Goethetext, weil sie raudsonus gebrauchen29, was eine enge Parallele zu Goethes Junktur heiseren Ton darstellt30. [11] verbindet zwar auch rauds ... sotiis, doch sind die Bezugswörter über zwei Zeilen gesperrt und betreffen dort nicht die Hprner, sondern die Tympana. Eine weitere enge Parallele besteht zwischen capnpedes ... Panes in [8] und dem ^jegengefußeten Pausback in [2], 3, obwohl Goethe damit eher Silen als Pan meinen dürfte31. Im Falle von [7] läßt sich die Abhängigkeit freilich noch wahrscheinlicher machen. Nur hier unter den angeführten Parallelen 26 27 28
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Schon vermerkt von Heller 499. ThLL 4, 967, 66-81 (Lampertz) zitiert Lucü. 605 Marx; Verg. Aen. 7, 615; 8, 2; Prop. 3, 3, 41; Lucan. l, 238; Val. R 6, 92; Sii. 12, 183; Claud. 5, 58. Vgl. dagegen Düntzer 8, 43, Anm. * zu unserem Text: «Bestimmte Dichterstellen schweben nicht vor, sondern Kunstdarstellungen. Selbst bei dem h ei s er n Ton hat man nicht an den Gebrauch des lateinischen raucus vom Tone des Horns zu denken. Silen hat sich wirklich heiser geblasen.» Aber der heisere[ri\ Ton ist doch zweifellos der mit dem Hörn hervorgebrachte. Das Adjektiv begegnet sonst nur noch Lucr. 5, 1084 (Vögel); CEL 273, 6 (Moesia superior, 2. Jhd. n. Chr., vom Wasser); Prud. cath. 4, 38 (Löwen). Raums in Verbindung mit sonns oder neben sonore: Enn. ann. 486 Skutsch, von der Kriegstrompete; Ov. ars 3, 289 und met. 4, 392-393 (= [11]) von Tympana; nicht von Musik: Ov. fast, l, 560; Prop. 4, 8,49; Sü. 4, 657; 5, 63; Stat. Theb. 4, 808; Verg. Aen. 9,124125; 9, 458. Von Heller 499 für [7] vermerkt. Die Parallele wird vermerkt von Heller ebd.; das Adjektiv bei zentralen Autoren sonst noch Lucr. 4, 580 und Hör. carm. 2, 19, 4 (von Satyrn, vgl. dazu unten diese Anm.); (Hom. h. 19, 2. 37, von Pan), von Pan mehrmals in der AP, z. B. <Sirnonides> AP 16, 232, l = FGE 700. Im weiteren Kontext einiger dieser Belegstellen taucht zwar das musikalische Element auf, doch finden sich nicht so enge Berührungen zu Goethe wie in [7]. In [2], 3 Silen beschrieben zu sehen, legt die Schilderung des Bacchanals am Ende des dritten Aktes von Faust II nahe: Goethe spricht hier (10032) von männlichen und weiblichen Satyrn als Ziegtnßßlern und Ziegenßßlerinnen (als Parallele vermerkt von G. v. Loeper: Goethe's Werke, Erster Band, Gedichte, Erster Teil, Zweite Ausgabe, Berlin 1882,439). Die ursprünglich pferdefußig vorgestellten Satyrn und Silene können durch die im Hellenismus stattfindende Angleichung an Pan auch Ziegenföße erhalten, vgl. Lucr. 4, 580 und Hör. carm. 2, 19,4, mit R. Nisbet/M. Hubbard: A Commentary on Horace: Ödes, Book II, Oxford 1978, z, St. Im siebten Stück von Wilhelm Tischbeins Idyllen (1827) umschreibt Goethe Faunus kühn als die yegenßßigen Obren (FAI 2, 519, 67). Das beschriebene Bild stellt aber kein Bacchanal, sondern den Gott mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn dar.
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begegnet die Vorstellung, daß die Hörner die Töne herausblasen, was der Goethischen Formulierung aus dem schmetternden Hörn ähnelt. Vor allem aber muß berücksichtigt werden, daß nur im Kontext von [7] dieselbe literarische Form wie bei Goethe vorliegt: die Ekphrasis eines Kunstwerkes32. Mehr als das: Catull hebt wie Goethe in radikaler Weise das akustische Element in seiner Bildbeschreibung hervor. Dies gelingt ihm vor allem dadurch, daß [7] die Ekphrasis abschließt, sie im wahrsten Sinne läßt. Die Paradoxie der Passage verstärkt er durch die unmittelbar anschließende Überleitung zur Haupthandlung in den Versen 265-266, die den visuellen Charakter der Ekphrasis wieder zu Bewußtsein bringen (Catull. 64, 265-268): [14] talibus amplifice vestis decorata figuris pulvinar complexa suo velabat amictu. quae postquam cupide spectando Thessala pubes expleta est, sanctis coepit decedere divis. Wenn sich auch andere antike Kunstwerksbeschreibungen akustischer .Elemente bedienen33, so insistiert, soweit ich sehe, doch keine so sehr darauf wie diese Catullstelle34. Sie ist der antike locus classicus für dieses Verfahren, was neben den inhaltlichen und sprachlichen Übereinstimmungen eine Modellfunktion für das erste VE nahelegt. Es bleibt noch zu überprüfen, wie gut Goethe Catulls Poesie kannte und ob er sie auch sonst imitierte: Eine Tagebucheintragung von 1770, in der Goethe Rammlers Ode an Hymen als offenbaare Nachahmung des Catullischen Epithalamii bezeichnet, bezeugt Vertrautheit mit carmina maiora Catulls schon für die Straßburger Zeit35. Im Katalog seiner Bibliothek sind vier Ausgaben bzw. Übersetzungen catullischer Werke verzeichnet, unter denen zwei in unserem Zusammenhang besondere Hervorhebung verdienen: die separate Übertragung des 64. Gedicht von Johannes Gottfried Gurlitt, Leipzig 1787, am 8. 7.1789 in Weimar gekauft36, und Georg David Koelers Sammlung ausgewählter Poesien aus den alten lateinischen Dichtern ßr Gymnasien //. Akademien. Tb. 1, welcher enthält Catulls Epithalamium des Peleus und der Thetis, Lemgo 178837. Goethes Kenntnis von Catull. 3, dem Trauergedicht auf Lesbias passer, ist durch eine Rezension aus dem Jahre 1773 bezeugt38. In den erst posthum publizierten, da stark 32
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Nicht die gesamte Ariadne und Theseus gewidmete Einlage ist eine Bildbeschreibung, [7] gehört freilich in den Schlußteil, in dem Catull mit 249—250 nach einer in 71 einsetzenden gewaltigen Abschweifung zum Bildmoriv zurückgekehrt ist; auch die Ortsangabe at parte ex alia (251) legt wieder eine bildliche Darstellung nahe, vgl. Friedländer 17. Man denke an die Erwähnung, des Hochzeitsgesangs und des Linos-Uedes in der Schildbeschreibung der Ilias ( 493-495 und 569-571). Das gewählte, nur an dieser Stelle belegte Adjektivfluentisonuszu Beginn der Gewebebeschreibung (Vers 52) wirkt programmatisch, weil es das visuelle und das akustische Element in einem Wort vereinigt (A. Laiid: Sounding out Ecphrasis: Art and Text in Catulius 64, JRS 83, 1993, 18-30, hier 21). Die besonders kühne Gestaltung von Bewegung und Akustik in der Thiasosdarsteüung Catulls hebt auch Friedländer 16 hervor. Grumach 352, Ruppert Kr. 1367. Ruppert Kr. 1368. Grumach 353. Ob Werthers Brief über Lottes Kanarienvogel (12. September 1772, FA l 8,167,10-169, 2) von dem mit Catuli 3 eng verbundenen c. 2 angeregt ist (vgl. R. Heine: Einführung, in: R, H. (Hrsg.): Catull, Wege der Forschung.308, Darmstadt 1975, 10, Anm. 33 und - ohne Kenntnis von Heines Beobachtung - neuerdings Schwindt 297-298), läßt sich nicht sicher ausmachen: Goethe hat das be-
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erotischen Stücken der Römischen Elegien begegnet die schöne Aufnahme von Catull. 6, 10b-ll ' :[i5j
tremulique quassa lecti argutatio inambulatioque
in (FA 11, 394) (i6j Uns ergötzen die Freuden des echten nacfeeten Amors Und des geschaukelten Betts lieblicher knarrender Ton3?. Auch in den VE spielt Catull neben dem Hauptmodell Martial eine wichtige Rolle. Das Widmungsgedicht, mit dem er 1790 eine handschriftliche Auswahl der Epigramme für die Herzogin Anna Amälia versah, ist vom Widmungsgedicht der catullischen Sammlung beeinflußt (FA l l, 468): [17] Sagt, wem geh* ich dies Büchlein? Der Fürstin die mirs gegeben, Die uns Italien noch jetzt in Germanien schafft.40 Als Motto für den zweiten Teil der Epigramme wählte Goethe 1790 in einer eigenhändigen Sammelhandschrift:41 Catull. 55, 18 - 20. Im Text der Epigramme selbst zeigt das 85. Stück eine deutliche CatuHreminiszenz, indem es das berühmte odi et amo-Disuchon aufnimmt, das in der catuljischen Sammlung ebenfalls die Nummer 85 trägt (FA I l, 460): [18] Liebe flößest du ein und Begier, ich fühl es und brenne, Liebenswürdige, nun flöße Vertrauen mir ein42. Besonders wichtig angesichts der von mir angenommenen Benutzung des Peleus-Epyllions ist, daß Goethe das Motiv des durch die Schwangerschaft geschwollenen Halses (VE 101)
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rühmte Gedicht sicherlich gekannt, doch zeigt der Werther-Text keine wörtlichen .Berührungen. Auch von der in Catull. 2 so auffälligen Täuschung der Lesererwartung (Catull will nicht der Vogel werden, sondern wie Lesbia mit dem Vogel spielen, vgl. R. Heine: Zum 2. und 17. Gedicht Catulls, Gymnasium 74, 1967, 315-321, hier 320), findet sich bei Goethe keine Spur. Auf die petrarkisüsche Tradition des durch den Kanarienvogel ermöglichten indirekten Kusses verweist Fcchner 10. Hinweis von weinreich 94, Anm, 2. Daß die 1767 entstandenen Gedichte Hofh^eifslied und die erste der Oden an meinen Freund Einflüsse von Catulls Epithalamia (61 und 62) zeigen (so E. Maaß: Die
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wohl in Catull. 64, 377 gefunden hat43. Der Überblick zeigt: Catulls Gedichte, auch sein 64., waren Goethe vertraut und dienten ihm nicht selten als poetisches Modell, auch in den VE. Das zweite Motiv, durch das Goethe in [2] die Lebensnähe des Kunstwerkes hervorhebt, sind die in den Versen 6-7a beschriebenen Vögel. Auch diese Szene hat gegenüber der ersten Fassung durch Einfuhrung des akustischen Elements eine entscheidende Modifikation erfahren, auf die ich gleich noch genauer eingehen werde. Zunächst sei darauf hingewiesen, daß auch das Motiv der Zeilen 6 — 7 a sich durchaus auf römischen Sarkophagen findet. Koch/Sichtermann (219) verweisen auf Jahreszeitendarstellungen, die in der Regel zwei aus verschieden gefüllten Krateren oder Körben fressende Vögel zeigen. Dabei symbolisieren Kornähren den Sommer, Trauben den Herbst; an letztere ist wegen des dionysischen Inhalts der vorangegangenen Verse sicherlich auch bei der FruchtIn [2], 6 gedacht. Aber auch hier möchte ich einen literarischen Hintergrund in Betracht ziehen. Es handelt sich um die Anekdote über den griechischen Maler Zeuxis, die Plinius der Ältere im 35. Buch seiner naturalis historia erzählt. Zunächst erwähnt Plinius einen Malwettbewerb zwischen Zeuxis und Parrhasios. Jener habe Trauben so naturgetreu gemalt, daß Vögel davon angelockt wurden. Parrhasios dagegen vermochte einen Vorhang so wirklichkeitsnah darzustellen, daß selbst sein mit allen Wassern gewaschener Malerkollege Zeuxis sich täuschen ließ und forderte, man solle endlich den Vorhang vom Bild des Parrhasios ziehen. Als er den Irrtum bemerkte, gesteht Zeuxis seinem Gegner den Sieg zu. Dann heißt es (Plin. nat. hist, 35, 66): (19] fertur etpostea Zeuxispinxisse puerum uvas ferentem; ad quas cum advolassent aves, eadem ingenultate processit iratus operi et dixtt
Goethe zitiert diese Geschichte in der theoretischen Schrift Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerks von 179744. Aber auch ohne dieses Zeugnis könnte man sicher sein, daß 43
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E. A. Schmidt: Catull, Heidelberg 1985, 26. Ich erwäge, ob auch die 1796 entstandene Elegie Alexis und Dora unter dem Einfluß von Catull. 64 steht. An beiden Gedichten heben die Interpreten den proömienlosen Anfang hervor (z. B. W. Kroll: C. Valerius CatuHus, 6. Auflage Stuttgart 1980 [1. Auflage Leipzig 1923], zu Catull. 64, 1; zu Goethe Schöne 70), der hier wie dort die Fahrt eines Schiffes schildert. Dabei sind auch motivische Berührungen im Detail zu verzeichnen: (von der Argo) rostro ventosttm prosddit aequor (12) ~ (vom Schiff des Alexis) Lange Furchen hinter sich gehend (3), so daß die gleiche - freilich topische — Übertragung aus dem landwirtschaftlichen Bereich vorliegt (zu prosandere = vgl. OLD s. v., 1); spumis incanuit unda ... candenti egurgite (13—14) ~ Durch die schaumende Flut (2). Im weiteren Verlauf der Gedichte wird, vecbunden mit der Abfahrt eines Schiffes, die Trennung eines Paares beschrieben, bei Catuü freilich erst im Ariadne-Teil. Dabei spielt in beiden Gedichten das Nachblicken eine Rolle: (von Ariadne) prospidi ... prospicit (6\-62),prospectans (249) ~ Auch du [sc. Dora] blickest vergebens nach mir [sc. Alexis]. In beiden Gedichten nimmt der Klagemonolog eines der voneinander getrennten Partner eine zentrale Stellung ein (Catull. 64, 132-201 Ariadne, bei Goethe ab Vers 11 Alexis). Weitere motivische Berührungen, die für sich betrachtet allerdings vage bleiben: Myrte (Catull. 64, 89, bei Goethe Vers 84); der um den Hals gelegte Faden als Schwangerschaftstest (Catull. 64,377) ähnelt der Kette, die Alexis 117 — 118 Dora neunmal um den Hals winden will (zur Schwangerschaftssymbolik an dieser Stelle vgl. Schöne 79 und 250); schließlich taucht auch bei Goethe der erotische Meineid auf (149, in der Formulierung freilich näher an [Tib.] 3, 6, 49—50 und Ov. ars l, 633 — 634, Hinweis von Düntzer 7, 168, Anm. *), den die catullische Ariadne Thescus zum Vorwurf macht (64, 132.133 u. ö.). Zum möglichen Einfluß von Ov. epist. 2 auf AJexü und Dora vgl. W, Richter: Alexis und Dora, Phyllis und Demophoon, Jahrbuch der GoetheTGesellschaft 5, 1918,99-107. Grumach 649.
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der Dichter die berühmte Anekdote kannte. Daß er darauf in VE l anspielt, scheint mir deswegen nahezuliegen, weil die Pliniusstelle ein locus clasncus für das Ideal der wirklichkeitstreuen Kunst ist, also das Thema, das das gesamte Epigramm.behandelt Freilich modifiziert Goethe die Vorlage — sagt er doch nicht, daß auf den Sarkophagen die Früchte so naturgetreu dargestellt sind, daß wirkliche Vögel heranfliegen und die Trauben fressen wollen. Vielmehr werden die Vögel, die in der Zeuxis-Anekdote Zeugen für die naturgetreue Darstellung wären, zum Teil der Darstellung. Die Rolle der Vögel, die sich von der Naturtreue des Kunstwerkes täuschen lassen, übernimmt bei Goethe der Sprecher des Gedichts, der das Kunstwerk betrachtet. Stilistisch hervorgehoben wird diese Täuschung durch die Apostrophe an die Vögel, die sie als lebende Wesen behandelt45. Bemerkenswert ist, daß in [2], 7 die Apostrophe durch die Setzung von Euch (das noch dazu am Versanfang steht) viel stärker hervortritt als in [1], 4, wo sie nur im Vokativ flatternde Vogel besteht, der hier freilich auch als Ausruf verstanden werden könnte. An diesem Detail zeigt sich also wieder das Bemühen Goethes, in [2] das Paradox des lebendigen Kunstwerks noch eindrücklicher darzustellen. Goethe schildert also als Teil eines Kunstwerkes eine Szene, die durch die Tradition als Musterbeispiel'für die illusionierende Wirkung von Kunst gilt. Die Szene spiegelt damit das Kunsterleben, das der Betrachter angesichts der Sarkophage hat. Diese Spiegelung gelingt allerdings nicht aufgrund des bloßen Inhalts lichkeitsnähe des Thiasos in Frage. Auf diese Weise unterwandert Goethe (freilich nur in [2]) den das übrige Epigramm bestimmenden Optimismus hinsichtlich der Wirklichkeitsnahe der Kunst und den daran gekoppelten Glauben an die Überwindung des Todes in der Kunst. Damit wäre nicht bloß die Funktion einer weiteren Antikeäreminiszenz erkannt und eine erhebliche gedankliche Erweiterung gegenüber der ersten Fassung herausgestellt. Vielmehr wird deutlich, daß der in dem nachgelassenen Xenion Die .Basreliefs (1796) gezeigte
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Auch Catull wendet dieses Mittel in der Ekphrasis des 64. Gedichts an (w. 69 und 253), vgl. auch Keats' Ode oa 0 Grecian Urn, passim.
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Pessimismus nicht in reinem Widerspruch zu [2] steht, wie in der Forschung gelegentlich behauptet wird46, sondern auch dort angedeutet ist (FAI l, 560): [20] Seht, was versucht nicht der Mensch, mit dem Tod zu versöhnen das Leben, Nimmer gelingt's — ach sie sind schrecklich und ewig getrennt. Es war wohl der scheinbare Gegensatz zu [2], der die Kommentatoren bislang zu der Annahme führte, das Xenion stamme von Schiller47. Trifft die hier vorgeschlagene GoetheInterpretation zu, muß diese Zuschreibung neu überdacht werden.
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VgJ. z. ß. Dewitz MA 3.2, 495: «Dagegenzuhalten aber das nachgelassene Xeniom Die Basreliefs ...». Kurscheidt/Oellers, NA 2 II A, 360: wahrscheinlich von Schiller»; Eibl FA I l, 1182 «von Schiller». Sichere Anhaltspunkte für eine Zuschreibung (Handschriftenbefund oder Briefzeugnisse, vgl. NA 2 11 A, 341) liegen für dieses Epigramm nicht vor.
WERNER SCHUBERT
Trimalchio ad sywpboniam allatus Petrons Satynca und Bruno Madernas Oper Satyncon Hubert Petersmann zum 60. Geburtstag! Trimalchio, der neureiche Gastgeber in Petrons Romanfragment Satyrica, hatte die Musik buchstäblich zum Fressen gern. Er ließ nicht nur die einzelnen Gänge seiner gigantischen Cena, sondern auch sich selbst unter Instrumentalklängen ins Triclinium tragen1, worauf das Zitat (32.1) verweist, das den Titel der vorliegenden Studie bildet. Allerdings wurde diese seine Liebe, wenn man die Musikgeschichte durchmustert, nicht gerade heißhungrig erwidert2. Wenn man in Joachim Draheims Standardwerk zu Vertonungen antiker Texte vom Barock bis zur Gegenwart3 blickt, das 1981 in Amsterdam erschien, findet man.unter dem Stichwort Petron nicht mehr als fünf Werke verzeichnet4.
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32.1; 33.4; 43.1; 36.1; 41.6; 47.7; 52.9; 53,13; 64.5; 73.3; 78.5. Es gibt bis weit ins 20. Jh. hinein keine Komposition, die sich die Handlung bzw. Handlungsteile der Satyrica Petrons zum Sujet gewählt 'hätte. Dass dafür der Stoff zu episch, zu disparat, zu fragmentarisch sei, ist kein hinreichender Grund. Homers Odyssee, Apollonios Rhodios' Argonautika und Vergib Ätnas wurden bereits im 17. Jh. als Fundus für Opernstoffe herangezogen: Giacomo Badoano hat Homers Odyssee zur Grundlage für Claudio Monteverdis 1641 uraufgefiihrte Oper // ritorrio d'Ulisse inpatna gemacht; Giäcinto Andrea Gicognini (1606-1650) hat Apollonios Rhodios'Argonautika zu einem musikalischen Drama mit dem Titel Giasone umgestaltet, das von Francesco Cavalli (1602—1676) als Oper auf die Bühne gebracht wurde; Henry Purcell (1659-1695) machte Vergils Ätnas zum Ausgangspunkt seiner Oper Dfdo andAemas (1689), ebenso Hector Berlioz für seine Oper Les Troyens (1855-58). Weitere auf Vergü rußende Kompositionen sind J. Novak: Dido (1967), G. F. Malipiero: VergtlnAeneis (1944). Ungeachtet dessen spielen die antiken Romane in der Musik der, Neuzeit lange Zeit keine Rolle - was, worauf mich H, Krasser brieflich aufmerksam macht, auch damit zusammenhängt, dass in der Bevorzugung heroisch-epischer und mythologischer Stoffe bis zum 18. Jh. der humanistische Kanon der Renaissance nachwirkt. Aus dem 20. Jh. stammt G. F. Malipieros L'asino d'oro nach Apuleius (1959). Malipiero war übrigens einer der Lehrer Madernas. Neuzeitliche Romane oder Erzählungen wurden als Fundus für Operkomponisten seit Ende des 19 Jh. zunehmend interessanter. Einige Beispiele: J. Massenet: Werther (J. W von Goethe) 1892. P. Hindemith: Cardillac (E. T. A. Hoffmann: Das Fräulein von Scuderi) 1926. H. Kaminski: Jürg Jenatscb (C. F. Meyer) 1929. LJanäcek: Aus einem Toienfraus (F. Dostojewski) 1930. L. Dällapiccola: Nachtflug (A. de Saint-Exupery) 1940. S. Prökofieff: Krieg und Frieden (Tolstoi) 1946. H. Sutermeister: Raskolmkow (F. Dostojewski) 1948. K. A. Hartmann: Simplicius Simplicimmus (H. J. Chr. von Grimmeishausen) 1948. G. von Einem: Der Prosyss (F. Kafka) 1.953. U Zimmermann: Levtns Mühle (J. Bobrowski) 1973. M, Niehaus: Tartann von Tarascon (A. Daudet) 1977. 3 J. Draheim: Vertonungen antiker Texte vom Barock bis ig/r Gegetwart (mit einer Bibliographie der Vertonungen für den Zeitraum vom 1700 bis 1978). Amsterdam 1981. 4 Es handelt sich dabei um folgende Werke: 1. M. Ravel (1875-1937): D'Anne. qm nie jecta de la neige [1898] (nach Petron, fr. 60 [Stellenangaben jeweils nach der Ausgabe von Alfred Ernout, Paris 1922] in der Übersetzung von Cl. Marot) 2. Louis Durey (1888-1979): Troispoemes de Petrone [1918] (nach Petron, fr. 60.2, Sät. 79.3, fr. 33)
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Drei Dinge fallen dort auf: 1. Bei den Textvorlagen zu diesen kleinformatigen Kompositionen handelt es sich fast durchweg um poetische Fragmente. 2. Die meisten dieser poetischen Fragmente sind so beschaffen, dass sie nicht in die bei Petron erkennbare bzw. rekonstruierbare Handlung eingeordnet werden können. 3. Petron hat erst seit der Wende vom 19. zum 20. Jh. musikalisches Interesse gefunden, und dort nicht unbedingt bei den prominentesten Vertretern der neueren Musikgeschichte - abgesehen von Maurice Ravel, dessen Vertonung unter dem Titel «Deux epigrammes de Clement Marot» die Provenienz des ersten Epigramms von Petron gar nicht erkennen lässt. Fazit: Für diejenigen, die Petrons Satyrica als neuen Textfundus entdeckten, war die Handlung bzw. waren die einzelnen Handlungsphasen oder auch die eingelegten Erzählungen der Satynca uninteressant. Die Wahl vornehmlich poetischer Fragmente ist wohl als eine Erweiterung des Fundus dichterischer Vorlagen aus einem vergleichsweise exotischen Bereich zu verstehen, wodurch sich eher unbekannte Komponisten in die Rezeptionsgeschichte hineinkomponierten. Die mehr oder weniger selbständigen narratorischen Einheiten wie die Cena Tnmalckionis oder die Geschichte der Witwe von Ephesus5, die literarische Wirkung gezeitigt haben6, sowohl in direkter Adaptation stofflicher Art als auch in intertextuellen Verweisen auf Petron, scheinen zumindest bis zu den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts niemanden zur musikalischen Aneignung gereizt zu haben. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg ändert sich das Bild: 1954 wurde die Oper Die Witwe von Ephesus des Stuttgarter Komponisten Hermann Reutter uraufgeführt7. Hermann Reutter, geb. 1900, gest. 1985, orientiert sich vom Plot her eng an Petron, setzt jedoch weder den lateinischen Originaltext noch eine Übersetzung musikalisch um, sondern ver-
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3. Jan Kapr (geb. 1914): 3 Songs aus Contraria Romana [1972] (nach Petron, fr. 40.3, fr. 55.8, Sät. 80.9,1 4) 4. Karl Heinz Füssl (geb. 1924): Lecto compositus [1976] (nach Petron, fr. 38) 5. Tom de Kruyf (geb. 1937): 4 Stücke aus Guttäte [1977] (nach Petron, fr. 35, fr. 30, fr. 49, fr. 29) Diese liste ist mittlerweile zu ergänzen um Antal Ribary (geb. 1924): Sechs Zeilen aus Petron (aus den letzten Worten des Eumolpus) sowie um zwei weitere, wesentlich größerformatige Werke, Hermann Reutters Oper Die Witwe von Ephesus und Bruno Madernas Satyricon, das im Zentrum dieser Studie stehen soll. Über die Wanderung der Novelle von der Witwe von Ephesos durch die Weltliteratur geben der Überblick bei E. Frenzel (Stoffe der Weltliteratur^ 7. verb. u. erw. Auflage, Stuttgart 1988, 795-798) und diverse Einzelstudien Aufschluss: E. Grisebach: Die Wanderung der Novelle von der treulosen Witwe durch die Weltliteratur, 1886; A. Scobie: Some folktales in Graeco-roman and far eastern sources. In: Philologus 121, 1977, 1-23; GW. Müller: Die Witwe von Ephesus. Petrons Novelle und die Milesiaka des Aristeides. In: A&A 26,1980, 103-121; F. Bömcr: Die Witwe von Ephesus. Petron 111,1 ff. und die 877. in Tausendundeiner Nacht. In: Gymnasium 93, 1986, 138-140; G. Huber: Das Motiv der «Witwe von Epbesus» in lateinischen Texten der Antike und des Mittelalten. Tübingen 1990. Vgl. etwa Henryk Sienkiewicz: Quo vadis? Warschau 1896. Joris-Karl Huysman: A rebours. Paris 1884. Oscar Wilde: The picture of Dorian Cray. London 1891. James Joyce: Ulysses. London 1922. Francis Scott Fitzgerald: The Great Gatsby. New York 1925 (ursprünglich geplanter Titel: Trimalchio at West Egg). Christian Morgenstern: Das Mittagsmahl. In: Die Schallmühle. Grotesken und Parodien, hg. von M. Morgenstern, München 1928. Zweite, reduzierte Fassung, Schwetzingen 1966.
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wendet eine Dichtung von Ludwig Andersen, die die typischen Kriterien eines Opernlibrettos mit Solo-, Ensemble- und Chorsätzen erfüllt8. Petrons Satyma spukten Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre auch einem Italiener im Kopf herum, der ein Hörspiel oder eine musikalische Revue daraus machen wollte und dieses Konzept zum Teil auch ausarbeitete. Er nahm von diesem Plan wieder Abstand; doch Ende der sechziger jähre setzte er ihn in dasjenige Medium um, in dem er mit seinen Werken Geschichte geschrieben hat. Die Rede ist von Federico Fellini, der 1969 seinen Film Fellinis Satyricon präsentierte. Von dem ursprünglichen Revue-Plan ist darin weder filmisch noch musikalisch etwas geblieben9. Insofern erscheint das Werk eines anderen Italieners fast als Komplement oder Pendant zu diesem Film10: die Oper Satyripon des Komponisten und Dirigenten Bruno Maderna, uraufgeführt 1973 in Scheveningen11. Diese Oper stellt - soweit ich sehe - die erste und bislang einzige Auseinandersetzung mit Petrons Roman dar, die sich nicht auf die Übernahme einzelner in diesem Corpus gebotenen Gedichte oder eines in einen größeren Zu^ sammenhang eingebetteten, aber, von der Handlung her isolierbaren Stoffes beschränkt und die man zugleich als eine musikalische Umsetzung der spezifischen literarischen Technik Petrons verstehen kann. Der Text zu dieser Oper ist aus unterschiedlichen Teilen der Satynca Petcons zusammengesetzt; doch lassen sich die musikalischen Sektionen zu einer freien Adaptation der sogenannten Cena Tnmalcbionis zusammenfügen, aus der sechs von zehn Passsagen stammen. Es handelt sich im einzelnen um folgende-Textstelien: 37.2-38.6; 47.2-6; 55.3; 71; 74.13^-16; 75.8-76.8; 111-112; 119.1-6; 126.1-7; 137.9. Im Anhang finden sich die Nummern dieser Oper, die zugrunde liegenden Textabschnitte aus Petron sowie die Sprachen, in denen die Texte gesungen werden. In dieser Textauswahl steht keine eigentliche Handlung 8
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Diese Oper ist musikalisch und dramaturgisch vergleichsweise konventionell: Die Witwe ist ein dramatischer Sopran, die Sklavin eine Koloratursoubrette; -neben dem für die Geschichte notwendigen Soldaten treten noch ein Bürgermeister, vier Freundinnen und zwei Schmarotzer auf, Sie steht insgesamt in der Tradition der heiteren Opern nach literarischen Vorlagen, die sich - wie die Literaturoper überhaupt vor allem im 20. Jh. zu entwickeln-begann. Beispiele dafür: Walter Braunfels: Die P%i/(nach Aristophanes, 1920); Viktor UUmann: Der %erbrochne Krug (nach H. von Kleist, 1942); Werner Egk: Der Revisor (nach Gogol, 1952). Die Musik zu diesem Film, die wie immer bei Fellini von Nino ,Rpta stammt, verzichtet im Gegenteil vollständig auf Elemente der Unterhaltungsmusik, die gerade fiir Rotas Fellini-Filmmusiken typisch sind. Rota hat keinen «Soundtrack» im herkömmlichen Sinn geschaffen; es gjbt keine «Melodien», wenn man von Gitons sehr kurzem Lied an Bord des Schiffes von Lichas aissieht, sondern nur klangliche Grundierung und Pointierung, vornehmlich mit exotischen Instrumenten - vgl. dazu A. Sütterlin: Petronius Arbiter und Federico Fellini. Ein strukturanalytischer Vergleich. Frankfurt etc. 1996, 211 ff. -, die dadurch die antike Welt evozieren sollen: ein Verfahren, für das Carl Orff sowohl in seiner Antigonae als auch in seinem Prometheus ein Muster geboten hatte; dazu W Thomas: Der Prometheus des Aischylos in der Deutung Carl Orffs. Drei Miszellen. I: Die Musikalisierung der altgriechischen Tragödiensprache. In: WTh.: Das Rad der Fortuna. Ausgewählte Aufsätze Werk und Wirkung Carl Orffs. Mainz etc. 1990, 239-255, vor allem 242 f.; ferner W. Schubert: Das antike Drama im Musikschaffen des 19. und 20. Jahrhunderts. In: G, Binder, B. Effe (Hgg.): Das antike Theater. Aspekte seiner Geschichte, Rezeption und Aktualität. (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium Bd. 33). Trier .1998,. 385-422, hier 404. Vgl. dazu das Interview, das Maderna nach der Uraufführung im Niederländischen Rundfunk gab (Intervjsta su «Satyricon», Hilversum, NOS Marzp 1973, [registrazione su nastro, in inglese], trad. it. di R. Dalmonte. In: M. Baroni/R. Dalmonte [Hg.]: Bruno Alajerna, döcumenti, Milano 1985, 111 -· 114). Weitere Inszenierungen; 1974 an der Piccola Scala Mailand, 1987 an der Wiesbadener Musiktheaterwerkstatt, 1998 in Basel [freundlicher Hinweis von K. Schlapbach],
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mit Anfang, Mitte und burlesk-katastrophalem Ende im Vordergrund, kein «großes Fressen» mit seinen bei Petron minutiös beschriebenen Gängen und Vorgängen; die Texte drehen sich um einzelne Gestalten, vor allem um das Gastgeberpaar Trimalchio und Fortunata, um die selbst wieder die Themen Karriere, Geld, Sex, Glück und Vergänglichkeit kreisen. Zur Person Bruno Madernas: Er wurde 1920 in Venedig geboren, war bald bekannt als musikalisches Wunderkind, worauf eine steile Karriere als weltweit gefragter Dirigent und Komponist folgte. Mit Luciano Berio gründete er 1955 in Mailand das europaweit erste Studio für elektronische Musik. 1954—67 wirkte er als Dozent bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik auf Schloss Kranichstein bei Darmstadt. Im November 1973 starb er in Darmstadt12. Seine Oper Satyncon^ erlebte ihre Uraufführung in den Niederlanden am 16. 3. 1973, acht Monate vor Madernas Tod. Wenige Tage danach kam es unter der Ägide von Maderna zu einer Rundfunkaufzeichnung, die vor einigen Jahren als CD veröffentlicht wurde. Die Oper gliedert sich in sechzehn Bühnenszenen und fünf Tonbandeinblendungen, 21 Nummern also, die — das ist wichtig! - in beliebiger Reihenfolge gespielt werden können. Zwölf der Szenen basieren auf Petrontexten, zwei auf anderen, eine besteht in einer wortlosen Pantomime, eine in einer Orchesterimprovisation. Das Hauptkontingent des Librettos beruht zwar auf Teilen der Cena Tnmalchionis^ doch ist die Gästeliste der Cena im Vergleich zur Vorlage verändert Dadurch ergeben sich neue Konstellationsmöglichkeiten: Während die Gestalten Trimalchio, Fortunata, Scintilla, Niceros und Habinnas schon bei Petron zu den Teilnehmern der Cena gehören, finden wir hier auch den Dichter Eumolpus vertreten, der bei Petron erst nach der Cena auftaucht, aber auch die Kupplerin Quartilla aus dem Teil vor der Cena und die Zofe Chrysis aus dem Schlussteil des erhaltenen Romanfragments. Dadurch ist das Spektrum der sozialen Positionen innerhalb dieser Oper breiter als in Petrons Cena; zudem sind Frauen und Männer hier zahlenmäßig gleichberechtigt. Wer fehlt? Es sind die Hauptfiguren des Romanfragments: der Ich-Erzähler Encolpius, sein Freund und Nebenbuhler Ascyltos sowie deren gemeinsames Objekt der Begierde, der Knabe Giton, die bei Petron allesamt ebenfalls an der Cena teilnehmen. Fazit· Die von Maderna gewählten Textpassagen und Personen sind losgelöst von ihrem ursprünglichen narratorischen Kontext; sie stammen aus unterschiedlichen Werkteilen und werden hier auf eine einzige Situation konzentriert Der Garant der Kohärenz bei Petron, der Ich-Erzähler Enkolp, ist samt seinen Kumpanen eliminiert. Wie hat Maderna Petrons Text für seine Zwecke adaptiert? Er hat aus dem Text eine Auswahl getroffen. Entgegen den Angaben in den einschlägigen Lexika hat er die Texte nicht selbst übersetzt, sondern zurückgegriffen auf eine Übersetzung von William Arrowsmith (1959) und auf die Bilingue von Müller und Ehlers (1965). Einzelheiten hat er 12
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Maderna trug wesentlich zur Entwicklung der seriellen Technik nach Webern, aber auch zu deren Überwindung bei. Er hielt, wie viele andere seiner Landsleute, je länger, desto intensiver, an der Verbindung von konstruktiver Dichte und Kantabilität fest. Zu Maderna siehe H. Vogt: Neue Musik seit 1945. Stuttgart, 2. Aufl. 1982, 483 f.; ferner H. Weber: Artikel «Mäderaa».in: Honegger/Massenkeil: Das große L«akon der Musik. Frciburg, Basel, Wien 1978, Bd. 5, 184 f. Dazu zur ersten Information M. Stegemann: B, Maderna: Satyricon. In: Pipers Enzyklopädie des Musikibeaters. München 1989, Bd. 3, 628-630.
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retuschiert, manches teils erweitert, teils gestrafft; last but not least hat er die Texte mit Musik versehen. Dazu kömmt, dass die Reihenfolge der einzelnen Sätze nicht festgelegt ist; d. h. dass die Textsegmente bei einer Aufführung in jeweils unterschiedliche Konstellationen zueinander treten dürfen, wodurch sich entsprechend weitergehende kontextuelle und formale Konsequenzen ergeben können. Betrachten wir zunächst die sprachliche Seite der Texte! Die meisten Teile des Werkes erklingen nicht auf lateinisch, sondern auf englisch bzw. genauer und bezeichnender auf American English, wie Arrowsmith im Vorwort zu seiner Übersetzung ausdrücklich betont14. Maderna wählte damit sowohl eine Weltsprache als auch die Sprache einer Weltmacht. Darin besteht eine Analogie zur Rolle des Lateinischen zur Zeit Perrons. Das impliziert, dass man in der Verwendung des Amerikanischen nicht nur eine lingua franca sehen sollte, sondern auch eine Wechselwirkung mit den soziokulturellen Dimensionen der ausgewählten Texte. Diese sprachliqhe Trägerfolie wird gelegentlich durchschossen oder ersetzt durch andere Sprachen. Die Muttersprache Madernas und zugleich die Nachfolgespräche des Lateinischen, das Italienische, spielt dabei die geringste Rolle. Es bricht hervor, wenn das Temperament überzuborden droht: im Satz Love's ecstasy und in La Camera di Trimalcbio auf dem Höhepunkt von Trimalchios Renommieren mit seinen Millionen15. Die Großmannssucht des Trimalchio sprengt alle Maße, sowohl die des Originaltextes, der hier erweitert wird, als auch die der Sprache; sie wechselt vom Amerikanischen ins Italienische, vom Italienischen ins Deutsche und schließlich sogar ins Lateinische. Vor dem Hintergrund, dass Maderna in einem Interview sein Satyncon ein Neo-Musical genannt hat, darf man hierin wonl eine Artikulation seiner sprachlich-musikalischen Vorstellung des Gedankens «Money makes the world go round» aus dem Musical «Gabaret» (1966) sehen, wobei durch die Einbeziehung des Lateinischen neben den synchronen Aspekt dieses Gedankens auch der diachrone tritt: d. h. seine Geltung für die Epoche Petrons ebenso wie für die Gegenwart. Das Deutsche dient nicht nur, wie hier, zum Renommieren mit finanzieller Macht; es wird in Satz 10, Trimalchio e le ßatulen^e, als Sprache lutherischer Derbheit und zugleich groteskerweise als Sprache der in einem sehr äußerlichen Sinn zu verstehenden Innerlichkeit verwendet, wenn sie in den Dienst der Mitteilung über .den Zustand der eigenen Verdauung gestellt wird. Die Digestion wkd durch weitere Techniken gespiegelt; das lässt sich erkennen, wenn man Maderrias Text mit dem lateinischen Original vergleicht16. Es handelt sich hier um den einzigen Fall, wo Mäderna eine Textsequenz Petrons nicht linear 14 15
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Vgl. die Schreibweise honor in The Money. Maderna: l built a house, I went into slave-trading and cattle-buying. Everyfhiflg / towheeljust grew and grew like honeycomb. More ... and more! seven bundred and seventyßve thousand! One Million! '.".. more ... and more again!.:. seven millions! Milioni milioni milioni miUonimilionimilioni! ... Vierzehn Millionen. Zwanzig Millionen. Hundert Millionen, noch mehr!... Immer mehr1. ... Kolossal! Tria milia centies quadringenn milia centies nongenti milia centies! Petron: Aediftco domum, venalida coemo, iumenta; quicquid tangebam, crescebat tamquamfavus (76.S). Maderna: Nehmt's mir nicht übel, liebe Freunde, schon viele Tage macht mein Bauch nicht mit. Moi,je ne connaispas plus grand supplice que de se retenir. Was mir trotzdem geholfen bat, war Granatapfelschale und Pinie in Essig. Ich hoffe trotzdem, er besinnt sich endlich auf seine Anstandspßcht. I know ofsome wbo've died being toopolite and holding it in. Sonst dröhnt es mir um den Bauch herum, man denkt, ein Stier. Petron: «Ignoscite mjhi» inquit «amici, multis iam diebus venter mihi non respondit. (47.2) ego nullum puto tarn magnum tormentum esse quam continere. (47.4) profuit mihi tarnen malicorium et taeda ex aceto. spero tarnen, iam veterempudorem sibi imponit. (47.2-3) mullos sdo sieperiisse, dum nolunt sibi verum d/cerf..(47.6) alioquin circa stomachum mihi sonat, putes taurunn (47.3).
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übernimmt, sondern fragmentiert und neu zusammensetzt. Zudem wird die deutsche Sprache nicht durchgehend beibehalten, sondern durchbrochen von englischen und französischen Einsprengseln. Das Französische erscheint ansonsten zur Hauptsache wie etwa in Thomas Manns Zauberberg als Sprache der lockenden Verführung, sowohl in der Geschichte der Witwe von Ephesus, wo die treue Magd auf französisch ihrer Herrin das Leben und die Liebe wieder schmackhaft machen will17, als auch und vor allem im Satz Nr. 8, Fortunata ed Eumolpo^ wo Fortunata den Dichter Eumolpus zu verfuhren trachtet; dieser entzieht sich diesen Nachstellungen dadurch, dass er erstens eigene Dichtung und diese zweitens auf lateinisch rezitiert, was wohl besonders abschreckend wirken soll. Das Lateinische ist in dieser Oper die Sprache des poetischen Zitates. Dazu will nicht recht passen, dass Trimalchio mit seinem Reichtum unter anderem auch in lateinischer Sprache prosaisch protzt. Wenn man aber genau betrachtet, welche lateinischen Verse ausführlich zititert werden, dann gibt es eine Verbindung zwischen dem prosaischen Gebrauch des Lateins und dem ansonsten poetischen Gebrauch. Denn das auffalligste lateinische Zitat in der Oper besteht aus den Anfangsversen von Eumolpus' Bürgerkriegsgedicht, welche die Habgier eines Weltreichs in ihrer Gefährlichkeit — nicht nur für die Auszubeutenden, sondern auch für die im Luxus ertrinkenden Ausbeuter selbst — plastisch vor Augen stellen: Qrbem iam totum Victor Romanus habebat qua märe, qua terrae, qua sidus currit utrumque. Nee satiatus erat, gravidisfreta pulsa carinis iam peragebantur: si quis sinus abditus ultra, si quaforet tellus quaefalvum metteret aurum, bostis erat...
Das Motiv der Gefährlichkeit des Luxus durchzieht als eines der Hauptthemen Petrons Roman, wenn es auch am meisten von denen im Mund geführt wird, die Wasser predigen, selbst aber Wein trinken. Am Ende des Zitats macht Maderna sichtbar, wie die Sprache der Dichtung selbst von dem Verfall betroffen ist, den sie thematisiert; wir finden hier statt der hochsprachlichen Form mitteret das vulgäre und nachmals italienische metteret vor. Maderna spricht in einem Interview ausdrücklich von «verdorbenem» Latein. Dies ist ein Beispiel für die mehr oder weniger auffalligen, aber stets bezeichnenden Textmodifikationen, die Maderna vorgenommen hat. Dazu gehört auch, dass er bestimmte Passagen anderen Sprechern als bei Petron zuweist. Das betrifft z. B. Satz Nr. 5: Er enthält die Charakterisierung Trimalchios und seiner Gattin Fortunata, die wir bei Petron aus dem Munde des Gastes Hermeros hören. Hier wird dieser Text Fortunata selbst in den Mund 17
Maderna: Thtn, restored by thefood and wine, sbe began herseif to assail her misiress' obstinate refitsal. «A quoi te scrwra-i-il, de le laisser mourlr defaim, de t'ensevelir vivante, et, avant que les Des/ins ne t'y invitent, de rendre ttn souffle innocent? Id untrem auf manes credis sentire sepultos? Ne veux-tupas revenira la ine? Ne veux-tu ... pas profiter, aussi longemps que tupourras, des bienfaits dujour? Ce cadavre meme, ttendu cn ce UM, darait te donner U conseil de iwre!» Petron: Deinde refecta potione et cibo expugnare dominae perttnaciam coepit et «qttid prodent» inquit «hoc tibi, si soluta tntdia fueris, si te vivam sepelitns, si antequam fata poscant, indemnatum spiritum effuderis? id cinerem aut manes credis sentire sepultosf vis tu reviviscere? tis discusso muliebri errore, quam diu Bcnent, lucis commodis frui? ipsum te iacentis corpus admonere debff ut vivas» (l 11,10—12).
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gelegt. Mit der Verwandlung des süffisanten Klatsches eines Gastes in die Selbstcharakterisierung der Gattin des Gastgebers durch das Ersetzen der 3, durch die 1. Person gewinnen die drastischen Vergleiche und Bilder, die Hermeros bei Petron liefert, eine neue Qualität, da nun Fortunata sich selbst als sadistische femme fatale charakterisiert: «Tbat's Fortunatat Tnmakhio's mfe! And the name couldn't suit me better. I count my cash by cartload. I have Trimakhio eating out of my band. Ifl teil bim dt noon it were nigbt, he would crawl into bed. Ifllikßjou, jou're lucig; ifldon't, god belp you.»™ Nur einmal greift Maderna in den Text aus Gründen der besseren Veranschaulichüng ein: In Satz 2, Tnmalchlo ed U Monumento^ ergeht der Auftrag an den Steinmetzen, er solle die Kämpfe des Hercules skulpieren: eine mythische Gestalt, die ja auch heute noch populär ist, und sei es nur via Sandalenfilm und Zeichentrick. Im Originaltext soll der Steinmetz die Kämpfe des zu Petrons Zeit populären Gladiators Petraites darstellen. Am auffälligsten ist für den Hörer die Verwendung verschiedener Sprachen, wobei das Lateinische eine untergeordnete Rolle spielt. Dieser polyglotte Charakter wird von Michael Stegemann, der Madernas Satyricon in Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters19 präsentiertj als Ausdruck einer babylonischen Verwirrung interpretiert, der die Montage musikalischer Zitate über- und nebeneinander ebenfalls verpflichtet seien. Diese Deutung trifft jedoch meines Erachtens nicht zu. Wenn eine babylonische Sprachverwirrung das Ziel gewesen wäre, dann hätte Maderna dies durch eine musikalisch ja sehr leicht erzeugbare Textunverständlichkeit erreichen können, beim großen Publikum beispielsweise schlicht durch das Beibehalten der lateinischen Sprache, ansonsten durch polyphone Verflechtung der Singstimmen und anderes mehr. Das tut Maderna jedoch nicht. Der Text soll verstanden werden. Die Verwendung mehrerer Sprachen ist vor allem als Mittel inhaltlicher Nuancierung zu sehen. Madernas Vorgehen entspricht dem, was Petron selbst mit seinen sprachlichen Mitteln getan hat. Petron gibt ja zum einen ständig intertextuelle Verweise auf Werke der griechischen und lateinischen Literatur, vor allem die Odyssee. Ferner wkd Prosa mit poetischen Passagen verschränkt. Petron konstituiert unterschiedliche, linguistisch distinkte Ebenen, durch die er einzelne Personen charakterisiert20. Maderna verfahrt ähnlich wie Petron. Während Petron seine Personen durch unterschiedliche Ebenen und Sprachkompetenzen auf der Basis einer Einzelsprache charakterisiert, die immerhin durchsetzt ist von einer Vielzahl vulgärer Gräzismen, weist Maderna nicht so sehr einzelnen Personen als deren je nach Situation sich ablösenden Gedanken- ^ weiten und Intentionen unterschiedliche Sprachen zu, wobei die Verwendung des American English, des Deutschen, des Französischen, des Italienischen und lateinischer Zitate einen Spiegel heutzutage gängigen Party Small Talks darstellt. 18
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Petron: «Uxor» inquit «Trtffialcbionis, Fortunata appellatur, quae nummos modio metitur ... Trimalchionis topanta est. ad summam, mero meridie si dixerit tut tenebras esse, credft. ipse nescit quid babeat, adeo saplutns est; sed haec lupatria providet offinia, est ubi nonpufes ... quem amat, amat, quem non amatt non amat» (37.2.4—7). München 1989', Bd. 3, 628-630. Diese Vielschichtigkeit hat Hubert Petersmann in seiner Schrift Petrons urbane Prosa, Wien 1976, als kunstvolle Art der Trennung und Verflechtung von urbarier Prosa und vulgärer Diktion sichtbar werden lassen und dadurch weiterführende Studien angeregt wie die von ßret BoycCj The Langtage oftbe Freedmen in Petron's Cena Tnmalchwm$t Leiden 1991.
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Ein Pendant zu Petrons intertextuellen Verweisen stellt die musikalische Zitaten- und Collage-Technik dar, die für die musikalische Organisation und das Klangbild dieser Oper konstitutiv ist. Dass Maderna dadurch beim unvorbereiteten Hörer den Eindruck erzeugen kann, dass der Text gleichsam nicht älter erscheint als die Musik, die ihn kommentierend begleitet, spiegelt ein Interview nach der Uraufführung wider21, in dem der Gesprächspartner des Komponisten glaubte, dass nur die evident-lateinischen Zitate von Petron stammten, während die übrigen Texte aktualisierende Zutaten Madernas - retransponiert in antikes Ambiente — seien. Von einer babylonischen Sprachverwirrung kann keine Rede sein; Maderna ergänzt vielmehr die Stilmittel Petrons durch die Möglichkeiten der Polyglossie, wie sie im neuzeitlichen Roman legitimiert ist, und setzt unterschiedliche Sprachen in Korrelation zu bestimmten Konversationsinhalten ein. Umgekehrt bieten die unterschiedlichen Klangvaleurs der einzelnen Sprachen die Möglichkeit musikalischer Nutzung. So wird das altsprachliche Zitat Orbem tarn totum... mit den neoklassizistisch verfremdeten Stilmitteln der Alten Musik umgesetzt; und in der Verfuhrungsszene Fortunata-Eumolpus wird das Französische zu einem von mehreren klanglichen Parametern eines mondän-schmachtenden Tangos, der im übrigen Maurice Ravels Oper L'enfant et /es sortileges verpflichtet ist. Damit sind wk bei der musikalischen Seite dieses Werkes: Was die Musik angeht, so fällt schon beim ersten Hören auf, wie häufig sie zitiert sowie den Text Petrons dadurch kommentiert und in gewisser Weise aktualisiert. Der Mangel an eigenen Gedanken, das passende und unpassende Zitieren geflügelter Worte, das Operieren mit trivialen Redensarten und die Selbstbespiegelung in mythischen und historischen Versatzstücken, die Petrons Gestalten besonders auszeichnet, wird durch diese Technik, mit vorgegebenem Material zu arbeiten, adäquat wiedergegeben. Die zitierte Musik wird von ihrer ursprünglichen Textbindung befreit und einem neuen Text zugeordnet. Je nach Wissensstand erkennt der Rezipient entweder überhaupt nicht, dass es sich um Musik aus zweiter Hand handelt, oder er erkennt es zwar als Zitat, kann aber nicht einen eventuell damit verbundenen Text identifizieren, oder er vermag mit dem musikalischen Zitat auch den entsprechenden Text zu assoziieren. Es werden also unterschiedliche Zeichensysteme - ohnehin eine Eigentümlichkeit textbezogener Musik — ineinandergeschoben, was zu ihrer Dechiffrierung einerseits reizt, sie andererseits erschwert. Weitere semiotische Interferenzen durch die konstitutiven Parameter einer szenischen Realisierung kommen bei diesem für die Bühne geschrier benen Werk noch hinzu, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Doch soll zumindest das musikalisch-textliche Verfahren Madernas exemplarisch an einem kleinen Ausschnitt aus dem Satz «Trimalchio eid il monumento» demonstriert werden. Dieser Satz enthält Auszüge aus dem gegen Ende der Cena verlesenen Testament Trimalchios (Petr. 71), woran sich der Auftrag für ein monumentales Grabmal anschließt. Hier werden Zitate musikalischer Formen und Formeln montiert, die den Text kommentierend begleiten22. 21 22
A.a.O. 112.
Maderna: «Myfriends, slaves an human too. Tbty drink tlx samt m$httrs milk that we do, tbougb an evilfate grinds tbtm do»n. But I swear tbat it von't bt long - before tbey all taste tbe good water offreedom, For Iplan tofree tbem all in my will. To Pbilargyrus hm I leave a Jan» and bis vornan. Cario inberits a block ofßats and tbe fax on bis freedom and bis bed and bedding. To my dear Fortunata J leavt everytbing l bave, and l commtnd her to tbe kindness
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Der Anfang des Testaments, der allgemeine Verfugungen enthältj ist als Litanei gestaltet - eine musikalische Urform. Die Versammlung der Gäste wiederholt responsorienartig jeweils die materiellen Kernpunkte der von Trimalchio verlesenen Verfugungen, wodurch das Ganze einen parodistisch-liturgischen Anstrich erhält, den wir bei Petron ebenfalls vorfinden, allerdings nicht an diesem Punkt der Handlung, sondern ein paar Kapitel später, am Ende der Cena> wenn Trirnalchio seine eigene Beerdigung spielen lässt. Nun folgt ein scheinbar bei Petron keine Entsprechung findender Texteinschub, der dem vorhergehenden Litaneicharakter seinen Sinn zuweist und das Ganze in die Nähe zur musik^ geschichtlich vielfältigen Tradition der Ä^Ä^-Vertonungen rückt Trimalchio sagt: «Hefe my pnvate Tuba mirum». Diese letzten beiden lateinischen Worte zitieren bekanntermaßen den Beginn der dritten Strophe der Sequenz Dies irae aus der katholischen Missa pro defunctis: ofmy friends. But m tellingyou the Contents of my will so my whole household will loye me äs much when m still alive äs öfter I'm dead. Here my private Tuba mirum! Wellt oldfriendTSicetOs, will you make my tomb exactly äs lorder it? First, ofcourse, Iwant a statue ofmyself. But carve my.dog at myfeet, andgive megarlands ofßowersjars ofperfume and everyßght of Hercules' career. Then, thanks toyourgood offices, live on lang afier I'm gone. In front, I want my tomb one hundred feet long, but two bundred feet deep. Around'it I want ah orchard with every known variety pffruit tree. You'd better thront in a vineyard too. For it's wrong, l fhink, that a man should concern himselfwith tbe house wbere he lives bis life but gve no thought to the home he'll have forever. But above all I wantyou to carve tbis notice: In any case Vll see to itin my will that my grave is protectedfrom damage afler my death. appoint one of my ex-slaves ad äs custodian to chase off tbe people wbo might come and crap on my tomb. Also, l want you to carve my several ships with all sail crowded and apicture of myself sitting on thejudge's bench in official dfess witbßve gold rings on myßngers and handing out a sack ofcoins to the people. For it's afact, andyou're my witnesst that Igave afree meal to the whole town and a cash handout to everyone. Also make me a dining room, a friere maybe, but however you like, and sbow tbe whole town celebrating at my expense. On my right I want a stattte ofFortunata with a dove in her band. And, ohyes, be sure to have herpet dog tied to her girdle. And don'tforget my pet slave. Also I'd Kki huge jars ofwine, well stoppend so the wine won't slosh out. Then sculpt me a broken vase with a little boy sobbing out bis heart over it. And in the middle stick a sundial so that atiyone who wants the time ofday will have to read my name. And how will this dofor the epitaph? > ceterum erit mihi curae ut testamento caveam ne mortuus iniuriam accipiam. praeponam enim unum ex libertis sepulcro meo custodiae causa, ne in monumentum meumpopulus caeatttm currat. te rogo ut naves etiam facias plenis velis, ejintes, et me in tribunali sedentem praetextatum cum anulis aureis quinque et nummos in publico de sacculo effundentem; scis enim quod epulum dedi binos denarios. faciantur, si iibi videlur, et triclinia. facias et tot um populum sibi suavilerfacienlem. ad dexteram meam ponäs statuäm Fortunatae meae columbam tenenfem: et catellam cingulo alligatam ducat: et cicaronem meum, et ampboras copiosas gypsatas, ne ejfluant vinum. et unam licetfractam sculpas, et super eam puerum plorantem. horologium in medio, ut quisquis horas inspiciet, velit nolit, npmen meum kgat. inscriptio quoque vide diligentef, si haec satis idonea tibi videtur: ex parvo (revit; sestertium reliquit trecenties, nee umquam philosophum audivit. vale: et tu>» (71.5-12).
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Worte, die für den Musikkenner eine Signalwirkung im Sinne des Wortes haben, da sie in den Requiem-Vertonungen etwa von Berlioz oder Verdi zum Ankss genommen werden, ein aufwendig instrumentiertes Pandämonium des Schreckens musikalisch zu inszenieren. Man könnte nun bei Madernas Faible für musikalische Zitate gerade an dieser Stelle erwarten, dass er, um ein Aha-Erlebnis zu erzeugen, auf die Sequenz Dies irae bezugnimmt und beispielsweise die ersten Töne der gregorianischen Intonation des Dies irae zitiert, die ja seit Berlioz' Symphonie fantastique bis in die jüngste Zeit gerne als musikalische Chiffre für die Unerbittlichkeit des Todes und das jüngste Gericht eingesetzt werden; doch diese Erwartung täuscht Maderna gleich doppelt. Er lässt zunächst ganz kurz den Beginn von Tschaikowskis b-Moll-Klavierkonzert aufrauschen, allerdings in einer Kammerversion bzw. eher Schrammelversion, wodurch Trimalchios pathetische Ankündigung von vornherein unterminiert wird. Dieses Zitat wird sogleich von einem Tuba-Solo unterbrochen, was insofern etwas grotesk wirkt, als die neuzeitliche Tuba als ausgesprochenes Bassinstrument weder mit der antiken noch der liturgischen tuba etwas zu tun hat, die man sich wohl als eine Art Fanfare vorstellen muss. Die Tuba intoniert zu Beginn ihres Solos nicht die musikalische Initiale der gregorianischen Sequenz Dies irae, sondern ein mehrfach wiederholtes Viertonmotiv, für das zumindest in meinen Ohren ein anderes — ebenfalls mittelalterliches — lateinisches Strophenlied Pate gestanden hat: das Gaudeamus igtur. Statt der musikalischen Chiffre für Vergänglichkeit und Zerknirschung wird eine Chiffre des Lebensgenusses eingesetzt, zu dem in Petrons Cena immer wieder aufgefordert wird. Der Texteinschub tuba mirum ist allerdings nicht nur durch den musikalischen Kontext bedingt. Wer Petrons Cena kennt, weiß, wie sie endet: Trimalchio stellt sich tot und lässt Beerdigung spielen mit allem dazu gehörenden Pomp. Die dabei traktierten Blasinstrumente machen einen solchen Heidenlärm, dass die Feuerwehr anrückt, weil sie glaubt, das Haus des Trimalchio gehe in Rauch und Flammen auf. Diesen parodistisch-apokatyptischen Passus hat Maderna zwar nicht vertont; doch ist in dem eingeschobenen Text Here my private Tuba rnlrum nicht nur ein Verweis auf die Sequenz Dies irae gegeben, sondern auch ein Verweis auf Petron der von Maderna ausgewählten Texte: Hier wie dort droht der Zerfall einer Welt in Schutt und Asche. Diese und andere Eigentümlichkeiten der Textgestaltung Madernas, die häufig auf Petrons Text ausserhalb des für diese Oper zusammengestellten Kanons verweisen, zeugen davon, dass Maderna Petrons Werk als Ganzes bei der Komposition vor Augen hatte. Die konischen Kommentare durch musikalische Anspielungen häufen sich danach. Die Beschreibung der «statue of myself» wird in Puccineske Farben getaucht; bei der Erwähnung der Kämpfe des Hercules, die laut Verfugung auf Trimalchios Grabmal dargestellt werden sollen, erklingen nicht etwa Verweise auf den musikalisch «hehrsten Helden der Welt», Wagners Siegfried, sondern Reminiszenzen an Till Eulenspiegek lustige Streiche von Richard Strauss, womit die Substitution des Lokalmatadors Petraites durch den World Champion Hercules, die Maderna vorgenommen hat, selbst wieder ironisiert wird; zudem wkd zumindest assoziativ eine Verbindung geschaffen zwischen Petrons «Schelmenszenen», wie Müller und Ehlers den Titel Satyrica übersetzen, und dem deutschen Eulenspiegelroman aus dem Anfang des 16. Jh. Den hypertrophen Charakter des Grabmals, mit dem sich Trimalchio ein unsterbliches Denkmal setzen will, grundieren die Blechbläser dann aber tatsächlich mit Wagner: mit dem «Walhall»-Motiv aus dem Ring des Nibelungen. Das ständige Springen Trimalchios bei Petron zwischen den Hinweisen auf seine Geschäftstüchtigkeit und Leutseligkeit, die auf den Grabreliefs dargestellt werden sollen, und
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den Applikationen von Vergänglichkeitskitsch wird durch ein ebensolches Hin^ und Herspringen bei Maderna zwischen Zitaten aus der Welt der amerikanischen U-Musik der vierziger, fünfziger Jahre und der Welt der Oper karikiert, wobei das von Maderna instrumental überzuckerte «Che faro senza Euridice» aus Glucks Oper Orfeo ed Euridice den Gipfel darstellt. Auf vergleichbare Weise ist der Text der Carriera dt Trimalchio komponiert. Dort werden beispielsweise der Triumphmarsch aus Verdis Aida, der Cancan aus Orphee aux Enfers von Jacques Offenbach sowie der Marsch Stars and StripesforevervQn Philip Sousa übereinandergeschichtet, was M. Stegemann wohl zu Recht als Chiffre für die Verflechtung von Kunst, Kommerz und Politik interpretiert23. Schließlich sei noch hingewiesen auf den Streit zwischen Fortunata und Trimalchio Satz Nr. 1.2, der musikalisch in dem instrumentalen Zitat «Ja das Studium der Weiber ist schwer» aus der Lustigen Witwe von Franz Lehar seinen Höhepunkt findet. Einige kurze Abschnitte kommen -^ scheinbar — ohne Zitate aus; sie bedienen sich jedoch ebenfalls des Fundus vorgegebener Kompositionsprinzipien, die seit dem 17./18. Jh. als «textdeutend» verständen, wurden. Die fugat die Flucht des Eumolpus, wird als Fugenexposition gestaltet. Die kontrapunktischen Verschlingungen von vier Singstimmen im Satz «Love's ecstasp> haben ebenfalls abbildende Funktion, wobei Maderna einen Verfremdungseffekt dadurch erzielt, dass die Musik gerade hier nicht schwül1 und lasziv, sondern betönt expressionslos gehalten ist. Auch im Satz «Scintilla» verfährt Maderna textdeutend, obwohl gar kein Text gesungen wird. Das klingt paradox, ist es aber nicht; denn die Musik ist nichts anderes als die Umsetzung des Namens Scintilla — «Funken». Und so funkeln hier in einer Sopranvokalise und in der begleitenden Oboe Staccato-Figuren wie in Wagners Feuer%auber oder bei der Personifizierung des Feuers in Maurice Ravels L'enfant et les sortileges. Bruno Maderna verweist aber nicht nur im Kleinen durch unmissverständliche Zitate auf bereits Bestehendes, sondern schafft durch die Lizenz zur variablen Anordnung der einzelnen Teile seiner Oper die Möglichkeit, formale Analogien zu ganzen Bühnenmusikwerken zu stiften. In der Reihenfolge, die Maderna für den Rundfunkmitschnitt vom 24.3.73 gewählt hat, bildet die Vertonung eines Textes, der auf Trimalchios zweites «Tristichon» zurückgeht, den Rahmen: We think ive're awful smart) m tbink we're aufu/ wise, But when we're least expecting, comes the big surprise. Lady Luck's in heaveri and we're her Kttle toys, So break out the wine andfillyour glasses, bpjs.24 Die Überschrift dieses ersten Satzes heißt «Lady Luck». Das Klanggewand ist dem 18. Jh. entlehnt. Dadurch stiftet Maderna ein vieldeutiges Verweispotential: Zum einen wird an die frühesten Vertreterinnen der Gattung Oper erinnert, die in der Regel mit einem Prolog beginnen, in denen eine Personifikation wie Fortuna, Musica oder Amor auftritt; dadurch, dass dieser Satz am Ende wiederholt wird, wird zum anderen eines der populärsten Werke 23 24
M. Stegemann: B. Maderna: Satyricon. In: jPipers Enzyklopädie des Musiktheaters. München 1989, Bd. 3, 628-630. ' Petrpn: Quod non exspertes, ex transversoßt (ubique) (jiostra) et supra nos Fortuna negoüa curat. Quart da nobis wna Falerna pmr. (55.3)
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des 20. Jh. auf formaler Ebene zitiert: Carl Orffs Garmina Burana, die mit einem Chor, der ebenfalls um die Macht der Fortuna kreist, eröffnet und beschlossen werden. Dass dieser Satz am Ende der Oper von allen Protagonisten gesungen wird, erinnert zudem an das Schlusstableau von Mozarts Don Giovanni oder — für Maderna genauso naheliegend — von Strawinskys The Rake's Progress. Durch die Lizenz zur freien Anordnung können Strukturen generiert werden, die in ihrem Verweispotential neben die eindeutig erkennbaren Melodiezitate treten. Die von Maderna hier favorisierte Technik des musikalischen Zitierens sowie die Lizenz, die einzelnen Sätze der Oper Satyncon frei anzuordnen, macht Gebrauch von zwei Parametern, die in den fünfziger/sechziger Jahren die Möglichkeiten der zeitgenössischen Musik bereichert haben. Das erste ist die teils ikonoklastische, teils Untergegangenes neu belebende musikalische und literarische Collage-Technik. Sie ist der Endpunkt einer Entwicklung, die mit den Anfängen der mehrstimmigen Musik ihren Ausgang nahm, wenn etwa einer Messekomposition eine bestimmte, anderweitig bekannte Liedmelodie zugrunde gelegt wurde. Im System musikalischer Rhetorik hatte sich ein bestimmtes Vokabular und eine Syntax entwickelt, die ursprünglich textgebunden waren, aber allmählich auch unabhängig vom Text als sprechend verstanden wurden. In diesen Kontext ist auch das Zitieren bekannter Musik zu stellen, das sich zunächst auf einzelne Motive und Melodien beschränkt; ich erinnere nochmals an das Beispiel der gregorianischen Intonation des Dies irae als Chiffre für die Unerbittlichkeit des Todes, zu deren Wirkung es des dazu gehörenden Textes nicht mehr bedarf. Diese Technik ist zudem ein beliebtes Mittel musikalischen Humors, wenn etwa Mozart und Haydn sich selbst im Don Giovanni oder in den Jahreszeiten zitieren, aber oft auch, wie in dem eben genannten Beispiel und in weiten Teilen der geistlichen Musik, ein Mittel, die Vielschichtigkeit eines Textes musikalisch sinnfällig zu machen. Zum allwaltenden kompositorischen Prinzip wird das Selbstzitat letztlich in Richard Wagners Leitmotivtechnik. Die Collage, die ausschließlich oder zu einem großen Teil aus Zitaten fremder Musik besteht, verleiht der Musik wieder einen Sprachcharakter, den sie mit der Entwicklung der Reihentechnik, die die Beziehung der musikalischen Parameter untereinander - in bewusster Abkehr von der herkömmlichen musikalischen Semantik regelte, weitgehend aufgegeben hatte. Der 1970 verstorbene Komponist Bernd Alois Zimmermann hat dieser mit Zitaten arbeitenden Collage-Technik in den sechziger Jahren einen philosophisch-metaphysischen Sinn zugewiesen. Sie dient ihm zur musikalischen Verwirklichung seiner Vorstellung von der Kugelgestalt der Zeit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft an allen Punkten gleichermaßen präsent sind, so dass es ebensowenig eine zeitgenössische wie eine alte oder eine futuristische Musik gibt — am konsequentesten durchgeführt in seiner 1968 komponierten Musique pour /es soupers du roi Ubu — ebenfalls eine in Musik gesetzte Cena und dasjenige Werk, das zusammen mit Fellinis Satyncon vielleicht den Katalysator für Madernas Oper bildete. Gerade dieses Verfahren hat auch Petron virtuos beherrscht, nicht nur durch das parodierte Zitieren geflügelter Worte bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, sondern durch das Schaffen neuer Textsequenzen aus alten: das ist die sogenannte CentoTechnik, der wir bei Petron in der lateinischen Literatur wohl erstmals begegnen; in formaler Hinsicht finden wir einen schlüpfrigen Cento zum Thema Impotenz, der aus Vergilversen besteht (132.11), als Centones in übertragener Bedeutung wären die hanebüchenen Mythenkontaminationen des Trimalchio zu nennen, der etwa auf einem Trinkgefäß dar-
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gestellt sehen will, wie Kassandra ihre Kinder ermordet oder wie Daedalus Niobe ins trojanische Pferd einsperrt (52.1 f.). Mit dem Collage- und Montageverfahren25 verbindet sich in Madernas Oper Satyncon das Prinzip der sogenannten Aleatorik, ein Kompositionsverfahren, das mit dem Moment des Zufalls bzw. des Spontanen und Willkürlichen arbeitet26. Die geschlossene Form der Oper wird durch eine offene, bewegliche Szenenfolge ersetzt, in dem Sinne, dass zwar die Menge der musikalischen und textlichen Elemente definiert ist, dass aber die Anordnung der Elemente bei einer Auffuhrung freisteht. Dazu und zur Auswahl von 'einzelnen Teilen konnte sich Madernä dadurch angeregt fühlen, dass es sich beim überlieferten Text des Petron um Fragmente eines Fragmentes handelt, deren Positionen im Werkganzen in vielen Fällen keineswegs gesichert sind. Bruno Maderna lässt in seiner Art, mit dem Text Petrons zu verfahren, sichtbar resp. hörbar werden, dass sich nicht jeder Text zu jeder Zeit für eine angemessene Vertonung eignet, und liefert eine implizite Begründung, weshalb die Musikgeschichte so zurückhaltend und selektiv von Petrons Text Gebrauch gemacht hat. Zur Entstehungszeit der Oper Madernas war in der Musik eine Phase des «Anything goes» erreicht. Der gar nicht so alte Grenzwall zwischen E- und U-Musik wurde durchlässig. Die in Madernas Satyncon häufigen Anklänge an das musikalische Erbe vom 18. bis zum 20. Jh. hatten manche der seriös-seriellen Kollegen und Kritiker Madernas bei den Aufführungen 1973 und 1974 ziemlich irritiert. Sie vermissten die apokalyptische Dimension, die sich bei Petron gegen Ende der Cena — wenn auch in komischem Gewand - feststellen lässt27. Jn einem Interview im Niederländischen Rundfunk, wurde der Komponist gefragt nach den musikalischen Prinzipien, die sich über das Werk legen, nach dem Sinn seiner ungenierten Anleihen an alter und neuer Musik unterschiedlichsten Niveaus und der CollageTechnik. Maderna stellte klar, dass es für ihn bei der Komposition keine vorgegebenen musikalischen Prinzipien gab, sondern dass der Text diese Prinzipien bestimmte. Diese Art des Komponierens könne nicht generalisiert werden; sie sei nicht Ausdruck seines jetzigen oder künftigen Personalstils, sondern sie habe für ihn deshalb getaugt, weil sie für Petron taugte. Es galt also: Prima le parole, dopo la musica. Ein weiteres kommt hinzu: In der Oper Satyncon spielt - wie in Petrons Cena selbst die Todesthematik eine nicht unwichtige Rolle. Als vorletztem Werk Madernas, bei dessen Proben sich herausstellte, dass der Komponist an einer unheilbaren Krankheit litt, war ihr daher in mehrfacher Hinsicht ein Vermächtnischarakter prädestiniert. Sie wurde denn auch von der zeitgenössischen Kritik als Parabel der musikaUsch-künsderischen Resignation Madernas verstanden28. Wenn das zutreffen sollte, dann muss man vor dem Hintergrund, 25 20
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Ihm huldigte zeitgleich auch Madernas Mitstreiter Luciano Berio in seiner Sinfotiia, wo musikalische mit literarischer Collage gekoppelt ist. · In Madernas Satyncon gibt es einen Satz, der als Orchesterimprovisation zu gestalten ist; ihn hat Maderna beim Rundfunkmitschnit nicht realisiert, da ja durch die technische Reproäuzierbarkeit das Improvisatorische aufgehoben würde. «Das, was letztlich auswachsen müsste ins Visionäre, ... bleibt nette, frivole, perfide Tafelmusik.» (G. Brunner in seiner Doppekezension: Maderna und Henzes «Vöices». In: Muma 28, 1974, 333.) Zu diesem Eindruck hat jedoch - wenn man die diversen Aufruhrungsberichte vergleicht - eher die Inszenierung der Uraufführung als die Musik selbst beigetragen. Vgl, Gerhard R. Koch: Vitalität in Todesnähe. Bruno Maderna in memoriam. In: Musicfl 28,1974,55-57; vor allem E. Helm: Zwei Einakter in der Piccola Scala. In: NZßd 135, 1974, 367-369, wo wir zu lesen finden: «Wenn <Satyricon>. als eine Art Testament des damals schon durch eine unheilbare Krankheit
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dass Maderna sich ausdrücklich auf den Petrontext beruft, der nach seinen Worten die Kompositionstechniken bestimmt hat, auch und vor allem die Textwahl heranziehen. Dann wird deutlich, dass sich die Resignation nicht oder nicht primär auf eine angebliche Erschöpfung der künstlerischen Mittel bezieht, die nur noch Parasitentum oder Leichenfledderei zulässt, nicht allein darauf, dass vielleicht musikalisch nichts Neues mehr gesagt werden könne, sondern dass von dieser Resignation Prinzipielleres betroffen ist, was eben vor allem die Textwahl zum Ausdruck bringt. Unter diesem Gesichtspunkt beträfe die Resignation generell die Unterwerfung der Kunst unter die Gesetze des Marktes und ihre damit einhergehende Verflachung, die zum Mittel neureicher Selbstrepräsentation, zum bloßen Dekor und zum Kitsch degradiert wird29. Dem entspricht, dass Maderna an zahlreichen Stellen seine musikalischen Zitate in einer Form bietet, in der der Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen vollzogen ist; und selbst dort, wo das Zitat unverfälscht bleibt, steht es oft quer zur Banalität, die der Text zum Ausdruck bringt. Hier nähert sich Maderna sehr stark dem intertextuellen Verfahren Petrons, dessen Ich-Erzähler Enkolp ständig seine eigenen trivialen Erlebnisse und Empfindungen in der Welt der Kunst und der Literatur wiederzufinden sucht und von der kalten Dusche der Realität immer wieder ernüchtert wird30: eines der Hauptmittel der sowohl drastischen als auch intellektuellen Komik von Petrons Satyrica. Vor dem Hintergrund solcher Zitatencollagen wirkt in Madernas Oper die Vertonung der Geschichte der Witwe von Ephesus, so frivol sie bei Petron in ihrer Vermischung von Egoismus und Uneigennützigkeit klingt, auf ihre Weise geradezu nostalgisch unverdorben: Der Soldat mit seiner cenula, seinem bisschen Essen, das er mit der trauernden Witwe teilt, und das Liebemachen der beiden in der Abgeschiedenheit einer Grabkammer stehen musikalisch in starkem Kontrast zu Trimalchio mit seiner pompösen cena und den dabei stattfindenden Orgien. Dieser ausgedehnteste Satz des Werkes, der die Geschichte der Witwe von Ephesus enthält, verdiente eine eigene Analyse, die ich hier nicht vornehmen kann; sie präsentiert sich als eine Art Monodram und orientiert sich an den ausgedehnten Solo-Erzählungen etwa bei Wagner; zumindest erinnern die dezenten Solostreicherbewegungen zu Beginn ein wenig an das Waldweben im Siegfried. Die eigentliche Handlung ist sparsam instrumentiert; leise Trommelwirbel etwa werden mit der Gestalt des Soldaten verbunden, der die Witwe wieder zum Leben zurückfuhrt. Zitate bekannter Musik finden sich ebenfalls, etwa wo der Soldat von der Bedingung aller Menschen spricht, die irgendwann ja einmal sterben müssen. Dort erklingt — nicht sehr originell, wenn auch leicht verfremdet - der Chopinsche Trauermarsch. Die Naivität dieses Zitats entspricht der musikalischen Schlichtheit, die den ganzen Satz kennzeichnet. Es hat seine Gründe, weshalb Trimalchio und mit ihm Petron so lange haben warten müssen, bis sie ad symphoniam, zu einer passenden Musik, präsentiert werden konnten.
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gezeichneten Maderna anzusehen wäre, müsste man den Schluss ziehen, daß er der Zukunft der Musik pessimistisch gegenüberstand. Unter Verzicht auf jegliche Systematik und Methodik legt Maderna einen Eklektizismus an den Tag, der einer Absage an das Neue und einer Anerkennung der Sackgasse, in welche die Neue Musik geraten ist, gleichkommt.» Die Resignation wird relativiert - oder intensiviert -, wenn man bedenkt, dass Maderna eben durch seine Textwahl vor Augen stellt, dass dieser Niedergang nicht auf die eigene Zeit beschränkt ist, sondern stetig wiederkehrt. Vgl. G. B. Conte: hidden autbor. An Interpretation of Pelronius' Satyrico». Translated by Elaine Fantham. Berkeley, Los Angeles, London 1996.
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Ähnlich wie für Georg Büchners Woyyeck bei Alban Berg haben sich erst im Laufe des 20. Jahrhunderts diejenigen musikalischen Mittel entwickelt, die sich mit diesem sprachlich und stilistisch ebenso wie inhaltlich vielschichtigen Text zu einer Einheit verbinden könnten: Mittel, die sowohl der literarischen Technik als auch und gerade dem Satirischen in Petrons Satyrica gerecht werden.
Anhang Überblick über die einzelnen Sät%e von Madernas Saiyricon gemäß der Aufnahme des Radios Hilversum vom 24. 3. 1973 unter der Leitung des Komponisten: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.
Lady Luck (Petr. 55.1) [engl.] Trimalchio ed il monumento (Petr. 71.1-3 71.5-12) [engl]: Love's ecstasy [it., engl.] Scintilla (Vocalise) Fortunatä "(Petr. 37.2-38.6) [engl.] Carriera di Trimalchio (Petr. 75.8-76.8) [engl., it., dt, lat] The möney (Petr. 137.9) [engl.] Fortunata and Eümolpus (Petr. 126.1^-7) [fr., lat.] Eümolpus Fuga (Petr. 119,1-6) [lat.] Trimalchio e le flatulenze (Petr. 47.2 47.4 47.2-3 47.6) [dt?, fr., Trimalchio e le flatulenze. Reprise [iiistrumental] Trimalchio contro Fortunata (Petr: 74.13-16) [engl.] La matrona di Efeso (Petr. 111-112) [engl., fr., lat.] Lady Luck (Petr. 55.1) [engl.]
ANNA CHRISTOPH Der Horatier, Aeneas und das Exempel Heiner Müllers Horatier als Lehrstück über die Verantwortlichkeit der Literatur «[Das Geschriebene] ... kann auch eindeutig sein und den Widerspruch aus den Dingen entfernen; ist es zu eindeutig? Dann ist es unbrauchbar, was ihr sagt.» (Bert Brecht) In seinem kurzen Werk «Der Horatier» stellt Heiner Müller dem Leser und Zuschauer — denn als Stück für die Bühne ist es durchaus gedacht — zwei Morde vor Augen. Die Geschichte ist berichtet bei Livius, ab urbe condita I, 24 ff., sie präsentiert einen scheinbar vernünftigen Vorschlag zweier Parteien, nämlich angesichts des gemeinsam drohenden Feindes, der Etrusker, den Konflikt zwischen Alba und Rom nur durch einen Kampf zwischen jeweils drei Brüdern der Horatier und Kuriatier zu entscheiden, um nicht das gesamte Heer zu schwächen. Müller verändert die Fabel und beschränkt sie auf einen Zweikampf zwischen einem Kuriatier und einem Horatier.1 (Was diese Konzentration bedeutet, wird später noch gezeigt werden.) In diesem Entscheidungskampf bedeutet ohne Frage Sieg zugleich Tötung des Besiegten; es ist ein politischer, nötiger und somit legitimierter Mord. Dies scheint festzustehen. Der zweite Mord in diesem Kontext jedoch, jener des Horatiers an seiner Schwester, weil sie den Feind, der zugleich ihr Verlobter ist, betrauert, wird verurteilt. Er ist im Blutrausch geschehen und somit «unnötig», dies zumindest in den Augen der Öffentlichkeit: «Weil er einen Menschen getötet hatte / Ohne Notwendigkeit...» (213 f.2); «der einen Menschen getötet hat / Ohne*Notwendigkeit ...» (268f.). Für den Horatier selbst besteht dieser Unterschied nicht, er glaubt, in beiden Fällen einen Feind Roms besiegt und beseitigt zu haben. Die Öffentlichkeit3 jedoch lässt das nicht gelten, Sieg ist 1
2 3
Andererseits übersetzt Müller seine Vorlage teilweise fast wörtlich, so z. B. die kurze Szene der Begegnung des Horaders mit seiner Schwester. Auffallend und auch in anderen Stücken zu bemerken ist die latinisierende Sprache, das «großzügige Pathos [...], hinweisend eingefaßt und zugleich entrückt in viele Partizip [sie] Präsens, in Gerundium und GerundÜvum ...» (Niehoff, Karena: Ist es tödlich den Menschen, das Unkenntliche?, Süddeutsche Zeitung, 6. 3.1973, ohne Seitenzahl dokumentiert im «Innsbrucker Zeitungsarchiv»). Die Zahlenangaben beziehen sich auf die nicht nummerierten Verse der Textausgabe in: Mauser. Heiner Müller Texte 6, Berlin 1978, 45-54. Die Bedeutung der Öffentlichkeit, des Volkes, oder negativ: der Masse, ist dominant und übertrumpft das Individuum: Der Vater wird nicht angehört, der Horatier selbst tritt nach seinen Morden nicht mehr aktiv auf. Zum Konflikt Individuum — Gesellschaft vgL Sanchez, Fernando Suärez: Individuum und Gesellschaft. Die Antike in Heiner Müllers Werk, Frankfurt a. M. 1998 (= Helicon. Beiträge zur deutschen Literatur 23). .
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eines, Schwestermord ist etwas anderes; sie fordert Gerechtigkeit, fordert Sühne: sinnloser Mord muss bestraft werden. Das Dilemma dabei ist nur, dass eben dieser Mörder auch der Sieger für Rom ist und somit eigentlich zugleich Ehre und Rühm verdient hat. Müller führt, im Gegensatz zu Livius, dieses Dilemma, diese so fragliche Trennung der beiden Fälle bis zum bitteren Ende durch: der Sieger wird geehrt, der Mörder gerichtet ungeachtet der Tatsache, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt, wobei betont wird, dass dieser Fall in seiner Problematik nicht verwischt werden soll. Soweit die Geschichte nach Müller. Nun lässt aber schon die Tätsachej dass der Autor den ursprünglichen Mythos im Sinne einer Konzentration und drastisch-konsequenten Weiterfuhrung verändert, aufhorchen. Sein Umgang mit Mythen ist in allen Fällen davon bestimmt, dass er im Mythos ein Modell, eine Parabel sieht. Und ein zweites ist zu beachten: Müller ist in seiner Dichtung immer auch politisch.4 Er steht in diesem Verständnis auch unter dem Einfluss Brechts und er zeigt dies «insbesondere auch irj der Stöffwahl. Brecht sah vor allem die römische Geschichte als Fundgrube Und bediente sich ihrer in mehrfacher Weise und zu mehrfachen Zwecken, zur Verfremdung, zum Exempel, zur Parallelisierung...»5 Beides wird für die folgenden Überlegungen konstitutiv: Der Mythos als politisches'Exempel. Schon der Begriff Exempel selbst (Müller führt diesen Begriff im deutschen Äquivalent «Beispiel» [278] explizit in sein Werk ein) fuhrt unmittelbar in das Zentrum römischer Dichtung, und auch die Bezugnahme durch die Wähl der «Textsorte» passt zu den im folgenden entwickelten Thesen. Das Exemplum findet in der römischen Welt in Geschichtsschreibung und Rhetorik seinen Platz; es dient dazu, ethische Verhaltensweisen durch Beispiele aus der Geschichte zu veranschaulichen und dadurch zur Nachahmung (in wesentlich selteneren Fällen zur Abschreckung) vor Augen zu führen. Die deutlichsten Beispiele hierfür sind die Exempelsammlungen eines Valerius Maximus oder Hyginus, literarisch bedeutsam aber auch die von Livius aufgestellten Beispiele. Im Vorwort zu seinem Geschichtswerk heißt es: omnis te exempli documenta in inlustri postta monumento intuen: inde tibi tuaeque reipublicäe quodimttere capias, indefoedum inceptu, foedum exittt, quod vifes, cetentm aut me amor negotii suscepti fallit, äut nulla unquam res publica nee maior nee sanctior nee bonis exemplu ditiorfuit... (ab urbe cond. l, 10f.). Daraus wird klar, dass das Exempel ein Kernbegriff für den Zugang des Livius zur Geschichte ist. Im augusteischen Kontext ist ein weiterer Dichter zu nennen, der die Geschichtsauffassung Roms entscheidend mitgestaltet: Vergil konzipiert, die «Gattungsgrenzen» des literarischen Exemplums sprengend, seine Aeneis als ein einziges großes Beispiel. Dabei projiziert er römisches Geschichts-, Verständnis in den Mythos und illustriert durch das Schicksal des Aeneas augusteische Ethik. . . . Vor diesem Hintergrund ist es bedeutsam, dass Müller in seiner Bearbeitung nicht nur inhaltlich auf Livius zurückgreift, sondern auch in der formalen Gestaltung; wobei er gerade diese inhaltlichen und formalen intertextueÜen Bezüge nutzt, um auf sehr subtilem Wege seine Kritik an den in den Prätexten spürbaren affirmativen Haltungen zu äußern. Dass er den Exempelcharakter auf ein dramatisches Stück übertragt, rückt ihn wiederum 4 5
Zum politischen Aspekt der Dichtung Müllers siehe vor allem: Eckardt, Thomas: Der Herold der Toten. Geschichte und Politik bei Heiner Müller, Frankfurt a. M, u. a, 1992. Töchterle, Karlheinz: Heiner Müller und die Antike, länus 17, 1996, 7-25, hier 8.
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in die Nähe des von ihm verehrten Brecht, dessen Bühnenwerk durchwegs aus Lehr- oder Parabelstücken besteht. Im «Horatier» arbeitet Müller nicht nur mit Veränderungen der Grundfabel, sondern er baut auch Versatzstücke ein, die durch ihre befrachtete Bekanntheit als semantische Bauund Stolpersteine gelten, ja unter Umständen alles in einem anderen Licht erscheinen lassen können; er zitiert die ursprünglichen Kontexte mit und eröffnet dadurch neue Aspekte. Dies ist ein sehr komplexer Vorgang, der nun schrittweise nachvollzogen werden soll. Bei Livius wird der Fall des Horatiers auf versöhnliche Art gelöst; Müller dagegen fuhrt ihn zu einem entsetzlichen Ende. Seine Bearbeitung wirft in ihrer drastischen Darstellung der Geschehnisse die Frage auch nach der Berechtigung des ersten, politischen Mordes auf. Das Motiv der Notwendigkeit von Opfern im Dienste des Staates ist bei Müller häufig gestellt (z. B. auch in «Philoktet» und «Mauser»), aber nicht immer positiv beantwortet, «Heiner Müller hat zu viele unnötige Opfer erlebt.»6 Im «Horatier» wird diese Frage in mehrfacher Form durch intertextuelle Bezugnahmen gestellt, die im folgenden in drei Gedankengängen deutlich gemacht werden sollen.
/. Sieger und Mörder, Aeneas als Vorbild Textimmanent besteht in der Beschreibung der beiden Morde kein Unterschied. Müller verwendet beidesmal die Worte: «Daß das Blut auf die Erde fiel» (33, 6l)7 und spricht immer wieder nur vom «zweimal blutigen Schwert» (73 f., 76, 81, 87 f.). Schon dadurch scheint die nachher so deutlich erfolgende Trennung zum ersten Male in Frage gestellt. Besonders lässt jedoch eine Wendung aufhorchen, die berühmt ist und als Wort gelten kann, das in das «Getriebe der Welt» (329) gefallen ist, wie Müller es sagen würde. Es ist die Bitte des Kuriatiers: «Schone den Besiegten». Mit dieser Bitte stellt Müller vor Augen, dass Sieg nicht zugleich Mord bedeuten muss,8 dass also auch politischer Mord nicht immer notwendig ist, wodurch die gesamte folgende säuberliche Trennung von Sieger und Mörder als Schein und Lüge entlarvt wird. Damit ist ein Problem umrissen, aber die Problematik reicht noch viel weiter, denn dieser Satz ist nicht nur Bitte, sondern — als Zitat - zugleich Mahnung, Erinnerung an die Sendung Roms, wie sie in Vergils Aeneis, dem Staatsepos, ausgesprochen istiparcere subiectis (Aen. VI, 851 -3). Der Ausspruch findet sich im Urtext in jener Szene, in der Anchises seinem Sohn Aeneas die künftige Größe Roms zeigt; dieser Auftrag wird zur Staatsmaxime, zur Grundlage der be/lum-iustum-latQ\og.e und nicht zuletzt zur Rechtfertigung jeder politischen 6 7
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Sauerknd, Karol: Notwendigkeit, Opfer und Tod. Über PHILOKTET, in: Heiner Müller-Material, hrsg. von Frank Hörnigk, Leipzig 1990, 189. Dass Müller im übrigen auch die Hinrichtung des Horatiers selbst mit diesen archaisch und unverfälscht klingenden Worten beschreibt (229), beweist, dass er diese Hinrichtung ebenfalls als politischen Mord bezeichnet und in die Kritik mit hereinnimmt. Vgl. dazu Piofidich, Ulrich: Heiner Müller: Der Horatier, in: Deutsche Dramen-Interpretationen zu Werken von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Bd. 2: Von Hauptmann bis Botho Strauß, hrsg. von Harro Müller-Michaelis, Konigstcin/Is 1981, 205-219, hier 212.
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Aktion. Doch das Zitat impliziert auch den Verweis auf einen, politischen Mord, der berühmt und doch angesichts dieses Auftrags ebenso fragwürdig ist, denn dieses edle Wort steht in Kontrast zum Ende des Epos: Gerade Aeneas, der unmittelbare Adressat, setzt sich im Kampf mit seinem Feind Turnus über dieses Gebot hinweg und tötet, nicht aus Notwendigkeit, sondern aus persönlichem Hass (Junis accensus et ira / terribilis, XII, 946 f.). «In vielfacher Hinsicht [...] ist das Faktum des Sieges des Aeneas über Turnus als notwendiger Abschluß der epischen Handlung vorbereitet. Das Problem ist nur, ob der Sieg als Tötung des Gegners, als mitleidlose Rache an dem um Gnade flehenden wehrlosen Gegner ebenso notwendig ist f...].»9 Aeneas verrät mit dieser Handlung «gerade die Prinzipien, zu denen Anchises im Höhepunkt der Heldenschau die künftigen Römer verpflichtet: parcere subiectis et debellare superbos. Denn Turnus ist in diesem Augenblick kein superbus mehr [.,.].»10 Von nun an scheint in Rom Sieg immer auch Mord zu bedeuten und die Reihe historischer Gausamkeiten und Bürgerkriege bezeugt dies. Unter dieser Spannung steht die Aeneis. Besonders seit der Entwicklung der Two voices-Theorie in den sechziger Jahren kommen neue Aspekte in die Diskussion der Schlussszene und ihres Verhältnisses zur Mitte des Epos. Nach« dieser Theorie sind in der Aeneis zwei Stimmen hörbar; die eine offiziell augusteisch, die andere kritisch, die eben mit solch subtilen Mitteln eine zweite Bedeutungsebene schafft, auf welcher der Dichter seine Bedenken und Kritik an römischer Geschichte und Geschichtsdeutung einbringen kann. Danach habe Vergil diese Spannung bewusst aufgebaut und gerade erst dadurch, dass er Turnus um Gnade flehen lässt, einen Stein des Anstoßes ans Ende seines Werkes gesetzt.11 Zwar soll Aeneas zumindest vordergründig als Exernpel des pflichtbewussten rechtschaffenen Bürgers (plus (!) Aeneas} gelten — wie er es in der augusteischen Zeit tat -, doch bleibt diese Spannung und die höchst problematische Stellung dieser Figur ungelöst und wird immer mitgedacht. Gerade aber an solchen Unstimmigkeiten und Konfliktsituationen in den antiken Mythen ist Müller besonders interessiert, denn dadurch kann der Text zur Angriffsfläche werden und aktuell bleiben.12 Es ist deshalb legitim, anzunehmen, dass Müller hier ganz bewusst diese Unstimmigkeit als Freiraum nützt und sie zu seinem iZweck einsetzt. Und in der Tat bleibt er nicht beim Zitat stehen, sondern führt die Anspielung auf das römische Staatsepos in der Figurenkonstellation weiter, gestaltet in seiner Szene auch diesen Kampf des Aeneas mit Turnus nach. Dem Aeneas entspricht der Horatier, dem um Gnade flehenden Turnus der Kuriatier und im weiteren Verlauf (als Opfer persönlicher Gefühlsregung) , die Schwester. Im Handeln des Horatiers wird die Doppelbödigkeit des Aeneasmordes auf zwei Morde aufgeteilt: einmal politisches Anliegen - das aber durch die Bitte des subiectus.. zugleich als Rechtfertigung in Frage gestellt wird -, einmal persönlicher Gefühlsausbruch als Auslöser.
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Suerbaum, Wetner. Vergils Aeneis. Beiträge zu ihrer Rezeption in Gegenwart und Geschichte, Bamberg 1982 (= Auxilia 3), 70. Ebd. 53. ; Vgl. Suerbaum, 63. · Vgl. Kueng, Doris: Der Mensch muß wieder ruiniert werden. Antikenrezeption im Werk Heiner Müllers, Diplomarbeit, Innsbruck 1990, 121.
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2. Meine Braut heißt ROM, Politik wider die Menschlichkeit Es besteht noch ein weiterer intertextueller Bezug zwischen dem Horatier und Aeneas. Im Kampf des Aeneas gegen Turnus geht es um Herrschaft und Braut (Lavinia); im Kampf zwischen dem Horatier und Kuriatier kommt dieses Motiv ebenfalls vor, nur als Gegenwert. Der Kuriatier in seiner Bitte um Gnade und die Schwester des Horatiers durch ihre Trauer um ihren Bräutigam bringen einen Aspekt ein, der über politisches Kalkül hinausreichen könnte. Der Horatier jedoch lehnt diesen Aspekt völlig ab, er verkennt und leugnet den gemeinschaftsstiftenden Wert des Wortes «Braut». Dagegen wird der politische Wert, Roms Macht, absolut gesetzt («Meine Braut heißt Rom», 32) und als Staatsräson über alle menschlichen Beziehungen gestellt.13 Diese unmenschliche Haltung führt zu beiden Morden; sie zeigt sich aber auch in der Einstellung des gesamten römischen Volkes. Und hier spannt sich wiederum der Bogen zur Aeneis. Es geht um die Figur des Vaters. Ein zentrales Bild, das mit dem pius Aeneas verbunden ist, ist seine Beziehung zum alten Vater; auch diese Beziehung spiegelt sich hier und wkd ins Gegenteil verkehrt. Während Anchises in der Mythologie eine sehr edle und erhabene Figur ist, wird der Vater hier nicht angehört, obwohl er das Volk zu Gnade und Versöhnung aufruft und damit, wie seine Tochter, menschliche Bindungen als Möglichkeit der Gemeinschaft und des Friedens sieht. Ist Anchises im sechsten Buch der Aeneis der Mahner der Menschlichkeit und der Sprecher der großen Zukunft Roms, so verhallt hier der menschliche Appell des Vaters unbeachtet in der Menge. Selbst die Beschreibung des Vaters erinnert an Anchises und ruft das so oft zitierte Bild des aus Troja fliehenden Aeneas, der seinen alten Vater auf dem Rücken trägt, in Erinnerung: «sein alter Vater, langsam» (4l).14 Die Konstellation steht hier jedoch dem idealisierten Bild der Aeneis in jeder Hinsicht diametral entgegen. Dadurch wird die Vaterfigur auch der Angelpunkt zur grausamen Veränderung der Geschichte im Vergleich mit Livius: Während der Vater dort die Hinrichtung seines Sohnes verhindern kann und dadurch das Geschehen zum Positiven wendet, wird hier sein Angebot, ihn selbst statt seines Sohnes zu richten, nicht gehört, weil es nicht der Staatsräson und dem Rechtsverständnis entspricht.
3. Bruderkrieg, das Schicksal Roms Die Nichtnotwendigkeit, ja Sinnlosigkeit der beiden Morde des Horatiers wird unterstrichen durch die Tatsache, dass beide als Brudermord zu verstehen sind: Der erste Mord ist der am zukünftigen Schwager, der zweite der an der Schwester. Der Aspekt des Bruderkrieges wird zudem durch eine andere Textstelle thematisiert und in sehr komplexer Weise verdoppelt: Der Leichnam des Horatiers als Sieger soll geehrt werden, derjenige des Horatiers als Mörder dagegen unbestattet den Hunden zum Fraß vorgeworfen werden (265 f. und 306). Diese unterschiedliche Behandlung ist wörtlich aus 13 14
Vielleicht spiegelt sich in diesem Doppelmotiv wieder eine Aeneashandlung und wird als fragwürdig entlarvt: Die Hochzeit des Aeneas mit Lavinia ist letzten Endes nur machtpolitisches Kalkül. Inmitten der blind begeisterten Menge und seiner Kinder ist der Vater der einzig bedächtige, während sich das Pathos seines Sohnes und seiner Tochter z. B, im Wort «schrie» (z. B. 30, 47) zeigt, nimmt er gefasst das Geschehen wahr, wird aber gerade deshalb nicht gehört.
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der griechischen Mythologie bekannt: Die Brüder Eteoldes und Polyneikes fallen im Zweikampf, der eine im Interesse der Stadt, der andere als Feind der Stadt, der Leichnam des ersten wird geehrt, derjenige des zweiten unbestättet den Vögeln und Hunden vorgeworfen (vgl. Sophokles, Antigone 205 f.). Indem diese Behandlung am Horatier vollzogen wird, die beiden griechischen Brüder in ein und derselben Person verschmelzen, ist dieser Täter und Opfer zugleich, des Brudermordes schuldig und Opfer eines solchen, wobei auch das römische Volk sich am Bruderkrieg beteiligt. In der Tat wird die Hinrichtung des Horatiers mit denselben Worten beschrieben wie die beiden Morde vother (vgl. Anm. 7); dadurch wird der Brudermord ohne wertende Ordnung verdreifacht. In dieser Komplexität kann die Absurdität der scheinbaren römischen Gerechtigkeit entdeckt werden. Der intertextuelle Bezug zu Vergil geht also von einem Kernzitat aus, das besonders als politisch genutztes Wort in einem erneut politisch zu lesenden Text wirkt,1S und greift auf die Figurenkonstellation und Problemstellung über. Dass diese Bedeutungsebene, weiche durch die intertextuellen Bezugnahmen entsteht, von Müller einkalkuliert ist, zeigt die Reflexion über «Reinheit und Unreinheit der Worte», die er seine Figuren anstellen lässt: Es ist nicht unwichtig, wie ein Ereignis einmal in der Literatur dargestellt werden wird, und dadurch erhalten wir die zentrale Stellung des Vergilzitats bestätigt. Es sind große Worte, die in das «Getriebe der Welt fallen uneinholbar» (329) und sich doch durch die Geschichte als «unreine Wahrheit» (332) entlarven.16 Und wenn Aeneas und nun auch der Horatier als Exempel gelten sollen und können («Rom und das Beispiel, das es gegeben hat oder nicht gegeben», 278 f.) - und durch diesen Exempelcharakter lässt sich die Konzentration der Geschichte auf eine Figur erklären —, so nicht nur für die Geschichte Roms, sondern für die Geschichte der Menschheit immer dann, wenn sich Macht auf scheinbare Gerechtigkeit gründet und politischen Mord als Sieg zu rechtfertigen gedenkt. Über den kämpferischen Charakter des Exempels Rom, der auch durch den Versuch der theoretischen Gerechtigkeit nicht vertuscht werden kann, gibt die Häufigkeit des Wortes «Schwert» (39 mal im Werk) Auskunft, und bezeichnenderweise endet das Werk mit dem Satz: «im Griff / Neben Pflug, Hammer, Ahle, Schreibgriffel das Schwert». Das Schwett, herausgehoben durch den Artikel, ist neben Arbeit und - explizit genannt ^ politischer Literatur ebenfalls Tragpfeilef der Macht Roms. Auf welche Gesellschaft immer Müller sich mit seiner Anklage bezog, ob auf die stalinistische in Russland - abgesehen von der Entstehungszeit weist auch der im Text vorkommende Begriff «Hammer» (der «Sichel» assoziiert) daraufhin -, oder allgemein auf jede diktatorische, er beginnt mit dem Imperium Romanum. Wenn man das Werk unter dem Motto des Vergilzitats betrachtet, erweist sich die Frage nach dem Dilemma von Mörder und Sieger im «Horatier» nahezu als grotesk und verschiebt sich hin zur allgemeinen Kritik an politischen Morden und sogenannten für den Staat notwendigen Opfern. Müller erweist sich in diesem Sinne auch hier als «Herold der Toten».17 * 15
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Das Werk politisch zu lesen ist durch seine Entstehungszeit (1968 nach dem Prager Frühling) gerechtfertigt. Heiner MüJler: «Der Text war meine Reaktion auf Prag 1968, ein Kommentar zu Prag» (Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln 1992, 258). Vgl. dazu auch Seidensticker, Bernd: Exerhpla. Römisches in der literarischen Antikenrezeption nach 1945, Gymnasium 101, 1994, 7-41. Diese Ausdruck stammt aus. dem Titel des Werkes Eckardts, s. o. Anm. 5.
Der Horatier, Aeneas und das Exempel
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Der letzte Vers und die vielfältige Bedeutungsstruktur des Werkes geben Einblick in das Kunstverständnis Müllers. Er sieht die Aufgabe des Künstlers in einer politisch gestaltenden Ko-Autorschaft18 und macht deshalb das Zitat des römischen Staatsdichters zum Schlüssel seiner Frage- und Problemstellung und diesen selbst zum Exempel des politischen Autors.
lb
Vgi. Eke, Korbert Otto: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie, Padcrborn u. a. 1989, 23. Eke stellt auch fest. «Daß in diesem Spiel nicht die Frage individueller Moralität zur Diskussion steht, auch nicht die Legitimierung der (revolutionären) Gewalt, sondern vielmehr der Umgang mit der historischen Wahrheit, das verbindet den Horatier mit Müllers /^/M/W-Bearbeitung, während das Bestehen auf der Einheit der Widersprüche die Brücke zu dem 1970 geschriebenen Stück Aiauser schlägt [...]» (Eke, Norbert Otto: Heiner Müller, Stuttgart 1999, 127).
KLAUS DÖRING Sokrates auf der Opernbühne Zum Karneval des Jahres 1680 - genauer gesagt: am 29. Februar dieses Jahres — wurde im großen kaiserlichen Ballhaus in Prag die Oper Lapatienya di Socrate con due moglie aufgeführt. Es war dies, soweit mir bekannt, das erste Mal, daß Sokrates auf der Opernbühne erschien. Komponist der Oper war Antonio Draghi, das Libretto hatte Nicolo Minato verfaßt.1 Den Inhalt der Oper hat Minato zu Beginn des Textheftes so zusammengefaßt (ich zitiere nach der deutschen Übersetzung des Textheftes, die gleichzeitig mit der italienischen Originalfassung unter dem Titel Die Gedult des Socrates mit qvejen Ehe-Wirthinen erschien2): «Als die Athener die Stadt Athen, welche wegen der langen Krieg an Mannschafft er^ schöpffet-war, wieder volckreich machen wolten, haben sie ein Gesätz geschlossen, daß alle Innwohner, sie seyen gleich Bürger oder Frembde, solten zwey Weiber nehmen. Socrates, der berühmte Weltweise, durch diese Ordnung hierzu gezwungen, nam Santippe und Amitta, eine nahe Blutsfreundin3 des Aristides, Weiber, die zu seinen Unglück zänkisch, geschwätzig und unruhig waren. Sie zanckteri sich offt seinet wegen, und er lachte darüber, indem ihm WoD bewußt war seine häßliche Gestalt und seines Leibes Unförmb• lichkeit Die Beschwerden sind nicht zu erzehlen, welche sie ihm verursachet, und die Schmähwort, die sie ihm gegeben, so gar, daß sie ihn geschlagen und auß den Hauß gejaget haben. Er hergegen hat auß allen diesen ein Kurtzweil getrieben und alles gedultig erlitten: Er war einer der klugesten Männer nicht nur in der natürlichen, sondern auch in der sittlichen Welt^Weißheit, Der Poet Aristofanes war auß lauter Neid sein Ertzfeind. Er hat viel Schüler gehabt und unter anderen den Plato, den Alcibiades, und den Xenophon. Es wird gedichtet, daß in Ansehung des Gesätzes zwey Weiber zu nehmen, etliche Vättet diesen Gebrauch eingefuhret, daß sie den Söhnen ein Weib nach ihren Willen gegeben und die andere nach ihren Gefallen zu nehmen erlaubet. Zu diesen End hat sich Melito, ein Printz von Athen, welcher von zweyen Princessinen, Rodisette und Edronica, .geliebet, weilen er zu seiner Gemahlin eine, welche ihm sein Vatter aüßgesuchet haben muste und die andere zu erwählen ihm frey stunde, auff alle Weiß verwkt befunden, welche er auß diesen beyden, so ihn liebten, nehmen solte. [..^].» Soweit die Inhaltsangabe. Aus ihr geht hervor, daß die Handlung aus zwei Strängen besteht, die durch das Gesetz, welches die Ehe mit zwei Frauen fordert, miteinander verbunden' 1
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N. Minato, La patien^a di Socrate con dtte mogln (Prag 1680) [Textbuch: Österreichische Nationalbibliothek, Musiksammlung, 407,385 - A. M (TB); handschriftliche Partitur der Oper: Österreichische Nationalbibliothek, Musiksammlung, Mus. Hs. 16.036 Leopoldina]. Ein kleiner Ausschnitt aus Draghis Vertonung der Oper in: A. Schering: Geschichte der Musik in Beispielen (Leipzig 1931, Ndr. 1953) Nr. 226 S. 296301. Die Gedult des Socrates mit^eyen Ebe-Wirthimn. Lustiges Schau-Spiel in der Musik (Prag 1680) [Österreichische Nationalbibliothek, Musiksammlung, 4.618 - A. M (TB)]. Der Verfasser des deutschen Textheftes hat den Singular der italienischen Originalfassung des Librettos fälschlich in einen Plural verwandelt («nahe Blutsfreundinnen»). Ich habe das korrigiert.
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sind. Für den ersten Strang — die Sokrateshandlung - greift Minato auf Materialien zurück, für die es historische Quellen gab, der zweite Strang - die Melitohandlung - ist, wie er selbst sagt, reine Erfindung. Den zweiten Strang mußte Minato hinzudichten, weil der erste allein für ein Libretto nicht genug hergegeben hätte. Uns geht es hier natürlich vor allem um den ersten Strang: die berühmte Geschichte von der Bigamie des Sokrates. So wie sie dem Libretto zugrundliegt, setzt sie sich aus drei Bauelementen zusammen, nämlich 1. dem Gesetz, welches fordert, daß jeder Athener zwei Frauen haben soll; 2. der Ehe des Sokrates mit Xanthippe und Amitta; und 3. den ständigen Streitereien der beiden Frauen und der Reaktion des Sokrates darauf. Die Auftritte einiger Schüler des Sokrates und des Dichters Aristophanes füllen die Handlung auf. Von den drei genannten Bauelementen ist die Doppelehe des Sokrates das älteste.4 Athenaios bezeugt (l3,556 a), daß die früheste Quelle dafür Aristoteles' verlorener Dialog (frg. 3 pp. 58-59 ROSS = frg. 71,1-2 Gigon) gewesen sei. Dort hieß es, Sokrates habe zunächst Xanthippe und dann später noch zusätzlich eine verarmte Enkelin oder Urenkelin Aristeides' des Gerechten namens Myrto - Minatos Amitta - geheiratet. Von ihnen habe ihm die erste den Lamprokles und die zweite die beiden Söhne Menexenos und Sophroniskos geboren. Soweit erkennbar, ging es in dem Teil der Schrift, in dem Aristoteles diese Geschichte erwähnte, um die Frage, wie es dazu kommen kann, daß Kinder edler Herkunft Degenerationserscheinungen zeigen. Als Beispiel dafür wurden - wohl neben anderen - die beiden Kinder genannt, die Myrto, die aus einer der vornehmsten Familien Athens stammte, Sokrates geboren hatte. Nach Aristoteles wird die Geschichte von den beiden Frauen des Sokrates immer wieder erzählt, wobei im einzelnen vielerlei variiert wird. Darauf brauche ich nicht einzugehen. Früheste Quelle dafür, daß es einen Volksbeschluß gegeben habe, welcher von den Athenern forderte — so Diogenes Laertios (2,26) — bzw. es ihnen gestattete — so Athenaios (l 3,556 a) — zwei Frauen zu haben, ist für uns der Peripatetiker Hieronymos aus Rhodos, der im 3. Jh. v. Chr. lebte (fr. 45 Wehrli). Zu diesem Volksbeschluß soll es deshalb gekommen sein, weil man wegen der starken Verluste an Menschen, vor allem an Männern, die der Peloponnesische Krieg zur Folge gehabt hatte, die Geburtenzahl habe erhöhen wollen. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich bei diesem Volksbeschluß um eine spätere Erfindung, die der Ehrenrettung des Sokrates diente. Athenaios, dem wir die Information verdanken, daß Hieronymos den Volksbeschluß in einer seiner Schriften zitiert habe, zieht ihn jedenfalls in genau diesem Sinne heran. Er will die Geschichte von den beiden Frauen nur dann glauben, wenn es den Volksbeschluß tatsächlich gab; dies - so Athenaios - würde dann auch erklären, warum die Komödiendichter, die Sokrates doch so häufig erwähnen, nie auf die zwei Frauen zu sprechen gekommen sind; es war dies dann eben etwas ganz Normales (Athen. 13,556 a-b). Bei Diogenes Laertios finden sich keine derartigen Zweifel. Ohne jeden Kommentar teilt er mit (2,26), der Biograph Satyros und der schon erwähnte Peripatetiker Hieronymos hätten folgendes berichtet: «Wegen des Schwunds an Menschen hätten die Athener die Bevölkerungszahl erhöhen wollen und deshalb durch einen Volksbeschluß festgelegt, daß man eine Bürgerin heiraten, Kinder aber auch mit einer anderen zeugen solle; dies habe daher auch Sokrates getan.» Das überlieferte Material ist.zulem zusammengestellt und gesichtet worden von L. Labarbe, Les compagncs de Socrate, in: I/Antiquitc classique 67 (1998) 5-43.
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Das letzte der drei Bauelemente, aus denen sich die Sokrateshandlung von Minatos Libretto zusammensetzt, die st ndigen Streitereien der beiden Frauen und die Reaktion des Sokrates darauf, ist erst ziemlich sp t bezeugt. Fr heste Quelle daf r ist ein Fragment aus der verlorengegangenen Φιλόσοφος Ιστορία des Neuplatonikers Porphyrios (ca. 234— 301/5) (F 215,10-14 Smith), das bei Theodoret (ca. 393-466) erhalten ist (Graecarum affectionum wratio 12,65). Nachdem sich Porphyrios zun chst im Anschlu an Aristoxenos ber die Doppelehe des Sokrates mit Xanthippe und Myrto ausgelassen hat, fahrt er fort: «Diese pflegten handgreiflich gegeneinander zu werden; und wenn sie damit aufgeh rt hatten, dann fielen sie ber Sokrates her, weil er sie nie an ihren Zankereien hinderte, sondern nur lachte, wenn er sah, wie sie sich miteinander und mit ihm zankten.» Ob Porphyrios die Streitereien der beiden Frauen selbst erfunden5 oder ob er sie einer uns unbekannten Quelle entnommen hat,6 mu offenbleiben. Die Anregung dazu d rfte auf jeden Fall die notorische Streitsucht der Xanthippe und der Gleichmut und die berlegenheit gegeben haben, mit der Sokrates ihr begegnete. Der locus classicus» an dem dieses Motiv zum ersten Mal breiter ausgef hrt wird, findet sich in Xenophons Symposion (2,10): «Wieso, Sokrates,» '<- so fragt Antisthenes dort - «erziehst du [...] denn Xanthippe nicht, sondern hast an ihr die schwierigste Frau von allen, die es gibt, ja, ich glaube, sogar von allen, die es gegeben hat und geben wird?» Und Sokrates antwortet: «Weil ich sehe, da Leute, die gute Reiter werden m chten, sich nicht die gutm tigsten Pferde, sondern die feurigen nehmen. Sie glauben n mlich, wenn sie solche zu meistern imstande sind, werden sie mit den anderen Pferden gewi leicht umgehen k nnen. So habe auch ich, weil ich mit Menschen umgehen und zu tun haben wollte, mir diese Frau genommen; denn ich wu te genau: Wenn ich die ertragen kann, werde ich mit allen anderen Menschen leicht auskommen.» Von dem Gesetz war bei Porphyrios, soweit wir sehen k nnen, nicht die Rede. Sieht man von Theodoret ab, dem wir das Porphyrios-Zitat verdanken, dann gibt es nur noch einen einzigen weiteren Text aus der Antike, in dem von den Streitereien der beiden Frauen des Sokrates und seiner Reaktion darauf die Rede ist. In seiner im Jahre 393 verfa ten Schrift Adversus lovinianum schreibt der Kirchenvater Hieronymus (1,48): «Sokrates hatte zwei Frauen, Xanthippe und Miro (sie!), eine Enkelin des Aristeides. Diese zankten sich h ufig miteinander, und er war gewohnt sie auszulachen, weil sie sich seinetwegen stritten, eines so au erordentlich h lichen Menschen, mit St lpn se, kahler Stirn, behaarten Schultern und O-Beinen. Am Ende richteten sie eine Attacke gegen ihn, straften ihn bel und verfolgten ihn, wenn er die Flucht ergriff, lange.»7 Was Hieronymus berichtet, weicht so stark von,dem ab, was in Porphyrios' Φιλόσοφος ιστορία zum gleichen Thema gesagt war, da diese ihm nicht als Quelle gedient haben kann. Woher Hieronymus sein Wissen dann hatte, l t sich nicht ermitteln.8 Doch ist es 5 6
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So E. Bickel, Diatrtbe in Senecae philosophi fragmenta, vol. I: Fragmenta de matrimonio (Leipzig 1915) 136. Diese Quelle k nnte dann jedoch nicht Aristoxenos sein, wie Wehrli annimmt, der auch diese Geschichte unter die Zeugnisse f r den Σωκράτους βίος des Aristoxenos aufnimmt (fr. 54b,21-23). Dagegen spricht, da Aristoxenos eine dezidiert negative Darstellung des Sokrates gab, die Geschichte von den Streitereien der .beiden Frauen aber auf die Gelassenheit hinausl uft, die Sokrates ihnen gegen ber an den Tag legte. bersetzt nach Bickel, Diatribe in Seneca« philosopbi fragmenta (wie Anm. 5) 390; SSRIG 90,7 fehlt nach loco das Partizip ingerenti. Bickel (wie Anm. 5) 132-133 hat vermutet, es sei eine andere uns unbekannte Schrift des Porphyrios gewesen.
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für uns jetzt auch nicht nötig, dies zu wissen. Worauf es für uns allein ankommt, ist, daß der Text des Hieronymus die Quelle ist, von der sich direkt oder indirekt alles herleitet, was im späteren Mittelalter und der frühen Neuzeit über die Streitereien der beiden Frauen des Sokrates und dessen Reaktion darauf erzählt oder bildlich dargestellt wird. Als Beispiel für das letztere sei auf die betreffende Darstellung im Panws mundus des Laurentius Haechtanus (Antwerpen 1579) verwiesen [Abb. S. 20l].9 Daß diesem Bild der Text des Hieronymus zugrunde liegt, wkd dadurch bewiesen, daß mit der Szene, um die es uns hier geht, auf ihm eine zweite kombiniert ist, die bei Hieronymus unmittelbar anschließend beschrieben wird: «Einmal aber hatte Xanthippe endlose Schimpfereien von oben über ihn niedergehen lassen und er hatte es hingenommen. Als sie dann schmutziges Wasser über ihm ausschüttete, trocknete er sich den Kopf ab und entgegnete nicht mehr als: vermindert gewesen sei, stand vermutlich schon in der nicht erhaltenen lateini9 10 11
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Den Hinweis darauf verdanke ich Rudolf Rieks. Vgl. Diog. Laert. 2,36. Sen., const. sap. 18,6. Epict., diss. 4,5,33. Athen. 5,219b. Wörtlich zitiert z, B. bei Vincentius Bellovacensis (gest. 1264) im Speculum historiale, über III 57 und bei Johannes Gallensis (auch Guallensis oder Vallensis) (gest. 1285) in der Summa de regimine vite humaney Compendiloquium III Pars dist 3 cap. 5; ferner in dem kurz vor 1326 entstandenen Über de inta et moribus philosophorum (vgL dazu unten S. 203); Bezugnahmen in freierer Form z. B. in Brunetto Latinis vor 1260 entstandenen Fiore dißlosoß e di molii favi (cd, A. Capelli [Bologna 1865, ND Bologna 1968] 5), bei Robert Holkot (gest 1349) in der Schrift Super libros sapientiae, cap. III lect. 37, bei Boccaccio (13131375) in der Esposi^ione sopra la Commedia, Canto IV espesizione litterale 265 [Tutte le opere Bd. 6 (Mailand 1965) 236) (wohl vermittelt durch den Liber de vita et monbus philosophorum), bei Geoffrey Chaucer [1340-1400] in den Canterbury Tales in: The wife ofBatb's Prolo&te, 727-732 (T 6309-6314], im Dialogus cnaiurarum optime moraKqttus (nach 1450), dial. 81 (hier wird Seneca als Quelle genannt, wohl zu Unrecht, vgL Bickel [wie Anm. 5] 131-132) und bei Lodovico Guicciardini (1523-1589), L'Ore di ricreayone Nr. 95 [a cura di Anne-Marie van Passen (Rom 1990) 81 -82]. Mario Grignaschi, Lo pseudo Walter Burley e il «Liber de vita n moribus philosophorum», in: Medioex'o 16 990) 131-190; hier 131-169 zu Entstehungszeit und Verfcsserfrage. Gualterius Burlaeus, Über df rifa et moribus philosopborum. Hrsg. von Hermann Knust (Tübingen 1886, Ndr. Frankfurt 1964).
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sehen Übersetzung des Diogenes Laertios, die der Autor benutzte;14 jedenfalls findet sie sich auch in der frühesten erhaltenen Übersetzung, derjenigen des Ambrogio Traversari, die postum wahrscheinlich 1472 gedruckt wurde.15 Im Anschluß an den zitierten Satz referiert der Autor des Über sodann wörtlich und mit Nennung seiner Quelle, was Hieronymus in seiner Schrift Adversus lovinianum über die Zankereien der beiden Frauen des Sokrates und dessen Reaktion berichtet. In dem Zeitraum zwischen dem Über de vita et moribus philosophorum und Minatos La patien^a di Socrate con due moglie entstanden zwei ausführliche Sokratesbiographien. 1440 verfaßte Giannozzo Manetti (1396-1459) die erste eigenständige Sokratesbiographie, kombiniert mit einer Biographie Senecas;16 und 1656 erschien Francois Charpentiers La vie de Socrate. Sowohl Manetti als auch Charpentier schöpfen, was die uns interessierende Thematik betrifft, wie der Verfasser des Über de vita et moribus philosophorum aus Diogenes Laertios und Hieronymus. Anders als dieser setzen sie, was sie dort fanden, jedoch frei um. Charpentiers Buch war für viele Jahrzehnte die repräsentative Sokratesbiographie. Man erkennt dies daran, daß es mehrfach nachgedruckt17 und auch ins Deutsche übersetzt wurde, übrigens von keinem geringeren als dem berühmten Philosophen und Juristen Christian Thomasius.18 Man könnte also vermuten, daß auch Minato auf dieses Buch zurückgriff. Das ist jedoch nicht der Fall. Er muß den Text des Über de vita et moribus philosophorum vor Augen gehabt haben, der seit seinem Erscheinen immer wieder nachgedruckt und in mehrere Sprachen (Spanisch, Deutsch, Italienisch) übersetzt worden war.19 Stellt man nämlich Minatos Inhaltsangabe neben diesen Text, dann liest sich diese Inhaltsangabe wie eine freie, teils etwas angereicherte, teils etwas gekürzte Übersetzung des entsprechenden Abschnitts im Über de vita et monbus philosophorum: «Als die Athener die Stadt Athen, welche wegen der langen Krieg an Mannschafft erschöpffet war, wieder volckreich machen wolten (A/benienses volentes augere multitudinem que ex bellis etpeste fuerat diminuta), haben sie ein Gesätz geschlossen, daß alle Innwohner, sie seyen gleich Bürger oder Frembde, solten zwey Weiber nehmen (decreverunt ut unusquisque Atheniensium plures baberet uxores). Socrates, der berühmte Weltweise, durch diese Ordnung hierzu gezwungen, nam Santippe und Amitta, eine nahe Blutsfreundin des Aristides (accepit erga Socrates duas uxores, Xanthippen et Mitro neptem Anstidis\ Weiber, die zu seinen Unglück zänkisch, geschwätzig und unruhig waren. Sie zanckten sich offt seinet wegen, und er lachte darüber, indem ihm woll bewußt war seine häßliche Gestalt und seines Leibes Unförmblichkeit (quae cum crebro inter se iurgarent et ille eas inridere esset solitusj quodpropter sefoedissimum hominem simis naribus, recaha fronte, pilosis umeris et repandis cruribus disceptarent...). Die Beschwerden sind nicht zu erzehlen, welche sie ihm verursachet, und die Schmähwort, die sie ihm gegeben, so gar, daß sie ihn geschlagen und auß den Hauß gejaget haben (novissime verterunt in eum impetum et mulctatum fugieniemque diu persecute st/nt.). 14
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Vielleicht war es diejenige des Henricus Arisrippus (gest. 1162 oder kurz danach), wenn es sie denn wirklich gegeben hat; vgl. Ch. H. Haskins, Studies in the history of mediacval science (New York 1924) 166. Der Text der Übersetzung Traversaris wird zitiert in: Manctti, Vita Socratis et Senecae (wie Anm. 14) 139, Anm, zu 18-23. Giannozzo Manetti, l/ifa Socratis et Senecae. Introd., testo e apparati a cura di Alfonso De Pctris (Florenz 1979). Francois Charpentier, rit dt Socrate (Amsterdam 1656, danach: Paris 1657, 1668, Amsterdam 1699). Das Ebenbild eines wahren und ohnptdantischen Phifosaphi, oder: Das Leben Socratis, aus dem Frantzösischen des Herrn Charpentier ins Teutsche übersetzt von Christian Thomas (Halle 1692, danach 1693 und 1720). Vgl. Knust in seiner Ausgabe des Liber (wie Anra 13) 405-416.
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Wenden wir uns nun Minato und seinem Libretto zu. Zunächst ein paar Bemerkungen zur Person Nicolo Minatos. Geboren wurde Minato um 1630 in Bergamo. Nachdem er sich in Venedig einen Ruf als Librettist erworben hatte, wurde er 1669 an den kaiserlichen Hof in Wien berufen. Dort blieb er bis zu seinem Tod im Jahre 1698. Minato verfaßte über 100 Libretti für Opern20 und etwa 100 weitere Libretti für andere Werke. Die Themen zu seinen Opernlibretti waren zumeist der antiken Geschichte entnommen, vereinzelt dem antiken Mythos. Eine Sondergruppe der Libretti mit Themen aus dem Bereich der antiken Geschichte bilden die vier Philosophenkomödien (vertont allesamt von Draghi): Le risa di Democrito (1670), G/' atomi d'Epicuro (1672), La lanterna dt Diogene (1674) und Lapatien^a di Socrate con duefftoglie(1680). In allen diesen Stücken ist in unterhaltsamer Weise dargestellt^ wie es um einen unerschütterlichen Weisen herum unter den ihn umgebenden Menschen zu vielerlei zumeist frei erfundenen Wirrnissen kommt, wobei solche, die durch die Liebe hervorgerufen werden, eine besondere Rolle spielen.21 Die Handlung des Librettos der Sokratesoper ist in ihren Grundzügen schon bekannt. Ich möchte jetzt auf ein paar Einzelheiten zu sprechen kommen. Zur Erinnerung: Die Handlung besteht aus zwei Strängen, der Sokrates- und der Melitohandlung. Zunächst zur Sokrateshandlung. Die agierenden Personen sind: Sokrates; seine beiden Frauen Xanthippe und Amitta; Sokrates' Schüler Plato, Alkibiades und Xenophon, ferner ein «einfältiger Schüler», wie es heißt, namens Pitho, besser gesagt: eine Art Diener; schließlich Aristophanes, «ein Poet und Socrates Ertzfeind». Die Handlung ist ins bürgerliche Milieu verlegt: Sokrates erscheint als abgeklärter und geduldiger Weiser. Zu Beginn (l .-Akt, 1. Szene) sitzt er in seiner Studier- und Schulstube an einem Tisch mit ein paar Büchern und freut sich seines Gelehrtenlebens. Da stürmen die beiden Frauen, sich gegenseitig heftig beschimpfend und an den Haaren ziehend, herein (2. Szene). Sokrates stellt sich zwischen sie, so daß sie sich wenigstens körperlich nicht mehr attackieren können. Dann bringt er sie dazu, ihm den Grund ihres Streites zu nennen: Er hat jeder von beiden eine Henne geschenkt. Das Unglück will es nun, daß Amittas Henne jeden Tag zwei Eier legt, Xanthippes aber nur eins. Xanthippe ist deshalb eifersüchtig auf Amitta. Nach einigem Hin und Her gelingt es Sokrates, den Streit zu beenden: Amitta soll Xanthippe jeden zweiten Tag ein Ei abgeben; dann haben beide gleich viele. Die beiden Frauen akzeptieren den Schiedsspruch und ziehen zufrieden ab. Sokrates' Schüler Plato, Alkibiades und Xenophon erscheinen (3. Szene), rühmen den Wert der Bildung und begrüßen ihren Lehrer ehrerbietig. Doch schon kommt Xanthippe gerannt (4. Szene), um sich zu beschweren: Sie will gleich das erste Ei haben, das Amittas Henne legt, weil sie Sokrates mehr liebe, als. Amitta dies tue. Sokrates findet die Aufregung lächerlich; er versucht, Xanthippe dazu zu veranlassen, seine Studierstube zu verlassen. Xanthippe ist empört. Mit schlimmen Dro-. hungen gegen ihn zieht sie sich zurück (S. 7 — 8): «Ich sag dir, ich will das erst gelegte Ay haben, und wann du mir solches nicht bekommen machst, so will ich dir die Kleider zerreissen, die Speisen solstu jederzeit mit Aschen vermischt und übel zugericht finden, dein Federbet soll hart und niemahl auffgerichtet 20 21
Die Titel in: The New Gtove Dictionary of Opera, vol. 3, 403-404 (Minato, Count Nicolo). Zu Le risa di Democrito, G/' atomi d'Epiatro und La lanttrna di Diogene vgl. Herbert Seifert, Oper am Wiener Kaiserhof im 17. Jahrhundert (Tutzing 1985) 226-228. 246-262.
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werden, zu Nachts will ich dir deine Haare außrauffen, und, du schlaffest gleich oder wachest, mit dir greinen.» In diesem Sinne geht es weiter: Immer wieder geraten die beiden Frauen in heftigen Streit, der zumeist dadurch ausgelöst wird, daß Xanthippe meint, sie komme zu kurz, und immer wieder bemüht sich Sokrates, Frieden zu stiften. Amitta tritt dann zumeist früher oder später den Rückzug an, während Xanthippe ihre Wut danach mehrfach gegen Sokrates kehrt und gegen ihn tätlich wird. Es würde zu weit fuhren, wollte ich den weiteren Verlauf der Sokrateshandlung im einzelnen nacherzählen. Nur dies wenige sei noch gesagt: Zwischen den Szenen, in denen sich die beiden Frauen streiten und Sokrates sich bemüht, Frieden zu stiften, erscheinen immer wieder die drei Schüler Plato, Alkibiades und Xenophon und rühmen den Wert der Bildung; Pitho spielt die Rolle des servo scemotto, des schwachköpfigen Dieners, die die Komödie von der commedia deWarte übernommen hatte; und zwischen Sokrates und Aristophanes kommt es hier und da zu Begegnungen, bei denen sich die beiden wechselseitig beleidigen. Im Verlauf des Stückes schiebt sich der zweite Handlungsstrang, die Melitohandlung, mehr und mehr in den Vordergrund, und zwar deshalb, weil die Möglichkeiten der Sokrateshandlung allmählich ausgeschöpft sind. Rodisette und Edronica sind beide in Melito, den Sohn des Nikias, des Königs von Athen, verliebt. Die beiden Frauen werden ihrerseits von Antippo geliebt, der sie beide heiraten möchte, was ja nach dem Gesetz möglich ist. Seine Liebe findet bei ihnen jedoch keine Resonanz, da sie beide in Melito verliebt sind. Melitos Vater Nikias läßt Sokrates in den Palast holen, damit er ihm in folgender Angelegenheit mit seinem Rat aus der Klemme helfe: Nikias will erreichen, daß Melito seiner vom Gesetz geforderten Pflicht nachkommt und zwei Frauen heiratet. Ihm ist bekannt, daß Rodisette und Edronica in Melito verliebt sind. Außerdem hat er den Eltern eines Mädchens namens Calissa versprochen, ihre Tochter mit seinem Sohn zu verheiraten. Nun ist er in einer prekären Lage: Drei Frauen darf Melito nicht heiraten. Von den zweien, die er heiraten muß, muß eine, wie es der Vater versprochen hat, Calissa sein. Wer aber soll die zweite sein, Rodisette oder Edronica? Auch hier wieder verzichte ich darauf, den weiteren Verlauf der Handlung im einzelnen zu referieren. Eine Lösung des Problems kommt schließlich dadurch zustande, daß zunächst der Vater der Calissa auf seinen Anspruch, seine Tochter mit Melito zu verheiraten, verzichtet und dann das Gesetz, das die Ehe mit zwei Frauen fordert, vom Rat von Athen aufgehoben wird, weil inzwischen genug Nachwuchs gezeugt worden ist. Außerdem hat der Rat beschlossen, Sokrates solle als Schiedrichter entscheiden, ob Melito Rodisette oder Edronica heiraten soll. Durch eben Test ermittelt Sokrates, daß Rodisette Melito heftiger liebt. Er entscheidet daher, daß sie Melitos Frau werden solle. Edronica fühlt sich zutiefst verletzt und kündigt an, sie werde sich umbringen. Da erscheint Antippo. Mit der Unterstützung des Nikias, des Sokrates und des Melito gelingt es ihm, Edronica dazu zu bewegen, ihn zum Mann zu nehmen. Damit endet das Libretto. Bei der Opernaufführung folgte danach noch ein Ballett, getanzt von den beiden Brautpaaren und Sokrates mit seinen beiden Frauen. Libretti waren damals eigenständige Texte. Sie waren nicht an ihre erste Vertonung gebunden, sondern führten ihr eigenes Leben. Nachdem sie zum ersten Mal veröffentlicht waren, wurden sie mehr oder minder als Gemeingut angesehen. Andere Komponisten
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konnten sich entschließen, sie erneut zu vertonen, sei es in ihrer ursprünglichen Form, sei es in einer Bearbeitung durch einen neuen Librettisten.2^ Nehmen wir als Beispiel das Libretto mit dem Titel Xerse, das Minato als sein zweites verfaßte und das 1654 in Venedig mit der Musik von Francesco Cavalli aufgeführt würde. 40 Jahre später wurde es von Silvio Stampiglia bearbeitet und mit der Musik von Giovanni Bononcini 1694 in Rom aufgeführt, Noch einmal gut 40 Jahre später erfuhr Stampiglias Bearbeitung durch einen unbekannten Autor eine erneute Bearbeitung und wurde mit der Musik von Händel 1738 in London aufgeführt (Serse).23 , Von Minatos Philosophenlibretti scheint allein Gl' atomi d'Epiwro nach der ersten Vertonung durch Draghi keine weitere Bearbeitung gefunden zu haben. Le risa di Demomto wurde 1703 in Leipzig in deutscher Übersetzung unter dem Titel Der lachende Democntus mit der Musik von Telemann aufgeführt;24 La lanterna di Diogene von Postel für die Hamburger Oper bearbeitet und dort 169l unter dem Titel Diogenes cynicus mit der Musik von Conradi oder Förtsch aufgeführt.25 Das reichste Nachleben hatte das Sokrateslibretto: Es wurde in der Folgezeit mindestens viermal bearbeitet, dreimal für die Opernbühne und einmal für das Sprechtheater. Die Bearbeitung für das Sprechtheater war die erste. Sie kam schon wenige Monate nach der Aufführung von Minato/Draghis Oper auf die Bühne: Ende August 168026 wurde am Hoftheater von Wolfenbüttel das Schauspiel Die ^wey Weiber oder die Gedult des Socrates aufgeführt, das Christian Flernmer verfaßt hätte.27 Flemmer war Sekretär Anton Ulrichs, des. Herzogs von Braunschweig-Wolfenbüttelj der selbst ein wesentlich bedeutenderer Schriftsteller war, vor allern als Verfasser zweier voluminöser Romane. Flemrner hatte seil dem Ende der 60er Jahre Gedichte veröffentlicht. Kurz vor seinem Tod 1681 oder 1682 würde er in den Pegnesischen Blumenorcten aufgenommen.28 Der Ablauf der Handlung ist bei Flemmer der gleiche wie bei Minato. Da Flemmer sein Stück jedoch nicht für die Opernbühne, sondern für das Sprechtheater geschrieben hat, braucht er natürlich viel mehr Text. Dieses Mehr gewinnt er zunächst einmal dadurch, daß er alles erheblich wortreicher ausführt. Um das komische Element zu stärken, räumt er außerdem der Gestalt Pithos mehr Raum ein ( 12 und 13). Vor allem aber führt er einen zusätzlichen dritten Handlungsstrang ein, den er an Calissa aufhängt, also jener jungen Frau, die bei Minato Nikias für seinen Sohn Melito als Frau ausgesucht hat Calissa stellt er als Freundin eine Schwester des Alkibiades namens Cleanthis zur Seite. Sodann erfindet et ein politisches 22 23 24 25 26 27
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Vgl. Albert Gier, Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen Gattung (Darmstadt, 1998) 33-35. Händel-Handbuch (Leipzig 1978-1985) Bd. l, 481. Bd. 4,293. Gier (wie Anm. 22) 84-^88. H. S. Powers, II Serse trasformato I+II, in: Musical Quarterly 47 (1961) 481 -492, 48 (1962) 73-92. Werner Menke, Thematisches Verzeichnis der Vokalwerke von Georg Philipp telemann, Band (Frankfurt a. M. 1983) 75 [21-. . Vgl. Hellmuth Christian Wolff, Die Barockoper in Hamburg (1678-1738) (Wolfenbüttel 1957), l Textband, 68-70. Gustav Friedrich Schmidt, Neue Beiträge zur Geschichte der Musik und des Theaters am Herzoglichen Hofe 2u Braunschweig-Wölfenbüttel (München 1929) 3. Christian Flemmer, Die yvey Weiber oder die Gedult des Socrates (Wolfenbüttel 1680) [Herzog August Bibliothek, Signatur: Lo 1439]. Das Stück wurde 30 Jahre später noch einmal aufgeführt: Chr. Flemmer, Die Gedult des Socratis bey seinen %vgr Weibern (Blanckenburg 1710). Renate Jürgensen, Utile cum dulci. Mit Nutzen erfreulich. Die Blütezeit des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg 1644 bis 1744 (Wiesbaden 1994) 94.
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Komplott: Zwischen a) dem derzeitigen König Nikias, b) dem Vater des Alkibiades und der Cleanthis Kleinias und c) dem Vater der Calissa, dem er den Namen Ismenias gibt, konstruiert er eine politische Rivalität. Nikias möchte seinen Sohn Melito deshalb mit Calissa verheiraten, weil er auf diese Weise seine Beziehungen zu deren Vater Ismenias zu verbessern hofft. Kleinias plant einen Putsch gegen Nikias. Cleanthis weiß dies. Deshalb möchte sie ihre Freundin Calissa mit ihrem Bruder Alkibiades verkuppeln, um so Calissas Vater auf die Seite ihrer Familie zu ziehen. Im weiteren Verlauf des Stückes weiß Flemmer mit diesem Handlungsstrang allerdings nichts mehr anzufangen. Wie bei Minato verzichtet Calissas Vater nämlich auch bei ihm darauf, seine Tochter mit Melito zu verheiraten, und so bleibt von dem neuen Handlungsstrang am Ende nichts anderes übrig, als daß zu den beiden glücklichen Paaren Rodisette/Melito und Edronica/Antippo ein weiteres hinzukommt, Calissa/Alkibiades. Wie schon erwähnt, wurde Minatos Libretto in der Folgezeit noch mindestens dreimal als Vorlage für Opern benutzt: In Hamburg kam es 1721 in der Vertonung von Georg Philipp Telemann auf die Bühne, in Wien 1731 in einer Vertonung, die teils von Antonio Caldara (I.Akt Szene 1 — 5 und 3. Akt) und teils von Georg von Reutter stammte (der Rest),29 und in Lissabon 1733 in der Vertonung von Francisco Antonio d'Almeida.30 Von diesen Vertonungen sind diejenigen von Caldara/Reutter und d'Almeida ebenso wie die erste von Draghi seit langem in Vergessenheit geraten. Lebendig geblieben ist allein diejenige Telemanns.31 Sie wurde nach dem 2. Weltkrieg mehrfach einstudiert und aufgeführt32 und ist auch auf CD erhältlich.33 Telemanns Oper Der geduldige Sokrates war zu ihrer Zeit ein großer Erfolg: Der Uraufführung am 28. Januar 1721 folgten sechs weitere Aufführungen im Februar und eine im Juni desselben Jahres und schließlich eine weitere am 16. Nov. des Jahres 1722.34 Telemann benutzte Minatos Libretto in einer Bearbeitung, die Johann Ulrich König für ihn verfaßt hatte, der vor Telemanns Hamburger Zeit an der dortigen Oper als Librettist tätig gewesen und inzwischen Hofjpoet in Dresden geworden war. Am Ablauf der Handlung hat König nur vergleichsweise geringfügige Änderungen vorgenommen. In einigen Fällen hat er Szenen vertauscht oder auch neue hinzugefügt, bisweilen hat er die Handlung gestrafft (vor allem im Schlußteil des 3. Aktes). \J/ie Flemmer hat auch König die Gestalt Pithos aufgewertet. So hat er ihn etwa in einer Szene, die bei Minato kein Pendant hat, folgende Überlegungen über den Zusammenhang von Weingenuß und Lateinkenntnissen anstellen lassen (14): (Rezitativ) «Der Henker hole doch das stete Sitzen, / wer kann so lang bei allen Büchern schwitzen? / So trocken geht doch nichts in meinen Kopf hinein; / doch seh* ich erst ein gut Glas Wein, / spricht meine Zunge fertig Latein.» (Arie) «Corpus meus exaltabo, / hab ich erst ein gut Glas Wein, / vinus bonus mihi dabo, / alsdann sprech' ich gut Latein.» Das Personal hat König um Cupido, der zu Beginn des 3. Aktes kurz auftritt, 29 30 31
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The Neu- Grove Dictionary of Opera 1,683-687 (Caldara); 3,1297-1298 (Reutter). VgL Manuel Carlos de Brito, Opera in Portugal in the eighteenth Century (Cambridge 1989) 129. Georg Philipp Telemann: Der geduldige Sokrates^ hrsg. von Bernd Baselt (Kassel u. a. 1967) [Georg Philipp Telemann: Musikalische Werke XX). Georg Philipp Telemann, Der geduldige Sokrates:. TWV 21:9, Libretto: Johann Ulrich König Textdruck (Oschersleben 1998). VgJ. Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters Bd. 6,259. Hinzuzufügen ist eine Einstudierung, die im Sommer 1985 in einem der Innenhöfe des Heidelberger Schlosses gezeigt wurde. Hungaroton HCD 12957^60 Eckart Kleßmann, Telemann in Hamburg (Hamburg 1980) 181-182. 184.
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und einen Chor erweitert. Im einzelnen geht er freilich weithin eigene Wege. Bei der Gestaltung der Rezitätive in deutscher Sprache hält er sich nur in groben Zügen an die Vorlage. Unterschiedlich verfahrt er in bezug auf die Arien und Ensembles: In einigen Fällen übernimmt er den ursprünglichen italienischen Text, des öfteren allerdings in verkürzter Form,35 manchmal ersetzt er den italienischen Text durch einen deutschen^ häufig fügt er Arien und Ensembles von sich aus hinzu, und zwar meistens in deutscher, in acht Fällen aber auch in italienischer Sprache.36 Woher die zusätzlichen italienischen Texte stammen, ist ungewiß. Gut denkbar ist, daß König Minatos Libretto gar nicht in der ursprünglichen Fassung benutzt hat, sondern in einer bisher unbekannten Bearbeitung aus der Zeit zwischen 1680 und 1720. Die zusätzlichen italienischen Texte gingen dann auf den Autor dieser Bearbeitung zurück. Von der Barockoper springe ich zur Oper der Gegenwart. & Eine der Premieren, mit denen 1955 der Neubau der Hamburgischen Staatsoper eröffnet wurde, war die Uraufführung von Ernst Kreneks Oper Pallas Athene weint?* In ihr spielt Sokrates eine der Hauptrollen; in zwei der drei Akte ist er fast durchgehend auf der Bühne. Wie schon bei früheren Opern hatte Krenek das Libretto selbst geschrieben. Die Oper beginnt mit einem Vorspiel: Die Schatten der Toten im Elysium vernehmen ein gewaltiges Klagen: Pallas Athene weint um ihre Stadt Athen, die von den Spartanern eingenommen worden ist, und sie weint besonders um Sokrates, den sein eigenes Volk soeben umgebracht hat. Sokrates erscheint im Elysium. Er hat seine Mitbürger gelehrt, sieb selbst zu erkennen und ihre eigene Würde und die Würde anderer zu acjiten, und sich bemüht, sie dahin zu bringen, «durch Weisheit frei zu sein» (S. 6).39 Wie könnte er damit so furchtbar scheitern? Das Geschehen, das im folgenden vor Augen gestellt wird, soll zeigen, wie es dazu kam, und es soll zugleich eine Mahnung sein: «Lernt, wenn ihr könnt, zu vermeiden, was uns zu Fall gebracht,» sagt Sokrates (S. 6), an das Publikum gewandt, bevor er sich entfernt. Den Inhalt der folgenden drei Akte bilden einzeihe Abschnitte aus der letzten Phase des Peloponnesischen Krieges vorn Beginn der sizilischen Expedition bis zum Fall Athens. Krenek hat das Verhältnis des Librettos seiner Oper Pallas Athene weint zu den in ihm verarbeiteten historischen Geschehnissen später einmal folgendermaßen beschrieben: «Die 35
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So z. B. in jener Arie, in der Sokrates gegen Ende des 3, Aktes sein berühmtes. «Ich weiß, daß ich nichts weiß» kundtut König hat hier von den zwei Strophen bei Minato nur die erste übernommen. Sie lautet' (Minato 11114, König III11): «Questfo so: ehe nulla'so. / A saper d vuol.assai, / ppco e quel, ehe gia imparai. / Da saper molto resto. Questlo so: ehe nulla so.» .. II4, II 9, II10, III2, III 5, III7, 10 (zwei Arien). . Eine eigene Behandlung verdient Giovanni Paisiellos Oper Socrate immaginario nach dem Libretto von G. B. Lorenzi und F. Galiani, Neapel 1775. Textbuch: Ferdinande Galiani, Socrate immagnarto. Opera buffa napoletana, posta in versi da G. B. Lorenzi, per la musica di G. Paisiello. Aicura di Mässimo Ragi (Turin 1943). Ernst Krenek, Pallas Athene weint. Oper in l Vorspiel und 3 Akten. Klavierauszug (Mainz-Wien 1955). Ernst Krenek,, Pallas Athene weint, Textbuch (Mainz-Wien 1955). Das Libretto auch in: Ernst Krenek, Prosa Dramen Verse (München 1965) 271-297. - Weitere Aufführungen: 956 in Mannheim, 1957 in Linz, 1969 in Prag (Rundfunkauffuhrung), 1988 in Wien (konzertant); vgl. J. L. Stewact, Ernst Krenek, the man and his music (Berkeley u. a. 1991) 319-321. Seitenzahlen nach dem Textbuch.
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Handlung des Dramas selbst ist eine neuzeitlich gesehene Interpretation und Komprimierung der historischen Vorgänge, wie sie von Thukydides und Plutarch40 berichtet wurden. Das Politische steht im Vordergrund. Zeitgenössische Modelle für die diktatorische Tyrannei Spartas wie für den athenischen Demagogen Meletos, den Ankläger des Sokrates, der vorgibt, als Überpatriot für die Konservierung der angestammten Freiheiten zu kämpfen, während er nur darauf ausgeht, die wirklichen Freiheiten zu zerstören, sind unschwer zu identifizieren, in Europa wie in Amerika, wo das Werk 1955 abgeschlossen wurde.»41 Die historischen Vorgänge sind also in der Weise dargestellt, daß sie neuzeitliche widerspiegeln. Welche dies sind, davon wird später die Rede sein; sie sind 45 Jahre nach der Uraufführung der Oper vielleicht nicht mehr so leicht zu identifizieren, wie Krenek dies zu der Zeit, als er die zitierten Sätze schrieb (1965), voraussetzen konnte. Zunächst soll die Handlung der Oper betrachtet werden. Dabei ist ständig im Auge zu behalten, daß es sich, wie Krenek schreibt, um eine «neuzeitlich gesehene Interpretation und Komprimierung der historischen Vorgänge» handelt, denn dies hat zur Folge, daß die Vorgänge, die Krenek darstellt, von den Vorgängen, die wir aus den Quellen kennen, in erheblichem Umfang abweichen. Was von diesen geblieben ist, ist kaum mehr als die Mehrzahl der Hauptakteure und der äußere Rahmen der Handlung. Die Einzelheiten der Handlung hat Krenek völlig frei gestaltet. Es wäre gewiß lohnend und interessant, Szene für Szene zu verfolgen, wie er dabei verfahrt. Das würde jedoch viel zu weit fuhren. Ich beschränke mich darauf, die Handlung der Oper insoweit zu betrachten, als die Gestalt des Sokrates in sie verflochten ist. Die Handlung der Oper wird durch zwei einander überlagernde Konflikte in Gang gehalten: den militärischen Konflikt zwischen Athen und Sparta und den politischen Konflikt zwischen drei Sokratesschülern. Wir kennen von den dreien nur einen als Sokratesschüler: Alkibiades. Die beiden anderen, Meletos und Meton, hat Krenek für seine Zwecke zu Sokratesschülern gemacht. In der Gestalt des Meletos hat er außerdem zwei Träger des Namens zu einer Person zusammengefaßt: den bekannten Ankläger des Sokrates und jenen Meletos, der beschuldigt wurde, an der Profanierung der Mysterien und der Verstümmelung der Hermen beteiligt gewesen zu sein (Andoc. 1,12-13. 35. 63). Meton war Krenek aus Plutarch bekannt. Dieser berichtet von ihm, er habe sich, weil er die Katastrophe in Sizilien voraussah, wahnsinnig gestellt, in" der Nacht sein Haus angezündet und dann am nächsten Morgen auf dem Markt lautstark sein Unglück beklagt und auf diese Weise erreicht, daß sein Sohn, der als Soldat bei der Flotte war, zu Hause bleiben durfte (Plut., Ale. 17,5-6. 'Nie. 13,7-8). Alle drei Schüler des Sokrates wollen das Beste für ihre Stadt, haben jedoch ganz verschiedene Vorstellungen davon, wie es zu erreichen ist. Alkibiades und Meletos sind beide Befürworter der siziÜschen Expedition; beide wollen Oberbefehlshaber werden. Meletos, der auf die «alte Kraft und einfache Tugend der Väter» setzt (S. 8), sieht in dem in seinen Augen prinzipien- und gewissenlosen Alkibiades eine Gefahr für die Sicherheit Athens; er ist daher bemüht, ihn auszumanövrieren. Meton ist ein entschiedener Gegner der Expedition, ja er ist im Laufe der Zeit zum radikalen Pazifisten geworden. Das hat ihm nicht nur die Feindschaft des Volkes eingebracht, das ihn zu lynchen droht, sondern auch die des 40 41
Krenek hat hier statt «Plutarch» versehentlich «Lukian» geschrieben. Ernst Krenek, Meine Begegnungen mit der griechischen Antike, in: Salzburger Fcstspiele (Salzburg 1965) 29-30, hier 30.
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Meletos, der meint, daß die Freiheit Athens nur durch einen Sieg über die Spartaner gerettet werden könne. Deshalb will er Meton. das Reden verbieten. Sokrates weist Meletos auf den Widerspruch hin, daß er die Freiheit Athens dadurch glaube bewahren zu müssen, daß er Meton die Freiheit zu reden nehme. Darauf Meletos: «Gefahrlich sind deine Reden, Sokrates. Du zerrüttest den Willen zum Karnpf in unserer Jugend.» Sokrates: «Ich kann's nicht hindern, daß sie die Wahrheit seheni» Meletos: «Die Wahrheit ist, daß wir den Krieg gewinnen müssen» (S. 9). Bei der Wahl des Oberbefehlshabers muß Meletos eine Schlappe hinnehmen; Alkibiades geht aus ihr als Sieger hervor. Er will sofort aufbrechen. Doch es kommt zu Komplikationen. Ausgelöst werden sie durch zwei Vorkommnisse, von denen auch in den antiken Zeugnissen die Rede ist: die Profanierung der Mysterien und die Verstümmelung der Hermen. Das erste der beiden Vorkommnisse hat Krenek allerdings stark umgeformt: Althaea, die Priesterin aus Eleusis - eine erfundene Gestalt ·=- tritt Alkibiades entgegen und fordert ihn auf, vor der Ausfahrt Buße dafür zu tun, daß er, als Gott maskiert, aber für sie dennoch deutlich erkennbar, in die heiligen Handlungen eingedrungen sei und versucht habe, sie zu vergewaltigen. Alkibiades gibt die Tat weder zu noch leugnet er sie; er macht allerdings keinen Hehl daraus, daß Althaea ihm sehr begehrenswert erscheint. Wenig später wird gemeldet, daß -die Hermen, die vor jedem Haus stehen, während der Nacht fast alle verstümmelt worden sind. Der Verdacht, Urheber des Verbrechens zu sein, fallt sogleich auf Alkibiades. Alkibiades weist die Beschuldigung zurück. Meton gibt zu, Alkibiades in der Öffentlichkeit beschuldigt zu haben, um so den Verdacht, der auf ihn selbst gefallen war, abzuwehren. Alkibiades ist jetzt entschlossen, Athen nicht eher zu verlassen, als bis er seine Unschuld vor Gericht erwiesen hat. Da die Flotte jedoch nicht -bereit ist, einen anderen Feldherrn zu akzeptieren als ihn, gibt er nach, und so kann die Ausfahrt beginnen. Meletos ist hocherfreut; solange Alkibiades abwesend ist, kann er ihn besser bekämpfen. Sokrates, der während der ganzen Zeit auf der Bühne zugegen war, ahnt, daß sich unter seinen Schülern eine politische Intrige angebahnt hat, doch kann er sie noch nicht richtig durchschauen. Er ahnt, daß eine Katastrophe droht. Dies die Handlung des 1. Aktes. : Der 2. Akt spielt in Sparta. In ihm tritt Sokrates daher nicht auf. Die Handlung ist, in wenigen Worten zusammengefaßt, die folgende: Nachdem Alkibiades abgefahren ist und in Sizilien gerade die ersten Erfolge errungen hat, beordern die Athener ihn auf Betreiben des Meletos zurück, um ihn wegen der Verstümmelung der Hermen vor Gericht zu stellen. Als das Schiff, das ihn nach Athen bringen soll, einen Zwischenhalt einlegt, setzt er sich ab und läuft zu den Spartanern über. Im Hause des Königs Agis kommt es zu einer Affare , mit der Gattin des Königs, Timaea.4* Alkibiades und Timaea fliehen.43 Die Spartaner verfolgen sie. c,1 Der 3. Akt ist zweigeteilt Der erste Teil spielt in einer Höhle am Fuß des Hymettqs, in die sich Meton als Einsiedler zurückgezogen hat, um dem Irrsinn in Athen zu entfliehen. Sokrates kommt zu ihm, um ihn von der Lage der Dinge zu unterrichten: Weil AJkibiades zu den Spartanern übergelaufen ist, ist die Flotte vor Syrakus zugrunde gegangen und die 42 43
Diese Affäre stammt aus Plutarch (Ale. 23,7-8. Ljs. 22,6-7); Thukydides weist nur zweimal ohne nähere Erläuterungen darauf hin (8,12,2. 8,45,1), daß Agis und Alkibiades verfeindet waren. Die Flucht des Alkibiades mit Timaea hat Krenek wie alles weitere, was im folgenden von den beiden berichtet wird, erfunden.
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Spartaner sind im Piraeus gelandet. Athen ist nicht mehr zu retten. Erschrocken über die sich abzeichnende Katastrophe gibt Meton ein Geheimnis preis: Er hat die Hermen im Auftrag des Meletos verstümmelt, weil er glaubte, so den Feldzug verhindern zu können. Jetzt ist ihm klar, was Meletos mit der Tat bezweckte: Er wollte den Verdacht auf Alkibiades lenken und ihn so ins Verderben stürzen. Gerade als Meton dies kundtut, erscheint Meletos am Eingang der Höhle und ersticht Meton. Jetzt ist Sokrates der einzige, der weiß, wer die Schuld an der Verstümmelung der Hermen trägt. Meletos warnt ihn, sich in Acht zu nehmen. Alkibiades und Timaea gelangen auf ihrer Flucht zu der Höhle. Sie sehen den toten Meton. Als Alkibiades erfährt, daß es Meletos war, der ihn ermordet hat, ist er fest entschlossen, nach Athen zu gehen und Meletos vor Gericht zu bringen. Inzwischen sind jedoch die Verfolger bei der Höhle angekommen. Als Alkibiades heraustritt, wird er von den Speeren der Verfolger tödlich getroffen. Sokrates und Timaea werden gefangengenommen und abgeführt; die beiden Leichen werden davongetragen. Der zweite Teil spielt in Athen nach dem Fall der Stadt. Agis setzt Meletos als seinen Statthalter ein. Die Volksmenge will von Meletos wissen, wer denn wohl die Hermen verstümmelt habe; sie sieht in dem Täter den Urheber ihres Unglücks und will ihn bestrafen. Meletos empfiehlt Agis, diese Quelle der Unruhe umgehend zu verstopfen. Agis verkündet eine allgemeine Amnestie: Ab sofort ist es untersagt, Verbrechen aus der Zeit vor der Einsetzung der neuen politischen Ordnung zu verfolgen.44 Die spartanischen Soldaten bringen den Leichnam des Alkibiades; ihnen folgen Timaea und Sokrates. Agis verkündet, daß Alkibiades ein Heldenbegräbnis erhalten solle. Timaea soll gefoltert und dann umgebracht werden. Es kommt zu einem Dialog zwischen Agis und Sokrates, in dem Sokrates Agis vor Augen hält, wie unsinnig es ist, um der Ordnung willen, die Agis für das Wichtigste in der Welt erklärt, die Menschen in Kriege und Angst zu stürzen. Als er Agis ins Gesicht sagt, daß er die Ordnung nur predige, weil er «Angst vor dem Lachen der Freien» habe (S. 30), will Agis ihn sogleich hinrichten lassen. Meletos tritt dazwischen und empfiehlt, Sokrates lieber einen ausfuhrlichen Prozeß zu machen; das komme dem Verlangen des Volkes nach Gerechtigkeit entgegen. Agis willigt ein. Während Lysander die athenischen Männer antreibt, die Mauern ihrer eingenommenen Stadt niederzureißen, tritt Meletos zu Sokrates und verspricht ihm, für seine Flucht zu sorgen. Meletos hat Angst, Sokrates könne verraten, daß er es war, der den Auftrag zur Verstümmelung der Hermen gegeben hat. Sokrates weist ihn von sich: «Die Freiheit, die du mir als Schandlohn bietest, um mein Schweigen zu erkaufen, ist ekelhafter als die Tyrannei, der du mich zum Fräße hinwirfst Dich zu verraten, welch ein unwürdiges Geschäft! Für den Menschen will ich Zeugnis ablegen [...], hintreten vor die Göttin, die mir die Kraft zu denken gab (sc. Pallas Athene), sie bitten, daß dieses Opfer nicht vergessen sei, damit der Mensch dereinst erlerne, in Weisheit frei zu sein» (S. 31 -32). Sokrates läßt sich abführen. Die athenischen Männer werden von Aufsehern mit Peitschenhieben dazu angetrieben, die Mauern der Stadt niederzureißen. Mut einem Klagegesang der Frauen Athens endet die Oper. Warum hat Krenek, um Probleme der Gegenwart darzustellen, gerade diesen Stoff gewählt? Das ist aus der bekannten Amnestie des Jahres 403/2 herausgesponnen.
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Um diese Frage zu beantworten, muß ich auf Kreneks Biographie1 zu sprechen kommen. Krenek (geboren 1900 in Wien, gestorben 1991 in Kalifornien) berichtet in einer autobiographischen Notiz über sich: «Die griechische Antike hat mich seit meiner Schulzeit immer wieder gefesselt und beschäftigt. Soweit ich mich entsinnen kann, war dieses Interesse stets darauf gegründet, daß ich in den Vorgängen des Idassischen Alterrums Beziehungen zu den Problemen der Gegenwart entdecken zu können glaubte.»45 Besonders fasziniert habe ihn das Gegenspiel von Athen und Sparta. Er habe damals begonnen, einen Roman zu schreiben, «dessen Hauptfigur ein über die Maßen blendender, ins 20. Jahrhundert transponierter Alkibiades war.» Daneben habe er «ein fiktives Land konstruiert, das in die in unentwegtem Kampf begriffenen Republiken Athburg und Sparberg aufgeteilt war.»46 Als Krenek rund 35 Jahre später zu dem Stoff zurückkehrte, der ihn schon in seiner Jugend fasziniert hatte, lagen vielfältige Erfahrungen hinter ihm, die die. antiken Geschehnisse in einem ganz neuen Licht erscheinen ließen. Zwei davon haben das Libretto der Oper Pallas Athene weint entscheidend geprägt: Im Jahre 1938 hatte sich Krenek genötigt gesehen, vor der Diffamierung und Bedrohung durch die Nazionalsozialisten nach Amerika zu emigrieren; vor allem seine 1927 uraufgefuhrte Qpetjonnj spielt auf , eine Jazzoper, deren Hauptakteur der schwarze amerikanische Jazz-Geiger Jonny ist, galt ihnen als ein übles Beispiel «entarteter Kunst», Daß Krenek mit ihr einen sensationellen Erfolg errungen hatte, machte die Sache nur noch schlimmer.47 Die völlige Abschaffung der Freiheit durch die nationalsozialistische Diktatur Adolf Hitlers war die eine Erfahrung. Die zweite war die Hetzkampagne gegen angebliche Kommunisten in der Verwaltung und im öffentlichen Leben der USA, die der republikanische Senator Joseph McCarthy während der Zeit des Kalten Krieges von 1950 bis 1954 in Gang setzte und die dazu führte, daß sich in einer freiheitlichen Gesellschaft wie der der USA ein antiintellektuelles und nationalistisches Klima breitmachte, das so aggressiv war, daß sich - um nur die prominentesten zu nennen - Männer wie Charlie Chaplin (1952) und Thomas Mann (1953) veranlaßt sahen, den USA den Rücken zu kehren. Wenden wir uns nach-diesen Bemerkungen wieder dem Libretto zu, dann ist klar, was Krenek meinte, wenn er im Hinblick auf dieses Libretto schrieb (vgl. S. 209): «Zeitgenössische Modelle für die diktatorische Tyrannei Spartas wie für den athenischen Demagogen Meletos, den Ankläger des Sokrates, [...] sind unschwer zu identifizieren, in Europa wie in Amerika»; gemeint waren die faschistische Diktatur Adolf Hitlers einerseits und.McCarthy andererseits. Die faschistische Diktatur Hitlers spiegelt sich in der «diktatorischen Tyrannei Spartas» mit dem König Agis an der Spitze. Ich habe diesen Teil des Librettos bei meinem Referat 45
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Ernst Krenek, Warum «Pallas Athene weint», in: E. KL, Zur Sprache gebracht (München 1958) 335-341, hier 335; auch in: E. K., Im Zweifelsfalle (Wien u, a. 1984) 51 -57, hier 51; zuerst 1955 im Programmheft zur Uraufführung Vgl. auch Krenek, Meine Begegnungen (wie Anm. 41) 29. Krenek, Meine Begegnungen (wie Anm. 41) 29. Die zwischen 1916 und 1919 fertiggestellten Teile des Romans Athburg und Sparberg sind in Kreneks Nachlaß erhalten; vgl. Garrett H. Bowles, Ernst Krenek. A bio-bibliography (New York u; a. 1989) 121 unter K 2. In der Ausstellung «Entartete Musik», die am 22. Mai 1938 in Düsseldorf eröffnet wurde, war sie eines der zentralen Objekte der Diffamierung; vgl. Dümling, A. - Girth, P. (Hgg.), Entartete Musik. Zur Düsseldorfer Ausstellung von 1938 Püsseldorf 1988); hier (127-143) auch ein Faksimile der Hetzschrift, die Hans Severus Ziegler, der Initiator der Ausstellung, zu ihr verfaßt hatte: H. S. Z., Entartete Musik. Eine Abrechnung (Düsseldorf 1939).
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des Inhalts fast völlig ausgeblendet. Um zu zeigen, wie Sparta in ihm dargestellt ist, sei hier exempligratia auf eine Szene aus dem 2. Akt verwiesen: Der Hauptmann Brasidas wird in Fesseln zu König Agis gebracht. Er ist von seinem Sohn Ktesippos, einem fanatischen und bedingungslosen Handlanger des Systems, wegen einer defätistischen Äußerung denunziert worden. Agis macht mit dem Beschuldigten kurzen Prozeß: Brasidas soll öffentlicht geköpft werden; sein Sohn soll sein Amt erhalten. Nachdem Brasidas abgeführt ist, versucht Agis' Gattin Timaea ihrem Mann klarzumachen, wie sehr sein «Blutregiment» das Volk inzwischen habe verrohen lassen: Vom Ehrgeiz getrieben ermordet der Sohn den eigenen Vater. Agis entgegnet, daß jedes Zeichen von Schwäche sich in der gegenwärtigen Situation zerstörerisch auswirken müsse; «auch nur leisestes Zögern» müsse «mit Feuer und Schwert ausgerottet werden» (S. 17).48 Der totalen Vernichtung der Freiheit im tyrannischen Staat antiker wie neuzeitlicher Prägung steht die schleichende Beschränkung und Aushöhlung der Freiheit in Athen im Verlauf des Peloponnesischen Krieges und in den USA zur Zeit McCarthy's gegenüber. Dessen Aktivitäten spiegeln sich in denen des Meletos wider. Dieser ist überzeugt, die Freiheit Athens gegen die von außen kommende Bedrohung nicht anders verteidigen zu können als dadurch, daß er die Freiheit im Inneren rigoros beschränkt, indem er alle jene massiv bedroht, die eine andere politische Meinung haben als er. Dieser Unterdrückung der Freiheit fallt schließlich auch Meletos' Lehrer Sokrates zum Opfer. Und das war unausweichlich: In einem Staat wie dem des Meletos ist kein Platz für einen Mann wie Sokrates, der kompromißlos das Ziel verfolgt, die Menschen zu lehren, «in Weisheit frei zu sein». In dem Programmheft zur Uraufführung der Oper schreibt Krenek über Sokrates und seine Lehre:49 «Sokrates ist dargestellt als einer jener Weisen, die das Ideal der Menschenwürde vertreten, die es ihrem Träger erlaubt, so zu leben, daß er weder sich selbst noch anderen Gewalt anzutun braucht. Wie wir wissen, hat Sokrates sein Eintreten für solche Menschenwürde mit seinem Leben bezahlt. An dreien seiner Schüler wird gezeigt, wie seine Lehre Schiffbruch erlitt, als sie in den öffentlichen Akten dieser drei Gestalten dem Test einer politischen Krise ausgesetzt wurde: Alkibiades, dem Humanität das rücksichtslose Ausleben der Eigenpersönlichkeit bedeutet, richtet Athen zugrunde; Meton, der der Lehre fanatisch zu folgen gewillt ist, fuhrt sie ad absurdum, und Meletos verrät die Lehre sowohl als auch seinen Meister.» Wie damals im antiken Athen hat die Lehre des Sokrates auch in der Folgezeit bis heute immer wieder «Schiffbruch erlitten». Kreneks Oper ist ein Appell, sich dennoch zu bemühen, ihr gerecht zu werden. «Lernt, wenn ihr könnt, zu vermeiden, was uns zu Fall gebracht,» hatte Sokrates, an das Publikum gewandt, am Schluß des Vorspiels gesagt (vgl. S. 208).
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Die Szene ist frei erfunden. Der historische Brasidas war schon 422 bei Amphipolis gefallen, und von einem Sohn Ktesippos wissen die erhaltenen Quellen nichts. Krenek, Warum «Pallas Athene weint» (wie Anm« 45) 337 bzw. 53.