Antike und Abendland
Antike und Abendland Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens
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Antike und Abendland
Antike und Abendland Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens
herausgegeben von
Werner von Koppenfels · Helmut Krasser Wilhelm Kühlmann · Peter von Möllendorff Christoph Riedweg · Ernst A. Schmidt Wolfgang Schuller · Rainer Stillers
Band LIII
2007 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Manuskripteinsendungen werden an die folgenden Herausgeber erbeten: Prof. Dr. Werner von Koppenfels, Boberweg 18, 81929 München – Prof. Dr. Helmut Krasser, Institut für Altertumswissenschaften, Universität, OttoBehaghel-Str. 10, Haus G, 35394 Gießen – Prof. Dr. Wilhelm Kühlmann, Universität Heidelberg, Germanistisches Seminar, Hauptstr. 207–209, 69117 Heidelberg – Prof. Dr. Peter von Möllendorff, Institut für Altertumswissenschaften, Universität, Otto-Behaghel-Str. 10, Haus G, 35394 Gießen – Prof. Dr. Christoph Riedweg, Kluseggstr. 18, CH-8032 Zürich – Prof. Dr. Ernst A. Schmidt, Philologisches Seminar, Universität, Wilhelmstr. 36, 72074 Tübingen – Prof. Dr. Wolfgang Schuller, Philosophische Fakultät, Universität, Postfach 5560, 78434 Konstanz – Prof. Dr. Rainer Stillers, Institut für Romanische Philologie der Philipps-Universität Marburg, Wilhelm-Köpke-Str. 6 D, 35032 Marburg. Korrekturen und Korrespondenz, die das Manuskript und den Druck betrifft, sind an den Schriftleiter Prof. Dr. Helmut Krasser zu richten. Buchbesprechungen werden nicht aufgenommen; zugesandte Rezensionsexemplare können nicht zurückgeschickt werden.
Abstracts sind publiziert in / indexiert in: Arts and Humanities Citation Index · Current Contents Arts and Humanities · Dietrich’s Index philosophicus · IBR – Internationale Bibliographie der Rezensionen geistes- und sozialwissenschaftlicher Zeitschriftenliteratur / IBZ – Internationale Bibliographie geistes- und sozialwissenschaftlicher Zeitschriftenliteratur
ISBN (Print): 978-3-11-019236-0 ISBN (Online): 978-3-11-019237-7 ISBN (Print + Online): 978-3-11-019238-4 ISSN 0003-5696 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Dörlemann Satz, 49448 Lemförde
Inhaltsverzeichnis Jonas Grethlein, Freiburg Variationen des «nächsten Fremden». Die Perser des Aischylos im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gregor Vogt-Spira, Marburg Secundum verum fingere. Wirklichkeitsnachahmung, Imagination und Fiktionalität: Epistemo-logische Überlegungen zur hellenistisch-römischen Literaturkonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Thorsten Fögen, Berlin Antike Zeugnisse zu Kommunikationsformen von Tieren . . . . . . . . . . . .
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Giampiero Scafoglio, Napoli Elementi tragici nell’episodio virgiliano di Sinone . . . . . . . . . . . . . . . .
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Andreas Heil, Dresden Christliche Deutung der Eklogen Vergils. Die Tityre-Initiale im Codex Klosterneuburg CCl 742 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
100
Robert Porod, Graz Von der historischen Wahrheit und dem Ende historiographischer Fiktionalität: Überlegungen zu Lukians Schrift « ¹ . . . . . .
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Angelika Starbatty, München Kaiser und Gott in den Panegyrici Latini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Eckard Lefèvre, Freiburg Daniel Heinsius über seine Liebesdichtung (Eleg. Juv. 1, 5) . . . . . . . . . . .
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Florian Schaffenrath, Innsbruck Ein angekündigtes Columbus-Epos im Xaverius viator. Niccolò Giannettasios Verweise auf frühere und kommende Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Peter Habermehl, Berlin Orfeus in Niedersaxn. Arno Schmidts Erzählung «Caliban über Setebos» . . . .
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Mitarbeiter des Bandes Dr. Thorsten Fögen, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Klassische Philologie, Unter den Linden 6, 10099 Berlin Prof. Dr. Jonas Grethlein, Department of Classics, Mail Code 3120, University of California, Santa Barbara, CA 93106–3120 PD Dr. Peter Habermehl, Berlin-Brandenburgische-Akademie der Wissenschaften, Jägerstraße 22/23, 10117 Berlin Dr. Andreas Heil, Technische Universität Dresden, Fakultät Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften, Zeunerstraße 1e, 01062 Dresden Prof. Dr. Eckard Lefèvre, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Seminar für Klassische Philologie, Werthmannplatz 3, 79085 Freiburg Prof. Dr. Robert Porod, Institut für Klassische Philologie der Karl-Franzens-Universität Graz, Universitätsplatz 3/II, 8010 Graz, Austria Prof. Giampiero Scafoglio, Via Manzoni 210, 80046 San Giorgio a Cremano (Napoli), ITALIA Dr. Florian Schaffenrath, Institut für Sprachen und Literaturen, Bereich Latinistik, Universität Innsbruck, Innrain 52, 6020 Innsbruck, Austria Angelika Starbatty, Schleißheimerstraße 60, 80333 München Prof. Dr. Gregor Vogt-Spira, Seminar für Klassische Philologie der Philipps-Universität, Wilhelm-Röpke-Straße 6, Block D, 35032 Marburg
Variationen des «nächsten Fremden». Die Perser des Aischylos im 20. Jahrhundert
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Jonas Grethlein
Variationen des «nächsten Fremden»1. Die Perser des Aischylos im 20. Jahrhundert In seiner Dissertation über Aischylos und das Handeln im Drama schreibt Bruno Snell: «Hiketiden und Perser wirken archaisch vor allem deswegen, weil sie nicht eine folgerichtige Handlung aufbauen, sondern eine Reihe großer Bilder an uns vorüberziehen lassen. Ein Plan der Handlung, dem sich auch das Geringste eingliedert, existiert nicht.»2 Ähnlich beschreibt Thomson die Perser: «A queen and a number of old men stand or move about listening to bad news. [The Persians] is little more than a lamentation for the fall of great and ancient Persia as a notable instance of God’s vengeance upon earthly pride.» 3 Es ließe sich ein ganzer Chor von Philologen anführen, welche die Statik der Perser beklagen. 4 Und in der Tat, die erste uns vollständig erhaltene Tragödie glänzt nicht durch ein Übermaß an «action». Vergegenwärtigen wir uns kurz die Handlung: In der Parodos singt der Chor, bestehend aus alten Persern, vom Feldzug des Xerxes gegen Griechenland. Sie selbst sind als Wächter in Susa zurückgeblieben und warten auf Nachrichten vom Schlachtfeld. Der Chor rühmt die Stärke des Heeres, zugleich verrät er aber auch Sorge – alles menschliche Handeln, auch das des Mächtigsten, kann scheitern. Im ersten Epeisodion gesellt sich Xerxes’ Mutter, Atossa, dazu und erzählt von einem schlimmen Traum. In ihm spannte Xerxes zwei Schwestern, eine in griechischem, die andere in persischem Gewand, unters Joch. Die Griechin riß sich los und brachte Xerxes zu Fall. Beunruhigt von diesem Traum, wollte Atossa opfern, wurde aber durch ein Vogelzeichen noch weiter verstört: ein Falke, der einen Adler jagt und bezwingt. Kaum ist es den alten Männern gelungen, Atossa zu beruhigen, da kommt ein Bote, der schreckliche Kunde bringt: Das persische Heer ist nicht nur bei Salamis unterlegen, sondern fast völlig aufgerieben worden. Nur wenige, unter ihnen Xerxes, haben die Schlacht und den sich anschließenden Rückzug überlebt. Im ersten Stasimon beklagt der Chor die Niederlage und den Schaden für das persische Reich. Atossa bittet dann den Chor, den Geist ihres Mannes, des Dareios, zu beschwören, den sie um Rat fragen will. Auf die Beschwörung im zweiten Stasimon hin erscheint der Geist des Dareios und läßt sich von seiner Frau die Ereignisse erzählen. In scharfen Worten verurteilt er das Tun seines Sohnes als Hybris und sieht in dem Desaster die unerwartet
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Die Bezeichnung der Antike als das «nächste Fremde» stammt von Hölscher 1965, 81. Der Verfasser dankt Bernhard Zimmermann sowie den Herausgebern von «Antike & Abendland», besonders Ernst A. Schmidt, für Hinweise und Anregungen. Der griechische Text folgt, sofern nicht anders angegeben, der Ausgabe von West 21998; die Übersetzungen basieren auf Schadewaldt 1964. Snell 1928, 68. S. bereits v. Wilamowitz-Moellendorff 1914, 48: «Aber die Einheit der Handlung hat er noch nicht erreicht. Es ist sehr beherzigenswert, daß Aischylos noch 472 eine Tragödie ohne jede Einheit der Handlung bauen konnte.» Thomson 1973, 77. S. die Sammlung kritischer Urteile in Holtsmark 1970, 5–7.
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Jonas Grethlein
schnelle Erfüllung eines alten Orakels. Schließlich prophezeit er die Niederlage von Salamis und rät dem Chor, nie wieder gegen Griechenland zu ziehen. Auf den Abgang von Dareios folgt das dritte Stasimon. In ihm schwelgen die alten Perser in Erinnerungen an die Herrschaft des alten Königs – welch ein Kontrast zur gegenwärtigen Misere! Das Ende des Stückes bildet dann die Rückkehr des Xerxes. Der in Lumpen gehüllte König und der Chor stimmen im Wechselgesang eine Klage an. Selbst für eine griechische Tragödie sind die Perser arm an äußerer Handlung. Trotz seiner Statik hat Aischylos’ Stück eine ganze Reihe von neuen Übertragungen und deren Inszenierungen angeregt.5 Im folgenden sollen einige dieser Adaptionen aus dem 20. Jh. vorgestellt werden. Dabei werden sowohl Übersetzungen als auch Übertragungen und deren Aufführungen, in einem Fall sogar eine Ausstrahlung im Radio, herangezogen (I).6 Der Geschichte der antiken Tragödie in der Gegenwart nachzugehen, ist nicht nur an sich ein lohnendes Unterfangen, sondern der Horizont moderner Übertragungen und Inszenierungen erlaubt es uns auch, neue Fragen an antike Tragödien zu stellen.7 Dementsprechend sollen zweitens die aischyleischen Perser im Lichte ihrer modernen Adaptionen betrachtet werden (II). Abschließend wird auf die Poetik des Aristoteles zurückgegriffen, um die Beobachtungen zu konzeptionalisieren. Der Reiz der Perser für die moderne Bühne, so wird sich zeigen, beruht auf dem gleichen Prinzip, das die Perser bereits im 5. Jh. interessant machte, wenn auch in diametral entgegengesetzter Weise (III).
I Im Jahre 1914 übersetzte Lion Feuchtwanger die Perser im «Mittelweg zwischen Philologie und Dichtung»8. Er nutzte dafür eine vierwöchige Schonfrist, die ihm nach seiner Rückkehr aus Italien und Tunis vor seiner Einberufung gewährt wurde.9 Seine Übersetzung erschien sogleich in der Zeitschrift «Die Schaubühne» und wurde in Teilen auch in der re-
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Zu Aufführungen antiker Tragödien auf der modernen Bühne s. u. a. Walton 1987; Flashar 1991; Taplin 1991, 51–79; Colakis 1993; Hartigan 1995; die Beiträge in Hall et al. eds. 2000; 2004; Hall/ Macintosh, eds. 2005. Allgemein zur Rezeption der griechischen Tragödie s. v. Fritz 1962; Friedrich 1967; Mueller 1980; Burian 1997; Hölzl et al. eds. 1998. Es erscheint sinnvoll, zwischen Übersetzungen und Übertragungen zu differenzieren. Während Übersetzungen vor allem dem Originaltext verpflichtet sind, sind Übertragungen stärker am Transfer in die Gegenwart interessiert. Beiden liegt aber ein «Übersetzungsvorgang» zwischen dem Horizont, in dem der Text entstanden ist, und dem Horizont der Gegenwart zugrunde. Dieser «Übersetzungsvorgang» wird in einer Inszenierung durch Bühnenbild, Requisiten etc. über den Text hinausgeführt. Als hermeneutisches Modell sowohl für Übersetzung, Übertragung und Inszenierung kann Gadamers Kategorie der «Applikation» dienen (61990, 312–346). Zur Übersetzung von griechischen Tragödien s. Burian 1997, 271–276, zur Übersetzung von Dramen Upton, ed. 2000 und zu den Implikationen von Übersetzung im allgemeinen Hardwick 2000. Cf. Foley 1999; 2000/2001. Auch McDonald 1992, 10 f. plädiert für eine wechselseitige Befruchtung von wissenschaftlicher Untersuchung und gegenwärtiger Aufführungspraxis. Feuchtwanger 1984, 11. Cf. v. Sternburg 1994, 134–136; 154 f. In Syrakus sah Feuchtwanger eine Aufführung des Agamemnon, die er allerdings scharf kritisierte. V. Sternburg 1994, 155 f. interpretiert Feuchtwangers Übertragung der Perser als eine «Frucht der Begegnung mit diesem griechischen Tragödiendichter im weiten Rund des Amphitheaters von Syrakus und seine erste literarische Reaktion auf die deutschen Zustände».
Variationen des «nächsten Fremden». Die Perser des Aischylos im 20. Jahrhundert
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nommierten «Zukunft» abgedruckt.10 Die Uraufführung fand am Münchner Schauspielhaus unter Eduard Schorrer-Santer 1917 statt. Aufführungen in weiteren Theatern folgten.11 Die Rezeption der Aufführungen entsprach allerdings nicht Feuchtwangers Intention. Die Kritiker lobten das «patriotische Werk», man identifizierte die Perser mit den Feinden des Deutschen Reiches und verstand die Aufführungen deswegen als künstlerische Unterstützung der deutschen Politik.12 In der Tat hatte die aktuelle politische Situation Feuchtwanger dazu angeregt, die Perser zu übersetzen,13 allerdings in ganz anderer Weise. Feuchtwanger war entsetzt angesichts der Kriegs-Propaganda, die den Gegner auf jede erdenkliche Weise verunglimpfte.14 Im Vorwort zu seiner Übersetzung schreibt er: «Die Perser werden nicht geschmäht, es ist nirgends vom perfiden Persien die Rede: im Gegenteil, sie sind tapfer; ja, selbst der göttertrotzende Übermut des Xerxes wird mit des Königs Jugend entschuldigt, und der alte Dareios gar wird – gegen das bessere Wissen des Dichters – als milder, erhabener, gottgleicher Herrscher geschildert. Es ist kein trunkenes Hurra-Schreien in dem Stück, sondern überall starkes, stolzes, selbstverständliches Vertrauen in die Fügung der Götter.»15
Das menschliche Portrait des Gegners ließ die Perser Feuchtwanger als einen willkommenen Kontrast zum «trunkenen Hurra-Schreien» seiner Zeit erscheinen. Briefe aus späterer Zeit lassen erkennen, daß Feuchtwanger darüber hinaus auch Parallelen zwischen dem persischen und dem deutschen Imperialismus sah.16 An Kantorowicz schreibt er im Jahre 1943 über seine Tätigkeit während des 1. Weltkrieges: «Auf verhüllte oder auch offene Art gegen die deutschen Eroberungspläne geschrieben. Die ‹Perser› des Aischylos übersetzt, den ‹Frieden› des Aristophanes, ein Stück gegen den Imperialismus geschrieben, ‹Warren Hastings›, das während der Krieges von den Engländern scharf angegriffen und nach dem Krieg von ihnen gespielt wurde.»17 10
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Feuchtwangers Übersetzung wurde außerdem 1915 vom Charlottenburger Verlag der Schaubühne und 1917 vom Georg Müller Verlag (München) gedruckt. Auf Feuchtwangers Übersetzung wurde auch noch in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. zurückgegriffen, beispielsweise in einer Inszenierung in Stuttgart 1963, cf. Flashar 1991, 206 Anm. 26. Cf. Dietschreit 1988, 7; v. Sternburg 1994, 175–177. Eine Ausnahme bildete die Besprechung von Eisner in der linken Münchener Post. Feuchtwangers Interesse an der Vergangenheit als Archiv, dessen Parallelen die Gegenwart beleuchten können, zeigt sich noch deutlicher in seinen historischen Romanen, cf. Ongha 1982. Eine theoretische Reflexion über historische Analogieschlüsse findet sich in Feuchtwangers Rede beim Ersten Internationalen Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur 1935 in Paris (s. Feuchtwanger 1956, 508 ff.) Feuchtwanger waren aber patriotische Gefühle nicht fremd, cf. v. Sternburg 1994, 154 f. Feuchtwanger 1984, 9. Es ist nicht ganz einfach, sichere Anhaltspunkte für eine solche Interpretation in der Übersetzung zu finden, die dem griechischen Text recht nahe ist. Für v. Sternburg 1994, 177 sind die folgenden Verse eine klare Anspielung an die Situation des Kaisers, der unter den «Übervätern» Bismarck und Moltke litt, 33: «Es lockte schlechter Freunde schlimmer Rat / Den Allzukühnen. Du, so sagten sie, / Du habest Reichtum deinem Haus erkämpft, / Mit Schwertesschärfe; er indes, unmännlich, / Sei Krieger nur im eigenen Palast / Und laß an Vaters Schätzen sich’s genügen. / So häuften sie ihm Schmach, bis ihn der Hohn / Zu diesem Heerzug gegen Hellas trieb.» Da Feuchtwanger hier dem aischyleischen Text (753–758) recht genau folgt, mag man bezweifeln, daß es sich um eine Anspielung handelt – was aber nicht heißt, daß Feuchtwanger und zeitgenössische Leser und Zuschauer die Parallele, auf die v. Sternburg hinweist, nicht gesehen hätten. Feuchtwanger 1991, II 202, Brief an Kantorowicz vom 21. 1. 1943. S. a. Feuchtwangers Brief an den Aufbau-Verlag vom 28. Januar 1952 (1991, I, 493 f.): «Freuen würde ich mich auch, wenn meine Versdramen neu aufgelegt würden, ‹Vasantasena›, meine Bearbeitung des ‹Frieden› von Aristophanes und meine Nach-
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Jonas Grethlein
Während die Kritiker in den Persern also die Gegner Deutschlands sahen, war für Feuchtwanger das Scheitern der Perser eine Warnung an das Deutsche Reich.18 Die Offenheit der Perser für verschiedene politische Interpretationen zeigt sich in zwei Aufführungen, die zwar fast zur gleichen Zeit stattfanden, aber entgegengesetzten Intentionen folgten. Nachdem in den 30er Jahren in Deutschland nur ganz wenige griechische Tragödien zur Aufführung gekommen waren, wurden während des 2. Weltkrieges neben modernen Dramen mit antiken Gestalten verstärkt griechische Tragödien, vor allem von Sophokles, auf die Bühne gebracht. Der Aias, die Trachinierinnen und die Elektra boten sich an als Auseinandersetzungen mit Krieg, Leiden und Heldentum.19 1942 wurden in Göttingen auch die Perser des Aischylos aufgeführt – angesichts der Situation an der Ostfront bot die Niederlage der Perser einen Präzedenzfall für den erfolgreichen Kampf gegen eine östliche Übermacht. Einer ganz anderen Interpretation war die Radio-Übertragung der Perser in Murrays Übersetzung vom britischen Home Service im Jahre 1939 gefolgt. 20 Hier war der persische Expansionsdrang Spiegel für den deutschen Imperialismus. Die Perser wurden also im 2. Weltkrieg sowohl von Deutschen als auch Engländern in ihrem Sinne gedeutet – abhängig von der Perspektive diente Xerxes mit seinem Heer als Chiffre entweder für russische Truppen oder deutsche Angreifer. Wenden wir uns einem weiteren Beispiel der Perser-Rezeption im 20. Jh. zu. Mattias Braun verfaßte eine Übertragung, die 1960 am Berliner Schillertheater unter Hans Lietzau uraufgeführt wurde und in den 60er Jahren immer wieder auf die Bühne kam. Braun geht recht frei mit dem aischyleischen Stück um: Er spaltet den Chor in fünf Individuen auf und führt als zusätzliche Figur einen Statthalter ein, der in Xerxes’ Abwesenheit über Susa wacht.21 Dem Tyrannen Xerxes stehen die Choreuten als einfache Männer aus dem Volk, sozusagen antike «Protoproletarier»,22 gegenüber. Nicht nur der Chor diskutiert die Frage, wie man sich dem Tyrannen gegenüber verhalten soll – sich ducken oder ihn stürzen, sondern auch Atossa wird von Dareios’ Geist dazu aufgefordert, ihren eigenen Sohn zu töten, um das Leben vieler zu retten. Braun behält den antiken Hintergrund bei, aber die Gegenüberstellung von Volk und Herrscher gibt seiner Adaption eine marxistische Färbung, und die Darstellung von Xerxes
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dichtung der ‹Perser› des Aischylos. Ich glaube, die aktuelle Bedeutung gerade dieser letzten beiden Stücke müßte von jedem verstanden werden.» Feuchtwanger 1963, 413 beschreibt die Perser als «jenes Werk, das dem Feinde so großartig gerecht wird und welches auf der anderen Seite den Übermut des Machtgierigen und die Strafe dieses Übermuts in so mächtigen Versen darstellt.» Ein Übersetzungsversuch aus den 20er Jahren sei noch erwähnt: Borchardt arbeitete 1922 an einer Übersetzung der Perser, die aber Fragment blieb (sie reicht bis Vers 444). Das Fragment wurde 1931 in der Zeitschrift «Corono» veröffentlicht (s. Borchardt 1958). Auch wenn Borchardts Übersetzung dem griechischen Text sehr nahe ist, so läßt sich doch vermuten, daß sein Interesse an den Persern durch die Zeitgeschichte angeregt wurde. Cf. Flashar 1991, 168 f. Der Aias wurde aufgeführt am Bayrischen Staatsschauspiel München (1943), die Trachinierinnen am Stadttheater Düren (1944) und die Elektra am Prinzregententheater in München (1941), Stadtheater Guben (1941), Stadttheater Göttingen (1941), Schauspielhaus Düren (1941) und Staatsschauspiel in München (1944). Cf. West 1984, 216. Während des 2. Weltkrieges wurden auch die Sieben gegen Theben in Murrays Übersetzung im Radio ausgestrahlt. Cf. Trilse 1975, 151 f. Nach Trilse entstand die Übertragung aus dem Versuch einer wortgetreuen Übersetzung (145). S. beispielsweise das Lob des einfachen Lebens in Braun 1969, 55 f.
Variationen des «nächsten Fremden». Die Perser des Aischylos im 20. Jahrhundert
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erinnert an Adolf Hitler.23 Die Antike dient dazu, ganz im Brechtschen Sinne Diktatur und Militarismus im 20. Jh. zu verfremden. Auf der Bühne wurde Brauns Stück zuerst als Parabel für Amerikas Intervention in Korea und dann in mehreren Aufführungen als Parabel für den Vietnamkrieg inszeniert.24 Das letzte Beispiel, das hier vorgestellt werden soll, ist Peter Sellars’ Inszenierung der Perser in der Übertragung von Robert Auletta, die zuerst im Rahmen der Salzburger Festspiele 1993 und danach noch beim Edinburgh-Festival, im Mark Taper Forum in Los Angeles und im Berliner Hebbel-Theater gezeigt wurde.25 Aulettas Übertragung folgt der aischyleischen Handlung stärker als die Version von Braun und enthält immer wieder mehr oder weniger getreue Übersetzungen von Passagen des griechischen Textes.26 Am stärksten sind die Veränderungen der aischyleischen Vorlage am Ende in der Charakterisierung von Xerxes, den Auletta ausgiebig über seine Kindheit reflektieren und sich damit ein von Freud nicht unberührtes Psychogramm erstellen läßt. Außerdem wird der Kampf der Perser gegen die Griechen mit dem der Iraker gegen die Amerikaner überblendet. So sind die Kriegsbeschreibungen nicht nur aktualisiert, sondern evozieren Bilder des Golfkrieges.27 In seiner Schlachtbeschreibung sagt der Bote beispielsweise (39): For a long time there was nothing, As we lay motionless in the desert … Dug into trenches … sandbagged … Surrounded by fields of landmines, And moats of oil …
Darüber hinaus wird Athen auch unverhüllt als Amerika bezeichnet. Atossa beipielsweise sagt (37): I curse the name of America. What she has taken from us – Cutting from each Persian woman, A living husband, or a son, or a father; Or more; immeasurable, all immeasurable; And now our city too is being bombed, And the women themselves being killed.
In diesen Versen läßt sich in nuce Aulettas Umgang mit dem aischyleischen Text erfassen. Werfen wir einen Blick auf die zugrundeliegenden Verse bei Aischylos, 286–289: κ «α , ³« P « Κ « # $ «.28 23 24 25 26
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Cf. Trilse 1975, 151. Cf. Trilse 1975, 154–156. Hartigan 1995, 104 Anm. 2 nennt weitere amerikanische Aufführungen aus den Jahren 1993/1994. Hall 2004, 180 betont zudem, Auletta’s Adaption sei «absolutely faithful to the emotional register of the original». Das geringe Interesse von Sellars am ursprünglichen Kontext der Perser zeigt sich bereits, wenn er schreibt, die Perser seien mehr als zehn Jahre nach der Schlacht von Salamis aufgeführt worden (1993a, 7). Für den Text der Verse 288 f. folge ich der Ausgabe von Page 1972 mit den Konjekturen von Weil und Boeckh.
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Athen verhaßt den Unglückseligen! Ja daran denken muß man, Wie viele der Perserfrauen es – Für nichts! – Gemacht zu Witwen und männerlos.
Atossas Bemerkung, Athen sei seinen Feinden verhaßt, wird zu einem Fluch, und der Verlust der Ehemänner wird durch den Verlust von Söhnen und Vätern variiert. Hier verschärft Aulettas Übertragung also den aischyleischen Text. Das Bombardement der Stadt ist dagegen hinzugefügt. Es evoziert nicht nur einen modernen Krieg, sondern erzeugt eine Parallele zu den amerikanischen Angriffen auf Bagdad. Die Überblendung von Salamis und Golfkrieg zeigt sich in den Ländernamen: Ganz unvermittelt treffen hier die Horizonte des griechischen Originals und der Aktualisierung aufeinander, wenn dem zeitgenössischen Amerika das antike Persien gegenübersteht. In Aulettas Übertragung und Sellars Inszenierung bleibt der despotische Charakter von Xerxes’ Herrschaft sichtbar, 29 aber der Fokus ist auf das Leiden der Perser bzw. Iraker gerichtet. Im Programmheft zur Aufführung bei den Salzburger Festspielen beklagt Sellars die einseitige Dokumentation des Irakkrieges in den Nachrichtenmedien.30 Auch im Stück selbst findet sich Medienkritik. So fragt der Chor (40): Why don’t they put it all on television? – The sight of our dead, The screams of our agony, And let the world see The fruits of their labor?31
Angesichts dieser Situation sieht Sellars im Theater ein alternatives öffentliches Informationssystem. 32 Seine Perser-Inszenierung sei der Versuch, den Irakern eine Stimme zu verleihen: «What can’t be shown on television can be said on the stage. In America the war in Iraq was shown with no Iraqis at all – dead or alive. So, in this evening, we’re saying come and meet a few.»33
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So werden Folter und Mord erwähnt, s. beispielsweise Atossa in 31 f.: «I’ve heard the cries. / I’ve always known … you see, / What rulers must do … / Deep in the basements, / What really happens there – / Men and women shackled … sound drifts … / Descending in the elevators … / Darius had to; / But somehow it got much worse / In the rule of Xerxes … / The terror of it all … / … this palace built of human flesh, / And veined with living blood.» S. a. 47 f. und 64. Cf. Hall 2004, 177–179. Zu Sellars’ Medienkritik s. a. Sellars 1993b. Im Stück wird nicht nur die mangelhafte Berichterstattung angeprangert, sondern auch eine Verbindung zwischen Krieg und der Darstellung von Gewalt in Medien hergestellt, wenn der Bote sagt (45): «As a child I’d love / To watch monster movies; / These Japanese made monsters / Seemed to jump right out / Of the television set, / And take me in their jaws, / Shaking me … filling me, / With this child terror, delighting me. / But now … the monsters and terrors / Are suddenly real American made monsters – / Rambo, The Terminators, / Torn from their Hollywood homes … / Fantasy screens … and set down upon us … / Given permission for a true killing spree … / Breathing bullets … the true American way.» Sellars 1993a, 8. Sellars in einem Artikel von Pappenheim («The Greeks have a word for it») im Independent vom 16. August 1993.
Variationen des «nächsten Fremden». Die Perser des Aischylos im 20. Jahrhundert
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Was fällt bei der Betrachtung der hier vorgestellten Perser-Adaptionen auf? Am verblüffendsten ist wohl die Vielfalt der Perspektiven, in welche das Stück gestellt worden ist. Bereits bei unserer ersten Station, der Übersetzung von Feuchtwanger, konnten wir feststellen, daß der intendierten Warnung die Rezeption als patriotisches Stück gegenübersteht. Während 1939 die Perser im britischen Radio als Spiegel für die Bedrohung durch das Deutsche Reich dienen, sind sie nur drei Jahre später in Deutschland Chiffre für eine asiatische Übermacht. Diesen Adaptionen sowie der Übertragung von Braun ist aber gemeinsam, daß Xerxes und die Perser Sinnbild für den Imperialismus sind. Demgegenüber folgt Sellars Inszenierung einer anderen Interpretation. In ihr sind die Perser vor allem Opfer und die Aufmerksamkeit gilt ihrem Leiden. Während die übrigen Adaptionen die Perser als das problematische «andere» inszenieren, erregen sie in Sellars Version das Mitleid der Zuschauer. Ein zweiter Aspekt hängt eng mit der Vielfalt der Perspektiven zusammen. In allen von mir vorgestellten Übersetzungen und Übertragungen besteht ein enger Zusammenhang zwischen der antiken Handlung und der Gegenwart. Feuchtwanger dient die Schlacht von Salamis als Spiegel für den 1. Weltkrieg. Braun gestaltet seinen Xerxes als einen persischen Hitler und bei Auletta schiebt sich der Golfkrieg sogar vor die Schlacht von Salamis. Oft verstärken Inszenierungen die Aktualisierungen, so daß auch mit einer nahe beim aischyleischen Text bleibenden Übersetzung Gegenwart und Vergangenheit sich auf der Bühne wechselseitig beleuchten können. Durs Grünbein etwa vermeidet in seiner Übertragung aus dem Jahre 2001 weitgehend Annäherungen an die Gegenwart.34 Aber bereits bei der Uraufführung seiner Perser im Schloßtheater Dresden unter Niels-Peter Rudolph bringen Monitore, die links und rechts auf der Bühne Wüstenlandschaften zeigen, nicht nur moderne Massenmedien ins Spiel, sondern evozieren auch den Golfkrieg.35 Die Perser, so können wir zusammenfassen, wecken vor allem als Chiffre für zeitgenössische Kriege Interesse.36 34
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Für Grünbeins Übersetzung wirbt auf dem Buchrücken die Frage «Wo, um Himmels willen, liegt dieses Athen?» Aber selbst Grünbeins Übersetzung spielt mit Parallelen. Beispielsweise übersetzt er das griechische # ¹ T / μ $!" %
& 'E (49 f.), von Schadewaldt wiedergegeben mit «Und bereit stehn des heiligen Tmolos / Anwohner, um das Knecht-Joch / Hellas aufzulegen» mit «Und die vom Tmolus, dem heiligen Fluß, / Drohten: Und morgen gehört uns Griechenland!», eine deutliche Anspielung an deutsche Kriegspropaganda. Cf. Stephan 2002. Cf. Hartigan 1995, 102 f.; Favorini 2003, 110. Als Beispiel für eine Inszenierung, die auf Aktualisierung weitgehend verzichtet, sei Dimiter Gotscheffs Aufführung der Perser am deutschen Theater in Berlin aus dem Jahr 2006 genannt. Zwei jüngere extreme Adaptionen der Perser seien hier außerdem erwähnt: Wuttke ließ 2003 die Perser als «Naturschauspiel mit Live-Video-Projektion» im brandenburgischen Neuhardenberg auf einem Flugzeughangar und Rollfeld aufführen (zugleich gezeigt als Fernsehadaption von ZDF und arte). Die Schauspieler bewegten sich auf dem ganzen Areal, wobei sie gefilmt wurden, so daß das Publikum sie von einer Tribüne aus sowohl realiter, wenn auch aus weiter Entfernung, als auch in Nahaufnahme auf sechs Leinwänden betrachten konnte. Zugrundegelegt wurde die Übersetzung von Grünbein, allerdings mit vielen Streichungen und zahlreichen Zusätzen, welche die Assoziationen durch den Ort, die Nähe zu den Seelöwer Höhen und die frühere Nutzung als Regierungsflughafen der DDR, verstärkten und weitere Assoziationen weckten. So wurde beispielsweise Ernst Jüngers «blumige, blutbetaute Wiesen» zitiert und Wuttke ließ seine Schauspieler Karten spielen mit einem Set, das irakische Politiker zeigt. Burckhardt 2003, 39 bemerkt treffend: «The making of a B-movie oder Die Auflösung der Zentralperspektive. Die «Perser» hätte es dafür nicht unbedingt gebraucht.» Ist bei Wuttke bereits das «Spielfeld» erweitert, so überschritt 2003 die Düsseldorfer Künstlergruppe «hobbypopMUSEUM» die Grenzen des Mediums Theaters und machte aus den Persern eine begehbare In-
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II Die beiden Beobachtungen, die so verschiedene Darstellung der Perser und die Tendenz zur parabelhaften Aktualisierung, sollen jetzt an das griechische Original herangetragen werden. Wenden wir uns zuerst den verschiedenen Interpretationen zu – ImperialismusKritik oder Darstellung von Leiden? Die beiden Deutungen sind so verschieden, daß es scheinen mag, nur eine von ihnen sei möglich, und es handle sich entweder beim verächtlichen Blick auf die Perser um eine chauvinistische Instrumentalisierung der Tragödie oder Sellars Fokus auf die persischen Leiden entspringe einer gewollt boshaften Inversion der Griechen-Barbaren-Antithese. Gegen diesen Anschein soll die These entwickelt werden, daß nicht nur beide Interpretationen sich auf den aischyleischen Text stützen können, sondern daß gerade die Spannung zwischen diesen Aspekten den Erfolg der Perser in der Antike ausgemacht hat. Die Perser sind bei Aischylos sowohl das Fremde als auch das nächste. Man wird im Stück nur schwerlich die Imperialismuskritik finden, die im Mittelpunkt vieler moderner Adaptionen steht.37 So prangern weder der Chor noch Dareios eine aggressive Außenpolitik an; ganz im Gegenteil, Dareios rühmt, wie er und seine seine Väter das persische Reich groß und bedeutend gemacht haben, und im dritten Stasimon schwelgt der Chor in der Erinnerung an Dareios’ Feldzüge.38 Kritisiert wird lediglich das Scheitern von Xerxes. Trotzdem können die modernen Adaptionen, in denen die Perser zu einem imperialismuskritischen Stück werden, bei Aischylos’ Stück anknüpfen. So wird Xerxes’ Zug gegen Griechenland immer wieder als frevelhaft bezeichnet. Dareios verurteilt die Überbrückung des Hellespont als einen Akt der Transgression und prangert das Schänden griechischer Heiligtümer an. 39 Außerdem hat Hall eindrucksvoll aufgezeigt, wie die Perser in Aischylos’ Stück das andere verkörpern. 40 Ein wichtiger Aspekt der Alterität ist ihr politisches System, das als Tyrannis immer wieder der athenischen Demokratie gegenübergestellt wird. Im ersten Stasimon beispielsweise singt der Chor, 584–594:41
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stallation, cf. den Bericht in Theater heute 1/2003, 15. Zu weiteren zeitgenössischen Aufführungen der Perser s. Dreyer 2007. Der Verfasser verdankt Ernst A. Schmidt den Hinweis auf eine Beobachtung von Uvo Hölscher 1994: 388 f., nach der bereits in der Antike die Rezeption mythischer Figuren von Vereinfachungen bzw. Verzeichnungen geprägt ist: «Schon die frühen Jahrhunderte nach Homer nehmen von ihnen nur noch das populär Eingängige wahr, wandeln sie ins Charakteristische und Karikaturistische, und das ist, für ein aufgeklärtes Publikum, das Negative. Es war damals wie auf dem heutigen Regisseur-Theater: die Figuren der griechischen Mythen scheinen fast nur noch in der euripideischen Verzeichnung dem Publikum zugänglich.» S. Dareios’ Ausführungen mit seiner Genealogie in 759–786, besonders 780 f.: $ ( ) ), / $# * μ + ," +-. Der Chor rühmt die Kriegszüge und Herrschaft des Dareios in 857–903. Mit einer Imperialismuskritik vertragen sich auch schlecht die Worte des Chores in 102–107: + M %# .- / μ +, .,-/ ξ P,« / , « - « / , ¹ 1« / + « + # $ «. 744–750; 807–815. Hall 1989, 76–100, s. a. Hutzfeldt 1999: 24–96; Föllinger 2001. S. a. das Unverständnis der Königin dafür, daß die Griechen keinem Herren folgen, in 241–244. Zur Gegenüberstellung von griechischer Demokratie und persischem Despotismus in den Persern cf. Paduano 1978, 101; Michelini 1982, 128; Goldhill 1988; Hall 1989, 93–98; Harrison 2000, 76–91.
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* # ) " % . !%«α , μ« . & " , ³« .&- μ $»«. Doch die Völker der Asischen Erde Lassen sich nicht mehr lange Nach persischer Satzung regieren. Nicht zollen sie mehr Tribute Unter herrscherlichem Zwang, Noch fallen sie nieder zur Erde, Um sich befehlen zu lassen. Denn, wahrlich! Die königliche, sie ist Ganz vernichtet, die Kraft! Und nicht mehr in Gewahrsam Liegt die Zunge den Sterblichen. Denn losgebunden ist das Volk, Um frei zu reden, Da gelöst ist Das Joch der Macht.
Der despotische Charakter des persischen Reiches tritt klar zutage: Die Perser treiben von ihren Untertanen Abgaben ein und verlangen eine gottgleiche Verehrung; die Freiheit der Rede, so wichtig für die griechischen Poleis, gibt es nicht. Wenn die Darstellung des persischen Frevels und Despotismus auch noch keine Imperialismuskritik ist, erzeugt sie doch eine problematische Alterität, die in einer modernen Sicht leicht zu grundsätzlicher Kritik an militärischer Aggression werden kann. Wie sieht es auf der anderen Seite mit Sellars’ Aufführung aus, die dem irakischen Leiden im Gewand des persischen die Aggression Athens alias Amerikas gegenüberstellt? Handelt es sich hier um eine willkürliche Umdeutung im Dienste der Provokation? In der Tat werden die Athener im aischyleischen Stück nicht als Aggressoren charakterisiert, sondern, gebrochen durch die persische Perspektive, gerühmt ob ihrer Tapferkeit. Dennoch ist es nur schwer vorstellbar, daß das athenische Publikum sich am Leiden der Perser auf der Bühne weidete und es nur als Spiegel des eigenen Erfolges wahrnahm. Immer wieder legen Gnomen es nahe, das persische Desaster als Beispiel der menschlichen Fragilität im allgemeinen zu sehen.42 So fragt etwa der Chor in der Parodos, 93–100:43
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Dieser Aspekt wird betont beispielsweise von Broadhead 1960, xxviii-xxix; Vogt 1972; Said 1981. Zu dieser und weiteren Stellen s. Grethlein 2007.
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+- # $ « $κ μ« $&6 ; « ² ) λ - 3 « * , « $; !+! ! " μ ) " μ 4« $&!"# 5Aα + * 8ξ μ $&6 ! %. Doch dem list-sinnenden Trug des Gottes: Welcher sterbliche Mann entrinnt ihm? Wer, der mit schnellem Fuß Wohlbeflügelten Sprungs Enteilte? Denn freundlichen Sinnes schmeichelnd Zuerst, verführt den Menschen In ihre Netze Ate, Die Göttin des Verderbens. Daraus vermag entschlüpfend Kein Sterblicher zu entrinnen.
Dadurch, daß die Niederlage der Perser in den Rahmen der condicio humana projiziert wird, wird das athenische Publikum dazu angehalten, sie nicht nur als ihren eigenen Triumph zu sehen, sondern auch das Leiden der Perser als solches wahrzunehmen. Die Verblendung, welcher Xerxes anheimgefallen ist und unter deren Folgen die Perser zu leiden haben, ist eine allgemeine Gefahr, von der Griechen nicht ausgenommen sind. Diesen Aspekt, die mögliche Identifikation mit den Persern, hebt Sellars in seiner Inszenierung hervor, indem er die Schrecken des Krieges aktualisiert und zusätzlich Athen bzw. Amerika die Rolle der imperialistischen Großmacht zuweist. Während also die Inszenierungen, welche eine Kritik an Imperialismus und Militarismus in den Mittelpunkt stellen, auf die Darstellung Persiens als des anderen abheben, richtet Sellars Version den Fokus auf das Leid der Perser im Horizont der condicio humana. Beide Tendenzen lassen sich in nuce in einer Aussage von Dareios aufzeigen, 821–828:44 9"« .6 # . 1 Ν-«, Ρ .6» , «. # ²) « ) $ ,-# #A-) 'E
« , - , « 8 ! 3« μ + Ν . λ« ;" .1,- ,. Z &« κ« ) 8 + Ν ! - , Κ « "&«. Denn Überheblichkeit, herausgeblüht, Setzt fruchtend an die Ähre der Verblendung, Woher sie einen tränenreichen Herbst sich mäht. Die ihr für diese solcherlei Vergeltung seht: Denkt an Athen und Hellas! Und mag keiner, Gering den Daimon achtend, welcher ihm gegeben,
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Cf. Grethlein 2007.
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Nach anderem begierig, ausschütten den großen Segen. Wahrhaftig! Zeus, als Zuchtmeister, steht über Den gar zu hoch hinaus lärmenden Sinnesarten, Ein Einforderer schwerer Rechenschaft.
Auf der einen Seite räsoniert Dareios hier über das Desaster der Perser. Athen und Griechenland, die triumphiert haben, sollen den Persern eine Lehre sein! Zugleich ist seine Reflexion aber allgemein formuliert: Zeus straft nicht nur persischen Frevel, sondern überhaupt Unrecht; auch die Griechen unterliegen seiner Macht. Zwei Punkte machen wahrscheinlich, daß das athenische Publikum oder zumindest Teile von ihm45 die Warnung des Dareios auch auf sich selbst beziehen würden. Dareios richtet seine Worte zwar auf der Bühne an die Perser, aber bei allgemeinen Aussagen kann der Imperativ der zweiten Person Plural, ohne die dramatische Illusion aufzuheben, leicht die Grenzen zwischen innerem und äußerem Kommunikationssystem verwischen und bewirken, daß die Zuschauer sich direkt angesprochen fühlen.46 Hinzu kommt, daß die Warnung, gegenwärtigen Segen nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen, nicht nur allgemein ist, sondern mehr Sinn im äußeren als im inneren Kommunikationssystem macht. Die Perser haben nach der Niederlage, wie Aischylos sie darstellt, nicht mehr viel zu verlieren. Athen dagegen steht am Beginn eines Aufschwungs. Wir müssen uns davor hüten, ex post in Dareios’ Worten eine Antizipation des athenischen Imperialismus zu sehen; 47 aber es liegt nahe, daß das athenische Publikum die Warnung vor Überheblichkeit auch auf sich bezogen hat. Fassen wir kurz zusammen: Die gegensätzlichen Tendenzen in den modernen Versionen der Perser fügen dem aischyleischen Original beide etwas hinzu: so enthalten die Perser weder eine grundsätzliche Kritik am Krieg noch weisen sie den Athenern die Rolle eines Aggressors zu. Zugleich können sich aber beide Ansätze auf Aspekte in Aischylos’ Stück berufen. Dort steht der Stilisierung der Orientalen als des anderen die Betonung ihres Leidens als Ausdruck der condicio humana gegenüber.48 Kommen wir zur zweiten Beobachtung zu den modernen Adaptionen. Die meisten Übertragungen und Inszenierungen der Perser sind, so hat sich gezeigt, um eine starke Aktualisierung bemüht. In ihnen wird der Perserkrieg zum Spiegel für einen zeitgenössischen Krieg, seien es nun die beiden Weltkriege, der Krieg in Vietnam oder der Golfkrieg. In Aischylos’ Persern können wir eine gegenläufige Tendenz feststellen, nämlich eine Distanzierung. Die Seeschlacht von Salamis wird in das projiziert, was Pat Easterling «heroic vagueness»49 nennt. Die Handlung findet im fernen Susa statt und alle Charaktere sind Perser. 50 Wie in den Grabreden und den Epigrammen zu den Perserkriegen wird kein einziger Grieche namentlich erwähnt. Die Anonymität der Griechen dient nicht nur dazu, daß die 45
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Pelling 1997, 17 f. betont zu Recht, daß man nicht von einer uniformen Wahrnehmung des Publikums ausgehen könne, sondern daß die Perser unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen haben dürften. Dazu s. anhand eines Beispiels in den Eumeniden Grethlein 2003, 223 f. Melchinger 1979, 36 geht hier wohl zu weit. Zur Spannung zwischen der Stigmatisierung der Perser als des «anderen» und ihrer Rolle des tragischen Helden, der Mitleid hervorruft, s. Gagarin 1976, 30; Michelini 1982, 109; Pelling 1997, 17; Hutzfeldt 1999, 79–81. Cf. Easterling 1997. Zu den Persern in der Spannung zwischen Mythos und Geschichte s. Péron 1982. Cf. Vernant 1988, 244 f.; Hutzfeldt 1999, 80 f.
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Polis als handelnde Kraft erscheint, sondern bewirkt auch, daß das Ereignis von der Gegenwart weggerückt wird. Die spatiale Entfernung wird durch eine temporale Distanzierung ergänzt. Bereits die in der Tragödie übliche epische Färbung der Sprache51 bettet die Handlung in den Rahmen der heroischen Vergangenheit ein. Darüber hinaus finden sich in den Persern weitere epische Elemente; am auffälligsten sind wohl drei Listen persischer Soldaten. 52 In der Parodos zählt der Chor Perser auf, die nach Griechenland gezogen sind (21–58), der Bote gibt eine Liste der Gefallenen (302–330), und in der Exodos hat die gemeinsame Klage von Xerxes und Chor die Form eines Katalogs. Diese drei Listen erinnern stark an epische Kataloge, vor allem an den Katalog der Schiffe, in dem der Erzähler der Ilias die griechischen und trojanischen Helden auflistet. Der Bericht des persischen Boten erinnert nicht nur durch die Katalogform ans Epos, sondern evoziert grundlegender das Bild eines epischen Barden. In 429 f. reflektiert der Bote auf die Grenzen seiner Berichterstattung: ) ξ «, * # ω 4 ,# = 1- -, * ω . Der Übel Menge – und wollte ich zehn Tage In einem fort erzählen, ich könnte sie dir nicht erschöpfen.
Wie Barrett ausgeführt hat, erinnert diese Reflexion an die folgende Bemerkung des Erzählers der Ilias in der Musen-Anrufung, 2, 488 f.:53 # * ω .Ω 3 * # ? 3,
* # @ ξ ), ξ +# ρ . Die Menge freilich könnte ich nicht künden und nicht benennen, Auch nicht, wenn mir zehn Zungen und zehn Münder wären.54
Der Bote verzeitlicht die Feststellung des epischen Erzählers, Vollständigkeit in einer Erzählung sei unmöglich, und macht aus ihr eine Reflektion über Erzählzeit und erzählte Zeit. Selbst wenn die Erzählzeit länger ist als die erzählte Zeit – zehn Tage Erzählung für eine eintägige Schlacht, kann eine Erzählung keine getreue Wiedergabe eines Ereignisses sein. Mit diesen Anklängen stilisiert sich der Bote wie ein epischer Barde und entrückt das zeitgeschichtliche Ereignis in die «heroic vagueness». Während die unterschiedlichen Tendenzen in der Darstellung der Perser auf das griechische Original zurückgeführt werden konnten, ist jetzt festzustellen, daß der in allen Adaptionen beobachtbaren Aktualisierung die Distanzierung des Ereignisses im Stück gegenüber51
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Zur epischen Sprache in den Persern s. Stanford 1942, 26; Sideras 1971, 98–200; 212–215; Said 1988, 326 f. und Garner 1990, 22–24. Hall 1989, 79 und 1996, 24 vertritt die These, die epische Sprache helfe, die Perser als fremd zu charakterisieren. Außerdem betont sie, daß epische Sprache in der Tragödie nicht nur kopiert, sondern vielmehr transformiert werde (1996, 24). Zur Verbindung der drei Kataloge s. Said 1988, 332 f., zum epischen Hintergrund s. Albini 1967, 256; Paduano 1978, 51–70; Michelini 1982, 15; 77; Said 1988, 329. Belloni 1982, 195 f. betont die Unterschiede zu epischen Katalogen. Hall 1989, 76 nennt «the cataloguing technique of Ionian logography» als einen weiteren Hintergrund. Die persischen Namen sind erfunden, cf. Lattimore 1943, 82–87; Bacon 1961, 23 f. Cf. Barrett 1995. Die Übersetzung stammt von Schadewaldt 1975.
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steht. Die Schlacht von Salamis, die moderne Übertragungen und Inszenierungen an die Gegenwart heranholen, ist von Aischylos in ein mythisches Register distanziert worden.
III Ein Aspekt der aristotelischen Rezeptionstheorie kann beide Beobachtungen erklären und einen Grund sowohl für die eminente Bedeutung der Tragödie im 5. Jh. als auch für das Interesse an ihr in der Gegenwart geben.55 Wenden wir uns also in einem letzten Schritt Aristoteles zu. Nach Aristoteles bewirkt die Tragödie bei den Zuschauern eine Katharsis, indem sie Mitleid und Furcht hervorruft. 56 Das Empfinden von Mitleid sei aber an bestimmte Voraussetzungen gebunden: der Leidende müsse schuldlos sein 57 und eine Ähnlichkeit oder Nähe zum Rezipienten aufweisen.58 Dadurch könne sich der Rezipient mit dem Leidenden vergleichen und, indem er sich in ihn hineinversetzt, mitleiden. Zugleich betont Aristoteles, daß Mitleid von Furcht verdrängt werde, wenn der Leidende dem Rezipienten zu nahe stehe. Hier überlagert die Sorge um die eigene Person die Anteilnahme am anderen. Mitleid und Furcht als Reaktion auf Tragödien setzen also eine Balance von Nähe und Distanz des Rezipienten zum Leidenden voraus. Es muß ein Bezug zum eigenen Leben möglich sein, der aber nicht so stark sein darf, daß sich die Sorge um die eigene Person zu sehr in den Vordergrund schiebt. 59 Diese Formel, die Balance zwischen Nähe und Distanz, beschreibt genau die Spannung, die wir in der Darstellung der Perser in modernen Versionen feststellen konnten. Die Andersartigkeit der Perser erzeugt die Distanz, welche das Mitleid voraussetzt. Das Leid der Feinde ist nicht das eigene. Zugleich erzeugen die Gnomen und die Betonung der condicio humana einen gemeinsamen Horizont und damit genügend Ähnlichkeit, daß ein athenischer Zuschauer das Leid der Perser auf sich übertragen kann und von ihm gerührt wird. Während die imperialismuskritischen Adaptionen die Distanz hervorheben, tritt bei Sellars das menschliche Leiden und damit die Nähe in den Vordergrund. Zwei Vergleiche, der erste werkimmanent, der zweite zu einer anderen Tragödie, können die Balance zwischen Nähe und Distanz verdeutlichen. Der Chor fungiert in der ersten Hälfte als ein «inneres Publikum».60 Genauso wie die Zuschauer warten die alten Perser in 55
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Es sei ausdrücklich betont, daß es hier weniger um Aristoteles-Exegese als um die Nutzung von Aristoteles für heuristische Zwecke geht. So wird nur ein Aspekt aus der komplexen Rezeptionstheorie des Aristoteles herausgegriffen und mit einer gewissen Freiheit angewandt. Beispielsweise beschreibt Aristoteles mit der Balance von Nähe und Distanz die Identifikation der Rezipienten mit dem tragischen Helden, hier soll sie auch auf das Verhältnis zwischen Gegenwart der Aufführung und Vergangenheit des Stücks bezogen werden. Poet. 1449b24–28. Poet. 1453a4–6, cf. Rhet. 1385b13 f. Rhet. 1383a8–12; 1386a24–26. Dazu, daß Aristoteles in der Poetik Gleichheit nur als Voraussetzung für Furcht nennt, s. Grethlein 2003b, 42 Anm. 5 mit weiterer Literatur. Ausführlicher dazu Grethlein 2003b, 41–45. Zum Mitleid bei Aristoteles und in der Tragödie s. a. Halliwell 1986; 2002, 207–233; Belfiore 1992, 177–253; Lada 1993; Zierl 1994; Konstan 2001. Zum Mitleid in der Antike im allgemeinen cf. Burkert 1955. Diese Feststellung greift nicht die alte These auf, daß der Chor als Kollektiv den Zuschauern als Identifikationsfigur diene und ihre Rezeption präfiguriere. Wie u. a. Gould 1996 gezeigt hat, bestehen viele Chöre aus «marginalen» Gruppen und laden athenische Bürger deswegen nicht zur Identifikation ein. Zum Chor in den Persern s. a. Grethlein 2007.
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der Orchestra auf Neuigkeiten aus Griechenland, und beide lauschen dann dem Bericht des Boten. In ähnlicher Weise verfolgen Chor und Zuschauer als «inneres» und «äußeres» Publikum das Gespräch zwischen Atossa und Dareios. Dies wird besonders deutlich, wenn die Charaktere Akte der sinnlichen Wahrnehmung erwähnen. In vv. 210 f. beispielsweise sagt Atossa über ihren Traum: … # . # # 4 %, 8% # $ & … … Dies sind Schreckgesichte, für mich zu sehen, für euch zu hören …
Genauso wie der Chor hat das Publikum den Traum nicht gesehen, sondern nur Atossas Bericht gehört.61 Vielleicht können wir folgenden Vers sogar als Ausdruck dieser Doppelung des Publikums verstehen. Als der Bote naht, sagt der Chor in 248: λ !, !,« » « .μ ν μ %. Und er bringt gewisse Kunde, gut oder schlecht zu hören.
Die Bestimmung «gut oder schlecht zu hören» ist natürlich der Tendenz des Griechischen zu polaren Ausdrücken geschuldet. Hier markiert sie aber zugleich implizit die Doppelung des Publikums, indem sie die Qualität der Neuigkeiten für beide benennt: Sowohl die Zuschauer als auch der Chor hören nun vom Boten die Kunde, die für die ersteren gut, für die letzteren schlecht ist. Wie dieses Beispiel zeigt, nehmen das «innere» und «äußere» Publikum die Schlacht von Salamis aus entgegengesetzten Perspektiven statt. Für die Zuschauer im athenischen Theater handelt es sich um die Niederlage ihrer Feinde; sie haben genügend Distanz zum tragischen Geschehen, um Mitleid und Furcht empfinden zu können. Der Chor in der Orchestra dagegen hört von der eigenen Niederlage und dem Tod von Verwandten und Landsleuten. Die alten Perser sind vom Leid zu sehr selbst betroffen, als daß sie mit Mitleid und Furcht reagieren könnten. Legen wir also Aristoteles’ These zu Nähe und Distanz zugrunde, so können wir sagen, daß in die gelungene Tragödie für das athenische Publikum die mißlungene Tragödie für die Perser eingebettet ist. Diese Überlegung führt uns zum zweiten Vergleich, nämlich der Gegenüberstellung mit einer anderen Tragödie, die sich mit den Ereignissen der Perserkriege auseinandersetzte. Im Jahre 493 wurde Phrynichos’ Stück Halosis Miletou in Athen aufgeführt.62 Wie der Titel zeigt, handelte die Tragödie von der Einnahme Milets durch die Perser. Nach dem Bericht Herodots sorgte die Aufführung für einen Tumult und Phrynichos wurde bestraft.63 Als Grund gibt Herodot an, die Einnahme Milets habe den Athenern 4 % , eigene Übel, zugemutet. Die Milesier waren als Ionier stammverwandt, und Athen war auch selbst in den Ionischen Aufstand involviert gewesen. Ebenso wie die Perser behandelt die Halosis Miletou ein Ereignis aus dem Perserkrieg, doch während Aischylos ein persisches Desaster auf die Bühne bringt, thematisiert Phrynichos eine griechische Niederlage. Die 61
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S. a. 331 f. 4%, ) 9/ κ & , / @1- P,« λ , &; 565:
# .! % Ν# *+, ³« $ & ; 582 f.: + , « /μ » κ & Ν «; 843 f.: D λ + λ , # / =-# $ &« "" 3. Cf. Rosenbloom 1993; Mülke 2004 mit weiterer Literatur in 234 Anm. 1. Hdt. 6, 21, 2.
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Reaktionen können als Bestätigung für Aristoteles’ Rezeptionstheorie verstanden werden: Das Stück, welches das eigene Leid zeigt, fällt durch; das andere, welches Leiden in sicherer Distanz vorführt, gewinnt den ersten Preis. Übertragen wir die Forderung, Nähe und Distanz miteinander auszubalancieren, von der Identifikation mit den Charakteren auf die zeitliche Ebene, so läßt sich mit ihr auch die Gegenläufigkeit von Distanzierung und Aktualisierung in den Persern und ihren modernen Adaptionen erfassen. Die Perser sind die einzige vollständig überlieferte und eine von wenigen uns namentlich bekannten historischen Tragödien.64 Alle anderen Tragödien haben mythische Sujets. Und auch wenn die Griechen nicht so scharf wie wir zwischen Mythos und Geschichte unterschieden, so zog man für die Tragödien offensichtlich die heroische Vergangenheit vor. Folgen wir Aristoteles’ Rezeptionstheorie, so können wir vermuten, daß ein Grund dafür die Distanz war, welche der Mythos bot.65 So konnten aktuelle Probleme und Spannungen in der «heroic vagueness» entfaltet werden, ohne für Anstoß zu sorgen. 66 Dem entspricht die Beobachtung, daß die aischyleischen Perser ein zeitgeschichtliches Ereignis in einen heroischen Rahmen projizieren. Zwischen der Schlacht von Salamis und der Aufführung der Perser lagen nur acht Jahre. Erst die Entrückung in ein heroisches Register stellte die Distanz her, die nach Aristoteles für eine Tragödie notwendig war.67 Aber auch die gegenläufige Aktualisierung, die wir in den modernen Adaptionen feststellen konnten, läßt sich mit der aristotelischen These zu Nähe und Distanz erklären. Die Schlacht von Salamis ist für heutige Rezipienten weit entfernt. Der Konflikt zwischen Griechen und Persern ist verblaßt und das Procedere in antiken Seeschlachten ist uns im Zeitalter der High-tech-Kriege fremd. Bringt man die Perser auf die moderne Bühne, so besteht das Problem nicht in einem Mangel an Distanz, sondern es geht darum, Nähe zu erzeugen. 68 Erst die Aktualisierung ermöglicht die Balance von Nähe und Distanz, die nach Aristoteles für eine Katharsis notwendig ist.69 Einen ähnlichen Mechanismus können wir in vielen Tragödien beobachten, die ein mythisches Sujet haben. Immer wieder wird die heroische Handlung an die Gegenwart des de-
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S. beispielsweise Castellani 1986 und Hall 1996, 9 f. zu den historischen Tragödien. Wir wissen noch von einer dritten Perser-Tragödie, den phrynicheischen Phoenissen, von denen sogar ein paar Fragmente erhalten sind (TrGrF 3 Phrynichos fr. 8–12). Für andere mögliche Gründe s. Castellani 1986. Cf. Grethlein 2003, 63 f. In einem anderen Aufsatz (Grethlein 2007) werden die Perser als eine Reflexion über die Tragödie als kommemoratives Medium interpretiert. Das dichte Netz von Reflexionen über Erinnerung auf der Handlungsebene bildet eine Hermeneutik der memoria und läßt sich auf die Perser selbst als einen Akt der Erinnerung übertragen. Es ist zu vermuten, daß das zeitgeschichtliche Thema, verschärft durch das Scheitern des Phrynichos mit seiner Halosis Miletou, zu einer derartigen Reflexion angeregt hat. Cf. Burian 1997, 252 f., der Psychoanalyse und Anthropologie als zwei Filter nennt, durch welche antike Mythen von modernen Schriftstellern fruchtbar gemacht werden. Sellars’ Perser-Inszenierung mag als Beispiel dafür dienen, wie fragil das Gleichgewicht von Nähe und Distanz ist. Auch in Europa wurden die Aufführungen nicht unkritisch aufgenommen, aber von der Entrüstung, die sie in den USA auslösten (s. die Liste von Rezensionen bei Favorini 2003, 110 n. 63), war nichts zu spüren. Laut Lahr 1993, 103 verließen in Los Angeles jeden Abend mehr als hundert Zuschauer das Theater vorzeitig. Folgen wir Aristoteles, so läßt sich vermuten, daß, während die Europäer die harsche Kritik an der amerikanischen Außenpolitik nicht unmittelbar tangierte, für viele amerikanische Zuschauer die nötige Distanz zu ihrer Lebenswelt nicht gewahrt war.
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mokratischen Athen «herangezoomt».70 In Aischylos’ Hiketiden beispielsweise wird Athen zwar vom König Pelasgos regiert, aber die Volksversammlung entscheidet, ob dem Hikesiegesuch der Danaiden stattgegeben wird. Der Bericht über die Volksversammlung stellt einen demokratischen Entscheidungsprozeß dar und enthält prägnante Termini aus der zeitgenössischen athenischen Praxis.71 Dadurch wird die mythische Handlung an die Welt des Publikums herangerückt. Das «zooming» in den Tragödien und die Aktualisierungen im zeitgenössischen Theater unterscheiden sich aber voneinander. Das «zooming» vollzieht sich auf der Ebene der Sprache – einzelne Begriffe blenden die Gegenwart ein. In modernen Übertragungen finden wir manchmal ähnliches, beispielsweise in Aulettas Version der Perser, wo moderne Kriegstechniken oder sogar «Amerika» genannt werden. Zumeist wird aber die Gegenwart nicht auf der sprachlichen Ebene, sondern durch die Requisiten eingeblendet, etwa wenn Xerxes eine Nazi-Uniform trägt. In aristotelischen Kategorien hat sich der Schwerpunkt hier von der ,6Γ zur ;/Γ, die Aristoteles bezeichnenderweise für das am wenigsten wichtige Element der Tragödie hält,72 verschoben. Fassen wir zusammen: Die aristotelische Reflexion über Nähe und Distanz bietet uns eine Formel, mit der sowohl die Distanzierung der Schlacht von Salamis im Theater Athens als auch ihre Aktualisierung auf der modernen Bühne erfaßt werden können. Beiden liegt das gleiche Prinzip zugrunde, nämlich Nähe und Distanz der Bühnenhandlung zur Wirklichkeit des Publikums auszutarieren, allerdings mit entgegengesetzten Tendenzen. Während das zeitgeschichtliche Ereignis distanziert werden muß, gibt erst die Aktualisierung der antiken Handlung Relevanz in der Gegenwart. Vielleicht ist dieser Ansatz über die Perser hinaus fruchtbar, und die von Aristoteles skizzierte Spannung zwischen Nähe und Distanz ist – neben vielen anderen – ein Grund, warum griechische Tragödien auch in der Gegenwart noch Interesse erregen. 73 Zwar ist die Spannung zwischen Fremdheit und Aktualisierung bei den Persern besonders stark ausgeprägt, aber ähnliches läßt sich für die Tragödie im allgemeinen feststellen. Die starren Konventionen der Tragödie, ihre stilisierte Sprache und ihre archaische Welt gewährleisten ausreichend Distanz zu unserer Wirklichkeit. Seidensticker nennt die Distanzierung – auf ästhetischer, zeitlicher und räumlicher Ebene – als einen wichtigen Aspekt, warum wir «Vergnügen an tragischen Gegenständen» haben.74 Die Fremdheit antiker Tragödien ver-
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Zu diesem Terminus s. Sourvinou-Inwood 1989; Grethlein 2003a, 36–41. Cf. Grethlein 2003a, 86–88 mit weiterer Literatur. Cf. Poet. 1450b16–20. Taplin 1991, 53 vermutet, «daß in den letzten zehn bis zwölf Jahren wahrscheinlich so viele Tragödien zur Aufführung gelangten wie in keiner gleichen Zeitspanne seit der Antike.» Für das Interesse an der griechischen Tragödie werden unterschiedliche Gründe genannt: Taplin 1991, 57 hebt die «Erfahrung der Überlebensfähigkeit» hervor, die der Tragödie in einer von Risiken belasteten Zeit Bedeutung verschaffe, s. a. Hall 2004, 45 f. McDonald 1992, 4 sieht in der Tragödie «the redemptive power of individual human suffering», das sie der elitenbildenden Funktion der Tragödie entgegenstellt. Laut Foley 1999, 3 erlaubt die griechische Tragödie «a political response to irresolvable, extreme situations without being crudely topical». Sie weist außerdem auf die Qualität der Plots und die dramatischen Möglichkeiten hin, welche die griechische Tragödie Frauen biete (4 f.). Wertenbaker 2004, 366 meint, in einer Zeit, die erkenne, daß der Mensch nicht verstanden werden könne und irrational sei, komme der Tragödie eine besondere Bedeutung zu. Rehm 2003, 141 sieht in der Tragödie «a potential form of cultural resistance against the temporal compulsion of capitalism». Cf. Seidensticker 2005, 225–232.
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stärkt auf inhaltlicher Ebene dieses dem Drama inhärente Moment der Distanz. Können wir die Funktion dieser Distanz noch weiter spezifizieren? Nach Hall erlaubt sie es uns, ansonsten nicht Zeigbares zu zeigen und nicht Sagbares zu sagen: «We can’t bear to look upon the corpses of the Iraquis our own soldiers and pilots have killed, nor on our own angry poor we have created by class war and unemployment, and have great difficulty even imagining an art form adequate to the representation of the subjectivity of the millions of dead victims of the Holocaust. But through the familiar, ancient, formal lineaments of Greek tragedy, by peering, at first cautiously, through its mask, even the pain on which our lives and society are predicated, even the countless forgotten people whose suffering we have permitted can be briefly remembered, be rendered faintly visible and audible, at least for a little while.» s. Hall 2004, 194 f.
Diese Begründung wird jeden, der Zugang zu modernen Massenmedien hat, überraschen. Die Berichterstattung über den Irakkrieg mag von einer Pressezensur eingeschränkt gewesen sein, aber ansonsten leidet unsere Medienlandschaft sicherlich nicht an einem Mangel an verstörenden Bildern und schon gar nicht ist nachzuvollziehen, wie eine Theateraufführung mit den Schrecken von dem konkurrieren will, was in Nachrichten oder gar in fiktiven Filmen gezeigt wird! Die Debatte um die Darstellbarkeit des Holocaust wiederum ist eine ästhetische Diskussion, die nichts aussagt über die Bilder, die – mit welchem Repräsentationsanspruch auch immer – im Umlauf sind. Die von Hall behauptete Funktion der Distanz, nämlich das Unsagbare zu sagen, mag in Diktaturen mit einer restriktiv kontrollierten Öffentlichkeit von Bedeutung sein. So bot die Antikenrezeption Schriftstellern der DDR wie Heiner Müller einen Rahmen, in dem sie Kritik äußern konnten.75 In den westlichen Demokratien ist der Reiz, den antike Tragödien ausüben, aber anders gelagert. So wird die Fremdheit durch Vertrautheit ausbalanciert, die darauf beruht, daß die griechische Kultur eine wichtige Grundlage unserer Zivilisation ist – eine Dialektik, die Hölscher mit dem Begriff des «nächsten Fremden» so treffend charakterisiert hat. Die Aktualisierungen können also an bereits in den Texten angelegte Verbindungen anknüpfen, wobei Übersetzung und Inszenierung die Ventile bilden, welche die Spannung zwischen Nähe und Distanz regulieren. Über ihre Verfremdungsfunktion hinaus zeichnen sich die antiken Modelle dadurch aus, daß sie eine gegenüber unserer Welt geringe Komplexität haben,76 aber zugleich keine einfachen Antworten bieten, sondern Spannungsräume entwerfen. Zudem wird «klassischen» Texten zwar keine überzeitliche Geltung mehr zugesprochen, sie genießen aber doch noch eine gewisse Autorität. Welchem Regisseur es gelingt, ein aktuelles Problem in der Inszenierung einer griechischen Tragödie anzusprechen, der wird mehr Gehör finden als einer, der das gleiche mit einem japanischen Noh-Drama tut. Auch wenn die griechische Tragödie nicht benötigt wird, um das Unsagbare zu sagen, so bietet sie sich doch als ein Rahmen der Verfremdung an, in der das nächste fremd wird und im Fremden das nächste neu gesehen werden kann. Mit dieser Einladung zur Reflexion, die
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Cf. Seidensticker 1991, 424–427; 1992, 351, der von der Beobachtung ausgeht, daß die Antike in der ostdeutschen Nachkriegsliteratur eine wesentlich größere Rolle spielt als in der westdeutschen. Ein weiterer Grund sei die Bedeutung der Antike bei Brecht, der die DDR-Literatur prägte (1992, 350). Für einen Überblick zur Antikenrezeption bei DDR-Schriftstellern s. Riedel 1984. Cf. Seidensticker 1992, 363.
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auf der bereits von Aristoteles formulierten Dialektik von Nähe und Distanz beruht, erfüllen die Dramen von Aischylos, Sophokles und Euripides bei allen Unterschieden heute noch eine Funktion, die ihnen bereits in der Antike zukam.
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Secundum verum fingere Wirklichkeitsnachahmung, Imagination und Fiktionalität: Epistemologische Überlegungen zur hellenistisch-römischen Literaturkonzeption
I Die griechisch-römische Antike hat ein Text- und Literaturkonzept ausgebildet, das in seinen zentralen Kategorien für den literaturtheoretischen Diskurs bis heute ein Bezugspunkt geblieben ist. Indes weist es eine Reihe von Zügen auf, die auf dem Hintergrund gegenwärtiger Gewohnheiten und Erwartungen schwer verständlich erscheinen. Zwar haben die letzten Jahrzehnte die Einsicht in die Historizität von Text- und Literaturkonzepten erheblich geschärft, gleichwohl ist die historische Spezifik der antiken Schriftkultur bislang kategorial noch wenig erschlossen. Dabei gibt es Auffälligkeiten genug. Eine solche ist die Verhältnisbestimmung von Literatur und ‹Wirklichkeit›; in der Terminologie von Rhetorik und Poetik: das Verhältnis von res und verba. Es scheint zum Grundbestand geläufiger Auffassungen über Literatur zu gehören, daß dieses Verhältnis fiktional ist: Literatur kann Realität nie abbilden oder nachahmen, und wenn sie das vermeint, muß es grundsätzlich mißlingen. Fiktionaliät ist seit dem 16. Jahrhundert nachgerade zur spezifischen Differenzqualität von Literatur avanciert; jüngere Arbeiten haben die Schlüsselrolle deutlich gemacht, die die Kommentierung der aristotelischen Poetik seit Robortello dabei spielt.1 Wenn in der Folge als Problem ins Zentrum tritt, daß die ‹Kluft› zwischen Text und ‹Wirklichkeit› nicht zu überwinden ist, erscheint die Forderung konsequent, daß Literatur sich von der Fixierung auf eine ‹Nachahmung der Wirklichkeit› zu lösen habe. Das führt schließlich bis zum Modell einer Literatur- und Ästhetikgeschichte, nach der die Überwindung von mimesis zu Ausweis und Telos literarischer Modernisierung avanciert. Das Leitideal der ‹Lebensechtheit›, das die Antike durchzieht, geht indes in diesen Prämissen nicht auf. Auffallend ist zunächst, mit welcher Selbstverständlichkeit es zumal in Hellenismus und Kaiserzeit den normativen Horizont bildet. Ein eindrückliches Zeugnis liefert nicht zuletzt die Malerei, die sich ohne weiteres für literaturtheoretische Fragen heranziehen läßt, da entsprechend der Auffassung, daß Malerei und Dichtung austauschbar seien, in zentralen Punkten dieselben Kriterien angesetzt werden.2 So leitet etwa der ältere Plinius seine ‹Kunstgeschichte› mit dem Fall eines Freigelassenen Neros ein, der ein Fechtspiel zu Antium gegeben und dazu die Säulenhallen mit Darstellungen der ganzen spielbeteiligten Gladiatoren versehen habe: Malereien, so heißt es näher, auf denen die Bilder 1 2
Vgl. zuletzt Schönert / Zeuch (2004); hierin besonders Schmitt (2004). Zur Rückwirkung der Literatur- auf die Kunstkritik Pollitt (1974). Zum systematischen Hintergrund VogtSpira (2002).
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der Gladiatoren und Diener lebensgetreu wiedergegeben worden seien. Hierin, kommentiert Plinius, habe bereits seit vielen Jahrhunderten der höchste Sinn der Malerei bestanden; das Beispiel liefert dann nachgerade den Ausgangspunkt, ‹die berühmten Vertreter in dieser Kunst durchzugehen›.3 Und in der Tat erweisen sich verum und veritas – in der weiten, die Spanne von ‹Wahrheit› und ‹Wirklichkeit› umfassenden Bedeutung des lateinischen Begriffs – durchgängig als leitender Maßstab.4 Nicht minder als für die Kunst gilt dies für die literarische Seite; so liefert etwa Nachahmung im Sinne einer möglichst wirklichkeitsgetreuen Darstellung einen der Hauptgesichtspunkte der kaiserzeitlichen Vergilkommentierung. 5 Geradezu als Mustergattung für das Ideal der Lebensechtheit wird die Komödie betrachtet. Der locus classicus findet sich in Ciceros De re publica; der dreigliedrige Ausdruck macht deutlich, daß die Tradition eine gewisse Varianz der Formulierung für die Relation ausgebildet hat:6 Comoediam esse Cicero ait imitationem vitae, speculum consuetudinis, imaginem veritatis.
In ähnlichem Sinne rühmt später Quintilian an Menander, er habe ein vollständiges Bild des menschlichen Lebens zum Ausdruck gebracht; 7 dahinter steht ein Dictum des Aristophanes von Byzanz, der Menander zum vorzüglichsten Autor der ganzen griechischen Literatur nach Homer erklärt hatte:8 τ M λ , « Ν# $ ; Das Kriterium der Lebensechtheit wird dann schließlich so durchgängig, daß es für die Komödienexegese der Kaiserzeit die maßgebliche Leitlinie liefert.9 Die Beispiele, die sich leicht vermehren lassen, zeigen, daß dieses Ideal die gesamte Wirklichkeit, alle Dinge, die Natur oder wie der Formulierungen mehr sind, umfaßt. Die Nachahmung läßt sich hierin also nicht auf einen bestimmten Gegenstand begrenzen wie etwa ‹Handelnde› in der aristotelischen Poetik, vielmehr geht es um die Welt insgesamt: mit späteren Schlagworten um imitatio rerum oder imitatio naturae. Hier stößt man nun auf eine methodische Grundsatzfrage: Denn die Prämisse der historischen Erkenntnis, die für Werke der Kunst und Literatur nachgerade selbstverständlich gilt, findet weit weniger Anwendung auf die ästhetischen Theorien, die zu ihnen überliefert sind und die ihren Rahmen abgeben; im Gegenteil dominiert hier eine systematische Perspektive, unter der die Theorien der Vormoderne als vorkritisch und damit gegenüber heutigen Standards ungenügend erscheinen. Wenn indes jene Standards etwa auf Phänomene aus der Antike angewandt werden, besteht Gefahr, daß dabei Vorannahmen zur Wirkung kommen, die historisch nicht zutreffen. Daher gilt auch für die Literaturtheorie, was für die Künste längst geleistet ist, daß die ‹querelle des anciens et des modernes› in das Stadium der Historisierung weiterzutreiben ist: Es bedarf mithin einer historischen Epistemo3
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Plin. N. h. 35, 52: Libertus eius, cum daret Antii munus gladiatorum, publicas porticus occupavit pictura, ut constat, gladiatorum ministrorumque omnium veris imaginibus redditis. Hic multis iam saeculis summus animus in pictura. […] nunc celebres in ea arte quam maxima brevitate percurram. Für die Popularität dieser Anschauung stehe hier exempli gratia nur noch Vitr. De arch. 7, 5, p. 173, 19 f.: Neque enim picturae probari debent quae non sunt similes veritati. Einige gute Beobachtungen bei Lazzarini (1989), 100–104. Cic. Rep. 4, 13: «Die Komödie, sagt Cicero, sei eine Nachahmung des Lebens, ein Spiegel der Gewohnheit, ein Abbild der Wirklichkeit.» Dazu Blänsdorf (1983). Quint. Inst. 10, 1, 69. Men. Test. 32 K-Th = 83 K.-A.: «O Menander und Leben, wer von euch beiden hat den anderen nachgeahmt?» Vgl. Jakobi (1996), 158–177, bes. 176 f.
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logie, indem der Blick auf die Bezugssysteme zu lenken ist, innerhalb deren ein solches Leitbild der möglichst lebensechten Wirklichkeitsnachahmung verständlich werden kann. Ausgangs- und Angelpunkt der folgenden Überlegungen ist der für die gesamte Antike gültige und weit über sie hinaus wirksame enge Konnex zwischen Sinneswahrnehmung und Denken, zwischen physikalisch-physiologisch-neurologischer Welt und jener der Bedeutungsgebung. Er hat seine Fundierung insbesondere im Seelenmodell des Aristoteles gefunden, das in De anima entwickelt, in den einzelnen Philosophenschulen verschieden facettiert und dabei zumal in der Spätantike einer reichen Kommentartätigkeit unterzogen worden ist, doch in seinen wesentlichen Grundzügen konstant blieb. Der enge Konnex zwischen Sinneswahrnehmung und Denken hat den Status eines allgemeinen Wissens erlangt, das vielerlei Vorstellungen prägt, ohne daß es dabei im einzelnen immer der theoretischen Explikation bedürfte. Dies gilt nun speziell für einige Grundannahmen im Bereich der Literatur. Es liegt auf der Hand, daß die Annahme eines Konnexes zwischen Sinneswahrnehmung und Denken unmittelbar an die Frage nach dem Verhältnis von ‹Wirklichkeit›, also sinnlich erfahrbarer ‹Welt›, und Texten rührt. Betrachtet man unter diesem Blickwinkel die zur Zeit geläufigen Annahmen zur Fiktionalität von Literatur, wird deutlich, daß die epistemologischen Ausgangsvoraussetzungen und Vorannahmen grundlegend verschieden sind. Das zeigt paradigmatisch schon das Kolloquium ‹Funktionen des Fiktiven› der Gruppe ‹Poetik und Hermeneutik›, das als erster umfassender interdisziplinärer Konzeptionalisierungsversuch mit seinem Programm, «aus der für die Neuzeit geltenden Opposition von Fiktion und Wirklichkeit» auszubrechen, für die letzten beiden Jahrzehnte katalysatorisch wirkte.10 Dort wurde das Verhältnis nunmehr offengelassen, wobei Gemeinsamkeit bestand in dem «Impuls, sich vor einer Konzeptualisierung der Differenz zu hüten». Statt indes die Annahme der Differenz in Frage zu stellen, wurde nur ihre statische Auffassung aufgelöst und dynamisiert; dabei erhielt insbesondere die Kunst als Spezifikum zugewiesen, daß sich hier die Differenz zu einem unendlichen Spiel entfalte in einer «Oszillationsbewegung, die eine ästhetische Affektion erzeugt, in der wir nie ganz zur Ruhe kommen. Denn hier wird die Differenz als unabschließbarer Prozeß gegenwärtig gehalten, der alle im Spiel befindlichen Positionen in ein Anderes ihrer selbst kippen läßt».11 In Wolfgang Isers Triade des Realen, Fiktiven und Imaginären schließlich findet sich dieser Ansatz reich ausgeformt und in direkten Bezug zu der von Platon und Aristoteles ausgehenden mimesis-Debatte gestellt, wobei jedoch als Prämisse gilt, daß das Textspiel als Transformation seiner Referenzwelten verlaufe und folglich keine der Referenzwelten Gegenstand der Darstellung sein könne.12 Einmal also Differenz, das andere Mal Verknüpfung von sinnlich erfaßbarer und kognitiver Welt: An diesem Beispiel ist schon zu erkennen, inwiefern die darein jeweils gegründeten Literaturmodelle geradezu notwendig voneinander abweichen, ohne unmittelbar aufeinander abbildbar zu sein. Wir werden im folgenden den Focus auf Hellenismus und Kaiserzeit richten als einer Scharnierzeit, in der unter den Bedingungen einer vollausgebildeten Schriftkultur antikes Wissen schulmäßige Standardform erlangt und von daher weitertradiert wird. Insbesondere in der frühen Neuzeit bleibt es für das poetisch-rhetorische Literaturmodell bestimmend, das dann bei der Überformung durch die Rezeption der aristotelischen Poetik die 10 11 12
Henrich / Iser (1983); Zitat 497 (Iser). Zitate aus der zusammenfassenden Schlußbetrachtung Isers, ebd. 555. Iser (1993); hier bes. 481.
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Basis bildet. Es wird daher um die Frage gehen, wie Literatur innerhalb dieses grundsätzlichen Konnexes von Wahrnehmung und Denken zu verorten ist.
II In einem ersten Schritt seien einige charakteristische Züge des Modells entwickelt, das in Scholien, Grammatiken und Sammelwerken in der Spätantike zu einem Basiswissen geronnen ist und von daher einen der über die Antike hinausreichenden Kontinuitätsfäden darstellt. Auffallend ist dabei, welch große Rolle in konzeptionellen Äußerungen zu Literatur das Moment sinnlicher Wahrnehmung spielt. Deutlich wird dies etwa bei dem zentralen Postulat der enargeia, das in der rhetorischen Theorie ausformuliert wird und ebenso in die hellenistische Homerkritik eindringt, um dann zu einem Grundwissen für Textproduktion und -rezeption zu avancieren. Die Anforderung lautet, die Dinge so darzustellen, daß es ist, als sähe man sie deutlich vor sich.13 Die Zielrichtung liefert ein ostendere, das sich als Steigerung und Überbietung eines schlichten dicere versteht. Das Verfahren findet sich dabei unmittelbar mit den Sinnesorganen in Verbindung gebracht. So heißt es explizit, eine Rede leiste nicht genug und übe ihre Herrschaft nicht gebührend aus, wenn ihre Kraft nur bis zu den Ohren reiche; als summa virtus gilt vielmehr – hier paradigmatisch für den Fall der Gerichtsrede –, daß ein Richter von dem, worüber er zu Gericht sitze, nicht glauben dürfe, es werde erzählt, vielmehr es werde herausmodelliert und zeige sich vor dem geistigen Auge.14 Jenes ‹geistige Auge› ist die Instanz der phantasia, der Imaginationskraft. Ihre Leistung findet sich an einer Schlüsselstelle bei Quintilian kanonisch formuliert:15 Quas « Graeci vocant (nos sane visiones appellemus), per quas imagines rerum absentium ita repraesentantur animo, ut eas cernere oculis ac praesentes habere videamur […].
Das findet sich nachfolgend am Beispiel dessen, der eine besonders reiche Einbildungskraft besitzt, noch weiter veranschaulicht:16 Quidam dicunt qui sibi res voces actus secundum verum optime finget: quod quidem nobis volentibus facile continget; nisi vero inter otia animorum et spes inanes et velut somnia quaedam vigilantium ita nos hae de quibus loquor imagines prosecuntur ut peregrinari navigare proeliari, populos adloqui, divitiarum quas non habemus usum videamur disponere, nec cogitare sed facere. 13 14 15
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Quint. Inst. 8, 3, 62. Ebd.; die Wendung oculi mentis geht auf Platons μ « « (Rep. 533 d 2) zurück. Quint. Inst. 6, 2, 29: «[…] was die Griechen nennen – wir können visiones dafür sagen –, wodurch die Bilder abwesender Dinge so im Geiste vergegenwärtigt werden, daß wir sie scheinbar vor Augen sehen und sie wie leibhaftig vor uns haben […].» – Die Übersetzung aus Quintilian hier und im folgenden nach H. Rahn. Ebd. 30: «Manche nennen den «, der sich Dinge, Stimmen und Vorgänge am wirklichkeitsgetreuesten vorstellen kann, und das kann uns, wenn wir wollen, leicht gelingen. Umgeben uns doch schon in Zeiten der Muße, wenn wir unerfüllten Hoffnungen nachhängen und gleichsam am hellen Tage träumen, solche Phantasiebilder so lebhaft, als ob wir auf Reisen wären, zu Schiffe führen, in der Schlacht stünden, zum Volke redeten oder über Reichtümer, die wir nicht besitzen, verfügten, und das alles nicht nur in Gedanken, sondern es wirklich täten.»
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Der Tagträumer liefert einen Extremfall, an dem sich der Mechanismus der phantasia besonders eindrücklich veranschaulichen läßt. Strukturell beruht dies auf dem Grundgedanken einer der üblichen gegenläufigen Bewegung: Statt vom Sinnesorgan zum Vorstellungsvermögen verläuft der Prozeß vielmehr in Gegenrichtung auf das Telos einer Rückkoppelung an die Sinne hin. Zentral ist die Junktur praesentes habere, in welcher die rhetorische Schlüsselkompetenz des μ !" %,17 der hier das cernere oculis entspricht, Verallgemeinerung erfährt. Wie geläufig dieser Gedanke ist, zeigt der Vergilkommentar des Servius, der für das vierte und fünfte Jahrhundert sogar im lateinischen Bereich einen geradezu selbstverständlichen Gebrauch des griechischen Terminus phantasia bezeugt. So findet sich zur zweiten Ekloge, als der unglücklich in Alexis verliebte Hirt Corydon jenen im Selbstgespräch anredet: quem fugis, a ! demens?, vermerkt: iterum per phantasiam quasi ad praesentem loquitur.18 Damit findet sich die Vorstellung, daß phantasia die Präsenz eines Abwesenden zu schaffen vermöge, auf der Ebene des Schulwissens wieder.19 Die Zielrichtung erhellt aus der etymologischen Deutung von Präsenz, die Isidor von Sevilla in seinen Origines in dem Abschnitt zu den sensus corporis bietet:20 unde et praesentia nuncupantur, quod sint prae sensibus. In Quintilians Behauptung steckt also nichts weniger, als daß Worte, wenn sie Abwesendes gegenwärtig machen, es prae sensibus stellen. Daß dies tatsächlich das Konzept ist, zeigt auch die Auffassung des Buchstabens, deren Quintessenz in einer berühmten Definition wiederum bei Isidor gefaßt ist, in der dasselbe Phänomen nicht unter visuellem, sondern unter akustischem Aspekt beschrieben wird:21 Litterae autem sunt indices rerum, signa verborum, quibus tanta vis est, ut nobis dicta absentium sine voce loquantur.
Das Leitmodell, daß Texte Abwesendes, Nicht-Vorhandenes sinnlich erfahrbar machen, es prae sensibus stellen – wobei oft Augensinn oder Tastsinn als pars pro toto genannt werden, wie in den Formulierungen ‹etwas vor Augen stellen› oder auch ‹etwas manifest werden lassen› 22 –, findet eine programmatische Ausformung schließlich in der Gattung der Ekphrasis: Im Rahmen der Zielvorstellung einer Überbietung des Bildes durch das Sprachmedium beansprucht sie, potentiell alle Sinne einzubeziehen. So leitet Philostrat etwa eine Bildbeschreibung mit der Bemerkung ein, die bloße optische Wahrnehmung vermittele den Wohlgeruch eines Gartens noch nicht, mit den Worten hingegen würde auch der Duft von Äpfeln zum Zuhörer gelangen.23 An anderer Stelle wird der Anspruch erhoben, daß der Hörer oder Leser durch die Vermittlung der Worte auch den Duft von Rosen rieche, die Geräusche einer Szene höre oder die Süße einer Marmelade schmecke.24
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Arist. Rhet. iii 11, 1411 b 23. Serv. Verg. E. 2, 60. Vgl. Watson (1994), 4801 mit weiteren Beispielen; s. auch Lazzarini (1989), 100 f. Isid. Etym. 11, 1, 19: «Woher es auch als gegenwärtig bezeichnet wird, weil es sich vor den Sinnen befindet» – was anschließend am Spezialfall der Augen näher erläutert wird: sicut prae oculis, quae praesto sunt oculis. Isid. Etym. 1, 3, 1: «Die Buchstaben indes sind Anzeiger der Dinge und Zeichen der Worte, denen so viel Kraft innewohnt, daß sie die Worte Abwesender ohne Stimme zu uns sprechen lassen.» Quint. Inst. 8, 3, 70. Philostr. Eik. 1, 6, 1. Ebd. 1, 2, 4; 1, 2, 5; 2, 26, 3.
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Fassen wir zusammen, so gründet das hier faßbare Textmodell in dem Leitideal, daß eine von außen induzierte sowie eine durch Texte auf dem Weg über phantasia stimulierte Sinneswahrnehmung nicht als verschieden erlebt werden: Ziel und Leitbild ist die Aufhebung der Differenzwahrnehmung – nicht die Differenz, sondern ihre Eliminierung und das Absehen von ihr organisiert das Modell. Viele Ungewißheiten lassen sich darauf zurückführen, daß die uns geläufige Annahme von der Unhintergehbarkeit der Differenz als dominanter Problemkonstellation auf die Antike zurückprojiziert wird. Daß dem antiken Textmodell keineswegs ein Mangel an Reflektiertheit oder eine noch ungenügende Kategorienbildung zugrundeliegt, wird im übrigen aus der Zweckbestimmung deutlich, zu der der beschriebene Mechanismus der Vorstellungsbildung in der Rhetorik eingesetzt wird. Denn es ist kein Zufall, daß Quintilian das Konzept der phantasia gerade in dem Kapitel zu den Affekten einführt. Die Problemstellung lautet, wie es möglich sei, sich ergreifen zu lassen, obwohl die Gemütsbewegungen doch nicht in unserer Gewalt stünden.25 Um hier eine Methode aufzuzeigen, wird der Umweg über das Imaginationsvermögen mit seiner Fähigkeit, Dinge wie leibhaftig vor Augen zu stellen, genommen, um daraus zu folgern:26 Has quisquis bene ceperit is erit in adfectibus potentissimus. Denn mit der Erzeugung von Vorstellungsbildern sei in entscheidendem Maße eine Disposition geschaffen, die die Auslösung von Affekten begünstige; dies erhellt aus einem späteren Nachsatz zur Bestimmung der enargeia, die nicht mehr in erster Linie zu reden, vielmehr das Gesehene anschaulich vorzuführen scheine:27 […] et adfectus non aliter, quam si rebus ipsis intersimus, sequentur. Wenn die Gefühlsregungen nicht anders folgen, als wären wir selbst zugegen, reicht die präsentische Struktur, die sich als spezifische Leistung sprachlicher Darstellung erwiesen hatte, soweit, daß sie über den Vorstellungsbereich hinaus in die Handlungssphäre hineinwirken kann. Solches Leitbild der Aufhebung der Differenzwahrnehmung beruht nun auf einigen Vorannahmen; eine zentrale Rolle kommt hierbei dem Vermögen der phantasia zu supplementieren zu. In Plinius’ Kunstgeschichte heißt es einmal, man erkenne auf einem Bild immer mehr, als gemalt sei.28 Quintilian beschreibt diesen Vorgang im Zusammenhang der Techniken, die enargeia erzeugen, deren eine unter dem Oberbegriff der Vervollständigung steht: Mit den Worten werde gewissermaßen ein vollständiges Bild der Dinge nachgezeichnet. 29 Es handelt sich um eine Passage aus dem Schlußbuch von Ciceros Zweiter Rede gegen Verres – mithin um eine ausdrücklich als solche gekennzeichnete Reaktion eines Lesers: 30 An quisquam tam procul a concipiendis imaginibus rerum abest ut non, cum illa in Verrem legit: ‹stetit soleatus praetor populi Romani cum pallio purpureo tunicaque talari muliercula nixus in litore›, non solum ipsos intueri videatur et locum et habitum, sed quaedam etiam ex iis quae dicta non sunt sibi ipse adstruat.
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Quint. Inst. 6, 2, 29. Ebd. 30: «Jeder, der diese Erscheinung gut erfaßt hat, wird in den Gefühlsregungen am stärksten sein.» Ibid. 6, 2, 32: «[…] und ihr folgen die Gefühlswirkungen so, als wären wir bei den Vorgängen selbst zugegen.» Plin. N. h. 35, 74. Quint. Inst. 8, 3, 63: […] tota rerum imago quodam modo verbis depingitur. Ebd. 64: «Oder ist jemand so unempfänglich für die Gabe, die Dinge bildhaft aufzufassen, daß er, wenn er die Stelle in den Reden gegen Verres liest: ‹Da stand in seinen Pantöffelchen der Praetor des römischen Volkes mit purpurnem Griechenumhang und bis zum Knöchel reichendem Leibrock auf sein Dämchen gestützt am Gestade›, nicht nur meint, die Personen selbst vor sich zu sehen, die Örtlichkeit sowie ihre Aufmachung, sondern sich auch manches von dem, was nicht gesagt worden ist, selbst hinzuergänzt?»
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Wir befinden uns in der glücklichen Lage, daß Quintilian als Beispiel im folgenden auch sein eigenes Supplementieren anführt:31 Ego certe mihi cernere videor et vultum et oculos et deformes utriusque blanditias et eorum qui aderant tacitam aversationem ac timidam verecundiam.
Der eine ciceronische Satz hat mithin eine rege Ergänzungstätigkeit zu einer richtiggehenden kleinen Szene in Gang gesetzt, die in Abhängigkeit vom Träger und dessen Imaginationskraft jeweils leicht unterschiedlich ausfallen kann. Dies ist im übrigen nicht mit der Konzeption einer ‹logique supplémentaire› im Sinn einer Differenzlogik zu verwechseln: Es geht nicht um die Frage, ob der ‹Supplementcharakter› von Wort oder Schrift vermeintlich sei oder nicht. 32 Im Gegenteil, gerade die Differenzaufhebung zur sinnlichen Wahrnehmung findet sich nachdrücklich markiert im Sinne der Definition der enargeia als & « « μ '« ()« Ν* ' +*. 33 Dafür stehe hier noch als Beispiel die ciceronische Beschreibung eines üppigen Gastmahls: 34 videbar videre alios intrantis, alios autem exeuntis, quosdam ex vino vacillantis, quosdam hesterna ex potatione oscitantis. Humus erat inmunda, lutulenta vino, coronis languidulis et spinis cooperta piscium.
Quintilian zitiert dies mit dem anerkennenden Kommentar: Quid plus videret qui intrasset? 35 Die sprachliche Darstellung biete also eben das, was ein realer Beobachter hätte sehen können. In welchem Grade solcher Bezug leitend ist, dafür sei zuletzt Quintilians Urteil über Vergils Darstellung des Faustkampfs zwischen Dares und Entellus bei den Leichenspielen für Anchises angeführt: Die Schilderung mache uns die Erscheinung der Boxer, wie sie zum Schlag ansetzten, derart sichtbar, wie sie auch dem Zuschauer nicht deutlicher hätte gewesen sein können. 36 Man muß sich die Konstellation genau vergegenwärtigen: Der Hörer oder Leser wird also dem impliziten Zuschauer einer literarisch dargestellten Szene parallel gesetzt und es wird dazu vermerkt, daß der innertextlich angenommene visuelle Eindruck, der nach Maßgabe der ‹realistischen› Interpretation wie ein ‹live› erzeugter behandelt wird, nicht stärker sei als jener, der durch den Text hervorgerufen werde. 37 Das ist eine Betrachtungsweise des Verhältnisses von ‹fiktionaler› und ‹realer› Welt, die
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Ebd. 65: «Ich jedenfalls meine deutlich seinen Gesichtsausdruck vor meinen Augen zu sehen und die Augen und die ekelhaften Zärtlichkeiten der beiden einerseits und auf der anderen Seite die stumme Gebärde der Ablehnung bei den Anwesenden und ihre betretene Scheu.» So stellt er sich unter der Disjunktion ‹signifiant – signifié› notwendig dar: Unter der Perspektive historischer Wahrnehmungs- und Beschreibungsweise sind indes alle auf die Saussure’sche Opposition aufbauenden Modelle zunächst einmal nur eine von mehreren denkbaren Optionen, bei denen zuallererst zu prüfen ist, unter welchen Bedingungen historisch welche Option realisiert worden ist. Die Uminterpretation antiken Wissens in der frühen Neuzeit ist ein weites und aufschlußreiches Feld. Dion. Hal. De orat. vet. Lys. 7: «eine Art Vermögen, die die Worte mit Wahrnehmungen unterlegt», die dann im folgenden eben als gedanklich erzeugt bestimmt werden. Cic. fr. orat. 6, 1 Sch. (= Quint. Inst. 8, 3, 66–67): «Ich meinte es zu sehen, wie die einen hereinkamen, andere aber hinausgingen, manche vom Wein schwankten, manche vom gestrigen Zechen noch gähnten. Der Boden war unsauber, von Weinlachen schmierig, bedeckt mit den verwelkten Kränzen und den Gräten der Fische.» Quint. Inst. 8, 3, 67. Ebd. 8, 3, 63 mit Bezug auf Verg. Aen. 5, 426–460. Ebenso etwa Schol. bT zu Hom. Il. 23, 362. Dazu auch v. Franz (1943), 21 und Lazzarini (1989), 101.
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dann die gesamte Aeneis-Kommentierung durchzieht und die den modernen Interpreten vor das überraschende Fehlen manch vertrauter Kategorien stellt.38
III Aus den vorstehenden Beispielen wurde deutlich, daß hier ein Leitkonzept zugrundeliegt, nach dem Literatur eine Analogie zu Sinnesempfindungen auszulösen vermag bis hin zu dem idealen Wert, daß Induktion durch Texte von einer solchen durch Außenwahrnehmung ununterscheidbar wird. Dieses Leitkonzept erhellt nun aus dem Kognitions- oder – historisch zutreffender – Seelenmodell39, durch welches Beschreibungsoptionen für den Zusammenhang von physisch-physiologischer Welt und jener des Denkens geschaffen werden. Diese epistemologische Basis gilt es in ihrer systematischen Bedeutung zu erschließen, zumal die erheblichen literaturtheoretischen Konsequenzen der hier grundgelegten Annahmen auf der Hand liegen. Verdeutlichen kann dies vorab ein Blick auf jene Instanz, der in Hinblick auf Literatur eine Schlüsselrolle beigemessen wird: phantasia. Ihre Einführung in das Seelenmodell als eine Art Zwischenglied, das die Verbindung zwischen sinnlicher Wahrnehmung einerseits und Denken andererseits gewährleisten soll, stellt eine eigentümliche aristotelische Innovation dar, die in ihren späteren Übertragungen als imaginatio, imaginazione, Imagination, imagination, fancy, Einbildungskraft etc. in der Philosophiegeschichte – und über diese hinaus – außerordentliche Fortune erlebt hat und dabei auch für Literaturtheorien ein Bezugspunkt blieb. Doch wird in der seit etwa 30 Jahren intensiv geführten Debatte um das aristotelische phantasia-Konzept fast einhellig und mit großem Nachdruck auf den tiefgreifenden Unterschied zu allen posthumeschen oder gar postkantischen Auffassungen hingewiesen.40 Und dies völlig zurecht, denn ‹Phantasie / Imagination / Einbildungskraft›, wie auch immer man übersetzen mag,41 haben eine ganz verschiedene Stellung, wenn sie innerhalb eines Kontinuums, das von den Sinnesorganen bis zu dem höchsten noetischen Vermögen reicht, angesiedelt oder als reine Geistestätigkeit unter Vorannahme einer unüberwindbaren Grenze zu den sensorischen Vermögen aufgefaßt werden. Die Konsequenzen, die sich für antike Literaturtheorie daraus ergeben, sind bislang nicht hinreichend in den Blick genommen worden. 42 Dies dürfte nicht zuletzt daher rühren, daß man sich auf die aristotelische Poetik konzentriert hat, in der eine Verknüpfung mit dem Konzept der phantasia – möglicherweise schon aus chronologischen Gründen – ganz au38 39 40
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Nicht zuletzt hat dies Konsequenzen für die Konzeption des Autors: vgl. dazu Vogt-Spira (2006). Zum historischen Wandel vgl. Hagner (1997). So bereits Schofield (1992), bes. 250 f. (zuerst 1975). Der Ansatz von Rosenmeyer (1986), unter der Rubrik «Vorgeschichte eines Leitbegriffs der europäischen Ästhetik» zu behandeln, ist daher – ungeachtet teilweise vorzüglicher Einzelanalysen – mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten. Es gibt einige Stimmen, die sich dagegen aussprechen, phantasia überhaupt mit dem durch die lateinische Tradition eingeführten Terminus Imagination zu übersetzen: Schofield (1992) 250 f.; Frère (1996), 337 et alii. Zur Übersetzungsgeschichte vgl. Rosenmeyer (1986), 197–199; speziell zur terminologischen Entwicklung im Lateinischen Flury (1988). Indes liegt das Problem nicht in dem Begriff, der für die Übersetzung gewählt wird, sondern in dem Konzept, das damit verknüpft wird. Mit gutem Grund beklagt dies Jean Frère (1996), der neben einer phantasia aisthetike und einer phantasia logike auch eine phantasia mimetike bzw. poietike unterscheiden möchte, ohne dies allerdings konzeptionell klar durchzuführen.
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ßerhalb des Horizonts liegt. Vielmehr findet sich die Instanz der Imagination von einem anderen Ausgangspunkt her entwickelt: In De anima, der Hauptschrift zum Gegenstand, geht es um die Unterscheidung seelischer Vermögen als Grundlegung für die naturwissenschaftlich-biologischen Schriften, ohne daß Literatur folglich im Blickfeld wäre.43 In jedem Fall ist die Verbindung erst in der rhetorischen Theorie und dann der alexandrinischen Literaturkritik, insbesondere der Homerexegese, hergestellt worden – dies läßt sich im übrigen als Quelle Quintilians wegen seiner auffallenden Verknüpfung von phantasia, enargeia und Dichterzitaten wahrscheinlich machen44 – und dadurch zu einem Basiswissen geworden, ohne dabei allerdings die scharfe Kontur einer übergreifenden Literaturtheorie gewonnen zu haben. Das Konzept der phantasia bildet die Scharnierstelle zwischen Sinnen und eigentlichem Erkenntnisakt gemäß der Dreigliederung der Erkenntnisvermögen der Seele in aisthesis, phantasia und noesis, deren Leistungen jeweils aufeinander aufbauen. Mit Aristoteles’ systematischer Begründung zeigt sich eine Reihe von Problemen verbunden; Malcolm Schofield hatte in seinem die folgenden Diskussionen auch im Widerspruch prägenden Beitrag von 1975 in unnachahmlicher Weise konzediert:45 «I shall suggest […] that Aristotle can be fairly interpreted as adopting different but complementary vantage-points on a more or less coherent family of psychological phenomena. But it would be a triumph of generosity over justice to pretend that he manages to combine his different approaches to phantasia with an absolutely clear head.» Gleichwohl hat sich die Einführung von phantasia in das Seelenmodell durchgesetzt und ist, wie die griechisch-lateinische Literatur- und Rhetoriktheorie vom Hellenismus bis zur Spätantike zeigt, über den engeren philosophischen Rahmen hinaus auf die Ebene allgemeinen Wissens gelangt. Warum zunächst ein solches Zwischenglied überhaupt als notwendig betrachtet werden kann, erhellt aus der Überlegung, daß der Intellekt als solcher nur Nicht-Wahrnehmbares, intelligible Formen denken kann, gleichwohl Bilder von Wahrnehmbarem benötigt, um bei der Entscheidung, ob etwas wünschbar ist oder nicht, sich auf konkrete Situationen und Gegenstände beziehen zu können. 46 Man kann daher, je nach Perspektive, phantasia entweder als notwendiges Bindeglied oder, wie andere, als Grenzscheide zwischen Sinnen und Intellekt auffassen. Charakteristisch ist jedenfalls, wie Aristoteles vielfach betont, daß phantasia weder mit aisthesis noch mit dianoia identisch, gleichwohl Sinneswahrnehmung notwendig für phantasia und diese notwendig für Denken ist. 47
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Angesichts der notorischen Probleme der relativen Chronologie, die das Corpus Aristotelicum bietet, ist zwar eine sichere Aussage über das zeitliche Verhältnis der beiden Schriften nicht möglich, doch hat es eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß die nähere Ausfaltung des phantasia-Konzepts erst nach der Poetik erfolgte. Wenn Frère (1996) versucht, einige Beobachtungen der Poetik als mit dem phantasia-Konzept kompatibel zu erweisen, so ist dies allerdings durchaus möglich. Vgl. die Skizze bei Schryvers (1982). Schofield (1992), 253. Vgl. Frede (1992), 289 in allerdings nicht ganz scharfer Formulierung. Arist. De an. iii 3, 427 b 6–16 und öfter. De anima iii 3, die einzige konzentrierte und ausführlichere Diskussion des Gegenstands bei Aristoteles, in der es um die Schaffung eines «conceptual room for an independent notion of phantasia, between thinking on the one side and sense-perception on the other» (Schofield [1992], 254) geht, ist jedoch, worauf insbesondere Frede (1992), 281 hinweist, ungewöhnlich flüchtig komponiert, was die Sache nicht einfacher macht.
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Zunächst zur Verbindung von phantasia und aisthesis. In seiner Rhetorik bezeichnet Aristoteles phantasia sogar einmal als ,)- « « $)« was jedoch wohl einen früheren und dann aufgegebenen Zugang darstellt. Denn in De anima wird mit Nachdruck betont, daß beide nicht zusammenfallen. Ein wesentlicher Unterschied liegt in folgendem: Da aisthesis in einer Aufnahme der wahrnehmbaren Formen ohne Stoff besteht, zeigt sie sich an einen auslösenden Reiz gebunden. 48 Phantasia hingegen beruht auf dem Verbleiben der Wahrnehmungen in der Seele auch nach Entfernung der Wahrnehmungsgegenstände.49 Daraus resultiert also, um es vorweg zu nehmen, ihr besonderes Vermögen, Abwesendes präsent zu machen – es prae sensibus zu stellen, um Isidors etymologische Deutung aufzugreifen;50 dies liefert den Schlüssel dafür, daß Texte ‹Abwesendes›, ‹Nicht-Vorhandenes› sinnlich erfahrbar zu machen vermögen. Für unseren Zusammenhang kommt es darauf an, daß phantasia, wenn sie sich auch einerseits als eine Form des Denkens bezeichnet findet, insgesamt doch der sinnlichen Wahrnehmung sehr nahe gerückt wird und mit dieser zusammen den untersten Seelenteil der psyche aisthetike bildet. Daher konnte jüngst geradezu behauptet werden: 51 «The faculty of phantasia is the same faculty as the perceptional faculty, although different in essence and definition». Entscheidend ist die Funktion, die phantasia damit für die Erkenntnis erhält. Ein durch die Jahrhunderte hindurch wirkungsreicher aristotelischer Satz lautet:52 9 ξ - 9 9 ' " / () ". […] % Ν "« π .
Das läßt sich komplementär auch in der Gegenrichtung betrachten: mithin unter dem Gesichtspunkt, was phantasia den aisthemata hinzufügt, um die Sinneswahrnehmungen dem dianoetischen Seelenteil zugänglich zu machen. Dabei erweist sich, daß ihr geradezu die Leistung der Semantisierung zugewiesen wird: 53 … % 1 ρ μ & λ ' « « (- μ« *' « « 3λ π )
Die menschliche Stimmäußerung wird also als ein semantikos psophos definiert, physiologisch hervorgebracht und zugleich Bedeutung erzeugend, wobei die Bedeutungsgebung als Tätigkeit der Seele speziell in der phantasia angesiedelt wird. 54 Dies erhält seinen Hintergrund eben aus der Annahme, daß alles Denken Visualisierung impliziere, da die Seele «nie ohne Vorstellungsbilder denkt».55 Daher konnte geradezu erklärt werden, daß die Einführung von phantasia und phantasmata in De anima iii 3 auf die spezifische Fähigkeit zur Vi-
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Arist. De an. ii 12, 424 a 17–24. Ebd. iii 3, 429 a 4–5; vgl. De an. iii 2, 425 b 24–25: μ λ $ +) # )- 1 λ 3 %« ()-- «. Vgl. o. Anm. 20. Modrak (2001), 234. Arist. De an. iii 7, 431 a 14–17: «Für die Denkseele sind die Vorstellungsbilder wie Wahrnehmungsbilder. […] Die Seele denkt nie ohne Vorstellungsbilder.» – Die Übersetzungen aus De an. nach W. Theiler. Ebd. ii 8, 420 b 31–33 mit Ross’ 1 für das überlieferte 1: «[…] das Anschlagende muß tönend sein und eine bestimmte Vorstellung haben, ist doch der Laut ein Ton, der etwas bedeutet.» Daraus wird zugleich klar, daß littera und vox in der Ars grammatica nicht zufällig verbunden werden, mithin Textualität in der Sphäre des sinnlich Wahrnehmbaren verankert wird. S.o. Anm. 52.
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sualisierung abziele.56 Im übrigen zeigt sich auch schon die platonische mimesis-Auffassung eng mit dem Begriff des Bildes verknüpft.57 Wir können dies hier nicht im einzelnen weiter verfolgen, sondern wollen zusammenfassend festhalten, daß phantasia als Schlüsselfähigkeit konzipiert ist, die den Lautbereich mit Bedeutung versieht, und diese Semantisierung als eine Art Bildgestaltung vorgestellt wird. Hinzu kommt komplementär, daß für aisthemata und phantasmata eine Ähnlichkeitsbeziehung angenommen wird, was nichts anderes heißt, als daß das Denken, wenn ihm das eine gleichwie das andere ist, von dem ontologischen Unterschied abzusehen vermag. Das hat die Konsequenz, daß die naturalistische Frage, ob etwas dingliche Existenz besitzt oder nicht, unter bestimmten Voraussetzungen unerheblich wird, und dies wiederum hat unmittelbare Folgen für die Gegenstände der Literatur.
IV Das in unserem zweiten Abschnitt knapp umrissene rhetorisch-poetische Textmodell, das Hellenismus und Kaiserzeit beherrscht, mit seinem Leitideal, daß eine von außen induzierte sowie eine durch Texte auf dem Weg über phantasia stimulierte Sinneswahrnehmung nicht als verschieden erlebt werden, zeigt sich damit umfassend verankert in einer geläufigen Vorstellung, wie Wahrnehmen und Denken ablaufen. Daraus lassen sich Ansätze gewinnen, auch die Auffassung von Literatur näher zu beschreiben. Wir wollen uns daher nunmehr einigen Konsequenzen zuwenden, die sich daraus ergeben: zunächst, wie die Nachahmungsrelation zwischen Text und ‹Wirklichkeit› näher bestimmt wird, sowie der Rolle der Visualität; im letzten Abschnitt schließlich dem Stellenwert, den Fiktion hat. Wählen wir als Beispiel zunächst Macrobius’ Saturnalien, eine implizite Poetik der Spätantike, die paradigmatisch für die grammatisch-rhetorische Textauffassung steht und die ihrerseits wieder von maßgeblicher Wirkung gewesen ist. Hier findet sich eine charakteristische Bestimmung der Relation von Literatur und Wirklichkeit: Mit Bezug auf die Aeneis heißt es, der Dichter sei keiner anderen Führerin gefolgt als der Mutter aller Dinge selbst, der Natur – Standardformel für das Verfahren der imitatio –, weshalb gelte:58 Quippe si mundum ipsum diligenter inspicias, magnam similitudinem divini illius et huius poetici operis invenies.
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Schofield (1992), 255. In welcher Weise dabei genauer phantasmata und aisthemata zusammengerückt werden können, so daß «für die Denkseele die Vorstellungsbilder wie Wahrnehmungsbilder sind», mag eine Passage aus De memoria verdeutlichen, in der eikon als explanatorischer Terminus ein Bild und ein vergangenes Ereignis in Relation setzt (Arist. De mem. 451 a 14–17): ξ σ 3λ - λ μ -&, ,-, Ρ "«, ³« ( « 7 ", 8:«, λ « 3 π%, Ρ ; < ()- ; λ = 9 ()). Die Erläuterung von Modrak (2001), 234 f. und 237 zeigt gut, wie die Aristotelesforschung diese Beziehung zu fassen sucht: «The image is able to represent the past event because the image is like the event», so daß sich als aristotelische Konzeption formulieren lasse, «that a phantasma can function as a likeness that attaches the present mental state to an object in the world.» Vgl. Büttner (2004), 36–39. Macr. Sat. 5, 1, 19: «Denn wenn du die Welt sorgfältig betrachtest, wirst du eine große Ähnlichkeit zwischen jenem göttlichen und diesem poetischen Werk finden.»
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Es wird also ein imitatio-Verhältnis konstituiert und dies als Ähnlichkeitsrelation – similitudo – zwischen res und verba, zwischen ‹Welt› und ‹Dichtung› näher expliziert. In Fortführung der hier angelegten Linie konnte deshalb Bernard Weinberg in einem grundlegenden Aufsatz zur Renaissancepoetik feststellen: 59 «[…] the Res of poetry is indistinguishable from the Res of reality» – weshalb natura ihrerseits wieder an Texten exemplifiziert werden kann, und je besser die Texte, desto wirkungsvoller geschieht dies. Dies gilt vorzugsweise für Vergils Aeneis bis dahin, daß die durch den Dichter nachzuahmende Natur in vollkommener Weise allein in der Dichtung gefunden werden könne. Um dafür nochmals eine pointierte Formulierung von Weinberg aufzugreifen:60 «Thus the norm of nature, represented only imperfectly by objects in the real world, is represented perfectly by Vergil’s epic. Vergil is nature.» Jene von Macrobius konstatierte similitudo ist nun nichts anderes als eine verknappte Formel für das oben entwickelte epistemologische Modell: den Prozeß, daß die durch den Text in Gang gesetzten Vorstellungsbilder in Ähnlichkeitsrelation zu jenen Bildern stehen, die durch die Wahrnehmung der Natur ausgelöst werden. Tatsächlich spricht einiges dafür, daß das antike imitatio-Modell insgesamt in solcher Ähnlichkeitsbeziehung von aisthemata und phantasmata, von über die Sinne Wahrnehmbarem und durch Kunst oder Texte erzeugten Vorstellungen begründet liegt.61 Hierzu sei ein prägnantes Beispiel aus Plinius’ Kunstgeschichte gewählt. Zu Apelles, der alle Vorgänger und Nachfolger übertroffen habe, also als Gipfel der Disziplin statuiert wird, findet sich folgendes berichtet:62 Imagines adeo similitudinis indiscretae pinxit, ut – incredibile dictu – Apio grammaticus scriptum reliquerit, quendam ex facie hominum divinantem, quos metoposcopos vocant, ex iis dixisse aut futurae mortis annos aut praeteritae vitae.
Was macht die besondere Qualität des Bildes aus, die eine solche Auszeichnung veranlaßt? Offensichtlich gilt es deshalb als Gipfel der Lebensechtheit, weil es nicht nur die äußere Erscheinung abbilde, sondern auch das ganze Schicksal des Dargestellten umfasse, welches bei entsprechenden hermeneutischen Fähigkeiten daraus zu erschließen sei. Zwar mag die Behauptung angesichts ihres Gewährsmannes einigem Zweifel unterliegen63 – ganz abgesehen von der prinzipiellen Einschätzung solcher Prognosefähigkeit eines Physiognomikers. Gleichwohl, worauf es ankommt, ist das normative Ideal, das sich hier formuliert findet: eine Nachahmung der tota vita im denkbar umfassendsten Sinne. Erhellend ist die Junktur similitudo indiscreta: Es handelt sich damit um eine Ähnlichkeit, die so weit reicht, daß sie ununterscheidbar ist. Es wird also nicht ein Zusammenfall in der Sache als virtuelles Ideal 59 60 61
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Weinberg (1942), 348. Ebd. 349. Daraus erhellt im übrigen auch die dem rhetorisch-poetischen Gebrauch zugrundeliegende Erweiterung des Gegenstandsbereichs gegenüber der auf pragmata begrenzten aristotelischen mimesis-Konzeption, die durch ihren abstrakteren, nicht gegenstandsorientierten Ansatz indes eine Reihe von Problemen vermeidet. Plin. N. h. 35, 88: «Er malte auch Bilder von so vollkommener Ähnlichkeit, daß – unglaublich zu sagen – der Grammatiker Apion eine Schrift hinterließ, in der er berichtete, daß ein Mann, der nach dem Gesicht wahrsagte – man nennt solche Leute Physiognomiker –, aus ihnen entweder das kommende Todesjahr oder die Zahl der vergangenen Lebensjahre bestimmt hat.» – Übersetzung nach Plinius, Naturalis historiae libri / Naturkunde Buch 35, hrsg. und übers. von R. König und G. Winkler, Düsseldorf – Zürich 21997. Die communis opinio im Kommentar von König – Winkler (Anm. 62), 228, die die Aussage aus «der bekannten Lügenhaftigkeit des Autors» herleiten. Indes ist dieser Grammatiker und Lexikograph, den Plinius selbst gehört hat, etwas vorsichtiger zu beurteilen: vgl. F. Montanari, Art. «Apion», DNP 1 (1996), 845–847.
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angenommen – die Koinzidenz von Bezeichnendem und Bezeichneten wäre die moderne Option, die zwangsläufig paradox ist –, im Blick steht vielmehr der Erkenntnisakt, insofern Unterscheiden die genuine Tätigkeit des Denkens ist:64 Das Kunstwerk zielt auf das Erkenntnisvermögen des Betrachters bis dahin, daß dieser keine Unterscheidung mehr anstellen kann. Ähnlichkeit bleibt die zentrale Relation im Nachahmungskonzept bis ins 16. Jahrhundert. Das zeigt noch Julius Caesar Scaligers Poetik, die im Einleitungskapitel zum dritten Buch die Frage verhandelt, was nachzuahmen sei. Hierbei findet sich die Dichotomie von res und verba als vollständige Disjunktion vorgestellt und die Beziehung in folgender Weise konturiert: 65 Die Wörter würden von den Dingen her ihre forma empfangen, indes nicht in dem Sinne, daß die Wörter von den Dingen selbst kraft ihrer eigenen Natur geschaffen würden, vielmehr würden statt der Dinge wir die Beschaffenheit und das Ausmaß der Rede der Beschaffenheit und dem Ausmaß der Dinge angleichen. Nachahmung findet sich somit in den Rahmen eines triadischen Schemas ›res – verba – nos› gestellt, in welchem die entscheidende Rolle der Wahrnehmungs- und Denktätigkeit des Textproduzenten bzw. -rezipienten beigemessen wird: Nicht der unterschiedliche ontologische Status von res und verba sowie die Verweisrelation des einen auf das andere ist in dieser mimesis-Konzeption Gegenstand; zwischen Welt und Dichtung wird vielmehr eine Ähnlichkeitsrelation konstituiert, die eines Erkenntnisaktes bedarf. Den Angelpunkt bildet damit eben jenes Modell, in welchem die Denkseele Vorstellungsbilder und Wahrnehmungsbilder zusammenrückt:66 ' *' " — ()" 3, +κ Ν ?+-«. Daraus erhellt nun insbesondere ein Merkmal, das für die rhetorisch-poetische Textauffassung überaus charakteristisch ist: die Verknüpfung von Nachahmungsmodell und visuellem Bereich. Mit auffallender Frequenz wird auf den Begriff des Bildes rekurriert: Sermo sei nichts anderes als imago; exuberant ist der Gebrauch des Begriffs pingere für dichten oder überhaupt das Verfassen eines Textes – eine semantische Interferenz zu scribere, die sich auch später noch durchzieht. 67 Daher avanciert Visualisierungsqualität in der Literaturkritik schließlich zu einem wesentlichen Kriterium für literarische Güte. Aufschlußreich ist etwa der Vergleich zwischen homerischen Vorbildern und vergilischen Nachahmungen in Macrobius’ Saturnalien. In einem Kapitel, in dem Vergil den Preis davonträgt, heißt es einmal, dies habe Vergil wunderbar und gleichsam wie in Farbe gemalt: 68 Ein solches Urteil reicht bereits aus zu begründen, warum die betreffende Vergilstelle der entsprechenden homerischen überlegen sei. Es sei hierbei nochmals an Quintilians Feststellung erinnert, daß ein Gesamtbild der Dinge – tota rerum imago – in Worten abzuzeichnen sei, wofür als Meister Vergil und Cicero zitiert werden. 69 Warum dies überhaupt anzustreben ist, findet sich in anschließenden Überlegungen näher ausgeführt. Fallbeispiel liefert das Gefühl des Jammers bei der Ein64 65
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Dazu Schmitt (1989); vgl. jetzt auch die große Synthese ders. (2003). Julius Caesar Scaliger, Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst, unter Mitwirkung von M. Fuhrmann hrsg., übers., eingel. und erl. von L. Deitz und G. Vogt-Spira, 5 Bde., Stuttgart / Bad Cannstatt 1994–2003, iii 1 (Bd. 2, 60, 14–26). Arist. De an. iii 8, 432 a 9–10: «Denn die Vorstellungsbilder sind gleichsam Wahrnehmungsbilder, nur ohne Materie». Vgl. Wenzel (1995). Macr. Sat. 5, 11, 11: hoc mire et velut coloribus Maro pinxit. Vgl. o. Anm. 29.
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nahme von Städten: Zwar erfasse einer, der sage, die Stadt sei erobert worden, alles, was ein solcher Schicksalsschlag enthalte, doch dringe es wie eine knappe Nachricht zu wenig tief in unser Gefühl ein:70 At si aperias haec, quae verbo uno inclusa erant, apparebunt effusae per domus ac templa flammae et ruentium tectorum fragor et ex diversis clamoribus unus quidam sonus, aliorum fuga incerta, alii extremo complexu suorum cohaerentes et infantium feminarumque ploratus et male usque in illum diem servati fato senes: tum illa profanorum sacrorumque direptio, efferentium praedas repetentiumque discursus, et acti ante suum quisque praedonem catenati, et conata retinere infantem suum mater, et sicubi maius lucrum est pugna inter victores. Licet enim haec omnia, ut dixi, complectatur ‹eversio›, minus tamen est totum dicere quam omnia.
Hier ist der Übergang von Redekunst zu Literatur mit Händen zu greifen, denn was vom Redner gefordert wird, sind nachgerade literarische Qualitäten. Und in der Tat besteht einer der Wege der lateinischen Literaturgeschichte – etwa jener der neronisch-flavischen Zeit – darin, die Intensität solcher Darstellungen zu erhöhen. Der Bereich der Affekte, dem in der Rhetorik aufgrund ihres Wirkungsziels eine Schlüsselrolle beigemessen wird, hat von daher auch in der Literaturtheorie einen systematischen Platz erhalten71 – und dies meint man in der Regel, wenn man von Wirkungsästhetik in Hinblick auf Literatur spricht. Doch ist dies nicht alles. Es sei daran erinnert, daß Quintilian das Vermögen der phantasia in dem Kapitel zu den Affekten aus dem Grunde einführt, weil sich nur durch Einwirkung auf das Vorstellungsvermögen Gefühlsregungen steuern ließen. Die Tätigkeit der phantasia ist dabei immer, wie gezeigt, als Kognitionsakt aufgefaßt, der Ähnlichkeiten erkennt bis hin zu dem Idealwert einer similitudo indiscreta. Eine solche Konzeption von Literatur ist wirkungsästhetisch in umfassenderem Sinne: sowohl in Hinblick auf Affekte wie auf Kognition.
V Halten wir damit zusammenfassend fest, daß sich von verschiedenen Seiten her das präsenzschafffende ‹poietische› Vermögen der phantasia als Scharnierstelle in der Auffassung von Literatur erweist, wie sie in der grammatisch-rhetorischen Tradition von Hellenismus und Kaiserzeit kanonisiert und in der Folge tradiert worden ist. Angelpunkt bildet das Konzept, daß mit der Interpretation von phantasmata als aisthemata etwas Vorgestelltes als ‹wirklich› erlebt werde; es gibt daher auch vielfach Anweisungen zu einem identifikatori70
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Quint. Inst. 8, 3, 68–69: «Wenn du dagegen das entfaltetest, was alles das eine Wort enthielt, dann wird das Flammenmeer erscheinen, das sich über die Häuser und Tempel ergossen hat, das Krachen der einstürzenden Dächer und das aus den so verschiedenen Geräuschen entstehende eine Getöse, das ungewisse Fliehen der einen, die letzte Umarmung, in der andere an den Ihren hängen, das Weinen der Kinder und Frauen und die unseligerweise bis zu diesem Tag vom Schicksal bewahrten Greise; dann die Plünderung der geweihten und ungeweihten Stätten, die Beute, die die Eroberer wegschleppen, deren Umhereilen, um sie einzutreiben, die Gefangenen, die jeder Sieger in Ketten vor sich hertreibt, die Mutter, die versucht, wenigstens ihr eigenes Kind festzuhalten, und wo es sich um größeren Beuteanteil handelt, der Wettstreit unter den Siegern. Mag auch das Wort ‹Zerstörung› all das, wie gesagt, umfassen, so ist es doch weniger, das Ganze auszusprechen als alles.» Dies reicht bis dahin, daß etwa Ps.-Longin in der Wirkung auf die Gefühlsregungen das eigentliche Ziel poetischer Vergegenwärtigungsleistung erblicken zu können glaubt (Ps.-Long. De subl. 15, 2).
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schen Lektüremodus.72 Nun sind jene phantasmata jedoch dadurch bestimmt, daß sie gerade nicht mit den aisthemata identisch sind, es sich vielmehr um einen durch die Denkseele vorgenommenen Akt der Identifizierung handelt, einen Mechanismus, der ein ‹poietisches› Potential bietet, den Literatur spezifisch nutzt: Sie fingiert. Es sei an dieser Stelle nochmals an den Grund des rhetorischen Interesses für das Phänomen der phantasia erinnert: Die Erzeugung von Vorstellungsbildern wird als die entscheidende Zwischenstufe betrachtet, um Affekte auszulösen und zu steuern; der Mechanismus lautet concipere imagines rerum et tamquam veris moveri, unabhängig, ob es sich dabei um Wahrheit oder Fiktion handelt. 73 Als Beleg dient nicht zuletzt immer wieder das Theater: Wenn schon bei Tragödien, bei denen man doch wisse, daß sie erdichtet seien, der Schauspielervortrag Zorn, Tränen, Besorgnis hervorzurufen vermöge, dann müsse das a fortiori für Dinge gelten, die man aufgrund der Überzeugungskraft des Redners für wirklich halte.74 Der zuvor benannte Wirkungsmechanismus zeigt indes, daß der unterschiedliche Wirklichkeitsstatus für die Rezeption ganz unerheblich ist:75 Habet autem res ipsa [sc. actio] miram quandam in orationibus vim ac potestatem […]: nam ita quisque, ut audit, movetur.
Dasselbe gilt im übrigen für den Bildbereich, wie Macrobius einmal im Zusammenhang vergilischer Beschreibungskunst festhält: 76 Et imago […] idonea est movendis affectibus. Ea fit cum aut forma corporis absentis describitur, aut omnino quae nulla est fingitur. Insofern die Alternative geboten wird, daß es sich um akzidentielle oder um prinzipielle Abwesenheit des betreffenden Körpers handelt – so im Falle, daß das entsprechende Wesen wie etwa Skylla gar nicht existiere –, zeigt sich auch hier in aller Deutlichkeit: Kriterium für den Mechanismus der Vergegenwärtigung bildet nicht die Überprüfung der Referenz; die Wirksamkeit der Fiktionsanweisung wird vielmehr als anthropologisch gegeben vorausgesetzt. Weiteren Aufschluß liefert in unserem Zusammenhang eine Passage aus Cicero, die dann später von Quintilian als Beispiel für besonders virtuosen Einsatz der Technik der Imaginationserzeugung angeführt wird.77 Es handelt sich um eine Rede, mithin um jene Gattung, die aufgrund der Anforderung, ein weiteres Publikum zu überzeugen, Einblick in allgemeines Wissen gibt. Der Zuhörer wird darin ausdrücklich zu einer Vorstellungstätigkeit aufgerufen mit dem Argument, die cogitationes – an dieser Stelle für den noch nicht ins Lateinische eingeführten phantasia-Begriff stehend78 – stünden in unserer Macht: 79 72
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Repräsentatives Beispiel, das auf quintilianscher Pädagogik beruht und als kanonische Schullektüre bis über das 18. Jahrhundert hinaus gewirkt hat, M. H. Vida, De arte poetica 1, 115–122. Quint. Inst. 11, 3, 62; vgl. auch o. S. 26 mit Anm. 25. Ebd. 11, 3, 5. Ebd. 11, 3, 2: «Das Gemeinte selbst aber bedeutet in den Reden etwas ganz Erstaunliches an Kraft und Macht […]: denn es wird ein jeder so, wie er sie hört, von der Rede gepackt.» Macrob. Sat. 4, 5, 9: «Auch das Bild […] ist in der Lage, Affekte auszulösen. Es kommt zustande, indem entweder die Gestalt eines abwesenden Körpers beschrieben wird, oder überhaupt eine Gestalt, die es gar nicht gibt, ersonnen wird.» Quint. Inst. 9, 2, 41. Zu den verschiedenen Ansätzen der Übertragung bis zur Durchsetzung des Begriffs imaginatio Flury (1988). Cic. Pro Mil. 79: «Stellt euch vor – unsere Einbildungskraft ist ja unbeschränkt; sie kann sich jeden beliebigen Gegenstand ebenso lebhaft ausmalen wie wir das erkennen, was wir vor uns sehen […].» – Übersetzung von M. Fuhrmann.
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Fingite animis – liberae sunt enim nostrae cogitationes et quae volunt sic intuentur ut ea cernimus quae videmus […].
Die Tätigkeit des Fingierens wird offenkundig nicht als Gegensatz zur Wahrheit, Vorgestelltes nicht als Widerspruch zu tatsächlich gesehener Wirklichkeit behandelt, denn sonst würde Cicero seine eigene Glaubwürdigkeit unterlaufen. Im Gegenteil gilt als nachgerade selbstverständliche Leistung des Denkens, daß es Dinge genauso ‹manifest› werden zu lassen vermag, wie dies durch sinnliche Wahrnehmung geschieht. Es handelt sich hier also um eine Fiktionslizenz. Sie könnte auffällig erscheinen, wenn man auf die griechische Seite blickt, auf der die Diskussion durch die Antithese aletheia – pseudos bestimmt ist. Auf lateinischer Seite allerdings wird diese Zweiteilung nie bestimmend; an ihre Stelle tritt vielmehr seit Beginn des ersten Jahrhunderts v. Chr. im Kontext der Etablierung lateinischsprachiger Rhetorenschulen in Rom die Dreiteilung res verae – res fictae – res fabulosae; dies läßt sich plausibel damit erklären, daß mendacium eine zu vereindeutigende und im rhetorischen Zusammenhang untaugliche Übertragung von pseudos mit seinem viel weiteren semantischen Spektrum wäre.80 Die ficta res findet sich nun dadurch charakterisiert, daß sie geschehen könne (quae tam fieri potest): Sie ist zwar nicht wahr, doch wahrscheinlich (verosimile); dabei wird ihr die Gattung der Komödie aufgrund ihres lebensweltlichen Stoffes und dem Ideal der Lebensechtheit zugeordnet. 81 Daß hier noch res fabulosae, mythische Stoffe, die weder wahr noch wahrscheinlich seien, eigens abgegrenzt werden, erklärt sich aus der Genese der Dreiteilung im Zusammenhang der Theorie der narratio, also des erzählend-darlegenden Teils der Gerichtsrede: Denn hier ist der Umstand, daß eine Sache sich tatsächlich so abgespielt haben könnte, für die Glaubwürdigkeit unabdingbar. Insofern jedoch fingere einer der geläufigen Begriffe für ‹dichten› ist, wird res ficta rasch zum Terminus, der den Gegenstand von Literatur insgesamt bezeichnet. Hierbei fällt auf, daß Fiktionalität in Rom nicht in einen genuinen Zusammenhang mit Lüge gebracht wird: Anders als in Griechenland erlangt in der römischen Kultur der Vorwurf der Lüge gegen die Literatur nie Konjunktur.82 Fiktionalität wird nicht vorab unter dem Gesichtspunkt der Differenz zu Wirklichkeit wahrgenommen; in der Spätantike kann man so weit gehen, die Dreiteilung res verae – res fictae – res fabulosae in eine Zweiteilung zu transformieren, bei der Historisches und Fiktives als synonym behandelt und gemeinsam dem Fabulösen entgegengesetzt werden. 83 Damit dürfte deutlich geworden sein, in welch engem Zusammenhang Textkonzepte zu Modellen stehen, in denen sinnliche Wahrnehmung und ihre Verknüpfung mit Kognition beschrieben wird und inwiefern dies Konsequenzen für den Bereich literaturwissenschaftlicher Modellbildungen hat. Denn die einzelnen Konzepte enthalten Vorannahmen, die ihre 80
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Dazu näher Hose (1996), der die Konsequenzen daraus zieht, daß die Dreiteilung zunächst im lateinischen Bereich begegnet. Hauptquellen: Auctor ad Her. 1, 13; Cic. De inv. 1, 27; Quint. Inst. 2, 4, 2. Pointiert dazu Hose (1996), 273. Dies muß in Zusammenhang mit der spezifischen Auffassung von Literatur in Rom gesehen werden, die sich von der griechischen in mancherlei Hinsicht grundlegend unterscheidet – was noch näherer Untersuchung harrt. Serv. Aen. 1, 235 Th.-H. Dazu Lazzarini (1984), 120–126, die darin den «tono enunciativo di una formula teorica» (121) erkennt, ohne daß sich allerdings Näheres zu den Quellen sagen ließe; bei allen scharfsinnigen Beobachtungen ist Lazzarini allerdings in ihrer Orientierung am «principio aristotelico della verosimiglianza» (133) nicht frei davon, die frühneuzeitliche Uminterpretation der ‹aristotelischen Wahrscheinlichkeit› auf den kaiserzeitlichen Text zurückzuprojizieren.
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Grundlage in jeweils gültigen Kognitionsmodellen finden; daß dies in besonders hohem Maße für die Frage gilt, inwieweit Literatur ‹Nachahmung von Wirklichkeit› sein kann, liegt auf der Hand. Die römische Reflexion in Rhetorik, Literatur- und Kunsttheorie zeigt dabei einen Modus, Fiktionalität als konstitutives Merkmal von Literatur oder Kunst zu begreifen, ohne daß dies in Widerspruch zur Orientierung an einer ‹Nachahmung von Wirklichkeit› treten muß, die bis hin zu dem Idealwert einer ununterscheidbaren Ähnlichkeit reicht. Solche Kohärenz ergibt sich, wenn man nicht von einer binären Relation res – verba ausgeht, sondern ein triadisches Modell anlegt, in dem die Beziehung zwischen Literatur und Wirklichkeit immer durch einen Erkenntnisakt hergestellt und die Aufgabe des Literaten darin begriffen wird, auf diese Erkenntnistätigkeit ebenso wie auf den Affekthaushalt des Hörers oder Lesers einzuwirken. Indem die römische Kaiserzeit dieses Modell zu einem allgemeinen Basiswissen gemacht hat, ist sie eine Scharnierstelle für eine langdauernde Textauffassung geworden.
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Antike Zeugnisse zu Kommunikationsformen von Tieren
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Antike Zeugnisse zu Kommunikationsformen von Tieren «I was so fascinated by the animals with their little silent ways, doing most of the things we humans do but lacking the ability to tell us about it.» Buchi Emecheta: Head Above Water (Kap. 14: The Zoo) 1 «(…) wer im Tierreich uns ähnelt, sei in Gnaden in unser Herz aufgenommen.» Günter Kunert: Der andere Planet 2
1. Einleitung Sprache, wie auch immer sie konkret definiert sein mag, ist thematisch eng verknüpft mit der Diskussion über menschliche Vernunftbegabung. So ist es ein wesentlicher Bestandteil antiker Kulturentstehungstheorien, unter den besonderen Begabungen des Menschen vor allem seine Sprachbefähigung zu nennen.3 Es braucht kaum hervorgehoben zu werden, daß das Bedeutungsspektrum des griechischen Wortes « sowohl diese Vernunftbegabung als auch Sprache einschließt. Dem Menschen mag ein natürlicher Schutz in Form eines Fells oder Federkleides fehlen, er mag zu seiner Verteidigung und Nahrungssicherung auf keinerlei Krallen oder scharfe Schnäbel zurückgreifen können. Doch mit Hilfe seines « ist er in der Lage, seinen Status eines Mängelwesens durch zahlreiche kulturelle Errungenschaften, die Schaffung von Kulturtechniken, auszugleichen. Hinzu kommt die Selbstorganisation in sozialen Gemeinschaften, die eine möglichst dauerhafte Selbsterhaltung gewährleisten sollen. Zivilisatorisches Bemühen, das sich in der Etablierung eines sozialen Bewußtseins und zielgerichtetem politischen Handeln niederschlägt, wird dem Menschen jedoch erst durch seine ausgeprägte Befähigung zu differenzierter Kommunikation ermöglicht. Die kulturstiftende Funktion menschlicher Sprache ist es, die in der Antike immer wieder als Grund für die Absetzung des Menschen vom Tier, vom 9 Ν, angeführt wird. 1 2 3
Zuerst erschienen 1986; hier zitiert nach der Heinemann-Edition (Oxford 1994, 79). Zuerst erschienen 1974; hier zitiert nach der Ausgabe des Aufbau-Verlags (Berlin & Weimar 31978, 43). Zur Verbindung von menschlicher ratio und oratio u. a. Aristoteles, Pol. I 2 1253a7–18, Xenophon, Mem. 4.3.11 f., Diogenes Laertios 7.55–57, außerdem Isokrates, Ad Nic. (Orat. 3) 5–9 und Antid. (Orat. 15) 253–257, sowie Quintilian, Inst. orat. 2.16.12–19 und 2.20.9. Zu Sprache als kulturstiftender und gesellschaftsbildender Kraft vor allem Cicero, De orat. 1.30–34 und De inv. 1.1–5; siehe auch Sophokles, Ant. 354–356 und Horaz, Sat. 1.3.99–106. Weitere Stellen und Literatur bei Fögen (2000: 36); siehe außerdem Dierauer (1977: bes. 32–35, 125–128, 225–227, 234–238), Sorabji (1993: 80–86) und Heath (2005: 6–17). Überblicksdarstellungen zu antiken Kulturentstehungstheorien bieten Uxkull-Gyllenband (1924), Guthrie (1957), Dierauer (1977: 25–38), Blundell (1986), Levine Gera (2003) und Müller (2003), ferner Spoerri (1959), jeweils mit weiterer Literatur; besondere Akzentuierung sprachlicher Aspekte bei Ax (1986: 96–102).
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Thorsten Fögen
Doch bedeutet dies nicht, daß Tieren nach antiker Vorstellung jegliche Form von Kommunikation fehlt. In der griechischen und römischen Literatur werden verschiedene Formen tierischer Kommunikation thematisiert. In diesem Beitrag werden exemplarisch einige Texte analysiert, in denen von «Tiersprache» die Rede ist. Dabei wird jeweils überprüft, wie die Artikulationsformen von Tieren konkret gezeichnet sind. Für jeden Einzelfall soll betrachtet werden, wie die Kommunikation konkret erfolgt, also wer was mitteilt und versteht. Eingeschlossen werden Zeugnisse sowohl zu verbalen als auch zu non-verbalen Verständigungsformen. Bevor allerdings eine Auswahl antiker Zeugnisse behandelt wird, bietet sich zunächst eine kurze Skizze einiger Ergebnisse der modernen Natur- und Sozialwissenschaften zum Thema «Kommunikation von Tieren» an. Daß dabei nur sehr selektiv vorgegangen werden kann, versteht sich von selbst.
2. Einige Ergebnisse der modernen Forschung zu tierischer Kommunikation Untersuchungen zur Kommunikation von Tieren werden in verschiedenen Disziplinen durchgeführt, vor allem in der Verhaltensforschung. Die jeweiligen Forschungsperspektiven und -absichten sind dabei keineswegs uniform. Es sollen hier lediglich zwei Ansätze erwähnt werden, die sich in ihrer Ausrichtung durchaus ähneln: die Zoosemiotik und die Biokommunikationsforschung. Die Zoosemiotik analysiert artspezifische Kommunikationssysteme einzelner Tierarten sowie die Eigenschaften von Kommunikation in biologischen Systemen. Thomas A. Sebeok (1920–2001), der den Begriff «Zoosemiotik» bereits 1963 einführte (Sebeok 1963), hat wiederholt darauf hingewiesen, daß es dabei nicht allein um das Studium tierischer Kommunikation geht, auch wenn der Terminus häufig so verstanden wurde: «Human semiotic systems are of two kinds: anthroposemiotic, that is, species-specific systems of man; and zoosemiotic, that is, those component sub-systems of human communication that are found elsewhere in the animal kingdom as well» (Sebeok 1972: 163; wiederaufgenommen in Sebeok 1977: 1056)
Des weiteren findet sich der Begriff «Biokommunikation», den der Verhaltensphysiologe Günter Tembrock geprägt hat (Tembrock 31982: 8; ausführlicher Tembrock 2004) und mit dem Formen der Nachrichtenübertragung zwischen Lebewesen bezeichnet werden. Es geht insbesondere um die Fragen, was wie und weshalb kommuniziert wird und welche Voraussetzungen Lebewesen dafür benötigen. Da die Vielfalt der modernen Forschung zu tierischer Kommunikation, die sich je nach Spezies auf verschiedenen Ebenen (optisch, akustisch, chemisch-olfaktorisch, taktil) vollzieht, hier unmöglich dokumentiert werden kann, sollen im folgenden einige Forschungsergebnisse zu den Kommunikationsformen dreier ausgewählter Tierarten vorgestellt werden, nämlich der Vögel, Bienen und Affen.4
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Einen nützlichen und gut nachvollziehbaren Überblick über Kommunikationsformen bei Tieren vermittelt der Katalog zur Ausstellung «Tiere lügen nicht», die u. a. im Berliner Museum für Kommunikation gezeigt wurde (Kallinich & Spengler 2004; dort auch weitere Literatur). Knapp und informativ ist der Abschnitt «Do animals have language?» bei Corballis (2002: 21–40).
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Zunächst einige Beispiele für sprachbegabte Vögel:5 Die Fähigkeit von Papageien zur Imitation von Lauten ist allgemein bekannt. Als keineswegs außergewöhnlich erscheint der Fall des Vasa-Papageis Jacob, der sich seit 1828 im Besitz Alexander von Humboldts befand und über dreißig Jahre in dessen Wohnung lebte: Jacob bekam von Humboldt jeden Morgen die Frage gestellt, wer von beiden wohl zuerst sterben werde, und antwortete stets mit dem Satz «Viel Zucker, viel Kaffee, Herr Seifert». Herr Seifert war Alexander von Humboldts Diener. Beachtlicher ist dagegen die Leistung des sprechenden Wellensittichs Sparkie Williams, der von 1954 bis 1962 lebte: Sein Vokabular setzte sich aus zehn Kinderreimen, 383 Sätzen und 531 Wörtern zusammen. 1958 gewann er den europaweiten «BBC International Cage Bird Contest» für sprechende Wellensittiche und machte zudem im Radio Werbung für Vogelfutter. Noch erstaunlicher ist der folgende Fall: Mit dem Graupapagei Alex (Psittacus erithacus) beschäftigt sich die amerikanische Verhaltensforscherin Irene Pepperberg bereits seit beinahe drei Jahrzehnten. 6 1977 begann sie, dem Vogel das Sprechen beizubringen. Alex verfügt über einen Wortschatz von über 100 englischen Wörtern und ist in der Lage, auf einschlägige Fragen überwiegend (d. h. zwischen 75 und 85 %) korrekte Antworten zu liefern. Ihm ist es möglich, fünfzig verschiedene Objekte zu benennen und ihnen Eigenschaften wie Farbe, Material oder Form zuzuordnen. Zudem kann er bis sechs zählen sowie die Kategorien «größer» vs. «kleiner» und «gleich» vs. «ungleich» auseinanderhalten. Sind die Laute von Vögeln unüberhörbar und auch durchaus als differenzierte Formen der Verständigung einzuordnen, so mag man dies bei anderen Tierarten wie staatenbildenden Insekten wie Bienen, Wespen und Ameisen nicht sogleich vermuten. Nachdem der österreichische Biologe Karl von Frisch (1886–1982) in seinen frühen Arbeiten aufzeigte, daß Fische Farben wahrnehmen können und einen empfindlichen Hörsinn besitzen, widmete er sich seit 1919 der Erforschung der Honigbiene (apis mellifera). Er fand heraus, daß Bienen die Entdeckung und Lage von Futterquellen über tanzähnliche Bewegungen vermitteln. 7 Dabei signalisiert der sogenannte Rundtanz, daß die Nahrungsquelle sich bis maxi5
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Siehe z. B. Kainz (1961: 54–86) und Sebeok (1968: 311–337). Zahlreiche Aufnahmen «sprechender» Vögel, aber auch vieler anderer Tierarten sind in dem 1951 von Günter Tembrock begründeten Berliner Tierstimmenarchiv zusammengetragen, das als Teil des Museums für Naturkunde dem Institut für Biologie der Humboldt-Universität angegliedert ist. Zum Berliner Tierstimmenarchiv siehe Karl-Heinz Frommolt, Das Tierstimmenarchiv am Fachbereich Biologie der Humboldt-Universität zu Berlin, in: Berliner ornithologischer Bericht 3 (1993), 6–8, ferner Karl-Heinz Frommolt, The archive of animal sounds at the HumboldtUniversity of Berlin, in: Bioacoustics 6 (1996), 293–296. Der Dokumentation von Forschungen zu Tierstimmen widmet sich die seit 1988 bestehende Zeitschrift Bioacoustics: The International Journal of Animal Sound and Its Recording. Überblicke über Methoden und Ergebnisse der Bioakustik bieten u. a. Tembrock (31982), Tembrock (1996), Hopp & al. (1998) und Owings & Morton (1998). Irene M. Pepperberg, The Alex Studies. Cognitive and Communicative Abilities of Grey Parrots, Cambridge, Mass. 2000. Eine Kurzfassung ihrer Forschungen zu dem Graupapagei Alex bietet Pepperbergs folgender Aufsatz: Kommunikation zwischen Mensch und Vogel. Eine Fallstudie zu den kognitiven Fähigkeiten eines Papageis, in: Zeitschrift für Semiotik 15 (1993), 41–67; siehe dazu die kritische Stellungnahme von Günter Tembrock, Verhaltensprogramme, unmerkliche Mitteilungen und prozessuales Lernen, in: Zeitschrift für Semiotik 15 (1993), 68–72. Ein komplettes Literaturverzeichnis der Forschungen Pepperbergs findet sich im Internet (http://web.media.mit.edu/~impepper/impcv.html). Kurzüberblicke z. B. bei Rogers & Kaplan (2000: 67 f., 72), Hillix & Rumbaugh (2004: 237–253) und Anderson (2004: 300–304). Karl von Frisch, Über die «Sprache» der Bienen. Eine tierpsychologische Untersuchung, in: Zoologische Jahrbücher (Physiologie) 40 (1923), 1–186, ferner: Die Tänze der Bienen, in: Österreichische Zoologische Zeitschrift 1 (1946), 1–48. Spätere Zusammenfassungen seiner Forschungsergebnisse bilden die beiden Mono-
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mal 100 Meter vom Bienenstock entfernt befindet; die Ergiebigkeit der Futterstelle wird durch die Schnelligkeit des Tanzes angezeigt. Der am Sonnenstand orientierte Schwänzeltanz dagegen verweist auf eine Nahrungsquelle, die weiter als 100 Meter vom Stock entfernt ist; mit Hilfe dieses kommunikativen Verfahrens kann selbst die Lage solcher Nahrungsquellen vermittelt werden, die bis zu 10 Kilometer vom Bienenstock entfernt sind. Insgesamt verfügen Honigbienen über ca. zwanzig verschiedene Formen der Kommunikation, vor allem über Pheromone. So ziehen Stachelpheromone, die in semiotischer Hinsicht der Signalfunktion einer Alarmglocke (im Sinne von «Gefahr!») gleichzusetzen wären, weitere Bienen an und verstärken deren Aggressivität. Weitere Untersuchungen zu tierischer Kommunikation wurden vor allem für Menschenaffen vorgenommen. 8 Deren Sprachwerkzeuge sind für vokales Sprechen nicht hinreichend ausgebildet, so daß man versuchte, Schimpansen ausgewählte Bestandteile der Amerikanischen Gebärdensprache (American Sign Language) zu vermitteln. Die Schimpansin Washoe lernte ab 1967, seit dem Alter von etwas mehr als einem Jahr, 132 ASL-Zeichen und vermochte es schließlich, einzelne Zeichen zu Bedeutungsverbindungen zusammenzufügen (z. B. will Beere, Zeit trinken, da Schuh). Für die Aneignung zweier Zeichen benötigte Washoe jedoch allein ein halbes Jahr.9 Einige der im Zusammenhang mit den Washoe-Experimenten aufgestellten Behauptungen wurden in der Forschung kontrovers beurteilt, so z. B. daß die Schimpansin bei der Verständigung mit anderen Affen auf ASL zurückgegriffen habe. Zum Teil wurde sogar der gesamte Ansatz verworfen, u. a. mit der Begründung, daß die von Washoe verwendeten ASL-Zeichen nur eine verkümmerte Form der bei Menschen üblichen Amerikanischen Gebärdensprache seien. Die hier versammelten Beispiele belegen allesamt, daß die Formen der Kommunikation, über die Tiere verfügen, entscheidende Unterschiede zur menschlichen Sprache,10 wie auch immer man diese konkret definieren mag, aufweisen:
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graphien Tanzsprache und Orientierung der Bienen (Berlin 1965) und Aus dem Leben der Bienen (Berlin 9 1977). Aus der neueren Forschung: Adrian M. Wenner & Patrick H. Wells, Anatomy of a Controversy. The Question of a «Language» Among Bees, New York 1990. Kurzüberblicke finden sich z. B. bei Kainz (1961: 9–25), Sebeok (1968: 217–243) und Anderson (2004: 63–89); siehe auch Ingold (1998: 92–94) und Steiner (2005: 245–250). Aus den zahlreichen Veröffentlichungen zur Kommunikation bei Affen sei eine Publikation jüngeren Datums herausgegriffen: Sue Savage-Rumbaugh, Stuart G. Shanker & Talbot J. Taylor, Apes, Language, and the Human Mind, Oxford 1998 (mit weiterer Literatur). Überblicke z. B. bei Kainz (1961: 86–119), Sebeok (1968: 466–522), Sebeok & Rosenthal (1981: 35–129), Bright (1984: 212–230), Lestel (1995, 1998), Rogers & Kaplan (2000: 63–66), Hillix & Rumbaugh (2004: 55–66, 69–211, 255–267), Anderson (2004: 166–196, 264–300) und Steiner (2005: 238–242). Zu Washoe siehe Beatrix T. Gardner & R. Allen Gardner, Two-way communication with an infant chimpanzee, in: Allan M. Schrier & Fred Stollnitz (Hrsg.), Behavior of Nonhuman Primates. Modern Research Trends (Vol. 4), New York & London 1971, 117–184, außerdem R. Allen Gardner, Beatrix T. Gardner & Thomas E. van Cantfort (Hrsg.), Teaching Sign Language to Chimpanzees, Albany, New York 1989. – Zu den andersgearteten Magnettafel-Experimenten mit Schimpansen siehe die folgenden Arbeiten: Ann J. Premack & David Premack, Teaching language to an ape, in: Scientific American 227 (1972), 92–99. – David Premack, Intelligence in Ape and Man, Hillsdale, N. J. 1976. – David Premack & Ann J. Premack, The Mind of an Ape, New York 1983. Siehe beispielsweise Hockett (1959, 1960), Lenneberg (1967: 227–270), Ramsay (1969), Thorpe (1972), Bright (1984: 231–234), Ingold (1998: 91 f., 95), Makepeace Tanner (1998: 128), Anderson (2004: 20–37, 49–62, 318–324) und Hillix & Rumbaugh (2004: 18–21, 28 f.), außerdem Steiner (2005: 18–36). Kainz (1961: 1–9, 157–282) liefert einen gründlichen Forschungsüberblick. Eine knappe Zusammenfassung bietet David Crystal, Die Cambridge-Enzyklopädie der Sprache, Frankfurt & New York 1995, 396 f.
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a) Natürliche Sprachen weisen eine «zweifache Gliederung» (double articulation) auf, wie vor allem André Martinet betont hat.11 Dies bedeutet, daß sich sprachliche Ausdrücke auf zwei unterschiedlichen Ebenen zerlegen lassen: zum einen in Morpheme (kleinste bedeutungstragende Einheiten, bei Martinet «Moneme» genannt), also Segmente, die aus Form und Bedeutung bestehen, zum anderen in Phoneme (kleinste bedeutungsunterscheidende Einheiten), die nur Form, aber keine Bedeutung aufweisen. Aus der Strukturierung auf phonologischer Ebene, auf der zahlreiche verschiedene Laute nach bestimmten Kombinationsregeln miteinander verknüpft werden, ergibt sich die Unendlichkeit natürlicher Sprachen. Laute wie Vogelrufe lassen sich dagegen nur in bedeutungstragende Einheiten der ersten Ebene aufgliedern, jedoch nicht in kleinere bedeutungsunterscheidende Segmente. b) Was artspezifische Signale bedeuten, muß von den meisten Tierarten nicht erst erlernt werden; das Wissen darüber ist ihnen offenbar bereits weitgehend, bei manchen Tierarten sogar vollständig angeboren. So beruht auch der Schwänzeltanz der Bienen auf Instinkt. c) Formen tierischer Kommunikation sind zumeist Reflexe auf äußere Signale, beruhen also auf einem situationsgebundenen Reiz-Reaktions-Schema. Außerdem haben Tiere nicht (oder wie im Falle von Schimpansen nur sehr begrenzt) die Möglichkeit, einzelne Kommunikationselemente je nach Situation neu zu kombinieren. d) Tieren fehlt die Möglichkeit zu sprachlicher Abstraktion und zu metasprachlichen Aussagen, also mittels Sprache über Sprache zu reden. Dieser Umstand dürfte zugleich kommunikative Aussagen über Vergangenheit und Zukunft ausschließen. Zudem können Tiere begriffliche Verallgemeinerungen nicht durch Symbole ausdrücken. e) Die Hervorbringung mancher tierischer Signale ist geschlechtsabhängig. So können z. B. bei manchen Tierarten bestimmte Balzsignale nur von Männchen oder Weibchen einer Tierart produziert werden, nicht aber von beiden. Diskussionen derartiger Unterscheidungen zwischen menschlicher Sprache und tierischer Kommunikation durchziehen die neuzeitliche Sprachwissenschaft. So hob beispielsweise Jacob Grimm in seiner Akademierede «Über den Ursprung der Sprache» (1851) hervor, daß zwar entwickeltere Tierarten ihre Empfindungen durch eine besondere lautliche Artikulation zum Ausdruck brächten, diese Lautäußerungen aber nicht erlernt, sondern angeboren seien und zudem keinem Wandel unterlägen. Diese Charakteristika setzten Tierlaute deutlich von menschlicher Sprache ab, deren Schaffung nicht auf einer göttlichen Offenbarung beruhe, wie häufig angenommen wurde, sondern allein auf der rationalen Fähigkeit des Menschen.12 11
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André Martinet, La linguistique synchronique. Études et recherches, Paris 1965 (Deutsche Fassung: Synchronische Sprachwissenschaft, Berlin 1968). Jacob Grimm, Über den Ursprung der Sprache. Gelesen in der Akademie am 9. Januar 1951, in: Ders., Selbstbiographie: Ausgewählte Schriften, Reden und Abhandlungen. Hrsg. und eingeleitet von Ulrich Wyss, München 1984, 154–189, hier S. 160 f.: «jedem vollkommneren warmblutigen thier, vögeln wie säugenden, ist immer ein ganz besonderer laut eigen, mit welchem es seine empfindungen wechselweise des behagens, der lust und des schmerzes, lockend oder scheuchend kund thun kann; einigen unter ihnen und zwar nicht den uns sonst verwandten vierfüßigen thieren, sondern voraus dem gevögel wurde ein klangvoller, meistens anmutiger und herzerfreuender gesang zugetheilt. stehn alle thierlaute nicht der menschensprache zur seite? Diese thierische in ihrer äußerung gleich der thiergestalt selbst manigfaltigste stimme ist aber sichtbar von natur in jedes thier geprägt und wird von ihm hervorgebracht ohne sie erlernt zu haben. (…)
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Die Differenzierungskriterien der Arbitrarität und Konventionalität betonte der amerikanische Linguist William Dwight Whitney (1827–1894) in seinem 1875 erschienenen Buch The Life and Growth of Language. Tierische Kommunikationsformen wichen so massiv von menschlicher Sprache ab, daß man diese keinesfalls mit dem Begriff «Sprache» bezeichnen könne.13 Besonderes Interesse an Kommunikationsformen von Tieren zeigte auch Georg von der Gabelentz (1840–1893) in seinem Buch Sprachwissenschaft, zuerst veröffentlicht im Jahre 1891. Im einleitenden Kapitel definiert er den Begriff der menschlichen Sprache und diskutiert in diesem Zusammenhang auch die «Sprachen der stimmbegabten Thiere», deren rhetorische Leistungsfähigkeit beachtlich sei. Tiersprachen glichen in vielerlei Hinsicht gestisch-mimischen Elementen, doch fehle ihnen «der gegliederte Ausdruck des Gedankens durch Laute»; daher falle deren Untersuchung auch nicht in den Zuständigkeitsbereich des Linguisten.14 Auf Gabelentz und dessen Bemerkungen zu den Grundlagen des menschlichen Sprachvermögens verweist rund drei Dezennien später Otto Jespersen (1860–1943) zu Beginn des Kapitels «The Origin of Speech» in seiner Darstellung Language (1922). Dabei erinnert er zugleich daran, daß der Mensch nicht als einziger über eine «Sprache» (bezeichnenderweise in Anführungszeichen gesetzt) verfüge und manche Tiere möglicherweise sogar ein vollendeteres Verständigungsmedium als der Mensch besäßen; doch räumt er ein, daß man über tierische Kommunikation noch zu wenig wisse und daher Spekulationen über deren Charakter wenig ertragreich seien.15 Die Anfänge menschlicher Sprache vergleicht er jeden-
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darum bleibt die jeder thierart angewiesene stimme immer einförmig und unveränderlich: ein hund bellt noch heute wie er zu anfang der schöpfung boll, und mit demselben tirelieren schwingt die lerche sich auf wie sie vor vielen tausend jahren that. das angeschaffene hat weil es angeschaffen ist unvertilgbaren charakter. (…) Die stimme, mit welcher die thierwelt für alle einzelnen geschlechter einförmig und unabänderlich ausgestattet wurde, steht demnach in unmittelbarem gegensatz zur menschlichen sprache, die immer abänderlich ist, unter den geschlechtern wechselt und stets erlernt werden muß. Was der mensch nicht zu lernen braucht und alsobald in das leben tretend von selbst kann, das bei allen völkern sich gleich bleibende wimmern, weinen und stöhnen oder jede anderen ausbrüche leiblicher empfindung, das allein könnte dem schrei der thierischen stimme mit recht an die seite gesetzt werden, das gehört aber auch zu menschensprache nicht, und läßt mit deren werkzeugen sich eben so wenig als der thierlaut genau ausdrücken, nicht einmal vollständig nachahmen.» William Dwight Whitney, The Life and Growth of Language. An Outline of Linguistic Science, New York 1875, 2 f.: «(…) man is the sole possessor of language. It is true that a certain degree of power of communication, sufficient for the infinitely restricted needs of their gregarious intercourse, is exhibited also by some of the lower animals. (…) But these are not only greatly inferior in their degree to human language; they are also so radically diverse in kind from it, that the same name cannot justly be applied to both. Language is one of the most marked and conspicuous, as well as fundamentally characteristic, of the faculties of man.» Ähnlich S. 281 f. und 305 f., bes. 282: «The essential difference, which separates man’s means of communication in kind as well as degree from that of the other animals, is that, while the latter is instinctive, the former is, in all its parts, arbitrary and conventional.» Georg von der Gabelentz, Die Sprachwissenschaft. Ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse, Leipzig 21901 (repr. Tübingen 1969), 2–4. Ferner wichtig ist das Kapitel «Die Grundlagen des menschlichen Sprachvermögens», darin vor allem der Abschnitt zu physischen und psychischen Grundlagen (S. 304–313), in dem u. a. die Fähigkeit von Vögeln zur Lautimitation thematisiert wird. Otto Jespersen, Language. Its Nature, Development and Origin, London 1922, 412: «(…) we must first of all realize that man is not the only animal that has a ‹language›, though at present we know very little about the real nature and expressiveness of the languages of birds and mammals or of the signalling system of ants, etc. The speech of some animals may be more like our language than most people are willing to admit – it may also in some respects be even more perfect than human language precisely because it is unlike it and has developed along lines about which we can know nothing; but it is of little avail to speculate on these matters.»
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falls mit den Balzlauten von Tieren und führt ihr Entstehen somit auf Emotionen und Instinkt zurück; zugleich unterstreicht er das spielerisch-musikalische Element, das dem Frühstadium von Sprache innewohne.16 Es könne allerdings erst dann von Sprache im eigentlichen Sinne die Rede sein, wenn es sich um eine ganz bewußte Mitteilung an andere handelt und nicht lediglich um einen vokalen Gefühlsausbruch. Jespersens Ausführungen laufen auf die Feststellung hinaus, daß der Mensch ungleich differenziertere Verständigungsmöglichkeiten als das Tier besitze.17 Einen wichtigen ethischen Aspekt menschlicher Kommunikation hob Jan Baudouin de Courtenay (1845–1929) im Rahmen einer 1923 in Kopenhagen gehaltenen Vortragsreihe hervor: Nur mit Hilfe menschlicher Sprache könne man eine Untat wie einen Mord rechtfertigen oder gar schönreden.18 Diese Absetzung des Menschen vom Tier nimmt bei Baudouin de Courtenay Züge einer Kulturkritik an, die sich vor allem gegen Euphemismen und Mißbrauch der Rhetorik richtet.
3. Antike Zeugnisse zu Formen tierischer Kommunikation 3.1 Vorbemerkungen Die nachfolgend diskutierten Quellen zu tierischen Kommunikationsformen stammen zum einen aus Prosatexten (Ktesias, Aristoteles, Textausschnitte aus Lehrschriften der Stoiker, Plinius der Ältere und Aelian), zum anderen aus dichterischen Werken (Homer, Ovid und Statius). Über das dritte nachchristliche Jahrhundert geht die folgende Darstellung schon aus Raumgründen nicht hinaus. Einige Zeugnisse wurden bewußt ausgeklammert, so z. B. die späteren griechischen und römischen Grammatiker, insbesondere deren für die hier verfolgte Fragestellung interessanten λ «- bzw. de voce-Kapitel (dazu Ax 1986: 15–58, 212–266). Damit wird deutlich, daß die hier betrachteten Texte, die eine 16
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Jespersen (1922 [wie Anm. 15]: 434): «In primitive speech I hear the laughing cries of exultation when lads and lasses vied with one another to attract the attention of the other sex, when everybody sang his merriest and danced his bravest to lure a pair of eyes to throw admiring glances in his direction. Language was born in the courting days of mankind; the first utterances of speech I fancy to myself like something between the nightly love-lyrics of puss upon the tiles and the melodious love-songs of the nightingale.» Jespersen (1922 [wie Anm. 15]: 437): «In the case of human language, communication is infinitely more full and rich and elaborate». Jan Baudouin de Courtenay, Einfluß der Sprache auf Weltanschauung und Stimmung, in: Prace filologiczne 14 (1929), 185–256, hier 190 f.: «Ein hungriges tier kann zwar ein anderes ihm ähnliches tier töten, um es zu verzehren; wird aber nie seine mordtat mit schönklingenden heuchlerischen phrasen rechtfertigen. Um eine solche heuchelei zu treiben, um unverschämt zu erklären, dass man im namen der freiheit, der macht des vaterlandes, der kultur, der zivilisation, der revolution, der gerechtigkeit, des fortschritts, kurz und gut im namen verschiedener schönklingenden losungsworte lebende wesen vernichtet und kulturschätze zerstört, dazu gehört die verblendung und die fälschungssucht eines mit dem sprachlichen denken ausgestatteten wesens, eines wesens, welches seine sogenannten ideen in wörter einverleibt und dieselben in seine abgötze und moloche verwandelt.» Siehe auch Thorpe (1972: 33) zu «prevarication»: «This connotes the ability to lie or talk nonsense with deliberate intent. It is highly characteristic of the human species and hardly found at all in animals. Possible exceptions occur in the play of some mammals and a few birds, where we see what appear to be gestures, feints, and ruses designed to mislead»; ferner Owings & Morton (1998: 41 f., 204–211). – George Orwells Werk Animal Farm (1945), in dem Tiere einander durch Sprache manipulieren, ist selbstverständlich eine Überspitzung, die sich aus der literarischen Allegorie ergibt.
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begrenzte, aber dennoch durchaus repräsentative Auswahl aus der Vielzahl an antiken Dokumenten zu «Tiersprachen» darstellen, recht unterschiedlichen literarischen Gattungen zuzuordnen sind. Genre-Konventionen und damit verbundene darstellerische Intentionen haben in nicht unerheblichem Maße den Gehalt und Charakter der einzelnen Zeugnisse beeinflußt. Neben einer kritischen Überprüfung des Aussagewerts der hier vorgestellten Texte soll daher zugleich der Überlegung nachgegangen werden, inwiefern die Schilderungen von «Tiersprachen» Rückschlüsse auf die Anlage, die Art und Weise der Stoffpräsentation, die erzählerischen Strategien und den Gesamtcharakter eines Textes zulassen.
3.2 Aristoteles Im ersten Buch seiner Historia animalium leistet Aristoteles eine generelle Systematisierung der Tiere nach zahlreichen physiologischen, biologischen und sozialen Differenzierungskriterien wie z. B. ihren Lebensweisen, Aktivitäten und Lebensräumen, ebenso nach ihren charakterlichen Eigenschaften.19 In diesem Kontext nimmt er kurz eine Unterscheidung von stummen und stimmbegabten Tieren vor, ohne jedoch ein hinreichend klares Bild über Einzelheiten zu vermitteln.20 Erhellung liefert erst ein ausführlicherer Abschnitt im vierten Buch derselben Schrift, der eigens der Stimme von Tieren gewidmet ist (Hist. anim. IV 9 535a26–536b23):21 Tiere haben nur dann («Stimme»), wenn sie über einen bestimmten physiologischen Apparat verfügen, nämlich über Lunge und Pharynx. Was mit anderen Organen hervorgebracht wird, ist nicht , sondern lediglich « («Laut») wie z. B. bei Insekten, die Laute durch Membrane erzeugen, und bei Fischen (535b12–32) mit Ausnahme des Delphins, der dank seiner Lungen und Luftröhre besitzt, wenn auch wegen des Fehlens von Lippen keine gegliederte (535b33–536a3).22 Zu den Tieren mit Zunge und Lungen, die eine – wenn auch schwache – haben, gehören Schlangen, Schildkröten und Frösche. Das Quaken letzterer wird als eine Art Brunftschrei beschrieben, der im übrigen auch anderen Tieren wie Ziegen, Schweinen und Schafen zueigen sei (536a4–16). Bei den Vögeln kommen diejenigen der Äußerung von Sprache am nächsten, die entweder eine breite oder aber eine dünne, feine Zunge haben (536a20–32; ähnlich Part. anim. II 17 660a29-b2). Aufschlußreich sind in den betreffenden Passagen die folgenden ergänzenden Bemerkungen: (1) Bei manchen Vogelarten haben Männchen und Weibchen die19
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Zu Aristoteles als Zoologe, vor allem zu seiner Klassifikation von Tieren, siehe Pellegrin (1982) und Zucker (2005a, 2005b), ferner die Kurzüberblicke bei Dumont (2001: 225–258), Bouffartigue (2002: 136–140) und Giebel (2003: 61–68), jeweils mit weiterer Literatur. Siehe auch French (1994: bes. 42–53, 56–62). Aristoteles, Hist. anim. I 1 488a32–488b2: λ ξ , ξ Ν, ξ , λ ξ ! ξ $ , λ ξ " ξ #, # & 9 # Ν9 α ξ μ μ λ « (!"« # Ν 9 λ ). Zum folgenden ausführlich Dierauer (1977: 125–128), Ax (1978; 1986: 119–138), Zirin (1980), Tabarroni (1988: 111–113), Sinnott (1989: 23–28, 41–103), Labarrière (1993; 2004: 19–59) und Wille (2001: 814–998); siehe auch Steiner (2005: 61–76, bes. 74 f.). Zur Unterscheidung von « und siehe auch De anima II 8 420b5–421a6, bes. 420b5–11: π ξ κ « "« ,# ,!-α $! ./ξ ), $ /# ² ), 0 .μ« λ λ Ρ# Ν $! $ # ! λ « λ . , Ρ λ π κ 2# !. ξ 9 3 . !-# , 0 Ν λ ," 4!/« (λ 2# .«, 5 $ « "#"« "« ,# ² «).
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selbe Stimme, bei anderen verschiedene (geschlechtsspezifisches Kriterium). Eine geschlechtsbezogene Differenzierung in bezug auf die Stimme wird im weiteren Verlauf auch für alle anderen Tierarten zugrundegelegt. 23 (2) Die Größe eines Vogels ist entscheidend für Klangvariation und Häufigkeit des Gesangs: je kleiner, desto polyphoner und sangesfreudiger (physiologisches Kriterium). (3) Während der Paarungszeit singt jede Vogelart am meisten (zeitlich-saisonales Kriterium).24 (4) Bisweilen sind Äußerungen durch bestimmte Anlässe wie einen Kampf motiviert (situationales Kriterium). Die anatomisch-physiologischen Voraussetzungen hatte Aristoteles allerdings bereits im zweiten Buch der Historia animalium etwas präziser gefaßt als an dieser Stelle: Die Fähigkeit, Laute zu äußern, sei Vögeln vor allen anderen Tieren eigen, die in diesem Punkt gleich hinter dem Menschen rangierten. Doch seien es vor allem Vögel mit einer breiten Zunge, die über diese Gabe verfügten (Hist. anim. II 12 504a34-b3). Eine «sprachliche» Äußerung («) ist für Aristoteles die Artikulation ( / #«) von mit Hilfe der Zunge.25 Dabei werden Vokale mittels Stimme und Larynx produziert, Konsonanten mit Hilfe einer hinreichend beweglichen Zunge und der Lippen (Hist. anim. IV 9 535a31-b3; Part. anim. II 16–17 659b27–660a29). Des weiteren bemerkt Aristoteles, daß die Stimme () sich vorrangig durch unterschiedliche Tonhöhen unterscheide, ansonsten aber innerhalb einer Tierart konsistent sei. Die gegliederte Stimme (π # , )« Ν / «, 6 Ν « —# 5 ) sei hingegen von Tierart zu Tierart anders, und selbst die Vertreter derselben Tierarten verfügten je nach Ort über verschiedene ; damit existierten regionale Varianten von «sprachlichen» Äußerungen derselben Tierarten, ähnlich wie beim Menschen (diatopisches Kriterium). Als Beispiel werden Wachteln angeführt, deren Artikulation von einer Gegend zur anderen divergiere (Hist. anim. IV 9 536b8–14). 26 Daß zudem im Gegensatz zu der durch Training formbaren « von Natur aus (#) gegeben sei, veranschaulicht Ari-
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Hist. anim. IV 11 538b13–15: λ λ « , / λ (7- , κ :«, Ρ# ! α ¹ ξ :« : / ¹ / $ . Weiter ausgeführt in Hist. anim. V 14 544b32–545a21, allerdings ergänzt durch ein altersspezifisches Kriterium; siehe auch Gen. anim. V 7 786b7–788b2. Siehe auch Hist. anim. IX 49B 632b14–633a28, woraus zumindest der Anfang (632b14–21) zitiert sei: # ( :-# « — « λ μ ! λ κ , 0 ² -« $λ « 7/«, λ κ κ 5#! $"α , ξ 9 / Ν 9, 2 ξ !«
) λ / / -:«. : ξ λ π "! μ ! α 2 ξ !« 2 ξ / -« " λ μ .! 5#!α κ κ .ξ :. Auch in diesem Passus wird hervorgehoben, daß Vögel während der Paarungszeit am häufigsten und variantenreichsten singen (633a10 f.). Zu dem Terminus / #« siehe Zirin (1980: 336): «The notion of / #«, articulation, is to be taken quite literally here. ; / #« is based upon Ν / , ‹joint›. Pure voice is indivisible, but speech is voice which has been provided with ‹joints› in the form of consonants through the action of the tongue and lips. The result of this ‹jointedness› is that speech is divisible into a series of discrete units.» Der Aristoteles-Schüler Theophrast scheint sich mit diesem Aspekt näher befaßt zu haben. Für ihn ist P λ < "« (9 3) ² als Titel eines zoologischen Werks überliefert (Diogenes Laertios 5.43; Athenaios, Deipn. 9.43 390a). Auch Theophrast hat offenbar Wachteln als ein Beispiel für lokale Lautvariation angeführt, wie Aelian in De nat. anim. 3.35 bemerkt: P " / ‘ . # ω $#« 4 , $ # . λ #A/#" ¹ , 2 K - - Ν !2#, λ ¹ , " Ν. " ,# )« /# (, , ) @ #«. , ξ 9 B"9 λ 9 $ « E. "9 ²" 4# λ ³« ω 5 « ² (ähnlich Athenaios, Deipn. 9.43 390a). Zu Einzelheiten siehe Sharples (1995: 43, 51–58).
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stoteles am Beispiel einer Nachtigall, die ihr Junges im Gesang unterrichtet (Hist. anim. IV 9 536b17–19, siehe Anm. 58). Es zeigt sich, daß nach der Darstellung der Historia animalium sowohl Menschen als auch manche Vögel, die bestimmte anatomisch-physiologische Voraussetzungen aufweisen, im Besitz von « sind. Doch mögen gewisse Tierarten auch über Stimmen verfügen, die auf eine differenziertere Kommunikation hindeuten, so handelt es sich gleichwohl nicht um Äußerungen, die der menschlichen Sprache («) in jeder Hinsicht gleichkämen. «Sprechende» Vögel wie der Papagei, der allgemein als «mit einer menschlichen Zunge ausgestattet» ($/ ) bezeichnet werde, werden im weiteren Verlauf der Schrift der Gruppe der Lebewesen zugeordnet, die eine imitative Begabung () aufweisen (Hist. anim. VIII 12 597b25–28).27 Schon daran wird deutlich, daß solchen Tieren keine menschliche Sprache im eigentlichen Sinne zugeschrieben wird, die mit einer aktiven, selbständigen Generierung von Äußerungen verbunden wäre. Daß zudem der Papagei nicht notwendigerweise auch selbst als $/ « eingestuft wird, zeigt sich an dem Zusatz μ («der allgemein so bezeichnete»). Über tatsächliche Sprachbegabung verfügen laut Aristoteles ausschließlich Menschen, allerdings nicht solche, die von Geburt an taub sind; zwar besäßen auch Gehörlose , jedoch keine Sprache («)28 – ähnlich wie Kinder, die noch keine Kontrolle über ihre Zunge hätten. Zu der Sozialisation des Menschen gehöre der allmähliche Spracherwerb, der als schrittweise Einübung der Zungenbewegung und damit als Überwindung von unkontrollierter Artikulation (", -") zu sehen sei (Hist. anim. IV 9 536a33-b7).29 Hinzu kommt ein semiotischer Aspekt: Wie aus der Definition des C in De interpretatione (2 16a19–29) und des #!) in der Poetik (20 1456b22–25 und ff.) ersichtlich, ist menschliche Sprache für Aristoteles zum einen aufgrund ihrer Konventionalität, zum anderen wegen der Kombinationsfähigkeit sprachlicher Laute zu komplexeren Einheiten von den Formen tierischer Kommunikation abzuheben. Er erkennt Tieren weder ( noch #: zu, auch wenn sie durchaus zu einem #" imstande seien; die Bedeutung tierischer Zeichen beruht allerdings nicht wie bei menschlichen #: auf willkürlicher Zuordnung, sondern scheint gleichsam # zu sein, so bei Äußerungen von Emotionen.30
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Es sei allerdings der Vollständigkeit halber angemerkt, daß die Echtheit des siebten bis zehnten Buches der Historia animalium und damit auch der hier behandelten Stelle bezweifelt wurde; dazu Sharples (1995: 33–35), mit weiterer Literatur. Hist. anim. IV 9 536a33-b7; siehe auch Gen. anim. V 7 786b20–22: # « (i.e. )« $/ 3 «) κ $ π #« 9 9 ! #/ -« 9 3 , 2 ξ - D ρ κ . Ähnlich Plinius, Nat. hist. 10.192: auditus cui hominum primo negatus est, huic et sermonis usus ablatus, nec sunt naturaliter surdi, ut non iidem sint et muti. Antike griechische Zeugnisse zu Sprachbehinderungen und Taubheit behandelt Martha L. Rose, The Staff of Oedipus. Transforming Disability in Ancient Greece, Ann Arbor 2003, 50–78. Dazu ausführlicher Ax (1978: 262–269; 1986: 129–137), der allerdings mit Recht darauf verweist, daß sich die Sache nicht ganz eindeutig verhält – zumindest nicht bei Tieren mit «. Vor allem der Passage Hist. anim. IV 9 536b14–19 (siehe oben) lasse sich entnehmen, daß auch den " und der Vögel das Merkmal der Konventionalität innewohnt (Ax 1978: 265 f.; cf. Labarrière 1993: 254–256). Andererseits ist zu konstatieren, daß sich Inkongruenzen vor allem terminologischer Art auch für Aristoteles nicht ausschließen lassen und somit die hier gezogenen Schlüsse nicht grundsätzlich in Zweifel zu stellen sind.
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Daß « etwas spezifisch Menschliches ist, hat laut Aristoteles nicht nur physiologische und semiotische Gründe, sondern vor allem eine ethische Komponente, wie er zu Beginn der Politik darlegt: Stimme (), die Emotionen wie Schmerz und Freude anzeige, sei zwar auch anderen Lebewesen verliehen; doch über Sprache («), die einen Austausch über Wertmaßstäbe wie Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit oder Nützliches und Schädliches ermögliche, verfüge allein der Mensch. Diese Position impliziert, daß manche Tiere wie Vögel zwar zur Übermittlung von Informationen durchaus in der Lage sind, also über « verfügen, 31 daß sie jedoch keine ethischen und damit politischen Inhalte diskutieren. Es ist somit Sprache als kulturstiftende und gesellschaftsbildende Kraft, die den Menschen in herausragender Weise zu einem 9 macht. 32 Damit verbunden ist seine Fähigkeit zu rationaler Überlegung und zu nachhaltiger Erinnerung; zwar gebe es Tiere, die über Gedächtnis () und Lernfähigkeit (!) verfügten, ein ausgeprägtes Erinnerungsvermögen sei jedoch dem Menschen vorbehalten.33 Das Gleiche gelte für sittliche Einsicht (NE VI 13 1144b).
3.3 Die Stoiker Der Stoiker Diogenes von Babylon (ca. 240–150 v. Chr.) ist der Verfasser einer Schrift P λ «. Wie bei Diogenes Laertios überliefert, definiert Diogenes den Begriff als eine Erschütterung der Luft oder die dem Gehörsinn zukommende Wahrnehmung.34 Menschliche Stimme unterscheidet sich von der tierischen in zweierlei Hinsicht: Sie wird zum einen nicht lediglich durch einen natürlichen Impuls (G μ ² «) hervorgebracht, sondern durch eine Verstandesleistung ($ μ «); zum anderen ist sie gegliedert ( / «). Interessant ist der Zusatz, daß sie ihre Reife mit dem Alter von vierzehn Jahren erreicht; damit wird unterstrichen, daß der Mensch nicht von Geburt an über eine ar-
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Der Begriff « tritt in diesem Abschnitt bezeichnenderweise gar nicht auf; siehe dazu Zirin (1980: 344). Pol. I 2 1253a7–18: ; ξ μ ² Ν/ « 9 #« "« λ μ« $"9 3 - », . O./ξ , ³« , π #« )α ξ Ν/ « ! 9 3 α π ξ σ κ 2 - 2 λ π« ,#λ #), μ λ )« Ν« G ! 9 3 «α ! - π #« . ,-/, 2 ! 5#/# - 2 λ π« λ 2 #" $«α ² ξ « , λ 9 2 ,# μ #- λ μ :: , —# λ μ " λ μ Να 2 μ« Θ 9 )« $/ 3 « 5, μ $/2 λ 2 λ "- λ $"- λ Ν 5#/# !α π ξ "
) 4" λ . Zum Fehlen einer Differenzierung von « und in diesem Passus siehe Sinnott (1989: 78): «Aristoteles berücksichtigt hier die in den biologischen Werken eingeführte Unterscheidung zwischen artikulierter und unartikulierter Stimme nicht, aber man kann wohl annehmen, daß die an dieser Stelle genannte tierische Stimme die zwei Varianten – die artikulierte und die unartikulierte – enthält und daß der Begriff von Sprache den artikulierten Ausdruck als eine Komponente umfaßt.» Hist. anim. I 1 488b24–27: :--μ ξ Ν/ « ,# 9 3. λ « ξ λ !« ), $##/ # .ξ Ν κ Ν/ «. Ausführlicher Met. A 1 980a27-b29. Siehe auch Mem. 449b28–30, 450a15–20 und 453a5–13; dazu Richard Sorabji, Aristotle on Memory, London 1972, bes. 40 f., 77–79, ferner Sorabji (1993: 50 f., 94 f.). Aus Raumgründen ist der nachfolgende Überblick zur Stoa sehr verknappt und vereinfacht. Es sei daher auf die ausführliche Darstellung bei Ax (1986: 138–211) verwiesen, der zugleich ältere Literatur zum Thema zu entnehmen ist. Einen Kurzüberblick gibt Gentinetta (1961: 94–102); siehe auch Dierauer (1977: 234–238).
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tikulierte verfügt, sondern in dieser wie in anderer Hinsicht einen Entwicklungsprozeß durchläuft.35 Von der werden im weiteren Verlauf zwei Termini abgesetzt, nämlich 7« und «. Eine aus Buchstaben zusammengesetzte und damit gegliederte Stimme (κ , «) bildet im Gegensatz zu einem bloßen Schall (J!«) eine Äußerung (7«). Doch ist nicht jede 7« bedeutungstragend (#«): Eine gegliederte Lautäußerung wie z. B. :"- hat keine Bedeutung und damit nicht den Status eines «. Aus diesem Grunde ist eine Lautäußerung ( #/) von einer bedeutungstragenden Aussage (), die durch eine Verstandesleistung zustandekommt, abzusetzen.36 Der Begriff « tritt freilich auch in der von Diogenes Laertios referierten stoischen Lehre auf, hat aber aufgrund seiner enger gefaßten Definition als nationalund regionalsprachliche Varianten der 7« eine andere Bedeutung als in den zuvor diskutierten Passagen des Aristoteles.37 Zusammenfassend läßt sich folgendes feststellen: Der Mensch ist deshalb sprachbegabt, weil er im Gegensatz zum Tier ein vernunftbegabtes Wesen ist. Tieren ist keine begriffliche Vorstellung gegeben, so daß sie lediglich Laute hervorbringen, die durch natürliche Impulse evoziert sind. Diese Konzeption von Sprache ist eine Konsequenz der stoischen Anthropologie, die so nachdrücklich wie keine andere philosophische Schule der Antike die Vernunftlosigkeit der Tiere postuliert und allein dem Menschen Vernunft zuschreibt. Damit ist eine gegenüber Aristoteles eindeutigere grundlegende Trennung von menschlicher Sprache und tierischen Verlautbarungen gegeben, die aber (soweit ersichtlich) außer acht läßt, daß Artikulation nicht allein auf die menschliche Stimme begrenzt ist; darüber hinaus ist der von Aristoteles herausgearbeitete Aspekt des bedeutungshaften Charakters (#") menschlicher wie auch tierischer Äußerungen ausgespart. Eine vergleichbare Systematik findet sich bei Chrysippos von Soloi (ca. 280–208/04 v. Chr.), dem Lehrer des Diogenes von Babylon. Wie Varro im sechsten Buch seiner Schrift De lingua Latina berichtet, seien für Chrysippos sowohl bestimmte Vögel wie Raben und Krähen38 als auch Kinder nicht in der Lage, echte Wörter zu produzieren, da sie nicht wissen, wie sie ihre Laute richtig anordnen sollen – oder anders gesagt: weil sie keine Syntax 35
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Diogenes Laertios 7.55: # ξ κ $κ « ν μ 5 4#/μ $«, —« # ;« ² B:-3« , 9 P λ « !9 . 9 3- ,# κ $κ G μ ² «
«, $/ 3 - # # / « λ $ μ "« , , ³« ² ;« #", M« $ μ ## , 2. Diogenes Laertios 7.56: 7« ,#, —« # ;«, κ , «, 0 NH . « ,# κ #κ $ μ "« , , 0 NH ,#. Weiter ausgeführt in 7.57: ξ κ λ 7«, Ρ κ ξ λ ² J!« ,#, 7« ξ μ / . 7« ξ - , Ρ « $λ #« ,#, 7« ξ λ Ν#«, ³« π :"- , « ξ .«. ξ λ μ 2 #/α ξ ¹ ", ξ , ψ κ λ -!. Diogenes Laertios 7.56: « ,# 7« ! ,/« λ NE«, ν 7«
, -# , 0 ξ κ #A/" @, ξ κ #I NH . Dazu Gentinetta (1961: 100), Ax (1986: 201, 210) und Anna Morpurgo Davies, The Greek notion of dialect, in: Thomas Harrison (Hrsg.), Greeks and Barbarians, New York 2002, 161 f. mit Anm. 18 (zuerst in: Verbum 10 [1987], 7–27). Zu Recht verweist allerdings Ax (1986: 128 Anm. 45, 202) darauf, daß bereits in Hist. anim. IV 9 536b8–14 (s. o.) der Begriff « im Sinne einer diatopischen Sprachvarietät aufgefaßt wird. Diese Vögel galten vor allem in der römischen Antike als besonders sprechfreudig, wie z. B. Plinius, Nat. hist. 10.121–124 und Macrobius, Sat. 2.4.29 f. belegen. Dazu ausführlicher Keller (1893: bes. 5 f., 13) und Schmidt (2002: bes. 130 f., 155), ferner Pollard (1977: 25–27) und Sauvage (1975: 185–191).
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haben. Vogellaute und die Laute von Kindern befinden sich demnach auf derselben Ebene: in beiden Fällen handelt es sich nicht um ein wirkliches Sprechen (loqui ), sondern nur um ein Quasi-Sprechen (ut loqui ), weil zum einen keine rationale Motivation hinter der Lautproduktion steht und zum anderen kein Bewußtsein für die korrekte serielle Positionierung des Lautmaterials existiert.39 Impliziert ist hierbei eine Trennung zwischen reiner stimmlicher Äußerung (« «) und sinnhafter, auf Rationalität beruhender innerer Sprache (« ,/«). Nur der vollentwickelte Mensch ist in der Lage, seine hörbaren Lautäußerungen mit inneren Konzepten zu verknüpfen. Demgegenüber verfügen Kinder wie auch Vögel lediglich über « «, nicht jedoch über « ,/«. 40 Diese Differenzierung liegt auch in der bereits behandelten Passage bei Diogenes Laertios vor, in der von #/ abgehoben wird (7.57, siehe Anm. 36). Auf einer primitiven Ebene verfügen Tiere jedoch nach stoischer Lehre durchaus über Formen der Kommunikation, vor allem im Falle symbiotischer Verhältnisse. Wie Chrysippos offenbar im fünften Buch seiner Schrift über das Gute und die Lust darlegte, wird die Steckmuschel ( ", lat. pina) vom Seekrebs durch einen Biß darauf aufmerksam gemacht, wann sie ihre Schalen zuklappen soll, um die dazwischen befindlichen kleinen Fische zu fangen und diese dann mit dem Krebs zu teilen. Eine solche gemeinsame Strategie der Nahrungsbeschaffung sei, wie in dem bei Cicero berichteten Beispiel hinzugefügt wird, angesichts der Verschiedenheit der beiden Tiere bemerkenswert. Darüber hinaus wird die Frage aufgeworfen, ob diese Form der Symbiose von Natur aus (also schon immer) bestehe oder aber auf einer Art Übereinkunft basiere und sich erst im Laufe der Zeit (modern gesprochen: der Evolution) herausgebildet habe.41 Bei aller Bewunderung für verschiedene Einrichtungen innerhalb der Tierwelt kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, daß für die Stoiker derartige Phänomene nicht-lautlicher, non-verbaler Kommunikation bei Tieren mit Sprache nichts zu tun haben. Seneca äußert sich später zu den entscheidenden Punkten folgendermaßen: Tiere verfügen trotz ihrer fehlenden Sprachbegabung durchaus über Fähigkeiten, die der Lebenserhaltung dienen (Epist. 121.24).42 Daß ihre Stimme nicht zu mehr als reinen Lautäußerungen imstande ist, hat physiologische Gründe: ihre Zunge ist im Gegensatz zu der des Menschen nicht hinreichend beweglich. Ebenso ist ihr seelisches Zentralorgan (π, im Lateinischen wiedergegeben als principale), das beim Menschen für das Zustandekommen sinntragender 39
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Varro, De lingua Latina 6.56: Loqui ab loco dictum. Quod qui primo dicitur iam fari vocabula et reliqua verba dicit ante quam suo quique loco ea dicere potest, hunc Chrysippus negat loqui, sed ut loqui: quare ut imago hominis non sit homo, sic in corvis, cornicibus, pueris primitus incipientibus fari verba non esse verba, quod non loquantur. Igitur is loquitur, qui suo loco quodque verbum sciens ponit, et is tum prolocutus, quom in animo quod habuit extulit loquendo. Dazu u. a. Ax (1986: 182 f.) und Sorabji (1993: 81; 1997: 369 f.), letzterer mit Verweis auf moderne Diskussionen über die Frage nach dem Vorhandensein von Syntax in «Tiersprachen», ferner Hellfried Dahlmann, Varro und die hellenistische Sprachtheorie, Berlin & Zürich 21964, 41 f. (mit früherer Literatur). Zu diesen beiden Termini siehe Mühl (1962: bes. 8–16), Matelli (1992), Glidden (1994: bes. 133–136) und Labarrière (1997). Cicero, De off. 2.123 f. (= SVF II 729): Pina vero – sic enim Graece dicitur – duabus grandibus patula conchis cum parva squilla quasi societatem coit comparandi cibi; itaque cum pisciculi parvi in concham hiantem innataverunt, tum admonita a squilla pina morsu conprimit conchas: sic dissimillimis bestiolis communiter cibus quaeritur; in quo admirandum est, congressune aliquo inter se an iam inde ab ortu natura ipsa congregatae sint. Siehe auch Athenaios, Deipn. 3 89d (= SVF II 729a): ² ξ « (…) .κ —# #", ferner Plutarch, De soll. 30 980a-b (= SVF II 729b). Zum Instinktgedanken und zur Oikeiosis-Lehre bei den Stoikern siehe insbesondere Dierauer (1977: 199–224; 1998: 63–69) und Sorabji (1993: 122–133).
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Sprache verantwortlich ist, zu wenig fein ausgebildet und entwickelt.43 Manche Tiere mögen den Menschen durch ihre Stimmqualität übertreffen wie z. B. der Hund durch seine größere Lautstärke, der Adler durch seine größere Schärfe, der Stier durch seine Stimmgewalt oder die Nachtigall durch ihren anmutigen Klang; doch führt das Fehlen von Vernunft (ratio), die den Menschen in die Nähe der Götter rückt und bei rechter Anwendung ein erfülltes Leben bewirkt, bei diesen Tieren nie zum Besitz von echter Sprache (Epist. 76.9 f.). Ein solches Konzept, das mit einer tiefgreifenden prinzipiellen Trennung von Mensch und Tier einhergeht, blieb nicht unwidersprochen. Die folgenden Autoren haben besonders eingehend zum Status des « « und des « ,/« Stellung bezogen:44 Plutarch (ca. 45–125 n. Chr.) vor allem in seinen Schriften De sollertia animalium und Bruta animalia ratione uti, ferner Sextus Empiricus (fl. Ende des 2. Jh. n. Chr.)45 sowie Porphyrios (ca. 234–305 n. Chr.) im dritten Buch seines Traktats De abstinentia. Exemplarisch sei hier lediglich eine Passage aus Plutarchs De sollertia animalium herausgegriffen (19 973a-e): Stare, Krähen und Papageien, die sprechen zu lernen vermögen, seien ein Beispiel dafür, daß auch sie über « « und eine gegliederte Stimme (κ / «) verfügen. Plutarch verweist auf Aristoteles’ Schilderung der Lernfähigkeit von Nachtigallen (s. o.) und ergänzt eine Anekdote über einen Eichelhäher ("), der alle möglichen Laute – und zwar menschliche Sprache ($/ 3 - T) ebenso wie Tierlaute (/ " /-«) und den Klang von Musikinstrumenten (-« ( ) – nachahmen konnte. 46 Nachdem dieser Vogel bei einem Begräbnis Trompetenmusik vernommen hatte, sei er für geraume Zeit verstummt. Er habe jedoch, anders als zunächst angenommen wurde, keineswegs seine Stimme oder sein Gehör verloren, sondern während der Phase seines Schweigens innerlich die Imitation des Trompetenklangs eingeübt, den er nach einer Weile präzise wiedergab. Diese Geschichte sieht Plutarch als einen Beleg dafür an, daß für eine solche Form der Selbstinstruktion die bloße Bereitschaft zum Lernen nicht ausreicht, sondern eine rationale Leistung hinzukommen muß – und zwar eine Bewerkstelligung, die aufgrund einer bewußten Auswahl dessen, was geäußert wird, über blinde Imitation hinausgeht. 47 Dieser Sichtweise zufolge ahmen Vögel also nicht beliebig Laute nach, sondern stellen eine innere Reflexion darüber an, was sie konkret «äußern» wollen. Plutarchs Position, daß auch Tiere Vernunft haben, steht der stoischen Lehre klar entgegen und bringt eine Reihe von Konsequenzen mit sich, insbesondere für die Haltung und den
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Seneca, De ira 1.3.7: Nulli nisi homini concessa prudentia est, providentia, diligentia, cogitatio nec tantum virtutibus humanis animalia sed etiam vitiis prohibita sunt. Tota illorum ut extra ita intra forma humanae dissimilis est; regium est illud et principale aliter ductum. Ut vox est quidem sed non explanabilis et perturbata et verborum inefficax, ut lingua sed devincta nec in motus varios soluta, ita ipsum principale parum subtile, parum exactum. Dazu u. a. Tabarroni (1988: 108–111), Sorabji (1993: 81–84), Glidden (1994: bes. 136–148) und Labarrière (1997); siehe auch Steiner (2005: 100 f., 107 f.). Siehe Sextus Empiricus, Pyrrh. hyp. 1.62–78 (bes. 1.73–77) und Adv. math. 8.275 f., 8.285–288. Siehe auch Aristoteles, Hist. anim. IX 13 615b19 f.: π ξ " « ξ : "#« (/# <# ³« 4 ) π Ν $"#). Das Beispiel des Eichelhähers ist auch bei Sextus Empiricus angeführt (Pyrrh. hyp. 1.73): (…) # ξ ² , λ U ² «, λ $/ "« «, ³« "« λ Ν . Plutarch, De soll. 19 973d-e: (…) Ν##« ³« λ $!3 #« 4« <-μ 2 2, / C ,7 -- κ κ λ #-«α Ν σ/« V λ $ .ξ #-/ λ ,", $ # " .)« « / λ :« #« λ - 72# « T-/«α —#, Ρ , « ./"« ρ κ ./ , .)«.
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Umgang des Menschen mit Tieren.48 Dies schließt auf moralischer Ebene ein, daß sich der Mensch Tiere durchaus zunutze machen kann, ihnen gegenüber jedoch keine Rücksichtslosigkeit oder Grausamkeit anwenden soll.
3.4 Plinius der Ältere: Naturalis historia Über Plinius den Älteren und seine in der Naturalis historia angeblich zum Ausdruck kommende mangelnde Selbständigkeit und blinde Sammelwut las man lange Zeit geradezu vernichtende Urteile (Bodson 1986: 107 f.), so beispielsweise bei Arthur Schopenhauer, Theodor Mommsen oder Eduard Norden. Erst in den letzten Jahren hat man sich stärker darum bemüht, die Eigenart der Darstellung des Plinius zu erfassen und ihn selbst weniger voreingenommen zu sehen. 49 Kein zweiter römischer Autor hat jedenfalls ein so breites Spektrum an Wissensbeständen aus dem Bereich der Naturwissenschaften zusammengetragen und vermittelt damit einen wichtigen Einblick in die Wissenskultur der frühen Kaiserzeit. Zugleich durchzieht die Naturalis historia eine moralische Komponente. Aufschlußreich für die hier verfolgte Fragestellung sind neben der in der sogenannten Anthropologie (Buch 7) angesiedelten Debatte über den Menschen als Mängelwesen50 vor allem das achte Buch zu Landtieren und das zehnte Buch zu Vögeln, aber auch das elfte Buch zu Insekten. Unter die zumindest passiv sprachbegabten Tiere rechnet Plinius nicht allein diverse Vogelarten, sondern auch Elefanten und Löwen. Mit einer umfangreichen Beschreibung des Elefanten beginnt das achte Buch der Naturalis historia (8.1–34; siehe Scullard 1974: 208–218; French 1994: 216–218; Giebel 2003: 87–94; Mastrorosa 2003). Der Elefant sei das größte unter den Landtieren und zudem dem Menschen an Sinn und Verstand am nächsten; daher verstehe er die in seinem Land gesprochene Sprache, sei folgsam und gelehrig und verfüge sogar über gewisse moralische Tugenden.51 Plinius referiert unter Berufung auf
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Siehe Newmyer (1992, 1999, 2005), Santese (1994), French (1994: 178–184), Dumont (2001: 350–365), Giebel (2003: 198–208), Goguey (2003: 87–89, 92), Steiner (2005: 93–103) und Gilhus (2006: 44–52). Hier kann, zusätzlich zu dem Hinweis auf Beagon (1992) und French (1994: 196–255), nur eine kleine Auswahl zentraler Publikationen aufgeführt werden: Guy Serbat, Pline l’Ancien. État présent des études sur sa vie, son œuvre et son influence, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II 32.4 (1986), 2069–2200. – Roger French & Frank Greenaway (Hrsg.), Science in the Early Roman Empire. Pliny the Elder, his Sources and Influence, London & Sydney 1986. – John F. Healy, Pliny the Elder on Science and Technology, Oxford 1999. – Valérie Naas, Le projet encyclopédique de Pline l’Ancien, Roma 2002. – Trevor Murphy, Pliny the Elder’s Natural History. The Empire in the Encyclopedia, Oxford 2004. In bezug auf die menschliche Sprachbegabung heißt es in Nat. hist. 7.4 pointiert: hominem nihil scire sine doctrina, non fari, non ingredi, non vesci, breviterque non aliud naturae sponte quam flere. Mit ungefähr sieben Jahren sei der Mensch in der Lage, sich sprachlich voll zu artikulieren (Nat. hist. 11.174); seine Stimme erreiche ihre volle Kraft mit vierzehn Jahren (Nat. hist. 11.270). Als bemerkenswert wird allerdings die Vielzahl der Sprachen hervorgehoben: sermones, tot linguae, tanta loquendi varietas, ut parvum dictu, sed inmensum aestimatione, tot gentium externus alieno paene non sit hominis vice (Nat. hist. 7.7). Plinius, Nat. hist. 8.1: Maximum est elephans proximumque humanis sensibus, quippe intellectus illis sermonis patrii et imperiorum oboedientia, officiorum, quae didicere, memoria, amoris et gloriae voluptas, immo vero, quae etiam in homine rara, probitas, prudentia, aequitas, religio quoque siderum solisque ac lunae veneratio. Zu ihrem Schamgefühl (pudor) siehe Nat. hist. 8.12 f., zu ihrem Gerechtigkeitsempfinden (iustitia) siehe Nat. hist. 8.15. Von einer Art Gemeinsamkeit des Elefanten mit dem Menschen (quandam … cum genere humano societatem) spricht Cicero, Ad fam. 7.1.3. Siehe auch French (1994: 217): «Pliny obviously approved of the elephant and in projecting human traits to it made it almost a model Roman».
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den früheren Konsul C. Licinius Mucianus einen Fall, bei dem ein Elefant das Schreiben in griechischer Sprache erlernt haben soll (Nat. hist. 8.6 [= HRR fr. 12]), ohne dabei zu hinterfragen, wie dies rein anatomisch möglich gewesen sein soll; es ist nicht einmal angedeutet, daß der Elefant zum Schreiben möglicherweise seinen Rüssel benutzt haben könnte. Die Stelle ist ein Beispiel dafür, daß Plinius bisweilen recht unkritisch mit seinen Quellen umgeht und Informationen ganz unterschiedlichen Charakters unkommentiert aneinanderreiht. Für Löwen (Nat. hist. 8.41–58) berichtet Plinius, daß diese den Sinn menschlicher Bitten und Besänftigungsversuche verstünden und Milde gegen Flehende zeigten, insbesondere wenn es sich um Frauen handele. Dafür führt Plinius den Erfahrungsbericht einer namentlich nicht genannten Gefangenen an, die in Wäldern von Löwen angefallen worden sei und diese erfolgreich mit dem Hinweis auf ihr schwaches Geschlecht besänftigt habe. Der sich anschließende Kommentar zeigt jedoch, daß dieser eine Beleg Plinius nicht dafür ausreicht, das Verhalten der Löwen in diesem konkreten Einzelfall als allgemeingültig zu bezeichnen; da weitere empirische Belege fehlten, schließt er nicht aus, daß es sich genauso um einen Zufall gehandelt haben könnte (Nat. hist. 8.48). Immerhin steht für ihn fest, daß man die Stimmung (animus) von Löwen an ihrem Schwanz erkennen könne: keine Bewegung bedeute Sanftmut, geringe Bewegung signalisiere Schmeichelei, heftiges Schlagen des Schwanzes trete bei Wut auf (Nat. hist. 8.49; ähnlich 11.137 in bezug auf die Ohren von Pferden und Lasttieren, die indicia animi seien). List und Argwohn seien ihnen fremd; daher trete bei ihnen auch kein schielender Blick auf (Nat. hist. 8.51 f.). Einem letztlich nicht identifizierbaren Tier, das als leucrocota bezeichnet wird und dessen Körperteile im einzelnen an Wildesel, Hirsch, Löwe und Dachs erinnern sollen (Nat. hist. 8.72), wird die Fähigkeit zur Nachahmung der menschlichen Stimme zugeschrieben. In diesem Punkt hat die leucrocota eine Ähnlichkeit mit Hyänen, die ihrerseits ihre angebliche imitative Gabe zu dem Zweck verwenden, Menschen aus ihren Behausungen zu locken und sie dann zu zerreißen; die Sprachbegabung dieser Tiere hat also für den Menschen etwas Bedrohliches. Doch leitet Plinius diese Darstellung mit dem Hinweis darauf ein, es würde viel Seltsames (multa mira) über Hyänen erzählt, und stellt damit die Glaubwürdigkeit derartiger Berichte in Frage (Nat. hist. 8.106). 52 In eine ähnliche Kategorie gehören für Plinius auch die beiden Zeugnisse zu sprechenden Tieren als Vorzeichen (prodigia), die in einem politischen Kontext stehen: Die Entthronung des Königs Tarquinius sei u. a. durch einen sprechenden Hund und eine bellende Schlange angekündigt worden (Nat. hist. 8.153). Als ein «Vorzeichen der Alten» (prodigiis priscorum) wird ein sprechender Ochse aufgeführt; dieses prodigium habe den Senat veranlaßt, seine Sitzungen unter freiem Himmel abzuhalten. 53 Eine solche Form der Sprechfähigkeit von Tieren im Rahmen von Omina signalisiert geradezu eine Widernatürlichkeit, eine verkehrte Welt, in der ein Unheil droht; derlei Ausnahmesituationen implizieren zugleich das Wirken übermenschlicher Mächte.
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Parallelstellen (dort aber [] , nicht leucrocota): Aelian, De nat. anim. 7.22; Dalion, FGrHist 666F1; Porphyrios, De abst. 3.4.5. Diodor 3.35.10 stuft den Bericht ebenfalls als abstrus ein; cf. Aelian, De nat. anim. 7.22: 4 λ -/« μ 4 . Zu sprechenden Ochsen beispielsweise auch Livius 3.10.6, 24.10.10, 27.11.4, 35.21.4, ferner Valerius Maximus 1.6.5 und Tacitus, Hist. 1.86.1. Siehe auch Arnobius, Adv. nat. 7.9 (zum Kontext Gilhus 2006: 151–154).
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Zu den Tieren, die als auch aktiv sprachbegabt beschrieben werden, kommt Plinius in seinem zehnten Buch, das der Beschreibung verschiedener Vogelarten54 gewidmet ist. Er führt in der Buchmitte zunächst zwei Beispiele für Vögel an, die die Stimmen anderer Tiere zu imitieren imstande sind: der sogenannte «Stier» (gemeint ist wohl die Rohrdommel), der das Brüllen von Rindern nachahmt, sowie der anthos (vielleicht die Schafstelze; cf. Robert 1911: 62 f.; Thompson 21936: 51 f.; Pollard 1977: 52 f.), der das Gewieher von Pferden imitieren soll (Nat. hist. 10.116). Ausführlicher spricht Plinius dann über Vogelarten, die die menschliche Stimme nachahmen und zum Teil sogar sprechen (der hier verwendete Terminus ist sermocinari ) wie beispielsweise Papageien, Elstern und Raben (Nat. hist. 10.117–124). Als physiologischen Grund für diese Art der Sprachbegabung verweist Plinius, offenbar in Anlehnung an Aristoteles (s. o.), auf die breiteren Zungen dieser Vögel. Dafür, daß sie sich Wörter und zum Teil auch längere Wortgruppen aneigneten, sei jedoch außerdem eine bestimmte Lehrmethode erforderlich: Das Sprechtraining solle idealerweise an einem abgeschiedenen, ruhigen Ort erfolgen, an dem die Vögel nicht durch andere Stimmen abgelenkt würden. Ein wiederholtes Vorsprechen der Wörter, die die Tiere lernen sollen, müsse von Belohnungen durch Futtergaben begleitet werden. Auffällig ist bei Plinius, daß manche Tiere in seiner Darstellung geradezu vermenschlicht sind. Hatte er den Elefanten bereits gewisse moralische Qualitäten zugeschrieben, die sonst nur Menschen zueigen sind (s. o.), so sind seine Ausführungen zur Nachtigall55 (Nat. hist. 10.81–85) nahezu durchweg von einer anthropomorphisierenden Herangehensweise getragen. 56 Die Sangesleistung und Musikalität dieses Vogels sei, vor allem angesichts seiner geringen Körpergröße, derart beeindruckend, daß man sie als ars bezeichnen müsse. Dementsprechend geht Plinius davon aus, daß der Gesang von Nachtigallen in einem aufwendigen Verfahren erlernt wird, und unterstreicht diese Position mit der kurzen Schilderung einer Gesangsstunde, bei der die Vogellehrerin ihre Schülerin tadele und die Schülerin sich im Gegenzug um eine Verbesserung ihrer Leistung bemühe. Zudem fänden öffentliche Gesangswettbewerbe statt, bei denen es hitzig zugehe.57 Auch Aristoteles bemerkt kurz, daß man beobachtet habe, wie eine ältere Nachtigall ihr Junges im Gesang unterwies; doch fehlt bei ihm jegliche Ausgestaltung dieses Berichts und ebenso eine Anthropomorphisierung der Vögel.58 54
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Zu Vögeln in der Antike, einschließlich ihrer Beliebtheit als Haustiere, siehe vor allem Keller (1913: 1–246), ferner Giebel (2003: 129–134), Jennison (1937: 99–121), Toynbee (1973: 237–282) und Pollard (1977); cf. auch Thompson (21936), Sauvage (1975: 101–290) und Rink (1997). Zu Nachtigallen siehe die entsprechenden Kapitel bei Keller (1887: 304–320), Thompson (21936: 16–22), Toynbee (1973: 276 f.), Pollard (1977: 42 f.) sowie Chandler (1934/35) und Sauvage (1975: 192–206), von denen die beiden letzteren primär dichterische Texte behandeln. Kurze Bemerkungen zur graduell unterschiedlichen Anthropomorphisierung von Tieren in den Schriften des Plinius, Plutarch und Aelian finden sich bei Martini, Küppers & Landfester (2000: 134 f., allgemeiner 142–144). Nat. hist. 10.83: certant inter se, palamque animosa contentio est. victa morte finit saepe vitam spiritu prius deficiente quam cantu. meditantur aliae iuveniores versusque, quos imitentur, accipiunt; audit discipula intentione magna et reddit, vicibusque reticent: intellegitur emendatae correptio et in docente quaedam reprehensio. Dazu Chandler (1934/35: 78): «he (i.e. Pliny) strains our credulity when he tells us that the young take singing lessons from their elders and that the birds engage in musical contests (…).» Aristoteles, Hist. anim. IV 9 536b17–19: W # τ λ $Ω μ #-#, ³« .! ²"« # « - Κ#« λ « «, $# ,! #/ (Aelian, der diese Stelle in De nat. anim. 3.40 kurz aufgreift, ignoriert interessanterweise das Passiv τ und unterstellt Aristoteles, er habe den von ihm beschriebenen Sachverhalt selbst gesehen: ξ #A #«
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Das elfte Buch der Naturalis historia ist den Insekten gewidmet, die trotz ihrer Kleinheit eine beeindruckende Perfektion aufwiesen, was auf das kunstvolle Wirken der Natur zurückzuführen sei (Nat. hist. 11.1 f.). Plinius geht hier nicht zuletzt auf die unterschiedlichen Lautäußerungen von Insekten ein. In dem Abschnitt zu Bienen (Nat. hist. 11.11–70) greift er manches auf, was sich bereits bei Aristoteles findet. Aufschlußreich sind seine Differenzierungen für die Laute von Zikaden (Nat. hist. 11.92–95; cf. Aelian, De nat. anim. 1.20, 5.9): Er unterscheidet stumme (mutae) von singenden (canorae), was zum einen arten-, zum anderen geschlechtsspezifisch motiviert sei: Die kleinere Zikadenart ist im Gegensatz zur größeren stumm, bei beiden Arten singen nur die männlichen Zikaden (mares canunt in utroque genere, feminae silent). Bei den singenden gebe es graduelle Abweichungen. Auch das geographische Vorkommen dieser Insekten hänge zusammen mit ihrer Sangesbegabung; so gebe es in manchen Gebieten Zikaden, die überhaupt keine Laute äußerten. Die Art und Weise, in der Aristoteles und Plinius die Formen tierischer Kommunikation behandeln, ist nur ein Beispiel für die deutlichen Unterschiede zwischen den beiden Autoren. Physiologische Erklärungen nehmen bei Aristoteles einen weit größeren Raum ein als bei Plinius. Die recht ausführliche Differenzierung zwischen Laut, Stimme und Sprache, die bei Aristoteles ein wichtiges Kriterium für die Absetzung verschiedener Tierarten voneinander bildet, fehlt bei Plinius. Überhaupt ist die Darstellung der Historia animalium systematischer, stringenter und nüchterner als die der Naturalis historia. Auf die wiederholte Einflechtung von Paradoxa und Mirabilien hat Aristoteles zugunsten einer stark empirisch orientierten Vorgehensweise verzichtet. Zwar kennzeichnet Plinius bestimmte Berichte als unglaubwürdig, bezieht diese aber dennoch in seine Ausführungen ein. Die unterbliebene Ausfilterung von Unbelegtem kennzeichnet zugleich den für Plinius recht geringen Stellenwert der Empirie. Sicher muß man den Römer – wie auch manche anderen Fachschriftsteller seiner Epoche und auch späterer Zeiten – als einen Autor sehen, der Wissensbestände weniger aus eigener Anschauung als vielmehr aus der umfassenden Lektüre bereits bestehender Werke offenbar recht unterschiedlichen Charakters zusammentrug. Doch ist zu fragen, ob die Integration von Mirabilien wirklich allein zurückzuführen ist auf Plinius’ mangelndes Vermögen, diese von sachlichen Elementen zu trennen. Im Gegensatz zu Aristoteles schrieb er nicht für einen begrenzten Kreis von Spezialisten, sondern wollte mit seinem Werk durchaus ein breiteres Publikum erreichen. Plinius’ erklärte Absicht, interessierte Laien anzusprechen (Nat. hist. praef. 6 f., 11), wird man nicht in Abrede stellen wollen, auch wenn die Vorworte zu antiken Fachschriften bestimmten Konventionen und Mustern folgen und nicht jede Aussage in ihnen wörtlich genommen werden darf (Fögen 2003: 36 f., 38–42). Schon anders sieht es dagegen aus mit seinem Hinweis auf den bewußten Verzicht auf Abschweifungen und Elemente des Wunderbaren, die für den Leser eine angenehme Unterhaltung geboten hätten (Nat. hist. praef. 12 f.; siehe Bodson 1986: 110). Die Präsentation des eigenen Werkes als sprachlich-stilistisch anspruchslose, rein um Sachdarstellung bemühte Schrift gehört zu der für Fachtext-praefationes üblichen Topik des Vorranges der res über verba, die den Tatsachen oft zuwiderläuft. Wenngleich in diesem Punkt die 4) .μ« « $« G μ « μ« # Ν 9). An der Sache vorbei geht die Bemerkung von Heironimus (1934/35: 297): «Pliny describes the teaching process more fully than Aristotle; and if the details are added from his own observation, he is to be commended for its accuracy.» Die Anthropomorphisierung, die Plinius gegenüber Aristoteles vornimmt, und damit auch der unterschiedliche Charakter der beiden Darstellungen sind hier übersehen. Richtig meint Goguey (2003: 86) in bezug auf Plinius’ Schilderung: «Tout le vocabulaire humain est présent, discipula, audit, docente».
Antike Zeugnisse zu Kommunikationsformen von Tieren
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Naturalis historia über das Programm ihres Verfassers hinausgeht, muß man andererseits zugestehen, daß Plinius weit davon entfernt ist, ein Paradoxon an das andere zu reihen. Auch das Element des Anekdotischen ist in der Buntschriftstellerei über Tiere und ihre Erlebniswelt stärker vertreten als bei Plinius, der insgesamt Belehrung über reine Unterhaltung setzt. So ist denn auch in denjenigen Partien seines Werkes, in denen er Formen tierischer Kommunikation behandelt, eine Mischung aus Sachorientierung einerseits und einem Hang zur Akzentuierung des Kuriosen andererseits zu konstatieren.
3.5 Claudius Aelianus: Pλ 9 « Eine im Vergleich zu Plinius dem Älteren weit stärker ausgeprägte Tendenz zur Wiedergabe von Mirabilien weisen die «Tiergeschichten» (P λ 9 3 4«) des Claudius Aelianus (ca. 170 bis ca. 222–230 n. Chr.) sowie einige Partien seiner «Bunten Geschichte» (P" ¹# ") auf.59 Dies betrifft auch Passagen zum Thema «Tiersprachen», die bei Aelian insgesamt wenig oder gar keine echte Sachinformation bieten. In der Anekdote über den Karthager Hanno (Var. hist. 14.30) heißt es, er habe sich eine große Anzahl Singvögel zugelegt und diese den Satz «Hanno ist ein Gott» gelehrt. Nachdem die Vögel diesen Satz beherrschten, habe Hanno sie freigelassen in der Hoffnung, durch die Tiere seinen Ruhm zu verbreiten. Es kommt jedoch anders als geplant: Die Vögel vergessen das Gelernte und singen wieder ihre eigenen Vogellieder. Daß es hier weniger um einen Bericht über die stimmliche Begabung von Tieren geht, wird bereits im ersten Satz der kurzen Erzählung deutlich. Mit dem Verweis auf Hannos Überhebung über die dem Menschen gesetzten Grenzen zeigt sich die moralische Komponente des kurzen Textes, die auch sonst bei Aelian häufig auftritt. Auch an anderen Stellen, an denen Aelian den Gesang von Vögeln thematisiert, handelt es sich nicht um mit Aristoteles vergleichbare zoologische Systematisierungsversuche mit einer entsprechend differenzierten Terminologie, sondern eher um impressionistische Skizzen. Über die Nachtigall heißt es lediglich, daß sie unter den Vögeln die hellste und musikalischste Stimme besitze; dieser Aspekt wird jedoch nicht weiter verfolgt, sondern statt dessen ergänzt, daß der Verzehr des Fleisches von Nachtigallen belebende Wirkung habe (De nat. anim. 1.43). Erst in einem viel späteren Kapitel wird hinzugefügt, daß der Gesang der Nachtigall wie auch der Amsel je nach Jahreszeit variiere (De nat. anim. 12.28). An anderer Stelle wird die Sangesbegabung der Nachtigall verbunden mit einer geradezu menschlichen Eigenschaft, dem Streben nach Ruhm (7), das dafür verantwortlich sei, daß ihr Gesang nur in Gegenwart anderer, vor allem in Gefangenschaft, einen hohen Grad an Komplexität annehme, an einsamen Orten dagegen einfach sei (De nat. anim. 5.38). Auch Raben verfügten über eine große Spannbreite an Lauten, deren Verwendung sich nach der Stimmung der Vögel richte; zudem können sie es erlernen, die menschliche Spra-
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Zu Aelian siehe besonders Jan Fredrik Kindstrand, Claudius Aelianus und sein Werk, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II 34.4 (1998), 2954–2996 (mit weiterer Literatur); ferner Hübner (1984), French (1994: 260–276) und Kullmann (1998: 135–137). Zur Varia historia jetzt auch Caroline Stamm, Vergangenheitsbezug in der Zweiten Sophistik? Die Varia Historia des Claudius Aelianus, Frankfurt am Main 2003. Der kurze Abschnitt bei Dumont (2001: 419–429) geht über eine Zusammenstellung von Zitaten aus Aelian nicht wesentlich hinaus.
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che nachzuahmen (De nat. anim. 2.51). Besonders gut gelinge eine solche Imitation jedoch den Papageien in Indien, was ihnen den Status heiliger Tiere eingebracht habe, vor deren Verzehr die Inder zurückschreckten (De nat. anim. 13.18; cf. auch 16.2). Übertroffen würden Papageien nur von dem indischen Beo (Mynah), der nicht nur gesprächiger ("# ), sondern auch intelligenter (/-#3 ) sei (De nat. anim. 16.3). Bei allen größeren Fischsorten hätten die Anführer eine Art Vorwarnsystem für Gefahren; sie verwenden dazu bestimmte Kontaktsignale, mit denen sie ihren Schwarm warnen (De nat. anim. 2.13). Darüber hinaus wendet sich Aelian gegen die These, daß Fische ausschließlich stumm seien. Als Gegenbeispiele führt er verschiedene Arten an, die Laute produzierten; dazu gehört auch der «Kuckuck» (-7), dessen Laute dem des gleichnamigen Vogels ähnelten (De nat. anim. 10.11). Mit diesem Hinweis bietet Aelian jedoch nichts Neues, sondern greift lediglich einen Aspekt auf, der bereits bei Aristoteles erwähnt ist (Hist. anim. IV 9 535b14–24) – und zwar in Verbindung mit einer von Aelian bezeichnenderweise ausgesparten physiologischen Erklärung für die Lauterzeugung bei Fischen. Ein Beispiel für extreme Anthropomorphisierung eines Tieres ist die Geschichte über die Elefantin Nikaia, die ganz in ihrer Rolle als Amme für einen Säugling aufging (De nat. anim. 11.14). Dessen Mutter hatte ihn der Elefantin in indischer Sprache anvertraut, die diese Tiere prinzipiell verstünden (cf. aber De nat. anim. 11.25). Die Gewissenhaftigkeit, mit der sich die Elefantin um das Kind kümmerte, wird abschließend als etwas ganz Besonderes hervorgehoben; es ist impliziert, daß es man sich an dem Verhalten des Tiers als Mensch ein Beispiel nehmen kann.60 Die außergewöhnliche Rolle dieser Elefantin wird im übrigen auch dadurch unterstrichen, daß sie im Gegensatz zu vielen anderen Tieren, die in der antiken Literatur auftreten, einen eigenen Namen («Nikaia») trägt; es ist hier – anders als sonst üblich – nicht allgemein von einer Spezies und deren Eigenschaften die Rede, sondern von einem ganz konkreten Einzelfall, der aus Aelians Sicht gleichwohl als durchaus repräsentativ für das Verhalten anderer Vertreter derselben Tierart gelten kann. Wie schon bei Plinius haben in Aelians Darstellung Elefanten bemerkenswerte Eigenschaften, die sie in die Nähe des Menschen rücken. So verfügen sie neben ihrer Gelehrigkeit und ihrem Gehorsam über Musikalität, einen Sinn für Rhythmus und Melodie sowie Tanzbegabung, obwohl sie zu den 9 Ν / gehörten; Aelian hat zudem selbst gesehen, 61 wie ein Elefant mit seinem Rüssel Buchstaben auf eine Tafel niederschrieb, wenngleich, wie er einschränken muß, mit der Hilfe seines Trainers (De nat. anim. 2.11). Eine aktive Sprachbegabung fehlt ihnen zwar, doch haben sie ihre eigenen Möglichkeiten, sich verständlich zu machen, vor allem dann, wenn es ihnen darum geht, ihr ethisches Bewußtsein
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Zu Elefanten bei Aelian siehe Scullard (1974: 222–230). Die Versicherung der ." tritt wiederholt auf, so z. B. in De nat. anim. 2.11, 5.26, 5.47, 11.40. Ansonsten wird eine Fülle von Gewährsleuten angeführt, zu denen Prosaautoren ebenso wie Dichter zählen. Gelegentlich werden bestimmte Völker oder Volksgruppen als Zeugen genannt, so z. B. in De nat. anim. 7.20 (Ägypter), 7.27 (Araber), 9.21 (Ägypter), 11.11 (Ägypter), 12.32 (Inder), ferner 14.6 und 16.5 (indische Brahmanen). Bisweilen erwähnt Aelian seine Gewährsleute nicht namentlich, apostrophiert sie aber trotz ihrer Anonymität als Experten für das jeweils diskutierte Thema, so z. B. in De nat. anim. 6.59, 8.9, 9.14, 9.21, 10.33, 10.44, 13.13, 13.23 fin., 14.5 und 14.20. Zum Teil bleiben jedoch die Vorlagen ganz unbestimmt, so z. B. in De nat. anim. 3.5 init., 3.7 fin. (—« #), 3.30 (—« #), 4.41 (³« $), 6.20 ( -# … " ξ Ν 9 … #" «), 6.45 ( -#), 7.11 (… ,« σ« ,μ λ ,) V), 10.1 ($ # σ … χ ξ -#, ,) ,#), 10.35 (… Ν -#) und 14.15 ( -/" … -# ξ .μ ρ / C).
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zu artikulieren: Ein Elefant, der jede Art von Übel haßte (# «), habe die neue Frau seines Trainers nonverbal darauf aufmerksam gemacht, daß dieser seine wohlhabende frühere Frau umgebracht habe, um an deren Geld heranzukommen. Mit seinem Rüssel habe er die neue Gemahlin gleich bei ihrer Ankunft zu der Stelle geführt, an der die Ermordete begraben lag, und mit seinen Stoßzähnen das Grab ausgehoben. Pointiert wird abschließend bemerkt, daß in diesem Fall die Tat das Wort ersetzte: ψ 4 ) . , 2 , "- # . (De nat. anim. 8.17). Daß bei Aelian der Mensch in vielerlei Hinsicht den Eigenschaften und Fähigkeiten von Tieren gegenübergestellt wird, zeigt sich an zahlreichen Passagen von De natura animalium. Dies schließt den lautlich-sprachlichen Aspekt ein: Sowohl Menschen als auch Tiere verfügten dank der Gabe der Natur über eine bunte Palette verschiedener Laute und stimmlicher Äußerungen. Bei den Menschen sei dies an der Vielzahl der Einzelsprachen erkennbar; Tiere hätten je nach Gattung die ihnen eigenen Laute, die hier mit einer Fülle unterschiedlicher Verben und Substantive umschrieben werden.62 Mit dem Besitz von Sprache geht die Entwicklung rhetorisch-persuasiver Mittel einher, die Aelian jedoch im Gegensatz zu zahlreichen Zeugnissen, die die kulturstiftende und gesellschaftsbildende Funktion der Sprache unterstreichen (siehe Anm. 3), nicht unbedingt als einen Vorteil ansieht: Während der Mensch sich und andere zu gutem Handeln und mutigem Verhalten erst verbal anspornen müsse, komme das Tier ganz ohne solche Aufforderungen aus.63 Es fällt im übrigen auf, daß bei Aelian im Gegensatz zu anderen antiken Autoren das Phänomen innereinzelsprachlicher Variation (z. B. in Form von Dialekten) überhaupt nicht thematisiert wird. Dies mag dadurch bedingt sein, daß der Verfasser die Kürze und Prägnanz des betreffenden Abschnitts nicht durch präzisierende Zusatzbemerkungen durchbrechen wollte, wie überhaupt seine Einzeldarstellungen nicht auf Vollständigkeit angelegt sind. An solchen Partien wird deutlich, daß ein Leser, der vertiefende Information anstelle von anekdotischer Unterhaltung sucht, zu einem anderen Werk greifen muß. Bei all dem muß jedoch eingeräumt werden, daß Aelian sich zumindest an einer Stelle explizit von Erzählungen über tatsächlich (d. h. im menschlichen Sinne) sprechende Tiere distanziert: Pferden Sprache zu verleihen, könne man Homer zugestehen, weil er ein Dichter sei, ebenso Alkman, der ihm darin gefolgt sei. Außerhalb der Poesie ließen sich jedoch Berichte, deren Unglaubwürdigkeit ganz offenkundig sei, schwerlich rechtfertigen.64
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De nat. anim. 5.51: P- ξ 9 λ / ³« ω 5 « π #« $ , —# σ λ \« $/ 3 -«. ² 2 ]/« Ν« / λ ² #Iμ« Ν«, λ ² A4/" ! κ #--» λ ¹ ]α κ ξ NE« Ν, λ N^" Ν. D λ 9 Ν Ν« _ μ #- « 3« J! λ α μ ξ : -!», -» ξ Ν, λ ! # Ν- λ C#« !Ν-", Ν- :!/« λ #«, " # ξ & -«, #λ ξ Gμ« ", λ Ν9 $ α λ ξ λ T) λ λ λ & 9 λ λ 9 " λ -#λ λ - " ` « #« 5 9 3 Ν Ν. De nat. anim. 6.1: ξ Ν/ - 2 « λ $ "#« $/\« ρ λ κ ξ " 37«, μ ξ ./ #ξ« #-#«, $/λ ξ ,« #, # ξ ,« Ρ α ξ 9 . ) « 7/ , 3#«, <-)« ξ 7 κ $, λ <- $"## λ ," . De nat. anim. 12.3: NO 9 ξ σ κ a/9 9 b
9 #-3 Ν7,
κ« α λ #A ξ « , )« « Nc . ω 4", ! $7! ,« 4 κ "# .
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In der Erzählhaltung Aelians hat Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff «[d]en Gipfel der Abgeschmacktheit» sehen wollen,65 den Autor mit diesem Urteil jedoch reichlich verkannt. Aelian ging es keineswegs um eine wissenschaftliche Zoologie oder um eine sachlich-präzise Darstellung, sondern in erster Linie um die mit unaufwendiger Wissensvermittlung verbundene Unterhaltung des Lesers, wie es für die Buntschriftstellerei typisch ist.66 So folgt auch die Anordnung der einzelnen (zumeist recht kurzen) Erzählungen keinem stringenten Prinzip, sondern ist gleichsam aleatorisch (Bouffartigue 2002: 142). Eine zumindest lose Verbindung zwischen einzelnen Kapiteln entsteht allerdings dadurch, daß eine zuvor bereits behandelte Thematik an anderer Stelle wiederaufgegriffen wird.67 Diese Erzählstrategie ist ein Indiz dafür, daß es Aelian nicht um eine logisch aufeinander aufbauende Darstellung ging; das Gliederungsprinzip ist vielmehr das der variatio, mit dem er der Monotonie vorbeugen will, wie er im übrigen auch selbst im Epilog zu De natura animalium betont. 68 Der Stil seiner Schrift ist durch seine Einfachheit gekennzeichnet, in syntaktischer Hinsicht vor allem durch kurze, sehr überschaubare Sätze und eine ausgeprägte Tendenz zur Parataxe. Mit der Unterhaltung ist eine ethische Komponente verbunden: Das Verhältnis von Tieren und Menschen wird in einer Weise beleuchtet, die manchen Tieren gewisse moralische Qualitäten zuschreibt und sie überhaupt an vielen Stellen stark anthropomorphisiert. Das Besondere liegt für Aelian darin, daß Tiere trotz ihres Status als vernunftlose Wesen (Ν) erstaunliche Leistungen vollbringen, und zwar in technischer, aber auch in ethischer Hinsicht. 69 Dabei setzt die Natur als Verleiherin besonderer Gaben manche Tiere sogar deutlich vom Menschen ab: Weder Elefanten noch Hunde bedienten sich zur Heilung von Verwundungen einer elaborierten Technik (De nat. anim. 2.18, 7.45). In manchen Fällen sei es sogar so, daß sich Menschen bestimmte Behandlungsmethoden von Tieren zunutze gemacht hätten, so im Falle von Ziegen, die ihre Sehstörung dadurch heilen, daß sie das kranke Auge in den Dorn eines Busches stoßen, ohne dabei die Pupille zu verletzen; in ähnlicher Weise behöben Ärzte eine sogenannte G !-#« durch «Starstich» (De nat. anim. 7.14). Auch die Erinnerungsgabe () von Tieren basiere nicht auf einer ausge-
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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Die griechische Literatur des Altertums, in: Ders. & al., Die griechische und lateinische Literatur und Sprache, Leipzig & Berlin 31912, 226. Daher trifft es die Sache nicht ganz, wenn Lonsdale (1979: 158 Anm. 1) Aelian als einen «arm-chair zoologist» bezeichnet. Als ein Beispiel diene der Nachtrag zu 13.18 in De nat. anim. 16.2: , #I)« / #\« C « "#/, U σ λ $ , #α ψ ξ G ξ . . ρ , 2 !/ 2 ) #. De nat. anim. ep.: ρ ξ Ρ λ ,) . , #" «, 4 κ /# `# 9 3 $ - μ , ξ 4"9 <#- ρ $/ , $ ξ λ «, λ G ξ 7/, λ 9 ξ $ μ λ 9 3 , 9 G # G ξ « . #« ` 5 . (…) 8 8 « $« μ μ λ κ ² ! $" , ¹λ ν # ³ ) , « -! "«, ³« $/# 9 3 , & 9 / ) G»" λ 7 κ #- . Siehe z. B. De nat. anim. 2.11 (Elefant), 2.25 fin. (Ameise), 2.32 (Schwan), 3.10 (Igel), 3.23 (Storch), 5.22 (Maus), 6.23 (Skorpion: O0 ξ Ν #"# λ )« # "« π #« 2 λ )# 5), 6.47 (Hase: #"9 λ -#9 μ / " \« $/ 3 -« ¹-3 $ #), 6.59 (Hund: # Ρ κ # Ν!), 7.10 (Hund). Zum folgenden siehe auch Hübner (1984: 161 f.).
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klügelten Systematik (De nat. anim. 7.48: ! λ« « ,« .κ !« λ #"«).70 Der nicht selten vermerkte moralische Vorbildcharakter mancher tierischer Verhaltensformen (z. B. De nat. anim. 1.4, 7.11, 7.17, 11.31) läuft in einem Kapitel auf die Feststellung hinaus, daß der Mensch sich trotz seiner Sprach- und Vernunftbegabung häufig zu einer irrationalen Lebensweise hinreißen lasse.71 An den hier diskutierten Sachverhalten zeigt sich für den Verfasser die wohlgestaltete Ordnung der Welt, und eben dieses Faszinosum ist es, das Aelian seinen Lesern im Detail vor Augen führen möchte, wie er im Vorwort zu den «Tiergeschichten» sagt;72 auch sonst verweist er darauf, daß manche Geschichten über die Gaben oder das Verhalten von Tieren Erstaunen hervorrufen.73 Aelians Weltsicht ist vor allem stoisch geprägt, doch für die bei ihm auftretende Funktionalisierung von Tieren als moralische Vorbilder finden sich auch Belege im Kynismus (cf. Sorabji 1993: 160 f.; Dierauer 1998: 59 f.). Seine Position faßt er selbst am besten im Epilog zu De natura animalium zusammen: Tiere mögen im Gegensatz zum Menschen weder über Vernunft noch über Sprache verfügen; doch bedeutet dies keineswegs, daß sie einen unwürdigen Gegenstand darstellen, auf dessen gründliche Beleuchtung man leichthin verzichten könnte.74
3.6 Ktesias’ Indika, Ovids Amores 2.6 und Statius’ Silvae 2.4 über Papageien 3.6.1 Die Sprachbegabung von Tieren wird, wie bereits im letzten Abschnitt deutlich wurde, auch in Texten thematisiert, die nicht der naturwissenschaftlich-zoologischen Literatur zuzurechnen sind. Dazu gehören u. a. Reiseberichte über fremde Länder, deren Bewohner und deren Fauna. Ein frühes Beispiel sind die nur fragmentarisch überlieferten Indika des Ktesias
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Über den Unterschied zu Plinius siehe Beagon (1992: 138): «In comparison with (…) Aelian’s De Natura Animalium, the HN has few of these superficial moralizing passages. Difference of purpose may be one reason for this. Aelian lays more stress on the artistic than on the didactic aspect of his work. That the moralizing tendency should appear in Pliny’s work at all is to be explained not only by the Stoic precedents but also by the desire to introduce variety of tone into his narrative.» De nat. anim. 7.17: . 42 ¹ $ 9 3 :2« $3 . De nat. anim. praef.: 5A/ ξ ρ #μ λ " λ 4" " /#, λ )#/ κ #-# ", λ κ <-9 # λ , :-« -#/ λ Ρ# .9 ## #«, 7 5#« .α λ - "! Ν/ « 2 -, λ #2 7", Ρ# σ ,# - #« λ -#«α $ λ /\« 4)#/ ρ λ #:. μ ξ λ #« $%« # « $ « &, λ $ " λ ! '( ! , ) * . λ 4 κ T9 /« # . 4"9 <#9 , λ Ρ « ,# -#/ . ) $/ 3 λ !" Ν 9 3 , 5 Ν « -« μ« λ /#« . Auch bei Plinius kommt allerdings wiederholt eine Faszination über die Wunder der Natur, wie sie sich konkret an Tieren manifestierten, zum Ausdruck (Bodson 1997: 341). So z. B. De nat. anim. 2.11 über Elefanten (2 « 4« 9 3 # λ , ), 7.8 über Tiere als Wetterpropheten (, 7 ¹) und 10.1 ($ # σ ,
/« , , λ Ν7 /-# .); vergleichbar ist 10.13 in bezug auf die Fauna Arabiens. De nat. anim. ep.: (…) λ κ " , ³« 0 J 4 ), κ " Ϊ ξ :, ³« $- λ $3- $« G λ $#, $ $2/ « #"« ² #« λ ² #--κ« ,7-#.
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(5./4. Jh. v. Chr.),75 in denen er auch von sprechenden Papageien berichtet (FGrHist 688F45.8).76 In der betreffenden Passage, die durch Photios (Bibl. 72 45a34–40) überliefert ist, heißt es, die von Ktesias in Indien angetroffene Papageienart, laut Bigwood (1993: 324 f.) wahrscheinlich ein Pflaumenkopfsittich (Psittacula cyanocephala), sei so groß wie ein Habicht (/« ξ Ρ# ¹ 7), verfüge über eine menschliche Zunge und Stimme (## $/ " ! λ ) und eigne sich jede Sprache an, die man ihr vermittle, sei es Indisch oder Griechisch (#/ ξ .μ —# Ν/ #I#", ω ξ NE#λ /9 , λ NE#"). Photios ergänzt, daß Ktesias derartige Dinge mit eigenen Augen beobachtet hatte oder sich zumindest auf Augenzeugenberichte verließ. Der betonte Anspruch auf direkte oder indirekte ." findet sich jedoch in der griechischen Historiographie recht häufig und ist noch kein Beweis für die Glaubwürdigkeit der Geschichte.77 In jedem Fall scheint die Formulierung #/ —# Ν/ eine Übertreibung zu sein, da sie eine aktive Sprachproduktion aus eigenem Antrieb nahelegt, die so bei Vögeln nicht gegeben ist. Andererseits wird in der antiken Literatur gerade die Nähe der Artikulation von Papageien zu menschlicher Sprache immer wieder hervorgehoben.78 3.6.2 Eines der bekanntesten Beispiele für die Thematisierung sprechender Papageien aus der römischen Dichtung ist Ovids Amores 2.6, ein Epikedion auf den verstorbenen Papagei Corinnas, der Geliebten des elegischen amator. Gleich im ersten Vers des Gedichts wird die imitative Fähigkeit dieses Vogels hervorgehoben (Am. 2.6.1: imitatrix ales), die sich nur auf die Nachahmung von Stimmen beziehen kann, wie aus dem weiteren Verlauf des Textes deutlich wird: Der Papagei wird als derart sprechfreudig apostrophiert, daß er kaum Zeit zum Fressen gefunden habe. 79 Er war nicht nur in der Lage, eine ganze Skala von Tönen erklingen zu lassen (Am. 2.6.18: vox mutandis ingeniosa sonis), sondern konnte darüber hinaus auch menschliche Worte wiedergeben (Am. 2.6.23 f.): Non fuit in terris vocum simulantior ales: Reddebas blaeso tam bene verba sono.
Beachtenswert ist dabei in Vers 24 das Attribut blaeso, das das Fehlen einer wirklich sauberen, einwandfreien Aussprache anzeigt. Das Wort blaesus (gr. :#«: gekrümmt, gewunden) wird ansonsten zumeist auf das Sprechen von Betrunkenen oder von Kleinkindern bezogen.80 75
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Zu Ktesias siehe u. a. Klaus Karttunen, India in Early Greek Literature, Helsinki 1989 (mit weiterer Literatur). Zum Einfluß seiner Indika auf spätere Autoren siehe Klaus Karttunen, India and the Hellenistic World, Helsinki 1997, passim. Ausführlichere Diskussion bei Bigwood (1993) und Levine Gera (2003: 208–210). In einem anderen Fall, nämlich in bezug auf den Bericht des Ktesias über das angeblich existierende indische Wildtier Martichoras, das dieser persönlich gesehen haben will, meldet selbst der sonst wenig kritische Aelian gewisse Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Verfassers der Indika an (De nat. anim. 4.21 fin.). Siehe aber bereits Aristoteles, Hist. anim. II 1 501a25-b1. So noch bei Isidor, Orig. 12.7.24: Psittacus Indiae litoribus gignitur, colore viridi, torque puniceo, grandi lingua et ceteris avibus latiore. Unde et articulata verba exprimit, ita ut si eam non videris, hominem loqui putes. Ex natura autem salutat dicens ‹ have› , vel !) . Cetera nomina institutione discit. Am. 2.6.29: plenus eras minimo nec prae sermonis amore / in multos poteras ora vacare cibos. Zuvor schon Am. 2.6.26: garrulus. blaesus bezogen auf das Sprechen von Betrunkenen z. B. bei Ovid, Ars amat. 1.597–600 (Vortäuschung des amator von Trunkenheit), Juvenal, Sat. 15.47 f. und Martial 9.87.2, von Kleinkindern z. B. bei Martial 5.34.8 (Epigramm für die verstorbene Erotion). Außerdem Carm. Priapea 7 (cum loquor, una mihi peccatur littera; nam T / P dico semper blaesaque lingua mihi est.) und Ovid, Ars amat. 3.293 f.
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Gleichwohl wird er einige Verse darauf als «sprechendes Abbild menschlicher Stimme» bezeichnet und auf seine dadurch bedingte Besonderheit verwiesen (Am. 2.6.37–40). Die besondere Pointe des Gedichts liegt darin, daß der schon ersterbende Papagei letzte Worte des Abschieds hervorbringt, die an seine Besitzerin Corinna gerichtet sind.81 Die verbleibenden vierzehn Verse (Am. 2.6.49–62) handeln von der Bestattung des psittacus auf einer Ruhestätte, die den frommen Vögeln vorbehalten ist. Das Gedicht schließt mit einem zweizeiligen Epigramm, das auf dem Grabstein des Papageis stehen soll und seine auch für Vögel ungewöhnliche Redegabe akzentuiert.82 Damit endet der Text mit demselben Aspekt, der schon zu Beginn angeklungen war. Daß Ovid mit Amores 2.6, das in mancher Hinsicht an Catulls Carmen 3 über den Tod von Lesbias passer (siehe Herrlinger 1930: 75–81) erinnert, eine herkömmliche Totenklage mit den zugehörigen Topoi parodiert, ist in der Forschung eingehend demonstriert worden.83 Der Humor des Gedichts wird bereits zu Beginn deutlich, als der Sprecher die Vogelwelt zur Totenklage um den Papagei Corinnas auffordert und ihnen dabei ein Verhalten nahelegt, das den bei einem Bestattungsritual für einen Menschen üblichen Trauergesten ähnelt, soweit dies Vögeln anatomisch überhaupt möglich ist (Am. 2.6.2–16). Es erhebt sich die Frage, ob zu den parodistischen Elementen auch die wiederholt unterstrichene Sprechfreudigkeit des Papageis gehört. Daß ihm mit dem Verweis auf seine letzten Worte garrulitas bis in den Tod zugeschrieben wird, hat ohne jeden Zweifel eine komische Wirkung. Dies verwundert schon deshalb nicht weiter, weil in den Amores sehr häufig an sich ernsthafte Szenen und Motive parodiert werden.84 Doch entbehrt das gesamte Gedicht trotzdem nicht einer gewissen rührenden Note und setzt sich somit nicht vollständig von herkömmlichen Tierepikedien ab. Echte Trauer um Tiere zeigt sich insbesondere an Inschriften auf Tiergrabmälern (Bodson 2000: bes. 32 f.; ferner Herrlinger 1930: bes. 106–120; Sauvage 1975: 275–277), auf denen oft die besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten der verstorbenen Tiere hervorgehoben wurden, so z. B. ihre Sangeskunst und «Sprachbegabung», ihre Schnelligkeit, Gelehrigkeit und Intelligenz, ebenso ihre Treue. 81 82 83
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Am. 2.6.47 f.: nec tamen ignavo stupuerunt verba palato; / clamavit moriens lingua: Corinna, vale! Am. 2.6.61 f.: colligor ex ipso dominae placuisse sepulchro; / ora fuere mihi plus ave docta loqui. Zu wenigen Gedichten der Amores wurde mehr geschrieben als zu 2.6. Grundlegendes bei Herrlinger (1930: 81–86), vor allem zu den parodistischen Elementen. Ferner (in Auswahl): Barbara Weiden Boyd, The death of Corinna’s parrot reconsidered: Poetry and Ovid’s Amores, in: Classical Journal 83 (1987), 199–207. – Leslie Cahoon, The parrot and the poet. The function of Ovid’s funeral elegies, in: Classical Journal 80 (1984), 27–35. – Jessica S. Dietrich, Dead parrots society, in: American Journal of Philology 123 (2002), 95–110. – L. B. T. Houghton, Ovid’s dead parrot sketch: Amores II.6, in: Mnemosyne 53 (2000), 718–720. – Megan I. Kim, A parrot and piety: Alcuin’s nightingale and Ovid’s Amores 2.6, in: Latomus 51 (1992), 881–891. – K. Sara Myers, Ovid’s tecta ars: Amores 2.6, «Programmatics and the Parrot», in: Echos du Monde Classique 34 (1990) 367–374. – Viktor Schmidt, Corinnas psittacus im Elysium (Ovid, Amores 2,6), in: Lampas 18 (1985), 214–228. – Ulrich Schmitzer, Gallus im Elysium. Ein Versuch über Ovids Trauerelegie auf den toten Papagei Corinnas (am. 2,6), in: Gymnasium 104 (1997), 245–270. – Elizabeth Thomas, A comparative analysis of Ovid, Amores II.6 and III.9, in: Latomus 24 (1965), 599–609. Cf. auch Yvan Nadeau, Catullus’ sparrow, Martial, Juvenal and Ovid, in: Latomus 43 (1984), 861–868, und Eckard Lefèvre, Die Metamorphose des catullischen Sperlings in einen Papagei bei Ovid (Amores 2,6) und dessen Apotheose bei Statius, Strozzi, Lotichius, Beza und Passerat, in: Werner Schubert (Hrsg.), Ovid: Werk und Wirkung. Festgabe für Michael von Albrecht zum 65. Geburtstag, Frankfurt am Main 1999, 111–135. Am Beispiel des Tränen-Motivs zeigt dies der Beitrag von Thorsten Fögen, Tränen in der römischen Liebeselegie, in: Zeitschrift für Semiotik 28 (2006), 239–269, in dem auch weiterführende Literatur zum Aspekt des Humors bei Ovid aufgeführt ist.
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Diesen Aspekt hat Ovid in seinem Gedicht eingehend berücksichtigt, wenngleich bei ihm die Sprechfreudigkeit von Corinnas Papagei zu einem Bestandteil des parodistischen Zuges von Amores 2.6 umfunktioniert wird. Durchaus vereinbar sind damit poetologische Deutungen des Gedichts, die den Papagei bald als Symbol für einen alexandrinischen poeta doctus einschließlich Ovid selbst (Boyd 1987, Myers 1990 [wie Anm. 83]), bald als Anspielung an den verstorbenen Cornelius Gallus und seine im Vergleich zu dem Werk späterer Augusteer noch nicht vollends ausgereifte Dichtung (Schmitzer 1997 [wie Anm. 83]) aufgefaßt haben. 3.6.3 Ovids Gedicht war die Vorlage für Statius’ Silvae 2.4,85 ein Epikedion auf den verstorbenen Papagei seines Förderers Atedius Melior, 86 auf das hier nur kurz eingegangen werden soll. Die Parallelen zu Ovid sind offensichtlich und haben zu dem freilich wenig aussagekräftigen Urteil geführt, daß Statius’ Silve im Vergleich zu Ovid «turgid and pretentious» sei.87 Allerdings handelt es sich keineswegs um eine einfallslose Imitation, die Unterschiede zur Inspirationsquelle sind augenfällig: (1)
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Zwar hebt auch Statius immer wieder die Sprechbegabung des Papageis hervor, doch geht er bei der Anthropomorphisierung des Vogels noch einen Schritt weiter als Ovid. Das Tier ist hier als ein vollwertiger Hausbewohner gezeichnet, der an den sozialen Ereignissen des Tages wie dem Mahl mit Selbstverständlichkeit teilnimmt. Für die Anwesenden ist er Gesprächspartner, der selbst das Wort ergreift, auch wenn es sich dabei nur um zuvor gelernte Sprachbrocken handelt (Silv. 2.4.4–10). Diese Aspekte sind im dritten Teil des Gedichts aufgegriffen, wo der Papagei sogar als amicus bezeichnet wird, in dessen Gegenwart sein Besitzer sich gerade aufgrund der Redebegabung des Tiers niemals allein fühlte (Silv. 2.4.29–33). Außerdem wohnt er nicht in einem gewöhnlichen Käfig, sondern in einer prachtvollen domus, einem beatus carcer (Silv. 2.4.11–15). Die Sprachbegabung des Papageis wird noch deutlicher akzentuiert durch den Verweis auf die durch den Tod entstandene Stille im Hause (Silv. 2.4.15). Ähnlich wie bei Ovid werden Vögel zur Teilnahme am Leichenbegängnis des Papageis aufgerufen. Bei Statius sind sie jedoch auffälligerweise eigens als sprachbegabt bezeichnet und damit gewissermaßen dem Verstorbenen kongenial (Silv. 2.4.16–23):
Neben Herrlinger (1930: 87–90) siehe folgende Arbeiten: Robert E. Colton, «Parrot Poems» in Ovid and Statius, in: Classical Bulletin 43 (1967), 71 und 74–78, ferner Helmut Krasser, Poeten, Papageien und Patrone. Statius Silve 2,4 als Beispiel einer kulturwissenschaftlichen Textinterpretation, in: Jürgen Paul Schwindt (Hrsg.), Klassische Philologie inter disciplinas. Aktuelle Konzepte zu Gegenwart und Methode eines Grundlagenfaches, Heidelberg 2002, 151–168, und Carole Newlands, Animal claquers: Statius Silv. 2.4 and 2.5, in: William W. Batstone & Garth Tissol (Hrsg.), Defining Genre and Gender in Latin Literature. Essays Presented to William S. Anderson on His Seventy-Fifth Birthday, New York 2005, 151–173, sowie die Bemerkungen im Kommentar von Harm-Jan van Dam, P. Papinius Statius: Silvae Book II. A Commentary, Leiden 1984, 336–367. Zu Atedius Melior, dem das gesamte zweite Buch der Silvae gewidmet ist, siehe Alex Hardie, Statius and the Silvae. Poets, Patrons and Epideixis in the Graeco-Roman World, Liverpool 1983, 66 f. Joan Booth, Ovid: The Second Book of Amores. Edited with translation and commentary, Warminster 1991, 45.
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Huc doctae stipentur aves quis nobile fandi ius natura dedit: plangat Phoebeius ales, auditasque memor penitus dimittere voces sturnus et Aonio versae certamine picae, quique refert iungens iterata vocabula perdix, et quae Bistonio queritur soror orba cubili: ferte simul gemitus cognataque ducite flammis funera, et hoc cunctae miserandum addiscite carmen.
Detailfreude bei der Schilderung der Methoden einzelner Vögel, sich Sprachelemente anzueignen, ist hier verbunden mit der Einflechtung mythischer Elemente. Daß die Sprachbegabung der Tiere ihre Grenzen hat, wird deutlich an der Aufforderung, einen neuen Gesang einzustudieren. Gleichwohl sind auch die Vögel, die an der Totenfeier des Papageis teilnehmen sollen, in hohem Maße vermenschlicht, was im übrigen sowohl im Falle der picae als auch bei der Nachtigall eine Verankerung in deren mythischen Metamorphosen von Menschen in Vögel hat. 88 Sicherlich fehlt auch bei Statius der parodistische Zug nicht.89 In seinem Vorwort zum zweiten Buch der Silvae, das einen kurzen thematischen Überblick über die darin enthaltenen Einzelgedichte bietet, bezeichnet er Silv. 2.4 zusammen mit dem vorausgehenden und nachfolgenden Gedicht als leves libelli und betont deren Nähe zum Epigramm.90 Doch darf dabei nicht übersehen werden, daß die Darstellung des Papageis so angelegt ist, daß zugleich auch ein Bild seines Besitzers Atedius Melior entsteht. Der reich ausgestattete Käfig des Vogels deutet ebenso auf den aufwendig-kultivierten Lebensstil eines wohlhabenden Mannes hin wie die am Schluß evozierte luxuriöse Einäscherung, für die assyrischer Kardamom, arabische Myrrhe und sizilischer Safran verwendet werden (Silv. 2.4.33–37). Das Tierepikedion ist also zugleich eine implizite Hommage an den Gönner des Statius. Auch wenn das Gedicht zweifellos eine ideale Patronagebeziehung veranschaulicht und der affektiven Freundschaftsbekundung durch den Dichter dient, muß man deshalb nicht unbedingt von einem «Modellfall kaiserzeitlicher Klientelpoesie» sprechen (Krasser 2002: 168). Für die hier verfolgte Fragestellung ist entscheidend, daß die Beschreibung eines sprachbegabten Tieres mit dem Portrait seines Besitzers eng verbunden ist, ja maßgeblich zu dessen anschaulicher Charakterisierung beiträgt. Der Vogel mit seiner außergewöhnlichen Redebegabung, den sich sicher nur wohlhabende Haushalte leisten konnten, rundet den Eindruck von der Exklusivität der Lebenswelt des Atedius Melior ab; der Papagei ist aufgrund seiner verbalen Fähigkeiten etwas derart Besonderes, daß er kein Tier mehr zu sein scheint, sondern ein geradezu menschlicher «Freund des Hauses».
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Zu den in picae verwandelten Pieriden siehe Ovid, Met. 5.294–331, und zu Philomela Ovid, Met. 6.412–674. Laut Herrlinger (1930: 70) ist Silv. 2.4 «offensichtlich unter die parodistischen Gedichte einzureihen», wenngleich «der Stil (…) ernster gehalten als bei Ovid» sei (1930: 90). Siehe auch van Dam (1984: 339): «its use of topics from the consolatio is parodistic, though not as burlesque as in Ovid; for that would have been tactless to Melior.» Statius, Silv. 2 praef.: In arborem certe tuam, Melior, et psittacum scis a me leves libellos quasi epigrammatis loco scriptos.
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3.7 «Tier»-Tier-Kommunikation in Homers Odyssee: Das Beispiel Polyphem Zu den Abenteuern, von denen Odysseus den Phaiaken erzählt, gehört auch die Geschichte über den Kyklopen Polyphem (Od. 9.105–566).91 Nach seiner Blendung binden sich Odysseus und seine Gefährten unter den Bauch der Schafe, um am Morgen unbemerkt aus der Höhle des Kyklopen zu entkommen. Der blinde Polyphem betastet die Tiere, als sie zum Weiden hinausgehen, und wundert sich darüber, daß sein Lieblingswidder, unter den sich Odysseus selbst gebunden hat, ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Gewohnheit der letzte in der Reihe der Schafe ist (Od. 9.447–460, ed. Helmut van Thiel):
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Die Anrede an das Tier mit ξ (Od. 9.447) zeigt, daß es Polyphem besonders ans Herz gewachsen ist. Er unterstellt dem Widder, daß er mit ihm über seine Verletzung trauert und, falls er Denk- und Sprachvermögen besäße, ihm bei der Rache an Odysseus helfen würde (Od. 9.456 f.). Der stark affektive Zug dieser Worte wird jedoch in den sich anschließenden Versen unterlaufen, in denen Polyphem sich in grausamster Weise die Vergeltung ausmalt. Überhaupt kann angesichts seines sonstigen Verhaltens kaum Mitleid für den Kyklopen aufkommen, der im ganzen als ein Musterbeispiel der Unzivilisiertheit gezeichnet ist: Schon am Anfang der Szene wird unterstrichen, daß die Kyklopen gesetzlos sind und keinerlei soziale Institutionen haben, die ein Zusammenleben regeln. Diese erübrigen sich ohnehin, da sie asozial sind: Jede Familie lebt für sich und hat ihre eigenen Regeln. Diesem primitiven Entwicklungsstand entspricht ihre Art, in Höhlen und nicht in Häusern zu wohnen, sowie das Fehlen jeglichen Bemühens um eine Kultivierung des Landes zu dessen agrarischer Nutzung und um die Ausbildung handwerklicher Kenntnisse (Od. 9.106–115 und ff.). Polyphem selbst verwehrt Odysseus und seinen Gefährten in schändlicher Weise das Gastrecht, um seine kannibalischen Gelüste zu stillen. Das Primitive des Kyklopen kommt letztlich auch in seiner Wendung an den Widder zum Ausdruck, der zu dem Tier in humanerer Weise spricht als zu seinen menschlichen Gästen. Neben dem Aspekt der Primitivität wird in der Kyklopen-Szene jedoch zugleich eine Stimmung evoziert, die an das goldene Zeitalter erinnern mag; von einem bukolischen Paradies ist Polyphems Insel aber 91
Gute Bemerkungen zur Kyklopen-Episode bei Levine Gera (2003: 11–17), jedoch mit einer gewissen Überakzentuierung des in diese Szene hineinspielenden Bildes eines goldenen Zeitalters. Siehe außerdem Heath (2005: 79–84).
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gerade wegen der Unzivilisiertheit ihres Bewohners letztlich weit entfernt. Von daher hat die Bemerkung des Homer-Scholiasten Eustathios, mit seiner Wendung an den Widder spreche Polyphem von gleich zu gleich (Schol. in Od. 9.447), etwas für sich: Hier spricht jemand, der die vollgültigen Qualitäten eines Menschen kaum für sich beanspruchen kann und trotz seiner Sprachbegabung ein Barbar – oder anders gesagt: «the ultimate Other» (Heath 2005: 79) – bleibt. Insofern ist es nur konsequent, daß er sich in einer Weise an den Widder wendet, die suggeriert, daß hier jemand mit einem Tier kommuniziert, der selbst nicht sehr weit, wenn überhaupt, über dem Status eines Tiers rangiert.92
4. Zusammenfassung Der hier vorgestellte Überblick mußte sich auf die Diskussion einiger ausgewählter Zeugnisse beschränken. Ergänzen ließen sich dabei z. B. folgende Aspekte, die im folgenden nur gestreift werden können: a) Sprechende Tiere in der Komödie, wie sie beispielsweise in Krates’ Theria und Aristophanes’ Vögeln auftreten, und die mit ihnen bisweilen verbundene Vorstellung vom goldenen Zeitalter und einem friedlichen Zusammenleben von Mensch und Tier (Levine Gera 2003: 61–67, Heath 2005: 12–16; cf. Guthrie 1955: 63–79, Blundell 1986: 135–164). In diese Rubrik ließen sich auch Zeugnisse von Menschen einordnen, die mit Tieren zu kommunizieren imstande sind wie z. B. Pythagoras. Diese besondere – an Orpheus erinnernde – Gabe des Pythagoras, mit der dieser Tiere zu besänftigen verstand, wird ausführlicher in der Vita Jamblichs hervorgehoben (Vita Pyth. 60–62), die allerdings mehrfach dessen Gottesnähe und damit sein übermenschliches Wesen betont (bes. Vita Pyth. 31 und 255). b) Sprechende Tiere in Fabel und Tierepos, wie z. B. der späthellenistischen Batrachomyomachie, einer ca. 300 Verse umfassenden Epenparodie, die aus einer äsopischen Fabel (384 Perry [= 302 Hausrath]) entwickelt ist (Dumont 2001: 118–122). Für diese Literaturformen läßt sich in Analogie zu Röhrichs Bemerkungen über Tiersprache im Märchen ([1953] 1973: 227–230) allgemein festhalten, daß dieses Phänomen außerhalb von Einleitungen mit entsprechenden reflexiven Passagen häufig nicht weiter problematisiert wird: Kommunikation von und mit Tieren erscheint als eine Selbstverständlichkeit, die zumeist keiner umfassenden Erklärung bedarf.93 Allerdings wird in Vorworten zu Fabelbüchern das Sprechen von Tieren durchaus als etwas Außergewöhnliches akzentuiert: Phaedrus rechtfertigt es im Prolog zu seinem ersten Buch mit dem fiktionalen Charakter seines Werks und dem Streben nach Unterhaltung des Lesers.94 Babrios bergündet in seiner Einleitung die Sprachbefähigung der Tiere in der Fabel kurz mit dem Verweis auf deren Situ-
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Das Tierische des Kyklopen Polyphem hat viel später auch Philostrat in seinen «Bildern» akzentuiert: Ν ξ ² 9 » λ G / / / " $« π3 (Eikones 2.18.3). Allerdings unterscheidet Röhrich ([1953] 1973: 229) für das Märchen verschiedene Phasen: «Erst in einer späteren rationalistischeren Zeit scheint dann das sprechende Tier oder der tiersprachenkundige Mann als etwas Außergewöhnliches neue Motive geprägt zu haben. Das Bewußtsein aber dafür, daß es einst einmal eine gemeinsame Verständigungsmöglichkeit gegeben haben muß, ist in vielen Märchen erhalten.» Phaedrus, Fab. 1 pr. 5–7: calumniari siquis autem voluerit, / quod arbores loquantur, non tantum ferae, / fictis iocari nos meminerit fabulis.
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ierung im goldenen Zeitalter, in dem Mensch und Tier, aber auch Bäume und Blätter problemlos kommunizieren konnten; dies sei in seiner eigenen Epoche, dem sogenannten ehernen Zeitalter (π # "), nicht mehr möglich (pr. 1–13). Das Bild des goldenen Zeitalters fehlt bei Phaedrus wie auch in Avians Widmungsschreiben an Theodosius.95 c) Formen tierischer Kommunikation im Kontext von Sprachursprungshypothesen, wie sie insbesondere in Epikurs Brief an Herodot (Epist. ad Her. 75 f., p. 26.7–27.16 Usener) und im fünften Buch von Lukrez’ De rerum natura (5.1028–1090) behandelt werden. 96 Hierbei ist aufschlußreich, daß Tierlaute oft an die Seite von Kleinkindersprache gestellt werden, also einer Artikulationsform, die – wie schon an dem lateinischen Wort infans deutlich wird – noch nicht richtig entwickelt ist und damit nicht den Status eines vollständig ausgebildeten menschlichen « hat, wie u. a. Aristoteles (Hist. anim. IV 9 536a33-b7, s. o.), der Stoiker Diogenes von Babylon (Diogenes Laertios 7.55, siehe Anm. 35) und auch Plinius der Ältere (Nat. hist. 7.4, 11.174, 11.270, siehe Anm. 50) hervorheben. Auch in intellektueller, physischer und moralischer Hinsicht befinden sich Kinder nach antikem Denken nicht auf derselben Ebene und sind darin Tieren vergleichbar (Heath 2005: 206–209). Dabei handelt es sich freilich um eine vorübergehende Phase, die durch entsprechendes Training überwunden werden kann. d) Zeugnisse zu konkreten Tierlauten (im Sinne von kikeriki oder wauwau), die als charakteristisch für bestimmte Tierarten eingestuft und graphematisch erfaßt werden. Als Beispiele ließen sich eine Passage über den Laut der Nachteule in Plautus’ Menaechmi (Men. 654: vin adferri noctuam, / quae ‹ tu tu› usque dicat tibi?) anführen oder auch eine Stelle zum Krähen von Hähnen in Petrons Satyrica (Sat. 59.2: et tu, cum esses capo, coco coco). Die Laute sind es auch, die zur Prägung bestimmter Tierbezeichnungen – vor allem für Vögel – führen, wie z. B. -3, von Hesychios gleichgesetzt mit 27 (Eule), oder ulula für den Kauz.97 Varro führt im fünften Buch von De lingua Latina einige vergleichbare Beispiele an, und zwar nicht allein für Vögel, sondern auch für den Namen des Hundes (canis) und des Bären (ursus).98 95
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Am Schluß von Avians Epist. ad Theod. heißt es lediglich: loqui vero arbores, feras cum hominibus gemere, verbis certare volucres, animalia ridere fecimus. Dazu u. a. Glidden (1994: 140–142) und Fögen (2001: 206 f.), mit weiterer Literatur. Zu ergänzen sind jetzt Alexander Verlinsky, Epicurus and his predecessors on the origin of language, in: Dorothea Frede & Brad Inwood (Hrsg.), Language and Learning. Philosophy of Language in the Hellenistic Age, Cambridge 2005, 56–100, sowie Catherine Atherton, Lucretius on what language is not, in: ibid., 101–138. Siehe auch Brooke Holmes, Daedala lingua: crafted speech in De rerum natura, in: American Journal of Philology 126 (2005), 527–585, bes. 554–560. Zu lateinischen Vogelnamen siehe André (1966, 1967). Bei André (1966: 146) heißt es: «Les formations onomatopéiques constituent en latin près de 20 % des noms d’oiseaux. (…) près d’un oiseau sur trois doit son nom – ou ses noms – à son cri. Cette proportion n’a d’équivalent dans aucun domaine lexical et le monde des oiseaux est privilégié par rapport au reste de la faune.» Zu griechischen Vogelnamen siehe Thompson (21936); bei Robert (1911) sind diejenigen Namen, die auf den Lauten von Vögeln basieren, so gut wie gar nicht behandelt. Varro, De ling. Lat. 5.75: Deinde generatim: de his pleraque ab suis vocibus ut haec: upupa, cuculus, corvus, hirundo, ulula, bubo. Ferner 5.99: Catulus a sagaci sensu et acuto, !ut Cato" Catulus; hinc canis: nisi quod ut tuba ac cornu, a!li"quod signum cum dent, canere dicuntur, quod hic item et noctuculus in custodia et in venando signum voce dat, canis dictus. Außerdem 5.100: Ursi Lucana origo vel, unde illi, nostri ab ipsius voce. Aufschlußreich ist auch Isidor, Orig. 12.7.9: Avium nomina multa a sono vocis constat esse composita: ut grus, corvus, cygnus, pavo, milvus, ulula, cuculus, graculus et cetera. Varietas enim vocis eorum docuit homines quod nominarentur. Genauer ausgeführt in Orig. 12.7.14–18, 38 f., 42 f., 45, 48, 60, 63 f. und 66 f.
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e) In Verbindung damit stehen Umschreibungen für tierische Äußerungen, die je nach Tierart differieren. So enthält Suetons fragmentarisch erhaltenes antiquarisches Werk Pratum einen Abschnitt, in dem zahlreiche Verben aufgelistet sind, mit denen die jeweiligen Lautformen von Tieren bezeichnet werden (fr. 161 Reifferscheid, p. 247–254; cf. auch fr. 161 c, p. 312; vergleichbar Aelian, De nat. anim. 5.51, siehe Anm. 62).99 Beispielsweise wird für Schlangen sibilare genannt, für Rinder mugire, für Schweine grunnire, für Frösche coaxare. Für einige Tierarten werden sogar Varianten angegeben, so z. B. für Löwen fremere und rugire, für Esel rudere und oncare sowie für Hunde latrare und baubari. Von den hier aufgeführten Tieren nehmen Vögel mehr als die Hälfte des Raumes ein, angefangen vom Raben (corvorum crocitare) bis hin zum Spatz (passerum titiare). In Varros De lingua Latina findet sich bereits ein Passus, in dem solche Verben zur Bezeichnung tierischer Laute zusammengetragen sind, die zugleich für die Umschreibung menschlicher Lautäußerungen, also im übertragenen Sinne verwendet werden können.100 Vergleichbares Material versammelt dann später der Grammatiker und Lexikograph Nonius Marcellus.101 Aus dem hier behandelten Material ergeben sich verschiedene Schlußfolgerungen: Antike Beschreibungen von Formen tierischer Kommunikation sind in inhaltlicher und darstellerischer Hinsicht in hohem Maße, wenn auch nicht ausschließlich, von den Konventionen der literarischen Gattung geprägt, in deren Rahmen sie auftreten. Ohne allzu schematisch verfahren zu wollen, läßt sich die These vertreten, daß diejenigen Informationen am sachlichsten präsentiert werden, die Bestandteile eines stark sachorientierten Textes sind. Zu diesem Typus gehören Einzelheiten über tierische Kommunikation, wie sie Aristoteles in seiner Historia animalium behandelt. Die Darstellung ist durch ein ausgeprägtes Bemühen um Systematizität in der Abgrenzung tierischer Verständigungsformen von denen des Menschen gekennzeichnet, und zwar auch in terminologischer Hinsicht. Das Streben nach Empirie ist verknüpft mit dem Bemühen um physiologisch-anatomische Begründungen bestimmter Sachverhalte. Je weiter ein Text zu tierischer Kommunikation von dieser Sachorientiertheit entfernt ist, desto mehr gesellen sich sekundäre Aspekte zu der Darstellung von Fakten hinzu. Der Grad des Anekdotischen und die Tendenz zur Anthropomorphisierung von Tieren nimmt zu, je mehr ein Text auf Unterhaltung des Lesers abzielt; dies schließt die Einbindung moralischer Betrachtungen im Zusammenhang mit den Eigenschaften von Tieren nicht aus, wie das Beispiel Aelians zeigt. Im Gegenzug nimmt die Suche nach rationalen Erklärungen bestimmter Phänomene der Sprachbegabung von Tieren ab. Im Extremfall wird berichtet, ohne zu hinterfragen und zu begründen. Information tritt zurück hinter Sensation, nicht selten auch hinter Humor und Parodie. Dafür jedoch die betreffenden Autoren zu kritisieren, heißt, ihr jeweiliges darstellerisches Anliegen zu verkennen. Die Verschiedenartigkeit der literarischen Thematisierung von Formen tierischer Kommunikation ist primär bedingt durch die Unterschiede gattungsspezifischer 99
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Zu Abhängigkeitsfragen in Verbindung mit dem «Tierstimmenkatalog» siehe Peter L. Schmidt, Suetons ‹Pratum› seit Wessner (1917), in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II 33.5 (1991), 3812 f. Varro, De ling. Lat. 7.103 f.: In Aulularia: ‹ Pipulo te differam ante aedis› , id est convicio, declinatum a pi!p"atu pullorum. Multa ab animalium vocibus tralata in homines, partim quae sunt aperta, partim obscura. (…) Siehe dazu Giuseppina Barabino, Le voces animalium in Nonio Marcello, in: Studi Noniani III, Genova 1975, 7–56.
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Konventionen und Wirkabsichten. In manchen Fällen wird das Thema «Tiersprache» nicht um seiner selbst willen behandelt, sondern in unterschiedlicher Weise funktionalisiert und zur Akzentuierung anderer Aspekte herangezogen, so in den hier analysierten Partien aus Ovid, Statius und Homer, aber ebenso bei Aelian. Was das Spektrum der aus antiker Sicht sprachbegabten Tierarten anbelangt, so läßt sich feststellen, daß in sämtlichen Texten, unabhängig davon, zu welchem literarischem Genre sie gehören, eine Vielzahl von Beispielen für alle möglichen Spezies genannt wird. Meerestiere sind dabei nicht ausgenommen: So meint beispielsweise Plinius, Delphine reagierten aufgrund ihres Hörvermögens auf menschliches Rufen und ihre Stimme gleiche dem Stöhnen des Menschen (Nat. hist. 9.23). Das Seekalb äußere sich durch Blöken (mugitus), was ihm auch seinen Namen (vitulus) eingebracht habe; es lasse sich aber so weit dressieren, daß es sich eine Art Stimme aneigne und auf Befehl sogar grüße (Nat. hist. 9.41: accipiunt tamen disciplinam vocemque pariter et iussu populum salutant). Über eine Fischart, den exocoetus, berichtet Plinius, daß dieser in bestimmten Regionen angeblich keine Kiemen hat und über eine Stimme verfügt (Nat. hist. 9.70: circa Clitorium vocalis hic traditur et sine branchiis).102 In einem Punkt sind sich allerdings sämtliche Texte, in denen Formen tierischer Kommunikation thematisiert werden, einig: Mögen auch Fische, Elefanten, Hyänen und andere Tiere zu stimmlicher Artikulation in der Lage sein, so sind die bei weitem sprachbegabtesten Tiere stets Vögel. Doch auch sie weisen lediglich eine besondere mimetische Gabe auf und produzieren nicht selbst etwas, das der menschlichen Sprache wirklich vergleichbar wäre. Die hier betrachteten Beispiele liefern zugleich Ansatzpunkte für die Rekonstruktion des Sprachbewußtseins der Griechen und Römer sowie ihres anthropologischen Selbstverständnisses. Im Rahmen der ausgeprägten Tendenz zum Denken in Oppositionspaaren lassen sich verschiedene Typen von Alteritätskonzepten ausmachen: Von dem «Normalzustand» weichen nicht nur Fremde («Barbaren»), Sklaven, Frauen und Kinder ab, sondern auch Tiere.103 Menschliche Gruppen, die als andersartig wahrgenommen werden und daher marginalisiert sind, werden in ähnlicher Weise wie Tiere vielfach assoziiert mit physischen Unterschieden, politischer Bedeutungslosigkeit, fehlender Bildung und Unwissen, einem hohen Maß an Emotionalität und fehlender Zurückhaltung, nicht selten auch mit Amoralität. Angesichts solcher Divergenzen von der «Norm» ergibt sich eine fehlende Autorität im öffentlichen Kontext. Daß die genannten Gruppen «keine Stimme» haben, ist wörtlich zu nehmen und hat Auswirkungen auf die Art und Weise, in der ihre Kommunikationsfähigkeit wahrgenommen wird. Voll artikuliert und redebegabt ist nach griechischer wie römischer Auffassung in erster Linie der prototypische erwachsene männliche Sprecher. Mit Tieren haben es Kinder und Barbaren gemeinsam, daß sie nicht «sprechen» können; 102
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Siehe auch Oppian, Hal. 1.134 f. über den sogenannten Seepapagei: λ # , χ« κ 2« , 4!/# »# $« / / 4 κ (…). In dem langen Abschnitt über # im vierten Buch (Hal. 4.40–126) wird diese Gabe der Fische jedoch nicht noch einmal angesprochen – es sei denn, man faßt das Vogelgleichnis am Ende der Partie (Hal. 4.120–126) als eine Anspielung auf die Laute von Seepapageien auf. Eine dreigliedrige Antithese von Mensch vs. Tier, Mann vs. Frau und Grieche vs. Fremder («Barbar») ist laut Diogenes Laertios bereits für Thales von Milet belegt: Ng
« # , )« B"« 4« 2 $ μ G λ ] -«. # , #", ` ! ! 9 !9 α ξ Ρ Ν/ « , λ . / ", ρ Ρ $κ . -, " Ρ Ng λ . : : « (Diogenes Laertios 1.33).
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auch die Kommunikationsformen von Frauen werden als different aufgefaßt und gehören somit in eine ähnliche, wenn nicht dieselbe Kategorie (Fögen 2004). Die Grenzen zwischen der Norm und den davon abweichenden Bereichen sind jedoch nicht durchweg klar gezogen. Sobald emotionale Aspekte hinzutreten, verliert das Tier bis zu einem gewissen Grad seine Animalität, wenn auch fast nie vollständig (cf. Goguey 2003: 53–71). Ein höherer affektiver Bezug des Menschen zum Tier führt in der Regel zu einer stärkeren Anthropomorphisierung und zugleich zu der Zuschreibung einer «Sprach»begabung. Eine sympathisierende Sichtweise bringt es mit sich, manche Tiere als relativ komplexe Wesen mit gewissen Fähigkeiten aufzufassen, die denen des Menschen ähneln; dies sagt freilich mehr über subjektive menschliche Einstellungen als über die tatsächlichen Begabungen und Eigenschaften des Tiers aus. Daß sich also ein «Abstand zwischen Mensch und Tier (…) fortschreitend mit dem Wachsen der Kultur» ergibt, wie Radermacher (1918: 30) behauptet hat, ist für die griechisch-römische Welt so nicht haltbar. Der Gesichtspunkt der Emotionalität in Mensch-Tier-Beziehungen zeigt vielmehr, daß das Gesamtbild weitaus komplexer ist, als man zunächst vermuten mag. Die Kategorie der Alterität in bezug auf Tiere wie auf menschliche Randgruppen ist zwar in der Antike sehr ausgeprägt, aber nicht absolut. Hinzu kommt, daß nach antiker Vorstellung Sprachbegabung per se den Menschen noch nicht zu einem ethisch verantwortungsbewußten Wesen machen; es kommt vielmehr auf den richtigen Einsatz von Sprache an, wie vor allem Aristoteles und Cicero in ihren rhetorischen Werken betont haben.104
Literaturverzeichnis Eine ausführliche Forschungsbibliographie (Stand: Mai 2006) zum Thema «Animals in GraecoRoman Antiquity and Beyond», die über den Aspekt der Kommunikation weit hinausgeht, ist im Internet unter folgender Adresse zugänglich: www.telemachos.hu-berlin.de/esterni/Tierbibliographie_Foegen.pdf
Untersuchungen primär aus dem Bereich der Altertumswissenschaften: André, Jacques (1966): Onomatopées et noms d’oiseaux en latin, in: Bulletin de la Société de Linguistique de Paris 61.1, 146–156. André, Jacques (1967): Les noms d’oiseaux en latin, Paris. Ax, Wolfram (1978): h«, und « als Grundbegriffe aristotelischer Sprachreflexion, in: Glotta 56, 245–271. Ax, Wolfram (1986): Laut, Stimme und Sprache. Studien zu drei Grundbegriffen der antiken Sprachtheorie, Göttingen. Beagon, Mary (1992): Roman Nature. The Thought of Pliny the Elder, Oxford. 104
Bei diesem Aufsatz handelt es sich um eine stark erweiterte Fassung eines Vortrags, den ich an der Universität Rostock (April 2005) und an der Humboldt-Universität zu Berlin (Juni 2005) gehalten habe; einzelne Partien (vor allem zu Plinius d. Ä., Ovid und Statius) habe ich an der University of Illinois at Urbana-Champaign (Januar 2006) zur Diskussion stellen können. Die vorliegende Ausarbeitung wurde während meines Aufenthaltes am Washingtoner «Center for Hellenic Studies» der Harvard University erstellt. Douglas Frame (Harvard) und Annetta Alexandridis (Cornell) sei herzlich für eine kritische Lektüre des Textes gedankt.
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Giampiero Scafoglio
Giampiero Scafoglio
Elementi tragici nell’episodio virgiliano di Sinone È stato Heyne a evidenziare, per primo, il carattere eminentemente drammatico dell’episodio di Sinone (Aen. II, 57–198), sostenendo che il suo discorso ingannevole Graecarum tragoediarum eloquentiam et acumen redolet1. Un giudizio confermato in modo implicito dall’esame critico di Heinze2 e condiviso dai commentatori moderni a partire da Austin3. Del resto da tempo è concordemente riconosciuto e cospicuamente studiato l’influsso tragico in generale sul poema virgiliano, in particolare sul libro II4. Nel secolo scorso l’episodio di Sinone è stato oggetto di svariati contributi, che ne hanno sviscerato diversi aspetti stilistici e contenutistici: l’interesse si è appuntato soprattutto sul lungo e articolato discorso del personaggio (un vero capolavoro, tanto coinvolgente e persuasivo quanto falso e inconsistente), di cui sono stati segnalati gli espedienti retorici e i procedimenti ‹psicagogici› 5. Non è sfuggita neppure la presenza di incongruenze e contraddizioni, che tuttavia passano inosservate e non infirmano la riuscita della finzione, grazie all’eccellente costruzione complessiva6. In questo studio intendo quindi soffermarmi nuovamente sugli elementi tragici presenti nell’episodio (sia nella tecnica narrativa sia nell’intertestualità e nella forma dell’espressione), alcuni dei quali ad oggi non sono stati adeguatamente approfonditi, nemmeno nei volumi di Stabryla7 e Wigodsky8.
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Cf. l’excursus dedicato proprio a Sinone nel commento di Heyne 18324, p. 305–306. Heinze 1915 3, p. 8–12 = trad. italiana di Martina 1996, p. 38–41, 100–101, analizza l’apparato retorico del discorso così come l’ethos dell’intero episodio. A buon diritto Austin 1964, p. 57, afferma che «the whole manner of the speech shows the influence of the Greek tragedy», al punto che «Euripides would have approved it». Tra i contributi di più ampio respiro: Fenik 1960; König 1970. Un discorso di tipo programmatico è svolto da Quinn 1968, p. 323–349; Pöschl; Hardie 1997. Utili le voci dell’Enciclopedia Virgiliana: Eschilo, di Melandri, vol. II; Euripide, di Martina, ibid; Sofocle, dello stesso autore, vol. IV; Tragici latini, di Zorzetti, vol. V. Cf. Conte 1999, p. 17–42; La Penna 2005. Sul libro II: Knox 1950, p. 379–400; Mazzocchini 1992, p. 31–46; Fernandelli 1996; Idem 1997; S cafoglio 2001a; Idem 2001b. Paoletta 1968 si sofferma in particolare sul linguaggio ingannevole di Sinone. Lynch 1980, sviluppa un confronto di carattere stilistico, psicologico e sociologico tra il discorso del finto disertore e l’ammonimento di Laocoonte, assimilando il primo a un modello di eloquio e costume corrotto di tipo greco-orientale, il secondo all’ideale romano arcaico, concreto e virtuoso. Manuwald 1985 concentra la propria attenzione sull’architettura e sulla strategia di questa parte dell’Eneide, confrontandola con le linee generali della tradizione mitografica. Un utile resoconto d’insieme è delineato da C. Deroux, Sinone, in Enciclopedia Virgiliana, vol. IV. Molyneux 1986 conduce un attento esame del discorso e ne segnala i punti incoerenti, riconoscendo però che non bastano a indebolirne il potere persuasivo. Stabryla 1970 affronta la presenza della tragedia romana nell’Eneide in una trattazione sistematica, cospicua e puntuale, ma non sempre rigorosa e non ancora esaustiva; il limite più grave del libro consiste nel non tener conto dell’uso diretto dei modelli drammatici greci nel poema.
Elementi tragici nell’episodio virgiliano di Sinone
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La tradizione mitografica Il personaggio di Sinone è ignorato del tutto da Omero, che sembra attribuire a Odisseo il compito di aprire il ventre del cavallo di legno, accettato dai Troiani come un pegno votivo dopo un controverso dibattito9. Sinone esiste però fin dal più antico sostrato mitico, se compariva in alcuni poemi del ciclo epico, segnatamente nell’Ilias parua di Lesche e nell’Iliupersis di Arctino, i cui contenuti sono noti per sommi capi dai riassunti compilati da Proclo nella Crestomazia10. Omero si rifà a un filone mitico alternativo oppure compie lui stesso un intervento innovativo per così dire ex silentio, eliminando Sinone o sostituendolo con Odisseo11. È possibile che il poeta emargini il personaggio ed escluda volutamente il suo ruolo per non insistere sull’inganno attuato dagli Achei (un espediente indegno, che non avrebbe esaltato il loro valore bellico) o per attribuire a Odisseo il merito di aver favorito l’approccio dei Troiani col cavallo o di averne dischiuso il ventre al momento opportuno12. Per quanto riguarda il poema di Lesche, Sinone non è menzionato da Proclo, il quale fornisce un resoconto incompleto del ciclo13. Il suo ruolo è testimoniato però da Aristotele, che lo include tra i contenuti di drammi veri o potenziali, pur non entrando nel merito e non spiegando quale fosse concretamente il suo compito nel contesto del racconto (Poet. 1459a37-b7)14. La sua presenza nell’Ilias parua trova conferma nella Tabula Iliaca Capitolina (un bassorilievo del periodo augusteo o giulio-claudio, che raffigura episodi del mito 8
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Wigodsky 1972, p. 76–97, ha un approccio prudente, perfino scettico, in forza della frequente impossibilità di distinguere l’imitazione della tragedia romana da quella greca. Sul problema degli ‹strati›, cioè dei modelli sovrapposti, cf. l’esame dal valore esemplare svolto da Traina 1970 (19742), p. 181–186. Cf. il canto dell’aedo Demodoco, dedicato al cavallo di legno, al banchetto dei Feaci (Od. VIII, 499–520) e soprattutto lo spunto retrospettivo immediatamente precedente, pronunciato dal medesimo Odisseo, il quale si arroga segretamente (senza cioè rivelare la propria identità) il merito di aver propiziato il fatale inganno (vv.492–495). Per i riassunti tracciati da Proclo cf. Severyns 1963, p. 89–93. Per i frammenti dei poemi del ciclo: Bernabé 1987, p. 71–92; Davies 1988, p. 49–66; da ultimo West 2003, p. 118–152. Questa non sarebbe l’unica variazione apportata dall’epica omerica alla tradizione mitologica precedente, in funzione dell’impostazione ideologica o dell’economia narrativa. Basti pensare che, per presentare Odisseo come un personaggio positivo, Omero tace i suoi misfatti, come l’omicidio di Palamede (cf. Pausania, X, 31, 2; molto meno esplicito Proclo, 166 Severyns) e il tradimento nei confronti dell’amico Diomede (Pausania, Att. 14; Esichio, 1881). Si veda Jones jr. 1965, secondo cui il ruolo di Sinone, così come il suo carattere, apparteneva allo stesso Odisseo in un antico filone del mito, riecheggiato nell’epos omerico. I tagli nei riassunti sono stati operati da Proclo stesso per evitare gli elementi ripetitivi o, come vuole Severyns 1928, p. 356–358, «par le grammairien qui détacha les résumés de la Chrestomathie pour les mettre en tête d’un édition de l’Iliade»; oppure da un grammatico anteriore, attivo nel periodo ellenistico, «concerned to produce a continuous, nonrepetitive narrative», come pensa West 2003, p. 12. Non si può escludere però che Proclo leggesse questi poemi in uno stato redazionale tardo, frutto di un precedente lavoro editoriale teso a snellire i testi, a selezionare e organizzare i contenuti, allo scopo di integrarli in unum corpus, per tramandarli più agevolmente: cf. S cafoglio 2004b. Ecco il testo aristotelico, curato da R. Kassel, Oxonii 1965: ¹ # Ν (scil. i poemi del ciclo, messi a confronto con quelli omerici, dal profilo più compatto e coerente) λ λ λ λ » , ² K « λ κ #I . ! ξ #I« λ #O « 9 $ % & ' « ν , ! ξ K $ λ λ « »« #I« [' )*, Ρ$ «, ,-«, N«, E. «, $ , / , #I ' « λ $« λ 1 $ λ T 9 $ «]. Questo elenco è considerato interpolato da Kassel, persuaso da Else 1963 2, p. 580–593. Contra, Gallavotti 1974, p. 90–91, 191–193.
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troiano tratti da Omero, dal ciclo epico e da Stesicoro)15: in un riquadro del settore inferiore, basato appunto sul poema di Lesche, è rappresentato il cavallo di legno trascinato da un gruppo di Troiani, guidato da Priamo e preceduto da Sinone, spinto avanti da un soldato a mo’ di prigioniero, con le mani legate dietro la schiena, in prossimità della porta Scea16. Più chiaro il ruolo di Sinone nel poema di Arctino: secondo Proclo (252 Severyns), egli si introduceva con l’inganno nel borgo fortificato e da qui inviava segnali luminosi agli Achei, nascosti in mare17. In un altro ramo del mito (attestato dallo Pseudo-Apollodoro nell’Epitome Vaticana e richiamato da Plauto nelle Bacchides) 18 il medesimo compito è assolto da Sinone dal monumento funebre di Achille, fuori dalle mura della città: una variante risalente forse anch’essa all’epica ciclica, la cui formazione stratificata (conseguente all’evoluzione diacronica della materia poetica, tramandata prima oralmente e passata successivamente per una fase intermedia di ‹auralità›) contemplava diverse versioni delle stesse vicende19. Non sappiamo se Sinone comparisse nell’Iliupersis di Stesicoro o in altri carmi riguardanti il mito troiano, composti ad esempio da Ibico e Simonide, nel periodo arcaico20. La sua presenza è sospettata ragionevolmente nella tragedia attica, che riprende in larga misura la panoramica mitologica dell’epica ciclica, pur interpretata in chiave innovativa. In particolare, un Sinone è attribuito a Sofocle dal lessicografo Esichio, il quale ne riferisce tre brevissimi frammenti (ciascuno consistente in un unico lemma), avulsi dai rispettivi contesti e privi di senso21. L’esistenza di questa tragedia, che non è menzionata in nessun’altra fonte, è messa in discussione, se non nettamente negata, da molta parte della critica: Sinone sarebbe piuttosto un secondo titolo attribuito a un altro dramma di Sofocle, comprendente ovviamente questo personaggio. Si è pensato quindi al Laocoonte, che trattava fatti avvenuti nello stesso torno di tempo; purtroppo però nel sintetico resoconto di Dionisio di Alicarnasso (Ant. Rom. I, 48, 2), così come nei frammenti superstiti, non compare nessun 15
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È una delle venti Tabulae Iliacae, conservate in diverse città, da Varsavia a New York. Si trova nel Museo Capitolino a Roma, da cui prende nome. È descritta puntualmente, con ricchezza d’informazione bibliografica, da Sadurska 1964, p. 24–37, con riproduzione fotografica, pl. I. La corrispondenza di tale raffigurazione con le fonti letterarie greche è stata revocata in discussione (soprattutto per quanto riguarda Stesicoro), anche in ragione di una presunta influenza dell’Eneide: Perret 1942, p. 84–89, 109–115; Galinsky 1969, p. 106–113; specialmente Horsfall 1979. Il valore documentario del bassorilievo è difeso però con validi argomenti da Debiasi 2004, p. 167–177; analogamente S cafoglio 2005. La scena è accompagnata da una didascalia, che ne propizia la leggibilità: T $« λ , « $ μ 2 (scil. nelle mura della città); seguono i nomi di Priamo, Sinone e Cassandra (G. Kaibel, IG 14, 1284). È possibile che il medesimo fine fosse perseguito da Sinone, lasciatosi appositamente catturare, nel poema di Lesche. Ma non è da escludere neppure una uariatio: una strategia documentata pure per altre figure e vicende compresenti, ma delineate in maniera studiatamente diversa, in queste due opere (ad esempio, penso agli omicidi di Priamo e Astianatte). Cf. Pseudo-Apollodoro, Epit. 5, 18; Plauto, Bacch. 938 (il servo Crisalo si paragona ai principali personaggi del mito troiano, compreso Sinone, che avrebbe espletato il proprio scopo in busto Achilli). Il modello diretto del commediografo romano può essere stato l’Equos Troianus di Livio Andronico o di Nevio: è possibile che i poeti tragici latini trovassero questo dato nel dramma ellenistico, che si rifaceva a un filone mitico marginale, se non del tutto nuovo. Sulla genesi peculiare dell’epica ciclica, cf. Burgess 2001, ch. 1 e 3, passim; S cafoglio 2004a. Il poemetto di Stesicoro è ricostruito per quanto possibile da Bowra 19612, p. 101–106; i frammenti superstiti sono editi da: Davies 1991, p. 183–205; Campbell 1991, p. 100–121. Sui frammenti di Ibico e Simonide riguardanti il tema troiano cf. quest’ultimo volume, p. 262–263 e 448–449. Cf. Esichio, I, p. 77, 99, 289 Latte; Pearson 1963, p. 181–183; Radt 19992, p. 413–415.
Elementi tragici nell’episodio virgiliano di Sinone
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accenno a Sinone22. Il personaggio non è nominato nemmeno da Euripide, nella rievocazione retrospettiva della conquista di Troia, nelle lamentazioni corali intonate dalle prigioniere iliache nell’Ecuba (vv.905–913) e nelle Troiane (vv.511–576), dove gli avvenimenti sono semplificati e ridotti al minimo, per lasciare spazio ai sentimenti e agli slanci di pathos. Non sappiamo se Sinone comparisse ed eventualmente che ruolo svolgesse nel dramma postclassico ed ellenistico. Servio testimonia che, in un imprecisato carme di Euforione, Odisseo assolveva il medesimo compito attribuito da Virgilio a Sinone (ad Aen. II, 79) 23. Torna in mente l’evocazione retrospettiva dell’Odissea appena discussa (VIII, 494–495), sia che fosse una versione ancora più antica, risalente alla gestazione preletteraria dell’epica greca, sia che fosse invece un’invenzione omerica, riscoperta in epoca ellenistica per la tendenza tipicamente alessandrina alla valorizzazione delle leggende peregrine e delle varianti secondarie. Non è chiaro, peraltro, se l’Odisseo di Euforione (a prescindere dal fatto che fosse o meno lo stesso di Omero) convincesse i Troiani ad accogliere il cavallo di legno come un dono votivo, al modo del Sinone di Virgilio; o si limitasse a inviare segnali luminosi ai compagni, dopo essersi introdotto con l’inganno in mezzo ai nemici (secondo il filone arcaico, tramandato per primo da Arctino). Non saprei nel caso specifico quanto credito meriti Servio, il quale è spesso impreciso nell’attribuire componimenti e argomenti agli autori più antichi24. Il personaggio di Sinone si trova poi nel dramma romano arcaico, in cui il mito troiano sembra essere un tema privilegiato25. A dire il vero, non è documentato e non è dimostrabile, per quanto sia logicamente plausibile, che lui comparisse nei due Equi Troiani, composti rispettivamente da Livio Andronico e Nevio26. Egli era presente di certo nel Deiphobus di Accio, di cui rimangono sei brevi frammenti, alcuni dei quali riguardanti appunto questo personaggio27. Infatti, in un brano di due settenari trocaici (vv.253–254 Dangel) un Troiano anonimo racconta di essere uscito in mare a pescare e di essersi spinto «alquanto più a largo del solito», oppure «più avanti» lungo il lido (aliquanto solito … longius): sembrano le premesse, le coordinate spaziali e temporali di un’esperienza notevole e peculiare. In un altro settenario (v.255 Dangel), lo stesso Troiano riferisce di aver catturato, con l’aiuto dei compagni o di alcuni soldati venuti in aiuto, un misterioso personaggio, senz’altro un Acheo, rimasto isolato e incontrato accidentalmente (nascosto in un canneto o nei bassifondi fangosi, nei pressi del mare, a giudicare dal frammento precedente). I due passi 22
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Sul Laocoonte di Sofocle cf. Nauck 18892 (rist. 1964), p. 211–213; Pearson 1963, p. 38–47; Radt 19992, p. 330–334; Cadoni 1978; S cafoglio 2006a. Dopo aver ricordato il rapporto genealogico e il legame di sangue tra Odisseo e Sinone, i quali consobrini ergo sunt, Servio aggiunge: nec inmerito Vergilius Sinoni dat et fallaciam et proditionis officium ne multum discedat a fabula quia secundum Euphorionem Vlixes haec fecit. Cf. Thilo – Hagen 1881 (rist. 1961), p. 253–254. Per il commento di Servio e per il Seruius auctus occorre tenere presente altresì l’editio Haruardiana, curata da Rand-Savage 1946. Cf. Goold 1970, che fornisce un cospicuo dossier degli errori commessi da Servio come dal Seruius auctus (notizie incerte, citazioni imprecise, esagerazioni nelle segnalazioni della dipendenza virgiliana dalle fonti, etc.). D’altro canto, se è opportuno riconoscere i limiti dei commentatori antichi, non si deve nemmeno dimenticare il loro contributo documentario ed esegetico, spesso prezioso. A riguardo cf. il mio studio: S cafoglio 2006c (con una revisione critica e una puntuale discussione delle parti superstiti di varie opere). Cf. Ribbeck 18973, p. 3, 9; Warmington 1936, p. 10–11, 116–117; Klotz 1953, p. 26, 34. Edizioni: Ribbeck 18973, p. 176–177; Warmington 1936, p. 410–413; Klotz 1953, p. 211–212; con commento: Franchella 1968, p. 77–84; D’Antò 1980, p. 84–85, 245–248; Dangel 1995, p. 158–159, 317–318.
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sembrano appartenere al resoconto del ritrovamento di un nemico, catturato e condotto poi al cospetto di un personaggio autorevole, che deve essere Priamo. Dal discorso dello strano prigioniero provengono probabilmente altri due frammenti (vv.256–257 e 258–259 Dangel), su cui avrò modo di tornare più avanti: per adesso è sufficiente dire che l’io parlante fa riferimento a un personaggio sleale e infido, di cui lamenta l’atteggiamento persecutorio; nel secondo segmento si scopre che si tratta di Ulisse, stigmatizzato violentemente (ma non senza ostentazione) per il suo cinismo. Immediato e palesemente plausibile il confronto col Sinone di Virgilio. Nel Deiphobus però il profugo greco, pur avanzando un discorso mistificante sul proprio conto e presentando lo stesso Ulisse come un nemico torvo e insidioso (come nel poema virgiliano), non serviva a favorire l’approccio dei Troiani col cavallo di legno e nemmeno a rivelarne il carattere di pegno votivo. Tale funzione era espletata da un’apposita iscrizione: Mineruae donum armipotenti abeuntes Danai dicant (v.260 Dangel). D’altronde, se è probabile che l’episodio di Sinone occupasse un posto di rilievo, nondimeno al centro del dramma si doveva trovare il personaggio di Deifobo, protagonista di fatti violenti e patetici durante l’attacco notturno28. Al Deiphobus di Accio, se non a un modello comune, si collega probabilmente Igino nella Fabula 108, che racconta la conquista di Troia, concedendo ampio spazio al cavallo di legno29. A ben guardare, non pochi punti trovano riscontro nel racconto retrospettivo di Enea, nel libro II del poema virgiliano: nell’ottica di una relazione di dipendenza è significativa la corrispondenza linguistica ancor più che la somiglianza contenutistica, imputabile alla condivisione di una determinata versione mitologica o di una precisa fonte letteraria30. Il racconto di Igino però non procede direttamente ed esclusivamente da quello virgiliano, rispetto a cui fa registrare uno scarto quantitativo e qualitativo notevole: elimina gli episodi di Laocoonte e di Sinone; modifica qualche particolare (ad esempio, nominando Diomede al posto di Epeo tra i guerrieri nascosti dentro il cavallo di legno); aggiunge un elemento a sé stante, che sostituisce (in modo però nettamente riduttivo) il compito attribuito da Virgilio al falso disertore: si tratta dell’iscrizione Danai Mineruae dono dant, che riproduce in forma ametrica e appena più sintetica quella citata or ora della tragedia romana, da annoverare di conseguenza tra le fonti della Fabula.
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Il ‹duello› di Deifobo con Menelao (attestato fin da Omero e dal ciclo epico) non poteva essere ignorato da Accio, che doveva relegarlo nel resoconto di un messaggero, trattandosi di un fatto cruento. È plausibile che egli fosse sorpreso nel sonno e aggredito da Menelao con l’aiuto di Ulisse, come nel rapido e incisivo racconto retrospettivo delineato nell’Ade virgiliano (Aen. VI, 511–530), che probabilmente per il contenuto e per il color tragicus è ispirato proprio al dramma di Accio. Cf. S cafoglio2004c. Cf. il testo di Igino recensito e sinteticamente commentato da Rose 19672, p. 98; torna utile anche il discorso introduttivo sui fontes (p. VIII–XII), pur lontano dall’esaurire il problema. Nel racconto tracciato da Igino, Epeo costruisce monitu Mineruae un cavallo di legno mirae magnitudinis (cf. Aen. II, 15, instar montis equum diuina Palladis arte); i Troiani si addormentano lusu atque uino lassi (cf. Aen. II, 265: la città è definita somno uinoque sepultam); i soldati greci escono ex equo aperto a Sinone (cf. Aen. II, 259, laxat clasutra Sinon) e uccidono i guardiani, mentre i compagni tornano dal mare (come ad Aen. II, 265–267). Gli Achei chiusi nel simulacro equino sono gli stessi tranne Diomede, sostituito da Igino a Epeo, l’ultimo a uscire nel racconto virgiliano (vv.261–264). Anche la profezia inascoltata di Cassandra (id uates Cassandra cum uociferaretur, inesse hostes, fides ei habita non est) è comune all’Eneide, vv.246–247: tunc etiam fatis aperit Cassandra futuris / ora dei iussu non umquam credita Teucris.
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L’interpretazione virgiliana Nel racconto di Virgilio, l’episodio di Sinone si inserisce nello iato tra il primo e il secondo segmento riguardante Laocoonte31, tra il suo avvertimento (vv.40–56) e il suo conseguente supplizio (vv.199–233)32. I fatti del finto disertore e dello sventurato principe troiano diventano quindi interdipendenti sul piano funzionale e semantico, in quanto si integrano in un comune sistema di significati, si completano e si illuminano reciprocamente, con risultati notevoli e risvolti delicati. Infatti, il giavellotto scagliato da Laocoonte nel corso del suo perentorio e accorato avvertimento si è appena infisso nel ventre del cavallo con un cupo rimbombo rivelatore, fatalmente non compreso dai Troiani, quando entra in gioco il prigioniero greco, trascinato da un gruppo di pastori al cospetto di Priamo (vv.57 ss.). Al termine del discorso di Sinone, mentre tutti sono ancora concentrati su di lui e su quanto ha ingannevolmente rivelato, gli sguardi sono improvvisamente attratti da un tremendo prodigio, che travolge Laocoonte e i figli in un atroce supplizio (vv.199 ss.). A propiziare il passaggio da un episodio all’altro (in termini tecnici, a suturare l’incastro dei blocchi narrativi), due segmenti di commento lirico, che esprimono i sentimenti dell’io narrante, sussumono il senso del racconto e nel contempo ne accentuano il pathos (vv.54–56, 195–198). Virgilio presenta Sinone sinteticamente, ma emblematicamente, anticipando lo scopo del suo intervento (v.60, hoc ipsum ut strueret Troiamque aperiret Achiuis) e il suo stato d’animo risoluto e pronto a tutto (vv.61–62, fidens animi atque in utrumque paratus / seu uersare dolos seu certae occumbere morti ). Il significato paradigmatico dell’episodio, ovvero il suo messaggio ideologico, è espresso anch’esso fin dall’inizio dal narratore consapevole (vv.65–66)33. Il discorso di Sinone si divide in quattro parti, la prima delle quali, assai breve (vv.69–72), assolve un ruolo meramente introduttivo, tesa com’è a suscitare l’interesse dei Troiani, il loro coinvolgimento emotivo: si tratta infatti di una sequenza concitata di domande retoriche, che racchiudono in nuce tutta la sua storia e ne preannunciano la profonda sofferenza (non senza una sottolineatura di enfatica ostentazione). Il prigioniero si presenta come un esule apolide, estromesso e perseguitato dal proprio popolo. Ottenuto l’esito sperato, il mutamento d’animo dei Troiani, che adesso si mostrano commossi e incuriositi, Sinone intraprende il proprio racconto: rievoca il conflitto tra Ulisse e Palamede, quem falsa sub proditione Pelasgi / insontem infando iudicio, quia bella uetabat, / demisere neci (vv.83–85). E inserisce abilmente se stesso in questo contesto, dicendo di essere stato affidato a Palamede dal padre indigente a mo’ di comes e consanguinitate propincus (quasi spinto dal bisogno a mettersi al servizio del famoso parente e a unirsi all’esercito, suo malgrado); quindi racconta di aver condiviso gli onori di quello e di essere caduto poi nell’oblio, dopo il suo tracollo; da ultimo ricorda di aver giurato di vendicare l’amico, suscitando l’odio di Ulisse, il quale lo ha perseguitato e rovinato (vv.77–104). Il racconto si interrompe ex abrupto sul 31
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È possibile che il poeta abbia tratto spunto dall’espediente ellenistico dell’incastro, quanto meno per l’inserimento di un episodio dentro l’altro. Tuttavia la realizzazione virgiliana è incommensurabile, per concatenazione e drammaticità, con la tecnica alessandrina, come dimostra Heinze 1915 3, p. 12–20 = trad. ital. p. 42–49. Sullo sviluppo e sul significato dell’episodio di Laocoonte, rielaborato da Virgilio in modo innovativo rispetto ai dati mitici tradizionali, cf. Zintzen 1979. Avrei voluto definire Enea narratore onnisciente, dal momento che conosce l’esito degli eventi, per averlo già vissuto; ma si riscontra un dislivello di coscienza tra il lettore e l’io narrante, che non comprende pienamente il significato della propria esperienza.
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nome di Calcante (v.100, donec Calchante ministro … con un costrutto dal valore logico subordinato, che presuppone un prosieguo deliberatamente omesso): un nome dal suono sinistro, gravido di presentimenti funesti (promananti dai trascorsi del personaggio, presentato fin dal mito arcaico come un «), che gioca qui un ruolo decisivo, lasciato studiatamente in sospeso, per suscitare l’accanimento degli ascoltatori, desiderosi ormai di conoscere il seguito. Sinone conclude questa sezione del discorso col provocatorio invito rivolto ai Troiani a ucciderlo, compiacendo in tal modo Ulisse e gli Atridi (vv.101–104): un’affermazione iperbolica e paradossale, che comunica un’impressione invertita e stravolta della realtà. Va da sé che i Troiani non accennano minimamente a fargli del male, a questo punto. Tra una parte e l’altra del discorso, lo sguardo si allarga sul popolo circostante, di cui si rende dal di dentro (dal punto di vista di Enea, che fa parte di loro) il comune sentire, che consiste in un interesse crescente, partecipe fino a diventare gradualmente solidale, nei confronti dello sventurato prigioniero (vv.105–106 e, più avanti, v.145). Poi Sinone riprende il racconto, rivelando un susseguirsi di truci eventi, che muovono da alcuni prodigi nefasti e da un macabro oracolo per arrivare a un sacrificio umano, all’ombra di una sanguinaria religione ancestrale, in cui la vendetta divina (scatenata dall’empietà e dalla profanazione) è chiamata in causa strumentalmente e subordinata alla vendetta umana (vv.108–144). Gli Achei, estenuati ormai dal lungo protrarsi del conflitto e determinati a rimpatriare, erano trattenuti dai venti contrari, suscitati dagli dei ostili, da placare con l’olocausto di un soldato greco, come prescritto dall’oracolo consultato da Euripilo. Chiamato da Ulisse a designare l’uomo da immolare, Calcante aveva tentato di esimersi ed era rimasto per dieci giorni in silenzio; poi aveva ceduto e si era accordato col perfido personaggio, il quale si era servito di lui, dell’oracolo e del volere divino per vendicarsi di Sinone, il cui destino era presagito e vociferato da tutti, acconsenzienti per stornare da sé il pericolo. Quando il giorno del sacrificio era prossimo ed erano stati già espletati i preparativi, Sinone era fuggito e si era nascosto in un lago melmoso, dove era rimasto finché gli Achei non erano salpati. Il racconto culmina e si conclude con un intenso sfogo di dolore: la consapevolezza di non poter mai più tornare in patria né rivedere la famiglia (destinata forse a subire ritorsioni) è scaturigine di ostentata sofferenza e funge da premessa per una richiesta di pietà e di grazia, avanzata infine non senza invocare la divinità e le più nobili idealità, la verità e la fede. Interpretando il sentimento comune dei Troiani, Priamo ordina di liberare il prigioniero, lo rassicura e lo accoglie nel proprio popolo (vv.145–147). Proprio il re gli dà l’agio di adempiere il suo compito fatale, interrogandolo sul cavallo di legno (vv.150–152). Questo l’oggetto della quarta parte del discorso tenuto da Sinone, il punto di arrivo di tutto il suo piano, che sta per andare in porto (vv.154–194). Un’invocazione altisonante, che richiama nuovamente la mancata immolazione a guisa di formula sacrale, introduce ancora una storia di empietà e di vendetta divina (indipendente da quella precedente e, per singole circostanze, finanche incongruente con essa, ma partecipe della medesima temperie di religiosità tenebrosa). Il furto del Palladio, perpetrato da Ulisse e Diomede, aveva scatenato orrendi prodigi nel campo acheo: Atena, già patrona e alleata dell’Ellade, si era adirata per la profanazione della propria immagine, toccata con mani insanguinate. Gli Achei erano tornati in territorio greco per espletare riti catartici, come prescritto da Calcante, che aveva ordinato pure di costruire il cavallo di legno come dono votivo: se i Troiani lo avessero distrutto, in seguito sarebbero stati sconfitti e conquistati dagli Achei, che sarebbero tornati da un momento all’altro; se invece lo avessero accolto
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con religioso rispetto, sarebbero stati loro in futuro a prevalere e ad asservire tutto il mondo greco. L’episodio è suggellato dal commento lirico, pronunciato dall’io narrante, che sottolinea il peso dell’inganno ordito dal falso disertore, decisivo per l’esito del conflitto (vv.195–198). L’intervento di Sinone è racchiuso in uno schema circolare dal doppio episodio di Laocoonte, che ne potenzia l’effetto sul versante tecnico-narrativo e ne completa il significato a livello ideologico. Il discorso del sedicente disertore in merito al cavallo di legno sembra trovare un riscontro nel terribile supplizio, consumato all’improvviso sotto gli sguardi attoniti e agghiacciati dei Troiani, i quali pensano che Laocoonte sia stato punito per aver profanato il dono votivo e, spaventati piuttosto che entusiasti, si convincono ad accoglierlo. Si crea quindi un circolo virtuoso tra gli episodi di Sinone e Laocoonte, che cooperano di fatto al conseguimento del medesimo scopo (malgrado l’intento del principe iliaco sia diametralmente opposto). Questo aiuta a spiegare e, in una prospettiva valutativa, a giustificare il comportamento autodistruttivo dei Troiani, che di per sé potrebbe sembrare eccessivamente ingenuo e sprovveduto, se non che si sottrae a un tale giudizio, condizionato com’è dal diabolico stratagemma degli Achei e perfino dall’intervento divino. Tutta la vicenda ispira anzi una simpatia commossa e ammirata per la popolazione troiana, vittima in ugual misura della propria generosità, della subdola falsità achea e dell’immotivata ostilità divina34.
Introspezione psicologica e strategia della finzione Il discorso di Sinone contempla svariati espedienti concettuali e stilistici, tesi a simulare l’ethos e a fomentare il pathos. La strategia di persuasione è tutta incentrata sulla capacità di suscitare simpatia (concepita etimologicamente come partecipazione emotiva), ad onta di eventuali incongruenze e contraddizioni. Un esempio lampante: Sinone racconta di essere stato affidato dal padre al consanguineo Palamede a mo’ di comes, «assistente» più che «compagno», quasi fosse un giovinetto uscito da poco dal nucleo familiare (vv.86–87); più tardi però lui rimpiange di non poter rivedere i propri figli e paventa che il furore vendicativo degli Achei si ritorca su di loro (vv.137–140). È stata notata l’incongruenza di queste e altre affermazioni, considerate la spia di una debolezza della simulazione, che risulterebbe perfetta solamente in apparenza, mentre si rivelerebbe superficiale e approssimativa a un’analisi attenta. Ma la verità è che la consequenzialità della narrazione è sacrificata alle esigenze contingenti e all’efficacia della persuasione. Sinone si presenta come un giovinetto per spiegare il proprio ruolo al fianco di Palamede e per deresponsabilizzarsi dal coinvolgimento nel conflitto con i Troiani; diventa poi un padre preoccupato per i figli, per far apparire più penoso agli occhi dei nemici il suo stato di esule. Il coinvolgimento degli ascoltatori è perseguito con ogni mezzo e ad ogni costo, perfino a danno del rigore interno del racconto. La persuasione dunque si esplica tutta nella sfera emotiva, a cui appartengono le strategie della miseratio sui e della captatio beneuolentiae. L’intera vicenda non è descritta esclusivamente nella sua evoluzione concreta, esteriore, ma è esplorata pure nella dimensione inte34
L’innocenza della popolazione troiana è fissata definitivamente, a guisa di epigrafe tombale, nell’immagine della città distrutta, nell’incipit del libro III: postquam res Asiae Priamique euertere gentem / immeritam uisum superis, ceciditque superbum / Ilium et omnis humo fumat Neptunia Troia (vv.1–3); dove spicca l’aggettivo immeritam (v.2).
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riore mediante l’introspezione psicologica, condotta con tecnica raffinata sia nella rappresentazione della condizione individuale di paura (simulata)35, sia nell’esternazione della mentalità della massa36. Ma il rilievo più sottile riguarda lo stato d’animo di Sinone rispetto al sacrificio, a cui egli finge di essersi sottratto quasi a malincuore, con un sentimento controverso, combattuto tra il disperato desiderio di vivere e il rimorso: eripui, fateor, leto me et uincula rupi (v.134), con l’inciso fateor dal significato pregnante, a rendere il forte disagio legato al proprio comportamento, considerato evidentemente un nefas sul piano morale. È ancora l’introspezione psicologica a compensare la contraddizione emergente tra la necessità di propiziare la divinità anima Argolica («col sacrificio di un Acheo», come dice il responso riferito da Euripilo, vv.116–119) e la successiva partenza della flotta per la Grecia, avvenuta ugualmente, anche se la vittima designata è fuggita e la cruenta pratica rituale non è stata adempiuta (v.180, nunc quod patrias uento petiere Mycenas). La contraddizione non è dissimulata, ma viene riassorbita con disinvoltura in una fine notazione introspettiva: nascosto nei bassifondi fangosi, rimasto all’oscuro dei fatti, Sinone esprime uno stato d’animo sospeso e incerto, nell’attesa e anzi nella speranza della partenza della flotta, non ritenuta sicura, ma auspicata con trepidazione (v.136, delitui, dum uela darent, si forte dedissent). La contraddizione più forte ed evidente riguarda ancora la partenza della flotta: in un primo momento Sinone dice che gli Achei sono salpati definitivamente, stanchi e rassegnati ad abbandonare il conflitto (vv.108–144); poi però racconta che essi sono ritornati in territorio greco ad auspicium repetendum, decisi a riprendere al più presto il cimento bellico (vv.154–194). Le due versioni sono funzionali rispettivamente alle esigenze dell’una e dell’altra parte della simulazione, che si dipana in due fasi distinte sia ‹geneticamente› (in base cioè alle fonti) sia strategicamente: la prima, soggettiva e biografica, appare subordinata a sua volta alla seconda, che contempla la meta di tutta la vicenda.
Architettura e tecnica narrativa Il carattere ‹tragico› dell’episodio di Sinone trova un primo, evidente riscontro nell’impianto dialogico (quasi un discorso continuo, inframmezzato e scandito dagli interventi di un interlocutore-ascoltatore): un personaggio conduce un racconto denso di pathos davanti a un destinatario privilegiato, che lo interroga di tanto in tanto, con un gruppo di spettatori partecipi e intensamente coinvolti, il popolo troiano, che non si limita ad assistere passivamente, ma assume atteggiamenti ed esprime sentimenti a mo’ di un coro. Quest’ultimo nel genere tragico rappresenta spesso un popolo, di cui impersona gli esponenti eminenti (ad esempio, gli anziani consiglieri nei Persiani di Eschilo). Nell’episodio virgiliano però il popolo non parla direttamente, come il coro in un dramma: è Enea a descrivere il sentire dei propri concittadini, il loro incuriosirsi e commuoversi al racconto di Sinone (vv.63–64,
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Cf. vv.67–68, conspectu in medio turbatus inermis / constitit, il cui soggetto è Sinone; v.107, prosequitur pauitans et ficto pectore fatur, con le due allitterazioni in funzione intensivo-patetica e con la connotazione aggettivale ‹rivelatrice›. Si pensi al cambiamento dei sentimenti nei confronti del nemico, divenuto poi supplice (vv.105–106, 145); si pensi al consenso accordato da tutti al responso di Calcante, per stornare il timore comune unius in miseri exitium (vv.130–131).
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73–75, 105–106, 145, 195–198). Enea stesso, tra un segmento e l’altro del discorso del falso disertore, svolge un commento lirico, che incornicia e attraversa l’intero episodio, ne segue lo sviluppo e ne anticipa l’esito, ne accresce il pathos e ne evince il significato ideologico: un insieme di scopi senz’altro riconducibile a un coro tragico. Vi è di più. Enea costituisce l’io narrante di tutto il libro (come del successivo): è stato paragonato a buon diritto a un Ν« proprio del dramma, rispetto al quale si riscontra però un coinvolgimento molto più profondo nel racconto, dal momento che egli non è stato un semplice testimone, bensì un protagonista dei fatti37. Proprio per il suo doppio ruolo di narratore e protagonista, messo in risalto fin dall’incipit del libro, egli non si lascia assimilare tout court a un Ν« tragico38. D’altro canto, egli non coopera attivamente all’episodio di Sinone, a cui assiste e partecipa nell’insieme del popolo troiano. Egli rimane nondimeno l’io narrante, l’interprete dello stato d’animo collettivo: diventa perciò, in questo tratto del libro, un modello di messaggero tragico, che per di più congloba in sé anche l’investimento funzionale del coro, se si vuole, il suo contenuto semantico: il commento lirico. Oltre che Enea, lo stesso Sinone adempie il compito di Ν« per mezzo del proprio racconto nel racconto, non tanto nelle prime tre parti del discorso, bensì nella quarta, in cui egli ripercorre i trascorsi degli Achei, di cui è stato spettatore e non più protagonista. A una 3« $ rimanda anche la struttura della narrazione, che si sviluppa rapida e incisiva, con la gradazione crescente della tensione patetica nella descrizione dell’ira divina (vv.172–175) e con esclamazioni incidentali passim (v.174, mirabile dictu, riguardo ai prodigi seguenti al furto del Palladio; vv.190–191, quod di prius omen in ipsum / conuertant, a proposito di Calcante, che ha previsto il magnum exitium del regno di Priamo). L’atroce supplizio di Laocoonte, consumato al termine dell’episodio di Sinone, costituisce anch’esso un degno oggetto per il resoconto di un messaggero tragico (di nuovo Enea, narratore in questo brano come nell’intero libro), per l’intervento dei draghi e in generale per essere un fatto di sangue, che non sarebbe potuto avvenire sotto gli occhi degli spettatori in un dramma. Il carattere tragico dell’episodio di Sinone si rispecchia poi sul piano stilistico, in particolare in un procedimento tipico del genere drammatico: l’anfibologia, vale a dire la comunicazione ambigua e irrisolta, che dissimula ad arte la rivelazione di una verità nascosta o l’anticipazione di una vicenda futura, inattesa oppure paventata. Un espediente, questo, consistente in un discorso dal doppio significato: uno superficiale, rivolto a un interlocutore inconsapevole o sprovveduto; uno profondo, adombrato con strumenti specifici (risvolti semantici impliciti; diversivi; sottintesi) e opacizzato con appositi segnali allusivi, indirizzato a un differente destinatario (presente o meno nel testo) e condiviso almeno idealmente col fruitore del dramma (spettatore o lettore)39. Dall’anfibologia scaturisce l’ironia tragica, appannata da un’impressione di ambiguità e da una venatura di amarezza,
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Non a torto Austin 1964, p. 29, osserva che «the whole Book is a personal narrative, an eyewitness account of the fall of Troy, told by a survivor. Virgil has adapted to Epic the technique of the Messenger’s speech in Greek Tragedy». Un appropriato termine di paragone per il coinvolgimento diretto nei fatti narrati sembra essere il superstite-messaggero nei Persiani di Eschilo: cf. Ussani jr. 1950. Cf. il passo iniziale del racconto di Enea: Infandum, regina, iubes renouare dolorem / Troianas ut opes et lamentabile regnum / eruerint Danai, quaeque ipse miserrima uidi / et quorum pars magna fui (vv.3–6). Per una definizione dell’ironia legata all’anfibologia e connotata equivocamente, con esemplificazione tratta da opere drammatiche, cf. Paduano 1983.
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denominata così perché appartenente alla tragedia per antonomasia, ma probabilmente presente in questa parte della narrazione virgiliana40. Doppi sensi e sottintesi nel discorso di Sinone sono rinvenuti occasionalmente fin dal commento di Servio, il quale però non coglie pienamente il significato di tale procedimento. Quest’ultimo non è sfuggito ad alcuni critici moderni (primo tra tutti, non per caso, il grande poeta Giovanni Pascoli)41; non è stato però sviscerato in modo sistematico ed esaustivo. D’altro canto, il fenomeno è stato ignorato e perfino negato da uno dei più penetranti interpreti virgiliani, quale Richard Heinze42. Sinone introduce così il racconto: cuncta equidem tibi, rex, fuerit quodcumque, fatebor / uera, inquit, neque me Argolica de gente negabo (vv.77–78). Uno scolio del Seruius auctus individua un paralogisma: uera inquit ut et falsa, quae postea dicturus est, uera credantur: ideo primo a ueris coepit (ad Aen. II, 77). La capziosità verbale rispecchia tuttavia una strategia di più ampia portata, messa in luce già in una chiosa precedente: de Palamede autem et de Iphigenia ad Troianos nihil pertinet, de quibus uera incipit et in falsa desinit; facile enim quae sequuntur credibilia sunt, quae prima recognoscuntur (ad Aen. II, 69). È stata notata anche la possibilità (ammissibile per la metrica, benché non immediatamente evidente) che la connotazione uera si riferisca ad Argolica gente invece che a cuncta, anzi, che si possa accostare ambiguamente ad entrambe le parole, con conseguenze assai diverse (il rilievo è del Pascoli). Neppure è sfuggita l’enigmaticità dell’espressione fuerit quodcumque, «qualunque cosa accada» (scil. al medesimo Sinone, ma eventualmente anche a Priamo e al suo popolo); tanto più che il pronome personale tibi, riferito al verbo fatebor, potrebbe essere retto $μ dal costrutto relativo-condizionale fuerit quodcumque. Se tutta l’espressione è pregna d’ironia, spicca la frase culminante neque me Argolica de gente negabo: come avrebbe potuto Sinone (già riconosciuto come un nemico dai Troiani e incatenato per questo motivo) negare di appartenere al popolo acheo? La sua prima confessione, che in realtà non rivela niente e non dimostra alcuna sincerità, suona come una derisione, una beffa, dissimulata e simultaneamente accentuata (a seconda della visuale assunta) dalle premesse pompose e patetiche (vv.69–72). Tanto più che Sinone, appoggiandosi a quanto ha appena detto, si presenta come un personaggio sventurato, ostinatamente e orgogliosamente sincero e integro: hoc primum; nec, si miserum Fortuna Sinonem / finxit, uanum etiam mendacemque improba finget (vv.79–80). Il Pascoli ha osservato che l’iniziale nec non si riferisce necessariamente al verbo finget, come pare di primo acchito e come Priamo stesso intende: si potrebbe collegare nondimeno al precedente finxit, con un paradossale capovolgimento del significato. È interessante soffermarsi poi sul verbo fingo, che non è soltanto un sinonimo di compono o formo (come vuole Servio ad loc.): vi è anche un’accezione riguardante la simulazione, richiamata forse allusivamente (specialmente nella prima delle due occorrenze), quasi a far intravedere la natura ingannevole della situazione, con un’implicita e sardonica provocazione. Ma l’anfibologia si fa più consistente e tagliente nelle formule sacrali, deputate a sancire la verità delle rivelazioni. Così il giuramento ai vv.141–144: 40
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Lo hanno notato rapsodicamente numerosi studiosi, che non hanno condotto però un esame sistematico del fenomeno. Cf. ad esempio Jackson Knight 1944, passim. Cf. Pascoli 1958, p. 62 ss. passim. Il fenomeno è messo in giusto risalto da Paoletta 1968, che lo riconduce al genere tragico e in particolare all’influsso di Sofocle. Heinze 1915 3, p. 11, specialmente n. 1 = trad. ital. p. 40–41 e 101, n. 11, afferma infatti categoricamente di non dare credito ai rilievi dei commentatori antichi e moderni su questo tipo di espedienti.
Elementi tragici nell’episodio virgiliano di Sinone
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quod te per superos et conscia numina ueri, per si qua est quae restet adhuc mortalibus usquam intemerata fides, oro, miserere laborum tantorum, miserere animi non digna ferentis.
Sinone invoca i numi consapevoli del uerum, che secondo i Troiani consiste appunto nel suo racconto, per Virgilio e per il lettore accorto si tratta piuttosto dell’inganno in atto, di cui gli dei sono al corrente: ne sono perfino ispiratori, complici43. La chiamata in causa dell’intemerata fides, accompagnata dalla condizionale si qua est quae restet adhuc mortalibus usquam, ad onta di una venatura di incertezza, sembra presupporre comunque una risposta positiva, ossia che esiste ancora la «lealtà incontaminata». Ma la realtà è ben diversa: vi è ragione di dubitare dell’esistenza della fides e, se pure non fosse revocata in discussione idealmente, essa è profanata e calpestata sicuramente in questa circostanza. Di conseguenza la formula stessa risulta inficiata, fondata com’è su una premessa surrettizia, sostanzialmente falsa. Ambigua pure l’espressione animi non digna ferentis, con la negazione abbinata alla parola contigua digna; salvo che si potrebbe legare al participio ferentis, capovolgendone il significato. Il discorso si può estendere anche all’altro, più solenne giuramento (vv.154–156): ‹uos aeterni ignes, et non uiolabile uestrum testor numen› ait, ‹uos arae ensesque nefandi, quos fugi, uittaeque deum, quas hostia gessi›.
Sinone si rivolge in primo luogo ai «fuochi eterni» (aut ararum quas fugit … aut certe Solem et Lunam significat, precisa in margine Servio), poi all’apparato consacrato per il sacrificio (gli altari, i coltelli e i paramenti rituali), personificato e quasi divinizzato per il suo valore sacrale. Tiberio Claudio Donato ad loc. commenta a buon diritto che l’impostore richiama i corpi celesti sine periculo periurii, dal momento che non sono stati testimoni di alcun sacrificio; mentre le arae e le uittae non sono mai esistite, già inventate in funzione della simulazione e ora invocate ad arte, a garanzia di verità per altre menzogne. La formula è vana, perché basata su premesse immaginarie44. Il tratto più efficace di questo procedimento si trova però nel punto culminante del racconto, quando Sinone paventa il ritorno degli Achei, lo annuncia perfino come imminente, per indurre i Troiani a stornarlo nell’unico modo possibile, accogliendo il cavallo e consacrandolo come un dono votivo (vv.180–182): et nunc quod patrias uento petiere Mycenas, arma deosque parant comites pelagoque remenso improuisi aderunt. ita digerit omina Calchas. 43
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Atena sostiene gli Achei, per empi e spergiuri che siano, nel corso di tutto il libro: Epeo costruisce il cavallo di legno diuina Palladis arte (v.15); dopo aver trucidato Laocoonte e i suoi figli, i mostri marini spariscono nel tempio della dea, ai piedi della sua statua (vv.225–227) – di qui l’interpretazione fuorviante dei Troiani (vv.228–233). Non mente Sinone, quando afferma: omnis spes Danaum … Palladis auxiliis semper stetit (vv.162–163). È ambiguo inoltre il proposito espresso da Sinone poco dopo, nel costrutto condizionale si magna rependam (v.161), il cui verbo significa «portare allo scoperto» in senso traslato, in riferimento ai segreti dei Greci; potrebbe essere inteso però letteralmente, a indicare il gesto di liberare i guerrieri dal cavallo di legno, come il finto disertore progetta e come poi farà (vv.258–259). Così leggono alcuni, secondo il Seruius auctus ad loc. (uobis feram Graecis rependam).
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Colpisce il sintagma improuisi aderunt, che annuncia il ritorno dei Greci in un futuro imprecisato, ma non lontano; nel contempo sembra anticipare a livello allusivo il loro attacco notturno (questo, sì, veramente imminente): infatti essi giungeranno dal mare all’improvviso, poco tempo dopo, proprio come dice Sinone. Sui brani qui addotti, non tutti ugualmente significativi, si potrebbe discutere a lungo. Del resto, è normale e perfino ovvio che un fenomeno studiatamente sfumato e ambiguo non si lasci verificare e descrivere in modo perspicuo e indubbio: è in gioco il suo stesso esito, che in caso contrario sarebbe da considerare fallito. L’anfibologia è una performance sottile e cerebrale per definizione, la cui riuscita dipende dalla sua stessa discrezione, cioè dalla capacità di comunicare segretamente, selettivamente, in maniera percettibile esclusivamente a una lettura scaltrita. È tuttavia difficile negare, nelle circostanze e nelle parole citate, un’inquietante impressione di ambiguità, fonte di ironia tragica, degna della lezione impartita dalla drammaturgia greca.
I rapporti con i modelli Assai complessa e non ancora adeguatamente sviscerata la questione delle fonti e dell’intertestualità. È singolare che l’episodio di Sinone (come quello concatenato e complementare di Laocoonte) non trovi riscontro nell’epos omerico, su cui è fondato complessivamente il poema virgiliano45. Se la vicenda è stata volutamente emarginata dalle rievocazioni retrospettive dell’Odissea, sorprende tuttavia che in quest’ultima e nell’Iliade non vi sia neppure una singola scena, una situazione simile per la struttura complessiva o per una parte limitata (pur nella diversità della materia), come accade invece quasi per la totalità dell’Eneide, legata all’epica omerica ora per analogia, ora per antitesi, ora per continuità ed evoluzione di figure, immagini, idee46. Un altro evidentemente è l’ipotesto di questo episodio; diverso il suo percorso genetico, che muove dal ciclo epico e passa per il dramma greco e romano, così caro a Virgilio. Una reminiscenza circoscritta, eppure significativa, si riconosce nella frase incipitaria cuncta equidem tibi, rex, fuerit quodcumque, fatebor / uera (vv.77–78), che ricalca la formula omerica !* # $ '$« $ $ (Od. XIV, 192 e passim) e la sua variante !* # $ '$« '$ (Od. XXIV, 303 e passim): in questo modo Odisseo introduce i discorsi ingannevoli rivolti rispettivamente al porcaio Eumeo e al padre Laerte. Un’allusione, questa, basata non casualmente sulla menzogna (anzi sulla promessa di verità, puntualmente smentita) e finalizzata a segnalare un’analogia più profonda, strutturale e funzionale, che affonda le radici nella tradizione letteraria. Sinone è il cugino di Odisseo, secondo Servio (ad Aen. II, 79): di certo è un suo alter ego, che riprende alcuni elementi del suo carattere (quale appariva però nel ciclo epico e poi nel
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Sterminata la bibliografia sulle relazioni genetiche e intertestuali tra l’Eneide e l’epica omerica, talvolta individuate e variamente valutate già dalla critica antica. Il testo di riferimento rimane Knauer 19792, il quale rinuncia a trovare un corrispettivo omerico per l’episodio virgiliano di Sinone. Si pensi per esempio all’incontro di Enea con Didone nell’Ade (Aen. VI), modellato sull’episodio omerico di Odisseo e Aiace (Il. X), differente nel contenuto ma simile nello schema di fondo e nello svolgimento. Sull’approccio di Virgilio col suo auctor princeps, tra gli altri, cf. Barchiesi 1984; Rossi 2004. Un quadro complessivo in Hardie 1998, p. 54–57; Suerbaum 1999, p. 141–149.
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dramma)47 e svolge il ruolo attribuito a lui in un altro ramo del mito (documentato dallo stesso Omero) 48. Alla tragedia rimanda un’altra, emblematica reminiscenza. L’invito iperbolico rivolto da Sinone ai Troiani affinché lo uccidano subito, facendo paradossalmente un favore gradito agli Atridi e a Ulisse, che rappresentano ovviamente tutti gli Achei con procedimento metonimico (vv.102–104, in particolare 104, hoc Ithacus uelit et magno mercentur Atridae), ricorda un brano intonato dal coro nel vedere il tracollo dell’eroe impazzito nell’Aiace di Sofocle (vv.955–960): 7H 3 * 4μ !56 8 « $ , 9 » ξ %!" ' « Ν : '$ , 5, 5, % 6 « « #A % .
L’intertesto si innerva sul richiamo agli Atridi (complici di Odisseo e corresponsabili perciò del torto inflitto ad Aiace), formulato appropriatamente da Sofocle e introdotto da Virgilio in modo non strettamente pertinente, a mo’ di segnale allusivo. Anche tale reminiscenza riveste una funzione comparativa, che delinea tuttavia un’antitesi, quasi un’opposizione speculare. Sinone riprende un concetto rivolto dal coro ad Aiace e lo usa come espediente persuasivo, che però pone maggiormente in risalto il suo volgare cinismo, a confronto col nobile e integro eroe di Sofocle. Un altro possibile trait d’union col genere tragico è il personaggio di Palamede, il cui triste destino (narrato da Sinone ai vv.81–85, per essere inserito in un surrettizio intreccio con i suoi immaginari trascorsi, nei versi successivi) era oggetto dei perduti drammi omonimi di Eschilo, Sofocle, Euripide49. Essi sono però troppo poco noti per dire se ed eventualmente come il racconto virgiliano, il quale peraltro procede molto rapidamente e si risolve in soli cinque versi, possa averne subito l’influsso 50. A un altro dramma perduto pare piuttosto che Virgilio abbia gettato lo sguardo nel flashback su Palamede e nel suo particolare riuso, messo in atto da Sinone ai fini dell’inganno: il Filottete di Euripide51. Di questo interessa in particolare un segmento iniziale, parafrasato (difficile dire quanto fedelmente) nell’orazione 52, 6–10 di Dione Crisostomo52. Si tratta di un controverso dialogo tra Filottete e Odisseo, il quale finge di essere appunto un amico di Palamede per placare e persuadere l’interlocutore, che nutre un violento rancore nei confronti di 47
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Sul profilo negativo, direi perfino demoniaco, rivestito da Odisseo nel ciclo epico e passato di qui nel dramma attico, a dispetto del processo idealizzante messo in atto nell’epos omerico, cf. Stanford 1954 (19682), p. 90–117. Cf. il discorso condotto supra, riguardo all’accenno retrospettivo di Odisseo, che si arroga il merito di aver realizzato l’inganno del cavallo (Od. VIII, 492–495); su cui anche Jones Jr. 1965. A riguardo: Stoessl 1966; S codel 1980, p. 43–63; Jouan – Van Looy 2002, p. 487–513 (sul Palamede di Euripide, a partire dal mito). D’altro canto il motivo dell’indignus exitus Palamedis era un tema topico, su cui si esercitavano i retori e i loro allievi greci e romani, a partire da Gorgia, come testimoniano Platone (Apol. 41 b) e l’autore del trattato ad Herennium (II, 28). Su questo dramma cf. Webster 1967, p. 57–61; Müller 1997; Idem 2000. Il primo a proporre un confronto tra il discorso di Dione e il testo virgiliano è stato Heinze 19153, p. 8–9 = trad. ital. p. 39 e 100, n. 6 e 7, che non ha mancato di individuare il modello comune nel Filottete di Euripide. Cf. Luzzatto 1983.
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tutti gli Achei e minaccia di ucciderlo. Così l’Odisseo di Dione, che è poi quello di Euripide, chiama in gioco il tragico destino di Palamede, al fianco del quale coinvolge ipocritamente anche se stesso, per mostrarsi ingiustamente contrariato dagli Achei e per conquistare il favore di Filottete, in nome del comune risentimento. Al culmine del cinismo, l’ospite greco critica duramente il responsabile dei mali di Palamede e dei suoi – vale a dire: Odisseo denigra se stesso! Un comportamento simile al Sinone di Virgilio, al quale manca soltanto il surrettizio ‹sdoppiamento› tra personaggio parlante e autore del delitto, salvo che tale fenomeno si potrebbe considerare implicito nel carattere stesso del finto disertore, che è un alter ego di Odisseo, come si è visto. Sta di fatto che tra il dialogo parafrasato da Dione e il discorso di Sinone nel poema virgiliano si riscontrano punti di contatto concettuali e verbali, che non sembrano dovuti al caso – difficilmente però risalgono a un rapporto diretto tra l’oratore greco e il poeta 53. Si deduce perciò che Dione ha ripreso alquanto fedelmente (almeno nei luoghi in esame) il dramma di Euripide, imitato liberamente da Virgilio. D’altro canto, non si può escludere che vi sia stato un modello intermedio tra il tragediografo ateniese e il poeta augusteo, magari nel periodo ellenistico (come ha tentato di dimostrare Friedrich, partendo dall’esame comparativo tra il discorso di Dione e l’episodio virgiliano di Sinone) 54. A uno sguardo d’insieme, da un lato è difficile negare un collegamento (diretto oppure mediato) tra il Filottete e il discorso di Sinone; dall’altro lato è arduo definire i termini del rapporto intertestuale, che si sottrae a un approccio analitico, mancando il riscontro del dramma di Euripide. Di conseguenza, se può essere data per scontata l’imitazione virgiliana della scena tragica parafrasata nell’orazione greca, non risulta chiara la consistenza quantitativa e qualitativa della rielaborazione. Più forte sembra il legame dell’episodio virgiliano col dramma romano arcaico, in particolare col Deiphobus di Accio, in cui compariva certamente il personaggio di Sinone, che si intravede nei frammenti55. Al ritrovamento del finto disertore, nascosto nei bassifondi costieri e catturato da un gruppo di Troiani, che lo portano al cospetto di Priamo, si riferisce il v.255 Dangel: nos continuo ferrum eripimus, manibus manicas neximus.
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Cf. l’ammissione di appartenenza al popolo greco da parte di Sinone (vv.77–80) e di Odisseo travestito, nell’orazione di Dione Crisostomo (§ 7: $’ ;λ #A %« < !λ T $ […] . = $«α < !’ 5I $ #A < ρ 5-); il racconto su Palamede svolto dal personaggio virgiliano (vv.81–85) e dal suo corrispettivo (§ 8: ρ * μ N % P - α . κ < ! $ .ξ ) Ν« ' Κ 9 < 9 < Κ %« π. μ κ Ν ² « < DE $ Ω '54 ). Per qualche altro parallelo, più sfumato, cf. il commento di Austin 1964, p. 58–59. Friedrich 1939 estende eccessivamente, ben oltre i limiti del paragone testuale consentito da Dione, il presunto rapporto imitativo tra Virgilio ed Euripide: dal Filottete, o meglio, da un dramma ellenistico ricalcato su di esso, deriverebbe un ampio tratto dell’episodio di Sinone, fino al v.144 (compreso il racconto del sacrificio, che non poteva mancare nel discorso dell’Odisseo delineato da Euripide e ripreso in seguito da un suo epigono): un ragionamento puramente deduttivo, privo di un solido fondamento, apprezzabile in quanto coglie il carattere geneticamente composito del passo virgiliano, che «verknüpft eine Reihe von Motiven, die in den griechischen Iliupersis-Dramen wirkliche Begebenheiten darstellen und dort, auch wenn sie von den Tragikern nicht eigens erfunden, sondern aus älterer Dichtung (z. B. der kleinen Ilias) entnommen waren, ihre bedeutendste Gestaltung erfahren hatten». Cf. le edizioni e la bibliografia già citate (nota 27), nonché la ricostruzione della materia della tragedia avanzata da Ribbeck 1875, p. 410–411.
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Il possibile contesto del frammento, che è il resoconto riguardante Sinone, è suggerito proprio dal confronto con l’episodio virgiliano, del quale è opportuno citare un punto specifico, quando Priamo ordina di liberare il misterioso prigioniero (vv.146–147): ipse uiro primus manicas atque arta leuari uincla iubet Priamus dictisque ita fatur amicis.
Ribbeck per primo ha notato l’uso del lemma arcaico manicas, comune ad Accio e a Virgilio, il quale non lo impiega altrove ed evidentemente se ne serve qui a scopo di segnale allusivo, per richiamare il contesto corrispondente del Deiphobus56. In questo brano Priamo ordina di slegare Sinone, che è il medesimo personaggio incatenato nel resoconto delineato nel frammento di Accio. Era lui a tracciare un ritratto fortemente negativo di Ulisse, definito malvagio e sleale, privo di sentimenti e di valori, proteso soltanto al proprio vantaggio, ipocrita con gli amici e pronto a mettersi d’accordo con i nemici, in un altro frammento (vv.258–259 Dangel)57. Un tale ritratto non era fine a se stesso: esso si inseriva piuttosto nel disegno di un inganno, pressappoco analogo a quello dell’episodio virgiliano. Nel dramma Sinone non si limitava a denigrare Ulisse per compiacere i Troiani: lo presentava come il proprio persecutore, per far sembrare credibile e motivato un così forte rancore, ma soprattutto per spiegare come e perché si fosse separato dall’esercito e fosse rimasto in territorio iliaco, disposto a tradire gli Achei e a rivolgersi da supplice a Priamo. Virgilio quindi deve aver mutuato da Accio lo schema di fondo dell’episodio di Sinone, che muove dal ritrovamento apparentemente casuale e prosegue col discorso ingannevole del finto disertore, con riferimento a Ulisse. Il poeta augusteo deve aver contaminato questo schema col Filottete di Euripide, per quanto riguarda il destino di Palamede, a meno che non sia stato Accio a imitare il dramma greco e a inserire, per primo, il racconto del crimine di Ulisse nello stratagemma di Sinone. Ciò troverebbe un riscontro in un altro frammento del Deiphobus, nel quale un personaggio lamenta di essere stato violentemente osteggiato da qualcuno, con ingiurie e minacce (vv.256–257 Dangel): uel hic qui me aperte effrenata impudentia praesentem praesens dictis mertare institit.
Immediato il paragone col Sinone di Virgilio, che racconta di essere stato tormentato da Ulisse in modo simile: hinc mihi prima mali labes, hinc semper Vlixes / criminibus terrere nouis etc. (vv.97–99). Fin qui il parallelo col Deiphobus, in cui Sinone d’altro canto non doveva svolgere un ruolo diverso da quello attestato nel mito fin dall’epos ciclico, consistente nell’inviare segnali luminosi per richiamare gli Achei nascosti per mare; tutt’al più lui poteva assolvere il compito di aprire il ventre del cavallo di legno per far uscire i compagni (come ad Aen. II, 257–259). Nessun elemento documentario dimostra che, nel Deiphobus di Accio o in qualunque altro testo anteriore a Virgilio, Sinone tenesse un discorso per in-
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Cf. Ribbeck 1875, p. 410–411, da cui prende spunto Stabryla 1970, p. 92–96, per elaborare un profilo ipotetico del dramma, basato proprio sull’episodio virgiliano di Sinone. Scettico Wigodsky 1972, p. 83. Ecco il testo, di icastico vigore: aut !ab" infando homine, gnato Laerta, Ithacensi exsule, / qui neque amico amicus umquam grauis neque hosti hostis fuit (col doppio poliptoto amico amicus … hosti hostis e col termine exsule, sostituito in modo volutamente improprio, a scopo denigratorio, a un appellativo indicante il titolo regale).
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gannare i Troiani segnatamente in merito al cavallo, per convincerli cioè ad accettarlo come un pegno votivo58. Al Deiphobus sembra risalire quindi il racconto avanzato da Sinone sul proprio conto (Aen. II, 69–104), in cui convergono nondimeno spunti provenienti da qualche altro modello. Lo stesso ritrovamento del profugo non è dovuto a un pescatore, come un frammento fa pensare plausibilmente che avvenisse nel dramma di Accio (vv.253–254 Dangel), bensì a un gruppo di pastori (vv.58–59), i quali peraltro si trovano fuori posto in un territorio sgombrato da così poco tempo dall’esercito nemico: si è pensato perciò che questo elemento, incoerente col successivo racconto di Sinone, che dice di essersi nascosto limoso … lacu … obscurus in ulua (v.135), funga da segnale allusivo, indicante il provvisorio distacco dall’ipotesto principale e il simultaneo approccio con un modello secondario, che potrebbe essere l’Alessandro di Euripide o l’Alexander di Ennio59. In questi due drammi il personaggio omonimo, destinato a rivelarsi fatale per il popolo iliaco, era trascinato al cospetto di Priamo proprio da un gruppo di pastori60. Un altro modello tragico seguito da Virgilio in questo episodio è richiamato da Macrobio (Sat. VI, 1, 57), in margine al sonante preambolo di Sinone (vv.79–80): hoc primum; nec, si miserum Fortuna Sinonem finxit, uanum etiam mendacemque improba finget.
Macrobio cita un frammento del Telephus di Accio (a meno che non si tratti del testo di Ennio con uguale titolo, come vuole Jocelyn, che pensa a un errore dell’erudito)61, in cui parla il personaggio eponimo, rivolgendosi probabilmente agli Achei quando si accinge a chiedere il loro aiuto (vv.88–89 Dangel): … nam si a me regnum Fortuna atque opes eripere quiuit, at uirtutem nec quiit.
Qualunque ramo del mito seguisse l’autore del dramma (Accio o Ennio, poco importa ai fini dell’esame del segmento virgiliano), Telefo era un traditore: sia che ingannasse gli Achei, travestito da mendicante o da re decaduto, per ottenere il loro aiuto; sia che si mostrasse sinceramente ad essi da sovrano spodestato e tradisse piuttosto i Troiani, alleandosi con i loro nemici62. Va da sé che il paragone, delineato implicitamente dal rapporto intertestuale tra Sinone e un famoso traditore, appartenente anch’egli al mito iliaco, non è casuale né privo di significato. D’altro canto, se questi modelli si sovrappongono al Deiphobus nel flash-back del Sinone virgiliano sul conflitto con Ulisse (vv.77–100), complessivamente diverso è il seguito del suo discorso, riguardante l’oracolo di Apollo, il responso di Calcante e il sacrificio umano, 58
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In questo dramma il cavallo annunciava da se stesso il proprio scopo (fittizio, funzionale all’inganno), come dimostra un frammento tramandato dal Seruius auctus ad Aen. II, 17, cioè un’iscrizione con una dedica ad Atena (v.260 Dangel): … Mineruae donum armipotenti abeuntes Danai dicant. Cf. anche Igino, Fab. 108. Su questi drammi: Jocelyn 19692, p. 75–81, 202–234; S codel 1980, p. 20–42. L’influsso dell’Alexander di Ennio sul poema virgiliano è documentato da Stabryla 1970, p. 74–79. L’intertesto è stato segnalato da Albis 1993, che tende a subordinare l’archetipo greco al modello intermedio, l’Alexander di Ennio. Cf. Jocelyn 1965, in particolare p. 128–129, secondo cui Macrobio cade in errore perché cita il frammento insieme con altri versi di Ennio. Sulle diverse versioni della leggenda e sulle opzioni della tragedia romana cf. Barabino 1965, p. 405–407; Dangel 1995, p. 285–289.
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da ricondurre evidentemente a un altro ipotesto (vv.108–144). Si tratta probabilmente dell’Astyanax di Accio, che raccontava il triste destino del figlio di Ettore, trucidato dagli Achei vincitori col pretesto di un macabro rito propiziatorio, prescritto da Calcante per placare gli dei e per ottenere venti favorevoli per il viaggio di ritorno (secondo il sintetico resoconto del Seruius auctus ad Aen. III, 489, riferito a mio avviso proprio a questo dramma)63. Qui però il sacrificio non era che un motivo esteriore, addotto strumentalmente per legittimare col crisma del timore religioso un delitto politico, deciso da Ulisse per stornare il rischio incarnato da Astianatte per gli Achei, da adulto: eo quod si adoleuisset fortior patre futurus, uindicaturus esset eius interitus (come attesta il Seruius auctus ad loc.). A ritrovare il bambino, occultatum a matre, è proprio Ulisse, presentato come il responsabile dell’infanticidio fin dal ciclo epico greco, come si è visto: perciò è probabile che fosse lui nell’Astyanax l’ideatore del sacrificio, propugnato poi da Calcante, deputato istituzionalmente ai riti religiosi. Un frammento testimonia infatti l’intervento coercitivo di un personaggio imprecisato sull’indovino, che prende tempo e rifiuta di rivelare un responso tanto atteso, decisivo per il rimpatrio dell’esercito (vv.281–282 Dangel: un segmento corrotto e tormentato dai filologi, citato qui secondo il mio restauro testuale)64: nunc, Calcas, finem religionum fac, desiste exercitum morari nec me ab domuitione arce tuo obsceno omine.
Intuitivo il confronto col racconto del Sinone virgiliano in merito al «braccio di ferro» tra Ulisse e Calcante, trascinato in mezzo ai soldati e indotto insistentemente a parlare (vv.122–129): hic Ithacus uatem magno Calchanta tumultu protrahit in medios; quae sint ea numina diuum flagitat. et mihi iam multi crudele canebant artificis scelus, et taciti uentura uidebant. bis quinos silet ille dies tectusque recusat prodere uoce sua quemquam aut opponere morti. uix tandem, magnis Ithaci clamoribus actus, composito rumpit uocem et me destinat arae.
Se il personaggio-antagonista di Calcante nel frammento drammatico è Ulisse, come mi pare pressoché sicuro e come ho tentato di dimostrare nel libro citato, il contrasto riguardante il sacrificio umano, usato come pretesto per giustificare un atto di sangue di fatto diversamente motivato, è un interessante trait d’union tra l’Astyanax di Accio e l’episodio virgiliano, dove però il bambino innocente è sostituito da Sinone, un vile impostore, il cui racconto retrospettivo costituisce un micidiale inganno. L’intertesto quindi non opera soltanto a livello architettonico e contenutistico, nel senso che aiuta a costruire l’impianto narrativo, ne fornisce i cardini (il conflitto tra Ulisse e Calcante in merito al sacrificio; il temporeggiamento e poi il cedimento dell’indovino; il delitto dissimulato e legittimato dal rito religioso), ma dischiude un più profondo significato, in quanto istituisce un collegamento tra il piccolo Astianatte e Sinone, che per questo risulta connotato ancor più sinistramente. 63
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Ho tentato di ricostruire lo sviluppo del dramma, per quanto possibile, nel mio libro: S cafoglio 2006b, p. 63–75 e passim. Per un ampio apparato critico e per un commento puntuale, che rende conto del testo qui proposto, rimando di nuovo al mio volume, p. 85–88.
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Inoltre l’allusione vale pure come implicita anticipazione, a rievocare una vicenda tragica, che è tra le più tristi conseguenze della conquista di Troia. Sinone stesso ne è in qualche modo il responsabile indiretto, come Ulisse ne sarà il fautore. Del resto, come ho ricordato ripetutamente, il finto disertore è un alter ego dello spregiudicato condottiero acheo. L’Astyanax funge quindi da ipotesto per un segmento dell’episodio virgiliano, ispirato al Deiphobus del medesimo Accio nel disegno d’insieme e in particolare nel punto iniziale, il ritrovamento di Sinone e il suo approccio con Priamo. Ma alle spalle della tragedia romana arcaica si intravede anche l’influenza di quella greca, in base a una tecnica specifica dell’Eneide, ma presente già nelle Georgiche, consistente nella contaminazione di opere a loro volta legate l’una all’altra da relazioni di dipendenza e imitazione. Un indizio in questo senso si riscontra nell’oracolo di Apollo riferito da Euripilo (vv.116–119): sanguine placastis uentos et uirgine caesa, cum primum Iliacas, Danai, uenistis ad oras: sanguine quaerendi reditus animaque litandum Argolica.
Una struttura analoga, basata sulla corrispondenza tra la vittima già immolata e quella ora nuovamente richiesta, si rinviene nelle parole di Calcante nelle Troades di Seneca (vv.360–361): dant fata Danais quo solent pretio uiam: mactanda uirgo est Thessali busto ducis.
Facile pensare che Seneca abbia imitato Virgilio: non sarebbe un caso isolato. Se non che, a uno sguardo attento, il concetto è più equilibrato e proporzionato nel brano del Cordovese, con le due vittime opposte e speculari: due principesse vergini, una greca e l’altra troiana. Nel passo virgiliano, il collegamento tra il sacrificio passato e quello futuro risulta alquanto forzato: alla figlia di Agamennone fa da pendant una generica anima Argolica, una figura indefinita e sbiadita, di qualsiasi età, famiglia, estrazione sociale, ma necessariamente un uomo, non essendovi donne greche in terra iliaca. Un soldato, quindi, che in seguito prende corpo in Sinone. Non è strano tanto il fatto che gli dei chiedano il sacrificio di un legionario (unum pro multis … caput, dirà il poeta a proposito di Palinuro), quanto piuttosto il richiamo al precedente olocausto, ovvero il parallelismo squilibrato tra il sangue versato a quel tempo e il pegno preteso adesso. Friedrich, che per primo ha proposto l’esame comparativo tra l’oracolo virgiliano e il responso di Calcante in Seneca, ha pensato a un modello greco comune, diversamente elaborato dai due autori (liberamente dal Mantovano, più fedelmente dal Cordovese): secondo lo studioso tedesco, questo modello sarebbe il Filottete di Euripide, o meglio un dramma ellenistico da esso derivante65. Per quanto mi riguarda, preferisco pensare al componimento di Sofocle quasi sicuramente seguito da Accio nell’Astyanax, vale a dire la Polissena66. In questa tragedia la similitudine tra le due giovani vittime regali, Polissena e Ifigenia, sarebbe stata perfettamente congruente: la forzatura riconosciuta nella formulazione virgiliana nasce dall’esigenza di piegare l’idea origi-
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Il discorso è avviato da Friedrich 1933, p. 101; ma è più ampiamente sviluppato dallo stesso studioso in un successivo contributo, 1939, p. 152–154. Per un profilo di questo dramma cf. Calder III 1966; Radt 19992, p. 403–407; Scafoglio 2006b, p. 29–36.
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naria a finalità diverse. D’altronde, Virgilio non ha mutuato il paragone direttamente dall’Astyanax: infatti Accio ha sostituito il sacrificio di Polissena (costituente il fulcro del dramma di Sofocle preso a modello) con l’uccisione del figlio di Ettore. *** È il momento di tracciare un bilancio, non soltanto sul significato dell’episodio di Sinone nel contesto del libro II e nel quadro complessivo del poema. In particolare si deve considerare il ruolo e il peso degli elementi tragici, nel loro ricco e complicato intreccio, ai fini del contenuto, del messaggio veicolato dal testo. L’influenza della tragedia greca e romana è operante in larga misura in questa sezione dell’Eneide. Non si tratta esclusivamente dell’intertestualità (scene, immagini ed espressioni di provenienza drammatica), ma anche dell’architettura (caratterizzata dalla struttura dialogica e dalla mediazione di una voce superiore, in funzione corale) e della tecnica narrativa (improntata a movenze e strategie tipicamente tragiche). Non passa inosservata neppure l’anfibologia, scaturigine di ironia sottile e amara. D’altro canto, se diversi aspetti dell’episodio rivelano indubbiamente l’influsso del genere tragico, è ben più difficile risalire ai modelli usati da Virgilio e soprattutto individuare e circoscrivere gli intertesti, che dipendono per lo più da drammi perduti, quali il Filottete di Euripide, il Deiphobus e l’Astyanax di Accio, forse la Polissena di Sofocle. All’una o all’altra di queste opere sembrano rimandare le singole parti della narrazione virgiliana, la cui compagine di conseguenza risulta fortemente composita e dinamica, eppure non priva di coesione, creata dalla tessitura stilistica, dalla temperie psicologica e dalla significazione ideologica, che promana dall’intera vicenda e a sua volta la illumina, la riconduce a una visione unitaria. L’inganno di Sinone costituisce un nucleo compatto per lo svolgimento e per il percorso ‹genetico›, che muove da un dato mitico presente nel ciclo epico; non è però un episodio autonomo o marginale, a mo’ di un excursus. Esso funziona, al contrario, come un ingranaggio formidabile nel meccanismo del racconto costruito da Virgilio: consente infatti di superare uno snodo estremamente delicato e fa progredire il flusso degli eventi verso il punto di arrivo, ovvero il crollo del regno di Priamo. Il diabolico espediente, insieme con l’episodio correlato di Laocoonte, condiziona e nel contempo giustifica il comportamento dei Troiani (di per sé non facile da concepire e spiegare). In questo modo il consenso da loro accordato al cavallo di legno appare più realistico e plausibile, meno folle e paradossale. L’assurdità della loro scelta è posta anzi in una luce positiva e, pur con qualche riserva, si offre a una valutazione benevola in chiave morale, come una prova di generosità e ingenuità. Di contro, gli Achei sono connotati negativamente per il loro atteggiamento spregiudicato, per il loro approccio spergiuro e sprezzante verso gli uomini e gli dei. Sinone incarna, nello sviluppo dell’episodio e nel giudizio dell’io narrante, un paradigma di tutti i Greci, un esempio del loro modo di pensare e di agire. Significante a riguardo il commento preliminare di Enea: accipe nunc Danaum insidias et crimine ab uno / disce omnis (vv.65–66). La loro vittoria ne risulta svilita e privata della gloria, sicuramente non meritata da un’azione riuscita, sì, ma indegna e subdola, basata sull’astuzia e sulla viltà invece che sull’abilità militare e sulla forza. Così i Troiani sono rovinati dall’inganno di Sinone, che però li riscatta (almeno fino a un certo punto, se non del tutto) dal disonore solitamente riservato agli sconfitti. Gli Achei vincono mediante un espediente tanto efficace quanto meschino, che infirma il loro trionfo e smentisce il loro valore.
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L’episodio non deve essere considerato però isolatamente: occorre inquadrarlo piuttosto nel racconto di Enea, più specificamente nel contesto dello schema ad anello formato con l’intervento di Laocoonte e col suo successivo supplizio. Le due vicende, non semplicemente giustapposte, ma intimamente concatenate nella trama narrativa e nella significazione ideologica, rappresentano con forza emblematica le due concause della conquista di Troia, l’astuzia umana e l’ostilità divina, che costituiscono in realtà le due facce della medesima medaglia. I due episodi rimandano infatti a due ordini di eventi (quello terreno e quello superno) paralleli e corrispondenti, correlati e operanti congiuntamente per il compimento del destino. Questo il senso del commento di Enea al vacillare del cavallo sotto il colpo di Laocoonte, quando il suono rivelatore emesso dal ventre gravido di guerrieri è fatalmente ignorato dai Troiani (vv.54–56): et, si fata deum, si mens non laeua fuisset, impulerat ferro Argolicas foedare latebras, Troiaque nunc staret, Priamique arx alta maneres.
Lo stesso Sinone non esita a chiamare ripetutamente in gioco gli dei nel suo racconto ingannevole (l’oracolo di Apollo, vv.114–119; l’ira vendicativa di Atena, vv.162–175; i responsi di Calcante, vv.128–129 e 176–194) come nel solenne giuramento (vv.154–156), dove l’anfibologia non basta a sminuire l’empietà della menzogna, che profana pur sempre la sfera sacrale. Nondimeno gli dei sono suoi complici: agiscono a monte, come ispiratori del cavallo di legno, che poi richiede il lavoro di Sinone. I fata deum, che emergono apertamente e orribilmente nel supplizio di Laocoonte, sono presenti in un modo più sottile e sfumato, ma non meno efficace e significativo (come un ausilio costante e latente, per così dire) nell’episodio di Sinone. Il senso di questo segmento narrativo, così complesso e pregnante, viene messo in risalto dagli elementi tragici fin qui considerati, che ne arricchiscono il contenuto e ne potenziano lo stile. La struttura di questa parte dell’Eneide si accosta notevolmente alla tragedia, esasperando una tendenza riscontrabile in maggior o in minor misura in quasi tutta l’opera. Si è infatti in uno snodo cruciale del racconto (le premesse dirette della conquista di Troia), un momento tanto importante quanto delicato, fatto rivivere in tutto il suo pathos con gli strumenti attinti dal genere drammatico, il quale fornisce per di più alcuni spunti interpretativi ed elementi distintivi per il personaggio centrale di Sinone, il cui profilo risulta perciò esaltato e incupito. In definitiva, in questa sezione trova conferma, sia pur in una forma accentuata e comunque peculiare, un’impostazione già riconosciuta frequentemente in altre parti e nell’intera Eneide: la rielaborazione della norma epica in direzione della tragedia. Il linguaggio rispecchia il carattere drammatico del contenuto: un cinico e vile inganno, che rovina un popolo e ne infanga un altro con un indegno trionfo.
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Andreas Heil
Andreas Heil
Christliche Deutung der Eklogen Vergils Die Tityre-Initiale im Codex Klosterneuburg CCl 742* Daß die ersten beiden Verse, ja mehr noch: daß bereits das erste Wort der ersten Ekloge Vergils eine Reihe von poetologischen Implikationen enthält, ist in den letzten Jahren von F. Cairns und J. B. Van Sickle gezeigt worden.1 Schon seit langem hat man gesehen, daß das Anfangswort Tityre auf Theokrit, den aus Syrakus stammenden ‹Erfinder› der bukolischen Dichtung, verweist: Ein Hirte namens ‹Tityrus› spielt in zwei seiner Eidyllia (3,2–4 und 7,72–82) eine gewisse, wenn auch nicht zentrale Rolle. Dieser Verweischarakter wird bestätigt und spezifiziert durch die etymologische Deutung des Eigennamens: Das für die Bukolik charakteristische Instrument, die bereits am Ende des zweiten Verses erwähnte Flöte aus Schilfrohr (avena, eigentl. «Halm»), wird im dorischen Dialekt der Griechen Unteritaliens als μ« « bezeichnet. 2 Vergil kontrastiert die im Namen ‹Tityrus› enthaltene dorische Bezeichnung des Instruments, die an die im dorischen Dialekt verfaßte Bukolik Theokrits erinnert, mit einer von ihm neu geprägten lateinischen: Tityrus spielt auf einer avena, und er tut dies sub tegmine fagi, im Schatten eines gerade in Oberitalien weit verbreiteten, aber in der griechischen Bukolik nicht heimischen Baumes.3 Das Nebeneinander von μ« « und avena unterstreicht den Anspruch Vergils, der dorisch/ griechisch geprägten Gattung ein lateinisches Äquivalent entgegenzustellen. Die metonymische Bezeichnung der römischen Hirtenflöte als «Halm» – die Flöte des Tityrus besteht, wie weiter unten deutlich wird, tatsächlich aus dem weit weniger zerbrechlichen Schilfrohr (calamo: 10) – betont dabei zugleich die Schwierigkeit des Unternehmens und die ‹Kühnheit› des Dichters (vgl. audaxque iuventa: georg. 4,565).4 Je fragiler das Instrument, desto 1
* Für Hinweise und Kritik danke ich besonders Dr. Thomas Haffner, SLUB Dresden. Cairns 1999. An Cairns knüpft mit Richtigstellungen und eigenen Vorschlägen Van Sickle 2004 an. 2 Athen. Deipn. 182d: ² ξ « μ« « « #I9 … Van Sickle 2004, 349 weist darauf hin, daß das etymologische Spiel bereits von Pier Vettori erkannt worden ist (Petri Victorii Variarum Lectionum Libri XXV, Florenz 1553, 257). Schmidt 1987, 33 betont, daß mit avena hier der «einfache Monaulos» gemeint sei, dessen Klang der Gedichtanfang nachahme: «Der musizierende Hirt hieße Tityrus, weil er den « spielt. Das Gedicht beginnt ‹Tityre, tu› = ti – ty – re – tu, weil es Tityrusmusik darstellt.» Allerdings bezeichnet der Singular calamus in Verg. ecl. 2,34 eindeutig die aus mehreren Schilfrohren bestehende Syrinx (vgl. ecl. 2,32). Vgl. zu dieser Frage auch die ausführlichen Bemerkungen von Henry (1873), Bd. 1, 66–89. 3 Vgl. Clausen 1994, 35. 4 Vgl. Van Sickle 2004, 352–353. Van Sickle sieht – neben dieser poetologischen Deutung – im dramatischen Kontext ironische Untertöne in der Anrede des Meliboeus, die Tityrus in seiner Antwort zurückweise (S. 348): «The dramatic point can be paraphrased as follows, with Tityrus imagined as objecting to Meliboeus’ initial slight, ‹No, I don’t practice with squeaky straw, as you put it, I play whatever I wish on sturdy reed.› The contrast between materials and their metonymic range has been too often and lightly overlooked.» Diese Interpretation kann so nicht richtig sein. Meliboeus betont ausdrücklich, daß er über die Situation des Tityrus staunt (Non equidem invideo, miror magis: 11). Das Wunder der Sicherheit, die Tityrus genießt, wird für Meliboeus noch gesteigert durch die Zerbrechlichkeit des Instrumentes, auf dem dieser 1
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größer das Wagnis. So gedeutet, enthalten bereits die beiden ersten Verse der ersten Ekloge in nuce das poetische Programm der Eklogendichtung Vergils. Daß sich dieser Minimalismus noch weiter treiben läßt, zeigt eine in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstandene Vergil-Handschrift, die sich heute in der Stiftsbibliothek von Klosterneuburg (CCl 742) befindet.5 Die T-Initiale des Anfangswortes Tityre ist hier besonders kunstvoll ausgestaltet (1r, Abb. 1). Unter der Illustration, die mehr als zwei Drittel der Seite füllt, ist nur noch Raum für die ersten fünf Verse der Ekloge, wobei der erste, in Auszeichnungsschrift geschriebene Vers zwei Zeilen füllt.6 Rechts und links neben dem senkrechten Balken (Schaft) des T sind auf teils grünem, teils blauem Grund zwei Figuren dargestellt. Die Figur auf der rechten Seite (vom Kreuz aus gesehen7) erfaßt oder stützt mit ihrer rechten Hand den waagerechten Balken des T, mit der linken hält sie ein Buch, die Figur links erfaßt oder stützt mit ihrer linken Hand den Querbalken, mit ihrer rechten greift sie nach dem dargebotenen Buch. Die rechte Figur trägt eine bis zu den Füßen reichende Tunica; darüber ist ein Mantel geworfen. Die linke trägt eine kurze Tunica sowie eine hohe, zylindrische, oben abgerundete Kopfbedeckung.8 An einem Gürtel um die Hüfte ist ein Schwert befestigt. Beide Figuren stehen jeweils auf einem Tier: die rechte mit beiden Füßen auf Rücken und Hals des Tieres, die linke nur mit dem linken Fuß auf dem Rücken. Bei den Tieren – sie haben die Vorderfüße von Raubtieren, lange, vielleicht mit einem Stachel versehene Schwänze und reptilienartige Körper – handelt es sich offenbar um Drachen.9 Initialen verhalten sich in unterschiedlicher Weise zu dem Text, dem sie angehören. Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen Initialen ohne Bezug zum Text (OrnamentInitialen, Rankenkletterer-Initialen usw.) sowie solchen mit Bezug zum Text («historisierte Initialen», zu mlat. historiare «mit Illustrationen versehen»), wobei natürlich fließende Übergänge zwischen diesen beiden Typen nicht ausgeschlossen sind.10 Illustriert werden
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spielt. Deshalb und nicht weil er die musikalische Begabung des Tityrus in Frage stellt, spricht er hyperbolisch von einer tenuis avena. Die Handschrift (Pergament, 165 Bl., 320 × 175mm) enthält die Bucolica, Georgica und die Aeneis Vergils. Vgl. Haidinger 1998, 17, Kat. Nr. 10 und Abb. 13. Die Initialen dieser Handschrift haben nach Haidinger zwei verschiedene Künstler geschaffen (ebd.): «Die regelmäßig verlaufenden Ranken mit ihren großen einfachen Blättern im Widmungsbild auf 1r begegnen in derselben Form auf 2v, 12r, 49v und 59v, während jene auf 40r und 100r kleinteiliger gebildet sind und andere Endmotive zeigen. Diesem zweiten Zeichner sind auch die figürlichen Darstellungen auf 40r (Berittener), 77v (Aeneas und Steuermann in einem Boot), 88v (Rankenkletterer), 100r (männliche Figur und Adler in Rankengeflecht) zuzuschreiben.» Vgl. Henry (1873), XLIX: «A very beautiful MS. in the library of the Convent at Kloster-Neuburg near Vienna; the handsomest, I think, of all the Virgilian MSS. I have ever seen …» Eine kurze, im Internet zugängliche Interpretation hat Ratkowitsch 1998 vorgelegt. Ratkowitsch deutet die Initiale als Fortführung der traditionellen allegorischen Interpretation der 1. Ekloge. Zugleich verweist sie auf christliche Elemente. Man könnte fast von einer «Initialzierseite» sprechen. Vgl. Jakobi-Mirwald 1997, 34–35. Die Angaben ‹rechts› und ‹links› werden hier und im folgenden nicht aus der Blickrichtung des Betrachters verwendet. Nur so lassen sich die mit den Seiten verbundenen allegorischen Bedeutungen entschlüsseln. Hierbei handelt es sich vielleicht um einen Helm. Die linke Figur scheint vom T-Schaft überschnitten zu werden. Allerdings führt sie ihren rechten Arm vor dem Schaft vorbei. Vielleicht wollte der Künstler nicht zum Ausdruck bringen, daß die Figuren hintereinander stehen (so Ratkowitsch 1998), sondern daß die linke Figur sich ganz eng an den Schaft anschmiegt. Vgl. Engemann/Binding 1986 und Lucchesi Palli/Haussherr 1990. Zahlreiche Abbildungen von Drachen finden sich auf der Internetseite «Dragons in Art and on the Web» (http://www.isidore-of-seville.com/dragons/). Jakobi-Mirwald 1997, 60–70 (Kap. 4.5). Vgl. Jakobi-Mirwald 1998, 75–79. Zu den Initialen in mittelalterlichen Handschriften siehe außerdem Schardt 1938, Gutbrod 1965 und Mazal 1985.
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kann der Wortsinn ebenso wie allegorische Deutungen des Textes. Die Illustration kann sich auf den gesamten Text, auf einzelne Elemente des Textes (z. B. Protagonistenbilder) oder eine Auswahl von Elementen beziehen, die in ein Bild zusammengezogen werden. Zu den Elementen des Textes gehören natürlich auch die Überschriften, die Angaben etwa zum Verfasser (Autorenbild), zur Entstehung des Textes bzw. zu seiner Funktion in bestimmten Rezeptionszusammenhängen enthalten können.11 Zentraler Bestandteil der Tityre-Initiale ist eine Dedikationsszene12: Durch den Gestus der Buchübergabe und die Attribute wird die Bestimmung der Figuren erleichtert. Die Person, die das Buch weitergibt, ist aller Wahrscheinlichkeit nach Vergil. Der Empfänger wird durch das Schwert und die hohe Kopfbedeckung als weltlicher Würdenträger (Feldherr und/oder Herrscher) ausgewiesen. Hier dürfte es sich um Caesar Octavianus, den späteren Augustus, handeln. Illustriert wird möglicherweise ein Passus aus der achten Ekloge (11–12): accipe iussis / carmina coepta tuis … Der hier angesprochene Auftraggeber und zugleich Empfänger des Eklogenbuches bleibt zwar anonym, wurde aber bereits in der Antike u. a. (wie heute wieder) als Octavian identifiziert.13 Freilich kann es sich auch um die Illustration einer weitverbreiteten allegorischen Deutung handeln. Die «zehn Äpfel», die Menalcas in der dritten Ekloge seinem Amyntas verspricht (71), wurden auf die zehn Eklogen Vergils bezogen (Isid. etym. 1,37,22): aurea mala decem misi, id est ad Augustum decem eglogas pastorum.14 Weitere Details der Illustration könnten durch eine Vergilstelle angeregt sein, die sich zwar nicht in den Bucolica findet, aber durch ein Selbstzitat Vergils ausdrücklich mit dem Anfang des Eklogenbuches verknüpft ist. In der Sphragis, mit der die Georgica schließen, stellt Vergil den Kriegstaten, die Caesar (Octavianus) an den Enden der Welt vollbringt, selbstbewußt sein friedliches literarisches otium gegenüber (4,559–565): Haec super arvorum cultu pecorumque canebam et super arboribus, Caesar dum magnus ad altum fulminat Euphraten bello victorque volentis per populos dat iura viamque adfectat Olympo. illo Vergilium me tempore dulcis alebat Parthenope studiis florentem ignobilis oti, carmina qui lusi pastorum audaxque iuventa, Tityre, te patulae cecini sub tegmine fagi. 11 12
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Beispiele nennt Jakobi-Mirwald 1998, 76. Dedikationsbilder dieser Art sind in der mittelalterlichen Buchmalerei weit verbreitet. Vgl. Prochno 1929, XXII: «Dedikation ist … im einfachsten Fall auf zwei Personen beschränkt. Der Empfänger sitzt frontal oder seitlich dem Donator zugewendet. Dieser naht sich ihm auf demselben Niveau, ein Buch in der Hand. Es finden sich aber auch von Anfang an nicht zur Handlung nötige Zeugen …; der Vorgang wird auch schon in der Richtung kompliziert, daß der Donator von einer ihm übergeordneten Persönlichkeit empfehlend begleitet wird … Die Zeit des 10. und 11. Jahrhunderts wandelt den Typus ab. Einerseits wird der Abstand zwischen dem heiligen Empfänger und dem Stifter vergrößert. Mittel dazu ist Differenzierung der Größe der beiden oder Zerlegung des Niveaus, so daß der Stifter das Buch zu dem Empfänger hinaufreicht. Ferner tritt in der Richtung eine Abwandlung ein, daß auch der Empfänger stehend dargestellt wird.» Die Tityre-Initiale zeigt den einfachen Typus: zwei Personen, auf demselben Niveau, beide stehend. Kompliziert im wahrsten Sinne des Wortes wird die Buchübergabe in diesem Fall aber durch die wohl singuläre Armhaltung der beiden Personen. Weiter unten soll der Versuch unternommen werden, den ‹Knoten› dieser rätselhaften Verschränkung der Arme mit dem Schaft des T zu lösen. Vgl. Serv. ecl. 8,6 und Clausen 1994, 233–237. Vgl. Serv. ecl. 3,71: et volunt quidam hoc loco allegoriam esse ad Augustum de decem eclogis: quod superfluum est: quae enim necessitas hoc loco allegoriae?
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Ebenso begegnen sich in der Illustration Dichter und Herrscher (fast) auf Augenhöhe. Ein Rangunterschied wird nur dadurch sichtbar, daß Vergil den Kopf leicht nach unten neigt. Das lange Gewand, das Vergil trägt, steht für die vita contemplativa, während kurzes Gewand und Schwert Augustus als Vertreter der vita activa kennzeichnen.15 Wichtige Bestandteile der Ausstattung der Tityre-Initiale lassen sich problemlos auf Textpassagen in den Eklogen bzw. in den Werken Vergils beziehen, ohne daß natürlich zwingend angenommen werden muß, daß der Illustrator gerade diese Textstellen vor Augen hatte. Andere Elemente – die Drachen, die auffällige Armhaltung von Vergil und Augustus – scheinen auf den ersten Blick keine Entsprechung im Text zu haben. Initialen bestimmter Werke oder Werkteile wurden immer wieder und immer in ähnlicher Weise ausgestaltet. Die ikonographischen Muster, die sich so herausbildeten, dürften Ausgestaltungen desselben Buchstabens in anderen Werken beeinflußt haben. Anzunehmen ist weiterhin, daß mit den Formen und Motiven auch die mit ihnen verbundenen Sinnbezüge weitergegeben wurden. Im folgenden soll gezeigt werden, daß die T-Initiale der VergilHandschrift sich in ihrer Bedeutung erst dann ganz erschließt, wenn man sie mit der Te-igitur-Initiale in den Sakramentaren und Meßbüchern zusammenstellt (Abb. 2).16 Mit den Worten Te igitur, clementissime pater beginnt das Hochgebet (Eucharistiegebet; canon missae), das den Höhepunkt der Messe, die Konsekration von Brot und Wein, einleitet. Die T-Initiale des Hochgebetes, die ja bereits durch die Buchstabenform Ähnlichkeit mit einem Kreuz hat, wurde von den Illustratoren sukzessive immer nachdrücklicher zum Kreuz Christi ausgestaltet.17 Schließlich wurden an der entsprechenden Stelle im Text ganzseitige Kreuzigungsbilder, die sogenannten Kanonbilder, eingefügt: «In langer Entwicklung wandelt sich das T vom Symbol des Kreuzes zum Kruzifix, das zur Kreuzigungsszene mit Sol und Luna sowie Maria und Johannes unter dem Kreuz vervollständigt wird. Dabei ist der Schriftzug Te igitur häufig noch dem Kreuzigungsbild beigefügt … Allmählich wird die ornamentale Gestaltung des Kanonbeginns von der figürlichen Darstellung Christi am Kreuz geschieden. Das Bild des Gekreuzigten wird neben den Kanon gesetzt und außerdem noch das T des Kanonanfangs ausgemalt … Das Kreuzigungsbild emanzipiert sich seit dem 12. Jahrhundert zunehmend vom Text, ehe in der Gotik das unabhängige Kanonbild zur Regel wird …»18
Die Te-igitur-Initiale steht in einem doppelten Bezug zum Text des Hochgebets: Die Messe wurde im Mittelalter in erster Linie verstanden als «Gedächtnisfeier des Opfers Christi»19 (memoria passionis). Alle Teile der Liturgie wurden allegorisch auf Christi Leben, Tod und Auferstehung bezogen.20 Besonders gilt dies für das Hochgebet: Notandum autem per totum Canonem Dominicae passionis commemorationem potissimum actitari. 21 Indem der Illustrator die Initiale des Hochgebetes zum Kreuz ausgestaltet, verweist er auf diese Deutung des Textes. Zugleich illustriert die Initiale in Kreuzform die allegorisch-typologische Bedeutung des ihr zugrunde liegenden Buchstabens. Der Buchstabe T oder genauer gesagt: 15 16 17
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Darauf weist bereits Ratkowitsch 1998 hin. Zur Te-igitur-Initiale siehe besonders Gutbrod 1965, 17–73 und Suntrup 1980. Zum Einfluß der Form des jeweiligen Buchstabens auf die Ausgestaltung von Initialen vgl. Jakobi-Mirwald 1998, 85–89. Suntrup 1980, 281–282. Dazu Suntrup 1980, 284. Dazu Suntrup 1980, 284–289. Bernold von Konstanz, Micrologus 16, PL 151. Dazu Suntrup 1980, 288.
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sein hebräisches bzw. griechisches Äquivalent, der Buchstabe Taw/Tau, kommt bereits im Alten Testament als Zeichen mit besonderer Funktion vor: Der Prophet Ezechiel sieht in einer Vision das Strafgericht Gottes über Jerusalem. Ein in Linnen gekleideter Mann wird vorausgeschickt, der die Gerechten, die verschont werden sollen, mit dem Buchstaben Taw/Tau markiert (Ez 9,4): et dixit Dominus ad eum / transi per mediam civitatem in medio Hierusalem / et signa thau super frontes virorum gementium et dolentium / super cunctis abominationibus quae fiunt in medio eius. 22 Nach jüdischer Deutung verweist das Taw auf die Thora: Alle, die dieses Zeichen tragen, haben die in der Thora niedergelegten Gebote erfüllt.23 Von den christlichen Bibelkommentatoren wurde das Tau-Zeichen (sowohl in seiner älteren hebräischen wie in seiner griechischen Schreibung) typologisch24 auf das Kreuz Christi bezogen (figura crucis).25 Vor dem Hintergrund der Ezechiel-Stelle interpretierte man auch die apotropäischen Markierungen, die die Israeliten mit dem Blut des PassahLammes an ihren Türen anbringen sollten (Ex 12), als Tau-Kreuze, obwohl hier expressis verbis von einem bestimmten Zeichen keine Rede ist. Die Zusammenschau der beiden Texte erklärt sich aus der identischen Funktion der Markierungen: Sie sollen die von Gott Erwählten vor der Vernichtung schützen. Eine weitere wichtige Rolle spielt der Buchstabe Tau bei der zahlensymbolischen Deutung der 318 Knechte Abrahams (Gen 14,14). Die Zahl 318 setzt sich in griechischer Schreibung aus den zugleich als Zahlzeichen fungierenden Buchstaben Tau (300), Iota (10) und Eta (8) zusammen. Das Tau verweist auf das Kreuz, mit den Buchstaben Iota und Eta beginnt der Name ‹Iesus›. 26 Für einen christlichen Rezipienten konnte es kein Zufall sein, daß gerade das Hochgebet mit den Worten Te igitur beginnt: Noch bevor der Priester zu lesen beginnt, fällt sein Blick auf das durch den Anfangsbuchstaben des ersten Wortes gebildete Taukreuz (crux com22 23
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Biblia sacra iuxta Vulgatam versionem (ed. R. Weber, R. Gryson et al., 4.,verb. Aufl. 1994). Hieronymus faßt die verschiedenen Bedeutungen des Taw/Tau-Zeichens in jüdischer und christlicher Interpretation zusammen (Commentarii in Ezechielem 3,9, CCSL 75, ed. F. Glorie, 1964): praecipitur ei …, ut ponat signum super frontes virorum … pro ‹ signo› quod septuaginta, Aquila et Symmachus transtulerunt, Theodotio ipsum hebraicum posuit ‹ tau› quae extrema est apud Hebraeos viginti et duarum litterarum, ut perfectam in viris gementibus et dolentibus scientiam demonstraret; sive ut Hebraei autumant, quia ‹ lex› apud eos appellatur ‹ thora › quae hac in principio nominis sui littera scribitur, illi hoc accepere signaculum, qui legis praecepta compleverant. et ut ad nostra veniamus, antiquis Hebraeorum litteris … extrema ‹ tau › littera crucis habet similitudinem, quae Christianorum frontibus pingitur … Zur Bedeutung der Typologie (Figuraldeutung) in der Bibelexegese vgl. Ohly 1976, 363 «Die Grundurkunde … liegt in der Bergpredigt: Nolite putare quoniam veni solvere legem et prophetas: non veni solvere sed adimplere (Mt. 5, 17). Dies Wort setzt Altes und Neues Testament in ein schöpferisches Spannungsverhältnis der Steigerung des Alten in das Neue durch seine Erfüllung, nicht so freilich, wie eine Wortprophetie durch Wahrwerden des Vorausgesagten ‹sich erfüllt›, sondern im Wortsinne von adimpletio, nach dem nicht das leere, sondern das halbvolle Gefäß durch eine Hinzugabe adimpletur.» Dazu ausführlich Suntrup 1980, bes. 289–303. Vgl. Rahner 1954. So heißt es etwa bei Beda Venerabilis (In principium Genesis 3,14, CCSL 118A, ed. C. W. Jones, 1967): Erant quippe trecenti decem et octo, quo nimirum numero signum victoriosissimae crucis et nomen salvatoris nostri Iesu Christi, per quem hoc in munimentum nostrae salutis consecratum est, designatur, siquidem apud Grecos trecenti per tau litteram notantur, quae in crucis figuram aptatur. Nam si apicem in medio recepisset, non figura crucis sed ipsum iam signum crucis manifeste cerneretur expressum. Decem vero et octo apud eos per I et H, quae in nomine Iesu primae sunt litterae, notantur; et ideo cum trecenti decem et octo grece notantur, non multum distat ab eo ut crux Iesu legi possit. Vgl. bereits Barnabae epistula 9,8b-c: T« σ π 9 «; … Tμ «
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missa). Durch göttliche Vorsehung war so die Kreuzigung, die im Zentrum der Liturgie steht, von Anfang an zeichenhaft präsent. Durandus von Mende (Guillaume Durand, gest. 1296) entwickelt diesen Zusammenhang, anknüpfend an ältere Deutungen (Honorius von Autun, Innozenz III.)27, in aller Ausführlichkeit (Rationale divinorum officiorum 4,35, CCCM 140, ed. A. Davril / T.M. Thibodeau, 1995–1998): Recolitur enim ibi memoria eorum que gesta sunt per ebdomadam ante paschalem … propter quod in plerisque sacramentariis, inter prefationem et canonem, ymago crucifixi depingitur, ut, non solum intellectus littere, verum etiam aspectus picture, memoriam dominice passionis inspiret. Et forte divina factum est providentia, licet humana non sit industria procuratum, ut ab ea littera canon inciperet, scilicet a T, que hebraice thau dicitur, que sui forma signum et misterium crucis ostendit et exprimit, dicente Domino per Ezechielem: Signa thau in frontibus virorum dolentium et gementium super abominationibus Ierusalem, quoniam per Christi passionem hec omnia in cruce impleta sunt et efficaciam habent.
Die Illustratoren der Meßbücher entfalten nur die im Text und mehr noch: die bereits im ersten Buchstaben selbst enthaltene Botschaft: Die zum Kreuz ausgestaltete T-Initiale illustriert einerseits den Text des Meßbuches, die Messe verstanden als memoria passionis, sie illustriert aber zugleich die allegorisch-typologische Interpretation des ihr zugrunde liegenden Buchstabens. Der Buchstabe T ist ein eigenständiger Bedeutungsträger, der für sich genommen bereits auf das Kreuz verweist.28 Nicht jeder Text, der mit einem T beginnt, läßt sich auf das Kreuz beziehen. Besonders bei Texten von heidnischen Autoren scheint sich eine Übertragung ikonographischer Muster der Te-igitur-Initiale von selbst zu verbieten. Nun hat aber das Eklogenbuch Vergils einen besonderen Status. Seit der christlichen Deutung der vierten Ekloge durch Konstantin wurde auf die göttliche Inspiriertheit des Dichters bzw. des Gedichtbuches mit verschiedenen Akzentsetzungen immer wieder hingewiesen.29 Die Entdeckung, daß gerade am Anfang dieses Textes ein Tau-Kreuz steht, dürfte auf einen christlichen Vergilleser wie eine kleine Offenbarung gewirkt haben: Dieselbe göttliche Vorsehung, die dafür gesorgt hat, daß das Hochgebet mit dem Kreuzzeichen beginnt, hat, so konnte er vermuten, auch das Eklogenbuch Vergils mit der christlichen Signatur versehen. So interpretiert, ist die Initiale eine zusätzliche Bestätigung für die Inspiriertheit des Dichters bzw. des Gedichtbuches. 27
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Vgl. Suntrup 1980, 290. Das «Rationale» war der Standardkommentar zur Liturgie in dieser Zeit. Siehe dazu Thibodeau 1992. Suntrup 1980, 289: Die Te-igitur-Initiale «gibt ein sprechendes und reich belegtes Beispiel für den an einen Kontext gebundenen Buchstaben als eigene Sinnträgergatttung.» Vgl. Gutbrod 1965, 73: «Eine tiefere Bedeutung als das T an dieser Stelle kann wohl kein Buchstabe jemals erreichen. Seine Macht, die auf der Ähnlichkeit mit dem Kreuze beruht, war so groß, daß es angebetet wurde. Das T war nicht nur Buchstabe oder Zeichen, sondern lebendiges Symbol, das im Mittelalter Macht und magische Kraft des Kreuzes besaß. Als Kruzifixus wurde es Sinnbild oder bildhafte Vertretung der Herrlichkeit, des Leidens und des Opfertodes Christi. Größere Tatsächlichkeit konnte ein figurierter Buchstabe nicht erhalten: das Wort, der Buchstabe war wirklich ‹Leib› geworden.» Zur christlichen Deutung der vierten Ekloge vgl. Courcelle 1957, Chaffin 1975, Benko 1980 und Nazzaro 1983. Lactanz (inst. 7,24) und Augustin (civ. 10,27) interpretieren die vierte Ekloge christlich. Doch für beide gibt Vergil ohne eigenes Verständnis nur das wieder, was die Sibylle prophezeit hat. Konstantin ist dagegen der Ansicht, daß Vergil selbst die Wahrheit erkannt, aber aus Angst nur in allegorischer Verhüllung verkündet hat (Oratio ad sanctorum coetum 19,8–9, in: Eusebius’ Werke, Bd. 1, ed. I. A. Heikel, GCS 7, 1902). Hieronymus (epist. 53,7) weist jegliche christliche Interpretation Vergils entschieden zurück. Zur Rede Konstantins vgl. Radke 1978, Wlosok 1983 und Bleckmann 1997. Zu Lactanz siehe Buchheit 1990.
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Wenn man die Tityre-Initiale auf die Te-igitur-Initiale bezieht und als Kreuz Christi deutet, lassen sich verschiedene Details der Darstellung besser verstehen: 1. In der Te-igitur-Initiale und auf den Kanonbildern erscheinen immer wieder Maria, die Mutter Jesu, und der Lieblingsjünger Johannes unter dem Kreuz (vgl. Joh 19, 26–28). Maria steht auf der rechten, Johannes auf der linken Seite des vertikalen Kreuzbalkens. Der seit Irenaeus von Lyon mit dem Evangelisten Johannes identifizierte Jünger hält nicht selten ein Buch (Abb. 3). 30 An die Stelle dieser Figuren treten in der Tityre-Initiale Vergil und Augustus, wobei der «jungfräuliche»31 Vergil als Überbringer des Buches die Position der Jungfrau Maria einnimmt. 2. Aus dem Querbalken des T sprießen in der Tityre-Initiale zur linken und zur rechten Seite Ranken hervor, die in dreilappige Blätter auslaufen. Interpretiert man die Initiale als Kreuz Christi, dann bekommen diese Ranken eine spezifische, über das Ornamentale hinausgehende Bedeutung: Sie verweisen auf die Auffassung des Kreuzes als «Baum des Lebens» (arbor vitae).32 Diese Auffassung resultiert aus der typologischen Beziehung, die man zwischen dem Kreuz und den Bäumen in der Mitte des Paradieses hergestellt hat (Gen 2,9; 3,22–24). Durch den Baum der Erkenntnis kam Sünde und Tod in die Welt, durch den Baum des Kreuzes das Leben (Ps.Ambrosius, Sermones 45,2–3, PL 17): Eva nos damnari fecit per arboris pomum, Maria absolvit per arboris donum; quia et Christus in ligno pependit, ut fructus. Igitur sicut per arborem mortui, ita per arborem vivificati. Was der Baum des Lebens im Paradies nicht gewähren konnte, schenkte den Menschen das Kreuz Christi (Chromatius Aquileiensis, Sermones 38,29, SL 9A, ed. J. Lemarié, 1974): Denique quod praestare homini tunc non potuit arbor uitae in paradiso, praestitit Christi passio; et recepit amissam gratiam per arborem crucis, quam tunc per arborem uitae recuperare non potuit.33 Über diese typologische Beziehung hinaus wurde auch eine materielle behauptet. Verschiedene Legenden berichten, daß das Holz des Kreuzes auf den Baum der Erkenntnis bzw. auf den Baum des Lebens zurückgehen soll.34 Das weitverbreitete Motiv des lebendigen und lebensstiftenden Kreuzes findet sich auch in den Te-igitur-Initialen (Abb. 4).35 3. Drachen gehören zum üblichen dekorativen Apparat von Initialen. Vor dem Hintergrund der Te-igitur-Initiale läßt sich den Tieren in der Tityre-Initiale aber darüber hinaus eine präzise Bedeutung zuweisen. Die Drachen sind mit ihren Schwänzen36 im gespaltenen Schaft des T eingeschlossen.37 Bildlich dargestellt wird hier die Bindung des Teufels, die Christus durch sein Leben und seinen Tod am Kreuz vollzogen hat.38 Auf diesen Sieg über den Teufel wurde das Gleichnis von der Bindung des starken Mannes bezogen (Mt 12,29): 30 31
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Vgl. Suntrup 1980, 371–377, Abb. 9–13 und 16–19. Vgl. Serv. Aen. 1 pr. 7: adeo autem verecundissimus fuit, ut ex moribus cognomen acceperit; nam dictus est Parthenias. Vgl. Bauerreiss 1938 und Mazal 1988, bes. 17 und 33–43. Vgl. Hagemeyer 1954. Bauerreiss 1938. Suntrup 1980, 371, Abb. 9 und 378, Abb. 20/21. Nach der Lehre der mittelalterlichen Bestiarien ist gerade der Schwanz der gefährlichste Körperteil des Drachen (Aberdeen Bestiarium 66r; http://www.abdn.ac.uk/bestiary/translat/66r.hti): Huic draconi assi milatur diabolus qui est immanissimus serpens, … vim non in dentibus sed in cauda habet, quia suis viribus perditis mendacio decipit quos ad se trahit. Der Form nach handelt es sich um eine «Spaltleisteninitiale», vgl. Jakobi-Mirwald 1997, 69. Der ebenfalls gespaltene Querbalken ist in den Schaft des T eingeflochten. Vgl. Lauretus 1681, s. v. draco, 365: «Dracones significare solent satanam, eiusque socios, ac membra.»
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aut quomodo potest quisquam intrare in domum fortis / et vasa eius diripere / nisi prius alligaverit fortem / et tunc domum illius diripiat. Auch der Engel, der in der Offenbarung «den Drachen, die alte Schlange» bindet, wurde mit Christus gleichgesetzt (Offb 20,2): et adprehendit draconem serpentem antiquum qui est diabolus et Satanas / et ligavit eum per annos mille. 39 Ein besiegter Drache erscheint deshalb nicht selten auf Kreuzigungsdarstellungen. 40 Ein besonders eindrucksvolles Exemplar, dessen Maul vom Kreuzesstamm durchbohrt wird, findet sich in einem zwischen 1215 und 1225 im Kloster Scheyern entstandenen Matutinalbuch (Bayerische Staatsbibliothek München, Clm. 17401, fol. 14v, Abb. 5).41 Auf einem um 1100 in Belgien entstandenen Buchdeckel ist das Kreuz mit Kruzifixus auf dem Rücken eines Drachen aufgerichtet, während Maria auf dem Kopf und Johannes auf dem Schwanz des Tieres steht. 42 In einer Te-igitur-Initiale aus einem Breviarium aus Benevent (12. Jh.) ist eine reich mit Ranken verzierte crux commissa dargestellt, die von einem knienden Mönch verehrt wird. Am Fuß- und Kopfende des Längsbalkens fesseln Ranken je ein hundegestaltiges Tier. 43 Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß die Drachen der Tityre-Initiale trotz ihrer Bindung noch einen gewissen Aktionsradius haben. Der beste Kommentar dazu ist eine Predigt, die vielleicht von Caesarius von Arles stammt (Sermones Caesarii uel ex aliis fontibus hausti, sermo 121, cap. 5, CCSL 103–104, ed. G. Morin, 1953): Ante adventum enim Christi, fratres carissimi, solutus erat diabolus: veniens Christus fecit de eo, quod in evangelio dictum est: nemo potest intrare in domum fortis, et vasa eius diripere, nisi prius alligaverit fortem. Venit ergo Christus, et alligavit diabolum. Sed dicit aliquis: si alligatus est, quare adhuc tantum praevalet? verum est, fratres carissimi, quia multum praevalet; sed tepidis et neglegentibus et deum in veritate non timentibus dominatur: alligatus est enim tamquam innexus canis catenis, et neminem potest mordere, nisi eum qui se ad illum ultro mortifera securitate coniunxerit.
Der Teufel ist angebunden wie ein Hund an einer Hundeleine. Er kann nur noch den Menschen gefährlich werden, die keinen festen Glauben haben und sich freiwillig mit ihm verbinden. 4. Erst die Bindung der Drachen macht es möglich, daß Vergil und Augustus auf dem Rücken der Tiere Halt finden können. In Psalm 90(91),13 wird die Fähigkeit, gefahrlos über wilde Bestien hinwegzuschreiten, demjenigen versprochen, der auf Gott vertraut: super aspidem et basiliscum ambulabis et conculcabis leonem et draconem. Ebenso sagt Jesus zu den 72 Jüngern, die er in die Städte und Orte vorausschickt, die er besuchen will (Lk 10,19): ecce dedi vobis potestatem calcandi supra serpentes et scorpiones / et supra omnem virtutem ini39
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Primasius, Commentarius in Apocalypsin 5,20, CCSL 92, ed. A. W. Adams, 1985): Et tenuit draconem illum serpentem antiquum, qui cognominatus est diabolus et satanas, et alligauit eum mille annis. Angelum de caelo descendentem dominum nostrum Iesum Christum accipimus, qui magni consilii angelus nuncupatur, qui que mortalium visitans regionem fortior alligare voluit fortem, ut eius vasa quae dudum irae fuerant vasa misericordiae perfecisset, hoc peragens opere quod ante promiserat praedicatione: Nemo inquiens potest domum fortis intrare et vasa eius diripere nisi prius alligaverit fortem, id est diabolum. Stauch 1959, 353–356. Vgl. Kroos 1980: «Unter Mariae Füßen rollt sich der Schwanz des Höllendrachens … mit scharfer, von ferne an den Stachel eines Skorpions erinnernder Spitze drohend, doch machtlos zusammen, wie sonst bei Marienfiguren, die auf Drache oder Schlange treten.» Goldschmidt 1972, Bd. 4, 13 und Abb. 21. Vgl. ebd., Bd. 3, 14 und Abb. 23 (Kreuzigung auf einem Buchdeckel, Mitte 12. Jh., mit einem Drachen unter dem Fußbrett des Kreuzes) sowie Goldschmidt 1969, Bd. 2, 30–33 und Abb. 59.60.67. Abbildung und Beschreibung in Gutbrod 1965, 70.
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mici / et nihil vobis nocebit. 44 Mit der Darstellung der Tityre-Initiale vergleichbar ist eine Illustration in der Handschrift Einsiedeln 176 (10. Jh.), die u. a. Bedas Kommentar zur Offenbarung des Johannes enthält. Auf dem letzten Blatt des Kommentars (51v) erscheint Christus übergroß zwischen zwei Personen (Abb. 6).45 Mit den Füßen tritt er auf die Köpfe von Schlange und Löwe. Darunter erscheint als Beischrift der Text von Psalm 90(91),13. Die beiden Personen stehen sicher auf den bezwungenen Tieren oder zumindest in der unmittelbaren Nähe der Tiere. Das gilt auch für Maria und Johannes auf dem bereits erwähnten Buchdeckel mit der Kreuzigungsdarstellung (s. o. bei Anm. 42). Anders Vergil und Augustus. Die Figuren in der Tityre-Initiale zeigen, wie wir bereits gesehen haben, signifikante Unterschiede in ihrer Standsicherheit: Vergil steht mit beiden Füßen auf Rücken und Hals des Ungeheuers. Zusätzliche Sicherheit verleiht ihm der obere Balken des Kreuzes, den er mit dem stärkeren rechten Arm festhält. Augustus steht dagegen nur mit einem Fuß auf dem Rücken des Tieres. Der Hals des Drachen reckt sich bedrohlich nach oben. Hinzu kommt, daß er den Oberbalken nur mit dem linken, schwächeren Arm festhält. Offenbar soll dadurch angedeutet werden, daß Vergil in seinem Vertrauen auf Gott gefestigter ist als Augustus. Sein Status als Verfasser des göttlich inspirierten Eklogenbuches verleiht dem Dichter eine Standsicherheit, die der Herrscher nicht oder noch nicht besitzt. 5. Der horizontale Balken gewährt Vergil und Augustus zusätzlichen Halt. Man könnte aber auch sagen, daß sich beide nicht nur am oberen Balken festhalten, sondern diesen zugleich stützen. Das Stützen des Kreuzes würde auf die Rolle verweisen, die Vergil und Augustus bei der Erlösungstat Christi gespielt haben. Vergil hat die Geburt des göttlichen Kindes in der vierten Ekloge angekündigt (so Konstantin).46 Augustus hat durch die Befriedung der Welt die Voraussetzungen für die Verbreitung des christlichen Glaubens geschaffen. Er hat darüber hinaus den Census im gesamten Imperium Romanum durchführen lassen. So konnte der menschgewordene Sohn Gottes auch von Amts wegen als Mensch gezählt und eingeschrieben werden (Orosius, Historia aduersum paganos 6,22,5–6, ed. H.-P. Arnaud-Lindet, 1990–1991): Igitur eo tempore, id est eo anno quo firmissimam verissimamque pacem ordinatione Dei Caesar conposuit, natus est Christus cuius adventui pax ista famulata est … Eodem quoque anno tunc primum idem Caesar quem his tantis mysteriis praedestinaverat Deus censum agi singularum ubique provinciarum et censeri omnes homines iussit, quando et Deus homo videri et esse dignatus est. Tunc igitur natus est Christus, Romano censui statim adscriptus ut natus est.
Während Vergil Heilswahrheiten verkündet, ist Augustus für die politischen und verwaltungstechnischen Rahmenbedingungen zuständig. Diese unterschiedliche Funktion wird 44
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Ebenso Röm 16,20: Deus autem pacis conteret Satanan sub pedibus vestris velociter. Im Hintergrund steht hier Gen 3,15, eine Stelle, die auch auf Christus bezogen wurde (Isidor, Quaestiones in Vetus Testamentum 5,7–8, PL 83, 221): Quidam autem, quod dictum est, Inimicitias ponam inter te et mulierem, de Virgine de qua Dominus natus est, intellexerunt, eo quod illo tempore ex ea Dominus nasciturus, ad inimicum devincendum, et mortem, cujus ille auctor erat, destruendam, promittebatur. Nam et illud quod subjunctum est: Ipsa conteret caput tuum, et tu insidiaberis calcaneo ejus, hoc de fructu ventris Mariae, qui est Christus, intelligunt; id est; Tu eum supplantabis, ut moriatur. Ille autem, te victo, resurget, et caput tuum conteret, quod est mors. Sicut et David dixerat ex persona Patris ad Filium: Super aspidem et basiliscum ambulabis, et conculcabis leonem et draconem. Aspidem dixit mortem, basiliscum peccatum, leonem Antichristum, draconem diabolum. Vgl. Prochno 1929, 23 und Abb. 23*. Vgl. oben Anm. 29.
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möglicherweise dadurch veranschaulicht, daß Vergil den rechten, Augustus aber den linken Arm zum Stützen des Kreuzes verwendet: Dextera manus, significare potest dignitatem, aut vitam contemplativam, quae nobilior est, quam activa: ut dextera manus Jacob, & Joseph …47 6. Die Arme, die nicht den Querbalken des Kreuzes stützen, sind wie Einschlagfäden in den gespaltenen Stamm des Kreuzes eingeflochten. Vergil führt seinen linken Arm nur einmal durch den Stamm.48 Der Arm des Augustus ist in überaus künstlicher Weise zweimal durch den zweigeteilten Stamm geflochten. Die Fixierung der Arme im Stamm des Kreuzes erinnert an die Bindung der Drachen. Es besteht allerdings ein entscheidender Unterschied: Durch die Bindung an das Kreuz ist die Macht des Teufels gebrochen oder zumindest entscheidend geschwächt. Die Bindung der Heiden an das Kreuz ist dagegen die Voraussetzung für ihre Erlösung. Auch diese Metaphorik ist bereits in der patristischen Bibelexegese vorgeprägt, und zwar in den Auslegungen zu Gen 49,11. Dort heißt es in dem Segen Jakobs über seinen Sohn Juda von dem, «der geschickt werden wird»: «Er bindet am Weinstock sein Fohlen fest, / seine Eselin an der Rebe» (ligans ad vineam pullum suum et ad vitem o fili mi asinam suam). Diese Stelle verlangt geradezu nach einer allegorischen Interpretation. Die Prophezeiung wurde auf Christus bezogen. Dieser wird Eselin und Eselsfohlen, d. h. Juden und Heiden, zu einer Kirche vereinigen. Im Hintergrund steht hier die allegorische Deutung der Tiere, mit denen Jesus in Jerusalem (Mt 21,2) einzog (Hieronymus, Commentarii in euangelium Matthaei 3,1201, CCSL 77, ed. D. Hurst, M. Adriaen, 1969): ergo cum historia vel inpossibilitatem habeat vel turpitudinem, ad altiora transmittimur ut asina ista, quae subiugalis fuit et edomita et iugum legis traxerit, synagoga intellegatur, pullus asinae lascivus et liber gentium populus … Das Eselsfohlen verweist auf die Heiden, weil es anders als seine Mutter – die Synagoge – die Last des Gesetzes niemals getragen hat. Rebe (vitis) und Weinstock (vinea) werden ausgehend von Joh 15,5 (ego sum vitis vos palmites) auf Christus und die Apostel bezogen (Petrus Abaelardus, Sermones ad virgines paraclitenses in oratorio ejus constitutas. Sermo VII: In ramis palmarum, PL 178, 432A): Ipse quippe Dominus discipulis ait: Ego sum vitis, et vos palmites. Ad vitem itaque, hoc est ad teipsum, Domine Jesus, asina est ligata, et ad vineam pullus, hoc est ad palmites ipsius vitis: quia tu, Domine, propria praedicatione primos ex Judaeis fideles tibi copulasti, per quos et postmodum gentiles convertisti, et eis aggregasti, qui tuam minime viderunt in carne praesentiam. 49 Zunächst hat Christus durch die eigene Predigt die Apostel «an sich gebunden», durch
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Lauretus 1681, s. v. dextera, dexter, 334. Vergleichbar ist eine P-Initiale in einem Kommentar des Petrus Lombardus zu den Paulusbriefen (Klosterneuburg CCl 17, 3r, um 1200). Der im Binnenfeld des P dargestellte Paulus reicht einen Codex durch den gespaltenen Schaft des Buchstabens. Vgl. Haidinger 1998, 19, Kat. Nr. 14 und Abb. 19. Die weitaus kompliziertere Armhaltung von Vergil und Augustus in der Tityre-Initiale scheint mir aber einer besonderen Erklärung zu bedürfen. Daß gerade die Rebe (vitis) besonders zum Binden geeignet ist, betont mit Rückgriff auf eine etymologische Deutung Petrus Iohannis Olivi (Expositio in Canticum Canticorum, Collectio Oliviana 2, ed. J. Schlageter, 1999, 94): … consimiliter vitis habet vim ligativam, unde dicta est a vinciendo, acsi quaedam vitta seu benda. Propter quod Genesis ultimo de Christo dicitur: ‹ Ligans ad vineam pullum suum et ad vitem, o fili mi, asinam suam› . Ad caritatem enim Dei et proximi ligavit Christus ecclesiam suam. Der Weinstock ist auch auf das Kreuz gedeutet worden (Iohannes de Forda, Sermo in dominica palmarum 273, CM 18, ed. E. Mikkers / H. Costello, 1970): Vinea haec non incongrue dici potest crux Christi, cuius uino tunc potatus est Christus, cum doloris absinthio inebriatus est. Et uere fertilis uinea, in qua botrus ille pependit de terra promissionis allatus, de quo expressum est uinum nouum gaudium salutis aeternae. Ad hanc uineam ligauit Christus pullum suum et asinam suam, quia in ea exuit mortalitatem suam et corruptibilitatem suam.
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diese sind dann die Heiden bekehrt und mit den gläubigen Juden zu einer Kirche vereinigt worden.50 Allerdings, so können wir hinzufügen, hat es auch unter den Heiden nach verbreiteter christlicher Auffassung zumindest einen Vermittler dieser Art gegeben, der das Evangelium wenn auch in verhüllter Form verkündet hat: Vergil. 51 Diese Rolle des römischen Dichters im Heilsgeschehen hat der Illustrator der Tityre-Initiale bildlich umgesetzt. Vergil und Augustus können mehr oder weniger ungefährdet auf den Drachen stehen, nicht nur weil diese gefesselt sind, sondern weil sie selbst eine enge Verbindung mit dem Kreuz und d. h. mit Christus eingegangen sind. Die Übergabe des Buches ist Voraussetzung dieser Bindung an das Kreuz: Vergil reicht das Eklogenbuch durch das aufgespaltene Kreuz zu und Augustus nimmt es gewissermaßen als Vertreter des Heidentums auf der Gegenseite in Empfang, indem er zweimal durch das Kreuz greift. Das göttlich inspirierte Gedichtbuch stiftet so den ‹Knoten›, der das Heidentum mit Christus vereint. Die Tityre-Initiale im Codex Klosterneuburg CCl 742 läßt sich vor dem Hintergrund der Te-igitur-Initiale sinnvoll deuten. Elemente, die ohne Rückbezug auf dieses Vorbild auch als rein ornamental beschrieben werden könnten (Ranken, Drachen, Verknotung der Arme), bekommen eine präzise Aussagekraft. Der Illustrator gestaltet die Initiale nicht oder nicht nur deshalb zum Kreuz aus, weil Vergil in der vierten Ekloge nach christlicher Auffassung die Geburt Christi vorhergesagt hat. Für ihn ist vielmehr bereits der erste Buchstabe des Textes ein eigenständiger Bedeutungsträger: Das Tau-Kreuz fordert als christliche Signatur den Rezipienten von Anfang an auf, die verborgenen Mysterien des Eklogenbuches zu entschlüsseln. Die «göttliche Vorsehung» hat das Hochgebet mit dem Buchstaben T beginnen lassen, weil im Zentrum der Liturgie die Passion Christi steht. Ebenso dürfte, wenn wir die Hinweise des Illustrators richtig deuten, auch das Eklogenbuch nicht nur die Geburt des Erlösers thematisieren.52 Ist vielleicht auch die Passion Christi unter der Hülle des Buchstabens verborgen? Tatsächlich könnte man das Schicksal des Hirten Daphnis, dessen Tod und Apotheose in der fünften Ekloge besungen wird, auf Tod und Himmelfahrt Christi beziehen. Dann würde für das Eklogenbuch genau das gelten, was Innozenz III. für die Messe ausführt (De sacro altaris mysterio, Prologus, PL 217, 773D): Hoc enim officium tam pro-
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Ecclesia und Synagoge erscheinen an der Stelle von oder neben Maria und Johannes nicht selten auf Kreuzigungsdarstellungen. Dieser Bildtypus findet sich auch in den Te-igitur-Initialen. Vgl. Seiferth 1964 und Jochum 1993. Dante läßt dies seinen Stazio aussprechen, der durch die Erkenntnis der Übereinstimmungen zwischen der vierten Ekloge und dem Evangelium zum Christen geworden ist (Purg. 22,64–80). Nicht nur die vierte Ekloge wurde christlich gedeutet. Petrus Abaelard bezieht die Dreizahl, die bei den in der achten Ekloge beschriebenen magischen Praktiken eine besondere Rolle spielt, auf die Trinität (Theologia ‹Scholarium› 1,193, CM 13, ed. E.M. Buytaert / C.J. Mews, 1987): Qui etiam postmodum in alia Egloga, divinam trinitatem non mediocriter innuens, ex cuiusdam ad alium persona dicit: ‹ Trina tibi haec primum triplici diversa colore | Licia circumdo ter que haec altaria circum | Effigiem duco. Numero deus impare gaudet› . Vota quippe hic quidam sortilegi ritus ostendens, qui maximam vim habeat ad constringendum rebellem, minatur dicens: tria fila eiusdem substantiae, id est de lana, sed diversa triplici colore tibi, in effigie videlicet tua, circumdo, ad te videlicet constringendum et capiendum, quasi illud Salomonis attendens: Funiculus triplex difficile rumpitur. Et tunc, inquit, ipsam effigiem tui sic ligatam duco ter circum altaria. Denique cur vel terna licia dixerit vel triplicem colorem sive trinum circuitum altaris, quasi in omnibus ternarii numeri magnam vim attenderet ad celebrationem divinorum sacrorum, adiecit quia ‹ deus gaudet impare numero› , ac si diceret quia hoc numero secundum personarum trinitatem describi vult sui perfectionem. Quae quidem personae cum sint eiusdem substantiae sed proprietatibus diversae, bene tribus laneis filis diversorum colorum expressae uidentur.
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vida reperitur ordinatione esse dispositum, ut quae per Christum gesta sunt et in Christum, ex magna parte contineat, ex quo Christus de coelo descendit, usque dum ascendit in coelum; et ea tam verbis, quam signis admirabili quadam specie repraesentat. 53 Wer nicht nur die Initiale, sondern die gesamte Textgestaltung auf der ersten Seite berücksichtigt, findet eine weitere Bestätigung für die hier vorgetragene Interpretation. Der Anfangsvers der ersten Ekloge ist durch die Schreibung in farblich alternierenden Majuskeln hervorgehoben. Der Text ist scheinbar zufällig auf zwei Zeilen verteilt:
Durch die Trennung des Wortes re-cubans erscheinen am Zeilenanfang unmittelbar unter der T-Initiale die Buchstaben I und C: die Abkürzung (Kontraktion) von Iesus.54 Es ist, als ob der Illustrator bzw. Schreiber die Botschaft des Bildes durch diese Buchstabenkombination – diesmal sicher nicht divina providentia, sondern humana industria procuratum – noch einmal bekräftigen wollte.
Literatur R. Bauerreiss , Arbor vitae. Der «Lebensbaum» und seine Verwendung in Liturgie, Kunst und Brauchtum des Abendlandes, München 1938. S. Benko, Virgil’s Fourth Eclogue in Christian Interpretation, ANRW II 31, 1, Berlin 1980, 646–705. B. Bleckmann, Ein Kaiser als Prediger: zur Datierung der konstantinischen «Rede an die Versammlung der Heiligen», Hermes 125, 1997, 183–203. V. Buchheit, Cicero inspiratus – Vergilius propheta? Zur Wertung paganer Autoren bei Lactanz, Hermes 119, 1990, 357–372. F. Cairns , Virgil, Eclogue 1.1–2: a literary programme?, Harvard Studies in Classical Philology 99, 1999, 289–293. C. E. Chaffin, Christ as Emperor. Interpretations of the Fourth Eclogue in the Circle of St. Ambrose, in: Studia Patristica. Vol. XIII. Papers presented to the Sixth International Conference on Patristic Studies held in Oxford 1971. Part II. Classica et Hellenica, Theologica, Liturgica, Ascetica, hg. von E. A. Livingstone, Berlin 1975, 9–18.
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Ein sehr interessanter Gegenstand stellt Vergils Eklogen in den Kontext der Liturgie: das flabellum von Tournus (9. Jh.), heute im Museo Nazionale del Bargello in Florenz (Inv. 31/C). Hierbei handelt es sich um einen rituellen Fächer, der während der Messe verwendet wurde, um Fliegen von den Hostien und vom Priester fernzuhalten. Auf dem Elfenbein-Behälter sind Szenen aus verschiedenen Eklogen dargestellt, die wohl nach dem Vorbild von Buchillustrationen angefertigt worden sind. Vgl. Gaborit-Chopin 1988, bes. 18–26 (mit Abbildungen und weiterer Literatur). Diese Verbindung erinnert an die zahlensymbolische Deutung der 318 Knechte Abrahams: T (als Kreuzzeichen) und IH (als Anfangsbuchstaben des Namens Iesus). Bei den durch Kontraktion (Aussparung von Buchstaben in der Wortmitte) abgekürzten nomina sacra wurde die griechische Schreibung beibehalten: I (Iota) C (lunares Sigma). Buchstaben, die ein Akrostichon bilden, werden allerdings in der Regel vergrößert oder farblich hervorgehoben.
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Abb. 1 Klosterneuburg CCl 742, fol. 1r Abbildung online zugänglich: http://www.ksbm.oeaw.ac.at/kln/images/07/0742/001r.jpg
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Abb. 2 Sakramentar aus Metz (2. H. 9. Jh.), Paris, Bibliothèque Nationale, Ms. Lat. 1141, fol. 6v F. Mütherich (Hg.), Sakramentar von Metz: Fragment, Ms. Lat. 1141, Bibliothèque Nationale, Paris, Graz: Akademische Druck- u. Verlagsanstalt 1972. Abbildung online zugänglich: http://www.library.nd.edu/medieval_library/facsimiles/litfacs/me tz/6v-1H.html
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Abb. 3 Rituale Romanum (1. H. 14. Jh.), Universitätsbibliothek Salzburg, M II 161, fol. 13v (Kanonbild) Beschreibung und Abbildung online zugänglich: http://www.ubs.sbg.ac.at/sosa/handschriften/MII161.htm
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Abb. 4 Missale aus Südböhmen (1391), Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. S. N. 3516, fol. 225r Abbildung online zugänglich: http://aeiou.iicm.tugraz.at/aeiou.history.docs/007358.htm
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Abb. 5 Matutinal aus Scheyern, München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm. 17401, fol. 14v H. Hauke, R. Kroos, Das Matutinalbuch aus Scheyern: Die Bildseiten aus dem CLM 17401 der Bayerischen Staatsbibliothek, Wiesbaden, ohne Seiten
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Abb. 6 Einsiedeln, Stiftsbibliothek 176, fol. 51v (10. Jh.) J. Prochno, Das Schreiber- und Dedikationsbild in der deutschen Buchmalerei, Leipzig 1929, 23–24
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Von der historischen Wahrheit und dem Ende historiographischer Fiktionalität: Überlegungen zu Lukians Schrift « ¹ Gedanken zu den Prinzipien historischer Forschung und historiographischer Darstellung wurden von antiken Geschichtsschreibern traditionellerweise innerhalb von Proömien sowie bei zu derlei Überlegungen Anlaß gebenden Gelegenheiten unterschiedlicher Art geäußert. Insbesondere boten kritische und häufig zu polemischem Ton sich steigernde Auseinandersetzungen mit Kollegen vom Fach und deren Werken die Ansatzpunkte, um die bei Recherche, Auswahl und Gestaltung befolgten Methoden zu begründen und so den eigenen Standort und Stellenwert innerhalb etablierter Traditionen zu definieren1. Besondere literarhistorische Bedeutung kommt Lukians in die Form einer kynischen Diatribe gekleideten Schrift « ¹ 2 zu, handelt es sich bei dieser doch um die einzige aus der Antike erhaltene3 Monographie mit zusammenhängend dargebotener geschichtsmethodologischer Aussage. Darin sind umfassend die aus Lukians Sicht zentralen gattungsspezifischen Prinzipien inhaltlicher und darstellerischer Gestaltung dargelegt. Das Schweben der Aussage zwischen den Polen von Tradition und Innovation läßt sich durch einen Vergleich mit historiographischen, rhetorischen und anderen literarischen Traditionen vielfältiger Art
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Maßgebliche Literatur zum Themenkomplex: Avenarius (1956), Marincola (1997), Fornara (1983), Georgiadou / Larmour (1994), Scheller (1911), Meister (1975), Sacks (1981), Luce (1989), Strasburger (1966), Woodman (1988) und Wiseman (1979). Textgrundlage: Macleod (1980). Kommentare: Hermann (1828), Homeyer (1965) und Macleod (1991), Notes von Mestre / Gómez (2007). Lukian-Bibliographie bis 1994: Macleod (1994). Literatur zur Methodenschrift bzw. mit Relevanz dazu: Strobel (1994), Jones (1986), von Möllendorf (2000) und (2001), Schmitt (1984), Hall (1981), Anderson (1976 a), ders. (1976 b) und (1980), Delz (1950), Walz (1921), Passow (1854), Candau Morón (1976), Zecchini (1985), Bowie (1970) und Korus (1986). Zu der mit den Peripatetikern Theophrast und dessen Schüler Praxiphanes beginnenden Schriftenreihe λ « Homeyer (1965) bes. 46–49. Über den Inhalt dieser Monographien können nur Vermutungen angestellt werden, da außer den Titeln (zu Theophrast Diog. Laert. V § 47, zu Praxiphanes Marcell. vit. Thuc. § 29) nichts bekannt ist. Es ist aber wahrscheinlich, daß, sofern überhaupt das Thema die Geschichtsschreibung war (so wohl zu skeptisch Schmid [1974] 68), der formal-stilistische Aspekt ebenso wie in Theophrasts Schrift λ « im Vordergrund gestanden haben dürfte. Durch Cicero (or. 12, § 39) kennen wir Theophrasts Urteil über den Stil des Herodot und Thukydides, doch leider gibt dieser nicht an, welcher Schrift Theophrasts er dieses Stilurteil entnommen hat. Andernorts läßt Cicero (de or. II § 62–64, bes. § 62) Antonius sagen, er kenne vonseiten der Rhetoren keine separate theoretische Behandlung der Geschichtsschreibung (historia). Dies muß nicht das Fehlen einer einschlägigen Monographie bedeuten, sondern meint wohl eher den Umstand, daß die Geschichtsschreibung von den Rhetoren nicht über allgemeine rhetorische Normen hinaus in ihrer gattungsspezifischen Besonderheit wahrgenommen wurde. Eine kritische Diskussion des Forschungsstandes bei Walbank (1972) bes. 34–39. Etwas zu zuversichtlich hinsichtlich einer Rekonstruktionsmöglichkeit des Inhalts von Theophrasts Schrift λ « ist Wehrli (1947) 54–71, bes. 70–71.
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erschließen4. Die vorliegende Untersuchung greift aus diesem methodologischen Instrumentarium einen für die Arbeit des Historikers wesentlichen Aspekt heraus und diskutiert den nach Lukians Ansicht idealen Produktionsvorgang eines sachlich unanfechtbaren Geschichtswerkes vor dem Hintergrund einschlägiger historiographischer und rhetorischer Traditionen5. Dabei geht es um die Frage, unter welchen arbeitstechnischen Voraussetzungen und bis zu welchem Grad von Evidenz ein Historiker in den sicheren Besitz zutreffender historischer Daten gelangen könne. Nur eine einzige Stelle in vorliegender Schrift gibt Aufschluß darüber, wie Lukian sich das kritische Verfahren der Wahrheitsermittlung sowie die auf diesem Wege erzielbaren Resultate konkret vorstellt. Es handelt sich um den § 47, welcher den Passus über den von sachlicher Recherche bis hin zum fertigen, stilistisch ausgefeilten Werk reichenden historiographischen Produktionsvorgang (§ 47–48) einleitet: T ξ ³« , $ ! « λ " « « λ $ 6, λ ξ ! λ # , % ξ &, « $ ! #' « λ « & % Ν « * μ« ν $, $ & ν ,& « ! . $ -, .' λ !« « λ ,μ« - , .
Diese präzise ausformulierte Theorie7 ist ihrem sachlichen Gehalt nach 8 zunächst vor dem Hintergrund entsprechender Erklärungen, wie sie sich innerhalb von Historiographie und Literaturkritik reichlich finden, zu betrachten. Zu diesem Zweck sind die einzelnen Teilaussagen gesondert mit den jeweils relevanten Äußerungen griechischer Historiker und Rhetoren zu vergleichen9. Die Gegenüberstellung erfolgt aus diachroner Perspektive, soll 4
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Eine umfangreiche Darstellung des gesamten Themenkomplexes werde ich in einem die vorlukianischen literarischen Traditionen systematisch erfassenden Kommentar zu Lukians Methodenschrift, dessen Erscheinen für das Jahr 2009 geplant ist, geben. Darin wird zu zeigen sein, daß Lukian bei aller Traditionsgebundenheit doch auch sich ihm bietende respektive von ihm erst erschlossene Freiräume für individuelle, innovative Gestaltung nutzt. Marincola (1997) 2, zur Zeit einer der besten Kenner der gesamten Thematik, erläutert seine darstellerische Methode so: «I have avoided the tendency, sometimes seen, to begin with Lucian and then seek confirmation in the historians before and after him. My own procedure has been to include him either at the end of a section after the historians themselves have been examined, or in his proper chronological place». Die vorliegende Studie geht demgegenüber zunächst von den lukianischen Postulaten aus. Die Erklärungen von Historikern und Rhetoren werden sodann nachgereicht, um die literarhistorischen Voraussetzungen für Lukians Gestaltung auszuleuchten. Schließlich werden vor diesem Hintergrund diejenigen Momente hervorgehoben, welche Lukians Schrift ihr unverwechselbares Profil verleihen. Die Überlieferung bietet als Alternativen die Formen $ (Vat. 87 und 90, Harl. 5694) und $ (Marc. 434, Palat. 73). Ich folge entgegen der überwiegenden Mehrheit der modernen Herausgeber dem Oxford-Text von Macleod (1980) 314, zum einen um den durch « verstärkten durativen Charakter von $ zu belassen, zum anderen um die Korrespondenz der Präsenspartizipien ($ , ! , # , ) aufrechtzuerhalten. Über den tatsächlichen Produktionsvorgang verraten antike Historiker in der Regel nichts. Cassius Dio (LXXII = LXXIII 23, § 5) gibt wenigstens die Grundzüge seiner Arbeitsweise bekannt, dazu Millar (1964) 30–33. In formaler Hinsicht verleihen besonders Verbaladjektive und Imperative (hier und ) dem didaktischen Teil der Schrift charakteristisches Gepräge. Es wird häufig zu wenig bedacht, daß lateinische literarische Traditionen von relativ geringer Relevanz für einen direkten Vergleich mit Lukian sind. In diesem Sinne stellt Macleod (1991) 283 im Prinzip richtig, wenn auch wohl etwas zu überzeichnet, fest: «… Lucian was (or at least gave the impression of being) completely ignorant of Latin literature and indeed only once admits to knowing any Latin at all». Macleod zieht jedoch zu wenig in Rechnung, daß manchmal lateinische Traditionen in methodischer Hinsicht durchaus von Wert sein können, um übergreifende literarische Phänomene zu illustrieren, nämlich dann, wenn entsprechende griechische Quellen fehlen.
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doch die Entwicklungsgeschichte der einschlägigen Erklärungen sowie deren spezifischer sprachlicher Gestaltung ausgehend von Herodot und Thukydides bis in die Zeit Lukians hinein dokumentiert werden. Dabei wird es primär darum gehen, eher großflächig erkennbare Traditionslinien nachzuzeichnen, als in jedem Einzelfall auf der Basis subjektiver Mutmaßungen direkte Abhängigkeitsverhältnisse zu konstruieren. Über das engere Thema Lukian hinaus wird zudem auch eine Einschätzung des auf sachliche Forschungsarbeit bezogenen Selbstverständnisses antiker Historiker sowie der an diese jeweils von außen herangetragenen Erwartungshaltungen erstrebt. Zu diesem Zweck wird das Quellenmaterial in größerer Fülle dargeboten, als dies für den unmittelbaren Vergleich mit Lukian alleine unbedingt nötig wäre.
I. Das Verbum 10, um mit dem ersten Kolon zu beginnen, gehört zumindest seit Polybios zum sprachlichen Standard in auf das Objekt Geschichtsschreibung bezogenen literarkritischen Zusammenhängen. Bei Lukian bezeichnet es den im Arbeitsprozeß des Historikers noch der Erstellung eines Rohentwurfs (/! ' )11 vorangehenden Vorgang des Zusammentragens von relevantem historischem Faktenmaterial ( ) sowie dessen kritischer Prüfung. Aus diesem Verfahren der Sichtung, Auswahl und Bewertung der zur Verfügung stehenden Informationen müsse, so Lukians Postulat, das mit oberflächlicher Recherche verbundene Zufallsmoment herausgehalten werden ( ³« 12 ). Dieses zentrale Prinzip verantwortungsvoller historischer Forschungsarbeit geht auf das bekannte methodische Verfahren zurück, wie es von Thukydides, auf den sich Lukian in vorliegender Schrift wiederholt als maßgebliche Autorität beruft13, erstmals mit paradigmatischer Prägnanz formuliert wurde. Thukydides14 hatte erklärt, daß er sich bei der Darstellung der Ereignisgeschichte – im Unterschied zu der andersartige methodische Prinzipien erfordernden Gestaltung der Reden15 – weder an den erstbesten Informan10
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Lukian verwendet die Verba und $, 0 (§ 48) in bedeutungsidenter Weise, wie dies bereits Polybios (XII 28 a: , 0 / ) vor ihm getan hatte. Belege zu weiteren synonymen Begriffen bei Avenarius (1956) 71–72. Dionysios von Halikarnass gebraucht das Verbum bevorzugt im Zusammenhang mit literarkritischen Äußerungen über andere Historiker (ant. Rom. I 11, § 1 Thuk. § 16, ep. ad Pomp. § 6). Auf den Rohentwurf (/! ' ) folgen im Arbeitsprozeß die Anordnung sowie die stilistisch-rhythmische Ausgestaltung (§ 48). Im satirischen Teil der Schrift (§ 16) wird dies anhand der Unterscheidung von /! ' und ¹ erläutert. Diese Formulierung verwendet auch Polybios (II 56, § 3) in seiner Kritik an der Methode des Phylarchos: … # ' 6 κ %9 3 λ ³« 4 '. Hinsichtlich der idealen Arbeitsweise des Historikers wird die Vorbildhaftigkeit des Thukydides anerkannt. Der § 42 beruft sich auf das thukydideische Methodenkapitel, und in § 39 wird von Thukydides ebenso wie von Xenophon ausgesagt, beide hätten sie in ihrem Werk die subjektiven Motive von Haß und Sympathie zugunsten der Wahrheit zurückgestellt. Der normative Rang des Thukydides gründet somit nicht nur auf seinen einschlägigen programmatischen Äußerungen, sondern auch auf dem Geschichtswerk als ganzem, aus dem Lukian wiederholt und aus unterschiedlichen Perspektiven Anschauungsmaterial bezieht. Thuk. I 22, § 2. Zu den Prinzipien, nach denen Reden in griechischer Historiographie gestaltet sind, Walbank (1985). Zu der speziellen Frage der Zuordnung der Urkunden zum Bereich von ! oder Müller (1997).
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ten16 gehalten habe, noch auch nach dem subjektiven Prinzip mutmaßender Imagination17 verfahren wäre: # - ! « , ! « , # ³« # λ #!. Diese programmatische Erklärung läßt sich in ihrer Rezeption durch den Attizismus verfolgen, kraft dessen Normen setzender und durchsetzender Autorität Thukydides erst als Klassiker von kanonischem Rang anerkannt wurde 18. So liegt eine Paraphrase etwa vier Jahrhunderte später beim Rhetor und Historiker Dionysios von Halikarnaß vor, der in seiner Doppeleigenschaft als attizistischer Theoretiker und Praktiker zugleich19, wie kein anderer vor und nach ihm, das fugenlose Ineinandergreifen von historiographischer und rhetorischer Terminologie bezeugt20. In seiner hinsichtlich der Wahl des Gegenstandes ebenso wie vor dem Hintergrund konventioneller Bewertungen innovativen ThukydidesMonographie21, welche mit in der Antike nie übertroffener Schärfe in der Kritik am großen Vorgänger22 all die Verstöße des Thukydides gegen die von ihm, Dionysios, erhobenen Normen mit pingeliger Akribie aufrechnet, konzidiert Dionysios23, denn er weiß durchaus 16
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So Gomme (19502) 141: «not from the first person I chanced to meet». Es ist nötig, nachdrücklich auf dieses natürliche Textverständnis hinzuweisen, da es in Frage gestellt wurde durch die polemische Untersuchung von Egermann (1972) 575–602, bes. 586–89, der für ein adverbiales Verständnis von # - ! « im Sinne von ! «, ³« plädiert, denn (587): «² " kommt nicht gleichbedeutend mit ² " vor». Doch läßt sich diese apodiktische Behauptung kaum aufrechterhalten, da bereits eine flüchtige Durchsicht der im Handwörterbuch von Passow verzeichneten Belege eine hinsichtlich des Textsinns unzweifelhafte Stelle bei Polybios (X 15, § 4) zutage fördert. Scipio, so heißt es hier, habe seine Männer mit dem Auftrag ausgesandt, jeden, der ihnen über den Weg laufe, zu töten ( μ ! ). Das Verbum kann hier nicht die Bedeutung von «eben, gerade dabeisein» haben, wie sie von Egermann (587) als für die gesamte Gräzität verbindlich vorausgesetzt wird. Zur Funktion derartiger Formeln ( bzw. bei Herodot, ³« # λ bei Thukydides) die diluzide Studie von Marincola (1989) 216–23. Darüberhinaus läßt sich thukydideischer Einfluß bei Polybios (XXIX 5, § 1–3) feststellen, der sich dafür rechtfertigen zu müssen glaubt, daß er seine Mutmaßung (μ - ) über die antirömischen Geheimverhandlungen des Perseus und Eumenes niederschreibe (der gesamte Passus reicht bis XXIX 9, § 13). Der rigoros formulierende Lukian (§ 8) gar bringt den Begriff μ ! in expliziten Zusammenhang mit der nur in der Dichtung ( '&), nicht aber in der ganz anderen Normen verpflichteten Geschichtsschreibung (¹ ) legitimen Freiheit phantasievoller Gestaltung. Das einschlägige Material ist gesammelt von Strebel (1935). Dazu Heath (1989) und Halbfas (1910). Dionysios sucht mit seinen Erklärungen dem Erwartungshorizont eines ebenso rhetorisch wie historisch interessierten Publikums nachzukommen. Der Attizismus, als dessen maßgeblicher Vertreter in Theorie und Praxis Dionysios gelten kann, entdeckte die Geschichtsschreibung, welche bereits bald nach Thukydides zu einer bevorzugten Domäne der rhetorischen Bildungstradition geworden war, nicht nur als Gegenstand praktischer Betätigung, sondern auch als Objekt theoretischer Betrachtung und literarkritischer Bewertung. Dionysios selbst belegt das neu erwachte Interesse an der Geschichtsschreibung als einem der Rhetorik nahestehenden Sujet – abgesehen von seinem eigenen Geschichtswerk – u. a. dadurch, daß er seinen Monographien über die attischen Redner eine solche über Thukydides an die Seite stellte. Ps. Longinos wiederum zog in seiner rhetorisch-ästhetischen Schrift λ 8: « ausgewählte Passagen aus den Historikern heran, und zwar als Beleg für auch in anderen literarischen Gattungen gleichermaßen gültige literarische Wertmaßstäbe. Schließlich berücksichtigte auch Ps. Demetrios’ λ ; « immerhin noch die Werke der Historiker. Einschlägige Bewertungen von Geschichtswerken nach Inhalt und Form finden sich zudem im Corpus der Rhetores Graeci. Generell wurde ja die Geschichtsschreibung implizit oder explizit dem « #! der Rhetorik zugerechnet. Zu dieser Schrift vgl. den gründlichen Kommentar (mit Übersetzung) von Pritchett (1975). Dionysios zeigt sich in § 2 seiner Thukydides-Monographie der Ungewöhnlichkeit des Unterfangens bewußt, Thukydides im Widerspruch zur übereinstimmenden Meinung von Allgemeinheit und Fachleuten (Philosophen und Rhetoren) zu bewerten, für welch letztere er kanonischen Rang habe. Dion. Hal. Thuk. § 6.
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auch manche Vorzüge der thukydideischen Methode und Darstellungskunst zu schätzen, Thukydides, daß er im Unterschied zu seinen Vorgängern nicht aufgrund von beliebigen mündlichen Informationen sein Werk konzipiert habe ( # #! $ « « ,«), sondern aus eigener Anschauung ebenso wie in Anlehnung an die bestinformierten Gewährsmänner. In seinem eigenen Geschichtswerk gibt Dionysios24, wohl unter bewußter Bezugnahme auf eben diese Aussage des Thukydides, wenn dies von ihm auch nicht explizit ausgesprochen ist, nun seinerseits die vorerst allgemein gehaltene Erklärung ab, all diejenigen Geschichtsschreiber würden kein Lob ernten, welche, mögen sie sich auch ganz im Einklang mit den elementaren Erfordernissen von Geschichtsschreibung die vorzüglichsten Gegenstände als Objekte für ihre Werke auswählen, bei der Durchführung im einzelnen mit planloser Willkür und sorglos (%9 3 ξ λ <9 ,=«) verführen, indem sie ihre Darstellungen auf nach dem Zufallsprinzip eingeholten Informationen (# #! $ ) basieren ließen. Einer derart unselektiven Methode hätten sich, nun nimmt die Kritik des Dionysios25 konkretere Gestalt an, bereits all diejenigen griechischen Historiker bedient, welche vor ihm die römische Frühgeschichte in flüchtiger, ungenauer Weise behandelt hätten (> « … # #! $ ,λ« $ : ), wie denn überhaupt fast alle Griechen in Irrtümern über die Frühgeschichte Roms befangen seien26: ! ξ« … # #! $ κ $ κ ? - @« @« #' & . Ähnliche Kritik an unseriösen Forschungsmethoden wird von Josephos ausgesprochen, dessen Formulierung eine Variation der bei Dionysios in Nachfolge des Thukydides vorliegenden darstellt27. Ebenfalls auf Thukydides geht der Gedanke der Mühewaltung ( ! « bei Lukian) als einer konstituierenden Bedingung ernsthafter historischer Forschungsarbeit zurück. Trotz Anwendung der Methode von kritischer Auswertung eingegangener Informationen als Alternative zum (nicht immer verfügbaren) Verfahren der Autopsie ließen sich, so erklärt Thukydides28, die historischen Fakten nur mit Mühe aus sachlich unrichtigen Behauptungen der Gewährsmänner herausfiltern: #! « ξ '/ . Auch dieser Dokumentation einer angestrengt um Erkenntnis ringenden intellektuellen Bemühung war insofern kräftige Nachwirkung beschieden, als in der Nachfolge des Thukydides die Begriffe von harter Arbeit (! «) sowie der Bereitschaft zu selbiger ( ) wiederholt eine zentrale Rolle in Erklärungen von Historikern mit an sich sehr unterschiedlichen Zielsetzungen spielen, bei Polybios29 und Josephos30 ebenso wie bei Dionysios31 und Diodor32. Der elementare Unterschied derartiger Selbstbekenntnisse zum wesentlich intellektuell ak-
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Dion. Hal. ant. Rom. I 1, § 4. Dion. Hal. ant. Rom. I 6, § 1. Dion. Hal. ant. Rom. I 4, § 2. Josephos (bell. Iud. I 1, § 1) beklagt sich über die Sorglosigkeit all derer, die – an den Ereignissen persönlich unbeteiligt – von bloßem Hörensagen willkürliche und widersprüchliche Berichte über den römisch-jüdischen Krieg gesammelt hätten ($ 9 3 « % λ $= '& ). Thuk. I 22, § 3. Polyb. XII 26 e § 3–4 (Kritik an Timaios). Joseph. bell. Iud. I praef. 5 § 15–16. Dion. Hal. ant. Rom. I 1 § 2 (die Begriffe # und beziehen sich wohl, wie § 4 zeigt, auf die Forschungsmethode), ep. ad Pomp. § 6 (anerkennendes Urteil über die Methode des Theopomp). Diod. I 4, § 1 (illustrativ), vgl. auch I 1, § 1 und I 3, § 6.
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zentuierten Ansatz des Thukydides ist allerdings klar durch den Umstand markiert, daß bei späteren Historikern explizite Hinweise auf das Ertragen von Drangsal ( )33, Gefahr ( «) und Strapazen ( , ) häufig anzutreffen sind, sogar bei Autoren von weit in die Vergangenheit zurückgreifender Universalgeschichte34. Verfasser von Zeitgeschichte heben in derartigen Zusammenhängen zudem mit Vorliebe ihren um der Wahrheitsfindung willen getriebenen finanziellen Aufwand ( ', $ " ) hervor35. In dieser Hinsicht konnten sie sich nicht auf Thukydides berufen, der solches von sich nicht behauptet hatte, wenn ihm auch eine derartige Arbeitsweise von der Markellinos-Vita, wohl als Ergebnis sachlich anfechtbarer späterer Projektionen, singulär zugeschrieben wurde36. Auch Lukian spricht über die Notwendigkeit materieller Aufwendungen nirgendwo, doch zeigen immerhin die von ihm verwendeten Begriffe ! «37 und " « seine Vertrautheit mit nachthukydideischen Traditionen unzweifelhaft historiographisch-rhetorischer Provenienz. Das Verbum $ bzw. das Substantiv $ «, welche nicht dem methodologischen Begriffsrepertoir des Thukydides angehören, bezeichnen im an literarkritischen Auseinandersetzungen reichen 12. Buch des Polybios38 wiederholt die Forschungsarbeit des Historikers (μ λ « $ « «), welche als vorzüglichstes Element der Geschichtsschreibung ( " 3« ¹ «) hervorgehoben wird. Dieser sei Timaios, so die Ansicht des Polybios, überhaupt nicht gerecht geworden39: μ λ « $ « « # # 9 «. Eine direkte Benutzung oder auch nur Kenntnis
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Der Begriff ist bereits bei Thukydides angelegt (I 20, § 3: 8« $ " « « « π 0&'« 3« $', « …), der ihn allerdings im Sinne einer intellektuellen Denkanstrengung verstanden wissen will. Polyb. XII 27, § 4–6, III 59, § 7 (geographische Erkundung), repräsentativ für den Universalhistoriker Diod. I 4, § 1 (das Thema zieht sich durch das gesamte Proömium hindurch). Im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnen die Begriffe , , « und ' die mit militärischer Rüstung verbundenen Belastungen jeglicher Art (so Polyb. XII 5, § 3). Polyb. XII 27, § 6, Joseph. bell. Iud. I 5, § 16. Dionysios (ep. ad Pomp. § 6) berichtet solches über Theopomp, und Athenaios (III 85 a) läßt es einen Sprecher (Demokritos: III 85 c) über Theopomp sagen. Marcell. vit. Thuc. § 19–21: Thukydides habe, so wird hier berichtet, den Reichtum seiner thrakischen Frau dazu aufgewendet, um athenische und spartanische Informanten sowie solche aus anderen Regionen für ihre Informationen zu bezahlen. Zur Markellinos-Vita umfassend Maitland (1996). Beim ! « handelt es sich um einen zentralen Wert der Kyniker, zu Diogenes SSR II F 292 (= Stob. III 7, § 17) und SSR II F 486 (= Stob. IV 36, § 10), zu letzterer Stelle vgl. SSR II F 91 = Krates, ep. 4. Die kynische Metaebene in Lukians Lehrschrift werde ich in meinem Kommentar (Anm. 4) darstellen. Polyb. XII 4c § 3, weitere Belege in Anm. 39. XII 27, § 6 bezeichnet Polybios die Forschungsaktivität mit dem Terminus = ', XII 25 e § 1 bestimmt er als die drei Teile der κ ¹ 1) die Auswertung schriftlicher Quellen (/ & ) 2) die topographische Anschauung (, ) und 3) die politischen Handlungsakte ( « ). Voraussetzung für sachgerechte Forschung seien die durch Alexanders Herrschaft und die römische Suprematie stark verbesserten Reisemöglichkeiten in allen Teilen der Welt (dazu der Exkurs III 58–59). Zu den Reisen des Polybios Walbank (1957) 1–6. Polyb. XII 4 c § 3, dasselbe mit anderen Worten XII 4 d § 2: $ - … $ ?« κ $&, #0 , mit Bezugnahme darauf XII 27, § 3, vgl. auch XII 28a § 8–10. Timaios gilt Polybios als Vertreter des Typus des Büchergelehrten, er bescheinigt ihm u. a. XII 25 h § 3 eine auf Bücher fixierte Mentalität (?? κ >«). Timaios habe geglaubt, es genüge bei seßhafter Lebensweise (fast 50 Jahre lang in Athen, vgl. XII 25 h § 1) ein bloßes Bücherstudium (XII 25 d § 1). Das sei freilich, so erklärt Polybios, eine reichlich bequeme Arbeitsweise, bei der es λ« = λ , « abgehe (XII 27, § 4–5). Zur polybianischen Kritik an Timaios Weiler (2001) 317–33, bes. 323–33.
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des vom Attizismus40 in stilistischer Hinsicht geächteten Polybios, den Lukian in seinem umfangreichen Oeuvre nicht zitiert 41, ist freilich eher unwahrscheinlich42. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, daß Lukian sich hier auf eine von Polybios initiierte und von späteren Historikern aufgegriffene Debatte bezieht, deren Existenz sich allenfalls hypothetisch annehmen läßt. Es darf auch nicht übersehen werden, daß noch einige Jahrhunderte nach Polybios die Seriosität von Forschung innerhalb der Gattung der Geschichtsschreibung thematisiert wurde. Dabei wurden freilich andere Formulierungen verwendet als das durch Polybios und Lukian repräsentierte Begriffsfeld $ – $ «. In diesem Sinne äußert Herodian43 mit an das thukydideische Methodenkapitel erinnernden Worten44 gestrenge Kritik an der überwiegenden Zahl derjenigen Historiker, welche auf darstellerische Augenblickswirkung abzielten, sich des mythischen Elementes bedienten und bei alledem doch mit ungebrochener Zuversicht hofften, der sachliche Gehalt ihrer Recherche (μ $ ?ξ« 3« #«) würde schon nicht auf den Prüfstand kommen und widerlegt werden. Er selbst, so fährt Herodian mit selbstbewußter Bestimmtheit fort, habe demgegenüber ausschließlich geprüfte Sekundärinformationen mit aller Umsicht ( '« $ ? «) gesammelt und aufgenommen.
II. Als bevorzugte Quelle ( ) für historische Informationsgewinnung nennt Lukian die persönliche Teilhabe bei den zu berichtenden Ereignissen, die Autopsie ( ! λ # ). Als zweitbeste Ressource habe sich dieser die Auswertung von Berichten der Unparteiischeren unter den Informanten zur Seite zu stellen. Auf letztere Weise sei jedoch lediglich ein Näherungswert an die Wahrheit erreichbar, weil die jeweils verfügbaren Informanten mehr oder weniger stark bestimmte Tendenzen ( μ« ν $, )45 ver40
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Dion. Hal. de comp. verb. § 4 nennt Polybios unmittelbar nach Phylarchos und Duris als Vertreter all derjenigen hellenistischen Historiker, welche die erstrangig wichtige = ,« als nicht notwendig vernachlässigt hätten, weshalb es auch niemand fertigbringe, deren Werke zu Ende zu lesen. Mit Ausnahme von makrob. § 22 (die Echtheit wird jedoch weitgehend angezweifelt): Polybios sei im Alter von 82 Jahren nach einem Sturz vom Pferd gestorben. Zuversichtlicher hinsichtlich einer direkten Benutzung des Polybios durch Lukian äußern sich Georgiadou / Larmour (1994) 1449, welche auch die bisher in dieser Frage vertretenen Standpunkte auflisten (1449–53). In jedem Fall können die häufigen Kongruenzen zwischen Lukian und Polybios nicht bestritten werden, welche erstmals hier (1450–78) umfassend dargestellt wurden. Herod. I 1, § 1 und § 3. Zur Gestaltung des Proömiums Sidebottom (1998) bes. 2776–80, zu Herodians historischer Methode und seinem tatsächlichen Verhältnis zur Wahrheit ebd. 2813–22, eine Einschätzung der sachlichen Forschungsleistung aus moderner Sicht auch bei Zimmermann (1999). Diese Formulierung ist das Scharnier, welches Forschungsarbeit und Ethos des Historikers miteinander verknüpft: 1) Die Forschungsleistung (§ 47) besteht im richtigen Umgang mit den Tendenzen der Gewährsmänner 2) Das historiographische Ethos (§ 38–41) ist dann gegeben, wenn der Historiker sich selbst freihält von tendenziöser Berichterstattung. Zwischen (1) und (2) bestehen Anklänge in Motivik und Terminologie. So fordert Lukian im Passus über das Ethos (§ 38) vom Historiker, er solle sich von Furcht und Hoffnung freihalten, da er sonst bestechlichen Richtern ( = « « μ« ν $, #λ ,9 0 ) gliche. Der ideale Historiker sei unbestechlich ($ «), ein gerechter Richter, welcher dem Prinzip ausgewogener Gewichtungen folge (§ 41), wie dies der Fall sei bei Xenophon und Thukydides (§ 39). Das Verbum # » (überschauen) in § 47 ist in diesem Sinne gewählt, um den erhöhten Standpunkt objektiver, gleich gewichtender Betrachtung zu bezeichnen, wie § 49 mit der Anspielung
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folgten, aus welchen über das einzig mögliche Verfahren der Mutmaßung (% ) 46 bloß unterschiedliche Grade an Wahrscheinlichkeit ( - , ) zu erzielen seien. Das hier angesprochene Verfahren der Wahrheitsermittlung geht auf ein bekanntes zweiteiliges historiographisches Gliederungsschema47 zurück. Als erster Historiker unterschied Herodot mit konsequent durchgehaltener Methode zwischen Autopsie und Sekundärinformationen und verfeinerte damit am Objekt der Geschichtsschreibung ein an sich bereits seit Homer bekanntes Differenzierungsinstrumentarium48. Für die als erstrangig erachtete Autopsie 49 stehen bei ihm regelmäßig die Begriffe des Sehens (² » ), der visuellen Wahrnehmung (B:«) und der Teilhabe als Augenzeuge ( !'«). Die Sekundärquellen bezeichnet er ebenso regelmäßig mit den Termini des Hörens ($ = , , , ), der Kunde ($ &) und der Berichte (! , ! ), unter denen diejenigen von Augenzeugen an Bedeutung voranstünden. Mit diesem selektiven Verfahren der rangmäßigen Bestimmung seiner Quellen50 hatte Herodot ebenso wie mit seiner Beurteilung sekundärer
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auf den homerischen Zeus (Il. 13, bes. 3–5) zeigt. Die Formulierung μ« ν $, $ & ν ,& « ! verrät rhetorische Provenienz. Zu vergleichen ist, was Dionysios von Halikarnass (Thuk. § 8) nach dem übereinstimmenden Zeugnis fast aller Fachleute für Thukydides bezeugt: … Ρ 3« $', « … ' # & ! , Κ ,λ« « ξ χ κ Κ $ . Mit leicht verändertem Wortlaut sagt Josephos (bell. Iud. I 10, § 26) über seine Methode: ξ Κ $ ! « Κ ,λ« « «. Das Verbum %0 diente bereits den Sophisten als einschlägige Bezeichnung für das Verfahren des Wahrscheinlichkeitsschlusses. Als erster Historiker gebrauchte Herodot wiederholt den Begriff μ %!« zur Bezeichnung des Kriteriums der Wahrscheinlichkeit (Belege bei Müller [1981] 307–8). Von großer Bedeutung für die Etablierung des Begriffes %0 innerhalb späterer historiographischer Terminologie war der Umstand, daß er von Thukydides als häufig wiederholter und die Argumentation wesentlich bestimmender Kernbegriff verwendet wurde, sowohl da, wo er aus auktorialer Perspektive spricht (I 9, § 4, I 10, § 2, VIII 46, § 5), als auch da, wo er einem Redner seine Worte in den Mund legt (IV 126, § 3, V 9, § 3, VI 92, § 5). Als Stützen für das Verfahren des %0 galten Thukydides & (erstmals programmatisch I 1, § 1–3) und ' (I 21, § 1 werden beide Begriffe genannt). Polybios (XII 7, § 4) billigt Timaios und Aristoteles zu, sie hätten beide μ %! ! ihre Untersuchung über die Gründungsgeschichte von Lokroi geführt, doch lägen mehr Wahrscheinlichkeiten ( « , !'«) in der aristotelischen Version. Eine besondere Vorliebe für den Begriff %0 zeigt Dionysios von Halikarnass, besonders da, wo der Quellenwert unterschiedlicher Autoritäten zur Debatte steht (ant. Rom. II 38, § 3). Lukian schließlich verwendet das Verbum %0 ein weiteres Mal in vorliegender Schrift, nämlich da, wo er die Anweisung erteilt, der Historiker dürfe für einen von ihm allenfalls berichteten -, « keine Gewähr übernehmen, sondern müsse die Entscheidung darüber dem Wahrscheinlichkeitsschluß des Rezipienten überlassen (§ 60). Arrian (anab. I prooem. § 1) erklärt – mit leichter Variation im Ausdruck – er berichte da, wo seine maßgeblichen Quellen Aristobulos und Ptolemaios nicht übereinstimmten, das, was ihm in höherem Grade glaubwürdig zu sein scheine ( ! # λ ! ). Nicht berücksichtigt ist hier das von Herodot seltener angewandte Verfahren des Ableitens von Unbekanntem mittels Erfahrung und Wahrscheinlichkeitsschluß, weil es innerhalb der nachherodoteischen Theorie keine prominente Rolle spielt. Die einschlägige Terminologie für diese Methode und primäre Belege bei Müller (1981) bes. 310–13. Telemachos fragt Nestor nach Odysseus (Od. III 93–95): … 4 B « / F, , ν Ν -, $ = « / 0 . Ähnlich klingt das Lob des Odysseus an Demodokos, er singe: —« ν μ« Ω ν Ν $ = « (Od. VIII 491). Hier wird vom Spender des Lobes als Inspirationsquelle die Muse oder Apollon namhaft gemacht (488), womit die Einleitung zum Schiffskatalog zu vergleichen ist (Il. II 484–92), dazu Marincola (1997) bes. 63–64. Zur Thematik der Autopsie Nenci (1955), Pretzler (2007, im Druck: chapter 4). Eine Auswahl signifikanter Stellen: Her. I 183, § 2–3, II 29, § 1, II 99, § 1, II 123, § 1, II 147, § 1, II 148, § 5–6, IV 16, § 1–2.
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Informationen nach dem Kriterium des Wahrscheinlichen (μ %!«)51 der kritischen Historiographie wichtige Impulse gegeben. Die von Herodot auf einen weite Zeiträume umgreifenden Stoff angewandte Methode wurde innerhalb der Antike zum anerkannten Standard für die in ihrer Zahl überwiegenden Verfasser von Zeitgeschichte in griechischer und lateinischer Sprache52. Nachwirkung der herodoteischen Methode zeigt sich im gleichermaßen knappen wie inhaltlich dichten Programm des Thukydides53, der seine Methode der Informationsgewinnung bestimmte durch die bekannte Erklärung, er beschreibe: … H« μ« 3 λ Ν Ρ μ $ ?9 λ ; #," . #! « ξ '/ , ! ¹ ! « « « ; « λ , $# ³« ; « « ν &'« . Dieser programmatische Satz, dessen erster Teil zumal aufgrund seiner sogar autoptischer Wahrnehmung, welcher Herodot den unbedingten Vorzug zuerkannt hatte, gegenüber eingehaltenen Distanz54 kaum adäquat durch eine Übersetzung wiedergegeben werden kann55, vermittelt eine Vorstellung von der Ernsthaftigkeit und Würde, ja von dem verhaltenen Stolz, der aus diesen schlichten Worten spricht. Mit anderen Worten ist hier die aus Herodot bekannte zweiteilige Methode von Autopsie und kritischer Verwertung von Sekundärinformationen in einer auf den Gegenstand von Zeitgeschichte applizierten Form als historisches Grundsatzprogramm formuliert, als Manifest gewissermaßen einer deklariert vorgetragenen Einstellung, welche unter äußerster Anspannung aller Kräfte dem konkreten Objekt gültige Aussagen abzuringen sucht56. Die Parteilichkeit der Gewährsmänner, 51 52
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Belege bei Müller (1981) 307–8. Einen Überblick gibt Marincola (1997) 63–95, zu den weniger klar bestimmbaren Methoden der Vergangenheitsgeschichte ders. 95–117. Thuk. I 22, § 2–3. In dieser Hinsicht stimme ich mit Egermann (1972) 592 überein, der übersetzt: «nachdem ich sowohl das, wo ich selbst dabei war, wie auch das von den anderen Berichtete … bezüglich jeder Einzelheit durchforscht hatte». Bezeichnend für dieses Verfahren ist der Kommentar des Thukydides (VII 44, § 1) zur nächtlichen Schlacht bei Epipolai. Selbst bei Tag, so die Aussage der Stelle, könne der einzelne nur Ausschnitte aus dem Kampfgeschehen wahrnehmen, und auch das nur in unvollkommener Weise. Sehr ähnlich klingen die Worte des Theseus in den Hiketiden des Euripides (855–56). Derartige Relativierungen des prinzipiellen Erkenntniswertes autoptischer Erfahrung finden sich ansonsten innerhalb antiker Historiographie nicht. Auch Polybios (XII 28 a § 10) ist keine Ausnahme, da er nicht den Erkenntniswert der Autopsie an sich in Frage stellt, sondern lediglich voraussetzt, daß nur praktische Erfahrung das von einem Beobachter vor Ort Wahrgenommene adäquat zu erkennen in der Lage sei. Anzumerken ist, daß Thukydides an dafür geeigneter Stelle einen Hinweis auf selbst gemachte Erfahrung und Autopsie gibt. So beruft er sich in der Einleitung zur Pestschilderung (II 48, § 3) auf seine eigenen Beobachtungen: !« & « λ μ« %Ω Ν « «. Zu sieben möglichen Hinweisen auf Autopsie im Werk des Thukydides übersichtlich Sonnabend (2004) 55–58. Zur stilistischen Gestaltung des Methodensatzes Wille (1965) 53–77 = (Nachdruck 1968) 683–716. Wille bezieht den Methodensatz in seine die antiken Stilurteile umfassend berücksichtigende Untersuchung des thukydideischen Stils ein und spricht allgemein von «einer gelegentlich absichtlich verhüllenden Darstellungsweise», sowie – mit speziellem Bezug zum Methodensatz – von «Weite und Elastizität seiner Formulierungen» (Zitate nach dem Nachdruck [1968] 689 und 716 = Schlußsatz). In den letzten Jahrzehnten hat sich die bedenkliche Tendenz geltend gemacht, für antike Historiographie generell den Anteil von Forschung zugunsten legitimer rhetorischer und fiktionaler Elemente zu minimalisieren. Hier können nur zwei Vertreter mit jeweils einem wirkungskräftigen Buch genannt werden, nämlich Wiseman (1979) und Woodman (1988). Woodman 23 bestimmt die literarische Strategie des Thukydides so: «Thucydides has eliminated almost all traces of the difficulties he encountered and in doing so has created an impression of complete accuracy … he has thereby misled the majority of modern scholars, who have mistaken an essentially rhetorical procedure for scientific historiography at its most successful».
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deren Sympathie (Κ )57 für die eine oder andere Seite, wird von Thukydides als ein prinzipiell die Wahrheitsfindung erschwerender Faktor namhaft gemacht. Ein weiteres Manko bestehe in deren unterschiedlich stark ausgeprägter Erinnerungsfähigkeit ( &'), ein Faktor, welcher von Lukian zugunsten seiner einseitigen Konzentration auf das ethische Moment völlig unberücksichtigt bleibt58. Unter solchen Voraussetzungen könne selbst der gründlich recherchierende Historiker, als welchen Thukydides sich selbst bezeichnet wissen will59, lediglich einen Näherungswert60 an die Wahrheit (Ρ μ ) erbringen, zu deren Bezeichnung er im Unterschied zur überwiegenden Mehrheit seiner Nachfolger den wohl als allzu verpflichtend bewerteten Begriff der Wahrheit ($&, ) vermeidet61. Damit setzt er sich, wie Herodot62 vor ihm, mit Entschiedenheit von der Tendenz der Masse ab, mündlich zugegangene Informationen über Ereignisse der Vergangenheit ($ « ' ) ungeprüft ($? «) voneinander zu übernehmen, sei doch die Mehrheit sogar über nicht durch die Zeit der Erinnerung Entzogenes in irrigen Meinungen befangen63. Damit markiert Thukydides die dem Verständnishorizont der Allgemeinheit scharf gezogene Grenze. Zugleich aber, und auch dies läßt sich zwischen den Zeilen herauslesen, verschafft sich für einen kurzen Moment das gehobene Selbstgefühl des Geschichtsdenkers Thukydides unübersehbare Geltung. Dieses gründet wesentlich in der unbedingten Bereitschaft, dem an sich in geringerem Grade problematischen Objekt der Zeitgeschichte mehr methodische Sorgfalt zuzuwenden, als dies der Fall sei bei denjenigen, welche es selbst bei der ungleich weniger Evidenz versprechenden Vergangenheitsgeschichte an der nötigen Kritikfähigkeit fehlen ließen. Bei Xenophon ist kein auch nur annähernd vergleichbarer Versuch einer Begründung der von ihm verfolgten Methode feststellbar64. Demgegenüber liefert das Problem der Wahr-
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Lukian stellt die Κ in enge Beziehung zur (§ 11 und § 40), vom Historiker fordert er, dieser solle ein unparteiischer Richter sein, ein Κ « Ϊ Ν - κ , 9 $ « (§ 41). Demgegenüber bescheinigt Dionysios von Halikarnass (ep. ad Pomp. § 3) Thukydides einen Mangel an athenfreundlicher Κ . Der hier zur Debatte stehende § 47 spricht einzig über « und $, als Ursachen für vorsätzliche Verzerrung der Tatsachen. Zur Bedeutung dieses Umstandes für Lukians individuelle Gestaltung vgl. Anm. 45. Im zweiten Proömium (V 26 § 5) gibt Thukydides an, daß er nach seiner Verbannung die Möglichkeit zu Recherchen bei beiden kriegsführenden Parteien hatte. Bei Lukian erfüllt der Komparativ - , die vergleichbare Funktion, den approximativen Charakter der durch kritisches Nachforschen erreichbaren Wahrheit zu bezeichnen. In V 74, § 3 betont Thukydides bezeichnenderweise die Schwierigkeit, die Wahrheit (κ $&, ) in Erfahrung zu bringen, vgl. Anm. 63. Her. II 45, § 1 ( ξ λ Ν $ « ¹ 6E' «). Der Zusammenhang: Es wird im Passus über Herakles (II 43–45) die Unwissenheit der Griechen illustriert. Thuk. I 20, § 1 und § 3. Vgl. auch das Resümee zu Ende des § 3: 8« $ " « « « π 0&'« 3« $', « λ #λ ; » . Dies ist eine der seltenen Stellen (vgl. V 74, § 3, Anm. 61), an denen Thukydides den hochangesetzten Begriff der $&, gebraucht, spricht er hier doch lediglich von der Suche (0&'«) nach der Wahrheit, und auch dies bloß mit Bezug auf die sorglose Forschungsleistung der Masse. Für sein eigenes Werk freilich nimmt er die bescheideneren Parameter des « (I 9, § 2, I 22, § 4) und des $ ?« (I 10, § 1, I 22, § 1–2: $ ? ) in Anspruch. Xenophons spärliche Erklärungen zu der von ihm verfolgten Methode sind verzeichnet bei Breitenbach (1950) 17–28. Von besonderem Interesse sind die 23–26 aufgelisteten Belege über Xenophons Umgang mit widersprüchlichen Aussagen unterschiedlicher Gewährsmänner.
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heitsfindung dem im Vergleich zum bedeutend zurückhaltenderen Thukydides65 überaus mitteilsamen Polybios hinreichend Stoff zu Reflexionen über die historiographischer Forschung zugrunde liegenden Prinzipien. Als Anlaß zu derartigen sich mitunter zu kleineren Exkursen ausweitenden Betrachtungen benutzt Polybios häufig die bei Kollegen, aus seiner Sicht zumindest, feststellbaren methodischen Mängel66. In Auseinandersetzung mit den längst schon von gelehrten Kritikern67 diagnostizierten allseitigen methodischen Defekten des auf seine Forschungsleistung erklärtermaßen stolzen Timaios68 präzisiert Polybios die Wertigkeit beider Methoden der Wahrheitsermittlung. In der explizit ausgesprochenen Nachfolge des Heraklit69, der die Augen zu exakteren Zeugen als die Ohren erklärt hatte, bestimmt Polybios70 in erkenntnistheoretischer Hinsicht den Primat der unmittelbaren Anschauung (Ρ «) vor der mittelbaren Kunde ($ &), eine Unterscheidung, wie sie bei ihm andernorts71 ohne die Notwendigkeit einer theoretischen Begründung als selbstverständlich vorausgesetzt ist. Die mit dem dritten Buch einsetzende Darstellung der griechischen Geschichte von 220 v. weg72 begründet er, abgesehen von dem Umstand, daß hier die Hypomnemata des Aratos von Sikyon73 endeten, damit, daß er von nun an über Ereignisse schreibe, welche er teils als Augenzeuge miterlebt ( ), teils von Augenzeu-
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Marincola (1997) 9 formuliert dies etwas überspitzt, aber im Prinzip durchaus zutreffend: «he (sc. Thucydides) does not, like Herodotus, want the emphasis to be on his tracking down to sources, but on the finished product: the reader is to be concerned not with the process of research, but rather with the result». Eine systematische Untersuchung der polybianischen Polemiken bei Meister (1975) und Walbank (1962) 1–12 = deutsche Fassung (1982) 377–404. Unter den zahlreichen antiquarischen Schriften des Kallimacheers Istros (FGH III B 334) aus der Mitte des 3. Jh.s v. findet sich auch eine Gegenschrift ($ ) gegen Timaios nach dem Zeugnis des Athenaios (VI 272 b), der auch zu berichten weiß, daß Timaios, wohl wegen seiner scharfen Polemiken, von Istros als ² #E « bezeichnet wurde (Polyb. XII 11, § 4 klassifiziert ihn als einen !« und $ ' « #'κ« «). Unter den Streitschriften des vielseitigen Periegeten Polemon von Ilion, einem wahrscheinlich etwas älteren Zeitgenossen des Polybios, ist auch eine gegen Timaios gerichtete ( μ« T ) bekannt, welche mindestens 12 Bücher umfaßt haben muß, denn Athenaios (XV 698 b) zitiert aus dem 12. Buch. Dabei habe Timaios doch, so vermerkt Polybios (XII 10 = 11, § 4), κ # « ! « λ « $ « # 3« $ ? « λ κ λ - μ « # mit Bezug auf sein eigenes Geschichtswerk hervorgehoben. Polyb. XII 27, § 1 = DK I 22 B 101 a: F, λ K $ ? «. Die differenzierte Position Heraklits in der Frage der Bewertung des erkenntnistheoretischen Ranges sinnlicher Erfahrung kann durch den Vergleich von DK I 22 B 55 = Hippol. IX 9 (Ρ B:« $ κ ,'«, - #Ω ) mit DK I 22 B 107 = Sext. Emp. VII 126 ( λ « $ , " F, λ λ τ ? ? « :« #! ) illustriert werden. Zur vorsokratischen Position in dieser Frage Marincola (1997) 64–66 und Müller (1981) 299–302. Polybios ist unter den griechischen Historikern eine der seltenen Ausnahmen, insofern er wenigstens vereinzelt auf die Philosophie Bezug nimmt. Timaios nennt er einen unphilosophischen, ungebildeten Schriftsteller (XII 25, § 6: $! !« # λ &?' $ « =«), den bithynischen König Prusias II. kritisiert er wegen dessen Unerfahrenheit in Bildung und Philosophie (XXXVI 15, § 5), und auch sonst nennt er eine Reihe von Philosophen namentlich, so Platon, Aristoteles, Demetrios von Phaleron und Straton von Lampsakos (Belege bei Walbank [1972] 32–33). Polyb. XII 27, § 1, vgl. XX 12, § 8. Polyb. XV 36, § 3. Als Ausgangspunkt der aus dem Mittelteil des zweiten Buches aufgegriffenen griechischen Geschichte nennt Polybios (IV 1, § 3) die 140. Olympiade (= 220–216 v.). Die Memoiren des Aratos finden bei Polybios (II 40 § 4) hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes anerkennende Bewertung ( $', @« λ « … / ' =«).
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gen vernommen habe ( ; ! $' )74. Weiter, so fährt er fort, zeitlich zurückzugreifen, sei ihm als ein zu unsicheres Unterfangen erschienen, denn da könne man bloß mündliche Mitteilung aufgrund von mündlicher Mitteilung niederschreiben ($ κ # $ 3« ). Ephoros und Timaios wirft er dementsprechend einen Mangel an unmittelbarer Anschauung ($ ) und Erfahrung vor75. Gleichwohl ist sich Polybios durchaus bewußt, daß ein einzelnes Individuum unmöglich von allen für den Historiker relevanten Schauplätzen aus eigener Anschauung Kenntnis haben könne. Unter diesen Umständen bleibe zumeist notwendigerweise lediglich die Methode der Befragung möglichst vieler Gewährsmänner als zweitbeste Alternative übrig. Doch bedürfe dieses Verfahren einer kritischen Selektion und Überprüfung der jeweils zugegangenen Informa3 - , ξ μ tionen76: #κ ¹ ξ « Ϊ 9 μ # ! « μ μ μ $= , ² « κ # !' , κ % ' ! λ # « ! « % μ > ! , , , ξ ³« , = ξ « $ « «, κ # ρ ! κ ! . Zum Erweis seiner methodischen Exaktheit gibt Polybios bei besonderen Gelegenheiten mit explizitem Vermerk an, wenn er über autoptisches Wissen oder sekundäre Insiderinformationen verfügt77. Einen zentralen Stellenwert spielen Autopsievermerke bei Josephos. Aufgabe des Historikers sei es, so erklärt dieser in der apologetischen Schrift contra Apionem78, die von ihm dargestellten Handlungen genau zu kennen, entweder durch Teilhabe daran oder durch Erfragen vonseiten derer, die darüber Bescheid wüßten (… μ Ν « $', / = μ # , = « ! $ ?«, ν ' ,'! « ! ν %! , ! ). Er selbst habe sich in beiden Schriften, der Jüdischen Archäologie und dem Jüdischen Krieg, an dieses Prinzip gehalten. Zu Beginn der Jüdischen Geschichte79 hatte Josephos seine historiographische Kompetenz damit begründet, daß er anfänglich gegen die Römer gekämpft und 74 75
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Polyb. IV 2, § 2. Polyb. XII 25 g § 4 (die $ des Timaios), XII 25 f § 3 (Ephoros sei in Landschlachten « Ν « λ $! « = ). Dasselbe treffe neben Timaios auch für Theopomp zu (XII 25 f § 6–7). Polyb. XII 4c § 4–5. Genau an dieser Kritikfähigkeit fehlte es Josephos (bell. Iud. I 1, § 1) zufolge all denen, welche von bloßem Hörensagen willkürliche und widersprüchliche Berichte unselektiv sammelten ($ 9 3 « % λ $= '& ). Polyb. XXII 19 = 14, § 2 ( ! : Autopsie), XXIX 8, § 10 (,, : sekundäre Insiderinformation). Joseph. c. Ap. I 10 § 53–54. Joseph. bell. Iud. I 1 § 3. Innerhalb des ausgedehnten Proömiums (I 1, § 1–12 § 30) findet sich ein weiterer Autopsievermerk (I 8, § 22: … $ ? «, ³« ρ ν , , ). Sachkundigen Augenzeugen ( « # « λ - 9 9 ) habe er jedenfalls mit seiner Darstellung keinen Ansatzpunkt für Tadel oder Anklage geliefert (I 12, § 30). Andere Historiker dieses Krieges hingegen wären entweder bei den Ereignissen gar nicht zugegen gewesen und hätten daher auf der Basis mündlicher Informationen ($ 9 3) beliebige und widersprüchliche Berichte verfaßt, oder sie hätten, sofern sie dabeigewesen wären, in prorömischem Sinne tendenzlastige Berichte vorgelegt (I 1 § 1–2). Andernorts (c. Ap. I 8 § 46) spricht Josephos manchen Historikern des Jüdischen Krieges topographische Kenntnisse ebenso ab, wie er ihnen vorwirft, nicht nahe genug an die Ereignisse herangekommen zu sein. Lediglich aufgrund von beliebigen mündlichen Informationen (# ) hätten sie ihre das Ansehen der Geschichtsschreibung schamlos diskreditierenden Berichte verfaßt. Seinem Kritiker Iustos aus Tiberias bescheinigt Josephos u. a. einen Mangel an Autopsie und Sekundärinformationen (vit. 65 § 357–58).
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sodann an den weiteren Ereignissen notgedrungen teilgenommen habe ( !« N « & « λ « 8 Ω # $ '«). Dementsprechend läßt er denjenigen Ereignissen die eingehendste Behandlung zuteil werden, an denen er selbst als aktiv Handelnder beteiligt gewesen war. Die Militärakten (/ & ) der Kaiser Vespasian und Titus nennt er erst in den Schriften späteren Datums80. Im Jüdischen Krieg hingegen hatte er weder darüber noch über sonstige schriftliche Quellen etwas verlauten lassen81, wohl deshalb, um nicht die Autorität der von ihm programmatisch verkündeten Autopsie zu mindern82. Polybios und Josephos sind nicht die einzigen Historiker von Militärgeschichte, bei denen das durch Thukydides entscheidend angeregte Methodenbewußtsein in seiner Nachwirkung nachgewiesen werden kann. Noch Prokopios begründet in der Persergeschichte83 seine Kompetenz als Historiker damit, daß er in der Eigenschaft eines Beraters Belisars bei fast allen Ereignissen zugegen gewesen sei. Selbst bei Verfassern von Universalgeschichte spielen die beiden als verpflichtend empfundenen Parameter von Autopsie und kritischer Quellenauswertung eine nicht unwesentliche Rolle, in methodologischen Selbstbekenntnissen ebenso wie in kritischen Stellungnahmen zu den Leistungen früherer Historiker84. Dasselbe trifft für Verfasser römischer Kaisergeschichte zu, für Herodian und Cassius Dio 85. Im übrigen wird von keinem griechischen Historiker dermaßen starke Skepsis an den prinzipiellen Möglichkeiten historischer Wahrheitsermittlung geäußert wie von Cassius Dio, und zwar da, wo er in seiner Darstellung die Prinzipatszeit betritt. Die von oben her dekretierte Blockierung des Informationsflusses, so erklärt er, lasse ihm keine andere Möglichkeit, als alles so zu berichten, wie es nun eben mal veröffentlicht worden sei, unabhängig vom Wahrheitsgehalt (4# B « 8« 4 λ ; « ). Nur soweit es ihm möglich sei, werde er ein gewisses Maß an Mutmaßung ( ) hinzufügen86. Diese Aussage ist zu verstehen als die spezifische Reaktion des Autors auf die für wahrheitsge80 81 82
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Joseph. vit. 65 § 342 und § 358, c. Ap. I 10 § 56. Zu den Quellen des Josephos für das bellum Iudaicum Thackeray (1927, repr. 1989) XIX–XXVII. Es ist wahrscheinlich, aber nicht sicher zu beweisen, daß Josephos die kaiserlichen commentarii ( & ) bereits bei der Abfassung des Jüdischen Krieges zur Verfügung hatte. Zum Problem Feldman (1984) bes. 840 mit Literatur. Prokop. /ξ I 1, § 3. Diodor gibt im Proömium zum Gesamtwerk (I 4, § 1) an, er habe unter viel Not und Gefahren einen großen Teil Asiens und Europas bereist: O $ λ ! ', . Als sein erklärtes Ziel bestimmt er, topographische Unkenntnis auszuschalten, welche selbst bei erstrangigen Historikern schon viele Irrtümer verursacht habe. Ansonsten tritt er nur gelegentlich und für Details mit explizit markiertem Wissen aus erster Hand hervor, besonders mit Bezug auf Ägypten, das er, wie er selbst erklärt (I 44, § 1) in der 180. Olympiade (= 60–56 v.) besucht hat. Beispiele dafür sind I 83, § 8–9 (ein Römer, der unvorsätzlich eine Katze getötet hat, wird von der aufgebrachten ägyptischen Menge gelyncht) und I 38, § 7–8 (Kritik an Ephoros’ als unzureichend bewerteter Erklärung der Nilschwelle). In beiden Fällen wird präzise zwischen Autopsie und Information aus zweiter Hand unterschieden. Herodian (I 2, § 5 und II 15, § 7) erklärt, er habe die Handlungen der in seine Lebenszeit fallenden Kaiser aufgrund von Autopsie und Sekundärinformationen beschrieben. Seine Qualifikation begründet er mit kaiserlichen und öffentlichen Diensten. Dazu ausführlich Whittaker (1969) XIX–XXIV und Zimmermann (1999) 302–19. Cassius Dio (LXXIII 4, § 2 und LXXIII 18, § 3–4) begründet seine genauen Kenntnisse Commodus betreffend nach dem bekannten Verfahren, welches er auch anwendet, um seinem ethnographischen Wissen über die Pannonier Glaubwürdigkeit zu verleihen (XLIX 36, § 4: er war dort Statthalter gewesen). Cass. Dio LIII 19, § 6.
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treue Darstellung von Innenpolitik wenig Raum lassende geschlossene Gesellschaft der römischen Kaiserzeit87. Dieses besondere Phänomen ist für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung aber weniger von Bedeutung, da, wie die im satirischen Teil der Schrift vorgebrachten Beispiele zeigen, Lukians Anweisungen auf die Behandlung aktueller Kriegsgeschichte zielen88, welche wohl weithin als das vorzüglichste Objekt historiographischer Betätigung erachtet wurde89.
III. Das aus der Historiographie bekannte und von der Literaturkritik aufgegriffene90 methodische Instrumentarium von Autopsie und Sekundärinformationen kann als selbstverständlicher Besitz des literarisch Gebildeten91 vorausgesetzt werden, und zwar für Lukians Rezipienten ebenso wie für den Autor Lukian selbst. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, wenn Lukian in mehreren anderen Schriften die traditionelle Zweiteilung in Autopsie und sekundäre Zeugenbefragung um der jeweils intendierten Pointe willen in neue, unerwartete Zusammenhänge stellt. Dieses auf Überraschungseffekt und Verfremdung berechnete literarische Spiel setzt als Rezipienten einen Literaturkenner voraus, welcher aufgrund seines Vorwissens in der Lage ist, die dabei sich auftuenden Paradoxa in einer den Intentionen des Verfassers kongenialen Weise wahrzunehmen und adäquat zu würdigen92. Unter diesen Voraussetzungen kann Lukian im Proömium zu den in engen motivischen Beziehungen zur Methodenschrift stehenden Verae historiae93 den phantastischen Schilderungen seines als Parodie94 zu verstehenden utopischen Reiseromans den explizit ausgesprochenen Auftrag an den Leser voranstellen, dieser möge bei allem, was er nun zu hören bekommen werde, seinen Worten keinen Glauben schenken, denn: «ich schreibe also über Dinge, die ich nicht gesehen und erfahren habe, und die ich auch nicht von anderen in 2 # Erfahrung gebracht habe»95: P Q & ρ & , ' Ν #,!' . «Ferner (schreibe ich) über Dinge, die es überhaupt nicht gibt und die 87
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Die Reaktion griechischer und römischer Historiker auf die veränderten Rahmenbedingungen unter dem Prinzipat ist dargestellt von Marincola (1997) 86–95. Luk. « § 5 nennt in der Zukunft mögliche Kriege zwischen Kelten und Geten oder Indern gegen Baktrier, nicht ohne schalkhaft hinzuzufügen, daß die Unterwerfung aller einen Krieg gegen die Römer nicht erwarten lasse. Dies gilt auch für die römische Geschichtsschreibung. Tac. ann. IV 32 sieht die Notwendigkeit, den geringfügig scheinenden Dingen, welche er über die Verhältnisse unter dem unkriegerischen Tiberius zu berichten habe, Bedeutung zu verleihen. Mit der neuen Zeit seien jedoch die großen Stoffe republikanischer Geschichtsschreibung ausgegangen. Dazu die positiven Kritiken des Dionysios von Halikarnass (ant. Rom. VII 71, § 1, ep. ad Pomp. § 6 und Thuk. § 6). Der literarisch Gebildete ist der « (§ 44, ironisch § 2), der Ungebildete heißt %"'« (§ 16) und die Ungebildetheit % bzw. $ (§ 27). Ein ähnliches Unterscheidungskriterium findet sich de dom. § 2, wo die % den gegenübergestellt sind. Zu einem differenzierteren Lukianverständnis, welches zugleich auch eine Aufwertung des Autors Lukian mit sich brachte, gab Nesselrath (1985) den Anstoß. Zu den engen Beziehungen zwischen den beiden Schriften Georgiadou / Larmour (1994) passim, zur Gestaltung der Einleitungskapitel von Möllendorf (2000) 30–61. Dazu ausführlich Georgiadou / Larmour (1998) 22–44. Luk. ver. hist. I § 4.
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sich von vornherein gar nicht ereignen können»: ξ & Ρ« B & κ $ κ , 96. «Deshalb dürfen die Leser alledem keineswegs Glauben schenken». Und diesen pointierten Aussagen ist die Erklärung vorangestellt: «… da ich nichts Wahres ('ξ $',ξ«) zu berichten (¹ ) hatte, denn schließlich habe ich gar nichts Nennenswertes erlebt, wandte ich mich der Lüge (:- «) zu …». In diesem Zusammenhang wird die ganze Gattung der paradoxographischen Wunderliteratur, mit der man sogar Herodot in Verbindung bringen konnte97, pauschal auf die Berichte des homerischen Odysseus vor den Phäaken zurückgeführt. Bei Odysseus als Archegeten und Lehrmeister der Gattung wären in Folge andere Schriftsteller gelehrig in die Schule gegangen. So hätte sich denn in diesem Genos neben Iambulos98 namentlich auch der – von der antiken Literaturkritik ohnedies nicht gerade wegen besonderer Wahrhaftigkeit geschätzte99 – Ktesias von Knidos betätigt. Letzterer habe über Indien geschrieben, was er weder selbst gesehen noch von einem objektiv berichtenden Informanten gehört habe: ψ & μ« ρ & Ν $',= « . 100. Die beabsichtigte Pointe wird in ihrem vollen Ausmaß verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, mit welch stolzem Selbstbewußtsein Ktesias selbst die von ihm in den Indika verfolgte Methode bewertet hatte101. Der eine ausführliche Inhaltsparaphrase gebende byzantinische Gelehrte Photios weiß nämlich zu berichten, Ktesias habe den deklarierten Wahrheitsgehalt seines Berichtes einzig aus Autopsie und aus über Autopsie verfügende Informanten abgeleitet. Tatsächlich jedoch habe er, besonders in den Indika, unter reichlichem Einsatz von Pathos (μ ,'! ) und unerwarteter Wendung ($ !' ) seine Darstellung bunt verziert und damit
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Das erinnert an eine Stelle in einer anderen Schrift Lukians (Hermot. § 72), wo von sich über die Kategorien von Realität und Möglichkeit hinwegsetzenden Phantasieprodukten die Rede ist, wie sie Träume eingeben sowie Dichter und Maler frei imaginieren (… I = λ X λ V ! … λ Ρ Ν B λ ' λ λ « #=, B « $ Κ ! " Κ , ). Lukian kommt mehrfach auf das Thema der uneingeschränkt gültigen Freiheit poetischen Schaffens zu sprechen (« § 8, pro imag. § 18, Hes. § 5), wofür die lateinische Rhetorik den Begriff der poetarum licentia kennt (Belege bei Lausberg § 983). Diodor (I 69, § 7) wirft Herodot ein vor, welches die $&, zugunsten des =, « vernachlässige. Wie bei Euhemeros finden sich auch bei Iambulos (Quelle ist Diodor II § 55–60) Reminiszenzen aus dem homerischen Phäakenland (Diod. II § 56 zitiert die in der Odyssee VII 120–21 vorliegende Beschreibung des Phäakenlandes), dazu Ferguson (1975) 124–29, bes. 126. Repräsentativ für die Einschätzung des Iambulos im aktuellen Forschungstrend Holzberg (1996) bes. 621–28. Eine Horizonterweiterung bringt ein durch die Kenntnis der indischen Primärquellen wertvoller Beitrag von Schwarz (1982). Bezeichnend ist das Urteil Plutarchs (Artax. 1, § 2): … =, $, λ ! #??' %« ?? κ , vgl. ebda 6, § 6: « ² ! « - μ« μ ,« λ μ # ! « 3« $', «. Aristoteles (hist. an. VIII 28, 606 a 8 = Didot III 169 Z. 7 = FGH III C 688 F 45 k) nennt ihn nicht glaubwürdig (K' « % $! «). Weitere explizite Belege aus Aristoteles sowie kritische Bezugnahmen auf Ktesias bei Arrian sind verzeichnet von Bigwood (1989) 303. Anerkennend werden lediglich die stilistischen Qualitäten des Schriftstellers Ktestias hervorgehoben, so von Ps. Demetr. λ ; ' « IV § 215, der ihn mit Fug und Recht als '&« klassifiziert wissen will, da er lebensechte Anschaulichkeit zu schaffen verstehe (# « ' !«). Luk. ver. hist. I § 3. FGH III C 688 F 45 § 51: - λ , K' « $', , # ³« ξ μ« %Ω , ξ # ,Ω %! . Vgl. T 8 = Phot. bibl. 72 p. 35 b 35 zur Methode der Persika. Eine Charakteristik der Indika geben Bigwood (1989) und Lendle (1992) 121–24.
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nahe an das rein geschichtenerzählerische Element (#@« - ," «102) herangeführt103. Das schreiende Mißverhältnis zwischen solch aufreizend unbescheidenem Anspruch und der tatsächlichen Leistung104 des Ktesias, wie man sie in der Antike bewertete, liefert Lukian einen willkommenen Ansatzpunkt für seinen an die Adresse von literarischen Kennern gerichteten Spott. In den thematisch verwandten Philopseudeis105 scheut er nicht einmal davor zurück, ähnlich wie dies bereits Strabon106 in allem Ernst getan hatte, Ktesias Herodot an die Seite zu stellen, und zwar als Beispiel für einen Geschichtsschreiber, dessen Lügenberichte sich nicht unterschieden von den abstrusen mythischen Fiktionen Homers. Nur kindliche Gemüter, so erklärt Lukian weiter, wären in der Lage, all diese absonderlichen Wundergeschichten ( $! λ , ) für bare Münze zu nehmen. Es liegt auf der Hand, daß hier, wie häufig bei Lukian, die Pointe in ihrem Selbstzweckcharakter verstanden und gewürdigt sein will. Im satirischen Teil der vorliegenden Schrift107 verspottet Lukian einen Autor, der, obgleich er niemals auch nur einen Fuß aus seiner Heimatstadt Korinth gesetzt hätte, seine inkompetente Schilderung der Ereignisse in Syrien und Armenien mit der unfaßbar großspurigen – und innerhalb antiker Historiographie ohne Parallele dastehenden – Ankündigung eingeleitet hätte: «Die Ohren sind weniger glaubwürdig als die Augen; so schreibe ich denn, was ich gesehen, nicht, was ich gehört habe»: 7[ F, $! . ψ ρ , ψ . 108. Mag sich ein derart zugespitzter Beglaubigungstopos auch für Berichtsformen innerhalb der das Element pathetischer Überhöhung gezielt als Kunstmittel einsetzenden Tragödie109 eignen oder allenfalls als Einleitung zu einer zwischen den Polen von
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Bereits Thukydides (I 22, § 4) hatte das Element des ,« für sein eigenes Werk abgelehnt (mit Bezug darauf Lukian, « § 42). FGH III C 688 T 13 = Phot. bibl. 72 p. 45a 10–15. Der Versuch einer gerechten Würdigung aus heutiger Sicht wurde von Bigwood (1989) mit Erfolg unternommen. Dieser untersucht die Inhaltsparaphrase des Photios und stellt abschließend fest (316): «this was a work very similar in structure and content to earlier Greek descriptions of far-off lands. It was not entirely the confused jumble of paradoxes which critics have claimed». Für eine angemessene Beurteilung des Werkes ist zu beherzigen, was sich über den unhistorischen Inhalt der sich auf indische Lebensweise und Geographie konzentrierenden Indika aussagen läßt (313): «There is no trace of history in any of the fragments of Ctesias’ Indica and most probably the original description contained none». Luk. Philops. § 2. Dazu \I]O_EYaEIb H APIbT[N (2001). Das Verhältnis dieser Schrift zu den verae historiae ist erklärt von Anderson (1976 b) bes. 23–33. Strab. XI 6 § 3 = C 507: Ktesias, Herodot (durch die kopulativen Partikeln … λ verbunden), Hellanikos und andere von dieser Art hätten, nach dem Vorbild erklärter , einzig auf darstellerische Wirkung bedacht, # ¹ « & gesagt, ψ ' ρ 'ξ ' , % . %! . Strabo gebraucht die beiden Parameter von Autopsie und Sekundärinformation auch in seiner Kritik an sachlich unzureichenden Berichten über das Land Indien (XV 1 § 2 = C 685). Luk. « § 29. Gar nicht zu reden davon, daß es sich beim ersten Kolon unverkennbar um ein in Rhetorenkreisen wohlbekanntes Herodotzitat handelt (Her. I 8, § 2: τ $ , " #! $! F, . Bezugnahme auf diese Worte des Kandaules an Gyges bei Dionys. Hal. ars rhet. XI § 4 = Us. / Rad. VI 2, 378, Z. 7–8 und bei Lukian, de dom. § 20. Euripides und Sophokles bedienen sich derartiger sprachlich frei variierbarer Topoi. Bei Eur. Suppl. 684 sagt der Bote: = ξ - = , vgl. Iph. Taur. 901 und Soph. Tro. 746–47, Hinweis bei Russell (1992) 109. In § 25 verspottet Lukian einen Autor, der die angebliche Kunde vom tragisch inszenierten Selbstmord Severians mit einem Schwur bekräftigen zu müssen glaubte (# «, g κ $ - « …).
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Faktizität und Fiktionalität110 schillernden Erzählung (&'«) vom Typus des dionischen Euboikos111. Innerhalb der Geschichtsschreibung, so ist Lukians Kritik zu verstehen, nimmt sich eine derartige Beteuerung ganz unpassend aus, zumal wenn ein Historiker evidentermaßen gerade das Gegenteil von dem mit großtuerischer Attitüde Angekündigten leistet.
IV. Es ist an der Zeit, die wichtigsten Ergebnisse zusammenzufassen. I) Zu Lukians Definition der wissenschaftlichen Arbeitsweise des Historikers: 1) Es hat sich ergeben, daß Lukian sich in der Frage nach den Möglichkeiten historischer Wahrheitsfindung nicht nur mit dem thukydideischen Methodenkapitel vertraut zeigt, auf welches er sich andernorts112 als auf eine ideale Vorgabe bezieht, sondern auch mit den späteren Entwicklungsstadien der dort angelegten Prinzipien und Formulierungen, wie sie sich im Medium von Historiographie und Rhetorik nachweisen ließen113. Er repräsentiert somit denjenigen Standard, welcher für die historiographische Debatte und deren Rezeption innerhalb rhetorischer Theorie und Praxis zu seiner Zeit vorausgesetzt werden kann. 2) Den bei Thukydides angelegten Gedanken der Κ der Gewährsmänner weitet Lukian in einer die Problematik des Umgangs mit tendenziöser Berichterstattung kräftig ins Zentrum stellenden Weise aus114. Diese gegenüber Thukydides modifizierte und an die politischen Verhältnisse der eigenen Zeit angepaßte115 Schwerpunktverlagerung steht in inhaltlichem und motivischem Zusammenhang mit Lukians Definition von Intellekt (§ 34) und Ethos (§ 38–41) des Historikers. Letzterer Gesichtspunkt wird an anderer Stelle weiterführend aufzugreifen sein116. 3) Lukians souveräne Beherrschung konventioneller Elemente117 erlaubt es ihm auch, diese in anderen Schriften zu satirisch-parodistischen Zwecken einzusetzen. Dieses dementsprechend informierte Rezipienten voraussetzende Verfahren läßt einen unverstellten Blick auf die in dieser Frage gültigen antiken Standards zu. 110
Charakteristisch für diese moderne Sichtweise ist die letzte umfassende Untersuchung von Krause (2003) 61 und erläuternd dazu 21–24, zu beachten ist auch Anderson (2000) bes. 145–50. 111 Dio Chrys. or. VII. Der Einleitungssatz (§ 1) lautet: T! κ μ« %" , # ; $ = «, '& . 112 Luk. « § 42. 113 Dieser Umstand wird in der Regel unterschätzt, so von Macleod (1991) 288–89, auch Homeyer (1965) 260–61 bietet keine systematische Erfassung der Traditionsschichten. Generell werden Lukians Quellenkenntnise häufig zu gering angesetzt, zuletzt Whitmarsh (2001) 33: «… some authors (such as Lucian) seem to have encountered canonical texts primarily in well-known excerpts». 114 Dazu Anm. 45. 115 Das Problem des Umgangs mit tendenziöser Berichterstattung unter monarchischen Regierungsformen war erstmals unter den politischen Bedingungen des 4. Jh.s v. und besonders unter Alexander aktuell geworden, für kaiserzeitliche Historiker ist es eine ständig präsente Gegebenheit. 116 Vgl. dazu die Einleitung zu meinem geplanten Kommentar zu Lukians Methodenschrift (Anm. 4). 117 Zu den oben genannten Belegen kann die Herodotimitatio in der Schrift de dea Syria hinzugefügt werden, bes. § 1: … $' ξ :9 ' ," , ξ ¹ #' , ²! #! #- ?= #Ω ¹ , dazu Lightfoot (2003) 289–90. Bei der Schrift als ganzer handelt es sich wohl um ein Pasticcio, so Lightfoot 198.
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II) Zu den sich für die antike Sichtweise ergebenden Konsequenzen: Das zum Vergleich mit Lukians Gestaltung vorgelegte primäre Quellenmaterial zeigt zuverlässig die Richtung an, wie das auf sachliche Forschungsarbeit bezogene Selbstverständnis antiker Historiker sowie die von diesen erwartete Leistung einzuschätzen ist. Es ist notwendig, auf diesen Sachverhalt mit Nachdruck hinzuweisen, da die durch Wiseman und Woodman vertretenen Positionen in den letzten beiden Jahrzehnten einen die Primärquellen selektiv heranziehenden und deren Aussagewert verkürzenden Forschungstrend ausgelöst haben118. Es ist an der Zeit, einseitige moderne Einschätzungen der Gattung Geschichtsschreibung und der innerhalb dieser anerkannten Forschungsmethoden mit Blick auf den eindeutigen Befund einschlägiger antiker Zeugnisse, welche die Vorstellung einer innnerhalb der Historiographie als legitim erachteten Fiktionalität119 nicht kennen, zu korrigieren. In diesem Sinne versteht sich vorliegende Untersuchung über das engere Thema Lukian hinaus auch als Beitrag zu einem von zeitgenössischen Vorurteilen unbelasteten Verständnis griechischer Historiographie.
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Vgl. Anm. 56. Es soll nicht unkritisch eine Identität von jeweiligem Programm und tatsächlicher Forschungsleistung behauptet werden. Hier wird lediglich darauf hingewiesen, daß es einen Konsens darüber gab, daß die Gattung der ¹ eine wahrheitsgetreue Wiedergabe von real Geschehenem zu leisten habe. Auch Lukian weist in Übereinstimmung mit der gängigen Sichtweise wiederholt darauf hin, daß es die Aufgabe des Historikers sei, über Tatsachen zu berichten (§ 7 und § 59: ¹ ' / ), denn (§ 39): - κ « > – ³« # ,' % , was durch das anschauliche Spiegelgleichnis (§ 51) erläutert wird. Dies ist auch der Sinn einer bekannten Erklärung des ansonsten kaum an Geschichtsschreibung interessierten Aristoteles (poet. 9, 1451 a 36–1451 b 11), welche besagt, daß die auf das Allgemeine hin orientierte Dichtung nach den Parametern von Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit auf das Mögliche ( bzw. H ω ) abziele, während der Geschichtsschreiber über das real Geschehene ( ! ) zu berichten habe, wofür als Beispiel angeführt wird: #A?'« ν , . Woodman (1988) 26–27 läßt demgegenüber die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen, indem er die Historiker von einem hard core of apparently reliable knowledge ausgehen läßt, um welchen herum sie a set of rules based on their own and their readers’ expectations of what was likely to have happened in a given situation strukturierten. Es ist zwar nicht zu bezweifeln, daß ein derartiges Verfahren nicht selten in der Praxis tatsächlich angewandt wurde, aber dabei handelte es sich eben nach allgemeinem Verständnis um unstatthafte Verstöße gegen die gattungsimmanenten Prinzipien, welche von Kritikern immer auch als solche namhaft gemacht wurden. Von einer legitimen Vermischung der Ebenen von Realität und Fiktion kann daher innerhalb der Gattung der ¹ nicht ausgegangen werden. Einen ähnlichen Standpunkt vertritt Cornell (1982) in seiner lesenswerten Rezension zu Wisemans Buch. So Woodman (1988) 26–27, vgl. Anm. 118.
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Angelika Starbatty
Kaiser und Gott in den Panegyrici Latini Unterschiedliche Aspekte der XII Panegyrici Latini haben das Interesse der althistorischen Forschung auf sich gezogen, wobei sich die Wissenschaft insbesondere auf einzelne Reden konzentriert hat.1 Die Beschäftigung mit dem gesamten Corpus2 hingegen stand häufig in Zusammenhang mit Arbeiten über die Spätantike, welchen diese Reden als wertvolle Quellen dienten.3 Ferner stellten die gattungsspezifischen Merkmale solcher epideiktischen Reden sowie die Frage nach der Darstellung des Kaisers in den Panegyrici Latini wesentliche Forschungsschwerpunkte dar.4
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Vgl. etwa die Arbeiten zu Plinius’ Panegyricus auf Trajan: U. Häfele, Historische Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, phil. diss. Freiburg 1958; W. Kühn, Plinius der Jüngere. Panegyricus. Lobrede auf den Kaiser Trajan, Darmstadt 1985; J. Mesk, Zur Quellenanalyse des Plinianischen Panegyricus, WS 33, 1911, 71–100; K. Strobel, Zu zeitgeschichtlichen Aspekten im Panegyricus des jüngeren Plinius: Trajan – «imperator invictus» und «novum ad principatum iter», in: J. Knape und K. Strobel (Hrsgg.), Zur Deutung von Geschichte in Antike und Mittelalter, Plinius d. J. «Panegyricus», «Historia apocrypha» der «Legenda aurea», Bamberg 1985, 9–112. Mit der Rede aus dem Jahr 307 n. Chr. beschäftigte sich C. E. V. Nixon, Constantinus oriens imperator: Propaganda and Panegyric, On Reading Reading Panegyric 7 (307), Historia 42, 1993, 229–246. Panegyricus VI war für B. Müller-Rettig, der Panegyricus des Jahres 310 auf Konstantin den Großen, Palingenesia 31, Stuttgart 1990 und R. Turcan, Images solaires dans le Panegyrique VI, in: M. Renard et R. Schilling (Hrsgg.), Hommages à J. Bayet (Collection Latomus, Vol. LXX), Brüssel-Berchem 1964, 697–706 Gegenstand der Forschung. R. C. Blockley, The Panegyric of Claudius Mamertinus on the Emperor Julian, AJPh 93, 1972, 437–450; H. Gutzwiller, Die Neujahrsrede des Konsuls Claudius Mamertinus vor dem Kaiser Julian: Text, Übersetzung und Kommentar, Basel 1942 und C. E. V. Nixon, The «Epiphany» of the Tetrarchs? An Examination of Mamertinus’ Panegyric of 291, TAPA 111, 1981, 157–166 befassten sich mit dem Panegyricus von Claudius Mamertinus. Die Lobrede auf Theodosius erforschten A. Lippold, Herrscherideal und Traditionsverbundenheit im Panegyricus des Pacatus, Historia 17, 1968, 228–250 und C. E. V. Nixon, Pacatus: Panegyric to the Emperor Theodosius, Liverpool 1987. Als die beiden maßgeblichen Textausgaben sind E. Galletier, Panégyriques latins, Bd. 1–3, Paris 1949–55 sowie C. E. V. Nixon/B. Saylor Rodgers, In Praise of Later Roman Emperors. The Panegyrici Latini. Introduction, Translation, and Historical Commentary with the Latin Text of R. A. B. Mynors, Berkeley u. a. 1994 zu nennen. Siehe dazu F. Kolb, Herrscherideologie in der Spätantike, Berlin 2001; S. MacCormack., Art and Ceremony in Late Antiquity, Berkeley 1981; A. Straub, Vom Herrscherideal in der Spätantike, Stuttgart 1939, Reprint. 1964. Vgl. etwa L. K. Born, The Perfect Prince according to the Latin Panegyrists, AJPh 55, 1934, 20–35; F. Burdeau, L’empereur d’ après les Panégyriques Latins, in: F. Burdeau u. a.(Hrsgg.), Aspects de l’empire romain, Paris 1964, 1–60; S. MacCormack, Latin Prose Panegyrics, in: T. A. Dorey (Hrsg.), Empire and Aftermath, Silver Latin II, London/Boston 1975, 143–205; dies., Latin Prose Panegyrics: Tradition and Discontinuity in the later Roman Empire, REAug 22, 1976, 29–77; M. Mause, Die Darstellung des Kaisers in der lateinischen Panegyrik, Stuttgart 1994; G. Sabbah, De la Rhétorique à la communication politique: les Panégyriques latins, BAGB 4, 1984, 363–388; R. Seager, Some Imperial Virtues in the Latin Prose Panegyrics, The Demands of Propaganda and the Dynamics of Literary Composition, in: F. Cairns (Hrsg.), Papers of the Liverpool Latin Seminar, Fourth Volume, 1983, Liverpool 1984, 129–165; R. H. Storch, The XII Panegyrici Latini and the Perfect Prince, Aclass 15, 1972, 71–76.
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Angelika Starbatty
Den Aspekt der Religion im Corpus der XII Panegyrici Latini haben in den siebziger und achtziger Jahren des letzen Jahrhunderts Jean Béranger, John H. W. G. Liebeschuetz und Barbara Saylor Rodgers beleuchtet. 5 Dabei setzten sie sich in erster Linie mit der außergewöhnlichen Beziehung zwischen Herrschern und Gottheiten auseinander. Dieser gilt auch in diesem Aufsatz das Hauptinteresse, jedoch wird hier, in Abgrenzung zu den bisherigen Arbeiten, die Auffassung vertreten, dass alle Panegyriker – die Darstellung des Verhältnisses von Kaiser und Gott betreffend – ihre Reden in Anlehnung an Diokletians Konzeption eines theokratischen Herrschaftssystems verfasst haben.6
I. In der Antike war es seit jeher Brauch den Herrscher mit einer numinosen Ausstrahlung zu versehen.7 Römische Herrscher hatten beispielsweise schon immer die Schirmherrschaft eines bestimmten Gottes für sich beansprucht. Dabei spielten Jupiter und Hercules seit Beginn des Principats eine hervorragende Rolle. 8 Horaz präsentierte Augustus als den irdischen Stellvertreter Jupiters und bezeichnete ihn als praesens divus, welcher auf der Erde herrsche, während jener im Himmel regiere.9 So kam unter Augustus die Vorstellung auf, dass der Princeps von den Göttern erwählt und vorausbestimmt worden sei, um Jupiter auf der Erde zu vertreten.10 Diese Vorstellung steigerte sich im Laufe der Jahre noch, indem dem Kaiser in zunehmendem Maße Attribute der höchsten Gottheit zugeschrieben wurden und jener sich so immer mehr Jupiter annäherte. Dies hatte zur Folge, dass es in der Lite5
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Siehe J. Béranger, L’expression de la divinité dans les Panégyriques Latins, MH 27, 1970, 242–254; J. H. W. G. Liebeschuetz, Continuity and Change in Roman Religion, Oxford 1979; dies., Religion in the Panegyrici Latini, in: F. Paschke (Hrsg.), Überlieferungsgeschichtliche Untersuchungen, Berlin 1981, 389–398 und B. Saylor Rodgers, Divine Insinuation in the Panegyrici Latini, Historia 35, 1986, 69–104. Sowohl Liebeschuetz als auch Saylor Rodgers nehmen eine Zweiteilung der Panegyrici Latini vor. Dabei unterscheidet Saylor Rodgers in einem ersten Teil zwischen «early» (V–XI) und «late» (II–IV) Panegyrici und stellt Unterschiede in der Terminologie fest: «The orator’s terminology has changed by the end of the fourth century. In the later panegyrics, especially in the last three, the speakers rarely attribute superhuman qualities to the emperor, […].» (74) In einem zweiten Teil erörtert sie für die jeweilige Rede die Gesichtspunkte der Sakralisierung des Herrschers, um diese abschließend miteinander zu vergleichen. Liebeschuetz grenzt die Panegyrici Latini, die während der Ersten Tetrarchie entstanden sind, von den anderen ab. Für ihn ist eine eindeutige Wende auszumachen: «In the speeches written after 306 and the end of the first tetrarchy, the religious atmosphere changed. […] There is a return to the tradition of treating government as an essentially secular activity.» (396) Béranger untersucht jede Rede des Corpus für sich genommen in chronologischer Reihenfolge – mit dem Panegyricus von Plinius beginnend, wobei er insbesondere auf die Verwendung von religiöser Sprache eingeht und darlegt, inwiefern sich im Verhältnis von Kaiser und Gott «la pensée religieuese» (242) der Zeit widerspiegelt. Die Frage, ob es in den Werken der Panegyriker hinsichtlich der Beziehung von Kaiser und Gottheit Aspekte gab, die allen Reden gemeinsam waren, wird von Béranger nicht thematisiert. Vgl. A. Alföldi, Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreiche, Darmstadt 1970, 186 ff.; F. Burdeau, L’empereur d’après les Panégyriques Latins, 10 ff. bes. 30 f.; J. R. Fears, Princeps a diis electus: The Divine Election of the Emperor as a Political Concept at Rome, Rom 1977. Vgl. F. Kolb, Diocletian und die Erste Tetrarchie. Improvisation oder Experiment in der Organisation monarchischer Herrschaft?, Berlin, New York 1987, 89 mit Anm. 263. Hor. carm. 3, 5,1–4: «Caelo tonantem credidimus Iovem / regnare: praesens divus habebitur / Augustus adiectis Britannis / imperio gravibusque Persis.» Vgl. J. R. Fears, RAC XI, 1981, 1103–1159, s. v. Gottesgnadentum (Gottkönigtum), 1121.
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ratur des 3. Jahrhunderts n. Chr. ein locus communis war, die Macht des Herrschers als von Jupiter gegeben darzustellen. Eine letzte Zuspitzung erfuhr diese Ansicht durch Diocletians Konzeption der Herrschaft. Diese enge Verbindung des römischen Herrschers zu den Göttern, insbesondere Jupiter, kam durch mehrere Faktoren zu Stande. Einen bedeutenden Aspekt nahm die pietas ergo deos ein. Diese pflichtmäßige, respektvolle Gesinnung den Göttern gegenüber zeigte sich daran, dass der Herrscher ihnen mit Ehrfurcht begegnete, indem er ihnen zum Beispiel Tempel und Altäre errichtete sowie Weihgeschenke darbrachte. Eine solche Reverenz wurde durch Wohlwollen der Götter gegenüber dem Kaiser gewürdigt, das sich in seiner felicitas äußerte. Diese wiederum brachte dem Herrscher militärische Erfolge ein und führte in Verbindung mit seiner Tapferkeit zu seiner Unbesiegbarkeit.11 In seinem Werk Pro lege Manilia schrieb Cicero Pompeius eine gottgegebene felicitas zu12 und Vergil berichtete in der Aeneis von der göttlichen Gunst, die Augustus in der Schlacht bei Actium zum Sieg verholfen habe.13 Die felicitas bedeutet einerseits, dass ihr Träger selbst Glück hat, und andererseits dass er dieses verleihen kann. In diesem Sinne meint felicitas imperii den glücklichen Zustand des Reiches, der durch den Herrscher hervorgerufen wird. Aufgrund seiner felicitas ist dieser nämlich unbesiegbar (invictus), was wiederum zu Frieden und Eintracht im Imperium führt. Somit resultiert aus der felicitas das aureum saeculum. Der Herrscher ist Dank seiner felicitas und seiner virtutes in der Lage, dem römischen Volk salus zu bringen. Er hat die notwendige Macht und Begabung sowie die erforderliche Gunst der Götter, um seinem Volk zu geben, was es braucht. Demnach übernimmt er die Rolle eines Wohltäters. Nach griechisch-römischer Vorstellung konnte ein Mensch, der seinen Mitmenschen zum Wohlergehen verhalf, göttlich verehrt werden.14 Unter Augustus wurde der Kult seines genius sowie seines numen eingeführt.15 Somit wurden seinem genius, so wie demjenigen jedes pater familias im privaten Rahmen, öffentlich Opfer dargebracht. Die numina bezeichneten für die Römer die Eigenschaften, genauer 11
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Siehe dazu L. K. Born, The Perfect Prince according to the Latin Panegyrists, AJPh 55, 1934, 20–35; F. Burdeau, L’empereur d’ après les Panégyriques Latins, in: F. Burdeau u. a.(Hrsgg.), Aspects de l’empire romain, Paris 1964, 1–60; S. MacCormack, Latin Prose Panegyrics, in: T. A. Dorey (Hrsg.), Empire and Aftermath, Silver Latin II, London/Boston 1975, 143–205; dies., Latin Prose Panegyrics: Tradition and Discontinuity in the later Roman Empire, REAug 22, 1976, 29–77; M. Mause, Die Darstellung des Kaisers in der lateinischen Panegyrik, Stuttgart 1994; G. Sabbah, De la Rhétorique à la communication politique: les Panégyriques latins, BAGB 4, 1984, 363–388; R. Seager, Some Imperial Virtues in the Latin Prose Panegyrics, The Demands of Propaganda and the Dynamics of Literary Composition, in: F. Cairns (Hrsg.), Papers of the Liverpool Latin Seminar, Fourth Volume, 1983, Liverpool 1984, 129–165; R. H. Storch, The XII Panegyrici Latini and the Perfect Prince, Aclass 15, 1972, 71–76. Cic. Manil. 16,47. Verg. Aen. VIII 675–713. Vgl. M. P. Charlesworth, Some Observations on Ruler-Cult especially in Rome, HarvTheolRev 28, 1935, 9.; Fears, Gottesgnadentum, 1131. Er fügt hinzu: «Die griech.-röm. Vorstellung vom Gottkönigtum ist weitgehend geprägt von dem allgemeineren Phänomen der Vergottung von Wohltätern.» Siehe dazu Béranger, L’expression de la divinité, 245. Er sagt, dass der genius sozusagen das zweite geistige Ich repräsentiere, während das numen eine Wirkungskraft sei, die auf den Lebenden wirke.; P. A Brunt, Divine Elements in the Imperial Office, JRS 69, 1979, 168; Burdeau, L’Empereur d’après les Panégyriques Latins, 21 f.; Charlesworth, Observations on Ruler-Cult, 22.; J. R. Fears, RAC XIV, 1988, 1047–1094, s. v. Herrscherkult, 1061; ders., Gottesgnadentum, 1152; D. Fishwick, Genius and Numen, HarvTheolRev 62, 1969, 356–367.
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gesagt, die Wirkungskräfte der Gottheiten. Demzufolge verehrte man die göttlichen Wesenszüge, die sich im Kaiser offenbarten und erkannte seinen charismatischen Charakter offiziell an. Der Kult des Numen Augusti wurde zu einem offiziösen Teil der römischen Staatsreligion und folglich auch von Priestern zelebriert. Die Untertanen konnten den Princeps dadurch als Gott verehren, obwohl er zu Lebzeiten nicht unter die Götter des römischen Staates gezählt wurde. Auch wenn er selber kein Gott war, so konnte er dennoch den göttlichen Willen vermitteln. Nach Auffassung der Griechen und Römer waren die Götter ein Teil ihrer eigenen Welt und sie standen nicht darüber oder außerhalb davon.16 Folglich bestand zwischen Menschen und Göttern nach antiker Vorstellung keine unüberwindliche Barriere; die göttliche Sphäre wurde also nicht für unerreichbar gehalten. Man ging davon aus, dass ein Mensch zum Gott werden konnte. Überdies war die Erscheinung des Göttlichen für die Römer nichts Außergewöhnliches. Dass man sich die Götter als bei jeder Handlung anwesend dachte, war eng an den Glauben daran gebunden, dass Wohlergehen und Erhalt des römischen Reiches von der Gunst der Götter abhängig seien. In diesem Zusammenhang steht die sakrale Aura, von welcher der römische Kaiser umgeben war. In seinen Taten konnte sich der göttliche Wille zeigen, durch ihn manifestierte sich das Wohlwollen der Götter.
II. Dieser Tradition der Sakralisierung des Herrschers schlossen sich die Verfasser des Corpus der Panegyrici Latini an, wobei sie die Kaiser jedoch in viel stärkerem Maße sakral überhöhten, als es je zuvor geschehen war. Das Corpus der XII Panegyrici Latini enthält elf Lobreden auf verschiedene Kaiser aus den Jahren 289–389 und den Panegyricus von Plinius dem Jüngeren, der an der Spitze dieser Auswahl steht. In seiner Funktion als Musterrede wurde er von den nachfolgenden Lobrednern als Hilfsmittel konsultiert. Durch die Zugehörigkeit dieser Reden zum genus demonstrativum, zur Gattung der Prunk- und Festreden, waren die rhetorischen Vorschriften vorgegeben. So bestand die Hauptaufgabe eines Panegyrikers darin, seinem Auditorium Vergnügen zu bereiten 17 und Anerkennung zu erlangen18. Dies versuchte er, einerseits durch eine kunstvolle sprachliche Ausgestaltung zu erreichen; andererseits war er besonders darauf bedacht, sich des Wohlwollens des Adressaten, also des Herrschers, zu versichern. Dieser setzte sozusagen den Maßstab für die rednerische Aufgabe des delectare. Seit den Anfängen der epideiktischen Beredsamkeit in Athen im 5. Jh. v. Chr. hatte sich eine Topik entwickelt, die den Verfassern der spätantiken Panegyrici Latini zur Verfügung stand. Dadurch konnte der Aufbau des Werks schon mehr oder weniger festgelegt sein. Einen besonderen Beitrag dazu hatten zum einen Plinius mit der bereits erwähnten gratiarum actio auf den Kaiser Trajan aus dem Jahr 100 n. Chr. und zum anderen Menander Rhetor 16
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Zum Folgenden vgl. Burdeau, L’Empereur d’après les Panégyriques Latins, 11; J. Martin, Zum Selbstverständnis, zur Repräsentation und Macht des Kaisers in der Spätantike, Saeculum 35, 1984, 115. 117. Vgl. Cic. part. 4, 11. Er sagt, dass der Redner einer epideiktischen Rede sich als Ziel die delectatio in exornatione setzt und 21,72 äußert er, dass in einer solchen Rede «omnis ratio fere ad voluptatem auditoris et ad delectationem refertur». Quint. Inst. III 8, 7: «nec mirum, cum etiam in panegyricis petatur audientium favor, ubi emolumentum non utilitate aliqua, sed in sola laude consistit.»
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geleistet. Diesem ist die Abhandlung Pλ , über die epideiktischen Reden, aus dem 3. Jh. n. Chr. zu verdanken, in der an erster Stelle das Herrscherlob, der μ« « behandelt wird. Die Panegyrici Latini hatten folglich einen konventionellen und traditionellen Charakter. Dieser zeigte sich auch daran, dass die Individualität der Herrscherpersönlichkeit kaum eine Rolle spielte.19 Betrachtet man die Panegyrik aus rhetorischer Sicht, so dürfen die kommunikativen Rahmenbedingungen, das sogenannte Setting,20 nicht unbeachtet bleiben. Im argumentativen Kontext geht es dabei um Aspekte wie den Ort, die Persönlichkeit des Redners, den Anlass, die Absicht, das Auditorium oder den zeitgeschichtlichen Hintergrund. Das rhetorische Geschick bestand darin, einen Bezug zu jenem Kontext herzustellen und diesen gekonnt zu verwenden. Ein Panegyricus gehörte stets als fester Bestandteil zu einem Zeremoniell. Dieses konnte aufgrund zahlreicher Anlässe begangen werden, wie etwa wegen eines Jahrestages, Regierungsjubiläums oder eines kriegerischen Erfolges. In diesem Rahmen war es für den Redner angemessen, sich religiöser Sprache zu bedienen sowie den Herrscher mit einer sakralen Aura zu umhüllen.
III. Dieser Anspruch wurde in den einzelnen spätantiken Panegyrici Latini zwar auf unterschiedliche Art und Weise umgesetzt, jedoch haben sich in letzter Konsequenz alle Reden auf die tetrarchische Tradition einer Theokratie gestützt. Dies gilt auch für diejenigen, die nach Constantins Hinwendung zum Christentum entstanden sind. Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Kaiser und Gottheit scheint sich nämlich die Sichtweise innerhalb der Panegyrici Latini nicht wesentlich verändert zu haben, obwohl der historische Kontext der jeweiligen Reden stark variieren konnte, wie im Folgenden noch zu sehen sein wird. Jene Beziehung zwischen Herrschern und Göttern basierte in allen spätantiken Panegyrici Latini auf drei Komponenten: 1. Die Kaiser wurden von den Göttern bestimmt. 2. Die Kaiser wurden mit bestimmten Göttern verglichen oder sogar gleichgesetzt. 3. Die Panegyriker wiesen den Herrschern die numina dieser Götter zu, was bedeutete, dass sie die Kaiser als mit den göttlichen Qualitäten und Wirkungskräften ausgestattet, darstellten. Erstmals findet sich diese Art der Sakralisierung der Kaiser in den Panegyrici Latini der Ersten Tetrarchie. Folglich in den Reden X und XI, die in den Jahren 289 und 291 n. Chr., also während der Dyarchie der beiden Augusti Diocletian und Maximian, entstanden, sowie in den Panegyrici Latini VIII und IX, die nach der Ernennung der beiden Caesares Constantius Chlorus und Galerius im Jahr 293 n. Chr., nämlich 297 oder 298, verfasst wurden. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Kontext die sakralen Cognomina Iouius und Herculius. Diocletians Konzeption der Herrschaft basierte auf der Schaffung einer göttlichen Familie (domus divina).21 Mitglieder derselben waren zunächst ab 286 die beiden Au19 20 21
Vgl. MacCormack, Art and Ceremony, 6. Siehe dazu: J. Knape, Was ist Rhetorik?, Stuttgart 2000, 87 ff. Zum Folgenden vgl. Kolb, Diocletian, 90 ff.; ders., Herrscherideologie, 22. 27 f. 35 ff.167 ff.
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gusti, also Diocletian selbst und sein Mitregent Maximian. Dieser wurde als Bruder ( frater) Diocletians in dessen Familie adoptiert. Er nahm das Cognomen Herculius an, während Diocletian zum Iouius wurde. Seit 293 gehörten auch die beiden Caesares, die einerseits in brüderlichem Verhältnis zueinander standen und andererseits Söhne ( filii ) der Augusti waren, zu dieser göttlichen Familie. Zu Söhnen der Augusti wurden sie zum einen aufgrund ihres Amtes und zum anderen durch Adoption. So adoptierte Diocletian den Galerius und Maximian den Constantius. Die beiden Caesares erhielten jeweils den Beinamen ihres Adoptivvaters.22 Folglich wurde Constantius zu einem Herculius und Galerius zu einem Iouius. Dadurch, dass die Caesares jeweils die Tochter ihres Vaters heirateten, wurde die verwandtschaftliche Beziehung untereinander noch enger verknüpft. Damit war beispielsweise Maximian gleichzeitig Vater und Schwiegervater von Constantius sowie Onkel des Galerius. Zu dieser domus divina gehörten lediglich die vier Herrscher, jegliche Blutsverwandte derselben waren ausgeschlossen. Damit versuchte Diocletian den Kampf um die Herrschaft innerhalb der Familie zu vermeiden. Der Rivalität der Familienmitglieder sollte so vorgebeugt werden. Im Jahr 291 n. Chr. äußerte sich der Panegyriker in seiner Rede zum Geburtstag des Kaisers Maximian folgendermaßen: Quos quidem, sacratissime imperator, quotiens annis uoluentibus reuertuntur, uestri pariter ac uestrorum numinum reuerentia colimus, siquidem uos dis esse genitos et nominibus quidem uestris sed multo magis uirtutibus approbatis. […] cognouimus quae causa faciat ut numquam otio adquiescere uelitis. Profecto enim non patitur hoc caelestis ille uestri generis conditor uel parens. Nam primum omnium, quidquid immortale est stare nescit, sempiternoque motu se seruat aeternitas. Deinde praecipue uestri illi parentes, qui uobis et nomina et imperia tribuerunt, perpetuis maximorum operum actionibus occupantur.23
Die Kaiser beweisen also laut Redner einerseits durch ihre Namen, Iouius und Herculius, andererseits noch viel mehr durch ihre Qualitäten (uirtutes), dass sie von den Göttern Jupiter und Hercules gezeugt worden sind. Dementsprechend können sie als deren Söhne bezeichnet werden. Aus der Annahme der göttlichen Vaterschaft resultiere, dass sie von Geburt an die Wirkungskräfte ihrer Väter besäßen und somit eben auch deren Qualitäten, die sich in ihren Handlungen zeigten. So teilt sich der Herrscher mit der Gottheit bestimmte göttliche Attribute, wie zum Beispiel die Unsterblichkeit beziehungsweise Ewigkeit. Die Kaiser werden hier vom Panegyriker den Göttern angeglichen. Wenn die Götter ununterbrochen mit Taten von größter Bedeutung beschäftigt sind, so zeichnen sich folglich auch die Herrscher durch unermüdliche Tätigkeit aus. Die Panegyriker bezeichnen die Herrscher aber auch unabhängig von einem Vergleich mit den Göttern als unsterblich.24 Die aeternitas der tetrarchischen Herrschaft sollte außerdem durch die Nachfolgeregelung gewährleistet sein. Wenn es nämlich immer zwei Caesares gäbe, die im direkten Anschluß an die freiwillige Abdankung des Herrscherpaares der Augusti nachfolgten und dann ihrerseits neue Caesares ernannten, wäre die Unsterblichkeit und Ewigkeit dieses Herrschaftssystems garantiert. 22
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Vgl. Pan. Lat. IX 8,1: «Credo igitur, tali Caesar Herculius et aui Herculis et Herculi patris instinctu tanto studium litterarum fauore prosequitur». Mit Caesar Herculius ist hier Constantius gemeint, sein Vater ist demnach Maximian und sein Großvater Hercules. Die Panegyrici Latini werden zitiert nach Nixon/Saylor Rodgers, In Praise of Later Roman Emperors. Pan. Lat XI 2,3–4 und 3,1–3. Vgl. z. B. ebd. VIII 3,2. 13,3; IX 16,4.
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Aus der Tatsache, dass Jupiter als Begründer beziehungsweise Vater uestri generis bezeichnet wird, lässt sich entnehmen, dass die Iouii und Herculii ein und demselben Geschlecht entstammen. Die Herrschaft wurde Diocletian und Maximian von ihren parentes verliehen, womit Jupiter und Hercules gemeint sind, wie aus der anschließenden Darstellung offensichtlich wird.25 Das bedeutet, dass Jupiter einerseits der Vater der Iouii und andererseits der Urheber des einen Geschlechts ist, das sich sowohl in die Iouii als auch die Herculii, die Hercules zum Vater haben, aufteilt. Daher wird im Panegyricus X 4,2 auch von tuus Hercules hingegen aber von Iouis uester gesprochen. Insofern ist in der Herrschaftskonzeption Diocletians alle Macht auf Jupiter zurückzuführen, er ist der auctor deus und der summus pater. 26 Die Mitglieder der domus divina haben ihre Herrschaft also von ihm erhalten und herrschen nicht nur Dank seiner Gnade und Gunst, sondern auch weil sie an seiner Göttlichkeit beziehungsweise derjenigen des Hercules teilhaben. Im Panegyricus X 11,6–7 wird die Handlungsweise des Iouius Diocletian und Herculius Maximian und deren Verhältnis zueinander in Entsprechung zu Jupiter und Hercules gesetzt. Dabei bezeichnet der Panegyriker die beiden Götter als summi auctores, wobei er Jupiter als rector caeli charakterisiert und Hercules als pacator terrarum darstellt. 27 Analog dazu wird gesagt: «[…], sic omnibus pulcherrimis rebus, etiam quae aliorum ductu geruntur, Diocletianus †facit, tu tribuis effectum.» Leider ist der Satz gerade an der Stelle zerstört, die hauptsächlich zu seinem sicheren Verständnis beitragen würde. Dennoch lässt sich auch unter Berücksichtigung des Kontextes und mittels der vorgeschlagenen Ergänzung eine Interpretation wagen.28 Während Diocletian die Taten hervorbringt, verleiht Maximian ihnen Erfolg. Ergo beginnt der eine etwas, was der andere zu Ende bringt. Sogar Dinge, die unter Führung anderer verrichtet wurden, sind letztlich auf Diocletian und Maximian zurückzuführen, aber nicht auf Ersteren allein. Denn sie sind doch beide Sohn und Besitzer der Wirkungsmächte jeweils eines der zwei höchsten Urheber aller himmlischen und irdischen Dinge. Jupiter und Hercules stehen gemeinsam über den anderen göttlichen Wesen (diuersa numina). Sie arbeiten zusammen und ergänzen sich in ihren Qualitäten und Handlungen. Dasselbe gilt laut Panegyriker auch für Diocletian und Maximian. Indem der Redner anschließend auf Maximians felicitas verweist, liefert er ein erklärendes Moment für dessen Rolle als pacator terrarum. Die Vorstellung von zwei summi auctores des Olymps entspricht zwar nicht der traditionellen Auffassung der griechisch-römischen Religion, jedoch macht der Anlass dieser Rede eine solche Anschauung verständlich. Warum sollte nämlich in einer Geburtstagsrede gerade die untergeordnete Stellung des ‹Geburtstagskindes› hervorgehoben werden, wo es 25 26 27 28
Ebd. XI 3,4–6: «Ille siquidem Diocletiani […] Maximiane, Herculis !tui uir" tus.» auctor deus: ebd.; summus pater: IX 15,3. Hercules als pacator: vgl. ebd. XI 3,6: «dum inter homines erat terras omnes et nemora pacauit». Es sind in der Forschung unterschiedliche Ansichten hinsichtlich dieser Stelle vertreten worden. So interpretieren die einen sie als Beleg für eine Unterordnung Maximians gegenüber Diocletian. Sie sehen nämlich in deren Beinamen ein Indiz dafür, dass das Verhältnis der Herrscher zueinander entsprechend demjenigen der Götter zu verstehen ist. Wie z. B. W. Enßlin, Gottkaiser und Kaiser von Gottes Gnaden, München 1943, 48–50; Fears, Princeps a diis electus; Liebeschuetz, Religion, 392; W. Seston, Dioclétien et la tétrarchie, Paris 1946, 232 oder F. Taeger, Charisma, Studien zur Geschichte des antiken Herrscherkultes, Band 2, Stuttgart 1957–1960, 460. Hingegen ist Kolb, Diocletian, 96 ff. der Überzeugung, dass nirgendwo in den Panegyrici der Ersten Tetrarchie eine Unterordnung Maximians unter Diocletian auftaucht und dass die hier behandelte Textstelle nicht auf eine Subordination Maximians schließen lässt.
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doch Ziel eines solchen Werkes ist, den Laureaten zu lobpreisen und dadurch zu erfreuen? Überdies wird in diesem Panegyricus vor der hier behandelten Textstelle die Eintracht der beiden Herrscher intensiv thematisiert. Zunächst werden Diocletian und Maximian als fratres bezeichnet, die man eigentlich verdientermaßen conditores Roms nennen könnte, da sie nämlich restitutores seien, was Gründern sehr nahe käme (1,5). Der Beginn ihrer gemeinsamen Herrschaft markiert die Anfänge der salus. Maximian wird anschließend nicht nur mit Hercules verglichen, sondern auch mit Jupiter.29 Folglich hat nicht nur Diocletian Zugriff auf dessen Fähigkeiten, Maximian ist ebenfalls im Besitz mancher der Qualitäten Jupiters. Denn schließlich sind sie uirtutibus fratres. Das bedeutet: sie sind nicht nur durch Adoption brüderlich miteinander verbunden, sondern gleichen sich auch in ihrem Charakter so sehr, dass sie ihre Fähigkeiten betreffend Brüder sind: «ambo nunc estis largissimi, ambo fortissimi atque hac ipsa uestri similitudine magis magisque concordes et, quod omni consanguinitate certius est, uirtutibus fratres.»30 Auf dieser großen Ähnlichkeit basiert ihre Harmonie und Eintracht (concordia), die wiederum ein ungeteiltes Reich sicherstellt. Die beiden Augusti garantieren demzufolge durch ihre Einmütigkeit den Zusammenhalt des Imperiums sowie das Fortbestehen des tetrarchischen Systems.31 Aufgrund ihrer doppelten Göttlichkeit vergrößern sie die herrscherliche maiestas.32 Indem die Herrschaft von zwei numina ausgeht, die sich in ihren Qualitäten entweder gleichen oder ergänzen, wird die kaiserliche Erhabenheit gestärkt. Daher sei Maximian auch von Diocetian angefleht worden, den Staat wiederherzustellen: «te, cum ad restituendam rem publicam a cognato tibi Diocletiani numine fueris inuocatus, plus tribuisse beneficii quam acceperis.»33 Diocletian war laut Panegyriker auf dessen Hilfe angewiesen. Dadurch, dass Maximian sein Teil der Macht gegeben wurde,34 empfing er keine Wohltaten, sondern gewährte sie. […], sed cum ad restituendam eam post priorum temporum labem diuinum modo ac ne id quidem unicum sufficeret auxilium, praecipitanti Romano nomini iuxta principem subiuisti eadem scilicet auxilii opportunitate qua tuus Hercules Iouem uestrum quondam Terrigenarum bello laborantem magna uictoriae parte iuuit probauitque se non magis a dis accepisse caelum quam eisdem reddidisse.35
Die Unterstützung eines einzigen göttlichen Wesens habe nicht ausgereicht, um das Gemeinwohl zu kurieren und so sei Maximian an der Seite des Princeps Diocletian dem römischen Namen zu Hilfe gekommen, als dieser dabei gewesen sei, ins Verderben zu stürzen. Der Panegyriker vergleicht daraufhin Maximians Hilfeleistung mit derjenigen des Hercules gegenüber Jupiter, als dieser sich mit den Giganten im Krieg abgemüht habe. Auf diese Weise stellt er Maximian mit einem Hercules auf die gleiche Stufe, der zu einem großen Teil zum Sieg beigetragen und damit bewiesen habe, dass er den Himmel nicht eben von den Göttern erhalten, sondern ihnen diesen vielmehr zurückgegeben habe.
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Vergleiche mit Jupiter: Pan. Lat. X 2,4–5: «An quemadmodum educatus […] uera sunt, imperator.»; 6, 4: «Bona uenia deum […] sumpto thorace mutasti». Ebd. 9,3. Ebd. 11,2: «utilitatem imperii singularis consentiendo retinetis.» Ebd.: «quamuis maiestatem regiam geminato numine augeatis». Ebd. 3,1. Ebd. 3,3: «impartito tibi imperio». Ebd. 4,2.
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Es ist in diesem Panegyricus wohl nicht die Rede von einem Rangunterschied der beiden Augusti hinsichtlich ihrer staatsrechtlichen Stellung. 36 Der Panegyriker differenziert zwar zwischen ihnen, wenn er sagt: «[…], tu fecisti fortiter, ille sapienter» (4,1), dabei urteilt er aber nicht über den Wert, sondern über die Art ihrer jeweiligen Handlungsweise. Es wird sogar erwähnt, dass Diocletian Maximian imitiere.37 Wollte der Redner jedoch eine qualitative Unterlegenheit Maximians zum Ausdruck bringen, würde er wohl kaum von einer Nachahmung desselben seitens Diocletian sprechen. Überdies wird ausdrücklich hervorgehoben, dass es keinerlei Unterschied zwischen ihnen gebe und dass sie wie die Dioskuren, ihrem Rang nach völlig gleich, das römische Reich regierten.38 In den Panegyrici Latini der Ersten Tetrarchie lag der Schwerpunkt der Sakralisierung der Herrscher darin, diese und ihre Fähigkeiten in Analogie zu den Göttern darzustellen sowie die irdische Welt mit der himmlischen zu vergleichen: «[…] etiam illa Iouis et Herculis cognata maiestas in Iouio Herculioque principibus totius mundi caelestiumque rerum similitudinem requirebat.» 39 Die Herrscher Iouius und Herculius stehen nach Ansicht des Panegyrikers als Vermittler zwischen den Menschen und den Göttern. In ihnen spiegeln sich Jupiter und Hercules, sie sind sozusagen ein Abbild dieser beiden Gottheiten. Durch ihre Herrschaft kann die irdische Welt der himmlischen gleichkommen. Iouius und Herculius setzen als Stellvertreter der Götter auf Erden, die gewissermaßen durch sie regieren, deren Fähigkeiten zum Wohl aller ein. Der Redner von Panegyricus VIII 4,2–4 zieht eine Parallele zwischen den vier Herrschern und den Dingen, die jeweils vierfach im Universum enthalten sind, wie z. B. den Elementen oder Jahreszeiten. Dadurch macht er jene zu einem festen Bestandteil der ewigen Ordnung der Natur und lässt sie den gesamten Kosmos beherrschen. Ihr Herrschaftsbereich ist nämlich nicht durch irdische Grenzen eingeschränkt. 40 Im Panegyricus IX 18,5 hebt der Redner hervor, dass das goldene Zeitalter nun unter den ewigen Auspizien von Jupiter und Hercules wiedergeboren sei: «Adeo, ut res est, aurea illa saecula, […], nunc aeternis auspiciis Iouis et Herculis renascuntur.» Unter der Herrschaft der Iouii und Herculii, in denen sich der göttliche Wille stets manifestiert, ist ein neues aureum saeculum angebrochen. Die Sicherheit der ganzen Welt ist wiederhergestellt und die Menschen haben himmlische Wohltaten empfangen.41 Die Macht sakralisiert die Herrscher, die immer wieder beweisen, dass sie die Wirkungskräfte ihrer Götterväter besitzen, also an deren Göttlichkeit teilhaben. Im Zusammenhang mit der Schilderung des aduentus von Diokletian und Maximian in Mailand im Jahr 290 n. Chr. beschreibt der Panegyriker XI 10, 5 die außerordentliche
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Vgl. Pan. Lat. XI 14,4: Quid enim mirum si, cum possit hic mundus Iouis esse plenus, possit et Herculis?» Auch diese Stelle legt eine Gleichheit von Iouius und Herculius nahe. Vgl. ebd. 7,7: «sed inuicem uosmet imitamini,» wo von einer gegenseitigen Nachahmung seitens der Herrscher gesprochen wird. Ebd. X 9,4: «neque ullum inter uos discrimen esse patiamini, sed plane ut gemini illi reges Lacedaemones Heraclidae rem publicam pari sorte teneatis.» Ebd.VIII 4,1; vgl. auch X 10,2: «non inuenire me ex omni antiquitate quod comparem uobis, nisi Herculeae gentis exemplum.» Vgl. ebd. X 10,1: «Vos uero, qui imperium non terrae sed caeli regionibus terminatis». Ebd. X 14,4: «cum uos totius orbis securitate composita»; 14,5: «Vides, imperator, quanta uis sit tuorum in nos caelestium beneficiorum:»
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Reaktion auf die Ankunft der Herrscher. Altäre seien angezündet, Weihrauch aufgestellt, Wein als Trankopfer gespendet, Opfertiere geschlachtet worden und alles sei von Freude entbrannt gewesen. Jeder habe unter Applaus im Dreischritt getanzt und den unsterblichen Göttern sei Lob und Dank gesungen worden. Im Anschluß wird die Erklärung für solch eine unermeßlicher Freude der Menschen geliefert: «non opinione traditus sed conspicuus et praesens Iuppiter cominus inuocari, non aduena sed imperator Hercules adorari.» Diocletian werde nämlich nicht als jemand, von dem aufgrund von Einbildung berichtet worden sei, sondern als sichtbarer und persönlich anwesender Jupiter angerufen sowie Maximian nicht als Fremdling, sondern als der Herrscher Hercules verehrt. Folglich werden sie als praesentes dei dargestellt. Als anwesenden Göttern kommt ihnen laut Panegyriker mithin eine göttliche Behandlung zu. Daher führen die Untertanen rituelle Handlungen für sie aus. Die Freude der Menschen ist besonders dadurch so groß, dass die Herrscher verfügbar sind. Aufgrund ihrer Präsenz können sie direkt Einfluss auf die menschlichen Geschicke nehmen und diesen hilfreich zur Seite stehen. Dass den unsterblichen Göttern Dank ausgesprochen wird, verdeutlicht jedoch eine graduelle Abstufung zwischen diesen und den praesentes dei, es wird eine Unterordnung suggeriert. Die beiden Herrscher verdanken ihre Position den unsterblichen Göttern. Mit Jupiters Wahl des Diocletian zum Herrscher und dessen Ernennung des Maximian zum Mitregenten wurde deren göttliches Wesen offenkundig, das ihnen schon von Geburt an eigen war. Eine Epiphanie vollzog sich. Die Vergleiche, welche die Panegyriker zwischen einerseits Iouius und Herculius, andererseits Jupiter und Hercules anstellten, bedeuten infolgedessen keine Gleichstellung, was auch die Cognomina verdeutlichen. Erst die Wirkungskräfte und der Beistand ihrer Schutzgötter versetzen die Herrscher in die Lage, ihren Untertanen zu helfen. Weitere wichtige Aspekte der Sakralisierung der Herrscher in den Panegyrici Latini der Ersten Tetrarchie sind deren pietas und felicitas. Darüber wird im Panegyricus XI 18,5 sehr ausführlich gesprochen. Der Redner formuliert den Zusammenhang der beiden folgendermaßen: «felicitatem istam, optimi imperatores, pietate meruistis!» Die felicitas resultiere folglich als Verdienst aus der pietas. Er geht davon aus, dass die Herrscher mit diesen beiden, im Gegensatz zu allen anderen Qualitäten, schon von Geburt an versehen worden seien.42 Auf ihre piae mentes und imperatoriae fortunae seien der Beginn ihrer sanctitas und jeglicher Erfolg zurückzuführen, weil gute und freundliche Sterne gesehen hätten, dass sie zur Unterstützung des Menschengeschlechts geboren würden: «Gemini ergo natales pias uobis mentes et imperatorias tribuere fortunas, atque inde sanctitatis uestrae omniumque successuum manat exordium quod nascentes uos ad opes generis humani bona sidera et amica uiderunt.»43 Somit hängen pietas und felicitas der Herrscher also auch direkt mit dem Wohl der Menschen zusammen. Die pietas zeigt sich einerseits gegenüber den Göttern, andererseits im Umgang der Herrscher miteinander. Die pietas erga deos besteht laut Panegyriker darin, dass die Götter durch Altäre, Statuen, Tempel sowie Weihgeschenke geehrt werden. Da die Verehrung von den Herrschern ausgehe, würden die Götter noch verehrungswürdiger, und
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Ebd. XI 19,2–3: «Etenim ceterae uirtutes et bona cetera processu aetatis eueniunt: […]. Solae cum nascentibus pariter oriuntur pietas atque felicitas; naturalia sunt enim animorum bona et praemia fatorum.» Ebd. 19,3.
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die Menschen verstünden erst jetzt wirklich, welche Macht die Götter besäßen, seitdem sie in solchem Ausmaß von Diocletian und Maximian verehrt würden. 44 Die pietas, mit der sie einander ehren, wird eingehender behandelt. Einleitend fragt der Redner im Panegyricus XI 6,3: «Quae enim umquam uidere saecula talem in summa potestate concordiam?» Damit möchte er die hervorragende Eintracht der Herrscher betonen. Aus dieser zeige sich schließlich deutlich, dass die Seelen der übrigen Menschen erdgebunden und vergänglich, die ihren aber himmlisch und unvergänglich seien.45 Weiter folgert er: «Ita duplices uobis diuinae potentiae fructus pietas uestra largitur: et suo uterque fruitur et consortis imperio.» (6,7) Deshalb kommen die Herrscher aufgrund ihrer concordia, die auf ihrer jeweiligen pietas basiert, in den doppelten Genuss göttlicher Macht. Die auxilia deorum haben sie folglich ihrer pietas zu verdanken. Die Götter sorgen dafür, dass den Kaisern alles gelingt. In diesem Zusammenhang steht die Sieghaftigkeit der Herrscher. Die unsterblichen Götter sind sozusagen ihre Garanten des Sieges: «Enimuero, Caesar inuicte, tanto deorum immortalium tibi est addicta consensu omnium quidem quos adortus fueris hostium […].»46 Aufgrund ihrer Hilfe sind die Herrscher inuicti, die sich durch Tapferkeit sowie militärische Leistungen auszeichnen,47 sie siegen allein durch ihre felicitas.48 Eine weitere Folge der kaiserlichen felicitas ist die felicitas temporum. So wie die Götter sich um die felicitas der Herrscher kümmern, sorgen diese dann mit Hilfe derselben für das aureum saeculum. Aufgrund ihrer pietas erwerben die Herrscher für sich einen Anspruch auf felicitas, welche ihnen verdientermaßen durch die Hilfe ihrer Schutzgötter garantiert wird. Dadurch sind sie in der Lage, für das Wohlergehen der Menschen zu sorgen, indem sie ihr Glück auf alle anderen übertragen. Auch in den Panegyrici Latini VII, VI und V, die in der Zeit der Zweiten Tetrarchie entstanden sind, lassen sich die hier festgelegten drei Bestandteile der kaiserlich-göttlichen Beziehung wiederfinden. Die Reden sind alle an Constantin gerichtet, unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihres historischen Kontextes sehr. Das trifft besonders für die Darstellung Maximians zu. Während dieser in dem an ihn und an Constantin gerichteten Panegyricus VII aus dem Jahr 307 n. Chr. sehr positiv präsentiert wurde, hatte sich die Situation im Jahre 310 n. Chr. deutlich geändert.49 Im Panegyricus VII, der anlässlich der Hochzeit Constantins mit Fausta und der Verleihung des Augustus-Titels an ihn gehalten wurde, ist die concordia der vorherrschende Aspekt des Verhältnisses von Constantin und Maximian. Bei der Konferenz in Carnuntum im Jahre 308 n. Chr. war Maximian ein zweites Mal von Diocletian dazu gebracht worden, auf die Herrschaft zu verzichten. Dies machte er jedoch 310 wieder rückgängig, indem er sich erneut zum Kaiser erheben ließ. Daraufhin begab sich Constantin, in dessen Herrschaftsbereich Maximian sich aufhielt, mit seinem Heer nach Arles und zwang diesen zu kapitulieren. Panegyricus VI entstand wohl kurz nach Maximi-
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Ebd. 6,1–2: «Nam primum omnium, […] simulacris templis donariis, […] ornastis, sanctioresque fecistis […] colantur a uobis.» Ebd. 6,3: «Ex quo profecto […] caelestes et sempiternas.» Ebd. VIII 17,1. Vgl. ebd. X 7,6: «tu autem, imperator inuicte, […] debere quod uindicas.»; 9,3: «Sed neque illum […] bellica uirtute reuocarunt»; VIII 1,4: «cum tot postea […] undique barbarae nationes»; IX 20,2: «et cotidie spectet […] aut terrore deuinciunt.» Ebd. XI 18, 1: «felicitate uincitis sola» Zum Folgenden vgl. K. Piepenbrink, Konstantin der Große und seine Zeit, Darmstadt 2002, 31 f.
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ans Tod50 und ist von einem sehr negativen Bild desselben geprägt. Nach seinem ‹Selbstmord› ließ Constantin ihn zum Staatsfeind erklären und die damnatio memoriae über ihn verhängen.51 In den Panegyrici Latini der Zweiten Tetrachie wird der Aspekt der Erwählung des Herrschers durch die Götter mit dem dynastischen Prinzip in Verbindung gebracht, denn dieses trat an die Stelle des tetrarchischen Ideals von der Adoption der Besten und Verdientesten. Schon im Panegyricus VII, der hinsichtlich des Vokabulars und der Vorstellungen am ehesten mit dem tetrarchischen System übereinstimmt, wird vom Redner eine zukünftige neue Dynastie angepriesen, die durch Constantins Heirat mit Maximians Tochter Fausta begründet worden sei: Maximas itaque uobis, aeterni principes, publico nomine gratias agimus, quod suscipiendis liberis optandisque nepotibus seriem uestri generis prorogando omnibus in futurum saeculis prouidetis, ut Romana res olim diuersis regentium moribus fatisque iactata tandem perpetuis domus uestrae radicibus conualescat, tamque sit immortale illius imperium quam sempiterna suboles imperatorum. 52
Im Gegensatz zu früher, als es um die römische Sache noch schlecht gestanden habe, weil die Regenten hinsichtlich ihres Charakters oder Schicksals völlig verschieden gewesen seien, sorgten die beiden Principes jetzt dafür, dass der römische Staat basierend auf der neuen Familie und deren Nachkommen erstarke. Indem sie eine neue Dynastie gegründet hätten, sollte der Erhalt des Imperiums so unsterblich sein, wie die Nachkommenschaft der Herrscher immer während sei. Der Panegyriker verspricht sozusagen das Bestehen des Römischen Reiches, indem er sich auf eine erbliche Nachfolge stützt. Damit scheint er eine konträre Position zu den Panegyrikern der Ersten Tetrarchie einzunehmen, welche die natürliche Familie der Herrscher für gewöhnlich außer Acht ließen, so wie es der Herrschaftskonzeption Diocletians entsprach. In Paragraph 5,3 spielt der Redner zwar ebenfalls auf einen erblichen Herrschaftsanspruch an, indem er erwähnt, dass Constantius seinem Sohn das imperium zurückgelassen habe. Allerdings wird dieser Anspruch dem tetrarchischen System ausdrücklich untergeordnet: «Siquidem ipsum imperium hoc fore pulchrius iudicabas, si id non hereditarium ex successione creuisses, sed uirtutibus tuis debitum a summo imperatore meruisses.» Es sei schöner die Herrschaft aufgrund seiner uirtutes als Belohnung von dem summus imperator verliehen zu bekommen. Dies verdeutlicht, dass der Panegyricus VII tatsächlich nicht unerheblich mit den Prinzipien der Ersten Tetrarchie übereinstimmt und somit nur scheinbar eine gegensätzliche Ansicht von dem Redner vertreten wird. Dieser musste schließlich auch dem Anlass der Rede gerecht werden, weshalb er die Nachkommenschaft aus einer solchen glücklichen Verbindung anpries. Das religiöse Programm der Tetrarchie zeigt sich sehr deutlich, wenn davon gesprochen wird, dass die Herrscher das Fortbestehen des Staates nicht durch einen plebejischen Sprössling, sondern durch kaiserliche Abkunft verlängert hätten, so dass die Zügel des gemeinsamen Wohlergehens nicht durch neue Familien übergeben worden seien und somit in allen Zeiten fortdauern würden. Dann wird noch angefügt: «imperatores semper Hercu-
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Siehe dazu Nixon/Saylor Rodgers, In Praise of Later Roman Emperors, 212. M. J. Maurice, Les discours des Panegyrici Latini et l’évolution religieuse sous le règne de Constantin, CRAI, 1909, 168. Pan. Lat. VII 2,2.
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lii.»53 Hercules wird hier also als Schutzgott der neuen Dynastie gepriesen.54 Solange die Herrschaft bei den Herculii bleibt, ist die salus für alle Zeiten gewährleistet. Ein weiterer Bezug zu Hercules wird in Paragraph 8,2 hergestellt. Der Redner legt Constantin dar, wie sehr ihn die Verwandtschaft mit Maximian schmücke. Denn dieser habe ihm den Namen gegeben, den er von dem Gott, dem Ersten seiner Familie, empfangen habe. Er habe bewiesen, dass er ein progenies Herculis sei und zwar nicht durch fabelhafte Schmeicheleien, sondern indem er ihm an uirtutes gleich gekommen sei.55 Implizit scheint hier die Aufforderung an Constantin mitzuschwingen, sich ebenfalls als würdiger Abkömmling des Hercules zu zeigen. Ferner beruft sich der Panegyriker auf tetrarchische Ideale, wenn er formuliert, dass diese Heirat die salus sicherstelle, indem sie zu der pristina concordia und der perpetua pietas der beiden Herrscher hinzukomme.56 Desweiteren geht der Redner auf die Aufgabenteilung der beiden Herrscher ein (14,1). Dabei wird Maximian als derjenige präsentiert, der die Entscheidungen trifft, Constantin dagegen als derjenige, der diese umsetzt. Hier scheint der Panegyriker seinem Vorgänger aus dem Jahre 289 n. Chr. gefolgt zu sein, der das Verhältnis des Iouius Diocletian und des Herculius Maximian beschrieben hatte. Die Verwendung einer solchen Vorlage zeigt erneut, wie sehr dieser Panegyricus noch von tetrarchischen Vorstellungen geprägt war. Eine dieser Vorstellungen bestand darin, die Abdankung Maximians mit der pietas fraterna von ihm und Diocletian zu erklären. Der Redner erwähnt einen einst gefassten Plan und brüderliches Pflichtgefühl als Gründe für einen freiwilligen Rücktritt aus dem Herrscheramt. Aus Loyalität zu seinem lebenslangen Partner sei Maximian Diocletian gefolgt.57 Jedoch habe sich herausgestellt, dass der Staat gestützt auf ihn Bestand gehabt habe, ohne ihn und jene continua felicitas der letzten zwanzig Jahre allerdings nicht bestehen könne.58 Daher habe Roma selbst ihm befohlen, die Herrschaft wieder aufzunehmen: «Imperasti pridem rogatus a fratre, rursus impera iussus a matre.»59 Der Redner macht anschließend darauf aufmerksam, dass Jupiter Maximian die Herrschaft nicht geliehen habe, sondern sie ihm für immer übergeben habe und folglich nicht zurücknehme (12,6). Daraufhin wird mittels Lichtmetaphorik die Rettung des Staates angekündigt, die Maximians Wiederaufnahme der Herrschaft mit sich bringen werde: «Statim igitur ut praecipitantem [ut] rem publicam refrenasti et gubernacula fluitantia recepisti, omnibus spes salutis inluxit» (12,7). Demzufolge wird hier Maximians pietas gegenüber Diocletian derjenigen erga Iouem untergeordnet, weil in diesem Fall laut der impliziten Aussage des Panegyrikers zwar die pietas gegenüber Jupiter, aber nicht gegenüber Diocletian das Wohlergehen aller garantierte.60 Überdies belegt diese Textstelle Maximians Erwählung durch Jupiter. 53
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Ebd. 2,5: «Qui non plebeio germine sed imperatoria stirpe rem publicam propagatis ut, […], ne mutatoria per nouas familias communis salutis gubernacula traderentur, id ex omnibus duret aetatibus». Wie bereits erwähnt, war Hercules der Schutzgott Maximians. Constantius, der Vater Constantins, wurde von dem Herculius Maximian adoptiert und somit selber zu einem Herculius. Folglich wendete sich der Redner von Panegyricus VII ausschließlich an Mitglieder des Zweiges der Herculier. Pan. Lat. VII 8,2: «Hic est qui […] aequatis uirtutibus comprobauit.» Ebd. VII 1,4: «Quid rebus humanis […] filiam conlocauerit imperator?» Pan. Lat. VII 9,2: «sed consilii olim, […] nouae laudi cederes.» Ebd. 10,1: «ut illa uiginti […] stare non posset.» Ebd. 11,4. Der Redner musste wohl in Kauf nehmen, dass die pietas Maximians seinem ehemaligen Mitregenten gegenüber als hinderlich für das Allgemeinwohl erschien, wenn er nicht wollte, dass die Zuhörerschaft bei Maximians Wiederaufnahme der Herrschaft an eine Usurpation dachte.
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In den Panegyrici Latini VI und V wird in Bezug auf Constantins Machtübernahme ebenfalls von einer göttlichen Wahl gesprochen. So schildert der Redner aus dem Jahre 310 n. Chr. Constantius’ Aufnahme in die Versammlung der Himmlischen, wo Jupiter selbst ihm die Hand gereicht habe und ihn dann sofort nach seiner Meinung gefragt habe, wem er die Herrschaft zuerkenne. Daraufhin habe dieser seinen Sohn Constantin ausgewählt. Dieser Meinung seien alle Götter schon seit langer Zeit gewesen, hätten sie aber erst in voller Versammlung bestätigt.61 Demzufolge wurde Constantin also einstimmig von den Göttern zur Herrschaft auserkoren, allerdings setzten sie die Wahl erst dann fest, als die Versammlung durch den gerade vergöttlichten Constantius vollständig war.62 Jedoch bestand dieser consensus omnium deorum über die Erwählung Constantins ebenso wie der dynastische Aspekt bereits von dessen Geburt an. In Kapitel 2 des Panegyricus VI geht der Redner ausführlich auf Constantins Abstammung ein. So berichtet er zunächst «a primo […] originis tuae numine» (2,1). Die erste Gottheit in Constantins Familie sei der Divus Claudius gewesen, mit welchem eine Verbindung durch Blutsverwandtschaft bestanden habe.63 Nachdem dessen Verdienste für das römische Reich gelobt wurden, wird betont, dass er ein deorum comes sei. Dann fügt der Redner an: «[…], iam tamen ab illo generis auctore in te imperii fortuna descendit» (2,3) Schon von jenem Ahnherrn seines Geschlechtes sei das günstige Los zur Herrschaft auf ihn herabgekommen und nicht erst am offiziellen Herrschaftsantritt, als ihm erstmals die Insignien angelegt worden seien. Als zweite Person in der dynastischen Linie wird Constantins Vater Constantius ins Feld geführt, der ebenfalls vergöttlicht worden war. Demnach war Constantin «post duos familiae tuae principes tertius imperator»64. Und er war nicht nur Nachfolger zweier Kaiser, sondern auch zweier Divi. Daraus schließt der Panegyriker Folgendes: «Inter omnes, inquam, participes maiestatis tuae hoc habes, Constantine, praecipuum, quod imperator es !natus", tantaque est nobilitas originis tuae ut nihil tibi addiderit honoris imperium nec possit Fortuna numini tuo imputare quod tuum est» (2,5). Unter allen Teilhabern an seiner kaiserlichen Würde habe Constantin diesen Vorzug, als Herrscher geboren worden und von so hoher adeliger Herkunft zu sein, dass ihm die Herrschaftsübernahme nichts an Ehre hinzugefügt habe und Fortuna sich seiner göttlichen Schickung gegenüber nicht das als Verdienst anrechnen könne, was sein eigen sei. Hier wird Constantins Vorrangstellung innerhalb der Tetrarchie betont, die er aufgrund seiner kaiserlichen Geburt habe. Schon in Paragraph 1,4 hatte der Redner zwar das tetrarchische Ideal von einer einigen und einander verbundenen maiestas aller Herrscher gewürdigt, aber dennoch angekündigt, sich nur Constantins Hoheit zu widmen.65 Laut Panegy-
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Pan. Lat. VI 7,3–4: «Vere enim profecto […] sit firmata consilio?» Vgl. dazu Müller-Rettig, Der Panegyricus des Jahres 310, 126. Pan. Lat. VI 2,2: «Ab illo enim diuo Claudio manat in te auita cognatio» dies wird auch in V 2,5 bestätigt: «diuum Claudium parentem tuum». Vgl. ebd. VI 2,4. Ebd. 1,4: «cum omnes uos, inuictissimi principes, quorum concors est et socia maiestas, debita ueneratione suspiciam, hunc tamen quantulumcumque tuo modo, Constantine, numini dicabo sermonem.» Siehe auch 8, 2, wo ebenfalls die Einhaltung formaler Aspekte der tetrarchischen Herrschaftsauffassung demonstriert wird, indem Constantin bei den rangälteren Herrschern nach deren Entscheidung hinsichtlich der Leitung des Staates gefragt hatte: «quamquam tu ad […] fieri placeret rettulisses» und 15,4 ff., wo die tetrarchische Nachfolgeregelung Diocletians angepriesen wird.
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riker ist dessen Herkunft so bedeutend, dass die Übernahme der Herrschaft – und damit die offizielle Anerkennung verbunden mit der Verleihung des Caesar- bzw. Augustustitels – keinerlei Steigerung hinsichtlich seiner Ehre erfahren hat. Aufgrund von Constantins kaiserlicher Abstammung ist ihm gegenüber seinen Mitregenten eine erhöhte Position sicher, denn das Recht der Geburt ist dem einer willkürlichen Wahl überlegen, die auf einer fortuita hominum consensio basiert.66 «Quod quidem mihi deorum immortalium munus et primum uidetur et maximum, in lucem statim uenire felicem et ea quae alii uix totius uitae laboribus consequuntur iam domi parta suscipere» (3,2). Die Herrschaft schon in die Wiege gelegt zu bekommen, ohne sich erst ein Leben lang darum bemühen zu müssen, wird als erstes und größtes Geschenk der Götter bezeichnet. An dieser Stelle bescheinigt der Redner Constantin sozusagen von Geburt an felicitas, indem er die Götter für seinen glücklichen Zustand verantwortlich macht und somit beweist, dass sie ihm gewogen sein müssen. Weil die Götter wussten, dass er in der Lage sein würde, den Staat zu heilen67 und für felicitas und salus der Menschen zu sorgen, haben sie ihn zur Herrschaft erwählt und vom Himmel als Imperator auf die Erde gesendet.68 Daher ist die recusatio imperii für Constantin auch keine Möglichkeit. Seine maiestas ist «Iouis sublata nutu», kann also nicht abgelehnt werden. Zudem wurde sie den Schwingen der Göttin Victoria anvertraut, was Constantin Sieghaftigkeit für die Zukunft garantierte.69 Nach den Ereignissen des Jahres 310 n. Chr. konnte Constantin seine Herrschaft nicht mehr von Hercules herleiten, weil er die Verbindung zum Familienzweig der Herculii aufgrund der Auseinandersetzungen mit Maximian auflösen musste.70 Daraufhin wurde im Panegyricus VI von einer Vision Constantins berichtet, die sehr deutlich machte, dass Apollon sein neuer Schutzgott war. Der Redner legte nämlich dar, dass Constantin, um seine Gelübde einzulösen, einen Tempel des Apollon aufgesucht habe. Dort habe er Apollon gesehen, der ihm in Begleitung der Victoria Lorbeerkränze dargereicht habe: «Vidisti enim, credo, Constantine, Apollinem tuum comitante Victoria coronas tibi laureas offerentem» (21,3–4). Constantin sind folglich zwei Götter erschienen, die ihm mittels der Lorbeerkränze Sieghaftigkeit und Erfolg auf Dauer in Aussicht stellten. Die Verwendung des Possessivpronomens «tuus» lässt auf eine besondere Verbindung zwischen Constantin und Apollon schließen und sagt aus, dass Constantin diesen als seinen persönlichen Schutzgott erachtet haben muss. Auf diese besondere Verbindung wird im Anschluss noch genauer eingegangen: uidisti teque in illius specie recognouisti, cui totius mundi regna deberi uatum carmina diuina cecinerunt. Quod ego nunc demum arbitror contigisse, cum tu sis, ut ille, iuuenis et laetus et salutifer et pulcherrimus, imperator. […] Di immortales, quando illum dabitis diem, quo praesentissimus hic deus omni pace composita illos quoque Apollinis lucos et sacras aedes et anhela fontium ora circumeat? […] Miraberis profecto illam quoque numinis tui sedem […].71
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Ebd. 3,1: «Non fortuita hominum […] imperium nascendo meruisti.» Vgl. ebd. V 11,5: «O diuinam, imperator, tuam in sananda ciuitate medicinam!» Ebd. VI 9,5: «Sacratiora sunt profecto […] ubi terra fintur.» Ebd. 8,5: «illa, inquam, illa […] caelo missa perueniunt?» Vgl. Turcan, Images solaires dans le Panégyrique VI, 698. Er spricht von Constantin als dem «vainqueur de la subversion herculienne». Pan. Lat. VI 21,5–22,1.
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Sie bestehe hauptsächlich in einer äußeren Gleichartigkeit, weshalb sich Constantin in dessen Gestalt wiedererkannt habe, denn er sei ebenso wie Apollon ein junger Mann, froh und sehr schön.72 Eine weitere Übereinstimmung zwischen den beiden sei in ihrem Wesen als Heilbringer vorhanden, worauf in der Rede Bezug genommen wird, wenn der Panegyriker seine Erwartungen hinsichtlich der liberalitas und pietas Constantins gegenüber seiner Heimatstadt Augustodunum formuliert (22,3–7). Nach den göttlich inspirierten Gesängen der Dichter zu urteilen, sei Apollon derjenige, dem die Herrschaft über die ganze Welt zustehe. Aufgrund der Ähnlichkeit zwischen Constantin und dem Gott geht der Panegyriker davon aus, dass sich diese Prophezeiung der Weltherrschaft erst jetzt bewahrheitet habe. Mit dem Verweis auf Vergils vierte Ekloge, 73 in der ein junger Apollon angekündigt wird, der als Kosmokrator ein neues Goldenes Zeitalter herbeiführen soll, spielt er auf Constantin an. Demnach ist nicht Augustus, sondern erst Constantin derjenige, der die Erfüllung dieser Weissagung realisierte. Bereits Augustus hatte nämlich Apollon als seinen persönlichen Schutzgott propagiert, der ihm in der Schlacht bei Actium zum Sieg über Antonius verholfen habe und dessen besonderer Fürsorge er sich sicher sein durfte.74 Constantin repräsentierte Apollon, er war sozusagen die Verkörperung dieses Gottes und besaß dessen Wirkungskraft. Diese Vorstellung entsprach der panegyrischen Tradition und lehnte sich an die theokratische Herrschaftsauffassung der Tetrarchie an. So konnte der Redner Constantin auch als «praesentissimus hic deus» bezeichnen, weil das Auditorium unmittelbar die Anwesenheit eines Gottes zu spüren bekam, dadurch, dass Apollons numen in der Person Constantins enthalten war. Man sah den Kaiser als sichtbaren Garanten für das neue aureum saeculum an, was seine bisherigen Wohltaten für den Ort der Rede bewiesen. Selbst in den vier Panegyrici Latini, die nach Constantins Sieg über Maxentius an der Milvischen Brücke im Jahr 312 n. Chr. verfasst wurden, fand noch eine Sakralisierung der Herrscher statt, die sich von der tetrarchischen Tradition herleitete. Panegyricus XII entstand im Jahr 313, also kurz nach diesem bedeutenden Ereignis, das Constantin den Christengott als seinen Helfer anerkennen ließ und somit eine Entwicklung einleitete, welche die römische Staatsreligion allmählich durch das Christentum ersetzte. 75 Allerdings war sich Constantin bewusst, dass er über ein großes heidnisches Reich herrschte und folglich einen Kompromiss finden musste. Das Versprechen der Religionsfreiheit, welches er bei der Konferenz in Mailand gegeben hatte, löste er ein76 und die traditionellen öffentlichen Riten in Rom wurden beibehalten. Erst nach seinem Sieg über Licinius im Jahr 324 sprach Constantin offen über seine Hinwendung zum Christentum.77 72
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Vgl. ebd. 17, 2 f.: Hier kommt das griechische Bildungsideal der Kalokagathie Constantins zur Sprache, wobei er mit Alexander dem Großen und Achilleus verglichen wird. Aus der Vorstellung der körperlichen und geistigen Vollkommenheit resultierte für den Panegyriker, dass sich anhand von Constantins Schönheit auf seinen himmlischen Geist schließen lasse. Verg. Ecl. IV 4 ff. Siehe dazu auch J. Bleicken, Augustus. Eine Biographie, Berlin 19982, 297 f.; Kolb, Herrscherideologie, 64 erwähnt, dass Constantin «mit seinem Selbstverständnis als Epiphanie des jugendlich schönen Apollon auf das Vorbild Augustus’» zurückgriff, «dessen Porträt er in jenen Jahren imitierte.» Siehe dazu J. Straub, Konstantins christliches Sendungsbewusstsein, in: H. Berve (Hrsg.), Das neue Bild der Antike, Bd. II: Rom, Leipzig 1942, 393. Er vertritt die Ansicht, dass «das Christentum nicht nur die endgültige Gleichstellung mit den heidnischen Kulten, sondern die bevorzugte Förderung und damit den Aufstieg zur ausschließlichen Geltung» Constantin zu verdanken habe. Vgl. ders. 390; Maurice, Les discours des Panegyrici Latini, 174. Siehe Kolb, Herrscherideologie, 67.
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Nazarius schrieb seinen Panegyricus IV im Jahr 321 zur Quinquennalienfeier von Constantins Söhnen Crispus und Constantius, die im Jahr 317 zu Caesares ernannt worden waren. Allerdings steht Constantin trotz des Anlasses im Mittelpunkt der Rede, und was die Darstellung seiner Unternehmungen angeht, unterscheidet sich dieser Panegyricus kaum von dem vorangegangenen Panegyricus XII. 78 Die gratiarum actio des Claudius Mamertinus für das Konsulat aus dem Jahr 362 war an den heidnischen Kaiser Julian Apostata gerichtet. Wie der Name schon sagt, zeigte sich dieser im Bezug auf den christlichen Glauben als ein Abtrünniger. Er erließ das Restitutionsedikt, in welchem befohlen wurde, dass man die Tempel wiedereröffnete, den heidnischen Kult wiederbelebte und das seit Constantin eingezogene Tempelgut rückerstattete.79 Der im Jahr 389 von Pacatus anlässlich Theodosius’ Sieg über den Usurpator Maximus im Jahr 388 gehaltene Panegyricus II entstand dagegen in einer Zeit, als der Glaubenszwang Staatsgesetz geworden war. Im Jahr 380 hatte nämlich Theodosius den Katholizismus für alle Untertanen zum obligatorischen Glauben erhoben und diese Vorschrift vom zweiten ökumenischen Konzil 381 in Konstantinopel bestätigen lassen. Damit begann auch die Unterdrückung des Heidentums, die unter anderem beinhaltete, dass die Kulte Roms abgeschafft wurden. 80 Diese Entwicklung führte dazu, dass die in jenen Panegyrici verwendete Terminologie hinsichtlich der religiösen Aspekte eher ungenau und abstrakt war. Die Redner bemühten sich um eine möglichst neutrale religionspolitische Stellungnahme. Zwar wurde der Herrscher noch als diuinus princeps bezeichnet und mit Qualitäten ausgestattet, die mit Attributen wie diuinus oder caelestis geschmückt wurden, jedoch handelte es sich dabei wohl eher um die übliche Redensart, die zu festen Formeln erstarrt in dem traditionellen Sprachgebrauch der epideiktischen Beredsamkeit Fuß gefasst hatte. 81 So fanden beispielsweise Hercules oder Mars meist nur Erwähnung als mythologische Metaphern. 82 Indem sich die Panegyriker zweideutig ausdrückten und nicht auf konkrete religiöse Vorstellungen festlegten, versuchten sie einen möglichst großen Teil des Auditoriums zufriedenzustellen, da auf diese Weise weder heidnische noch christliche Zuhörer in ihrer Einstellung brüskiert wurden. Demzufolge sind die Bezeichnungen für die oberste Gottheit in den Panegyrici Latini XII, IV, III und II mannigfaltig und spiegeln eine gewisse Unsicherheit der Redner wieder. Dies wird in dem Panegyricus aus dem Jahr 313 besonders deutlich: Quamobrem te, summe rerum sator, cuius tot nomina sunt quot gentium linguas esse uoluisti (quem enim te ipse dici uelis, scire non possumus), siue tute quaedam uis mensque diuina es, quae toto infusa mundo omnibus miscearis elementis, et sine ullo extrinsecus accedente uigoris impulsu per te ipse mouearis, siue aliqua supra omne caelum potestas es quae hoc opus tuum ex altiore Naturae arce despicias: […]. 83
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Siehe. Nixon/Saylor Rodgers, In Praise of Later Roman Emperors, 338. Vgl. H. Gutzwiller, Die Neujahrsrede des Konsuls Claudius Mamertinus, 19. Siehe dazu Liebeschuetz, Religion, 398. Vgl. Kolb, Herrscherideologie, 66 und Taeger, Charisma, 654. Siehe Béranger, L’expression de la divinité, 251 und. Pan. Lat. IV 16,6. 36,2 (Hercules) sowie ebd. 7,1. 30,4 (Mars). Pan. Lat XII 26,1.
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Hier stellt der Redner Überlegungen hinsichtlich der Beschaffenheit und Qualitäten des höchsten Schöpfers aller Dinge an, wobei es für ihn zwei Möglichkeiten zu geben scheint. Es könnte sich nämlich entweder um eine gewisse Kraft und göttliche Einsicht handeln, die auf der ganzen Welt verbreitet und mit allen Elementen vereinigt sei und sich ohne jeden Einfluss von außen aus eigenem Antrieb heraus bewege, oder um eine Macht, die über dem ganzen Himmel throne und ihr Werk von oben herab betrachte. Das bedeutet, dass der Panegyriker einerseits eine immanente Göttlichkeit in Betracht zieht, die allen Dingen innewohnt und somit allgegenwärtig ist oder andererseits eine transzendente Gottheit vor Augen hat, die sich außer- und oberhalb der menschlichen Welt befindet und aus dieser übernatürlichen Position die Geschicke auf Erden lenkt.84 Hinsichtlich der Namensgebung dieses summus rerum sator ist die Verlegenheit des Redners am offensichtlichsten. Diese kommt besonders dadurch zum Ausdruck, dass er sagt, nicht wissen zu können, wie Constantin selbst diesen bezeichnet haben wolle. Nachdem er nämlich unter dem Zeichen des Christengottes, dem Christusmonogramm, gesiegt hatte, kurze Zeit vorher jedoch noch Apollon als seinen persönlichen Schutzgott hatte propagieren lassen, war es für die Panegyriker vorerst unmöglich, Constantins religiöse Vorstellungen klar zu erkennen. An anderer Stelle wird gefragt, wer den Kaiser beraten habe, wenn nicht ein diuinum numen.85 Als mögliche Antwort gibt der Panegyriker Folgendes vor: «An illa te ratio ducebat (sua enim cuique prudentia deus est)». Hier wird die göttliche Führung mit der eigenen Einsicht des Kaisers gleichgesetzt und angemerkt, dass die eigene Klugheit eines jeden Menschen die Gottheit sei. Auf ähnliche Art und Weise drückt sich der Redner in Paragraph 4,5 aus: «In tam diuersa causarum ratione diuino consilio, imperator, (hoc est, tuo) […] numerasti.» Das diuinum consilium ist folglich ein Constantin eigener Antrieb, aufgrund dessen er seine Entscheidungen trifft. Diesen Antrieb, der an anderer Stelle auch als diuinus instinctus bezeichnet wird,86 besitzt Constantin wegen seines diuinum numen, also weil er über die göttliche Wirkungskraft verfügt. Hier stellt sich erneut heraus, dass Constantin noch der tetrarchische Tradition der Theokratie verhaftet war. Trotz einiger Ungewissheit werden allerdings auch konkrete Aussagen über die Beziehung jener mens diuina zu Constantin gemacht. So wird davon berichtet, dass sie die Sorge um alle anderen Menschen den niedrigeren Göttern zugeschrieben habe und allein würdig sei, dem Constantin zu erscheinen, mit dem sie irgendein Geheimnis teile.87 Es zeigt sich folglich eine hierarchische Anordnung des Göttlichen. Überdies stellt der Redner des Panegyricus XII den «deus ille mundi creator et dominus» mit einem Blitzbündel dar und vergleicht ihn mit Constantins numen.88 Ferner wird zwar erwähnt, dass Constantin gegen
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Vgl. Kolb, Herrscherideologie, 65 mit Anm. 135. Er äußert, dass an dieser Stelle «die Alternative eines Gottesbildes im neuplatonischen und im eher traditionellen Sinne» geboten werde. Straub, Konstantins christliches Sendungsbewusstsein, 386. Er sagt auch, dass dieser Redner der Neuplatonischen Philosophie sehr nahe gestanden sei, «welche die Existenz der vielen Götter nicht leugnete, sie jedoch in der himmlischen Hierarchie in aufsteigender Reihe auf den obersten Gott hinordnete, der aller Sinnenwelt entrückt der wirkliche Herr des gesamten Universums war.» Pan. Lat. XII 4,1–2: «dic, quaeso, quid in consilio nisi diuinum numen habuisti?» Ebd. 11,4.; IV 17,1. Ebd. XII 2,5: «Habes profecto aliquod […] tibi dignatur ostendere.» Ebd. 13,2.
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die Warnung der Haruspices gehandelt habe (2,4), implizit wird damit aber auch ausgesagt, dass er diese überhaupt konsultierte. Zusammen mit der Tatsache, dass die oberste Gottheit mit einem Attribut Jupiters ausgestattet wurde und neben dieser noch kleinere Gottheiten Erwähnung fanden, zeigt sich, dass im Jahr 313 durchaus noch polytheistische Merkmale im kaiserlichen Zeremoniell vorhanden waren. Da die Redner ihre Werke sicherlich nicht unabhängig vom Kaiserhof formuliert haben werden, lässt sich somit auf Constantins Glauben schließen, der demnach noch nicht monotheistisch gewesen sein kann. 89 Im Panegyricus IV aus dem Jahr 321 dagegen scheint eher eine monotheistische Ansicht vertreten worden zu sein. Hier wird von einem «rerum arbiter deus» gesprochen, einem Gebieter über die Dinge, der aus der Höhe beobachte, dem keine der menschlichen Angelegenheiten entgehe und der niemals aufhöre für die Menschen Sorge zu tragen. 90 Es ist also nur von einem allmächtigen Gott die Rede, der allerdings nicht benannt wurde, so dass für das Auditorium offen blieb, ob es sich um eine heidnische oder christliche Gottheit handelte. Auch Claudius Mamertinus legt sich in seiner Rede nicht auf eine bestimmte Gottheit fest, indem er dieser etwa einen Namen gibt. Jedoch spricht er von dem immortalis deus, den er zum Zeugen anrufe (3,2). Daraus wird zumindest ersichtlich, dass es wiederum nur um eine einzige Gottheit geht. Pacatus schließt sich, was die Bezeichnung der obersten Gottheit betrifft, seinen Vorrednern an. Auch er äußert sich vage und unbestimmt, wenn er diese «supremus ille rerum fabricator» (4,2), jenen höchsten Erzeuger der Dinge, nennt. Ob die Redner nun einen heidnischen oder einen christlichen Gott vor Augen hatten, wird aus keinem der Panegyrici Latini nach 312 ersichtlich. Einigkeit herrscht hinsichtlich der Allmacht dieses höchsten Herrschers über alle Dinge und darüber, dieser Gottheit keinen Namen zu geben sowie sich religionspolitisch neutral zu äußern. In den Reden nach Constantins Hinwendung zum Christentum wurde der Topos der Erwählung durch die Götter zwar nicht so sehr betont, wie in den früheren Panegyrici Latini, dennoch spielten die späteren Verfasser indirekt darauf an. Hinter dem Bericht über die göttliche Hilfe verbirgt sich nämlich die Vorstellung, dass die Götter nur einen Herrscher unterstützten, dessen Machtübernahme sie bereits gefördert hatten, für dessen Herrschaft sie folglich eingetreten waren. Dem Aspekt der auxilia deorum wird demnach in allen vier Panegyrici Beachtung geschenkt, wobei Nazarius ihn besonders hervorhebt. So sagt dieser beispielsweise: «Illa igitur uis, illa maiestas fandi ac nefandi discriminatrix, quae omnia meritorum momenta perpendit librat examinat, illa pietatem tuam texit, illa nefariam illius tyranni fregit amentiam, illa inuictum exercitum tuum […] iuuit» (7,4) Jene Kraft und Hoheit, die zwischen Recht und Unrecht unterscheide, schütze Constantins pietas, zerbreche den frevelhaften Wahnsinn des Tyrannen Maxentius und helfe dem unbesiegbaren Heer Constantins. Indem der Redner als besondere Qualität der obersten Macht hervorhebt, dass diese sozusagen zwischen Gut und Böse abwäge und gerecht beurteile, verdeutlicht er, dass
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Vgl. Kolb, Herrscherideologie, 65. Pan. Lat. IV 7,3: «Spectat enim nos ex alto rerum arbiter deus et, quamuis humanae mentes profundos gerant cogitationum recessus, insinuat tamen sese totam scrutatura diuinitas; nec fieri potest ut, cum spiritum quem ducimus, cum tot commoda quibus alimur diuinum nobis numen impertiat, terrarum se curis abdicauerit, […].»
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Constantin die göttliche Hilfe im Gegensatz zu Maxentius verdient habe. Dies wird auch in Paragraph 15,3 ersichtlich, wo er die diuina ops Constantins uirtutes zuschreibt und erneut in Paragraph 15,7. An dieser Stelle betont Nazarius ausdrücklich, dass Constantin der auxilia deorum würdig sei, was er anschließend noch genauer erklärt: Adesse tibi in omnibus summam illam maiestatem quae te circumplexa tueatur, coniectura mentium tenebamus, etsi nondum ad finem patebat oculorum. Etenim cum mens tua mortali contagione secreta, pura omnis, funditus sincera, ubique se promerendo deo praestet, cum gloria tua humanum modum supergressa sit, quis est omnium quin opitulari tibi deum credat, cum id et uita mereatur et rerum gestarum magnitudo testetur? 91
Da Constantins Charakter von sterblichem Einfluss abgesondert, ganz rein sowie völlig unverdorben sei, und sich überall beweise, und weil sein Ruhm außerdem menschliches Maß überschritten habe, werde ihm von Gott geholfen, was sowohl sein Leben verdiene als auch die Größe seiner Taten bezeuge. Constantin wird also einerseits göttliche Hilfe zuteil, weil er sozusagen übermenschlich ist oder sich zumindest hinsichtlich seines Charakters, seiner Sittlichkeit, seines Ruhmes und seiner Taten von den Menschen abhebt. Andererseits befindet er sich genau dadurch, dass die höchste Gottheit ihm unterstützend zur Seite steht, auf einer höheren Stufe als die normalen Sterblichen. Der Herrscher wird hier als ein Wesen präsentiert, das zwischen den Menschen und Göttern angesiedelt ist. Claudius Mamertinus schildert ebenfalls ein enge Verbindung zwischen dem Herrscher und der Gottheit, wenn er hinsichtlich Julians Entscheidung über die Vergabe des Konsulats sagt: «Quid secutus sit, ipse scit et quaecumque consilia eius gaudet formare diuinitas» (15,2). Nur Julian selbst und die Gottheit, der es beliebe, jeden seiner Pläne hervorzubringen, wüssten, was er verfolge. Infolgedessen wird der Kaiser in seinen Handlungen von der Gottheit beeinflusst, die laut Panegyriker auch für seine außerordentliche felicitas verantwortlich ist. 92 Dass der Herrscher sich der göttlichen Hilfe bewusst war, wird in Paragraph 27,4 ersichtlich. Dort formuliert der Redner nämlich: «Sed imperator, quamquam caelesti ope salutem rei publicae propagatam uideret […].» Er habe gesehen, dass das Wohlergehen des Staates mit himmlischer Hilfe fortgesetzt worden sei. Dabei spielt der Herrscher sozusagen die Rolle des Mittlers. Deshalb wird im Panegyricus XII 3,1 auch geäußert: «cum tua conservatio, salus nostra sit» und in Paragraph 10,2 derselben Rede gesagt, dass die Furcht vor der Gefährdung des Kaisers schwerwiegender sei, als die Freude über einen Sieg von ihm. 93 Der Herrscher bringt Rettung für alle,94 er ist der Garant des aureum saeculum.95 Wenn Pacatus in Panegyricus II 3, 6 von Theodosius’ «forma diuina», dessen göttlicher Gestalt spricht oder ihn sogar als einen deus praesens vorstellt (4,5): «deum dedit Hispania quem uidemus,» dann ist zu bemerken, dass selbst im Jahr 389 n. Chr. noch die tetrarchische Tradition einer Theokratie fortgesetzt wurde.
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Ebd. 16,1–2. Pan. Lat. III 27,1: «Cuius umquam diuinior felicitas fuit?»; siehe auch XII 22,6: «consilium tuum sequitur fortuna.» Hier wird erneut die Sieghaftigkeit des Kaisers in Zusammenhang mit Fortuna gebracht. Ebd. XII 10,2: «sed tuta, grauiorque metus est periculi tui quam laetitia uictoriae.» Vgl. z. B. ebd. II 43,4: «ne oculos istos omnibus salutares homo funebris impiaret». Ebd. III 10,1.
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IV. Betrachtet man die Panegyrici Latini im Rahmen der Herrscherideologie, so ist zunächst festzustellen, welche Aufgaben die Verfasser solcher Reden zu erfüllen hatten. Als Autoren eines Elements der offiziösen Legitimation waren die Panegyriker verpflichtet, sich lobend über die kaiserliche Politik zu äußern. Es gehörte zu ihren Verpflichtungen, den Herrscher so darzustellen, wie er in der Öffentlichkeit gesehen werden wollte. Man kann demnach davon ausgehen, dass ein Panegyricus zumindest vom Kaiser genehmigt worden ist, wenn er diesen nicht sogar selbst in Auftrag gegeben hatte. Folglich konnten sich in diesen Reden keine Äußerungen befinden, die von dem Standpunkt des Herrschers und seiner Regierung abwichen. 96 Allerdings ist im Hinblick auf die Wirkung der Aussagen der Lobredner festzuhalten, dass es sicherlich effizienter war, wenn die Verkündung der Herrscherideologie von einer Person ausging, die zumindest nach außen den Eindruck erweckte, ihre persönlichen Ansichten freiwillig darzulegen, als wenn die Herrschaftsauffassung direkt aus der offiziellen Kanzlei hervorgegangen wäre.97 In rhetorischer Hinsicht war es sozusagen eine Forderung des aptum, der Angemessenheit, dass die formulierten Gedanken zu den Auffassungen und sittlichen Grundsätzen der Menschen passten. 98 In dem speziellen Fall des Panegyricus auf den Kaiser sollte also die Tendenz der Rede mit derjenigen der Herrschaftsauffassung korrespondieren.99 In diesem Sinne übernahmen beispielsweise die Panegyriker unter Diocletian die Ideologie der Tetrarchie, während die Lobredner unter Constantin dessen dynastische Konstruktion rezipierten.100 Indem die Redner das Selbstverständnis und die Weltanschauung des Princeps vertraten, versuchten sie den Zuhörern dessen Regentschaft und Macht zu erklären.101 Überdies erläuterten sie dem lokalen Auditorium die aktuellen Prinzipien der kaiserlichen Politik, verkündeten das Herrschaftsprogramm oder informierten die Zuhörer über geplante Unternehmungen.102 Der Panegyricus konnte außerdem auch ein Mittel sein, dem Kaiser Bitten und Wünsche seiner Untertanen zu vermitteln. Eine weitere mögliche Aufgabe des Redners bestand darin, ein Bild des Herrschers zu entwerfen, das diesen als Vorbild für die Bevölkerung, seine Soldaten oder zukünftige Regenten erscheinen ließ. Dadurch stellte der Panegyriker nicht nur den Menschen ein exemplum vor Augen, sondern forderte auch indirekt den Herrscher auf, diesem gerecht zu werden.103 Die Hauptfunktion der Panegyrici Latini bestand schließlich darin, die Herrschaft des Kaisers ideologisch zu untermauern und zu legitimieren, diesen also als rechtmäßigen Inhaber der Macht darzustellen. Dies geschah, indem man die Herrschaft theokratisch zu begründen suchte. Der Princeps musste folglich eine Position innehaben, die «als gottgewollt, sakral, von weltlichen Gewalten unabhängig»104 galt. Er regierte also durch Gottes 96 97 98 99 100 101
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Vgl. Kolb, Herrscherideologie, 169 f. Siehe Straub, Herrscherideal in der Spätantike, 148. Quint. Inst. VIII 3,43: «sententias vel graves vel aptas opinionibus hominum ac moribus». Vgl. Liebeschuetz, Religion, 389 f. Siehe Portmann, Geschichte in der spätantiken Panegyrik, Basel 1988, 220. Siehe J. M. Schulte, Speculum Regis. Studien zur Fürstenspiegel-Literatur in der griechisch-römischen Antike, Münster 2001, 258. Vgl. MacCormack, Latin Prose Panegyrics, 150. 162. Siehe Mause, Darstellung des Kaisers, 26. 225 f. Kolb, Herrscherideologie, 140.
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Gnaden, war von diesem zur Herrschaft erwählt worden und hatte somit auch seine Berechtigung und Macht von ihm. Folglich war von einer Befähigung des Kaisers zur Herrschaft auszugehen und kein Zweifel an seiner Qualifikation möglich, was die Panegyriker zudem durch ihre Darstellung untermauerten. Dadurch, dass die Herrscher in den Panegyrici Latini so sehr charismatisch überhöht und sakralisiert wurden, konnten sie mit einer religiös gesicherten Loyalität ihrer Untertanen rechnen.105 Die Göttlichkeit oder zumindest die Nähe zum Göttlichen, mit welcher die Principes ausgestattet wurden, «bedeutete zugleich die Transzendierung der Institution des Kaisertums und damit der von ihm repräsentierten res publica Romana in eine sakrale Sphäre, in welcher Gott und das römische Kaisertum die kosmische Ordnung garantierten.»106 Infolgedessen waren die Herrscher also als Garanten der allgemeinen salus zur Herrschaft berechtigt. Dies herauszustellen, kann als Hauptanliegen der Panegyriker bezeichnet werden. Den Panegyrici Latini kamen überdies Funktionen zu, die nicht direkt zu einer Legitimierung, jedoch zu einer Sicherung und Stabilisierung der Herrschaft beitrugen. Indem die Redner die Herrscher sakralisierten und eine numinose Aura um sie herum schufen, machten sie diese zu unnahbaren und unantastbaren, übermenschlichen Wesen. Daraus erwuchs gesteigerter Respekt und wahrscheinlich auch eine gewisse Ehrfurcht vor dem Oberhaupt,107 was wiederum die Person des Kaisers schützen und Usurpationen vorbeugen sollte. Damit wurden jegliche gegen den Kaiser gerichteten Handlungen zu einem Sakrileg. So stellte beispielsweise der Redner im Panegyricus XII Maxentius als illegitimen Sohn Maximians dar,108 weil dieser die Heiligkeit Constantins in Frage gestellt hatte. Auf diese Weise entzog der Panegyriker dem Feind des Kaisers die Herrschaftsberechtigung.109 Damit waren die Panegyrici Latini also ein Medium zur Stärkung und Sicherung der Stellung des Herrschers. Außerdem bestätigten diese Reden innerhalb des Zeremoniells den anwesenden Kaiser in seiner Funktion. Auch die Präsenz des Auditoriums war eine Form der öffentlichen Zustimmung zu dessen Herrschaft.110 Falls die Wirkungsabsicht der Stabilisierung der Herrschaft erreicht wurde und die Untertanen bereit waren, den Kaiser zu verehren, war es unwesentlich, ob diese an eine Göttlichkeit desselben glaubten oder ihn ‹nur› für einen gotterwählten Stellvertreter und Mittler hielten, der in der Lage war, das Imperium Romanum zu retten und zu erhalten.111
V. Zusammenfassend kann hinsichtlich der Darstellung des Verhältnisses von Kaiser und Gott in den Panegyrici Latini folgendes festgehalten werden: In den Lobreden der Ersten Tetrarchie werden die Kaiser als Söhne der Götter Jupiter beziehungsweise Hercules prä105 106 107 108 109
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Vgl. ders., La Tétrarchie. Chronologie und Ideologie der Tetrarchie, AnTard 3, 1995, 28. Ders., Herrscherideologie, 140. Vgl. Mause, Darstellung des Kaisers, 227. Pan. Lat. XII 4,4: «illum, ut falso generi non inuideamus, impietas». Siehe D. Lassandro, Sacratissimus Imperator. L’imagine del princeps nell’ oratoria tardoantica, Bari 2000, 37 f. Siehe MacCormack, Latin Prose Panegyrics, 158 f. Vgl. Enßlin, Gottkaiser und Kaiser von Gottes Gnaden, 49 f.
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sentiert. Als solche tragen sie die sakralen Cognomina Iovius und Herculius und verfügen seit ihrer Geburt über die numina ihrer Götterväter, die sich aber erst zusammen mit ihrem Herrschaftsantritt offenbaren. Da die Herrscher im Besitz der göttlichen Wirkungskräfte sind, können die beiden Götter Jupiter und Hercules durch ihre irdischen Söhne regieren. In deren Taten manifestiert sich das Göttliche. Konsequenterweise sind Iovius und Herculius jederzeit mit Jupiter und Hercules zu vergleichen. Dadurch sind Herrscher und Götter nicht identisch, da die eigentliche Macht immer noch von den Göttern herrührt. Jupiter ist derjenige, der Diocletian die Herrschaft übertragen hat, folglich ist dieser in gewisser Weise von dem Gott abhängig und schuldet ihm pietas. Jupiter hingegen entlohnt diese dadurch, dass er ihn mit felicitas versieht. Daraus resultieren für den Herrscher wiederum Sieghaftigkeit und Erfolg in jeder Beziehung. Somit wird der Kaiser für seine Untertanen zum Garanten des aureum saeculum, warum sie ihn auch als praesens deus wahrnehmen. Er ist nämlich einerseits anwesend und sichtbar und andererseits aufgrund seiner väterlichen Wirkungskräfte bereit, seine Göttlichkeit unter Beweis zu stellen. Die Verfasser der Panegyrici Latini VII, VI und V sakralisieren die Herrscher auf eine ähnliche Art und Weise, indem sie sich derselben Topoi bedienen, diese jedoch aufgrund des veränderten historischen Kontextes anders präsentieren. So weisen sie ausdrücklich darauf hin, dass Constantin von den Göttern zur Herrschaft erwählt wurde, wobei sie als zusätzlichen Stabilisierungsfaktor sowohl seiner Stellung als auch des Imperium Romanum Constantins dynastische Linie aufzeigen. Während Constantin in Panegyricus VII noch zu der Familie der Herculii gezählt wird und somit offensichtlich mit dem numen von Hercules ausgestattet ist, vertreten die beiden späteren Redner die Ansicht, dass Constantin eine Inkarnation Apollons sei. Im Unterschied zu den Panegyrici der Ersten Tetrarchie lassen sich Herrscher und Gott hier auch äußerlich vergleichen. Constantin ist also im Besitz der Wirkungskräfte Apollons, woraus sich ebenfalls ableiten lässt, dass er Dank dieses Vermögens für Wohlergehen und Heil sorgt. Er wird nicht nur als praesens deus, sondern sogar als praesentissimus hic deus bezeichnet. Auch in den Panegyrici Latini, die nach Constantins Hinwendung zum Christentum entstanden sind, wird stets die besondere Beziehung des Kaisers zur Gottheit erwähnt, die sich hauptsächlich durch die göttliche Hilfe offenbarte. Aus dieser Unterstützung lässt sich schließen, dass die Götter die Herrschaft gutgeheißen haben müssen, was einen Hinweis auf die göttliche Erwählung des Kaisers liefert. Daraus resultiert auch hier eine kaiserliche Garantie für das aureum saeculum. Das wird ebenfalls von Pacatus verdeutlicht, wenn dieser Theodosius als deus praesens darstellt. Überdies setzte der Panegyriker des Jahres 313 n. Chr. Constantin beziehungsweise sein numen mit dem deus ille mundi creator et domnius gleich und bescheinigte dem Herrscher einen diuinus instinctus, den er seiner göttlichen Wirkungskraft zu verdanken habe. Am Ende dieser Ausführungen ist folglich festzustellen, dass tatsächlich in allen spätantiken Panegyrici Latini die Kaiser als von den Göttern zur Herrschaft bestimmt, dargestellt wurden; dass sie außerdem stets mit bestimmten Göttern verglichen oder sogar gleichgesetzt wurden, wie zum Beispiel Diocletian mit Jupiter, Constantin mit Hercules sowie wenig später mit Apollon oder, nach 312 n. Chr., mit einer, neutral formuliert, obersten Gottheit und zuletzt, dass die Panegyriker den Herrschern in sämtlichen Reden göttliche Wirkungskräfte zusprachen. Demzufolge haben alle Verfasser – hinsichtlich der Beziehung zwischen Kaiser und Gott – ihre Panegyrici in Anlehnung an Diokletians Konzeption eines theokratischen Herrschaftssystems verfasst.
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Eckard Lefèvre
Eckard Lefèvre
Daniel Heinsius über seine Liebesdichtung 0 (Eleg. Juv. 1, 5)* Ernesto Schmidt septuagenario collegae docto optimo amico carminum amatoriorum sive antiquorum sive recentiorum peritissimo
In der von den Neulateinern gepflegten Liebesdichtung nehmen die Niederländer eine besondere Stellung ein. Ein hervorragendes Dreigestirn sind Johannes Secundus (1511–1536), Janus Dousa (1545–1604) und Daniel Heinsius (1580–1655). Den ersten, der, «obwohl jung verstorben, unter den lateinisch schreibenden Dichtern der Neuzeit früh zum Klassiker geworden» ist,1 haben die beiden letzten nicht mehr erlebt. Sie haben ihn und auch einander hoch geschätzt. Seine Dichtungsposition bestimmt Heinsius in der Elegie 1, 5 der Elegiae Juveniles, in der er auf Secundus und Dousa als die neueren Vorbilder ebenso Bezug nimmt wie auf die alten griechischen und lateinischen Liebesdichter. Sie ist bereits in der ersten Ausgabe der Elegien von 1603 enthalten, als Einleitungsgedicht zum dritten Buch mit ‹programmatischem Charakter›. 2 Ab der vierten Auflage von 1613 wird sie mit vielen anderen den Elegiae Juveniles zugewiesen, weil sich Heinsius’ Geschmack inzwischen gewandelt hat. In der Vorrede an den Amicus Lector sagt er, er habe die frühen Gedichte teilweise der Zensur unterzogen und dabei einige verworfen, andere, die ihm nicht gänzlich mißfielen oder, die Wahrheit zu gestehen, anderen in Anbetracht seiner Jugend, wie es scheine, gefallen könnten, getrennt an das Ende gestellt.3 Sicher spielt Heinsius’ künstlerisches Urteil eine Rolle. Der Hauptgrund scheint jedoch ein anderer zu sein, wenn er einräumt, er habe ‹gespielt›, aber auf anständige und züchtige Weise, wie sie durch alle Zeiten autorisiert und beispielhaft vorgegeben sei.4 Es ist die lockere und unbekümmerte Art, die nicht mehr unbedingt der sich wandelnden Auffassung von Wesen und Aufgabe der Dichtung entspricht; «he did not want to disassociate himself altogether from the concept of poetic art as a means towards moral edification, a concept which had become very powerful again through the Reformation and Counter-Reformation.»5 So ist es zu erklären, daß sich unter den Elegiae Juveniles Gedichte finden, die zu den besten des Autors gehören. Es sind eher taktische Gründe, die 0
* Jürgen Blänsdorf und Eckart Schäfer werden wertvolle Ratschläge verdankt. Schäfer 2004, 9. 2 Ellinger 1933, 173. 3 Quæ ætate prima dederamus, partim ad censuram reuocauimus; quædam, penitus eiecimus, nonnulla, si quæ non omnino displicebant, aut, ut verum dicam, pro ætatis ratione alijs placere posse videbantur, seorsim exhibuimus in fine (1613, xx III). 4 Lusimus porro; cæterum ingenue ac pudice, omnium ætatum vel auctoritate vel exemplo (ebendort). 5 Meter 1984, 36. 1
Daniel Heinsius über seine Liebesdichtung (Eleg. Juv. 1, 5)
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ihn von ‹Jugendelegien› sprechen lassen, denn seit 1603, dem Entstehungsjahr von De Musis suis, ist er immerhin Professor für Poesie an der renommierten Universität Leiden. 6 In der achten und letzten Auflage der Poemata von 1649 figuriert die Programmelegie als Eleg. Juv. 1, 5:7
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De Musis suis. Regia, quam cernis nullo se tollere cultu, Inscriptam Musis qua patet ipsa, mea est. Ambitio tristis fastusque hinc exulat omnis, Curaque in hac partem non habet ulla suam. Heinsius hic habitat. jocus hunc hilaresque lepores, Et posita parvus cuspide cingit Amor. Totaque Musarum domus est. hac lætus in aula Innocuos ducit, nec sine laude, dies. Vanaque despecti contemnit præmia vulgi, Et dubios casus, & grave mortis onus. Imperii Rex ille sui est, doctisque libellis Imperat & chartis, nec minus ipse sibi: Et quoties blandos circumspicit ordine cives, Gaudet, & à populo nil timet ille suo. Perlegit hic docti genium lususque Catulli, Perlegit hic numeros, culte Tibulle, tuos. Battiadenque suum, patriis qui ludit in Umbris, Quique suis Grajis cognitus ante fuit. Hic levibus curis par ludit Teïus: illic Simichides Siculas carmine mulcet oves: Hic lepidos Moschus calamis invitat Amores; In choreas parvos dum docet ire Deos. Scilicet hos cives habet Heinsius: Heinsius illic Cum Phœbo & Musis regna beata tenet. Nec cuiquam debere potest, nec supplicat ulli, Nec trepidat duras judicis ante fores. Et regni sibi causa sui est, nil credulus ulli, Et tantum menti deditus ipse suæ. Gaudentem doctæ circumstant undique Musæ, Hinc mihi spes omnis, hinc mihi fama venit. Hæc domus, hæc res tota mea est. plorate tyranni, Invideasque opibus, regia turba, meis. Si mihi non ficti circundant atria vultus, Gensque terit nostras ambitiosa fores: Sed secura quies pascit noctesque beatæ, Semotum à populo, grataque vita sibi. Sunt & opes opibus placide caruisse: nec ullum Pauperies Musis addita crimen habet. Iupiter angustas penetravit Baucidis ædes
Becker-Cantarino 1978, 9; Meter 1984, 24; Van Dam 2005, 622. Text nach Heinsius 1649, 439–440. In der Übersetzung wird die Interpunktion des Originals teilweise modernem Gebrauch angepaßt.
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Exiguo fultas stipite: Dousa meas. Ille sub hoc tantum submittit culmine civem, Et Musas audit, vel canit ipse, meas. Iupiter ille mihi est, nec enim pia sacra domumque, Aut tenues Heinsi præterit ille lares. Vulgus abi sterilesque animæ. mihi sacra quotannis Solvere sic genio, maxime Dousa, tuo, Tum quoque, quod nolim, si te vis invida fati Surripiat nobis, munera grata feram. Instituam festos, tumuli certamina, ludos, Et similis nobis cura Secundus erit. Illius ad tumulum pariter, vir magne, tuumque Iunget amatori pulchra puella latus. Hic qui purpureis melius premet ora labellis, Pluraque figet ovans basia, victor erit. Scilicet hos novit mea quondam Græcia ludos, Et sua defunctis basia munus erant. sic juvenum pulchræ cinxere Dioclea turmæ, Qui docuit pueros basia prima suos. Interea, mea gens, lepidi salvete libelli, Tuque domus, Musis regia facta meis. Heinsius hic nullum defendit mœnibus hostem, Nec sibi consortem nec gemit esse parem, Divitiasque suas tacitus miratur amatque, Et loquitur populo, vel sine voce, suo.
Über seine Musen. Die Königsburg, die du ohne Prunk sich erheben siehst, ist den Musen geweiht und, soweit sie sich erstreckt, die meine. Finsterer Ehrgeiz und Hochmut sind ganz von hier verbannt, und keine Sorge hat darin ihren Teil. 5 Heinsius wohnt hier. Scherz und heitere Anmut und der kleine Amor ohne seine Pfeilspitze umgeben ihn. Das ganze Haus gehört den Musen. In diesem Hof lebt er heiter unschuldige Tage, nicht ohne Ruhm, dahin. Die leeren Belohnungen des verachteten Volks gelten ihm nichts, 10 auch nicht unsichere Zufälle und die schwere Last des Tods. Er ist der König seines Reichs und Herrscher über seine gelehrten Bücher und Papiere, nicht weniger über sich: Sooft er die schmeichelnden Bürger der Reihe nach anschaut, freut er sich und fürchtet nichts von seinem Volk. 15 Er studiert hier den Geist und das Spiel des gelehrten Catull, er studiert hier deinen Versbau, gebildeter Tibull, und seinen Kallimachos, der im heimatlichen Umbrien tändelt und der vorher seinen Griechen bekannt war. Hier scherzt überlegen mit leichten Sorgen Anakreon: dort 20 bezaubert die sizilischen Schafe mit dem Lied Theokrit. Hier lädt die lieblichen Eroten mit der Flöte Moschos ein, indem er die kleinen Götter im Chorreigen zu gehen lehrt. Das sind die Bürger, die Heinsius hat: Heinsius besitzt dort mit Phoebus und den Musen ein glückliches Reich.
Daniel Heinsius über seine Liebesdichtung (Eleg. Juv. 1, 5)
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25 Er kann in niemandes Schuld stehen, keinen bittet er um etwas, noch zittert er vor der harten Tür eines Richters. Er ist die Ursache seines Reichs, er baut auf niemanden, er ist nur dem eigenen Denken verpflichtet. Er freut sich, daß ihn überall die gelehrten Musen umgeben, 30 von ihnen kommt mir alle Hoffnung, von ihnen mir Ruhm. Dieses Haus, dieser Besitz gehört mir ganz. Jammert, Tyrannen, und, königliche Schar, neide meine Schätze! Wenn meine Halle nicht verstellte Mienen umgeben und ehrgeizige Menschen nicht meine Tür abnutzen, 35 nähren mich doch sichere Ruhe und glückliche Nächte, der ich dem Volk fern bin, und ein Leben in Zufriedenheit. Es gleicht Schätzen, Schätze ruhig zu entbehren: keinen Makel hat die Verbindung von bescheidener Lebensweise und Kunst. Iupiter kam in Baucis’ enges Haus, das von einem 40 kleinen Pfahl getragen wurde: Dousa in meines. Er legt unter diesem Dach den so angesehenen Bürger ab und hört meine Dichtung an oder trägt sie selbst vor. Er ist für mich Iupiter, denn nicht geht er an der frommen Stätte und dem Haus oder dem dürftigen Herd vorüber. 45 Volk und stumpfe Gemüter, verschwindet. Mir sei vergönnt, jährlich deinem Genius so zu opfern, größter Dousa. Auch dann, wenn, was ich nicht wünsche, dich uns das neidische Geschick entreißt, werde ich dir willkommene Gaben bringen. Ich werde Festspiele, Wettkämpfe an deinem Grab, veranstalten 50 und werde in gleicher Weise für Secundus sorgen. An seinem und deinem Grab zugleich, großer Mann, wird sich ein schönes Mädchen an den Liebhaber schmiegen. Wer hier den Mund besser auf purpurne Lippen drücken und mehr Küsse frohlockend anbringen wird, wird Sieger sein. 55 Dieses sind die Spiele, die mein Griechenland einst kannte, und seine Küsse waren die Gabe für die Toten. So umringten schöne Jünglingsscharen Diokles, der seine Knaben die ersten Küsse lehrte. Indessen, mein Volk, ihr anmutigen Bücher, seid gegrüßt 60 und du, Haus, durch meine Musen zur Königsburg gemacht. Heinsius hält von diesen Mauern keinen Feind fern und klagt nicht, daß er einen Mitherrscher oder Konkurrenten hat. Er bewundert und liebt schweigend seinen Reichtum und spricht auch ohne Stimme zu seinem Volk.
Heinsius charakterisiert seine Dichtung mit dem Adjektiv lepidus. Moschos’ Liebesgedichte (amores) sind lepidi (21) ebenso wie Heinsius’ eigene Bücher (lepidi libelli, 59). Das ist ein stilkritischer Terminus, 8 wie er programmatisch in Catull 1, 1 cui dono novom lepidum libellum begegnet. lepidi libelli stehen in der Tradition des kallimacheischen Stilideals der M , der ‹feinen› Muse. 9 Catull spricht an anderer Stelle von sei-
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Syndikus 1984, 73–74; Schmidt 1985, 128–130; Lefèvre 1999, 227. Aitia-Prolog, Fr. 1, 24 Pf.
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nem lepidus versus; 10 Gedichte, wie er sie mache, sollten lepos haben.11 So ist es konsequent, daß hilares lepores in Heinsius’ Haus wohnen (5). In diesem Sinn wird von Catull und Heinsius das Deminutivum libellus / libelli gebraucht (11, 59), das auf Kallimachos’ Devise
12 verweist.13 In De Musis suis spricht Heinsius nicht davon, daß seine Dichtung lusus sei, aber in der programmatischen Einleitungselegie der ersten Sammlung von 1603 empfiehlt er Scaliger seine innocui lusus Musarum,14 und im Vorwort zu der Edition der Poemata von 1613 sagt er: En tibi denuo, Amice Lector, lusus nostros, sed cum cura emendatos neque parum auctos.15 Es hat also Gewicht, daß er unter den Vorbildern die lusus Catulli nennt (15). Heinsius will wohl andeuten, daß seine (Liebes-)Dichtung ‹Spiel› sei. ludere = ‹dichten› ist antik. Catull gebraucht den Terminus 50, 2 und 5.16 Was die Alten betrifft, ist es die alexandrinische und in ihrer Nachfolge die neoterische und augusteische ‹kleine› Dichtung Roms, deren Stil sich Heinsius zum Vorbild nimmt. Dementsprechend will er ein Poeta doctus sein, der unter dem Schutz der doctae Musae steht (29). Er studiert den Genius und die spielerischen Gedichte des doctus Catullus (15) und ist, wie es heißt, Herr über docti libelli und chartae (11–12). Damit dürften sowohl die Bücher der alten Autoren als auch die eigenen gemeint sein. In Heinsius’ Haus wohnen nicht nur Apollo und die Musen, sondern auch der parvus Amor. Dieser verzichtet aber auf einen Schuß mit seinem Pfeil (posita cuspide, 6).17 Wie sich am Ende zeigt, hat der Dichter keinen Anlaß, über einen Mitherrscher oder Konkurrenten zu seufzen (62). Er ist autark und glücklich. Trotzdem verschreibt er sich der Liebesdichtung. Aber von einer Geliebten ist nicht die Rede. Auch in der ersten Elegie der Sammlung von 160318 wird Rossa nicht erwähnt. Sie ist als Person kaum zu fassen, sie ist weitgehend «a projection of the poet’s amorous feelings, a personification of love and poetry».19 In dieser Elegie wird das ganz deutlich. Man denkt an Ovids erste Elegie der Amores, in der er sich als Liebesdichter präsentiert, der ohne Geliebte ist. Wie Naso20 kann auch Heinsius spielen: Beiden erscheint Amor, der für die Liebesdichtung steht, aber sie haben keine Geliebte. Bei ihnen geht nicht der Weg von der Liebe zur Liebesdichtung, sondern umgekehrt von der Liebesdichtung zur (Darstellung der) Liebe. Ähnlich wie Properz in 2, 34, 85–94 oder Ovid in Tristia 4, 10, 51–54 nennt Heinsius seine Vorbilder. culte Tibulle (16) ist ein Zitat aus Ovids Amores 1, 15, 28. Besonders liebevoll wird Properz umschrieben. Heinsius sagt, daß Kallimachos, der Battiade (Battos’ Nachkomme), seine spielerische Dichtung in Umbrien verfertige (17). Damit ist der aus
10 11 12 13 14 15 16
17
18 19 20
Cat. 6, 17. Cat. 16, 7. Fr. 465 Pf. Syndikus 1978, 73; Schmidt 1985, 73; Lefèvre 1999, 226. = Eleg. Juv. 2, 1, 23 (1649, 463). 1613, xx III. ludere hat mehrere Nuancen: Catull ‹spielt› anders als Ovid. Heinsius steht eher dem lusor amorum Ovid nahe (Trist. 4, 10, 1). Die Junktur ist antik, z. B. Ov. Fast. 6, 655 (sic posita Tritonia cuspide); Stat. Theb. 7, 10 (atque ibi seu posita respirat cuspide Mavors): Die Krieger ruhen vom Kampf. = Eleg. Juv. 2, 1 (1649, 463–464). Becker-Cantarino 1978, 70. Lefèvre 1987, 129–134.
Daniel Heinsius über seine Liebesdichtung (Eleg. Juv. 1, 5)
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Assisi stammende Properz gemeint, der sich als Callimachus Romanus in 4, 1, 64 bezeichnet (Umbria Romani patria Callimachi ).21 So pointiert die Formulierung ist: Ironie ist von ihr fernzuhalten. Kallimachos (18), Anakreon aus Teos in Kleinasien (19), Theokrit und Moschos aus Syrakus in Sizilien (20–21) werden zu Recht genannt. Heinsius hat eine glänzende Kenntnis der griechischen Literatur, wie es für die Humanisten nicht durchaus üblich ist. Er dichtet sowohl spielerisch wie Kallimachos und Anakreon als auch bukolisch wie Theokrit (Simichidas ist dessen Spiegelbild in dem siebten Eidyllion) und erotisch wie Moschos (5E« «). Von Theokrit übersetzt er die Eidyllia 7 (Thalysia), 8 (Boukoliastai ), 13 (Hylas) und 23 (Erastes) in das Lateinische. 22 Andererseits dichtet Heinsius in altgriechischer Sprache. Er wird zwei Sammlungen hinterlassen: Peplus Graecorum Epigrammatum; 23 Graeca Reliqua, et quae e Graecis sunt conversa.24 Mit Recht kann er von ‹seinem› Griechenland (mea Graecia) sprechen (55). Es ist erstaunlich, wie genau schon der junge Heinsius sein Schaffensgebiet bestimmt. Die Elegie lebt von dem Paradoxon, daß der Dichter sein bescheidenes Haus als regia (programmatisch das erste Wort) bezeichnet, weil es den Musen geweiht ist. Dementsprechend ist er Rex imperii sui, aber er befiehlt (imperat) nur seinen Büchern und Schriften (11–12). Mit Apollo und den Musen hat er regna beata (24). Am Ende wird das Bild wieder aufgenommen: Durch die Musen ist das Haus zur regia geworden (60). Seine Bürger (cives, 13) bzw. sein Volk (populus, 64) sind die Bücher. Ihnen befiehlt er (imperat, 12), zu ihnen spricht er – auch ohne Stimme (vel sine voce, 64): Er steht mit ihnen in einem inneren Dialog. Daß der Weise der wahre König sei («, rex), ist altes stoisches Denken. Heinsius kann mit dem Chor in Senecas Thyestes sagen, König sei der, der keine Furcht und keine Übel eines schrecklichen Herzens kenne, den nicht übermäßiger Ehrgeiz und die stets schwankende Gunst des wankelmütigen Volks rühre – dieses Reich könne sich jeder selbst geben (348–352, 390): rex est qui posuit metus et diri mala pectoris; 350 quem non ambitio impotens et numquam stabilis favor vulgi praecipitis movet 390 hoc regnum sibi quisque dat.
In diesem Sinn liegen Heinsius ambitio (3, 34), cura (4), praemia vulgi (9) und Furcht (nil timet, 14) fern, vor allem ‹gibt er sich selbst dieses Königreich› (regni sibi causa sui est, 27). Daß er sich selbst befiehlt (imperat […] ipse sibi, 12), beschreibt stoisches Denken geradezu musterhaft. Auch die paradoxe Formulierung, es sei Reichtum, des Reichtums zu entbehren (37), entspricht den beliebten Paradoxa Stoicorum.25
21
22 23 24 25
Der niederländische Dichter und Philologe Janus Broukhusius (1649–1707) bemerkt zu Romani Callimachi: «hoc est Propertii, eum apud Romanos numerum obtinens, quem Callimachus apud Graecos. id nunc etiam pueri sciunt: nec tamen semper sciverunt viri» (1727, 381). 1649, 598–610. 1649, 508–538. 1649, 539–629. Seneca sagt, es sei (inneres) Glück, (äußeren) Glücks nicht zu bedürfen, non egere felicitate felicitas […] est (De prov. 6, 5).
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Aber natürlich ist Heinsius kein stoischer Weiser. Er benutzt nur die popularphilosophischen Maximen. Sein Denken beherrschen in ganz unstoischer Weise Venus und Amor – und die Musen. Das ist die Welt der hellenistischen Dichter, der römischen Neoteriker und Elegiker. Auch die horazische pauperies26 klingt an (38). Unter Heinsius’ Freunden wird Janus Dousa (1545–1604), der erste Kurator der 1575 eröffneten Leidener Universität, herausgestellt (maxime Dousa, 46), der es nicht verschmähe, das bescheidene Haus des Jüngeren zu betreten (wie einst Iupiter Baucis’ Hütte), wo sie sich gegenseitig ihre Gedichte vortragen27 – wie es einst die Neoteriker taten. Es ist ein elitärer Zirkel. Heinsius ruft das Verdikt aus: vulgus abi sterilesque animae (45), so wie einst Horaz ebenfalls in künstlerischem Sinn ausrief: odi profanum vulgus et arceo. 28 Später bekennt sich Heinsius auch in seiner niederländischen Dichtung zu dieser Devise, wenn er das gemeene volck ablehnt.29 Dousas «begeistertes Lob gilt der Poesie einer Reihe von Dichterfreunden; es steigert sich am höchsten Daniel Heinsius gegenüber.»30 Umgekehrt preist dieser den anerkannten Älteren in mehreren Gedichten, so in Eleg. Juv. 2, 5 Ad Ianum Dousam, 31 die mit dem Bekenntnis schließt: ingenium sequimur, maxime Dousa, tuum (56). Damit ist dessen Vorbildhaftigkeit betont. Nur zu bald stirbt Dousa, und Heinsius widmet dem Toten den Zyklus Manes Dousici, 32 den er später dem zweiten Buch der Elegiae Juveniles zuweist.33 Mit Secundus (50) ist Johannes Secundus gemeint (1511–1536), «l’icône poétique du cercle savant de Leyde», dem Heinsius in seinen frühen Elegien «en imitation ouverte» folgt34 und für den schon Dousa eine ‹unbedingte Verehrung› erkennen läßt: mihi Secundus unus instar omnium est.35 Heinsius betrachtet beide als seine neueren Vorbilder und huldigt ihnen mit dem folgenden Kuß-Motiv, war doch Secundus der Poet der berühmten Basia36 und dichtete auch Dousa eine Sammlung dieses Namens. 37 Die Elegie wird in die Zeit kurz vor dem Tod des offenbar kränkelnden Dousa gehören, da sie von den ‹Spielen› spricht, die Heinsius zu Ehren des Toten veranstalten will (47–58). An Secundus’ und seinem Grab werde er nach dem Vorbild des Gedenkens an den Heros Diokles aus Megara Wettkämpfe durchführen. Die Nachricht über diesen eigentümlichen Agon kann Heinsius Theokrits 12. Eidyllion Aites entnehmen, das an einen Jungen gerichtet ist. An dessen Ende wird darauf angespielt, daß Diokles, der in einer Schlacht einen geliebten « mit seinem Schild gedeckt haben und selbst gefallen sein soll, nach dem Tod auf anspielungsreiche Weise geehrt wurde (27–34):
26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37
Lefèvre 1993, 206. Über Dousas Liebesdichtung Ellinger 1933, 116–119. Carm. 3, 1, 1. Vgl. Lefèvre 1993, 155. Becker-Cantarino 1978, 32. Ellinger 1933, 128. 1649, 472–474. Ellinger 1933, 193–194. 1649, 485–502. Van Dam 2005, 628. Ellinger 1933, 126–127. Schmidt 1995, 70. Ellinger 1933, 118–119; Schmidt 1995, 70.
Daniel Heinsius über seine Liebesdichtung (Eleg. Juv. 1, 5)
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N M «, $ « «, , μ #A μ « !, " μ %. 30 ¹ λ $ « ' ( 9 ) % « Ν % !α Ρ« -9 )( . ., ! « %- /κ « # $!. « Ρ « λ % 9 ». Megarer von Nisaia, die ihr euch durch die Ruder auszeichnet, mögt ihr glücklich leben, weil ihr den Fremden aus Attika vor anderen geehrt habt, Diokles, der Knaben liebte. 30 Immer wetteifern im ersten Frühling, an dessen Grab versammelt, die Jünglinge, um den Preis im Küssen davonzutragen. Wer die süßesten Lippen auf Lippen drückt, kehrt, mit Kränzen beschwert, zur Mutter zurück. Glücklich, wer bei jenem Küssen der Jungen Schiedsrichter ist.
Heinsius legt damit ein Bekenntnis ab, daß er weiterhin in Secundus’ und Dousas Art dichten wolle. Er überträgt den Agon aus der Sphäre der Knabenliebe in die Welt von Mädchen und Jünglingen. Das entspricht dem Inhalt seiner Liebesdichtung. Der Bezug auf Theokrit ist für Heinsius ebenso bezeichnend wie dessen Umdeutung. Die griechische Dichtung ist ihm durchweg präsent (Anakreon, Moschos, Theokrit). Ihre Motive verwendet er, wie es die römischen Vorgänger taten. Überdies folgt er ihnen darin nach, daß er sie pointiert umwertet und in neue Zusammenhänge stellt. An Catulls Carmen 51, das das von Sappho an ein Mädchen ihres Kreises gerichtete Lied auf ein Eifersuchtsverhältnis zwischen Mann und Frau überträgt, braucht nur erinnert zu werden. Eine enge Parallele bietet Vergil, der in der zweiten Ekloge das Vorbild, Theokrits Kyklops, aus dem Bereich der Liebe zwischen Mann und Frau in den zwischen Mann und Knaben hinüberspielt – also umgekehrt vorgeht als Heinsius. In einem weiteren Punkt nimmt sich der junge Niederländer die antiken Meister zum Vorbild. So wie er in seine Elegie einen Passus aus Theokrit einschmilzt, gruppiert Catull die bekannte Klageelegie an Allius (Carm. 68) offenbar um eine (verlorene) griechische Elegie über das betrübliche Schicksal von Protesilaos und Laodameia. 38 Die gebildeten Rezipienten verstehen jeweils den souveränen Umgang mit berühmten Vorbildern, die sich die gelehrten Dichter unterwerfen. Hier wie dort können die Poetae docti mit Auditores bzw. Lectores docti rechnen. Es geht ja in ihren Gedichten nicht nur um die auffälligen Anspielungen auf frühere Autoren, sondern auch, wie die in Rede stehende Heinsius-Elegie zeigt, um eine glückliche Formulierung von E. A. Schmidt zu gebrauchen, deren ‹unauffällige Präsenz›. 39 Dousa stirbt 1604. Eleg. Juv. 2, 9 ist In obitum Iani Dousæ überschrieben. Es schließen sich die Manes Dousici an, ein Zyklus von zunächst neun Gedichten,40 denen noch einmal 12 Gedichte auf Dousa folgen. 41 Das siebte des zweiten Teils trägt die Überschrift Iano Dousæ, 38 39 40 41
Lefèvre 1991, 314–319. 1995, 45. 1649, 485–492. 1649, 492–502.
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Venerum & Cupidinum sacerdoti. 42 Es preist den Liebesdichter Dousa. Aus dem Anfang geht hervor, daß er nicht plötzlich starb, sondern dahinsiechte (1–5):
5
Cum Dousa victus ægro Languesceret dolore, Et membra jam supremo Sopore concidissent, Perfusa […].
5
Als Dousa, besiegt von den Schmerzen der Krankheit, dahinsiechte und seine Glieder zusammenbrachen, schon vom letzten Schlaf übergossen […].
Treffend will also Heinsius nach Dousas Tod des Venerum & Cupidinum sacerdos43 gedenken. Die certamina, die dann ausgetragen werden sollen (Eleg. Juv. 1, 5, 49), könnten bedeuten, daß auch andere Freunde Dousas sich dieses Themas ‹um die Wette› annehmen – so wie es bald darauf nach Justus Lipsius’ Tod 1606 geschehen wird. 44 Die gegenseitige Verbundenheit der beiden Autoren gerade durch die Poesie kommt in dem letzten Gedicht des ersten Teils der Manes Dousici zum Ausdruck, das den für die Würdigung eines anderen paradoxen Titel Ad Musas s u a s trägt:45 Ad Musas suas. Heinsi deliciæ decusque, Musæ, Quas plus Dousa suis amabat olim, Non illis oculis, profana Parca Quos jam condidit abstulitque nobis, 5 Sed Musis propriis, suis Camœnis, Camœnis tenerisque lacteisque, Plenis nectare Cyprio favisque Et superstitibus suo poëtæ, Quas primis satur ebriusque flammis 10 Idæ dulcibus hausit è labellis; Vobis inferiasque lacrymasque Solvit Heinsius, Heinsius superstes Et Dousæ simul, & suis Camœnis. Actum est ilicet: ilicet valete. 15 Quis vos jam colet expetetque Musæ? Quis vos postmodo deperibit unquam, Heinsi deliciæ decusque Musæ? An seine (eigenen) Musen. Heinsius’ Entzücken und Zierde, ihr Musen, die Dousa einst mehr als die eigenen liebte, nicht nur mit jenen Augen, die die ruchlose Parze schon schloß und uns fortnahm, 42 43 44 45
1649, 496–499. Horaz bezeichnet sich als Musarum sacerdos (Carm. 3, 1, 3). Vgl. Lefèvre 1993, 155. Lefèvre 2007, 203–205. 1649, 491–492.
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sondern mit seinen eigenen Musen, seinen Kamönen, seinen zarten und reinen Kamönen, die voll von kyprischem Nektar und Honig sind und ihren Dichter überleben, die er von seinen ersten Flammen erfüllt und trunken 10 von den süßen Lippen der Göttin vom Ida saugte; euch bringt das Totenopfer und Tränen Heinsius, Heinsius, der Dousa und zugleich seine eigenen Kamönen überlebt. Es ist aus: Es ist aus, lebt wohl! 15 Wer wird euch pflegen und auf euch warten, ihr Musen? Wer wird künftig noch in euch sterblich verliebt sein, Heinsius’ Entzücken und Zierde, ihr Musen?
Die Hendekasyllaben in Catulls Art und Geist klagen um die nun beendete Gemeinschaft der beiden Dichter im Blick auf ihre Werke. Dousa habe Heinsius’ Kunst so geschätzt, daß er sie mit seiner Kunst aufnahm – ganz in der Weise der römischen Neoteriker. Umgekehrt heißt es, daß der Überlebende – des Freunds oder besser: der Kunst des Freunds, die ihn anregte, beraubt – selbst nicht mehr dichten könne. Es sei ein Geben und Nehmen gewesen. Daß Dousa tatsächlich von Heinsius’ jugendlicher Liebesdichtung beeindruckt war, geht aus zwei Elegien hervor, die er dem 25 Jahre Jüngeren widmete: In Poëmata Dan. Heinsii, Iani Dousæ Elegia und Idem de iisdem.46 Die zweite, kürzere der beiden möge das belegen:47 Idem de iisdem. Ganda, inter Flandras quondam pulcherrima Nymphas, At nunc hosti etiam vel miseranda suo, Cæsareis quanvis cunis se vendidit, Heinsî Ingenio majus nil tulit illa sui. 5 At grave quid, Batavis exsul si degat in oris? Plus patriam domina non amat ille sua. An patria est, ubi cuique bene est? laus debita Rossæ hæc, Heinsiadi patrios quæ facit una Lares. Immo urbs Heinsiacos quæcunque tenebit amores, 10 Hæc domus, hæc vati Ganda futura meo. Janus Dousa über Daniel Heinsius’ Gedichte Die Stadt Gent, einst unter Flanderns Nymphen die schönste, doch jetzt sogar ihrem Feind bemitleidenswert, obwohl sie sich dem kaiserlichen Heer verkauft hat, brachte nichts Größeres als ihres Heinsius’ Ingenium hervor. 5 Aber was ist es schlimm, wenn er als Flüchtling in Batavien lebt? Nicht liebt er die Heimat mehr als seine Herrin. Ist nicht dort für jeden die Heimat, wo es ihm gut geht? Das Lob gebührt Rossa, daß sie allein für Heinsius einen heimatlichen Herd bedeutet. In welcher Stadt auch immer Heinsius’ Geliebte sein wird, 10 sie ist gewiß das Haus, sie das künftige Gent meinem Dichter.
46 47
Abgedruckt bei Heinsius 1649, 634–638. Zitiert nach Heinsius 1649, 637–638.
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Heinsius ist 1580 in Gent, auf dessen mythologischen Ursprung angespielt wird, geboren. Da er protestantisch ist, kann er nicht in der Heimatstadt leben, die sich 1584 den katholischen Spaniern unter dem Feldherrn Alessandro Farnese ergeben hat. Seine Familie flieht bereits 1583. Nach dem alten Sprichwort ubi bene ibi patria48 ist, sagt Dousa, für Heinsius dort die Heimat, wo seine Geliebte Rossa (mit ihm) wohnt. Das ist in den protestantischen Niederlanden (Batavien) der Fall, also in Leiden, wo er seit 1598 mit einer Unterbrechung wohnt. 49 Dousa ruft keinen wohlfeilen rhetorischen Trost Heinsius zu. «Any bitterness […] over this fate gave way to gratefulness for his new homeland in the North».50 Worauf es in dem hier verfolgten Zusammenhang ankommt, ist das Lob, das der angesehene Dousa dem aufstrebenden Heinsius spendet (ingenium), und zwar als Liebesdichter (domina, Rossa, amores). Der junge Heinsius erweist sich mit der Elegie De Musis suis bereits als gekonnter Vertreter der neulateinischen Lyrik. Es geht, wie G. Manuwald über Johannes Secundus grundsätzlich gesagt hat, nicht darum, «eine klar definierte antike Vorlage zu imitieren und anspruchsvoll zu variieren, sondern daß aus verschiedenen Quellen genommene Elemente so in einen neuen Kontext gebracht werden, daß das Auffinden und Wiedererkennen für den humanistischen Leser einen Teil des Lesevergnügens ausmacht. Der neue Kontext steht unter der Idee, daß antike Liebesdichtung von solcher Qualität ist, daß sie durch Rezeption immerwährend weitere Dichtung hervorbringen kann; damit wird das Motiv der von antiken Dichtern geäußerten Hoffnung auf ewige Dauer ihrer Werke umgewandelt in das eines literarischen Prozesses.» 51 In diesem Prozeß stehen Secundus, Dousa und Heinsius an bedeutender Stelle.
Literaturverzeichnis Ausgaben und Kommentare sind durch ein Sternchen (*) bezeichnet. Becker- Cantarino, B., Daniel Heinsius, Twayne’s World Authors Series 477, Boston 1978. *Broukhusius, J., Sex. Aurelii Propertii Elegiarum libri quatuor, Ad fidem veterum membranarum, curis secundis Jani Broukhusii, sedulo castigati, Amstelaedami 1727. Ellinger, G., Geschichte der neulateinischen Lyrik in den Niederlanden vom Ausgang des fünfzehnten bis zum Beginn des siebzehnten Jahrhunderts (= Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im sechzehnten Jahrhundert, III, 1), Berlin 1933. *Danielis Heinsii Poemata emendata […] et aucta. Editio quarta, Lugduni Batavorum 1613. *Danielis Heinsii Poemata Latina Et Græca; Editio post plurimas postrema, longe auctior [8. Auflage], Amstelodami 1649. Lefèvre, E., Ovidius: Alter ab illis. Die literaturgeschichtliche Bedeutung von Am. 1, 1, in: De Virgile à Jacob Balde. Hommage à Mme Thill, Bull. de la Fac. de Lettres de Mulhouse 15, Univ. de Haute Alsace, Mulhouse 1987, 129–134. Lefèvre, E., Was hatte Catull in der Kapsel, die er von Rom nach Verona mitnahm? Zu Aufbau und Aussage der Allius-Elegie, RhM 134, 1991, 311–326. Lefèvre, E., Horaz. Dichter im augusteischen Rom, München 1993. 48 49 50 51
Otto 1890, 268. Becker-Cantarino 1978, 9. Becker-Cantarino 1978, 14. 2004, 174 (zu Eleg. 3, 3).
Daniel Heinsius über seine Liebesdichtung (Eleg. Juv. 1, 5)
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Lefèvre, E., Catulls alexandrinisches Programm (C. 1, 3), in: G. Vogt-Spira / B. Rommel (Hrsg.), Rezeption und Identität. Die kulturelle Auseinandersetzung Roms mit Griechenland als europäisches Paradigma, Stuttgart 1999, 225–239. Lefèvre, E., Daniel Heinsius, Manes Lipsiani (Sylvae 3) nebst einer Betrachtung von Joseph Scaligers Epicedium auf Lipsius, in: E. Lefèvre / E. Schäfer (Hrsg.), Daniel Heinsius, Klassischer Philologe und Poet, Neo Latina, Tübingen 2007, 203-248. Manuwald, G., Die lebendigen Bücher antiker Dichter. Zur Kunstauffassung in Secundus’ Elegie 3, 3, in: Schäfer 2004, 157–175. Meter, J. H., The literary theories of Daniel Heinsius. A study of the development and background of his views on literary theory and criticism during the period from 1602 to 1612 (Respublica literaria neerlandica 6), Assen 1984. Otto, A., Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer, Leipzig 1890. S chäfer, E. (Hrsg.), Johannes Secundus und die römische Liebeslyrik, NeoLatina 5, Tübingen 2004. S chmidt, E. A., Catull, Heidelberg 1985. S chmidt, E. A., Stationen der Wirkungsgeschichte Catulls in deutscher Perspektive, Gymnasium 102, 1995, 44–78. *Syndikus , H. P., Catull. Eine Interpretation. I: Die kleinen Gedichte (1–60), Darmstadt 1984. Van Dam, H.-J., Daniel Heinsius, poète-philologue, in: La philologie humaniste et ses représentations dans la théorie et dans la fiction, sous la direction de P. Galand-Hallyn / F. Hallyn / G. Tournoy, II, Genève 2005, 621–635.
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Florian Schaffenrath
Florian Schaffenrath
Ein angekündigtes Columbus-Epos im Xaverius viator Niccolò Giannettasios Verweise auf frühere und kommende Werke
Einleitung Einem der fruchtbarsten neulateinischen Dichter im Italien des 17. Jahrhunderts, Niccolò Parthenio Giannettasio (1648–1715), ist in letzter Zeit wieder vermehrte Aufmerksamkeit von Seiten der Forschung geschenkt worden.1 Den Kern des poetischen Schaffens des Jesuiten stellt didaktische Poesie über Schifffahrt, Kriegstechnik und Fischfang dar. Der Grund dafür, warum dieser interessante und gewitzte Dichter bis vor kurzem nicht behandelt wurde, liegt einerseits in der lange betriebenen Vernachlässigung neulateinischer Texte; andererseits ist uns Heutigen das Verständnis für lateinische Lehrdichtung und ihren Sitz im Leben völlig abhanden gekommen. In einem Aufsatz über Fracastoros medizinisches Lehrgedicht Syphilis drückt Yasmin Haskell diesen Umstand pointierter aus: «Fiction is sexy, didactic poetry not so sexy»2.
Der Xaverius viator Giannettasios früheste Dichtung war jedoch kein Lehrgedicht, sondern ein Epos über die Missionsreisen des Heiligen Franz Xaver: Xaverius viator seu Saberis. Dieses Jugendwerk3 wurde zu Giannettasios Lebzeiten nicht veröffentlicht und erschien erst sechs Jahre nach seinem Tod im Druck als dritter Band der Antonio Rambaldo gewidmeten Gesamtausgabe der lateinischen Dichtungen in Neapel.4 Das Epos besteht aus 7675 Hexametern, aufgeteilt auf zehn Bücher, wobei das zehnte Buch schon nach 21 Versen abbricht und das Werk somit unvollendet lässt. Nicht das ganze Leben des Hl. Franz Xaver wird dargestellt, sondern nur die Zeit von seiner Einschiffung nach Indien 1541 bis kurz vor seiner Landung auf Japan 1549. Die für den Jesuitenorden so wesentliche Zeit vor 1541, in der Franz Xaver der Gruppe um Ignatius von Loyola angehörte und an der Gründung des Ordens wesentlich beteiligt war, wurde möglicherweise deshalb nicht behandelt, weil diese Geschehnisse bereits in lateinischen Epen festgehalten worden waren.5 In für das Epos typischen histori1 2 3
4 5
Hofmann 1993, S chindler 2001, Klecker 2002. Haskell 1999, 77. Die Biographien sind nicht sehr detailliert in der Einordnung der Werke in bestimmte Lebensphasen (vgl. Tarzia 2000). Der Xaverius wird immerhin als «fruit de la jeunesse de l’auteur» ( Michaud XVI 404) bezeichnet und fällt somit in die Zeit des unsteten Umherwanderns, wie es für junge Jesuiten üblich ist. Nicolai Parthenii Giannettasii SJ Xaverius viator seu saberidos carmen posthumum, Neapel 1721. Die berühmtesten Ignatius-Epen sind die Ignatias des Antonio Figueira Durao (Lissabon 1632) und die Ignatias des Laurent le Brun (Paris 1661). Zu Figueira vgl. Klecker 2003, zu le Brun vgl. Gärtner 2004.
Ein angekündigtes Columbus-Epos im Xaverius viator
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schen Rückblenden und Ausblicken kommt jedoch auch Ignatius im Xaverius viator eine wichtige Rolle zu. Im ersten Buch wird zunächst die Geschichte Indiens aufgerollt, seine historische Bedeutung und die ersten Kontakte mit dem Christentum, v. a. durch den Hl. Thomas. Bevor der Held des Epos noch erscheint, lernt der Leser dessen Gegenspieler Pluto, den Höllenfürsten, kennen. Bereits hier zeigt sich, wie sehr sich Giannettasio als imitator der vergilischen Aeneis sieht, denn auch dort gehört die erste größere Szene nach dem Proömium Iuno, die sich über die Erfolge der trojanischen Flotte ärgert und Aeolus auf ihre Seite zieht. Im Xaverius freut sich Pluto, dass es ihm in der Zeit nach dem Wirken des Hl. Thomas in Indien gelungen ist, das Land wieder für sich zu gewinnen. Eine Prophezeiung hat ihm jedoch angekündigt, dass ein Jesuit dereinst Indien für das Christentum zurückgewinnen wird. Wiederum mit augenfälligen Parallelen zu Vergil erregt er (nach einer beherzten Rede vor seinen Unterweltsdämonen) einen Seesturm gegen die inzwischen aus Lissabon ausgelaufene Flotte, die Franz Xaver nach Indien bringen soll. Mitten im schlimmsten Toben des Sturmes meditiert Franz Xaver – wohl eine Anspielung auf Jesus, der während eines Seesturmes an Bord des bedrohten Schiffes schläft (Mt 8,23–27) – und kann dann die Winde besänftigen, indem er das Kreuz vor sich hält. Am Anfang des zweiten Buches landet die Flotte an der Küste Afrikas, um notwendige Reparaturen durchzuführen und um sich von den Strapazen des Sturmes zu erholen. Während einer Meditation wird Franz Xaver in den Himmel entrückt, von wo aus er die ganze Erde überblicken kann, bis er die Besinnung verliert.6 Nachdem die Fahrt wieder aufgenommen wurde, macht sich nach der Überquerung des Äquators eine verheerende Windstille breit, die den Ausbruch von Seuchen an Bord begünstigt. Mit größter Hingabe kümmert sich Franz Xaver um die Kranken. Als die Fahrt endlich weitergeht, werfen sich den Schiffen bald gewaltige Untiere entgegen, zuletzt sogar ein riesiger Wal, den Franz Xaver jedoch mit göttlicher Hilfe vertreiben kann. Im dritten Buch landet die Flotte auf der Insel Madagaskar, die von König Tamarus regiert wird. Dort werden die Ankömmlinge vom portugiesischen Statthalter Martinus empfangen. Franz Xaver verbringt die Nacht in der Kirche, wo er sich in frommer Kasteiung geißelt. Am Morgen nähert sich ihm ein Engel, der ihm von seinen künftigen Erfolgen in Indien kündet. Das Volk strömt zum Gottesdienst zusammen; während Franz Xaver die Messe liest, erstrahlt sein Haupt und Himmelschöre ertönen. Einige Zeit später nimmt die Flotte ihre Reise wieder auf. Am Beginn des vierten Buches prophezeit Franz Xaver die Ankunft in Goa für den nächsten Tag und behält Recht. Ein Zwischenproömium (3,121–147) zeigt, dass hier der erste Teil des Epos, der die Reise nach Indien beinhaltet, abgeschlossen ist. Franz Xaver gelangt nach Milispara zum Grab des Heiligen Thomas, wo er vom regierenden Fürsten Apheldes willkommen geheißen wird. Nach einem Gottesdienst besucht Franz Xaver den örtlichen Bischof Albucherius, der ihn und die Jesuiten in ihrer Missionsabsicht unterstützen will. Franz Xaver beginnt sein Werk und kann die ersten Heiden taufen. Das fünfte Buch beginnt mit der Gründung eines Jesuitenkollegs in Goa. Als im Frühling das Meer wieder schiffbar wird, setzt Franz Xaver seine Reise fort. Er landet in Colchinum, 6
Dieses Motiv ist wohl ursprünglich von Ciceros Somnium Scipionis inspiriert. Im neulateinischen Epos spielte es zunächst in Petrarcas Africa (v. a. im ersten und zweiten Buch) eine wichtige Rolle, vgl. Visser 2005, 16–145.
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wo es ihm gelingt, viele Menschen zum Christentum zu bekehren. Auf der Weiterreise gelangt die Flotte durch Gottes Hilfe sicher durch einen Seesturm; am Strand ereignet sich um Franz Xavers Haupt ein Flammenprodigium. In Tucurinum hilft er einer Frau, die in den Wehen liegt. Ihre Niederkunft geht gut vonstatten, nachdem sie sich taufen ließ. Einen kürzlich Verstorbenen kann er wieder zum Leben erwecken. Der Ruf von Franz Xavers Heiligkeit verbreitet sich in vielen Ländern. Das sechste Buch zeigt, dass man sich auch in Europa von Franz Xavers großen Taten erzählt. Ignatius von Loyola schickt weitere Jesuiten nach Indien. In der Hölle ist Pluto entsetzt über die Erfolge der Jesuiten und beruft ein Höllenkonzil ein. Dort beauftragt er die Furie Allecto, sich in Lycas zu verwandeln, den Vater des Lytrisar, König der Badager, um ihn zum Krieg gegen Franz Xaver anzustacheln. Allecto führt ihren Auftrag aus und stachelt zudem die anderen Eumeniden zum Kampf gegen die Jesuiten auf. Noch in der Nacht stellt Lytrisar seine Armee auf und marschiert gegen die Stadt Travancoris, wo sich Franz Xaver gerade aufhalten soll. Dort bereitet König Acas alles zur Verteidigung der Stadt vor; aufgrund eines Traumes von Königin Phylias wagt er jedoch keinen Ausfall gegen die Badager. In der ersten Schlachtphase ist das Glück auf der Seite Lytrisars, doch ein gewaltiger Wolkenbruch zwingt ihn, sich in sein Lager zurückzuziehen. Am nächsten Morgen greift Franz Xaver, den ein Engel dazu aufgefordert hat, in die Schlacht ein. Er zieht vor die Stadt auf einen nahen Hügel, wo er sich plötzlich in eine riesige Gestalt verwandelt, um die herum es blitzt und donnert. Die Badager fliehen. Wiederum mit einem Zwischenproömium (7,1–19) beginnt das siebte Buch, in dem ebenfalls von Kämpfen die Rede ist. Seit dem Wirken des Hl. Thomas hängt die perlenreiche Insel Manaria dem christlichen Glauben an. König Lysarus eroberte die Insel und zwang die Einwohner, zum Islam überzutreten. Nur Oaxes weigerte sich und flüchtete in die Wildnis, wo ihm in einem Traum ein Gigant erschien, der einst die Rückkehr des christlichen Gottes einleiten sollte. Zudem erscheint ihm der Hl. Thomas, der ihm seinen Traum deutet. Am Strand sieht Oaxes dann als erster die nahende Flotte der Jesuiten. In der Hauptstadt gelingt es Oaxes und den Missionaren, die Bevölkerung zum Sturz der Götzenaltäre zu überreden. Der grausame König Orabis aber rüstet gegen den Eindringling zum Kampf und belagert die Hauptstadt Manarias. Die Mauern fallen bald nach intensivem Bombardement, Orabis’ Truppen dringen in die Stadt ein und richten ein Blutbad an. Viele Bewohner der Hauptstadt sterben den Märtyrertod. In der Zwischenzeit tobt ein Seesturm um die Flotte, die die von Ignatius jüngst entsandten Jesuiten nach Indien bringen soll. Gott schickt den Erzengel Michael, um den Sturm zu besänftigen. Im achten Buch erreicht Franz Xaver die Stadt des Hl. Thomas. Während einer Meditation in der Kirche wird Franz Xaver in himmlische Regionen entrückt und erblickt dort das Himmlische Jerusalem, dessen Beschreibung weiten Raum einnimmt. Der Hl. Thomas erscheint und führt Franz Xaver im Himmel herum. In einer Heldenschau treten zunächst die bereits verstorbenen Vorkämpfer des Christentums auf. Der sehr früh verstorbene Diego Hoces, ein Priester aus Malaga, nähert sich Franz Xaver und kündet ihm in einem langen Katalog die Reihe der künftigen Jesuiten, als deren letzter der Japanmissionar Marcellus Franciscus Mastrillus erscheint, wie ja auch Marcellus den Endpunkt der vergilischen Heldenschau im sechsten Buch der Aeneis markiert. Dann führt der Hl. Thomas Franz Xaver auf die Erde zurück. Zu Beginn des neunten Buches liest Franz Xaver eine Messe und treibt Dämonen aus Besessenen aus. In der Hölle beschließt Pluto, nun selbst ins Geschehen einzugreifen und
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macht sich auf den Weg zu Franz Xaver, der gerade in der Kirche meditiert. Dämonen erfüllen das Gotteshaus, Pluto nimmt wie Proteus verschiedene furchterregende Gestalten an, doch Franz Xaver bleibt unbeeindruckt. Als er die Jungfrau Maria zu Hilfe ruft, müssen sich die Dämonen zurückziehen. Er lässt die Flotte für die Weiterreise nach Japan bereit machen. Um die lange Fahrt etwas erträglicher zu machen, zeigt Olletes eine von ihm verfertigte Weltkarte und beschreibt die einzelnen dargestellten Länder. Endlich landet die Flotte auf Taprobane. Das zehnte Buch bricht nach einem Zwischenproömium ab, in dem der Dichter die Muse um Unterstützung für die letzte Anstrengung (ultimus … labor 10,19) bittet.
Ankündigungen Während Elisabeth Klecker 2001 bereits auf den kreativen Umgang Giannettasios mit seinem Vorbild Vergil im Bereich der Dido-Rezeption eingegangen ist, sei im Folgenden auf ein anderes Phänomen der Vergilnachfolge hingewiesen, nämlich die Vergil nachahmende Verknüpfung der Werke untereinander.7 Giannettasio ist ein «ankündigungsfreudiger» Dichter; er liebt es, in seinen Werken einerseits auf seine früheren Werke hinzuweisen, andererseits künftige geplante Werke anzukündigen.8 Diese Tendenz ist bereits in seinen ersten veröffentlichten Gedichten – der Xaverius blieb ja lange Zeit unveröffentlicht – zu beobachten: 1685 gibt er in Neapel seine Eklogen und sein Lehrgedicht Nautica heraus, von diesen Gedichten folgen weitere teils stark erweiterte Auflagen. Mit seinen 14 Fischereklogen tritt Giannettasio thematisch in die Fußstapfen seines Landsmannes Sannazaro, der seinerseits wieder in Vergil-Nachfolge fünf Fischereklogen geschrieben hat. 9 Giannettasio verdoppelt die Zahl der Eklogen des Sannazaro nicht nur, wie er die vier Bücher der Georgica durch acht Bücher Nautica verdoppelt hat, sondern er schreibt bedeutend mehr Eklogen. Allein in diesen 14 Gedichten finden sich zwei Ankündigungen von größeren Epen: Der Tityrus der ersten Ekloge, der allegorisch für Giannettasio selbst steht,10 preist Kaiser Leopold I. für seinen Sieg über die Türken und verspricht ihm, wenn er ihn nur persönlich sehen könnte, seinen Namen und seine Taten Moeonio … cantu (ecl. 1,96), also in einem epischen Gedicht zu feiern. Am Ende der 14. Ekloge verspricht Giannettasio seinem Mäzen und Förderer, dem Grafen Carolo Cardenio,11 ein panegyrisches Epos (ecl. 14,95–105):
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Korenjak hat vor kurzem aufgezeigt, dass Vergil der erste war, der nicht nur Einzelwerke geschreiben hat, sondern seine Werke dem Konzept eines Gesamtwerkes untergeordnet hat, vgl. Korenjak 2005, 219. Das aus der Antike übernommene Motiv der Werkankündigung, v. a. von geplanten panegyrischen Epen für amtierende Herrscher, wurde in der neulateinischen Literatur intensiv rezipiert. Einer der bedeutendsten Epiker des 15. Jahrhunderts, Tito Strozzi, kündigt in seinem Epyllion Lucilla (Verse 17–24) etwa ein panegyrisches Epos auf das Haus d’Este und auf Markgraf Leonello im Besonderen an. Strozzi folgt hier seinerseits wieder Giovanni Marrasio, der in einer Elegie ein Este-Epos ankündigte (vgl. Ludwig 1977, 17 f.). Grundlegend zu Sannazaros Fischereklogen mit weiterführender Literatur Kidwell 1993, 130–138. In der Auflösung der allegorischen Bedeutung der Figuren, die dem Gedicht vorausgeht, heißt es «per Tityrum poetam». Über ihn vgl. S chindler 2001, 147, Anm. 5.
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Tunc genus antiquum regali e sanguine regum cantabo, stirpisque tuae primordia dicam, magnanimos addam heroas regesque superbos, quos Tagus auriferis regnantes vidit arenis et quos dives Iber niveaque incinctus oliva Baetis et umbrosa coluit cervice Pyrene, quos et Parthenope titulis maioribus auxit. Noster et in viridi miratus saepe recessu Pausilypus fovitque suas Euplaea per undas. Non taceam tua facta, mihi si pulcher Apollo et digna Actiades concedant carmina Musae. («Dann werde ich das alte Königsgeschlecht aus königlichem Blut besingen, werde von den Ursprüngen deiner Familie berichten und die großherzigen Helden und stolzen Könige anführen, die der Tagus an seinem goldführendem Strand, der reiche Ebro und der von hellen Oliven gesäumte Baetis herrschen sahen, die das Pyrene-Gebirge mit seinem schattigen Haupt verehrte und die Neapel mit noch bedeutenderen Titeln erhöhte. Auch unser Pausilyp bewunderte dieses Geschlecht oft in seiner grünen Abgeschiedenheit, Euplaea war ihm in ihren Wellen gewogen. So will ich deine Taten nicht verschweigen, wenn mir nur der schöne Apollon und die heimischen Musen würdige Gesänge zugestehen.»)
Beide hier angekündigten Epen, das für Kaiser Leopold I. sowie das für Graf Cardenio, wurden nie geschrieben. Etwas anders verhält es sich mit der Ankündigung eines ColumbusEpos, das zwar auch nie geschrieben, jedoch in anderer Form in Angriff genommen wurde:
Kontext Im neunten Buch des Xaverius viator ist Franz Xaver nach unzähligen Abenteuern in Indien wieder in See gestochen und will nach Chrysaea (wohl Japan) segeln, um auch dort den christlichen Glauben zu verbreiten. Während die einzelnen Stationen dieser Seereise nur kurz angedeutet werden, verwendet Giannettasio viel Mühe auf die Beschreibung des Kompasses12 einerseits und einer Weltkarte andererseits13. Erzähltechnisch nicht ungeschickt lässt Giannettasio Olletes, den Zeichner bzw. Verfasser dieser Weltkarte, auftreten und sein Werk in einer sehr langen Partie (vv. 9,355–745) beschreiben. Er beginnt mit Erdregionen, die entlegener sind, um im letzten Teil auf Europa einzugehen. Hier wiederum steht Italien am Schluss, und innerhalb der Beschreibung Italiens Giannettasios Heimat Neapel.
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Auch in seinem später entstandenen Lehrgedicht «Nauticorum libri VIII» findet sich eine sehr detaillierte Beschreibung des Kompasses (Naut. 4,60–93). In seiner Prosaeinleitung zu den Nautica hebt Giannettasio hervor, wie sehr sich die moderne Schifffahrt vor der antiken auszeichnet. Neben verbesserten mathematischen Kenntnissen sind es gerade die hier genannten Hilfsmittel, Kompass und Karten, die diesen Fortschritt gebracht haben («Haec vero tempestate ope pyxidis mapparumque Geographicarum, necnon et summa mathematicae disciplinae peritia, id praestitum est, ut non per Mediterraneum modo, sed longe lateque per Oceanum tutissima ac brevissima sit nobis navigatio» Giannettasio, Opera omnia poetica, Neapel 1715, 46).
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Interpretation Am Beginn der Beschreibung entlegenerer Erdteile steht Amerika (vv. 9,358–403), das sich im Gegensatz zu den alten Erdteilen Asien, Europa und Afrika auf der linken Seite der Karte befindet und «Neue Welt» genannt wird (9,358–361): Cernite, qui dextra pictus protenditur orbis terra vetus, Libyam Europenque Asiamque figurat, qui vero ad laevas spectat, novus ille vocatur orbis («Schaut euch die alte Welt an, die sich auf der rechten Seite abgebildet findet, Libyen, Europa und Asien. Was aber hier links liegt, das wird Neue Welt genannt.»)
Lange Zeit war dieser Erdteil nicht bekannt, da er durch große Ozeane (den Atlantik im Osten und den Pazifik im Westen) nicht zugänglich war. Dabei ist er sehr groß und erstreckt sich sowohl auf der Nord- als auch auf der Südhalbkugel. Als erstem ist es Christoph Columbus, einem Ligurer und der Zierde seines Geschlechtes, gelungen, die Welt der Antipoden zu betreten und sich so großen Ruhm zu erwerben (9,365–368). Amerigo Vespucci hingegen hat als erster die Städte und Völker Amerikas erforscht und wurde so zum Namensvetter des neuen Kontinents (9,369–372): Sed melius Tusca veniens Americus ab ora circuit et mores populorum vidit et urbes. Illius hinc nostri Ammeriam de nomine dicunt facti haud immemores («Dann aber kam Americus aus der Toskana, reiste herum und lernte die Sitten und Städte dieser Völker kennen. Wir heutigen erinnern uns genau an diese Taten und benennen den Erdteil nach ihm Ammeria.»)
Die Formulierung et mores populorum vidit et urbes (v. 370) ist eine wörtliche Übersetzung aus dem Proömium der Odyssee, in dem es von Odysseus heißt 2 $ Ν λ (Od. 1,3). Wenn in dieser Passage der Unterschied und die unterschiedliche Bedeutung von Columbus und Vespucci herausgearbeitet werden soll und wenn bei Vespucci deutlich auf Homers Odyssee Bezug genommen wird, drängt sich die Frage auf, ob man in der Darstellung des Columbus Verweise auf das andere homerische Epos, die Ilias, finden kann. Wenn auch nicht so deutlich wie das wörtliche Zitat, so kann man den Hinweis auf den Ruhm, den sich Columbus durch seine Taten erworben hat, mit einem der wichtigsten Motive der Ilias, den $ , in Verbindung bringen. Später wird noch zu zeigen sein (s. u.), dass Giannettasio für sein Werk ein vergilisches Konzept hat. Wie die Aeneis eine Synthese aus Ilias und Odyssee darstellt, hat Giannettasio hier erkannt, dass der Columbus- bzw. Entdeckerstoff eine ähnliche Synthese zulässt und somit für sein Werkkonzept fruchtbar gemacht werden kann. In der unterschiedlichen Bewertung von Columbus und Vespucci gibt Giannettasio ersterem den Vorzug. Er greift dabei das Motiv des ersten, der einen Weg beschreitet, auf und wertet Vespucci als reinen Nachfolger ab. Das Motiv des primus ist in der Columbus-Epik sehr beliebt, sodass noch einer der letzten Autoren, die sich des Themas in einem lateinischen Epos annehmen, Ubertino Carrara SJ, sich im Proömium seines Columbus (Rom
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1715) rühmt, ein Meer zu besegeln, auf dem ihm noch keiner vorangesegelt ist (obwohl es vor ihm schon einige Columbus-Epen gab).14 Olletes ruft nun aus, dass es sich Columbus in der Tat verdient hätte, von einem lateinischen Dichter besungen und so verstirnt worden zu sein. Er beschreibt sich selbst als Dichter, dessen Werke einige Bedeutung haben, und kündigt an, gleich nach seiner Rückkehr in seine Heimatstadt Neapel einen Tempel zu errichten, um (den Dichtergott) Apollon darin zu feiern und ihm als Priester zu dienen, eine poetische Chiffre für ein Epos über Columbus (9,377–385): Hunc merito Typhim superis adscribere signis debuerant Latii divino carmine vates. Hunc ego (si quod habent decus et mea carmina possunt; quippe nec ignoro Pymplaeas scandere rupes currentem et docto distinguere gnomone Phoebum) cum primum incolumis Campanas labar in oras atque iterum reducem excipiet me patria Syren pertaesum pelagi, celebrabo et culmina Pindi, Phoebe, colam et novus ingrediar tua templa sacerdos. («Diesen zweiten Typhis hätten die lateinischen Dichter mit vollem Recht in einem göttlichen Gedicht unter die Sterne versetzen müssen. Wenn meine Gedichte schön sind und etwas vermögen – denn ich vermag die pympläischen Felsen zu erklimmen und mit gelehrtem Zeiger auf den eilenden Phoebus zu zeigen – will ich diesen, sobald ich unbeschadet nach Kampanien zurückgekehrt bin und mich meine Heimat Neapel sicher vom Meer zurückgekehrt aufgenommen hat, feiern, ich will die Gipfel des Pindus feiern, oh Phoebus, und als neuer Priester deinen Tempel betreten!»)
Dass Giannettasio mit den Aussagen des Olletes hier auf sein eigenes künftiges Schaffen anspielt, macht die Angabe der Heimat deutlich: Wie Olletes ist auch Giannettasio ein Kind Kampaniens und Neapels. Die seltene Formulierung patria Siren für Neapel wiederholt Giannettasio wörtlich in der Sphragis seine Nautica (patria Siren 8,1168) zur Angabe seiner eigenen Heimat. Wie Olletes gerade fern seiner Heimat ist, so schreibt auch Giannettasio den Xaverius in einer Zeit, da er sich nicht in Neapel, sondern zu Studien in Süditalien aufhält.15 Dieser Aufenthalt des Dichters in Süditalien spiegelt sich auch in der Figur des Aegon der 11. Fischerekloge, unter der man sich Giannettasio vorstellen soll.16 Über diesen Aegon heißt es dann in einer Parenthese (ecl. 11,20 f.) Aegon Euboici quondam maris accola, ponto tunc Siculo errabat, patris procul exul ab oris («Aegon wohnte einst am Euböischen Meer, wanderte aber dann am Sikulischen Meer, verbannt fern von der Heimaterde») 14
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Die entsprechende Passage aus dem Proömium des Columbus (1,22–27) lautet: «Magnum opus aggredior neque minor arbitror orbis / posse repertorem comprendere versibus, orbem / quam reperire fuit, ne persequar omnia, certe / invia commentis peragro loca, nullus Homerus, / nullus et Hesiodus, qui nobile fecerit ante, / quod calcamus iter», zitiert nach Martini 1992. Zu Giannettasios Biographie vgl. Anm. 3. Die Allegorien der Fischereklogen Giannettasios sind am Beginn stets aufgelöst. So heißt es am Beginn von Ekloge 11: «Per Aegonem poetam intellige, qui Rhegii hanc eclogam conscripsit, cum severiori Minervae operam daret».
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Giannettasio befindet sich also nicht in der Heimat, wo er die notwendige Ruhe für das Abfassen eines umfangreichen Columbus-Epos hätte. Wie seine Figur Olletes will er aber nach seiner Rückkehr in seine Vaterstadt ein Epos über Columbus schreiben. Mit dem Bild des Tempels, den er errichten will, um darin als Priester zu dienen, greift Giannettasio eine der berühmtesten Ankündigungen eines Epos auf: Im Proömium des dritten Georgica-Buches kündigt Vergil ein künftiges Epos über Kaiser Augustus an. Er wählt dazu das Bild eines marmornen Tempels, den er am Ufer des Mincio errichten will (georg. 3,13–15): et viridi in campo templum de marmore ponam propter aquam, tardis ingens ubi flexibus errat Mincius et tenera praetexit harundine ripas («Ich will auf grüner Au nahe am Fluss einen Tempel von Marmor errichten, wo der gewaltige Mincius in trägen Windungen irrt und seine Ufer mit zartem Schilf säumt.» Übersetzung Otto Schönberger)
Die bisher gezeigten Züge der gewollten Vergil-Nachfolge Giannettasios sind stark und werden im Folgenden noch deutlicher: Giannettasio löst seine Ankündigung eines Columbus-Epos ebenso (nicht) ein, wie Vergil sein angekündigtes Augustus-Epos (nicht) einlöst. Das Columbus-Epyllion, das sich im achten Buch von Giannettasios Nautica in den Versen 649–1060 findet ist zwar kein Großepos, wie man es sich aufgrund der Ankündigung erwarten könnte, hat aber so viele Eigenschaften eines Epos, dass es Heinz Hofmann (1993, 229) mit Recht als «Columbeis in nuce» bezeichnen kann. Wieder ist es ein geographischer Kontext, in den die Passage über Columbus fällt: Im achten Buch der Nautica beschäftigt sich Giannettasio mit den Ozeanen des Ostens und des Westens. Während die Schifffahrt auf den östlichen Meeren aus der Sicht des allwissenden Erzählers dargestellt wird, wählt Giannettasio für den Atlantik die Darstellungsform des Epyllions, um so die seit dem Aristaeus-Epyllion der Georgica Vergils begründete Tradition fortzusetzen.17 Dieses Epyllion ist von Hofmann intensiv erforscht worden und braucht hier nicht mehr im Detail behandelt zu werden. Interessant ist aber, dass nicht die Fahrten des Columbus oder die erste Fahrt im Speziellen Thema der Einlage sind, sondern vielmehr Columbus’ Jugend und Erziehung durch seine Mutter, die Nymphe Urania, die ihm seine künftigen Heldentaten kündet und ihn auch während eines Aufenthaltes der Flotte auf Teneriffa in den Himmel entrückt, um ihm von dort die Neue Welt zu zeigen. Die eigentliche Leistung Columbus’ wird in zwei Versen kurz berichtet (Nautica 8,1059 f.) Atque novi gentes urbesque et litora mundi laetus adit iungitque aliis commercia terris. («Und freudig hat er die Völker, Städte und Strände der Neuen Welt aufgesucht und sie durch den Handel mit den restlichen Ländern verbunden.»)
Somit wird klar, dass das Columbus-Epyllion nicht das angekündigte Columbus-Epos des Xaverius ist. Genausowenig ist aber die Aeneis das in den Georgica angekündigte Augustus-Epos. Giannettasios imitatio Vergilii besteht auch darin, das angekündigte Thema in seinem nächsten Werk zwar zu behandeln, es jedoch nicht ins Zentrum zu stellen.
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Allgemein dazu Hofmann 1993.
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Vergil hat sich bestimmter Techniken bedient, um seine Werke untereinander zu verbinden.18 In der Sphragis seiner Georgica etwa nimmt der letzte Vers (georg. 4,566 Tityre, te patulae cecini sub tegmine fagi ) den ersten Vers der ersten Ekloge (ecl. 1,1 Tityre, tu patulae recubans sub tegmine fagi ) auf, womit eine Klammer für die beiden Werke hergestellt ist. Ebenso zitiert der letzte Vers der Nautica Giannettasios (Naut. 8,1172 Tityre, te vitreas cecini Crateris ad undas) nicht nur das vergilische Vorbild, sondern noch viel konkreter den ersten Vers seiner Fischereklogen (ecl. 1,1 Tityre, quid vitreas recubans Crateris ad undas). Zudem ist diese erste Fischerekloge, wie die erste Ekloge Vergils, der geeignete Ort des Kaiserlobes: Giannettasios Tityrus sing ein Loblied auf Kaiser Leopold I., dem es gelungen ist, Wien von den Türken zu befreien (ecl. 1,42–104).
Chronologie Zwei Probleme stellen sich jedoch, wenn man das Schaffen von Vergil und Giannettasio parallelisieren will: (1) Vergil schrieb sein Epos nach dem Lehrgedicht. (2) Die chronologische Einordnung des Xaverius ist problematisch, da er zwar als Giannettasios Jugendwerk gilt, jedoch erst sechs Jahre nach seinem Tod in Neapel 1721 veröffentlicht wurde. Ob die Parallele, dass auch Vergils Aeneis zu Lebzeiten des Dichters nicht veröffentlicht wurde und unvollendet blieb, reiner Zufall oder Absicht ist, lässt sich nicht sagen. Es ist jedoch auffallend, dass auch andere Verfasser neulateinischer Epen, die sich in direkter Vergilnachfolge sehen, diese zu Lebzeiten nicht veröffentlichen, etwa Petrarca, dessen Africa zwar seinen Dichterruhm begründete und ihm sogar die Dichterkrönung auf dem Kapitol in Rom einbrachte, seinen Zeitgenossen jedoch, von kurzen Passagen abgesehen, nicht bekannt war.19 Dieses Problem der relativen Chronologie zwischen Xaverius und Nautica wird noch eklatanter, wenn man eine Stelle vom Anfang des achten Buches der Nautica betrachtet: Hier kommt Giannettasio bei der Beschreibung der östlichen Meere auch auf Franz Xaver zu sprechen. Inbrünstig wünscht sich der Dichter, die Taten dieses Heiligen in einem würdigen Lied (carmine digno 8,77) feiern zu dürfen, wenn er dereinst am Strand seiner Heimat Ruhe und Muse finden wird (Naut. 8,76–88): O mihi tanti facta viri liceat celebrare et carmine digno egregiam palmam et clari monimenta triumphi Pieria ad virides umbras subtexere lauro. Spero equidem pelago servatam ad litore puppim vertere, laetus ubi descendit in aequora molli Pausilypus clivo et sub tegmine rupis opaco stant vatis sedes et cognita rura Camoenis. Hic ego, dum tremuli vicino ab litore ponti aspirant lenes Zephyri et vaga murmuris aura Aoniam motat silvam, sacro incitus oestro alta trophaea viri atque illustria facta sub ortu et victos dicam populos regesque subactos. 18 19
Zum Folgenden vgl. S chindler 2001, 155. Zu Petrarcas Dichterkrönung vgl. Suerbaum 1972, zum Problem der Unbekanntheit der Africa zu Petrarcas Lebzeiten vgl. Amaturo 1971, 106 und Hoffmeister 1997. Zum Konzept der Vergilnachfolge im «vergilischen Dreischritt» (Eklogen – Lehrgedicht – Epos) vgl. Korenjak 2005, 220 f.
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(«Ach möge es mir doch vergönnt sein, die Taten dieses großen Mannes in einem würdigen Lied zu feiern, seine Siegespalme und das Denkmal seines berühmten Triumphes im Schatten von Bäumen mit pierischem Lorbeer zu umkränzen. Ich hoffe, dass sein Schiff heil vom Meer zu dem Strand zurückkehrt, wo sich der Pausilyp glücklich in sanftem Abhang ins Meer neigt und unter einem schattigen Felsvorsprung das Haus des Dichters und die berühmten Güter der Camoenen liegen. Während von der nahen Küste des zitternden Meeres sanfte Zephyrwinde heranwehen und ein sanft murmelnder Hauch den aonischen Wald in Bewegung versetzt, will ich, von heiliger Begeisterung entfacht, die großen Triumphe dieses Mannes, seine berühmten Taten im Osten und die Völker und Könige, die er besiegt und unterworfen hat, besingen.»)
Die Ankündigung eines Epos über Franz Xaver ist nicht an und für sich überraschend; überraschend ist die Tatsache, dass dieses Epos über Franz Xaver bereits geschrieben, nur noch nicht veröffentlicht wurde. Das zeitgenössische Publikum wusste noch nichts von Giannettasios Jugendwerk Xaverius. Es war Giannettasios Absicht, seine Werke, mit denen er Vergil nachfolgen wollte, untereinander eng zu verbinden: So finden sich im Xaverius Vorverweise auf das Columbus-Epyllion der Nautica, umgekehrt in den Nautica Ankündigungen eines Franz-Xaver-Epos, an die sich die Beschreibung einer idyllischen Landschaft anschließt. Die Beschreibung dieser idyllischen Landschaft, die sich der Dichter an beiden Stellen als Umfeld für sein künftiges poetisches Schaffen wünscht, stellt gleichsam das Bindeglied zwischen den Nautica und den Fischereklogen her: Eine frappierende Zahl gleicher und ähnlicher Motive erweist Naut. 8,73–156 als direkte Anspielung auf ecl. 14,21–56: sanft wehende Zephyrus-Winde (ecl. 14,21 Ä Naut. 8,85), herrliche Gärten (ecl. 14,29 Ä Naut. 8,110 f.), liebreizender Duft (ecl. 14,30 f. Ä Naut. 8,114), sprudelnde Quellen (ecl. 14,33 f. Ä Naut. 8,95), angenehmer Schatten unter Felsen (ecl. 14,41–43 Ä Naut. 8,120), Chöre der Meernymphen (ecl. 14,45 f. Ä Naut. 8,134), im Wasser spielende Delphine (ecl. 14,47 Ä Naut. 8,132) und das Bild abrundende Zephyrwinde wie jeweils am Anfang (ecl. 14,53 Ä Naut. 8,129). Vergil-Imitation in der Werkfolge ist kein Phänomen, das erst in der neulateinischen Dichtung auftaucht. Bereits Ovid unternimmt den «vergilischen Dreischritt», um später ein anderes Werkkonzept zu entwickeln, vergiltreuer sind Grattius und Nemesian. 20 Giannettasios Besonderheit ist jedoch, dass das Konzept bei ihm, dadurch dass der Xaverius bereits vorlag, kein Wunsch bleiben, sondern vorprogrammiert aufgehen musste.
Literatur Amaturo 1971: Amaturo, Raffaele: Petrarca, Rom/Bari 1971 (Literatura italiana Laterza, 6). Gärtner 2004: Gärtner, Thomas: Die Ignatias des Laurentius Le Brun. Ein Jesuitenepos über den Ordensgründer Ignatius von Loyola, in: NlatJb 6 (2004), 17–49. Haskell 1999: Haskell, Yasmin: Between Fact and Fiction. The Renaissance Didactic Poetry of Fracastoro, Palingenio and Valvasone, in: Haskell, Yasmin / Hardie, Philipp (Hg.): Poets and Teachers. Latin Didactic Poetry and the Didactic Authority of the Latin Poet from the Renaissance to the Present, Bari 1999, 77–103.
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Vgl. Korenjak 2005, 220 f. (bes. Anm. 57).
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Anhang Cernite, qui dextra pictus protenditur orbis terra vetus, Libyam Europenque Asiamque figurat, qui vero ad laevas spectat, novus ille vocatur orbis, qui tumidis circumfluus undique lymphis iamdudum nostris latuit dissectus ab oris. Inter Atlantaeum se tendit et inter Eoum ingentem Oceanum geminosque excurrit ad axes. Hunc prior appetiit Ligurum de gente Columbus21, Ausoniae decus eximium, quem Fama superstes clara sub Antipodas pernicibus intulit alis ad caelum victrix mox tentatura volatus. Sed melius Tusca veniens Americus22 ab ora circuit et mores populorum vidit et urbes.
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Christophorus Columbus Genuensis Americam primus detexit anno 1492. Vespuccius Americus Florentinus, a quo nomen Ammeria sortita est 1497.
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Ein angekündigtes Columbus-Epos im Xaverius viator
Illius hinc nostri Ammeriam de nomine dicunt facti haud immemores, sed gloria tota Columbi est. Sternere nam primum dumosa ad culmina callem non tenuis labor et tenuis non gloria surgit, monstratam calcare viam, vestigia prima 375 exiguus labor, exiguo laus parva labori est. Hunc merito Typhim superis adscribere signis debuerant Latii divino carmine vates. Hunc ego (si quod habet decus et mea carmina possunt; quippe nec ignoro Pymplaeas scandere rupes 380 currentem et docto distinguere gnomone Phoebum) cum primum incolumis Campanas labar in oras atque iterum reducem excipiet me patria Syren pertaesum pelagi, celebrabo et culmina Pindi, Phoebe, colam et novus ingrediar tua templa sacerdos. 385 Sed nunc inceptum detecta per aequora cursum ocius, Eoo quam nostrae gurgite puppes aeratae fugiant, animos revocate, sequamur! (Giannettasio, Xaverius viator 9, 358–388)
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Orfeus in Niedersaxn Arno Schmidts Erzählung «Caliban über Setebos» «Es ist eine sehr alte Bemerkung, daß fast jeder Schriftsteller in seinen Büchern nur sein Ich schreibt.» J.G. Seume, Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802
Platterdings unspektakulär – auf den ersten Blick zumindest – mutet Schmidts 1964 erschienener Erzählband «Kühe in Halbtrauer» an. Zehn harmlose Geschichten aus dem Alltag der Celler Ostheide erzählen von den kargen Freuden und herben Nöten älterer Herrschaften von respektabler Bildung und gehörigem Ressentiment (die «Halbtrauer» der Wiederkäuer ist mehr als nur graphisches Ornament). Es dauerte seine Zeit, bis die Kritik – nicht zuletzt das legendäre Bargfelder «Dechiffrier-Syndikat» – den «Palimpsestcharakter» (um einen Begriff der Schmidt’schen Karl-May-Exegese zu entlehnen), die tiefere zweite Sinnebene unter der Textoberfläche der Geschichten zu entschlüsseln begann und dabei u. a. nachweisen konnte, daß sie zum überwiegenden Teil, wenn nicht gar zur Gänze, mythisch unterfüttert sind. In «Kundisches Geschirr» betritt eine moderne Metamorphose der ägyptisch-hellenistischen Isis die Bühne, in «Großer Kain» wallfahren Aphrodite, Persephone und Adonis zum Heiligtum des großen Pan, in «Die Abenteuer der Sylvesternacht» sticht ein ergrauter Odysseus erneut in See, genauer: die hohe See der Kunst – um drei prägnante Beispiele zu nennen. Keiner der Texte jedoch darf solchen mythischen Unterbau mehr für sich in Anspruch nehmen als die vorletzte Erzählung des Bandes, «Caliban über Setebos».1 Dies signalisieren bereits ihre neun Kapitel, die nach dem Vorbild Herodots2 die Namen der neun Musen als Überschriften tragen (wobei jedes Kapitel in mitunter schlagender Weise an die Zuständigkeiten seiner Muse erinnert),3 und das Motto, das als Echo eines klassischen Musenanrufs
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Der Text entstand April/Mai 1963. Zitate nach der «Bargfelder Ausgabe», Werkgruppe I (Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia), Bd. 3, Zürich 1987, 475–538. Die Einteilung der «Historien» in neun Bücher dürfte allerdings auf den alexandrinischen Philologen Aristarch von Samothrake zurückgehen (vgl. K. Meister s. v. Herodotos [1], in: Der Neue Pauly, Bd. 5, Stuttgart 1998, 470). Daß Herodots neun Bücher nach den Musen benannt sind, erwähnt erst die Suda (s. v. H«, ed. A. Adler, Bd. ii, 588,25). Das in Anm. 4 zitierte anonyme kaiserzeitliche Distichon setzt sie allerdings bereits voraus. Dies hat zuerst Andersch 346 f. vermutet. – Der Verdacht liegt nahe, die Erzählungen der «Kühe in Halbtrauer» seien insgesamt den Musen zugeordnet (ausgenommen die zehnte Erzählung, «Piporakemes!», das Satyrspiel des Bandes, in dem als zehnte Muse – wie einstens Sappho – ein leibhaftiger Arno Schmidt die Bargfelder Bühne betritt). «CüS» wäre demnach der Thalia geweiht, der komischen Muse. – Daß die «Bargfelder Ausgabe» mit der wohldurchdachten Anordnung der Texte in den «Kühen in Halbtrauer» bricht, ist ein editorisches Unding.
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ein dem Herodot gewidmetes Distichon der Anthologia Graeca auf den Protagonisten der Erzählung überträgt. 4 Denn bei genauerer Lektüre entpuppt «Caliban über Setebos» (im Folgenden «CüS») sich als die alte Mär von Orpheus’ Höllenfahrt und Ende. Bei Arno Schmidt braucht dies nicht zu überraschen. Auch wenn einer seiner Ich-Erzähler (und die sind bei Schmidt immer alter ego des Autors) einmal knapp und bündig urteilt: «undiskutabler Tinnef, diese ganze Antike!»5 – der Alte Orient, Hellas, Rom sind in seinem Œuvre allgegenwärtig. 6 Vier seiner Texte kleiden sich sogar in antikes Gewand. Zum Frühwerk rechnen die drei zwischen 1946 und 1948 entstandenen Erzählungen «Enthymesis», «Gadir» und «Alexander», die sämtlich in hellenistischer Zeit spielen.7 Bei aller Verläßlichkeit des historischen Rahmens verwenden sie die Antike als Folie für ausgesprochen zeitgenössische Anliegen. Anders der in den Fünfziger Jahren verfaßte «Kosmas»; hier malt Schmidt eine atmosphärisch treue wie inspirierte Szenerie aus der ausgehenden Antike.8 «CüS», nach verbreitetem Urteil unter Schmidts opera minora das literarische Meisterstück, unterscheidet sich von den vier vorausgegangenen antiken Texten gleich in mehrfacher Hinsicht. Als einziger hat er die Gegenwart zum Schauplatz, das Niedersachsen der Adenauerära. 9 Und als einziger Text Schmidts transskribiert er in Gänze einen antiken Mythos: den des Orpheus. Als große «Fingerübung» vor der Niederschrift von «Zettels Traum» umkreist «CüS» Themen, die dort zentral werden; zugleich wird die Geschichte aber auch zum Blick zurück (das alte Orpheus-Motiv), zur Bestandsaufnahme und Rechenschaft des Autors vor seinem Einstieg ins Spätwerk der Typoskripte.10 Denn wo der archetypische Dichter die moderne Bühne betritt, wird unweigerlich die Kunst selbst zum Gegenstand der Kunst.11 Mit anderen Worten: in «CüS» geht es um die Rolle des Autors. 4
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Anthologia Graeca IX,160 #H« M « α 9 # Ν# | $λ « ! («Als Herodotos einst gastfreundlich die Musen bewirtet, reichte als Dankesgeschenk jede der Neun ihm ein Buch.» Übers. H. Beckby). Das Motto: «georg düsterhenn entertäind se Mjußes – (tschieper Bey se Lump) – ietsch Wonn of semm re=worded him for hiss hoßpitällittitie wis Sam Bladdi mäd=Teariels.» «Inhaltlich unterhöhlt der Vorspruch die vordergründige Handlungsebene durch den Verweis auf die Musen, die den Bezug zur griechischen Mythologie andeuten; die Benutzung der englischen Sprache verweist auf den polyglotten Charakter des Textes, und die Transskription ins Phonetische auf die Mehrfach-Bedeutungen, die hinter jedem Wort vermutet werden müssen.» (Blumenthal 194). Die Verschreibung «re=worded» (statt «rewarded») spielt zudem auf die ‹Neufassung› des Mythos an. – Auch für seinen neuen Lyrikband plant Düsterhenn neun Bücher (vgl. Anm. 57). Arno Schmidt, «Großer Kain», in: «Bargfelder Ausgabe» I/3, Zürich 1987, 354. Den nach wie vor besten Überblick über das Material bietet Herzog. «Enthymesis oder W.I.E.H.» (entstanden 1946), «Gadir oder Erkenne dich selbst», «Alexander oder Was ist Wahrheit» (beide entstanden 1948). – Zu dem ersten Text vgl. P. Habermehl, ‹Seltene Schützen im Sandmeer›. Anmerkungen zu Arno Schmidts erster Erzählung, «Enthymesis oder W. I. E. H.», in: Der Altsprachliche Unterricht 37, 1994, Heft 2, 69–79. «Kosmas oder Vom Berge des Nordens» (1954). Daß sich hinter dem Ort der Handlung, dem Dorf Schadewalde, auch (wie so oft) Schmidts Domizil Bargfeld verbirgt, verraten mehr oder minder verborgene Anspielungen, bes. auf die beiden Nachbarorte Habighorst [514] und «Endewold» (i. e. Endeholz) [516]. Wohlleben 10 f. deutet «CüS» als «eine Art Fingerübung oder Entwurfsskizze» für «Zettels Traum», «der es mit seiner bewußt herausgearbeiteten Transparenz dem Leser ermöglichen soll, sich die (für «Zettels Traum») erforderlichen Lesetechniken zu erwerben». Erste Einblicke in die unerschöpfliche Rezeption des Orpheus-Mythos in der abendländischen Kunst, Musik und Literatur vermitteln D.C. Kochan, Literarische Spuren einer Symbolfigur. Orpheus zum Beispiel, in: W. Wunderlich (Hrsg.) Literarische Symbolfiguren. Von Prometheus bis Sˇvejk, Bern 1989, 37–63; Heinz Hofmann, Orpheus, in: ders. (Hrsg.), Antike Mythen in der europäischen Tradition, Tübingen 1999, 153–198; Wolfgang Storch (Hrsg.), Mythos Orpheus. Texte von Vergil bis Ingeborg Bachmann, Leipzig 1997.
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An der Oberfläche lesen wir den Bericht eines erfolgreichen älteren Literaten über einen Wochenendausflug in die niedersächsische Provinz. Auf der Suche nach poetischer Inspiration und einer langverschollenen Jugendliebe reist der Lyriker und Icherzähler Georg Düsterhenn nach Schadewalde, ein tristes Nest unweit der Zonengrenze, wo er gegen Abend eintrifft und im einzigen Gasthof vor Ort ein Zimmer nimmt. Wir erleben ihn in der Wirtsstube und beim Spaziergang durchs Dorf, bei der Beobachtung der Natur und des Landvolks, und bei entsprechend inspirierten lyrischen Versuchen. Im Gasthaus nimmt er später auch das Abendessen ein und ersteht einen antiken Krug. Bei einem zweiten nächtlichen Rundgang lernt er einen Handelsreisenden in Gummiwaren kennen, der mit seiner Limousine über die Dörfer fährt.12 In den Gasthof zurückgekehrt, begegnet er endlich seiner langersehnten Liebe – nur um sie im Handumdrehen wieder zu verlieren. Geknickt stiehlt er sich aus dem Wirtshaus davon und wird zum heimlichen Zeugen einer lesbischen Orgie, deren Teilnehmerinnen ihn entdecken und hetzen. Mit Hilfe besagten Vertreters, der wie ein deus in machina in die wilde Jagd platzt, entkommt er mit knapper Not ihrer mörderischen Rache. Was diese Inhaltsangabe allenfalls ahnen läßt, machen etliche, über den ganzen Text verstreute Anspielungen deutlich: «CüS» ist nichts Geringeres als eine moderne Neufassung des Orpheusmythos.13 Auf einer zweiten Ebene liest Düsterhenns Ausflug aufs Land sich als Orpheus’ Fahrt in die Unterwelt, auf der Suche nach Eurydike, seine Rückkehr mit leeren Händen, und sein Ende von der Hand rasender Mänaden. Das gesamte mythische Personal finden wir im Text versammelt: Georg Düsterhenn, der sich mehrfach selbst Orje nennt, ist Orpheus; statt der Leier trägt er seinen Peregrinus Syntax unterm Arm, das berühmte Reimlexikon der Goethezeit.14 Eurydike, hier Rieke geheißen, gehört zum Gesinde des Gastwirts. Dessen Name, O. Tulp, ergibt rückwärts gelesen Pluto. Auch die Gattin des Unterweltsfürsten ist zugegen, Persephone.15 Charon tritt auf («Der erste Schiffer»),16 Kerberos («Kirby»),17 die Mänaden (die vier jungen «Jägerinnen»), die drei Unterweltsrichter,18 aber auch der Flußgott Hebros, der Orpheus’ Haupt ins Meer trägt (der Vertreter H. Levy). Daß Düsterhenn in Schadewalde (in dem Ortsnamen verbergen sich anglisierte ‹Schatten›
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Wie Düsterhenn ist Levy (den zwei Andeutungen [bes. 537] als Überlebenden des Konzentrationslagers zu erkennen geben) ein Außenseiter in der Schattenwelt von «CüS». Andersch 346 sieht Levy als Abbild des «Ewigen Juden». Sein Name zitiert v. a. den Librettisten von J. Offenbachs «Orphée aux Enfers», L. Halévy. Einen substantiellen Teil der antiken Elemente hat Wohlleben entschlüsselt. Sein Name erlaubt zwei Deutungen: die ‹düstere Henne› zeigt den alternden Dichter als ‹Kapaun› (dazu unten mehr; Anfang der 50er Jahre beschrieb Arno Schmidt sich selbst wiederholt als «düster»). Zugleich spielt er gelehrt mit der antiken Etymologie des Namens, der von griech. "« abgeleitet wurde («dunkel, düster»); die zweite Silbe evoziert das sizilische Henna, wo Hades Persephone in die Unterwelt entführte. – Seine Eltern heißen «Vater A. Paul Düsterhenn & Mutter Moosedear» [486]: Apollon und die ‹liebe Muse› Kalliope, die Schirmherrin der Dichtung, die als Mutter des Orpheus galt (vgl. u. a. Apollonios von Rhodos 1,23–5; Apollodor 1,3,2). Einmal ruft Tulp sie «Oll=sche» [484], Anagramm zu ‹Scheol›, der jüdischen Unterwelt. Bei ihrem ersten Auftritt hält sie «ein triefendes Talglicht in der schmutzigen Faust» [484], die Fackel der eleusinischen Mysterien (Wohlleben 4). Er trägt aber auch Züge Silens (Dunker 11). «Hätte Arno Schmidt nichts geschrieben als die Schilderung dieses Wirtshaushundes, er wäre schon unser aller Sprachmeister» (Andersch 344). «Drei Archetypen, Dall Damb & Aggli» (englisch zu betonen) [498] – ein rustikales Trio in der Gaststube.
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und ein anagrammatischer ‹Hades›) die Unterwelt betritt, wird von den ersten Zeilen an signalisiert.19 Bei noch genauerem Hinsehen gerät Schmidts Doppelbödigkeit freilich zum veritablen Treibsand. Düsterhenn besitzt auch Züge des Götterboten und Seelenführers Hermes.20 Seine Rieke, die er gelegentlich Fiete nennt, ist zugleich Aphrodite. Mit Herakles, der als Knecht Tulps dient, vereint sie sich im Wirtschaftshof (von Düsterhenn heimlich beobachtet) zum «kosmokomischen Eros» [498] (danach legt Herakles am Misthaufen «stöhnend» das Weltei der orphischen Kosmogonie).21 Hades, «der große Wirt», ist auch Dionysos, der in seiner Gaststube die «Anthesterien» ausruft.22 Und einer seiner Stammgäste, der betagte Philatelist, ist niemand anderes denn Kronos. Die Orgie der «Jägerinnen» endlich präsentiert uns wie eine toll gewordene Drehbühne gleich vier höchst diverse Szenarien auf einmal. Als Mänaden feiern sie ihre bacchische Initiation und reißen dabei Düsterhenn-Pentheus ‹zu Tode›. Zugleich sind sie die Erinnyen, die wie einst den Orest nun Orpheus hetzen. 23 Die gefahrvolle Voyeurszene erinnert aber auch an Aktaion, dem die badende Artemis zum Verhängnis wird.24 Zuguterletzt finden wir uns im klassischen Hexensabbat der Walpurgisnacht wieder, bei dem die Jägerinnen in die Rolle der Hexen schlüpfen, und Düsterhenn zum Mephisto mutiert.25 Dank solcher und ungezählter anderer Verschlüsselungen und Zitate – die die Lektüre zum reizvollen Parcours geraten lassen – liest sich der ganze Text als fürwitziges Spiel mit dem antiken und europäischen Bildungserbe. In seinem vielzitierten Brief an Jörg Drews spricht Schmidt von den «3000 Fiorituren & Pralltrillern», die er in «CüS» verwoben habe
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Daß Schmidt bei der Wahl des Namens auch einen Tübinger Gräzisten im Ohr hatte, ist nicht abwegig. Dank seiner Auftritte in Funk und Feuilleton war kaum ein anderer Altertumswissenschaftler der Adenauerzeit so prominent wie Wolfgang Schadewaldt. – Als Tartaros ist der Innenhof gezeichnet [497], in dem Rieke sich mit ‹Herakles› verlustiert. Manchen Fingerzeig gibt z. B. seine Kleidung [478], oder sein verstohlenes Auftreten [496 u. ö.]. Drews 50. – Der «kosmokomische Eros» natürlich frei nach Platons «Symposion». Bes. 501 und 504. Die Ende Februar in Athen begangenen Anthesterien feierten den Gott Dionysos, aber auch den Frühling und den neuen Wein. Am ersten der drei Tage, den ‹Pithoigien› («Öffnen der Fässer»), wurde der neue Wein verkostet. Am zentralen zweiten Tag, den ‹Choen› («Krüge»), hob ein weinseliger Karneval die vertraute Ordnung auf; sogar die Toten kehrten zurück, und mit ihnen die dämonischen Keren. Am ruhigen dritten Tag, den ‹Chytren› («Töpfe»), brachten die Athener Opfer dar (vgl. M.P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion Bd. I, München 31967, 586–9. 594–7; W. Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, Stuttgart 1977, 358–64). Angespielt wird auch auf die Liberalia [500], das altrömische Frühlings- und Fruchtbarkeitsfest zu Ehren des mit Dionysos identifizierten Gottes Liber (vgl. K. Latte, Römische Religionsgeschichte, München 1960, 70), und auf den «Schlauchtanz» [505], eine Belustigung, die wohl v. a. zu den ländlichen Dionysien in Attika zählte (L. Deubner, Attische Feste, Hildesheim 31969, 135). – Wenn Düsterhenn den Gästen Tulps aus dem frisch erstandenen Krug Brandwein ausschenken läßt [507 f.], wird er zu Odysseus, der an der Schwelle der Unterwelt das «Schattnvolk, ohne Geist & Be=Sinnung» [493], mit Blut bewirtet – ohne daß die Schatten diesmal ihr Bewußtsein zurückerlangten. Zu ihren hermaphroditischen Zügen vgl. Dunker (bes. 17). Lene wird zudem als Silen gezeichnet [501]: «Sie, Lene». So ist der «Diana-Dip» [530] zu verstehen, das ‹Dianenbad›. Auf drei Vorbilder vor allem greift Schmidt hier zurück: Goethes «Faust», die Voyeurszene im «Mime»Kapitel in Joyce’ «Finnegans Wake», und auf dessen Quelle, das Gedicht «Tam O’Shanter» des schottischen Frühromantikers Robert Burns (vgl. Dunker). Im Hintergrund stehen die beiden Voyeurszenen am Anfang von Prousts «Sodome et Gomorrhe» und im «Nausicaa»-Kapitel des «Ulysses».
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(legt man die «Bargfelder Ausgabe» zugrunde, ergäbe dies gut eine Verschlüsselung je Zeile – eine Zahl, die man getrost beim Wort nehmen darf).26 Doch wäre es ein arges Mißverständnis, Schmidts «Orfeus» (so der Arbeitstitel der Erzählung) auf Burleske und Travestie zu reduzieren. Vor allem zwei Lesarten erlauben es, unter der flirrenden Oberfläche Sinn auszumachen: eine psychologische, und eine mythologisch-literarische. Beide Lesarten sind tatsächlich unlösbar miteinander verbunden; der Klarheit halber möchte ich jedoch nacheinander auf sie eingehen. Beginnen wir mit der psychologischen.27 Wie Düsterhenn seine Leser wissen läßt, begibt er sich aus zwei Gründen auf diese Suche nach der verlorenen Zeit: er will frische Eindrücke sammeln für einen neuen Gedichtband, 28 und er hofft, seiner großen, damals nur aus der Ferne angeschmachteten ersten Liebe wiederzubegegnen – auch der erhofften Inspiration halber. «Ich hatte […] vor, mich durch den Anblick einer Jugendliebe entscheidend & unwiderstehlich schmalzig zu stimmen.» [479] «Nach überdreißich Jahren sie wieder zu sehen! Also wenn das […] meiner Lyriek nich zugute kam: amo amas amat.» [521]
Wie Düsterhenn jedoch bald bewußt wird, ist das wahre Motiv seiner Reise weit weniger künstlerisch-romantisch, als er sich und uns eingangs glauben machen will. Kein göttlicher Eros beseelt diesen modernen Orpheus; er sucht nicht die verstorbene Gattin aus dem Totenreich zu erlösen, oder zumindest seine Rieke aus der ‹Unterwelt› ihrer ruralen Existenz – ihm steht der Sinn nach profaneren Zielen. Auf seine alten Tage will er sich für das in jungen Jahren Versäumte an seinem Jugendschwarm schadlos halten. Die einst ätherisch Verehrte wird zur physisch Begehrten.29 Sexuelle Erfüllung und poetische Ernte sollen Hand in Hand gehen. Hier lauert bereits die erste Enttäuschung. Nicht einmal die alten Gefühle für Rieke bestehen vor Düsterhenns kritischem Auge: «Mein hatt’ich Die damals angehimmelt! Mit 18, als ich noch Prinz war von Arkadien.» [479] «Bis mir endlich einfiel […]: daß das=damals ja mit ‹Liebe› überhaupt nichts zu tun gehabt hatte! […] schönfarbige Gedankenspiele waren das, nichts weiter; durch Zuphall an Zu=Felligem befesticht» [526].
(Schmidts Orthographie, die in «CüS» Kapriolen schlägt wie nie zuvor – aber oft danach –, trägt ihr Teil bei zur Veranschaulichung der Botschaft.)30 Soweit, so schlecht das Ergebnis dieser ‹education sentimentale›. 26
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Als kleine Einstimmung auf die Rätsel des Textes notierte Schmidt am Rand seines Typoskripts Marginalien, die postum publiziert wurden (Fiorituren & Pralltriller. Arno Schmidts Randbemerkungen zur ersten Niederschrift von «Caliban über Setebos», Zürich 1988). Höchst willkommen wäre ein philologisch-literarischer Zeilenkommentar. Zu den musikalischen Anspielungen in dem Text, auf welche die «Fiorituren & Pralltriller» gleichfalls verweisen, vgl. Kaiser 2–5. Zu diesem Thema bsd. Thomé; Hink. Auch in Wilhelm Buschs «Balduin Bählamm» sucht der Lyriker auf dem Land Inspiration (und wiederum spielen eine «Rike (Mistelfink)» und ein mit ihr liierter Knecht eine höchst fatale Rolle). Düsterhenns wahre Absichten verraten sich am ehesten in spontanen Äußerungen: «„Ä= …: zeigen Sie mir’s doch bitte –“ .–/ (: das waren die aller=ersten Worte, Mann, die ich überhaupt mit Ihr wechselte! Und natürlich gleich von auserlesener Zwei=Deutigkeit)» [522 f.]; «Aber dies ging ja doch wohl zu weit, daß ich den Hintersassen & Dammwärtel eines stinkenden Knechtes […]? ([…] Ämäss äMätt, Ei läid her flätt)» [522]. Schmidts Warnung an den Verleger betreffs «CüS» war gerechtfertigt: «Schärfen Sie dem (bedauernswerten; aber es steht nicht zu ändern) Setzer ein: nie anzunehmen, daß ich mich verschrieben haben könnte!
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Doch damit nicht genug: selbst die Hoffnung auf eine späte Befriedigung reifer Gelüste wird herb enttäuscht. Das verklärte Bild der «Rose von Schadewalde» [522], wie er sie einmal nennt, zerschellt jäh an der Realität, als er Rieke wiedererkennen muß in jener walkürenhaften Magd Tulps, die er just beim Verkehr mit ‹Herakles› beobachten durfte.31 Wie er ernüchtert festhält, hat das obskure Objekt seiner Begierden jeglichen Liebreiz verloren und ist zur triebhaften, schollenfesten Matrone hinabgesunken.32 Zynisch zieht er Bilanz: «anmutig ist’s, der Jugendlieb’ begegnen. […] Vor allem, wenn die Heirat unterblieben!» [527]33 So erweisen die Umstände sich seinem Vorhaben zwar als günstiger, als er je zu hoffen gewagt hätte – Hades, der Wirt, gibt ihm Rieke gleichsam in die Hand, in der frohen Erwartung, den betuchten Gast mit solch rustikaler Kost einige Tage an sein Haus zu binden; und Rieke selbst sieht solchem Handel mit kalter Gelassenheit entgegen. Doch sein Ansinnen, sich ihr faunisch zu nahen, weist Düsterhenn nun entschieden von sich. Ihre Metamorphose und ihr bukolisches Liebesleben allein sind kaum Grund genug für diese Abkühlung. Was genau geht in Düsterhenn vor? Ein Versprecher beim Abschied von Rieke enthüllt seine tieferen Gefühle: «Ich wollte ihr nach rufen, im Sinne von ‹Erinnyen Sie sich=nich –?›» [524]. Aus dem Erinnern werden die Erinnyen – Düsterhenn hat Angst. Angst färbt bereits seine Beschreibung Riekes, die von martialischen Metaphern nur so wimmelt (kaum jedoch im Sinn der römischen Elegiker). Auch Riekes Verkehr mit ‹Herakles› untermalen kriegerische Bilder; «und es ist keine Frage, welcher Seite der Sieg zufällt»: «‹Wie sie sich wälzt’ & rächte. Und ihn entstellt’ & schwächte!›» [497] (Daß hier wie in einem Cento Verse aus Rilkes «Sonette an Orpheus» kolportiert werden, gehört zum boshaften Witz der Passage.) Als er hinter Rieke die Treppe emporsteigt und ihr Gesäß studiert, gibt er sich «wirklich alle Mühe, was wie’n steatopyges Gelüst in mir zu erzeugen . . . . .: aber unter den voraufge-
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Er soll das volle Opfer des Intellekts bringen; (im stillen für meschugge halten darf er mich immer): wenn ich statt ‹drollig› ein ‹drolling› setze, dann ist mit nichten der Suff oder meine adler mit mir durchgegangen; sondern es handelt sich um den Maler kaspar drolling, der auch einen ‹O[rpheus]› gemalt hat.» (Brief an Ernst Krawehl vom 8. 1. 1964; zit. nach dem Beiheft «Zur Zürcher Kassette», Zürich 1985, 23). In dieser Szene trägt Eurydike ihren Namen aus der spätmittelalterlichen Ballade «Sir Orfeo»: «Heurodis» [497] (Suhrbier 45). Ihre Physis steht der des ‹Herakles› in nichts nach: «Der Große Preis der Vierschrötigkeit wäre nicht leicht zu verleihen gewesen: selbst unter Berücksichtigung der terrestrischen Refraktion war die Schulterbreite bei Beiden wahrhaft polizeiwidrig, ob Mäil ob Vieh=Male, […]; und einen Dispens vom Papst, das dicke Ende der Beine nach unten zu tragen […], schien auch Jede(r) zu besitzen» [497]. Ganz anders früher: «ich erkannte Sie schon allmählich; Stück für Stück, mit Mühe, nach & nach: Schwanenhals Busen Bauch & Tschinellen: warum weine ich so sehr?» [522] – Vermutlich hat Schmidt hier auch Cervantes vor Augen. Die von Don Quixote verklärte Dulcinea ist in Wirklichkeit eine Sancho Pansa wohlvertraute Bauerndirne: «Ich kenne sie ganz gut und kann sagen, daß sie im Spiel die Eisenstange so kräftig wirft wie der stärkste Bursche im ganzen Ort. (…) Was Teufel hat sie für eine Kraft am Leibe, was hat sie für eine Stimme! (…)» («Don Quixote» I 25; Übers. L. Braunfels). «Düsterhenns Lernprozeß ergibt aber auf dem Gebiet der Liebe die starrste Lektion, die unabänderlichsten Maximen: Sind Mann und Frau gleichaltrig, so hat der Mann bald eine häßliche Frau, die er loswerden will; das wäre Düsterhenns Geschick geworden / gewesen mit der Jugendliebe Rieke […]. Ist die Frau aber wesentlich jünger, so wird der Mann früher oder später kujoniert (das ist der Fall bei Tulp und seiner Frau); bleibt der Mann Junggeselle, wie Düsterhenn, hat er gar nichts, aber eben auch keinen Ärger. Böse misogyn scheint aber auch die Lehre aus Riekes Geschick bzw. Verhalten: Frauen wollen nicht von Dichtern erlöst, sondern von Stallknechten gevögelt werden.» (Drews 61).
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gangenen Um=Ständen konnte ich doch garantiert nich!» [523].34 Und wenn er später, allein in der Kammer, angeregt-desillusioniert über Rieke sinniert, muß er erbittert feststellen, daß korrespondierende physiologische Reaktionen ausbleiben: «nichts ! Er dachte nich daran, sich zu entrunzln» [524]. Was ihn angesichts einer als übermächtig und bedrohlich erlebten Frau umtreibt, ist die unterschwellige Angst vor einem sexuellen Versagen, die sich unter der Hand (und wie die nächste Episode zeigt, berechtigterweise) zum Schreckbild der Entmannung auswächst. 35 So schlägt sein Plan fehl, und er muß Rieke – der er sich wohlgemerkt nicht zu erkennen gibt – unabdingbar verlieren: «Wecken Sie mich bitte. Morgn Früh um Sex.» Sie horchte 1 Moment dem Klang der Ziffer nach […]; nickte dann geschäftsmäßig. Wandte sich. Da machte die verflicksDe Funzl ihren Um=Riß überscharf. Begabte sie auch zusätzlich mit einer (lachhaft kurzn) Schattn=Schleppe; die hinter ihr her rukkte […]: ich verlor sie, sie verlor sich, die (leinölfarbenen) Stufen hinunter: ! . ; , –. . . . .» [524].36
Düsterhenns letzter Versuch, sich im «toten Zonengrenzgebiet» einer wankenden Männlichkeit zu vergewissern, ist grandios gescheitert. Aus dem «Schadewalde» seiner erlöschenden Sexualität retten ihn keine Rieke und kein Gott. Ein drittes, gänzlich unterschwelliges Motiv, das ihm Rieke vergällt, sind Düsterhenns so latente wie massive homoerotische Anwandlungen, die er allein auf der verschlüsselten Traum-Ebene auslebt.37 Auch in dieser Hinsicht mausert seine Katabasis sich zur Reise in Grenzbezirke. Von einem strengen Über-Ich kontrolliert, müht er sich nach Kräften, alle einschlägigen Gelüste zu verdrängen und auf dem «rechten» Weg zu bleiben. Zuguterletzt erst, wenn er im stillen Eingeständnis seiner Impotenz das Joch des Über-Ich abschüttelt (dazu unten), kommt es in der Verschiebung des Traumbildes zum symbolischen homoerotischen Akt mit dem Kondomverkäufer – Düsterhenn wirft sich ins offene Hinterteil des Levy’schen Automobils: «Neue Kraft! … ich hechtete einfach röchelnd […] mittn zwischn die Überzieherkartongs hinein … röch: › weck!› – … […] (er hatte das trübleuchtende Hinterteil, mitsamt mir= darin, erstmal einfach offen gelassen). «Danke», hörte ich ihn sagen. […] «Danke –»» [537].
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Solch herkulischer Konkurrenz gegenüber zieht Düsterhenn eindeutig den Kürzeren. – Der Neologismus «steatopyg» ist gebildet aus griech. μ , «festes (tierisches) Fett», und π &'(, «Steiß, Hintern». Zu den vielfältigen Metaphern der Impotenz im Text vgl. Hink 6. Angst vor venerischen Krankheiten spielt freilich auch hinein («um mir se Cläpp zu hohlen, hätte es nicht unabdinglich einer Fahrkarte einmalerster nach Schadewalde bedurft!» [523]). Augenfällige Brüche trennen die Szene von der kanonischen Version des Mythos: Nicht Düsterhenn führt Rieke, sondern sie ihn; nicht er dreht sich nach ihr um, sondern sie nach ihm (vgl. Drews 49; Hink 4 f.). Und letztlich entkommt er der Unterwelt, weil er sich ihr nicht zu erkennen gibt. Die Goldmünze, die Düsterhenn für Rieke liegen läßt, zeigt mehrere Facetten. Sie spielt an auf Offenbachs «Orphée aux Enfers» (Wohlleben 11 Anm. 9). Sie läßt den Schriftsteller zum Zeus werden, der Danae mit seinem Goldregen beglückt, und unterstreicht als negative Folie zugleich sein fehlendes sexuelles ‹Vermögen› (Hink 6). Und sie gewinnt skatologische Qualität: Düsterhenn hinterläßt Rieke nicht sein ‹Bestes›, sondern im Gegenteil seine Exkremente: im Nachttopf seinen Urin, und auf dem Tisch (in der psychoanalytischen Metaphorik der Goldmünze) seinen Kot (vgl. Drews 57). Defätistischer könnte Düsterhenns Abschiedsgruß an Rieke kaum ausfallen. Diese Neigung zeigt sich in etlichen verdeckten Anspielungen, namentlich in «Kalliope», «Urania» und «Thalia». Vgl. Hink 7–14.
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Nicht nur Düsterhenns Angst vor der Impotenz bewahrheitet sich – auch die Angst vor der eigenen Homosexualität. «Ä ßädder änd ä ueiser Männ» [527],38 stiehlt Düsterhenn sich fort vom Ort seiner nächtlichen Schlappe, um seine versiegenden Triebe fortan nur noch als scharfer Beobachter zu befriedigen. Die lesbische Orgie bietet ihm dazu so unerhofft wie reichlich Gelegenheit. 39 Doch nicht ungestraft versucht Düsterhenn sich nun als Voyeur; als die vier Mänaden ihn entdecken, muß er um sein Leben rennen. An der Oberfläche der Erzählung entkommt er den vieren, wenn auch um Haaresbreite. Umso Schlimmeres widerfährt ihm darunter. «›mit den zähnen entmannt!› ich sah die Schlagzeile förmlich […] nur gut daß an mir so viel nich mehr zu entmann’n war» [537] – so schießt es dem flüchtenden Düsterhenn durch den Kopf. Seine Kastrationsängste, die bereits auf der allerersten Seite der Erzählung ihre Spuren hinterlassen, um dann in immer klareren Bildern wiederzukehren, werden nun Wirklichkeit – wenn auch nur in bildlicher Verschiebung. Gleich dreifach variiert der Text das Motiv: (i) Zu Beginn der Flucht verstaucht Düsterhenn sich den rechten Fuß; den Händen der Mänaden entkommen, stellt er «den fein=schneidenden Schmerz im rechten Fußknöchel» [538] fest: «auch das noch! Da würde ich in den nächsten 4 Wochen einen solennen Bluterguß nörsn könn’n» [538]. In der Traummetaphorik der Psychoanalyse steht der Fuß jedoch bekanntermaßen für das männliche Genital. (ii) Dem ihm gleichfalls nachsetzenden Kirby wirft Düsterhenn zur Ablenkung einen Wurstzipfel hin: «meine Linke schlenkerte kümmerlich das Ende Wurst nach hintn weg» [536], in der Enallage also das ‹kümmerliche Ende Wurst› – «des Sengers Phall» [535]. (iii) Insbesondere aber der Verlust der ‹Leier› symbolisiert die Entmannung: «Ich ließ blutenden Herzens den köstlichen syntax mitsamt Täschchen fallen […] welch treuer Diener seines Herrn» [536 f.]. 40 Doch nicht nur die Kastration, auch sein mythischer Sängertod findet sich in der Verschiebung dreifach abgebildet. (i) Als ihn unerwartet von hinten der harte Schlag einer Mänade trifft, faßt Düsterhenn seine Panik in die Worte: «ich verlor gleich den Kopf!» [535].41 (ii) Ein weiterer Hieb reißt ihm die Mütze herab, die in den Bach stürzt «und ihn nun zweifellos in alle Zukunft hinuntertreiben würde» [536] – eine Anspielung auf den Mythos, in der die Kopfbedeckung das poetische Haupt vertritt, und der dörfliche Wasserlauf den thrakischen Hebros. (iii) In Levys Wagen schließlich sitzt Düsterhenn auf dem «Todessitz» [538]; und was von ihm gerettet ist, hören wir im allerletzten Satz: «nu wenn schonn: bei einem anständigen Menschen lebt am Ende nur noch der Kopf!» [538] Düsterhenns verschobene Kastration und der symbolische Exitus von Mänadenhand verbildlichen das Erlöschen seines Sexus. Umgekehrt nehmen seine Impotenz und die mythische Zerreißung sein reales Ende vorweg. Der angedeutete sexuelle und mythische Tod geraten zur erschreckenden Vorschau auf das nahe leibliche Hinscheiden. 42 Nicht 38 39
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Eine Zeile aus dem wohl berühmtesten Gedicht von Samuel Coleridge, «The Rime of the Ancient Mariner». Gänzlich unberührt läßt das Schauspiel Düsterhenn offenbar nicht: «auch diesmal reekte sie [eine der «Jägerinnen»] ihren Stern mir zu; und jenes so oft mir schon Gekommene schien mir wieder zu kommen wie Neues» (533; notabene eines der bösesten Rilke-Massaker in dem Text). «syntax mitsamt Täschchen» stehen selbstredend für Phallos und Hoden. Aus dem Täschchen zaubert Düsterhenn seine Goldmünzen hervor, Bild seiner versiegenden Zeugungskraft (vgl. Anm. 36). Seine Flucht verläuft «unterm blutigen Schaffott des Monz» [536]. Vor allem das Schlußbild zeigt seine Impotenz als Präfiguration des Todes: allein der Geist überlebt.
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von ungefähr spielt die Geschichte zwischen Dämmerung und Nacht, an der Schwelle zum Winter, und somit mit der metaphorischen Symmetrie von Jahreszeit und Lebenszeit.43 Sein gescheitertes Abenteuer führt Düsterhenn zu düsteren Reflexionen über seinen physischen Verfall. Wenn nach Riekes Abgang sein Blick in den Spiegel fällt, sieht er wie ein zweiter Dorian Gray unerbittlich seinem Alter und seinen inneren Abgründen ins Auge.44 «Ich verzook angewidert den Mund, op des wullstijen Bocks=dorrt : ! (dessen ‹Gesicht› darob jedoch einen derart quasi=modrijen Ausdruck annahm, daß ich ihm freiwillich das Feld räumte)» [524].
Der Spiegel entlarvt ihn als lüsternen Pan-Mephisto45 so gut wie als einen dem Vermodern geweihten Quasimodo. Welche Rolle ihm jetzt noch bleibt, gerade als Autor, nimmt Düsterhenn in dem Pseudonym vorweg, unter dem er sein neues opus publizieren will: «Georg von Hagenau» oder auch «Die Nachtigall von Hagenau». «‹Georg Düsterhenn› vor lürischen Gedichten (ist) unmöglich: volkstümlich sein?, das heißt verständlich & sonnig sein, heiterdiekunst. ‹v. Hagenau›, hm hm; Georg; hierzulande hätte man mich ‹Schorse› gerufen, an der Mauer ‹Orje›: ‹Orje von haargenau + Nackt=y=gail›» [483].
In dem verballhornten «haargenau» verbirgt sich das Konzept eines anderen, präzise observierenden Realismus. «Orje» und die «Nachtigall» verweisen auf Düsterhenns mythologisches alter ego, Orpheus, den Autor schlechthin (daß an Orpheus’ Grab die Nachtigallen am süßesten schlagen, erzählt man in Thrakien).46 Die Verschreibung «Nackt=y=gail» aber (samt dem in diesem Licht eindeutigeren «haargenau») antizipiert den schonungslosen Chronisten des Nackten und Geilen «an der Mauer», im Grenzland des seelisch Unterbewußten.47 Was Düsterhenn bleibt, ist die Rolle des impotenten Voyeurs. An dieser Stelle tut ein Blick über «CüS» hinaus not, auf Schmidts späte und eigenwillige Entdeckung Freuds und der Psychoanalyse, die seine Weltsicht revolutioniert.48 Das pessimistische Menschenbild, das Schmidts Erzählungen von Anfang an prägt (im frühen «Leviathan» heißt es einmal: «Denken Sie an die Weltmechanismen: Fressen und Geilheit. Wuchern und Ersticken.»), 49 wird ihm nun zur unumstößlichen und gleichsam wissenschaftlich fundierten Gewißheit: was den Menschen umtreibt und beherrscht, sind im Grunde allein die nur mühsam gezügelten Triebe.50 43
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Die Geschichte ist offenbar vierzehn Tage nach St. Martin angesiedelt (vgl. 495). Sie spielt also Ende November. Düsterhenn ist zum Zeitpunkt der Erzählung wohl Anfang fünfzig (bes. 485), wenige Jahre älter als Schmidt zum Zeitpunkt der Niederschrift. «Die Helden der späteren Arbeiten Schmidts (sehen) das Wesen der Welt, den eigenen physischen Verfall und die eigene Psyche nicht nur abstrakt pessimistisch, sondern konkret hautnah und schonungslos.» Drews 54. Vgl. Dunker 14 f. Pausanias 9,30,7. Thomé 200 f. Vgl. Thomé 185–218; Drews 57 f. Zu Schmidts aus der vierten Instanz erwachsenen ‹Etym›-Theorie und seinen Verweisen auf «CüS» in «Zettels Traum» vgl. Herzog 16–8; Thomé 206 f. «Bargfelder Ausgabe» I/1, Zürich 1987, 48. Schmidt hat «die Psychoanalyse nicht zuletzt auch als eine Lehre von jenen psychischen Invarianten aufgefaßt […], die uns alle bestimmen und die jeder nur leise variieren kann.» (Drews 58).
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Der Urgewalt der Naturkräfte ist auch der Schriftsteller unterworfen. Doch es gibt einen Punkt, so Schmidts kühne (und psychologisch schwerlich haltbare) These, an dem es einigen wenigen genialisch veranlagten Charakteren gelingen kann (zu ihnen rechnet er v. a. Sterne, Joyce und, in aller Bescheidenheit, Schmidt selbst), diese Fessel zu sprengen: die Zeit jenseits der Potenz. Bei diesen happy few entwickle sich mit dem Ende ihres aktiven Sexuallebens neben Freuds ‹Es›, ‹Ich› und ‹Über-Ich› – genauer: in einer Art Symbiose des Unterbewußten und des Über-Ichs – eine sog. «vierte Instanz», die souverän über den Dingen steht und mit sardonischem Lächeln oder homerischem Gelächter das Wesen der menschlichen Natur durchschaut, nämlich deren fundamentale sexuelle Ausrichtung bis ins Mark der Sprache hinein. Entscheidend aber ist: ihr höheres Wissen um unser unterleiblich fixiertes Denken und Sprechen vermag die vierte Instanz in der Kunst bewußt schöpferisch umzusetzen – weniger in Freud’scher Sublimation als in Schmidt’scher Subversion. Die «Geburt der Vierten Instanz aus dem Geist der Impotenz», wie ein Interpret treffend formuliert hat, führt laut Schmidt zur souveränen Handhabung dieser (man darf sagen: mutmaßlichen) sexuellen Doppelbödigkeit der Sprache.51 Es ist nicht das geringste Ziel des «CüS», die Sprache als Spiegel unseres triebhaften Unterbewußten sichtbar, und damit Schmidts psychologische Theorie in der mythischen Erzählung Fleisch und Blut werden zu lassen. Im Grunde geschieht dies vom Beginn der Erzählung an, die ja als innerer Monolog Düsterhenns angelegt ist. Zur Peripetie des Textes wird jedoch das mißlungene Tête-à-tête mit Rieke. Düsterhenns unfreiwilliger Abschied von der Sexualität setzt die vierte Instanz in ihm frei. Bei der Beschreibung der lesbischen Liebesspiele schwillt seine Feder sichtlich an, ja explodiert in einem nüchternen Rausch der Silben und Worte, in einer veritablen Sprachorgie, die seine Feststellung – «die ganze Sprache ist ja irgendwie sexuell superfoetirt!» [535] – aufs Sinnenfälligste durchbuchstabiert.52 Die Erlebnisse mit Rieke und den Mänaden öffnen Düsterhenn die Augen für seinen neuen Status und dessen Konsequenzen. In einer Art Initiation (die stets eine Todeserfahrung bedeutet), in einer Reise ins Schattenreich der Seele, schüttelt Düsterhenn die Fesseln ab, die ihn bislang gefangen hielten, und ist am Ende «frei» [537]: «frei von der Frau und ihrer fordernden Sexualität, frei vom Druck der eigenen, aktiven Sexualität» – und damit von den Heimsuchungen des ‹Es› –, «aber auch frei vom Zwang des Über-Ichs.»53 Die Skylla des Unterbewußten und die Charybdis des Über-Ichs unterjochen ihn nicht länger; er stellt sie in seiner Kunst bloß und überwindet sie damit. Von nun an kann er dem Verdrängten und Unterdrückten bewußt Raum geben und es künstlerisch gestalten. Dieser moderne Orpheus befreit nicht Eurydike – «er befreit sich selbst.» 54 51 52
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Dunker 18. «Der Zettelkasten [Schmidts legendäres Arbeitsinstrument] wird zur Zettel-Trommel, und diese läuft auf hohen Touren. Eine Metaphern-Suite, ein Höllenreigen von Nomenklatur-Varianten zwischen Fachsprachen und Rotwelsch, ein berechneter Einsatz von Aspirata und Kehltönen, Labiallauten und Diphthongen, Bauchrednerkunst und Aphasie in einem.» (Andersch 355). Schmidt gelingt dies in so schlagender Weise, daß der Klassische Philologe sich mit Bedauern fragt, warum der Bargfelder Solipsist Cooper, Collins oder Poe übertragen hat, nie aber z. B. Aristophanes. Wer hätte ihm hier das Wasser gereicht? Hink 16. Drews 49. «Daß es in der Erzählung in der Tat auch um das Verhältnis von Unbewußtem und Über-ich geht, macht der Titel klar: ‹Caliban› steht für das personifizierte Unbewußte, ‹Setebos› für die Autorität des Über-Ichs» – die nun überwunden wird. «Die Kunst zwischen den Zwängen des Unbewußten und den Verboten des Über-Ichs ist eines der zentralen Themen von «CüS». Es geht um die Neubestimmung ihrer
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An dieser Stelle mündet die psychologische Stimme der Orpheus-Erzählung zurück ins mythologisch-literarische Leitmotiv. Arno Schmidt war an einer Wegscheide angelangt. Sein großes Formexperiment, der drei Jahre zuvor publizierte ‹zweistimmige› Roman «Kaff», war von der Kritik kaum beachtet, geschweige denn verstanden worden («die Nicht-Teilnahme der Leserschaft übertraf die kühnsten Erwartungen»);55 die Arbeit an «Zettels Traum» stand vor ihrem Beginn. An dieser Wegscheide denkt er nach über die Rolle des Schriftstellers und die Möglichkeiten und Aufgaben der Literatur, auch und gerade im Licht der eben dargelegten psychologischen Einsichten. Zwei prinzipielle Möglichkeiten künstlerischer Äußerung begegnen uns in der Erzählung. Bereits in Düsterhenns erstem kunsttheoretischen Bekenntnis tauchen sie auf: «Was mir fehlt, ist eindeutig die naive, intime Einzelbeobachtung, plastisch & elementar in den Grenzen des Schicklichen, rein & wahr. Und faltete doch schon wieder skeptisch den blassen Mund […]: ‹rein & wahr›; was […] die Menschen sich so lebenslänglich für Blauen Dunst vormachen! Denn wenn es je ein Entweder=Oder gab, so war das ja hier der Fall» [489].
Es gibt also – so ließe sich folgern – eine Scheinkunst, die die Wirklichkeit ins aseptisch ‹Reine› verfälscht und damit der (Selbst-)Täuschung erliegt; und eine wahre, die sie ungeschminkt und unbestechlich kartographiert. 56 Düsterhenn wird sich im Lauf der Erzählung in beiden Formen bewegen, als Lyriker und als Prosaiker. Den Lyriker Düsterhenn (eine fast schon Wilhelm-Busch-reife Karikatur des Dichterlings) treibt der Hunger nach gesellschaftlicher Anerkennung und gesichertem Auskommen. Beides erfordert freilich, wie er erfahren muß, Konsessionen an Geschmack und Moral des Publikums. Dem Geld und dem Erfolg zuliebe paßt Düsterhenn sich den Verhältnissen an; er produziert populäre, seichte, mit einem Wort: «schöne» Kunst. Als Volksdichter von erlesener Plattheit redet er der Menge nach dem Mund; in bewußter Selbstzensur geht er aber auch jedem Konflikt mit der Obrigkeit aus dem Weg und schlägt sich auf die Seite der Mächtigen. «‹Unser Kanzler liebt die Rosen!›: das hatte mir seinerzeit Geld wie Mist gebracht! Wenn man bloß schon genau wüßte, was der Außnminister liebt.» [500] Solche affirmative Panegyrik täuscht das Ideal einer besseren Welt nur vor und verhöhnt es im Grunde bewußt. «Wenn es mir doch bloß nochma gelänge, so gansgans sinnich=einfältich zu werden! ’n paar Mal waren mir daja herrliche Schlager geraten.» [484; vgl. 499] Und trotzig setzt er hinzu: «Man dachte noch vielzuviel: ‹dumm & geil›, das ist das Rezept des Erfolges.» [507].57 Zu welcher Kunst diese Haltung führt, erleben wir mit, wenn wir Zeugen seines poetischen Schöpfungsprozesses werden – weniger eine dichterische Stern- denn «Düsterhenns Dunkelstunde»:
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Position zwischen diesen beiden Polen (…), und es geht um die Konsequenzen, die sich aus dieser Veränderung für die Kunst und den Künstler ergeben.» Hink 17. Arno Schmidt, Trommler beim Zaren, Karlsruhe 1966, 276. Beide Spielarten der Kunst werden auch von ihrer politischen Wirkkraft her definiert. Dies drückt sich auch in den Untertiteln aus, die Düsterhenn für die neun «Unter=Bücher» (die neun Musen!) seines opus magnum plant [484], u. a. «Trautes Heim» [484], «Landlust» [489], «Wanderlieder» [490], «Trinklieder» [499]. Auf die satten Einkünfte, die seine Lyrik abwirft, spielt Düsterhenn zu wiederholten Malen an [bes. 479; 499].
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«„Ich saß im lieben, trauten Stübchen“, da=dámm da=dámm da=dámm da=dámm: ‹Bübchen› ! : „mein – – ä – –“ (nee; ‹lieb & traut› nich noch ma) – – „mein kleines süßes Herzens=Bübchen“ klar, Mensch! ([…] rann=jetz mit den populären Adverbien!): „schlang seine –“ hm ‹Arme› oder ‹Ärmchen›? Kann das Volk, unser Volk, mein Volk, noch’n Diminutiv verdauen? Ich möchte meinen – ‹ja› […]: „schlang seine Ärmchen warm um mich.“ […] (Moment. Wie sah denn das bis hierhin aus –): „Ich saß im lieben, trauten Stübchen, ...................................... mein kleines süßes Herzens=Bübchen schlang seine Ärmchen warm um mich.“ Logischerweise hätten noch’n paar nähere Bestimmungen von Zeit & Ort da rein gehört, kwommodo kwanndo […]
„grad, als der Tag dem Abend wich=Punkt.“» [485 f.] Daß diese schwül vibrierenden Schmachtverse aus der Feder Karl Mays stammen, macht die Sache kaum besser, wohl aber pikanter (im Vorjahr war Schmidts Studie «Sitara» erschienen, die seine plausibel untermauerte These von der latenten Homosexualität im Werk des sächsischen Barden, die dessen Bücher dem deutschen Leser so lieb & teuer mache, unter ein ungläubiges Volk trug). Indem er Karl May (oder in etlichen centoartigen Zitaten auch Rilke) als Meister trivialer Illusion vorführt (im doppelten Sinn des Wortes), parodiert und diffamiert Schmidt den Typus traditioneller Dichtung, der die Wirklichkeit stilisiert und pathetisch überhöht.58 Damit nicht genug: unter der unschuldigen Oberfläche solcher Kunst zeichnet sich für Schmidt ihr latentes sexuelles Substrat ab – wie an Karl May exemplifiziert. Mit anderen Worten: die Produkte solcher Autoren sind mitnichten rein und frei, sondern bilden das von ihren Verfassern Verdrängte so unwillentlich wie machtvoll ab. 59 Dergleichen Ergüsse sollen nun Düsterhenns Erfolg beim Publikum sichern: «Gans=passabel; so ‹weiche-warme Dämmrung›; ‹düsterhenn’s Dunkelstunde›. Ich hatte aber auch erlesen=platte Sylben anthologisch gepflückt. Und der Inhalt war ja der letzte Hammer: also wenn mir’s diesmal nich gelingt …» [486].
Doch mit dieser Lage der Dinge ist Düsterhenn mitnichten glücklich. Wir sehen ihn zerrissen zwischen der äußerlichen Anpassung seiner Schmachtverse und seiner inneren Opposition, die es zur Prosa zieht:60 «wenn Prosaschreibm bloß nich so gefährlich wäre; 58
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In Richard Tauber oder Karl May sieht er «ewige, nie genug zu verehrende Vor=Bilder uns nach Volkstümlichkeit Ringenden» [507]. Rilke hingegen steht für die falsche, vom Über-Ich zementierte Kunst des «Reinen und Wahren». Die Absage an Rilkes Ideale und die ‹orphische› Kunsttradition insgesamt wird zur Geburt der Literatur, wie Joyce oder Arno Schmidt sie betreiben (vgl. Herzog 18). Zu den zitierten Versen «läßt sich der Kommentar im Sinne von Sitara und der Weg dorthin unschwer erraten». (Thomé 208). Zum heiklen Lavieren zwischen Kirche, Staat und Militär meint Düsterhenn: «also was ein Künstler heutzutage ‹steuern› muß, in den caxton Bedeutungen des Wortes, das kann sich ’n einfacher Mensch gar nich vorstellen!» [503].
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manchma hatt’ich direkt Lust dazu!» [491].61 Diese zweite Kunstform, die auf «Tatsachensinn» und «Beobachtung der Umwelt» gründet, verschreibt sich der mikroskopischen Analyse der Welt, die Düsterhenn an einer Schlüsselstelle das «Uni= sive Perversum» [528] nennt. Was die Kunst des schönen Scheins der Masse trügerisch vorgaukelt, entlarvt sie als Illusion: die Liebe, die Aufklärung der Menschen, die erträumte bessere Welt sind Unmöglichkeiten in einer Schöpfung, in der das Mißlungene, das «Fusch=Werk» [534] die Regel darstellt. 62 Hier verwandelt Düsterhenn-Orpheus sich in den Caliban aus Shakespeares «The Tempest», genauer: aus Robert Brownings Gedicht «Caliban upon Setebos», das beim Titel der Erzählung Pate stand. Caliban, der dämonische Rebell, klagt den Zustand der Welt an, den ihr Schöpfer Setebos zu verantworten hat:63 «Natürlich gab’s auch ab & an ne gelungene Stelle im Universum; aber die Mehrzahl der Produkte jenes sete Boss war Fusch=Werk, schnell & schludrich, wie vo’m alten=frechen Handwerksburschen: wenn’s n Buch wär’, würde der Autor schon das seinige zu hören bekomm’m. Aber so kuschschtn se Alle» [533 f.].
Hier klingt das alte Leviathanthema an, das sich von Schmidts früher Erzählung gleichen Titels an durch sein Werk zieht. Doch während in Schmidts frühen Texten hinter der Rebellion gegen die schlechteste aller Welten am Horizont noch die Utopie eines anderen, besseren Kosmos aufscheint und ein Entkommen zumindest versucht wird, entlarvt «CüS» derlei Anstrengungen als Illusion.64 Veränderung ist undenkbar; die Welt insgesamt ist mißraten und ohne Sinn; der Mensch hat in ihr keine Heimat. Der Abgesang an jede Metaphysik («Nein!; es hatte keinen Sinn, das ganze.» [525]) ist freilich nicht gleichzusetzen mit Resignation: zumindest dem Autor bleibt das unbestechlich-distanzierte, wenn auch gewiß nicht leidenschaftslose Beobachten und Notieren des Weltenlaufs. Die Antwort auf die Misere heißt Kunst. «Und wozu ist schließlich der Sänger da, wenn nicht um das Uni= sive Perversum mitzustenografieren? Allen zum Anstoß, Keinem zur rechten Freude.» [528].65 Diesen Prozeß der Reflexion und Neuorientierung des Künstlers am Scheideweg setzt «CüS» dramatisch um. Die Erzählung konfrontiert zwei mögliche Haltungen des Schrift61
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Woher diese Angst rührt, hören wir an anderer Stelle: «wenn die Regierungen 1 Sorte Künstler ganz besonders hassen, dann sind das die ‹Naturalisten›. […] ‹Kunst› setzt ‹Beobachtung› der Umwelt voraus, diese wiederum ‹Tatsachensinn›: und der ist ja so ziemlich das Überflüssigste in den Augen der Regierenden.» [532 f.]. Schmidts radikaler anthropologischer Pessimismus bricht sich Bahn. «Damit verschwindet das Element von Aufklärertum und politischem Engagement in Schmidts Werk, der Jakobiner hat resigniert und der Solipsist in Schmidt, der Erbauer esoterischer Wortwelten hat die Oberhand bekommen» (J. Drews, in: ders. / H.-M. Bock (Hrsg.), Der Solipsist in der Heide. Materialien zum Werk Arno Schmidts, München 1974, 176 f.). Daß die Welt das Werk eines schlechten Schöpfers sei, folgert ein gnostisch angehauchter Caliban in anthropomorphisierender Analogie aus ihrer Mangelhaftigkeit. Zu dem Gedicht Brownings vgl. Schleinitz. – Hierher gehört letztlich auch das kosmogonische Einsprengsel in «CüS», Herakles’ orphisches Weltei (vgl. oben S. 193): die Welt als Kothaufen. Zu den kosmologischen Konsequenzen der vielen skatologischen Einlagen in dem Text vgl. Drews 57. Vgl. Finke 140. «Spricht der alte Orpheus-Mythos von der Macht des Gesanges und der Macht des Eros, so die Schmidt’sche Variante von der Macht der Sexualität und der Macht des Geldes. […] Nicht Gesang regiert die Welt, sondern Geld.» Drews 55 f. Zum Abbild des rasend gewordenen «Uni= sive Perversum» wird die Orgie der «Jägerinnen».
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stellers zur Welt: Anpassung, die Anerkennung findet und Wohlstand garantiert, oder aber radikale Opposition. Und am Ende der Geschichte erleben wir mit, wie Düsterhenn mit hängender Fahne die Fronten wechselt. Er wirft sein Reimlexikon fort; mit anderen Worten: die Zeit der kopflosen Verse ist vorüber, die Stunde der welthaltigen Prosa hat geschlagen. «CüS» verbildlicht Schmidts Beschluß, künftig radikal sein neues Programm umzusetzen: die Sprache der vierten Instanz. Diese Haltung des Autors wird in der vielleicht schönsten Szene der Erzählung lebendig, wenn Düsterhenn einen kleinen Laternenumzug beobachtet, bei dem zuletzt ein Mädchen übrigbleibt: «Allein & dennoch leuchtend: sie sah jene zue Tür eine Weile finster an. / Drehte sich dann hart auf dem Absatz um. Und kam, steif den Kopf gesenkt, langsam & unaufhaltbar die Straße her. ([…] Hielt sie – die Laterne – ’türch nich mehr ganz so vorbildlich.) / Sang sogar noch; wenn auch zwischen den Zähn’n, die Tapfere! Als sie vorbei zog, verstand ich die Worte. – / : ‹Heuteblau. Und morgenblau. Und über=morgän=wie=där!›» [495].66
Dem unwirtlichen Abendgrauen wirft die kleine Sängerin trotzig ihr Lied entgegen. Daß es ein Trinklied ist, macht Sinn. Als nach der fatalen Begegnung mit Rieke Düsterhenn sich mit einem Trunk aus dem von Persephone erstandenen Krug stärkt, fällt ihm das Lied wieder ein [525]. In einer sinnleeren Welt bleibt nur der Trost des Hochgeistigen, das der Krug (in dem wir getrost die Hippukrene der Bargfelder Heide vermuten dürfen) reichlich gewährt: die schöpferische Inspiration der vierten Instanz.67 So ist die Kunst nicht nur unbestechliche Chronistin des Weltzustandes; ihr ‹Aber›, der Verfaßtheit des Un-Kosmos trotzig-prometheisch entgegengeschleudert, zeigt den Künstler als den wahren Schöpfer und Demiurgen, der in seinem Werk eine überlegene, weil geordnete und in ihrem Humor gerettete Welt zu erschaffen weiß. «Zwar kann Literatur, sofern sie Erkenntnis ist, immer nur die Zusammenhanglosigkeit und Unausweichlichkeit der kreatürlichen Misere aufdecken, sie tut dies aber in einem sinnvoll geordneten Gebilde. Die Befriedigung darüber ist das letzte humane Residuum, das (Arno Schmidts) Spätwerk zuläßt.»68
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In dem von Schmidt’schen Kindheitserinnerungen inspirierten Laternenumzug sieht Andersch 355 das «einzige Residuum von Utopie, von paradiesischer Hoffnung» in dem Stück. Auch in dem Roman «Aus dem Leben eines Fauns» wird ein Laternenumzug zur Flucht aus den Nöten des Alltags kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs («Bargfelder Ausgabe» I/1, Zürich 1987, 365). – Drews 48 sieht hier eine Anspielung auf das ‹Lampenfest› (die &) ) der Isis im ägyptischen Sais (vgl. Herodot 2,62). Der Krug «Wonn Gällon» (i. e. one gallon; «auch das der blanke Tiefsinn, ‹Wonne + Galle›» [525]) ist erotisches Symbol in Düsterhenns Beziehung zu Madame Tulp und Rieke (vgl. Dunker 18; Thomé 210 f.). In der Schlußszene, im Schoß Düsterhenns, verbildlicht er aber auch die Kompensation der erloschenen Sexualität im Alkohol. Düsterhenns Inspiration ist künftig nicht mehr der Eros, sondern der Whiskey (Drews 49). Zuguterletzt steht der Krug aber auch für das entkörperlichte Haupt des Poeten – und symbolisiert als Urne den Tod (in den vielen einzelnen Körperteilen, die die Schlußszene aufreiht, spiegelt sich Orpheus-Düsterhenns Zerstückelung). Thomé 218. – Auch darauf verweist Andersch 357, wenn er zu der Erzählung seines Freundes anmerkt: «Last but not least muß konstatiert werden, was unaufhörlich, ein grau-silbernes Licht, durch den Text diffundiert: Humor. Humor kopfschüttelnden Grimms natürlich, fern von fidelen Schnurren und sardonischem Lächeln. Sondern: Clownerie des Mit-Leidens, wütendes Lachen, Budenzauber von Verdammten. Nach uns die Sintflut. Dieser Mann ist, zu allem hinzu, einer der größten und humansten Humoristen in aller deutschen Literatur.»
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Werfen wir zuletzt einen Blick zurück auf den Orpheusmythos, und sein Geschick unter Schmidts Hand. Daß er zum Mythos greift, hat auch einen literaturgeschichtlichen Grund. Wie auf der psychologischen Ebene Freud, erweist Schmidt hier einem zweiten Großen Referenz: James Joyce, als Hommage an dessen «Ulysses» «CüS» sich durchaus lesen läßt. Bei beiden schenkt der mythische Unterbau – transponiert «sub specie temporis nostri» (Joyce) – der modernen Handlung ironische Tiefenschärfe und erlaubt Joyce wie Schmidt das Sprechen mit doppelter Zunge (um nicht zu sagen: in Zungen). Er liefert einen erstaunlich belastbaren strukturierenden Rahmen, vor allem aber den Stoff, samt seinem reichen Geflecht der Bezüge und Deutungen (vulgo: Rezeptionsgeschichte), die im Wechselgesang mit der Oberfläche ein verwirrend polyphones Konzert anstimmen.69 Mit dem Mythos geht Schmidt dabei so unbefangen um wie Joyce. Die Geschichte um Orpheus hebt er auf ihren beiden Schlüsselebenen auf.70 Die Idee der Liebe wird entlarvt als jugendblinde, unerwiderte Schwärmerei des pubertierenden Jünglings, die der zum Mann Gereifte als blanke Triebeslust durchschauen muß; beide zerschellen spät und jäh an der Realität. An die Stelle des Eros und der Gattenliebe tritt der nackte Sexus. Und die Macht des mythischen Sängers wird abgelöst von der Macht des Materiellen. Das Vermögen der Kunst jedoch, die Realität nicht nur ideal abzubilden, sondern verändernd (und zwar zum Guten hin) in sie einzugreifen, wird auf der Ebene des Ich-Erzählers in grellen Bildern ad absurdum geführt. Und doch bleibt solche Antikenzertrümmerung nicht Schmidts letztes Wort; gleichsam jugendfrisch erhebt die alte Mythe ihr graues Haupt. Denn hinter aller Desillusionierung erleben wir Kunst von hohen Graden. Nicht vor den Herrschern des Todes singt unser Orpheus am besten, wie im Mythos, sondern vor und für sich selbst, wenn er im inneren Monolog seine Katabasis beschreibt, sein Scheitern und Erwachen. Auf hintergründige Weise erweist der alternde Düsterhenn sich als Sprachmusiker und Musenfreund, 71 der eine neudefinierte orphische Meisterschaft des bannenden Worts in die götterlosen Adenauerjahre gerettet hat – unerhörter Sänger unmythischer Zeit.
Bibliographie (in Auswahl) Andersch, Alfred, Düsterhenns Dunkelstunde oder Ein längeres Gedankenspiel, in: ders., Norden, Süden, rechts und links. Von Reisen und Büchern 1951–1971, Zürich 1972, 340–57. Barczaitis, Rainer, Anmerkungen zur Rolle von Nachschlagewerken in «Caliban über Setebos», in: M. Lowsky (Hrsg.), Zettelkasten 11, Frankfurt/M. 1992, 107–121. Blumenthal, Bert, Der Weg Arno Schmidts. Vom Prosaprotest zur Privatprosa, München 1980, 190–200. Czapla, Ralf Georg, Mythos, Sexus und Traumspiel. Arno Schmidts Prosazyklus «Kühe in Halbtrauer», Paderborn 1993, 273–309. Drews, Jörg, Caliban Casts Out Ariel. Zum Verhältnis von Mythos und Psychoanalyse in Arno Schmidts Erzählung «Caliban über Setebos», in: ders. (Hrsg.), Gebirgslandschaft mit Arno Schmidt. Grazer Symposion 1980, München 1982, 46–65. 69 70
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Zum Einfluß bes. von «Finnegans Wake» auf Schmidt vgl. Drews [Anm. 62] 178 f. Bereits Phaidros im platonischen Symposion (179d 3–9) übt Kritik am Orpheusmythos, wenn er den Sänger einen Hasenfuß schimpft, der sich gescheut habe, für Eurydike zu sterben; zur Strafe hätten die Götter ihm auf seiner Hadesfahrt nur ein Trugbild Eurydikes gezeigt. Wie das Motto verrät, war Düsterhenn beim Erzählen des «Caliban» eben doch von den Musen inspiriert.
Orfeus in Niedersaxn
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Dunker, Axel, «Njus fromm hell». Dualistische Prinzipien in Schmidts Erzählung «Caliban über Setebos», in: Bargfelder Bote, Lfg. 146–147, 1990, 3–26. Finke, Reinhard, «Der Herr ist Autor». Die Zusammenhänge zwischen literarischem und empirischem Ich bei Arno Schmidt, München 1982, 130–144. Herzog, Reinhart, Glaucus adest. Antike-Identifizierungen im Werk Arno Schmidts, in: Bargfelder Bote, Lfg. 14, 1975 [unpaginiert; 25 S.]. Hink, Wolfgang, «Losung ‹Heimlich Wein, Öffentlich Wasser›». Latente Sexualität in «Caliban über Setebos», in: Bargfelder Bote, Lfg. 85–86, 1985, 3–20. Jurczyk, Stefan, Symbolwelten. Studien zu «Caliban über Setebos» von Arno Schmidt, Paderborn 1997. Kaiser, Joachim, Des Sengers Phall. Assoziation, Dissoziation, Wortspiel, Spannung und Tendenz in Arno Schmidts Orpheus-Erzählung «Caliban über Setebos», in: Bargfelder Bote, Lfg. 5–6, 1973 [unpaginiert], 1–12. Neuner, Michael, Flucht aus dem Paradies. Arno Schmidts Erzählung «Caliban über Setebos», Egelsbach 1993. Rathjen, Friedhelm, «… schlechte Augen». James Joyce bei Arno Schmidt vor «Zettels Traum». Ein annotierender Kommentar, München 1988, 126–30. S chleinitz, Astrid, Anmerkungen zum Titel der Erzählung «Caliban über Setebos», in: Bargfelder Bote, Lfg. 101–103, 1986, 41–7. Strick, Gregor, Einige Probleme des Lesens und Deutens von Arno Schmidts «Caliban über Setebos», in: ders. (Hrsg.), Zettelkasten 14, Frankfurt/M. 1995, 245–260. Suhrbier, Hartwig, Zur Prosatheorie von Arno Schmidt, München 1980. Thomé, Horst, Natur und Geschichte im Frühwerk Arno Schmidts, München 1981, 193–218. Weninger, Robert, Arno Schmidts Joyce-Rezeption 1957–1970, Frankfurt/M. 1982, 153–173. Wohlleben, Robert, Götter und Helden in Niedersachsen. Über das mythologische Substrat des Personals in «Caliban über Setebos», in: Bargfelder Bote, Lfg. 3, 1973 [unpaginiert; 13 S.] (vgl. auch Wohllebens Einzelnachweise zu «CüS», in: Bargfelder Bote, Lfg. 5–6, 1973 [unpaginiert], 13–21). Zenck, C. Maurer (Hrsg.), Der Orpheus-Mythos von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. 2004.