LORENZ OBERLINNER . DIE PASTORALBRIEFE .
HERDERS THEOLOGISCHER KOMMENTAR ZUM NEUEN TESTAMENT Begründet von Alfons Wikenhauser t fortgeführt von Anton Vögtle t und Rudolf Schnackenburg Herausgegeben von Joachim Gnilka und Lorenz Oberlinner
BANDXII2
DIE PASTORALBRIEFE Dritte Folge: Kommentar zum Titusbrief
HERD ER FREIBURG . BASEL· WIEN
DIE PASTORALBRIEFE DRITTE FOLGE
KOMMENTAR ZUM TITUSBRIEF
Auslegung von Lorenz Oberlinner Professor für neutestamentliche Exegese an der Universität Freiburg i. Br.
HERD ER FREIBURG . BASEL· WIEN
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Herders theologischer Kommentar zum Neuen Testament I begr. von Alfred Wikenhauser. Fortgef. von Anton Vögtle und Rudolf Schnackenburg. Hrsg. von Joachim Gnilka und Lorenz Oberlinner. - Freiburg im Breisgau ; Basel; Wien: Herder.
NE: Wikenhauser, Alfred [BegL]; Vögtle, Anton [Hrsg.]; Gnilka, Joachim [Hrsg.] Bd. 11,2. Oberlinner, Lorenz: Die Pastoralbriefe. - 1996. Oberlinner, Lorenz: Die Pastoralbriefe: Titusbrief I Auslegung von LOTenz Oberlinner. - Freiburg im Breisgau ; Basel; Wien: Herder, 1996. (Herders theologischer Kommentar zum Neuen Testament; Bd. 11,2) ISBN 3-451-26114-6
Alle Rechte vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Herder Freiburg im Breisgau 1996 Satz: SatzWeise, Trier Druck und Bindung: Freiburger Graphische Betriebe 1996 Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem Papier ISBN 3-451-26114-6
INHALT
Vorwort . . . . . . . Texte und Literatur
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TITUSBRIEF 1. Die Grußzuschrift (1,1-4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Die Aufgabe des Titus auf Kreta: Einsetzung von Presbytern (1,5-9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Urteil über die Widersacher (1,10-16) . . . . . . . . . . Exkurs: Die Irrlehrer in den Gemeinden der Pastoralbriefe . . Exkurs: Gemeinde, Amt und Kirche nach den Pastoralbriefen 4. Die Aufgabe des Gemeindeleiters: Anweisungen für die verschiedenen Gruppen in den Gemeinden (2,1-10) . . . . . .. 5. Die heilsgeschichtliche Begründung für das Leben der christlichen Gemeinde (2,11-15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Die Christologie der Pastoralbriefe . . . . . . . . . . .. 6. Die Berufung der christlichen Gemeinde für die Welt (3,1-7) 7. Letzte Bekräftigung der Autorität des Vorstehers für den rechten Glauben der Gemeinde (3,8-11) . . . . . 8. Persönliche Aufträge und Schlußgruß (3,12-15) . Rückfragen zur Auslegung der Pastoralbriefe . . . .
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VORWORT
Wie schon im Vorwort zur Auslegung von 1 Tim ausgeführt, hat sich der Plan, die Kommentierung der Pastoralbriefe in einem einzigen Band vorzulegen, aus verschiedenen Gründen nicht verwirklichen lassen. Die Aufteilung in drei Teilbände kann aber auch so interpretiert werden, daß auf diese Weise dem literarischen Verfahren des Verfassers entsprochen wird. Allerdings sind sowohl die Probleme als auch die "Antworten" des Pseudo-Paulus im Tit dieselben wie in 1 Tim und 2 Tim. Die gemeinsame Grundstruktur in der Thematik ermöglicht es auch, in den drei in diesem letzten Band eingefügten Exkursen die beiden Tim-Briefe zusammen mit Tit als vom Verfasser, wie schon in der Einleitung zu 1 Tim ausgeführt, konzipierte Einheit zu betrachten Zu den Exkursen ist vorweg zu sagen, daß sie von Leserinnen und Lesern je nach Erwartung unterschiedlich beurteilt werden können. Den einen werden sie als zu lang erscheinen, weil über die Past hinaus einige Querverbindungen in die neutestamentliche Literatur hergestellt werden; für andere wird genau dieser Punkt Anlaß zu Kritik sein, weil - etwa beim Exkurs zur Christologie - der Blick auf das Gesamte der neutestan;tentlichen Verkündigung, insbesondere auf Paulus, zu knapp ausgefallen ist, oder weil- beim Exkurs zu Gemeinde, Amt und Kirche - die Mitberücksichtigung der in etwa zeitgleichen Schriften der "Apostolischen Väter", insbesondere der IgnatiusBriefe, fehlt. Beim letztgenannten Themenbereich frühchristlicher Gemeindeorganisation wäre die Miteinbeziehung dieser Quellen aber nur sinnvoll, wenn sie ebenfalls in ihrer geschichtlichen Einordnung genauer bestimmt würden. Das jedoch hätte den Rahmen dieses Werkes gesprengt. Für tatkräftige Mithilfe bei der Fertigstellung des Bandes habe ich erneut meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu danken, Herrn Dr. Gerd Häfner, Frau Dr. Carola Diebold-Scheuermann, Frau Dipl.Theol. Barbara Herrmann, Frau cand. theol. Corinna Lienhart, sowie Frau Ingeborg Walter für die engagierte und zuverlässige Manuskripterstellung. Herr Diedrich Steen hat als Lektor im Verlag Herder durch beharrliche Geduld und durch organisatorisches Geschick bei der Drucklegung unentbehrliche Hilfe geleistet. Meine Frau Ruth und unsere Tochter Beate haben durch geduldige VII
Vorwort
und ermutigende Unterstützung durch manches Tal und über Klippen hinweg geholfen; dafür gilt ihnen mein Dank. Konnte der zweite Band meinem verehrten Lehrer Anton Vögtle zur Feier seines 85. Geburtstages am 17. Dezember 1995 gewidmet werden, so bleibt nach seinem Tod am 17. März 1996 ein dankbares Gedenken. Freiburg i. Br., im Oktober 1996
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Lorenz Oberlinner
TEXTE UND LITERATUR
Die im folgenden aufgeführte Literatur ergänzt die Literaturverzeichnisse, die sich in den Bänden H1bK BD. XII2 1. Folge, Kommentar zum 1. Timotheusbrief, und H1bK Bd. XII2 2. Folge, Kommentar zum 2. Timotheusbrief, findet.
A. Quellen Didache. Zwölf-Apostel-Lehre, übers. und eingel. v. G. Schöllgen (FC1) (Freiburg LBr.1991). B Allgemeine Literatur
Beilner, W. - Ernst, M., Unter dem Wort Gottes. Theologie aus dem Neuen Testament (ThaurlWienIMünchen 1993) 799-812. Haubeck, W. - Siebenthal, H. V., Neuer sprachlicher Schlüssel zum griechischen Neuen Testament. Römer bis Offenbarung (Gießen 1994). Klauck, H.-I., Die religiöse Umwelt des Urchristentums, 11: Herrscher- und Kaiserkult, Philosophie, Gnosis (Kohlhammer-Studienbücher Theologie 9,2) (Stuttgart 1996). Metzger, R M., A Textual Commentary on the Greek New Testament (Stuttgart '1994). Stegemann, E. W. - Stegemann, W., Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christengemeinden in der mediterranen Welt (Stuttgart 1995). Strecker, G., Theologie des Neuen Testaments, bearb., erg. und hrsg. v. E W. Horn (Berlin 1996) 607-625. Vouga, E, Geschichte des frühen Christentums (UTB 1733) (TübingenJBasel 1994). C. Kommentare Marcheselli-Casale, C., Le Lettere pastorali. Le due lettere a Timoteo e la lettera a Tito (SOCr 15) (Bologna 1995). Towner, Ph. H., 1-2 Timothy & Titus, The IVPNew Testament Commentary Series (Illinois/Leicester 1994).
D. Weitere Untersuchungen Brox, N., Der erste Petrusbrief (EKK XXI) (Zürich/Neukirchen 1979). Bruce, F. E, The Pauline Circle (Exeter 1985).
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Texte und Literatur HeiligenthaI, R., Werke als Zeichen. Untersuchungen zur Bedeutung der menschlichen Taten im Frühjudentum, Neuen Testament und Frühchristentum (WUNT 2.9) (Tübingen 1983). Han, T., Jewish Women in Greco-Roman Palestine. An Inquiry into Image and Status (TSAJ 44) (Tübingen 1995). Läger, K., Die Christologie der Pastoralbriefe (Hamburger Theologische Studien 12) (Münster 1996). Lips, H. V., Art. Ordination. III. Neues Testament: TRE 25 (1995) 340-343. Löning, K., Epiphanie der Menschenfreundlichkeit. Zur Rede von Gott im Kontext städtischer Öffentlichkeit nach den Pastoralbriefen: Und dennoch ist von Gott zu reden. FS H. Vorgrimler, hrsg. v. M. Lutz-Bachmann (Freiburg i. Br. 1994) 107-124. Ders., "Gerechtfertigt durch seine Gnade" (Tit 3,7). Zum Problem der Paulusrezeption in der Soteriologie der Pastoralbriefe: Der lebendige Gott. Studien zur Theologie des Neuen Testaments. FS W. Thüsing, hrsg. v. T. Söding (NTA 31) (Münster 1996) 241-257. Maloney, L. M., The Pastoral Epistles: Searching the Scriptures. Vol. 2: A Feminist Commentary (N ew York 1994) 361-380. Merk, 0., Verantwortung im Neuen Testament: E. Würthwein - 0. Merk, Verantwortung (Biblische Konfrontationen) (Stuttgart 1982) 117-183. Porter, S. E., Pauline Authorship and the Pastoral EpistIes: Implications for Canon: Bulletin for Biblical Research 5 (1995) 105-123. Sand, A., "Am Bewährten festhalten". Zur Theologie der Pastoralbriefe: Theologie im Werden. Studien zu den theologischen Konzeptionen im Neuen Testament, hrsg. v. 1. Hainz (Paderbom 1992) 351-376. Schille, G., Das älteste Paulus-Bild. Beobachtungen zur lukanischen und deuteropaulinischen Paulusdarstellung (Berlin 1979) 69-79. Simonsen, H., Christologische Traditionselemente in den Pastoralbriefen: Die paulinische Literatur, hrsg. v. S. Pedersen (Arhus/Göttingen 1980) 51-62. Thatcher, T., The Relational Matrix of the Pastoral Epistles: JETS 38 (1995) 41-45. VögtIe, A., Der JudasbrieflDer 2. Petrusbrief (EKK XXll) (NeukirchenlSolothurn1994).
E. Nachträge zu EinzelsteIlen in 1 Tim und 2 Tim Fowl, S. E., The Story of Christ in the Ethics of Paul. An Analysis of the Function of the Hymnic Material in the Pauline Corpus (JSNT.S 36) (Sheffield 1990) 155194 [zu 1 Tim 3,16b]. Kleinig, 1. W., Scripture and the ExcIusion of Women from the Pastorate: LTJ 29 (1995) 74-81.123-129 [zu 1 Tim 2,11-15]. Low, M., Can Woman Teach? A Consideration of Arguments from Tim. 2:11-15: Trinity Theological Journal 3 (1994) 99-123. Reed, 1. T., To Timothy or Not? A Discourse Analysis of 1 Timothy, in: Biblical Greek Language and Linguistics. Open Questions in Current Research, hrsg. v. S. E. Porter u. D. A. Carson (JSNT.S 80) (Sheffield 1993) 90-118.
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Titusbrief
1. Die GrußzuschriJt (1,1-4) 1,1 Paulus, Knecht Gottes, Apostel aber Jesu Christi gemäß dem
Glauben der Auserwählten Gottes und der Erkenntnis der Wahrheit, die der Frömmigkeit entspricht, 2 in der Hoffnung auf ewiges Leben, welches Gott, der nicht lügt, verheißen hat vor ewigen Zeiten. 3 In den dafür von ihm bestimmten Zeiten aber hat er sein Wort offenbart in der Verkündigung, mit der ich betraut worden bin gemäß dem Auftrag Gottes, unseres Retters: 4 An Titus, das rechtmäßige Kind dem gemeinsamen Glauben nach: Gnade und Friede von Gott, dem Vater, und von Christus Jesus, unserem Retter. I
Wie in den beiden Briefen an Timotheus und in grundsätzlicher Übereinstimmung mit den Präskripten der Paulusbriefe läßt der Verfasser den Apostel einleitend den Adressaten Titus grüßen und ihm den Segenswunsch zusprechen. Im Vergleich zu 1 Tim und 2 Tim ist die Briefeinleitung ausführlicher gestaltet, und zwar sowohl bei der (fiktiven) Selbstvorstellung des Paulus und in der Art und Weise der Bestimmung seiner Autorität, als auch bei der Beschreibung der Aufgabe, die dem Adressaten Titus übertragen wird 1 • Auffällig ist dabei die Übereinstimmung mit dem Präskript des Römerbriefes (Röm 1,1-7), vor allem was die Ausführlichkeit der Beschreibung der Funktion des "Paulus" betrifft. Den wesentlichen Unterschied kann man darin festmachen, daß im Röm-Präskript die Themenangabe EuayyEÄ.wv 8wu durch die Übernahme einer vorgegebenen "christologischen Prädikation" zum Titel "Sohn Gottes" in Röm 1,3f2 weiter entfaltet wird, der Akzent also auf der Christologie liegt', während im Tit-Präskript Dienst, Auserwählung und Beauftragung des Apostels Paulus betont werden, also die personale Be-
Zu den Unterschieden des Präskripts von Tit im Vergleich zu denen von 1 Tim und 2 Tim einerseits und zu den Übereinstimmungen mit den Präskripten des Römerbriefs und des Galaterbriefs andererseits vgl. G. LOHFINK, Theologie 71-79. 2 V gl. D. ZELLER, Der Brief an die Römer (RNT) (Regensburg 1985) 35 f. 3 V gl. F. J. SCHIERSE, Past 147. 1
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Tit 1,1-4
ziehung zwischen dem Apostel und seinem Nachfolger im Vordergrund steht'. In dieser Hinsicht gibt es eine Gemeinsamkeit mit dem Galaterbrief, in welchem Paulus, veranlaßt durch die Auseinandersetzungen um die uneingeschränkte Gültigkeit seines Evangeliums von der Rechtfertigung des Menschen allein aus Glauben, ohne Werke des Gesetzes (vgl. Gal2,16), ebenfalls seine Stellung als von Jesus Christus und von Gott legitimierter Apostel in einer im Vergleich zu den anderen Briefen auffälligen Ausführlichkeit betont (vgl. GaI1,t11f). Eine weitere Übereinstimmung mit dem Gal-Präskript liegt darin, daß so, wie in Gal 1,4 mit dem Bekenntnis zur Selbsthingabe Jesu für unsere Sünden ein zentraler Gedanke des Briefes vorweg thematisiert wird, auch hier im Präskript des Tit soteriologische Begriffe eingeführt werden, die später (vgl. Tit 2,11-14; 3,3-7) weiter entfaltet werdens.
Die Abweichung des Tit-Präskripts gegenüber 1 Tim und 2 Tim ist aber zu bewerten auf der Grundlage der Annahme, daß die Past als zusammengehöriges Briefcorpus konzipiert, verlaßt und auch tradiert worden sind. Die verwendeten Begriffe gehören zum Hauptwortschatz der Past: Glaube (n;lO"tL~) und Frömmigkeit (EÜOEßELa) werden immer wieder genannt als Kennzeichen der Mitglieder der rechtgläubigen Gemeinden bzw. auch derer, die in ihnen verantwortliche Positionen innehaben 6. Mit "Erkenntnis der Wahrheit" (En;i.yvO)OL~ äÄ.TJ8Ela~) wird der rechte Glaube auch in 1 Tim 2,4; 2 Tim 2,25; 3,7 umschrieben. Und der Ausblick auf "ewiges Leben" (vgl. Tit 3,7) bestimmt in 1 Tim 1,16; 6,12 die Zukunftshoffnung. Schließlich gehört der Titel aO)"t~Q zu den Kennzeichen der Past, sowohl für Gott (auch 1 Tim 1,1; 2,3; 4,10; Tit 2,10; 3,4) als auch für Christus Jesus (2 Tim 1,10; Tit 2,13; 3,6) . . Vom Umfang her ist das Tit-Präskript im Vergleich mit 1 Tim und 2 Tim also zwar auffällig; die darin verwendeten Begriffe und die anklingenden Themen haben aber übergreifende, das Briefcorpus insgesamt bestimmende Bedeutung 7 •
Es geht "in der gesamten superscriptio Tit 1,1-3 um den Apostolat des Paulus" (G. LOHFINK, Theologie 73). , Vgl. Y. REDALlE, Paul133-135. • Vgl. zu euoifleLu1 Tim 3,2; 3,16; 4,7.8; 6,3.6; 2 Tim3,5;zu:n:im;~ 1 Tim 1,5; 1,19;2,15; 3,9; 4,6; 4,12; 2 Tim 1,13; 2,22; 3,10.15; Tit 1,13; 2,10; euoifleLll zusammen mit :n:im;L~ noch 1 Tim 6,11. 7 "Die enge Verbindung von Paulus, dem Verkündiger, und seiner Botschaft, dem Evangelium von der Rettung durch Gott in Christus Jesus, sowie bestimmte Stichworte wie etwa EKAE1!:tOL Beo'Ü, E:n:Lyvrom~ aAT)BeLa~, EUoEfleLll, troTt al.cilvLO~ gehören ... zum cantus firmus der christologischen Texte in den Pastoralbriefen" (K. LÄGER, Christologie 92; vgl. 89-92). 4
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Tit 1,1-4
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1 Bemerkenswert ist die Selbstbezeichnung des (fiktiven) Paulus als "Knecht Gottes". Paulus nennt sich allein (Röm 1,1) und zusammen mit dem Mitabsender Timotheus (Phil1,1) "Knecht(e) Christi Jesu" (vgl. auch Jud 1). Mit der Formel "Knecht Gottes" greift der Autor der Past einen Sprachgebrauch aus der alttestamentlich-jüdischen Überlieferung auf, wo Menschen im Dienst Gottes, wie Mose (Jos 1,1-7; Neh 1,7f; 9,14; Mal 3,22; Ps 105,26), David (Jer 33,2lf; Ez 37, 24f; Ps 78,70), die Propheten (Jer 7,25; Dan 9,10; Am 3,7; Sach 1,6), als "Knecht(e) Gottes" bezeichnet werden und damit sowohl als dem Willeh Gottes ganz unterstellt und zugleich durch diesen legitimiert und bevollmächtigt erscheinen. Diese Tradition wird ebenso im Hintergrund stehen wie das Vorbild der Paulusbriefe.
Der Gedanke der Bevollmächtigung kommt noch stärker zum Ausdruck durch die zweite Kennzeichnung des Paulus: "Apostel Christi Jesu". Darin stimmt die Vorstellung des (fiktiven) Paulus mit den Präskripten von 1 Tim und 2 Tim überein. Zwar lassen sich Unterschiede zwischen den beiden Selbstbezeichnungen "Knecht" und "Apostel" nicht eindeutig festlegen; mit dem Titel "Apostel" ist aber in Anknüpfung an die authentischen Paulusbriefe sicher der Gedanke der Verpflichtung des in der Nachfolge des Paulus stehenden Gemeindeleiters und zugleich dessen vom Apostel kommende Legitimation stärker betont 8 • Von der gleichen Zielsetzung ist die ähnlich lautende, ebenfalls fiktive Selbstvorstellung des "Petrus" in 2 Petr 1,1 bestimmt: "Simeon Petrus, Knecht und Apostel Jesu Christi ... " (in eine andere Richtung geht Jak 1,1: "Jakobus, Gottes und des Herrn Jesus Christus Knecht ... "). Die im Vergleich zu 2 Petr bemerkenswerte Doppelung in Tit 1,1 mag dadurch bedingt sein, daß im Rahmen des Präskripts die Aufgabe des Apostels ebenfalls in einer doppelten Beziehung formuliert ist - zum einen als Beauftragung durch den Retter-Gott (dabei entspricht dem Titel ÖoiiA.o~ 8eoii der Verweis auf die bu'taYll Gottes V 3), zum anderen in der Indienstnahme für die "Verkündigung" des "Wortes", welches die Botschaft von "unserem Retter Christus Jesus" zum Inhalt hat, wobei dem Titel a:7t6O"toA.o~ der Verweis auf das x:r'J(tuYlla V 3 entspricht. Die Funktionsbeschreibung erhält eine Präzisierung in den beiden mit der Präposition xm;u angeschlossenen Bestimmungen (xa'tu :7tLO"tLV ... xat E:7tLYVWOLV ... ). Von der Satzkonstruktion her und in Übereinstimmung mit dem Interesse der Past an der Ausrichtung auf den paulinischen Apostolat legt es sich nahe, darin eine Erläuterung Vgl. auch Y. REDALlE, Paul 137, zu Tit 1,1: "Dans l'apres Paul, la force du titre d'apotre sert a donner vigueur et autorite aus instructions, aus exhortations et aus enseignements transmis." 8
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Tit 1,1-4
zum Aposteltitel zu sehen, die bis V 3 weitergeführt wird 9. Doch diese Auslegung erscheint zu eng. Es soll mit diesen Bestimmungen vielmehr die doppelte Kennzeichnung des "Paulus" als "Knecht" und "Apostel" entfaltet und präzisiert werden. Im Anschluß an die biographischen Abschnitte 1 Tim 1,12-17 und 2 Tim 4,9-18 ist auch bei dieser Selbstvorstellung des "Paulus" an eine weitergehende Ausdeutung seiner heilsgeschichtlichen Stellung in seiner Beziehung zu Gott und zu den Menschen 10 zu denken. Diese seine Bestimmung zeigt sich zum einen in der Indienstnahme als Werkzeug der Verkündigung des Glaubens ll ; sie zeigt sich zum anderen aber auch im gemeinsamen Glauben, der die Gemeinschaft zwischen Apostel und Gemeinde konstituiert 12. Die beiden mit xm;a angeschlossenen Erläuterungen sind Kennzeichen dieser Gemeinschaft. In der Redeweise vom "Glauben der Auserwählten Gottes", in der die Bezeichnung OL EXAEX'tOL (8wu) als eine Art formelhafte Bezeichnung der Christen gelten kann (vgl. Röm 8,33; KoI3,12; ohne 8wu Mk 13,20.22.27; 2 Tim 2,10), wird ein Selbstbewußtsein demonstriert, welches zugleich exklusiven Anspruch ausdrückt. Im Blick auf Paulus und seinen Apostolat und Dienst liegt dabei eine Wechselwirkung vor: Knecht Gottes und Apostel Jesu Christi ist er, insofern er sich aufgrund seines Glaubens zu den "Auserwählten" zählen darf; für die christliche Gemeinde gilt, daß sie diesen Anspruch der Erwählung nur dann erheben darf, wenn sie sich in ihrem Glauben in Übereinstimmung mit dem Apostel Paulus befindet. Die hier gewählte Kennzeichnung des Paulus als Knecht Gottes und Apostel Jesu Christi und die Bezeichnung derer, die aufgrund ihres Glaubens als "Erwählte Gottes" mit ihm zusammengehören, bauen - zumindest indirekt - eine Front auf, vollziehen eine Scheidung und Abgrenzung der "Rechtgläubigen". Noch deutlicher bringt diesen polemischen Unterton die Beschreibung der Eigenschaft der "Auserwählten Gottes" als "Erkenntnis der Wahrheit" zum Ausdruck 13. Die Tendenz der Abgrenzung gegen die Häretiker und gegen deren Anspruch auf YVÖ>OL~, die ebenfalls exklusiven Charakter hat, läßt sich des weiteren begründen anhand des Ge-
, So etwa J. JEREMIAS, Past 68. _ Vgl. auch die Erklärung bei J. D. QUINN, Tit 62: "fi before God he is a slave, before men he is an apostle ... " 11 Vgl. J. FREUNDORFER, Past 291. In dieselbe Richtung geht auch die häufig gewählte Übersetzung von xo'ta mit "im Dienst des Glaubens" (vgl. G. HOLTZ, Past 203f; J. JEREMIAS, Past 68). 12 Vgl. H. v. LIPS, Glaube 32 Anm. 33. 13 Solche polemische Akzentuierung sehen hier auch G. HOLTz, Past 204; N. BROX, Past 279f. 10
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Tit 1,1-4
brauchs der Wendung E:7tLYV(()OL~ &Ä.T]eELa~ in den Past insgesamt 14 • Dies zeigt sich einmal in den beiden Belegen 2 Tim 2,25 und 2 Tim 3,7, wo damit jeweils die Differenz zu den Irrlehrem umschrieben wird (vgl. auch 1 Tim 4,3). "Erkenntnis der Wahrheit" ist gleichbedeutend mit Besitz des rechten Glaubens in der Form, wie er in den Past unter dem Anspruch der paulinischen Legitimation - vorgestellt wird 15. Noch klarer zeigt sich der Stellenwert dieser Wendung in der Einbindung in das fundamentale soteriologische Bekenntnis des Abschnittes 1 Tim 2,3-6. Was dort mit dem Verweis auf "Gott, unseren Retter", und der Beschreibung seines Willens festgehalten wird, daß nämlich "die Erkenntnis der Wahrheit" gleichbedeutend ist mit der Annahme des Glaubenssatzes vom universalen Heilswillen Gottes und dessen Vermittlung durch die Selbsthingabe des Menschen Christus Jesus "als Lösegeld für alle", das geschieht im Kontext des TitPräskripts unter anderem durch die Verknüpfung mit dem Titel U(()'t~Q für Gott und für Christus Jesus (Tit 1,3 f). Erkenntnis der Wahrheit ist wesentlich Annahme des Glaubens an das rettende Handeln Gottes und JesuChristi. Dieser Glaube ist aber immer tätiger, konkret gelebter Glaube, wie die ergänzende Bestimmung xa't' EuueßELav unterstreicht. EuoeßfLU gehört zu den Begriffen, die für die Past kennzeichnend sind und die zugleich ihre Einbindung in Sprache und Denken der hellenistischen Umwelt bezeugen. Im profanen Sprachgebrauch bezeichnet fuoeßfLo "die Achtung von gültigen Werten bzw. Wertordnungen"16. Da diese als von den Göttern geschützt und garantiert gelten, ist der Übergang zu einem religiösen Gebrauch fließend. Mit fuoellELO wird in den Past in einer recht allgemeinen und zugleich grundsätzlichen Weise die "Ehrfurcht vor dem Bereich des Göttlichen" bezeichnet 1', also Frömmigkeit in einem umfassenden Sinn. H. v. Lips stellt fest, daß in fuoeßfLo der "Doppelaspekt der religiösen Erkenntnis und des entsprechenden Thns" enthalten ist 18. Das bedeutet, daß die Akzentuierung jeweils aus dem Kontext zu erschließen ist.
Wenn die "Erkenntnis der Wahrheit" eingebunden wird in "die Frömmigkeit", dann liegt bei letzterem Begriff der Akzent auf der Vgl. dazu auch den Exkurs bei J. D. QUINN, Tit 276-282. Vgl. H. v. LIPs, Glaube 37: "Erkenntnis und Annahme der christlichen Glaubenswahrheit in ihrer traditionell geprägten Fonn". H. v. Lips verweist in diesem Zusammenhang auf Epiktet, in dessen Verwendung von EmYLvwcrxELv (Diss. I 6,42. 9,11. 29,61; IV 8,20) eine Erkenntnis ausgesprochen sei, "die unmittelbare Konsequenzen für den Erkennenden beinhaltet, also mehr als nur konstatierende Erkenntnis ist". Entsprechend gelte auch für E:n:l-YVOJ(J~ in den Past, daß diese Erkenntnis "praktische ,Anerkenntnis' einschließt, also Konsequenzen für die Lebensweise der Christen hat". 16 P. FIEDLER, EWNT II 213. 17 J. ROLOFF, 1 Tim 117. 18 H. v. LIPS, Glaube 83. 14
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Tit 1,1-4
Forderung einer Entsprechung von Glaubenswissen und Lebenspraxis 19. 2 Der Anschluß der Präpositionalwendung bt ' EÄ.:rtl,ÖL to>fj~ aLooVLo'lJ an V 1 ist nicht eindeutig. Da aber weiterhin der Absender "Paulus" sich vorstellt, ist der Hinweis auf die "Hoffnung" als Erläuterung des von "Paulus" erhobenen Anspruches zu interpretieren, welcher insbesondere mit dem Aposteltitel verknüpft ist 20. Allerdings ist nach den in V 1 eingeführten Stichwörtern, die den Apostel in der Gemeinschaft der Gläubigen und in seiner Verantwortung für die Auserwählten zeigten, ein ausschließlicher Bezug auf den Titel "Apostel" nicht zu halten. Wo und wenn es um die Hoffnung auf ewiges Leben geht (vgl. 3,7), da ist die Gemeinschaft der Christen betroffen 21. Es wird das gemeinsame Fundament des Glaubens beschworen. Wenn der Autor den Paulus sprechen läßt von der "Hoffnung auf ewiges Leben", dann ist dies weniger Ausdruck einer "Zukunftsorientierung" , die auf die Parusie Christi Ausschau hält 22 , als vielmehr Kennzeichnung der Gegenwart, die als die Zeit der Bewährung des Glaubens von dieser Hoffnung bestimmt und getragen ist. Diese Hoffnung ist ebenso Merkmal des Glaubens des "Paulus" wie der Mitglieder der von ihm angesprochenen Gemeinden. Eine eschatologische Perspektive, wie sie auch für apokalyptische Texte charakteristisch ist, wird damit nicht ausgeschlossen 23 ; wichtiger für den Autor aber ist es, mit dem Begriff "Hoffnung" die vom Dienst und von der Autorität des Apostels Paulus her bestimmte Gegenwart der christlichen Gemeinden zu kennzeichnen. Weil es diese Hoffnung auf ewiges Leben gibt, deshalb wurde Paulus zur Verkündigung auserwählt (vgl. V 3); und deshalb werden jetzt in der Nachfolge des Paulus über Titus die verantwortlichen Personen in den Gemeinden auf diese ihre Verantwortung hin ermahnt 24 • Im Blick auf den Gegenwartsbezug, der für die Past kennzeichnend ist, läßt sich dies noch verallgemeinern: Die Hoffnung auf ewiges Leben muß in der Gegenwart der christlichen Gemeinden lebendig " vgl. J. ROLoFF, 1 Tim 118. H. v. LIPs, Glaube 85.87, sieht im Vergleich mit nLatt; bei E'Öoi~ELU "mehr das praktisch-verhaltensmäßige Moment im Vordergrund". "nLatt; kennzeichnet das proprium des Christseins überhaupt; EiiaE~I!LU, die neben dem Bezug auf die Glaubenswahrheit zugleich das praktische Verhalten einschließt, dient als Bezeichnung christlicher I,ebensweise." ,. Vgl. B. WEISS, Past 332f; G. WOHLENBERG, Past 223; M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 98f; N. BROX, Past 280; M. WOLTER, Pastoralbriefe 82f; G. W. KNIGHT, Past 283f. 21 Vgl. C. SPIcQ, Past 593; TH. D. LEA - H. P. GRIFFIN, Past 267 f. 22 In diese Richtung geht die Deutung bei N. BROX, Past 280. 23 Vgl. dazu M. WOLTER, Pastoralbriefe 84 f. ,. Vgl. B. WEISS, Past 332f.
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Tit 1,1-4
bleiben und in der Praxis ihres Lebens sich bewähren 25 • "Paulus" ist für die Lebendigkeit und für die Tragfähigkeit dieser Hoffnung
ebenso zuständig wie der von ihm angesprochene Schüler und Nachfolger "Titus"; und gleiches gilt dann auch für die, die "Titus" im Auftrag des "Paulus" in den Gemeinden als Presbyter einsetzen wird (vgl. V 5). Der angeschlossene Relativsatz bestätigt, daß mit der Einführung des Kennzeichens der Hoffnung nicht der Zukunftsaspekt, also der Ausblick auf die noch ausstehende Erfüllung einer Verheißung, im Mittelpunkt steht 26 • Der Relativsatz hat die Funktion, die Gültigkeit dieser Hoffnung auf ewiges Leben zu untermauern; er betont die Zuverlässigkeit dieser Hoffnung aufgrund ihrer Verankerung in Gottes Verheißung. Dreifach wird vom Autor die Berechtigung dieser Hoffnung begründet. Es handelt sich (1) um eine Verheißung Gottes. Das Verbum elt'llyydAa'tO verweist auf ein außerhalb und unabhängig von Fähigkeiten des Menschen gegebenes Fundament, und es wird zugleich die Verwiesenheit christlichen Glaubens auf die nur von Gott her denkbare Initiative betont. Die Verknüpfung von ~(f)ti und eltaYYEAia findet sich auch in 1 Tim 4,8 und 2 Tim 1,1. Es ist auffällig, daß über den oder die Empfänger der Verheißung hier nichts gesagt wird. Aber auch unausgesprochen sind diese zusammen mit dem Apostel und seinem Schüler in den Mitgliedern der christlichen Gemeinden zu sehen, die in der Glaubensgemeinschaft mit "Paulus" .und seinen Nachfolgern stehen - wobei die Bedingungen dieser Kontinuität zu Paulus wiederum von der Gegenwart des Verfassers und den in seiner Zeit aktuellen Problemen und Fragestellungen her bestimmt werden. Der Verzicht auf eine ausdrückliche Nennung der Adressaten läßt den zeit- und raumübergreifenden Charakter dieser Verheißung hervortreten. Die Zuverlässigkeit und Unerschütterlichkeit dieser Verheißung wird (2) betont mit der Beschreibung Gottes als (hjJE'UÖti~. In diesem neutestamentlichen Hapaxlegomenon ist wiederum Einfluß
" H. V. LIPS, Glaube 91-93, sieht eine Übereinstimmung mit Paulus darin, daß auch für die Past das Heil "zukünftig" ist (vgl. 1 Tim 2,15; 2 Tim 2,10; 4,18), "wenngleich proleptisch schon gegenwärtig" (vgl. 2 Tim 1,9; Tit 3,5). Mit Verweis auf Tit 1,2 und 3,7 hält er dann aber daran fest, daß "Gegenstand bzw. Inhalt der Hoffnung ... die im Zusammenhang der 2. Epiphanie realisierte ~!llit al.WvLO~" sei. 26 Bei der vorn Verfasser gewählten Formulierung ist zu beachten, daß gesprochen wird von der "Hoffnung auf ewiges Leben" und nicht nur in absoluter Weise vorn "ewigen Leben". Dies ist m. E. bei M. WOLTER, Pastoralbriefe 83, zu wenig berücksichtigt, wenn er betont, "daß in Tit 1,2f. das Verheißene (ewiges Leben) nicht mit dem jetzt Offenbarten, dem A6yo~ (Secii) identisch ist und seine Erfüllung (anders als dies in Act 13,22f. ausdrücklich gesagt wird) mithin noch aussteht und der eschatologischen Zukunft vorbehalten bleibt".
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aus der hellenistischen (und vor allem auch jüdisch-hellenistischen) Tradition festzustellen 27 • Der Verfasser will damit nicht ein neues Gottesprädikat einführen; diese Eigenschaft Gottes garantiert vielmehr die Wahrheit und Zuverlässigkeit der auf Paulus gründenden und in den Gemeinden als paulinische Tradition weitergegebenen Verkündigung - einer Verkündigung, deren Inhalt eben auch "die Hoffnung auf ewiges Leben" ist. (3) Diese auf die Verheißung des von Trug und Täuschung freien Gottes gegründete Hoffnung gilt als "vor ewigen Zeiten" festgelegt. Diese letzte Bestimmung "vor ewigen Zeiten" darf nicht als eine irgendwie auswertbare konkrete Zeitangabe verstanden werden (etwa in dem Sinn: "vor Generationen"), die einen Zusammenhang mit den alttestamentlichen Verheißungen ermöglichen würde 28 • Auch entspricht es nicht der theologischen Konzeption der Past, wenn man dazu einzelne Stellen des Alten Testaments als Bezugspunkte nenn!". Und es ist schließlich auch nicht zu denken an ein gewissermaßen punktuell vorstellbares Datum der Heilsgeschichte, so daß man davon sprechen könnte, daß Gott in vorweltlicher Ewigkeit die Verheißung des ewigen Lebens gegeben hat., "als er den Erlösungsratschluß feststellte"'". Diese Zeitbestimmung bzw. besser: der Ausschluß einer zeitlichen Festlegung 31 ist Ausdruck der Uberzeugung, daß das von Gott zugesagte ewige Leben von Anfang an keine zeitlich eingrenzbare und damit etwa nur bedingte Gültigkeit hat. Die Bedeutung der Zeitbestimmung JtQo XQovwv ULWVLWV liegt also in der radikalen Zuordnung zu Gott; so wie Gott den Bedingungen von Raum und Zeit enthoben ist, so gilt es auch für die von ihm gegebene Verheißung ewigen Lebens. Mit dieser Form der Begründung der Verheißung in der "Vorzeitlichkeit" hat, worauf M. Wolter aufmerksam macht, eine Verschiebung stattgefunden. Die auch für die frühchristliche Zeit und für das Neue Testament noch bedeutsame Anknüpfung des Stichwortes von der Verheißung an die Geschichte Israels bzw. an das Alte Testament hat an Bedeutung verloren. Der Grund dafür liegt darin, daß für die Gemeinden der Zeit der Past die entscheidende Frage hinsichtlich der Kontinuität nicht mehr die nach den Möglichkeiten einer Einbindung in die Verheißungen an
n
Zu (hjJE1JÖt\~ als Gottesprädikation: Plat., rep.II 382e (1tuV'tTI üQa Ct'\jJE1JÖE~ 1:0
ömllOVLOV 1:E xat 1:0 eEi:oV); Philo, ebr. 139 ( ... 0
a'ljJE1JÖTJ~ eEO~ aQE'tij~
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lluQ1:U~);
vgl. auch Weish 7,17. Bezogen auf Jesus Christus: Ign., Röm 8,2 (1:0 a'ljJEuöE~ mOlla, tv iii 0 1ta'tTJQ aATJeÖJ~ tAUATJOEV). V gl. weitere Belege bei M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 99. 28 So etwa J. FREUNDORFER, Past 292: " ... das in uralter Zeit gegebene Verheißungswort ... "; " ... die Kette der prophetischen Verheißungen im Alten Testament, das Alte Testament selbst ... " 29. Vgl. W. LOCK, Past 125: "from Gen 3,15 onwards ... "; vorsichtig auch G. HOLTZ, Past 205: "Ist an das Protoevangelium Gen. 3,15 gedacht? Oder an den Baum des Lebens im Paradies?" 30 J. JEREMIAS, Past 68. Vgl. auch C. SPICQ, Past 593; N. BRox, Past 280. 31 Zum Verständnis einer zeitunabhängigen Festlegung vgl. J. D. QUINN, Tit 65 ("timeless order"); G. W. KNIGHT, Past 284.
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Israel war, sondern die nach der Kontinuität mit der frühen christlichen Tradition, speziell mit der paulinischen Verkündigung".
In der Art der Formulierung mag auch ein polemischer, antignostischer Ton mitschwingen. Die Erwartung "ewigen Lebens" ist eine die Menschen und insbesondere alle Christen einende Hoffnung, seien es (im Urteil der Past) die am rechten Glauben, an der "gesunden Lehre" Festhaltenden, oder seien es die davon Abgewichenen, also die Irrlehrer. Diese Hoffnung ist aber nach Darstellung des Autors nur dann begründet, wenn sie sich radikal dem Weg der Vermittlung dieser Hoffnung bzw. der Zusage auf ewiges Leben von Gott her anvertraut. Ein erster, entscheidender Schritt ist, daß der glaubende Mensch dieses Leben als ganz und gar im Willen Gottes und in seiner Verfügung stehend anerkenne3 • Und der zweite Schritt wird gleich im nächsten Vers genannt, in der konkret geschichtlichen Offenbarung und Mitteilung dieses Verheißungsgutes.
3 Der Verheißung korrespondiert die Offenbarung; der Anschluß mit ö{; macht dabei deutlich, daß der zweiten Stufe, der Offenbarung, eine eigenständige Bedeutung im Vergleich zu der von Gott gegebenen Verheißung zukommt. Dies kommt auch zum Ausdruck in der Zeitbestimmung. Mit den XaLQOL tÖLOL bezeichnet der Verfasser (wie 1 Tim 6,15) die von Gott festgesetzte und damit ganz und gar in seiner Vollmacht und Verfügung stehende Gelegenheit der Erfüllung. Die Verwendung des Plurals könnte zum einen auf gewissen Formzwang zurückzuführen sein (vgl. 1 Tim 2,6; mit anderen Verbindungen auch 4,1; 2 Tim 3,1). In der hier vorliegenden Abfolge ist aber auch ein Ausgleich geschaffen zu den 'XQOVOL aLwvLOL von V 2; der Autor will ja nicht nur die überzeitliche Verheißung ewigen Lebens ansprechen, ihm geht es vor allem um die konkrete Gegenwärtigkeit 34 • Auffällig ist, daß in der Abfolge der Formulierung von Verheißung und Offenbarung die Kontinuität zwar insofern fest gehalten ist, als Gott jeweils handelndes Subjekt ist; die Offenbarungstat nimmt aber nicht, wie zu erwarten wäre, das Stichwort "ewiges Leben" wieder auf, Vgl. M. WOLTER, Pastoralbriefe 86. Vgl. zu dieser Akzentverlagerung auch E. SCHLARB, Lehre 161; Y. REDALlE, Paul145. " Vielleicht ist hier zu denken an Tendenzen gnostischer Erlösungsvorstellungen, die einmal die Kontinuität zur Heilsgeschichte in Frage stellten oder die auch die Hoffnung auf ewiges Leben weniger auf das "objektive" Handeln Gottes als auf die subjektive Fähigkeit des Erkennens legten. 34 V. HAsLER, Past 86, will dagegen den PluraillULQol so verstehen, daß damit "nicht auf einen einzelnen Zeitpunkt" Bezug genommen werde, "sondern auf eine ganze Reihe, auf eine andauernde Offenbarungszeit, in welcher nicht das Heil selber, sondern seine Verkündigung immer wieder geschichtlich Gegenwart und Wrrklichkeit wird". 32
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sondern nennt als Objekt "das Wort". Und das offenbarende Handeln Gottes ist hingeordnet auf das Kerygma des Paulus. Die Bedeutung von A.6Yo~ wird vom nachfolgenden Substantiv xitQUYIW her definiert. Solche Verbindung von A6yo~ und Verkündigungsauftrag ist für die Past kennzeichnend (vgl. 1 Tim 4,12; 5,17; 2 Tim 2,9; 4,2). Man könnte also den Text so verstehen, daß Gott "sein Wort im Kerygma" offenbart hat 35 , der kirchlichen Predigt vom Autor also "Offenbarungscharakter" zugesprochen wird 36 • Dazu würde auch passen, daß die XaLQOL in der oben erwähnten Weise nicht einen Zeitpunkt der Vergangenheit bezeichnen, etwa die Geschichte Jesu, sein Wrrken und seine Verkündigung, sondern die Zeit der christlichen Verkündigung, also die Zeit der Kirche und damit die Gegenwart der Past. Das Interesse ist darauf gerichtet, die kirchliche Verkündigung der Gegenwart über das Wrrken des Paulus als unmittelbar von Gott kommende Offenbarung auszuweisen 37. Bei solcher Hinordnung der von Gott ausgehenden "Offenbarung" auf das Kerygma ist zu fragen, ob damit nicht der Aspekt der geschichtlichen Einmaligkeit des Handeins Gottes zu kurz kommt. M. Wolter bezieht zu den genannten Erklärungen, die vor allem abheben auf die Aktualität der Verkündigungstätigkeit des Paulus und der Deutung von Kerygma auf den Offenbarungsvorgang, eine entschiedene Gegenposition. Der Hinweis auf das offenbarende Handeln Gottes (EqJuvEQ
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doch die Kontinuität gewahrt bleibt, so ist auch "Offenbarung" nicht einfach mit dem "Kerygma" gleichzusetzen, sondern ist dessen geschichtlich notwendige und konkretisierte (xuI.QoL<; l.öloU;) Voraussetzung. Zugleich ist aber festzuhalten, daß die Verkündigung, das "Kerygma", nicht bloß Verkündigung über das Heilsgeschehen ist, sondern "selbst Vermittlung des Heilsgeschehens" ....
Erneut wird "Paulus" als der vorgestellt, der mit der Verkündigung betraut worden ist (vgl. 1 Tim 2,7; 2 Tim 1,11). Die exklusive Bindung des Kerygmas an Paulus gewinnt ihren Stellenwert aus der Tatsache, daß dieser Paulus für die Gemeinden der Past im mündlichen und vor allem im schriftlichen Zeugnis seiner Briefe "anwesend" ist. Der Verfasser hat diese Gemeinden der nachpaulinischen Zeit, ihren Glauben und ihre Glaubenskrisen im Auge, wenn er ausschließlich Paulus als den von Gott mit dem Kerygma Betrauten nennt. Die Frage nach der Identität und der Wahrheit der christlichen Verkündigung wird so zu einer Frage nach der Kontinuität in der Erfüllung des dem "Paulus" gegebenen Auftrags und der Treue zu seinem Evangelium 41. Das personengebundene Moment der Glaubensweitergabe und der Glaubensgarantie gewinnt an Bedeutung. Dabei ist die Stufenfolge bedeutsam: Der Apostel handelt im Auftrag Gottes, der Apostelschüler aufgrund der Beauftragung durch den Apostel 42 • Die Bindung der Beauftragung des "Paulus" an den Willen und die Autorität Gottes entspricht der durchgängig erkennbaren theologischen Prägung des Präskripts 43 • Dazu paßt auch die Bezeichnung Gottes als "unser Retter" . Der Titel OlO"ttlQ ist für die Past insgesamt prägend. Auf den ersten Blick und insbesondere, wenn man von der paulinischen Christozentrik herkommt, überrascht, daß von den zehn Belegen in sechs Fällen Gott als OlO"ttlQ vorgestellt wird (1 Tim 1,1; 2,3; 4,10; Tit 1,3; 2,10;3,4). Dies berechtigt zu der These, daß die Stellung Jesu als OlOt:tlQ geknüpft ist an das Gottesprädikat und von diesem her seine Bedeutung erhält. Diese Zuordnung wird an unserer Stelle schon deutlich (vgl. V 4); .. H. V. LIPS, Glaube 43. Vgl. auch E. SCHLARB, Lehre 227 (Der AOyOr; "ist autorisiertes· Gotteswort, an dem alles hängt"); H. MERKEL, Past 89 (Die "Verkündigung des paulinischen Evangeliums [ist] die entscheidende Heilskundgabe"). 4' Zur wechselweisen Verwendung der Begriffe EvayytJ..IOV, 1(.tl!!"'Ylla une! t.LaI!'t1lI!LOV und den Gemeinsamkeiten H. v. LIPS, Glaube 41-44. Der Versuch einer Unterscheidung zwischen "Tätigkeit" und "Inhalt" bei 1(.tl!!"'Ylla in Tit 1,3 ist nach v. Lips "nicht sinnvoll" (a.a.O. 42 Anm. 53). Vgl. dazuauchPH. H. TOWNER, Goal 123f; 'I'H. D. LEAH. P. GRIFFIN, Past 271. 42 Die programmatische Bedeutung des Tit-Pr.äskrlpts beschreibt W. 'I'HIESSEN, Christen 292, so: "Wie Gott sein Wort in 1(.aLQoir; i6w..r; offenbart ( ... ) und Paulus anvertraut hat, so steht Titus als von Paulus Bekehrter mit demselben Glauben in der richtigen Tradition (Tit 1,3f.)." Vgl. aber auch unten zu Anm. 47 (zur "Bekehrung" des Titus). " In den ersten vier Versen des Tit wird fünfmal "Gott" genannt (vgl. Y. REDALI~, Paul 135).
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ähnliches ist an den anderen Stellen zu beobachten, wo das RetterSein Jesu letztlich als Erfüllung des Heilswillens Gottes erscheint (2 Tim 1,9f; Tit 2,11-13; 3,4-6). Und als der Verfasser in 1 Tim 2,Sf ein Bekenntni~ zum universalen Sühnetod des "Menschen Christus Jesus" zitiert, da führt er dieses ein als Erfüllung des Willens unseres Rettergottes, "der will, daß alle Menschen gerettet werden" (VV 3 f). Die Titulierung Gottes als "unser Retter" hat also in den Past einerseits eigenständige soteriologische Relevanz; sie ist aber auch untrennbar verbunden mit dem Hinweis auf die geschichtliche Verwirklichimg dieses Heilswillens Gottes in der Person Jesu Christi. Man kann die Position der Past so bestimmen: Wenn das Evangelium von Jesus Christus verkündet wird, dann ist diese Verkündigung eine Explikation des Bekenntnisses, daß Gott unser Retter ist; und wenn vom Heilswillen Gottes gesprochen wird, dann ist dies eine Formel, die immer die Inkarnation in Jesus Christus zum Inhalt haben muß. Auf dem Hintergrund dieser inhaltlichen Präzisierung kann man sagen, daß "die Herleitung des apostolischen Auftrages des pastoralen Paulus von Gott als dem ,Retter'" in V 3c "programmatische Bedeutung" hat; der Autor "versteht den paulinischen Apostolat als konstitutiven Teil des göttlichen Heilsplans" 44. 4 Der fiktive Empfänger des Schreibens, der Apostelschüler Titus 45 , wird in zweifacher Weise ausgezeichnet, wobei der Verfasser dieselbe Form gebraucht wie in der Adressatenbezeichnung in 1 Tim 1,2, dort bezogen auf Timotheus. Es ist anzunehmen, daß der Verfasser in beiden Fällen von derselben Absicht geleitet ist. Die Bezeichnung des Titus als 't'EXVOV ist wiederum nicht Ausdruck persönlicher Vertrautheit, sondern Zuspruch einer vom Absender garantierten Legitimation. Dasselbe gilt für das mit 't'EXVOV verbundene Adjektiv yvT)OLOV. In der Anrede als "rechtmäßiges Kind" des Paulus soll also nicht die Beziehung zwischen Paulus und Titus beschrieben werden, sondern der Verfasser hat dabei letztlich die Beziehung des "Titus" - als Repräsentant der Gemeindeleiter der nachpaulinischen Zeit - zur Gemeinde im Auge. Bedeutsam ist dies gleich für die im nächsten Vers als Weiterführung des Wirkens des "Paulus" in Auftrag gegebene Aktion, daß "Titus" in jeder Stadt Presbyter einsetzen soll, daß also auch er für die Bestellung von Gemeindeleitern zu sorgen hat.
" M. WOLTER, Pastoralbriefe 90; und Wolter fährt fort: " ... , insofern in der eigenen Heilserfahrung des Paulus und dessen Einsetzung in das apostolische Amt die Erfüllung der Hoffnung auf das von Gott verheißene eschatologische Heil der Zukunft sicher verbürgt ist und in der Bindung der Gläubigen an den Apostel erhalten bleibt." 4S Zur "Karriere" des Titus vgl. C. K. BARRETT, Titus.
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Da der Verfasser an einer "offiziellen" Aussage über den vom Apostel eingesetzten Nachfolger und mit der Weiterführung des apostolischen Wirkens Beauftragten interessiert ist", erscheint es höchst zweifelhaft, daß er mit der Bezeichnung "rechtmäßiges Kind" etwas über die Bekehrung des Titus durch Paulus sagen wollte 47 - abgesehen davon, ob er darüber aufgrund besonderer Informationen überhaupt etwas sagen konnte!
Aufgrund des gemeinsamen Glaubens (xm;a. XOLVt)V :JtLO'tLV) stehen der Apostel und sein Nachfolger in der Gemeinschaft aller Christen. Für den Autor der Past ist aber bedeutsamer, daß "Paulus" die Gemeinsamkeit im Glauben im Blick auf den an der Spitze der Gemeinde stehenden "Titus", d. h. den Gemeindeleiter, feststellen kann. Das Kriterium der Rechtgläubigkeit liegt für die christlichen Gemeinden im Nachweis der Kontinuität zur Glaubensüberlieferung des Paulus 48 ; diese Kontinuität aber wird garantiert durch den die Gemeinde repräsentierenden Nachfolger des Paulus im Amt des Gemeindeleiters. Die abschließende Grußformel ist, im Unterschied zu 1 Tim und 2 Tim, .nur zweigliedrig; darin folgt der Verfasser dem Vorbild der Paulusbriefe (Röm 1,7; 1 Kor 1,3; 2 Kor 1,2;Phil1,2; Phm 3; aber auch Eph 1,2; Kol1,2). Wie häufig in den echten Paulinen werden diese stereotyp verwendeten Segenswünsche, Gnade und Friede, in ihrer Bestimmung durch Gott, den Vater, und Christus Jesus präzisiert. Im Unterschied zu den genannten paulinischen Briefeingängen spricht der Autor nicht von Gott als "unserem Vater", sondern nur von "Gott, dem Vater"; und er spricht auch nicht von Christus als dem Kyrios (wie Paulus), sondern er wählt die Wendung "Christus Jesus, unser Retter". In der Doppelung der Retterbezeichnung liegt, wie schon gesagt, ein Programm: Die Einheit des Gottesbekenntnisses mit dem Christusglauben ist in der Einheit des Heilswillens und des Heilshandelns Gottes begründet. In der durchgängigen Betonung, daß Gott bzw. Christus "unser" Retter ist (in 1 Tim 4,10: der Retter aller Menschen, insbesondere der Glaubenden) und daß der Retterwille Gottes zugleich universal ist (vgl. bes. 1 Tim 2, 3 f), kann auch ein polemischer bzw. apologetischer Ton mitgehört werden. Christlicher Glaube wird in seinem innersten Wesen als Glaube an die den Menschen geschenkte Erlösung ausgewiesen; und zugleich werden Tendenzen abgewehrt, .. 1. D. QUINN, Tit 72, sieht in der Bezeichnung yvriOLOV eine polemische Spitze gegen Leute, die sich zu Unrecht auf Paulus berufen: "The ,genuineness' of the relation of Titus and Timothy to Paul, as lhe PE envision it, is grounded on their sharing in his apostolic work." 47 V gl. dagegen die nicht weiter begründete Behauptung bei W. 'THIESSEN, Christen 258: "Titus ist, wie Timotheus, ein ,rechtmäßiges Kind' (Tit 1,4), also ein von Paulus bekehrter Christ und ein Begleiter des Paulus ... " Ähnlich auch schon N. BRox, Past 281; W-H. OLLROG, Paulus 34; F. F. BRucE, Circ1e 58. 48 Vgl. Y. REDALlE, Paul147: "La relation a Paul est normative, c'est elle qui decide entre ce qui est legitime et ce qui ne l'est pas, entre qui est ,beritier' et qui ne l'est pas."
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die eine von den Menschen und ihrem Tun bzw. ihrer "Erkenntnis" abhängige Erlösung vertreten wollen. III
Das Präskript des Tit ist im Vergleich mit denen des 1 Tim und 2 Tim stärker ausgestaltet. Diese Sonderstellung im Corpus der Past wird bisweilen als Hinweis dafür gewertet, daß dieser "Brief" als erster entstanden ist 49 • Einerseits wird die Stellung des Paulus und seine Autorität in einer für die Past insgesamt charakteristischen Weise betont, andererseits werden aber schon im Präskript Grundzüge der Glaubensverkündigung eingeführt, die dem Ganzen eine grundsätzliche Ausrichtung geben. Die Einfügung des Personalpronomens EYW in V 3 zeigt, daß Paulus im Mittelpunkt steht. Doch "Paulus" spricht von der ihm "anvertrauten" Verkündigung ( ... EV x1']QvYllm;L, 8 EltLOLEV81']v EYW) und davon, daß dies dem Auftrag Gottes entspricht (xm;' E:7tLtay~v to'Ü ... 8EO'Ü). Von dem auf diese Weise fundierten Autoritätsanspruch profitiert der von "Paulus" als Adressat vorgestellte Titus. Und auch der Hinweis auf die Gemeinsamkeit des Glaubens (V 4) hat das Ziel, die besondere Stellung des Apostels und des von ihm bestellten Nachfolgers zu unterstreichen. Im Mittelpunkt steht der Auftrag zur Verkündigung, und insofern ist von der Gemeinde nur indirekt die Rede; sie ist letztlich nur als betroffene im Blick. Gleichzeitig ist aber nicht zu übersehen, daß es von Anfang an immer nur um die Gemeinde und um ihren Glauben geht. Das zeigt sich etwa darin, daß die im Präskript genannten Stichwörter im Tit wie in den beiden Tim-Briefen auch als Kennzeichen der rechtgläubigen Gemeinde reklamiert werden: Glaube (1 Tim 1,4.5.19; 2,15; 4,12; 6,10; 2 Tim 2,18.22; Tit 1,13; 2,2.10), Erkenntnis der Wahrheit (1 Tim 2,4; 2 Tim 2,25), Frömmigkeit (1 Tim 2,2; 4,8; 6,3), Hoffnung auf ewiges Leben (Tit 3,7). Daraus könnte man die Schlußfolgerung ziehen: Je stärker die Stellung und Funktion des Gemeindeleiters betont wird, um so klarer tritt die Bedeutung der Gemeinde zutage. Dazu ist allerdings gleich zu ergänzen - und darin liegt die bedeutsame Differenz zum paulinischen Gemeindeverständnis: Die Gemeinde wird ausschließlich von "oben", von den Amtsträgern her bestimmt. Sie erscheint als eine von den Vorstehern verwaltete und gestaltete, von ihnen und ihrer Verkündigung abhängige Gemeinschaft. Dazu ist noch einmal die Zuordnung dreier Begriffe zu betrachten: (1) der Hinweis auf das Handeln Gottes in der Offenbarung (eepavEQoooev), (2) die Einbindung dieser Offenbarung in die Verkündigung (x~QuY!-la) - wobei die Doppelbedeutung von Verkündigungsinhalt und Verkündigungstätigkeit ge" So auch O.
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KNOCH,
Past 72.
Tit 1,1-4
wahrt bleiben muß - und (3) die Bindung dieses Kerygmas an Paulus. Ist damit nicht doch die Feststellung von M. Wolter gerechtfertigt, hier in Tit 1,1-3 finde "die exklusive Bindung der Soteriologie an Paulus" im Vergleich zu 1 Tim 2,4-7 "ihren noch zugespitzteren Ausdruck" 50?
Eines trifft sicher zu: Der apostolischen Verkündigung wird "soteriologisehe Relevanz" zugesprochen 51. Doch dieser Begriff der "soteriologisehen" Bedeutsamkeit bedarf einer Konkretisierung und Differenzierung. Wenn in den Past vom "Heil" gesprochen wird, dann ist zuerst und unverzichtbar die Rede von Gott und seinem Willen, sodann von dessen "Vermittlung" durch Christus Jesus (vg1.1 Tim 2,5f). Nur für Gott und Christus Jesus kann die Bezeichnung oürtT]Q gebraucht werden; und dieser Titel wird im Tit-Präskript in der doppelten Zuordnung zu Gott und zu Christus Jesus wieder programmatisch eingeführt. Bestandteil des Heilsplanes und Heilshandelns Gottes ist aber auch die Beauftragung von Boten, die diese "Frohbotschaft" allen Menschen verkünden sollen. Und wo in den Past von der Verkündigung und Vermittlung dieser Heilsbotschaft die Rede ist, da wird von der Beauftragung des Paulus gesprochen (vgl. 1 Tim 2,7; 2 Tim 1,11; Tit 1,3). Wenn also Paulus und sein apostolisches Amt zu einem "Bestandteil dieses Heilsgeschehens selbst" erklärt werden 52, dann trifft dies genau die Intention der Past. "Paulus" bleibt allerdings als Künder des von Gott offenbarten Wortes ganz "Knecht Gottes" (Tit 1,1), und er ist in der Bestimmung seiner Stellung grundsätzlich angewiesen auf die Beziehung zur Gemeinde, die erst seine Eingliederung in das Heilsgeschehen ermöglicht. Unter diesem Aspekt der Einbindung des Paulus und des von ihm her autorisierten Gemeindeleiters in die Soteriologie und damit in die Verkündigung vom Heilshandeln Gottes zeigt der Autor, daß diese soteriologische Komponente, nämlich die Frage nach der Fähigkeit der Vermittlung dieses Heilswillens Gottes, ein Kriterium und ein Prüfstein für den Gemeindeleiter ist.
M. WOLTER, Pastoralbriefe 82. V gl. M. WOLTER, Pastoralbriefe 91. "Comme dans les premiers chapitres de 1 et 2 Tm, Paul est partie integrante du processus de revelation" (Y. REDALIE, Paul141; vgl. 140143). 52 V gl. dazu M. WOLTER, Pastoralbriefe 91. Ähnlich beschreibt K. LÄGER, Christologie 91, die Funktion des Paulus: Er ist "unverzichtbarer Akteur im Zusammenhang des Heilsplans, den Gott ins Werk gesetzt hat" (zur "soteriologischen Funktion des Paulus" auch 127-130). so
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2. Die Aufgabe des Titus auf Kreta: Einsetzung von Presbytern (1,5-9) Ich habe dich zu dem Zweck auf Kreta zurückgelassen, daß du das, was noch fehlte, in Ordnung bringen und in jeder Stadt Presbyter einsetzen solltest, wie ich dir aufgetragen habe: 6 wenn einer unbescholten ist, Mann einer (einzigen) Frau, mit gläubigen Kindern, die nicht unter dem Vorwurf der Liederlichkeit stehen oder ungehorsam sind. 7 Denn der Episkopos muß unbescholten sein als Haushalter Gottes, nicht selbstgefällig, nicht jähzornig, kein Trinker, nicht gewalttätig, nicht habgierig, 8 sondern gastfreundlich, das Gute liebend, besonnen, . gerecht, fromm, beherrscht, 9 der sich an das zuverlässige Wort hält, das der Lehre entspricht, damit er in der Lage ist, in der gesunden Lehre zu ermahnen und die Widersprechenden zu überführen. 5
I Der "Brief" gibt in einer Rückschau einen kurzen Einblick in die Aufgabenstellung, mit der "Paulus" den "Titus" auf Kreta betraut hat. Allerdings spielt diese Situation des Kreta-Aufenthaltes des "Titus" nur als Rahmen bzw. als Ausgangspunkt eine Rolle. Sie gibt dem Autor die Gelegenheit, die Anforderungen zu benennen, die an den kirchlichen Amtsträger seiner Zeit zu stellen sind. Wie bei der in 1 Tim dem "Timotheus" erteilten Weisung, gegen Falschlehrer vorzugehen (1 Tim 1,3f), zeigt sich der künstliche Charakter der Inszenierung auch in Tit in der Überlagerung der Zeitebenen. Noch deutlicher als in 1 Tim kommt dabei die zeitliche Distanz zu Paulus zum Ausdruck. Die von "Paulus" angeordnete Einsetzung von Presbytern durch "Titus" hat die christlichen Gemeinden der Zeit nach "Titus" im Blick, also die dritte christliche Generation '. Die vorliegende Konstruktion, daß Anweisungen des Paulus über den Apostelschüler an die Verantwortlichen der Gemeinde der Past, Presbyter und Episkopos, übermittelt werden, läßt wiederum eine Besonderheit der Past erkennen: Die neuen Gemeindestrukturen und die gewandelten ekklesiologischen Vorstellungen werden durch die Autorität des Paulus legitimiert 2 • Der Abschnitt der VV 5-9 macht auf den ersten Blick den Eindruck der Uneinheitlichkeit. Zuerst wird in V 5 der Briefempfänger auf die ihm übertragenen Aufgaben hingewiesen; diese zeigen zusammen mit der Ortsbezeichnung Kreta individuelle Züge. Mit der Nennung der Presbyter am Ende von V 5 verknüpft der Verfasser dann aber eine 1 Diese Beobachtung, daß die Past nicht nur auf Paulus, sondern auch auf seine Schüler zurückschauen, läßt sich verknüpfen mit der Bezeichnung der Past als "Tritopaulinen" (vgl. dazu P. ThUMMER, Paulustradition 104.228; W. SCHENK, Briefe 3405). 2 Vgl. N. BRox, Past 283: "Das jetzt Notwendige wird in das Damals der von Paulus getroffenen Anordnungen gekleidet."
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listenartige Aufzählung von Tugenden und Verhaltensweisen, die sich zuerst (V 6) an den einzelnen Presbyter richten (e1: 'tL~ EO"tLV), dann ab V 7 an den Episkopos. Diese Kataloge von Pflichten und Tugenden sind im wesentlichen allgemein gehalten, ohne individuelle Züge und auch unabhängig vom Briefadressaten. Eine Parallele bietet der sog. "Bischofsspiegel" 1 Tim 3,2-7 mit z. T. gleichlautenden Ansprüchen an den Episkopos. Von Form und Inhalt her ist auch der Weisungskatalog an die Diakone in 1 Tim 3,8-13 zum Vergleich heranzuziehen; dort sind ebenfalls Anweisungen zusammengestellt, die nicht aus der Besonderheit der übertragenen Aufgaben und Funktionen zu erklären, sondern auf Abhängigkeit von bereits vorhandenen Verhaltenskatalogen zurückzuführen sind'. Vor allem im Blick auf Tit 1,7-9 läßt sich nach 1. Roloff annehmen, daß dem Verfasser "nicht nur das allgemeine Grundschema solcher Pftichtenlehren" vorlag, "sondern bereits eine relativ fest formulierte Pftichtenlehre für Episkopen"'. Das schließt allerdings nicht aus, daß der Verfasser den Übergang von V 6 zu VV 7-9, vom Presbyter zum Episkopos, mit der Doppelung der Aufzählung von Anforderungen an den Amtsinhaber mit Absicht so gestaltet hat'.
Die Anweisungen sind in Abhängigkeit von der Gattung der "Berufspflichtenlehre" zu sehen, wie sie in der hellenistischen Ethik für verschiedene Berufsstände entwickelt worden ist (vgl. auch 1 Tiin 3,1-7)6. Die Aufteilung in zwei Listen, für die Presbyter und den Episkopos, ist mit der Absicht des Autors zu erklären, beide "Institutionen" im Willen des Paulus zu verankern; es liegt dem Verfasser daran, "die von ihm intendierte Gemeindeorganisation auf den Paulusschüler und damit letztlich auf Paulus selbst zurückzuführen" 7. Dies schließt nicht aus, daß der Verfasser den Episkopos besonders betonen wollte, daß also auf den beiden Personen, die am Anfang und am Ende der ekklesiologischen Entwicklung stehen, das Hauptinteresse liegt: auf dem Apostel Paulus und auf dem Episkopos; "Titus" und den Presbytern kommt eine vermittelnde Funktion zu 8 • Der Abschnitt Tit 1,5-9 hat die Funktion, über grundlegende FestVgl. dazu die vergleichende Darstellung bei PR. H. TOWNER, Goal 225-237.. • 1. ROLOFF, 1 Tim 150. Der Episkopenspiegel Tit 1,7-9 sei "durch seine Stellung im Kontext unschwer als Zitat erkennbar". 5 V gl. W. 'THIESSEN, Ephesus 296, der sich mit Recht gegen die These vom "Bruch" zwischen den VV 5 f und den VV 7-9 ausspricht. 6 1. ROLOFF, 1 Tim 150. Vgl. auch Y. REDALIE, Paul 341-343. 7 H. MERKEL, Past 90. 8 R. A. CAMPBELL, Elders 192, gibt allerdings zu bedenken: "We may also wonder why a writer wanting to lead a church from elders to overseers should begin by saying that the purpose of the letter is that the addressee should appoint elders." Dazu ist zu sagen, daß (1) die Presbyter in den christlichen Gemeinden der Past (noch) eine wichtige Rolle spielen (vgl. 1 Tim 5,17) und daß (2) mit der Darstellung Tit 1,6-9 gerade die Entwicklung der Gemeindeorganisation über die Presbyter zum (Einzel-)Episkopos anschaulich gemacht werden konnte. 3
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stellungen zur Legitimation ekklesiologischer Strukturen auf die zentralen Probleme der gemeindlichen Praxis überzuleiten. Über Titus sind Presbyter und Episkopos - unter Beachtung der aufgeführten Bedingungen - als von Paulus selbst eingesetzte Vorsteher und Leiter autorisiert. Ihre eigentliche Aufgabe aber liegt im Kampf gegen Irrlehrer, die in V 9 eingeführt und dann in den VV 10-16 ausführlich beschrieben werden 9 • 11 5 Die Situationsangabe Und Aufgabenbestimmung des (fiktiven) Adressaten erinnert an 1 Tim 1,3 und ist ebenfalls aus der Sicht des "Paulus" geschrieben. Die Formulierung erweckt den Eindruck, der Apostelschüler setze unmittelbar das Werk des Paulus fort und der von "Titus" eingesetzte Gemeindeleiter tue dasselbe. Die Besonderheit der vorliegenden Konstruktion liegt darin, daß nicht der Apostelschüler unmittelbar seine Nachfolger instruiert, sondern daß dies - in der fiktiven Briefsituation - Paulus selbst tut. In dieser Zusammenschau von drei "Generationen" sowie in der Betonung der inneren Abhängigkeit der beiden nachfolgenden und insbesondere der dritten Generation vom Vorbild und von der Autorität des Ursprungs in Paulus (vgl. 1,3) zeigt sich, daß der Sukzessionsgedanke an Bedeutung gewonnen hat 1o • Dies wird unterstrichen durch den Hinweis am Ende von V 5, daß es sich bei den Anordnungen des "Titus", insbesondere bei der Bestellung von Presbytern, um die Durchführung der Anweisungen des Paulus handelt. Die Bedeutung der Kontinuität zum Apostel Paulus wird dadurch demonstriert, daß die Gemeindestrukturen als Verwirklichung dessen vorgestellt sind, was Paulus selbst begonnen und seinem Schüler zur Weiterführung aufgetragen hat. Der Auftrag lautet, in jeder Stadt Presbyter einzusetzen. Im Unterschied dazu wird "Timotheus" in 1 Tim 1,3 angewiesen, daß er bestimmte Leute belehren soll, keine anderen (= falschen) Lehren zu verbreiten (tva JtaQaYYELAn~ 'noiv !l~ hEQoöLöaoxaAELv). Die Unterschiedlichkeit der beiden Anweisungen ist bedenkenswert, allerdings in dem Sinne, daß sie einander ergänzen. Eine ordentliche Verwaltung einer Gemeinde durch qualifizierte Leiter ist Zeichen dafür, daß sich diese Gemeinde in der von Paulus legitimierten Gemeindeform befindet, die ihrerseits Zeichen des rechten Glaubens ist. Die Bewahrung des rechten Glaubens bedarf umgekehrt einer Autorität • Vgl, auch die Hinweise zur Einbindung der VV 5-9 in das erste Kapitel des Tit bei Y. REDALrE, Paul341.353f. 10 Die Aussage von W. 1'mESSEN, Ephesus 300f, von einer apostolischen Sukzession, d.h. "von ,einer seit Paulus sichtbaren Kette fester Amtsführung'" (S. Schulz), sei "in den Briefen nichts zu erkennen", trägt der zeitlichen und personellen Strukturierung von Paulus über Titus zum PresbyterlEpiskopos - zu wenig Rechnung.
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an der Spitze der Gemeinde, wie sie in den Past vorgestellt bzw. gefordert wird; diese Leitung ist dann ein zuverlässiges Bollwerk gegen falsche Lehren und falsche Lehrer. Daß Gemeindeordnung und Irrlehrerbekämpfung gleich wichtig sind, macht der Verfasser dadurch deutlich, daß er beide, aufgeteilt in die beiden "Briefe" 1 Tim und Tit, als ausdrückliche Anweisung des Paulus vorstellt. Der an Titus adressierte und auf Kreta bezogene Auftrag zur Presbytereinsetzung ist als ebenso allgemeingültig anzusehen wie der in 1 Tim 1,3 erteilte Auftrag zur Ketzerbekämpfung ll . Die Anweisungen in den "Briefen" dürfen aber nicht vom Kontext im weiteren Sinne losgelöst interpretiert werden; denn die eigentliche Bestimmung erhalten sie erst durch die Einbindung in die ekklesiologische Gesamtkonzeption der Past l2 • Der Auftrag ist zuerst in einer recht allgemeinen Form gehalten; "Titus" soll "das noch Fehlende" in Ordnung bringen. Die Wendung 'tu AEL:7tOv'ta darf nicht biographisch erklärt werden, etwa mit fehlender Zeit des Apostels 13 oder mit missionarischer Gewohnheit des Paulus 14. Mit dem Auftrag wird aus der Sicht des Paulus in die Zukunft verwiesen, und die Erfüllung des Auftrages wird dann - vor allem in Sicht auf die mit der Gemeindeordnung verbundene Ketzerbekämpfung - im einzelnen entfaltet. Für die Wahl der etwas umständlichen Formulierung (im Vergleich etwa zu einer kurzen Weisung, die gleich "zur Sache" kommt: "damit du Presbyter einsetzt ... ") kann zum einen geltend gemacht werden, daß auf diese Weise Raum geschaffen wird für weitere Anweisungen, gleichgültig ob sie ausdrücklich genannt werden oder nicht; als Nachfolger des Paulus hat sich "Titus" allem zu widmen 15. Wichtiger erscheint jedoch die Absicht, die in Auftrag gegebene Gemeindearbeit und speziell die Einsetzung von Presbytern als Weiterführung des von Paulus begonnenen missionarischen Wirkens darzustellen. In dieser an der Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert sich allmählich durchsetzenden (eventuell auch noch nicht allgemein akzeptierten) strukturellen Neuordnung der Gemeinden mit der Bestellung von Gemeindeleitern war es wichtig, die Kontinuität zu und die Übereinstimmung mit der vgl. N. BRox, Past 283. Dazu ist etwa zu verweisen auf die in 1 Tim 1 und Tit 1 in gleicher Weise betonte Bedeutung des Gemeindeleiters für die Bewahrung des rechten Glaubens und den erfolgreichen Kampf gegen Irrlehrer. "Der Verfasser des Titusbriefes schreibt also nicht über die Gemeindevorsteher und dann über die Häretiker, sondern er schreibt angesichts der Häretiker zum Thema ,Gemeindeleitung'" (W. TBIESSEN, Ephesus 295). 13 So 1. FREUNDORFER, Past 293, und in älteren Kommentaren, vgl. E. HUTHER, Past 321; aber auch 1. JEREMIAS, Past 69; G. W. KNIGHT, Past 287f. I' SO die Erklärung bei G. HOLTz, Past 207; P. DORNIER, Past 125. l' Vgl. etwa den Hinweis auf "einige noch unerledigte Aufgaben" bei TB. D. LEA H. P. GRIFFIN, Past 275 f, die dies allerdings damit erklären, daß Paulus tatsächlich Kreta (und Titus) aus uns nicht bekannten Gründen verlassen hat, "before the churches were fuIIy organized". 11
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apostolischen Zeit zu belegen. In der Phase einer durch unterschiedliche Interpretationen des Evangeliums entstandenen Krise wird das Wort des "Paulus" zur entscheidenden Norm des Glaubens. Deshalb ist es wichtig, daß das gesamte Tun des Titus und in der Fortsetzung dann auch das der Presbyter und des Episkopos als Weiterführung eines von Paulus begonnenen Werkes erklärt wird.
Diese Deutung findet eine Bestätigung in der Wahl des Verbums E:rtLÖLOQSOro. Es handelt sich um ein neutestamentliches Hapaxlego-
menon, und auch außerbiblisch findet sich nur ein Beleg in einer Inschrift 16 • Wie bei der Grundform ÖLOQSOro ist auch bei E:rtLÖLOQSOro die Bedeutung "in Ordnung bringen", "auf den rechten Weg bringen" gegeben; durch die sprachliche Steigerung 11 wird das Moment der Kontinuität von "Paulus" her unterstrichen. Die vom Verfasser favorisierte Regelung der Gemeindestrukturen in der Zeit der Past entspricht, so der Tenor dieses Verses, der Anordnung des Apostels an seinen Nachfolger "Titus". Die Formulierung des Auftrags, daß in jeder Stadt Presbyter einzusetzen sind, läßt einige Fragen unbeantwortet. Offen bleibt (1) die Frage, wozu überhaupt Presbyter eingesetzt werden sollen, und (2) die Frage, für welchen Bereich dies gilt: Sind sie für die Ortsgemeinde bestimmt, so daß jede Ortsgemeinde für sich Presbyter einsetzt 18 und diese unter der Leitung von Presbytern stehende Gemeinde als die dem Anspruch des "Paulus" entsprechende vorzustellen ist (vgl. die Schlußbemerkung "wie ich dir aufgetragen habe"); oder handelt es sich um einen Auftrag zur "Einsetzung von leitenden Presbytern in den Stadtgemeinden", so daß deren Überordnung über eine größere Region gewollt sei, also eine "bischöfliche Organisation einer Region durch die Einsetzung von leitenden Presbytern in den Stadtgemeinden" angezielt würde 19 ? Ungeklärt bleibt schließlich (3) die Frage nach dem Verhältnis von Presbytern und Episkopos. Für die Beantwortung dieser drei Fragen ist letztlich die Berücksichtigung des Corpus der Past erforderlich; wichtige Hinweise sind aber auch unserem Text zu entnehmen. Zu (1): Mit dem Hinweis, daß die Weiterführung des von Paulus begonnenen Werkes zu leisten ist, wird das als Aufgabenbereich der Presbyter definiert, was auch als Bestimmung und Sendung des Paulus beschrieben wird. Hier ist vor allem zu denken an die Aussagen zu seinem 16 Vgl. W. BAUER, WB s. v. EltLÖtoQ8ooo: Sammlung der Dialekt-Inschr. 5039,9. Das Verbum ÖtoQ8ooo (auf den rechten Weg bringen) ist belegt in 1 Klem 21,6, ÖtaQ8oo!-t1l (Verbesserung, Reform) in Apg 24,2, ÖtaQ800OL~ (die richtige Ordnung) in Hebr 9,10, E:7tIlVOQ8ooo~ (Wiederherstellung, Besserung) in 2 Tim 3,16. 17 Vgl. auch G. HOLTz, Past 207. Die textkritische Unsicherheit - Konjunktiv Aorist Aktiv oder Medium - spielt sachlich keine Rolle; die Aktivform ist aber textkritisch besser bezeugt. 18 So N. BROX, Past 282. " Vgl. V. HASLER, Past 87f.
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Selbstverständnis: "gemäß dem Auftrag Gottes, unseres Retters," agierender Verkünder des Wortes Gottes (Tit 1,3; vgl. 1 Tim 2,7; 2 Tim 1, 10f; 2,8), Hüter des "gemeinsamen", rechten Glaubens (Tit 1,4; vgl. 1 Tim 1,18-20), Einsatz im Kampf gegen Irrlehrer (Tit 1,10-16; vgl. 1 Tim 1,3f). Zu (2): Da die Presbyter "in jeder Stadt" eingesetzt werden sollen, ist ihr Aufgabenbereich auch in der jeweiligen Einzelgemeinde zu sehen. Zu (3): Die Beziehung zwischen Presbytern und Episkopos bleibt offen; gemeinsam sind ihnen die Aufgaben in der Gemeindeverwaltung und in der Verkündigung.
Es bleibt noch zu fragen: Warum wählt der Autor als fiktiven Ort der Aktivität des" Titus" gerade Kreta? Bei Paulus wird die Insel nicht erwähnt und auch nach der Apostelgeschichte hält Paulus sich nur kurze Zeit auf dem Weg nach Rom dort auf (Apg 27,7-13). Da wir von der pseudepigraphischen Abfassung der Past ausgehen, entfällt die Möglichkeit, auf eine missionarische Tätigkeit nach der ersten Gefangenschaft in Rom zurückzugreifen 20. Während für den EphesusAufenthalt des Timotheus (vgl. 1 Tim 1,3) immerhin noch die in der Apostelgeschichte und in den Paulusbriefen festgehaltene Wirksamkeit des Paulus einen idealen Anknüpfungspunkt bieten konnte, fehlt solches für Kreta. Neutestamentliche Überlieferungen oder gar paulinische Traditionen, die den Verfasser dazu bewogen haben könnten, diese Insel als Ort der missionarischen Wirksamkeit des Paulus und dann auch der Einsetzung eines Nachfolgers anzugeben, gibt es nicht 21 • Wahrscheinlich fand der Verfasser keine Überlieferungen über irgendwelche Beziehungen zwischen· Paulus oder Titus mit christlichen Gemeinden auf Kreta vor; darauf war er für seine Darstellung (mit der in jedem Fall fiktiven Einsetzung des Titus durch Paulus) und für seine Zielsetzung (Weisungen für christliche Gemeinden, die durch Irrlehren gefährdet waren) aber auch gar nicht angewiesen 22 • Für die Wahl eines von Ephesus weiter entfernt liegenden Ortes mochte eine Rolle spielen, daß die beiden Apostelschüler für ver20 Vgl. C. SPICQ, Past 601; vorsichtiger G. HOLTZ, Past 207: "eine uns unbekannte Reise". 2I Vgl. auchE. SCHLARB, Lehre 56-58. Obwohl nach Meinung von C. K. BARRETT, Titus 13, der Bezug des Titus zu Kreta nicht reine Fiktion sein muß, rechnet auch er damit, daß die Ortsangabe eher mit der Herkunft des Briefes als mit dem Wirken des Titus in Beziehung zu bringen ist. 22 W. THIESSEN, Ephesus 251, konstruiert dagegen folgenden Zusammenhang: "Spätestens zur Zeit der Pastoralbriefe gab es eine von Ephesus ausgehende Mission auf Kreta. Der Name Titus scheint mit dieser Mission fest verbunden zu sein. Vermutlich wirkte er im Anschluß an seine Zusammenarbeit mit Paulus (wie Timotheus) eine Zeitlang in Ephesus und wurde dabei als Paulus-Schüler bekannt. Von dort aus ging er weiter nach Kreta. So greift der Titusbrief auf die Autorität des Paulus-Schülers Titus zurück ... " Dies sind allerdings Spekulationen, die sich nicht auf Angaben des Tit stützen können; sie sind weder für die pseudepigraphische Absender- und Adressatenbezeichnung notwendig, noch für die Wahl der Wirkungsstätte des "Titus" durch den Autor der Past.
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schiedene Missionsgebiete in ihre Aufgaben eingesetzt werden sollten. Dadurch konnte den Gemeinden der Past, die wohl mit keinem der beiden Orte unmittelbar in Verbindung standen, die weite Verbreitung der von "Paulus" organisierten und autorisierten Gemeindeordnung vor Augen geführt werden 23. 6 Es folgt eine Aufzählung von Kriterien, die Gemeindemitglieder für die Aufgabe eines Presbyters geeignet erscheinen lassen. Wie bei der Auflistung der Anforderungen an den Episkopos und an die Diakone und Diakoninnen in 1 Tim 3,2-7.8-13 liegt auch hier Abhängigkeit vom Schema eines Pflichtenkatalogs vor. Im großen und ganzen fehlt wiederum eine amtsspezifische, ja sogar eine spezifisch christliche Prägung. Dennoch ist zu erkennen, daß die Zusammenstellung einen bestimmten Zweck verfolgt. Als erstes wird gefordert, daß der Presbyter "unbescholten" (avEyxÄ:rJ1;o~) sei. Die Bedeutung dieser Tugend ist daraus zu ersehen, daß gleich im folgenden beim Episkopos dieselbe Eigenschaft noch einmal angeführt wird. Und auch in 1 Tim ist von den Diakonen verlangt, daß sie "unbescholten" sein sollen (1 Tim 3,10). Es handelt sich also um eine Tugend von relativ umfassender und allgemeiner Bedeutung 2\ die schon darum geeignet war, die Tugendlisten für die Presbyter und den Episkopos zu eröffnen. Dazu kommt, daß mit diesem Kennzeichen der Unbescholtenheit für den verantwortlichen Gemeindeleiter eine wichtige Voraussetzung gegeben war, um nach innen (gegen Irrlehrer) und nach außen hin (gegenüber den dem Glauben Fernstehenden) unbelastet agieren zu können. Es folgt dann mit "l-tLa~ yuvmxo~ aV~Q", wieder in Parallelität zum Episkopos und zu den Diakonen in 1 Tim 3,2.12 (vgl. auch zu den Witwen 1 Tim 5, 9: EVO~ avöQo~ yuv~), für den Presbyter eine Bestimmung, die weder außerbiblisch noch in anderen Schriften des Neuen Testaments eine Parallele hat: der Presbyter sei "Mann einer (einzigen) Frau". Da diese Wendung !-lLa~ yuvmxo~ aV~Q schon bei der Auslegung von 1 Tim 3,2 unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Interpretationen besprochen wurde, sei hier als These nur das Ergebnis wiederholt: "Paulus" verlangt vom Presbyter eine gute, vorbildliche Ehe, die ihn im Unterschied zu einer teilweise laxen Ehepraxis der Umwelt auszeichnen und ihn damit als nachahmenswertes Vorbild für
23 Die Auswertung der Existenz des Tit neben 1 Tim und 2 Tim als Indiz dafür, "daß Kreta neben Kleinasien ein besonderes Zentrum der Häresie war" (H. v. LIPS, Glaube 156), bleibt reine Vermutung. " "In der bürgerlichen Ethik Gesamtbezeichnung eines unbescholtenen Lebens" (A. VÖGTLE, Tugend- und Lasterkataloge 55).
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die Christen erweisen kann 25 • Dieses Verständnis harmoniert mit der nächsten Mahnung, die auf das Familienleben des Presbyters Bezug nimmt. In der Frage der Eignung für das Amt eines Presbyters, der aufgrund seiner Stellung an der Spitze der Gemeinde als Repräsentant christlichen Glaubens und Lebens vor der nichtchristlichen Umwelt steht, muß auch die Familie Berücksichtigung finden. Die "Frömmigkeit" der Kinder und ihre Einstellung zur Autorität des Vaters wird hier allerdings recht einseitig unter dem Aspekt betrachtet, daß sie damit ihrem Vater in seiner Stellung als Gemeindeleiter ein gutes Zeugnis ausstellen und seine Qualifikation zum Presbyter bezeugen. Die Familie, die frommen Kinder - nw'to~ ist wohl nicht nur zu deuten als Hinweis darauf, daß die Kinder getauft sind -, die einen guten Ruf haben und die Autorität des Vaters achten, haben ebenfalls Bedeutung für die Beziehung des Presbyters nach außen hin, zur Umwelt 26 • Die intakte Familie, der "Mikrokosmos des christlichen Hauses" 27, verschafft ihm Achtung und kann nicht Anlaß für negative Äußerungen über die christliche Gemeinde sein. Der Presbyter wird also nach seiner Familie beurteilt; und je nach dem Urteil über den Presbyter wird dann über die Gemeinde geurteilt. Diese Orientierung an der nichtchristlichen Umwelt ist noch eindeutiger in der Forderung angezielt, daß die Kinder nicht dem "Vorwurf der Liederlichkeit" ausgesetzt sein dürfen (f.t~ EV Xa't1]YOQL(l a(J(01;Lu~). Die Bedeutung der ordentlichen Familie ist aber auch nach innen, auf die Gemeinde hin zu sehen. Die Ordnung im eigenen Haus ist Gewähr für die Fähigkeit, die Gemeinde zu leiten (vgl. auch 1 Tim 3,4f). Auf das innergemeindliche Zusammenleben ist die Mahnung zu beziehen, daß die Kinder "nicht ungehorsam" sind (f.t~ ... avun:o'tux'tu). Entsprechende Probleme mit Widerstand und Ungehorsam werden gleich in den VV 9.10 als Kennzeichen der Falschlehrer genannt; gerade da muß sich dann der Gemeindeleiter bewähren. Vgl. zu diesem "Ideal" der Einehe auch U. WAGENER, Ordnung 172-177. Wegen des "allgemeinen Charakters" der Tugenden, die im Bischofs-, Diakonen-/Diakoninnenund Presbyterspiegel aufgeführt sind, ist nach Meinung von Wagener auch "eine ZweiStufen-Ethik mit besonderen Anforderungen an die Amtsträger auszuschließen. Die Betonung der Einzigkeit der Beziehung dürfte also in der Auffassung des Autors der Pastoralbriefe das allgemeine Eheideal wiedergeben, das für alle Gläubigen gelten soll" (a.a.O. 173f). "Der Hintergrund, auf dem die Bestimmung ,.lLa~ YUVaLXO~ aV~Q/EvO~ avöQo~ YU~ der Pastoralbriefe gelesen werden muß, ist eine Ethik der Hochschätzung ehelicher Verbindung und Treue, wie sie in populärphilosophischen Abhandlungen zur Sexualethik sowie im inschriftlichen Lob der univira für Frauen faßbar wird" (176). 26 Die Interpretation des Adjektivs 1tL01:6~ von 1 Tim 3,4 her als gleichbedeutend mit EV {momYTI (vgl. PH. H. TowNER, Goal 233; G. W. KNIGHT, Past 289f) entspricht am ehesten dem Anliegen der Past mit der starken Betonung von Gehorsam und Unterordnung als Zeichen eines ordentlichen Lebens und des rechten Glaubens. 27 R. LÖWE, Ordnung 30. 25
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7 Ohne Zäsur und ohne ausdrückliche Erklärung wechselt der Verfasser zum Episkopos. Sowohl aus dem einleitungslosen Übergang als auch aus der Weiterführung der katalogartigen Aufzählung läßt sich erschließen, daß nicht nur die Bedingungen für die Presbyter und den Episkopos die gleichen waren, sondern daß auch ihre Stellung in den Gemeinden zumindest grundsätzlich dieselbe war. Bestätigt wird dies durch den Anschluß mit yciQ. In der Praxis ist also noch von einer gemeinsamen Aufgabenstellung für Presbyter und Episkopen auszugehen. Sie haben die Gemeindeleitung inne, die nun aber aufgrund der Entstehung verschiedener Gruppierungen in den Gemeinden mit divergierenden theologischen Aussagen stärker in der Unterweisung und in der Lehre zu sehen ist. Amt und Auftrag der Presbyter auf der einen Seite und des Episkopos auf der anderen werden hier zwar noch nicht voneinander unterschieden 28; es paßt aber gleichzeitig zur Problematik der Verunsicherung der Gemeinden durch Differenzen in der Glaubensverkündigung und zur damit notwendig gewordenen Entscheidungshilfe, daß der Autor die Gemeindeordnung weiterentwickeln will hin zu einer Form, in der der Episkopos als für die Leitung und die Lehre verantwortliche Autorität die Einheit und zugleich den rechten Glauben der Gemeinde garantiert.
Das erste Kennzeichen ist wie beim Presbyter die Unbescholtenheit, also vor allem die Fähigkeit, die Gemeinde na<:;h außen hin zu vertreten. Die Bezeichnung "Haushalter Gottes" 29 ist nicht zu beziehen auf die Funktion in der "Leitung der Hauskirche" - zumindest nicht in der hier in den Past vorliegenden Aufgabenbeschreibung -, sondern auf die die gesamte Gemeinde betreffende "Haushalterschaft" . Die Kirche wird in den Past vorgestellt als "Haus Gottes" (1 Tim 3,15; 2 Tim 2,20). Wenn sich der Gemeindeleiter als "Hausverwalter Gottes" bewährt, dann entspricht er dem Willen Gottes, wie er sich in der Kirche manifestiert. Das Haus und die Hausordnung sind gekennzeichnet von einem festen Gefüge; es ist das Bild für Sicherheit, Zuverlässigkeit und Stabilität. Im Rahmen dieses Kirchen- und Gemeindeverständnisses kommt dann den Verantwortlichen in den Gemeinden die Aufgabe zu, die als gottgegeben erkannte Ordnung der kirchlichen Gemeinschaft zu festigen und für die getreue Verwaltung des anvertrauten Glaubensgutes zu sorgen. Das Bild vom "Hausverwalter" (OLXOVOf.WC;) kann die schon angesprochene Tendenz bestätigen, daß der Autor das Ideal der christlichen Gemeinde in der vom Einzel-Episkopos geleiteten Gemeinde sieht 30. Die Ekklesiologie der Past ist orientiert an Prinzipien, wie sie in einem geordneten Hauswesen gelten: straffe Leitung sowie das Mit N. BRox, Past 284; V. HAsLER, Past 88. Zum "Amtsträger als otllov6l-1o~ 8EOii" vgl. H. v. LIPS, Glaube 147-149. 30 Vgl. auch H. MERKEL, Past 90: "Wo das Haus mit seinem Ordnungsgefüge als Analogie zur Gemeinde dient, kann es nur einen Hausverwalter (,Bischof') geben." 28 29
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Prinzip der Über- und Unterordnung. Die nachfolgend genannten Laster und Tugenden sind in der Zu- und Unterordnung zu dieser Aufgabe zu werten. Ein guter Haushalter Gottes kann der Episkopos nur dann sein, wenn er sich dieser Stellung würdig erweist und in seinem Leben bewährt. Zuerst wird eine Reihe von Verhaltensweisen aufgezählt, die dem Idealbild des guten Vorstehers widersprechen und die deshalb auch nicht zum Episkopos passen. Es sind einerseits charakterliche Schwächen (Selbstgefälligkeit bzw. Eigenmächtigkeit; Trunksucht), andererseits Verhaltensweisen, die den zwischenmenschlichen Kontakt belasten (Jähzorn, Gewalttätigkeit, Gewinnsucht). Dabei handelt es sich, wie schon gesagt, nicht um spezifisch christliche und auch nicht ausschließlich den Gemeindeleiter betreffende Forderungen. Man kann darin so etwas wie ethische "Rahmenbedingungen" sehen: was von den Christen bzw. auch nur von einem ordentlichen Menschen verlangt wird, das muß in jedem Fall Gültigkeit haben für den in der Gemeinde, der an verantwortlich leitender Stelle steht. 8 Wie zum Ausgleich werden nun positive Eigenschaften angeführt. Auch hier liegt der Nachdruck darauf, einen Gesamteindruck bzw. ein Bild des Episkopos zu zeichnen, das bei den Gläubigen Anerkennung finden konnte, welches aber auch nach außen hin auf Akzeptanz hoffen ließ. Mit QlLt..6~EVO~ (vgl. 1 Tim 3,2) und QlLÄ.ayaeo~ (neutestamentliches Hapaxlegomenon) werden TUgenden der hellenistischen Umwelt aufgegriffen; ähnliches gilt für aWQlQwv (vgl. auch 1 Tim 3,2; Tit 2,2.5), einen Begriff, der in der hellenistischen Literatur vor allem in Katalogen für Herrscher begegnet 31 • Auch bei den beiden folgenden Kennzeichen "gerecht" und "fromm" ist nicht der Zusammenhang mit der christlichen, vor allem paulinischen Tradition (gerecht aus Glauben) entscheidend, sondern wiederum die Ethiklehre der hellenistischen Philosophie. Aus der Zusammenstellung mit Ö(JLO~, womit "das heiligmäßige Leben vor Gott" gemeint ist, schließt R. Schwarz für öLxaLo~ auf eine Bedeutung, die stärker auf die Pflichten dem Mitmenschen gegenüber abhebt, und für EyxQa'ttl~ ist nach Schwarz die Bedeutung "selbstbeherrscht" zutreffend, "da es in einer Reihe mit traditionellen Kardinaltugenden steht" 32. Aufs Ganze gesehen ergeben die bisher von den Gemeindeleitern geforderten Verhaltensweisen noch kein spezifisches Bild eines Presbyters bzw. Episkopos.
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V gl. dazu R. SCHWARZ, Christentum 49-51.52.70. R. SCHWARZ, Christentum 70-74.74f.
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9 Man kann in V 9 den Endpunkt einer allmählichen Steigerung sehen 33 • Der Verfasser geht vom Allgemeinen zum Besonderen. Was jetzt vom Episkopos gesagt wird, kennzeichnet ausschließlich seine Stellung und Aufgabe in der christlichen Gemeinde. Waren die bisher genannten Merkmale eher so zu verstehen, daß Presbyter und Episkopos sich als gute, vorbildliche Christen ausweisen sollten, ohne daß die genannten Eigenschaften schon als Merkmale eines Sonderstatus angesehen werden durften (abgesehen von der Bezeichnung als otxovOIlO~ 8EO'ü in V 7), so wird nun ihre Sonderstellung begründet. Der Episkopos steht nicht mehr als einer unter vielen anderen Gleichrangigen in der Gemeinschaft der christlichen Gemeinde, sondern jetzt wird seine Stellung im Gegenüber zur Gemeinde definiert. Der Episkopos wird verpflichtet auf das "Wort"; das Stichwort A.Oyo~ verweist auf die Beauftragung zur Verkündigung des Evangeliums in 1,3 (vgl. auch 1 Tim 5,17; 2 Tim 4,2)34. Der verpflichtende Charakter wird ersichtlich aus der Verbindung mit dem Verbum avtexeo8m, welches nicht nur ein "Festhalten" im Sinne einer auf den eigenen Glauben bezogenen Treue bezeichnet, sondern aktiven Einsatz fordert. In der Übersetzung "sich angelegen sein lassen"35, "sich annehmen" kommt diese Forderung einer Betroffenheit für andere zum Ausdruck. Dem Episkopos ist "das Wort" anvertraut; ihm fällt damit auch, obwohl das nicht ausdrücklich gesagt wird, die Aufgabe der Verkündigung zu 36. Die Fähigkeit, zu lehren (öLöax'tLxo~), ist auch in 1 Tim 3,2 als Kennzeichen des Episkopos verlangt. Die Bestimmung wird jetzt stärker entfaltet und bekommt auch größeres Gewicht. Dies ist vor allem bedingt durch die gleich (ab V 10) folgende Abgrenzung gegen die Irrlehrer 37 • Das ,";Nort", dessen sich der Episkopos annehmen muß, ist ein "zuverlässiges" Wort. Es verdient Vertrauen; es ist glaubwürdig, wenn bzw. weil es der vom Apostel Paulus autorisierten Überlieferung, dem paulinischen Glaubensgut, zuzurechnen ist. Mit der Bestimmung, daß der Episkopos Sachwalter der zuverlässigen Lehre ist, wird auch Vgl. auch G. HOLTZ, Past 209: "v. 7 grundlegend Negatives, V.8 grundlegend Positives, V. 9 Bewährung im Geistlichen". ,. Vgl. E. SCHLARB, Lehre 224: "Aayor; wird ... im übergreifenden Sinn soviel bedeuten wie: die Glaubensinhalte, das Evangelium predigen - vor wem genau, ist hier nicht gesagt; es kann sowohl an Außenstehende als auch nach innen an die Gemeinde gerichtet sein." " Vgl. etwa bei M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 100; G. HOLTZ, Past 209; W. BAUER, WB S. v. avtF:x.oo. ,. Vgl. N. BROX, Past 285; auch O. KNOCH, Past 73: "Die Glaubensverkündigung bildet also die Hauptaufgabe des Episkopos"; anders G. HOLTZ, Past209: "Daß er selbst Prediger sein solle, ist nicht gesagt." 37 Es läßt sich aber nicht eine Steigerung derart feststellen, daß "die I Tim 3,2 nur empfohlene Lehrbefähigung" in diesem Vers "gefordert zu werden (scheint)" (so aber M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 101). 33
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seine Position in der Auseinandersetzung mit Meinungen gestärkt, die von dieser Lehre abweichen. Mit der Ergänzung xa't
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Mit der Wendung ilYLULVO\JOU aLaUO'X.UALU wird wieder eine für die Past typische Formel aufgegriffen. Derselbe Ausdruck steht erneut in 2,1 sowie in 1 Tim 1,10 und 2 Tim 4,3; dazu gehören die ähnlich lautenden Wendungen, die ebenfalls die "Lehre" mit Begriffen vom Wortstamm "gesund (sein)" verknüpfen: "gesunde Worte" (ilYWLvovtE~ A.6yOL) 1 Tim 6,3; 2 Tim 1,13, bzw. im Singular (ilYL~~ A6yo~) Tit 2,8; "gesund sein im Glauben" (ilYLULVELV [ev] "tU :n:LO"tEL) Tit 1,13; 2,2. Die Opposition zu "Anderslehrenden" (1Tim 1,3; 6,3), zu jenen, die von der Wahrheit sich abwenden (2 Tim 4,4), oder zu denen, "die widersprechen" (Tit 1,9), bestimmt dabei jeweils den Kontext. Mit "gesund" wird also ganz allgemein die orthodoxe Glaubenslehre bezeichnet, der sich der Autor der Past verpflichtet weiß und die er gegen andere, d.h. gegen falsche Lehrer, zu verteidigen hat. Die Bedeutung von "gesund", bezogen auf die "Lehre", wird zumeist in Entsprechung zum hellenistischen Sprachgebrauch gesehen 42 • Als "gesund" wird im übertragenen Sinn das bezeichnet, was als vernünftig, sachgemäß und als wahr gelten so11 43 • Die Past erheben damit den Anspruch, daß ihre Lehre und ihr Glaube nicht nur der apostolischen Überlieferung entsprechen, sondern sinnvoll und vernünftig sind. Das wird gleichzeitig denen abgesprochen, die von diesem Glauben, wie ihn die Past vertreten, abweichen. So bezeichnet das "krank sein" in 1 Tim 6,4 den Verlust der Wahrheit und den Abfall vom Glauben 44. Allerdings ist dieses rationale und dogmatische Moment, das in diesem Vers in der Bestimmung der Aufgabe des Gemeindeleiters mit "ermahnen" und "überführen" zum Ausdruck kommt, nicht isoliert zu sehen vom Verhalten, das diesen Glauben nach außen hin kundtut. Als Sachwalter der "gesunden Lehre" kommt der Gemeindeleiter nur in Betracht, wenn er auch die vorgenannten Bedingungen eines ordentlichen Lebens erfüllt. Umgekehrt gilt als Kennzeichen der Irrlehrer, daß sich die Abweichung. vom Glauben und von der Wahrheit niederschlägt in ihrem Leben (vgl. auch 1 Tim 4,lf; 6,3-5; 2 Tim 3,1-7). Zur "gesunden Lehre" gehört folglich die entsprechende "kirchliche Praxis" 4S. Da es sich hier um eine durch "Paulus" legitimierte Anweisung handelt, ist zum Inhalt dieser Lehre ganz allgemein festzuhalten, daß die paulinische Verkündigung dazu zählt, außerdem die in den Past ansatzweise entwickelte Ausgestaltung in der Christologie, aber auch die stärker entfaltete und betonte Ekklesiologie; und schließlich ent42 vgl. H. v. LIPS, Glaube 69f; 1. ROLOFF, 1 Tim 77f. " Belege dafür bei U. LUCK, ThWNT VllI 308. " Mit H. v. LIPS, Glaube 70; vgl. 71: "Der VOOÖlV (16,4) ... hat nicht geringere Erkenntnis, sondern gar keine ..... 45 Vgl. N. BRox, Past 107f; E. SCHLARB, Lehre 297.
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spricht der "gesunden Lehre" das, was - vielfach nicht eigens ausgeführt und entfaltet - den falschen Lehren entgegensteht. III (1) Der Schlußvers gibt an, welche Funktion die Past dem Gemeindeleiter zusprechen: Verkündigung der rechten Lehre und Verteidigung gegen Verfälschungen sowie Zurückweisung von abweichenden Meinungen. Es geht dabei um die christliche Gemeinde, die in ihrer Einheit gefährdet ist. Den Grund dieser Gefährdung der Einheit kann man unterschiedlich bestimmen. So will V. Hasler die Situation in den Gemeinden der Past in Entsprechung zu Entwicklungen sehen, wie sie in 3 Joh'und dann in 1 Klem belegt sind, daß nämlich in den Gemeinden die leitenden Presbyter zueinander in Konkurrenz getreten sind. Wie dort gehe es auch in den Past um die Frage der Legitimität der Presbyter; und die werde hier definiert durch die Rückführung auf die "apostolische Herkunft von Paulus" 46.
Es ist sicher zutreffend, daß die Past besonderes Interesse zeigen, den Gemeindeleiter an Paulus und die von ihm ausgehende Beauftragung zu binden; der zumindest prinzipiell bestimmende, wenn auch noch nicht reflektiert ausformulierte Sukzessionsgedanke bestätigt das. Allerdings läßt sich eine Eingrenzung des in den Gemeinden herrschenden Konflikts auf die Auseinandersetzung zwischen den Gemeindeleitern um ihre Rechtmäßigkeit und Legitimation nicht belegen. Denn zum einen wird die Qualifikation des Gemeindeleiters mit sehr allgemeinen Angaben beschrieben, so daß die Einsetzung durch den Apostelschüler im wesentlichen an diesen Merkmalen sich orientieren kann; eine Konkurrenzsituation, die bedingt wäre durch die Frage nach der Legitimation von Paulus her, wird noch nicht erkennbar. Und zum anderen zeigt sich hier wie auch an anderen Stellen, daß der entscheidende Grund für die Einsetzung qualifizierter Leiter die innergemeindliche Auseinandersetzung um theologische Fragen ist. Die "gesunde Lehre", also die der überlieferten Lehre (ÖLÖax~) entsprechende Verkündigung, ist gefährdet durch Leute, die ihr widersprechen. Gegen sie gilt es vorzugehen; und in dieser Konfliktsituation fordern die Past eine intakte und bewährte Gemeindeleitung. Die Auseinandersetzung mit den Irrlehrern wird zu einer kirchenamtlichen Aufgabe erklärt. (2) Dieser erste Abschnitt in Tit nach dem Präskript zeigt erneut die enge Zusammengehörigkeit von Gemeindeordnung und Irrlehrerbekämpfung. Mit dem Ausblick auf die Einsetzung von Presbytern durch den Paulusschüler im Auftrag eben dieses "Paulus" wird bereits .. v. HASLER, Past 88.
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deren bzw. des Episkopos Aufgabe in der Auseinandersetzung mit "Gegnern" angezielt (a.vtLAEYO'V'tE~ V 9). Wenn nun aber eine so enge Beziehung zwischen den amtsspezifischen Aussagen und ihrer Beauftragung zur Irrlehrerbekämpfung besteht, dann ist zu fragen, ob man die Stellung dieser Gegner überhaupt losgelöst von der Gemeindeleiterparänese sehen kann. Es ist auffällig, "daß die Past weniger die Irrlehre bekämpfen als die Irrlehrer selbst"47. Das hat zur Folge, daß eine inhaltliche Darstellung der Positionen, die bekämpft werden sollen bzw. zu deren Ablehnung vor allem die verantwortlichen Amtsinhaber ermahnt werden, nur selten und dann auch nicht ganz eindeutig erfolgt. Wie schon bei Paulus durch polemische Akzentuierung der gegnerischen Positionen der Versuch, die Positionen der Gegner aus dem Brief selbst zu erschließen, erschwert ist (besonders deutlich beim Galaterbrief), so auch und noch gravierender in den Past. Zum weitgehenden Verzicht auf inhaltliche Auseinandersetzung kommt hinzu; daß durch das Stilmittel der Pseudepigraphie die dargestellte Auseinandersetzung insgesamt künstlich ist. Es ist zwar so, daß der Paulus der Past in seinen Anordnungen und Weisungen den Problemen und Fragen der Zeit der Past entspricht; dadurch aber, daß die Autorität des Paulus in Anspruch genommen wird, erhalten diese Weisungen über die aktuelle Bestimmung hinaus einen grundsätzlichen und allgemeingültigen Charakter'".
(3) Wenn man das "Hauptanliegen" der Past darin zu sehen hat, daß das Amt und die Autorität des für den Glauben und die Verkündigung verantwortlichen Gemeindevorstehers in ihrer Bedeutung herausgestellt werden sollen, dann verliert der Kampf mit den Gegnern seine aktuelle, inhaltliche Bindung an bestimmte Probleme und Fragen der Zeit der Past 49 . Das könnte zu dem Schluß führen, daß der Verfasser eine grundsätzliche und möglichst allgemein gehaltene Wegweisung für den Umgang mit Irrlehrern, die jetzt und in Zukunft in den Gemeinden auftreten, geben wollte. Es trifft zwar zu, daß den Past nicht nur der Rückgriff in die apostolische Vergangenheit wichtig ist, um auf diese Weise mit der Autorität des Paulus ihr eigenes Tun und Verhalten zu legitimieren. Mit der zumindest im Grundsätzlichen entwickelten Sukzessionsidee wird aber die eigene Gegenwart als ein Punkt in der sich entfaltenden Geschichte der Kirche gesehen; die eigene Situation der Past verliert für sich genommen an Bedeutung, insofern sie paradigmatisch die zukünftige Entwicklung repräsentiert.
47 P. TRUMMER, Paulustradition 164. .. Vgl. auch bei P. TRUMMER, Paulustradition 16lf. .. Vgl. etwa bei 1. ROLOFF,l Tim 229: Die Past "interessieren - etwas überspitzt gesagtdie Irrlehrer mit ihren die Kirche bedrohenden Aktivitäten gleichsam als die dunkle Folie, vor der sich das Bild des verantwortlich vom Evangelium her die Gemeinde sammelnden und leitenden Amtes um so klarer abhebt".
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Allerdings darf diese Sicht nicht verabsolutiert werden. Die grundsätzliche Zielsetzung und die allgemeingültige Ausrichtung heben die Bindung an eine aktuelle Gemeindesituation nicht auf. Das bedeutet für die Bestimmung der sog. "Irrlehrer": Es gibt in den Gemeinden der Past Differenzen um theologische Sachfragen, und das Anliegen dieser Schreiben ist, in der dadurch hervorgerufenen Verunsicherung den Gemeinden einen zuverlässigen Leitfaden für den rechten Glauben an die Hand zu geben. Das Bemühen um eine Bestimmung der Positionen dieser "Abweichler" kann einige Aspekte und Gesichtspunkte aufgreifen, die in den Schreiben selbst zur Sprache gebracht werden, sei es in der Form der Anklage als Irrtum und Abweichung vom rechten Glauben, oder sei es in der nachdrücklichen und betonten Ausformulierung eigener Glaubenspositionen. Gewisse Unsicherheiten und offene Fragen werden aber bleiben. Denn zum einen begegnet uns das Bild der Gegner "in polemischer Verzerrung" und wird von den Past so gezeichnet, daß die Leser schon "affektiv" gegen sie eingenommen werden 50; und zum anderen ist "die eigentlich theologische Antwort der Past auf die Häresie ... keine inhaltliche, auch keine rein formale, sondern eine personale" 51. 3. Das Urteil über die Widersacher (1,10-16) Denn es gibt viele, die sich nicht unterordnen, leere Schwätzer und Verführer, insbesondere solche aus der Beschneidung1,- 11 ihnen muß man den Mund stopfen, da sie ganze Hausgemeinschaften zerstören, indem sie um schmutzigen Gewinnes willen lehren, was sich nicht ziemt. 12 Einer von ihnen hat als ihr eigener Prophet gesagt: "Kreter sind immer Lügner, böse Tiere und faule Bäuche." 13 Dieses Zeugnis ist wahr. Darum überführe sie mit Strenge, damit sie im Glauben gesund werden, 14 indem sie sich nicht an jüdische Fabeln halten und an Vorschriften von Menschen, die sich von der Wahrheit abwenden. 15 Den Reinen ist alles rein; denen aber, die befleckt sind und ungläubig, ist nichts rein, sondern befleckt sind sowohl ihr Verstand als auch 10
so So M. WOLTER, Paulustradition 263; allerdings erscheint es doch fraglich, ob man soweit gehen darf, die Gegner würden "durchgängig in polemischer Verzerrung beschrieben" (ebd.); denn manche Darstellung muß sicher auch als der Wrrklichkeit entsprechend anerkannt werden. Vgl. dazu auch E. SCHLARB, Lehre 59-73, der insgesamt die Möglichkeit, aus den Past selbst die Positionen der Irrlehrer zu bestimmen, positiver einschätzt. SI P. TRUMMER, Paulustradition 164. 1 Die Partikel xaL nach :n:oÄ.AoL ist textkritisch schlechter bezeugt und als nachträgliche Ergänzung, entsprechend klassischem Sprachgebrauch, zu bewerten (B. WEISS, Past 342; vgl. auch B.-D.-REHKOPF, Grammatik § 442,7a); vgl. dazu auch B. M. METZGER, Commentary 584f.
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ihr Gewissen. 16 Sie erklären, Gott zu kennen, mit ihren Werken aber verleugnen sie (ihn); abscheulich sind sie und ungehorsam und zu jeglichem guten Werk unbrauchbar. I Nun werden die Aufgaben konkretisiert, die entsprechend der in Tit gewählten Inszenierung der von Paulus auf Kreta zurückgelassene Titus und die von ihm einzusetzenden Gemeindeleiter zu erfüllen haben. Dies geschieht allerdings zunächst in der Weise, daß diejenigen, mit denen sie sich als für die Gemeinden Verantwortliche auseinanderzusetzen haben, ausschließlich mit negativen Eigenschaften vorgestellt werden. Schaut man auf die Adressaten, denen "Paulus" seine Anweisungen erteilt, so wird wiederum deutlich, daß der Verfasser den Apostel auf zwei Zeitebenen agieren läßt, die bewußt nicht gegeneinander abgegrenzt werden. In der vom Autor von Anfang an vorgestellten Konstellation, daß Paulus den Titus einsetzt, dann aber gleich über die Qualifikation der von diesem zu benennenden Gemeindeleiter und deren Aufgaben (V 9) spricht, gilt all das, was dem "Titus" gesagt wird, auch, ja eigentlich ausschließlich für die von "Titus" einzusetzenden Amtsträger. Die Vermischung der beiden Zeitebenen wird unter anderem erkennbar in der Wiederaufnahme von Begriffen aus den Anweisungen an die Presbyter und den Episkopos zur Beschreibung der Krise, die den Einsatz des Titus erfordert; besonders auffällig ist dabei die Parallele in der Beauftragung zum "überführen" (eAEYJ(ELv) V 9 und V 13. Der Verfasser baut eine katalogartige Irrlehrerpolemik auf, deren künstlicher Charakter auch ersichtlich wird durch einen Vergleich mit dem vorausgehenden Presbyter- und Episkopenspiegel. Der im Auftrag des Paulus bestellte Gemeindeleiter ist das Gegenteil dessen, was über die Falschlehrer gesagt wird. Wie die genannten Tugenden bzw. die Freiheit von Fehlern und Lastern (VV 6-8) zum Bild des bewährten Gemeindeleiters gehören, so macht es das Wesen der Irrlehrer aus, daß ihnen alle diese guten Eigenschaften fehlen bzw. daß sie das negative Gegenbild zum idealen Gemeindeleiter darstellen 2. Einzelne Fonnulierungen bzw. Kennzeichnungen der Irrlehrer stehen auch in anderen, zumeist ebenfalls katalogartig zusammengestellten Registern (vgl. dazu 1 Tim 1,3-11; 6,3-10; 2 Tim 2,14-18; auch 1 Tim 4,1-11)'; zum Vorwurf "hohle Schwätzer" (V 10) vgl.l Tim 1,6; zum Motiv der Verführung von
"Die negativen Äußerungen über die Häretiker sind gewissennaßen als Kontrastbild dem christlichen Ideal gegenübergestellt (VV 10.11.14.16)" (H. MERKEL, Past 93). V gl. auch R. SCHWARZ, Christentum 82; N. BROX, Past 286; W. STEGEMANN, Vorurteile 52. 3 V gl. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 101; G. W. KNIGHT, Past 296; J. D. QUINN, Tit 106. 2
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"ganzen Häusern" (V 11) vgl. 2 Tim 3,6; zur Anklage der Abkehr von der Wahrheit (V 14) vgl.1 Tim 6,5.
Ansatzweise ergeben sich Anhaltspunkte für die Identifizierung der in den Gemeinden der Past agierenden Irrlehrer, da in den VV 10-14 eine Verbindung zu jüdischen Traditionen hergestellt wird. Eine besondere Note bekommt die Abrechnung mit den Irrlehrern schließlich dadurch, daß mit dem Zitat in V 12 die Ortsbestimmung Kreta aus V 5 noch einmal aufgegriffen und damit etwas "Lokalkolorit" eingetragen wird 4 • Verknüpft mit der andeutungsweisen Bezugnahme auf Inhalte der von den Gegnern vertretenen theologischen Positionen, liegt hier wieder ein Beispiel für das schon angesprochene Verfahren der Past vor: Konkrete Themen und Sachfragen, die auch in der Verkündigung des Evangeliums eine Rolle spielen (V 10: der Hinweis auf die "Beschneidung"; V 14: der Bezug auf "jüdische Fabeln" und "Vorschriften von Menschen"), werden verknüpft mit einer undifferenzierten, umfassenden Polemik gegenüber den Vertretern solcher Positionen. Diese Andeutungen eröffnen aber die Möglichkeit, die theologischen Positionen der "Irrlehrer" wenigstens in Grundzügen zu bestimmen. Dieser Aufgabe muß man sich stellen, auch wenn gleichzeitig gilt, daß man sich davor hüten muß, "aus diesen im polemischen Stil hingeworfenen Sätzen auf historische Daten zu schließen" 5. II
10 Die voranstehend genannte Aufgabe des Episkopos, Leute zu "überführen", also sie als im Unrecht befindlich zu erweisen, erhält, mit YUQ angeschlossen, eine erste Begründung. Dieser erste Vorwurf bzw. Anklagepunkt zeigt, in welchem Bereich sich nach den Past das Problem von Rechtgläubigkeit und Häresie festmachen läßt: auf der Ebene des Gehorsams und der Unterordnung. Die Einführung der Gegner als Leute, die sich nicht unterordnen wollen, entspricht der vorangehenden Beschreibung des Ideals eines Gemeindevorstehers. Als Kennzeichen des Presbyters, wie "Paulus" ihn haben will, war in V 6 genannt worden, daß er Kinder habensoll, die nicht durch Ungehorsam auffallen. Kennzeichen eines Gemeindeleiters muß es sein, daß er seinen Autoritätsanspruch durchsetzen kann; entsprechend gilt für die Gemeindemitglieder, daß sie sich diesem Anspruch unterzuordnen haben. Die hier erkennbare Gemeindestruktur hat grundsätzliche Bedeutung für das Kirchen- und Gemeindeverständnis der Past. V gl. dazu M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 1Ol. V. HASLER, Past 90. Diese polemische Form schließt allerdings nicht aus, daß Elemente der Lehre der bekämpften Häretiker darin enthalten sind.
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Ins Unrecht gesetzt müssen Gemeindemitglieder sich schon dann sehen, wenn ihr Verhalten oder die Äußerung einer Meinung als "ungehorsam" bezeichnet werden kann. Die Gemeindeordnung mit der Struktur der an der Spitze stehenden Presbyter bzw. des Episkopos, der schon aufgrund seiner Fähigkeit zur Durchsetzung von Gehorsam und Unterordnung als guter und qualifizierter Verwalter des Amtes angesehen wird, zeigt Züge einer auf formale Gegebenheiten gestützten Bewertung der Gläubigen. Wo die Fügsamkeit zur Norm der Rechtgläubigkeit erklärt wird - und der Zusammenhang von V 9 und V 10 macht deutlich, daß der Autor die Unterordnung zu einem zentralen Kriterium des rechten Glaubens, der "gesunden Lehre" erklären will -, da zeigt sich die Gefahr, daß sowohl der Glaube als auch die Eigenverantwortung der Glaubenden als zumindest zweitrangig angesehen werden; ja sie können sogar, mit dem bloßen Verdikt der fehlenden Unterordnung versehen, als gegen die Kirche und damit gegen den "Glauben gerichtet beurteilt und verurteilt werden. Wenn so die Durchsetzung der Amtsautorität zu einem wesentlichen Kriterium der Rechtgläubigkeit erklärt wird, ist auch verständlich, daß inhaltliche Auseinandersetzungen in den Hintergrund treten bzw. sogar, wie in 2 Tim, dem Gemeindeleiter untersagt werden (vgl. 2 Tim 2,14.16.23).
Verknüpft mit der mangelnden Konkretisierung der Auseinandersetzung mit den "Irrlehrern" , hat also die hier eingeleitete Form der "Widerlegung" doch eine eindeutige Mitte, um die herum alles geordnet ist, nämlich die Forderung zu diskussionsloser Anerkennung der Autorität des Gemeindeleiters. Aus der Feststellung, daß es "viele" solche Gegner gebe, ist nicht unbedingt zu schließen, daß die Irrlehre schon viele Anhänger hat; damit wird vielmehr für die Adressaten die Gefahr unterstrichen, die von den Widersachern ausgeht. Gleichzeitig soll auf diese Weise die Notwendigkeit der von "Paulus" angeordneten Einsetzung von Amtspersonen als Schutz gegen die "Abweichler" untermauert werden. Es folgen zwei weitere Charakterisierungen der Gegner mit abwertenden Bemerkungen. Die Vergeblichkeit, die "Hohlheit" der Bemühungen dieser Menschen wird angeprangert; sie werden bezeichnet als "hohle Schwätzer" (f,tat:aLoMym). Gleichzeitig aber wird von ihrer Gefährlichkeit gesprochen, indem sie als "Verführer" der Gemeinden gekennzeichnet werden (QJQEvuJt
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Neutestamentliches Hapaxlegomenon; !JlQEVUltm;Civ in GaI6,3.
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delt, wird aus dieser Art der Benennung noch nicht ersichtlich, worauf sich der Vorwurf bezieht. Die Umschreibung oi EX (Lijl:;) JtEQLLO!lijl:; benutzt schon Paulus (Röm 4,12; GaI2,12; vgl. auch Ko14,11; Apg 10,45; 11,2); beim Apostel Paulus ist damit kein abwertendes Urteil verknüpft, auch wenn der Kontext (vgl. Röm 4,11) mit den Stichwörtern "Gerechtigkeit aus Glauben" (ÖLXaLOmJVT) Lijl:; JtLOLEOlI:;) und "Unbeschnittenheit" (uxQOßUOLLU) zumindest die Grenze der Bedeutsamkeit der jüdischen Abstammung aufzeigt.
Man könnte also auch an dieser Stelle daran denken, daß Gefahren für den Glauben von solchen Christen befürchtet wurden, die aus dem Judentum stammten und die spezifisch jüdische Glaubensinhalte besonders betonten; Gefahren also von Judenchristen, die noch in besonders starken Bindungen mit ihren jüdischen Glaubenstraditionen lebten'. Wir finden in V 14 wieder den Hinweis auf "jüdische Fabeln" und in Tit 3,9 die Warnung vor "Geschlechtsregistern" (yeVEaAoytm) und "Streitigkeiten um das Gesetz" ü-u1Xm vOIlLxaL), was insgesamt an die Beschreibung der Probleme in 1 Tim 1,3-11 erinnert. Doch es ist unschwer zu erkennen, daß der Charakter der Gegner als Juden völlig unbetont bleibt und daß die noch für Paulus zentrale Frage nach der Gültigkeit und der Bedeutung der Bindungen an das Gesetz ganz aus dem Gesichtskreis verschwunden ist 8 • Die Bezeichnung "die aus der Beschneidung" erscheint verblaßt und findet offensichtlich nur Verwendung wegen einiger Besonderheiten der von den Past bekämpften Lehre, die an jüdische bzw. alttestamentliche Traditionen anknüpfen. Es ist also nicht unbedingt notwendig, anzunehmen, daß der Großteil der "Gegner" tatsächlich jüdischer Abstammung war oder genuin jüdische Positionen vertreten hat. In deren theologischen Positionen waren vielmehr Elemente aus jüdischer Tradition aufgenommen worden, die von der "Großkirche" in dieser Form nicht anerkannt wurden. Entscheidend ist dabei der Kontext, in welchen solche jüdische Traditionen gestellt sind, nämlich eine gnostisierende Deutung des christlichen Glaubens. Gerade im Vergleich mit Paulus ist zu betonen: Es ist nicht mehr die Spannung im Zusammenleben von Heidenchristen und Judenchristen maßgeblich, die mit den Stichwörtern "Glaube" und "Gesetz" charakterisiert werden konnte. In der Zeit der Past ging es (allerdings auch in einer innergemeindlichen Auseinandersetzung) um die Frage, ob die alttestamentliche Tradition in V gl. etwa die Charakterisierung der Gegner bei G. HOLTZ, Past 211 f, der das negative Urteil des Verfassers noch durch weitere Verdächtigungen steigert: "Ehemalige Juden fallen besonders unliebsam auf. Sie werden einen Teil ihres Judentums bewahrt und einen Teil Heidentum und auch ein wenig Christentum hinzugetan haben." Zur Kritik an solcher Rezeption der "Vorurteilsstruktur des neutestamentlichen Autors" vgl. W. STEGE MANN, Vorurteile 58. g Vgl. 1. L. HouLDEN, Past 144. 7
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kirchlicher (= paulinischer) Deutung übernommen oder ob andere, stärker gnostisierende Interpretationen des Alten Testaments den Vorzug erhalten sollten.
Die Kennzeichnung eines Großteils der Irrlehrer als "Juden" zeigt, daß die Situation der Kirche sich gegenüber Paulus schon entscheidend gewandelt hat. Es ist jetzt eine Situation da, in der die christliche Gemeinde ihr Selbstverständnis und ihren Anspruch nicht mehr aus der heilsgeschichtlichen Kontinuität mit Israel als dem Adressaten der Gottesoffenbarung und des Bundes definiert. Im Gegenteil! "Die Juden" werden undifferenziert auf der Seite derer genannt, die es zu bekämpfen gilt 9 • Die Past zeigen die Tendenz zur Abgrenzung und zur Ausgrenzung; diese Abgrenzung wird nicht differenzierend und sachbezogen durchgeführt, sondern wieder global, schematisierend, mit allgemeinen Verurteilungen. Das gilt auch für das in V 10 gefällte Urteil über "die Juden"; ihnen wird die Schuld für Spaltungen in den christlichen Gemeinden zugesprochen 10.
11 Mit den in V 10 verteilten Prädikaten an die Gemeindemitglieder, die fehlender Bereitschaft zur Unterordnung beschuldigt werden, hat der Verfasser die Leser bereits bestens darauf eingestimmt, daß eine entsprechende Reaktion seitens der Gemeindeleitung als "notwendig" erachtet wird (ÖEL). Es gilt, die Wirkungsmöglichkeiten dieser Leute radikal zu beschneiden. Da die Gefahr in ihrem Wort, in der Verkündigung liegt, muß die Maßnahme sie auch hier treffen. Im konkreten Vorschlag, daß man ihnen "den Mund stopfen" soll, zeigt sich wiederum, daß der Autor der Past "kein Freund diskutierender Auseinandersetzung mit den Irrlehrem" ist ll . Es ist dabei an Maßnahmen zu denken, die von den Gemeinden ausgehen bzw. die vor allem von den Amtspersonen durchzusetzen sind. Eine erste, wichtige Maßnahme ist der Ausschluß von jeglicher Mitwirkung in der Verkündigung, insbesondere in der gottesdienstlichen Versammlung 12. Die Verwendung des plastischen Wortes emO'totJ.LtELv (den Mund stopfen) kann als Hinweis verstanden werden, daß es das hier angestrebte Ziel ist, diesen Menschen jegliche Möglichkeit einer Ein, Vgl. W. STEGEMANN, Vorurteile 53-56. Stegemann spricht zu Recht von einem "Vorgang der Diskriminierung"; das Ziel des Verfassers ist, "die christlichen Abweichler mit Vorurteilen über das Judentum zu belasten und sie wegen ihrer Nähe zu jüdischen Traditionen zu diskreditieren" (a. a. 0. 56). 10 Vgl. dazu V. HASLER, Past 90, der darauf aufmerksam macht, daß nun "Jude" und "Heide" als "Schimpfworte" gebraucht werden, "mit welchen die sektiererischen Elemente in der Kirche verächtlich gemacht werden". 11 N. BROX, Past 287. 12 So denkt etwa G. HOLTZ, Past.212, an "kirchenzuchtliche Maßregeln ... , die ihnen das Wort im Gemeindegottesdienst entziehen".
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flußnahme auf die Gemeinden zu nehmen 13. Da das Motiv der Unterordnung und des Gehorsams der Autorität des Gemeindeleiters gegenüber so stark betont wird, ist dabei möglicherweise auch an amtliche Maßnahmen des Vorstehers gedacht, etwa an den Ausschluß aus der Gemeinde 14 • Die Berechtigung solch rigorosen Vorgehens wird gleich belegt durch eine Erweiterung der gegen diese Leute erhobenen Vorwürfe: Ihr Thn zerstört "ganze Häuser". Auch dieser Vorwurf ist zu sehen auf dem Hintergrund der besonderen Betonung der Ordnung und Zuverlässigkeit, für die das Bild vom Haus steht, sei es bezogen auf den bewährten Episkopos (vgl. 1 Tim 3,4) oder auf die ganze Kirche (1 Tim 3,15). In dem Bild vom "umstürzen" schwingt auch die Furcht vor einer Bedrohung mit, die durch eine Veränderung der schon "lange" bestehenden, im alltäglichen Leben bewährten und auf das Glaubensleben übertragenen Ordnungsstrukturen ausgehen kann. In Verbindung mit 2 Tim 3,6, wo als Kennzeichen der Falschlehrer genannt wird, daß sie sich in die Häuser einschleichen, ist auch an dieser Stelle eine Polemik gegen missionarisches Wirken zu erkennen, welches in der Abgeschiedenheit der Häuser, also in den Familien sich vollzieht und damit einer Kontrolle durch die Öffentlichkeit der Gemeinde bzw. ihrer Vorsteher entzogen ist 15 • Die Notwendigkeit der Kontrolle und der Überwachung der Lehrinhalte wird unterstrichen durch die Ergänzung, daß diese Leute "Unziemliches" lehren, also das, was ihnen untersagt ist (a I.I.~ ÖEL, vgl. auch 1 Tim 5,13: 'tu I.I.~ öEOvta). Der nach V 9 vom Episkopos geforderte Einsatz für "das zuverlässige Wort, welches der Lehre entspricht", wird hier in den praktischen Konsequenzen erkennbar. Es gibt auch eine Ordnung der Verkündigung, über die die einen zu wachen und der sich die anderen unterzuordnen haben. Das Recht, darüber zu entscheiden, liegt bei "Paulus", der sich dafür auf Gottes Auftrag beruft (vgl. 1,3), sodann bei dem von ihm bestimmten Nachfolger und schließlich bei den Gemeindeleitem, die von diesem eingesetzt werden sollen (1,5). Eine weitere Begründung für das massive Einschreiten der Gemeindeleitung, das mit E:ltLO'tOI.l.L~ELV umschrieben ist, wird in einem moralischen Vorwurf geliefert: Das Tun der Häretiker entspringt reinem Gewinnstreben. Die Grenzen zwischen WIrklichkeit und Polemik sind hier sicher fließend. Finanzieller Unterhalt für Missionare, Das Verbum E1tLITt:0I-lU';ELV ist biblisches Hapaxlegomenon. Zum Vorkommen in der außerbiblischen Literatur vgl. (::. SPICQ, Lexique 571 f. 14 So 1. F'REUNDORFER, Past 296; vgl. A. T. HANSON, Past 175 ("probably by excommunieation"); H. MERKEL, Past 94. 15 Vgl. N. BROX, Past 287: "Die öffentliche, amtliche Predigt der Kirche ist der Ort, wo man die Wahrheit erfährt." 1:l
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die in Gemeinden wirkten, durch diese Gemeinden bzw. auch durch Einzelpersonen war schon zur Zeit des Paulus üblich, wenn auch nie ganz unumstritten und problemlos (vgl. 1 Kor 9,6-18; 2 Kor 11,7-9; PhiI4,15f). Es ist damit zu rechnen, daß es Mißbrauch gegeben hat; und daß solcher Mißbrauch auch in den Gemeinden der Past eine Rolle gespielt haben kann, ist gut möglich - ob allerdings ausschließlich auf seiten der "Häretiker", das muß bezweifelt werden. Gerade das aber will der Verfasser hier sagen, daß nämlich Gewinnstreben Kennzeichen der Häretiker ist. Zum Gemeindeleiter, wie er durch "Paulus" als Ideal beschrieben wird, gehört die Freiheit von Gewinnsucht (V 7); der Irrlehrer aber, der nicht das Wohl der Gemeinde im Blick hat und der im Widerspruch zu der von "Paulus" verfügten Gemeindeordnung steht, ist daran zu erkennen, daß er aus Gewinnsucht handelt. Der Vorwurf eines schändlichen Gewinnstrebens ist also nicht unbedingt auf Verifizierung angewiesen; er ergibt sich gewissermaßen als Konsequenz aus der Verurteilung von bestimmten Gemeindemitgliedern als Häretiker. 12 Der Verfasser zitiert zur Unterstützung und zur Bestätigung seines bisherigen negativen Urteils über die Häretiker die Aussage eines Dichters, von dem er betont, daß er einer von ihnen, also ein Kreter ist. Mit dem Zitat in V 12 sind zwei Probleme verbunden, die kurz zu behandeln sind: (1) die Frage nach der Herkunft des Spruches und (2) die Frage nach dem Sinn, den der Verfasser der Past damit verband. (1) In der Frage der Herkunft des Spruches Wird im Anschluß an das Zeugnis von Clemens von Alexandrien und von Hieronymus, soweit zu übersehen, übereinstimmend!6 der aus Kreta stammende Epimenides genannt, der im 6.1 5. Jahrhundert v.Chr. lebte 17 • Hieronymus nennt sogar das Werk "Über die . Orake1sprüche"!8. Die beiden Interpreten der biblischen Tradition geben allerdings nicht zu erkennen, worauf sie die Identifizierung des in Tit namenlos gelassenen Gewährsmannes des Spruches stützen. Es ist nicht sicher, daß etwa Clemens behaupten will, Epimenides sei der Urheber des zitierten Wortes gewesen; denkbar ist, daß er nur sagen will, der Verfasser des Tit habe mit jenem "Propheten" den Epimenides gemeint!". Weil aber Epimenides in der " Vgl. etwa die Textausgaben Nestle27 , GNT'. Zu Leben und erhaltenen Fragmenten des Epimenides vgl. H. DIELS, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. I, 10. Aufl., hrsg. v. W. Kranz (Berlin 1961) 27-37. Vgl. auch die Übersichten bei M. DIBEJ-IUS - H. CONZELMANN, Past 101-103; J. D. QUINN, Tit 107109. 18 Clem. Alex., strom. I 59,2: Als der siebente der Weisen wird von einigen Epimenides genannt, "oli J.lEJ.lVTj'tal 6 &J't6O'tOAO~ IIaiiAo~ Ev 'tTI J'tQo~ TLwv EJ'tLO'tOAfj, Myrov oil'tro~ ... " Hier., Comm. in ep. ad Titum (VII 706 [PL 26,571 f]): "Dicitur autem iste versiculus in Epimenidis Cretensis poetae oraculis reperiri ... " 19 V gl. CH. ZIMMER, Lügen-Antinomie 80; vgl. zur Frage nach der Herkunft des Zitates ebd.78-82. 17
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Antike, und das heißt auch noch in der Zeit der Abfassung der Past, "vielleicht einer der bekanntesten Kreter" war 20 , ist es wahrscheinlich, daß der Verfasser der Past diesen Epimenides zitieren wollte, Daß dieser "Kronzeuge" nicht mit Namen genannt wird, braucht nicht im abwertenden Sinn gedeutet zu werden 21; dem Autor der Past geht es um eine andere Bestimmung, nämlich um die Kennzeichnung dieser Person als JtQo
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warnt, daß, was immer er auch sagt, wahrscheinlich falsch ist, dann bedeutet dies für die Schlußfolgerung, daß Kreter Lügner sind, daß es sich um einen falschen Anspruch handelt, oder genauer: um einen sich selbst widerlegenden Wahrheitsanspruch" 27 • Das Ergebnis bei Thiselton lautet folglich, daß der Autor eine Behauptung (a logical proposition) aufstellt, "die nicht die Kreter betrifft, sondern die Art und Weise des von den Bischöfen und Ältesten im Rahmen ihrer pastoralen Aufgabe zu wählenden Weges, wovon der Brief als ganzer handelt" 28. Im einzelnen verweist Thiselton dafür auf die im Kontext des Tit erwähnten Forderungen: nicht verbale Auseinandersetzung und Behauptung, die nur zu einer endlosen Spirale von Wortgefechten führt, sondern ein erneuerter Lebensstil, der Glaubwürdigkeit verleiht; und dies geschieht nicht durch arrogante Selbstbehauptung (vgl. 1,7), nicht durch leeres Geschwätz (1,10), nicht durch Verunsicherung der Menschen (1,11), nicht durch die Behauptung der Gotteserkenntnis, die durch Taten verleugnet wird, nicht durch einen Sprachstil (3,2), sondern dadurch, daß man "gerecht, fromm und beherrscht" lebt (1,8), daß man "ein Beispiel für gute Taten" ist (2,7) und daß man sich einer "gesundmachenden Sprache" bedient, "die untadelig ist, so daß ein Gegner beschämt wird, da er nichts Schlechtes über uns zu sagen weiß" (2,8)29.
Im Blick auf den Kontext, der geprägt ist von der Darstellung des Verhaltens der aufsässigen Gemeindemitglieder und den vom Gemeindeleiter geforderten rigorosen Maßnahmen (vgl. V 11: emo'tOf.tL~ELV, V 13b: eAEYXELv), erscheint aber eine Auslegung passend, die nicht auf die Gemeindeleiter und ihr Verhalten zielt, sondern auf die widerspenstigen Gemeindemitglieder, die hier in der Gestalt der Kreter kritisiert bzw. abgekanzelt werden 30 • Der Anknüpfungspunkt für die Einfügung des vielleicht in weiteren Kreisen geläufigen Sprichwortes über die Kreter lag in der Parallele zu der vom Verfasser gewählten Ortsbezeichnung für das Wirken des "Titus" (vgl. V 5). Das darin enthaltene negative Urteil über die Kre'" A. C. ThrsELToN, Role 213. 28 A. C. ThrSELTON, Role 223. 29 "The aim is to demonstrate that, anchored to an inappropriate behaviour context, firstperson utterances can become self-defeating. They can be reversed and re-minted into operative currency not by verbal confiict and reassertion (,this ist true,' v.13a), which merely exposes the invitation to infinite regress and circularity, but by a renewed and reoriented life-style which gives credibility and currency not by arrogant self-assertion (1: 7), not by being ,empty talkers' (1: 10); not by upsetting people (1: 11); not by ,professions of knowledge of God denied by deeds' (1: 16); not by verbal style (3: 2), but by being ,upright, holy and self-controlled' (1 :8), by being a ,model of good deeds' (2: 7), and thereby to offer ,health-giving speech that cannot be censured, so that an opponent may be put to shame, having nothing evil to say of us' (2: 8)" (A. C. THISELTON, Role 219). 30 Bemerkenswert ist auch die Aussage bei CH. ZIMMER, Lügner-Antinomie 90, der in Tit 1,12 "eine der ältesten Quellen für die Lügner-Antinomie" sieht, die Bedeutung dieses Zeugnisses aber ausdrücklich unabhängig davon macht, "ob sich der Schreiber des Titusbriefes des antinomischen Charakters seines als Verbalinjurie beigezogenen Zitats bewußt gewesen sein mag oder nicht" (Hervorhebung von mir).
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ter paßte ebenfalls, da auf diese Weise, so man die Kreter mit den Irrlehrern gleichstellte, das rigorose Vorgehen der Gemeindeleiter gerechtfertigt werden konnte. Die Möglichkeit, die Gegner mit der Bezeichnung als "Kreter" zu disqualifizieren, ergab sich zusätzlich dadurch, daß in der damaligen Welt die Kreter als Leute galten, die lügen, so daß xQ11'titELV soviel wie "lügen" bedeutete 31 • Dabei konnte es zwar sein, daß von den drei Anklagen - Unwahrhaftigkeit, Brutalität, [Faulheit und] Verfressenheit - die der Unwahrhaftigkeit im Blick auf die Lehre am wichtigsten war; die Anwendung dieses groben Urteils in unserem Zusammenhang ist aber insgesamt nicht angewiesen auf irgendwelche konkreten Anhaltspunkte. Die eindeutig polemische Zielsetzung verbietet es, aus der Einfügung des Zitates historische Rückschlüsse zu ziehen, sei es auf die Situation der christlichen Gemeinden auf Kreta 32 bezogen, auf die Herkunft der Irrlehrer von dort 33 oder auf die christlichen Gemeinden im allgemeinen 34 • 13 Es folgt eine ausdrückliche Bekräftigung des Zitates durch den Autor 35 , so daß das Folgende nicht als Diskussion über eine Dichtermeinung erscheint. Der Leser wird zurückgeführt auf die Argumentationsebene des "Briefes" und damit auch vom allgemeinen Urteil über die Kreter zur speziellen Auseinandersetzung in der christlichen Gemeinde; denn der Autor spricht seine Zustimmung zu diesem "prophetischen" Wort aus im Blick auf die gegenwärtige Lage der christlichen Gemeinden. Wenn er jetzt dieses Zeugnis als "zutreffend" bestätigt sieht, dann gilt es in bezug auf die Menschen, die ihn zur Einfügung des Zitates veranlaßt haben, nämlich die Häretiker in seinen Gemeinden. Folglich kann er im unmittelbaren Anschluß - ÖL' ~V at'tlav - von "Titus" fordern, daß der gegen sie (au'tou~) mit Strenge vorzugehen habe. - Wie ist das fJ"eYXELv zu deuten? Da das Wort die Aufgabe des Gemeindevorstandes umfassend beschreibt, kann man Vgl. dazu mit Belegen M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 102f. Vgl. etwa die Verknüpfungen bei N. BRox, Past 288 ("Man muß das Zitat bewerten als bequemes Argument unter anderen, als einen Gemeinplatz, der sich anbot, sobald die damalige Ketzerei sich auch oder besonders in Kreta ausbreitete"), und J. D. QUINN, Tit 109 ("Perhaps the theological and pastoral battle on the island had been lost by the time the PE were published, and the Cretan churches that had deadended into Judaism were waming examples of what happened to Christians who rejected Paul"). 33 Vgl. H. MERKEL, Past 94: "Möglicherweise weiß der Verfasser, daß einige der von ihm bekämpften Irrlehrer kretische Judenchristen sind ... " 34 Vgl. G. HOLTz, Past 213, der an diese Abqualifizierung der Kreter als "ein verrohtes, arbeitsscheues, verfressenes Pack" die Schlußfolgerung knüpft: "Solche Elemente gab es in den frühchristlichen Gemeinden!" 35 A. T. HANSON, Past 177, ist der Meinung, dies sei notwendig, denn sonst setze sich der Verfasser dem Vorwurf aus, daß alle Kreter Lügner seien, also auch sein Gewährsmann Epimenides. 31
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darin einen seelsorglichen Auftrag im weitesten Sinn sehen; eine Bestätigung dafür gibt die Bestimmung des Zieles, daß die von dieser Maßnahme betroffenen Falschlehrer wieder "gesund werden"36. Allerdings kann das für die betroffenen Häretiker nur heißen, daß sie sich der Autorität und dem Anspruch der kirchlichen Obrigkeit beugen. Das wird bestätigt durch die Hinzufügung der Forderung nach "Schärfe" und "Strenge" (a:1to't6~(j)~), wodurch die Kompromißlosigkeit unterstrichen wird 37 . "Gesund sein im Glauben" heißt übereinstimmen mit der Glaubenslehre der Kirche, wie sie vom Gemeindeleiter vertreten wird. Dem Ausdruck "gesund sein im Glauben" entspricht, wie der folgende Vers zeigt, der Begriff "Wahrheit". 14 Solche Teilhabe am Glauben hat die Abkehr von bislang vertretenen falschen Anschauungen zur Voraussetzung. Der immer schon bestimmende Gegensatz zwischen rechtem Glauben und Falschlehre bekommt jetzt ansatzweise Konturen, indem der Inhalt der Lehren von Menschen, die der Wahrheit nicht entsprechen, konkretisiert wird. Daß Einfluß vom Judentum vorliegt, war in V 10 schon angedeutet. "Jüdische Fabeln" bestimmen ihren Glauben. Auch in 1 Tim 1,4 werden als Inhalt der Falschlehre "Mythen und endlose Geschlechtsregister" genannt. Es handelt sich also mit großer Wahrscheinlichkeit um Spekulationen, die an Geschlechtsregister und Namensreihen der alttestamentlichen Schriften anknüpften'·. In den späteren gnostischen Systemen finden wir entfaltete Archonten- und Äonemeihen, die zwischen der Welt Gottes und der Welt der Menschen stehen"; in ihnen ist der Einfluß jüdischer Traditionen zu erkennen 40 • In den hier angesprochenen Lehren liegen vergleichbare Verbindungen vor, also Spekulationen, die sich mit der Entstehung der Welt und mit der Situation des Menschen in dieser Welt befassen, und insofern betreffen sie die Mitte der christlichen Glaubensverkündigung.
Was davon zu halten ist, gibt der Verfasser schon zu verstehen mit der Kennzeichnung als ~ijeot: es sind Fabeln, frei erfundene Geschichten. Im Unterschied zu 1 Tim 1,4 präzisiert der Verfasser: es handelt sich um "jüdische Mythen". Die Spitze, die darin liegt, wird erst deutlich, wenn beachtet wird, daß diese mit dem Judentum in Verbindung ,. Vgl. G. HOLTZ, Past 213f, der bei EMYXELV von einem "seelsorglichen Terminus" spricht. 37 Insofern ist V. HASLER, Past 90, recht zu geben, daß "die gestrenge Zurechtweisung weniger einer seelsorglichen Bemühung um die Abgefallenen (dient), als vielmehr der siegreichen Durchsetzung und Behauptung der kirchlichen Dogmatik und Moral". Zu einseitig akzentuiert aber die Übersetzung bei G. WOHLENBERG, Past 235: "Darum strafe sie scharf ... " 38 Vgl. N. BRox, Past 102f. 39 Vgl. J. ROLOFF, 1 Tim 64 . .., Vgl. dazu auch K. RUDOLPH, Gnosis 83f.
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gebrachten Mythen und die Gebote als im Gegensatz zur Wahrheit stehend verurteilt werden. Das Adjektiv 'Iouöu'Cx6~ ist nicht nur auf !-tU8OL, sondern auch auf EV"tOAUL zu beziehen; und als Abweichung von der Wahrheit gilt nicht nur die Orientierung an den "Satzungen der Menschen", sondern auch die Beachtung der jüdischen Fabeln 41. Auf der einen Seite stehen die aus jüdischer Tradition gespeisten Fabeln und Menschensatzungen, auf der anderen Seite steht die uAtl8ELU. Wenn solche gegen die Wahrheit gerichteten Strömungen sich durchsetzen, dann ist der Glaube gefährdet (vgl. zu "Glaube" und "Wahrheit" auch 1,1). Die Angesprochenen sind Christen, und sie wollen es auch bleiben. Nur unter dieser Voraussetzung erscheint es sinnvoll, daß der Gemeindeleiter mit der Zurechtweisung dieser "Abweichler"42 beauftragt wird. Wie schon in V 10 die. Kennzeichnung als Leute "aus der Beschneidung", so bekommt auch hier das Wort 'Iouöu'(x6~ den Beigeschmack des Unglaubens, der Glaubensverweigerung. Es ist sicher zutreffend, daß in den Lehren der attackierten Christen Elemente jüdischen Ursprungs enthalten waren. Die hier erkennbare Spannung zwischen verschiedenen Gruppen ist nicht mehr die zwischen Judenchristen und Heidenchristen; es stehen sich gegenüber eine Gruppe von Christen, die eine teilweise jüdisch beeinfiußte (christliche) Gnosis vertrat, und die "traditionelle", vor allem auch in der Anthropologie und in der Soteriologie an Paulus orientierte Theologie. Daß das jüdische Moment jetzt in den Vordergrund gestellt wird, mag zum einen damit zusammenhängen, daß an diesem Punkt die Häresie am ehesten greifbare Konturen zeigte; zum anderen konnte es der christlichen Gemeinde nicht gleichgültig sein, wie die jüdische Tradition christlich rezipiert wurde. Auch wenn hier also :ltEQL'W!-ttl und 'Iouöu'Cx6~ in negativem Sinn verwendet werden und zur Kennzeichnung der Abweichung von der Wahrheit dienen, so wird damit kein Urteil über die jüdische Glaubenstradition im allgemeinen und über die Schrift im besonderen gefällt, sondern ein Urteil über eine nach Meinung der Past mit dem Glauben und der Wahrheit unvereinbare Rezeption des alttestamentlich-jüdischen Glaubens von seiten christlicher Gemeindemitglieder. Als Vertreter solcher theologischer Positionen kommen also nicht nur Judenchristen in Frage, sondern auch Heidenchristen, die unter den Einfluß einer jüdisch geprägten Gnosis gerieten 43 . Deshalb ist davor zu warnen, bei den EV"tOAUt uv8Q
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Wahrheit wegführen, ausschließlich an jüdische Traditionen zu denken. Auszuschließen ist, daß die Past dabei das alttestamentliche Gesetz im Blick haben 44 • Unwahrscheinlich ist aber auch, daß hier die Halacha, also die mündliche Überlieferung in der spezifisch jüdischen Form, gemeint ist 45 • In jedem Fall ist damit zu rechnen, daß aus der jüdischen Tradition Einflüsse da sind, auch Einflüsse aus den gesetzlichen Überlieferungen sowohl des Alten Testaments als auch der mündlichen Tradition, allerdings in einer neuen, eigenständigen und z. T. gegen die ursprüngliche Intention des Judentums gerichteten Form als gnostische Inanspruchnahme der Heiligen Schrift in den christlichen Gemeinden 46. Gegen diese Form jüdisch-christlich-gnostischer Lehre polemisieren die Past; nur in dieser Gestalt und Interpretation konnte jüdische Gesetzestradition in der dritten christlichen Generation eine Gefahr für den christlichen Glauben bedeuten. 15 Mit der jetzt angeschnittenen Frage nach der Definition von rein und unrein rückt nun aber doch noch ein Thema in den Vordergrund, das in den religiösen Vorstellungen Israels immer schon eine zentrale Bedeutung hatte und das gesamte Verhalten bestimmte, auch wenn im Wechsel der Herrschaftsverhältnisse (etwa mit der Dominanz der Priesterschaft) und im Wandel der Geschichte unterschiedliche Interessen (etwa von seiten der verschiedenen religiösen Gruppierungen) damit verbunden waren 47 • Für das zeitgenössische Judentum der Past ist die prinzipielle Anerkennung der Reinheitsvorschriften auch in der Diaspora vorauszusetzen. Das programmatische Wort "alles ist rein für die Reinen" zeigt gleich an, daß für die christlichen Gemeinden der Past jegliche Diskussion um eine Bestimmung des Reinheitsbegriffs von der jüdischen Problemstellung her ausgeschlossen ist. In dem navm ist alles mit umschlossen, was für die Unterscheidung von "rein" und "unrein" Anwendung finden kann 48 • Diese formelhafte Aussage ist aber auch in dem größeren Kontext der christlichen Überlieferung zu sehen. So ist z. B. Gemeinsamkeit mit der Verkündigung Jesu festzustellen. Im Streitgespräch um "rein und unrein" (Mk 7,1-23) wird in dem Wort Jesu (V 15) der Begriff "unrein" reserviert für das Verhalten des Menschen (vgl. auch V 19: Jesus erklärte alle Speisen für "rein"). Und das Jesuswort Lk 1l,41b (xut l,öou mivw MeUen Uj.tLV EOLLV) klingt beinahe wie eine Vorlage für unseren Vers. Zusammenhänge mit solIn diese Richtung geht aber etwa die Deutung bei H. v. LIPS, Glaube 152. Dies wird allerdings häufig angenommen; so etwa bei W. LOCK, Past 135; J. REUSS, Tit 36; A. T. HANSON, Past 178. Vor solcher Engführung warnen jedoch CH. J. ELLlCOTT, Past 190; J. N. D. KELLY, Past 236. '" Vgl. auch N. BROX, Past 289: "Diese gnostische Häresie trägt offenbar einen deutlichen jüdischen Zug an sich, ist aber dennoch etwas Eigenständiges." 47 Dazu H. THYEN, EWNT II 535-542, bes. 536-538 . .. Vgl. CH. J. ELLlCOTT, Past 190. 44
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chen Jesustraditionen sind gut denkbar". In der hier zitierten Fonn scheint aber doch eine Einschränkung vorzuliegen, insofern zwar umfassend vom "Reinen" gesprochen wird (:n:uv"ta xa8aQu), jedoch ergänzt wird: 'w~ xa8aQoi~. Einen vergleichbaren Zusammenhang finden wir in Röm 14,20. Paulus sagt auch, daß "zwar" alles rein ist (:n:uv"ta flEV xa8aQu), schränkt dann aber ein, daß es für den Menschen "schlecht" ist, zu essen, sofern er damit Anstoß gibt". Es liegt allerdings schon bei Paulus keine wirkliche Einschränkung vor, da die erste Aussage ("alles ist rein") absolute Gültigkeit besitzt und der Verzicht des Christen darauf, entsprechend dieser Maxime zu handeln, nicht mit dem "Gegenstand" und seiner Beurteilung zu tun hat, sondern mit der moralischen Qualität des Tuns, also mit der Verantwortung des Menschen bei der Realisierung dieses Grundsatzes.
Die Past formulieren eine vergleichbare Relation zwischen dem Urteil (mlv'ta xa8aQu) und den davon betroffenen Personen. Die Bedingung für die Gültigkeit des ersten Teiles des Satzes (:rtUVLa xa8aQu) ist, daß sie "rein" sind (LOL~ xa8aQoL~). Damit wird aber ausgeschlossen, daß weiterhin an irgendwelchen Dingen des täglichen Lebens die "Reinheit" bemessen werden kann; darüber bestimmen jetzt die, die sich selbst als "rein" bezeichnen dürfen. Wer aber sind die xa8aQoL? Meist wird der Begriff im Sinne einer sittlichen Qualität, als "Reinheit des Herzens" verstanden 51. Diese Deutung ist jedoch zu schwach. Die VOn den Past in diesem Kontext angesprocherle Reinheit hat zu tun mit der Entscheidung zwischen Glaube und Glaubensabfall. Reinheit ist also etwas, was den Stand der Christen ausmacht. 1. Jeremias verweist dazu mit Recht auf die Taufe, die "rein" gemacht hat (vgl. auch Tit 3,5_7)52. Den entscheidenden Anhaltspunkt für die Interpretation aber liefert Tit 2,14 53 : "Er hat sich hingegeben für uns, damit er uns erlöse von aller Gesetzlosigkeit und für sich reinige als erlesenes Volk, eifrig in guten Werken." Die Kennzeichnung der Christen als xa8aQoL kann folglich nichts zu tun haben mit irgendwelchen Dingen oder Praktiken (ist also nicht kultisch bedingt), aber auch nicht primär mit einem guten und frommen Leben (ist also auch nicht ethisch abgeleitet); die "Reinen" sind die, die auf die Erlösung durch Jesus Christus vertrauen, die sich als durch seinen Tod neu konstituiertes Volk verstehen (und die diese Stellung als "erlesenes" Volk dann auch bewähren in "guten Werken"). Der erste Satz in V 15 gibt Zeugnis vom Selbstverständnis der christlichen Gemeinde und von dem darin implizierten Anspruch, V gL u. a. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 103; N. BRox, Past 290. VgL E. KÄSEMANN, An die Römer (HNT 8a) (Tübingen '1980) 365: "Wer essend Anstoß und Fall für den anderen verursacht, tut das Böse, nämlich UnheiL" 51 Vgl. M. DmELIUs - H. CONZELMANN, Past 103; W. LOCK, Past 135 ("purity of heart"); O. KNOCH, Past 75. 52 J. JEREMIAS, Past 71. " Darauf verweist E. SCHLARB, Lehre 84 f. 49
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daß über die Fragen von rein und unrein nur von dieser Position des Glaubens her entschieden werden kann. Wer andere Kriterien für die Definition von "Reinheit" beansprucht, setzt sich in Widerspruch zum Glauben. Diese Aussage der Past ist zu sehen auf dem Hintergrund von Bestrebungen in den Gemeinden, durch spezielle Reinheitsvorschriften das Leben der Gläubigen in Richtung eines asketischen, rigoristischen Anspruches festzulegen. Nach 1 Tim 4,3-5 wird in bestimmten Kreisen von (mit ziemlicher Sicherheit gnostisch beeinflußten) Christen die Ehe abgelehnt und die Enthaltung von bestimmten Speisen gefordert. Dies ist nach dem Urteil der Past "Abfall vom Glauben" (vgl. 1 Tim 4,1). Auf die Tit-Stelle übertragen heißt dies: Wer im Anschluß an bestimmte "Vorschriften" (EVtDAUl V 14) mit der Unterscheidung von rein und unrein argumentiert, der steht im Widerspruch zum Glauben 54 • Die Ablehnung dieser Vorschriften läßt sich deshalb nicht ausreichend damit begründen, daß in dem auch für die gnostisch-häretischen Kreise konstitutiven Zusammenhang einer "theologischen Erkenntnislehre" ein Widerspruch zu der "von der Kirche geforderten Werkfrömmigkeit" gesehen werde 55. Der Widerspruch bzw. die Unvereinbarkeit liegt für die Past einmal (im weiteren Sinn) in der Schöpfungstheologie und dann (im engeren Sinn) in der Soteriologie.
Aus dieser Bestimmung der Glaubensposition der Kirche folgt konsequent das Urteil über die, die diese Glaubensposition, die mit dem Stichwort xueuQ6~ charakterisiert worden ist, nicht teilen. Die Bezeichnung als "Befleckte" und "Ungläubige" nimmt nicht Bezug auf ein spezifisches Verhalten dieser Häretiker; darin liegt vielmehr ein tiefer greifendes Urteil, welches letztlich den Heilsverlust dieser Menschen aufgrund ihres Unglaubens meint. Es ist gleichzeitig zuviel und zuwenig, wenn man (wie F. J. Schierse) von "persönlichen Verunglimpfungen der Irrlehrer" spricht und die Möglichkeit erwägt, "daß der Verfasser in seiner Polemik an die bei Gnostikern nicht seltenen sexuellen Ausschweifungen gedacht hat"'·. Die zweite Kennzeichnung als "Ungläubige" interpretiert die erste (als "Befleckte"); der Grund für ihre "Unreinheit" liegt in ihrem Unglauben. Das OVöEV xu8uQov ist dann wiederum nicht ein Urteil, mit welchem die Past nur die moralische Qualität der Irrlehrer in Frage stellen wollen (das tun sie natürlich auch); es wird vielmehr mit dem Anspruch des rechten Glaubens die objektiv festzustellende Unmöglichkeit postuliert, etwas von dieser Befangenheit in Unglaube und UnreinVgl. N. BROX, Past 290: ..... die Enthaltung [von gewissen Speisen] selbst ist in der Situation der Pastoralbriefe bereits das Symptom der Häresie"; ähnlich A. T. HANsoN, Past 178; A. v. DOBBELER, Glaube 233. 55 So V. HAsLER, Past 90. " F. 1. SCHIERSE, Past 155 f. 54
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heit freizuhalten. Als "Befleckte" und "Ungläubige" werden die Gegner nicht nur in ihrem moralischen Verhalten gekennzeichnet, sondern in dem, was sie "sind"57,
Die Deutung auf eine umfassende Bestimmung dieser Menschen und all dessen, was mit ihnen zusammenhängt, gilt auch für die Fortsetzung, daß nämlich ihr "Verstand" und ihr "Gewissen" befleckt sind. Der Satz spezifiziert die negative Grundthese, daß für die "Unreinen" (= die Ungläubigen) nichts rein ist, indem die Aussage ausgedehnt wird auf zwei für die Past bedeutsame Stichwörter. Das "gute Gewissen" (1 Tim 1,5; 1,19) bzw. das "reine Gewissen" (1 Tim 3,9; 2 Tim 1,3) ist Kennzeichen der Bewährung im Glauben; wo es nicht bzw. nicht mehr da ist zusammen mit einem "reinen Herzen" und mit "Glaube", da beginnt der "Irrweg" (vgl. 1 Tim 1,5f). Das "befleckte Gewissen", das "unreine Gewissen" ist folglich schon für sich ein Urteil über die Gegner. Davon betroffen ist auch ihr "Verstand". Eine Trennung zwischen beiden im Sinne von rechtem Handeln und rechter Erkenntnis ist deshalb nicht möglich, weil auch bei vo1i~ auf die Zustimmung zum rechten Glauben, zur überlieferten Glaubenslehre abgehoben wird 58. Nur wenn der Verstand eingebunden bleibt in die Glaubenstradition, wenn er sich nicht erhebt über die Autorität des Vorstehers (vgl. V 10), nur dann hat er Wert und taugt auch für die "Erkenntnis der Wahrheit". Der enge Zusammenhang von aA~eELa und vo1i~ wird untermauert durch die Verbindung mit V 14, wo als Kennzeichen der Irrlehrer genannt ist, daß sie sich von der Wahrheit abwenden 59. Das rational-erkenntnisbezogene Moment steht aber nicht im Vordergrund. Eigenes Bemühen um "Erkenntnis der Wahrheit" kann vergeblich sein (vgl. 2 Tim 3,7); die Erkenntnis muß der "Frömmigkeit" entsprechen (Tit 1,1; vgl. auch 1 Tim 2,4-7, mit der Hinordnung von "Erkenntnis der Wahrheit" auf das formelhafte Bekenntnis und auf den Verkündigungsauftrag des "Paulus"; 2 Tim 2,25). Die "Befleckung" des Verstandes ist folglich darin zu sehen, daß diese Christen ihren Glauben nicht an der Botschaft der Kirche orientieren. Ein solches Urteil muß im Kontext der geschichtlichen Bedingungen der Gemeinden der Past gesehen werden, konkret im Gegenüber zu den Forderungen einer gnostisch bestimmten Frömmigkeit mit V gl. dazu H. v. LIPS, Glaube 61 mit Anm. 120, der diesen Zusammenhang von Glaube und Reinheit zwar betont, aber noch zu sehr auf der Ebene des Handeins festmacht. 58 Vgl. H. V. LIPS, Glaube 55f; PH. H. TowNER, Goal 158f. " Vgl. ähnliche Verbindungen in 1 Tim 6,5: Leute, deren "Verstand" [vo'Üc:;] zerstört ist und die der Wahrheit beraubt sind, und 2 Tim 3,8: Widerstand gegen die Wahrheit kommt von Leuten, deren "Verstand" zerstört ist. 57
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ihren z. T. weltverneinenden Forderungen (vg1.1 Tim 4,1-3). Das Verstandesurteil wird dort anerkannt, wo es sich durch Übereinstimmung mit der kirchlichen Lehre legitimiert. 16 Noch einmal kommt der Anspruch der Falschlehrer zur Sprache, und es folgt dessen Widerlegung. "Gotteserkenntnis" kann als zentraler Bestandteil des Glaubensbekenntnisses der Gegner - im Verbum O!J.OAOyELV ist das Moment des Bekennens mitgegeben 60 - angesehen werden; das darin zum Ausdruck gebrachte Selbstbewußtsein dieser Leute kann nicht als für alle Christen gültiges Ziel gelten, sondern hat exklusiven Rang. Darin kommt der für gnostische Frömmigkeit wesentliche Gedanke zum Ausdruck: "Erkenntnis" des höchsten Gottes, die befreit von der Bindung an die Materie und an die Welt und damit Heil und Erlösung bewirkt 61 • Der Autor antwortet darauf mit dem Vorwurf einer faktischen Verleugnung Gottes, wobei die recht allgemein gehaltene Bestimmung, daß dies durch "ihre Werke" geschieht, ein breites Spektrum von Deutungsmöglichkeiten offenläßt. Seine Absicht ist es dabei, die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zum Vorwurf zu machen. Eine vergleichbare Gegenüberstellung begegnet auch in 2 Tim 3,5: Die Falschlehrer bieten ein Bild der Frömmigkeit, verleugnen aber deren Kraft. Frömmigkeit und Gotteserkenntnis haben nach Auslegung der Past eine Ordnung, einen von Gott festgelegten Platz, der in die Glaubenstradition in der Form eingebunden ist, wie sie die Gemeindeleiter von Paulus her repräsentieren und garantieren. Kennzeichen des Glaubens kann nicht das in der individuellen Erkenntnis beanspruchte Glaubenswissen sein; wirklicher Glaube, der der Frömmigkeit entspricht, muß sich vor dem Forum der Öffentlichkeit, insbesondere vor der Gemeinde bewähren. Dabei geht es bei den EQya, deren Fehlen den Falschlehrern und ihren Anhängern zum Vorwurf gemacht wird, nicht bloß um Werkfrömmigkeit in dem Sinne, daß nur das Fehlen guter Werke als Zeichen der Häresie genannt werden sollte. Es geht dabei vielmehr um ihr ganzes Verhalten im Rahmen der christlichen Gemeinden; und dieses ist vor allem gekennzeichnet durch fehlende Bereitschaft zur Unterordnung unter die Autorität des Gemeindeleiters (vgl. VV 9.10). V gl. G. HOLTZ, Past 215. An der Deutung der Formel "Gott erkennen" als Zeichen für den gnostischen Charakter der Irrlehre ist u. a. mit N. BROX, Past 35, 1. ROLOFF, 1 Tim 236, und H. MERKEL, Past 95, festzuhalten; gegen M. WOLTER, Pastoralbriefe 258, der hierin das "Selbstverständnis des Judentums" formuliert sieht und deshalb den "judenchristlichen Charakter der Gegner" damit verbindet. - 1. N. D. KELLY, Past 237, verweist mit Recht darauf, daß die beiden Interpretationen sich nicht gegenseitig ausschließen, da in der häretischen Deutung jüdische und gnostische Elemente zusammenfließen. 60
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Mit den angeschlossenen Adjektiven wird das Urteil über die Falschlehrer dreifach untermauert. Dabei ist die Absicht leitend, die Irrlehrer möglichst abschreckend vorzustellen; diese Zielsetzung ist bei der Erklärung mitzubedenken 62 • Vor allem beim ersten Stichwort, der Charakterisierung als "abscheulich" (ßÖEA:ux't6~), wird ein sehr hartes Urteil ausgesprochen. Vom Substantiv ßöEA:UYIlU (= der Greuel) her wird damit der Abstand zu Gott bestimmt (vgl. Lk 16,15 ßÖEA1JYIlU Evwmov 'tOU BEau). Das Adjektiv ist auch hier nicht nur ein Urteil über sittliches Fehlverhalten, sondern Bezeichnung des Widerspruches zu Gott, der Ausgrenzung aus dessen Bereich. Eine sehr aktuell bezogene Kritik liegt dann im Vorwurf des "Ungehorsams". Wie bereits einleitend in V 10 der Mangel an Bereitschaft zur Unterordnung gerügt worden war, so wird jetzt noch einmal zum Abschluß dieser VV 10-16, die sich mit den von der Wahrheit, vom rechten Glauben Abgewichenen befassen, der Ungehorsam als Kennzeichen genannt. Das paränetische Interesse ist unverkennbar. Gleichzeitig aber wird wieder der Weg gewiesen, den die Past zur Bekämpfung von Spaltungen in den Gemeinden durch Irrlehren gehen wollen. Die Garantie des rechten Glaubens ist dort gegeben, wo Gehorsam und Unterordnung unter die kirchliche Autorität gewährleistet sind. Und wer des Ungehorsams bezichtigt werden kann, gerät gleich in den Verdacht der Häresie (die Bezeichnung als a:n:ELBEi:~ ist also nicht zu deuten als Vorwurf des Ungehorsams gegenüber Gott 63 ). Für die Auseinandersetzung mit den Irrlehrem ist als Methode der Past an dieser Stelle wieder zu erkennen: sie setzen aUf den Erfolg organisatorischer Maßnahmen. Der dritte Vorwurf lautet: unbrauchbar zu jeglichem guten Werk. Dies weist in den Bereich der Gemeindepraxis. Die Untauglichkeit zu guten Werken als Kennzeichen der Irrlehrer ist zu sehen auf dem Hintergrund der Bedeutung der guten Werke als Ausweis der Menschen, die sich ganz dem Dienst für Gott unterstellen (vgl. 2 Tim 3,17). Die guten Werke werden als Zeichen des rechten Glaubens, der bewährten Frömmigkeit gewichtet - sei es bei Frauen im allgemeinen (1 Tim 2,10) und bei Witwen im besonderen (1 Tim 5,10), bei Reichen (1 Tim 6,17f) und bei allen Christen (Tit 3,1.14; vgl. auch Tit 3,8). "Die xuM EQYU dienen als Gesamtbezeichnung der Frucht christlichen Lebens." 64 Wenn den der Irrlehre bezichtigten Christen jegliche
Vgl. N. BROX, Past 290f: Die Feder führe "die pastorale, paränetische Absicht"; es gehe um Abschreckung und um Warnung. 63 So etwa M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 104; G. HOLTZ, Past 215f; O. KNOCH, Past 75. 64 R. SCHWARZ, Christentum 144; vgl.143-145.
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Fähigkeit zu guten Werken kategorisch abgesprochen wird 6.5, dann werden sie außerhalb des Kreises derer angesiedelt, die zu einem christlichen Leben fähig sind. Es ist dabei aber zu beachten: Diese Aussage über die Gegner ist in erster Linie ein Postulat,- das in der eigenen Glaubensgewißheit der von den Past repräsentierten Gemeindechristen begründet ist, nicht eine in der konkreten Lebenspraxis der Betroffenen verifizierte Erfahrung. III Nachdem der Autor in den VV 5-9 ausgeführt hat, was den Gemeindeleiter ausmacht, der sich als Sachwalter des Erbes des Apostels in der Unterweisung in der gesunden Lehre und im Kampf gegen Irrlehrer bewähren muß, wird in den VV 10-16 die den Gemeinden drohende Gefahr anschaulich dargestellt. Gleichzeitig kommt auch zur Sprache, wie "Titus" dieser Bedrohung zu begegnen hat. Sowohl in der Darstellung der Irrlehrer als auch in der Beschreibung der vom Gemeindevorstand zu ergreifenden Gegenmaßnahmen finden wir nur Ansätze einer sachbezogenen Argumentation. Das eigentliche Anliegen ist nicht eine auf bestimmte Lehrinhalte bezogene Auseinandersetzung und (der Versuch einer) Widerlegung, sondern der Nachweis, daß sie Falschlehrer, Häretiker sind; der Bezug auf Personen steht deshalb im Vordergrund. Dies entspricht der Grundkonzeption der Past mit ihrer schon in der Adressierung erkennbaren Gewichtung von Einzelpersorien, deren Aufgabe von der Anordnung des fiktiven Paulus her in der Garantierung der Kontinuität der Glaubenstradition liegt. Ihnen ist die Sorge für den rechten Glauben, für die Wahrheit anvertraut. Übereinstimmung mit dem Apostelnachfolger und den von diesem eingesetzten Presbytern und dem Episkopos garantiert Übereinstimmung mit der Wahrheit, mit dem rechten = dem apostolischen Glauben. Dieser Grundsatz kann gar keine Diskussionen um Glaubensinhalte aufkommen lassen. Mit V. Hasler ist als ein Kennzeichen der Kirche um die Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert festzuhalten: "Diese Kirche sucht nicht nach der Wahrheit, sondern kommt von ihr her."" Deshalb kann es bei den innergemeindlichen Auseinandersetzungen auch nicht mehr um Streitfragen gehen, die den rechten Glauben betreffen; gefordert wird vielmehr die Bereitschaft, daß sich alle dem Anspruch der Kirche beugen bzw. der Autorität derer, die
" Vgl. R. HEILIGENTHAL, Werke 65: "Die Fähigkeit, gute Werke zu tun, wird an den Besitz der rechten Lehre geknüpft." " V. HAsLER, Past 89. Vgl. auch A. v. DOBBELER, Glaube 234: "Für den Tit ist ... die nLo-tl!; identisch mit einem fest umrissenen Wissen, der gesunden Lehre. Die Anerkenntnis dieser Lehre und das daher abgeleitete Handeln machen im Sinne des Tit das Christsein aus."
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aufgrund ihrer führenden Stellung in den Gemeinden diesen Anspruch repräsentieren. Ein Blick auf den Abschnitt Tit 1,10-16 bestätigt, was V. Hasler zur Intention der sich hier artikulierenden Kirche sagt, daß sie nämlich nicht um Gespräche mit ihren äußeren und inneren Feinden bemüht ist, sondern um Abweisung der abweichenden Positionen durch scharfe Polemik".
Dabei darf aber nicht übersehen werden, daß es sich um eine Auseinandersetzung innerhalb der christlichen Gemeinden handelt. Den Ausgangspunkt bilden unterschiedliche Positionen in der Glaubensverkündigung. Der Streit geht um Sachfragen (die hier allerdings nur angedeutet werden); das Ziel muß eine Entscheidung in diesen Sachund Glaubensfragen sein. Doch eine sachbezogene Klärung kann von den Past noch nicht geleistet werden. Das ist unter anderem darauf zurückzuführen, daß es das noch nicht gab, was die Past stellenweise suggerieren, nämlich die eindeutige, sachlich begründete Unterscheidung zwischen Rechtgläubigkeit und Häresie. Dies ist weder in bezug auf die theologischen Positionen noch in bezug auf die betroffenen Christen eindeutig geklärt. Das fehlende Profil eines klar definierten orthodoxen Glaubens ist wohl auch zu begründen mit einer noch vorhandenen gewissen Offenheit in manchen theologischen und christologischen Fragen. Angesichts dieser Unsicherheit in den Gemeinden versuchen die Past, neue Orientierung zu geben. Sie verlangen Rückbesinnung auf die Tradition und Unterordnung unter die Autoritäten, die an der Spitze der einzelnen Gemeinden stehen. Die Schärfe in der Reaktion, die sich nicht auf Diskussionen einlassen will bzw. soll, kann dabei auch als ein Zeichen der Unsicherheit gesehen werden. Mit dieser Unsicherheit mag auch zusammenhängen, daß in den VV 10-16 nicht eindeutig klar wird, wer jeweils angesprochen ist. In den VV lOf wendet sich der Verfasser scharf gegen solche, die andere durch ihre Lehre verführen; in V 13 hingegen geht es um die, die sich diesen mehr oder weniger klar und eindeutig angeschlossen haben 68. Dabei darf der Autor aber die nicht vergessen, die seinem Verständnis nach im rechten Glauben stehen. Und gerade die massive Polemik zeigt, wie sehr die Gemeinde vor den Augen des Verfassers steht. Für sie werden die Irrlehrer und alles, was mit ihnen zu tun hat, in dunkelsten Farben gezeichnet. Die fehlende Differenzierung auch bei den in Frage stehenden Personen hat also ihren Grund in der Absicht des Verfassers, den Gemeinden durch Abgrenzung gegen Irrlehrer und durch Bindung an die Amtspersonen Sicherheit zu geben.
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V. HASLER, Past 89. Vgl. dazu N. BROX, Past 289; H. v.
LIPS,
Glaube 60f Arun.l18.
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Exkurs: Die Irrlehrer in den Gemeinden der Pastoralbriefe LITERATUR: A. v. DOBBELER, Glaube als Teilhabe. Historische und semantische Grundlagen der paulinischen Theologie und Ekklesiologie des Glaubens (WUNT 2.22) (1'übingen 1987) 232-234; W. STEGEMANN, Antisemitische und rassistische Vorurteile in Titus 1,10-16: Ku! 11 (1996) 46-61; A. C. THISELTON, The Logical Role of the Liar Paradox in Titus 1: 12,13: A Dissent From the Commentaries in the Light of Philosophical and Logical Analysis: Biblical Interpretation 2 (1994) 207-223; CH. ZIMMER, Die Lügner-Antinomie in Titus 1,12: LingBib 59 (1987) 77-99.
EXKURS
Die Irrlehrer in den Gemeinden der Pastoralbriefe 1. Die Bedeutung der Irrlehrerproblematik für die Pastoralbriefe
Es ist zu Recht festgestellt worden, daß die Past im wesentlichen von zwei Themen bestimmt werden, von Gemeindeordnung und Ketzerpolemik 1. Die drohende bzw. in einzelnen Fällen sicher auch schon aktuelle Spaltung der Gemeinden aufgrund von Differenzen in zentralen theologischen Fragen, wie etwa dem Verhältnis zur alttestamentlich-jüdischen Glaubensüberlieferung, der Interpretation einer christologisch bestimmten Soteriologie und damit zusammenhängend der Eschatologie, werden weniger in sachlich-argumentativer Auseinandersetzung angegangen, sondern sollen auf Anweisung des "Paulus" durch administrative, kirchenamtliche und gemeindeorganisatorische Entscheidungen geklärt werden. Da sich also die Irrlehrerproblematik wie ein roter Faden dm-ch alle Briefe hindurchzieht - wobei wiederum darauf hinzuweisen ist, daß wir mit der Bezeichnung "Irrlehre" und "Irrlehrer" den Standpunkt des Paulus der Past wiedergeben 2 - und sowohl die Aussagen des Verfassers über Gemeinde und Kirche als auch seine christologischen Akzentuierungen prägt, ist der Versuch einer Darstellung der Grundzüge der theologischen Differenzen unerläßlich. Beachtet man diese Verknüpfung von Irrlehrerpolemik und gemeindeorganisatorischen Maßnahmen 3 , ist zumindest die Möglichkeit 1 F. 1. SCHIERSE, Past 24. Vgl. auch H. v. SODEN, Past 195. , Vgl. U. WAGENER, Ordnung 8 Anm.33, mit dem wichtigen Hinweis, daß "die Forschung diese Sichtweise nicht unbesehen übernehmen oder sogar legitimieren (soll), sondern danach fragen (muß), welcher Konflikt dieser Beurteilung zugrunde liegt"; 3 Auf diesen ZusanIIDenhang weist schon W. LÜTGERT, Irrlehrer 82 f, in Verbindung mit ähnlichen Urteilen aus älterer Literatur zu den Past hin: "Die Briefe haben nicht etwa zwei Zwecke, neben der Bekämpfung der Irrlehrer noch die Organisation der Gemeinde ... " Man kann "aus den Anforderungen, die an das kirchliche Amt gestellt werden, auch auf die Irrlehrer schließen". - Auch K. WEGENAST, Verständnis 136, verweist
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nicht auszuschließen, daß das eine für das andere instrumentalisiert wird 4 • Da der Paulus der Past ein entschiedener Vertreter einer straffen Gemeindeorganisation ist, mit erfahrenen und bewährten Vorstehern an der Spitze, müssen ihm andere Gemeindeformen als verdächtig erscheinen. Dazu paßt, daß der Autor kein Interesse an einer sachlichen Information des Lesers über seine Gegner zeigt, sondern sie als seine Widersacher zu disqualifizieren sucht 5 • Eine weitere grundsätzliche Vorbemerkung scheint notwendig. Die sprachliche Kategorisierung der entsprechenden Personen ist eindeutig. Die Past kennen die Unterscheidung zwischen "Falsches lehren" (E-tEQOÖLÖUOXUAELV: 1 Tim 1,3) und der "gesunden Lehre" (ilYLULVOlJou ÖLÖUOXUALU: 1 Tim 1,10; vgl. 6,3), zwischen solchen, die vom Glauben abfallen werden (vgl. 1 Tim 4,1) oder schon "von der Wahrheit abgeirrt sind" (2 Tim 2,17f; vgl. 1 Tim 1,19f; 6,5; Tit 1,1Of; 2 Tim 3,8), und demjenigen, der (wie Paulus und in seinem Auftrag, vgl. 1 Tim 4,14) für die Bewahrung des rechten Glaubens "den guten Kampf zu kämpfen" hat (vgl. 1 Tim 6,12) und der "das Werk eines Verkünders des Evangeliums" fortführen soll (2 Tim 4,2-5). Weniger eindeutig ist dagegen in theologisch-thematischer Hinsicht die Trennungslinie zwischen rechtem Glauben und der Abweichung davon, also der Häresie, zu ziehen. Und es ist gewiß nicht dem intellektuellen Defizit des Verfassers zuzuschreiben, daß er keine inhaltliche Auseinandersetzung führt und daß seine gelegentlich eingestreuten Gegenargumente recht allgemein bleiben. Die Past sind nicht an einer systematischen Darstellung des theologischen Standorts der Irrlehrer interessiert - wobei noch zu fragen sein wird, ob ein einheitlicher theologischer Standpunkt überhaupt vorausgesetzt werden darf; sie unternehmen auch nicht den Versuch einer konsequenten Stellungnahme und Widerlegung. Deshalb scheint der einzig mögliche Weg zur Bestimmung der Grundzüge der bekämpften Irrlehre darin zu liegen, aus den verschiedenen Mosaiksteinen ein theologisch stimmiges und historisch passendes Bild zu erstellen. Dazu ist zu fragen, ob aus den Angaben der Past so etwas wie eine theologische Mitte zu erkennen ist, die für den Standpunkt der vom darauf, "daß sowohl die Organisation der Kirche als auch ihr Traditionsdenken wesentlich polemisch gegen eine ,Häresie' entwickelt wird"; und er gibt des weiteren zu bedenken, "daß außer der offenen Polemik eigentlich die ganzen Pastoralen Abwehrbriefe sind und damit dem Kampf gegen die Häresie gewidmet". • V gl. dazu das - nach seinen eigenen Worten "etwas überspitzt" formulierte - Urteil bei 1. ROLOFF, 1 Tim 229: Den Verfasser interessieren "die Irrlehrer mit ihren die Kirche bedrohenden Aktivitäten gleichsam als die dunkle Folie, vor der sich das Bild des verantwortlich vom Evangelium her die Gemeinde sammelnden und leitenden Amtes um so klarer abhebt". 5 V gl. Y. REDALlE, Paul367.
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Verfasser bekämpften Christen von zentraler Bedeutung war, die aber auch von der Seite der Repräsentanten der - dem eigenen Anspruch nach - rechtgläubigen Gemeinde als gravierende Abweichung vom Glauben bewertet werden konnte oder gar mußte. 2. Der Versuch, die theologische Mitte der "Irrlehre" zu bestimmen
Die Frage nach einer theologischen Mitte der in den Past als Irrlehre bekämpften Glaubensposition ist aus mehreren Gründen gerechtfertigt, ja notwendig. Zum einen ist noch nicht mit einem in sich geschlossenen System einer Irrlehre zu rechnen, so daß bei manchen Aussagen eine eindeutige Zuordnung als Position der Irrlehrer oder polemische Stellungnahme seitens des Verfassers für sich gesehen nicht möglich ist 6 ; sodann sind die ausdrücklich als solche gekennzeichneten Falschlehren nicht alle gleichgewichtig; und schließlich ist auch die Frage wenigstens zu stellen, ob es sich insgesamt um Marginalien handelt, oder ob die Mitte des Evangeliums betroffen ist. In 2 Tim 2,18 zitiert der Verfasser als das Bekenntnis seiner Gegner, "daß die Auferstehung schon geschehen ist". Diese schlagwortartige Glaubensaussage kann mit E. Schlarb als der "Kernsatz" der Auseinandersetzungen angesehen werden 7 •. Das läßt sich auch aus der Kontexteinbindung begründen: Das Wort steht im Gegensatz zum "Wort der Wahrheit", welches der von Paulus beauftragte Gemeindeverantwortliche verkündet (2,15); mit dieser Behauptung sind die als Vertreter namentlich genannten Hymenaios und Philetos "von der Wahrheit abgewichen" (2, 17b.18a) und "zerstören den Glauben mancher Leute" (2,18c). Und ein drittes Mal begegnet in diesem Zusammenhang das Stichwort ,,wahrheit", wenn als das Ziel der Zurechtweisung der Widerspenstigen durch den im Auftrag des Apostels agierenden Amtsträger (vgl. 1,6) angegeben wird, daß Gott Umkehr schenken möge "zur Erkenntnis der Wahrheit" (ei.~ EJtLYVW(JLV äAT]8eLu~) (2,25). Im Zusammenhang der vorangehenden Ermahnungen hatte "Paulus" dem "Timotheus" aufgetragen, das, was er von ihm "durch viele Zeugen" gehört hat, "zuverlässigen Menschen" anzuvertrauen (2,1 f); und noch einmal wird "Timotheus" aufgefordert, sich des von Paulus verkündeten Evangeliums zu erinnern (XU'tcl 'to e'ÖuYYEAWV !lov), d.h.: an • Vgl. dazu etwa die Übersicht über die "indirekt" erschlossenen Positionen der Irrlehrer bei M. WOLTER, .Pastoralbriefe 259-261. Daß "das Verfahren des indirekten Erschließens gegnerischer Positionen ... ein überaus unsicheres Unternehmen" ist, ist richtig; dennoch ist gegen die Skepsis von M. Wolter dieses Verfahren zu rechtfertigen. 7 E. SCRLARB,'Lehre 93. Vgl. auch PR. H. TOWNER, Gnosis 104: "At the center of the false teachers' gnosis was the belief that the resurrection of believers had already occurred (2 Tim. 2.18)"; H. V. LlPs, Glaube 153, mit Verweis auf 2 Tim 2,18: Als "grundlegende soteriologische Auffassung der Häretiker" ist "ein spiritualisierter Auferstehungsglaube" anzusehen.
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"Jesus Christus, auferweckt von den Toten, aus Davids Samen" (2,8). Daß hier entgegen der "historischen" Reihenfolge (vgl. Röm 1,3 f) der Hinweis auf die Auferweckung Jesu Christi vor der Abstammung aus Davids Samen steht, ist am besten 'aus der Absicht des Autors zu erklären, das erstgenannte Bekenntnis besonders zu betonen. Und dafür ist ein Zusammenhang mit der Präzisierung des Standpunktes der von der Wahrheit Abgewichenen in V 18 anzunehmen 8. Weil die Auferweckung Jesu Christi Inhalt des paulinischen Evangeliums ist, deshalb gilt das Wort als glaubwürdig und zuverlässig, daß die, die mit (Christus) gestorben sind, auch mit ihm leben werden (vgl. 2,11), und deshalb ist die Behauptung von der Vollendung der Gläubigen durch die Auferweckung eine Abweichung von der Wahrheit. Die Problematik der in den Past vorgetragenen Verurteilung dieser theologischen Position liegt darin, daß vergleichbare Aussagen in der Paulus-Tradition begegnen, und zwar nicht nur ohne Verurteilung, sondern geschrieben im Bewußtsein und mit dem Anspruch der Verkündigung des wahren Evangeliums. Paulus begründet der Gemeinde in Rom gegenüber die Hoffnung der an den Messias Jesus Glaubenden auf die zukünftige Teilhabe an der Auferstehung Jesu damit, daß wir "eins geworden sind mit der Gestalt seines Todes" (aVJlqJU'toL YEyovaJlEv 'tip OJlOLOOJla'tL 'tO'Ü 8av
ist."
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Die bisweilen befürwortete Parallelisierung des Standpunktes der Irrlehrer der Past mit einem entsprechenden enthusiastischen Erlösungsbewußtsein bei Mitgliedern der Gemeinde in Korinth, wogegen sich Paulus in 1 Kor 15 wende 14, ist von 1 Kor her in Frage zu stellen. Zwar ist für Christen in Korinth "ein präsentisches Heilsbewußtsein" anzusetzen (vgl. 1 Kor 1-4); doch dieses ist gerade nicht in der Überzeugung der bereits realisierten Auferstehung begründet". Da die beiden im wesentlichen gleichlautenden Fortentwicklungen der paulinischen Tauftheologie von Röm 6,4 f in Kol 2,12 f (vgl. 3,1 und Eph 2, 5 f) und 2 Tim 2,18 derart gegensätzlich beurteilt worden sind, kann die Erklärung für die Bewertung als Abfall vom Glauben und von der Wahrheit nur in den damit verknüpften Konsequenzen gesehen werden.
Im Anschluß an A. Lindemann sind zwei Feststellungen zu machen: (1) Der "Gedanke einer bereits geschehenen Auferstehung" ist nicht ohne weiteres als gegen Paulus gerichtet zu bewerten und konnte auch "ohne einen Zusammenhang mit gnostischen Vorstellungen vertreten werden" (Lindemann verweist dafür auf Act PI et Thec114). (2) Über die Frage eines gnostischen Verständnisses, weIches damit nicht als ausgeschlossen angesehen werden kann, entscheidet der Kontext '6 • Die gleiche Vorstellung einer bereits hier und jetzt vergegenwärtigten Auferstehung kennzeichnet auch das gnostische Denken 17. K. Rudolph nennt als "eine besonders charakteristische Vorstellung der Gnosis im Rahmen der Individualeschatologie" die "Auferstehung", die sich aber von der christlichen Auferstehungshoffnung, die etwa Paulus vertritt, in zwei zentralen Aspekten unterscheidet '8 : (1) Die Auferstehung kann nicht als leiblich-irdische Auferstehung der Toten gedacht werden, denn das Fleisch ist als Materie dazu bestimmt, zugrundezugehen; (2) Auferstehung ist nicht ein zukünftig-transzendentes Geschehen, sondern ereignet sich in der Gegenwart, nämlich
Vgl. G. HAUFE, Irrlehre 328: Die Lehre der Past, daß nämlich die Auferstehung als bereits geschehen gilt, entspreche "ziemlich genau der spiritualistischen Auffassung, gegen die sich schon Paulus in 1. Kor 15 wendet". Ähnlich W. HARNISCH, Existenz 10I. 15 Vgl. G. SELLIN, Streit 24 (23-30). Die "Auferstehungsleugner", die Paulus in 1 Kor 15 anspricht, vertraten "nicht die Ansicht, die Auferstehung sei schon geschehen; es handelt sich höchstens um Spiritualisten, die eine leibliche Auferweckung ablehnten" (D. ZELLER, Mysterienkulte 53). Die Übersicht zu den Erklärungen, wie die Position der Auferstehungsleugner von 1 Kor 15 zu interpretieren sei, schließt auch A. 1. M. WEDDERBURN, Baptism 6-37, mit dem Urteil ab: " ... the view that the Corinthians held the belief rejected in 2 Tim 2.18, that their resurrection had already taken place (in baptism), is not the only possibility, and indeed is not even the best possibility, for solving the problems of this chapter." 16 A. LINDEMANN, Paulus 148, mit der Folgerung, daß "der Gesamtcharakter der Briefe für die Annahme sprechen (könnte), sie seien in Abwehr gegen ketzerische ,Pauliner' verfaßt worden". 17 Vgl. dazu auch die Auslegung zu 2 Tim 2,18: HThK XI 2/2. 18 K. RUDOLPH, Gnosis 207-213. 14
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in der Erkenntnis dessen, was die Bestimmung des Menschen ausmacht. So heißt es etwa im PhilEv (NHC 11 3) 90a: "Diejenigen, die behaupten, daß sie zuerst sterben und (dann erst) auferstehen werden, irren sich. Wenn sie nicht zuerst die Auferstehung empfangen, solange sie noch leben, werden sie, wenn sie sterben, nichts empfangen." 19 In der "Abhandlung über die Auferstehung", als Brief an einen "Rheginus" gestaltet, fordert der Autor den Adressaten auf: "Löse dich von den Teilungen (in dieser Welt) und von den Fesseln, und schon besitzt du die Auferstehung" (NHC I 4, 49,15f)20. Diese Einstellung der Gnostiker wird auch von den Kirchenvätern zitiert und zugleich kritisiert. So schreibt Irenäus, haer. 11 31,2, über die Anhänger des Simon (vgl. Apg 8,9) und eines Karpokrates (vgl. Iren., haer. 125): "Auferstehung von den Toten ist für sie ... die Erkenntnis dessen, was sie Wahrheit nennen."
Diese inhaltliche Neubestimmung des (jüdisch-)christlichen Glaubens an die Auferweckung und die daraus resultierende Aufgabe der Parusieerwartung betrifft eine fundamentale Perspektive des christlichen Glaubens, wie die von Paulus (vgl. 1 Thess 4,13-18; 5,1-11) bis zu 2 Petr (vgl. 3,3-13) reichenden Reflexionen um die Eschatologie zeigen. Deshalb ist davon auszugehen, daß weitere Kennzeichen der in den Past als Irrlehre bekämpften Einstellung in christlichen Gemeinden damit in Zusammenhang zu sehen sind. 3. Asketische Forderungen
Was die konkrete Praxis des Glaubens und Lebens der von den Past des Glaubensabfalls beschuldigten Gemeindemitglieder betrifft, gibt der Verfasser die Beschreibung: "sie verbieten zu heiraten, und (sie gebieten), sich zu enthalten von Speisen" (1 Tim 4,3). In Verbindung mit der angesprochenen Enteschatologisierung des Auferweckungsglaubens bekommen solche Forderungen weitreichende Bedeutung. Das Leben derer, die in dieser Sphäre der geschenkten und vollendeten Erlösung leben, kann nicht identisch sein mit der Existenz unter den Bedingungen dieser Welt, besonders im Hinblick auf den Sexualtrieb und die Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme. Daß solche Gedanken der christlichen Lebensgestaltung den Gemeinden in früheren Zeiten nicht fremd waren, zeigt wieder ein Blick auf Paulus. E. Schlarb formuliert dies drastisch mit der Behauptung, "die Forderung nach 19 Zit. nach W. SCHNEEMELCHER, Apokryphen 1166 (148-173). Vgl. dazu J. M. ROBINSON, Gnosticism and the New Testament: Gnosis. FS H. Jonas, hrsg. v. B. Aland (Göttingen 1978) 125-143, hier 131. 20 Zit. nach K. RUDoLPH, Gnosis 210. Vgl. zu dieser gnostischen Schrift M. L. PEEL, Gnosis und Auferstehung. Der Brief an Rheginus von Nag Hammadi (NeukirchenVluyn 1974).
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Ehelosigkeit und Speiseenthaltung in 1 Tim 4,3" erinnere "in ihren Stichworten YUI!ELV und ßQWI!U an die in 1 Kor 6-8.10 vorgetragene Behandlung von Unzucht, Heirat und Götzenopferfieisch - sie erscheinen gleichsam als Kürzel dieses Them_enkomplexes" 21 •
Verzicht auf die Ehe und Verzicht auf den Genuß bestimmter Speisen konnten in frühchristlichem Verständnis Zeichen eines ganz vom :n;VEUI-lU Gottes und vom :n;VEUI-lU Christi erfüllten Menschen sein. Dazu paßt, daß sich die Linie einer rigoristischen Praxis auch beobachten läßt in der urchristlichen Bewegung, die ihren Niederschlag gefunden hat in den Urteilen des Apokalyptikers; er kennt ebenso das Verbot, bestimmte Speisen (nämlich Götzenopferfleisch) zu essen (vgI. Apk 2,14.20), wie die Bevorzugung eines ehelosen Lebens (vgl. Apk 14,4)22. Beachtet man diesen traditions geschichtlichen Zusammenhang, dann erklärt sich auch bestens die Art und Weise, wie der Verfasser an diesem Punkt seine Gegenargumentation durchführt. Er argumentiert schöpfungstheologisch: Gott hat alles geschaffen, und alles von Gott Geschaffene ist gut (1 Tim 4,3f). Auf den ersten Blick läuft diese Argumentation ins Leere; denn aus jüdischer Sicht (die auch für die christliche Tradition bestimmend bleibt) steht die Güte der Schöpfung nicht in Widerspruch zum Verbot des Verzehrs bestimmter Speisen oder der Forderung einer (wenigstens zeitlich begrenzten) sexuellen Enthaltsamkeit. Unter dieser Voraussetzung verbietet sich auch eine Gegenargumentation, die die genannte Einstellung zur Ehe und zu bestimmten Speisen rundweg als häretisch einstufen würde. Die vom Verfasser eingenommene Gegenposition, daß Gott die Speisen dazu geschaffen hat, daß sie vom Menschen angenommen werden, ja daß alles von Gott Geschaffene gut ist, läßt sich nicht als Verlegenheitslösung betrachten, sondern zielt auf den Kern der Bewertung von Welt und Materie. Gegenüber einer schöpfungs- und materiefeindlichen GrundeinsteIlung, die diese Kreise bestimmt, betonen die Past, daß die Güte der gesamten Schöpfung darin begründet ist, daß sie dem Willen Gottes entspricht. Hier liegt der springende Punkt: Es geht um die Frage, wie das Verhältnis der geschaffenen, irdischen Welt zu Gott zu bestimmen ist. Daß unser Autor die Zusammengehörigkeit von Gott und geschaffener Welt in dieser zweifachen Weise betont (V 3: 6 8EO~ Ex:noEv, V 4: :n;iiv x'tLol-lU 8EOU xuMv), kann damit erklärt werden, daß genau diese Zusammengehörigkeit von einigen Christen
E. SCHLARB, Lehre 124; vgI.124-129. Vgl. U. B. MÜLLER, Theologiegeschichte 62-66. Diese Übereinstimmung ist allerdings nicht dahingehend auszuwerten, daß die Gesetzeslehrer der Past der "judenchristlichen Wanderbewegung" zuzurechnen wären. 21
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in Frage gestellt worden ist 23 • Der Anspruch der von den Past repräsentierten Theologie wird dadurch demonstriert, daß diese Einstellung von denen vertreten wird, die zum "Glauben" und zur "Erkenntnis der Wahrheit" gelangt sind (1 Tim 4, 3b). Entsprechend gilt für die Vertreter des rigoristischen Ideals, daß sie als vom Glauben Abgefallene beurteilt werden (vgl. VI). Daß sich der Verfasser bei seiner Entgegnung auf das Thema "Speisen" beschränkt, ist zumindest auffällig. Man kann zwar einmal darauf verweisen, daß er das Thema Ehelosigkeit mit 1 Tim 2,14 f als erledigt betrachtete 24; der Verzicht auf jegliche weitere Stellungnahme im Kontext von 1 Tim 4 hat aber wohl noch andere Gründe. Der Ausgangspunkt für solche Formen der Frömmigkeit läßt sich unterschiedlich festlegen. So ist zuerst, entsprechend den traditionsgeschichtlichen Grundvoraussetzungen, an die Paulus-Tradition zu denken. Die Frage von Ehe und Ehelosigkeit spielt in seinen Briefen eine wichtige Rolle. Auch wenn dem Paulus eine negative Bewertung der Ehe nicht zu unterstellen ist", so gibt er doch aufgrund der eigenen Lebenserfahrung und wegen der Nähe der Parusie dem ehelosen Leben den Vorzug (vgl. 1 Kor 7)26. Und es gab sicher Christen, die sich für ihre Ablehnung der Ehe auf Paulus berufen haben. Eine ausdrückliche Befürwortung der Ehe oder gar eine Höherstellung gegenüber der Ehelosigkeit hätte den Verfasser zu deutlich in Konflikt mit der PaulusTradition gebracht. An anderen Stellen gibt aber der Verfasser deutlich zu erkennen, daß er die Ehe auch für Amtspersonen als den Normalfall betrachtet (vgl. 1 Tim 3,4.12; Tit 1,6; 1 Tim 5,14). Was die Möglichkeit einer genuin christlichen Begründung angeht, ist die Situation beim Verbot des Verzehrs bestimmter Speisen vergleichbar. Auch wenn Paulus diese Form der eingeschränkten Zulassung von Speisen für den Christen nicht kennt, konnte doch die von ihm sehr ausführlich geführte Diskussion um das Essen von Götzenopferfleisch (Röm 14; 1 Kor 8; 10,14-11,1) zu einer grundsätzlichen Problematisierung der Frage führen, ob das spezifisch Christliche sich nicht auch in diesem Bereich des täglichen Lebens zeigen müsse. V gl. 1. ROLOFF, 1 Tim 230, der von einer schöpfungs- und materie feindlichen Grundhaltung der Gegner der Past spricht. 24 V gl. E. SCHLARB, Lehre 92. 25 Den Unterschied zu den Aussagen des Paulus über die Ehe sieht W. LÜTGERT, Irrlehrer 35, darin, daß die Irrlehrer "die Ehe als etwas Sündhaftes verbieten". 26 V gl. E. SCHLARB, Lehre 125 f. Diese "Bevorzugung der Ehelosigkeit durch Paulus" ist allerdings verbunden mit der Ablehnung einer in der Gemeinde von Korinth vertretenen Position (vgl. V 1b: "es ist gut für den Menschen, eine Frau nicht anzufassen"), die die sexuelle Enthaltsamkeit, d. h. auch die Ehelosigkeit, als "Zeichen der bereits zuteil gewordenen Herrlichkeit" verstand (vgl. H. MERKLEIN, "Es ist gut für den Menschen, eine Frau nicht anzufassen". Paulus und die Sexualität nach 1 Kor 7: Studien zu Paulus [Tübingen 1987]385-408; hier 390; 404-406). 2J
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Mitglieder der christlichen Gemeinden, die solche N ahrungs- und Sexualaskese forderten, konnten sich als "gute Paulinisten" verstehen TI und ihre theologischen Positionen als konsequente Weiterführung paulinischer Gedanken zu legitimieren suchen 28. Diese kritische und z. T. distanzierte Einstellung zu den irdisch-weltlichen Lebensbedingungen konnte auch bestens in Übereinstimmung mit der oben schon behandelten, als für die Gegner der Past charakteristisch beurteilten Devise gesehen werden, daß die Auferstehung jetzt Wirklichkeit geworden ist (2 Tim 2,18) 29. Damit ergibt sich dasselbe Problem wie bei 2 Tim 2,18: Die vom Verfasser zitierte Position dieser Christen mag extrem und überzogen sein 30; doch ist solchen Gläubigen gegenüber, die sich dieser Lebensführung verschreiben, der Vorwurf gerechtfertigt, sie wären "vom Glauben abgefallen", sie folgten "betrügerischen Geistern und Lehren von Damonen" (wie der Verfasser den "Paulus" - der fiktiven Situation angepaßt - in 1 Tim 4,1 für die Zukunft ankündigen läßt)? Deshalb ist nach dem Kontext zu fragen, nach der theologischen Lehre, in deren Zusammenhang diese asketischen Ideale stehen. Es ist naheliegend, dafür gnostisches Gedankengut als Basis und Rahmen anzunehmen. Das, was für die späteren gnostischen Systeme charakteristisch geworden ist, daß sie nämlich in einer eindeutig negativen Bewertung der Materie, der Leiblichkeit und der Sexualität die Loslösung des Frommen, Erlösten aus diesen Bedingungen und Bindungen forderten 31 , ist ganz sicher nicht ad hoc entstanden, sondern Vgl. L. R. DONELSON, Pseudepigraphy 124. Vgl. auch W. TmESSEN, Christen 329f, der zwar ,,(vorsichtig)" auf beiden Seiten, bei den Gegnern und bei den Past, von "Paulinismus" spricht, dann aber offen läßt, "ob dieser ,Paulinismus' bei den Gegnern der Pastoralbriefe" - warum eigentlich nur bei denen?! - ",echt' oder Strategie war". 28 Vgl. G. HAUFE, Irrlehre 330f. Nach Überzeugung von D. R. MACDoNALD, Legend 57-59 (vgl. 54-77), nimmt der Verfasser hier wie auch an anderen Stellen bewußt eine Gegenposition zu der Paulus-Tradition ein, die später in den ActPaul, besonders in der Erzählung über die "Taten des Paulus und der Thekla" (vgI. dazu W. SCHNEEMELCHER, Apokryphen 11 193-243, v. a. 216-224) gesammelt wurden (vgl. MacDonald, a. a. O. 97). 29 VgI. E. SCHLARB, Lehre 133: "Sexualität und bestimmter Speisengenuß sind keine LebensmögIichkeiten mehr für den, der in der Taufe der Auferstehung teilhaftig geworden (ist) ... " 30 V gI. U. BIANcHI, Gesichtspunkte zur Erforschung der Ursprünge der Gnosis: Gnosis und Gnostizismus 707-748, hier 742f: Die Glaubensüberzeugung, daß Christus von den Toten auferstanden ist, die Glaubenden an dieser Auferstehung Anteil haben und deshalb die Ehe abgeschafft werden solle, sei "eine extreme christliche Auffassung", "die jedenfalls durch 2 Tim 2,18 zurückgewiesen wird". 31 Zu nennen sind dazu v. a. die Darstellungen frühchristlicher Apologeten, deren Berichte trotz der polemischen Einseitigkeiten die zentralen Grundaussagen gnostischen Denkens korrekt wiedergeben. So schreibt Irenäus, haer. I 24,2, über einen gewissen Satuminus: "Von Heiraten und Kinderzeugen sagt er, daß das vom Satan stammt. Die meisten seiner Anhänger essen kein Fleisch." Ähnlich Epiphanius, pan. 45,2,1; Oemens v. Alexandrien, strom. 111 12,2 (vgI. dazu K. RUDOLPH, Gnosis 266; 277). Bestätigt wird dies durch die gnostischen Schriften von Nag Hammadi (vgI. 27
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hat eine bedeutsame Vorgeschichte. Die Gefahr solcher gnostisch gefärbten Gedanken für christliche Gemeinden lag darin, daß sich in manchen Überlegungen· zllIlliIldest strukturelle Gemeinsamkeiten mit frühchristlichen Positionen zeigten. Der Übergang von Paulus zur gnostischen Interpretation etwa von Ehe und Speisen konnte von manchen Christen als von Paulus gewünschter Erkenntnisfortschritt verstanden und gerechtfertigt werden 32 • Daß die Wirkungsgeschichte der paulinischen Theologie nicht spannungsfrei war, bezeugt der Verfasser von 2 Petr in dem Hinweis, daß "Unwissende und Ungefestigte" das, was Paulus "nach der ihm verliehenen Weisheit" in seinen Briefen "über diese Dinge" geschrieben hat - im Kontext von 2 Petr geht es dabei um Aussagen des Paulus über die Parusie oder auch über Gnade, Rechtfertigung und Freiheit -, "verdrehen" (3,15 f). Die Tatsache, daß sich in diesem pseudepigraphen Schreiben der Verfasser ebenfalls mit einem globalen Verdikt über "die gegnerische Paulusexegese" begnügt, hat sicher einen entscheidenden Grund darin, daß die Behandlung des Themas "Parusie" durch Paulus (etwa in den Naherwartungsaussagen Röm 13,Hf; 16,20; 1 Kor 7,29; Phil4,5; 1 Thess 4,15) gerade auch dem "orthodoxen" Ausleger Probleme bereiten mußte".
4. Jüdischer und judenchristlicher Einfluß
Der Einfluß jüdischer und judenchristlicher Vorstellungen scheint durch vielfältige Hinweise gesichert 34 • Von den Gegnern wird gesagt,
M. WOLTER, Pastoralbriefe 258): TestVer NHC 003, 29,22-30,18 (vgl. dazu K. KoSCHORKE, Polemik 110-127: "Strikte Geschlechtsaskese erweist sich ... als der Kernpunkt der von TestVer geforderten WeItabsage ... " [116]; " ... die Forderung nach strikter Enthaltsamkeit [kann] als ein dominierendes Merkmal der gnostischen Bewegung gelten"); LibTh NHC II, 7,143, 10-12 ("Wehe euch, die ihr die Hoffnung auf das Fleisch setzt und auf das Gefängnis, das zerfallen wird ... "); 144,8-10 ("Wehe euch, die ihr den Verkehr mit der Weiblichkeit und das unzüchtige Zusammensein mit ihr liebt") (Übers. nach W. SCHNEEMELCHER, Apokryphen I 203; vgl. 192-204). Dieses "Buch des Thomas" ist nach H. A. GREEN, Origins 232, "the most ascetic tractate found at Nag Hammadi". Zur "frühgnostischen Sexual-Askese" vgl. auch K. NIEDERWIMMER, Askese 208-219. 32 PH. H. TOWNER, Gnosis 104-109, sieht ebenfalls einen Zusammenhang zwischen den asketischen Tendenzen der Häretiker und der Überzeugung, daß die Auferstehung schon Wirklichkeit geworden ist. Er wertet dies allerdings nicht als Beleg für gnostischen Einfluß auf die Gemeinden der Past, sondern sieht darin wegen der Übereinstimmung mit 1 Kor, v. a. Kap. 15, einen Hinweis auf vergleichbare Gemeindebedingungen. Die wesentliche Gemeinsamkeit liege in der Vorstellung von der "realisierten Eschatologie". Das Stichwort ,;Entwicklung" erscheint Towner für die Beschreibung der Beziehung von 1 Kor und Past zu spekulativ. Er vertritt deshalb die These, "that both situations reflect elements vital to the later Gnosis-constellations" (a. a. 0. 115). 33 V gl. dazu A. VÖGTLE, Jud/2Petr 262-266. " Vgl. u.a. N. BRox, Past 33: Die "jüdische Provenienz (ist) sicher"; zustimmend W. THIESSEN, Christen 319. Vgl. auch U. B. MÜLLER, Theologiegeschichte 58: "Über die judenchristliche Herkunft der Gegner kann heute eigentlich kein Streit mehr sein."
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daß sie auch aus dem Judentum (Ex 'tfj; 3tEQt't0ILfj;) kommen (Tit 1,10)'5. Sie werden vorgestellt mit der Absicht, Gesetzeslehrer (vOILOÖtMOXuAm) zu sein (1 Tim'l, 7); Gegenstand der von ihnen angezettelten Auseinandersetzungen sind neben Gesetzesfragen (vgl. Tit 3,9: ILaxm vOILtxuL) jüdische Mythen (Tit 1,14: 'Iouöu'LxoL ILUSot) und Genealogien (Tit 3,9: YEVEuAoylm). Interpretiert man diese Angaben der Past als klaren Hinweis auf "eine judenchristliebe Wurzel"36, dann ergibt sich auch die Möglichkeit, daß theologische Positionen aus unterschiedlichen religiösen Kreisen, mit z. T. gegensätzlichen Anliegen und Ansprüchen, sich zu einer neuen Religionsform verknüpfen konnten. Für judenchristliehe Kreise brachten Forderungen, die den Verzicht auf bestimmte Speisen zum Inhalt hatten, nichts wesentlich Neues. Und auch der Verzicht auf die Ehe konnte trotz des als Wille Gottes offenbarten Gebotes der Teilhabe am göttlichen Schöpfungswerk (vgl. Gen 1,28) so interpretiert werden, daß in bestimmten Situationen kultische Reinheit ver- , langt war, und das bedeutete auch Verzicht auf Sexualverkehr. Daß eine solche Verknüpfung zwischen den asketischen Ansprüchen und der jüdischen Kultordnung in der der Häresie angeklagten Gemeindegruppierung bestand, zeigt die These, daß "den Reinen alles rein ist; den Befleckten aber und Ungläubigen ist nichts rein" (Tit 1,15). Damit wird jede an gesetzlichen Vorschriften ausgerichtete Diskussion bzw. Argumentation polemisch abgeWÜTgt 37 . Auch die Bezugnahme auf "Güdische) Mythen" (1 Tim 1,4; 4,7; 2 Tim 4,4; Tit 1,14) und "Genealogien" (1 Tim 1,4; Tit 3,9) läßt nicht nur eine aus dem Judentum bzw. aus judenchristlichen Ansprüchen
VgL E. SCHLARB, Lehre 83 mit Anm. 35: Die Formulierung von Tit 1,10 "bezeugt das Gewicht derer aus dem Judentum, nicht aber die Ausschließlichkeit". Daß "die meisten Gegner" aus dem Judentum kommen (so G. HAUFE, Irrlehre 327), will dieser Vers nicht behaupten. 36 Ohne eine solche wären die Angaben nach G. HAUFE, Irrlehre 327, ,,nahezu unverständlich" . 37 Vgl. U. B. MÜLLER, Theologiegeschichte 59. Gegen die von Müller vorgenommene Aufteilung der Gegner der Past in zwei Gruppen - eine "streng judenchristliche Front" mit asketischer Tendenz (vgI. 1 Tim 1,7; Tit 1,10) und eine aus der Paulusschule kommende Gruppe mit dem Hang, die "in hellenistischen Gemeinden bestehende Tendenz zu einem präsentischen AuferstehungsgIauben" zu radikalisieren (vgl. 2 Tim 2,18) (a.a.O. 75; im einzelnen 58-74) - spricht u.a., daß Überschneidungen zwischen beiden Positionen sowohl bei Paulus als auch bei den von ihm kritisierten Christen in Karinth erkennbar sind und auch die Past keine Ansätze zu einer derartigen Differenzierung aufweisen (zur Kritik vgl. H. v. LIPS, Glaube 156 Anm. 271). In eine andere Richtung geht die Erklärung von W. 1HIESSEN, Christen 319f; 325-327, der ausschließlich die Auseinandersetzung um die jüdischen Reinheitsvorschriften im Hintergrund stehen sieht und darin eine gewisse Nähe zu "antipharisäischen Äußerungen der synoptischen Evangelien" erkennt (vgI. Mk 7,8f.15-23; Mt 15,9-12; 23,25 f). 3S
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abgeleitete Interpretation zu 38, sondern es lassen sich wiederum Beziehungen zu Gedanken aufzeigen, die uns dann bereits im zweiten Jahrhundert im Rahmen gnostischer Systeme begegnen. Die gnostischen Texte bieten Spekulationen, die das Schicksal des Kosmos und der Menschen betreffen, wobei sich die Darstellung häufig an den Schöpfungserzählungen der Gen orientiert (vgl. zu den Ophiten und Setianern die Schilderung bei Iren., haer. 130,1-10)39. Die Bedeutung solcher Überlegungen lag für die Past darin, daß von dieser Sicht des Menschen, seiner Beziehung zur geschöpflichen Welt und der daraus resultierenden Bestimmung von Erlösung die .Mitte des christlichen Glaubensbekenntnisses betroffen war. 5. Die Irrlehrer der Pastoralbriefe - Vertreter einer frühen Form christlicher Gnosis
a) Ein wichtiger terminologischer Ausgangspunkt für die Bestimmung der Lehre der Gegner der Past ist die polemische Qualifizierung ihrer Position in 1 Tim 6,20 als "fälschlich so genannte Erkenntnis" ("'ElJÖWVlJ!lO~ YVö.)OL~). Der Verfasser stellt ihr gegenüber das "Glaubensgut" (:ltaQae~XT]), welches dem "Tirnotheus" zur Bewahrung übergeben ist und mit dem die Past den Anspruch einer exklusiven, mit der Autorität des Paulus versehenen Überlieferung erheben. Das Stichwort "Erkenntnis" (yvö.)OL~) gibt mit großer Wahrscheinlichkeit den Anspruch der Gegner wieder; sie verstehen sich als authentische Vermittler und Interpreten der christlichen Verkündigung 40 • Dagegen stellt der Autor den Anspruch des "Paulus" und seines Evangeliums (vgl.1 Tim 1,11; 2 Tim 1,8.10; 2,8); wer dieses im Auftrag des "Paulus" verkündete und von ihm legitimierte Evangelium annimmt, der kommt zur "Erkenntnis der Wahrheit" (E:ltl.yvWOL~ äA.T]eEi.a~) (1 Tim 2,4; 2 Tim 2,25; 3,7; Tit 1,1). Das Stichwort "Erkenntnis" kennzeich-
w. THIESSEN, Christen 322, rechnet damit, daß die Häretiker "womöglich auf ihre religiöse Abstammung (von Israel!) Wert gelegt und diese in Genealogien nachzuweisen versucht" haben (vgl. Lk 3,23-38; Mt 1,1-17). Dieser Zusammenhang erscheint auch J. D. DUBOIS, Pastorales 45f, wahrscheinlicher als eine Verbindung mit·gnostischen Spekulationen. 39 Daß der Verweis auf Mythen und Genealogien den "gnostischen Charakter" der in den Past bekämpften Lehre belegt, vertreten u. a. N. BRox, Past 35; G. HAUFE, Irrlehre 329; H. v. LIPs, Glaube 152; J. ROLOFF, 1 Tim 231 f; M. GOULDER, Wolves 247-249. 40 Vgl. J. ROLOFF, 1 Tim 231: Für die Gegner hatte das Stichwort yvciioU; "eine hervorragende Bedeutung"; sie verstanden sich als "Träger und Vermittler besonderer, geheimer Erkenntnis hinsichtlich der göttlichen Welt". Auch nach W. THIESSEN, Christen 334f, gibt der Verfasser in 1 Tim 6,20 mit dem Stichwort "Erkenntnis" den "Selbstanspruch der Gegner" wieder, allerdings als Bezeichnung des Inhalts ihrer Lehre. 38
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net somit nicht nur das Selbstverständnis der Gegner 4!, sondern auch den Anspruch der von "Paulus" repräsentierten Gemeindechristen 42. b) Bei den angesprochenen Motiven wurde bereits darauf hingewiesen, daß sie sich ebenfalls in gnostischen Systemen des zweiten Jahrhunderts finden und daß es sich dabei um zentrale Bestandteile einer gnostischen Frömmigkeit handelt. Kritiker dieser Identifizierung der Irrlehre der Past mit den Grundzügen der gnostischen Religiosität verweisen einmal darauf, daß es "methodisch problematisch" sei, die neutestamentlichen Texte von deutlich späteren literarischen Zeugnissen her zu interpretieren, seien es Texte aus gnostischer Tradition oder seien es die sekundären Zeugnisse der Auseinandersetzung der Kirchenväter mit der Gnosis 43. Zum anderen sei nicht nachzuweisen, daß bestimmte Begriffe und Vorstellungen, die im Kontext eines gnostischen Systems eine entsprechende gnostische Bedeutung haben, diese auch schon in einem früheren Stadium, also etwa zur Zeit der Entstehung der neutestamentlichen Schriften, gehabt haben«. Umgekehrt gilt aber auch: Was über die Inhalte der häretischen Bewegung in den Past gesagt wird, ist in gnostischen Gruppen denkbar und mit den dort vertretenen Positionen vereinbar 45 und kann deshalb als eine "Frühform christlicher Gnosis"46 bezeichnet werden, die Der bei Irenäus begegnende Name yvwatLXOL dient nach N. BRox, rVW<J'tLXOL 108, zur "Selbstcharakterisierung ihrer Lehre wie ihrer persönlichen Qualifikation". 42 Vgl. dazu W. LÜTGERT, Irrlehrer 62: Der Verfasser der Past "bestreitet das Streben nach Erkenntnis nicht. Im Gegenteil, Erkenntnis der Wahrheit, E:rdyvwm.,; al.T]eELa~, gehört für ihn als ein wesentliches Stück zum Besitz der christlichen Gemeinde." " Vgl. etwa die entsprechende Kritik bei W. 'THIESSEN, Christen 317. 44 Darauf verweist etwa R. McL. WILSON, Art. Gnosis,540. Vgl. auch W. 'THIESSEN, Christen 317 f und 337, mit der Feststellung, daß die Gnosis-Theorie zur Identifizierung der Gegner der Past nicht "nötig" sei und daß "keine der aus den Pastoralbriefen erkennbaren Eigenschaften und Lehren innerhalb einer judenchristlichen Gruppe unmöglich oder auch nur schwer unterzubringen (ist)". 4S V gl. M. WOLTER, Pastoralbriefe 266. 46 V gl. U. SCHNELLE, Einleitung 394. Ähnliche Charakterisierungen finden wir u. a. bei K. WEGENAST, Verständnis 138 ("Gnostiker, die neben typisch gnostischen auch judaistische Züge aufweisen"); N. BRox, Past 38 ("eine frühe Form der Gnosis", die "deutlichjudenchristlichen Charakter" zeigt); C. SPICQ, Past 114 (Paulus befaßt sich mit einem Judenchristentum, "que l'on peut qualifier de pre-gnostique, en ce sens qu'on y disceme une tendance ou des symptomes qui exploseront trente-quarante ans plus tard"); F. J. SCHIERSE, Kennzeichen 77 Gudaistisch-gnostische Irrlehren); G. HAUFE, Irrlehre 332f ("Vertreter einer frühen Form der Gnosis mit stark jüdischem Einschlag"); R. McL. WILSON, Gnosis 41-44 (" ... these documents provide evidence [al for certain trends in a Gnostic direction, and [b] for a considerable Jewish element in this development"); L. R. DONELSON, Pseudepigraphy 122 (" ... gnostic coloring can be detected in their claiming the resurrection has already happened ... "); J. ROLOFF, 1 Tim 234 (Vertreter "einer Frühform der christlichen Gnosis"); H.-J. KLAUCK, Umwelt II 149 ("Vertreter einer frühen Form von christlicher Gnosis"). 41
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noch nicht den Charakter eines ausgebildeten Systems gewonnen hat 47 . Im Hinblick auf die soziologische Verortung der der Häresie beschuldigten Personen ist davon auszugehen, daß wir es mit einem innergemeindlichen Phänomen zu tun haben 48. Die Beschuldigungen, daß sie sich in Häuser einschleichen und dort v. a. lernwillige Frauen für sich bzw. für ihre Lehre zu gewinnen suchen (2 Tim 3,6 f) bzw. daß sie "ganze Häuser" mit ihrer falschen Lehre, die der Gewinnsucht dient, zerstören (Tit 1, 10f), ist zu deutlich als polemische Keule (nicht nur gegen die Irrlehrer, sondern v. a. auch gegen die Frauen!) zu erkennen, als daß man daraus etwa den Schluß ziehen könnte, es handle sich bei den Betroffenen um "judenchristliche Wanderprediger", die von Ort zu Ort ziehen und dabei auf die materielle Unterstützung der Gemeinden angewiesen sind (vgl. 1 Tim 6,5; Tit 1,11)49. c) Läßt sich die Zuordnung der Gemeindemitglieder, die des Glaubensabfalls bezichtigt werden, zur gnostischen Bewegung durch weitere Anhaltspunkte in den "Briefen" bestätigen?50 (1) Die Stellungnahme der Past zur Rolle der Frau in den christlichen Gemeinden In 1 Tim 2,11-15 wird den Frauen jede verantwortliche Stellung in der Gemeinde untersagt und ihnen, verbunden mit einer nicht unproblematischen Exegese der Erzählungen von der Schöpfung des Menschen und seiner Verfehlung in Gen 2f, Zweitrangigkeit im Vergleich Daß einerseits in den neutestamentlichen Schriften, etwa in der paulinischen Tradition, "gnostische Elemente" zu erkennen sind, andererseits im 1. Jahrhundert noch keine systematische Ausgestaltung einer gnostischen Theologie festzustellen ist, zeigt PH. PERKINS, Gnosticism 39-50; 74-92. ... So stellt 1. ROLOFF, 1 Tim 233, fest, daß es sich um "eine innerhalb der Gemeinde aufgebrochene, von größeren Teilen der Gemeinde getragene Bewegung gehandelt haben muß"; ähnlich E. SCHLARB, Lehre 139-141. 49 So W. THIESSEN, Christen 337f; 325-327, und U. B. MÜLLER, Theologiegeschichte 62. Ähnlich W. SCHMITHALS, Neues Testament 91 (mit Verweis auf 2 Tim 3,13: "Goeten"); H. v. LIPS, Glaube 152. Dafür, daß es sich im wesentlichen um innergemeindliche Orientierungssuche handelt, spricht die vom Verfasser empfohlene Art des Vorgehens des Gemeindeleiters. Er soll aktiv in der Verkündigung und in disziplinarischen Maßnahmen gegen diese Leute wirken (1 Tim 1,3f; 4,6; 2 Tim 2,15f.23.25; Tit 1,9.11.13; 3,10); das Ziel der Maßnahmen ist, daß die Irrlehrer von der "Lästerung" ablassen (1 Tim 1,20) bzw. zur "Erkenntnis der Wahrheit" kommen (2 Tim 2,25). v.a. aber wird (über Timotheus) dem Gemeindeleiter ans Herz gelegt, sich um den rechten Glauben zu sorgen. " Zu diesen "indirekten Argumenten" vgl. Y. REDALIE, Paul 377f, mit der abschließenden Erwägung: "En fait, ces arguments ,indirects' sont utilises pour confirmer une image predeterrninee. D'autre part, beaucoup de ces assertions sont expliquees par leur contexte et n'ont pas besoin de presupposer une position contraire pour justifier leur presence." 47
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zum Mann attestiert; ihr "Heil" liegt im Kindergebären. Bei der Behandlung der Frage, wie mit den Witwen in der Gemeinde umzugehen ist, zeigt sich bei allen Anweisungen die Intention, die Gruppe der "echten" Witwen möglichst klein zu halten und sie als reine Versorgungsempfängerinnen in die Abhängigkeit vom Gemeindeleiter zu stellen (1 Tim 5,3-16). Und bei der Beschreibung der von den Irrlehrern ausgehenden Gefahr werden "die in Sünden steckenden. und von mancherlei Begierden umgetriebenen Frauenzimmer (YUVaLXclQLa)" als Schwachpunkt in den Gemeinden genannt. Es ist unverkennbar: Der Verfasser hat mit bestimmten Entwicklungen in "seinen" Gemeinden Probleme, die mit Aktivitäten von Frauen im Gemeindeleben zusammenhängen. Im gnostischen Denken ist die Einstellung zur Frau ambivalent. Einerseits gibt es die prinzipielle Gleichstellung im praktisch-kultischen Bereich, weil die geschlechtlichen Unterschiede irdisch-materiell bedingt und deshalb als für die eigentliche Bestimmung des Menschen bedeutungslos anzusehen sind. Andererseits findet sich eine "Verteufelung des Weiblichen", die z. T. mit der Ablehnung von Ehe und Kinderzeugung verknüpft ist".
Die Aussagen der Past über die Frauen sind eine Reaktion auf bedeutsame Entwicklungen in christlichen Gemeinden 52 • Die Aktivität von Frauen in Verkündigung und Mission war in christlichen Gemeindenzumindest nichts Außergewöhnliches, was etwa die Paulusbriefe deutlich belegen 53. Gnostisches Gedankengut stützte solche "Emanzipationstendenzen" . Das konnte zur Konsequenz haben, daß in gnostisch beeinfiußten christlichen Kreisen die Gleichstellung von Frauen noch' konsequenter vertreten und gefordert wurde. Das eigentliche Problem lag folglich für den Vertreter einer an Paulus ausgerichteten Orthodoxie nicht in der Frage, ob Frauen etwa in christlichen Gemeinden gleichberechtigt mit Männern in der Gemeinde aktiv sein dürfen; das Problem lag vielmehr in der Tatsache, daß diese Gleichberechtigung in gnostisch beeinfiußten Kreisen noch konsequenter praktiziert wurde. Und deshalb konnte, ja mußte die die Gemeinde bestimmende Aktivität christlicher Frauen in Verkündigung und Leitung als Zei" Vgl. K. RUDOLPH, Gnosis 291-293. " Vgl. D. C. VERNER, Household 178 (176-180): "There were women in the church of the Pastorals who were involved in public teaching (cf. 1 Tim 2: 12). There were women of marriageable age who were rejecting the option of marriage, and, from the author's point of view, causing problems in the community (1 Tim 5: 13f.). Furthermore, the author's vigorous advocacy of the matronly virtues of wifely subordination and motherhood strongly suggests that the women of the church were being exposed to such a variety of teaching (cf. 1 Tim 2: 15; 5:14; Titus 2:4-5)." " So schreibt D. R. MACDoNALD, Legend 98: "There can be little doubt that women exercised important leadership in Pauline circles." Ergänzend weist er darauf hin: "Had Paullived into the second century, he surely would have resented reading in the Pastoral Epistles that he allegedly had silenced women and barred slaves from freedom" (ebd.).
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chen einer häretischen Einstellung angesehen werden 54. Wichtig ist dabei, daß der Verfasser mit seinem restriktiven Forderungskatalog insbesondere in denjenigen Gemeinden bzw. Gemeindekreisen eine Änderung der Frauenaktivität herbeiführen wollte, die nach seinem Urteil als "orthodox" galten 55. (2) Die Akzentuierung der Gehorsamsforderungen Die Mahnung zu Unterordnung und Gehorsam gilt in den Past nicht nur für die Frauen in der Ehe und in der Öffentlichkeit (1 Tim 2,11 f; Tit 2,5) und konsequent für die Kinder (1 Tim 3,4), sondern auch für die Sklaven gegenüber ihren Herren (Tit 2,9; vgl. 1 Tim 6,1 f), ja sogar für alle Gläubigen in ihrem Verhältnis zur staatlichen Autorität (Tit 3,1). Diese Aufforderungen werden z. T. in Entsprechung zu den "Emanzipationsbestrebungen" der Frauen als Reaktion gnostischen Einflusses auf die christlichen Gemeinden gedeutet 56 • Die Themen sind zwar nicht neu; doch die Art und Weise, wie sie der Verfasser behandelt, verrät eine besondere Problemstellung. Es ist daran zu erinnern, daß bei der Behandlung der Sklavenfrage (1 Tim 6,1 f; Tit 2, 9f) im Unterschied zu den vergleichbaren Äußerungen in den sog. Haustafeln (Eph 6,5-9; KoI3,22-4,1) in den Past einseitig die Pflicht der Sklaven zu Ehrerbietung, Gehorsam und treuer Diensterfüllung angemahnt wird, daß aber die für die Haustafel-Paränese charakteristische Reziprozität in der Beziehung zwischen Sklaven und Herren fehlt. Auffällig ist sodann, daß die Gehorsamsforderung noch dadurch besonders betont ist, daß ein Zusammenhang hergestellt wird zwischen dem Verhalten der Sklaven und der "Lehre" (tnöuaxuAlu) (1 Tim 6,1; Tit 2,10). Die Sklavenfrage ist also ein Thema, das vom Verfasser in den Zusammenhang der Auseinandersetzung um die Lehre, d. h. um die rechte Lehre, und damit in die Diskussion um Rechtgläubigkeit und Häresie eingeordnet wird. Dieser Vgl. H.-I KLAUCK, Umwelt II 189: "Die Übernahme von Funktionen in der Gemeinde durch Frauen war jetzt zu allen anderen Vorbehalten auch noch dadurch negativ besetzt, daß so etwas als Merkmal gnostischer Häresien galt." Vgl. dazu auch E. SCHLARB, Lehre 123f. 55 Wenn U. WAGENER, Ordnung 219f, gegen diese Erklärung, daß die Stellungnahme der Past zur Rolle der Frau provoziert ist durch das Häresieproblem, einwendet, es sei zu fragen, "ob die vom Autor der Past angegriffenen lehrenden Frauen und Witwen tatsächlich gnostisch sind", dann wird der Adressatenkreis nicht zutreffend bestimmt. Der Verfasser verlangt von "seinen" Gemeinden, daß sie sich in Lehre und Organisation von einer häretisch geprägten Gemeinde unterscheiden müssen; und das bedeutet u. a.: bei ihnen dürfen nicht wie bei den Häretikern Frauen in der Verkündigung tätig sein. 56 Dem in 2 Tim 2,18 geäußerten "Heilsperfektionismus" lassen sich nach U. B. MÜLLER, Theologiegeschichte 73-75, auch "emanzipatorische Neigungen wie die religiöse Gleichberechtigung der Frau und die Negation staatlicher Gewalt zuordnen". V gl. auch W. SCHMITHALS, Neues Testament 92f; H. v. LIPS, Glaube 153f; E. SCHLARB, Lehre 122f. 54
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Zusammenhang ist in beiden Fällen betont: In 1 Tim wird im unmittelbaren Anschluß vor der Gefahr der Falschlehre (e,:EQOÖtÖUOXUAELV) und der Abweichung von den "gesunden Worten" (VYLUtVOvtE~ MyOL) gewarnt (6,3), und in Tit erscheint die Sklavenermahnung als Bestandteil der "gesunden Lehre" (VYLUtVOUou ÖLÖUOXUAtU), für deren Einhaltung der Apostelschüler zu sorgen hat (2,1)57. Auch wenn die Verbindung mit gnostischem Gedankengut nicht ausdrücklich festgestellt wird, spricht doch die Form der Behandlung dafür, daß der Verfasser damit auf Tendenzen in den Gemeinden reagiert, die das Sklavesein aus Glaubensüberzeugung ablehnten und als überholt betrachteten. Daß der Verfasser solches Verhalten - im Unterschied zu Paulus (vgl. GaI3,28; 1 Kor 7,20-22 58 )! -jetzt in die Nähe der Häresie rücken kann, ist eigentlich nur erklärbar, wenn man diesem Zusammenhang eine Begründung aus gnostischem Gedankengut zugrunde legt 59 . Diese Zuordnung schließt nicht aus, daß für die Past bei der Behandlung der Sklavenfrage zusätzlich von Bedeutung war, die Übereinstimmung mit den sozialen Strukturen der nichtchristlichen Umwelt zu betonen. Ähnliches gilt für die an "Titus" gerichtete Anweisung, dafür zu sorgen, daß die Gläubigen "sich den Obrigkeiten und Machthabern unterordnen" (Tit 3,1). Auch hier ist das pragmatische Interesse erkennbar, die politische Loyalität christlicher Gemeindemitglieder zu fordern, um dadurch die Anerkennung der staatlichen Ordnung zu demonstrieren. Darüber hinaus ist die Notwendigkeit, solche Gehorsamsforderung seitens des Gemeindeleiters ausdrücklich anzumahnen, in den aktuellen innergemeindlichen Bedingungen 60 zu sehen, nämlich in der Auseinandersetzung um die rechte Lehre. " V gl. die Hinweise bei H. v. LIPS, Glaube 154 Anm. 263; D. R. MAcDoNALD, Legend 73; E. SCHLARB, Lehre 122. Zur unterschiedlichen Deutung von V 21 mit dem "viel umrätselte(n) und verschieden ergänzte(n) Imp. Aor.lluAAoV XQfjom" von V 21b vgl. W. SCHRAGE, Der erste Brief an die Korinther (1 Kor 6,12-11,16) (EKK Vll/2) (SolothurnJNeukirchen 1995) 132; 138-142. Von den in der Forschung vertretenen Interpretationen - (1) der Sklave soll, auch wenn er die Möglichkeit hat, die Freiheit zu erlangen, in der Knechtschaft bleiben (zu IlUAAOV XQijom wäre also zu ergänzen Ö01JA.eL«;1), oder (2) der Sklave soll die neu erlangte Freiheit nutzen als "neuen Ort der Bewährung" (zu ergänzen wäre folglich EAE1J8EQL«;1 bzw. EAEU8EQO~ YEvio8m) - ist die erste nach Schrage, a. a. 0. 139, zwar die meistens gewählte (vgl. auch die Einheitsübersetzung: "auch wenn du frei werden kannst, lebe lieber als Sklave weiter"), die zweite aber diejenige, die dem Kontext besser entspricht und die mit dem ingressiven Aorist XQijom eher eine "Situationsveränderung" nahelegt (vgl. die rev. Luther-Übersetzung: "doch kannst du frei werden, so nutze es um so lieber"). 59 In dieser Hinsicht sind die Ausführungen zu 1 Tim 6,2 (HThK XI 2/1, 266) zu korrigieren. 60 Insofern kann man eine Parallele zu Röm 13,1-7 sehen; denn auch für Paulus war der Anlaß, der römischen Gemeinde gegenüber die Rechtmäßigkeit der staatlichen Gewalt einzuschärfen, die Erfahrung, daß christliche Freiheit zu Indifferenz oder gar Ab-
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Wie bei den anderen Themen ist auch bei dieser Ermahnung ein Zusammenhang mit einer Entwicklung in die Richtung gnostischen Weltverständnisses zu erkennen. K. Rudolph nennt als eine Konsequenz der "Welt- und Geschichtsbetrachtung der Gnosis" eine "Kritik an allem Bestehenden". "Die Verwerfung der Schöpfung samt ihrem Schöpfer und die Degradierung und Dämonisierung der überirdischen Sphären (Gestirne, Planeten) schließen notwendig auch eine Ablehnung und Verneinung der politisch-gesellschaftlichen Welt ein ... " Das Fehlen eines Hinweises auf eine gesellschaftskritische Einstellung der Gegner der Past kann ebenso erklärt werden wie der entsprechende Befund in den gnostischen Texten aus späterer Zeit. Die diesseitige Welt mit den "verschiedenen (irdischen und überirdischen) Herrschaftsstrukturen" galt als "ein erledigtes, hinfälliges Gebilde"·'.
Eine Bestätigung für die in den Gemeinden der Past akute Tendenz theologisch begründeter Distanz den politischen Verhältnissen gegenüber und für die Reaktion darauf kann man in der Aufforderung zum Gebet in 1 Tim 2,lf sehen 62 ; die Christen sollen "für alle Menschen" beten (V 1) und, wie im Anschluß daran eigens betont wird, "für Könige und alle, die Herrschaft ausüben" (V 2). Wie wichtig für die Past das Motiv der Unterordnung als Zeichen des rechten Glaubens und einer intakten Gemeinde ist, zeigt sich in der Bezeichnung derer, die "das lehren, was sich nicht ziemt", als "Ungehorsame" (aV'Ulto'tuwtOL) in Tit 1,lOf. Und deshalb gehört es zu den Aufgaben des Episkopos, "die Widersprechenden" zu überführen, wobei aus dem Kontext klar wird, daß es dabei um die Durchsetzung der "Lehre des zuverlässigen Wortes" (ÖLÖUXTJ ltLO'tOU Myou) bzw. der "gesunden Lehre" (uYLuLvouou öLöuoxuÄLu) geht (Tit 1,9). Eine Gewähr dafür, daß ein Gemeindevorsteher dieser seiner Aufgabe gerecht werden kann, sehen die Past darin, daß der Betreffende auch in seiner Familie für (Unter-) Ordnung zu sorgen sich fähig zeigt (vgl. 1 Tim 3,4: 'tEXVU Exovm EV ultomyfj, Tit 1,6: 'tEXVU EXWV ltLO'tU, I-tTJ ... avulto'tux'tu). (3) Die Betonung der Inkarnation Häufig wird darauf hingewiesen, daß in den Past ein ausdrücklicher Hinweis auf ein christologisches Defizit bei den Gegnern fehlt 63 • Doch dies erlaubt nicht ohne weiteres den Schluß, daß es keine Differenzen in zentralen christologischen Aussagen gegeben hat. Das Fehlen exakter Angaben ist u. a. damit zu erklären, daß der Verfasser an einer inhaltlichen Darstellung der Positionen seiner Gegner und an einer lehnung der politisch-weltlichen Bedingungen führen konnte (vgl. U. B. MÜLLER, Theologiegeschichte 74; G. HAUFE, Irrlehre 332). 61 K. RUDOLPH, Gnosis 284; vgl. 284-29l. 62 V gl. G. HAUFE, Irrlehre 332. 63 Vgl. H. HEGERMANN, Ort 61; G. HAUFE, Irrlehre 330; PH. H. TOWNER, Gnosis 112; W. THIESSEN, Christen 328 Anm. 390; K. LÄGER, Christologie 147.
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in diesem Fall unerläßlichen Auseinandersetzung kein Interesse haben konnte. Sodann wäre es übertrieben, auf der Seite der Gegner der Past bereits so etwas wie eine "voll ausgebildete gnostische Christologie" erwarten zu wollen 64. Und doch gibt es einen m. E. recht deutlichen Hinweis, daß die Past die Inkarnation besonders betonen wollen. Im Zusammenhang der Verse 1 Tim 2,3-6, die den Heilswillen Gottes in bekenntnishafter Form beschreiben, steht die Aussage, daß "der Mensch Christus Jesus" sich für alle hingegeben hat (VV 5c.6a). Nun ist diese Bezeichnung Jesu Christi als äv8QwJto~ gewiß noch kein ausdrücklicher Beleg für eine doketistische Christologie 65 auf seiten der Gegner 66 • Welchen Grund aber sollte der Verfasser gehabt haben, das Menschsein Jesu gerade im Zusammenhang dieser soteriologischen Spitzenaussage in der vorliegenden Weise zu betonen? Die Antwort darauf ist im Kontext zu suchen: Den Rahmen von 1 Tim bildet die Warnung vor falschen Lehren bzw. Lehrern (E-tEQoöLöoaxoAcLv: 1,3 und 6,3). Glau- . bensabfall hat es in der Vergangenheit gegeben (1,19f) und wird es auch in Zukunft geben (4,1-3). In diesem Zusammenhang ist der betonte Hinweis auf das wahre Menschsein Jesu 67 zu sehen und zu erklären 68 • (4) Eine antignostische Spitze läßt sich schließlich auch erkennen in den Bekenntnisaussagen, die sowohl die universale Geltung des Heilswillens Gottes (1 Tim 2,3 f; 4,10; Tit 2,11) als auch des Erlösungswerkes Jesu Christi in der Selbsthingabe "für alle" (2,6) betonen 69 • Dazu Darauf weist mit Recht I ROLOFF, 1 Tim 238, hin. Kennzeichen dieser in den gnostischen Systemen entwickelten Christologie ist, daß Christus nur einen Scheinleib angenommen hat und deshalb auch nicht am Kreuz gestorben ist. Hier liegt dann in der Tat "die größte Differenz zwischen der Gnosis und dem, was sich als orthodoxes Christentum durchgesetzt hat" (H.-I KLAucK, Umwelt II 179) . .. W. LÜTGERT, Irrlehrer 57, findet darin "Spuren einer doketischen Christologie". Auch N. BRox, Past 34, sieht hier die Möglichkeit einer "Entgegnung" auf eine "doketistische Christologie" . " Eine Parallele, wenn auch nicht mit antignostischer Zielsetzung, bildet im Markusevangelium das Bekenntnis des Hauptmanns unter dem Kreuz, der angesichts des Sterbens Jesu das Bekenntnis spricht: "Wahrhaft, dieser Mensch war Gottes Sohn" (Mk 15,39) . .. Vgl. M. GOULDER, Wolves 252 (vgl. 250-253): "The incamational emphasis is to be seen elsewhere." Und 2;U 1 Tim 2,5: "The polemical note is inescapable." - Obwohl I ROLOFF, 1 Tim 237f mit Anm. 99, einen Zusammenhang mit der späteren Gnosis und deren Christologie andeutet, ist s.E. aus 1 Tim 2,5f (wie auch aus 1 Tim 3,16 und Tit 2,13) keine Spitze gegen gnostische Christologie herauszuhören. Ähnlich K. BERGER, Art. Gnosis 525; I-D. DUBOIS, Pastorales 46f. .. So auch schon W. LÜTGERT, Irrlehrer 54: "Die immer wiederkehrende Betonung der universellen Heilsabsicht Gottes setzt voraus, daß dieser Universalismus bestritten 64 65
war."
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gehört, daß der Sendungsauftrag des "Paulus" zur Verkündigung des Evangeliums universal auf "die Völker" bezogen ist (1 Tim 1,7; vgl. 2 Tim 1,11; 4,17). Und deshalb sind die Christen verpflichtet, für alle Menschen zu beten (1 Tim 2,1) und allen Menschen gegenüber Sanftmut zu zeigen (Tit 3,2). Wer wie der Apostelschüler als "Diener des Herrn" tätig ist, der muß ebenfalls "allen gegenüber" freundlich sein, verständig in der Unterweisung und geduldig (2 Tim 2,24). In dieser Hinsicht stehen die Past aber auch in der das christliche Bekenntnis von Anfang an bestimmenden Tradition, die bei Paulus mit dem Begriff :Jta~ "die universale Geltung des Evangeliums" und damit auch "die Universalität des apostolischen Auftrags" kennzeichnet 70. (5) Es ist festzuhalten, daß sich in den angesprochenen Stellungnahmen zur Rolle der Frau in den Gemeinden, zur Beziehung der Sklaven zu ihren Herren und der Christen zur staatlichen Obrigkeit und schließlich in den Formulierungen der zentralen christologischen und soteriologischen Bekenntnisse Reaktionen auf eine theologische Entwicklung erkennen lassen, die später in die Gnosis mündet 71. Insofern ist zumindest die Behauptung zu rechtfertigen, daß in der Art und Weise, wie die Past den Glauben und die Lebenswirklichkeit der christlichen Gemeinden darstellen, eine Position erkennbar ist, die als antignostisch charakterisiert werden kann. 6. Der Einsatz der traditionellen Polemik
Eine letzte kurze Bemerkung gilt den katalogartigen Aufzählungen von Lastern und Verfehlungen, die mit den Irrlehrern und den Gemeindemitgliedern, die sich ihnen anschließen, in Verbindung gebracht werden (1 Tim 1,9f; 6,4f; 2 Tim 3,2-5; vgl. Tit 3,3), bzw. auch den sonst begegnenden Urteilen über die Gegner, die ausschließlich ethische Minderwertigkeit im Handeln und in der Motivation unterstellen (etwa Unwahrhaftigkeit: Tit 1,16, und Gewinnsucht: 1 Tim 6,5;
Vgl. dazu HYON SUK HWANG, Die Verwendung des Wortes ltä,; in den paulinischen Briefen (Diss. masch.) (ErlangenlNümberg 1985) 333 (vgl. 325-334); der Begriff ltä,; ist ihrer Auslegung nach ein "Schlüsselwort paulinischer Theologie" und dient dazu, "das gesamte Heilsgeschehen Gottes anzuzeigen" (327). 71 Vgl. J. ROLOFF, 1 Tim 238: Es ergibt sich "das Bild einer bestimmten Entwicklungsphase, in der sich zwar bereits Konturen christlicher Gnosis unmißverständlich abzeichnen, in der aber ein in sich geschlossenes christlich-gnostisches Lehrsystem noch nicht vorliegt". Auch F. YOUNG, Theology 12, räumt ein: " ... despite the tantalisingly meagre information on all sides, it would seem likely that the situation implied by the Pastorals is pushing towards the second century rather than fitting easily into Paul's lifetime." 70
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Tit 1,11)72. Der auch für den Verfasser entscheidende Punkt ist und bleibt natürlich die Abweichung von der rechten, d.h. apostolischen Lehre. Der Glaubensabfall wird dadurch noch dramatisiert, daß moralisches Fehlverhalten als Konsequenz dieses Glaubensabfalls behauptet wird 73. Es handelt sich dabei durchweg um den Einsatz des traditionellen Repertoires von Untugenden, welches v. a. aus der popularphilosophischen hellenistischen Literatur bekannt war und in ethischen wie philosophischen Abhandlungen Verwendung fand 74. Diese Bewertung kann auch dadurch nicht relativiert werden, daß das eine oder andere negative Urteil über die Gegner als zutreffend angesehen werden kann; denn darin liegt nicht die Differenz zwischen Häresie und rechtem Glauben bzw. zwischen orthodoxen und häretischen Christen. Das theologische Profil der in den Past bekämpften Gegner der Gemeinden des Paulus kann aber aus den in den "Briefen" enthaltenen Informationen, insbesondere sogar aus denen, die nur indirekt auszuwerten sind, recht gut bestimmt werden 75. LITERATUR ZU DEN PAST: N. BRox, Past 31-42; M. DIBELJUS - H. CONZELMANN, Past 52-54; L. R. DONELsoN, Pseudepigraphy 116-128; 1. D. DUBOIS, Les Pastorales, la Gnose et l'heresie: FV 94 (1995) 41-48; M. GOULDER, The Pastor's Wolves. Jewish Christian Visionaries Behind the Pastoral Epistles: NT 38 (1996) 242-256; G. HAUFE, Irrlehre; G. HOLTz, Past 22f; R. 1. KARRIS, Background; TH. D. LEA - H. P. GRIFFIN, Past 27-30; A. LINDEMANN, Paulus 134-149; H. V. LIPS, Glaube 152-157; W. LÜTGERT, Irrlehrer; U. B. MÜLLER, Theologiegeschichte 53-77; Y. REDALIE, PauI365-402; J. Ro-
72 Vgl. 1. ROLOFF, 1 Tim 229. Zu den Lasterkatalogen R. 1. KARRIS, Background, bes. 557-562; N. 1. McELENEY, Vice Lists. " Vgl. W. PRATSCHER, Stabilisierung 144: Das Verhalten der Gegner "wird moralisch disqualifziert nach dem Schema: Wer eine falsche Lehre vertritt, muß auch eine falsche Moral haben." - Ganz der Linie traditioneller Polemik verhaftet bleibt W. LÜTGERT, Irrlehrer 78, bei der Erklärung der Warnung vor Geldgier in 1 Tim 6,6-11: Die hier von den Gegnern vertretene Meinung, der Fromme müsse "um seiner Frömmigkeit willen durch Gottes Segen reich werden", sei "ein echt jüdischer Zug", und "diese Art von Frömmigkeit" sei "mit den jüdischen Gnostikern" wieder in die Gemeinden eingekehrt. 74 Dafür ist weiterhin aktuell A. VÖGTLE, Tugend- und Lasterkataloge; vgl. DERS., NBL 11 189-191. 75 P. TRuMMER, Paulustradition 163f, will zwar nicht so weit gehen, wie M. DIBELIUSH. CONZELMANN, Past 54, die die allgemein gehaltene Charakterisierung der Positionen der Gegner damit erklären, daß der Verfasser "ein apologetisches Vademecum für alle möglichen antignostischen Kämpfe" schaffen wollte (ähnlich K. WEGENAST, Verständnis 136: " ... wahrscheinlich nicht gegen eine Gruppe von Häretikern gerichtet ... , sondern doch wohl eher ein Vademekum für die Bekämpfung jeglicher Häresie ... "); doch geht es auch s.E. "weniger um eine Auseinandersetzung mit einer bestimmten Häresie, sondern um die Kirche angesichts der Häresie überhaupt" (TRUMM ER, a. a. O. 169). Es bleibt aber zu fragen, ob damit nicht die aktuelle Gefährdung christlicher Verkündigung und christlichen Lebens von innen her (durch die Auseinandersetzung um die Lehre, v.a. um Christologie, Soteriologie und Eschatologie) und von außen (in ersten Verfolgungen), die auch andere Schriften (2 Petr; Offb) bezeugen, zu gering eingeschätzt wird.
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Exkurs: Die Irrlehrer in den Gemeinden der Pastoralbriefe LOFF, 1 Tim 228-239; DERS., Kampf; F. 1. SCHIERSE, Kennzeichen gesunder und kranker Lehre. Zur Ketzerpolemik der Pastoralbriefe: Diak. 4 (1973) 76-86; E. SCHLARB, Lehre 59-141; C. SPICQ, Past 85-119; W. 'I'HIESSEN, Christen 317-338; PH. H. TowNER, Gnosis; P. TRuMMER, Paulustradition 161-172; K. WEGENAST, Verständnis 132-158; M. WOLTER, Pastoralbriefe 256-270.
WEITERE LrrERATUR: K. BERGER, Gnosis/Gnostizismus. I. Vor- und außerchristlich: TRE 13, 519-535; N. BROX, rVOlO"tLXO[ als Häresiologischer Terminus: ZNW 57 (1966) 105-114; Die Gnosis, 3 Bde, hrsg. v. W. Foerster u. A. Böhlig (Zürich 1995) (= überarb. Nachdruck 1971-1980); Gnosis und Gnostizismus, hrsg. v. K. Rudolph (WdF 262) (Darmstadt 1975); H. A. GREEN, The Economic and Social Origins of Gnosticism (SBL.DS 77) (Atlanta 1985); Nag Hammadi Library in English, hrsg. v. 1. M. Robinson (San Francisco 1981); PH. PERKINS, Gnosticism and the New Testament (Minneapolis 1993); W. SCHMITHALS, Neues Testament und Gnosis (EdF 208) (Darrnstadt 1984) 89-95; G. SELLlN, "Die Auferstehung ist schon geschehen". Zur Spiritualisierung apokalyptischer Terminologie im Neuen Testament: NT 25 (1983) 220-237; DERS., Der Streit um die Auferstehung der Toten. Eine religionsgeschichtliche und exegetische Untersuchung von 1 Korinther 15 (FRLANT 138) (Göttingen 1986); G. STRECKER, Judenchristentum und Gnosis: Altes Testament - Frühjudentum - Gnosis, hrsg. v. K.W. Tröger (Berlin 1980) 261-282; A. J. M. WEDDERBURN, Baptism and Resurrection (WUNT 44) (1'übingen 1987); R. McL. WILSON, Gnosis and the New Testament (Oxford 1968); DERS., Art. Gnosis/Gnostizismus. 11. Neues Testament, Judentum, Alte Kirche: TRE 13, 535-550; D. ZELLER, Die Mysterienkulte und die paulinische Soteriologie (Röm 6,1-11): Suchbewegungen. Synkretismus - Kulturelle Identität und kirchliches Bekenntnis, hrsg. v. H. P. Siller (Darmstadt 1991) 42-61.
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Exkurs: Gemeinde, Amt und Kirche nach den Pastoralbriefen
EXKURS
Gemeinde, Amt und Kirche nach den Pastoralbriefen Die Urteile über die Ekklesiologie der Past zeigen sich im allgemeinen recht zwiespältig. Einerseits wird darauf verwiesen, daß eine Ekklesiologie fehlt oder allenfalls in Ansätzen entwickelt wird; die einzig ekklesiologisch relevanten Stellen werden mit 1 Tim 3,15 und 2 Tim 2,19-21 angegeben 1. Andererseits ist ebenso deutlich, daß die Kirche "das alles beherrschende große Thema der Past" istZ, wobei sich allerdings die darin entwickelte Ekklesiologie als "Ekklesiologie unter besonderen Vorzeichen" präsentiere. Im Unterschied zu anderen ekklesiologischen Entwürfen im Neuen Testament (wie etwa des Paulus, des Eph oder auch der Apk) steht für die Past nicht die theologische Begründung im Vordergrund, sondern die von den praktischen Bedingungen der Entstehungszeit eingeforderten Konkretisierungen 4 • 1. Der historische und theologische Kontext der Ekklesiologie der Pastoralbriefe
Die Aussagen in den Past, die von der Gemeinde und ihren Leitern handeln, sind nicht für sich stehend zu betrachten, sondern als Bestandteil einer von den zeitgeschichtlichen Bedingungen bestimmten Konsolidierung. Wenn die Behauptung zutrifft, die zu Beginn der Rückfrage nach der Identität der in den Past bekämpften Irrlehrer geäußert wurde, daß nämlich die Irrlehrerproblematik und die Ekklesiologie eng miteinander verknüpft sind, dann ist mit einer zweifachen Akzentsetzung durch den Autor zu rechnen. Kirche ist einmal in Übereinstimmung mit der Tradition gesehen als die von Gott durch Jesus Christus gestiftete Heilsgemeinde, in die die Menschen durch die Taufe aufgenommen werden (vgl. 1 Tim 1,15f; 2 Tim 1,9f; Tit 3,4-7). Da die Kirche als Mittlerin dieses Heilswillens und Heilshandelns Gottes in der Welt zu wirken hat (vgl. 1 Tim 4,10), ist sie zum zweiten auch eine Institution, die den gegebenen Umständen entsprechend
V gl. 1. ROLOFF, 1 Tim 211. Auch K. LÖNING, Säule 428, bemerkt dazu, eine "explizite Ekklesiologie" sei in den Past "kaum entwickelt", 1 Tim 3,15 sei "bereits der Gipfel dessen, was die Past ekklesiologisch zu bieten haben". 2 1. ROLOFF, 1 Tim 211. 3 P. ThUMMER, Paulustradition 208. 4 Vgl. 1. ROLOFF, 1 Tim 211: "Den Verf.leitet ein bestimmtes Bild von Kirche, wenn er Verhaltensnormen für den Gottesdienst einschärft, Ordnungen für das Gemeindeleben verbindlich macht, die Autorität der Ämter stärkt und zu einem sorgsamen Umgang mit der Tradition mahnt." 1
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Exkurs: Gemeinde; Amt und Kirche nach den Pastoralbriefen
ihrem Auftrag gerecht werden muß; und dies bedeutet in der Situation der Past: Kampf gegen die Irrlehren und ihre Vertreter. Auf der zweiten pragmatischen Bestimmung liegt in den Past deutlich das stärkere Gewicht. Aber auch bei dieser Pragmatik kann man gleichzeitig eine stärker defensive und eine eher offensive Ausrichtung unterscheiden. Der defensive Charakter liegt in dem Umstand, daß der Verfasser mit der Gemeindeordnung und mit der Funktionsbeschreibung der Kirche einen Schutzwall gegen die Häretiker schaffen wollte, die die Einheitlichkeit des christologischen Bekenntnisses und damit auch die Einheit der Gemeinden und der Kirche gefährdeten 5. Etwas überspitzt kann man sogar sagen, daß der Autor der Past, "gezwungen" durch die Irrlehrer 6 , die von ihm propagierte Gemeindeordnung und sein Kirchenverständnis als Kampfmittel gegen eine innergemeindliche Gruppe von Nicht-Angepaßten einsetzt. In jedem Fall ist zu erkennen, daß er Rechtgläubigkeit in Verbindung mit der Anerkennung des vorgestellten Gemeindelebens und der von ihm eingeforderten Verteilung der Verantwortlichkeit bringt. Doch dies bedeutet keine Abschottung von der Umwelt; die Christen müssen sich vielmehr um ein positives Verhältnis zu ihr bemühen. Die in den Past favorisierte Gestalt der christlichen Gemeinde soll durch die von den unterschiedlichen Personengruppen gezeigte Lebensform und durch die geordnete Gestaltung des Gemeindelebens nach außen hin, gegenüber den Nichtchristen, eine anziehende Wirkung ausüben 7 • 2. Timotheus und Titus als "Amtsträger"?
Für die Ekklesiologie der Past ist nicht ganz unwichtig, wie die Funktion der beiden Adressaten beurteilt wird. Schon die Tatsache der Nennung der beiden Apostelschüler, die aus der paulinischen Tradition als enge Mitarbeiter des Paulus in der Missionsarbeit bekannt sind, als Empfänger der Schreiben hat programmatische Bedeutung. Die Gemeinden sind zwar die Zielgruppe, doch sie werden nicht un5 Vgl. E. KÄSEMANN, Amt 127. Auch R. SCHWARZ, Christentum 130, verweist bei der Betrachtung der Entwicklung von Amt und Institution aus der Sicht der Soziologie zuerst allgemein auf "die Notwendigkeit, daß ideell geeinte Gruppen in der Auseinandersetzung mit anderen Geistesströmungen im Laufe der Zeit immer mehr Fachleute brauchen, die sich darum bemühen, die geistige Position ihrer Gruppe gegenüber andersartigen Gruppen abzugrenzen"; und diese Notwendigkeit sieht Schwarz "in den Past durch die Irrlehrer-Situation gegeben". 6 Vgl. N. BRox, Amt 47. 7 V gl. W. PRATSCHER, Stabilisierung 146 f, der in dieser Hinordnung auf die Gesellschaft einerseits eine "defensive Ausrichtung" erkennt, nämlich "im Sinne der Unanstößigkeit des Verhaltens der Christen in den Augen der Umwelt", andererseits und "in erster Linie" aber doch "ein offensives Ziel: Die Umwelt soll die Kirche als die Gruppe erkennen, in der ihre eigenen Vorstellungen für ein sinnvolles und geglücktes menschliches Zusammenleben schon realisiert sind."
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mittelbar angesprochen; "Paulus" wendet sich vielmehr an "Timotheus" und "Titus" und informiert sie darüber, wie sie mit den Gemeinden zu verfahren bzw. worauf sie bei der Bestellung der Personen zu achten haben, die in ihrem Auftrag in den Gemeinden Verantwortung übernehmen sollen (vgl. 2 Tim 2,lf; Tit 1,5). Die Stellung der beiden Adressaten ist damit in zweifacher Richtung zu bestimmen: Da "Paulus" bei seinen Feststellungen und Weisungen die Gemeinden der Zeit des Verfassers im Auge hat und die wirklichen Adressaten die Gemeindeleiter dieser dritten Generation sind, repräsentiert von den beiden Apostelschülern, erscheinen diese als eine Art "Zwischenglied" zwischen dem Apostel und dem späteren Episkopos8. Gleichzeitig wird aber von den beiden Apostelbegleitern und -nachfolgern im Dienst für die Gemeinden aktive Beteiligung in der Lehre gefordert (vg1.1 Tim 4, 6 f.11-13.16; 6,lb.20; 2 Tim 1,14; 2,8; Tit 2,1-15; 3,lf), Einsatz für den rechten Glauben (vgl. 1 Tim 1,3.18; 6,13f; 2 Tim 2,14-16; 4,1-5; Tit 3,9.lOf) und Sorge für die Kirche (1 Tim 3,15). Das für die Leitung der Gemeinde unerläßliche Charisma des Vorstehers wird von Timotheus ausgesagt (1 Tim 4,14; 2 Tim 1,6). Ebenso wird von ihm wie von den in der Gemeinde Verantwortlichen vorbildliche Lebensführung gefordert (1 Tim 6,11 f; 2 Tim 2,22f; 3,14f). Das stellt sie paradigmatisch in der Funktion von Amtsträgem vor 9 • Von Timotheus wird sodann gesagt, daß er durch die Handauflegung der Presbyter (1 Tim 4,14) bzw. des Paulus selbst (2 Tim 1,6) das Charisma empfangen hat. Wenn wir darin einen Niederschlag der Praxis der Gemeinden der Past sehen dürfen - und die Mahnung, niemandem vorschnell die Hände aufzulegen (1 Tim 5,22), spricht dafür -, dann ist auch das ein Hinweis darauf, daß der Verfasser die Briefempfänger speziell mit den Kennzeichen vorstellen will, die für die Amtspersonen seiner Zeit charakteristisch sind lO • Es gilt gleichzeitig, daß der angesprochene Apostelschüler "nicht primär Repräsentant eines Amtstyps (ist), sondern Garant der echten Tradition"ll. Mit den ausdrücklich genannten Amsträgern in den Ge8 Vgl. E. KÄSEMANN, Amt 129, der allerdings ergänzt: "Zwischenglied zwischen Apostel und monarchischem Bischof und (als) Urbild des letzten". , V gl. R. SCHWARZ, Christentum 124. Auch H. SCHLIER, Ordnung 486, sieht in den Apostelschülern Timotheus und Titus neben dem Apostel Paulus "weitere Amtsträger"; da sie als "Vertreter des Apostels" eingesetzt sind, stehen sie nach Schlier "über einem größeren Kirchengebiet und einer Reihe von Einzelgemeinden bzw. den lokalen Bischöfen und Presbytern an verschiedenen Orten" (a. a. O. 487) - was allerdings selbst durch die genannten Belege (1 Tim l,3ff; 5, 17ff; Tit 1,5) nicht bestätigt wird. 10 V gl. D. C. VERNER, Household 157 f. 11 M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 47. G. LOHFINK, Normativität 103, weist darauf hin, daß Timotheus und Titus in den Past nicht als E:n:LaXO:n:OL bezeichnet werden und auch ihre Funktion nicht mit E1tL(J"XO:n:ELV umschrieben wird; sie sind "neben (und nach) Paulus Urbilder des rechten Amtsträgers" .
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meinden der Past haben die Briefadressaten ebenfalls gemeinsam, daß sie als der Autorität des Apostels "untergeordnete Autoritäten" angesprochen werden 12. Solche fließenden Übergänge in den Funktions- und Aufgabenbeschreibungen zeigen sich auch im Paulus-Bild. Der Apostel Paulus ist zwar die alles überragende und durch niemanden zu ersetzende Autorität; doch auch er erscheint in den Funktionen des Lehrers (1 Tim 2,7; 2 Tim 1,11) und Verkünders des Evangeliums (2 Tim 2,8; Tit 1,3), als Bewahrer der Tradition (2 Tim 1,12) und unermüdlicher Kämpfer für den rechten Glauben (2 Tim 1,8; 2,9f; 4,7)13. Da die Kontinuität von Paulus bis in die Gegenwart der Past von Personen und den von ihnen ausgeübten Funktionen bestimmt ist, gilt auch für die zwischen Paulus und den Gemeindevorstehern wirkenden Apostelschüler, daß ihr 1\1n als von "Paulus" legitimiert amtliche Funktion hat. Diese Linie wird etwa deutlich ausgezogen in 2 Tim 2,2 14 • Das Interesse der Past ist also nicht darauf ausgerichtet, die Kontinuität ausschließlich im Traditionsgedanken festzumachen 15; in der vorgestellten Personenfolge von "Paulus" bis in die Gemeinden der Past zeigt sich deutlich, wenn auch nicht ausdrücklich festgehalten und reflektiert, der Sukzessionsgedanke!". Allerdings ist mit G. Lohfink zu betonen, daß das Schema der Sukzession nicht darauf ausgerichtet ist, die Weitergabe der Amtsvollmachten zu deklarieren; entscheidend ist vielmehr, daß durch die in verschiedenen Funktionen und Ämtern vorgestellten Verantwortlichen, die im Auftrag des "Paulus" handeln, "die unverfälschte Weitergabe des der Kirche von Gott anvertrauten Evangeliums" garantiert ist 17 • Vgl. N. BRox, Kirche 45. V gl. dazu P. ThUMMER, Paulustradition 212f. 1. ROLOFF, Apostolat 264 (vgl. 250-264), spricht mit Recht davon, "daß die Pastoralbriefe Paulus und die Apostelschü/er bewußt als Typen und Urbilder rechter Episkopen zeichnen" (Hervorhebung von mir). H. SCHÜRMANN, Lehrer 153f, präzisiert die Bedeutung der (fiktiven) Briefadressaten Timotheus und Titus als "Typen für alle Amtsträger" dahingehend, daß beide "als Amtsträger" vor allem "Lehrer" sind, die das lehren, was Paulus gelehrt hat. 14 D. C. VERNER, Household 148f, 'sieht demgegenüber die Funktion von Timotheus und Titus in Übereinstimmung mit den echten Paulusbriefen, nur mit größerer Betonung, darin, Paulus in seiner Abwesenheit vor den Gemeinden zu vertreten. Dabei wird aber m. E. der entscheidende Unterschied außer acht gelassen: (Der geschichtliche) Paulus stellt sein Kommen in Aussicht, der Paulus der Past dagegen erklärt sein Wirken für abgeschlossen (2 Tim 4,6f) und beauftragt seinen Schüler und Nachfolger mit der Fortführung des von ihm begonnenen Werkes (Tit 1,5). 15 Anders E. SCHWEIZER, Gemeinde 70: Das Gewicht liege in den Past auf dem "Bewahren"; die von Paulus beauftragten Männer hätten die Aufgabe, die Verkündigung des Paulus weiter zu überliefern, ohne sie zu verändern. Es handle sich also "um Tradition, nicht um Sukzession. Der Apostel und nur der Apostel ist der Garant der Überlieferung". . 16 V gl. 1. ROLOFF, Apostolat 264; R. SCHNACKENBURG, Kirche 90; P. HOFFMANN, Priestertum 50. Auch R. SCHWARZ, Christentum 124, erkennt in den Past "deutliche Ansätze zu einer Sukzessionsvorstellung" , will diese aber (im Anschluß an G. Lohfink) nicht in erster Linie auf das Amt beziehen, sondern auf "die authentische Weitergabe der Lehre". 17 G. LOHFrNK, Normativität 103-105. Vgl. auch K. WEGENAST, Verständnis 143. 12 13
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In dieser Herausstellung einzelner Personen, die für die Lehre, die Weitergabe und Bewahrung der Glaubenstradition und für die Abwehr der Irrlehrer Verantwortung tragen, liegt ein Charakteristikum der Past. Daß diese Betonung der exklusiven Verantwortung einzelner Christen weitreichende Konsequenzen für das Kirchen- und Gemeindebild hat, zeigt sich in der Verwendung des Bildes vom Haus; dieses bildet in den Past die "zentrale ekklesiologische Metapher" 18. 3. Die Kirche als "Haus Gottes"
In der ekklesiologisch ohne Zweifel bedeutsamsten Stelle, 1 Tim 3,15, begründet "Paulus" gegenüber "Tirnotheus" , seinem mit der Irrlehrerbekämpfung beauftragten Nachfolger, seine Anweisungen damit, daß dieser wissen soll, "wie man sich im Hause Gottes verhalten muß, welche die Kirche des lebendigen Gottes ist, Säule und Fundament der Wahrheit" 19. Diese Konzeption 20 hat zur Folge, daß der für die. Gemeindeleitung Verantwortliche als "Hausverwalter Gottes" (oLxov6!l0~ 8wu) vorgestellt wird (Tit 1,7). Und schließlich wird damit auch der Anteil der Gemeindemitglieder am Gemeindeleben festgelegt. a) Wurzeln und Bedeutung der Hausmetapher Die Wahl der Hausmetapher als Muster für die Kennzeichnung der Beziehungen der Gläubigen in den Gemeinden und in der Kirche insgesamt, wie sie in den Past begegnet, hat zwei Wurzeln, die allerdings nicht streng gegeneinander abzugrenzen sind. Es ist einmal die in der Antike geläufige Beschreibung des Ideals eines Hauses, die sowohl in philosophischen und ethischen Unterweisungen als auch in eigenen Abhandlungen über das Hauswesen im Zusammenhang der Lehre über den Staat begegneei, Als "Haus" wird dabei über den engeren Vgl. W. PRATSCHER, Stabilisierung 147; J. ROLOFF, 1 Tim 213. A. WEISER, Kirche 110, spricht von der "ekklesiologischen Leitmetapher ,Haus'''; J. GNILKA, Theologie 356, sieht mit der Wendung "Haus Gottes" "die die Pastoralbriefe leitende ekklesiologische Metapher genannt". 19 Vgl. N. BRox, Past 157. K. LÖNING, Säule 422, der vom Relativsatz V 15b als "ekklesiologischer Spitzenaussage" spricht. 2D V gl. dazu ausführlich D. C. VERNER, Household 127-186; H. V. LIPS, Glaube 96-160; Y. REDALlE, Paul 263-293. 21 A. WEISER, Evangelisierung 121-124, gibt einen eindrucksvollen Überblick über die literarischen Zeugnisse und faßt zusammen: "Außer philosophischen Schriften und Spruchsammlungen geben noch viele andere Literaturgattungen der Antike Aufschluß über die Beschaffenheit des Hauswesens, so z.B. Inschriften, Verträge und Texte aus allen Bereichen des häuslichen Lebens auf Papyri oder etwa die Behandlung von Erziehungsfragen in der Dichtung, in Theaterstücken und Belehrungsschriften." V gl. zu "Haus und Familie in der Umwelt der Pastoralbriefe" H. v. LIPS, Glaube 126-130; zu 18
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Kreis der Familie und anderer verwandter Personen hinaus das durch "bestimmte soziale und rechtliche Beziehungen" konstituierte Sozialgebilde bezeichnet, zu welchem neben den Arbeitskräften auch der Grundbesitz zählte. Diese Hausgemeinschaft ist u. a. dadurch gekennzeichnet, daß der Hausherr, der pater familias (otxoöEOJt6'tTJ~), ihm "in herrschaftlicher Weise vorsteht"22. Auch wenn letzteres nicht im Sinne despotischer Macht mißverstanden werden darf, waren damit doch die Beziehungen der Hausmitglieder untereinander von Überordnung und Unterordnung eindeutig geregelt. Die Bedeutung dieses Aspektes, der den Adressaten der Past nicht unbekannt sein konnte, ist von seiten des Autors recht hoch zu veranschlagen. Daneben hatte das Haus in der konkreten Wirklichkeit der frühchristlichen Missionsgeschichte große Bedeutung 23 • Das Leben der Urgemeinde in Jerusalem ist trotz der idealisierenden Schilderung durch Lukas in der Apostelgeschichte in dieser Hinsicht zutreffend beschrieben: In den Häusern wurde das Evangelium verkündigt (Apg 5,42), hier traf sich die Gemeinde zum gemeinsamen Gebet (1,14; 12,12) und zum Brotbrechen (2,46)24. Und auch in den Städten des paulinischen Missionsgebietes bilden "Häuser" die Zentren der Verkündigung und des Glaubens. Paulus spricht in 1 Kor 1,16 vom "Haus des Stephanas", das er getauft hat (vgl. auch 1 Kor 16,15). Diese Notiz des Paulus und andere Aussagen, die auf Versammlungen der Gemeinde in "Häusern", d.h. in Privathäusern von (wohlhabenden) Christen und Christinnen, verweisen (Röm 16,5; 1 Kor 16,19), können als Hinweise dafür gelten, daß auch hinter vergleichbaren Aussagen der Apostelgeschichte, die von der Taufe einer wichtigen Persönlichkeit "zusammen mit dem (ganzen) Haus" erzählen, historisch ernst zu nehmende Traditionen stehen (vgl. Apg 10,47f: Kornelius und das ganze Haus [vgl. 11,14]; 16,15: Lydia und ihr Haus; 16,32f: der Gefängniswärter von Philippi und "alle seine Angehörigen")". In einer Zeit, da durch das Anwachsen der Gemeinden die Hausgemeinde an Bedeutung verlor und die Einheit der Gemeinden zusätzlich durch Kontroversen in Glaubensfragen gefährdet war, sollten mit der Hausmetapher das Selbstverständnis und der Anspruch der Kirche neu definiert werden. Mit dem "Haus" war einerseits der Gedanke einer allgemein anerkannten Ordnung verknüpft, andererseits das Vertrauen auf Stabilität 26 • Die Konzeption dieser am "Haus" orientierten Ekklesiologie ist somit nicht von den Hausgeden "Aufgaben eines Hauswesens" E. SCHLARB, Lehre 321-324; 328-332; 336-338; 339341. 22 K.-H. BIERITZ - eH. KÄHLER, Art. Haus III: TRE 14 (1985) 478-492, hier 478t. VgL auch F. LAUB, Begegnung 31; A. WEISER, Evangelisierung 124-126. 23 A WEISER, Evangelisierung 136f, gibt zu bedenken, "daß das antike Haus mit seinem Personenkreis eine der wichtigsten soziokulturellen Vorgegebenheiten war, denen die urchristliche Mission vor allem in den Städten begegnete". 24 V gL dazu H.-J. KLAucK, Hausgemeinde 48-51; A WEISER, Evangelisierung 131 f. 25 VgL H.-J. KLAucK, Hausgemeinde 51-56; A WEISER, Evangelisierung 132-135. 26 Vgl. A. WEISER, Kirche 108: "Ordnung und Festigkeit sind die Merkmale, die inhaltlich bei der Verwendung der Hausmetapher in den Past am stärksten hervortreten." VgL auch N. BROX, Past 157f; J. ROLOFF,1 Tim 213-215; PH. H. TOWNER, Goal 134.
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meinden der frühen Zeit christlicher Mission her zu erklären, sondern bedingt durch die strukturellen Probleme der sich entfaltenden Gemeinden sowie durch die wachsenden Auseinandersetzungen um den rechten Glauben in bezug sowohl auf die Gestaltung des Lebens als auch auf die Verkündigung".
Im Unterschied zum paulinischen Gemeindeverständnis, das mit dem Bild vom Leib von allen Gläubigen ihren Beitrag zur Gestaltwerdung der Gemeinde einfordert (vgl. 1 Kor 12,12-31a; Röm 12,4-8), erscheint die Gemeinde der Past als eine "institutionelle Größe", zu der die Gläubigen wie die Mitglieder einer Hausgemeinschaft gehören 28 • Diese Sicht wird bestätigt durch 2 Tim 2,19-21. Die Kirche wird hier dargestellt als "übergreifende Größe", "in der die Glaubenden leben"29. Hier ist noch deutlicher als in 1 Tim 3,15 der institutionelle Charakter der Kirche und damit auch der Einzelgemeinde ausgesprochen. Die Kirche ist auf dem "festen Fundament Gottes" gegründet (V 19), so daß ihr Bestand auch von den Irrlehrern nicht gefährdet werden kann. Und in ihr gibt es - fast wie selbstverständlich - unterschiedliche "Gefäße": kostbare und weniger wertvolle, solche für ehrenvollen und solche für unehrenhaften Gebrauch. Es liegt bei den einzelnen Gemeindemitgliedern, wozu sie gehören; doch an dem auf Gott gegründeten "Haus" der Kirche ändert dies nichts. Man gewinnt sogar den Eindruck, daß der Verfasser betonen will, daß die Institution Kirche "nicht einfach eine mit den Gläubigen identische Größe ist" 30. 27 Während W. T'HIESSEN, Christen 274, den Ursprung der oIxo~-Ekklesiologie, die die Past präsentieren, "in den verschiedenen Hausgemeinden" sieht, "aus denen sich vermutlich die Ortsgemeinde konstituierte", erscheint G. SCHÖLLGEN, Hausgemeinden 85, - m. E. zu Recht - "geradezu das Gegenteil" naheliegend: die größer gewordenen und damit "der Gefahr der Desintegration stärker ausgesetzten Gemeinden" suchten dieser Entwicklung zu begegnen "mit der Etablierung eines artifiziellen, theologisch begründeten Familienbewußtseins" . 28 Vgl. N. BRox, Past 157f: Die Kirche, verstanden als "das schützende Haus", rückt deutlich "als Institution in eine Gegenüberstellung zu den Gläubigen". PH. H. TowNER, Goal 134, sieht hier den Unterschied zur paulinischen Vorstellung von der Kirche als "Tempel Gottes": Wahrend in dem begründenden Nebensatz 1 Tim 3,15b ("damit du weißt, wie man sich im Haus Gottes verhalten muß") ein gewisser Unterschied zu erkennen sei zwischen den Gläubigen und der "Haushaltung Gottes", in der ein bestimmtes Verhalten verlangt wird, sei für die paulinischen Aussagen vom Tempel charakteristisch, daß die Gläubigen dieser Tempel sind. " H. V. LIPS, Glaube 97. J. ROLOFF, Pfeiler 247, hält für die Beschreibung des Verhältnisses der Institution Kirche und der Glaubenden den Begriff "Zuordnung" im Vergleich zu "Vorordnung" fÜr "sachgemäßer". Man wird aber beide Begriffe für angemessen halten müssen, denn Zuordnung setzt eine vorgegebene, zumindest relativ unabhängige Größe als Bezugspunkt voraus. 30 J. ROLOFF, 1 Tim 216. Vgl. auch U. WAGENER, Ordnung 241: "oIxo~ 9wü meint ... nicht die Gemeinschaft der Gläubigen als ,Familie Gottes', sondern die Kirche als Institution, die den einzelnen Christinnen und Christen gegenübertritt (1 Tim 3,15)." Zu "Kirche als Institution" in den Past vgl. J. ROLOFF, Kirche 259-261.
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b) Der Gemeindevorsteher als "Hausverwalter Gottes" Eine notwendige Konsequenz aus der Anwendung des Bildes vom Haus auf die Beschreibung der Kirche und der Gemeinde ist, daß das Verhältnis der Gläubigen zueinander jetzt auch, entsprechend der Haus-Ordnung, dem Schema von Über- und Unterordnung folgt 31. Bei der Aufzählung der Eigenschaften, die von einem Episkopos für die Ausübung seiner Tätigkeit in der Gemeinde verlangt werden, steht in Tit 1,7 als erstes, daß er "untadelig" sein muß "als Hausverwalter Gottes" (w~ 8wu OLXOVOIlOV). In hellenistischer Zeit wird als OLXOvOIlO~ eine Person bezeichnet, die in Abhängigkeit eine leitende Stellung im privaten oder im öffentlichen Leben bekleidet 32 • Im Neuen Testament steht eine den Past vergleichbare Wendung nur 1 Kor 4,1: Paulus beschreibt den von ihm und anderen Boten des Evangeliums geleisteten Dienst mit der Selbstbezeichnung "Verwalter von Geheimnissen Gottes" (OLXOVOIlO'lJ~ ll'lJO't'l1QLWV 8eou). Abhängigkeit der Past von dieser Kor-Stelle ist unwahrscheinlich 33. Für die Past liegt die Bedeutung der Funktionsbezeichnung OLXOVOIlO~ auf der Linie der am Hauswesen orientierten Ekklesiologie. Wie der Hausherr über der Hausgemeinschaft steht, so hat der Episkopos Vollmacht über die Gemeinde. Dieser Zusammenhang wird ausdrücklich festgehalten bei der listenartigen Aufzählung der Anforderungen an den Amtsträger: Der Episkopos muß seinem Haus "gut vorstehen"; nur dann ist er geeignet, für die Kirche Gottes zu sorgen (1 Tim 3,4f)34. Und auch von den Diakonen wird verlangt, daß sie "ihren Kindern und dem Haus gut vorstehen" (3,12). Aus der Verknüpfung von Autorität im Haus und in der Gemeinde wird ersichtlich, daß der Verfasser der Past die Bedingungen des Lebens der Hausgemeinschaft in einem weitreichenden Sinn auf die Gemeinden übertragen
Vgl. A. WEISER, Kirche lOS. Vgl. dazu H. v. LIPS, Glaube 147f. F. M. YOUNG, Theology 102f, nennt als Möglichkeiten des Gebrauchs des Begriffes OLxov6f!o~: "An oikonomos worked as steward of a household or estate, or as business manager. He was probably literate and acted as secretary, record-keeper, treasurer or financial bursar. He might be the agent of a priv~te p~,rson, or a public official like a city administrator, or even an imperial officml ... " H. v. LIPS, Glaube 148, rechnet aber damit, daß "bereits traditionell christliche Terminologie" aufgegriffen worden ist. 34 Die Metapher von der Haushaltung ist nach F. M. YOUNG, Theology 103, von "fundamentaler Bedeutung für das Verständnis der Pflichten des Episkopos": Ausgestattet mit der Vollmacht Gottes, hat er die Kirche als "Gottes Haushaltung" zu verwalten, das Verhalten der Mitglieder zu überwachen, für die Verbreitung der gesunden Lehre und für die Ordnung in den gottesdienstlichen Versammlungen sowie für ehrfurchtsvolle, geordnete Beziehungen zwischen den Mitgliedern des Hauses mit unterschiedlichem Rang zu sorgen." 31
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wollte. Nicht übersehen werden darf dabei: Der Hausherr trägt die Verantwortung für die Hausgemeinschaft".
Die Notwendigkeit einer starken Führung der Gemeinde ist unter anderem durch das Auftreten von Falschlehrern gegeben. In Analogie zum Auftrag an "Timotheus" (1 Tim 1,3) liegt eine der wichtigsten Aufgaben des Gemeindeleiters darin, das der Lehre entsprechende Wort gegenüber solchen Gemeindemitgliedern durchzusetzen, die sich zur gesunden Lehre "in Widerspruch" befinden (aVtü..EYOV"tE~) oder die es an Unterordnung fehlen lassen (avuJtCl"tUx"tOL) (Tit 1,9f)36. Das führt uns zu einem weiteren Gesichtspunkt. c) Gehorsam und Unterordnung als Zeichen des rechten Glaubens Die ausdrückliche Anerkennung der Oikos-Struktur bringt wie für die übrigen Mitglieder des Hauses so auch für die der Gemeinde die Verpflichtung zu Unterordnung und Gehorsam gegenüber dem Hausherrn bzw. dem Gemeindevorsteher mit sich. Die beiden Ebenen Familie und Gemeinde gehen dabei häufig ineinander über. Die Forderung des Gehorsams der Sklaven ihren Herren gegenüber wird in Tit 2,9f und in 1 Tim 6,1 mit ihrer Verantwortung für die Unversehrtheit des Namens Gottes und der Lehre begründet. Die Eignung für ein Gemeindeamt zeigt sich in der Unterordnung der Kinder in der Familie (1 Tim 3,4; Tit 1,6). Von den Frauen wird ganz betont die Unterordnung unter ihre Männer gefordert (Tit 2,5; 1 Tim 2,11); darüber hinaus wird ihnen nachdrücklich verboten, eigene Verantwortung in der Verkündigung zu übernehmen (1 Tim 2,12), und sie werden auf die traditionellen Rollen als Hausfrauen und Mütter verwiesen (Tit 2,4: q>LÄ.O"tEXVOL; 2,5: OLXO'UQYOt; 1 Tim 2,15: sie werden gerettet werden durch Kindergebären; 5,14: jüngere Witwen sollen heiraten, Kinder zur Welt bringen, den Haushalt versorgen)37. Die "patriarchalischen Unterordnungsstrukturen" des antiken Großhaushaltes 38 mit der selbstverständlichen Anerkennung der übergeordneten Autorität des "Hausherm" (oLxobEOJtO"tT]~)39 werden auf das Gemeindeleben Das Verbum ltQotm:uo6m (vorstehen) bezeichnet nicht nur die Herrschaftsvollmacht des Hausherrn, sondern auch seine "Verantwortung für die betreffende Gemeinschaft" (H. v. LIPS, Glaube 131). 36 "In a situation where the faith was endangered by doctrinal errors, it was only natural that great stress would be placed on the ministry of teaching and preaching ... " (1. P. MEIER, Presbyteros 328). Vgl. auch R. SCHNACKENBURG, Kirche 89f. 37 Vgl. H. v. LlPs, Glaube 122; E. SCHLARB, Lehre 319f. ,. E. SCHÜSSLER FIORENZA, Anfänge 76. 39 Vgl. die Feststellung bei F. LAUB, Begegnung 31, "daß die soziale Struktur des Oikos bzw. der familia entscheidend auf der Vollgewalt des oikodespotes bzw. des paterfamilias gründet und daß Unter-und Überordnung ganz wesentlich zum ,Haus' im antiken Sinn hinzugehört" . Daß der Verfasser den Begriff ot%oÖEolt6"tT]~ nicht verwendet, ist in 35
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übertragen und durch die Verknüpfung mit der Irrlehrerbekämpfung theologisch sanktioniert. Besonders verhängnisvoll wirkt sich dabei die Gleichung aus: mangelnde Unterordnung = Abfall vom Glauben. d) Entmündigung der Gemeinde? Auch in den Past geht es um die Gemeinden, um ihren Glauben und um die sie bewegenden Fragen des Lebens. Im Unterschied zu den paulinischen Briefen werden dazu allerdings nicht mehr die Gemeindemitglieder unmittelbar angesprochen. Der (fiktive) Adressat ist der Apostelschüler; er erhält von Paulus Anweisungen, die er entweder selbst aufgrund der ihm übertragenen Verantwortung in die Tat umzusetzen hat oder die er der Gemeinde übermitteln soll. Die Gemeinde ist nicht mehr Ansprechpartner, sondern "Objekt", über das verhandelt uIld entschieden wird 40. Die TendenZen in Richtung einer "Entmündigung" der Gemeinde sind unverkennbar 41 • 4. Die Amtsträger in den Gemeinden der Past
Der Versuch, anhand der Angaben der drei "Briefe" die Amtsträger der Past und ihre Aufgaben sowie ihre Beziehungen zueinander zu beschreiben, steht vor dem Problem, daß der Verfasser nicht einen Ist-Zustand beschreibt. Vielmehr sind seine "Briefe" der Versuch, in einer noch nach verschiedenen Richtungen hin offenen Entwicklung in den christlichen Gemeinden ein Konzept durchzusetzen, das in ganz eindeutiger, wenn nicht ausschließlicher Weise bestimmt ist von den im Auftrag des "Paulus" handelnden Vorstehern 42 • Und auch dieser Versuch ist nicht in erster Linie ein Resultat theologisch-ekklesiologischer Reflexion, sondern zu einem wesentlichen Teil eine Reaktion auf die innergemeindliche Problematik mit dem Auftreten von christlichen Männern und Frauen innerhalb (und zum Teil auch außerhalb) der Gemeinden, die der Irrlehre und des Glaubensabfalls beschuldigt werden. Ausdrücklich wird dieser Zusammenhang der Einsetzung von Presbytern und Episkopos mit der Irrlehrerbekämpfung angesprochen in Tit 1,5-9 43 • Auf diesem Hintergrund sind die Aussagen der Past zu den verschiedenen Personengruppen bzw. Einzelpersonen zu sehen, die aufder für ihn zentralen Zuordnung der Vollmacht des Gemeindeleiters begründet, die in der Wendung otxov6l'o~ geoü (vgl. Tit 1,7) zum Ausdruck kommt. "" Vgl. P. HOFFMANN, Priestertum 50. 41 Mit der "Konzentration auf das Leitungsamt" ist nach P. HOFFMANN, Priestertum 50, verbunden die "Entmündigung der Gemeinde". 42 Vgl. E. SCHÜSSLER F'lORENZA, Anfänge 77. 43 Vgl. dazu ausführlich W. 1'HIESSEN, Christen 292-295.
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grund ihrer Verantwortung für das Leben und den Glauben der christlichen Gemeinden genannt werden. Es sind dies die Presbyter, der Episkopos, die Männer und Frauen, die als Diakone tätig sind, und (in eingeschränkter Weise) die Witwen. a) Die Presbyter (1) Auszugehen ist von der für jüdische Gemeinden bezeugten Institution von Presbytern, die als Mitglieder der lokalen Behörden (vgl. Jdt 6,16.21; 7,23; 8,10; 10,6) bzw. des Synedriums in Jerusalem und damit als Repräsentanten des Volkes Israel (vgl. 1 Makk 7,33; 11,23; 12,35; 2 Makk 14,37; häufig auch im Neuen Testament: u.a. Mk 8,31parr; 11, 27 parr; 15,lparr; Apg 4,5.8.23; 6,12) genannt werden 44 ; das damit gegebene Ansehen hat dazu geführt, daß diese in verantwortlichen Positionen stehenden Presbyter die mit der Synagoge verknüpften Funktionen wesentlich mitbestimmten (vgl. Lk 7,3; die Theodotus-Inschrift CU 11 1404)45. Die Wendung "Überlieferung der Alten" (JtaQUÖOGLC; twv :TCQWßutEQWV) (Mk 7,3.5par Mt 15,2) gebraucht im Unterschied dazu die Bezeichnung :TCQWßUtEQOL, um die "Träger der maßgeblichen Lehrtradition" zu bezeichnen 46. In neutestamentlich-frühchristlicher Zeit hat die Bezeichnung "Presbyteras" somit in jüdischen Gemeinden eine Bedeutung, die sowohl Verantwortung für das Leben der Gemeinde (im großen, bezogen auf das Volk, wie im kleinen, bezogen auf die Ortsgemeinde) beinhaltet, wie auch die Verantwortung für die Weitergabe und die Auslegung der Glaubenstradition 47 .
(2) Die Erwähnung von Presbytern in christlichen Gemeinden, die sicher nicht zufällig in neutestamentlichen Spätschriften begegnet (abgesehen von den Past: Apg 11,30; 14,23; 15,2.4.6.22.23; 16,4; 20,17; 21,18; Jak 5,14; 1 Petr 5,1.5), ist auf dem Hintergrund dieser exponierVgL dazu W. MICHAELIS, Ältestenamt 9-21; G. BORNKAMM, ThWNT VI 660f; M. KARRER, Ältestenamt 157-170; R. A. CAMPBELL, Elders 20-66. 45 V gL W. SCHRAGE, ThWNT VII 811 f. Die in Jerusalern gefundene Synagogeninschrift des Theodotus datiert A. DEISSMANN, Licht vom Osten (1'übingen 41923) 378-380, auf die Zeit vor 70 n. Chr. und bezeichnet sie als "sehr wichtige(n) Beleg für den Gebrauch des Presbytertitels in einer jüdischen Synagogengemeinde der apostoL Zeit". Diese Datierung ist allerdings nicht unumstritten (vgl. dazu H. C. KEE, Defining the FirstCentury CE Synagogue: Problems and Progress: NTS 41 [1995]481-500). - R. A. CAMPBELL, Elders 44-54, betont, daß die Presbyter in den Synagogen nicht eine institutionalisierte, amtliche Stellung bekleideten. "Die Ältesten leiteten die Synagogen, doch sie taten dies nicht als die Ältesten der Synagoge. Sie leiteten die Synagogen, weil sie die Gemeinde führten, und sie taten dies nicht aufgrund eines Amtes, das sie innehatten, sondern wegen der Ehrenstellung, die sie als angesehene Männer aus den traditionell mächtigen Familien genossen" (a. a. O. 54). 46 G. BORNKAMM, Th WNT VI 654. Die Evangelisten beziehen dies, wie der einleitende Vers Mk 7,1 par Mt 15,1 zeigt, auf die Auslegung der Mose-Tora durch die pharisäischen Schriftgelehrten (I ROHDE, EWNT III 357f). 47 VgL M. KARRER, Ältestenamt 166f: "Älteste in rechtlicher und religiöser Verantwortung für Israel als Teilhaber des auf Mose liegenden Geistes, als Weise in der Überlieferung und Interpretation der Tora, schließlich vielschichtige eschatologische Instanz ... " 44
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ten Stellung von ltQEOßU'tEQOL in jüdischen Gemeinden zu sehen 48. Allerdings ist auch aus dem Zeugnis der Apostelgeschichte nicht abzuleiten, daß sich in der Jerusalemer Gemeinde und in anderen judenchristlichen Gemeinden schon in früher Zeit ein vergleichbares Gremium von Presbytern als Leitungsorgan gebildet hat; denn die Belege Apg 11,30; 14,23; 20,17 spiegeln die Situation heidenchristlicher Gemeinden zur Zeit des Lukas wider 49 , und auch die Darstellung, daß beim sog. Apostelkonzil "Presbyter" zusammen mit den Aposteln die Leitung der Gemeinde von Jerusalem innehatten (vgl. Apg 15,4.6.22f), ist (wie u. a. der Vergleich mit Gal2,1-10 zeigt) der Komposition des Verfassers der Apostelgeschichte zuzuschreiben 50. Die unterschiedlichen Aktionen der Presbyter in der Apostelgeschichte lassen zudem noch keine klare Festlegung der Kompetenzen des Presbyterkollegiums erkennen. Aus ihren Angaben und aus der Erwähnung von Presbytern in Jak 5,14 und 1 Petr 5,1.5 ist zu erschließen, daß christliche Gemeinden - und zwar nicht nur die judenchristlich bestimmten Palästinas - ein Leitungsgremium kannten, welches mit der Bezeichnung ltQEOßU'tEQOL eine traditionelle jüdische Formulierung übernahm. Die Kompetenzen und Aufgaben dieses Personenkreises waren allerdings noch nicht eindeutig festgelegt und definiert 51 • (3) Das zuletzt Gesagte gilt auch für die Past. Der Verfasser erwähnt Presbyter einmal in 1 Tim 5,17 (vgl. auch V 19), verbunden mit einem Hinweis auf ihren Dienst für das Wort und für die Lehre (XOltL(ÖV'tE~ Ev Mycp xat öLöaoxat..L~); als "Kollegium" haben sie nach 1 Tim 4,14 durch Handauflegung bei der Ordination des Timotheus mitgewirkt 52. "Titus" erhält sodann den Auftrag, in jeder Stadt auf Kreta Presbyter einzusetzen (Tit 1,5), wobei allerdings über deren Aufgaben nichts ausdrücklich gesagt wird - es sei denn, man nimmt .. vgl. H. v. CAMPENHAUSEN, Amt 85f; H. GIESEN, Dienst 23; H. MERKEL, Past 90; 1. YSEBAERT, Amtsterminologie 113f.
.. Vgl. H. GIESEN, Dienst 23. 50 1. ROLOFF,1 Tim 171, hält dagegen für denkbar, daß die judenchristlichen Gemeinden Palästinas "schon bald von einem Gremium von Ältesten" geleitet wurden; ebenso ist s.E. "glaubhaft", daß "die Jerusalemer Gemeinde zur Zeit des Aposteikonzils eine Ältestenordnung hatte". SI Ob man die Presbyter von Jak 5,14 und 1 Petr 5,1-4 schon als "eine feste Institution" bezeichnen kann (so H. GIESEN, Dienst 23 f), erscheint fraglich. Überzogen ist in jedem Fall die Behauptung von 1. T. BURTcHAELL, Synagogue 293, die neutestamentlichen Belege (neben den genannten aus Apg und Jak und 1 Petr, der Selbstbezeichnung des Briefabsenders in 2 Joh 1 und 3 Joh 1, sowie Phil und 1 Thess) und die Angaben der Apostolischen Vater (1 Kiem, Herm, die Briefe des Ignatius von Antiochien) würden belegen, "that during the organization of a new community the elders were appointed by the apostle or founder". 52 Vgl. N. BROX, Past 149.
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die in den VV 7-9 an den Episkopos gerichteten Anweisungen hinzu (Sorge um die rechte Lehre; Abwehr der Irrlehrer). Daß auch bei den Presbytern der Begriff "vorstehen" (nQoLmua8m) verwendet wird, zeigt einerseits eine gewisse Kontinuität zu Beschreibungen innergemeindlicher Aktivitäten bei Paulus (vgl. 1 Thess 5,12; Röm 12,8), stellt andererseits - im Unterschied zu Paulus - die Presbyter deutlich in der Überordnung zu den übrigen Gemeindemitgliedern vor 53, was sie aber auch auf eine Stufe mit dem Episkopos und mit den Diakonen stellt (vgl. 1 Tim 3,4f.l2). (4) Betrachtet man die Aufgabenbeschreibung der Presbyter der Past im Vergleich mit den Angaben der anderen neutestamentlichen Schriften, so erscheint sie noch dürftiger und unpräziser. Dies muß um so mehr erstaunen, als gerade die Past an der Hinordnung der Gemeinde auf den Leiter bzw. die Vorsteher besonderes Interesse zeigen. Schon hier ist die Möglichkeit zu bedenken, daß der Verfasser diese Gruppe der Presbyter 54 im Vergleich mit dem Episkopos eher zurücknehmen, ihre Bedeutung einschränken will 55 • Allerdings bleibt es weiterhin ihre Aufgabe, die Gemeinde zu führen 56. b) Der Episkopos (1) Die Bezeichnung "Episkopos" begegnet in der klassischen Gräzität seit Horner und ist dabei sowohl in bezug auf die damit Bezeichneten als auch die von diesen ausgesagten Tätigkeiten sehr variabel'". So werden Götter in ihrer Funktion als Schützer der Menschen und ihrer Städte, als Wächter über ihr Tun und die Beziehungen zueinander (etwa in Verträgen) als E:rtlaxo:rtOL bezeichnet; und in der gleichen Grundbedeutung wird E:rtlaxo:rto~ auch auf Menschen angewendet (etwa Hektor als Beschützer der Stadt Troja). Daneben gibt es eine breite Verwendung des Begriffes E:rtlaxo:rto~ als ArntsbeVgl. A. SAND, Anfänge 225. Von einer "Ältestenverfassung" zu sprechen (vgl. I ROLOFF, 1 Tim 170-175), erscheint angesichts der Dürftigkeit der Angaben der Past und wegen der Disparatheit der mit diesen Personen verknüpften Funktionen problematisch. 55 Mit Verweis auf Tit 1,5 sieht M. KARRER, Ältestenamt 176, "die Linie Paulus-TitusPresbyter" betont, gesteht aber gleichzeitig (a. a. o. 177) zu, "daß die Apostelschüler dem Past-Autor, obwohl er sie nie ausdrücklich als E1tlaK01tO~ bezeichnet, zum Modell für das Episkopenamt dienen" . 56 Die bisweilen vorgeschlagene Differenzierung, der Verfasser wolle in 1 Tim 5,17 zuerst die Presbyter hervorheben, "die ihr Vorsteheramt gut führen", dann die, "die darüber hinaus noch in Wortverkündigung und Lehre tätig sind" (I ROHDE, Ämter 86; vgl. ähnliche Differenzierungen bei I P. MEIER, Presbyteros 326f; 332; L. FLOOR, Church Order 86-88 [mit der Gleichung "teaching presbyteroi" = episkopoi]; W. PRATSCHER, Stabilisierung 136f), entspricht mit der darin enthaltenen Wertung kaum der Intention der Past. Für sie hängt alles an der Qualität einer souveränen Gemeindeleitung, dem 1tQoLO'tua8m. 57 Vgl. dazu W. BEYER, ThWNT 11604-610; I YSEBAERT, Amtsterminologie 116. 53
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zeichnung, die von Staatsbeamten (mit z. T. richterlichen Befugnissen) über Kommunal- bzw. Vereinsbeamte (etwa mit der Aufsicht über das Verpflegungswesen oder Geldgeschäfte) bis hin zur Tätigkeit der Überwachung bestimmter Arbeiten reicht". Dieser Bereich der Bezeichnung von Personen, die mit bestimmten Aufgaben betraut sind und damit zugleich eine übergeordnete, "amtliche" Stellung bekleiden, gilt in der theologischen Forschung weitgehend als Anknüpfungspunkt für den christlichen Gebrauch des Titels EJtlaxoJto~59. (2) Auch in der jüdischen Tradition kann Gott als EJtlaxoJto~ bezeichnet werden, wenn von seiner Kenntnis des menschlichen Herzens gesprochen wird (vgl. Weish 1,6; Philo, migr. 115) oder von seiner Allwissenheit (Philo, somn. 191; migr. 135)60. Bezogen auf Menschen, wird die Bezeichnung EJtlaxoJto~ im Sinne von "Aufseher" in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet: z.B. für den Statthalter über Israel (1 Makk 1,51), den Bauaufseher bei der Instandsetzung des Tempels (2 Chr 34,12.17) und den Wächter am Tempel (2 Kön 11,18).
Insgesamt gesehen zeigt die Verwendung des Begriffs erdmtolto~ in der Zeit und in der Umwelt des Neuen Testaments eine große Variationsbreite, so daß am besten von einer Art "Oberbegriff" zu sprechen ist, der unterschiedlich konkretisiert wurde 61. (3) Abgesehen von 1 Petr 2,25, wo (vergleichbar mit der auf Gott bezogenen Aussage von Weish 1,6) in einem auf Christus bezogenen Sinn von der Umkehr der Christen "zum Hirten und Beschützer eures Lebens" (eltt 'tov ltOL[tEva xat erdoxoltov 'tmv '1jJ'uXmv u[twv) gesprochen wird 62 , steht eltloxolto~ im Neuen Testament nur zur Bezeichnung von Menschen, und zwar zur Charakterisierung einer besonderen Beziehung zur Gemeinde. In auffälliger Übereinstimmung mit dem christologischen Sprachgebrauch von 1 Petr 2,25 und der ebenfalls mit dem Motiv der "fürsorgenden Hirtentätigkeit" verknüpften Mahnung an die Presbyter in 5,2 63 werden im Rahmen der sog. Ab1. YSEBAERT, Amtsterminologie 116, vergleicht die Aufgaben der als ImiaxonOL bezeichneten Personen, mit denen, die "heutzutage die eines Direktors" sind. 59 Vgl. W. BEYER, ThWNT n 610 . ., Vgl. dazu W. BEYER, ThWNT n 610f. 61 Vgl. A. SAND, Anfänge 228. Für K. STALDER, EIII~KOIIO~ 223-225, ist die Erkenntnis, daß der Begriff Eniaxonoe; und stammverwandte Wörter Personen kennzeichnen, die "für etwas die Verantwortung übertragen bekommen" - das gilt für die außerbiblischen Vorkommen in gleicher Weise wie für die Belege des Alten und Neuen Testaments -, und daß es dafür natürlich "unübersehbar viele Möglichkeiten gibt", Anlaß, den Gebrauch der Definition "Amtsbezeichnung" für Eniaxonoe; v. a. auch für die neutestamentlichen Vorkommen als unsachgemäß anzusehen. 62 Übers. nach N. BROX, 1 Petr 128. " Vgl. R. SCHNACKENBURG, Episkopos 249f. Die in einigen Handschriften bezeugte partizipiale Ergänzung Emaxonoüvtee; ist nach N. BROX, 1 Petr 230, zwar "wahrscheinlich nicht ursprünglich", aber "auch nicht unpassend"; ähnlich R. SCHNACKENBURG, a.a.O.250. 58
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schiedsrede des Paulus an die nach Milet zitierten Presbyter von Ephesus (vgl. Apg 20,17-35) diese Presbyter als E:1tLCJXO:1tOL angesprochen, deren Aufgabe darin besteht, "die Gemeinde Gottes zu weiden" (:1tOL~ULVELV 't~v EXXA.'I']CJLUV w'Ü 8w'Ü) (20,28). Nimmt man hinzu, daß im lukanischen Doppelwerk in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen das Verbum E:1tLCJxE:1t'tECJ8m (vgl. Lk 1,68.78; 7,16; Apg 6,3; 7,23; 15,14.36) sowie das Substantiv E:rtLCJXO:1t'l'j (Lk 19,44; Apg 1,20) begegnet, ohne daß dabei auf eine gemeindeleitende Stellung Bezug genommen wäre 64 , dann ist die Feststellung gerechtfertigt: Lukas verwendet den Begriff E:1tLCJXO:1tOL in Apg 20,28 nicht im Sinn eines bestimmten, fest umschreibbaren Titels, also als Amtsbezeichnung, sondern als Beschreibung der Funktion, verantwortlich sich für die "Kirche Gottes" (ExXA.'I']CJLU w'Ü 8w'Ü) einzusetzen 65. (4) Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Briefeinleitung des Phil zu; denn Paulus grüßt hier alle Heiligen in Christus Jesus, die in Philippi sind, "mit den Episkopen und Diakonen" (Phil 1,1) 66. Wichtig ist dabei die breit bekundete Überzeugung, daß die Episkopen (und Diakone) von Phil 1,1 nicht mit dem Episkopos und den Diakonen der Past zu identifizieren sind 67. Es handelt sich im Fall der Gemeinde von Philippi bei den Episkopen und Diakonen um Gemeindemitglieder, denen Paulus keinen besonderen Rang zuspricht 68 und deren Stellung und Funktion er nicht einmal andeutungsweise beschreibt 69 • Eine bloße Vermutung bleibt die z. T. mit dem Dank des Paulus für die materielle Unterstützung seitens der Gemeinde von Philippi begründete These, die Episkopen hätten mit der Verwaltung der "Gemeindekasse" zu tun gehabCO bzw. sie seien
Besonders deutlich wird dies, wenn man diese beiden Belege (Lk und Apg), wo verwendet wird, in Vergleich setzt zum Gebrauch desselben Substantivs in 1 Tim 3,1. os Vgl. E. LOHSE, Episkopos 228f. Ähnlich interpretieren die Bezeichnung E1tlax01tOL in Apg 20,28 auch R. SCHNACKENBURG, Episkopos 247-251, und A. VÖGTLE, Reflexionen 256-266 (vgl. DERS., Sorge und Vorsorge für die nachapostolische Kirche. Die Abschiedsrede von Apg 20, 18a-35: A. Vögtle - L. Oberlinner, Anpassung oder Widerspruch [Freiburg i. Br. 1992]66-91, hier 83). 66 Vgl. dazu ausführlich J. GNILKA, Der Philipperbrief (HThK Xl3) (Freiburg i.Br. '1987) 32-39; J. HAINZ, Anfänge 102-106; R. ZOLLITSCH, Amt 28-39. 67 J. ROHDE, EWNT II 91. Vgl. ähnliche Entscheidungen bei J. GNILKA, Phil (s. Anm. 66) 35; J. HAINZ, Anfänge 102f. 68 Vgl. den Hinweis bei J. HAINZ, Anfänge 102, "daß sie der Gemeinde zugeordnet, keinesfalls aber vor- und übergeordnet sind". 69 Die Bemerkung von L. FLOOR, Church Order 84, der Apostel bezeichne hier "aIISdrücklich die Gemeindeleiter (the leaders of community) als Episkopoi", hat im Text selbst keine Stütze. 70 So u.a. H. MERKEL, Past 91; er verweist darauf, daß dies später in Did 15,1 und Ign., Pol. 6,1 als Aufgabe des Episkopos bezeugt ist. 64
E1tL(J%01t~
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für die Sammlung der Gelder verantwortlich gewesen, die die Gemeinde dem Paulus zukommen ließ 71. Für eine nähere Beschreibung der Tätigkeiten der genannten Episkopen und Diakone gibt der Brief keine Anhaltspunkte. Die Tatsache, daß sie in einem Brief an die Gemeinde ausdrücklich erwähnt werden, berechtigt zu der Annahme, daß Paulus ihre Aufgabe in den verschiedenen Bereichen des Lebens der Gemeinde ansiedelt, vergleichbar den von ihm an anderen Stellen 72 angesprochenen Charismen 73. Unter diesen Bedingungen läßt sich der Bereich der Verkündigung schwerlich ausschließen 74. Insgesamt gesehen erscheint das, was über die Tatigkeit und die Kompetenzen der E:rtl.O'XOltOL von Phil1,1 zu sagen ist, recht mager. Sie als Inhaber bestimmter, umschreibbarer Amtsstellungen zu bezeichnen, erscheint deshalb gewagt. Da mit dem einzigen Beleg Phil1, 1 die Basis für die Annahme eines vor den Past existierenden "Episkopenamtes" oder gar einer "Episkopenverfassung" zu schmal ist, ist m. E. die Verknüpfung von Phi11, 1 und der Erwähnung des Episkopos in den Past im Sinne einer Abhängigkeit bzw. einer von Phil zu den Past führenden Entwicklung höchst problematisch 75. (5) Ähnlich zeigen sich zu dem in Qumranschriften erwähnten verantwortlichen Mitglied in der Gemeinde (Paqid oder Mebaqqer) zwar deutliche Parallelen in den Tätigkeiten der Unterweisung und der Leitung (Damask. 13,6-10; 14,8-13; 1 QS 6,12-15.20). Die Möglichkeit einer Ableitung des christlichen Episkopos vom qumranischen Mebaqqer wird jedoch im allgemeinen ausgeschlossen 76.
So E. LOHSE, Entstehung 63 f; 1. YSEBAERT, Amtstenninologie 116. Vgl. Röm 12,7f: Dienst, Lehre, Ermahnung (1'IIaKov[a, lIt6aoxaAla, :7taQIlKA1J(JL~), 1 Kor 12,28: (Apostel, Propheten, Lehrer; dann) Wunderkräfte, Gnadengaben zu Heilungen, Hilfeleistungen, Führungsgaben, Arten von Zungeurede (lIuVIlIlE~, XaQloIlO'taLaIlIl'tWV, aV'tlÄtill"'E~, KUßEQvrioE~, yEV1j.yAOJooiiiv), 1 Thess 5,12-14: diejenigen, die sich mühen, euch vorstehen im Herrn, ermahnen (KO:7ttöiv1;E~, :7tQo'L<J1;IlIlEVOL, TI
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VOUeE'tOÜV'tE~).
" Insofern kann man auch sagen, daß Paulus der Existenz dieser Gruppen seine Zustimmung erteilt (vgl. Y. REDALIE, Paul 345) und folglich die Episkopen und Diakone mit den in anderen Briefen genannten aktiven Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen (etwa diejenigen, "die euch vorstehen [:7tQoi:O'tIlIlEVOL] im Herrn" 1 Thess 5,12; vgl. Röm 12,8) zwar nicht identifiziert, sie aber doch in einer vergleichbaren verantwortlichen Stellung in der Gemeinde voraussetzt (vgl. auch R. A. CAMPBELL, Elders 124: " ... it seems clear that these persons are functionally equivalent to the leaders we have considered at Thessalonica lind Corinth"). Das heißt aber nicht, wie mit A. VÖGTLE, Reflexionen 229, gleich zu präzisieren ist, daß Paulus das erstmals in Phi! 1,1 begegnende Episkopenamt "als eine ,notwendige' Entwicklung" angesehen hätte. 74 Vgl. J.IiAINZ, Anfänge 105: Der Aufgabenbereich der Episkopen und Diakone "wird sich keineswegs in Verwaltung und Caritas erschöpft haben". Nach 1. ROLOFF, 1 Tim 172, läßt sich allerdings "mit relativer Sicherheit" sagen, "daß der Zuständigkeitsbereich des E:7tloxo:7to~ uTspriJnglich nicht die Lehre war". 7S Auch 1.IiAINz, Anfänge 107, gesteht zu, daß "die Brücke zwischen Phil1,1 und dem späteren Bischofs- und Diakonenamt" "schwankend und ungesichert" ist. " Vgl. H. MERKLEIN, Amt 376f; 1. ROLOFF, 1 Tim 173. Ausführlich dazu 1. GNILKA, Phi! (s. Anm. 66) 36-38; 1.IiAINZ, Anfänge 98-102; 1. YSEBAERT, Amtsterminologie 118f.
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(6) In den Past haben wir es eindeutig mit einem "Amt" des Episkopos zu tun, d. h. mit einer personengebundenen Einsetzung in eine Leitungs- und Ordnungsfunktion mit dazugehörenden Voraussetzungen und gewissen Vollmachten gegenüber den Untergebenen 77. Für die Past ist zuerst einmal wichtig, daß die Gemeinde in Zukunft einer einzelnen Person unterstellt werden soll, nämlich dem Episkopos. Die häufig vorgeschlagene Interpretation des singularischen Gebrauchs des Titels bd(J%o:n;o~ als "generischer Singular"78 wird z."f' verknüpft mit der Annahme, bei den Aufzählungen der vom Episkopos verlangten vorbildlichen Verhaltensweisen in 1 Tim 3,1-7 und Tit 1,7-9 handle es sich um einen dem Verfasser der Past vorliegenden EpiskopenspiegeF9. Mit dieser These findet insbesondere auch die unvermittelte Einführung des Episkopos in Tit 1,7 und der nachfolgenden Verhaltensforderungen eine Erklärung, nachdem in den beiden vorangehenden VV 5 f von den Presbytern, die "Titus" einsetzen sollte, und von den Anforderungen an ihre Lebensführung die Rede war. Gegen diese überlieferungsgeschichtliche Isolierung des dem Episkopos gewidmeten Tugendkataloges sprechen drei Beobachtungen: (1) Die für die Eignung als Episkopos angeführten Kennzeichen lassen, für sich genommen, "zum großen Teil keinen unmittelbaren Bezug zu einem Amt erkennen" 80; es wird mit den meisten der aufgezählten Tugenden das Idealbild eines anständigen, sozial gesonnenen und verantwortungsbewußten Mannes gezeichnet; und die dafür verwendeten Begriffe konnte der Verfasser ebensogut den in seiner Umwelt geläufigen Tugendlisten entnehmen. (2) Wo aber spezifische Forderungen erhoben werden (Bewährung im eigenen Haus als Voraussetzung für den Dienst in der "Gemeinde Gottes"; Verantwortung gegenüber der nichtchristlichen Umwelt; Kampf gegen Irrlehrer, die sich nicht unterordnen, und Einsatz für die "gesunde Lehre"), da handelt es sich gerade um für die Past charakteristische Begriffe und Vorstellungen 81 • (3) Es wird bei der zitierten Hypothese vorausgesetzt, daß der TiteU:n;L(J%o:n;o~ als eindeutig definierte und allgemein akzeptierte Bezeichnung für leitende Gemeindemitglieder in den christlichen Gemeinden des Abfassungsgebietes der Past existierte; das aber er-
V gl. dazu J. ROLOFF, TRE II 509 f. V g1. u. a. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 46; N. BROX, Past 148 f; K. KERTELGE, Gemeinde 147; P. TRUMMER, Paulustradition 216; H. MERKLEIN, Amt 385; G. SCHÖLLGEN, Hausgemeinde 84; M. Y. MACDoNALD, Churches 218; W. THIESSEN, Christen 300. 79 Vgl. E. SCHWEIZER, Gemeinde 76; N. BROX, Past 148; H. MERKLEIN, Amt 384; H. SCHÜRMANN, Lehrer 154 Anm.168; P. HOFFMANN, Priestertum 53; R. SCHWARZ, Christentum 95 f . ., E. LOHSE, Episkopos 226. BI Zur Kritik an der "Interpolationshypothese" vgl. auch H. v. LIPS, Glaube 114 Anm.108. 77
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scheint keineswegs gesichert. Das Zeugnis von Phili, 1 ist dafür, wie gesehen, nicht auszuwerten, und der mit den Past in etwa zeitgleiche Verfasser der Apostelgeschichte verwendet EJtLOXOJtOC; als Funktionsbezeichnung für Presbyter (Apg 20,28). Das hat wichtige Konsequenzen für den Versuch, die Entwicklung der in den Past erkennbaren Gemeindestruktur zu rekonstruieren. Auf breiter Basis akzeptiert ist die Erklärung, der Verfasser verfolge das Ziel, einen Ausgleich zu schaffen zwischen zwei nebeneinander existierenden Verfassungsformen: nämlich der von der jüdischen Tradition bestimmten Ältestenverfassung und der aus der hellenistischen Welt erwachsenen Episkopen/Diakonen-Verfassung. Dabei wird allerdings gleichzeitig zugestanden, daß der Verfasser die Episkopen! . Diakonen-Ordnung favorisiert 82 • Nehmen wir diese Intention des Verfassers ernst, die sowohl der ekklesiologischen Konzeption insgesamt als auch der vorgeschlagenen strukturellen Ausgestaltung der Gemeindeorganisation zugrunde liegt, dann ergibt sich folgende Erklärung für die Ämterstruktur: Den in den Gemeinden virulenten Problemen, die insbesondere mit dem Auftreten von Irrlehrern gegeben sind, will der Verfasser weniger mit theologischer Argumentation als mit ekklesiologischen Maßnahmen begegnen 83. Den individualistischen und esoterischen Ansprüchen, die mit "Erkenntnis" begründet werden, stellt er die Glaubenstradition (JtaQae~XT]) gegenüber, die vom Apostel (2 Tim 1,12) über die von diesem eingesetzten und autorisierten Nachfolger (1 Tim 6,20; 2 Tim 1,14) bis in die Gegenwart den Glauben der Gemeinde bestimmt (vgl. 1 Tim 4,6; 6,12; 2 Tim 2,2). Für die Bewahrung dieses Glaubens, der apostolischen Überlieferung, der gesunden Lehre und damit für den Kampf gegen die Irrlehrer ist der Gemeindeleiter zuständig. Dieser kompetente, verantwortliche Gemeindeleiter wird vorgestellt in der Person des Episkopos. Der Verfasser will nicht eine Verknüpfung bzw. Verschmelzung der Presbyterordnung mit einer auf den Episkopos zugeschnittenen Gemeindeverfassung; er befürwortet eine Gemeindestruktur, in der der Episkopos als verantwortlicher Leiter der Gemeinde und zugleich als über andere Funktionsträger, wie Presbyter und Diakone und Diakoninnen, gestellte Instanz gilt und anerkannt wird. Für diese Interpretation spricht einmal, daß mit dem Bild vom Haus für die Gemeinde, in welchem sich der Episkopos in seiner Rolle als "Haushalter Gottes" bewähren muß (Tit 1,7; 1 Tim
Vgl. dazu u. a. N. BRox, Past lS0f; H. MERKLEIN, Amt 384-387; 1. ROLOFF, 1 Tim 170-176. 83 Bei der "Reform der Gemeindeverfassung" sind also mit H. MERKEL, Past 93, "sehr pragmatische Überlegungen" zugrundezulegen. 82
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3,4f), dem Episkopos die Verantwortung dafür übertragen wird, wie man sich "im Haus Gottes" verhalten muß (1 Tim 3,15)84. Dazu paßt sodann, daß vom Episkopos ausschließlich im Singular gesprochen wird; in der Verknüpfung mit der Beschreibung der Kirche als "Haus Gottes" ergibt sich, daß der Singular "im eigentlichen Sinn" zu verstehen ist, nämlich als Bezeichnung des einzigen Leiters der Gemeinde 85 • Die Frage, ob man in diesem Fall schon von einem Monepiskopos sprechen kann, hängt wesentlich von der Definition dieses Begriffes ab. Die bisweilen begegnende Reserve, daß im Falle der Past von "einem monarchischen Bischofsamt im ausgeprägten Sinn" noch nicht zu sprechen, in der HerausstelJung des einen E:n;l(J'X.oJto~ aber "eine deutliche Tendenz zur monarchischen Führung der Gemeinde" zu erkennen sei 86 , zeigt doch deutlich, daß die ekklesiologische Konzeption der Past durch den EinzeJepiskopos bestimmt gesehen wird, der über den anderen Amtspersonen, also auch über den Presbytern steht '7. Das schließt nicht aus, daß der innergemeindliche Aufgabenbereich bei Presbytern und Episkopos im wesentlichen identisch war".
Offen muß dabei die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Wirklichkeit in den Gemeinden und der Vorstellung und Zielsetzung des Verfassers bleiben. Die Tatsache, daß die Past so ausführlich auf die gemeindeorganisatorischen Fragen eingehen und daß sie dabei eine Bevorzugung des Episkopos gegenüber den anderen Funktionsträgern erkennen lassen, ist am besten so zu interpretieren, daß der Verfasser gegen die noch herrschende Wirklichkeit einer differenzierten Gemeindeorganisation sein Idealbild bzw. die von ihm in der Ausein-
.. V gl. W. PRATSCHER, Stabilisierung 138: Da dem Verfasser "insbesondere das Bild der Ortsgemeinde, als eines Hauses mit dem Bischof als dem Haushalter Gottes wichtig ist (1 Tim 3,4f; Tit 1,7), scheint ihm eine Gemeindeordnung mit nur einem Bischof an der Spitze vorzuschweben". Auch nach 1. ROLOFF, 1 Tim 176, ist das "Leitbild", das der Verfasser vor Augen hat, "die als Gottes Hauswesen geordnete Kirche am Ort, der jeweils ein btlol\o1to~ verantwortlich vorsteht, umgeben von einer Schar von Diakonen". Zum Zusammenhang von "Oikos-Ordnung und episkopal verfaßter Gemeinde" vgl. auch F. LAUB, Hintergrund 262-265. S5 Vgl. H. GIESEN, Dienst 31; E. LOHsE, Episkopos 230; K. CONDON, Church Offices 83f ("a single local bishop"). Den Zusammenhang von oIl\o~-Ekklesiologie und der singularischen Redeweise vom l:1tlol\o1to~ befürwortet auch 1. ROLOFF, 1 Tim 176. " H. V. LIPs, Glaube 116. Ähnlich äußern sich 1. ROHDE, Ämter 83; E. DAssMANN, Ämter 87f; W. THIESSEN, Christen 300. 87 H. MERKEL, Past 92. Vgl. auch P. HOFFMANN, Priestertum 53. - Ganz anders lautet dagegen das Urteil bei G. SCHÖLLGEN, Hausgemeinden 84-86: "Vom monarchischen Episkopat mit seiner unbeschränkten Weisungsfunktion gegenüber dem gewaltunterworfenen Klerus und Volk" seien die Past "noch weit entfernt". SB Dies ist für E. GRIFFE, Eglise 91-98, Grund, den Episkopos als "un superpresbytre" zu bezeichnen. Auch für H. v. CAMPENHAUSEN, Amt 117f, ist die singularische Form beim Episkopos "am ungezwungensten" so zu erklären, daß bereits mit einem "monarchischen Bischofsamt" zu rechnen ist; dessen Aufgabenbereich liegt aber weiterhin bei der Einzelgemeinde, und die Grenze zur "allgemeinen Ältestenvollmacht und -funktion" ist "noch nicht scharf gezogen".
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andersetzung um den rechten Glauben am wirkungsvollsten erachtete Ordnung durchsetzen will 89 • H. Merkel interpretiert die "Vielzahl von präzisen Angaben über das Amt des Episkopos" so, "daß es in den angesprochenen Gemeinden nicht bekannt" war 90 • Eine Bestätigung für diese Annahme kann man in dem ausdrücklichen Hinweis sehen, daß derjenige, der sich um das Episkopenamt bemüht, eine "gute Aufgabe" erstrebt (1 Tim 3,1)91. Dies würde die oben geäußerte Vermutung bestätigen, daß es die von vielen Exegeten und Historikern in den außerpalästinischen Gemeinden vermutete Episkopen-Verfassung in dieser Form gar nicht gegeben hat.
In der Zeit der Abfassung der Past sind die gemeindeleitenden Funktionen in Verkündigung und Gemeindeverwaltung (noch) bei. Presbytern, Diakonen und Witwen vorauszusetzen, was durch die ent'sprechenden Ausführungen in den "Briefen" selbst bestätigt wird. c) Die Diakone und Diakoninnen (1) Bei der Beschreibung der Aufgaben jener Männer und Frauen, die in den Gemeinden der Past als Diakone und Diakoninnen tätig waren (vgl. 1 Tim 3,8-12)92, fällt die genannte Diastase zwischen gemeindlicher Wirklichkeit und Intention des Verfassers besonders ins Gewicht. Einerseits zeigt der ausführliche Verhaltenskatalog, der deutliche Übereinstimmungen mit den Episkopenlisten 1 Tim 3,2-7 und Tit 1,7-9 aufweist, daß die Diakone im Gemeindeleben eine exponierte Stellung bekleideten 93 • Gleichzeitig gesteht ihnen der Verfasser doch kein so großes Gewicht wie dem Episkopos zu - man kann dies an der Abfolge der beiden Kataloge 1 Tim 3,2-7 und 3,8-12 ebenso festmachen wie am Fehlen weiterer Hinweise auf die Diakone im Tit -, so daß die häufig zu findende Erklärung von der Unterordnung der Dia-
" Vgl. P. HOFFMANN, Priestertum 54. Auch E. SCHÜSSLER FIORENZA, Anfänge 77 (7683), betont, es dürfe "nicht übersehen werden, daß der pseudonyme Verfasser der Pastoralbriefe nicht die aktuelle Situation der Gemeinden in Kleinasien beschreiben, sondern diese in eine bestimmte Richtung hin festschreiben will". 90 H. MERKEL, Past 92. 91 R. A. CAMPBELL, Elders 194-205, nimmt eine Entwicklung der Gemeindeorganisation in drei Stufen an: (1) Die 1\:n;i.aXO:n;OL als Vertreter der Hausgemeinden, (2) die :n;Qwßl)'tEQoL als Gremium, welches die verschiedenen Hausgemeinden leitet, (3) der bduXOlto~ als Vertreter einer Gruppe von Gemeinden in einer Stadt. 92 Zur Begründung der Annahme, daß die in 1 Tim 3,11 genannten YllVaLXE~ als Diakoninnen anzusehen sind, vgl. HThK XI 2/1, 139-143. " Nach H. v. LIPS, Glaube 117, erlaubt die Verheißung für gute Ausübung des Dienstes in 1 Tim 3,13 den Schluß, "daß es sich um ein in der Gemeinde angesehenes Amt handelt". - Die Behauptung von O. KNOCH, Charisma 143, daß die Diakone der Past "ein klar unIrissenes Gemeindeamt innehaben", ist dagegen auch mit den dafür angegebenen Stellen (1 Tim 3,8.12; 4,6) nicht zu belegen.
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kone unter den Episkopos zwar kaum die geschichtliche Wirklichkeit 94 , wohl aber die Absicht des Verfassers trifIt 95 • Im allgemeinen wird die Zuständigkeit des Diakons und der Diakonin in Verpflichtungen im karitativen und sozialen Bereich gesehen; als Beleg dafür wird z. T. auf die an diese Gruppe gerichteten Forderungen verwiesen, die u. a. verlangen, daß Diakone "nicht doppelzüngig" und "nicht gewinnsüchtig" sein dürfen (1 Tim 3,8)96. Es handelt sich dabei zwar um amtsspezifische Appelle, doch es sind dies Charaktereigenschaften, die auch den Episkopos auszeichnen müssen. Das ergibt sich einmal aus der parallelen Forderung, daß der Episkopos nicht geldgierig sein darf (V 3) (acpLA.aQY1JQo~)97, zum anderen aus der Tatsache, daß er durch eine vorbildliche Lebensführung über die Gemeinde hinaus auch die nichtchristliche Umwelt beeindrucken soll; und dazu passen Doppelzüngigkeit und Gewinnsucht nicht. Es ist also zu bezweifeln, daß man eine Aufgabenteilung in der Form vornehmen kann: Der Episkopos ist (zusammen mit den Presbytern) für die Verkündigung und für die Lehre verantwortlich; der Zuständigkeitsbereich der Diakone liegt in den sozialen und karitativen Diensten. Daß zu ihren Aufgaben auch die Lehrtätigkeit gehörte, wird deshalb mit gutem Grund häufig aus der Beauftragung mit dein "Geheimnis des Glaubens" (-tO !luaT~QLov Tfj~ JtLaTf;w~) in 1 Tim 3,9 erschlossen 98 • Allerdings spricht die Aufgabenbeschreibung für den Episkopos in Tit 1,7-9 (Vorgehen gegen die Irrlehrer) dafür, daß der Verfasser, wie oben schon angesprochen, diesen als die entscheidende Autorität in den Gemeinden einführen will. (2) Da das Diakonenamt eine Besonderheit christlicher Gemeinden darstellt, ist es gerechtfertigt, nach einer innerchristlichen Begründung dieses Dienstes in der Art, wie er uns in den Past begegnet, zu fragen .
.. G. HOLTz, Past 86, sieht im Diakonenspiegel im Vergleich zum Verhaltenskatalog für den Episkopos ein "viel größere(s) geistliche(s) Format" und kommt deshalb zu dem Schluß, "daß es nur ein geistliches Amt gab, nämlich das des Diakonen, der der liturgische Gemeindeleiter war. Der E1tI(Jxo1to~ hatte das bescheidene Amt der Aufsicht über die äußere Ordnung und der Vertretung der Gemeinde vor der Welt". " Wenn R. A. CAMPBELL, Elders 199, die Stellung der Diakone so beschreibt, "that they are overseer's ÖtUXO:VOL", dann trifft er damit zwar kaum die Gemeindewirklichkeit der Past, wohl aber die vom Verfasser angezielte Idealgemeinde. " Vgl. N. BRox, Past 15lf; K. KERTELGE, Gemeinde 145f. " Vgl. 1. ROHDE, Charismen 218f. .. Vgl. u.a. A. LEMAIRE, Past 113; 1. GNILKA, Amt 101; A. SAND, Anfänge 230; K. CONDON, Church Ofticies 76. - W.1'HIESSEN, Christen 310, präzisiert: die Aufforderung, das "Geheimnis des Glaubens zu bewahren", sei "wegen der Bedrohung durch die Häresie so dringlich".
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In der Tradition lassen sich zwei Anknüpfungspunkte erkennen: Der Ausgangspunkt ist christologisch bestimmt. Die zentralen Bekenntnisaussagen zu Tod und Auferweckung Jesu haben die Gemeinde das gesamte Wirken Jesu, sein Leben, seine Verkündigung, sein Sterben, als ein "Dienen" verstehen lassen (vgl. Mk 10,45; Lk 22, 26 f)". Dieses Grundverständnis des Weges Jesu prägte dann auch den Charakter der Nachfolgevorstellung (vgl. Mk 8,34) sowie das Selbstverständnis und den Anspruch derer, die das Evangelium verkündeten 'oo • In dieser Linie ist auch Paulus zu sehen, der diese Sicht des apostolisch-missionarischen Wirkens entscheidend prägte 101. Er bezeichnet sich wie andere Missionare als "Diener" (öL
Auf der Grundlage der christologischen Füllung des Begriffes "Dienen" und der in christlichen Gemeinden geläufigen Charakterisierung des eigenen Einsatzes für das Evangelium, der in vielfältiger Weise geschehen konnte, kristallisierte sich die Bezeichnung ÖL<:Xxovo~ heraus, die jetzt in den Past (und, abgesehen von Phil1,1, erst jetzt) titular verwendet wird. Aber auch die Past lassen noch deutlich erkennen, daß von der paulinischen Tradition her das Verbum ÖLUXOVEW und seine Wortgruppe eine enge Verbindung mit der Verkündigung des Evangeliums hatten \02 • "Paulus" bekennt, daß Christus ihn "in Dienst" genommen hat (1 Tim 1,12) für die Verkündigung des Evangeliums (vgl. 1 Tim 2,7; 2 Tim 1,lOf). Und auch seinem Nachfolger "Timotheus" gilt der Auftrag, den "Dienst" der Verkündigung des Evangeliums treu zu erfüllen (2 Tim 4,5), aber auch die Zusicherung, daß er bei treuer Erfüllung seines Amtes - nämlich der Weitergabe der ihm von "Paulus" übergebenen Belehrungen über das, was falsche und was rechte Lehre ist (vgl. 1 Tim 4,1-5), - "ein guter Diener Christi Jesu" sein wird (1 Tim 4,6). (3) Wenn man bei der Umschreibung der Aufgaben und Kompetenzen der Diakone in den Past die Bedeutung des Sukzessionsgedankens beachtet, dann erscheint es gerechtfertigt, jene Aufgaben in der Sicht des Autors umfassend zu verstehen, d. h. vor allem unter Einschluß des Auftrags zur Verkündigung.
.. v gI. A. WEISER, EWNT I 727 f. 100 VgI. T. HOLTz, Christus Diakonos 133: "Die Verkündigung des Evangeliums wird begriffen als die Erfüllung des diakonischen Auftrags Jesu Christi, der den, der das Heil erfahren hat, zu dem Dienst nötigt, dem des Heils Bedürftigen das Heil zu bringen." 101 VgI. dazu A. WEISER, EWNT I 728; T. HOLTz, Christus Diakonos 131-137. 102 VgI. dazu 1. ROHDE, Charismen 216f.
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Das ist (noch) die Situation der Gemeinden der Past. Es gibt noch eine gewisse Vielfalt von Gruppierungen, die in der Gemeindearbeit zusammenwirken. Das vom Verfasser angezielte Ideal aber ist die von einem Episkopos geleitete Gemeinde, in der die anderen Gruppierungen (Presbyter, Diakone und Witwen) untergeordnete, auf den Episkopos ausgerichtete Aufgaben zu erfüllen haben. Diese Gespaltenheit betrifft auch die in 1 Tim 3,11 genannten Frauen. Als Diakoninnen sind sie unter dieselben Forderungen zu stellen wie die Diakone (wie die Einleitung mit woa{J'tw~ in V 11 zeigt). Doch der Autor kommt auf sie nur kurz zu sprechen, fast nebenbei 103. Das entspricht seiner Konzeption, Frauen von gemeindeleitenden, verantwortlichen Funktionen auszuschließen. Das wird an anderen Stellen noch deutlicher erkennbar. d) Die Witwen Bei der ausführlichen Behandlung der Witwen (1 Tim 5,3-16)'04 zeigt sich erneut die Spannung zwischen der gemeindlichen Wirklichkeit und der Zukunftsperspektive des Verfassers. Diese Personengruppe der Witwen hatte ganz offensichtlich in christlichen Gemeinden großen Einfluß. Die vom Verfasser vorgelegten Bestimmungen zeigen die eindeutige Tendenz, die Witwen aus verantwortlichen Positionen in den Gemeinden zu verdrängen 105. Sie werden als eine Gemeinschaft definiert - das wichtige Stichwort ist dabei der Begriff "wirkliche Witwe" (ÖVLW~ Xr]Qa) (vgl. VV 3.5.16) -, deren Mitglieder auf Unterstützung durch die Gemeinde angewiesen und die, in Entsprechung zu dieser Unterstützung, der Gemeinde und dessen Leiter gegenüber verpflichtet sind 106. Im Unterschied dazu ist das Kennzeichen von Witwen, die sich zu Gemeinschaften zusammengefunden haben, daß sie aktiv das Gemeindeleben mitgestalteten 107 : (1) durch ihr Gebet (V 5) - wobei dieses Gebet ursprünglich Ausdruck prophetisch-charismatischen Selbstbewußtseins war 108 , vom Verfasser jetzt aber in den Kriterienkatalog
103 V gl. F. YOUNG, Theology 113, zu diesem Abschnitt: "Tucked in the middle of the only passage to deal with diakonoi (1 Tim. 3.8-13) is an intriguing sentence ... " 104 Zu Einzelfragen der Auslegung vgL HThK XI 2/1, 219-248, sowie die vorzügliche Behandlung des Textes bei U. WAGENER, Ordnung. lOS Auch hier gilt es zu beachten, daß die in den Past vorgestellte Ordnung "präskriptiv, nicht deskriptiv zu verstehen ist: Dies ist die Ordnung, die der Verfasser als verbindlich vorschreiben will" (u. WAGENER, Ordnung 231). Darauf verweist auch L. M. MALONEY, Epistles 377. 106 VgL F. YOUNG, Theology 115-117. 107 VgL dazu U. WAGENER, Ordnung 229-231; L. M. MALONEY, Epistles 378. 108 VgL U. WAGENER, Ordnung 229: Die durch das Gebet erworbene "Ehrenstellung"
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für die gemeindeamtlich zu vollziehende Anerkennung als "wirkliche Witwe" übernommen ist; (2) durch die "guten Werke" (V 10) - aber auch diese von den Frauen geübte karitative Praxis wird zu einer Bedingung der Aufnahme in den von der Gemeindeleitung definierten Witwenstand umgemünzt; (3) durch die Verkündigungstätigkeit in Häusern - was der Autor mit dem globalen Urteil der "Faulheit" und des "unziemlichen Redens" (AUAO'ÜOaL 'tu !1TJ öeov'tu) abqualifiziert (V 13)109. Die Frage, ob von einem "Witwenstand" zu sprechen ist l1O , hängt davon ab, ob man die genannten Aktivitäten der Witwen als gemeindliche Funktionen versteht, die die Tendenz in Richtung auf eine Institutionalisierung aufweisen. Dies ist m. E. der Fall, und daraus ist die harsche Stellungnahme des Past-Autors ebenso zu erklären wie aus der kirchlichen Situation, die ihn aufgrund der innergemeindlichen Entwicklung (mit dem Auftreten der Irrlehrer) und der Bedingungen aus der Umwelt (mit der Frage der Akzeptanz kirchlicher Verkündigung und Strukturen durch Nichtchristen) in eine defensive Position gebracht hat. Seine Antwort darauf erfolgt, wie einleitend schon festgehalten, durch die Orientierung am "Haus" als der "ekklesiologisehen Leitmetapher"111. Die Erklärung, daß die oI'X.o~-Ekklesiologie der Past "auf dem Hintergrund eines Interessenkonflikts zwischen Männern und Frauen verstanden werden muß" 112, erscheint etwas einseitig; denn damit wird zum einen der in den Past durchgängig erkennbare Zusammenhang von gemeindeorganisatorischen Instruktionen und Irrlehrer-Problematik zu wenig berücksichtigt; und zum anderen ist zu bedenken, daß es dem Verfasser bei der Übernahme der oI'X.o~ Ekklesiologie nicht nur (zugegeben: aber auch) um die Dominanz der Männer über die Frauen im "Haus" der Kirche ging, sondern auch um die Einführung der dem oI'X.o~ vergleichbaren Strukturierung der Gemeinde, an deren Spitze der einzelne Episkopos stehen sollte, auch über den anderen Männern.
war "eher eine geistliche Leitungsposition denn eine untergeordnete diakonische Tätigkeit" . '00 Daß diese Witwen "ein alternatives Verständnis von christlicher Existenz" vertraten, wie U. WAGENER, Ordnung 240, schreibt, ist gut denkbar; daraus aber nun gleich eine Ethik "ehe- und familienfeindlichen Charakters" abzuleiten, ist m. E. ebenso überzogen wie die These, "daß die XfiQm nicht nur eine andere Ethik und andere Vorstellungen über die Grundlagen von Autorität in den Kirchen haben als der Autor der Pastoralbriefe, sondern diese auch in einer alternativen Theologie und Christologie verwurzelt sind" (ebd.). 110 Positiv beantwortet die Frage etwa H. v. LIPS, Glaube 118-121; ablehnend N. BROX, Past 185-187. m U. WAGENER, Ordnung 236; vgl. die ausführliche, insgesamt sehr überzeugende Analyse der ekklesiologischen Konsequenzen (vgl. ebd. 235-245), welche die am oI'K.o~ orientierte Konzeption von Gemeinde hatte und weiterhin hat. 112 So U. WAGENER, Ordnung 236.
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Es trifft: allerdings zu, daß der Verfasser die mit der Haus-Metapher eröffnete Möglichkeit, Frauen aus leitenden Positionen zu verdrängen und dies auch noch mit der Konzeption von der Kirche als oI%o~ 8EO'li theologisch abzusichern 113, voll ausgenutzt hat. Dies gilt es wenigstens noch kurz auszuführen. 5. Und die anderen Frauen?
Wenn von gemeindlichen Funktionen, von Gemeindeleitung im umfassenden Sinn und dabei im besonderen von der Aufgabe der Verkündigung gesprochen wird, wie sie nach Meinung des Verfassers in einer der Autorität des Paulus entsprechenden Form gestaltet werden müssen, dann darf nicht außer acht bleiben, daß der Verfasser den Frauen ausdrücklich das Lehren, die Verkündigung untersagt (1 Tim 2,11 f). Drei Aspekte sind dazu in Erinnerung zu rufen 114 • (1) Dieses Verbot gehört in den Kontext der Gesamtkonstellation von Gemeindeordnung und Irrlehrerbekämpfung. Es ist also ein Bestandteil der Festlegung der orthodoxen Gemeinde und ihrer Strukturen und Aufgabenverteilung in Abgrenzung zu solchen Gemeinden bzw. Gemeindemitgliedern, die der Irrlehre beschuldigt werden. Das von den Past unter der Autorität des Paulus vorgestellte Gemeindebild "muß" sich deutlich von den Gemeindevorstellungen und -strukturen unterscheiden, die für die Irrlehrer kennzeichnend sind. Der polemische Anteil darf also nicht übersehen werden. Damit kann nicht ausgeschlossen werden, daß auf seiten des Verfassers bzw. auch bestimmter Gruppierungen in den Gemeinden die Bevorzugung patriarchaler Strukturen von Bedeutung war 115 • (2) Wegen dieser aktuell bedeutsamen Sicht der Gemeindeordnung kann und muß der Verfasser die ihm vorgegebenen und bekannten und z. T. in den Gemeinden wirksamen Vorstellungen des Paulus neu interpretieren bzw. gestalten 116. Was apostolisch = paulinisch ist, entscheidet sich jetzt an den konkreten geschichtlichen Bedingungen. Wie schon bei der Betrachtung der Irrlehrerproblematik so ist auch hier anzunehmen, daß sich die sogenannten Irrlehrer im Blick auf ihr Verständnis von Gemeinde und Gemeindeordnung bzw. Mitwirkung 113 Vgl. U. WAGENER, Ordnung 236; 241. "' Vgl. zur Einzelauslegung IIThK XI 2/1, 91-97; 104-108. m Es sei erinnert an die Interpretation bei U. WAGENER, Ordnung 236 (vgl. 235-245), "die oI)f.o~-Ekklesiologie der Pastoralbriefe" sei zu verstehen "auf dem Hintergrund eines Interessenkonflikts zwischen Männem und Frauen". "Sie spiegelt eine Konkurrenz um kirchliche Führungspositionen wider, in der die Erhebung des ol)f.o~ zur ekklesiologischen Leitmetapher eine Strategie männlicher Führungsschichten darstellt, Frauen aus solchen Leitungsfunktionen auszuschalten." "' Von einem zufälligen und zeitbedingten Charakter der Belehrung spricht auch G. D. FEE, Refiections 146-149, allerdings unter Annahme der Authentizität der Past.
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der verschiedenen Personen an innergemeindlichen Funktionen auf Paulus berufen haben. Es sei nur erinnert an die paulinische Sicht der Charismen bzw. die für Paulus sicher bedeutsame Trias Apostel, Propheten und Lehrer (1 Kor 12,28; vgl. Eph 4,11: Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer)117. Dabei war es für Paulus ohne Zweifel selbstverständlich, daß Frauen dieselben Aufgaben in den Gemeinden übernahmen wie die Männer. Der Verfasser fordert angesichts der neuen Situation neue Entscheidungen. (3) Die Einsicht in die Situations- und Geschichtsgebundenheit der Aussagen der Past über die Gemeindestrukturen, die Gemeindeleiter und insbesondere auch zur Stellung der Frauen muß dazu führen, daß die kirchliche Wirkungsgeschichte dieser Texte hinterfragt wird 118. Im Blick auf den Stellenwert exegetischer Ergebnisse für eine biblisch begründete Ekklesiologie 119 ist G. Richter bei der Betrachtung der johanneisehen Schriften zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. Was seiner Einschätzung nach "notwendig" wäre, "ist die Erkenntnis der Zeitbedingtheit und Kontingenz der Aussagen über die Kirche (samt Verfassung, Amt usw.), die in den zurückliegenden Zeiten gemacht worden sind, und das Bewußtsein der Vorläufigkeit und Situationsbedingtheit auch der heute zu gebenden Antworten" 120.
Wie mit den Bestimmungen der Past über die Gemeindeordnung in der Folge und damit auch heute umzugehen ist, hat m. E. G. Lohfink am treffendsten formuliert in dem fiktiven Dialog: "Wenn wir den Verfasser der Pastoralbriefe über die Zeiten und über alle Sprachbarrieren und Verständigungsschwierigkeiten hinweg fragen könnten: ,Wolltest Du eigentlich eine ganz bestimmte Amtsstruktur als Norm für die Kirche?', so würde er uns antworten: ,Nein, ich wollte nicht ein be117 "Das Verschweigen eines rechtgläubigen Lehrerstandes in den Pastoralbriefen" ist nach H. SCHÜRMANN, Lehrer 155, zu erklären "aus der Tendenz, die Lehre angesichts eines pervertierten Lehrerstandes, also situationsbedingt, ... ausschließlich an Paradosis und Amt zu binden". 118 P. TRUMM ER, Gemeindeleiter 124, gibt zu bedenken, daß der Autor der Past "offensichtlich in einer Kirche redete, in der er noch von den tatsächlich vorhandenen Funktionen von Frauen so sehr beunruhigt sein konnte, daß er sie mit allen Mitteln zurückzudrängen suchte, während wir noch weit davon entfernt sind, wenigstens seine Ausgangsposition erreicht zu haben". 119 Vgl. dazu H. v. LIPS, Aspekte 70: "Sofern an neutestamentliche Ekklesiologie mit der Bereitschaft herangegangen wird, Fragestellungen aufzunehmen anstatt Antworten zu übernehmen, vermag sie wichtige Leitlinien für heutiges Nachdenken über Kirche zu vermitteln." 120 G. RICHTER, Zum gemeindebildenden Element in den johanneischen Schriften: Kirche im Werden, 253-292, hier 290f. Gegenüber dieser auch vom Herausgeber des Sammelbandes im Vorwort (11) ausgesprochenen "Hoffnung" hat A. VÖGTLE, Kirche 176-179, seine "Reserve" angemeldet, und zwar wegen "der recht optimistischen Einschätzung des Versuchs und Erfolgs einer systematisierenden Auswertung der neutestamentlichen Aussagen" - angesichts der inzwischen verflossenen zwanzig Jahre vielleicht ein Grund, Bilanz zu ziehen!
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stimmtes Amt, sondern das Evangelium als Norm für die Kirche. Schafft Ihr Euch jeweils das Amt, das der beste Garant für die unverfälschte Weitergabe und Verwirklichung des Evangeliums ist! "'!2! LITERATUR (zu den Past): R. E. BROWN, Episkope and Episkopos: The New Testament Evidence: TS 47 (1980) 322-338; N. BROX, Die Kirche, Säule und Fundament der Wahrheit. Die Einheit der Kirche nach den Pastoralbriefen: BiKi 18 (1963) 44-47; DERS., Amt; DERS., Past 42-46; 147-152; 157-159; K. CONDON, Church Offices by the Time of the Pastoral Epistles: PIBA 2 (1977) 74-94; M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 44-47; G. D. FEE, Reflections; L. FLOOR, Church Order in the Pastoral Epistles: Neotest. 10 (1976) 81-91; A. T. HANSON, Past 31-38; G. HOLTz, Past 79-82; 86-88; A. LEMAIRE, Les Epitres Pastorales. B. Les ministeres dans l'Eglise: Le ministere et les ministeres selon le Nouveau Testament, hrsg. v. 1. Delorme (Paris 1973) 102-117; H. V. LIPS, Glaube; K. LÖNING, "Säule und Fundament der Wahrheit" (1 Tim 3,15). Zur Ekklesiologie der Pastoralbriefe: Ekklesiologie des Neuen Testaments. FS K. KerteIge, hrsg. v. R. Kampling u. T. Söding (Freiburg i. Br. 1996) 409-430; G. LOHFINK, N ormativität; E. LOHSE, Episkopos in den Pastoralbriefen: Kirche und Bibel. FS E. Schick (Paderbom 1979) 225-231; 1. P. MEIER, Presbyteros; H. MERKEL, Past 90-93; W. PRATSCHER, Stabilisierung; Y. REDALrE, Paul 263-293; 343-351; J. ROLOFF, Apostolat 236271; DERS., Pfeiler; DERS., 1 Tim 169-189; 211-217; A. SAND, Anfänge; E. SCHLARB, Lehre 173-178; 314-356; H. SCHLIER, Ordnung; E. SCHÜSSLER FIORENZA, Anfänge; R. SCHWARZ, Christentum 123-148; E. SCHWEIZER, Gemeinde 67-79; C. SPICQ, Past 65-83; W. THIESSEN, Christen 255-316; PH. H. TowNER, Goal 129-138; P. TRuMMER, Paulustradition 208-216; DERS., Gemeindeleiter; D. C. VERNER, Household 127-180; U. WAGENER, Ordnung 227-245; A. WEISER, Evangelisierung; DERS., Kirche; M. WOLTER, Pastoralbriefe 245-256; F. YOUNG, Theology 97-121. WEITERE LITERATUR (in Auswahl): P. BENOIT, Les origines de l'episcopat dans le Nouveau Testament: Exegese et Theologie II (Paris 1961) 232-246; E. BENT, Pseudonymity and Charisma in the Ministry of the Early Church: Aug. 27 (1987) 347-376; R. E. BROWN, The Churches the Apostles Left Behind (New York 1984) 31-46; 1. T. BURTCHAELL, From Synagogue to Church. Public Services and Offices in the Earliest Christian Communities (Cambridge 1992) 292-316; R. A. CAMPBELL, Elders 176205; H. V. CAMPENHAUSEN, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten (Tübingen '1963) 82-134; Charisma und Institution, hrsg. v. T. Rendtorff . (Gütersloh 1985) (mit Beiträgen zu "Charisma und Amt" v. E. Schweizer, F. Hahn und R. Schnackenburg); E. DAssMANN, Ämter und Dienste in den frühchristlichen Gemeinden (Bonn 1994); Diakonie - biblische Grundlagen und Orientierungen, hrsg. v. G. K. Schäfer und T. Strohm (VDWI 2) (Heidelberg 1990); E. FERGUSON, Ordination in the Ancient Church (IV): RestQ 5 (1961) 130-146; G. FITZER, Die Entwicklung des Vorsteheramtes im Neuen Testament: Pro Oriente. Konziliarität und Kollegialität als Strukturprinzipien der Kirche (Innsbruck usw. 1975) 91-109; H. GIESEN, Im Dienst der Einheit. Die Funktion der Dienstämter im Zeugnis neutestamentlicher Schriften: SNTU 15 (1990) 5-40; 1. GNILKA, Geistliches Amt und Gemeinde nach Paulus: Kairos 11 (1969) 95-104; DERS., Theologie 356-364; 1. HAlNZ, Die Anfänge des Bischofs- und Diakonenamtes: Kirche im Werden, 91-107; P. HOFFMANN, Priestertum; T. HOLTZ, Christus Diakonos. Zur christologischen Begründung der Diakonie in der nachösterlichen Gemeinde: Diakonie 127-143 Getzt auch in: DERS., Geschichte und Theologie des urchristentums [WUNT 57] [Tübingen 1991] 399-416); E. KÄSEMANN, Amt und Gemeinde im Neuen Testament: Exegetische Versuche und Besinnungen I (Göttingen '1970) 109-134; M. KARRER, Das urchristliche Ältestenamt: NT 32 (1990) 152-188; G. LOHFINK, Normativität 105; vgl. auch 106. - Zum Verhältnis von "normativem Anspruch" des Redens über Kirche und der "geschichtlichen Vielfalt" der Vorstellung von der Kirche im Neuen Testament vgl. 1. ROLOFF, Kirche 310-312.
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Tit 2,1-10 K. KERTELGE, Gemeinde und Amt im Neuen Testament (BiH 10) (München 1972) 140151; Kirche im Werden, hrsg. v. I Hainz (Paderborn 1976); H.-I KLAucK, Hausgemeinde 62-68; o. KNocH, Charisma und Amt: Ordnungselemente der Kirche: SNTU 8 (1983) 124-161; A. LEMAIRE, Les ministeres aux origines de I'Eglise. Naissance de la tripIe hierarchie: eveques, presbytres, diacres (LeDiv 68) (Paris 1971) 123-138; H. v. LIPS, Neutestamentliche Aspekte zur Ekklesiologie: BThZ 13 (1996) 60-70; E. LOHSE, Die Entstehung des Bischofsamtes in der frühen Christenheit: ZNW 71 (1980) 58-73; M. Y. MAcDoNALD, Churches 159-234; H. MERKLEIN, Amt 383-392; W. MICHAELIS, Das Ältestenamt der christlichen Gemeinde im Lichte der Heiligen Schrift (Bern 1953); F. PRAST, Presbyter und Evangelium in nachapostolischer Zeit (fzb 29) (Stuttgart 1979) 387-416; I ROHDE, Urchristliche und frühchristliche Ämter (ThA 33) (Berlin 1976) 75-97; DERS., Charismen und Dienste in der Gemeinde. Von Paulus zu den Pastoralbriefen: Diakonie 202-221; I ROLOFF, Kirche 250-267; E. SCHILLEBEECKX, Christliche Identität und kirchliches Amt. Plädoyer für den Menschen in der Kirche (Düsseldorf 1985); R. SCHNACKENBURG, Die Kirche im Neuen Testament (QD 14) (Freiburg 1961) 86-93; DERS., Episkopos und Hirtenamt: Schriften zum Neuen Testament (München 1971) 247-268; G. SCHÖLLGEN, Hausgemeinde; H. SCHÜRMANN, Lehrer; K. STALDER, EIIDXOIIO~: IKZ 61 (1971) 200-232; A. VÖGTLE, Kirche und Amt im Werden: MThZ 28 (1977) 158-179; DERS., Reflexionen; DERS., Dynamik 126130; I YSEBAERT, Amtsterminologie; A. F. ZIMMERMANN, Die urchristlichen Lehrer. Studien zum Tradentenkreis der ötÖaOxaAOL im frühen Urchristentum (WUNT 2.12) (Tübingen '1988) 211-213; R. ZOLLITSCH, Amt und Funktion des Priesters. Eine Untersuchung zum Ursprung und zur Gestalt des Presbyterats in den ersten zwei Jalrrhunderten (FThSt 96) (Freiburg 1974) 144-177.
4. Die Aufgabe des Gemeindeleiters: Anweisungen für die verschiedenen Gruppen in den Gemeinden (2,1-10) 2,1 Du aber rede, was der gesunden Lehre angemessen ist. 2 Ältere Männer sollen nüchtern sein, ehrbar, besonnen, gesund im Glauben, in der Liebe, in der Geduld. 3 Ebenso die älteren Frauen: in ihrer Haltung ehrwürdig, nicht verleumderisch, nicht Sklavinnen reichlichen Weingenusses, bewährt im Lehren, 4 damit sie die jungen Frauen anleiten, ihre Männer und ihre Kinder zu lieben, 5 besonnen, keusch, häuslich und tüchtig zu sein, ihren Männ«rn sich unterordnend, damit das Wort Gottes, nicht gelästert werde. 6 Die jüngeren Männer ermahne ebenso, besonnen zu sein 7 in allem, indem du dich selbst als Vorbild guter Werke zeigst; in der Lehre zeige Unverdorbenheit, Würde, 8 gesundes, unanfechtbares Wort, damit der Gegner beschämt werde, weil er nichts Schlechtes über uns zu sagen weiß. 9 Sklaven sollen sich ihren Herren unterordnen in allem, gefällig sein, nicht widersprechen, 10 nichts unterschlagen, sondern sie sollen in allem rechte Treue zeigen, damit sie der Verkündigung von Gott, unserem Retter, in allem zur Zierde gereichen. I
Im Kontrast zu den Irrlehrem beschreibt der Verfasser jetzt ausführlich Leben und Verhalten der Gläubigen, die sich an die "gesunde
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Lehre" halten. In der für die Past charakteristischen Gestaltung spricht "Paulus" die einzelnen Gruppen in der Gemeinde nicht direkt an, sondern wendet sich an seinen Schüler und Nachfolger "Titus", der in diesem Fall wieder klar erkennbar den zeitgenössischen Gemeindeleiter repräsentiertl. Die Eröffnung des Abschnittes, der insgesamt als "Gemeindeparänese" zu bezeichnen ist 2 , mit der betonten Anrede crU ÖE zeigt, daß es um die Gegenüberstellung von Irrlehrern und Gemeindeleiter geht. Die Gemeindeweisungen sind abhängig von der Gemeindeleiterparänese, was durch die Wiederaufnahme des Imperativs AaA.EL V 1 in V 6 (JtUQUXelA.EL) bestätigt wird. Durch den Imperativ in V 6 werden die Mahnungen an die verschiedenen Gruppen gegliedert; zuerst gelten sie älteren Männern, älteren Frauen und jungen Frauen (VV 2-5), dann jüngeren Männern und Sklaven (VV 6-10). Im weiteren Kontext werden die Mahnungen abgeschlossen mit drei Imperativen in V 15, die noch einmal die Verantwortung des Gemeindeleiters für das Leben der Gemeinden hervorheben. Die Imperative stehen in der 2. Person Singular; sie betonen die Verantwortung des im Adressaten Titus angesprochenen Gemeindevorstehers für die Umsetzungen der Weisungen. "Titus" wird also nicht wie die anderen Personen im Blick auf die sittliche Bewährung ermahnt. Wenn er in VV 7f als "Vorbild guter Werke" angesprochen und die "Außenwirkung" seines Verhaltens eigens betont wird, dann geschieht auch dies dazu, in seiner Person den Gemeindeleiter als Repräsentanten eines frommen Lebens vorzustellen bzw. ihn dazu zu ermahnen. Der Abschnitt zeigt die für die Past typische doppelte Struktur der Paränese: Einerseits wird der Gemeindeleiter als verantwortlicher Übermittler der Weisungen des Apostels vorgestellt 3 ; andererseits erscheint er in seinem Verhalten als "Vorbild" (hier in den VV 7 f für die jungen Männer) 4. Der Gemeindeleiter ist der Adressat der Weisungen, allerdings im Blick auf die verschiedenen "Stände" in der Gemeindes. Die sowohl in der Struktur als z. T. auch bei den genannten PersoVgl. D. C. VERNER, Household 173. Dazu A. WEISER, Titus, bes. 407: Die Aufforderungen in den VV 2-10 "gelten Menschen, die durch gläubige Annahme des Evangeliums und durch die Taufe (3,5) Christen geworden sind und in christlicher Gemeinde miteinander leben". Vgl. auch Y. REDALI~, Paul435-438. 3 Durch die Amtsträger "sollen die Weisungen an die verschiedenen Gruppen der Basis vermittelt werden" (A. WEISER, Verantwortung 10; vgl. DERS., Titus 407). • P. LIPPERT, Leben 5lf. Vgl. auch D. C. VERNER, Household 172f; PH. H. TOWNER, Goal 194f. , Vgl. A. WEISER, Evangelisierung 143: Die Unterweisungen richten sich "zunächst nur an den einen Briefempfänger, der sie als autoritativer Gemeindeleiter den Ständen in der Gemeinde vermitteln soll. Er selbst wird inmitten der Weisungsreihe in direkter AnIede zu VQrbildlichkeit und unverfälschtem Lehren ermahnt." 1
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nengruppen vorhandenen Übereinstimmungen mit anderen paränetisehen Texten des Neuen Testaments führen zur Frage, ob hier gemeinsame Traditionen zugrunde liegen. Die zumeist mit Verweis auf die Untersuchung von K. Weidinger begründete Zuordnung zur literarischen Gattung der "Haustafeln" 6 ist nur bedingt zutreffend. Die Abschnitte in den neutestamentlichen Briefen, die übereinstimmend der Gattung "Haustafel" zugerechnet werden (Kol 3,18-4,1; Eph 5,22- 6, 9; umstritten 1 Petr 2,13 -3,7), befassen sich ausdrücklich mit den wechselseitigen Beziehungen der verschiedenen Gruppen im "Haus" 7; Tit 2,1-10 hingegen wendet sich an die verschiedenen Gruppen in der Gemeinde 8 , und deshalb ist passender von einer "Gemeindetafel" bzw. "Ständetafel" zu sprechen 9 • Im Unterschied zur häufig begegnenden Annahme, die Stände tafel der Past sei eine Weiterentwicklung bzw. Transformation des Haustafel-Schemas, wie es im Kol vorliegt'O, entwickelt H. v. Lips aus einem Vergleich der Texte die These, daß in KoI3,18-4,1 (und literarisch davon abhängig in Eph 5,22-6,9) einerseits und in 1 Petr 2,13-17 sowie Tit 2,1-10 andererseits zwei voneinander unabhängige Entwicklungen paränetischer Schemata vorliegen, die allerdings auf eine gemeinsame Vorstufe zurückgehen".
Das heißt aber auch, daß "Ständetafel" und "Haustafel" sich nicht streng gegeneinander abgrenzen lassen.
6 V gl. F. J. SCHIERSE, Past 159 f; R. SCHWARZ, Christentum 104 mit Anrn. 17 (mit der Einschränkung, daß der Ausdruck "Haustafel" "eigentlich nicht ganz entsprechend [ist], da auch Anweisungen bezüglich des Verhaltens gegenüber dem Staat darin zu finden sind"); J. D. QUINN, Tit 129. - K. WEIDINGER, HaustafeIn 53, relativiert die von ihm gewählte Zuordnung von Tit 2,1-10 zu den "Haustafeln" selbst durch den Hinweis, daß "nicht eigentlich die Glieder des Hauswesens, sondern die verschiedenen Stände der Gemeinde" ermahnt werden. 1 "Haustafeln" sind nach G. STRECKER, Literaturgeschichte 109, "im eigentlichen Sinn des Wortes nur Kol 3,18-4,1 und Eph 5,22-6,9", da diese Abschnitte "als gleichförmige, paränetische Aufreihungen die Pflichten der Glieder des christlichen Hauses zum Gegenstand haben"; ähnlich K. MÜLLER, Haustafel 317f. Vgl. dazu auch die ausführliche Begründung bei K. BERGER, Gattungen: ANRW II 25.2, 1984, 1078-1086, sowie P. FIEDLER, Art. HaustafeI1069-1072; M. GIELEN, Tradition 3-6. 8 Zusammen mit 1 Petr 2,13-3,7 und Did 4,9-11 zählt A. PADGETT, Rationale 44, Tit 2 zu den "church-codes", "since their real concern is with the church, not with the horne". 9 V gl. u. a. H.-J. KLAUCK, Art. Haustafel: NBL II 58. Eine "kritische Darstellung der neueren Forschungsgeschichte" über Haustafel und Ständetafel gibt U. WAGENER, Ordnung 15-66. 10 Vgl. K. THRAEDE, Hintergrund 365; PH. H. TOWNER, Goal 192; H. MERKEL, Past 96. 11 H. V. LIPS, Haustafel, bes. 271-273. Ähnlich W. SCHRAGE, Ethik 2-4; A. WEISER, Verantwortung 12f. Die Behauptung, daß die Ähnlichkeiten zwischen Kol 3,18-4,1; Eph 5,21-6,9; 1 Petr 2,18-3,7 und Tit 2,1-10 allenfalls "oberflächlich" seien (so G. D. FEE, Past 184; ähnlich TH. D. LEA - H. P. GRIFFIN, Past 296), geht dann aber zu weit.
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Im Vergleich lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede feststellen, wobei die letztgenannten auch aus der konkreten Gemeindesituation der Past bzw. dem aktuellen Anliegen des Autors zu erklären sind. (1) Übereinstimmend wird die Ordnung der Beziehungen zwischen Personengruppen und Einzelpersonen in den Gemeinden betont, etwa in der Forderung der Unterordnung, sowie in der gruppenorientierten Gliederung der Unterweisungen 12. (2) Die auf den ersten Blick bedeutsame Differenz, daß im Kol "das Haus", im Tit dagegen die Gemeinde angesprochen wird, ist insofern nicht konsequent durchgehalten, als die Past gerade daran Interesse haben, die Struktur der Gemeinde am antiken Oikos-Schema auszurichten. Und schließlich wird (3) in unserem Text auch nicht im eigentlichen Sinn eine "Gemeindetafel" erstellt, sondern eine "Gemeindeleiterparänese" formuliert, die vor allem daran interessiert ist, daß diesem Gemeindeleiter "Titus" die Durchsetzung der Direktiven an die genannten Personengruppen als Aufgabe übertragen worden ist. Daß der Ton auf den Anordnungen für den Gemeindeleiter liegt, zeigt schon die syntaktische Struktur dieser zehn Verse 13. In der imperativischen Verbform wird nur der Briefempfänger in seiner Funktion als Gemeindeleiter angesprochen (V 1 und V 6). Im weiteren Kontext wird das bestätigt durch die drei Imperative in V ISa, die deutlich die Funktion der Untermauerung des zuvor Gesagten haben und die erneut "Titus" die Verantwortung als Gemeindeleiter vor Augen führen l4 • V 1 hat mit der überschriftartigen Formulierung programmatische Bedeutung. Die folgenden Anweisungen der VV 2.3-5 sind Entfaltungen dessen, was unter der "gesunden Lehre" zu verstehen ist. Diese Anweisungen sind konstruiert in der Form von Akkusativ-mit-Infinitiv-Sätzen. Vom Imperativ in V 6 (:rcUQUXUAEL) sind die folgenden Infinitive OWqJQOVELV (V 6) und v:rco"tuoow8m (V 9) abhängig. In Entsprechung zu dieser Satzkonstruktion (Imperativ + Ac!) und im Blick auf den Abschluß in V 15 mit drei weiteren Iinperativen ist - trotz der grundsätzlich möglichen Erklärung des Infinitivs in V 2 als "imperativischer Infinitiv" 15 - auch für die infinitive Verbform in V 2 ( ... vl]qJuALou~ dvm ... ) und die mit wou"'"tw~ angeschlossenen Weisungen der VV 3-5 ein Imperativ zu ergänzen, näherhin ein "Verbum des belehren-
Vgl. L. R. DONELsoN, Pseudepigraphy 177; A. WEISER, Verantwortung 12; Y. REPaul 437. 13 Vgl. dazu A. WEISER, Titus 400-404. 14 Vgl. G. LOHFINK, Normativität 99: Die Aufforderung an Titus inV 1 "hat den Charakter einer Kapitelüberschrift; sie wird am Ende in 2,15 noch einmal aufgegriffen, so daß eine klassische inclusio entsteht". 15 So etwa mit Berufung auf B.-D.-REHKOPF, Grammatik §389, M. WOLTER, PastoraIbriefe 145f Anm. 27; 1. D. QUINN, Tit 117; G. W. KNIGHT, Past 305. 12
DALIE,
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den Ermahnens" 16. Bei einigen Kommentatoren wird unmittelbare Abhängigkeit der Infinitivkonstruktion des V 2 vom Imperativ AUAEL in V 1 angenommen 17; der Anschluß in V 6 mit wcru{l1;W~ Jta(!UXUAEL spricht aber dafür, daß in der Intention des Autors auch zu V 2(-5) ein Imperativ Jta(!UXUAEL zu ergänzen ist ' •. Der Grund für die Ellipse mag auch darin liegen, daß mit dem Imperativ AUAEL bereits ein umfassender Bezugspunkt gegeben ist, der durch die Wiederaufnahme in V 15a als den gesamten Abschnitt bestimmendes Wort ausgewiesen ist".
Nur der Apostelschüler und der Nachfolger im Amt des Gemeindeleiters wird vom Apostel direkt angesprochen, seine Verantwortung ist das entscheidende Thema 20.
11 1 Der Einsatz mit ov öE nach einem Text, der sich mit dem innerkirchlichen Phänomen der Aktivität von Falschlehrern befaßt, hat für die Past aufgrund ihrer Ekklesiologie einen besonderen Stellenwert. Der vom Apostel an führender Position in der Gemeinde eingesetzte Vorsteher wird direkt angesprochen, und zwar in einer exklusiven Weise; er steht diesen Irrlehrem gegenüber, und er ist zugleich, wenn er den von "Paulus" genannten Bedingungen entspricht, das beste Bollwerk gegen den Einfluß der falschen Lehrer. In dieser Funktion, ebenfalls betont mit cr1J M von der vorangehenden Beschreibung falschen Lehrens und Verhaltens abgehoben, wird der Apostelschüler und mit ihm der Gemeindeleiter der Zeit der Past auch vorgestellt in 1 Tim 6,11; 2 Tim 3,10.14; 4,5.
In Entsprechung zu den voranstehend geschilderten Gefahren, daß Leute auftreten, die in Widerspruch zur gesunden Lehre stehen (1,9), die durch ihr "leeres Geschwätz" die Einheit der Gemeinden gefährden (1,10) und die etwas "lehren", was "sich nicht ziemt" (1,11; vgl. auch 1 Tim 5,13), muß sich "Titus" auch im Wort als für seine Aufgabe geeignet erweisen. Der Gebrauch von AUAELV erscheint dabei auf den ersten Blick etwas blaß, vor allem im Vergleich mit anderen Beschreibungen der Aufgabe des Apostelschülers, in denen stärker seine Autorität hervorgehoben wird (vgl. 1 Tim 1,3: LVU :rtuguyydAm;; 6,2: öLÖUOXE xut :rtuguXelAEL; Tit 1,9.13: :rtuguxUAELV, EAEYXELV). Das A. WEISER, Titus 401 f. Vgl. C. SPICQ, Past 616f; F. J. SCHIERSE, Past 159. 18 So schon G. WOHLENBERG, Past 240. Ähnlich J. N. D. KELLY, Past 239; M. DIBELJUS H. CONZELMANN, Past 104; G. HOLTZ, Past 218. 19 Vgl. H. v. LIPs, Glaube 46: "Indern der abschließende V. 15 mit '(Uu,;a A.UA.EL auf V. 1 zurückgreift, ist alles, was dazwischen steht, als ,gesunde Lehre' anzusehen." 20 Vgl. Y. REDALlE, Paul437: "Comme dans les traites sur I' ,economie', c'est au ,maitre de maison' (,econorne de Dieu', Tt 1,7) que les discours s'adresse; c'est lui qui doit transrnettre les valeurs aux difIerents groupes dont il a la responsabilite." 16
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unpathetische Verbum "reden" (AUAELV) ist möglicherweise deshalb gewählt, weil im folgenden mit der Aufzählung der anzumahnenden Verhaltensweisen die Gemeindemitglieder im Mittelpunkt stehen und somit auch das, was Zeichen ihrer Übereinstimmung mit der "gesunden Lehre" ist 21 • In V 6 wird mit 3taQuxaAEL dann aber doch wieder das autoritative Moment betont. Der Verweis auf die "gesunde Lehre" unterstreicht den Kontrast zu den Äußerungen der Häretiker. Das Interesse der Past ist dabei nicht auf eine vergleichende Gegenüberstellung der "Lehren" gerichtet; beabsichtigt ist lediglich der globale Nachweis bzw. die Feststellung, daß die rechte, die gesunde, die wahre Lehre auf der Seite der Gemeindemitglieder steht, die in Gehorsam und in Unterordnung unter der von den Past repräsentierten Kirche und ihrer Gemeindeleiter stehen. Insofern liegt in dem Stichwort "gesunde Lehre" auch kein "Alternativprogramm" vor, und schon gar nicht wird damit der ",gesunde' Menschenverstand" beschworen 22 • Die Formulierung mit a. :7tQE:7tEL unterstreicht den verpflichtenden Charakter dieser kirchlichen Lehre. So hat V 1 eine doppelte Funktion: zum einen als Kontrast zu den Positionen der Irrlehrer insgesamt (1,10-16); zum anderen als Überschrift über das ganze Kap. 2. Die folgenden VV 2-10 sind eine für die Past zwar bedeutsame, aber keineswegs erschöpfende Explikation der "gesunden Lehre" 23. 2 Als erste Gruppe, die der besonderen Sorge des Gemeindevorstehers anvertraut wird, erscheinen die "älteren Männer". Die Reihenfolge in der Nennung der Personengruppen orientiert sich an den in der Gesellschaft a,llgemein anerkannten Normen. Es ist also schon im Aufbau ganz deutlich eine Abhängigkeit von traditionellen Vorgaben
Einen Zusammenhang zwischen dem Verbum AUAELV und der angeschlossenen "elementaren Weisung" sieht auch G. HOLTz, Past 217f. 22 V gl. aber die Darstellung bei F. J. SCHIERSE, Past 158: Die Past "entwickeln gleichsam ein Altemativprogramm, das dem denkenden und urteilsfähigen Christen zeigt, wo die Wahrheit wirklich beheimatet ist, im Theologengezänk, in rituellen Übungen und mythologischer Geheimniskrämerei oder in einem Leben nach dem ,gesunden' Menschenverstand". A. WEISER, Titus 406, macht zu Recht darauf aufmerksam, daß wir es hier bei der Wendung "gesunde Lehre" "grundlegend mit der christlichen Heilsbotschaft" zu tun haben, was unterstrichen wird durch "die in den VV 11-14 folgende heilsgeschichtliche Begründung". 23 Es trifil: sicher zu, daß für die Past die Ermahnungen, die das Verhalten im täglichen Leben betreffen, in dem Stichwort "gesunde Lehre" rnitangesprochen sind (vgl. R. J. KARRIS, Past 115); die Aussage, daß "inhaltlich" bei dieser formelhaften Wendung "die sittliche Belehrung der Gemeinde" gemeint sei (H. MERKEL, Past 96), erscheint dagegen ebenso in der Gefahr einer einseitigen Festlegung der Past auf die Ethik wie die Erklärung von G. D. FEE, Past 185: " ... what is in accord with sound doctrine has not so much to do with the cognitive side of the gospel as the behavioral." 21
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und Denkstrukturen erkennbar 24 • Das zeigt sich auch in der inhaltlichen Entfaltung und Darstellung der angemahnten Verhaltensweisen; auch dabei sind, wenigstens in den meisten Fällen, beim angesprochenen Personenkreis keine spezifischen Defizite vorau!lzusetzen. Dies trifft gleich bei den erstgenannten Forderungen an die älteren Männerzu. Nüchternheit, Ehrfurcht und Besonnenheit werden z. T. im folgenden noch einmal für andere Personengruppen genannt; und alle drei Charakterisierungen standen auch schon bei der Beschreibung der Bedingungen, die der für sein Amt geeignete Episkopos und die Diakone, Männer wie Frauen, zu erfüllen haben (1 Tim 3,1-7; 3,8-13): "nüchtern" (VTJq>aALo~) - für den Episkopos (1 Tim 3,2) und für die Frau im Amt des Diakons (1 Tim 3,11); "ehrbar" (oeJ.Lv6~) - für die Diakone beiderlei Geschlechts (1 Tim 3,8.11); "besonnen" (owq>Q
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punkt steht die Frage nach dem rechten Glauben, die Frage nach der Wahrheit. Umgekehrt ist aber auch deutlich: Für die Entfaltung dessen, was unter dem Stichwort "gesunde Lehre" verstanden werden soll, greift der Verfasser bevorzugt zu ethischen Kategorien. 3 Die oben genannte Zufälligkeit scheint hier gleich Regie geführt zu haben. Nun wird man sich besonders in diesem Fall, da das dem rechten Glauben entsprechende Verhalten älterer Frauen beschrieben wird, davor hüten müssen, nach konkreten Anknüpfungspunkten in personen- bzw. gruppenspezifischen Verhaltensweisen forschen zu wollen. Die "älteren Frauen" sollen, wie die Fortsetzung in V 4 zeigt, in ihrem gesamten Verhalten Vorbilder für die jüngeren sein. Mit tEQonQEn'tl~ wird zwar ein Begriff verwendet, der auch in der speziellen Bedeutung von "dem Priester angemessen" begegnet 27 ; hier ist aber die Bedeutung "ehrwürdig", die auch in der außerbiblischen Literatur bezeugt ist 28 , die passendere 29 • Solche "Haltung" (xm;umTnW). ist auf das gesamte Leben dieser Frauen zu beziehen: Der Akzent liegt auch hier darauf, daß das Verhalten der Frauen einerseits Vorbildcharakter haben soll für die jüngeren und daß sie andererseits nach außen hin eine "heiligmäßig" lebende Gemeinde repräsentieren. Diese allgemeine, umfassende Verpflichtung der Frauen zeigt sich weiterhin bei den beiden folgenden Verhaltensanweisungen, die auch in anderen Zusammenhängen genannt sind: Die Warnung vor Verleumdung ist 1 Tim 3,11 den Frauen gegenüber, die als Diakone in der Gemeinde wirken, ausgesprochen; und übermäßiger Weingenuß widerspricht nach den Past auch dem Ideal des Episkopos (1 Tim 3,3: f.l.T] nUQOLvo~) und der Diakone (1 Tim 3,8: ftT] OLVCP nOAAq> nQooEXoV'tE~).
Während G. Holtz diese "Bemerkung über die 1Iunksucht der Frauen" als "kulturgeschichtlich wichtig" erklärt und sie in "moralisch zerrütteten Gemeinschaften wie auf Kreta" ansiedelt 3D , sieht N. Brox darin, sicher zu Recht, "einen eklatanten Fall der ständig zu beobachtenden ,Ungenauigkeit' der aufgezählten Standespflichten in den Pastoralbriefen, die jeweils in Reihen gehäuft, aber nicht immer geordnet und auf den einzelnen Stand abgestimmt sind"".
V gl. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 105 mit Belegen. V gl. W. BAUER, WB S. v. lEQo:n:QElt~~; C. SPICQ, Lexique 727 f. Bei Philo begegnet das Adjektiv recht häufig, Und zwar auch in der allgemeinen Bedeutung "heilig" (her. 110; praem. 84; 101; plant. 90; somn. 1256) bzw. "fromm" (fug. 149; somn. 11 269). 29 Vgl. auch N. BROX, Past 293: Das Attribut l.€Qo:n:QElt~~ bezeichnet "umfassend die Tugendhaftigkeit einer gottesfürchtigen Frau". 30 G. HOLTZ, Past 219. Ähnlich äußern sich etwa D. GUTHRIE, Past 205; TM. D. LEA H. P. GRIFFIN, Past 299. 31 N. BROX, Past 293. 27
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Wenn also in diesen Anweisungen eine unmittelbare, in den Personen selbst begründete Aktualität nicht gegeben war - dies gilt v. a. für die Anweisung bezüglich des Weintrinkens -, dann ist zu fragen, ob nicht eine Erklärung in den Gemeinden selbst, im Leben oder in Glaubensfragen zu finden ist. Eine Möglichkeit wäre, daß die Past angesichts einer in den Gemeinden durch die Häretiker ausgelösten libertinistischen Einstellung zu Zucht und Ordnung mahnen wollten 32. Dafür finden sich jedoch keine wirklich überzeugenden Hinweise. Wenn man die wenigen und bruchstückhaften Bezüge auf die als Häresie bekämpften Lehrinhalte betrachtet, ergibt sich nicht der Eindruck eines ethischen Liberalismus. Im Gegenteil! Die Aufforderung, nicht zu heiraten, und die Forderung, auf den Verzehr bestimmter Speisen zu verzichten (vgl. 1 Tim 4,3), können als Ausdruck eines ethischen Rigorismus verstanden werden. Dazu will Freizügigkeit in sittlichen Belangen nicht passen. Betrachtet man die Art der Formulierung der Mahnungen an die Diakone 1 Tim 3,8 und an die Frauen in unserem Vers, dann wird ganz deutlich vor einem Mißbrauch beim Genuß von Wein gewarnt; in beiden Fällen wird einmal vor (zu) "viel" Wein gewarnt und dazu vor einer Einstellung, die soviel wie Abhängigkeit besagt (besonders deutlich hier in V 3 in der Formulierung mit OEOO'UAW!lEVac;) 33. Es erscheintdurchaus möglich, daß die Past nach zwei Seiten hin argumentieren wollen bzw. auch müssen, wenn sie vom Verhalten der Christen im Blick auf den Verzehr bestimmter Speisen sprechen. Das wird hier paradigmatisch abgehandelt am Thema Wein. Zu einer frommen Frau paßt nicht, daß sie übermäßig Wein trinkt; es wird aber gerade nicht Abstinenz vom Wein als "Zeichen" der Frömmigkeit verlangt, ja nicht einmal anerkannt (vgl. 1,15). Das läßt den Schluß zu, daß zumindest einige der genannten guten Eigenschaften in der Intention der Past gar nicht exklusiv mit der Gruppe verknüpft gesehen werden sollen, der sie gerade zugeschrieben bzw. von der sie eingefordert werden. Das Ziel ist vielmehr, an einigen Beispielen aufzuzeigen, wie christliche Verantwortung sich im konkreten Alltag auswirken muß. Für den speziellen Fall heißt das: Was den älteren Frauen zum Weintrinken gesagt wird, das gilt für alle in der Gemeinde. Wenn von den älteren Frauen weiter verlangt wird, daß sie xaAoOL32 In diese Richtung geht die Interpretation bei V. HASLER, Past 92: "Vermutlich trug die eingebrochene und sich ausbreitende Schwärmerei enthusiastischen Charakter und verführte die Gläubigen, die sittlichen Bande zu lockern, die ethischen Anstrengungen zu verachten und Haltlosigkeit und Verlotterung als Ausdruck einer aller irdischen Verbindlichkeit enthobenen Geistigkeit und intellektueller Bildung zu verstehen." " Es steht nicht da: " ... die betagten Frauen müssen dem Weingenuß entsagen" (so S. SCHULZ, Ethik 599). - A. VÖGTLE, Thgend- und Lasterkataloge 239 Anm. 10, bemerkt zur Formulierung in Tit 2,3, sie erscheine "sehr abgewogen".
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öaaXUAOL sein sollen, dann ist die darin implizierte Tätigkeit des ÖLöaaxELv als eine eingeschränkte zu betrachten. Eine Teilnahme an der amtlichen Verkündigungstätigkeit, wie sie etwa für den Episkopos vorausgesetzt ist (vgl. 1 Tim 3,2: öLöuX'tLx6~), wird in 1 Tim 2,12 den Frauen ausdrücklich untersagt. Die älteren Frauen haben den Auftrag, im Bezug auf die spezifischen Belange der jüngeren Frauen und deren Pflichten für das Haus und für die Familie belehrend zu wirken, und man muß vielleicht ergänzen: nur im Bezug darauf 34 ; dies geschieht v. a. durch ein gutes, vorbildliches Leben 35. Vielleicht steckt in dem XUAoöLöaaxuAo~ und der Verwendung für ältere Frauen ein Hinweis darauf, daß die Gemeinden der Past die Tätigkeit der Frauen in der Verkündigung noch kennen, daß der Verfasser aber das Interesse hat, deren Wirkungskreis einzuschränken auf ihr vorbildliches Verhalten, d.h. daß er die Lehrtätigkeit der Frauen als "auslaufendes Modell" betrachtet. 4 Die Intention einer restriktiven Festschreibung der innergemeindlichen Stellung der Frauen wird bestätigt durch die inhaltliche Konkretisierung dieser "guten Belehrung": Die jungen Frauen sollen von den älteren dazu angeleitet werden, als gute und ordentliche Ehefrauen und Mütter den ihnen in den Familien zustehenden Dienst zu verrichten. Als Ehefrauen, die sich durch Liebe zu ihren Männern und den Kindern auszeichnen, entsprechen sie einmal einem Idealbild, das in der Antike hoch geschätzt war 36 • Des weiteren sind die Past in besonderer Weise interessiert daran, das geordnete christliche "Haus" als Vorbild für eine gut verwaltete und in sich gefestigte und festgefügte Gemeinde vorzustellen. Dazu gehört einmal, daß die Frau sich in die Rolle der dem Mann untergebenen Hausfrau fügt (vgl. 1 Tim 2,11 f). Sie hat sodann im Rahmen der ihr gegebenen Möglichkeiten bzw. der ihr zugestandenen und dann auch aufgetragenen Funktionen dafür Sorge zu tragen, daß die christlichen Familien nach außen hin anziehend wirken; und nach innen, im Blick auf die Gemeinde, kann das Ideal eines geordneten, harmonischen Zusammenlebens in der Familie übertragen werden auf ein ebenso strukturiertes und damit reibungslos funktionierendes Zusammenleben in der Gemeinde. Die Betonung der Gatten- und Kinderliebe hat schließlich noch einen apologetisch-polemischen Akzent: Christliche Gemeinden müssen Daß der Verfasser hie~ die älteren Frauen dafür einsetzen will, die jüngeren "zu der von ihm gewünschten Lebensführung zu veranlassen", und das heißt nach 1 Tim 2,11 f: sie von der Lehre auszuschließen, betont auch U. WAGENER, Ordnung 92. 3S V gl. R. SCHWARZ, Christentum 80; E. SCHLARB, Lehre 334; H. MERKEL, Past 96 (" ... Lehrmeisterinnen dadurch, daß sie die genannten Thgenden vorbildhaft leben"). 36 Vgl. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 105 mit Belegen; D. C. VERNER, Household 134f; Y. REDALIE, Pau144lf.
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sich gegen abwertende Beurteilungen von Ehe und Familie durch gnostisch geprägte Strömungen wehren 37 • Diese Verknüpfung der von den jüngeren Frauen eingeforderten Einstellungen mit Entwicklungen in den Gemeinden der Past verdient den Vorzug gegenüber Erwägungen, die wieder die jüngeren Frauen besonders gefährdet sehen, "in schwärmerischer Begeisterung ihr Herz an die fremden Lehrer zu verlieren und in die frommen Zirkel zu laufen (vgl.l.Tim. 5,11-15)"38.
5 Dieser Vers formuliert noch deutlicher den Gedanken der Bedeutsamkeit des Hauses als des Ortes, an welchem die Frauen als verheiratete Frauen der "gesunden Lehre", d. h. dem rechten Glauben, zur Darstellung und zum Sieg verhelfen können. Während mit aW<jJgwv eine Verhaltensweise angesprochen wird, die durch ihre Allgemeingültigkeit (vgl. V 2) eher blaß wirkt, kennzeichnen die folgenden Eigenschaften wieder eine vorbildhafte Ehefrau und Mutter, ohne daß allerdings spezifisch christliche Besonderheiten genannt wären 39. Mit dem Adjektiv ayvt') wird die verheiratete Frau nicht nur in einem allgemeinen Sinn als "rein" bezeichnet (in dieser allgemeineren Bedeutung, bezogen auf den Apostelschüler und Nachfolger im Dienst der Gemeindeordnung, steht ayvoc;; 1 Tim 5,22); es geht vielmehr um Lauterkeit und Untadeligkeit in der Ehe. Dabei ist nicht gleich eine christlich begründete hohe Auffassung von der ehelichen Treue vorauszusetzen - auch wenn dies selbstverständlich nicht als ausgeschlossen gelten kann; als Motivation wird einzig angegeben, daß vom Verhalten der Frauen kein Anstoß ausgehen darf, der der Gemeinde und damit der Verkündigung des Wortes Gottes schaden könnte. Vielleicht darf man sagen, daß hier noch ein gewisses Maß an pragmatischem Denken mitspielt. Ähnliches gilt für die folgende Kennzeichnung mit dem Adjektiv OLXOUgyOC;;. Diese Form des Adjektivs anstatt des klassisch bezeugten oLxougoC;;40 ist nur noch selten belegt, das Verb oLxoUgYEW (den Haushalt führen) in 1 Klem 1,3. Wenn also das Wirken der Frauen im RahV gl. R. SCHWARZ, Christentum 47, der unsere Stelle als Beleg einer "ehefreundlichen Einstellung" der Past versteht; "die Abwehr gnostischer Bestrebungen" ist auch nach H. MERKEL, Past 97, für diese Einstellung zu bedenken. 38 So V. HASLER, Past 92, allerdings vorsichtig mit "vielleicht" eingeleitet; auch 1 Tim 5,11-15 ist keineswegs ohne weiteres mit dem dort beklagten Verhalten der jüngeren Witwen zu erklären! 39 Vgl. etwa J. FREUNDORFER, Past 299f: "Es werden keine Tugenden genannt, die ausschließlich christliche und religiöse Eigenart wären." Etwas anders J. REUSS, Tit 42: Paulus zeichne "ein leuchtendes Bild von einer christlichen Frau". 40 In einigen Handschriften steht, ziemlich sicher als sekundäre Verbesserung, OLXOU37
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men der häuslichen Ordnung als Ideal vorgestellt und zusätzlich der Gemeindeleiter dazu aufgefordert wird, über die älteren Frauen dies den jüngeren Ehefrauen einzuschärfen als das, was der "gesunden Lehre" entspricht, darin hat diese Festlegung auf den Dienst im Haus auch die Funktion, den Bereich der Familie als den Ort der Bewährung der Frau im Dienst einer christlichen Ordnung festzuschreiben und entsprechend Abweichungen als Verstoß gegen die "gesunde Lehre" und damit auch als Zeichen häretischer Gesinnung zu brandmarken. Daß solche Gedanken den Past nicht fremd sind, zeigen die Urteile über die den Frauen zugestandenen bzw. untersagten Tätigkeiten in christlichen Gemeinden (vg1.1 Tim 2,9-15; 5,3-16; 2 Tim 3,6f). Mögen also auch hier für die konkreten Anweisungen Anknüpfungspunkte in einem in der Antike verbreiteten Ideal von der Hausfrau und Mutter, die "im Haus" bleibt und dort wirkt, von Bedeutung gewesen sein 41, so gewinnt dieses Ideal in den Past eine neue Qualität, insofern solches Verhalten die ganze Gemeinde betrifft und deshalb auch vom Gemeindeleiter zu verordnen und zu überwachen ist".
Es folgt dann noch als ein blasser wirkendes Eigenschaftswort ayaIm Rahmen der von den Frauen verlangten Haltungen wird man diesen Begriff im allgemeinen Sinne von "tüchtig" zu verstehen haben 43 • Als eine weitere Thgend wird die Bereitschaft zur Unterordnung unter den Mann genannt. Was in 1 Tim 2,11 f für die Ebene der Gemeinde schon gefordert war, das wird jetzt zusätzlich für den häuslichen Bereich angemahnt. Hier liegt zwar wieder ein Anknüpfungspunkt zur neutestamentlichen Haustafeltradition vor (Kol 3,18; Eph 5,22; vgl. 1 Petr 3,1 f); der Rahmen des Hauses wird allerdings deutlich überschritten, indem nämlich die Aufforderung zur Unterordnung der Frauen unter ihre Ehemänner nicht aus der Beziehung zu diesen begründet, sondern - für den Fall mangelnden Unterwerfungsgehorsams - die Gefahr einer die gesamte Gemeinde betreffenden negativen Auswirkung beschworen wird. Ungehorsam bzw. mangelnde Unterordnung im Haus, dem Mann gegenüber, ist nicht nur als ein eo~.
Vgl. dazu N. BROX, Past 294. Daß die Gemeinde der "Bezugsrahmen" der an die verschiedenen Stände bzw. Gruppen ergehenden Weisungen ist, wird besonders von A. WEISER, Titus 408-412.414, betont. " Gegenüber der von einigen Exegeten bevorzugten Erklärung von OtKO'UQYO!; als Substantiv und der Zuordnung von aya8o!; als erläuterndes Adjektiv - "gute Hausfrauen, tüchtige Wirtschafterinnen" (vgl. G. WOHLENBERG, Past 243; M. DIBELIUS H. CONZELMANN, Past 105; A. T. HANSON, Past 180; H. MERKEL, Past 95) - paßt separate Übersetzung (vgl. u.a. CH.1. ELLIcoTT, Past 194; 1. N. D. KELLY, Past 241; N. BROX, Past 293f; J. D. QUINN, Tit 12lf; G. W. KNIGHT, Past 308) besser; es handelt sich um eine katalogartige Aufzählung von Tugenden, unter denen die "Tüchtigkeit" eigene Erwähnung verdient. 41
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Verstoß gegen die Ordnung der Ehe im traditionellen und auch im christlichen Sinn verstanden; dies ist vielmehr eine Verfehlung gegen die durch die Autorität des "Paulus" legitimierte Gemeindeordnung und damit zugleich eine Verfehlung gegen das, was der "gesunden Lehre" entspricht (V 1). Das Bild, welches hier von der Frau entworfen wird, soll aus der Sicht des Verfassers gewiß als Idealbild für die christlichen Frauen betrachtet werden. Letztlich geht es dabei also nicht um den Nachweis der Thgenden; bedeutsamer ist, daß die so beschriebene Frau dem entspricht, was der Gemeindeleiter von einer im rechten Glauben lebenden christlichen Mutter und Ehefrau fordert. Der Stellenwert eines den aufgezählten Verhaltensweisen entsprechenden "ordentlichen" Lebens der Frauen wird verdeutlicht durch die nachgetragene Begründung, daß das Wort Gottes nicht gelästert. werden darf: Die Wendung Myo; 8wu steht für die christliche Verkündigung insgesamt. Und gerade auf diesem Hintergrund erscheint es - zurückhaltend formuliert - zumindest auffällig, daß zur Begründung der Anweisungen die "Rücksicht auf die Umwelt" herangezogen und nicht etwa eine spezifisch christliche Begründung gegeben wird 44 • Hier ist erneut ein Blick auf die vergleichbaren ethischen Weisungen der anderen schon genannten neutestamentlichen Spätschriften angebracht. Wahrend in den sog. Haustafeln des Kol und Eph und auch in 1 Petr im Anschluß an die Ermahnung an die Frauen, sich ihren Männern unterzuordnen, vom Mann entsprechendes Verhalten verlangt wird, liebe (Kol 3,19; Eph 5,25) bzw. Rücksicht und Achtung (1 Petr 3,7), begnügen sich die Past mit der einseitigen Forderung an die Ehefrauen, sich ihren Männern unterzuordnen. Und während Kol und Eph wenigstens eine grundsätzliche bzw. allgemeine christologische Begründung geben (KoI3,18 "wie es sich im Herrn ziemt"; Eph 5,22 "wie dem Herrn"), und Eph noch eine ekklesiologische Einbindung anfügt (Eph 5,23 "der Mann ist das Haupt der Frau, wie auch Christus das Haupt der Kirche ist ... "), verzichtet der Autor der Past auf eine vergleichbare Begründung bzw. Einbindung 45 • Diese "EntwicklUng" von KolJEph hin zu den Past ist zum einen gekennzeichnet durch den Verlust des Momentes der Gegenseitigkeit in den ethischen Weisungen und unmittelbar damit verbunden durch die "Proklamation einer festen Ordnung", "in der der Mann sich nach allen Seiten bewähren, Frauen, Kinder und vor allem Sklaven sich unterordnen sollen""; zum anderen kommt es, auch aufgrund der Ausdehnung und sozialen Ausdifferenzie-
... Vgl. M. DmELIUs - H. CONZELMANN, Past 10Sf. Ein unmittelbarer Bezug auf die Gegner (den N. BROX, Past 294, annimmt) ist in diesem Fall weniger wahrscheinlich. .. Mit E. W. STEGEMANN - W. STEGEMANN, Sozialgeschichte 344, ist freilich zuzugestehen: "An der patriarchalen Dominanz des Mannes ändert grundsätzlich auch nichts, wenn die Unterordnung der Frauen durch die Beziehung auf Christus (oder Gott) umschrieben wird ... " .. E. SCHWEIZER, Kol162-164.
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rung der Gemeinden 47, zu einer stärkeren Öffnung der ethischen Argumentation zugunsten einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive. Beide Akzentuierungen sind sicher rnitbedingt durch innergemeindliche Entwicklungen, v. a. durch das die Einheit des Glaubens und so die Einheit der Gemeinden gefährdende Auftreten von Lehrern, die sich in ihrer Verkündigung in zentralen Punkten von der Tradition unterscheiden 48 • Der Verunsicherung nach innen entsprach die Gefahr, daß christliche Gemeinden ihre Attraktivität für Außenstehende verlieren.
Im Blick auf die Beschreibung der Rolle der Frau in diesem Vers bleibt festzuhalten: Aus der Situation der innergemeindlichen Probleme kann die vorliegende Erklärung der genannten ethischen Merkmale zur Norm einer frommen, dem rechten Glauben verpflichteten christlichen Frau als begründet und berechtigt anerkannt werden. Zu fragen ist dann aber, ob man unter diesen Bedingungen davon sprechen kann, daß die traditionelle Ethik durch solche Übernahme als christlich/christologisch begründete Ethik ausgewiesen ist, da doch die zentrale Motivation eben nicht aus der Christologie, sondern aus der Rücksicht auf geschichtlich bedingte Gemeindeverhältnisse bzw. aus der Rücksicht auf Verhaltensmuster und Erwartungen der nichtchristlichen Umwelt erwächst. Die entscheidende Frage ist folglich nicht mehr die nach dem "Recht" eines solchen Verhaltens bzw. solcher Forderungen; denn dieses Recht ergibt sich aus den konkreten geschichtlichen Bedingungen der Zeit 49 • Was bleibt, ist die Frage nach der Relevanz solchen Anspruches für die Zukunft. Vgl. D. LÜHRMANN, Haustafeln 91-95; 1. E. CROUCH, Origin 141-144. Im Einschwenken des Verfassers der Past auf die "Linie des streng konservativen Patriarchalismus seiner Zeit" sieht H. MERKEL, Past 97, eine Reaktion auf gnostische Häresien; nichtsdestoweniger sei "diese situationsbedingte Stellungnahme als Rückschritt hinter die Position des Kolosser- und Epheserbriefes [zu] beurteilen". Diese innergemeindliche Problematik dürfte für die Past dringlicher gewesen sein als die apologetische Funktion, die nach D. L. BALcH, Wives 109, in 1 Petr 2,18-3,7 in den Mahnungen an Sklaven und Frauen zur Unterordnung maßgeblich war. - Im Anschluß an D. L. Balch kommt A. PADGETT, Rationale 44-51, zu dem Ergebnis, daß "Paulus" (Padgett favorisiert die "Sekretärshypothese") in seiner Forderung der Unterordnung der Frauen insbesondere die Gegner außerhalb der Kirche im Auge hatte. "His greatest concern was for the health and safety of his churches and for the evangelization of the Gentile world. This meant that women had to be subrnissive to their husbands at horne (if they were not so already) to avoid greater persecution for them, and slander and persecution for the church and her male and female(!) leaders."- Nach Meinung von L. R. DONELSON, Pseudepigraphy 177-180, zeigt sich die apologetische Zielsetzung in der Gegenüberstellung der Forderung an die Frauen, sich ihren Männern unterzuordnen (u:n;0-nlooEo6m, vgl. auch 2,9 und 3,1, sowie u:n;otay~ 1 Tim 2,11; 3,4), zur Beschreibung der Irrlehrer als avu:n;OtaXtOL (Tit 1,10; vgl. 1 Tim 1,9; Tit 1,6). " K. THRAEDE, Hintergrund 365-367, verweist darauf, daß die Bedeutung der "Herrschaft" sowohl im sozialen Bereich (im "Haus") als auch im politischen Bereich (in der "Monarchie") dazu führte, daß die christlichen Gemeinden "mehr und mehr nach vergleichbar organisierten Leitungsämtern" strebten; in diesen geschichtlichen Kontext einer "Zunahme des autoritären Elements auch in der Kirche" und des Zuwachses an "hierarchischem Denken" gehörte die Entwicklung der "Ständetafel". 47
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6 Erstaunlich knapp fällt dann die Mahnung an die jüngeren Männer aus: sie sollen "besonnen sein in allem". Die Einfügung des Imperativs 3taQaXelAEL unterstreicht erneut den Charakter des Textes als Beschreibung der Aufgaben des Gemeindeleiters. Die schon an die älteren Männer und die jungen Frauen (VV 2.5) erteilte Mahnung zu Besonnenheit (ooocpQOVELv) zeigt, wie global und allgemein verbindlich auch diese Weisung zu verstehen ist. Was für die jüngeren Männer gilt, das gilt letztlich für alle Mitglieder der Gemeinde, gleich welcher Altersgruppe oder welchem Geschlecht sie angehören. Zieht man noch den folgenden V 7 mit in Betracht, dann kann man in der Textgestaltung eine Verschiebung des Akzentes erkennen; war bisher mit der relativ wortreichen Ausgestaltung der von "Titus" anzumahnenden Verhaltensweisen der Eindruck einer Aufreihung von Tugenden vorherrschend, so rückt jetzt (ähnlich V 1) wieder die Person dessen in den Vordergrund, der diese Weisungen zu erteilen hat und damit auch deren verpflichtenden Charakter begründet, nämlich der in Titus angesprochene Gemeindevorsteher. 7 Über allem steht der dem "Titus" erteilte Auftrag zur "Ermahnung" der Gemeinde (V 6). Sein Verhalten muß so sein, daß es diesem Auftrag nicht nur nicht widerspricht, sondern ihn unterstützt. Der Gemeindeleiter hat seiner Verpflichtung zur Gemeindeunterweisung im Wort und im Tun nachzukommen. Wenn also hier an "Titus" besondere Ermahnungen gerichtet werden, so geschieht dies im Blick auf seine Stellung als für das Leben und den Glauben der Gemeinde verantwortlicher Vorsteher. Der Aspekt des Vorbildcharakters des Lebens derer, die in der Gemeinde und für die Gemeinde besondere Verantwortung tragen, ist ein Grundzug der Past (vgl. für den Episkopos 1 Tim 3,2-7; für Diakone und Diakoninnen 1 Tim 3,8-12; für die Presbyter und den Episkopos Tit 1,5-9)'°. Dieser Gedanke, daß das Leben des Apostelnachfolgers Vorbildcharakter hat, darf nicht isoliert gesehen werden; er selbst wird auch verpflichtet auf das "Vorbild" des Apostels. Der Schüler und Nachfolger wird etwa ermahnt zur Gemeinsamkeit im Leiden (2 Tim 2,3: (J'\)yxuxo3tu91'](Jov); sein Kennzeichen ist, daß er dem Apostel nachgefolgt ist in der Lehre und in vielem anderen (3,10: 3tuQ1']xoÄou91'](JuS !l0ll 'tfi ÖtÖU(JXUÄL~ ... ); und er wird aufgefQrdert, in dem zu bleiben, was er gelernt hat und wovon er sich überzeugt hat (3,14: !lEVE EV orS E!lu9ES 'KaL E3ttCJLoo91']S). Von Paulus wird aber auch gesagt, daß er in dem ihm zuteil gewordenen Erbarmen Gottes "Vorbild" für alle ist, die zum Glauso Es ist deshalb nicht von zwei Aufgaben des "Titus" zu sprechen, einerseits von der
besonderen Verantwortung als Vorsteher, andererseits von seiner Vorbildfunktion für die jüngeren Männer (vgJ. dazu G. W. KNIGHT, Past 311); indern "Titus" vorbildhaft lebt, wird er der ihm für die ganze Gemeinde übertragenen Verantwortung als Vorsteher der Gemeinde gerecht.
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ben kommen sollen (1 Tim 1,16: JtQo~ imo'tumomv 'twv IlEAA.OV'tWV JtLO'tEUELV EJt' aimp): und von" Timotheus" wird gefordert, daß er "Vorbild für die Gläubigen" sein soll (1 Tim 4,12: 'tuJto~ YLVOU 'twv JtLO'twv). Insgesamt spielt dabei auch der Gedanke einer personal garantierten Kontinuität herein (vgl. dazu auch 2 Tim 1, 5).
Eine gewisse Konkretisierung dieses Motivs von der vorbildlichen Wirkung des Beispiels des Apostels bzw. seines Nachfolgers im Amt der Verwaltung der Gemeinde liegt darin, daß der Vorbildcharakter des "Titus" hier im Zusammenhang der Ermahnungen an die jüngeren Männer steht. Im Anschluß an 1 Tim 4,12, wo vom "jugendlichen Alter" des Timotheus gesprochen wird, und in Verknüpfung mit 1 Tim 5,lf, wo "Timotheus" unter anderem dazu aufgefordert wird, "jüngere Männer" wie Brüder zu ermahnen (VEO),(EQO'U~ &~ aöeA.qJov~), wird auch unser Vers bisweilen für die Erklärung herangezogen, Titus werde hier "altersmäßig so eingestuft wie Timotheus in [1 Tim] 5,1f.", also als "junger Mann"51. Setzen wir die pseudepigraphische Abfassung der Past voraus, dann könnte man vermuten, daß mit dieser Parallelisierung wieder aktuelle Probleme in den Gemeinden der Past geklärt werden sollten, insbesondere Fragen, die mit der Gemeindestruktur und den Trägem der Leitungsämter gegeben waren. Es ist nicht auszuschließen, daß der Verfasser mit der (ansatzhaften) Gemeindeleiterparänese im Rahmen der Belehrung der jüngeren Männer auf Entwicklungen in seinen Gemeinden Einfluß nehmen wollte: sei es in der Hinsicht, daß der Autor durch die Stärkung der Position des jugendlichen Amtsträgers auf "eine typische Autoritäts-Krise gerade bei jungen Amtsträgem" in den Gemeinden der Past klärend einwirken wollte 5z, oder sei es, daß mit dem "typisierenden Zug der Jugendlichkeit" "die vom Ältestenamt wegführende Tendenz des Verfassers" dokumentiert werden sollte 53. Beide Zielsetzungen sind grundsätzlich mit der ekklesiologischen Konzeption der Past vereinbar. Dennoch ist zu fragen, ob vom Text her eine derartige Fixierung auf die Beziehung Gemeindeleiter - jüngere Männer zu rechtfertigen ist. Dagegen 54 spricht: Weder wird der " So N. BROX, Past 295, im Anschluß an 1. JEREMIAS, Past 72, der vom "jungen Amtsträger" spricht. "Titus" erscheint als "Vertreter der 'VEOJ'tEQOL" auch bei G. ROLTZ, Past 220; ähnlich O. KNOCH, Past 77. 52 Vgl. N. BROX, Past 295f. Nicht überzeugend klingt die Begründung, die F. 1. SCHIERSE, Past 161, dafür angibt, daß der Bischof hier "in verhältnismäßig jugendlichem Alter" stehe: "Weil er also noch mit den gleichen Schwierigkeiten und Problemen zu ringen hat wie die übrigen Männer seiner Gemeinde, kann er ihnen ein wirkliches Vorbild (vgl. 1 Tim 4,12) sein." " R. MERKEL, Past 97. 54 V. RASLER, Past 92, verweist darauf, daß "nicht ausdrücklich von Jünglingen, sondern von jungen Männern im Vergleich zu den eingangs der Perikope erwähnten betagten
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Vorbildcharakter des Gemeindeleiters eingegrenzt auf die Gruppe der jüngeren Männer, noch läßt sich bei dem, worin der Apostelschüler sich als Vorbild erweisen soll, eine spezifische Gruppe von Bezugspersonen festmachen 55. Besonders deutlich zeigt sich das gleich bei der ersten "Konkretisierung", daß "Titus" sich als "Vorbild guter Werke" zeigen soll. Solche guten Werke gelten in den Past sonst als Zeichen des rechten Glaubens (2,14; 3,8.14; vgl. auch die negative Aussage in 1,16). Stärker auf die Gruppe der Gemeindeleiter ausgerichtet erscheint die nächste Forderung: "Unverdorbenheit in der Lehre". Wie immer man diesen Anspruch auslegen will- auf die Lauterkeit des Predigers oder auch auf die Unverfälschtheit der Lehre bezogen 56 - : es handelt sich dabei um eine Eigenschaft, die in besonderer Weise gefordert wird im Blick auf eine entsprechende Ausrichtung der ganzen Gemeinde, auch wenn in diesem Vers die jüngeren Männer angesprochen sind. Hier zeigt sich erneut, daß bei den ethischen Weisungen die Grenzen fließend sind. Das gilt nicht nur hinsichtlich der Verwendung des Thgendreservoirs, die in den meisten Fällen keine personen- oder gruppenspezifische Ausrichtung aufweist, sondern auch für die angesprochenen Gemeindemitglieder. Was in der Person des vom Apostelschüler repräsentierten Gemeindeleiters oder über ihn vermittelt von bestimmten Gruppierungen als rechtes Verhalten, d. h. als Zeichen des "gemeinsamen Glaubens" (vg1.1,4) und als Äußerung der "gesunden Lehre" (1,9.13; 2,1.2.8) gefordert wird, das gilt der ganzen Gemeinde 57. Auch "Würde" ist umfassend zu verstehen als Ausdruck bzw. als Zeichen der Vorbildlichkeit des Vorstehers, welche die Gemeinde insgesamt prägen muß (vgl. V 2). 8 Der Vorbildcharakter des Gemeindeleiters liegt besonders darin, daß er sich der ihm übertragenen Verantwortung dem "Wort" gegenüber gewachsen zeigt. Entsprechend der Ausrichtung dieser Mahnung die Rede (ist), so daß nicht die Jugendlichkeit des Titus und des mit ihm gemeinten Gemeindeverantwortlichen besonders betont wäre". Die Vorstellung von Titus als "Repräsentant der jungen Männer" ist nach A. T. HANSON, Past 181, "an anachronism". 55 Mit V. HASLER, Past 92: " ... der Inhalt der Ermahnung ist sehr allgemein formuliert und paßt auf alle Glieder der Gemeinde." Vgl. auch M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 106: " ... die Einkleidung ändert nichts am allgemeinen Charakter der Weisung." " V gl. N. BRox, Past 296. " Dadurch werden die Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen (etwa Männer und Frauen, Sklaven und Herren) und vor allem zwischen Gemeindeleiter und Gemeinde nicht aufgehoben. Die Schlußfolgerung von F. J. SCHIERSE, Past 162, diese "Gleichstellung des Apostelschülers und Bischofs mit den übrigen Männem der Gemeinde" verrate "noch ein gesundes demokratisches Empfinden", muß schon deshalb als fraglich erscheinen, weil die Gemeinde gar nicht unmittelbar angesprochen ist.
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(von V 1 her) auf den Amtsinhaber ist an die ihm in spezifischer Weise anvertraute Sorge für das "Wort", d. h. für die Verkündigung, zu denken (vgl. 1,9). Er hat für den "gesunden", den rechten Glauben zu sorgen, um so gegen die Irrlehrer zu wirken. Wenn die jungen Männer und mit ihnen die ganze Gemeinde seinem Beispiel folgen, dann ist dies zugleich Bewährung ihres Glaubens. Mit der zusätzlichen Kennzeichnung des "Wortes" als "unanfechtbar" erfährt der insgesamt erkennbare Grundzug einer auf Abgrenzung und auf Sicherung des erreichten Glaubensstandes bedachten Frömmigkeit noch eine Bekräftigung; denn damit wird zusätzlich als das erstrebenswerte Ziel bzw. als der Anspruch der Verkündigung angegeben, daß die Gemeindeleiter vor allem mit der Bewahrung eines ihnen anvertrauten Glaubensschatzes betraut sind. Die defensive Grundeinstellung wird dann noch unterstrichen durch den Lva-Satz. Darin wird gleich die Rolle festgelegt, die dem Gegner solchen Glaubensverständnisses zukommt. Dieser "Gegner" - oEs EvavtLa; steht in diesem Sinne im Neuen Testament nur hier ist aufgrund der Gemeindekonstellation in den Past mit dem alles prägenden Gegenüber von Paulus, Apostelnachfolger, Gemeindeleiter und den diesen folgenden Gläubigen auf der einen Seite und den Irrlehrern auf der anderen Seite (vgl. auch die Abfolge 1,10-16 und 2,1-15) ziemlich sicher einzugrenzen auf die von der Lehre der Kirche abweichenden Prediger S8 in den christlichen Gemeinden und nicht auf Gegner in der heidnischen Umwelt zu beziehen s9 ; denn der Verweis auf "das gesunde Wort", d. h. die als apostolisch anerkannte und deshalb rechtmäßige Lehre und Tradition, kann als Argument nur im innerkirchlichen Streit Anerkennung finden. Eine Bestätigung dafür ist zu sehen in der polemischen Sprache, die das, was es durch das gesunde Wort der Verkündigung zu vermeiden gilt, als "übles Gerede" abqualifiziert. An dieser Stelle zeigt sich wiederum die Besonderheit des von den Past gewählten Weges der innerkirchlichen Auseinandersetzung. In 2 Tim wird dem Apostelschüler und dessen Nachfolgern ausdrücklich untersagt, sich mit denen, die abweichende Glaubenslehren vertreten, in Streitereien und Diskussionen einzulassen (2,14.16.23). Gefordert wird das persönliche Zeugnis des Gemeindeleiters, in Entsprechung zum Vorbild des Apostels (vgl. 2 Tim 1,8.13f; 2,15.22; 3,10-12; 4,1-5).
" Der bestimmte Artikel ist im generischen Sinn zu interpretieren: "jeder, der zu den Gegnern zu zählen ist" (vgl. G. W. KNIGHT, Past 313). " Mit N. BRox, Past 296; J. D. QUrNN, Tit 143; H. MERKEL, Past 97. Für beide Möglichkeiten plädieren G. HOLTZ, Past 221f; C. SPICQ, Past 623; A. T. HANSON, Past 181; G. W. KNIGHT, Past 313.
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Der Streit wird auf der personalen Ebene entschieden; den Irrlehrern wird unterstellt, daß sie "Schlechtes" zu sagen beabsichtigen gegen die dem Apostel treu ergebenen Christen (:ltEQL ~!-lö)v!). Das können diese verhindern, indem sie sich ganz dem Wort des autorisierten Predigers anvertrauen.
9 Etwas überraschend folgt noch (vgl. schon 1 Tim 6,lf) eine Mahnung für die Sklaven. Sie fällt hier aus dem Rahmen, da die Sklaven als Angehörige der Gemeinde bereits in den voranstehend genannten Gruppen mit der Spezifizierung nach Alter und Geschlecht mit angesprochen sein mußten. Ebenso wechselt das Beziehungsgefüge, in welchem die Sklaven gesehen werden; denn als Sklaven können die Betroffenen nicht in ihrem Bezug zur Gemeinde angesprochen werden, sondern nur in ihrer Unterordnung gegenüber einem Hausherrn, also hinsichtlich der hausinternen Ordnung. "Die Sklaven sind Sklaven des Hauses, nicht der Gemeinde."60 Die anderen nach Alter und Geschlecht aufgeteilten Gruppen sind angesprochen in ihrem Bezug zur Gemeinde. Dies gilt auch für die jüngeren Frauen und die von ihnen v. a. eingeforderte Bewährung in der Familie und in der Ehe; denn sowohl das Alter als auch das Geschlecht erlauben eine eindeutige Bestimmung der Gruppe in bezug auf die Stellung in der Gemeinde. In der Übernahme der Ermahnungen an die Sklaven ist (wie schon bei der Ausgestaltung der Anweisungen an die Frauen in VV 4 f) eine Gemeinsamkeit mit der Haustafel-Tradition von Kol und Eph sowie mit der Paränese in 1 Petr gegeben. In der inhaltlichen Ausgestaltung liegt insofern Übereinstimmung vor, als von den Sklaven hier wie dort Unterordnung und Gehorsam gegenüber ihren Herren gefordert werden (KoI3,22-25; Eph 6,5-8; vgl. auch 1 Petr 2,18-25). In Tit 2 fehlt allerdings (wie auch in 1 Tim 6,lf) die für Haustafeln konstitutive Entsprechung der Mahnungen an die "Herren", wie sie sich den Sklaven gegenüber zu verhalten haben (vgl. Ko14, 1 "ihr Herren, gebt den Sklaven, was recht und billig ist ... "; Eph 6,9 "ihr Herren, handelt in gleicher Weise gegen eure Sklaven ... "; in 1 Petr fehlt solche Entsprechung ebenfalls). Ähnliches galt auch schon in V S, wo die Frauen einseitig zur Unterordnung unter die Männer ermahnt wurden. Auch dort War dieser im eigentlichen Sinn für das Haus bestimmten Verhaltens anordnung zusammen mit den anderen Forderungen ein Gemeindebezug zugesprochen worden (" ... damit das Wort Gottes nicht gelästert werde").
Für die Einfügung der Sklavenregel mag neben einem gewissen Formzwang das immer aktuelle Anliegen der Past mit ausschlaggebend gewesen sein, das christliche Haus als bestens geordnetes und damit sowohl für die Gemeinde vorbildhaftes als' auch nach außen hin anziehendes Sozialgebilde zu erweisen; zum "Haus" zählen in der antiken Welt die Sklaven 61 • Außerdem hat das Motiv der Unterord60
Vgl. A.
WEISER,
Titus 408f (im Original zum Teil kursiv).
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nung und des Gehorsams in einer Gemeindeleiterparänese einen guten und passenden Platz, auch wenn bei den Sklaven nicht unmittelbar Gehorsam dem Gemeindeleiter gegenüber verlangt wird. Zu dieser Unterordnung wird ergänzend gesagt, daß sie umfassend sein muß (h :7tämv ist vom Gesamtgefälle der Past her am besten auf U:7t01;UOow8m zu beziehen und nicht auf das nachfolgende d,aQEO'to'U~ ELvm). Dabei ist die Frage, ob der Sklave in einem christlichen Haushalt zu denken ist 62 oder ob die Beziehung christlicher Sklaven zu heidnischen Herren vorausgesetzt werden sol1 63 , für den Autor von untergeordneter Bedeutung. Seine Absicht ist, die Stabilität der sozialen Strukturen als Kennzeichen der christlichen Gemeinden vorzustellen und sie gleichzeitig als Ausdruck des rechten Glaubens für verbindlich zu erklären; auf diese Weise kann die Kirche als stabilisierender Faktor für die Gesellschaft· ausgewiesen werden 64. Für die Aktualität der Ermahnung zur "Unterordnung" ist auch hier der Kontext mitzubedenken. Ein wesentliches Kennzeichen der Irrlehrer ist, daß sie Gehorsam und Unterordnung vermissen lassen (vgl. 1,10.16). Ähnliches gilt für die Forderung an die Sklaven, ihre Situation "widerspruchslos" zu akzeptieren (1l11 UV'tLAEYOvta~); dazu paßt ebenfalls der voranstehend (1,9) formulierte Auftrag an den Episkopos, "die, die widersprechen, zu überführen" (toU~ UV'tLAEYov'ta~ EAEYXELV). Da das Adjektiv E'ÖUQEO'tO~ also ebenfalls die Beziehung zu den "Herren" bestimmen soll, ist die darin verlangte "Wohlgefälligkeit" in derselben Richtung einer Unterwürfigkeit zu interpretieren, die das Los des Sklavendaseins bedingungslos akzeptiert 65 •
62 So etwa 1. N. D. KELLY, Past 243; 1. D. QUINN, Tit 146. "Vgl. G. HOLTZ, Past 222f; V. HASLER, Past 93; A. T. HANSON, Past 182; G. W. KNIGHT, Past 314; Y. REDALIll, P1iul444f. .. Vgl. dazu D. C. VERNER, Household 140-145: "The author ofthe Pastorals views the slaves among the membership of the church from the perspective of the slave owner. He is concemed that Christian slaves in general not damage the church's public image by insubordination." Daß dabei die Gefahr besteht, "daß das Christentum ... letztlich zur Stabilisierung antiker Sozialverhältnisse beiträgt" (so H. MERKEL, Past 97), steht auf einern anderen Blatt . ., K. LÖNING, Epiphanie 121 Anrn.22, warnt zu Recht davor, das Stichwort "Unterordnung" mit "heutigen Konnotationen" zu befrachten. Wenn er dann aber weiter schreibt, das Wort habe hier in Tit 1,9 "wie Tit 3,1 und wie gewöhnlich im NT eine positive Bedeutung" und bezeichne "allgemein das konstruktive Sozialverhalten innerhalb der gesellschaftlichen Rangordnung~' (mit Verweis u. a. auf Röm 13,1.3; Eph 5,24; Kol 3,18; 1 Petr 2,13.18), dann ist das für die Past eine etwas einseitige Sicht; denn ein wichtiger Gesichtspuukt bleibt dabei außer acht: In den Past ist das Thema "Gehorsam" und "Unterordnung" von Bedeutung im Zusammenhang mit der Gemeindeordnung, und das bedeutet: auch mit der Bekämpfung der Irrlehrer; dazu paßt, daß die in den Haustafel-Listen übliche Verpflichtung auf Gegenseitigkeit (vgl. Eph 6,5-9; Kol
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So ist die Forderung an die Sklaven zu einem Gehorsam ohne Wenn und Aber auch in dieser Absolutheit zu sehen und nicht gleich, aufgrund der Einbindung in christliche Paränese, positiv als Ermöglichung der "Bewährung der christlichen Einstellung von Moral auch im Bereich des Weltlichen" zu werten 66. 10 Es folgt eine Warnung vor einem in der Lage von Sklaven sehr verständlichen und vielleicht in der Praxis nicht selten erlebten Tun, nämlich der Veruntreuung bzw. Unterschlagung des Eigentums ihrer Herren. Kennzeichen eines guten christlichen Sklaven - und ohne Abstriche auch, wenigstens in der Sicht der betroffenen "Herren", eines jeden anderen Sklaven, gleich welchen "Glaubens" - sind Treue und Verläßlichkeit in einem umfassenden Sinn, insbesondere natürlich in der Erfüllung der ihm übertragenen Aufgabe, der ordnungsgemäßen Verwaltung des Vermögens seines Herrn. Dies ist ganz allgemein eine Tugend eines guten, bewährten Sklaven, ohne unmittelbare Begründung aus seinem christlichen Glauben. Der angeschlossene Finalsatz mit dem Hinweis auf den Heilswillen Gottes steht in einer gewissen Spannung zum "Anlaß", nämlich zur Sklavenparänese. Er hat die Funktion, den ganzen Abschnitt der Mahnungen VV 2-10 abzuschließen und zugleich auf den folgenden Text, die heilsgeschichtliche Begründung der Gemeindeleiteretmahnung vorzubereiten. Die öLöao'X,at..La Gottes ist die Verkündigung, die von Gott und von seinem umfassenden Handeln als Retter spricht. Wie die verschiedenen Gruppen in den Gemeinden durch ein geordnetes Leben für ihren Glauben Zeugnis ablegen sollen, so wird auch die Bereitschaft der Sklaven, ihre soziale Stellung als dem Willen Gottes entsprechend anzunehmen, als "Werbung" für diesen Glauben interpretiert. Ziel eines christlichen Sklaven darf also nicht sein, aufgrund seines Glaubens nun auch für sein Leben Veränderungen erwarten zu wollen; sein Leben als Sklave soll nicht nur keine Änderung erfahren, es erhält jetzt noch eine theologische Untermauerung und durch die Einbindung in die Ermahnungen an die Christen eine gemeindetragende und den rechten Glauben bezeugende Verfestigung. 3,22-4,1) fehlt. In den Past steht "Unterordnung" im Kriterienkatalog, der über den rechten Glauben entscheidet. .. Die Aussage von V. HASLER, Past 93, die Betonung der Unterordnung fordere vom Sklaven "nicht Servilität, sondern die Bewährung der christlichen Einstellung und Moral auch im Bereich des Weltlichen", erscheint insofern fragwürdig, als in der Sicht der Past beides zusammenkommen kann; im Kontext der in der Ständetafel vorgetragenen Regelungen muß man sogar behaupten, daß im Verständnis des Paulus der Past einzig in der radikalen Ergebenheit in die Lage eines Sklaven für diesen die Anerkennung als frommer Christ möglich ist.
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III
(1) Die in diesem Text vorliegende Verknüpfung einer an die neutestamentlichen Haustafeln erinnernden Auflistung verschiedener Pflichten von Personengruppen in den Gemeinden mit der Anweisung an den Gemeindeleiter, für die Durchsetzung bzw. Verwirklichung dieser Verhaltens anordnungen Sorge zu tragen, verrät eine klare Konzeption. Die Gruppen der Gemeinde werden auf Verhaltensweisen verpflichtet, die für sich genommen noch keine Orientierung an der christlichen Botschaft aufweisen. Sie werden aber als Gemeindemitglieder, d. h. als Gläubige angesprochen, und somit resultiert letztlich der verpflichtende Charakter der Weisungen aus dem Hinweis auf die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde. (2) Diese Verhaltensweisen anzuordnen und über ihre Einhaltung zu wachen, ist Aufgabe des Gemeindeleiters. Was er verkündet, entspricht der "gesunden Lehre" (V 1), also dem rechten Glauben. Auf diese Weise gewinnen einerseits die genannten Tugenden, die durch die Forderungen zu Gehorsam an die Ehefrauen ihren Männern gegenüber und an die Sklaven ihren Herren gegenüber auch den Bereich gesellschaftlicher Konventionen umfassen, den Charakter von Zeugnissen und Bekundungen des rechten Glaubens. Das stärkt die Position des Gemeindevorstehers; denn er wird durch den Auftrag, für die Umsetzung der Weisungen Sorge zu tragen, als für die Gemeinde und ihr Leben und ihren Glauben unverzichtbar ausgewiesen. Mit dieser Verschiebung der Gewichte in der Gemeindekonzeption hin auf den Amtsinhaber ergibt sich auch, daß dieser in seinen Funktionen und Aufgaben immer mehr von der Gemeinde abgetrennt und über sie erhöht gesehen wird. Es kommt immer stärker zu einem Gegenüber von Gemeindeleiter und Gemeinde 67 • F. J. Schierse verweist als Parallelen zu unserem Text auf vergleichbare Belege in den "Apostolischen Vätern", wo (auch in Briefen, die an Gemeinden gerichtet sind) die "Standeslehren" durch "kirchliche Instanzen (Presbyter oder zum Lehren befähigte Männer) vermittelt" werden (1 Klem 1,3; 21,6; PolPhil 4,2; 5,3). Tendenzen einer "Entmündigung" der Gemeinde werden erkennbar. "Die eigene Initiative der Christen geht verloren, erwachsene Männer und Frauen lassen sich wie ,Pfarrkinder' behandeln und gängeln." 68
(3) Die Brisanz des Textes Tit 2,1-10 liegt nicht in erster Linie im Bereich der Ethik und der damit zusammenhängenden Fragen. Wenn Diese Konzeption der Unterweisung, die sich nicht mehr direkt an die einzelnen Gemeindemitglieder bzw. an die Gruppen in der Gemeinde richtet, sondern an einen verantwortlichen Vorsteher, der die Gemeinde repräsentiert, ist "ein Indiz dafür, daß das Amt der Gemeinde gegenüberzutreten beginnt" (H. MERKEL, Past 96). .. F. 1. SCHIERSE, Past 160. 67
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man die Absicht des Autors dahingehend bestimmt, daß er hier "nicht theoretische Erörterung oder theologische Argumentation" bieten wollte, "nicht Lehre, sondern konkrete Belehrung über das, was zu tun ist" 69, so ist dies nur ein Teil der Intention. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Ekklesiologie 70. Von Bedeutung ist die Frage nach der bestimmenden Thematik der VV 2-10 vor allem auch im Blick auf den soteriologischen "Ausklang" in V 10. Es ist zu fragen: Erhält mit diesem Verweis auf "die Verkündigung von Gott, unserem Retter", die ethische Weisung ihre theologische Begründung 71, oder wird mit der erneuten Bezugnahme auf die ÖlÖaaxaALa in V 10 das Thema von V 1, die "gesunde Lehre", wieder aufgegriffen und inhaltlich-theologisch spezifiziert? Für letzteres spricht, daß im nächsten Abschnitt (VV 11-14) die in V 10 angesprochene Thematik von Gott als dem Retter "heilsgeschichtlieh" entfaltet und erläutert wird 72. (4) Die dem Gemeindeleiter anvertraute "Lehre" hat also zwar ganz wesentlich zum Inhalt ethische Weisungen für die Gemeinde. Doch die ölöaaxaALa ist nicht darauf einzugrenzen 73. An unserer Stelle scheint es ein besonderes Anliegen der Past zu sein, die Basis für die vorliegende Gemeindeleiterparänese, die sich an die verschiedenen Gruppen in den christlichen Gemeinden zu richten hat, nach zwei Seiten hin zu erweitern: einmal bezogen auf die inhaltliche Bestimmung der ölöaaxaALa, zum anderen bezogen auf die Begründung des Anspruches des Gemeindeleiters. Ersteres ließe sich eher als "dogmatisches" Anliegen kennzeichnen, insofern die gerade (in VV 2-10) vorgestellten Weisungen nicht nur eine theologische Begründung erfahren, sondern der eigentliche Grund, das tragende Fundament dieser Forderungen genannt wird: Gott, unser Retter. Hier liegt letztlich der
So V. HASLER, Past 91. Vgl. dazu Y. REDALIE, Paul 449. Anders akzentuiert allerdings auch G. LOHFINK, Norrnativität 100: "Das Schwergewicht liegt nicht im Dogmatischen, sondern im Ethischen." 71 So H. v. LIPS, Glaube 46 Anm. 71. 72 Vgl. G. HOLTz, Past 224; A. WEISER, Titus 406. 73 V gl. dazu die ausführliche Darstellung zu Ölöam\UALa/ÖlÖux~ bei E. SCHLARB, Lehre 288-299, bes. 297f: Da in Tit 2,1 die Wendung AO.AEl Ci ltQEltEL als "Gegenposition der Pastoralbriefe das öLÖamtOV1:E~ Ci ~Tj ÖEL der Gegner aus 1,l1b" aufnimmt, gehe es nicht an, "die folgenden haustafelartigen Paränesen an Alte und Junge, Männer wie Frauen wie Sklaven, als die eigentlichen Inhalte der ,gesunden Lehre' und diese somit als eine Summe christlicher Tugenden zu verstehen"; wie bei den anderen Belegen, in denen von der "gesunden Lehre" gesprochen wird (1 Tim 1,10; 2 Tim 4,3; Tit 1,9; vgl. 1 Tim 6,3; 2 Tim 1,13), sei auch zu Tit 2,1- unter Berücksichtigung des Kontextes (2,11-14 bzw. 3,1 ff) - festzustellen: "die Pastoralbriefe schließen in der (UYLULvouoa) ÖlÖUOXUALU antihäretische, dogmatische und ethische Inhalte und Ausrichtungen zu69
70
sammen."
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Grund dafür, daß es im konkreten Tun um die Entsprechung zum Willen Gottes geht; nur wenn und weil die ethischen Mahnungen als Bestandteil dieser Verkündigung vom Retterwillen Gottes verstanden werden, können sie Anspruch auf Befolgung haben, sind dann aber gleichzeitig für die Gläubigen verpflichtend 74 • Damit stehen wir am Übergang von der theologischen zur ekklesiologischen Konkretisierung, wie das zweite Anliegen gekennzeichnet werden kann. Der Gemeindeleiter ist deshalb Autorität derart, daß sich in der Zustimmung (Gehorsam, Unterordnung) die Rechtgläubigkeit entscheidet, weil der ihm (vom Apostel) übergebene Auftrag zur Verkündigung im letzten, damit aber auch in allen Details, vom Heilswillen Gottes handelt. (5) Wie an anderen Stellen, wo es um Anordnungen über die Stellung der Frauen in der christlichen Familie und in der Gemeinde geht (vgl. 1 Tim 2,9-13; 5,3-16; 2 Tim 3,6f), ergibt sich auch an dieser Stelle, vor allem unter dem Eindruck der Wirkungsgeschichte, ein zwiespältiger Eindruck. Es ist einerseits zuzugestehen, daß unter den geschichtlichen Bedingungen der damaligen Zeit, unter dem innergemeindlichen Druck und im Blick auf die Beziehungen zur Umwelt, aus der Perspektive des Verfassers eine solche Forderung nach Unterordnung der Frauen als notwendig erscheinen konnte. Über das "Recht" oder die Angemessenheit seiner Forderung aus unserer heutigen Sicht zu diskutieren, erscheint deshalb relativ müßig, weil uns die Kenntnisse über die konkreten Bedingungen fehlen und unsere Kritik wesentlich von der bis in die Gegenwart reichenden Wirkungsgeschichte geprägt ist. Die Einsicht in die Zeit- und Situationsgebundenheit ergibt gleichzeitig nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar die Verpflichtung, im Blick auf die Anweisungen des Pseudo-Paulus der Past zu fragen, ob sie unserer Zeit angemessen sind - wie es im übrigen unser Autor im Blick auf die von ihm in Anspruch genommene Kontinuität zur Paulustradition auch getan hat! Nimmt man den Traditionsgedanken ernst, dann stellt dieser vom Autor der Past unternommene Versuch, den Anspruch der vom Apostel Paulus repräsentierten apostolischen Verkündigung in eine neue Zeit mit veränderten theologischen, gesellschaftspolitischen und kirchlichen Bedingungen hinein zu übersetzen 75, die Leser späterer Zeiten ebenfalls vor die Aufgabe, ihrerseits
V gl. PH. H. TOWNER, Past 235: "Christian ethics and the Christian message are rneant to be inseparably and harmoniously related." 75 V gl. R. 1. KARRIS, Past 115 (zu Tit 2,1-10): "In the Pastorals the author borrows frorn variousetbical sources in bis search for flexible answers to problems attendant upon churches caught up in the transition frorn the time of Pau! to a post-Pau!ine situation." 74
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angesichts neuer Herausforderungen und Fragen sich um aktuelle Antworten und Lösungen zu bemühen 76. LITERATUR: H. v. LIPS, Die Haustafel als "Topos" im Rahmen der urchristlichen Paränese. Beobachtungen anband des l.Petrusbriefes und des Titusbriefes: NTS 40 (1994) 261-280; D. LÜHRMANN, Wo man nicht mehr Sklave oder Freier ist: WuD 13 (1975) 53-83; DERS., Neutestamentliche Haustafeln und antike Ökonomie: NTS 27 (1980) 83.,...97; A. PADGEIT, The Pauline Rationale for Submission: Biblical Feminism and the hina Clauses of Titus 2:1-10: EvQ 59 (1987) 39-52; W. SCHRAGE, Zur Ethik der neutestamentlichen Haustafeln: NTS 21 (1974) 1-22; E. SCHWEIZER, Der Brief an die Kolosser (EKK) (ZürichlNeukirchen 1976) 159-164; DERS., Die Weltlichkeit des Neuen Testaments: die Haustafein: Beiträge zur Alttestamentlichen Theologie. FS W. Zimmerli, hrsg. v. H. Donner u; a. (Göttingen 1977) 397--413; G. STRECKER, Die neutestamentlichen Haustafeln (KoI3,18-4,1 und Eph 5,22-6,9): Neues Testament und Ethik. FS R. Schnackenburg, hrsg. v. H. Merklein, (Freiburg i.Br. 1989) 3<W-375; A. WEISER, Titus 2 als Gemeindeparänese: Neues Testament und Ethik. FS R. Schnakkenburg 397-414.
5. Die heilsgeschichtliche Begründung für das Leben der christlichen Gemeinde (2,11-15) Denn erschienen ist die Gnade Gottes, die allen Menschen Heil bringt; 12 sie leitet uns an, daß wir,. nachdem wir uns von der Gottlosigkeit und den weltlichen Begierden losgesagt haben, besonnen, gerecht und fromm leben in der jetzigen Weltzeit, 13 in der Erwartung der seligen Hoffnung und der Offenbarung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Retters Jesus Christus, 14 der sich für uns hingegeben hat, um uns freizukaufen aus aller Gesetzlosigkeit und sich ein auserlesenes Volk zu reinigen, das sich eifrig zeigt in guten Werken. 15 Das rede und ermahne und weise zurecht mit allem Nachdruck. Niemand soll dich verachten. 11
I Der Abschnitt läßt sich in einer zweifachen Weise charakterisieren. Es handelt sich einmal für sich genommen (in den VV 11-14) um ein bekenntnisartiges Stück, in dessen Zentrum die Beschreibung der christlichen Gemeinde als ein durch Jesu stellvertretenden Sühnetod gereinigtes und geheiligtes "Volk" steht. Insofern hat dieser Textabschnitt eine gewisse Eigenständigkeit und Unabhängigkeit. Im Kontext des Dazu paßt, was O. MERK, Glaube 100 (vgl. 93-102), zu dem "Problem" schreibt, "das den Verfasser zu seinem Verständnis von 1t1.m;M; und EuayyfA.lOv geführt hat: Dem Fortbestehen von Kirche und Welt in der Weise Rechnung zu tragen, daß die christliche Gemeinde den Anforderungen und Herausforderungen einer gewandelten und sich ständig noch wandelnden Situation gewachsen ist und den Aufgaben jeweiliger Gegenwart gewachsen bleibt." 76
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Tit aber haben die Verse zugleich die Funktion, die vorangehend geforderten Verhaltensweisen der Gemeindemitglieder als spezifisch aus der Christologie resultierendes Tun zu begründen; der Anschluß mit dem begründenden YUQ macht dies deutlich!. Die VV 11-14 geben somit "eine heils geschichtliche Begründung ... der ganzen Haustafel"2. In der Art und Weise der Ausformulierung erweist sich der Abschnitt als eine für die Past insgesamt charakteristische Verknüpfung von traditionellem Formelgut, wie es in V 14 in der Bekenntnisaussage von der Selbsthingabe Jesu Christi (sicher) und im Verbum A'U"tQouaSm (möglicherweise) vorliegt 3 , mit Begriffen, die für die theologische und christologische Konzeption der Past zentral sind (E:7tL
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solcher Übernahmen für die Past ist nur unter Berücksichtigung des Kontextes zu klären. II 11 Der Anschluß mit YUQ macht die Absicht des Verfassers eindeutig; mit den folgenden Bekenntnissätzen sollen die vorangehenden Mahnungen theologisch und christologisch untermauert werden 8. Als christliche Gemeinde wird eine Gemeinschaft erst dann erfahrbar, wenn sie ihr nach den Tugenden gestaltetes Leben aus dem Glauben begründet und verantwortet. Diese Begründung des Glaubens und der daraus für die Gemeindemitglieder resultierenden Verpflichtung, so zu leben, wie es "Paulus" über die von ihm eingesetzten Nachfolger in der Gemeindeaufsicht aufgetragen hat (1,5; vgl. auch 1 Tim 3,1-7; 2 Tim 2,2), erfolgt mit einem "fundamentalen Glaubenssatz" 9, der den Rahmen einer Motivierung eines "ordentlichen" Lebens deutlich übersteigt; denn darin wird die universale Geltung der christlichen Gottesverkündigung ausgesprochen. Dieser erste Satz in V 11 hat die für die Bekenntnisse der Past typische Gestalt (vgl. dazu auch 1 Tim 2,3-6; 2 Tim 1,8-10): Er spricht (1) von der "Gnade Gottes", von seinem Heilswillen; diese Gnade Gottes ist (2) "erschienen", also in einem in Raum und Zeit näher zu
BURG, Botschaft 100; M. REISER, Christentum 38; kritisch zur Abhängigkeit des Tit von einer "platonisch-hellenistischen Infizierung" G. HOLTZ, Past 226); bei Annahme entsprechender Abhängigkeit wäre dies als bewußte Auslassung durch den Verfasser der Past zu interpretieren. Dagegen führt S. C. MOTT, Ethics, den Nachweis, daß schon in der hellenistischen Literatur in der Aufzählung der Haupttugenden €UaE߀La an die Stelle von avöQ€La treten konnte und daß die Tit 2,13 belegte Dreiergruppe (besonnen, fromm, gerecht) auch in den Tugendlisten geläufig war, insbesondere auch bei Philo. Die bei Mott aufgelisteten Angaben belegen überzeugend die Breite möglicher Anknüpfungspunkte für den christlichen Autor der Past (so im Anschluß an Mott auch y. REDALlE, PauI203-205). Weniger gesichert ist dagegen Motts Schlußfolgerung, diese Übereinstimmungen zwischen Philo und Tit seien zusammen mit der ebenfalls mit Philo übereinstimmenden Bedeutung von :n;mö€[a "as the instrument of the decisive change from vice to virtue" (Mott, a. a. 0. 30-35) und weiteren terminologischen Gemeinsamkeiten (aw'tT]Q, xaQL~, XQ1']O't6t1']~, qJLAav8Qw:n;[a) als Beleg dafür auszuwerten, daß die Past von der von Philo (darüber hinaus auch von Weish und 4 Makk) repräsentierten jüdischen Tradition abhängig zu sehen seien. "As Philo placed the Hellenistic traditions into the framework of the Jewish law, so the author of the Pastoral Epistles placed the traditions shared with Philo into his own Pauline framework" (a. a. 0. 47.46-48). Trotz der unbezweifelbaren Gemeinsamkeiten mit der jüdischhellenistischen Tradition, die auch bei Philo bezeugt ist, läßt sich direkte Abhängigkeit von Philo im Einzelfall kaum belegen; nach Meinung von M. REISER, Christentum 38 Anm. 30, ist solche Abhängigkeit "unwahrscheinlich". 8 Dieses Bekenntnis ist "der Indikativ, der die Basis für alle vorhergehenden Imperative bildet" (H. MERKEL, Past 98; vgl. auch O. MERK, Verantwortung 157). , V. HASLER, Past 93.
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beschreibenden Geschehen den Menschen erfahrbar geworden; und dieses Geschehen ist (3) als Offenbarung der Gnade Gottes auf das Heil aller Menschen ausgerichtet. In dem Verbum "erscheinen", "offenbar werden" (E:rtLcpuLvEo8m) begegnet eine für die Past typische Formulierung. Während das Substantiv E:rtLcpavELu in den Past unmittelbar auf das Christusgeschehen bzw. auf die Gottesoffenbarung in Jesus Christus Bezug nimmt (vgl. 1 Tim 6,14; 2 Tim 1,10; 4,1; 4,8; Tit 2,13), ist das Verbum verknüpft mit einer theologischen Aussage im engeren Sinn (vgl. auch 3,4). Es trifft sicher die Intention der Past, wenn man das in V 11 angesprochene heilsgeschichtliche Ereignis mit dem Begriff "Christusgeschehen" umschreibt 10; die in den VV 13.14 folgende Explizierung bestätigt dies. In Anbetracht der Art und Weise der Formulierung wäre es jedoch zu eng, wollte man, gewissermaßen punktuell, nur an die Inkarnation mit den Stationen des Lebens Jesu einschließlich seines Todes denken. Es geht um das Christusgeschehen, die Christusoffenbarung im weitesten Sinn; nämlich in dem Sinn, daß diese verstanden werden kann als bleibender, bis in die Gegenwart hinein erfahrbarer Ausdruck der "Gnade Gottes". Das Stichwort x.aQL~ kann in diesem Vers gedeutet werden als "Ermöglichung des Zugangs zu Gott. überhaupt durch diesen Gott selbst" 11. Dieser Zugang zu Gott aber ist in der Konzeption der Past nicht nur, ja nicht einmal vorrangig in Verbindung zu sehen mit dem Christusgeschehen im Sinne eines der Vergangenheit angehörenden Ereignisses; es ist vielmehr mit der Bezugnahme auf die Gnade Gottes, die allen Menschen "bleibend" - sö darf das Adjektiv OW'ttlQLO~ ergänzt werden - das Heil vermittelt, die Gegenwart als die Zeit ausgewiesen, auf die es ankommt 12. Die Offenbarmachung der Gnade Gottes im Christusgeschehen ist weiterhin wirksam, nämlich inder Verkündigung der Kirche, der das Christusgeschehen zu immer neuer Aktualisierung in der Predigt aufgetragen ist 13. Dieser Gedanke der Einbindung der Offenbarung Gottes in das Kerygma
V gl. o. KNOCH, Past 77. Vgl. K. BERGER, EWNT III 1098; zu Tit 2,11-14 bemerkt Berger allerdings, hier werde "Gnade zum guten Werk" (a. a. 0. 1097). 12 Nachdrücklich betont dies 0. MERK, Verantwortung 157: "Die Erscheinung des Retters Jesus Christus ist ,jetzt' offenbar geworden und gegenwärtig (2 Tim 1,10), jetzt ist die rettende Gnade erschienen, um als ,erziehende Gnade' sich in der Gegenwart auszuwirken (Tit 2,11; vgl. 2,12). Dasempfangene Heil ist durch die vom Evangelium gesetzte Kontinuität bleibende Gegenwart für das Leben in der christlichen Gemeinde," 13 Vgl. R. PESCH, Bürgerlichkeit 29: "Die Epiphanie der Gnade Gottes ist recht verstanden die Epiphanie Christi. Die Epiphanie Christi, seine Offenbarung, geschieht aber als Wort und im Wort." '0
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bestimmt bereits das Präskript (vgl. 1, 2f) 14; der nähere Kontext mit der Betonung der Beauftragung des Apostelschülers und -nachfolgers zur Verkündigung der "Lehre" (vgl. bes. 2,1 und 2,15) unterstreicht dies. Gottes gnädiges Wollen und Handeln ist dort gegenwärtige Wirklichkeit, wo das Wort der Predigt Aufnahme findet 15. Die Ergänzung, daß die Gnade Gottes "heilbringend ist für alle Menschen", hat sicher für die Gemeinden der Past in mehrfacher Hinsicht aktuelle Bedeutung. In der adjektivischen Bedeutung steht aw'tTtQtO~ nur hier im Neuen Testament ('to aw'tTtQtOv im substantivischen Gebrauch Lk 2,30; 3,6 [= Jes 40, 5]; Apg 28,28; Eph 6,17 [vgl. Jes 59,17]). Man darf diesen Zusatz als Bestätigung der vorgelegten Interpretation betrachten, daß die ausdrückliche Erwähnung der Universalität des Heilswillens Gottes den Gedanken der zeitlichen Unbegrenztheit unterstreicht, also die Ausweitung des Begriffes der Oflenbarmachung auf die Zeit der Kirche und ihre VerkÜDdigungstätigkeit bestätigt. Bei dieser Ergänzung ist aber auch zu beachten, daß sie im Kontext der Gemeindeleiterparänese und eines Pfiichtenkatalogs für die Gemeindechristen nicht selbstverständlich ist. Die Betonung der Universalität der Heilsgnade Gottes ist auch insofern nicht voll in den Kontext integriert, als im folgenden (in den VV 12-14) jeweils der Verfasser in der 1. Person Plural formuliert. Dies spricht dafür, daß er ganz bewußt mit dem Hinweis auf die Universalität der Heilsgnade Gottes "eine antihäretische Spitze" gegen Tendenzen einer Eingrenzung der Heilsanwärter einfügen wollte 16. 12 Der Blick richtet sich wieder auf die christliche Gemeinde; sie ist in dem "wir" (~f.ta~) angesprochen. Diese christliche Gemeinde erscheint jetzt als Objekt einer Auswirkung der Gnade Gottes, die mit :rtmÖEvELv umschrieben wird. Im Unterschied zu der in der LXX geläufigen und dann auch bei Paulus mit diesem Verbum verknüpften Bedeutung "züchtigen" (1 Kor 11,32; 2 Kor 6,9; aber auch 1 Tim 1,20; im Anschluß an alttestamentliche Texte [Spr 3,12; Ps 117,18LXX] auch Hebr 12,5f; 1 Klem 56,2ft) ist hier die Bedeutung (vergleichbar dem Sinn in 2 Tim 2,25) "anleiten" zugrunde zu legen. Die Wirksamkeit der Gnade Gottes wird also umschrieben mit dem der hellenistischen Umwelt entnommenen Gedanken der Erziehung, wobei allerdings dieser Aspekt der "Erziehung" völlig unbetont Dazu M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 107. O. KNOCH, Past 77f: "Das gegenwärtige Heil steht im Mittelpunkt des religiösen Denkens der Past ... " l' Vgl. N. BROX, Past 298. Auch H. MERKEL, Past 98, sieht darin eine Spitze gegen den "gnostischen Determinismus". 14
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bleibt; deshalb ist es nicht angebracht, hier von einem "Bildungsziel" zu sprechen 17. Die Gnade Gottes leitet "uns" an zu einem entsprechenden "Leben" (Lva ~fJa(I)J.1Ev). Die Verwendung des inklusiven "uns" ist am besten zu erklären als Angleichung an die dem Verfasser vorgegebene Formulierung des in V 14 übernommenen formelhaften Bekenntnisses im Wir-Stil (vgl. auch 3,4-7). Das durch die Gnade Gottes in den Christen bewirkte Leben wird zweifach umschrieben, wobei die beiden Lebenssituationen auch durch unterschiedliche Zeitformen bestimmt sind. Einst war das Leben geprägt von "Gottlosigkeit" und von "weltlichen Begierden". Eine inhaltliche Explizierung bzw. eine Konkretisierung dieser beiden Aussagen über die der Vergangenheit angehörende Lebenszeit hin auf bestimmte Verhaltensweisen der Gemeindemitglieder ist deshalb problematisch, weil es dem Verfasser, wie seine Art und Weise der Gegenüberstellung deutlich macht, um den Kontrast zwischen dem Damals und dem Jetzt geht (vgl. 3,3-7), nicht aber darum, im einzelnen zu belegen, wie das Leben der jetzigen christlichen Gemeindemitglieder vor ihrer Annahme des Christusglaubens ausgesehen hat 18. Wie es Kennzeichen des gläubigen Christen ist, "besonnen" (a(I)cpQ6v(I)~), "gerecht" (~kXaL(I)~) und "fromm" (EuaEß&~) zu leben, so gilt für diejenigen, die ihr Leben nicht nach diesen Tugenden ausrichten, daß sie in Gottlosigkeit, in Gottesferne und in der Gewalt von Begierden stehen, die nicht dem Willen Gottes und damit auch nicht der Bestimmung des Menschen entsprechen. Der Verfasser verwendet dafür das Adjektiv 'XoaJ.1L'X6~, das im Neuen Testament sonst nur noch in Hebr 9,1 (im neutralen Sinn für das "irdische" Heiligtum) vorkommt. Hier steht es in Verbindung mit aaeßEL<x und charakterisiert als GegenbegrifI zu einem "besonnenen, gerechten und frommen Leben" die Gottferne, "das Reich des Ungehorsams gegen Gott und der Sünde" I". Daß der Verfasser bestimmte Verhaltensweisen ansprechen wollte, ist eher unwahrscheinlich. Er will den Kontrast betonen, einerseits gewiß zwischen dem in Jesus Christus geschenkten "neuen Leben" und einer Existenz außerhalb dieses Glaubens 20 , andererseits aber auch den Kontrast zwischen deDiese Interpretation bei F. 1. SCHIERSE, Past 165. V gl. H. v. LIPS, Glaube 90: "Die Kontrastierung einst - jetzt ... markiert den Wandel, den Heilsgeschehen generell und christliche Bekehrung speziell für die Menschen bedeuten." 19 G. W. KNIGHT, Past 320. 1. D. QUINN, Tit 153, macht darauf aufmerksam, daß die bei frühchIistlichen Theologen zu beobachtende negative Verwendung von XOOIlLXO~ hier bei Tit seine Wurzeln hat. 20 V gl. PH. H. TowNER, Past 245 f: Das neue Leben ist "die Antithese zum alten Leben". 11
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nen, die sich an die "gesunde Lehre" halten (2,1) und die deshalb "besonnen, gerecht und fromm" leben, und denen, die durch Ungehorsam (1,10) und Widerspruch gegen die "gesunde Lehre" (1,9) nicht nur ihren Glauben gefährden (vgl. 1,13), sondern durch ihre Werke Gott verleugnen (1,16). Was nicht dem gleich noch vorzustellenden Ideal eines christlichen Lebens entspricht, das ist mit Gottlosigkeit und Befangenheit in irdisch-weltliche Bedingungen gleichzusetzen. Für diese implizit polemische Akzentuierung könnte die Formulierung mit ugVljOUftEVm sprechen. Was als "irdisch" bzw. "weltlich" bezeichnet wird, liegt auf der Ebene der Glaubensentscheidung und ist nicht zu beziehen auf die materiellen Dinge bzw. gar auf die leibliche Existenz des Menschen; denn das würde der deutlich ausgesprochenen Überzeugung der Past widersprechen, daß die ganze Wirklichkeit menschlichen Lebens hineinzunehmen ist in den von Gott als dem Schöpfer und Erlöser bestimmten Glauben (vgl. 1 Tim 4,3-5). In der Art der Formulierung klingt allerdings dualistisches Denken an; es gewinnt aber noch kein Eigengewicht.
Wenn wir die angesprochene innergemeindliche Auseinandersetzung um den rechten Glauben (und das heißt für die Past immer auch: um ein diesem Glauben entsprechendes Leben) für diesen Vers inAnschlag bringen, dann ist dies auch bei der Wendung des "Sich-Lossagens" (ugVljOUftEvm) mitzubedenken. Die zumeist vertretene Deutung auf den einmaligen Akt der Taufe 21 kann sich stützen auf die Aoristform des Partizips (ugvljouftEvm)22. Es gibt keinen Zweifel: Das Verbum ugvao8m (abweisen) beschreibt die radikale Entscheidung eines Menschen in seiner Hinwendung zum christlichen Glauben und will gleichzeitig betonen, daß die beiden durch diese Entscheidung voneinander getrennten Lebenssituationen gegensätzlich und miteinander unvereinbar sind 23 • Eine Einschränkung auf ein einzelnes, in der Vergangenheit liegendes Geschehen entspricht jedoch weder der theologischen Grundstruktur der Past noch den paränetischen Leitlinien, die die Gegenwart als Entscheidungszeit betonen. Aus der Verknüpfung des ersten Schrittes, der Abwehr von Gottlosigkeit 21 Vgl. 1. JEREMIAS, Past 72; G. HOLTZ, Past 226; R. PESCH, Bürgerlichkeit 31; N. BRox, Past 298; P. DORNIER, Past 143; H. V. LIPS, Glaube 92; R. 1. KARRIS, Past 116; 1. D. QUlNN, Tit 164f; H. MERKEL, Past 98f; M. REISER, Erziehung 445. 22 So 1. N. D. KELLY, Past 245; ohne ausdrücklichen Hinweis auf die Taufe C. SPICQ, Past 638 ("le participe aoriste exprime une rupture decidee avec le passe"), sowie PH. H. TOWNER, Goal 290f Anm.195. Vgl. auch P. FIEDLER, EWNT 1407: " ... die in der Bekehrung (Taufe) erfolgte Abwendung vom als gottwidrig erkannten Heidentum." 23 V gl. W. SCHENK, EWNT I 369: "Das entscheidende semantische Element ist nicht die falsche Position (die Behauptung von etwas Unrichtigem ... ), sondern die Opposition (die Bestreitung von etwas Vorgegebenem)." Daß hier an die "Forderung des Evangeliums nach ,Selbstverleugnung'" (vgl. Lk 9,23) gedacht ist, was F. 1. SCHIERSE, Past 166, in Betracht zieht, ist wenig wahrscheinlich.
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und irdisch-weltlicher Bindung (aQVTJOUIlE'VOL), mit der positiven Entscheidung ein vom christlichen Glauben bestimmtes Leben (Lva ... tT]ofi}IlEV) ergibt sich, daß die bleibende Bedingung für ein "frommes Leben" der Kampf gegen jede Art von "Gottlosigkeit" und "irdischen Begierden" ist. Die einmal (etwa in der Taufe) getroffene Entscheidung ist ein wichtiger und unverzichtbarer Schritt; aber er ist, wie die innergemeindlichen Auseinandersetzungen zeigen, angewiesen auf die stets .neue Umsetzung im Leben in der Gemeinde und in der Gesellschaft 24. In einem zweiten Teil wird die Wirkung der Gnade Gottes positiv formuliert und ausdrücklich auf die Gegenwart der Gemeinde gerichtet. Als Kennzeichen eines christlichen Lebens werden die Ideale angeführt, die z. T. bereits bei den Anweisungen an die einzelnen Gruppen der christlichen Gemeinden (VV 2-10) genannt worden waren und die der popularphilosophischen Ethik der hellenistischen Umwelt entsprechen. Erkennt man die Bedeutsamkeit der in der hellenistischen Ethik ausgebildeten Verhaltensnormen für die ethischen Weisungen der Past an, ergibt sich als Aussage des Autors: Er will aufzeigen, daß die genannten Bestimmungen des Lebens - Besonnenheit, Gerechtigkeit und Frömmigkeit - deshalb für den gläubigen Christen von Belang, ja von unbedingter Gültigkeit sind, weil sie als Entsprechungen und Auswirkungen der allen Menschen offenbarten und geschenkten Gnade Gottes zu verstehen sind.
rur
Trotz materialer Gemeinsamkeit mit der popularphilosophischen Ethik und auch bei Übereinstimmung in der Motivation kann man unschwer das Spezifische der ethischen Weisung der Past" erkennen: Erfüllung findet der Mensch in seinem Leben nur dann, wenn er sich gläubig versteht als von der Gnade Gottes bestimmt". Daß damit a1,!ch ein Anspruch an ihn als Glaubenden verbunden ist, ist nur konsequent". Mit den adverbialen Bestimmungen geben die Past eine von den ethischen Weisungen der Umwelt 27 bestimmte
2A Diesen Bezug auf die Gegenwart betont auch G. W. KNIGHT, Past 319, der die Aoristform aQVI]OaJ.IEVOL interpretiert auf der Linie des präsentischen Partizips ;tmöEuouoa und der im präsentischen Sinn verwendeten Aorist-Verbform ~tlOWJ.IEV. " Der durch die drei Adverbien oWCjlQovw<; Kat öLKaLW<; Kat EUOE!3ii'1<; umschriebene "Inhalt des christlichen Lebens" ist nach A. VÖGTLE, Thgend- und Lasterkataloge 242 Anm. 22, "durch den Zusammenhang ... eindeutig in das christliche Daseinsverständnis einbezogen, das den sündegelösten (2,12) und ewigkeitsstrebenden (2,13) Menschen will". Ähnlich N. BRox, Past 298; F. 1. SCHIERSE, Past 166. " V gL dazu H. v. LIPs, Glaube 90. Wenn v.Lips dabei allerdings als den Unterschied der Past zur philosophischen Ethik formuliert, daß der Mensch hier verstanden werde als einer, "der nicht aus eigenen Kräften zum Thn des Guten fähig ist" (ebd.), dann sind die theologische Argumentation der Past und ihre auf die Christologie aufbauende Gedankenführung, wenn es um das Thema "Heil" geht, gleich mitzunennen. 27 "The adverbs single out virtuous qualities on which Jews and Romans put a premium; for the just man, honest and upright, is the ideal of OT teaching and prayer, andthe man who is pius, ,reverent,' is the Roman ideal ... " (1. D. QUINN, Tit 166f).
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Beschreibung eines "christlichen Lebensideals" 28, ohne im einzelnen diese Verhaltensweisen spezifisch "christlich" auffüllen zu wollen.
Mit der Angabe Ev ,;0 vüv ai,rovL folgt eine Ergänzung, die überflüssig scheint; denn daß das "Leben" gebunden ist an diese irdische Welt und Zeit, kann als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Doch an zwei anderen Stellen fügen die Past diese formelhafte Wendung vom "gegenwärtigen Äon" ebenfalls ein: in 1 Tim 6,17, im Zusammenhang der Mahnung an die "Reichen in diesem Äon", nicht hochmütig zu sein; und in 2 Tim 4,10, im Vorwurf gegen einen gewissen Demas, daß er Paulus verlassen habe, "weil er diesen Äon liebt". In unserem Kontext zielt die Zeitbestimmung auf eine konkretisierende Beschreibung eines christlichen Lebens. Der konkret-geschichtlichen Offenbarung der Gnade Gottes entspricht, daß sie in der Geschichte ihre Wirksamkeit entfaltet 29 • Mit dem Verweis auf diesen Äon scheint zugleich eine zeitliche Eingrenzung gegeben. Häufig wird deshalb damit die Deutung verknüpft, die Past wollten mit dieser Wendung die "Perspektive der Vorläufigkeit" des hier und jetzt, im gegenwärtigen Leben zu Erreichenden betonen. Damit sei dieses Leben zwar einerseits betrachtet unter der Gewißheit, daß es bestimmt ist von der schon erfolgten Epiphanie, also dem "ersten" Erscheinen der Gnade, so daß die Gegenwart bereits als Heilszeit zu deuten ist; gleichzeitig aber werde doch die Vorläufigkeit und der auf eine noch ausstehende Erfüllung gerichtete Charakter dieses Äons erkennbar 30 • Auf diese Weise gelingt es, auch für die Past die eschatologische Perspektive als ein wesentliches Kennzeichen ihres Christusglaubens zu bestimmen. Die Erfüllung wird erwartet in der Zukunft, in der "zweiten" Epiphanie bei der Parusie 31.
Vgl. O. KNOCH, Past 78. Solches "christliches" Verständnis zeigt sich in der Interpretation der drei Adverbien bei G. W. KNIGHT, Past 320: es gehe um die Beziehung des einzelnen zu sich selbst ("thouglrtful self-control"), zu den anderen Menschen ("uprightness in dealings with others") und zu Gott ("genuine piety in relation to God"). " Den Bezug auf die Gegenwart christlichen Lebens betont nachdrücklich PH. H. TowNER, Goal 246: "The tinre reference in this present age focuses readers' attention on the now. S.alvation may not be complete (or completely realizable) until the return of Christ; but it has made possible a new quality of life in this present age. With the Christi an possibility goes Christian responsibility to live fully engaged in this world." Ja P. DORNIER, Past 143: "Si le chretien doit vivre ,dans le monde present', il sait que sa ,vraie patrie est dans les cieux' ... " Vgl. auch N. BRox, Past 299; H. v. LIPS, Glaube 91; TM. D. LEA - H. P. GRIFFIN, Past 31l. 31 Solche Unterscheidung vertritt etwa M. REISER, Erziehung 448, in der Aussage, "daß wir gegenwärtig gleichsam in einer Zwischenzeirleben, zwischen zwei Epiphanien: der heilbringenden Epiphanie der Gnade Gottes in der Fleischwerdung seines Sohnes und der endgültigen Epiphanie unseres Heilands, der diese Gnade in Person ist". 28
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Gegen eine solche Deutung einer in verschiedenen Stufen sich vollziehenden Epiphanie, unter Umständen noch verknüpft mit verschiedenen Subjekten - die Gnade Gottes (zuerst), (dann) Jesus Christus -, spricht die Aussage von V 11, daß die alle Menschen rettende Gnade Gottes erschienen ist; von irgendeinem Vorbehalt ist nicht die Rede. Und deshalb wird "der gegenwärtige Äon" auch als die Zeit gesehen, die in vollem Sinne Heilszeit ist. Der Ausblick auf eine noch ausstehende Vollendung mindert diese Feststellung nicht; sie erhält vielmehr eine Bekräftigung. Denn dadurch, daß von "diesem Äon" ausgeschaut wird auf die Parusie, wird dem gegenwärtigen Leben und Thn der Christen eine eschatologisch entscheidende Bedeutung zugesprochen. Mit dem präzisierenden Verweis auf den gegenwärtigen Äon als dem Ort eines dem offenbarenden, heilswilligen Handeln Gottes entsprechenden Lebens verdeutlichen die Past zudem, daß jeglicher weltund geschichtsvemeinende Rückzug christlicher Gemeinden im Wi- . derspruch zur Offenbarung Gottes steht. 13 Zu dieser Gottesoffenbarung gehört selbstverständlich eine von Gott bzw. von Jesus Christus her erwartete Vollendung. Der eschatologische Ausblick erscheint hier aber recht unbetont, fast wie ein "Anhängsel des christlichen Lebens" 32. Nun ist die in den Past (wie in anderer Weise im lukanischen Doppelwerk) vorgenommene Neuakzentuierungder Parusieerwartung nicht der willkürlichen Entscheidung des Autors zuzuschreiben; dies ist vielmehr eine notwendige Reaktion auf eine veränderte geschichtliche Situation. Sollte die Parusieerwartung weiterhin Gegenstand christlichen Glaubens und Hoffens bleiben, so konnte ihr in der Zeit der Past nicht mehr die gleiche Bedeutung zugemessen werden wie etwa bei Paulus. Der Unterschied kann folgendermaßen ausgedrückt werden: Während bei Paulus die eschatologische Erwartung auch die Gegenwart seines Lebens und Glaubens prägte, bestimmt nun in den Past die Forderung nach Bewährung in diesem gegenwärtigen Leben den Stellenwert der Zukunftserwartung 33 •
Die Art der Formulierung, nämlich der Anschluß mit der partizipialen Form 3tQoo~e')(6ItevOL, bestätigt diese Sicht. Man könnte sagen: Es ist das Kennzeichen eines der Offenbarung der Gnade Gottes entsprechenden Lebens, daß es auch in der Erwartung der von Gott und von Jesus Christus her noch zu verwirklichenden Vollendung gelebt wird. F. 1. SCIDERSE, Past 166. 0. KNOCH, Past 78, formuliert den Unterschied so: Während bei Paulus "die nahe Ankunft Christi das Leben grundlegend bestimmt, lebt der Christ hier umsichtig und
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verantwortungsbewußt in den Ordnungen dieser Welt im Vertrauen darauf, daß sein Leben seine Erfüllung und seinen Lohn finden wird bei der Epiphanie Christi zur festgesetzten Zeit".
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Als Gegenstand dieser Erwartung ist nicht nur die "Epiphaneia" genannt, sondern zuerst die "selige Hoffnung". Die Doppelung des Objekts der Erwartung ist beizubehalten, etwa im Unterschied zu 2 Tim 4,8, wo nur EJtupaVELo als Objekt steht. Das bedeutet, daß EA:1tL~ nicht einfach in den Begriff der Epiphaneia hineingenommen und in diesen hinein aufgelöst werden darf. Dies ist zu betonen etwa gegen N. Brox, der die Deutung vertritt: "Das Erhoffte wird nicht neben, sondern in der Epiphanie ... erwartet. Der eigentliche Gegenstand der Erwartung ist die Epiphanie, in der das Erhoffte endgültig und in Fülle offenbar wird."" In diesem Fall wäre aber zu fragen, warum der Autor nicht entsprechend formuliert. Andererseits ist es selbstverständlich nicht möglich, zwischen EA:1t\,~ und E:1tL<pavELo eine Trennung vorzunehmen; denn beide Begriffe kennzeichnen die Zukunftsperspektive der gläubigen Gemeinde auf der Basis der Glaubensüberzeugung, daß "Gottes Gnade erschienen ist" (V 11). Die im Text vorgegebene begriffliche Differenzierung kann thematisch so umgesetzt werden: Mit dem Verweis auf die Erwartung der "seligen Hoffnung" wird im Anschluß an 1,2 stärker das Moment der Vollendung der Heilserwartung für die Gläubigen betont, also die Soteriologie; bei Epiphaneia hingegen ist abgehoben auf den heilsgeschichtlichen Abschluß, also auf die theologische Perspektive der Parusieerwartung. Diese Differenzierung ist aber letztlich in der übergeordneten Aussage von der heilswilligen Gnade Gottes (V 11), d. h. theo-Iogisch, wieder aufgehoben, wie sich an den jeweiligen Erweiterungen zeigen läßt. Das Adjektiv 1l0%aQLO~ finden wir in den Past noch an zwei Stellen als Attribut Gottes: 1 Tim 1,11; 6,15. Wenn EA:1t\,~ das bezeichnet, was Gegenstand der Erwartung ist 35 , also das ewige Leben, dann verdeutlicht die Hinzufügung von 1l0%aQLo~, daß es eine beseligende, weil bei Gott liegende, in Gott begründete Hoffnung ist. In Entsprechung dazu erhält E:1tL<pavao eine Bestimmung durch das Stichwort M~o. Mit A. Schlatter ist zu betonen: "Nicht auf die Herrlichkeit der Christen wird gehofft, sondern auf die des großen Gottes ... "36 Der Glaube, daß Gott seine Gnade offenbart hat (in Jesus Christus und im Zeugnis der kirchlichen Verkündigung)'7, begründet die Erwartung der Volloffenbarung der Herrlichkeit; zugleich ist diese N. BRox, Past 299f. Vgl. A. SCHLATIER, Kirche 196. " A. SCHLATIER, Kirche 196. 37 Hierzu ist zu verweisen auf die gewiß nicht zufällige oder unbedachte Ergänzung der vom Verfasser übernommenen Bekenntnisse in 1 Tim 2,5f und 2 Tim 1,9f durch den Hinweis, daß "Paulus" mit der Verkündigung beauftragt ist (1 Tim 2,7; 2 Tim 1,11). 34
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Gewißheit, daß Gott seine öO!;a ganz offenbaren wird, der Grund für die Zuversicht, daß schon jetzt das Leben von dieser seiner Gnade umfaßt ist. Letzteres würde auch dafür sprechen, daß in der Meinung der Past die Gegenwart deshalb die entscheidende Heilszeit ist, weil sie von der Offenbarung Gottes in christologischer wie in ekklesiologiseher Hinsicht ganz und gar bestimmt ist 38 • Eine Aufteilung in eine erste und eine zweite Epiphanie und die Bestimmung der Zwischenzeit als "dieser Äon" wäre unter dieser Voraussetzung nicht mehr möglich. Es bleibt noch die Frage anzusprechen, wie der zweite Teil von V 13 zu übersetzen ist. Handelt es sich bei der Genitiv-Apposition zu 'tfj\; öO!;Tj\;, also bei der Wendung 'tOV J-lEYUAO'U 8EOV xal. uw'tfjQO\; ~J-lWV 'ITjuov XQLa'tOV, um eine eingliedrige Apposition, so daß zu übersetzen ist "die Herrlichkeit unseres großen Gottes und Retters Jesus Christus", Jesus Christus also - das ist das Entscheidende - als Gott bezeichnet würde 39 ; oder spricht die Apposition von "dem großen Gott" und "unserem Retter Jesus Christus"40? Zu dieser vieldiskutierten Frage ist von vomeherein festzuhalten, daß eine eindeutige Entscheidung nicht möglich ist 41 • Dies ist einmal dadurch bedingt, daß die Argumente für sich gesehen (etwa zur Christologie der Past) nicht eindeutig sind; zum anderen sind die Argumente ganz unterschiedlich und ungleichgewichtig 42 • '" Vgl. dazu 1 Tim 3,15 mit der Bezeichnung E1txA"1ola 6EOÜ 1;ÖJvto.:; und Tit 2,14 mit den Motiven von dem durch Jesu Selbsthingabe bewirkten "Freikauf aus der Gesetzlosigkeit" und der Reinigung zu einem "auserlesenen Volk". 39 So etwa W. LOCK, Past 144-146 ("probably"); W. HENDRIKSEN, Past 373-375; C. SPICQ, Past 640f (mit elf Gründen); J. REUSS, Tit 47 f; R. DEICHGRÄBER, Gotteshymnus 180f ("wahrscheinlicher"); P. DORNIER, Past 144f; J. L. HOULDEN, Past 150f; A. T. HANSON, Past 184; 1. H. MARsHALL, Christology 174f (fünf Gründe); J. HULTGREN, Past 164f; G. D. FEE, Past 196; D. GUTHRIE, Past 212 ("probably more reliable"); J. D. QUINN, Tit 155-157; G. W. KNIGHT, Past 322-325; PH. H. TowNER, Past 247f; K. LÄGER, Christologie 94-96. Zur ausführlichen Diskussion und Begründung dieser Auslegung vgl. M. J. HARRIS, Titus 2: 13, mit dem Ergebnis: " ... it seems probable that in Titus 2: 13 Jesus Christ is called ,our great God and Saviour' ... " (271); vgl. DERS., Jesus . .. E. F. SCOTT, Past 168f; J. N. D. KELLY, Past 246f; G. HOLTz, Past 227f; J. JEREMIAs, Past 73; R. J. KARRIS, Past 117; H. SIMONSEN, Traditionselemente 55 mit Anm. 8; U. BORsE, Past 121; H. MERKEL, Past 99; F. YOUNG, Theology 51-53; W. ThIESSEN, Christen 278 mit Anm. 146. 41 Vgl. N. BRox, Past 300. Y. REDALlE, Paul 200-213, stellt die unterschiedlichen Argumentationen kritisch dar, sieht aber die Unsicherheit in der Zuordnung der Bezeichnung als charakteristisch an für die "Unabgeschlossenheit" (circularite) der Epiphaniesprache zur Bezeichnung der Beziehung Gottes zu den Menschen. 42 Vgl. etwa die Gegenüberstellung bei O. KNOCH, Past 78: Der Gebrauch des Titels ow"tije für Gott und für Jesus Christus und die im Neuen Testament sonst nicht begegnende Zuordnung des Titels "unser großer Gott" zu Jesus Christu& lege "eine Trennung der Aussage in zwei Subjekte, Gott und Christus, nahe"; von der "grammatischen Struktur her" sei die Möglichkeit der "Zuordnung von ,Großer Gott' zu ,Unser
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Als wichtigste Gründe für ein einheitliches Subjekt (der große Gott = Jesus Christus) werden angeführt": (a) das Fehlen des Artikels 'tov vor Oro'tfjQO\;44; (b) der V 14 angeschlossene Relativsatz, der nur ein Subjekt hat, nämlich Jesus Christus; (c) "Gott und Retter" sind eine im ersten Jahrhundert geläufige Verbindung in religiösen Texten; (d) die "Epiphanie" wird sonst von Jesus Christus, 'nicht aber von Gott ausgesagt; (e) Jesus hat in den Past die Funktion des Richters wie Gott (2 Tim 4,8) und wird wie Gott "Retter" genannt (vgl. auch die Parallelität von 1 Tim 1,15 und 2 Tim 1,9). Die gegenteilige Annahme, der Verfasser wolle nicht vom "großen Gott und Retter Jesus Christus" sprechen, sondern differenzierend vom "großen Gott" und "unserem Retter Jesus Christus", hat einmal für sich, daß die Bezeichnung Jesu als "großer Gott" im Neuen Testament singulär wäre. Vor allem aber ist sie "von der Sache her", also von der Theologie und Christologie der Past her begründet". Es entspricht der soteriologischen Grundkonzeption der Past, daß in Jesus der Heilswille Gottes zur Erfüllung kommt; deshalb sprechen die Past sowohl von Gott als oro't~Q (1 Tim 1,1; 2,3; 4,10; Tit 1,3; 2,10; 3,4) als auch von Jesus (2 Tim 1,10; Tit 1,4; 2,13; 3,6)46. Diese Überschneidung beim Titel ow'ti!Q läßt auch die Vorstellung zu, daß nicht nur die Vergangenheit und die Gegenwart, sondern auch die eschatologische Vollendung von der Epiphanie Gottes ("der Herrlichkeit des großen Gottes") und Jesu Christi ("unseres Retters Jesus Christus") bestimmt ist; denn das Ent~heidende der für die Endzeit erwarteten Epiphanie ist die Vollendung gerade dieses Heilswerkes. Unter sachlichem Gesichtspunkt erscheint die Zweigliedrigkeit geradezu gefordert 47 •
Vom bisherigen Aufbau des Abschnittes hei wäre eigentlich nur ein Hinweis auf die Epiphaneia der Herrlichkeit Gottes zu erwarten, entsprechend dem Einsatz mit der Xa.QL~ Gottes in V 11. Die den V 13 abschließende Nennung Jesu Christi ist für den Verfasser einmal von der Textstruktur her notwendig, um das nachfolgende soteriologische Bekenntnis zur Selbsthingabe Jesu "für uns" anzuschließen. Hier zeigt sich aber auch die für die Past grundlegende heilsgeschichtliche Struktur, daß "die Offenbarung Gottes als rettendes Heilsereignis" in der Christusoffenbarung seine Vollendung findet 48 • Der christologischRetter Christus Jesus' nicht auszuschließen". Vgl. auch F. 1. SCHIERSE, Past 167, der die Argumentation "von der Grammatik her" k(;>nfrontiert Init der "Theologie des Verfassers" . ., V gl. dazu N. BROX, Past 300; I. H. MARSHALL, Christology 174 f; Y. REDALIB, Paul211 Anm.32. .. Vgl. aber 1. D. QUINN, TIt 156: " ... popular Greek at this time did not demand the repetition of the article to distinguish between paired substantives." ... 1. ROLOFF,1 Tim 364Anm. 173. Vgl.auchH. WINDISCH, Christologie 226; y. HASLER, Epiphanie 199-201. .. Vgl. dazu L. OBERLINNER, Epiphaneia 196-199; K. LÄGER, Christologie 123-125. " Anders A. T. HANSON, Past 184f, der gegen die Zweigliedrigkeit der Formel ein. wendet: "We have to conclude that the author expected God the Father as weil as Christ to appear at the parousia, which seems incredible." .. Vgl. G. STRECKER, Theologie 614f. In Verbindung mit der "E1tLq>aVELa- E:rtUPQLVE06mBegrifflichkeit" sieht Strecker diese heilsgeschichtliche Struktur christologisch realisiert
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soteriologische Inhalt des folgenden V 14 bedingt auch, daß erneut (wie schon in 1;4) Jesus Christus als ow'ttlQ tituliert wird. 14 Bereits im Zusammenhang von V 11 hatten wir die Formulierung von der Offenbarmachung der "Gnade Gottes" interpretiert mit dem Begriff "Christusgeschehen" . Die Berechtigung dafür wird nun noch nachgetragen in diesem V 14. Man könnte ihn charakterisieren als inhaltliche Entfaltung der These von der schon erfolgten Epiphaneia der das Heil aller Menschen wirkenden Gnade Gottes (V 11). Der Verfasser greift dafür auf eine ihm in der kirchlichen Überlieferung vorgegebene formelhafte Wendung zurück. Mit der Vorstellung vom "Loskauf" (a:rtoA:i,.tQOJo~) ist bereits von Paulus der Heilssinn des Todes Jesu interpretiert worden (vgl. Röm 3,24; 1 Kor 1,30; vgl. auch [E!;]ayoQa~ELv 1 Kor 6,20; 7,23; Gal3,13); dabei übernimmt Paulus z. T. vorgegebene Tradition. In den gleichen Zusammenhang gehört auch das Bekenntnis Mk 10,45b, daß der Menschensohn gekommen ist, um sein Leben hinzugeben "als Lösegeld für viele" (AU'tQOV aV'tt :rtoAloov). Das Motiv von der Selbsthingabe findet sich auch in Gal1, 4; 2,20.
In diesem breiten Strom einer soteriologischen Todesdeutung steht auch die Formulierung in 1 Tim 2,6. Im Unterschied zu der dort mit iJ3tEQ mlV'twv ausgesprochenen universalen Geltung des Heilssinnes des Todes Jesu, die der gleichgearteten Bestimmung des Willens Gottes entspricht (ö~ mlV'ta~ avßQw:n;o'U~ ßEA.EL owßfjvm), hat die in Tit 2,14 stehende Applikation "für uns" (vgl. auch Röm 5,8; 8,32; "für unsere Sünden": 1 Kor 15,3; Gal1,4) stärker die Gemeinde im Blick. Es entspricht dies der gleich folgenden (wohl ebeDfalls aus der kirchlichen Tradition übernommenen) Beschreibung der Wirkung für die Kirche. Inwieweit diese ekklesiologische Explikation als "judenchristlieh geprägt" verstanden werden muß 49, kann hier offenbleiben; in jedem Fall werden alttestamentliche Vorlagen aufgegriffen und für die Formulierung des Anspruches der christlichen Gemeinde als von Gott durch Jesus Christus erwählte Heilsgemeinde verwendet. In Ps 129,8LXX spricht der Beter das Bekenntnis, daß der Kyrios Israel erlösen wird "von allen seinen Sünden" (xat au'to~ AU'tQOOOE'taL 'tov 'IoQaTJA EX 'toov :rtaooov 'toov aVOJ-lLOOV au'tO'Ü). Die Kennzeichnung Israels als Jahwes "Eigentumsvolk" (Aao~ :rtEQLOUOLO~) nimmt Bezug auf die Erwählung des Volkes Israel, wie sie dokumentiert ist in der Herausführung aus Ägypten (Ex 19,5 Aao~ :rtEQLOUOLO~ a:rto :rtaV'tOJv 't00v ESvoov; Dt 14,2). Besonders auffällige Parallelen zeigen sodann noch 2 Sam 7,23f und Ez 37,23, wo die soteriologischen Begriffe AU'tQO'ÜOSaL bzw. xaSaQ[~ELv verwendet sind.
"in den beiden Erscheinungen Jesu Christi, seiner irdischen wie auch seiner zukünftig himmlischen" . .. Vgl. O. KNOCH, Past 79.
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Am Schluß von V 14 ändert der Verfasser die Blickrichtung. War bisher die Rede von der Kirche als der Gemeinschaft, die durch das Christusgeschehen und d. h. zugleich durch die Gnade Gottes konstituiert ist, so wird jetzt die daraus für die christliche Gemeinde erwachsende Verpflichtung betont. Es erfolgt, geradezu typisch für die Past, wiederum ein Überstieg in die Paränese. Die "guten Werke" sind Kennzeichen der "Erwählung", das bedeutet aber auch, daß sie als Kennzeichen des rechten Glaubens Bedeutung haben (vgl. 2,7 und in negativem Sinn 1,16). Die "guten Werke" sind also nicht nur "der Inbegriff der greifbaren Bewährung in einem praktischen Christentum"50, sondern Zeichen des rechten Glaubens. "Glauben und Handeln gehären untrennbar zusammen."51 Man kann die abschließende Wendung von V 14, in der die Gemeindemitglieder und ihr konkretes Glaubensleben wieder stärker in den Blick kommen, in Parallelität sehen zu der in V 12 angehängten Zeitbestimmung EV 't
N. BROX, Past 301. W. THIESSEN, Christen 275. Vgl. dazu auch 0. MERK, Glaube 92f; R. HEILIGENTHAL, Werke 71. " Vgl. dazu O. MERK, Glaube 93, der das Neue der Konzeption von ltimte; in den Past darin sieht, "daß diese ltimL~ zur statischen Grundlage einer Theologie bleibender Gegenwart des Evangeliums geworden ist". "Das empfangene Heil ist durch die Kontinuität des Evangeliums bleibende Gegenwart für das Leben der Gemeinde" (98). 53 Vgl. H. V. LIPS, Glaube 46.132. Zu Recht weist aber U. WAGENER, Ordnung 206f, darauf hin, daß AUAeLV in den Past nicht einfach "reden" bedeutet, sondern sich auf die Verkündigung bzw. die Lehre bezieht und deshalb "synonym mit öLöaaxELv" ist. 50 51
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Charakter autoritativer Weisung, bezogen auf "Paulus" (1 Tim 1,3;· 2,1) und den in seinem Auftrag agierenden Gemeindeverantwortlichen (1 Tim 5,1; 6,2; 2 Tim 4,2; Tit 2,6); die Aufgabe des "Überführens" (EAEYXELV) schließlich zeigt die Nachfolger des Apostels als Hüter des rechten Glaubens gegenüber den Falschlehrern,die sich seiner Autorität nicht unterordnen wollen (Tit 1,9.13; vgl. auch 1 Tim 5,20 [gegenüber Presbytern, die sich einer Verfehlung schuldig gemacht haben]; 2 Tim 4,2). In dieselbe Richtung einer auf die Betonung der Vollmacht des Apostelschülers bedachten Ausgestaltung geht auch die angeschlossene Wendung IlE'tu :7taO'l]~ Em'tayii~. Die Bedeutung von E:7tL'tay~ ist von 1,3 her zu klären. "Paulus" hatte seine Verkündigungstätigkeit als dem "Auftrag (E:7tL'ta~) Gottes, unseres Retters", entsprechend legitimiert. Dies wird jetzt übertragen auf den Gemeindeleiter, der die vorgestellten Aufgaben erfüllt. Auch seine Autorität und sein Anspruch sind jeglicher Diskussion enthoben, weil sie vom Gotteswillen her autorisiert sind. Die angeschlossene Mahnung, daß der in dieser Weise handelnde Gemeindeleiter nicht verachtet werden darf, überrascht etwas. Das erinnert dem ersten Eindruck nach an 1 Tim 4,12. Es ist aber doch problematisch, unsere Stelle einfach von 1 Tim her zu interpretieren. Man hat zu fragen: Gibt es konkrete Anhaltspunkte bzw. Anlässe in den christlichen Gemeinden, daß der Leiter in solcher Weise in Schutz genommen werden muß, oder aber handelt es sich nur um einen allgemeinen und unspezifischen Topos, ohne konkrete Hintergründe? Es ist eher letzteres anzunehmen. Dies v. a.· auch deshalb, weil für diese Zeit noch nicht ausgeprägte Amtsstrukturen in den Gemeinden vorauszusetzen sind, die Anlaß zu entsprechenden Gegenreaktionen hätten sein können. Ein Bezug auf das jugendliche Alter der Amtsinhaber erscheint als eine zu starke Verengung. Die Stärkung der Autorität des Gemeindevorstehers in allen Belangen der Gemeinden ist das Anliegen der Past. Die abschließend zur Paränese ausgesprochene Warnung ist ein zusätzliches Mittel, den Autoritätsanspruch des Vorstehers zu unterstreichen, seine uneingeschränkte Vollmacht in allen die Gemeinde, ihren Glauben und ihr Leben betreffenden Fragen zu betonen. III Der Text läßt zwei Besonderheiten erkennen, die für Theologie und Christologie der Past kennzeichnend sind. Es ist zum einen das Fehlen von Originalität, vor allem in Christologie und Soteriologie. Die Abhängigkeit von vorgegebenen, formelhaften Bekenntnissen ist deutlich zu erkennen. Und es ist auf der anderen Seite eine sprachliche
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Einkleidung, die diesen vorgegebenen Formeln einen neuen Stellenwert für den Glauben und für das Leben gibt und ihnen damit neues Gewicht verleiht. Für das Zweite ist wieder zu verweisen auf die aus der hellenistischen Welt übernommenen Begriffe ow'ttlQ (bzw. OW'ttlQLOI!;) und EjWpaVEL
In der Art und Weise der Übernahme traditioneller GlaubensformeIn (vgl. V 14a) bzw. auch in der allgemein erkennbaren Abhängigkeit von Zentralaussagen des Glaubens (vgl. in V 11: das Heilshandeln Gottes für "alle Menschen") dokumentieren die Past ihre Verpflichtung auf die Glaubenstradition. Die ansonsten inhaltlich nicht entfaltete "Paratheke" , die dem Apostelschüler und -nachfolger zur Bewahrung und Weitergabe aufgetragen ist (vgl. 1 Tim 6,20; 2 Tim 1,14), erhält auf diese Weise eine zwar nur ansatzweise, gleichzeitig aber recht deutlich akzentuierte Präzisierung. Mit der Zitierung solcher soteriologischer Kernaussagen ist eine Opposition zu andersgearteten theologischen Entfaltungen des christlichen Glaubens zwar nicht ausdrücklich festgehalten oder formuliert, faktisch aber doch vorausgesetzt. Man darf dies erschließen aus der Grundthese, daß die Aufgabe 54 Vgl. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 108-110. " Vgl. A. T. HANSON, Past 187: "Most of all when we read Titus are we driven to conclude that the author was trying to counter the imperial cult".
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des Gemeindeleiters in der Bewahrung des rechten Glaubens" wie ihn die Past vertreten, liegt, nämlich in der Verkündigung des dem Apostelschüler übertragenen Evangeliums (vgl. 2 Tim 1,13f; 2,8) und damit verbunden in der Abwehr von Irrlehren (vgl. 2 Tim 4,1-5). Dieser aktuell anzusiedelnden Auseinandersetzung mit theologischen Strömungen in den Gemeinden unter dem Einfluß einer judenchristlich geprägten Gnosis entspricht sodann die praxisorientierte Einbindung des heilsgeschichtlichen Bekenntnisses in die Gemeindeleiterparänese einerseits und in die darüber vermittelten Mahnungen an die verschiedenen Gruppen in den Gemeinden andererseits. Die Praxis des christlichen Lebens, die unter der Aufsicht der durch Handauflegung autorisierten Amtsträger steht, entscheidet darüber, ob die Inhalte des Glaubensbekenntnisses auch ernst genommen werden. In der vorliegenden Form der Zuordnung der verschiedenen Abschnitte - Paränese und heilsgeschichtliche Begründung - kann auch ein Beleg dafür gesehen werden, daß die christlichen Gemeinden die Bewährung des christlichen Glaubens in der Praxis eines ordentlichen und tugendhaften Lebens sehen sollten. In der umfassenden Bezugnahme auf den Gemeindeleiter, seine Aufgabe und Autorität, zeigt sich dann aber zugleich besonders deutlich der Schwund einer den einzelnen Gläubigen zugemuteten Verantwortlichkeit. Rechtgläubigkeit resultiert jetzt aus fraglosem Gehorsam. LITERATUR: M. 1. HAInus, Titus 2: 13 and the Deity of Christ: Pau1ine Studies. FS F. F. Bruce, hrsg. v. 1. D. Hagner u. M.1. Harris (Exeter 1980) 262-277; DERS., Jesus as
God. The New Testament Use of Theos in Reference to Jesus (Grand Rapids 1992) 173185; S. C. MOlT, Greek Ethics and Christian Conversion: The Philonic Background of Titus 11 10-14 and IIl3-7: NT 20 (1978) 22-48; F. OGARA, "Apparuit gratia Dei 'Salvatoris nostri" (Tit 2,11-15 et 3,4-7): VD 15 (1935) 363-372; R. PESCH, "Christliche Bürgerlichkeit" (Tit 2,11-15): ATW 14 (1966) 28-33; M. REISER, Erziehung durch Gnade. Eine Betrachtung zu Tit 2,11-14: EuA 69 (1993) 443-449; P. SCHEPENS, De demonstratione divinitatis Christi ex epistula ad Titum 11,13: Gr.7 (1926) 240-243; T. VARGHA, Apparuitgratia Dei (Tit2,llss): VD 14 (1934) 3-6.
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Exkurs: Die Christologie der Pastoralbriefe
EXKURS
Die Christologie der Pastoralbriefe 1. Die Christologie im Urteil der Forschung
Das Urteil über die Christologie der Past ist in der Forschung bis heute recht zwiespältig. Unter Aufnahme des Ergebnisses der Untersuchung von H. Windisch zur "Christologie der Pastoralbriefe" (1935), daß der Autor der Past "keine theologische Christologie" hat, "sondern Christuslehre in Form von ,Sprüchen', ,Formeln' und ,Hymnen', die aus verschiedenen Lehrkreisen und Lehrstufen stammen"" vertritt auch A. T. Hanson in seinem Kommentar zu den Past (1982) die Meinung, der Autor selbst habe keine eigene christologische Lehre; im Unterschied zu Paulus und den anderen Deuteropaulinen würden von ihm auch die übernommenen bekenntnishaften und liturgischen Traditionen nur mit deren eigener Christologie tradiert, es fehle aber der Versuch, sie in eine einheitliche Lehre einzuarbeiten 2. Demgegenüber stellt 1. H. Marshall an den Anfang seiner Untersuchung der Christologie der Past (1988) die These, es gebe gute Gründe für die Annahme, daß die Christologie dieser Schreiben eine eigenständige Leistung des Verfassers und somit auch ein wesentlicher Teil der von ihm intendierten Verkündigung ist 3 • Das Fehlen einer systematisch durchgeführten Analyse der christologisch relevanten Texte der Past unter der Fragestellung, wie das Verhältnis von Tradition und Redaktion zu bestimmen ist, führte K. Läger zu einer Untersuchung, die (1995 als Dissertation abgeschlossen, 1996 im Druck erschienen) das Ziel verfolgt, "die besonderen Eigenheiten der Christologie der Pastoralbriefe zu erfassen und sie in ihrem literarischen wie in ihrem historischen Kontext darzustellen" 4. Diese Zielsetzung der Untersuchung, die einmündet in "ein Gesamtbild von der Christologie", um die Past "als Dokument der Entwicklung einer christlichen Theologie in besonderer Situation" verstehen zu lassen, basiert auf der weithin akzeptierten Einsicht, daß das Spezifische der Christologie der Past in ihrer Verbindung von vorgegebenen christologischen Traditionen und redakH. WINDISCH, Christologie 238. A. T. HANSON, Past 38f. Vgl. ähnliche Wertungen bei E. LOH SE , Entstehung 64. 3 I. H. MARSHALL, Christology 163. Marshali, a. a. O. 158-162, unterscheidet vier Haupttypen der Annäherung: Neben der traditionellen Auslegung, die die Past weiterhin als authentische Paulusbriefe betrachtet (hier wäre etwa zu nennen D. GUTHRIE, Past 47-49), nennt er "the post-Pauline understandig", "the pre-Pauline hypothesis" und die Theorie "of on ,epiphany' christology". • K. LÄGER, Christologie 20f. 1
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tioneller Gestaltung bzw. der Einordnung derselben in das Briefcorpus liegt. Damit ist auch der Weg unseres Exkurses vorgezeichnet. Es sollen zuerst einige aus der christlichen Tradition übernommene Bekenntnisse behandelt und daraufhin geprüft werden, welchen Stellenwert sie in der theologischen Konzeption der Past haben. Sodann ist die Frage zu stellen, welche Begriffe bzw. Motive der Verfasser für die Formulierung seiner christologischen Konzeption verwendet und wie er damit die ihm vorgegebenen Traditionen peu akzentuiert. Und zum Schluß ist wenigstens kurz zu fragen, ob die Christologie der Past nicht nur altertümlich sondern vielleicht sogar veraltet ist, oder ob sie einen Weg zeigt, der als zukunftsweisend angesehen werden kann. 2. Geschichtliche und theologische Bedingungen der Christologie der Past Die vom Verfasser gewählte Form der Pseudepigraphie zeigt bereits, daß ihm der Gedanke der Einbindung in die christliche Tradition ein zentrales Anliegen war. Die mit der Wahl des Pseudonyms "Paulus" möglicherweise verbundene Erwartung, der Verfasser werde sich in christologischer Hinsicht v. a. an Paulus orientieren, muß aber enttäuscht werden. Trotz der durch Einzelbeobachtungen zu belegenden Annahme, daß dem Verfasser Paulusbriefe bekannt waren und daß diese an einigen Stellen auf seine Darstellung eingewirkt haben 5 , ist doch die Christologie der Past ganz eindeutig nicht von den Zentralthemen der paulinischen Christologie bestimmt. Dies ist - gerade unter der Voraussetzung der Beurteilung der Past als "pauliniscne" Pseudepigrapha - nicht nur verständlich, sondern sogar unvermeidlich'. Die Gründe dafür lassen sich in aller Kürze benennen mit dem Hinweis auf die gegenüber Paulus veränderten "Rahmenbedingungen" 7:
a) Der Wandel im Verständnis der "Zeit" Paulus argumentiert auch in der Christologie unter den Bedingungen der Naherwartung der Parusie. Nicht nur in 1 Thes8 l,9f kann er als Inhalt des von den Christen in Thessalonich vertretenen Glaubens die Erwartung des Sohnes Gottes "vom Himmel her" benennen und die Gläubigen darin bestärken. Auch den Christen in Rom schärft Paulus ein, daß "jetzt" das Heil näher ist als zu der Zeit, "als wir zum Glauben kamen"; deshalb die Aufforderung: "zieht den Herrn Jesus Christus an ... " (Röm 13,11-14).
, Etwa in der Übereinstimmung zwischen 2 Tim 1,3-5 und Röm 1,8-11 (vgl. HThK XI 212, 11-17), oder in der unten anzusprechenden Parallelität von 2 Tim 2,8 und Röm 1,3. Vgl. dazu auch G. LoHFINK, Vermittlung. • Yg1. L. OBERLINNElt, Epiphaneia 194 f. 7 Vg1. dazu J. ROLOFF, 1 TIlll 360(-363); ausführlicher mit der Darstellung dieser "Bedingungen" DERS., Weg 155-157.
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Exkurs: Die Christologie der Pastoralbriefe
In einer Situation, da "Paulus" seine Schüler als Nachfolger bzw. als die in der Fortsetzung seines missionarischen Wrrkens mit besonderen Aufträgen Betraute anspricht (vgl. 1 Tim 1,3; 2 Tim 1,6; Tit 1,5), wird, auch literarisch gesehen, die Zeit des Paulus zur Vergangenheit. Die Gegenwart der Past ist also die Zeit nach Paulus, d. h. auch die Zeit der christlichen Gemeinde, die nicht mehr wie Paulus und seine Gemeinden in der Naherwartung der Parusie leben kann 8 • b) Der Wandel in der Einstellung zur "Welt" Bei Paulus ist eine gewisse Distanz zur Welt erkennbar; denn sie ist bestimmt von der Vergänglichkeit und vom Tod, und dieser gilt als Folge der SUnde (Röm 5,12-14; vgl. 3,19). Die Weisheit dieser Welt gilt ihm als Torheit (1 Kor 1,20). Der Äon, in dem wir leben, kann als "böse" bezeichnet werden (Gal 1,4).
Der Verfasser der Past betont demgegenüber, daß alles von Gott Geschaffene gut. ist und deshalb auch von den Menschen als Gabe Gottes angenommen werden kann, ja muß (1 Tim 4,3f; vgl. 5,23; 6,17-19). Diese Welt ist der Ort, wo Gottes Heilswille sich verwirklicht hat in Christus Jesus zur Rettung der Menschen (vgl. 1 Tim 1,15f). Wer dieser "rettenden Gnade Gottes" folgt, kann frei von der Gefangenschaft in Gottlosigkeit und irdischen Begierden "gerecht und fromm" in dieser Welt (ev 'tq> vUv awlVL) leben (Tit 2,11f). Um die Voraussetzungen für ein solches ungestörtes und ruhiges Leben in Ehrbarkeit und Frömmigkeit zu schaffen, müssen die Christen durch ihr Gebet für die weltliche Obrigkeit zur Stabilisierung der politischen Verhältnisse beitragen (1 Tim 2,1f; vgl. Tit 3,1f). Zwar gibt es die falsche Liebe zu diesem Äon (vgl. 2 Tim 4,10) und auch die Möglichkeit des Mißbrauchs von irdischen Gütern (vgl. 1 Tim 6,9 f). Doch das ist kein Grund, sich aus dieser Welt zurückzuziehen. Die Verantwortung der Gläubigen der nichtchristlichen Welt gegenüber wird immer wieder betont (1 Tim 3,7; Tit 2,5.8.10) 9. Der beschwörende Appell des auf seinen baldigen Tod vorausschauenden "Paulus" gilt deshalb auch seinem Nachfolger" Timotheus", daß dieser den vom Apostel geleisteten Dienst der Verkündigung des Evangeliums treu weiterführt (2 Tim 4,1-5). Es ist sicherlich auch diese Verantwortung für die Welt, die die Past grundlegend kennzeichnet. • Auf einer anderen Ebene liegt das von J.
ROLOFF, Weg 155 f, angesprochene ,,zurück. treten der heilsgeschichtlichen Perspektive", was sich in der "Israelvergessenheit" kundtue. Zwar ist auch dies als ein Resultat des veränderten Geschichtsbewußtseins zu interpretieren, allerdings nicht, wie das lukanische Doppelwerk mit der betonten Anbindung der heidenchristliclien Mission an die judenchristlichen UrsprUnge zeigt, als ein notwendiges Resultat. • N. BROX, Past 51, spricht von einer "Solidarität mit der Welt, in der sich die Kirche einzurichten beginnt".
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c) Der Wandel in der Sicht des Menschen als Sünder Daß der Mensch Sünder ist und deshalb der Gnade Gottes bedarf, ist für die Past ebenso selbstverständlich wie für Paulus. Doch diese ge-
meinsame Grundüberzeugung wirkt sich in der Gesamtdarstellung sehr unterschiedlich aus. Während Paulus mit dem Begriff "Sünde" (alluQ'tLu) eine anthropologische Grundbefindlichkeit charakterisiert (vgl. bes. Röm 5,12-21; 6; Gal3, 22), kennzeichnen die Past damit Verfehlungen der Menschen gegen die Verkündigung des rechten Glaubens (2 Tim 3,6; vgl. 1 Tim 5,22.24). Dieselbe Differenz zeigt sich beim Gebrauch des Verbums alluQ'tavELv: Paulus kann - neben dem allgemeinen Sprachgebrauch mit der Bezeichnung persönlicher Schuld (vgl. 1 Kor 6,18) - davon sprechen, daß alle gesündigt haben (Röm 3,23; 5,12); in den Past heißt es vom Häretiker, daß er sündigt (Tit 3,11), und es wird davon gesprochen, wie mit solchen Presbytern zu verfahren ist, die sündigen (1 Tim 5,20). Und "Sünder" (alluQ'tlOAoL) werden in den Past - abgesehen von 1 Tim 1,15, wo eine vorgegebene formelhafte Wendung übernommen ist - in einer Aufzählung zusammen mit Gesetzlosen, Ungehorsamen und Gottlosen u. a. die genannt, deren Thn im Widerspruch zur "gesunden Lehre" steht (1 Tim 1,9 f). Für Paulus ist dagegen beim Substantiv alluQ'tlOM~ wieder der soteriologische Kontext prägend (vgl. Röm 5,8: ... E'tL alluQ'tlOAWv ÖV'tlOV ~llwV XQLO'tO~ U3tEQ ~llwV Ct3tEßUVEV). d)Es ist beinahe selbstverständlich, daß diese geschichtlich bedingten Veränderungen bedeutsame Rückwirkungen auf die Gestaltung der Soteriologie und damit auch der Christologie hatten 10. Dies soll im nächsten Abschnitt im einzelnen dargelegt werden.
3. Traditionelle Vorgaben christologischer Bekenntnisse und ihre redaktionelle Gestaltung
a) Soteriologische Bekenntnisaussagen Im folgenden seien einige soteriologische Texte kurz skizziert, die der Verfasser aus der Tradition übernommen hat, die aber gleichzeitig die These bestätigen können, daß die darin enthaltene soteriologische Christologie für die Past von zentraler Bedeutung ist 11 • . 1. ROLOFF, 1 Tim 361, spricht in diesem Zusammenhang von einer "Verflachung der paulinischen Anthropologie" und auch davon, daß "das Sündenverständnis verflacht (ist)". Es ist gewiß zutreffend, daß die für Paulus "zentrale Verbindung zwischen Sünde, Gesetz und Tod als den die Situation des natürlichen Menschen bestimmenden Verderbensmächten" in den Past "keine Entsprechung" hat (Weg 157); es ist dabei aber zu bedenken, daß etwa die Gesetzesthematik in der paulinischen Soteriologie ebenfalls einen zeit- und situationsbedingten Stellenwert hat. 11 Vgl. dazu I. H. MARSHALL, Christol~ 164-167; PH. H. TowNER, Goal 118f. Zu den 10
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(1) Christus Jesus kam in die Welt zur Rettung der Sünder (1 Tim 1,15) Im Zusammenhang der Paulus-Anamnese 1 Tim 1,12-17 zitiert der Verfasser das Bekenntnis, daß "Christus Jesus in die Welt gekommen ist, um Sünder zu retten" (V 15b). Im Vergleich zu dem Jesuswort Lk 19, 10 (~A.8EV yaQ 0 'ULO~ 'tou av8Qwno'U ~TJ'tfjom 'Kat omom 'to anoA.wA6~) bzw. zu dem Logion Mk 2,17 zeigt die in 1 Tim 1,15 stehende Wendung mit dem Verweis auf die Betroffenheit der "Welt" und der "Sünder" die Tendenz zu einem allgemeineren, umfassenderen Verständnis. Neben dieser universalistischen Ausrichtung 12 ist in der Kontexteinbindung das Interesse aktualisierender Bestimmung erkennbar: Es ist dies ein "Wort", das "zuverlässig und jeglicher Annahme wert" ist (V 15a)13; es hat also für die christlichen Gemeinden weiterhin uneingeschränkte Gültigkeit 14. Und dadurch, daß "Paulus" sich als "ersten" bezeichnet, der dieses Erbarmens gewürdigt worden ist (V 15c), und er damit auch "Urbild" für alle Glaubenden ist (V 16), wird die bleibende Aktualität dieses Bekenntnisses bestätigt 15. (2) Christus Jesus - "Lösegeld für alle" (1 Tim 2,6) Das Bekenntnis zur Selbsthingabe Jesu Christi als "Lösegeld für alle" (av'tLA.'U'tQOV unEQ nuV'twv) in dem ebenfalls formelhaften Text 1 Tim 2,5 f zeigt auch Übereinstimmung mit synoptischer Tradition (vgl. Mk 1O,45b). Die jeweilige Eigenständigkeit der Et~-Akklamation V 5a.b (vgl. 1 Kor 8,6) und der Selbsthingabeformel samt soteriologischer Applikation V 5c.6a (vgl. Gal1,4) spricht dafür, daß erst der Verfasser der Past beide zu der vorliegenden zweigliedrigen Wendung zusammengefügt hat; auch die Subjektbezeichnung äv8Qwno~ XQLO'tO~ 'ITJoou~ geht damit auf ihn zurück 16. Für das christologische Bekenntnis der Past ist einmal zu beachten, daß die soteriologische Funktion Jesu nicht nur mit der Selbsthingabe, also mit dem stellvertretenden
christologischen Implikationen im einzelnen PH. H. TOWNER, a. a. O. 78-118; K. LÄGER, Christologie 28-104. 12 Das dem Jesuswort zugrunde liegende Bekenntnis ist ein Topos der frühchristlichen Verkündigung, die Art der Formulierung (mit der Wortverbindung XQLO"tO!; 'IT]oO'Ü!; und dem Gebrauch von O
~ELV) spricht dagegen nach K. LÄGER, Christologie 33f, dafür, daß der Verfasser den Bekenntnistext formuliert hat. 13 Die Past gebrauchen diese formelhafte Wendung insgesamt fünf Mal: :rtLO"tO!; 6 M'lyO!; in 1 Tim 3,1; 2 Tim 2,11; Tit 3,8; mit der Ergänzung Kat :n:CtOT]!; cl:n:OÖOXfj!; ä!;LO!; 1 Tim 1,15; 4,9. 14 Vgl. dazu A. T. HANSON, Past 41; PH. H. TOWNER, Goal 80-82. 15 Vgl. H. SIMONSEN, Traditionselemente 52f; K. LÄGER, Christologie 37 ("Das traditionelle christologische Motiv V. 15b wird durch seinen Kontext neu akzentuiert. Die Anwendung auf Paulus bewirkt, daß die allgemeine Aussage ins Konkrete gewendet wird"). 16 Vgl. K. WENGST, Formeln 72; L. OBERLINNER, Epiphaneia 203f; K. LÄGER, Christologie40.
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Sühnetod begründet wird, sondern auch und zuerst mit seiner Stellung als "Mittler" üu:ahl1~) zwischen Gott und den Menschen - betont: als "der einzige Mittler" (V 5b)17. Daneben gibt auch der Kontext wiederum wichtige Interpretationshinweise. Das zentrale Zitat des Gottes- und Christusbekenntnisses in VV 5.6 wird in den VV 3f eingeleitet mit der Beschreibung Gottes als "Retter, der will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen". Auf diese Weise kommt es zu einer bedeutsamen Wechselwirkung im Glaubensbekenntnis: Das Bekenntnis zu Gott und zu seinem Heilswillen ist, soll es in seiner vollen Bedeutsamkeit erfaßt werden, angewiesen auf das Bekenntnis, daß Jesus Christus durch seine Selbsthingabe dieses Heil den Menschen "vermittelt" hat. Und umgekehrt gilt: Die Hingabe Jesu kann in ihrer Heilsbedeutung nur dann recht verstanden werden, wenn Jesus als der unüberbietbare Mittler (d~ ftwL"tl1~) des Heilswillens Gottes gilt 18. Mit der anschließenden Beschreibung der Stellung des Paulus als "Verkündiger und Apostel", der von dieser im Sterben Jesu sich dokumentierenden, bleibend gültigen Heilzusage Gottes "Zeugnis" ablegt (VV 6b.7) 19, erfolgt wiederum eine aktualisierende Überleitung in die Gegenwart der Past. Das heißt dann auch: Das in den "paulinischen" Gemeinden verkündete Evangelium hat seine Mitte in dieser Botschaft von der Erfüllung des Heilswillens Gottes in der Selbsthingabe Jesu "für alle". (3) Der Christushymnus 1 Tim 3,16b Dieses vom Verfasser übernommene hymnusartige Christusbekenntnis, dessen urspünglicher Sitz im Leben am passendsten im frühchristlichen Gottesdienst zu sehen ist 20 , beschreibt zu Beginn als das zentrale Heilsereignis das geschichtlich einmalige Kommen Christi in die Welt (E
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ben als Erscheinung "vor Engeln", in Zeile 6 als Aufnahme "in die Herrlichkeit"), zum anderen im irdisch-menschlichen Bereich (in den Zeilen 4 u. 5 mit den auf die Gegenwart der Gemeinden verweisenden Aussagen von der Verkündigung "bei den Völkern" und der gläubigen Annahme "in der Welt")21. Für die Past ist dieser Text zum einen bedeutsam wegen der betonten Inkarnationsaussage. Die einleitende Beschreibung der Erscheinung des Christus ,Tesus "im Fleisch" ist in Parallelität zur auffälligen Kennzeichnung des Erlösers als "der Mensch Christus Jesus" in 2,5 zu sehen 22. Der Konzeption der Past mit der Betonung der Gegenwart als Heilszeit entspricht sodann die doppelte Erwähnung der Vergegenwärtigung des Christusereignisses als Heilsgeschehen in der Verkündigung und dessen universale Geltung in der "Welt" (vgl. zu %6oJ.to~ auch 1,15) 23. Und schließlich verpflichtet der Verfasser mit der ekklesiologischen Rahmung in V 15 und mit der einleitenden Charakterisierung des Traditionsstückes als "das Geheimnis der Frömmigkeit" ('ta 'tfj~ E'ÜOEßdu~ J.t1JO't~QLOV) in V 16a die Gläubigen seiner Gemeinden auf dieses' Christusbekenntnis.
(4) Das Erscheinen "unseres Retters Christus Jesus" (2 Tim 1,9f) Aus der Sicht der Past ist das Besondere des Bekenntnistextes in 2 Tim 1,9f darin zu sehen, daß er als Explikation des Evangeliums vorgestellt wird, mit dessen Verkündigung sich "Paulus" beauftragt weiß (vgl. VV 8.11). Für die Christologie der Past sind diese Verse in jedem Fall charakteristisch; da aber die das Textstück prägenden Begriffe O
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("jetzt") offenbart worden ist 25 • Es zeigen sich zudem frappierende Gemeinsamkeiten mit den schon besprochenen drei Texten, was die Art und Weise der Präsentation der christologischen Aussagen und deren Bestimmung betrifft. Es wurde bereits hingewiesen auf die Rahmung des Bekenntnisses durch das Stichwort EuayyfALoV. Die Erfahrung des Christusgeschehens als Heilgeschehen ist geknüpft an die Verkündigung. Diese Verkündigung ist deshalb ein wesentlicher, .unverzichtbarer Bestandteil des als Heilshandeln Gottes verstandenen Offenbarungsgeschehens. Das hat Konsequenzen für das Verständnis der "Epiphanie unseres Retters Christus Jesus". Diese Epiphanie wird durch die Zuordnung zu Gottes Heilsplan und die Beschreibung der Wirkungen (der Tod ist vernichtet, Leben und Unvergänglichkeit sind ans Licht gebracht) als Heilsereignis kenntlich gemacht 26 , dessen entscheidender Bezugspunkt nicht ein Ereignis der Vergangenheit, sondern die von der Verkündigung des Evangeliums betroffene christliche Gemeinde ist 27 • Der Inhalt dieses Evangeliums ist die Botschaft vom Heil, das Gott . durch Jesus Christus offenbart hat. Damit aber rückt diese Epiphanie des Christus Jesus auch als "historisches" Datum ins Zentrum - "historisch" nicht verstanden im Sinne bloßer Faktizität, sondern als der konkrete Ort der Verwirklichung des Retterwillens Gottes und des Retterseins Jesu Christi. Die soteriologische Füllung des Epiphaniebegriffs verbietet es, die Inkarnation ausschließlich im Sinne der Menschwerdung zu verstehen; als Heilsgeschehen verstanden impliziert er Kreuz und Auferweckung als die· "zentralen Heilsdaten" 2B. (5) Jesus Christus - Auferweckter und Davidssproß (2 Tim 2,8) Aufgrund der Gemeinsamkeiten mit Röm 1,3 sind zwei Fragen zu diesem Text zu stellen, die allerdings eng miteinander zusammenhängen: Greift der Verfasser bei der doppelten Kennzeichnung Jesu Christi auf Röm 1 zurück und ändert seine Vorlage, oder ist er abhängig von einer älteren, vor und neben Paulus tradierten Über-
Vgl. PH. H. TOWNER, Goal 94f; K. LÄGER, Christologie 67-69. ,. Vgl. D. LÜHRMANN, Epiphaneia 198: "Auch hier ist die E:7tUpaVELu nicht einfach das ,Erscheinen' Jesu, sondern das helfende Eingreifen." 27 H. WIl~mIscH, Christologie 225, beschreibt das so: "Das Schwergewicht der Epiphanie Christi ist also von der Geburt und von der geschichtlichen vorösterlichen Wirksamkeit ganz auf die österlich-nachösterliche Epoche der apostolischen Heilsverkündigung und Heilsmitteilung verlegt." - Vgl. zu dieser Akzentuierung auch PH. H. TOWNER, Goal 98-100; K. LÄGER, Christologie 70f. " K. LÄGER, Christologie 71. Vgl. auch PH. H. TOWNER, Goal 98; E. SCHLARB, Lehre 166f. - N. BRox, Past 164, legt dagegen, obwohl er mit "Menschwerdung ,unseres Heilandes'" übersetzt, beim Begriff "Epiphanie" den Ton auf "das menschlich-irdische Dasein dieses Heilandes". lS
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liefelUug? Und: Lassen sich Gründe für eine Umstellung der beiden Aussagen über Jesus Christus durch den Verfasser der Past angeben? Nach H. Windisch hat der Verfasser unabhängig von Paulus in der Tradition diesen "Lehrspruch über Jesus Christus" mit einem "eindeutigen zweiexistentialen Charakter" vorgefunden; für die umgekehrte Reihenfolge macht Windisch offensichtlich den Verfasser verantwortlich (er spricht vom "apostolischen Lehrer"), dem es darauf ankam, "zunächst den Christus als den von Gott Auferweckten vorzustellen, um erst danach an die der Auferweckung vorausgegangene irdische Existenz zu erinnern, die mit der schlichten Bemerkung ,aus Davids Samen' als die des in den heiligen Schriften verheißenen Messias gekennzeichnet ist"". Da aber auch an anderen Stellen der Past die Benutzung des Römerbriefes wahrscheinlich zu machen ist, kann auch für diese Wendung Abhängigkeit von Röm 1,3 angenommen werden'·.
Dafür ist wiederum vom redaktionellen Rahmen auszugehen. Er gibt auch die Antwort auf die zweite Frage, nämlich die nach der Begründung der Abfolge der beiden heilsgeschichtlichen Bestimmungen Christi. Die beiden Bekenntnisaussagen sind Themen des von "Paulus" verkündeten Evangeliums, wie es am Ende von V 8 ausdrücklich heißt (xm;a 'to EuuyyrJ,Lov flOU). Ihre Bedeutung ergibt sich daraus, daß sie auch dem "Timotheus" ausdrücklich in Erinnerung gerufen werden. Der Verfasser identifiziert also diese Christus aussagen als Inhalt des paulinischen Evangeliums und qualifiziert sie zugleich als Belege der Identität der Überlieferung von Paulus bis in die Gegenwart der Gemeinden der Past (vgl. auch die Tradentenlinie in V 2: ä,llXOUou~ Jtug' EflOii ... t:ai:it:u Jtugu8ou). Die Voranstellung der Auferwekkungsaussage findet ihre Erklärung in der gemeinchristlichen Überzeugung, die ja auch die Paulusbriefe prägt, daß mit ihr die christologische Zentralaussage genannt ist. Der Verweis auf die Abstammung aus Davids Samen hat für den Verfasser ganz sicher auch christologische Bedeutung, allerdings nicht mehr in dem Röm 1,3 gegebenen Sinn, daß Jesus der in der Schrift verheißene Messias ist. In seiner Abstammung aus Davids Samen bestätigt sich "die menschliche Herkunft Jesu" '1. Damit ergibt sich wiederum Übereinstimmung mit den christologischen Bekenntnissen von 1 Tim 2,5 und 1 Tim 3, 16b. H. WINDIseR, Christologie 215 f. Die Unterschiede zu Röm 1,3 verweisen auch nach Meinung von PR. H. TOWNER, Goal 101, auf eine vorpaulinische Tradition, die jedoch in mehreren Formen existiert habe; vgl. auch I. H. MARSRALL, Christology 167. 30 Vgl. P. TRUMMER, Paulustradition 203; M. WOLTER, Pastoralbriefe 216 Anrn.14; 1. ROLOFF, Weg 160. - K. LÄGER, Christologie 74, gibt zu bedenken, daß dem Verfasser die Tradition neben der Vorlage in Röm 1 möglicherweise auch "in einer älteren Version geläufig war". 31 P. TRUMMER, Paulustradition 203. Vgl. auch N. BRox, Past 163; 1. ROLOFF, Weg 160. Von einer "Verkümmerung" der Aussage der davidischen Herkunft Jesu "zum Hinweis auf das wahre Menschsein des Auferstandenen" (vgl. 1. ROLOFF, 1 Tim 260) wäre nur unter der Voraussetzung zu sprechen, daß man dieser Aussage in 2 Tim 2,8 christologische Relevanz absprechen könnte. - Für titulare Bedeutung plädiert 1. H. MARSRALL, 29
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(6) Jesus Christus, "der sich für uns hingegeben hat" (Tit 2,14) Es ist bemerkenswert, daß der Verfasser der Past das christologische Motiv der Selbsthingabe Jesu Christi nach 1 Tim 2,6 noch einmal aufgreift, es aber im Unterschied dazu anders akzentuiert. In 1 Tim 2,6 ist die Universalität der durch Jesu Tod gewirkten Sühne betont (U:rr:EQ :rr:UV(wv), hier dagegen steht die christliche Gemeinde im Vordergrund (U:rr:EQ ~[l(öv). Der universale Bezug ist aber gleichzeitig gewahrt; denn dieses im stellvertretenden Sühnesterben Jesu festgemachte Bekenntnis wird wiederum theologisch eingebunden: Der Tod Jesu ist Zeichen und Ausdruck der "Gnade Gottes", die "allen Menschen" das Heil bringt (JwTT1QLO~ :rr:umv av8QO)JT:OL~) (V 11). Ein weiteres Kennzeichen der redaktionellen Gestahung 32 ist einerseits die Zuordnung zu den ethischen Weisungen 2,2-10 als deren heils geschichtliche Begründung, andererseits die Miteinbeziehung in den Verkündigungs auftrag, den der Apostel seinem Schüler erteilt (V 15; vgl. V 1).
(7) Jesus Christus, unser Retter (Tit 3,6) In dem Abschnitt Tit 3,3-7 sind die Grenzen zwischen Tradition und Redaktion "recht unscharf" 33. Zwar verweist das Schema der Gegenüberstellung von "Damals" und "Jetzt" mit der pointierten Beschreibung als Unheils- und Heilszeit wieder in die frühchristliche Verkündigung, und auch die Wendungen in V 5 sind in einer liturgischen Tauftradition denkbar. Die zentralen christologischen und soteriologischen Formulierungen zeigen dagegen ganz deutlich die Akzentsetzung des Verfassers.
In der Kontexteinbindung hat der Abschnitt einerseits die Funktion der Untermauerung der Paränese (vgl. 3,lf). Mit der Bekräftigungsformel m(J'to~ 0 Myo~ wird dieser Bekenntnistext aber auch betont (vgl. 1 Tim 1,15), und gleichzeitig wird dem Briefadressaten aufgetragen, daß er sich "dafür" einsetzen muß (V 8b). Die "Zielgruppe" seiner Verkündigung wird in einer Steigerung festgelegt; es sind zuerst die, die zum Glauben an Gott gekommen sind, es sind letztendlich aber alle Menschen. An diesem Text läßt sich der Ort der Christologie, den der Verfasser den übernommenen Traditionen durch die Kontexteinbindung gibt,
Christology 166, der so paraphrasiert: "Remember that Jesus rose from the dead and that he is the Messiah - who is going to reign - therefore we share his resurrection and his reign." 32 Der Abschnitt 2,11-14 enthält zwar in frühchristlicher Tradition geläufige Einzelmotive, ist aber in der vorliegenden Form vom Verfasser gebildet worden (vgl. u. a. PR. H. TOWNER, Goal 108; K. LÄGER, Christologie 97). J3 K. LÄGER, Christologie 102.
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gut darstellen; sie ist eingebunden in das Heilsgeschehen, das sich auf drei miteinander verknüpften und aufeinander angewiesenen Ebenen vollzieht: Die erste Ebene ist die der Heilsgeschichte: Gott handelt als "Retter" - durch den "Retter Jesus Christus" "für uns" (öLxmWeEV'n:~). Die zweite Ebene ist die der Verkündigung: Das "Wort" ist "zuverlässig" - Paulus ist zur Verkündigung berufen - er verpflichtet seinen Nachfolger. Die dritte Ebene ist die der Betroffenheit: Das Wort vom Heilshandeln Gottes gilt zuerst "uns", den Glaubenden - es hat aber grundsätzlich universale Bedeutung. b) Christologische Titel Da die neutestamentliche Überlieferung eine Fülle christologischer Titel kennt und für ihr Bekenntnis nutzt, ist auch zu den Past die Frage zu stellen, welche Rolle in ihnen die christologischen Prädikationen spielen.
(1) Christus Jesus Während die alleinstehende Bezeichnung 6 XQL<J't6~ nur einmal gebraucht wird und dabei unbetont bleibt (1 Tim 5,11), findet sich die zusammengesetzte Form in Verbindung mit Jesus recht häufig: 25 Belege in der Abfolge XQL<J'tO~ 'I'Y)(Joij~, sechs Stellen mit 'I'Y)(Joij~ XQL(J't6~34. Auch wenn anzunehmen ist, daß bei der Bezeichnung Jesu als "Christos" der Zusammenhang mit dem Bekenntnis zu Auferwekkung und Erhöhung noch bewußt war 35 , so sind doch mit dem unterschiedlichen Sprachgebrauch schwerlich besondere theologische bzw. christologische Akzentuierungen zu verbinden. Das zeigt sich etwa darin, daß bei den beiden inhaltlich vergleichbaren Bekenntnissen zum stellvertretenden Sühnetod Jesu einmal (in 1 Tim 2,5 f) "Christus Jesus" als Subjekt steht, das andere Mal (in Tit 2,13 f) der Autor die Reihenfolge "Jesus Christus" wählt. Das, worauf es dem Verfasser ankommt, wird nicht im Titel oder in der Bezeichnung Jesu zum Ausdruck gebracht; die entscheidende Aussage liegt in beiden Fällen vielmehr darin, daß die Selbsthingabe Jesu "für viele" (1 Tim 2,6) bzw. "für uns" (Tit 2,14) geschehen ist.
Vgl. dazu die Angaben bei K. LÄGER, Christologie 104. Die leicht abweichende Verhältnisbestimmung bei P. TRUMMER, Paulustradition 194 (26:4), ist bedingt durch das Fehlen von Tit 2,13 und 3,6 in der zweiten Gruppe. 35 PH. H. TOWNER, Goal 52; vgl. K. LÄGER, Christologie 105. - P. TRUMMER, Paulustradition 194, sieht in den Past, v. a. im Blick auf die fast ausschließliche Verwendung von XQLO'tO~ 'Il]ooü~, eine "Erstarrung des Titels XQLO't6~ ... zu einem bloßen Beinamen". 34
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Mit der Charakterisierung der Christologie der Past als" Titelchristologie" ,. kommen die zentralen Perspektiven des christologischen Bekenntnisses, insbesondere die Miteinbeziehung der Menschen, zu kurz.
(2) Jesus, der Kyrios In Weiterführung des urchristlich eingebürgerten Sprachgebrauchs wird auch in den Past der Titel XUQLO~ sowohl für Gott als auch für Jesus Christus verwendet 37 . Abgesehen vom mehr formelhaften Gebrauch in den Grußzuschriften (1 Tim 1,2; 2 Tim 1,2) und im Segenswunsch (2 Tim 4,22; vgl. auch 1,16.18; 2,7, sowie 4,14) übernimmt der Verfasser auch schon traditionelle Bestimmungen: Jesus Christus ist Kyrios als der zu Gott Erhöhte, der von den Gläubigen angerufen wird (vgl. 2 Tim 2,22) und seine Vollmacht als Richter offenbaren wird (2 Tim 4,8; vgl.1 Tim 6,14; 2 Tim 4,18). Als vom Kyrios in den Dienst der Verkündigung des Evangeliums gestellter Apostel und Lehrer (lTim 1,12; vgl. 2,7; 2 Tim 1,11) steht "Paulus" auch unter dem besonderen Schutz dieses Kyrios, damit er diesen Auftrag ausführen kann (2 Tim 4,17). Somit zeigt sich auch beim Titel XUQLO~, daß die aus der Tradition, vor allem auch von Paulus her bekannten Bez,iige zu erkennen sind, daß aber doch dieser Titel die Christologie nicht entscheidend prägt38. 4. Das Bekenntnis zur "Epiphaneia unseres Retters Christus Jesus" als Mitte der Christologie der Past
Für die Christologie der Past sind zwei Begriffe maßgeblich, die sonst in der neutestamentlichen Literatur keine bedeutsame Rolle spielen: der Titel (Jw't~Q und der Begriff E1tL<paVELo 39 . a) Der Titel (Jw't~Q Für die im Neuen Testament nur noch im 2. Petrusbrief vergleichbar häufige .verwendung des Titels (Jw't~Q (2 Petr 1,1.11; 2,20; 3,2.18; vgl. auch Lk 2,11; Joh 4,42; Apg 5,31; 13,23; Eph 5,23; Phil 3,20; 1 Joh 4,14) in den Past ist charakteristisch, daß von den insgesamt zehn Be" So P. TRUMMER, Paulustradition 193. 37 Vgl. dazu H. WINDISCH, Christologie 22Sf; N. BROX, Past 162; P. TRUMMER, Paulustradition 195 f; PH. H. TOWNER, Goal 52. 3B Vgl. K. LÄGER, Christologie 106. ,. Vgl. dazu H. WINDISCH, Christologie 223-227; N. BROX, Past 232f; D. LÜHRMANN, Epiphaneia 197-199; V. HASLER, Epiphanie 199--202; P. TRUMMER, Paulustradition 200202; L. OBERLINNER, Epiphaneia 196-203; L. R. DONELSON, Pseudepigraphy 135-154; I. H. MARSHALL, Christology 167-175; 1. ROLOFF, 1 Tim 363-365; PH. H. TOWNER, Goal 66-71; 75-77; E. SCHLARB, Lehre 166-171; Y. REDALlE, Paul 163-174; K. LÄGER, Christologie 111-127.
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legen sechs auf Gott bezogen sind (1 Tim 1,1; 2,3; 4,10; Tit 1,3; 2,10; 3,4); in 2 Tim 1,10; Tit 1,4; 2,13; 3,6 steht oo)'ttlQ als christologischer Titel. Von Gottes rettendem Handeln (mit dem Verbum 04>~~:LV) ist ebenfalls an drei Stellen die Rede (1 Tim 2,4; 2 Tim 1,9; Tit 3,5), von dem Jesu Christi an zwei (1 Tim 1,15; 2 Tim 4,18). Und in Tit 2,11 wird von der Offenbarung der Gnade Gottes gesprochen, "die allen Menschen das Heil bringt (OO)1;tlQLO~ :rtiimv av8QW:rtOL~)". Da der Gebrauch der Bezeichnung owt~Q als christologischer Titel nur in Abhängigkeit von der Gottesprädikation erklärt werden kann, ist zuerst nach dem religionsgeschichtlichen Hintergrund für diese zweite Verwendung zu fragen 40. Dazu ist auf die in der LXX begegnende Gottesbezeichnung OWt~Q zu verweisen (vgl. u.a. Dtn 32,15; 1 Makk 4,30; Ps 23,5; Weish 16,7; Is 12,2; 45,15; 62,1; Hab 3,18). Die Tatsache, daß in den ältesten neutestamentlichen Schriften der Titel OWt~Q für Gott gar nicht begegnet und für den christologischen Gebrauch Phi13, 20 eine Ausnahme bleibt, daß sodann die Past (ähnlich 2 Petr und das lukanische Doppelwerk) in der Sprache und in der Vorstellungswelt deutlichen Einfluß der griechisch-hellenistischen Umwelt erkennen lassen 41, spricht dafür, daß der alttestamentlich-jüdische Hintergrund für die Erklärung des owt~Q-Titels nicht ausreicht. In der hellenistischen Welt war der Titel OWtTlQ als Bezeichnung der Götter und der Herrscher üblich, und dieser Sprachgebrauch dürfte den Verfasser zumindest mitbeeinflußt haben, mit dem Titel OWt~Q seinen Glauben an Gott und an Jesus Christus zu formulieren 42.
Für den Stellenwert des christologischen Titels OWttlg ist auf zwei Dinge hinzuweisen: (1) Durch die Tatsache der "doppelten Verwendbarkeit des Titels" für Gott und für Jesus Christus kann der Verfasser ein für ihn zentrales Anliegen verdeutlichen, daß nämlich in Jesus Christus Gott sich als der offenbart hat, der für alle Menschen das Heil, die Rettung will 43 ; das hat zur Konsequenz, daß die Christologie nur über das Gottesbekenntnis zu erfassen ist und daß umgekehrt die Theologie nicht ohne das christologische Bekenntnis auskommen kann. (2) Der Titel OWttlQ steht zwar in den Präskripten auch titular und ohne unmittelbar damit verbundene soteriologische Explikation (1 Tim 1,1; Tit 1,3.4). In den meisten Fällen aber ist er soteriologisch V gl. dazu K. LÄGER, Christologie 119-121. Für die Past ist dies eindrucksvoll mit dem Vokabular zu belegen. Diese sprachlichen Eigenheiten sind ein wichtiges Argument für den pseudepigraphischen Charakter der Past (vgl. HThK XI 2/1 XXXV-XXXVII). 42 Mit "Einflüssen von beiden Seiten" ist auch nach Überzeugung von K. LÄGER, Christologie 120, zu rechnen. - Die im Anschluß an 0. Cullmann bei PR. H. TOWNER, Goal 76, gebotene Erklärung, es gebe "probably a very natural development from the idea of salvation inherent in the name I€sous (Matt 1.21) to the Church's formal designation of the Messiah as soter" (ähnliche Überlegungen bei J. ROLOFF, 1 Tim 363), hat v. a. gegen sich, daß dieser Zusammenhang nirgendwo belegt ist, auch nicht in den dafür angeführten TextsteIlen Mt 1, 21; Lk 2,11; Apg 5,31; 13,21. 4l Vgl. N. BROX, Past 233. 40 41
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definiert und sicher nicht zufällig verbunden mit den oben genannten Stellen, in denen christologische Bekenntnisse aus der Tradition aufgegriffen sind (1 Tim 2,3-6; 2 Tim 1,8-10; Tit 2,11-14; 3,4-7). Der Verfasser der Past übernimmt die Bekenntnisformeln, die im weitesten Sinn soteriologisch bestimmt sind und gibt ihnen durch den a(J)"t~Q-Titel- in der Verwendung sowohl für Gott als auch für Jesus Christus - eine heilsgeschichtliehe Zuordnung: In der Selbsthingabe des Christus Jesus "für alle" verwirklicht sich Gottes Heilswille, der "allen Menschen" gilt (1 Tim 2,3-6); es gilt aber auch: Mit dem Auftreten Jesu, seiner Epiphaneia, ist der Weg Gottes als des Retters zu seinem Ziel gekommen, und deshalb ist das Evangelium von Jesus Christus als Gottes letztes Wort an die Menschen zu interpretieren (vgl. Tit 1, 3: Ecpuv~Q(J)aEv öe xmQoL~ LöLOL~ "tov Myov UVLO'u). Diese einheitliche heilsgeschichtliche Funktion Gottes und Jesu Christi verdeutlichen die Past dann mit dem Begriff E:7tLcpavELu 44 • b) Der Begriff EmcpaVELU Die Past übernehmen aus der griechisch-hellenistischen Welt auch den Begriff rmcpaVELU 45, der als "religiöser Terminus" diejenigen, die ihn hörten oder lasen, auf "das geschichtlich faßbare Eingreifen des Gottes zugunsten seiner Verehrer, als Ermöglichung des Sieges in einer militärischen Auseinandersetzung, aber auch allgemein verstanden als ,göttliche Hilfe'" verwies".
Für den Gebrauch des Begriffs EmcpaVELU in den Past ist charakteristisch, daß er fast ausschließlich für das Offenbarwerden Jesu Christi gebraucht wird 47 • An zwei Stellen ist zugleich von Jesus Christus als a(J)"t~Q die Rede (2 Tim 1,10; Tit 2,13); und im unmittelbaren Kontext, der die EmcpavELu Jesu Christi soteriologisch entfaltet, wird einmal auch Gott als a(J)"t~Q bezeichnet (Tit 3,4), einmal auf die Gnade Gottes verwiesen, "die allen Menschen Rettung bringt" (Tit 2,11). An den beiden letzten Stellen formuliert der Verfasser mit dem Verbum EmcpuLvw8m, bezogen auf "die Gnade Gottes" bzw. "die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Retters". Bei der Frage, ob der Verfasser bei EmcpavELu jeweils ein konkretes Auf den Zusammenhang der wechselseitigen Bezeichnung Gottes und Jesu Christi als "Retter" mit dem Epiphanie-Modell "als Element der Soteriologie der Pastoralbriefe" verweist auch K. LÖNING, Gerechtfertigt 251. 45 Im N euen Testament nur noch in 2 Thess 2,8, wo er parallel mit JtuQouo[u gebraucht wird. 46 D. LÜHRMANN, Epiphaneia 195f. In gleicher Bedeutung steht EltL
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Exkurs: Die Christologie der Pastoralbriefe
Ereignis bzw. einen Punkt aus der Jesustradition ansprechen will, ist zu bedenken, daß das, was mit bn<pavELu umschrieben wird, eingebunden ist in diese theologisch bestimmte Konzeption der Soteriologie. Zwar zeigen sich Akzentuierungen, die einmal das Geschehen der Inkarnation (vgl. 2 Tim 1,10), das andere Mal die Wiederkunft Christi, seine Offenbarung als Endrichter betreffen (vgl. 1 Tim 6,14; 2 Tim 4,1.8; Tit 2,13); doch die genannten Querverbindungen zu den theologischen und soteriologischen Aussagen zeigen, daß der Verfasser nicht nur auf ein Datum der Vergangenheit oder der Zukunft verweisen will, wenn er von der Epiphaneia Jesu Christi spricht, sondern auf die Gegenwart seiner Gemeinden, deren Leben hier und jetzt bestimmt sein muß von dieser "Offenbarung" 48. Deshalb wird sowohl bei der Inkarnationsaussage 2 Tim 1,9f als auch beim Parusiehinweis Tit 2,13 von Jesus Christus als "unserem Retter" gesprochen 49, vom Handeln Gottes sowie von seiner "Gnade", die "uns" und "allen Menschen" zugute kommt 50 . Eine letzte Bestätigung für diese Interpretation gibt der Verfasser durch seine redaktionelle Einordnung: All das, was als "Offenbarung" vorgestellt wird - die Aussagen über Gott, über Christus Jesus und über die Menschen - ist in der Darstellung der Past Inhalt des "Evangeliums", zu dessen Verkündigung "Paulus" sich von Gott eingesetzt weiß (2 Tim 1,11: Eod8'1lv)5\ und es ist dies die "gesunde Lehre", welche der in der Nachfolge des Paulus stehende Gemeindeleiter "mit Nachdruck" zu bewahren und weiterzugeben hat (Tit 2,15)52. K. LÄGER, Christologie 116-118, kritisiert zu Recht die bisweilen begegnende Unterscheidung von "erster" Epiphanie und "zweiter" Epiphanie (vgl. bei V. HASLER, Epiphanie 199; L. R. DONELSON, Pseudepigraphy 141-152; E. SCHLARB, Lehre 166171; auch J. ROLOFF, 1 Tim 364f, spricht von einer "zweifachen E1wpavELu Jesu Christi", "einer vergangenen, auf die zurückgeblickt wird", sowie "einer zu erwartenden zukünftigen"; doch zugleich gilt: "Weil Gottes rettende Gnade bereits erschienen ist, darum kann die Gegenwart als von Christus qualifizierte Zeit, als Heilszeit, ergriffen und angenommen werden [Tit 3,4-7]"). 49 Diese Zusammenstellung von aw"t~Q und bwpavELu kommentiert D. LÜHRMANN, Epiphaneia 198, folgendermaßen: ,,'EmcpavELu ist also nicht bloß Synonym zu nUQolJOLU, sondern bringt in die Texte das Moment des helfenden Eingreifens ein." 50 V gl. K. LÄGER, Christologie 119: Mit dem Begriff emcpavELu wird "das gesamte Spektrum göttlicher Hinwendung zu den Menschen bezeichnet: nicht ein einzelnes, konkretes Datum, sondern das helfende Eingreifen Christi in seiner Menschwerdung, sein gegenwärtiges und noch ausstehendes Handeln". 51 Vgl. K. LÖNING, Gerechtfertigt 256: "Über die Verki'.ndigung und das Leiden des Paulus wird Gottes Epiphanie zum mitgeteilten Ereignis (vgl. 2 Tim 1,11f) und so zum rettenden Wissen, das als anvertrauter Schatz bewahrt werden muß." 52 V gl. 0. MERK, Glaube 98: "Das empfangene Heil ist durch die Kontinuität des Evangeliums bleibende Gegenwart für das Leben der Gemeinde." - K. LÄGER, Christologie 178: "Christus Jesus ist in den Pastoralbriefen insofern präsent, als sein helfendes Eingreifen bleibend Einfluß auf die Gegenwart der Glaubenden nimmt, und zwar durch das Evangelium, das wiederum an Paulus, den autorisierten Tradenten der Christusbotschaft gebunden ist." 48
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Exkurs: Die Christologie der Pastoralbriefe
5. Die Christologie der Past - ein Versuch verantwortungsbewußten Umgangs mit der Glaubenstradition
Die Spannung zwischen dem Anspruch des Verfassers der Past, die paulinische Überlieferung (:n;uQue~x:r]) gegen Verfälschungen bewahren zu wollen, und der im Vergleich zu Paulus anders akzentuierten Christologie, die bestimmt ist von den hellenistischen Begriffen ow't'~Q und E:rtLepavELu, provoziert die Fnlge nach dem Stellenwert dieser Christologie in Theologie und Verkündigung 53. a) Die Christologie der Past ist keine in sich geschlossene Einheit im Sinne einer systematisierenden Glaubensdogmatik; denn der Verfasser unternimmt den Versuch, ihm vorgegebene Einzelaussagen vor allem zur Soteriologie aufzunehmen und sie gleichzeitig, ohne daß er sie wesentlich verändert, in eine neue christologische Konzeption einzufügen. b) Der Verfasser steht gut erkennbar in der seit frühchristlicher Zeit gültigen christologischen Bekenntnistradition; er setzt allerdings eigene Akzente, indem er den "soteriologischen Aspekt" betont 54: In Jesus Christus offenbart sich Gott, und Gott gibt sich als der zu erkennen, der das Heil aller Menschen will. c) In der Einführung der beiden Begriffe ow't'~Q und E:rtLepavELu liegt eine "Übersetzung" der Christologie in die hellenistische Welt vor 55 , wobei die aus anderen religiösen Zusammenhängen bekannte Begrifflichkeit eine Interpretation christlichen Glaubens darstellt 56 • Aktuelle Probleme, wie etwa die Begegnung mit dem hellenistischen Herrscherkult, sind dafür zwar nicht ursächlich verantwortlich zu machen, dürfen aber für die aktuelle Bedeutung der in dieser Begrifflichkeit ausformulierten Christologie nicht außer acht bleiben 57. d) Die Past bieten eine Christologie unter dem Namen und unter der Autorität des Paulus. Sie beanspruchen damit Kontinuität, Kon-
" Vgl. dazu I. H. MARsHALL, Christology 176f; K. LÄGER, Christologie 171-185. 500 P. TRUMMER, Paulustradition 208; ähnlich K. LÄGER, Christologie 182. 55 In der Übernahme des Titels (JOJT~Q zeigt sich in den Past nach Meinung von A. SAND, Theologie 353, "eine gewisse Hellenisierungstendenz". " Hier gibt es natürlich die zwei Möglichkeiten, die sich nicht säuberlich gegeneinander abgrenzen lassen und die keineswegs auf die Past zu beschränken sind, "that the Hellenistic language is christianised, or that the gospel is paganised" (1. H. MARsHALL, Christology 176). 57 Vgl. F. YOUNG, Theology 65: "More than other New Testament texts the Pastorals evidence the language that so intriguingly paralleis the ,ruler-cult'. As the emperor was god by being son of a god or the manifestation of a god, so Christ is Lord and God as God's Son, or God's manifestation ... His ,epiphany' as the man Jesus Christ, and his return as Lord and Judge, rival the claims of Lord Caesar, Saviour of the world; and Christ's slaves and servants should not be ashamed of the chains they may have to wear as subversives in the Caesar's empire."
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Exkurs: Die Christologie der Pastoralbriefe
tinuität allerdings nicht verstanden als bloße Wiederholung der Tradition, sondern als Neuinterpretation unter Berücksichtigung der Bedingungen ihrer Zeit. Gewiß ist für die Frage der Legitimation der Christologie der Past die Auskunft, daß sie "unter den speziellen Bedingungen ihrer Zeit entstanden ist", nicht ausreichend 58 . Daran ist mit I. H. MarshalI die Frage anzuschließen, ob uns in dieser Hinsicht der Autor nicht doch ein Vorbild sein kann; denn es müsse doch immer darum gehen, für die Bewahrung der zentralen christologischen Bekenntnisse der frühchristlichen Zeit nach neuen Wegen zu suchen, um diese "alten Wahrheiten" auszudrücken, damit sie auch zu den Menschen der modemen Zeit "sprechen"59. LITERATUR: 1. A. ALLAN, Forrnula; N. BRox, Past 161-166; M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 74-78; 106-108; L. R. DONELsoN, Pseudepigraphy 129-154; v: HASLER, Epiphanie; K. LÄGER, Christologie; K. LÖNING, Gerechtfertigt; D. LÜHRMANN, Epiphaneia; L. ÜBERLINNER, Epiphaneia; 1. ROLOFF, 1 Tim 358-365; DERS., Weg; E. SCHLARB, Lehre 164-172; H. SIMONSEN, Traditionselemente; PH. H. TowNER, Goal 51-56; 75-119; P. TRUMMER, Paulustradition 193-208; H. WINDISCH, Christologie.
" Vgl. K. LÄGER, Christologie 183f. Es ist aber zu bedenken, daß damit ein Problem angesprochen wird, das doch für die christologischen Entwürfe des NeuenTestaments insgesamt Gültigkeit hat, von Paulus (Stichwort "Gesetz") bis zum Johannesevangelium (Stichwort "M;a"). - Vgl. auch K. LÖNING, Gerechtfertigt 250, der zu bedenken gibt: "Wenn man dem Phänomen der Paulusrezeption der Pastoralbriefe in der kritischen Bewertung gerecht werden will, muß man sie an ihrer eigenen Soteriologie und an ihrem eigenen Anspruch bezüglich ihrer Treue zu Paulus messen." Dazu ist aber die Frage zu stellen: Was heißt "Treue zu Paulus", wenn man den Past doch auch eine eigene Soteriologie zugesteht?! " I. H. MARSHALL, Christology 177: "The Pastor reminds us that doctrine is ,fixed' by the early traditions of the church, and he is not slow to make use of them and to warn us that we must be careful how we go beyond them. But at the same time his own example encourages us not to be afraid to find new ways of expressing the old truths that will speak to the modem world."
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Tit 3,1-7
6. Die Berufung der christlichen Gemeinde für die Welt (3,1-7) 3,1 Erinnere sie daran, sich Obrigkeiten und Machthabern 1 unterzu-
ordnen, sich gehorsam zu zeigen, zu jeglichem guten Werk bereit zu sein, 2 niemanden zu lästern, von Streit sich frei zu halten, nachgiebig zu sein, umfassende Freundlichkeit allen Menschen zu erweisen. 3 Denn einst waren auch wir ohne Einsicht, ungehorsam, in Irrtum befangen, Sklaven von vielerlei Begierden und Lüsten, in Bosheit und Neid dahinlebend, verhaßt und voll Haß gegeneinander. 4 Als aber die Güte und die Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Retters, erschienen 5 - nicht aufgrund von Werken, nämlich solchen in Gerechtigkeit, die wir getan haben, sondern nach seinem Erbarmen 2 -, hat er uns gerettet durch das Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung im Heiligen Geist 3, 6 den er ausgegossen hat über unS in Fülle durch Jesus Christus, unseren Retter, 7 damit wir, durch seine Gnade gerechtfertigt, Erben würden entsprechend der Hoffnung auf ewiges Leben. I
Der vorangehende V 15 hat zwar auch deutlich überleitende Funktion; aber sowohl inhaltlich als auch von der Textstruktur her ist er stärker eingebunden in den Abschnitt ab 2,1 und gibt diesem zweiten Kapitel erkennbare Geschlossenheit. Dem entspricht der Neueinsatz in 3,1 mit einem weiteren Imperativ, der sich an den Gemeindeleiter richtet und diesen noch einmal auf seine Verantwortung für die Gemeinde anspricht. Der Textabschnitt 3,1-7 zeigt eine auffällige Parallelität zum vorangehenden Kapitel 4 : Auf die Ermahnung an den in der Gestalt des "Titus" repräsentierten Gemeindeleiter, in dieser autoritativen Position sich an die Gemeinde zu wenden (1131:0IlLllvTIOXE VI; vgl. A.aAEL 2,1), wird der Inhalt der Anweisungen vorgestellt (VV 1.2; vgl. 2,210); es folgt dann, mit begründendem yaQ angeschlossen, eine Beschreibung der heilsgeschichtlichen Situation der christlichen Gemeinde, jeweils in der kontrastierten Gegenüberstellung zu einer heillosen Vergangenheit (VV 3-7; vgl. 2,11-14). Und wie der Verfasser 1 Die Partikel ?l.aL ist erleichternde, sekundäre Einfügung (B.-D.-REHKoPF, Grammatik § 460,2). Zur Übersetzung vgl. W. HAUBECK - H. v. SIEBENTHAL, Schlüssel 240. 2 V 5a ist nicht als Ergänzung auf EOOlcrev zu beziehen (so z.B. die Übersetzung bei
M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, G. HOLTz, N. BROX, H. MERKEL), sondern als Erläuterung zu E:rtEepa'Y1J (entsprechend den Übersetzungen bei F. 1. SCHIERSE und V. BAsLER). . , Die beiden Genitive :rtaALYYEVEaLa~ und ava?l.mvrooEOl~ sind Explizierung von t..o\J'tQOü.
• Vgl. Y. REDALrE, Paul217f; H. MERKEL, Past 100f.
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am Ende des paränetischen Abschnittes in Kap. 2 auf die Bedeutung der "guten Werke" verweist (V 14) und dann abschließend zur direkten Rede an "Titus" zurückkehrt, so folgt auch nach 3,1-7 wieder eine an den Adressaten gerichtete Anweisung, für die "Umsetzung" des Glaubens in "gute Werke" Sorge zu tragen (3,8). Da dieser Auftrag eine Ausweitung in 3,9-11 erfährt, sind die "zusammenfassenden Anweisungen der V 8-11" vergleichsweise stark betont und deshalb als eigenständige Einheit zu behandeln 5 • Durch den übergreifenden Zuschnitt auf den von "Paulus" in seiner Verantwortung für die Gemeinde angesprochenen "Nachfolger" werden diese Verse zusammengehalten. Es sind aber disparate Texte miteinander verknüpft, die die Abhängigkeit des Verfassers von vorgegebenen Traditionen erkennen lassen 6: (1) die Forderung zu uneingeschränkter Anerkennung der staatlichen Gewalt (vgl. Röm 13,1-7; 1 Petr 2,13-17); (2) die katalogartige Aufzählung von Tugenden (vgl. 1 Tim 3,3) und Lastern (vg1.1 Tim 6,9; 2 Tim 3,2; Tit 1,16; 2 Tim 3,13; 1 Tim 6,4); (3) das im Urchristentum verbreitete Predigtschema mit der Gegenüberstellung von "einst" und "jetzt" (vgl. u. a. Gal4,3-7.8-1O; Kol1,2lf; Eph 5,8; 1 Petr 2,10; 2,25; 1 Tim 1,12-16); (4) eine soteriologische Terminologie, die in die Tauftradition eingebunden ist.
Eine eindeutige Trennung von traditionellen Vorgaben und redaktioneller Gestaltung ist bei diesem Abschnitt nicht möglich; der Verfasser gibt darin seine eigene Sichtweise wieder und stellt das heraus, was er für wichtig erachtet". II
1 Der neue Abschnitt setzt wieder ein mit einer für die Past typischen Form, nämlich einem Imperativ an den Gemeindeleiter. Das "erinnern" wird hier (wie in 2 Tim 2,14) als Aufgabe des in der Gemeinde Verantwortlichen eingeführt. Dabei liegt kein wesentlicher Bedeutungsunterschied vor zu anderen sprachlichen Formulierungen dieser Beauftragung, etwa zu ÖU')UOXELV und :n:UQUXUAELV (vgl. 1 Tim 4,11; 6,2b; Tit 2,6.15). Der entscheidende Gesichtspunkt ist auch hier, daß durch "Paulus" der an der Spitze der Gemeinde Stehende auf seine Verantwortung für den Glauben und das Leben der Gemeinde angesprochen wird.
V gl. zu dieser Beurteilung von V 8 im Rahmen der VV 8-11 N. BROX, Past 310. Vgl. dazu G. LOHFINK, Vermittlung 174-177; H. MERKEL, Past 101; K. LÄGER, Christologie 98-102. 7 Vgl. K. LÄGER, Christologie 102. Ähnlich I. H. MARSHALL, Faith 205 (205-208), zu den VV 4-7: " ... what we have before us does represent the author's own outlook and stresses what he considers important." 5 6
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Über die Vermittlung durch den Amtsträger wird dann die Stellung der christlichen Gemeinde zur staatlichen Herrschaft angesprochen. Das Thema der Beziehung der Christen zur staatlichen Autorität ist in der christlichen Tradition nicht neu; Unterordnung unter die weltliche Obrigkeit hatte bereits Paulus der Gemeinde in Rom abverlangt (Röm 13,1-7), und eine vergleichbare Mahnung wird auch vom Verfasser von 1 Petr (2, 13 f) tradiert. In den Past liegt dazu eine sachliche Parallele vor in der Aufforderung an die Christen zu Gebet und Fürbitte "für Könige und für alle, die in übergeordneter Stellung sich befinden" (1 Tim 2,1 f).
Im Vergleich zur Formulierung in 1 Tim, in der die Verantwortung der Christen auch für die weltlichen Machthaber betont wird, geht die Aussage in unserem Vers einen Schritt weiter; jetzt werden die weltlichen Herrschaftsstrukturen als auch für die Christen gültige Normen vorbehaltlos anerkannt 8 • Kaum zu beantworten ist die Frage, ob dahinter aktuelle Anliegen bzw. Probleme im Zusammenleben von christlicher Gemeinde und staatlicher Gewalt bzw. nichtchristlicher Umwelt stehen, oder ob der Verfasser hier erneut den für ihn wichtigen Gedanken der guten Beziehungen zwischen christlicher Gemeinde und nichtchristlicher Umwelt grundsätzlich aufgreifen will (vgl. 1 Tim 2,1 f; 3,7; Tit 2,5.8)'. In jedem Fall zeigt die an dieser Stelle formulierte Norm der Beziehung der Christen zur weltlichen Obrigkeit eine für den Verfasser bedeutsame formale Übereinstimmung mit innergemeindlichen Strukturen. Wichtig ist dafür das Stichwort u:lt01:aoow8m. Das Motiv der Unterordnung ist in den Past zentral für die Beschreibung der zwischenmenschlichen Beziehungen in den verschiedenen Lebensbereichen - Familie, Gemeinde, Kirche, Staat. Im Mittelpunkt des Interesses steht natürlich die gegliederte Struktur der christlichen Gemeinde mit den Presbytern und dem Episkopos an der Spitze (vgl. 1,5); deren Aufgabe besteht in der aktuellen Entwicklung - angesichts der Gefahr, daß Gemeinden sich durch Uneinheitlichkeit in der Glaubenslehre zu spalten drohen - darin, Gemeindemitglieder, die im Widerspruch zur kirchlichen Lehre stehen und es an entsprechender Unterordnung fehlen lassen, auf den rechten Weg der "gesunden LehIm Vergleich mit 1 Tim 2,1 f fällt bei Tit 3,1 f auf, daß eine unmittelbare theologische Begründung für die Unterordnung fehlt. Y. REDALlE, Paul 418f, sieht die wesentliche Gemeinsamkeit zwischen den beiden Stellen im Motiv der Universalität - bezogen auf (1) die Obrigkeit (bei der nicht einzelne Aktivitäten interessieren), (2) die für die Betroffenen (Christen) genannten Verpflichtungen gegenüber "allen Menschen" (1 Tim 2,1; Tit 3,2) sowie (3) die universale soteriologische Aussage (1 Tim 2,3-6; Tit 3,3-7). , Vgl. V. HASLER, Past 95: Es "scheint keine besondere Aktualität vorzuliegen". F. 1. SCHIERSE, Past 169, will zwar für "früher einmal - zur Zeit einer Verfolgung -" Diskussionen um die Gehorsamspflicht dem heidnischen Staat gegenüber zugestehen; "jetzt" aber seien "die Dinge geklärt". 8
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re" und des rechten "Glaubens" zurückzuführen (vgl. 1,9.10.13). In Entsprechung zu diesem Gemeindeverständnis wird auch die in der Familie und im "Haus" herrschende (Unter-)Ordnung nicht nur akzeptiert, sondern als Zeichen des rechten Glaubens aufgewertet und festgeschrieben. Die ausdrückliche Verpflichtung auch der Christen - daß sie in dem Personalpronomen a1~n;ov~ in allgemeiner Form angesprochen sind, ist nicht zu bezweifeln - auf Gehorsam und Unterordnung gegenüber der staatlichen Obrigkeit erscheint in dieser Hinsicht als Konsequenz aus dem Glaubens- und Gemeindeverständnis. Ausgehend von der Gemeinde wird die Bedeutung von Gehorsam und Achtung vor den Autoritäten auch für die beiden zentralen sozialen Gebilde, die Familie bzw. das Haus und das Staatswesen, unterstrichen und - charakteristisch für die Past - im Rahmen einer Gemeindeleiterparänese als den Christen aufgetragene Pflicht aufgenommen. Eine besondere Akzentuierung erhält auch diese Weisung zur Unterordnung dadurch, daß bereits an früherer Stelle Ungehorsam, mangelnde Bereitschaft zur Unterordnung als Kennzeichen der Anhänger abweichender Glaubenslehren vorgestellt worden sind, d. h. als Kennzeichen des Glaubensabfalls (vgl. 1,9.10.14). Auf diesem Hintergrund wird solchem Verhalten der Unterordnung im "weltlichen" Bereich auch der Charakter der Bewährung christlichen Lebens "nach außen hin" zugesprochen (dazu sind aus dem engeren Kontext die Motivangaben in 2,5 und 2,8 zu bedenken). In der Formulierung mit der Doppelung von clQXUt und E~o'UOtm (vgl. auch Lk 12,11) sieht J. Jeremias die Absicht, auf die Abhängigkeit von "Reichsbehörden" wie "städtischen Behörden" hinzuweisen 10; A. Weiser interpretiert den Doppelausdruck als "Hendiadyoin zur Bezeichnung jedweder politischer Obrigkeit, Instanz und Behörde" 11. Die Absicht des Verfassers ist in jedem Fall darin zu sehen, die Bedeutung der weltlichen, staatlichen Macht hervorzuheben. Zur "Unterordnung" kommt der "Gehorsam" hinzu; in :TtElOugXdv dürfte im Vergleich zu U:TtO't
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eines in Tun und Leben nach außen hin (gegenüber der nichtchristlichen Umwelt) und nach innen (in der Gemeinde) bewährten Christen. Im Vergleich mit den beiden ersten Weisungen ist der Akzent bedeutsam verschoben: Unterordnung und Gehorsam zeigen den Christen in seiner passiven Betroffenheit; mit der Bereitschaft zu guten Werken wird sein aktives Thn gefordert. Die beiden Aspekte sind in der ihnen je eigenen Bedeutung zu gewichten und dürfen nicht gegeneinander aufgerechnet werden. Der Christ wird ohne Einschränkung vor die Forderung zu Gehorsam gegenüber der staatlichen Autorität gestellt, deren Gültigkeit nicht durch die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde beeinträchtigt ist. Ganz im Gegenteil! Für ihn bedeutet seine Verpflichtung auf den christlichen Glauben eine noch stärkere Verpflichtung auch auf die Gehorsamsforderung gegenüber der staatlichen Obrigkeit 13. Eigenverantwortung ist mit dieser radikalen Gehorsamsverpflichtung allerdings in der Öffentlichkeit ebensowenig ausgeschlossen wie im Rahmen der christlichen Gemeinde, wo der Gehorsams- und Unterordnungsforderung gleichfalls ein besonderer Platz eingeräumt ist. Der Christ muß zu seiner Glaubensüberzeugung auch in der Öffentlichkeit stehen; und dies wird, wiederum in einer für die Past typischen Weise (vgl. 2,14), formuliert mit der Mahnung zu "guten Werken". 2 Die einleitend in V 1 von den Gemeindemitgliedern verlangte Anerkennung der staatlichen Strukturen als gerade sie als Christen zur , Loyalität verpflichtendes System 14 sowie die Aufforderung zur Bereitschaft, in allen Bereichen und gegenüber allen Menschen sich als gläubige Christen zu engagieren, d.h. sich durch gute Werke auszuzeichnen, zeigen das Ideal einer gegenüber der (heidnischen) Umwelt aufgeschlossenen christlichen Gemeinde. Ihre Verpflichtung über auch PH. H. TowNER, Goal 112. Anders F. 1. SCHIERSE, Past 169, der hier die "staatsbürgerliche Verantwortung" der Christen angesprochen sieht. 13 Demgegenüber vertritt V. HASLER, Past 95, die Meinung, "daß die von der Gemeinde geforderte Unterordnung und der geschuldete Gehorsam nicht als passive Unterwerfung erscheinen, sondern als Aufforderung zur aktiven Verwirklichung christlichen Handeins und zur Bezeugung gläubigen Verhaltens in den öffentlichen Beziehungen". Dies erscheint angesichts der starken Rücksichtnahme auf die nichtchristliche Umwelt und Öffentlichkeit und auf die in ihr herrschenden gesetzlichen und ethischen Normen ebenso optimistisch überzogen wie Haslers weitere Bewertung, hier sei die Rede "vom Einbringen christlicher Normen ins römische Herrschaftssystem" (ebd.). Auch nach Meinung von A. WEISER, Verantwortung 42, ist in dieser Auslegung Haslers "die gesellschafts- und staatskritische Funktion der Past ... etwas überschätzt". Hat der Verfasser nicht doch vielleicht eine recht gute Meinung von der "Welt", so daß die Christen davon lernen können?! 14 Obwohl nicht ausdrücklich davon gesprochen wird, ist davon auszugehen, daß für die Past in diesen gesellschaftlichen Strukturen sich der Wille Gottes zeigt (vgl. TH. D. LEA - H. P. GRIFFIN, Past 317f).
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den Kreis der glaubenden Gemeinschaft hinaus wird noch dadurch betont, daß die für das "kirchliche Zusammenleben" geforderten Verhaltensweisen auch Anwendung finden müssen "für die Beziehungen zur Umwelt" 15. Vor der Gefahr, daß der christliche Glaube "gelästert" werde, und zwar von Außenstehenden, hat der Verfasser schon in 2,5 gewarnt (vgl. auch 1 Tim 6,1); entsprechend gilt jetzt auch für Christen die Verpflichtung, daß sie sich hüten müssen vor "Lästerung", d. h. unter anderem vor Verleumdung anderer. A. Schlatter wagt sogar die Formulierung: "Ein Christ lästert keinen fremden Gott und keinen fremden Kult."16 Die Bedeutung der Beziehung zur nichtchristlichen Umwelt nach dem Urteil der Past zeigt sich dann noch darin, daß in den beiden Mahnungen zur Vermeidung von Streit (&!laxo"U~ Elvm) und zu Milde und Freundlichkeit (btLeLXe~) zwei Eigenschaften genannt sind, die auch den Episkopos im Verhältnis zur christlichen Gemeinde auszeichnen sollen (1 Tim 3,3). Auch "Sanftmut" (:ltQaihTJ~), hier eine Bestimmung des Verhaltens der Christen gegenüber allen Menschen, wIrd in der innergemeindlichen Auseinandersetzung bei der Zurechtweisung der Gegner durch den Gemeindeleiter gefordert (vgl. 2 Tim 2,25). Hier sind die Fragen einzuschieben: Wie verhielten Christen sich gegenüber der heidnischen Umwelt, und wie war die Einstellung der Nichtchristen zu den christlichen Gemeinden? Sicher gab es Spannungen, die im Verhalten beider Gruppen ihren Grund haben konnten: von seiten der Christen etwa in einer gewissen Reserve gegenüber der staatlichen Autorität und insbesondere in der Ablehnung des Kaiserkultes, von seiten der Nichtchristen Verdächtigungen, eventuell Befürchtungen fehlender Loyalität dem Staat und den diesen tragenden Institutionen gegenÜber (einschließlich der sakralen Autorität des Herrschers). Dies ist sowohl durch das Neue Testament als auch durch andere zeitgenössische Zeugnisse zu belegen. Es ist unter anderem das Anliegen der Past, die Sorge um das Erscheinungsbild der christlichen Gemeinde im Sinne eines Zeugnisses für ihren Glauben im Gegenüber zur nichtchristlichen Umwelt als positive und bedeutungsvolle Aufgabe ins Bewußtsein der Christen, insbesondere der verantwortlichen Amtsträger, zu rufen. Darüber hinaus ist es eine Konsequenz aus dem zentralen Bekenntnis zur Universalität des Heilswillens und Heilshandelns Gottes (1 Tim 2,3f; Tit 2,11), daß sich Christen allen Menschen gegenüber (:l'tQo~ :l't(ivta~ äv8Qcb:l'tou~) entsprechend zu verhalten bemühen müssen.
Die vorgestellten Verhaltensweisen der Christen zur Umwelt haben also zwar in erster Linie praktisch-pastorale Gründe; für den Autor ist aber eine theologische Basis wichtig, wie gleich im folgenden expliziert wird. Auf diesem Hintergnind ist es problematisch, das von den " Vgl. v: HAsLER, Past 95. Auch nach H. MERKEL, Past 102, liegt in den Forderungen von V 2 eine Anleitung "zur Toleranz gegen die nichtchristIiche Umwelt" vor. 16 A. SCHLAITER, Kirche 200.
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Christen als Zeichen ihres Glaubens geforderte Tun in Kontrast zum Verhalten der Nichtchristen, der Außenstehenden, zu stellen und deren Urteil über die christlichen Gemeinden entsprechend negativ zu zeichnen 17 • 3 Wieder folgt (wie beim Anschluß von 2,11 an 2,1-10) eine Begründung für die ethischen Weisungen, die mit yag angefügt ist und dadurch einen engen Bezug zur Paränese aufweist. Aber schon die Ausführlichkeit, mit der die negative Seite menschlichen Lebens geschildert wird, zeigt, daß der Verfasser mehr will, als bloß durch den Kontrast für das zuvor beschriebene Ideal zu werben. Dieser Eindruck wird bestätigt, wenn man die mit JtO'T:e eröffnete und in V 4 mit Ö'tE weitergeführte Verknüpfung von Mahnungen und heilsgeschichtlicher Begründung beachtet, die auch schon in der Abfolge von 2,2-10 und 2,11-14 zu erkennen war. Für die Past liegt ein wesentlicher Zugang zum Glauben als Lehre im Glauben als Leben. Und hier geht der Verfasser auf dieses "Leben" in besonderer Weise ein, indem er zwei Epochen daraus einander gegenüberstellt. Diese Art der vergleichenden bzw. kontrastierenden Gegenüberstellung von vorchristlicher und christlicher Lebensführung ist ein schon bei Paulus aufgegriffener Topos (vgl. Röm 6,17-22; 7,5f; 1 Kor 6,9-11; Gal4,8-10) und wirkt auch in den Deuteropaulinen weiter (KoI1,21f; 3, 7f; Eph 2;1-10.11-22; vgl. auch 1 Petr 1,14-23)18. In den Past ist dieses Schema auch schon verwendet worden bei der (fiktiven) Selbstvorstellung des "Paulus" in 1 Tim 1,12-16, wo der "Apostel" sich selbst im Blick auf seine Vergangenheit (ta ltQotEQOV ovta) beschreibt als "Lästerer, Verfolger und Frevler" (V 13a); durch das "Erbarmen" bzw. die "Gnade" Gottes ist er dann aber in den "Dienst" der Verkündigung gestellt worden (aAA.a ~AEt't8Tjv V 13b). Die düstere Schilderung der Vergangenheit läßt die Bedeutung der dem Paulus zuteil gewordenen Erwählung in noch hellerem Licht erstrahlen. Eine vergleichbare personenbezogene Aussage liegt hier jedoch nicht vor. Die Formulierung im Wir-Stil in diesem Vers ist nicht auf die in der Briefsituation unmittelbar in dem "Wir" eingeschlossenen Personen ("Paulus" und "Titus") zu beziehen; (der fiktive) Paulus spricht vielmehr von" uns" Christen 19.
Nun hat diese kontrastierende Gegenüberstellung zweier Lebenslagen nicht nur vordergründig das Ziel, das gegenwärtige Leben der Mitglieder der christlichen Gemeinde als in jeder Hinsicht über dem der Vergangenheit erhaben auszuweisen; der Verfasser verfolgt ein 17 Diese Tendenz zeigt sich z.B. in der Auslegung von J. JEREMIAS, Past 74, wenn er die hier geforderte Bewährung des Jüngers Jesu verknüpft mit der Annahme von "Verleumdung, Haß, Spott und persönlicher Unbill" von seiten der heidnischen Umgebung. Dafür ist auch die nachfolgende Begründung nicht auszuwerten. 18 V gl. dazu die Übersicht und die Bewertung bei P. TAcHAu, ,Einst' 12. 19 Vgl. V. HAsLER, Past 95; zustimmend A. T. HANsoN, Past 190.
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aktuell-polemisches bzw. ein missionarisches Ziel. Die vorliegende negative Beschreibung eines Lebens außerhalb des Glaubens hat umfassende und allgemeingültige Bedeutung; sie charakterisiert die Situation der Menschen, die "heute" noch so sind wie "wir" "damals"20. Unterstrichen wird dieser Charakter der Allgemeingültigkeit noch dadurch, daß der Verfasser verallgemeinernd das "Wir" gebraucht, also von den christlichen Gemeinden in umfassender Weise spricht. Allerdings ist der Plural auch schon vorgegeben im Bekenntnistext VV 4-7. In der Art und Weise der Beschreibung eines vorchristlichen und so darf man im Sinne der Past ergänzen - außerchristlichen Lebens zeigt sich Verwandtschaft mit Röm 1,29 21 . In der Auswahl der Laster kommt neben einer stärker globalen Charakterisierung des Lebens als von "Begierden" und "Lüsten" bestimmt bereits in den beiden ersten Bestimmungen (av6rrtol und a:rtEleEL~) das aktuelle Anliegen zum Tragen. Als solche Menschen, denen Verständnis und Einsicht fehlt, werden ja gerade die Gemeindemitglieder charakterisiert, die sich nicht an die Weisungen der im Dienst und im Auftrag des Apostels agierenden Gemeindeleiter halten; Kennzeichen des "Unglaubens" der Irrlehrer ist, daß ihr "Denken", ihr "Verstand" befleckt ist, daß sie ihren Anspruch auf Gotteserkenntnis durch ihr eigenes Verhalten widerlegen und daß sie "ungehorsam" sind (vgl. Tit 1,15 f). In der Befangenheit in "Unverständigkeit" und in "Ungehorsam" ist also das Leben der Christen "damals", d. h. vor ihrer Bekehrung, vergleichbar mit der Situation der Abspenstigen in der Gegenwart. Noch stärker als die "Heiden", d. h. diejenigen, die nicht zum christlichen Glauben gekommen sind, sind hier die angezielt, die sich zwar zu den Gläubigen rechnen, denen aber die Past aufgrund fehlender Übereinstimmung mit der Kirche Häresie, Abfall von der Wahrheit vorwerfen. Die auf die Gegenwart gerichtete Intention der Past zeigt sich insbesondere in dem Stichwort a:rtEleEL~, dessen Bedeutsamkeit ganz deutlich mit dem auf Gehorsam und Unterordnung ausgerichteten Gemeindebild verknüpft ist. Die auf die Vergangenheit zielende Selbstvorstellung hat also nicht so sehr selbstkritische Funktion als vielmehr die, das Leben der gläubigen Gemeinde "jetzt" (vorgestellt in den VV 4-7) in Kontrast zu setzen zu einem Leben außerhalb dieser Gemeinde, damals wie heute 22 • Für den Paulus der Past ist es eine "Tatsache, daß die Christen einst in derselben unheilvollen Situation lebten wie ihre (noch) heidnischen Mitbürger" (H. MERKEL, Past
20
102).
Vgl. A. VÖGTLE, Tugend- und Lasterkataloge 34f.44f. Vgl. N. BROX, Past 305: "Die glaubenslose Situation läßt sich ... beschreiben wie die Häresie." Dieser kritische bzw. polemische Akzent gegen die, die außerhalb der Gemeinde stehen bzw. sich von ihr durch ihr Verhalten oder ihren Ungehorsam im Glauben trennen, scheint bei der Auslegung von F. 1. SCffiERSE, Past 170 f, zu stark 21
12
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In dem Verweis auf die Bindung "an vielerlei Begierden und Lüste" (ÖOUAEVOV'W; ... ) greift der Verfasser "die Terminologie des popular-
philosophischen Lasterkatalogs" auf, wobei vor allem mit dem Begriff im Neuen Testament auch die Irrlehrer charakterisiert werden können (vgl. die Kennzeichnung 2 Tim 3,4: CPIA~ÖOVOL f..tanOV ~ cpLMEkOL) 23 • Das alles gehört aber aus der Sicht eines gläubigen Christen der Vergangenheit an. Und in den nachfolgenden Stichwörtern zu dieser Vergangenheit - Bosheit, Neid, Haß - spielt wiederum ein zentrales Anliegen der Past herein: Kennzeichen der Hinwendung zum christlichen Glauben ist Abwendung von all den Einstellungen, die das Zusammenleben der Menschen belasten; an deren Stelle tritt der Anspruch, umfassende (= uneingeschränkte) "Güte allen Menschen gegenüber" zu üben (V 2). Der christlichen Gemeinde und ihren Mitgliedern wird eine besondere Verantwortung in der Welt und für die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens zugesprochen. Die genannten Belastungen der zwischenmenschlichen Beziehungen gehören zur Vergangenheit des gottfernen Lebens. Der Wandel zeigt sich also im Leben, im Verhalten der Gläubigen. Die Bedeutung dieses Wandels aber liegt indem, was den Neuanfang möglich gemacht hat: Gottes Wille und sein Handeln. ~öov~
4 Der Kontrast zur Vergangenheit wird deshalb nicht parallel zu V 3 formuliert, also in einer Beschreibung dessen, was wir "jetzt" sind oder tun. Der Verfasser stellt der unheilvollen Situation, in der die Menschen sich befanden, vielmehr eine Aussage über Gott, ein Bekenntnis zu Gott und seinem Handeln gegenüber. Darin (in den VV 4-7) zeigt sich erneut die Verwurzelung der Past in der Tradition christlicher Bekenntnisbildung; das Vokabular und die Aussagen über Gott und Jesus Christus aber entsprechen ganz der theologischen und christologischen KonZeption des Autors. Die Wende in der "uns" betreffenden Situation, die von "Unfreiheit" bestimmt war (ÖOUAEVOVLE~ V 3), brachte Gott. Doch es wird nicht gleich von dem gesprochen, was Gott "getan" hat (vgl. dann in V 5), vielmehr wird davon gesprochen, wie bzw. warum er gehandelt hat. Gottes "Güte" und seine "Menschenfreundlichkeit" sind der Grund dafür, daß sich die Bedingungen "für uns" entscheidend geändert haben. Die beiden hier gebrauchten Aussagen über Gott finden sich in unausgeblendet: "Weil die Christen selber einmal so unvernünftig und lasterhaft waren wie unsere jetzigen heidnischen Mitbürger, dürfen wir sie nicht schmähen und hart verurteilen." 23 Vgl. A. VÖGTLE, Tugend- und Lasterkataloge 21Of; G. STÄHLlN, ThWNT II 927f.
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terschiedlicher Bezeugung zwar im Neuen Testament 24 , sie sind aber auch in der außerbiblischen Literatur in hellenistischer Zeit - das gilt vor allem für CPLAuv8Qw:rdu - sowohl für die Beschreibung des Verhaltens der Gottheit als auch als Charakterisierungen von Menschen, insbesondere der Herrscher, häufig bezeugt 25 • In unserem Vers stehen sie als Entfaltung dessen, was im Bekenntnis zu Gott als dem "Retter" enthalten ist 26 • Dadurch wird ihnen in gewisser Weise soteriologische Bedeutung zugemessen. Die Art der Formulierung macht es unmöglich, die Aussage so zu paraphrasieren, als ob hier stünde, daß Christus erschienen ist 21 • Zum einen ist von Gott die Rede, und zum anderen davon, daß seine "Güte und Menschenfreundlichkeit" offenbar geworden sind. Aufgrund der für die Past auch an anderen Stellen erkennbaren Intention, die Christologie eng in der Theologie zu verankern, ist auf die sicher bewußt gewählte Sprachgestalt zu achten, insbesondere auf die starke Betonung der von Gott ausgehenden Initiative. Im Anschluß an die in V 2 gegebene Aufforderung zu einer unbegrenzten und vorbehaltlos wohlwollenden Zuwendung zu allen Menschen könnte man die Wahl dieser bei den Begriffe zur Umschreibung der Beweggründe Gottes so interpretieren, daß auf diese Weise das Handeln Gottes "eine paradigmatische Bedeutung" bekommen sollte; es sei damit also verwiesen auf die entsprechende "Parallelität im christlichen Handeln"28. Solche Zielsetzung ist aufgrund der paränetischen Einbindung nicht auszuschließen, zumal Glaube in den Past sich immer im Tun bewähren muß. Der Hauptakzent liegt in den Past aber eindeutig darauf, mit den beiden zum soteriologischen Begriffsinventar zählenden Ausdrücken das Bekenntnis zu Gott und zu seinem Handeln auszuformulieren.
24 Mit IpIAUV8QW1tIU wird Apg 28,2 das Verhalten der Bewohner der Insel Malta den Schiffbrüchigen gegenüber charakterisiert. Unter anderem mit dem Begriff XQT]
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Wichtig erscheint auch die Wiedergabe der Verbform E:rtE<paVT]. Die Wendung "sich offenbaren" steht im Rahmen des Schemas der Gegenüberstellung zweier Lebenssituationen auch zur Bezeichnung eines geschichtlich einmaligen Geschehens, insofern das damit Umschriebene eine Zeitepoche (:rtO"CE) abschließt (O"CE ~E). Das, was offenbar geworden ist, ist aber nicht nur ein einmaliges und punktuelles, der Vergangenheit angehörendes Ereignis; es ist vielmehr ein Geschehen, das "damals" von Gott offenbart worden ist und als dieses Gott selbst offenbarende Geschehen auch, ja in besonderer Weise die Gegenwart prägt 29 • Man kann sagen: Die Möglichkeit, von der Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes als dem entscheidenden Heilsereignis zu sprechen, ergibt sich aus der Erfahrung und der Glaubensgewißheit der Menschen hier und heute. Das Bekenntnis zu Gott als dem Retter enthält ohne Zweifel als entscheidende Mitte das Bekenntnis zum Christusgeschehen (wie der vorangehende Abschnitt 2,11-14 bereits gezeigt hat). Und dieses Christusgeschehen und das Bekenntnis dazu werden als eine die Gegenwart bestimmende WIrklichkeit verstanden. Wenn man also von einem "Wendepunkt" sprechen will, dann ist dieser Wendepunkt nicht alternativ festzumachen, entweder "heilsgeschichtlich" in der Erscheinung Christi oder "missionsgeschichtlich" in der Bekehrung der Leser 30 ; als Offenbarung des Retterwillens Gottes ist das Christusgeschehen nur dort erfalrrbar, wo das Leben der Christen erfalrren wird als in Gott aufgehoben, geborgen in seiner Güte und Menschenfreundlichkeit. In Verbindung mit dem Bekenntnis zu Gott als "Retter" haben die beiden Begriffe primär soteriologischen Gehalt. Daraus resultiert dann die Verpflichtung zu entsprechendem Handeln seitens der Glaubenden. Der Imperativ hat also auch in den Past seinen Grund und Halt in dem Bekenntnis zum vorgängigen Handeln Gottes "für uns", also im Heilsindikativ. 5 Erst im zweiten Teil des Verses wird mit dem Eo"CJ)O"EV ~lJ.a~ das eigentlich bedeutsame soteriologische Bekenntnis formuliert. Der voranstehende Text im ersten Teil des Verses (oux ... EAEO~) ist nicht eine Erläuterung zu Eo"CJ)O"EV, sondern eine Explikation von V 4, bezogen auf die Aussage von der "Offenbarung" (E:rtE<pavT]) und das Bekenntnis zu Gott als o"CJ)"C~Q. Gott hat sich in seinem Heilswillen offenbart; dies ist das entscheidende heilsgeschichtliche Faktum. Die Selbstoffenbarung Gottes als Retter ist Ausdruck seines Erbarmens (EAEO~). Daß die Initiative Got" vgl. I. H. MARSHALL, Christology 171; G. W. KNIGHT, Sayings 90-92; DERS., Past 338-340; H. MERKEL, Past 102. ,. Vgl. zu dieser Gegenüberstellung M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 111.
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tes und sein Handeln ganz und gar unverdient und letztlich auch unverdienbar sind, das wird noch unterstrichen durch die voranstehende Verneinung: "nicht aus Werken, nämlich solchen in Gerechtigkeit, die wir getan haben". Mit dem Verweis auf den Ausschluß von Werken und der Nennung der l'nxaLoavvT] werden Aussagen der paulinischen Rechtfertigungstheologie assoziiert. Bei Paulus allerdings sind der Begriff Gerechtigkeit/Rechtfertigung (als Substantiv oder als Verbum) und die Rede von den Werken in einer ganz spezifischen Weise einander zugeordnet. Besonders klar zeigt sich die paulinische Intention in Ga12, 16, wo in einer dreimaligen Wiederholung die Möglichkeit einer Rechtfertigung des Menschen aus Gesetzeswerken verneint und zugleich (ebenfalls dreimal formuliert) die Rechtfertigung "aus" bzw. "durch Glauben an (Jesus) Christus" betont wird (ähnlich Röm 3,20; vgl. auch Gal 3,11; Röm 3,21; Phil 3,9, wo eine Rechtfertigung im bzw. durch das Gesetz ausgeschlossen wird; zur Verknüpfung von "Rechtfertigung" und "Glaube" auch GaI3,8; 3,24; PhiI3,9; Röm 3,26)31. Diese für Paulus zentrale Konstellation einer radikal negativen Bewertung der EQya V0I-t0lJ bzw. des V0l-t0; und einer antithetischen Betonung des Glaubens als dem einzigen und ausschließlichen Weg, von Gott "gerechtfertigt" zu werden, fehlt in den Past, insofern hier das Thema "Rechtfertigung" kein theologisches Problem mehr darstellt bzw. auch die Ablehnung einer "Gerechtigkeit aus Werken" nicht als Zielsetzung zu betrachten ist 32 • Für unseren Verfasser ist es durchaus möglich, von den Werken zu sprechen, die "wir" getan haben, und zwar von Werken, die der "Gerechtigkeit" entsprechen. Der Gegensatz, der hier betont werden soll, ist der zwischen den in Gerechtigkeit vollbrachten Werken und dem Erbarmen Gottes, und zwar bezogen auf die Offenbarung Gottes als unseres Retters. Die Zurückstufung dieser Werke im Zusammenhang dieser Formulierung, die von der Epiphaneia Gottes handelt, ist also keine allgemeingültige Aussage über deren Stellenwert in Verbindung mit dem christlichen Glauben, sondern Ausdruck einer Relativierung hinsichtlich ihrer heils- und offenbarungsgeschichtlichen Bedeutung". Mit P. Trummer kann man in der Formulierung der Past eine Radikalisierung gegenüber der paulinischen Negation oux Es EQYOOV sehen. "Nicht nur Werke allgemein werden für das Heil negiert, sondern sogar Werke, die wir ,in Gerechtigkeit' taten.""
Dadurch aber, daß nicht nur von den eQya gesprochen, sondern ihnen das Erbarmen Gottes gegenübergestellt wird, zeigt sich schon, daß der Verweis auf die eQya nicht für sich stehende Bedeutung hat, sonde1'll die zentrale Aussage von der Offenbarung Gottes, die ganz ~''CVgl. dazu P. TRUMM ER, Paulustradition 175-181. " 'vgl. V HASLER, Past 96; E. SCHLARB, Lehre 189. Insofern könnte es auch zu falschen Schlußfolgerungen verleiten, wenn man hier die Past im Anschluß an Paulus "Werkgerechtigkeit" ablehnen läßt (vgl. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 111; N. BROX, Past 306f). 33 Vgl. U. Luz, Rechtfertigung 377: "Die Antithese dient ... flicht der Destruktion menschlicher Selbstverabsolutierung, sondern der Verstärkung des sofa gratia." 34 P. TRUMMER, Paulustradition 187; vgI.185-193.
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und gar unabhängig ist vom menschlichen Zutun, unterstreichen soll. Es liegt hier folglich nicht eine Steigerung in dem Sinn vor, daß eines gegen das andere gestellt würde, daß also die EQya zugunsten von EA.EO~ ausgeschlossen oder negiert würden; die Steigerung liegt darin, daß die durchaus anerkannte Bedeutung der "Werke" und der in ihnen zutage tretenden "Gerechtigkeit" für das Retterhandeln Gottes nicht der Anlaß sein konnten, besser: nicht dessen Anlaß zu sein brauchten. Es ist schließlich noch zu fragen, wie die EQya nach Meinung der Past zu beurteilen sind. Gehören sie der Vergangenheit an? Zur Beantwortung dieser Frage ist noch einmal auf den Aussagegehalt von "Offenbarung" (btEcpavr]) einzugehen. Was mit EmcpavELa bzw. dem Verbum Emcpatveaßm umschrieben wird, ist das Ereigniswerden eines für alle Menschen entscheidenden Handeins Gottes, dessen Bedeutung bis in die Gegenwart der christlichen Gemeinden andauert. Da also auch die Gegenwart der Past als ~eit der Epiphaneia der Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes zu gelten hat, deshalb gilt die angeschlossene Aussage zu den EQya und zu ihrem Stellenwert im Leben der Christen auch heute noch - positiv als (notwendiges!) Zeichen unserer "Gerechtigkeit"35; "negativ", insofern sie dem "Erbarmen" Gottes als Grund unseres Heiles immer nachgeordnet bleiben. Der Ort der Werke, deren Bedeutung an anderen Stellen sehr betont wird (vg1.1 Tim 5,10; 6,18; 2 Tim 2,21; 3,17; Tit 2,7.14; 3,8.14), liegt nicht im Bereich der Ermöglichung der EmcpavELa Gottes und seines Heilswillens; sie sind ein - allerdings bedeutsames - Zeichen des Glaubens und eines dem Heilshandeln Gottes entsprechenden frommen Lebens. Nachdem die Selbstoffenbarung Gottes in einer Art Parenthese als Zeichen seines Erbarmens vorgestellt worden ist, folgt im zweiten Teil von V 5 die eigentliche Aussage zur Heilszeit, welche die Unheilssituation beseitigt hat. Es entspricht der TituIierung Gottes als ow'ttlQ, daß sein Handeln an den und für die Menschen umschrieben wird mit . EOWOEV. In diesem EOWOEV ~!la~ wird der eigentliche, der entscheidende heilsgeschichtliche Gegenpol zur Beschreibung der Vergangenheit (V 3: ~!lEV yaQ no'tE xat ~!lEi:~ &.VOTJ'tOL ... ) gegeben. Die Eingliederung in die durch Gott eröffnete Heilssphäre ist sodann . konkret bestimmbar, nämlich mit dem Geschehen der Taufe (vgl. AO'U'tQOV als Bezeichnung für die Taufe auch Eph 5,26). In der Verknüpfung mit O
tELV wird die soteriologische Bedeutung der Taufe herausgehoben. Und dadurch, daß als der übergreifende Rahmen die Epiphaneia Gottes als des Retters vorgestellt ist, wird erneut (vgl. 2,14) die durch die Taufe gekennzeichnete Gegenwart der Im Unterschied zu Paulus wird "Gerechtigkeit" hier verstanden als "moralische Qualität des Menschen, also als Rechtschaffenheit" (E. KÄSEMANN, Titlis 299).
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Christen als der entscheidende Ort dieser Epiphaneia Gottes, der Offenbarung seiner Güte und Menschenfreundlichkeit ausgewiesen. Dieser sakramentale Akt wird zweifach umschrieben, wobei diese Umschreibungen gleichzeitig eine Deutung der Taufe geben'·. Der Verfasser spricht zuerst vom "Bad der Wiedergeburt". Der Ausdruck JtuAtyyevEOLu ist im Neuen Testament nur noch Mt 19,28 belegt, hier in Verbindung mit dem Erscheinen des Menschensohnes zum Gericht und damit bezogen auf die Verheißung einer eschatologischen Erneuerung. IIuAtyyevEOLix war bis ins zweite Jahrhundert offenbar kein geläufiger Terminus der christlichen Verkündigung". Nicht eindeutig zu klären ist die Frage, wo für die Past der religionsgeschichtliche Anknüpfungspunkt liegt". Aus der griechischen Philosophie, wo JtuAtyyevEOLu die Wiedergeburt, d. h. die Erneuerung des Kosmos bezeichnete, wurde der Begriff in die Alltagssprache übernommen. So hat das Wort Eingang gefunden in die jüdisch-hellenistische Tradition 39. In spezifisch religiöser Bedeutung wird JtUAtyyevEOLu dann in den Mysterienkulten gebraucht, sowohl für die Bezeichnung des Lebens nach dem Tod, als auch für eine "neue Geburt in diesem Leben"'". Im Blick auf daraus resultierende Überlegungen über die religionsgeschichtliche Abhängigkeit der Verwendung des Begriffs in Tit 3,5 von Mysterienreligionen, beispielsweise von Aussagen wie "Niemand kann vor der Wiedergeburt gerettet werden" (CorpHerm XIII,l), macht P. Trummer zum einen aufmerksam auf die Problematik der Datierung der betreffenden gnostischen Texte - ein Urteil, das (so ist zu ergänzen) auch für die in jenen Texten verarbeiteten Traditionen zutrifft; zum anderen weist er darauf hin, daß "über jede mögliche begriffsgeschichtliche Entsprechung oder Ableitung" für den Sinn der Aussage letztlich nur der jeweilige Kontext von Bedeutung sein kann 41. Im Unterschied zur Ableitung aus den Mysterienkulten will 1. Jeremias das mit JtuAtyyevEOLu Gemeinte stärker in der jüdischen Tradition verankern; so verberge sich hinter der Redeweise von der endzeitlichen Wende als der Neu-
V gl. dazu N. BRox, Past 307. Auch in der patristischen Literatur finden sich wenig Belege, die zudem uneinheitlich sind (vgl. dazu 1. DEY, IIAAITrnNE~IA 31; 1. D. QUINN, Tit 195). Als Ausnahme 1 Klem 4,9 ("Noe, der gläubig befunden wurde, hat durch seinen Dienst der Welt Wiedergeburt verkündigt [:n:al..bYYEvEOLav 1toollQlltiooIlEV]); aet. 7.9.47.76.85.93.99.103.107 (in Auseinandersetzung mit der stoischen Vorstellung von der periodischen Vernichtung des Kosmos mit nachfolgender Erneuerung [vgl. 99 <'> 1ta1:a "ti]v :n:al..bYYEvEOLav U:n:O"tEAOUIlEVO~ 1tOOllo~]). Vgl. zu Philo F. W. BURNETI, Philo on Immortality: A Thematic Study of Philo's Concept of :n:al..bYYEVEOLa: CBQ 46 (1984) 447"':470 . .. Vgl. M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 112. " P. ThUMMER, EWNT III 20. 36
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schöpfung in den Qumran-Schriften (1 QS 4,25) "nichts,anderes als die Palingenesia". Für die Übernahme im Kontext der Taufe durch die christliche Tradition sei sodann die im Judentum bekannte Lehre zu beachten, daß der Proselyt beim Übertritt wie "neu geschaffen" sei".
Neben diesen religionsgeschichtlichen Anknüpfungsmöglichkeiten, die sich insbesondere am Wort JtUALYYEVWLU orientieren, darf die christliche Tauftradition nicht außer acht gelassen werden; denn schon von der peripheren Bezeugung des Wortes her ist deutlich, daß es nicht möglich ist, das Taufverständnis und die Tauftheologie dieser Frühzeit christlicher Bekenntnisbildung an bestimmte Begriffe wie JtUALYYEVWLU binden zu wollen. Die Taufe, ihre Praxis und auch ihre theologische Begründung war den Gemeinden der Past vorgegeben. Im Blick auf die für die Past insgesamt bedeutsame Anbindung an die paulinische Tradition, die an einigen Stellen mit der (zumindest gut begründbaren) Hypothese der Benutzung von Paulusbriefen belegt werden kann (vgl. 1 Tim 5,18 - 1 Kor 9,9; 2 Tim 1,3-5 - Röm 1,8-11; 2 Tim 1,9f [?]; 2 Tim 2,4-6 -1 Kor 9,7.1O.24f), ist in jedem Fall Einfluß der paulinischen Tauftheologie anzunehmen, deren Grundgedanke auch mit dem Aspekt des "Neu"Werdens verbunden ist (vgl. 2 Kor 5,17; Gal6,15) bzw. auch mit dem der Erneuerung der Existenzweise durch den Tod hindurch (Röm 6,4). Es zeigt sich zudem, daß die christliche Tauftheologie in nachpaulinischer Zeit eine sprachliche Gestaltung erfahren hat, die stark in die Nähe des Begriffes rcuALyyevEatU kommt. So wird in Joh 3,3-8 die Taufe umschrieben als yevvTj8fjvm ävw8ev, in 1 Joh 3,9; 5,1.18 steht yevvTj8fjvm EX mii 8eoii, und 1 Petr 1,3.23 verwendet das Verb avuyevvaw (= neu zeugen)".
Aufgrund der sprachlichen Nähe der in verschiedenen neutestamentlichen Schriften für die Deutung des Taufgeschehens verwendeten Begriffe läßt sich als Hypothese formulieren: Die Past und ihre Gemeinden stehen in einem traditionellen Verständnis der christlichen Taufe, welches basiert auf dem Grundverständnis einer Erneuerung des Menschen, eines ihm in und durch die Taufe geschenkten neuen Lebens. Diesen Glauben formuliert der Verfasser - bzw. das ihm vorgegebene formelhafte Traditionsstück - nun mittels der Aufnahme des Begriffes JtUALYYEVWLU, der im Gebrauch in den verschiedenen Bereichen des Lebens dieses Grundverständnis der Erneuerung ebenfalls zum Ausdruck bringt, sei es im Bereich der religiösen Erfahrung oder sei es in bezug auf andere, nicht religiös bestimmte Lebensvollzüge. Das Spezifische und Entscheidende liegt dabei nicht in einer neuen Erkenntnis, die mit dem Wort vermittelt würde; das Spezifische ist vielmehr das der Formel vorausgehende und jetzt wie-
" 1. JEREMIAS, Past 75. " Zur Interpretation der Taufe unter dem Gedanken der Wiedergeburt vgL G. Taufe 106-111.
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der (mit der Aufnahme eines neuen Begriffes 44) bekräftigte Bekenntnis, daß Gott in und durch die Taufe Rettung schenkt 4s • Parallel zu dem Genitiv von :n:aA.LYYEveol.a wird die soteriologische Bedeutung des Tauf-"Bades" - immer noch als Explizierung der Offenbarung von Gottes Güte und Menschenfreundlichkeit - mit avaKal.VWOL~ (Erneuerung) umschrieben 46. Auch der Gedanke der "Erneuerung" ist Bestandteil früher Tauftheologie (vgl. Röm 6,4) und bringt im Vergleich zu "Wiedergeburt" keinen neuen Inhalt ein 4? Das hier beschriebene "neue" Leben, welches dem "damaligen" in der Gott- und Glaubensferne (vgl. V 3) gegenübersteht 48 , wird jetzt noch ausdrücklich vorgestellt als eine Wirkung, als ein Geschenk des Heiligen Geistes 49 • Mit der starken Gewichtung der Taufe als des bestimmenden Ortes der von Gott kommenden Heilsinitiative macht der Verfasser auch deutlich, daß die Epiphaneia der Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes ein dynamisches Geschehen ist, ein bis in die Gegenwart der christlichen Gemeinden hinein andauerndes offenbarendes Handeln Gottes. Damit wird auch verständlich, warum die Past so großen Wert auf das Tun, auf das Verhalten der Christen legen; darin zeigt sich nämlich, ob und wie Gottes Heilsoffenbarung bei den Menschen angekommen ist 50 • 6 Es ist weiterhin von Gott die Rede und von seinem Handeln. Dieses wird zuerst erläutert in Fortführung des zuvor ausgesprochenen Bekenntnisses, daß das Heilshandeln Gottes (EOWOEV) sich zeigt in der Mitteilung des Heiligen Geistes. Die jetzt angeschlossene Aussa.. Angesichts der sehr kargen Bezeugung des Begriffs naAtYYEvEOLa in der neutestamentlich-frühchristlichen Tradition erscheint es wenig wahrscheinlich, daß die Bezeugung der Taufe mit der Wendung AOU1:(lOV naAtYYEvEOLa~ dem Verfasser und seinen Gemeinden bereits geläufig war (so aber M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 111); das schließt nicht aus, daß der Begriff den Gemeinden aus anderen Zusammenhängen bekannt war. .., E. DINKLER, Taufaussagen 109, sieht das Besondere des Taufverständnisses der Past darin, daß die "Gegenwärtigkeit der oOJ't1\(lLa" betont wird. Die Metapher von der "Wiedergeburt" betont im Kontext von Tit 3,4-8 "besonders die Tatsache, daß den Glaubenden das Heil geschenkt ist" (D. RUSAM, Gemeinschaft 102) . .. Zur Struktur und zur Abhängigkeit der beiden Genitive naAtYYEvEOLaC; und ava"atVWOEOJ~ von c'ltll AolJ't(loii vgl. PH. H. TowNER, Goal 115-117. '" Vgl. V. HASLER, Past 96: eine "intereretierende Ergänzung der Wiedergeburt als Erneuerung durch den Heiligen Geist". Ahnlich PH. H. TowNER, Past 257. 48 Durch die AufnalIme der Wiedergeburtsvorstellung wird "der radikale Bruch zwischen einst und jetzt betont und dadurch die Größe der Heilsgabe unterstrichen" (G. BARTH, Taufe 111). .. Zur Deutung von nVEul-ta'tOC; aywlJ als "genitivus auctoris" G. HOLTZ, Past 234. so V gl. auch N. BRox, Past 308: "Die Taufe bedeutet also hier jene grundlegende Wende zwischen dem Einst und dem Jetzt, von der seit V 3 unter paränetischem Gesichtspunkt die Rede ist."
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ge, daß Gott diesen Geist "ausgegossen hat auf uns in Fülle", hat zwei Zielsetzungen. Zum einen wird mit dem Bild vom "Ausgießen" des Gottesgeistes die biblische Verheißung (vgl. Joel 3,lf) aufgegriffen und damit verknüpft wohl auch die schon christlicherseits erfolgte Aussage von der Erfüllung dieser Weissagung in denen, die sich zu Jesus Christus bekennen (vgl. Apg 2,33). Und zum anderen erhält das Bekenntnis zum Rettersein Gottes die unverzichtbare christologische Begründung. Das soteriologische Moment der Taufe liegt darin, daß Gott seinen Geist in Fülle schenkt und daß in dieser Geistmitteilung die Glaubenden Anteil erhalten an dem durch Jesus Christus ermöglichten neuen Leben (vgl. Apg 2,38). Man kann die Stellung Jesu in diesem Vers in Anknüpfung an 1 Tim 2,5 als die eines "Mittlers" bezeichnen. Dies trifft für die Past insofern in jedem Fall zu, als das christologische Bekenntnis in seiner soteriologischen Dimension notwendigerweise das Bekenntnis zu Gott als ow'ttlQ einschließt. Entsprechend ist dann die "Epiphaneia" von Gottes Güte und Menschenfreundlichkeit (V 4), seiner "Gnade" (2,11) bzw. seines universalen Heilswillens (1 Tim 2,3f) unlösbar verknüpft mit der "Epiphaneia unseres Retters Christus Jesus" (2 Tim 1,10). Das Geschenk der Fülle des Heiligen Geistes kann folglich nur christologisch vermittelt gedacht werdenS!. Es ist also aus dem Verständnis der heilsgeschichtlichen Stellung Jesu Christi heraus konsequent, den Titel ow'ttlQ auch für Jesus Christus zu verwenden. 7 Die die VV 3-7 prägende zeitliche Spannung ist die Beschreibung des Lebens der Christen: "damals" (ltO'tE), in der Gottferne, und der jetzige "Zustand" (nach der von Gott herbeigeführten Wende: Ö'tE öE), nämlich als "Gerettete". Im Blick auf die damit angesprochene Wende ist die Gegenwart der Christen vorbehaltlos und uneingeschränkt als "Heilszeit" zu charakterisieren. Dieses Verständnis kommt zur Geltung in der Bezeichnung der Christen als ~L%aLWeEV 'tE~. Im engeren Sinn ist dabei an die Getauften und mit dem Heiligen Geist Ausgestatteten zu denken. In der vorliegenden zeitlichen und heilsgeschichtlichen Struktur ist aber in dieser Charakterisierung als ~L%aLWeEV'tE~ umfassender all das ausgesprochen zu sehen, was in den VV 4-7 über das Leben der Christen gesagt wird. Entsprechend sind die beiden Begriffe ~L%aLWeEV'tE~ und x.aQL~ zwar in einer gewissen Abhängigkeit von Paulus zu interpretieren (vgl. Röm 3, 24: ~LxaLOu-
" "Daß Gott den Geist durch Jesus Christus ausgegossen hat, zeigt, daß für die Theologie des Verfassers der Heilswille Gottes und das Heilswerk Jesu Christi unauflöslich verbunden sind" (H. MERKEL, Past 103). Vgl. auch N. BROX, Past 309.
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IJ.EVOL ÖWQEaV 'tU alho'Ü XaQL'tL); ihre spezifische Bedeutung ist jedoch nicht aus der paulinischen Soteriologie abzuleiten 52 • Von Bedeutung ist vor allem die Auslegung von xaQL~. Wie schon in 2,11 ist auch hier xaQ~ in einem umfassenden Sinn zu deuten. Alle genannten Bedingungen, die zu dem Bekenntnis geführt haben, "er hat uns gerettet" (euwuEv ~lJ.a~), sind letztlich Zeichen dieser Gnade Gottes (EXELVOU ist zwar nicht eindeutig zuzuordnen; die Beziehung auf Gott entspricht aber am ehesten dem Kontext). Ein Leben aus der Fülle des von Gott geschenkten Geistes ist ein Leben aus der "Gnade" Gottes. Die heilsgeschichtliche Abfolge läßt sich so paraphrasieren: Einst lebten wir in der Gottesferne, jetzt aber leben wir in der Gnade Gottes. Das betrifft dann auch die Aussage von der "Rechtfertigung". Als Gerechtfertigte (öLxmw9EV'tE~) dürfen sich die Christen verstehen, weil sich ihr Leben in entscheidendem Maß geändert hat, weil die Situation, wie sie V 3 beschrieben wurde, überwundenist. Gegenüber Paulus hat sich das Gewicht bei der Rede von der Rechtfertigung klar verschoben. In den Past wird damit nicht mehr das Thema "Soteriologie" definiert, sondern es wird das Selbstverständnis der Christen unter Einschluß bzw. unter besonderer Betonung ihrer gegenwärtigen Lebenssituation gekennzeichnet 53. Dem entspricht die in den Past insgesamt zu beobachtende starke Gewichtung der Gegenwart als Heilszeit. Zu dieser Feststellung steht auch der mit dem Lva-Satz formulierte Ausblick nicht in Widerspruch 54 • Es besteht kein Zweifel: Mit der Formulierung Lva ... XATJQOVOIJ.OL YEvTJ9Ü1IJ.Ev blicken die Past aus auf eine noch ausstehende Vollendung. Aber auch hier liegt der Hauptakzent nicht auf der Transzendenz, nicht in einem Ausblick auf eine erst noch zu verwirklichende Heilssituation und Heilszeit. Dem Verfasser kommt es vor allem dar" Mit M. DIBEUUS - H. CONZELMANN, Past 113; V. HASLER, Past 97. Vgl. dagegen N. BRox, Past 309: Es gebe keinen Anlaß, daran zu zweifeln, daß die Wendung "gerechtfertigt durch seine Gnade" hier "auch im genuin paulinischen sinil ... eingesetzt sei". So auch P. TRUMMER, Paulustradition 188; A. T. HANSON, Past 192 (mit der spitzen Bemerkung: "One is almost led to conclude that the real trouble with the author is that he had not read Luther!"). " Vgl. L. HARTMANN, Namen 109: Der Ausdruck ÖLxaLro6EvtE!; ist "selbstverständlich der klassisch paulinische, aber hier ist sowohl der literarische als auch der kirchliche Kontext ein anderer. Die Wendung steht hier für die Rettung aus Gnade aus dem alten sündvollen Leben in eine neue Existenz, in der die Kraft Gottes die Gläubigen trägt. Darum ist es nach unserem Verfasser gebührend, daß die Adressaten eifrig sind, das Gute zu tun (3,8)". Anders PH. H. TOWNER, Goal 118: "In the process neither the concept of salvation that emerges nor the teaching of justification diverges significantly from Pauline thought." " Bei M. DIBELIUs - H. CONZELMANN, Past 113, wird zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß hier nicht formuliert ist: damit wir würden "zu Erben ewigen Lebens" (XATlQOV0J.l0L ~rofj!; atrovl.o'U). .
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auf an, darauf hinzuweisen, daß dieses noch ganz in der Zukunft liegende "ewige Leben" schon in diese Welt und Zeit hineinragt, nämlich als den Christen anvertrautes HoffnungSgut 55 • Das "Erbe sein" steht noch aus; durch die Zusage Gottes ist das "ewige Leben" aber schon gegenwärtig in der Hoffnung, in der Christen leben (vgl. auch 1,2). "Ewiges Leben" ist in der Auslegung der Past nicht etwas für christliche Existenz Unverbindliches, insofern es der Zukunft angehört. Das "Erbe" gilt nur denen, die diese Hoffnung jetzt schon im Glauben leben und bewähren. III Wieder liegt (wie in 2,1-14) eine Verbindung von formal wie inhaltlich unterschiedlichen Textsorten vor. Gleichzeitig werden verschiedene Anliegen des Verfassers miteinander verknüpft:. (1) Es ist zum einen die für die Past durchgängig bedeutsame Betonung der Autorität des Gemeindeleiters. In dem Imperativ unoJ.tLJ.tVtJO?GE wird seine Verantwortung und in gleicher Weise seine Autorität unterstrichen. Unmittelbar damit verknüpft:, als Inhalt dessen, was der Gemeindeleiter in Erinnerung zu rufen hat, stehen zuerst in den VV 1 f Mahnungen, die, für sich betrachtet, nichts spezifisch Christliches erkennen lassen. Es handelt sich um die Beziehungen zur (nichtchristlichen) Umwelt, zu den weltlich-politischen Autoritäten und zu den Menschen überhaupt. Die bislang fehlende Angabe der Motivation wird in dem umfangreichen Bekenntnisstück der VV 3-7 nachgetragen. (2) In diesen Bekenntnissätzen, die um das christliche Verständnis der Taufe kreisen, rückt dann die Besinnung auf die die Gemeinde prägenden Glaubensinhalte wieder in den Mittelpunkt. Es geht um das Selbstverständnis der christlichen Gemeinde hier und heute; der Blick auf das "damals", auf die Zeit und die Situation außerhalb dieses vom Rettergott (V 4) offenbarten Heils und der von ihm durch den Heiligen Geist geschenkten Gnade (VV 5-7), hat also als Kontrast die Gegenwart im Blick. Das Leben der christlichen Gemeinde erscheint heilsgeschichtlich konstituiert. Der unverzichtbare geschichtliche Bezugspunkt der "Epiphaneia der Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes" ist zum einen "der Retter Jesus Christus", hier eingeführt als Mittler des Heiligen Geistes, und zum anderen der Ausblick auf das ewige Leben 56 • Das Leben der Christen steht somit in der Spannung von Vergangenheit und Zukunft; und diese Einbindung qualifi-
" Vgl. dazu K. M. WOSCHITZ, Elpis 610f. 56 Mit PH. H. TOWNER, Goal 119.
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ziert ebenfalls die Gegenwart als Heilszeit 57 • Und man darf ergänzen: Keiner der beiden Pole darf wegfallen 58 . (3) Auch wenn Abhängigkeit von vorgegebener Tradition anzunehmen ist, so ist doch nach der besonderen Beziehung dieses Textes zur Situation der Past zu fragen. Wo liegt seine Aktualität?59 Im Zentrum der Verkündigung der Past steht die Botschaft von der Gegenwart als der Zeit des Heils, auch als der entscheidenden Zeit der Erfahrung der Zuwendung Gottes 60. Mit dieser starken Betonung der Prägung des gegenwärtigen Lebens der Christen und aller damit gegebenen Bedingungen durch das von Gott den Menschen offenbarte "Erbarmen" erhalten die in den VV 1 f genannten Weisungen an die Christen bezüglich ihres Lebens und ihres Verhaltens in der Welt eine soteriologische Begründung. Die Offenheit der Christen gegenüber allen Menschen hat ihren Grund darin, daß Gott bedingungslos und voraussetzungslos sein "Erbarmen" geschenkt hat. Es wäre aber zuwenig, wenn man hier nur von einer besonderen Betonung der Ethik sprechen wollte. Es geht den Past zentral um das Verständnis der Soteriologie in der schon des öfteren genannten universalen, alle Menschen einschließenden Weise und um ein Leben der christlichen Gemeinden, welches diesem soteriologischen Grundverständnis entspricht. So sehr also auf der einen Seite die Past darauf bedacht sind, die orthodoxe Gemeinde mit dem rechten Glauben und mit der gesunden Lehre gegen die Ungehorsamen und die vom Glauben Abweichenden abzugrenzen, so sehr sind sie darauf bedacht, die Universalität des Heilswillens und des Heilshandelns Gottes zu betonen. LITERATUR: 1. DEY, IIAAllTENEnA. Ein Beitrag zur Klärung der religionsgeschichtlichen Bedeutung von Tit 3,5 (NTA XVII,5) (Münster 1937); E. DINKLER, Die Taufaussagen des Neuen Testaments: Zu Karl Barths Lehre von der Taufe, hrsg. v. F. Viering (Gütersloh '1972) 60-135; L. HARTMANN, Auf den Namen des Herrn Jesus. Die Taufe in den neutestamentlichen Schriften (SBS 148) (Stuttgart 1992) 106-111; E. KÄsEMANN, Titus 3,4-7: Exegetische Versuche und Besinnungen I (Göttingen '1970) 298-302; D. RusAM, Die Gemeinschaft der Kinder Gottes. Das Motiv der Got-
>7 Die Zeit zwischen den beiden Epiphanien, Inkarnation und Parusie, ist die Zeit der Kirche, und es ist eine christologisch bestinImte Zwischenzeit; das Epiphanieschema lenkt deshalb auch nach der Interpretation von PH. H. TOWNER, Age 439, die Aufmerksamkeit auf das mit der gegenwärtigen Welt verbundene Heil. ,. Vgl. G. SCHILLE, Paulus-Bild 77: "Die Kirche der Pastoralbriefe richtet sich auf ein nüchternes Leben in der Zeit ein, auch wenn sie Gottes Eingriff in Christus bekennt und Christi Erscheinung als Richter erwartet, also zwischen Epiphanie und Epiphanie lebt." " Diese Frage ist zwar nur andeutungsweise zu beantworten, sollte aber um eines besseren Verständnisses der kerygmatischen Intention willen nicht ganz beiseite gelassen werden . .. Mit PH. H. TOWNER, Goal 119: "This tlIeme of the reality of salvation in the present age, tlIen, I would argue, is the centerpoint of tlIe theological substructure of tlIe Pastorals."
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Tit 3,8-11 teskindschaft und die Gemeinden der johanneischen Briefe (BWANT 133) (Stuttgart 1993) 98-104; C. SPICQ, La Philanthropie hellenistique, vertu divine et royale: StTh 12 (1958) 169-191.
7. Letzte Bekräftigung der Autorität des Vorstehers für den rechten Glauben der Gemeinde (3,8-11)
Zuverlässig ist das Wort, und ich will, daß du mit Nachdruck davon Zeugnis ablegst, damit die, die im Glauben an Gott leben, darauf achten, sich mit guten Werken hervorzutun. Das ist gut [diese sind gutp und nützlich für die Menschen. 9 Törichte Streitfragen aber und Geschlechtsregister, Streitereien und Auseinandersetzungen um das Gesetz meide; sie sind nämlich ohne Nutzen und ohne Sinn. 10 Einen ketzerischen Menschen sollst du nach der ersten und einer wiederholten Warnung abweisen, 11 da du weißt, daß ein solcher ganz verkehrt ist und in Sünde lebt, einer, der sich selbst richtet. 8
I Wie zu 3,1-7 schon bemerkt: Der Übergang zu V 8 ist fließend. Mit der direkten Anrede des Adressaten und dem abschließenden Hinweis auf die Kompetenz des Gemeindeleiters zu definitiven Entscheidungen über "seine" Gemeindemitglieder wird die im Imperativ in 2, 1 einsetzende und über 2,6 und 3,1 weitergeführte und jeweils neu bestärkte Gemeindeleiterparänese zu Ende geführt. Durch die Wiederaufnahme der Irrlehrerproblematik (vgl. 1,10-16) ergibt sich eine Akzentverlagerung im Vergleich zu den vorangehenden Verhaltenskatalogen (2,2-10; 3,lf), die als Kennzeichen eines der "gesunden Lehre" entsprechenden Lebens (2,1) vorgestellt werden. Die beiden Imperative in VV 9.10 sind ausschließlich bezogen auf das Gegenüber von Gemeindeleiter als Verwalter des rechten Glaubens und Häretikern. In dieser Hinsicht liegt auch im Übergang von V 8 zu VV 9-11 eine Akzentverschiebung vor. Andererseits setzt das negative Kontrastprogramm von V 9 (angebunden mit M) die Kurzdarstellung der "Gläubigen" mit dem Kennzeichen der "guten Werke" voraus. Die Einheit der VV 8-11 ist darin begründet, daß der für die Gemeindeorganisation (vgl. 1,5), den rechten, "gesunden" Glauben (1,10-14) und ein der "gesunden Lehre" entsprechendes Leben (2,1.2-10) zuständige "Apostelschüler" mit der ihm von "Paulus" zugesprochenen Autorität (ßOVAOftaL 3,8) seine Leitungskompetenz geltend macht, und zwar gegenüber den beiden Personenkreisen der So übersetzen etwa C. SPICQ, Past 687; V. (vgl. dazu auch Anm. 16).
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HASLER,
Past 97; A. T.
HANSON,
Past 194
Tit 3,8-11
nfJtLO"tEuxO'tE\; auf der einen Seite und der aiQE'tLxOL auf der anderen . Seite. II
8 Mit der formelhaften Wendung JtLO"tO\; 6 Myo\; wird in V 8 wie schon an anderen Stellen in den Past eine Bekräftigung des Gesagten gegeben. Diese Formel "zuverlässig ist das Wort" steht 1 Tim 3,1; 2Tim 2,11; mit der Ergänzung "und aller Annahme wert" (xat Jt<10'l'J\; unoöoxfi\; ä,1;w\;) in 1 Tim 1,15; 4,9 2 • Die Funktion und der jeweilige Bezug dieser "Beteuerungsformel"3 ist nicht schematisch für alle Stellen in gleicher Weise festzulegen (etwa im Sinne einer eindeutigen Beantwortung der Frage, ob damit der vorhergehende oder der nachfolgende Text hervorgehoben werden soll), sondern kann nur aus dem jeweiligen Zusammenhang begründet werden. Von der theologischen Bedeutsamkeit der im engeren Kontext behandelten Themen her wird man sich auf den soteriologischen Abschnitt der vorangehenden VV 4-7 verwiesen sehen·. (Als Parallele dazu kann 1 Tim 1,15 gelten; dort ist ebenfalls ein soteriologisches Bekenntnis, allerdings in umgekehrter Reihenfolge, mit der l'tLO'to~-o -A.6yo~-Formel verknüpft.) Diese nach dem Urteil von G. W. Knight von der "überwältigenden Mehrheit der Exegeten" vertretene Position wird häufig - wie auch andere Zuordnungen eines kürzeren Textabschnittes (etwa VV 5-7 oder VV 5b-6)' zu dem vom Verfasser durch die formelhafte Wendung hervorgehobenen A.6yo~ damit begründet bzw. zumindest in engem Zusammenhang gesehen, daß es sich bei VV 4-7 um ein nach Inhalt und Form zusammengehörendes, dem Verfasser in der Tradition vorgegebenes "Wort" handelt. Dagegen ist einzuwenden, daß der Autor mit Sicherheit durch die Formel nicht einen von ihm aus der Tradition übernommenen hymnusartigen Text gewissermaßen identifizieren will'; seine Absicht ist es, wie auch an den anderen Stellen ein Signal zu setzen, um eine Aussage seines "Briefes" besonders zu betonen. Unddieser Zusammenhang liegt in den VV 3-7 vor, in denen unter Zuhilfenahme des Schemas "Damals - Jetzt" der Stand der Gläubigen
Vgl. dazu E. SCHLARB, Lehre 206-214. So N. BROX, Past 310. , So etwa 1. FREUNDORFER, Past 307; 1. REUSS, Tit 58; W. HENDRIKSEN, Past 393f; G. HOLTz, Past 235; N. BROX, Past 310; D. GUTHRIE, Past 219; Th. D. LEA - H. P. GRIFFIN, Past 326 ("probably"); U. WAGENER, Ordnung 109 Anm. 264. Vgl. auch G. D. FEE, Past 207: "the content ofvv.1-7, but esp. of 4-7"; PH. H. TOWNER, Past 259: im engeren Sinn auf die VV 4-7 bezogen, doch zugleich als kurze Zusammenfassung auf alles, was in Tit zum christlichen Leben gelehrt wird. 5 Vgl. dazu den Überblick und die Diskussion bei G. W. KNIGHT, Sayings 81-86; DERS., Past 347-350. 6 In diese Richtung geht die Erklärung von F. 1. SCillERSE, Past 172, das "Wort" der Heilspredigt werde deshalb als "zuverlässig" bezeichnet, "weil es aus einer älteren, paulinisch beeinfiußten Tradition stammt". Vgl. dagegen M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 113: Auch hier liege "das Verständnis als Beteuerungs- (nicht direkte Zitations-)formel näher". 2
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in vorchristlicher Zeit (V 3) und in christlicher Zeit (VV 4-7) einander gegenübergestellt ist (vgl. die Einführung mit yaQ in V 3, den verbindenden Anschluß mit M in V 4 sowie die die VV 3-7 prägende Formulierung in der 1. Person Plural)'.
Doch die Einfügung der bekräftigenden Formel zielt nicht nur auf die Gemeinde; bei den verschiedenen Adressaten soll unterschiedliche Betroffenheit hervorgerufen werden. Der Hinweis auf die "Zuverlässigkeit des Wortes" gilt (1) dem Adressaten im engeren Sinn, also dem Gemeindevorsteher. "Paulus" erinnert diesen an seine Verantwortung für ein vorbildliches Leben der christlichen Gemeinde (VV 1 f); und gleich in V 8b folgt wieder die direkte Anrede in der 2. Person Singular mit einer neuen Anweisung. Darin zeigt sich, daß die :7tLO"to~-ö-Myo~-Formel auch die Funktion hat, als Überleitung traditionelles Formelgut einzubinden in die Gemeindeleiterparänese und damit die Autorität des Vorstehers für die Glaubensverkündigung zu untermauern 8. Angesprochen ist dann (2) vor allem die Gemeinde.. Sie wird immer wieder auf wichtige Inhalte des Glaubens verpflichtet; dabei sind bei aller Bindung.an vorgegebene Formeln Akzentuierungen erkennbar, die aktuelle Anliegen im Blick auf die be~onderen Bedingungen der Gemeinde betreffen 9 • Die Bekenntnisaussagen der VV 4-7 sind durchgängig soteriologisch bestimmt; sie sollen den Glauben und die Hoffnung bzw. das Selbstbewußtsein der Christen stärken. Damit verknüpft ist schließlich (3) eine apologetische Zielsetzung. "Zuverlässigkeit" ist eine Eigenschaft der christlichen Botschaft, die gerade denen abgeht, die sich nicht an die amtlich anerkannte Lehrtradition halten, wie sie vom Verfasser der Past postuliert wird. Gerade die starke Betonung der Verantwortung des "Titus" läßt eine solche antihäretische Absicht deutlich erkennbar werden. Die für die Weitergabe dieses "Wortes" in der Gemeinde verantwortliche Person agiert nicht auS eigener Vollmacht, sondern im Auftrag des Apostels. Mit den genannten Akzentuierungen harmoniert, daß gleich im Anschluß an das Bekenntnis der Hinweis auf "die guten Werke" folgt; sie sind ebenso Kennzeichen des Gemeindeleiters wie der Gemeindechristen und folglich Ausdruck der Rechtgläubigkeit 1o • Vgl. M. DmEuus - H. CONZELMANN, Past 110f.113; E. SCHLARB, Lehre 213f; W. TmESSEN, Christen 294f. • Vgl. V. HASLER, Past 97; A. T. HANSON, Past 193; Y. REDALIE, Paul334f. , Vgl. E. SCHLARB, Lehre 213f. 10 Der von R. A. CAMPBELL, Identifying 78f, befürwortete Bezug der ltLO"toS-6-A.6yoSFormel auf das, was in V 8 nachfolgt, wird u.a. (im Anschluß an E. F. SCOTI, Past 177f) damit begründet, daB das voranstehende liturgische Zitat (VV 4-7) als "Merktext" zu lang sei. Damit wird aber die Bedeutung von A.6yoS (vgl. auch 1, 4 und 1,9) zu eng gefaBt. Der Akzent liegt nicht darauf, eine (bekannte) formelhafte Wendung als eine Art verbindlichen Glaubensartikel zu zitieren (so aber die Vermutung bei J. D. QUINN, Tit 232: Der Autor greife auf eine in der lokalen Kirche vorhandene Sammlung von 7
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Die Einleitung der nachfolgenden Anweisungen an '"Titus" mit dem Verbum ßouAollm zeigt im Vergleich mit den anderen Belegen in den Past (1 Tim 2,8; 5,14), daß der Autor den Apostel eine den Adressaten verpflichtende Verhaltensregel erteilen läßt ll . Die von diesem verlangte Haltung wird umschrieben mit Standhaftigkeit im Zeugnis, wie man das ~Laßeßmoijo8m paraphrasierend wiedergeben kann. Der Autor hat mit demselben Verbum in 1 Tim 1,7 auch das Tun derer umschrieben, die sich der "Falschlehre" verschrieben haben (vgl. 1,3). Die hier in Tit 3,8 angefügte Näherbestimmung :n:egt tOU1:OJv verweist vom engeren Kontext her gesehen auf die eben zitierten Inhalte christlicher Glaubenslehre und Verkündigung. Doch der Verfasser denkt sicher auch an das Folgende, also an das, was an praktischen Konsequenzen mit der Glaubensentscheidung verknüpft ist. Wie schon an anderen Stellen (2,7.14; 3,1; vgl. auch 1 Tim 2,10; 5,10; 6,18; 2 Tim 2,21; 3,17) nennt er zur näheren Bezeichnung einer der Verkündigung entsprechenden Lebensweise die "guten Werke". "Die Einschärfung der Lehre durch die amtliche Verkündigung soll so geschehen, daß sich greifbare Erfolge einstellen": Der Glaube muß sich bewähren in "guten Werken" 12. Den guten Werken wird hier der Stellenwert einer kritischen Norm für den Glauben zugesprochen. Die Gläubigen müssen mit Sorgfalt darauf achten (
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irren von der Wahrheit (vgl. 1,13f.16) betrachtet werden. Das aber haben nicht die einzelnen Mitglieder der Gemeinde zu entscheiden, darüber befindet vielmehr der Vorsteher. Die guten Werke haben als Zeichen des rechten Glaubens amtlich anerkannte Qualität; und aufgrund dieser Bedeutung werden sie verlangt. Auffällig ist die Benennung der Christen als OL JtEJtLOTE'Ux6TE~ SE. Diese Verbindung steht in den Past nur an dieser Stelle, und sie ist im Neuen Testament nicht geläufig (einzig 1 Joh 5,10; im Zitat von Gen 15,6, bezogen auf Abraham, auch Röm 4,3 und Gal 3,6). Die Wahl dieser Wortverbindung dürfte einmal damit zusammenhängen, daß schon der kerygmatische Text VV 4-7 ganz vom Handeln Gottes bestimmt war. Doch die Formulierung ist auch gewählt im Blick auf die in V 9 folgende Abgrenzung gegen Irrlehrer; deren Bemühungen, die um "Geschlechtsregister" und "Gesetzesfragen" kreisen, wird auf diese Weise bereits vorweg abgesprochen, daß sie etwas mit dem Glauben an Gott zu tun haben können (vgl. auch die Kennzeichnung der Irrlehrer in 1,14: sie halten sich an EVTOAut avSQwJ]:wv). Doch zuvor meldet sich der Pragmatiker noch einmal zu Wort 15 : Solche Art der Frömmigkeit ist für alle Menschen von VorteiJ1 6 • Zu diesem kurzen Satz bemerkt A. T. Hanson, daß der Autor an keiner anderen Stelle sich zu solcher Banalität herablasse 17. Doch ist es dem Autor wirklich nur darum zu tun, mit Nützlichkeitserwägungen seine Gemeinden zu beruhigen? Es ist auffällig, daß die Christen hier wieder auf ihre Verantwortung den Menschen, d. h. insbesondere auch der nichtchristlichen Umwelt gegenüber angesprochen werden (vgl. Tit 3,2; 1 Tim 2,1). Das Denken der Christen, ihr Glaube und das daraus resultierende Handeln dürfen nach Meinung unseres Autors nicht nur bis zu den Gemeindegrenzen reichen. Wie in V 2 Güte allen Menschen gegenüber gefordert worden war, so wird jetzt, mit einer leicht geänderten Akzentuierung, solche positive Beziehung der Glaubenspraxis zu den Menschen gewertet als Zeichen des rechten Glaubens. Man muß an dieser Stelle auch die Frage stellen, ob auf diese Weise nicht die avSQwJtOL, d. h. die nichtchristliche Umwelt, als Schiedsrichter dafür angerufen werden, wem in der christlichen Gemeinde das Prädikat "Rechtgläubigkeit" zuzuerkennen ist. Doch das Argument mit der nichtchristlichen Umwelt darf nicht absolut gesetzt werden;
Vgl. V HASLER, Past 97; H. MERKEL, Past 105. Ob man das Relativpronomen ,aü,a auf EQya zu beziehen hat oder auf den ganzen Satz, ist nicht eindeutig festzulegen, ändert aber sachlich nichts. Die Art und Weise, wie in V 9 die (negative) Alternative festgelegt wird, spricht für den umfassenderen Bezug (vgl. G. W. KNIGHT, Past 351 f). 17 A. T. HANSON, Past 194: "nowhere does the author descend lower in mere banality than here". 15 16
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es ist in den Past ein - allerdings gewichtiger - Mosaikstein in der Kennzeichnung des Lebens der Christen, die sich in der Lehre und im Leben dem rechten Glauben verpflichtet wissen. 9 Dem Nutzen, der von den guten Werken der Gläubigen für alle Menschen ausgeht, wird als Kontrast ein Thn gegenübergestellt, das als nutzlos und erfolglos beurteilt werden muß. Das Fehlen eines Dativs der Beziehung in V 9b, vergleichbar 'to~ äv8Qcim;OL~ in V 8d, mag als Hinweis auf die umfassende Gültigkeit des negativen Urteils verstanden werden. Betroffen sind davon natürlich nur solche Menschen, die im weitesten Sinn als Christen zu bezeichnen sind. Der Vorsteher ist in seiner Verantwortung angesprochen; die abwertende Aussage ist also zugleich auch eine Begründung für sein restriktives Verhalten. Er hat dafür zu sorgen, daß bestimmte Dinge in den Gemeinden gar nicht erst aufbrechen. Konkret bedeutet dies: Abweichungen von der offiziell anerkannten Lehre hat er zu unterbinden. Der Verfasser verwendet wieder Begriffe, die auch an anderen Stellen zur Kennzeichnung der Irrlehrer gebraucht werden. Es sind "törichte Streitfragen" (vgl. auch 1 Tim 1,4; 6,4; 2 Tim 2,23); mit diesem Urteil wird implizit die Auseinandersetzung mit ihnen als nutzlos hingestellt. Mit den "Genealogien" sind (wie schon in 1 Tim 1,4) wohl gnostisch beeinflußte und an alttestamentliche Geschlechtsregister anknüpfende Aufstellungen gemeint, die über die Entstehung der Welt, die Rangordnung im Kosmos und in der himmlischen Sphäre spekulieren. Die Fragen, die sich aus dem Gesetz ergeben, gehören ebenfalls zu den Themen, die der Gemeindeleiter kraft der ihm übertragenen Autorität von seinen Gemeinden fernzuhalten hat. Das negative Urteil darüber zeigt sich in der Verwendung der Begriffe EQEL~ und ,.t
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Rückschritt im Vergleich zu den Merkmalen der Glaubenden bewertet. Diese Gläubigen sind durch die Taufe "neu geboren", "erneuert im Heiligen Geist", durch die Gnade Gottes "gerechtfertigt", schon jetzt im Besitz der "Hoffnung auf ewiges Leben". Die starke Betonung der Gegenwärtigkeit des Heils hat also auch die Funktion, weitere Reflexionen über die soteriologische Bedeutsamkeit genealogischer und nomistischer Bestimmungen nicht nur als völlig überflüssig, sondern auch in Widerspruch zur zitierten Glaubenstradition stehend zu erweisen. An dieser Stelle ist wieder eine kurze Zwischenbemerkung einzuschieben zur Problematik, vor die sich der Verfasser bei der Formulierung seiner theologischen Positionen gestellt sieht. Auf der einen Seite betont er sehr stark die Gegenwärtigkeit des Heils; die Erlösung ist bereits eschatologisch gültige Wirklichkeit geworden durch Gottes Handeln in Jesus Christus (3,4.6); wir sind gerechtfertigt (3,7a). Gleichzeitig muß die eschatologische Perspektive der Heilsvollendung gewahrt bleiben, die Hoffnung auf Verwirklichung des "ewigen Lebens" (3, 7b). Die Behauptung bzw. das Bekenntnis, daß die Auferweckung bereits geschehen sei, daß also die Vollendung des Heils schon da ist, ist aus dieser Sicht konsequent als Abweichung von der Wahrheit zu verurteilen (vgl. 2 Tim 2,18).
Es ist aber doch auffällig, daß die Past darauf abheben, den falschen Lehren der Häretiker die "guten Werke" der dem rechten und wahren Glauben folgenden Christen gegenüberzustellen. Vielleicht darf man darin einen Hinweis sehen, daß sich zwar in einigen wichtigen Punkten die Differenzierung in "gesunde" und "falsche" Lehre inhaltlich konkretisieren läßt, daß aber doch in vielen Bereichen der Verkündigung die Grenzen noch recht fließend sind. Innergemeindliche Kontroversen konnten dazu führen, daß sich Gemeindevorsteher in Lehrstreitigkeiten in den Gemeinden verbrauchten, so daß nicht nur das Bild der Gemeinden vor der Öffentlichkeit Schaden litt, sondern auch der Anspruch und die Aufgabe in Vergessenheit gerieten, daß christliche Gemeinden sich dem universalen Heilswillen Gottes verpflichtet wü;sen müssen. Mit den "guten Werken" für die Menschen, mit einer wohlwollenden Offenheit gegenüber "allen Menschen" (3,2) wird auf positive Weise der Anspruch der Gemeinden dokumentiert, den rechten Glauben zu vertreten. 10 Ungeklärt ist aber noch die Frage, wie mit Irrlehrem umzugehen ist. Dazu folgt jetzt eine Anweisung. Auch ohne ausdrückliche Verknüpfung mit den in V 9 aufgelisteten Verhaltensweisen solcher Menschen, die "Paulus" wegen ihrer Lehre kritisiert, ist klar, daß Kennzeichen des aLQEt'LxO~ äveQO):rto~ eben solches TUn ist. Wer sich in der in V 9 skizzierten Weise mit Genealogien und dem Gesetz befaßt, der
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steht im Widerspruch zu dem "Wort", von welchem der Nachfolger des Apostels als Gemeindeleiter im Auftrag des "Paulus" Zeugnis ablegt; er stellt sich damit außerhalb der Gemeinde. Die Identifizierung des von der kirchlichen Maßnahme Betroffenen als atQE"tLxO~ av8QwJto~ ist einmalig im Neuen Testament. Das Substantiv aLQEaL~ hat in der außerbiblischen griechischen Tradition die Bedeutungen "Wahl" bzw. "Auswahl" (Plato, Theait. 196c: cbtoQov aLQEaLV nQo"tLeTJ~) und bezeichnet eine bestimmte philosophische Richtung eben, so wie eine Gruppierung (Diog. Laert. I 18: ... aLQtoEL~ ötxa; I 19: 'Inn6ßo"tO~ ... Evvta cpTJoLv aLQtoEL~ xaL uywya~ EIvm; Epikt. 11 19.20: ... EUQl]OE"tE "tLvo~ Eo8' aLQtoEw~; Philo, plant. 151: ... 6 uno "tfj~ XUVLXfj~ aLQtoEw~ 6QI!TJ8EL~ CPLA.600CPO~). In Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch etwa bei Flavius Josephus (ant. XIII 171: "tQEt~ aLQtoEL~ "[(nv 'IouöaLwv ... ; bell. 11 118: ... OOCPLO"t~~ LöLa~ aLQtoEw~ ... ) werden im Neuen Testament die religiösen Gruppen als aLQtoEL~ bezeichnet: die Pharisäer (Apg 15,5; 26,5), die Sadduzäer (Apg 5,17), aber auch (im Mund von Juden) die "Nazoräer" (Apg 24,5.14; 28,22). Bei Paulus hat aLQEaL~ schon einen abwertenden Sinn (1 Kor 11,18f; GaI5,20). Die in 2 Petr 2,1 aus der Verbindung mit dem Genitiv von unwAELa ersichtliche negative Bedeutung ("Lehrmeinungen des Verderbens") findet eine Fortsetzung und Steigerung in dem absoluten Gebrauch von aLQEaL~ bei Ignatius (Eph. 6,2; Trall. 6,1) im Sinne von "Häresie" bzw. "Sekte"". Das Adjektiv atQE"tLx6~ hat in außerbiblischen Texten die dem Substantiv vergleichbare Bedeutung einer positiven Kennzeichnung der Tätigkeit des Auswählens (Ps-Plat., Def 412a: E~L~ xa8' i]v 6 EXWV atQE"tLx6~ EO"tLV xaL EVAaßTJ"t[Xo~ c1v XQl]) 19.
Wie bei der negativen Akzentuierung des Substantivs bei Paulus ist auch für das Adjektiv in diesem Vers Tit 3,10 eine gewisse Vorgeschichte vorauszusetzen. Dabei ist nicht zu entscheiden, ob die hier vorliegende Akzentuierung des christlichen Sprachgebrauchs übernommen ist (etwa als abwertende Bezeichnung der Christen durch Juden), oder ob es sich um einen innergemeindlich entwickelten Sprachgebrauch zur Bestimmung der Gemeindemitglieder handelt, die der Abweichung vom Glauben verdächtigt oder überführt sind. Auf diesen atQE"tLxO~ av8QwJto~ kann nun all das zutreffen, was der Verfasser über das Verhalten und die Lehre derer gesagt hat, die nicht mit der "gesunden Lehre" übereinstimmen. Letztlich geht es in den Past durchwegs darum, die Position des in der Gemeinde Verantwortlichen als Verteidiger des rechten Glaubens gegen Irrlehrer zu stärken. "Tirnotheus" ist im Auftrag des "Paulus" in Ephesus geblieben, um "Falschlehrem" Einhalt zu gebieten (1 Tim 1,3), und die von "Ti18 Vgl. dazu A. VÖGTLE, Jud 183f. Für den Gebrauch des Begriffes arQEOL~ im pejorativen Sinn gibt es nach M. SIMON, Hairesis 110, in außerchristlich-heidnischen Texten keinen Beleg. 19 Vgl. auch G. BAuMBAcH, EWNT I 96f.
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tus" ebenfalls im Auftrag des "Paulus" auf Kreta einzusetzenden Presbyter bzw. der in den Gemeinden tätige Episkopos sollen die zurechtweisen, die in Widerspruch zur "gesunden Lehre" stehen (Tit 1,5-9). Die Tätigkeit des Gemeindevorstehers wird auch an anderen Stellen mit JtagUL'tELa8m umschrieben (1 Tim 4,7; 2 Tim 2,23), dort allerdings jeweils verknüpft mit einem Sachobjekt; "Paulus" fordert radikale Ablehnung und Trennung von den falschen Lehren. An unserer Stelle wird, mit dem personalen Objekt, die gleiche radikale Entschlossenheit gefordert. Daran ist die Frage anzuknüpfen: Bedeutet die an den Vorsteher gerichtete Aufforderung, sich von solchen Leuten fernzuhalten, daß er aufgrund seiner führenden Position in der Gemeinde Umgang mit ihnen zu meiden hat? Oder aber steht dahinter eine Forderung, die letztlich das Verhältnis der Gemeinde gegenüber einem "häretischen Menschen" betrifft? Die letztgenannte Interpretation würde bedeuten, daß der Gemeindeleiter und damit auch die von ihm geleitete und repräsentierte Gemeinde sich radikal vom "Häretiker" zu trennen hat, daß der Gemeindeleiter also mit seiner Abkehr notwendigerweise auch das Verhalten der Gemeinde bestimmt. Ein solch radikales Verständnis im Sinne eines Gemeindeausschlusses 20 ist von der Gesamtargumentation der Past her wahrscheinlich: Sie fordern eindeutige Entscheidungen besonders von der Seite des Gemeindeleiters, Entscheidungen aber, die das Gemeindeleben betreffen und die deshalb auch für die Gemeinden verbindlich sind. Ob dabei schon an eine feste Form bzw. an einen offiziellen Akt des Gemeindeausschlusses gedacht ist, bleibt fraglich 21. Eine Entwicklung dahin ist erkennbar in dem Zugeständnis einer zweistufigen Ermahnung. Im Unterschied zur Regelung innergemeindlicher Streitigkeiten nach Mt 18,15-17 mit einer Steigerung der Öffentlichkeit (zuerst nur die Betroffenen; dann vor zwei Zeugen; schließlich vor der Gemeinde) ist hier nur von Bedeutung, daß der Betroffene eine zweite Chance bekommen soll, sich dem Urteil des Gemeindeleiters zu beugen 22 • So etwa F. 1. SCHIERSE, Past 175; N. BROX, Past 312. Mit V. HASLER, Past 98, ist anzunehmen, daß es sich wohl kaum um "eine eigentliche Exkommunikation" handelt; doch zugleich gilt: " ... no doubt the first beginnings of the later system of excommunication is indicated here" (A. T. HANSON, Past 195). V gl. auch E. GOLD HAHN-MüLLER, Die Grenze der Gemeinde. Studien zum Problem der Zweiten Buße im Neuen Testament unter Berücksichtigung der Entwicklung im 2.Jh. bis Tertullian (GTA 39) (Göttingen 1989) 204: "Ob die Abwehrmaßnahme mit einem förmlichen Ausschluß gleichzusetzen ist, ist dem Verb als solchem nicht sicher zu entnehmen, wird aber im Blick auf die vor Falschlehre zu schützende Gemeinde gefolgert werden dürfen." 22 V gl. V. HASLER, Past 98: An "ein seelsorgerliches Gespräch unter vier Augen, darauf vor zwei Zeugen, endlich vor der ganzen Gemeinde, wie es aus Matth. 18,15-17 W. 21
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Die "Ermahnung" (vou9EO'La) hat zum Inhalt die eindeutige Forderung zur Unterordnung unter die Autorität der durch apostolische Vollmacht legitimierten Amtsinhaber; das heißt auch: Verpflichtung auf die von ihnen verkündete Lehre. Da in der von den Past zugrunde gelegten Konstellation eines Konfliktes in der Gemeinde Recht und Unrecht, Wahrheit und Abweichung von der Wahrheit festgelegt sind, ist für den Fall eines Ausschlusses aus der Gemeinde durch die kirchliche Leitung die alleinige Schuld beim Betroffenen zu suchen. 11 Die voranstehend vom Gemeindeleiter verlangte Entscheidung des Ausschlusses des Häretikers nach wiederholter Ermahnung bedarf nach Meinung des Autors noch ,einer Präzisierung und gleichzeitig einer Rechtfertigung. Dies gilt einmal für das Gemeindeoberhaupt, welches für das Urteil und dessen Durchführung zuständig ist; dies gilt aber auch für den davon betroffenen Häretiker. Das in kausalem Sinn zu verstehende Partizip Etbffi~ ist nicht Zeichen von selbstbewußter Sicherheit, sondern ein Hinweis darauf, daß der Verfasser mit Einwänden rechnen muß, vielleicht sogar mit Einwänden gerade von seiten derer, von denen er solches Tun fordert. Der den Beschluß durchführende Gemeindeleiter weiß ja - besser: er darf und er muß sich dessen bewußt sein -, daß ihm angesichts der betroffenen Personen und ihres Verhaltens keine andere Wahl bleibt; ein "solcher"23, d.h. ein Häretiker, erweist sich durch sein Verhalten, nämlich durch die Nichtbefolgung der Ermahnungen, als ganz und gar verkehrt, als widerspenstig und im Unrecht befangen 24 • Die Verweigerung der Umkehr bedeutet noch mehr, nämlich "Festhalten an der Sünde"2S. Was kann angesichts eines solchen."Falles" der Gemeindeleiter noch tun? Er kann letztlich nur die vom Häretiker vollzogene Abkehr seinerseits· als solche kenntlich machen, um für die ihm anvertraute Gemeinde deutlich zu machen, daß er aus Verantwortung für ihren Glauben die Gemeinschaft mit dem Irrlehrer aufkündigen muß. Letztlich soll auf diese Weise das Verhalten des Gemeindeleiters als unumgänglich hingestellt und damit in gewisser Weise sowohl vor sich selbst als auch vor der Gemeinde und schließlich auch vor dem aus der Gemeinde Ausgeschlossenen gerechtfertigt werden. Diese sichtlich auf die Verteidigung der verlangten kirchenzuchtlihervorgeht, wird hier nicht mehr gedacht ... ". Doch verliert nicht bei Mt das . "Gespräch" irgendwann den Charakter des Seelsorgerlichen und mündet in der Trennung, also auch in einem amtlichen "Verwaltungsakt"? 23 Die Bezeichnung ;, 'tOLO'Ü'to~ in abwertender Bedeutung und verbunden mit dem Vorwurf des Unrechts auch 1 Kor 5,5.11; 2 Kor 2,6f; ähnlich Röm 16,18. ,. V gl. 1. REUSS, Tit 61. 2S V. HASLER, Past 98.
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chen Maßnahme gerichtete Tendenz zeigt sich schließlich noch in den beiden letzten Worten des Verses, wo dem Betroffenen gesagt wird, daß eigentlich er selbst dieses Urteil über sich gefällt hat. Das Adjektiv alrtoxm;(bGQL'tO~ ist zeitgenössisch außerhalb der Bibel nur belegt in einem Philo-Fragment, das bei Johannes Damascenus überliefert ist 26 • Mit dem Hinweis, daß ein auf diese Weise von der Kirchenzucht Betroffener "durch sich selbst verurteilt ist", wird die so entstandene Situation des Ausschlusses aus der Gemeinde zum bedauerlichen, letztlich aber durch den Gemeindeleiter und seine Aktivität nicht mehr aufzuhaltenden Fall. So wie der Häretiker sich "selbst" in den Stand der "Verurteilung" gebracht hat 21, so kann auch er allein sich wieder daraus befreien. Die hier vorliegende Erklärung, daß der Gemeindevorsteher darum zwar "weiß", ihm aber dieses Wissen gleichzeitig eigens kundgetan und in Erinnerung gerufen werden muß, läßt die Schlußfolgerung zu, daß solche "Lösungen" nicht unumstritten waren. Es bedarf zu ihrer Rechtfertigung einer eigenen Bekräftigung und Bestätigung von seiten des Apostels; durch sein Wort, auf das die Past sich berufen, soll das Verhalten des Gemeindeleiters legitimiert werden. III (1) In den christlichen Gemeinden, auf die der Autor der Past Einfluß nehmen will, gibt es gravierende theologische Kontroversen. Die Einheit der Gemeinde ist dadurch gefährdet. Auch das Erscheinungsbild nach außen hin droht Schaden zu leiden. Die Gemeinden bzw. die Personen, die an verantwortlicher Stelle stehen, müssen auf diese Herausforderungen reagieren. Die Themen und die "Fragen" in den Gemeinden bestimmen auch die "Antwort", die der Verfasser in den Past gibt. Der auch hier erkennbare stark defensive Charakter der von . "Paulus" empfohlenen bzw. angeordneten Aktivitäten entspricht der innerkirchlichen Entwicklung. Oberstes Ziel ist, die Einheit der Gemeinden zu verteidigen. Dazu dienen vor allem zwei Maßnahmen: Dem Gemeindevorsteher, den der Apostelschüler Titus repräsentiert, wird umfassende Vollmacht zugesprochen, sowohl in der Festlegung der Lehre (V 9) als auch in der Durchführung von disziplinarischen Maßnahmen (V 10); die Einheit der Gemeinden wird dadurch gewahrt, daß solche Leute aus der Gemeinde ausgeschlossen werden, die sich der Autorität des Leiters in den genannten beiden Bereichen nicht unterordnen wollen. Sacra parallela; zitiertbei M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 114. Vgl. die Wiedergabe des Argumentationsganges von V 11 bei 1. JEREMIAS, Past 76: " ... wenn er verwarnt ist und trotzdem weiter sündigt, so tut er es bewußt und im eigenen Gewissen gerichtet und schließt sich selbst aus der Gemeinde aus." 26
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(2) Wenn man die Sorge um den rechten Glauben und um das Leben der Gemeinden als geschichtlich entscheidenden Hintergrund bedenkt, dann muß es überraschen, daß gerade die Gemeinde als Argument oder als Grund für die Entscheidungen des Apostelschülers kaum Berücksichtigung findet. Gewiß werden die "Glaubenden" mit ihren "guten Werken" dem "häretischen Menschen" mit seinen "Streitereien" gegenübergestellt; aber schon dabei scheint das Vertrauen auf die Überzeugungskraft und den positiven Einfluß der Erstgenannten nicht übermäßig groß zu sein. Die Gemeinde bleibt in dieser kritischen Situation passiv; sie ist Objekt der Entscheidungen, die der Vorsteher für sie und über sie trifft. Über die Zugehörigkeit zur Gemeinde entscheidet er allein. Obwohl davon nicht ausdrücklich gesprochen wird, ist doch aus der autoritativen Stellung des Empfängers der "apostolischen" Weisung der Schluß zu ziehen, daß seine Entscheidung auch für die Gemeinde verpflichtend ist, ja daß die Annahme derselben, der Gehorsam, selbst wieder zum Kriterium der Rechtgläubigkeit werden kann. (3) Daß die Kompetenzen für Entscheidungen, die Leben und Glauben der Christen betreffen, auf den einzelnen Vorsteher der Gemeinde verlagert werden, zeigt sich auch in der -Beschreibung des Umgangs mit den der Häresie bezichtigten Gemeindemitgliedern. Der Vorsteher hat die Pflicht und die Kompetenz, durch "Ermahnung" bzw. "Zurechtweisung" die einer Irrlehre verfallenen Christen auf "das Verkehrte" ihrer Haltung aufmerksam zu machen, wobei diese "Ermahnung" (vou8wLa)28 noch als "Mittel der Seelsorge" und nicht als "strafende Maßnahme der Kirchenzucht" zu betrachten ist 29 • Das besondere Augenmerk gilt hier aber dem Fall, daß die (wiederholte) Zurechtweisung nicht fruchtet. Dann wird dem Amtsinhaber zugestanden, daß er seine Aufgabe erfüllt und sein Möglichstes getan hat und daß ihm letztlich keine andere Wahl mehr bleibt, als die Entscheidung des "Häretikers" durch dessen "Abweisung" bzw. "Abtrennung" zu ratifizieren. Die Darstellung dieser Maßnahme verfolgt das Ziel, die Autorität und Vollmacht des Gemeindeleiters für disziplinarische Maßnahmen zu unterstreichen, zugleich ihn aber auch zu entlasten von der Verantwortung für die Aktion gegenüber dem Betroffenen, nämlich den Ausschluß aus der Gemeinde; denn der Betroffene selbst hat nach Dar-
Das Substantiv VOU8EOIU hat Eph 6,4 stärker die positive Bedeutung "Weisung", in 1 Kor 10,11 hingegen ist mit "Warnung" zu übersetzen; auch das Verb vOlJ"tE8EOJ, außer Apg 20,31 nur im Corpus Paulinum (Röm 15,14; 1 Kor 4,14; 1 Thess 5,12.14; Ko11,28; 3,16; 2 Thess 3,15), kennzeichnet in entsprechender Bandbreite die Aufgabe des Seelsorgers (vgl. 1. BEHM, ThWNT IV 1015). " Mit 1. BEHM, ThWNT IV 1015. 28
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stellung des Paulus der Past durch sein Verhalten seinen Ausschluß bewirkt 30. Auch wenn man der Kirche aufgrund der Bedingungen in der damaligen Zeit das Recht für dieses Verfahren der Ausgrenzung nicht bestreiten wird 31, so ist nicht zu übersehen, daß auf diese Weise die pastorale Verantwortung des Gemeindeleiters für beendet erklärt wird. Und bereits hier ist zu fragen, ob der aufgezeigte Weg, daß der Leiter (und Vorsteher) einer Gemeinde die Verantwortung für die falsche Entscheidung eines Christen auf diesen abwälzen darf, nicht doch eine verhängnisvolle Entwicklung eingeleitet hat.
Gegen die auf diese Weise zumindest möglich gewordene Beruhigung des Gewissens der rechtgläubigen Gemeindemitglieder (vgl. V 8) ist weiterzufragen, ob die pastorale Sorge je enden darf, ob es "hoffnungslose Fälle" geben darf, bzw. ob ein solches Urteil (vgl. V 9) den Ausschluß eines Gemeindemitgliedes rechtfertigen kann - sei es Ausschluß aus der Gemeinde oder aber "nur" Ausschluß von bestimmten Handlungen bzw. kultischen Akten der Gesamtgemeinde 32 • Zudem erscheint es auch recht problematisch, die Verantwortung des Gemeindeleiters für sein Handeln und für seine Entscheidung an diesem konkreten Punkt damit zu rechtfertigen bzw. zu entschuldigen, er überlasse "einen solchen Menschen nur(!) dem Urteil, das dieser in seinem Innersten über sich selbst spricht" 33. (4) Beim Lesen des Abschnittes Tit 3,8-11 kann der Eindruck entstehen, daß solche Verhaltens anordnungen Zeichen einer gewissen Hilflosigkeit sind. Die Unsicherheit in der Entscheidung von Glaubensfragen wird kompensiert durch den Einsatz von administrativen Maßnahmen. Das Vertrauen auf die Kraft des Argumentes wird ersetzt durch den Anspruch einer von "Paulus" legitimierten Autorität. Lassen sich aber Glaubensfragen und Glaubensdifferenzen auf diesem Weg klären? Die Antwort hat zu bedenken, daß für den Verfasser diese Frage deshalb gegenstandslos ist, weil er sich in seiner Kirche im Besitz des rechten Glaubens weiß. Dem empfohlenen, ja befohlenen Verzicht auf das Gespräch (vgl. 2 Tim 2,14.16.23) korrespondiert in gewisser Weise der Verzicht auf eine (z. T. sicher kontrovers geprägte) Gemeinschaft. Vgl. G. W. KNIGHT, Past 355. V gl. H. MERKEL, Past 106, der allerdings hinzufügt: "Daß die spätere Kirche sich die Auseinandersetzung mit abweichenden theologischen Meinungen oft zu leicht gemacht hat, ist nicht dem Verfasser der Pastoralbriefe anzulasten." 3Z V gl. etwa bei J. FREuNDoRFER, Past 307, die recht entschiedene und definitive Feststellung: "Es gibt hoffnungslose Fälle von völliger geistiger Verkehrtheit und von Sünde gegen das eigene bessere Wissen und Gewissen. Ein solcher Fall ist dann gegeben, wenn ein Christ alle Belehrung und Mahnung in den Wind schlägt. Dann muß man ihn dem Urteil überlassen, das er im Innersten sich selbst spricht." 33 J. REUSS, Tit 6lf. 30
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Das angeordnete Verhalten des Vorstehers hat deutlich defensiven Charakter; das pastorale Bemühen hat versagt oder erweist sich als erfolglos bzw, vielleicht sogar als aussichtslos. Der V 11 läßt sich so verstehen, daß der in der Gemeinde Verantwortliche, der Gemeindeleiter und der Seelsorger, "sich damit abfinden (muß), daß es Menschen gibt, die auf ihrem Irrtum beharren"34. Aber gerade dann ist die Frage zu stellen: Muß er diese Erkenntnis auch umsetzen in einen kirchen amtlichen Akt des Ausschlusses dieser Christen aus der Gemeinde? LITERATUR: M. SIMON, From Greek Hairesis to Christian Heresy: Early Christian Literature and the Classical Intellectual Tradition: FS R. M. Grant (ThH 54) (Paris 1979) 101-116.
8. Persönliche Aufträge und Schlußgruß (3,12-15) Sobald ich Artemas zu dir schicke oder Tychikus, dann beeile dich, zu mir nach Nikopolis zu kommen; denn ich habe beschlossen, dort den Winter über zu bleiben. 13 Zenas, den Rechtsgelehrten, und Apollos sollst du für die (Weiter-)Reise sorgfältig ausstatten, damit es ihnen an nichts fehlt. 14 Aber auch die Unsrigen sollen lernen, sich mit guten Werken für die dringenden Bedürfnisse hervorzutun, damit sie nicht ohne Frucht bleiben. 15 Es grüßen dich alle, die bei mir sind. Grüße die, die uns im Glauben lieben. Die Gnade sei mit euch allen!
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In Entsprechung zur brieflichen Einleitung (1,1-4) und in Übereinstimmung mit den Gepflogenheiten der antiken Briefe, auch denen des Paulus, schließt Tit mit einem Ausblick, der persönliche Bereiche betrifft bzw. auf Verhältnisse Bezug nimmt, in welchen der Adressat besonders betroffen oder kompetent ist. Solche Angaben zu einzelnen Personen und spezifischen Situationen vermitteln das Bild einer konkreten und geschichtlich einmaligen Beziehung, zumal wir aus einem Vergleich mit den Paulusbriefen wissen, daß der Apostel sich am Schluß seiner Schreiben ähnlich äußert 1. Aber auch hier ist zu beachten, daß detaillierte'Personen- und Ortsangaben und Situations schilderungen zu den Stilmitteln pseudepigraphischer Briefabfassung gehören 2 ; und sie sind charakteristisch für die U. BORSE, Past 129. H. MERKEL, Past 106, verweist auf die Gemeinsamkeiten mit dem Eschatokoll von Röm und 1 Kor in der Angabe von Reiseplänen, persönlichen Instruktionen, Empfehlungen und Reisegrtißen sowie im Gnadenwunsch. 2 Vgl. N. BROX, Past 313; P. TRUMMER, Paulustradition 136f. 34
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Past (vgl. 1 Tim 1,20; 5,23; 2 Tim 1,5.8.15-18; 2,17f; 3,11; 4,1015.16 f.19-21) 3. Den Abschluß bildet sodann, ebenfalls der Briefform entsprechend, der Schlußgruß; er bleibt hingegen aufgrund seiner Knappheit recht blaß. II
12 Der Hinweis auf die Überwinterung und die damit in Aussicht gestellte Möglichkeit einer Zusammenkunft mit dem Briefempfänger, die Nennung des dafür vorgesehenen Ortes, Nikopolis, und schließlich die namentliche Vorstellung von zwei Boten bzw. Nachfolgern im Amt der Gemeindeleitung - das alles erweckt den Eindruck einer lebendigen Beziehung zwischen Absender und Adressat. Wie das Motiv der besonderen Eile sind aber auch diese Details als Kennzeichen des pseudepigraphischen Charakters der Past zu bewerten. Der Ausgangspunkt bei der Beurteilung der biographischen, topographischen und missionsstrategischen Angaben bleibt die These der literarischen Fiktion. Das betrifft einmal die Nennung des Ortes Nikopolis. Es ist unverkennbar, daß der Autor mit der konkreten Ortsbezeichnung um den Eindruck einer authentisch wirkenden Situationsschilderung bemüht ist. Aber bereits die fehlende Basis einer biographischen Einbindung läßt die Festlegung auf einen bestimmten Ort nicht ohne weiteres zu. Von den verschiedenen Orten mit Namen Nikopolis zur Zeit der Entstehung der Past 4 wird beinahe übereinstimmend die in Epirus gelegene Stadt gleichen Namens als die von (Pseudo-)Paulus gemeinte angenommen 5 • Daß der Verfasser an diese an der Westküste Griechenlands gelegene Hafenstadt dachte, konnte man - auch unter Voraussetzung der Fiktionalität der geographischen Angaben - damit begründen, daß vom Aufenthaltsort des "Titus" auf Kreta aus ein den Anweisungen des "Paulus" entsprechendes Handeln möglich und sinnvoll wäre. Sowohl die Übersiedlung der beiden genannten Personen nach Kreta als auch die Überfahrt des "Titus" und ein Zu-
"Gerade die persönlichen Notizen und Aufträge gehören zum verfeinerten literarischen Stil der Pastoralbriefe" (Y. HASLER, Past 98). - Diese Verse gehören aber auch zu den Texten, die als "authentische Überlieferungen" aus dem Leben des Paulus gelten (vgl. P. N. HARRISON, Paulines 106-108). 4 Vgl. zu den verschiedenen Orten "Nikopolis" M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 114f; CHR. BURcHARD, KlPI4, 123-126. 5 Vgl. W. LOCK, Past 158 ("probably"); J. JEREMIAS, Past 77; C. SPICQ, Past 690; M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 115 ("wahrscheinlicher"); J. N. D. KELLY, Past 257 ("probably"); P. DORNIER, Past 159 ("sfirement"); G. W. KNIGHT, Past 356f; TH. D. LEA - H. P. GRIFFIN, Past 331; PH. H. TowNER, Past 263. - Zur wirtschaftlichen und politischen Bedeutung der Stadt vgl. J. D. QUINN, Tit 255. 3
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sammentreffen mit "Paulus" wäre auf der Basis dieser topographischen Festlegung denkbar. Dasselbe gilt für die von "Paulus" mitgeteilte Absicht, in der genannten Stadt zu überwintern. Freilich ist gleich hinzuzufügen: Nikopolis konnte diese Bedeutung und Funktion vom Verfasser zugesprochen bekommen, ohne daß er sich um entsprechende historische Fragen kümmern mußte. Es ist von untergeordneter Bedeutung, daß diese Stadt "für einen Winteraufenthalt am geeignetsten erscheint" 6. Die Bedeutung des Ortes ergibt sich aus der literarischen und damit verbunden ekklesiologischen Konzeption des Autors. Am Schluß des "Briefes" erhält "Titus" den Auftrag, an einen anderen Ort zu kommen; da die Aufforderung von "Paulus" kommt, ist der Zusammenhang mit der missionarischen Tätigkeit der beiden selbstverständlich. Für den Leser ist klar, daß die an die christlichen Gemeinden Kretas bzw. deren Vorsteher gerichteten Anweisungen andernorts ebenso Gültigkeit haben sollen. Mit der Nennung von Nikopolis wird paradigmatisch das Wirkungsfeld der Nachfolger des Apostels Paulus erweitert. Die Annahme, hier liege "ein Stück genuiner historischer Tradition" vor1, ist ebenso spekulativ und überflüssig wie die mit der Erwähnung des Ortsnamens verknüpfte Vermutung, daß Paulus "einmal in Nikopolis und Epirus gewesen ist" 8. Als Grund für die Nennung der Stadt in den Past kann ein eventueller Aufenthalt des Paulus dort unmöglich in Anspruch genommen werden. Schon recht grobe Kenntnisse der Geographie versetzten den Verfasser in die Lage, die vorliegende Verknüpfung der beiden topographischen Angaben Kreta und Nikopolis vorzunehmen. In Verbindung mit Nikopolis ist nach Darstellung des Tit wichtig, daß Paulus sich dort aufhält und daß Titus sich von Kreta aus dorthin auf den Weg machen muß (EA8etv). Aus dem mit der pseudepigraphischen Abfassung verknüpften Gestaltungswillen ergibt sich auch eine Erklärung für die (quasi-)biographisehe Notiz, daß "Paulus" in Nikopolis den Winter zu verbringen beabsichtigt. Es entspricht der Gepflogenheit des Paulus, daß er am Ende von Briefen seine gegenwärtige Situation schildert, daß er weitere Pläne mitteilt bzw. auch Aufträge erteilt (vgl. Röm 15,22-29; 1 Kor 16,3.5-7.8.10f.12.17; Phm 22; vgl. auch Eph 6,2lf; Kol4,7-9). Besonders eng berührt sich unser Vers mit der Mitteilung des Paulus an die Gemeinde in Korinth, daß er mit der Möglichkeit rechnet, er werde den Winter über bei ihnen bleiben (1 Kor 16,6; nUQuXEL[.tU-
Vgl. aber F. 1. SCHIERSE, Past 176; G. HOLTZ, Past 237. Vgl. A. T. HANS ON, Past 196: " ... there may weIl be a piece of genuine historical tradition." • M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 115, erscheint dies "wohl glaublich". 6
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SELV außer an dieser Kor-Stelle auch Apg 27,12; 28,11). Abhängigkeit von solchen oder ähnlichen Paulus-Traditionen ist nicht auszuschließen.
Zum brieflichen Kontakt kommt hinzu, daß "Paulus" den Briefempfänger auffordert, er solle möglichst schnell zu ihm in die genannte Stadt kommen. Weitere Angaben werden zwar nicht gemacht, doch aus der Gesamtkonzeption kann man erschließen: Mit dieser Aktion, der Abberufung des "Titus" von Kreta und der Beendigung der ihm doch gerade so sehr ans Herz gelegten Arbeit für die Gemeinden soll eine Art "Amtsübergabe" angedeutet werden. Der Grundgedanke einer Sukzession zeigt sich auch darin, daß für den "Nachfolger" des "Titus" die Bindung an die in dem Schreiben formulierten Weisungen des "Paulus" vorausgesetzt ist. Es ergibt sich damit die für die Past ekklesiologisch bedeutsame Konstellation: "Paulus" kümmert sich nicht nur um eine angemessene "Versorgung" der Gemeinden Kretas nach seinem Weggang (1,5), sondern auch um eine Regelung der Nachfolge des von ihm selbst zu seinem Nachfolger bestimmten"Titus". Die Aufforderung an "Titus", möglichst schnell zu "Paulus" zu kommen, ist nicht nur so zu erklären, daß in der fiktiven Briefsituation die Aufgabe des Apostelschülers als "zeitlich begrenzt" angesehen wird 9. Hier kommt vielmehr zum Ausdruck, daß die angesprochenen Gemeinden weder den Apostel noch seine unmittelbaren Schiller kennen bzw. kennen können. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird auf den Übergang der Gemeindeleitungskompetenz vom Apostelschiller auf dessen Nachfolger gelenkt; deshalb brauchen weitere Überlegungen über die Durchführung der dem "Titus" aufgetragenen Aufgaben auf Kreta nicht angestellt zu werden. Dieser Briefschluß mit der Nennung des bzw. der Nachfolger des "Titus" und mit dem Ausblick auf die Zeit nach "Titus" bestätigt, daß als Adressaten der Weisungen und auch als Verantwortliche für deren Durchführung die Nachfolger des Apostelschillers angesprochen sind; und das 'sind - in der geschichtlichen Situation der Abfassung der Past - die Gemeindeleiter ihrer Zeit.· Mit der Einführung der beiden Personennamen, die im "Brief" noch nicht genannt waren, und der Erwähnung von Nikopolis veranschaulicht der Verfasser die Ablösung des "Titus"; dabei ist bezeichnenderweise nur von seiner Rückkehr zu "Paulus", nicht aber von einer neuen AufgabensteIlung die Rede. Wie der Apostel, so gehören "jetzt", nämlich in der Zeit des zu Ende gehenden ersten Jahrhunderts, auch die unmittelbaren Schiller und Gefolgsleute des Paulus der Vergangenheit an. Die Bedeutung der ganzen Aktion wird literarisch untermalt durch das Motiv der Eile (vgl. auch 2 Tim 4,9.21; 1 Tim 3,14). , So W. STENGER, Tirnotheus 265.
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Bei den Namen der beiden Paulusbegleiter, Artemas und Tychikus, wird verständlicherweise zuerst die Frage gestellt, ob sie an anderen Stellen des Neuen Testaments und insbesondere im Umfeld des Paulus genannt werden. Der Name Artemas begegnet nur an dieser Stelle, Tychikus dagegen wird auch in 2 Tim 4,12 als Abgesandter des Paulus nach Ephesus erwähnt. In einer besonderen Beziehung zu Paulus steht Tychikus sodann auch in Kol 4,7 und Eph 6,21, vorgestellt als "geliebter Bruder" (&yaJtrl1;o~ MEA<:p6~) und "zuverlässiger Helfer" (JtL<J'tO~ öLaxovo~) (vgl. auch Apg 20,4). Doch dieser Befund ist nicht historisierend auszuwerten. Zwar ist die Kenntnis von Namen aus der Paulustradition vorauszusetzen; doch der entscheidende Gesichtspunkt ist für die Past nicht die Beziehung der beiden genannten Personen zu Paulus, sondern ihre Einordnung in die nachpaulinische Traditionskette und die Einbindung in die Aufgabe der Gemeindeverwaltung. 13 Bei den beiden Personen, die als bei "Titus" weilend eingeführt werden, liegt, was die Namen betrifft, eine vergleichbare Konstellation vor. Apollos ist in der Apostelgeschichte (Apg 18,24ff; 19,1) und bei Paulus (1 Kor 1,12; 3,4ff.22; 4,6; 16,12) als rhetorisch gebildeter Missionar genannt. Zenas hingegen wird im Neuen Testament nur an dieser Stelle erwähnt. Da bei Zenas mit dem Namen sein Beruf genannt ist, nämlich vO!lLx6~, d.h. Jurist, Rechtsgelehrter, ist davon auszugehen, daß auf der Berufsbezeichnung ein besonderes Interesse liegt. Im Unterschied zu dem in den synoptischen Evangelien bezeugten Gebrauch von vO!lLx.6C; zur Bezeichnung eines jüdischen Gesetzeslehrers, also eines Schriftgelehrten (vgl. Mt 22,35; Lk 7,30; 10,25; 1l,45f.52; 14,3), ist hier eher an einen juristisch Gebildeten in einem umfassenden Sinn zu denken.
Dann läßt sich (im Anschluß an die These von V. Hasler 10) eine passende Erklärung für die Nennung dieses rechtsgelehrten Zenas in der Umgebung des "Titus" geben. Der Verfasser kann mit der Erwähnung eines Juristen in der Nähe des "Titus" und damit in einer bedeutsamen Stellung in der Gemeinde eine apologetische und zugleich eine paränetische Absicht haben. Es ergibt sich (1) die Möglichkeit, Zenas als wichtiges Mitglied der Gemeinde zu präsentieren. Mit einem gebildeten Juristen in der Gemeinde eröffnet sich die Möglichkeit einer apologetischen Absicherung gegen denkbare Vorwürfe von seiten der nichtchristlichen Umwelt an die Adresse der christlichen Gemeinden. Diese Vorwürfe konnten in zwei Richtungen gehen, orientiert an konkreten Entwicklungen in den Gemeinden: Da ist zum einen die Ablehnung von Diskussionen um die jüdische Gesetzestradition durch den Autor und die 10
V. HASLER, Past 99.
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durch ihn repräsentierte orthodoxe Gemeinde (vgl. Tit 1,14; 3,9); daraus konnte das Mißverständnis einer grundsätzlichen Kritik am Gesetz entstehen. Auf der anderen Seite gab es in den Kreisen der Gläubigen, die mit der Betonung der schon vollendeten Realisierung der Heilszeit (vgl. 2 Tim 2,18) auch eine Relativierung der bestehenden (Unter-)Ordnung vertraten, Tendenzen, die staatlichen Strukturen mit ihren gesetzlichen Bestimmungen in Frage zu stellen. Für Außenstehende war dabei die Unterscheidung zwischen "Rechtgläubigen" und "Häretikern" nicht ohne weiteres einsichtig und nachvollziehbar. Neben solchen apologetischen Tendenzen ist (2) eine paränetische Absicht erkennbar: Mit der Ablehnung gesetzesorientierter Diskussionen und Auseinandersetzungen darf für die Christen die Frage nach der Bedeutung des Gesetzes nicht schon als negativ entschieden gelten; ein Gesetzeslehrer soll im Auftrag des "Paulus" zusammen mit Apollos von "Titus" für seine Aufgabe ausgestattet werden. Damit wird zumindest indirekt die Bedeutung der Gesetze und deren ver- . pflichtender Charakter für die christlichen Gemeinden unterstrichen. Es ist noch zu fragen, mit welcher Funktion der Verfasser die beiden genannten Mitarbeiter in der Gemeinde betraut sehen will. Da der dem Titus erteilte Auftrag nur darauf abhebt, sie mit allem für eine Reise Notwendigen zu versorgen, wird häufig vermutet, es handle sich um "wandernde Evangelisten"l1, die schon Paulus erwähnt (vgl. 1 Kor 9,14; 2 Kor 11,7-9) und die auch am Übergang vom ersten zum zweiten Jahrhundert in Did 11-13 genannt werden 12. Doch für die Past ist ein anderer Aspekt bedeutsam, welcher der Konstellation des "Briefes" entspricht: "Titus", der im Auftrag des Paulus agierende Verantwortliche für die Gemeinden, erhält Instruktionen über seine Aufgaben; und die betreffen die Gemeinden und ihren Glauben (vgl. 2,1-10; 3,1-7), die Irrlehrer (1,10-16; 3,9-11) und die Amtsträger (1,5.6-9). Und zu letzteren sind die beiden, Zenas und Apollos, zu zählen. Wie im vorhergehenden Vers Artemas und Tychikus als von "Paulus" kommende und damit qualifizierte Mitarbeiter in der Gemeindeleitung vorgestellt wurden, so wird auch "Titus" auf seine Verantwortung für die gemeindeleitenden Mitarbeiter hingewiesen. Diese sind nicht nur auf ihre Eignung hin zu überprüfen (vgl. 1,6-10), sondern sie verdienen in jeder erdenklichen Hinsicht Unterstützung 13 • A. SCHLATTER, Kirche 209; ähnlich C. SPICQ, Past 692; G. W. KNIGHT, Past 358. H. MERKEL, Past 107, sieht in den VV 13.14 ein Problem angesprochen, das in 3 Joh 5-8 "deutlicher zutage tritt: den Konflikt zwischen der alten Institution der Wandermissionare und dem gemeindeleitenden Amt". 12 VgL dazu G. SCHÖLLGEN, Didache 55-68. 13 VgL V. HASLER, Past 99: "Damit werden die Apostelschüler zu Vorbildern für kirchliche Mitarbeiter, die durch die Kirchenleitung an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Diensten eingesetzt, abberufen und neu zugewiesen werden." Reine Spekulation ist es, in ihnen die - und wegen der Fiktion der zugrunde liegenden 11
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Was in den echten Paulusbriefen als Auftrag an die Gemeinden gerichtet ist, das wird hier als Weisung an den Gemeindevorsteher weitergegeben. Zu den Namen eine abschließende Überlegung: Vielleicht wählt der Verfasser hier wie an anderen Stellen bewußt zwei Namen, von denen jeweils nur einer in der paulinischen Tradition einen festen Platz hat. Auf diese Weise wird auf der einen Seite die Kontinuität zu Paulus betont. Andererseits wird mit der Nennung einer nicht in den Paulusbriefen bezeugten Person darauf aufmerksam gemacht, daß solche Kontinuität nicht nur Gültigkeit besitzt für die bekannten Personen, sondern auch für andere, unbekannte Personen, die dem Auftrag des Paulus entsprechen und die "jetzt", in der neuen Situation der dritten christlichen Generation, den Dienst in den Gemeinden verrichten. Daß diese neue Situation im Vordergrund steht, kann man aus der Reihenfolge der Namen erschließen; die fremde Person wird jeweils an erster Stelle genannt. 14 Die dargestellte Verpflichtung des Gemeindevorstehers entläßt die Gemeindemitglieder nicht aus ihrer Verantwortung. Es entspricht der schon beobachteten Verknüpfung von Gemeindeleiterparänese und Gemeindeermahnungen, daß der Blick noch einmal umfassend auf die Christen gerichtet wird. Auffällig ist die Benennung der Gemeindemitglieder mit oL ~IlE"tEQOLI4. Hierin ein besonderes "Gemeinschafts- und Gruppenbewußtsein der Christen" ausgesprochen zu sehen 15 erscheint angesichts der Bezeugung an nur einer Stelle und im Blick auf die konkrete Verwendung in diesem Zusammenhang wenig passend: Die Christen werden mit einer Forderung konfrontiert, und insofern hat die Bezeichnung als "solche, die zu uns gehören" (wie man oL ~!lE"tEQOL auch wiedergeben kann), eher fordernden Charakter. Es ist sicher auch das Moment der Abgrenzung gegenüber denen, die nicht zur Gemeinde zählen, mitzuhören; und das betrifft sowohl Nichtchristen wie Häretiker l6 • Aber vor allem geht es darum, daß die Christen ihren Glauben auch dadurch unter Beweis stellen, daß sie wie die Vorsteher ihrer Verantwortung in der Praxis des täglichen Lebens gerecht werden 17.
Situation müßte man in jedem Fall ergänzen: die vorgestellten - "Überbringer des Briefes" sehen zu wollen (so F. 1. SCHIERSE, Past 176, ähnlich 1. REUSS, Tit 65; G. HOLTZ, Past 237; P. DORNIER, Past 160; TB. D. LEA - H. P. GRIFFIN, Past 332). 14 In dieser Bedeutung nur noch bezeugt Mart. Pol. 9,1 (vgl. F. 1. SCHIERSE, Pas! 177). 15 So O. KNOCH, Past 83. 16 V gl. N. BRox, Past 314; 1. D. QUINN, Tit 267; G. W. KNIGHT, Past 358. 11 "Christianity is to be expressed in practical action" (A. T. HANSON, Past 1?7). V gl. auch N. BRox, Past 313f.
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Mit der Bezugnahme auf die "guten Werke" wird erneut ein geläufiges Stichwort aufgegriffen. Zugleich bleibt die Mahnung im allgemeinen. Auf diese Weise kann über die gewiß auch intendierte Bereitschaft zu freigebigem Verhalten gegenüber denen, die in der Gemeinde wirken (und das bedeutet sicher nicht einen ausschließlichen Bezug auf nur zeitweise anwesende Missionare), ein umfassendes Verständnis eines sich in guten Werken erweisenden "frommen Lebens" angezielt werden. Dafür spricht auch die angefügte Warnung vor einem Defizit in der Glaubenspraxis. Glaube muß sich in guten Werken vor dem Forum der Gemeinde- und Weltöffentlichkeit bewähren. Der Maßstab für den Einsatz der Gläubigen sind die drängenden Bedürfnisse der Menschen. Wenn aber diese Bedürfnisse und die Notwendigkeiten der Betroffenen das Handeln der Christen bestimmen müssen, werden die Grenzen der Gemeinde wieder gesprengt und wird die Universalität der den Christen aufgegebenen Verpflichtungen unterstrichen 18. Ja, es erscheiqt hier geradezu ein Gemeindeideal vorgestellt, das von den Christen verlangt, die "besseren" Menschen zu sein 19 • 15 Dem Brieftopos entsprechend wird der Adressat zuerst gegrüßt, allerdings nicht, wie es die Briefkonstellation erwarten ließe, vom "Apostel Paulus", sondern von " allen" , die bei ihm sind. Im zweiten Teil erhält dann der Adressat den Auftrag, Grüße an seine Gemeinde zu übermitteln. Auf diese Weise erscheinen zwar die beiden Repräsentanten fest eingebunden in die Gemeinschaft der ihnen anvertrauten Gläubigen. Zugleich wird ihre herausgehobene Stellung als diejenigen, die nicht nur für die Gemeinde Verantwortung tragen, sondern die "ihre" Gemeinde repräsentieren, untermauert. Darin zeigt sich eine klare Gemeindekonzeption: Über "Paulus" grüßt die Gemeinde ("alle, die bei mir sind") den "Titus" ("dich"); dei wiederum wird beauftragt, die Grüße an die Gemeinde ("die uns im Glauben lieben") weiterzugeben. Der Kontakt zwischen den Gemeinden verläuft über den Vorsteher. Vgl. V. HASLER, Past 100: "Diese abschließende Mahnung wirft nochmals ein Licht auf das Selbstverständnis dieser Gemeinden, welche sich niemals damit zufrieden geben, in stiller Zurückgezogenheit ihre Frömmigkeit zu pflegen, sondern im Gegenteil mit der polemischen Abgrenzung gegen die Irrlehre eine ernste missionarische Verantwortung gegenüber der eigenen Botschaft verbinden und eine universale Verpflichtung gegenüber der ganzen Menschheit anerkennen und durchsetzen." 19 Auch wenn es nicht unbedingt notwendig ist, hier einen Gegensatz zwischen der Lauheit christlicher Gemeinden und der Opferfreude anderer Gruppierungen zu unterstellen (so aber mit Berufung auf den Anschluß mit öe G. HOLTZ, Past 2:38), wird doch mit folgendem Satz sicher die Intention der Past getroffen: "ot TJ,.Ub:EQOL können jedenfalls in konkreter Übung der guten Werke von anderen Gruppen noch viel lernen" (ebd.). 18
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Eine ungewöhnliche Bezeichnung steht für die Gemeinde des "Titus": "die, welche uns lieben im Glauben". Naheliegend ist die Erklärung, daß der Verfasser dabei eine "konventionelle Wendung" aufgreift, die er mit EV 3t1.O'tEL auf die christliche Gemeinde hin präzisiert 20 • III.O'tL~ bleibt dabei aber unbetont. Wie sich der Gruß auf das Notwendigste beschränkt, so auch der Segenswunsch. Von der Formulierung 1 Tim 6,21 und 2 Tim 4,22 unterscheidet sich der Tit-Schluß nur durch die Hinzufügung von "alle" (so auch Hebr 13,25). Möglicherweise liegt darin Anpassung an die Formulierung mit 3t(lV'tE~ in V 15a vor. Das Fehlen einer christologischen Bestimmung der Segensformel, die bei Paulus fester Bestandteil ist, erklärt sich daher, daß x:aQL~ für die Past eine umfassendere Bedeutung gewonnen hat sowohl in Verbindung mit heilsgeschichtlichen Aussagen als auch im Blick auf die Gemeindewirklichkeit, so daß "Gnade" verstanden werden kann als "das Heilsgut schlechthin"21. III (1) Der Schlußabschnitt des Tit ist nicht eine bloß zufällige oder absichtslose Zusammenstellung von Informationen und Anweisungen; darin formuliert der Autor vielmehr eine klare ekklesiologische Zukunftsperspektive. Zu Beginn des "Briefes" (in 1,5) gibt er an, wozu der Apostelschüler von "Paulus" auf Kreta zurückgelassen worden ist: Er sollte "das noch Fehlende" ('tu AELnOV'tU) in Ordnung bringen. Der Apostelschüler und -nachfolger hat das von Paulus begonnene Werk weiterzuführen, es entsprechend den Erfordernissen.der Gemeindebedürfnisse zu festigen. Die Einzelanweisungen, wie das zu geschehen hat, sind im wesentlichen Inhalt des Schreibens. Doch auch "Titus" wird mit dem ihm aufgetragenen Werk nicht zu Ende kommen; er wird von Paulus wieder zurückgerufen (3,12). Der (der fiktiven Situation angepaßten) Erinnerung von 1,5, daß und wozu "Paulus" den "Titus" auf Kreta zurückgelassen hat (&.3tEAL3tOV OE EV KQ~'tn), entspricht die Aufforderupg, jetzt wieder zu Paulus zurückzukehren (03tOUöuoov EA.8Ei:V 3tQo~ j.tE) in 3,12. Auch das WIrken des Titus auf Kreta wird damit als ein zeitlich begrenztes dargestellt, also als ein Tun, das darauf angewiesen ist, daß ein anderer in seine Fußstapfen tritt. Und eben das wird vom Apostel selbst ausgesprochen in der Ankündigung, daß entweder Artemas oder Tychikus zu "Titus" kommen wird. Dabei wird auf die Kontinuität geachtet: "Sobald" (Ö'rav) der von "Paulus" geschickte Ersatzmann und Amtsnachfolger da ist, soll "Titus" kOIIlll1en. Und es ist sicher keine Eisegese, wenn man damit die Erwartung verknüpft sieht, daß der an die Stelle des 20
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So M. DIBELIUS - H. CONZELMANN, Past 116. Vgl. K. BERGER, EWNT III 1100.
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"Titus" tretende Beauftragte des Apostels sich um die gleichen Aufgaben zu kümmern hat, die gerade dem "Titus" vorgelegt worden sind. (2) Die Past stehen am Anfang einer Denkweise, die großen Wert legt auf die amtlich garantierte Kontinuität der Glaubenstradition und damit auf eine geordnete, offizielle Regelung der Einsetzung der dafür Verantwortlichen. Die dazu Bestimmten waren wohl selbst in bezug auf diese Aufgabe noch unsicher (vgl. 1 Tim 3,lb), und sie wurden auch von den Gemeinden nicht immer entsprechend geachtet. Dem begegnet der Verfasser dadurch, daß er die Gemeindeleiter der dritten Generation als von Paulus selbst autorisiert vorstellt. Und darunter befinden sich Personen, die, ausweislich der (bekannten) Paulusbriefe und der (breiteren) Paulustradition, nicht mehr zum engsten Kreis der Paulusschüler gehören. Neue Namen kommen hinzu; des" halb ist es gar nicht zu erwarten, daß diese - also Artemas und Zenasin den Gemeinden der Past bekannt waren, wobei diese Gemeinden wohl nicht mit den Ortsangaben Ephesus und Kreta zu verbinden sind. (3) Der Gedanke der Sukzession tritt deutlich zum Vorschein, auch wenn der Wechsel von einer Person zur anderen noch unbetont bleibt. In den VV 13.14 werden Anweisungen gegeben, die in die Zukunft weisen und angesichts der durch V 12 eröffneten Zukunftsperspektive bereits den bestellten, namentlich bekannten Nachfolger des "Titus" betreffen. Was konkret zu tun ist, das wird durch die Situation der Gemeinden bestimmt. Deshalb wird mit dem V 14 eine AufgabensteIlung beschrieben, die recht allgemein gehalten ist, die dadurch aber für die Zukunft und für konkrete Auffüllung geeignet ist.
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Rückfragen zur Auslegung der Pastoralbriefe Wer sich mit der Auslegung der Past beschäftigt, sieht sich mit zwei gegensätzlichen Erwartungen konfrontiert: Da gibt es einmal diejenige, daß die Bedeutung der Past als Bestandteil des neutestamentlichen Kanons untermauert wird, entweder durch den Nachweis ihrer authentischen Abfassung durch Paulus, oder, unter Zugrundelegung der pseudepigraphischen Abfassung, durch das Urteil, daß diese Schriften als ein der Intention des Apostels entsprechendes Zeugnis des notwendigen Kampfes der Kirche für die Bewahrung der paulinischen Überlieferung vor Vereinnahmung durch Irrlehrer zu bewerten sind. Im Gegensatz dazu wird auch die Forderung erhoben, daß der Exeget manche Äußerungen der Past zu verschiedenen Themen mit einer deutlichen Kritik versehen muß, sei es ausgehend vom biblischen Zeugnis, sei es aus grundsätzlichen anthropologischen und theologischen Erwägungen. Was der Verfasser beispielsweise zur Rolle und Stellung der Frauen in den christlichen Gemeinden sagt, mit allen Konsequenzen für den familären Bereich wie für die Öffentlichkeit, dürfe nicht unkritisiert stehenbleiben. Gleiches wird erwartet für die einseitige Festlegung des Gemeindelebens, welches auf den an der Spitze stehenden Leiter und seine Vollmacht ausgerichtet ist, für die Gemeindemitglieder aber nur gehorsame Unterordnung kenne. Als problematisch wird schließlich bewertet, daß das Verhältnis der Christen zur weltlichen Obrigkeit ebenfalls fast ausschließlich unter dem Aspekt der Unterordnung gesehen wird, jegliche kritische Funktion christlicher Welt- und Lebensgestaltung dagegen ausgespart bleibe. Kritik gibt es aber auch für eine Auslegung, die durch die Mitberücksichtigung der geschichtlichen Bedingungen - die innergemeindlichen Auseinandersetzungen um den rechten Glauben und die Spannungen zur nichtchristlichen Umwelt - zu einem sach- und zeitgerechten Verständnis der Aussagen der Past zu Leben und Glauben christlicher Gemeinden an der Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert beitragen will. Auch bei Anerkennung von geschichtlichen Zwängen sei doch, so der Einwand, zu fragen, ob eine theologisch verantwortliche Auslegung nicht auch dazu verpflichtet sei, Stellung zu beziehen, nach der theologischen Berechtigung mancher Aussagen zu fragen und sie gegebenenfalls auch zu kritisieren. Und schließlich bleibt als weitere grundlegende Problemstellung die Frage, welche Bedeutung es für den Stellenwert der Past im neutestamentlichen Kanon hat, daß die Past nicht von Paulus geschrieben sind, daß sie aber - wie zu vermuten ist - deshalb in den Kanon aufgenommen worden sind, weil sie unter dem Namen des Paulus stehen. Dann sei doch zu fragen, ob damit nicht ihr Stellenwert im Kanon
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Rückfragen zur Auslegung der Pastoralbriefe
entscheidend relativiert ist. Letztlich stehen wir damit bei der Frage nach der Mitte des neutestamentlichen Kanons bzw. beim Thema "Kanon im Kanon". Diese Fragestellung ist insofern höchst aktuell, als nicht zu übersehen ist, daß die Past in theologischer Hinsicht und folglich auch in der kirchlichen Verkündigung, wenn es um die zentralen Fragen des christlichen Glaubens geht, keine große Rolle spielen, daß sie aber im Bereich des Kirchenverständnisses, in der Sicht der Gemeinde und in der (expliziten oder impliziten) Begründung mancher restriktiver Strukturen bis in die Gegenwart von großer Bedeutung sind. Im folgenden sollen im Blick auf diese Fragen thesenartig drei Problemkreise skizziert werden 1. 1. Die Pastoralbriefe und Paulus
Thematisch gesehen ist diese Fragestellung am besten abzuhandeln, da sich Übereinstimmungen mit und Differenzen zu Paulus durch einen Vergleich der Schriften belegen lassen 2 • Schwieriger gestaltet sich die Beantwortung der Frage, wie diese Unterschiede theologisch zu bewerten sind. Dazu sei eine grundsätzliche Überlegung angefügt: Es ist noch einmal auf die Tatsache aufmerksam zu machen, daß die biblischen Texte insgesamt, und damit auch der neutestamentliche Kanon, geprägt sind von einem dynamischen Entwicklungsdenken. Wenn beispielsweise ein Christ der dritten Generation unter dem Namen und der Autorität des Paulus "Briefe" schreibt, wohl wissend, daß die Anweisungen "seines" Paulus mit denen des "echten" Paulus nicht übereinstimmen, ja, daß sie zum Teil im Gegensatz zu denen der paulinischen Briefe stehen, dann bedeutet dies: Nach dem Verständnis des Verfassers von Verantwortung gegenüber dem Testament des Völkerapostels ist es die Aufgabe derer, die das Werk des Apostels weiterführen, die von Paulus entwickelten Gedanken über Gott und seine Offenbarung für die Menschen und für die Welt im Blick auf neue Anforderungen weiterzuentwickeln. Die Frage nach der "Paulinizität" ist also nicht "objektiv" festzumachen und letztendlich auch nicht, wenigstens nicht ausschließlich, von den paulinischen Briefen her zu definieren, sondern wird vom Autor der pseudepigraphischen Schriften festgelege .
I Vgl. dazu v.a. J. ROLOFF, 1 Tim 376-390; F. YOUNG, Tbeology 145-161; S. E. PORTER, Autorship. 2 V gl. dazu die detaillierte Zusammenfassung bei J. ROLOFF, 1 Tim 376-382. 3 So ist zu beobachten, daß der "exklusive Paulinismus" der Past (vgl. J. ROLOFF, 1 Tim 382) weder in literarischer Hinsicht noch in der theolgischen oder ekklesiologischen Ausrichtung mit einer Fixierung auf die paulinische Tradition verknüpft ist.
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Es ist auch an dieser Stelle zu betonen, daß die Berechtigung der in den Past formulierten Weisungen und Feststellungen nicht daran gemessen werden kann, ob diese gegebenenfalls aus unserer heutigen Sicht als sachgemäß und für heutige Verhältnisse angebracht erscheinen. - Die Frage, ob das, was der Autor sagte, vielleicht in seiner Zeit schon überholt war,' wage ich nicht zu entscheiden. Derartige Wertungen aus unserer Zeit sind wohl etwas zu zuversichtlich, was die Kenntnis der geschichtlichen Bedingungen und Probleme der christlichen Gemeinden in der damaligen Zeit sowie die sach- und personengerechten Ansätze für die Bewältigung der aufgetretenen Schwierigkeiten betrifft. Dazu sei der Blick etwas ausgeweitet: Bei der Beurteilung der Weisungen der Past - sei es im grundsätzlichen Sinn oder unter der Rücksicht der Frage nach der gegenwärtigen Relevanz - ist zu differenzieren zwischen der Bewertung der Tatsache, daß der Autor sich mit Fragen von Gesellschaft und Kirche befaßt, und der konkreten Gestalt, wie er seine Lösungsvorschläge formuliert. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß man auch für diesen Bereich neutestamentlicher Aussagen, die auf die Praxis christlichen Lebens ausgerichtet sind, das berücksichtigt, was etwa für den Bereich der Ausformulierung theologischer und christologischer Aussagen beinahe schon als selbstverständlich zugestanden wird: daß nämlich die Art und Weise der sprachlichen und inhaltlichen Gestaltung geprägt ist von den Voraussetzungen und Bedingungen, die in der Umwelt und in den christlichen Gemeinden bestimmend waren. Es ist eigentlich erstaunlich, daß solche Einsichten bei manchen praktischen Fragen recht wenig Berücksichtigung finden, und zwar sowohl auf Seiten derer, die sich auf bestimmte Weisungen berufen, um gleichgeartete Situationen oder Entwicklungen zu legitimieren, als auch auf Seiten derer, die bestimmte Entscheidungen kritisieren. In beiden Fällen wird die ge~ schichtliche Bedingtheit der Weisungen ebenso übersehen wie das Anliegen des Verfassers, der einen bestimmten Personenkreis im Auge hat. 2. Die Pt;zstoralbriefe als Teil des neutestamentlichen Kanons
Wenn wir von der Annahme ausgehen, daß die Past nicht von Paulus sondern von einem uns unbekannten Christen der dritten Generation geschrieben worden sind\ dann scheint die Frage, in welchem Maße diese "Briefe" für die Erstellung einer "paulinischen Theologie" Ver• Dazu stellt S. E. PORTER, Authorship 111-113, fest, daß die Differenz in den christo-. logischen Aussagen das einzige, allerdings sehr ernst zu nehmende Argument für Zweifel an der paulinischen Abfassung der Past sei.
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wendung finden können, eigentlich schon entschieden; sie sind ein Teil der von Paulus ausgehenden und über Paulus hinausführenden Wirkungsgeschichte. Allerdings kann auch die Frage, was unter "paulinischer Theologie" zu verstehen ist, unterschiedlich beantwortet werden. Zuerst ist festzuhalten, daß es sich dabei nicht um etwas handelt, was von Paulus her bestimmt wird; "paulinische Theologie" ist eine sekundär durch die Synthese seiner Briefe zustandegekommene Systematisierung der Aussagen, die der Apostel selbst in dieser Form nie durchgeführt hat. Sie ist erst möglich durch eine nachträglich erstellte vergleichende Kombination der Briefe, die zu unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedliche Gemeinden, unter unterschiedlichen Bedingungen geschrieben wurden. Als Bestandteil dieser "paulinischen Theologie" werden aber auch solche Texte in Anspruch genommen, die Paulus selbst aus der Tradition aufgenommen hat und als Bestandteil des Evangeliums weitergibt. Insofern wird bei der Festlegung der "paulinischen Theologie" Authentizität in einem absoluten Sinn nicht gefordert. Eine weitere Frage ist sodann die, in welchem Sinn "paulinische Theologie" - oder sagen wir es besser mit einem dem Sprachgebrauch des Apostels entsprechenden Begriff: das Evangelium des Paulus von den frühchristlichen Gemeinden verstanden worden ist, die für die Weitergabe seiner Briefe, ihre Auslegung und schließlich für die Anerkennung als für den Glauben richtungsweisendes Kerygma verantwortlich waren. Von den Autoren der paulinischen Pseudepjgraphen konnten ihre Aussagen zur Christologie (vgl. Kol), zur Ekklesiologie (vgl. Eph) oder auch zur Art und Weise der Bewahrung des rechten Glaubens durch Stärkung der Gemeindeleitung (vgl. Past) als legitime Fortführung des von Paulus her überlieferten Evangeliums verstanden werden. Es ist folglich damit zu rechnen, daß auch die Differenz dieser "Briefe", die im Kontext der weit umfassenderen nachpaulinischen Verkündigung zu sehen sind, zu den authentischen Paulusbriefen als dem Evangelium entsprechende Ergänzung und Weiterführung verstanden worden ist. Das ändert allerdings nichts am "objektiven" Charakter der Past als "Fälschung" und ordnet sie mit vielen anderen in die Reihe der Interpretationen der Paulus-Überlieferung ein; man kann deshalb fordern, daß sie für die Formulierung einer "paulinischen Theologie" keine Verwendung finden dürfen s. Bleiben wir bei der Frage, wie der Begriff "Paulinizität" zu definieren ist. Es ist damit zu rechnen, daß die christlichen Gemeinden, die
, Vgl.
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s. E. PORTER, Authorship 12lf.
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für die Bildung des biblischen Kanons neutestamentlicher Schriften verantwortlich waren, den Begriff "paulinisches Evangelium" in einem weiteren Sinn gefaßt haben. Dieses Evangelium umfaßt (a) die urchristliche Tradition, die Paulus übernommen und als Heilsbotschaft weiterüberliefert hat (vgl. v. a. 1 Kor 11,23-26; 15,1-11); dazu gehört (b) natürlich das Spezifikum des von Paulus verkündeten "Evangeliums", welches mit den zwei Schwerpunkten der Rechtfertigung des Sünders durch Glauben (vgl. Gal 2,16; Röm 3,20.21-26; 5,1-11) und der Heilsbedeutsamkeit des Sterbens Jesu am Kreuz (vgl. GaI3,1-5; 1 Kor 1,18-25) charakterisiert werden kann; dazu können aber (c) die unter dem Namen des Paulus verfaßten Schrift gerechnet werden, die in Weiterführung des Auftrages zur Verkündigung neue Konzeptionen entwickelten. Die etwa von S. E. Porter aufgestellte Alternative, entweder seien die Past (wenn auch widerwillig) als von Paulus verfaßt anzuerkennen, oder sie seien aus dem Kanon auszuschließen 6 , geht von einem Verständnis des Kanons aus, das wohl nicht dem Kanonverständnis der frühen christlichen Gemeinden entspricht. 3. Die Pastoralbriefe und die Wirkungsgeschichte
Die Probleme im Umgang mit den Past und die Schwierigkeit einer sachbezogenen Bewertung mancher ihrer Aussagen liegen nicht zuletzt darin, daß bestimmte Kennzeichen christlichen Gemeinde- und Kirchenverständnisses, die Gläubigen heute als Belastungen erscheinen, in den Past begegnen, ja dort unter dem Autoritätsanspruch des Paulus als Kennzeichen des rechten Glaubens von den Gläubigen eingefordert werden. Es ist dies vor allem der schon genannte Bereich des Gemeinde- und Kirchenverständnisses mit der einseitigen Betonung der hierarchischen Struktur, verbunden mit einer Überakzentuierung autoritativer Entscheidungen und der Forderung des Gehorsams auf seiten der Gemeindemitglieder, sowie die ebenfalls autoritativ definierte und in der Argumentation problematische Festlegung der Rolle der Frauen in der Kirche 7 • Könnte man in diesen Punkten in der kirchlichen Praxis der Gegenwart im Vergleich zu den Forderungen der Past andere Akzentsetzungen erkennen, wäre der Umgang mit diesen Schriften viel weniger problematisch. Die Anerkennung als Zeugnisse einer bestimmten Entwicklungsstufe fiele nicht schwer. Dann wären wir wohl viel eher bereit anzuerkennen, daß sich die Zeiten geändert haben, daß wir aber den Autor nicht mit
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S. E. PORTER, Atithorship 123. VgL dazu F. YOUNG, Theology 145-147.
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unseren heutigen Maßstäben messen dürfen. Man wäre vielleicht sogar bereit zuzugestehen, daß in seiner Zeit, unter den besonderen Bedingungen seiner Gemeinden mit den zweifellos vorhandenen Problemen im Streit um den rechten Glauben, solche Entscheidungen als notwendig oder als hilfreich oder wenigstens als situationsbedingte Notmaßnahmen zu akzeptieren sind. Nun gibt es natürlich auch Stimmen, die rundweg bestreiten, daß der vom Verfasser beschrittene Weg auch nur ansatzweise sowohl theologisch als auch ekklesiologisch vertretbar gewesen sei. Für die Begründung eines solchen Urteils wäre aber erforderlich, daß unter Berücksichtigung der die Gemeinden bedrängenden Probleme der Zeit der Past konkrete Alternativvorschläge genannt würden. Das Problem liegt darin, daß die Forderungen, die "Paulus" der Past seinen Gemeinden um 100 n. ehr. vorgelegt hat, heute weitgehend die gemeindliche Wirklichkeit bestimmen. Die Kritik richtet sich folglich nicht in erster Linie gegen den Autor, insofern er seinen Gemeinden damals derartiges zugemutet hat, sondern darauf, daß heute genau das von ihm Eingeforderte in die Tat umgesetzt ist. Damit aber stehen wir vor der unbefriedigenden Situation, daß die Past verantwortlich gemacht werden für die innerkirchlichen Probleme unserer Zeit. Diese "Schuldzuweisung" ist nicht nur unredlich, sondern versperrt letztlich auch den Weg einerseits für ein Verständnis des Anliegens des Verfassers, andererseits auch für einen ekklesiologisch verantwortlichen Umgang mit diesen Texten. Sie präsentieren nicht ein "Modell", das über die Zeiten hinweg bleibend Bestand haben sollte; sie stellen uns vor die Herausforderung eines Lernprozesses S. der letztlich zeigen soll, daß christliche Gemeinden die Fähigkeit und die Bereitschaft aufbringen, ihr Selbstverständnis und ihren Anspruch sowohl in der Treue zu ihrem Glauben als auch in der Verantwortung gegenüber der Welt zu formen und zu formulieren 9. Das setzt aber die Bereitschaft voraus, von liebgewordenen Vorstellungen und eingefahrenen Strukturen Abschied zu nehmen, angesichts veränderter ge-
, Vgl. F. YOUNG, Theology 160f. Young beschreibt diese "Herausforderung so: "The challenge is to find the appropiate way of rec\aiming the church's self-consciousness of itself as a learning community ... " 9 Zu dem damit angesprochenen Gedanken einer "christlichen Identität" schreibt M. WOLTER, Pastoralbriefe 270, zum Schluß seiner Untersuchung zu den Pastoralbriefen als "Paulustradition": "Die drei Briefe wollen Antwort auf die Frage geben, wie diese Identität auch unter dem Vorzeichen eines tiefgreifenden historischen Wandels bewahrt werden kann. Es geht ihnen um die Lösung des Problems, vor das jede christliche Gemeinschaft gestellt ist, nämlich das der bleibenden Orientierung an dem für normativ erachteten Anfang angesichts einer veränderten historischen Vorfindlichkeit der Gemeinde und der Bedrohung durch einen Identitätsverlust, die durch von außen kommende fremde Identitätsangebote noch verschärft wird."
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schichtlicher Bedingungen sich zu bemühen, aus dem Glauben heraus den Herausforderungen zu begegnen. In dieser Hinsicht kann für uns der oft gescholtene Verfasser der Past sogar ein Vorbild sein. Daß uns seit der Zeit der Past in bestimmten Bereichen nichts Neues mehr eingefallen ist, dafür ist er doch fürwahr nicht verantwortlich zu machen!
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