SONYA DORMAN ist Anfang 40, scheint aber niemals erwachsen zu werden. Sie lebt mit ihrem Ehemann und ihrer Tochter in S...
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SONYA DORMAN ist Anfang 40, scheint aber niemals erwachsen zu werden. Sie lebt mit ihrem Ehemann und ihrer Tochter in Stony Point im Staate New York, wo sie Akita-Hunde züchten und Brunnen graben. Ihre bittere, beängstigende und erregende Geschichte Geflicktes Leben beruht auf einer wahren Begebenheit im Leben der Autorin. THOMAS M. DISCH ist ein temperamentvoller junger Mann, der lange Zeit seines Lebens in der Madison Avenue verbracht hat, beim Ballett, auf kleinen Bühnen und bei der großen Oper. Seit er 1966 seine erste Novelle veröffentlichte, hat er sich einen festen Platz in der neuen Science Fiction-Literatur erobert. »Disch schreibt über die heutige Zeit, seine Helden sind kleine Menschen, oftmals Intellektuelle, die in ein mehr oder minder anonymes Räderwerk geraten.« (Rottensteiner)
KEITH ROBERTS arbeitete in der Werbung, bevor er sich dem Schreiben von Science Fiction zuwandte. Die vorliegende Story, Die Tiefen, ist in vieler Hinsicht bemerkenswert, in der Wahl des Themas, in der glaubwürdigen Schilderung der ›Heldinnen‹ – ein seltenes Talent bei männlichen Autoren – und durch die Musik des Ozeans, deren Töne, murmelnd und stöhnend, während der ganzen Geschichte immer wieder anklingen. KATE WILHELM, manch einer traut es ihr nicht zu, spricht in ihren Geschichten auch über äußerst unbequeme Dinge, über Machtpolitik, amerikanischen Militarismus und weibliche Sexualität. Staras Flonderanen, eine Story aus dem ersten Band von ›Damon Knight’s Collections‹, war eine ruhige und charmante kleine Sache. Wer sich daran erinnert, sei vor der Story in diesem Bande gewarnt: das hier ist ein harter Brocken. RICHARD MCKENNA: nach Helen’s Märchenland (Collection 1) hier eine weitere Geschichte des Autors, der bei seinem Tode 1964 eine Reihe unveröffentlichter Stories hinterließ. Viele von uns haben sich schon nach diesem Irgendwo gesehnt – jener anderen Welt, besser, einfacher, und persönlicher als diese hier. Viele Autoren haben sich an diesem Thema versucht, seit H. G. Wells kurz vor der Jahrhundertwende The Door in the Wall schrieb. Sollte es in der Tat eine andere Welt hinter dieser allzu soliden Wirklichkeit geben – nenne man es nun Avalon, Cockaigne oder die Seligen Gefilde –, warum sollten dann nicht acht verlassene Männer, in einem offenen Boot verdurstend, das Tor zu ihr finden, denn: ›Gott ist 18 Grad Süd, 82 Grad Ost recht dünn gesät …‹
Damon Knight’s Collection 2 Neue Science Fiction Stories
Fischer Taschenbuch Verlag
Deutsche Erstausgabe
Fischer Taschenbuch Verlag 1.–22. Tausend: Februar 1972 23.–27. Tausend: März 1973 Scan by Brrazo 11/2008 Umschlagillustration: Eddie Jones Umschlagtypographie: Jan Buchholz/Reni Hinsch Die Stories wurden dem 1. und 2. Band der Science Fiction-Anthologie ›orbit‹, herausgegeben von Damon Knight, entnommen Aus dem Englischen übertragen von Katja Behrens und Johannes Piron Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main Copyright © 1966, 1967 by Damon Knight © 1972 Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main Gesamtherstellung: Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg Printed in Germany ISBN 3 436 01490 7
Inhalt
Sonya Dorman
Geflicktes Leben Splice of life
Thomas M. Disch
5 Eier 5 eggs
Keith Roberts
Die Tiefen The deeps
Kate Wilhelm
Baby, du warst fabelhaft Baby you were great
Richard McKenna
Die seligen Gefilde Fiddler's green
Sonya Dorman
Geflicktes Leben »Es tut nicht weh«, sagte der Arzt und beugte sich über sie. Sie lag in einem weißen Krankenhausbett, von dem aus sie nur die große schwarze Wölbung einer Decke sehen konnte, in deren Mitte eine grelle Lampe brannte. Ein schmaler Streifen irgendeines Pflasters klebte in ihrem Nacken; war sie auch da verletzt worden? Der weiße Ärmel des Arztes streifte ihr Gesicht zum rechten Auge hin, und dann stieß er die Nadel der Spritze durch das untere Lid und den Augapfel, und sie gab einen Schrei von sich, der von den fernen Wänden abprallte und wie ein Pfeil in ihr rechtes Auge zurückkehrte und sich bis in ihren Hinterkopf fortsetzte. »Pscht, pscht«, sagte die assistierende Schwester, die sie festhielt. »Nach oben sehen, nach oben sehen«, befahl der Arzt. »Sie müssen nach oben sehen.« Ich hebe meine Augen auf zu den Hügeln, dachte sie verbissen und nahm sich vor, nicht wieder zu schreien, während sie die Augäpfel nach oben rollte. »Warum haben Sie mich nicht darauf vorbereitet, Sie Sadist?« »Pscht!« sagte die Schwester wütend. Behutsam sondierte der Arzt das Auge mit verschiedenen Instrumenten, aber sie spürte nichts davon, weil sie sich ganz und gar auf den eben erst vergangenen Schmerz konzentrierte und zutiefst empört darüber war, daß man sie wie ein Stück Fleisch auf dem Hackklotz behandelte. »Was bin ich für Sie, ein Stück Fleisch?« fragte sie. 11
»Seien Sie still!« Eine andere, freundlichere Schwester beugte sich vor und erschien im Blickfeld ihres linken Auges, das sich langsam mit Tränen füllte aus Mitleid mit dem rechten, von dem sie, ohne daß man es ihr gesagt hatte, wußte, daß es hoffnungslos verloren war. »Werde ich es nachts in ein Glas Wasser legen müssen?« fragte sie. Der Arzt ließ so etwas wie ein Lachen hören. »Sie haben das Auge nicht verloren«, sagte er. »Was habe ich dann verloren?« fragte sie. Sie spürte nichts als den leichten Druck seines Handgelenks auf ihrem Backenknochen – sie mußten die Nerven mit dieser Spritze gut betäubt haben. Es ist ein Wunder, daß ich keinen Schock bekommen habe, dachte sie und überließ sich wieder ihrem Kummer, um was auch immer sie verloren hatte. Die Ärzte sagten einem manchmal nicht, was es war. »Sie werden auf diesem Auge vielleicht nichts mehr sehen können«, sagte er grob. Bei einer Patientin wie dieser war er nicht gewillt, irgendwelche Rücksichten zu nehmen. Bleib höflich, ermahnte sie sich selbst, sonst blüht dir womöglich noch etwas ganz anderes als ein Stich in den Augapfel, auf den du nicht gefaßt bist. Daß sie geschrien hatte, war schlimmer als daß man ihr weh getan hatte. Oder nicht? Der Druck war von ihrem Gesicht gewichen. Beide Augenlider wurden behutsam mit Wattebäuschchen bedeckt und verpflastert. Das Pflaster spannte auf ihrer Haut. Sie hörte ein leises Summen, gedämpft wie an Sommernachmittagen. »Sie müssen still liegen«, sagte der Arzt. »Die Schwester gibt Ihnen eine Tablette, wenn Sie den Schmerz nicht ertragen können, aber versuchen Sie auszuhalten.« Er hatte kaum ausgesprochen und war 12
auf seinen Kreppsohlen hinausgegangen, als ein Bohrer sich, dem Weg der Spritze folgend, in ihr rechtes Auge hineinfraß. Sie biß die Zähne zusammen und fragte sich, ob es möglich sei, das auszuhalten. Es waren noch keine zwanzig Sekunden seit ihrem Entschluß vergangen, höflich und eine Musterpatientin zu sein, als sie losbrüllte: »Ich will die Tablette haben!« Die Schwester steckte ihr eine Tablette in den Mund und ließ sie durch ein gebogenes Glasröhrchen trinken. »Bewegen Sie sich nicht«, mahnte die Schwester. »Sie müssen unbedingt still liegen.« Ihr Bett begann lautlos dahinzurollen, und dazu ertönte jenes Summen und noch ein anderes Geräusch, das sich anhörte, als ob viele Menschen sich unruhig bewegten, mit den Füßen scharrten und sich räusperten. Sie verlor das Bewußtsein. Ein stumpfes Weiß drang durch alles hindurch und tauchte ihr Gesicht in kraftlose Wärme. Sie roch Hühnersuppe. Ihre Nüstern weiteten sich, und sie sperrte den Mund auf. »Suppe«, sagte sie. »Ach, Sie sind wach.« Die Schwester flößte ihr einen Löffel Suppe ein. »Sie sehen aus wie ein hungriger Vogel«, sagte sie und trichterte ihr noch ein paar Löffel ein. Sie sperrte den Mund weiter auf. »Noch nicht satt?« fragte die Schwester. »Ich komme um vor Hunger. Ich habe heute morgen nicht gefrühstückt.« »Ein Glück. Sie sollten mal sehen, was bei Unfällen mit vollem Magen passiert.« »Mehr!« bettelte sie. »Jetzt nicht, schlafen Sie lieber! Und versuchen Sie, den Kopf ruhig zuhalten.« Von Zeit zu Zeit gaben sie ihr Hühnersuppe und ermahnten sie, sich nicht zu bewegen. Dann war es 13
anscheinend Morgen geworden, und sie flößten ihr Kaffee ein, ermahnten sie still zu liegen und gaben ihr etwas für die rotglühende Nadel in ihrem Auge. Nach einer Weile hatte sie es satt zu schlafen und lag mit den Verbänden auf den Augen da und betrachtete die Bilder. Sie zogen von rechts nach links vorüber: Fahnen, Geranien, Kuchen, Farben ohne Namen und die Zahl zwischen acht und neun. Als jemand sie ansprach, verschwanden die Bilder. »Ich habe einen amputierten Arm«, sagte die Stimme eines kleinen Jungen. »Hast du gebrochene Augen?« »Bloß eins«, sagte sie beruhigend. »Da wäre mir ein gebrochener Arm aber lieber«, sagte er. »Mir auch.« »Ich trage einen grünen Bademantel. Kannst du ihn sehen?« »Nein, du Dummerchen. Meine beiden Augen sind verbunden. Hat er einen grünen Gürtel?« »Ja schon, aber den habe ich bei Ronny verloren, als ich da übernachtete. Aber ich glaube nicht, daß ich lange bei Ronny war.« »Wie alt ist Ronny?« Die Schwester kam ins Zimmer und sagte: »Pscht! Es tut mir leid, Miss D.! Ich wußte nicht, daß er Sie stört.« »Er stört mich nicht«, protestierte sie. »Komm«, sagte die Schwester zu dem kleinen Jungen. »Er hat mich wirklich nicht gestört«, sagte sie. »Liegen Sie still«, befahl die Schwester. Die Bilder kamen wieder, manche ganz bunt, andere öde Granitlandschaften. Sie fuhr zum Mond und sprang sechs Meter in die Luft. Sie fiel in einen See, 14
und das kalte Wasser rann ihre Wange hinab zum Kinn und in das Kissen. Unter der Lauberde schnupperte ein Schwein an ihr und fing an, in ihren Augen zu wühlen, bis die Schwester kam und ihr noch eine Tablette gab. Nachdem man sie mit Haferflocken gefüttert hatte, begann sie an ihre Mutter zu denken. Sie stellte sich vor, wie die großen braunen Augen ihrer Mutter Tränen vergossen, Ströme von Tränen um ihre arme verlorene Tochter. »Herrgottnochmal, hör doch endlich auf zu schnüffeln«, glaubte sie ihren Vater zu hören, langbeinig, in rotgestreiften Shorts, während er sich an einem sonnigen Morgen rasierte, und das Badezimmer war voller Dampf und roch nach Zigarettenrauch. »Wie geht es den Kindern?« erkundigte sie sich. »Welchen Kindern?« fragte die Schwester. »Denen aus dem anderen Wagen.« »Es geht ihnen gut«, sagte die Schwester. Eines der Kinder hob einen Baseball auf und warf ihn nach ihr. Sie wußte, daß er ihr Auge treffen würde und duckte sich, aber das Kissen hielt sie fest, und so bekam sie ihn voll ins Auge. Sie stieß einen schrillen Schrei aus. »Schsch, Mädchen«, sagte die Schwester und gab ihr einen Klaps auf den Nacken. »Ich bin zehn«, sagte der kleine Junge, als sie wieder wach war. »Ich heiße Bob, und ich habe nur einen Arm.« »Das weiß ich. Du hast es mir erzählt. Ist es schön, zehn Jahre alt zu sein?« »Nein«, sagte Bob. »Wie alt bist du?« »Zwanzig«, antwortete sie. »Ich war auch nicht gerne zehn.« »Ist zwanzig besser?« »Manchmal.« 15
»Oh, pscht«, sagte die Schwester, als sie wieder hereinkam. »Haben Sie das in der Schwesternschule gelernt?« fragte sie. »Was?« »Pscht. Das sagen alle Schwestern immerzu.« »Komm, Bob, du weißt doch, daß du nicht hier drin sein sollst.« Die Schwester kam mit dem Arzt zurück, und der Arzt sagte: »Sie dürfen sich jetzt aufsetzen.« »Nein, danke. Es ist ganz gemütlich so.« »Ich meine, Sie können sich jetzt im Bett aufsetzen«, sagte der Arzt. »Ich will nicht.« Sie kicherte. »Schwester«, fragte der Arzt mit gedämpfter Stimme, »wieviel Nembutal hat sie bekommen? Daß sie uns nicht zu schwierig wird.« Rascheln von Tabellen. »Oh«, sagte der Arzt. »Nun, Miss D. wir versuchen es später noch mal, ja?« »Da ist ein Hund unter dem Bett. Niemand hat ihn gefüttert.« »Ja«, sagte der Arzt und seufzte. »Ein Terrier. Er muß gefüttert werden.« Die Schwester seufzte. »Pscht, wir füttern ihn schon, Mädchen, keine Sorge.« Da schien wirklich ein Hund unter dem Bett zu sein, ein tröstlicher Gefährte, der zwischen den herabhängenden Falten der aseptischen Bettdecke hockte. Sie warf ihm ihr Kissen hinunter, damit er sich auf etwas legen konnte. Nach einer Weile kroch der Hund hervor, zerrte an dem Draht, der von ihrem Nacken herabhing und ging fort. Sie wollte ihn zurück haben, zur Gesellschaft, sie wollte mehr Nembutal, zum Trost. Und plötzlich wollte sie geliebt werden. Als sie das 16
Glas ansetzte, sprudelte Champagner, und ein paar Bläschen zerplatzten süß auf ihrer Wange, Liebe, Liebe, Tanz und Musik. Wie würde das Auge aussehen? »Wird es schrecklich aussehen?« fragte sie den Arzt, der mit kaltem Metall an den Verbänden herumschnippelte. »Bestimmt nicht. Über dem Narbengewebe wird sich ein Häutchen gebildet haben. Das entfernen wir später.« »Und stechen mir dabei wieder mit so einer reizenden Nadel ins Auge?« »Halten Sie die Augen geschlossen«, befahl er, und sie gehorchte. »Sie wollen es doch nicht ohne Betäubung machen lassen«, setzte er hinzu. Er entfernte die Wattebäusche, und sie spürte die Kälte auf den Lidern. »Sie dürfen jetzt versuchen, sie aufzumachen«, sagte er. Versuchen? Sie öffnete die Augen, und das Tageslicht machte sie augenblicklich blind. Tränen schossen ihr in die Augen und rannen über ihr Gesicht. »Es wird etwas dauern«, sagte der Arzt. Die Schwester wischte ihr das Gesicht ab. »Immer nur ein bißchen auf einmal«, sagte der Arzt. »Es ist Sonntag. Ich will die Comicstrips lesen.« »Na, dann mal los«, sagte der Arzt. »Sie können gleich anfangen.« Sie fühlte, wie ihr etwas – die Zeitung? – in die zusammengeballte rechte Hand gesteckt wurde. Sie griff danach. Sie öffnete das gute Auge und blinzelte. Die Piraten von Doran durchliefen alle Farben des Regenbogens, und in den Wortblasen krabbelten lauter schwarze Ameisen. Sie schloß das Auge und versuchte es nach ein paar Minuten wieder. Betsy schwamm in grüner Suppe, an den Seitenrändern breiteten sich Lachen aus. 17
»Ach was«, sagte sie und legte sich zurück. Von Zeit zu Zeit machte sie die Augen vorsichtig auf, jedesmal ein bißchen weiter und ein bißchen länger. Sie übte immer noch, als es Spinat und Zitronensaft gab, und als die Schwester dann später wieder hereinkam, fragte sie: »Kann ich einen Spiegel haben?« »In den Zimmern gibt es keine, Mädchen. Wenn Sie gehen können, finden Sie einen in der Toilette.« »Aber wie sehe ich aus?« fragte sie. Die Schwester musterte sie ernsthaft. »Nicht schlecht«, versicherte sie. »Ihr Auge ist getrübt von Narbengewebe, aber das wird später entfernt.« Sie stöhnte. »Es sieht scheußlich aus, ich wußte es. Trotzdem, vielen Dank!« Die Schwester hörte nicht auf, sie streng anzustarren, bis sie schließlich sagte: »Es ist gut, Schwester.« »Machen Sie mir keinen Kummer«, sagte die Schwester. »Legen Sie sich hin und ruhen Sie sich ein bißchen aus.« Die Schwester ging zu dem Arzt hinaus, der auf der anderen Seite des Korridors im Eingang eines riesigen Klassenzimmers stand und mit zwei Besuchern redete. »Sollen wir Miss D.’s. Zyklus unterbrechen?« fragte sie. »Ja, aber nur für zwei Tage. Da wartet schon wieder ein neues Semester von Augenärzten.« Dann wandte er sich höflich an die Besucher. »Wir haben sie jetzt alle Stadien noch einmal durchlaufen lassen«, erklärte er ihnen. »Nach zwei Tagen fangen wir wieder von vorne an.« Einer der Besucher erkundigte sich: »Wie können Sie denn nun wieder von vorne anfangen?« Der Arzt sah erstaunt aus. »Oh, wir erzeugen natürlich die ursprüngliche Verletzung.« 18
»Merken sie nichts davon?« fragte der andere Besucher. »Ich meine, wird ihnen die Wiederholung nicht irgendwann bewußt?« »Ganz bestimmt nicht«, sagte der Arzt schockiert. »Wie ersetzen Sie sie?« Der Arzt steckte die Hände in die Taschen und führte die Besucher den Korridor entlang zu einem anderen Zimmer. »Diese Station ist immer voll«, erklärt er. »Unfallpatienten, die nicht identifiziert werden konnten oder keine Angehörigen haben oder, und das sind die meisten, kein Geld haben und die Krankenhauskosten nicht bezahlen können.« Die Schwester kam mit einem Tablett, auf dem eine kleine Plastiktasse mit Tabletten stand, an ihnen vorbei und öffnete die Tür zum Zimmer der Patientin. »Noch mehr Tabletten?« fragte diese. »Nun, Miss D. wir haben solche Fortschritte gemacht. Wollen Sie nicht nach Hause? Alles hinter sich haben?« Sie fing an zu murmeln: »Alles hinter mir, alles vorbei, alles erledigt«, während die Schwester ihr die Tablette in den Mund steckte und ihr ein Glas Wasser reichte. »Ja, ja, nach Hause zu Mama, alles vorbei, nach Hause, mm.« Plötzlich wurde sie von Schläfrigkeit übermannt. »Nehmen Sie noch einen Schluck«, sagte die Schwester und drückte ihr das Glas an die Unterlippe. Sie schluckte zweimal, erst die Tablette, dann das Wasser. »Mmm. Bring mich nach Hause, trag mich zurück, mein Auge ist ganz ausgefüllt, kein Pfennig drin, gleich schlaf ich ein.« »Es tut nicht weh«, sagte der Arzt und beugte sich über sie. Sie sah seinen weißen Ärmel über ihr Gesicht 19
zum rechten Auge hin streifen, und dann stieß er die Spritze durch das untere Lid und den Augapfel. Sie gab einen Schrei von sich. Die jungen Studenten erschauderten und beugten sich vor, um besser sehen zu können. »Nach oben sehen«, befahl der Arzt. »Sie müssen nach oben sehen.« Ich hebe meine Augen auf zu den Hügeln, sagte sie verbissen und versprach, nicht wieder zu schreien. Sie blickte hoch, vorbei an dem Plastikzylinder der Spritze, zu der mit knirschendem Schnee bedeckten Hügelkette hinauf. Da waren sie alle, die Menschen, sie mußten sich zu einem Winterpicknick versammelt haben. Ich gehe, nahm sie sich vor. »Ich stehe auf und gehe«, schrie sie. Der Arzt murmelte: »So, so. Die Bahn nutzt sich ab, das habe ich mir doch gedacht.« Und während er weiter in der Tiefe ihres Auges sondierte, sagte er etwas lauter zu ihr: »Ja, Sie können gehen, Sie haben sich Ihren Urlaub redlich verdient.« »Aber ich will mein Auge mitnehmen«, beharrte sie. »Ich muß, ich brauche es.« »Still jetzt, pscht«, sagte die Schwester beruhigend. »Sie können Ihr Auge mitnehmen«, versprach der Arzt. »Halten Sie jetzt still. Wir sind gleich fertig.« Aber seine Stimme klang irgendwie verzweifelt, und sie glaubte ihm nicht. Offenbar hatte sie das Auge verloren, und was hatte sie noch verloren? Den Kopf zu bewegen, wagte sie nicht, aber unter dem kalten sterilen Laken faltete sie ihre runzligen Hände.
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Thomas M. Disch
5 Eier Weh mir, dachte er (in solchen Worten dachte er tatsächlich), weh mir, Nyctimene ist von mir geflogen. Seit ihrem ersten Abend auf dem Hügel unter der großen Eiche hatte er gewußt, daß es so kommen könnte, aber er hatte sich mit eiserner Willenskraft gegen dieses Wissen gewehrt – und jetzt war er nur noch ein Häufchen Unglück. Nyctimene war fort und würde nie zurückkehren. Sie war schöner gewesen, als er es je für möglich gehalten hatte: nicht von der exotischen Schönheit einer Möwe oder eines Flamingos, die ihrer Natur nach vergehen muß, keine vorübergehende Versuchung wie das Rascheln von Zweigen und das kurze Aufblitzen einer weißen Brust oder Flügelspitze durch das sommerliche Laub. Ihre Schönheit war ihm etwas völlig Neues gewesen. Wie ihr Gesicht über dem seinen schwebte, der grausame liebende Mund zu einem Lächeln geöffnet, das seiner eigenen Sterblichkeit spottete, ihre Augen. Hinter seiner Verzückung – hinter ihrer Verzückung – stand ihr gemeinsames Wissen, daß es nicht lange dauern würde. Vor Nyctimene hatte er es nicht für möglich gehalten, daß er sich so mitreißen lassen könnte. Liebe, hatte sie ihn gelehrt, war Jupiter – ein Riesenschwan, ein Goldregen, eine Tobjagd. Reue? Nein, das war eine Annehmlichkeit gewesen – für später, wenn die Tobjagd vorüber sein würde. Jetzt war die Zeit für Reue gekommen. Jetzt (oder in einer halben Stunde, um sieben Uhr) würde er vielleicht äußerst reumütig sein. Um sieben 21
würden diejenigen Freunde kommen, die ihm noch geblieben waren, um ihm zu seiner Verlobung mit Nyctimene zu gratulieren. Wie sollte er ihnen sagen, daß sie fort war? Sollte er einfach verlegen tun, so als ob er sie zu einem Gartenfest eingeladen hätte, das wegen Regen ausfallen mußte? Konnte er denn überhaupt seinen Schmerz verbergen? Wahrscheinlich würde er sich betrinken. In seiner Lage war das noch der am wenigsten unerfreuliche Ausweg. Am Morgen war er in die Stadt gefahren, um für die Party einzukaufen, und wie immer in der letzten Zeit hatte man ihn geschnitten und hinter seinem Rücken getuschelt (ein Großteil der Städter meinte, Respekt für die Institution der Ehe fordern zu müssen und sah sich deshalb genötigt, sein allzu offenkundiges Verhältnis mit Nyctimene zu mißbilligen), und als er zurückgekommen war, hatte er ihr Briefchen gefunden: Liebster, wir wußten es, nicht wahr? Aber als ich davon sprechen wollte, als wir auf der Wiese lagen und zu den Sternen, den wundervollen Sternen, aufblickten, oder einmal, als wir uns küßten und Du von der Härte in der Mitte meiner Oberlippe sprachst und mit dem Finger den kleinen »Knochen« da berührtest, da wollte ich es Dir sagen. Aber Du wußtest es schon und ließest mich nicht zu Wort kommen. Ich werde nie vergessen, daß Deine Augen blau waren, wie seltsam Du warst, Deine Worte (von denen ich viele nie verstanden habe), Deine Zärtlichkeiten. Ich habe Dich geliebt, aber jetzt muß ich fort. Es hat nur zwei Monate gedauert! So kurz. Ich habe nie an dieses Wort von Dir geglaubt – unvermeidlich. Jetzt verstehe ich endlich, was Du damit meintest. Du meintest, es sei für Dich unvermeidlich, 22
daß ich gehen würde. Das ist ein komischer Gedanke, und ich muß darüber lächeln. Vielleicht glaubst Du, daß ich weine. Wußtest Du, daß es mir rein physisch unmöglich ist, zu weinen? Die Eier, die ich in dem Korb zurücklasse, werden in dreißig von Deinen Tagen ausschlüpfen. Halte sie bei Zimmertemperatur – 21 Grad. Ich habe so über dieses komische Stück, welches Du mir vorlasest, gelacht – nicht Titus Andronicus (obwohl das auch komisch war), sondern das andere – daß Du erstaunt sein wirst, daß ich eine Zeile daraus behalten habe: Gute Nacht, gute Nacht! Süß ist des Abschieds Leid. So sag ich Gute Nacht, bis daß der Morgen mich befreit. In Liebe Nyctimene Ursa, die Haushälterin, die er mit dem Haus und dem umhegenden Land von seinen Eltern geerbt hatte, wußte schon, ohne den Brief gelesen zu haben, daß Nyctimene ihn verlassen hatte. Ursa hatte sein Verhältnis mit Nyctimene nie gebilligt, aber viel weniger noch seine Verlobung. Und jetzt verlor sie kein Wort über ihr Verschwinden. Mitleidslos bereitete sie das kalte Büfett für die Gäste dieses Abends und gebärdete sich mit ihren Salaten, Häppchen und kalten Braten wie die aufsichtführende Harpyie des Festes. Er stand im Eßzimmer, wo zwischen dem Plunder aus der Kredenz seiner Mutter – goldumrandetes Porzellan, schweres Silber, Kristall – auf dem großen Mahagonitisch Appetithappen, Salate und Saucen aufgebaut waren und sah zu den Flügelfenstern hinaus auf 23
die kahlen, mondbeschienenen herbstlichen Hügel, die jenseits seines wasserbesprengten Rasens lagen. Die benachbarten Farmer hatten sich beschwert, als er seine Felder brachliegen ließ und eine Vogelfreistätte daraus machte. Es war, als ob sie geahnt hätten, daß das sie zusammenbringen würde. November. Der unbarmherzige Mechanismus der Sonne trieb den Wechsel der Jahreszeiten voran. Das Leben floh nach Süden oder schlief oder versenkte seine Samen und starb. Eine Generation folgte der anderen, er aber hatte immer außerhalb dieses Kreislaufs von Wiederkehr und Erneuerung gestanden. Und jetzt …? Ein zweites Mal konnte er es nicht ertragen, diesen Korb mit den fünf kleinen kostbaren Eiern zu sehen. Ob die ausgeschlüpften Jungen ihr gleichen würden? Oder würden sie wie Puppen eines Schmetterlings sein? Könnte er die Raupe lieben, wenn sie mit der Zeit zu einer zweiten Nyctimene werden würde? Nyctimene hatte gewußt oder darauf vertraut, daß er das könnte. Sie war aus der Abgeschiedenheit ihrer Beobachtungen heraus zu ihm gekommen (schon bekannt mit der Sprache, die er sprach, den Sitten seines Volkes und sogar den Büchern, die er gelesen hatte) und hatte sich ihm allein von allen Menschen der Welt anvertraut, so wie die Vögel sich der Dachrinne seines Hauses anvertrauten. Weil er auf diesen fremden Seitenwegen der Evolution zu Hause, nicht der übliche Typ eines trockenen Vogelbeobachters, weil er kein Ornithologe war. Wenn die Wissenschaft einem Korallenriff von in Höhlen der Spezialisierung verkrochenen Kleingeistern glich, dann erschien er als ein das Riff erforschender Taucher, der betäubt und verwirrt in einer einzigen Höhle geblieben war. In diesen Tiefen, in der 24
Grotte der Ornithologie, hatte er jeden Sinn für sich selbst, ja sogar für sein Menschsein, verloren. So daß in Wirklichkeit nicht sie zu ihm, sondern er zu ihr in die Grotte gekommen war. Der erste Gast war Hochwürden Compson, der sich trotz des strengen Urteils der Stadt bereit erklärt hatte, seiner Verbindung mit Nyctimene einen nachträglichen Segen zu erteilen, natürlich nicht etwa um seinetwillen, sondern weil er mit seinen Eltern befreundet gewesen war. »Und die glückliche kleine Dame?« fragte Compson, als er den Salon betrat. »Wo ist sie?« »Verschwunden«, erklärte er und nippte an seinem zweiten Scotch. »Vielleicht nach Süden, es ist ja November.« »Schade«, meinte der Geistliche, dem sonst kein rechter Trost einfallen wollte. Draußen war der Mond vom Himmel verschluckt worden, und Wolken ballten sich, die Sterne verdunkelnd, zusammen. Sie hatte ihm nie gesagt, ob einer dieser Sterne, deren Rätsel ihm nun für immer verschlossen bleiben würden, ihre Heimat gewesen war und welcher, oder warum und wie sie fortgegangen war. Und er hatte solche Fragen nie gestellt. An einem Abend wie diesem, an einem mondlosen Abend im September hatte er sie kennengelernt. Zwei Nächte war er auf der Suche nach der großen Ohreule, Bubo virginianus, unterwegs gewesen, aber er hatte nur die Überreste ihrer Beute, Fetzen eines Kaninchenfells, den halslosen Kopf eines Huhns, gefunden. Er stieg zu der riesigen Eiche oben auf dem Hügel hinauf, weil sie, als einzige unter den Bäumen, der Eule angemessene Ausmaße besaß. Dort hatte sie, Nyctimene, ihn erwartet. Sie gab sich in keiner Weise den An25
schein, als sei ihre Begegnung zufällig und begrüßte ihn wie einen alten Bekannten, ja fast ein wenig ungeduldig – so als ob er sich verspätet hätte. Bubo virginianus bekamen sie in jener Nacht nicht mehr zu Gesicht, und Nyctimene ging mit ihm nach Hause. Die nächsten, die kamen, waren Mrs. Shreve und ihr Gatte. Shreve war sein Verleger. Mrs. Shreve nahm die Nachricht von Nyctimenes Verschwinden höflich auf, so wie sie vielleicht auf die Nachricht vom Bankrott eines bei ihr zum Abendessen einladenen Freundes hin erklärt haben würde, solange der Freund noch einen anständigen Abendanzug und eine anständige Haltung besäße, bleibe es bei der Einladung. Mrs. Shreve hatte Fahnenabzüge seines letzten Buches mitgebracht, und sie sprachen über Geschäftliches und tranken. Nach und nach trafen die übrigen Gäste ein, und irgendwie begrüßte er sie alle und teilte ihnen seine Neuigkeit mit. Alle, außer Hochwürden Compson, der vor dem Essen ging, tranken zu viele Cocktails. Das kalte Büfett war eine fade Angelegenheit. Die Gäste aßen lustlos, aus reiner Höflichkeit. Der Gastgeber aß, weil er der Gastgeber war. Er stocherte in einem Cäsarensalat und knabberte auf den verbrannten, mit Knoblauch gewürzten Croutons herum … und erinnerte sich … Nyctimene, wie sie hemmungslos an ihrem Essen riß, lachend. Er hatte den Verdacht, daß sie ihre Steaks nur, um seine Gefühle nicht zu verletzen, ein paar Minuten unter dem Grill aufwärmen ließ. Oder vielleicht war es angewärmt mehr wie lebendes Fleisch. Was hatte sie vor einigen Nächten zu ihm gesagt? Es war auf Lateinisch gewesen: Modicum et non videbitis me; et Herum modicum, et vos videbitis me. Noch eine Weile, und du wirst mich nicht sehen, und wieder 26
eine Weile, und du wirst mich sehen. Sie sprach das Lateinische mit derselben Leichtigkeit und Anmut wie das Englische. Hatte sie schon früher, schon vor Jahrhunderten, Besuche gemacht? Bei Ovid vielleicht, den sie so gern zitierte und bei dem sie ihren Namen entlehnt hatte? Er fühlte sich benommen, berauscht, weniger vom Alkohol als von Erinnerung und Schmerz. Er stellte seinen Teller mit Salat ab, entschuldigte sich bei seinen Gästen und stieg die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Die Rolläden waren herabgelassen und die Vorhänge zugezogen und zusammengesteckt. Wie ihre Ovidsche Namensschwester, jene in eine Eule verwandelte Frau, haßte sie das Tageslicht. Die dumpfe Luft war noch immer von dem Moschusgeruch ihres Körpers erfüllt. Er stellte sich vor, wie sie im Dunkeln die Hand nach ihm ausstreckte, um ihn zu überraschen. Er setzte sich, türmte das Federbett um sich auf und ließ seiner Erinnerung freien Lauf. Er erinnerte sich … Zuerst ihrer Hände: ihr weicher weißer Flaum, den seine Lippen kaum spürten, der nervöse Griff ihrer Finger um seinen Arm, die schmalen, spitz zulaufenden Fingernägel, die seine Haut mehr als einmal geritzt hatten. Dann des unmerklich fremdartigen Mundes, der großen braunen Scheiben ihrer weißlosen Augen, des Haares, das ihr in Botticellischen Strähnen bis zu den Brüsten hinabhing. Er hatte nie daran gedacht, sie zu fragen, ob dies Mammalierbrüste seien. Denn in entscheidenden Punkten gehörte sie nicht zu den Säugetieren. Die Eier. Womit sollte er die Jungen füttern, wenn sie erst einmal ausgeschlüpft sein würden? Würmer in Milch und zum Entwöhnen Jungmäuse? Zum Glück für die Kinder betrachtete er den Menschen nicht unbedingt als Mittelpunkt der Welt. Nicht, daß er das 27
Andersartige um seiner selbst willen vorgezogen hätte. Vieles sprach für die Erde, wie selbst Nyctimene bereitwillig zugegeben hatte: »Eure Wissenschaft mit ihren kleinen Geschichten ist sehr gut, und ihr habt all das so schnell geschafft – in ein, zwei Jahrhunderten, im Handumdrehen. Mit all euren Maschinen und Zahlen für die Tage, für die Menschen, für eure ständigen Einkäufe, seid ihr alle Wissenschaftler geworden. Ich kann nicht bis hundert zählen.« Er hatte protestiert, die Wissenschaft bestehe nicht nur aus Maschinen und Zahlen. Aber sie wollte sich nicht überzeugen lassen. »In einer Zeitung lese ich die höchstkomplizierte Beschreibung der Atombombe. Man bringt ein Stück davon mit einem anderen Stück zusammen« (sie küßte ihn, um dieses Prinzip zu demonstrieren), »und Materie wird zu Energie. Es war sehr genau durchdacht und, wie ihr sagt, kausal.« Sie lachte. »Wunderbar. Eines Tages werde ich Wissenschaft studieren.« »Gibt es da … da, wo du herkommst, keine Wissenschaft?« »Ich habe einen Wissenschaftler. Das reicht völlig.« Wenn er sie fragte, wich sie aus, dann wieder erzählte sie ihm, von sich aus, die außergewöhnlichsten Dinge und tat später so, als sei alles nur Scherz gewesen. »In deinem Buch, in dem, das ich zu lesen versucht habe, behauptest du, daß Menschen und Tiere nicht mehr gekreuzt werden können, wenn sie sich weit auseinanderentwickelt haben.« »Das ist wahr.« »Was ist Wahrheit? Etwas, das immer dasselbe ist, überall und zu allen Zeiten?« »So etwas Ähnliches ist Wahrheit.« 28
»Dann ist sie nicht wahr. Was, wenn die Dinge sich zusammenentwickeln, aufeinander zu?« Damals hatte er gelacht und ihr gesagt, daß aus ihr nie eine Wissenschaftlerin werden würde. Die Dinge könnten sich nicht aufeinander zu entwickeln. Das sei unmöglich. Aber jetzt, da der Korb mit Eiern seine einzige greifbare Verbindung zu Nyctimene darstellte, hoffte er, daß sie die Wahrheit gesagt hatte. Der Monat, den es dauern würde, bis sie ausschlüpften, würde eine Tortur für ihn sein. Dreißig Tage – das war die Hälfte der Ewigkeit, die er mit ihr verbracht hatte. Mrs. Shreve fand ihn in Nyctimenes Zimmer und brachte ihn nach unten. Einige Gäste waren schon gegangen, die anderen hatten nur auf seine Rückkehr gewartet, um sich zu verabschieden. Mrs. Shreve war äußerst barsch und geschäftlich und bestand darauf, daß er die Fahnen eine Woche früher abliefern sollte, als es ihm überhaupt möglich war. Das war ihre Art von Freundlichkeit. Nyctimene war nie freundlich zu ihm gewesen. Oft war sie wie eine Göttin, wie ein Tier, bewußt grausam gewesen, hatte ihn in den heikelsten Augenblicken gefoppt oder ihn mit ihren krallenbewehrten Fingern gekniffen, wenn sie ihn unaufmerksam glaubte. Er war jedoch sehr selten unaufmerksam gewesen. Grausamkeit? Manchmal hatte er an den Würger gedacht, ein Weibchen, das das Männchen mit seinem wollüstigen Schnabel aufspießt, aber wenn Nyctimene auch eine Räuberin sein mochte, eine Mörderin war sie nicht. Wieder allein, begann er, das Wohnzimmer aufzuräumen und die schmutzigen Teller, die verschmierten Gläser, die Aschenbecher hinauszutragen. Wieder allein, dachte er … 29
Ohne Nyctimene. Sie hatte den größeren Teil seiner Einsamkeit ausgefüllt. Sie hatte ihn gelehrt, was es heißt, satt zu sein. Als junger Mann hatte er durchaus Frauenbekanntschaften gehabt, aber er hatte nie geliebt, und soviel er wußte, war er auch nie geliebt worden. Jetzt, da er wieder in seine Einsamkeit zurückgeworfen worden war, fragte er sich, ob er wieder zu seiner alten Zuflucht, zu seinen Studien, zurückkehren konnte. Vielleicht hatte die Grotte ihren Zauber verloren. Aber die Aussichten waren ja weder so trübe, noch der Bruch so endgültig. Die Jahre oder die Entfernung würden ihr Bild nicht verwischen, davon war er überzeugt. Und da waren ja noch … ihre Kinder. Liebevoll und fast gelöst griff er nach dem kleinen Korb, den sie zurückgelassen hatte. Der Korb war leer. Er handelte durchaus vernünftig. Er sah erst an allen wahrscheinlichen Stellen nach, ehe er die unwahrscheinlichen absuchte. Im Kühlschrank, in den Schränken, in den Lebensmitteltüten waren keine Eier. Er fand die Schalen im Abfall. Ursa war wie jeden Donnerstagabend zu ihrer Mutter gegangen. Aber er brauchte sie sowieso nicht zu fragen. Das Rezept lag deutlich sichtbar auf dem Küchentisch. Es war mit der Hand auf ein 3x5 Kärtchen geschrieben: CÄSARENSALAT Lattich 5 Knoblauchzehen 10 Sardellen 12 Teelöffel Parmesankäse Olivenöl
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Essig 5 Eier Salz, Pfeffer Croutons, in Butter braun geröstet
Hölzerne Salatschüssel mit Knoblauch ausreiben. Sardellen zu einer Paste zerdrücken, Käse dazugeben. Eier gut durchgeschlagen unterrühren. Öl dazugeben und weiterschlagen. Mit Salz, Pfeffer und Essig würzen. Lattich in der Soße wälzen. Mit Croutons servieren. Essen. Er hätte eigentlich ziemlich aufgebracht sein müssen. Statt dessen senkte sich Verzweiflung auf ihn herab wie Schnee die Blätter zudeckt, die im Frühling Humus sein werden. Hatte sie darum gewußt? fragte er sich. Über Ursa machte er sich keine Gedanken. Ursas Bosheit war direkter und weniger ausgeklügelt. Außerdem wußte sie gar nicht, was das für Eier waren. Er fragte sich, ob dies nicht die letzte und raffinierteste von Nyctimenes Grausamkeiten war. Er bezweifelte (weil er es nicht glauben wollte), daß sie seine Kinder, daß sie irgend etwas anderes als ganz gewöhnliche Eier gewesen waren. Aber er erinnerte sich an Nyctimenes wilde Heiterkeit, als er ihr jene scheußliche Szene aus Titus Andronicus vorlas, in der Titus der Königin ein aus ihren eigenen Söhnen zubereitetes Fleischgericht vorsetzte. Und er erkannte die Handschrift auf dem Kärtchen: es war ihre.
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Keith Roberts
Die Tiefen Es mußte so kommen. Generationen hindurch hatte sich die Kettenreaktion der Bevölkerungsexplosion ununterbrochen fortgesetzt. Während die Medizin rapide Fortschritte machte, während die Lebenserwartung fast unglaublich anstieg, vermehrte sich die Menschheit weiter und weiter. Um die neuen unermeßlichen Märkte zu versorgen, breiteten sich Häuser, Besitzungen und Fabriken nach allen Richtungen hin aus, überwucherten gutes und schlechtes Land, kletterten Berge hoch, erstickten Flüsse. Stadt reihte sich an Stadt, und die rosa Polypenarme der Häuser wuchsen und verdickten sich, während die Maschinen planierten und schürften und hämmerten. Grüngürtel und Parks verschwanden, Felder wurden über Nacht verschluckt. Hier und da wurden Stimmen laut, die Stimmen von Volkswirtschaftlern, von Naturwissenschaftlern und Philosophen und zuletzt sogar von Theologen. Aber sie gingen in dem allgemeinen Aufschrei unter. Gebt uns Raum … Tag und Nacht stieg dieser Schrei aus hundert Millionen Kehlen auf, Lautsprecher plärrten ihn als Slogan heraus, Reklamewände verkündeten ihn im betrügerischen Kampf der Parteien um die Macht. Mehr und mehr konzentrierten sich ihre Versprechungen darauf, Platz zu schaffen. Platz für mehr Häuser, mehr Besitzungen, Platz, um neue Familien aufzuziehen, die dann ihrerseits wieder nach Platz und immer noch mehr Platz schrien … Auf der ganzen Welt verschwanden die Landschaften, alle verschluckt. Während die Völker ihre Grenzen vorzuschieben suchten, flammten Kriege auf, aber die Städte wuchsen 32
noch immer. Die großen Besitzungen wurden durchsucht und gezwungen, ihre letzten Morgen, ihre geheimen Gärten abzugeben. Aber alles umsonst, denn noch immer war der Ruf nach Raum zu hören. Wolkenkratzer strebten fünfzig, siebzig, hundert Stockwerke in die Höhe, und es war nicht genug. Bis zum Bersten gefüllt, bauchten sich die Städte, voll von Musiklärm und den Geräuschen menschlichen Lebens. Über hundert Meter hoch waren sie, von grellem Licht überflutet, von einem Netz übereinander angelegter funkelnder Avenuen durchzogen. Heiser, in Technicolor, schlaflos. Überall stießen sie ans Meer. Und sie mußten weiter. Der Druck, der Platzmangel, trieb sie voran. Die Häuser sanken wie silberne Glocken in Bläue und Stille, und endlich gab es Platz genug. Mary Franklin saß im Wohnraum ihres Bungalows. Das Strickzeug ruhte ausnahmsweise in ihrem Schoß, und sie versuchte, das Geschehen auf dem Teleschirm am anderen Ende des Raumes zu verfolgen. Vor ihr durchquerte Jen, die sich für eine Party bei den Belmonts am anderen Ende der Stadt fertigmachte und wie gewöhnlich zu spät dran war, eilig das Zimmer und kam gleich darauf wieder zurück. Die nackten Füße tappten über den Teppich, die Riemen ihrer Lunge baumelten um ihre Schultern, während sie mittlerweile in wahnsinniger Eile hin und her stürzte. Mary verdrehte die Augen zum Himmel, der einstweilen durch eine geschwungene Stahlhülle repräsentiert wurde. Sie konzentrierte sich auf den Bildschirm, auf dem eine Vorführdame in leuchtenden Farben ihr Publikum mit den Geheimnissen einer Variante von Krabbenmayonnaise bekannt machte. Jen kreischte etwas Unverständliches aus dem Schlafzimmer und bummerte gegen die Wand. (Warum …?) Sie tappte wieder quer durch den 33
Raum und zurück. Mary erhob plötzlich die Stimme. »Jen …?« Bummern. Gemurmel. »Jen!« »Mami, ich finde meine …« Nicht zu verstehen. »Jen, komm nicht zu spät nach Hause. Nicht später als neun, hörst du?« »Ja …« »Und um Landeswillen, zieh dir etwas an …« »Ja, Mami …« Das mit hoher, matter Stimme. Und fast sofort das Brausen der Meeresschleuse. Mary sprang in einer zornigen Aufwallung auf und ging auf das Funkgerät zu, überlegte es sich auf halbem Wege anders und kehrte wieder zu ihrem Stuhl zurück. Sie wußte zu gut, daß Jen bequemerweise ihre Mikrofonkabel vergessen haben würde. Im Vorbeigehen schaltete sie nervös um. Das Bild auf dem Teleschirm wechselte in einen Western über. Mary lehnte sich zurück und schloß die Augen bis auf einen kleinen Spalt, in Gedanken halb bei dem uralten Film, halb bei der Bläue über ihr. Der endlosen Bläue. Allen Ermahnungen zum Trotz nackt, schwebte Jen sieben Meter über dem halbkugelförmigen Dach ihres Elternhauses. Luftblasen stiegen in einer Kette schimmernder, schwach erkennbarer Sicheln zur Oberfläche auf. Wie immer ließ das Meer sie ihren Zwang zur Eile vergessen. Sie begann langsam zu paddeln, die Füße in den langen Flossen griffen aus und durchfurchten das Wasser. Im Dahingleiten blickte sie unter sich auf die Reihen von Kuppeln mit ihren gepflegten, fast vorstädtischen Gärten voller wogender Wasserpflanzen. Sie sah die verschwommenen Quadrate ihrer Fenster und die helleren grünlichblauen Kugeln der Straßenlampen, die an dünnen Drähten über dem Meeresboden bau34
melten. Warnungen für Schwimmer hingen an langen Drahtstreifen. Entsprechend den Straßen der Stadtkomplexe, an die Jen sich kaum noch erinnerte, gab es deutlich gekennzeichnete Bahnen, aber viele ignorierten sie. Und fast alle Kinder. Genaugenommen befand sie sich jetzt außerhalb der Stadtgrenze, denn sie glitt mittlerweile nur wenige Meter unter der Oberfläche dahin. Die Sicht war gut heute abend. Auflandige Winde verursachten zuweilen eine Trübung, die tagelang anhielt, aber jetzt war es seit fast einer Woche windstill gewesen. In dem beinahe ungetrübten Wasser konnte sie den fernen Schimmer ausmachen, wo die Ingenieure, unter ihnen ihr Vater, an dem neuen Theateranbau und dem Kulturzentrum arbeiteten. Wenn die Anlage einmal fertiggestellt sein würde, würde sie der Stolz der Siedlung Achtzig sein, die von ihren Bewohnern Oceanville genannt wurde. Allein an diesem Küstenstreifen gab es noch ein Dutzend anderer Oceanvilles und wahrscheinlich Hunderte in allen Meeren der Welt. Sie erschauerte leicht, obwohl das Wasser nicht kalt war. Jenseits der Lichter, jenseits der von Tauchern umschwebten großen Stahlgerüste, gab es lange abschüssige Strecken, wo die Häuser der Stadt allmählich aufhörten und die Korallen und der Sand der Küstengewässer dem Treibsand des eigentlichen Ozeans Platz machten. Dort befand sich ein bis jetzt noch sehr kleiner Friedhof mit ein paar die Toten bergenden Metallbehältern. Und jenseits dieses Friedhofs, hinter grauen Dünen, wo das Licht unmerklich in Marineblau und Schwarz überging, lagen Die Tiefen. Mehr als alles andere liebte es Jen, zu den Neubauten hinüberzuschwimmen, sich auf einen der Träger zu setzen und in 35
das vage Dunkel des eigentlichen Meeres, das bodenlos und unermeßlich war, herabzustarren. Bloß zu starren, zu horchen und zu warten. Vielleicht würde sie heute abend nach der Party dorthin schwimmen. Sie ließ sich erschlaffen, pumpte Luft in die Lunge und hielt den Atem an, um den Auftrieb zu verstärken. Mit lockeren Armen und Beinen trieb ihr Körper nach oben. Über ihr erschien die Oberfläche, eine schwach leuchtende, umgekehrte Ebene. Lichtpunkte glitzerten, wo der Mondstrahl sich in der Tiefe brach. Jen paddelte träge mit den Flossen, einmal, zweimal, ihr Körper durchbrach die Oberfläche, und sie spürte, wie sie von einem leichten Wellengang weitergetragen wurde. Sie blickte um sich. Das Meer war ganz ruhig, zum Horizont hin dunkel, bläulich phosphoreszierend um ihre Schultern und den Hals. Wenn sie genau hinsah, konnte sie kleinste Lebewesen erkennen, die wie leuchtende Körner um sie aufstiegen. In weiter Ferne die orangefarbene Wolkenspiegelung über dem Land, wo die universalen Städte brüllten und jammerten. Jen legte sich auf den Rücken und ließ sich vom Wasser tragen. Früher hatte sie die Maske heruntergezogen und das feuchte Salz der gewöhnlichen Luft eingeatmet. Jetzt spürte sie kein Verlangen mehr danach. Wassertretend drehte sie sich langsam um, warf noch einen letzten Blick auf den Mond und tauchte. Ihre Fersen rührten einen flüchtigen Lichterwirbel auf. Unter Wasser schwamm sie mit kräftigen Stößen vorwärts. Sie schoß zur Westterrasse hinunter, wo die Kuppel der Belmonts lag. Die Party war sicher schon in vollem Gange! Sie verlor kostbare Tanzzeit. Stunden später angelte sich Mary eine ihrer seltenen Zigaretten aus dem Wandspender. Mit leicht gerunzelter Stirn zog sie den Rauch ein und blies ihn langsam 36
durch die Nase aus. Sie lehnte sich zurück und beobachtete, wie der Rauch durch den Deckenventilator abzog. Der Teleschirm war abgestellt, der letzte Bösewicht hatte ins Gras gebissen, und sie war des Zusehens müde geworden. Der Bungalow schien sehr still. Das Summen der Klimaanlage klang ungewöhnlich laut und genauso das periodische Klirr-Bumm der Kühlschranksolenoiden aus der Küche. Sie stand unentschlossen auf, betastete ihren Hals, machte einen Schritt vorwärts und blieb wieder stehen. Sie ging zu der Nische neben der Küche, in der die Funksprechanlage und das Telefon untergebracht waren. Neben dem Hörer glucksten die Meßinstrumente der Kuppel leise. In den grauen Gehäusen drehten sich gestreifte Scheiben, zitterten Zeiger über ihre Skalen. Die Macht der Gewohnheit ließ sie die Meßwerte ablesen. Alles normal, natürlich … Sie streckte die Hand nach dem Telefon aus, kaute auf ihrer Lippe herum und zog die Hand wieder zurück. Eine Viertelstunde, das war nichts. Wenn Jen tanzte, vergaß sie die Zeit. Das taten sie alle. Sie würde in ein paar Minuten zu Hause sein, spätestens um halb zehn. Sie wußte genau, wieviel sie zu spät kommen durfte … Mary ging in den Wohnraum zurück, schaltete den Teleschirm an und stellte den fünften Kanal ein. Während das Gerät warm wurde, ging sie zu Davids Schlafraum und warf einen Blick hinein. Er schlief, das Haar zerzaust auf dem Kissen. Neun Uhr fünfzig. Mary stand wieder auf und trat an das Fenster in der gewölbten Wand. Sie zog die Vorhänge auf, sah durch das leicht getrübte Wasser hinüber zu den Nachbarhäusern auf der anderen Straßenseite. Eine leise Angst regte sich irgendwo in ihrem Hinterkopf, pochte, legte sich wieder. Angst wovor? fragte sie sich. Vor einem 37
Unfall vielleicht. Auch in einer durchorganisierten Stadt gab es Unfälle. Jack – aber das war es nicht. Sie lachte leise über sich selbst und versuchte, ihre Nervosität mit einem Achselzucken abzutun. Diese Spätschichten ihres Mannes waren ein Fluch, aber es ging nicht anders. Der neue Bau ging rasch voran, und als Kontrollingenieur mußte er fast ständig auf dem Baugelände sein. Sie sagte sich, daß ihr Mann körperlich nicht weit weg war. Wenn nötig, konnte sie ihn anrufen. Wie weit weg war der neue Komplex? Hundertundfünfzig, zweihundert Meter? Auf dem Land war das keine Entfernung … Aber wie lang waren hundert Meter hier unter dem Meer? Unter Umständen ein Leben lang oder eine ganze Epoche. Sie schnitt eine Grimasse. Davor hatte sie Angst, daher kam vielleicht dieses … Pochen. Daß kontinentale Gesetzmäßigkeiten und Werte unter Wasser radikal anders wirkten. Sie setzte sich, schlug die Beine übereinander und lehnte den Kopf gegen den Stuhlrücken. Nach einer Weile griff sie nach dem Strickzeug und starrte es an. Sie strickte einen Pullover, obwohl das völlig überflüssig war. Die Kuppeln hatten alle Klimaanlagen, und die Meerestemperatur änderte sich im Laufe des Jahres nur um wenige Grad. Hier unten brauchte man keine Pullover, und das Garn war teuer, es kam von der Oberfläche, und alles, was von dort kam, war kostspielig. Aber so hatte sie wenigstens etwas zu tun, waren ihre Hände beschäftigt. Und vor allem war es ein Bindeglied zur Vergangenheit … Viertel nach zehn. Das Zifferblatt der Uhr war rund und meerblau, die Zeiger einfache weiße Nadeln, die in Abständen von einer Minute vorrückten. Mary meinte, das jedem Satz 38
vorangehende unmerkliche Zittern sehen zu können. Sie drückte die Zigarette aus. Die Party mußte inzwischen längst zu Ende sein, die Tänzer sich zerstreut haben … Tänzer? Sie schüttelte den Kopf, erinnerte sich an die Tänze in den Städten, an die pulsierenden Rhythmen, die rasenden Zuckungen. Auch das hatte sich, wie alles andere, geändert. Sie erinnerte sich daran, wie entgeistert sie gewesen war, als sie das, was sie Meer-Jazz nannten, zum ersten Mal gehört hatte. Jen hatte einen Recorder in ihrem Schlafzimmer, der die halbe Nacht wimmerte und bummerte, aber die Rhythmen, die Melodien waren mit nichts vergleichbar, was sie je an Land gehört hatte. Langgezogene, heulende Töne, ein Beat mit einem Timing, das jeder Notation spottete, Klänge, die etwas von dem langsamen Drängen der Gezeiten hatten. Es war Musik zum Schwimmen. Die Belmonts hatten eine Tanzfläche, aber die lag draußen im Meer. Sie war von Luftpfosten und Lautsprechergehäusen umgeben, um die sich die Jungen und Mädchen wie helle Flocken unter den Schwärmen von Fischen, die anscheinend immer angezogen wurden, tummelten. »Aber Mami«, sagte Jen, wenn sie Einwände machte. »Du wellst einfach nicht, du bist nicht woogig …« Das war alles Teil der neuen Phraseologie. Der Junge, der ein paar Häuser weiter wohnte, Kev Hartford, war nicht etwa Klasse, nein er wellte für Jen, er war eine Woge, aber der Bursche von der Klimaanlage, Cy Scheinger, der ein- oder zweimal bei ihnen gewesen war, war in Ungnade gefallen. Er war ebbig, ein Frosch (Froschfisch?). Ihr ganzes Leben und Denken war jetzt bis hin zu ihrer Sprache vom Meer durchdrungen. Was nur natürlich und verständlich war … 39
Warum haben wir sie Jennifer genannt? Wie sind wir ausgerechnet auf diesen Namen verfallen? Die Jennifer war ein Meereswesen und verflucht … Es hatte keinen Sinn. Mary stellte den Teleschirm ab, ging zum Telefon zurück, hob den Hörer ab und wählte. Sie horchte auf das Klicken der Relais, das ferne Summen am anderen Ende der Leitung. Eine Ewigkeit, und der Hörer wurde abgehoben. »Ja-a?« Die ein wenig girrende Stimme war selbst durch das verzerrende Meeresbranden unverkennbar. Die Belmonts waren sich ihrer Stellung nicht eben unbewußt. Alan Belmont war Fischereidirektor des Gebiets. Marys Zunge fuhr über die trockenen Lippen. »Hallo? Guten Tag, Anne, hier spricht Mary. Mary Franklin … Was? Ja, gut, vielen Dank … Anne … ist Jen vielleicht zufällig noch bei Ihnen? Ich habe ihr gesagt, sie soll um neun zu Hause sein. Sie ist noch nicht zurück, und ich …« Anne Belmont schien ein wenig erstaunt. »Meine Liebe, ich habe sie bestimmt schon vor Stunden nach Hause gescheucht. Na ja, vor einer Stunde … Einen Augenblick …« Unverständliche menschliche Laute. Ein schwacher Ruf. Das Branden … Tosen … des Meeres. »Hallo?« »Ja …« »Kurz vor neun«, sagte das Telefon. »Wir haben sie alle nach Hause geschickt, es ist niemand mehr hier … Sie sagen, sie ist noch nicht zurück?« »Nein«, erwiderte Mary. »Nein, sie ist noch nicht zurück.« Sie umklammerte den Hörer so, daß ihre Knöchel weiß wurden. Das Telefon gluckste. »Meine Liebe, sie sind doch alle gleich. Bei unseren ist es hoffnungslos, Zeit be40
deutet ihnen nichts, absolut nichts … Aber ich bin ganz sicher, daß Sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Sie wird bestimmt gleich kommen. Vielleicht war sie bei diesem Cy oder wie heißt … ja …« Eisig kroch es ihr das Rückgrat hoch. »Vielen Dank«, sagte Mary. »Nein, nein, natürlich nicht. Ja, ich sage Ihnen Bescheid … Ja, auf Wiedersehen, Anne …« Sie legte den Hörer auf die Gabel und stand da und starrte ihn an und wußte nicht, was sie tun sollte. Das Meer drängte sacht, schleifend gegen die Kuppel. Viertel vor elf. Mit gespitztem Mund stand Mary ganz still in der Mitte des Wohnraumes. Sie hatte die Luftwerke angerufen. Cy hatte dienstfrei, und niemand dort wußte, wo er war. Und zwei oder drei Nachbarn und Freunde ebenfalls nicht. Keine Spur von Jen. Sie konnte doch Jack im Baubüro nicht anrufen, nicht schon wieder. Hier unten stand man seinem Mann zur Seite, setzte sich voll ein. Man geriet nicht wegen jeder Kleinigkeit in Panik … Ihre Beine fingen an zu zittern. Unbewußt massierte sie die Schenkel über dem Kleid. Sie streckte die Hand nach ihrem Haar aus, das sie zu einem Knoten im Nacken zusammengesteckt trug. Auf der Fensterbank vor ihr tänzelte ein Gipsfohlen, die Hufe hoben sich gegen Grün ab. Das Grüne war das Meer. Entschluß. Sie löste das Haar und schüttelte den Kopf, so daß es lose auf die Schultern fiel. Sie hakte ihr Kleid im Nacken auf und zog es über den Kopf. Darunter trug sie das übliche blaue Trikot der verheirateten Frauen. Sie zog es mechanisch an den Oberschenkeln herunter, schleuderte die Sandalen weg, ging zu dem Schrank mit der Ausrüstung hinüber und holte ihr Meerzeug, Lunge, Maske und Flossen. Sie zog sich schnell an, befestigte die breiten Gurte um die 41
Taille und zwischen den Beinen, dann das leichtere Schultergeschirr mit den Armaturen vor der Brust. Gewohnheitsmäßig las sie die Uhren ab, kontrollierte die Luft, tippte auf den roten Streifen auf ihrer Schulter. Das war ein weiterer Sicherheitsfaktor. Wenn die Luftzufuhr aus dem Tornister aus irgendeinem Grunde aussetzte und dieser Streifen nicht berührt wurde, brachte eine eingebaute Funkbake die Stadtwachen zu dem Träger. Sie sah noch einmal bei David herein und überzeugte sich, daß er noch schlief. Auf dem Weg zur Meerschleuse blieb sie vor dem Spiegel stehen. Sie war schwerer geworden, ihre Hüften hatten sich verbreitert, und um den Mund deuteten sich Sorgenfalten an, aber ihr Haar war braun und weich. An Land wäre sie immer noch eine begehrenswerte Frau gewesen. Sie sah sich langsam in der Kuppel um und hatte plötzlich das Gefühl, vertraute Dinge in einem Licht zu sehen, das ungewohnt hell und seltsam war. Der Bungalow besaß doppelte Wände, die innere Decke endete in achteckigen Platten aus weißem und hellblauem Kunststoff. Die aus Rücksicht auf den Druck notwendige Form des Halbrunds hatte daneben den Vorteil, daß der zur Verfügung stehende Raum maximal genutzt werden konnte. Dicke Florteppiche bedeckten die Böden, die Möbel waren niedrig und stromlinienförmig, bequem zum Leben. Der Teleschirm war geschickt in einer Nische untergebracht, daneben befanden sich zu beiden Seiten in die Wand eingelassene Behälter mit Fischen und Seeanemonen. Durch die halboffene Tür konnte sie die Küche sehen. Sie war winzig klein, aber gut ausgestattet, mit viel rostfreiem Stahl, wie die Kombüse eines Schiffs. Der ganze Bungalow war ebenso sicher wie 42
zweckmäßig. Falls, was unwahrscheinlich war, ein Riß in der Außenhülle aufträte, würde die zweite Hülle das Meer abhalten, während die Nachricht sofort an eine Zentrale durchgegeben werden würde, die innerhalb von Minuten für Hilfe sorgen konnte. Nicht, daß irgend etwas schiefgehen konnte, natürlich nicht, dafür war das Ganze zu gut durchdacht. Die Menschen lebten jetzt schon seit Jahren unter Wasser, und es gab hier weit weniger Unglücksfälle als auf dem überfüllten Land. Mary schnitt eine Grimasse, trat in die Schleuse und schloß das innere Schott. Die Deckenbeleuchtung schaltete sich ein. Sie drückte auf den Füll-Knopf. Zischend entwich die Luft durch die Auslaßventile. Sie hockte sich im steigenden Wasser nieder, um die Riemen der Flossen über die Fersen zu ziehen. Dann richtete sie sich auf. Die Kühle berührte ihre Hüften. Sie strich das Haar zurück, tauchte die Maske unter und spülte sie aus, drückte das durchsichtige Visier aufs Gesicht. Die Plastikmaske haftete selbst, ihrer Kopfform angepaßt, und reichte von der Stirn bis zum Kinn. Sie setzte die Kopfhörer ein, griff unter ihren Arm nach den Mikrofonkabeln und schloß die Enden an die Magnetkontakte in ihrem Hals an. Die Kammer füllte sich, Wasser stieg grünlich über ihren Kopf. Als der Druck sich ausgeglichen hatte, glitt der äußere Wandabschnitt automatisch beiseite und ließ das dunstige Licht der Straßenlampen herein. Mary stieß sich ab und spürte, wie das Meer ihr Gewicht aufhob und sie hochtrug. Haarsträhnen wogten wie schwarze Farnwedel anmutig vor ihren Augen. Langsam schwamm sie durch die Stadt. Aus dem Dunst stiegen zu beiden Seiten Reihen kuppelförmiger Gebäude auf. Einige der Häuser waren noch neu, mit glänzenden Stahlhüllen, andere hatten sich mit einer 43
dichten, wogenden Schicht von Algen überzogen. Die Schaufenster entlang der Hauptstraße waren hell erleuchtet. In den Spiegelglasfenstern lagen auf weißen Tellern mit Krautwedeln garnierte Fische, Muscheln und Krebse aus. Dort wurden Unterwasser-Atmungsgeräte und Bücher, Schallplatten, Puppen und Spielzeug angeboten. Hier unten war der Sand vom Meeresboden bis zu dem darunterliegenden Gestein abgetragen worden. Oben spannten sich schmale Bögen, an denen die Schlitten von Auswärtigen vertäut lagen, von Fischhirten und Meeresforschern, die von einsamen, über den Meeresboden verstreuten Kuppeln aus ihrer Arbeit nachgingen. Die Blöcke waren erleuchtet; jede Kugel stand strahlend im Grün, umschwärmt von einer tanzenden Wolke winziger Fische wie eine Lampe auf der Erde von Motten. Über allem lag Friede, träumerischer Friede der Dämmerung auf einer alten, unverdorbenen Erde. Nur wenig menschliche Schwimmer waren jetzt unterwegs, aber hier und da schwebte eine schimmernde Gestalt über den Dächern der Häuser. Delphine – sie hatten die Gemeinschaften am Meeresboden schnell entdeckt und Nutzen daraus gezogen. Manche Familien hielten sich sogar einen oder mehrere als halbzahme Haustiere und hingen sehr an ihnen. Gelegentlich tauchten auch andere Geschöpfe in den Stadtgebieten auf – Haie, Rochen, der kuriose Tintenfisch. Aber die von den Schwimmern mitgeführten Abwehrmittel waren mittlerweile so weit entwickelt worden, daß es wenig zu befürchten gab. Und die Stadtwachen harpunierten oder verscheuchten jeden der großen Burschen, die sich zu lange oder zu nahe bei der Stadt herumtrieben. In der Hauptsache gab es jedoch wenig, was Räuber anziehen konnte. 44
Die Abfallbeseitigung wurde streng kontrolliert. Abfall ins Meer zu schleusen, war so ungefähr das schlimmste Verbrechen, dessen man sich schuldig machen konnte; man konnte dafür an Land geschickt werden. Die »Ungeheuer der Tiefe«, soweit sie überhaupt existierten, mieden die Kolonien. Sie mochten die Helligkeit und den Lärm nicht, die Geschäftigkeit und die dumpfen Töne der vielen, sich im Wasser überlagernden Vibrationen. Wie Jack nie müde wurde zu betonen, war das Leben hier unten sicherer als an Land. Mary machte kehrt, passierte die Superkuppeln, die das städtische Destillationswerk enthielten. Der ProKopf-Verbrauch von Süßwasser lag bei den Meermenschen um fünfzig Prozent höher als bei den Landmenschen. Häufiges Baden war notwendig, um Salzrückstände von der Haut zu entfernen. Die Versorgung mit salzfreiem Wasser stellte eines der größten Probleme der Siedlungen auf dem Meeresboden dar. Hinter der Destillerie lagen die Luftwerke. Die Elektrolyten reichten halb bis zur Oberfläche, jedes Rohrbündel von einer isolierenden Heliumhülle umgeben. Der Strom für die Sauerstoffgewinnung kam von nah gelegenen Gezeiten-Kraftwerken entlang der Küste. Viele Kuppeln ließen sich bereits vom Werk versorgen, und schließlich würden sie alle den neuen Versorgungsdienst der Stadt in Anspruch nehmen, aber ihre eigenen Anlagen als Reserve für den Notfall behalten. Mary schwamm um die riesigen Schornsteine herum, spähte in verschlossenes Dunkel, rief leise durch die Maske: »Jen … Jen …« Der Tornister strahlte das Wort ins Wasser aus, trug es viel weiter, als eine menschliche Stimme in der Luft, aber sie bekam keine Antwort. Sie klammerte sich an einen Stahlträger, ein 45
paar Meter über dem Meeresboden und versuchte, ruhiger zu atmen. Blasen stiegen in einer schimmernden Kette von ihr auf. Eine Gruppe von Kindern kam vorbei, verspätet und schnell schwimmend. Sie hörte sie schwatzen und erkannte plötzlich mit einem Schock, wie sehr ihr Geschnatter dem eines Fischschwarms in Unterwasserschallempfängern ähnelte. Sie erschauerte. Solche Gedanken quälten sie schon seit Monaten, vielleicht seit Jahren. Sie rief eindringlich, aber der Kinderschwarm wich aus, beschleunigte und verschwand in der Dunkelheit. Es war still. Neben ihr vibrierten die großen Behälter, was sie mehr spürte als hörte. Der Träger schien unter ihren Fingern zu summen. Sie ließ schnell los. Elektrolyte verursachen keine Geräusche. Sie horchte angestrengt. Dieses tiefe, dumpfe Dröhnen … War das ihr Herz oder bloße Angst oder war da etwas … etwas anderes … Nein, es hatte aufgehört. War über die Wahrnehmungsgrenze hinweg ins Schweigen getaucht. Sie begann wieder zu schwimmen, während ihre Gedanken wirr durcheinander gingen. Sie erinnerte sich an ein Gespräch, das sie vor Wochen mit ihrem Mann geführt hatte. Sie hatten im Bett gelegen, nachdem er von seiner Schicht nach Hause gekommen war. Im Haus war es still gewesen, so still, wie es da eben werden konnte. Nur die Klimaanlage, im Dunkeln summend … Sie hatte in die Nacht hineingesprochen. »Jack«, hatte sie gesagt und sich dabei über sich selbst gewundert, »Die Tiefen. Hast du gehört, was man sich darüber erzählt – daß sie reden?« »Ich hab schon eine Menge Unsinn gehört.« »Sie reden. Das sagen jedenfalls die Kinder. Jen … sie sagt, daß sie es gehört hat, ein … Etwas, ich weiß nicht, was. Einen Ruf. Jack, sei ernst, hör mir zu …« 46
»Ich bin ernst«, sagte er. »Vollkommen ernst. Mary, in Den Tiefen ist nichts außer einer Unmasse Wasser unter einer Unmasse Druck. Oh, da könnte irgendwo eine Verwerfung sein, Vulkantätigkeit vielleicht, ganz weit unten, von der aus Druckwellen nach oben gehen, und die kann man unter Umständen fühlen, aber das ist alles. Ich bin Ingenieur, ich habe so viele Jahre mit dem Meer gearbeitet, daß ich lieber gar nicht daran denken will. Du kannst mir glauben, ich weiß. Dieses … Ding ist im Augenblick große Mode bei den Kindern. Sie schwimmen in kleinen Banden hinaus und warten auf Offenbarungen. Ich habe sie gesehen. Ich weiß nicht, wie es angefangen hat, aber es ist bloß ein Tick, der sich geben wird, wenn etwas Neues auftaucht …« Sie war still, dachte an all die Städte entlang der Kontinentalsockel in den warmen Meeren der Welt. Die vollautomatisierten Kuppeln waren gemütlich und sicher. Aber, was, wenn … was, wenn es einen Feind gab, etwas, das heimtückischer war als der Druck? Etwas in den Menschen, in mir, sagte sie zu sich, oder in Jen. Etwas, das sich von den Wurzeln des Gehirns nach außen arbeitete … Sie sagte jäh: »Jack, wie kannst du so verdammt sicher sein, daß du immer recht hast?« Das Bett quietschte, als er sich umdrehte. »Kommst du mir festländisch, Mary?« Sie antwortete nicht. Seine Hand streckte sich nach den Kontakten an ihrem Hals aus, streichelte sie. »Du weißt doch noch, was ich dir gesagt habe. Worüber wir uns einig waren, als sie das hier einsetzten. Einmal unten, immer unten.« Er schwieg. Dann sagte er leise: »Was gibt es für uns an Land?« Sie lag da und erinnerte sich der niedrig überdachten Stadtstraßen, der endlosen fluoreszierenden Bahnen, 47
des bedrückenden Gefühls, in der Menge zu ersticken. Platzangst eines übervölkerten Planeten. Er konnte ihre Gedanken lenken, das konnte er immer. »Höre«, sagte er. »Man kann es noch weit unten hören. Das Dröhnen. Rolltreppen, Laufbänder. Verkehr. Tanzlokale. Gellende Bildschirme, die sich gegenseitig bekämpfen. Kaufen Sie dies. Kaufen Sie dies. Kaufen Sie das. Stimmt für die Freiheit. Benutzen Sie unsere Zahnpasta. Verzichten Sie auf den Geschlechtsverkehr … Erinnere dich nur, Mary! Märkte. Kinos. Der ganze Firlefanz. Lohnt es sich, dahin zurückzugehen? Die Kinder dahin zu bringen? Nun?« Keine Antwort. Er sprach weiter. Die alten Argumente. »Hier unten haben wir Frieden. Wir haben Sicherheit. Na ja, so viel Sicherheit, wie Menschen überhaupt irgendwo finden können. Und, was noch wichtiger ist, wir haben eine Demokratie. Eine richtige, praktisch angewandte Demokratie, vielleicht die erste überhaupt. Hier unten steht dir das Haus deines Nachbarn immer offen, weil es so sein muß. Wir können es uns nicht leisten, einander zu bekämpfen, dafür sorgt das Meer. Und das Meer ist ewig.« »Hier unten ziehen wir also vereint an einem Strang. Du meinst vielleicht, daß wir jetzt viele sind, aber ich sage dir, wir sind bloß Dörfer, Siedlungen. Wir sind auf die Oberfläche angewiesen, vieles müssen wir immer noch oben einkaufen. Aber das wird nicht immer so sein. In allen Meeren der Welt werden sich Völker und Stämme von uns ausbreiten. Bis hinunter in Die Tiefen. Wir werden unabhängig sein. Wir werden alles, was wir brauchen, direkt aus dem Meer beziehen. Gold, Zinn, Blei, Kupfer, Uran, was du nur willst, du findest es hier unten im Meer. Billionen von Tonnen, die darauf warten, genutzt zu werden. Im kleinen haben 48
wir schon angefangen. Das Land ist alt, verbraucht. Sollen die Festländer es behalten …« Er lachte in sich hinein. »Ich sag dir was, eines Tages, in tausend Jahren vielleicht, tauchen wir auf, um ein bißchen Handel zu treiben. Und sie? Sie sind verschwunden. Alle. Haben sich gegenseitig aus der Welt gebombt, sind verhungert, zu anderen Planeten gezogen, irgendwohin. Wir hätten keine Ahnung davon. Wenn die ganze Welt in Flammen aufginge, woher sollten wir das wissen? Es ginge uns nichts an …« Sie zeichnete Muster in die Dunkelheit, malte mit einem Finger auf das Kissen. Biß sich auf die Lippe. Er berührte ihr Haar. Seine Hand fand die überhängende Wärme einer Brust, und sie machte eine gereizte Bewegung, rückte von ihm ab. »Ich dachte«, sagte sie, »an die Kinder. Alle Kinder hier unten –« »Alle Kinder«, sagte er müde. »Mary, alle Kinder hier haben sich verändert. An ihre neue Umgebung angepaßt, und das ist das Natürlichste von der Welt. Wir hätten Grund zur Sorge, wenn dem nicht so wäre. Diese Umwelt ist immerhin fremd. Eine neue Erfahrung für unsere Rasse. In gewissem Sinne leben wir wie auf einem anderen Planeten. Wir müssen neue Fähigkeiten, Umstellungen erwarten, und das wird sich an den Kindern schneller vollziehen, weil sie gar nichts anderes gekannt haben. Das muß so sein, das ist richtig so. Mary, das rumort schon lange in dir, merkst du nicht, was mit dir los ist?« »Doch«, sagte sie bitter. »Oder nicht?« »Mary, hör mir einen Augenblick zu …« Sie spürte, daß er irgendwo immer noch auswich. Möglich, daß sein Geist automatisch alles ausklammerte, was nicht gemessen und klassifiziert werden konnte. Sie wollte schreien. Diese Zuversichtlichkeit, 49
diese Sachkenntnis, all das schien ihr plötzlich so selbstgefällig. Das Meer war grenzenlos, und grenzenlos waren die Ängste, die es hervorbringen mochte. »Wir alle … es heißt, wir sind alle aus dem Meer gekommen«, sagte sie. »Könnte es da nicht sein … Rückschritt, verstehst du, so eine Art Rückfall …« Er knipste die Bettlampe an. »Mary, ist dir überhaupt klar, was du da sagst?« Sie nickte lebhaft und versuchte, sich ihm verständlich zu machen. »Ich habe lange darüber nachgedacht, Jack. Ich meine, wie Vögel ihre Schwingen verlieren, und die Robben – sind die Robben nicht ins Meer zurückgegangen, irgendwie degeneriert? Und jetzt wir, die Kinder, sie … schwimmen wie Fische, immer mehr wie Fische …« »Aber Teufel noch mal«, sagte er, »weißt du, Mary, wie lange so etwas dauert? Eine biologische Degeneration? Wie viele Millionen … Also hör mal, Mary, hör mir mal zu. Eine Million Jahre. So lange gibt es uns, vielleicht ein paar tausend mehr oder weniger. Und das ist nichts, überhaupt nichts. Das ist … so viel.« Er schnippte mit den Fingern. »Du denkst in den falschen Kategorien, in historischen Kategorien. Diese ganze Zeit, diese Millionen Jahre haben uns nicht einmal den kleinen Zeh verlieren lassen. Die Erde ist ja nur einen Tag alt. Sie hat vierundzwanzig Stunden gebraucht, um zu entstehen, alle Entwicklungsstufen durchzumachen und zu uns zu gelangen. Weißt du, was wir sind, was unsere ganze Geschichte ist? Das letzte Ticken der Uhr … So lange braucht die Evolution, das ist eine ganz große Sache …« Aber es hatte keinen Sinn, all das hatte sie schon gehört. »Vielleicht wird es diesmal nicht so sein«, sagte sie. »Wir … haben uns am Ende so schnell entwickelt. 50
Vielleicht entwickeln wir uns jetzt genauso schnell zurück …« »Das hat überhaupt nichts miteinander zu tun«, sagte er. »Überhaupt nichts.« Sie sagte verzweifelt: »Wir waren so schlau, Jack, uns so aus der Affäre zu ziehen, im Meer zu leben. Eine neue Welt zu schaffen. Aber vielleicht … könnte das nicht irgendwie genau das sein, was das Meer wollte? Wozu wir ausersehen waren? Oh, ich weiß, es klingt verrückt, aber glaub mir, wenn ich die Kinder sehe … Neulich ist Jen in der Küche ausgerutscht. Als sie aufstehen wollte, da hat sie wohl versucht sich umzudrehen, als ob sie im Wasser wäre – sie vergaß, daß sie in der Luft war … Und David, er schwimmt genau wie eine kleine Krabbe … Wenn ich so etwas sehe, denke ich … Ach, ich weiß nicht, was ich manchmal denke – vielleicht sind wir gar keine … Pioniere. Das mit Den Tiefen, es heißt, sie rufen, sie ziehen … Vielleicht werden wir bloß zurückgezogen, dahin, wo wir hingehören …« Schließlich wurde er wütend. »Na schön. Sagen wir, dieser ganze Unsinn stimmt. Wir besitzen ein rassisches Erinnerungsvermögen in unseren Gehirnen, in unserem Nervensystem. Wir erinnern uns an die Anfänge des Lebens, die so viele Jahre zurückliegen, so viele Jahre, daß wir nicht einmal die Tausende zählen können. Nun, dann sind wir schon wieder nach Hause zurück, Mary. Genau hier, wo wir sind, hier hat das Leben angefangen. In den Untiefen, die Sonne trinkend. Nicht in Den Tiefen. Dahin hat es sich ausgebreitet, genau wie zum Land hin, und zwar gleichzeitig. Es gibt nichts, was uns von dort hinten rufen könnte. Wir gehören nicht dorthin, haben nie dorthin gehört.« 51
Sie zitterte ein wenig, betrachtete das Kissen, sah seine Struktur. Jeden Faden in dem Gewebe. »Ich wollte menschlich bleiben«, sagte sie. »Das war alles. Bloß menschlich bleiben, und die Kinder …« Er streckte die Hand nach ihr aus. »Du bist menschlich. Du bist schon richtig.« Sie sah ihn nicht an. »Ich glaube«, sagte sie, »ich glaube, jetzt … würde ich die Städte vorziehen. Jack …« Er antwortete nicht, und sie wußte, ohne hinzusehen, was für ein Gesicht er machte. Etwas in ihr schien sich zu verbiegen und zu erkalten. Er würde vielleicht alles für sie tun, aber das nicht. Er würde nicht an Land gehen, nicht jetzt. Die Reiche, die Herden und Stämme des Meeres, er hatte sie im Kopf, auch sie riefen. Der Traum war zu stark, er konnte ihn nicht fahrenlassen. Er stieß die Bettdecke beiseite und schwang die Beine aus dem Bett. Sie horchte auf das leise Rascheln, als er nach seinem Morgenrock griff. »Mary«, sagte er. »Warum gehst du nicht mal zum Arzt und läßt dich untersuchen? Du bist erschöpft, das ist meine Schuld, ich hätte das merken müssen … Zu viel allein, du hast keine Abwechslung. Nicht mehr. Vielleicht solltest du eine Reise an Land machen, deine Familie besuchen. Ich sag dir was – ich nehm mir ein paar Tage Urlaub, und wir fahren nach Siebenundfünfzig. Die Kinder nehmen wir mit, was sagst du dazu? Sie haben das neue Theater da oben, eine Menge Kitsch. Na, was sagst du?« Sie antwortete nicht. »Ich werde mit Jen reden«, sagte sie. »Gleich morgen. Diese Albernheiten müssen aufhören …« Er ging hinaus, machte Licht. Fing an, in der Küche zu hantieren. Er brachte ihr eine Tasse Kaffee mit einem Schuß Rum. Sie hängte sich ein Bettjäckchen über die Schultern, setzte sich auf und trank, 52
die Hände um die warme Tasse gelegt. Fühlte das Zittern noch tief in ihrem Körper, hörte das Summen der Klimaanlage, dachte an die dummen, dämlichen Meßinstrumente, wie sie kontrollierten und berichteten. Druck, Feuchtigkeit, Sauerstoffstand, dieser ganze Kram. Während Jack dasaß und sie beobachtete, rauchte und lächelte und nicht verstand … Langsam durchschwamm Mary die Stadt noch einmal der Länge nach, blickte nach rechts und links zu den in den Schatten geschmiegten Kuppeln mit ihren Fenstern wie viereckige helle Augen. Das Meer war jetzt dunkler. In der wirklichen Welt, da oben, ging der Mond unter. Die Oberfläche war bloß als ein gräulicher Schimmer zu sehen. Große Farne zeichneten sich gegen sie ab, neigten sich majestätisch mit der Strömung wie von einem endlosen Wind gebogene Bäume. Der Ebbestrom hatte eingesetzt, das Meer zog zu Den Tiefen hin. Nach jenem Gespräch mit ihrem Mann war ihre Ruhelosigkeit schlimmer geworden. Plötzlich erschien ihr die ganze Einrichtung der Kuppel bedrückend und lächerlich. Zuerst hatte sie die Vorhänge abgenommen. Der glänzende blaue Stoff mit den blassen, übereinandergreifenden Gezeitenmustern verschwand im Schrank. Mary hatte einen neuen gelben Stoff aufgehängt, sonnengelb, mit Knospen und blühenden Bäumen bedruckt. Dann verbrannte sie die stachligen, bernsteingefleckten Muschelschalen und die Seeigellampen, Jens schlampige Sammlung von Meeresbodenfossilien und sogar die Kissenhüllen, auf die sie selbst einst wogende minoische Muster aus Wasserpflanzen und Polypen gestickt hatte. Statt dessen stellte sie Dinge vom Land auf, Pferde- und Katzenfigurinen, keuchende 53
Porzellanhunde. Längst verschwundene Geschöpfe, aber sie erinnerten sie an die Erde und daran, wie die Menschen einst gelebt hatten. Jeder Zierat, jeder Meter Stoff mußte von der Oberfläche gekauft werden. Die Kosten waren ungeheuerlich gewesen, aber nachdem sie einmal angefangen hatte, schien sie nicht mehr aufhören zu können. Jack hatte die Augenbrauen hochgezogen, aber nichts gesagt. Jen hatte geräuschvoller protestiert. Ihren Höhepunkt hatte die Krise an jenem Tage erreicht, an dem Mary in dem Wandaquarium von Jens Zimmer ein Stück eines alten, korallenverkrusteten menschlichen Schädels, in dem Jen ihre Krebse angesiedelt hatte, fand. Sie hatte ihre Tochter deswegen geschlagen, etwas, das sie noch nie getan hatte, und den Behälter samt Inhalt durch die Schleuse ausgeleert. Jen war laut heulend ins Meer geflüchtet und stundenlang nicht nach Hause gekommen. Danach verbrachte Mary eine Woche damit, die ganze Kuppel ihres Hauses zu scheuern und den samtigen Tang zu entfernen, bis die kunststoffüberzogenen Platten wie neu glänzten. Aber je mehr sie tat, je mehr sie versuchte, die See aus ihrem Haus zu vertreiben, desto gegenwärtiger schien sie zu werden. Nachts, wenn sie still dalag, glaubte sie fühlen zu können, wie die Wellen langsam gegen den Bungalow andrängten, ihn hierhin und dorthin bogen, langsam, langsam, hierhin … dann dorthin … Sie hielt auf die Westterrasse zu, die, auf einem abfallenden Felsenrücken erbaut, etwas höher als der Rest der Stadt lag. Ständig rufend, schwamm sie fast bis zur Kuppel der Belmonts und wieder zurück. Jen war nicht in der Stadt; oder sie wollte nur nicht antworten. Marys Gesicht war jetzt unter der Maske schweißnaß, und ihre Lungen arbeiteten schwer. Alle 54
möglichen Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Stickstoffnarkose, das, was sie früher den Tiefenrausch nannten … aber das war unmöglich geworden, die Lungen lieferten eine Sauerstoff-Helium-Mischung. Dann vielleicht Sauerstoff Vergiftung; dabei konnte es passieren, daß man sich die Maske abriß, das Wasser einatmete und starb. Aber das war praktisch noch nie vorgekommen. Ganz unten an Marys Rücken, und auch an Jens, befanden sich andere Kontakte. Sie führten zu tief im Körper gelegenen Zellen, die das Blut selbst maßen und auf seinen Sauerstoffgehalt prüften, und die Lungen sorgten von sich aus für Ausgleich. Tornisterversagen? Unsinn, die Flasche an ihrem Gürtel hätte sie noch zwanzig Minuten mit Atemluft versorgt. Und die Funkbake, da war ja die Funkbake. Aber Baken können ausgehen … Mary machte kehrt, unterschwamm das Drahtnetz der Straßenlampen. Dorthin, wo sie die Taucher an dem neuen Gebäudekomplex arbeiten sehen konnte. Im Schein der Straßenlampen umschwebten die Körper fern und winzig klein die geschwungenen Rippen wie silberne Fische. Unter ihr tauchten gerade die Fenster des Baubüros aus der Dunkelheit auf. Bald würde ihr nichts anderes übrigbleiben als Jack zu rufen … Sie spürte die Angst wieder wie eine Kälte um die Herzgegend. Es gab nur eine Stelle, an der sie noch nicht gewesen war. Sie begann zielbewußt von der Stadt und ihren Lichtern weg auf Die Tiefen zuzuschwimmen. Gleich hinter den Kuppeln fiel der Meeresboden in einer Reihe von meilenweiten und meilenlangen Gräben ab. Selbst unsichtbar, waren ihre Umrisse immer noch furchteinflößend. Dies war die Grenze, vielleicht die letzte Grenze auf diesem Planeten. Sie überschwamm den Friedhof, versuchte die zerbrechlichen, 55
aus dem Treibsand aufragenden Kreuze mit ihren wie graue Blätter in der Strömung flatternden Namensschildchen nicht zu sehen. Dorthin, wo das letzte Licht verblaßte und weiter … Sie befand sich in einer leeren, abgrundtiefen Schwärze. Über ihr ein vages Dunkel, das nur um eine Nuance weniger dunkel als die Dunkelheit selbst war. Nicht heller, irgendein Nachzügler vielleicht, der hinter dem Licht herhinkte. Mary ging verzweifelt tiefer, spürte, wie der Druck ihren Körper wie mit kalten Händen zusammenpreßte. Sie keuchte, aber hören konnte sie davon nichts, ihr Atem allein setzte das Kehlkopfmikrofon nicht in Betrieb. Sie rief wieder. Ihre Stimme war ein in der Unendlichkeit fast verlorener Strahl. Aber da war etwas, ein Fleck über dem Abgrund. Winzig, fast unsichtbar, etwas, das so verschwommen war, daß es die Netzhaut narrte. Mary schwamm darauf zu, und da war etwas Langes, etwas Blasses wie ein Körper, der gefangen auf einer dichteren Schicht des Meeres trieb. Tief unten, weit weg … »Jen!« Verzweifelt strampelte Mary vorwärts. Ihre Bewegungen verloren die Grazie und Harmonie. Sie kämpfte gegen den Druck an, und es war, als ob sie gegen eine Wand rannte. Es kam ihr vor, als ob ihr ganzer Körper schrumpfte, sich verdichtete, winzig wie ein Fisch wurde. »Jen!« Sie hatte das Ding erreicht und streckte die Hand danach aus, als es sich bewegte, sich ihrem Griff entwand, drehte … Sie sah die plötzlich aufsteigenden hellen Atemwölkchen, das Paddeln der Flossen. Hörte ihre Tochter im Kopfhörer kichern. 56
Angst verwandelte sich in Zorn. Mary bog sich im Wasser. »Jen, komm sofort zurück …« Sie wollte wieder zupacken, aber das Mädchen entwand sich ihr so schnell wie ein Fisch. »Mami, horch …« Die Stimme sprudelte durch das Meer. »Es ist laut heute nacht, horch …« Mary machte den Mund auf, um wieder zu rufen und hielt ein. Das Geräusch … war da ein Geräusch? Sie horchte angestrengt. Hielt den Atem an. Es war unmöglich; kein Außengeräusch konnte durch ihre abgeblockten Ohren kommen. Und dennoch … Da und jetzt wieder … Ein dumpfes Pochen, aber doch kein Pochen. Eine Art Druck, wie ein Stoß gegen das Gehirn. Unermeßlich langsam und gewaltig und irgendwie uralt … Mit ihrem Herzen pulsierend, vergehend und wieder anschwellend, um ihren Körper zu berühren. Ein Erdbeben oder ein Vulkan, sie hatte keine Ahnung. Es war ihr auch völlig gleichgültig. Irgendwie war es ihr genug, daß die Empfindung, das NichtGeräusch da war. Es war etwas Uraltes, Ewiges. Die wahre, dunkle, schwarzblaue Stimme des Meeres … Die Frau und das Mädchen schwebten ein wenig abseits voneinander, die Körper verschwommen, leuchtende Pünktchen in den Wassermassen. Mary hatte das Gefühl, die ganze Nacht so liegen zu können, ohne zu sprechen, sich nur der Fremdheit überlassend, die sie in vollen Stoßen vom Kopf bis zu den Füßen erfüllte. Rhythmen zu hören, die keine Rhythmen waren, die sich miteinander verbanden und überkreuzten, die ineinander aufgingen wie die Töne des Meer-Jazz. Tröstend, beruhigend, irgendwie warm … Sie konnte Jen rufen hören, aber die Stimme war unwichtig, fern. Erst als das Mädchen zu ihr hinschwamm, sie bei den Schultern packte und auf die 57
Meßgeräte zwischen ihren Brüsten deutete, löste sie sich aus ihrer Halbtrance. Das Etwas da unten rief und pochte noch immer. Mary drehte sich widerstrebend um, merkte, daß Jen sie bei der Hand hielt. Sie ließ sich treiben, während Jen langsam paddelte und wieder vergnügt lachte, in ihren Kopfhörer hineingluckste. Ihre wogenden Haare berührten und vermischten sich. Mary blickte zurück und hinab, und plötzlich wußte sie, daß ihr innerer Kampf vorüber war. In dem Geräusch, in dem Etwas, das sie gehört oder gefühlt hatte, war nichts Beängstigendes gewesen. Nur ein sonderbares und gewaltiges Versprechen. Die Meermenschen würden ihre Kuppeln weiter immer tiefer in die Nacht hinein bauen und Druck und Kälte bekämpfen, bis alle Meere der Welt wahrhaft voll sein würden. Und die Zukunft würde, was immer auch geschehen sollte, für sich selbst sorgen. Vielleicht würden die Techniker eines Tages ein Wunder vollbringen, und dann würden sie die Kuppeln unter Wasser setzen, und das Meer würde ihr Element sein, in, dem sie lebten und atmeten. Sie versuchte, sich Jen mit vom Hals herabwallenden hellen Kiemenfedern vorzustellen. Sie umfaßte die Hand ihrer Tochter fester und ließ sich sanft durch die Dunkelheit ziehen.
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Kate Wilhelm
Baby, du warst fabelhaft John Lewisohn dachte, daß ihm, wenn jetzt noch eine Tür zuschlug oder noch eine Klingel läutete oder noch eine Stimme fragte, wie er sich fühle, der Kopf zerspringen würde. Er verließ seine Laboratorien, ging durch den gekachelten Flur zum Aufzug, der weit aufglitt, um ihn lautlos hinein zu lassen, wurde sanft zwei Stockwerke tiefer getragen, wo die Korridore nicht mehr ausgelegt waren. An der Tür, die er aufstieß, war ein sachliches Schild ›Teststudio‹. Drinnen winkten ihn drei Mädchen, die genau wußten, daß es klüger war, ihn nicht anzureden, wenn er sie nicht anredete, durch den Empfangsraum. Sie waren überrascht, ihn zu sehen; es war sein erster Besuch seit sieben oder acht Monaten. Der Innenraum, in dem er stehenblieb, war verdunkelt, schien auf den ersten Blick leer zu sein, enthüllte einen anderen Anwesenden erst, nachdem seine Augen Zeit gehabt hatten, sich an die trübe Beleuchtung zu gewöhnen. John setzte sich, immer noch wortlos, in den Sessel neben Herb Javits. Herb trug den Helm und starrte auf einen breiten Bildschirm, der in Wirklichkeit eine EinRichtungs-Glasscheibe war, durch die er der im Nebenraum stattfindenden Probe zuschauen konnte. John stülpte sich ebenfalls einen Helm über den Kopf. Der Helm paßte genau und stellte sofort den Kontakt mit den acht präparierten Punkten seines Schädels her. Sobald er ihn angeschaltet hatte, war der Helm als solcher vergessen. Ein Mädchen war in den Nebenraum getreten. Sie war atemberaubend hübsch, eine langbeinige Honig59
blondine mit schrägen grünen Augen und Aprikosenhaut. Der Raum war wie ein Wohnzimmer eingerichtet: zwei Couches, einige Stühle, Regale und ein Kaffeetisch, alles geschmackvoll und leblos, wie ein Bild in einem Möbelprospekt. Das Mädchen blieb in der Tür stehen, und John fühlte ihre stark mit Nervosität und Angst vermischte Unschlüssigkeit. Nach außen hin wirkte sie gelassen und erwartungsvoll, ihr glattes Gesicht verriet keines ihrer Gefühle. Sie machte einen zögernden Schritt hinüber zur Couch, und ein Draht wurde sichtbar, der hinter ihr herschleifte. Er war an ihrem Kopf befestigt. Gleichzeitig öffnete sich eine zweite Tür. Ein junger Mann stürmte herein und knallte die Tür hinter sich zu; er wirkte wild und besessen. Das Mädchen empfand Überraschung, wachsende Nervosität; sie tastete hinter sich nach der Klinke, fand sie und versuchte sie niederzudrücken. Abgeschlossen. John konnte nicht hören, was im Zimmer gesprochen wurde; er fühlte nur die Reaktion des Mädchens auf diesen unerwarteten Zwischenfall. Der Mann mit rollenden Augen näherte sich ihr, fuchtelte mit den Händen in der Luft, warf funkelnde Blicke um sich. Plötzlich stürzte er sich auf sie, zog sie an sich, küßte ungestüm ihr Gesicht und ihren Hals. Einige Sekunden war sie vor Furcht wie gelähmt, dann kam etwas anderes hinzu, eine völlige Gefühlsleere, wie sie manchmal die Langeweile begleitet, oder allzu vollkommene Selbstsicherheit. Als die Hände des Mannes ihre Bluse im Rücken packten und zerrissen, schlang sie ihre Arme um ihn, und ihr Gesicht zeigte Leidenschaft, die sie nirgends, nicht in ihrem Gemüt und nicht in ihrem Blut, empfand. »Cut!« sagte Herb ruhig. Der Mann wich zurück und ließ das Mädchen wort60
los stehen. Sie schaute sich verstört um, ihre zerfetzte Bluse hing ihr um die Hüften, ein Träger war gerissen. Sie war sehr schön. Der Probeleiter kam herein, gefolgt von einem Garderobier mit einem Kleid, das er ihr über die Schultern warf. Sie sah bestürzt aus; ärgerliche Aufwallungen steigerten sich zu Wut, als sie aus dem Raum gezogen wurde, der leer zurückblieb. Die beiden Zuschauer setzten ihre Helme ab. »Die vierte bisher«, brummte Herb. »Gestern sechzehn; vorgestern zwanzig … Alle nichts.« Er warf John einen seltsamen Blick zu. »Was hat dich aus deinem Labor vertrieben?« »Anne hat es diesmal erwischt«, sagte John. »Die ganze Nacht und den ganzen Morgen hängt sie am Telefon.« »Wieso das?« »Diese verdammten Haie! Ich habe dir ja gesagt, daß das nach dem Flugzeugabsturz vorige Woche einfach zuviel war. Sie kann kaum mehr davon ertragen.« »Einen Augenblick, Johnny«, sagte Herb. »Bringen wir erst die drei nächsten Mädchen hinter uns, und reden wir dann darüber.« Er drückte auf einen Knopf an seiner Sessellehne, und der Raum hinter dem Bildschirm nahm ihre Aufmerksamkeit wieder in Anspruch. Diesmal war das Mädchen nicht ganz so schön, kleiner, eine Brünette mit Grübchen, lachenden blauen Augen und Stupsnase. John mochte sie. Er rückte seinen Helm zurecht und fühlte mit ihr mit. Sie war aufgeregt; die Probe regte sie immer auf. Etwas Angst und Nervosität, nicht zuviel. Vermutlich neugierig, wie die Probe ablief. Der junge Mann stürmte ins Zimmer, und ihr Gesicht erbleichte. Sonst änderte sich nichts. Ihre Nervosität nahm zu, nicht un61
angenehm. Als er sie packte, war das einzige Gefühl, das sie vermittelte, Nervosität. »Cut«, sagte Herb. Das nächste Mädchen war ebenfalls eine Brünette mit hinreißend langen Beinen. Sie war sehr kühl, eine echte Profi. Ihr bewegliches Gesicht spiegelte die Skala der zu erwartenden Gefühle wider, während die Szene durchgespielt wurde, aber in ihr regte sich nichts. Sie war von all dem Millionen Meilen weit entfernt. Die nächste nahm John auf Anhieb gefangen. Sie trat langsam in das Zimmer, schaute sich neugierig um, nervös wie alle. Sie war jünger als die anderen Mädchen, weniger gefaßt. Sie hatte mattgoldenes Haar, das sich in kunstvollen Wellen auf ihrem Kopf türmte. Ihre Augen waren braun, ihre Haut hübsch getönt. Als der Mann hereinstürmte, verwandelte sich ihr Gefühl schnell in Angst, dann in Entsetzen. John wußte nicht, wann er die Augen schloß. Er war das Mädchen, von unsäglichem Entsetzen erfüllt; sein Herz hämmerte, Adrenalin pumpte durch seinen Körper; er wollte schreien, konnte aber nicht. Aus den dunklen unergründlichen Tiefen seiner Psyche wallte etwas anderes auf, das sich mit dem Entsetzen so vermischte, daß beides emporstieg und zu einem einzigen Gefühl wurde, das pulsierte und pochte und forderte. Mit einem Ruck öffnete er die Augen und starrte die Scheibe an. Das Mädchen war auf eine der Couches geworfen worden, und der Mann kniete neben ihr auf dem Boden, ließ seine Hände über ihren nackten Körper spielen, preßte das Gesicht gegen ihre Haut. »Cut!« sagte Herb. Seine Stimme bebte. »Engagiert sie«, sagte er. Der Mann stand auf, betrachtete das nun schluchzende Mädchen, beugte sich rasch vor und küßte sie auf die Wange. Ihr Schluchzen wurde stärker. Ihr 62
goldenes Haar war herabgefallen, rahmte ihr Gesicht ein; sie sah wie ein Kind aus. John riß den Helm herunter. Er schwitzte. Herb erhob sich, knipste das Licht im Raum an, und die Scheibe verschwand, ging in die Wand über. Er schaute John nicht an. Als er sich das Gesicht abwischte, zitterte seine Hand. Er steckte sie heftig in die Tasche. »Wann hast du mit diesen Tests angefangen?« fragte John nach einigen Augenblicken des Schweigens. »Vor ein paar Monaten. Ich habe dir davon erzählt. Zum Teufel, wir mußten es tun, John. Das ist das sechshundertneunzehnte Mädchen, das wir ausprobiert haben. Sechshundertneunzehn! Alles Schwindlerinnen, bis auf diese eine! Hohl vom Hals an aufwärts. Hast du eine Ahnung, wie lange wir gebraucht haben, um das herauszufinden? Für jede einzelne Stunden. Hiermit ist es nur noch eine Frage von Minuten.« John seufzte. Er wußte es. Ja, er hatte es selbst vorgeschlagen, als er sagte: »Finde eine Grundsituation der Angst für den Test.« Er hatte nicht wissen wollen, was sich Herb ausgedacht hatte. Er sagte: »Okay, aber sie ist noch ein Kind. Was ist mit ihren Eltern, den Rechten und so weiter?« »Das regeln wir schon. Mach dir darüber keine Sorgen. Was ist mit Anne?« »Sie hat mich seit gestern fünfmal angerufen. Die Haie waren zuviel für sie. Sie möchte uns beide heute nachmittag sehen.« »Du scherzt wohl! Ich kann doch jetzt nicht von hier fort!« »Quatsch! Ich scherze nicht. Sie sagt, kein Einstöpseln, wenn wir nicht auftauchen. Sie will Pillen nehmen und schlafen, bis wir bei ihr sind.« »Mein Gott! Das wagt sie nicht!« 63
»Ich habe Plätze reserviert. Wir fliegen um zwölf fünfunddreißig.« Sie starrten sich einen Augenblick stumm an, dann zuckte Herb die Achseln. Er war ein kleiner Mann, nicht dick, aber kräftig. John war über sechs Fuß groß, muskulös und hatte ein Temperament, das er, wie er wußte, zügeln mußte. Andere hatten den Verdacht, daß bald lauter Leichen herumlägen, wenn er ihm einmal freien Lauf ließe, aber er beherrschte es. Früher war es ein physischer Akt, eine Anstrengung des Körpers und des Willens gewesen, dieses Temperament zu unterdrücken; jetzt war es etwas so Automatisches, daß er sich nicht einmal an eine Gelegenheit erinnern konnte, bei der es wieder auszubrechen drohte. »Also, Johnny, wenn wir Anne sehen, so überlaß mir ihre Behandlung. Einverstanden? Ich werde es kurz machen.« »Was willst du tun?« »Ich werde ihr eine tüchtige Standpauke halten. Wenn sie anfängt, ihre Launen an mir auszulassen, werde ich sie so in Grund und Boden reden, daß sie eine Woche nicht mehr hochkommt.« Er grinste. »Sie hat bisher immer ihren Willen durchgesetzt. Sie wußte, daß wir keinen Ersatz für sie hatten, wenn sie zickig wurde. Aber das soll sie jetzt einmal versuchen. Ja, das soll sie nur versuchen.« Herb ging mit raschen, ruckartigen Schritten auf und ab. John erkannte mit einem Schock, daß er diesen untersetzten Mann mit dem roten Gesicht haßte. Das Gefühl war neu; er schien den Haß, den er empfand, fast schmecken zu können, und der Geschmack war fremd und angenehm. Herb blieb stehen und starrte ihn kurz an. »Warum hat sie dich angerufen? Warum möchte sie, daß auch 64
du hinkommst? Sie weiß doch, daß du mit dieser Sache nichts zu tun hast.« »Sie weiß, daß ich dein Partner bin«, sagte John. »Ja, aber das ist es nicht.« Herb verzerrte sein Gesicht zu einem Grinsen. »Sie glaubt, daß du noch immer scharf auf sie bist, nicht wahr? Sie weiß, daß du ihr einmal verfallen warst, am Anfang, als du sie bearbeitet hast, damit der Trick klappte.« Das Grinsen widerspiegelte keinen Humor mehr. »Hat sie recht, Johnny? Ist es das?« »Wir haben ein Abkommen getroffen«, sagte John. »Du machst deine Sache, ich mache meine. Sie möchte, daß ich mitkomme, weil sie dir nicht traut oder dir kein Wort mehr glaubt. Sie möchte einen Zeugen haben.« »Ja, Johnny. Aber vergiß unser Abkommen nicht.« Plötzlich brach Herb in Lachen aus. »Weißt du, wie es war, euch beide zusammen zu sehen? Wie eine Flamme, die versuchte, sich an einen Eiszapfen zu schmiegen.« Um halb vier waren sie in Annes Suite im Skyline Hotel in Grand Bahama. Herb hatte den Rückflug nach New York um sechs Uhr gebucht. Anne hatte erst um vier Uhr frei, deshalb machten sie es sich in ihren Zimmern gemütlich und warteten. Herb schaltete den Bildschirm ein, reichte John einen Helm, doch der schüttelte den Kopf, und so setzten sie sich beide hin. John betrachtete einige Minuten den Bildschirm, dann stülpte auch er sich einen Helm über. Anne schaute auf die Wogen weit draußen auf dem Meer, dort wo sie noch lang, grün, gewellt waren; dann holte sie den Blick zurück bis zu den blaugrünen und aufgewühlten Strandbrechern und schließlich zu den Sandbänken, wo sie in Schaum ausliefen, der einem fest genug aussah, um darauf gehen zu können. Sie 65
war friedlich, schaukelte mit dem Boot mit, die heiße Sonne auf dem Rücken, die schwere Angelrute in den Händen. Sie schien ein träges Tier zu sein, das mit seiner Welt in Frieden, in ihr heimisch, mit ihr eins war. Nach wenigen Sekunden legte sie die Angel hin, drehte sich um und sah einen großen lächelnden Mann in Badehose an. Er streckte die Hand aus, und sie nahm sie. Sie gingen in die Kajüte, in der Getränke auf sie warteten. Ihre heitere Gelassenheit und Glückseligkeit brachen jäh ab, wichen schockierter Ungläubigkeit und beginnender Angst. »Was zum Teufel …?« murmelte John und drehte an dem Lautverstärker. Man brauchte bei Anne den Lautverstärker nur selten. »… Captain Brothers mußte sie laufen lassen. Schließlich hatten sie noch nichts ausgefressen –«, sagte der Mann trocken. »Aber warum, meinst du, wollen sie mich berauben?« »Wer hat denn hier sonst Schmuck im Wert von einer Million Dollar?« John schaltete aus und sagte: »Du bist ein Narr! Mit so etwas kommst du nicht durch!« Herb stand auf und ging zur Fensterwand, die Aussicht auf einen Streifen glitzernden blauen Ozeans jenseits der blendendweißen Strände bot. »Du weißt doch, was sich jede Frau wünscht? Etwas zu besitzen, das sich zu stehlen lohnt.« Er kicherte, ein Laut ohne Heiterkeit. »Unter anderem, natürlich. Sie möchten einoder zweimal grob angefaßt und in die Knie gezwungen werden … Unser neuer Psychologe ist nicht übel, weißt du. Hat uns bisher noch nicht falsch gesteuert. Vielleicht sträubt sich Anne ein bißchen, aber das gibt sich bald.« 66
»Sie wird einen echten Diebstahl nicht zulassen.« Er fügte lauter, nachdrücklich hinzu. »Und ich werde es auch nicht zulassen.« »Wir können ihn ja vortäuschen«, sagte Herb. »Alles, was wir nötig haben, Johnny, ist, die Idee einzutrichtern und das übrige vorzutäuschen.« John starrte Herbs Rücken an. Er wollte es glauben. Er verlangte danach, es zu glauben. Seine Stimme war ruhig, als er sagte: »So hat es nicht angefangen, Herb. Was ist passiert?« Herb drehte sich um. Sein Gesicht hob sich dunkel von der Helle hinter ihm ab. »Okay, Johnny, so hat es nicht angefangen. Aber die Dinge überstürzten sich, das war alles. Du hattest dir einen Trick ausgedacht, und alles klang großartig, als wir ihn planten, aber er funktionierte nicht lange. Wir haben ihnen das Gefühl des Glückspiels, des Skilaufenlernens, des Autorennens vermittelt, ja alles, was uns nur einfiel, aber es genügte nicht. Wie oft kann man im Leben den ersten Skisprung machen? Für dich war es großartig, oder etwa nicht? Du hast dir ein funkelnagelneues Labor gekauft und die Tür hinter dir zugemacht. Du hast dir Zeit und Ausrüstung gekauft, und wenn etwas schiefging, konntest du es schießen lassen und von vorne anfangen, und kein Mensch kümmerte sich darum. Aber denke einmal daran, wie es für mich war! Ich muß immer etwas Neues bringen, etwas, das Anne einen Schock versetzt und durch sie all diesen netten braven Leuten, die nicht einmal leben, wenn sie nicht eingestöpselt sind. Glaubst du vielleicht, das sei einfach gewesen? Anne war ein grünes Ding. Für sie war alles neu und aufregend, aber, Boy, das ist es nicht mehr. Du solltest mir lieber glauben, daß es nicht mehr so ist. Du weißt doch, was sie mir letzten Monat gesagt 67
hat? Sie habe die Männer satt. Unsere kleine, hitzige Annie! Die Männer satt!« John trat zu ihm und riß ihn zum Licht herum. »Warum hast du mir das nicht erzählt?« »Warum, Johnny? Was hättest du getan, das ich nicht schon getan habe? Ich habe mich eifriger nach dem richtigen Kerl umgesehen. Was würdest du denn tun, um ihr eine neue Sensation zu verschaffen? Ich habe mich dafür abgerackert. Von Anfang an hast du mir gesagt, ich solle dich in Ruhe lassen. Okay. Ich habe dich in Ruhe gelassen. Hast du je irgendeines der Memos gelesen, die ich dir geschickt habe? Du hast dein Zeichen darunter gesetzt. Alles, was getan wurde, haben wir beide unterzeichnet. Also komm’ mir nicht mit diesem ›Warum hast du mir das nicht erzählt?‹ Das zieht nicht!« Sein Gesicht war widerlich rot, und an seinem Hals trat eine Ader hervor. John fragte sich, ob er wohl zu hohen Blutdruck habe, ob er bei einem seiner Wutanfälle einen Herzschlag bekäme. John ließ ihn beim Fenster stehen. Er hatte die Memoranden gelesen. Herb hatte recht; er wünschte sich nur, in Ruhe gelassen zu werden. Es war seine Idee gewesen; nach zwölfjähriger Laboratoriumsarbeit über Prototypen hatte er Herb Javits seinen – Trick – gezeigt. Herb war damals einer der größten Fernsehproduzenten gewesen; jetzt war er der größte Produzent der Welt. Der Trick war ganz einfach. Eine Person, in deren Gehirn Elektroden angebracht waren, konnte über sie ihre Gefühle vermitteln, die dann ausgestrahlt und von den Helmen empfangen wurden, so daß das Publikum sie mitempfand. Weder Worte noch Gedanken wurden gesendet, sondern nur Elementargefühle – Angst, Liebe, Wut, Haß … Das in Verbindung mit einer Kamera, die 68
zeigte, was die Person sah, mit einer synchronisierten Stimme, und schon war man die Person, die das Erlebnis hatte, allerdings mit dem wichtigen Unterschied – man konnte abschalten, wenn es einem zuviel wurde. Der ›Darsteller‹ konnte das nicht. Ein einfacher Trick. Man brauchte eigentlich Kamera und Tonband gar nicht; viele Teilnehmer schalteten sie nie ein, sondern ergänzten die Gefühlssendung mit ihrer eigenen Phantasie. Die Helme wurden nicht verkauft, sondern, nach einer kurzen, mühelosen Anprobe, nur vermietet. Die Jahresmiete betrug fünfzig Dollar, und es gab über siebenunddreißig Millionen Teilnehmer. Herb hatte sein eigenes Netz geschaffen, als die Nachfrage nach mehr Sendezeit ihn aus dem normalen Fernsehen verdrängte. Aus einer einstündigen Show in der Woche wurde eine Stunde jeden Abend, und jetzt waren es täglich acht Stunden Direktübertragung und weitere acht Stunden Aufzeichnungen. Was als EIN TAG IM LEBEN DER ANNE BEAUMONT begonnen hatte, war nun ein Leben im Leben der Anne Beaumont, und das Publikum war unersättlich. Anne kam mit ihrem Gefolge herein, das sie Tag für Tag umlagerte – Friseure, Masseure, Schneider, Scriptmen … Sie sah müde aus. Sie schickte die Schar mit einem Wink hinaus, als sie John und Herb erblickte. »Hallo, John«, sagte sie. »Herb.« »Anne Baby, du siehst fabelhaft aus!« sagte Herb. Er nahm sie in die Arme und küßte sie fest. Sie hielt still, die Hände an den Hüften. Sie war groß, sehr schlank, hatte weizenblondes Haar und graue Augen. Ihre Backenknochen waren 69
breit und hoch, ihr Mund hart und fast ein wenig zu breit. Gegen ihre rotgoldene Sonnenbräune wirkten ihre Zähne weißer, als John sie in Erinnerung hatte. Obwohl sie zu straff und stark war, um je als hübsch zu gelten, wirkte sie als eine sehr schöne Frau. Nachdem Herb sie losgelassen hatte, wandte sie sich zu John, zögerte einen Augenblick, streckte dann ihre schlanke, sonnengebräunte Hand aus. Sie lag kühl und trocken in seiner Hand. »Wie ist es dir ergangen, John? Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen.« Er war heilfroh, daß sie ihn nicht küßte oder Darling nannte. Sie lächelte nur leise und zog ihre Hand sanft aus seiner zurück. Er ging zur Bar, als sie sich Herb zuwandte. »Ich mache Schluß, Herb.« Ihre Stimme klang allzu ruhig. Sie nahm einen Whisky Sour von John entgegen, ohne Herb aus den Augen zu lassen. »Was ist denn los, Honey? Ich habe dir gerade zugeschaut, Baby. Du warst heute fabelhaft, wie immer. Du hast es immer noch, Kid. Es kommt an, wie immer.« »Was ist mit diesem Diebstahl? Du mußt völlig übergeschnappt sein …« »Tja, das. Hör zu, Anne Baby, ich schwöre dir, daß ich nichts davon weiß. Laughton muß dir das aufgehalst haben. Du weißt doch, daß wir übereingekommen sind, daß du in der restlichen Woche eine schöne Zeit haben sollst, erinnerst du dich? Das kommt auch gut an, Baby. Wenn du eine schöne Zeit hast und dich entspannst, haben siebenunddreißig Millionen Leute ein herrliches Leben und entspannen sich. Das ist gut. Sie können nicht dauernd aufgeputscht werden. Sie lieben die Abwechslung.« Wortlos hielt John ihm ein Glas 70
hin, Scotch mit Wasser. Herb nahm es, ohne hinzusehen. Anne beobachtete ihn kühl. Plötzlich lachte sie. Es war ein zynischer, bitterer Laut. »Du bist kein verdammter Narr, Herb. Versuche also nicht, dich wie einer zu benehmen.« Sie nippte nochmals an ihrem Getränk und starrte ihn über ihren Brillenrand an. »Ich warne dich, wenn irgend jemand auftaucht, um mich zu berauben, dann behandele ich ihn wie einen richtigen Dieb. Ich habe gestern nach der Sendung einen Revolver gekauft, und ich habe schon mit zehn Jahren schießen gelernt. Ich kann es immer noch. Ich werde ihn töten, Herb, wer immer es ist.« »Baby«, fing Herb an, aber sie unterbrach ihn. »Und das ist meine letzte Woche. Am Samstag mache ich Schluß.« »Das kannst du nicht tun, Anne«, sagte Herb. John musterte ihn scharf, um ein Anzeichen von Schwäche zu entdecken; er fand keins. Herb strahlte Zuversicht aus. »Anne, sieh dir doch dieses Zimmer an, deine Kleider, alles … Du bist die reichste Frau der Welt, hast die schönste Zeit deines Lebens, kannst überall hin, alles tun …« »Während die ganze Welt mir dabei zuschaut …« »Na und? Du läßt es doch deswegen nicht bleiben, oder?« Herb begann mit seinen raschen, ruckartigen Schritten auf und ab zu gehen. »Das wußtest du, als du den Vertrag unterschrieben hast. Du bist ein ungewöhnliches Mädchen, Anne, schön, gefühlvoll, intelligent. Denk an all die Frauen, die nur dich haben. Was sollen sie tun, wenn du sie im Stich läßt? Sterben? Kann sein, weißt du das? Zum erstenmal in ihrem Leben sind sie imstande, das Gefühl zu haben zu leben. Du gibst ihnen 71
das, was ihnen noch nie jemand gegeben hat, was die Bücher und Filme von früher nur andeuteten. Plötzlich wissen sie, was für ein Gefühl es ist, der Gefahr ausgesetzt zu sein, Liebe zu erfahren, zufrieden und erfüllt zu sein. Denk an sie, Anne, die sonst leer sind, die in ihrem Leben nichts außer dir haben, nichts außer dem, was du ihnen zu geben vermagst. Siebenunddreißig Millionen Nieten, Anne, die nur Langeweile und Frustration empfunden haben, bis du ihnen das Leben geschenkt hast. Was haben sie denn? Arbeit, Kinder, Rechnungen! Du hast ihnen die Welt geschenkt, Baby! Ohne dich hätten sie nicht einmal den Wunsch weiterzuleben.« Sie hörte nicht zu. Fast verträumt sagte sie: »Ich werde mit meinen Rechtsanwälten reden, Herb, und der Vertrag ist bedeutungslos. Du hast ihn schon zigmal gebrochen. Ich habe mich einverstanden erklärt, viel Neues zu lernen. Das habe ich auch getan. Mein Gott! Ich habe Berge bestiegen, Löwen gejagt, Skiund Wasserskilaufen gelernt, aber jetzt verlangst du, das ich jede Woche ein kleines bißchen sterbe … Dieser Flugzeugabsturz, nicht schlecht, gerade gut genug, um mich zu Tode zu ängstigen. Dann die Haie. Ich glaube wirklich, daß dieses Auftauchen der Haie, während ich Wasserski lief, daß das mir den Rest gab, Herb. Weißt du, du bringst mich um. Dazu kommt es, und das kannst du nicht übertreffen, Herb. Niemals.« Eine grimmige, abwartende Stille folgte ihren Worten. Nein! schrie John lautlos. Er sah Herb an, der stehengeblieben war, als sie zu reden begann. Etwas zuckte über sein Gesicht – Überraschung, Angst, etwas nicht leicht zu Definierendes. Dann wurde sein Gesicht ausdruckslos, und er setzte sein Glas an die Lippen, kippte den Scotch mit Wasser und stellte das Glas 72
dann auf die Bar. Als er sich umdrehte, lächelte er ungläubig. »Was wurmt dich denn wirklich, Anne? Es hat schon vorher Tricks gegeben. Du hast davon gewußt. Weißt du, diese Löwen erschienen nicht zufällig. Und die Lawine brauchte etwas Nachhilfe. Das weißt du. Was wurmt dich also sonst noch?« »Ich liebe, Herb.« Herb fegte das ungehalten weg. »Hast du dir je deine eigene Show angesehen, Anne?« Sie schüttelte den Kopf. »Das habe ich mir gedacht. Du weißt also nichts von der Erweiterung, die vorigen Monat stattfand, als wir einen neuen Sender in deinen Kopf einbauten. Johnny war nicht untätig, Anne. Du kennst diese Wissenschaftler, die nie zufrieden sind, die immer verbessern, verändern. Wo ist die Kamera, Anne? Weißt du je, wo sie jetzt ist? Hast du in den letzten Wochen je eine Kamera oder irgendein Aufnahmegerät gesehen? Das hast du nicht und wirst es nie mehr tun. Du bist auch jetzt eingeschaltet.« Seine Stimme war leise, klang fast belustigt. »Ja, die einzige Zeit, in der du nicht eingeschaltet bist, ist, wenn du schläfst. Ich weiß, daß du liebst. Ich weiß auch, wen du liebst. Ich weiß, welche Gefühle er in dir erweckt. Ich weiß sogar, wieviel Geld er in der Woche verdient. Ich muß das wissen, Anne Baby. Ich bezahle ihn.« Er hatte sich ihr bei jedem Wort weiter genähert, und beim letzten war sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Er hatte keine Möglichkeit, dem klatschenden Schlag auszuweichen, der seinen Kopf herumriß, und ehe sie sich’s versahen, hatte er zurückgeschlagen, so daß sie in einen Sessel sank. Die Stille wurde haßerfüllt und schwer, als würden Worte geboren und stürben unausgesprochen, weil sie zu brutal waren, als daß der menschliche Geist sie er73
tragen könnte. Ein Blutfleck war auf Herbs Mund, da wo Annes Diamantring ihn geritzt hatte. Er faßte hin und betrachtete seinen Finger. »Alles wird jetzt aufgenommen, Honey, sogar das«, sagte er. Er kehrte ihr den Rücken und ging zur Bar. Auf ihrer Wange war ein großer, roter Abdruck. Ihre grauen Augen waren vor Wut schwarz geworden. »Honey, reg dich ab«, sagte Herb nach einigen Sekunden. »Es macht für dich bei dem, was du tust oder treibst, überhaupt keinen Unterschied. Du weißt, daß wir das meiste Material nicht verwenden können, aber es bietet den Redakteuren eine größere Auswahl. Es kam soweit, daß das interessanteste Material erst aufgenommen wurde, als du schon abgegangen warst. Etwa der Kauf des Revolvers. Das war großartiges Material, Baby. Du hast nichts vertuscht, und alles kam wie reines Gold heraus.« Er beendete das Mixen seines Drinks, probierte ihn und kippte ihn dann zur Hälfte hinunter. »Wie viele Frauen müssen in ein Geschäft gehen und einen Revolver kaufen, um sich selbst zu schützen? Denk an sie alle, die diesen Revolver fühlen, die das fühlen, was du gefühlt hast, als du ihn in die Hand genommen, ihn betrachtet hast …« »Seit wann nimmst du dauernd auf?« fragte sie. John spürte, wie es ihm kalt über den Rücken lief. Er wußte, was der Miniatursender ausstrahlte, kannte die aufwallenden Gefühle, die sie empfand. Nur eine Spur davon zeigte sich auf ihrem glatten Gesicht, aber die in ihrem Innern wütende Qual wurde getreulich aufgenommen. Ihre ruhige Stimme und ihr ruhiger Körper waren Lügen; die Aufzeichnungen logen nie. Herb spürte es auch. Er stellte sein Glas hin, trat zu ihr, kniete sich neben dem Sessel hin und nahm ihre Hand in seine beiden Hände. »Anne, sei mir bitte nicht 74
böse. Ich hatte neues Material verzweifelt nötig. Als Johnny mit diesem letzten Trick erschien, und als wir wußten, daß wir vierundzwanzig Stunden aufnehmen konnten, mußten wir es ausprobieren, und es hätte keinen Sinn gehabt, wenn du Bescheid gewußt hättest. So kann man nichts testen. Du wußtest, daß wir den Sender eingebaut haben …« »Seit wann?« »Seit einem knappen Monat.« »Und Stuart? Er ist einer deiner Leute? Er sendet auch? Du hast ihn engagiert, … um mich zu lieben? Stimmt das?« Herb nickte. Sie riß ihre Hand los und wandte das Gesicht ab. Er stand auf und ging zum Fenster. »Aber was macht es denn für einen Unterschied?« rief er. »Wenn ich euch auf einer Party miteinander bekannt gemacht hätte, hättest du dir nichts dabei gedacht. Was ist denn der Unterschied, daß ich es auf diese Art getan habe? Ich wußte, daß ihr euch gern haben würdet. Er ist brillant wie du, mag die gleichen Dinge wie du. Stammt aus einer armen Familie, wie du … Alles sprach dafür, daß ihr gut miteinander auskommen würdet.« »O ja«, sagte sie fast geistesabwesend. »Wir kommen gut miteinander aus.« Sie griff sich ins Haar, und ihre Finger tasteten nach den Narben. »Sie sind schon alle verheilt«, sagte John. Sie sah ihn an, als hätte sie seine Anwesenheit vergessen. »Ich werde schon einen Chirurgen finden«, sagte sie und stand, die weißen Finger um ihr Glas gekrallt, auf. »Einen Gehirnchirurgen …« »Es war eine neue Prozedur«, sagte John langsam. »Es wäre gefährlich, sie herauszuoperieren.« Sie sah ihn lange an. »Gefährlich?« Er nickte. 75
»Du könntest sie herausnehmen.« Er erinnerte sich, wie er zu Beginn ihre Angst vor den Elektroden und Drähten beschwichtigt hatte. Sie hatte die Angst eines Kindes vor dem Unbekannten und Unkenntlichen. Immer wieder hatte er bewiesen, daß sie ihm vertrauen konnte, daß er sie nicht anlog. Er hatte sie damals nicht belogen. In ihren Augen lag nun dasselbe Vertrauen, derselbe Glauben. Sie würde ihm glauben. Sie würde, ohne eine weitere Frage zu stellen, das glauben, was er sagte. Herb hatte ihn als Eiszapfen bezeichnet, aber das war falsch. Ein Eiszapfen wäre in ihrem Feuer geschmolzen. Eher ein Stalaktit, von Jahrhunderten der Zivilisation geformt, Schicht um Schicht, bis er vergessen hatte, wie man sich beugt, wie man sich von den Regungen befreit, die er irgendwo in seinem hohlen, starren Innern verspürte. Sie hatte es versucht und sich, frustriert, von ihm abgewandt, gekränkt, aber dennoch außerstande, einem Menschen später nicht zu vertrauen, den sie einmal geliebt hatte. Jetzt wartete sie. Er konnte sie freilassen und wieder verlieren, diesmal unwiderruflich. Oder er konnte sie halten, solange sie lebte. Angst und jenes Vertrauen, das er ihr eingeflößt hatte, verdunkelten ihre schönen grauen Augen. Langsam schüttelte er den Kopf. »Ich kann es nicht«, sagte er. »Keiner kann es.« »Ich verstehe«, murmelte sie, und Schwärze füllte ihre Augen. »Ich würde sterben, nicht wahr? Dann hättest du eine herrliche Serie, nicht wahr, Herb?« Sie wirbelte herum, weg von John. »Natürlich müßtest du die Handlung fälschen, aber das kannst du ja so gut. Ein Unfall, dringende Gehirnoperation, alles, was ich empfinde, wird den armseligen kleinen Nieten ausgestrahlt, die nie einer Gehirnoperation unterzogen wer76
den. Wirklich ganz ausgezeichnet«, sagte sie bewundernd. Ihre Augen wurden schwarz. »Tatsächlich wirst du, was ich fortan tue, verwenden, nicht wahr? Wenn ich dich umbringe, wird das einfach Material für deine Redakteure sein. Gerichtsverhandlung, Gefängnis, höchst dramatisch … Wenn ich mich andererseits umbringe …« John fröstelte; ein kaltes hartes Gewicht schien ihn auszufüllen. Herb lachte. »Ja, die Handlung wird etwa so sein«, sagte er. »Anne hat sich in einen Fremden verliebt, liebt ihn tief und aufrichtig. Jeder weiß, wie tief diese Liebe ist, auch sie haben sie empfunden, weißt du? Sie ertappt ihn dabei, wie er ein Kind, ein reizendes halbwüchsiges Mädchen vergewaltigt. Stuart sagt ihr, daß es zwischen ihnen aus sei. Er liebe die kleine Nymphe. In einem Anfall der Leidenschaft bringt sie sich um. Du sendest augenblicklich einen wahren Sturm der Leidenschaft, wie, Honey? Laß nur, wenn ich mir diese Szene vorspielen lasse, werde ich es feststellen.« Sie warf ihr Glas nach ihm, Eiswürfel und Orangenscheiben flogen durch das Zimmer, Herb duckte sich grinsend. »Das ist großartig, Baby. Zwar etwas pikant, aber davon können sie gar nicht genug kriegen, nicht wahr? Sie werden hellbegeistert davon sein, wenn sie den Schock über deinen Verlust überwunden haben. Und sie werden ihn überwinden, weißt du? Das tun sie immer. Ich frage mich, ob das auch stimmt, was da angeblich jemand erlebt, der eines gewaltsamen Todes stirbt?« Anne biß sich auf die Lippe und setzte sich, die Augen fest geschlossen, langsam hin. Herb beobachtete sie flüchtig, dann sagte er noch heiterer: »Wir haben die Kleine schon. Wenn man ihnen einen Tod vorsetzt, 77
muß man ihnen ein neues Leben schenken. Peng, Schluß mit der einen. Peng, Startschuß für die andere. Wir werden die Kleine Aschi nennen, denn schließlich ist es eine richtige Aschenbrödelgeschichte. Sie werden auch sie lieben.« Anne öffnete die nun schwarz verschleierten Augen; die Spannung in ihr war so groß, daß John spürte, wie sich seine eigenen Muskeln zusammenzogen. Er fragte sich, ob er fähig sein würde, die Aufzeichnung dessen, was sie jetzt sendete, auszuhalten. Eine Welle der Erregung überspülte ihn, und er wußte, daß er alles mitspielen, mitempfinden würde, die unglaublich gebändigte Wut, die Angst, das Entsetzen, ihnen einen Tod anzubieten, über den sie sich hämisch freuten, und schließlich die Qual. Er würde es alles erfahren. Er beobachtete Anne und wünschte, daß sie jetzt zusammenbrechen würde. Sie tat es nicht. Sie stand steif auf, den Rücken gestrafft, während ein harter Muskel an ihrem Kinn hervortrat. Ihre Stimme war tonlos als sie sagte: »Stuart ist in einer halben Stunde hier. Ich muß mich umziehen.« Sie ließ sie stehen, ohne sich umzusehen. Herb winkte John und ging zur Tür. »Begleitest du mich zum Flugplatz, Kid?« Im Taxi sagte er: »Bleibe ein paar Tage in ihrer Nähe, Johnny. Vielleicht kommt eine noch heftigere Reaktion später, wenn sie erkennt, wie fest sie an der Angel hängt.« Er kicherte. »Mein Gott! Nur gut, daß sie dir vertraut, Johnny Boy!« Während sie in der Abflughalle aus Chrom und Marmor darauf warteten, daß die Linienmaschine ihre Passagiere auslud, sagte John: »Glaubst du, daß sie nach all dem noch gut sein wird?« »Sie kann nicht anders. Sie ist zu lebensgebunden, um freiwillig sterben zu wollen. Sie ist innen wie ein 78
Dschungel, urwüchsig, wild, unberührt von der glatten Schicht der Zivilisation, die sie nach außen hin zur Schau trägt. Es ist eine dünne Schicht, Kid, sehr dünn. Sie wird kämpfen, um am Leben zu bleiben. Sie wird wachsamer sein, stärker auf der Hut vor Gefahren, aufregender, immer aufregender. Sie wird wirklich in die Brüche gehen, wenn er sie heute abend berührt. Sie ist echt geladen. Vielleicht müssen wir sogar ein bißchen redigieren, es etwas abschwächen.« Seine Stimme klang überaus glücklich. »Er berührt sie, wo sie lebt, und sie reagiert. Eine echte Wilde. Das ist sie; das ist die neue Kleine; Stuart … Es gibt nur wenige, Vereinzelte, Johnny. Wir müssen sie finden. Gott weiß, ob wir nicht alle brauchen, die wir aufstöbern können.« Seine Miene wurde nachdenklich und in sich gekehrt. »Weißt du, meine Idee mit der Vergewaltigung und der Kleinen war gar nicht so übel. Wer hätte es sich träumen lassen, daß wir ihr eine solche Reaktion entlocken würden? Wenn wir es richtig anpacken …« Er mußte rennen, um sein Flugzeug zu bekommen. John eilte zum Hotel zurück, um in Annes Nähe zu sein, falls sie ihn nötig hatte. Aber er hoffte, sie würde ihn in Ruhe lassen. Seine Finger zitterten, als er den Bildschirm anschaltete; plötzlich hatte er eine klare Erinnerung an die Kleine, die geweint hatte, und er hoffte, daß Stuart Anne wenigstens ein bißchen weh tat. Das Zittern seiner Finger nahm zu; Stuart trat von sechs bis zwölf auf, und er hatte schon fast eine Stunde der Show versäumt. Er setzte den Helm auf und sank in einen tiefen Sessel zurück. Er drehte den Ton nicht an, sondern ließ seine eigenen Worte, seine eigenen Gedanken die Lücken ausfüllen. Anne beugte sich zu ihm, sprudelnden Champagner an den Lippen, die Augen geweitet und sanft. Sie redete, 79
sprach mit ihm, John, nannte ihn beim Namen. Er fühlte, wie ein Prickeln irgendwo tief in ihm aufstieg, und sein Blick senkte sich, um auf ihrer sonnengebräunten, in seiner Hand liegenden Hand ruhen zu bleiben, die elektrische Stöße durch ihn sandte. Ihre Hand zitterte, als er mit den Fingern über ihre Handfläche zu ihrem Handgelenk glitt, an dem eine blaue Ader pochte. Das leichte Pochen wurde zu einem Hämmern, das immer stärker wurde, und als er ihr wieder in die Augen schaute waren sie dunkel und sehr tief. Sie tanzten, und er fühlte ihren Körper, hingebungsvoll, flehend, an seinem. Das Zimmer wurde dunkel, und sie zeichnete sich als Silhouette gegen das Fenster ab, als ihr Kleid an ihr herabglitt. Die Dunkelheit wurde dichter, oder er machte die Augen zu, und als sie ihren Körper diesmal an seinen schmiegte, war nichts mehr dazwischen, und das Hämmern war überall. In dem tiefen Sessel, den Helm auf dem Kopf, schloß John die Hände, öffnete sie, schloß sie, immer und immer wieder.
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Richard McKenna
Die seligen Gefilde Am Morgen des fünften Tages erwachte Kinross und wußte, daß einer von ihnen aufgefressen sein würde, ehe die Sonne unterging. Er überlegte sich, wie das wohl wäre. Gestern hatten sich die acht kattun- und khakibekleideten Seeleute mit vor Durst brüchigen Stimmen unentwegt darüber gestritten. Acht vom Schicksal verschonte Überlebende, die ohne Nahrung und Wasser in einem seeuntüchtigen Rettungsboot steuerlos auf den Wogen des Indischen Ozeans trieben. Die SS Ixion, ein 6000-Tonnen-Trampdampfer, der Sprengstoffe zu den Roten in Sumatra schmuggelte, war in der Nacht des 23. Dezember 1959 explodiert und innerhalb von zehn Minuten gesunken. Fettwanst John Krüger, der Funker, hatte kein Notsignal mehr geben können. Vier Tage unter der senkrechten Sonne des Wendekreises des Steinbocks, abseits der Schiffahrtslinien und tausend Meilen vom Land entfernt, ohne Regen und kaum Hoffnung darauf – Grund und Zeit genug für finstere Gedanken. Kinross, hager und drahtig in den verschlissenen Kattunhosen eines Maschinisten, betrachtete die anderen und überlegte sich, wie es wohl vor sich ginge. Sie nahmen ungefähr die gleichen Haltungen ein wie gestern, schliefen noch oder taten so. Er betrachtete die stoppelbärtigen Gesichter, die aufgesprungenen Lippen und eingesunkenen Augen, und er wußte, was sie empfanden. Die Haut gespannt und ledern, die Zunge an Zähnen und Gaumen klebend, die ausgetrocknete Kehle ein Grauen pfeifenden Atems und jede Zelle im Körper jammernd. 81
Durst war schlimmer als Schmerz, dachte er. Webers Gesetz des Schmerzes. Der Schmerz nahm zu wie der Logarithmus seiner Ursache; ein Mensch konnte damit Schritt halten. Aber der Durst potenzierte sich, stieg und stieg unaufhörlich. Gestern hatten sie den kritischen Punkt erreicht, und heute mußte etwas geschehen. Der kleine Fay mit dem Rattengesicht und der vorspringenden Stirn hatte gestern davon angefangen. In Meerwasser gekochtes Menschenfleisch, hatte er gesagt, nehme das meiste Salz fort und lasse eine Brühe zurück, die trinkbar sei. Kinross erinnerte sich an dieses Seemannsgarn, das auf seiner ersten Fahrt vor vielen Jahren unter den Schiffsjungen gesponnen wurde, aber jetzt war es kein Leckerbissen mehr für die morbide Neugier der Jugend. Es drängte sich als neunter Passagier in das Boot und setzte sich zwischen ihn und all die anderen. »Nix kleine Stock, Fay«, hatte der hünenhafte Schwede Kerbeck gebrummt. »Wenn wir jemand müssen essen, dann wir essen du.« Kinross betrachtete jetzt Kerbeck, der links am Heck saß und dessen riesiger bronzefarbener Arm die nutzlose Ruderpinne umschlang. Er trug ein weißes Unterhemd und Khakihosen, und Kinross fragte sich, ob er wach sei. Auch bei Krüger, ihm genau gegenüber, ließ sich das nicht mit Sicherheit sagen. Der Funker hatte während der vier Tage meistens so geschlafen, die plumpen unbeharrten Hände über dem leeren Magen unter dem weißen Trikot verschränkt. Er hatte nicht an dem rastlosen Hin und Her und dem Gerede der anderen teilgenommen, sondern sich nur bewegt, um das Taschentuch wieder anzufeuchten, das auf seinem fast kahlen Kopf lag. 82
»Ihr werdet mich nicht aufessen!« hatte Fay geschrien. »Und auch keine Lose ziehen. Ein Freiwilliger soll es sein, jemand, der an diesem Schlamassel schuld ist.« Fay hatte Kerbeck die Schuld dafür gegeben, daß sich kein Proviant im Boot befand. Der Schwede entgegnete wütend, er habe das schon gewußt als sie aus Mossamedes ausgelaufen seien. Fay gab Kinross die Schuld dafür, daß der Motor des Rettungsboots nicht funktionierte. Kinross erklärte, mit kribbelnder Haut, recht milde, daß die Batterie zwei Tage vor dem Sinken noch geladen und der Dieselmotor in Ordnung gewesen sei. Da wandte sich Fay an Krüger und warf ihm vor, kein Notsignal gefunkt zu haben. Krüger beharrte darauf, daß die Explosion ihn von der Funkkabine abgeschnitten habe und daß, wenn er nicht sofort das Rettungsboot ausgesetzt hätte, vielleicht keiner von ihnen mit dem Leben davon gekommen wäre. Kinross betrachtete jetzt den neben dem Motor schlafenden Fay. Auf der anderen Seite, ebenfalls schlafend, lag Bo Bo, der gigantische senegalesische Heizer, nur mit Kattunshorts bekleidet. Gestern hatte Kinross den Eindruck gehabt, daß irgendein Einverständnis zwischen Fay und dem mächtigen Neger bestünde. Bo Bo hatte Fays Beschuldigungen brummend beigepflichtet, ebenso wie die drei Männer am Vordersteven. Erstaunlicherweise hatte Krüger die Drohung abgewehrt. Ohne Heftigkeit sagte er mit seiner schrillen durchdringenden Stimme zu ihnen: »Kommt nur an einen von uns hier achtern, dann kämpfen wir alle drei.« Kerbeck hatte genickt und die schwere Ruderpinne aus Messing herausgezogen. Während sie schwankten, ging Krüger zum Angriff 83
über. »Na, such doch einen aus, Fay, warum zögerst du? Wer hat denn schon am meisten vom Leben gehabt? Nimm den ältesten.« Silva, der runzlige, glotzäugige Portugiese am Bug, krächzte seinen wilden Protest heraus. Neben ihm lachte der untersetzte Mexikaner Garcia rauh. »Okay, wer stirbt am schnellsten? Nimm den Schwächsten«, sagte Klüger. »Nimm Whelan.« Der Schiffsjunge Whelan, ebenfalls am Bug, fand die Kraft, um Gnade zu winseln. Kinross betrachtete, während er sich an gestern erinnerte, die beiden am Bug ausgestreckten Männer. Er meinte halb, daß der Mexikaner seinen Blick erwidere. Sein gedrungener, kattunbekleideter Körper paßte sich dem Stampfen des Bootes an, während es über die Wellen glitt, im Gegensatz zu der Schlaffheit des alten Portugiesen. Schließlich hatte Garcia gesagt: »Du hast verloren, Fay. Du mußt mit uns übrigen dein Glück beim Losziehen versuchen. Ich stelle mich auf Krügers Seite.« Die drei Männer am Heck hatten gegen das Losziehen gestimmt, fügten sich dann aber der Mehrheit. Danach hatte Krüger an jeder vorgeschlagenen Methode etwas auszusetzen, indem er darauf hinwies, daß sich dabei Betrug einschleichen könnte. Der Tag ging unter Kabbeleien zur Neige. Kinross dachte an die erstaunlich mühelose, fließende Beschaffenheit von Krüger an jeder vorgeschlagenen Methode etwas auszusetzen, Krächzen der anderen kontrastierte. Er schien in besserer Verfassung zu sein als die übrigen und die Dinge irgendwie in der Hand zu haben. Kurz vor Sonnenuntergang, als sie die Sache auf den nächsten Tag verschoben hatten und während Silva seinen Rosenkranz durch die Finger gleiten ließ und um Regen betete, hatte der Schiffsjunge Whelan backbords 84
grüne Felder erblickt. Er schrie seine Entdeckung heraus, warf seinen Körper über das Schandeck und versank wie ein Stein. »Da hast du es, Krüger!« hatte Fay bitter geröchelt. »Bis jetzt hatte dein fetter Leib eine Chance auf acht.« Kinross erinnerte sich an seinen eigenen Anflug des Bedauerns. Kinross spürte, wie die steigende Sonne an seinen trockenen Augäpfeln saugte, und der Durst flammte dreidimensional durch ihn, verzehrte Verstand und Vernunft. Er wußte, daß heute der Tag war und daß er es so wollte. Er schaute wieder vor sich, und der Mexikaner sah ihn tatsächlich aus seinen rotumränderten Augen an. »Ich weiß, was du denkst, Kinross« rief er nach achtern. Seine Stimme weckte die anderen. Sie setzten sich allmählich auf. Der kleine Fay übernahm mit wackelndem Kopf, roten Augen, die um Zustimmung baten, die Führung. »Auslosen«, sagte er. »Kein Palaver mehr. Jetzt sofort, sonst sieht keiner von uns die Sonne untergehen.« Krüger stimmte zu. Er klimperte mit Shillingstücken in der Hand und reichte sie herum. Nur eines trug das Bildnis Georges V. Er schlug vor, Bo Bo, dem Dümmsten, die Augen zu verbinden und ihn die Münzen nacheinander aus dem Schöpfeimer nehmen zu lassen. Fay sollte Rücken an Rücken mit ihm sitzen und sobald Bo Bo eine Münze herausgenommen hatte, aber bevor jemand sie sehen konnte, den Namen des Mannes nennen, der sie bekommen sollte. Wer den Bart bekam, war das Schlachtopfer. Alle erklärten sich einverstanden. Silva bat um Zeit zum Beten, und Fay machte sich über ihn lustig. Der kleine Mann hockte auf dem Maschinenhaus, Rücken an 85
Rücken mit Bo Bo, und betrachtete berechnend die Runde. Kinross konnte die Bosheit seines Blickes spüren. ›Das Gesetz der Wahrscheinlichkeit‹ dachte Kinross. ›In der Mitte der Serie. Nummer drei oder vier. Natürlich Unsinn.‹ Offensichtlich dachte Fay das gleiche. Als der Neger die erste Münze herauskramte und fragte: »Wer soll die bekommen?«, antwortete Fay: »Die nehme ich.« Es war eine Königin, und Kinross haßte Fay. Die nächste wies Fay Bo Bo zu, und der gigantische Schwarze war gerettet. Bei der nächsten nannte Fay, während Kinross den Atem anhielt, Kerbeck. Auch gerettet. Jedesmal lief ein Seufzen durch das Boot. Dann die vierte Prüfung, und Fay rief: »Kinross.« Der Maschinist blinzelte mit seinen trockenen Augen und bemühte sich, die Münze in den dicken schwarzen Fingern zu erkennen. Er wußte es zuerst durch die Erleichterung auf Silvas Gesicht und dann sah er es selbst deutlich. Es war der Bart. Alle außer Fay und Bo Bo mieden seinen Blick. Kinross wußte kaum, was er empfand. Der Gedanke kam: ›das Ende der Qual‹ und dann: ›Ich werde anständig sterben‹. Aber vage verübelte er Fay immer noch die hämische Miene des Triumphes. Fay klappte sein Messer auf und schob den Schöpfeimer neben das Maschinenhaus. »Halt ihn über das Maschinenhaus, Bo Bo«, befahl er. »Wir dürfen keinen Tropfen Blut verlieren.« »Verdammt, Fay, noch lebe ich«, sagte Kinross. Seine ausgedorrten Gesichtsmuskeln arbeiteten mühsam, und sein Adamsapfel zuckte bei dem vergeblichen Versuch zu schlucken. »Haut mir erst eins über den Schädel, Kameraden«, flehte er. »Du, Kerbeck, benutz die Ruderpinne.« 86
»Ja«, sagte der Schwede, ohne seinen Blick zu erwidern. »Du noch warten ein wenig, Fay.« »Hört mir alle zu« sagte Krüger. »Ich weiß einen Weg, wie wir in wenigen Minuten so viel Süßwasser bekommen können, wie wir trinken können, ohne daß jemand zu sterben braucht.« Seine helle Stimme klang mühelos, flüssig, tröpfelte die Wörter in ihre verblüfften Ohren. Alle starrten Krüger mißtrauisch an, haßten ihn halb wegen seiner kühlen Stimme und des Mangels an sichtbarem Leiden. Kinross fühlte ein Fünkchen Hoffnung. »Ich meine es wirklich«, sagte Krüger ernst. »Kaltes Süßwasser ist überall um uns herum, wartet auf uns, wenn wir nur eine Kleinigkeit wissen, die uns nicht einfallen will. Ihr habt es gestern den ganzen Tag gefühlt. Ihr fühlt es auch jetzt.« Sie stierten. Fay fuhr mit dem Finger auf der Klinge seines Klappmessers hin und her. Dann sagte Garcia aufgebracht: »Du bist verrückt, Krüger. Bei dir ist eine Sicherung durchgebrannt.« »Nein, Garcia«, sagte Krüger. »Ich war noch nie klarer im Kopf. Ich wußte es die ganze Zeit, sogar schon, bevor das Schiff explodierte, aber ich mußte den richtigen Augenblick abwarten. Schlafen, nicht reden, mich nicht bewegen, nichts tun, um die Körperflüssigkeit nicht zu vergeuden, damit ich reden könnte, wenn die Zeit dazu reif war. Das ist sie jetzt. Ihr fühlt es, nicht wahr? Hört mich jetzt an.« Krügers klare, helle Stimme plätscherte wie Wasser über Kieselsteine. Er kletterte auf den Achtersteven und sah auf die zu einem lebenden Bild um das Maschinenhaus herum erstarrten sechs Männer hinab. Kinross bemerkte, daß 87
sein spärliches weißes Haar glatt war, und sah die Spur gespannter Muskeln unter dem fetten Gesicht. »Ich werde euch eine wahre Geschichte erzählen, damit ihr es leichter verstehen könnt«, fuhr Krüger fort. »Vor sehr, sehr langer Zeit verirrten sich einige Soldaten im Tibesti-Hochland in Afrika und waren dem Verdursten nahe, wie wir jetzt. Sie stiegen ein Tal hinauf, ein ausgetrocknetes Flußbett voller Gebeine, und gelangten zu zwei großen Felsen, die wie Säulen nebeneinander aufragten. Dort taten sie etwas, und als sie zwischen den beiden großen Felsen hindurchgingen, kamen sie in eine andere Welt mit grünen Bäumen und fließendem Wasser. Dort lebten sie alle, und ein paar von ihnen kehrten zurück.« »Ich habe diese Geschichte schon irgendwo einmal gehört«, sagte Kinross. Fay wirbelte zu ihm herum. »Du lügst, Kinross! Du begaunerst uns! Krüger, das ist nur ein Aufschub!« »Ich habe die Geschichte nicht geglaubt«, sagte Kinross sanft. »Ich glaube sie auch heute nicht.« »Ich glaube sie«, sagte Krüger scharf. »Ich weiß, daß sie wahr ist. Ich bin dort gewesen. Ich habe einen Blick in diese Welt geworfen. Wir können einfach das tun, was diese Soldaten getan haben.« »Quatsch, Krüger!« knurrte Garcia. »Wie kann es eine solche Welt geben? Wie bist du hineingelangt?« »Ich bin nicht hineingelangt, Garcia. Ich konnte sie sehen und hören, aber als ich sie betrat, verblaßte alles um mich herum.« »Was für einen Sinn hat es also …« »Wartet. Laßt mich ausreden. Damals fehlte mir etwas, das wir jetzt hier haben. Ich war allein, nicht halbtot vor Durst, und ich konnte nicht ganz das glauben, was ich sah und hörte.« 88
»Was soll dann …« »Wartet. Hört mich bis zu Ende an. Glaube mir, Garcia, glaubt mir alle. Wir sind hier zu siebt, ohne eine andere Menschenseele im Umkreis von tausend Meilen. Unsere Not ist unerträglich. Wir können glauben. Wir müssen glauben, sonst sterben wir. Habt Vertrauen zu mir. Ich weiß es.« Der Mexikaner kratzte sich die schwarzen Stoppeln auf seinem schweren Kiefer. »Krüger, ich glaube, du bist genauso verrückt wie Whelan«, sagte er langsam. »Whelan war nicht verrückt«, sagte Krüger. »Er war noch ein Kind und konnte nicht warten. Er sah die grünen Wiesen. Glaubt mir jetzt, alle von euch, wenn wir alle diese Wiese zur gleichen Zeit wie Whelan gesehen hätten, so würden wir in diesem Augenblick durch ihr Gras gehen.« »Ja, wie Whelan jetzt«, warf Kerbeck ein. »Wir haben Whelan umgebracht, versteht ihr das? Wir haben ihn umgebracht, weil wir nicht das glauben konnten, was er sah, und dadurch war es nicht wahr.« Die helle sprudelnde Stimme brauste auf. »Ich glaube, ich kapiere dich, Krüger«, sagte Garcia langsam. »Ich nicht«, sagte Kinross, »es sei denn, du willst uns alle in einer Massenhalluzination sterben lassen.« »Ich möchte uns in einer Massenhalluzination leben lassen. Das können wir. Das müssen wir, sonst sterben wir. Glaubt mir. Ich weiß es.« »Du meinst also, daß wir in einem glücklichen Traum sterben, ohne zu wissen, wann das Ende naht?« »Verdammt, Kinross, du besitzt etwas Bildung. Darum fällt dir so schwer, es zu verstehen. Aber laß dir das gesagt sein, diese Welt, dieser Indische Ozean, ist auch eine Halluzination. Die ganze menschliche Rasse 89
hat sie in Millionen Jahren aufgebaut, sich selbst gedrillt, sie zu sehen und daran zu glauben, die Welt genügend gefestigt, damit sie jeder Erschütterung widerstehen kann. Es ist wie ein Traum, aus dem wir nicht erwachen können. Aber glaube mir, Kinross, du kannst aus diesem Alpdruck erwachen. Habe Vertrauen zu mir. Ich weiß den Weg.« Kinross dachte: ›Es ist töricht von mir, darüber zu diskutieren. Auf alle Fälle ist es ein Aufschub für mich. Aber vielleicht … vielleicht …‹ Laut sagte er. »Was du da sagst … Ja, ich kenne den Gedanken … aber das einzige, was man tun kann, ist darüber zu reden. Es gibt keinen Weg, danach zu handeln.« »Je mehr Wortgeplänkel, desto weniger Handlung – deshalb! Aber wir können handeln, wie die Soldaten von Tibesti.« »Ein Märchen. Eine romantische Legende.« »Eine wahre Geschichte. Ich bin dort gewesen, habe es gesehen, gehört. Es ist lange her, noch vor den Römern, als das Netz der Welt noch nicht so eng gewebt war. In der damaligen Welt gab es weniger Menschen deiner Art, Kinross.« »Krüger«, unterbrach Kerbeck ihn. »Ich habe diese Geschieht schon mal hören. Bist du jetzt sicher, Krüger?« »Ja, sicher, sicher, sicher. Kerbeck, ich weiß es.« »Ich mitkommen, Krüger«, sagte der hünenhafte Schwede entschlossen. Garcia sagte: »Ich versuche es, Krüger. Sprich weiter.« Die klare, helle Stimme nahm ihre flüssige Kadenz wieder auf. »Du, Kinross, bist der Hemmschuh. Du bist der Verstand, du bist der Maschinist mit einem Rechenschieber am Logtisch. Du bist ein Symbol und hältst uns andere zurück. Du mußt glauben oder wir 90
schneiden dir die Kehle durch und versuchen es zu sechst. Das meine ich, Kinross.« »Ich möchte glauben, Krüger. Etwas in mir weiß es genau, aber ich fühle, wie es mir entgleitet. Beschwöre es herauf. Hilf mir.« »Nun gut. Du weißt es bereits. Du lernst nichts Neues, sondern erinnerst dich an etwas, das zu vergessen dir eingetrichtert wurde. Aber hör zu. Manchmal bricht die Wirklichkeit auf. Indianern in visionärer Selbstvergessenheit, Heiligen in der thebanischen Wüste, Märtyrern in den Flammen. Stets nach Entbehrung, anhaltendem Schmerz, wie heute bei uns, gestern bei Whelan. Aber immer heilt die Welt sich selbst, fügt sich wieder zusammen, durch die Macht der Menschen, die nicht sehen, die nicht glauben wollen, weil sie meinen, daß sie nicht glauben können. So wie du mitgeholfen hast, Whelan gestern umzubringen. Du verstehst etwas von Elektrizität. Also, es ist wie ein Magnetfeld, das dort am stärksten ist, wo die meisten Menschen sind. Keine Wunder in Städten. Die Menschen halten die Welt zusammen. Von der Wiege an sind sie dazu gedrillt, sie zusammenzuhalten. Unsere Sprache ist das Gerippe der Welt. Die Wörter, die wir reden, sind Backsteine und Mörtel, um ein Gefängnis zu erbauen, in dem wir zu Kannibalen werden und vor Durst umkommen. Kinross, kannst du mir folgen?« »Ja, ich kann dir folgen, aber …« »Kein Aber. Hör zu. Hier sind wir, 18 Grad Süd, 82 Grad Ost, sieben Männer auf zehn Millionen Quadratmeilen Leere. Das Wirklichkeitsfeld ist hier schwach. Es ist ein dünner Fleck auf der Erde, Kinross, verstehst du das? Wir sind an der Grenze des Erträglichen. Es ist uns egal, ob die Welt sich an tausend Stellen spaltet, 91
wenn wir nur hier aus ihr ausbrechen, unser Leben retten, kühles Süßwasser trinken können …« Kinross durchfuhr ein Schauder der Angst. »Halt ein«, sagte er. »Mir ist es, glaube ich, nicht egal, ob die Welt sich spaltet …« »Oh! Du fängst an zu glauben!« Die klare, flüssige Stimme sprudelte triumphierend empor. »Es sickert ein, unter den Worten und hinter den Gedanken. Es ängstigt dich. Nun gut. Glaube mir jetzt, Kinross. Ich habe mich ein halbes Leben damit befaßt. Wir fügen der Welt kein Leid zu, wenn wir ihr heimlich entschlüpfen. Wir lassen eine kleine Öffnung zurück, wie in Tibesti, aber wer wird die je finden?« Der alte Portugiese fuchtelte mit seinen dürren Armen und krächzte. Dann fand er seine Stimme wieder und sagte: »Ich kenne die Geschichte von Tibesti. Meine Vorfahren haben sechshundert Jahre in Mogador gelebt. Es ist eine Berbergeschichte, und sie ist unheilig.« »Aber wahr, Silva«, sagte Krüger sanft. »Nur darauf kommt es uns an. Wir alle wissen, daß sie wahr ist.« »Du willst ein schwarzes Wunder, Krüger. Gott läßt es nicht zu. Wir werden unsere Seelen verlieren.« »Wir werden unsere Seelen zu unserem persönlichen Besitz machen, Silva. Das habe ich ja Kinross gerade erklärt. Gott ist 18 Grad Süd, 82 Grad Ost recht dünn gesät.« »Nein, nein«, jammerte der alte Mann. »Wir sollten lieber für ein weißes Wunder beten, ein Schiff, Regen …« »Was immer mich am Leben läßt, ist ein weißes Wunder«, sagte Garcia aufbrausend. »Krüger hat recht, Silva. Ich habe jedes Gebet, das du in den letzten vier Tagen zum Himmel geschickt hast, einfach durch meine 92
Gegenwart sabotiert. Es ist unser einziger Ausweg, Silva.« »Hörst du das, Kinross?« fragte Krüger. »Sie glauben. Sie sind bereit. Sie können nicht länger auf dich warten.« »Ich glaube«, sagte Kinross und schluckte schmerzhaft, »aber ich muß wissen, wie. Okay, schwarze Magie, aber welche Worte, welche Gedanken, welche Taten?« »Keine Worte. Keine Gedanken. Sie sind Mauern, die man durchbricht. Nur eine einzige Tat. Eine unaussprechliche, undenkbare Tat. Ich weiß, was dich beunruhigt, Kinross. Hör zu. Ich meine Massenhypnose, gemeinsame Halluzination, etwas, das irgendwo auf der Welt Tag für Tag geschieht. Hier gibt es keine Menschenmenge, um die Umwelt intakt zu halten. Unsere Halluzination wird zu unserer Umwelt, mit Wasser und Früchten und Gras. Wir fühlen sie schon seit Tagen um uns, sie wartet auf uns …« Die Männer um Kinross murmelten und schnauften. Ungeheuere Erregung stieg in ihm auf. »Ich glaube, Krüger. Ich fühle es jetzt. Aber woher weißt du, was für eine Welt …?« »Verdammt, Kinross, es ist keine schon vorhandene Welt. Es ist eine mögliche. Wir erschaffen sie auf unserem Wege dorthin, füllen sie mit dem, was wir uns wünschen … Die seligen Gefilde.« »Ja«, sagte Kerbeck. »Die seligen Gefilde. Habe auch schon davon hören. Du eilen, Kinross.« »Ich bin bereit«, sagte Kinross. »Und ob ich bereit bin!« »Nun gut«, sagte Krüger. »Jetzt gehen wir hinüber zu unserer eigenen Welt und dem frischen, kühlen Wasser. Legt euch alle hin, macht es euch möglichst bequem, als wolltet ihr euch ausruhen.« 93
Kinross streckte sich am Achtersteven aus, neben Kerbeck. Krüger schaute mit seinem Vollmondgesicht, das jetzt wie aus Granit gehauen zu sein schien, auf sie herab. Er schwankte an der Heckreling im regelmäßigen Auf und Ab des Bootes. »Ruht euch aus«, sagte er. »Bemüht euch nicht, strengt euch nicht an, sonst werdet ihr es verpassen. Kinross, versuche nicht, dich selbst zu beobachten. Ruh dich aus. Denke nicht. Laßt eure Bäuche einsinken und eure Finger sich spreizen … Eure Körper sind schwer, zu schwer für euch. Ihr sinkt flach auf das weiche Holz. Ihr laßt euch gehen, sinkt herab …« Kinross spürte die Trägheit und Schwere. Krügers Stimme klang von ferner, aber immer noch klar, flüssig, unaufhörlich. »… ruht euch aus. Der Schmerz verschwindet. Die Angst verschwindet … immer weiter … glücklich … zuversichtlich … ihr glaubt mir, weil ich es weiß … ihr glaubt mir, weil ich es weiß …« Kinross fühlte einen zuckenden Mund, und es war sein eigener. Der schlaffe, schwere Körper war irgendwie auch sein eigener. Ein Singsang hob und senkte sich, wie die Wellen, Krügers dahinplätschernde Stimme … »… ruhen … g-a-a-a-nz entspannt … ihr könnt nicht mehr mit den Augen blinzeln … versucht es nur … versucht es, so fest ihr könnt …« Kinross fühlte ein Prickeln in den Händen und Füßen des Körpers, der nicht mehr mit den Augen blinzeln konnte. Aber natürlich … »… die Kiefer sind zusammengepreßt … versucht, so fest ihr könnt … ihr könnt sie nicht öffnen … eine Hand hebt sich … höher und höher und höher … wie eine Feder … höher und höher … versucht … so fest 94
ihr könnt … KINROSS, versuch deine Hand zu senken!« Die Hand schwebte in Kinross’ Gesichtsfeld. Sie hatte etwas mit ihm zu tun. Er wollte sie senken, aber sie gehorchte ihm nicht. Sein Blick vibrierte im Rhythmus der Wellen und Krügers an- und abschwellender Stimme. Erst sah er Krüger in der Ferne, aber klar und deutlich, wie durch die falsche Seite eines Feldstechers, und die Stimme war klar, sprudelnd, wie ein Wasserfall über Felsen. Dann drang der dicke Mann näher und näher, ragte höher und höher auf, wurde verschwommener und undeutlicher, als er den Himmel ausfüllte, und die Stimme verklang. Dann kehrte sie zurück … »… senkt die Hände … entspannt euch auf dem weichen, ruhespendenden Holz … entspannt euch alle … jetzt ist es fast so weit … bleibt entspannt, bis ich euch das Zeichen gebe … Hört gut zu: zum Zeichen werde ich zweimal in die Hände klatschen und sagen: ›Handelt.‹ Ihr werdet wissen, was ihr zu tun habt, und ihr werdet es tun … Nehmt mich mit … streckt jeder eine Hand aus und nehmt mich mit … blind, wo ihr seht, taub, wo ihr hört … ihr dürft es nicht versäumen, mich mitzunehmen … VERGESST DAS NICHT. … das Meer ist verschwunden, der Himmel ist verschwunden, nichts ist mehr da außer dem Boot und grauem Nebel. Kinross, was siehst du?« Grauer wirbelnder Nebel, schwarzes Boot, keine Farbe, keine Einzelheit, eine Traumskizze … keine Bewegung … kein Pulsen der Dinge mehr … das endlose Geplätscher und Gemurmel der Stimme, und dann eine andere Stimme: »Ich sehe um mich herum nur grauen Nebel.« »Ringsherum nur grauer Nebel, und von dem Nebel 95
hebt sich jetzt etwas ab. Du siehst etwas. Silva, was siehst du?« »Ein Gesicht. Ich sehe ein Gesicht.« »Fay, du siehst ein Gesicht. Beschreibe das Gesicht.« »Das Gesicht eines Riesen. Größer als das Boot. Es ist bekümmert und ernst.« »Kerbeck, du siehst ein Gesicht. Welche Form hat es?« »Rund und dick. Mit was Härchen drauf.« »Garcia, du siehst das Gesicht. Nenne uns die Farben.« »Blaue Augen. Fast weißes Haar. Glatte und weiße Haut. Schmale und rote Lippen.« »KINROSS, du siehst das Gesicht. Beschreibe die Einzelheiten.« »Dünne, hochgewölbte Augenbrauen, weiß auf weiß. Breite Stirn. Pausbacken. Flache, platte Nase, bebende Nasenflügel. Breiter Mund, schmale Lippen.« »Bo Bo, du siehst das Gesicht. Wer ist es, Bo Bo? Sage uns, wer es ist.« »Du bist es, Boß Krüger.« »Ja«, sagte das Gesicht und bewegte dabei die großen Lippen. »Jetzt seid ihr bereit. Jetzt seid ihr nahe daran. Erinnert euch an das Zeichen. Ihr müßt euch gehenlassen, indem ihr euch mir unterordnet. Jetzt werde ich das für euch tun, was kein Mensch für sich selbst tun kann: ich werde euch befreien. Erinnert euch an das Zeichen. Erinnert euch an die Befehle. Ihr seid durstig. Durst kratzt in euren Kehlen, zerrt an euren Eingeweiden. Ihr müßt trinken. Was, ist euch egal, ihr besinnt euch nicht. Ihr würdet das Blut eurer Kinder oder eurer Väter trinken, und es wäre euch egal. Wasser, kaltes, nasses, sprudelndes Wasser, Bäche 96
voll Wasser sind rings um euch, warten auf euch, grüne Bäume und Gras und Wasser. Ihr wißt bereits, wie ihr hingelangt. Ihr habt es immer gewußt, ihr habt es schon in der Vorzeit gewußt, und jetzt erinnert euch daran und seid für das Zeichen bereit. Alle gemeinsam, und nehmt mich mit. Ihr wißt, was ihr zu tun habt. Nicht in Worten, nicht in Gedanken, nicht in Bildern, sondern tiefer, älter, weit unter diesen wißt ihr es. Vor der Welt, vor dem Gedanken war die Tat.« Der große Mund sperrte sich bei dem letzten Wort auf, und grünes Licht loderte in seiner inneren Dunkelheit. Der Nebel wirbelte näher, und Kinross schwebte darin auf einer unerträglichen Nadelspitze des Durstes. Große blaufunkelnde Augen von furchtbarer Intensität, das Gesicht sprach wieder: »AM ANFANG IST DIE TAT!« Es schrie das letzte Wort gewaltig hinaus. Ein krachender Doppeldonner ertönte, und grüne Blitze flitzten durch die über dem Wort aufgerissene Rachenhöhle, bis es das Blickfeld füllte. Die grünen Blitze verdichteten sich zu Bäumen, bemoosten Felsen, einem rauschenden Bach … Kinross zerrte den schweren Leib an einem Arm hinter sich her, platsch, platsch, in das kalte klare Wasser. Kinross trank gierig. Die Kühle floß in ihn und durch seine Adern, und das Feuer erlosch. Er konnte die anderen in oder neben dem klaren Bach kauern sehen, der friedlich über runde Kiesel und weißen Sand strömte. Dann überfiel ihn große Müdigkeit. Er trank nochmals kurz, legte sich auf das weiche grasbewachsene Ufer und schlief ein. Als er erwachte, saß Garcia neben ihm, aß Bananen 97
und bot ihm welche an. Kinross schaute sich um, während er aß. Flacher Boden dehnte sich etwa zehn Meter zu beiden Seiten des Baches aus; dann erhoben sich jäh konvexgewölbte Ufer hundert Fuß in die Höhe. In dem diffusen, wäßrigen Licht trug das Land das helle Grün des Grases und das Dunkelgrün der Bäume und Büsche. Die Farben waren matt und eintönig. Es gab keine zufälligen Unebenheiten auf dem Land wie Schluchten oder Felsblöcke. Die Bäume erschienen als verschwommene, niemals deutlich erkennbare Massen. Auch das Gras blieb verschwommen und vage. Garcia aber konnte er absolut klar sehen. Kinross schüttelte den Kopf und blinzelte. Garcia kicherte. »Stör dich nicht daran«, sagte er. »Warum soll man neugierig sein?« »Vermutlich kann ich nicht anders«, erwiderte Kinross. Dann erblickte er zu seiner Linken Krügers auf dem Rücken liegende Gestalt und sagte: »Komm, wir wollen Krüger wecken.« »Das habe ich schon versucht«, sagte der Mexikaner. »Er ist weder tot noch lebendig. Sieh ihn dir an und sag mir, was du davon hältst.« Kinross war alarmiert. Krüger wurde hier gebraucht. Er stand auf, ging hin und untersuchte den Körper. Er war warm und geschmeidig, aber ohne Reaktion. Kinross schüttelte nochmals den Kopf. Flüche erklangen hinter dem undeutlichen Gebüsch am anderen Ufer. Fays Stimme. Dann kam der kleine Mann neben dem gigantischen Neger zum Vorschein. Sie hatten Papayas und Guavas in den Händen. »Schläft Krüger immer noch?« fragte Fay. »Zum Teufel mit ihm und seiner Welt! Alles, was ich pflücke, ist voller Wurmstiche oder fauler Stellen.« 98
»Versuch einmal meine Bananen«, sagte Garcia. Fay aß eine und murmelte widerwillig seinen Dank. »Wir müssen irgend etwas mit Krüger anfangen«, sagte Kinross. »Kommt, wir wollen darüber beratschlagen.« »Silva! Kerbeck! Kommt her!« rief der Mexikaner. Die beiden kamen zum Ufer herunter. Kerbeck aß mit Hilfe seines Fahrtenmessers eine große Rübe. Silva befingerte seinen Rosenkranz. »Ich glaube, Krüger ist in einer Art Trance«, sagte Kinross. »Wir müssen eine Unterkunft für ihn errichten.« »Hier wird es kein Wetter geben«, sagte Silva. »Weder Tag, noch Nacht, noch Schatten. Dieser Ort ist unheilig. Er ist nicht echt.« »Unsinn«, entgegnete Kinross. »Er ist echt genug.« Er stampfte mit dem Fuß ins Gras, ohne eine Spur zu hinterlassen. »Nein!« schrie Silva. »Nichts ist hier wirklich. Ich kann an keinen Baumstamm herankommen. Sie weichen vor mir zurück.« Kerbeck und Fay pflichteten ihm murmelnd bei. »Kommt, wir wollen für Silva einen Baum fangen«, sagte Garcia lachend. »Da drüben steht ein kleiner. Bildet einen Kreis um ihn und laßt ihn nicht aus den Augen, damit er nicht entwischen kann.« Kinross glaubte an den Gesichtsausdrücken der anderen ablesen zu können, daß sie seine ängstliche Erregung, sein Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, teilten. Alle außer dem spottenden Mexikaner. Sie umzingelten den Baum, und Kinross konnte Kerbeck dahinter gut sehen, aber der glatte grüne Stamm schien sich dem Brennpunkt des Blickes zu entziehen. »Wir haben ihn für dich, Silva«, sagte Garcia. »Komm her. Nimm ihn und rieche daran.« 99
Silva eilte zu dem Baum. Sein altes runzliges Gesicht hatte einen wachsamen Ausdruck, und seine Lippen bewegten sich. »Du bist nicht ich, Baum«, sagte er leise. »Du mußt durch dich selbst du selbst sein. Du bist zu glatt und zu grün.« Plötzlich umarmte der alte Mann den Stamm, hielt das Gesicht einen Fuß davon ab und musterte ihn scharf. Seine Stimme hob sich. »Zeig mir Flecken und Risse und Sprünge und rauhe Stellen und Knorren …« Angst durchfuhr Kinross. Er hörte ein fernes Grollen, und die leuchtende Wolkenschicht senkte sich in grauen Wirbeln herab. Das Licht wurde trübe, und die matten Grüntöne der Landschaft gingen ins Gräuliche über. »Silvia, hör auf!« rief er. »Laß es gut sein, Silva!« schrie der Mexikaner. »… zeig mir Büschel und Stacheln und Runzeln und Furchen und Löcher …« Silvas Stimme schwoll hemmungslos an. Der Nebel wirbelte näher. Mit ihm ein leises Pochen und Rascheln. Dann sprach eine Stimme klar und silberhell aus der Luft über ihnen. »Silva! Hör damit auf, Silva, sonst blende ich dich!« »Unheilig!« kreischte Silva. »Ich will dich durchschauen!« »Silva! Erblinde!« befahl die silberhelle Stimme. Sie schien das Wort fast zu singen. Silva verstummte und erstarrte. Dann hielt er die Hände vor die Augen und schrie: »Ich bin blind! Schiffskameraden, es ist dunkel! Ist es nicht dunkel? Die Sonne ist untergegangen …« Zitternd trat Kinross zu Silva, als der Nebel sich wieder auflöste. »Beruhige dich, Silva. Du wirst bald wieder gesund sein«, tröstete er den alten Mann. 100
»Diese Stimme«, sagte Garcia leise. »Ich kenne diese Stimme.« »Ja«, sagte Bo Bo. »Es war Boß Krüger.« Okay, Kinross und Garcia kamen überein, sich nichts genauer zu betrachten. Der Realitätssinn der anderen schien sich schon von selbst so verflüchtigt zu haben, daß sie kaum die Bedeutung dieses Tabus verstehen konnten. Kinross versuchte es nicht zu erklären. Fay erbot sich, bei Silva und Krüger zu bleiben und für sie zu sorgen, vorausgesetzt daß die anderen ihm Nahrung brächten, denn was er selbst fände, sei ungenießbar. »Kinross, laß uns Spazierengehen«, sagte Garcia. »Du hast dich noch nicht umgeschaut.« Sie gingen flußabwärts. »Was ist soeben geschehen?« fragte Garcia. »Ich weiß es nicht«, sagte Kinross. »Es war Krügers Stimme, kein Zweifel. Vielleicht sitzen wir in Wirklichkeit immer noch in diesem Boot, und Krüger gaukelt uns das nur vor.« »Wenn dem so wäre, möchte ich nicht aus diesem Traum erwachen«, sagte der Mexikaner beschwörend, »aber ich glaube es nicht. Ich bin wirklich, auch wenn diese Welt es nicht ist. Wenn ich mich zwicke, tut es weh. Meine Eingeweide arbeiten.« »Ich auch. Aber ich konnte bestimmt vorhin dort drüben ein paar Sekunden lang Salzwasser und Dieselöl riechen. Um ein Haar hätte Silva uns zurückrutschen lassen.« »Krüger hatte wohl recht«, sagte der Mexikaner langsam »aber es ist sehr hart für den alten Silva.« Sie gingen schweigend neben dem gekräuselten Bach her. Dann sagte Kinross: »Ich habe einen Heißhunger auf Äpfel. Ob es hier welche gibt?« 101
»Natürlich«, sagte Garcia, »da drüben.« Er überquerte den Bach und zeigte auf die Äpfel an einem herabhängenden Zweig. Sie waren groß, hellrot und makellos. Kinross tat sich an mehreren gütlich, ehe er bemerkte, daß sie keine Kerne hatten, und das dem Mexikaner sagte. »Paß auf«, warnte Garcia. »Nicht zu genau hinsehen.« »Jedenfalls schmecken sie köstlich«, sagte Kinross. »Ich will dir etwas sagen«, sagte der Mexikaner abrupt. »Es gibt nur einen einzigen Baum hier. Man findet ihn, wo immer man ihn sucht, und er trägt immer genau das, was man sich gerade wünscht. Ich entdeckte das, als du schliefst. Ich habe ein bißchen herum experimentiert.« Kinross spürte, wie ihn eine seltsame Angst durchlief. »Das könnte gefährlich werden«, warnte er. »Ich habe nicht versucht, zwei Bäume daraus zu machen«, beruhigte der Mexikaner ihn. »Irgend etwas in mir hat mir schon da gesagt, nicht zu genau hinzusehen.« »Es ist noch etwas«, sagte Garcia, als Kinross darauf nichts erwiderte. »Ich überlasse es dir, selbst dahinterzukommen. Wir wollen dieses Ufer hinaufsteigen und sehen, was da oben ist.« »Eine gute Idee«, stimmte Kinross bei und ging voran. Das Ufer war steil, konvex, glatt und ebenmäßig. Kinross kletterte schräg hinauf, um einen sanfteren Winkel zu haben, und stellte plötzlich fest, daß er beinahe wieder unten am Bach war. Er fluchte leise über seine Unachtsamkeit und wandte sich wieder dem Hang zu, diesmal senkrechter. Nach einigen Minuten drehte er sich um, um zu sehen, wie weit unten der 102
Bach lag, und gewahrte mit einem Schock, daß er in Wirklichkeit das Ufer emporschaute. Er blickte wieder vor sich, und da lag das Bett des kleinen Baches fast zu seinen Füßen. Er konnte sich nicht erinnern, in welcher Richtung er gegangen war, und Panik ergriff ihn. »Gib es auf«, sagte Garcia. »Fühlst du es jetzt?« »Ich fühle etwas, aber was es ist …« »Fühlst du dich vielleicht verirrt?« fragte der Mexikaner. »Nein, nicht verirrt. Das Lager, oder jedenfalls Krüger, ist dort.« Kinross zeigte flußaufwärts. »Bist du sicher, daß es nicht flußabwärts ist?« »Todsicher«, beharrte Kinross. »Na, dann geh zurück, ich werde dich dort treffen«, sagte der Mexikaner und ging flußabwärts. »Achte unterwegs auf Kennzeichen«, rief er über die Schulter. Kinross entdeckte keine Kennzeichen. Nichts hob sich von der allgemeinen Weite ab. Als er sich der Gruppe um Krügers Gestalt näherte, sah er Garcia aus der entgegengesetzten Richtung am Ufer herankommen. »Garcia, fließt dieser verflixte Bach im Kreis?« rief er verblüfft aus. »Nein«, sagte der Mexikaner. »Jetzt fühlst du es, nicht wahr? Diese Welt ist in sich geschlossen, und man kann sie nicht besser einrichten. Jedesmal, wenn man die Uferböschung hinaufsteigt, führt es einen hinab zum Bachbett. Welche Richtung man auch am Bach einschlägt, man gelangt zu Krüger.« Kinross erwachte und sah, wie Kerbeck sich im Bach Wasser über den Kopf spritzte. Garcia lag in der Nähe, und Kinross weckte ihn. »Was wollen wir heute morgen essen?« fragte er. »Was meinst du zu Papayas?« 103
»Bacon und Eier«, gähnte der Mexikaner. »Laß uns einen Bacon-und-Eierbaum finden.« »Mach keine Witze«, sagte Kinross. »Krüger mag das nicht.« »Na, dann eben Papayas«, sagte Garcia. Er ging hinab zum Bach und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Dann gingen die beiden Männer das kleine Tal hinauf. »Was meinst du mit ›heute morgen‹?« fragte Garcia plötzlich. »Ich kann mich an keine Nacht erinnern.« Die Nacht war pechschwarz. »Kinross«, rief Garcia aus der Finsternis. »Ja?« »Erinnerst du dich, wie es eben auf einmal ganz dunkel wurde?« »Ja, aber es liegt schon eine ganze Weile zurück.« »Ich wette, daß du dich am Morgen nicht mehr daran erinnerst.« »Gibt es einen Morgen?« fragte Kinross. »Ich bin schon ewig wach.« Schlaf war eine Verteidigung. »Wach auf, Kinross«, sagte Garcia und schüttelte ihn. »Es ist ein schöner Morgen, um Papayas zu pflücken.« »Ist es ein Morgen?« fragte Kinross. »Ich kann mich an keine Nacht erinnern.« »Wir müssen reden«, brummte der Mexikaner. »Es sei denn, wir singen vor uns hin wie Kerbeck oder stöhnen und weinen wie Silva dort drüben.« »Silva? Ich dachte, das wäre der Wind.« »Es gibt keinen Wind in dieser Welt, Kinross.« Kinross biß in Papaya-Pulp. »Wie lange, meinst du, sind wir schon hier?« fragte Garcia. 104
»Schon eine ganze Weile.« »Ich kann mich an keinen ganzen Tag erinnern. Silva erblindete. War das gestern? Kerbeck hörte auf zu sprechen und begann zu singen. War das gestern?« »Ich weiß es nicht«, sagte der Mexikaner. »Es scheint als wäre alles gestern geschehen. Mein Bart ist gestern einen halben Inch gewachsen.« Kinross rieb sich sein Kinn. Die braunen Barthaare waren lang genug, um flach anzuliegen, und schmiegsam. Er ging allein spazieren, als ein Flüstern hinter seinem Kopf ertönte. »Kinross, hier ist Krüger. Komm und sprich mit mir.« Kinross wirbelte herum und blickte ins Nichts. »Wo?« flüsterte er. »Geh einfach weiter«, lautete die Antwort, immer noch von hinten. Kinross nahm das Ufer in Angriff. Er lief stetig bergauf, erinnerte sich vage an seinen letzten Versuch und schaute sich plötzlich um. Der Bach lag tief unten, verloren unter dem konvexen Ufer, das tatsächlich eine Talwand war. Meilenweit jenseits des Tals erhob sich eine andere Wand, wölbte sich als Gegenstück zu jenem Hang empor, den er eben erkletterte. Er kletterte verwundert weiter und erreichte eine Anhöhe, ähnlich einer Wasserscheide. Glatte, geschwungene Rundungen fielen gewaltig zu beiden Seiten in diesige Dunkelheit ab. Er folgte der Anhöhe nach rechts. Auch hier dieselbe Bodenbeschaffenheit, fahles Gras und undeutliche Büsche und Bäume, matte Grüntöne, von denen sich nichts abzeichnete. Nach einer Weile erblickte er einen sanftgewölbten Hügel zu seiner Linken, aber das Flüstern führte ihn einen langen sanften Hang zu seiner Rechten hinab und dann einen kürzeren, steileren Hang 105
zu einer Hochebene hinauf. Sie war weit geschwungen, fast unfaßbar groß, aber der Horizont zur Linken schien niedriger zu sein als der zur Rechten. Er ging stetig weiter. Kinross verspürte keinerlei Ermüdung. Er wußte nicht, wie lange er schon unterwegs war. Er stieg noch einen steilen Hang hinauf, und eine Reihe seichter, aber riesiger Querfurchen trat an die Stelle des gerundeten Plateaus. Das Land neigte sich immer noch nach links. In der Ferne erhob sich klar ein Gebirgsmassiv. Auch das war grün. Er ging einen konkaven Hang hinauf, der dann zum steilen Überhang wurde, so daß er beim Anstieg die Schwerkraft zu überwinden schien. Dann flachte der Berg beträchtlich ab, und er näherte sich einer dunklen Waldwand, hinter der eine rötlich-schwarze Felsspitze in den Himmel ragte. Er drang in den Wald ein und stellte fest, daß der Baumgürtel nur eine halbe Meile breit war und dann einer Wüste wich, einer fahlroten, sanft ansteigenden Ebene, bedeckt mit riesigen rötlichen Felsblöcken von vielfacher Größe. Er bahnte sich den Weg zwischen ihnen über einen Boden, der zu glühen und zu beben schien, bis er zu dem Fuß der Felsspitze gelangte. Als er näher kam, erkannte er an einem Muster sich schneidender Kurven, daß der Gipfel ein Krater war. Es war ein senkrechter Anstieg, aber Kinross bewältigte ihn mit derselben unerklärlichen Leichtigkeit wie die bisherigen. Er stieg ein kurzes Stück in den Krater hinab und sagte: »Hier bin ich, Krüger.« Krügers natürliche Stimme sprach aus der Luft direkt über seinem Kopf. »Setz dich, Kinross. Sage mir, was du denkst.« Kinross setzte sich mit gekreuzten Beinen auf die rauhe Felsoberfläche. »Ich denke, daß du es bist, der 106
diese Schau veranstaltet, Krüger«, sagte er. »Ich denke daß du mir vielleicht das Leben gerettet hast. Aber darüber hinaus weiß ich nicht, was ich denken soll.« »Du bist neugierig, was mich angeht, nicht wahr? Tja, das bin ich auch. Teilweise stellte ich die Gesetze auf, teilweise entdecke ich sie selber erst. Das hier ist eine sehr primitive Welt, Kinross.« »Sie ist vormenschlich«, sagte Kinross. »Du hast uns sehr tief hinabgezogen.« »Das mußte ich, bei Leuten wie uns.« »Du bist für mich nur eine Stimme in der Luft«, sagte Kinross. »Wie empfindest du das selbst?« »Ich habe einen Körper, aber ich vermute, es handelt sich um eine persönliche Halluzination. Ich kann meinen wirklichen Körper nicht beleben. Das muß wohl daher kommen, daß ich mich nicht in tiefer Trance befand als wir übersetzten.« »Ist das für dich gut oder schlecht?« »Das hängt davon ab. Ich habe einzigartige Kräfte, aber auch besondere Verantwortlichkeiten. Ich bin zum Beispiel gezwungen, diese Welt zu beleben, und meine Fähigkeit ist begrenzt. Daher das Tabu, nicht zu genau hinzuschauen oder Dinge benutzen zu wollen.« »Oh, Silva also … kannst du ihm das Augenlicht wiedergeben?« »Ja, sein Blindheit ist rein funktionell. Aber ich werde es nicht tun. Er würde uns alle vernichten. Er würde schauen und schauen, bis unsere Welt auseinanderfällt. Er hat mir große Sorge bereitet, Kinross.« »Auch ich hatte Angst. Sag mir, was wäre geschehen, wenn …?« »Vielleicht zurück ins Boot. Oder in irgendeine Vorhölle.« »Ist dein Dasein jetzt rein geistig, Krüger?« 107
»Nein. Ich habe dir schon gesagt, daß ich einen halluzinierten Körper habe, der mir völlig wirklich vorkommt. Aber er kann die Substanz dieser Welt nicht so verwenden wie du und die anderen. Kinross, ich habe immer noch den gleichen Durst wie vor unserem Übersetzen. Er ist so – wie du ihn in Erinnerung hast. Ich kann ihn nicht löschen und ich kann ihn nicht aushalten. Diese Welt ist für mich eine Art Hölle …« »Heiliger Himmel, Krüger! Das ist ja schrecklich. Können wir irgend etwas tun?« »Ich habe eine einzige Hoffnung. Deshalb habe ich dich hierher geführt.« »Sag es mir.« »Ich möchte dich in noch tiefere Hypnose versetzen, so tief, wie der Mensch nur gehen kann. Ich möchte eine so tiefe Beziehung zwischen uns herstellen, daß ich die Belebung deines Körpers mit dir teile und du die Belebung dieser Welt mit mir teilst. Dann werde ich essen und trinken können.« »Angenommen, das wäre möglich, was würde ich dann empfinden?« »Meinst du bei der Belebung der Welt? Ich kann es dir nicht beschreiben. Eine unsagbare Freude.« »Nein, ich meine in meinem Körper. Woher weißt du, daß ich dann nicht deinen Durst habe? Wer von uns hätte die Vorherrschaft?« »Wir könnten den Durst löschen, das ist es ja eben. Ich würde dir die Vorherrschaft im Körper überlassen und meine Vorherrschaft in der Welt behalten.« Kinross zupfte an seinen zerzausten braunen Haaren. »Ich weiß nicht«, sagte er bedächtig. »Du machst mir angst, Krüger. Warum ich?« »Wegen deines Verstandes, Kinross. Du bist Maschinist. Wir müssen Naturgesetze in diese Welt ein108
bauen, wenn ich je Frieden finden soll. Ich brauche unmittelbaren Zugang zu deinem Weltbild, um es dieser Welt zu vermitteln.« »Warum kann ich dir nicht einfach so helfen wie ich bin?« »Das kannst du, aber nicht genug. Ich muß dein Weltbild in völliger Wechselwirkung auf mein eigenes übertragen.« Der Entschluß stieg in Kinross auf. »Nein«, sagte er. »Nimm einen der anderen. Außer Garcia und vielleicht Silva scheinen sie kaum zu wissen, daß sie leben, aber sie essen und trinken.« »Ich habe bereits einen großen Teil von ihnen in diese Welt hineingenommen, und auch etwas von dir und Garcia. Aber dich will ich intakt, als Ganzheit.« »Nein.« »Denke an die Macht und die Freude. Es ist etwas Unbeschreibliches, Kinross.« »Nein.« »Denke daran, was du verlieren kannst. Ich kann dich blenden, dich lähmen.« »Zugegeben. Aber du wirst es nicht tun. Ich kann es zwar nicht erklären, aber irgendwie weiß ich, daß du uns brauchst, Krüger. Du brauchst unsere Augen und Ohren und unsere verständnisvolle Vernunft, um diese deine Welt zu sehen und zu würdigen. Deine Sehkraft: wurde trübe, als du Silvia mit Blindheit geschlagen hast.« »Das stimmt nicht ganz. Ich brauchte euch unbedingt, um überzusetzen, um diese Welt zu schaffen, aber jetzt nicht mehr.« »Ich möchte wetten, daß du lügst, Krüger. Deine Bevölkerung ist nicht groß genug, als daß du es dir leisten könntest, den Tyrannen zu spielen.« 109
»Unterschätz’ mich nicht, Kinross. Du kennst mich nicht und wirst mich nie kennen. Ich habe in dieser Sache einen ungestümen Willen, das läßt sich nicht abstreiten. Seit meiner Kindheit habe ich rücksichtslos auf diesen Höhepunkt hingearbeitet. Ich habe absichtlich keinen Notruf von der Ixion gesendet, um eben die Chance zu bekommen, die ich jetzt habe. Beeindruckt dich das nicht?« »Nicht zu deinen Gunsten, Krüger. Das kleine Rattengesicht hatte also recht …« »Ich will weder deine Gunst noch dein Mitleid. Ich will deine Überzeugung, daß du dich nicht gegen mich auflehnen kannst. Ich will dir noch etwas sagen. Ich habe auch die Bombe unter die Fracht der Ixion gelegt. Ich habe den Proviant und das Wasser aus dem Rettungsboot geworfen. Ich ließ die Batterie leerlaufen und beschädigte die Treibstoffpumpe. Ich wählte die Zeit der Explosion so, daß du gerade von der Wache kamst. Überzeugt dich das?! Jetzt weißt du, daß du dich gegen einen Willen wie den meinen nicht auflehnen kannst.« Kinross stand auf und bohrte den Blick in die Leere vor sich. »Ich bin überzeugt daß du deine eigene Welt erschaffen hast, aber du kannst nicht ganz in sie hineingelangen. Ich bin überzeugt, daß du das auch nicht solltest. Krüger, scher dich zum Teufel.« »Es ist meine Welt, und ich werde, ob du willst oder nicht, ganz in sie hineingelangen«, sagte Krüger. »Sieh mich an!« Bei diesem Befehl klang die Stimme stark und silberhell, wie ein erhabener Gesang. »Du bist nicht da«, sagte Kinross. »Doch, ich bin da. Sieh mich an!« Die Luft vor Kinross wurde halb sichtbar, eine geisterhafte Aufwärtsströmung. 110
»Sieh mich an!« wiederholte die glockenreine, silberhelle Stimme. Ein Geräusch ertönte, als würde Seide zerrissen. Das Haar stand in Kinross’ Nacken zu Berge, und es fuhr ihm kalt über den Rücken. Die strömende Luft verdichtete sich wirbelnd, wurde eine quirlige und umrissene Oberfläche in der dritten Dimension, wogte lebendig, nahm die Gestalt eines großen Gesichts an. »Kinross, sieh mich an!« befahl das Gesicht mit einer wie Kirchenglocken läutenden Stimme. Kinross holte tief Luft. »Ich bin ein gelehriger Schüler, Krüger«, sagte er mit zitternder Stimme. »Du bist nicht da. Ich sehe dich nicht.« Er schritt schnurstracks in das Gesicht und durch es hindurch, wobei sein verkrampfter Körper einen elektrischen Schlag verspürte. Dann kletterte er die kahle Fläche der Felsspitze hinab. Als Kinross auf seinem Rückweg die Hochebene überquerte, begann Regen aus der Wolkenschicht zu fallen. Windstöße trafen ihn. Es gab aber keinen Abfluß für den Regen im Boden und auch keine klare Auswirkung des Windes auf die undeutlichen Bäume und Büsche. »Krüger lernt dazu«, sagte er sich. Dann wurde es plötzlich dunkel, und er legte sich hin und schlief. Als er erwachte, war er wieder bei dem kleinen Bach, und Garcia sagte ihm, er sei vier Tage fort gewesen. »Vier Tage?« fragte Kinross erstaunt. »Passiert nicht mehr alles gestern?« »Nein, nicht mehr«, sagte der Mexikaner. »Wo, zum Teufel, bist du gewesen?« »Irgendwo draußen, um mit Krüger zu diskutieren«, 111
sagte Kinross und schaute umher. »Verdammt, dieser Ort wirkt anders. Und wo sind Krügers Körper und die anderen?« »Er ist anders«, sagte Garcia. »Laß es dir erzählen. Erst einmal fand Fay eine Höhle …« In der Höhle war die Quelle des Baches, der jetzt daraus hervorfloß, erklärte Garcia. Fay und Bo Bo hatten Krügers Körper dorthin gebracht und blieben die meiste Zeit im Inneren. Fay behauptete, Krüger erwache dann und wann, um etwas zu essen und zu trinken, und habe ihn, Fay, zu seinem Wortführer gemacht. Fay und Bo Bo hatten einen Steinhügel vor dem Eingang der Höhle errichtet und Kerbeck hatte Garcia befohlen, jeden Morgen Früchte zu bringen und sie darauf zu legen. Silva hockte jetzt, wiegend und weinend wie zuvor, neben dem Steinhügel. ».Ich konnte es Kerbeck nicht verständlich machen«, fügte Garcia hinzu. »Er streift jetzt wie ein wilder Mann durch die Hügel. Deshalb habe ich sie ganz allein versorgt.« »Der Ort ist größer«, stellte Kinross fest. Das Talbecken dehnte sich nun mehrere hundert Meter zu beiden Seiten des Baches aus und die Wände erhoben sich Hunderte von Fuß in die Höhe. Die bedrückende Regelmäßigkeit des Horizontes wurde durch die Andeutung von Verwitterungen und ansehnliche Pflanzengruppen aufgelockert. »Auch der Raum ist besser abgesteckt«, sagte Garcia. »Es gibt allerlei Bäume, die stehenbleiben und betrachtet werden können.« Er schlug nach einer Fliege, die um seinen Kopf schwirrte. »Hallo!« rief Kinross. »Insekten!« »Ja«, gab Garcia sauer zu. »Auch kleine Tiere im Gestrüpp. Ratten und Eidechsen, glaube ich. Und ein112
mal wurde ich vom Regen durchnäßt. Es ist nicht alles gut, Kinross.« »Komm, wir wollen uns diese Höhle einmal ansehen«, schlug Kinross vor. »Ich werde dir unterwegs erzählen, was ich erlebt habe.« Sie gingen eine halbe Meile flußaufwärts. Das Tal wurde enger, seine Wände ragten senkrechter empor. Ein Gewirr von dunklen Nutzholzbäumen füllte es. Das diffuse Licht aus dem stets bedeckten Himmel drang kaum in diese Finsternis ein. Dann kamen sie zu einer Lichtung mit einem Durchmesser von etwa hundert Metern, und Kinross sah, daß die dunkelbewaldeten Hänge an drei Seiten steil emporragten. Direkt vor ihnen lag die Höhle. Die verhältnismäßig schmalen Basaltkanten liefen schräg über hundert Meter den Hang hinauf und vereinigten sich oben, um ein umgekehrtes V zu bilden. An ihrem Fuß floß der Bach aus dem Höhlendunkel, teilte die Lichtung und verlor sich im dunklen Wald. Neben der Stelle, an der der Bach hervortrat, erblickte Kinross den podestartigen, etwa zwei Meter breiten Steinhügel, und er konnte Silva sehen und hören, der jammernd daneben hockte. »Ich kann mit Silva genausowenig reden wie mit Kerbeck«, sagte Garcia. »Silva glaubt, ich wäre ein Teufel.« Sie überquerten die Lichtung. Bo Bo kam ihnen aus der Höhle entgegen. »Ihr habt keine Früchte mitgebracht«, sagte er in Worten, die, wie Kinross wußte, nicht seine eigenen waren. »Geht fort und kehrt mit Früchten zurück.« »Okay, Krüger«, sagte Kinross. »So viel werde ich für dich tun.«
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Tage verstrichen. Kinross kamen sie endlos vor, aber dennoch merkwürdig bar jeglicher erinnerlichen Beschäftigung. Er und Garcia versuchten, die Zeit mit Kieseln aus dem Bach zu markieren, aber nachts verschwanden die Kiesel. Ebenso die Bananenschalen und Papaya-Hülsen. Das Land bewahrte keine Markierung. Die beiden Männer stritten sich darüber, was in den vergangenen Tagen passiert war, und schließlich sagte Kinross: »Es ist genau wie vorher, nur daß jetzt alles vorige Woche passiert ist.« »Dann ist mein Bart vorige Woche zwei Finger breit gewachsen«, sagte Garcia und strich sich durch das Blauschwarz. Kinross’ Bart war gekräuselt und rötlich und kinnlang. »Wie soll das enden?« fragte der Mexikaner einmal. »Sollen wir ewig in dieser zwei Quadratmeilen großen Welt herumlaufen?« »Ich nehme an, daß wir altern und sterben«, sagte Kinross. »Nicht einmal dessen bin ich sicher«, sagte Garcia. »Ich habe das Gefühl, jünger zu werden. Ich möchte ein Steak und eine Flasche Bier und eine Frau.« »Ich auch«, pflichtete Kinross ihm bei, »aber es ist immer noch besser als im Boot.« »Ja«, sagte Gracia sinnend. »Das muß man Krüger lassen, auch wenn er uns die ganze Sache eingebrockt hat.« »Ich glaube, daß Krüger wesentlich weniger glücklich ist als wir«, sagte Kinross. »Keiner ist glücklich, außer Kerbeck«, brummte Garcia. Sie sahen Kerbeck oft, wenn sie Früchte sammelten oder innerhalb der Grenze des kleinen Tales herumstreiften, um sich ihre Langeweile zu vertreiben. Der 114
hünenhafte Schwede irrte wie ein Elementargeist durch das Land. Er trug die Überreste seiner Khakihose und seines Unterhemds, und sein gelbes Haar und sein roter Bart waren lang und zerzaust. Er schien Garcia und Kinross zu erkennen, antwortete aber auf ihre Worte nur mit Summlauten. Kinross hatte oft das Gefühl, daß die ungebrochene Schwärze der Nächte ihn am meisten bedrückte. Er wollte Sterne und einen Mond. Eines Nachts erwachte er unruhig und erblickte eine seltsame Konstellation von Sternen am Himmel. Er machte eine Bewegung, um Garcia zu wecken, aber der Schlaf übermannte ihn wieder, und er träumte, soweit er sich erinnern konnte, zum erstenmal in dieser Welt. Er war wieder auf der Felsspitze in der Wüste und sprach mit Krüger. Krüger hatte Fays Körper und war besorgt. »Etwas ist vorgefallen, Kinross«, sagte er. »Es gibt Sterne, und ich habe sie nicht geschaffen; ich konnte es nicht. Diese Welt ist plötzlich in großem Ausmaß belebt worden, und ich habe nicht alles in meiner Gewalt.« »Was kann ich daran ändern? Oder was geht es mich an?« »Es geht dich etwas an. Wir sind zusammen in dieser Welt, wie in einem Rettungsboot, Kinross. Und ich habe jetzt Angst. Es gibt hier eine fremde Gegenwart, vielleicht mehrere, die unsere Welt suchen. Möglicherweise sind sie uns feindlich gesinnt.« »Das bezweifle ich, wenn sie uns Sterne bringen«, sagte Kinross. »Wo sind sie denn?« »Ich weiß es nicht. Ich nehme an, daß sie außerhalb unseres Raumes herumstreifen und uns suchen. Ich möchte, daß du mit Garcia ausziehst und sie findest.« »Warum kannst du das nicht?« 115
»Deine Vermutung war teilweise richtig, Kinross. Ich habe meine Grenzen und brauche Männer wie dich und Garcia. Ich bitte und befehle nicht. Vergiß nicht, wir sitzen immer noch im selben Boot.« »Ja. Okay, ich gehe. Aber wie …« »Zieh einfach los. Ich werde dich wieder durch die Rückkehrschranke hereinlassen.« Kinross schrak hoch. Die Sterne waren immer noch am Himmel, und ein zunehmender Mond hing jenseits des Bachs über dem Horizont. Garcia schnarchte in der Nähe. »Wach auf!« sagte Kinross und schüttelte ihn. Der Mexikaner schnaubte und setzte sich auf. »Madre de Dios!« stieß er hervor. »Sterne und ein Mond! Kinross, sind wir wieder …?« »Nein«, sagte Kinross. »Laß uns jagen gehen. Ich habe gerade mit Krüger gesprochen.« »Jagen? Mitten in der Nacht? Auf was denn?« »Vielleicht auf das, was die Sterne geschaffen hat. Woher soll ich das wissen? Komm, Garcia, mir jucken schon die Füße.« Kinross setzte sich in Marsch, sprang über den Bach und schlug die Richtung des zunehmenden Mondes ein. Der Mexikaner stolperte, Spanisch murmelnd, hinter ihm her. Zum zweitenmal erreichte Kinross nun die Anhöhe, und der Mond hing jetzt voller rechts über dem Horizont, in der gleichen Richtung, in die Kinross schon einmal gegangen war. Er schritt weit aus, der Mexikaner folgte schweigend. Einmal stieß Garcia einen Schrei aus und zeigte rechts in die Tiefe. Kinross schaute hinab und erblickte weit unten die Öffnung der Höhle, die winzige Lichtung und den gewaltigen Hang, der sich von dort bis hinauf zu ihnen wölbte. 116
Der Mondschein versilberte die dunklen Baumkronen. Unterwegs erzählte Kinross Garcia seinen Traum. Der Mexikaner zweifelte nicht an dessen Echtheit. Kinross warnte ihn vor der besonderen Zeitlosigkeit der Erfahrung außerhalb der Rückkehrschranke. »Es ist so, als wäre alles vor zwei Minuten passiert«, sagte er. »Ja«, sagte Garcia. »Sieh dir nur diesen Mond an, dreiviertel voll. Vielleicht sind wir schon einen Monat unterwegs.« »Oder eine Minute«, sagte Kinross. Es wurde nicht derselbe Weg wie damals. Auf der sanft gerundeten Hochebene, an die er sich erinnerte, stellte er fest, daß sie eine scharfe Biegung nach rechts machten und einen sanften Hang hinaufstiegen. Dann neigte sich das Land zur anderen Seite, und sie überquerten flache Schluchten, auf deren Grund Wasser floß. Das Land wurde rauher, die Schluchten wurden tiefer, bis Kinross, als sie eine davon überquerten, sah, daß sie direkt zum Mond führte. Sie folgten dem Bachbett in knöcheltiefem Wasser, statt hinauf in die Schlucht zu klettern. Die Ufer waren aus feuchtem, dunklem Gestein und wurden steiler und höher. Der Bach wurde schmaler und knietief, und die Strömung zerrte so heftig an ihnen, daß sie gezwungen waren, sich an die Steine zu klammern, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Das spitze V der Schlucht vor ihnen bettete den Vollmond fast ein, und Kinross konnte das ferne Tosen eines Wasserfalls hören. »Sieht vor uns schwierig aus, Garcia«, rief er dem zehn Fuß hinter ihm watenden Mexikaner zu. »Paß auf!« 117
Er ging weitere hundert Meter dem zunehmenden Getöse entgegen und bog um einen Felsvorsprung, gegen den das Wasser wütend strudelte. Die Kraft der Strömung beschleunigte sich plötzlich, riß beinahe die Beine unter ihm weg, so daß er sich an den Fels pressen mußte und Garcia eine Warnung zurief. Über die spiegelglatte, geäderte Schwelle des Wasserfalls zwanzig Fuß vor sich schaute Kinross in einen viele Meilen breiten, steilen, trichterförmigen Abgrund. Das unter gewaltigem Rauschen hinabstürzende Wasser säumte den Rand mit Perlen und rann in Schnüren die Seiten hinunter. Der Vollmond, senkrecht darüber, tauchte das Ganze in Silber. Auf dem Boden des Abgrunds war noch ein Mond, was, wie Kinross flüchtig dachte, ein widerspiegelnder Teich oder See sein mußte. Garcia rief hinter ihm. »Was siehst du, Kinross? Warum bist du stehengeblieben?« »Ich sehe noch einen Schritt und dann den Tod, glaube ich«, rief Kinross zurück. »Es ist ein Wasserfall. Wir müssen, wenn irgend möglich, hier das Ufer hinaufsteigen.« Er rührte sich nicht, sondern starrte in den Abgrund. Plötzlich drängte es ihn, sich ihm preiszugeben, sich vom Wasser über die Schwelle spülen zu lassen. Es kam abrupt und überwältigend, fast wie ein sexueller Trieb, ein heftiger Angriff auf seinen Geist. Er klammerte sich verzweifelt an die Felswand und sandte ein Stoßgebet empor: »Heilige Mutter Gottes, steh mir bei.« Die immer noch mächtige Verlockung zog sich ein Stück zurück. »Garcia«, rief er, »steig um Himmels willen hinauf. Sprich mit mir.« »Hier ist eine schräge Kante«, sagte Garcia von oben. »Komm zu mir, dann gebe ich dir eine Hand.« 118
Kinross tastete sich um den Felsvorsprung zurück und kletterte nach oben, um sich zu Garcia zu gesellen. Der Mexikaner übernahm die Führung auf dem schmalen Grat. »Vor uns liegt etwas, bei dem dir der Atem stockt«, warnte Kinross ihn. »Ein Abgrund. Warte nur, bis du ihn erblickst. Und wenn du es tust, nimm deine ganze Kraft zusammen.« Garcia brummte und stieg weiter. Der Grat hörte auf, und der Weg wurde noch schwieriger und gefährlicher. Dann standen sie auf einer felsigen Landzunge, die an drei Seiten steil in den weiten Abgrund abfiel, der sie überall umgab. »Madre de Dios!« stieß Garcia hervor. Er wiederholte es mehrmals, sonst aber hatte es ihm die Sprache verschlagen. Beide Männer starrten schweigend in den Abgrund. Schließlich hob Garcia die Hand und flüsterte: »Horch!« Kinross horchte. Er hörte ein Knacken im Gestrüpp und herabprasselndes Geröll. Es kam von links, offenbar aus nicht allzu großer Entfernung. »Etwas kommt aus dem Abgrund herauf«, flüsterte er. »Was denn? Kinross, wir sind nicht mehr allein in dieser Welt.« »Wir müssen näher heran«, sagte Kinross. »Feststellen, was es ist. Geh vorsichtig weiter.« Sie pirschten sich an das Geräusch heran, wobei sie sich von der Landzunge zurückzogen und dem Rand des Abgrunds folgten. Als sie sich der Quelle des Geräusches näherten, wurde das Gestrüpp dichter und hüfthoch, so daß sie unvermeidlich selbst Geräusche machten. Dann war alles still, und Kinross befürchtete schon, daß ihre Beute gewarnt war, bis er einen keu119
chenden, wimmernden Laut hörte, der seine Nerven bis zum äußersten spannte. Sie schlichen näher. Jetzt packte Garcia ihn beim Arm, duckte sich, und zog ihn zu sich hinunter. Kinross starrte angestrengt in die Richtung, in die der Mexikaner deutete. Plötzlich hob sich eine verschwommene Form von dem silbrigen Licht und Schatten ab, und er erblickte keine zwanzig Meter vor sich eine menschliche Gestalt. »Wir wollen sie fangen«, bedeutete er Garcia mit Zeichen. Der Mexikaner nickte. Beide Männer sprangen auf und stürzten los. Kinross’ längere Beine ließen ihn als ersten ankommen. Die Gestalt richtete sich auf und flüchtete ein oder zwei Schritte, ehe er sie im Sprung zu Boden riß. Einen Sekundenbruchteil später mischte der untersetzte Mexikaner sein beträchtliches Gewicht in das Gewirr der Arme und Beine, und dann stieß das Opfer einen verzweifelten, angstvollen Schrei aus. Kinross war wie elektrisiert. »Laß los, Garcia«, befahl er. »Steh auf. Es ist eine Frau!« Sie sei Mary Chadwick und habe drei starke Brüder, die jeden Mann in Queensland zusammenschlagen könnten, und sie, Kinross und Garcia, seien Bestien und Wilde, und sie sollten sie gefälligst sofort nach Hause bringen, sonst hätten sie nichts zu lachen. Dann klammerte sie sich an Kinross und weinte hysterisch. Während Kinross sie linkisch zu trösten versuchte, wurde es Tag, weniger jäh als sonst, aber immerhin schnell genug, um Kinross daran zu erinnern, wie unerklärlich immer noch die Zeit verrann. Das Licht war hell und grell, und er sah zum erstenmal die Sonnenscheibe. Die vertraute Wolkenschicht war verschwun120
den, der Himmel klar und blau. Der Anblick der beiden bärtigen Männer flößte der Frau nicht gerade Vertrauen ein. Sie schien noch recht jung zu sein und trug Reitkleidung, Khakihemd und -hose, Schnürstiefel, und wirkte groß und üppig. Honigfarbenes Haar fiel lose auf ihre Schultern. Ihre vom Weinen geschwollenen Augen waren tiefblau mit einem leicht violetten Ton. Ihre helle Haut war von der Sonne mattgold gebräunt, und Sommersprossen sprenkelten den Rücken ihrer kräftigen Nase. Sie gewann rasch ihre Fassung wieder. »Wer sind Sie?« fragte sie mit klarer, aber tiefer Stimme. »Was ist das für ein Ort? Ich habe in den Coast Ranges noch nie etwas davon gehört.« Die Männer stellten sich vor. Kinross versagte kläglich, als er ihr die Beschaffenheit der Welt um sie herum zu erklären versuchte. »Schiffe? Seeleute? Stuß!« rief sie aus. »Sie behaupten, es selbst nicht zu verstehen, also hört mir mit diesem Quatsch auf. Wir brauchen nur loszumarschieren, bis wir eine Spur finden oder Rauch sehen oder … ach, das wissen Sie ja alles selbst.« »Okay, wir haben uns also verirrt«, gestand Kinross ihr zu. »Wir sind vermutlich irgendwo in Australien?« »Ja, in Queensland, irgendwo bei der südlichen Gabelung des Herbert River. Ich bin ausgeritten und muß eingeschlafen sein … Und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo mein Pferd ist.« Kinross und Garcia wechselten Blicke. »Entschuldige bitte, Mary«, sagte er Mexikaner, und seine schwarzen Augen funkelten vor Erregung. »Ich muß eine Minute mit meinem Freund hier verrücktes Zeug reden.« Dann zu Kinross. »Wie ist das nur möglich? 121
Laut den Soldaten von Tibesti soll das Tor im Indischen Ozean sein. Meinst du, daß diese Welt mehr als ein Loch hat?« »Darüber wundere ich mich auch. So wie ich es immer verstanden habe – ohne je daran zu glauben, vergiß das nicht! –, überschneiden sich die beiden Welten nicht. Sie haben nur einen einzigen Berührungspunkt, nämlich das Tor …« »Nun gut, wenn es sich auf dem Festland öffnet …« »Ich weiß, was du denkst. Aber wir müssen Kerbeck und Silva eine Chance geben. Auf alle Fälle diesen beiden.« Kinross wandte sich an das Mädchen. »Mary«, fragte er, »kannst du dich erinnern, wo genau du dich anfangs in dem Abgrund befunden hast? Hast du die Stelle markiert?« »Nein, warum sollte ich? Nicht einmal sämtliche verrückten Goldgräber im ganzen Norden bringen mich dahin zurück. Bring mich zu euerm Lager oder euern Goldfeldern oder was immer es sein mag. Ich hoffe, daß da jemand vernünftig mit mir redet.« Der Mexikaner brach plötzlich in Lachen aus. »Mir fällt gerade ein, daß der alte Bart Garcia, mein erster Vorfahre in Mexiko, auch ein Digger war«, sagte er. »Es war eine neue Welt, und er mußte sich dort tüchtig abrackern. Geh uns voran, Kinross.« »Alle Wege führen zu Krüger«, sagte Kinross und setzte sich in Marsch. »Alle außer einem«, verbesserte Garcia ihn und schaute zurück zu dem weiten, nun von schrägen Sonnenstrahlen in Schatten getauchten Abgrund. Der Rückweg war erst beschwerlich, dann weniger anstrengend. Kinross stieß einen Freudenschrei aus, als ein Vogel durch das Gestrüpp flatterte, und Garcia sagte: »Das habe ich also gehört.« Da hörte Kinross es auch, 122
ein vielstimmiges Tschilpen und Zwitschern um sie herum. Aber die Vögel waren, wie die undeutlichen Bäume und Büsche, ärgerlicherweise nie vom Auge unmittelbar einzufangen. Sie blieben Flügelgeflatter, vorbeihuschende Farben am Rande des Gesichtsfeldes. »Irritiert es dich nicht, sie nicht sehen zu können?« fragte er das Mädchen. »Aber ich kann sie doch sehen«, sagte sie. »Ihr komischen Käuze …« Keck-keck-keck-keck-kie-RECK! erklang es aus dem Gestrüpp, und Kinross fuhr zusammen. »Da drüben!« zeigte das Mädchen. »Es ist eine Spottdrossel. Kannst du sie jetzt sehen?« Kinross konnte es nicht. »Dort«, beharrte sie, »sie hüpft in den Akazien herum. Mach doch die Augen auf!« Garcia sah sie zuerst. Schließlich glaubte Kinross die Gestalt der kleinen dunkelgrünen Drossel mit der weißen Kehle, dem langen kecken Schwanz und der schwarzen Haube zu sehen. Aber er hatte das beunruhigende Gefühl, in Wirklichkeit nur eine verbale Beschreibung zu sehen. Keck-keck-keck-kie-RECK! Er fuhr wieder zusammen und kam sich wie ein Narr vor. Unterwegs fragte Kinross das Mädchen aus. Sie lebte mit ihrem Vater und drei Brüdern auf einer kleinen Viehfarm in den Bergen südlich von Cairns. Sie war vierundzwanzig und unverheiratet, hatte ein Jahr die Schule in Brisbane besucht, konnte aber Städte nicht leiden. Ihre Brüder arbeiteten nebenher in den Minen. Das hier wäre ein erstklassiges Gebiet für die Viehzucht, und es sei ihr unverständlich, wieso die Landvermesser es übersehen hätten. »Schau dir die Sonne an, Kinross«, sagte Garcia einmal. »Wir gehen nach Westen. Es tut gut, das sagen zu können.« 123
Die Sonne stand tief, als sie die Anhöhe über dem Tal erreichten. »Krüger-Tal«, nannte Kinross es, da das Mädchen ihn nach dem Namen fragte. Der ungeheuere bewaldete Hang, der von der Höhlenöffnung an drei Seiten aufragte, badete im Glanz der untergehenden Sonne, und Marys sachliche Bestimmtheit wurde nochmals erschüttert. »So etwas gibt es nicht in den Coast Ranges«, flüsterte sie. »Das weiß ich genau.« Als sie den Hang westlich des Waldgebietes hinabstiegen, war auch Kinross beeindruckt. Bäume waren deutlich sichtbar, einzeln, individuell. Das dicke Gras war deutlich sichtbar, ebenso wie die Blumenbüschel in leuchtenden Farben. Kleine, bunte Vögel schwirrten vor ihnen her, und Kinross wußte, daß er sie wirklich sah. Die fahle Einfarbigkeit und die glatte regelmäßige Form des Landes waren verschwunden. Kinross zeigte mit wachsender Erregung Garcia Felsblöcke, Schluchten und Streifen ausgewaschenen Bodens. »Etwas ist geschehen, Garcia«, sagte er. »Hier, innerhalb der Rückkehrschranke, reicht das Land jetzt in die Zeit zurück.« »Es sieht real genug aus«, gab der Mexikaner zu. »Ob wir wohl heute abend ein Feuer machen können?« »Ja, und Bäume fällen«, schrie Kinross fast. »Mary hat eine Unterkunft nötig.« »Natürlich ein Feuer«, sagte das Mädchen. »Wir wollen doch sicher etwas braten.« »Vielleicht erschlage ich ein paar Vögel«, sagte Garcia. »Ich habe Heißhunger auf Fleisch.« »Nein!« rief das Mädchen zornig. »Das wagst du nicht!« »Nicht diese hübschen kleinen«, beschwichtigte Garcia sie hastig. »Wie nennst du sie eigentlich?« 124
»Das sind Pittas«, sagte sie. »Lärmende kleine Farbtöpfe, nicht wahr? Sie sagen ›geh-ans-WERK, gehans-WERK‹.« »Und das wollen wir auch tun, nehme ich an«, kicherte Garcia. Sie bahnten sich den Weg den ziemlich steilen Hang hinunter, und Kinross bereitete das Mädchen währenddessen auf das vor, was sie unten am Bach erwartete, als sie ihn unterbrach. »Wer sind denn die da?« fragte sie und zeigte nach links. Kinross und Garcia konnten nichts erblicken. »Was siehst du denn?« fragte Kinross. »Eine ganze Horde von Schwarzen«, flüsterte sie offensichtlich beunruhigt. »Auf ihren Knien, im Gestrüpp.« »Jetzt kann ich sie teilweise sehen«, sagte der Mexikaner. »Es ist schlimmer als die Vögel heute morgen.« »Ich kann überhaupt nichts sehen«, klagte Kinross. »Nur Bäume und Büsche.« »Schau schräg«, drängte ihn Garcia. »Senke die Augen und schiele vor dich. Jedes Kind weiß, wie man das anstellt.« Kinross versuchte zu schielen, und plötzlich erblickte er sie, Dutzende von ihnen. Schwarze Zwerge mit roten Augen. Nackt und grotesk gebaut, unverhältnismäßig große Hände und Füße, knorrige Gelenke, Muskelbündel an den Gliedern. Sie erwiderten seinen Blick, aber ohne sichtbares Interesse. Panik ergriff ihn. »Mein Gott!« stieß er hervor. »Sie sind ein Teufelspack«, murmelte Garcia. »Kinross, verdammt noch mal, wer sind die?« »Es sind Schwarze«, sagte das Mädchen. »Früher pflegten sie manchmal Weiße in den Coast Ranges 125
aufzuspießen, aber jetzt sind sie recht zahm. Wir müssen einfach an ihnen vorbeigehen und so tun, als sähen wir sie nicht. Eigentlich sollten sie in der Geisterwelt sein.« »Es sind Zwerge, Pygmäen«, wandte Kinross ein. »Gibt es Pygmäen in Queensland?« »Sie kauern auf den Knien«, erwiderte sie scharf, »und sie verstecken sich vor uns an einer ihrer Geisterstätten. Kommt jetzt! Geht vorbei und tut so, als würdet ihr sie nicht sehen.« »Na, versuchen wir es«, stimmte Kinross zu. Sie erreichten die Talsohle ohne Zwischenfall. Als sie ihr folgten, spähte Garcia wachsam nach links und rechts. »Kinross, irgend etwas beschattet uns, schleicht auf beiden Seiten im Gestrüpp hinter uns her«, sagte er. »Diese schwarzen Dinger?« fragte Kinross, und seine Magenmuskeln verkrampften sich. »Nein, ich kann sie nicht genau erkennen, aber sie sind größer und gräulich.« »Ich kann sie sehen«, sagte das Mädchen. »Es sind Dschinninnen, Binghi-Frauen dieser Horde, an der wir gerade vorbeigegangen sind. Sie sehen wie Geister aus, wenn sie sich mit Holzasche einreiben.« »Hinter was sind sie her?« fragte Kinross, der die flüchtigen Gestalten aus den Augenwinkeln halb sah. »Sie wollen uns zum Lager folgen, damit sie dort betteln und stehlen können«, sagte das Mädchen. »Paßt nur auf, daß ihr sie gleich wegschickt, wenn sie kommen.« Garcia sagte: »Sie haben hübsche Figuren, nachdem ich weiß, daß es Frauen sind. Kinross, kannst du sie jetzt sehen?« »Nur teilweise«, sagte Kinross. Die huschenden Gestalten ließen von ihnen ab, als 126
sie an den Bach gelangten. Während sie unschlüssig am Ufer standen, erklang Geschrei von dem Hang, den sie gerade hinabgestiegen waren. Kinross sah, wie Kerbeck durch das Gestrüpp stürmte und schwarze Pünktchen vor sich her jagte. »Mein Gott!« stieß er hervor. »Kerbeck kämpft mit diesen schwarzen Dingern!« »Und siegt«, stellte Garcia, weniger beunruhigt als Kinross, fest. »Guck nur, wie sie davonrennen.« »Das sollte er nicht tun«, sagte das Mädchen. »Heute nacht werden sie sich zurückschleichen und ihn aufspießen. Vielleicht uns alle.« Sie erschauderte. Kerbeck kam in großen Sprüngen den Hang hinunter. Er durchquerte das eine Viertelmeile breite Talbecken, tauchte bronzefarben und hünenhaft auf und verschwand wieder, tauchte auf und verschwand. Sein flatterndes Haar und sein wallender Bart bildeten eine Aureole im Licht der westlichen Sonne. Er schubste Kinross beiseite, packte das Mädchen bei den Oberarmen und starrte ihr in die Augen. Er summte und brummte wild. Kinross zerrte vergeblich an einem der Riesenarme und protestierte. Dann beruhigte sich der Schwede, ließ das Mädchen los, lächelte und summte friedlich. »Es ist schon gut«, sagte das Mädchen. »Er wollte sich nur davon überzeugen, daß meine Augen Pupillen haben.« Kinross schaute verständnislos von ihren blauvioletten Augen zu den mattblauen Augen des hünenhaften Nordländers. »Er hat Jagd auf die Teufel-Teufel gemacht«, erklärte sie. »Er dachte, ich wäre vielleicht einer davon. Ihre Augen haben keine Pupillen, nur schwarze Flecken auf weißen Augäpfeln.« 127
Kerbeck summte glücklich. Kinross schüttelte den Kopf. »Sie hat recht, Kinross«, sagte Garcia. »Ich habe es teilweise mitbekommen. Übrigens noch etwas, man muß seitlich hinhören.« »Sie verwandeln sich in Bäume und Felsen, wenn er sie fängt«, fügte das Mädchen hinzu. »Er hat ihretwegen tagelang auf einem Gummibaum gehockt und freut sich, daß ihr beide wieder da seid.« »Mein Gott!« stöhnte Kinross. »Ich komme mir wie ein verdammter Idiot vor. Du gibst jetzt also zu, daß sie Teufel sind?« »Nicht mehr!« sagte sie scharf. »Sie sind Ureinwohner auf einem Geisterrundgang. Ihr seid alle völlig übergeschnappt.« »Laß uns ein Feuer machen«, sagte Kinross und wandte sich ab. Es gab reichlich trockenes Gras und herabgefallene Zweige, im Gegensatz zu früher. Garcia hatte Streichhölzer, und schon bald brannte ein Feuer. Kinross lieh sich Kerbecks Fahrtenmesser, um Pfähle aus den Ästen zu schnitzen, die der hünenhafte Schwede diensteifrig von den Bäumen abriß, und die Arbeit an einer kleinen Hütte machte gute Fortschritte. Garcia schnitt Wedel von einer Art Palmettopalme, um sie zwischen die aufgerichteten Pfähle zu flechten, und das Mädchen pflückte Fasern aus der Palmettokrone, um sich daraus ein Bett zu machen. »Burrawang«, nannte sie es. Sie bezeichnete das fertige Machwerk als »ganz annehmbare Bude«. In der Dunkelheit rösteten sie klumpige Brotfrüchte und geschälte Bananen in der Glut. Kerbeck tauchte in der Nacht unter. Sie aßen schweigend. Schließlich sagte das Mädchen: »Wo sind wir? Aber jetzt die reine Wahrheit. Wo sind wir?« 128
»Ich habe dir doch schon heute morgen gesagt …« begann Kinross, aber sie unterbrach ihn. »Ich weiß. Ich glaube sogar, daß es euch so vorkommen muß. Aber wißt ihr, wo ich bin?« Beide Männer murmelten ihre Fragen. »In Alcheringa«, sagte sie. »Im Binghi-Geisterland. Ich fiel irgendwie hinein, ich ritt durch eine dieser alten heiligen Stellen. Der South Herbert River ist mit lauter Bilderschriften gesäumt. Heute, als ich die Ureinwohner sah, wußte ich es … .« »Mary, demnach waren sie Zwerge«, sagte Kinross. »Sie waren keine Menschen.« »Wenn die Ureinwohner in das Geisterland zurückkehren, sind sie auch keine Menschen«, sagte sie. »Und gleichzeitig mehr als Menschen. Ich habe die Horde darüber reden hören. Aber diese Dschinninnen – die sollten nicht hier sein. Auch ich nicht. Für eine Frau ist es ein großes Pech, ins Geisterland zu geraten. Als ich ein kleines Mädchen war, fand ich das einfach unfair …« »Wie gelangen die Eingeborenen von … Alcheringa hinein und hinaus?« fragte Kinross mit wachsendem Interesse. »Sie bahnen sich mit Singen und Tanzen den Weg, bemalen sich, benutzen Churingas, das heißt Amulette … ach, lauter solche Riten«, sagte sie. »Niemand darf in der Nähe sein, vor allem keine Frauen.« Aus der Dunkelheit über ihren Köpfen senkte sich eine unheimlich heulende Klage herab. Beide Männer sprangen auf. »Setzt euch«, bat das Mädchen. »Zu Hause, auf der Chadwick Farm, würde ich diesen Schrei für den einer Schnepfe halten. Sie fliegen herum und rufen in der Dunkelheit. Die Schwarzen halten sie für die Seelen 129
der Kinder, die aus der Geisterwelt auszubrechen versuchen, um geboren zu werden. Ich frage mich, was sie hier sind.« Sie schaute in die Höhe. Kinross und Garcia setzten sich wieder hin. Dann strich ein schlanker Vogel mit dünnen Beinen und langem gebogenem Schnabel in den Schein des Feuers nieder und hockte sich auf ihre Schulter. »Armes kleines Nachtbaby«, redete das Mädchen ihn an, »du wirst mich bewachen, nicht wahr?« Sie stand plötzlich auf, sagte gute Nacht und ging in die Hütte. Kinross sah Garcia an. »Es ist unsere Schuld, daß sie hier ist«, sagte er. »Wir müssen sie wieder zu ihrer Familie zurückbringen.« »Es ist Krügers Schuld«, sagte Garcia. »Auch unsere. Wenn Krüger heute nacht nicht zu mir kommt und mit mir redet, gehe ich morgen früh zu der Höhle. Kommst du mit?« »Natürlich«, sagte der Mexikaner gähnend. »Angenehme Träume.« Morgenröte über den großen Hang talaufwärts weckte Kinross aus einem traumlosen Schlaf. Er blies in die glühende Asche und entfachte das Feuer. Verkohlte Brotfruchthülsen lagen am Boden herum, und er dachte bitter, daß diese Welt sich nun nicht mehr selbst säuberte. Er warf die Hülsen in die Flammen. Irgendwo auf dem Hang jenseits des Baches brüllte Kerbeck, und es knackte im Gestrüpp. Garcia stand auf, und das Mädchen lugte aus ihrer Hütte, während Kinross unschlüssig dastand. Dann erschien Kerbeck. Er trug ein Bündel gelber Bananen auf der linken Schulter und hielt mit der rechten Hand einen kleinen 130
Mann im Nacken fest. Halb stieß er, halb kickte er den kleinen Mann den Hang hinunter. Der hünenhafte Nordländer summte aufgeregt, als er sich dem Talgrund näherte. Plötzlich hörte Kinross, noch halb schlafend, Worte in dem Gesumm, wie er manchmal Windstimmen im Summen von Telegrafendrähten gehört hatte, als er noch ein Junge auf den Hochebenen von Nebraska war. »Ich fange mir einen Teufel«, sagte Kerbeck. Der Teufel war ein dunkelhäutiger kleiner Mann mit breitem Gesicht in schlotterndem grauem Wollzeug. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht vor Angst verzogen, und er plapperte vor sich hin. Garcia spitzte plötzlich die Ohren, und schnauzte dann den Mann auf spanisch an. Ein Wortschwall war die Antwort. »Er ist ein Peruaner«, übersetzte Garcia. »Er kommt aus den Bergen oberhalb von Tacna. Er ist tagelang herumgeirrt. Er glaubt, daß er tot und Kerbeck der Oberteufel wäre.« »Das scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen«, sagte Kinross. »Sag ihm, daß er keine Angst mehr zu haben braucht. Ich frage mich, wie viele noch …« Kerbeck trottete summend und brummend davon. Der kleine, immer noch schrecklich verängstigte Peruaner kauerte sich ans Feuer und aß mit ihnen Bananen. Dann erklärte Kinross dem Mädchen seine Absicht und schlug Garcia vor, die Höhle aufzusuchen. »Nicht mit leeren Händen«, erinnerte ihn der Mexikaner. »Vergiß nicht, daß wir eine Pflicht haben.« Unterwegs sammelten sie Guavas und Papayas in Kinross’ Hemd, durchquerten den Wald und legten die Früchte auf das Steinpodest. Silva saß wiegend und 131
fast unhörbar wimmernd daneben. Kinross klopfte ihm auf die Schulter. »Kopf hoch, Silva, alter Knabe«, sagte er. »Wir gehen jetzt zu Krüger. Vielleicht bringen wir gute Nachrichten für dich mit.« »Unheilig«, stöhnte der alte Mann. »Voller Teufel. Du bist ein Teufel.« Die beiden Männer gingen zum Eingang der Höhle und blieben stehen. Sie sahen sich an. »Worauf warten wir noch?« fragte Garcia. »Ich weiß nicht. Ich habe wohl erwartet, daß Fay oder Bo Bo Wache hält«, sagte Kinross. »Zum Teufel damit. Wir gehen einfach hinein.« Die Höhle bog sich scharf nach innen und bildete einen fast runden, etwa fünf Meter hohen Tunnel. Der Bach plätscherte über den Grund, so daß sie waten mußten. Das Wasser glänzte sanft, und Feuchtigkeit, die aus Rissen im schwarzen Fels sickerte, rief hier und dort funkelnde Flecken an den Wänden hervor. Der Fels hatte das wuchtige, amorphe Aussehen von Basalt. Die Luft war kühl und bis auf das Murmeln des Baches völlig still. Die beiden Männer wateten ein ganzes Stück, ehe sie das klare Geräusch sprudelnden Wassers irgendwo vor ihnen hörten. Dann kamen sie in eine unermeßlich große Kammer, über deren Rückwand glitzerndes Wasser aus der Dunkelheit hinabstürzte. Fay und Bo Bo schliefen auf den kahlen Terrassen neben dem Bach. »Was hast du mir zu sagen, Kinross?« fragte Krügers Stimme aus der Finsternis. Sie schien das Geräusch des hinabstürzenden Wassers zu Worten zu formen. »Wir haben eine Frau gefunden«, sagte Kinross. 132
»Ich weiß. Viele andere, sowohl Männer als auch Frauen, sind noch auf dem Wege hierher. Ich bin sehr gestärkt worden. Habt ihr nicht bemerkt, wie sich die Welt gefestigt und in die Zeit ausgedehnt hat?« »Doch. Aber wie gelangen diese Leute hierher? Gibt es mehrere Pforten?« »Nein. Die eine muß sich verrückt haben.« »Wohin denn? Die eine ist aus Australien, der andere aus Peru.« »So?« Die silberhelle, flüssige Stimme klang erstaunt. »Dann bewegt sie sich vielleicht.« »Aber Tibesti …« »Sie wußten nicht, daß die Erde sich dreht. Die Sonne von Tibesti kreist um eine stillstehende Erde. Aber als wir – als ich hier einen Ablauf der Tage geschaffen habe, muß ich dieser Welt eine Achse verliehen haben. Vielleicht ist sie nicht genau im gleichen Takt mit unserer alten Welt. Dann wandert die Pforte …« »Du scheinst dich darüber zu freuen«, sagte Kinross. »Das tue ich auch. Es sind viele Leute nötig, um eine Welt aufrechtzuerhalten, Kinross. In wenigen Jahrhunderten gibt es vielleicht genügend hier, so daß ich mich wirklich ausruhen kann. Sie werden sich natürlich vermehren und hier langlebig sein.« »Wie groß, meinst du, ist die Pforte?« »Ich nehme an, so groß wie ein Boot. Vielleicht eine Ellipse mit einer zehn Meter langen Hauptachse.« »Wie gelangen die Leute hindurch, wenn sie nicht wissen …?« »Mehrere Arten sind möglich. Vielleicht überkommt es sie in einem Augenblick intensiven Weltekels, in jenen Augenblicken, die der Mensch höchstens ein oder zwei Sekunden ertragen kann. Es reißt sie 133
empor. Oder es sind vielleicht Tagträumer, deren Wirklichkeitssinn auf keinen festen Punkt gerichtet ist und deren Ankertaue zu ihrer wirklichen Welt sich lockern oder losmachen. Sie wollen nur ein Stück hinaustreiben, aber die Pforte kommt vorbei und schnappt sie sich. Ich weiß es wirklich nicht, Kinross. Vielleicht werden Dichter und Selbsthasser diese Welt bevölkern.« »Aber die Pforte? Können wir in umgekehrter Richtung hindurchgelangen?« »Ja. Manche Soldaten von Tibesti kehrten zurück – oder flohen zurück oder wurden zurückgejagt – die alten Geschichten widersprechen sich darin. Aber jeder, der durch diese Pforte zurückkehrt, läuft Gefahr, in den Ozean zu stürzen. Ich vermute, daß die Pforte den achtzehnten Breitengrad streift oder dessen Nähe.« »Krüger, die Frau möchte zurückkehren. Wir müssen einen Weg finden.« »Nein. Niemand darf zurückkehren. Vor allem keine Frauen.« »Krüger, wir haben kein Recht …« »Wir haben das Recht und außerdem eine Pflicht. Sie wäre nicht hier, wenn sie nicht, wenigstens für einen Augenblick, ihre eigene Welt verleugnet oder verworfen hätte. Sie gehört jetzt uns, und wir brauchen sie.« »Krüger, vielleicht gehorche ich dir dabei nicht. Ich …« »Du mußt gehorchen. Du kannst die Rückkehrschranke nicht ohne meine Hilfe überschreiten.« »Dann wollen wir es jetzt auf sich beruhen lassen«, gab Kinross nach. »Ich habe andere Fragen. Was sind die schwarzen Männer und die perlgrauen Frauen?« »Man könnte sie Naturgeister nennen. Ich habe sie von Fay und Bo Bo abgeschnitten, sie ihnen in Millio134
nen abgeschält, bis nur noch der kahle Kern der Nichtigkeit übrigblieb. Was die beiden jetzt sind, kann ich euch nicht beschreiben. Aber die Welt funktioniert nun teilweise von selbst, und meine Last ist leichter geworden.« Garcia redete zum erstenmal. »Hart für Fay, obwohl ich diese kleine Ratte hasse.« »War es das, was du mit mir vorhattest?« fragte Kinross und erschauderte. »Nein«, sagte die klare, flüssige Stimme ernst, »du bist ein anderer Menschenschlag, Kinross. Du hättest mir helfen können, die Last zu tragen, und vielleicht hätten wir es so lange ausgehalten, bis die Hilfe eingetroffen wäre, die jetzt eintrifft. Wasche, was Fay und Bo Bo angeht, deine Hände nicht in Unschuld, Kinross.« »Krüger«, sagte Garcia zögernd, »glaubst du, daß all diese Teufel wirklich Fay und Bo Bo sind?« »Die meisten von ihnen«, bestätigte die silberhelle Stimme, »aber viele von ihnen sind Kerbeck. Er löst sich ohne mein Zutun auf. Und manche sind auch du, Garcia; manche sind Kinross, die Frau, ihr alle. Ihr seid weiter in diese Welt eingebaut, als ihr wißt.« »Mir gefällt das nicht«, sagte Garcia. »Krüger, ich will meine Teufel nicht hergeben.« »Du kannst nichts daran ändern, Garcia. Aber du kannst Millionen entbehren, und weißt du, du verlierst außerdem nicht wirklich sie. Du streust dich gewissermaßen nur in die Welt aus. Jedesmal, wenn du einen Zwang auf diese Welt ausübst, indem du etwas erwartest, kostet es dich ein oder zwei Teufel. Verstehst du das?« »Nein!« murrte der Mexikaner. »Ich glaube doch. Wenn nicht, so rede nachher mit 135
Kinross darüber. Aber es ist nicht so schlimm, Garcia. Wenn du ein loser Schwarm Teufel und kein glänzender schwarzer Stein wirst, so wirst du ein Dichter oder ein Waldgott.« »Krüger«, schaltete Kinross sich ein, »nimmst du es mir übel, daß ich dir damals meine Hilfe verweigert habe?« »Nimmst du es mir übel, daß ich das alles versucht habe, indem ich die Ixion in die Luft fliegen ließ?« »Ich weiß nicht … Ich weiß es einfach nicht …« »Ich weiß es auch nicht, Kinross. Vielleicht sind wir quitt. Und ich habe dich immer noch nötig.« »Wo ist dein Körper, Krüger? Kannst du ihn jetzt beleben?« »Er ist über dem Wasserfall. Ich sehe jetzt undeutlich vor mir, wie er sich in ferner Zukunft belebt und gleichsam triumphierend in seine Welt tritt. Aber noch nicht, noch nicht …« »Und dein Durst, Krüger? Bist du immer noch durstig?« »Ja, Kinross. Er verzehrt mich immer noch. Ich weiß nicht, wie lange ich ihn noch ertragen muß.« »Hat die Beziehung zu Fay …?« »Keiner außer dir, Kinross. Und jetzt nicht einmal mehr du. Du hast mir einmal nicht gehorcht.« »Krüger, es tut mir leid. Ich wollte, es wäre nicht nötig gewesen. Dürfen wir jetzt gehen?« »Ja. Geht und dient dieser Welt. Versucht zufrieden zu sein.« »Laß uns gehen, Garcia«, sagte Kinross und machte kehrt. Der Mexikaner setzte sich in Marsch, übernahm die Führung. Als sie den dunklen Wald durchquerten, blieb Kinross stehen. »Wollen wir uns nicht hier hinsetzen und uns eine Weile über die Teufel unterhalten, 136
Garcia?« schlug er vor. »Ich kann Mary Chadwick einfach noch nicht ins Gesicht sehen.« Als die beiden Männer zum Feuer zurückkehrten, standen über ein Dutzend Leute darum herum. Mehrere waren Frauen. Ein großer schlanker Mann, der eine Lederjacke und graue, in Stulpenstiefeln steckende Hosen trug, kam ihnen aus der Gruppe entgegen. Er hatte rötlich-blondes Haar. »Mister Kinross?« fragte er. »Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle, und entschuldigen Sie bitte, daß ich so frei war, mich Ihres Feuers zu bedienen. Mein Name ist Friedrich von Lankenau.« Sie schüttelten sich die Hände. Der Neuankömmling hatte einen kräftigen Griff in seinen langen Fingern. Sein Gesicht war starr, straff, hager, hatte schmale Lippen und eine feingeschnittene Hakennase. Kinross schaute ihn forschend an, und tiefliegende graue Augen unter buschigen Brauen erwiderten seinen Blick fest. Die schmalen Lippen lächelten leise. »Miss Chadwick hat mir gesagt, daß Sie gewissermaßen Mister Krügers Adjutant sind«, sagte der Mann. »Wir sind eine Gruppe, die sich unterwegs zufällig getroffen hat. Wir sind begierig auf eine vernünftige, naturwissenschaftliche Erklärung dessen, was mit uns vorgeht.« Ein Stimmengewirr erhob sich aus der Gruppe. »Ruhe!« schnauzte der große Mann. »Wenn Mister Kinross es uns erklärt, können alle, die Englisch verstehen, zuhören. Danach übersetze ich es den anderen.« Das Stimmengewirr verstummte. Kinross erzählte die Geschichte der Soldaten von Tibesti und der Seeleute von der Ixion. Beim Reden beobachtete er von Lankenau genau. Der Mann änderte 137
nicht seine straffe Miene, aber seine Augen leuchteten, und er nickte dauernd verständnisvoll mit dem Kopf. Als er geendet hatte, unterdrückte Kinross ein erneutes Geplapper, indem er Garcia die Geschichte auf Spanisch erzählen ließ. Dann zog er von Lankenau beiseite. »Könnten Sie mir bitte sagen, wo Sie sich befanden, als Sie hierher gelangten?« fragte er. »Ich war fast auf dem Gipfel des Sajama in Bolivien, den ich allein bestieg.« »Und die anderen?« »Sie kommen von überall. Brasilien, den NeuHebriden, Mozambique, Australien, Rhodesien …« »Vermutlich hat Krüger recht, und die Pforte folgt tatsächlich dem achtzehnten Breitengrad«, dachte Kinross laut. »Das können wir zweifellos ziemlich genau durch ein kurzes Verhör feststellen«, sagte von Lankenau zuversichtlich. »Aber früher oder später, Mister Kinross, möchte ich gern mit Mister Krüger persönlich sprechen, wenn sich das einrichten läßt. Es beschäftigt mich sehr …« »Dann brauchen Sie ihn nur aufzusuchen, Herr von Lankenau. Ich bin nicht sein Sekretär. Aber so viel kann ich Ihnen jetzt schon sagen: er erlaubt es keinem, in die alte Welt zurückzukehren.« »Um keinen Preis möchte ich in die alte Welt zurückkehren!« Von Lankenau sprach mit Gefühl, durchbrach seine steife Haltung. »Seit meinem Knabenalter kenne ich die Geschichte der Soldaten von Tibesti«, fuhr er fort. »Als Jüngling suchte ich die Pforte in ganz Tibesti, und vielleicht fand ich sogar die Stelle, aber es offenbarte sich mir nicht wie Mister Krüger. Deshalb suchte ich eine eigene Pforte, auf winterlichen Bergspitzen, auf Gipfeln wie 138
dem Sajama. Ich bin zwar nicht ganz sicher, daß ich durch Ihre Pforte kam, Mister Kinross, aber ich bin sicher, daß ich hierher kam, um zu bleiben.« »Mary – Miss Chadwick – hat irgendwie das gleiche Gefühl«, sagte Kinross. »Ich habe nie gewußt, daß so viele Leute …« Seine Stimme verlor sich. »Verzeihen Sie mir meinen Ausbruch«, sagte von Lankenau und gewann seine Fassung wieder. »Für mich ist dies eine letzte Hoffnung, die sich plötzlich verwirklicht hat, und ich bin davon ein wenig überwältigt. Wollen Sie mich jetzt bitte entschuldigen, ich möchte Mister Krüger einen Besuch abstatten.« Er verbeugte sich und schritt, federnd davon. Kinross bemerkte das australische Mädchen an seiner Seite. »Mary«, sagte er, »hast du gehört, was er gesagt hat? Aber ich sage dir, daß wir dich in deine Welt zurückschaffen, obwohl es gefährlich sein wird. Ich werde mich darum kümmern und dich auf dem laufenden halten.« Sie schien ihm kaum zuzuhören und starrte der entschwindenden Gestalt nach. »Eine Wucht!« sagte sie. »Da geht ein Mann!« Kinross wandte sich etwas irritiert von ihr ab. Garcia sprach mit einer Gruppe von Lateinamerikanern, darunter drei Frauen. Kinross suchte den Rhodesier heraus, einen untersetzten, auffälligen Mann mit karierten Shorts. Er hieß Peter White. »Was meinen Sie zu all dem?« fragte Kinross. »Sie haben es recht gut hier«, antwortete der Mann. »So als wäre man wieder ein Kind, nicht wahr?« Kinross brummte und fragte ihn, was er von v. Lankenau halte. White sagte, daß er von Lankenau bewundere, daß er sich ziemlich verloren und ziellos gefühlt habe, ehe er sich von Lankenaus Gruppe angeschlossen 139
habe. Kinross plauderte ein paar Minuten über Banalitäten und sagte schließlich: »Wissen Sie, White, wir können durch diese Pforte zurückkehren, wenn wir es richtig anpacken.« »Ich möchte noch gar nicht zurück«, sagte White trocken. »Mir macht es Spaß hier.« »Aber zu gegebener Zeit … wenn Sie es satt haben …« »Satt? Das werden wir sehen. Wissen Sie, Kinross, als letztes aus der alten Welt erinnere ich mich, daß ich fast tot vor Fieber im Busch lag. Träume … Visionen … Ich bin nicht bereit, wieder dort zu erwachen …« »Sie halten das also für einen Traum?« »Ja. Einen anderen und besseren.« Kinross entschuldigte sich und entfernte sich, wobei er den Kopf schüttelte. Garcia plapperte immer noch Spanisch. Er lief eine Weile ziellos herum, legte sich dann unter einen Brotbaum beim Feuer und versuchte zu schlafen. Er empfand Langeweile und Ärger. Er sah zwei Neuankömmlinge, beides Frauen, den Hang herabkommen und überließ es Garcia, sie willkommen zu heißen. Stunden später kehrte von Lankenau mit einem begeisterten Ausdruck auf seinem hageren Gesicht aus dem Wald zurück. Er rief seine Gruppe zusammen und wies ihnen ihre Pflichten in mehreren Sprachen zu. Alle mußten jeden Morgen eine Handvoll Früchte oder Beeren sammeln und sie auf den Steinhügel vor dem Höhleneingang legen. Dann sprach er von Hütten und sanitären Anlagen. White besaß eine Axt. Einer der Neger aus Mozambique hatte ein Buschmesser, und der andere eine Hacke. Als die Fortschritte der Arbeit von Lankenau befriedigten, gesellte er sich unter dem Brotbaum zu Kinross. Garcia begleitete ihn. 140
»Ich habe mich lange mit Mister Krüger unterhalten«, sagte von Lankenau, setzte sich und schlang seine Arme um seine Knie. »Er hat mir viel erzählt, auch über Sie, Mister Kinross.« »Was denn über mich?« fragte Kinross und kniff die Augen zusammen. »Über das besondere Verhältnis zwischen Ihnen und ihm. Etwas über die Wechselwirkung, durch die Sie und er in diese Welt gelangt sind. Er versteht es selbst nicht. Aber er weiß, daß Sie sein Adjutant unter den Leuten sein sollten.« Kinross schwieg. Von Lankenau betrachtete ihn einen Augenblick ernst, und fuhr fort: »Ich unterwerfe mich gern Ihrer Autorität, Mister Kinross, und werde Ihnen helfen, so gut ich kann.« »Ich möchte weder Autorität noch Verantwortung haben«, sagte Kinross. »Kümmern Sie sich ruhig weiter um die Dinge, Herr von Lankenau, aber lassen Sie mich dabei aus dem Spiel.« »Wenn es, durch Ihre Weigerung, sein muß, werde ich das tun. Aber ich hoffe doch, daß ich mich mit Ihnen beraten darf.« »Aber selbstverständlich«, sagte Kinross. »Aufs Reden verstehe ich mich.« »Lassen Sie uns dann reden. Wissen Sie, Mister Kinross, diese Situation ist einfach faszinierend. Spüren Sie nicht, wie es Ihre Gedanken in Feuer und Flamme setzt?« »Vermutlich weiß ich, was Sie meinen. Wir rühren an einige der letzten Geheimnisse. Ich gebe zu, daß ich seinerzeit auch darüber nachgedacht und seltsame Bücher gelesen habe. Aber jetzt überlege ich …« »Bitte jetzt keine moralischen Skrupel, Mister Kinross. Sonst quälen Sie sich völlig sinnlos wie dieser 141
unglückliche Portugiese. Wir haben eine Welt aufgebaut, und sie braucht keine Nachahmung der alten zu sein. Vielleicht gelingt es uns, die Chemie zu vereinfachen, die Mineralogie zu systematisieren … reizt Sie dieser Gedanke nicht, Mister Kinross?« »Ho! Sie können nicht die Energiegesetze überwinden, Herr von Lankenau. Je mehr Leute hierher kommen, desto strikter treten sie in Kraft. Das hat mir Krüger selbst gesagt, und ich kann sehen, daß sie schon jetzt Fuß fassen.« »Mister Krüger hat aber das zweite Gesetz nie beachtet. Sonst wäre keiner von uns hier. Und die meisten Menschen, die herkommen, bleiben, wie Sie wissen, keine Menschen.« Von Lankenau warf Garcia einen zweifelnden Blick zu und fuhr fort: »Das ist auch so etwas Faszinierendes, zu beobachten, wie die Persönlichkeitselemente allmählich in die äußere Natur zurückfließen, bis sich die Grenze zwischen Subjekt und Objekt fast verwischt. Denken Sie nur an die Macht der Massenbeeinflussung, über die wir dann verfügen! Diese Bäume und Felsen werden unserem Einfluß unterworfen, jeder mit dem ihm innewohnenden Fragment menschlichen Geistes! Oh, Kinross … Ihr zweites Gesetz … Ihre dürre, an Worten erstickende Welt … das hier wird lange Zeit eine Welt der Magie sein, ehe sie zu einer Welt der Wissenschaft wird.« Kinross runzelte die Stirn. »Welches Recht haben wir, Persönlichkeiten auf diese Weise aufzulösen? Oder es zuzulassen? Fay und Bo Bo …« »Das sind zwei Sonderfälle, einem Notfall geopfert, der nicht mehr eintreten wird. Was die anderen betrifft, so werden wir uns eine Reihe ritueller Lebensmuster ausdenken, die sie auf einer niedrigeren Stufe festigt. 142
Darüber habe ich mich mit Mister Krüger am ausführlichsten unterhalten.« »Darf ich hier mal was einwenden?« brummte Garcia. »Glaubt ihr Spinner etwa, daß mir das passiert? Angenommen, ich falle euretwegen nicht auseinander – was dann?« »Vielleicht können Sie nichts daran ändern, Señor Garcia. Und vielleicht fühlen Sie sich wesentlich glücklicher, wenn Sie … auseinanderfallen.« »Sie reden wie Krüger! Kinross, was meint er damit?« »Er meint, daß die Leere dieser Welt dich auseinanderreißt, ob es dir paßt oder nicht. So wie ein Salzklumpen, den man in eine Tasse Süßwasser wirft, sich allmählich auflöst.« »Leere? Nicht in der alten Welt?« »Nur selten, an Stellen wie der Antarktis, auf einem Rettungsfloß im Meer, an leeren Stellen.« »Ich verstehe. So wie die meisten Stellen der alten Welt schon so salzig sind, daß sie nichts mehr aufnehmen können.« »Ganz richtig. Die Salzklumpen nehmen, statt sich aufzulösen, zu.« »Hm. Wie wir es heute morgen beredet haben. Wir pflegten unsere Teufel aufeinander abzuwälzen.« »Teufel. Das ist Mister Krügers Analogie«, unterbrach von Lankenau. »Komisch, daß ich einfach weiß, was er damit meinte, ohne es anders ausdrücken zu können«, sagte Garcia. »Du hast ein paar Teufel verlieren müssen, ehe es soweit war«, sagte Kinross zu ihm. »Okay, ich habe ein paar verloren. Aber ich bin immer noch Joe Garcia, und meine Eingeweide funktionieren.« 143
»Namensmagie ist eines der ältesten und mächtigsten Mittel, die eigenen Teufel zu einer Einheit zu verbinden, Señor Garcia«, versicherte ihm von Lankenau. »Wir werden die Dorfbewohner hoffentlich ein ganzes Stück über dem Namensniveau festigen.« »Warum finden Sie und Kinross es ganz selbstverständlich, daß Sie für dieses … dieses Teufelsverlieren nicht in Betracht kommen?« »Und ob wir dafür in Betracht kommen. Wir verlieren lustig Teufel, aber es handelt sich dabei um einen Verlust nach Auswahl. Ich, und ich nehme an, auch Mister Kinross, wir halten uns durch eine höhere Magie zusammen.« »Es ist so, Garcia«, sagte Kinross. »Man kann entweder einfach all seine Teufel sein oder man kann man selbst sein und eine Reservelast von Teufeln mit sich herumschleppen.« »Teufel, Señor Garcia«, sagte von Lankenau ernst, »sind Erfahrungsstücke, große oder kleine, fröhliche oder betrübliche.« »Die gelebten Erfahrungen, die guten oder schlechten, binden wir an uns selbst«, sagte Kinross. »Die ungelebten Erfahrungen, die Leider-Nicht, Es-hätte-dochso-schön-sein-Können, die knapp-versäumten Dinge tragen wir auf dem Buckel herum. Aber wir wissen es.« »Eigentlich erklären wir es uns gegenseitig, nicht wahr, Mister Kinross?« sagte von Lankenau. »Wir verlieren die Teufel, die uns reiten, und behalten diejenigen, die uns Macht verleihen. Die Dorfbewohner müssen unterschiedslos beiden Arten verlieren.« »Ich bin noch da«, sagte Garcia. »Reden Sie weiter.« »Um auf Ihre frühere Analogie zurückzukommen, Mister Kinross«, sagte von Lankenau, »so möchte ich behaupten, daß Teufel einen osmotischen Druck aus144
üben. Er ist auf Berggipfeln stark nach außen gerichtet, und an solchen Orten, an denen ich tausend Teufel abgeschüttelt habe. Aber in Berlin oder Paris … kehrten sie zu Zehntausenden zurück.« »Das kapiere ich«, sagte Garcia. »Es macht einen großen Unterschied, ob man auf einer langen Fahrt ist oder einen Monat an Land geht. Es gibt mir immer einen Stich, wenn ich mich ausschiffe.« »Ich glaube, du bist in Ordnung, Garcia«, sagte Kinross. »Wenn du das nicht wärst, dann wärst du schon zerstoben wie Kerbeck.« »Ist Kerbeck nicht phantastisch?« fragte von Lankenau. »Das Endprodukt der Teufelausstreuung, eine Elementargewalt mit kaum geahnten Kräften. Auch das schwarze und wilde Bo-Bo-Ding. Mister Kinross, wir zahlen einen Preis für unseren Verstand. Aber wir dürfen nicht zulassen, daß dies mit unseren Dorfbewohnern geschieht.« »Vermutlich nicht«, pflichtet Kinross ihm bei. »Sie sprachen von Riten …« »Ja, ein Schema von Gruppenriten, um sie durch ihre Tage und Nächte zu bringen, später vielleicht durch Jahreszeiten. Wir halten sie als Masse zusammen, konzentrieren die Teufel örtlich durch gegenseitige Stärkung oder stufenweises Wiedereinfangen … ich weiß nicht genau, wie ich es ausdrücken soll.« »Ich verstehe. Die Vorstellung beunruhigt mich, Herr von Lankenau.« »Das ist unnötig. Ich finde sie erheiternd. Ich hoffe, daß Sie und Señor Garcia mir dabei helfen werden.« Von Lankenau erhob sich und schaute auf die Bauarbeiten an den Hütten. »Wir werden es uns überlegen«, sagte Kinross und stand ebenfalls auf. 145
»Ich werde mein möglichstes tun«, sagte der Mexikaner. Von Lankenau entschuldigte sich und ging zu den Dorfbewohnern. »Kinross, irgend etwas sagt mir, daß du bei all deinem Grips noch einen Teufel am Halse hast, der so groß wie die Queen Mary ist.« Krügertown, wie sie es nannten, wurde in einem Tag erbaut. Mary hatte eine große Hütte aus Fachwerk neben dem von Steinen eingefaßten Gemeinschaftsfeuer und etwas abseits vom Dorfkern, der näher bei dem dunklen Wald und dem Höhleneingang lag. Kinross und Garcia bauten sich eine ähnliche Unterkunft, ein Stück flußabwärts vom Feuer. Von Lankenau wohnte im Dorf. Jeden Morgen brachten Kinross und Garcia ein paar Bananen oder eine Brotfrucht zu dem Steinhügel. Danach half Garcia oft von Lankenau mit den Dorfbewohnern, aber Kinross ging mit gemischten Gefühlen seiner Wege. Er stieg auf den Hängen herum und kümmerte sich nicht um die wachsende Anzahl der schwarzen Dinger und grauen Frauen, die dort lauerten. Manchmal sah er Kerheck, der unermüdlich die Zwerge und Rauchfrauen verfolgte, und versuchte, mit ihm zu reden. Er versuchte, Kerbeck klarzumachen, was Krüger ihm angetan hatte, indem er ihm seine Menschlichkeit nahm. Der hünenhafte Schwede summte und brummte, und Kinross wußte nicht, inwieweit er ihn verstand. Auch Mary ging ihrer Wege, immer umflattert von Vögeln. Er sah zierliche grüne und blaue Sonnenvögel, grüne und weiße Pittas, grüne und bronzefarbene Drongos und die scheuen weißen Muskattauben, die sie am meisten liebte. Wenn sie sich begegneten, versuchte er, mit ihr zu reden, fand sie aber ausweichend und geistesabwesend. 146
»Diese Welt ist schädlich für dich, Mary«, beschwor er sie eines Tages. »Sie löst dich auf, läßt dich Teile von dir verlieren. Möchtest du nicht nach Queensland zurückkehren, solange du es noch kannst? Ehe es zu spät ist?« »Ich schicke meine Vögel aus und rufe sie zurück«, erwiderte sie. »Hier ist nichts schädlich.« »Das ist keine Antwort, Mary«, protestierte er. Er betrachtete ihr sorgloses Gesicht mit den roten Lippen und der glatten Stirn und legte den Arm um ihre Schultern. Sie entschlüpfte ihm. »Mary, ich werde dich nach Queensland zurückbringen«, sagte Kinross scharf. »Das bin ich dir schuldig.« Sie summte wie Kerbeck und entfernte sich. Kinross schaute ihr verdrossen nach. Kurz danach sah er sie hoch oben auf dem Hang mit Kerbeck reden … Oder summen. Neuankömmlinge trafen fast täglich ein, einzeln oder zu zweit, und verschmolzen sofort mit dem Dorfschema. Eines Tages fragte Kinross von Lankenau, wie lange das, seiner Meinung nach, noch weitergehen werde. »Die Rate nimmt ab«, sagte von Lankenau. »Ich nehme an, daß sie sich asymptotisch vermindern und nie ganz aufhören wird. Aber offenbar folgt die Pforte einem recht schmalen Pfad und hat bereits die meisten der dafür Empfänglichen eingefangen. Es kann auch sein, daß in dem Maße, wie diese Welt sich füllt, ihre Anziehungskraft geringer wird.« »Wann wird sie voll sein?« »Hoffentlich nie. Wir wollen Tausende, einen großen Gen-Vorrat, eine weite Welt. Ich schätze, daß unsere 147
jetzige Oberfläche höchstens einen Durchmesser von fünf Meilen hat, Mister Kinross.« »Kann Krüger sie nicht größer machen, wenn er will?« »Nur auf Kosten einer inneren Einengung. Er hat ein brauchbares Gleichgewicht hergestellt. Aber sie ist durch die Rückkehrschranke unermeßlich, und ist das nicht eine höchst faszinierende Erfahrung, Mister Kinross?« »Anfangs fand ich es störend, dann beklemmend«, sagte Kinross. »Ach, die Grenzen! Aber mit mehr Leuten können wir unsere Oberfläche zu bequemeren Grenzen ausdehnen. Ich nehme an, daß wir sie schließlich sphärisch machen und die Rückkehrschranke in eine höhere Dimension erheben. Aber es wird mir ein bißchen leid tun, wenn wir das ausführen. Verstehen Sie meine Gefühle, Mister Kinross?« »Wer sind eigentlich ›wir‹?« fragte Kinross mit plötzlicher Schärfe. »Sie und Krüger?« »Oh nein. Wir alle. Die Kultur, Mister Krüger … auch Sie werden daran teilhaben.« »Sie sind sehr gütig, Herr von Lankenau.« Der große Mann musterte ihn scharf. »Mister Kinross«, sagte er feierlich, »sobald Sie wollen, können Sie Ihren rechtmäßigen Platz in dieser Welt einnehmen. Ich beschwöre Sie, es zu tun. Ich befehlige hier nur, weil Sie sich weigern, und das wissen Sie genau.« »Ich werde nicht daran teilhaben«, sagte Kinross. »Zum Teufel mit Krüger und seiner Welt, die sich einfach eine junge Frau wie Mary Chadwick schnappt …« »Mister Krüger liebt Sie, Mister Kinross. Sie und Señor Garcia sind dank den besonderen Umständen Ihres Hierhergelangens sein Sensorium. Durch uns 148
andere und durch die Kabeiroi auf dem Hang kann er sich seiner Welt nur undeutlich bewußt werden.« »Also ich liebe Mister Krüger nicht. Ich hoffe, daß der Durst ihn noch immer wahnsinnig macht.« Von Lankenau hob warnend die Hand. »Er leidet noch immer Durst«, sagte er leise, »aber Ihre Worte sind Ihrer nicht würdig, Mister Kinross. Hassen Sie mich, wenn Sie müssen, aber nicht Mister Krüger.« »Warum, zum Teufel, rasieren Sie sich jeden Tag?« fragte Kinross wütend, als er sich abwandte. Er schaute aus einiger Entfernung zurück und zupfte sich den Bart. Mary Chadwick redete mit von Lankenau, stand dicht vor ihm, sah zu ihm auf. Der Gedanke, daß sie nie so zu ihm aufgeblickt harte, gab Kinross einen Stich. Dann fiel ihm ein, daß sie genauso groß war wie er, es also auch gar nicht konnte. Er schluckte einen Fluch hinunter und setzte seinen Weg fort. In dieser Nacht schlug Kinross Garcia in ihrer gemeinsamen Hütte vor, daß sie am nächsten Tag versuchen sollten, die Rückkehrschranke zu durchbrechen. Der Mexikaner lehnte ab, indem er sagte, er und von Lankenau arbeiteten gerade einen Wegmarkierungsritus mit den Dorfbewohnern aus. »Ich will es jedenfalls versuchen«, sagte Kinross. »Ich steige hinauf und gehe schnurstracks hindurch, indem ich einfach nicht glaube, daß sie da ist, genauso wie ich es im Boot hätte tun sollen.« »Ja, und dir wird die Kehle durchgeschnitten«, sagte Garcia. »Aber sie ist da. Du wirst es schon sehen.« Kinross sah es. Er stieß den ganzen Tag gegen die Schranke, erkannte die Unmöglichkeit, suchte die genaue Stelle der Rückkehr, um dann kühn hindurchzuschreiten. Fast war er soweit. Immer wieder sah er, von 149
einem flüchtigen Schwindelgefühl ergriffen, die ihn boshaft anschielenden Kabeiroi an sich vorbeihuschen und Vögel darüber fliegen, aber jedesmal wurde er zurückgedrängt, befand sich plötzlich eine halbe Meile hangabwärts und schlug die falsche Richtung ein. Abends kehrte er verdrossen und erschöpft heim. ›Von Lankenau nannte sie eine Welt der Magie‹, dachte er. ›Dann also Magie. Vögel fliegen durch die Schranke. Ich tue es für Mary. Wenn sie mir nur helfen würde …‹ Er beschloß, es beim nächsten Gewitter nochmals zu versuchen, wenn, wie er hoffte, Krüger zuviel mit seinen Gewitterteufeln zu tun hätte, um die Schranke zu bewachen. Mehrere Tage danach verdunkelte sich eines Morgens der Himmel und seltsames Licht lag über dem Land, so daß er wußte, daß sich ein Gewitter zusammenballte. Die schwarzen Dinger vom Hang drangen mit den feuchten Windstößen in das Tal ein, huschten und schlichen – eben noch außer Sichtweite – durch das Gestrüpp. Auf Felsen, Baumwipfeln und allen spitzen Dingen reckten sich die grauen Frauen halb sichtbar empor. Als die ersten Regentropfen fielen, begann Kinross den Anstieg. Als er sich der Schrankenzone näherte, wurde das Gewitter heftiger. Donner polterte und brüllte ihn an, strömender Regen peitschte ihn, Zickzackblitze ließen ihn Blicke von den Gewitterteufeln erhaschen. Die Kabeiroi wimmelten mit obszönen Drohungen um ihn herum; über seinem Kopf strömten die grauen Frauen auf dem böigen Wind vorbei. Einmal sah er Kerbeck, den Kopf in den Nacken geworfen, die breite Brust dem Sturm entblößt. Den ganzen Tag kämpfte er gegen die Schranke, spie Flüche in das Unwetter, und den ganzen Tag spie 150
und donnerte das Unwetter zurück. Er fiel und rollte hinab und rappelte sich immer wieder auf, um sich mit schmerzender Brust den Hang hinaufzuschleppen. Im Wind wirbelnde Zweige und Äste geißelten sein Gesicht und seinen Körper. Erstickender Regen überschüttete ihn; der Sturm riß ihm den Atem aus dem Mund. Schließlich überzeugten ihn sein hämmerndes Herz und seine zitternden Knie, daß er geschlagen war. Er machte kehrt. »Na, Krüger, ich habe dir einen Kampf geliefert«, keuchte er laut. Der Sturm legte sich, als er den Hang hinunterhinkte, und er sah entwurzelte Bäume und verstreute Äste und strudelnde Wasserrinnen. Dann kam ihm der Gedanke, daß er Krüger zumindest gezwungen hatte, von Lankenaus kostbares Dorf zu zerstören. Als er das Talbecken erreichte, hatte sich das Gewitter ganz verzogen, und er konnte eine halbe Meile vor sich das offenbar unversehrte Dorf und seine Bäume sehen. Als er sich seiner Hütte näherte, trat Mary aus dem Gebüsch hervor. Weiße Muskattauben hockten auf ihrem Kopf und auf ihren Schultern. Sie lächelte ihn seltsam an. »Ein Höllenkrach da oben, was, Allan?« Er sah sie verblüfft an. »Hat es denn hier unten nicht geregnet?« fragte er. »Kein Tröpfchen«, sagte sie lächelnd. »Geh ans Feuer und trockne deine Sachen. Du siehst müde aus.« Mit verstauchtem Knöchel hinkte er durchnäßt und verdreckt weiter. ›Sie hat gelächelt und mich Allan genannt‹ dachte er. ›Kein Gewitter hier. Hat mich Allan genannt. Ach, zum Teufel …‹ Eines Morgens hörte Kinross Schläge außerhalb des Dorfes. Auf einer Lichtung fand er Peter White und 151
zwei andere, die mit runden Stöcken Maulbeerbaumrinde flach klopften. Der bärtige Rhodesier sah sonnengebräunt und gesund und heiter aus. Die drei Männer vermieden es, wie es alle Dorfbewohner zu tun pflegten, Kinross anzuschauen, aber sie waren sich seiner Gegenwart bewußt, und der Rhythmus ihrer Schläge wurde unregelmäßig. Aus einem Impuls heraus rief Kinross: »White! Komm hierher!« White hörte nicht auf ihn. Kinross hob die Stimme. White murmelte etwas von Mister Krüger, ohne sich dabei umzuschauen. »Ich befehle es dir in Krügers Namen!« brüllte Kinross jähzornig. »Komm hierher!« Widerwillig kam der Mann zum Rande der Lichtung. Er blickte zu Boden, schien aber keine Angst zu haben. Der Bantu und der Kanaka klopften weiter. »White, du bist einmal ein Mann gewesen«, sagte Kinross. »Würdest du nicht gern wieder ein Mann sein?« »Ich bin ein Mann, Mister Kinross«, sagte White trocken. »Ein Mann braucht eine Frau. Hast du eine Frau, White?« »Mister Krüger wird mir bald eine geben.« »Ich meine zu Hause. Hast du da eine Frau?« »In meiner Hütte ist keine Frau, aber Mister Krüger wird mir bald …« »Zum Teufel mit deiner Hütte. Ich meine dort, woher du kommst, in Rhodesien.« »Ich bin immer hier gewesen.« »Nein, das bist du nicht. Du bist aus einer anderen Welt, und wenn du dir Mühe gibst, kannst du dich daran erinnern. Kannst du es jetzt?« 152
Der Mann sah auf. »Ja, aber ich war damals ganz anders. Es war keine gute Welt.« »Erinnere dich daran. Ich befehle dir in Krügers Namen, dich daran zu erinnern. Erinnere dich an deine Frau und deine Kinder.« Der Mann wand sich, und sein Gesicht verdüsterte sich. »Es gab dort viele Frauen und Kinder. Es war eine unterirdische Welt. Alle lebten in Tunnels, die gradlinig verliefen. Sie waren zusammengebündelt wie Stroh, und manchmal überschnitten sie sich, aber keine verliefen Seite an Seite. Einer meiner Tunnel mündete in der Krügerwelt. Ich kroch ihn entlang und aus der Erde hervor, und jetzt bin ich hier. Das ist alles, an was ich mich erinnern kann.« »Okay, geh wieder an die Arbeit«, sagte Kinross. White rührte sich nicht. »Erst müssen Sie Mister Krügers Namen von mir nehmen«, sagte er. »Also gut, ich nehme den Namen von dir«, sagte Kinross. »Noch einmal. Sie haben ihn mir zweimal auferlegt.« »Okay, dann nehme ich ihn noch mal von dir«, fauchte Kinross. »Geh jetzt und mach weiter.« Er ging davon. Hinter ihm nahm ein dritter Stock das Klopfen wieder auf, und der Rhythmus wurde wieder regelmäßig. Allein in seiner Hütte zermarterte er sich das Hirn, statt zu schlafen. Eine Welt der Magie … aber welcher Magie? Krügers Lehre … vor dem Wort, vor dem Gedanken … welche Tat könnte ihm jetzt nützlich sein? Welche blinde, wortlose, undenkbare Tat? Er beschloß, sich zu weigern, am nächsten Morgen seine übliche Fruchtgabe auf den Steinhügel zu legen, und auf einmal konnte er einschlafen. 153
Kinross erwachte früh und ging durch mehrere Obstgärten, aß unterwegs, bis sein Hunger gestillt war. Sein zielloses Herumwandern hatte ihn zum Saum des dunklen Nutzholzwaldes geführt, der den Eingang der Höhle verdeckte. Aus einem Impuls heraus durchquerte er den Wald bis zur Lichtung und entdeckte unterwegs zu seinem Erstaunen, daß er eine kleine Guava in der Tasche hatte. Er warf sie weg. Zwei Dorfbewohner, ein Mann und eine Frau, legten Früchte auf den Steinhügel. Kinross fragte sich, ob sie wohl ein Paar waren. Silva hockte wie üblich neben dem Steinhügel. Kinross versuchte mit dem alten Mann zu reden, klopfte ihm auf die Schulter, aber Silva stieß ihn mit einem unzusammenhängenden Gejammer über Teufel zurück. Kinross zuckte die Achsel und kehrte durch das Tal zurück. Es war ein schöner Morgen, Vögel und Blumen tüpfelten das Grün bunt, durch das die kaum bekleideten gutgebauten Dorfbewohner zu zweit oder zu dritt gingen. Rauch stieg von der deutlich sichtbaren roten Flamme vor Marys Hütte auf. Die Luft duftete nach Blumen, wurde von Vogelstimmen erfüllt und vom Holzrauch gewürzt. Kinross versuchte sich wohl zu fühlen, aber eine Unrast trieb ihn weiter. Er ging kreuz und quer, setzte sich und sprang wieder auf, suchte nach irgendeiner Beschäftigung, die er nicht in die Tat umwandeln würde, die von ihm verlangt wurde. Er pflückte Früchte und warf sie fort, näherte sich dem dunklen Wald und entfernte sich resolut. Endlich beschloß er, den Kampf in seiner Hütte auszufechten. Er ging hinein und flocht vor seine Tür eine Barrikade aus Burrawangwedeln. Stundenlang lief er in der Dunkelheit mit geballten 154
Fäusten hin und her oder streckte sich der Länge nach aus und rang mit seinen rebellischen Muskeln und seinen aufbegehrenden Eingeweiden. Schließlich sprach die vertraute silberhelle Stimme, die er so lange nicht gehört hatte, aus der Luft zu ihm. »Kinross, ich bin hungrig und durstig. Bring mir Früchte.« »Nein. Du bekommst sie von hundert anderen.« »Ich brauche sie von dir, Kinross. Wir haben eine Beziehung. Ich habe dir ein verlorenes Leben zurückgegeben. Du hast mit deiner eigenen Kraft meinen Körper hierher geschleppt. Du schuldest mir eine Pflicht.« »Das streite ich ab. Wenn ich es je tat, so widerrufe ich es.« »Ich besitze Macht, Kinross. Silva und Kerbeck bringen mir keine Früchte. Möchtest du so sein wie sie?« »Du lügst, Krüger. Du besitzt nicht einmal die Macht, meinen Muskeln zu befehlen.« »Ich möchte ihnen nicht direkt befehlen. Ich möchte dir, mit deiner Zustimmung, in dieser einen kleinen Sache befehlen.« »Nein. Ich habe deine Macht schon früher auf die Probe gestellt.« »Nicht in ihrem vollen Ausmaß, Kinross. Nicht in ihrem Ausmaß. Es widerstrebt mir, dich zu verletzen.« Während Kinross plötzlich gewahr wurde, daß die Spannung gewichen war, dehnte sich die Stille aus. Er fühlte sich genauso müde wie an den Tagen, an denen er mit der Rückkehrschranke gekämpft hatte. Er legte sich zurück, um sich auszuruhen. ›Die erste Runde ist für mich‹, dachte er behaglich. In der Ferne rollte Donner. ›Die zweite Runde?‹ 155
dachte er beunruhigt und entfernte die Barrikade vor seiner Tür. Schwarze Wolken brodelten an dem großen Grat über der Höhlenöffnung empor. Schwarze Gewitterteufel trieften die Hügel hinab, und graue Frauen tanzten einzeln oder in Gruppen auf den Spitzen der Dinge. Kinross schleppte hastig Holz in seine Hütte, auch Steine für eine Feuerstelle und einen Kien, um es zu entfachen. Das Gewitter ballte sich mit gewaltigem Donner und zuckenden Blitzen rasch zusammen. Kinross fühlte sich geborgen und versorgte unbeirrt sein Feuer. Der prasselnde Regen verwandelte sich in Nieseln und Kälte. Der Tag wurde ohne sichtbaren Sonnenuntergang zur Nacht. Kinross fröstelte, unter süßem Gras verkrochen, den Bauch gegen die warmen Steine seiner Feuerstelle gepreßt, die lange Nacht hindurch. Der Morgen war klar und kalt. Reif lag auf dem Gras, Blütenblätter hingen herab und das Laub glitzerte silbrig. Kinross stand in seiner Hüttentür, fröstelte und stampfte mit den Füßen auf, als er knirschende Schritte hörte. Es war von Lankenau, noch unrasiert. »Guten Morgen, Mister Kinross«, begrüßte von Lankenau ihn. »Entschuldigen Sie bitte mein mehr oder weniger gewaltsames Eindringen in Ihr Privatleben.« »Schon gut. Es ist kein Eindringen.« »So? Ich habe geglaubt, daß Sie sich in den letzten Wochen absichtlich ganz für sich hielten. Aber ich möchte mit Ihnen über diese Kälte reden …« »Lassen Sie sich doch einen Bart wachsen wie ich, wenn Sie sie nicht vertragen können.« »Ich bin gegen Kälte abgehärtet, Mister Kinross. In dem Augenblick, in dem ich diese Welt betrat, war ich gezwungen, in einer Höhe von fünftausend Metern 156
dreißig Stunden auf einem Felsgrat zu verbringen. Meine Arme und meine Beine waren erfroren. Die Visionen hatten eingesetzt … Sie rühren, mit Verlaub, an meinem Stolz, Mister Kinross.« Kinross schwieg. »Wie lang gedenken Sie, Mister Krüger noch herauszufordern?« fragte von Lankenau. »Vielleicht so lange, bis die Hölle zufriert.« Kinross lachte bitter und fügte dann hinzu: »Nein. Bis Krüger mich durch die Rückkehrschranke läßt. Mich und Mary Chadwick.« »Er wird Sie nie gehen lassen, Mister Kinross. Und Miss Chadwick möchte gar nicht gehen.« »Das Ding, das diese verdammte Krügerwelt aus ihr gemacht hat, möchte vielleicht nicht. Aber wenn Krüger sie sich selbst zurückgeben würde …« »Sie hat nie aufgehört, sie selbst zu sein, Mister Kinross. Wir haben uns in letzter Zeit häufiger miteinander unterhalten, und ich kenne sie gut, werde sie noch besser kennenlernen. Aber ich weiß, was Sie meinen …« »Ersparen Sie sich, was ich meine. Hat Krüger Sie zu mir geschickt?« »O nein. Ich fürchte, es ist meine eigene Neugier. Sie interessieren mich, Mister Kinross, und indem ich Sie studiere, lerne ich viel über Mister Krüger. Sagen Sie, Sie wissen doch, daß die Dorfbewohner unter der Kälte leiden und bald hungrig sein werden: fühlen Sie sich nicht irgendwie für ihre Leiden verantwortlich?« »Nein. Krüger ist dafür verantwortlich. Er soll nachgeben.« »Das wird er nicht tun, dessen bin ich sicher. Was dann?« »Dann erfrieren und verhungern wir. Wenn Ihre hirnlosen Dorfbewohner ganz verzweifelt sind, helfen 157
sie mir vielleicht, die Rückkehrschranke zu durchbrechen, und bekommen ihren Verstand und ihre eigene Welt wieder.« »Das werden sie nicht. Das weiß ich. Aber lassen Sie mich Ihnen zu Ihren Anstrengungen gratulieren, die Schranke zu durchbrechen, Mister Kinross. Wußten Sie, daß Sie diese ein ganzes Stück vorgestoßen und diesen Winkel der Krügerwelt ein für allemal verbogen haben? Sie sind ein starker und entschlossener Mann, Mister Kinross. Ich wollte, Sie würden Ihren rechtmäßigen Platz unter uns einnehmen.« »Ich werde auf meinem rechtmäßigen Ausbruch bestehen oder bei dem Versuch umkommen.« »Mister Kinross, auch die Dorfbewohner haben eine Daseinsberechtigung. Weder ich noch Señor Garcia werden sie aufwiegeln. Das haben wir vereinbart. Aber wir werden uns auch dann abseits halten, wenn Mister Krüger sie unmittelbar durch Träume erreicht und ihnen Ratschläge einflüstert, und der Kollektivwille sich gegen Sie richtet.« »Das ist fair«, brummte Kinross. »Noch etwas, Mister Kinross. Ich fürchte, Sie rennen blindlings in ein trügerisches Licht. Mehr will ich nicht sagen.« Kinross antwortete nichts. Von Lankenau deutete ein Lächeln an und grüßte, dann kehrte er sich um und ging schweigend davon. Innerhalb einer Minute nahten andere Schritte, leicht und schnell. Es war Mary Chadwick, und sie war wütend. Ihre Bluse war halb aufgeknöpft, und sie drückte ein Dutzend oder mehr weiße Muskattauben mit schwarzen Flügel- und Schwanzspitzen an ihren Busen. »Vom Eis flügellahm. Halb erfroren!« tobte sie und verzerrte dabei das Gesicht vor Mitleid und Zorn. 158
»Es tut mir leid …« begann Kinross. »Dann mach Schluß damit, du Narr! Mach sofort Schluß damit! Bring diese lächerliche Frucht zu diesem albernen Altar und beende diesen ganzen Unsinn!« »Hat von Lankenau oder Krüger dich auf mich gehetzt?« Sie funkelte ihn, verächtlich verneinend, an. Kinross schluckte und spürte, daß sein Gesicht unter dem Bart brannte. »Warum gibst du mir die Schuld und nicht Krüger?« »Weil ich nicht an Mister Krüger herankommen kann, an dich dagegen wohl. Na los!« »Nun gut«, sagte Kinross. »Ich tue es für dich, Mary. Verstehst du, daß ich es für dich tue, Mary, und nicht für Krüger? Glaubst du mir?« Er nahm ihre Hand zwischen den raschelnden Tauben und schaute ihr in die blau-violetten, vom abflauenden Zorn getrübten Augen. »Natürlich für mich«, sagte sie. »Deshalb bin ich ja zu dir gekommen, du Idiot.« »Ach, du liebe Güte«, stieß Kinross hervor und ging rasch davon. Als er durch den Wald zurückkehrte, war der Reif unter der wärmenden Sonne schon fast geschmolzen. ›Die zweite Runde ist zumindest unentschieden‹, dachte er, ›aber irgendwie glaube ich, daß ich auch die gewonnen habe.‹ Aus Wochen wurden Monate, und das Land lächelte. Morgen für Morgen legte Kinross Früchte auf den Steinhügel und murmelte dabei: »Für dich, Mary.« Morgen für Morgen legte er auch Blumen auf den Quarz, den er aus dem Bach vor Marys Hütte getragen hatte. Die Blumen verschwanden immer, obwohl er niemals sah, daß sie sie nahm. 159
Alle paar Tage trafen Nachzügler einzeln oder zu zweit in der Krügerwelt ein, und die Bevölkerung von Krügertown ging auf die dreihundert zu. Von Zeit zu Zeit unterhielt sich Kinross freundlich mit Garcia und von Lankenau. Von Lankenau besprach mit ihm die Ausdehnung der Krügerwelt durch die zunehmende Bevölkerung. Er glaubte, daß sie an einem bestimmten Punkt genügend angewachsen sein würde, um noch ein Dorf zu gründen, und daß die Welt wohl eher die Form einer Hantel als die einer Ellipse habe. Garcia erzählte Kinross stolz, daß Pilar schwanger sei, und daß er auf einen Sohn hoffe. Manchmal unterhielt sich Kinross mit den Dorfbewohnern. Sie alle hatten die Erinnerung an ihre Herkunft verloren. Sie glaubten, sie seien aus dem Unterirdischen gekommen, in der Tiefe eines Abgrunds aus Erdsubstanz geformt worden, zu dem sie vielleicht irgendwann zurückkehren würden, um wieder zu schlafen. Sie hatten keine klare Vorstellung vom Tode. Kinross streifte nicht mehr ziellos umher. Eine Meile talabwärts vom Dorf erbaute er eine Steinhütte. Er baute sie solide, indem er große Steine aus dem Bach in Lehm und festgestampfte Erde bettete, die verschiedenen Zimmer mit Hartholzbalken abstützte und sie mit einer dicken Schicht Nipa-Wedeln abdeckte. Er errichtete aus Steinen eine Feuerstelle und fertigte primitive Möbel an. Mehrmals am Tage kam Mary vorbei, interessierte sich aber kaum für seine Arbeit. Als das Haus fertig war, weigerte sie sich, hineinzugehen und es sich anzuschauen. »Eine reine Kraftvergeudung und Zeitverplemperung«, sagte sie lachend. »Allan, Allan, geh wieder unter den Bäumen spazieren.« 160
»Gehst du mit mir spazieren?« fragte er. Sie lachte und wandte sich ab. Kinross legte um seine Hütte einen Garten an und faßte ihn mit einer Mauer ein. Er bewässerte ihn mit einem Dräniergraben, der von dem niedrigen Damm abzweigte, den er in dem Bach errichtet hatte. Er drosch den Samen aus Grashalmen und streute ihn, sowie Beeren auf die Steinplatten seines Gartens. Vögel kamen und pickten sie auf, aber Mary weigerte sich, hereinzukommen. Er sah sie immer häufiger in von Lankenaus Gesellschaft und mied allmählich beide, denn eine Frage wurmte ihn, die er aus Angst vor der Antwort nicht zu stellen wagte. Die düsteren Stimmungen stellten sich wieder ein, und er vernachlässigte seine Hütte, um wie früher über die Hügel zu streifen. Manchmal traf er Kerbeck, leeräugig und hünenhaft, wild und zottelig wie ein Bär, und verfluchte bitter Krüger, während Kerbeck summte und brummte. Er versäumte es nicht, jeden Morgen Früchte auf den Steinhügel zu legen. Eines Tages, nachdem er Kerbeck und die Kabeiroi auf dem Hang zurückgelassen hatte, kam er in ein Tal und erblickte eine Frau aus dem Dorf, die allein die Weinstöcke am Fuße des Hügels pflegte. Sie war jung, geschmeidig und braun und hatte nur einen Papierrindenrock an. Sie unterbrach ihre Arbeit, senkte den Kopf und wartete, daß er vorbeiginge. Er blieb stehen und suchte in seinem Gedächtnis seine bescheidenen Spanischkenntnisse. »Cómo te llamas?« »Milagros, Señor.« Ihre Stimme war sehr leise, und sie sah nicht zu ihm auf. »Bueno. Tu estas muy bonita, Milagros.« »Por favor, tengo que trabajar … el Señor Krüger …« 161
»Ven conmigo, Milagros. Yo te mando por el nombre del Señor Krüger.« Sie errötete tief, dann erbleichte sie. Sie sah mit flehenden, tränenglänzenden Augen zu ihm auf. »Por favor, por gran favor, no me mande usted …« »Quien te manda?« fragte eine neue Stimme hinter den Reben, und dann: »O du, Kinross?« Garcia trat aus den Reben hervor. Wie Kinross war er barfuß und trug nur eine verschlissene Kattunhose. »Was soll das Ganze?« fragte er. »Ich habe versucht, mich mit ihr zu unterhalten …« Garcia rasselte auf Spanisch herunter, und die Frau antwortete mit ängstlicher Stimme. Der untersetzte Mexikaner wandte sich, die Fäuste in die Hüften gestemmt, wieder Kinross zu. »Nimm Krügers Namen von ihr, Kinross!« »Ich nehme den Namen von dir, Milagros«, sagte Kinross. »Garcia, ich …« »Nimm ihn auf Spanisch von ihr«, unterbrach Garcia ihn. »Du hast ihn ihr auf Spanisch auferlegt.« Kinross stammelte einen spanischen Satz. Garcia war immer noch wütend. Er schickte die Frau fort. »Kinross, ich kann dir zwar nicht die Macht nehmen, Krügers Namen zu benutzen. Aber wenn du Mißbrauch damit treibst, kann ich dich halbtot prügeln. Vielleicht sogar ganz tot. Hast du mich verstanden?« »Verurteile mich nicht so verdammt voreilig. Woher weißt du, was ich vorhatte?« »Milagros wußte es. Sie wußte es genau. Und ich glaube ihr.« »Von mir aus kannst du glauben, was du willst.« »Hör zu, Kinross, laß die Dorfbewohner in Ruhe. Das befehle ich dir im Namen Garcias und seiner beiden Fäuste. Du bist mir im Reden und Denken überlegen, 162
aber …« Der gedrungene Mexikaner schlug sich mit der rechten Faust dumpf klatschend auf den linken Bizeps. Kinross biß die Zähne zusammen und atmete tief durch seine bebenden Nasenflügel. Dann sagte er: »Okay, Garcia. Ich akzeptiere deinen Standpunkt. Der einzige Mann, mit dem ich mich tatsächlich schlagen möchte, hat keinen Körper.« »Na schön«, sagte der Mexikaner. »Schwamm drüber. Aber laß trotzdem die Dorfbewohner in Ruhe, eine Art Abkommen zwischen dir und mir. Okay?« »Okay«, sagte Kinross und ging davon. Als er in seinen ummauerten Garten kam, sah er, daß Muskattauben an den überreifen Mangonen pickten, die er dort für sie hingelegt hatte. Furchtlos machten sie seinen jäh verlangsamten Schritten kaum Platz. Die beiden flatterten kurz, als er sich unbewußt bückte und sie ergriff. Sie beruhigten sich in seinen Händen, und er trug sie in seine Hütte, wobei er sich fragte, warum. Nach Einbruch der Dunkelheit saß er stundenlang vor seinem Feuer und starrte in die rote Glut. Im Denken und Reden war er also Garcia überlegen? Ja, das war er. Aber die Tat? Was tun? Wie an einen körperlosen Mann herankommen? Wo war Krüger verwundbar? Welche Kraft konnte er gegen Krüger ins Feld führen? Nur einmal hatte er Krüger getroffen, und zwar, als er ihm eine Tat abschlug. Das war negativ. Was war nun die positive Seite? Welche Tat, welche undenkbare, namenlose Tat … und es überkam ihn, und er nahm die Tauben und verließ die Hütte und ging durch den dunklen Wald zu dem Steinhügel, neben dem Silva im Schlaf stöhnte, und tat, was zu tun war, und kehrte zurück und schlief, um erinnerungslos zu erwachen.
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Der Tag war schon fortgeschritten, als Kinross aus seiner Hütte trat. Er folgte dem Tal, überquerte den Bach, um das Dorf zu meiden, und pflückte zwei überreife Mangonen, die er durch den Wald zu dem Steinhügel trug. Silva wiegte hin und her und wimmerte in tiefstem Weh. Rechts drängte sich ein Haufen stummer Dorfbewohner. Auf dem Steinhügel erblickte er die geköpften Tauben mit bluttriefenden Federn und das schwarze klebrige Blut auf den Steinen. Finger zerrten an seinem Gedächtnis, und er runzelte die Stirn, weigerte sich aber, daran zu denken, was diese sonderbare Sache zu bedeuten hatte. Er warf seine Mangonen so heftig in die Blutlachen, daß sie platzten, und sagte laut: »Für dich, Mary.« Dann starrte er den Haufen Dorfbewohner hochmütig an und schritt davon. Aber es widerstrebte ihm, den Wald zu verlassen, in dessen wirren Schatten er, abseits des Weges und des Baches, über eine Stunde herumlungerte, ehe er in Richtung Dorf zurückging. Seltsame Stille lag über dem Land. Kein Lüftchen regte sich. Die Dorfbewohner zogen ohne das übliche Singen und Plaudern in kleinen Gruppen zum Wald. Er vernahm kein Vogelgezwitscher. Dann hörte er, als er sich dem Dorf näherte, eine Frauenstimme, schrill vor Kummer und Zorn. Es war Mary. »Was für Mördergesetze habt ihr denn hier, du und dein Krüger, du glattrasierter Blutsäufer?« Dann von Lankenaus Stimme, besänftigend und undeutlich hinter den Hütten, und dann wieder Mary schmerzerfüllt: »Oh, meine süßen weißen Täubchen! Ihr armen Lieblinge, ihr armen Lieblinge, ich werde euch alle von hier fortbringen. Das wirst du mir büßen! Das wirst du mir büßen!« Sie brach in lautes Summen aus, kam zum Vorschein 164
und rannte zum Hügel. Ihr langes Haar flatterte hinter ihr her, ihr sonst so liebliches Gesicht war schrecklich verzerrt und drohend. Kinross bemerkte mit neuem Schrecken, daß die schwarzen Gnomen vom Hügel in das Talbecken eingedrungen waren und um das Dorf herumwimmelten. Sie machten der rasenden Frau Platz, und auf einmal erhoben die Vögel ihre Stimmen, ohrenbetäubend, und stürzten sich in Riesenschwärmen krächzend und kreischend auf die schwarzen Dinger. Kinross schaute unschlüssig umher. Niemals hatte er die Sonne der Krügerwelt wärmer und lächelnder gesehen, niemals die Blumen üppiger, die Bäume fruchtbeladener. Zu seinen Füßen wölbte sich der Boden und brach auf, und ein rothütiger Pilz stieß hervor, wuchs und entfaltete sich zusehends. Von Lankenau kam, Sorgenfalten auf dem glattrasierten Gesicht, aus dem Troß der Hütten zu Kinross. Ehe er etwas sagen konnte, rief Garcia aus der Richtung des Waldes, und sie sahen ihn auf sie zurennen. »Mit den Dorfbewohnern stimmt irgend etwas nicht«, erzählte er keuchend von Lankenau. »Sie folgen nicht dem Ritus. Sie gehorchen mir nicht.« »Was tun sie denn?« fragte von Lankenau. »Nichts. Sie stehen einfach herum. Aber irgendwie gefällt mir das nicht, frag mich nur nicht, warum.« »Etwas von wirklich ungeheurer Bedeutung ist geschehen, Joe. Ich weiß nicht, was … Ich wollte gerade Mister Kinross nach seiner Meinung fragen. Diese Tauben … aber du hast recht, wir müssen die Dorfbewohner wieder in ihre Hütten und in die Obstgärten schaffen. Vielleicht hilft uns Mister Kinross dabei.« »Woher wissen Sie, daß ich nicht den Rattenfänger spiele und sie einfach aus der Krügerwelt hinausführe?« fragte Kinross, dessen Gedanken sich verhedderten. 165
»Vielleicht wäre das jetzt das Barmherzigste. Ich weiß es wirklich nicht, Mister Kinross. Aber wir wollen sehen, was sich machen läßt.« Ein ferner Schrei drang aus dem dunklen Wald, wiederholte sich, eine Salve von Schreien. »Silvas Stimme!« rief Garcia. »Por Dios, was jetzt?« Er rannte zum Wald. Kinross und von Lankenau folgten ihm. Das Geschrei verstummte plötzlich. Auf der Lichtung standen die Dorfbewohner in schweigenden Gruppen zu beiden Seiten des Steinpodests und auch sonst ringsherum. Auf dem Altar lag die zusammengesunkene, zerbrechliche Leiche des alten Portugiesen. Sein Kopf war fürchterlich zermalmt. Garcia fluchte leise auf Spanisch. Von Lankenau sagte nachdenklich: »Solange die Krügerwelt noch besteht … muß ich es fertigbringen, es zu verstehen. Ich muß!« Eine dunkle Erinnerung juckte in Kinross’ Fingern. »Kinross«, flüsterte es direkt hinter ihren Köpfen. Die Männer wirbelten gleichzeitig herum, konnten aber nichts erblicken. Das Flüstern fuhr fort, immer noch hinter ihren Köpfen, so daß sie nochmals herumwirbelten, vergeblich. »Vielen Dank, Kinross, daß du mich gelehrt hast, wie ich meinen Durst stillen kann. Meinen schrecklichen Durst. Ich werde meine Welt vom Durst befreien. Kinross, mit deiner Hilfe.« Von Lankenau ergriff Kinross’ Arm mit eisernen Fingern. »Was haben Sie getan, Kinross?« flehte er. »Sagen Sie es mir. Ich muß es wissen. Was haben sie getan?« »Das werden Sie nie erfahren«, sagte Kinross schroff. 166
»Schauen Sie sich um.« Die Männer drehten sich nochmals um. Die Dorfbewohner hatten sich zu einer Meute zusammengerottet, deren Front sie langsam umzingelte. Von Lankenau befahl ihnen mit peitschender Stimme vergebens zurückzuweichen. Er wandte sich mit blassem, grimmigem Gesicht zu Kinross. »Befehlen Sie es Ihnen in Mister Krügers Namen, wenn Sie können. Uns bleibt kein anderer Ausweg.« »Verdammt noch mal, halt, in Krügers Namen«, schrie Kinross. Seine Hände schwitzten, und sein Herz klopfte in seiner Kehle. Sie hielten nicht. Die Spitzen der Sichel schlossen sich hinter dem Steinhügel zusammen. Die feste Front der Dorfbewohner hatte sich ihnen mit langsamem amöbenhaftem Schlurfen Hunderter von Füßen bis auf zehn Meter genähert. Innerhalb von wenigen Sekunden würden sie, wie Kinross irgendwie wußte, Silva auf den blutigen Steinen Gesellschaft leisten. »Schnell, Kinross«, sagte von Lankenau. »Sagen Sie mir es, solange noch Zeit dazu ist. Was haben Sie getan?« »Hand aufs Herz«, flüsterte Kinross, »ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht!« »Laßt uns gegen sie kämpfen«, brummte Garcia, und dann: »He! Sie bleiben stehen!« Ein bunter Vogelschwarm schwirrte herbei und kreiste kreischend über der Lichtung. Büsche knackten, und Wasser platschte in den dunklen Wald. Dann geschah etwas Unerwartetes hinter dem Haufen der Dorfbewohner. Sie erschauderten und wichen rasch auf zwei Seiten zurück und ließen einen Mittelgang frei. Es war Kerbeck, dessen wehendes Haar und wallender Bart in der Sonne flammten. Kleiderfetzen flatterten 167
um die mächtigen bronzefarbenen Glieder. Hiebe seiner kräftigen Arme wirbelten Dorfbewohner meterweit durch die Luft. Summend und brummend ging er mit weitaufgerissenen, flächigen und gedankenleeren blauen Augen an den drei verwunderten Männern vorbei. Mary Chadwick folgte, Vögel um den Kopf, in seiner Spur. »Er wird hineingehen, um Krügers Körper zu töten«, sagte sie zu ihnen und blieb stehen. Erschreckende Bosheit zeichnete immer noch ihre Züge, und Kinross’ Angst verflog nicht ganz. »Madre de Dios!« stieß Garcia hervor. Sie sahen, wie der hünenhafte Schwede um das Steinpodest herum ging und auf die Höhle zuschritt. Aus dem Dunkel drang ein gräßliches Geheul, bei dem es Kinross kalt über den Rücken lief. Bo Bos wuchtige Gestalt tauchte auf, um den Eingang zu versperren. Mit einem Schrei stürzte Kerbeck vor. Der Neger rannte ihm mit seinem gurgelnden Gebrüll entgegen. Die beiden mächtigen Gestalten prallten aufeinander, und die Welt schien zu erbeben. Sie schwankten, taumelten zurück und wieder vor, einander wütend umklammernd, und ein lautes Stöhnen stieg aus dem geteilten Haufen der Dorfbewohner auf. Kinross fühlte eine Hand auf seinem Arm und erhaschte einen Blick von v. Lankenaus weißem, verzücktem Gesicht neben sich. Der schwarze Riese kämpfte mit dem weißen, sie brüllten und heulten und wankten. Sie stießen gegen den Steinhügel und zerstörten ihn, unter ihren Füßen stoben die Steine wie Kiesel auseinander. Sie platschten in den Bach und wieder heraus, wobei sie das klare Wasser dunkel trübten. In Kinross’ Augen wuchsen die beiden Riesen ständig, waren jetzt deutlich übermenschlich. Die Lautstärke ihres Brüllens und Heulens legte sich auf ihn wie ein körperlicher Druck. Er sah 168
Mary Chadwick zu seiner Rechten, die Augen blauviolett funkelnd, die glühenden roten Lippen gierig geöffnet. Erst ging der eine, dann der andere Riese in die Knie, nur um sich unter donnerndem Gebrüll und Geheul wieder aufzurichten. Der Kampf trieb sie zum Eingang der Höhle, sie drangen ein und wirbelten wieder heraus, drangen nochmals ein und blieben darin. Kerbecks Haar und Bart schienen aufzuleuchten, verloschen wie Funken in der Tiefe. Die gigantischen Schlachtrufe wurden zu einem anhaltenden hohlklingenden Gebrüll unter der Erde. Kinross spürte, daß eine Hand ihn beharrlich schüttelte. Es war von Lankenau. »Gehen Sie jetzt«, sagte er. »Bestimmt ist die Schranke zur Zeit gefallen. Ich verstehe es allmählich. Fast … Ich grüße Sie, Mister Kinross. Nehmen Sie die Frau mit, wenn sie will.« Kinross sammelte seine Gedanken. »Mary, gehst du mit?« fragte er. »Verdammt noch mal, und ob«, sagte sie. »Und ich nehme meine Vögel mit!« Kinross sah Garcia an und reichte ihm die Hand. »Wollen wir als gute Freunde scheiden, Joe?« fragte er. »Ich kapiere zwar nichts, Kinross«, sagte der Mexikaner, »aber viel Glück, und sorge dafür, daß du hier rauskommst.« Kinross schüttelte den beiden Männern die Hände. Dann gingen er und Mary Chadwick, Arm in Arm, hastig zum Dorf zurück. Im dunklen Wald wimmelte es von Kabeiroi, aber im offenen Talbecken ließen sich nur noch vereinzelte häßliche Gestalten erblicken. Der Himmel war bedeckt, und das diffuse, wäßrige Licht früherer Tage lag 169
wieder über dem Tal. Die einstige Verschwommenheit war zurückgekehrt, nichts deutlich zu erkennen. »Mary«, sagte Kinross, »ich glaube, wir haben die Schranke schon durchbrochen. Der Raum hat sich um die Höhlenöffnung zusammengezogen.« »Ach du meine Güte.« Kinross führte sie den Hügel hinauf, redete fieberhaft. Sie wollten heiraten, sagte er. Es gehe ihm recht gut, er habe einen guten Job als Vertrauensmann der US-Regierung. Er müsse noch eine hohe Nachzahlung für seinen letzten Auftrag bekommen, und außerdem eine Prämie, wenn er ihnen hierüber berichte. Sie wollten in Kalifornien leben, es sei ähnlich wie Queensland. Reisen, Theater, Musik, ein schönes Heim, ein angenehmes Leben. Mary sagte wenig. Vögel flatterten herbei, um sich ihr auf Kopf und Schultern zu setzen, aber die Anzahl um sie herum schien nicht zuzunehmen. Das Licht wurde schwächer, während sie hinaufstiegen, und das Land verschwommener. Als sie die Anhöhe erreichten und Kinross genau wußte, daß sie entkommen waren, wurde es fast dunkel. Von Zeit zu Zeit kräuselte ein Beben die Erde, so daß sie hinfielen, aber sie rafften sich wieder auf und eilten weiter. Wie zuvor schien der Weg zeitlos und mühelos zu sein. Kein Mond war da. Mary blieb hinter ihm zurück, und Kinross drehte sich dauernd um, um auf sie zu warten. Im schwindenden Licht sah er, daß die gespannte Bosheit ihrer Miene allmählich einem vagen und fernen Kummer wich. Die breite Stirn war wieder glatt, die roten Lippen verträumt. Einmal sagte sie: »Meine Vögel. Ich kann nicht all meine Vögel zurückbringen.« Plötzlich drang der Klageschrei einer Schnepfe aus der Dunkelheit. Mary blieb stehen und sah empor. Kin170
ross schaute sich um. Der verlorene, schluchzende Schrei wiederholte sich. Mary hob die Arme zum schwarzen Himmel und summte. Nichts geschah. Sie blickte Kinross an, seine Gestalt, ebenso verschwommen im Dämmerlicht wie ihre eigene. »Sie kommt nicht zu mir«, flüsterte sie jammernd. Zum drittenmal erklang der Schrei. Mary ließ die Arme sinken. »Ich gehe zurück«, sagte sie. »Geh allein weiter, Allan.« »Nein!« protestierte er. »Du mußt mit mir kommen. Ich lasse dich nicht zurückkehren!« Er packte sie bei den Schultern. Sie richtete sich steif auf, und ihre Augen glänzten. Ein Hauch, eine Anwandlung des einstigen Gefühls berührte ihn, und seine Knie wurden weich. Er sank zu Boden, umklammerte ihre Schenkel, flehte: »Nein, nein, Mary! Laß mich nicht hier im Dunkeln allein!« »Ich muß«, sagte sie ruhig. Dann mit einem Anflug von Mitleid: »Sei tapfer und geh jetzt weiter, Allan. Es bleibt dir nichts anderes übrig.« Sie hob ihn auf und küßte ihn auf die Stirn. Er taumelte weiter und wagte es nicht, sich umzuschauen, aus Angst vor einem neuen Schwächeanfall. Der Himmel öffnete sich silbern, als die Bewölkung aufbrach, und nun schien der Vollmond vor ihm. Da schaute er sich um, aber sie war nirgendwo. Bei dem weiten Abgrund unter dem Mond setzte er unbewußt Fuß vor Fuß. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Er fand die Schlucht und watete sie entlang, schneller als die Strömung. Er hörte das Tosen des Wasserfalls und erblickte den letzten Felsvorsprung, der ihn von dem Rande trennte. Einen Herzschlag lang klammerte er sich an den Felsen und starrte in den 171
Abgrund in all seiner silbrigen Schönheit, mit dem widerspiegelnden See auf seinem Boden. Dann ließ er sich nicht nur vom Wasser mitreißen, sondern drängte, stürzte seinen Körper über den Rand. Es war kein glatter, sondern ein stufenweiser Sturz. Fall, Aufprall, Weiterrollen, Fall, Aufprall, Weiterrollen, rhythmisch, schmerzlos, unter unerträglicher geistiger Erregung, hinab und hinab, bis das Himmelsrund über ihm durch die Entfernung immer kleiner wurde und der silbrige See unter ihm ins Ungeheuerliche wuchs. Der weite Abgrund schien seine Ausmaße umzukehren, sich umzustülpen, sein Inneres nach außen zu wenden, es war so, als fiele Kinross in den Mond. Dann schlug das Wasser am äußersten Punkt des Aushaltevermögens über ihm zusammen. Hinab und hinab durch das Wasser, seine Brust im Schraubstock des Schmerzes, der Finsternis und der Angst, mit Armen und Beinen fuchtelnd, und dann ein dürres Knacken, ein stechender Schmerz in seiner Zehe, und er saß keuchend in einem Dornengestrüpp. Seine Haut war trocken. Es war Tag. Ein Bach floß in der Nähe, und darüber erhob sich eine gelbliche Sandsteinwand mit Zeichnungen von dickbäuchigen Känguruhs und Strichmännern in verblichenem Rot und Schwarz. Er nahm eine Handvoll Erde und betrachtete sie. Da war sie, hart und scharf und klar bis in all ihre winzigen Einzelheiten, so tief jedes Mikroskop zu dringen vermochte, fest und gefeit gegen jede Pfuscherei. Es war die alte Welt. Seine Welt. Kinross stand auf und verspürte überwältigenden Durst. Er ging hinab zum Bach, trank gierig und war so durstig wie zuvor. Er vergrub das Gesicht im Wasser und trank, bis er fast platzte, richtete sich wankend auf, 172
während ihn unerträglicher Durst zerriß. Er zupfte an seinem Bart und wunderte sich. Geräusche erklangen, Klirren von Metall und Geplansche. Dann das Knarren von Leder und leise Stimmen. Reiter kamen den Bach hinauf. Plötzlich spürte er sie unmittelbar, Pferde und Männer, strotzend von Leben, rotes, lebendiges, pumpendes Blut in den Adern. Sein Durst hüllte ihn wie eine Wolke des Wahnsinns ein, und er wußte, wer und was er war. Er wartete und fragte sich, ob sie ihn wohl sehen konnten …
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