ULLSTEIN 2000
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 60 von Larry Niven Clifford D. Simak James H. Schmitz David I. Masson Jonathan Brand R. A. Lafferty Ron Goulart
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Ullstein Buch Nr. 3250 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen von Dolf Strasser
Umschlagillustration: ACE/Roehling Alle Rechte vorbehalten Alle Stories aus WORLD’S BEST SCIENCE FICTION: 1966 Copyright © 1966 by Donald A. Wollheim und Terry Carr Übersetzung © 1976 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1976 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03250 8
Mehr als fünfzehn Stunden konnte er nicht allein in dieser Welt herumgestolpert sein. Und er konnte sich keine Umstände vorstellen, unter denen er absichtlich hier hätte ausgesetzt worden sein können. Deswegen mußte sich im Umkreis von fünfzehn Stunden irgend etwas – ein Schiff, ein Lager, eine Geheimdienstaußenstelle, eine Ansiedlung – befinden, von wo er aufgebrochen war. Wenn es ein Schiff war, war es vielleicht ein geborstenes Wrack. Aber sogar ein Wrack würde ihm Obdach, Nahrung, ja vielleicht sogar eine Möglichkeit bieten, SOS in den Raum zu funken. Colgrave erstarrte. Auf seinem Gesicht war ein Ausdruck starker Konzentration. Während seine Aufmerksamkeit ganz dem unmittelbaren Problem zugewandt war, hatte er still und unbemerkt einen Teil seiner verlorengegangenen Erinnerung zurückgewonnen. PLANET DES VERGESSENS von James H. Schmitz und sechs weitere Science-Fiction-Stories bekannter Autoren.
Larry Niven DER DEFEKT
Ich spürte die Hitze, die draußen herrschte. In der Kabine war es hell, trocken und kühl – fast so kühl wie zur Sommerzeit in einem modernen Bürogebäude. Draußen vor den kleinen Fenstern war es so schwarz, wie es im Sonnensystem nur werden kann, und heiß genug, um bei einem Druck, der dem hundert Meter unter dem Meeresspiegel entspricht, Blei schmelzen zu lassen. »Sieh mal, ein Fisch«, sagte ich, nur um das Schweigen zu brechen. »Und wie ist er zubereitet?« »Schwer zu sagen. Scheint ‘nen Kometenschweif von Paniermehl hinter sich herzuziehen. Gebacken? Stell dir das vor, Eric! Gebackener Schellfisch.« Eric ächzte vernehmlich. »Muß ich das?« . »Du mußt. Sonst siehst du überhaupt nichts Sehenswertes in diesem… diesem…« Brei? Nebel? Kochenden Ahornsirup? Sengende, schwarze Stille. »Richtig.« Irgend jemand hat sich diesen Ausdruck einfallen lassen, als ich ein Kind war – gleich nach der Nachricht von der Mariner II-Sonde. Ewige, sengende, schwarze Stille, heiß wie ein Brennofen, unter einer Atmosphäre, die dick genug ist, um jeden Luft- oder Windhauch von der Oberfläche fernzuhalten. Ich schauderte. »Wie hoch ist jetzt die Außentemperatur?« »Sei froh, wenn du sie nicht weißt. Du hast schon immer zu viel Phantasie gehabt, Howie.«
»Es macht mir nichts aus, Doc.« »Dreihundertzweiundzwanzig Grad.« »Es macht mir was aus, Doc!« Dies war Venus, der Planet der Liebe, der LieblingsHimmelskörper der Science-Fiction-Autoren vor drei Jahrzehnten. Unser Schiff hing fast bewegungslos in der sirupartigen Luft – unter dem Wasserstofftank in dreißig Kilometer Höhe. Der jetzt fast leere Tank gab ein ausgezeichnetes Luftschiff ab. Er würde uns tragen, solange der Innen- dem Außendruck entsprach. Erics Aufgabe war es, durch Veränderung der Wasserstofftemperatur den Tankdruck zu regeln. Von einer Höhe von fünfhundert Kilometern an hatten wir alle fünfzehn Kilometer Luftproben genommen. Die Temperatur hatten wir in noch kürzeren Abständen gemessen und eine kleine Sonde abgeworfen. Die Daten, die wir von der Oberfläche erhielten, bestätigten nur, was wir schon vorher über den heißesten Planeten im Sonnensystem zu wissen glaubten. »Die Temperatur ist eben auf dreihundertdreiundzwanzig gestiegen«, sagte Eric. »Sonst noch irgendwelche Beschwerden?« »Im Moment nicht.« »Gut. Schnall dich an. Wir starten.« »Welch himmlischer Tag!« Ich begann, das Auffangnetz über meiner Liege zu entwirren. »Wir haben alle vorgesehenen Arbeiten ausgeführt, nicht wahr?« »Behaupte ich etwa das Gegenteil? Bitte, ich bin angeschnallt.« »Ja, ja.« Ich wußte, warum er den Planeten nur ungern wieder verließ. Ich selbst war auch nicht ganz glücklich darüber. Vier Monate hatten wir gebraucht, um die Venus zu erreichen und sie eine
Woche zu umkreisen, bevor wir nicht ganz zwei Tage in ihrer äußeren Atmosphäre verbrachten. Es schien eine ziemliche Zeitverschwendung zu sein. Aber er brauchte schon sehr lange. »Was ist los, Eric?« »Sei froh, wenn du es nicht weißt.« Es war sein Ernst. Seine Stimme klang wie mechanisch, unmenschlich monoton; er bemühte sich auch gar nicht, menschlichen Ausdruck aus seinem »prothetischen« Stimmapparat herauszuholen. Nur ein schwerer Schock konnte die Ursache dieses Verhaltens sein. »Es macht mir nichts aus«, sagte ich. »Gut. Die Steuerung der Lorindüse scheint nicht anzusprechen. Ich komme mir vor, als hätte ich eben ‘ne Rückenmarks-Narkose erhalten.« Die ganze Kälte der Kabine schlich mir in die Knochen. »Versuch mal, ob du in der anderen Richtung Motorimpulse herkriegst. Du könntest die Düsen auf gut Glück steuern, selbst wenn du nichts spürst.« »Okay.« Den Bruchteil einer Sekunde später: »Nichts. Trotzdem – gute Idee.« Ich überlegte mir, was ich sagen sollte, während ich mich von der Liege losschnallte. Was kam, war: »Es war schön, dich zu kennen, Eric. Es hat mir gefallen, die andere Hälfte deines Teams zu sein; es gefällt mir auch jetzt noch.« »Rührselig kannst du immer noch werden. Und nun überprüfe mal meine Anschlüsse. Sorgfältig.« Ich schluckte meine Antwort hinunter und öffnete die Zugangstür in der vorderen Wand der Kabine. Der Boden unter mir vibrierte. Jenseits der gut einen Meter im Quadrat messenden Tür war Eric. Erics Zentralnervensystem. Oben war das Gehirn; die Wirbelsäule darunter war in eine lockere Spirale gedreht, damit sie besser in das transparente Glas- und
Schwammplastik-Gehäuse paßte. Aus allen Teilen des Schiffes führten Hunderte von Drähten zu den Glaswänden, wo sie an ausgewählte Nerven angeschlossen waren. Diese gingen wie ein elektrisches Leitungsnetz von der Zentralen Masse aus Nervengewebe und schützender Fetthaut nach allen Seiten. Der Weltraum macht niemanden zum Krüppel; und niemand sollte Eric einen Krüppel nennen, denn er mag es nicht. In gewisser Weise ist er der ideale Raumfahrer. Sein Lebenshaltungssystem wiegt nur die Hälfte des meinen und nimmt nur ein Zwölftel seines Raumes ein. Aber seine anderen prothetischen Apparate nehmen den größten Teil des Schiffsraums in Anspruch. Die Lorindüsen waren an das letzte Paar seiner Nervenstränge angeschlossen, die Nerven, die einst seine Beine bewegt hatten. Dutzende von feineren Nerven in diesen Strängen registrierten und regulierten Brennstoffzufuhr, Düsentemperatur, Differential-Beschleunigung, Düsenöffnung und Zündimpulse. Diese Verbindungen waren intakt. Ich überprüfte sie mit vier verschiedenen Verfahren, ohne auch nur den geringsten Grund zu finden, warum sie nicht funktionierten. »Versuch die anderen«, sagte Eric. Ich brauchte mehr als zwei Stunden, um jeden Anschluß zu überprüfen. Alle waren in Ordnung. Die Blutpumpe blubberte, und die Flüssigkeit wies die richtigen Werte auf, was die Möglichkeit ausschloß, daß die betreffenden Nerven aus Mangel an Nährstoffen oder Sauerstoff »eingeschlafen« waren. Nachdem das Laboratorium eines seiner prothetischen Hilfsmittel ist, ließ sich Eric seinen eigenen Blutzucker analysieren in der Hoffnung, daß seine »Leber« verrückt gespielt und irgendeine falsche Zuckerverbindung produziert hatte. Das Prüfungsergebnis war erschreckend. Eric fehlte nicht das geringste – im Inneren der Kabine. »Eric, du bist gesünder als ich.«
»Das wußte ich selbst. Du siehst bekümmert aus, Freund, und ich mache dir auch keinen Vorwurf. Jetzt wirst du hinaus müssen.« »Ich weiß. Wo ist der Anzug?« Er war im Notschrank – der Venus-Anzug, dessen praktische Verwendung eigentlich überhaupt nicht vorgesehen war. Die NASA hatte ihn für den Gebrauch auf der Oberfläche der Venus konstruiert. Dann hatte sie eine Annäherung auf mehr als dreißig Kilometer verboten, bis man mehr über den Planeten wußte. Der Anzug bestand aus Panzersegmenten. Ich hatte die Tests in der Hochtemperatur-Druckkammer der Technischen Universität von Kalifornien beobachtet und wußte, daß die Gelenke sich nach fünf Stunden ohne Kühlung nicht mehr bewegen ließen. Jetzt öffnete ich den Schrank, packte den Anzug an den Schultern und hielt ihn vor mich hin. Mir war, als starrte er mich an. »Du spürst noch nichts in den Lorindüsen?« »Nicht das geringste.« Ich begann, den Anzug anzulegen, Stück für Stück, wie eine mittelalterliche Rüstung. Dann dachte ich an etwas anderes. »Wir sind in dreißig Kilometer Höhe. Willst du etwa, daß ich auf der Schiffshülle einen Balanceakt hinlege?« »Nein! Ich denke gar nicht daran. Es gibt nur eines: Wir müssen hinunter.« Die Hubkraft des Luftschiff-Tanks sollte bis zum Start gleichbleibend sein. Wenn der Zeitpunkt gekommen war, konnte Eric zusätzlichen Auftrieb herstellen, indem er durch Erhitzung größeren Wasserstoffdruck erzeugte, wobei ein Ventil für die Abführung überschüssigen Druckes sorgte. Natürlich mußte er sehr sorgfältig darauf achten, daß der Druck im Tank höher war; andernfalls würde Venusluft eindringen, und das Schiff würde fallen, statt zu steigen. Das wäre natürlich katastrophal.
Eric verringerte also die Tanktemperatur, öffnete das Ventil, und es ging nach unten. »Die Sache hat natürlich einen Haken«, sagte Eric. »Ich weiß.« »In dreißig Kilometer Höhe hat das Schiff den Druck ausgehalten. Unten ist er sechsmal so hoch.« »Ich weiß.« Die Kabine war nach vorn geneigt durch den Auftrieb an unseren Schwanzflossen, und wir fielen rasch. Die Temperatur nahm ständig zu. Der Druck stieg schnell. Ich saß am Fenster und sah nichts, nur tiefschwarze Finsternis. Dennoch, ich blieb dort sitzen und wartete darauf, daß das Fenster zersprang. Die NASA hatte nur bis zu einer Höhe von dreißig Kilometern ihren Segen gegeben… Eric sagte: »Der Schwebetank ist in Ordnung, und das Schiff auch, glaube ich. Aber wird die Kabine den Druck aushalten?« »Ich weiß es nicht.« »Fünfzehn Kilometer.« Achthundert Kilometer über uns war unerreichbar die atomare Ionen-Maschine, die uns zurückbringen sollte. Mit der chemischen Rakete allein konnten wir nicht zu ihr gelangen. Die Rakete war erst für die Bereiche bestimmt, wo die Luft für die Lorindüsen zu dünn war. »Fünf Kilometer. Ich muß das Ventil noch einmal öffnen.« Das Schiff fiel. »Ich kann den Boden sehen«, sagte Eric. Ich konnte es nicht. Eric bemerkte, wie ich angestrengt nach unten sah, und sagte: »Vergiß es. Ich arbeite mit tiefem Infrarot und kann keine Einzelheiten erkennen.« »Keine riesigen, nebligen Sümpfe, mit irren, schreckerregenden Ungeheuern und menschenfressenden Pflanzen?« »Alles, was ich sehen kann, ist ein Gebrodel von Lehm.«
Jetzt waren wir fast ganz unten, und die Kabinenwand war immer noch nicht zerborsten. Meine Nacken- und Schultermuskeln lockerten sich. Ich wandte mich vom Fenster ab. Stunden vergingen, während wir durch die giftige, immer dichter werdende Atmosphäre hinabstiegen. Meinen Anzug hatte ich zum größten Teil angezogen. Jetzt legte ich meinen Helm und die dreifingrigen Handschuhe an. »Schnall dich fest«, sagte Eric. Ich tat es. Ein leichter Aufprall. Das Schiff neigte sich ein wenig, schwang zurück und schlug erneut auf. Und wieder klapperten meine Zähne, wieder flog mein gepanzerter Körper in die Fangvorrichtung. »Verdammt«, murmelte Eric. Ich hörte das Zischen von oben. Eric sagte: »Ich weiß nicht, wie wir hier wieder hochkommen sollen.« Ich wußte es auch nicht. Das Schilf stieß hart gegen den Boden und blieb dann unten, und ich stand auf und ging zur Luftschleuse. »Viel Glück«, sagte Eric. »Bleib nicht zu lange draußen.« Ich winkte seiner Kabinenkamera zu. Die Außentemperatur betrug vierhundert Grad. Die äußere Tür öffnete sich. Die Kühlanlage meines Raumanzugs ließ ein klagendes Heulen vernehmen. Der Strahl meiner Helmlampe bahnte sich einen Weg in die dicke Finsternis. Einen leeren Eimer in jeder Hand, stieg ich auf den rechten Flügel hinaus. Der Druck ließ meinen Raumanzug knackend schrumpfen, und ich stand auf dem Flügel und wartete darauf, daß das Geräusch aufhören würde. Es war fast wie unter Wasser. Der Strahl meiner Helmlampe schien aus fester Materie zu bestehen und kam nicht weiter als dreißig Meter. So lichtundurchlässig konnte die Luft nicht sein, ganz gleich, wie dicht sie war. Sie mußte voller Staub sein oder voll winziger Tröpfchen irgendeiner Flüssigkeit.
Der messerscharfe Flügel verbreiterte sich nach hinten zu und endete in einer Heckflosse. Hinter dem Schiffsrumpf, wo sich die beiden Flossen vereinigten, waren die Lorindüsen, große Zylinder, die einen Atomantrieb enthielten. Sie würden nicht heiß sein, weil sie noch nicht benützt worden waren; trotzdem hatte ich meinen Geigerzähler dabei. Ich befestigte ein Seil am Flügel und glitt daran hinunter. Solange wir hier waren… Der Boden war aus einer Art rötlicher, trockener, krümeliger Erde und so porös, daß er fast schwammig wirkte. Durch Chemikalien verätzte Lava? Bei diesem Druck und dieser Temperatur mußte fast alles korrodieren. Mit dem einen Eimer faßte ich etwas von der Oberfläche, mit dem anderen etwas von dem, was sich darunter befand, kletterte wieder hinauf und ließ die Eimer auf dem Flügel stehen. Der Flügel war fürchterlich rutschig. Nur mit Hilfe meiner magnetischen Schuhe konnte ich mich darauf halten. Ich ging das sechzig Meter lange Schiff ab und inspizierte es oberflächlich. Weder die Flügel noch der Rumpf zeigten Schäden. Wieso nicht? Wenn ein Meteorit oder irgend etwas Erics Verbindung mit seinen Sensoren in den Düsen unterbrochen hatte, mußte eine äußerlich sichtbare Einschlagstelle vorhanden sein. Dann wurde mir plötzlich klar, daß es eine Alternative gab. Es war ein zu vager Verdacht, als daß ich ihn schon hätte in Worte kleiden können, und ich mußte die Inspektion noch beenden. Es Eric zu sagen, würde sehr schwierig sein – wenn ich recht hatte. Gut vor der Reibungshitze geschützt, waren vier Inspektionskonsolen in den Flügel eingelassen. Eine befand sich etwa in der Mitte des Rumpfes, unter dem Träger-Tank, der so auf den Rumpf aufgesetzt war, daß das Schiff von vorn wie ein Delphin aussah. Zwei weitere waren am hinteren Ende
der Schwanzflosse, die vierte in der Lorindüse selbst. Alle befanden sich an Knotenpunkten der Schiffselektrik und waren mit versenkten Schrauben verschlossen. Alles schien zu funktionieren. Indem ich Kontakte herstellte und wieder unterbrach und Erics Reaktionen beobachtete, fand ich heraus, daß seine Wahrnehmung irgendwo zwischen der zweiten und dritten Inspektionskonsole endete. Beim linken Flügel das gleiche Bild. Keine äußerlich sichtbare Beschädigung, die Knotenpunkte intakt. Ich kletterte wieder auf den Boden und ging langsam beide Flügel ab, die Helmlampe nach oben gerichtet. Auch unten keine Beschädigung. Ich nahm meine Eimer und stieg wieder in das Schiff.
»Ein Hühnchen zu rupfen?« Eric war erstaunt. »Ist das nicht ein etwas seltsamer Zeitpunkt für eine Auseinandersetzung? Heb dir das für den Weltraum auf. Vier Monate werden wir nichts anderes zu tun haben.« »Die Sache kann nicht warten. Zunächst einmal, ist dir irgend etwas aufgefallen, was ich nicht bemerkt hätte?« Er hatte alles, was ich sah und tat, durch die Kamera in meinem Helm beobachtet. »Nein. Ich hätte mich gemeldet.« »Gut. Und jetzt paß auf. Die Unterbrechung in deinen Schaltkreisen ist nicht innen, weil deine Wahrnehmungen bis zur zweiten Inspektionskonsole reichen. Sie ist auch nicht draußen, weil es kein Anzeichen einer Beschädigung gibt – nicht einmal die leichteste Korrosion. Es bleibt also nur eine Stelle übrig, wo der Fehler liegen kann.« »Weiter.« »Rätselhaft ist auch, warum du bei beiden Düsen paralysiert bist. Warum sollten denn beide gleichzeitig ausfallen? Es gibt
nur eine einzige Stelle im Schiff, wo alle Stromkreise zusammentreffen.« »Was? Aha, ich verstehe. In mir.« »Nehmen wir jetzt einmal an, daß du die fehlerhafte Stelle bist. Du bist keine Maschine, Eric. Aber wenn du Probleme hast, dann keine medizinischen. Das haben wir bereits festgestellt. Allerdings – es könnte ein psychologisches Problem sein.« »Nett, von dir zu hören, daß ich zur Gattung der Menschen gehöre. Du glaubst also, ich habe eine Macke?« »So was Ähnliches. Ich glaube, du hast das, was man früher Schieß-Anästhesie nannte. Ein Soldat, der zu viele Menschen getötet hat, stellt manchmal fest, daß sein rechter Zeigefinger oder sogar seine ganze Hand taub und gefühllos wird, als sei sie nicht länger ein Teil von ihm. Du weißt, daß du keine Maschine bist, Eric. Und da liegt, wie mir scheint, das Problem. Du hast nie wirklich geglaubt, daß irgendein Teil des Schiffes ein Teil von dir ist. Das ist intelligent, weil es stimmt. Jedesmal, wenn das Schiff überarbeitet wird, kriegst du neue Teile, und du hast recht, einen Modellwechsel nicht als eine Serie von Amputationen zu sehen.« Ich hatte meinen Vortrag geprobt und ihn so zu halten versucht, daß Eric mir einfach glauben mußte. Jetzt weiß ich, daß er irgendwie falsch geklungen haben muß. »Aber fetzt bist du zu weit gegangen. Im Unterbewußten glaubst du nicht mehr, die Düsen als Teil von dir fühlen zu können – und so sind sie ja entworfen. Du hast dir also eingeredet, daß du nichts spürst.« Nachdem ich meine vorbereitete Ansprache abgespult und nichts mehr zu sagen hatte, wartete ich stumm auf die Explosion. »Das leuchtet mir ein«, sagte Eric. Ich war verblüfft. »Du stimmst mir zu?«
»Das habe ich nicht gesagt. Du entwickelst da eine elegante Theorie, aber ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken. Was tun wir denn, wenn sie stimmt?« »Ja… ich weiß nicht. Du wirst dich einfach selbst heilen müssen.« »Okay. Und so sehe ich die Sache. Ich bin der Ansicht, daß du dir diese Theorie ausgedacht hast, um dich der Verantwortung dafür, daß wir lebendig nach Hause kommen, zu entledigen. Du legst die ganze Verantwortung auf meine Schulter, bildlich gesprochen.« »Aber um…« »Sei ruhig. Ich habe nicht gesagt, daß du unrecht hast. Das wäre ein Ad-hominem-Argument. Wir brauchen Zeit, um nachzudenken.«
Erst vier Stunden später, als die Lichter ausgingen, wollte Eric wieder auf die Sache zurückkommen. »Howie, tu mir einen Gefallen. Unterstelle einmal, daß irgendein mechanischer Fehler für unser Problem verantwortlich ist. Ich werde hingegen annehmen, daß es ein psychosomatischer Defekt ist.« »Klingt vernünftig.« »Es ist vernünftig. Was kannst du tun, wenn es bei mir psychosomatisch nicht stimmt? Was kann ich tun, wenn es eine mechanische Sache ist? Ich kann nicht herumgehen und mich selbst inspizieren. Wir sollten uns beide an das halten, was wir wissen.« »Einverstanden.« Ich schaltete ihn für die Nachtstunden aus und ging zu Bett. Aber ich schlief nicht. Wenn die Lichter aus waren, war es genau wie draußen. Ich machte sie wieder an. Sie würden Eric nicht wecken. Eric
schläft eigentlich nicht, da sich in seinem Blut keine Ermüdungsgifte bilden, und er würde verrückt vom ständigen Wachsein werden, wenn er nicht einen russischen SchlafInduktor hätte. Das Schiff konnte implodieren, ohne daß Eric es bemerkte, wenn sein Schlaf-Induktor eingeschaltet war. Aber meine Furcht vor der Dunkelheit kam mir töricht vor. Solange die Dunkelheit draußen war, war es gut. Aber sie würde nicht draußen bleiben. Sie hatte sich schon in den Sinn meines Partners geschlichen. Nachdem ihn chemische Hemmstoffe vor chemisch bedingten Beschwerden wie Schizophrenie schützten, hatten wir angenommen, daß er immer gesund sein müsse. Aber wie konnte irgendein prothetischer Faktor ihn vor seiner eigenen Phantasie, vor seiner eigenen fehlgeleiteten Vernunft schützen? Unsere Abmachung konnte ich nicht einhalten. Ich wußte, daß ich recht hatte. Aber was konnte ich tun? Nachträgliche Einsicht ist wunderbar. Mir war völlig klar, wo der Fehler lag, Erics Fehler und meiner und der von Hunderten von Männern, die nach jenem Absturz sein Lebenserhaltungssystem gebaut hatten. Nach jenem Absturz war nichts von Eric übriggeblieben außer seinem zentralen Nervensystem, auch keine Drüse bis auf seine Hypophyse. »Wir werden seine Blutzusammensetzung regeln«, hieß es, »und er wird immer kühl, ruhig und gesammelt sein. Panikreaktionen gibt es bei Eric nicht!« Eric braucht keine Adrenalindrüsen, um Angst vor dem Tod zu haben. Schon lange vor dem Tag, als er versuchte, ein Mondschiff ohne Radar zu landen, waren seine Empfindungsmuster fixiert. Ihm war alles recht, was die Annahme, daß ich den Fehler behoben hätte, berechtigt erscheinen ließ. Aber er zählte darauf, daß ich es tat.
Die Atmosphäre lastete auf den Fenstern. Ohne es zu wollen, berührte ich mit den Fingerspitzen das Quarzglas. Ich konnte den Druck nicht fühlen. Aber er war da, unerbittlich wie die Flut, die einen Stein in den Ufersand wirft. Wie lange würde die Kabine ihm wiederstehen können? Wenn irgendein kaputtes Teil uns hier festhielt, wie war es möglich, daß ich es nicht gefunden hatte? Vielleicht war es zerstört worden, ohne daß ein Loch in die Flügel geschlagen wurde. Aber wie? Immerhin, vielleicht eine Möglichkeit. Zwei Zigarettenlängen später stand ich auf, um die beiden Eimer zu holen. Ihren Inhalt hatte ich bereits sicher verstaut. Ich füllte sie mit Wasser, stellte sie in den Kühler, stellte die Temperatur auf zwanzig Grad über dem absoluten Nullpunkt, schaltete dann die Lichter aus und ging zu Bett. Der Morgen war schwärzer als das Innere einer Raucherlunge. Was die Venus wirklich braucht, dachte ich mir, als ich philosophierend dalag, ist der Verlust von neunundneunzig Prozent ihrer Atmosphäre. Dann würde ihr etwas mehr als die Hälfte der auf der Erde vorhandenen Luftdichte bleiben, was den Treibhauseffekt soweit Vermindern würde, daß die Temperaturen erträglich wurden. Wenn man die Gravitation der Venus ein paar Wochen lang auf annähernd null bringen könnte, würde sich die Arbeit ganz von alleine tun. Das ganze verdammte Universum wartet darauf, daß wir Antigravitation entdecken. »Morgen«, sagte Eric. »Ist dir schon irgendwas eingefallen?« »Ja.« Ich rollte mich aus dem Bett. »Aber stell mir jetzt keine Fragen. Ich werde dir alles rechtzeitig erklären.« »Kein Frühstück?« »Noch nicht.«
Stück für Stück legte ich meinen Raumanzug an wie einer von König Arthurs Rittern, schlüpfte dann in die Handschuhe und holte die Eimer. Die Temperatur des Eimers lag nur wenig über dem absoluten Nullpunkt. »Das sind zwei Eimer mit gewöhnlichem Eis«, sagte ich und hielt sie hoch. »Und jetzt laß mich ‘raus.« »Ich sollte dich so lange hier festhalten, bis du redest«, stöhnte Eric. Aber die Schleusen öffneten sich, und ich trat hinaus auf den Flügel. Ich machte mich daran, den Deckel von Konsole zwei auf der rechten Seite zu öffnen, und sagte: »Eric, denk doch mal einen Augenblick an die Tests, die man auf einem bemannten Schiff mit Überlebenssystemen anstellt. Man prüft jedes Teil einzeln und in Verbindung mit anderen Teilen. Wenn dann etwas nicht funktioniert, ist es entweder beschädigt oder wurde nicht richtig getestet. Habe ich recht?« »Vernünftig.« Mehr ließ er sich nicht entlocken. »Nun ist aber kein Schaden eingetreten. Nicht nur gibt es keine Verletzung der Außenhaut, es ist überhaupt kein Zufall denkbar, der beide Düsen gleichzeitig hätte außer Gefecht setzen können. Also wurde irgend etwas nicht richtig geprüft.« Ich nahm den Konsolendeckel ab. Das Eis dampfte, wo es die gläsernen Eimer berührte. Die blauen Eisbrocken waren unter ihrem eigenen inneren Druck zerbrochen. Ich schüttete einen Eimer in das Gewirr aus Drähten, Kontakten, Relais, und das Eis zersprang, so daß ich den Deckel wieder schließen konnte. »Heute nacht bin ich auf etwas gekommen, etwas, was nicht geprüft wurde. Jeder Teil des Schiffes mußte in der Druck- und Temperaturbox künstlichen Venusbedingungen standhalten, aber mit dem Schiff als Ganzem war das nicht möglich. Es ist zu groß.« Ich war zum linken Flügel hinüber gestiegen und öffnete den Deckel der dritten Konsole. Mein restliches Eis bestand zur Hälfte aus Wasser, zur Hälfte aus kleinen Brocken; ich warf sie hinein und machte den Deckel fest. »Was deine
Stromkreise unterbrochen hat, muß entweder die Hitze oder der Druck gewesen sein, oder beides. Gegen den Druck kann ich nichts tun, aber ich kann diese Relais mit Eis kühlen. Sag mir, mit welcher Düse du zuerst Kontakt bekommst, und wir werden wissen, welche Inspektionskonsole die richtige ist.« »Howie. Hast du daran gedacht, was das kalte Wasser bei diesem heißen Metall anrichten könnte?« »Das Metall könnte springen. Dann würdest du die Kontrolle über die Düsen verlieren, was aber sowieso schon der Fall ist.« »Oh. Du hast recht, Partner. Aber ich spüre immer noch nichts.« Ich ging mit den leeren Kübeln zur Luftschleuse zurück und fragte mich, ob sie in der Hitze vielleicht schmelzen würden. Aber dazu war ich nicht lange genug draußen. Ich hatte meinen Anzug ausgezogen und füllte gerade wieder die Eimer, als Eric sagte: »Ich spüre die rechte Düse.« »In welchem Ausmaß? Volle Kontrolle?« »Nein. Ich kann die Temperatur nicht feststellen. Doch, jetzt kommt sie. Wir haben es geschafft, Howie.« Mein erleichterter Seufzer war aufrichtig. Ich stellte die Eimer wieder in den Gefrierschrank. Zum Zeitpunkt des Starts mußten die Relais kühl werden. Das Wasser war vielleicht zwanzig Minuten im Schrank gewesen, als Eric meldete: »Der Kontakt bricht ab.« »Was?« »Der Kontakt geht verloren. Keine Temperatur, und ich registriere auch keinen Kraftstoffdruck mehr. Es bleibt nicht lange genug kalt.« »O weh. Was nun?« »Das möchte ich dir lieber nicht sagen. Du solltest es dir selbst überlegen.«
Das tat ich. »Wir lassen uns von dem Schwebetank so hoch wie möglich tragen, und dann nehme ich in jede Hand einen Kübel voll Eis und gehe auf die Flügel hinaus…« Wir mußten die Temperatur im Tank auf fast vierhundertvierzig Grad erhöhen, um genügend Druck zu bekommen, doch dann stiegen wir sehr gut. Bis auf eine Höhe von fünfundzwanzig Kilometern. Es dauerte drei Stunden. »Weiter geht es nicht«, sagte Eric. »Bist du fertig?« Ich ging das Eis holen. Eric konnte mich sehen und brauchte keine Antwort. Er öffnete mir die Luftschleuse. Ich hätte jetzt Angst oder Panik empfinden oder zur Selbstaufopferung entschlossen sein können – aber nichts von alledem. Ich ging hinaus wie eine Marionette. Meine Schuhe waren auf volle Magnetkraft gestellt. Mir war, als watete ich durch Teer. Die Luft war dick, wenn auch nicht ebensosehr wie auf dem Boden. Ich folgte dem Strahl meiner Helmlampe bis zur zweiten Konsole und öffnete sie, schüttete Eis hinein und warf dann den Eimer ab. Das Eis war ein einziger Klumpen. Ich konnte den Deckel nicht schließen. Ich ließ ihn offen und eilte zum anderen Flügel hinüber. Der zweite Eimer war voll zersprungener Brocken; ich kippte sie hinein, verschloß den Deckel und kam mit freien Händen zurück. Überall war es schwarz wie die Hölle, außer da, wo meine Lampe einen Tunnel in die Finsternis bohrte. Und – meine Füße wurden heiß. Ich verschloß die rechte Konsole, in der jetzt noch Wasser kochte, und ging dann seitwärts am Schiffsrumpf entlang zur Luftschleuse. »Komm ‘rein und schnall dich an«, sagte Eric. »Schnell!« »Ich muß erst meinen Anzug ausziehen.« Meine Hände hatten zu zittern begonnen. Ich konnte die Schnallen nicht lösen. »Das mußt du nicht. Wenn wir jetzt sofort starten, schaffen wir es vielleicht. Laß den Anzug an und komm ‘rein.«
Das tat ich. Während ich noch meine Fangnetze festzurrte, brüllten die Düsen auf. Das Schiff erzitterte ein wenig und machte dann einen Satz nach vorn, als wir uns vom Trägertank abkoppelten. Der Druck stieg, als die Düsen die Betriebsdrehzahl erreichten. Eric stellte auf volle Kraft. Für mich wäre es schon ohne den metallenen Anzug unangenehm gewesen. Mit dem Anzug war es eine Tortur. Meine Liege war von dem heißen Metall ins Schwelen geraten, aber ich bekam nicht genug Luft, um es zu sagen. Wir stiegen beinahe senkrecht. Wir hatten fast zwanzig Minuten Flug hinter uns, als durch das Schiff ein Ruck ging wie durch einen elektrisierten Frosch. »Die Düse ist aus«, sagte Eric ruhig. »Ich werde die andere einsetzen.« Noch ein Ruck, als wir die funktionsuntüchtige Düse abwarfen. Das Schiff flog wie ein verwundeter Pinguin, beschleunigte aber immer noch. Eine Minute… zwei… Die andere Düse versagte. Es war, als wären wir in Melasse geraten. Eric sprengte die Düse ab, und der Druck ging zurück. »Eric.« »Was?« »Hast du Marshmallows?« »Was? Ach, ich verstehe. Ist dein Anzug dicht?« »Du mußt dich damit abfinden. Den Rauch blasen wir später ab. Ich werde jetzt ein wenig im Gleitflug bleiben, aber sobald ich die Rakete einschalte, wird es gräßlich.« »Werden wir’s schaffen?« »Ich glaube schon. Es wird knapp.« Erst kam die Erleichterung. Eiskalt. Dann die Wut. »Keine unerklärliche Taubheit mehr?« fragte ich. »Nein. Warum?« »Wenn so etwas wiederkommt, sagst du es mir bestimmt, ja?«
»Willst du auf irgend etwas hinaus?« »Mach dir keine Gedanken.« Ich war nicht mehr wütend. »Die mach ich mir sehr wohl. Du weißt ganz genau, daß es ein mechanischer Defekt war, du Narr. Du hast ihn selbst repariert!« »Nein. Ich brachte dich zu der Überzeugung, daß ich es repariert hätte. Du solltest glauben, daß die Atomdüsen einfach wieder arbeiten mußten. Eine Wunderkur, Eric. Ich hoffe nur, daß ich mir auf dem Heimweg nicht ständig neue Placebos für dich ausdenken muß.« »Du dachtest das, aber du gingst trotzdem in fünfundzwanzig Kilometern Höhe auf den Flügel hinaus?« schnarrte Erics Maschinerie. »Du hast Mut, wo du Verstand brauchst, Shorty.« Ich gab keine Antwort. »Und ich sage dir, es war ein mechanischer Defekt. Die Ingenieure sollen es entscheiden, wenn wir gelandet sind.« »Bitte schön.« »Jetzt kommt die Rakete. Zwei, eins…« Die Beschleunigung stauchte mich in meinem Metallanzug zusammen. Rosige Flammen züngelten an meinen Ohren vorbei und schwärzten die grüne Metalldecke. Aber der rosige Nebel vor meinen Augen war kein Feuer. Der Mann mit der dicken Brille breitete eine Zeichnung des Venus-Schiffes aus und deutete mit dicken Fingern auf das hintere Flügelende. »Hier etwa«, sagte er. »Der Außendruck preßte den Kabeltunnel ein wenig zusammen, so daß die Drähte sich nicht mehr biegen konnten. Sie verhielten sich, als seien sie völlig starr, verstehen Sie? Dann, als die Hitze das Metall ausdehnte, gerieten die Kontakte aneinander.« »Für den anderen Flügel gilt vermutlich das gleiche?« Er warf mir einen befremdeten Blick zu. »Ja, natürlich.« Ich legte meinen Scheck über 5000 Dollar zu Erics Post und flog nach Brasilien. Wie er mich fand, werde ich nie erfahren, aber heute
früh erreichte mich dieses Telegramm: HOWIE KOMM ZURÜCK, ALLES VERZIEHEN. DONOVANS GEHIRN. Ich werde es wohl tun.
Originaltitel: BECALMED IN HELL Copyright © 1965 by Mercury Press, Inc. Aus THE MAGAZINE OF FANTASY AND SCIENCE FICTION
Clifford D. Simak ÜBER DEN FLUSS UND DURCH DIE WÄLDER
Es war Apfeleinmachzeit. Goldlack und wilde Astern standen in voller Blüte. Die beiden Kinder kamen den Weg heraufgeschlendert. Als sie sie aus dem Küchenfenster erblickte, sahen sie aus wie Kinder, die von der Schule nach Hause kommen, denn jedes von ihnen trug eine Tasche, in der ihre Bücher sein konnten. Wie Charles und James, dachte sie, wie Alice und Maggie – aber die Zeit, als diese vier noch den selben Weg von der Schule nach Hause geschlendert waren, lag weit zurück. Jetzt hatten sie selbst Kinder, die schon zur Schule gingen. Sie ging wieder zum Herd zurück, um die kochenden Äpfel umzurühren, für die auf dem Tisch großmäulige Krüge bereitstanden, und sah dann von neuem zum Fenster hinaus. Die beiden waren jetzt nähergekommen, und sie bemerkte, daß der Junge der ältere war – zehn vielleicht, das Mädchen nicht mehr als acht. Sie würden wohl vorbeigehen, dachte sie, obgleich das nicht sehr wahrscheinlich schien, denn der Weg führte zu dieser Farm und nirgendwo anders hin. Sie verließen den Weg, bevor sie die Scheune erreichten, und kamen dann den Pfad zum Haus herauf. Sie taten es ohne Zögern; sie wußten, wohin sie wollten. Sie gingen zur Küchentür. Die beiden betraten die Veranda, blieben vor der Tür stehen und sahen sie an. Der Junge sagte: »Du bist unsere Großmutter. Papa meinte, daß wir sofort sagen sollen, daß du unsere Großmutter bist.«
»Aber das ist nicht…« entgegnete sie und verstummte. Sie hatte sagen wollen, daß das unmöglich sei – daß sie nicht ihre Großmutter war. Und dann hatte sie in ihre sauberen, kindlichen Gesichter geblickt und war froh, die Worte nicht ausgesprochen zu haben. »Ich bin Ellen«, sagte das Mädchen mit piepsender Stimme. »Wie seltsam«, sagte die Frau. »So heiße ich auch.« Der Junge sagte: »Mein Name ist Paul.« Sie öffnete ihnen die Tür, und die beiden traten ein, standen stumm in der Küche und sahen sich um, als hätten sie nie eine Küche gesehen. »Genau wie Papa sagte«, sagte Ellen. »Da ist der Herd und das Butterfaß und…« Der Junge unterbrach sie. »Unser Name ist Forbes«, sagte er. Diesmal konnte die Frau nicht an sich halten. »Aber das ist doch nicht möglich«, sagte sie. »So heißen wir auch.« Der Junge nickte feierlich. »Ja, das wußten wir.« »Vielleicht«, sagte die Frau, »möchtet ihr etwas Milch und Plätzchen.« »Plätzchen!« quietschte Ellen begeistert. »Wir möchten keine Umstände machen«, sagte der Junge. »Papa hat gesagt, wir sollen keine Umstände machen.« »Wir sollen brav sein, hat er gesagt«, piepste Ellen. »Das seid ihr«, sagte die Frau, »und ihr macht mir auch gar keine Umstände.« Sie würde die Sache bald klären, dachte sie. Sie ging zum Herd und stellte den Kessel mit den siedenden Äpfeln zur Seite, wo sie langsam weiterkochten. »Setzt euch an den Tisch«, sagte sie. »Ich hole die Milch und die Plätzchen.« Sie sah auf die Uhr. Fast vier. Bald würden die Männer vom Feld zurückkommen. Jackson Forbes würde wissen, was hier zu tun war; er wußte das immer.
Die beiden kletterten auf zwei Stühle und saßen dann schweigend da, besahen sich alles – die tickende Uhr, den Holzofen, aus dessen Aschenloch das Feuer glühte, das Holz in der Holzkiste, das Butterfaß in der Ecke. Sie stellten ihre Taschen neben sich auf den Boden, und es waren ungewöhnliche Taschen, wie die Frau bemerkte. Sie bestanden aus schwerem, leinwandartigem Stoff, wiesen aber keine Riemen oder Kordeln auf, mit denen sie hätten verschlossen werden können. Dennoch waren sie zu, sah die Frau, trotz des Fehlens von Riemen und Kordeln. »Hast du ein paar Briefmarken?« fragte Ellen. »Briefmarken?« fragte Mrs. Forbes. »Du brauchst nicht auf sie zu hören«, sagte Paul. »Sie hätte dich nicht fragen sollen. Sie fragt immer alle, und Mama hat gesagt, sie soll es nicht tun.« »Aber Briefmarken?« »Sie sammelt sie. Sie klaut sogar die Briefe anderer Leute. Wegen der Briefmarken, weißt du.« »Ach so«, sagte Mrs. Forbes. »Na, vielleicht habe ich ein paar alte Briefe. Ich werde dann nachsehen.« Sie ging in die Speisekammer, holte den irdenen Milchkrug und füllte einen Teller mit Plätzchen. Als sie zurückkam, saßen die beiden ruhig da und warteten auf die Plätzchen. »Wir sind nicht sehr lange hier«, sagte Paul. »Nur ein kurzer Urlaub. Dann kommen unsere Leute und holen uns wieder.« Ellen nickte heftig. »Das sagten sie, als wir gingen. Als ich mich davor fürchtete, zu gehen.« »Du fürchtest dich davor, zu gehen?« »Ja. Es war alles so seltsam.« »Es war so wenig Zeit«, sagte Paul. »Eigentlich fast gar keine. Wir mußten so schnell fort.« »Und wo seid ihr her?« fragte Mrs. Forbes.
»Es ist nicht weit von hier«, sagte der Junge. »Der Weg war nicht sehr weit, und natürlich hatten wir die Landkarte. Papa gab sie uns und erklärte uns alles ausführlich…« »Und du bist sicher, daß du Forbes heißt?« Ellen nickte. »Natürlich«, sagte sie. »Merkwürdig«, sagte Mrs. Forbes. Und es war mehr als merkwürdig, denn in der ganzen Nachbarschaft gab es keine anderen Forbes außer ihren Kindern und Enkeln. Und diese beiden hier waren Fremde, ganz gleich, was sie behaupteten. Sie machten sich über die Milch und die Plätzchen her, und Mrs. Forbes ging zum Herd zurück, schob den Kessel mit den Äpfeln wieder in die Mitte der Platte und rührte mit einem hölzernen Kochlöffel um. »Wo ist Großvater?« fragte Ellen. »Großvater ist auf dem Feld. Er wird bald kommen. Seid ihr fertig mit euren Plätzchen?« »Ja, fertig«, sagte das Mädchen. »Dann müssen wir den Tisch decken und das Abendessen herrichten. Vielleicht wollt ihr mir helfen?« Ellen hüpfte von ihrem Stuhl herunter. »Ich helfe dir«, sagte sie. »Und ich«, sagte Paul, »trage Holz herein. Papa hat gesagt, daß ich mithelfen soll. Er sagte, ich kann Holz holen und die Hühner füttern und Eier suchen und…« »Paul«, sagte Mrs. Forbes, »vielleicht könntest du mir sagen, was dein Vater tut.« »Papa«, sagte der Junge, »ist Temporal-Ingenieur.«
Die beiden Farmhelfer saßen am Küchentisch und hatten das Damespiel zwischen sich. Die Älteren waren im Wohnzimmer. »So etwas hast du noch nie gesehen«, sagte Mrs. Forbes. »Da war dieses Metallstückchen, und man zog daran, und dann glitt
es an einem Metallstreifen entlang, und die Tasche ging auf. Und dann zog man in der anderen Richtung, und die Tasche war wieder zu.« »Etwas Neues«, sagte Jackson Forbes. »Es gibt vielleicht viele neue Dinge, von denen wir hier bei uns im Wald noch nichts gehört haben. Es gibt Erfinder, die sich alle möglichen Dinge einfallen lassen.« »Und der Junge«, sagte sie, »hat das gleiche an seiner Hose. Er warf sie auf den Boden, als er zu Bett ging, und ich hob sie auf, legte sie zusammen und hängte sie dann über den Stuhl. Und ich sah diesen Metallstreifen mit dem gezackten Rand. Und dann ihre Kleider. Die Hose dieses Jungen ist oberhalb des Knies abgeschnitten, und das Kleid, welches das Mädchen trug, war so kurz…« »Sie sprachen von Flugzeugen«, sagte Jackson Forbes nachdenklich. »Offenbar ist das etwas, worin man herumfahren kann. Und Raketen – so als gäbe es jeden Tag Raketen, und nicht nur am Nationalfeiertag.« »Wir konnten sie natürlich nicht ausfragen«, sagte Mrs. Forbes. »Sie hatten so irgendwas Eigentümliches an sich, das spürte ich.« Ihr Mann nickte. »Und sie hatten auch Angst.« »Hast du Angst, Jackson?« »Ich weiß nicht«, sagte er, »aber es gibt keine anderen Forbes. Nicht in der Gegend jedenfalls. Charlie ist der nächste, und er wohnt fünf Meilen weg. Und sie sagten doch, sie seien nicht weit gegangen.« »Was willst du tun?« fragte sie. »Was können wir tun?« »Ich weiß nicht recht«, sagte er. »Vielleicht fahre ich in die Stadt und rede mit dem Sheriff. Die Kinder müssen sich verirrt haben. Sicher sucht irgend jemand nach ihnen.« »Aber sie verhalten sich nicht so, als hätten sie sich verirrt«, entgegnete sie. »Sie wußten, daß sie hierher wollten. Sie
wußten, daß wir hier sind. Sie sagen, ich sei ihre Großmutter, und sie fragten nach dir und nannten dich Großvater. Und sie sind so selbstsicher. Sie verhalten sich nicht wie Fremde. Man hat ihnen von uns erzählt. Sie sagten, sie würden nur kurze Zeit bleiben, und so verhalten sie sich auch. Wie wenn sie auf Besuch hier wären.« »Ich glaube«, sagte Jackson Forbes, »ich werde nach dem Frühstück Nellie anspannen und in der Nachbarschaft herumfragen. Vielleicht gibt es da jemand, der uns etwas sagen kann.« »Der Junge sagte, sein Vater sei Temporal-Ingenieur. Das verstehe ich nicht. Temporal ist doch das Gegenteil von ewig und bedeutet weltlich und…« »Vielleicht war es ein Scherz«, sagte ihr Mann. »Etwas, was der Vater scherzhaft sagte und der Sohn dann ernst nahm.« »Ich glaube«, sagte Mrs. Forbes, »ich gehe einmal hinauf und sehe nach, ob sie schlafen. Ich habe die Lampen ganz niedrig gedreht. Die beiden sind ja so klein, und das Haus ist ihnen so fremd. Wenn sie schlafen, blase ich die Lampe aus.« Jackson Forbes nickte und knurrte dann: »Gefährlich, nachts das Licht brennen zu lassen. Gibt zu leicht ein Feuer.«
Flach auf dem Rücken liegend, schlief der Junge den tiefen, gesunden Schlaf des Kindes. Als er sich auszog, um zu Bett zu gehen, hatte er seine Kleider auf den Boden geworfen, aber jetzt waren sie sauber zusammengelegt auf dem Stuhl, wo Mrs. Forbes sie hingehängt hatte, als sie gekommen war, um gute Nacht zu sagen. Die Tasche stand neben dem Stuhl. Sie war offen; die beiden Streifen gezähnten Metalls schimmerten matt im schwachen Licht der Lampe. In ihrem dunklen Inneren war ein
Durcheinander von Gegenständen zu erkennen. So durfte es in einer Tasche nicht aussehen. Sie bückte sich, nahm die Tasche, stellte sie auf den Stuhl und griff nach dem Metallstückchen, um sie zu schließen. Zumindest, sagte sie sich, sollte sie zu sein und nicht offen bleiben. Sie nahm das Metallstückchen und zog es an dem Metallstreifen entlang, bis es von einem hervorstehenden Gegenstand auf gehalten wurde. Sie sah, daß es ein Buch war und versuchte, es so zu drehen, daß sie die Tasche verschließen konnte. Dann bemerkte sie die schwach schimmernde Goldschrift des Titels auf dem Ledereinband – die Heilige Bibel. Ihre Finger nahmen das Buch. Sie zögerte einen Moment und zog es dann langsam heraus. Es war in teures, schwarzes, vom Alter ein wenig stumpf gewordenes Leder gebunden. An den Kanten hatte es Sprünge und Risse, und das Leder war vom langen Gebrauch etwas abgegriffen. Der Goldschnitt der Seiten war verblichen. Zögernd öffnete sie das Buch. Das Deckblatt trug in alter, verblichener Tinte die Inschrift: Für Schwester Ellen von Amelia 30. Okt. 1896 Mit vielen herzlichen Glückwünschen Sie fühlte, wie ihre Knie weich wurden, und ließ sich vorsichtig neben dem Stuhl zu Boden sinken. Noch einmal las sie die Inschrift. 30. Oktober 1896 – das war ihr Geburtstag. Indessen – sie hatte ihn noch nicht gefeiert, denn jetzt war erst Anfang September 1896. Und die Bibel – wie alt war die Bibel, die sie da in der Hand hielt? Hundert Jahre; vielleicht mehr als hundert Jahre.
Eine Bibel, dachte sie, genau die Art von Geschenk, die Amelia ihr machen würde. Aber es war ein nicht gemachtes Geschenk, eines, das noch nicht hatte gemacht werden können, denn der Tag auf dem Deckblatt würde erst in über einem Monat sein. Es war natürlich undenkbar. Irgendein dummer Scherz. Oder ein Irrtum. Oder vielleicht ein Zufall. Irgendwo anders hieß jemand anderer Ellen und hatte auch eine Schwester namens Amelia, und das Datum war ein Versehen – irgend jemand hatte sich im Jahr geirrt. So etwas konnte passieren. Aber sie war nicht überzeugt. Die Kinder hatten gesagt, ihr Name sei Forbes, und sie waren direkt hierher gekommen, und Paul hatte von einer Landkarte gesprochen, mit deren Hilfe sie den Weg gefunden hatten. Vielleicht waren noch andere Sachen in der Tasche. Sie sah sie an und schüttelte den Kopf. Sie durfte nicht heimlich darin herumsuchen. Es war falsch gewesen, die Bibel herauszunehmen. Am 30. Oktober würde sie neunundfünfzig sein – eine alte Farmersfrau mit verheirateten Söhnen und Töchtern und Enkeln, die sie an Wochenenden und Feiertagen besuchten. Und sie hatte eine Schwester Amelia, die ihr in diesem Jahr 1896 eine Bibel zum Geburtstag schenken würde. Ihre Hände zitterten, als sie die Bibel zurück in die Tasche steckte. Sie würde hinuntergehen und mit Jackson reden. Er konnte irgendeine Idee haben und würde wissen, was zu tun war. Sie verstaute das Buch in der Tasche und zog an dem Metallstückchen, und die Tasche war zu. Sie stellte sie wieder auf den Boden und warf dann einen Blick auf den Jungen im Bett. Er schlief noch immer, und sie blies die Lampe aus. Im daneben gelegenen Zimmer schlief Ellen, wie ein Baby auf dem Bauch liegend. Die niedrige Flamme der Lampe
flackerte im leichten Luftzug, der durch das offene Fenster kam. Ellens Tasche war zu und stand sauber aufgeräumt neben dem Stuhl. Die Frau besah sie sich und zögerte einen Moment. Dann ging sie um das Bett herum zu dem Nachttischchen, auf dem die Lampe stand. Die Kinder schliefen, und alles war gut, und sie würde das Licht ausblasen und hinuntergehen und mit Jackson reden und vielleicht würde es nicht nötig sein, daß er am Morgen Nellie anspannte und herumfuhr, um die Nachbarn zu fragen. Als sie sich hinunterbeugte, um die Lampe auszublasen, sah sie auf dem Tisch das Kuvert mit den beiden bunten Briefmarken in der rechten oberen Ecke. So hübsche Marken, dachte sie, so schöne habe ich noch nie gesehen. Sie schaute noch genauer hin und las den Namen des Landes, der auf den Marken stand. Israel. Aber in Wirklichkeit gab es kein solches Land. Es war ein biblischer Name, aber kein existierendes Staatsgebiet. Und wenn es kein solches Land gab, woher konnten dann die Briefmarken kommen? Sie nahm das Kuvert und betrachtete noch einmal die Marke, um sicherzugehen, daß sie richtig gesehen hatte. So eine hübsche Briefmarke! Ellen sammelt sie, hatte Paul gesagt. Sie klaut immer Briefe, die anderen Leuten gehören. Der Briefumschlag trug einen Stempel, wahrscheinlich auch ein Datum, aber es war undeutlich und verwischt, so daß sie es nicht lesen konnte. Wo der Umschlag aufgerissen worden war, stand der Rand des Briefbogens ein wenig hervor, und hastig und mit einem eisigen Gefühl der Furcht ums Herz zog sie ihn heraus. Es war, wie sie jetzt sah, nur das Ende eines Briefes, nur die letzte Seite davon, nicht mit der Hand geschrieben, sondern in
Druckbuchstaben – ähnlich denen in der Zeitung oder in einem Buch. Vielleicht einer von diesen neumodischen Apparaten, dachte sie, wie man sie jetzt in den großen Büros in der Stadt benutzte und von denen sie gelesen hatte. Schreibmaschine – nannte man sie nicht so? Glaube nicht, hieß es auf dieser Seite, daß Dein Plan durchführbar ist. Es fehlt die Zeit. Die Fremden rücken immer näher und werden uns nicht genügend Zeit lassen. Und selbst wenn er durchführbar wäre, ist da noch der ethische Gesichtspunkt zu bedenken. Wir können nicht einfach in die Vergangenheit zurückgehen und den Leuten von vor einem Jahrhundert guten Gewissens unsere Probleme aufbürden. Überlege doch, welche Schwierigkeiten sich für sie ergeben würden; ich nenne nur die wirtschaftliche Verwirrung und den psychologischen Effekt. Wenn Du glaubst, daß Du zumindest die Kinder zurückschicken mußt, denke einen Moment an den Schock, den diese beiden alten Seelen erleiden werden, wenn sie die Wahrheit erkennen. Sie leben in einer heimeligen, soliden und gesunden Welt. Die Auffassung unseres verrückten Jahrhunderts würde alles zerstören, was sie haben und woran sie glauben. Aber es steht mir wohl nicht zu, Dir Vorhaltungen zu machen. Ich habe getan, worum Du mich batest. Ich habe Dir alles geschrieben, was ich über unsere Vorfahren auf dieser Farm in Wisconsin weiß. Als Familienhistoriker bin ich sicher, daß meine Fakten stimmen. Verwende sie, wie Du es für richtig hältst, und Gott sei uns allen gnädig. Dein Dich liebender Bruder, Jackson. PS. Ein Vorschlag. Wenn Du die Kinder wirklich zurückschickst, könntest Du ihnen eine ausreichende Menge
des neuen Krebsverhütungsmittels mitgeben. Ur-Urgroßmutter Forbes starb 1904 an dieser Krankheit, hinter der ich Krebs vermute. Wenn sie dieses Mittel bekommt, könnte sie noch zehn bis zwanzig Jahre leben. Und was, so frage ich Dich, mein Bruder, würde das für diese chaotische Zukunft bedeuten? Ich gebe nicht vor, es zu wissen. Es könnte uns retten. Es könnte uns schneller zu Tode bringen. Es könnte überhaupt keine Wirkung haben. Die Lösung des Rätsels überlasse ich Dir. Wenn ich meine jetzige Arbeit beenden und von hier los kommen kann, werde ich beim Ende bei Dir sein. Mechanisch steckte sie den Brief in den Umschlag zurück und legte ihn neben der Lampe auf den Tisch. Langsam ging sie zum Fenster, das zu dem verlassenen Weg hinausging. Sie werden kommen und uns holen, hatte Paul gesagt. Aber würden sie jemals kommen? Konnten sie überhaupt noch kommen? Sie bemerkte in sich den Wunsch, daß sie kommen würden. Diese armen Leute, diese armen, verängstigten Kinder aus einer so anderen Zeit. Blut von meinem Blute, dachte sie, Fleisch von meinem Fleisch, so viele Jahre entrückt. Aber immer noch ihr Fleisch und Blut, ganz gleich, wie weit entfernt. Nicht nur diese beiden, die heute nacht unter ihrem Dach schliefen, sondern auch alle anderen, die nicht zu ihr gekommen waren. In dem Brief war von Krebs die Rede gewesen und von 1904, und das war in acht Jahren – da würde sie eine sehr alte Frau sein. Und die Unterschrift lautete Jackson – ein alter Familienname? fragte sie sich. Immer weitergegeben über eine lange Reihe von Leuten, die den Namen Jackson Forbes trugen?
Ihre Glieder waren ganz steif und taub. Später würde sie Angst bekommen. Später würde sie sich wünschen, den Brief nicht gelesen zu haben und nichts zu wissen. Aber jetzt mußte sie hinuntergehen und mit Jackson reden, so gut es ging. Sie durchquerte das Zimmer, blies die Lampe aus und trat auf den Gang hinaus. Eine Stimme kam aus der offenen Tür gegenüber. »Großmutter, bist du das?« »Ja, Paul«, antwortete sie. »Was kann ich für dich tun?« Im fahlen Licht des Mondes sah sie ihn neben dem Stuhl kauern und in der Tasche herumsuchen. »Ich vergaß«, sagte er. »Ich habe da etwas, von dem Papa sagte, ich solle es dir sofort geben.«
Originaltitel: OVER THE RIVER AND THROUGH THE WOODS Copyright © 1965 by Ziff-Davis Publishing Co. Aus AMAZING STORIES
James H. Schmitz PLANET DES VERGESSENS
Im günstigsten Fall, dachte Major Wade Colgrave mit einem nachdenklichen Blick auf seine schmutzigen Stiefelspitzen, war Gedächtnisverlust eine unangenehme Erfahrung. Sich aber wie er auf einem felsigen Bergrücken einer unbekannten, offenbar unbewohnten Welt wiederzufinden und trotz offenbar gut funktionierenden Denk-Tanks keine Ahnung zu haben, wie man dort hingelangt war, war mehr als unangenehm. Es konnte tödlich sein. Die unmittelbare Situation sah nicht allzu gefährlich aus. Er konnte vielleicht von einer hiesigen Krankheit befallen werden, deren Symptome sich alsbald äußern würden, aber das war unwahrscheinlich. Ein Agent der Auswärtigen Abteilung des militärischen Geheimdienstes der Erde wurde schon in einem frühen Stadium seiner Karriere gegen jede mögliche Form von Infektion immunisiert. Im übrigen herrschte reges Treiben einer Vielzahl fremdartiger Lebensformen. Manche sahen groß genug aus, um einen Menschen fressen zu können – was sie vielleicht auch tun würden, wenn sie ihn bemerkten. Aber die Waffe in seinem Halfter würde ausreichen, um Raubtieren, die ihm zu nahe kamen, solche Ideen auszutreiben. Als er ein paar Minuten zuvor bemerkt hatte, daß er eine solche Waffe besaß, hatte er sie automatisch überprüft. Es war ein von einem Dutzend terranischer Kolonien und ExKolonien hergestellter Standard-Militärtyp. Eine
Herkunftsbezeichnung trug sie nicht, doch war im Augenblick wichtiger, daß die Munitionsanzeige volle Ladung auswies. Was war nur passiert, daß er hatte hierher geraten können? Der Gedächtnisverlust, auf welche Weise auch immer er ihn befallen hatte, nahm seltsame Formen an. Er hatte keine Fragen über seine Identität. Er wußte, wer er war. Außerdem schien sein Gedächtnis bis zu einem gewissen Punkt – praktisch bis zu einer bestimmten Sekunde seines Lebens – normal zu sein. Er war auf der Erde gewesen und angewiesen worden, sich sofort im Büro Jerry Redmans, seines unmittelbaren Vorgesetzten, zu melden. Und er ging gerade einen Korridor im achtzehnten Stock des Hauptquartiers entlang und hatte nur noch zehn Meter bis zu Redmans Tür – und da setzte seine Erinnerung einfach aus. Zwischen diesem Augenblick und dem Moment, als er sich plötzlich hier wiederfand, hatte er alles aus dem Gedächtnis verloren. Vermutlich hatte Redman einen neuen Auftrag für ihn; und wahrscheinlich war er eingewiesen worden und hatte sich dann an die Arbeit gemacht. Wenn sein Gedächtnis nur dreißig Minuten weiter gereicht hätte, er hätte eine ganze Handvoll Hinweise darauf gehabt, was inzwischen geschehen war. Aber er konnte sich an überhaupt nichts erinnern. Es war nicht so, daß ihm viele Jahre fehlten; wenn er überhaupt inzwischen gealtert war, konnte er nichts davon feststellen. Einige Monate konnten indessen leicht verstrichen sein, vielleicht sogar zwei oder drei Jahre… Hatte ihm jemand einen partiell wirksamen Erinnerungstilger eingegeben und ihn dann hier ausgesetzt? Nicht sehr wahrscheinlich. Natürlich gab es eine Reihe von Leuten, die zweifellos nichts dagegen hatten, wenn der Geheimdienst einer Begabung wie der seinen beraubt wurde. Aber derartiger Methoden würden sie sich nicht bedienen. Eine Kugel in den Kopf, und die Sache wäre erledigt gewesen.
Daß er aus einem Raumschiff, das den Landeversuch auf diesem Planeten nicht überstanden hatte, herausgeschleudert worden war, schien wahrscheinlicher. Vielleicht war er als einziger Überlebender in leichter Sinnesverwirrung von dem Wrack weggetaumelt. Wenn es so war, konnte es noch nicht lange her sein. Er war durstig, hungrig, schmutzig und unrasiert. Aber weder er noch seine Kleidung sahen so aus, als hätte er längere Zeit als geistesgestörter Schiffbrüchiger auf einem wilden Planeten gelebt. Seine Kleidung hatte Schmutz- und von Pflanzen stammende Flecken, war aber in gutem Allgemeinzustand. Möglich, daß er in den Sumpf geraten war, der unter ihm am Fuße des Berges begann und sich nach rechts hin erstreckte, daß er dann hier herauf geklettert war und sich zum Trocknen hingesetzt hatte. Tatsächlich hatte er irgendwie die Vorstellung, daß er schon etwa eine Stunde so dasaß und umnebelt in die Weite geblickt hatte, bevor er plötzlich seiner selbst und seiner Umgebung bewußt geworden war. Colgraves Blick ging langsam über die Gegend, suchte nach einem glänzenden Raumschiff oder irgendwelchen Zeichen menschlicher Gegenwart. Im Augenblick hatte es keinen Sinn, wegzugehen, bevor er nicht wußte, in welche Richtung. Hier hatte er einen ausgezeichneten Blick auf eine ziemlich wenig bemerkenswerte Welt. Die gelbe Sonnenscheibe war etwas größer als die der Erdensonne. Er hatte jetzt das Gefühl, daß sie höher über dem Horizont gestanden hatte, als er sie zuerst wahrnahm, was bedeuten würde, daß es jetzt Nachmittag war. Es war warm, aber nicht übermäßig; jetzt bemerkte er auch, daß Atmosphäre und Gravitation ihm keinerlei Beschwerden verursachten. Er sah nichts, was von direktem Interesse für ihn war. Vor ihm und zu seiner Linken erstreckte sich eine dürre Ebene vom Fuß des Berges bis zum Horizont. Im Sumpfland zu seiner
Rechten waren da und dort dunkle Wasserflächen durch die dicke Vegetation zu sehen. Weiter oben wuchs ein dichter Wald aus grüngrauen Bäumen, der bis auf eine Entfernung von mehreren hundert Metern die Bergflanken bedeckte. Um ihn herum war felsiger Grund, unterbrochen nur von spärlichem Gestrüpp. Das ziemlich reichhaltige Tierleben, das er wahrnahm, war außerordentlich vielgestaltig und für seine Begriffe von geringer äußerer Schönheit. Drunten am Rand der Sümpfe standen Herden verschiedener Arten friedlich durcheinander und widmeten sich der Vertilgung der Vegetation. Ein seltsames, grünes, massiges Geschöpf, das aussah wie wandelndes Gemüse und etwa Mannshöhe hatte, bewegte sich langsam auf kurzen Hinterbeinen. Es benutzte paarige Vorderglieder, um Blätter und ganze Pflanzen in seinen klumpigen Kopf zu stopfen. Die meisten der anderen Tiere waren Vierbeiner. Nur eine fleischfressende Art war aktiv… Ein hundegroßes Tier mit stockdünnem Körper und einem langen, sich wiegenden Hals, auf dem ein runder Katzenkopf saß. Ein paar davon durchstreiften zielbewußt das hohe Gras zwischen dem Sumpf und der Ebene, offenbar hinter kleinerer Beute her. Die anderen Raubtiere, die Colgrave sehen konnte, warteten wohl auf den Anbruch der Nacht, bevor sie etwas für ihre Abendmahlzeit taten. Ein halbes Dutzend schwerer, löwenartiger Bestien lag gesellig in der offenen Ebene und schien ein Sonnenbad zu nehmen. Etwas Dunkles, viel Größeres kauerte im Schatten eines Baumes auf der anderen Seite des Sumpfes und beobachtete die äsenden Herden, machte aber keine Anstalten, sich ihnen zu nähern. Die einzige eine Eidechse an Größe übertreffende Lebensform auf den Hängen in seiner Nähe war ein grauer kleiner Hüpfer, der mit nervöser Plötzlichkeit von einem
Gestrüpp zum anderen sprang. Sie schienen jüngere Artgenossen des grünen Zweibeiners drunten am Sumpf zu sein. Sie waren dreißig Zentimeter bis einen Meter groß und aktiver als ihre älteren Artgenossen; hin und wieder beugten sich zwei oder drei von ihnen unbeholfen um einen Busch herum wie spielende dicke Junghunde. Dann rissen sie wieder Blätter von den Büschen und stopften sie in die Mundschlitze ihrer Köpfe, die sonst keine erkennbaren Züge aufwiesen. Eines davon, das eifrig fraß, war nur ein paar Meter unter ihm. Es bekundete keinerlei Interesse an dem Besucher von der Erde. Wie er die Sache auch betrachtete, mehr als etwa fünfzehn Stunden konnte er noch nicht allein in dieser Welt herumgestolpert sein. Und er konnte sich keine Umstände vorstellen, unter denen er absichtlich hier hätte ausgesetzt worden sein können. Deswegen mußte sich im Umkreis von fünfzehn Stunden irgend etwas – ein Schiff, ein Lager, eine Geheimdienst-Außenstelle, eine Ansiedlung – befinden, von wo er aufgebrochen war. Wenn es ein Schiff war, war es vielleicht ein geborstenes Wrack. Aber sogar ein Wrack würde ihm Obdach, Nahrung, ja vielleicht sogar eine Möglichkeit bieten, SOS in den Raum zu funken. Vielleicht gab es sogar noch einen anderen Überlebenden. Wenn nicht, konnte ihm eine Untersuchung des Schiffes Hinweise darauf geben, was geschehen war und warum er sich hier befand. Was auch immer er finden würde, er mußte zu seinem Ausgangspunkt zurück… Colgrave erstarrte. Dann stieß er einen Fluch aus, entspannte sich etwas, saß still. Auf seinem Gesicht war ein Ausdruck starker Konzentration. Während seine Aufmerksamkeit ganz dem unmittelbaren Problem zugewandt war, war still und unbemerkt ein Teil
seiner verlorenen Erinnerung zurückgekehrt. Sie setzte in dem Augenblick ein, als er durch den Korridor zu Redmans Büro ging, erstreckte sich über ein paar weitere Monate und endete dann ebenso absolut wie zuvor. Er wußte immer noch nicht, warum er in dieser Welt war. Aber er spürte, daß er der Antwort jetzt nahe war – sehr nahe vielleicht sogar.
Die Lorn-Welten, Imperial Rala, die Sigma-Akte… Imperial Rala, der Störenfried, vor zwei Jahrhunderten die entfernteste der verstreuten frühen Erdkolonien, jetzt eine mächtige Schwerindustrie-Zivilisation, die bereits seit einiger Zeit hatte erkennen lassen, daß sie die Erde als führende interstellare Macht zu verdrängen beabsichtigte. Sie hatte eine Anzahl anderer Ex-Kolonien geringerer Bedeutung geschluckt und sich dann auf die nahegelegenen Lorn-Welten als erstes bedeutendes Eroberungsziel konzentriert. Colgrave war vor einigen Jahren auf die Lorn-Welten entsandt worden. Zu dieser Zeit hatten die Lornesen versucht, Rala zu beschwichtigen und jegliche Hilfe von seiten der Erde zurückgewiesen. Redman hatte ihn an jenem Tag in sein Büro gebeten, um ihm mitzuteilen, daß eine grundlegende Veränderung der lornesischen Politik eingetreten war. Man schickte ihn zurück. Imperial Rala bereitete eine Generalinvasion vor, und die Lorn-Welten hatten um Hilfe gebeten. Die Streitkräfte der Erde konnten nicht in genügender Stärke mobilisiert werden, um einem massiven Vorstoß in diesem fernen Teil des Raums widerstehen und die erwartete Invasion abwehren zu können. Wenn sie kam, würden die Lorn-Welten hinhaltenden Widerstand leisten und so langsam wie möglich zurückweichen, bis Hilfe kam. Bis zum Zeitpunkt ihres
Eintreffens würden sie durch die überlegene Stärke Imperial Ralas völlig von der Erde abgeschnitten sein. Colgrave arbeitete fast drei Monate lang mit lornesischen Geheimdienstleuten und arbeitete die Sigma-Akte aus. Codiert enthielt diese alles, was an bis dahin zurückgehaltener Information über Rala zusammengetragen werden konnte. Jahrzehntelang hatten sich die Lornesen fast ausschließlich mit den Aktivitäten ihres bedrohlichen Nachbarn und mit ihren eigenen Verteidigungsplänen beschäftigt. Die Akte würde für die Strategie der Erde von immenser Wichtigkeit sein. Für Rala war ihr Besitz von ebenso großer Bedeutung. Colgrave startete schließlich in einem lornesischen Kurierfahrzeug, um die Akte zur Erde zu bringen. Das Fahrzeug war ein sehr schnelles kleines Schiff, das schon allein auf Grund seiner Geschwindigkeit kaum abzufangen war. Als zusätzliche Vorsichtsmaßregel sollte es einen Kurs nehmen, der ein Zusammentreffen mit Rala-Patrouillen ausschließen würde. Eine Woche später stieß dem Schiff etwas zu. Was es war, wußte Colgrave noch nicht. Mit ihm waren drei weitere Männer an Bord gewesen: Die beiden Piloten-Navigatoren und ein Ingenieur-Offizier. Es waren ausgesuchte Männer, und Colgrave hatte keinen Zweifel an ihren Fähigkeiten. Er wußte flicht, ob sie über die Art seiner Mission informiert waren; die Sprache kam nicht darauf. Es hätte eine ereignislose, schnelle Heimreise werden müssen. Als einer der lornesischen Piloten Colgrave in die Steuerkabine bat, um ihm zu sagen, daß ein anderes Schiff dem Kurierfahrzeug folgte, hatte der Mann keine ernstliche Besorgnis erkennen lassen. Auf dem Bildschirm konnten sie ihren Verfolger identifizieren: Es war ein ralanischer Jagdkreuzer der Talada-Klasse, mit der zehnfachen Tonnage des Kuriers, aber immer noch ein relativ kleines Schiff.
Wichtiger noch: Ein Talada konnte die Geschwindigkeit des Kurierschiffs nicht annähernd erreichen. Trotzdem gefiel Colgrave die Sache nicht sehr. Man hatte ihm versichert, daß die Wahrscheinlichkeit einer Begegnung mit ralanischen Schiffen in diesem Gebiet verschwindend gering sei. Von Natur und Ausbildung her mißtraute er Zufällen. Allerdings konnte er den Lauf der Dinge nicht beeinflussen. Die Piloten trafen bereits alle Vorbereitungen, um auf Notgeschwindigkeit zu gehen, und er selbst konnte im Augenblick nicht das geringste tun. Er beobachtete die Operation. Der eine Pilot sprach über Intercom mit dem Ingenieur; der andere steuerte. Dieser zweite Mann war es, der plötzlich einen erschreckten Schrei ausstieß. Fast im gleichen Augenblick schien das Schiff von einer riesigen Faust nach links gerissen zu werden. Colgrave flog aus seinem Sitz. Gleich würde er schwer gegen das Schott zu seiner Rechten schlagen – dieser Gedanke schoß ihm noch durch den Kopf… Genau an diesem Punkt setzte seine Erinnerung wieder aus. »Fleegle!« ertönte ein schriller Schrei. »Fleegle! Fleegle! Fleegle!« Colgrave fuhr zusammen und starrte in die Richtung, aus der der Ruf kam. Es war der kleine grüne Zweibeiner gewesen, der sich ihm am nächsten befand. Er hatte sich ihm zugewandt und ließ ihn nicht aus den Augen. Vermutlich hatte er ihn eben erst bemerkt und seinem Erschrecken Ausdruck gegeben. Erregt wedelte er mit seinen stummeligen Vordergliedern auf und ab. Weiter unten stimmten mehrere seiner Artgenossen in seine Fleegle-Rufe ein. Andere verharrten gespannt und wachsam. Wahrscheinlich hatten sie irgendwo in ihren faltigen Kugelköpfen eine Art von Augen; jedenfalls schienen jetzt alle zu ihm heraufzustarren.
»Fleegle! Fleegle! Fleegle!« Unter ihm schien jetzt der ganze Hang lebendig zu werden von schrillen Stimmen und aufgeregt wedelnden Vordergliedern. Colgrave wandte sich um und sah über die Schulter den Hang hinauf. Er holte seine Waffe aus dem Halfter, während er aufstand. Ein Dutzend Meter von ihm entfernt blieb das Ding, das von oben herab auf ihn zugekommen war, plötzlich stehen. Es war ebenfalls ein Zweibeiner, doch von ganz anderer Art – – fleckig grauschwarz und seltsam widerwärtig aussehend. Etwa zwei Meter vierzig groß, mit langen, schmalen, krallenbewehrten Gliedern und einem wie ein aufgeplusterter Sack wirkenden, relativ kleinen Körper. Der runde schwarze Kopf auf dem Körper wirkte fast fleischlos, wobei die scharfen, knochenweißen Zähne ebenso unbedeckt waren wie die eines Totenschädels. Zwei runde gelbe, ein paar Zentimeter über den Zähnen liegende Augen starrten Colgrave unverwandt an. Er spürte einen Schauder des Widerwillens. Dies war offenbar ein fleischfressendes Tier und hätte ihm gefährlich werden können, wenn er nicht durch das Fleegle-Geschrei alarmiert worden wäre. Trotz seines knochigen Aussehens mußte das Tier erheblich über zwei Zentner wiegen, und seine Zähne und Klauen ließen es als furchterregenden Angreifer erscheinen. Vielleicht war es aus dem Gehölz heruntergekommen, um eines der kleinen Tiere zu erlegen, und hatte Colgrave nicht bemerkt, bis dieser aufstand. Doch jetzt galt ihm seine ganze Aufmerksamkeit. Bewegungslos wartete er, die Waffe in der Hand und nicht allzusehr besorgt – ein paar Schüsse würden genügen, um diesen qualligen Körper in Fetzen zu reißen. Dennoch hoffte er, das Tier würde ihn in Ruhe lassen. Es war ein wandelnder Alptraum, und ein Konflikt mit unbekannten Lebensformen
brachte immer ein gewisses Risiko mit sich. Es war ihm lieber, wenn er nichts damit zu tun hatte. Die Fleegle-Schreie hatten sich inzwischen etwas gelegt. Aber jetzt machte der zahnige Zweibeiner einen langen, gleitenden Schritt vorwärts, und sofort begann das Geschrei von neuem. Vielleicht mochte es den Lärm nicht, oder es war vor allem an Colgrave interessiert: Jedenfalls öffnete es das Maul, als wolle es ein wütendes Knurren ausstoßen, und machte sich dann mit langen, gemächlichen Spinnenschritten den Hang entlang nach rechts davon, wobei es die runden gelben Augen nicht von Colgrave wandte. Das Geschrei legte sich, als der Feind sich zurückzog. Als er etwa zwanzig Meter entfernt war, wurde es wieder ruhig. Jetzt ging der Zweibeiner hangabwärts, vorsichtig zwischen den Felsbrocken hindurchschreitend wie ein langbeiniger, scheußlich aussehender Vogel. Colgrave aber wußte jetzt, daß das Tier es auf ihn abgesehen hatte; und diese langen Beine würden blitzschnell auf ihn losfahren, wenn es sich zum Angriff entschloß. Er entsicherte seine Waffe. Die Fleegles waren jetzt still, und er konnte das schabende Geräusch hören, welches das Ding verursachte, wenn sein Maul auf- oder zuging… Es machte sich Mut, dachte Colgrave, um sich auf das unbekannte Geschöpf zu stürzen, dem es unversehens begegnet war. Als es auf gleicher Höhe mit ihm war, ließ es ein langgezogenes Knurren hören. Dann drehte es sich ihm zu, hob seine Vorderklauen in eine seltsam an einen Boxer erinnernde Position, zögerte einen Moment und kam dann rasch auf ihn zu. Hinter sich hörte Colgrave schrilles Pfeifen der Fleegles, als er seine Waffe anlegte. Er würde das Ding auf halbe Entfernung herankommen lassen, nahm er sich vor, und es dann niederstrecken…
Fast im gleichen Moment sah er den großen Zweibeiner tolpatschig über einen Stein stolpern. Er gab einen erschrockenen, jaulenden Laut von sich und versuchte noch, mit einer schnellen Bewegung der Vorderglieder sein Gleichgewicht wiederherzustellen; dann fiel er mit dumpfem Aufschlag aufs Maul. Sofort trat Stille ein. Die Fleegles schienen die Szene ebenso gespannt zu verfolgen wie Colgrave. Langsam setzte sich der Zweibeiner auf. Er schien benommen zu sein. Er schüttelte den scheußlichen Kopf, ließ einen jammernden Laut hören und sah sich suchend um. Dann fanden die gelben Augen Colgrave. Sogleich sprang der Zweibeiner wieder auf, und Colgrave brachte hastig seine Waffe wieder in Anschlag. Aber das Ding griff ihn jetzt nicht mehr an. Es wandte sich, ab und eilte den Hang hinauf, wobei es immer wieder denselben Klagelaut wie Vorhin, als es gestürzt war, ausstieß. Es schien in Panik zu sein. Colgrave starrte ihm nach und kratzte sich nachdenklich das Kinn. Nach kurzem Zögern sicherte er seine Waffe und steckte sie zurück ins Halfter. Er war erleichtert, doch etwas ratlos. Der Zweibeiner war offenkundig kein ängstliches Tier. Er mußte ein gewisses Maß angeborener Wildheit besitzen, um diesen Drang zum Angriff auf ein Lebewesen zu verspüren, dessen Kampfstärke es nicht kannte. Aber warum dann diese plötzliche, fast lächerliche Flucht? Vielleicht glaubte es, daß er es irgendwie zu Boden geschlagen hatte, als es ihn angriff, aber dennoch… Colgrave zuckte die Achseln. Es war ja auch nicht so wichtig. Der Zweibeiner hatte jetzt fast den Kamm des Hügels erreicht und wandte sich dem grüngrauen Wald zur Linken zu. Sein Lauf hatte sich nicht merklich verlangsamt. Colgrave hatte es vom Hals.
Dann, als er den Blick über den felsigen Bergkamm schweifen ließ, schien eine nebelhafte Erinnerung in sein Gedächtnis zurückkehren. Stirnrunzelnd überlegte er. Erinnerte ihn die Silhouette mit den vielen aufrecht stehenden Felsblöcken dort oben an irgendeine Skyline? Schreckenslaut entfuhr ihm. Selbst einer Panik nahe, kletterte er einen Augenblick später hastig den steinigen Hang hinauf. Jenseits des Kammes, daran erinnerte er sich jetzt, lag ein flaches Tal. Und in diesem Tal war er – vor wievielen Stunden? – im Rettungsboot des ralanischen Talada mit der Sigma-Akte an Bord gelandet. Und jede Minute, die er seitdem umhergeirrt war, hatte ihn neuerlicher Gefangenschaft näher gebracht…
Er war so heftig gegen das Schott des lornesischen Kurierschiffes geflogen, daß er die Besinnung verlor. Als er wieder erwachte, war er als Gefangener an Bord des Talada. Er lag auf einer Pritsche angeschnallt, aber so locker, daß es nicht weh tat. Ihrer Einrichtung nach zu vermuten, handelte es sich um die Kabine eines Schiffsoffiziers. Das ließ unter anderem darauf schließen, daß sie wußten, wer er war. Jäger der Talada-Klasse hatten einen flüssigkeitsgefüllten Tank, in dem man mehrere hundert Menschen gleichzeitig wie Sardinen lagern und bis zur Rückkehr im Heimathafen halb bei Bewußtsein halten konnte. Ein normaler Gefangener wäre einfach dort verstaut worden. Sein Verdacht bestätigte sich bald. Ein braungebrannter Gentleman, der Colgrave beim Namen nannte und sich selbst als Colonel Ajoran, Geheimagent von Imperial Rala, vorstellte, kam in die Kabine. Er schickte die Wache hinaus, bot Colgrave eine Zigarette an und schilderte ihm kurz seine Situation.
Rala hatte Informationen über seine Mission auf den LornWelten bekommen und Vorsorge getroffen, daß der Kurier, der ihn mit der Sigma-Akte zurück zur Erde bringen sollte, auf jeder der möglichen Flugrouten abgefangen werden konnte. Der Ingenieur des Kurierfahrzeugs war ein ralanischer Agent, der eine Störung des Notantriebs herbeigeführt hatte, um ihr Entkommen zu verhindern. Zusätzlich hatte er ein lähmendes Gas abgeblasen, um Colgrave und die lornesischen Piloten außer Gefecht zu setzen, bis das Kurierschiff geentert werden konnte. Colgrave hatte bereits durch den Aufprall auf das Schott das Bewußtsein verloren; den Piloten waren indes’ noch einige Minuten Zeit geblieben. Der eine von ihnen hatte sich lieber erschossen, als sich von den Ralanern gefangennehmen zu lassen. Der andere hatte den Ingenieur erschossen, war mit Colgrave gefangengenommen worden und wurde jetzt zur Vergeltung seines unüberlegten Mordes an einem ralanischen Agenten zu Tode gefoltert. Colonel Ajoran bot Colgrave eine weitere Zigarette an und machte ein paar philosophische Bemerkungen über die Wechselfälle des Krieges. Dann kam sein Vorschlag. Es verlangte Colgraves sofortige Hilfe bei der Entzifferung der Sigma-Akte. Als Gegenleistung würde er dafür sorgen, daß Colgrave auf Imperial Rala wie ein vernünftiger Mensch behandelt würde, der begriffen hatte, daß ihm nichts anderes übrig blieb, als den ralanischen Interessen mit ebenso viel Einsatz zu dienen wie vorher denen der Erde. In diesem Falle, versicherte ihm Ajoran, würde er feststellen, daß Rala denen gegenüber, die ihm gute Dienste erwiesen, großzügig war. Nachdem er ihm zu verstehen gegeben hatte, daß ihr Gespräch nach dem Essen fortgesetzt werden würde, entschuldigte sich der Colonel, rief den Wächter wieder herein und verließ die Kabine.
Die folgende Stunde verbrachte Colgrave mit angestrengten Überlegungen. Er hatte etwas bemerkt, was ihm vielleicht schon bald von Nutzen sein mochte. Im Augenblick konnte er natürlich nur warten. Colonel Ajorans Plan war kühn, aber sinnvoll. Offensichtlich hatte er beim ralanischen Geheimdienst eine ziemlich hohe Position inne. Wenn er den Inhalt der Sigma-Akte in allen Einzelheiten kannte, würde er für die rivalisierenden Regierungsfraktionen, welche zu diesen Informationen ansonsten keinen direkten Zugang hatten, sofort zu einem sehr wichtigen Mann werden. So konnte er seine Position mit einem Streich noch beträchtlich verbessern. Nach Ablauf der Stunde erhielt er in seiner Kabine eine Mahlzeit serviert von einer Frau von etwas eigenartigem Aussehen, die jedoch bestimmt zu den Schönsten zählte, die er jemals gesehen hatte. Sie war sehr schlank; ihre Haut war fast ebenso milchweiß wie ihr kurzgeschnittenes Haar, und ihre Augen von so hellem Blau, daß sie bei jedem anderen Typ völlig farblos gewirkt hätten. Nichtsdestoweniger machte sie einen Eindruck von Vitalität und gezügelter Energie. Sie sagte Colgrave, sie sei Hace, Ajorans Dame, und daß sie es übernommen habe, sich um sein Wohlergehen zu kümmern, während er sich Ajorans Vorschlag überlegte. Sie plauderte weiter, bis Colgrave fertiggegessen hatte. Beim Kaffee gesellte sich auch der Colonel zu ihnen. Das Gespräch berührte die Thematik nur sehr indirekt, aber Colgrave hatte den Eindruck, daß Ajoran ihm eine Zusammenarbeit anbot. Er war einer von den militärischen Spitzenagenten der Erde und besaß Informationen von größter Bedeutung, die der Colonel auf Rala ausgezeichnet verwenden konnte. Colgrave würde faktisch zu Ajorans Mitarbeitern gehören und eine Behandlung erfahren, wie sie wertvollen Helfern gebührte. An Bord des Schiffes, gab man ihm zu verstehen, würde die Dame des Colonels zu den ihm gebotenen Annehmlichkeiten gehören.
Schließlich verließ ihn das Paar, wobei Ajoran bemerkte, daß die Schlafperiode des Talada begonnen habe. Keiner der beiden Colgrave zugeteilten Wächter erschien mehr in der Kabine – wie er inzwischen erfahren hatte, war sie ein Teil von Ajorans eigener Suite – und die Tür blieb geschlossen. Vermutlich wollte man ihn während der nächsten sieben Stunden ungestört seinen Gedanken überlassen. Colgrave blieb nicht lange wach. Als Mann mit Erfahrung wußte er um den Wert einer Ruhepause in einer StreßSituation. Seine augenblickliche Lage hatte er bereits so gründlich wie nötig durchdacht. Er hatte ein Minimalziel – die Zerstörung der Sigma-Akte – und er hatte bereits etwas bemerkt, was ihm dieses Ziel erreichbar erscheinen ließ, wenn er günstige Umstände abwartete. Darüber hinaus hatte er eine Reihe anderer Ziele mit jeweils sinkendem Grad der Durchführbarkeitswahrscheinlichkeit. Auch diese hatte er hinreichend bedacht. Andere Überlegungen brauchte er im Moment nicht anzustellen. Er streckte sich aus und schlief fast auf der Stelle ein. Als er einige Zeit später erwachte, fühlte er ein leichtes Prickeln im Genick. Einen Augenblick glaubte er, er träume etwas, woran er nicht gern hatte denken wollen. Zu seiner Rechten sah er Licht und hörte Wortfetzen… Unheimlich klingende Geräusche aus einer Kehle, die nicht mehr die Kraft zum Schreien besaß. Colgrave drehte seinen Kopf nach rechts. Er wußte, was er sehen würde. Auf einer Seite der Tür war die Wand nun zum Sichtschirm geworden; das Licht und das Flüstern kam von dort. Colgrave sagte sich, daß er eine Aufzeichnung sah, und daß der mit ihm gefangengenommene Lornesische Pilot schon seit Stunden tot war. Colonel Ajoran war ein praktisch denkender Mann, der diese Seite der Angelegenheit ohne unvernünftige
Verzögerung zu Ende gebracht haben würde, so daß er sich seinem weit wichtigeren Geschäft mit Colgrave voll widmen konnte. Die Einzelheiten der Vorgänge auf dem Schirm zeigten an, daß es bis zum Tod des Piloten nur noch wenige Minuten sein konnten. Langsam wurde es dunkel auf dem Schirm, und das Flüstern verstummte. Colgrave wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und wandte sich wieder ab. Für den Piloten hätte er absolut nichts tun können. Man hatte ihm nur ganz einfach die andere Alternative zu Ajorans Vorschlag gezeigt. Ein paar Minuten später schlief er dann wieder.
Als er das nächste Mal erwachte, war die Kabine beleuchtet. Die beiden Wachtposten waren da, von denen einer Colgraves Frühstück auf einem Wandtischchen bereitstellte. Der andere stand mit dem Rücken zur Tür, eine Nervenpistole in der Hand, den Blick von Colgrave gewandt. Frische Kleidung, die Colgrave als seine eigene, aus dem Kurierschiff herübergeholte erkannte, lag auf einem Stuhl. Der Teil der Wand, hinter dem sich das kleine, nebenan gelegene Badezimmer befand, war entfernt worden. Der erste Wächter war nun mit der Herrichtung des Frühstücks fertig und wandte sich mit säuerlicher Untertänigkeit an Colgrave. Colonel Ajoran lasse grüßen; er warte im anderen Teil der Suite und wolle Major Colgrave, nachdem er sich angekleidet und sein Frühstück eingenommen habe, dort empfangen. Nachdem er das ausgerichtet hatte, kam der Wächter herüber, um ihn von seinem Bett loszuschnallen. Der andere veränderte seine Position so, daß er den Gefangenen während des Vorgangs beobachten konnte. Dann verließen die beiden den Raum, und Colgraves Blick folgte ihnen nachdenklich.
Er duschte, rasierte sich, zog sich an und nahm dann in aller Ruhe sein Frühstück ein. Er konnte annehmen, daß die Zeit der indirekten Versprechungen und Drohungen jetzt vorüber war und Ajoran jetzt ohne Umschweife zur Sache kommen würde. Als Colgrave etwa eine halbe Stunde, nachdem man ihn losgeschnallt hatte, aus der Kabine trat, fand er seine Annahme bestätigt. Dieser Teil der Suite war beträchtlich größer als die Schlafkabine; der Colonel und Hace saßen rechts am anderen Ende des Raumes, und ein Wächter stand vor einer geschlossenen Tür, die sich etwas links von der Mitte der Suite befand. Vermutlich führte sie zu einem der Korridore des Talada. Auch dieser Wächter hatte eine Nervenpistole in der Hand; eine zweite lag auf einem Tischchen neben Ajoran. Hace saß an einem Aufzeichnungsapparat. Offensichtlich versah sie, wenn die Umstände es erforderten, die Aufgabe einer Sekretärin. In der Mitte des Raumes stand ein großer Tisch, auf dem sich Schreibmaterial, ein Bandleser sowie links davon die ungeöffnete Sigma-Akte befand. Als Colgrave den Raum betrat, erfaßte er sofort die Situation. Die Nervenpistolen zeigten ihm seinen augenblicklichen Status – sie würden ihn nicht verletzen, konnten ihn aber schmerzvoll lähmen und für Minuten völlig hilflos machen. Sein Verhalten würde jetzt zeigen müssen, daß er Ajorans Vertrauen verdiente. Und noch etwas wurde ihm klar: Die günstige Situation, auf die er zu warten beschlossen hatte, war jetzt da. Er ging zu dem Tisch und warf einen neugierigen Blick auf die Sigma-Akte. Sie hatte etwa die Größe und Form eines aufrecht stehenden Aktenkoffers. Mit einem Blick zu Ajoran sagte er dann: »Ich nehme an, Sie haben die Zerstörungsladung entfernt.« Ajoran lächelte dünn.
»Nachdem sie jetzt keinen vernünftigen Sinn mehr hat«, sagte er, »habe ich sie natürlich entfernen lassen.« Colgrave machte eine ironische Verbeugung. Mit einer schnellen Bewegung der linken Hand warf er die Sigma-Akte um. Ebensogut hätte er den drei anderen einen Messerstich versetzen können. Der Fall auf den Boden konnte die Akte nicht zerstören, aber die anderen waren zu nervös, um ihre Reaktionen noch völlig unter Kontrolle zu haben. Ajoran sprang mit einem lauten Ausruf hoch; selbst Hace erhob sich halb von ihrem Stuhl. Der Wächter handelte wirkungsvoller. Die Nervenpistole immer noch in der Faust, sprang er hinzu, fing die Akte, als sie über den Tischrand kippte, mit dem Unterarm und der freien Hand auf und stellte sie dann wieder auf ihren Platz. Colgrave trat hinter ihn. In den Jacken der beiden Wächter hatte er an der Hüfte Wölbungen festgestellt, die darauf schließen ließen, daß die beiden eine zweite Waffe trugen, wahrscheinlich vom Standard-Energietyp. Mit der Linken packte er den Mann an der Schulter; seine Rechte fuhr unter die Jacke, fand die Waffe, drehte sie nach oben und feuerte, während er den Wächter darüber beugte. Sein linker Arm kribbelte – Ajoran hatte versucht, ihn durch den Körper des Wächters hindurch mit der Nervenpistole zu treffen. Dann hatte Colgrave die Waffe frei, sah Ajoran von rechts auf sich zukommen und gab zwei zischende Schüsse ab, während der Wächter zu Boden sackte. Ajoran blieb plötzlich stehen, riß die Schlafkabinentür auf, sprang hinaus und schlug sie hinter sich zu. Hace, fast an der anderen Tür, blieb ebenfalls stehen, als Colgrave sich ihr zuwandte. Einen Augenblick sahen sie einander an. Dann ging Colgrave um den am Boden liegenden Wächter herum und zu ihr, die Pistole im Anschlag. Als er
noch drei Schritte von ihr entfernt war, schloß Hace die Augen und wartete mit hängenden Armen. Seine linke Faust versetzte ihr einen schmetternden Schlag ans Kinn, und sie fiel zu Boden wie eine Stoffpuppe. Colgrave drehte sich um. Der Wächter lag jetzt in wilden Zuckungen. Sein Gesicht zeigte, daß er tot war, doch würde es noch eine oder zwei Minuten dauern, bevor die Wirkung der Nervenladung nachließ. Die Dame des Colonels würde fürs erste nicht wieder zu sich kommen. Ajoran selbst… Colgrave starrte nachdenklich auf die Tür der Schlafkabine. Ajoran alarmierte dort draußen vielleicht gerade die Schiffsbesatzung. Möglicherweise besorgte er sich auch irgendeine Waffe, die ihm geeigneter erschien als eine Nervenpistole, und würde gleich wieder hereinkommen. Die Chance, daß er bleiben würde, wo er war, bis ihn jemand benachrichtigte, daß der wildgewordene Gefangene erledigt worden sei, standen jedoch nicht schlecht. Die höheren ralanischen Chargen hielten nicht viel davon, persönliche Risiken einzugehen, die man Untergebenen zuschieben konnte. Was auch immer passierte, sein Minimalziel konnte er jetzt jederzeit erreichen, sagte sich Colgrave. Ein einziger Energiestrahl durch die Sigma-Akte würde sie sofort in Rauch und Flammen aufgehen lassen. Und mehr, als daß er sie zerstörte und den Ralanern wegnahm, konnte man in dieser Lage vernünftigerweise nicht von ihm erwarten. Er warf einen Blick auf die vermutlich zu einem der Korridore des Talada führenden Tür und stellte fest, daß ihm nach Unvernunft zu Mute war. Er nahm die Sigma-Akte vom Tisch, trug sie zu dieser Tür und lehnte sie gegen die Wand. Eigentlich war zu erwarten gewesen, daß der zweite Wächter sofort hereingestürmt käme, als der Aufruhr in diesem Raum begann. Die Tatsache, daß das nicht der Fall war, ließ vermuten, daß man ihn entweder
weggeschickt hatte oder daß Ajorans Wände schalldicht waren. Wahrscheinlich das Letztere… Colgrave hob die Pistole, packte mit der Linken den Türknopf, drehte ihn plötzlich, riß die Tür auf. Der zweite Wächter stand draußen, doch hatte er kaum; noch Zeit, Colgrave einen erstaunten Blick zuzuwerfen. Colgrave schritt rasch den Korridor entlang, die Sigma-Akte in der linken Hand, die schußbereite Pistole in der rechten. Nun, da es vorüber war, fühlte er sich ein wenig zittrig. Den Umständen nach hätte er eigentlich mit der Erreichung seines Minimalziels zufrieden sein und die Akte zerstören müssen, bevor er einen weiteren Zusammenstoß mit einem Bewaffneten riskierte. Wäre er jetzt getötet worden, die SigmaAkte wäre unversehrt in den Besitz der Ralaner gekommen. Aber die anderen Ziele waren jetzt möglicherweise auch erreichbar, und er brachte es nicht über sich, die Akte zu vernichten, bevor ganz klar war, daß er alles getan hatte, was überhaupt möglich war. Er bewegte sich vorsichtiger, als er zu einer Ecke des Korridors kam. Dies war der Offiziersteil des Schiffes, und sein Aufbau basierte auf der Grundkonstruktion des Talada, an die er sich noch in groben Zügen erinnerte. Der Querkorridor war dreimal so breit wie der, in dem er sich jetzt befand… Vielleicht war es der Hauptgang, den er suchte. Er spähte, um die Ecke und zog den Kopf rasch wieder zurück. Etwa zehn Meter entfernt lag auf der anderen Seite eine breite Tür, und zwei Männer in Offiziersuniform gingen gerade in dem Moment hinein, als er hinüber sah. Colgrave holte lange und tief Atem. Sein nächstes Ziel schien auf einmal durchaus realisierbar zu sein. Er wartete ein paar Sekunden, sah dann wieder hinüber. Jetzt war der Korridor leer. Im Nu war er um die Ecke und bei der
Tür. Seine Vermutung war richtig gewesen. Eine kurze Treppe führte in den Steuerraum des Talada. Erkennen und Feuern war eins. Die Waffe in seiner Hand zischte wie eine wütende Katze, doch mehrere Sekunden vergingen, bevor irgendeiner der fünf oder sechs Männer dort unten begriff, daß er hier war. Doch da waren bereits zwei von ihnen tot. Sie hatten in seiner Schußrichtung gestanden. Die Steuerkonsolen, sein eigentliches Ziel, flogen in Fetzen davon. Jetzt richtete Colgrave die Waffe auf einen großen Kommunikator in einer Ecke. In diesem Augenblick entdeckte ihn jemand. Der Mann tat das einzig Vernünftige. Mit blitzschneller Handbewegung drückte er auf einen Knopf. Eine stählerne Panzerplatte schob sich in den Türrahmen und trennte Steuerkabine und Korridor. Colgrave rannte den Gang hinunter. Notsirenen ertönten. Der Talada heulte auf wie ein wundes Tier und rollte und bockte. Plötzlich war er in einem anderen Gang, hörte vor sich Schreie, lief in entgegengesetzter Richtung davon, stolperte um eine Ecke, lief atemlos eine steile, enge Treppe hinauf. Oben sah er wie in einem Wunschtraum die beleuchtete Schleuse. Zwei aschfahle Mannschaften versuchten, auf dem wild schwankenden und sich schüttelnden Deck umherstolpernd etwas, was wie eine schwere Kiste aussah, in sie hineinzuheben. Brüllend und mit wildem Blick die Pistole schwingend, stürzte Colgrave auf sie zu. Sie wandten sich um und liefen davon, als er an ihnen vorbei in die Schleuse sprang. Der Mann am Steuer des Rettungsbootes des Talada starb, bevor er überhaupt bemerkt hatte, daß jemand von hinten herankam. Colgrave warf die Sigma-Akte hinein, zerrte den Körper vom Sitz herunter und setzte sich selbst darauf…
Er war schon einige Flugminuten von dem havarierten Schiff entfernt, als er bemerkte, daß er wie ein Irrer lachte. Er war frei. Seine Chancen standen jetzt zweifelsfrei günstig. Die Frage war, wie lange sie mit der Reparatur brauchen würden, bevor sie sich an die Verfolgung machen konnten. Wenn er genügend Vorsprung erreichte, würden sie nicht wissen, wohin er steuerte, und die Gefahr, von ihnen gefaßt zu werden, bevor er in den Bereich der Erd-Patrouillen kam, war dann sehr gering. Zunächst aber ging es jetzt darum, das Rettungsboot für die lange Reise mit Brennstoff zu versorgen. Es lief mit Eisen, der Standardmaterie, und Colgrave überschlug, daß er genug für etwa fünfzehn Flugstunden an Bord hatte. Das war nicht wenig. Noch besser wäre es gewesen, wenn er den beiden Mannschaften noch hätte Zeit geben können, ein paar weitere Kisten mit Eisenbarren an Bord zu hieven, bevor er startete. Aber eine Überprüfung der stellaren Nachbarschaft ergab zwei Planeten in sieben und acht Stunden Entfernung, auf denen einem Menschen ein kurzer Aufenthalt ohne schweren Schaden oder Unbequemlichkeit möglich sein würde. Das Rettungsboot hatte die Standardausrüstung für Eisensuche und -raffinierung an Bord. Ein paar Stunden auf einem dieser beiden Planeten, und er würde bereit sein. Nachdem er die Leiche des ralanischen Piloten aus dem Schiff geworfen hatte, stellte er fest, daß die Fahrt zu dem sieben Stunden entfernten Planeten einen leichten Vorteil bot. Sobald der Talada wieder manövrierfähig war, konnte er genug Geschwindigkeit entwickeln, um beide Welten ohne nennenswerten Zeitverlust zu inspizieren. Seinen Brennstoffbedarf konnten die Ralaner sich ebenso gut ausrechnen wie er selbst. Wenn sie ihn ein holten, bevor er wieder startbereit war, würden die Detektoren des Jägers das
Rettungsboot mit größter Sicherheit entdecken, wo auch immer er es zu verstecken versuchte. Die Aussichten, daß seine Verfolger einfach nicht rasch genug zur Stelle sein würden, waren indessen sehr gut. Aber sein Minimalziel mußte er berücksichtigen. Colgrave entschloß sich, die Sigma-Akte, sobald er gelandet war, an irgendeinem leicht identifizierbaren Punkt zu verstecken, anschließend an einer anderen Stelle des Planeten seiner Eisenförderung nachzugehen und erst dann die Akte wieder an Bord zu nehmen. Damit würde er die Gefahr, mit ihr überrascht zu werden, fast völlig ausschalten…
Wieviele Stunden waren seitdem vergangen? Sich auf dem lockeren Boden mühsam zwischen Gestrüpp und Felsbrocken durcharbeitend, sah Colgrave einen Moment zur Sonne zurück. Wieder stand sie jetzt merklich tiefer, schien beinahe zusehends am Horizont zu verschwinden. Aber daraus konnte er keine Schlußfolgerung ziehen. Er erinnerte sich jetzt an die Landung; sie war bei Tageslicht erfolgt, und er war heruntergekommen, um die Sigma-Akte zu verstecken… hatte sie versteckt, wie ihm jetzt plötzlich einfiel. Und dann, die nächsten sechs oder zehn oder vierzehn Stunden hatte er in irgendeiner Art Betäubungszustand einfach hier darauf gewartet, den Talada die flammenspeienden Bremsraketen zünden zu sehen. Der Jäger konnte jeden Augenblick aufkreuzen. Es sei denn… Colgrave blockierte den Rest dieses Gedankens. Der Hang wurde jetzt flacher, je mehr er sich dem Bergkamm näherte; das letzte Stück rannte er mit keuchenden Lungen. Oben kletterte er hastig durch einen Felsriß. Einen Augenblick lang sah er das flache Tal auf der anderen Seite.
Er ließ sich abrupt zu Boden fallen. Sie waren schon da. Es war ein Schock, doch einer, den er mehr oder weniger erwartet hatte, wie er sich jetzt eingestand. Ein paar Sekunden später kroch er hinter einen schützenden Felsen, von wo aus er in das Tal hinunter schauen konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Der Talada war etwa hundert Meter jenseits des Rettungsbootes gelandet, vielleicht vor noch nicht einmal einer halben Stunde. Die Schleuse des kleineren Fahrzeugs stand offen; ein Mann kletterte jetzt heraus, gefolgt von zwei weiteren. Der letzte der drei schloß die Schleuse wieder, und sie machten sich auf den Weg zum Jäger, aus dem nun weitere Männer kamen. Ajoran hatte als erstes das Rettungsboot durchsuchen lassen, um sicherzugehen, daß sich die SigmaAkte nicht mehr an Bord befand. Ohne diese Verzögerung hätten sie ihn wohl schon gestellt, während er noch den Hang hinaufkletterte… Die Leute, die jetzt aus dem Talada kamen, waren für eine Jagd ausgerüstet; die meisten von ihnen trugen Schnellfeuergewehre auf dem Rücken. Sie nahmen neben dem Schiff Aufstellung, während ein keilförmiger Gegenstand durch die Schleuse herausgeschafft wurde. Er war etwa sechs Meter lang und maß an der Stelle seiner größten Breite etwa halb so viel. Neben dem Flügelmann der aufgestellten Reihe verharrte er knapp über dem Boden schwebend. Colgrave hatte solche Geräte bereits gesehen. Es war ein Menschensucher von einem Typ, wie er bei ralanischen Expeditionen gegen Ansiedlungen auf anderen Planeten häufig verwendet wurde. Kraftgenerator und Instrumente waren in der schlanken Spitze untergebracht; den größten Teil des Raumes nahm ein mit betäubender Konservierungsflüssigkeit gefüllter Tank ein, ähnlich den Gefangenenbehältern auf den Talada-Schiffen. Er konnte
ebensogut auf die Aufspürung bestimmter Individuen wie sämtlicher menschlichen Wesen in seinem Bereich programmiert werden und sie entweder töten oder mit seinen Greifern packen und unbeschädigt in den Container stecken. Mit Hilfe des Apparates konnten sie ihn jetzt suchen; seine auf dem Schiff zurückgelassene Kleidung würde ihnen alle Hinweise geben, die sie benötigten, um ihn zu erkennen und seiner Spur zu folgen. Weitere Männer waren jetzt aus dem Talada gestiegen, darunter einer, der einen Raumanzug trug. Offensichtlich bot Colonel Ajoran fast die gesamte Besatzung des Talada für die Suche nach Colgrave und der Sigma-Akte auf. Colgrave glaubte genug gesehen zu haben. Hätte man ihn beim Landeanflug des Talada auf dem Hang beobachtet, dann hätte man ihn unverzüglich verfolgt. Statt dessen würden sie jetzt ihrem Menschensucher über die Höhle folgen, hinunter zum Sumpf, wo Herden eingeborener Tiere weideten. Das gab ihm ein wenig Zeit. Er kroch zurück in den engen Felsriß, stand dann auf und ging zur anderen Seite des Bergkammes zurück. Jenseits der Ebene berührte die Sonne jetzt fast den Horizont. Der graue Wald, in den sich der aggressive Zweibeiner zurückgezogen hatte, begann ein paar hundert Meter zu seiner Rechten. Er würde ihm besseren Unterschlupf bieten als die verstreut herumliegenden Felsbrocken. Sich unterhalb der Kammlinie haltend, strebte er dem Wald zu. Einmal fiel sein Blick auf den Sumpf. Ein großer Baum ragte dort kirchturmhoch aus der umgebenden Vegetation. Ein paar Meter unter dem Wasser steckte die Sigma-Akte tief in den Wurzeln des Riesen. Er hatte den Baum aus der Luft bemerkt, das Rettungsboot in dem kleinen Tal gelandet und war dann zu Fuß zu dem Sumpf geeilt. Zwanzig Minuten später war die Akte versteckt, und er hatte begonnen, wieder
aus dem Sumpf herauszuwaten. Was zwischen diesem Moment und dem Augenblick geschehen war, da er sich auf dem Berghang sitzend wiedergefunden hatte, wußte er immer noch nicht… Er erreichte den Wald und überquerte dort wieder den Kamm des Hügels, bis er von neuem ins Tal sah. Während der wenigen Minuten, die inzwischen vergangen waren, hatte sich der Schatten der Berge über die Hälfte des darunter liegenden Tales gebreitet. Colgrave hatte nicht ausgeschlossen, daß sie die Jagd jetzt abblasen würden, wenn sie erkannten, wie nahe die Nacht gerückt war. Ajoran aber wünschte offenkundig keine Verzögerung. Der Mann im Raumanzug stand immer noch bei der offenen Schleuse des Schiffes, aber der Suchtrupp folgte bereits dem Suchgerät durch das Tal. Sie hielten auf einen etwa einen halben Kilometer von Colgrave entfernten Punkt des offenen Bergrückens zu. Sicherlich hatten sie Scheinwerfer, um auch während der Nacht weitermachen zu können. Ihr Plan war einfach, aber wirkungsvoll. Wenn der Menschensucher ihn nicht bis zum Morgen aufgespürt hatte, konnte der Talada das Rettungsschiff an Bord nehmen, dem Suchtrupp nachfliegen und wieder landen. Während des folgenden Tages konnten sie sich ablösen, wobei sich jeweils die Hälfte von ihnen im Schiff ausruhte – bis sie ihn gefunden hatten. Die Sigma-Akte war dort am sichersten, wo er sie gelassen hatte. Die Geruchssensoren seiner Verfolger waren empfindlich genug, daß sie seinen Weg sogar durch den Sumpf verfolgen konnten; sie nahmen Spuren auf der Vegetation wahr, die er berührt hätte, ja sogar auf dem Wasser selbst. Es war auch durchaus denkbar, daß sie die Akte im Wasser entdeckten. Dennoch, sie würde für den Apparat nur ein
Hinweis sein, daß der Gesuchte sich dort befunden hatte, weiter nichts. Das Ding würde ihn einfach weiter verfolgen. Das Falscheste, was er jetzt tun konnte, war, vor seinen Verfolgern zum Sumpf zu eilen und die Akte zu zerstören. Mit größter Sicherheit würde er auf dem offenen Hang unter dem Wald entdeckt werden, und entweder der Menschensucher oder der Mann im Raumanzug würde Augenblicke später bei ihm sein. Colgraves Blick wanderte wieder zu diesem Mann. Auf ihn würde er aufpassen müssen. Vermutlich sollte er als Verbindungsmann zwischen dem Schiff und seinen Verfolgern fungieren und die Kommunikator-Berichte ergänzen, die Ajoran über den Verlauf der Suche bekam. Doch war er mit einem Gewehr bewaffnet; und wenn Colgrave entdeckt wurde, konnte er den Flüchtling mit Betäubungspatronen beschießen, während er selbst außerhalb der Reichweite einer Handwaffe blieb. Für einen Augenblick war er zur Schleuse des Talada zurückgekehrt; jetzt schwebte er wieder in zwanzig Meter Höhe auf den Bergkamm zu. Es sah nicht sehr elegant aus. Ein in Planetennähe ausgeführtes Manöver in einem für Schwerelosigkeit im Raum ausgelegten Anzug war das nie. Aber der Bursche kam ganz gut zurecht, dachte Colgrave. Er erreichte den Bergrücken, als ihn auch der Suchtrupp zu überqueren begann, blieb ein paar Sekunden darüber schweben und zog darin in mehreren schwerfälligen, bogenförmigen Bewegungen nach links. Er schien etwas vor seinen Helm zu halten, und Colgrave vermutete, daß er das Gebiet mit einem starken Fernglas absuchte. Nach ein paar Minuten kam er wieder zurück. Colgrave hatte sich wieder auf die andere Seite des Bergrückens begeben, um seine Verfolger von dort aus zu beobachten. Sie hatten sich jetzt nach rechts gewandt und folgten dem Weg, den er mit der Akte genommen hatte, direkt
auf den Sumpf zu. Sich die Lippen kauend sah er zu. Wenn der Menschensucher zufällig auf seinen Rückweg aufmerksam wurde, konnte es gleich unangenehm werden… Der Mann im Raumanzug trieb hinter dem Suchtrupp her und verharrte dann beinahe bewegungslos in etwa sechzig Meter Höhe. Colgrave schaute zum Horizont. Die Sonne war fast nicht mehr zu sehen; ihr dünner goldener Rand verschwand unter seinen Blicken. Die Nacht würde hier schnell hereinbrechen. Bis jetzt konnte er aber keinen Vorteil erkennen, den ihm die Dunkelheit bringen mochte. Der Mann im Raumanzug kam wieder zum Bergkamm zurück. Er verharrte ein wenig darüber, senkte sich dann vorsichtig auf die abgeplattete Oberseite eines Felsens herunter, landete stolpernd und richtete sich wieder auf. Dann wandte er sich zum Sumpf hinüber und hob erneut den Gegenstand, der ein Fernglas zu sein schien, vor seinen Helm. Offenbar hatte er von den Kapriolen seines Schwebeanzugs für eine Weile genug. Colgrave schluckte schwer. Der Mann war weniger als zweihundert Meter entfernt… Sein Blick ging zu einem zwanzig Meter unterhalb des Waldrandes liegenden Gestrüpp. Ein paar Sekunden später war er dort und betrachtete prüfend das Gelände. Andere Büsche und Felsen, die groß genug waren, um ihm Deckung zu geben… Doch nur, wenn der Bursche nicht aus irgendeinem Grunde auf den Gedanken verfiel, erneut in die Luft zu gehen. Das schwache Licht würde ihm dann nichts helfen. Denn wie er inzwischen bemerkt hatte, benutzte er Raumgläser, die zum Anzug gehörten und selbst dann klare Sicht erlaubten, wenn nur das Glimmen ferner Sterne die Szene erhellte. Aber vielleicht würde es Mr. Raumanzug doch nicht einfallen, wieder zu starten, sagte sich Colgrave. Jedenfalls
blieb ihm selbst gar keine Wahl. Die andere Seite des Berges lag im Bereich der Nachtsichtgeräte des Talada, und die würde man jetzt bereits benutzen. Er bewegte sich ein Stückchen voran, sammelte sich und schlich dann weiter. Mr. Raumanzug richtete sein Hauptaugenmerk darauf, was am Fuße des Berges vor sich ging; dann und wann beobachtete er aber auch den oberen Teil. Möglicherweise bereitete ihm mit zunehmender Dunkelheit die Dichte des Waldes mehr und mehr Kummer. Von unten waren jetzt Tierstimmen zu hören, gutturales Bellen und langgezogenes Jaulen. Die Fleischfresser erwachten. Dann gab es mehrmals ein kurzes, wildes Aufbrüllen aus der Richtung des Sumpfes, und Colgrave vermutete, daß der Suchtrupp auf irgendeinen großen Fleischfresser gestoßen war, der noch nie etwas von Energiegewehren gehört hatte. Als das Brüllen nach einem gräßlichen Schrei erstarb, war er sich dessen sicher. Er hatte die Entfernung zwischen sich und dem anderen auf fast die Hälfte verkürzt, als der Raumanzug mit einem plötzlichen Ruck von dem Felsblock hochstieg. Für Colgrave war das ein sehr schlimmer Moment. Aber Mr. Raumanzug ging nur ein paar Meter in die Luft und dann wieder schräg nach unten hinter den Felsblock. Der Mann hatte nur seine Position verändert. Und der neue Standpunkt, den er gewählt hatte, nahm ihnen gegenseitig die Sicht aufeinander. Sofort sprang Colgrave hoch und rannte. Durch Erosion war der Boden hier ziemlich zerklüftet. Er schlüpfte in eine der Spalten, zog seine Waffe, schlich kriechend weiter. Einen Augenblick später hatte er die ihm zugewandte Seite des Felsblocks erreicht, auf dem Mr. Raumanzug gestanden hatte. Wo war er jetzt? Colgrave lauschte, vernahm ein dünnes, prasselndes Geräusch. Es hörte einige Sekunden auf, kam kurz wieder, verstummte dann erneut. Der RaumanzugKommunikator… Der Mann mußte seinen Helm abgenommen
haben, sonst wäre das Geräusch nicht hörbar gewesen. Er konnte nicht weit von ihm entfernt sein. Colgrave ließ sich auf die Hände und Knie nieder und stahl sich auf die rechte Seite des Felsblocks. Von hier konnte er den Hang hinuntersehen. Über der Ebene lagen die Schatten der beginnenden Nacht, und die Abgrenzung zwischen dem offenen Land und dem Sumpf war kaum mehr zu erkennen. Aber die sich dort unten dahinschlängelnde Perlenschnur von Lichtern mußte sich bereits durch den Sumpf bewegen. Um die Ecke herum wurden jetzt wieder die Kommunikatorgeräusche hörbar, sicher nicht mehr als fünf Meter von Colgrave entfernt. Näher konnte er nicht herankommen, ohne bemerkt zu werden. Es war wichtig, daß der Mann im Raumanzug auf der Stelle starb, was einen Kopfschuß erforderte. Colgrave richtete sich auf und trat, die Waffe im Anschlag, ruhig um die Ecke. Der Mann stand seitlich zu ihm, den Helm nach hinten, auf den Rücken geklappt. Im letzten Augenblick, als Colgrave den Abzug drückte, wandte sich der Kopf des Mannes ihm zu, und er sah mit beträchtlicher Überraschung, daß es Colonel Ajoran war. Die Waffe gab ihr zischendes, verderbenbringendes Geräusch von sich. Ajorans Kopf machte einen leichten Ruck zur Seite, und seine Augen gingen zu. Eine Sekunde lang oder zwei hielt ihn der Raumanzug aufrecht, bevor er zu Boden stürzte. Colgrave war schon bei ihm und suchte unter dem Kragen nach der Zuleitung des Kommunikators. Er fand sie und riß sie mit einem Ruck heraus.
Im Talada sah der Mann, der die Nachtsuchgeräte überwachte, Colonel Ajorans Raumanzug über dem Bergrücken erscheinen
und sich auf das Schiff zubewegen. Er benachrichtigte die Steuerzentrale und den Mann an der Schleuse. Die äußere Schleusentür öffnete sich, als der Raumanzug sich ihr näherte. Colgrave landete in ihr und kam rutschend zum Stehen. Er beherrschte den Anzug auch nicht besser als Ajoran. Nachdem er den Antrieb abgestellt hatte, öffnete er die innere Tür, wobei er sich mit der linken Hand am Sauerstoffschlauch des Helmes zu schaffen machte. Das würde zunächst sein Gesicht vor dem Mann verbergen, der auf der anderen Seite der Tür stehen mußte. Seine rechte Hand ruhte auf der Pistole. Die Tür öffnete sich. Zwei Meter von ihm entfernt stand der Schleusenmann mit dem Rücken zu ihm und beobachtete seine Kontrollinstrumente. Dankbar für dieses Beispiel ralanischer Disziplin trat Colgrave zu ihm, zog seine Pistole und gab dem Mann einen schwungvollen Schlag auf den Hinterkopf. Als der Schleusenmann Minuten später wieder die Augen öffnete, hatte er Kopfschmerzen und einen Knebel im Mund. Die Hände waren ihm auf den Rücken gebunden, und Colgrave trug seine Uniform. Colgrave zog ihn hoch und stieß ihm die Pistolenmündung in den Rücken. »Vorwärts, zur Steuerzentrale«, sagte er. Der Mann ging voraus. Colgrave folgte ihm, die Uniformmütze tief ins Gesicht gezogen. Ajorans Pistole und eine Betäubungswaffe, die er dem Schleusenmann abgenommen hatte, steckten in seinem Gürtel. Das Energiegewehr des Mannes und dasjenige, das zu dem Raumanzug gehört hatte, waren in einem Schrank in der Nähe der Schleuse verborgen. Fast schon ein Waffenlager, was er da angesammelt hatte. Als sie den breiten Hauptkorridor des oberen Decks des Schiffes erreicht hatten, hielt er den Schleusenmann an. Sie gingen zur letzten Tür zurück, die sie durchquert hatten.
Colgrave öffnete sie. Es war eine Art Büro. Er schob den Mann hinein, folgte ihm und schloß die Tür. Ein paar Sekunden später kam er wieder heraus, steckte die Betäubungspistole in seinen Gürtel und lauschte. Die Stille im Talada war fast unheimlich. Nicht weiter verwunderlich, dachte er. Die Zahl der Männer, die ihn suchten, ließ darauf schließen, daß man nur die geringstmögliche Anzahl von Leuten an Bord zurückgelassen hatte. Es konnten zehn, höchstens zwölf sein, jeder einzelne von ihnen würde sich in diesem Moment auf seinem Posten befinden. Colgrave trat auf den Hauptkorridor hinaus und ging ihn ruhig entlang. Aus der Steuerkabine konnte er jetzt leise Stimmen vernehmen. Eine davon schien einer Frau zu gehören, aber da war er nicht sicher. Bevor er nahe genug herangekommen war, um Einzelheiten unterscheiden zu können, waren sie wieder verstummt. Jetzt durfte er nicht mehr zögern. Die Steuerkabine war das Nervenzentrum des Schiffes, doch konnten sich nicht mehr als vier oder fünf Leute darin befinden. Colgrave hatte in beiden Händen eine Pistole, als er die offene Tür erreichte. Er trat hinein, stieg ohne Hast die schallschluckenden Stufen hinunter und bannte die Szene dort unten in sein Gedächtnis. Ajorans Dame war ihm am nächsten. Sie saß an einem kleinen Tisch, und ihre Aufmerksamkeit galt dem Mann am Kommunikator links in der Ecke. Dieser drehte ihm den Rücken zu. Im Gürtel trug er eine Pistole. Etwas weiter entfernt saß ein anderer Mann, das Gesicht zur Tür, doch über irgendein Kontrollinstrument auf dem Pult gebeugt. Das Kontrollpult schirmte ihn fast völlig ab und machte ihm damit zu dem augenblicklich gefährlichsten der drei. Sonst war niemand zu sehen, was freilich nicht unbedingt hieß, daß niemand mehr da war.
Hace bemerkte ihn, als er den Fuß der Treppe erreichte. Ruckartig wandte sie sich ihm zu; sie schien etwas sagen zu wollen. Dann hatte sie ihn erkannt und starrte ihn mit vor Entsetzen geweiteten Augen an. In dem Augenblick, wo sie schreien würde, würde er den Mann am Schaltpult erledigen müssen. Aber sie schrie nicht. Statt dessen hob sie ihre Rechte, zwei Finger V-förmig in die Luft gespreizt. Sie nickte heftig erst dem KommunikatorOperator, dann dem Mann hinter dem Schaltpult zu. Nur zwei von ihnen? Nun, wahrscheinlich stimmte es. Aber es war besser, wenn er erst Hace betäubte, bevor er sich mit den zwei bewaffneten Männern abgab. In diesem Augenblick sah der Kommunikator-Operator zu ihm herüber. Er war jung, und seine Reaktion war so schnell wie die Haces. Mit einem warnenden Schrei schnellte er sich seitwärts von seinem Stuhl und griff noch nach seiner Pistole, bevor er über den Boden rollte. Der Mann hinter dem Schaltpult hatte keine Chance. Als er erschreckt hochfuhr, traf ihn ein Energiestrahl mitten in den Kopf. Auch der Operator hatte keine wirkliche Chance. Colgrave riß seine Waffe nach links, sah für Bruchteile einer Sekunde in Augen, die ihn haßerfüllt anstarrten, registrierte in Gedankenschnelle, daß der andere eine Waffe hochriß, und feuerte wieder. Sekundenlang wartete er dann, ob sich noch etwas bewegen würde. Aber es blieb still in der Steuerkabine. Ajorans Dame hatte also nicht gelogen. Sie blieb wie erstarrt stehen, bis er sich zu ihr wandte. Dann sagte sie ruhig und mit ungläubigem Ausdruck: »Wie haben Sie es nur geschafft, ins Schiff zu kommen?« Colgrave bemerkte die dunkle blutunterlaufene Stelle ihrer Wange, die von seinem Faustschlag herrührte, und sagte: »In Ajorans Raumanzug natürlich.«
»Ist er tot?« fragte sie zögernd. »Mausetot«, sagte Colgrave nachdenklich. »Auch ich wollte ihn töten«, sagte Hace. »Ich glaube, ich hätte es schließlich auch getan…« Wieder zögerte sie. »Aber das hat jetzt nichts mehr zu bedeuten. Wie kann ich Ihnen helfen? Die unten im Sumpf sind in Nöten.« »In was für Nöten?« »Das ist nicht klar. Es fing vor zwei oder drei Minuten an, doch haben wir noch keinen verständlichen Bericht von den beiden Kommunikator-Leuten bekommen. Sie waren so aufgeregt, schrien geradezu – es war fast irrational.« Colgrave runzelte die Stirn. Dann schüttelte er den Kopf. »Erst müssen wir auf dem Schiff Ordnung schaffen. Wieviele sind an Bord?« »Außer diesen beiden noch neun… und ich selbst.« »Der Mann an der Schleuse ist auch schon weg«, sagte Colgrave. »Also acht. Und im Rettungsboot?« »Niemand. Ajoran hatte Ihnen dort eine Falle gestellt. Wenn Sie ins Boot zurückgekehrt wären, bevor man Sie gestellt hätte, hätten Sie den Antrieb nicht starten können und wären auch nicht wieder herausgekommen.« »Können Sie die Männer im Schiff einzeln in die Steuerkabine rufen?« fragte Colgrave. »Ich verstehe. Ja, das wird, glaube ich, gehen.« »Erst möchte ich Sie nach Waffen durchsuchen.« »Natürlich.« Mit einem Lächeln stand Hace auf. »Warum sollten Sie mir vertrauen?« »Eben«, sagte Colgrave. Arglos kam einer der Männer nach dem anderen herein, und einen nach dem anderen traf von hinten ein Schuß der Betäubungspistole und ließ ihn zu Boden sinken. Bald darauf schwebte ein Ladeboot zum Konserviertank des Talada. Hace stand dabei, als Colgrave die Verschlüsse losschraubte und den
schweren Tankdeckel hochklappte. Aus dem Tank stieg penetranter Gestank auf. Colgrave blickte einen Moment auf die ölige schwarze Flüssigkeit zwei Meter unter ihm, holte dann nacheinander die neun bewußtlosen Männer vom Ladeboot, warf sie hinein und verschloß den Tank wieder.
Eine Männerstimme stammelte und schluchzte. Ein anderer Mann stieß einen plötzlichen Schreckensschrei aus; dann ging das Schluchzen in panisch gehetztes Keuchen über. Colgrave schaltete den Kommunikator aus und fragte mit einem Blick zu Hace: »Ist das das gleiche wie vorhin?« Sie befeuchtete sich die Lippen. »Nein, das ist ja verrückt!« Ihre Stimme bebte. »Beide sind nicht mehr in der Lage, uns zu antworten. Was kann denn in diesem Sumpf so Entsetzliches sein? Zumindest hätten einige von den anderen zum Schiff zurückkommen müssen…« Sie unterbrach sich. »Colgrave, warum bleiben wir hier? Sie wissen, wie diese Leute sind – warum sollen wir uns um sie kümmern? Sie brauchen keinen von ihnen, um mit dem Schiff zurechtzukommen. Wenn nötig, kann ein einzelner Mann bis zur Erde zurücksteuern.« »Ich weiß«, sagte Colgrave. Und mit einem nachdenklichen Blick fügte er hinzu: »Ein bißchen erstaunt bin ich schon, daß Sie mir helfen wollen, zur Erde zurückzukehren.« Zorn rötete einen Augenblick das bleiche, schöne Gesicht. »Ich bin keine Ralanerin! Ich wurde bei einem Überfall auf Baristeen entführt, als ich zwölf Jahre alt war. Seit jenem Tag habe ich nur einen einzigen Gedanken gekannt: Von Rala zu fliehen.« Colgrave rieb sich das Kinn. »Ich verstehe… Nun, sofort können wir nicht starten. Zum einen habe ich die Sigma-Akte in diesem Sumpf gelassen.« Hace starrte ihn an. »Sie haben sie nicht vernichtet?«
»Nein. Ganz so ausweglos erschien mir die Lage nicht.« »Colgrave, Sie sind wirklich wunderbar!« lachte sie. »Ajoran war überzeugt, daß die Akte verloren sei und daß seine einzige Chance, die eigene Haut zu retten, darin bestand, daß er Sie wieder lebend in seine Gewalt bekam, damit er feststellen konnte, was Sie auf den Lorn-Welten in Erfahrung gebracht haben… Nein, natürlich können Sie die Akte nicht hierlassen! Das verstehe ich. Aber warum verlassen wir nicht mit dem Schiff den Planeten, bis es hier Morgen ist?« Sie deutete auf den Kommunikator. »Diese Schwierigkeiten – was immer dort unten vorgeht – sollten bis dahin behoben sein. Dann ist im Sumpf wieder Ruhe, und Sie können die Akte ohne zu große Gefahr zurückholen.« Colgrave erhob sich und schüttelte den Kopf. »Nein, das dürfte nicht nötig sein. Der Menschensucher wurde vom Schiff aus über einen Monitor überwacht, nicht wahr? Wo ist die Steuerung?« Hace wies auf das Schaltpult fünf Meter hinter ihr, wo der zweite Mann gesessen hatte, als Colgrave in die Steuerkabine kam. »Dort. Das war seine Aufgabe.« »Sehen wir es uns an«, sagte Colgrave. »Ich möchte, daß das Ding zum Schiff zurückkehrt.« Er ging zu dem Schaltpult hinüber. Hace stand auf und ging mit ihm. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht sagen, wie die Steuerung funktioniert.« »Ich glaube, ich weiß es schon«, sagte Colgrave. »Ich spielte mal ein paar Stunden mit einem erbeuteten Menschensucher herum, den man zur Erde gebracht hatte. Das hier scheint ein ganz ähnliches Modell zu sein.« Er betrachtete die sich auf dem Bildschirm bewegenden dunklen Flecken und drehte dann einen Knopf. »Wir wollen mal sehen, was er jetzt gerade macht, bevor ich ihn hierher zurückkehren lasse.«
Plötzlich wurde das Schirmbild klar. Die Szene war immer noch dunkel, doch erlaubte die Nachtsicht des Apparates das klare Erkennen von Einzelheiten. Sich leicht bewegendes Sumpfgras glitt unten vorbei; alsbald näherte sich ein Gebüsch. Dann umschloß das Dickicht den Suchapparat. Hace sagte: »Der Operator versuchte festzustellen, was mit den Männern dort unten passierte, aber fast in dem gleichen Moment, als die Schwierigkeiten begannen, fuhr der Sucher aus dem Bereich ihrer Lichter heraus. Offenbar kann man seinen Weg, sobald er einmal auf irgend jemand programmiert ist, nicht mehr beeinflussen.« »Nicht über Fernsteuerung«, stimmte Colgrave zu. »Da läßt man sie nur los und beobachtet, was sie tun. Entweder machen sie weiter und führen ihre Aufgabe zu Ende, oder man schaltet ihre Sensoren ab und läßt sie zurückkommen. Der Apparat hier folgt immer noch meiner Spur. Jetzt…« »Was ist das für ein Licht?« fragte Hace beunruhigt. »Sieht aus wie Feuerschein.« Der Sucher hatte sich jetzt, das Dickicht verlassend, nach links gewendet und glitt so niedrig über offenes Wasser, daß er es fast berührte. Vor ihm glitzerten fahl-orange Reflexe. Colgrave betrachtete sie prüfend und sagte dann: »Vermutlich bedeutet das nur, daß der Mond am Himmel steht.« Er drückte einen Knopf, und das Bild schwand. »Das hat seine letzten Instruktionen gelöscht. In ein oder zwei Minuten wird er zum Schiff zurückkommen.« Hace sah ihn an. »Was haben Sie vor?« »Ich fahre damit zum Sumpf hinunter.« »Doch nicht jetzt! Morgen können Sie…« »Ich glaube nicht, daß es gefährlich ist. Und jetzt brauchen wir ein Plätzchen, wo Sie sich’s bequem machen können, bis ich wieder zurück bin. Wie sagten Sie doch: Wenn nötig, kann auch eine Person allein dieses Schiff steuern…«
Zweihundert Meter über dem Boden war der offene Sitz des Menschensuchers nicht eben der gemütlichste Aufenthaltsort. Doch die Maschine war wesentlich leichter zu manövrieren als der Raumanzug, und der direkte Luftweg zu dem Riesenbaum, unter dem er die Sigma-Akte versteckt hatte, war der kürzeste und schnellste. Colgrave war sich ziemlich sicher, daß der Akte nichts zugestoßen war, doch konnte er erst Gewißheit haben, wenn er sie wieder in Händen hielt. Der orange Mond, der über dem Horizont stand, war überaus groß; der scheinbare Durchmesser seiner Scheibe übertraf den der untergegangenen Sonne um das Doppelte. Colgrave hielt die Geschwindigkeit des Suchers niedrig. Aber nur einige Minuten vergingen, bis er schräg rechts vor sich den gewaltigen Baum ausmachen konnte. Er steuerte den Apparat hinüber, umkreiste zweimal, alles sorgsam beobachtend, die Baumkrone, ging dann zu einer offenen Wasserfläche am Fuße des Baumes hinunter, wendete den Apparat und glitt schließlich auf das wirr verschlungene Wurzelwerk des Giganten zu. Endlich schaltete er die Steuerung ab und sah sich lauschend um. Der Sumpf war voll von Lauten – Zirpen, Zwitschern, leisem Heulen. Irgend etwas in der Baumkrone über ihm pfiff dreimal durchdringend. Hinter ihm war langsames, schweres Platschen zu hören, das sich nach und nach entfernte. Und an der Grenze seines Hörbereiches war noch etwas anderes. Möglicherweise waren es schwach aus der Ferne zu ihm dringende menschliche Stimmen, vielleicht aber auch nur Einbildung. In seiner Nähe bewegte sich nichts. Colgrave hob den Steuerkasten aus seiner Verankerung, glitt, sich mit einer Hand daran festhaltend, aus dem Sitz und sprang schließlich hinunter in die Schlammschicht, die über der Masse des Wurzelwerks lag. Er kletterte etwas höher hinauf und fand im Holz einen trockenen Platz, wo er das Steuergerät versteckte. Dann
arbeitete er sich vorsichtig um den riesigen Stamm herum, nicht ohne hie und da auf den glitschigen Wurzeln unter dem Schlamm auszurutschen… Und jetzt war er da, wo er die Sigma-Akte verborgen hatte. Eine kleine, etwa eineinhalb Meter tiefe Einbuchtung reichte fast bis zum Baumstamm selbst. Colgrave ließ sich hineingleiten. Hier hatte er festen Stand. Er schob sich bis zum Ende der Einbuchtung, holte tief Atem und kauerte sich dann nieder. Das warme Wasser schlug über seinem Kopf zusammen. Tastend durchsuchte er das Wurzelholz, berührte die Akte, nahm sie an ihrem Handgriff und zog sie heraus. Er richtete sich wieder auf, begann den Rückweg um den Baum herum… Und da stand das Ding.
Colgrave erstarrte. Fast genauso war es gewesen, als er die Sigma-Akte hierher gebrächt und in den Wurzeln versteckt hatte. Das war bei Tageslicht geschehen, und was er jetzt als riesigen, menschenähnlichen Umriß im Schatten eines Baumes erblickte, war klar sichtbar gewesen. Es war ein grünes Ungeheuer, gewaltig wie ein Gorilla, mit einem sehr großen, runden, sich hin und her wiegenden Kopf, unter dessen blätterartigem Behang keinerlei Züge zu erkennen waren. Es war größer, als er es damals auf dem Hang aus der Entfernung eingeschätzt hatte und maß fast zweieinhalb Meter. Als er es zum erstenmal gesehen hatte, war es nur ein paar Meter von ihm entfernt gewesen und kam um den Baum herum auf ihn zu. In instinktiver Reaktion hatte er seine Pistole aus dem Halfter gerissen… Jetzt verharrte er bewegungslos und sah es an. Sein Herzschlag hatte sich merklich beschleunigt. Aber dies war eigentlich ein vegetarisches Geschöpf, sagte er sich. Und es
war friedlich, weil es ein total wirksames Verteidigungsmittel besaß. Es konnte bei einem sich nähernden Fleischfresser den Angriffsimpuls spüren und ihn seine Absicht vergessen lassen. So oft es nötig war. Colgrave setzte sich in Bewegung. Er hatte keinerlei Absicht, sagte er sich immer wieder, diesem übergroßen Fleegle etwas anzutun, und dieser hatte seinerseits nicht vor, ihn selbst zu behelligen. Der Fleegle ging ihm nicht aus dem Weg, als Colgrave auf ihn zukam. Er drehte sich nur langsam mit, so daß er ihm ständig die Vorderseite zuwandte, als Colgrave in ein, zwei Meter Entfernung an ihm vorbei über die Wurzeln kletterte. Colgrave sah nicht zu ihm zurück und hörte hinter sich auch keine Bewegung. Er sah den Menschensucher bewegungslos über dem Schlamm schweben, stellte die Akte ab und holte das Steuergerät wieder heraus, wo er es vorher versteckt hatte. Einige Minuten später hockte er wieder auf dem Sitz der Maschine, die Sigma-Akte an seinen Gürtel gehakt. Im Mondlicht tippte er feine Kombination in das Steuergerät, überprüfte sie noch einmal sorgfältig, schob das Gerät dann in seinen Rahmen und schaltete es ein. Zielbewußt beschrieb der Menschensucher eine Kurve, schwebte über den Sumpf hinweg. Hundert Meter weiter begegnete er drei Fleegles, die um einiges kleiner waren als der unter dem Baum und die langsam durch den Schlamm wateten. Sie blieben stehen, als der Apparat erschien, und Colgrave dachte freundliche und bewundernde Dinge über Fleegles, bis er sie ein gutes Stück hinter sich gelassen hatte. Vielleicht eine Minute später stoppte der Menschensucher in der Luft über dem ersten Mitglied der verlorenen Mannschaft des Talada. Er war in ein Dickicht gekrochen und stammelte irgend etwas vor sich hin. Als sich zwei der Greifer des Apparates
blitzschnell um ihn schlossen, stieß er einen Entsetzensschrei aus. Colgrave hatte kein nennenswertes Bedürfnis, dies zu beobachten, und sah starr geradeaus. Hinter ihm klickte es, als sich der Konservierungstank öffnete. Einen Augenblick lang stach ihm der Gestank der Flüssigkeit in die Nase. Dann spritzte es, und das Geschrei verstummte abrupt. Der Tankdeckel schloß sich wieder. Der Menschensucher nahm neuen Kurs. Sein Auftrag war, jedes menschliche Wesen innerhalb des Bereiches seiner Sensoren aufzuspüren und einzusammeln – mit Ausnahme seines Lenkers. Den Leuten hier konnte von Anfang an nicht sehr geheuer gewesen sein, sagte sich Colgrave. Ihre Gewehre hatten bereits eine der Bestien erlegt, die in der Abenddämmerung mit gräßlichem Gebrüll auf sie losgegangen war; und sie konnten vermuten, daß ihre Gewehre auch mit allem anderen fertig werden würden, was ihnen begegnen konnte. Aber der Sumpf, in den der Menschensucher sie führte, hatte ihnen gar nicht gefallen. Pfützen durchwatend, im Schlamm herumrutschend, mit ihren Lampen immer neue drohende Schatten beleuchtend, waren sie der Maschine gefolgt und hatten innerlich den Befehl verflucht, der sie bei Anbruch der Nacht auf die Suche nach einem Geheimdienstagenten der Erde geschickt hatte. Und dann stand ein riesiges grünes Ungeheuer im Strahl ihrer Lampen… Natürlich versuchten sie, es niederzuschießen. Und gleichzeitig mit diesem Entschluß begannen sie zu vergessen. Progressive Wellen der Amnesie… Zuerst vielleicht nur ein Hauch. Die Männer, die ihre Gewehre hoben, vergaßen, daß sie sie hoben. Bis sie den Fleegle wieder sahen… Die letzten paar Stunden gingen vielleicht als nächste verloren. Sie standen nächtens in einem Sumpf und wußten
weder wie sie dorthin gelangt waren, noch warum. Aber sie hatten Gewehre in der Hand, und vor ihnen stand eine gräßliche Bestie. Dann waren Monate vergessen. Der Fleegle konnte noch mehr. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie begonnen, wirr und regellos im Sumpf herumzustampfen und zu waten. Aber die Fleegles waren überall. Sooft jemand erschreckt sein Gewehr hob, schwand ein weiteres Stück seines Gedächtnisses. Bis auch der letzte seine Waffe fallen ließ. Was der Menschensucher zusammenholte, waren keine Männer, sondern Kinder in Erwachsenengestalt, die sich in einer nassen, dunklen Alptraumwelt irgendwohin verkrochen hatten, benommen und verständnislos und nur noch fähig, jämmerlich zu heulen, wenn die Maschine sie hochhob und in ihren Tank steckte.
Colgrave trat aus dem Abteil, in dem der Menschensucher untergebracht war, verschloß die Tür und schaltete die Steuerung aus. »Sie haben den Tank noch nicht zugemacht«, sagte Hace. Er nickte, »Ich weiß. Gehen wir zurück.« »Ich bin mir immer noch nicht darüber klar, was eigentlich passiert ist«, fuhr sie fort, als sie neben ihm den Korridor entlangschritt. »Sie verloren Ihr Gedächtnis, sagen Sie…« »Ja. Es ist eine vorübergehende Erscheinung. Als ich hierher kam, machte ich anfänglich dieselbe Erfahrung, wenn auch offenbar nicht in gleichem Maße wie die meisten von ihnen. Wenn sie jetzt nicht in dieser Brühe herumschwämmen, würden sie innerhalb von Stunden wieder ihr Gedächtnis erlangen.«
Er öffnete die Tür des Tankraums und schob sie hinein. Der Geruch der Konservierungsflüssigkeit ließ Hace unwillkürlich die Nase rümpfen. »Wirklich seltsam«, sagte sie. »Wie kann irgendeine Kreatur den menschlichen Geist in dieser Weise beeinträchtigen?« »Ich weiß nicht«, sagte Colgrave. »Aber das ist im Augenblick auch nicht wichtig.« Er folgte ihr in den Tankraum, schloß die Tür hinter sich und fuhr fort: »Das wird jetzt etwas unangenehm, also bringen wir’s hinter uns.« Sie sah ihn an. »Was sollen wir hinter uns bringen, Colgrave?« »Sie sagten doch, daß Sie mit zur Erde fliegen wollten«, antwortete Colgrave, »aber mit der Mannschaft dort drinnen.« Entsetzt starrte ihn Hace an. »Aber… Nein! Colgrave… ich… Sie können doch nicht…« »Ich möchte Sie nicht im Wachzustand auf dem Schiff haben«, sagte er. »Vielleicht hätte ich auf irgendeine andere Weise sichergestellt, daß Sie keinen Ärger machen, wenn mein Pilot nicht so ums Leben gekommen wäre, wie er es nun einmal ist.« »Aber was hat denn das mit mir zu tun?« Ihre Stimme war schrill. »Habe ich nicht in der Steuerkabine versucht, Ihnen zu helfen?« »Das war ganz clever von Ihnen«, sagte Colgrave. »Aber Sie wären schon mit der ersten Gruppe in den Tank gewandert, wenn Sie mir nicht noch hätten nützlich sein können.« »Aber warum? Bin ich dafür verantwortlich, was Ajoran tat?« Colgrave zuckte die Achseln. »Ajoran tut mir nicht leid. Aber daß ich glauben sollte, ein ralanischer Geheimdienstagent würde sich in einem Raumanzug an der Suche nach mir beteiligen und das Schiff in der Hand von ein paar untergeordneten Offizieren lassen – für so dumm dürfen Sie
mich denn doch nicht halten. Ajoran tat, was er tat, weil er den Befehl dazu bekam. Und da war auch noch einiges andere. Worauf es hinausläuft, Lady, ist dies: Sie waren die Leiterin dieser Operation. Und wenn Sie jetzt mit der Sigma-Akte auf Rala zurückkehren könnten und niemand am Leben bleiben würde, der zu verraten vermöchte, wie Sie sich die Akte beinahe wegnehmen ließen – das würde Ihnen so passen.« Hace befeuchtete sich die Lippen, und ihre Augen irrten hektisch über sein Gesicht. »Colgrave, ich…« begann sie in flehendem Ton. »Nein«, sagte Colgrave. Mit der flachen Hand gab er ihr einen Stoß gegen die Brust. Hace taumelte nach hinten, auf das offene Tankloch zu. Ein Schrei, ein platschender Fall. Colgrave ging hin und sah hinein. Die ölige Oberfläche war wieder spiegelglatt. Er warf den Deckel zu, verschloß ihn und ging hinaus.
Etwa zwei Stunden waren vergangen. Der Talada befand sich am Rand des Sonnensystems, zu dem auch die Fleegle-Welt gehörte. Colgrave hatte sein Studium des Navigationssystems des Schiffes beendet. Es war das Standardsystem für Langstreckenschiffe mit automatischer Ortsbestimmung und Steuerung. Sobald er das Fahrzeug einmal in Bewegung gesetzt hatte, würde er weniger zu tun haben als auf dem Rettungsboot. Aber etwas mußte er noch erledigen, bevor er startete. Auf dem Planeten selbst hatte er nicht daran zu denken gewagt. Die Computer des Talada wußten, wo das Schiff war, registrierten die Tatsache aber nicht. Für Navigationszwecke war das im allgemeinen bedeutungslos. Man mußte nur wissen, wohin man wollte. Die Durchführung einer Ortung war eine
separate Operation, die mindestens eine weitere Stunde dauerte. Die Zeit würde nicht vergeudet sein, dachte Colgrave. Die Aufnahme der genauen Koordinaten hier konnte sich als ebenso wichtig herausstellen wie die Verbindung der SigmaAkte zur Erde – vielleicht als noch wichtiger… Es war am anderen Ende des Sumpfes gewesen, kurz bevor er zum Schiff zurückgekehrt war, während der Sucher einen Mann aufspürte, der weiter als die meisten anderen gegangen war. Plötzlich hatte er zu seiner Linken das Glimmen einer grünlichen Lumineszenz bemerkt und sich in seinem Sitz umgedreht, um sie genauer zu betrachten. In dem bewaldeten Hang über dem Sumpf war eine breite Öffnung. Colgrave hatte mit fast abergläubischer Angst darauf gestarrt. Eine Gruppe von Fleegles bewegte sich langsam hinein; ein paar andere kamen heraus. Was sich da weit in den schwachen grünen Schein im Inneren des Hügels erstreckte, hatte etwas Regelmäßiges, Geordnetes an sich. Wie von Menschenhand errichtete Gebäude, hatte er gedacht. Und hinter den Gebäuden hatte er undeutlich riesige grüne Gestalten ausgemacht, die sich bewegten und noch größer waren als die Gebäude. Er spürte eine Gänsehaut, als der Sucher seinen letzten Gefangenen in den Tank steckte und wieder auf die Mitte des Sumpfes zuflog. Er hatte das starke Gefühl, hier nichts tun zu dürfen, was Aufmerksamkeit auf ihn lenken konnte. Aber als der Apparat zu einem Dickicht kam, das ihn seinen Blicken entzog, sah Colgrave hinter sich. Die Öffnung im Berg war verschwunden. Eine Art Untergrundzivilisation, und intelligente Wesen… Solange der Mensch den Weltraum befuhr, hatte es noch niemals Berichte über eine Begegnung mit einer anderen intelligenten Rasse gegeben.
Vielleicht haben wir uns nur nie die Zeit genommen, sie wirklich zu suchen, dachte Colgrave. Unsere Hauptbeschäftigung scheint ja immer darin zu bestehen, uns gegenseitig zu bekämpfen. Wegen des bevorstehenden Krieges mit Rala würde der Bericht, den er zu machen hatte, zu keinen unmittelbaren Konsequenzen führen. Und dennoch, der Tag würde kommen, wo eine wissenschaftliche Expedition von der Erde starten würde, um auf der Fleegle-Welt zu landen und Kontakt mit ihnen aufzunehmen… Colgrave beugte sich auf seinem Stuhl nach vorn, zog den Locator des Talada zu sich herüber, schloß ihn an das Computer-System an und legte seinen Finger auf den Einschaltknopf. Dann hielt er inne, den Kopf ein wenig seitwärts geneigt, als ob er lauschte. Von irgendwoher und aus sehr weiter Ferne wandte sich eine gewaltige, ruhige Stimme an ihn. »VERGISS ES«, sagte sie. Colgrave warf einen ratlosen Blick auf den Locator, löste die Verbindung mit dem Computer-System, stand auf und steckte ihn wieder in sein Gehäuse. Dann ging er zurück, warf noch einmal einen kurzen Blick auf die Zielgebietskarte, welche die Erde enthielt, und schaltete dann den Hauptantrieb ein. Der Talada setzte sich in Bewegung. Colgrave ließ sich auf seinen Stuhl nieder und sah zu, wie eine nicht sehr bemerkenswerte gelbe Sonne langsam über den Rand des Bildschirms davonglitt.
Für kurze Zeit hatte er das beunruhigende Gefühl, daß auch etwas anderes ihm entglitt… Etwas sehr Wichtiges, das nun für immer verloren sein würde. Dann vergaß er es.
Originaltitel: PLANET OF FORGETTING Copyright © 1965 by Galaxy Publishing Corp. Aus GALAXY MAGAZINE
David I. Masson URLAUB VON DER FRONT
Die Szene war apokalyptisch. Von jenseits der rot-schwarzen Sichtblenden, die sich in so knapper Entfernung von der Grenze nur zwanzig Meter nördlich befanden, kam jede Art meteorischen Schreckens herüber: Spaltungsund Verschmelzungsexplosionen, chemische Detonationen, ein Hagel von Projektilen aller Größen und jeder Durchschlagskraft, nervenlähmender Spray und thalamische Drogen. Die Aufschlaggeschosse barsten auf dem nackten Gestein der Hänge oder dem Beton der vorgeschobenen Unterstände, von denen alle paar Minuten einer hochging oder in sich zusammenbrach. Die überlebenden Befestigungen setzten ihr fast senkrechtes Raketen- und Granatenfeuer unvermindert fort. Da und dort konnte man eine Gestalt im Protektoranzug auf ihrem mechanischen »Läufer« einen Hang hinauf-, hinunter- oder entlangrennen sehen wie eine verzweifelte Ameise in einem von Flammen bedrohten Haufen. Einige der verfolgbaren Geschoßflugbahnen führten über die Köpfe hinweg in die bläuliche Düsternis der hinteren Sichtblende etwa fünfzig Meter südlich, die gut vierzig Meter weiter unten den steilen Felsenhang abschloß. Nach Osten und Westen hin betrug die Sichtweite in dieser klaren Bergluft trotz des Explosionsstaubes vielleicht fünfzig Kilometer, war aber im Westen durch einen Sporn der Bergkette verstellt; und der Sichtbarkeitskorridor ließ ständiges Feuer und Gegenfeuer von Projektilen jeder nur denkbaren Art erkennen. Der akustische Korridor war sehr viel breiter als der visuelle, und der in allen
Tonarten dröhnende, heulende, pfeifende und kreischende Lärm infernalisch. »Müssen computer-gezielt sein«, sagte Hs Transceiver in sein rechtes Ohr. Eine Codekombination ging dieser Feststellung voraus, aber H kannte die Töne Bs, seines Nachbarn, den er ohnehin, einen Meter entfernt, sehen konnte, wie er es sagte. Sie befanden sich beide in einer geräumigen Betonkugel, aus der sie durch ein Plaspex-Fenster und mit Hilfe eines InfrarotNordsehers mit einer Reichweite von einigen hundert Metern nach vorn hinaussahen. Der andere war seit drei Minuten im Bunker, offenbar mit einem Kontrollauftrag, wahrscheinlich für Two-Up, der jetzt möglicherweise auf Station VV sein konnte. »Wie sollten sie sonst laufend Treffer bei uns erzielen, meinst du?« fragte H. »Nun, natürlich könnte es Weitbereichs-Niederfrequenz sein – wir wissen ja nicht genau, wie die Zeit dort drüben funktioniert.« »Aber wenn die Konzeleration asymptotisch zur Grenze verläuft, wie es eigentlich der Fall sein müßte, wenn ihre Zeit spiegelbildlich funktioniert, hätte dann überhaupt irgend etwas herüberkommen können?« »Nicht unbedingt, so weit ich sehen kann – vielleicht sehr steil angesetzt, und dann fällt es in gleichem Winkel herunter«, sagte Bs Stimme; »aber ich bin nicht zu einem wissenschaftlichen Kolloquium gekommen, ich habe eine Nachricht für dich. Wenn wir die nächsten paar Sekunden noch aushalten, bist du abgelöst.« H spürte, wie eine schwarze innere Sichtblende ihn einzuhüllen begann, und ein Dröhnen in seinen Ohren übertönte den Lärm des Bombardements. Er krümmte sich zusammen, als seine Knie unter ihm nachgaben, und erlangte wieder volles Bewußtsein. Er konnte jetzt seine Ablösung
sehen, eine Gestalt im Protektoranzug (wie alle hier) am anderen Ende des Bunkers. »Der Befehl, XN 3?« fragte er rasch, und sein Puls beschleunigte sich. »XN 2: Nehmen Sie Notausrüstung, wiederholen Sie jetzt, Rakete 3333 zu VV, zeigen Sie Zeichen«, – er hielt ihm eine leucht-orange, mit ein paar großen schwarzen Buchstaben bedruckte Karte hin – »und verfahren Sie dann nach Anordnung.« H reckte grüßend den Daumen seiner rechten, leicht zur Seite gestreckten Faust empor. »XN 3, ja, Notausrüstung, 3333 Raketenzeichen«, (er hatte es in seinen linken Handschuh genommen) und »VV-Befehl; Ausführung!« Er übersah Bs Nicken, als er zum Ausgang ging, ein kleines Bündel (eins von fünfzehn) vom vierten Haken nahm, die Rutsche zu einer von einer Brennstoffzelle erleuchteten Kaverne hinunterglitt, einen Knopf in der Wand drückte, beobachtete eine Leuchtanzeige, sprang in den niedrigen Wagen, als er um die Ecke kam und kauerte sich wie ein Fötus zusammen. Sein Gewicht löste den Schließmechanismus der Wagentür aus, und der Wagen (seine Haltevorrichtung hatte Hs Körper umfaßt) sauste durch einen Schacht davon. Fünfundzwanzig Sekunden nachdem er »Ausführung« gesagt hatte, nahm H in der vorderen Empfangszelle von Station VV, fast einen Kilometer weiter unten, wieder normale Körperhaltung an. Er kroch aus dem Raketenwagen, der sich sogleich entfernte, ging in dieser größeren Version seines Nord-Habitats zehn Schritte weiter, grüßte mit aufwärts gerichtetem Daumen und präsentierte Two-Up (erkenntlich an Helmfarbe und Helmemblem) sein Zeichen, wobei er gleichzeitig sagte: »XN 3 zur Stelle, abgelöst.« »XN 1 an XN 3: Nehmen Sie dies« (er holte eine ähnliche orange Karte aus seiner Tasdie und gab sie ihm) »und nehmen
Sie Zug nach unten, in – 70 Sekunden. Übrigens, haben Sie je einen Prähis gesehen?« »Nein, Sir.« »Dann schauen Sie hier durch; sieht wie ein Pteros aus, aber primitiver.« Das Infrarot-Teleskop, nach Nordwesten gerichtet, ging durch die vordere Sichtblende, die ich exakt nördlicher Richtung hier vierzig Meter entfernt war. Etwas oberhalb, doch noch nicht ganz bei der dunklen Infrarot-Barriere, konnte man zwei lautlos schreiende und heulende schuppige Tiere sehen. Sie hatten etwa die Ausmaße größerer Hunde, besaßen aber zwei Beine und schwere Flügel und hüpften um einen Felsbuckel oder -brocken herum. Vielleicht waren sie getroffen worden, dachte H, doch hatten sie an dieser unwirtlichen Stelle kaum etwas zu suchen. »Danke; eigenartig«, sagte er. Elf der siebzig Sekunden waren verstrichen. Er nahm einen Druckbehälter von der Wand und trank durch den Helm aus einer Maschine. Siebzehn Sekunden; blieben noch dreiundfünfzig. »XN 1 an XN 3; wie steht es dort oben?« Natürlich war Bericht zu erstatten: XN 2 kehrte vielleicht nicht mehr zurück, und in diesen Breiten war die Kommunikation zeitauf oder zeitab über mehr als ein paar Meter fast unmöglich. »XN 3. Die Lage hat sich den ganzen Tag zugespitzt; ich fürchte, im Lauf der nächsten Stunde könnte ein Durchbruch versucht werden – nur eine Vermutung natürlich. Aber etwas Derartiges habe ich während meiner ganzen Zeit hier oben noch nicht gesehen. In W werden Sie das sicherlich auch festgestellt haben.« »XN 1, danke für den Bericht«, war die ganze Antwort. Aber er konnte selbst hören, daß die Attacke viel heftiger war als irgendeine, die er in diesem Bereich schon erlebt hatte.
Nur noch siebenundzwanzig Sekunden. Er grüßte und verließ dann mit seiner N-Ausrüstung und dem neuen Zeichen den Bunker. Er zeigte dem Wächter die Karte; der stempelte sie und deutete wortlos auf einen Korridor. H ging ihn entlang und erreichte am anderen Ende eine kleine Galerie. Eine KabinenHängebahn mit Schiebetüren, die Zugang zu kleinen Abteilen gaben, glitt lautlos herbei. Ein Galerie-Wächter winkte, als H und zwei andere Wartende Türen öffneten, deren Indikatoren unbeleuchtet waren. Die Türen schoben sich zu, und H fand sich sanft an einen schräg nach hinten geneigten Sitz gefesselt. Der Zug beschleunigte abwärts. Nach zehn Sekunden machte er am nächsten Kontrollpunkt halt. An der Decke des Abteils erschien eine Leuchtschrift ABZWEIGUNG LINKS, wahrscheinlich weil die direkte Strecke zerstört worden war. Der Zug schien jetzt zu beschleunigen, bog aber sanft nach links (das konnte H spüren), und hielt an zwei weiteren Kontrollpunkten, bevor er wieder nach rechts bog, abbremste, hielt und seine Türen öffnete. Nach Hads persönlichem Chronographen waren etwa vierhundertachtzig Sekunden vergangen und nicht zweihundert, wie er erwartet hatte. Zu diesem Zeitpunkt war wieder Tageslicht zu sehen. Had befand sich jetzt etwa fünfzehn Kilometer südlich und fast dreitausend Meter unterhalb des obersten Bunkers, wo XN 2 ihn abgelöst hatte. Hier verbarg ein von Riesenflechten überwucherter Bergrücken die vordere Sichtbarriere; die südliche Barriere hingegen war in etwa vierhundert Metern Entfernung als eine schwarz-violette Nebelwand zu erkennen. Flechten und eine grasartige Vegetation bedeckten den größten Teil der hauptsächlich aus Höhlen und Schluchten bestehenden Landschaft. Der immer noch hörbare Kriegslärm vermischte sich mit dem Brausen eines Sturms, doch lagen die Einschläge meistens ziemlich fern, und es war auch verhältnismäßig wenig Zerstörung zu sehen. Droben am Himmel ging es
turbulent zu. Ein paar sehr merkwürdig aussehende Tiere, die wie eine Kreuzung zwischen einer Eidechse und einem Hermelin wirkten, hüpften auf einem Baum-Farn herum. Außer Had stiegen noch sechs Männer aus dem Zug. Fünf davon marschierten in zwei Gruppen nach Osten. Einer (er gehörte nicht zu denen, die in W eingestiegen waren) blieb bei Had. »Ich bin unterwegs zum Großen Tal; habe es seit zwanzig Tagen nicht mehr gesehen; alles wird anders sein. Schickt man Sie weit?« fragte die Stimme des anderen durch den Transceiver in Hads rechtes Ohr. »Ich… ich… ich bin abgelöst worden«, sagte Had zögernd. »Und ich bin… desintegriert!« war alles, was der andere hervorbrachte. Dann, nach einer Minute: »Wo wollen Sie hin?« »Werde wohl irgendein Geschäft anfangen unten im Süden. Ich brauche Wärme, Wärme und Vegetation. Ich habe da ein paar Techniken, die ich in irgendeiner Art Management gut einsetzen könnte. Tut mir leid – wollte Sie nicht damit behelligen –, aber Sie fragten mich ja.« »Schon gut. Sie haben aber auch wirklich Glück. Ich bin noch nie einem Mann begegnet, der abgelöst worden war. Machen Sie guten Gebrauch davon, ja? Dann wird das Spiel hier oben der Mühe wert – ich meine, wenn man einen Mann trifft, der zu all den anderen geht, die wir hier beschützen sollen – in einer gewissen Weise werden sie so für uns wirklich.« »Sehr nett, daß Sie es so sehen«, sagte Had. »Ja – ich meine es wirklich so. Sonst würden wir uns doch fragen, ob es überhaupt jemand gibt, für den wir die Front halten.« »Wenn es niemanden gäbe, wo käme dann die Technik her, die es uns erlaubt, hier oben auszuhalten?« entgegnete Had.
»Ein paar von den Technischen Colleges im Großen Tal könnten genügend Technik dafür entwickelt haben.« »Ja, aber denken Sie an all die reine Wissenschaft, die nötig ist, um diese Techniken anzuwenden; ob diese Grundlagen alle in den Tedmischen Colleges des Tales geschaffen worden sind, bezweifle ich.« »Vielleicht nicht – es geht auch ein bißchen über meinen Horizont«, sagte die Stimme des anderen mit leicht beleidigtem Unterton, und sie warteten schweigend, bis der nächste Wagen der Seilbahn erschien. Had ließ den Mann einsteigen – das glaubte er ihm schuldig zu sein – und eine Minute später (in seinem ersten Bunker nur fünf Sekunden, dachte er plötzlich ironisch) erschien der nächste Wagen. Er sprang hinein; ein sehr eigenartig aussehender purpurner Vogel: mit langem, nacktem Hals landete im gleichen Augenblick auf dem Baum-Farn der Eidechsen-Hermeline. Der Wagen sauste über die Schlucht und die Höhlen hinunter, wobei der violette südliche Vorhang noch schneller davon zurückwich. Als die Zeitsteigung flacher wurde, funktionierte sein Gehirn allmählich besser, und ein Gefühl der Bedeutsamkeit und des Wohlbehagens breitete sich in ihm aus? Die Geschwindigkeit des Wagens verringerte sich. Als es nur fünfzig Meter unter ihm und wahrscheinlich zufällig zwei chemische Explosionen gab, war er froh, noch seinen Protektor-Anzug zu tragen. Noch glücklicher darüber war er, als eine dritte Detonation weiter unten das Kabel selbst zerriß und das Notkabel am nächsten Träger die Kabine stoppte. Er fuhr mit dem Aufzug des Trägers hinunter und sprach, den Transceiver nahe an den Hörer haltend, in das am Fuße befindliche Telefon. Man wies ihn an, drei Meilen westlich zur nächsten Seilbahn zu gehen. Der Mann am anderen Ende der Leitung mußte sich auf ziemlich derselben Breite wie er befinden, vermutete er, denn über eine Distanz
von ein paar Metern hinaus war auch hier eine Verständigung in nord-südlicher Richtung fast unmöglich. Auch so klang die Stimme seines Gesprächspartners quietschig, und was er sagte, kam hastig und abgehackt. Seine eigene Stimme, vermutete er, würde für den anderen ähnlich verfremdet klingen. Seinen »Läufer« benützend, steuerte er mit Hilfe des Kompasses durch Schluchten und Täler, wobei ihm die Sichtbarrieren und der Dopplersche Farb-Äquator zur Orientierung dienten. »Der Mann kann leicht über Technische Colleges reden«, dachte er, »aber er muß doch begreifen, daß in einem so nördlichen Gebiet wie dem Großen Tal keine Zivilisation hätte entstehen können: Es ist sogar viel zu jung, um selbst Menschen entwickelt zu haben – zumindest an diesem Ende; ich bin nicht sicher, wie weit südlich das östliche Ende liegt.« Der Weg war nicht ohne Gefahren: Mehrmals gab es ganz nahe Explosionen und etwas, was – leicht zu übersehen – ein künstlicher Ansteckungsstoff zu sein schien, lag in zwei Senken, die er vorsichtigerweise umging. Außerdem ging in einem malvenfarbenen Dickicht ein riesiger Faultier-Bär auf ihn los, den er mit seinem Blitzgewehr erledigen mußte. Aber für jemand, der wie er eben aus dieser Berghölle kam, war dies alles mehr wie ein vergnüglicher Spaziergang. Endlich kam er zu der Reihe der Träger und drückte am Fuße des ersten, nachdem er sich vergewissert hatte, daß seine Breitennummer so ziemlich stimmte, den Telefonknopf. Die gleiche Stimme, jetzt nicht mehr ganz so fremdartig und hastig klingend, sagte ihm, daß in fünfundvierzig Sekunden ein Wagen kommen und an diesem Träger halten würde; wenn er das nicht tat, sollte er den Notknopf drücken. Trotz seines »Läufers« war fast eine Stunde vergangen, seit er sich auf den Weg gemacht hatte. Etwa neunzig Minuten war es her, seit er
den obersten Bunker verlassen hatte – gut eineinhalb Minuten nach der dortigen Zeit. Die Kabine kam und hielt, und er kletterte hinauf und hinein, und dieses Mal verlief die Fahrt ohne Zwischenfälle, von ein paar plötzlichen Böen und dem Vorbeiflug von Schwärmen nervöser Krähen abgesehen, bis die Kabine die Endstation, einen am Heidekraut überwachsenen Abhang stehenden Turm, erreichte. Drunten kam ihm eine Kabine entgegen, und als sie aneinander vorbeifuhren, rief ihm der Mann darin durch den Transceiver zu: »Sie sind der erste!« Natürlich standen in der Endstation ungefähr zwanzig Mann in voller Ausrüstung herum – fast genug, dachte Hadol, um ihren Hinauftransport per Polyheli zu rechtfertigen, statt sie auf die in längeren Abständen ankommenden Kabinen warten zu lassen. Sie sahen recht aufgeregt und gar nicht niedergeschlagen aus, aber Hadol ließ sich nicht dazu verleiten, seine Zukunft zu offenbaren. Er ging hinüber zu den Sperrklinken-Wagen und fand sich in einer Gruppe von Männern wieder, die sich mehr für die Landschaft als für einander interessierten. Etwa fünfhundert Meter nördlich umhüllte ein rötlich-dunkler Vorhang von schwer einzuschätzender Dicke die Bergkämme, und im Süden setzte in ungefähr der gleichen Entfernung ein bläulicher Nebel dem Blick in das Tal ein Ende. Die Zone dazwischen jedoch war einigermaßen klar und zeigte keine erkennbaren Spuren eines Kriegs. Die Hänge waren oben mit Tannen-, weiter unten mit Eichen- und Eschenwäldern bestanden, die am Rande des Großen Tales den Blicken entschwanden, dessen Wiesen jedoch noch jenseits des Abgrundes erkennbar waren. Wolkenschatten bewegten sich wie spielerisch über den Boden, Regen und Hagel entluden sich in vereinzelten Schauern, und dann und wann flammte ein Blitz, grollte der Donner. Da und dort war kurz Wild zu sehen, und Mücken tanzten in dichten Wolken über den Bäumen.
Eine Fahrt von etwa fünfzig Minuten brachte sie hinunter, durch zwei verlassene Stationen, durch zwei schleifenförmige Tunnels und Wasserfälle und an Felsen vorbei, wo Eichhörnchen von einer baumelnden Wurzel zur anderen hüpften, durch eine immer wärmer und wärmer werdende Luft zu den Weiden und Kornfeldern des Großen Tales, wo Emmel, ein kleines Dorf aus Betonhütten und Blockhäusern auf einem Hügel oberhalb des gewundenen Flusses lag und eine große Straße parallel zu einer Eisenbahnlinie geradewegs nach Osten führte. Der Fluß war hier nicht sehr breit – ein seichter, kiesiger, aber angenehm anzusehender Wasserlauf, und das Große Tal (dessen ganze Breite von hier aus zu sehen war) maß an diesem westlichen Punkt nicht mehr als fünfhundert Meter von einer Flanke zur anderen. Die südlichen Hänge, die das nordwestliche Plateau eingrenzten und jetzt ebenfalls zu sehen waren, waren mit Büschen bedeckt. Der krasse Gegensatz zu dem, was sich oben – und nach der dortigen Bunkerzeit, vielleicht vor vier Minuten – abspielte, machte Hadolar fast trunken vor Freude. Er wies sein Leuchtzeichen vor und ließ es (und seine persönliche Erkennungsmarke) vom Kommandierenden der Wache der Militärbasis auf Strahlung untersuchen, gegenzeichnen und stempeln. Den Abriß des Zeichens erhielt er zurück und steckte ihn in die Identitätsscheibe, die in eine seiner Rippen eingelassen war; der andere Teil kam zu den Akten. Er stieg aus seinem Protektor-Anzug und seinem »Läufer«, gab seine Waffe samt Munition und die M-Ausrüstung zurück und erhielt zwei Hefte mit je eintausend Kreditzeichen sowie einen provisorischen Zivilanzug. Eine Ordonnanz überwachte das ordnungsgemäße Einführen des Abrisses in seine Identitätsscheibe. Seit seiner Ankunft hier waren genau zweihundertfünfzig Sekunden vergangen – zwei Sekunden
oben im obersten Bunker. Als er hinausging, hatte er ein Gefühl, als hätte er die ganze Erde geerbt. In der Luft lag der Duft von Heu, Blumen und Mist. Der Geruch machte ihn fast trunken. Im Frischhaus bestellte, bezahlte und trank er vier Dezi hellen Bieres, ließ dann ein Sandwich und einen Apfel kommen, zahlte und aß. Der nächste Zug nach Osten, erfuhr er, würde in einer Viertelstunde gehen. Vielleicht eine halbe Stunde war er jetzt hier gewesen. Es blieb keine Zeit mehr, sich den Fluß anzusehen, aber er ging an den Schalter, verlangte ein Ticket nach Veruam am Meer, das etwa sechshundert Kilometer östlich und wie ihm die detaillierte Stationskarte zeigte, etwa fünfzig Kilometer nach Süden zu lag, zahlte und suchte sich, als der Zug einfuhr, ein Abteil aus. Ein Farmermädchen und ein schläfrig aussehender männlicher Zivilist, wahrscheinlich ein Lieferant der Armee, stiegen bald nach Hadolar ein. Nur sie drei waren im Abteil, als der Zug anfuhr. Er schaute mit Interesse zu dem Farmermädchen hinüber – sie war blond und sanft und die erste Frau, die er seit hundert Tagen, gesehen hatte. Die Mode hatte sich seit gut dreißig Jahren nicht grundlegend geändert, zumindest nicht bei den Farmmädchen von Emmel. Nach einer Weile wandte er seinen Blick ab und betrachtete die Landschaft. Das Tal war im Norden und Süden von Böschungen aus gelblichem Stein eingesäumt. Selbst von hier aus war ein farblicher Unterschied wahrnehmbar – das Tal war jetzt etwas breiter geworden; oder aber er bildete sich das nur ein, und der Unterschied beruhte nur auf normalen Lichteffekten. Der Fluß schlängelte sich anmutig von einer Seite zur anderen und umschloß dann und wann kleine, mit Haselnußbüschen bewachsene Inseln. Ab und zu waren Angler zu sehen, die am Ufer saßen oder im Wasser standen. Immer wieder kamen sie an Farmhäusern vorbei. Im Norden stieg die
hohe Flanke des Tales jetzt steil an; sie wies keine Merkmale menschlichen Lebens auf, außer Seilbahnstationen und einzelne Heliports, bis sie in dem gewaltigen kupferroten Vorhang des Nichts verschwanden, der unmerklich aus dem Zenith eines halb mit Wolken bedeckten grünen Himmels herauswuchs. Wirbelbildungen in den Wolken verrieten die Einwirkung der Zeit-Steigung auf das Wetter, und seltsam anmutende Blitze, die im Kriegsgebiet weiter nördlich nicht festzustellen waren, schienen zwischen ihnen Pirouetten zu drehen. Nach Süden zu war das Plateau immer noch durch die Kante des Abhangs verdeckt, aber der Beginn des dunkelblauen Nebels war oberhalb der Böschung am Himmel zu bemerken. Der Zug hielt an einem Bahnhof, und das Mädchen stieg aus. Hadolar sah es mit Bedauern. Zwei Soldaten in Sommeruniform stiegen ein und tauschten Erinnerungen aus: Sie hatten Kurzurlaub für den nächsten Haltepunkt, Granev, eine kleine Stadt, beäugten Hadolars provisorischen Anzug; sagten aber nichts. Granev war hauptsächlich aus Stahl und Glas erbaut: Kein besonders aufregender Ort. Er bestand aus zwei acht Kilometer langen, zwanzig Stockwerke hohen, durch ein Zwischendach verbundenen Streifen zu beiden Seiten der Straße. (Wie gut, dachte Hadolar, daß Sprache und Verkehr in diesem Großen Tal nicht durch Breitenprobleme beeinträchtigt waren – das galt für die gesamten sechshundert Kilometer.) Jetzt war auch Industrie zu sehen und einige der Technischen Colleges. Das Tal hatte sich verbreitert, bis sich die südlich gelegenen Felsen in einem halben Kilometer Entfernung in bläulichem Dunst verloren. Die nördlichen Berge ragten rauchig-rotbraun himmelwärts, bis auch sie vom Nebel verschluckt wurden. Die Breite des jetzt durch Zuflüsse verstärkten Wasserlaufs betrug mehrere hundert Meter, und er wirkte tief, wo immer ihn die Eisenbahnlinie kreuzte. Noch hatten sie keine hundert
Kilometer zurückgelegt. Die Luft war jetzt noch wärmer, die Vegetation vielfältiger. Die Passagiere waren nun fast ausschließlich Zivilisten, und manche von ihnen registrierten Hadolars provisorischen Anzug mit ironischen Blicken. In Veruam würde er sich bei erster Gelegenheit mit Garderobe eindecken, beschloß er. Aber im Augenblick hatte er nur eines im Sinn: So viel Entfernung wie möglich zwischen sich und diesen Bunker zu legen, und das in der kürzesten persönlichen Zeit. Einige Stunden später kam der Zug in Veruam am Nordöstlichen Meer an. Fünfzig Kilometer lang und vierzig Stockwerke hoch, von Norden nach Süden fünfhundert Meter breit, war es eine imposante Stadt. Von den Außenbezirken aus war nichts als Ebene zu sehen, denn nach Norden hin deckte der rötliche Nebel ab einer Entfernung von sechstausend Metern alles zu, und der bläuliche Dunst ließ im Süden jenseits von zehn Kilometern Distanz nichts mehr erkennen. Ein wohlgenährter Hadolaris besuchte einen der städtischen Wiedereingliederungs-Berater, denn die zivile Technik hatte sich inzwischen beträchtlich entwickelt, und auch die Zahl der verwendeten Materialien war enorm angestiegen. Sprachlaute und Redewendungen hatten sich in verwirrender Weise verändert, und auch der Kodex des sozialen Verhaltens war jetzt ganz und gar anders. Bewaffnet mit ein paar Handbüchern, einem Taschenrecorder und einigen Aufnahmen von Standardsprachformen und volkssprachlichen Ausdrücken, kaufte er rasch leichte Kleidung, Schlechtwettersachen, Schreibgerät, weitere Tonaufzeichnungsapparate, Reisetaschen und andere Gegenstände des persönlichen Bedarfs. Nach einer Nacht in einem guten Gästehaus sprach Hadolaris bei den Einstellungsbüros von sieben subtropischen Entwicklungsgesellschaften vor, wurde getestet und bestieg, versehen mit sieben Empfehlungsbriefen, den Nachtzug, der
am Nordöstlichen Meer entlang zum fünfhundert Kilometer südlich gelegenen Pluluetang fuhr. Einer der Schneider, die für ihn gearbeitet hatten, hatte ihm eröffnet, daß man in ruhigen Nächten sehr dumpfes Grollen hören konnte, vermutlich aus den Bergen im Norden. Hadolaris wollte so weit vom Norden weg, wie er nur irgendwie konnte. Zwischen Palmen und Savannengras erwachte er. Von keiner der beiden Sichtbarrieren war hier irgend etwas zu sehen. Die Stadt verteilte sich auf kompakte Blöcke aus vielstöckigen Gebäuden, die durch Waldgürtel unterteilt und durch Straßen und Einschienenbahnen verbunden waren. Im Gegensatz zu den Städten des Großen Tales war sie nicht in einer ostwestlichen Linie ausgerichtet, wenngleich die Nord-Süd-Achse relativ kurz war. Hadolarisondamo suchte sich ein kleines Gästehaus, studierte einen Plan der Stadt und ihrer Industriegebiete, kaufte sich einen Führer für die Region und streifte tagelang forschend umher, bevor er die sieben Gesellschaften selbst besuchte. Die Abende verbrachte er in Erwachsenenkursen; nachts nahm er schlafend und unbewußt die Sprachform-Aufnahmen in sich auf. Nach neunzehn Tagen schließlich (etwa vier Stunden auf der Breite von Veruam, vier Minuten auf der von Emmel und weniger als zwei Sekunden im oberen Bunker, überlegte er) erhielt er eine Anstellung als Assistent der Verkaufsdirektion bei einer Firma für Pflanzenprodukte. Wortkommunikation war, wie er feststellte, in nördlicher und südlicher Richtung über eine Anzahl von Kilometern hinweg durchaus möglich, vorausgesetzt, man kannte die Regeln. Die Zoneneinteilung war hier alles andere als streng, und Reisen sowie die Ausübung sozialer Verhaltensweisen über ein weites Gebiet hin möglich. Militär sah man selten. Hadolarisondamo kaufte sich ein Automob und, nach einem gewissen Aufstieg in der Hierarchie der Firma, zum Vergnügen ein zweites. Er
konstatierte, daß man ihn leiden konnte, und hatte bald einen Freundeskreis und mehrere Hobbies. Nach einer Anzahl Liebesaffären heiratete er ein Mädchen, dessen Vater eine höhere Position in der Firma bekleidete, und wurde, als er etwa fünf Jahre in der Stadt gelebt hatte, Vater eines Jungen.
»Arison!« rief seine Frau vom Boot herüber. Ihr fünfjähriger Sohn plätscherte mit den Füßen im warmen Wasser des Sees. Hadolarisondamo war auf der kleinen Insel und malte; auf der Leinwand entstand mit raschen Strichen ein Muster von Licht und Schatten über den Bäumen einer kleinen, sumpfigen Bucht. »Arison! Ich krieg das Ding hier nicht zum Laufen. Könntest du ‘rüberschwimmen und es versuchen?« »Fünf Minuten noch, Mihanyo. Muß das noch schnell fertigmachen.« Karamihanyolasye seufzte und angelte, am Bug des Bootes stehend, weiter, doch ohne viel Hoffnung. Hier war es so ruhig, daß einfach nichts anbiß. Ein Sittich flog rechts in die Zweige. Deresto, der Junge, hörte zu plätschern auf, holte das Kastenfenster herüber, senkte es ins Wasser und bat Mihanyo, das Licht anzuschalten. Dann spähte er in verschiedenen Richtungen hinunter und stieß entzückte Schreie aus, wenn kleine Fische von verschiedenen Formen und Farben vorüberschossen. Arison legte alsbald seine Staffelei zusammen, schlüpfte aus seiner Hose und schwamm herüber. Es gab keine Krokodile in diesem See, Flußpferde waren nicht in der Nähe, Filariasis und Bilharzia waren hier ausgerottet. Nach zwanzig Minuten Bastelei drehte sich die von einer Brennstoffzelle betriebene Schraube wieder, und das Boot brachte sie hinüber zu der Insel, wo seine Malsachen lagen und von dort über den See zur Mündung eines kleinen Baches. Sie
fingen vier Fische. Dann ging es bei sinkender Sonne zurück zur Mole, und dann heim im Automob. Als Deresto acht war und formell Lafonderestonami genannt werden konnte, hatte er eine Schwester von drei Jahren und einen kleinen einjährigen Bruder. Er war ein guter Schwimmer und Segler und entwickelte sich sowohl zu Hause als auch in der Schule zu einem geschickten Organisator. In seiner Firma war Arison jetzt an die dritthöchste Stelle aufgerückt, was ihn aber nicht aus dem seelischen Gleichgewicht bringen konnte. Den Urlaub verbrachte man entweder in den tiefen Tropen (wo man durch den Zeitwechsel gewann) oder in den Vorgebirgen der Südküste des Nordostmeeres (Wo man einbüßte), oder zunehmend auch im westlichen Hochland, einem flußreichen Agrargebiet, wo man von vielen Stellen aus eine bemerkenswert gute Aussicht auf die Welt hatte, und wo das Formenspiel der Landschaften sich frei entwickeln konnte. Selbst dort waren, vor einem Hintergrund aus dunklem Himmel, die Sichtbarrieren nebelhaft am nördlichen und südlichen Horizont zu erkennen. In schlaflosen Nächten dachte Arison manchmal an die »Vergangenheit«. Angenommen, daß es nach seiner Ablösung bald, beispielsweise in einer halben Stunde, zu einem Durchbruch gekommen wäre – angesichts der Zeit-Kontraktion in südlicher Richtung, sagte er sich, konnte dies kaum Auswirkungen auf sein Leben hier im Süden oder das seiner Frau oder der Kinder haben. Außerdem mußten, da nie etwas weiter südlich als bei einem Punkt nördlich von Emmels Breite einschlug, die ballistischen Angriffe von einem Punkt nahe der Grenze ausgehen. War dies nicht der Fall, dann mußte der Feind ohne jede Kenntnis der Zeitsteigung oder aber der Geographie des Südens sein, dann aber war es für ihn nicht erfolgversprechend, von einem weit nördlich der Grenze gelegenen Gebiet aus Raketen weit in den Süden zu schießen.
Und selbst der schnellste Heli konnte, so vermutete er, gegen die Zeit-Konzeleration nicht ankommen. Anpassungsfähig wie er war, hatte Arison nicht lange unter den Unzuträglichkeiten gelitten, welche die Rückkehr nach einer Zeit an der Front mit sich brachte. Zugverkehr und andere Arten der Kommunikation hatten eine gewisse Vereinheitlichung von Sprache und Ethos mit sich gebracht, wenngleich natürlich die oberen Bereiche des Großen Tales und die Militärzone in den Bergen des Nordens linguistisch und soziologisch einigermaßen isoliert waren. Auch im westlichen Hochland gab es noch vereinzelt Gebiete mit älteren linguistischen Formen und altmodischen Verhaltensweisen, wie die Familie bei ihren Urlaubsaufenthalten feststellte. Alles in allem jedoch sprach das ganze Land das Idiom des »zeitgenössischen« subtropischen Flachlandes, modifiziert freilich durch die Onomatosyntomie oder »Kurzform« der betreffenden Breite. Ein »zeitgenössischer« ethischer und sozialer Kodex hatte sich ebenfalls ausgebreitet. Man kann sagen, daß die südliche Gegenwart die nördliche Vergangenheit kolonisiert hatte, sogar die geologische Vergangenheit, so, wie es etwa Vögel und andere, weite Strecken zurücklegende Tiere getan hatten, aber mit den größeren Möglichkeiten menschlichen Geistes, menschlicher Flexibilität, menschlicher Traditionen und Techniken. Gewöhnliche Menschen kümmerten sich kaum um den Krieg. Die Zeit-Konzeleration war auf ihrer Seite. Ihre überschüssigen geistigen Energien flossen in eine Vielfalt von Spielen, Verrichtungen, Darstellungen aller Art, in Vergnügungen und Diskussionen, in Kritik und theoretische Erörterungen und Organisation, Kooperation, letzteres aber selten über die Grenzen der eigenen Zone hinweg. Arison gehörte zu einem Dutzend miteinander in Wechselbeziehung
stehender Zirkel, und Mihanyo zu noch mehr. Nicht, daß sie niemals allein gewesen wären: Das gemächliche Arbeits- und Lebenstempo mit »Doppelwochen« von fünf Arbeits- und zwei Feiertagen sowie sieben Arbeits- und sechs arbeitsfreien Tagen ließ einem viel Muße, die man nach eigener Neigung verwenden konnte. Arison beschäftigte sich mit GewebeSkulptur und kehrte nach zwei Jahren wieder zur Malerei zurück, jetzt aber mit dem Magnetpinsel statt mit dem SprayStift. Mihanyo ihrerseits wurde Musikerin. Deresto war mit dreizehn ins athletische Alter gekommen; daß er einmal beträchtlichen Einfluß auf Individuen und Gesellschaft haben würde, zeichnete sich jetzt schon ab. Seine achtjährige Schwester war eine große rednerische Begabung. Der sechsjährige Junge würde, so hofften sie, Schriftsteller werden, zumindest in seiner freien Zeit: Er hatte ein waches Auge und teilte gerne anderen mit, was er sah. Als Arison zweiter Mann in der Firma war, war er damit zufrieden: Eine Tätigkeit an der Spitze hätte zu viel über ihn offenbar werden lassen. Gelegentlich beteiligte er sich an den Geschäften der örtlichen Verwaltung, aber nur in kleinerem Rahmen. Von ihrem Boot aus, das vor einem der Küstengebirge des nordöstlichen Meeres lag, sahen Mihanyo und Arison bei einem Feuerwerks-Festival zu. Die tintige Schwärze der nördlichen Sichtbarriere, die in einem gigantischen Bogen die Sterne verdeckte, bildete einen samtig-feinen Hintergrund für das Schauspiel. Glücklicherweise war das Wetter gut. Die Umrisse der Feuerwerksboote waren gerade noch zu erkennen. In einer Welt ohne Mond war das Vergnügen einer »weißen Nacht« oft nur mit solchen Mitteln erreichbar. Das Mädchen und Deresto schwammen um das Boot herum. Sogar den kleinen Jungen hatte man herausgeholt, und er starrte ziemlich trübäugig nordwärts. Endlich ging der dreifache grüne Stern auf, und das Schauspiel war vorüber; auf den
Feuerwerksbooten hatte man eine Mitternacht erreicht. Deresto und Venoyye wurden mit einer Lampe gesucht und schließlich überredet, wieder ins Boot zu steigen; leicht zitternd und wie zwei Kobolde herumhüpfend, trockneten sie sich im Warmluftgebläse. Silarre schlief, als Arison das Boot zum Ufer steuerte. Auch Venoyye hatte der Schlaf übermannt, als sie den Kai erreichten. Ihre Eltern mußten sie zu ihrem unweit gelegenen Haus hinübertragen. Am nächsten Morgen packten sie und machten sich im Automob auf den Heimweg. Ihr zwanzigtägiger Urlaub hatte sie 160 Tage Oluluetang-Zeit gekostet. Heftiger Regen fiel, als sie die Stadt erreichten. Als die Kinder versorgt waren, führte Mihanyo über das Opsiphon ein langes Gespräch mit ihrer Freundin über die Breite von Oluluetang hinweg: Sie (die Freundin) war mit ihrem Mann im westlichen Hochland gewesen, um dort Dachse zu beobachten. Schließlich beteiligte sich auch Arison an dem Gespräch und tauschte nach einiger allgemeiner Konversation mit dem Gatten der Freundin Meinungen über Lokalpolitik aus. »Was für ein Jammer, daß man hier unten so schnell alt wird«, beklagte sich Mihanyo an diesem Abend; »wenn das Leben nur ewig dauern könnte!« »Ewig ist ein großes Wort. Außerdem, wenn man hier unten ist, hat das keinen Einfluß auf das Gefühl – du empfindest hier auch nichts schneller als oben am Meer, oder?« »Das wohl nicht. Aber wenn nur…« Um sie auf andere Gedanken zu bringen, begann Arison über Deresto und seine Zukunft zu sprechen. Und bald waren sie eifrig dabei, das Leben ihrer Kinder zu planen, wie das Eltern nun einmal tun. Mit seinem Einkommen konnten sie dem Jungen eine großartige Verwaltungslaufbahn ermöglichen und würden immer noch genug haben, um den anderen alle Chancen offenzuhalten.
Am nächsten Morgen verabschiedete sich Arison von seiner Frau und fuhr ins Büro, um seine Tätigkeit wieder aufzunehmen. Der Tag war überaus arbeitsreich. Als er gegen Abend sein Automob aus der Garage holen wollte, standen drei Uniformierte um das Fahrzeug herum. Er sah sie fragend an, als er sich, seinen persönlichen Puls-Schlüssel in der Hand, ihnen näherte. »Sie sind VSQ 389 MLD 194 RV 27 XN 3, bekannt als Hadolarisondamomo, wohnhaft« (der Anführer der drei nannte die Adresse) »und heute Subpräsident dieser Firma.« Der Ton des Mannes war kalt, die Worte eine Feststellung und keine Frage. »Ja«, flüsterte Arison, als er die Sprache wiedergefunden hatte. »Laut diesem Befehl unserer Streitkräfte haben Sie unverzüglich wieder dort anzutreten, wo Sie abgelöst wurden. Sie müssen sofort mit uns kommen.« Der Anführer holte ein leuchtoranges Zeichen mit schwarzen Markierungen hervor. »Aber meine Frau – meine Familie!« »Werden informiert. Wir haben keine Zeit.« »Meine Firma?« »Ihr Chef wird benachrichtigt. Kommen Sie jetzt.« »Ich… ich… ich muß meine Sachen in Ordnung bringen.« »Unmöglich. Keine Zeit. Die Lage läßt das nicht zu. Ihre Familie und Ihre Firma werden das alles regeln. Unsere Order hat absoluten Vorrang.« »Ha… Ha… Haben Sie eine Vollmacht? Kann ich sie bitte sehen?« »Dieses Zeichen dürfte genügen. Es entspricht dem Abriß, den Sie hoffentlich immer noch in Ihrer Identitätsscheibe haben – wir werden das unterwegs überprüfen. Kommen Sie jetzt.«
»Aber ich muß Ihre Vollmacht sehen. Woher soll ich denn wissen, daß Sie mich nicht ausrauben wollen oder so was?« »Wenn Sie den Code kennen, wissen Sie, daß diese Symbole den Eintritt einer ganz bestimmten Situation bedeuten. Aber bitte: Sie können diesen Befehl einsehen. Rühren Sie ihn jedoch nicht an.« Die beiden anderen traten hinzu. Arison sah, daß ihre Blitzpistolen auf ihn gerichtet waren. Der Anführer holte ein Dokument hervor. Soweit Arison die im Licht der Taschenlampe des Anführers vor seinen Augen tanzenden Buchstaben ordnen konnte, handelte es sich um einen Befehl, ihn heute zu einer bestimmten Zeit abzuholen, wenn möglich unmittelbar beim Verlassen seiner Arbeitsstelle (folgte die genaue Bezeichnung); gleichzeitig sollte ein Mann über Opsiphon Mihanyo benachrichtigen und ein anderer den Präsidenten der Firma anrufen. Der Wiederrekrutierte und ein Begleiter sollten den Militärzug nach Veruam nehmen (der in etwa fünfzehn Minuten abfuhr). Der Wiederrekrutierte sollte so schnell wie möglich zum Bunker (W) und von dort zum oberen Bunker verbracht werden (von dem er vor zwanzig Jahren, nach Bunkerzeit freilich nur vor zehn Minuten, hierher gekommen war, schoß es Arison durch den Kopf – von den sechs oder sieben Minuten seiner Fahrt abgesehen). »Woher will man denn wissen, ob ich nach so vielen Jahren dieser Aufgabe überhaupt noch gewachsen bin?« »Man hat Sie natürlich nicht ganz aus den Augen verloren.« Arison erwog, einem ein Bein zu stellen, die anderen beiden niederzuschlagen und wegzurennen, aber die Blitzpistolen dieser beiden waren fest auf ihn gerichtet. Außerdem, was würde ihm das bringen? Ein paar Stunden Vorsprung und unnötigen Schmerz, Schande und Elend für Mihanyo, seine Kinder und auch für ihn selbst, denn man würde ihn zweifellos stellen.
»Das Automob«, sagte er töricht. »Kein Problem. Ihre Firma wird das erledigen.« »Wie kann ich die Zukunft meiner Kinder sichern?« »Hören Sie auf, es hat keinen Zweck. Sie kommen jetzt mit, tot oder lebendig, tauglich oder untauglich.« Sprachlos ließ sich Arison zu einem leichten Militärfahrzeug abführen. In fünf Minuten war er in einem der gepanzerten Wagen des Zuges. Der Zug fuhr ab, und nach weiteren zehn Minuten hatte man ihm seine Zivilkleidung und alles, was er bei sich trug, abgenommen (die Sachen sollten später seiner Frau ausgehändigt werden, hörte er). Dann holte man seine Identitätsscheibe heraus, überprüfte sie und entfernte den Abriß seines Ablösezeichens. Die medizinische Untersuchung begann. Offenbar war das Ergebnis für die Militärbehörden zufriedenstellend. Man händigte ihm Militärkleidung aus. Während der schlaflosen Nacht im Zug überlegte er sich, wie er manches gemacht hatte und was aus manch anderem werden würde, an wen sich Mihanyo wenden konnte, wenn sie in Not war, wer wohl bereit sein würde, ihr zu helfen, wie sie mit den Kindern zurechtkommen würde, was sie (soweit er darüber blicken konnte) aus einem Pensionsfonds erhalten würden, den, wie man ihm zu verstehen gegeben hatte, seine Firma bereitstellen sollte, und inwieweit ihre geplante Zukunft zu verwirklichen sein würde. Das erste Grau der Morgendämmerung sah die Ankunft des Zuges in Veruam. Mit leerem Magen (er war nicht in der Lage gewesen, etwas von seiner Ration zu essen) und erschöpft von mangelndem Schlaf blickte er geistesabwesend auf den Verschiebebahnhof hinaus. Die antransportierten Männer (offenbar waren nur wenige Wiederrekrutierte darunter) wurden auf geschlossene Lastkraftwagen geschafft, und der lange Konvoi machte sich auf den Weg nach Emmel.
In diesem Augenblick begann sich Hadolas Gehirn der Konzelerations-Situation zu entsinnen. Nach der Zeit des obersten Bunkers, so vermutete er, mußte seit seiner Abfahrt von Oluluetang etwa eine halbe Minute vergangen sein. In weiteren zwei Minuten würden sie Emmel erreichen. Soweit er es überschlagen konnte, würde der Weg von Emmel zu jenem Bunker weitere zweieinhalb Minuten beanspruchen. Rechnete er die sechzehn bis siebzehn Sekunden seiner zwanzig Jahre im Süden und der Fahrt dorthin dazu, dann würde er sich nicht viel mehr als zweiundzwanzig Minuten nach dem Verlassen des Bunkers dort wiederfinden. (Mihan, Deres und die anderen beiden würden fast zehn Jahre älter sein, und die Kinder hatten dann wohl schon begonnen, ihn zu vergessen.) Das Feuer war heftig wie nie gewesen, als er den Bunker verlassen hatte, und er erinnerte sich seiner Prophezeiung XN 1 gegenüber (die ihn inzwischen in mehreren Alpträumen wieder heimgesucht hatte), daß ein Durchbrach noch vor Ablauf einer Stunde erfolgen konnte. Wenn er das Trommelfeuer überlebte, würde er den Durchbruch kaum überstehen. Und einen Durchbruch wessen? Niemand hatte jemals den Feind gesehen, diesen Feind, der seit undenklichen Zeiten versuchte, die Grenze zu überqueren. Wenn er herüberkam, war die letzte Stunde dieser Rasse gekommen. Kein Schrecken, so glaubte man an der Front, war dem Schrecken dieses Augenblicks gleichzusetzen. Nach ein-, zweihundert Kilometern schlief er, in verkrampfter Stellung gegen den Nachbarn gelehnt, vor purer Erschöpfung ein. Von Zeit zu Zeit, wenn der Lastwagen hielt, sich von neuem in Bewegung setzte oder in eine Kurve ging, wachte er wieder auf. Der Konvoi raste mit Höchstgeschwindigkeit dahin. In Emmel wurden sie abgeladen. Draußen tobte ein Sturm. Der Fluß war über seine Ufer getreten. Die Kolonne wurde zum Depot geführt. Hadolar wurde herausgerufen und in ein
Gebäude gebracht, wo man ihm Impfungen gab und mit »Läufer«, Blitzpistole, N-Ausrüstung, Protektor-Anzug und anderem versah. Nach einer Viertelstunde (vielleicht sieben oder acht Sekunden Oberer Bunkerzeit) bestieg er mit dreißig anderen Männern einen Polyheli. Dieser war kaum über den ersten Bergrücken hinaufgestiegen und ins Sonnenlicht getaucht, als er auf allen Seiten Explosionen aufblitzen sah. Die Maschine arbeitete sich weiter, wobei sich die SichtVorhänge nach und nach vor ihr öffneten und hinter ihr wieder verschlossen. Wieder verschlang ihn das alte, schlafwandlerische Schwindelgefühl des Nordens. Jetzt an Kar und die Kinder zu denken, hieß, sich die Agonie eines Gespenstes aufzuerlegen, das mit ihm Geist und Körper teilte. Nach fünfundzwanzig Minuten landeten sie am Fuße der Bergbahnlinie. Die von ihm angenommene Bunkerzeit von »zweiundzwanzig Minuten« würde etwas kürzer sein, wie Had sah. Er wurde als dritter in das Bergbahn-Abteil gepackt, und nach 190 Sekunden stieg er oben aus und war auf dem Weg zu Bunker VV. XN 1 erwiderte seinen Gruß nur mit dem barschen Befehl, sich sofort per Rakete zum obersten Bunker zu begeben. Noch ein paar Augenblicke, und er stand vor XN 2. »Ah, da bist du ja. Deine Ablösung ist gefallen, deswegen haben wir dich wieder geholt. Du warst erst ein paar Sekunden weg.« Ein großes Loch in der Bunkerwand bezeugte den Vorfall. Die Leiche des Mannes wurde gerade zur Abfallauflösungsmaschine geschafft. »XN 2. Hier geht es lebhafter zu denn je. Die sind wirklich auf Draht. Jede neue Offensive von uns wird Minuten später auf gleiche Weise erwidert. Dieses neue Geschütz hatte gerade eben erst zu feuern begonnen, als gleich darauf dieselben Geschosse zurückkamen – ich wußte gar nicht, daß sie die hatten. Wie du mir, so ich dir.«
In Hs Sinn, der möglicherweise durch Hunger, Erschöpfung und große Gefühlsbewegungen klarer geworden war, blitzte ein unsäglicher Verdacht auf – ein Verdacht, den er niemals beweisen oder entkräften konnte, hatte er doch zu wenig Wissen und Erfahrung, zu wenig Überblick. Niemand hatte jemals den Feind gesehen. Niemand wußte, wann der Krieg überhaupt begonnen hatte. Information und Kommunikation waren hier oben lähmend schwierig. Niemand wußte, was eigentlich mit der Zeit geschah, wenn man sich der Grenze näherte – geschweige denn jenseits der Grenze. Konnte es sein, daß die Konzeleration dort unendlich groß wurde, und dann jenseits der Grenze – nichts war? War es möglich, daß die feindlichen Geschosse ihre eigenen waren, die irgendwie zurückkamen? Hatte der Krieg vielleicht damit begonnen, daß irgendein Bauer zum Spaß einen Stein nach Norden warf, der dann zurückkehrte und ihn selbst traf? Vielleicht gab es dann überhaupt keinen Feind? »XN 3. Könnten denn die Geschosse dieses Geschützes nicht von der Grenze reflektiert werden?« »XN 2. Unmöglich. Du versuchst jetzt, diesen vorgeschobenen Raketenposten oberirdisch zu erreichen – unser Tunnel ist zerstört. Die Position 15° 40’ östlich; du kannst den Buckel gerade noch am Rand des Bildfeldes des Infrarot-Sichtgerätes sehen. Hier ist die Botschaft. Und weise ihn noch eigens mündlich an, den Output zu verdreifachen.« Das Loch mit den gezackten Rändern war zu klein. H verließ den Bunker durch den vorderen Ausgang. Auf seinem »Läufer« eilte er in eine Landschaft, die zu einem Dickicht aus Feuer wurde, in ein Brennesselfeld aus Feuer, ein Nessushemd dieser Erde – als sei es ein Traum.
Lief hinein in ein unglaubliches Supercrescendo von Lärm, Licht, Hitze, Explosionen und Druck, weiter und weiter den jetzt fast unsichtbaren Hang hinauf…
Originaltitel: TRAVELER’S REST Copyright © 1965 by New Worlds SF
Jonathan Brand FLUCHTPUNKT
Als Bill Wheeler ins Badezimmer trat, kreischten die beiden kleinen Mädchen auf und sprangen aus der Wanne. Seine Frau griff nach Tammy, aber vergebens. Bill erwischte Hannah, doch die entwand sich ihm, ließ ihn mit einer Hand voll Seifenschaum zurück und verfolgte die andere Handvoll Seifenschaum hinüber ins Kinderzimmer. Einen Augenblick später waren sie wieder da und schwangen mit Zeichnungen bedeckte Papierbogen. »Schau, Papi! Schau, was ich in der Schule gezeichnet habe!« schrie Tammy. »Schau, ich hab auch was gezeichnet!« rief Hannah. »Schau, schau, schau, schau!« Hilflos im Dampf des Badezimmers stehend, versuchte ihre Mutter, sie zu beruhigen. Bill lachte nur. »Schau, Papi; hör auf zu lachen. Sieh dir unsere Bilder an.« »Schon gut, schon gut«, sagte er. »Und eines nach dem anderen, wenn’s möglich ist. Und nur nicht drängeln.« »Wenn sie drängeln, dann nur ins Bad«, sagte Mrs. Wheeler, packte die mit ihren rosigen, schaumbedeckten Beinchen heftig strampelnde Hannah – die Kleinere – und hob sie in die Wanne. »Na, solange du noch mit beiden Beinen fest auf der Erde stehst«, sagte er zu seiner anderen Tochter. »Ach bitte, Papi«, antwortete sie und hielt ihm die Zeichnung hin.
Er nahm sie, und um die Spannung zu erhöhen, holte er aus seiner Brusttasche bedächtig ein Lederetui mit seiner Brille, die er umständlich aufsetzte. Hannah widersetzte sich unterdessen energisch den Bemühungen ihrer Mutter, ihre Arme einzuseifen, und bearbeitete ihres Vaters Nacken mit heftigen Schlägen einer Rolle Zeichenpapier. Mrs. Wheeler handelte wie eine kluge Mutter; sie schlug die Papierrolle aus der einen Hand ihrer Tochter und wickelte die andere in ein Handtuch. »Nur die Ruhe«, sagte Bill. »Ich muß mich auf Tammys Bild konzentrieren.« Es trat eine gewisse Ruhe ein, beeinträchtigt nur durch das unterdrückte Kichern der beiden Mädchen. »Also, was haben wir da? Hier vorn, größer als alles andere, das ist ein Mann mit ‘nem Pelz um den Hals…« »Das ist kein Pelz, Papi«, sagte Tammy aus dem Handtuch heraus. »Das ist ein Bart.« »Und er hat ‘ne Art Blazer an mit ‘ner Menge Flaschenkapseln drauf.« »Unsinn, Papi! Das ist seine Weltraum-Polizei-Uniform mit seinen vielen Orden.« »Ach so. Hinter ihm ist also dieses Raumschiff auf seinen Hinterbeinen und noch ‘n paar Leute in Blazern…« »Ach, Papi!« »… um ein kleines Feuer herum, und dann gibt’s da noch Bäume und Blumen und so weiter und eine Riesenartischocke…« »Es ist ein Murray-Mensch, Papi. Ein Murray-Mensch.« »Ach, das sieht man ja an den Warzen. Und dann sind da noch ganz kleine Bäume im Hintergrund, und dahinter ein ganz kleines Männchen, das davonmarschiert.« »Und jetzt meine! Jetzt meine!« ertönte es aus der Wanne, wo Hannah am Arm ihrer Mutter zappelte.
»Heb das für mich auf«, sagte Bill zu seiner ältesten Tochter und gab ihr die Zeichnung zurück. »Jetzt muß ich mir die von Hannah anschauen.« Vom Fensterbrett nahm er den anderen Bogen und faltete ihn auf. »Bemerkenswerte Übereinstimmung des Themas, stelle ich fest«, sagte er. »Da haben wir vorn diesen großen Mann mit dem Bart und dann weiter unten die beiden anderen, mittelgroßen Männer am Feuer und die warzige Artischocke…« »Murray-Mensch!« schrie Hannah erbost aus der Badewanne. »Und dann die Baumreihe und ganz hinten das Männchen.« »Komm doch, Papi! Rat mal, was das sein soll, Papi!« »Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, sagte der Vater in gespielter Ratlosigkeit. »Etwas, das ihr in der Schule gelesen habt?« »Du bist so dumm, Papi«, sagte Hannah. Tammy befreite sich aus ihrem Handtuch und schlang es statt dessen um die väterlichen Beine. »Papi weiß es doch«, sagte sie tadelnd. »Er tut nur so.« »Ich weiß es nicht«, sagte Bill. »Das bist du auf dem Föderations-Satelliten, Papi. Siehst du das nicht?« sagte Hannah eifrig. »Das da vorn mit den Orden, das bist du, und dahinter sind Levine und Matsuki, und ganz hinten der alte Mann wird immer kleiner. Das siehst du doch?« »Tatsächlich, jetzt, wo du es sagst, jetzt sehe ich wirklich Levine und Matsuki und auch den alten Mann, obwohl er auf diesem Bild ein bißchen klein geraten ist. Aber mich sehe ich nicht. Außer ich soll dieser bärtige Affe da vorn sein – aber der sieht mir gar nicht sehr ähnlich.« »Manchmal bist du so dumm, Papi«, sagte Tammy. »Natürlich bist du das auf dem Bild.« »Das Bad wäre dann wohl zu Ende«, sagte Bills Frau. »Dann ist es Zeit für unsere Geschichte! Unsere Geschichte!« »Na dann los«, sagte Bill. Er wartete auf den Ausgang eines ungleichen Drei-Fronten-Kampfes zwischen Hannah und ihrer
Mutter und Hannahs geblümten Nachthemd. Dann waren sie so weit. Bill nahm seine beiden Kinder auf die Arme, von wo aus sie unverzüglich an seinem rötlichen Bart zu zerren begannen. »Nur sachte am Steuer«, sagte er und hoppelte mit ihnen ins Kinderzimmer, wo er die eine der beiden in das Bett mit den Elefanten auf der Zudecke und die andere in das Bett mit den Löwen auf der Zudecke streckte. Schnurstracks sprangen sie wieder heraus wie der Korken einer Champagnerflasche und hüpften in das jeweils andere Bett. Er zeigte die Zähne und kniff diabolisch die Augen zusammen. »Verflixt nochmal«, sagte er. »Wo habe ich denn bloß diese Kinder hingesteckt?« »Falsches Bett!« rief Hannah und schlüpfte unter die Decke, bis nur noch ihr lockiges Haar zu sehen war. »Und jetzt erzähl uns die Geschichte von dir und Levine und Matsuki auf dem Föderations-Satelliten.« »Schon wieder diese alte Geschichte? Die habe ich euch doch schon ein Dutzend Mal erzählt. Und außerdem ist sie ziemlich traurig.« »Der Föderations-Satellit! Der Föderations-Satellit!« »Wollt ihr nicht lieber die mit der Hexe, den Wölfen und dem kleinen Mädchen, das auf Endymion IV lebte?« »Die mit dir und dem Föderations-Satelliten!« »Also gut, die mit dem Föderations-Satelliten. Fertig? Das war so.« Er unterbrach sich. Hannahs Haar war verschwunden, und er konnte sie nur noch als Ausbuchtung der Zudecke erkennen wie eine Ziege im Magen einer Boa constrictor. »Bist du verlorengegangen?« fragte er. »Ah, so ist das. Zehn! Neun! Acht! Sieben! Sechs! Fünf! Vier! Drei! Zwei! – hm – hm – Eins! Zündung!«
Heulend und zischend kam Hannah aus ihrer Boa constrictor hervor und setzte sich, die Hände über dem Kopf, grinsend und kichernd auf. »Sind jetzt alle bereit? Dann geht es los.«
Vor langer, langer Zeit, bevor irgend jemand etwas von euch kleinen Hexen wußte (sagte er), startete ein Schiff mit drei Männern, einem Murray und einem Haufen Papier und Bildern von Glennfield, New Mexico! Der erste Mann war Levine, der Botschafter der Erde bei der Galaktischen Föderation; der zweite war Matsuki, ein Captain der Raumpolizei. Und der dritte war ein Ingenieur, ein Mann, so dumm, faul und bärtig, wie ihr ihn euch gar nicht vorstellen könnt. Seinen Namen sage ich nicht. (»Papi!« riefen Tammy und Hannah wie aus einem Munde.) Redet nicht dazwischen. Ihr Auftrag war, Levine und seinen Haufen von Papier und Bildern zu einem Ort zu bringen, wo er zu Leuten der Föderation sprechen sollte, Levine war es, der sprechen sollte; wie ihr wißt, erhält der Murray nur die künstliche Gravitation aufrecht; der Ingenieur sollte das Schiff steuern, und Matsuki war eben dazu da, um gewissermaßen den Murray und den Ingenieur zu steuern. So, und als das Schiff am Treffpunkt war, stellten sie fest, daß die Föderation nicht gekommen war. Aber sie hatte eine große, schwebende Scheibeninsel dagelassen – zum Glück mit der richtigen Seite nach oben, sonst wären wir alle heruntergerutscht. Und außerdem einen Signalturm, nach dem sich das Schiff bei der Landung richten konnte. An dem Signalturm war auch eine Mitteilung, daß wir dort warten sollten; die Leute von der Föderation würden in etwa vier Erdentagen da sein. Der Ingenieur schaute durch ein Bullauge, und alles schien in Ordnung zu sein; er schaltete den Ventilator ein, und die Luft
roch einwandfrei. Also stiegen wir alle aus und machten einen Spaziergang. Heutzutage wißt ihr Kinder ja genauso viel über die Föderation wie ich; aber damals, das muß man sagen, hatten wir ziemlich wenig Ahnung davon. Wir nahmen zwar an, daß das keine bösen Leuten waren, aber Levines Aufgabe war es eben, festzustellen, wie es sich damit verhielt. Jedenfalls stiegen wir alle aus. Der Platz, wo das Schiff gelandet war, sah wie eine Wandlichtung aus. Um uns herum gab es alle möglichen auf der Erde vertretenen Arten von Bäumen und Büschen – eigentlich sah es mehr wie ein Botanischer Garten aus als wie ein natürlicher Wald. Zwischen den Bäumen lagen unregelmäßig verstreut Blumen- und Gemüsebeete. Manche davon sahen aus, als seien sie eben erst umgegraben worden. Was das Gemüse anbelangt, so gab es Tomatenbeete, Karottenbeete, Zwiebelbeete, Selleriebeete und Salatbeete. Da es außerdem Apfelbäume, Pfirsichbäume, Zitronenbäume, Grapefruitbäume, Maulbeerbäume und Weinstöcke gab, machten sich die drei Männer einen köstlichen frischen Fruchtsalat, wie ihr ihn heute abend hattet. Ich glaube, ich kann behaupten, daß sie darüber sehr froh und glücklich waren nach den Wochen im Weltraum. (Mit strengem Blick sah er die Kinder an. Tammy kicherte schuldbewußt. Hannah wand sich im Bett und kicherte ebenfalls.) Also, die Sonne stand noch sehr hoch, und sie beschlossen, auszukundschaften, wie der Rest dieses Landes aussah. Sie stellten das Schiff auf Automatik und machten sich – es gab eine Art Pfad zwischen den Bäumen – auf den Weg. Das Gelände stieg an – zunächst ganz leicht, dann steiler, so daß sie schließlich an eine fast senkrechte Wand von etwa drei Meter Höhe kamen, die sich auf beiden Seiten um sie herum
krümmte. Oben drauf wuchsen Tannenbäume. Sie kletterten hinauf und sahen jetzt auf der anderen Seite eine flache Ebene. »Ich glaube, das ist ein alter Vulkankrater«, sagte Matsuki, der (als guter Kapitän) alles in möglichst starre Kategorien einteilte. »Oder vielleicht ein alter Meteorkrater?« fragte Levine, der (als guter Diplomat) eher zu verschwommeneren Definitionen neigte. »Das ist es wohl«, sagte der Ingenieur, der (als guter Ingenieur) ein Dummkopf war. Hinter der Baumreihe konnten sie eine Landschaft sehen, die dem Gebiet in der kreisrunden Ebene ziemlich ähnlich sah – eine Art Pizza aus Blumen und Gemüse, mit Obstbäumen gepfeffert. An manchen Stellen, glaubte der Ingenieur, konnte er Pfade zwischen den Bäumen erkennen, aber sie waren so unregelmäßig verstreut, daß es auch Blätter vom letzten Jahr sein konnten, die der Wind zwischen den Bäumen linienförmig zusammengeblasen hatte. Die Sonne schien hell herab; die leichte Brise war frisch und trocken; das Metall des Schiffs blitzte durch den Wald zu ihnen herüber. Aber die Luft auf der anderen Seite war neblig und feucht, und der Horizont verlor sich in einem bläulichen Dunst, der alles verbarg, was weiter als zehn Kilometer entfernt war. Der Ingenieur mit seinen unwahrscheinlich scharfen Augen sah als erster die Gestalt, die der merkwürdige Held dieser Geschichte ist. (»Der alte Mann! Der alte Mann!« schrien die Kinder entzückt.) Der alte Mann. Dieser stämmige Kerl stieg langsam zwischen den Bäumen dorthin hinauf, wo auf dieser Böschung die Männer von der Erde standen. Er trug ausgebeulte alte blaue Drillichhosen und ein geflicktes kariertes Hemd. In einer Hand hatte er einen knotigen Birkenstock, in der anderen ein Bündel. Der Ingenieur stieß die beiden anderen mit dem Ellenbogen an,
dann winkten und riefen alle drei dem alten Mann zu. Der reagierte so langsam wie ein hundert Jahre alter Apfelbaum. (»Wie der in unserem Garten?« fragte Tammy. »Genau wie der in unserem Garten«, sagte Bill.) Der alte Mann hob grüßend seinen Stock und rief zu den Raumfahrern hinauf: »Ich komme sofort. Bleibt einstweilen, wo ihr seid.« Ein paar Augenblicke später erreichte der Alte die Höhe und schnaufte und keuchte sehr. (»Und spuckte, Papi«, sagte Hannah. »Du hast das Spucken vergessen.« Und sie spielte elanvoll vor, was sie meinte.) »Ja, das stimmt. Er spuckte auch ein bißchen. Aber das ist noch lange kein Grund für dich, das auch zu tun.« Bill schwieg einen Moment und räusperte sich. Hannah krönte ihre Vorstellung mit einem Inferno des Schnaubens und Zischens und lehnte sich dann grinsend wieder in ihre Kissen zurück. »Also, wie er dann oben war, hielt er Levine seine Hand hin und sagte…« »›Willkommen in der Föderation, Sir. Mein Name ist Gardner. Fühlen Sie sich wie zu Hause, Sir. Sie und Ihre Begleitung. Ich werde mein Möglichstes tun, um Ihren Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen; aber stellen Sie keine Fragen, ich arbeite nur hier‹«, sagte Tammy in einem Atemzug. Stimmt. Dann legte er sein Bündel auf den Boden, holte etwas in gestreiftem Flanellstoff Eingewickeltes daraus hervor. Es war ein fetter Hase. »Den habe ich unten in dem Blaubeerfeld in einer Falle gefangen. Ich hatte mit meinen Fallen zu tun und sah Sie nicht kommen, bis Sie schon fast hier waren. Aber jetzt muß ich mich beeilen und Feuer machen, sonst wird er nicht rechtzeitig fertig.«
»Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, Mr. Gardner«, sagte Levine. »Aber ich glaube, wir brauchen gar kein Feuer. In die Notheizung unseres Schiffes ist ein kleiner Herd eingebaut.« »Über Holzfeuer gebraten, schmeckt er viel besser, Sir. Und am Abend ist ein kleines Feuer sehr gemütlich.« »Wir danken Ihnen für Ihre Gastfreundschaft.« »Dann hoffte ich, daß Sie alles haben, was Sie brauchen. Etwa zwanzig Meter südlich von Ihrem Schiff ist eine Wasserquelle. An der Sonne können Sie sehen, wo Süden ist. Ich wollte das Feuer zwischen der Quelle und dem Schiff machen. Es gibt da ein paar umgestürzte Bäume, auf denen Sie wirklich bequem sitzen können.« »Das wird ja ein Festtag!« sagte Matsuki, krempelte seine Hemdsärmel hoch und atmete tief die tannenduftgeschwängerte Luft ein. »Ich hoffe, es wird einer, Sir«, sagte Gardner. »Ich gehe jetzt hinüber und mache Ihr Feuer. Warum sehen Sie sich nicht um? Ich fürchte allerdings, ich muß Sie bitten, nicht weiter als bis zu dieser Böschung zu gehen. So lautet mein Auftrag. Sie würden auch einen Führer brauchen.« »Ja, sicher«, sagte Levine. »Wir sehen uns jetzt etwas um.« Zum Schiff zurückgekehrt, stellten sie fest, daß der Alte eine Art Lagerplatz für sie ausgesucht hatte. Er saß auf einem umgestürzten Baum und rührte in einem Topf, der an einem Dreibein aus Stöcken über einem knisternden Feuer hing. Sie beugten sich über den Topf. »Riecht gut«, sagte Matsuki und steckte ungehobelt den Finger hinein. »Schmeckt auch gut.« »Das ist der Hase, Sir«, sagte der Alte. »Ich habe noch etwas Saft hinzugetan, den ich letztes Jahr machte. Man nimmt Trauben und preßt sie aus, und wenn man das gären läßt…«
»Das ist ein bemerkenswertes Verfahren«, sagte der Ingenieur. »Vielleicht können Sie es patentieren lassen.« »Patentieren? Das Wort kenne ich gar nicht, Sir.« »Macht nichts«, sagte Matsuki, der ausgesprochen gefräßig war. »Können wir dann allmählich essen?« Zustimmung heischend sah er sich in der Runde um. Also schickte man den Ingenieur aus, die Teller zu holen. Dann ließen sie sich um das Feuer herum nieder und bedienten sich aus dem Topf. Als sie fertiggegessen hatten, war die Sonne untergegangen. Der Alte sammelte ihre Teller ein, und sie hörten, wie er sie an der Quelle wusch. Als er zurückkam, brachte er einen irdenen, mit einem Korken verschlossenen Krug mit. »Ich habe noch etwas von dem Saft, von dem ich vorhin sprach«, sagte er. »Wollen Sie jetzt nach dem Essen etwas davon versuchen?« »Aber ja«, sagte Matsuki, ging zum Schiff und brachte Becher. Der alte Mann entkorkte den Krug. Lange saßen die Männer um das kleine Feuer, und die Stille wurde nur unterbrochen durch das Zischen der Pfeife des Ingenieurs und das Schaben von Levines Bleistift, oder wenn Matsuki sich die Lippen leckte. »Was machen Sie da?« fragte der Alte. »Ich zeichne«, sagte Levine. »Das mache ich, wenn ich nichts anderes zu tun habe.« »Darf ich mal sehen?« »Natürlich. Kommen Sie ‘rüber, setzen Sie sich zu mir.« Der Alte begab sich zu ihm, und der Ingenieur machte ihm Platz. »Aha«, sagte er. »Das ist ja wirklich sehr schön. Sie machen ein Bild von uns. Vorn ist da ganz groß der Kochtopf, und dahinter, mit dem Licht auf der einen Gesichtshälfte,
Captain Matsuki mit seinem Zahnstocher. Das ist wunderbar. Könnten Sie mich auch zeichnen?« »Natürlich. Setzen Sie sich mir gegenüber, so daß ich Sie sehen kann, ohne daß mich das Licht stört.« Der alte Mann setzte sich auf den ihm angewiesenen Platz. Levine riß das Blatt, an dem er gerade gearbeitet hatte, von seinem Block und wählte einen langen Kohlestift. Der alte Mann beobachtete fasziniert seine Hände. Levine begann zu zeichnen. »Wer sind Sie, Mr. Gardner? Und wie kamen Sie hierher? Sind Sie ein Angehöriger der menschlichen Rasse?« »O ja, Sir«, sagte der alte Mann stolz. »Ich bin ein Mensch. Ich weiß, warum Sie fragen. Ich habe schon sehr clevere Roboter gesehen. Aber meine Eltern waren tatsächlich Menschen – Bedienstete von Kolonisten auf Stoneground.« »Für Ihr Alter sehen Sie bemerkenswert gut aus, wenn ich Ihnen das sagen darf, Mr. Gardner«, sagte Levine. »Auf Stoneground sind doch seit siebzig oder achtzig Jahren keine Kolonisten mehr – nicht mehr, seit der Dampf den Planeten befiel.« Eine Weile antwortete der alte Mann nicht. Er beobachtete Levines sorgfältige Handbewegungen. »Ja, der Dampf erwischte meine Eltern und den Herrn und die Herrin meiner Eltern. Aber ich war in einer Kinderhütte, die die Herrschaft für ihre eigenen Kinder benutzt und dann meinen Eltern überlassen hatte. Und so entkam ich, als uns der Dampf überfiel.« »Kaum zu glauben.« »Warum, Sir?« »Nun, die Polizei ließ eine Volkszählung durchführen, als der Dampf vorüber war. Sie gingen dem Schicksal jedes einzelnen Kolonisten nach, der in der vorherigen Zählung aufgeführt war. Und sie begruben sie auch. Ich erinnere mich, eine
Zusammenfassung des Berichts gelesen zu haben. Selbst wenn Kolonien abzuschreiben sind, müssen wir feststellen, was passiert ist. Ich bedauere, wenn dies unangenehm für Sie ist, aber für die Erde ist die Kenntnis des Schicksals von Erdenmenschen von großer Bedeutung.« »Es macht mir nichts aus. Die Sache ist so lange her. Ich bin Ihnen sogar dankbar für Ihr Interesse, Sir. Tatsache ist, daß ich nach der letzten Volkszählung auf dem lebenden Planeten geboren wurde; dann erst kam der Dampf. Sie wußten gar nicht, daß ich überhaupt existierte.« »Ich verstehe. Und was geschah dann?« »Ganz einfach: Als die Föderation den Dampf auf Stoneground feststellte, sandte sie sofort ein Team, das ihn erforschen und bekämpfen sollte. Nun, da auch Sie von dem Dampf wissen, erwarte ich, daß Sie das gleiche tun.« »Ja.« »Sehen Sie, Stoneground ist eine der fernsten Kolonien der Erde. Darüber hinaus befindet es sich aber auch am Rand des Gebietes der Föderation.« »Ja, da haben Sie recht.« »Wie die Leute von der Föderation sagen, war ich das erste menschliche Wesen, das ihnen jemals begegnete. Ich war acht Jahre alt. Nun, sie begannen sofort, meine Umwelt zu studieren – nahmen ein ganzes Farmhaus mit allem Drum und Dran von Stoneground mit und stellten es auf einem ihrer Planeten auf und setzten einen alten Rancher und seine Frau von Stonegrounds Nachbar Bullrush hinein. Das waren meine Stiefeltern, die alten Mr. und Mrs. Gardner von Bullrush. Sie starben vor Jahren. Ich kann von Glück reden, daß ich selbst noch am Leben bin.« »Eine merkwürdige Geschichte. Und wie kamen Sie hierher?«
»Man hat mich als Kurator hierher gesetzt. Dies ist Eden, das Geschenk der Föderation an die Erde. Sie sollen hier einen Platz haben, an dem Sie sich wie zu Hause fühlen können.« »Es ist wirklich wie die Erde. Ganz großartig.« »Aber es ist nur eine Nachbildung. Sehr schön, gewiß, aber es ist nicht die Erde.« »Da haben Sie wohl recht, Gardner. Die Heimat ist immer etwas Besonderes.« »Ich wünschte, ich könnte eines Tages in Ihre Heimat gehen, die Heimat der Menschheit. Einmal möchte ich sie sehen. Sie sind mir doch nicht böse, wenn ich das sage? Ich möchte so gerne in einem Schiff zur Erde zurückfahren.« Der alte Mann starrte ins Feuer. Levine sah zu Matsuki hinüber, und Matsuki warf dem Ingenieur einen fragenden Blick zu. Als der Ingenieur ihre Augen auf sich ruhen fühlte, zuckte er die Achseln. »Platz ist da«, sagte er. »Warum sollte nicht Platz für einen mehr sein?«
Matsuki hatte den ganzen Nachmittag etwas abseits im hohen Grase gelegen. Jetzt schlenderte er zum Schiff zurück. Die anderen tranken gerade Tee. »Wie in aller Welt…?« fragte er. »Es ist vielleicht nicht ganz das, was Sie gewohnt sind, Sir«, sagte Gardner, der geschäftig die Becher nachfüllte. »Ich habe mein Möglichstes getan mit dem, was es hier gibt. Drunten im Tal fand ich letztes Jahr einen Busch und pflückte einige Blätter und trocknete sie in der Sonne.« »Wirklich ein bemerkenswerter Ort. Der alte Gardner sorgt für Tee. Und als ich dort drüben lag, sah ich ein paar Entenschwärme – gestreifte und Peking – und Tauben und sogar einen Schwan. Schwan habe ich keinen mehr gesehen, seit ich einmal an einem kleinen Ort in der Normandie… Es tut
fast weh, sich an diese Zeit zurückzuerinnern. Ich wünschte, wir hätten ein kleines Gewehr, wirklich.« »Das ist bei meinem Job nicht drin, Matsuki«, sagte Levine, »nicht einmal eine kleine Atomkanone.« Der Ingenieur reichte Matsuki einen gegabelten Stock, an dem er geschnitzt hatte. »Damit geht es vielleicht. Wenn Sie Levine freundlich fragen, macht er sein Köfferchen auf und gibt Ihnen ein paar von den staatlichen Gummibändern. Und vielleicht sogar ein paar Papierklammern als Geschosse.« »He, keine schlechte Idee. Aber Steine wären noch schwerere Geschosse. Was sagen Sie, Herr Botschafter? Wegen ein paar Gummibändern würden Sie doch nicht Ihren Job verlieren?« »Wahrscheinlich nicht. Ich hole ein paar nach dem Tee.« Levine wandte sich wieder seiner Zeichnung zu. Er konnte nur auf zwei Arten zeichnen. Manchmal waren es Dinge, die sich im Augenblick um ihn herum befanden; manchmal war es seine Frau. Sie war eine fröhliche, stämmige Frau, und sie hatten mehrere fröhliche, dunkeläugige Kinder. Zum Abendessen gab es von Gardner in Lehm geröstete Igel. Am nächsten Tag scheuchte Matsuki mehrere Tauben auf und erwischte eine Waldschnepfe. Levine zeichnete seine Frau als langbeinige Blondine, denn wenn er von zu Hause fort war, ging seine Phantasie mit ihm durch. Der Ingenieur machte Matsuki eine Armbrust mit einem Zielfernrohr aus ein paar Teilen eines optischen Suchgeräts, einem Kleiderbügel und drei Raumpolizei-Gürteln. Gardner grillte ein paar Fasanen und wusch Levines weiße Hemden. Am folgenden Tag ging es etwas anders. Zufällig hatte dieser Ingenieur einen leichten Schlaf. Wie seine jüngste Tochter – aber nicht wie seine Frau und seine faulpelzige ältere Tochter. (Tammy protestierte quiekend.) Jedenfalls wachte er am nächsten Morgen zwischen fünf und halb sechs Uhr auf.
Zwischen den Bäumen der Lichtung hing Nebel; die Schatten der Baumstämme durchkreuzten ihn und bildeten ein Gitterwerk bläulicher Striche. Das Geländer der Schiffsleiter war naß. Morgentau. Und als er mit der Hand darüberfuhr, tropfte Wasser herunter. Unter ihm stocherte der Alte im Lagerfeuer herum. Eine dünne Rauchfahne stieg zu den Baumkronen auf. »Hallo, Gardner. Wie geht’s Ihnen denn heute?« fragte der Ingenieur und wickelte sich enger in sein wollenes Gewand. »Guten Morgen, Mr. Wheeler«, sagte der Alte. »Ich habe schon Feuer gemacht. Gleich gehe ich ein paar Frühstückseier suchen. Das ist Ihnen doch recht?« »Ausgezeichnet. Ich komme mit.« »Ehrlich gesagt, Sir, es wäre mir fast lieber, wenn Sie nicht mitkämen. Die Hühner legen gewöhnlich in meinen Himbeersträuchern, und die sind außerhalb des Perimeters.« »Gut, dann gehe ich eben bis zum Waldrand mit.« »Nun, dagegen ist nichts einzuwenden.« Die beiden machten sich auf den Weg, und der Alte hieb mit einer Gerte heftig auf Nesseln und Farne im Gras ein, Pflanzen, die seinen beruflichen Stolz verletzten. Der junge Ingenieur sah ihm neugierig zu. »Warum kann ich die Lichtung denn nicht verlassen?« »Es handelt sich nicht ums Können, Sir, verstehen Sie mich recht. Nur, dieser Teil ist eben für Ihre Gruppe angelegt, und der Rest in gewisser Weise nicht. Wenn wir dort sind, zeige ich Ihnen, was ich meine.« Nach ein paar Minuten waren sie auf dem Wall unter den Fichten und blieben stehen. »Ich gehe dort hinüber«, sagte Gardner und zeigte auf einen grünen Fleck in mehreren hundert Metern Entfernung. »Das sind die Himbeerbüsche. Aber ich glaube nicht, daß Sie dort zurechtkämen. Sie würden
sich verirren. Gehen Sie ein paar Meter; Sie werden sehen, was ich meine.« Lächelnd über das mangelnde Vertrauen des Alten in seinen Orientierungssinn stieg der Ingenieur mit ihm die Böschung hinunter. Er merkte sofort, daß die Luft hier vollkommen anders war. So heiß wie in einem Ofen, war sein erster Gedanke. Kaum konnte er den Alten vor ihm sehen, und schon die Kronen der niedrigen Obstbäume verschwanden im Dunst. Unsicher ging er weiter, stolperte auf dem unebenen Boden. Als er nach oben schaute, konnte er überhaupt nichts mehr erkennen. Er war umgeben von einem gleichmäßigen Schein, der ihn so völlig von seiner Umgebung abschnitt, als säße er, rundum von Scheinwerfern angestrahlt, in einer dunklen Halle. Wenn dies Nebel war, dann war es der dickste und trockenste, den er jemals gesehen hatte. »He, Gardner!« rief er. »Führen Sie mich da wieder ‘raus.« Nichts geschah. Er machte einen Versuch, indem er sich die Hand vors Gesicht hielt. Als sie nur noch Zentimeter von seinen Augen entfernt war, war sie gerade als dunkler Schatten erkennbar. Nicht nur, daß er nichts sehen konnte – erschreckt bemerkte er, daß er auch nichts zu hören vermochte, außer dem Schlag seines eigenen Herzens und einem Rauschen, das ebensogut in seinen Ohren sein konnte wie in den Bäumen. »Also gut, Gardner. Sie haben mich überzeugt.« Er hatte laut sprechen wollen, aber seine Worte wurden von dem bedrückenden Nebel um ihn herum derart verschluckt, daß er nicht wußte, ob er wirklich etwas gesagt hatte. Doch dann fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Er stand auf, und die Hand führte ihn einen gewundenen, ansteigenden Pfad hinauf. Nach ein paar Schritten konnte er klarer sehen; er bemerkte, daß die Bäume Gestalt annahmen wie Leute in einem Türkischen Bad. Ein paar Minuten später standen sie auf dem
Wall und sahen hinunter in die trügerisch einladende Landschaft. »Es ist nur ein wenig dunstig dort unten, Sir.« Der Ingenieur nickte entschuldigend. »Ich hole die Eier. Bleiben Sie hier, dann kann Ihnen nichts passieren.« Der Ingenieur sah dem alten Mann nach, der entschlossen auf seine Himbeersträucher zuging und keine Mühe hatte, zwischen den Bäumen und Büschen hindurchzufinden. Als er hundert Meter zurückgelegt hatte, wandte sich der Ingenieur um und rannte zum Schiff zurück. Er nahm zwei Stufen der Schiffsleiter auf einmal und rutschte durch das Schilf zur Kabine des Kapitäns. Drinnen rüttelte er Matsuki wach. »Was ist los? Können Sie mich nicht schlafen lassen?« »Auf, Käpt’n«, sagte der Ingenieur mit einem hastigen Gruß. »Ich brauche Hilfe.« Matsuki sprang sofort aus dem Bett und wollte zur Tür, die zum Steuerdeck führte. Der Ingenieur versperrte ihm mit dem Arm den Weg. »Da gibt es keine Probleme – noch nicht. Beruhigen Sie sich. Bringen Sie mir ein Seil, ja? Und ziehen Sie etwas an. Wir gehen hinaus.« Der Kapitän seufzte. »Jetzt kann ich bestimmt nicht mehr einschlafen«, sagte er mürrisch. »Ich komme.«
Bald standen sie beide draußen im Gras (der Ingenieur in seinem gefütterten Wollmantel und Slippers, und der Kapitän in einer gesteppten Seidenjacke mit einem schwarzen Drachen darauf und seinen Holzsandalen). »Da hinüber«, sagte der Ingenieur und führte seinen Chef in die gleiche Richtung, die er vorher gegangen war. Als sie den Wall erreicht hatten, wartete er, bis der Kapitän zu gähnen und schnauben aufgehört
hatte, und deutete dann zu den Himbeerbüschen und dem dunklen Punkt darin hinüber, welcher der arbeitende Gardner war. »So«, sagte er. »Ich werde hier das Ende des Seils halten und möchte, daß Sie ein wenig dort hinuntergehen und es dabei abrollen. Ja?« »Bitte, wenn es Sie glücklich macht. Wie weit, meinen Sie, soll ich hinuntergehen?« »Ganz nach Geschmack, Käpt’n. Sehr weit werden Sie nicht gehen.« Achselzuckend gab der Kapitän dem Ingenieur das Seilende und machte sich auf den Weg, wobei er das Seil von seinem Arm abrollte. Erst ging er gleichmäßig rasch, dann langsamer und vorsichtiger; dann stieg er geradewegs in einen Brombeerbusch und fiel hinein. Der Ingenieur hörte, wie er ein paar unfreundliche Bemerkungen über ihn und den Busch ausstieß. Dann stand er wieder auf. Vorsichtig die Hände vor sich gestreckt, tappte er zögernd weiter. »Ich glaube, allmählich genügt’s wohl!« rief der Kapitän. »Und jetzt?« »Kommen Sie ‘raus«, sagte der Ingenieur. Das Seil war immer noch um die Faust des Kapitäns gewunden, und der Ingenieur zog ein wenig daran. »Hier herüber!« rief er. Langsam und vorsichtig kletterte der Kapitän die Böschung hinauf. »Dunstig da unten?« fragte der Ingenieur, als Matsuki wieder oben war. »Dunstig? Soll das ein Witz sein? Der Nebel ist absolut undurchdringlich. Was ist denn da los?« fragte er mit erbitterter Miene. »Gehen wir zurück zum Schiff, und ich sage es Ihnen.« Zusammen schritten sie über den weichen Waldboden. »Nun,
zunächst ist es dort unten nicht neblig. Jedenfalls nicht durch Nebel.« »Ich verstehe. Keinerlei Feuchtigkeit.« »Zum zweiten kann man tatsächlich kaum etwas sehen. Wie wenn sämtliche Energie absorbiert würde.« »Hmm.« »So, und wenn wir beide zu Hause in Glennfield sind, und ich statte Ihnen einen Abendbesuch ab, was tue ich dann immer zuerst?« »Sie küssen meine Frau, Sie Dussel.« »Na schön, dann als zweites.« »Augenblick. Sie holen sich einen Drink. Oder nein – warten Sie. Ich weiß es! Sie gehen zum Solido-Kabinett und drehen an den Knöpfen herum.« »Richtig. Und was ist das Ergebnis?« »Ein Teil des Nebels verschwindet. Ich weiß nicht, wie das geht.« »Nein. Nun, der Ingenieur bin ich. Aber im Grunde ist es so, daß es das Licht nicht mehr in Partikeln herumsausen läßt, die so unorganisiert sind wie eine Schweineherde, sondern sie schön nebeneinander aufreiht wie Wellen.« »Das haben Sie mir schon mal gesagt. Aber ich sehe kein Steuerpult.« »Nein, das ist richtig. Aber wenn ich ins Schiff gehe, weiß ich, glaube ich, einen Apparat, der dasselbe für die Landschaft hier tun könnte. Warten Sie hier, und ich sehe nach.« Der Ingenieur stieg die Leiter hinauf und stöberte herum wie versprochen. Tatsächlich fand er das, was er suchte. Es war ein rundes Dingsda mit einem Griff auf der einen Seite und einem dunklen Auge auf der anderen. Er gab es dem Kapitän. »Das ist der Bursche. Jetzt geht einer von uns hinaus und sieht sich um. Der andere bleibt und beobachtet die Anzeige des
Energiestrahls dieses Dings, und kümmert sich um Seine Exzellenz.« »Seine Exzellenz kümmert sich um sich selbst«, sagte Levine vom oberen Ende der Leiter. Er war schön gekleidet in ein schwarzes T-Shirt und Morgenshorts mit Nadelstreifen. Sein Haar war gekämmt, sein Kinn makellos rasiert, und seine Zähne blitzten so hell wie Warnlampen beim Eintreten einer Notsituation. »Guten Morgen, Sie alter Lügner«, rief der Kapitän. »Heute morgen kommt die Unterhaltung aus dem Maschinenraum.« »Nachdem wir jetzt alle hier sind, werde ich jedem seine Aufgabe zuweisen«, sagte der Ingenieur unverdrossen. »Levine bleibt hier und macht uns Kaffee. Wenn Gardner kommt, sagen Sie, wir holen gerade Weizenschrot von der Plantage und werden jeden Moment zurücksein. Ich bleibe im Maschinenraum und regle die Energieabgabe des Dings, das der Käpt’n da trägt, und der unerschrockene Kapitän marschiert in die Ebene hinunter und sieht zu, was er sehen kann. Beherrscht jeder seine Rolle?« Levine sagte: »Der Scheitan soll mich holen, wenn ich weiß, was hier los ist; aber mir soll es gleich sein.« Der Kapitän fingerte auf dem Apparat herum. »Ich drücke nur auf diesen Knopf, wie?« »Richtig«, sagte der Ingenieur, »und richten Sie es auf das, was Sie sehen wollen. Einen Augenblick noch, damit ich den Richtungssucher auf Sie justieren kann und dann gehen Sie los. Wenn Sie in tausend Stunden nicht wieder zurück sind, schicken wir die Bluthunde.« Er wandte sich um und verschwand im Schiff. Augenblicke später hörten Levine und Matsuki das Heulen des Zusatzgenerators. Der Kapitän zuckte die Achseln und machte sich auf den Weg zu den Fichten hinüber.
Nun, in der folgenden Stunde tat der Ingenieur, was Ingenieure in ihren Maschinenräumen tun, wenn sie ihre Dingsbums überwachen – »Vorher sagtest du Dings, Papi«, sagte Tammy. »Dingsda«, sagte Hannah. »Ruhe. Ich sagte Klapperatismus.« Und Levine tat, was man halt mit Kaffee so tut. Hauptsächlich machte er wohl ein Schläfchen am Feuer. Dann erschien der Kapitän auf dem Erdwall, kam herunter ins Lager gerannt. »Das ist erstaunlich«, keuchte er. »Ganz unglaublich! He, Fettsack, kommen Sie ‘raus aus dem Schiff! Ich habe Neuigkeiten für Sie.« Ein paar Augenblicke darauf kam der Ingenieur grinsend die Leiter herunter. »Das Dingsda hat wirklich funktioniert. Hat ‘ne Menge Energie aufgenommen.« »Und wie es funktioniert hat. Es hat in einem Raum von etwa sechs, sieben Metern nach vorn und ein paar Metern zu beiden Seiten klare Sicht geschaffen, und dann – dann kam dieser Nebel, wie eine Mauer. Also, ich marschierte da drüben hinunter und ein- bis zweihundert Meter weit sah alles ganz normal aus – wie ein gewöhnlicher Abhang mit Steinen und Felsbrocken und Gras und diesen alten Bäumen. Nun, so ging es auch weiter, aber allmählich bekam ich den Eindruck, daß das Gras immer feiner wurde und die Bäume immer dünner, wie wenn sie nur noch irgend ‘ne Art Büsche wären. Ziemlich bald war es dann so, daß sie gerade noch Kniehöhe erreichten. Wie Spielzeugbäume. Oder wie so ein japanischer Garten – die kenne ich noch von meiner Kinderzeit her. Und jetzt kommt das Merkwürdige, Ich ging immer weiter, und je weiter ich ging, desto kleiner und kleiner wurden diese Bäume, und schließlich waren sie nur noch so Stoppeln am Boden und dann überhaupt nichts mehr, Einfach gar nichts mehr. Ich ging in
einer Art Nebelblase auf nackten Stahlplatten. Das ist alles, was es da draußen gibt.«
Der Ingenieur reagierte als erster. Er stand auf und machte sich auf den Weg zum Erdwall, Die anderen folgten. Als sie die Fichten erreichten, blieben sie stehen. Der alte Gardner war schon auf halbem Wege zurück von seinen Himbeerbüschen, eine gebeugte Gestalt, die mit jedem Schritt größer wurde. Als er sie schließlich erreicht hatte, öffnete er sein Tuch und zeigte ihnen einen Haufen fleckiger Eier und dunkelrote Früchte, »Ich sehe, daß Mr. Matsuki und Mr. Levine auch schon auf sind. Hoffentlich haben sie gut geschlafen.« »Wir wollten eben frühstücken. Sie sind herzlich eingeladen.« »Ich danke Ihnen vielmals.« Schweigend gingen sie zum Lager zurück, Levine goß vier Becher Kaffee ein, Gardner holte Wasser von der Quelle und legte die Eier hinein, um sie zu kochen. »In ein paar Tagen starten Sie wohl wieder?« fragte er. Levine nickte. »Ich fürchte, so ist es. Morgen geht’s wieder an die Arbeit.« »Und Sie denken bestimmt daran, zu fragen, ob ich mit Ihnen zurückkommen kann?« »Natürlich, Sie sollten die Erde sehen. Die Erde ist wirklich großartig.« Der Ingenieur hatte, seit das Frühstück begonnen hatte, schweigend ins Feuer gestarrt. Jetzt sah er auf und platzte heraus: »Hören Sie, ich bin nicht so sicher, ob Sie mit uns kommen können. Ganz so einfach ist das nicht!« Er stocherte im Feuer herum. »Ich glaube, ich könnte es einrichten, wenn wir vorher einige Tests durchführen.« »Was soll ich denn tun?«
»Zunächst einmal: Wenn Sie über diesen Wall hinausgehen – haben Sie da Schwierigkeiten mit der Sicht?« »Ja, ein bißchen. Aber weniger als Sie. Ich bin ja daran gewöhnt.« »Zum Beispiel, als Sie heute früh drüben waren – konnten Sie da zurückschauen und die Fichten bei unserem Lager sehen?« »Nein. Die waren im Nebel verschwunden. Die sehe ich schon nach ein paar Minuten nicht mehr.« »Nun, ich stelle mir vor, daß wir eine Art Flutlicht einrichten können, das die Bäume auf dem Wall anstrahlt, so daß sie von der Ebene aus zu sehen sind. Aber Sie müssen sich das überlegen. Es wäre möglich, daß das, was Sie sehen, Ihnen einen Schock zufügt. Aber auf der anderen Seite können wir Sie nicht mit zur Erde nehmen, ohne ein Experiment dieser Art durchzuführen. Sie sollten es sich überlegen.« »Ich habe es mir schon überlegt«, sagte Gardner. »Ich möchte mit und werde alles tun, was erforderlich ist. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß mich nach all diesen Jahren hier irgend etwas sonderlich überraschen würde.« »Also gut. Passen Sie auf: Ich werde Levine diesen Dingsda geben, und Sie beide werden hinaus auf den Wall gehen. Ich werde auch für eine Dreiweg-Verbindung sorgen. Wir werden alles hören, was Sie sagen, wenn Sie sich nicht mehr als 50000000 Kilometer entfernen, und Sie werden hören, was wir sagen. Warten Sie vorerst noch hier, bis ich den Apparat auf Sie justiert habe.« Der Ingenieur füllte von neuem seinen Becher aus dem Topf beim Feuer und nahm ihn mit ins Schiff hinein. Der Sekundärgenerator lief an, und gleich darauf hörten die drei Männer seine Stimme. Sie summte mit einem leichten, durchdringenden Heulen in ihren Ohren. Offenbar, erkannte Matsuki, hatte der Ingenieur seinen Energie-Output so
eingeteilt, daß er die Zähne seiner Hörer in Vibrationen versetzte. »So, wenn Levine und Gardner jetzt zur Böschung gingen… Die Richtung spielt keine Rolle.« Matsuki sah ihnen nach, wie sie auf die Fichten zustrebten. Um ihn herum summten ein paar durch das Feuer angezogene Mücken. Ein paar Blätter trudelten von den Zitronenbäumen herunter. Der über das Feuer gehängte Blechtopf klapperte leise im Wind. Plötzlich klang Levines Stimme in sein Ohr. »Wir haben die Böschung erreicht.« »Jetzt geht beide etwa zwanzig Meter hinunter.« »Ja… Wir sind so weit.« »Jetzt soll Levine den Apparat auf den Boden stellen, mit Richtung auf die Bäume. Drücken Sie ihn in den Boden hinein; das macht ihm nichts aus. Jetzt gehen Sie zu den Bäumen, auf die er gerichtet ist, und bleiben dort stehen. Von hier an muß Gardner allein gehen.« »Für mich ist das ganz normal, wenn es Ihnen nichts ausmacht, mein Junge«, sagte Gardner. »Bitte, gehen Sie vorsichtig. Nur etwa fünf Meter.« Es gab eine Pause. »Ja, und jetzt?« fragte Gardner. »Jetzt schauen Sie sich um. Was sehen Sie?« »Nun, diese Bäume, und darunter Mr. Levine.« »Und jetzt heben Sie Ihre Hand und strecken Ihren kleinen Finger aus und stellen fest, ob er Levine überdeckt.« »Mhm. So ziemlich – bis auf den Kopf.« »Gut, jetzt ein bißchen weiter hinaus. Ganz langsam jetzt. Ich möchte nicht, daß Sie weiter als fünf Meter gehen, ja? Schauen Sie sich jetzt um. Was sehen Sie?« »Natürlich ist alles ziemlich neblig hier unten. Also: Die drei Palmen mit den Weinreben daran, wie immer. Die Trauben könnte man jetzt ernten, würde ich sagen. Sonst nichts.«
»Hat alles seine normale Größe?« »Sicher. Ganz prächtig große Trauben sind das allerdings.« »Und jetzt schauen Sie zu Levine zurück. Sehen Sie etwas?« »Nein. Der Nebel ist hier zu dick.« »Und jetzt kommt das Wichtige. Schauen Sie weiter in Richtung Levine. Ich werde das Dingsda einschalten. Denken Sie daran – alles könnte ein wenig verzerrt sein.« Es folgte eine Pause, und dann holte der Alte plötzlich erschreckt Atem. »Das war vielleicht ein Ding! Einen Augenblick dachte ich, Mr. Levine sei direkt über mir, oder direkt vor mir. Aber ich sehe, daß er immer noch unter den Fichten ist. Schaut aber ziemlich groß aus.« »Ich dachte, daß es diesen Effekt haben würde. Halten Sie Ihren Finger hoch und versuchen Sie wieder, ihn damit zu überdecken.« »Ja, das ist jetzt wirklich seltsam. Ich… Augenblick noch… Ja, es geht gerade, bis auf den Kopf.« »Hmm. Dann gehen Sie ein wenig weiter, und wir versuchend nochmal.« Es gab eine lange Pause. »Gehen Sie nicht zu weit!« »Nur die Ruhe, junger Mann«, sagte Gardner. »Ich möchte da etwas tun!« »Tut mir leid«, sagte der Ingenieur. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie soweit sind.« Es gab eine noch viel längere Pause, und als Matsuki nach oben sah, bemerkte er erschreckt, daß die Sonne des Satelliten senkrecht über den Bäumen stand. Ihr Frühstück hatte bis zum Mittag gedauert. Plötzlich vernahm er von neuem Gardners Stimme. »Ich kann jetzt wieder zurückschauen, wenn Sie anschalten.« »Los geht’s.« Und im selben Augenblick hörten sie den alten Mann hysterisch schreien: »Oh, Gott… Er ist wie ein…!«
Der Satz mündete in ein Stöhnen. Es gab ein schleifendes Geräusch und ein dumpfes Pochen, dann Stille. Matsuki sprang auf und stieß dabei den Kaffeetopf ins Feuer, wo er dampfte und zischte. Der Ingenieur kam mit einem Sprung die Leiter herunter. Er rief: »Bleibt wo ihr seid; Levine, bleiben Sie unter den Fichten. Matsuki, Sie bleiben beim Feuer und machen Kaffee und holen dann den Schnaps aus dem Schiff. Vor allem, Levine, gehen Sie nicht da hinunter!« Durch ein Feld von hellrosa Azaleen hastete er auf die Böschung zu. Nun, niemand konnte da etwas machen. Levine erklärte, daß der alte Mann, nachdem er dem Ingenieur gesagt hatte, er solle die Ruhe bewahren, viel weiter in die Ebene hinausgegangen war, bis Levine ihn schließlich aus den Augen verloren hatte. Wenn er gefallen war und sich verletzt hatte, hätten wir ihn wahrscheinlich nie gefunden. Und wenn wir zu ihm hinunter gingen und er uns kommen sah – es hätte die Sache nur noch schlimmer gemacht. In der Nähe der Stelle, wo der Alte Levine zurückgelassen hatte, standen wir auf der Böschung, und der Ingenieur erklärte, was Gardner gesehen hatte und warum. Sie ließen Matsuki dort, der nach ihm Ausschau halten sollte. Die anderen beiden gingen zum Lagerfeuer zurück. Alle zwei Minuten sagte Levine über das Telefon: »Hallo, Mr. Gardner. Können Sie mich hören? Hier ist Levine. Bitte kommen Sie zum Lager herauf, und ich werde Ihnen alles erklären.« Schließlich antwortete der Alte. »Ich komme. Warten Sie dort oben auf mich. Ich glaube, ich habe die Besinnung verloren.« Als er die Böschung erreichte, nahm ihn Matsuki am Arm und half ihm zum Lager hinunter. Dort gaben ihm die Männer Kaffee mit Whisky aus ihrem Erste-Hilfe-Kasten. Nach einer Weile war er nicht mehr ganz so bleich. Schließlich sagte er: »Es war der Schock, Mr. Levine zu
sehen… Wie einen Giganten am Horizont… Größer als Ihr Schiff!« »Das glaube ich Ihnen«, sagte der Ingenieur. »Sie haben wohl etwas festgestellt, was ich wissen sollte.« Der Ingenieur nickte düster. »Etwas Schlimmes?« Wieder nickte der Ingenieur. »Ich kann nicht mit Ihnen zurück zur Erde?« Niemand sagte etwas. »Sagen Sie mir, warum… bitte.« Matsuki sah Levine an. Der Ingenieur schaute ins Feuer. Levine holte tief Atem. »Ich will es Ihnen sagen«, sagte er. Er stand auf und stellte sich vor Gardner. »Wie groß bin ich?« fragte er. »Nun, etwa einsfünfundsiebzig.« »Strecken Sie den Arm aus und versuchen Sie, mich mit dem kleinen Finger abzudecken. Geht das?« »Nein.« »Gut, ich bin also größer als Ihr Finger.« Er trat einige Schritte zurück. »Geht es jetzt?« »Fast.« »In dieser Entfernung bin ich fast kleiner als ihr Finger.« Er ging weiter auf die Böschung zu und blieb wieder stehen. »Versuchen Sie es jetzt«, sagte er. »Jetzt geht es ganz leicht.« Levine lief zum Feuer zurück und griff zum Zeichenblock. Er skizzierte eine Allee, die sich in der Entfernung verjüngte und schließlich am Horizont verschwand. In die Allee zeichnete er drei Figuren ein, eine im Vordergrund, eine in der Mitte und eine in großer Entfernung. »Das hier vorn bin ich«, sagte er und deutete auf die erste Figur. »Ich sehe groß aus. Und das hin ich – weiter weg; und hier bin ich in der Ferne. Ihre Fingerspitze genügt, um mich abzudecken. Nun, wenn Sie mich anschauen, bin ich immer gleich groß, ich sehe nur kleiner oder größer aus. Aber das Bild von mir hier vorn ist wirklich größer als das im Hintergrund. Sehen Sie das?«
Der Blick des Alten war nicht mehr auf Levines Zeichnung gerichtet; er schaute niedergeschlagen zu den Bäumen auf der Böschung hinüber. Dann nickte er langsam. Levine gab den anderen ein Zeichen, und die drei Männer von der Erde gingen bedrückt zu ihrem Schiff zurück. Nach einer Weile sagte der Ingenieur bitter: »Wir müssen der Föderation für ihre Gastfreundschaft danken. Es war sehr gut gemeint, daß sie uns hier in ein Bild der Erde versetzte. Wir haben nur einfach nicht begriffen, daß auch das Bild eines Erdenmenschen darin enthalten sein würde.«
»Das ist noch nicht alles«, sagte Tammy nach einem Moment. »Du hast uns noch nicht erzählt, was der alte Mann tat.« »Das ist eben das Traurige an der Geschichte. Und vor dem Schlafengehen wollte ich euch keine traurige Geschichte erzählen.« »Ich weiß, Papi, aber es gehört doch zu der Geschichte, oder?« »Ja, da hast du wohl recht. Nun, nach einer Weile kam der Alte mit der Skizze in der Hand zu Levine und sagte: ›Und wenn Sie die Zeichnung fertig haben, legen Sie sie einfach in die Mappe?‹ Levine nickte. Der alte Mann legte seinen braunen Finger auf die Mitte des Horizonts. ›Was ist da hinten los?‹ ›Wir nennen das den Fluchtpunkt. Alle Linien des Bildes treffen sich dort und verschwinden.‹ ›Da will ich hin.‹ Darauf wußten wir nichts zu erwidern. Er ging weg, um wie gewöhnlich seine Arbeit zu tun, und am nächsten Morgen kam er mit einem Huhn und ein paar Ananas.
›Ein Abschiedsgeschenk‹, sagte er. ›Ich habe da draußen ein bißchen von allem. So wird es mir auf dem Weg an nichts fehlen.‹ Und einige Zeit nach dem Frühstück standen wir alle auf und gingen zu den Fichten hinüber. Und dort gaben wir uns die Hand, und er stopfte seinen alten, gestreiften Umhang in seinen Gürtel, nahm seinen Stab und machte sich auf den Weg nach unten. Es war ein phantastisch klarer Tag. Und lange, lange Zeit sahen ihm Matsuki, Levine und der Ingenieur nach, und er wurde kleiner und kleiner. Und das ist alles.«
Eine Zeitlang sagte keines der Kinder etwas. Dann öffnete Tammy die Augen. »Mein Bild – der Lehrer in der Schule hat gesagt, das ist schon sehr gut, wie die Leute darauf nach hinten zu immer kleiner werden. Sie hat gesagt, daß die meisten Kinder es nicht so machen, weil die meisten Kinder das nicht so sehen. Und das stimmt auch. Aber ich habe es einfach so gezeichnet, wie du es erzählt hast, ja?« Sie schlüpfte unter die Decke. »Freilich, du Rübe. Natürlich.« Nach einer kurzen Weile sagte er: »He, wie wär’s, wenn ihr beiden jetzt schlafen würdet?« Keine Antwort, und er löste seine Hand aus Hannahs rechter Faust, küßte sie beide auf die Stirn, ging, die Tür halb angelehnt lassend, hinaus und die Treppe hinunter, um nach seiner Frau zu sehen.
Originaltitel: VANISHING POINT Copyright © 1965 by Galaxy Publishing Corp. Aus GALAXY MAGAZINE
R. A. Lafferty WIR MACHEN ALLES
Es gab ‘ne Menge komischer Leute in diesem Viertel. »Bist du irgendwann mal durch diese Straße gegangen?« fragte Art Slick Jim Boomer, dem er dort gerade begegnete. »Nicht, seit ich ein Junge war. Als die Overall-Fabrik abgebrannt war, gab es einen Gesundbeter, der hatte dort im Sommer sein Zelt. Die Straße ist nur einen Häuserblock lang und endet an den Eisenbahngleisen. Nichts als alte Hütten und Gärten voll Unkraut. Aber die Hütten schauen jetzt anders aus – es scheint mehr davon zu geben. Ich dachte, die wären alle schon vor Monaten abgerissen worden.« »Jim, seit zwei Stunden beobachte ich das Häuschen da vorn. Heute früh war da eine Zugmaschine mit ‘nem fünfzehn Meter langen Anhänger, und die wurden aus der Hütte heraus beladen. Kartons, ungefähr zwanzig mal zwanzig mal einen Meter kamen auf der Rutsche heraus. So, wie die Männer damit umgingen, dürfte jeder so seine dreißig Pfund gewogen haben. Jim, die haben den Anhänger damit vollgeschmissen, und dann sind sie weggefahren.« »Na und?« »Ich sag dir doch, der ganze Anhänger war voll. Der muß gut seine fünfundzwanzig Tonnen drauf gehabt haben, als er losfuhr. Zwei Stunden lang haben sie alle dreieinhalb Sekunden einen Karton aufgeladen; das macht zweitausend Kartons.« »Natürlich, heutzutage sind viele Anhänger überladen. Wird ja auch kaum kontrolliert.«
»Jim, die Bude ist doch gerade eine Zündholzschachtel von gut zwei Meter im Quadrat. Die Hälfte geht für die Tür drauf, und drinnen sitzt ein Mann hinter einem kleinen Tisch. In diese Hälfte geht nichts anderes mehr rein. Und aus der anderen Hälfte kommt diese Rutschbahn heraus. Auf den Anhänger geht doch ein halbes Dutzend von diesen Buden da.« »Messen wir sie«, sagte Jim Boomer. »Vielleicht ist sie größer als sie aussieht.« Die Hütte trug ein Schild: DISCOUNT – VERSAND. Jim Boomer maß das Gebäude mit einem alten Stahlband ab. Es war ein Würfel von gut zwei Metern Seitenlänge, der auf geborstenen Ziegelsteinen stand: Man konnte daruntersehen. »Für ‘nen Dollar können Sie von mir ein neues ZwanzigMeter-Maßband haben, aus Stahl«, sagte der Mann auf dem Stuhl in der Hütte. »Das alte können Sie wegschmeißen.« Der Mann holte ein Maßband aus seiner Tischschublade, obwohl Art Slick sicher war, daß es ein einfacher Tisch ohne Platz für eine Schublade war. »Selbstaufrollend, rhodiumbeschichtet, Gleitlagerung, Ramsey-Achse, bildet sein eigenes Gehäuse. Ein Dollar«, sagte der Mann. Jim Boomer zahlte ihm einen Dollar dafür. »Wieviele haben Sie davon?« »In zehn Minuten kann ich hunderttausend bereitstellen«, sagte der Mann. »Achtundachtzig Cents bei Abnahme von hunderttausend.« »Waren das Maßbänder, die Sie heute morgen verladen haben?« fragte Art den Mann. »Nein, das muß etwas anderes gewesen sein. Das ist das erste Stahlband, das ich jemals gemacht habe. Ich kam auf den Gedanken, als ich sah, wie Sie meine Hütte mit Ihrem alten, abgenutzten vermaßen.«
Art Slick und Jim Booner gingen zu dem heruntergekommenen Gebäude nebenan. Es war kleiner – maß etwa einsachtzig in Länge, Breite und Höhe – und auf dem Schild stand: STENOTYPISTIN. Man hörte das Klappern einer Schreibmaschine, aber der Lärm verstummte, als sie die Tür öffneten. Ein hübsches, dunkelhaariges Mädchen saß auf einem Stuhl vor einem schmalen Tisch. Sonst war nichts im Raum, auch keine Schreibmaschine. »Ich dachte, ich hätte hier ‘ne Schreibmaschine gehört«, sagte Art. »Ach, das war ich«, lächelte das Mädchen. »Manchmal mache ich zum Spaß Schreibmaschinengeräusche wie eine richtige Stenotypistin.« »Was würden Sie denn tun, wenn irgend jemand etwas geschrieben haben möchte?« »Was glauben Sie denn? Ich mach es natürlich.« »Könnten Sie denn ’nen Brief für mich schreiben?« »Klarer Fall, Freund, zwei Piepen die Seite, gute Arbeit, mit Durchschlag, Umschlag und Marke.« »Na, das möchte ich doch gern mal sehen. Ich diktiere ihn, während Sie schreiben.« »Diktieren Sie zuerst. Dann schreibe ich. Zwei Sachen zu gleicher Zeit hat keinen Sinn.« Art diktierte einen langen, bedeutungsvollen Brief, den er bereits seit Tagen schreiben wollte. Er kam sich wie ein Narr vor, als er ihn dem Mädchen vorbetete, während sie ihre Nägel feilte. »Warum müssen Stenotypistinnen andauernd ihre Nägel feilen?« fragte sie, während Art diktierte. »Aber ich bemühe mich, es richtig zu machen, feil sie ab, laß sie wieder wachsen, feil sie dann wieder ab. Mach ich jetzt schon den ganzen Morgen. Richtig dämlich.« »Aha – das wär’s dann«, sagte Art, als er mit dem Diktat fertig war.
»Kein PS ›Mit Liebe und Küßchen‹?« fragte das Mädchen. »Kaum. Es ist ein Geschäftsbrief an jemand, den ich fast gar nicht kenne.« »Ich schreibe immer an Leute, die ich kaum kenne«, sagte das Mädchen. »Ihr Brief gibt drei Seiten, macht sechs Piepen. Bitte, gehen Sie jetzt beide zehn Sekunden hinaus, und ich schreibe ihn. Kann es nicht haben, wenn jemand zusieht.« Sie schob die beiden hinaus, schloß die Tür. Dann herrschte Stille. »Was machen Sie denn da drin, Mädchen?« rief Art. »Soll ich Ihnen noch ‘nen Gedächtniskurs verkaufen? Haben Sie schon vergessen? Ich schreibe ‘nen Brief!« rief das Mädchen. »Aber ich höre keine Schreibmaschine.« »Was ist? Muß es auch noch naturgetreu sein? Da sollte ich ‘nen Zuschlag verlangen.« Man hörte ein Kichern und dann, etwa fünf Sekunden lang, rasendes Schreibmaschinengeklapper. Das Mädchen öffnete die Tür und gab Art den dreiseitigen Brief. Natürlich war er perfekt geschrieben. »Irgendwas ist da komisch dran«, sagte Art. »Oh? Die Ungrammatik von dem Brief ist Ihre eigene, Sir. Hätte ich korrigieren sollen?« »Nein. Es ist was anderes. Sagen Sie mir die Wahrheit, Mädchen – wie bringt es der Mann von nebenan fertig, ganze Anhänger mit Zeug zu beladen, aus einem Gebäude heraus, das zehnmal zu klein dafür ist?« »Er hat Discount-Preise.« »Was seid Ihr denn überhaupt für Leute? Der Mann nebenan sieht Ihnen ähnlich.« »Mein Bruder-Onkel. Wir sagen immer, wir sind InnomineeIndianer.«
»So einen Stamm gibt es ja gar nicht«, sagte Jim Boomer brüsk. »Nicht? Dann werden wir eben sagen, wir sind was anderes. Es klingt indianisch, das müssen Sie zugeben. Welcher Indianerstamm wäre denn am besten?« »Shawnee«, sagte Jim Boomer. »Okay, dann sind wir Shawnee-Indianer. Sie sehen, wie leicht das ist.« »Wir sind bereits überzeugt«, sagte Boomer. »Ich bin ein Shawnee und kenne jeden Shawnee in der ganzen Stadt.« »Hallo, Cousin!« rief das Mädchen und blinzelte. »Das ist aus ‘nem Witz, den ich gehört hab, bloß der Anfang war anders. Ihr seht, ich bin nicht zu packen.« »Ich krieg noch ‘nen halben Dollar ‘raus«, sagte Art. »Ich weiß«, sagte das Mädchen. »Ich vergaß für einen Augenblick, was auf dem Fünfziger hinten drauf ist, drum wollte ich mirs ansehen. Ja, der komische Vogel, der auf ‘nem Bündel Brennholz steht. Hier.« Sie gab Art Slick die Münze. »Und sagen Sie den Leuten, daß es hier ‘ne flotte Stenotypistin gibt, die prima Briefe schreibt.« »Ohne Schreibmaschine«, sagte Art Slick. »Gehen wir, Jim.« »PS. Viele Grüße und Küsse«, rief ihnen das Mädchen nach. Nebenan war der Cool Man Club, eine kleine, schäbige Bierbar. Das Barmädchen hätte eine Schwester der Stenotypistin sein können. »Wir möchten zwei Budweiser; aber wie es scheint, haben Sie ja gar nichts da«, sagte Art. »Wer sagt denn das?« meinte das Mädchen. »Hier ist Ihr Bier.« Art glaubte fast, sie hätte es aus dem Ärmel gezaubert, aber sie hatte gar keine Ärmel. Das Bier war kühl und gut. »Wissen Sie, wie der Kerl an der Ecke ‘nen ganzen Anhänger mit Zeug volladen kann, als würde er es aus der Luft herunterholen?«
»Aber er muß es aus irgendwas machen«, warf Jim Boomer ein. »Nein, nein«, sagte das Mädchen. »Ich lerne eure Sprache. Ich kenne Wörter. ›Aus etwas‹ bedeutet zusammensetzen, nicht machen. Er macht.« »Komisch«, wunderte sich Slick. »Auf dieser Flasche ist ›Budweiser‹ falsch geschrieben, mit dem i vor dem e.« »Och, ich Schaf«, sagte das Barmädchen. »Ich wußte nicht mehr, wie das geht, deshalb hab ich’s auf den einen Flaschen so und auf den anderen so gemacht. Gestern hat jemand Progress-Bier bestellt, und ich schrieb es Progers. Manchmal mach ich so Fehler. Na, das haben wir gleich.« Sie fuhr mit der Hand über das Etikett, und dann stimmte der Name. »Aber das ist doch gedruckt«, staunte Slick. »Ach, dieses Zeug«, sagte das Mädchen. »Ich muß besser aufpassen. Einmal hab ich Jax-Bier in ‘ne Flasche von Schlitz getan, und das hat dem Mann nicht geschmeckt. Ich mußte schnell-schnell den Geschmack ändern, während ich so tat, als gäbe ich ihm ‘ne andere Flasche. ›Sie sieht nur wegen dem Licht hier so braun aus‹, hab ich zu dem Mann gesagt. Dabei haben wir hier doch gar kein Licht. Und ich hab die Flasche schnell grün gemacht. Man macht eben immer wieder Fehler, wenn man dusselig ist.« »Nein, es gibt weder Licht noch Fenster hier, und es ist trotzdem hell«, sagte Slick. »Sie haben keine Kühlung. Keiner der Schuppen hier hat Strom. Wie halten Sie denn das Bier kalt?« »Ja, ist das Bier nicht gut und kühl? Achten Sie darauf, wie geschickt ich Ihrer Frage ausweiche. Wollt Ihr beiden netten Männer noch ein Bier haben?« »Ja. Und ich möchte sehen, wo Sie es herholen«, sagte Slick. »Achtung, die Schlange hinter Ihnen!« rief das Mädchen.
»Oh, da sind Sie aber richtig erschrocken!« lachte sie. »War nur ein Scherz. Glauben Sie, ich will Schlangen in meiner netten Bar?« Und sie stellte wieder zwei Bier hin, und der Raum war so leer wie zuvor. »Wie lang seid Ihr Leutchen eigentlich schon hier?« fragte Boomer. »Wer kann das schon sagen«, sagte das Mädchen. »Man kommt und geht.« »Sie sind doch nicht von hier«, sagte Slick. »Und auch von keiner anderen Gegend, die ich kenne. Wo kommen Sie her? Vom Jupiter?« »Ach, Jupiter«, sagte das Mädchen wegwerfend. »Da kann man sich auch bloß mit ‘nem Haufen Insekten ‘rumplagen. Und friert sich die Zehen ab.« »Sie wollen uns doch nicht auf den Arm nehmen, Mädchen?« fragte Slick. »Ich tu, was ich kann. Hab ‘ne Menge Witze gelernt, aber ich erzähl sie immer noch falsch. Aber es wird schon, obwohl ich versuche, ein witziges Barmädchen zu sein, damit die Gäste wiederkommen.« »Was ist in dem Schuppen neben den Gleisen?« »Meine Schwester-Cousine«, sagte das Mädchen. »Hat eben heute angefangen. Läßt jede Art Haar auf Glatzen wachsen. Ich sag zu ihr, du bist verrückt. Wenn die Haare wollten, wären sie doch gar nicht erst kahl.« »Ja, kann sie denn Haar auf Glatzen wachsen lassen?« fragte Slick. »Natürlich. Sie etwa nicht?«
Es waren noch zwei oder drei Buden auf dem Gelände. Als sie in den Cool Man Club gingen, waren sie, schien es, noch nicht da gewesen. »Vor ein paar Minuten, glaub ich, habe ich diese Hütte noch nicht gesehen«, sagte Boomer zu dem Mann, der vor dem letzten Häuschen der Reihe stand. »Oh, die habe ich eben gemacht«, sagte der Mann. Verwitterte Bretter, rostige Nägel… und er hatte sie eben gemacht. »Warum haben Sie – äh – nichts Anständiges gemacht, wenn Sie schon dabei waren?« fragte Slick. »So fällt es weniger auf«, sagte der Mann. »Wer merkt es schon, wenn plötzlich ein altes Gebäude da ist? Wir sind neu hier und wollen uns erst eingewöhnen, bevor wir Aufmerksamkeit erregen. Jetzt überlege ich mir, was ich machen soll. Glauben Sie, es gibt einen Markt für ein Luxusautomobil für hundert Dollar? Wenn ich es mache, muß ich wohl allerdings Rücksicht auf die religiösen Gefühle der Leute hier nehmen.« »Worauf beruhen die?« fragte Slick. »Ahnenverehrung. Der alte Benzintank und das Brennstoffsystem werden immer noch als Relikte mitgeführt, obwohl man jetzt Naturenergie hat. Na ja, ich werde das einbauen. In drei Minuten habe ich eines fertig, wenn Sie eins wollen.« »Nein. Ich hab schon ein Auto«, sagte Slick. »Gehen wir, Jim.«
Das war das letzte Häuschen der Reihe, und so kehrten sie um. »Ich frage mich, was da drüben ist, wo niemand hingeht«, sagte Slick. »Es gibt ‘ne Menge komische Sachen in unserer Stadt, du mußt nur wissen, wo.«
»In den Buden, die vorher hier waren, waren ‘n paar seltsame Vögel«, sagte Boomer. »Manche davon kamen in den Red Rooster zum Trinken. Einer konnte kollern wie so ‘n Truthahn. Einer konnte die Augen in entgegengesetzten Richtungen rollen. Die haben am Hafen Getreide geschaufelt, bevor ihr Schuppen niederbrannte.« Sie kamen wieder am Häuschen der Stenotypistin vorbei. »Im Ernst, Süße, wie schreibst du ohne Maschine?« fragte Slick. »Schreibmaschine ist zu langsam«, sagte das Mädchen. »Wie, wollte ich wissen, nicht warum«, sagte Slick. »Ich weiß. Ist das nicht Klasse, wie ich Fragen ausweiche? Ich glaub, ich werd morgen ‘ne große Eiche vor meinem Geschäft wachsen lassen, das gibt Schatten. Hat einer von Ihnen vielleicht ‘ne Eichel in der Tasche?« »Äh – nein. Wie schreibst du denn nun wirklich, Mädchen?« »Versprechen Sie, daß Sie’s nicht weitersagen?« »Ich versprech’s.« »Ich mach die Zeichen mit meiner Zunge«, sagte das Mädchen. Sie wandte sich zum Gehen. »He, wie machst du die Durchschläge?« rief Jim Boomer zurück. »Mit meiner anderen Zunge«, sagte das Mädchen. Vor der ersten Hütte stand wieder ein Fünfzehn-MeterAnhänger. Auf der Rutsche kamen Bündel von Halb-ZollRohren heraus – sechs Meter lang. Sechs Meter lange starre Rohre aus einer zwei Meter langen und breiten Hütte. »Ich möchte wissen, wie er aus so ‘ner winzigen Bude ganze Anhänger voll von dem Zeug ‘rausbringt«, rätselte Slick, immer noch nicht zufrieden.
»Wie das Mädchen sagt, mit Discount-Preisen«, sagte Boomer. »Gehen wir zum Red Rooster, vielleicht ist da was los. Es gab immer ‘ne Menge komischer Leute in diesem Viertel.«
Originaltitel: IN OUR BLOCK Copyright © 1965 by Galaxy Publishing Corp. Aus IF
Ron Goulart DER PATIENT
Arnold Vesper gab dem Blumenautomaten einen Schlag mit der flachen Hand. Der staubgrüne Apparat machte einen kleinen Ruck, und ein Regen von gelben Rosenblättern kam aus dem Schlitz und flatterte auf den Boden des Parkplatzes. Vesper versetzte der Maschine einen verstohlenen Tritt Seine Kreditkarte flog aus dem Geldeinwurf heraus, und er fing sie auf. Die Lippen verärgert zusammengepreßt, sprang Vesper auf den Rollsteig, der ihn zum Besuchereingang des Krankenhauses brachte. Eigentlich kannte er Mr. Keasby gar nicht so richtig. Die Blumen waren also ohnehin überflüssig. Vesper wünschte, er wäre nicht so nachgiebig gegenüber den Wünschen seines Vaters gewesen. Sein Vater lebte in einem SeniorenSonnenturm im Lagunensektor von Groß Los Angeles. Als er hörte, daß sein alter Freund Keasby in einem städtischen Sozialkrankenhaus lag, hatte er seinen Sohn gebeten, ihn zu besuchen. Vesper war dreißig Jahre alt und machte immer noch Botengänge für seinen Vater. Nun, die Blumen waren wirklich nicht nötig. Das städtische Sozial-Krankenhaus Nr. 14 war ein hellgelber Gebäudekomplex. Irgendwie hatte man den Eindruck, daß seine ganze Außenseite klebrig war. Keasby hätte einen größeren Teil seines Einkommens für die Krankenversicherung aufwenden sollen, dann läge er jetzt nicht in einem SSK. Vesper hoffte, daß der Mann ihn nicht mit alten Geschichten
über die Gründung der Lebensmittelprüfer-Gewerkschaft im Jahre 1990 langweilen würde, wie es sein Vater immer tat. Der androide Pförtner war eines der fetten rosa Exemplare. »Die Besuchszeit ist punkt acht Uhr zu Ende. Sehen Sie zu, daß Sie dann wieder weg sind und machen Sie keine Schwierigkeiten, damit ich Sie nicht extra ‘rausschmeißen muß. Ist das klar?« »Klar«, sagte Vesper. »Wo ist Zimmer 77?« »Rechts, dann links. Korridor 4, dann Aufzug G. Dritter Stock, dann wieder links, dann rechts. Und jetzt gehen Sie schon.« Vesper ging den stationären Korridor entlang und an seinem Ende nach links. Die Korridore, die von diesem abzweigten, hatten alle Buchstaben und keine Nummern. Vesper ging weiter, langsamer jetzt. Vor ihm glitt ein Stück des Bodens zur Seite, und eine Glocke begann über ihm zu läuten. Eine automatische Rollbahre stieg vor Vesper auf. Der Patient darauf war ein korpulenter Mann in mittleren Jahren. Er stöhnte. Die Bahre klickte und fuhr an. Die Glocke verstummte. Vesper blieb stehen, um die Bahre vorbeizulassen. Aber er sah, wie das Ding gegen die Korridorwand stieß. Wieder läutete eine Glocke, als der Patient hochgeworfen wurde, bevor er von der Bahre herunterfiel. Vesper eilte zu Hilfe. Seine Füße verfingen sich in dem Leintuch, mit dem der Patient zugedeckt gewesen war. Das Tuch war schmutzig grau und fleckig. Vesper ließ sich auf die Knie nieder, um nicht zu stürzen. Beinahe berührte er den herunterfallenden Patienten und bemerkte dann Blut auf seiner Brust. Vesper schien, als gingen Wellen durch seinen Magen. Er begann zu schlucken, und seine Ohren schmerzten ihn heftig. Er versuchte, nicht auf den blutbefleckten Mann zu fallen, als er überkippte und das Bewußtsein verlor.
Der Arzt war ein Mensch. Er hatte einen etwas spitzen Kopf, und sein strähniges Haar hing ihm in die Stirn. Er hatte kein Kinn. »Ich weiß schon, wie Ihnen zumute ist«, sagte er zu Vesper. Dies schien ein Krankenzimmer zu sein. Fünf Betten nebeneinander, graue, staubige Wände. Vesper war entkleidet und trug ein Schlafanzug-Oberteil, das vor ihm schon jemand anderer gehabt hatte; er lag in einem der Betten. Die anderen vier waren leer. Durch den einzigen schmalen Fensterschlitz konnte er erkennen, daß es Nacht war. »Wie geht es diesem Mann?« Der Arzt schürzte die Lippen. »Reden wir nicht von ihm. Bei solchen Dingen krieg ich ‘ne Gänsehaut. Ehrlich gesagt, wenn ich Blut sehe, wird mir auch schlecht.« »Na, und wie geht es mir? Ich weiß, daß mir nichts fehlt.« Der Arzt saß auf einem Stuhl neben Vespers Bett. »Übrigens, mein Name ist Dr. William F. Norgran. Und jetzt sagen Sie mir einmal genau, wo es wehtut.« »Ich wurde doch nur bewußtlos, oder?« Vesper setzte sich auf. »Ich wollte einen Mr. Keasby in Zimmer 77 besuchen, verstehen Sie. Er ist ein Freund meines Vaters. Mein Vater geht nicht viel von Zuhause fort. Er wohnt in einem SeniorenSonnenturm im Lagunen-Sektor.« Dr. Norgran erschauderte. »Alte Leute sind mir ein Greuel.« Vesper sagte: »Ich möchte mich jetzt anziehen und gehen.« »Ich muß Ihnen sagen, Mr. – äh – « »Vesper. Arnold Vesper.« »Mr. Vesper, wenn jemand hierher ins städtische Sozialkrankenhaus Nr. 14 gebracht wird, muß er untersucht werden. Dies ist eine Wohltätigkeitseinrichtung. Wir müssen gründlich sein. Dazu sind wir der Öffentlichkeit gegenüber verpflichtet.«
»Aber ich bin bei der Multimedical versichert. Ich arbeite in der Oleomargarine-Abteilung einer unserer größten Motivationsforschungsfirmen. Ich habe Anrecht auf sämtliche Sozialleistungen. Ich brauchte nicht in ein SSK zu gehen.« »Ja«, sagte Dr. Norgran und räusperte sich. »Möglicherweise haben Sie irgendeine Art Anfall gehabt. Bei Dingen dieser Art können wir nicht vorsichtig genug sein.« Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Hören Sie zu. Ist diese Motivationsforschung so interessant, wie das klingt? Ich frage deshalb, weil ich das in der Schule als Hauptfach nehmen wollte, aber meine Leute erwarteten von mir, daß ich Arzt werde. Und jetzt bin ich hier, gestrandet in einem Sozialkrankenhaus. Als Assistent in der Hollywood-FilmKlinik hatte ich dauernd Übelkeits- und Ohnmachtsanfälle. Deswegen kam ich hierher.« »Es ist nicht leicht, in die Motivationsforschung hineinzukommen, ohne ein Universitätsdiplom zu haben«, sagte Vesper und sah sich im Zimmer um. Es schien keine Schränke zu geben. »Wo sind eigentlich meine Sachen?« Dr. Norgran zuckte die Achseln. »Einer von diesen androiden Helfern hat sie irgendwo aufgeräumt. Ehrlich gesagt, Mr. Vesper, hier Arzt zu sein, das ist die Hölle. Vor allem, wenn man zufällig kein Blut sehen kann. Wie Sie vielleicht wissen, ist der Chefarzt in den meisten städtischen Krankenanstalten ein Androide. Und unter dem alten Dr. Uhrwerk ist es wirklich nicht leicht zu arbeiten.« »Dr. Uhrwerk?« »Wir nennen ihn so. Das heißt, die paar Menschen hier mit genug Sinn für Humor. Es ist wegen der Art, wie er manchmal tickt und rattert. Sein offizieller Name ist Medi Android A12/675 RHLW. Ein alter Teufel, glauben Sie mir.« Vesper nickte. »Wenn Sie mich untersucht haben, kann ich ja wohl gehen. Nachdem Sie selbst so veranlagt sind, können Sie
doch verstehen, daß ich einfach wegen des Blutes in Ohnmacht fiel. Ist der Mann gestorben?« Dr. Norgran verneinte mit einer schnellen Handbewegung. »Lassen wir das Thema. Mr. Vesper, Sie können mir wirklich einen Gefallen tun. Ich muß Ihnen etwas gestehen. Ich bin ziemlich sicher, daß es nur ein vorübergehender Zustand ist. Die Sache ist die: In mir hat sich ein absoluter Horror davor entwickelt, Leute zu berühren. Es hat nichts mit Ihnen zu tun. Ist so ‘ne Art Tick.« »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen.« »Es wäre mir lieber, wenn Dr. Uhrwerk Sie sich mal ansähe. Mir wird immer so komisch in letzter Zeit, wenn ich jemand untersuchen soll. Albern von mir, nicht wahr?« »Warum lassen Sie mich nicht einfach gehen?« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Die Sache ist längst in Gang. Wenn Sie bei der Multimedical sind, dann haben die Androiden im Büro schon Ihre MM-Karte aus ihren Effekten geholt.« »Effekten haben nur Tote.« Dr. Norgran errötete. »Tut mir leid. Machen Sie sich keinerlei Sorgen, Mr. Vesper. Die MM-Leute und unser Personal werden sich um alles kümmern. Konzentrieren Sie sich auf einen guten Nachtschlaf.« Vesper fuhr hoch. »Nachtschlaf?« »Dr. Uhrwerk verbringt die Nacht in Isolation 3. Er kann Sie erst am Morgen aufsuchen.« »Aber mein Job!« »Das Krankenhaus wird Ihre Arbeitsstelle davon in Kenntnis setzen. Jedenfalls, Mr. Vesper, werden Sie höchstwahrscheinlich morgen vor Kaffee I wieder draußen sein. Haben Sie Familie?«
»Ich bin geschieden. Ich lebe in einem Rancho-Turm in der Gower Avenue im Hollywood-Sektor. Ein Zwei-ZimmerAppartement.« »Sie Glücklicher«, sagte Dr. Norgran. Er berührte etwas unter dem Bett, und das Bett riß Vesper zurück und gab ihm eine Injektion in die linke Gesäßbacke. »Das hilft beim Einschlafen. Wir sehen uns morgen. Hoffentlich gibt es keine weiteren Unannehmlichkeiten in dieser Nacht. Ich habe Dienst bis in der Frühe.« »Warten Sie«, sagte Vesper und schlief ein.
Bin Summen weckte ihn, Vesper bemerkte einen breitschultrigen Androiden in einer schäbigen weißen Jacke, der ihn ansah. Der Androide hatte einen eckigen Schädel mit vorspringendem Kinn und nach hinten gekämmten grauem Haar. Lachfalten waren an Augen und Mund eingebaut worden. »Wie fühlen wir uns?« fragte der Androide mit warmer, vertrauenerweckend klingender Stimme. »Ich bin Medi-Android A/12 675 RHLW. Die jungen Leute hier nennen mich Dr. Uhrwerk. Ich muß natürlich so tun, als wüßte ich nichts davon«, fügte er mit einem Blinzeln hinzu. Dann blinzelte er weiter, und mit einem leichten »plopp!« sprang sein rechter Augapfel heraus. »Was wir Oldtimer alles durchmachen müssen«, seufzte er, bückte sich und verschwand unter dem Bett. »Ich hab ihn.« Vesper setzte sich auf. »Dr. Uhrwerk«, sagte er, als der androide Arzt, jetzt wieder zweiäugig, von neuem neben ihm stand. »Ich bin in allerbester Verfassung. Ich kippte lediglich um, als ich gestern abend auf dem Weg zu einem alten Freund meines Vaters war. Ein Mr. Keasby in Zimmer 77. Kann ich meine Sachen haben? Dann möchte ich gehen.«
»Machen Sie mal kurz den Mund auf. Gut.« Der Androide packte Vespers Unterkiefer. »Nichts ist einfach im Arztberuf. Das habe ich als altmodischer Vorstadtdoktor gelernt. Hmmm.« »Ich komme bestimmt zu spät zur Arbeit.« Durch das Fenster war zu erkennen, daß es schon Vormittag sein mußte. »Arbeit, Arbeit«, sagte Dr. Uhrwerk. »Jeder von uns hat es ständig eilig. Nun denn.« Er fing an, auf sein Brust zu klopfen. »Atmen Sie durch den Mund. So, hm.« »Mein Vater arbeitete neununddreißig Jahre lang bei der Lebensmittelprüfung, bevor er pensioniert wurde«, sagte Vesper zwischen den einzelnen Atemzügen. »Er und Mr. Keasby arbeiteten offenbar mehrere Jahrzehnte lang Seite an Seite.« »Legen Sie sich jetzt auf den Bauch.« Vesper gehorchte. »Offenbar weiß man nicht mehr, wo meine Sachen sind.« »Im SSK 14 entgeht nichts meiner Aufmerksamkeit«, sagte Dr. Uhrwerk. »Wenn Ihre Kleider gebraucht werden, wird der alte Dr. Uhrwerk sie finden.« Er fuhr mit dem Finger über Vespers Wirbelsäule. »Sind solche Ohnmachtsanfälle häufig in Ihrer Familie?« »Ich weiß nicht. Ich verlor nur deswegen das Bewußtsein, weil ich all dieses Blut sah.« Er warf einen Blick über seine Schulter. »Hat der Mann überlebt?« »So«, sagte Dr. Uhrwerk und kniff Vesper in die rechte Hinterbacke. »Wie oft fallen Sie in Ohnmacht?« »Nicht oft.« »Was verstehen Sie unter nicht oft, junger Mann?« »Dreimal in meinem ganzen Leben.« »Aha.« Der Android gab einen zischenden Laut von sich und summte dann kurz in verändertem Ton. »Sagen Sie Ihrer Krankenschwester, daß Sie heute mittag Haferschleim und
etwas Magermilch bekommen. Heute nachmittag möchte ich in Untersuchungsabteilung 4 Tests mit Ihnen machen.« »Aber ich muß doch fort.« »Nicht in Ihrem Zustand.« »Wie meinen Sie das?« »Vergessen Sie nicht den Haferschleim. Entspannen Sie sich jetzt.« Der Arzt ging zur Tür. Auf halbem Wege begann er plötzlich stark zu hinken. Er trat hinaus in den Korridor, und einen Augenblick später gab es irgendeinen Zusammenstoß. Das Bett ließ Vesper nicht hochkommen. Er drehte sich ein wenig zur Seite und bemerkte einen Knopf mit der Aufschrift Schwester. Er reckte sich und drückte darauf. Aus einem Lautsprecher neben dem Knopf ertönte ein Summen. Ein paar Minuten später sagte eine weibliche Stimme: »Für Zimmer 23 ist keine Belegung gemeldet. Wer ist da drin?« »Ist egal. Dr. Uhrwerk ist im Gang draußen hingefallen.« »Das tut er immer. Also, wer sind Sie?« »Ich bin Arnold Vesper und möchte hier ‘raus.« Es kam keine Antwort.
Dr. Rex Willows Unterlippe glitt nach vorn und kippte seine orangefarbene Zigarre nach oben, auf seine Nasenspitze zu. Offenbar war er ein Mensch; er saß auf Vespers Bettkante, als Vesper von einem erzwungenen Nachmittagsschlaf aufwachte. Willow erklärte, daß er der von der MultimedicalVersicherung geschickte Arzt sei. Nachdem er Vesper gefragt hatte, was ihm fehle, sagte Dr. Willow: »Die Leute in Ihrem Büro scheinen Sie wirklich zu mögen. Hier.« Aus seiner Jackentasche holte er eine kleine Schachtel hervor. Vesper nahm sie. »Heute mittag hat man übersehen, mir was zum Essen zu bringen. Die Schwester an der Sprechanlage antwortete nicht. Ich hoffe, das ist etwas zu essen.« Er legte die
Hand auf den Schachteldeckel. »Vor allem hoffe ich, daß Sie mich hier herausholen.« »Da machen Sie sich mal keine Gedanken, Arnold.« Die Schachtel enthielt Genesungswünsche. Zwei Dutzend identische Karten. Jede von einem Mitglied des Oleomargariner Teams unterschrieben. »Alle gleich«, sagte Vesper und legte die Schachtel auf seinen Nachttisch. »Ähnliche Gefühle können ähnliche Form annehmen.« Dr. Willow sprang auf. »War nett, mit Ihnen zu reden, Arnold. Unterschreiben Sie diese Computerkarten für mich, und dann verschwinde ich. Ich muß noch zu ein paar von den gebührenpflichtigen Krankenhäusern in den besseren Sektoren.« Er gab Vesper einen kleinen Stoß von MiniaturComputer-Kärtchen. »Wieso kommen Sie überhaupt hierher? Ich dachte, dies ist ein Gratis-Krankenhaus«, fragte Vesper. »Multimedical kommt überall hin. Es ist kein übles Krankenhaus, wenn es Ihnen sehr schlecht geht, Arnold. Oder in einem Notfall wie Ihrem. Unterschreiben Sie auf der roten Zeile.« Er deutete mit dem Finger darauf. »Auf der blauen Zeile bei den Karten, die blau sind.« »Mein Kugelschreiber ist in meiner Jacke.« »Nehmen Sie meinen.« Auf Willows Kugelschreiber stand »Multimedical« und »GUTE BESSERUNG«. Vesper fragte ihn: »Können Sie mich nicht hier ‘rauskriegen?« »Nicht, wenn der Oberarzt dagegen ist.« »Nicht einmal ein Telefon habe ich hier. Können Sie mir wenigstens das besorgen? Ich brauche wirklich ein Telefon.« »Dies ist ein Sozial-Krankenhaus, Arnold, kein Kurheim. Wenn Sie wieder auf den Beinen sind, finden Sie schon einen Fernsprecher. In der Besucherhalle habe ich eine Telefonzelle gesehen. Unterschreiben Sie.«
Vesper unterschrieb. »Haben Sie mit meinen Ärzten hier gesprochen?« »Ja, natürlich. Dr. Norgran ist ein prächtiger Junge. MediAndroid A/12 675 RLHW ist der beste Androide in irgend einem der Sozialkrankenhäuser.« »Als er heute früh hier war, sprang ihm sein Glasauge heraus.« »Wenn ein Mensch in bestimmter Hinsicht behindert ist, beeinträchtigt das nicht seine sonstigen Fähigkeiten.« »Aber er ist eine Maschine.« »Wenn Sie nicht bald mit den Unterschriften fertig sind, muß ich mehr Kreditscheine in meine Landeplatz-Uhr stecken, Arnold.« »Schon gut.« Er füllte alles aus mit Ausnahme der Frage nach den Hobbies seiner Mutter. Willow sagte, daß das ohnehin freiwillig sei. Als der Versicherungsarzt ging, rief Vesper: »Sagen Sie ihnen doch, daß ich was zu essen brauche.« »Alles zu seiner Zeit«, sagte Willow und eilte davon.
Gegen Abend rollten zwei Androiden einen Mann namens Skeeman herein und legten ihn in das übernächste Bett. Vesper wußte den Namen, weil der kleine alte Mann mit der gelblichen Hautfarbe mehrmals zu den Helfern sagte: »Rufen Sie Dr. Wolter und sagen Sie ihm, daß Milton Skeeman wieder einen gehabt hat.« Die Androiden nickten und lächelten und ließen Skeeman von seinem Bett einschläfern. »Wann gibt es Abendessen?« fragte Vesper. »Schön brav sein, Junge«, sagte der eine. »Die aufsässigen Patienten sind die schlimmsten. Wollen nur essen, die ganze Zeit essen.«
»Und ich möchte aufstehen. Und in den Waschraum gehen.« »Ihr großes teures Bett wird das schon besorgen.« Sie gingen, und das Bett tat es.
Vesper schätzte, daß es etwa sieben oder acht Uhr abends sein mußte, als die Lichter angingen. Etwas stieß gegen die Tür; dann öffnete sie sich, und Dr. Uhrwerk erschien. »Und wie fühlen wir uns?« Vesper schüttelte den Kopf. »Warum sind Sie denn in einem Rollstuhl?« Dr. Uhrwerk rollte sich zu ihm ans Bett. »Meine Probleme sind nicht der Rede wert. Sprechen wir von Ihnen. Hmm. Der Haferschleim scheint nicht geholfen zu haben.« »Den ganzen Tag habe ich nichts zu essen bekommen. Ich habe Hunger. Ich kriege Kopfschmerzen, und es wird mir schlecht, wenn ich nichts esse.« Dr. Uhrwerk fuhr sich mit der Hand durch das dichte graue Haar. »Starke Kopfschmerzen, Übelkeit. Das dachte ich mir. Darf ich Ihnen etwas erklären, mein Junge. Seit dem Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts hat sich der kalte Krieg ständig intensiviert. Verständlich; man kann der orientalischen Mentalität nicht trauen. Zwar werden die Waffen nicht offen gezeigt, aber man kann sicher sein, daß der gepanzerte Handschuh eine samtene Faust verbirgt.« »Das ist nicht ganz die richtige Metapher.« »Das Entscheidende ist, daß sie die ganze Zeit sehr subtile Waffen gegen uns verwendet haben.« Dr. Uhrwerk lachte. »Sie werden vielleicht nicht glauben, daß eine der hinterhältigsten Waffen, die die Menschheit kennt, von einem einfachen Arzt in einem bescheidenen Gratis-Krankenhaus entdeckt worden ist. Nun ja, viele große Märtyrer kamen aus bescheidenen Verhältnissen. Es hat sogar ein paar androide Märtyrer
gegeben. Ich bin vielleicht kein Mensch, aber ich liebe dieses unser Land und tue alles, um seine Feinde inner- und außerhalb seiner Grenzen zu bekämpfen. Und so entdeckte ich Contagium DDW.« »Was soll denn das alles heißen?« »Contagium DDW«, sagte der Androide mit bebender Stimme. »Ein heimtückischer Bazillus, den sie uns herüberschickten, um unser Volk zu verblöden. In der Isolation 3 habe ich zwei Dutzend arme Opfer. Draußen weiß niemand etwas von der Existenz von Contagium DDW. Niemand weiß etwas von meiner Arbeit. Eines Tages werden sie davon wissen. Vielleicht ein Denkmal. Vielleicht wird man mir eines Tages ein Denkmal errichten. Das erste zu Ehren eines Androiden.« »Aber wann komme ich hier heraus, Doktor?« »Wer weiß«, sagte Dr. Uhrwerk. »Tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, daß Sie von Contagium DDW befallen sind.« Wieder befühlte Vesper seine Stirn. Die automatische Krankenschwester sagte ihm seine Temperatur nicht, aber er konnte sich des Verdachts nicht erwehren, daß er schon tagelang Fieber hatte. Außerdem stimmte etwas mit der Heizung in seinem Isolationsraum nicht. Das Sichtfensterchen über dem Kristall im Thermostaten war zugefroren, so daß er nicht nachprüfen konnte, ob der Raum wirklich manchmal viel zu warm war. Während Vesper in dem kleinen Zimmer auf- und abging, griff er manchmal in seinen Krankenhauskittel und holte ein Taschentuch heraus, um sich den Schweiß vom Gesicht zu wischen. Auch auf der Brust schwitzte er. Der Service war in Isolation 3 besser als unten im Krankenzimmer. Er bekam regelmäßig zu essen und durfte täglich eine Stunde im Raum hin- und hergehen.
Etwas klopfte an das Guckfenster in der Tür. Vesper wandte sich um und sah das Gesicht von Dr. William F. Norgran, der hereinschaute. Der Arzt nickte und sagte in die Sprechanlage: »Entschuldigen Sie, daß ich nicht eher zu Ihnen zurückgekommen bin. Diese furchtbaren Krankheiten machen mich ganz fuchtig.« Vesper wollte ihm erklären, daß er in Wirklichkeit gar keine Krankheit hatte und wirklich nur wegen des Blutes in Ohnmacht gefallen war. Er zögerte. Das Fieber, die Schweißausbrüche – tatsächlich, er fühlte sich etwas seltsam. Dr. Uhrwerk schien etwas über Contagium DDW zu wissen, obwohl er Vesper nie richtig erklärte, was es war. »Ich kann das verstehen«, sagte er zu Dr. Norgran. »Alles in allem«, sagte der Arzt, »machen Sie einen einigermaßen guten Eindruck.« »Dr. Uhrwerk sagt, ich darf jetzt wieder hier raus.« Dr. Norgran erbleichte. »Nein, nein. Ich kann Sie einfach nicht mehr sehen. Tut mir leid. Ich komme später wieder.« Er verschwand. Das Bett hinter ihm winkte Vesper zurück. Vesper machte seine Rundgänge nicht mehr, und das Bett bestand nicht darauf. Er kämpfte gegen Contagium DDW, aber der Kampf ermüdete ihn immer mehr. Daß das Zimmer hin und wieder vergaß, ihm Essen zu geben, oder daß die Klimaanlage ihn häufig mitten in der Nacht durch brütende Hitze oder schneidende Kälte aufweckte, machte die Sache nicht besser. Vesper befühlte seinen Puls, so wie es Dr. Uhrwerk immer gemacht hatte. Die Leute vom Büro schickten ihm keine Genesungswünsche mehr. Soweit er sich erinnern konnte, garantierte ihm seine Gewerkschaft den Arbeitsplatz. Außerdem mußte er am Tag zweiundfünfzig Dollar Versicherungsgeld erhalten. Dr. Rex Willow kam nie in Isolation 3; er hatte keine Erlaubnis dazu.
Zweiundfünfzig Dollar war der Tagessatz, an den sich Vesper aus seiner Versicherungsbroschüre erinnerte. »Es greift einen ziemlich an«, sagte Dr. Uhrwerk, als er sich ins Zimmer rollte. »Nur Mut, Junge.« »Ich fühle mich ziemlich gut.« Dr. Uhrwerk rollte näher heran. »Hmm. Die Symptome breiten sich aus. Es ist heimtückisch. Dennoch, ich schwöre Ihnen, daß es eines Tages überall Contagium-DDW-Sanatorien geben wird, vielleicht auch als eine Inselkolonie. Ich frage mich, ob es androide Heilige geben kann. Spielt keine Rolle. Der Gedanke würde im Herzen der Menschen wohnen. Eine offizielle Sanktion ist nicht nötig. Zeigen Sie mir Ihre Zunge.« »Ah«, sagte Vesper, zu müde jetzt, um sich aufzusetzen. »Ja, ja«, sagte der androide Arzt. »Ist was?« »Die Sache wird gut. Keine Angst.« »Wissen Sie«, sagte Vesper, »am Anfang schätzte ich Sie vielleicht nicht so sehr, Doktor. Jetzt habe ich das Gefühl, daß ich Ihnen sehr viel schulde. Dafür, daß Sie diese Sache erkannt haben und mir helfen.« »Jetzt kriegen Sie eine Spritze«, sagte der Arzt. »Drehen Sie sich um.« »Ich glaube, ich habe jetzt wirklich großes Vertrauen in Sie, Doktor.« »Ja; sollen sie mich hinter meinem Rücken ruhig Dr. Uhrwerk nennen, aber man kann mir vertrauen.« Als er ihm die Injektion gab, begann der Androide in verändertem Ton zu summen. »Man kann mir vertrauen.« »Das glaube ich jetzt auch«, sagte Vesper. »Man kann mir vertrauen. Man kann mir vertrauen. Man kann mir vertrauen. Man kann mir vertrauen. Man kann mir vertrauen. Man kann mir vertrauen. Man kann mir vertrauen. Man kann mir vertrauen.«
Als Vesper einschlief, redete Dr. Uhrwerk immer noch weiter.
Originaltitel: CALLING DR. CLOCKWORK Copyright © 1965 by Ziff-Davis Publishing Co. Aus AMAZING STORIES