ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 9 von Murray Leinster Everett B. Cole Leigh Brackett John D. MacDonald
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 9 von Murray Leinster Everett B. Cole Leigh Brackett John D. MacDonald
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
ULLSTEIN BUCH NR. 2853 IM VERLAG ULLSTEIN GMBH, FRANKFURT/M – BERLIN – WIEN Aus dem Amerikanischen übersetzt von Heinz F. Kliem
Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1971 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1971 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 02853
Eine gewaltige Explosion hatte vor Jahrtausenden die Stadt der Tyrannen vernichtet, durch Dynamit, das aus der Gegenwart stammte … ZEIT-ZÜNDER von Murray Leinster Die Geräte dienten einem friedlichen Zweck. Sie waren Entwicklungen einer überlegenen Kultur. In den Händen eines Barbaren wurden sie zu gefährlichen Waffen … MACHT IN FALSCHEN HÄNDEN von Everett B. Cole Sie waren Nomaden des interplanetaren Raums, Ausgestoßene der Förderation. Ihre Auflehnung gegen den Fortschritt war sinnlos, aber sie lebten und kämpften für die Freiheit … STRANDGUT DES ALLS von Leigh Brackett Für die Überlebenden des Krieges galten Wissenschaft und Forschung als Übel, das an der Wurzel ausgerottet werden mußte. Was lag näher, als bei den Wissenschaftlern und Forschern zu beginnen? AUSLESE von John D. MacDonald
Murray Leinster ZEIT-ZÜNDER
Von Anfang an war es Pete Marshalls großer Auftritt, und das Messer spielte die Hauptrolle. Marshall stand in dem Ruf, ein hervorragender Archäologe zu sein, und es gab keinen Zweifel daran, daß er sich diesen ehrlich erworben hatte. Doch das Messer bedeutete seinen beruflichen Ruin. Es war ein Stahlmesser – sogar aus rostfreiem Stahl. Dabei behauptete Marshall, es wäre mindestens achttausend Jahre alt, und das glaubte er auch. Nun braucht man nicht gerade Archäologie studiert zu haben, um zu wissen, daß die Menschen vor achttausend Jahren noch keine Messer aus rostfreiem Stahl hatten. Das war geradezu absurd. Das führte also zu Marshalls beruflichem Ruin. Wenn man dieses Messer mit den primitiven Töpfen und Vasen verglich, die nach Marshalls Angaben aus der gleichen Fundgrube stammten, dann ergab das einfach keinen Sinn! Dennoch brachte ihm der rostfreie Stahl ein Patent ein und genügend Geld, um eine neue Expedition nach Yukatan auszurüsten. Er nahm nur zwei Männer mit, Bill Apsley und Jeff Burroughs, aber es waren ausgewählte Männer. Im Hinblick auf derartige Unternehmungen gab es in ganz Amerika kaum einen Mann, der Burroughs das Wasser reichen konnte. Apsley war zwar kein ausgesprochener Experte, aber in bezug auf archäologische Probleme hatte er gewissermaßen einen sechsten Sinn. Auf seine Art war er geradezu brillant.
Sie verstauten ihre wissenschaftliche Ausrüstung an Bord eines Schiffes und steuerten einen kleinen Hafen auf Yukatan an. Es dauerte vier Tage, bis die drei Männer mit ihren Arbeitern auf dem Landweg die Stelle erreichten, wo Marshall angeblich das Messer gefunden hatte. Die zuvor ausgehobenen Gräben waren teilweise wieder eingestürzt und verschüttet. Während der ersten beiden Wochen gingen die Ausgrabungsarbeiten gut voran. Marshall erwartete nicht, hier etwa weitere Messer zu finden – und er fand auch keine. Vorsichtig tasteten sie sich an die Überreste einer alten Siedlung heran. Kunstwerke wurden fotografiert und verpackt. Asche und Erde wurden gesiebt und alle Funde sorgfältig katalogisiert. Apsley und Burroughs waren mit Feuereifer bei der Sache. Hier bot sich ihnen reichlich Material, eine Kulturepoche zu studieren, die noch vor der Zeit der Mayas lag und völlig unbekannt war. Sie schien spurlos in späteren Epochen aufgegangen zu sein. Apsley behauptete mit Nachdruck, daß diese Epoche wesentlich älter als achttausend Jahre sein mußte; er schätzte ihr Alter auf etwa zwanzig- bis fünfundzwanzigtausend Jahre. »Behauptest du noch immer, das Messer hier gefunden zu haben?« fragte Apsley. Marshall nickte. »Ich habe von Anfang an geglaubt, daß es von einer anderen Stelle hierher gebracht wurde«, erwiderte er. »Deshalb habe ich die einzelnen Abschnitte dieses Geländes aus der Luft fotografieren lassen. Auf einer topographischen Karte läßt sich am ehesten feststellen, auf welchem Weg Freunde oder Eindringlinge in diese Gegend gekommen sein können. Morgen werden wir unsere Zelte hier abbrechen und weiterziehen.« Die Expedition arbeitete mit der Präzision eines Uhrwerks. Die ausgegrabenen Funde wurden auf Mulis geladen und zur
Küste transportiert. Auf dem Rückweg brachten sie neue Vorräte mit. Eine andere Gruppe setzte unterdessen die Ausgrabungen fort. Marshall ging systematisch vor. Er wußte genau, was er wollte. Während der nächsten drei Tage arbeiteten sie sich durch dichten Dschungel vor. Dann machte sich Marshall mit Minensuchgeräten an die Arbeit. Er hatte diese Geräte auf einen hohen Empfindlichkeitsgrad bringen lassen. Es war das erste Mal, daß derartige Geräte bei archäologischen Arbeiten eingesetzt wurden. In drei Meter Tiefe in einem Loch, in vier Meter Tiefe in einem zweiten und nur zweieinhalb Meter Tiefe in einem dritten fanden sie weitere Stahlmesser zwischen alten Töpfen und steinernen Pfeilspitzen. Apsley und Burroughs gruben sie eigenhändig aus. Die Erde war an dieser Stelle völlig unberührt. Die Messer blitzten, als wären sie erst an diesem Morgen in einer Eisenwarenhandlung gekauft worden. »Sie sind alle identisch«, sagte Marshall nachdenklich. »Massenproduktion. Apsley behauptet, sie wären über zwanzigtausend Jahre alt! Hier liegen mehr Messer im Boden als weiter östlich. Wir werden uns folglich noch mehr nach Westen halten.« »Ziemlich unhandlich, diese Messer«, brummte Apsley. »Wie soll man die Dinger denn halten?« Burroughs schluckte. »Marshall!« sagte er aufgeregt. »Sie passen nicht in meine Hand. Das ergibt einfach keinen Sinn.« »Ich weiß«, erwiderte Marshall. »Seht mal her! Wir arbeiten uns auf diese Stelle auf der Karte zu. Das sind über hundertfünfzig Kilometer, und es dürfte ein verdammt harter Weg sein. Doch es gibt keine geeignetere Stelle für eine Stadt. Wir werden das Risiko eingehen und diese Stelle suchen.« Er wandte sich an den eingeborenen Vorarbeiter der Gruppe. Die vierzig Indianer fraßen wie die Wölfe, drückten sich nach
Möglichkeit vor der Arbeit und wurden dafür noch gut bezahlt. Sie hielten Marshall für eine Kreuzung zwischen einem schwachsinnigen Trottel und dem Weihnachtsmann. Kurz darauf kehrte Marshall zu Apsley und Burroughs zurück. »Marshall!« sagte Burroughs. »Diese Messer waren nicht dafür vorgesehen, von Menschen benutzt zu werden. Was sind sie eigentlich? Zeremonielle Werkzeuge?« »Ratet mal«, antwortete Marshall. »Was ich vermute, klingt völlig verrückt.« Burroughs und Apsley starrten ihn an. »Verstehe ich nicht«, murmelte Burroughs. »Das Metall gehört nicht in diese Epoche«, erklärte Marshall. »Zu jener Zeit konnten die Menschen noch keinen Stahl herstellen, geschweige denn rostfreien – und noch dazu von einer Legierung, deren Qualität die unsere übertrifft. Das größte Rätsel gibt jedoch der Griff auf. Menschen hätten Messer mit einem solchen Heft niemals angefertigt, selbst wenn es ihnen möglich gewesen wäre. Die Frage lautet also: wer oder was hat sie angefertigt? Und was ist aus einer Zivilisation geworden, die unseren Vorfahren so turmhoch überlegen war?« Seine beiden Begleiter sahen sich verlegen an. »Ich habe an dem ersten Messer eine Menge Geld verdient, indem ich die Legierung analysieren und ein Patent eintragen ließ«, fuhr Marshall fort. »Aber ich bin bereit, alles für die Antwort auf diese Fragen auszugeben. Eine innere Stimme sagt mir, daß mir das, was ich finden werde, nicht gefallen wird.« Es dauerte eine gute Woche, bis sie die Stelle erreichten, wo Marshall eine antike Stadt vermutete. Unterwegs wurden die Messer mit keinem Wort erwähnt. Man beschränkte sich darauf, über die eintönige Dschungelwelt und das eintönige, wenn auch ausreichende Essen zu reden.
Auf dem Luftweg betrug die Entfernung etwas über hundertfünfzig Kilometer, aber sie mußten Umwege in Kauf nehmen. Ohne die ausgezeichnete topographische Karte hätten sie die Stelle nie gefunden. Endlich erreichten sie ein Tal mit einem See. Es war ein eigentümlicher See – annähernd kreisrund – Savannengras wuchs am Ufer. Das Tal war etwa zwanzig Kilometer lang und von Bergen umgeben. Nirgends waren Pyramiden oder eindrucksvolle Ruinen zu sehen, aber das hatte Marshall auch gar nicht erwartet. Er verließ sich auf seine empfindlichen Minensuchgeräte. Vor dem Abstieg ins Tal ließ er den Blick noch einmal über das Gelände schweifen und schien zufrieden zu sein. Etwa eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang schlugen sie am Ufer eines kleinen Flusses ihr Lager auf. Apsley bemerkte Marshalls zufriedenen Gesichtsausdruck. »Glaubst du, daß wir hier etwas finden?« Marshall nickte. »Ein solches Tal hat gewöhnlich einen ziemlich ebenen Boden«, erwiderte er. »Mir sind jedoch ein paar Erhebungen aufgefallen, und ich bin sicher, daß wir darunter etwas finden werden.« Apsley schwieg eine Weile. »Marshall, ich hoffe, wir finden gar nichts!« meinte er dann. Marshall hielt bereits eines der Suchgeräte in der Hand, überprüfte die Trockenbatterie und setzte den Kopfhörer auf. Er schwenkte das Gerät ein paarmal hin und her und folgte dann dem Weg, den die Indianer gerade freimachten. Plötzlich kam ein so scharfes Geräusch aus dem Kopfhörer, daß es ihm fast das Trommelfell gesprengt hätte. Er riß den Hörer herunter und rieb sich die Ohren. »Ich hab’s!« rief er. »Genau hier!« Er deutete auf den Boden. Es sah aus, als hätte die Wurzel eines Baumes an dieser Stelle irgend etwas angehoben. An sich
war hier nichts Ungewöhnliches zu entdecken, aber ein Archäologe hat nun mal eine Art sechsten Sinn. »Schauen wir nach, was das ist«, sagte Marshall. »Jedenfalls liegt es nicht sehr tief. Ruft mal ein paar Männer mit Spaten her!« Apsley wandte sich ab. Er war ziemlich blaß. Er schickte ein paar Männer zu der Stelle, und sie fingen an zu graben. Marshall stocherte in dem Loch herum. Zunächst kam allerlei Getier zum Vorschein. Marshall nahm eine Schaufel und stieß sie ins Loch. Die Schaufel stieß gegen Metall. Marshall ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Nach Sonnenuntergang wurden Fackeln angezündet und die Arbeit fortgesetzt. Er blieb mit Apsley und Burroughs am Rand der Ausgrabung stehen. Was da zum Vorschein kam, war noch nie von einem Archäologen ausgegraben worden. Es sah wie ein Fahrzeug aus, etwa zweieinhalb Meter lang und anderthalb Meter breit. Es hatte keine Räder. Die Achsen ließen darauf schließen, daß es ein Raupenfahrzeug war, das auf Ketten gelaufen war, die inzwischen verrostet und zerfallen waren. »Ich glaube, wir stehen jetzt vor der eigentlichen Frage«, sagte Marshall. Burroughs war ein erfahrener Archäologe, aber er starrte das Ding nur ratlos an. »Zweifellos handelt es sich um einen Fund aus der Vorzeit, aber sein Sinn und Zweck sind mir unerklärlich«, murmelte er. Apsley war es offensichtlich schlecht geworden. »Ich habe das Gefühl, wir sollten hier lieber verschwinden«, sagte er mühsam. Marshall sah ihn an. »Ich meine das in vollem Ernst«, fügte Apsley hinzu. Sein Gesicht war grün. »Ich … habe manchmal Vorahnungen, und das ist jetzt der Fall. Das gleiche Gefühl hatte ich bei einem Monolithen in Petra. Das verwünschte Ding stand schon über zweitausend Jahre an dieser Stelle. Mein Gefühl riet mir, diesem Ding nicht zu nahe zu kommen. Ich schämte mich,
etwas davon zu sagen. Eines Tages brach das Ding zusammen und begrub zwei Araber unter sich. Das gleiche Gefühl sagt mir, daß hier etwas nicht stimmt und daß wir hier verschwinden sollten. Wenn es nach mir ginge, würde ich noch heute nacht die Zelte abreißen und abhauen. Ich kann dieses Gefühl nicht näher erklären – es ist ganz einfach da.« Marshall nickte. »Natürlich läuft einem beim Anblick dieses Wracks ein Schauer über den Rücken. Man könnte es wohl als eine Art Automobil bezeichnen. Wie ihr seht, ist es mit zwei Sitzen ausgestattet.« »Aber es kann kein Auto sein«, widersprach Burroughs gereizt. »Abgesehen von allen anderen Einwänden ist es viel zu klein.« »Für Menschen ja«, sagte Marshall. Burroughs schluckte hörbar. Apsley und er hatten gründlich darüber nachgedacht. Die Messergriffe waren völlig falsch gewesen. Jetzt kam dieses Ding hinzu, eine Art Fahrzeug mit zwei merkwürdigen Vertiefungen, die nur Sitze darstellen konnten. Aber keine Sitze für Menschen. Die drei Forscher sagten eine Weile gar nichts. Dann machten sie sich an die Arbeit. Sie suchten nach dem Motor, aber sie fanden weder Zylinder noch Zahnräder, sondern nur verrostete Teile. Unvermittelt deutete Marshall auf eine grünliche Stelle an einer Achswelle. Apsley starrte auf etwas anderes. »Das könnte der Antrieb sein, oder einer der Antriebe«, sagte Marshall. »Wenn sie in der Lage waren, Legierungen anzufertigen, die nach Jahrtausenden noch genauso glänzen wie am ersten Tag, dann konnten sie gewiß auch Antriebe anbringen, wo immer sie sie brauchten.« »Vermutungen«, brummte Burroughs. »Aber es ist keine Vermutung, daß dieses Ding alles andere als primitiv ist.«
»Kaum«, pflichtete Marshall ihm bei. »Man wird es bestimmt nicht primitiv nennen, wenn man sich diese Ornamente ansieht.« Apsley übergab sich. Seine beiden Kollegen waren kaum besser dran. Es war, als betrachteten sie ein Fixierbild, dessen Konturen sich beim Hinsehen ständig veränderten. Je länger man es anstarrt, desto schwindliger wird einem vor Augen. Die Ornamente in diesem Wrack machten einen jedoch nicht nur schwindlig, sondern der Anblick beeinflußte die ganze Skala des Gefühlslebens und der Emotionen. Unvermittelt begann man sich zu schämen und empfand dabei gleichzeitig so etwas wie Seekrankheit. »Ich glaube nicht, daß dieses Ding von Menschenhand konstruiert wurde«, sagte Marshall. »Menschen denken praktisch und verschwenden keine Ornamente auf Gebrauchsgegenstände wie dieses Fahrzeug eines gewesen sein muß.« Burroughs schnaubte verächtlich. »Es ist keineswegs primitiv«, wiederholte er überflüssigerweise. »Es ist eine Art Kunstwerk und dabei hochzivilisiert. Dieses Ding ist … na ja … wie eben alle Kunstwerke äußerst emotionell. Diese Ornamente zeugen von großer künstlerischer Begabung, aber sie stehen im krassen Widerspruch zur menschlichen Ästhetik. In der Gesellschaft der Wesen, die diese Ornamente schufen, würde ich mich wohl kaum wohlgefühlt haben.« Marshalls Stimme wurde hart. »Jedenfalls sind sie tot. Und eines ihrer Messer hat unserer Zivilisation neue Erkenntnisse gebracht. Vielleicht ist hier noch mehr zu entdecken, was für uns wichtig ist.« »Ich habe noch immer das Gefühl, daß wir hier lieber verschwinden sollten«, murmelte Apsley. »Dieses Gefühl ist sehr stark, wenn ich es auch nicht erklären kann.« Marshall starrte nachdenklich vor sich hin.
»Wir werden darüber schlafen«, entschied er. »Sicherheitshalber werde ich Wachen aufstellen. Wir machen morgen weiter. Es ist einfach nicht zu verstehen, wie eine so fortschrittliche Zivilisation untergehen konnte, ohne die geringste Spur zu hinterlassen!« Im Laufe der Nacht wurden die drei Männer unvermittelt aus dem Schlaf gerissen. Ein Zittern lag in der Luft. Es war kein Geräusch, und es war auch kein Vibrieren der Erde. Es klang wie ein Laut unterhalb der Wahrnehmungsfähigkeit des menschlichen Gehörs. Pete Marshall stand auf und trat vor das Zelt. Am Lagerfeuer betrieben zwei Indianer ein geheimnisvolles Spiel mit kleinen Gegenständen, die wie Würfel aussahen, aber keine waren. »Un temblor, Señor«, sagte einer der beiden ruhig. »Pero un poquito.« Ein Erdbeben, aber nur ein kleines. Marshall wußte, daß das nicht stimmte, aber er schwieg. Das Pulsieren ließ allmählich nach, und er kehrte ins Zelt zurück. Die drei Forscher waren hellwach. Sie hörten die Unterhaltung der beiden Posten. Wenn sie mit den weißen Männern sprachen, befleißigten sie sich einer sauberen Aussprache der spanischen Worte, doch wenn sie unter sich waren, sprachen sie einen Dialekt, der noch aus den Zeiten der Mayas zu stammen schien. Sie schienen gut aufgelegt zu sein, und besonders der eine riß Witze am laufenden Band, denn der andere lachte ständig. Marshall beneidete sie um ihre Gemütsruhe. Er hatte Apsleys Vorahnung nicht vergessen und selbst ein merkwürdiges Gefühl. Diese Ornamente! Wenn eine Zivilisation vor zwanzigtausend Jahren untergegangen war, dann war sie ganz einfach tot! Es konnte keine Gefahr mehr von ihr ausgehen! Und dennoch ließ ihn dieses merkwürdige
Gefühl nicht los. Als die drei Amerikaner beim Frühstück saßen, kam das Pulsieren erneut. Apsley bemerkte es als erster. Man konnte es nicht hören, sondern nur spüren – vor allem in der Brust. Es wurde starker und stärker, denn lauter wäre der falsche Ausdruck gewesen. Dann verebbte es wie es gekommen war. Das war alles. »Wieder etwas Neues«, sagte Marshall. »Ich frage mich, was es sein mag.« Weder Burroughs noch Apsley gaben einen Kommentar. Es ließ sich einfach nichts darüber sagen. Marshall konzentrierte sich auf das Problem. »Also!« sagte er unvermittelt. »Alles in allem genommen und auch unter Berücksichtigung deiner Vorahnung, Apsley, habe ich mich zu einem Entschluß durchgerungen, der mir wirklich nicht leichtgefallen ist. Wir sind Archäologen und nichts weiter. Uns interessieren lediglich die rein archäologischen Probleme. Wenn das Ding, das wir gestern abend entdeckten, eine Art Automobil ist, gehört es in die Hand eines Spezialisten. Wir werden das ganze Gebiet mit unseren Geräten absuchen und alle wahrscheinlichen Fundstellen auf den Karten eintragen. Wir wollen uns darauf beschränken, wie Kundschafter vorzugehen und damit zu beweisen, daß es sich lohnt, dieses Gebiet genauer zu überprüfen. Einverstanden?« In Apsleys Gesicht stand noch immer ein gequälter Ausdruck. »Zugegeben. Das hört sich ganz vernünftig an«, murmelte er. »Aber ich habe nach wie vor das Gefühl, daß wir hier möglichst schnell verschwinden sollten.« Wieder arbeitete die Expedition mit der Präzision eines Uhrwerks. Apsley, Burroughs und Marshall übernahmen je eine Arbeitsgruppe. Jeder von ihnen war mit einem Gerät ausgestattet, mit dem man ein drei Meter tief im Boden steckendes Geldstück orten konnte. Sie suchten das ganze
Gebiet fächerartig ab. Nach einer Stunde trafen sich die drei Männer wieder. »Mein Suchgerät hat praktisch ununterbrochen angezeigt«, sagte Apsley. »In diesem Dschungel steckt so viel Metall, als wäre hier ganz New York vergraben.« »Ich glaube, mein Gerät funktioniert nicht mehr einwandfrei«, brummte Burroughs gereizt. »In einer primitiven Kulturepoche kann es nicht Metalle in diesen Mengen gegeben haben! Es ist einfach zuviel!« »Wir werden uns jetzt das Seeufer vornehmen«, entschied Marshall. »Sicher hat die Stadt bis zum See gereicht.« Zu ihrer Überraschung registrierten die Suchgeräte am Ufer keine Metallvorkommen. Die Geräte schlugen erst in einer Entfernung von etwa hundert Metern vom See an, und selbst dann nur schwach. »Wißt ihr«, sagte Marshall an diesem Abend, »wenn man die Lage dieses Sees bedenkt, sieht es aus, als wäre hier eine verhältnismäßig große Stadt durch eine einzige Bombe mit großer Sprengkraft vernichtet worden. Das wäre die Erklärung für den See und das metallfreie Ufer. Der See wäre in solch einem Fall nichts anderes als ein gigantischer Bombenkrater. Aber von was für einer Bombe!« Wieder setzte das Pulsieren in der Luft ein. Es wuchs zu einer unvorstellbaren Intensität an, und die Indianer begannen zu schreien. »Señores! Señores! Un aeroplano! Alla! Monstroso!« Die drei Forscher rannten aus dem Zelt. Das Pulsieren in der Luft verebbte. Die Indianer schrien weiter. Sie plapperten aufgeregt durcheinander. Sie hatten schon oft Flugzeuge gesehen, und sie beschrieben, wie das Ding etwa über der Mitte des Sees am Himmel gestanden habe. Es war un aeroplano, aber sie hatten keine Tragflächen gesehen. Und es war wie durch Zauberei von einer Sekunde zur anderen verschwunden. Seine Geschwindigkeit mußte geradezu
unheimlich gewesen sein … Apsley war kalkweiß. Er biß jedoch tapfer die Zähne zusammen und versuchte in aller Ruhe über diese Erscheinung zu diskutieren. Keiner der drei Männer hatte etwas gesehen, aber die Beschreibungen der einzeln befragten Indianer stimmten haargenau überein.
Am nächsten Morgen nahmen sie sich in aller Frühe einen kleinen Hügel vor, der etwa eine halbe Meile vom Seeufer entfernt lag. Augenscheinlich enthielt er viel Metall. In einer Tiefe von anderthalb Meter stießen sie auf einen Tunnel, durch dessen Wände sich die Wurzeln gebohrt hatten. Der Gang war etwas über einen Meter hoch. Es stank stark nach Moder und Verfall. Marshall brannte eine Pulverladung ab. Danach stank es zwar stark nach Schwefel, aber das war immer noch besser als der Modergeruch. Nach einer Stunde konnten sie tiefer eindringen. Zwei Männer brachten den Generator vom Lager herüber, zogen Leitungen und schlossen Glühbirnen an. Kleine Tiere huschten davon, als die Männer durch den Gang einen großen Raum betraten, der nach so langer Zeit noch völlig unbeschädigt war. Die Wände waren mit rostfreiem Stahl verkleidet. Hier und da waren grünliche Rostflecke zu erkennen. In der Decke klaffte ein Loch, und darunter lagen Stücke von verrostetem Metall. Eine Treppe war nicht zu entdecken. Türen führten zu weiteren Räumen. Auch hier waren Deckenöffnungen vorhanden, die früher einmal ins Freie geführt haben mußten. Pete Marshall entdeckte eine Stelle, wo der blanke Stahl durchschimmerte. »Meine Güte!« sagte er. »Stahlkonstruktionen! Vor zwanzigtausend Jahren!« Er ging tiefer hinein. Die beiden anderen Männer sahen sich um. Mehrere Indianer hatten sich vor der Stahlplatte der
Wandverkleidung versammelt. Darauf war mit anatomischer Genauigkeit eine menschliche Gestalt dargestellt. Außerdem waren die gleichen Ornamente zu erkennen wie auf dem fahrzeugähnlichen Gegenstand. »Subjektive Kunst«, sagte Apsley in einem seltsamen Tonfall. »Sie waren Meister in der emotionellen Ausdrucksweise. Alle Wetter!« Die Ornamente waren keine bildhaften Darstellungen, sondern sie lösten beim Betrachten starke Gefühle aus. Die Gestalt des Mannes schien ein unsichtbares Hindernis überwinden zu wollen. Aber im Verein mit den Ornamenten vermittelte die Darstellung einen Eindruck unsagbaren Entsetzens, das in seiner Intensität weit über das Rationale hinausging. Die Indianer redeten aufgeregt durcheinander, wurden dann jedoch ruhiger. Einige von ihnen bekreuzigten sich. Dann begannen sie, verstört zurückzuweichen. »Da ist noch eins«, sagte Apsley. »Grausig!« Burroughs betrachtete die Gestalt des Mannes genauer. Es war ein Steinzeitmensch. Darauf deutete die primitive Steinart hin. Und er war von Feinden umgeben, die aber körperlos waren und durch die Ornamentik dargestellt wurden. »Seltsam«, murmelte Apsley. »Sie haben die Darstellung der menschlichen Gestalt als Mittelpunkt oder Anlaß ihrer Kunst genommen.« Apsley fand eine dritte Tafel. Es war unbeschreiblich. Hier waren zwei Figuren dargestellt, deren Anblick bei jedem Betrachter starke Wutgefühle auslöste. Marshall kam zurück. Ein eigentümlicher Ausdruck stand in seinem Gesicht. »Kommt mit«, sagte er mit heiserer Stimme. »Ich muß euch etwas zeigen.« Unvermittelt wandte er sich an die Indianer und befahl ihnen auf spanisch, den Eingang zum Tunnel zu vergrößern. Dann ging er durch die niedrige Tür, und die beiden Männer folgten ihm. Marshall schaltete eine
Taschenlampe ein und richtete den Lichtkegel vor sich auf den Boden. Irgend etwas huschte davon. »Sie … sie sollen das nicht sehen«, fügte Marshall hinzu. »Hier ist eine Rampe. Diese Anlagen sind nicht von selbst eingestürzt, sondern das Dach wurde durch Gewalt zerstört. Vielleicht eine Explosion. Was ich euch zeigen will –« Er brach ab. Sie kamen zur Rampe. Sie führte steil nach oben. Die Luft war abgestanden. Marshall führte die beiden Kollegen die Rampe hinauf. Er atmete hastig, und der Lichtkegel seiner Taschenlampe huschte hin und her. »Das ist einfach nicht möglich!« sagte er. Er bückte sich und ging durch eine weitere Tür, die noch niedriger war als die anderen. Er stand in der Dunkelheit. Dann schaltete er die Taschenlampe wieder ein. Der Lichtkegel fiel auf eine Stahlplatte in der Größe eines Wandspiegels. Die Fläche war vom Staub stumpf geworden. »Ihr könnt es besser erkennen, wenn ihr ebenfalls eure Taschenlampen einschaltet«, sagte Marshall heiser. »Es wird ein paar Minuten dauern, bis ihr alles versteht. Es ist jedenfalls keine Maschine, sondern eher ein Kunstwerk. Es muß nur zur Betrachtung angefertigt worden sein.« Zwei weitere Taschenlampen blitzten auf. Ihr Lichtschein war auf die abstrakte Darstellung in der Mitte der Stahlplatte gerichtet. Es war kein Relief, sondern eine verkleinerte, dreidimensionale Arbeit. »Was ist das?« fragte Apsley. »Meine Güte! Was für ein Kunstwerk!« Burroughs konzentrierte sich darauf. »Wieder etwas neues«, sagte er. »Von dieser Seite aus gesehen ist es ein Kind, von der anderen aus betrachtet eine alte Frau. Dazwischen liegen alle anderen Lebensabschnitte. Aber ich sehe die ganze Gestalt des Kindes und die der alten Frau, sowie alles andere … Schaut her! Hier vertauscht sie ihr
Kinderkleid gegen das einer heiratsfähigen jungen Frau. Primitiv – und dennoch deutlich erkennbar! Da hat sie die Haartracht einer reifen Frau. Und … zum Teufel, was ist das, Marshall?« »Es ist die Perspektive«, antwortete Marshall mit gepreßter Stimme. »Seht nur! Wir können genau erkennen, wie das Kind allmählich heranwächst, und zwar dreidimensional und kontinuierlich. Wenn wir mit unseren Mitteln so etwas darstellen wollten, müßten wir zweidimensionale Aufnahmen oder Zeichnungen des Kindes in den verschiedenen Stadien seines Heranwachsens anfertigen und Blatt für Blatt aufeinanderlegen. Dann bekämen wir zwar auch eine dreidimensionale Darstellung seiner Entwicklung, die sich aber nur verfolgen läßt, indem wir jedes Blatt einzeln betrachten. Perspektivisch läßt sich das nicht darstellen. Wer immer auch dieses Werk geschaffen haben mag, er hatte die Fähigkeiten, diesen Entwicklungsprozeß in allen Einzelheiten kontinuierlich und körperlich darzustellen.« »Verdammt!« sagte Apsley. »Das ist Teufelswerk.« Marshall sah seine beiden Begleiter an. »Du gehst am Kern der Sache vorbei«, sagte er. »Hört zu! Wir können mit unseren drei Dimensionen keine Perspektive einer vierten geben, weil es uns am Verständnis fehlt. Derjenige, der diese Darstellung angefertigt hat, verfügte über dieses Verständnis. Wenn ihr mal darüber nachdenkt, werdet ihr erkennen, daß ihr diese Indianerfrau weder von vorn, von hinten, von oben noch von unten seht. Ihr seht die zeitliche Entwicklung. Ihr seht nicht einzelne Altersstufen, sondern den Vorgang des Heranwachsens. Ihr seht sie in der vierten Dimension!« Tiefe Stille senkte sich über den Raum. Marshall schaltete seine Taschenlampe aus. Apsley folgte seinem Beispiel.
Burroughs richtete den Lichtkegel seiner Taschenlampe auf die Tür, so daß sie hinauskriechen konnten. Nachdem sie den Tunnel verlassen hatten, ließ Marshall Buschwerk über den Eingang legen. Das würde größeren Tieren den Zutritt verwehren. Dann folgten die Indianer den drei Männern zurück zum Lager. Am Seeufer blieb Marshall unvermittelt stehen. »Ich bin jetzt ebenso besorgt wie du, Apsley. Diese Teufel waren zivilisiert! Sie konnten besseren Stahl herstellen als wir, und ihre Kunstwerke sind geradezu verblüffend! Und zu alledem kannten sie auch noch das Geheimnis der vierten Dimension.« »Und das bedeutet … was?« fragte Apsley. »Eine Unmöglichkeit!« sagte Marshall. »Das würde auf eine Zeitmaschine hindeuten.« Sie gingen am Ufer entlang. »Es muß einmal ein hohes Gebäude hier gestanden haben«, fuhr Marshall fort. »Das Untergeschoß, in dem wir uns befanden, war noch völlig intakt. Was hatte ein Gebäude von dieser Größenordnung zerstören können, so daß dieser See entstanden ist? Was hat diese Stadt vernichtet? Wie konnte diese Zivilisation verschwinden? Sie dürften ihren Zeitgenossen in allen Dingen weit überlegen gewesen sein, und es würde selbst uns heute schwerfallen, sie zu besiegen.« Wieder setzte das rätselhafte Pulsieren in der Luft ein. Man spürte es förmlich in der Brust. Es setzte allmählich ein und wurde starker und stärker. »Señores! El aeroplano!« Die Indianer deuteten zum Himmel hinauf. Marshall und seine beiden Begleiter wirbelten herum. Sie sahen das Ding genau über der Mitte des Sees schweben. Es war aus Stahl, etwa zwanzig Meter lang und sieben Meter dick. Es hatte weder Tragflächen noch Antriebsaggregate oder Fahrgestell.
Große Türen waren an den Seiten zu sehen. Unter dem Rumpf waren kleine zusammengeklappte Stelzen, die an die Beine eines Grashüpfers erinnerten. Innerhalb weniger Sekunden verschwand das Ding wie eine Erscheinung. Gleichzeitig verebbte das Pulsieren in der Luft. »Sagtest du unmöglich?« fragte Apsley ruhig. »Das war eine Zeitmaschine, Marshall. Es kann gar nichts anderes gewesen sein.« »Sie befindet sich auf dem Flug durch die Zeit und kam nur hier durch«, erwiderte Marshall. »Damit sieht alles ganz anders aus. Sie hätte hier wahrscheinlich anhalten können. Wohin, zum Teufel, ist sie verschwunden? Hoffentlich kommt sie nicht zurück.« Aber die Zeitmaschine kam zurück.
Am folgenden Morgen sah Marshall aus, als hätte er die ganze Nacht hindurch kein Auge zugemacht. Beim Frühstück starrte er finster vor sich hin. »Ich gebe zu, daß ich mich fürchte«, sagte er. »Wir wollen noch einmal zu den Ruinen gehen, wo wir gestern waren. Die Stahltafeln und das vierdimensionale Kunstwerk nehmen wir mit. Dann machen wir uns auf den Rückweg zur Küste. Man wird uns glauben, wenn wir die Kunstwerke vorweisen. Die mexikanische Regierung ist in solchen Dingen recht vernünftig. Wir werden in Begleitung von Soldaten zurückkehren, um Plünderung zu verhindern. Dann wollen wir abwarten, was kommt.« Apsley atmete tief ein. Burroughs schwieg sich aus. Stumm beendete Marshall sein Frühstück. Er ließ ein paar Männer zurück, um das Lager abzubrechen und alles zu verpacken. Die anderen gingen mit zu dem Tunneleingang am Seeufer. Sie hatten etwa Dreiviertel des Weges zurückgelegt, als die Luft wieder zu pulsieren begann. Alle blickten zum See. Über der
Mitte bildete sich eine Wolke, die mit dem Anschwellen des Pulsierens immer intensiver wurde. Unversehens tauchte der blitzende Metallrumpf auf. Er schwebte etwa zwanzig Meter über dem See. Nach einigen Sekunden verschwand das Ding wieder. Das Pulsieren hörte auf. Apsleys Gesicht war aschfahl, als sie den Weg fortsetzten. Marshall biß die Zähne zusammen. Sie hatten nur zwei Möglichkeiten: entweder sie liefen gleich davon, oder sie holten vor der Flucht einige der Kunstwerke heraus. Sie ließen keine Sekunde ungenützt verstreichen. Burroughs nahm sich drei Arbeiter und riß mit ihnen eine der Stahltafeln aus der Wand. Apsley nahm sich die zweite vor. Marshall versuchte mit sechs Männern die Plastik – wenn man sie so bezeichnen wollte – von der Rampe zu lösen. Er wollte sie auf Mulis zur Küste transportieren. In die unterirdischen Räume drang kein Geräusch von der Außenwelt. Hier vernahmen sie auch nicht das Pulsieren, das erneut eingesetzt hatte. Plötzlich brach es ab. Schwitzend schleppte Marshall mit seinen sechs Männern die Plastik von der Rampe. Apsley hatte eine Stahlplatte von der Wand gelöst, Burroughs würde auch gleich so weit sein. »Diese Männer haben genug geschuftet«, entschied Marshall. »Ich werde die Fundstücke von den anderen zum Lager bringen lassen.« Er ging aus dem Tunnel ins Freie. Draußen blieb er stehen und sah sich um. Die Indianer waren verschwunden. Da fiel sein Blick auf das Ding über dem See. Es schwebte wieder über der Mitte des Wassers – genau an der gleichen Stelle wie zuvor. Die Beine waren jetzt ausgestreckt und reichten bis an die Oberfläche des Sees. An der Stelle, wo die Beine das Wasser berührten, schwamm jetzt eine Art Floß. Alle Indianer, die noch vor einer halben Stunde am Ufer gewesen waren, hockten auf dem Floß.
Marshall sah am Seeufer eine dünne Rauchspirale aus dem Dschungel aufsteigen. Es war weißer Rauch, obwohl in einem tropischen Dschungel gar kein Feuer ausbrechen konnte – und schon gar nicht in Yukatan! In drei Minuten stand Marshalls Plan fest. Die Indianer, die mit den Forschern in der Ruine gearbeitet hatten, sollten sich mit den Macheten einen Weg durch den Dschungel zum Lager hauen und das Seeufer meiden. Apsley und Burroughs sollte sie begleiten. Apsley weigerte sich, mitzugehen. Burroughs stieß Verwünschungen aus, aber schließlich mußte einer der Forscher mit den Indianern gehen. Burroughs sollte sich nach Möglichkeit in der Nähe des Lagers aufhalten und ein paar Aufnahmen von der Zeitmaschine machen. »Das Ding kann nicht fliegen, sonst würde es nicht wie ein Storch auf Stelzen über dem See stehen«, sagte Marshall. »Es befindet sich genau an der gleichen Stelle wie gestern. Ich vermute, daß es sich zwar in der Zeit bewegen kann, nicht aber im Raum.« Er sah, wie die Männer im Dschungel untertauchten und sich mit ihren Macheten einen Weg bahnten. Entschlossen wandte sich Marshall dem Seeufer zu. Apsley folgte ihm. Etwas bewegte sich an der Unterseite des Rumpfes. Zwei Leinen baumelten herab; an einer hing ein Mensch, offensichtlich ein Indianer vom Floß. Die andere Gestalt an der zweiten Leine war viel kleiner. Sie glänzte metallisch und hatte bewegliche Glieder. Etwa fünf Meter über dem Floß hielt die kleine Gestalt an. Metall blitzte im Sonnenschein. Die Indianer auf dem Floß fuchtelten mit ihren Macheten. Leichter Wellengang bildete sich auf der Oberfläche des Wassers. Die Männer auf dem Floß gestikulierten und schrien. Dampfwolken stiegen vom See auf. Marshall stieß einen Fluch aus. Er ballte die Fäuste und begann zu laufen.
»Was haben sie vor?« fragte Apsley, während er mit ihm Schritt hielt. »Keine Ahnung«, erwiderte Marshall. »Jedenfalls muß ich etwas unternehmen.« Er erreichte das Ufer. Er begann zu schreien, und die Indianer auf dem Floß schrien zurück. Einer von ihnen sprang ins Wasser. Wieder stieg eine kleine Dampfwolke vom Wasser auf, und das Geschrei wurde lauter. Der Mann schwamm zum Floß zurück und kletterte hinauf. Marshall fluchte. Er hatte kein Boot, trug aber einen Revolver bei sich. Im Lager waren Jagdgewehre und ein paar Kilo Dynamit, aber das waren keine Waffen, mit denen man in dieser Situation etwas hätte unternehmen können. Wieder bewegte sich etwas an dem schimmernden Rumpf. Es war so klein, daß man die Bewegung nur mit Mühe erkennen konnte. Im nächsten Augenblick wurde es unerträglich heiß und unmittelbar neben Marshall züngelten aus dem Dschungel Flammen empor. Eine knappe Sekunde später begann der Dschungel auch links neben ihm zu brennen. Unmittelbar darauf geriet die Baumkrone über ihm in Brand. Marshall ballte zähneknirschend die Fäuste. Er wartete auf einen vierten Hitzestrahl – aber der kam nicht. »Sie wollen mich einschüchtern, damit ich hier stehen bleibe«, sagte er eiskalt. »Schleich durch den Dschungel, Apsley! Sag Burroughs, daß diese Wesen Hitzestrahler haben.« »Er sieht doch selbst, was hier gespielt wird«, erwiderte Apsley. Die Indianer auf dem Floß unter der Zeitmaschine schwiegen jetzt. Das metallische Wesen hing noch immer fünf Meter über dem Floß. Die andere Gestalt, die menschliche, war auf dem Floß abgesetzt worden. Die Bewegungsfreiheit der Indianer war nur insofern eingeschränkt, als man sie nicht zum Seeufer schwimmen ließ. Sie hielten die Macheten noch immer
in den Händen. Die Zeit verstrich. Eine lange, lange Zeit. Marshall kochte innerlich. Das Metallwesen wurde in die Maschine gezogen. Da sprang ein Mann vom Floß und schwamm mit raschen Stößen aufs Ufer zu. Diesmal kam keine Dampfwolke. Ein zweiter Mann folgte dem ersten, dann ein dritter, ein vierter, ein fünfter. Die anderen blieben auf dem Floß. »Immerhin haben sie das Floß verlassen dürfen«, sagte Marshall stirnrunzelnd. »Aber warum nicht alle?« »Vielleicht können die anderen nicht schwimmen«, meinte Marshall. »Mal sehen, was sie zu sagen haben.« Er ging am Ufer entlang. Es kamen keine weiteren Hitzestrahlen. Der erste Indianer kam gerade ans Ufer. Angst stand in seinem Gesicht, aber sein Verstand war klar. Apsleys Vermutung erwies sich als richtig. Die Indianer hatten die schimmernde Maschine über dem See auftauchen sehen. Das Floß war ans Ufer gekommen. Die Indianer waren den aeronauticos entgegengegangen. Aber der Anblick der kleinen, fremdartigen Wesen hatte ihnen Furcht eingejagt. Als sie in den Dschungel fliehen wollten, waren plötzlich helle Flammen aufgestiegen. Vier der kleinen Wesen in den Metallpanzern hatten sie auf das Floß getrieben. Einer der Indianer hatte mit der Machete auf die kleinen Wesen losgehen wollen. Plötzlich hatte er einen gellenden Schmerzensschrei ausgestoßen. Eine Dampfwolke war von seiner Schulter und von seinem Arm aufgestiegen. Er lag jetzt stöhnend draußen auf dem Floß. Einer der Indianer war vom Floß in die Maschine hinaufgezogen und eine halbe Stunde später wieder herabgelassen worden. Er trug jetzt einen Metallhelm auf dem Kopf. Er sagte, die Wesen aus dem aeroplano wären Freunde, muy generoso und sehr zuvorkommend. Da sie kurz vorher
von Hitzestrahlen an der Flucht gehindert worden waren, hatten die Indianer diese Aussage natürlich äußerst skeptisch aufgenommen. Der Mann mit dem Helm hatte ihnen dann Fragen gestellt, die ihm von den Wesen im aeroplano aufgetragen worden waren. Sie wollten wissen, woher sie gekommen waren, wie viele Menschen in ihren Dörfern lebten, was sie hier trieben und ob sie je von einer großen Stadt an dieser Stelle gehört hätten. Marshall stellte eine scharfe Frage, die sogleich verneint wurde. Die Antworten, die sie Juan, dem Mann mit dem Helm gaben, wurden von ihm nicht übersetzt. Er schien lediglich Wert darauf zu legen, daß das kleine, neben ihm baumelnde Metallwesen alle Antworten genau hören konnte. Die Indianer hatten auch über die Weißen Auskunft gegeben, für die sie arbeiteten. Dann hatte Juan, der Mann mit dem Helm und dem seltsam starren Gesichtsausdruck, ihnen erklärt, daß jeder, der es wünschte, ungehindert zum Ufer schwimmen könnte. Sie sollten den weißen Männern die Nachricht überbringen, daß die kleinen Wesen sich friedlich mit ihnen unterhalten wollten. Juan hatte den Helm abgenommen, und im gleichen Augenblick war ein leerer, fast idiotischer Ausdruck in sein Gesicht getreten. Er hatte auf dem Floß gekauert, Grimassen geschnitten und leise vor sich hin gewimmert. Er war nicht zu bewegen gewesen, ein weiteres Wort zu sprechen. Das kleine Wesen in der schimmernden Rüstung war in die Maschine zurückgezogen worden. Daraufhin waren die Indianer ans Ufer geschwommen. Marshall führte sie zum Lager. Unterwegs erkundigte er sich, was aus dem Helm geworden war, den Juan getragen hatte. Das kleine Wesen hatte ihn mit in die Maschine genommen. Burroughs war mit seiner Gruppe schon dort. Apsley gab Burroughs einen kurzen Bericht über die Vorgänge am Seeufer. Da stieß der Indianer, der den Auftrag hatte, die Zeitmaschine im Auge zu behalten,
einen Ruf aus. »Dos poquitos, señor! Dos aeroplanos poquitisimos!« Zwei kleine. Zwei sehr kleine. Ein Gegenstand kam sehr schnell herangeflogen. Er blieb unmittelbar über dem Lager stehen, um es von oben zu überwachen. Die Maschine war kaum länger als vier bis fünf Meter. Sie flog so schnell wieder weg, daß das menschliche Auge der Bewegung kaum folgen konnte. »Eine Art Hubschrauber«, sagte Marshall. »Damit dürfte alles geklärt sein. Wir haben nicht die geringste Chance zur Flucht.« »Das sehe ich nicht ein«, entgegnete Burroughs gereizt. »Der Dschungel bietet genügend Deckung.« Apsley ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ich glaube, ich sehe jetzt ein bißchen klarer«, sagte er. »Diese Wesen sind nicht räumlich, sondern zeitlich aufgetaucht.« Als Marshall nickte, fuhr er fort: »Ich habe gründlich darüber nachgedacht. Die Plastik dieser Indianerfrau beweist, daß sie mehr über die vierte Dimension wissen als wir. Das deutete bereits ihre Fähigkeit zur Konstruktion einer Zeitmaschine an. Die Stahlplatten zeigten, daß sie in der Lage sind, Gefühle zu beeinflussen. Und das wiederholte Auftauchen und Verschwinden der Zeitmaschine läßt deutlich erkennen, daß sie auf der Suche nach einer bestimmten Zeit sind.« Er warf Marshall einen fragenden Blick zu, und dieser nickte erneut. »Es ist zweifellos eine Zeitmaschine«, fuhr Apsley fort. »Wenn sie es auf einen bestimmten Zeitpunkt abgesehen hat, ist es merkwürdig, daß sie gerade dieses Tal gewählt haben, in dem sich wahrscheinlich seit Jahrtausenden kein Mensch mehr aufgehalten hat. Es sei denn … es sei denn, sie hat uns gesucht.« Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Wenn sie uns hier aus der vierten Dimension aufspüren
können, dann bietet selbst der Dschungel nicht den geringsten Schutz.« »Richtig«, pflichtete Marshall ihm bei. »Habt ihr eigentlich erkannt, was das mit Juan war?« Burroughs und Apsley starrten ihn an. »Er trug einen stählernen Helm und stellte Fragen«, sagte Marshall. »Dabei waren ihm die Antworten auf diese Fragen längst bekannt. Als er den Helm dann abnahm, verwandelte er sich in einen wimmernden Idioten. Versteht ihr? Um sich mit uns verständigen zu können, mußten sie ihn in diesen Zustand versetzen – gewissermaßen wie ein willenloses Werkzeug. Begreift ihr, was das bedeutet?« Apsley rannte zum Rand des Lagers und übergab sich. Vom Seeufer her kam der Ruf eines Indianers. »Señores! Señores!« Das Floß bewegte sich im Wasser. Es kam auf die Uferstelle zu, die dem Lager am nächsten lag. Es hielt jedoch nicht am Ufer an, sondern kam an Land. Es war ein Amphibienfahrzeug mit einer langen Plattform. Vorn war eine kleine Kanzel aus durchsichtigem Material. Zwei kleine Wesen befanden sich in dieser Kanzel. Ihre panzerartigen Rüstungen blitzten bei jeder Bewegung. Auf dem Dach der Kanzel waren Geräte montiert, die wie Scheinwerfer aussahen und auf das Lager gerichtet waren. Auf der Plattform befanden sich noch immer jene Indianer, die nicht ans Ufer geschwommen waren. Als das Amphibienfahrzeug stehenblieb, gab einer von ihnen mit tonloser Stimme einen Befehl, und die anderen sprangen von der Plattform. Sie halfen einem ihrer Kameraden, der offensichtlich verwundet war. Nur ein Mensch blieb auf der Plattform: Juan! Derselbe Juan, den Marshall noch am Vorabend neben dem Lagerfeuer hatte Witze reißen hören. Jetzt trug er einen stählernen Helm, der
durch ein dünnes Kabel mit der Kanzel verbunden war. Sein Gesicht wirkte wie eine starre Maske. »Señores«, sagte er mit einer Stimme, die nicht das geringste Gefühl verriet, »los gentiles hombres de la maquina desean de preguntarles algunas cosas.« Es konnte nicht der geringste Zweifel daran bestehen, daß diese Worte nicht von Juan stammten, sondern daß sein Gehirn nur noch ein Mechanismus zur Verständigung zwischen den Menschen und den Wesen aus der Zeitmaschine war. Marshall brummte vor sich hin. »Also gut«, sagte er auf spanisch, weil Juan keiner anderen Sprache mächtig war. »Ich weiß, daß ich mit euch in der Zeitmaschine spreche. Was wollt ihr wissen?« Eine Pause trat ein; Juans Gesicht blieb völlig ausdruckslos. Mit tonloser Stimme stellte er die nächsten Fragen: »Wie weit ist es bis zu der Stelle, von der die weißen Männer gekommen sind? Wie viele Menschen leben dort? Welche Metalle sind ihnen bekannt?« »Vierundneunzig Elemente, darunter viele Metalle«, antwortete Marshall. Die Wesen aus der Zeitmaschine wollten offensichtlich feststellen, wie weit entwickelt die Zivilisation der weißhäutigen Menschen war, da sie bislang immer nur Kontakt mit Indianern gehabt hatten. Nach einer abermaligen Pause kamen die nächsten Fragen über Juans Lippen. Warum waren sie hergekommen? Was wußten sie über die große Stadt in dieser Gegend? »Von dieser Stadt weiß niemand etwas!« sagte Marshall. Juan stellte weitere Fragen, die ihm selbst nie im Leben eingefallen wären. Wie viele Menschen gab es in anderen Nationen? Auf der ganzen Welt? Wie wurden die Maschinen angetrieben? »Auf die gleiche Weise wie eure«, sagte Marshall. »Welches Metall könnt ihr spalten?« kam Juans Frage, und Marshall zuckte leicht zusammen. Damit konnten sie nur auf Atomkraft
anspielen. Marshall half sich mit einer Lüge. Dabei kam ihm Juans begrenzter Wortschatz zustatten. Die Stimme fragte, ob die Menschen ihre Antriebsenergie so zu kontrollieren vermochten, daß sie keiner ständigen Wartung bedurfte. Marshall verneinte. Die nächsten Fragen betrafen die Waffen der Menschen. Marshall übertrieb die Wirkung und Reichweite menschlicher Waffen. Dann stellte er selbst eine Frage. »Woher kommt ihr?« »Die Antwort darauf würde für euch ohne jede Bedeutung sein«, kam die verächtliche Erwiderung. »Von einem anderen Stern.« »Und ohne diese Rüstungen und Helme müßtet ihr sterben«, sagte Marshall. »Warum haltet ihr euch hier auf, wenn ihr unsere Luft nicht atmen könnt?« Die Frage wurde ignoriert und führte zu einer kurzen Verzögerung. »Wie wird eure Energie durch die Luft übertragen?« lautete die nächste Frage. Marshall begann zu schwitzen und erwiderte, er sei auf ein anderes Gebiet spezialisiert. Die Fragen entsprangen einem eiskalt berechnenden Gehirn und nahmen nicht die geringste Rücksicht auf menschliche Empfindungen. Endlich gelang es Marshall, eine weitere Frage zu stellen. »Warum sucht ihr uns Menschen auf?« Wieder schwang unendliche Verachtung in der kalten Stimme mit. »Zum Vergnügen, aber das versteht ihr nicht.« »Ich glaube doch«, sagte Marshall. »Niemals«, antwortete die eisige Stimme. »Unsere Rasse ist so alt wie eure Sonne. Gefühle sind bei uns der Intelligenz geopfert worden. Dennoch streben auch wir nach Vergnügen, und eure Rasse bietet uns eine Möglichkeit dazu. Aber das versteht ihr nicht.« »Ich glaube doch«, sagte Marshall wieder. »Ihr wollt herausfinden, warum eure große Stadt, die vor langer Zeit in
Blüte stand, jetzt nur noch eine Ruine ist. Ihr seid neugierig – und vielleicht fürchtet ihr euch sogar vor der Antwort.« Es kam keine Erwiderung. »Wir werden eure Ausrüstung zu Studienzwecken mitnehmen. Ihr werdet alles auf diese Plattform laden. Diesmal werden wir keinen von euch mitnehmen. Das wäre lästig und nutzlos für uns. Ihr seid nur Menschen.« Das Amphibienfahrzeug kam näher ans Lager heran. Die scheinwerferähnlichen Geräte bewegten sich, und aus den Baumkronen des Dschungels loderten plötzlich Flammen auf. Die Hitzestrahlen bahnten dem Fahrzeug buchstäblich den Weg. Apsley betrachtete das alles mit der kühlen Gelassenheit eines Wissenschaftlers. »Ehe sie kamen, hatte ich Angst«, sagte er. »Jetzt empfinde ich überhaupt keine Angst mehr. Was hältst du eigentlich davon, Marshall?« Marshall ging zum Lager zurück. »Sie benutzen Atomkraft«, antwortete er. »Eine auch für sie nicht ungefährliche Sache. Sie dürfen ihre Reaktoren keine Sekunde aus den Augen lassen. Und sie wollen unsere Sachen mitnehmen, um herauszufinden, wie weit wir sind. Augenscheinlich können sie in unserer Atmosphäre nicht existieren. Ihre Luft scheint stark chlorhaltig zu sein. Damit wäre auch erklärt, warum sie so großen Wert auf die Herstellung von rostfreiem Stahl legten. Normales Eisen wäre in ihrer Atmosphäre innerhalb kurzer Zeit korrodiert. Wie mögen sie das nur bei dieser Stadt angestellt haben? Vielleicht hatten sie eine eigene Atmosphäre unter einem Kraftfeld.« »Das alles ändert nichts an der Tatsache, daß wir hier in einer Sackgasse stecken«, murmelte Apsley. »Doch!« versetzte Marshall. »Wenn wir nicht von den Hitzestrahlen niedergebrannt werden wollen, müssen wir
unsere Ausrüstung auf die Plattform legen. Die Lebensmittelvorräte behalten wir jedoch. Verstanden?« Das Amphibienfahrzeug wartete bereits am Lager. Rauchwolken kennzeichneten den Weg, den es vom Ufer her genommen hatte. »Diese verdammten Teufel!« sagte Burroughs. »Sie haben gar nicht mit der Möglichkeit gerechnet, daß wir fliehen könnten!« »Das wäre auch völlig sinnlos gewesen«, sagte Marshall. »Laßt sie nicht aus den Augen, während ich alles einpacke.« Er legte einen Schubkarren auf die Plattform, eine Schaufel, ein Zelt, ein Suchgerät. Dann schleppte er ächzend ein Bündel herbei und band es sorgfältig auf der Plattform fest. Er trat zurück und rieb sich die Hände. »Bueno pues«, sagte Juan mit tonloser Stimme. »Wir werden das alles mitnehmen. Zu gegebener Zeit wird unser Volk wiederkommen. Wir werden eine neue Stadt errichten, vielleicht hier oder auch anderswo und die alte spurlos verschwinden lassen. Damit die Menschen nichts von unserer Existenz erfahren, werden wir von der alten Stadt nichts übriglassen.« Juan kletterte von der Plattform zu Boden und nahm den stählernen Helm ab. Im gleichen Augenblick wurde sein Gesicht völlig ausdruckslos. Er schnitt Grimassen und brabbelte wie ein Idiot vor sich hin. Das Amphibienfahrzeug setzte sich in Bewegung. Es kehrte auf dem gleichen Weg, den es gekommen war, zum Seeufer zurück. Eines der scheinwerferähnlichen Geräte richtete sich auf Juan, der im Bruchteil einer Sekunde verdampfte. Zwanzig Minuten später standen Marshall, Apsley und Burroughs am Rand des Dschungels und beobachteten die glitzernde Maschine über dem Wasser.
Das Amphibienfahrzeug wurde hochgehoben und verschwand mit den beiden inzwischen zurückgekehrten Hubschraubern im Inneren des Rumpfes. Marshall ballte die Fäuste. Wieder begann die Luft zu pulsieren. Der Rumpf wurde langsam unsichtbar. Als letztes verschwanden die insektenähnlichen Beine. Dann war der Himmel über dem See leer. Marshall lächelte in grimmiger Befriedigung. Apsley atmete tief. »Ich habe wieder eine Vorahnung«, sagte er ruhig. »Bevor das Ding hier auftauchte, hatte ich Angst. Diese Angst verschwand, als wir uns am Ufer mit ihnen unterhielten. Jetzt habe ich auch keine Angst. Was steckt dahinter, Marshall?« »Zum Teufel mit ihnen!« schnaubte Burroughs. »Sie haben einige meiner Aufzeichnungen erwischt! Die Indianer beladen bereits ihre Mulis. Wir können sie nicht zum Bleiben bewegen, Marshall.« »Schon gut«, sagte Marshall. »Das waren verdammt überhebliche Kreaturen, was? Sie haben keinen von uns mitgenommen, weil wir ja nur Menschen sind. Sie haben uns ihre Pläne anvertraut, weil wir zu ohnmächtig sind, ihnen dabei in die Quere zu kommen. Sie wollen die Stadt spurlos verschwinden lassen, damit die Menschen nichts von ihrem Herrschaftsanspruch über die Erde erfahren. Zum Teufel mit ihnen!« Er wandte sich um und ging zum Lager. »Wir werden diese Gegend verlassen«, fügte er hinzu. »Wenn wir hier blieben, würden sie von Zeit zu Zeit wieder auftauchen, um weitere Nachforschungen anzustellen.« Apsley folgte ihm in kurzem Abstand. »Ich habe das Gefühl, daß alles in Ordnung ist«, sagte er. »Wie kommt das, Marshall?« Marshall grinste. »Als sie die Stadt vernichteten, haben sie nicht alles herausgeholt. Nicht wahr? An sich vernichtet man eine Stadt
durch eine Reihe kleinerer Explosionen, nicht aber durch eine einzige große. Sie haben ihre Kunstwerke nicht in Sicherheit gebracht, und wir sahen die verrosteten Reste ihrer Maschinen. Dann ist da noch der See, der uns zeigt, daß die Stadt durch eine mächtige Explosion vernichtet wurde. Damit vernichteten sie gleichzeitig ihre künstliche Atmosphäre, und in unserer Luft konnten sie nicht leben. Sie sind alle tot. Seit über zwanzigtausend Jahren!« Er öffnete die Fäuste und ballte sie erneut. »Verdammte Schurken!« sagte er. »Menschen zu ihrem Vergnügen benutzen! Menschen quälen und leiden lassen, weil es ihnen so in den Kram paßt! Grausame Bestien! Geschieht ihnen ganz recht!« »Was hast du denn angestellt?« fragte Apsley. »Nachdem ich ihnen von unseren Waffen erzählt hatte, waren sie ihrer Sache ganz sicher«, antwortete Marshall. »Als ich mit unserer Atomkraft bluffte, fragten sie, ob wir diese ständig überwachen müßten. Vermutlich ist das bei ihnen der Fall. Deshalb habe ich sie überlistet. Wir sind ja nur Menschen, von denen sie nichts zu befürchten haben. Ich habe ihnen unser Dynamit mitgegeben.« Apsley blickte Marshall stirnrunzelnd an. »Und was erhoffst du dir davon?« fragte er. »Die Zeitmaschine wird mit Atomenergie betrieben«, antwortete Marshall. »Eine andere Erklärung gibt es nicht. Sie kehren mit der Zeitmaschine in die Zeit ihrer Stadt zurück und beginnen, die Beute zu sortieren. Dabei wird das Dynamit explodieren. Dann ist in der Zeitmaschine der Teufel los, denn der Atomantrieb wird ebenfalls hochgehen. Das wiederum führt zur Vernichtung ihrer Stadt. Es wird kein Stein auf dem anderen bleiben!« »Vielleicht. Vielleicht aber kommt es nicht dazu«, sagte Apsley zweifelnd.
»Die Antwort kennen wir bereits. Die Explosion ist tatsächlich erfolgt.« Marshall deutete auf die unterirdischen Ruinen am Ufer. »Die Stadt ist verschwunden, nicht wahr. Ich habe sie soeben vernichtet – vor zwanzigtausend Jahren!« »Verdammtes Pech!« sagte Burroughs. »Eine solch hochentwickelte Kultur – wir hätten zumindest den wahren Grund erforschen sollen, der zu ihrer Vernichtung führte. Was mag aus ihren technischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen geworden sein?« »Marshall ist der wahre Grund«, versetzte Apsley trocken. »Sagen wir, daß wir es gemeinsam getan haben«, meinte Marshall. »Aber niemand wird es uns glauben. Es war unser Werk.« Doch das war allzu bescheiden. Es war von Anfang an Marshalls großer Auftritt. Und das Messer hatte alles ausgelöst. Inzwischen besitzt er vier Messer aus rostfreiem Stahl, und er besteht darauf, daß sie zwanzigtausend Jahre alt sind. Burroughs und Apsley bestätigen das.
Originaltitel: DEAD CITY (THE MALIGNANT MARAUDER). Copyright © 1946 by Standard Magazines, Inc. Aus THRILLING WONDER STORIES Sommer 1946.
Everett B. Cole MACHT IN FALSCHEN HÄNDEN
Liewen Konar legte lächelnd einen verbeulten Gegenstand auf die Bank. »Na, da hätten wir also ein weiteres Stück. Dürfte zwar nicht allzu viel wert sein, aber es ist da.« Offensichtlich handelte es sich um einen sorgfältig angefertigten Gegenstand. Die eigentliche Bedeutung war kaum noch zu erkennen. An der Seite des Metallbehälters klaffte ein Loch. Die Knöpfe waren abgerissen worden. Die eingravierten Buchstaben waren längst unleserlich, und der Zeiger stand über einer leeren Skala. Irgend etwas war gewaltsam von der Oberfläche abgerissen worden. Im Inneren des Behälters waren ein paar kleine schwarze Teile zu sehen, die irgendwie verzerrt wirkten. Klion Meinora betrachtete das verbeulte Ding und schüttelte den Kopf. »Ich weiß, daß es die Reste eines Kommunikators mittlerer Reichweite sind«, sagte er. »Aber ich kann es beim besten Willen nicht glauben.« Er steckte den Finger ins Loch und schob die Teile zur Seite. Ein kleines Zahnrad hing lose herab wie an einem Faden. »Wo ist der Antrieb?« Konar schüttelte den Kopf. »Keine Spur mehr vorhanden. Auch vom Blickfeldsucher ist kaum noch etwas übrig.« »Na.« Meinora schüttelte resigniert den Kopf. »Immerhin haben wir das Ding wiederbekommen.« Er trat einen Schritt
zurück und betrachtete das verbeulte Ding. »Jemand hat die Außenwände poliert.« Konar nickte. »Es war ein religiöser Gegenstand; wurde in einer Abtei gefunden.« Er griff in den Sack, den er auf den Fußboden gestellt hatte. »Und hier haben wir eine Art Verstärker zur Gedankenübertragung, schon ein bißchen ramponiert, aber noch zu reparieren.« Er zog einen schmalen, goldenen Stirnreif hervor, hielt ihn einen Augenblick in die Höhe und legte ihn neben den verbeulten Metallbehälter. Der Reif war ein wenig verbogen, schien aber sonst in Ordnung zu sein. »Wir müssen behutsam damit umgehen«, erklärte er. »Sonst könnte sich im Inneren etwas lösen.« Er griff erneut in den Sack. »Und hier haben wir einen Körperschutz, Modell Protektor GS/NO-10C. Ebenfalls noch zu reparieren und sogar mit einer Plakette versehen.« »Gut.« Meinora streckte die Hand aus und nahm den schweren Gurt entgegen. Er ließ ihn durch die Hände gleiten und begutachtete die handwerkliche Arbeit. Lange Zeit blieb sein Blick auf dem am Gurt befestigten Kästchen ruhen. »Sie scheinen sich im Umgang mit diesem Ding gut ausgekannt zu haben, denn es ist ziemlich abgetragen.« »Ja, Sir. Der Graf hat ihn ständig umgehabt. Auf diese Weise hielt er seinen Ruf als unbesiegbarer Kämpfer aufrecht. Es muß verdammt schwierig gewesen sein, jemanden, der diesen Schutz trug, mit einem Schwert zu treffen.« »Ich weiß.« Meinora nickte. »Habe es selbst gesehen. Sonst noch etwas?« »Ja, die Pistole stammt aus der gleichen Abtei. Sie ist ebenfalls ziemlich mitgenommen.« Konar zog einen von Flammen gezeichneten Gegenstand und ein paar kleinere Metallstücke aus dem Sack. »Wir haben die Stücke
aufgehoben«, erklärte er. »Sie hielten die Teile sauber, konnten sie aber nicht zusammensetzen.« »Und wir können es jetzt auch nicht mehr.« Meinora betrachtete das Ding neugierig. »Sieht aus, als hätte man darauf geschossen.« »Schätze, das stimmt, Sir. Nicht nur einmal, sondern wiederholt.« Konar zuckte die Achseln. »Malendes sagte mir, er hätte mehrere gefunden, die genauso zerschossen waren.« Er legte den Kopf ein wenig schief. »Sagen Sie, Chef, wie viele dieser Dinger waren eigentlich über den unglücklichen Planeten verstreut?« Meinora verzog das Gesicht. »Soweit wir feststellen konnten, wurden ursprünglich zweiundneunzig Ausrüstungen ausgegeben. Jeder dieser zweiundneunzig eingeborenen Agenten war mit einem Gedankenübertrager und einem Körperschutz ausgestattet. Die acht Gruppen besaßen je einen Kommunikator und drei Pistolen. Das Hauptquartier verfügte über ein Flugzeug, drei Kommunikatoren, einen Felddetektor und sechs Pistolen. Alles in allem eine beachtliche Liste.« »Auch Werkzeuge und Reparaturgerät?« Meinora schüttelte den Kopf. »Nur Betriebsanleitungen. Aber die sind längst verrottet. In regelmäßigen Abständen sollten Inspektionen erfolgen, und bei solchen Gelegenheiten wären funktionsuntüchtige Geräte repariert worden. Heutzutage werden die Agenten besser ausgebildet, und wir brauchen nicht mehr so viele.« »Irgend etwas ist also schiefgegangen.« Konar warf einen Blick auf die Gegenstände auf dem Tisch. »Wie konnte es dazu kommen?« »Oh, wir haben uns inzwischen ein ziemlich deutliches Bild vom Ablauf der Geschehnisse gemacht.« Meinora stand auf. »Niemand hätte so etwas für möglich gehalten, und dennoch
ist es dazu gekommen.« Er blickte nachdenklich auf den zerstörten Kommunikator. »Kennen Sie die Geschichte des ersten Unternehmens auf diesem Planeten?« »Ja, Sir, ich habe mir die Aufzeichnungen angesehen. Als man diesen Planeten entdeckte, gab es auf ihm drei verschiedene Zivilisationen. Auf sich allein gestellt, wären die Eingeborenen auf die Stufe primitiver Jäger zurückgesunken, falls nicht gar auf die Stufe von Höhlenmenschen. Das hätte zweifellos zu wilder Primitivität geführt.« »Richtig. Deshalb wurden von unserer philosophischen Abteilung eingeborene Agenten ausgebildet, die nach dem Zerfall der alten Imperien das Wissen und die Erkenntnisse bewahren und hüten sollten, bis die Barbarei überwunden war. Die Zivilisation eines Kontinents dieses Planeten wurde ausgewählt, um in späteren Generationen die Führerrolle zu übernehmen. Dort sollte eine Kultur entwickelt werden, die sich nach der Barbarei über den ganzen Planeten ausbreiten konnte.« Konar nickte. »Die altbewährte Methode, Völker vor dem Untergang zu bewahren. Warum hat sie hier versagt?« »Die Merokianische Konföderation entstand.« »Aber doch nicht in der Nähe dieses Planeten.« »Nein, aber sie griffen Sektor neun an. Die Hauptquartiere wurden vernichtet. Erinnern Sie sich noch?« »Gewiß, Sir, wir haben es in der Schule gelesen.« Konar runzelte die Stirn. »Das war natürlich lange vor meiner Zeit. Sie wendeten eine Waffe an, die die Detektoren außer Betrieb setzte. Nicht wahr?« »Ja, so ähnlich. Vielleicht hat es auch jemand an der erforderlichen Wachsamkeit fehlen lassen. Aber das ist jetzt nicht mehr wichtig.
Ausschlaggebend ist, daß alle Unterlagen dieses Sektors während des Angriffs vernichtet wurden.« »Gewiß. Aber wie steht es mit den Akten, die sich in der Zentralkartei auf Aldebaran befinden?« Meinora lächelte bitter. »Auch hier passierte etwas, was niemals hätte vorkommen dürfen. Wir suchen noch immer nach dem Kurierschiff, das diese Akten überbringen sollte. Vermutlich ist es unterwegs angegriffen und vernichtet worden, aber darüber liegen keine Berichte vor. Die Akten sind ganz einfach verschwunden.« Er nahm den Kommunikator und betrachtete die Spuren des Alters. »Nach und nach«, fuhr er fort, »werden die Unterlagen und Akten von Sektor neun jetzt nachträglich aufgezeichnet. Jeder einzelne Posten, der vor dem Angriff in Sektor neun stationiert war, macht Angaben über das, was er weiß. Es ist eine langwierige und mühevolle Arbeit, aber nun haben wir es bald geschafft. Wir mußten praktisch jeden Planeten dieses Sektors neu entdecken. Derjenige, um den es hier geht, wurde ziemlich am Ende wiedergefunden. Seit er von einem unserer Teams zum letzten Mal aufgesucht wurde, sind inzwischen dort über fünfzig Generationen gekommen und vergangen, und das erschwert natürlich die Rekonstruktion der Ereignisse. Wir wissen noch immer nicht, was mit unseren Agenten passiert ist.« Konar blickte auf den Tisch. Außer den Gegenständen, die er mitgebracht hatte, lagen da noch weitere reparaturbedürftige Apparate und Geräte. »Gewiß, Sir«, pflichtete er seinem Chef bei. »Nach allem, was ich hier gesehen habe, kann ich nur zustimmen. Was aber wird nun?« »Wir haben die Ausrüstungsgegenstände unserer Agenten Stück für Stück eingesammelt. Einige sind verlorengegangen.
Andere waren vermutlich nicht mehr intakt und wurden weggeworfen oder verbrannt wie das hier.« Meinora deutete auf den verbeulten Kommunikator. »In der Geschichte dieses Planeten werden unerklärte Explosionen erwähnt, und das zeigt uns, daß einige unserer Apparate in die Luft gingen. Wir haben auch die Stelle gefunden, wo das Flugzeug abstürzte. Da waren natürlich keine Spuren mehr zu sichern.« Er seufzte. »Daraus ergibt sich ein gewisser Unsicherheitsfaktor, aber wir müssen alles tun, um die noch vorhandenen Reste der Ausrüstung zu sichern. Dieser Planet wird eines Tages eine eigene Technologie entwickeln, und wenn es soweit ist, darf nichts auf äußere Einflüsse hindeuten. Die Gerüchte und Legenden auf diesem Planeten enthalten ohnehin schon genug Andeutungen. Sobald wir alles aufgespürt und eingesammelt haben, müssen wir uns um die Nachkommen unserer ehemaligen Agenten kümmern.« »Eine verteufelte Aufgabe.« »Ja, sie wird uns eine ganze Weile in Atem halten.« Meinora nahm eine kleine Tonbandspule. »Das habe ich gerade bekommen, und deshalb habe ich Sie hergerufen. Es ist der Bericht über ein Mentakom und einen Körperschutz, die wahrscheinlich nach der Zeitrechnung dieses Planeten vor zwanzig Jahren gestohlen wurden. Wir sollen sie aufspüren.« Er wandte sich an einen Techniker, der an einer Werkbank arbeitete. »Beschäftigen Sie sich damit. Wir werden Ihnen bald noch mehr davon bringen.«
Flor, der Treiber, war hundemüde. Die Schatten wurden immer länger, und er hatte auf Geheiß der Förster den ganzen heißen Tag lang durch das Unterholz streifen müssen. Er hatte sich
mit seinem kurzen Knüppel mühsam einen Weg durch das Dickicht gebahnt, um die khadas aufzuspüren und aus den Verstecken zu treiben. Sobald sich die häßlichen Bestien sehen ließen, wurden sie von den adeligen Jägern niedergemacht. Flor war genauso müde wie bei manchen vorhergegangenen Jagden. Diese Jagd auf die khadas mochte für die Jäger ein unterhaltsamer Sport sein, dachte er. Aber für einen Knecht bedeutete es harte Arbeit. Dabei mußte er jeden Augenblick gewärtig sein, unter den Hufen dieser Bestien zu landen oder von ihren scharfen Zähnen zerfleischt zu werden. Natürlich würde es am Abend eine Menge Fleisch geben, so daß nach der Feier auch etwas für die Knechte und ihre Familien abfiel. Doch zuvor war die Küchenarbeit zu verrichten. Manche Stunde würde vergehen, ehe Flor am Ende seiner Kräfte an den Heimweg denken durfte. Er nutzte die kurze Pause aus, die sich ihm bot. Er setzte sich mit dem Rücken an einen Baumstamm, schloß die Augen und legte die muskulösen Arme über den Kopf. Natürlich würde man ihn hier nach einer Weile entdecken und wieder an die Arbeit treiben, aber sein Förster war ein einfältiger, gutmütiger Bursche. Er würde Flor glauben, wenn er sich herausredete, er habe sich im Dickicht verirrt. Es raschelte im Unterholz, und Flor hörte Hufschlag. Vermutlich näherte sich ein berittener Jäger. Flor sprang rasch auf und duckte sich tiefer ins Gebüsch. Vielleicht entdeckte ihn der Jäger hier nicht. Vorsichtig spähte er durch das Gestrüpp. Der Reiter war alt und offensichtlich müde von der langen Jagd. Er schwankte im Sattel, riß sich zusammen und spähte umher. Dann versuchte er, nach dem Jagdhorn zu greifen. Das Pferd warf den Kopf in den Nacken und scharrte mit den Hufen. Eine kleine Staubwolke stieg auf. Flor seufzte und richtete sich auf. Es war niemand anderes als der Graf persönlich. Vielleicht hätte Flor sich vor einem
anderen Mann verstecken können, aber er wußte, daß er beim Grafen keine Chance hatte. Die Erfahrung hatte Flor gelehrt, daß der Graf sogar die Gedanken jedes Menschen lesen konnte, der sich in seiner Nähe aufhielt. Er wußte auch, welch schwere Strafe er zu erwarten hatte, wenn er sich nicht auf der Stelle meldete. Er trat vor und schob einen Ast beiseite. Ein plötzlich auftauchender husa erschreckte das Pferd. Das Tier ging steil in die Höhe. Der Reiter fiel aus dem Sattel und schlug mit dem Kopf gegen einen Baumstamm. Im letzten Augenblick hatte der Graf noch versucht, an den Gürtel zu greifen – aber zu spät. Flor sprang aus dem Gebüsch. Beim Sturz hatte sich der Stirnreif vom Kopf des Grafen gelöst und lag neben ihm auf dem Boden. Flor hob den Reif auf und drehte ihn in den Händen. Neugierig untersuchte er den schmalen, goldenen Stirnreif mit den leichten Erhebungen an der Innenseite. Schon oft hatte er aus irgendeiner dunklen Ecke des Schloßparks zugesehen, wie der Graf seinem ältesten Sohn die Kräfte demonstrierte, die in diesem Reif steckten. Mitunter hatte der Graf ihn mittels dieser Kräfte entdeckt, und Flor hatte nicht vergessen, wie der Haushofmeister ihn anschließend verprügelt hatte. Gelegentlich war der Graf jedoch so vertieft in seine Erklärungen gewesen, daß ihm der ungebetene Zuhörer nicht aufgefallen war. Er hatte seinem Sohn ausführlich erklärt, daß er mit diesem Reif die Gedanken anderer Menschen lesen und sogar ihren Willen beeinflussen konnte. Später träumte Flor dann von den wundersamen Kräften, die in diesem Reif stecken mußten. Und nun hielt er ihn in den Händen. Da kam ihm ein Gedanke, und er sah sich verstohlen nach allen Seiten um. Er war hier allein mit dem Grafen. Der Mund des alten Edelmannes stand offen, und sein Atem kam keuchend und rauh. Sein Gesicht war bläulich verfärbt.
Kurzentschlossen kniete Flor neben dem Bewußtlosen nieder. Seine Hand mit dem Knüppel zitterte. Er wollte handeln, war aber von der Angst wie gelähmt. Bei dem Gedanken an sein Vorhaben wurde ihm fast übel. Vor ihm lag einer der mächtigsten Adeligen des Landes. Die Augenlider des Grafen begannen zu zucken. Unvermittelt schlug Flor zu, als habe er ein husa vor sich. Der alte Graf bäumte sich röchelnd noch einmal auf und blieb dann still liegen. Die rasselnden Atemzüge setzten aus, die glasigen Augen starrten blicklos ins Leere. Der Knecht wich hastig zurück. Dann faßte er sich und holte mit dem Knüppel zu einem zweiten Schlag aus. Aber der alte Graf war tot. Flor schüttelte den Kopf. Menschen sterben so leicht, dachte er verächtlich. Bei den husas und khadas war das ganz anders, denn sie kämpften bis zum letzten Atemzug und fügten den Jägern dabei mitunter gefährliche Wunden zu. Bei dieser philosophischen Betrachtung ließ Flor es bewenden und machte sich daran, dem Grafen den Gurt abzunehmen. Er wußte, daß auch in diesem Gurt geheime Kräfte steckten. Sein Besitzer brauchte nur auf die kleinen Knöpfe zu drücken, um eine Art Schutzschild um seinen Körper zu errichten. Der Mörder lächelte böse. Ein Glück, daß der alte Graf nicht mehr dazu gekommen war, auf diese Knöpfe zu drücken, sonst hätte er den Sturz überlebt und Flors Anschlag auf sein Leben. Mit dem Gurt in der Hand stand Flor auf. Mit dieser Ausrüstung, sagte er sich, würde er ein großer und mächtiger Mann werden. Er untersuchte das längliche Metallkästchen an der Seite des Gurtes. Dann schnallte er sich den Gurt um. Er drückte auf die Knöpfe und warf sich gegen einen Baumstamm. Irgend etwas bremste den Aufprall stark ab, und es war, als renne er gegen eine weiche Matte. Er gewann das
Gleichgewicht zurück und lehnte sich an den Stamm. Befriedigt nickte er. Später würde er weitere Versuche anstellen, doch im Augenblick blieb ihm keine Zeit dazu. Er nahm sich wieder den Stirnreif vor und erinnerte sich, daß es auch hier eine besondere Bewandtnis mit den Metallverzierungen hatte. Er betrachtete sie genau und drückte nacheinander darauf. Einer der Knöpfe verrutschte unter dem Druck seines Fingers, und sein Bewußtsein schien intensiver zu werden. Er drückte den Reif auf die Stirn. Ein Schauer durchlief ihn, als plötzlich alle seine Wahrnehmungen deutlicher wurden. Er sah den Wald jetzt viel klarer als jemals zuvor. Er nahm plötzlich Dinge wahr, deren Existenz er bislang nur geahnt hatte. Er sah sich noch einmal um. Die Gedanken in seinem Kopf waren offensichtlich nicht seine eigenen. Deutlich erinnerte er sich an die Erklärungen des Grafen über den Stirnreif. Vor allem erinnerte er sich an jenen Abend, als der Edelmann vorgeführt hatte, wie er die Gedanken anderer Menschen lesen konnte. Unwillkürlich zuckte Flor bei dieser Erinnerung zusammen, denn der Haushofmeister hatte ihn an jenem Abend besonders stark verprügelt. Flor spähte nach allen Seiten. Irgendwie kam er sich wie ein gejagtes husa vor. Wenn man ihn hier ertappte, war es um ihn geschehen. Zwar war er mit seiner neuen Ausrüstung fast unbesiegbar, aber er würde gegen viele Männer anzutreten haben. Zweifellos würde es unter ihnen ein paar Grafen geben, die ebenso ausgestattet waren wie er, vielleicht sogar noch besser. Er wußte, daß er dagegen nicht ankommen konnte. Er drang tiefer ins Unterholz ein, warf einen Blick den Hügel hinunter und wählte einen Pfad, auf dem er den Förstern nicht in die Quere kommen würde. Unterwegs dachte er darüber nach, wie er seine neue Ausrüstung am wirkungsvollsten einsetzen könnte. Er erwog eine Möglichkeit nach der anderen.
Bei seinem intensivierten Bewußtsein fielen ihm in all seinen Plänen Fehler auf, die er früher nie bemerkt hätte. Zunächst mußte er lernen, mit den neuen Kräften umzugehen. Ferner mußte er sich mit den Sitten und Gewohnheiten der Edelleute vertraut machen. Schließlich brauchte er eine Verkleidung, um sich ungehindert bewegen zu können. Knechte zogen nicht durchs Land, sondern hatten zu schuften. Als eine Gruppe Landsknechte auftauchte, schlug er sich seitlich in die Büsche und sah ihnen nach. Dabei kam ihm ein Gedanke. Er überdachte ihn gründlich und fand nichts daran auszusetzen. Ein einsamer Landsknecht kam den Waldweg entlang, leicht schwankend, und sang laut vor sich hin. Von Zeit zu Zeit brach er ab, weil ihm der Text entfallen war. Flor beobachtete ihn aus seinem Versteck und konzentrierte sich auf die Gedanken des Mannes. Sie waren völlig unkompliziert. Der Landsknecht hatte im Augenblick keinen Herren. Wenn sein Geld verbraucht war, wollte er in die Dienste des Grafen von Konewar treten, der einen neuen Feldzug plante. Der Mann kam näher und bemerkte Flor. Er blieb stehen und musterte den geflohenen Knecht von Kopf bis Fuß. »Na, das nenne ich wirklich einen merkwürdigen Anblick«, sagte er mehr zu sich selbst und blickte Flor ins Gesicht. »Sag mal, Bursche, wie kommt es eigentlich, daß du Gurt und Stirnreif eines Edelmannes, aber das schäbige Gewand eines Knechtes trägst?« Als Flor ihn herausfordernd ansah, zog der Mann sein Schwert. »Komm!« brummte er ungeduldig. »Wenn du meine Frage nicht beantwortest, schleppe ich dich zum nächsten Konstabler. Vielleicht gefällt dir das besser, was?« Flor atmete tief ein und wartete. Eine Probe seiner neugewonnenen Kraft stand unmittelbar bevor. Er hatte bereits einige Experimente hinter sich und dabei herausgefunden, daß
selbst der gefürchtete Angriff eines khada für ihn harmlos war. Jetzt wollte er feststellen, ob selbst ein Schwert ihm nichts anhaben konnte. Beim Auftauchen des Mannes hatte er auf den Knopf an seinem Gurt gedrückt. »Wer bist du denn«, fragte Flor von oben herab, »daß du es wagst, jemanden zur Rede zu stellen, dem du nicht das Wasser reichen kannst? Verschwinde, ehe ich dich mit deinem eigenen Schwert aufspieße!« Der Mann schüttelte den Kopf und lächelte sarkastisch. »Hah!« rief er, während er auf Flor eindrang. »Diesen Akzent kenne ich nur zu gut – er stinkt nach einfacher Küchenarbeit. Sag mal, Knecht, wo hast du das alles gestohlen …« Er brach unvermittelt ab und holte zu einem kräftigen Streich aus. Dann wich er verblüfft zurück. Flor hatte nur die Hand ausgestreckt und damit das Schwert zurückgeschlagen. Das Schwert fiel dem Mann aus der Hand und auf die Erde. Der Mann starrte ungläubig darauf. Ehe sich der Landsknecht von der Überraschung erholen konnte, hob Flor die Waffe auf. »So!« rief er. »Bleib stehen, denn ich bin noch lange nicht fertig mit dir!« Der Mann war völlig entgeistert. Flor sah ihn durchdringend an. »Nimm den Helm ab!« Widerstrebend hob der Mann die Hand, nahm den Helm ab und sah seinen Gegner an. »Gut. Und nun zieh dich aus!« Der Landsknecht hatte etwa Flors Statur und Größe. Das Gewand würde Flor vielleicht nicht genau passen, aber vorerst genügte es seinen Ansprüchen. Wer erwartete schon von einem durchs Land ziehenden Söldner, daß er streng nach der Mode gekleidet war? Diese Männer waren Kämpfer und keine Höflinge, die stets die neuesten Modelle der Modeschneider haben mußten. Flor sah zu, wie sich der Mann auszog. Dann streifte er sein eigenes Gewand ab und achtete sorgfältig
darauf, daß der Gurt fest um seine Hüften blieb. Er warf dem Mann das Gewand zu. »Hier!« befahl er. »Zieh das an!« Er spürte die aufsässige Hoffnungslosigkeit des Mannes. »Los!« drängte er scharf. »Zieh es an!« Als der Mann endlich in dem Knechtgewand vor ihm stand, grinste Flor. »Heute kümmert sich kaum einer um einen schäbigen Knecht, noch wird er sich die Mühe machen, ihm ins Gesicht zu sehen, sofern er eins hat.« Er holte unbeholfen mit dem Schwert aus und spaltete dem Landsknecht den Schädel. »Ich werde mir einen neuen Namen zulegen müssen«, murmelte er, während er in die Kleidung des Landsknechts schlüpfte. »Kein freier Söldner begnügt sich mit einem Namen wie Flor. Alle haben zwei Namen.« Er versuchte sich zu erinnern, wie die Leute aus dem Gefolge des Grafen hießen. Flor konnte er vielleicht als Teil des neuen Namens beibehalten. Ein Landsknecht würde daraus vielleicht Floran oder auch Florel machen. Er blickte auf den Helm in seiner Hand. Ein eiserner Hut – deri kuna. »Na also«, sagte er zu sich selbst, »ich heiße Florel Derikuna.« Er inspizierte seine neue Kleidung und vergewisserte sich, daß der Gurt richtig saß. Dann setzte er den Helm auf. Der Stirnreif war darunter verborgen. Er schob das Schwert in die Scheide und ging den Waldweg entlang. Dabei probierte er, den Gesang des Landsknechtes nachzumachen. Mit einem einzigen Schlag hatte er sein Leben verändert. Jetzt konnte er nach Herzenslust durchs Land streifen, ohne fürchten zu müssen, zur Rede gestellt zu werden. Das Geld des Landsknechts würde noch eine Weile reichen, und es dürfte dank seiner Kräfte kein Problem sein, sich neues zu beschaffen. Diese Nacht würde er in einem Gasthaus verbringen, statt sich wie bisher in irgendein Dickicht zu verkriechen.
Aus Tagen wurden Wochen und Monate, während Florel durchs Land streifte. Mitunter ließ er sich von einem Hauptmann für einen Kriegszug anwerben. Gelegentlich trat er auch in den Dienst eines kleineren Edelmannes. Ein paarmal gesellte er sich zu einer Räuberbande, die im dichten Wald ihr Unwesen trieb und über Reisende herfiel. Den mächtigen Grafen ging er jedoch geflissentlich aus dem Wege, denn er fürchtete, entlarvt zu werden. Er zog unentwegt nach Osten, denn er wußte, daß es nur dort Sicherheit gab. Und er sparte sein Geld für einen bestimmten Zweck. Ab und an trat er als Händler auf und zog mit großen Karawanen über das Land. Aber immer in östlicher Richtung.
Florel Derikuna blickte die stattliche Reihe der Packtiere entlang. Er hatte einen gefahrvollen Weg hinter sich. Bei der Erinnerung an den letzten Überfall der Räuberbande huschte ein grimmiges Lächeln um seinen Mund. Eine Weile hatte es ganz so ausgesehen, als würden die bewaffneten Begleiter der Karawane, zu denen er gehörte, von den Räubern überwältigt werden. In diesem Fall wäre ihm, wie schon öfter zuvor, keine andere Wahl geblieben, als sich der Bande anzuschließen. Das hätte die Durchführung seiner Pläne wesentlich verzögert. Er blickte hinauf zu der Burg auf dem steilen Hügel. Das also war das Land des Ostens. Es hatte lange gedauert, bis er es endlich erreichte. Und er hatte jeden Tag damit rechnen müssen, von einem Suchtrupp aus Budorn entdeckt zu werden. Doch hier war er endlich in Sicherheit. Er war davon überzeugt, daß kein Bewohner dieses östlichen Landes je bis in das Gebiet, aus dem er kam, gereist war. Hier wußte kaum jemand etwas von der Existenz Budorns, außer ihm, Flor dem Knecht, der sich unterdessen wieder in den Landsknecht Florel Derikuna verwandelt hatte. Ja, hier
war er in einem neuen Land, und hier wollte er auch eine neue Identität annehmen. Er blickte auf die Häuser der Stadt, über der sich die Burg erhob. Diese Häuser und Burgen unterschieden sich kaum von denen in seiner Heimat, dachte er. Die kleinen Abweichungen fielen kaum ins Gewicht. Er hatte sich längst daran gewöhnt und sogar die Sprache dieses Landes erlernt. Der Stirnreif, den er stets unter dem Helm trug, hatte ihm vortreffliche Dienste geleistet. Er war mächtiger als er es sich damals hatte träumen lassen, als er ihn neben dem toten Grafen zum erstenmal in den Händen gehalten hatte. Hier in Dweros wollte er seinem Leben eine weitere entscheidende Wendung geben. Als junger Edelmann, der sich nach langen Streifzügen und Abenteuern zur Ruhe setzen wollte, würde er vor den Herzog treten und sich um eine Stellung in seinen Diensten bewerben. Standesgemäßes Benehmen hatte er sich längst angeeignet. Er wußte, wie man in diesen Kreisen verkehrte. Die Karawane zog durch das Tor der Stadtmauer unterhalb der Burg und hielt auf dem Marktplatz an. Derikuna ritt zu dem Kaufmann, dem die Karawane gehörte und dem er während der Reise gedient hatte. »Ich bin am Ziel«, sagte er. »Wir können abrechnen.« Der Kaufmann sah ihn erleichtert an. Er wußte zwar, daß dieser Mann ein guter Kämpfer war. In erster Linie war es seinem Einsatz und seiner Tapferkeit zu verdanken, daß der Überfall der Räuberbande hatte zurückgeschlagen werden können. Dennoch beunruhigte ihn irgend etwas an diesem Mann. Er hatte ständig ein Gefühl der Angst in seiner Gegenwart. Der Kaufmann war daher froh, ihn jetzt sehen zu lassen. Er zog zwei Beutel hervor. »Wir verlieren dich nur ungern, Derikuna«, sagte er. »Hier ist dein vereinbarter Lohn.« Er gab ihm den einen Beutel. »Und diesen zweiten schenke ich dir als
Zeichen meiner Wertschätzung für deinen tapferen Einsatz.« Derikuna lächelte zynisch. »Danke sehr«, erwiderte er. »Und weiterhin gute Geschäfte.« Er wandte sein Pferd und ritt davon. Er hatte die ängstlichen Gedanken des Kaufmanns gelesen, aber das war keineswegs ungewöhnlich. Früher oder später begann sich jeder vor ihm zu fürchten. Auch in diesem Land würde man ihm Achtung und Respekt nicht versagen. Vielleicht würden die Menschen seine Gesellschaft nicht gerade suchen, aber das interessierte ihn herzlich wenig. Sie würden tun, was er wollte, und sie würden ihn niemals vergessen. Er ritt zu einem Gasthof, mietete ein Zimmer und bestellte eine kräftige Mahlzeit. Nach dem Essen sah er noch einmal nach seinen Tieren und ließ das Gepäck auf sein Zimmer schaffen. Er erwachte kurz nach Tagesanbruch, streckte sich und stand auf. Er rieb sich die Augen und ging zur anderen Seite des Raumes. Er blickte auf den Zuber auf dem Fußboden und auf den vollen Wassereimer. Dann begann er sich zu waschen. An diesem Morgen legte er besonderen Wert auf seine äußere Erscheinung. Zum Schluß rieb er seinen Körper sogar mit parfümiertem Wasser ein. Er öffnete seine Reisetruhe und zog ein Gewand hervor, das er bisher nur selten getragen hatte. Er stellte sich vor den Spiegel und nickte zufrieden. »Wahrlich«, sagte er zu sich selbst, »das leibhaftige Bild eines Edelmannes aus dem Westen.« Er legte ein paar Schmuckstücke an, schloß die Reisetruhe und verließ den Gasthof. Er ritt durch die schmalen Gassen zum Burgtor und wandte sich dort an den schwerbewaffneten Posten. »Laß dem Burgvogt ausrichten«, sagte er, indem er seinen Reitumhang nach hinten streifte, »daß Florel, der jüngste Sohn
des Grafen von Konewar, deinem Gebieter, dem Herzog von Dwerostel, seine Aufwartung machen möchte.« Die Wache sah ihn einen Augenblick an und stieß den Stiel seiner Hellebarde kräftig auf den Boden. Dann wandte sich der Mann um und schlug an einen Gong. »Sehr wohl, edler Herr.« Der Konstabler der Wache kam ans Tor. Nach kurzem Zögern führte er Derikuna über den inneren Burghof zu den Räumen des Haushofmeisters. »Sie wünschen eine Audienz mit Seiner Durchlaucht?« »Ja, mein lieber Mann. Ich möchte ihm meine Aufwartung machen und die Grüße meines Vaters, des Grafen von Konewar, überbringen.« Derikuna sah den Mann von oben herab an. Der Haushofmeister zögerte. Er schien etwas einwenden zu wollen, doch dann verbeugte er sich ehrerbietig. »Sehr wohl.« Der Haushofmeister warf einen Blick auf den Stirnreif in Florels Haar und klatschte in die Hände. Ein Page kam in den Raum und verbeugte sich tief. »Ihre Befehle?« »Wir haben einen Edelmann zu Gast. Bring ihm auf der Stelle eine Erfrischung.« Der Haushofmeister deutete einladend zum Tisch. »Möchten Euer Gnaden hier warten?« Florel nickte und setzte sich an den Tisch. Er blickte dem Haushofmeister belustigt nach. Der Stirnreif des alten Grafen war wirklich unwiderstehlich, dachte er. Selbst die Haushofmeister mächtiger Burgen verneigten sich vor ihm. Und, so dachte Florel weiter, zu gegebener Zeit würde sich auch der Herr dieser Burg davor verneigen. Der Page kam mit einem Krug Wein und feinem Gebäck. Florel ließ es sich schmecken. Der Haushofmeister kehrte zurück, verbeugte sich und wartete höflich, bis Florel den Becher ausgetrunken hatte. Dann führte er den Gast durch einen langen Gang und öffnete eine schwere Doppeltür. »Florel, der Sohn Konewars«, verkündete er zeremoniell. Der Herzog warf einem seiner Hunde einen Knochen zu, schob
seinen Teller beiseite und blickte auf. Florel trat ein paar Schritte vor und blieb mit einer tiefen Verbeugung stehen. »Eure Durchlaucht.« Er richtete sich wieder auf und sah den forschenden Blick des Burgherrn. Nach einer Weile nickte dieser. »Euer Kommen ist uns nicht angekündigt worden.« Florel lächelte. »Ich bin allein und inkognito gereist, Exzellenz. Ich mache seit ein paar Jahren ausgedehnte Reisen, um die Welt kennenzulernen.« Er schlug den Blick nieder. »Ich bin gestern abend spät in Ihrer Stadt eingetroffen und wollte mich erst des Reisestaubs entledigen, bevor ich Ihnen meine Aufwartung machte.« »Sehr gut. Die gewissenhafte Einhaltung gesellschaftlicher Verpflichtungen ist der Beweis einer guten Familie und Erziehung.« Der Herzog betrachtete Florels Gewand. »Sagen Sie, junger Mann, tragen bei Ihnen eigentlich alle Edelmänner eine derartige Ausrüstung?« Florel legte die Hand an den Stirnreif. »Nur die Mitglieder alter Familien, Durchlaucht.« »Aha.« Der Herzog nickte nachdenklich. »Wir haben schon von euren Modegepflogenheiten gehört; allerdings hat sich noch kein Edelmann aus Ihrer Gegend bei uns sehen lassen. Wir liegen hier etwas abseits.« Er musterte den jungen Mann mit einem durchdringenden Blick. »Den Gerüchten zufolge tragen Sie diesen Schmuck nicht nur zur Zierde. Es heißt, diese Gegenstände würden dem Träger übermenschliche Kräfte verleihen. Stimmt das?« Florel zögerte einen Augenblick; dann fiel ihm die einzig richtige Antwort ein. Den Edelmann dieses östlichen Landes mußte es naturgemäß mit Besorgnis erfüllen, wenn hier plötzlich jemand auftauchte, dessen Kräfte die seinen erheblich überstiegen. Einen solchen Mann würde er nur widerstrebend an seinem Hof aufnehmen. »Ach, das«, erwiderte Florel leichthin. »Das
sind alles nur Gerüchte. In Wahrheit ist es nur den Mitgliedern alter Familien gestattet, den Stirnreif und den Gurt zu tragen. Selbst diese müssen ihre Tapferkeit im Kampf beweisen, ehe ihnen diese Ausrüstung verliehen wird. Dabei kommt ihnen natürlich ihre Abstammung zustatten.« Er lächelte gewinnend. Der Herzog nickte zufrieden. Er ließ sich zu einer kurzen Handbewegung herab. »Setzen Sie sich, junger Mann. Sie müssen eine Weile an unserem Hof bleiben. Wir möchten möglichst viel über ferne Länder erfahren.« Florel beglückwünschte sich insgeheim. Nicht nur in den Lagern der Reisenden, sondern auch bei Hofe war man Erzählungen und Reiseberichten gegenüber recht aufgeschlossen. Nun, davon hatte er einen beträchtlichen Vorrat auf Lager. Hier, im weit vom eigentlichen Zentrum des Königsreiches abgelegenen Dweros, würde er ziemlich viel berichten können.
Während der folgenden Tage und Nächte machte er sich beim Herzog wie auch in der Burg immer beliebter. Er verbrachte die meiste Zeit damit, seinen Zuhörern Geschichten zu erzählen. Dabei vergaß er nicht, Augen und Ohren offenzuhalten. Er war ständiger Besucher in der Burg, und eines Tages wurde ihm dort sogar ein Zimmer zur Verfügung gestellt. Außerdem wurde er eingeladen, an der Jagd teilzunehmen. Er stellte bald fest, daß die Jagd ein recht angenehmer Zeitvertreib war, solange es andere gab, die das Treiben übernehmen mußten. Die Erfahrungen, die er früher selbst als Treiber gemacht hatte, kamen ihm jetzt gut zustatten. Er kannte Verhaltensweise und Schliche des gejagten Wildes. Was er früher unter Zwang hatte lernen müssen, ebnete ihm jetzt den Weg nach oben. In kurzer Zeit erwarb er sich den Ruf
eines geschickten, waghalsigen Jägers. Endlich hielt er die Zeit für gekommen, ein ernstes Wort mit dem Herzog zu reden. Dieses Land lag am äußeren Rand des Königreiches. Im Norden hausten lediglich ein paar barbarische Stämme, die über Reisende herfielen und Dörfer ausraubten. Ehe die Soldaten des Herzogs eingreifen konnten, waren die Räuber mit ihrer Beute meistens wieder in den Schlupfwinkeln der Berge verschwunden. Florel kam zum Herzog, als dieser gerade den Bericht eines solchen Raubzuges las. »Diesen Ausschreitungen ließe sich Einhalt gebieten, Euer Durchlaucht. Es fehlt nur an einer starken Hand, die zur rechten Zeit am rechten Ort eingreift. Ein entschlossener Ritter, der sich am Fuß von Menstal niederläßt, könnte von dort aus sowohl die Furt als auch den Zugang zu den Bergen kontrollieren.« »Das ist richtig.« Der Herzog seufzte. »Aber die Berge von Menstal sind schwer zugänglich. Mehrere Ritter haben schon versucht, das Land zu beschützen, aber es ist ihnen nie nachhaltig gelungen. Ein kleiner Wachtturm auf dem Bergkamm ist auch jetzt noch besetzt, aber es findet sich kein Ritter mehr, der dort mit starker Hand für Ruhe und Ordnung sorgen möchte.« Florel lächelte. Mit Menstal und dem Fluß Nalen, der sich durch die Berge wand, hatte er längst eigene Pläne. »Ich glaube, die Kaufleute, die ihre Waren auf dem Nalen transportieren, würden einen starken Schutz ebenso begrüßen wie die Reisenden auf den Landwegen.« »Und?« Der Herzog sah ihn nachdenklich an. »Vielleicht konnte man eine kleine Steuer erheben?« schlug Florel mit einem gewinnenden Lächeln vor. »Um genügend Mittel zum Unterhalt einer Garnison zu erhalten.« »Und wer sollte die Steuern eintreiben?«
»Das, Durchlaucht, könnte ich arrangieren. Ich verfüge über genügend Mittel, um dort für Unterkünfte für Soldaten zu sorgen. Und von dort aus könnten wir den räuberischen Bergstämmen das Handwerk legen.« »Lassen Sie mich darüber nachdenken.« Der Herzog spielte gedankenverloren mit seinem Becher. »Es stimmt«, murmelte er, »Menstal ist der Schlüssel zur Grenze. Die kleine Garnison da oben hat sich als kostspielig und ohnmächtig erwiesen.« Er stellte den Becher auf den Tisch und sah sich im Raum um. Schließlich kehrte sein Blick zu Florel zurück. »Sie haben unsere Genehmigung zur Durchführung Ihrer Pläne«, sagte er. »Wir übertragen Ihnen das gesamte Grenzgebiet am Menstal.«
Konar stand vor dem Burgtor. Er wußte, daß sie nur durch Zufall vom Vorhandensein der Gegenstände erfahren hatten. Die Ostküste des Landes war ihnen natürlich bekannt, aber irgendwie war es den zur Suche ausgeschickten Männern entgangen, daß der alte Graf diese Ausrüstungsstücke besaß. Konar zuckte die Achseln. Gleichgültig, wie er in ihren Besitz gelangt war, es schien weithin unbekannt zu sein, daß er sie besaß. Na, dachte er, wenigstens wissen wir es jetzt. Es dürfte nicht schwer sein, das Zeug einzusammeln und mitzunehmen. Zwei Wachen standen am Tor. Einer der Männer lehnte mit dem Rücken an der Mauer. Er blickte zum Dorf hinunter, ohne Konar auf dem Weg zu sehen. Konar lächelte. »Nur gut, daß ich den Körperschild auf stärkste Leistung gestellt habe, sagte er sich. Der arme Kerl würde einen Heidenschreck bekommen, wenn er mich sehen könnte!« Der Posten gähnte und rutschte an der Mauer auf den Boden, wo er sitzen blieb. Der andere Posten sah ihn an.
»Wenn der alte Marnio dich erwischt«, warnte er, »setzt es wieder Hiebe.« Der andere gähnte ausgiebig. »Er döst bestimmt drinnen im warmen Wachhaus vor sich hin und wird nicht so bald herauskommen.« Konar lächelte. Der Mann nahm es mit seinen Vorschriften nicht allzu genau. Das erleichterte ihm die Aufgabe. Er drückte auf einen Knopf seines Kraftfeldgenerators und schwebte ein paar Zentimeter über dem Pflaster zwischen den beiden Wachen hindurch. Er achtete dabei darauf, daß sie keinen Luftzug spürten. Sobald er in der Burg war, wollte er keine Zeit verlieren. Er hatte vor, in den Gemächern des Grafen zu warten, bis dieser eingeschlafen war. Ohne von Knechten und Dienern gesehen zu werden, schwebte er über den Burghof. Das innere Tor war bereits für die Nacht geschlossen, und er schwebte ohne weitere Umstände über die Mauer. Er sah sich um und sagte sich, daß die Gemächer des Grafen in dem Holzgebäude im inneren Burghof liegen dürften. Er schwebte darauf zu und runzelte die Stirn. Die Fenster waren geschlossen. Er mußte durch die Tür hinein, aber in der Öffnung unterhielt sich gerade ein junger Mann mit einem Mädchen. Ihm blieb keine andere Wahl, als zu warten. Irgendwann würden sie die Tür räumen, und dann konnte er hineinschweben und warten, bis der Graf eingeschlafen war. Alles andere war dann nur noch reine Routine. Er würde dafür sorgen, daß der Graf nicht aufwachte, die gesuchten Gegenstände mit einem mitgebrachten Strahler deaktivieren, den Raum verlassen und das Fenster hinter sich schließen. Am Morgen würde der Graf nichts von dem ungebetenen Besuch bemerken. Er würde sich sagen, daß seine Wunderwaffen durch irgendeinen okkulten Zauber ihre
Wirkung verloren hatten. Konar lauschte auf die Unterhaltung der beiden jungen Menschen in der Türöffnung. Der junge Mann berichtete dem Mädchen gerade von seinen letzten Jagderfolgen. Morgen würde er den Ehrengast des Grafen auf der Jagd begleiten. »Ich kann ihm die besten Reviere zeigen«, brüstete er sich. »Der Graf hat gut daran getan, mich dem Herzog als Begleiter mitzugeben.« Das Mädchen warf den Kopf in den Nacken. »Wenn du schon ein so großartiger Jäger bist«, sagte sie, »dann kannst du vielleicht meine Brosche finden, die ich drüben im Garten verloren habe.« Sie wandte sich um und deutete auf die Rosensträucher und Blumenbeete auf der anderen Seite des Burghofes. Ihr Blick war in diesem Augenblick genau auf Konar gerichtet. Sie war ein hübsches Mädchen, dachte er anerkennend. Das Mädchen hatte eine schlanke Figur und ein dunkles Haar. Irgendwie hob sie sich von allen anderen Mädchen dieses Landes ab. Möglicherweise waren ihre Vorfahren aus dem Osten gekommen, überlegte Konar, während er unsichtbar wartete. In diesem Augenblick riß das Mädchen Mund und Augen weit auf. Ihr Gesicht wirkte plötzlich gar nicht mehr hübsch. Sie stand wie angewurzelt da und starrte Konar an. Unvermittelt schlug sie die Hände vors Gesicht. Sie spähte zwischen den Fingern hindurch und begann zu schreien. Konar spürte eine plötzliche Schwäche, als würde sich das Entsetzen des Mädchens auf ihn übertragen. Ihr Schrei hallte in seinem Kopf wider und verdrängte jeden klaren Gedanken. Er kämpfte gegen die einsetzende Bewußtlosigkeit an, versank aber in einem dunklen Schacht. Allmählich löste sich die Dunkelheit um ihn herum auf. Ein greller Lichtschein kam, vor dem Konar die Augen schloß.
Er war jetzt wieder bei Bewußtsein, fühlte sich jedoch unfähig, die Augen zu öffnen. Der gleißende Lichtschein drohte ihn zu blenden. Er erschauerte, drückte das Kinn fest gegen die Brust und fand das Atmen ungewöhnlich schwer. So etwas hatte er noch nie erlebt. Er mußte unbedingt zu seinen Freunden zurückkehren. Er konzentrierte sich auf die Augenlider und bot seine ganze Willenskraft auf, sie zu öffnen. Von allen Seiten rannten Leute herbei und blickten vorwurfsvoll auf den jungen Mann, der das nahezu bewußtlose Mädchen in den Armen hielt. Sie schlug die Augen auf. »Das schreckliche Ding! Da drüben ist es!« Sie deutete auf Konar, den keiner sah. Wieder spürte er das unerträgliche Brausen in seinem Kopf. Seine Finger zuckten zur Tastatur seines Körperschilds, und er bemühte sich mit letzter Kraft, bei Bewußtsein zu bleiben – zumindest bis er den richtigen Kurs eingeschlagen hatte. Ehe er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, schwebte er bereits über der Erde. Er blickte auf die Burg hinunter, die wie ein Kinderspielzeug zu seinen Füßen lag. Ein Schauer durchlief seinen Körper. Sein Schädel brummte, und er schien die Schreie des Mädchens noch immer zu hören. »Ich weiß nicht, was es ist«, murmelte er vor sich hin, »aber ich hoffe, so etwas nie wieder erleben zu müssen.« Er entdeckte den Hügel, auf dem das getarnte Flugzeug wartete, und hielt darauf zu. Der Pilot blickte ihm bei seinem Eintritt entgegen. »Na, das nenne ich schnelle Arbeit«, sagte er. »Wie hast du denn …« Erst jetzt bemerkte er Konars schmerzverzerrtes Gesicht. »He, was ist? Du siehst aus, als wärest du am Ende der Kräfte.« Konar versuchte zu lächeln, aber es blieb ein recht kläglicher Versuch.
»Ich bin da in eine Sache geraten, Barskor«, murmelte er. »Konnte meinen Auftrag nicht durchführen. Ich weiß nicht, was da passierte, und kann nur hoffen, daß es nie wieder dazu kommt.« Barskor starrte ihn neugierig an. Dann wandte er sich um. »Chef!« rief er. »Irgend etwas ist schiefgegangen. Konar ist verletzt.«
Meinor hörte sich Konars Bericht an und schüttelte besorgt den Kopf. »Ich fürchte, Sie sind einem Transvisor begegnet. Wir hatten nicht damit gerechnet, so etwas auf diesem Planeten vorzufinden.« Er hielt inne. »Wir haben im Westen besonders darauf geachtet und keinen gefunden. Auf diesem östlichen Kontinent könnte es indessen eine ganze Menge davon geben. Sie erwähnten ja, daß dieses Mädchen aus dem Osten zu stammen schien.« Konar sah ihn neugierig an. »Ein Transvisor? Davon habe ich noch nie etwas gehört.« »Sie kommen nur äußerst selten vor – unter besonderen Bedingungen, die wir hier nicht erwarteten. Wenn man jedoch einen findet, kann man wetten, daß es noch mehrere gibt. Manche Familien sind erblich damit belastet. Es gibt Wesen mit den seltsamsten Talenten. Alter und Intelligenz spielen keine Rolle, aber es sind fast ausschließlich weibliche Wesen. Der Schutz des Körperschilds wirkt bei ihnen nicht, und sie können uns ganz schön in die Klemme bringen.« Er betrachtete Konar eingehend. »Sie haben noch einmal Glück gehabt, denn der Schock eines Transvisors kann auf der Stelle töten.« Konar zuckte zusammen. »Das glaube ich gern. Aber warum werden sie Transvisors genannt?« »Der Name ist beschreibender Art, wenn auch ziemlich unvollkommen. Wie gesagt, wirkt der Körperschild auf sie
nicht. Sie sehen in einem solchen Fall wie durch einen Schleier, und das verzerrt den Anblick natürlich. Es flößt ihnen Furcht ein, wenn sie jemanden mit einem aktivieren Körperschild sehen, den ihre Blicke durchdringen können – wenn auch verzerrt. Damit setzen die Schwierigkeiten ein.« Konar nickte. »Und sie können diese Furcht auf den Mann mit dem Körperschild übertragen?« »Ja. Sie bringen auch die Einstellung der Geräte durcheinander. Ihre Furcht kann für den erspähten Mann tödlich sein.« Meinora atmete tief ein. »Sie haben, wie gesagt, großes Glück gehabt. Die vorübergehende Ohnmacht des Mädchens ermöglichte Ihnen die Flucht.« Er wandte sich achselzuckend an Barskor. »Wir müssen unseren Plan ändern und die Ausrüstungsstücke des Grafen morgen während der Jagd in unseren Besitz bringen«, fuhr er fort. »Wir warten ab, bis er allein ist, und wenden Hypnose an. Das ist zwar nicht so gut wie unser ursprünglicher Plan, aber es muß auch so gehen. Achten Sie darauf, daß Sie allein sind, und schalten Sie unter keinen Umständen den Körperschild ein. Gehen Sie lieber das Risiko ein, gesehen zu werden. Es könnte leicht sein, daß ein weiterer Transvisor in er Nähe weilt.« Er stieß mit dem Fuß gegen ein Stuhlbein. »Es ist zwar nur eine zweitrangige Aufgabe«, setzte er hinzu, »aber es ist trotzdem gut, daß wir die Sache herausgefunden haben. Jetzt wissen wir wenigstens, woran wir sind, wenn es unsere Aufgaben auch erschwert. Körperschilde dürfen ab sofort nicht mehr eingeschaltet werden, denn sie könnten Selbstmord bedeuten. Wir werden auf andere Weise in Erfahrung bringen, in welchem Land hier während der vergangenen zwanzig Jahre merkwürdige Veränderungen eingetreten sind. Das alles werden wir dann überprüfen. Wir
haben also eine Menge Arbeit vor uns.« Er sah sich um. »Ciernar!« »Ja?« Der Mann an den Transmittergeräten blickte auf. »Schicken Sie dem Hauptquartier einen entsprechenden Bericht. Verschlüsselt.« Konar legte den Kopf auf die Seite. »Sie sagten, die Furcht des Transvisors wäre durch meinen Kommunikator verstärkt worden. Wenn ich nun aber keinen getragen hätte?« »Dann würden Sie gar nichts spüren.« Meinora lächelte. »Kommen Sie aber ja nicht auf dumme Gedanken. Ohne den Verstärker fehlt Ihnen die Kontrolle. Diese Kontrolle beruht auf psychischen und nicht auf physischen Kräften – oder haben Sie Ihre Lektionen schon vergessen?« »Aber wie ist es denn bei Ihnen? Sie benutzen doch auch keinen Verstärker. Das ist mir übrigens auch schon bei anderen Teamchefs aufgefallen.« Meinora zuckte die Achseln. »Wir brauchen ihn eben nur unter ungewöhnlichen Umständen. Immerhin schweben wir nicht herum, um irgendwelchen Transvisors Angst einzujagen. Uns könnten sie zwar nicht gleich umbringen, doch immerhin schaden. In mancher Beziehung sind wir eben besonders empfindlich.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, mein einziger Vorteil besteht darin, daß ich einen Transvisor an seiner geistigen Veranlagung erkenne – falls ich nahe genug herankomme. Es gibt da winzige Strahlungen, die man entdecken kann – auch ohne Verstärker. Wenn man es einmal gespürt hat, kann man es nie mehr vergessen.« Er brach lächelnd ab. »Sie dürfen mir glauben«, sagte er abschließend, »daß ich mich außerordentlich vorsichtig verhalte, wenn ich einem Transvisor begegne.«
Der Winter und der Frühling vergingen, und der Sommer kam. Wachoffizier Nal Gerda stand auf der kleinen Brücke unterhalb des alten Wachturms. Sein Blick streifte die gegenüberliegenden Klippen und richtete sich dann auf den Himmel. Nur ein paar vereinzelte weiße Wölkchen waren zu sehen. Die helle Morgensonne vertrieb die dunklen Schatten der Nacht. Bis zur Wachablösung würde es nicht mehr lange dauern. Gerda streckte sich und atmete die frische Morgenluft tief ein. Nach den langen, kalten Wintermonaten konnte man sich jetzt endlich wieder in der Sonne räkeln. Er betrachtete die grüne Vegetation auf den Bergen und blickte dann auf den Nalen hinunter, der sich durch das Menstal-Gebirge wand. Das Wasser war von tiefblauer Farbe. Der Posten rief von seinem Ausguck herunter, und der Offizier wirbelte herum und warf einen Blick auf die Kette, die sich über den ganzen Fluß spannte. Dann sah er wieder auf den Fluß hinunter. Eine lange Barke kam um die Flußbiegung in Sicht. Ein paar Männer stießen die Barke geschickt vom Steilufer ab und hielten sie auf Kurs. Nal Gerda streifte schlagartig alle romantischen Empfindungen ab und wandte sich dem Wachraum zu. Nach den Geräuschen zu schließen, waren die Posten an den vorgeschriebenen Stellen. Schnelle Schritte ertönten, und irgendwo schepperte Metall. »Wache heraustreten!« befahl Gerda, der sich seiner Verantwortung als Wachoffizier voll bewußt war. Schwerbewaffnete Männer kamen heraus. Ein paar Knechte folgten. Der Führer der kleinen Gruppe salutierte mit erhobener Hand. »Die Wache ist bereit, Hauptmann«, verkündete er. »Mögen es lohnenswerte Steuerabgaben werden.« Gerda erwiderte den militärischen Gruß.
»Bestimmt«, versetzte er im Brustton der Überzeugung. »Die Händler haben inzwischen gelernt, daß es sich nicht lohnt, kleinlich zu sein. Das werden sie nicht vergessen.« Die Parke legte auf Gerdas Handbewegung hin am Landesteg an. Ein Mann sprang auf den Steg und befestigte die Barke mit einem Tau. Der Steuermann kletterte ebenfalls auf den Steg und blieb unmittelbar vor Gerda stehen. Er verschränkte die Arme und verbeugte sich ehrerbietig. »Wünschen Euer Ehren, die Ladung zu besichtigen?« »Natürlich.« Gerda musterte den Mann mit einem hoheitsvollen Blick von Kopf bis Fuß. »Rasch – ich habe nicht viel Zeit zu verlieren.« Er blickte auf den Zahlmeister, der ein Tablett in der Hand hielt. »Dein Name, Händler?« »Teron aus Krongert, wenn’s beliebt, Herr. Ich bin bereits …« Gerda machte eine ungeduldige Handbewegung. »Erspar mir deine Redensarten, Feilscher«, sagte er kurz angebunden. »Wie hoch ist der Wert deiner Ladung?« »Sechstausend Teloa, Euer Ehren. Wir haben …« »Abladen! Ich werde mir alles ansehen!« Gerda gebot dem Mann mit einer Handbewegung zu schweigen. Die Warenballen wurden auf den Landesteg gelegt, und Gerda unterzog sie einer genauen Überprüfung. Einige ließ er nach ein paar kurzen Fragen zur Seite stellen. Andere ließ er öffnen und den Inhalt ausbreiten. Nachdem er sich ein Bild vom Wert der Ladung gemacht hatte, wandte er sich um. »Was schätzt du, Händler?« »Ich bin bereit, Euer Ehren«, antwortete der Mann, »ein Zehntel der Ladung zu zahlen.« Er streckte einen Lederbeutel aus. »Feilsch nicht mit mir!« herrschte Gerda ihn an. »Du weißt doch genau, daß die Abgabe ein Fünftel beträgt.« Seine Hand glitt an den Schwertgriff.
Das Gesicht des Händlers wurde länger, und er hielt dem Offizier einen zweiten Lederbeutel entgegen. »Bitte um Vergebung«, murmelte er demütig. »Ich bin neu in diesem Gebiet.« »Dann sieh zu, daß du die Gewohnheiten dieses Landes recht schnell lernst.« Gerda übergab die beiden Säcke dem Zahlmeister. »Zähl nach, Lor!« befahl er. »Meiner Berechnung nach müssen es tausendsechshundert Teloa sein.« Der Händler sah ihn bestürzt an. »Euer Ehren«, jammerte er, »der Wert meiner Ladung ist nicht höher als sechstausend, das schwöre ich.« Gerda schnellte vor und knallte dem Händler den Handrücken ins Gesicht. Seine schweren Goldringe hinterließen blutige Spuren auf der Haut. Der Mann wankte zurück und hielt sich die Hand an die verletzte Wange. Ein paar Soldaten hoben ihre Lanzen. Der Händler riß sich zusammen, verschränkte die Arme und verbeugte sich demütig. Er nahm keine weitere Notiz von dem schmalen Blutfaden, der über sein Kinn rann und auf die Kleidung tropfte. »Willst du meine Entscheidung anzweifeln?« Gerda hob die Hand zu einem weiteren Schlag. »Hier wird nicht gefeilscht. Für deine Unverschämtheit zahlst du weitere fünfhundert Teloa. Los – rasch!« Der Händler schüttelte verwirrt den Kopf, wagte jedoch keinen weiteren Protest. Schweigend kramte er einen dritten Ledersack hervor. Er wog ihn in der Hand ab, zog ein paar Geldstücke heraus und gab dem Wachoffizier den Sack. Gerda wandte sich um. Lor war unterdessen in den Wachraum gegangen, um den Inhalt der beiden Säcke zu zahlen. »Lor! Komm heraus! Ich habe hier noch mehr zu zählen!« Er warf dem Zahlmeister den Sack zu und starrte den
unglücklichen Händler an. Nach einer Weile stieß er mit der Stiefelspitze gegen den nächsten Warenballen. »Tragt das Zeug vom Landesteg! Worauf wartet ihr noch?« Er sah zu, wie die Ballen verladen wurden, und wandte sich um. Lor kam aus dem Wachraum. »Alles in Ordnung, Hauptmann.« »Gut.« Gerda warf ihm einen wohlwollenden Blick zu und wandte sich erneut an den Händler. »Wir werden uns deinen Namen merken, Händler. Achte in Zukunft auf genauere Wertangaben. Das nächste Mal werden wir keine Gnade mehr walten lassen. Der Kerker von Menstal ist nicht gerade ein besonders angenehmer Aufenthaltsort.« Er wartete, bis der letzte Ballen verladen war, und nickte kurz. »Ihr könnt den Weg fortsetzen«, sagte er und wandte sich dem Wachtturm zu. »Kette öffnen!« befahl er mit lauter Stimme. Die Winde kreischte, und die schwere Kette versank im Wasser. Die Barke legte vom Landesteg ab und glitt durchs Wasser. Sofort bedienten die Knechte die Winde und spannten die Kette wieder über den Fluß. Gerda überzeugte sich, daß alles in Ordnung war, und ging ins Wachhaus. Er betrachtete die Ledersäcke auf dem Tisch. »Diese Rindviecher glauben, sie könnten den Baron Bel Menstal um die ihm zustehenden Steuern betrügen«, knurrte er. Er ging hinaus, sah der Barke nach und betrat den Turm. Er öffnete die Ledersäcke, schüttete den Inhalt aufs Tablett und zählte die Geldstücke nach. Es waren achtundvierzig zuviel. Er wandte sich an den Zahlmeister. »Wieviel hast du gezählt, Lor?« »Zweitausendeinhundertachtundvierzig, Sir.« »Ausgezeichnet.« Gerda lächelte vor sich hin. »Diesem diebischen Händler haben wir ein schönes Schnippchen geschlagen.« Lor breitete die Hände aus.
»Das bekommt er in Orieano mit Zins und Zinseszins zurück.« »Oh, sicher.« Achselzuckend schob Gerda die Münzen in die Lederbeutel. Er nahm drei kleine Hölzer zur Hand, schrieb die Menge darauf und trat an eine schwere Kiste. Er zog einen Schlüssel aus einem Gurt, sperrte das Schloß auf und öffnete den Deckel. Er warf einen Blick auf die bereits in der Kiste liegenden Geldbeutel und warf die neuen darauf. Als er die Kiste wieder versperrte, sah er Lor die entsprechenden Eintragungen in die Liste machen. Der Wachoffizier streckte sich und warf einen Blick auf die Kette. Die Knechte hatten die Winde wieder ordnungsmäßig verkeilt. Jetzt hockten sie an der Mauer und starrten mit den typisch leeren Blicken von Knechten vor sich hin. Im Wachraum herrschte peinlichste Sauberkeit. Gerda ging achselzuckend hinaus zum Landesteg. Sein Blick streifte die gegenüberliegenden Klippen und richtete sich dann über den Fluß. Die Barke war verschwunden.
Jenseits von Menstal bahnte sich der Nalen nur mühsam einen Weg zwischen den steil aufragenden Klippen hindurch. Weiter hinten nahm er im flachen Land die breite Form eines ruhig fließenden Stromes an, aber hier in den Bergen gab es viele gefährliche Stromschnellen. Die Männer hielten die Barke mit ihren langen Stangen genau auf Kurs. Der Steuermann hielt das Ruder mit einer Hand umklammert und fuhr sich mit der anderen über die Wunde im Gesicht. Er steuerte die Barke ans Ufer und trat vor, als der Sand unterm Kiel knirschte. Er schob die Hand unter eine Sitzbank und zog ein kleines Kästchen hervor. »Konar«, sagte er, »bring die Sache rasch in Ordnung.« Er öffnete das Kästchen und legte es auf die Bank.
Einer der Männer legte die Stange aus der Hand und kam zum Steuermann. »Ein scheußlicher Schlag, was, Sir?« Er griff in das Kästchen. Meinora grinste. »Der Bursche hat einen ganz schönen Schlag«, räumte er ein. »Im ersten Augenblick war mir buchstäblich schwarz vor Augen. Um ein Haar hätte ich die Beherrschung verloren.« Konar zog die Augenbrauen hoch. »Das habe ich gespürt«, sagte er. »Nur gut, daß Ciernar und ich Ihnen den Rücken gedeckt haben. Schließlich hätte es wenig Sinn, unsere Pläne schon in diesem Stadium der Dinge zu verraten, nicht wahr?« »Wenn Sie mich fragen«, fügte er hinzu, »haben die Händler keineswegs übertrieben.« Er trat mit einem Wattebausch in der Hand auf Meinora zu. »Halten Sie still«, bat er. »Es wird im ersten Augenblick ein bißchen brennen.« Er drückte den Wattebausch auf die Wunde und holte ein Instrument aus dem Kästchen. »Autsch!« Meinora zuckte zusammen. »Mußt du denn immer gleich alles übertreiben? Schließlich hätte ich ein paar Stunden warten können, bis die Wunde verheilt.« Kopfschüttelnd wischte er die Tränen ab, die ihm gegen den Willen in die Augen getreten waren. »Nein«, fügte er hinzu, »die Händler haben wirklich nicht übertrieben. Bel Menstal ist ein ziemliches Rauhbein, und seine Männer stehen ihm kaum nach. Na, wollen mal sehen, ob er der Bursche ist, der unsere Ausrüstungsstücke gestohlen hat.« Konar fuhr mit dem kleinen Instrument an der Wunde entlang. »Das haben Sie noch gar nicht erklärt.« »Ganz einfach.« Meinora grinste wie ein Wolf. »Bei diesen Geldstücken handelte es sich um die Vadris-Kendar-Sorte. Da sie sich jetzt außerhalb des Kraftfelds befinden, lösen sie sich bereits auf. In ein paar Stunden werden sie spurlos verschwunden sein, und das wird zu einer ganzen Reihe von
Fragen führen. Stell den Detektor ein. Wenn der Baron unser Mann ist, wird sich das bald auf unseren Skalen zeigen.«
Irgendwo auf der Höhe der Klippe wurde eine Glocke angeschlagen. Der heisere Ruf des Postens erscholl. »Wachablösung!« Nal Gerda blickte hinauf. Er sah eine Reihe von Männern die Stufen herunterkommen. Er nickte und ging in den Wachraum. »Alles zur Ablösung vorbereiten!« befahl er und wandte sich an die beiden Knechte. »Nehmt die Kiste und tragt sie vor mir her!« Die Männer stellten sich zur Wachablösung auf. Auf dem Nalen war zur Zeit alles ruhig. Die neue Wache kam die lange Treppe herunter und stellte sich unter dem Turmportal auf. Der Hauptmann inspizierte die Männer, gab seinem Zahlmeister ein Zeichen, trat auf Gerda zu und salutierte. »Besondere Vorkommnisse?« »Keine«, erwiderte Gerda. »Ich hatte sieben Barken in meiner Schicht. Die Händler versammeln sich in Orieano zum Jahresfest.« »Ich weiß«, murmelte der andere Offizier. »Bei diesem Treiben im Tal werden unsere Steuereinnahmen beträchtlich steigen. Gehst du auch zum Fest nach Orieano?« »Ich habe gestern erfahren, daß ich zur Begleitung des Barons abkommandiert worden bin. Na ja, wir wollen den Händlern ein wenig von dem Geld zurückgeben, das wir ihnen abgenommen haben.« »Ja.« Der andere Offizier grinste, wurde aber sofort wieder dienstlich. »Bereit zur Übernahme der Wache.« »Gut.« Gerda salutierte und wandte sich um. »Alte Wache abziehen!« befahl er.
Die Männer kletterten die Stufen hinauf. Die beiden Knechte mit der Kiste folgten, und Gerda bildete die Nachhut. Langsam erklommen sie die Höhe und legten unterwegs eine kurze Rast ein. Bald öffnete sich das Burgtor vor ihnen. Die beiden Posten salutierten. Gerda nickte seinem Zahlmeister zu, nahm die Liste in Empfang und folgte den beiden Knechten mit der Kiste in die Burg. Sie stellten die Kiste in einem großen Raum ab, und der Haushofmeister trat herzu. »Wie waren die Einnahmen?« »Verhältnismäßig gut, Herr. Sieben schwerbeladene Barken sind während der Nacht durchgekommen.« Er hielt dem Haushofmeister die Liste hin. Dieser las die einzelnen Eintragungen ab. »Meron aus Vandor … ja, das dürfte stimmen. Und Borowa? Tausend?« Er nickte nachdenklich. »Dürfte ebenfalls stimmen.« Er blickte auf den letzten Namen er Liste. »Wer ist denn dieser Teron? Habe noch nie von ihm gehört. Muß eine ziemlich wertvolle Ladung gehabt haben.« Gerda lachte. »Für mich war er auch neu. Versuchte es erst mit einem Zehntel und allerlei Ausflüchten. Dafür habe ich ihm fünfhundert extra abgeknöpft.« »Oho!« Der Haushofmeister lächelte. »Und dann?« Gerda schüttelte den Kopf. »Oh, er beeilte sich plötzlich so sehr mit der Zahlung, daß er mir achtundvierzig Teloa mehr gab. Na, ich habe mir den Burschen jedenfalls gemerkt.« Er betrachtete seine angeschlagenen Knöchel, zog den Schlüssel aus dem Gurt und öffnete die Kiste. »Sie werden die Einnahmen natürlich überprüfen?« »Oh, ja, sicher. Man kann ja nie wissen. Außerdem steht die Geldstrafe und der überbezahlte Betrag Ihnen zu.« Der Haushofmeister hob die einzelnen Lederbeutel aus der Kiste
und stellte sie auf den Tisch. Unvermittelt hielt er inne und starrte bestürzt in die Kiste. »Was ist denn das hier?« Er holte drei augenscheinlich leere Lederbeutel aus der Kiste. Sie waren oben vorschriftsmäßig zugebunden. Er schüttelte sie und sah Gerda fragend an. »Aber … ich … ich weiß es nicht.« Gerda starrte die Lederbeutel ungläubig an. »Ich hatte keine überflüssigen Lederbeutel.« »Das glaube ich auch nicht.« Der Haushofmeister winkte zwei schwerbewaffnete Posten heran. »Wir werden das untersuchen.« Er nahm einen der Lederbeutel und öffnete ihn. »Borowa«, murmelte er mit einem Blick in den Beutel und auf die Liste. Er wog den Beutel in der Hand ab. »Ja, das scheint zu stimmen. Jedenfalls kein Übergewicht.« Er überprüfte die Lederbeutel der Reihe nach. Dann blickte er auf. »Natürlich muß ich das alles noch einmal genau überprüfen«, versetzte er grimmig, »aber ich sehe kein einziges Geldstück von diesem auf der Liste angeführten Teron.« Er musterte Gerda mit einem kalten Blick. »Und die anderen Posten bestätigen, daß Sie insgesamt sieben Barken abfertigten. Das war ein ziemlicher Betrag. Was haben Sie mit dem Geld gemacht?« »Nun, ich habe es gezählt, und es hat gestimmt.« Gerda schüttelte ungläubig den Kopf. »Meine Summe stimmte genau mit der des Zahlmeisters überein. Ich habe die Markierungen in die Lederbeutel gelegt und diese verschlossen.« Er warf einen unsicheren Blick auf die beiden Posten, die ihn in die Mitte genommen hatten. »Sie werden doch nicht etwa annehmen, daß ich mich an den Steuern des Barons bereichern wollte? Denken Sie doch mal, Mann! Ich kenne die Methoden des Barons!« »Ich weiß überhaupt nicht, was ich denken soll … noch nicht.« Der Haushofmeister schüttelte den Kopf. Er öffnete einen der leeren Lederbeutel und schüttelte ihn. Das kleine
Holzstück fiel heraus. Er nahm es und verglich es mit der Eintragung auf der Liste. Nachdenklich runzelte er die Stirn und öffnete die beiden anderen Lederbeutel. Auch hier fielen die kleinen Holzstücke heraus. Er blickte eine Weile auf die Lederbeutel, warf sie zur Seite und sah den Wachoffizier kalt an. »Das ist Hexerei!« rief Gerda. »Ich hatte nichts …« »Wir werden sehen.« Der Haushofmeister gab den beiden Posten ein Zeichen. »Durchsucht diesen Mann!« Gerda stand wie betäubt, während die beiden Posten seine Kleidung genau durchsuchten. Als sie fertig waren und nichts gefunden hatten, fingen sie noch einmal von vorn an. Sie legten alles, was Gerda in den Taschen hatte, auf den Tisch. Einer der beiden Posten sah Gerda an und wandte sich dann an den Haushofmeister. »Er hat nichts bei sich, Sir, nicht einen einzigen Teloa.« »Ah.« Der Haushofmeister blickte Gerda stirnrunzelnd an. »Sie können Ihre Sachen wieder an sich nehmen, Hauptmann. Besteht die Möglichkeit, daß der Zahlmeister die Geldkiste geöffnet hat?« Gerda schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht recht vorstellen, wie er das hätte schaffen sollen. Es sei denn, er besitzt einen zweiten Schlüssel zum Schloß, und das halte ich kaum für möglich. Ich habe die Kiste die ganze Zeit über verschlossen gehalten und den Schlüssel bei mir gehabt.« »Besteht die Möglichkeit, daß einer Ihrer Männer etwas auf dem Marsch zur Burg versteckt haben könnte?« Gerda schüttelte erneut den Kopf. »Nein«, versetzte er nachdrücklich. »Ich war ununterbrochen hinter ihnen, und das wäre mir bestimmt aufgefallen.« »Na schön.« Der Haushofmeister klatschte in die Hände.
Eine Tür wurde geöffnet, und ein paar Männer der Burgwache traten ein. Der Anführer der kleinen Schar kam auf den Haushofmeister zu und salutierte. »Draußen wartet die alte Flußwache«, sagte dieser. »Entwaffnet sie, sperrt sie in eine Zelle und durchsucht sie genau. Ein erheblicher Geldbetrag ist gestohlen worden. Meldet euch bei mir, sobald ihr alles durchgeführt habt.« »Jawohl.« Die Männer traten ab. Der Haushofmeister wandte sich wieder an Gerda. »Diese Angelegenheit muß sorgfältig untersucht werden«, erklärte er. »Natürlich könnten Sie einer Hexerei zum Opfer gefallen sein, aber da ich so etwas noch nie erlebt habe, möchte ich das stark bezweifeln. Vielleicht hat sich einer Ihrer Männer eine besondere List ausgedacht. So etwas kommt immer wieder vor. Dann wäre da natürlich noch eine andere Möglichkeit.« Er rieb sich das Kinn. »Immerhin brauchten Sie nicht zu befürchten, von Ihren Männern beobachtet zu werden.« Gerda sah ihn ängstlich an. »Möglicherweise wird sich der Baron selbst dieser Sache annehmen«, fügte der Haushofmeister hinzu. Er musterte Gerda durchdringend. »Wie lange stehen Sie schon im Dienst des Barons?« »Aber das wissen Sie doch. Seit zehn Jahren, als ich damals …« »Ja, ich erinnere mich. Und Sie wissen, daß jeder Versuch, den Baron zu betrügen, zum Scheitern verurteilt ist?« »Ja.« Gerda schluckte ein paarmal. »Dennoch behaupten Sie, nichts mit dem Verschwinden des Geldes zu tun zu haben?« Gerda breitete die Hände aus. »Ich kann es nicht verstehen, aber ich habe nichts damit zu tun. Wir haben das Geld in Empfang genommen, gezählt, in die Liste eingetragen, und dann habe ich die Lederbeutel in die Kiste gelegt und
zugesperrt.« Er schüttelte abermals den Kopf. »Die reinste Hexerei, Herr.« Der Haushofmeister lehnte sich zurück; ein feines Lächeln spielte um seine Mundwinkel. »Hexerei ist etwas für die Knechte«, erwiderte er, »aber wir beide sind doch intelligente Männer. Es ist schon wiederholt Geld verschwunden, und jedesmal wurde behauptet, es wäre Hexerei. Doch wir haben stets eine Erklärung gefunden, die nichts mit übersinnlichen Dingen zu tun hatte.« Er schnippte mit den Fingern. Ein Page kam heran. »Ein Glas Wein«, ordnete der Haushofmeister an. »Bei diesem Verhör bekommt man Durst.« Er wandte sich wieder an Gerda. »Ja, wir haben stets eine Erklärung gefunden. Gewöhnlich war mir das vorbehalten – und natürlich den Männern meiner Burgwache. Der Täter ist in jedem Fall bestraft worden. Manchmal gab er jedoch erst klein bei, wenn der Baron sich persönlich einschaltete.« Er hielt inne und beugte sich ein wenig vor. »Wissen Sie, was dann kam?« Gerdas Kehle war wie ausgetrocknet. Er öffnete den Mund, schloß ihn aber gleich wieder. Der Page kehrte mit einer Flasche Wein und einem Becher zurück. Er schenkte ein und stellte den Becher vor den Haushofmeister. Dieser nahm einen tiefen Schluck und stellte den Becher mit einem zufriedenen Seufzer auf den Tisch zurück. »Danke, mein Junge. In unseren Bergen wächst in der Tat ein köstlicher Wein.« Er wischte sich den Mund ab und wandte sich wieder Gerda zu. Langsam schüttelte er den Kopf. »Der Baron kann innerhalb einer Sekunde Schuld oder Unschuld feststellen. Es dauert nicht lange, bis er dem Schuldigen ein volles Geständnis entlockt. Anschließend wird er den Folterknechten ausgeliefert.« Er führte den Becher erneut an die Lippen. »Manche von ihnen haben es bis zu zehn
Tagen ertragen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe nie begreifen können, wie diese rauhen Burschen das ständige Geschrei und Gejammer ihrer Opfer ertragen können. Aber der Mensch gewöhnt sich nun mal an alles im Leben.« Er warf einen Blick auf die Tür. »Komisch«, murmelte er, »daß Maro so lange ausbleibt.« Er klatschte wieder scharf in die Hände und wartete. Der Page flitzte durch eine Tür und verschwand. Kurz darauf kehrte er zurück und hielt die Tür auf. Der Hauptmann der Burgwache trat ein und salutierte vor dem Haushofmeister. »Haben Sie schon etwas gefunden?« »Nein, Sir. Wir haben sie alle gründlich durchsucht, aber nichts finden können. Außerdem haben wir sie einem scharfen Verhör unterzogen. Alle bestreiten, irgend etwas bemerkt zu haben.« Der Haushofmeister seufzte. »Na schön, laßt sie in den Zellen. Ich werde sie später vorführen lassen.« Er stand auf, »Kommen Sie, Nal Gerda«, sagte er. »Wenn Sie mir nichts weiter zu sagen haben, werden wir uns zur Audienz zum Baron begeben.«
Florel, Baron Bel Menstal, ließ es sich gut gehen. Vor ihm auf dem Tisch stand eine Schüssel mit feinem Gebäck und daneben eine Flasche Wein mit einem Becher. Er sah sich zufrieden in seinem Zimmer um. Seit vierzehn Jahren war er hier nun schon Burgherr. Im Laufe dieser Zeit war sein Einfluß im Land gewachsen. Die Leute achteten und fürchteten ihn. In letzter Zeit sprach er im Rat des Herzogs ein gewichtiges Wort mit. Er war einer der größten Edelmänner im Lande. Er lächelte vor sich hin. Je mehr er an Einfluß gewonnen hatte, desto mehr war es mit Orieano, dem Besitzer der reichen Felder im Westen des
Landes, bergab gegangen. Der Mann war schon ziemlich betagt – und seine Tochter war die einzige Erbin. Beim Gedanken an diese Tochter huschte erneut ein versonnenes Lächeln um die Mundwinkel des Barons. Im nächsten Monat würde er beim Jahresfest von Orieano offiziell um ihre Hand anhalten und dadurch Herr der ertragreichen Ländereien und der Handelsstadt werden. Das Mädchen würde wahrscheinlich protestieren, doch das nützte ihr gar nichts. Er wußte, was sich mit Furcht alles erreichen ließ. Und er hatte die Macht, sogar starke Männer vor sich erzittern zu lassen. Orieanos hübsche Tochter würde ihn vor keine Probleme stellen. Niemand würde es wagen, sich ihm in den Weg zu stellen – und außerdem war er der Unterstützung des Herzogs sicher. Und der Herzog selbst? Na, vielleicht war es gut so, ihn sein Leben in Frieden beenden zu lassen. Doch sein Sohn sollte am Hof keinen Einfluß gewinnen. Ein Unfall ließ sich leicht arrangieren, und dann würde aus Flor, dem ehemaligen Knecht und Jagdtreiber aus Budorn, der Herr dieses großen Herzogtums werden. Er hatte die Pläne seit langem geschmiedet und brauchte nur noch darauf zu warten, daß die Zeit reif war. Er schenkte sich einen Becher Wein ein und blickte in die klare Flüssigkeit. Das Klopfen an der Tür riß ihn aus seinen Träumen. Ungeduldig starrte er auf den Haushofmeister, der sich an der Tür ehrerbietig verbeugte. »Was gibt’s denn, Weron? Mußt du mich denn wegen jeder Kleinigkeit belästigen?« »Es handelt sich um ein ungewöhnliches Problem, Exzellenz. Ein Teil der Steuereinnahmen ist spurlos verschwunden. Nur die leeren Geldbeutel waren noch vorhanden, und der Dieb hat …«
»Genug!« Der Baron machte eine ungeduldige Handbewegung und schob sich den goldenen Stirnreif zurecht. Seine Finger glitten über die Erhebungen. »Ja, ja, ich verstehe«, knurrte er. »Du kannst mir die Einzelheiten ersparen. Ist dieser Mann der Wachoffizier?« »Ja, Exzellenz.« Der Haushofmeister schob Gerda vor. Bel Menstal sah den Offizier streng an. »Wo hast du die Beute versteckt?« fragte er. Gerda starrte seinen Gebieter ungläubig an. Er hatte nichts gestohlen. Seines Wissens hatte er nicht das geringste Unrecht getan. Dennoch kam es ihm vor, als wäre er von vornherein für schuldig befunden und verurteilt worden. Irgendeine Last senkte sich auf sein Bewußtsein, um ihn zu einem Geständnis zu zwingen. Obwohl er nichts zu gestehen hatte, ließ dieser Druck nicht nach. Gib es zu! Wie hast du es gemacht? Wo ist das Geld? Der Druck wurde unerträglich. Gerda begann zu wanken. »Ich weiß nicht, was passiert ist«, sagte er. »Ich habe …« Die Worte erstarben in seinem Hals, denn der Druck wurde immer unerträglicher. Er spürte einen stechenden Schmerz an der Kehle, und sein Kopf schien zu explodieren. Wie durch einen dichten Nebelschleier sah er die drohende Handbewegung des Barons. »Du behauptest, du hättest keine Ahnung, wie das Geld gestohlen oder welcher deiner Männer es an sich gebracht hat? Sehr unvernünftig von dir.« Du weißt etwas! Du mußt etwas wissen! Sag es! Gerda schüttelte verzweifelt den Kopf. Er brachte keinen Laut mehr hervor. Alles war so unklar. Er erinnerte sich, daß irgend etwas schiefgegangen war. Irgendwie hatte er seine Pflicht verletzt. Aber wie? Der Raum schien von dichtem Nebel erfüllt zu sein. Bruchstücke seiner letzten Schicht tauchten vor seinem geistigen Auge auf, um gleich wieder zu verschwinden. Momentan tauchten die Gesichter seines Zahlmeisters und seiner Männer aus dem Nebel auf und verschwanden wieder.
Der Raum drehte sich um ihn, und eine unwiderstehliche Kraft zerrte ihn zu Boden. Er fragte sich, wer er war, warum er hier war und was sich abgespielt hatte. Dann kam der Fußboden auf ihn zu, und er versank in einer undurchdringlichen Dunkelheit. Der Baron blickte auf die reglose Gestalt hinunter. »Schaff diesen Mann weg, Weron!« befahl er. »Er weiß nichts.« Er strich sich übers Haar. »Wenn er zu sich kommt, kannst du ihm irgendeine Arbeit in der Burg zuteilen – eine Tätigkeit, bei der er nicht zu denken braucht.« »Und die anderen Männer, Exzellenz?« »Oh, bring sie nacheinander herein. Einem von ihnen ist es gelungen, seinen Offizier zum Narren zu halten. Na, ich werde ihn entlarven.« Bel Menstal entließ seinen Haushofmeister mit einer kurzen Handbewegung, lehnte sich zurück und sah zu, wie zwei Männer den bewußtlosen Hauptmann hinausschafften.
»So, damit werden wir alle etwaigen Strahlen aus der Burg abfangen.« Konar richtete sich auf und blickte auf das Armaturenbrett. »Gut.« Meinora beugte sich vor und warf einen Blick auf die Skalen. »Wir wollen unser Augenmerk in erster Linie auf Strahlen durchschnittlicher Stärke richten.« »Jawohl. Bei dieser Einstellung können wir das Gerät vor einer Beschädigung durch zu starken Strahleneinfall bewahren.« »Richtig; du lernst sehr schnell.« Meinora nickte. »Na, dann wollen wir mal die Skalen beobachten. Ist der Lautsprecher eingeschaltet?« Konar warf abermals einen Blick aufs Armaturenbrett. »Diesmal habe ich es nicht vergessen.« Er grinste und warf einen Blick auf die verletzte Wange seines
Chefs. Die Wunde war schon so gut wie verheilt. In einer guten Stunde würde man kaum noch etwas davon bemerken. »Sagen Sie, Chef«, fragte er, »wie ist es eigentlich zu dieser Verletzung gekommen?« »Ich habe es darauf angelegt.« Meinora lächelte nachdenklich. »Ja, Sir, ich weiß. Aber zu welchem Zweck?« »Dieser Kontinent ist noch nie überprüft worden, und deshalb wollen wir etwas von seiner Kultur ermitteln. Wir wissen bereits eine ganze Menge, aber es fehlt doch noch allerlei. Wie reagieren die Bewohner zum Beispiel auf ein bestimmtes Anregungsmittel? Und wie stark muß dieses Mittel sein, um zu einer Reaktion zu führen? Die Antworten auf diese Fragen können wir uns zwar nicht von jedem einzelnen Bewohner, aber doch aus den Gemeinden verschaffen.« Meinora breitete die Hände aus. »Ich habe diesen Wachoffizier also vorsätzlich gereizt, und er hat sehr schnell darauf reagiert. Er hat mich geschlagen, weil ich es wagte, seine Autorität in Frage zu stellen. Außerdem mußte er vor den Augen seiner Männer auf diese Weise reagieren. Andernfalls hätte er das Gesicht verloren. Seine Männer waren enttäuscht, daß es zu keiner weiteren Gewalttätigkeit kam. Damit wissen wir also, daß Gewalttätigkeiten in dieser Gegend des Landes zur Tagesordnung gehören, nicht wahr?« »Ja.« Konar nickte nachdenklich. »Sie sind nicht nur selbst gewalttätig, sondern erwarten das auch von anderen. Werden Sie diese Versuche auch in anderen Gegenden des Landes anstellen?« »Gewiß. Auf diese Weise …« Meinora wurde durch ein Geräusch des Lautsprechers unterbrochen. Er bediente einen Schalter und beugte sich vor. Eine Nadel begann zu zittern und schlug über die Skala hinweg kräftig aus. Meinora beobachtete den Ausschlag der Nadel und
schaltete ein weiteres Gerät ein. Er drehte an der Feineinstellung, bis die Nadel zur Ruhestellung kam. Er warf einen Blick auf die anderen Skalen, runzelte ungläubig die Stirn und wandte sich um. »Sieh dir das an«, sagte er. »Ein Wunder, daß er den Verstärker nicht durchgebrannt hat. Das Ding verträgt zwar kräftige Stromstöße, aber …« Konar warf einen Blick über die Schulter seines Chefs. »Was für ein immenser Ausschlag! Kein Zweifel, wir haben es gefunden. Aber was geht dort vor?« »Das werden wir gleich herausfinden.« Meinora bediente einen weiteren Schalter. Die beiden Männer beobachteten schweigend die Skalen. Nach einer Weile schaltete Konar das Gerät aus. »Brutale Kraftanwendung«, murmelte er vor sich hin. »Ohne auch nur die möglichen Folgen zu berücksichtigen.« Er schüttelte langsam den Kopf. »So etwas habe ich noch nie erlebt.« »Bei dieser Stärke ist es ein Wunder, daß er noch nicht alle Leute in der Burg um den Verstand gebracht hat«, bemerkte Meinora. Er schaltete den Detektor aus. »Einschließlich seines eigenen.« Konar nickte und blickte auf die Nadeln. »Jedenfalls steht fest, daß dieser Bursche keine Ausbildung bekommen hat.« Er trat zurück. »Er hat das Ding. Was nun?« Meinora runzelte nachdenklich die Stirn. Er rieb sich die unverletzte Wange und schüttelte den Kopf. »Wir haben diesen Wachoffizier in die Klemme gebracht und müssen nun irgendeine Therapie anwenden.« Er sah Konar an. »Oh, was nun?« »Ja. Nähern wir ihm uns allein wie beim letzten Fall? Das hat ausgezeichnet geklappt.« »Nein, in diesem Fall dürfte das nicht so gut klappen. Wie ich die Dinge sehe, ist dieser Mann ständig in Begleitung – nur nicht in seinem Zimmer. Er legt größten Wert darauf, die Leute
mit seiner Persönlichkeit zu beeindrucken.« Meinora warf einen Blick auf die Geräte und wandte sich an den jungen Mann an seiner Seite. »Mir ist da ein interessanter Gedanke gekommen. Vielleicht können wir diesmal zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Es wird ein wenig länger dauern, zahlt sich aber auf lange Sicht gesehen bestimmt aus.« Der Agent an den Transmittergeräten stand auf und kam herbei. »Wieder eine dieser besonderen Maßnahmen?« fragte er grinsend. Meinora nickte. »Ich denke da an einen hübschen kleinen schmutzigen Trick«, räumte er ein. »Es hat schon mal geklappt, wenn auch in kleinerem Umfang.« Er stand auf und streckte sich. »Das Jahresfest von Orieano steht vor der Tür, nicht wahr?« »Ja, es dürfte eine große Sache werden. Warum?« »Der Herzog wird natürlich mit dem größten Teil seines Hofes und seiner bewaffneten Männer daran teilnehmen, wie?« »Gewiß. So ist es noch immer gewesen, und das wird sich auch diesmal nicht ändern.« »Gut. Dann werden wir die entsprechenden Geräte in aller Öffentlichkeit aufstellen.« Meinora sah sich grinsend um. »Setzen Sie sich mit Barskor in Verbindung. Er soll uns mit dem Flugzeug abholen. Wir werden in den Wäldern südlich von Orieano landen. Alles Weitere sage ich euch unterwegs.«
Der letzte Posten der Flußwache wurde bewußtlos hinausgetragen. Bel Menstal lehnte sich stirnrunzelnd in seinen Sessel zurück. Unvermittelt wandte er sich an seinen Haushofmeister. »Keiner von ihnen hat etwas gewußt«, knurrte er. »Keiner! Irgend etwas stimmt hier nicht!« Das Gesicht des Haushofmeisters war abgespannt. Während der Verhöre wäre er fast zusammengebrochen. Fieberhaft
bemühte er sich, einen klaren Gedanken zu fassen. Zuviel war in den letzten Stunden auf ihn eingedrungen. »Jawohl, Exzellenz«, murmelte er. »Vielleicht ist es doch Hexerei.« Bel Menstals Gesicht wurde finster. »Unsinn!« knurrte er und richtete sich in seinem Sessel auf. »Zum Teufel mit Hexerei! Es gibt eine Erklärung für diese Sache, und ich werde sie finden.« »Jawohl, Exzellenz.« Der Baron blickte auf und sah den Mann verächtlich an. »Jawohl, Exzellenz«, äffte er ihn nach. »Immer nur ›Jawohl, Exzellenz‹. Hast du denn gar keine eigenen Gedanken?« »Jawohl, Exzellenz. Ich …« »Verdammter Narr! Ich sage dir doch, daß es eine Erklärung dafür gibt. Der dumme Aberglaube der ländlichen Bevölkerung hilft uns hier nicht weiter. Du hättest es längst herausbringen müssen. Aber nein! Du mußt hier eine ganze Wachschicht herbringen, die von mir verhört werden soll. Von mir, dem Baron! Ich muß hier alles selber machen – und für alle mitdenken. Ich verlange, daß meine Männer selbständig denken und handeln können.« Er sprang auf, ging um den Tisch herum und blieb unmittelbar vor dem Haushofmeister stehen. »Ich gebe dir noch eine letzte Chance, Weron. Geh hinaus und stelle fest, was aus dem Geld geworden ist. Es ist mir ganz gleich, wie du das anstellst, und ich will nicht länger mit deinen kleinen Problemen belästigt werden. Stell fest, was aus dem Geld geworden ist. Hast du verstanden?« »Jawohl, Exzellenz.« Weron wich zur Tür zurück. »Ich werde …« Wilde Wut stieg in Florel auf. Er wurde von einem unwiderstehlichen Drang zu Gewalttätigkeit ergriffen. Mit rascher Bewegung zog er den Dolch aus der Scheide.
»Du bist nicht nur ein Narr«, schäumte er, »sondern noch dazu ein Feigling! Ich glaube, ich muß mich nach einem neuen Haushofmeister umsehen – nach einem guten.« Er hob den Dolch und hielt inne. »Hier, du Schwächling! Du möchtest wohl gern damit zustoßen, was? Aber dazu fehlt dir der Mut. Deshalb bist du ein armseliger Lakai.« Unvermittelt warf er Weron den Dolch zu. »Versuch es mal, Dummkopf! Versuch es, damit du siehst, wie sich ein wahrer Mann zu verteidigen versteht.« Er trat auf den Haushofmeister zu. Der Mann wich ängstlich geduckt zurück. Plötzlich geriet er in Wut. Er holte mit dem Dolch zum Stoß aus. Bel Menstal, der mit seinem Körperschutz ausgestattet war, schlug den Dolch zur Seite. »Ha!« Er riß die Waffe an sich. »Du würdest es also tatsächlich versuchen?« Weron versuchte den Stoß mit erhobenen Armen abzuwehren. Die blanke Klinge bohrte sich in seinen Körper. Bel Menstal stieß noch ein paarmal zu. Dann warf er den Dolch auf die reglos am Boden liegende Gestalt. »He, Posten!« rief er durch die offene Tür. Er kehrte zu seinem Sessel zurück. Die Posten trugen den leblosen Haushofmeister hinaus. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloß, und Bel Menstal war wieder allein. Langsam klang die Erregung ab, und er schüttelte den Kopf. Es hatte ihn ein paar Minuten zerstreut, aber das Problem war damit noch immer nicht gelöst. War es möglich, daß ihn jemand aus seiner Heimat aufgespürt hatte? Er runzelte die Stirn. Nein, dann wären sicher andere Methoden angewandt worden. Er brauchte ja nur offiziell vor dem Herzog beschuldigt zu werden. Möglicherweise würde man seine Burg erstürmen, um ihn gefangenzunehmen. Nein, nein, hier mußten andere Kräfte im Spiel sein. Er mußte das alles gründlich durchdenken. Er
stemmte die Ellbogen auf den Tisch und stützte den Kopf mit den Händen.
Reges Treiben herrschte auf dem Marktplatz von Orieano. Bunte Zelte standen auf den Pflastersteinen, und die Menschenmassen wogten hin und her. Mit lauter Stimme boten die Händler ihre Waren feil und suchten die Konkurrenz zu übertreffen. Jongleure und Reiter führten ihre Künste vor, um Zuschauer in ihre Zelte zu locken. An einer Ecke des Platzes wurden Rinder verkauft. Einige Zuschauer blieben stehen, um zu feilschen. Andere setzten mit einem gleichgültigen Blick auf die Tiere den Weg fort. Hier und dort schob sich ein Taschendieb durch die Menge, um mit geschickten Fingern auf seine Kosten zu kommen. Der Herzog von Dwerostel kam auf den Marktplatz geritten. Die unruhigen Geräusche der Herde, das Geschrei der Verkäufer, die schlurfenden Schritte der Menge – das alles war die unüberhörbare Stimme des Festmarktes. Es klang wie Musik in den Ohren des Herzogs. Hier konnte allerlei beschafft werden, was den Komfort der Burg noch erhöhte. Außerdem war hier mit beträchtlichen Steuereinnahmen zu rechnen. An der Spitze seiner Begleitung ritt er über den Marktplatz. Das alles konnte er sich später in Ruhe ansehen; im Augenblick wollte er zur Burg von Orieano reiten, um sich nach dem Ritt zu erfrischen. Er blickte auf die Hügel über der Stadt. Überall flatterten bunte Fahnen im Wind. Er sah die Posten der Burgwache. Sein Kommen war in der Stadt nicht unbemerkt geblieben. Nachdem er den Marktplatz überquert hatte, erklomm er den gewundenen Pfad zur Burg.
Die Posten salutierten mit ihren Lanzen, während der Herzog und seine Begleitung einritten. Auf dem inneren Burghof zügelte die Gruppe des Herzogs ihre Pferde. Der Baron von Orieano kam ihnen entgegen, verbeugte sich und hielt die Steigbügel, während der Herzog abstieg. Der Baron deutete auf den Speisesaal. »Wollen Exzellenz uns die Ehre geben, an der Tafel Platz zu nehmen?« Der Herzog winkte einen Pagen heran und übergab ihm die Zügel seines Pferdes. »Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte er. Er nickte seinem Vasallen wohlwollend zu und folgte ihm in den Speisesaal. Sein Blick schweifte über die reichgedeckte Tafel, und er setzte sich auf das kleine Podest, das für ihn und den Baron aufgestellt worden war. Ein goldener Schimmer traf sein Auge, und er blickte neugierig auf zwei Männer, die ein Stück weiter unten an der Tafel saßen. Sie waren elegant gekleidet – offensichtlich zwei Edelmänner aus dem Westen des Landes. Einer der beiden trug einen goldenen Stirnreif. Irgendwie kamen ihm diese beiden westlichen Edelmänner eindrucksvoller vor als der Baron Bel Menstal, obwohl diesem eine gewisse Persönlichkeit nicht abzusprechen war. Er dachte an den Mann, der sein Land an der Grenze verteidigte. Der Weg von den Bergen hierher war ziemlich weit, dennoch berührte es den Herzog seltsam, daß der Baron noch nicht eingetroffen war. Er erinnerte sich an manchen finsteren Blick, der ihn auf dem Marktplatz gestreift hatte. Er nahm sich vor, ein ernstes Wort mit Bel Menstal zu reden. Möglicherweise ging der Mann bei der Eintreibung der Steuern zu hart vor. Zweifellos war es eine wertvolle Bastion gegen die Stämme der Ajerical, aber … Achselzuckend schlug er sich alle weiteren Gedanken daran
aus dem Kopf und wandte sich den auf der Tafel aufgestapelten Delikatessen zu.
Nachdem der Herzog den Anfang gemacht hatte, griffen auch die anderen Gäste an der Tafel zu. Konar wandte sich lächelnd an Meinora. »Er hat sie gut im Zug, was?« »Ja. Ein weiterer Anhaltspunkt bezüglich der kulturellen Entwicklung dieses Kontinents.« »Wann soll ich mit ihm reden?« »Sobald er gegessen und ein paar Becher Wein getrunken hat. Unser Freund wird nicht so bald eintreffen. Wir können ruhig abwarten, bis der Herzog ein paar Becher getrunken hat.« Klion Meinora betrachtete die vor ihm stehenden Schüsseln und wandte sich noch einmal an seinen Mitarbeiter. »Siehst du das Mädchen neben dem Baron?« »Sie meinen Orieanos Tochter?« »Ja. Du darfst sie auf keinen Fall durch irgendeine plötzliche Bewegung verängstigen.« »Meinen Sie …?« »Ja, es könnte deinen Tod bedeuten, wenn sie in panische Angst gerät.« Konar blickte auf das erhöhte Podest. Das Mädchen sah völlig harmlos aus. Sie hatte eine schlanke, attraktive Figur. Unwillkürlich erinnerte er sich an ein angstverzerrtes Gesicht, einen markerschütternden Schrei und an einen blendenden Lichtstrahl. Ein eiskalter Schauer huschte ihm über den Rücken, und er richtete seine Aufmerksamkeit schnell wieder auf die vor ihm stehenden Schüsseln. Florel Bel Menstal betrat den Speisesaal und blickte auf das Kopfende der Tafel. Der Herzog hatte seine Mahlzeit beendet,
saß aber noch an der Tafel. Er unterhielt sich angeregt mit Orieano. Da muß ich mich gleich einschalten, dachte Bel Menstal. Ohne von den anderen Gästen die geringste Notiz zu nehmen, trat er an den Kopf der Tafel. »Eure Exzellenz.« Er verbeugte sich. »Ich bitte mein verspätetes Eintreffen zu entschuldigen. Meine Männer mußten eine Steinlawine vom Weg räumen.« Er wandte sich an Orieano. »Sie sollten Ihre Knechte im Wegebau unterweisen lassen. Ihre Arbeit läßt sehr zu wünschen übrig.« Er wandte sich wieder an den Herzog. Dieser setzte seinen Becher ab. »Bel Menstal«, sagte er ernst, »zwei Edelmänner Ihrer früheren Heimat haben schwere Anklagen gegen Sie erhoben.« Er stand auf. »Folgen Sie mir in den Nebenraum.« Bel Menstal zögerte. Seine Männer warteten außerhalb der Burg. Es wäre ein Verstoß gegen die Etikette, sie in die Burg mitzubringen – besonders in Anwesenheit des Herzogs. Vielleicht sollte er versuchen, sich einen Weg nach draußen zu bahnen. Wenn er erst mal in seiner eigenen Burg war, konnte er jeden Angriff abwehren. Seine Männer konnten genügend Nachschub heranschaffen. Oder vielleicht wäre es besser … Er zwang sich zur Ruhe. Was konnten ihm diese beiden Männer denn schon anhaben? Vermutlich konnten sie keine Beweise gegen ihn erbringen. Mehr als zwanzig Jahre waren inzwischen vergangen. Er hatte längst die Gewohnheiten dieses Landes angenommen. Er war einer der engsten Vertrauten des Herzogs. Wie sollte es diesen beiden Männern möglich sein, seine einflußreiche Stellung zu erschüttern? Nein, er hatte nichts zu befürchten. Er brauchte nur einen Bluff anzuwenden, die Glaubwürdigkeit der beiden Männer zu erschüttern und seine eigene Position auf diese Weise für immer zu befestigen. Er streifte die beiden auf ihn zutretenden Männer mit einem verächtlichen Blick.
Sie trugen den offiziellen Hofstaat des westlichen Imperiums. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß sie tatsächlich aus dem Westen kamen. Doch er selbst gehörte jetzt zum Osten. Hier hatte er sich eine einflußreiche Stellung erworben, die er in Zukunft noch weiter ausbauen wollte, während diese beiden Männer Fremde waren. Wenn es hart auf hart kommen sollte, würde der Herzog es kaum wagen, sich gegen ihn zu stellen. Selbstbewußt schob er sich zwischen den beiden Fremden hindurch und folgte dem Herzog in den Nebenraum. Als der Herzog sich umwandte, trat einer der beiden Fremden vor. »Das ist der Mann, Exzellenz«, sagte er mit Nachdruck. »Er ist nicht von vornehmer Geburt, sondern ein Knecht, der seinen Gebieter ermordete und ausraubte. Wir haben viele Jahre nach ihm gesucht, denn sein Verbrechen war so ungeheuer, daß wir nichts unversucht lassen durften, ihn der gerechten Strafe zuzuführen.« Er wandte sich an Bel Menstal. »Flor, Knecht aus Budorn«, sagte er streng, »die Stunde der Abrechnung ist gekommen. Gib mir die gestohlenen Gegenstände zurück!« Der Herzog schaltete sich ein. »Gehen wir nicht ein bißchen zu schnell vor?« fragte er ruhig. »Er behauptet, der jüngste Sohn des Grafen von Konewar zu sein. Wollen mal hören, was er zu seiner Verteidigung vorzubringen hat.« Der Fremde nickte. »Davon haben wir erfahren, Exzellenz«, erwiderte er. »Das hat uns auf seine Spur geführt, denn es ist eine der großen Lücken in seiner Erzählung. Wir kennen den Grafen von Konewar. Es stimmt, daß er zwei Söhne hatte, aber der jüngste ist vor ein paar Jahren ums Leben gekommen.« Er hielt inne. »Ich kann noch einen weiteren Beweis antreten«, fügte er hinzu und deutete auf den goldenen Reif auf Florels Stirn. »Diese Rangabzeichen werden nur dem rechtmäßigen Erben übergeben. Keinem jüngeren Familienmitglied wurde je
gestattet, diesen Stirnreif und den Gurt zu tragen. Davon existieren nur noch wenige Exemplare. Ein Edelmann des Westens würde seinen Besitz niemals verlassen, um so weit zu reisen und in den Dienst eines anderen zu treten, selbst wenn er so hochgestellt ist wie Sie, Exzellenz.« Der Herzog sah ihn durchdringend an und wandte sich an Bel Menstal. »Diese Worte klingen wahr«, sagte er. »Können Sie diese Fragen beantworten? Haben Sie etwa die Tatsache ausgenutzt, daß wir nur wenig von den Gewohnheiten des Westens wissen?« Flor sah sich im Raum um. Vielleicht blieb ihm noch Zeit, um … Oder vielleicht konnte er mit diesen Fremden noch immer fertig werden. Nur einer von ihnen trug einen Stirnreif. Er richtete sich arrogant auf. »Diese Männer sind Betrüger!« erklärte er mit Nachdruck. »Als ich Konewar verließ, war mein Vater …« Meinora hob drohend die Hand. »Dein Vater war nie in Konewar, Knecht!« rief er scharf. »Dein Vater arbeitet nach wie vor auf den Feldern seines Gebieters von Budorn.« Flor riß sein Schwert aus der Scheide. Wenn er diesen Mann erschlug, konnte er in der anschließend einsetzenden Verwirrung vielleicht fliehen. »Das war die letzte Beleidigung«, knurrte er. »Ich fordere Sie zum Kampf auf. Wollen mal sehen, ob Sie Ihre Lügen auch dann noch aufrechterhalten.« »Ein Edelmann«, kam die Antwort, »kämpft nicht mit einem Knecht. Das solltest du eigentlich wissen. Große Männer wie er da«, dabei deutete er auf den neben dem Herzog stehenden Konar, »geben sich nicht mit deinesgleichen ab. Wenn ein Knecht unverschämt wird, finden wir immer Mittel und Wege, ihn zu bestrafen.«
Konar lächelte und ließ einen kleinen Gegenstand aufblitzen, während Meinora das Schwert zog. Flor drang sogleich auf ihn ein, und Meinora federte zur Seite. Der Mann war zu allem entschlossen. Doch er war nie im Kampf mit dem Schwert ausgebildet worden. Der kleine Gegenstand in Konars Hand würde die Wirkung seines Körperschutzes aufheben. Meinora schlug Flor blitzschnell auf die Hand, so daß sein Schwert polternd zu Boden fiel. Flor bückte sich, um es aufzuheben. Der Teamchef lachte kurz und knallte sein Schwert wuchtig auf Flors Hinterteil. Flor richtete sich auf und schirmte das schmerzende Hinterteil mit der Hand ab. Wieder sauste das Schwert herab. Eine Staubwolke stieg aus Flors Kleidung auf. Flor versuchte, den weiteren Schlägen zu entkommen, doch das Schwert landete immer wieder auf seinem Körper. Es kam Flor vor, als kämen die Schwerthiebe aus allen Richtungen. Er wurde überall getroffen – am Rücken, an den Beinen und selbst im Gesicht. Verzweifelt versuchte er, den schmerzenden Schlägen zu entkommen. Er erinnerte sich an die Prügel des Küchenmeisters und sank unvermittelt auf die Knie. »Bitte, Herr, nicht mehr … bitte.« Er faltete die Hände und blickte flehend auf. Der Herzog konnte kaum seinen Augen trauen. »Und so etwas habe ich an meinem Hof aufgenommen und zum Baron gemacht.« Er wandte sich an Konar und würdigte den winselnden Flor keines weiteren Blickes. »Ich weiß, daß Sie einen langen Weg zurückgelegt haben«, sagte er, »aber ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Überlassen Sie mir diesen Übeltäter. Die Verbrechen, die er in Ihrem Land begangen hat, liegen schon viele Jahre zurück. Die Zeit hat die Wunden inzwischen wenigstens zum Teil geheilt, und Ihre Ehre ist nicht so tief verletzt worden wie meine.« Er
schüttelte den Kopf. »Mein Stolz ist für immer verletzt und wird es bleiben, wenn ich ihn nicht auf der Stelle wiederherstellen kann.« Konar nickte bereitwillig. »Der Wunsch Eurer Exzellenz ist nur recht und billig. Wir sind hergekommen, um die gestohlenen Rangabzeichen nach Budorn zurückzuholen.« Er trat vor und zog den goldenen Stirnreif von Flors Kopf. Zwei Posten ergriffen den Entlarvten, und Konar nahm ihm den Gurt ab. »Dieses Rangabzeichen muß erneuert werden«, sagte er. »Der Gurt war zu lange von Schande bedeckt.« Er riß das kleine Kästchen ab und warf Flor den wertlosen Gurt zu. »Wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet, Exzellenz«, wandte er sich erneut an den Herzog. »Wenn Sie gestatten, werden wir nur noch die Vollstreckung der Strafe abwarten und dann in unsere Heimat zurückkehren.« Der Herzog seufzte. »Wie Sie wollen.« Er nickte den Posten zu. »Bringt ihn hinaus!« befahl er. »Die Vollstreckung findet bei Tagesanbruch statt.« »Vortrefflich, Konar. Das hast du gut gemacht.« »Danke, Chef. Was kommt nun?« »Nimm dich noch eine Weile des Herzogs an und rede ihm gut zu. Der alte Bursche hat einen ziemlichen Schock erlitten, und leider steht ihm noch ein weiterer bevor. Wirklich schade, aber es ist unumgänglich. Ich werde jetzt wieder übernehmen.« Die Gäste an der Tafel blickten neugierig auf, als die beiden Posten Flor zum Tor führten. Einige standen auf und folgten ihnen zum inneren Burghof, der in strahlenden Sonnenschein getaucht war. Eine schmale Tür führte in die Kerkerräume. Flor sah sieh verzweifelt um. Da draußen stand sein Pferd, das ihn nun nie wieder tragen würde – oder vielleicht doch? Er trug noch immer den breiten Gurt, der ihm voller Verachtung zugeworfen worden war. Er hatte ihn mit der Hand
aufgefangen, und niemand war auf den Gedanken gekommen, ihn ihm wieder abzunehmen. Unversehens holte er mit dem Gurt aus und traf damit die Augen eines Posten. Der Mann hielt sich mit einem gellenden Schmerzschrei die Hände vors Gesicht, und Flor traf den zweiten Posten. Ehe sich die beiden Männer von ihrer Überraschung erholen konnten, eilte er mit langen Sätzen auf sein Pferd zu, sprang in den Sattel und spornte das Tier an. Auf dieser Seite war die Burgmauer ziemlich niedrig, aber Flor wußte, daß draußen ein steiler Abhang gähnte. Gleich dahinter lag der Wald, wo seine Männer warteten. Er preschte auf die Mauer zu und trieb das Pferd an, hinaufzuspringen. Die Zeit schien stillzustehen. Pferd und Reiter segelten den Abhang hinunter und schlugen krachend auf. Das Pferd landete mit der Brust auf einem Felsblock und warf den Reiter ab. Flor blieb unverletzt. Er rappelte sich hoch, eilte auf den Wald zu und sah sich noch einmal um. Über der Mauer tauchten die ersten Köpfe auf. Flor winkte ihnen trotzig zu. »Der Herzog henkt niemand«, rief er, »es sei denn, er fängt ihn zuvor!« Er setzte den Weg zum Wald fort. »Vielleicht«, setzte er zu sich selbst hinzu, »werde ich eines Tages zurückkommen und den Herzog hinrichten.« Mit langen Sätzen eilte er auf die Lichtung zu. »Wir sind verraten worden!« rief er seinen Männern zu. »Der Herzog hat sich mit den Händlern verbündet, um Bel Menstal zu vernichten und alle Männer aufzuhängen. Beeilt euch! Wir müssen unsere Truppen alarmieren.«
Baron Bel Orieano sah besorgt aus. »Der Herzog läßt seine Streitkräfte mobilisieren, aber es wird ein harter Kampf werden«, sagte er. »Der Knecht hat die Berge
von Menstal erreicht und ist sogar zum offenen Angriff übergegangen. Es heißt, er habe sich mit den wilden Stämmen verbündet, vor deren Einfall er die Provinz beschützen sollte.« Er sah Meinora und Konar an. »Die Wege des Herzogtums sind nicht mehr sicher. Überall tauchen Banditen und räuberische Gruppen auf. Wir wissen nicht, ob die Kuriere bis nach Dweros durchgekommen sind.« Er schüttelte den Kopf. »Ich selbst bin dem Herzog natürlich treu ergeben, aber ich habe nicht viele Krieger. Bei uns ist es immer friedlich zugegangen, so daß ich keinen Bedarf an bewaffneten Männern hatte.« Meinora lächelte ihm aufmunternd zu. »Trotzdem gibt es hier genügend Kämpfer.« Der Baron starrte ihn verdutzt an. »Wo? Davon habe ich nicht die geringste Ahnung.« Konar beugte sich vor. »Wenn Sie die Zustimmung des Herzogs erlangen können, werden wir eine Armee aufstellen, gegen die Bel Menstal keine Chance hat.« »Die Zustimmung des Herzogs?« »Gewiß.« Konar machte eine kurze Handbewegung. »Sehen Sie sich doch nur um, Exzellenz. Sie haben Männer in der Burg, Händler in der Stadt, bewaffnete Männer, die die Karawanen sichern, Bauern. Hier sind heute mehr Männer versammelt, als Bel Menstal sich je verschaffen könnte.« »Diese gewöhnlichen Männer sollen wir bewaffnen? Würden sie denn überhaupt kämpfen?« »Bestimmt sogar. Wenn es um eine gute Sache geht, werden sie wie die Teufel kämpfen.« Meinora beugte sich vor. »Sie haben seit vielen Jahren unter den harten Steuern gelitten, die Bel Menstal und seine Wachoffiziere ihnen mit Zwang abgenommen haben. Viele von ihnen sind eingesperrt und erst gegen Zahlung eines hohen Lösegeldes wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Andere sind gefoltert und ermordet
worden. Wenn der Knecht an der Macht bleibt, steht ihnen ein Leben in Sklaverei bevor.« Er deutete auf die Stadt. »Keine Karawane wird mehr durchkommen, ohne schweren Tribut zu leisten. Das alles hat er schon gemacht, wenn auch nicht in einem solchen Ausmaß.« Meinora breitete die Hände aus. »Der Herzog braucht nur sein Wort zu verpfänden, daß er mit den Banditen abrechnet und den Leuten seines Landes den Schutz gibt, den sie schon so lange erbeten haben. Dafür werden sie für ihn durchs Feuer gehen.« Der Baron lehnte sich auf seinem Sessel zurück. Er hatte diese Argumente schon öfter zu hören bekommen, sich aber nicht weiter darum gekümmert, weil er glaubte, die einzelnen Stände wollten nur ihre eigenen Interessen vertreten. Jetzt aber wurden sie ihm von Männern seines eigenen Standes vorgetragen. Die ungewöhnliche Situation erforderte drastische Maßnahmen. Die Argumente dieser beiden Männer hatten etwas für sich. Wenn den Banditen das Handwerk gelegt wurde, würden mehr Steuern in die Kassen fließen. Nach einer Weile stand er auf. »Kommen Sie«, sagte er, »wir gehen zum Herzog und tragen ihm das alles vor.«
»Nun, das wäre geschafft.« Klion Meinora sah zum Fenster hinaus und betrachtete die grünen Felder, über die das Flugzeug hinwegzog. »Es hat annähernd genauso geklappt, wie Sie es erklärt haben, Chef.« Konar sah seinen Vorgesetzten an. »Allerdings habe ich das alles nicht so genau mitbekommen.« »Es hat sich aus der kulturellen Entwicklungsstufe entfaltet.« Meinora zog eine Augenbraue hoch. »Hast du die Reaktion des
Herzogs gesehen, als er erfuhr, daß Flor in Wirklichkeit ein Knecht war?« »Gewiß; der Schock hat ihn fast umgebracht.« »Hast du auch an die Reaktion der Bauern und Stadtleute gedacht?« »Meinen Sie, daß sie auf die gleiche Weise reagierten?« »Sicher. Zumindest die meisten. Diese Menschen führen das Leben, zu dem sie erzogen wurden. Wenn ein Knecht einen Edelmann ermordet und ausraubt, ist das in ihren Augen ein ungeheures, unfaßbares Verbrechen. Kein vernünftiger Knecht würde auch nur daran denken, die Hand gegen seinen Herrn zu erheben, und sei es auch mir in Notwehr. Verstehst du?« Konar lehnte sich zurück. »Meine Güte«, murmelte er. »Ich kann mir lebhaft vorstellen, was aus Flor wurde, nachdem die Leute ihn durchschaut hatten.« »Wahrscheinlich hast du recht. Ohne den Körperschutz ist er bestimmt schon dem ersten Angreifer zum Opfer gefallen.« Meinora schüttelte den Kopf. »Sein Verstand hatte einen Defekt, und es bestand keine Aussicht auf Besserung.« »Ich weiß; ein paar dieser Unglücklichen sind in der Anstalt von Aldebaran untergebracht.« Konar zuckte resigniert die Achseln. »Die Ärzte können ihnen nicht helfen.« »Stimmt. Männer wie Flor leben nach ihren eigenen Gesetzen. Mitunter sind sie listig und sogar talentiert. Aber ihnen fehlt jede Möglichkeit der Weiterentwicklung. Nur gut, daß es nicht viele von ihnen gibt.« »Ja«, pflichtete Konar seinem Chef bei. »Das ist wirklich gut.« Er blickte auf die Felder hinunter. »Sein Einfluß hat eine ganze Weile gedauert.« »Auch das stimmt. Er hat es verstanden, die Leute auf seine Weise zu beeinflussen. Damit blieb uns gar keine andere Wahl,
als mit harten Mitteln durchzugreifen. Nachdem wir erst die Händler auf unserer Seite hatten, ging alles leichter.« Meinora fuhr sich mit der Hand übers Haar. »Es wird eine Weile dauern, bis sie sich an die neuen Umstände gewöhnen, aber die Wurzeln sind jedenfalls vorhanden. Sie haben im Kampf ihre eigene Kraft kennengelernt. Die alte Routine zieht jetzt bei ihnen nicht mehr. Damit wird der Herzog sich abfinden müssen, und seine Nachfolger ebenfalls. Diese neuen Lebensgewohnheiten werden sich ausbreiten – im Laufe der Zeit, von einem Kontinent zum anderen. Das Gefühl der Freiheit kann sehr ansteckend sein.« Klion Meinora warf einen Blick über das Land. »Die Entwicklung ist auf diesem Planeten noch lange nicht abgeschlossen«, fügte er nachdenklich hinzu. »Die Leute sind jetzt zum Kampf bereit. Manchmal werden sie vielleicht nur aus Freude am Kampf kämpfen, aber sie werden sich die Hörner abstoßen und bestimmt keine wilden Barbaren werden.«
Originaltitel: MILLENIUM. Copyright © 1955 by Street and Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Mai 1955.
Leigh Brackett STRANDGUT DES ALLS
Roy Campbell erwachte unter Schmerzen. Instinktiv streckte er die Hände nach den Armaturen aus und berührte dabei eine glatte Wand. Sofort erkannte er, daß er sich nicht mehr in seinem Raumschiff befand, das von der Raumstreife beschossen worden war. Er lehnte an der Wand. Seine Augen waren weit geöffnet. Auf seiner Brust glitzerten Schweißtropfen. Noch immer spürte er die Erschütterungen, unter denen sein schnittiges Fitz-Sothern-Raumschiff erzittert hatte. Er sah wieder die roten Blitze durch die Dunkelheit zucken, die nach seinem Leben trachteten. Er hörte noch seine Flüche, während er sein ganzes fliegerisches Können aufbot, um den gnadenlosen Verfolgern zu entgehen. Sein Raumschiff war getroffen worden. Er war mit dem Kopf gegen das Armaturenbrett geflogen. Dann hatte er verzweifelt versucht, doch noch den sicheren Hafen zu erreichen. Und während der nächsten Stunden hatte er sich nach nichts anderem als nach tiefem Schlaf gesehnt. Er sank auf die Pritsche zurück und wußte nicht recht, ob er lachen oder fluchen wollte. Sein drahtiger Körper war naß vom Schweiß. Er kramte eine Zigarette hervor, setzte sie beim zweiten Versuch in Brand und lauschte auf seinen allmählich ruhiger werdenden Herzschlag. Unwillkürlich fragte er sich, was ihn geweckt haben mochte. Es war Nacht, die tiefe blauschwarze Nacht auf der Venus. Durch die offene Tür sah er, wie sich die Lihabäume im leichten, warmen Wind bewegten. Ein tiefblauer Schleier
schien alles einzuhüllen. Er hörte den fernen Schrei eines nach Beute suchenden Raubtiers. Unvermittelt setzte wirbelnder Trommelschlag ein. Campbell zuckte zusammen. Es war ein wilder Rhythmus, an den man sich Zeit seines Lebens nicht gewöhnen konnte. Die Trommel verstummte. Es war die zweite, vielleicht auch schon die dritte rituelle Einleitung. Die erste mußte ihn geweckt haben. Campbell starrte mit zusammengekniffenen Augen durch die Tür. Diesmal weilte er erst seit zwei Tagen bei den Kraylen, und die meiste Zeit hatte er geschlafen. Jetzt merkte er trotz seiner Erschöpfung, daß irgend etwas im Dorf nicht in Ordnung war. Etwas stimmte hier nicht. Das ging schon aus dem Trommelklang hervor. Er zog Schuhe an und trat vor die Tür. Im Dorf war keine Bewegung zu sehen. Nur die Bäume rauschten im Wind. Campbell folgte einem schmalen Pfad, der unter den Lihabäumen hindurchführte. Er trug nur eine Hose, und der Wind glitt über seinen nackten Oberkörper wie eine zärtliche Hand. Er atmete die Luft tief ein. Es roch nach stillem Wasser und nach grünem saftigem Wachstum, und … Freiheit – vor allem nach Freiheit. Hier war der einzige Ort, wo ein Mann sich noch als Mensch fühlen konnte. Die Trommel setzte erneut ein; es klang wie zorniger Herzschlag durch die tiefblaue Nacht. Diesmal brach der Trommelklang nicht wieder ab. Campbell erschauerte. Vor ihm lag eine Lichtung. Fackeln aus Lihaholz loderten. Süßer, öliger Rauch stieg unter den Bäumen auf. Irgendwo zwischen den Bäumen glitzerte Wasser, aber ganz in der Nähe glitzerte etwas weitaus stärker. Es waren die Augen der im Halbkreis sitzenden Männer. Ein kleiner Mann kauerte in der Mitte des Halbkreises. Seine Haut schimmerte bläulich weiß wie Milch. Er trug einen Rock in prächtigen Farben. Sein Gesicht mit den breiten Backenknochen und dem spitzen Kinn wirkte reptilartig.
Schimmernder Federwuchs – es waren in Wirklichkeit keine Federn, aber Campbell konnte sie nicht besser beschreiben – zog sich von seiner Stirn über den Kopf bis zum Rücken hinunter. Die Federn waren im Augenblick gesträubt und leuchteten im flackernden Lichtschein der Fackeln. Die Trommel klemmte zwischen seinen Knien. Wenn er sie mit den Händen berührte, klang es wie sein eigener Herzschlag, und sie verkündete Haß. Campbell blieb vor dem Halbkreis stehen. Seine Nerven waren angespannt. So etwas hatte er noch nie gesehen. Der kleine Mann schaukelte leicht hin und her und blickte in den Rauch hinauf. Seine Augen waren halb geschlossen. Die Trommel war wie ein Teil seines Körpers. Der Rhythmus pochte in Campbells Adern. Campbell mußte wohl eine unbedachte Bewegung gemacht haben, denn einer der Männer am Rand des Halbkreises wandte den Kopf und erblickte ihn. Er war groß und schlank, und er hatte den weißen Federwuchs der Alten. Er kam auf Campbell zu und sah ihn mit blitzenden Augen an. Der Lichtschein der Fackeln huschte über Campbells Gesicht. »Was ist los, Vater?« fragte Campbell in der Sprache der Venusbewohner. Der Kraylen richtete den Blick auf die nackte Brust des Erdenmenschen. Unter dem Brusthaar war eine Tätowierung zu erkennen. Der alte Mann nickte nur. Campbell wandte sich um und ging den Pfad zurück. Die Trommelschläge pulsten durch die Nacht. Keiner redete ein Wort, bis sie die Hütte erreichten. Campbell zündete eine rußige Lampe an. Der alte Kraylen atmete tief ein. »Mein Junge, der du wie mein Sohn bist«, sagte er. »Ich kann dir zum letztenmal Unterkunft gewähren. Sobald du wieder bei Kräften bist, mußt du weggehen und
darfst nie mehr zurückkommen.« Campbell starrte ihn an. »Aber, Vater! Warum?« Der alte Mann breitete seine bläulich-weißen Hände aus. Seine Stimme klang schwermütig. »Weil wir, die Kraylen, dann nicht mehr existieren werden.« Campbell schwieg eine volle Minute. Er setzte sich auf die Pritsche und fuhr sich mit der Hand durch das rabenschwarze Haar. »Sag es mir, warum.« Der Federwuchs des Kraylen bewegte sich im Lampenlicht. »Es ist nicht dein Kampf.« Campbell stand auf. »Du hast mir unzählige Male das Leben gerettet. Du hast mich wie einen Sohn aufgenommen. Ich bin hier glücklicher gewesen als sonstwo – aber lassen wir das. Sag nur nicht, es wäre nicht mein Kampf.« Ein Lächeln trat in das alte, dreieckförmige Gesicht. Doch die Federn bewegten sich. »Nein. Im Grunde genommen ist es kein Kampf, sondern Tod. Wir sind ein aussterbender Stamm. Was für eine Rolle spielt es schon, ob wir jetzt sterben oder später?« Campbell zündete sich mit einer fahrigen Bewegung eine Zigarette an. Seine Stimme wurde hart. »Sag es mir, Vater – alles – rasch!« Die blitzenden Augen sahen ihn an. »Lieber nicht.« »Ich bat dich, es mir zu sagen.« »Also gut.« Der Alte seufzte. »Du würdest es ohnehin erfahren. Erinnerst du dich noch an die Grenzstadt Lhi?« »Und wie!« Campbells Zähne blitzten. »An jeden einzelnen schmutzigen Stein. Nirgends konnte man heiße Ware so gut loswerden wie dort.« Er brach verlegen ab. »Das ist deine Sache, mein Sohn«, sagte der Kraylen ruhig. »Du bist lange weg gewesen. Lhi hat sich verändert. Es ist jetzt der Verwaltungssitz der Terra-Venus-Regierung in der Provinz Tehara.« Bei der Erwähnung der Regierung trat ein harter,
trotziger Ausdruck in Campbells Augen. Er sagte: »Weiter.« Das Gesicht des alten Mannes war wie aus Marmor gemeißelt, und seine Stimme schien von fern her zu kommen. »Es waren Männer in den Sümpfen. Wir sind nicht verständigt worden. Anscheinend gibt es hier Vorkommen von Kohle, Öl und anderen Mineralien, die in den Augen von Erdenmenschen von hohem Wert sind. Sie werden die Sümpfe meilenweit trockenlegen und ausbeuten.« Campbell blies langsam den Rauch aus. »So? Und was wird aus euch?« Der Kraylen wandte sich ab. Seine Silhouette zeichnete sich gegen das Dunkelblau der Nacht ab. Noch immer war der Trommelwirbel zu hören. Trotz der lauen Nacht war Campbells Körper in kalten Schweiß gebadet. Die Stimme des Alten schien mit dem Trommelrhythmus zu verschmelzen. Campbell mußte sich anstrengen, wenn er jedes Wort mitbekommen wollte. »Sie wollen uns in die großen Städte bringen und uns in kleine Gruppen aufteilen. Die Leute werden Eintritt bezahlen, um uns, die ursprünglichen Bewohner der Venus, wie Zootiere betrachten zu können.« Campbell ließ die Zigarette fallen und zertrat sie mit dem Absatz. Sein Gesicht war verzerrt, und seine Stirnadern traten hervor. Der alte Mann flüsterte: »Lieber wollen wir sterben.«
Lange Zeit sprach keiner ein Wort. Die Trommel war verstummt, aber ihr Rhythmus hallte noch immer in Campbells Nervensystem nach. Er blickte auf seine sehnigen Hände hinunter, die auf seinen Knien ruhten. Die Muskeln an seinem Hals waren gespannt. »Könnt ihr euch nicht tiefer in die Sümpfe zurückziehen?« fragte er.
Der alte Kraylen machte keine Bewegung. Er stand noch immer auf der Türschwelle und blickte auf die vom Wind bewegten Bäume. »Dort leben die Nahali. Außerdem gibt es kein sauberes Wasser und keinen Ackerbau. Wir essen keine Eidechsen.« »Ich habe das schon oft erlebt«, sagte Campbell finster. »Auf der Erde, auf Mars, Merkur, auf den Monden des Jupiter und Saturn. Einfache Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, weil die Gebiete ausgebeutet werden sollten. Einfache Menschen, die sich nicht für Fortschritt oder Geldverdienen interessieren, die auf ihre Art leben, atmen und in Ruhe gelassen werden wollen.« Der alte Kraylen wandte sich um. »Einfache Menschen wie du, mein Sohn?« »Vielleicht«, antwortete Campbell achselzuckend. »Die kleine Farm war seit dreihundert Jahren im Besitz unserer Familie. Mein Vater wollte sie nicht verkaufen. Er ist enteignet worden, und sie liegt nun auf dem Grund des Stausees. Neben dem Staudamm sind große Fabriken errichtet worden.« Campbell blickte auf, und sein Gesicht entspannte sich ein wenig. »Ich habe das nie verstehen können«, sagte er. »Nirgends werden die Gesetze so geachtet wie hier bei euch. Für Fremde habt ihr nichts übrig. Da komme ich plötzlich zu euch, um mich vor meinen Verfolgern zu verstecken, und ihr …« Er brach ab. Die Erregung schnürte ihm die Kehle zu. Der Rauch der Lampe trieb ihm Tränen in die Augen. Er blinzelte und senkte den Kopf. »Du warst verwundet, mein Sohn. Du brauchtest Hilfe. Deine Auseinandersetzung mit der Polizei ging uns nichts an. Unter diesen Umständen hätten wir jedem geholfen. Als du dann vom Fieber geschüttelt wurdest, sahen wir, daß nicht nur dein Körper der Hilfe bedurfte. Wir haben alles für dich getan, was in unseren Kräften stand.«
»Ja«, sagte Campbell heiser. Er wußte nur zu gut, was die Kraylen alles für ihn getan hatten. Jetzt stand den Kraylen das gleiche Schicksal bevor wie vielen anderen Völkern vor ihnen: sie sollten verschwinden, weil sie dem Fortschritt im Weg standen. Diese Entwicklung war nicht aufzuhalten. Das Imperium der Erde breitete sich über die Planeten aus, und eine böse Begleiterscheinung war die Gier nach dem Geld. Campbell wollte nicht in einem goldenen Käfig leben. Er hätte es tun können, aber er war ausgebrochen und hatte sich in Opposition gestellt. Es gab also im gesamten Sonnensystem keinen einzigen Ort mehr, wohin er sich zurückziehen konnte. Es kam ihm vor, als müßte er ersticken. Er stand auf, stellte sich in die offene Tür und sah zu, wie sich die Äste der Bäume in der Dunkelheit bewegten. Die Bäume würden ebenfalls verschwinden. Maschinen würden an ihre Stelle treten, um die im Boden ruhenden Schätze zu fördern. Ein bitterer Zug grub sich in Campbells Mundwinkel. »Der Himmel möge allen unproduktiven Wesen gnädig sein. Sie werden es brauchen«, sagte er leise. »Was ist aus den anderen geworden, mein Sohn?« fragte der alte Kraylen. Campbell zuckte die Schultern. »Einige sind gestorben. Andere haben sich unterworfen. Der Rest …« Er wirbelte so unvermittelt herum, daß der Alte hastig zurückwich. Eine wilde Glut war in Campbells Augen, und sein Gesicht war angespannt. »Der Rest«, fügte er hinzu, »hat sich nach Romany zurückgezogen.« Endlich erzählte er alles, was er wußte. Nervös ging er in der Hütte auf und ab und versuchte, sich an
alles zu erinnern, was ihm damals zu Ohren gekommen war. Damals hatte es ihn noch nicht interessiert. Als er zum Schluß gekommen war, sagte der Kraylen: »Es wäre besser, unendlich viel besser. Aber …« Er breitete die langen, bleichen Hände aus, und das weiße Gefieder legte sich an seinem Körper an. »Aber uns bleibt keine Zeit mehr. Innerhalb der nächsten drei Tage werden Männer von der Regierung kommen und uns abholen. Dieser Termin wurde festgesetzt. Und da wir nicht mitgehen werden …« Campbell mußte daran denken, was aus anderen rebellierenden Stämmen geworden war. Bei dem Gedanken wurde ihm fast übel, aber seine Stimme blieb ruhig. »Wir wollen hoffen, daß die Zeit ausreicht, Vater. Romany befindet sich zur Zeit in einer Umlaufbahn um die Venus. Ich weiß das mit Sicherheit, weil ich gerade noch im letzten Augenblick ausweichen konnte. Jedenfalls werde ich den Versuch unternehmen. Sollte es mir nicht gelingen … Aber haltet sie jedenfalls so lange wie irgend möglich hin.« Er dachte an die Trommel und die resignierten Gesichter der Männer und spürte, daß sie nicht lange würden durchhalten können. Er zog sein grünes Seidenhemd über, streifte die Riemen des Schulterhalfters über den Oberkörper und griff nach seiner schwarzen Jacke. Er legte dem Kraylen die Hand auf die Schulter und lächelte. »Wir werden es schon schaffen, Vater.« Die Augen des alten Mannes waren trüb. »Ich wünschte, ich könnte dich behalten. Unsere Sache ist hoffnungslos, und du bist – hitzig wäre wohl das richtige Wort dafür.« Campbell grinste. »Hitzig«, erwiderte er, »ist genau das richtige Wort. Und wütend! Die Regierung sieht es gar nicht gern, wenn jemand ihre Pläne durchkreuzt. Aber daran habe ich mich längst gewöhnt. Ich betreibe dieses Spiel nun schon seit vielen Jahren. Bis jetzt haben sie mich noch immer nicht
erwischt, obwohl es mitunter ziemlich brenzlig war.« Draußen wurde es allmählich hell. »Mögen die Götter bei dir sein, mein Sohn«, sagte der alte Mann ruhig. Campbell verließ die Hütte und sagte sich, daß er die Hilfe der Götter bestimmt brauchen würde. Seltsam, wie der Anblick des Weltraums uralte Empfindungen wachrufen konnte – die Furcht und die Ehrfurcht vor allen Göttern. Es war taghell, als er das Versteck seines Raumschiffes erreichte. Neben der Druckschleuse blieb er stehen und warf einen Blick auf die grünen Lihabäume, um die der Bodennebel wallte. Es dauerte eine Weile, bis er den Computer mit den Zieldaten gefüttert hatte. Dann startete er und raste über das Sumpfgebiet. Seine Stimmung wurde besser. Er wußte, daß die Kreuzer der Planetenpolizei irgendwo auf ihn lauerten. Da leuchtete die rote Lampe am Armaturenbrett auf. Jemand hatte den Suchstrahl eines Detektors auf ihn gerichtet. Und er zweifelte keine Sekunde daran, daß es sich um einen Kreuzer der Planetenpolizei handelte. Die Atmosphäre der Venus war selbst für Infrastrahlen undurchdringlich. Der Anschlag der Nadel zeigte, daß der Kreuzer allem Anschein nach noch keinen Verdacht geschöpft hatte. Aber Campbell wollte nicht warten, bis der Kreuzer ihn aufforderte, sich zu erkennen zu geben. Er ging langsam auf Höchstgeschwindigkeit. Die Fitz-Sothern stieg in einer steilen Spirale in die Höhe. Die rote Warnlampe flackerte, erlosch und leuchtete wieder auf. Der Techniker im Kreuzer schien sein Handwerk zu verstehen. Die rote Lampe ging wieder aus. Doch der Kreuzer schickte seine Suchstrahler jetzt fächerartig in den Raum. Die Fitz-Sothern geriet in das Feld, aus dem sie nicht mehr entkommen konnte. Campbell spürte einen scharfen Ruck durch den Körper gehen. »Zugstrahlen«, sagte er. »Wollen doch mal sehen, ob du mich festhalten kannst.«
Die Generatoren des kleinen Raumschiffes arbeiteten jetzt mit Höchstleistung. Die Fitz-Sothern zitterte, als sich ihre Kraft mit der des Zugstrahles maß. Doch die Energie des Schiffes war stärker. Es zitterte noch einmal, dann hatte es die Reichweite des Zugstrahls hinter sich gelassen. Campbell jagte das Schiff weit hinauf in den Raum, wechselte die Richtung und steuerte es in einen weiten Bogen wieder zur Venus hinab. Im Kreuzer hatte man offensichtlich nicht damit gerechnet, denn sein Warngerät zeigte hier unten keine Suchstrahlen mehr an. Grinsend tauchte Campbell in den Schatten der Nacht. Er begegnete keinen weiteren Raumschiffen. Er befand sich hier außerhalb der Flugrouten und konnte bei dieser Geschwindigkeit nur durch Zufall entdeckt werden. Er hoffte, die Kreuzer der Planetenpolizei würden noch recht lange in der falschen Richtung nach ihm suchen. Wieder verließ er die Atmosphäre der Venus und nahm Kurs auf einen Punkt, den er auf seiner Sternkarte markiert hatte. Ein Raumkreuzer zog in weiter Entfernung vorüber. Campbell zündete sich nervös eine Zigarette an. Er hatte kaum ein paar Züge gemacht, als sein Ziel vor ihm auftauchte. Deutlich zeichnete es sich auf seinem Infraschirm ab. Es war ein rundlicher Gegenstand von etwa fünfzehnhundert Meter Durchmesser; er bestand aus drei Lagen von Raumschiffen, alte Wracks und ausgediente Frachter, die man aneinandergeschweißt hatte. Bei seiner ersten Begegnung mit dem Ding hatte Campbell es zum Teufel gewünscht, weil es ihm den Fluchtweg versperrt hatte. Jetzt sah er es zum erstenmal deutlicher. Es war ein Schrottplatz im Raum, und er fragte sich unwillkürlich, was die Menschen eigentlich bewegte, die hier hausten. Er streckte schon die Hand aus, um das Schiff zur Venus zurückzusteuern. Doch dann dachte er daran, was auf der
Venus passieren würde, und zog die Hand zurück. Er wollte sich den Schrotthaufen zumindest aus der Nähe ansehen. Dieser Schrotthaufen hatte die Bezeichnung Romany. Campbell wußte nicht, wie es im Innern aussah. Er wußte zwar, daß Romany in Opposition zur Koalition der ErdeVenus-Regierung stand; ob sie aber einen von der Raumpolizei gesuchten Flüchtling bei sich aufnehmen würden, stand auf einem ganz anderen Blatt. Es würde ihn keineswegs überraschen, wenn dort bereits ein Steckbrief gegen ihn vorlag. Er dachte an die hohe Belohnung, die auf seine Ergreifung ausgesetzt war, und er wünschte sich, er wäre keine so berühmte Persönlichkeit. Irgendwie erinnerte Romany ihn an eine altmodische Drahtmausefalle. Sobald er drin war, würde es verdammt schwer sein, wieder herauszukommen. Romany kam rasch näher. Irgendwo waren ein paar Lichter zu sehen. Campbell griff zu seinem Funksprechgerät. Er mußte mit diesem künstlichen Raumkörper Verbindung aufnehmen und sich zu erkennen geben. Was dann kam … Er ließ sich vom Bordcomputer die richtige Frequenz geben. »Raumschiff Black Star ruft Romany. Romany bitte melden …« Der Bildschirm wurde hell und die Streifen verdichteten sich zu einem Bild. »Hier Romany. Wer sind Sie, und was wünschen Sie?« Das Bild eines jungen Mannes war auf dem Schirm entstanden. Campbell hielt ihn für einen Nachkommen der Merkurier. Seine Haut war ebenholzfarben, und er starrte Campbell an, als hätte er ihm ein Glas schales Bier angeboten. »Ein wirklich freundlicher Empfang«, sagte Campbell sarkastisch. »Ich heiße Thomas Black. Ich bin ein Händler von der Erde und möchte bei Ihnen anlegen.« »Das bedarf einer Genehmigung.«
»So? Na schön, verbinden Sie mich mit Ihrem Chef.« Der junge Mann verzog den Mund. »Sie meinen wohl Eran Mak, den Obersten Rat?« »Vielleicht«, antwortete Campbell. Wenn die anderen Weltraumzigeuner auch so unfreundlich waren wie dieser junge Bursche, dann war ein Fremder hier kaum willkommen. Na ja, er konnte es ihnen nicht verdenken. Das Bild verschwand. Campbell rauchte drei Zigaretten und verbrauchte seinen ganzen Vorrat an saftigen Flüchen, bis der Schirm wieder aufleuchtete. Eran Mak, das klang marsianisch, aber der Mann, dessen Bild auf dem Schirm erschien, stammte von der Erde. Er hatte ein kantiges Gesicht, schütteres rotes Haar, einen schmalen Mund und schmale Augen. Campbell fand ihn auf den ersten Blick unsympathisch. »Ich heiße Tredrick«, sagte der Mann. Seine Stimme knirschte förmlich, wie wenn jemand über einen Kiesweg ginge. »Repräsentant der Erde. Warum möchten Sie landen, Mister Black?« »Ich komme mit einer Nachricht von den Kraylen auf der Venus. Sie brauchen Hilfe.« Tredricks Augen wurden noch schmaler. »Hilfe?« »Ja, Hilfe.« Das Mienenspiel Tredricks bei der Erwähnung der Kraylen war Campbell nicht entgangen. Er fügte langsam hinzu: »Sie werden von der Koalitionsregierung bedrängt. Meines Wissens gewährt Romany in solchen Fällen Hilfe.« Eine kleine, spannungsgeladene Pause trat ein. »Tut mir leid«, sagte Tredrick dann. »Wir können nichts tun.« »Warum nicht?« fragte Campbell scharf. »Ihr habt den Shenyats vom Ganymed und den Wüstenstämmen vom Mars auch geholfen. Romany hat es sich doch zur Aufgabe gemacht, unterdrückten Völkern beizustehen. Oder?« »Sie scheinen falsch unterrichtet zu sein. Zur Zeit können wir gar niemandem helfen. Tut mir leid, Black. Setzen Sie bitte Ihren Weg fort.«
Der Schirm wurde dunkel. Campbell starrte finster darauf. Was wurde hier gespielt? Er streckte die Hand nach dem Gerät aus. Plötzlich war der junge Mann wieder auf dem Bildschirm. Sein Blick war jetzt nicht mehr abweisend. Der junge Mann war offensichtlich wütend, aber nicht auf Campbell. Er fragte mit leiser, schneller Stimme: »Es ist nicht gelogen, daß Sie von den Kraylen kommen?« »Nein, ich lüge nicht.« Er öffnete sein Hemd, um die Tätowierung zu zeigen. »Der verdammte Hund! Halten Sie auf die untere Anlegestelle zu, Mister Black. Sie werden bestimmt einen freien Platz finden. Kommen Sie herein und warten Sie.«
Campbell überlegte schnell. Offensichtlich war er hier in eine interne Auseinandersetzung geraten. Das ging aus dem Tonfall des jungen Mannes hervor. Tredrick schien andere Absichten zu haben, und das betraf die Kraylen. Warum, um alles in der Welt, gerade die Kraylen? Die Fitz-Sothern glitt langsam zu der freien Anlegestelle, und Campbell schaltete die Magneten ein, als sein Schiff den Rumpf des Wrackes berührte. Die Öffnungen der Luftschleusen lagen genau aufeinander. Campbell stand auf. Er war nervös und unruhig und schnallte den schweren Strahler um die Hüften. Dann betrat er die Luftschleuse. Jenseits der Schleuse war es dunkel wie in einem Kohlensack. Die Luft war dünn und bitterkalt. Campbell fror. Er legte die Hand an den Griff der Waffe und trat zwei Schritte vor. Insgeheim wünschte er sich, irgendwo anders zu sein.
Hinter ihm zuckte ein grünlicher Blitz auf. Er wirbelte mit der Waffe in der Hand herum. Aber er hatte keine Chance mehr, abzudrücken. Etwas Hartes traf ihn im Nacken. Er stürzte mit dem Gesicht nach unten, und die Muskeln versagten ihm den Dienst. Undeutlich nahm er wahr, wie ihn jemand umdrehte. Er blickte in das grünliche Licht und hörte eine tiefe, leise Männerstimme, die aus der Dunkelheit zu kommen schien. »Hast du wirklich gedacht, es würde gutgehen?« Campbell mußte dreimal ansetzen, ehe er einen Ton herausbrachte. »Was würde gutgehen?« »Dein Herumspionieren. Hält Tredrick uns für kleine Kinder?« »Keine Ahnung.« Das Sprechen fiel ihm jetzt ein wenig leichter. Langsam kam er wieder zu Kräften. Er versuchte, die Hand zu schließen. Es klappte noch nicht recht, aber das spielte keine Rolle. Seine Waffe war verschwunden. Etwas bewegte sich vor dem Licht. Der muskulöse Körper eines Mannes. Dieser Mann kniete wie ein Tiger neben ihm. An seinem Hals hing eine juwelenbesetzte rötliche Metallscheibe. Die Steine funkelten bösartig. »Wer bist du?« fragte die tiefe Männerstimme. Campbell versuchte, die Muskeln anzuspannen. Das Gesicht des Mannes war im Schatten. Campbell wollte aufspringen. Der kniende Riese streckte den rechten Arm aus. Er schimmerte im grünlichen Licht. Der Arm berührte seinen Hals. Statt einer Hand hatte er einen Haken aus Metall. Campbell wußte, was ihn vorhin niedergeschlagen hatte. Dieser Haken war weitaus gefährlicher als ein noch so harter Handrücken. Die Spitze berührte seinen Hals neben der Schlagader. »Bleib ruhig liegen und antworte, kleiner Mann«, sagte der Riese ruhig.
Campbell blieb still liegen. Er hatte gar keine andere Wahl. »Ich bin Thomas Black, falls dir das was sagt. Und wer bist du?« »Was hat Tredrick dir befohlen?« »Zu verschwinden. Und was ist mit dir?« Campbell entschloß sich, ein Risiko einzugehen. Der Mann mit dem Haken schien Tredrick nicht gerade ins Herz geschlossen zu haben. »Der dunkelhäutige junge Mann in der Zentrale sagte mir, ich solle anlegen und warten. Anscheinend ist er auch nicht gut auf Tredrick zu sprechen – genau wie ich. Das verbindet doch irgendwie, nicht wahr?« »Du lügst, kleiner Mann.« Der Riese mit der tiefen Stimme schien seiner Sache ganz sicher zu sein. »Du bist hergeschickt, worden, um zu spionieren. Antworte!« Die Spitze des Hakens kitzelte seinen Hals. Campbell drückte unwillkürlich den Kopf zurück. Er wünschte, der Bursche würde aufhören, ihn »kleiner Mann« zu nennen. »Verdammt, ich lüge nicht!« sagte er. »Setz dich mit dem jungen Burschen in Verbindung. Er wird es dir bestätigen.« »Damit ich ihn an Tredrick verrate? Du bist ziemlich ungeschickt, kleiner Mann.« Der Haken ritzte die Haut, und Campbells Hals begann zu bluten. Er fragte sich, ob er dem Mann einen Tritt in den Magen geben könnte, ehe sich der Haken tiefer in seinen Hals bohrte. Er versuchte, weiter zurückzuweichen, aber sein Rücken berührte die Wand. Irgendwo hinter dem grünlichen Licht erklang plötzlich eine Frauenstimme. Campbell zuckte zusammen. Er hatte nicht die geringste Ahnung gehabt, daß sich hier noch jemand befand. Offensichtlich hielt jemand die grünliche Lichtquelle. »Warte, Marah«, sagte die Stimme. »Zard ruft gerade.« Der Haken wurde ein paar Millimeter zurückgezogen. Campbell hob den Kopf ein wenig an. Der grünliche Lichtschein fiel auf
ein Paar nackter Füße in Sandalen. Die Beine, die dazu gehörten, waren lang und schlank und ebenfalls nackt. Eine Weile herrschte Stille. Marah, der Mann mit dem Haken, wandte sein Gesicht dem Licht zu. Über den hellen Augen wölbten sich buschige Augenbrauen. Als die Frau wieder zu sprechen begann, klang ihre Stimme zornig – wie die Trommeln der Kraylen. »Der Erdenmensch sagt die Wahrheit, Marah. Zard hat ihn hergeschickt. Er ist wegen der Kraylen zu uns gekommen.« Der Riese, den Campbell für einen Wüstenbewohner vom Mars hielt, sprang auf. »Die Kraylen!« »Er hat um Hilfe für sie gebeten, aber Tredrick hat ihn weggeschickt.« Das Licht kam näher. »Das ist noch nicht alles, Marah. Tredrick weiß jetzt alles über uns. Der alte Ekla hat es ihm verraten. Sie warten am Schiff auf uns.« Marah wandte sich um. Seine Augen blitzten wie die eines zum Sprung ansetzenden Löwen. »Tut mir leid, kleiner Mann«, sagte er. Campbell stand schon wieder verhältnismäßig fest auf den Beinen. »Schon gut«, brummte er. »Jeder kann sich mal irren.« Er warf einen Blick auf den Haken und wischte sich das Blut vom Hals. »Mein Name ist Black, Thomas Black«, fügte er hinzu. »Nicht Campbell?« fragte die Frauenstimme. »Roy Campbell?« Er blinzelte ins Licht und gab keine Antwort. »Du bist Roy Campbell«, fuhr die Frau fort. »Eine Streife der Raumpolizei war vor kurzem hier und hat ein Bild von dir hiergelassen.« »Na schön«, räumte er ein. »Ich bin Roy Campbell.« »Das«, versetzte Marah leise, »bringt uns ein ganzes Stück weiter!« Nur er selbst wußte, wie er das meinte. Sein Haken blitzte in dem grünlichen Licht.
»Wir führen hier in Romany eine Art Bürgerkrieg, und das wird so manch einem das Leben kosten. Auf welcher Seite stehst du?« »Woher soll ich das wissen? Die Regierungskoalition bedrängt die Kraylen. Ich fühle mich ihnen verpflichtet. Deshalb bin ich hergekommen, um Hilfe zu suchen.« »Die wirst du bekommen«, erwiderte die Frau. »Falls wir am Leben bleiben.« Campbell zog die dunklen Augenbrauen hoch. »Was geht hier eigentlich vor?« Die leise, melodische Stimme der Frau wurde von den Wänden leicht vibrierend zurückgeworfen. »Vor langer Zeit gab es hier nur ein paar Raumschiffe. Alte Schiffe mit Menschen, die keine Heimat mehr hatten. Kleine, unbedeutende Menschen, die sich den Lebensunterhalt durch den Verkauf ihrer selbstgefertigten Waren in den verschiedenen Weltraumhäfen verdienten. Sie waren unerwünscht und wurden oftmals des Diebstahls bezichtigt. Vielleicht waren sie sogar Diebe. Aber sie froren und hungerten. Nach einiger Zeit schloß man diese Schiffe aneinander. Auf diese Weise kamen sie besser über die Runden, denn sie konnten sich nicht nur die Unkosten teilen, sondern auch gemeinsame Pläne schmieden. Sie waren nicht mehr so einsam im weiten Weltraum. Weitere Schiffe gesellten sich zu ihnen. Bald bildeten sie eine kleine neue Welt. Sie nannten diese Welt Romany, denn sie fühlten sich als Zigeuner im All. Sie führten ihr eigenes Leben. Sie handelten mit den Menschen auf den Planeten, aber sie wurden von ihnen gehaßt, weil Zigeuner eben von jeher gehaßt wurden. Es war kein leichtes Leben, aber zumindest fühlten sie sich frei. Solange ihnen die Freiheit blieb, konnten sie alles
ertragen. Sobald irgendwo im Sonnensystem ein kleiner Volksstamm unterdrückt wurde, schickte Romany Schiffe aus, um diesen Menschen zu helfen.« Sie hielt inne. Campbell dachte wieder an die Trommel der Kraylen in der tiefblauen Nacht. »Das hatte Romany sich zur Aufgabe gemacht«, fügte die Frau leise hinzu. »Stets zu helfen und allen Menschen ein Asyl zu bieten, die vom sogenannten Fortschritt bedroht waren und in Ruhe leben wollten. Und nun …« »Und nun«, beendete Marah den Satz für sie, »haben wir hier Bürgerkrieg.« Campbell atmete tief ein. Die Frauenstimme klang noch immer in seinen Ohren, und seine Kehle war wie zugeschnürt. »Tredrick?« fragte er. Marah nickte. »Tredrick, aber es steckt noch mehr dahinter. Tredrick allein wäre nicht so schlimm.« Er kratzte sich mit der Hakenspitze über das vernarbte Kinn, und seine Augen blitzten. »Romany wird alt und schwach, das ist der eigentliche Grund. Innerer Verfall. Sonst wäre Tredrick längst zum Teufel gejagt worden. Die Männer in unserem Rat sind zu alt, Campbell. Sie denken mehr an das eigene Wohlergehen als an … na ja –« »Ja, ich weiß. Was hat Tredrick eigentlich vor?« »Das weiß ich nicht. Er ist ein merkwürdiger Mann – nicht zu durchschauen. Manchmal glaube ich, daß er für die Koalition arbeitet.« Campbell runzelte die Stirn. »Das könnte sein. Ihr Zigeuner habt eine Menge außergewöhnlicher Talente. Das ist mir schon oft aufgefallen. So etwas könnte der Koalition doch nur recht sein.« »Die könnten uns ja auf Ausstellungen zeigen«, sagte die Frau bitter. »Als Erinnerung an eine vergangene Zeit.«
»Tredrick ist der starke Mann«, sagte Marah. »Eran Mak hat zwar den Vorsitz im Rat, aber er ist nur noch Tredricks willenloses Werkzeug. Wenn Romany sich der Koalition nicht länger widersetzt, könnte es am allgemeinen Fortschritt auf den Planeten teilhaben.« »Mit anderen Worten also«, warf Campbell trocken ein, »wenn es aufhört, das freie Romany zu sein.« »Richtig. Eine Attraktion für Touristen aus aller Welt.« Wieder blitzte der Haken. »Ein verdammter Zirkus!« »Und Tredrick behauptet, daß ihr mit eurer Rebellion die Zukunft Romanys aufs Spiel setzt?« »Stimmt.« Ein harter Ausdruck trat in Marahs helle Augen. Campbell dachte an seine Fitz-Sothern und an die Möglichkeiten, die ihm noch blieben. Irgendwie würde er schon durchkommen. Er brauchte nur hinauszugehen und wegzufliegen. Aber da war diese Frauenstimme, die ihn an die Trommeln der Kraylen erinnerte. Campbell zuckte die Achseln. »Ich bleibe.« Dann fragte er: »Mußt du mir eigentlich genau in die Augen leuchten?« Sie richtete den Lichtstrahl auf den Boden. »Ich heiße Moore, Stella Moore.« »Entschuldigung.« Er grinste. »Du hast also tatsächlich einen Namen.« Sie hatte kein ausgesprochen schönes Gesicht. Es war bleich und herzförmig, umrahmt von rotgoldenem Haar. Unter den geschwungenen Brauen waren leicht geschlitzte graue Augen. Ihre Zähne waren weiß und etwas unregelmäßig. Sie trug ein kurzes Kleid. »Setz dich mit Zard in Verbindung«, sagte Marah. »Sag ihm, daß wir das PA-System anwenden und uns gleich mit dem Schiff auf den Weg zu den Kraylen machen.« Stella bewegte sich nicht. Der Blick ihrer grauen Augen schien in weite Fernen gerichtet zu sein. Ein Schauer durchlief Campbell. Er hatte schon oft zugesehen, wenn auf
telepathischem Weg Verbindung aufgenommen wurde, aber es beeindruckte ihn immer wieder. »In Ordnung«, sagte Stella nach einer Weile. Sie schaltete das grünliche Licht aus. »Wir müssen Strom sparen«, erklärte sie. »Außerdem brauchen wir das Licht nicht mehr. Gib mir deine Hand, Campbell.« Er kam der Aufforderung gern nach. »Meine Freunde nennen mich Roy«, sagte er. Sie lachte perlend und führte ihn mit sicheren Schritten durch die Dunkelheit. Das Raumschiff, zu dem sie gingen, schien oben an der zweiten Rampe unmittelbar neben den Unterkünften zu liegen. Hier unten waren die Generatoren, die Romany mit Strom, Wärme, Wasser, Luft und allem anderen versorgten. Die dritte Rampe war eine hydroponische Farm, wo die Lebensmittel wuchsen, die die Bevölkerung von Romany brauchte. Die Rebellen von Romany hatten hier unten gerade eine Versammlung abgehalten, und Marah und Stella waren auf dem Weg nach oben gewesen, als Campbell ihnen unvermittelt in den Weg gelaufen war. Die Versammlung hatte beschlossen, den Kraylen unter allen Umständen zu helfen. Sie wußten über die Lage der Kraylen genau Bescheid, schon lange vor Campbells Eintreffen. Händler waren mit der Nachricht aus Lhi zurückgekehrt. Campbell dachte an Tredricks schmales, hartes Gesicht und fragte sich, wie vielen der Rebellen es wohl gelingen würde, lebend das Schiff zu erreichen. Er hörte ein rhythmisches Klopfen an den Metallwänden. »Hämmer«, erklärte Stella leise. »Hämmer und andere Werkzeuge, um die Roststellen zu entfernen und Romany am Leben zu erhalten. Wir haben hier den Schrott der ganzen Welt zusammengetragen.«
Ihre Stimme wurde noch leiser. »Das trifft übrigens auch auf die Menschen zu.« »Na, unter diesem Schrott gibt es noch ganz hübsche Exemplare«, meinte Campbell. Sie verstand und lachte. »Ich bin hier in Romany geboren worden. Es gibt eine Menge Erdenmenschen, die keine Heimat mehr haben.« »Ich weiß.« Campbell dachte an die Farm seines Vaters. »Und Tredrick?« »Auch er wurde hier geboren, aber seine Einstellung …« Sie stieß einen unterdrückten Schrei aus. »Marah! Marah … Zard ruft!« Sie blieben stehen. Campbell spürte, wie sein Herz pochte. »Er ist weg«, flüsterte Stella. »Er hat mich gerufen, und dann war er weg. Er versuchte uns zu warnen.« »Dann hat Tredrick ihn erwischt«, sagte Marah grimmig. »Wahrscheinlich hat er ihn niedergeschlagen, als er den Transmitterraum verlassen wollte.« »Er hatte Angst«, sagte Stella. »Er wollte uns warnen, und da hat Tredrick ihn erwischt.« »Halte deinen Strahler bereit, Campbell«, sagte Marah. »Wir gehen jetzt hinauf.« Sie kletterten eine Holzleiter hinauf. Es wurde plötzlich heiß. Campbell vermutete, daß Romany jetzt wieder im Bereich der Sonneneinstrahlung lag. Der Marsmann öffnete vorsichtig eine Luke über ihren Köpfen. »Alles klar!« rief eine junge Stimme. Sie kletterten hinauf. Vier oder fünf junge, untersetzte PanikiBarbaren von der Venus standen grinsend neben zwei bewußtlosen, gefesselten Erdenmenschen. »Worauf warten wir?« fragte er. Marah lachte, und die Venusmenschen stimmten ein. Stellas Augen leuchteten. Campbell küßte sie auf den Mund. »Los, Zigeuner!« rief er. »Fangen wir an!« Sie stürmten durch die Unterkünfte der
Venusmenschen. Die meisten von ihnen standen auf der Seite der Kraylen. Dennoch ging es nicht völlig ohne Blutvergießen ab. Merkwürdige Wesen gesellten sich zu ihnen; manche hatten zwei Köpfe, andere drei oder vier Arme, und wieder andere krochen wie Schlangen auf dem Boden. Am Rand der Unterkünfte kamen sie zu einem alten abgewrackten HoytPrachter. Hier wurden Vorräte in kleinere Schiffe verladen. Marah blieb stehen, und die anderen folgten seinem Beispiel. Campbell blickte von der Rampe hinunter. Neben Menschen von der Erde erblickte er solche von der Venus, vom Mars und Merkur und den Monden von Jupiter und Saturn. Menschen und menschenähnliche Wesen. Ein Wesen, das wie eine riesige blaue Spinne mit einem Kindergesicht aussah, stieß einen schrillen, unirdischen Schrei aus: »Verräter! Verräter!« Die Menge geriet in Bewegung. Vom Unterdeck drang eine kalte, schneidende Stimme herauf. »Wir wollen jedes weitere Blutvergießen vermeiden! Kehrt in eure Unterkünfte zurück!« »Es geht um die Kraylen!« Das klang wie ein Schlachtruf und galt dem Mann an der Rampe, hinter dem einige Erdenmenschen mit schußbereiten Waffen standen. Tredricks schmales Gesicht blieb unbeweglich. »Die Angelegenheit der Kraylen ist euch aus der Hand genommen. Sie haben einem gefährlichen Verbrecher Unterschlupf gewährt und befinden sich jetzt im Gefängnis von Lhi, um zur Verantwortung gezogen zu werden.« Roy Campbell umklammerte das Eisengeländer. Es kam ihm vor, als könnte er den eisigen, triumphierenden Ausdruck in Tredricks Augen lesen. Die kalte Stimme traf ihn mit der Unpersönlichkeit eines Skalpells in der Hand des Chirurgen.
»Dieser Verbrecher, Roy Campbell, befindet sich jetzt in Romany. Die Raumstreife muß jeden Augenblick hier eintreffen. In Anbetracht der Sicherheit eurer Familien und der Zukunft Romanys rate ich euch, ihm weder Unterschlupf zu gewähren, noch ihm zur Flucht zu verhelfen.« Roy Campbells Gesicht war wie aus Holz geschnitzt. Wie aus weiter Ferne hörte er Marahs unterdrückten Fluch und Stellas heftigen Atem. Die Menge schien nicht mehr zu wissen, was sie eigentlich wollte. Vor seinem geistigen Auge stand das gütige Gesicht eines alten Mannes, der jetzt in einer Kerkerzelle von Lhi schmachtete. Eine andere Stimme kam von der Rampe, auf der Tredrick mit den bewaffneten Männern stand. Es war die würdevolle Stimme eines alten Mannes. »Meine Kinder«, sagte die Stimme. »Habt Geduld. Vertraut darauf, daß wir, die Führer von Romany, nur euer Bestes wollen.« Campbell warf einen Blick auf den Sprecher. Er war klein und trug einen weißen Pelzmantel. Ein Marsmensch aus einer Polarstadt, mit dunklen Augen und einer zerbrechlich wirkenden Gestalt. »Denkt an die Kälte, den Hunger, die Ungewißheit und an alles, was wir ertragen mußten. Jetzt bietet sich uns ein Weg zu Frieden und Sicherheit. Laßt euch weder jetzt noch beim Eintreffen der Raumstreife zu unbesonnenen Handlungen hinreißen. Begebt euch in Ruhe zurück in eure Unterkünfte.« »Unbesonnene Handlungen!« drang Marahs Stimme durch die ruhige, warme Luft. Alle Augen richteten sich auf ihn. Campbell sah, wie Tredrick zusammenzuckte und sich an einen seiner bewaffneten Begleiter wandte. Dieser drehte sich um und verließ die Rampe. Campbell suchte fieberhaft nach einem Ausweg. Marah stand wie ein Riese am Geländer. Seine hellen Augen sprühten.
»Du, Eran Mak, ein Marsmensch! Hast du Kesh, Balakar und die Brunnen von Tamboina vergessen? Willst du vor der Koalition zu Kreuze kriechen, die dich wie einen Hund behandelt, dem man einen Knochen zuwirft? Und du, Tredrick, du hast uns verkauft!« Tredricks Stimme blieb kalt und schneidend. »Den Kraylen kannst du nicht helfen, Marah. Mit einer Revolte erreichst du nichts. Möchtest du, daß Blut an deinen Händen klebt? Möchtest du, daß wir alle vernichtet werden?« »Meine Hand«, erwiderte Marah und ließ den blitzenden Haken durch die Luft sausen. »Wenn Blut daran klebt, dann hat es die Koalition vergossen, als der Marschall mir die Schwerthand abhacken ließ!« Ein Raunen ging durch die Menge. »Tredrick hat recht«, sagte Campbell leise. »Aber es gibt noch eine Chance, wenn ihr sie ergreifen wollt.« Stella Moore legte die Hand auf Marahs Arm. »Welche?« Tredrick tat noch immer so, als habe er Campbell noch nicht gesehen, obwohl er den Befehl zu seiner Ergreifung bereits erteilt hatte. »Es kann Tod oder lebenslanges Zuchthaus bedeuten, aber es besteht noch eine kleine Chance. Laßt mich lieber in Stich und vergeßt mich.« Marah legte ihm den Haken unters Kinn. »Was hast du vor, kleiner Mann!« »Okay. Sag ihnen, sie sollen sich ruhig verhalten. Dann bringt mich hier hinaus, aber schnell!«
Tredricks Männer kannten sich in Romany aus. Ein paar Zigeuner schlossen sich ihnen bei der Suche an, denn sie wollten allen Schwierigkeiten mit der Raumstreife aus dem Weg gehen. Roy Campbell hielt Stellas Hand fest und rannte durch die Dunkelheit. Er dachte an die Raumstreife, deren
Schiffe immer näher kamen. Mit Mühe bahnten sie sich einen Weg durch das Durcheinander, um zu Campbells Fitz-Sothern zu gelangen. Unmittelbar vor der letzten Rampe gerieten sie doch noch in eine Falle. Es war in den Unterkünften der Saturnmenschen, in einem Nebenblock, wo die Flüchtlinge von Titan untergebracht werden sollten. Hier war der Boden mit glitzerndem Schnee bedeckt. »Die Höhlen«, sagte Stella Moore. »Die Baraki.« Rings um sie herum war Stimmengewirr zu hören. Aus allen Richtungen kamen Schritte. Sie rannten an Wandhöhlen vorüber, in denen ein bläulich-violettes Licht brannte. Merkwürdige Kreaturen hockten vor diesen Höhlen. Ihre anthropoiden Formen schienen aus Gummi zu bestehen. Sie waren splitternackt, und ihr einziges Auge phosphoriszierte. Marah kniete vor ihnen. »Kleine Väter, wir bitten euch im Namen der Freiheit um Schutz.« Das Geschrei und die Schritte kamen bedenklich näher. Eines der weißen Wesen nickte. »Keine Störungen«, flüsterte es. »Wir können es nicht dulden, daß die Konzentration unserer Gedanken gestört wird. Wir bieten euch Schutz, damit dieser scheußliche Lärm aufhört.« »Vielen Dank, kleiner Vater.« Marah eilte in die Höhle, die anderen ihm nach. »Sie werden uns hier erwischen!« sagte Campbell. »Nein.« Stella lächelte. »Paß auf!« Die Höhle und das violette Licht waren plötzlich verschwunden. Undurchdringliche Dunkelheit umgab sie. Campbells Nackenhaare sträubten sich. Er setzte zu einer Erwiderung an, aber Stella kam ihm zuvor. »Telekinesis«, flüsterte sie. »Sie haben uns mit einem Kraftfeld umgeben. Von außen sieht alles wie eine Felswand aus.« Marah bewegte sich. »Wenn die Schweine
verschwunden sind, können wir von hier aus auf direktem Weg zu deinem Schiff kommen. Jetzt erkläre uns deinen Plan!« Campbell lachte bitter. »Es ist überhaupt kein Plan. Nur ausgemachte Narren könnten sich auf so etwas einlassen.« »Und wenn wir darauf bestehen?« »Ich verschwinde so oder so. Die Kraylen – na ja, ich bin ihnen etwas schuldig.« »Erzähle uns von deinem Plan!« Er berichtete mit hastigen Worten, während sie die Kräfte der weißen Wesen vor der Entdeckung schützten. Marah lachte leise. »Bei allen Göttern, kleiner Mann, du hättest ein Keshi werden sollen!« »Ich kann mir vieles denken, was ich hätte werden können«, entgegnete Campbell mürrisch. »He, da verschwindet unsere Schutzwand!« Knapp vier Minuten waren vergangen. Vielleicht blieb ihnen bis zum Eintreffen der Raumstreife noch genügend Zeit. Er erreichte sein Schiff. Er lenkte die Fitz-Sothern auf die dunkle Hälfte der Venus zu. Neun schnelle Kreuzer der Raumpolizei nahmen die Verfolgung auf. Sie landeten erst gar nicht auf Romany, denn sie hatten die Fitz-Sothern entdeckt und wußten, wer sich in diesem schnellen Schiff befand. Campbells Hände glitten über die Hebel und Schalter des Armaturenbretts. Er wußte nur zu gut, wie es um seine Chancen bestellt war. Es wurde eine tolle Jagd. Die Piloten der Polizeikreuzer wandten jeden Trick an, und sie kannten eine Menge. Roy Campbell steuerte sein Schiff ohne Rücksicht auf Menschen und Material. Die Streifenkreuzer versuchten, die Fitz-Sothern in einem Energienetz zu fangen, aber es gelang dem kleinen schnellen Schiff immer wieder, die Strahlenbarriere zu durchbrechen. Einfach wollte Campbell ihnen die Sache nicht machen.
Als er in den Nachtschatten der Venus tauchte, versuchten die Kreuzer, die Jagd mit allen Mitteln zu beenden. Rücksichtslos setzten sie ihre überlegene Feuerkraft ein. Campbell biß die Zähne zusammen. Sein Körper war in Schweiß gebadet. Absichtlich verringerte er die Geschwindigkeit seines Schiffes. Ein blitzender Energiestrahl zischte steuerbords vorbei. Er drosselte die Geschwindigkeit noch stärker. Das Fitz-Sothern bebte unter der Bremswirkung. Aber der nächste Strahl traf das Schiff. Der Treffer zerschmetterte das Armaturenbrett. Campbell wurde durchs Cockpit geschleudert, und schmelzendes Metall versengte sein Haar. Er taumelte zur Luftschleuse. Ein Blutfaden zog sich über seine Wange hinunter. Er spürte, wie sich das kleine Raumschiff aufbäumte. Es drehte sich um seine eigene Achse. Campbell zog den schwarzen Raumanzug an und konnte nur hoffen, daß die Brandverletzungen an seinen Händen nicht allzu schwer waren. Ein weiterer Treffer erschütterte das Schiff, und er wurde neben der Luftschleuse gegen die Wand geschleudert. Hoffentlich mußte er sich im Helm des Raumanzuges nicht übergeben. Das Luk der Schleuse öffnete sich, und die Luft entwich mit einem zischenden Geräusch in die Leere. Von allen Seiten zuckten Blitze auf die Fitz-Sothern zu. Campbell schwebte in seinem Raumanzug durch den Weltraum. Er schloß die Augen. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Er ließ eine Weile verstreichen, stellte den kleinen Raketenantrieb ein und nahm Kurs auf das Sumpfgebiet der Provinz Tehara. Er konnte sich später nur undeutlich an diesen letzten Teil seiner Reise durch den Weltraum erinnern. Unmittelbar vor der Landung flog ein kleines Schiff der Planetenpolizei über ihn hinweg, ohne ihn zu
sehen. Über dem Sumpfgebiet würde es noch acht Stunden dunkel bleiben. Er landete auf einer Lichtung, die ihm irgendwie bekannt vorkam. Er wußte, daß er jetzt nichts übereilen durfte. Da stand ein Raumschiff der Interlunar-Serie. Er starrte ungläubig darauf und nahm den Helm des Raumanzugs ab. Als er wieder zu sich kam, ruhte sein Kopf auf Stella Moores Schoß. Sie trug jetzt ebenfalls einen dunklen Raumanzug, der ihr Gesicht noch bleicher wirken ließ. Der blutrote, volle Mund stand in scharfem Kontrast zu dem bleichen Gesicht. Campbell richtete sich auf und küßte die roten Lippen. Er fühlte sich gleich viel wohler. Das Leben pulsierte in seinem Körper. Stella lachte. »Na, du scheinst dich ja schnell zu erholen!« »Schwester«, erwiderte er, »du bist die beste Medizin für jede Krankheit!« Marahs Hand tauchte aus der tiefblauen Dunkelheit auf. Sie hielt eine Flasche. Campbell nahm die kleine Flasche dankbar an und setzte sie an den Mund. Eine wohlige Wärme breitete sich in seinem Magen aus. Er stand auf und suchte nach einer Zigarette. Sein Hemd war völlig zerfetzt und seine Hände brannten. Stella schob ihm eine Zigarette zwischen die Lippen und reichte ihm Feuer. Dankbar atmete er den Rauch tief ein. »Okay«, sagte er. »Alles in Ordnung?« Die Frage erübrigte sich, denn er sah, daß sie alle sicher auf der Venus gelandet waren. Sein Trick, die Raumkreuzer auf sich zu lenken, so daß die anderen ungefährdet zur Venus gelangen konnten, hatte gewirkt. Campbell übernahm die Führung. Ein schmaler Pfad wand sich zwischen den Lihabäumen hindurch. Niemand außer Campbell hätte diesen Pfad gefunden.
»Gebt acht, daß ihr nicht ausrutscht«, sagte er. »Wie ist euch eigentlich die Flucht gelungen?« Marah lachte grimmig. »Auf Romany ging es zu wie in einem Irrenhaus. Plötzlich schien jeder gegen jeden zu kämpfen. Tredrick mußte den größten Teil seiner Männer einsetzen, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Er war natürlich davon überzeugt, daß die Sache mit den Kraylen längst erledigt wäre.« »Nur vier Männer bewachten die Luftschleuse«, sagte Stella. »Marah und ein paar Paniki hatten leichtes Spiel mit ihnen.« Campbell berichtete ihnen von dem Raumschiff, das Kurs auf Lhi genommen hatte. »Das könnte Tredrick sein, der sich persönlich von unserer endgültigen Niederlage überzeugen möchte.« Niederlage! Vielleicht war es die Wirkung des Alkohols, aber er war davon überzeugt, daß ihm in dieser Nacht niemand eine Niederlage beibringen könnte. Er lachte vor sich hin. Stella ging unmittelbar hinter ihm. Ihr folgte ein kleiner Mann mit vier Armen. Er hatte ein weißes Fell, und auf seinem Kopf saß eine Antenne. Von dieser Antenne und den Augen des kleinen Mannes ging ein rötliches Leuchten aus. Er stammte von Kallisto, und seine vier Hände trugen ein Instrument, das wie eine Harfe aussah. Marah bildete die Nachhut. Auf der Schulter trug er den kleinen weißen Vater, den Baraki von Titan, der ihnen durch die Errichtung des Schutzfeldes das Leben gerettet hatte. Vier Zigeuner und ein Mann, der zum Staatsfeind erklärt worden war. Fünf kleine Menschen gegen die Koalitionsregierung von Terra und Venus. Es schien aussichtslos. Der warme Wind strich durch die Lihabäume. Campbell atmete die Luft tief ein und grinste. »Was soll’s?« murmelte er und drückte ein Gebüsch auseinander. Ein dunkler Steintunnel lag vor ihnen.
»Los, Kinder!« Er nahm Stellas Hand in die Linke. In der rechten hielt er die schußbereite Waffe. Roy Campbell führte sie durch den steinernen Tunnel, der früher als Abflußkanal gedient hatte. Zur Zeit war das Pumpensystem des Sumpfgebietes außer Betrieb. Nach einiger Zeit erreichten sie eine nach oben führende Steintreppe. »Vorsicht!« flüsterte Campbell und lauschte. »Es ist niemand da!« murmelte der Kallistaner, den das zu amüsieren schien. Eine Antenne war eben besser als das schärfste Gehör. Campbell drückte grinsend auf einen verborgenen Knopf in der Wand. »In Lhi wimmelt es förmlich von solchen unterirdischen Gängen«, sagte er. »Hier unten ist schon manche entscheidende Schlacht geschlagen worden.« Sie kamen in einen dunklen Kellerraum. Hier war alles still. Wenige Augenblicke später standen sie auf dem Marktplatz von Lhi. An einer Seite befand sich das Sklavenlager. Die Gebäude waren dunkel. Campbell deutete mit der Hand. »Jede Wette, daß Tredrick die Stadt bereits alarmiert hat und persönlich hergekommen ist!« Vor dem strahlend erleuchteten Tor stand eine Reihe schwerbewaffneter Männer. Campbell wußte, daß die Kraylen nur in dieses Lager geschafft worden sein konnten. Hier waren sie sicherer als an jedem anderen Ort. Grimmige Entschlossenheit stand in seinem dunklen Gesicht. »Okay«, sagte er. »Dann wollen wir mal!«
Stellas schnelle Atemzüge kamen aus der Dunkelheit. Der Metallbesatz an Marahs Gewand klirrte. Campbell warf einen
Blick in die leuchtenden Augen des Kallistaners mit der Harfe in den vier Händen. Stella öffnete lautlos die schwere Stahltüre. »Setz mich auf den Boden!« flüsterte der Baraki. Marah setzte ihn vorsichtig auf den Steinboden. Er konzentrierte sich, und seine Augen flammten. »Jetzt!« flüsterte er. Im nächsten Augenblick war er verschwunden. Von irgendwoher kam der Klang der Harfe. Campbell warf einen Blick durch die offene Tür. Nichts rührte sich auf dem weiten Platz, der in strahlendes Licht getaucht war. Noch immer tönte die Harfe. Die Posten standen wie versteinert. Der Klang der Harfe war das einzige Geräusch in der Nacht. »Der Baraki hat ein Schutzfeld errichtet«, flüsterte Stella Campbell zu. Ihr dunkles Haar schimmerte in der Dunkelheit. Marah kauerte reglos hinter ihr. Sein Haken glitzerte. Der Harfenklang übte eine geradezu diabolische Wirkung aus. Es war die reinste Zauberei. »Die Harfe von Dagda«, flüsterte Stella Moore. Irgendwo fluchte ein Mann wie im Schlaf. In der Ferne krachte ein Schuß. Einige der Posten lagen jetzt auf dem Boden. Der Klang der Harfe wurde lauter und durchdringender. Er breitete sich in der tiefblauen Nacht aus. Er schläferte alles ein. Der Baraki seufzte und schloß das Auge. Campbell sah den Kallistaner mitten auf dem freien Platz stehen und in die Saiten seiner Harfe greifen. Marah hob den Baraki wie ein müdes Kind auf. Stellas Augen leuchteten. Campbell ging auf den Platz zu. Es war ein weiter Weg. Campbell hielt die Harfe für eine unschlagbare Waffe. Sie erregte keine Aufmerksamkeit, denn wer sie hörte, schlief auf der Stelle ein.
Er öffnete das Tor zum Sklavenlager. Endlich konnte er wieder einen klaren Gedanken fassen. »Beeilt euch!« rief er den Kraylen zu. »Macht schnell!« Sie kamen durch das Tor. Männer, Kinder, Frauen mit Babies auf den Armen. Ihr Gefieder leuchtete in der Dunkelheit. Campbell deutete auf Marah. »Folgt ihm!« Sie erkannten ihn und wollten auf ihn einreden, doch er fluchte nur vor sich hin. »Mein Sohn«, sagte ein alter Mann. Campbell sah ihn an und blickte dann auf die grauen Pflastersteine hinunter. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Er sah lächelnd auf. »Beeil dich!« Jemand entdeckte den Hauptschalter. Das Licht verlöschte. Die Hand drückte Campbells Schulter und verschwand. Er schüttelte den Kopf. Die Kraylen eilten auf das Haus zu. Marah stieß einen Schrei aus. Männer kamen auf den Platz gelaufen. Acht bis zehn Männer; ein grauhaariger Mann führte sie an. Neben ihm stand Tredrick, der Vertreter der Koalitionsregierung auf Romany.
Campbell sah ihnen an, daß sie mit dieser Entwicklung der Dinge offensichtlich nicht gerechnet hatten. Vermutlich waren sie nur hergekommen, um das Lager zu inspizieren. Campbell feuerte aus der Hüfte. Die Nadeln mit dem Betäubungsgift schwirrten durch die Luft. Zwei Männer fielen zu Boden. Die anderen warfen sich der Länge nach hin, um kein Ziel abzugeben. Campbell wünschte, auch die anderen Lagerlampen wären ausgeschaltet. Geduckt eilte er hinter den Kraylen her. Stella feuerte ununterbrochen. Ein paar der Kraylen wurden getroffen und mußten getragen werden. Campbells Waffe war leergeschossen. Er führte ein
neues Magazin ein und verwünschte seine verbrannten Finger. Eine Nadel schwirrte unmittelbar an seinem Kopf vorüber. Er feuerte wieder. Am liebsten hätte er Tredrick den Kopf abgeschossen. Die Kraylen verschwanden im Haus. Marah und der Kallistaner führten sie an. Es mußte alles sehr schnell gehen. Ein von der Mutter getrenntes Kind hockte auf den Steinen und schrie aus Leibeskräften. Campbell hob es auf und rannte weiter. Das feindliche Feuer ließ nach. Der letzte Kraylen verschwand durch die Tür. Campbell hetzte die Stufen hinauf. Stella lächelte ihm zu. Ihre Augen glänzten. Sie hatten gerade die Schwelle erreicht, als hinter ihnen eine kalte Stimme erklang! »Meine Waffe ist auf euch gerichtet. Bleibt stehen!« Campbell wandte sich langsam um. Sein Gesicht war starr. Tredrick stand am Fuß der Treppe. Er mußte sich im Schatten genähert haben. »Lassen Sie die Waffe fallen, Campbell – und Sie auch, Stella Moore.« Campbell kam der Aufforderung nach. Vielleicht bluffte Tredrick nur. Aber mit diesen Waffen war nicht zu spaßen. Stellas Waffe fiel ebenfalls auf den Boden. Ihr Gesicht war vor Wut verzerrt. »Rufen Sie sie zurück, Campbell! Sie können ihnen jetzt nicht weiter helfen.« Seltsam, dachte Campbell, wie die Stimme so ruhig bleiben konnte, wenn man innerlich vor Wut kochte. »Okay, Tredrick«, sagte er. »Was soll das alles?« Tredricks Gesicht war eiskalt, nur die Augen flammten. »Ich bin in Romany geboren worden und habe dort in den Elendsquartieren gefroren und gehungert. Ich haßte dieses Leben. Ich haßte die Dunkelheit, die Einsamkeit, die Unsicherheit. Aber sobald ich sagte, daß ich das alles haßte, bekam ich Schläge. Alle anderen hielten ein solches Leben für lebenswert – ich nicht. Sie redeten von Freiheit, aber für mich war Romany ein Zuchthaus. Ich wollte wachsen, nicht ersticken. Da kam ich auf
eine Idee. Wenn ich in den Dienst der Koalition trat, konnte ich über Romany herrschen und auf diese Weise zu Geld und Macht kommen. Ich konnte dafür sorgen, daß den Kindern ein ähnliches Schicksal, wie ich es erfahren hatte, erspart blieb. Marah widersetzte sich mir, und dann kam die Sache mit den Kraylen.« Tredrick lächelte; es war ein grausames Lächeln. »Jetzt kann die Koalition sich um Marah und alle anderen kümmern. Mein Weg ist frei.« »Man wird Ihnen nie verzeihen, daß Sie Romany der Koalition ausgeliefert haben. Es wird zum offenen Krieg kommen!« zischte Stella. Tredrick nickte. »Große Veränderungen lassen sich nicht ohne Blutvergießen durchführen. Das ist zwar bedauerlich, aber am Ende wird Romany glücklich werden.« »Wir wollen nicht glücklich sein, sondern frei.« »Kümmere dich um das Kind, Stella«, sagte Campbell. Das Kind war jetzt ruhig. Stella nahm es ihm vom Arm. Campbell schirmte das Gesicht mit dem Unterarm ab und ließ sich auf die Knie fallen. Seine tastende Hand fand die neben Stellas Fuß liegende Waffe. Er nahm sie und sprang auf. Die Nadel schwirrte an Tredricks Ohr vorbei, und er zog hastig den Kopf zurück. Dadurch verfehlte er Campbell, und seine Nadel bohrte sich in die Wand. Im nächsten Augenblick hielten sich die beiden Männer umklammert, und Campbell drückte Tredrick den Ellbogen ins Gesicht. Campbell schmetterte Tredrick die Faust ins Gesicht. Der Mann blutete, war aber keineswegs kampfunfähig. Er brachte seine Waffe in Anschlag. Campbell biß die Zähne zusammen. Er holte zu einem verzweifelten Schlag aus.
Irgend etwas schwirrte an seinem Kopf vorüber. Tredrick gab keinen Laut mehr von sich, und Campbell spürte, daß er tot war. Er richtete sich auf und schüttelte sich. Der kallistanische Harfenspieler stand auf der Türschwelle. Er ließ die Hände sinken, und seine Augen strahlten. Stella lachte, und das Kind auf ihrem Arm wimmerte leise. Campbell ging zu ihr. Ein seltsamer Ausdruck stand in ihren Augen. »Ich habe ihn mit den Gedanken hergerufen«, sagte sie. »Ich wußte, daß er kommen würde.« Er nahm ihr schmales Gesicht in beide Hände. »Hör zu, Stella. Du mußt sie nach Romany führen. Und du mußt mich zum Raumschiff bringen.« Sie bekam große Augen. »Aber du kannst doch mitkommen. Er ist tot, und du bist frei.« »Nein. Glaubst du etwa, sie werden uns in Ruhe lassen?« fragte er scharf. »Du hast es jetzt mit der Koalition zu tun. Sie können es sich nicht leisten, das Gesicht zu verlieren. Sie brauchen unbedingt einen Sündenbock. Romany steht noch nicht unter planetarischer Kontrolle. Ihr braucht euch nur auf den Weg zu machen, wenn’s sein muß bis zum Saturn. Niemand hat den Kallistaner gesehen. Tredrick kann nichts mehr aussagen. Hast du mich verstanden?« Sie rebellierte noch immer. Tränen des Trotzes schimmerten in ihren Augen. »Aber du, Roy!« Er nahm die Hände von ihrem Gesicht. »Verdammt, wenn ich mich in Romany verstecke, bringe ich euch in Konflikt mit dem Gesetz. Man wird mich schnappen, und dann ist Romanys letzte Chance verspielt.« »Aber du kannst doch auch fliehen. Es sind genügend Raumschiffe da.« »Sicher, aber du darfst die Kraylen nicht vergessen. Ihr könnt sie nicht verstecken, denn die Polizei wird sie bestimmt
suchen. Ich sagte dir bereits, daß die Koalition einen Sündenbock braucht.« Er war fast am Ende seiner Kräfte. Er hoffte, daß er durchhalten konnte. Er wandte sich um und blickte über den Platz. Die ersten Posten begannen sich bereits zu regen. »Wirst du gehen?« fragte er. Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Roy …« Er wich zurück. Ein harter Ausdruck trat in sein Gesicht. »Mußt du denn alles noch schwerer machen? Glaubst du etwa, ich möchte den Rest meines Lebens im Straflager von Phobos verbringen?« Er wirbelte herum und sah sie herausfordernd an. »Wie sonst willst du Romany die Freiheit erhalten? Mit den Beamten der Koalition kannst du jedenfalls nicht Katz und Maus spielen. Sie werden neue Gesetze erlassen und euch damit erdrücken. Romany muß frei bleiben. Die Öffentlichkeit muß darüber unterrichtet werden. Wenn die Öffentlichkeit hinter euch steht, habt ihr so gut wie gewonnen.« Er lächelte. »Ich bin der bekannte Roy Campbell, Schwester, und ich kann dafür sorgen, daß die Öffentlichkeit von eurem Kampf erfährt. Dann wird niemand mehr wagen, euch auch nur ein Härchen zu krümmen. Wirst du nun um meinetwillen endlich gehen?« Ihre grauen Augen strahlten. »Du bist wundervoll, Roy.« Er schämte sich. »In meinem Beruf kann einem auf die Dauer nicht alles durchgehen. Ich bin kein heuriger Hase und kenne den Weg, der mir vorgezeichnet ist. Mit meinen Ersparnissen komme ich schon eine Weile durch.« »Hoffentlich nicht!« entgegnete sie. »Oh, Roy, das ist alles so dumm! Warum müssen die Erdenmenschen immer alles ändern, was sie in die Hand nehmen?« Er blickte auf den am Boden liegenden Tredrick hinunter. »Sie bauen alles noch auf, Stella. Wenn sie eines Tages fertig sind, werden sie eine starke, wundervolle Welt erbaut haben,
die alle Planeten einschließt. Alle Menschen werden in dieser Welt glücklich sein. Aber am Anfang stehen die Vorbereitungen zum Aufbau. Dabei muß manches vernichtet werden, das einem im Weg steht. Sie bauen diese Welt auf, Stella. Sie lassen sich durch nichts aufhalten. Es wird bestimmt eine großartige Sache. Aber im Augenblick und für uns beide …« Er brach ab und schob sie zur Seite. »Du mußt jetzt gehen!« Es war dunkel und heiß. Das Kind wimmerte. Roy Campbell fand Stellas Mund und küßte sie lange. »Ich komme zurück!« versprach er.
Originaltitel: CITADEL OF LOST SHIPS. Copyright © 1952 by Love Romances Publishing Co. Inc. Aus TOPS IN SCIENCE FICTION Jahrgang 1, Nummer 1.
John D. MacDonald AUSLESE
Es war, dachte er, wie das Leben einer Ratte, der ein rascher, schmerzloser Tod bevorsteht. Eine Ratte spürt das nahe Ende, kann aber nichts dagegen tun. Schon seit langem deuteten alle Anzeichen darauf hin. Er merkte es nicht nur seinen Arbeitskollegen, sondern auch der verhaßten Aufseherin, Miss Ellen Morrit, an. Ein sauberes Leben, hatten sie ihm gesagt. Es wird Ihnen an nichts fehlen. Es wird nicht zugelassen, daß minderwertige Subjekte Ihnen auch nur ein Haar krümmen. Zumindest hoffen wir das. Er drehte sich seufzend um und warf einen Blick über die Schulter auf die Glastür des Labors, auf der sein Name von innen aus gesehen in Spiegelschrift stand. Peter Lucas. Er fragte sich, wo er vom Weg abgekommen war. Und er fragte sich weiter, ob diese Tatsache seine Beurteilung der Lage beeinflußte. Vielleicht war Ellen Morrit im Grunde genommen doch nicht so schlecht. Sie hatten wirklich alles getan, um ihn nach der Lage der Dinge so gut wie irgend möglich unterzubringen. Ellen Morrit saß auf einem Hocker neben dem Labortisch. »Sind Sie für heute fertig mit der Arbeit, Mr. Lucas?« Er sah sie an und fragte sich wohl schon zum tausendsten Mal, warum die Aufseherinnen der Besserungsanstalt nicht besser gekleidet waren als in diese scheußlichen uniformartigen Kittelschürzen. Sie wirkte wie eine lange, weiße Röhre, aus der oben ein strenges Gesicht und unten die Schuhe hervorragten. Dabei
hatte sie unter der kleinen Goldkappe recht hübsches Haar. »Warum starren Sie mich an, Mr. Lucas?« »Ich werde Ihnen den Grund lieber nicht nennen, denn er würde Sie bestimmt aus der Fassung bringen, meine Liebe. Wie viele Jahre haben wir nun schon gemeinsam in diesem Raum verbracht?« »Drei Jahre, vier Monate und … und neun Tage«, erwiderte sie bestimmt. »Viel zu lange. Was halten Sie davon, daß wir heiraten?« Sie warf den Kopf in den Nacken und zitierte aus dem Handbuch für Aufseherinnen. »Allen Angestellten der Besserungsanstalt ist es untersagt zu heiraten, weil mit der Möglichkeit der Vererbung unerwünschter Charaktereigenschaften gerechnet werden muß!« »Wird man denn einer so farblosen Reaktionärin wie Ihnen die Heiratsgenehmigung versagen?« Sie schenkte ihm eines ihrer seltenen Lächeln, aber es reichte nicht bis zu ihren Augen. »Sobald meine fünfjährige Dienstzeit abgelaufen ist, werde ich sie bekommen, Mr. Lucas.« »Und möge Ihre Ehe mit zahllosen Eisportionen gesegnet sein.« Er stand auf und trat an das große Fenster. Das Labor befand sich im zehnten Stock der Besserungsanstalt. Er blickte über die weiten Rasenflächen hinweg auf die Gebäude der neuen Stadt. Sie sah aus wie ein Gebilde aus Tausendundeiner Nacht. Dennoch fühlte Peter sich seltsamerweise mehr von der nebenan liegenden toten Stadt angezogen. Ein Schuttwall bildete die Grenze zwischen den beiden Städten. In der neuen Stadt wimmelt es von Fahrzeugen und Fußgängern. Die tote Stadt diente dem Gesindel als Unterschlupf. Er spürte, wie sie neben ihn trat, und deutete trotzig auf ein graues Gebäude in der toten Stadt.
»Sie hatten die richtige Vorstellung, Morrit. Sehen Sie sich das an. Funktionell und sauber. Sie hatten die richtige Richtung eingeschlagen.« »Eine eigenartige Bemerkung, Mr. Lucas«, entgegnete sie nachdenklich. »Sie zeigte den Widerspruch in Ihren Gedankensprüngen. Wir schlagen keine Richtung ein, sondern geben uns mit der statischen Entwicklung unserer Gemeinden zufrieden.« Er lachte. »Sie meinen, wir folgen einer breiten, großartig angelegten Straße, die zu unserer Vernichtung führt. Wir haben ein altes Gesetz vergessen: Fortschritt oder Untergang.« »Das hat sich als falsch erwiesen, Mr. Lucas. Das sollten Sie eigentlich selbst wissen. Wir verdanken es ausschließlich der extrem liberalen Einstellung unseres Präsidenten Ladu –« »Daß wir überhaupt noch am Leben sind? Wie nett von Emery!« »Vor dreißig Jahren, Mr. Lucas, wären Sie wahrscheinlich nach Auswertung der Tests auf schmerzlose Weise … beseitigt worden – vermutlich schon im Alter von zwölf Jahren.« »Und Sie bedauern, daß heutzutage nicht mehr nach dieser Grundlage gehandelt wird.« Ihre grauen Augen blitzten wütend, und sie wandte sich ab. »Ich sehe keine Notwendigkeit für Verbesserungen«, sagte sie. »Es genügt vollkommen, die erforderlichen Reparaturen und Kontrollen durchzuführen.« »Wenn sie mich auf freien Fuß setzen würden, könnten Sie mal ein paar durchschlagende Verbesserungen erleben.« Lucas deutete auf den kleinen Motor, der in seine einzelnen Bestandteile zerlegt auf der Werkbank lag. Zusammenmontiert war er kaum größer als ein Pfirsichkern. »Der leistet eine viertel Pferdestärke. Der Motor kann nicht verbessert werden, weil alle entscheidenden Veränderungen verboten sind. Wenn es mir gestattet wäre, würde ich ganz neue Methoden
ausprobieren. Auf diese Weise würde ich fünf PS herausholen – möglicherweise auch fünfhundert, und dann …« »Seien Sie still!« Ihre Lippen bildeten einen schmalen Strich. Er kehrte lächelnd zu seinem Stuhl zurück. »Ich habe ganz vergessen, Morrit, daß das Wort Wissenschaft einen scheußlichen Beigeschmack hat. Man muß sich auf die genehmigten Errungenschaften beschränken: Radio, Fernsehen, Verbrennungsmotoren, Elektrizität, Telefon und dergleichen. Mit Elektronik darf man sich auf keinen Fall befassen. Und atomare Kräfte scheiden von vornherein aus. Nein, nein, so etwas kommt nicht mehr in Frage.« Er sah ihr an, daß sie sich zusammenriß. Mit einer anmutigen Bewegung setzte sie sich wieder auf den Hocker. »Es gehört nicht zu meinen Aufgaben, über derartige Dinge mit Ihnen zu diskutieren, Mr. Lucas. Ich hatte eine technische Grundausbildung, um erkennen zu können, ob Sie die vorgeschriebenen Grenzen einhalten. Sie und Männer Ihres Schlages sind für unsere heutige Zivilisation ebenso gefährlich wie ein unkontrollierbarer Großbrand. Deshalb stehen Sie unter scharfer Bewachung. Wenn Sie auf einer Fortsetzung dieser Diskussion bestehen, werde ich Sie dem Anstaltsleiter melden.« Lucas seufzte. »Schon gut, schon gut.« Er ergriff eine kleine Achse mit der Pinzette und hielt sie hoch. »Die Lager dieser Achse werden selbsttätig geschmiert, aber wenn diese Lager einmal auslaufen, wird alles unbrauchbar. Deshalb werde ich mir ein paar Gummimanschetten besorgen, um die Lager sorgfältig abzudichten. Einverstanden?« Wieder zitierte sie aus dem Handbuch. »Falls ein Experiment die vorgeschriebene Grenze überschreitet, ist es die Pflicht der Aufseherin, den Fall unverzüglich der Oberaufseherin zu melden. Die Aufseherin selbst darf auf keinen Fall eigene Stellung dazu beziehen!«
Ihr Gesicht wirkte ruhig und konzentriert. Lucas schnaubte verächtlich, holte ein Buch aus dem Regal und machte sich ein paar Notizen. Er schrieb eine Materialanforderung aus, schob sie in einen Briefumschlag und fügte die defekte Manschette hinzu. Die anderen Teile des kleinen Motors wischte er achtlos in den Abfallkorb. Dabei klemmte er eine winzige Schraube in die untere Gelenkfalte des Daumens. Er wandte sich dem Fenster zu und stocherte in den Zähnen. Unbemerkt verstaute er die winzige Schraube in dem hohlen Backenzahn, aus dem er in der vergangenen Nacht die Plombe entfernt hatte. Bei der Durchsuchung würde die kleine Schraube den gleichen Metallindex angeben wie die entfernte Plombe. Der Nerv des hohlen Zahns begann schmerzhaft zu pochen, doch Lucas zwang sich zu einem gähnenden Lächeln. »Ich glaube, wir sollten Feierabend machen, Morrit.« Sie blickte auf die Uhr. »Noch zehn Minuten.« »Zu spät, um ein neues Experiment zu beginnen.« Er blickte wieder auf das Gebäude in der toten Stadt. »Haben Sie eigentlich schon mal über die tote Stadt nachgedacht, Morrit? Über den Grund ihres Vorhandenseins?« Diesmal zitierte sie aus dem Handbuch der Weltgeschichte. »Während der ständig anhaltenden Bevölkerungsabnahme wurden viele Städte wegen des ungünstigen Klimas oder aus anderen Gründen verlassen. Im gleichen Umfang wurden an geeigneteren Stellen neue Städte aufgebaut!« »Zitieren und Nachdenken sind zwei Paar Schuhe, meine Liebe. In dieser Stadt haben früher fünf Millionen Menschen gewohnt. Wie viele sind es jetzt? Achthunderttausend? Vielleicht sind wir zeugungsmüde geworden, Morrit. Mutter Natur paßt unsere Zahl den Verhältnissen an, die wir uns selbst geschaffen haben.« Morrit kniff die Augen zusammen.
»Und wer trägt die Schuld daran, Mr. Lucas? Die herzlosen Männer des Fortschritts. Sie haben mit ihren Explosionen so viel gutes, fruchtbares Land vernichtet, daß Millionen hungern mußten. Deshalb wird die gesamte Menschheit sie für immer hassen. Dabei nannten sie sich ›Schöpfer‹ und ›Wissenschaftler‹. Sie sollten sich dieser Gedanken schämen, Mr. Lucas, denn Sie gehören auch zu ihnen. Natürlich stehen Sie jetzt unter unserer scharfen Kontrolle und können keinen weiteren Schaden anrichten. Sie sind ein Diener der Gesellschaft, und Ihre Leistungen werden von uns dirigiert.« Lucas fuhr sich mit der Hand durch das kurzgeschorene dunkle Haar und verzog das schmale Gesicht. »Morrit, warum können wir eigentlich nicht den gleichen Gedankengängen folgen? Warum steht diese unüberwindliche Wand zwischen uns?« Sie nahm wieder Zuflucht zu einem Zitat aus dem Handbuch. »Wissenschaftliche Hingabe ist eine gefährliche und charakteristische Mutation, die nur Raum für die eigene Schaffenskraft läßt, ohne daß es der Betroffene versteht, sein Wissen und Können für das Wohl der Allgemeinheit einzusetzen!« Lucas unterdrückte die aufsteigende Wut, indem er auf den hohlen Zahn biß, in dem die kleine Schraube steckte. »Die zehn Minuten sind um, meine Liebe«, sagte er müde.
Ein hoher Zaun grenzte den Weg ab, der zu den kleinen weißen Häusern führte, in dem die Insassen der Besserungsanstalt untergebracht waren. Peter Lucas trug jetzt seinen Straßenanzug und wartete, bis die vor ihm eingetroffenen Arbeiter durch die Suchabteilung geschleust worden waren. Nachdem sich zehn Arbeiter
versammelt hatten, führte ein Wärter sie zu den kleinen Häusern. Diese Vorsichtsmaßnahme war eingeführt worden, nachdem ein Mob eines Tages durch den Zaun gedrungen war und drei Arbeiter buchstäblich zerfetzt hatte. Der schwelende Haß konnte jeden Augenblick erneut aufflammen. Es fiel Lucas auf, daß die anderen neun Arbeiter sich ihm gegenüber recht ablehnend verhielten. Anscheinend hatte es sich bereits herumgesprochen, daß er unverbesserlich war. Zu früheren Zeiten hätte das einen raschen, schmerzlosen Tod bedeutet. Doch inzwischen war ein anderer Tod erfunden worden: die Vernichtung des Verstands. Ein kurzer Schnitt mit dem elektrischen Messer, und schon waren Erinnerung und Intelligenz für immer vernichtet. Der Betreffende konnte nur noch unbedeutende Handlangerdienste verrichten. Sie erreichten die Gruppe der sechzig kleinen weißen Häuser. Aus sechzig ehemaligen Wissenschaftlern waren längst harmlose Mechaniker geworden. Von seiner Haustür aus konnte er in einer Entfernung von zehn Meilen den gigantischen Hochbau sehen, in dem die Zentralverwaltung der Welt untergebracht war. Nach den drei verhängnisvollen Kriegen hatten sich alle Regierungen zusammengeschlossen. Emery Ladu trug den Titel eines Präsidenten – nicht den eines Diktators oder Königs. Ladus Palast war die Zentralverwaltung der Welt. Dort konferierte er mit seinen fünf Prinzen von den einzelnen Kontinenten. Allerdings wurden sie nicht Prinz, sondern Rad genannt. Lin von Eurasien; Morol aus Afrika; Frisee aus Australien; Ryan von Nordamerika; Perez von Südamerika. Der Hochbau der Zentralverwaltung war das Symbol ihrer Herrschaft. Unbemerkt von der Öffentlichkeit wurden irgendwo junge Männer ausgebildet, die zu gegebener Zeit die
Nachfolge antreten sollten. Alles spielte sich nach einem genauen Schema ab, und nichts wurde dem Zufall überlassen. Alle hatten genügend Lebensraum, und damit entfiel die primäre Voraussetzung zum Ausbruch eines Krieges. Der Lebensstandard war ausreichend, denn die Vorräte in den toten Städten waren schier unerschöpflich. In allen Belangen gab es nur noch kleine, unwesentliche Verbesserungen. Bei entsprechender Pflege und Wartung konnte ein Fahrzeug Generationen zur Verfügung stehen. Es war die einzige Welt, die Peter Lucas kannte. Früher war es eine gute Welt gewesen. Damals hatte es ein gemütliches Heim mit alten Büchern gegeben, in denen Geschichten über Cowboys und Soldaten standen. Im Alter von zwölf Jahren hatte er sich den Tests unterzogen. Und dann waren in diesem gemütlichen Heim die ersten Tränen vergossen worden. Es war, als hätten seine Eltern entdeckt, daß er ein monströser und obszöner Junge sei. Vergebens hatte ihre Elternliebe gegen diese Erkenntnis angekämpft. In jenem Jahr waren dreihunderttausend Kinder ausgewählt worden. Mit jedem Jahr waren es weniger geworden. Die Gesellschaft hatte die krebsartigen Geschwüre ausgemerzt, die in jeder Generation auftauchten. Später waren diese Kinder unter das elektrische Messer gekommen, denn die Gesellschaft fürchtete ihre mathematischen und mechanischen Fähigkeiten, die schöpferischen Kräfte, die nach neuen Erkenntnissen suchten. Nach der Behandlung mit dem elektrischen Messer wurden sie für Handlangerdienste ausgebildet. In jenem Jahr, da Peter Lucas zu den ausgewählten Kindern gehörte, waren sie in ein großes Lager geschafft und weiteren Untersuchungen ausgesetzt worden.
Peter Lucas wurde mit vier weiteren Kindern auf eine Sonderschule geschickt, wo es noch die inzwischen verbotenen Bücher gab und wo verbotenes Wissen vermittelt wurde. Mit zwanzig Jahren war er in die Besserungsanstalt gekommen. Ladu hatte die Zahl auf sechzig festgesetzt. Jedes Jahr wurden fünf Kinder von jenen abgesondert, denen das Messer bevorstand. Jedes Jahr graduierten fünf junge Männer von der Sonderschule. Und jedes Jahr wurden die fünf unsichersten Kandidaten der Besserungsanstalt dem elektrischen Messer überliefert. In zwei Wochen würden die Neuen eintreffen. Und Peter Lucas wußte, was ihm aufgrund seiner Einstellung bevorstand. Er ging in das kleine Haus mit den zwei Räumen. Die spartanische Einrichtung erinnerte an eine Zelle. Unmittelbar über dem Fernsehschirm befand sich das Mikrofon, das jedes Geräusch im Haus einfing und übertrug. Das Haus blitzte vor Sauberkeit. Das Abendessen stand auf einem kleinen Tisch. Während der nächsten Stunde durfte er sich auf der kleinen umzäunten Fläche vor dem Haus aufhalten. Nach Ablauf dieser Stunde durfte er das Haus nicht mehr verlassen. Besuche mußten beantragt werden und bedurften einer schriftlichen Genehmigung. Diese Besuche waren auf eine Stunde begrenzt und wurden von einem Wächter überwacht. Es war schon lange her, daß Peter Lucas besucht worden war oder selbst einen Besuch abgestattet hatte. Er stellte sich unter die Dusche, schaltete das Fernsehgerät ein und begann mit der Mahlzeit. Auf dem Schirm spielte sich ein Melodrama ab. Einem Mann mit einem verbrecherischem Gehirn war es gelungen, sich den vorgeschriebenen Tests zu entziehen und eine Geheimwaffe zu entwickeln, mit der er die Welt vernichten wollte. Als er gerade zu dem entscheidenden Schlag ausholte, brachte der Held ihn im letzten Augenblick
zur Strecke. Anschließend folgte die übliche Belehrung über die Moral zu der Geschichte. Er spürte, wie die Spannung in ihm wuchs, und zündete sich eine Zigarette an. Er wußte, daß das Haus während seiner Arbeitszeit im Labor genau durchsucht worden war. Er legte sich aufs Bett und ließ die linke Hand wie zufällig an der Plastikwand des Hauses baumeln. Er spürte den Wachspfropfen auf dem kleinen Loch, das er an dieser Stelle ausgesägt hatte. Seine innere Spannung ließ nach. Vorsichtig löste er das Wachs mit dem Daumennagel und zog das winzige Gerät hervor, dessen Entwurf und Ausführung sechs Jahre gedauert hatten. Das Wissen um dieses Gerät hatte ihn davor bewahrt, unter der ständigen Anspannung den Verstand zu verlieren, wie es vielen anderen ergangen war. Jedes winzige Teilchen dieses Gerätes hatte er hereinschmuggeln müssen. Gramm für Gramm hatte er das Metall hergebracht, um es in mühevoller Kleinarbeit in die richtige Form zu bringen. Vierzehn lange Monate hatte es gedauert, die erforderlichen Teilchen zusammenzutragen und in einem kleinen Gummiball unterzubringen. Als Morrit für kurze Zeit das Labor verließ, hatte er ihn durchs Fenster auf den Weg geworfen. Fast war ihm das Herz gebrochen, als es ihm an zwei Tagen hintereinander nicht gelang, den kleinen Gummiball aufzuheben und unbemerkt mitzunehmen. Beim dritten Versuch hatte es dann endlich geklappt. Da er sich nicht zu bücken wagte, war er kurz stehengeblieben und hatte den Ball fest zwischen die Absätze geklemmt, so daß er an einem Absatz kleben blieb. Vier kleine Silberdrähte konzentrierten die Energie des Geräts auf einen bestimmten Punkt. Jeder dieser Silberdrähte war vierzig Millimeter lang. Diese Silberdrähte waren in der Mitte durch hauchfeine Kupferdrähte verbunden.
In der Mitte des kleinen Zylinders steckte ein Milligramm eines Isotops, das er vor fünf Jahren in einem der verbotenen Bücher entdeckt hatte. Vermutlich war es dort; von einem Mann versteckt worden, der hochtrabende Pläne im Kopf hatte, die er dann nicht mehr verwirklichen konnte. Das Gerät war ungewöhnlich klein. Er hoffte, eine jener winzigen Batterien in die Hand zu bekommen, mit denen Radioapparate von der Größe einer Armbanduhr betrieben wurden. Mit einer solchen Batterie konnte er das Isotop aktivieren und auf diese Weise die Moleküle zersetzen, so daß sich alle festen Materialien zunächst in Flüssigkeit und dann in Gas auflösten. Er zog die kleine Schraube aus dem hohlen Zahn und befestigte damit den Batteriehalter. Jetzt brauchte er nur noch die Batterie und ein kleines, hartes Kupferstück. Dann konnte er das Minigerät in der hohlen Hand halten und in Betrieb nehmen. Da er sich die einzelnen Formeln nicht aufschreiben durfte, war er gezwungen gewesen, sie sich so fest einzuprägen, daß sie wie in gleißender Flammenschrift vor einem dunklen Hintergrund in seine Erinnerung eingegraben waren. Zwei Wochen blieben ihm noch, um unter Ellen Morrits Augen einen Gegenstand in seinen Besitz zu bringen, der wesentlich größer war als alle bisherigen. Ein unmögliches Unterfangen. Als letzter Ausweg blieb ihm nur noch die Möglichkeit, die Formeln auf ein Stück Papier zu schreiben und dieses mit dem Gerät im Versteck zu lassen. Vielleicht konnte der nächste Bewohner dieses Hauses die Arbeit da fortsetzen, wo er, Peter Lucas, hatte aufgeben müssen. Er schob das Gerät zurück ins Versteck, drückte das Wachs darüber und strich es mit dem Daumennagel glatt.
Arden Forrester, der Leiter der Durchsuchungsabteilung, war ein kleiner, unscheinbarer Bursche, in dessen Gesicht ständig ein neugieriger Ausdruck stand. Er war sich der Verantwortung seines Postens voll bewußt. Zusammen mit dem Leiter der Besserungsanstalt und dem zuständigen Psychiater gehörte er dem Ausschuß an, der darüber entschied, welche fünf Arbeiter den Neuen Platz zu machen hatten. Er hielt sich für einen harten, energischen Draufgänger. Auf keinen Fall wollte er sich von diesen Arbeitern etwas vormachen lassen. Er ballte die kleinen Fäuste und straffte sich in den Schultern, um die Ehrenbezeugung eines jüngeren Wärters entgegenzunehmen. Er betrat das Büro des Chefs, knallte die Hacken zusammen und salutierte. Es ging ihm wie immer gegen den Strich, daß er vor dem dicken Dale Evan salutieren mußte. Der Mann legte nicht den geringsten Wert darauf, sich körperlich fit zu halten. Wie sollte man mit einer derart plumpen Figur auf Draht sein? Sargo, der Psychiater, saß neben Evan. Evan begrüßte Forrester mit einer flüchtigen Handbewegung und sagte: »Setzen Sie sich, Arden, setzten Sie sich. Wir müssen die Liste noch einmal durchgehen. Es sind noch acht Namen übrig. Die Aufseherinnen warten draußen in der Halle. Wahrscheinlich haben Sie sie gesehen.« Arden Forrester setzte sich und zupfte die Bügelfalten seiner grauen Uniformhose sorgfältig zurecht. Evan reichte ihm die Liste. Er las sie mit gespitzten Lippen. Er zückte seinen Kugelschreiber und hakte vier der acht Namen ab. Dann gab er die Liste zurück. »Diese vier haben versucht, verbotene Gegenstände aus dem Labor zu schmuggeln. Es bleibt Ihnen überlassen, den fünften Namen auszuwählen.« Dale Evan seufzte. »Ich wünschte, Sie hätten fünf Namen abgehakt, Arden. Auf wen fällt Ihre Wahl, George?«
Sargo betrachtete die Glut seiner Zigarette. »Lewisson oder Bendas.« »Ich würde mich für Bendas oder Lucas entscheiden«, sagte Evan. »Das wäre also abgemacht«, sagte Forrester und stand auf. »Meine vier und Bendas.« Dale Evan sah ihn gereizt an. »Setzen Sie sich, Forrester! Wir werden jetzt die Aufseherinnen anhören. Holen Sie Lucas’ Aufseherin herein. Ich glaube, sie heißt Morrit.« Forrester umfing Ellen Morrit mit einem wohlwollenden Blick. Er sah sie zum erstenmal in Straßenkleidung. Ihr blondes Haar wallte bis über die Schultern herab. Es verlieh ihrem Gesicht einen weichen Zug. Das hellblaue Kleid brachte ihre attraktive Figur voll zur Wirkung. Arden Forrester nahm sich vor, möglichst bald von seinem Recht Gebrauch zu machen und diese Aufseherin persönlich zu durchsuchen. Das mußte recht interessant werden. »Peter Lucas, Nummer dreiundvierzig, wird für die Behandlung mit dem elektrischen Messer in Betracht gezogen, Miss Morrit. Alles, was in diesem Raum gesprochen wird, ist streng vertraulich. Welche Meinung haben Sie sich von Lucas gebildet?« »Er zeigt wie alle anderen Mechaniker eine typische Unsicherheit.« »Sind Ihnen in letzter Zeit irgendwelche Veränderungen aufgefallen?« »Nein, Sir.« »Versucht er … Sie für seine Überzeugungen zu gewinnen?« »Nein, Sir.« »Blickt er voller Verachtung auf die etablierte Ordnung hinunter?« »Nein, Sir.« »Möchten Sie einem anderen Arbeiter zugeteilt werden?« Sie legte eine kurze Pause ein.
»Daran habe ich noch gar nicht gedacht.« Sie zuckte die Schultern. »Ein anderer Arbeiter würde mich vielleicht vor größere Probleme stellen, Sir.« »Das wäre alles. Schicken Sie bitte Miss Peckingham herein.«
Ellen Morrit ging langsam die Halle hinunter auf den Ausgang zu. Sie zeigte ihren Ausweis vor, und der Wärter öffnete die Tür. Sie war verwirrt. Peter Lucas hatte sich im vergangenen Monat so störrisch verhalten, daß sie wiederholt den Entschluß gefaßt hatte, ihn bei Dale Evan zu melden. Das hatte sie sogar einigen ihrer Kolleginnen gegenüber erwähnt. Dennoch hatte sie eben vorsätzlich gelogen! Es war undenkbar. Alle Aufseherinnen waren sorgfältig getestet worden, um jede gefühlsmäßige Beeinflussung von vornherein auszuschließen. Und trotzdem hatte sie gelogen! Langsam wandte sie sich der Bushaltestelle zu und blieb unvermittelt stehen. Plötzlich wußte sie, warum sie gelogen hatte: sie wollte den Rest ihrer Dienstzeit in der Besserungsanstalt in einem Raum mit Peter Lucas verbringen. Um dieses Problem zu lösen, brauchte sie sich nur einem neuen Test zu unterziehen. Nein! Das würde sogleich Evans Verdacht erregen. Es war geradezu atavistisch, an einen Mechaniker mit einem anderen Gefühl als Verachtung zu denken. Mr. Evan, Captain Forrester und Mr. Sargo waren vernünftige Männer, denen die richtige Entscheidung zuzutrauen war. Es lag ganz offen auf der Hand, daß Peter Lucas eliminiert werden mußte.
Als sie sich jedoch vorstellte, daß Peter Lucas wie eines jener armseligen Wesen aussehen sollte, die mit dem elektrischen Messer bearbeitet worden waren, drehte sich ihr das Herz um.
Peter Lucas blieb in der hellen Morgensonne stehen und blickte auf das Haus, in dem die Durchsuchungsabteilung untergebracht war. Der Wärter stieß ihn weiter. »Hör auf zu träumen!« Lucas zog sich im ersten Raum splitternackt aus und hängte die Kleidung in den Schrank. Als er zur Waage kam, stellte der Wärter seine Nummer ein. Ein kurzer Glockenton verkündete, daß das eingestellte Gewicht genau stimmte. Lucas betrat den zweiten Raum und zog die Anstaltsuniform an. Während er die Sandalen festband, fragte er sich, wie, um alles in der Welt, er die Batterie durch diesen Raum bringen sollte. Heute abend wollte er die Zahnplombe im Labor zurücklassen und dafür ein kleines Stück Hartkupfer mitnehmen. Morgen früh wollte er ein wertloses Stück Metall mitnehmen, das er später im Labor wegwerfen konnte. Das alles war höchst einfach. Nur die Batterie machte ihm seit elf Monaten zu schaffen. Sie war zu groß, um sie auf den Weg zu werfen und später mitzunehmen. Es würde sich niemand finden, der sie ihm nach dem Verlassen dieses Gebäudes zuwerfen könnte, ohne daß der Wärter es bemerkte. Beim Betreten des Hauptgebäudes musterte Captain Forrester ihn mit einem sardonischen Blick. Unwillkürlich fragte Lucas sich, wie oft er sich schon gewünscht hatte, diesem Kerl die Faust ins Gesicht zu schmettern. Er kannte die Arbeit, die ihn heute erwartete. Dabei würde ihm auch eine geeignete Batterie in die Hand fallen. Er konnte
sie in der hohlen Hand mitnehmen und mit der von ihm angebrachten Feder an der Unterseite seines Schrankes verstecken. Aber was dann? Die Tür zum Labor stand offen. Wie üblich wartete Ellen Morrit bereits auf ihn. Sie sah aus, als hätte sie eine schlaflose Nacht hinter sich. Das war bei ihr noch nie vorgekommen. »Haben Sie eine ausgedehnte Party hinter sich, Morrit?« »Ich habe nicht einschlafen können«, erwiderte sie kurz. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen. Sie deutete auf das Paket auf dem Labortisch. »Ein tragbares Funksprechgerät der Polizei. Nach den Unterlagen der statistischen Abteilung fallen fünfzehn Prozent dieser Geräte innerhalb von drei Monaten durch verzerrte Lautsprechertöne aus.« Er zwang sich zu einem ausgiebigen Gähnen. Das war die erträumte Batterie – eine verdammt gute! Ellen Morrit behielt ihn den ganzen Tag über scharf im Auge. Kurz vor dem Morgengrauen hatte sie sich zu einem Entschluß durchgerungen. Sie wollte Peter Lucas eine letzte Chance geben und ihn erst melden, wenn er sich einen weiteren Fehltritt leistete. Er hatte das Funksprechgerät inzwischen analysiert und festgestellt, daß die gemeldeten Tonverzerrungen auf einer Fehlschaltung im ultrakurzen Wellenbereich beruhten. Der Fehler konnte dadurch behoben werden, daß die künftigen Geräte in diesem Bereich mit Schrauben ausgerüstet würden, die magnetunempfindlich sind. Er schob die einzelnen Teile in den Abfallkorb, die beiden fehlerhaften Schrauben mit der entsprechenden Anweisung in einen Briefumschlag, und stand auf. Sie sah ihn auf die Tür zugehen und »Bis morgen, Puppe« sagen. Irgend etwas stimmte nicht, aber sie vermochte nicht zu sagen, was es war. »Einen Augenblick!« rief sie.
Er blieb stehen und drehte sich langsam um. Sein Lächeln wirkte gezwungen. Sie trat auf ihn zu und sagte: »Hier stimmt doch etwas nicht, Mr. Lucas. Sie halten Ihre Hand so merkwürdig.« Sie packte ihn am Handgelenk und ließ sich die Hand zeigen. Die kleine Batterie lag auf seiner Handfläche. Die Tür war noch immer geschlossen. Sie sah ein, daß es ein Fehler gewesen war, ihn durch eine Lüge zu decken. »Ich werde …« Sie konnte den Satz nicht beenden. Seine Hand spannte sich um ihren Hals. Er drückte sie rücklings gegen die Wand. Seine Augen flackerten. Es rauschte in ihren Ohren, und der Raum drehte sich wie im Nebel vor ihren Augen. Sie konnte nicht mehr atmen. Ihr letzter klarer Gedanke sagte ihr, daß er seinen verrückten Plan niemals würde durchführen können. Sein Gesicht stand unmittelbar vor ihrem. In den vergangenen Jahren waren einige Aufseherinnen ermordet worden. Diese Mechaniker waren mit ihren unsicheren Charaktereigenschaften zu allem fähig. Aber diese Diagnose bedeutete in ihrer augenblicklichen Lage kaum einen Trost. Zu ihrer Überraschung löste er plötzlich die Hände von ihrem Hals. Sie keuchte erstickt; Tränen liefen über ihre Wangen. Er musterte sie mit merkwürdigen Blicken. »Morrit«, sagte er mit heiserer Stimme, »ich glaube, es wäre mir durchgegangen. Was ist denn, wenn man jemanden haßt und ihn doch nicht umbringen kann? Wenn man nicht umbringen will …« Er drückte sie erneut gegen die Wand und küßte sie. Das Blut schoß ihr in die Wangen. Sie gab ihm einen Schlag auf den Mund und wich zur Seite. »Mr. Lucas, ich werde diesen Beweis auf der Stelle in das Büro von …« Sie brach ab, und beide wirbelten herum, als die Tür geöffnet wurde. Miss Glaydeen, die Hauptaufseherin, trat ein. Das
ganze Labor erzitterte unter ihren schweren Schritten, und ihr feistes Doppelkinn wabbelte. Ein spöttischer Ausdruck spiegelte sich in ihren Augen, und sie blieb drei Schritte vor Ellen Morrit stehen. »Eigentlich wollte ich Ihnen die Nachricht zuschicken, Morrit, aber dann habe ich es mir anders überlegt und bin persönlich gekommen, um zu sehen, ob Sie über irgendwelche verborgenen Talente verfügen.« »Wie meinen Sie das?« fragte Ellen Morrit. »Eine große Ehrung steht Ihnen bevor, meine Liebe. Captain Forrester hat mir erklärt, daß er Sie heute abend persönlich durchsuchen möchte. Äußerst schmeichelhaft für Sie. Und erheben Sie keine Einwände, denn Sie wissen ja selbst, daß er das Recht dazu hat.« »Aber ich …« »Melden Sie sich in Zimmer C, meine Liebe. Ich glaube, der gute Captain wartet dort bereits ungeduldig auf Sie.« Miss Glaydeen drehte sich lächelnd um und stapfte hinaus. Krachend fiel die Tür hinter ihr ins Schloß. Ellen Morrit kam sich vor wie in einem Alptraum. Sie trat zwei Schritte auf Peter Lucas zu. »Gibt es denn gar keine Möglichkeit …« »Nach dem Handbuch nicht«, erwiderte er. Sein besorgter Gesichtsausdruck überraschte sie. Die ganze Welt schien auf dem Kopf zu stehen. Ein Mann, der sie umbringen wollte, hatte sie statt dessen geküßt. Sie hatte ihre Vorgesetzten vorsätzlich angelogen. Und nun hatte Captain Forrester etwas Unglaubliches mit ihr vor. Sie fühlte sich hin und her gerissen. »Ihnen muß sehr viel an diesem Ding liegen«, sagte sie und blickte auf die kleine Batterie in ihrer Hand. »Sehr, sehr viel«, räumte er ein und hüstelte. »Wenn Sie die Batterie auf der Stelle zu Onkel Evan bringen, könnten Sie der
Sache vielleicht noch eine entscheidende Wendung geben.« Sie sah, daß er bereit war, sich selbst zu opfern, um ihr die bevorstehende Demütigung zu ersparen. Sie verließ das Labor mit der kleinen Batterie in der Hand. Sie ging auf geradem Weg zum Raum C, öffnete ruhig die Tür und zog sie hinter sich ins Schloß.
Peter Lucas wartete darauf, daß sie kommen und ihn abholen würden. Aber sie kamen nicht. Er nahm das Stück Hartkupfer und ging langsam zur Durchsuchungsabteilung. Er war einer der letzten, und der Wärter trieb ihn zur Eile an. Jenseits der Waage zog er sich so langsam an, daß der Wärter wütend wurde. Der Wärter führte ihn und einen anderen Heiminsassen auf dem Weg am Zaun entlang. Lucas sah eine junge Frau an den Zaun treten. Ihr Haar schimmerte in der Abenddämmerung. »Verschwinden Sie vom Zaun!« herrschte der Wärter sie an. »Ich bin eine Aufseherin«, erwiderte die junge Frau mit Nachdruck. Lucas erkannte ihre Stimme und starrte Ellen Morrit ungläubig an. Er sah sie zum erstenmal in Straßenkleidung. Ihr Haar wallte über die Schultern herab. »Kommen Sie her, Wärter!« befahl sie. Der Wärter wandte sich an die beiden Heiminsassen. »Ihr bleibt hier stehen!« Er trat an den Zaun. Lucas sah den bitteren Zug in Morrits Mundwinkeln und den trotzigen Ausdruck in ihren Augen. »Wärter«, sagte sie, »durchsuchen Sie den größeren der beiden. Es ist irgendein Gegenstand herausgeschmuggelt worden.« Als der Wärter sich ihnen zuwandte, sah Lucas den flehenden Blick in Ellen Morrits Augen. Das brachte ihn völlig durcheinander. Sie versuchte, ihm etwas mitzuteilen.
Der andere Heiminsasse sah gelangweilt zu. Lucas hob die Arme, und der Wächter durchsuchte ihn sorgfältig. Lucas hielt den Atem an, als er den kleinen Gegenstand in Morrits Hand sah. Sie holte mit dem Arm aus und ließ den Wärter keine Sekunde aus den Augen. Nach der Durchsuchung wandte der Wärter sich langsam wieder um. In diesem Augenblick warf Ellen Morrit die kleine Batterie über den Zaun. Als der Wärter sich ganz umgewandt hatte, hingen ihre Arme wieder an den Seiten herab. Lucas sah die Flugbahn der Batterie und fing sie mit der Hand auf. Er ließ sie in der Tasche verschwinden. »Er hat nichts bei sich«, berichtete der Wärter. Der andere Heiminsasse hatte alles mitangesehen und grinste. »Entschuldigen Sie«, sagte Ellen zu dem Wärter und wandte sich an Lucas. »Ich werde morgen nicht kommen, Mr. Lucas.« Er erkannte die Bedeutung dieser Worte erst, als er in seinem kleinen weißen Haus saß. Ellen Morrit wollte morgen nicht kommen. Nach den strengen Vorschriften durfte eine Aufseherin erst nach Ablauf der vollen fünf Jahre den Dienst quittieren. Wenn sie nicht zum Dienst kam, erweckte das automatisch den Verdacht, daß sie in irgendeiner Form von der schöpferischen Psychose eines Heiminsassen angesteckt worden war. Das wiederum bedeutete mit Sicherheit den Weg in den Operationssaal mit dem elektrischen Messer. Es war nur mit einer plötzlichen Sinneswandlung zu erklären. Irgend etwas hatte sie veranlaßt, das Regime zu verraten. Damit hatte sie gleichzeitig die Flucht angetreten, denn er konnte sich nicht vorstellen, daß sie tatenlos darauf wartete, von den Schergen abgeholt zu werden. Er erkannte die Nachricht, die sie ihm hatte zukommen lassen: »Du hast recht, Peter, und ich hatte unrecht. Vielleicht wird die kleine Batterie dir zur Freiheit verhelfen. In dem Fall werde ich in der toten Stadt auf dich warten.«
Er erkannte auch, auf welche Weise sie mit der Batterie an Captain Forrester vorbeigekommen war. Sie hatte ihn gewähren lassen. Ein hoher Preis … Peter Lucas lächelte grimmig vor sich hin. Seinen Machenschaften war es zu verdanken, daß die Welt jetzt eine weitere Gefangene hatte. Nach dem Abendessen streckte er sich auf dem Bett aus. Seine Hand tastete an der Wand entlang, und er schoß in panischem Entsetzen hoch. Das Wachs war aufgerissen. Sie hatten das Versteck also entdeckt! Er zog das kleine Gerät heraus und betrachtete es. Offensichtlich hatten sie es wegen seiner Größe für harmlos gehalten und als Beweis zurückgelassen. Er zwang sich zur Ruhe, schraubte die Halterung auf und klemmte die kleine Batterie hinein. Dann stellte er die entscheidende Verbindung mit der Hartkupferplatte her. In diesem Augenblick kamen sie herein: Captain Arden Forrester und zwei seiner Wärter. Forrester blieb vor der Türschwelle stehen und hakte die Daumen in den Gurt. »Ah, Mr. Lucas, wie ich glaube. Und was für ein Spielzeug haben wir denn da, Mr. Lucas? Zweifellos eine automatische Zahnbürste. Und woher haben Sie sich das erforderliche Metall beschafft, Mr. Lucas?« Peter Lucas lächelte. Er schob das kleine Gerät in die rechte Hand, so daß sich die Kupferplatte gegen die Handfläche schmiegte. »Na, dann wollen wir mal zu Mr. Evan gehen.« Forrester zwinkerte Lucas zu. »Ein Jammer, daß Sie nun nicht mehr in Ihr kleines Labor gehen können, wo die Dekorationen so nett sind – so überaus nett.« Lucas stellte die Verbindung der blanken Drahtenden mit der Kupferplatte her. Der Sockel des Gerätes wurde heiß. Forrester stand breitbeinig auf der Türschwelle. Peter Lucas glaubte schon, das Gerät hätte versagt. Da fiel sein Blick auf Forresters
rechte Hand. Langsam verlor sie ihre Form. Sie löste sich wie Wachs über einer Flamme auf. Forresters Augen traten aus den Höhlen, und er stieß einen Schrei aus. Er zerrte die Hand unter dem Gurt hervor. Sie löste sich aus dem Gelenk, wirbelte durch die Luft und prallte klatschend gegen die Wand. Ein paar Blutfäden sickerten von der formlosen Hand an der Wand hinunter. Blut spritzte aus dem Handgelenk und verwandelte sich augenblicklich in einen rötlichen Nebel. Der Strahl des kleinen Gerätes traf Forresters Körper, und er sackte mit einem heiseren Aufschrei zu Boden. Ein Wärter richtete die Dienstwaffe auf Lucas, und dieser richtete den Strahl auf die Waffe. Der Mann fiel zu Boden. Der andere Wärter suchte sein Heil in kopfloser Flucht. Lucas richtete den Strahl auf seine Kniekehlen. Der Mann stürzte zu Boden, und Lucas glaubte zunächst, er würde knien. Dann sah er, daß die Beine nach vorn ragten – mit den Zehen nach oben. Der Wärter wälzte sich stöhnend herum und richtete den Revolver auf Lucas. Lucas richtete den Strahl auf das Gesicht des Mannes, das sich augenblicklich in rötlichen Nebel auflöste. Peter Lucas stand keuchend in der Mitte des Raumes. Er wußte, daß er sich übergeben müßte, wenn er auch nur einen weiteren Blick auf die formlosen Gestalten am Boden warf. Er hörte Schritte, die sich rasch näherten. Damit blieb ihm keine Zeit, die anderen Heiminsassen zu befreien. Er richtete den Strahl des Gerätes auf die Rückwand des Hauses. Die Plastikwand löste sich zischend in Flüssigkeit auf und verwandelte sich dann in eine Gaswolke. Als er das Haus durch die offene Rückwand verließ, fiel ihm auf, daß der Verwandlungsprozeß keinerlei Hitze entwickelte. Im Handumdrehen war das ganze Gelände in gleißendes
Scheinwerferlicht getaucht, und auf dem Dach des Hauptgebäudes begann die Sirene zu heulen. Lucas kauerte etwa fünfzig Meter hinter seinem Haus und kam sich splitternackt vor. Er hörte einen Schrei und eilte auf den Zaun zu. Eine Kugel schwirrte an seinem Kopf vorüber und bohrte sich klatschend in einen Zaunpfahl. Mit einer kurzen Bewegung des Gerätes zerschnitt er den Drahtzaun und sah bläuliche Funken spritzen. Er warf sich flach auf den Boden und richtete den Strahl auf die Beine der heranstürmenden Wärter. Sie stürzten schreiend zu Boden. Wieder schwirrte eine Kugel an seinem Kopf vorüber, und er ließ den Strahl über die am Boden liegende Gruppe gleiten, bis sich dort nichts mehr rührte. Dann setzte er den nächsten Scheinwerfer außer Gefecht und rannte geduckt weiter. Er sah die Scheinwerfer eines Wagens auf sich zukommen und warf sich in eine Mulde neben dem Weg. »Verteilt euch und mäht ihn nieder!« befahl eine Stimme. »Zurück!« rief Lucas ihnen zu. »Geht zurück, sonst werdet ihr alle sterben!« »Da drüben ist er! Schießen Sie ihn mit dem Gewehr nieder, Joe!« Er durfte sich den Gewehrschüssen nicht aussetzen. Wie ein Mann mit einem Gartenschlauch in der Hand ließ er den Strahl über den Wagen gleiten. Die Scheinwerfer erloschen, und er hörte die Schreie der Männer. Ein Mann sprang ihn aus nächster Nähe an. Er richtete den Strahl auf ihn und warf sich zur Seite. Der Mann brach über seinen Beinen zusammen, zuckte noch einmal und war dann still. Lucas sprang auf und hetzte weiter. Als er die breite Allee erreichte, schrillten sämtliche Sirenen der Stadt. Er kam zu einer Seitenstraße, duckte sich hinter eine Hecke und wartete, bis er wieder ruhiger atmete. Etwa hundert Meter vor ihm lief ein Mann auf seinen Wagen zu.
Lucas eilte hinter ihm her. Der Mann hörte seine Schritte und wandte sich um. »Geben Sie mir den Schlüssel«, bat Lucas. Der Mann holte zu einem Schlag aus. Der Strahl traf ihn, und die Faust berührte Lucas’ Gesicht wie ein feuchter Lappen. Lucas beugte sich über ihn und fand den Wagenschlüssel. Er kannte Autos nur von Bildern und Beschreibungen. Vorsichtig legte er das Gerät neben sich auf den Sitz, ließ den Motor an und holperte die Straße entlang. Er nahm die Kurve so eng, daß das Hinterrad über den Gehsteig rumpelte. Fünf Straßenzüge, zehn, zwanzig. Er ließ den Wagen stehen und eilte auf den Schutthaufen zu, der die Grenze zur toten Stadt bildete. Hier brannten keine Lichter. Er konnte es sich nicht leisten, in der Dunkelheit zu stolpern. Hinter ihm heulten die Sirenen, und er wußte, daß alle Sicherheitskräfte mobilisiert worden waren, um ihn aufzuspüren und unschädlich zu machen. Jetzt war er der Bösewicht des Melodramas, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, die bestehende Ordnung zu vernichten.
Zehntausende lebten in der toten Stadt, in der es einmal Millionen gegeben hatte. Sie kümmerten sich nicht um die Gesetze der neuen Stadt und lebten in der Art ihrer Vorfahren; Gewalttätigkeiten waren an der Tagesordnung. Einige hatten sich hier verkrochen, um der Bestrafung für ihre Verbrechen zu entgehen. Andere wohnten hier, weil sie eine Bedrohung der Ordnung in der neuen Stadt darstellten. Viele waren hier zwischen den Trümmerhaufen geboren worden und aufgewachsen. Auf der Seite der neuen Stadt waren die Haustüren und Fenster des Grenzgebietes fest geschlossen. Im Laufe der Zeit würde dieses Gebiet zur toten Stadt gehören und Raum für Plünderungen aller Art bieten.
In der toten Stadt herrschte jeweils der Stärkere über den Schwächeren. Wer in diese Stadt kam, hatte meist nur eine kurze Lebenserwartung. Selbst wenn sie die ersten Angriffe parieren konnten, hatten sie noch immer keinen Unterschlupf und fielen den umherziehenden bewaffneten Banden zum Opfer. Polizeibeamte ließen sich hier nur am hellen Tag und in größerer Anzahl sehen. Sie durchsuchten die Gebäude nur oberflächlich und zogen sich so schnell wie irgend möglich in die neue Stadt zurück. Ellen Morrit kroch bei Dunkelheit in die tote Stadt. Ihre Würde war auf unverzeihliche Weise verletzt worden, und sie trachtete nur noch danach, sich an dieser Gesellschaft zu rächen. Sie hatte eine Taschenlampe und einen kleinen Revolver bei sich. Sie hatte ein altes, strapazierfähiges Kostüm und feste Schuhe angezogen. Außerdem führte sie ein kleines Paket mit Lebensmitteln bei sich. Sie wandte sich um und blickte auf die neue Stadt zurück, auf den strahlenden Lichtschein, der knapp bis zu dem Schuttwall reichte, den sie gerade überquert hatte. Ellen Morrit hatte noch nie von der ersten Sicherheitsregel in einer derartigen Situation gehört, nämlich sich niemals vor einen hellen Hintergrund zu stellen. Ihr Körper war jung und elastisch, ihre Reaktionen schnell, und außerdem trug sie den schußbereiten Revolver in der Hand. Sie hörte hinter sich einen Stein klappern, wirbelte herum und sah eine geduckte Gestalt auf sich zukommen. Mehr vor Schreck als in der Absicht zu töten, riß sie den Abzug durch. Die Waffe knallte, und die Gestalt rollte ihr vor die Füße. Sie blieb eine Weile reglos stehen, ehe sie es wagte, den Lichtstrahl ihrer Taschenlampe auf die reglose Gestalt zu richten. Es war ein Mann mit einem zerfransten Bart. Sein
Mund hing offen, und seine blicklosen Augen starrten zu den Sternen hinauf. Sie sah den Einschlag der Kugel an seinem Hals. Sie schaltete die Lampe aus, wich ein paar Schritte zurück, fiel auf die Knie und begann zu schluchzen. Sie nahm sich vor, die tote Stadt wieder zu verlassen und woanders Unterschlupf zu suchen. Sie richtete sich entschlossen auf und lief direkt in die ausgebreiteten Arme eines Mannes, der über sie gebeugt gestanden hatte. Er riß ihr die Waffe aus der Hand, und als sie zu einem Schrei ansetzte, drückte er ihr brutal die Hand auf den Mund. Sie grub die Zähne in seine Hand, und er fluchte leise vor sich hin. Dann explodierte die Welt um sie herum, und sie spürte nur noch, wie sie aufgehoben wurde. Als sie langsam wieder zur Besinnung kam, lag sie auf einem harten Steinboden. Die Steine waren feucht. Sie öffnete die Augen und sah den schwachen Lichtschein von Öllampen. Es war ein langer, feuchter Raum ohne Fenster; sie spürte, daß sie sich tief unter der Erde befand. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das trübe Lampenlicht. Sie sah vier Männer an einem rohen Holztisch und einen weiteren auf der Bank an der Wand sitzen. Neben dem Mann an der Wand lehnte ein Mädchen mit einem hellen Gesicht und zerlumpter Kleidung. Sie sang mit einer leisen, harten Stimme und begleitete sich selbst auf einem kleinen Saiteninstrument. Sie sah Ellen Morrit mit leeren, toten Augen an. In der Ecke hockte eine alte Frau und löffelte irgendeine dunkle Flüssigkeit aus einem Topf in den Mund. Die Männer waren ebenfalls in Lumpen gehüllt, bärtig und laut. Auf dem Tisch standen eine Öllampe, ein paar Flaschen, und daneben lag ein abgegriffenes Kartenspiel.
Einer der Männer sah sie an, legte die Karten aus der Hand und kam auf sie zu. »Endlich aufgewacht, wie? Na, dann komm mal zu den anderen!« Er zog sie hoch, warf die Arme um ihre Schultern und wandte sich an die anderen Männer. »Wollt ihr James noch immer einen Pechvogel nennen? Ein Revolver und ein Mädchen – und das alles in einer einzigen Nacht!« Die alte Frau lachte krächzend. »Wenn Thomas das erfährt, wird er dir den Revolver vielleicht lassen.« Der Mann spuckte auf den Boden. »Na, das wäre ein Grund sich gegen Thomas zu stellen, Frau.« Er wirbelte Ellen Morrit an den Schultern im Kreis herum. »Seht sie euch an! Überall wohlgerundet. Weiche Hände. Keine Schlampe wie du, was, Janey?« Das dunkelhaarige Mädchen schleuderte ihm einen Fluch an den Kopf. James lachte und kniff Ellen in die Wange. »Du bist wirklich eine große Seltenheit in der toten Stadt, Mädchen. Wir haben hier eine Menge mörderischer Weiber und solche, die ein hartes Leben hinter sich haben. Aber keine wie dich … bei weitem nicht!« »Bringen Sie mich zu Thomas«, sagte Ellen so selbstsicher sie konnte. Er runzelte die Stirn. »Was weißt denn du schon von Thomas?« Sie warf den Kopf in den Nacken und tat, als wäre sie bereit, es mit dem Teufel aufzunehmen. »Er erwartet mich.« James schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Na, denk nur mal! Thomas hat dir ganz einfach gesagt, du solltest hier hereinkommen, was?« Er drückte sie in die Ecke, kehrte zum Tisch zurück und zerrte einen kleinen schmächtigen Mann hoch.
»Bobby, lauf hinüber zu Thomas und sag ihm, daß hier eine Freundin auf ihn wartet. Rasch, mein Junge!« Bobby streifte Ellen Morrit mit einem ängstlichen Blick und stürmte zur Tür hinaus. Die alte Frau schob den Kochtopf zur Seite. Er rollte über den Steinboden, und der Rest der Flüssigkeit lief aus. Sie rappelte sich hoch und verschwand in der Dunkelheit. Ellen Morrit verharrte auf der Stelle. Die anderen wichen wie auf ein geheimes Kommando an die Wand zurück. James zog einen Revolver aus dem Gürtel. Es war Ellens Waffe. Dann lehnte er sich unmittelbar neben der Tür mit dem Rücken an die Wand. Hinter der offenen Tür erblickte Ellen Morrit eine feuchte Kellertreppe.
Peter Lucas drang tiefer in die tote Stadt ein. Er wußte, daß noch im Laufe der Nacht die ersten Suchkommandos eintreffen würden. Sie würden den abgestellten Wagen finden. Vielleicht blieb ihm nicht mehr viel Zeit. Er mußte jemanden finden, der sich hier auskannte. Stellenweise wucherte das Unkraut so hoch, daß es seine Wangen streifte. Er kam nur mühsam voran. Seine Augen stellten sich auf die Dunkelheit ein. Schon konnte er die Umrisse einiger verfallener Häuser ausmachen. Irgendwo in der Nähe klapperte ein Stein, und jemand tauchte in der Dunkelheit unter. Er rief der Gestalt nach, und seine Stimme hallte durch die Dunkelheit. Er bekam keine Antwort. Da krachte ein Schuß, und er zuckte zusammen. Es mußte in unmittelbarer Nähe sein. Irgendwie hatte der Schuß seltsam hohl geklungen. Er wandte sich der betreffenden Stelle zu. Da krachte ein weiterer Schuß, und dann noch einer. Er wandte sich nach rechts und berührte mit der ausgestreckten Hand eine Wand. Er tastete sich an der Wand entlang und sah den Lichtschimmer
hinter einem Torbogen. Er drang ein, und der Lichtschein wurde heller. Neugierig tastete er sich eine Treppe hinunter. Durch einen zweiten Torbogen kam er in einen Kellerraum mit einem Steinboden. Eine primitive Öllampe flackerte. Eine rauhe Stimme redete Worte, die er nicht verstand. Er blieb einen Augenblick unentschlossen auf der Treppe stehen und hielt das kleine Gerät in der Hand. Er hörte einen klatschenden Schlag und einen schmerzlichen Aufschrei. Wer immer sich drinnen befand war anscheinend zu beschäftigt, um etwas von Lucas’ Kommen zu bemerken. Er huschte die letzten Stufen hinunter und lehnte sich mit der Schulter an die Wand. Ein dunkelhaariges Mädchen sang und sah ihn ohne besonderes Interesse an. Im Hintergrund des Raumes standen ein paar bärtige Männer. Ein blasser, glattrasierter Mann mit großen Fäusten und einem Schmerbauch blickte kurz auf und sagte: »Stehe dir gleich zur Verfügung, Freund.« Ein Mann lag auf dem Steinboden. Schmerz stand in seinen Augen. Ein Stück entfernt lag ein Revolver. Als der Mann sich über den anderen beugte, bemerkte Lucas eine blutende Wunde an seinem Nacken. Der Mann zog den anderen hoch, stellte ihn auf die Füße und knallte ihm die rechte Faust mitten ins Gesicht. Als der Mann zusammenbrach, stieß ihm der Große den Fuß in die Rippen, so daß er ein paar Meter über den Steinboden rutschte. Der Große hob den Revolver auf, grinste Lucas zu und sagte: »Der Dummkopf wollte mich umbringen. Es ging um eine Frau.« Er kicherte wie eine Frau. »Er wollte mir, als ich durch die Tür kam, eine Kugel durch den Kopf jagen, aber ich war zu schnell für ihn. Wenn du in einen Raum eindringst, mußt du immer schnell sein, mein Junge, sonst laß es lieber bleiben. Wer bist
du?« Lucas sah, daß der Mann den Revolver lässig auf seinen Bauch gerichtet hielt. In diesem Augenblick kam Ellen Morrit mit einem kleinen Aufschrei aus der Ecke des Raumes und stürzte sich in Lucas Arme. Sie zitterte am ganzen Körper, und in ihren Augen spiegelte sich panisches Entsetzen. »Sie gehört dir, wie?« brummte der Große. »Ich bin hier der Boss. Wahrscheinlich wirst du mir beweisen müssen, daß du Mann genug bist, sie zu behalten. Wer bist du?« »Lucas. Ich bin heute abend aus der Besserungsanstalt geflohen.« Die Männer im Hintergrund des Kellers murrten wütend. Das dunkelhaarige Mädchen stellte den Singsang ein und starrte sie an. »Wir haben hier für deinesgleichen nichts übrig«, knurrte der Große. Nicht mal hier, dachte Peter Lucas. Nicht mal in der toten Stadt. Sie wissen, daß sie der Abschaum der Menschheit sind, und dennoch verachten sie uns. »Geh weg von ihm, Mädchen!« befahl der Große. »Es wäre schade, dich zu verletzen.« Ellen Morrit klammerte sich nur noch fester an Lucas. Lucas drückte mit der Handfläche gegen den Sockel des Geräts. Der Große stand jetzt unmittelbar vor ihm und streckte die Hand nach Ellen aus. Der Strahl traf den Ellbogen, und der Unterarm baumelte lose herab. Der Große stieß keinen Schrei aus. Peter richtete den Strahl auf seine Körpermitte. Der dicke Bauch löste sich in eine Gaswolke auf, die einen ranzigen Gestank verbreitete. Als der Strahl den anderen Ellbogen berührte, fiel der Revolver auf den Steinboden. Als die rötliche Wolke verflogen war, sah Peter Lucas die nackten Rippen und das pochende Herz des Mannes.
Die Lippen des Großen zuckten, und er sagte: »Sieht ganz so aus, als wärest du der neue …« Seine Augen wurden starr und glasig; er fiel um, als hätte jemand die Füße unter ihm weggezogen. Peter Lucas wandte sich um und sah ein Messer herangeschwirrt kommen. Er sprang zur Seite; der Strahl traf das Messer. Es knallte gegen die Wand und löste sich in silberne Tropfen auf. Das dunkelhaarige Mädchen begann zu lachen. Sie warf den Kopf weit in den Nacken. Peter Lucas richtete das Gerät auf die anderen Männer, und sie gingen mit erhobenen Armen hinaus. Der Bewußtlose lag noch immer auf dem Steinboden. Peter zog ihn die Treppe hinauf und legte ihn vor der Ruine ab. Er scheuchte die Männer in einen anderen Kellerraum und verbarrikadierte den Eingang. Dann kehrte er mit Ellen Morrit in den ursprünglichen Raum zurück. Sie setzten sich an den Tisch und blickten sich in die Augen. Es bedurfte keiner Worte und keiner Erklärungen. Alles, was es zu sagen gab, war gesagt, und er legte schweigend die Hand auf ihre Hand. Sie saßen allein in dem Kellerraum unter der toten Stadt, und es war ihnen beiden klar, daß die ihnen noch verbleibende Zeitspanne voller Schönheit und Harmonie sein sollte. Lucas erwachte. Die Luft war schal, und die undurchdringliche Dunkelheit erinnerte ihn an ein altertümliches Grabgewölbe. Er fragte sich, was ihn geweckt haben mochte. Da hörte er ein fernes Geräusch, das die Erde erbeben ließ. Er nahm Ellens Taschenlampe und schaltete sie ein. Das von der Wand reflektierte Licht fiel auf ihr helles, ovales Gesicht. Sie sah aus wie ein kleines, schlafendes Mädchen. Er berührte ihre Schulter, und aus ihrer Kehle löste sich ein leiser Laut. Sie wachte mit seinem Namen auf den Lippen auf.
Da setzte die Angst ein. Er zündete die Öllampe an. Ihre Lippen bildeten einen schmalen Strich, und sie schob sich mit dem Handrücken eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Was ist?« fragte sie flüsternd. »Sprengungen, glaube ich. Sie wissen, daß wir hier unten sind. Ich hätte die Männer nicht laufen lassen dürfen. Sie sind gezwungen worden, uns zu verraten.« Die Geräusche wurden lauter; Putz fiel von der Decke. Staub wirbelte im Lichtstrahl der Taschenlampe. »Was machen wir nun?« fragte sie mit zitternder Stimme. »Wir sind zwei Stockwerke tief unter der Erde, Ellen. Wir können uns mit meinem Gerät einen Weg bahnen, vorausgesetzt, daß der Tunnel nicht über uns einstürzt.« Sie standen auf. Ellen schmiegte sich eng an ihn und drückte die zuckenden Lippen an seinen Hals. »Du hättest als Aufseherin ein angenehmes Leben führen können, Liebling. Und wenn deine Dienstzeit erst mal abgelaufen wäre, könntest du …« Sie legte ihm den Finger auf die Lippen. »Pssst, Lucas! So gefällt es mir viel besser, was immer uns auch noch bevorstehen mag.« Bei der nächsten Sprengung hörten sie draußen die Steine zu Boden fallen. Lucas drehte sich um, hielt die Taschenlampe in der linken Hand und das kleine Gerät in der rechten. Die Wand wurde flüssig und verdampfte. Sie kletterten über den Schutt hinweg in die dunklen Nebenräume. Mit dem Gerät bohrte er einen Tunnel, der nach oben führte. Ein Stein löste sich von der Tunneldecke, fiel auf seine Schulter und zwang ihn in die Knie. Mit einer instinktiven Bewegung hatte er das kleine Gerät abgeschirmt. Seiner Berechnung nach mußte er einen Tunnel von annähernd zehn Metern bohren, und er begann, die einzelnen Schritte zu zählen. Als er hinter sich den Schrei der Verfolger
hörte, wirbelte er herum und richtete den Strahl auf die Tunneldecke, so daß diese zusammenbrach und den Weg blockierte. Ellen hielt sich recht tapfer. Als der Tunnel seiner Schätzung nach lang genug war, richtete er den Strahl senkrecht nach oben. Ein etwa faustgroßes Loch gab den Blick zum Sternenhimmel frei. Er vergrößerte das Loch, fertigte sich einen Sockel für die Füße an und stemmte sich nach oben. Vorsichtig spähte er nach allen Seiten. Morgengrauen lag über der toten Stadt. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne fielen auf die hohen Gebäude der neuen Stadt. In einiger Entfernung sah er zwei Männer stehen, deren Rücken ihnen zugewandt waren. Knapp zwanzig Meter vor ihnen war eine Schutthalde, die ihnen vielleicht Deckung bieten konnte. Er bückte sich über das Loch und sagte zu Ellen: »Jetzt muß alles sehr schnell gehen. Sobald ich dich hier heraufgezogen habe, läufst du nach rechts, als wäre der Teufel hinter dir her.« Sie nickte; ihre Augen waren groß. Er schob die Hände unter ihre Schultern und zog sie hoch. Da hörte er das Geschrei der Männer. Es schnürte ihm die Kehle zu. Als Ellen festen Boden unter den Füßen hatte, sah er, daß ihnen der Weg zur Schutthalde von einigen Männern versperrt war. Sie kamen auf ihn zu. Kein Schuß fiel. Entschlossen mähte er sie mit dem Strahl nieder. Andere drängten nach. Sie trugen Polizeiuniformen. Er sah sie zögern, aber sie drangen immer weiter auf ihn ein. Als sie die Stelle erreichten, wo die anderen lagen, mähte er sie ebenfalls nieder. Langsam drehte sich alles vor seinen Augen. Aus einer anderen Richtung kamen fünfzehn Wärter der Besserungsanstalt und uniformierte Beamte der Weltverwaltung. Sie drangen stumm auf ihn ein – und im nächsten Augenblick lagen sie winselnd auf dem Boden.
Einer von ihnen war bis auf wenige Schritte herangekommen. Er lag auf der Seite, hielt sich die Faust vor den Mund und weinte wie ein Kind. Das ganze Gelände war ringsum abgesperrt, und die Männer drangen aus allen Richtungen auf Lucas und Ellen Morrit ein. Peter Lucas konnte nicht mehr. Sie feuerten keinen einzigen Schuß ab. Sie wollten sie lebend in die Hand bekommen. Mit zitternder Hand streckte er die nächsten Männer mit dem Strahl nieder. Er wünschte, sie würden wenigstens schießen – alles andere, nur nicht dieses sinnlose Morden. Nein, er konnte nicht länger töten. Ellen Morrit hängte sich an seinen Arm. »Nein, nein!« keuchte sie. »Nicht mehr, Peter … nicht mehr!« Er sah, daß sie seine Gefühle teilte. Während die Männer auf ihn eindrangen, blickte er lächelnd auf Ellen hinunter. »Adieu, Ellen.« Sie prallten gegen ihn und stießen ihn um. Er rollte auf dem Boden herum und versuchte, das Gerät unter sich zu zerquetschen, damit es von niemand mehr analysiert werden konnte. Brutale Hände drehten ihm die Hände auf den Rücken, ließen die Handschellen einschnappen und zerrten ihn hoch. Ein junger Wärter warf einen Blick auf die jammernd am Boden liegenden unförmigen Gestalten. Er trat auf Lucas zu und knallte ihm mit voller Wucht die Faust ins Gesicht. Lucas konnte nicht fallen; er wurde von vielen Händen festgehalten. Eine andere Gruppe nahm sich Ellen Morrits an. Eine purpurfarbene Beule bildete sich auf ihrer Wange, aber sie hielt den Kopf hoch. Ein Captain der Weltverwaltung kam heran. Er machte einen kühlen, unpersönlichen Eindruck. »Diese beiden werden unverzüglich zum Wagen gebracht. Sie werden weder geschlagen noch in irgendeiner Form belästigt. Ist das klar?«
Die Männer nickten. »Lassen Sie mich ihm noch einmal die Faust ins Gesicht schmettern«, bat der junge Wärter. »Mein Bruder liegt da drüben mit …« »Ruhe!« herrschte der Captain ihn an. »Bringt sie zum Wagen!«
Ellen Morrit und Peter Lucas wurden mit dem Gesicht nach unten auf die Ladefläche eines Lastwagens gelegt. Die Wärter hielten die Menge in Schach. Lucas erschauerte bei den animalischen Schreien der Massen. Wenn sie die Hand an Ellen legten … »Los – abfahren!« befahl jemand mit lauter Stimme. Die Wagen setzten sich in Bewegung. Ein Stein wurde hochgewirbelt und traf die Hand eines Wärters. Er stieß einen Fluch aus und leckte sich das Blut von den Fingern. In einer scharfen Kurve prallte Lucas gegen Ellen. Seine Fingerspitzen berührten ihren Arm, und er streichelte sie so gut es ging. Das zornige Geschrei erstarb in der Ferne. Über ihnen wölbte sich der strahlend blaue Morgenhimmel. Lucas erblickte zwei kleine Wolken. Er hatte Frieden mit sich selbst gemacht und sah alles mit jener Klarheit, die die Nähe des Todes verleiht. Was ihm jetzt noch bevorstand, ließ ihn kalt. Er wußte, daß die Mechaniker in der Besserungsanstalt auch weiterhin rebellieren würden. Eines Tages würde es einem von ihnen gelingen, die erforderliche Macht in die Hand zu bekommen. Dann konnten die Menschen endlich wieder die Hände nach den Sternen ausstrecken. Der Wagen hielt an, und er hörte die übliche Prozedur an der Wache. Dann fuhr der Wagen in eine dunkle Toreinfahrt und hielt erneut an.
Lucas wurde von der Ladefläche gehoben. Er wurde so schnell durch eine offene Tür geschoben, daß er keine Zeit fand, sich noch einmal nach Ellen umzusehen. Der Captain und ein Wärter führten ihn auf den mittleren von drei Fahrstühlen zu und schoben ihn hinein. Seine Füße stemmten sich gegen den Boden. Es war alles ganz anders, als er es erwartet hatte. Eigentlich hätte Dale Evan das Kommando übernehmen und ihn dem elektrischen Messer ausliefern müssen. Doch er merkte sogleich, daß er sich gar nicht im Hauptgebäude der Besserungsanstalt befand. Zweifellos waren sie hier im hohen Gebäude der Weltverwaltung. Er wurde in einen kleinen, fensterlosen Raum geschoben. Die indirekte Beleuchtung verbreitete mattes Licht. Der Wärter durchsuchte ihn sorgfältig, der Captain nahm ihm die Handschellen ab, und dann fiel die Tür hinter den beiden Männern ins Schloß. In diesem schalldichten Raum hatte die Zeit jede Bedeutung verloren. Erst jetzt wurde ihm bewußt, wie nahe er der totalen Erschöpfung war. Seine kleine Eskapade sollte also nicht in der Besserungsanstalt, sondern höheren Ortes behandelt werden. Bei dem Gedanken an Dale Evans mißmutiges Gesicht grinste er unwillkürlich vor sich hin. Die Heiminsassen würden während der nächsten Monate nichts zu lachen haben. Nach einer Weile legte Peter Lucas sich auf den harten Fußboden, und der Schlaf umhüllte ihn wie eine dunkle, weiche Decke. Ellen Morrit erwachte, als die Tür in ihrem kleinen Raum geöffnet wurde. Eine Wärterin legte einen Stapel frischer Kleidung auf den Boden und trat zur Seite, während ihre Kollegin eine Waschschüssel und ein paar Toilettenartikel hereinbrachte. »Richten Sie sich her«, sagte sie. »Er kann Schmutz nicht leiden.« Als Ellen Morrit wieder allein in dem
kleinen Raum war, wusch sie sich und zog sich an. Sie betrachtete ihr Bild im Spiegel, und dabei kam ihr der Gedanke, daß sie den Spiegel auf dem harten Boden zerschmettern und sich mit einem Scherben die Pulsadern aufschneiden könnte. Sie wußte selbst nicht, warum sie sich eigentlich erst schön machen sollte, wenn sie sterben wollte. Das Kleid war aus einem ihr unbekannten dunklen Stoff angefertigt – leicht und warm zugleich. Als die Wärterinnen zurückkamen, war sie bereit. Ihre Hände wurden mit einer dünnen Kette gefesselt. Sie fuhren mit dem Fahrstuhl nach oben, und als sich die Tür öffnete, hielt Ellen den Atem an. Ein breites Panoramafenster gab den Blick auf die tief unten liegende neue Stadt frei. »Hallo, Ellen«, sagte Peter Lucas. Sie wirbelte herum und sah ihn in einem hellen, bequemen Sessel sitzen. Sein Anzug bestand aus dem gleichen Stoff wie ihr Kleid. Zwei blitzende Stahlbänder fesselten seine Handgelenke an die Armlehnen. Die Wärterin führte sie zu einem ähnlichen Sessel. Beide Sessel standen vor einer etwas erhöhten Bühne mit einem gelben Vorhang. Nachdem die Wärterin Ellens Handgelenke auf ähnliche Weise gefesselt hatte, verließ sie den Raum. Sie hörten das Summen des Fahrstuhls. Peter und Ellen waren allein im Raum. Die luxuriöse Einrichtung ließ darauf schließen, daß hier eine bedeutende Persönlichkeit wohnte. Ellen warf einen Blick auf die Bücherregale. Sie gaben keinen Anhaltspunkt über den Bewohner dieses Raumes. »Worauf warten wir?« fragte sie. »Sicher auf das unvergeßliche Vergnügen einer Unterhaltung mit Ryan«, erwiderte er hart. »Die Sache soll anscheinend an die große Glocke gehängt werden.« »Warum wollen sie mit uns reden?«
»Das dürfte doch auf der Hand liegen, Ellen. Sie sind der Ansicht, daß du mir bei allem geholfen hast, und sie möchten etwas über unsere Methoden erfahren. Wenn wir nicht freiwillig reden, stehen ihnen andere Mittel und Wege zur Verfügung.« Ein kleiner Tisch stand auf der erhöhten Bühne. Darauf lag das Gerät, das sie Peter Lucas abgenommen hatten. Ellen wunderte sich, daß sie das Gerät nicht vernichtet hatten. »Ich wünschte, ich hätte dich nicht in diese Sache hineingezogen, Ellen«, sagte Lucas. »Nach … nach dem Zwischenfall mit Forrester konnte ich dem Heim nicht länger die Treue halten.« Sie lachte. »Er war so ungemein lächerlich. Ich ließ ihn in dem Glauben, daß ich mich geschmeichelt fühlte. Sein Atem kam in rasselnden Zügen. Als er die Arme um mich schlang, trat ich ihm gegen das Schienbein und knallte ihm die Faust ins Gesicht. In dieser Faust hielt ich die Batterie. Er fiel und schlug mit dem Hinterkopf gegen eine Bank. Ich eilte zur Tür hinaus, streifte rasch die Straßenkleidung über und verließ das Gebäude. Ich wußte nicht, was ich mit der Batterie machen sollte. Dann habe ich dich durch den Zaun gesehen. Es kam mir vor, als könnte ich auf diese Weise die Rechnung ausgleichen.« »Und es tut dir nicht leid?« fragte Lucas leise. »Ganz und gar nicht, Peter.« Es war die reine Wahrheit. Der Vorhang raschelte, und Peter Lucas blickte stirnrunzelnd auf den Mann, der zwischen den Falten hervortrat. Das war nicht Ryan. Der Mann hatte das Gesicht eines Clowns. Es sah aus, als hätte jemand an seiner Oberlippe gezerrt, und sie wäre in dieser Stellung angewachsen. Sämtliche Gesichtsfalten liefen auf diese verunstaltete Oberlippe zu. Der Mann war von schlanker Gestalt und gut fünfzig Jahre alt. Seine kleinen, blauen Augen blitzten verschlagen. Er kam von der Bühne herunter auf sie zu. Er rieb sich lächelnd die Hände und sagte: »Hallo, Ellen und Peter. Ich bin Präsident Emery Ladu.«
Alles drehte sich vor Peters Augen, und er wurde unwillkürlich an ein altes Kinderbuch erinnert: Alice im Wunderland. Das war der Mann. Das war der Diktator, der in Zusammenarbeit mit seinen Beratern jeglichen Fortschritt auf der Welt unterband. Aus der Ferne gesehen mochte eine Diktatur eine grandiose Sache sein. In der Nähe war Ladu lediglich ein kleiner, schlanker Mann mit scharfen, blauen Augen, dem Gesicht eines Clowns mit dem Bemühen, charmant zu wirken. Irgendwie verstärkte das die Furcht vor ihm. Ladu legte sein Gesicht in Falten. »Deshalb lasse ich mich nie fotografieren«, sagte er unbekümmert. »Ich möchte der Öffentlichkeit diesen Schock ersparen. Wenn die Leute wüßten, wie ich aussehe, würden sie bestimmt keinen Respekt mehr vor mir haben. Ihr beide seid ziemlich schweigsam, wie?« »Kommen Sie endlich zur Sache und lassen Sie dieses Katzund-Maus-Spiel«, brummte Lucas. Ladu zuckte die Achseln. »Seht ihr? Nichts als Vorurteile. Ich kann gar nicht anders als schrecklich sein, nicht wahr? Meine Güte, wie ihr mich hassen müßt!« »Natürlich hasse ich Sie«, bestätigte Lucas. »Statt an die Zukunft der Bevölkerung, denken Sie immer nur an Ihren eigenen Luxus und Ihre Macht. Sie sehen nicht, wie die Welt um Sie herum langsam stirbt.« Ladu spitzte die Lippen, legte den Kopf ein wenig auf die Seite und sah Lucas an. Dann wandte er sich an Ellen. »Ihr Freund zeigt die typischen Merkmale eines zweitklassigen Verstandes.« »Wie meinen Sie das … zweitklassiger Verstand!« knirschte Lucas. Ladu hatte seinen schwachen Punkt berührt, den Stolz auf seine Intelligenz, die ihn all die vielen Jahre hindurch einen kühlen Kopf hatte bewahren lassen.
»Wie ich es sagte, mein lieber Junge, wie ich es sagte. Die Analysen Ihrer Tests haben das einwandfrei ergeben. Nur durch die lange Abgeschiedenheit sind analytische und schöpferische Kräfte in Ihnen geweckt und zur Entfaltung gebracht worden. Das kommt uns gut zustatten.« Ladu trat auf die Bühne und nahm das kleine Gerät. »Dieses Ding«, fuhr er fort, »finde ich höchst interessant. Aus mehr als einem Grund. Eine vortreffliche Leistung für einen Mann mit einem zweitklassigen Verstand.« »Ich verwahre mich gegen Ihren dauernden Gebrauch dieses Wortes«, knurrte Lucas. Er schnaubte verächtlich. »Vermutlich haben Sie einen erstklassigen Verstand, wie?« Ladu zog eine Augenbraue hoch. »Stimmt genau. Meine Talente liegen allerdings auf politischem und sozialwissenschaftlichem Gebiet.« »Warum sind wir hier?« fragte Ellen Morrit und kniff die grauen Augen zu. »Weil ihr uns vor ein völlig neues Problem stellt. Na ja, wir haben schon früher Schwierigkeiten mit der Besserungsanstalt gehabt. Ich bekomme laufend Berichte, aber ich lese sie nur selten. Der arme dicke Evan schwitzt Blut und Wasser wegen seiner Verantwortung.« »In welcher Beziehung ein neues Problem?« fragte Lucas ungeduldig. »Nun, da drüben sind schon andere Geräte angefertigt worden. Meistens sollten sie eine Flucht ermöglichen. Einige zeigten eine deutliche Auflehnung gegen das bestehende Establishment. Aber so etwas wie dieses hier hatten wir noch nie.« Er fuchtelte mit dem Gerät herum, legte es auf den Tisch zurück, kam herunter und stellte sich vor ihnen auf. Seine Stirn war umwölkt. »Eine Erfindung ist die größte Sünde in Ihrer hübschen, kleinen Welt, nicht wahr?« fragte Lucas.
Emery Ladu deutete mit einer kurzen Handbewegung auf die neue Stadt. »In den Augen der Leute da draußen ist es die größte Sünde – aber nicht in meinen Augen.« »Sie haben die Macht in der Hand. Warum propagieren Sie die Erfindung nicht? Warum unternehmen Sie nichts, um diese lächerliche Furcht vor dem Fortschritt auszurotten?« »Die Antwort darauf, mein Junge, kann Ihnen nur ein erstklassiger Verstand geben. Weil die Verwaltung einer stabilen Gesellschaft wesentlich einfacher ist als die in einer Welt, in der es laufenden Fortschritt gibt. So etwas ist immer mit Konflikten verbunden – zuerst auf Ökonomischem und später auch auf militärischem Gebiet.« »Wie ich schon sagte, denken Sie mehr an Ihren eigenen Luxus und an Ihre Position, als an die Menschheit.« Ladu lächelte Ellen traurig zu. »Sehen Sie, wie ein zweitklassiger Verstand von Emotionen beherrscht wird.« Ehe sie antworten konnte, trat er ein paar Schritte zur Seite. Als er sich umwandte, hielt er ein großes Goldstück in der Hand. Er zeigte es ihnen, schloß die Hand, fuchtelte ein paarmal herum und öffnete sie wieder. Das Goldstück war verschwunden. »Ein absolut kindischer Trick«, schnaubte Lucas verächtlich. »Ruhe!« sagte Ladu. Seine Stimme hatte nicht mehr den gutmütigen Klang. Schlagartig verwandelte er sich in eine bedeutende Persönlichkeit. Das Gesicht des Clowns wirkte nicht mehr komisch. »Einem Kind muß man alles so erklären, wie es ein Kind verstehen kann«, fuhr er fort. »Ihr wißt nicht, was aus dem Goldstück geworden ist. Warum? Weil ihr die Bewegungen meiner Hand verfolgt habt. Diese Bewegungen haben eure Blicke angezogen.« Er hielt die Hand hoch und ballte sie zur Faust. »Diese Hand stellt die Besserungsanstalt dar. Sie ist in
Bewegung und zieht die Blicke der Menschen an. ›Aha‹, sagen sie, ›der alte Ladu hat alles unter Kontrolle. Er bewahrt uns vor jeglichem Schaden.‹ Aber im Gegensatz zu ihnen weiß Ladu sehr wohl, daß sich in der Besserungsanstalt Menschen mit zweitklassigem Verstand befinden.« Er ging ein paar Schritte auf und ab. »Sie, Lucas, wollen mir weismachen, daß die Zeit drängt, daß die Entwicklung der Erde stehenbleibt, daß die Natur sich gegen jede Form der Reproduktion stellt.« Er blieb vor Lucas stehen, beugte sich über ihn und senkte die Stimme zu einem Flüsterton. »Lucas, wieviel Zeit würde uns bleiben, wenn wir den Großteil damit vergeuden, die abergläubische Furcht zu beseitigen, die die Menschheit wie eine Wolke umhüllt? Wieviel Zeit würde uns dann bleiben?« Lucas schüttelte betroffen den Kopf. »Worauf spielen Sie an?« fragte er. Ladu lachte. »Ich werfe ihnen einen Knochen zu. Ich erwecke ihre Aufmerksamkeit mit einer Geste. Hier, meine Freunde, ist die Besserungsanstalt. Ja, wir sind eminent fortschrittlich. Wir lassen die Insassen für uns arbeiten – aber unter strenger Kontrolle, versteht sich.« »Ihre Hand war die Besserungsanstalt«, sagte Ellen erregt. »Das Goldstück war der erstklassige Verstand.« »Natürlich!« bestätigte er. »Natürlich! Der arme Peter hat gar nicht bedacht, was aus ihnen geworden ist. Er war viel zu schockiert über seine eigenen Entdeckungen.« Seine Stimme wurde sachlich. »Sie haben Ihren Beitrag geleistet und dafür eine Beförderung verdient, Lucas. Ich habe mich bereits mit dem Personalchef in Verbindung gesetzt.« Lucas schüttelte den Kopf, als könnte er keinen klaren Gedanken fassen. Ladu lächelte grimmig.
»Seit sechzig Jahren haben meine Vorgänger und ich Leute mit einem erstklassigen Verstand an einer bestimmten Stelle versammelt. In den Laboratorien von Chin Hills in Nordburma, wo an einem neuen System für den Fortschritt der Menschheit gearbeitet wird.« Er lachte kurz. »Die Eingeborenen nennen es den Ort, wo die Sterne aufsteigen.« »Aber …« »Lucas, machen Sie mich nicht ungeduldig. In fünfzig oder hundert Jahren werden die Menschen die zur Kolonisation erforderliche Technologie zur Verfügung haben. Die Vertreter der stärksten Rasse machen den Anfang. In einer neuen, aufblühenden Welt können wir ganz von vorn anfangen, ohne in die Fehler der Vergangenheit zu verfallen. Die Sachverständigen haben mir erklärt, daß man mit Ihrem Gerät Kollisionen mit Meteoren und Asteroiden im Weltraum verhindern kann.« Lucas brachte keinen Ton hervor. Er schämte sich nicht der Tränen, die ihm über die Wangen rollten. »Meine Leute werden herkommen und Sie auf freien Fuß setzen. Nach Einbruch der Dunkelheit werden Sie zum Flughafen gebracht. Das Mädchen kann Sie begleiten.« Er lachte wieder. »Als Mann mit einem zweitklassigen Verstand werden Sie sich ohne sie kaum sonderlich für das Projekt einsetzen.« Emery Ladu verschwand durch den gelben Vorhang. Der Vorhang flatterte einen Augenblick und hing dann wieder still. Peter Lucas und Ellen Morrit saßen in ihren Sesseln und warteten auf das Eintreffen der Männer, die ihnen die Freiheit bringen würden – die Freiheit für immer.
Originaltitel: MINION OF CHAOS. Copyright © 1949 by Fictioneers, Inc. Aus SUPER SCIENCE STORIES September 1949.