Feuchtigkeit schlug ihm entgegen und Kälte. Sein Atem gefror sofort zu weißen Kondenswolken vor seinem Mund. Lange würd...
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Feuchtigkeit schlug ihm entgegen und Kälte. Sein Atem gefror sofort zu weißen Kondenswolken vor seinem Mund. Lange würde er es in dieser Halle nicht aushalten. Eine düstere Vision zuckte in ihm empor: Er sah seine Leiche auf dem Boden liegen, von Myriaden glitzernder Eiskristalle bedeckt, steifgefroren, leblos. Er schüttelte sich und betrachtete die Reihen der Androiden, die an ihren Laufschienen hingen. Blasse, menschliche Körper, fahl wie der Tod, starr und bewegungslos, die Augen noch geschlossen, die Münder weit aufgerissen wie zu einem hilflosen Schrei. Ein Körper neben dem anderen, einer so groß wie der andere, einer so schlank, so muskulös, so ausdruckslos wie der andere, leblos dahinvegetierend im Halbleben. IN DER ANDROIDENFABRIK von L. D. Palmer und vierzehn weitere Science-Fiction-Stories deutscher Autoren.
Science Fiction Ullstein Buch Nr. 31031 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Originalausgabe Umschlagillustration: Dell/Herbert Göllnitz Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1981 bei den Autoren und ihren Agenturen Printed in Germany 1981 Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh ISBN 3-548-31031-1 Oktober 1981
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Science-fiction-Stories/ hrsg. von Walter Spiegl. – Frankfurt/M: Berlin; Wien: Ullstein Teilw. kein Hrsg. angegeben NE: Spiegl. Walter [Hrsg.] 90. Von Ulrich Weise ... Zsgest. von Michael Nagula. – Orig.-Ausg. – 1981. (Ullstein-Buch; Nr. 31031; Ullstein 2000: Science-fiction) ISBN 3-548-31031-1 NE: Weise, Ulrich [Mitverf.]; GT; Nagula. Michael [Hrsg.]
Science-FictionStories 90 von Ulrich Weise Reinmar Cunis Gerd Maximovic Diethard van Heese L. D. Palmer Wolfgang Altendorf Kurt Karl Doberer Irmtraud Kremp Günter Zettl H. W. Springer Gertrud Hanke-Maiwald Sven Ove Kassau Erno Fischer Kai Riedemann Norbert Fangmeier Zusammengestellt von Michael Nagula Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Das andere Gericht Ulrich Weise .......................................................
7
Der Gott der Pest Reinmar Cunis ...................................................
30
Fabrizio Gerd Maximovic ................................................
43
Wiedergeburt Diethard van Heese ...........................................
52
In der Androidenfabrik L. D. Palmer ........................................................
56
Der Fuß des Kommandanten Wolfgang Altendorf ..........................................
74
Welt hinter Glas Kurt Karl Doberer .............................................. 109 Karl Irmtraud Kremp ................................................. 120 Dezembernacht Günter Zettl ........................................................ 128 Terminus H. W. Springer ................................................... 155
Der Begleiter Gertrud Hanke-Maiwald .................................. 159 Kinder der Evolution Sven Ove Kassau ............................................... 165 Expedition der Ameisen Erno Fischer ........................................................ 176 Der Elfenbein-Käfig Kai Riedemann ................................................... 190 Ausverkauf der Seelen Norbert Fangmeier ............................................ 210 Nachwort Michael Nagula .................................................. 224 Über die Autoren .............................................. 234
Ulrich Weise DAS ANDERE GERICHT Takadàgar hob das Glas mit gegorenem Elchblut in die Höhe, dicht vor seine grünen Augen, um abzuschätzen, ob ein starker oder eher ein feiger Körper hier seinen Lebenssaft gelassen hatte. Die anderen Jäger in der Runde sahen sein Gesicht von einem rötlichen Schimmer begossen; und Donòssomoh sah den glitzernden Pupillenspalt hinter der Krümmung des roten Glases genau auf sich gerichtet. Takadàgar knurrte wohlgefällig, tief im Rachen, neigte den Rand des Glases zwischen die spitzen Kiefer, seine Reißzähne ritzten einen schrillen Ton in das zartwandige Gefäß, dann nahm er einen kräftigen Zug. Schnell wie der Atem der fliehenden Beute schoß ihr veredeltes Blut durch die Adern des Jägers und schwemmte den Rausch bis an die Wurzeln seiner Krallen. Donòssomoh sah, wie seine Pupillen sich zu großen Kreisen weiteten; und hinter ihnen wurde das schummrige Licht der Taverne zu einem sonntäglich hellen Schein geklärt. »Jetzt sehe ich wieder, daß alles ganz klar ist, hell und klar!« rief er, seine Stimme gurrte tief in der Kehle. »Trinkt, ihr Kenner des Fleisches, es kräftigt das Herz und klärt das Auge!« Jeder in der Runde hob sein Glas mit dem roten Saft und trank auf das Wohl des Jägers. Imiràsih leerte das ihre bis auf den Grund; als sie es absetzte, mit einem harten Schlag auf die Tischfläche blitzte in ihrer blauen Iris die Lust der Trunkenheit. Sie sah die
Blicke aller Männer den zarten Pelz ihrer Brüste streicheln, die der Ausschnitt ihres safrangelben Kleides halb entblößte. »Ich sehe jetzt klar; es ist heller als der Tag, und ich weiß, wen ich mir wählen werde«, jubelte sie, kleine kampffrohe Schreie in ihrer Kehle. »Ich wähle mir den mit dem schnellsten Gebiß.« Sie schüttelte sich vor Lachen; ihre Brüste hüpften, und die Blicke der Männer hüpften auch. »Wer hat das schnellste Gebiß, jetzt, in diesem Moment?« Obwohl Donòssomoh erst wenig getrunken hatte, spürte er den Rausch schon sehr, es reizte seinen Mut. Er wagte den Scherz: »Das muß ich sein. Erst gestern sagte einer von den Kräutervertilgern, ich sei der Bissigste von allen, die ihre Krallen je an den Schranken des Gerichts gewetzt hätten.« Keiner beachtete den Scherz. Sein Lachen blieb einsam und verzerrte sich zum klagenden Schrei der Hyäne am nächtlichen Wüstenrand. Seine kurzsichtigen Augen flogen umher; er sah, wie sehr er der Stimmung geschadet hatte. Nur Takadàgar konnte jetzt noch die Laune der Runde retten. »Wer war je schneller als ich!« rief er. »Die Opfer meines Bisses schmücken diese Wände!« Er hob die Hand, und seine Krallen spreizten sich, als er auf das mächtige Elchgeweih wies, auf den Schädel des Sturmpferdes und gegen den Rachen der Springkatze, ihr ausgestopfter Körper ragte bis zu den Schultern aus der Wand; auch den Felsenadler beanspruchte er als seine Beute, und mit einer großen Geste schlug er dann noch die übrigen kleineren Tierschädel zum Schatz seiner Trophäen. Niemand widersprach, obwohl manchem die Beute genommen wurde, die er selbst gerissen hatte. Takadàgar war
der Meister, wer das bestritt, der würde zu teuer bezahlen. In der Nische neben der Tür lauschte man unzufrieden auf die prahlende Rede des Jägers; zwei schwere Schädel beugten sich über Schüsseln mit frischem Salat; gleichmäßig mahlten die großen Kiefer, und die braunen Augenpaare musterten einander kritisch. »Der Lattich ist nicht von heute«, brummte Udùbu, der hellbraune Fleck auf seiner Stirn zeigte unwillige Runzeln. »Und das Öl ist auch nicht mehr das jüngste.« Mit der hölzernen Gabel hielt er ein Blatt in die Höhe, die Perlen darauf waren zu schwer, große ölige Prismen, eine Beleidigung für die Zunge. »Was erwartest du von einer Küche, in der man Leichen zubereitet«, brummte der Baß des anderen Gourmets er kam aus einem mächtigen Brustkasten und dröhnte raumfüllend. In der ausgelassenen Runde der Jäger wurden die Ohren gespitzt, sie waren empfindlich für jeden beleidigenden Laut, und ihre Haarfransen sträubten sich, hing eine Kränkung in der Luft. »Man hat was gegen unsere Sitten«, fauchte Takadàgar. Seine Lefzen gingen in den Winkeln auseinander. Ein Ahnungsloser mochte es als unterdrücktes Lächeln deuten. »Wie würde sich der Ochsenschädel eines Blumenfressers unter deinen Trophäen machen!« schrie Imiràsih und brach in ein langanhaltendes schnurrendes Lachen aus. Der Jäger setzte ganz langsam das Glas auf den Tisch, mit dieser langsamen Entschlossenheit, die tiefes Schweigen um sich verbreitet. Jetzt waren seine Lippen so hochgezogen, daß die Reißzähne blank la-
gen; tiefes Knurren spielte mit seinem Adamsapfel. Er gab alle Zeichen, daß man ihn doch zurückhalte, weil er sich sonst vollends vergessen würde; aber niemand wollte vor Imiràsih als kluger Feigling erscheinen. Das war Donòssomohs Augenblick; man würde ihn nicht überhören, wenn er tat, was seine Aufgabe war; aber danken würde man ihm auch nicht. »Der beleidigte Salatmümmler ist im Schlichtungsausschuß für Rassenfragen«, sagte er. »Der ist tabu. Wer sich an dem vergreift, gibt seinen Kopf dem Henker als Trophäe.« Ganz plötzlich war Takadàgar nicht mehr so außer sich, er blieb sitzen und musterte Donòssomoh verächtlich – der hatte wieder einmal alles verdorben. Keiner wußte etwas zu sagen, und es drohte die schreckliche Niederlage, daß man die Kränkung ungesühnt hinnehmen müsse. Doch dieser peinlichen Lage war Donòssomoh durchaus gewachsen. »Was wäre das schon für ein Sieg, Takadàgar!« rief er. »Ein Jäger wie du reißt gedankenlose Haustiere beim Abweiden ihrer Vorgärten!« Die Runde lachte erlöst und stachelte den Spötter zu noch gröberen Scherzen an. »Ich hoffe nur, sie lassen sich nicht zum Wiederkäuen nieder. Das erinnert mich immer an Stallgeruch und Kuhfladen.« Das Lachen steigerte sich zu hämischem Gebrüll, vor dem sich die weiten Steppen des Landes geleert hätten. Die beiden Männer in der Nische zuckten zusammen, als träfe sie ein Metzgerbeil im Nacken. Sie senkten die Augen verlegen auf die halbleeren Schüsseln nieder. Von diesem Thema sprach man nicht vor den Ohren eines kultivierten Grünspeisers. Selbst im Sprechzimmer eines Arztes erwähnte man es nur in
behutsammen Umschreibungen. Ihre Kiefer erschlafften, die Speise schmeckte plötzlich fade, und die Welt war nackt und gemein. Aber schlimmer noch war: Die unerwartete Kränkung verleitete sie zu unhöflicher Scham. Darum faßten sie sich schnell, und ihre Blicke fanden sich wieder. Wut zog die Lider schmal zusammen, sie schoben die Köpfe eng gegeneinander, bis die Hornwülste auf ihren Stirnen fast zusammenstießen. »Dieser Blutsäufer ist ziemlich spitz«, flüsterte Udùbu. »Viel zu spitz«, murmelte der Delegierte des Schlichtungsausschusses. »Viel zu schlagfertig und gewandt für einen, der seine Zähne in lebendes Fleisch schlägt. Ein Geist, der keinen Respekt hat vor dem Leben, das ist eine Gefahr, die wir im Auge behalten müssen.« Udùbu nickte bedeutsam. »Das habe ich längst bedacht.« Er war ein Häscher des Geheimen Bundes. Die schweren Kiefer der beiden Grünspeiser begannen wieder träge zu mahlen. Die beiden traurigen Augenpaare gewannen eine Härte, die tief im Mahlen dieser Kiefer zu wurzeln schien. »Er steht schon lange auf meiner Liste. Wir müssen ihn für die bewußte Zeremonie gewinnen.« »Sie drücken die Hörner gegeneinander!« rief es von drüben, aus der Runde der Jäger. »Sieht das nicht brünstig aus?!« »Immer wenn sie eine Frau sehen, geht gleich das Geschiebe los!« steigerte ein anderer das wilde Scherzen. »Paß auf, Imiràsih, sie werfen ihre Kuhaugen auf dich!« Fauchen, Gelächter, tief in der Kehle schnurrendes Entzücken und wilde Trunkenheit, schüttelten die schlanken Körper der Jägermeute, und eine einzelne Stimme überkreischte den Lärm: »Dann mußt du Sa-
latmischen lernen, Imiràsih!« »Du perverses Schwein!« brüllte Takadàgar auf. Das Lachen verstöhnte in den keuchenden Mündern. Schnell wie der Zorn des Panthers warf Takadàgar seinen Arm über den Tisch, seine Krallen hieben spitz in die Wange des Spötters. Dann riß er sein Opfer halb über den Tisch, und der schwarze Flaum des Ohres rötete sich zwischen seinen Zähnen. Ein schmerzhaftes Zetern war zu hören, dann wieder das kreischende Gelächter der ganzen Runde. Imiràsih sprang auf, zog lächelnd das Ohr aus Takadàgars knurrendem Rachen und drängte den Sieger auf seinen Stuhl zurück. »Du hast das schnellste Gebiß, Takadàgar, wer hätte das nicht gewußt!« Eine neue Runde gegorenen Elchbluts besiegelte den Frieden am Tisch und den neuen Bund zwischen Imiràsih und dem Jäger. Sie tranken in langen Zügen, und der Rausch klärte ihre Augen, bis alles in einem blendenden Nebel zerfloß. Nur Donòssomoh nahm nicht teil am Glück seiner Meute. Immer wieder ging sein Blick zu der Nische hin, seine kurzsichtigen Augen sahen durchaus mehr in dem vertraulichen Tuscheln der beiden Grünspeiser, mehr, als daß es nur Spott herausforderte. Er wußte, die dort erschöpften sich nicht in endlosen Jagdzügen, prahlerischen Händeln und gewalttätigen Werbungen um eine Frau. Sie dachten ganz anders, und sie sprachen bedachter. Er hatte sie beeindrucken wollen – ein bißchen Geist spielen lassen, zeigen, wie überlegen er war, nicht wie die anderen seiner Rasse. Aber er spürte wohl, daß er den falschen Ton gewählt hatte, einen ganz und gar falschen Ton. Man spottete nicht mit ihnen, man konnte gar nicht mit ihnen re-
den wie mit Gleichen. Er spürte aber genau: Jetzt sprachen sie über ihn. Immer sprach man über ihn an den anderen Tischen, in der eigenen Runde fühlte er sich wie ein Verbannter; aber man bat ihn auch nie hinüber. Jetzt, im Rausch, wuchs noch sein freundschaftliches Gefühl für die andere Rasse; und er sehnte sich nach einer hornigen Hand, die sich ihm anerkennend auf die Schulter legte. Die Grünspeiser gingen, unbeachtet von den Trinkern, zwischen denen die Scherze immer müder hin und her flogen, um bald ganz ermattet zu verstummen. Dunkle Visionen geisterten durch das Licht des Rausches, aber erhellten sich nicht; und gedrückte Stimmung breitete sich aus unter den flachen Schädeldecken. Mann für Mann erhoben sich die Jäger und gingen, müde wie vom Töten und träumend im trägen Genuß ihrer Muskeln. Nur einer von ihnen ging nicht in der selbstgenügsamen Lust seines Körpers. Ehrgeizige Träume begleiteten seinen einsamen Weg. Und der Glanz des Rausches hielt nicht stand vor der wirklichen Nacht. Von der Steppe her sprang das Sternbild des Panthers über die niedrigen Häuser der Stadt herein. Die Schwärze des Himmels war sein Pelz, und wo die Muskeln sich spannten, strahlten die Gestirne. Doch keine Furcht duckte sich mehr unter den gestirnten Pranken. Stiernackige Grünspeiser in blumenfarbenen Gewändern schlenderten aufrecht und gelassen mit dem gemächlichen Gang weidender Herden die breiten Straßen entlang, selbstbewußte Wesen, die, rechtschaffen ermüdet, von einer wichtigen Tätigkeit kamen oder einer bedeutenden Pflicht entgegengingen. Ihre schweren, hornigen Füße hatten den Lehm-
boden mit endloser Emsigkeit festgetreten. Nur selten sah man die zierlichen Krallenspuren gewichtsloser Tatzen in die glatt gestampfte Fläche gedrückt. Wasser füllte die winzigen Punkte, fünf dunkel glänzende Blutstropfen aus frischen Wunden. Doch Donòssomoh begriff mit der Klarheit des Leichtberauschten: Sie hatten keine Bedeutung, sie verletzten nicht tief, und schon bald würde ein schwerer Fuß sie zertreten. Denn die großen Gestalten wurden nie weniger; verschwand einer von ihnen unter den Strohdächern der kalkweißen Häuser, so trat bald ein anderer an seine Stelle, so daß fast immer die nämliche Zahl vierschrötiger Grünspeiser die ganze Länge der Straße bevölkerte, ein wachsames Treiben, ohne Furcht vor den Krallen, die unsichtbar lauernd im Pelz der Nacht drohten. Eine Grünspeiserin überholte den einsamen Jäger, warf ihm einen kurzen Blick zu, prüfend zwar, aber nicht sonderlich mißtrauisch. Und dann schritt sie vor ihm her, die breiten, schwingenden Hüften über den fast zerbrechlich schlanken Fesseln; die weite Glocke ihres Rockes machte den Kontrast noch schärfer, ein sinnlich schwerer Körper auf zierlichen Stelzen. Einen spöttischen Augenblick lang dachte Donòssomoh an die leichte Gerte des Hirten, die diesen ruhigen, ungehetzten Gang in die kräftige Kruppe gezwungen hatte. Dann sah er, wie sich die kräftigen Nackenmuskeln vor ihm leicht härteten; sie machte sich doch mehr Sorgen, als ihr Blick verraten hatte, und Donòssomoh fühlte sich an den Ruf seiner Rasse erinnert; es roch jetzt nach Dung und Stall und trockenem Heu, die Nasenflügel des Jägers bebten; seine Kiefer gingen auseinander, und die Reißzähne blitzten, bargen
aber dann ihre verräterische Lust wieder hinter den schmalen Lippen; für einen Augenblick verlor er seine Beherrschung so sehr, daß er die Zehen spreizte, und die Krallen seiner Füße sich in den weichen Lehm bohrten. Dann bekam er einen Schlag vors Gesicht und taumelte, duckte sich weg und warf die Arme hoch, man hatte ihm etwas über den Kopf geworfen; was er herunterriß, war eine Hose aus geschmeidigem Elchleder, einige Schritte weiter lag ein grünes Hemd am Boden. Aus dem Dunkel zwischen den beiden Häusern zur Linken kam ein langanhaltendes unbeherrschtes Fauchen, als hätte der Panther des Himmels sich durch die Dunkelheit nähergeschlichen. Die Grünspeiserin drehte sich hastig dem drohenden Laut entgegen; sie wollte ihre starken Arme hochreißen, doch der Angreifer war schon in der Luft. Mit dem Schrei »Was für ein Nacken!« klammerte er seine Pranken um die starken Schultern und biß. Ein schöner, warmer Pelz schmiegte sich an den breiten Rükken der Grünspeiserin. Donòssomoh prallte zurück, dann stieß ihn der Ellenbogen eines breitbrüstigen Mannes zu Boden. Mit einem einzigen mörderischen Schlag seiner hornigen Faust fegte dieser den Pelz vom Rücken des Weibes. Weit flog der Körper des gierigen Jägers über die Straße, stürzte federleicht zu Boden und schoß dann knurrend in das Dunkel zwischen den Häusern. Donòssomoh stand auf und rannte schnell in die Richtung, aus der er gekommen war. Er versuchte seine Furcht etwas zu bremsen. Auf keinen Fall durfte es nach Flucht aussehen. Man sah schon zu ihm hin, von allen Seiten spürte er schon die Fäuste
auf sich niederprasseln. Doch die großen, wachsamen Gestalten musterten ihn kaum, nur mit mäßigem Mißtrauen, so daß er ruhiger wurde, langsam, wie geschlagen, nach Hause zu trotten wagte; auf dem ganzen Weg schlug in seiner Brust das Herz einer Gazelle. Die Mittagssonne stand hoch über der Steppe, warm, aber mit mattem Licht; sie wechselte nur von einer Dämmerung des Tages in die andere und überzog dabei alles mit einem rötlichen Schimmer. Zwei Männer kamen durch das hüfthohe Gras, sie liefen mit leichten, geschmeidigen Schritten. Der eine folgte zielsicher der Witterung seiner Nase, während der andere immer wieder zögerte und einen unsicheren Blick über die Steppe gleiten ließ. Manchmal sah er einen zitternden Strich in der Ferne, wo der rötliche Schimmer über den Halmen dunkler wurde, aber nie machte er den anderen darauf aufmerksam, damit sie die Richtung wechselten, sondern blickte fort, als wollte er nicht sehen. Sein Gefährte wandte sich um und knurrte unwillig: »Komm schon, Donòssomoh. Und diesmal reißt du deine Beute selbst.« Er drehte sich wieder nach vorn und beschleunigte seinen Lauf. »Wer seine Zähne nicht in lebendem Blut badet, dem sollen sie verfaulen ...« Was Takadàgar noch vor sich hinbrummte, war für den Jagdgenossen nicht verständlich, er wußte aber etwa, was gemeint war, und hätte es sogar besser sagen können. Ein zitternder Strich zog vor ihnen über die Steppe. Der erfahrene Jäger knurrte ein kurzes Signal und begann noch schneller, mit weiteren Schritten zu laufen,
so daß die fliehende Beute bald nur noch eine Sprungweite vor ihnen war. »Nach rechts!« fauchte Takadàgar. »Und diesmal wird gesprungen!« Aber Donòssomoh lief nicht, er blieb stehen, keuchte und blickte mit großen, flehenden Augen um sich. »Ich kann nicht mehr!« Takadàgar sprang herum, als wollte er ihn anfallen. »Jagdscheu!« schrie er. »Und das in meiner Gegenwart!« Mit seiner Rechten mißhandelte er einen Ginsterbusch, seine Krallen zerfetzten die Blüten. Die andere Hand schlug heftig auf Donòssomohs Schulter. »Du kannst noch nicht müde sein. Du gehörst doch zu uns, ein geborener Jäger.« Beide Hände hämmerten jetzt auf die wild auf und ab wogenden Schultern. »Spiel mir nichts vor! Du schlägst deine Beute selbst, und wenn ich dich hinschleifen muß!« Langsam kam Donòssomoh wieder zu Atem. »Und wer schreibt deine Entschuldigungsreden für den Schlichtungsausschuß? Kannst du das selbst? Du weißt ja nicht einmal, gegen welche Regeln du verstoßen hast, wenn sie dich vorladen. Du wärst deinen Kopf längst los ohne mich.« »Spiel dich nicht auf«, knurrte Takadàgar, aber es klang schon weniger unversöhnlich. »Du wärst ohne mich längst verhungert. Ich will aber nicht, daß du fremde Beute nimmst wie irgendein Aasfresser. Du fängst dir deine Gazelle selbst, und wenn ich sie vorher halb tothetzen muß.« Er drehte sich wieder in den Wind und hatte sofort eine starke Witterung in den Nüstern; und ehe Zeit blieb für einen einzigen Gedanken, setzte er schon in weiten Sprüngen durch das hohe Gras. Immer wilder wurden seine Bewegungen; er riß an seinem Hemd, bis es lose in seinem Rücken
flatterte; in meterweiten Sätzen jagte er dahin, blitzschnell löste er die Gürtelschnalle und schnellte sich aus der engen Wildlederhose; jetzt hielt die Steppe erschrocken den Atem an, alles Leben duckte sich. Und dann – ein ganz langer Sprung mit klaffenden Kiefern; plötzlich – ein erschrockenes Fauchen in der Luft; er warf sich zur Seite, landete leicht auf den Füßen, erstarrte dann und blickte gebannt auf das niedergetretene Gras zu seinen Füßen. Donòssomoh schnaufte heran. Er hoffte auf eine Gazelle, die vor Schreck erstarrt war oder auf sonst eine leichte Beute für seine müden Muskeln; die Jagd war eine lebenslange Strafe für ihn, der Schweiß seiner Tage und die Qual seiner Nächte. Plötzlich brach Takadàgar in ein hemmungsloses Gelächter aus. »Da liegt einer!« schrie er, schlug sich wild auf die Schenkel und kreischte noch lauter: »Was für ein Anblick! Ist das komisch! Das sieht ja ganz wahnsinnig aus!« Er packte Donòssomoh und riß ihn heftig zu sich heran. »Es ist wahr! Sie kauen tatsächlich wieder.« Er drückte Donòssomoh heftig an sich, eine sehr wilde Zärtlichkeit. »Ich dachte immer, es ist ein Scherz von dir!« Sein Gelächter ergoß sich mit immer höher schäumender Rohheit über den Anblick entblößter Scham. Zusammengerollt in einer behaglichen Mulde aus Gras lag ein stämmiger Grünspeiser. Der Blick seiner braunen Augen versank tief in den Geheimnissen seines eigenen Körpers. Ganz langsam malmten die schweren Kiefer, und bei jeder Bewegung schien er einer fernen Idee nachzulauschen, die gedankenschwer bis in die Wurzeln seiner Kost reichte und die er wieder und wieder, gut durchspeichelt, mit seinem
Gaumen prüfte, um sie endlich, bis in jede Faser erforscht, sich einzuverleiben; und dann lächelte er, satt an Körper und Gemüt, ein ganz und gar nacktes Lächeln. Der verschwiegendste Genuß seiner Rasse lag bloß vor den Augen der unnachsichtig anderen und war schutzlos ihrem Hohn preisgegeben. Takadàgar wälzte sich vor Lachen im Gras; Donòssomoh spürte plötzlich eine leichte, das Herz beschwerende Verlegenheit; trotzdem konnte er den Blick nicht abwenden, und ein höhnisches Grinsen fror auf seinem Gesicht fest. An der kauernden Gestalt des Grünspeisers ging ein unendlich langsamer Wandel vor sich; träge, wie eine Blume zum Licht strebt, begannen seine Sinne, sich dem unmäßigen Spektakel vor seinen Augen zuzuwenden. Das Mahlen seiner Kiefer hörte auf; er schluckte; schwer und langsam glitt der warme Klumpen den Schlund hinab. Und erst dann begriff er, erkannte mit einem Blick die fürchterliche Demütigung; und sein Entsetzen barst in einem grauenhaften Schrei. Im Nu stand er auf den Beinen, zitterte, den wuchtigen Schädel gegen die Jäger gesenkt, eine vor Zorn tobende Muskelmasse. Aber dann spürte er wohl, daß es gar nichts zu verteidigen gab; und seine Wut sank langsam in sich zusammen. Er drehte sich um und ging; fast schien es, als taumelte er. Die beiden Jäger waren etwas zurückgeschrocken vor der wutbebenden Gestalt; und selbst Takadàgar schien jetzt doch etwas betroffen. »Das hat ihn ja wahnsinnig gemacht. Verstehst du das?« »Es ist das Peinlichste für sie. Sie zeigen es nicht einmal voreinander.« Donòssomoh verfiel sofort auf ernstere Gedanken. »Man kann sagen, was man will –
sie stammen von Rindviechern ab; ich hab's doch schon immer gewußt. Und ich sage dir: Ihre Vorfahren sind die legendären Herden gewesen, die unsere großen Ahnen besessen haben sollen. Sie sind Deserteure, Aufrührer, Rebellen, sie haben uns unsere Kultur gestohlen. Sie haben uns von unseren angestammten Herrensitzen verstoßen.« Takadàgar hatte seine Aufmerksamkeit schon wieder der Jagd zugewandt. »Was redest du da für Unsinn«, knurrte er. »Wir sind doch die Herren der Steppe; und sie machen die langweilige Arbeit. Ganz wie es sein soll.« Ahnungsloser Schwachkopf, dachte Donòssomoh, du siehst nicht, daß sie eigentlich alles schon in der Hand haben: den Rat, die Gerichte, die Ausschüsse, vor allem aber – sie haben alle Kenntnisse, während von uns nur noch jeder zehnte vielleicht lesen lernt. Wer strengt seinen Kopf wirklich noch an? Die zweite Dämmerung des Tages zog bereits lange Schatten über die Steppe, und alle Farben verblaßten zu eintönigem Grau, als Donòssomoh endlich zu seiner Jägermahlzeit kam. Mit Zähnen und Krallen wühlte er in der frischen Leiche einer Gazelle, doch sobald er den Hunger nicht mehr spürte, wurde das Fleisch fade zwischen seinen Lippen. Er kaute lustlos und sann delikateren Gedanken nach: Vor kurzem hatte er gelesen, daß vor vielen Zeitaltern das Fleisch der Beute über dem Feuer gebräunt wurde, wobei man seinen Geschmack durch die Samen besonderer Pflanzen verfeinerte. Es waren also die Pflanzen, die dem Fleisch erst den Geschmack gaben. Da lag ihre ganze Schwäche und ihre Plumpheit – unter dem
Gaumen fing es an, und über der Zunge hörte es auf, wenn sie unbeholfen Worte von Bedeutung zu formen versuchten. Bis an die Grenzen unserer Kraft hetzen wir unsere Beute, dachte Donòssomoh, und dann schlingen wir hinein, und dann haben wir alles vergessen. Das entsprach nicht ganz dem Bild seiner Jagd; denn Takadàgar hatte diese Gazelle fast zu Tode hetzen müssen, bis sie für Donòssomohs Sprung bereit war, und die Grenzen seiner Kraft vermutete er eigentlich auf einem anderen Gebiet, in der Nähe seiner großen Ahnen. Er fühlte sich satt für den Augenblick; auch wenn es kaum für drei Tage reichen würde, wie Takadàgar von ihm verlangt hatte. Sein Magen wehrte sich immer ein bißchen gegen frisches Fleisch. Ich müßte etwas wagen, dachte er sich, wenn ich nur wüßte, wie man es macht. Nicht einmal in Gedanken wagte er das Wort Pflanzenkost auszusprechen, ein frevelhafter Gedanke, für den seine Rassengenossen ihn sicher gelyncht hätten. Donòssomoh war in der Tat ein schlechter Jäger, denn lange bemerkte er den Grünspeiser nicht, der sich aus dem Gras erhoben hatte und ihm gefolgt war. Stunden hatte der Häscher des Geheimen Bundes gebraucht, um den peinlichen Vorfall vom Mittage zu verwinden. Irgendwo war er zu Boden gesunken, mit vor Scham weichen Muskeln; und es war so finster in seiner Seele, daß er gar nichts denken konnte. Dann kamen die Vorwürfe und mit ihnen der Haß auf die Spötter. Wie hatte er sich auf seinem Beobachtungsposten nur zum Wiederkäuen niederlegen können? Und gerade vor den Augen dieser Bestien, denen nichts heilig war. Er hatte sie überwachen
wollen, und statt dessen hatten die Feinde tief in seine Scham geblickt. Wie er jetzt hinter Donòssomoh herschlich, schienen sie den Typ ihrer Rassen getauscht zu haben: Der Jäger verwandelte sich in das getriebene Tier der Herde, das nicht wissen kann, was man mit ihm will. Und als sich die hornige Hand seiner Träume ihm anerkennend auf die Schulter legte, schrak er nicht einmal zusammen, sondern lauschte vertrauensvoll der Stimme, die seinen Wünschen entsprach. »Der Jäger ist müde vom Töten, aber nicht zufrieden. Wie gut sein Herz ahnt, was ihm wirklich fehlt.« Nur langsam wurde dem Jäger bewußt, wer zu ihm sprach; und die Stimme des Grünspeisers war so aufrichtig, daß keine Feindschaft zwischen ihnen sein konnte. »Wir wissen, was du wert bist«, fuhr Udùbu mit schmeichelnder Stimme fort. »Wir wissen auch, wer die Verteidigungsreden für die anderen Jäger schreibt und ihren Kopf immer wieder aus der Schlinge zieht.« »Man muß für seine Freunde einstehen«, antwortete Donòssomoh leise. »Davon will ich gar nicht reden«, zerstreute Udùbu alle Bedenken. Seine Hand ruhte noch immer mit beruhigender Kraft auf der Schulter des Jägers. Nun doch ein bißchen mißtrauisch, schielte Donòssomoh nach der kräftigen Gestalt des Grünspeisers. Er war schlau wie alle von ihnen; doch seine Stimme war über jeden Verdacht erhaben, weil sie die Wahrheit sprach. »Wer will dich dafür tadeln, auch wenn es gegen das Gesetz ist.« Er redete wie ein großmütiger Richter, frei von der Blindheit der Gesetze. Aber dann, Vertrauen gegen Vertrauen, erlaubte er sich ei-
nen freundschaftlichen Tadel: »Dein Stil ist immer sehr farbig, nicht ohne Witz – auch wenn der Vortrag deiner Freunde an den Schranken des Gerichts alles zunichte macht. Sie sind keine Redner. Aber nicht einmal sie können das Werk deiner Feder ganz verderben; die klassischen Wendungen der Unschuld sind so überzeugend formuliert, daß kein Gericht sie widerlegen kann.« Udùbu machte eine Pause und ließ das Gesagte wirken. Als er dann weitersprach, wählte er seine Worte mit vorsichtiger Milde: »Und doch fehlt Jedesmal eine Kleinigkeit. Der allerletzte Schliff, möchte ich sagen. Immer lauschen wir etwas beklommen, wenn das Gerüst der Rechtfertigung hörbar zu schwanken beginnt. Eine Winzigkeit, die stolze Zuversicht des Künstlers, fehlt.« Bei diesen Worten nahm er seine Hand von Donòssomohs Schulter; und dieser fühlte sich plötzlich verlassen. Ein solcher Tadel traf ihn, weil er stimmte. Es war hoffnungslos. »Ein Verstand, der mit der Schuld des Tötens belastet ist, gelangt nicht zur vollen Reife«, begann Udùbu zu erklären. »Unruhiges Gewissen verwirrt die Gedanken. Es gibt keine Gewißheit ohne ruhiges Gewissen. Wie will man etwas mit Sicherheit wissen, wenn man von der Angst anderer Wesen lebt.« Dieses Gedankenspiel traf den Jäger tief. Genau so war es, auch wenn er selbst es nicht hätte sagen können. »Die Grenzen seiner Natur kann niemand überschreiten; er kann nur schaudernd vor ihnen zurückweichen«, flüsterte er mutlos. Freundlich zog ihn die hornige Hand des Grünspeisers aus dieser hoffnungslosen Stimmung. »Sind es wirklich die Grenzen eurer Natur?« fragte er mit
Nachdruck auf jedem Wort. »Von euren Ahnen weiß man es anders.« »Kein Jäger kann auf das Töten verzichten. Und sein Magen verträgt keine andere Kost«, behauptete Donòssomoh, doch schon glaubte er selbst nicht mehr an das, was der Stolz seiner Rasse war. Der Häscher des Geheimen Bundes lachte freundlich. »Tabus Vorurteile, Legenden, Ketten für den Geist.« Er zwang den Jäger stehenzubleiben und deutete auf einen Baum in der Ferne. »Die Früchte des Nierenbaums befreien von Verwirrung und Laster« verhieß er. Dann entfernte er sich langsam. Aber er sprach immer noch über die Schulter weg, aber so unbestimmt, als redete er mit sich selbst. »In unserem Zunfthaus ist jeder willkommen, der bescheiden anklopft und mit ernster Absicht. Die Besten der Euren sind durch diese Tür gegangen.« Udùbu verschwand im Grau der Dämmerung. Am Himmel begann das Sternbild des Panthers zu leuchten; es sprang von der Steppe über die Strohdächer der Stadt. »Wird er tatsächlich kommen?« fragte der Delegierte des Schlichtungsausschusses. »Glaubst du wirklich, du hast ihn so schnell überzeugen können?« »Überzeugen nicht«, antwortete Udùbu. »Aber er hat einen Stoß erhalten, der ihn taumeln läßt, und zwar hierher. Wo sollte er sonst hin?« ein zufriedenes Lächeln entblößte kräftige Kauzähne. »Er kommt.« Die Runde der fünf Grünspeiser verfiel wieder in Schweigen. Das Licht einer einzigen Kerze erhellte kaum ihre großen, ernsten Gesichter. Vier der Männer waren längst ergraut, in einem Alter, das durch langes Warten sich nicht mehr ermüden läßt. Nur der Häscher des Geheimen Bundes war noch in einem
unruhigeren Alter; und so war auch er es, der zuerst die Geduld verlor. »Man könnte wenigstens schon auftragen!« rief er und wandte den Kopf nach hinten. Die Greise warteten, bis er wieder auf den Tisch blickte. Dann sagte der Älteste mit einer Stimme, der jede Ungeduld fremd war: »Blicke nicht hinter dich bei dem Geschäft, das du vor dir hast. Das könnte Zweifel wecken an deinem Ernst, bei den anderen und bei dir selbst.« Udùbu sah dem Ältesten in die Augen und schlug dann den Blick nieder. »Ich zweifle nicht, Meister«, murmelte er. »Ein falscher Eindruck läßt sich mit Worten nicht mehr entkräften«, kam ein weiterer Tadel. »Nur die Ruhe deines Gemüts kann überzeugen.« Und dann, nach längerem friedlich atmendem Schweigen, fügte der Älteste freundlich hinzu: »Wir vertrauen dir und deinen Künsten.« Die Runde schwieg und ließ die Bedeutung der Worte wirken. Erst als jeder sie voll geschätzt hatte, beugte einer der Alten sich vor, damit sein Gesicht beleuchtet war und jeder sah: Seine Rede stimmte zu seiner Miene. Er sprach mit sanftem Ernst, gemessen fragte er nach dem Recht ihres Tuns, wie es das Ritual ihrer Zunft fordert. »Wenn ich zurückblicke«, begann er, »so fällt mir auf: alle waren sie von einem Drang nach Wissen getrieben, von einer Begeisterung für all die Kenntnisse, die ihren gottverlassenen Hirnen fremd sind. Das erstaunte uns jedes Mal. Ihre Ahnen waren groß ...« »Sklavenhalter und tückische Mörder waren ihre Ahnen!« rief der Häscher. Und verstummte dann unter tadelnden Blicken.
»Ihre Ahnen waren groß«, fuhr der Älteste fort, als wäre er nicht unterbrochen worden, »und selbst sie, die verkommenen Enkel, haben eine Hitze des Gemüts und eine Kraft des Herzens, die uns fremd ist, und sie wären fähig zu einer Güte, die wir kaum ahnen, denn sie stehen dem Leben näher, weil der Tod sie begleitet auf allen Wegen. Ich frage euch daher, wie es meine Pflicht ist: Sollen wir verfahren in der gewohnten Weise?« Die Männer nickten und murmelten wie mit einer Stimme in dumpfem Singsang: »Wir werden verfahren, wie es unsere Pflicht ist.« »Wie es unsere Pflicht ist«, wiederholte der Älteste, »und nicht wagen, was unsere Kräfte übersteigt.« Nachdem der Spruch bestätigt war, hob der Sprecher seine Stimme, und mit geschlossenen Augen begann er beschwörend zu sprechen: »Jetzt schleicht er durch die Straßen der Stadt, lautlos zieht er an der Tür dieses Hauses vorüber und blickt fort wie von einem Gesicht, das er nicht kennen will. In seinem Herzen kämpft der Ehrgeiz mit den Vorurteilen seiner Rasse und weiß doch schon, daß er siegen wird. Einen letzten Blick, bewundernd und gläubig, wirft er nach dem furchtbaren Sternbild hinauf, und seine Krallen drücken sich voll Wonne in den weichen Lehm. Dann schleicht er weiter, und Wasser sickert in die scharfen Wunden des Bodens. Geduckt kommt er an dieser Tür vorbei. Er zögert, fast scheint es, als wolle er springen. Dann kehrt er um, vergewissert sich noch einmal, daß keiner ihn sieht. Und keiner sieht ihn; der Instinkt seiner Rasse schützt ihn besser, als wir es könnten. Endlich klopft er fest; und eine tiefe Furcht in unserem Gemüt läßt uns nicht hören, daß
es zaghaft klingt.« Er schwieg, und die Männer wandten den Kopf zur Tür. Laut dröhnte das Holz unter energischen Schlägen. Das war keiner der Ihren, keiner, der die Würde der Zunft achtete. Udùbu erhob sich und öffnete die Tür. »Willkommen. Kaum habe ich zu hoffen gewagt, daß du kommst.« Er legte dem Jäger die schwere, freundliche Hand auf die Schulter und schob ihn an den Tisch. Ehe die Tür sich schloß, nahm Donòssomohs Auge noch einen flackernden Stern von der Pranke des Panthers mit in das Dunkel des Raumes. »Schließe unseren Kreis, lange erwarteter Gast«, forderte ihn der Älteste des Bundes auf und rief dann lauter: »Man möge auftragen!« Donòssomoh setzte sich auf den ihm angewiesenen Platz. Über seine Schulter reichte ein Diener die große braune Schüssel und stellte sie behutsam in der Mitte des runden Tisches ab. Udùbu griff nach der langen Holzgabel und füllte die Teller. Die halbierten Früchte des Nierenbaumes glänzten grünlich im Öl ihres eigenen Fleisches. Ganz langsam, unendlich träge, begannen die Männer des Bundes zu speisen. Auch der Jäger griff nach dem ungewohnten Besteck und aß. Die anderen, erfahren im Genuß, kauten bedächtig, doch ihr Gast biß hastig in die befremdliche Frucht, schlang und würgte, als fräße er eine winzige, zitternde Beute, die zwischen seinen Zähnen noch um ihr Leben kämpft. Dann entsann er sich der fremden Sitten und blickte seinem Partner im Mahl in die ruhigen Augen. Dort blitzte ein kurzer Widerwille auf und verbarg sich dann hinter einer wissenden Weitherzigkeit. Im Gesicht des Jägers sträubten sich die Haare vor
Scham. Der Älteste ließ nicht den Blick von seinen Augen und sagte mit tiefer, ruhiger Stimme: »Iß, wie es deine Art befiehlt. Wir blicken nicht auf die fremde Geste, nur auf den Geist, der kostet. Achte auf alles, was dein Gaumen dir sagt, und berichte uns, wenn du gekostet hast, wie du empfindest.« Zuerst spürte Donòssomoh ein scharfes Brennen in der Kehle; sein Schlund zog sich zusammen, und die Bissen häuften sich über dem brennenden Muskelkrampf. Er hätte gern um ein Glas Wasser gebeten, war aber zum Schweigen verurteilt. Doch schon nahm eine tiefe, blutfüllende Wärme den Schmerz aus seiner Gurgel, und ein frischer, bitterer Geschmack entspannte den Gaumen. Donòssomoh fuhr fort zu essen, ein leichtes Fieber ging durch seine Glieder, doch der Geschmack der Speise wurde sonderbar dumpf, und das Schweigen der Esser verbreitete eine unerhörte Gleichgültigkeit. Fast wollte er rufen: Ihr seid fade wie eure Küche! Was sollten wir von euch lernen! Doch die Worte blieben ihm im Halse stecken. Er brauchte Zeugen seiner Art für beißende Reden. Vor den Augen des Ältesten herrschte nur Stille, und keine Niedertracht gegen den guten Ton war denkbar. Doch auf anderes schien dieser forschende Blick zu warten, etwas, das nicht belanglos sein durfte. Als das Mahl fast beendet war, spürte Donòssomoh plötzlich eine Klarheit in seinem Geist, schärfer als die Wirkung gegorenen Blutes. Eine sanfte Zuversicht, die das Blut kühlte und den Gedanken eine verzückte Leichtigkeit gab. Und nun hoben die Stimmen an. Das Gastmahl würzte sich mit Gesprächen; Wendungen, in denen die Worte einander
wählten, wie es ihr Sinn sich wünscht. Donòssomoh wurde von Gewißheiten überflutet; ganz plötzlich verstand er die dunklen Stellen in den alten Büchern und legte sie aus. Und er spürte begeistert, wie er dem Gespräch immer die beste Wendung gab und die anderen mit Achtung und Höflichkeit lauschten. Freundschaft, wie sie nur in seinen Träumen gelebt hatte, wurde jetzt wahr. Und begeistert rief er: »Es ist ganz gleichgültig, was uns trennt!« Dann sprach er weiter, redete ohne Pause und lauschte sich selbst mit Erstaunen. Jetzt begriff er alles; und das Entzücken machte ihn stumm; und diese Sekunde genügte, daß alles wieder vergessen war. Erst jetzt erkannte er – keiner hatte ein Wort gesprochen. Stumm blickten sie ihn an, sie verstanden nichts, in ihren Augen war nichts als Verrat. Gierig beugten sie sich nach vorn, starre grausame Augen. »Uns schadet das Gift nicht«, flüsterte Udùbu. Er rückte noch näher und hauchte noch leiser: »Aber du wirst nicht einmal Zeit haben, dich zum Wiederkäuen niederzulegen.« Dieser frivole Hohn blieb unbemerkt von den Alten des Bundes. Sie waren gebannt von einem Todeskampf, den sie nicht verstanden. »Du wirst keinen Kopf mehr retten, der dem Henker gehört«, spottete Udùbu zum letzten Mal. Dann fiel Donòssomohs gelähmter Geist in die Blicke, die ihn verzehrten.
Copyright © 1981 by Ulrich Weise Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Reinmar Cunis DER GOTT DER PEST »Uuh! Uuh!« brüllte der Junge und kam händefuchtelnd den steinigen Strand herauf, das Gesicht voller Schlick, Seetang fiel von seinen Haaren herab. »Ich bin der Gott der Pest!« schrie er mit verstellter Stimme, »wehe euch, ihr Menschen! Uuh!« Über ihm, auf einem kleinen Felsvorsprung, hockte Großvater, ein wettergegerbter Mann mit kurzen grauen Haaren, sein verfilzter Bart hing weit in das offene, fleckige Hemd hinein. Er beschattete die Augen, wie er es zeit seines Lebens getan hatte: mit beiden Händen und seitlich über die Schläfen gewinkelt, um die Sonnenreflexe abzuwehren; leicht vornübergebeugt stand er da und schnaufte, dann riß er beide Arme entsetzt über den Kopf und rief: »Bleib fort, Gott der Pest, bleib in deinen Höhlen tief unter dem Meer! Zurück, Gott der Pest zurück!« Doch der Junge, barfüßig und klettergewandt, hatte ihn bereits erreicht, hager und aufgeschossen, schmalschultrig, als ob der kantige Kopf auf einem viel zu schmächtigen Stengel säße. Die tiefliegenden Augen waren schattig, kaum sichtbar, manchmal begann es in ihnen ebenso faulig zu glänzen wie in den Buchten des Fjords. Der Junge reckte seine hageren Arme, fuhr Großvater mit den Händen durchs Gesicht und hinterließ ölblaue, tropfende Spuren. Großvater machte sich nichts daraus, er lachte, strich dem Jungen übers Haar und wischte ihm ein paar schmierige Reste des
Strandguts vom Kopf. Über ihnen kreischten Möwen, in breiten Schwärmen waren sie von der Mole des Elektrizitätswerkes aufgestiegen, das sich drüben auf der anderen Seite des Wassers unter den Steilhang eines tausend Meter hohen Felsmassivs duckte. Dunst stand über der Fjordmündung, noch hatte die Sonne, die über den Bergen aufstieg, mit ihren Strahlen die Bucht nicht erreicht, nur draußen, weit vor der schmalen Landzunge, die wie ein Finger in den Skagerrak hinauszeigt, spiegelte sie sich bereits putzsüchtig in Milliarden goldgelber Wassertropfen. Die Möwen zogen zum Horizont, weitab vom Land fanden sie noch Fische, schade, dachte Großvater, früher konnten wir hier zwischen den Klippen angeln, bis tief auf den grünen Felsgrund hinab konnten wir blicken, wir sahen, wie die Dorsche den Köder beschnupperten. Vom Dorf über ihnen am Hang meldete die rostrote Holzkirche die neunte Stunde. »Sarin bin ich, der furchtbare Gott!« spielte der Junge weiter, »ihr müßt alle sterben, wenn ich komme!« Großvater zog ihn auf den Schoß, von den stelzigen Beinen des Jungen perlte schlieriges Wasser herab. »Komisch«, sagte er, »solche Spiele haben wir nicht gekannt, als wir hier herumtobten. Wie kommst du auf Sarin? Woher hast du diesen Namen? Lernt ihr das heutzutage in der Schule?« Der Junge verzerrte sein verdrecktes Gesicht zu einer grauenerregenden Grimasse. »Weißt du«, fuhr Großvater fort, »wir haben uns früher alte Boote hergerichtet und sind in die Schären hinausgefahren, manchmal durften wir Zelte mit-
nehmen und draußen übernachten. Später, im Krieg, war es ungeheuer nützlich, jeden Winkel und jedes Schlupfloch zu kennen.« Er hockte wieder zwischen den möwengeweißten Felsen an der Fahrrinne vorm Südkap, ein finsteres, windgefächertes Geflecht von Wolken deckte die Sterne zu, der Mond würde erst gegen drei Uhr hinter ihnen übers Gebirge klettern. Sie lauschten angestrengt auf das böse klatschende Meer hinaus, nichts war zu sehen, nichts zu hören, der kalte Wind griff unter ihre dünngeschabten Jacken, aber vor lauter Aufregung froren sie nicht. »Da sind sie!« zischte Bengt durch seine Zahnlücke, »zwei, nein drei Fregatten, sie haben keine Positionslichter gesetzt, sie tasten sich herein, dort drüben, wo früher das alte Leuchtfeuer stand, seht ihr sie?« Noch sahen sie nichts, aber sie spürten bereits das Vibrieren der Dieselmaschinen unter ihren Stiefeln. Dag kurbelte am Funkgerät. Sie meldeten die drei Fregatten dem britischen Kommando, drei Nazischiffe auf dem Weg nach Farsund, Besatzer, Fremde, die sich wie eine Krankheit in den Fjorden ausgebreitet hatten. Da schrie ein Scheinwerfer auf, der bleiche Strahl stieß in die Nacht und malte zuckende Flecken auf die Klippen und Buchten, ein Sprung noch, zitternd klebte das Licht auf ihrer Insel, dann meckerten Schüsse aus einem Schnellfeuergeschütz übers Wasser. Sie sprangen rückwärts in die Höhle, glitten, fielen durch den Schacht auf nassen Kies, kauerten sich auf der anderen Seite unter den breiten Buckel des Felsens; eines Tages würden sie sich nicht mehr verstek-
ken, schworen sie sich, eines Tages würden sie es sein, die schossen, und die Fregatten würden irgendwo dort unter dem alten Leuchtturm sterben, zugedeckt von Meer und Tang. Bekümmert blickte Großvater auf den Strand, das Ufer glich einer Kloake. Breite Streifen alten Rohöls schaukelten behäbig in der Morgenflut, die schmale, kiesbedeckte Bucht, buntschillernd und glitschig, dünstete stinkend vor sich hin. Von der anderen Seite der Fjordmündung quollen Rauchwolken herüber, sie pufften aus den dürren Schloten des Kraftwerks und breiteten sich als schwärende Fäden über das Meer. »Wir haben es getan«, nickte Großvater, und die Erinnerung machte ihn lächeln, »siehst du, mein Junge, wir haben uns nicht von Fremden beherrschen lassen, wir waren Soldaten, die um ihre Heimat kämpften«, er straffte sich, »das macht stark, verstehst du?« Er wischte sich einen hartnäckigen Tropfen von der Nase, wieder einmal fiel ihm das Atmen schwer. »Die Schiffe versenken?« sagte der Junge verständnislos, »warum konntet ihr sie nicht einfach dahinfahren lassen, wohin ihr wolltet? Warum sagtet ihr den Fremden nicht, sie sollten nach Hause gehen?« Großvater hatte den Eindruck, der Junge habe ihm gar nicht zugehört. »Wie denn«, sagte er, »wie hätten wir's denn machen sollen? Wir waren zu wenige, wir hatten kaum Waffen, nicht ein einziges Schiff, was konnten wir ausrichten gegen diese protzige Kriegsmaschinerie?« Der Junge kann überhaupt nicht ermessen, was es heißt, im Krieg zu sein gegen einen übermächtigen Feind, er reduziert die großen Schlachten auf einen
Streit mit seinen zwölfjährigen Freunden, seit damals hatte es keinen Krieg mehr gegeben, nur einen langen, langsam dahinfaulenden Frieden. »Immer Maschinen«, sagte der Junge geringschätzig, »immer Technik und Waffen und Gewalt! Warum habt ihr das gemacht, warum die vielen Panzerkreuzer und Kanonen, Flugzeuge und Bomben? Nur, um sie wieder zu zerstören? Warum konntet ihr euch nicht vertragen?« »Mit den Nazis?« rief Großvater entsetzt, »mit diesen größenwahnsinnigen Germanen sollten wir uns vertragen?« Der Junge zuckte die Schultern. »Ist doch einerlei«, sagte er, »mit denen oder anderen, was kommt bei all der Technik schon heraus? Sind sie klüger geworden, weil ihr sie schließlich besiegt habt? Seid ihr es?« Er plappert nach, was er von seinen Lehrern hört, ärgerte sich Großvater. »Wenn es Zeit wird, die Nazis zu strafen, steigt der Gott der Pest aus dem Meer, uuh!« brüllte der Junge wieder mit verstellter Stimme los, »der Gott der Pest kommt und vernichtet alle! Uuh –« Plötzlich hielt er inne, starrte mit leeren Augen an Großvater vorbei, konzentriert und ohne sich zu bewegen, dann nickte er. »Axel hat mich gerufen«, sagte er, »ich glaub', zu Haus ist was los.« »Wieso hat Axel dich gerufen? Ich hab ihn nicht gehört«, widersprach Großvater. Der Junge sagte: »Das verstehst du nicht.« Oberhalb des Felsvorsprungs, wo sich der schmale Fußweg zu den wenigen Häusern des Ortes emporwand, drehte er sich um und schrie noch einmal: »Sa-
rin bin ich, der Gott der Pest! Ich komme!« Behend wie eine Ziege verschwand er hinter dem Hang. Großvater fühlte sich an diesem Morgen nicht wohl, sein Brustkorb war wie abgeschnürt, kalter Schweiß bildete sich am Hals und unter den Achseln, er blinzelte, als er dem Jungen nachschaute, seltsam, dachte er, bisher wollten wenigstens die Augen noch mittun, aber nun blicke ich wie durch eine neblige Röhre. Ach was! riß er sich zusammen, das kann einen sturmerprobten Soldaten nicht in die Knie zwingen, damals, als wir dort draußen zwischen den Schären lagen und dem britischen Geheimdienst Informationen über die deutschen Truppenbewegungen zufunkten, immer in der Gefahr, von der Gegenspionage erwischt zu werden, damals ist uns manchmal der Atem knapp geworden, besonders dann, wenn Hari Blâvand in der Nähe war! Großvater grinste breit, alle im Ort hatten sich dem Untergrund verschrieben, sie empfanden die Kollaboration Quislings in Oslo als Schande für jeden Norweger – nur Hari Blâvand nicht. »Auch wir sind Germanen!« pflegte er zu sagen, »dies ist unsere große Chance. Das Reich der Germanen wird kommen, von Hammerfest bis Florenz, es wird die Welt beherrschen.« Nun, dachte Großvater in behaglicher Erinnerung, man wußte ja, was aus dem Reich der Germanen geworden war, der Nazikommissar Terboven hatte sich selbst mit Dynamit in die Luft gesprengt, die anderen waren in Oslo vor ein Gericht gestellt worden, auch Hari Blâvand verschwand hinter Gittern, sein weißes, mit aufdringlichen Schnitzereien reich verziertes Haus oben am Ortsausgang verfiel, niemand wollte
es kaufen. Mit Norwegen war es danach aufwärts gegangen, mit den Ölfunden vor der Küste kam Geld ins Land, bedächtig, wie es ihre Art war, berieten sie lange über die Verteilung des Reichtums. Großvater erhob sich schnaufend und kletterte dem Jungen nach, einen Augenblick lang schaute er hinauf zu den Häusern, dann konzentrierte er sich auf den schmalen, steinigen Pfad. Reichtum! Mit dem Geld kam wieder einmal das Fremde, in den Häusern flimmerten Fernsehkisten, auf den Straßen rollten protzige Blechkabinen, man fuhr nicht mehr zum Fischen hinaus, sondern baute Industrien an die Ufer der stillen Fjorde, vielstöckige Steinhäuser und gläserne Hotels, und draußen am Horizont, wo früher die braunen Segel der Kutter entlangzogen, reckten sich stahlschwarze Bohrinseln in den Himmel. Das Fremde! nickte Großvater bekümmert: Die blendend weiß getünchten Häuser des kleinen Ortes waren in den letzten Jahren grau geworden, wie ein Spinnennetz hing giftiger Dunst über den Straßen, viele Bewohner waren weggezogen, weil sie nun in Büros und Fabriken arbeiteten. Vieles war anders geworden, als er es gekannt und geliebt hatte, die Höfe verfielen, die Fischerboote starben, an der Mole sammelte sich öliger Schlamm. Besonders fremd benahmen sich die Kinder, was um sie herum geschah, interessierte sie nicht, sie schufen sich eine gespenstische Märchenwelt, für Großvater der Anfang vom Ende Norwegens. Hatte er nicht gerade gehört, daß an den Universitäten von Oslo und Bergen naturwissenschaftliche Vorlesungen kaum noch besucht und einige technische Institute bereits geschlossen wur-
den? Die Regierung hatte dem Storting einen besorgten Bericht vorgelegt – hatte sie nicht selbst Schuld an dieser Entwicklung? Am Eingang des Ortes blieb er keuchend stehen, stützte sich mit der Hand an einer poppig-blau bemalten Hütte ab, das hier waren die Idole der Jugend, ein Guru hatte sich in diesem Haus niedergelassen, ein langhaariger Meister der Zauberei, ein Vardøger des nahen Weltuntergangs. Früher hätten diese Scharlatane in unserem Dorf keine Chance gehabt, erbitterte sich Großvater, sie wären verwelkt wie eine Kokospalme auf der Vidda, jetzt hatten sie einen Zulauf, wie er es seit den ersten Nachkriegstagen nicht mehr erlebt hatte, als die Bevölkerung die Verpflegungsstellen der britischen Armee stürmte. »Fäulnis!« sagte Großvater laut, es war zu seinem Lieblingswort geworden. Ein paar Kinder rannten an ihm vorbei, still und wie auf Kommando bewegten sie sich, hinter der Kirche bogen sie ab und verschwanden aus seinem Blickfeld. Sogar in den Schulen lernten sie guru-guru, entrüstete sich Großvater, sie werden geistig trainiert, sagten die Lehrer, unbegreiflich, was dort geschah, sogar die Eltern seines Enkels hatten Mühe, diesem Unterricht zu folgen. Das Fach hieß Parapsychologie, hatte ihm seine Tochter Ragnhild erzählt und dabei selber den Kopf geschüttelt, Erweiterung des Bewußtseins, Nutzung der Geisteskraft, meistens hatte es etwas mit PSI zu tun, verdammt, kein Mensch wußte offenbar, was das war, wieder so ein fremder Halbgott wie Elektronik und Öl und Gas, man sah ja, was dabei herauskam!
Vor der Kirche blieb er stehen, das Laufen fiel ihm schwer seine Brust war taub. Aus tränenden Augen blickte er zum Meer hinunter, dort war die Bucht, an der sie vorhin gesessen hatten, Sarin, der Gott der Pest, weiß Gott! Diese moderne Pest hatte sich in Norwegen häuslich eingerichtet! Früher, da war die Luft klar, die Sonne grell gewesen, das war eine bessere, eine stolze Zeit, als sie auf ihren schwitzenden Booten die blau-weiß-rote Flagge König Haakons hißten, sie hatten den Feind vertrieben und seine Schiffe versenkt. Haakon hieß auch Großvaters Enkel, aber er hätte auch Sarin oder Guru heißen können, dachte der alte Mann, dieses Kind spielte seltsame Spiele und träumte einer klebrigen Zukunft entgegen ––– Er trat aus dem Schatten des Kirchturms und schaute die Straße hinauf, oben am Hang, am Ende der schmalen Gasse, standen die Kinder, die eben an ihm vorbeigerannt waren, schweigend und aufgereiht wie tote Ameisen. Großvater wischte sich über die tränenden Augen, das Bild verschwamm sofort wieder wie in einem unscharf eingestellten Feldstecher, er hustete, schweratmend mühte er sich den holprigen Weg hinauf. Und dann hörte er dieses dünne, entsetzliche Geräusch, wie das Wimmern einer verendenden Robbe, ein saitenfeines Vibrieren war in der Luft, der Ton bohrte sich durch das Trommelfell in seinen Kopf. Die Kinder standen still und lauschten, ihre Gesichter maskenhaft starr, sie schienen verstört, gequält hoben sie die Köpfe und starrten ihn an, und der Ton krampfte sich in seine Brust. Großvater sackte zusammen, vornübergebeugt blieb er stehen, schwankend, Schweiß lief ihm übers Gesicht. Der Ton
verebbte, schwoll wieder an, fuhr durch die Kinder und prallte gegen Großvaters schweren Körper seine Hand fiel auf die Schulter des Jungen und klammerte sich daran fest. Und dann sah er auch das Auto, hinter dem Haus parkte der schwarze Wagen Doktor Biksels, Autos gab es sonst kaum noch in dieser Region, ihre Zeit war vorbei wie die Zeit der Fischerboote und die Zeit der Höfe; die Zeit der Gurus war gekommen und der Pest, Dr. Biksel, der Landarzt, war in Großvaters Haus. Ragnhild! Seine Tochter hatte den Arzt gerufen, ihr Wimmern bohrte sich durch Großvaters Brust und wehte zittrig die Gasse hinab, hustend und würgend schwankte er auf die Tür zu, die Kinder, stumm, sahen an ihm vorbei. »Haakon!« sagte er, die Klinke bereits in der Hand, doch die Angst hinderte ihn, einzutreten, »Axel! Warum sagt keiner was? Redet! So redet doch! Zum Teufel, was los ist, will ich wissen!« Sie lag auf ihrem Bett, das Laken zerknittert und verrutscht, voll Speichel, Schweiß und Kot, die Lippen taumelten, Wasser rann ihr aus Augen, Nase und Mund. Plötzlich durchlief ein Zucken ihre Arme und Beine, sie polterte zur Seite, stoßweise rang sich der schreckliche Ton aus ihrem Bauch. Dr. Biksel stand hilflos daneben, eine leere Injektionsspritze in der Hand, in der anderen ein Tuch, mit dem er von Zeit zu Zeit behutsam der Sterbenden über die Stirn fuhr. »Die Kinder müssen fort!« sagte er, ohne die Stimme zu heben, »alle müssen den Ort verlassen, aber sie gehen nicht, niemand will gehen.« Er blickte verstört. Und als ob der Text vom Tonband käme, wiederholte er ebenso monoton: »Die Kinder müssen fort!
Alle müssen den Ort verlassen.« Die Injektionsspritze zeigte wie ein silbriger Finger auf Großvater. »Es ist keine Zeit mehr zu verlieren.« Wir gehen nicht, dachte Großvater und starrte auf das verebbende Leben. »Die Kinder ...«, sagte der Arzt wieder. Als Ragnhilds Wimmern nur noch ein Flüstern war, hörte Großvater sie: Plötzlich waren sie nicht mehr stumm, sie murmelten, schrien durcheinander, ein unbeherrschtes, zorniges Reden, sie stießen sich an, spuckten, ballten die Fäuste. Die Kinder schwiegen nicht mehr. »Sie müssen fort!« sagte Dr. Biksel und rührte sich nicht, »auch ihr Nervensystem ist bereits gestört, die PSI-Fähigkeit beeinträchtigt, der Schulbus soll sie fortbringen, bevor es zu spät ist, mein Gott, der Schulbus braucht eine halbe Stunde, bis er überhaupt hier ist.« Die Kinder prügelten sich, »du hast es geortet!« schrie einer, der andere heulte: »Nein, du! Du selber hast es angepeilt!«, kopflos stürmten sie die Straße hinab, ihre blassen Gesichter waren verwirrt. Müde blickte der Arzt auf das Telefon, ein säuerlicher Geruch breitete sich im Zimmer aus. Großvater sackte auf den Bettrand, die niedrige Kammer um ihn herum schien zu zerfließen, wie heißer Asphalt troffen die Deckenbalken herunter, der alte Wandteppich über der Kommode zeigte spakige Flecken. Auch das Glas in den Butzenscheiben verformte sich, tropfte über die Holzwände, auf dem Boden wuchsen ölige Lachen. Ragnhild lag still, noch einmal blähte Atem ihre schlaffen Lippen, mechanisch tupfte ihr der Arzt übers Gesicht.
Es geht mit uns zuende, nickte Großvater ergeben, erst starb die Bucht, dann die Landzunge und die Schären, der Fjord, das Dorf siechte dahin, jetzt sterben die Kinder, sein Kind zuerst, aber auch die anderen haben den Tod schon gespürt. Gefaßt blieb er sitzen Schwäche in den Beinen, er zitterte. Früher waren wir stark, ging es ihm durch den Kopf, früher hätten wir auch die Pest besiegt, doch inzwischen haben wir die Welt verfaulen lassen, der Gestank der Fäulnis quillt bereits bis zur Vidda hinauf. »Der Totenschein!« sagt Dr. Biksel und reicht Großvater einen bekritzelten Zettel. »Ich fahre zurück.« Er hustet. »Kommen Sie!« zieht er den alten Mann am Ärmel, »ich nehme Sie mit, bevor es zu spät ist!« »Mir ist übel«, schüttelt Großvater den Kopf, »überall verpestet Fäulnis das Land, auch Ragnhild ist verfault.« In die dumpfe Stille fällt der Glockenschlag vom Kirchturm, halb zehn scheppert es über den sterbenden Ort. Der Arzt steht schon in der Tür, spielt nervös mit seinem Wagenschlüssel. »Sie war heute früh draußen auf der Landzunge, vermutlich hat sie es als erste eingeatmet. Es zieht von dort herauf, wer weiß, wie weit es landeinwärts noch wirksam bleibt, kommen Sie, der Ort wird evakuiert.« »Es zieht vom Meer herauf?« »Gas!« sagt der Arzt drängend, und da Großvater immer noch nicht aufsteht, erklärt er ungeduldig: »Ein Fluorphosphinoxid. Es beeinträchtigt das Enzym, das für die Nervenzellen verantwortlich ist, schon bei kleineren Dosen kann das Koma innerhalb
einer Stunde eintreten.« Großvater murmelt, ohne ihn anzusehen: »Gas zieht vom Meer herauf?« Ihm ist, als sähe er durch die Wände des Hauses hinauf auf die offene See, an Deck des Schiffes dort draußen stehen Hunderte von Fässern, aufgereiht und festgezurrt, plötzlich reißt eine Detonation ein Leck in den Rumpf. »Ein Kampfgas!« sagt der Arzt schrill, fast ist er schon auf der Straße, »ein militärisch verwendetes Nervengas, tonnenweise liegt es in rostenden Stahlgefäßen irgendwo vor der Küste im Meer, über tausend Tonnen allein in einem einzigen, versenkten Nazischiff.« Hurra hatten sie gebrüllt und die norwegische Flagge am Mast hochgezogen, der leichte Kreuzer ›Leipzig‹ sank schnell über Heck. Der Arzt sagte noch: »Die deutschen Chemiker nannten es Sarina«, dann quillt durch die offene Tür nur noch klebriger Nebel herein. Hurra hatten sie gebrüllt und salutiert, als das Wasser gurgelnd in den Bauch des Schiffes brach, ein schäumender Strudel auf Position 57°53' Nord und 6°13' Ost wo das Balkenkreuz mit seiner tödlichen Fracht in der klaren, eisgrauen See verschwand. Der alte Soldat erbricht sich. »Hurra!« blubbert es zwischen seinen Lippen.
Copyright © 1981 by Reinmar Cunis Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Gerd Maximovic FABRIZIO Terribile hieß die Jacht Aldo Fabrizios, auf deren Deck ich faul in der Sonne lag, während sie über die leicht gekräuselten Wellen des Mittelmeeres tanzte. Ich hatte Fabrizio durch ein paar Freunde kennengelernt, vor allem Julien, der meinte, daß wir beide ein herrliches Gespann abgeben würden. Vielleicht, hatte er vermutet, würde ich auf diese Weise Material für eine neue Kurzgeschichte sammeln. Er wußte, mit welcher Leidenschaft ich hinter eigenwilligen Menschen und deren Ideen herjagte. Fabrizio war ein kräftiger junger Mann, mit dem ich nicht hätte in Streit geraten wollen, ein sportlicher Typ, der an Deck seiner Jacht genauso zu Hause war, wie hinter dem Steuer seines Jets. Wenn er lachte, zeigte sich in seinem Gesicht eine Reihe schneeweißer Zähne. Er hatte dunkle, aufmerksame, beinahe mißtrauische Augen. Seine Züge waren fein geschnitten. Mit ihm also sollte ich mich beschäftigen; ich sollte einer Arbeit nachgehen, mich in Bewegung versetzen. Julien, du bist verrückt, dachte ich schläfrig. Ich roch die Seeluft, den herben Duft des frischen Tages, und ich drehte mich auf den Rücken. Über mir war der Himmel tiefblau. Ich schloß die Augen und hörte die Wellen um das Schiff streichen. Der Schrei von Seevögeln war in der Luft, er wehte vom Ufer herüber. Ich drehte mich wieder um. Diese Sonne! Fabrizio ging langsam, mit nackten Füßen über das Deck. Zu-
erst war er kaum zu hören, dann kam er näher, blieb vor mir stehen. Er mochte mich betrachten, aber ich rührte mich nicht, blieb müßig liegen. Meine Gedanken waren viel zu träge, um mich jetzt über sein Verhalten zu besinnen. »Gerardo?« fragte er, um sich zu vergewissern, daß ich wachte. Ich rollte langsam herum. Er stand seitlich von mir, sein Rücken verdeckte die Sonne. »Aldo ...« »Ich dachte, du schläfst«, sagte er. »Du konntest mich gerade noch halten«, murmelte ich. »Das tut mir leid«, sagte er. »Ich verschlafe nicht gern den ganzen Tag«, entschuldigte ich ihn. »Betrachtest du es als Vergeudung?« »Allerdings.« »Ich sehe es anders«, sagte er bedächtig. »Ich kann nicht schlafen.« Ich verschränkte die Hände unter dem Kopf. »Du meinst, du kannst überhaupt nicht schlafen?« Er nickte. »Das verstehe ich nicht«, sagte ich. »Jeder Mensch muß doch schlafen können.« »Offenbar nicht«, erwiderte er. »Ich jedenfalls habe den Schlaf nicht nötig. Körperlich fühle ich mich deswegen gar nicht unwohl. Mir ist wie immer, ich kann mich über meinen Gesundheitszustand nicht beklagen.« »Du bist zu beneiden«, sagte ich. »Ich wäre froh, wenn mir die Nachtstunden geschenkt würden. Was könnte ich da arbeiten.«
Er setzte sich auf einen der Stühle und schlug die Beine übereinander. Er hatte eine weiße Leinenhose an und trug ein quergestreiftes Hemd. »Für alles gibt es einen Preis«, sagte er ernst. »Ich denke, dir geht es gut?« »Äußerlichkeiten interessieren mich nicht«, versetzte er. »Mir wäre lebenslanges Siechtum lieber.« Ich blinzelte. Ich richtete mich auf. Plötzlich war ich hellwach. »Das verstehe ich nicht«, sagte ich. »Wie kannst du so etwas sagen?« »Besser leiden, als nicht existieren!« Julien schien nicht Unrecht gehabt zu haben. »Wenn ich dich richtig verstehe«, sagte ich vorsichtig, »dann behauptest du, daß du nicht existierst?« »Genau das.« »Schön«, sagte ich. »Kannst du mir das erklären?« »Da gibt es nicht viel zu erklären«, entgegnete er. »Im übrigen bin ich nicht ganz sicher, daß ich nicht existiere. Es kann genauso gut sein, daß meine Umwelt nicht existiert.« »Zu deiner Umwelt gehöre ich wohl auch. Ich habe durchaus das Gefühl, vorhanden zu sein.« »Du weißt, was Gefühle wert sind«, sagte Fabrizio. »Sie sind oft recht zuverlässig«, protestierte ich. »Fühlen bedeutet: nichts wissen; man ahnt nur. Im übrigen kann ich das Fühlen oder Ahnen auch für mich in Anspruch nehmen. Es beweist mir so sehr, daß etwas nicht existiert, wie dir das Gegenteil.« »Wenn du wirklich fühlst, daß du inexistent bist«, lachte ich, »wie kannst du dann fühlen, da du doch nicht existierst?« »Der Gedanke ist gut«, sagte er. Und gleich darauf:
»Gerardo, der Gedanke ist wirklich gut. Er hilft mir, Zweifel auszuräumen.« »Welche Zweifel?« »Daß ich nicht existieren könnte. Nun weiß ich es. Der Beweis ist offenkundig.« »Für dich vielleicht.« »Natürlich für mich. Nur ich zähle: das beweist übrigens, daß nur ich existiere.« »Und ich?« Er hob die Brauen. »Du gehörst zu meiner Umwelt, und sie existiert nicht.« »Das zu beweisen, dürfte dir wohl schwer fallen, Aldo!« »Wo denkst du hin!« »Du willst nicht?« »Ob ich es dir erkläre oder nicht, macht keinen Unterschied. Du kannst es nicht in jener Weise bewußt aufnehmen, wie es ein existierendes Wesen vermag.« »Ah, richtig, ich bin ja Luft ...« »Du irrst, Gerardo, oder glaubst du, daß ich Luft in die Welt setze?« »Was soll das nun wieder?« Er grinste. »Ich will nicht behaupten, daß ich dein leiblicher Vater sei. Das wäre ohnehin eine Meisterleistung. Immerhin bin ich dein geistiger Vater. Ich habe dich ausgedacht. Aber bilde dir nichts ein. Ich habe nicht nur dich erdacht, sondern alles andere auch. Das Meer, das Schiff, diesen Stuhl, die Menschen ...« »Du scheinst die Menschen nicht gerade zu mögen.« »Sie sind Statisterie wie dieser Stuhl, auf dem ich sitze. Ich habe die Welt mit ihnen bevölkert, um keine
Langeweile zu haben, wie ich vermute.« »Ach, du weißt es nicht genau?« »Leider nicht«, sagte Fabrizio betrübt. »Denn eigentlich habe ich alles, was auf Erden ist, und die Erde selbst, nicht aktiv ausgedacht. Etwas hat mich benutzt.« »Etwas?« »Mein normales, mein waches Bewußtsein.« »Ich kann dir nicht folgen«, sagte ich. »Das war auch nicht zu erwarten.« Er schien es für sich als Pluspunkt zu buchen. »Kannst du mir verzeihen?« Ich versuchte witzig zu werden, aber es klang etwas verkrampft. Ein häßlicher Gedanke entstand. Was war, wenn Fabrizio – zum Beispiel – mich ins Meer warf, nur zum Spaß, wie man Abfall ins Meer wirft. Ich habe schon manchmal aus einer Laune heraus Dinge getan, die anderen Leuten unsinnig erschienen. »Ich kann dir verzeihen«, sagte er. »Ich will sogar noch mehr tun. Ich werde es dir erklären.« Sein Gesicht war entspannt, beinahe gelangweilt. Oder war es absolute Sicherheit? »Wenn diese Welt unwirklich ist, dann muß es eine andere Welt geben, die wirklich ist. Diese Welt habe ich mit meinem normalen Bewußtsein erschaffen, folglich muß die für mich wirkliche Welt mit meinem Unterbewußtsein in Verbindung stehen. Ich bin davon überzeugt, daß das Unterbewußtsein im Schlaf, im Traum, am wirksamsten wird. Für mich gibt es jedoch keinen Schlaf und damit keinen Traum. Etwas anderes tritt an dessen Stelle, etwas ähnliches, der Wachtraum. Sieh dich um. Überall findest du die Spuren meines Wachtraumes.«
Die Erklärung war verblüffend, vor allem, weil es dagegen kaum etwas zu sagen gab. Ich begann nachzudenken und merkte, daß schon dadurch jede Argumentation unmöglich wurde, daß er diese Welt als irrsinnig, wenn nicht sogar inexistent hinstellte. Alles, was diese Welt hervorbrachte, um seine Meinung zu ändern, war unlogisch und falsch, zumindest aber eine Lüge. Er hatte sich in ein raffiniertes Netz gehüllt, das ich nicht durchschneiden konnte, es sei denn mit einer nicht existierenden Schere. Ich mußte ihm mit den Argumenten des Unterbewußten beikommen, mit dem Irrealen, das er als real empfand. Aber nein, ich konnte ihm nicht beikommen, auch nicht mit diesen Argumenten, denn ich war ja schon die Bestätigung dessen, was er glaubte. Ich hatte mich schon immer danach gesehnt, eines Tages einem solch perfekten Netz zu begegnen; nun hatte ich es geschafft, aber es war kein erhabenes Gefühl. Ich mußte Fabrizio, beinahe gegen meinen Willen – bewundern. Es war Haßliebe, die mich mit seinen Gedanken verband. Ich versuchte, seine Gedanken zu Fall zu bringen, und auf der anderen Seite hätte es mich verletzt, wenn das Netz, in das Fabrizio sich gehüllt hatte, auch nur geringfügig beschädigt worden wäre. »Wie bist du dahintergekommen, Aldo?« »Nicht sofort«, sagte er. »Es dauerte einige Jahre, die mit Beobachtungen und Empfindungen ausgefüllt waren. Die Grundlage schuf ich mir mit jener Überlegung, die du gerade hörtest.« »Du willst damit sagen, daß der Weg zur endgülti-
gen Erkenntnis recht mühsam und beschwerlich war?« »So kann ich es nicht ausdrücken. Ich habe mich erst zum Schluß zur Erkenntnis durchgerungen. Vorher war es eher ein Dahingleiten.« »Du sprichst von Empfindungen.« »Von Empfindungen der Unwirklichkeit. Zum Beispiel begegnete es mir oft, daß ich plötzlich das Gefühl hatte: DU HAST SCHON EINMAL GELEBT! Es kann sein, daß dieses Gefühl häufig durch Assoziationen geweckt wurde; indes bin ich sicher, daß sich die Ereignisse einige Male wirklich wiederholt haben.« Ich erschrak. Ich erschrak vor der Menschlichkeit, die in ihm war. »Natürlich wurde meine Ansicht auch von Außenstehenden gebildet«, fuhr Fabrizio fort. »Schriftsteller wirkten durch Bücher auf mich ein. Manche Passagen beeindruckten mich so sehr, daß ich sie las, bis ich sie auswendig wußte. Wenn man wenigstens in der Luft so etwas wie eine Einbuchtung zurückließe, in der sich der Wind mit Stöhnen fängt; aber nein; keine Runzel, kein Fältchen.« Er blickte mich triumphierend an. »Ich werde eine Einbuchtung in der Luft zurücklassen und nicht nur sie, und ich brauche den Wind nicht, der meine Existenz bestätigt. Ich brauche keine Angst zu haben, daß man mich vergißt; ich könnte mich höchstens selbst vergessen. Und ich brauche den tieferen Sinn des Wortes nicht: Ein Lebenszeichen geben.« Er atmete erregt; er schien ganz und gar lebendig. »Ich weiß nicht, wo ich es gelesen habe«, sagte er mit heiserer Stimme, »aber es ist mir selbst schon passiert: daß ich in einen Raum trat und plötzlich alles in unnatürlicher Schärfe sah, daß alle Bewegung erstarrte
und ich Muße hatte, die Leute zu mustern. Gleichzeitig aber wußte ich, daß die Zeit keinen Augenblick gezögert hatte, daß die sekundenlange Veränderung in mir vorgegangen war. Daß sich mein Gesichtsfeld geweitet hatte, daß ich in einer Schärfe beobachtete, die sich sofort verlor, als es wieder normal wurde.« Ich faltete die Hände und ließ die Daumen umeinander kreisen. Ich versuchte eine ganze Weile angestrengt, sie in gegenläufige Bewegung zu bringen und gab auf, als es nicht gelang. »Ich glaube jetzt zu wissen, was mit dir los ist«, sagte ich. »Ich weiß, daß du Angst hast, nichts zu sein, daß man dich ignorieren könnte. Du willst dir deinen Wert bestätigen, den du nicht hast. Deine Schlaflosigkeit kommt dir sehr gelegen. Du hast erkannt, daß du eines Tages vergangen sein wirst, daß niemand nach dir fragt. Du hast die volle Tragweite begriffen, nichts zu sein, und du reagierst entsprechend. Du versuchst, alles zu sein.« Nach einer Pause sagte ich: »Obendrein hast du dich mit einem undurchdringlichen Netz umgeben. Ich weiß, daß deshalb meine Worte ohne Wirkung bleiben werden. Du hast den perfekten Selbstschutz ersonnen. Ich werde deine Gedanken niederschreiben; mehr kann ich für dich nicht tun. Du wirst nicht länger nichts sein, denn meine Leser werden dich kennenlernen. Du wirst zeitlos geworden sein. Hin und wieder wird vielleicht jemand diese Erzählung lesen, auch später, wenn du und ich tot sind, und deine Gestalt und deine Gedanken werden neu erstehen. Das sollte deinem eigentlichen Ich, nicht jenem Überheblichen, zeigen, daß es doch nicht nichts ist, daß jeder Mensch etwas ist, je mehr er an sich glaubt
und den anderen damit die Möglichkeit gibt, an ihn zu glauben. Ich weiß, daß es sinnlos wäre, dich zu bedauern, weil du dem Netz nicht mehr entrinnen kannst; du lebst in deinem eigenen Kosmos glücklich. In meinem glücklich zu sein, würde dir die Veröffentlichung dieser Zeilen erlauben. Aber ich glaube nicht daß du einen Gewinn davon hättest, wenn du zu mir und meinen Anschauungen, in meinen Kosmos kommen würdest.« »Das habe ich erwartet.« Er begann zu lächeln. »Du bist sehr tolerant«, fuhr er fort. »Du akzeptierst mich wie ich bin, und deshalb akzeptiere ich dich auch, Gerardo.« »Sobald du beweisen kannst, daß du mich erdacht hast!«
Copyright © 1981 by Gerd Maximovic Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Diethard van Heese WIEDERGEBURT Nichts hatten sie ihm gelassen, noch nicht einmal seine Kühlhaut. Sie waren von Norden gekommen, lautlos hatten ihre Schwingen die Luft durchschnitten, und als er sie am Himmel entdeckt hatte war es bereits zu spät gewesen. Er wußte nicht genau, wie viele es gewesen waren, acht sicherlich, vielleicht auch zehn oder elf. Als er daran dachte, daß sie mit den Dingen, die sie ihm geraubt hatten, noch nicht einmal etwas anfangen konnten, knirschte er vor Wut mit den Zähnen. Er wußte, daß er ohne Kühlhaut bald sterben mußte, falls es ihm nicht schnell gelang, Schatten zu finden. Er wurde von den beiden Sonnen regelrecht in die Zange genommen; die kleinere weiße brannte ihm auf Schultern und Rücken, die größere gelbe begann bereits Brust und Bauch zu röten. Aber wohin er auch sah: die Ebene – eine endlose, wie poliert wirkende Platte von hellem Blau, im Laufe von Jahrmillionen aus Sedimentgestein zusammengebacken, nivelliert von den Stürmen, die nur dann über sie hinwegtosten, wenn die beiden Sonnen in einer bestimmten Konstellation zueinander standen. Doch bis zur nächsten Sturmperiode war es noch weithin, kein Windhauch regte sich jetzt, die Hitze war unerträglich. Schatten ... Schatten entstehen nur dort, wo sowohl das Licht der gelben Sonne als auch das Licht der weißen von einem Körper oder einer anderen Ansammlung von
Materie absorbiert wird, sagte er sich. Eine Binsenweisheit. Aber nichts anderes zu sehen als diese verdammte, bis an den Horizont reichende Ebene; die einzigen Schatten werfe ich – Halbschatten, denn die eine Sonne mildert jeweils den Schatten, den die andere mich werfen läßt. Vielleicht fünfhundert Atemzüge noch und meine Haut wird aufplatzen. Und fünfhundert Atemzüge weiter ist immer noch die Ebene und sonst nichts. Die Sonnen – zunächst die gelbe, dann die weiße – werden erst am Horizont versinken, wenn ich bereits verbrannt bin. Das Gehen fiel ihm immer schwerer, und der Schweiß brannte derartig heftig in seinen Augen, daß er sie schließen mußte. Wolken ... Wolken entstehen nur über den Meeren, wo sie auch wieder abregnen, wenn sie eine gewisse Dichte erreicht haben, sagte e r sich. Nur während einer Sturmperiode gibt es auch über dem Land Wolken. Heftige Regenschauer gehen dann ab und zu über der Ebene herab. Wenn der Sturm nachläßt, verteilt sich das Wasser gleichmäßig über sie, so daß sie einem endlosen, aber nur knöcheltiefen See ähnlich wird. Es dauert nicht lange, und das Wasser ist auf geheimnisvolle Weise im Boden versickert, noch ehe die beiden Sonnen es verdampfen lassen könnten. Aber bis zur Sturmperiode ist es noch weithin, keine Wolke ist am Himmel, kein Windhauch regt sich, die Hitze ist unerträglich. Allmählich lösten Schmerzen das Hitzegefühl ab. Als er die Augen öffnete und an sich herabsah, erkannte er, daß seine Haut dunkelrot geworden war und von Dutzenden von Brandblasen bedeckt wurde; kleine weiße Knötchen, die anschwellen und sich
immer mehr mit Flüssigkeit füllen, schließlich aufplatzen würden. Der Boden ... Der Boden ist hart und ähnelt einer polierten Platte, aber dennoch muß er porös sein, denn er ist fähig, Wasser aufzunehmen, sagte er sich. Mit Spitzhacke und Schaufel könnte ich eine Grube graben, vielleicht sogar eine schräg nach unten führende Höhle, in der ich mich vor den Sonnen verstecken könnte, bis es Nacht wird. Aber auch mein Werkzeug hat man mir genommen, und mit den Händen allein kann ich nichts ausrichten. Da spürte er, wie sein Herz zu stolpern begann, wie es sich verkrampfte, wie es sich ganz schnell und arhythmisch in seiner Brust bewegte, als würde es ihr entfliehen wollen. Seine Beine und Arme wurden gefühllos, und der Horizont drehte sich um ihn. Das Meer ... Das Meer bedeckt den Planeten zu neunzig Prozent, sagte er sich. Es umspült zwei Kontinente, der eine ist fruchtbar und schön, hat Berge und Täler. Blumen, Sträucher und Bäume wachsen dort. Und der Boden ist so weich, daß man ihn mit den Händen umgraben kann. Wenn der Sturm Wolken dorthin treibt und es regnet, sammelt sich das Wasser zu Rinnsalen, zu Bächen und Flüssen. Dort gibt es Schatten, millionen Schatten, unter den Bäumen und Sträuchern, hinter Felsen und Mauern, in Höhlen und Erdspalten. Der andere Kontinent aber ist öd und häßlich, nichts wächst dort, und der Boden ist hart und schattenlos – eine endlose, wie poliert wirkende Platte von hellem Blau. Auf dem schönen Kontinent leben die Pyragales
mit ihren Schwingen, von denen jede so groß ist wie eine ausgebreitete Kühlhaut, und mit Köpfen, die noch nicht einmal die Größe einer Faust haben. Alles, was sie zum Leben benötigen, besitzen sie im Überfluß. Trotzdem fliegen sie immer wieder in Gruppen über das Meer zum anderen Kontinent, um den wenigen Mankonis, die noch leben, die Kühlhäute, die Zelte und das Manna zu stehlen. Er brach zusammen, aber obgleich sein Herz nur noch heftig flimmernde Bewegungen vollführte und der Kreislauf fast zum Erliegen gekommen war, gab es noch Gedanken in ihm. Der Tod ... Der Tod ist das endgültige und unwiderrufliche Verlöschen organischen Lebens, sagte er sich. Einstmals gab es viele Mankonis wie mich auf dem häßlichen Kontinent, ich bin einer der letzten meiner Art. Denn immer weniger Manna fiel vom Himmel und immer häufiger waren die Schwingen der Pyragales über der Ebene aufgetaucht. War das alles? fragte er sich ganz zuletzt. Worin bestand der Sinn meines Lebens? Es wurde dunkel um ihn herum und in ihm. Aber dann öffnete er die Augen, und er sah Berge und Täler. Sah Blumen, Sträucher und Bäume. Und die Erde unter ihm fühlte sich weich und lebendig an. So wußte er, warum seine neuen Artgenossen die Mankonis beraubten. Er breitete seine Schwingen aus und flog aus dem Schatten des Baumes, wo er geboren ward. Copyright © 1981 by Diethard van Heese Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Agentur M.E.R.L.I.N., Hofheim und Zweibrücken
L. D. Palmer IN DER ANDROIDENFABRIK I. Die Arbeit In dem Augenblick, da er die Fabrikationshalle betrat, trug er nur noch die Bezeichnung CC-114. Er war nicht besonders unglücklich darüber; das Fehlen einer Identität half ihm sogar, sich voll und ganz auf seine Tätigkeit zu konzentrieren. Er war sich sehr wohl darüber bewußt, während seiner Arbeit auch seine Persönlichkeit aufgeben zu müssen, aber er empfand diese Maßnahme keineswegs befremdlich, sondern eher als Hilfe. Mit federnden Schritten durchmaß er die große Halle, deren verschachtelte Unterteilungen in ihm immer wieder den Eindruck eines gigantischen Labyrinths hervorriefen. Doch dieser Irrgarten war streng funktionell angelegt, auch wenn die sich haushoch auftürmenden Zwischenwände einen solchen Eindruck auf den ersten Blick zu leugnen schienen. Nur derjenige, der an diesem Ort regelmäßig seiner Arbeit nachging, wußte diese klare Aufteilung zu schätzen. Sie ermöglichte ein Höchstmaß an Raumausnutzung im Verhältnis zur Ungestörtheit, die jeder Arbeiter an seinem Platz benötigte. Und die Zahl der Arbeiter war Legion. CC-114 konnte nur Vermutungen über sie anstellen. Tausende winzige Gestalten huschten tagein, tagaus durch die Halle, wie emsige Ameisen in einem riesigen Bau, scheinbar ziellos und doch dem großen Plan folgend,
der einen reibungslosen Produktionsablauf gewährte. CC-114 schob die ID-Karte in den Computerinput seines Arbeitsplatzes und nahm hinter den Schaltkonsolen Platz. Sofort flammten die Monitore auf, und grüne Leuchtzifferreihen tanzten ausgelassen über sie hinweg. Ein Blick genügte, und er sah, daß sein Schichtvorgänger das Soll ohne Schwierigkeiten erreicht hatte. Beruhigt gab er dem Computer Anweisungen, die Produktion dieser Schicht anlaufen zu lassen, und machte es sich auf seinem Schalensessel bequem. Seine Tätigkeit war in erster Linie eine rein überwachende. Die Monitore zeigten die gewaltigen Tanks, in denen das Rohplasma brodelte und Blasen schlug; die Umformungsaggregate, in denen es zu Knochenskeletten, Organen, Blutbahnen, Nervenfasern und Hautschichten umgewandelt wurde; die rapide dahinsausenden Fließbänder auf denen diese einzelnen Bestandteile zu den Brutkabinen befördert wurden; die Brutkabinen selbst, in denen aus den unbelebten Plasmateilen die einzelnen Körper zusammengeschweißt wurden, Ausdruck der modernsten Technologie von Morrisons Planet, die ihn nichtsdestotrotz mitunter an düstere Alchemie der Vorzeit erinnerte; und schließlich die gigantischen Lagerhallen, in denen die Androidenkörper eng aneinandergedrängt an ihren Haken hingen und auf die endgültige Belebung warteten. Hier lag sein Arbeitsbereich, und er war sich seiner Verantwortung für den jungen, aufblühenden Planeten bewußt. Zwar steuerten die Großcomputer die Androidenherstellung, aber immer wieder konnte es zu Fehlern und Unzugänglichkeiten in der Herstel-
lung kommen, und diese umgehend weiterzumelden, war seine Aufgabe. Denn Morrisons Planet brauchte die Androiden. Diese jungfräuliche Welt bot alle Voraussetzungen, zu einem Paradies zu werden, aber noch gab es viel zu tun. Flüsse mußten gezähmt, Städte gebaut, Berge abgetragen und Ebenen fruchtbar gemacht werden. Menschen gefährliche Raubtiere waren auszurotten, ohne die ökologische Balance des Planeten zu schädigen; der Raumhafen war erst zu einem Zehntel seiner zukünftigen Ausmaße fertiggestellt. Noch konnte er nicht die Menschenmassen aufnehmen, die von der übervölkerten Erde zu dieser Kolonie aufbrechen würde, um eine neue Heimat unter fremdem Himmel zu finden. Für all diese Aufgaben benötigte man Androiden: gezüchtete Roboter, die grundprogrammiert werden konnten wie einfache Maschinen, aber über eine eigene, beschränkte Entscheidungsgewalt verfügten, manche mit solchen Muskeln in den Armen, daß sie ganze Hügel ohne besondere Werkzeuge aus dem Boden reißen konnten, manche so geschmeidig und stark, um ohne Waffen die gefährlichen Raubtiere töten zu können, aber alle darauf bedacht, ohne nachzudenken ihre Arbeit zu tun, von einem Morgen bis zum nächsten, ohne Ruhe, ohne Schlaf, genährt von dem geschmacklosen Proteinbrei, der ihnen die Kraft gab, bis zu ihrem endgültigen Verschleiß durchzuarbeiten. Repariert oder regeneriert wurden sie nicht; es war kostengünstiger, einen neuen Androiden herzustellen, als einen abgearbeiteten zu erneuern. Und billig waren sie, die unermüdlichen Arbeiter für die Menschheit, äußerst billig. Während Stahl
zum Bau von Maschinen und Treibstoff zu ihrer Energieversorgung immer seltener und dementsprechend kostbarer geworden war, gab es am Rohplasma für die Androidenherstellung keinen Mangel. Manchmal wünschte CC-114, selbst ein Androide zu sein, aber er verbannte diesen irrationalen Drang, kaum daß er in ihm emporgestiegen war, und konzentrierte sich auf die Monitoren vor ihm. Das beruhigend blinkende grüne Licht zeigte an, daß die Tagesproduktion aufgenommen worden war. In den Bio-Tanks wallte das Protoplasma auf, verdünnflüssigte sich, um, wenn es fast den Siedepunkt erreicht hatte, in den Modifizierern umgearbeitet zu werden. Die Zukunft von Morrisons Planet trieb in den durchsichtigen Behältern, die er auf den Monitoren sehen konnte, als befände er sich nur einen Schritt weit vor ihnen. Mit geschickten Bewegungen tastete er über die Sensorknöpfe seines Computer-Controllers – dem hundertvierzehnten von insgesamt hundertzwanzig – und ließ sich von der überwachenden Maschine Gewebeproben der Androiden in den Nährtanks geben. Seine Fingerkuppe rutschte von einem Sensor ab. Schnell tastete er die Wertereihe erneut ein. Wieso war er heute so unkonzentriert? Lag es an den düsteren Gedanken, die ihm von irgendwoher eingeflossen waren? Ja, manchmal fragte er sich, ob er wirklich gebraucht wurde, um die Produktion zu überwachen, ob es nicht nützlicher und kostengünstiger war, auch an seinen Arbeitsplatz einen Androiden zu setzen. Doch das Heimatwerk auf der Erde hatte dies ausdrücklich untersagt, wohl weniger aus Anerkennung zu den Diensten, die er, Computer-Controller-114
schon geleistet hatte, als um den Gesetzen nachzukommen. Auf der Erde munkelte man von Androidenaufständen, doch hier, auf Morrisons Planet, war die Auffassung verbreitet, die Behörden auf der fernen Heimatwelt wollten einen deutlichen Trennungsstrich zwischen Androiden und Menschen ziehen. Nie darf ein Android einen anderen Androiden herstellen – diesem Gesetz verdankte CC-114 seine Arbeit. Aber CC-114 verleugnete die Technik nicht, mit der er arbeitete. Manchmal kam er sich wirklich vor wie ein Androide. Im immer gleichen, stereotypen Rhythmus hatte er seine Sensorpunkte zu berühren. Noch nicht einmal die Verschiedenheit der Stichproben, die er durchführte, befriedigte ihn. Diese Zeiten der inneren Unruhe gingen allerdings sehr schnell vorbei. Er dachte an seinen Feierabend und das, was er unternehmen würde, wenn seine Bonus-Punktzahl für eine Woche Zusatzurlaub ausreichte, und seine ungehörigen Gedanken verflogen wieder. II. Die Entdeckung Die Störung kam unvermittelt. Eben hatte noch das beruhigende GRÜN der Computer-Kontrolle geblinkt, da wurde es von einem grellen ROT ersetzt, das hart und scharf umrissen auf den Monitorschirmen tanzte. Hastig überprüfte er die Werte, aber sie blieben bestehen. Der Fehler lag in einer der über hundert Fleischbank-Hallen, in denen die noch desaktivierten Androiden, in ihrem Halbleben dahindämmernd, auf ihren Einsatz warteten. »Warum muß es gerade in meinem Bereich sein?«
fragte er sich verzweifelt und erschrak beim Klang seiner eigenen Stimme, so fremd und ... unpassend erschien sie ihm. Normalerweise arbeitete er immer schweigend. Automatisch ließ er sich die Vergrößerung der Halle durchspielen; gleichzeitig wurde in ihm ein Gefühl der Unsicherheit immer stärker. Warum hatte er den Vorfall nicht schon längst gemeldet? Wollte er den unweigerlich kommenden, stets unangenehmen Extraprüfungen entgehen? Erschrocken registrierte er am großen Chronometer, der wie ein wachsames Auge über seinem Computer-Controller schwebte, daß seine Schicht nur noch eine halbe Zeiteinheit dauerte – wenig Gelegenheit, das Problem auf elegante Art zu lösen. Hatte er tatsächlich schon neuneinhalb Zeiteinheiten hinter seinem Controller verbracht, tief in Tagträume versunken? War der Fehler deshalb vielleicht sogar ihm zuzuschreiben? Plötzlich fröstelte er. Die Sicherheit seiner Finger, die dem Computer alle nötigen Werte entlockte, war verschwunden, als er nun die Sensorpunkte abtastete, um genauere Auskunft über den unangenehmen Vorfall zu erhalten. Die Antwort des Computers verblüffte ihn. In Fleischbank-Halle 107 fehlten keine Computer, wie er erwartet hatte – es ruhte einer zuviel dort. Stirnrunzelnd überlegte er. Ein Fehler in der Lagerung – natürlich, so etwas konnte vorkommen. Durch eine falsche Anordnung konnten Androiden in eine andere als die vorbestimmte Lagerhalle eingeliefert werden. Aber ein Androide zuviel? Ein Ding der Unmöglichkeit. Und ausgerechnet für diesen Tag
hatte sich eine Kommission von der Erde angemeldet, die die Zustände in der Androidenfabrik routineüberprüfen wollte. Er griff zu einem unorthodoxen Mittel, aktivierte die Innen-Mikrophone der Fleischbank-Halle und pegelte alle gespeicherten, normalen Geräusche aus. Eins blieb übrig: Ein leises, rasselndes Atmen. Die Konsequenz der Überprüfung erschütterte ihn. Nicht nur, daß er auf einen überzähligen, im Computer nicht eingespeisten Androiden gestoßen war, nein, dieses Geschöpf, daß sich unerlaubt auf dem Fabrikationsgelände aufhielt, befand sich auch nicht mehr im Halbleben. Es war aktiviert! Aber kein aktivierter Androide durfte sich in den Fleischbank-Hallen aufhalten. Sofort nach der Belebung wurden sie hinaus auf Morrisons Planet gebracht, um dort ihre Arbeit zu beginnen. Nur ein Schluß blieb übrig – er mußte einen falsch programmierten Androiden entdeckt haben, der an die Stelle seiner künstlichen Geburt zurückgekehrt war! Ein heftiger Schwindelanfall erfaßte ihn. Er drückte sich fest in seinen Sessel, atmete tief durch. Seine Gedanken rasten fieberhaft. Wenn er keine Minuspunkte in Kauf nehmen wollte, mußte er das Problem allein lösen, den Androiden selbst stellen und desaktivieren. Gelang es ihm, würde man ihn wegen seiner Eigenaktivität zumindest nicht bestrafen, vielleicht sogar belobigen. Gelang es ihm aber nicht, dann war es vorbei mit seiner Karriere, mit seinem Urlaub, mit allem, was er sich vom Leben noch erhoffte. (Wirklich? Wieso kam ihm dieser Gedanke? Woher wußte er dies? Er wußte es einfach.)
Aber es war zu spät. Ein hoher Signalton verkündete das Ende dieser Schicht. Er hatte zu lange gezögert. Schnell löschte er die Daten, speicherte ein ÜBERPRÜFT ein, das seinen Nachfolger am ComputerControl veranlassen würde, keinerlei Stichproben mehr in der Fleischbank-Halle durchzuführen, und erhob sich mit zitternden Knien aus seinem Sessel. Den Kopf gesenkt, reihte er sich in die Kolonne der Kollegen ein, die zumeist schweigend, in Richtung Ausgang eilten. Er glaubte, stolpern zu müssen, als er plötzlich aus der Reihe ausscherte und auf die Sanitärräume zusteuerte. Erst als er die Toilettentür hinter sich verschlossen hatte, beruhigte sich der schier unüberwindbare Drang, mit den anderen die Fabrikationshalle zu verlassen. Er atmete tief durch. Das Gefühl, das er soeben kennengelernt hatte, war Angst gewesen, reine, kreative Angst. Wovor? Vor einer Entdeckung? Vor einer Strafe? Vor der Tatsache, daß er soeben von der Norm abgewichen war? Er zuckte die Achseln. III. Die Suche Vorsichtig öffnete er die Toilettentür und lugte hinaus. Der Waschraum war leer; es kam äußerst selten vor, daß jemand während der Arbeitszeit austreten mußte. Er glaubte, einmal gehört zu haben, es gäbe Minuspunkte dafür. Verblüfft registrierte er, daß seine ID-Karte den Türmechanismus vor ihm öffnete, obwohl seine Schicht schon lange abgelaufen war. Wahrscheinlich
rechnete niemand damit, daß einer der Arbeiter länger als vorgesehen in den Fabrikationshallen weilte. Geduckt schlich er die Gänge entlang, doch dann fiel ihm auf, daß er auf diese Weise gerade Verdacht erregen mußte. Die meisten Arbeiter und ComputerController kannten einander nicht, und er richtete sich auf. Bemüht, völlig gleichgültig, aber zielstrebig auszuschreiten, begegnete ihm tatsächlich ein anderer Controller, der ihm aber nur ein kurzes Nicken zuwarf und seines Weges ging. CC-114s Ziel war ein Lagerraum mit AndroidenKodierern. Unbehelligt konnte er eins der kleinen, stabförmigen Geräte, mit denen die Programmierung eines Androiden aufgehoben und das Kunstlebewesen wieder in das Halbleben versetzt werden konnte, einstecken. Nach einigem Zögern durchtrennte er dann die Plombe vor einer Waffenkammer und nahm eine Pistole an sich. Am ganzen Leib zitternd, schloß er die Kammer mit der stillen Hoffnung, daß ihr unbefugtes Öffnen in den nächsten Stunden noch unbemerkt blieb. Einen Moment überlegte er, ob er sich zur Sicherheit ein kreislaufstabilisierendes Mittel besorgen sollte, doch dies hätte zuviel Aufmerksamkeit erregt. Er gab sich einen Ruck und verließ den Lagerraum. Auf dem Weg zur Fleischbank-Halle, in der der Störfall aufgetreten war, überlegte er seine weiteren Schritte für den Fall, daß er den überzähligen Androiden nicht finden oder nicht desaktivieren konnte. Dann würde er bei seiner nächsten Schicht diese Halle noch einmal überprüfen und die Unregelmäßigkeit sofort melden. Einige Sonderschichten waren ihm immer noch lieber als eine Degradierung.
Bange Sekunden verstrichen, dann schob er seine ID-Karte in den Türmechanismus der FleischbankHalle. Fast hatte er mit einem Alarm gerechnet, weil er die Tür zu unbefuger Zeit öffnen wollte, aber nichts dergleichen geschah. Fast geräuschlos glitt sie vor ihm zurück. Feuchtigkeit schlug ihm entgegen und Kälte. Sein Atem gefror sofort zu weißen Kondenswolken vor seinem Mund. Seine dünne Arbeitsmontur hielt den Frost, der die im Halbleben versunkenen Androiden umschlang, nicht von ihm ab. Lange würde er es in dieser Halle nicht aushalten. Eine düstere Vision zuckte in ihm empor: Er sah seine Leiche auf dem Boden liegen, von Myriaden glitzernder Eiskristalle bedeckt, steifgefroren, leblos. Er schüttelte sich und betrachtete die Reihen der Androiden, die an ihren Laufschienen hingen. Blasse, menschliche Körper, fahl wie der Tod, starr und bewegungslos, die Augen noch geschlossen, die Münder weit aufgerissen wie zu einem hilflosen Schrei. Ein Körper neben dem anderen, einer so groß wie der andere, einer so schlank, so muskulös, so ausdruckslos wie der andere, leblos dahinvegetierend im Halbleben. Dahinvegetierend? Was trieb ihn zu diesem Ausdruck? Wußte er nicht, daß den Androiden das Halbleben einprogrammiert war? Sie empfanden es nicht als Last, spürten nicht den Tod, der sie allgegenwärtig umfing, die Nicht-Existenz, in der sie schwebten, ohne zu denken, ohne zu warten. Zu warten worauf? Auf ihre Aktivierung, von der sie noch nicht einmal wußten, daß sie kommen würde?
Wahllos zwängte er sich zwischen zwei Androiden. Sein Blick glitt unwillkürlich hoch zu dem Haken, der sie an ihrem Nacken hielt, die Füße wenige Zentimeter über dem Boden. Schlaff hing das Kunstwesen vor ihm, die Glieder sanft schaukelnd durch die Bewegung, die er verursacht hatte. Wie ein leises Wispern setzte sich das Schaukeln in der gesamten Androidenreihe fort, eine unnatürliche, widerwärtige Bewegung, die ihn fast um den Verstand brachte. Rasch fuhr er mit dem Kodierer über die Nackenfläche des Androiden. Der Leuchtpunkt am hinteren Ende des Stabes blinkte rot auf – sein Versuchsobjekt befand sich noch im Halbleben. Doch diese Methode brachte ihn nicht weiter. Zwanzig Reihen halblebendiger Androiden an ihren Laufschienen, jede Reihe zu tausend Exemplaren – eine unmögliche Aufgabe, sie alle nacheinander zu überprüfen. Hätte er doch nur ein Energiespürgerät mitgenommen, mit dem er die Lebensausstrahlung seines aktivierten Widersachers orten konnte! Sie mußte deutlich über der der halblebendigen liegen. Aber nun war es zu spät dafür. Er konnte die Fleischbank-Halle nicht mehr verlassen; sein überraschendes Kommen war eine eindeutige Warnung für den außerplanmäßig aktivierten Androiden, der sein Heil sofort wieder in der Flucht suchen würde. Weshalb versteckte sich sein Widersacher überhaupt? fragte sich CC-114. Unsicher sah er sich um. Wurde er von unsichtbaren Augen beobachtet, die jede seiner Bewegungen festhielten? Trotz der schrecklichen Kälte begann er zu schwitzen, und die Tropfen vereisten sofort auf seiner Haut. Seltsamerweise brannten sie wie Feuer. Unterdrückt
stöhnte er auf. Ein leises Geräusch, ein neuerliches Raunen in den Reihen der Androidenkörper, ließ ihn herumfahren. CC-114 mußte sich zwingen, die ungeheuerliche Anspannung, die seinen Körper durchpulste, nicht mit einem lauten Aufschrei zu lösen. Der Androide hatte sich verraten! Er hatte die Nerven verloren und sich bewegt, dabei das Geräusch verursacht, das CC-114 aufgeschreckt hatte. Das Raunen pflanzte sich die Leitschiene entlang schwang zurück und verebbte. Nun wußte er, daß der Androide die Fleischbank-Halle noch nicht verlassen hatte. Aber ... lag bei dem Flüchtling lediglich ein Programm-Fehler vor, oder hatte er tatsächlich so etwas wie ein Bewußtsein entwickelt? Wollte er sich gar verstecken, um der harten Arbeit in der Wildnis von Morrisons Planet zu entgehen? CC-114 erschauderte. Traf letzteres zu, dann würde der Androide sogar um seine trügerische, kurze Freiheit kämpfen. IV. Der Zweifel Abrupt ließ sich CC-114 fallen. Gleichzeitig löste er seine Waffe aus. Der glutheiße Strahl verpuffte harmlos in der Luft. »Ich habe dich entdeckt!« schrie er in die starre Reihe der Androidenleiber. »Stelle dich, oder ich töte dich!« Er wagte es nicht zu hoffen, doch seinem Trick war Erfolg beschert. Die schlaff hängenden Kunstgeschöpf-Leiber gerieten in Bewegung. »Weshalb jagst du mich?« fragte eine wohlmodulierte Stimme.
CC-114 kroch unter das kalte Fleisch der Halblebendigen, ignorierte die Schmerzen auf seiner Haut, die bei jeder Berührung mit den eiskalten Leibern aufflammte. Er versuchte herauszufinden, aus welcher Richtung die Stimme kam. Dazu mußte er den Flüchtling in ein Gespräch verwickeln. »Weil du falsch programmiert bist!« antwortete er bestimmt. »Dieser Fehler muß korrigiert werden!« »Ich bin überhaupt nicht programmiert!« Mit einem Schlag schien die Kälte über CC-114 zusammenzuschlagen, und er begann unkontrolliert zu zittern. Diese Aussage mußte falsch sein! Sie war unmöglich. Ein nicht programmierter Androide war unfähig, sich zu bewegen. »Das ist gelogen!« schrie er und verfluchte sich, weil seine Stimme so verfremdet klang. »Warum lügst du?« »Ich lüge nicht!« CC-114 kroch unter den Halblebendigen vor, seinem Gegner näher. Dabei mußte er sich bemühen, seine Bewegungen unter Kontrolle zu halten. Ob die Angst oder die Kälte ihn lähmte, vermochte er nicht zu sagen. »Gib auf!« schrie er. »Du zögerst dein Ende nur hinaus! Deine Flucht ist sinnlos!« »Weshalb willst du mich töten? Mich, deinen Bruder?« Hohl lachte CC-114 auf. »Dein Bruder? Du bist ein Androide, ein nicht aus eigener Initiative denkendes, ein nicht fühlendes Kunstgeschöpf. Dein einziger Existenzzweck liegt darin, den Menschen zu gehorchen!« »Und du? Du bist nichts anderes.« »Ich bin ein Mensch!« schrie CC-114. »Ich habe dich erschaffen. Du bist mein Geschöpf!«
Diesmal lachte der Androide. CC-114 konnte es kaum glauben: ein Kunstwesen, das nicht nur eigene Gedanken entwickelte, sondern auch Gefühle zeigte und lachte. Oder hatte er das Gelächter nur gespielt, um Emotionen vorzutäuschen? Wollte er ihn verwirren? »Bist du ein Mensch?« fragte der fehlerhaft programmierte Androide plötzlich. »Weißt du das genau?« Jetzt war CC-114 überzeugt, daß der Flüchtling ihn nur verwirren wollte. Aber trotzdem lauschte er gespannt, während er langsam auf den Standort seines Gegners zukroch. »Was tust du, sobald du die Produktionshalle verläßt? Erzähle mir über deine Familie, über dein Privatleben, draußen!« »Ich habe ein Privatleben!« antwortete er und robbte weiter. »Und wenn ich dich beseitigt habe, werde ich einen Sonderurlaub bekommen, auf Bergteufeljagd gehen, ausspannen.« Aber wieso verteidigte er sich überhaupt? Wieso ließ er sich auf das Spiel seines Gegners überhaupt ein? »Erzähle mir über deine Familie! Hast du Frau und Kinder? Wie sieht deine Frau aus? Wieviele Kinder hast du?« »Ich ...« CC-114 verstummte. Er konnte sich nicht erinnern. Es mußte an der Kälte liegen, dieser verdammten Kälte, die langsam aber sicher immer tiefer in seinen Körper eindrang und ihn allmählich lähmte, bis er schließlich genauso starr dalag wie die Halblebendigen. »Was macht dich so sicher, daß ich keine Gefühle habe, keine Angst, keine Freude, keine Verzweiflung
empfinde? Daß ich nicht anders bin als du? Wo unterscheiden wir uns?« Jetzt wußte CC-114, wo sich sein Gegner befand. Langsam arbeitete er sich darauf zu, Deckung suchend unter den schlaffen Leibern der Halblebendigen. Immer, wenn einer der kalten Körper seinen Kopf berührte oder über seinen Rücken strich, zuckte er zusammen. »Töte mich nicht!« wechselte der Androide seine Taktik. »Ich fühle genau wie du, empfinde mehr als du! Wenn du mich entkommen läßt, verrate ich dir das Geheimnis deiner Herkunft!« »Das Geheimnis meiner Herkunft?« flüsterte CC114. Er zwang sich, nicht auf die Finte seines Gegners einzugehen. Jetzt hatte er es bald geschafft. Wilde Entschlossenheit überkam ihn. War es die Neugierde oder die Jagdlust, die ihn nun trieb? Ja, es war die Jagdlust. Er oder ich, dachte er. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Nur einer konnte die Halle lebendig verlassen. Er achtete nicht mehr auf die flehenden Worte seines Gegners, spannte seine Muskeln an, umklammerte fest die Waffe. Dann sprang er auf. Der Androide kniete direkt vor ihm. Fassungslos starrte CC-114 in die Mündung einer Energiepistole, die genau auf seinen Bauch gerichtet war. V. Die Erkenntnis »Es steht unentschieden!« sagte der Androide und erhob sich vollends. CC-114 musterte ihn genau. Er unterschied sich in nichts von den anderen Serien-
produkten. »Ich werde dich desaktivieren!« sagte CC-114 bestimmt. Aber er wagte sich nicht zu rühren, aus Furcht, der Android könne die Nerven verlieren und auf ihn schießen. »Höre mir zu!« sagte der Androide eindringlich. »Du bist kein Mensch! Du bist noch nicht einmal ein Androide! Du bist ein Roboter, eine alte, längst überholte Generation. Du hast nur die Aufgabe, uns zu erschaffen. Wenn du die Fabrikationshallen verläßt, wirst du desaktiviert. Man schaltet dich erst wieder ein, wenn eine neue Schicht für dich beginnt. Sobald genügend Androiden gezüchtet sind, die dich ersetzen können, wirst du abgeschafft, ausgeschlachtet, und das Metall, aus dem du bestehst, kommt in den Recycling-Prozeß, um neue Anlagen daraus zu erschaffen. Laß mich gehen! Warum willst du mich töten?« »Du hast Angst!« stellte CC-114 fest. Und tatsächlich, er glaubte die Furcht in den Augen des Kunstwesens lodern zu sehen. Fühlte der Androide wirklich? Hatte er das Recht, ihn einfach auszuschalten? »Deine Arbeit ist genauso roboterhaft wie du selbst!« »Unsinn!« erwiderte CC-114. »Ich weiß daß ich ein Mensch bin. Ich fühle menschlich, denke menschlich, handle menschlich!« Verzweifelt lachte der Android auf. »Kennst du das Gesetz nicht?« fragte er. »Nur Menschen dürfen Androiden herstellen. Aber auf Morrisons Planet leben zuwenig Menschen. Die die Kolonie bilden, werden für wichtigere Aufgaben benötigt. Und hast du nicht von dem Kontrolleur gehört, der von der Erde
kommt, um dieses Werk zu inspizieren? Er darf nicht herausfinden, daß Roboter für die Androidenproduktion verantwortlich sind. Daher hat man euch menschliche Formen gegeben und menschliche Gefühle einprogrammiert, die einer oberflächlichen Untersuchung standhalten werden. Geh, vergiß, daß du mich je gesehen hast!« »Woher willst du das wissen?« brachte CC-114 mühsam hervor. Die Kälte zerrte an seinem Körper, die Angst an seinem Geist. »Man hat mich eingeschleust. Ich bin ein Androide, ja, aber ich gehöre einem Konkurrenzkonzern. Mir obliegt es, den Betrug auffliegen zu lassen, allein zum Vorteil meiner Besitzer!« »Gerade hast du gesagt, du wärest nicht programmiert!« »Ich habe gelogen, um dich zu verwirren!« Für einen Moment entspannte sich der Androide vor ihm, in dem Glauben, überzeugend geklungen zu haben. CC-114 drehte sich um, machte einen Schritt, einen zweiten. Er durfte nicht versagen! Er durfte seinen Gegner nicht entkommen lassen. Ein peinigender Schmerz raste durch sein Gehirn. Seine Existenz war belanglos. Der Androide mußte vernichtet werden! Abrupt fuhr er herum, riß die Waffe hoch, schoß. Die Impressionen überstiegen sein Begriffsvermögen. Er sah das erstaunte, ungläubige Gesicht des Androiden, sah den Blutschwall, der aus dessen Körper schoß, glaubte zu erkennen, wie die inneren Organe zerfetzt wurden, starrte auf den Energiestrahl, der sich aus der Waffe seines Gegners löste und ihn traf. CC-114 spürte die glühende Hitze kaum, aber er
sah die Rauchwolke, die aus seinem Körper quoll, erkannte die Metallteile, die zerschmolzen, aus ihm herausgerissen wurden, einen wahnwitzigen, fast schwerelosen Tanz vollzogen, hörte das metallische Scheppern, mit dem er auf den Boden fiel. Sein letzter Gedanke war, daß er seine neue Erkenntnis nicht mehr nutzen konnte. Doch den letzten, einprogrammierten Auftrag hatte er noch ausgeführt. Er empfand keine Befriedigung darüber, genauso wie er plötzlich kein Bewußtsein mehr besaß, das vergehen konnte. Er gab einfach seinen Dienst auf.
Copyright © 1981 by Uwe Anton Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Wolfgang Altendorf DER FUSS DES KOMMANDANTEN Am 5. Januar dieses Jahres sprach mich auf dem Wenzelsplatz in Prag – ich besuchte die tschechische Hauptstadt mit Hilfe einer Reisegesellschaft – ein mir absolut unbekannter Mann mittlerer Jahre auf Indonesisch an. Weshalb er sich ausgerechnet dieser Sprache bediente? Nun, wer auf dem Wenzelsplatz indonesisch spricht, versichert sich des Wohlwollens aller staatlicher Organe auch jener, die für die Sicherheit verantwortlich zeichnen. Man findet nichts dabei, wenn er sich in dieser Sprache mit einem Fremden unterhält. An seinem Akzent merkte ich, daß es sich unzweifelhaft um einen Kanadier und zwar aus der Provinz Quebec handeln mußte. Jeder, der wie ich das Englische – und zwar in allen Variationen – wie seine Muttersprache beherrscht, kann ganz selbstverständlich seine Gesprächspartner, auch wenn sie sich einer ganz anderen, ausgefallenen Sprache bedienen, landschaftlich einordnen. Der Indonesisch sprechende Franco-Kanadier lobte das für diesen Wintermonat unvergleichlich schöne und sogar milde Wetter, wobei er meiner Zustimmung (und zwar ebenfalls auf Indonesisch) sicher sein konnte. Dann drückte er mir heimlich ein Stück Papier in die Hand. Auf der Toilette des für unsere Reisegruppe vertraglich zuständigen Restaurants las ich, und zwar auf Deutsch, folgendes: »Sie überlegen: Erfindung Mondfähre ungemein kompliziert, dennoch nur
handvoll Jahre. Sie denken nach mit ungewöhnlich hoher Geistesschärfe, nicht? Vielleicht exterrestrisch? Gerüchte darauf hindeuten. Sie forschen mit Spürnase weltbekannter.« Unterschrieben war der Zettel nicht. Ich prägte mir die wenigen Sätze ein, und spülte das Papier hinweg. Was mich nun vor allem beschäftigte: dieses unvollkommen artikulierte Deutsch konnte unmöglich von der Hand eines Kanadiers stammen. Die Satzverdrehungen und schmeichelhaften Übertreibungen sind vielmehr für Türken (mit denen ich mich auf drei ausgedehnten Türkenlandreisen eingehend beschäftigte) typisch, und zwar für anatolische Türken. Der Inhalt der Botschaft war sensationell genug. Hier wurde die nordamerikanische Urheberschaft an der Voraussetzung für die erste Mondlandung zweier Menschen, nämlich die Mondfähre, in Zweifel gezogen. Gerüchte sprächen sie exterrestrischen Wesen zu. Mit anderen Worten, nicht die Amerikaner, vielmehr Individuen von einem anderen Stern hätten die Mondlandefähre konstruiert oder die doch wohl höchst komplizierte Technologie geliefert. Begründet wurde das mit der Kürze der Entwicklung (handvoll Jahre). Und in dieser Sache sollte ich nun recherchieren. Zum besseren Verständnis sei gesagt, daß mir Aufträge ähnlich außergewöhnlicher Art nicht neu sind. Dabei habe ich mit den Geheimdiensten, die in allen Ländern, auch den winzigsten und unterentwickeltsten, unterhalten werden, nichts zu tun. Es ist genau umgekehrt: Geheimdienstler haben mit mir zu tun. Wer ohne dazu beauftragt zu sein für Geheimdienste arbeitet, macht sich strafbar. Weitaus schlim-
mer und folgenreicher ist es jedoch für einen Geheimagenten, wenn er ohne Auftrag mit mir Verbindung aufnimmt, sei es, weil ihn das Gewissen plagt und er wünscht, daß irgendeine Ungeheuerlichkeit ans Licht der Öffentlichkeit dringt, sei es, daß er – wie in diesem Fall – ein Gerücht geklärt wissen möchte. Erwischt man ihn, verschwindet er für immer von der Bildfläche. In der Tat war der amerikanische Sprung zum Mond eine ziemlich rasche, fast reibungslose Angelegenheit. Bis heute (1980) hat das niemand nachgemacht. Wernher von Braun baute dazu die gigantische Rakete. Doch stellte sich rasch heraus, daß es mit ihr und der Raumkapsel allein nicht zu schaffen war. Die Raumkapsel war zu schwer, zu unhandlich, um eine Mondlandung und, was noch komplizierter war, den späteren Rückstart risikolos oder überhaupt auszuführen. Da keimte plötzlich die Idee mit der Mondlandefähre auf, und – hast du nicht gesehen! – schon war sie konstruiert. Der Laie mag darin nichts Besonderes sehen. Jemand erfindet was, baut es – es funktioniert, wird eingesetzt. Wer wie ich schon einmal hinter die technologische Kulisse geblickt hat, weiß, wie ungeheuer zeitraubend, ja wie schwierig es ist, einer neuen, aus dem gewohnten Rahmen ausbrechenden Erfindung die Wege zu ebnen. Gerade der wissenschaftliche Mensch besitzt ein in böser Erfahrung geprägtes Fassungsvermögen. Grundsätzlich zweifelt er das Neue, nicht einer kontinuierlichen Entwicklung Entsprossene an. Im Rahmen der NASA schließlich galt es, die zahlreichen Instanzen rasch und unbeschadet zu passieren, da der Staat das Geld flüssig machen mußte. Und noch haben wir nicht
vom Eigentlichen gesprochen, von der Erfindung selbst. Sie stellte ein unglaublich kompliziertes Gefährt dar, das in seinen Tausenden und Abertausenden von Einzelteilen geplant, berechnet, gezeichnet, im maßstabgerechten Modell ausgeführt, genehmigt und schließlich konstruiert und ausprobiert werden mußte. Ich gestehe, daß ich bis zu jenem Augenblick, als ich den Zettel las, nichts Besonderes dabei fand, daß die Amerikaner ihre Mondlandefähre, nachdem sie in der Konkurrenz mit den Sowjets doch ziemlich weit abgeschlagen waren, so rasch so entschieden und glücklich einzusetzen vermochten. Tatsächlich aber beschäftigt die Konstruktion eines derart hochkomplizierten Apparates für gewöhnlich eine ganze Wissenschaftsgeneration. Danach forschen sollte ich mit meiner weltbekannten Spürnase. So jedenfalls lautete die Aufforderung, die ein Türke in unbeholfenem Deutsch auf jenen Zettel geschrieben hatte, den mir ein indonesisch sprechender Kanadier aus Quebec auf dem Wenzelsplatz in Prag in die Hand gedrückt hatte. Das war leicht geschrieben! Wo sollte ich beginnen? Die Direktbeteiligten mußten unzweifelhaft – sollte das Gerücht zutreffen – zu unverbrüchlichem Schweigen verpflichtet worden sein. Aber gab es denn überhaupt Beteiligte? Genügte es denn nicht, daß man nur einem einzigen die Pläne zuspielte, der sich nun in unverdientem Ruhm sonnte? Außerdem sind Direktvorstöße nicht meine Art. Aus Erfahrung weiß ich, daß sie zu nichts führen. Und schließlich verfüge auch ich nur begrenzt über meine Zeit. Ich habe nebenher, wie jeder von uns, noch berufliche Dinge zu
tun. Ich schreibe, male, eröffne Ausstellungen, halte Vorträge, nehme zu Tagesfragen Stellung, berate Politiker, setze mich für Menschen ein, die man ungerecht behandelte, fördere die Wissenschaft – kurz tue das, was viele tun in unserem Lande. Schließlich fiel mir ein Brief ein, den mir ein Avocados-Farmer 1966 aus Las Palmas auf Gran Canaria, der Hauptinsel der Kanarischen Inseln, geschrieben hatte. Bei dem Briefschreiber handelte es sich um einen direkten Nachkommen der Guanchen, der Ureinwohner der Insel. Die Guanchen wiederum stammen von der Cromagnonrasse ab, dem homo sapiens aus der Steinzeit. Mein Guanche besaß eine Finca in der Nähe des Touristenortes Puerto Rico an der Südküste der Insel. Er berichtete mir in seinem Brief von einer Beobachtung, die ihm niemand in Las Palmas glaubte (weshalb er sich an mich wandte), nämlich die einer Fliegenden Untertasse. Solche unbekannten Flugobjekte werden immer wieder gesichtet. Sie zweifelsfrei zu orten, zum Niedergehen zu zwingen oder auch nur dazu zu bringen, daß sie sich zu erkennen geben, indem sie ihre Flagge zeigen, ist bisher noch niemandem gelungen. Unsere Welt steckt voller technisch hervorragender Fotoapparate, aber wenn man seltene Bilder solcher Flugobjekte zu Gesicht bekommt, sind sie stets von miserabler Qualität. Mein Avocados-Farmer machte seine Beobachtung am Barranco de la Cura, dem Tal des Pfarrers. Barrancos sind tief in die Lava eingeschnittene Felstäler. Auf Gran Canaria gibt es etliche davon, etwa den Barranco de Fataga, den Barranco de Tirajana, den Barranco de Mauro. Die Untertasse sei über dem Barranco de la Cura niedergegangen, und die Scheibe habe an dieser
Stelle den Barranco in seiner Breite völlig zugedeckt. Senhor Pastano (der Farmer) gibt nun eine Beschreibung des Flugobjekts, die ich mir hier ersparen kann. Fliegende Untertassen sind häufig beschrieben worden. Die einzelnen Beschreibungen unterscheiden sich nur wenig. In Pastanos Beschreibung fiel mir auf, daß er der Untertasse keine runde, sondern vielmehr ovale Form gibt. Was mich angenehm berührte, war die sachliche, von Emotionen freie Beschreibung. Er zog auch keine falschen Schlußfolgerungen aus seiner Beobachtung, zum Beispiel, daß das Objekt unbedingt von einem anderen Stern stammen müsse. Schließlich entfernte er sich rasch von seinem Beobachtungsplatz und suchte Schutz in einem der von seinen Bewohnern verlassenen Häuser. Solche verlassenen, meist dreiräumigen kleinen Häuser findet man häufig im Landesinnern. Die Besitzer sind an die Küste gezogen, wo der Fremdenverkehr in seiner Blüte auch ihnen ein wenig Wohlstand beschert. In diesem Haus habe er sich versteckt. Im Schutze der Dunkelheit sei er dann zu seinem Auto und nach Las Palmas zurückgelangt, wo er eine Stadtwohnung besitzt. Schilderungen von direkten, persönlichen Begegnungen mit Außerirdischen sollte man höchstes Mißtrauen entgegenbringen. Falls es Besucher aus dem Weltall tatsächlich gibt – und einiges spricht dafür – so haben sie sich bisher offiziell nicht zu erkennen gegeben. Sie sind weder in Washington noch in Moskau, den Machtzentralen dieser Erde, vorstellig geworden. Infolgedessen, und immer vorausgesetzt, daß es diese Burschen gibt, wünschen sie keine Begegnung mit uns, die wir uns doch für einigermaßen entwickelte, intelligente Wesen halten. Dazu müssen
sie einige Gründe haben. Sie wollen unerkannt bleiben. Das können sie nur, wenn sie vernichten, was ihnen in den Weg tritt. Das Datum des Briefes des Guanchen aus Las Palmas erschien mir im Hinblick auf die Mondlandung der Amerikaner interessant genug. 1959, genauer: am 13. September, erreichte die sowjetische Sonde Lunar 2 den Mond und schlug auf dem Mondboden hart auf. Luna 3 folgte im Oktober 1959, umkreiste den Mond und schickte per Funk die ersten Bilder der von uns abgewandten Seite zur Erde zurück. Aber erst fünf Jahre später brachten es die Amerikaner fertig, Sonden auf den Mond zu schicken. Dazwischen liegt eine Zeit der Depressionen, der Minderwertigkeitskomplexe, von denen nicht nur dieses auf seine Technik so stolze Volk ergriffen wurde. Die mit den USA verbündeten Nationen litten nicht weniger darunter. Ja, man mißtraute den Erfolgsmeldungen der Russen, zog in Zweifel, was von Moskau triumphierend verkündet wurde, blieben doch die direkten und deshalb schlüssigen Beweise aus. Die Russen lüfteten nur ungern den Schleier aber die Amerikaner besaßen Beobachtungsmöglichkeiten genug. Dort, wo sie ausgewertet wurden, gab es keine Zweifel. Die sowjetrussische Weltraumtechnologie war der amerikanischen weit überlegen. Die amerikanischen Ranger-Sonden (ab 1964) funkten eine umfangreiche und allgemein zugängliche Serie von Mondfotos, ehe sie auf dem Mond zerschellten. Aber die Russen behielten die Vorhand. Mit Hilfe gebündelter Raketen gelang ihnen mit Luna 9 am 3. Februar 1966 die weiche Landung auf dem Erdtrabanten. Die Sonde schickte die ersten Bilder,
vom Mondboden aus unmittelbarer Nähe aufgenommen, und zum ersten Mondsatelliten avancierte Luna 10 im April 1966. Die Amerikaner brachten nun ihrerseits (bis 1967) eine Reihe von Lunar-Orbitern in die Mondumlaufbahn. Mit ihrer Hilfe entstand eine vollständige Karte der Mondrückseite. Aber auch die Vorderseite wurde berichtigt. Am 3. Juni 1966 zogen die Amerikaner endlich mit den Sowjets gleich. Ihr Surveyor landete ebenfalls weich auf dem Mond und sondierte vollautomatisch die unmittelbare Umgebung des Landepunktes, und 1968, im Dezember, folgte die erste bemannte Mondumkreisung durch die Amerikaner. Mit Hilfe der von Wernher von Braun konstruierten Apollo-Rakete betraten Neil A. Amstrong und Edwin A. Aldrin am 20. Juli 1969 als erste Menschen den Mondboden. Der genialen Idee der Mondlandefähre ist dieser überraschende Erfolg zuzuschreiben. Er hat keine Parallele in der technischen Geschichte. Sollte an dem Gerücht, diese Landefähre sei mit exterrestrischer Hilfe konstruiert worden, etwas dran sein, mußte man, um die Wahrheit zu ergründen, bis zur höchsten Pression zurückgehen: 1966, eben als die Russen ihre Luna 9 im Februar weich landen ließen, befanden sich die Amerikaner unzweifelhaft im Tiefpunkt ihres Selbstverständnisses. Sie hatten, seit Präsident Eisenhower die Vision von der amerikanischen Weltraumfahrt offiziell verkündete, eine Schlappe nach der anderen erlitten. Die Russen beförderten den ersten Erdtrabanten an den Himmel, was nach der Eisenhower-Ankündigung wie ein Treppenwitz der Weltgeschichte wirkte. Unschwer
vermag man sich die Verzweiflung der amerikanischen Technologen, aber auch der gesamten amerikanischen Öffentlichkeit vorzustellen. Der Druck muß ungeheuerlich gewesen sein, den die mobilisierte öffentliche Meinung auf die Verantwortlichen für die Misere ausübte, und natürlich entfachte eine Pression derart gesellschaftlicher und politischer Vehemenz die kühnsten und abenteuerlichsten Ideen. Alle Willensanstrengungen Berufener und Unberufener konzentrierten sich auf den kühnen, den spektakulären Erfolg. Die Weltöffentlichkeit erwartete als ersten Menschen auf dem Mond einen Russen; mit den Amerikanern rechnete niemand mehr. In solcher Situation sind ungewöhnliche technische Erfolge denkbar. Bisher jedoch galt, daß selbst revolutionäre technische Neuerungen zur Verwirklichung eine rhythmische Zeitspanne benötigen, die sich sicherlich laufend verkürzt, ihren Rhythmus jedoch, wenn auch in kürzeren Intervallen, beibehält. Idee, Planung, Erläuterung der geplanten Maschine vor den technischen Gremien, die die Mittel für die Forschung verteilen, Bürokratie, Organisation der Realisierung, Modellkonstruktionen, Modellversuche, Verbesserungen an den Modellen, das Beantragen weiterer Mittel nun für den Prototyp, Absicherung der Patente – so sehen die dornenreichen und zeitraubenden Wege aus, denen sich ein moderner Erfinder heute ausgeliefert sieht. Ehe man einer derart neuen, bisher nicht dagewesenen Apparatur Menschenleben anvertraut, muß sie auf Herz und Nieren getestet werden. Für Planung, Konstruktion und Prototyp – sagen wir – eines neuen Kampfflugzeuges benötigt das technische Management knappe zehn Jahre! Die
Mondlandefähre jedoch, dazu die höchst komplizierten Vorrichtungen am Raumschiff, das sie ja entlassen und wieder aufnehmen mußte, entstanden in knapp drei Jahren. Ich verschaffte mir eine Beschreibung der Insel Gran Canaria mit einer nicht besonders maßstabgerechten Karte, vertraute im übrigen auf meine Intuition und begab mich als Tourist verkleidet per Flugzeug von Frankfurt nach Las Palmas. Dort fand ich meinen Guanchen bei bester Gesundheit. Er hatte alle spanischen Übersetzungen meiner Bücher im Schrank stehen und fuhr mich am anderen Morgen freudig die Küstenstraße entlang gen Süden bis zum Playa del Cura, dem Strand des Pfarrers. Dort eröffnete im August 1975 die ›Fortuna-Ferienpark‹ in Karlsruhe ihr Hotel ›Riviera‹. Die Bucht liegt einsam, abgesetzt, nämlich vier Kilometer, vom Touristenort Puerto Rico. Das Hotel ›Riviera‹ ist das einzige Hotel und nimmt die ganze Bucht ein, ein Appartementhotel mit 150 Appartements, jeweils mit Wohnzimmer, Küche, Bad, Schlafzimmer, Balkon oder Terrasse ausgestattet. Senhor Pastano zeigte mir jenen Punkt, von dem aus er die Fliegende Untertasse damals beobachtete, auch das nun schon fast verfallene kleine Haus, in dem er Unterschlupf gefunden hatte. Aus seiner Erinnerung heraus erläuterte er mir seine Beobachtung, die genau seiner Schilderung in seinem Brief an mich entsprach. Um dem Ort des Geschehens möglichst nahe zu sein, mietete ich mir ein Appartement im Hotel ›Riviera‹ – und bereute diesen Entschluß in keiner Weise. Abgesehen von der günstigen Lage für meine weiteren Vorhaben – der Barranco del Cura mündet unmittelbar hinter dem Hotel ins Meer, dazu
noch zu allem Überfluß ein zweiter, der Barranco de Maure – geriet ich in eine sich wohltuend vom üblichen Touristenbetrieb unterscheidende Atmosphäre. Sie rührte einmal von dem nicht nur in den Generationen unterschiedenen, nein auch in dem nationalitätengemischten Publikum, zum zweiten von der imposant, ja gewaltig zu bezeichnenden Umgebung her. Franzosen, Engländer, Amerikaner, Schweden, Deutsche – an dieser denkbar vortrefflichen Mischung übte sich eine moderne Hotelführung in Komfort. Zu jedem Essen, auch zum Frühstück, präsentierte sie ihren Gästen ein Büfett auserlesener Genüsse, an dem sich jeder und nach Herzenslust, so viel und so häufig er das wollte, gütlich tun konnte. Das fördert die Geselligkeit. Büfetts sorgen für Tuchfühlung, und ich lernte schon am ersten Abend in Miß Cunning eine Texanerin kennen, die ebenso wie ich, wenn auch am entgegengesetzten Ende des die ganze Bucht einnehmenden Dreietagenhotels, ihr Appartement allein bewohnte. Nachdem mir Miß Cunning, wie bei alleinstehenden Amerikanerinnen durchaus üblich, ihr bisheriges Leben (bis Mitternacht an der Bar des auf Nullniveau gelegenen Restaurants) in vielen Einzelheiten erläutert hatte, berichtete ich ihr ohne Umschweife, weshalb ich auf Gran Canaria war. Da brach ein wahrer Vulkan der Empörung aus ihr hervor. Ich hatte ihren Nationalstolz gehörig verletzt. Sie sprang von ihrem Barhocker und verließ mich hochgereckten Hauptes, was José, den Barkeeper veranlaßte, einen vielsagenden Blick zur Decke zu werfen. Wer sich da nun fragt, weshalb ich jene mir doch unter höchst mysteriösen Umständen zugeleitete und
sicherlich geheime Information ohne Bedenken einer x-beliebigen Texanerin und dazu noch kurz vor Mitternacht an der Theke der Bar eines Hotels im Süden der Insel Gran Canaria mitteilte, kennt meine unkonventionellen Taktiken noch nicht. Ich habe mich eingehend mit der Mentalität von US-Amerikanern, auch Texanern, beschäftigt und glaubte Miß Greta Cunnings Reaktion voraussehen zu können, zum Beispiel, daß sie sich mir spätestens am nächsten Morgen beim Frühstück wieder nähern würde. Und das geschah auch prompt. Wir trafen uns am Büfett, das mit den erstaunlichsten Frühstückszutaten gefüllt war, mit Schinken, Wurst, Käse, Marmelade, mit Eiern, versteht sich, mit Tomatenscheibchen, Zucker, Milch, der Möglichkeit, sich an einem Automaten nach Belieben Kaffee, Tee, Schokolade zu bereiten oder sich stattdessen oder zusätzlich mit Tomaten-, Orangen- beziehungsweise Reineclaudesaft zu versehen. Ich nahm ein Ei und etwas von der vorzüglich aussehenden einheimischen Wurst, eine Scheibe Käse, Marmelade, Honig, Kaffee und Grapefruitsaft. Miß Cunning häufte sich pragmatisch den Teller mit allem voll, was geboten wurde. Sie lächelte mich dabei an. In höchster Versöhnungsbereitschaft nahmen wir vor dem Restaurant im Schatten der Stützmauer Platz. Es war Februar, und an diesem Tage, ich berichte das im Voraus, stieg die Temperatur auf 31 Grad Celsius im Schatten! »Mir ist eingefallen«, sagte Miß Cunnings, »wie gleichgültig es doch ist, mit wessen Hilfe wir auf dem Mond landeten. Schließlich stammt ja auch die Rakete von einem Landsmann von Ihnen. Aber ohne unser Geld hätte auch Ihr Mister Braun seine Koffer packen müssen. Und darauf kommt es doch wohl an, oder?«
Diese typisch amerikanische Sicht der Dinge hatte ich erwartet. »Trotzdem ist es von historischem Interesse«, erwiderte ich, »herauszubekommen, was an dem Gerücht wahr ist.« »Und das wollen Sie ausgerechnet auf Gran Canaria?« Ich zuckte die Achseln und spülte mir den scharfen Geschmack der canarischen Wurst mit einem Schluck Kaffee von der Zunge. »Tatsächlich habe ich keinen plausiblen Grund anzuführen, weshalb ich mich ausgerechnet in dieser Sache zu dieser Insel aufmachte. Ein vages Gespür – vielleicht auch bloß, weil ich noch nie auf Gran Canaria war und einen Anlaß suchte, diese Lücke zu füllen. Auf jeden Fall werde ich dort drüben in den Barranco del Cura eindringen, und zwar genau in fünfundvierzig Minuten. Dazu lade ich sie herzlich ein.« »Aber der Weg endet nach einigen hundert Metern«, wandte sie ein, die schon acht Tage länger im Hotel war und einiges in der Umgebung ausgeforscht hatte. »Danach kommt man höchstens im Flußbett weiter voran.« »Schreckt Sie das?« fragte ich, den in jedem Amerikaner versteckten Pioniergeist provozierend. »Was sie dazu benötigen sind Schuhe mit griffigen Sohlen, etwa Trainingsschuhe, wie sie jeder Langstreckenläufer benutzt, und wie ich sie eigens dafür in meinem Gepäck habe.« »Wo soll ich Trainingsschuhe herbekommen?« rief sie. Nun sie fand sie, passend für ihre Größe, im ›Shop‹ des Hotels. Hier konnte man fast alles kaufen, ganze einkonservierte Menüs, falls man sich in seinem Appartement selbst verköstigte. Auch sonst hatte sich
Miß Cunning – »nennen Sie mich Greta«, lautete ihr Angebot – recht sportlich ausgerüstet. Außer Shorts und luftiger Bluse verzichtete sie auf weitere und hier in der Nähe des Wendekreises des Krebses überflüssige Bekleidung. In meiner Tasche befand sich etwas für den Durst, der infolge der Hitze und der Salzluft vom Meer her unweigerlich auftreten mußte. Eine Karte des Barrancos war nicht nötig. Er verzweigte sich zwar hin und wieder, aber man verliert in diesen Flußtälern niemals die Orientierung. Abwärts gelangt man unweigerlich an die Küste zurück. Wie Greta prophezeit hatte, hörte der Weg bald auf, doch das Fortkommen im ausgetrockneten Fluß bereitete nur geringe Mühe. Der Boden war mit vom Wasser glattgeschliffenen Basaltplatten bedeckt. Die riesigen, aus dem Gebirge geschwemmten Findlinge waren leicht zu umgehen. Die Gärten der Ferienvillen an der Mündung des Barrancos lagen weit hinter uns; um so eindrucksvoller wirkte nun die von Bewuchs fast gänzlich entblößte Urweltlandschaft. Steil stiegen die Lavawände links und rechts an. Das poröse Gestein war hin und wieder von muschelförmigen Höhlungen unterbrochen. Langschwänzige Eidechsen huschten im Geröll. Giftschlangen, auch andere, harmlose Reptilien, gibt es nicht auf Gran Canaria. Kandelaber- und Feigenkakteen, kanarischer Ginster, recht abenteuerlich aussehende Gewächse, die ich nicht bestimmen konnte und die an Bruchstellen einen dicklichweißen, sicherlich hochgiftigen Saft abgaben, unterbrachen nur höchst sporadisch die Trostlosigkeit. Ein Weih zog hoch über dem Barranco seine Kreise. Sein Horst mußte sich irgendwo im zerklüfteten Gebirge, das fast zweitausend Meter er-
reichte, befinden. Wir mochten fünf Kilometer in das Felstal eingedrungen sein, als plötzlich eine Lavabarriere unser Weiterkommen hinderte. »Hier ist das Tal zu Ende. Oh, ich hätte es mir imposanter gewünscht«, kommentierte Greta ihre Enttäuschung über das unvermutete Hindernis. Mir jedoch flößte gerade dies einige Hoffnung ein. Ein fußballgroßes, ausgewaschenes Loch, aus dem sich bei Regen das Wasser zischend und knallend hindurchpressen mußte, ließ mich eine Fortsetzung des Tales hinter der Barriere vermuten. »Wir werden sie überklettern«, sagte ich. »... und uns dabei den Hals brechen«, ergänzte Greta mit texanischem Gleichmut. Ich prüfte die Möglichkeit des Aufstiegs und fand, daß das Unternehmen gar nicht so schwierig sein konnte. Auf halber Höhe wuchs ein Ginsterbusch. Bis zu ihm konnte man einer aus der Lavaschicht herausgebrochenen, nach außen abgeschrägten Rinne folgen. Mit unseren griffigen Sohlen bestand kaum die Gefahr abzurutschen. »Sie dürfen nicht hinuntersehen, falls Sie von Natur aus schwindelig sind«, instruierte ich meine Begleiterin, stieg voraus, postierte Greta auf einer schmalen, ausgewaschenen Plattform, wo poröse Steine Halt für ihre Finger boten, und tastete mich bis zum Ginster vor. Mit meiner Linken hielt ich mich an dem stacheligen Gewächs fest, während ich meine Rechte Greta entgegenstreckte. Hinter dem Ginsterstrauch erwies sich die Strecke als recht steil. Aber wie meist, wenn eine Sache schier aussichtslos scheint – zufällig fanden sich hier drei Trittstufen, die herausgebrochene kleine Basaltbomben hinterlassen hatten. Sie gaben gleichzeitig auch
Halt für die Hände. Bei allen Kletterunternehmungen sollte man vor allem den Rückweg einkalkulieren, erweist sich doch der spätere Abstieg selbst bei leichten Aufstiegsstrekken häufig als problematisch. Aber Dank der drei Trittstufen war für den Rückweg nichts zu fürchten. Ich zog mich bis zum Grat empor und spähte über ihn hinweg. Mein Blick fiel auf eine in höchstem Maße bizarre Fortsetzung des Barrancos. Das Tal verengte sich weiter und bot eigentlich nur noch Platz für das bei Regen abfließende Wasser. Mit welcher Gewalt es da aus dem Gebirge herunterschießen mußte, bewies mir das wie zu einer asphaltierten Rinne glattgeschliffene Bett, aus dem nur vereinzelt im Boden fest verankerte Basaltfindlinge ragten. Eigentümlicherweise häuften diese sich nicht an der Barriere, was wohl darauf zurückzuführen war, daß sie unter dem Druck des Wassers zerbarsten. Ich zog Greta zu mir herauf. Auch sie verharrte einige Augenblicke unter dem Eindruck des versteinerten Naturschauspiels. Ein »wonderful« entrang sich ihren Lippen, und sie stieß mich in ihrer Begeisterung freundschaftlich in die Seite. Der Abstieg auf dieser Seite der Barriere war weniger hoch. Ja, fünf Meter über ihrer Basis lief sie sanft aus, so daß wir kaum zwei Minuten benötigten, um nun in absoluter Einsamkeit unseren Weg fortzusetzen. Während wir bisher durch die Geräusche vom Meer und der Besiedlung längs der Küstenstraße her mit der Zivilisation wie durch ein unsichtbares Band verbunden schienen, war es uns nun, als seien wir in eine völlig andere, von dieser abgeschlossene oder sogar völlig entrückte Welt geraten. Die Barriere
schirmte die Barranco-Fortsetzung total von allen Geräuschen ab. Wir drangen weiter vor und stießen auf eine Kette in das trockene Flußbett gewaschener Wannen. Aus ihnen schimmerte vom Lavagrund das Wasser dunkel. Anfangs war es noch abgestanden, trübe und von Algen durchsetzt, je weiter wir jedoch und je höher wir kamen, desto klarer und frischer wurde der Wanneninhalt. Die Sonne schien direkt in den Barranco hinein, und als wir eine größere, von kristallklarem Wasser gefüllte Wanne erreichten, zog sich Greta ohne weitere Umstände bis auf ihre Haut aus. Meine Texanerin erwies sich als hochgewachsen und kräftig, hatten ihr doch ihre irischen Vorfahren einige Merkmale hinterlassen, die nun aber, wie ich hoffte, in Verbindung mit einer mexikanischen Romanze einen hohen Grad plastischer Harmonie bildeten. Ich bewundere den weiblichen Körper, der, weit mehr als der männliche, eine erstaunliche Variationsmöglichkeit aufweist. Da gibt es breite ausladende, dort wieder schmale, von der Taille direkt zu den Schenkeln übergehende Hüften. Und welche Gestaltungsfantasie eröffnet doch die Büste, jenes eigentümliche, in Tausenden von Generationen von allen sonst bekannten Erscheinungen in der Natur sich unterscheidende zweite weibliche Geschlechtsattribut! Gretas Brüste wiesen einen hohen Grad an Elastizität auf, und natürlich wußte sie genau, welchen Effekt ihr unverhüllter Körper hervorrief. Sie beugte sich zu der Felswanne hinab, um die Temperatur des Wassers zu prüfen. Dabei hätte sie das mit den Zehen ebenso gut tun können. Schließlich hockte sie sich nieder und blinzelte mich von unten her an. »Sind Sie wasser-
scheu?« fragte sie. »Ich möchte mir nichts entgehen lassen«, antwortete ich, »keine Ihrer entzückenden Bewegungen, nichts von allem, was die Natur in einen wohlgestalteten weiblichen Körper hineingelegt hat. Fahren Sie also fort, Greta.« Sie glitt ins Wasser, und sogleich blitzte der bis dahin ruhige, unbewegte Spiegel auf. Die Wanne war groß genug für drei, vier Schwimmstöße. Die Tropfen perlten sprühend in der Sonne von ihren Schultern. Und nun tauchte sie, um den Grund zu erreichen. Ihre Beine stießen durch die Wasseroberfläche, streckten sich nach oben. Ich sah, wie sie den Grund berührte. Triumphierend brachte sie einen jener porösen, leichten, schwarzschimmernden Steine mit nach oben, die hier überall zu finden waren und wie ausgeglühte Schlacke aussahen. »Nun, haben Sie alles genossen?« fragte sie. Sie spritzte mich naß. »Keine Sorge, ich weiß, daß Männerbäuche für gewöhnlich keinen erhabenen Anblick bieten. Kommen Sie, es ist herrlich!« Ohne mir selbst zu schmeicheln – ich konnte mich durchaus sehen lassen. Infolge eines täglichen Sporttrainings, das ich selbst hier nicht versäumte, hatte ich mir eine Elastizität bewahrt, die in meinem Alter ungewöhnlich ist. Und von ›Männerbauch‹ konnte bei mir keine Rede sein. So vermochte sie auch einen Ruf der bewundernden Überraschung nicht zu unterdrücken, als ich, textillos wie sie, an den Rand der Wanne trat. »In Texas erzählt man sich Wunderdinge über die Deutschen«, sagte sie. »Und daran ist nichts übertrieben.« Ich glitt zu ihr ins Wasser. »Wissen Sie«, fragte ich,
»daß Nacktbaden in Spanien und selbstverständlich auch hier auf den Kanarischen Inseln streng verboten ist?« »Oh«, antwortete sie, »das erhöht den Reiz ungemein!« In der Tat, die Polizei hatte strengste Anweisung, sofort und unnachsichtig durchzugreifen und die Übeltäter fürs Erste einzusperren. In ihren prüden Bemühungen wurde sie von den Einwohnern nach Kräften unterstützt, so daß ständig eine Sittenstreife längs der Küste patrouilliert. Obwohl man uns durchaus von oben, den ausgezackten Rändern des Barrancos beobachten konnte – aber auch die Hochebene schien ganz offenbar menschenleer und unbewohnt –, würde es jedoch zumindest schwierig sein, uns von da aus zu fassen. Bis zur Mündung des Barrancos waren es wenigstens sieben Kilometer, eine weglose Strecke zudem und zu allem Überfluß durch die Barriere versperrt. Kein noch so pflichtbewußter Jünger der heiligen Hermandad würde diese unwirtliche E xkursion bei der Hitze, wie sie über dem Barranco flimmerte, zweier nackter Touristen wegen auf sich nehmen. So ging es uns in unserer Steinwanne paradiesisch wohl, und da unvermutet nun sogar die Sonne von einem gewaltigen, sich vom Gebirgsmassiv rasch ausbreitenden Wolkenfeld verdeckt wurde, verschwand auch die einigermaßen quälende, stechende Hitze. Wir beobachteten uns abwechselnd vom Wannenrand aus bei unseren Schwimmkünsten, weil das Becken für zwei doch ziemlich beengt war. Das Spiel der Glieder im Wasser besitzt hohe ästhetische Bedeutung. Die Konturen zerfließen. Und da Greta auch das aufgesteckte, irisch-rote Haar auf meinen
Wunsch hin gelöst hatte, erschien sie mir, wenn ich die Augen nur zu einem schmalen Spalt schloß, wie eine aus dem Urgrund aufgetauchte Nymphe. Ein erschreckend harter, danach rollender, die Stille geradezu aufreißender Donnerschlag zerstörte unser Idyll und gab uns der Realität zurück. Über dem Pico de las Nives – mit fast zweitausend Metern der höchste Punkt der Insel – ja über dem ganzen Zentralmassiv ging ein offenbar schweres Gewitter nieder, dessen Ausläufer bis zu uns herüberfingerten. Ich entsann mich der Berichte über die Gewalt der durch keinen Bewuchs gebremsten in Barrancos niederstürzenden Wassermengen. Auch belehrte mich das tief eingeschnittene Felstal von der Kraft, die vielleicht vier- oder fünfmal im Jahr hier wirksam wurde, wenn Gewitter wie dieses einen Regenschutt über das Gebirge ergossen. Schwarze Wolken standen über dem Roque Nublo. Noch einmal brach die Sonne kurz durch, um dann endgültig zu verschwinden. Wir rafften unsere Kleider zusammen und eilten, begleitet von weiteren gewaltigen Donnerschlägen, zur Barriere zurück. Sie schien mir vor Überraschungen doch einigen Schutz zu bieten. Ehe sich die bald zu erwartenden Wassermassen durch den kreisrunden Durchfluß gezwängt oder gar, wenn es schlimmer kam, die Kammhöhe der Barriere erreichten, um dann in einem grandiosen Wasserfall in den unteren Teil des Barrancos herabzustürzen, würde doch einige Zeit vergehen. Auch machte es uns viel Spaß, die Barriere nun einmal nackt zu überklettern, mit bloßer Haut und bloßen Füßen, was allerdings, wegen der Kleiderbündel, einiges Organisatorische voraussetzte. Dies-
mal ließ ich Greta den Vortritt, denn von Norden her war der Aufstieg ziemlich einfach. Auch konnte ich von meinem Standort am Fuß der Barriere ihre kräftigen, dennoch in höchstem Grade biegsamen Bewegungen bewundern. Ich reichte ihr die beiden Kleiderbündel hinauf, stieg dann nach und setzte mich neben sie rittlings auf den Kamm. Eng umschlungen beobachteten wir das imposante Schauspiel der treibenden grau-schwarzen Wolken über den Gipfeln des Zentralmassivs, der niederzuckenden Blitze, die häufig den ganzen von uns hier aus sichtbaren Teil des Himmels überspannten und die streifigen, sich in ihrer Ausdehnung ständig verändernden Regengüsse, in denen manchmal das verborgene Sonnenlicht bunt aufschimmerte. »Hier möchte ich bleiben, bis das Wasser kommt«, sagte Greta atemlos. Ich jedoch mahnte, obwohl mich der Zauber des Infernos ebenfalls in Bann schlug, zur Vorsicht. Beim Abstieg kletterte ich voraus, und ich stellte fest, daß es barfuß noch weitaus ungefährlicher war. Die Haut ist die ideale natürliche Materie, die sich allen anderen in der Natur vorkommenden Materien höchst vollkommen anpaßt. Ich fand Halt am Ginsterbusch, nahm die Kleiderbündel entgegen, umfaßte Gretas Fußgelenke und leitete ihre Füße in die drei natürlichen Stufen der Steilwand. Die Enge meines Standorts am Ginsterbusch bedingte, daß ihr Körper an den meinen gepreßt schließlich ebenfalls am Ginsterbusch landete. Auch der Rest des Abstiegs – über die schräg nach außen fallende Rinne zu der Plattform, und von dort aus ins Flußbett – gelang, und nun prasselten erste, schwere, klatschende Tropfen auf uns nieder. Der Regen war ungewöhnlich warm. Greta breitete ihre
Arme aus und genoß wie ich den hierzulande seltenen Guß vom Himmel. Da nicht anzunehmen war daß uns bei diesem Gewitter im Barranco Leute oder gar die Polizei begegnen könnte, der strömende Regen die Sicht von oben versperrte, sprangen wir, die Kleiderbündel unterm Arm, das Flußtal abwärts. Die Regentropfen massierten unsere Haut, und wir begriffen, was den Menschen doch an natürlicher Wohltat infolge ihrer Angewohnheit, unablässig Kleider zu tragen, entging. »Sollen wir versuchen, nackt wie wir sind und ungesehen ins Hotel zu gelangen?« fragte meine tollköpfige Texanerin. »Für fünfhundert Dollar riskier ich's!« Aber es gelang mir, sie dort, wo der Weg begann, zu überreden, in die nassen Kleider zu schlüpfen, in ihre Shorts und ihre verführerische Bluse. Beides klebte naß an ihrem Körper, der mir in dieser unzulänglichen Verhüllung noch um einige Grade verlockender erschien. Erst als wir unsere Teller vor dem wiederum überaus lukullischen Büfett füllten, dämmerte mir die Erkenntnis, daß es vorerst aus war mit meiner Suche nach dem Geheimnis der Mondfähre. Am Abend drang das Rauschen der aus dem Barranco heraus ins Meer stürzenden Wassermassen bis ins Restaurant und übertönte ohne Mühe das Rauschen des Meeres. Wir sahen uns das grandiose Schauspiel bei Dunkelheit und beim Schein der unzähligen Lampen an, die das Hotel, sein Areal und den Strand beleuchteten. Das Wasser schäumte und gischtete, und wir konnten uns vorstellen, wie es an der Barriere im Barranco die aus dem Gebirgsmassiv mitgerissenen Steine zerschmetterte und zermahlte und wie es über die Bar-
riere in breiter Kaskade hinwegdonnerte wie es von da aus gurgelnd weiterschoß, sich an den gewaltigen Findlingen im Flußbett brach, sie vielleicht um ein paar Meter weiter talab verschob. Drei Tage dauerte es, ehe das Wasser vollständig abgelaufen war und der Barranco del Cura wieder begehbar erschien. Wir faulenzten am Strand, fuhren mit einem gemieteten Wagen nach Las Palmas, besahen uns in Santa Lucia das Guanchenmuseum wobei uns der Museumswächter augenzwinkernd das berückende, mit einem Himmelbett ausgestattete folkloristische Schlafzimmer aufschloß, und fuhren hinauf zum Cruz de Tejeda, von wo aus man bei dieser vom Gewitter glasklar gereinigten Atmosphäre die Insel Teneriffa mit dem schneebedeckten Pico del Teide am Horizont erblickte. Nachts schwammen wir in unserer Bucht, der Playa del Cura. Bei jedem Schwimmstoß hüpften Fische aus dem Wasser und blitzten im Schein der Lampe silbrig auf, ehe sie in ihr Element zurückklatschten. Früh am Morgen des 27. Februar brachen wir erneut in den Barranco auf. Es war noch dunkel; nur das Meer schimmerte heller. Wir hatten uns von dem so reichhaltigen Abendbüfett einiges für ein rasches Frühstück aufgespart. Das Felstal erschien nun, da die Steilhänge zu beiden Seiten in der Dunkelheit bedrohlich aufragten, unbekannt und fremd. Als der Weg endete, hatten wir einige Mühe uns voranzutasten. Immer wieder tappten wir in eine Pfütze oder glitten über glitschigem Geröll aus. Als wir die Barriere erreichten, war die Dämmerung zum Glück derart fortgeschritten, daß wir den Aufstieg riskieren konnten. Ja, er ging infolge unserer Ortskenntnise,
und da wir aufgrund unserer Erfahrung die Kletterpartie barfuß unternahmen, rasch und zügig vor sich. Greta hatte sich, pragmatisch wie Amerikanerinnen nun einmal sind, nichts als ein leichtes Kleid über ihren Körper gestreift; ich trug Hemd und Hose. So waren unsere Bewegungen kaum behindert. Hinter der Barriere mußten wir das knöchelhoch stehende Wasser durchwaten, und als Greta unvermittelt in einer der noch unsichtbaren Wannen versank, entledigte sie sich ihres als lästig empfundenen Kleides und schwang ihre Hüften vor mir. Als die ersten Sonnenstrahlen ihren Körper trafen, glühte er in seiner Nässe samtrot auf. Die Sonne schob sich über den östlichen, ausgezackten Rand, über jene Lavamauer, die wohl achtzig Meter steil rechts von uns emporragte. Von nun an durfte ich meine Aufmerksamkeit, so schwer mir das auch fiel, nur den Höhlungen widmen, die zahlreicher wurden, je weiter wir vordrangen. Was ich suchte, war eine größere Höhle, die sich in der Lavawand in ein Höhlensystem fortsetzte. Schließlich erkannte ich jene Position oben an der Ostwand, wo – versteckt hinter einem Fels – mein Avocados-Farmer 1966 seine ›Fliegende Untertasse‹ aus nächster Nähe beobachtet hatte. Doch so sehr ich die Westwand untersuchte – ich entdeckte nichts, was auch nur entfernt meinen Vorstellungen über die Öffnung, die Mündung eines Höhlensystems, nahekam. Da machte mich Greta auf zwei Ziegen aufmerksam, deren Gemecker nun, da sie uns sichteten, im Tal widerhallte. »Wo Ziegen sind«, warnte ich meine nackte Schöne, »sind auch Menschen.« Aber sie lachte mich in ihrer paradiesischen Unschuld nur aus. Obwohl das Tal
abflachte, durfte sie sich noch immer sicher genug fühlen. Die Ziegen weideten im oberen Viertel der Westwand an den spärlichen Ginsterbüschen, und für jeden Beobachter mußte von dort aus das Tal noch tief im Schatten liegen. Die Sonne warf lange Schatten, und nur hin und wieder kamen wir durch einen gleißenden Lichtstreif. Endlich entdeckte ich eine starke Einbuchtung in der Steilwand, die durch einen in den Hang gefrästen Pfad erreichbar schien. Die Einbuchtung verlor sich im Hintergrund in einem höhlenartigen Schlund, dessen Rundungen wie glasiert schimmerten. Der Pfad begann nun nicht an der Basis der Wand, vielmehr unvermittelt und jäh in etwa fünf Metern Höhe über unseren Köpfen. Um ihn zu erreichen, mußten wir einen Aufstieg finden, was infolge der glattgewaschenen, hochreichenden Begrenzung des Flußbettes unmöglich erschien. Auf irgendeine Weise galt es eine Höhe von wenigstens drei Metern zu überwinden. Erst von da an wurde die Wand wieder porös, griffig und deshalb begehbar. Ich kniete nieder, Greta streifte sich um beide Hände frei zu haben, ihr leichtfertiges Fähnchen wieder über, stieg auf meine Schultern, wobei sie sich mit beiden Händen an der glattgeschliffenen Lavawand abstützte, und ließ sich von mir hochstemmen. Sie erreichte die Kante und zog sich, von mir mit beiden Händen unterstützt, nach oben. Oben angelangt legte sie sich flach auf die etwa zwei Meter breite, fast ebene Kante, reichte mir ihre Hand, so daß auch ich, wenn auch mit viel Mühe, zu ihr hochklettern konnte. Wir krochen über das poröse Gestein bis zum Pfad, und nun war der Rest ein Kinderspiel: ohne Mühe aufrechtgehend und bequem erreichten wir die Aus-
buchtung, die gewaltige Ausmaße besaß. Wenn überhaupt, so konnte nur sie exterristrischen Besuchern als Aufenthalt oder gar als Laboratorium gedient haben. Unzweifelhaft waren die Wände der muschelförmigen Aushöhlung künstlich bearbeitet worden. Ich tippte, weil sich unsere Begriffe nur an irdischen Möglichkeiten zu orientieren vermögen auf Sandstrahlgebläse, und diese Bearbeitung, die vielleicht tatsächlich auf elektronisch-synthetischem Wege erfolgt war, setzte sich bis ins Innere hinein fort. Ein verhältnismäßig schmaler Durchlaß von höchstens drei Metern Länge führte in einen ersten kugelförmigen Raum, dessen Wände phosphoreszierendes Licht abgaben, ein Licht allerdings, das in seiner Wellenlänge dem sichtbaren, dem Tageslicht verblüffend nahekommen mußte. Es hatte eine gelbliche Tönung, die wir beide, Greta und ich, als höchst angenehm empfanden. Vergebens forschte ich nach seiner Quelle; offenbar war es so, daß die Bearbeitung der Außenwände systematisch vorgenommen worden war und mit Hilfe optischer Tricks das Tageslicht in das Höhleninnere hineinleitete. Die Wände des Kugelraumes schienen in derselben Manier glattgeschliffen wie die Muschelhöhlung draußen. Sie fühlten sich wie zartes Sandpapier an, also eines von der feinsten Körnung. Der Raum selbst enthielt nichts, was unsere Aufmerksamkeit hätte erregen können. Er war absolut leer. So drangen wir ohne Zögern weiter vor. Erneut nahm uns ein Zwischengang auf, wesentlich breiter als der erste und etwa doppelt so lang. Wir mußten uns jetzt fünfzehn Meter innerhalb der Lavawand befinden und betraten einen ovalen Raum. Mit ihm schien das System sein Ende gefunden zu
haben. Das Licht schimmerte nur bis in halbe Höhe, so daß im Gewölbe über uns eine diffuse Dämmerung herrschte. Im Hintergrund allerdings war die sonst glatte Wand an einer Stelle ausgebrochen. Unter einer Art Nische türmte sich Geröll. Die Nische glitzerte feucht. Wasser träufelte aus den Poren des Gesteins, und offenbar hatte sein Druck die Nische freigelegt. Ich sah sofort, daß sie künstlich angelegt worden war. Man hatte sie höchstwahrscheinlich in das Gestein eingebrannt. Ich schätzte den aufgehäuften Schutt auf dem Boden und kam zu dem Schluß, daß er höchstens zu einem Viertel die Nische füllte, wenn man das versucht hätte. Infolgedessen handelte es sich hier um das Vermauerungsmaterial. Mit anderen Worten – man hatte in dieser Nische irgend etwas eingemauert. Aber sie war leer. Hatte jemand die Höhle geplündert? Da preßte sich Greta mit einem leisen Aufschrei an mich. Die von Natur aus bestimmt nicht ängstliche, standfeste und humorvolle Texanerin deutete höchst erschrocken nach oben. Ich blickte hoch und erschrak nicht weniger. Dort, vielleicht einen Meter unter der Decke, schwebte frei ein Wesen, ein Mensch wie es schien, tot allerdings und wohl infolge der trockenen Luft oder anderer, unbekannter Einwirkungen mumifiziert. Im leichten Luftzug, der in Intervallen von draußen her auch bis hier in den hintersten Raum der Höhle drang, wurde der schwebende Leichnam sanft bewegt. Offenbar wanderte er, seit er aus der Nische herausgeschwemmt worden war, in dem Oval umher, und daß er im Augenblick nicht die Decke berührte, war wohl Zufall. Jetzt beispielsweise stieg er höher, stieß an die Decke und wurde durch den An-
prall wieder leicht herabgesenkt, um dann erneut zu steigen. Sein spezifisches Gewicht mußte infolgedessen um Weniges leichter sein als die Luft. Greta setzte sich auf den Boden, wobei ihr leichtes Kleidchen auf verführerischste Weise weit über ihre Schenkel rutschte, und blickte gebannt nach oben. »Was ist das denn?« fragte sie schließlich. »Mir zittern die Knie vor Schreck!« »Ein schwebender Leichnam«, antwortete ich. »Doch nicht – ein toter Mensch?« »Zumindest ein menschenähnlicher Toter, der wohl selbst nichts dabei findet, in dieser Höhle herumzuschweben.« Ich ließ mich neben ihr nieder, obwohl mir die Knie keineswegs zitterten. Ich möchte nicht gerade behaupten, daß ich enttäuscht war, aber dieser schwebende Leichnam signalisierte mir, daß ich zwar eine hochinteressante Entdeckung gemacht, sie jedoch mit dem Problem der Mondfähre nichts zu tun hatte. So konnte ich nur hoffen, daß ein anderer Weg, nämlich der über meine reizvolle Begleiterin, zu der von mir und dem türkischen Geheimagenten erstrebten Klärung führte. Gleichzeitig überlegte ich krampfhaft, woher meine Zweifel über die menschliche Herkunft der Leiche dort oben unter der Decke wohl rühren mochte, als ich bemerkte, daß ihr die Ohrmuscheln am Kopf und das Haupthaar fehlten. Auch fiel das Kinn schräg zum Hals hin ab; anders ausgedrückt, das schwebende Wesen besaß überhaupt kein Kinn. Offenbar war es bereits mumifiziert, hatte längere Zeit in der Nische gelegen und schwebte sicherlich auch schon ein paar Jahre unbemerkt in diesem Höhlenoval. Situationen solch gespenstischer Art sollte man
immer rational zu lösen versuchen. Es galt jene Spannung abzubauen, die von der Unbegreiflichkeit eines Vorganges zur Unerträglichkeit gesteigert werden kann. »Ganz offensichtlich«, sagte ich, »hat hier eine Bestattungszeremonie stattgefunden. Nehmen wir an, es handelt sich um den Kommandanten des Raumschiffes, das von meinem Avocados-Farmer 1966 beobachtet wurde. Er starb. Zu seiner feierlichen Beisetzung steuerte man diesen Barranco an. Man strahlte ihm ein eindrucksvolles Mausoleum in das Lavagestein und setzte ihn in der Nische bei.« »Oh ja!« begeisterte sich Greta. »Und es wird dabei recht feierlich zugegangen sein.« »Unbedingt«, bekräftigte ich. »Das alles bedeutet, daß diese außerirdischen Wesen einen Glauben haben müssen, eine Art Religion, oder anders ausgedrückt, daß trotz Fortschritt auf technischem und wissenschaftlichem Gebiet die Religion als Basis erhalten bleibt, aber auch der Tod«, setzte ich hinzu. »Wir sollten alle Hoffnung auf eine Überwindung des Todes mit Hilfe der Wissenschaft begraben!« »Aber – wieso denn?« fragte Greta. »Das Universum geht auf ein und denselben Ursprung zurück, auf Wasserstoff. Das Leben, gleichgültig wo und in welcher Form, entstand und steht aus dem Wasserstoff. Der gemeinsame Ursprung«, fuhr ich fort, »bedingt eine gemeinsame Grundentwicklung. Von der Erde wissen wir, daß zum Leben, oder besser: zum höher entwickelten Leben, der Tod gehört. Der Tod ist gewissermaßen der Tribut, den die Zellensymbiose für ihre Funktionstüchtigkeit bezahlt. Dieser Tote über uns ist ein – verglichen mit uns – um einige tausend Jahre früher oder länger
entwickeltes, infolgedessen auch höher entwickeltes intelligentes Wesen. Die Leute, denen es angehörte, konstruierten ein Raumschiff, dessen Haupteffekt auf der Schwerelosigkeit beruht. Es gelang den technischen Wissenschaftlern jenes fernen Planeten, von dem der Tote stammt, die Gravitation aufzuheben. Das wird uns hier auf Erden wohl erst in zwei- bis dreitausend Jahren gelingen. Trotzdem stirbt man dort so gut wie bei uns, und zwar noch immer. Doch nun zur Technik des Vorganges. Das Wasser, das die Höhlen- und Nischenerbauer eigentümlicher Weise nicht einkalkulierten, spülte die Vermauerung der Nische frei. Der wahrscheinlich hervorragend einbalsamierte Kommandant schwebte zur Decke. Seither treibt er hier herum und hat bisher wohl nur uns erschreckt.« Greta lachte nur kurz auf, für mich das Zeichen, daß sie in der Lage war, einige physische und physiologische Belastungen auf sich zu nehmen. »Wir haben eine ungemein wichtige Entdeckung gemacht«, erklärte ich ihr, »die Wichtigste wahrscheinlich seit unsere Erde sich dreht. Es kommt darauf an, den Fund zu bergen, damit der Leichnam genau untersucht werden kann. Vielleicht finden die Wissenschaftler in ihm das Geheimnis der Schwerelosigkeit. Das würde uns ein tüchtiges Stück voranbringen.« »Und ob wir ihn bergen müssen!« begeisterte sich Greta und sprang auf. Offenbar zitterten ihre Knie nicht mehr. »Aber wie kriegen wir ihn von da oben herunter?« »Hättest du den Mut, ihn anzufassen?« »Natürlich nicht. Aber das darf uns nicht an unserem Vorhaben hindern. Was soll ich tun?« »Wir treiben ihn zur Hinterwand. Ich stemme dich
auf meinen Schultern hoch, du greifst ihn und ziehst ihn herunter«, schlug ich vor. »Pöh«, machte sie und schüttelte sich. »Mit was aber treiben wir ihn?« Ich deutete auf ihr Kleidchen. »Damit. Zieh es aus. Wir benutzen es als Windmaschine. Nackt fühlst du dich ohnehin am wohlsten, wie mir scheint.« »Wäre das nicht pietätlos?« »Daß er hier im Raum schwebt, ist doch wohl der Gipfel der Pietätlosigkeit«, zerstreute ich ihre Bedenken. Sie schlüpfte aus ihrem Kleidchen, und in dieser sanften, getönten Beleuchtung schimmerte ihr Körper rosig und gesund mit einem Schmelz, wie ich ihn und gewiß auch sonst niemand in unseren irdischen Bereichen je geschaut. Wir breiteten ihr Kleid zu einem Segel aus und schwangen es so lange, bis die Mumie langsam, immer wieder an die Decke anstoßend, in den hinteren Teil des ovalen Gewölbes trieb. Wir hörten so rechtzeitig damit auf, daß wir Zeit genug fanden für unser geplantes Manöver. Ich kniete mich nieder. Greta bestieg erneut meine Schultern, und während ich sie hochstemmte, legte sie sich schräg gegen die Wand, so daß sie das Gleichgewicht nicht verlor. Der Leichnam kam näher und näher, und endlich gelang es ihr, ihn am Ärmel seines Totenkittels zu fassen. Ich ließ mich langsam auf die Knie nieder. Der Leichnam kam mit dem Kopf nach vorn senkrecht zu uns herab. Greta rutschte mir von den Schultern. Ich griff den Arm des Toten, damit er uns nicht wieder entwischte. In der Tat, er war leicht, erheblich leichter als selbst eine Feder. Die Haut seines Gesichtes war wie aus Leder gegerbt, und ich kam zu dem Schluß, daß dies ihr natürlicher Zustand sein
mußte, also nicht eine Folge der Mumifizierung. Sie fühlte sich weich und samten an. Der haarlose Kopf war kugelig rund. Die Hand, beide Hände, wie wir bald feststellten, wiesen jeweils sieben Finger auf. Ebenso befanden sich an den Füßen, zumindest an einem Fuß, sieben Zehen (den linken Fuß untersuchten wir nicht). Der Leichnam war in ein Totenhemd von unbekannter, sicherlich außerirdischer Stoffart gekleidet, dessen gelbliche Tönung im Material lag, also nicht eingefärbt war. Es fiel über eine Hose, die sich über Stoffschuhe aus gleichem Material keilförmig zuspitzte. An Gretas Kleid befand sich ein Band, das es in der Taille zusammenraffte. Ich löste es und befestigte es am rechten Fuß der Mumie. »Damit werden wir den Untertassenkommandanten hinter uns herziehen, etwa wie einen Luftballon. Das erscheint mir als die bequemste und rationellste Transportierung. Und damit er uns nicht zufällig entwischt, binde ich dir das Band um das Handgelenk, einverstanden?« fragte ich Greta. Sie nickte, und während sie nun vorausging, dirigierte ich den Leichnam am Kopfende so, daß er nirgends anstieß und Schaden nahm. Wir durchquerten den längeren und breiteren Gang und gelangten in die runde Höhle. Hier blieb Greta stehen. »Ja ja«, seufzte sie, »es ist dies die größte Sensation unseres Jahrhunderts. Wir sind die berühmtesten Leute auf dieser Welt – nur weiß es noch niemand außer uns. Morgen werden es alle wissen.« Sie schritt mit wiegenden Hüften weiter, das Kleid unterm Arm, den Toten hinter sich herziehend, eine ebenso seltsame wie reizvolle Kombination, deren Reiz sich verstärkte, als wir in das pralle Sonnen-
licht hinaustraten. Hier jedoch geschah etwas, womit wir nicht gerechnet hatten. Eine Bö, wie sie hin und wieder den Barranco herauffegte, ergriff unsere Mumie. Sie wurde emporgerissen und stieg wirbelnd und drehend, mit unglaublicher Intensität aus dem Barranco treibend und immer kleiner werdend zum Himmel empor. Wir blickten ihr verblüfft nach. Jetzt war sie nur noch ein Pünktchen, das auf den Pico de las Nives zuhielt und endlich verschwand. Am Band von Gretas Kleid aber hing der rechte Fuß des Kommandanten. Ich holte das Band ein. Er war fein säuberlich am Knöchel abgetrennt, wobei die lederartige Haut winzige Einstiche aufwies. »Offenbar hat er einen Unfall gehabt«, kombinierte ich, »vielleicht verletzte er sich da auch an anderen Körperteilen, unbedingt aber hier am Knöchel. Man hat ihn operiert. Bevor der Knochen wieder zusammenwachsen konnte, ist er gestorben.« Ich zog mein Hemd aus und wikkelte den Fuß des Kommandanten zusammen mit einer faustgroßen Basaltknolle in das Hemd. Beides, Fuß und Stein, war schwer genug, daß uns nicht auch noch dieses letzte Beweisstück unseres Fundes unversehens davonschwebte. Greta fror infolge dieser Seltsamkeiten und vor Aufregung und schlüpfte in ihr Kleidchen. »Wenn wir klug sind«, sagte ich, »bewahren wir vor den Gästen des vortrefflichen Hotels ›Riviera‹ absolutes Stillschweigen über unser Erlebnis und speziell über diesen Fund. Es steht uns zudem nicht an, sie in ihrem kostbaren Urlaub durch höchst unwahrscheinliche und ihr Weltbild umstürzende Berichte zu stören.« Als wir nach glücklicher Überwindung der Barriere und genau zur Mittagsstunde das Hotel erreichten,
übergab der diensthabende Portier Greta ein Telegramm. Sie las es mir triumphierend vor. Darin lud mich die NASA zu einem Gespräch, die Mondfähre betreffend. Was ich berechnet hatte, war also prompt eingetreten. Meine Texanerin erwies sich in ihren Reaktionen waschecht. Es war ihr unmöglich gewesen, ihre Empörung über meinen Verdacht zu kompensieren. So hatte sie an den Präsidenten der Vereinigten Staaten telegrafiert, noch am Morgen nach jenem Bargespräch, das ich in dieser Absicht mit ihr führte. Wir buchten die nächste Maschine und flogen schon am Abend in die Neue Welt. Heute kann ich ruhigen Gewissens folgendes zweifelsfrei feststellen: 1. Die Mondfähre ist eine originelle nordamerikanische Erfindung. 2. Sie wurde ohne exterrestrische Hilfestellung konstruiert. 3. Die überraschend kurze Zeit von der Idee bis zur Ausführung und geglückten Eroberung ist damit zu erklären, daß sie eigentlich nur eine Variation jener Raumkapseltechnologie darstellt, wie sie sich in vielen Einsätzen bewährte. 4. Alle gegensätzlichen Behauptungen sind böswilliger Natur. Ihr Ziel ist es, die unangefochtene Stellung der Vereinigten Staaten auf dem Gebiet der Raumfahrt zu untergraben. Die Beweise, die man mir gegenüber vorbrachte, sind unwiderlegbar. Mit einer Rückhaltlosigkeit, wie sie für Nordamerikaner typisch ist, zeigte man mir alle Protokolle (der Vorgespräche, die ein interessantes Bild von der im Gespräch entwickelten Idee gaben), und Zeichnungen und Modelle. Nichts wurde vor mir verheimlicht. Man instruierte mich derart umfassend, daß ich ohne weiteres in der Lage wäre, ebenfalls eine Mondlandefähre zu konstruieren.
Als Gastgeschenk brachte ich den Fuß des mumifizierten Untertassen-Kommandanten mit, der beim Auswickeln (aus meinem Hemd) prompt zur Decke schwebte. Man holte ihn dort wieder herab, und er durchläuft nun alle denkbaren Stadien der Untersuchung. Es ist anzunehmen, daß man über kurz oder lang das Rätsel der aufgehobenen Gravitation lösen wird; darin sind die Amerikaner groß! Ein neues Zeitalter der Raumfahrt steht infolgedessen bevor. Natürlich erfreute sich das Hotel ›Riviera‹ am ›Strand des Pfarrers‹ alsbald einer US-amerikanischen Invasion. Die Lavabarriere im Barranco del Cura erhielt einen relativ bequemen Überstieg, so daß auch weniger im Klettern geübte Experten die Höhle ›zum toten Kommandanten‹, wie ich sie taufte, einer genauen und gründlichen Untersuchung unterziehen konnten – ohne Ergebnis allerdings. Als gewissenhafter Chronist darf ich nicht unterschlagen, daß ich nach meiner Rückkehr aus den USA einen anonymen Anruf erhielt. Eine Stimme mit typisch türkischer Akzentuierung warf mir nach schmeichelhafter Einleitung vor, ich hätte mich von der NASA kaufen lassen. Das ist unsinnig. Damals, eben zur Zeit des Anrufs, waren die nordamerikanisch-türkischen Beziehungen erheblich gestört, wie sich der politisch interessierte Leser erinnern wird. Höchstwahrscheinlich liegt darin die Quelle der Verärgerung des Anrufers. Copyright © 1981 by Wolfgang Altendorf Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Agentur M.E.R.L.I.N., Hofheim und Zweibrücken
Kurt Karl Doberer WELT HINTER GLAS Es waren die üblichen Landstraßen, die üblichen Bäume und der übliche Frühling. Alles hing mir nun zum Halse heraus, war mir über. Ich hatte nicht allzuviel Treibstoff, und mein kleiner Wagen war mir schon eine halbe Stunde zuviel bergauf und bergab durch diese Hügellandschaft gezottelt. Wir waren dabei, jenes Landhaus zu finden, das wir – idiotischerweise – im Briefwechsel gemietet hatten. »So schlecht wird es nicht sein, wie du denkst«, sagte meine Frau. »Dann ist es immer noch unerträglich genug«, murrte ich verdrossen. Und der Treibstoff wurde weniger und weniger. Die Sonne näherte sich dem Horizont. Dann, plötzlich, waren wir da. Es war kein zerfallener Rittersitz, wie wir in den letzten Minuten noch tiefbedrückt vermutet hatten. Ein ganz gemütliches kleines Landhaus schien es von außen. Und im Vorgarten blühten die Primeln in vielen Farben. »Ich bin der Mann im Erdgeschoß«, sagte ein kleiner, freundlich aussehender, etwas dicklich erscheinender Herr. Er hatte eine sehr schäbige Hose an. Fast so schäbig wie die meine, die ich ›im Haus herum‹ anzuziehen pflege. Das machte ihn mir sympathisch. Ich witterte einen Bundesgenossen gegen meine Frau, die gegen allzu schäbige Hosen ist. Aber auch meine Frau lächelte ihn freundlich an. Sicherlich aber nicht wegen der Hose. Sie schien nichts zu merken. Der Mann hatte schon den ersten
Koffer in der Hand und verschwand im Haus. Wir waren auf ihn schriftlich vorbereitet worden. Es war der Mann, der in der Miete inbegriffen war. Aber was er genau war – Hausmeister, Hausdiener, Mitmieter – das war nicht herauszufinden gewesen und sollte auch lange nicht herausgefunden werden. Wir hatten alle Räume im ersten Stock. Nur unsere Küche lag noch im Erdgeschoß. Der Mann war fröhlich die Stiegen hinauf verschwunden. Wir folgten mit den anderen Koffern. »Darf ich mich vorstellen, Maximilian heiße ich«, sagte er uns oben. Dann trottete er eilends wieder nach unten, ließ uns stehen, ohne etwas zu erklären. Er brauchte nichts erklären. Es war herrlich. Fein eingerichtet und alles da. »Na, siehst du«, sagte meine Frau nach einem entzückten Schweigen. Als wir wieder hinunterstoffelten, haute Maxe – wie wir ihn in stillschweigender Übereinstimmung getauft hatten – eben die Motorhaube zu, stieg ein und fuhr den Wagen um das Haus in die Garage. Dorthin trottete ich ihm nach. Die Garage war so gut mit Handwerkszeug ausgerüstet, daß wir uns noch einen zweiten Wagen hätten bauen können, wenn wir dafür Benzin gehabt hätten. »Maxe«, sagte ich, »warum haben Sie unter die Haube geschaut? Verstehen Sie etwas von Motoren?« Das machte ihn offensichtlich verlegen. Ich hatte keine Ahnung, wieso. Er räumte sich die Kehle aus, schüttelte den Kopf, sagte nein, er hätte nur nachgeschaut, ob alles da wäre. Aber natürlich verstand er etwas davon. Schon, wie er den fremden Wagen angefahren hatte. Diese erste Episode blieb charakteristisch für unser
Verhältnis zu Maxe. Er half immer, wenn er da war und nicht in seinen Zimmern vergraben. Er verstand alles und genierte sich, wenn man ihn dabei ertappte. Eine Abstufung fand ich mit den vergehenden Wochen nur darin, daß er die Dinge umso besser zu verstehen schien, je komplizierter sie waren. Und komplizierte Dinge gab es hier. Da war zum Beispiel das große Bild in meinem Arbeitszimmer. Es stellte eine Landschaft mit ziehenden Wolken dar. Ich hatte mich gleich beim ersten Blick gewundert, wie Dr. Vernon – der Mann, von dem wir das Haus gemietet, den wir nie gesehen, der nach der übrigen Einrichtung zu schließen, Geschmack haben mußte – wie dieser Dr. Vernon eines dieser langweiligen englischen Landschaftsbilder in sein Arbeitszimmer hängen konnte. Es war augenscheinlich von Turner oder einem der anderen Berühmtheiten. Ich hatte nicht nach dem Namen gesehen und gab dem Bilde keinen zweiten Blick mehr. Es war in einer ausgesprochen blödsinnigen Situation, in der ich mit dem Bild wiederum konfrontiert werden sollte. Ich habe nämlich die Gewohnheit – wie wohl andere Schriftsteller auch – beim Ausdenken der Handlung meiner Romane wie eine wiederkäuende Kuh stundenlang in eine Richtung zu starren. Dieses Mal war ich hinter meinem Schreibtisch gesessen und hatte für eine Weile versunken durch das Fenster den dahinziehenden Wolken nachgeschaut. Wie sie in wechselnden Bildungen – was die schriftstellerische Phantasie anregt – bald heller, bald dunkler an dem Fensterausschnitt vorbeizogen. Bis mich dann der Motorenlärm unseres Kleinwagens aufschreckte. Ilse ist aus der Stadt zurück,
dachte ich und drehte mich um. Denn das Geräusch war hinter meinem Rücken her gekommen. Damit wurde mir plötzlich bewußt, daß das offene Fenster die ganze Zeit hinter mir gewesen war. Das Viereck, durch das ich sinnend die Wolken verfolgt hatte, war das verflixte Bild gewesen. Ich muß sagen, diese Erkenntnis hatte mir einen häßlichen Schock gegeben. Welcher Art er war, ist aber schwerer zu beschreiben. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich etwas Unsittlichem zugesehen. Aber dazu kam ein Anteil richtigen Schreckens. So, als wäre ich gerade noch über eine Falltüre im Boden hinweggekommen. In meiner Verwirrung – und Furcht – wollte ich in erster Aufwallung aus dem Zimmer rennen. Ruhig, mein Freund, sagte ich mir. Was hast du schon gesehen? Einen mechanischen Trick, wie man ihn öfters auf alten Spieluhren sieht. Aber es gab mir doch mehr Sicherheit, als ich Ilse die Treppe emporkommen hörte. »Was ist los?« fragte sie, als sie mich so sitzen sah. Meine Verwirrtheit mußte sich in meinem Gesicht spiegeln. Ich machte den Mund auf, versuchte zu reden – fand es schwierig und deutete stumm auf den Turner, oder wer die Landschaft immer gemalt haben mochte. »Na und?« fragte Ilse. »Immer noch derselbe Schinken.« fügte sie hinzu. Was einer meiner eigenen Aussprüche über das Bild war. »Die Wolken.« Das konnte ich nun doch herausbringen. »Richtig, die Wolken«, meinte sie. Sie hatte bemerkt, was ich meinte. Aber ich fand nicht, daß sie irgendeinen psychologisch-physiologischen Schock erfuhr. Sie blickte prüfend zum Fenster und nickte. »Es sind dieselben«, sagte sie, »im Spiegel.«
»Ein Spiegel.« Welch einfache Lösung. Welch ein Idiot ich nur war. Ein einfacher Trick hatte mich aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich durfte mir das nicht merken lassen. »Ja, ein Spiegel«, lachte ich – etwas gezwungen, ich muß gestehen – »gerade vorhin hatte ich es herausgefunden.« Ich muß zugeben, daß ich, in meiner intellektuellen Einfalt, diese Erklärung für eine ganze Weile als bare Münze nahm. Es war erst am nächsten Sonntag – das sind bei uns zu Hause im allgemeinen die Tage des Herumtrödelns. Es kommt keine Post, es erstehen keine neuen Aufgaben. Man denkelt herum, man meditiert, verdaut und sieht sich oft Angesehenes an. An diesem Sonntag also, sah ich mir unser Bild an. Es war schlicht gerahmt, fast zu schlicht. Auf dem Schildchen, auf dem Maler und Jahreszahl stehen sollte, da stand perplexer Weise: ›Alternative X2/17B‹. So etwa, wie wenn ein Städteplaner zu seinem Hauptplan noch einige Variationen entworfen hatte. Und dies hier wäre nun die Variation X2/17B. Da es handschriftlich gekritzelt war, konnte es ja schließlich auch wirklich 1780 oder eine ähnliche Jahreszahl sein. Ja, so mußte es sein. Wenn nicht der Maler einfach wahnsinnig gewesen war. Sein Bild war jedenfalls merkwürdig genug. Die Wolken zogen wie draußen vor dem Fenster, wie in einem Spiegel, das war richtig. Aber auch die weite Grassteppe, die sich über die Hügel zog, schwankte im Wind. Das war offensichtlich zu sehen. Man brauchte nur genau hinzustarren. Ich begann die Landschaft zu vergleichen. Draußen vor dem Fenster waren Felder, Hecken, ein Laubwald und eine kleine Reihe von freundlichen Häusern.
Drinnen im Bild war eine Grassteppe, unterbrochen von schlanken Wacholderbüschen und kleinen Inseln aus Erlen. Aber Grund und Bodenformen waren sichtlich in beiden Landschaften gleich. Unser Maler hatte also nicht allzuviel Phantasie entfaltet, nur die Bewachsung der Landschaft geändert. Wie aber das Gras und die Büsche im Wind zum Schwingen gebracht werden konnten, das blieb mir ein Rätsel. Ja, es war sogar etwas unheimlich, brachte zum Hinstarren, bis man sich eins mit der wilden, leeren Landschaft fühlte. Man war so fasziniert und gepackt, daß man die Lerchen singen zu hören glaubte. Ja, die getäuschten Augen gaben vor, ein steigendes, steigendes Pünktchen, die Lerche, im Bild zu sehen. Aber das war natürlich Unfug. Trotzdem war es entnervend, ließ die Gedanken nicht mehr frei. Immer dachte man an diese steigende, steigende Lerche, die doch in Wirklichkeit gar nicht da war. Für genau zwei Wochen ertrug ich diesen fiktiven Sommer im Bild. Ich war so nervös geworden, daß ich an einem der Nachmittage, als ich von meiner Schreibmaschine aufsah, einen Augenblick glaubte, ich hätte einen Hasen am Berghang gesehen. Einen rennenden Hasen. Einen rennenden Hasen im Bild. Das machte mich so ärgerlich, daß ich aufstand und das Bild an der Stelle genau studierte. Aber der Maler hatte da einfach keinen Hasen hingemalt. Den hätte ich ja schon früher sehen müssen. Aber es war direkt unangenehm, sich so genau erinnern zu können, eben einen Hasen den Berghang hinaufrennen gesehen zu haben. Und wie natürlich sich dabei die langen Grashalme auf seinem Weg bewegt hatten. Es war lächerlich, aber die Sache saß mir nun im Kopf.
Ich mußte sogar ein bißchen ernsthaft oder feierlich ausgesehen haben, als ich Maxe bat, doch einmal mit mir in das Arbeitszimmer zu kommen. Ich hatte das Gefühl, als wenn er leicht schmunzelte, hinter meinem Rücken über mich lachte. Ich hätte ja auch besser meinen Mund halten können, statt dieses Spielzeug von einem Wanderwolken-Spiegelbild und meine zusätzlichen Wahnvorstellungen zu besprechen. Ich fühlte jedoch nun, es wäre besser, einfältig dazustehen, als in Zurückhaltung irrsinnig zu werden. Maxe war hereingekommen – wie immer freundlich und hilfsbereit. »Ja, bitte?« fragte er. »Das Bild«, sagte ich. »Das Bild?« fragte Maxe. Aber er setzte sich und nickte. In den einzigen Stuhl. Ich konnte mich nun nur noch auf den Schreibtisch setzen. Die Erwähnung des Bildes hatte Maxe ganz umgewandelt. Sich einfach auf meinen Stuhl zu setzen. Offensichtlich war die Erklärung komplizierter und länglich. Dabei machte Maxe so ein Gesicht. Es änderten sich seine Mienen. Er sah nun eher wie Maximilian aus. »Ja, Dr. Vernon«, seufzte er. »Seine Arbeit ist das.« »Selbst gemalt?« fragte ich. »Schlimmer«, stöhnte Maximilian und schüttelte den Kopf. »Wie hat er denn das mit den Wolken gemacht?« fragte ich so nebenbei, wie ich es nur herbringen konnte. »Haben Sie das auch bemerkt«, meinte Maximilian, nun offensichtlich interessiert. Er blickte sinnend auf das Bild. »Ich hatte immer noch geglaubt, ich könnte mich vielleicht doch geirrt haben.« Maximilian wurde nun fast förmlich. »Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden«, murmelte er und verbeugte sich kurz. Ich konnte der Sache nicht ganz
folgen und mochte deshalb dumm ausgesehen haben. Offensichtlich hatte Maximilian auch um seinen Verstand gefürchtet und war nun befriedigt, daß alles in Ordnung war, zumindest in seinem Kopf. Das Bild jedoch schien mir noch mehr der Erklärung zu bedürfen. Das mochte auch Maximilian gefühlt haben. Nachdem er mich noch einmal abwägend angesehen, meinte er etwas wegwerfend – so schien es mir wenigstens: »Dieser Dr. Vernon, er baute Zeitmaschinen.« »Ja, ganz richtig«, Maximilian fügte das hastig hinzu, als wenn ich wirklich den Einwand gemacht hätte, »solche, wie man sie in den Zukunftsromanen beschrieben findet.« Aber dann schüttelte er langsam den Kopf. »Aber sie funktionierten nicht«, setzte er hinzu. Er sagte es so, als wenn er traurig darüber wäre. »Sie konnten nämlich nicht in die Zukunft gehen – und auch nicht in die Vergangenheit. Vernon brachte es nur zu einer Phasenverschiebung der Gegenwart, einer gewöhnlichen Phasenverschiebung.« Maximilian schaute mich verständnissuchend an. Aber ich mußte so ein Gesicht gemacht haben, wie ich mir bis jetzt gedacht hatte, daß etwa Maximilian schauen würde, wenn ich ihm das von der Phasenverschiebung auftischen würde. Er schien entschieden zu haben, doch eine Klasse tiefer zu gehen. Maximilian räusperte sich und sagte: »Vernon gelang es Bilder zu sehen, die die Gegenwart in einer Alternative zeigten. Die sie so zeigten, wie sie geworden wäre, wenn sich an einem bestimmten Punkt unserer Vergangenheit die Koordinaten von Zeit und Raum anders geschnitten hätten, die Dinge anders entwickelt hätten. Diese Alternati-
ven konnte Vernon auf dem Magnetoplan seiner Zeitmaschine sichtbar machen. So studierte er Alternativen, registrierte sie, kopierte sie.« Maximilian winkte mit einer kleinen Handbewegung zum Bild. »Dies hier ist eine Kopie der Alternative X2/17B, wie darunter zu lesen ist. Durch einen Trick, durch einen heliophotonomen Trick wechseln Beleuchtung, ziehen Wolken und treibt das Gras im Wind.« Ich saß da und wunderte mich, was ein heliophotonomer Trick sein könnte. Aber noch mehr wunderte ich mich über Maximilian. Als ich ihn so Verständnis vortäuschend anstarrte, da sah ich, wie eine wunderbare Veränderung über sein Gesicht ging. Es kam wie ein Leuchten von innen, eine Bestätigung erwarteter wunderbarer Dinge. Langsam hatte er sich aufgerichtet. Nun stand er, zeigte auf das Bild. Langsam wendete ich mein Gesicht und war wie festgebannt, verzaubert. Ich wagte mich nicht zu bewegen. Dort auf dem Bild, im langsam schwingenden Grasmeer war ein Mensch, ein Mann ein Ritter, der auf braunem Pferd herangeritten kam. Er saß nun still, sein Pferd stand. Wir sahen ihn unter uns, weil wir ja über dem Boden, im ersten Stock des Hauses waren. Der Mann hatte die Hand über die Augen gelegt und blickte gebannt hoch. Er blickte auf uns. Er mußte uns sehen. Als wenn Maximilian meine Gedanken gelesen hätte, schüttelte er den Kopf. »Er sieht uns nicht«, meinte er in einer durch die Aufregung rauhen Stimme. »Er kann uns nicht sehen können.« Nachdenklich, zu sich selber, setzte er hinzu: »Es muß die Glasscheibe sein, die an das Magnetfeld pressende
Oberfläche der Glasscheibe. Das Glas mag hier oben in seiner Sonne blinken.« Aber die Ereignisse folgten sich nun rasch. Mit Gedankenschnelle hatte der Ritter einen Pfeil aus dem Köcher am Sattel gerissen, hatte seinen Bogen angelegt, angezogen, abgeschnellt. Es kam ein Krachen, Glasgesplitter. Drunten im Hof war ein Geschrei. Ich sprang auf, eilte ans Fenster. Ilse stand dort mit einem Jungen, den sie am Ärmel festhielt. »Er warf einen Stein hinauf. Ist etwas geschehen?« fragte sie halb lachend. Ich blickte in das Zimmer zurück. Das Bild war verschwunden, wie ausgelöscht. Aus seinem Innern, das tiefer in die Wand zu gehen schien, starrten Drähte, Spulen, Röhren. »Es war ein Junge. Er warf einen Stein«, suchte ich aufgeregt zu erklären. Maximilian nickte, faßte mich fest am Handgelenk, zog mich zum Bild. Da war kein Stein und nur ein paar Splitterchen von all den Glasscherben der großen Scheibe. »Wo ist es alles?« fragte ich bestürzt, verwirrt. Maximilian war gefaßt. Er lächelte. »Es ist zum Ritter in die Alternative gefallen. Der hat nun die Beweise für das Blendwerk, das er in den Lüften sah.« Aber nun änderte sich das Gesicht Maximilians, wurde hart, energisch. »Aber auch wir haben sie«, meinte er kurz. Es war wie Triumph in seiner Stimme. Er ging die drei Schritte hinüber zur anderen Wand, riß einen Pfeil aus der Holzvertäfelung. Der Pfeil war merkwürdig am Schaft entlang mit unbekannten Zeichen verziert und hatte eine silberne Spitze. Maximilian lächelte, mehr zu sich denn zu mir. »Silber ist das Material. Silberatome brechen die Ko-
ordinatengrenze.« Wie ein alter Traum, wie die silberne Freikugel, die den Zauber bricht, so schien es mir. Aber Maximilian schien seiner Sache sicher zu sein. Er nickte mir zu, wie einem Kollegen seiner Wissenschaft: »Silber wird es schaffen, wird wie Neutronen durch die Energiekomplexe schneiden.« »Sie sind Dr. Vernon«, sagte ich. Er nickte. »Maximilian Vernon«, sagte er förmlich und verbeugte sich. Dann deutete er leicht auf das Viereck. Es ist die Zeitenmaschine. Und das war Alternative X2/17B.
Copyright © 1981 by Kurt Karl Doberer Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Irmtraud Kremp KARL Ich gebe zu, daß die ganze Geschichte ziemlich unglaubwürdig klingt, aber der alte Tony hat sie mir selbst erzählt, und solch ein frommer Mann lügt doch nicht, oder? Noch dazu, wo ich ein alter Freund von ihm bin. Das war lange bevor man ihn den Heiligen Antonius nannte und er die Kapelle gebaut hat. Auch seine Tochter Lizzy hab' ich gekannt. Sie muß damals schon an die vierzig gewesen sein, hager und hohlwangig war sie, mit dünnen, strähnigen Haaren, nichts Hübsches dran, ehrlich. Schon deshalb glaube ich die Geschichte. Die stimmt schon, da könnt ihr euch drauf verlassen. Der alte Tony, der hat sein Haus draußen in – na, der Ort tut nichts zur Sache. Wer den Tony kennt, weiß, daß er weit ab vom Dorf wohnt. Er war immer schon ein bißchen merkwürdig. Hielt nicht viel von den Menschen, und an eine Frau kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Aber da war die Lizzy, und so muß er wohl mal eine gehabt haben. Mit der Lizzy hat er da draußen ganz allein gelebt, mit ihr und seinen Hühnern, den zwei Ziegen, den Schafen – und den Bienen natürlich. Die Stöcke haben ganz weit hinten im Garten gestanden. Wenn man auf seine Veranda kam und alles war abgeschlossen, hat man um das Haus herumgehen und ihn rufen müssen. Dann war er bestimmt bei den Bienen. Eigentlich komisch, daß er keinen Hund gehabt hat. Vielleicht mochte er Hunde nicht.
Nun, wo war ich stehengeblieben? Ach ja, also ich hatte den alten Tony seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Muß fast dreißig Jahre her gewesen sein oder so. Damals bin ich zu meiner Schwester nach Colcox gezogen. Wie ich ihn nun wieder traf, da hat er mir zuerst die Kapelle gezeigt, hinten auf seinem Grundstück. Sehr schön, sehr stabil und mit einem richtigen kleinen Glockenturm. Später haben wir dann zusammengesessen und Tonys Beerenlikör getrunken. Und da hab' ich ihn nach der Lizzy gefragt. Ich wünschte sofort, ich hätte es nicht getan. Jede Runzel in seinem Gesicht hat traurig ausgesehen. Ich hab' gleich gemerkt, daß was nicht stimmte. Anfangs hat er nicht mit der Geschichte rausrücken wollen. Hab' ihn aber nicht gedrängt. Wir tranken noch ein paar Gläschen Likör, und danach hat er ausgepackt. Kann gut verstehen, daß er sich erst nicht traute. Es muß passiert sein, kurz nachdem ich weggezogen bin. So eine richtige ekelhafte Gewitternacht war es. Die Lizzy wollte gerade zu Bett gehen, und der alte Tony sorgte sich um die Bienen, ob der Regen ihnen nicht schaden könne. Es hat geblitzt und gekracht, und der Sturm hat geheult, und dann bebte das Haus plötzlich, als ob es aus dem Boden gerissen würde. »Es hat eingeschlagen«, hat der Tony gesagt, und die Lizzy hat versucht, durch das Fenster zu sehen, aber sie konnte nichts ausmachen außer dem Regen und den Blitzen. Der Fußboden hat gezittert wie ein anspringender Motor. »Da stimmt was nicht, Vater«, hat die Lizzy gesagt, und sie hat sich ein Umschlagtuch übergeworfen und ist vor die Tür gegangen. Die Vorhänge sind hochgeflogen von dem Windstoß, der hereinfuhr. Der alte Tony ist natürlich
sofort hinterhergelaufen. Damals war er noch sehr rüstig. Nie hätte er die Lizzy allein in den Sturm hinausgehen lassen. Zuerst haben sie überhaupt nichts gesehen. Es goß immer noch in Strömen. Aber ein paar Schritte weiter wäre die Lizzy fast abgerutscht. Nicht der schlammigen Erde wegen – nein, nein! Stellt euch vor: Der Boden fiel auf einmal senkrecht nach unten! Der alte Tony hat die Lizzy gerade noch packen können oder sie wäre glatt abgestürzt. Als sich beide von dem Schrecken etwas erholt hatten, sind sie ins Haus gegangen und haben eine Taschenlampe geholt, und dann konnten sie erst sehen, was da draußen eigentlich los war. Und da gab's schon was zu sehen, das könnt ihr mir glauben! Wo vor einer Stunde, als es dunkel wurde, noch der Gemüsegarten gewesen ist, da gähnte jetzt ein Loch, ein Krater, so etwa zehn Meter breit und mindestens vier Meter tief. »Mein Gott!« hat der Tony gesagt, und das war keine Lästerung, denn er hat es ehrlich gemeint. Der Tony gebrauchte solche Worte nicht gern. Und die Lizzy hat geschrien: »Was ist das? Was ist das da unten?« Na, und da hat der Tony es auch gesehen, sowas Großes, Rundes, Metallisches. Es füllte das ganze Kraterloch aus. Natürlich war es nicht blank, sondern voller Schlamm und Lehm – und mit ausgerissenen Kohlköpfen bedeckt. Überall lagen Kohlköpfe! Deshalb haben die beiden zuerst auch ein gewisses Etwas nicht beachtet. Sie glaubten, es sei ein Lehmklumpen – bis es sich bewegte. Und dann haben sie auch schon das Stöhnen gehört. Sinn hat das alles zwar immer noch nicht gemacht. Aber der alte Tony wußte sofort,
daß er helfen mußte. Es konnte ja eines der Schafe sein. Es war ziemlich schwierig gewesen, die Leiter hinunterzulassen, und die Lizzy brachte aus der Scheune ein Seil. Sie hat dann die Lampe gehalten, während der Tony nach unten gestiegen ist. Und so haben sie ihn raufgeholt – den Kankamulakka. Was das ist? Na, das habe ich den alten Tony natürlich auch gefragt, und er hat gesagt, ganz genau wisse er es nicht, aber es sei sowas wie ein Mensch, der nicht auf der Erde geboren ist. Einen Tag hat es gedauert, bevor er zu sich kam – und das Gewitter war natürlich lange vorbei. Die Lizzy hat ihm das Blut aus dem Gesicht gewaschen und die kleinen Stümpfchen auf seinem Kopf verbunden, wo irgendwas abgebrochen war – und sie hat ihn rasiert. Sein Bart ist nämlich voller Lehm und mit Öl verkleistert gewesen. Er ist aber sehr schnell wieder nachgewachsen und war anders als jeder Bart, den der Tony je gesehen hat – weißgrau und weich wie Flaum und flauschig wie das Fell eines Teddybären. Damit war das ganze Gesicht und der Kopf überzogen, nur die Augen haben herausgeschaut. Doch länger als einen Zentimeter sind diese komischen Haare nie geworden. Der alte Tony hat immer an Weidenkätzchen denken müssen, wenn er ihn sah. Aber das war natürlich viel später. Während die Lizzy den Kankamulakka pflegte, hat der Tony draußen im Garten die Kohlköpfe, die man noch verwerten konnte, in einen Korb gesammelt, und dann hat er sich das Metallding unten in dem Loch mal angesehen. Es mußte ein Flugzeug oder sowas sein, das wußte er sofort, aber fliegen konnte
da keiner mehr mit. Es war völlig zerbeult. Und weil der Tony nicht wollte, daß irgendwer dumme Fragen stellte, hat er es erst mal mit Erde zugedeckt. Als ob er es geahnt hätte: Zwei Tage drauf ist der Kaufmann aus dem Dorf gekommen, um Honig zu kaufen. Er fragte gleich, was das für ein riesiges Loch im Garten sei. Da hat der Tony erklärt, er hätte es ausgebuddelt, um einen See anzulegen, und das hat er dann später auch getan. Das Flugzeug des Kankamulakka ließ er einfach auf dem Grund liegen – und da liegt es noch, wie er sagt. Was den alten Tony und die Lizzy am meisten überraschte, war, daß der Kankamulakka nicht sprechen konnte. Nicht als ob er in einer fremdländischen Sprache geredet hätte – er konnte überhaupt nicht sprechen! Er hat aber verstanden, daß man es gut mit ihm meinte. Es ist ihm eigentlich schnell wieder besser gegangen – bis auf die beiden Stümpfchen auf seinem Kopf. Die haben noch lange geblutet. Und darüber war der Kankamulakka sehr unglücklich. Denn, was da abgebrochen war, mußte sowas wie Fühler gewesen sein – so stellte es sich zumindest der Tony vor – wie er sie von den Bienen her kannte. Viel später, als der Kankamulakka sprechen gelernt hatte – aber er hat nie richtig reden können wie andere Menschen – da hat er dem Tony und der Lizzy erzählt, daß da, wo er herkäme, schon lange niemand mehr mit dem Mund spräche, den brauchte man nur, um zu essen. Alle Leute trügen Antennen auf dem Kopf, und wenn seine nicht abgebrochen wären, hätte er seinen Freunden Bescheid geben können, von denen öfter welche die Erde umflögen. Aber so war nichts zu machen. Solche Antennen wüchsen niemals
nach. Ist ja logisch, nicht? Arme und Beine tun das doch auch nicht. Deshalb hat der Kankamulakka auch nichts dagegen gehabt, sprechen zu lernen. Wie hätte er sich sonst unterhalten können? Als er bis hierher erzählt hatte, ist der Tony aufgestanden, hat mir den Arm um die Schulter gelegt und mir in die Augen geschaut. »Er war ein netter Kerl, unser Karl, das glaubst du doch auch, oder?« fragte er. – »Ja, ja, sicher«, hab' ich gesagt, »aber wer ist Karl?« – Der alte Tony war ganz erstaunt. Er hatte gemeint, er hätte mir schon erzählt, daß sie den Kankamulakka Karl genannt hätten. Schließlich mußten sie ihm doch einen christlichen Namen geben, jetzt da er nie wieder in seine Heimat zurückkonnte – so ohne Antennen. Die Lizzy hat ihm eine kleine Kappe gestrickt, damit man die Stümpfchen nicht sah, und sie hat ihm eine Joppe und ein Paar Hosen von ihrem Vater umgeändert. Er soll ganz manierlich ausgesehen haben. Ein bißchen kleiner und schmaler als andere Menschen, das schon, mit dünnen Armen und Beinen, und da war natürlich auch das seltsame Fellhaar, und die Augen waren viel größer als man es gewohnt ist. Aber die Lizzy und der Tony haben ihn furchtbar gern gehabt – besonders die Lizzy. »Charly«, hat sie immer gesagt, »Charly, du bist süß.« Und wie der Tony sagt, hat der Kankamulakka die Lizzy auch gemocht. Er hat also die Lizzy geheiratet. Doch, wirklich! Ich hab' mich ja auch gewundert, daß er sie genommen hat. Aber er hat natürlich keine anderen Frauen kennengelernt – und wer weiß, wie die in seiner Heimat aussehen. Doch fragt mich nicht, wie das mit den Heiratspapieren war. Ich hab' keine Ahnung. Davon
hat der alte Tony nicht gesprochen. Der hat auf einmal geweint. Er hat sich die Nase geschneuzt und mich wieder gefragt: »Du glaubst doch auch, daß er ein ordentlicher Kerl war, unser Karl? Du glaubst doch nicht, daß ich ihm sonst die Lizzy gegeben hätte, oder?« Und dann hat er gesagt: »Oder denkst du, er hat sie aus Berechnung geheiratet?« – Ich wußte nicht, was er meinte. Aber als er weitererzählte, habe ich begriffen. Ein Jahr später hat die Lizzy nämlich ein Kind bekommen – einen Jungen. War ja schon ein bißchen spät für die Lizzy – in ihrem Alter, meine ich. Aber alles ist glatt gegangen. Ben haben sie den Kleinen genannt. War ein merkwürdiges Kind. Der Junge hatte doch wahrhaftig winzige Antennen auf dem Kopf! Die Lizzy war zuerst ziemlich schockiert, doch der Kankamulakka hat sie getröstet und gesagt, das sei ganz normal, da wo er herkäme, sähen alle Kinder so aus. Nun, er mußte es wissen, hatte ja selbst mal Antennen gehabt. Und so hat die Lizzy auch nichts gesagt, als dem kleinen Ben schon bald diese komischen weichen Haare im Gesicht gewachsen sind. Aber das Tollste kommt erst noch: Als er drei Jahre alt war, konnte der Junge nicht nur sprechen wie ein Zehnjähriger, sondern war verständig und klug, und Karl, sein Vater – ihr wißt doch, der Kankamulakka – hat ihm erklärt, wie man die Kopfantennen gebraucht. Der alte Tony ist nicht recht klug draus geworden. Aber der kleine Ben hat es schnell begriffen. Und was denkt ihr? Bald darauf hat er doch wahrhaftig die Freunde seines Vaters herbeigerufen. Und was dann? Das war ja das Schreckliche für den alten Tony. Sie sind alle fortgeflogen in einer die-
ser runden Maschinen: der Kankamulakka, die Lizzy und der kleine Ben. Aus – fort! Darüber kommt der alte Tony nicht hinweg. Seit all den Jahren fragt er sich, ob der Kankamulakka die Lizzy nur geheiratet hat, damit er wieder nach Hause könnte. Er hat die Lizzy nie wiedergesehen, wißt ihr. Das ist schwer für so einen Alten, noch dazu wenn er ganz allein lebt. Im Dorf hat man nur gewußt, daß sie mit ihrem Mann weggezogen sei. Gekannt hat ihn keiner. Der Pfarrer, der sie getraut hat, muß von auswärts gewesen sein. Der Tony hat bald darauf im Garten die Kapelle gebaut und jeden Abend die Glocke geläutet. Niemand hat gewußt warum, und sie haben angefangen, ihn den Heiligen Antonius zu nennen, aber gedacht haben sie, er sei wirr im Kopf. Doch das ist er nicht. Er ist ein frommer Mann, und deshalb glaube ich die Geschichte auch. Ihr könnt euch darauf verlassen, daß sie wahr ist. Wer sonst hätte die Lizzy heiraten sollen? Und sicher ist sie glücklich geworden mit ihrem Karl – da oben irgendwo.
Copyright © 1981 by Irmtraud Kremp Mit freundlicher Genehmigung der Autorin
Günter Zettl DEZEMBERNACHT I'm looking at the river. But I'm thinking of the sea. (Randy Newman) Es muß an der Luft liegen, dachte Hagner müde, während er rechts abbog und sich dem Einkaufszentrum näherte, einem modernen, langgestreckten Bau. Oder am Wasser. Oder an dem Zeug, das sie ins Essen reinstopfen. Auf dem asphaltierten Platz vor dem Haupteingang des Großmarkts parkten einige Fahrzeuge, darunter zwei Funkstreifen und eine Ambulanz, deren Blaulicht eingeschaltet war. Menschen standen in mehreren kleinen Gruppen untätig beieinander. Hagner bremste etwa zwanzig Meter entfernt, schaltete Motor und Scheinwerfer aus und blieb noch eine Sekunde mit geschlossenen Augen sitzen, ehe er die Tür öffnete. Die schneidende Kälte schlug ihm hart ins Gesicht, vertrieb für einen Moment die bohrenden Kopfschmerzen. Minus fünfzehn Grad, erinnerte er sich vage an einen Wetterbericht im Radio. Er zog seinen Mantel vom Beifahrersitz und schlüpfte rasch hinein. Schuhlig kam ihm hustend entgegen. »Morgen, Chef. Sie sind leider zu spät dran.« »Bin im Verkehr stecken geblieben«, erwiderte Hagner mürrisch. In seiner Kehle brannte ein entsetzlicher Durst. Er verwünschte den unseligen Tag,
an dem er sich entschlossen hatte, in seinem Wohnzimmerschrank ein Sortiment mehr oder weniger harter Getränke einzurichten. »Was war los? Die Sekten?« »Wie gewohnt. Die Erlösungskirche Petri hatte hier eine ihrer transportablen Fertigbaukapellen aufgestellt. Das paßte den Jüngern des Letzten Tages offenbar nicht in den Kram.« »Tote? Verletzte?« »Keine Ahnung.« Hagner blieb stehen und furchte ärgerlich die Stirn. »Was soll das heißen? Ja oder nein?« Schuhlig hustete. Dann sagte er: »Ich weiß es nicht. Die Geschäftsführerin des Großmarkts« – er deutete auf eine Frau Anfang fünfzig, die sich mit einigen Angestellten unterhielt – »sagt, daß sie mit Schlagringen und Fahrradketten aufeinander losgingen. Sie hat die Polizei alarmiert, aber als die Funkstreifen eintrafen, war die Schlacht schon vorbei. Die Jünger waren geflohen, und die Petrus-Anhänger luden sich die Trümmer ihrer Kapelle und ein paar Bewußtlose auf die Schultern und zogen singend ab. Ich kam ein paar Minuten später mit dem Taxi, direkt vom Frühstückstisch.« Hagner hatte sich bereits gewundert, daß er keine Spuren des Kampfes entdecken konnte. Er fror und fühlte sich wie gerädert, weil er in der Nacht kaum geschlafen hatte. Und dieser gräßliche Streit mit Ella gestern abend, nach dem er sich vollaufen ließ, dieser unrühmliche Höhepunkt eines seit längerem schwelenden Konflikts: Seine Erinnerung daran war verschwommen, silhouettenhaft, als läge sie unter einem dunklen Schleier verborgen. Was war eigentlich ge-
schehen? Während er vergeblich versuchte, die Lükken seines unvollständigen Gedächtnisses zu füllen, beobachtete er die weißen Wölkchen, die Schuhlig beim Ausatmen aus dem leicht geöffneten Mund blies. Sie gingen weiter, und Hagner winkte einen der uniformierten Polizisten zu sich. »Konnten Sie sie nicht aufhalten?« fragte er. »Aufhalten?« Der Beamte schien nicht sofort zu verstehen, was er meinte. Dann erhellte sich seine Miene. »Ach, die Petrus-Anhänger. Natürlich versuchten wir, sie zum Bleiben zu bewegen, aber sie reagierten einfach nicht.« Zum Bleiben zu bewegen, wiederholte Hagner sarkastisch in Gedanken. Der Polizist trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, emsig bemüht, sein und seiner Kollegen Verhalten in ein besseres Licht zu setzen. »Sie schienen in Trance zu sein. Sie beachteten uns überhaupt nicht, sondern sangen bloß ihre Psalmen und marschierten davon. Es waren weit über hundert, und ...« »Schon gut.« »... ich glaube, nicht einmal unter Androhung von Waffengewalt wären wir ...« »In Ordnung!« sagte Hagner gereizt. »Sie können gehen. Schuhlig, wie heißt die Geschäftsführerin?« »Mühlvogel. Lustiger Name, was?« Hagner berührte seine Armbanduhr, worauf diese die Zeit ausrief. 7 Uhr 15. Erst vor wenigen Minuten war es hell geworden. Wolken, die wegen der immensen Kälte keine Hoffnung auf Schnee machten, überzogen den Himmel in einer eintönig grauen Schicht. Ein trister Anblick. Ein deprimierender Beginn eines deprimierenden Tages.
Die Geschäftsführerin, eine große, schlanke Frau mit dezent geschminkten Lippen und Augenbrauen und rosa gefärbten Augäpfeln, erwies sich als sehr gesprächig, trotz ihrer Beteuerungen, daß ihr, vor allem jetzt in der Vorweihnachtszeit, die Arbeit über den Kopf wachse und die Zeit zwischen den Fingern zerrinne. Sie erwähnte, daß sie der Erlösungskirche Petri sehr wohlwollend gegenüberstand; aus diesem Grund, und weil sie nicht befürchtete, daß sich Kunden gestört fühlen könnten, erhob sie keinen Einwand, daß die Gläubigen hier auf dem Parkplatz eine Messe zelebrierten und später Fotos des Sektengründers Petrus – »Der Mann hat eine charismatische Ausstrahlung, die einem so richtig unter die Haut geht« – zu verteilen beabsichtigten. Etwa um dreiviertel sieben, dreißig Minuten nach ihrem Kommen – »Die viele Arbeit!« – machte sie ein Angestellter auf den Tumult aufmerksam, der vor dem Einkaufszentrum ausgebrochen war. Sie überzeugte sich mit eigenen Augen von den Kämpfen zwischen PetrusAnhängern und den schwarz uniformierten Jüngern des letzten Tages, dann telefonierte sie sofort mit der Polizei und verständigte zur Sicherheit auch gleich die Rettung. Während Frau Mühlvogel das erzählte, erlosch wie auf ein Stichwort das kreisende Blaulicht der Ambulanz, die nicht benötigt worden war. Das Fahrzeug, eine VW-Sonderanfertigung, überquerte den Parkplatz bis zur Straße, wo es sich in den Verkehrsstrom eingliederte. Die Geschäftsführerin schloß unterdessen ihren Bericht mit dem Hinweis, daß der Großmarkt um 7 Uhr 45 seine Pforten öffnete und bald die ersten Kunden kommen würden – ein Wink mit dem Zaunpfahl, daß sie keine Zeit mehr hatte.
»Ich nehme an, Sie wollen keine Anzeige erstatten?« fragte Hagner. »Ich? Ich wüßte nicht ... Es wurde ja kein Schaden angerichtet, und außerdem ... Wenn auf meine Veranlassung hin einige Jünger verhaftet werden, rächen sich die anderen vielleicht – Sie kennen doch diese Sekte.« Hagner kannte sie, die Jünger des Letzten Tages, und auch die anderen Religionsgemeinschaften, die, in der Hauptsache von Amerika ausgehend, jetzt auch in Europa ihr Unwesen trieben: pseudoreligiöse Fanatiker, die für sich das Recht in Anspruch nahmen, vom einzigen und wahren Glauben beseelt zu sein, die singend und betend durch die Straßen zogen, den Verkehr stoppten, Passanten belästigten und, was vor allem auf die Jünger zutraf, rasch eine Prügelei vom Zaun brachen, wenn sie auf eine rivalisierende Gruppe stießen. Eines hatten diese von Propheten und Erleuchteten, Heilsbringern und Inkarnationen Gottes, Aposteln und schlichten Predigern verkündeten Lehren gemeinsam: sie prophezeiten übereinstimmend den bevorstehenden Weltuntergang, meist für die Silvesternacht. Und je näher der 31. 12. 1999 rückte, desto mehr Zulauf erhielten die Sekten. Sogar intelligente und, wie man meinen sollte, vom Mystizismus unbeeindruckbare Menschen wie die Geschäftsführerin des Einkaufzentrums schienen sich ihrer Faszination nicht immer entziehen zu können. Hagner fühlte es kalt über seinen Rücken rieseln, wenn er sich den ausgeflipptesten Jahreswechsel aller Zeiten vorzustellen versuchte: feuchtfröhliche Feiern, alkoholisierte Autofahrer, närrisches Treiben die ganze Nacht hindurch, das eher in den Fasching passen
würde, Feuerwerkskörper, die ohne behördliche Genehmigung abgeschossen wurden, und all die anderen Verrücktheiten, wenn sich das Land für ein paar Stunden wie toll aufführte. Und natürlich Sonderschichten für alle Polizeibeamte, die von vornherein auf verlorenem Posten stehen würden. Und wer konnte sagen, was sich die Sekten alles einfallen ließen, um das hysterische Chaos auf die Spitze zu treiben? Anscheinend entsprach es einem Grundbedürfnis vieler Menschen, das Denken einzustellen und ihrem Herdentrieb freien Lauf zu lassen. Die Welt richtet sich selber zugrunde, dachte Hagner resigniert. Die Jahrtausendwende, die Wahnsinnssekten, dazu die Schwierigkeiten mit den Giftticks und dem Aggressionsbazillus. Und zu allem Überfluß drohte nun auch seine Beziehung zu Ella nach – wie vielen? drei? nein – vier im großen und ganzen glücklichen Jahren endgültig zu zerbrechen. Gestern abend ... was war geschehen? Er strengte sich vergeblich an, der Nebel, der seine Erinnerung überschattete, hob sich nicht. Doch er wußte, daß er sich heute in Gedanken oft mit Ella beschäftigen würde: Erinnerungen an früher, Träume, wie es auch jetzt noch sein könnte, wenn nicht ... – und eine unterschwellige Furcht vor der nächsten Konfrontation. »Brauchen Sie mich noch?« fragte Frau Mühlvogel. Hagner schüttelte zerstreut den Kopf und schaute ihr nach, wie sie in die Wärme des mit unzähligen Glühbirnen und Tannenzweigen geschmückten Einkaufzentrums zurückkehrte. »Tja, tut mir leid, daß ich Sie herrufen ließ, Chef«, meinte Schuhlig, der sich wieder zu ihm gesellt hatte. »Aber als ich die Meldung von der Schlacht erhielt,
dachte ich, es handelt sich diesmal um etwas Größeres.« Hagner ging nicht darauf ein. »Schicken Sie die Funkstreifen weg. Sie können in meinem Wagen mitfahren.« Im Hinblick auf die Promille zuviel, die er intus hatte, überließ er Schuhlig das Steuer. Der Verkehr, der sich zäh ins Stadtzentrum wälzte, war noch dichter geworden. Eingezwängt zwischen einem Autobus und einem Lieferwagen schlichen sie manchmal nur im Schrittempo vorwärts, dann hielt die Kolonne überhaupt an. Hagner schob die Regler der Heizung zurück. Das Radio schaltete sich automatisch ein und warnte vor dem Stau, verursacht durch einen Verkehrsunfall in der Luxemburger Straße. Die Auspuffrohre spien graue Rauchwolken in die eisige Luft, um sie noch mehr zu verpesten. Kopfschmerzen und ein Schuldgefühl, das er sich nicht erklären konnte, plagten Hagner und versetzten ihn, je länger sich die Wartezeit dehnte, in Wut. »Dieses verfluchte billige Synthobenzin!« stieß er hervor. »Stellen Sie sich vor, wir wären noch immer vom Erdöl abhängig. Dann würden mehr Leute die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Aber so ist alles beim alten geblieben. Keiner will auf sein Auto verzichten, schon um es den Arabern heimzuzahlen. Daß aber die Abgase den dreifachen Gehalt an Schadstoffen aufweisen, das läßt die meisten kalt.« Schuhlig hustete, verlegen, wie es schien. Es war so deprimierend. Vor ihnen setzte sich der endlose Blechwurm wieder in Bewegung. Die weitere stockende Fahrt ins Präsidium verlief schweigend, abgesehen von
Schuhligs gelegentlichem Husten und etlichen Verkehrsdurchsagen im Radio. And they hide their faces And they hide their eyes ›Cause the city's dyin'‹ And they don't know why. (Randy Newman) Der Vergleich faszinierte Hagner. Er sah sich in der Rolle eines Mannes, der sich die Aufgabe gestellt hatte die Flut aufzuhalten. An der Grenze zwischen Land und See füllte er einen Eimer mit Wasser, watete ein paar Meter ins Meer hinaus und entleerte ihn. Dann kehrte er zurück, schöpfte erneut Wasser in den Eimer, und die ganze Prozedur wiederholte sich, einmal, zehnmal, hundertmal. Er arbeitete mit einer Ausdauer, die eines Sisyphus würdig wäre, kämpfte auf einsamem Posten wie besessen gegen den rasch steigenden Meeresspiegel. Die Wellen leckten bereits an seinen Knien, dann an der Hüfte, doch der Mann gab nicht auf, wollte sich seine Niederlage nicht eingestehen. Zuletzt verlor er den festen Grund unter den Füßen, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als mit dem Strom zu schwimmen – oder unterzugehen. Auch Hagner stemmte sich sinnlos gegen die Flut. Gegen eine Flut der Gewalt, die die Erde überschwemmte und die Menschen entweder erstickte oder mit sich riß. Der Aggressionsbazillus ... »Hör dir das an«, sagte Großmair. Hagner schreckte auf. Seit Minuten starrte er mit im Nacken verschränkten Fingern zum geweißten Plafond hinauf, durch den, ausgehend von der Wand
zu seiner Linken, ein gezackter Riß verlief, der sich in zwei parallele Äste spaltete und über seinem Sessel endete. Hagner wandte seinen Blick ab. Die nüchterne Realität des kleinen Büros – zwei Schreibtische, ein Computeranschluß, eichenholzfurnierte Aktenschränke, in der Ecke ein Waschbecken mit Spiegel – verdrängte die Subjektivität seiner Tagträume. »Da macht ein unbescholtener Mann, Professor an einem Gymnasium, einen Abendspaziergang«, fuhr Großmair fort, der mit kleinen, humorvollen Augen den Einsatzbericht einer Funkstreife studierte. »Plötzlich schreit er wie ein Wilder auf, stürzt sich von hinten auf eine Frau, reißt sie an den Haaren herum und donnert ihr die Faust ins Gebiß. Und willst du wissen, was er als Motiv angibt?« »Hm?« »Du wirst es nicht glauben. Einfach lächerlich. Komplett übergeschnappt.« »Na was denn?« brummte Hagner. Er liebte es nicht, auf die Folter gespannt zu werden. Wenigstens spürte er die Kopfschmerzen nicht mehr, seit die Wirkung des Aspirins eingesetzt hatte. »Die Frau war eine flüchtige Bekannte des Professors, war aber an ihm vorübergegangen, ohne ihn zu grüßen. Der Professor hielt es deshalb für durchaus gerechtfertigt, daß er ihr diesen Denkzettel verpaßte. Komisch, was?« Komisch? Hagner schüttelte unmerklich den Kopf. Er konnte diese Auffassung beim besten Willen nicht teilen. Er fand den Vorfall eher traurig, beschämend – und symptomatisch für diese letzten Tage des zwanzigsten Jahrhunderts, an denen die ganze Welt den Ver-
stand verlor. Auch auf seinem Schreibtisch stapelten sich Protokolle, und sie trugen nicht dazu bei, seine schlechte Laune zu verbessern. Vor ihm lag die Essenz einer einzigen Nacht: Gewalt, Totschlag, Selbstmord, Mord, in allen möglichen Ausprägungen und Varianten. Innerhalb weniger Stunden ereigneten sich mehr Verbrechen als vor einem Jahrzehnt während einer ganzen Woche angefallen waren. Praktisch in allen Staaten der Erde schnellte die Anzahl krimineller Vergehen sprunghaft in die Höhe, ein Phänomen, das von der Presse gierig aufgebauscht wurde und unter dem Stichwort ›Aggressionsbazillus‹ für Schlagzeilen sorgte. Die Leute drehten durch, abrupt, ohne irgendeine Vorwarnung, sie demolierten Wohnungen und Geschäfte, griffen grundlos Freunde und wildfremde Personen an, liefen Amok oder versuchten, ihren Leben ein Ende zu bereiten. Hinterher befragt, wußten sie entweder nicht, was sie zu ihrer Tat veranlaßt hatte, oder sie fühlten sich – wie dieser Professor – moralisch im Recht. Lustlos spannte Hagner ein Formblatt in die Schreibmaschine. Kein Wunder, daß die Medien den zuständigen Behörden Laxheit vorwarfen, wenn allein der Papierkram einen Großteil der Dienstzeit beanspruchte ... Unterdessen hatte Großmair eine Lade seines Tisches geöffnet und eine Wurstsemmel, einen Apfel und eine Zeitung hervorgeholt. »Zeit für eine Pause«, meinte er. Er schlug den Sportteil auf, überflog die Ergebnistafeln der Skirennen und legte die Zeitung wieder beiseite. Er wickelte die Semmel aus der Silberfolie. »Dein Arbeitseifer läßt heute auch zu wün-
schen übrig«, tadelte er. Hagner schob die Schreibmaschine zurück, dankbar den Vorwand aufgreifend, daß ihn Großmair in den nächsten Minuten ohnehin von jeder konstruktiven Tätigkeit abhalten würde. Durch das Fenster hinter ihm drang gedämpft der Lärm der Autos, die fast ununterbrochen die Straße zwei Stockwerke tiefer passierten. »10 Uhr 23«, rief seine Uhr, als er sie unabsichtlich berührte. »Wie geht's deiner Frau?« fragte Großmair. »Sie ist nicht meine Frau. Wir sind nicht verheiratet.« »Ach ja, ach ja. Die verlogene Institution der Ehe, dieser patriarchalische Unterdrückungsmechanismus, die spießbürgerlichen Moralvorstellungen ...« Seine Stimme ätzte, sie traf Hagner an einem wunden Punkt. »Was macht sie so die ganze Zeit? Organisiert sie Lesekreise für Marx und Engels? Leitet sie eine Frauengruppe für arme, geschändete Opfer der kapitalistischen Gesellschaftsform? Demonstriert sie mit ehemaligen Studienkollegen? Oder wurde sie inzwischen erwachsen, kocht brav dein Essen und ist dir eine fürsorgliche ... äh ... Lebensgefährtin?« Großmair kaute schmatzend und grinste ihn an. Hagner erhob sich wortlos, ging zum Waschbecken in der Ecke und drehte den Hahn auf. Im Spiegel blickten ihm trübe, lethargische Augen entgegen. Sein Gesicht war eingefallen und grau, es sah alt aus, und so fühlte er sich auch. Im Februar 47, dachte er. Vorausgesetzt, Petrus – wie lautete eigentlich sein richtiger Name? – und die anderen Propheten des Untergangs irrten sich. Hagner lauschte in sich hinein, forschte nach den Spuren, die die Jahre hinterlassen
hatten. Die Flamme der Jugend brannte nicht mehr in seiner Brust, und auch das warme Gefühl in seinem Herzen, wenn er an Ella dachte, stellte sich nicht mehr ein. Und doch glaubte er sie zu lieben, er brauchte sie, weil sie ihm Halt gab, sie mit ihren spontanen Einfällen, ihrer jugendlichen Lebendigkeit, ihrem Elan. Sie hatte von Trennung gesprochen ... Mein Gott, das meinte sie doch nicht im Ernst? Eine Sekunde lang hoffte (oder fürchtete?) Hagner, daß seine Erinnerung an den gestrigen Abend zurückkehrte, daß er nur zugreifen und sie aus dem Dunkel des Vergessens ziehen mußte – dann war der Augenblick verstrichen, und es verblieben Enttäuschung und ein leises Gefühl der Schuld. Zögernd streckte er die Hände aus und hielt sie unter den kalten Wasserstrahl. Tropfen spritzten in alle Richtungen. »Wenn ich du wäre, würde ich sie zu einer Heirat überreden.« Großmair biß knirschend in den Apfel. »Ja, wirklich, ihr solltet heiraten«, sagte er mit vollem Mund, grübelnd. »Das würde sie mehr an dich binden. Du mußt auch an den Altersunterschied denken. Vierundzwanzig Jahre, nicht wahr? Früher oder später bist du ihr zu alt, und sie wird sich einen jüngeren suchen. Vielleicht würden sie die Schwierigkeiten einer Scheidung davon abhalten.« Seiner ›der typisch männlichen Arroganz entspringenden‹ (wie Ella es ausdrücken würde), völlig irrelevanten Ratschläge überdrüssig, rieb Hagner die Hände an der Hose trocken und sagte, um das Gespräch endlich in andere Bahnen zu lenken: »Gibst du mir mal die Zeitung?« Allein die Titelseite konnte einen das Fürchten leh-
ren. Explosion einer Synthobenzinraffinerie in Norddeutschland: Muß Hamburg evakuiert werden? Tausende Tote bei blutigen Unruhen in China. Augenzeugenbericht: Ich überlebte ein südafrikanisches Konzentrationslager (Seite 4). Brutaler Bürgerkrieg in Sizilien greift auf die Halbinsel über; ein Exklusivbericht von unserer italienischen Sonderkorrespondentin. Aggressionsbazillus: Interview mit Dr. Kostinew (Seite 6). Es wurde immer schlimmer. Der Niedergang der Zivilisation hatte längst eine Eigengesetzlichkeit entwickelt; wie eine Lawine, die einmal losgetreten, unaufhaltsam ins Tal donnert, steuerte die Menschheit, anfangs langsam, jetzt immer rascher, auf den letzten, entscheidenden Knall zu. Vielleicht würde sie sich hinterher wie Phönix aus der Asche erheben, gereinigt, geläutert, gewillt, die Fehler der Vergangenheit nicht wieder zu begehen. Vielleicht. Bis dahin jedoch mußte man versuchen, sein Leben zu führen, so gut es die herrschenden Umstände erlaubten, sein bescheidenes persönliches Glück zu suchen und Leid und Tränen anderer möglichst bald zu vergessen. Mit dem Strom schwimmen oder untergehen – eine andere Alternative gab es nicht. »Was schreiben sie über den Aggressionsbazillus?« unterbrach Großmair seine Überlegungen. Hagner blätterte weiter bis zur Seite 6. »Ein Interview mit einem Dr. Kostinew. Russischer Dissident. Er behauptet, daß den sowjetischen Genbiologen schon mehrmals manipulierte Viren ins Freie entwischten. Könnte sein« – er las die entsprechende Textstelle – »daß es tatsächlich einen künstlich er-
schaffenen Aggressionsbazillus gibt.« »Aber man hat bisher nichts gefunden?« »Nein.« »Glaubst du daran?« Hagner schaute auf, ernst, beinahe feierlich. »Ich glaube, daß es an der Luft liegt«, sagte er gedehnt. »An der Luft, am Wasser, am Essen, was wir halt zum Leben brauchen. Alles ist vergiftet, verseucht, schädlich. Wir sind so sehr an unsere verschmutzte Umwelt gewöhnt, daß wir den Dreck um uns herum kaum noch bemerken.« Ein Mensch des Jahres 1950, durch Hexerei oder eine Zeitmaschine in unsere Gegenwart versetzt, würde sich über die stinkende Luft, den seltsamen Geschmack des Wassers, das mattere Grün der Pflanzen sehr wundern, ergänzte er in Gedanken. »Wir tragen die Schadstoffe von der Zeugung an in unseren Körpern. Sie häufen sich an, bis eine kritische Dosis überschritten wird und das Gehirn einen Defekt erleidet. Bei manchen ist das zur Zeit der Fall, und sie drehen durch ...« Er wollte noch mehr hinzufügen, aber in diesem Augenblick explodierte die Bombe. Ein gewaltiger Donnerschlag rollte über sie hinweg. Die Scheiben klirrten, und Hagner glaubte ein leichtes Beben zu spüren. Großmair lief an ihm vorbei zum Fenster und riß es auf. Eiskalte Luft flutete herein, vermischte sich mit der warmen innerhalb des Gebäudes. Großmair beugte sich weit hinaus. Als er den Kopf zurückzog, war seine gesunde, rötliche Gesichtsfarbe einer pergamentenen Blässe gewichen. »Das muß im Stadtpark gewesen sein«, stieß er ächzend hervor. »Ein Giftick!«
Did you ever let your lover see the stranger in yourself? (Billy Joel) Daß er Ella vor vier Jahren kennenlernte, bedeutete eine markante Zäsur für Hagners Leben. Es schmeichelte seinem Selbstwertgefühl, sie, die neunzehnjährige Soziologiestudentin, in sich verliebt zu wissen, obwohl er die Intensität ihrer Zuneigung anfangs nicht ernst nahm. Junge Leute verlieben sich rasch, dachte er damals, weil sie noch nicht ahnen, was wirkliche Liebe ist. Wahrscheinlich, so bastelte er sich eine tiefenpsychologische Erklärung zurecht, wahrscheinlich ähnelte er ihrem Vater oder einer anderen wichtigen Bezugsperson aus ihrer Kindheit, und diese vage Ähnlichkeit, der sie sich selbst nicht bewußt wurde, war der wahre Grund, warum sie ihn so anziehend fand. Hagner störte sich nicht daran; er beabsichtigte nicht mehr als einen kurzen Flirt, wollte nur ein- oder zweimal mit ihr schlafen, um vor seinen Freunden mit seiner Männlichkeit, seiner Potenz protzen zu können. Doch es kam anders als erwartet. Ella ergriff vom ersten Augenblick an die Initiative. Sie kündigte ihre Untermiete und richtete sich schon drei Tage nach ihrem ersten, zufälligen Treffen in seiner Wohnung häuslich ein. Ihre frische, unverbrauchte Natürlichkeit erstaunte ihn zunächst und erregte ein gewisses Unbehagen, denn sie warf seinen gewohnten, gleichmäßigen Tagesablauf völlig durcheinander. Manchmal diskutierten sie die ganze Nacht hindurch. (Ella engagierte sich wie viele Studenten sehr für soziale und ökologische Probleme – der Idealismus der Jugend, dachte Hagner bei solchen
Gelegenheiten, den die Last der Jahre wahrscheinlich auch in Ella ersticken würde – und Hagner sah sich in die Rolle der Opposition gedrängt, suchte Gegenargumente, obwohl er in den meisten Fällen mit ihr übereinstimmte.) Dann wieder, wenn sie sich auf eine Prüfung vorbereiten mußte, sperrte sie sich tagelang in ihrem Schlafzimmer ein. (Sie hatte von Anfang an auf getrennte Schlafzimmer bestanden.) Und einmal überraschte sie ihn im Juli mit dreiundfünfzig Rosen, als Geburtstagsgeschenk, wie sie sagte. (»Aber ich habe im Februar Geburtstag«, wandte er ein. – »Was macht das schon?« entgegnete sie und zauberte eine selbstgebackene Malakoff-Torte hervor. – »Warum ausgerechnet dreiundfünfzig Rosen?« – »Warum nicht?« meinte sie schnippisch.) Er begann ihre unkonventionelle Art zu mögen, und zum erstenmal in seinem Leben lernte er ein Gefühl, nein, einen Zustand kennen, den er für echte Liebe hielt – etwas, das über seine bisherigen, rein sexuellen Zweierbeziehungen weit hinausging. »Und jetzt?« fragte er sich bitter. Was war daraus geworden? Eine Straßenlaterne warf einen gelblichen Schein ins Innere des Autos, in dem Hagner seinen Erinnerungen nachhing. Die Ereignisse des Tages, die Schlägerei vor dem Einkaufszentrum, die Bombe des Gifticks, waren zu bedeutungsloser Banalität geschrumpft, während sich seine privaten Probleme schier unüberwindbar vor ihm auftürmten. Ella schien nicht Zuhause zu sein. In seiner Wohnung im dritten Stock brannte kein Licht, die Fenster glichen leeren schwarzen Augenhöhlen in der nächtlichen Fassade des Gebäudes. Die Wärme verflüchtigte sich
rasch. Hagner gab sich innerlich einen Ruck und stieg aus. Die Frau des Hausmeisters hatte anscheinend auf ihn gelauert. »Guten Abend, Herr Hagner«, begrüßte sie ihn betont freundlich, was sofort sein Mißtrauen weckte. Die erzkonservative und spießige Frau Koloschek hatte ihm die wilde Ehe mit einem jungen Mädchen, das seine Tochter sein könnte, niemals verziehen. »Grüß Gott.« Er schloß die Eingangstür hinter sich. Ein Geruch von Bratwurst und Sauerkraut hing in der Luft. »Na, wieder Überstunden gemacht? Das war heut' was, im Stadtpark, nicht? Als ich es im Radio hörte, bin ich sofort hingefahren, um mir das selber anzuschauen. Haben Sie ihn schon erwischt?« »Ich bin für Gifticks nicht zuständig«, erklärte er kurz und wollte weiter. »Moment, Herr Hagner!« Die plötzliche Kälte in ihrer Stimme ließ ihn verharren. Sie lächelte nicht mehr, und ihre Augen waren zwei blaue Eisklumpen in einem gefrorenen Gesicht. »Es ist mir zu Ohren gekommen, daß es bei Ihnen gestern nach 22 Uhr ziemlich laut wurde. Einige Mieter haben sich bei mir beschwert. Es ist meine Pflicht, Sie darauf hinzuweisen, daß ...« »Ich glaube, Ihr Mann ruft sie.« »Wie? Komme gleich, Karli! Also, was ich sagen wollte: Von mir aus können Sie sich mit Ihrer ... äh ... Freundin streiten wann und wo Sie wollen, aber nach 22 Uhr mit Zimmerlautstärke, wenn ich bitten darf. Sie sind nicht allein in diesem Haus. Möglich, daß Sie keinen Schlaf brauchen, Herr Hagner, aber Sie dürfen
nicht von sich auf andere schließen. Es gibt auch Leute, die früh aus dem Bett müssen, und deshalb ...« Bla. Bla. Bla. Minuten später, als er in seinem finsteren, nur vom flackernden Licht der Fernsehwand erhellten Wohnzimmer saß und Frau Koloscheks Predigt in seinem Gehirn noch einmal abspulte, wurde ihm erst so richtig klar, wie heftig dieser gestrige Streit, an den er keine klare Erinnerung besaß, gewesen sein mußte. Er war froh, daß Ella vermutlich Freunde besuchte, denn er wußte nicht, wie er ihr unter diesen traurigen Umständen gegenübertreten, ihr in die Augen blicken sollte. Augen, die er liebte, die er niemals zu kränken beabsichtigt hatte. Und dennoch ... Doch er durfte sich nichts vormachen: Es gärte zwischen ihnen seit Monaten, wenn nicht noch länger. Die ursprüngliche Harmonie war nach und nach von Reibereien beeinträchtigt worden, unwirsche Bemerkungen, ein kleines, gehässiges Wort, und im Laufe der Zeit gewannen diese Störfaktoren an Substanz, blähten sich zu Meinungsverschiedenheiten auf, die nicht mehr wie früher mit ruhigen, sachlichen Argumenten ausdiskutiert wurden. Großmairs Rat, Ella zu heiraten, fiel ihm ein, aber er verwarf ihn sofort wieder. Wahrscheinlich wurzelte die Krise nicht unerheblich in der Tatsache, daß sie sich bereits zu sehr als Ehepaar fühlten, daß sie sich aneinander gewöhnt hatten und nicht mehr an jedem Tag von neuem versuchten, die Zuneigung des anderen zu erringen. Ihre Partnerschaft war erstarrt, obwohl Ella genau das vermeiden wollte, als sie ihn vor vier Jahren aufforderte, sich jeden Gedanken an eine Heirat aus dem Kopf zu schlagen. »Wenn du weißt daß ich je-
derzeit ausziehen kann, und ich weiß, daß du mich von einer Minute zur anderen ohne Formalitäten hinauswerfen kannst, werden wir uns beide anstrengen, dem anderen keinen Grund dafür zu bieten«, hatte sie gesagt. Und sie hatte ihn überzeugt. Aber was sich in der Theorie prächtig anhörte, funktionierte in der Praxis nicht immer. Auf der Fernsehwand erschienen jetzt Bilder und Szenen aus dem Stadtpark: der Bombentrichter, entwurzelte Bäume, kaputte Fensterscheiben der angrenzenden Häuser, mit Kreide auf den Asphalt gezeichnete Umrisse der Toten, ein zerfetzter Schuh inmitten einer Blutlache, Polizeibeamte, Ambulanzen, ein Heer von Neugierigen, die sensationsgeil gafften und dumme Bemerkungen machten, eine weinende Frau, eine Gruppe von Petrus-Anhängern. Die professionelle, sachliche Stimme des Nachrichtensprechers nannte die Zahl der Toten und Verletzten und wiederholte den Aufruf des Bürgermeisters, morgen um drei Uhr eine Trauerminute abzuhalten. Der Polizeipräsident gab in einem Interview bekannt, daß die Fahndung nach dem Täter angelaufen sei und daß es sich vermutlich um einen Giftick handelte, obwohl auch Menschen zu Schaden gekommen waren. »Giftick?« wiederholte der Reporter fragend. »Unter Gifticks versteht man in Polizeikreisen eine besondere Type von Attentätern. Ihre Anschläge richten sich in erster Linie gegen die Natur. Sie vergiften Pflanzen und Tiere, fällen Bäume oder überschütten sie mit Benzin und zünden sie an, oder, wie es heute zum erstenmal geschah, sie verwüsten einen Park, indem sie eine Bombe zur Explosion bringen.« Der Polizeipräsident lächelte. Alles halb so schlimm,
schien sein Gesichtsausdruck zu bedeuten, und Hagner stellte sich vor, wie in tausenden Haushalten die Zuschauer aufatmeten und dachten: Gott sei Dank, kein politischer Wirrkopf, sondern nur ein Giftick, der es auf Bäume und nicht auf Menschen abgesehen hatte. Nur ein Giftick! Andere Berichte folgten: Katastrophen, Kriege, Unfälle Kriege, Katastrophen, von der Kamera säuberlich eingefangen und frei Haus geliefert. Doch wie bei allem, was im Überfluß vorhanden ist, war auch hier längst ein Gewöhnungseffekt eingetreten. Man fröstelte, solange die Schreckensbilder die Fernsehwand füllten, heuchelte kurz Mitleid, um sich ein reines Gewissen zu bewahren – und zwang sich noch in derselben Sekunde, wieder zu vergessen. Niemand mehr will einen sinnlosen Kampf gegen eine Flut führen, die unaufhaltsam steigt und letztlich die zerbröckelnden Deiche niederreißen wird, dachte Hagner müde; auch ich nicht. In seinem Inneren fühlte er ein leises Bedauern. Seit die statistische Kurve der Verbrechen vor anderthalb Jahren einen Knick steil nach oben beschrieb und ihn sein Beruf täglich mit neuen Auswüchsen von Gewalt und Aggression konfrontierte, hatte auch Hagner resigniert; nicht abrupt, sondern in einem langsamen, gleitenden Prozeß. Sein zunehmend fatalistischeres Denken bildete häufig den Anlaß für Streite mit Ella, die ihm eine Vogel-Strauß-Mentalität vorwarf, eine Nichts sehen-Nichts hören-Nichts reden-Gesinnung. Aber was sollte er tun? Er kam gegen seine Überzeugung nicht an, steckte bereits zu tief im Sumpf seiner eigenen Resignation. Sich hinsetzen, beten und auf das Ende warten – vielleicht beschritten die Sekten
den einzig richtigen Pfad ...? Sein Hunger machte sich mit einem Magenknurren bemerkbar. Hagner suchte sich im Schein der Fernsehwand einen Weg in die Küche, sorgfältig darauf bedacht, nicht auf eines der Bücher zu treten, die über den Boden verstreut lagen. In der Küche sah es chaotisch aus, ein wüstes Durcheinander nicht abgewaschenen Geschirrs und leerer Bierflaschen. Er bereitete sich drei Spiegeleier zu. Während er sie hastig hinunterschlang, blätterte er eine TV-Zeitschrift durch. Heute stand unter anderem ›Die linke Hand der Dunkelheit‹ auf dem Programm, ein zehn Jahre alter, sicherlich sehr interessanter Film nach dem Roman einer amerikanischen Autorin. Hagner wünschte sich, ihn gemeinsam mit Ella zu sehen und hinterher seine Mängel und positiven Seiten zu erörtern. Aber Ella war nicht da, sie besuchte einige Freunde und – Er stutzte. Woher nahm er diese Gewißheit? Könnte es nicht auch sein, daß ... O Gott, nur das nicht! Sein Herz hämmerte laut und unruhig. Und plötzlich – aus welchem Grund auch immer, vielleicht wegen der Intensität seines Erschreckens, der unerwarteten Überzeugung, einem entsetzlichen Irrtum zu erliegen – brach der Damm der Verdrängung, und Erinnerungsbruchstücke überschwemmten seinen Geist wie Eisschollen in einem reißenden Fluß. Er, erschöpft nach einem anstrengenden Arbeitstag. Sie, in schlechter Stimmung an ihrer Staffelei stehend. Er küßte sie flüchtig auf die Wange. »Ein schönes Bild«, sagte er, obwohl es ihm nicht gefiel (diese
dumme Unaufrichtigkeit, die sich in ihre Beziehung eingeschlichen hatte!) – »Lügner«, sagte sie, »ich habe kein Talent zum Malen, und das weißt du genau.« – »Aber nein«, sagte er, »es ist ...« – »Verdammt, hör auf mit deiner beschissenen Heuchelei!« – »Schrei nicht so!« schrie er zurück. »Die Nachbarn ...« – »Scheiß auf die Nachbarn! Die sollen sich um ihren eigenen Dreck scheren!« Es war gräßlich. Wenig später schlossen sie wieder Frieden, sie entschuldigte sich für ihre miese Laune, er für seine Gereiztheit, doch sie ahnten beide, daß sich der Spalt, der sie seit einiger Zeit voneinander trennte, mit ein paar rasch hingeworfenen Worten nicht mehr überbrücken ließ. Die Atmosphäre blieb gespannt. Sie lungerten herum, starrten aneinander vorbei, wälzten trübe Gedanken. Dann und wann fiel eine kurze Bemerkung, wenn einer von ihnen das bedrückende Schweigen nicht länger ertragen konnte. »Wir haben uns beide verändert«, meinte Ella einmal, es dürfte so gegen halb elf gewesen sein. Hagner nickte monoton, setzte die dritte, noch halb gefüllte Flasche Bier an die Lippen und leerte sie mit einem einzigen Schluck. Er war beschwipst und niedergeschlagen und wütend über seine eigene Hilflosigkeit. Er liebte Ella, wollte ihr nicht weh tun, und dennoch gerieten sie sich stets über Nichtigkeiten in die Haare, als wären sie beide konditioniert auf jede Äußerung des Partners mit Streitlust zu reagieren. Wie Pawlowsche Hunde, dachte er, und: Wirkt so der Aggressionsbazillus? Hagner schenkte sich ein Glas Whisky ein. Und dann, irgendwie unausweichlich, kam es zur Katastrophe.
Ella hatte ein Gespräch angekurbelt, eigentlich ein langer Monolog, den er manchmal mit »Mhm« oder »So, so« ergänzte ohne zu begreifen, worüber sie da vor sich hin philosophierte. Bis sich ein Satz durch den Alkoholdunst bohrte, der sein Bewußtsein vor der deprimierenden Umwelt abschirmte: »Ich verlasse dich.« Hagner richtete sich kerzengerade auf. Wie? Was? Redete sie wirklich von einer Trennung? Ella saß vor ihm im Schneidersitz auf dem weichen Teppich. Er sah sie sonderbar verschwommen und kniff die Augen zusammen. Unter dem weißen, mit Farbe beklecksten T-Shirt zeichneten sich dunkel ihre Brustwarzen ab. »Blödsinn«, sagte er ohne zu lallen. Er lallte nie, so betrunken konnte er gar nicht sein. »Wir sind füreinander geschaffen«, fügte er ohne Überzeugung hinzu. »Es hat einfach keinen Sinn mehr, Werner.« Ihr Busen hob und senkte sich mit jedem Atemzug. Ein erregender Anblick. »Wir streiten uns jetzt fast täglich ...« »Ich möchte mit dir schlafen, Ella.« »Weiche nicht aus. Mein Entschluß steht fest. Ich gehe, gleich morgen früh packe ich und ...« Ein schlimmer Verdacht keimte in ihm, gewann rasch an Größe und Wahrscheinlichkeit. »Hast du einen anderen? ... Warum antwortest du nicht? Bin ich dir zu alt? Natürlich! Natürlich!« Er schrie, und vor seinem inneren Auge erschien ein muskulöser, sonnengebräunter junger Bock, nackt, mit einem enorm langen Phallus. »Wahrscheinlich kommt er sogar hierher, dein Freund, nicht wahr? Ihr vergnügt euch in meiner Wohnung, während ich nicht da bin ...« »Du bist betrunken.«
»Darum also hast du dein Studium abgebrochen. Damit ihr ungestört bumsen könnt!« »Du alter, eifersüchtiger Pascha! Und ich dachte einmal, du wärst anders.« »Noch dazu in meiner Wohnung!« »Leck mich!« »Hure! Frigide Nutte!« »Impotenzler!« Seine Hand klatschte auf ihre Wange, einmal, zweimal. Ella starrte ihn verblüfft an, dann entfuhr ihr ein wutentbrannter Quietscher, und sie versuchte, auf die Beine zu kommen. Hagner packte sie an der Schulter und schleuderte sie zu Boden, schlug mit der Faust immer wieder auf ihren Kopf, ihren weichen Körper ein. Sie krümmte sich zusammen wie ein Fötus, verbarg den Kopf zwischen den Armen. Er beschimpfte sie, nannte sie Schlampe und Dirne und weinte hemmungslos, während er sie prügelte. Die Tränen verschleierten seinen Blick. Ihr leises Schluchzen glich dem Stöhnen eines tödlich verwundeten Tieres. O Gott! O Gott! Als Hagner endlich zur Besinnung kam, lag sie mit zerrissenem T-Shirt reglos auf dem Boden. Er sank auf die Knie, zog den schlaffen Oberkörper hoch und drückte ihren Kopf an seine Brust. Sein Herz bestand aus einem schmerzenden Klumpen Eis. »Ella«, stammelte er, die Worte flossen ohne sein Zutun über seine Lippen. »Ella, das wollte ich nicht, das wollte ich wirklich nicht. Verzeih mir.« Sie bewegte sich nicht. Aus ihrer Nase sickerte ein dünnes Rinnsal Blut. »Ella, o Gott, Ella!« Nach einer Weile versiegten seine Tränen. Er trug
sie in ihr Schlafzimmer, legte sie ins Bett und deckte sie zu. Ihr bleiches Gesicht erinnerte an Wachs. Sie atmete flach, kaum merklich. Ein Arzt! blitzte flüchtig der Gedanke in Hagner auf. Ich muß einen Arzt holen. Was ist nur in mich gefahren? Er taumelte ins Wohnzimmer zurück, fühlte sich schwach und elend und wie in einem grauenvollen Alptraum. Die Whiskyflasche blinzelte ihm verlockend zu. Ella. Ein Arzt. Vergessen. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Vergessen. Vergessen. Schlaf. While in these days of quiet desperation ... (Billy Joel) Nach stundenlangem ziellosen Herumwandern durch von Neonreklamen in farbiges Licht getauchte Straßenschluchten und enge Gassen, in welchen er höchstens einigen streunenden Katzen mit struppigem Fell und hungrigen Augen begegnete, erreichte Hagner erschöpft und ausgelaugt einen kleinen Park, dessen Namen er nicht kannte. Hier hielt er an, fühlte die Kälte, die sich durch seine Gliedmaßen fraß, und hörte fern eine Kirchturmglocke Mitternacht schlagen. Die kahlen Gerippe der Bäume streckten sich als dunkle Silhouetten zum schwarzen Himmel empor. Hagner machte einen Baumstumpf aus – mehr hatte ein Giftick von einer Eiche nicht übrig gelassen – stolperte durch die Finsternis auf ihn zu und nahm vor Kälte zitternd Platz. Inzwischen war wieder Ruhe in ihn eingekehrt: ei-
ne dumpfe Gleichgültigkeit, die an Apathie grenzte. Keine Panik erfüllte ihn mehr wie noch vor wenigen Stunden, als die Flut seiner verdrängten Erinnerungen mit unwiderstehlicher Gewalt über ihn hereinbrach, als er sich, mit beiden Händen die Kante der Tischplatte umklammernd, allein in der Küche wiederfand und keinen klaren Gedanken fassen konnte. Wie betrunken war er in Ellas Schlafzimmer getorkelt, von Grauen geschüttelt, dort ihren starren, toten Körper zu entdecken und in ihre leblosen Augen zu blicken aus denen ein stummer Vorwurf sprach. Doch seine Befürchtung wurde nicht wahr. Das Schlafzimmer war verlassen, die Kommode ausgeräumt, der Schrank leer. Hagner spürte keine Erleichterung, als er schluchzend auf ihr Bett niederfiel. Ella lebte – aber er hatte sie endgültig verloren. Die Wände drohten ihn zu erdrücken. Schaudernd war er aufgesprungen, in Schuhe und Mantel geschlüpft und aus dem Haus gestürzt. Und da saß er nun, einsam in einer kalten Dezembernacht, und empfand keinerlei Hoffnung mehr. Er wußte, daß er Ella nicht wiedersehen würde; sie war unwiderruflich gegangen und hatte einen Teil seiner Seele mit sich genommen, die Gegenwart in eine graue Trostlosigkeit verwandelt und die Zukunft ausradiert. Da saß er vom Aggressionsbazillus infiziert, und zitterte heftig. Schweigend trauerte er der Vergangenheit nach. Leiser, rhythmischer Gesang drang an seine Ohren und weckte seine Aufmerksamkeit. Hagner folgte den Geräuschen und erblickte unvermittelt eine Gruppe von Petrus-Anhängern, die, in dicke Mäntel gehüllt, singend eine schmucklose, mitten auf einer
verkehrsarmen Straße aufgestellten Kapelle umringten. Kein Polizist weit und breit, der sie auffordern konnte, die okkupierte Fahrbahn zu räumen. Hagner blieb stehen. In seiner Brust regte sich etwas – Pflichtgefühl? »Petrus sei mit dir, Bruder«, ertönte neben ihm eine Stimme. Im blassen Schein einer beleuchteten Auslage erkannte er das mollige Gesicht einer Frau unbestimmbaren Alters. »In der Kapelle wird Tee gekocht«, fuhr sie nach einer Sekunde des Schweigens fort. »Komm!« Hagner folgte zögernd. Über dem Eingang zur Kapelle bemerkte er ein Plakat mit dem Porträt Petri. Das sanfte Gesicht des Sektengründers lächelte ihm aufmunternd entgegen. Am Silvesterabend wartete Hagner im Kreis seiner Brüder und Schwestern reinen Herzens auf den Weltuntergang.
Copyright © 1981 by Günter Zettl Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Agentur M.E.R.L.I.N., Hofheim und Zweibrücken
H. W. Springer TERMINUS Drol, der kleine gelbe Mann von Sirius III, war zur Erde gekommen, um Land und Leute kennenzulernen. Und da er ein sehr kluger und weitblickender kleiner gelber Mann war, wußte er natürlich, daß er zuerst einmal die irdische Sprache erlernen mußte. Und sogleich schritt er zur Tat. Drol war ein äußerst befähigter Teleporter und teleportierte sich aus seinem kleinen gelben Raumschiff unmittelbar in das frühabendliche Krottendorf an der Krotte, wo er, um vor neugierigen und mißtrauischen Blicken geschützt zu sein, im grünen Blätterwald einer deutschen Eiche auf Lauscherposten ging. An sich war Drol ein ungemein fähiger Telepath. Aber er merkte bald, daß er mit Gedankenlesen allein nicht allzu weit kam, denn fast alle Ströme, die er auffing, hatten eine verdächtige Ähnlichkeit mit jenem Medium, in dem sich sein kleines gelbes Raumschiff am wohlsten fühlte. Nur wenn einer dieser sogenannten Gedanken verbal verstärkt wurde, hatte er eine ganz schwache Vorstellung davon, was dieser oder jener irdische Gedankenbegriff, ins Sirianische übertragen, unter Umständen bedeuten mochte. Verständlicherweise war Drol nicht befriedigt, denn er trachtete danach, das Wesen irdischen Denkens und Sprechens in Gänze zu erfassen. Nun, kleine gelbe Männer vom Sirius wissen sich in jeder Lage zu helfen. Drol machte da keine Ausnahme und besann sich alsbald seiner erstaunlichen
Begabung auf dem Gebiet des Teleformens, einer speziellen sirianischen Fähigkeit, Moleküle nach Belieben umzuwandeln. Wenn er die verschwommenen, abstrakten Gedankenmuster unter Zuhilfenahme von Luftmolekülen konkretisieren würde ... Der kluge, kleine gelbe Mann wußte, wie er vorzugehen hatte, denn da er nicht nur ein hervorragender Teleporter, Telepath und Teleformer, sondern gleichzeitig auch noch ein ganz vorzüglicher Teleoptiker, Teleakustiker und Teletaster war, drängten sich die nächsten Schritte beinahe von selbst auf: Studienobjekt anvisieren, Gedanken lesen, Worte hören, Begriff aus Luft konkretisieren, optisch einordnen, abtasten, Eindrücke zusammenfassen und ... frobzll (sirianischer Ausdruck der Genugtuung) ... endlich Bescheid wissen. Gesagt, getan. Bequem im frischen Laub der deutschen Eiche sitzend, sanft schaukelnd im lauen Wind des Frühlingsabends, begann der kleine gelbe Mann vom Sirius mit seiner kurzen aber folgenschweren Deutung irdischer Termini. Über seine ersten Studien läßt sich durchaus nur Erfreuliches berichten. Das Ergebnis war uneingeschränkt positiv, für Drol selbst und für die Erde. Drol erwarb die angestrebten Kenntnisse und die Erde erwarb Souvenirs, höchst bemerkenswerte Souvenirs. So, als der kleine gelbe Mann seine Aufmerksamkeit dem Liebeswerben des Dorfgalans Sepp Zeck um die schöne Kellnerin Lilo schenkte und dabei die Erfahrung machte, daß die irdische Sprache eine sehr nuancenreiche war, da sie doch für ein und dasselbe Objekt phonetisch so unterschiedliche Begriffe wie
›Täubchen‹, ›Süße‹, ›Spatz‹, ›nun komm doch‹, ›nun hab dich doch nicht so‹ und ›na dann nicht‹ kannte und mehrere irdische Galerien bald das Vergnügen hatten, herrliche Aktskulpturen auszustellen, deren einziger Mangel an absoluter Perfektion die auffällige Überdimensionierung der weiblichen Geschlechtsmerkmale war. So, als der kleine gelbe Mann das seit dreißig Jahren glücklich verheiratete Ehepaar Saftlhuber am Abendbrottisch anpeilte. Drol stellte fest, daß die Begriffe ›Gib mir doch mal den Zucker rüber‹, ›Der Kaffee ist immer noch viel zu bitter‹ und ›Dann koch dir doch deine Brühe selber‹ dem Reich der Fauna zuzurechnen waren, während die irdischen Zoologen und Anthropologen später mit nicht gelinder Verwunderung die Existenz des krottischen Brillenesels, des krottischen Brillenschweins und des Homo stupidus zur Kenntnis nehmen konnten. Die Freude der Wissenschaftler erfuhr allerdings eine gewisse Trübung durch den Umstand, daß die Eheleute Saftlhuber eine einstweilige Verfügung gegen die öffentliche Vorführung der neuen Spezies erwirkt hatten. So auch, als der kleine gelbe Mann noch einmal auf Sepp Zeck zurückkam und beim Liebeswerben des strammen Jünglings um die picklige, etwas dickliche und etwas dümmliche Bäckerstochter Hulda die ersten Eindrücke vom irdischen Wirtschaftsleben gewann, als er die offensichtlich finanztechnischen Termini ›Du bist mir lieb und teuer‹ sowie ›Für dich werde ich alles tun‹ konkretisierte und die Bundesbank schließlich in den Besitz eines große Heiterkeit erzeugenden Bündels von Hunderttausend-Mark-
Scheinen gelangte, die anstatt des traditionellen würdigen Männerkopfes zwei gekreuzte Feuerzangen zeigten. Dann jedoch, als sich Drol dem gerade von einer haushoch verlorenen Preisskatpartie nach Hause zurückkehrenden Pepi Mayr zuwandte, passierte das Unglück. Pepi sagte nur ein einziges Wort, aber er sagte es so emphatisch, daß sich Drol veranlaßt sah – um die Aussagekraft dieses anscheinend sehr bedeutenden Terminus voll auszuschöpfen – ausnahmsweise einmal gegen die Grundregel aller fremde Planeten besuchenden, kleinen gelben Männer zu verstoßen. Er öffnete seinen Atmosphärenhelm und machte ganz kurz Gebrauch von seiner erstaunlich entwikkelten Gabe des Teleriechens. Aber dieser kurze Moment genügte schon, um ihn, augenblicklich betäubt, wie einen toten Vogel von der deutschen Eiche stürzen zu lassen. Sein kleiner gelber Hals brach wie sirianisches Mondglas. Jetzt steht er ausgestopft im neugegründeten Heimatkundlichen Museum zu Krottendorf an der Krotte.
Copyright © 1981 by Hans Wolf Sommer Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Agentur UTOPROP, Wuppertal
Gertrud Hanke-Maiwald DER BEGLEITER Nur nicht nervös werden, dachte Helene, als sie bemerkte, daß der Radfahrer, den sie beim Aussteigen aus dem Autobus bemerkt hatte, jetzt schon zweimal an ihr vorbeifuhr. Sie war auf dem Nachhauseweg von einem Abendkurs, den sie an der Volkshochschule belegt hatte, um ihr Schulenglisch aufzufrischen. An der Bushaltestelle wollte doch ihr Mann warten. So wie er es immer nach ihren Kursabenden getan hatte, zweimal in der Woche. Wo blieb er nur, warum war er nicht zur Stelle? Nun fuhr der Radfahrer wieder an ihr vorbei, betont langsam, sah ihr ins Gesicht, stützte sich vornübergebeugt auf den Lenker und sagte: »Wie wär's? Haben Sie Zeit für mich?« Dann fuhr er sehr langsam weiter und bog in den kleinen Parkweg ein. Helenes Knie wurden schwer. Um Gottes willen, was soll ich tun, schoß es ihr durch den Kopf. Wie verhalte sich mich in so einer Situation? Vor allem: wie werde ich diesen Menschen los? Wenn doch endlich Hans käme. Sie schaute angestrengt in das spärlich erhellte Dunkel der Straße vor sich. Der Park, erschrak sie. Jetzt beginnt der Park. Schon wollte sie umkehren, zurücklaufen, dahin, wo Menschen zu sehen waren, und um Hilfe bitten, sie fühlte in jeder Körperfaser Furcht aufsteigen, als jemand ihren Arm nahm.
»Hans«, sagte sie, »wo bist du nur geblieben? Ich werde von einem Radfahrer verfolgt, stell dir das mal vor! Ich habe schreckliche Angst gehabt!« »Fürchte dich nicht«, sagte er ruhig, »ich bin ja bei dir!« Sie erzählte vom Kursabend, voller Erregung noch und doch erleichtert, weil endlich ihr Mann bei ihr war. Sie kamen jetzt an den Park, gleich rechts war der kleine Parkweg, den sie immer als Abkürzung zu ihrem Haus benutzten. »Wir wollen lieber nicht durch den Park gehen«, meinte sie zu Hans. Sie drehte sich um, Hans war verschwunden. »Hans«, rief sie in den kleinen Parkweg hinein, »mach doch keinen Unsinn! Wir gehen außen herum. Da hinein geh ich nicht! Hans, so hör doch, komm zurück!« Daß er immer solche Kindereien machen muß, wo er doch weiß, daß ich so schreckhaft bin, und vor allem an diesem Abend! Er hat ja einen Vorsprung vor mir! Daheim werde ich ihn schon zur Rede stellen, dachte sie verärgert. Hinter einem Gebüsch versteckt konnte der Radfahrer den kleinen Parkweg von seinem Standort aus beobachten. Er wußte, daß Helene hier wohnte, er war ihr schon einige Male gefolgt, als sie am Abend heimging. Es war recht dunkel hier, inmitten der alten Bäume und dem dichten Gebüsch. Er sah jetzt eine Gestalt vom Gehweg in den dunklen Parkweg einbiegen, und er duckte sich. Dann sprang er auf. Verwirrt sah er, daß nicht die Frau vor ihm stand, sondern ein Mann im Lodenmantel ruhig vor ihm stehen blieb und ihn ansah.
Nichts weiter tat. Dicht voreinander standen sie. Der Radfahrer war schnell einige Schritte zurückgewichen, so als wollte er flüchten. Doch er konnte sich nicht von der Stelle rühren! Der Fremde sah ihn immer noch an, und da bemerkte der Radfahrer, daß dessen Augen intensiver zu leuchten begannen. Erstaunt nahm er das auf, dann erschreckt, und dann bedeckte er seine eigenen Augen mit den Händen, denn das Leuchten wurde so stark, wurde brennend. Es kam ihm vor, als stießen tausend Nadeln auf ihn ein. Er streckte seine Hände von sich gegen den Fremden, der nun ganz eingehüllt war in ein Leuchten, das dem Radfahrer Furcht vor etwas Unbekanntem eingab. An seinen Händen fühlte er einen bohrenden Schmerz, so als hätte jemand einen glühenden Nagel in seine Hände gestoßen. Panikartig, stolpernd, das Fahrrad hinter sich herzerrend, rannte er zum Eingang des kleinen Parkweges, schob das Fahrrad auf die Straße und blickte sich mit schreckerfüllten Augen um – zwischen den Bäumen und Büschen sah er immer noch ein Leuchten, welches unheimlich wirkte. Er fühlte immer noch den bohrenden Schmerz auf seinen Handrücken, als er auf das Fahrrad stieg und mit zitternden Füßen in die Hauptstraße einbog. Und dann schaute er verstört und verständnislos auf seine Hände, die das Lenkrad hielten: auf beiden Handrücken befand sich ein pfenniggroßes Brandmal! Er stieg vom Fahrrad ab, schob dieses geistesabwesend eine Zeitlang neben sich her, sprang dann wie gehetzt aufs Fahrrad und dachte nichts weiter als: nur heim, nichts wie weg hier! Dem Unheimlichen
wollte er so schnell wir möglich entrinnen ... Inzwischen war Helene an ihrem Haus angelangt, läutete, hielt den Finger an die Klingel und dachte, die Tür hätte er wenigstens für mich offen lassen können. Es dauerte wirklich lange, bis sich die Tür öffnete. Hans sah Helene etwas verdutzt an. »Ja, hast du denn keinen Schlüssel mit?« fragte er. »Na, sag einmal, Hans«, antwortete sie gereizt, »was soll dieses Theater? Rennst weg, ohne etwas zu sagen, gehst durch den Park, bist vor mir da und machst mir nicht mal die Tür auf!« Verständnislos hörte Hans zu. Schloß die Tür, ging ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. »Wovon redest du eigentlich? Wo soll ich gewesen sein? Hier habe ich gelegen, bin eingeschlafen! Ich wollte dich doch abholen – es tut mir leid ...« Helene zog langsam den Mantel aus. Hängte ihn sorgfältig im Flur auf den Kleiderbügel und setzte sich zu Hans. »Also du bist nicht außer Haus gewesen? Du bist nicht neben mir gegangen, nachdem mich der Radfahrer belästigt hatte? Du bist nicht im Parkweg verschwunden?« »Hör mal, Liebes«, sagte Hans, »ich bin eingeschlafen. Ich war nicht draußen. Ich sagte doch, daß es mir leid tue. Und wer soll dich begleitet haben? Ich?« Helene und Hans sahen einander an. Jeder ordnete seine Gedanken. Hans ganz schlaftrunken. Doch Helenes Sinne waren plötzlich angespannt, waren hellwach: neben mir ging Hans, als ich wegen des Radfahrers fast in Panik zu geraten drohte, überlegte sie erregt, aber besonnen. Hans hat zur mir gesprochen. Es war seine Stimme. Es war der rauhe Stoff seines Lodenmantels; den er immer trägt und den ich fühlte,
als ich mich bei ihm unterhakte. Was soll ich jetzt denken, überlegte sie. »Hans, also du warst wirklich nicht fort von daheim?« fragte sie gespannt. »Nein, ich schwöre es dir. Und zum Spaßen bin ich nicht aufgelegt, kannst es mir glauben. Ich fühle mich nicht wohl, bestimmt bekomme ich eine Erkältung ...« Und er sah sie dabei fast vorwurfsvoll an. »Ich werde dir einen Tee kochen und eine Tablette bringen«, sagte Helene, ging in die Küche und stellte das Teewasser auf. Ihre Gedanken liefen wie Ameisen hin und her. Nichts kam dabei heraus als dies: sie war beschützt worden – in einer Situation, die vielleicht nicht gut ausgegangen wäre, wenn es dem Radfahrer gelungen wäre, sie intensiver zu bedrängen. Jemand, der Hans aufs Haar glich – ein anderes ›Ich‹, ein Freund aus einer anderen Dimension – hatte ihr beigestanden, hatte die Gestalt von Hans angenommen. Hatte gesagt: »Fürchte dich nicht, ich bin ja bei dir!« Jetzt erinnerte sie sich an den Wohlklang der Stimme, die der ihres Mannes sehr ähnelte, doch anders war, beruhigender, auf alle Fälle etwas anders. Und die Augen. Auch die waren – wie sie sich jetzt mit geschlossenen Augen zurückzuerinnern versuchte – leuchtender gewesen, hatten ihr die Furcht genommen, als sie in diese Augen geblickt hatte. Wie soll ich mich verhalten? überlegte sie. Wie soll ich dieses Erlebnis einordnen? Was soll ich zu Hans sagen? »So, hier ist dein Tee.« Hans nahm die Tablette, trank die Tasse aus und meinte: »Weißt du, hätte ich so etwas geträumt, wäre das ja normal – aber was du mir da erzählst, ist abnormal. Oder wolltest du mich
vielleicht ärgern, weil ich nicht gekommen bin?« Helene sah aus dem Fenster, sah zum Sternenhimmel. Dachte an den unbekannten Begleiter und fühlte eine Freude in sich, ein dankerfülltes Wissen um etwas Außergewöhnliches ... »Du hast recht, Hans. Vielleicht wollte ich dich ärgern! Also – entschuldige, wir wollen nicht mehr davon sprechen, ja?« Er brummelte, wollte sich wieder auf die Couch legen, doch Helene schob ihn zur Treppe, die zum Schlafzimmer hinaufführte. Dort bereitete sie ihm sein Bett, deckte ihn fürsorglich zu und bemerkte bald, daß er eingeschlafen war. Ich werde damit leben müssen, sagte sich Helene, als sie die Nachttischlampe ausschaltete und sich im Bett in die Decke wickelte. Ich werde damit leben müssen zu wissen, daß es so etwas gibt – aber davor fürchte ich mich nicht ...
Copyright © 1981 by Gertrud Hanke-Maiwald Mit freundlicher Genehmigung der Autorin
Sven Ove Kassau KINDER DER EVOLUTION Unerträgliche Hitze erfüllte die Luft mit einem wabernden Flirren. Eine merkwürdige Last breitete sich über das Land aus. Ein Land, das verrottet und tot aussah, in Wirklichkeit jedoch von archaischer Wildheit war. Nebelfetzen – ähnlich einem lebendigen Hauch aus Feuer – wanden sich über den Erdboden. Der Fels war aufgebrochen, und schweflige Schwaden quollen hervor und verseuchten das Klima. Das Gestein war eingesackt und bildete ein Becken für riesige, kochende Seen. Der Gestank von verfaulten Schachtelhalmen breitete sich aus. Von diesen Naturvorgängen merkten die Personen nichts, die tief im Erdinnern aus einem unruhigen Schlaf erwachten. Ermattet erhoben sie sich von ihren Ruhestätten. Sie reckten die Glieder und versuchten krampfhaft, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Ein eisiger Schreck tobte in ihrem wirren Bewußtsein. Sie wußten, daß sie das Große Chaos überlebt hatten. Doch es war keine Freude, die sie empfanden. Panik breitete sich unter ihnen aus. Kopflos zwängten sich Männer und Frauen durch enge Schächte. Schreie, angefüllt von Hysterie und Angst, hallten echohaft durch die weitverzweigten Kanalverbindungen. Nur das grausame Schicksal – verborgen irgendwo in unerreichbarer Heimlichkeit – begann zu höhnen, als die Fliehenden vor ehemaligen Freunden und dem eigenen Spiegelbild zurückschreckten. Blindlings versuchte jeder, einen Ausweg zu finden.
Doch es gab keinen Ausweg. »Ruhe!« Der Befehl bellte schrill und brutal durch die unterirdische Bunkerfestung. Es war ein Ton, den niemand kannte, und eine Sprache, die niemand jemals zuvor gehört hatte. Dennoch verstand jeder die Bedeutung. »Ruhe!« Erneut peitschte die Stimme durch das teilweise zerstörte Kommunikationssystem. Whoan starrte auf das seltsame Gerät, von dem er wußte, daß es ein Sender war. Er glaubte, sich an eine längst vergessene Zeit erinnern zu können, in der er als Wissenschaftler gefeiert wurde und diesen Apparat gefunden hatte. Inzwischen hatte sich viel verändert. Zuviel. Aber niemand konnte erklären, was sich verändert hatte. Auch Whoan nicht. Es war ihm gelungen, als erster die Fassung zurückzugewinnen. Der Schock war übermächtig gewesen, fast schon tödlich. Bestimmt hatten sich viele das Leben genommen oder waren wahnsinnig geworden. Er hingegen hatte nachgedacht. Nun wußte Whoan, wie er den Sender bedienen mußte. Mit ungelenken Bewegungen hantierte er an den Armaturen, die überhaupt nicht auf ihn abgestimmt waren, und schickte seine Worte erneut durch den Kommunikator. »Ruhe!« entfuhr es seinen blutig gebissenen Lippen. »Hier spricht Whoan. Ich werde jetzt die Führung übernehmen. Alles, was geschehen ist, beruht auf Realität. Findet euch damit ab, Freunde! Etwas Neues hat begonnen. Und wir wollen versuchen, dieses Neue würdig zu empfangen.« Whoan registrierte voller Befriedigung, daß das Geschrei in den Gängen leiser wurde. Im Laufe der
Zeit verebbte die Aufregung und Hektik völlig. Und Whoan wunderte sich. Was für fremdartige Laute mochten das sein, die er ausstieß? Wieso hatte er sich diesen eigentümlichen Namen gegeben? Und weshalb glaubte er, sich zum Führer der Überlebenden machen zu müssen? »Ja, das Neue hat begonnen«, hauchte er. »Was immer das auch sein mag.« Sein Blick fiel auf Lil. Nur mit Mühe gelang es ihm, einen Aufschrei zu unterdrücken. Das Mädchen, das er liebte, betrachtete ihr Spiegelbild in einer Wasserlache. Abscheu verzerrte ihre Züge. Sie warf sich in Whoans Arme und stammelte: »Das darf doch nicht wahr sein, Liebster. Welch unbeschreiblicher Schrekken ist über uns hereingebrochen? Alles ist wie verwandelt.« Whoan strich sanft über ihr seidiges Haar und flüsterte: »Mir ist egal, wie du jetzt aussiehst. Ich liebe dich trotzdem, Lil.« »Lil?« wiederholte das Mädchen. »Ich heiße Lil?« »Wie sonst?« »Ja«, murmelte sie schließlich, »du hast recht.« Auf einmal schien es ihr wie selbstverständlich, daß sich ihr Name geändert hatte. Sie konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, jemals anders geheißen zu haben. An die anderen Unklarheiten würde sie sich schon noch gewöhnen. Trotzdem versuchte sie, an die Zeit vor ihrem Erwachen zu denken. Doch ihr Gedächtnis blieb leer. Whoan und Lil verließen den Raum und begaben sich in den röhrenförmigen Schacht, der gleich dahinter begann. Sie reihten sich in die Schar der Leute ein, die dem Ausgang zustrebten. Die merkwürdig-
sten Gestalten begegneten ihnen. Gestalten, die sich in Wirklichkeit nicht von ihrem eigenen Aussehen unterschieden. Aufregung und Unsicherheit zeichnete sich auf allen Gesichtern ab. Ein Fluidum der Angst hatte sich ausgebreitet. Der Weg nach draußen erwies sich als unbequem und beschwerlich. In gebückter Haltung krochen die Überlebenden in Richtung Freiheit. Ein bekanntes Antlitz tauchte in der Menge auf. Obwohl es anders als vorher aussah, erkannte es Whoan sofort. Er wußte auch, daß sein Freund auf den Namen Hynian reagieren würde. Die Begrüßung erfolgte kurz, aber herzlich. Jeder begann allmählich, Glück darüber zu empfinden, das Große Chaos überlebt zu haben. Aber auch Hynian war verwirrt. »Was ist geschehen?« wollte er wissen. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. »Das ist doch alles Irrsinn!« Irgendwann erreichten die Gefährten den Ausgang. Nachdenklich beobachtete Whoan, wie sich die Überlebenden aus den engen Röhrengängen schoben. Er suchte eine Antwort auf die Frage, wieso man die Kanäle so winzig gebaut und nicht den Körperformen angepaßt hatte. »Sag uns die Wahrheit, Whoan«, verlangte Lil und warf ihrem Geliebten einen flehenden Blick zu. »Du bist ein großer Wissenschaftler. Was ist geschehen? Was soll das alles bedeuten? Niemand begreift die Gegenwart. Und niemand weiß, wie die Vergangenheit aussah. Du aber kannst dich bestimmt erinnern. Ich weiß es!« Whoan kämpfte tatsächlich mit der Erinnerung. Doch er wußte, daß es falsch war, eine verschollene
Zeit heraufbeschwören zu wollen. Eine Zeit, deren Sinn ihn verwirrte und in den Strudel des Irrsinns zu treiben drohte. Er mußte seine Gedanken ablenken, wenn er seine Mission als Führer der Überlebenden bewältigen wollte. Ihm drängte sich das Gefühl auf, daß sich die Umgebung kaum verändert hatte. Riesige Bärlappgewächse und Schuppenbäume ragten in den wolkenverhangenen Himmel hinein. Neben einer Steppe aus Magnolienstauden breitete sich eine glühende Sandwüste aus. Fernes Donnern kündete von dem Ausbruch eines Vulkans. Whoan empfand es als vorteilhaft, daß sein Wahrnehmungsgefühl weitaus schärfer als früher ausgeprägt war. Er konnte intensiv sehen und hören wie niemals zuvor. Lediglich der Tastsinn erwies sich als etwas verkümmert. Aber das störte ihn nicht weiter. Eine weitflächige Sumpflandschaft breitete sich neben dem Mangrovenwäldchen aus, in dem sich die Überlebenden niederließen. Unruhe, Verwirrung und Verzweiflung beherrschte ihr Fühlen und Denken. Niemand achtete auf die Insekten, die farbenprächtige Blüten umschwirrten, und niemand konnte sich an den herrlichen Vögeln erfreuen, die sich lärmend um überreife Früchte drängten. Whoan und Lil lösten sich aus der Mitte der Unglücklichen und verließen den Wald. In tiefschürfende Gedanken versunken, wanderten sie durch eine bizarre Felsgegend. Geysire und Lavaflüsse veranlaßten sie hin und wieder zu Umwegen. »Einhundertunddreiundvierzig Personen sind dem Großen Chaos entkommen«, berichtete Hynian, der gerade eine Zählung unternommen hatte und sich
nun zu ihnen gesellte. Die Gefährten schwiegen. Sie wußten, daß alles aussichtslos schien. Vor allen Dingen, da niemand wußte, welches Grauen sie heimgesucht hatte. Mißmutig verfolgten sie mit ihren Blicken die Bahnen der großen Flugechsen. »Häßliche Biester!« knurrte Whoan. »Früher sahen wir bestimmt ästhetischer aus«, entgegnete Lil und ließ den Blick über ihren Leib wandern. »Aber heute ...?« »Das ist doch alles widersinnig!« entfuhr es Hynian plötzlich. »Alles ist auf einmal anders und fremd. Und keiner weiß, was in Wirklichkeit passiert ist. Kann uns denn ein solch grauenhaftes Schicksal über Nacht heimgesucht haben?« Whoan schickte sich an, das Thema zu wechseln. Doch das war unmöglich. Denn die gesamte Existenz der Überlebenden wurde von der unerklärlichen Katastrophe überschattet. Es gab nichts anderes, was in den Gehirnen der Verzweifelten Platz fand. Whoan wußte, daß er keine Unsicherheit zeigen durfte, wenn er die einhundertdreiundvierzig Männer und Frauen führen wollte. Er bemühte sich, seiner Stimme einen festen Klang zu verleihen. »Ich weiß, welche Fragen euch quälen. Doch ich fühle mich nicht zuständig, nach Antworten zu suchen. Andere Aufgaben liegen vor mir. Nur noch die Zukunft zählt. Auch meine Angehörigen sind fort. Es gibt nur noch die verängstigte Gruppe Überlebender dort drüben in dem Mangrovenwäldchen. Unsere Überlebenschancen sind klein. Aber wir müssen zusehen, daß wir etwas daraus machen. Auch wenn wir nichts
verstehen. Fragt mich bitte nicht mehr, was geschehen ist. Vielleicht hat das Große Chaos eine Art phantastischer Evolution ausgelöst.« »Evolution?« echote Hynian und brach in hektisches Gelächter aus. »Dann haben wir wohl eine Fortentwicklung zu Kreaturen durchgemacht. Oder als was willst du uns bezeichnen? Allerdings glaube ich kaum, daß eine Evolution innerhalb der wenigen Tage unseres Bunkeraufenthalts stattfinden kann.« »Vielleicht hat die Veränderung nicht nur einige Tage gedauert«, gab Lil zu bedenken, »sondern Tausende von Jahren.« »Nein!« fauchte Hynian und schüttelte den Kopf. Seine Augen begannen in einem gefährlichen Feuer zu lodern. »Niemand von uns ist gealtert. Wie kann die imaginäre Evolution also Tausende von Jahren gedauert haben?« »Bei einem perfekt herbeigeführten Tiefschlaf ist niemandem die überstandene Zeit anzusehen«, warf Whoan ein. Voller Wut trat Hynian gegen einen Stein. Ein weit entferntes Knurren ließ ihn für einen kurzen Augenblick zusammenzucken. Dann schrie er: »Was soll die Augenwischerei. Whoan? Glaubst du, das ist die richtige Voraussetzung, um ein Volk zu führen? Du weißt genau, daß es keinen Tiefschlag gegeben hat. Und du weißt ebenfalls daß die Metamorphose keine große Zeitspanne in Anspruch genommen haben kann. Denn die Außenwelt, in der wir jetzt leben, hat früher genauso existiert. Hier hat sich nichts verändert. Wir haben sie vorher lediglich anders wahrgenommen.« Hynian stieß ein Kichern aus, das gräßlich und angsteinflößend klang. »Ist es nicht eigenartig,
daß ich selbst nicht genau weiß, was meine Worte bedeuten? Mir ist nur klar, daß mich meine Ahnung nicht trügt. Vielleicht hast du recht, Whoan. Vielleicht hat tatsächlich eine Art Evolution stattgefunden. Aber irgend etwas ist schiefgegangen. Doch weshalb soll ich mir über unser Schicksal den Kopf zerbrechen? Weshalb soll ich nach Antworten suchen, die es nicht gibt? Vielleicht ist das alles auch nur ein böser Traum. Wahrscheinlich haben wir diese Strafe des Schicksals verdient. Oder gibt es doch eine Antwort? Heißt sie Apokalypse? Und sind wir die degenerierten Erben dieser Heimsuchung?« Whoan spürte, daß die Erde zu zittern begann. Ein entsetzliches Fauchen ertönte und ließ ihn erschauern. Lil schmiegte sich eng an seinen veränderten Körper. Ihre Züge drückten Furcht aus. Das hechelnde Kichern Hynians bildete eine groteske Begleitung zu dem ständig näherkommenden Knurren. Nach Luft schnappend, keuchte er: »Dieses Grauen kann nicht natürlichen Ursprungs sein. Es muß ein Irrtum sein. Man will uns testen.« Wild mit den Armen gestikulierend, rannte Hynian davon. Er sprang durch die Fontäne eines brodelnden Geysirs und wankte weiter. »Du mußt ihn aufhalten«, sagte Lil. »Er ist wahnsinnig geworden.« Whoan traf Anstalten, seinen Freund zu verfolgen. Doch ein grauenerregendes Kreischen ließ ihn mitten in der Bewegung innehalten. Ein mächtiger Schatten schob sich hinter einer Bergkuppe hervor, gefolgt von einem monströsen Wesen. Mit riesigen Krallen bewehrte Tatzen durchpflügten die Erde und ließen den Boden erheben. Die rötlichen Strahlen des versinken-
den Sonnenballes tauchten die rissige, mit kraterhaften Beulen übersäte Haut des Scheusals in ein geisterhaftes Licht. Ein breiter Schuppenschwanz fegte über den Fels, und ein häßlicher, dreieckiger Schädel wogte nervös hin und her. Blutgierige Augen funkelten in tiefen Höhlen. Ein drohendes Fauchen ausstoßend, erspähte die Riesenechse den Fliehenden und nahm die Verfolgung auf. Kurz darauf senkten sich gierige Klauen über Hynian. Ein Schrei des Entsetzens entrang sich seinen Lippen, als er sich in die Höhe gezerrt fühlte. »Tu doch etwas!« schluchzte Lil. »Was denn?« wollte Whoan wissen. »Wir haben keine Waffen.« Instinktiv zerrte er die Geliebte in den Schutz einer Aufwerfung. Das Ungeheuer durfte sie nicht entdekken, um noch näher zu den Leuten im Mangrovenwald gelockt zu werden. Lil wandte ihren Blick ab, als das Tier begann, den Verlorenen zu zerreißen und hinunterzuschlingen. »In welch grausames Leben wurden wir hineingeboren?« stammelte sie. Whoan beachtete ihre Worte nicht. Ein Schimmer der Erkenntnis erhellte seine Züge. Er dachte an das Wort, das er vor Sekunden ausgesprochen hatte. Waffen? Ist das die Antwort, nach der ich suche? Ich erinnere mich an eine Zeit, in der mit neuartigen Waffen experimentiert wurde. Es waren fürchterliche Kampfmittel. Wahrscheinlich haben wir irgendwann Erfolg gehabt. Denn auf einmal erfolgte das Große Chaos. Whoan und Lil atmeten erleichtert auf, als die Bestie davontrottete. Schweigend machten sie sich auf
den Rückweg in eine Zuflucht, die aus Mangrovenbäumen bestand. Sie ließen eine Vergangenheit zurück, von der sie nur ahnen konnten, welches Verbrechen an ihr verübt worden war. Und sie wandten sich einer Zukunft zu, vor der sie sich fürchteten. »Wie soll ich bloß all die Fragen jener beantworten, zu deren Führer ich mich ernannt habe?« sinnierte Whoan. »Vielleicht sind wir von vornherein zum Untergang verdammt. Vielleicht befinden wir uns auch gerade in einer Epoche tiefster Primitivität und wissen es nur nicht. Auf jeden Fall müssen wir versuchen, eine neue Ära, eine neue Zivilisation und eine völlig neue Entwicklungsform zu gestalten. Aber als erstes muß ich ein Mythos erschaffen, das von einem neuen Anbeginn kündet. Mein Volk braucht einen Glauben, um sich aufrecht zu erhalten. Ab jetzt wollen wir unser Flehen an eine Entität richten, die der Schöpfer dieser neuen Zeit sein soll. Einen Namen dafür wollen wir den anderen überlassen. Die jetzige Zeit wollen wir Mesozoikum nennen, das Stadium der dunklen Urzeit. Denn daß uns eine trostlose Düsternis gefangen hält, ist nicht zu bezweifeln.« »Aber werden wir uns jemals an unser neues Dasein gewöhnen können?« fragte Lil und starrte auf die Überlebenden, deren erschreckende Konturen sie zwischen den Mangrovengewächsen erkannte. »Spätestens die zweite Generation wird sich an diesen Zustand gewöhnt haben«, entgegnete Whoan. Er spürte, daß der letzte Rest seiner Erinnerung hinfortgespült wurde. »Jetzt liegt es erst einmal an uns, daß wir uns an diesen seltsamen neuen Körper gewöhnen. Ich weiß, wir sehen furchtbar aus. Doch von nun an brauchen wir Kopf, Arme und Beine, um le-
ben zu können. Bald werden wir unsere ehemalige amöbenhafte Gestalt vergessen haben. Ab jetzt nennen wir uns Mensch.«
Copyright © 1981 by Sven Ove Kassau Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Agentur M.E.R.L.I.N., Hofheim und Zweibrücken
Erno Fischer EXPEDITION DER AMEISEN Till Finish lehnte sich zurück. Ein letztes Mal vor dem Start blickte er sich in der Raumkapsel um. Sam Brownstone und Phil Kessling hatten die Augen geschlossen. Es war ihre Methode, die ungeheure Spannung zu bekämpfen, unter der sie alle litten. Sie hatten auch allen Grund zur Nervosität, denn sie saßen im dritten Schiff, das auf den Weg zum Jupitermond Ganymed geschickt wurde. Würden sie verschollen bleiben wie die anderen? Till Finish schauderte es. Sie waren Freiwillige. Das All lockte sie. Unter Hunderten hatte man sie ausgewählt. Eigentlich wurde ihm jetzt erst bewußt, daß es ein Himmelfahrtskommando war. »Kamikaze!« knurrte er. Sam Brownstone blinzelte kurz, schloß aber sofort wieder die Augen. »Zweiundzwanzig!« sagte die Computerstimme, die den Countdown zählte. Finish dachte an die LX-7. Damit hatte alles begonnen. Es war der erste bemannte Flug für eine solche Entfernung gewesen. Ganymed war nicht einmal das gesteckte Ziel. Die Besatzung sollte Jupiter und alle seine Monde erkunden. Und dann plötzlich der Hilferuf: »Ganymed! Er ist ...« Die Verbindung brach ab. Seitdem hatte man von der Kapsel nichts mehr gehört. »Siebzehn!« sagte der Computer. Verdammt! dachte Finish. Jetzt kann ich nicht mehr
aussteigen. Da hab ich mich vielleicht auf etwas eingelassen. Dabei kann sich kein Mensch erklären, was mit Ganymed sein soll. Einige automatische Sonden haben das Sonnensystem abgeklappert. Es gibt ungezählte Aufnahmen auch von Ganymed. Nichts besonderes. Ein Gesteinsbrocken, der seiner ewigen Bahn um den Jupiter folgt. Und das zweite bemannte Raumschiff ist seit seinem Erkundungsflug ebenfalls verschwunden. Von denen hört man nicht einmal mehr einen Hilferuf. »Acht!« Finish versuchte, sich auf die Computerstimme zu konzentrieren. Aber das beruhigte ihn ganz und gar nicht. Mit jeder Sekunde wurde ihm die Unabwendbarkeit seines Schicksals tragischer bewußt. »Zero!« Gleichzeitig brüllten die Triebwerke los. Die Startrampe summte wie mindestens eine Billion Hornissen. Der Boden erschütterte. Das Raumschiff ritt auf einem Feuerstrahl und zusätzlich stabilisiert und beschleunigt von starken Magnetfeldern durch den zweihundert Meter tiefen Schacht. Die Anlage pumpte verbrannte Gase ab. Wie eine Kanonenkugel schoß die Kapsel aus dem Schacht. Die Beschleunigungsstufe löste sich, wurde abgefangen. Die drei Astronauten rasten in den Himmel. Die mörderischen Andruckkräfte der Anfangsphase waren zwar weitgehend von außen neutralisiert worden, aber der plötzliche Wechsel nach Beendigung der Beschleunigung zum freien Fall machte ihnen arg zu schaffen. Die vergewaltigten Luftmassen donnerten prote-
stierend. Sie bremsten den Flug, als wollten sie das Gefährt auf die Erde zurückreißen. Aber sie hatten genauso wenig Chancen wie die Erdschwerkraft. Die Kapsel erreichte das All. Brownstone und Kessling öffneten ihre Augen und taten plötzlich sehr routiniert. Sie machten sich an die Arbeit. Kessling meldete per Funk: »Orbit! Erste Umkreisung. Werte konstant.« Finish und Brownster funkten ebenfalls, jeder für seinen eigenen Bereich: »Werte konstant!« Die Zeiten, in denen zwischen Raumschiff und Bodenstation viel Geplauder stattfand, waren längst vorbei. Man beschränkte sich auf das absolut Notwendige. Till Finish bedauerte es irgendwie. Er hätte einen Menschen gebraucht, der ihm Mut machte. So begnügte er sich mit Routinearbeit. Bis es nichts mehr zu tun gab. Die zweite Stufe wurde gezündet. Sie waren unterwegs zum Ganymed – und zum Tod? Phil Kessling bedeckte ergeben die Augen mit der rechten Hand. »Ist es wirklich möglich, oder fange ich an zu spinnen? Hat der Kerl doch tatsächlich eines seiner Bücher mit an Bord geschmuggelt.« Till Finish grinste verzerrt. »Mit Buch machte es ihm erst so richtig Spaß, nicht wahr, Sam?« Brownstone ging überhaupt nicht darauf ein. Er beschäftigte sich mit seinem Buch. FABELN stand mit großen Lettern auf dem Einband. Er klappte auf. Das Inhaltsverzeichnis. Erste Geschichte: ›Expedition der Ameisen‹ – Seite 8.
Er blätterte weiter. Da war sie. Die Spötteleien seiner Kameraden prallten wirkungslos an ihm ab. In einer Stunde begann die Periode des Kälteschlafes. Es gab an Bord nichts mehr zu tun. Brownstone würde die Zeit auf seine Weise nutzen – indem er sich seiner liebsten Lektüre widmete. Er hörte noch die Worte von Till Finish: »Auch noch Fabeln. Das Kind im Manne, wie?« Sam Brownstone versank in die Story. Die Ameisen ... »Wir dürfen keine Trupps mehr aussenden«, warnte die eine. »Keine der Gefährtinnen ist zurückgekehrt. Eine Todesfalle.« Die Königin blickte ernst in die Runde. »Wir müssen es wagen. Eine Gefahr, die man nicht kennt, ist eine Bedrohung für alle. Wir müssen sie erforschen, um sie bekämpfen zu können.« Betretenes Schweigen antwortete ihr. Niemand meldete sich freiwillig. Doch, eine: »Ich werde gehen!« War einmal der Anfang gemacht, meldeten sich noch mehr Mutige. Entschlossenheit funkelte in ihren Augen. Was die Königin sagte, war Gesetz. Sollten sie sich feige zurückziehen und warten, bis die Gefahr zu ihnen kam? Sollten sie immer und ewig in Angst vor dem Morgen leben? Nein, Probleme waren dazu da, gelöst zu werden. Sie redeten sich das ein und meldeten sich. Die Königin war zufrieden. Sie stellte aus den Besten einen Spähtrupp zusammen. Unter dem Jubel der anderen machten sie sich auf den Weg ... »He, Sam, es ist soweit!« Sam Brownster schreckte auf. Wie denn, eine ganze
Stunde lang hatte er gelesen? Natürlich nicht. Schließlich brauchten sie Zeit für die Vorbereitungen. Brummig verstaute er das Buch und ging zu dem Ding hinüber, das sie ›Kasten‹ nannten. Mehr war es auch nicht. Darin waren sie geschützt wie in einem Sarg. Gottlob sorgte eine ständige Taumelbewegung des Schiffes für eine annehmbare Schwerkraft. Sie konnten sich fast wie auf der Erde bewegen. Till Finish setzte seine Einschlafautomatik als letzter in Gang, denn er war der Kommandant der kleinen Crew. Ihre Laufklauen schmerzten vom Krabbeln. Es ging bergauf und bergab. Endlich erreichten sie den verlassenen Ameisenhaufen: Ihre alte Stadt. Mit Schaudern dachten sie an die zurückliegende Verlegung. Ein gehöriges Stück Arbeit, zu der sich die Königin wegen der drohenden Gefahr entschlossen hatte. Dennoch war die Angst geblieben. Sie hatte sie bei der Evakuierung begleitet. Am Fuße des Haufens, der wie ein Berg vor ihnen aufragte, legten sie eine kurze Rast ein. Dann ging es weiter. Ein beschwerlicher Weg. Sie krabbelten den steilen Hang empor, kamen an den ersten Schlupflöchern vorbei, sicherten immer wieder nach allen Seiten. Die verlassene Ameisenstadt flößte ihnen Furcht ein. Konnten sie schon hier der Bedrohung erliegen. Schließlich wußten sie noch immer nicht, wie diese aussah. Über die Hälfte des Hügels hatten sie bereits erklommen, als es geschah: Der Boden gab unter ihren Laufklauen nach. Verzweifelt schlugen sie mit den Beinen. Sie hätten es wissen müssen. Der Hügel war durch Regen morsch, die
Gänge brüchig geworden. Verzweifelt schrien sie – bis ihre Stimmen von den Erdmassen abgeschnitten wurden, die über sie stürzten; bis es stockfinster um sie wurde und sie vergeblich nach Luft schnappten ... Das Buch segelte im hohen Bogen durch die Zentrale und krachte gegen die gegenüberliegende Wand. Sam Brownstone sah mit weit aufgerissenen Augen, daß sich der Boden unter ihm wegdrehte. Instinktiv hielt er sich an seiner zum Sessel verwandelten Andruckliege fest. Gottlob war er angeschnallt – wie es der Bordvorschrift entsprach. Das verhinderte, daß er dem Buch folgte und quer durch die Zentrale flog. Den anderen erging es ebenso. »Was ist los?« brüllte er. »Meteoriten!« antwortete Till Finish. Das Licht flackerte. Die Wanderungen knackten und knisterten. Von außen schienen Hagelkörner dagegen zu prasseln. Der zweite Stoß traf die Raumkapsel. Brownstone blickte zum Panoramafenster. Immer wieder zuckten Lichtblitze auf: Die Laserkanone, vom Computer gesteuert. Die größeren Brocken wurden abgeschossen, ehe sie die Kapsel zerschmetterten. Ganz schaffte es der Computer allerdings nicht. Jetzt wußte Brownstone, daß das Chaos an Bord ebenfalls vom Computer verursacht worden war: Er hatte ein Ausweichmanöver durchgeführt. Es hatte so schnell gehen müssen, daß keine Zeit für eine Warnung an die Besatzung blieb. Die automatische Ortung reagierte besser als es je ein Mensch vermocht
hätte. Das war bei dieser Geschwindigkeit auch notwendig. Till Finish knurrte ärgerlich: »Laut Vorschrift hat sich die Besatzung stets anzuschnallen. Wieso rutschst du am Boden herum, Sam?« »Ich suche mein Buch!« »Du Wahnsinniger, die Gefahr ist noch nicht vorbei.« Unwillkürlich lauschten sie. Das Prasseln hatte aufgehört. Finish schaltete den optischen Alarm aus. Das war mit dem Befehl an den Computer verbunden, den alten Kurs wieder einzunehmen. Das Rechengehirn gehorchte. Diesmal war die Besatzung vorbereitet. Die Korrekturstöße aus den Hilfsraketen geschahen dosiert und machten sich kaum bemerkbar. Phil Kessling atmete auf. Er nahm einen Kurzcheck vor. »Die Außenwand ist reichlich angekratzt. Ansonsten ist alles in Butter«, kommentierte er. »Ich hab es!« meldete Sam Brownstone erfreut und nahm das Buch an sich wie einen Schatz. Finish schüttelte den Kopf. »Mit dir haben wir uns vielleicht etwas aufgehalst. Anscheinend ist dir die Fabelsammlung wichtiger als dein eigenes Leben.« Sam Brownstone kehrte an seinen Platz zurück. Sie nahmen einen Gesamtcheck vor, um wirklich sicher zu sein. Till Finish strahlte per Funk seinen Bericht zur Erde ab. Beinahe hätte er Sam Brownstones Schrulle mit eingebaut. Im letzten Augenblick verkniff er es sich. Aber er nahm sich vor, nach seiner Rückkehr die Änderung der ›Teilbestimmung über das Mitführen von privaten Gegenständen auf Raumreisen durch Astronauten‹ zu bewirken. Nach getaner Arbeit blieb Brownstone noch genü-
gend Zeit, sich dem weiteren Schicksal der Ameisen zu widmen. Er las, wie sich die Tierchen von den Erdmassen befreiten und ihren weiteren Weg festlegten. Ihr Mut hatte einen erheblichen Dämpfer bekommen. Doch sie gaben nicht auf. Abermals wurde Brownstone gestört: durch Phil Kessling. »Was ist eigentlich los mit dir, Sam? Jede freie Minute widmest du dem Buch. Es ist der Atmosphäre an Bord sehr abträglich. Wir sind eine verschworene Gemeinschaft, und es wirkt sich negativ aus, wenn sich einer von den anderen abkapselt.« Sam blickte auf. In seinen Augen irrlichterte es. »Wir sollten den Flug zum Ganymed abbrechen«, murmelte er. Till Finish und Phil Kessling tauschten einen bedeutsamen Blick. Um die Mundwinkel von Finish zuckte es. »Abbrechen, eh?« Sam warf einen Blick auf das aufgeschlagene Buch. Die Ameisen marschierten zwar weiter, aber im Moment stritten sie sich. Eine plädierte für Rückkehr. Sam las: Doch ihre Gefährtin mußte einsehen, daß die anderen recht hatten. Eine erkannte Gefahr ist eine halbe Gefahr. Sie hatten sich freiwillig gemeldet, hatten gewußt, daß sie vielleicht der Tod erwartete. Deshalb ... Till Finish sagte gleichzeitig: »Sam, sei nicht kindisch. Wir haben uns freiwillig für dieses Kommando gemeldet. Selbst wenn es unser Leben kostet: Eine erkannte Gefahr ist eine halbe Gefahr. Unsere Aufgabe ist es, für Klarheit zu sorgen, damit ...« »Nein!« stöhnte Sam Brownstone. Etwas wie Wahnsinn flackerte in seinen Augen. »Nein!« Finish blinzelte irritiert. »Wie bitte?«
»Raumkoller!« diagnostizierte Phil Kessling. Er machte Anstalten, sich auf Sam zu stürzen. Sam Brownstone gewahrte es gar nicht. »Dasselbe steht in diesem Buch, Till, begreifst du das? Die Expedition der Ameisen läuft parallel zu unserer Expedition.« Till Finish gab Kessling einen Wink. Die Haltung des Astronauten entspannte sich wieder. Finish war der Kommandant. Wenn er der Meinung war, daß sie Brownstone noch nicht einzusperren brauchten, würde sich Kessling beugen. Finish nahm das Buch an sich. Sam glaubte wohl, daß er nachlesen wollte, aber der Kommandant hatte anderes im Sinn. Er klappte das Buch zu. »Ich werde es in Verwahrung nehmen, Sam. Ich mache mir ernsthaft Sorgen um dich.« Sam Brownstone wollte protestieren, doch da begegnete er dem Blick Kesslings, sah dessen Entschlossenheit. Resigniert zuckte er die Achseln und wandte sich ab. Endlich waren sie oben. Da war das glatte Ding, das direkt aus dem Hügel ragte. Wie ein Baum ohne Äste. Bei Errichtung der Stadt hatte niemand mit einer Gefahr gerechnet. Es entsprach der Tradition, jeden Hügel an einem Baum anzulegen. Es gab kaum einen Unterschied zwischen einem echten Baum und diesem Ding. Oder? Die drei blickten empor. Sie durften nur nicht an ihre Vorgängerinnen denken. Diese waren den gleichen Weg gegangen. Würden auch sie niemals zurückkehren? Sie zögerten vor dem Aufstieg. Irgendwie kam es ihnen endgültig vor ...
»Der Jupiter!« rief Phil Kessling andächtig. Die dritte Wachperiode. Er freute sich wie ein Kind an Weihnachten. Sam schreckte von seiner Lektüre auf und sah direkt in das Gesicht seines Kommandanten. »Jetzt reicht's, Sam! Ich hatte das Buch beschlagnahmt. Du hast es dir einfach wieder genommen. Soll ich dich denn über das Knie legen wie ein unartiges Kind?« Wortlos legte Sam das Buch weg. Finish musterte ihn abschätzig. Aber er streckte seine Hand nicht nach der Fabel aus. »Jupiter!« rief Kessling erneut. Sie sahen hinaus. Ein grandioses Bild. Der gigantische Planet erschien so nahe, als könnte man danach greifen. »Wir sind dicht vor unserem Ziel«, sagte Sam Brownstone, und in Gedanken fügte er hinzu: Wie die Ameisen. Er ergriff den Arm Finishs. »Es ist unsere letzte Chance, Till!« beschwor er den Kommandanten. Finish schüttelte seine Hand ab. »Was soll das? Muß ich dir wieder einen Vortrag halten? Ich verspreche dir eines, Sam: Nach unserer Rückkehr werde ich über alles berichten.« »Und wenn es keine Rückkehr mehr gibt!« Sam senkte den Kopf. Er wandte sich ab, ging zu seinem Buch zurück. Till Finish ignorierte es. Er schickte einen kurzen Funkspruch zur Erde, fügte Meßdaten hinzu. Der Computer sammelte ständig Informationen. In fünf Minuten würde er mit Dauersendung beginnen.
Und Brownstone las, daß die Ameisen ihr Ziel endgültig erreicht hatten. War es Ironie des Schicksals, purer Zufall, daß ein Astronaut die ungewöhnliche Neigung hatte, Tierfabeln zu lesen? Zufall, daß er sich ausgerechnet für dieses Buch und diese Geschichte entschieden hatte? Sam Brownstone hatte keine Zeit, darüber zu philosophieren. Er las, was den Ameisen widerfuhr. Und dann handelte er. Die Ameisen starben, wurden von der Hitze verbrannt, und bevor es den Astronauten widerfuhr, mußte Sam Brownstone eingreifen. Er sprang ans Schaltpult. Bevor die anderen reagieren konnten hatte Sam auf manuell geschaltet und den Beschleunigungshebel nach oben gedrückt. Im nächsten Moment wurde er von einer Riesenfaust gepackt und weggerissen. Wie die beiden anderen landete er an der gegenüberliegenden Wand. »Wahnsinn!« brüllte Till Finish und wünschte Sam in die tiefste Hölle. In diesem Augenblick kreuzten sie die Bahn des Ganymed. Nur Sekundenbruchteile kamen sie in den Bereich der allesverzehrenden Hitze. Der Ganymed hauchte sie an mit seinem heißen Atem. Er mühte sich ab, ihnen das Gehirn aus dem Schädel zu brennen. Dann senkte sich Dunkelheit über sie. Erwachen. Till Finish war der erste. Verständnislos schaute er sich um. Schlagartig erinnerte er sich: Die Hitze. Wenn es schon im Innern der Kapsel so heiß geworden war, mußten die Außenfühler des Computers zerstört sein.
Er richtete sich auf. Nach der Alarmbeschleunigung hatte der Computer wieder das Programm übernommen. Sam Brownstone hatte mit seiner Maßnahme im letzten Augenblick den Kurs verändert. Wir haben diese wahnsinnige Hitze nur ganz am Rande gestreift, und alles war sehr schnell geschehen, konstatierte Till Finish im Stillen. Er taumelte zu den Kontrollen. Sämtliche Systeme in Ordnung. Keinerlei Beschädigung festzustellen. Der Computer stand noch immer auf Sendung. Er schickte Daten zur Erde. Wieviel Zeit war vergangen? Till Finish las: fünf Minuten. Er gab Signal an den Computer: Kommandant am Leben. Erst danach kümmerte er sich um Sam und Phil. Die beiden erwachten ebenfalls. »Was ist das gewesen?« lallte Phil Kessling. Till deutete auf Sam. »Vielleicht solltest du besser ihn fragen?« Sam erwiderte seinen Blick. »Der Buchstabe!« sagte er. »Das Licht war zu hell. Die Ameisen kamen ihm zu nahe.« Lächelnd schüttelte er den Kopf. »Wie konnten die Ameisen auch ahnen, daß sie ihren alten Hügel um eine Stahlstütze angelegt hatten. Wie konnten sie ahnen, daß die Stahlstütze einen Leuchtbuchstaben trug: ein riesiges H. Es gehörte zu einer Schrift: Hyde Park. Mitten im Park befand sie sich. Reklame für eine Idylle. Der Stoßtrupp der Ameisen krabbelte auf den Buchstaben. Die Hitze der Leuchtstoffröhren verbrannte sie.« Till Finish packte ihn an den Schultern. »Und das hat für dich genügt?« Sam deutete zum Panoramaschirm. »Der Ganymed
ist der Pfahl mit dem Buchstaben – und wir die Ameisen. Aber es ist kein Licht, das dort erzeugt wird, für menschliche Augen bestimmt, sondern psionische Energie. Die Außerirdischen sind vielleicht Telepathen. Deshalb haben die automatischen Raumkapseln nichts wahrnehmen können. Das menschliche Gehirn wird davon zerstört – verbrannt wie die Ameisen auf dem Leuchtbuchstaben. Dies ist die erste Expedition, die sich der vollautomatischen Steuerung durch den Computer anvertraut. Hätte ich nicht eingegriffen, würde der Computer unseren Tod melden und unsere Leichen zur Erde zurückbringen. Das Geheimnis würde bleiben. Ebenso wie der Ameisenstaat nie mehr einen Stoßtrupp losschicken wird, weil der letzte nicht zurückkehrte ...« Till Finish trat zum Panoramaschirm und betrachtete den Ganymed – diesmal wieder von der ungefährlichsten Seite. Das Zeichen der Außerirdischen zeigte aus dem Sonnensystem hinaus. Es war so gigantisch, daß man es gewiß über tausend Lichtjahre hinweg wahrnehmen konnte. Vielleicht eine Orientierungshilfe in der Raumfahrt der Extraterrestrischen? Wenn man weit genug entfernt war, barg es auch keine Gefahr mehr. Ähnlich wie bei dem Leuchtbuchstaben in der Fabel, der einen nur verbrannte, wenn man drauf herumkrabbelte. Till Finish schloß die Augen. Wie mächtig waren diese Wesen die solches geschaffen hatten? Riesen gegenüber menschlichen Ameisen. Etwas wie Ehrfurcht erfüllte ihn. Er wußte, daß diese Entdeckung die Entwicklung auf der Erde nachhaltig beeinflussen würde – selbst wenn die unvermeidliche Begegnung mit den Außerirdischen erst
in tausend Jahren stattfinden sollte. Das Bewußtsein ihrer Existenz genügte ...
Copyright © 1981 by Wilfried A. Hary Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Agentur M.E.R.L.I.N., Hofheim und Zweibrücken
Kai Riedemann DER ELFENBEIN-KÄFIG Tagebucheintrag Alexander van Heeren 31. 8. 1995 »Projekt 7-B-13 macht nicht die Fortschritte, die man von oben erwartet hat. Die Code-Bezeichnung ist ja auch nicht gerade vielversprechend. Ich frage mich nur, wem sie mehr Unglück bringen wird: denen da oben – oder mir. Seitdem wir praktisch auf der Stelle treten, wird man ziemlich ungeduldig. Erst gestern war wieder ein angeblich interessierter Politiker zur Besichtigung da. Ich weiß wirklich nicht, wie lange ich dieses Spiel noch durchhalten kann. Schließlich scheint Projekt 7-B-13 zu einem völligen Fehlschlag zu werden, und es mehren sich die Anzeichen, daß irgend jemand ziemlich wirkungsvoll jeden wesentlichen Erfolg und jedweden Fortschritt bereits im Keim ersticken will. Nur noch eine Frage der Zeit, bis ihre Geduld reißt und sie sich ernsthaft dieser Sache annehmen. Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich Angst davor.« »Sieht nicht besonders gut aus, was?« kam die mehr rhetorische Frage Karins. Alexander van Heeren schüttelte ziemlich resignierend den Kopf und warf seiner Assistentin einen mürrischen Blick zu. Die beiden verband zwar mehr als nur die gemeinsame Arbeit, aber hier im Center reduzierten sich ihre Gefühle auf ein Minimum. Zwangsläufig.
»Wir kommen nicht weiter. Es ist zum verrückt werden. Sieh dir doch nur einmal dies hier an!« forderte er die Frau mit den schulterlangen blonden Haaren auf. »Nach allen unseren Erfahrungswerten und den Ergebnissen früherer Testreihen hätte eine positive Mutation eintreten müssen. Entweder ist irgendwo noch ein versteckter Fehler in der Versuchsanordnung, oder unsere Bemühungen der letzten Jahre waren samt und sonders umsonst. Das könnte sogar bedeuten, daß wir wieder ganz von vorne anfangen müssen.« Er seufzte und stand auf, um seine Checkliste zu den anderen Unterlagen in den Wandtresor zu schließen. Es war schon spät, und Alexander war sich durchaus darüber im klaren, daß sie heute wohl kaum noch einen entscheidenden Schritt weiterkommen würden. »Vielleicht sollten wir kurzfristig eine Team-Besprechung ansetzen?« schlug Karin vor. Alexander winkte unwillig ab. Die Schwierigkeiten ließen sich nicht einfach durch eine Besprechung beseitigen. Im Gegenteil. »Wir arbeiten vorläufig so weiter wie abgesprochen. Ich kann und will Projekt 7B-13 schließlich nicht so schnell aufgeben.« »Ach nein, wirklich nicht?« Der ironische Unterton in der Stimme der jungen Frau war nicht zu überhören. Aber Alexander schwieg. Das Labor lag direkt im unterirdischen Zentraltrakt des Forschungsinstituts, und als Alexander und Karin auf den breiten Sternkorridor hinaustraten, wurden sie zu einem Teil des pulsierenden Lebens dieser überdimensionalen Anlage. Ruhe gab es nur hinter den verschlossenen Türen der einzelnen Labors – hier
draußen herrschte die Hektik. Grellrot lackierte MiniCars summten fast lautlos vorüber; besetzt mit Forschern aus anderen Abteilungen, beladen mit technischen kostspieligen Geräten, ganzen Versuchsanordnungen, Aktenstapeln oder in Beschlag genommen von den allgegenwärtigen Mitarbeitern der Sicherheitsabteilung. Alexander van Heeren fluchte lautlos. Er war viel zu sehr bedingungsloser Wissenschaftler und Einzelgänger, um sich in diesem hektischen Leben wohlfühlen zu können. Die gesamte Anlage war perfekt geplant. Sie reichte mehrere Stockwerke tief in den Fels des Gebirges und war absolut autark. Notfalls konnte sich das Institut über drei bis vier Jahre selbst versorgen. Vom eigentlichen Zentralschacht gingen sternförmig Korridore ab. Kalte, leblos graue Wände, die lediglich von den roten Türen der einzelnen Labors und Büros unterbrochen wurden. Jede Tür war überdies mit der Nummer der einzelnen Abteilung, dem Namen des Projektleiters und der Code-Bezeichnung des zu bearbeitenden Projekts gekennzeichnet. Winzige Identifikationsanlagen sorgten dafür, daß nur autorisierte Personen diese Räume betreten konnten. Alexander zum Beispiel hatte nur Zugang zu drei Labors – denen seiner eigenen Abteilung. Es war ein mehr oder weniger offenes Geheimnis, daß die meisten Wissenschaftler des Centers diese Regelung mißbilligten und sie als Eingriff in ihre Forschungsfreiheit betrachteten. Aber jeder Versuch, eine Lockerung dieser strengen Vorschriften zu erreichen, war bisher mit dem Hinweis auf die Sicherheitsbestimmungen abgewehrt worden ... Alexander und
Karin zwängten sich gerade durch die ElektronenKontrolle der Terminalhalle, als sie nur wenige Meter entfernt den grünen Mini-Car von Petra entdeckten. Petra war die Kybernetikerin aus Alexanders Team, und eigentlich hatte sie an diesem Tage frei. Ihr Arbeitseifer war jedoch allgemein bekannt, und niemand wunderte sich, sie auch noch zu den unmöglichsten Zeiten im Center anzutreffen. »Hallo!« rief sie schlicht und warf ihr langes dunkles Haar mit einer unnachahmlichen Kopfbewegung in den Nacken. »Darf ich dich heute ausnahmsweise mal zum Abendessen einladen, Karin? Hab mir nämlich endlich den neuen Küchencomputer geleistet, und das muß doch gefeiert werden. Ohne die Männer, versteht sich.« Karin lachte. Auch wenn Petra ansonsten nicht allzuviel von der traditionellen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau hielt, ließ sie sich das Kochen und Backen als Lieblingshobby nicht nehmen. »Warum eigentlich nicht?« meinte Karin und fügte mit einem Seitenblick auf Alexander hinzu: »Aber du weißt doch, daß wir den Zwischenbericht für die Institutsleitung bis morgen fertig haben müssen.« Petra zog eine verzweifelte Grimasse. »Als wenn Alex nicht einmal ohne dich fertigwerden könnte. Los, steig ein. Vielleicht ist er sogar froh, dich für einen Abend los zu sein.« Eine Bemerkung, die Alexander zu einer spontanen Beifallsäußerung veranlaßte. Also zuckte Karin resignierend mit den Schultern und ließ sich dann ächzend in den Beifahrer-Sitz des Mini-Car fallen. Alexander kam nicht einmal mehr dazu, seiner Assistentin und Freundin eine ironische Abschiedsbemerkung mit auf den Weg
zu geben, denn schon ruckte das Fahrzeug an und verschwand im nächsten Augenblick bereits in der Tunnelröhre, die an die Oberfläche führte. Alexander aber blieb nicht lange allein. Kaum war Petras Wagen außer Sichtweite, hielt ein zweiter Mini-Car neben ihm. Der junge Wissenschaftler blickte sich noch einmal kurz um, stieg dann ein, und dann setzte sich auch dieses Fahrzeug wieder in Bewegung. »Übertreibt Ihr euer Spiel nicht ein wenig?« Michael, Biochemiker in Alexanders Team und ziemlich eng mit Petra befreundet, schüttelte energisch den Kopf. »Es ist wichtig. Verdammt wichtig sogar. Sonst hätte ich dir nie eine solche Nachricht zukommen lassen.« »Und Karin? Warum habt ihr sie mit einer derart fadenscheinigen Begründung weggelotst?« »Du wirst es früher erfahren, als dir lieb ist«, war die ausweichende Antwort. Alexander zog unsicher eine Augenbraue hoch, fragte aber nicht nach. Er wußte, daß er sich auf Michael in jeder Beziehung verlassen konnte. Schweigend saßen die beiden Freunde nebeneinander, während der Mini-Car durch die unterirdischen Tunnelröhren des Instituts raste. Am Zentraltor mußten beide noch einmal ihre Legitimationen vorzeigen, dann glitt ihr Fahrzeug in die Fernleitschiene 33 ein und wurde vom Zentralen Verkehrscomputer übernommen. »Also?« fragte Alexander. Er wurde ungeduldig. Schließlich mußte der Zwischenbericht an die Institutsleitung tatsächlich bis morgen vorliegen, und jede
Verzögerung konnte nur unliebsame Kontrollen nach sich ziehen. Michael sah seinen Freund und Vorgesetzten einen Augenblick nachdenklich an. »Petra und ich – wir hauen ab!« sagte er dann schlicht. Alexander schüttelte ungläubig den Kopf. »Das ist doch nicht dein Ernst?« »Durchaus. Wir haben immer gewußt, daß das Ganze auf die Dauer nicht gutgehen konnte. Eines Tages mußte die Sache auffliegen – darüber sind wir uns immer im klaren gewesen. Jetzt mußt du auch bereit sein, die Konsequenzen zu ziehen.« »Du meinst, sie wissen Bescheid?« Michael lachte bitter auf. »Zumindest haben sie Verdacht geschöpft. Es kann sich nur noch um Tage handeln, bis sie uns festsetzen. Und was das bedeutet, weißt du genauso gut wie ich.« Alexander wußte nur allzugut, was das bedeutete. Und er wußte auch, daß Michael recht hatte. Sie hatten es gewagt, sich den Instruktionen der Institutsleitung zu widersetzen, und sie hatten Projekt 7-B-13 sabotiert. Man ahnte sicherlich schon länger dort oben, was eigentlich gespielt wurde, aber Alexander war immerhin eine Kapazität auf seinem Fachgebiet, die man nicht so ohne weiteres aus dem Verkehr ziehen konnte – ohne stichhaltigen Grund. In letzter Instanz würde man aber wahrscheinlich auch auf solche Kleinigkeiten keine Rücksicht mehr nehmen ... Alexander dachte zurück an die Zeit, als alles begonnen hatte. Damals war er als junger ehrgeiziger Wissenschaftler ins Center gekommen und hatte schon
bald mit seinen Untersuchungen über die Beeinflußbarkeit von Gen-Mutationen erhebliches Aufsehen erregt. Er hatte nachzuweisen versucht, daß mittels komplizierter Strahlenbehandlungen Mutationen nicht nur künstlich hervorgerufen, sondern auch gesteuert werden konnten. Man hatte sich damals ziemlich intensiv mit seinen Untersuchungen befaßt, und in seinem blinden Eifer hatte er Stolz und Genugtuung darin gefunden, hatte nicht sehen wollen, daß die Geldgeber des Instituts einzig und allein an späteren zumindest fragwürdigen Auswertungen dieser Entdeckung interessiert waren. Man hatte ihm ein Forschungsteam an die Seite gestellt: Karin, Michael, Petra und Christiane. Das lag jetzt gut vier Jahre zurück. Vier Jahre, die angefüllt waren mit intensiver Arbeit, mit einer Unmenge von Experimenten und Untersuchungen zur Gen-Manipulation. Das Endglied dieser Kette war Projekt 7-B-13. Doch je näher Alexander seinem Ziel gekommen war, umso weniger hatte er sich mit eben dieser Zielsetzung identifizieren können. Er hatte plötzlich erkannt, daß er nichts anderes war als ein funktionierendes Rädchen in einem Apparat, über dessen Funktion er selbst nicht das geringste hatte wissen wollen. Er hatte dem Institut den kleinen Finger gereicht, es hatte nach seiner ganzen Hand gegriffen. Menschliche Mutation – das war das Zauberwort, das das Interesse der Geldgeber geweckt hatte. Lächerliche Experimente mit Tieren waren zweitrangig, Züchtung neuer widerstandsfähiger Rassen zur Erleichterung der Haustierhaltung und Sicherung der Fleischversorgung, Rekonstruktion ausgestorbener Arten zur Wiederherstellung des ökologischen Gleichgewichts –
Möglichkeiten, die Alexander van Heeren fasziniert hatten, aber gewissen Leuten im Hintergrund nur ein mitleidiges Lächeln abringen konnten. Alexander hatte zunächst erwogen, die Arbeit einzustellen, sich den Weisungen direkt zu widersetzen, dann aber schnell eingesehen, daß das wenig Sinn haben würde. Selbst wenn er persönlich ausgeschieden wäre, hätten andere vermutlich sein Werk fortgeführt. Denn sämtliche Forschungsergebnisse mußten in Zwischenberichten eingereicht werden und verschwanden dann in den Tresoren des Instituts. Alexander hatte auf seine Chance gewartet. Auf die Chance, dem Teufelskreis zu entfliehen und eine Auswertung seiner Entdeckung zu verhindern. So hatte er begonnen, seine eigene Arbeit zu sabotieren. Bis er offensichtlich Projekt 7-B-13 zu lange hinausgezögert hatte. Michaels Stimme riß ihn unvermittelt aus seinen Gedanken. »Wir haben alles vorbereitet, Petra und ich. Ich weiß, es ist im Grunde genommen feige, vor der Verantwortung zu fliehen, aber uns ist jetzt alles egal. Wir wollen nur noch eines: frei sein, leben. Wir wissen zwar noch nicht mit letzter Sicherheit, wo wir zunächst mal einen Unterschlupf finden, aber dieses Risiko nehmen wir auf uns. Morgen ist der entscheidende Tag. Wenn du willst, kannst du mitkommen.« Alexander sah seinen Freund nachdenklich an. Er hatte immer mit dieser letzten Konsequenz gerechnet, war bewußt die Gefahr eingegangen, aber jetzt, wo es soweit war ... »Du mußt dich entscheiden, bevor es zu spät ist, Alex. Sie haben einen Spitzel in unserem Team, der sie über jeden unserer Schritte auf dem laufenden
hält. Die da oben wissen längst, daß bei Projekt 7-B-13 etwas faul ist.« Alexander wurde unwillkürlich blaß. »Ein Spitzel der Institutsleitung? Willst du mir vielleicht auch verraten, wer das sein soll?« Michael biß sich auf die Unterlippe und blickte an Alexander vorbei auf die von unzähligen Scheinwerfern erhellte Fahrbahn. »Karin!« sagte er leise. Alexander schwieg. Er hätte am liebsten geschrien, irgend etwas, ein spontanes »Nein!«, er hätte Michael ins Gesicht schlagen können, hätte sein Vertrauen zu Karin durch ein lautes Lachen beweisen können. Er tat es nicht. Er schwieg. »Petra hat über unser Interkom ein Gespräch zwischen Karin und Pratz belauscht. Du weißt ja, was das bedeutet.« Auch das wußte Alexander. Pratz war der Leiter des Sicherheitsdienstes. Offiziell sollte diese Organisation die Wissenschaftler vor Spionage und Attentaten der Gegenseite schützen, ihre eigentliche Aufgabe bestand allerdings eher in der Bespitzelung und Überwachung der Forscher selbst. Wenn also Karin mit Pratz ... Alexander spürte so etwas wie einen tiefen Schmerz in sich. Er hatte sich nie eingestehen wollen, daß seine Gefühle für Karin wirklich so intensiv waren. Sie war als seine Assistentin an seine Seite getreten, und er hatte sie schätzen und lieben gelernt. Sollte das alles wirklich nicht mehr als eine einzige Komödie gewesen sein, die sie ihm vorgespielt hatte? Ihre Liebe – nichts als Lüge? »Weiß sie Bescheid über die Sabotage?« fragte Michael ernst. Alexander schüttelte den Kopf. »Ich wollte sie nicht mit in die Sache hineinziehen,
deshalb habe ich sie nicht eingeweiht. Natürlich kennt sie meine Einstellung zu dem Projekt und sicherlich ahnt sie auch etwas ... Verstehst du, es kann ihr einfach nicht verborgen geblieben sein, daß da irgend etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Schließlich seid auch ihr über Experiment 14-Z gestolpert, obwohl ich euch ebensowenig mit hineinziehen wollte.« Die nächsten Minuten bis zur Ankunft des MiniCar an Alexanders Haus verliefen schweigend. Michael hatte den Auto-Pilot ausgeschaltet und die Steuerung von Hand übernommen, so daß der Wagen etwas unsanft aufsetzte. Alexander wich dem Blick seines Freundes aus. »Wenn ich mich entschieden habe, rufe ich dich an«, sagte er dann mit tonloser Stimme. »Ich muß erst einmal in Ruhe darüber nachdenken.« Mit diesen Worten glitt er aus dem Schalensitz des grünen Zweisitzers und ging nachdenklich auf sein flaches, schmuckloses Haus zu. Der Zwischenbericht für die Institutsleitung mußte bis morgen früh fertig sein ... Tagebucheintragung Alexander van Heeren 1. 9. 1995 »Das Gespräch mit Michael hat mich mehr getroffen, als ich wahrhaben möchte. Es ist nicht so sehr die Tatsache, daß Michael und Petra sich aus dem Institut absetzen wollen; damit haben wir schließlich immer rechnen müssen. Aber der Verdacht gegenüber Karin beunruhigt mich. Ich weiß einfach nicht, wem ich mehr Vertrauen schenken soll – Michael oder Karin. Warum aber sollte er mich anlügen? Vielleicht ist das
Ganze auch nur ein einziges Mißverständnis, das sich leicht klären läßt. Ich müßte versuchen, mir Klarheit über Karins Verhältnis zu Pratz zu verschaffen. Aber ich habe nicht den Mut, sie direkt zur Rede zu stellen. Dabei hätte ich noch gestern über einen derartigen Verdacht nur gelacht. Karin.« »Der Bericht ist fertig?« Alexander sah nur kurz von seinem Buch auf und nickte Karin zu. Sie war erst vor wenigen Minuten nach Hause gekommen. Merkwürdig verschlossen und still. Sie war blaß, und das Lächeln, das sie Alexander zuwarf, wirkte verkrampft. »Die Unterlagen sind bereits über Fernkopierer ans Institut gegangen. Man wird nicht gerade begeistert sein von den Ergebnissen, fürchte ich.« Er legte das Buch endgültig beiseite und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Whiskyglas. »Ich fürchte sogar, man wird sich mit den Ergebnissen nicht so ohne weiteres zufriedengeben.« »Es ist nicht deine Schuld, daß Projekt 7-B-13 zu einem Fehlschlag geworden ist. Du hast dein Bestes getan. Irgendwo muß einfach noch ein Fehler liegen. Und wenn du konzentriert an der Sache arbeitest, wenn du das Ganze noch einmal ganz von vorne durchgehst, alles überprüfst, durchcheckst, wirst du den Fehler finden. Zu zweit müßten wir es eigentlich schaffen, da bin ich mir ganz sicher.« Karin lächelte aufmunternd, aber es wirkte immer noch verkrampft. »Was ist los mit dir, Alexander? Was ist aus deinem Ehrgeiz geworden, aus deinen Träumen, Zielen? Erinnerst du dich noch an unsere ersten gemeinsamen Tage damals? Du hast mich sofort fasziniert – deine Zielstrebigkeit, dein Selbstvertrauen, dein bedin-
gungsloser Glaube an deine Sache. Und jetzt? Wach doch auf, Alexander! Dir und mir zuliebe, bitte!« Alexander musterte seine Freundin über den Rand des Whiskyglases hinweg nachdenklich. Seitdem Michael ihn über den schwerwiegenden Verdacht informiert hatte, betrachtete er jedes Wort, jede Bewegung, jede Geste Karins mit anderen Augen. Er wußte selbst nicht, warum, aber irgendwo in ihm stritten sich seine gespaltenen Gefühle, versuchte auf der einen Seite die Vernunft die Naivität, auf der anderen das Vertrauen den Verdacht zu besiegen. Karin ... Er dachte plötzlich wieder an die gemeinsamen Stunden, die gemeinsamen Erlebnisse, die Träume und Pläne, die sie verbanden. Er dachte an die Reise im letzten Jahr, die gemeinsame Reise in die Einsamkeit einer unberührten Inselwelt. Und er dachte an die vier Jahre Liebe, vier Jahre Verständnis, vier Jahre Vertrauen. Erst das Schrillen des Telefons riß ihn aus seinen Gedanken. Er stellte ruckartig sein Glas auf den niedrigen Couchtisch und tastete die Verbindung ein. Auf der Sichtscheibe erschien das vertraute Gesicht Wegeners. Wegener war der Verwaltungschef der Abteilung 7 des Centers. Aber was um alles in der Welt hatte ihn veranlaßt, um diese Zeit anzurufen? Alexander verspürte plötzlich ein flaues Gefühl im Magen. »Dr. van Heeren? Gut, daß ich Sie sofort erreiche. Können Sie so schnell wie möglich ins Center kommen? Es ist wichtig.« Alexander runzelte die Stirn. Warum sagte Wegener nicht klipp und klar, was man von ihm wollte?
Mit dem Forschungsbericht konnte es nicht zusammenhängen. Der mußte sich noch in der Auswertung befinden. »Was ist los, Wegener? Ich habe das Center erst vor wenigen Stunden verlassen, bis jetzt den Zwischenbericht geschrieben und bin todmüde. Was also liegt an?« Wegener machte ein ziemlich unglückliches Gesicht. Er blickte kurz zur Seite, so als bitte er wortlos bei jemandem um Instruktionen, dann seufzte er vernehmlich. »Ein Unglück in einem Ihrer Labors. Offenbar hat es einen Kurzschluß gegeben. Wir wissen noch nichts genaueres. Deshalb ist Ihre Anwesenheit hier dringend erforderlich. Außerdem ... außerdem befanden sich zum Zeitpunkt der Explosion Dr. Janek und Dr. Anderson im Labor. Sie wurden bereits in die Spitalabteilung gebracht, aber ich fürchte, es sieht nicht gut aus ...« Alexander tastete wortlos die Verbindung aus. Michael und Petra im Center? Ein Kurzschluß? Eine Explosion? Wirre Gedanken wirbelten in seinem Kopf durcheinander; zuviel war einfach in den letzten Stunden auf ihn eingestürmt. Hatte das Unglück etwas mit dem Fluchtversuch der beiden zu tun? Aber Michael hatte doch auf jeden Fall auf ihn warten wollen. Und außerdem war Karin ... Alexander blickte auf und sah Karin am Fenster stehen. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt. In sanften Wellen fiel ihr das lange blonde Haar auf die Schultern, und die verwirrenden Lichter der Nacht tauchten ihren faszinierenden Körper in das Zwielicht der Ungewißheit. Schweigend trat er an sie her-
an, legte die Hand auf ihre Schulter und drehte sie sanft aber bestimmt herum. Seine Augen suchten ihre Augen, aber Karin riß sich ruckartig los. Mit zitternden Händen zündete sie sich eine Zigarette an, blies den Rauch nervös durch den halbdunklen Raum und sagte kein Wort. Alexander begriff. Aber er wußte auch, daß es zu spät war. Viel zu spät. Tagebucheintragung Alexander van Heeren 2. 9. 1995 »Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Karin ist nebenan. Ich habe plötzlich Angst vor ihr. Vor ihr und ihrer Gleichgültigkeit. Und ich habe tatsächlich an sie geglaubt, habe ihr vertraut. Der Anruf hat mich endgültig auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, hat meine Illusionen und Träume zerstört. Ich muß der Realität ins Auge sehen, auch wenn es noch so bitter ist. Soll ich ins Center fahren? Wahrscheinlich sind Michael und Petra längst tot. Und ich weiß schließlich nicht mal, ob nicht auch mich dort der Tod erwartet. Andererseits ist mir jetzt alles ziemlich egal. Während ich diese Worte schreibe, packt Karin unsere Unterlagen zusammen, um mit mir ins Center zu fahren. Ich fürchte, ich werde doch mitfahren, auch wenn ich es nicht tun sollte. Vielleicht ist dies die letzte Seite meines Tagebuches.« Der Explosionsdruck hatte den spezialverstärkten Wänden nicht allzuviel anhaben können. Insofern deutete auch nur wenig auf die Katastrophe hin, die sich vor gut zwei Stunden hier ereignet hatte. Alex-
ander stand mit unbewegtem Gesicht neben Sicherheitschef Pratz und blätterte in den Protokollen des Alarm-Kommandos. Er war sich ziemlich sicher, keine Fehler in der perfekten Organisation dieses eiskalten Mordes entdecken zu können. Denn daß Michael und Petra Opfer eines verhängnisvollen Unfalls geworden waren, daran konnte und wollte er nicht glauben. Zu viele Tatsachen sprachen dagegen. Nicht zuletzt die Reaktion Karins, die ja erst vor wenigen Stunden mit Petra zusammen gewesen war. Offiziell hatte ein Kurzschluß in der Versuchsanordnung P-4 automatische Stabilisierungskontrolle zerstört. Es war zur Explosion gekommen. Als das ständig einsatzbereite Alarm-Kommando am Unfallort eingetroffen war, war es bereits zu spät gewesen. Die Gewalt der Explosion hatte Michael und Petra fast buchstäblich zerrissen. Beide waren auf dem Weg in die Spital-Abteilung verstorben. So jedenfalls stand es im Protokoll. Alexander ließ die Mappe mit den engbeschriebenen Blättern achtlos sinken und musterte Pratz. Der Chef der Sicherheitsabteilung war klein und untersetzt. Seine nur von einem schmalen Haarkranz umgebene Glatze war ständig mit Schweißperlen bedeckt, und seine Augen schienen nie stillzustehen. Alexander haßte diesen kleinen eiskalten Mann – nicht erst seit den Vorfällen am heutigen Tag. Zuviel Gerüchte wurden hinter vorgehaltener Hand über ihn verbreitet, als daß auch nur ein Wissenschaftler im Center freundschaftliche Gefühle für ihn zu hegen in der Lage war. »Tragisch«, bemerkte Pratz mit seiner hohen unnatürlich schrillen Stimme. »Tragisch, in der Tat.« Er
zuckte bedauernd mit den Schultern und versuchte zu lächeln. »Ich hoffe, Dr. van Heeren, Sie werden in Zukunft besonders vorsichtig mit Ihren Gerätschaften hantieren. Sie sehen ja, wie leicht so etwas ins Auge gehen kann, nicht wahr?« Alexander schluckte. Er hatte eine Antwort auf der Zunge, eine bittere Antwort, eine Antwort, die er hätte geben müssen, aber er schwieg. Zu offensichtlich sprach der Hohn aus den mitleidsvollen Worten des Sicherheitschefs. »Sie sind mir doch nicht böse, Dr. van Heeren, wenn ich Sie jetzt wieder allein lasse? Es gibt noch viel zu tun. Papierkrieg, Sie kennen das ja. Dr. Karin Hartmann wird schon dafür sorgen, daß Sie auf andere Gedanken kommen. Nicht wahr, Dr. Hartmann?« Karin nickte Pratz freundlich zu und legte Alexander die rechte Hand auf die Schulter. »Pratz hat recht; das beste ist, du versuchst das Ganze so schnell wie möglich zu vergessen. Sieh mal, Leute wie Michael oder Petra sind doch zu ersetzen. Ihr Tod ist sicherlich tragisch, aber er darf uns in unserer Arbeit nicht aufhalten. Verstehst du, was ich meine?« Auch das verstand Alexander. Er empfand plötzlich ein Gefühl von Bitterkeit, das sich in ihm ausbreitete, ihn von innen heraus zu zerfressen schien. Michael und Petra waren zu ersetzen. Für das Center zweifellos. Aber welche Bedeutung hatte schon das Center im Verhältnis zum Leben zweier junger Menschen? »Darf ich dich fragen, was ihr mit mir vorhabt? Werde ich auch das Opfer eines tragischen Unglücksfalls?« Karin zog unwillig eine Augenbraue hoch. »Du weißt, daß ich dich liebe, Alex, aber du weißt
auch, was meine Arbeit, unsere Arbeit für mich bedeutet. Unser gemeinsames Ziel. Ich war überzeugt davon, daß du von allein Vernunft annehmen würdest. Und denk ja nicht, daß ich nichts von deiner heimlichen Sabotage gemerkt hätte. Ich war mir nur sicher, daß du eines Tages begreifen müßtest, welchen fatalen Fehler du machst.« »Ich bin zu wertvoll für euch, was? Wertvoller als Michael und Petra. Die sind zu ersetzen – sagtest du nicht so ähnlich? Ich aber werde noch gebraucht, man kann auf mich und mein Wissen meine Fähigkeiten nicht verzichten. Deshalb die sanfte Tour.« Die beiden waren langsam den Sterngang in Richtung Terminalhalle gegangen, hatten den Ort der Katastrophe hinter sich zurück gelassen. Alexander war fest entschlossen, nie wieder eines dieser Labors zu betreten. Jedenfalls nicht freiwillig. Für ihn gab es jetzt einfach keine Alternative mehr; er hatte irgendwann einen Fehler gemacht, in seiner Naivität geglaubt, gegen eine unsichtbare Übermacht bestehen zu können, hatte zu hoch gespielt – und verloren. Er selbst konnte nichts mehr tun. Die Unterlagen über seine Entdeckungen befanden sich im Tresor des Centers, die Entwicklung ließ sich vielleicht noch hinauszögern, aber nicht mehr aufhalten. Also mußte er die Konsequenzen ziehen und dem Ganzen endgültig ein Ende setzen. Es würde eine Flucht sein. Eine Flucht, bei der er im Grunde genommen bereits nichts mehr zu gewinnen hatte. Es war ein Fehler gewesen, noch einmal mit Karin ins Center zurückzukehren.
Der Mann, der plötzlich vor ihm stand, trug einen gelben, einteiligen Overall und lächelte. Alexander erkannte ihn sofort. Carelli. Professor Carelli. Ein Studienkollege, ehrgeizig und genial – eine verhängnisvolle Kombination, wie Alexander an den Fehlern seiner eigenen Vergangenheit erkannt hatte. »Hallo, Alex!« sagte Carelli und lächelte immer noch. »Ich habe eben gehört, was passiert ist. Wirklich tragisch, sehr tragisch. Tut mir wirklich leid um die beiden.« Er drückte Alexander mit gespielter Anteilnahme die Hand. Carelli war kalt, zu keiner wirklichen Regung fähig. Aber er lächelte. »Vielleicht können Sie Alexander helfen, Prof. Carelli«, meinte Karin. »Sie kennen ihn doch schon seit der Studienzeit. Das Unglück hat ihn offenbar ziemlich mitgenommen, und ich glaube, er braucht einfach ein bißchen Entspannung.« Carelli nickte. Er fischte ein kleines Notizbüchlein aus einer Tasche seines Overalls und blätterte kurz darin. Dann packte er Alexander anbiedernd bei der Hand und zog ihn mit in Richtung Terminalhalle. »Ich habe eigentlich frei, aber für dich opfere ich sogar meine wertvollen Freistunden, Alex. Ich hab schließlich auch einiges wieder gutzumachen. Weißt du noch, damals, die Sache mit dem alten Schneider?« Alexander nickte mechanisch. Er mußte plötzlich daran denken, an welchem Projekt Carelli gearbeitet hatte, als sie sich das letzte Mal begegnet waren. Bewußtseinsbeeinflussung. Totale Willenskontrolle. Nicht vergleichbar mit Hypnose, nein, eher eine Art Gehirnwäsche mit anschließender Neuprogrammierung. So jedenfalls hatte Carelli es damals formuliert.
Alexander spürte den festen Druck von Carellis Hand, wußte Karin in seinem Rücken, und er begriff plötzlich, daß es tatsächlich zu spät war. Michael und Petra waren zu ersetzen. Er nicht. Als sie in die Terminalhalle einbogen, entdeckte er plötzlich Christiane in dem Gewühl der Menschenmengen. Sie sah ihn kurz an ihr sanftes Gesicht unter den kurzen dunklen Haaren hatte einen merkwürdig ängstlichen Zug. Aber bevor Alexander sie ansprechen konnte, war sie bereits wieder verschwunden. »Du wirst sehen, Alex in ein paar Stunden bist du ein ganz anderer Mensch.« Carelli lächelte. Und Alexander glaubte ihm jedes Wort. Tagebucheintrag Alexander van Heeren 3. 9. 1995 »Ich muß ziemlich verwirrt gewesen sein, daß ich derart merkwürdige Dinge niedergeschrieben habe. Wahrscheinlich hat Karin recht, und die Fehlschläge der letzten Wochen und Monate haben mich mehr mitgenommen, als ich wahrhaben wollte. Und jetzt auch noch der tragische Unfall von Michael und Petra. Karin hat vorgeschlagen, erst mal für zwei, drei Wochen wegzufahren. Alles vergessen – das Institut, das Projekt, die Probleme und Schwierigkeiten. Schließlich hat auch Carelli mir geraten, mal auszuspannen und abzuschalten. Nicht daß er mir plötzlich wesentlich sympathischer geworden wäre, aber so unrecht hat er wirklich nicht. Karin hat bereits mit Pratz und Wegener gesprochen. Ein paar Tage Urlaub auf jener Insel, auf der wir schon einmal verdammt glückliche Stunden erlebt haben. Damals. Es
wird mir dann um so leichter fallen, mit Projekt 7-B13 weiterzumachen. Der Fehler in der Versuchsanordnung dürfte schnell gefunden sein, und dann kann es sich eigentlich nur noch um wenige Monate handeln, bis ich der Institutsleitung den erfolgreichen Abschluß des Projektes melden kann. Irgendwie bin ich stolz darauf, mein Ziel endlich zu erreichen, meinen kleinen Beitrag zum Fortschritt der Wissenschaft leisten zu dürfen. Karin steht gerade hinter mir und blickt mir über die Schulter. Ich liebe sie, und ich weiß daß ich ihr bedingungslos vertrauen kann. Ich schäme mich meines Verdachtes. Es ist mir einfach unbegreiflich, daß ich auch nur für kurze Zeit an ihr gezweifelt habe. Ich weiß jetzt, daß ich ohne sie nicht leben kann. Ohne sie und meine Arbeit.«
Copyright © 1981 by Kai Riedemann Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Norbert Fangmeier AUSVERKAUF DER SEELEN Es war ein Schock für Sander als er inmitten der alten Gesichter unter ihm im Andachtsraum ein junges, sah, ein paar Augen, glänzend wie Metall, nicht trüb, wie all die anderen, die schon zu viele Schrecken gesehen hatten und nun scheinbar gar nichts mehr wahrnehmen wollten. Sander stockte einen Augenblick, dann fuhr er mit der Predigt fort, doch immer wieder schaute er für kurze Sekunden von seiner Kanzel zu jenem Fleck Helligkeit hinüber, und während sein Mund automatisch Worte formte, versuchte sein Hirn fieberhaft zu verstehen. Junge Menschen kommen nicht zu den Gottesdiensten, dachte er, nur die Alten kommen und sind an ihre Erinnerungen gekettet, können nicht begreifen, daß ihre Welt auf immer dahin ist, versuchen Halt zu finden an der Religion, dem einzigen, was ihnen noch vertraut ist. Warum nur, überlegte er, warum ist dieses Mädchen, diese junge Frau hier? Gleich darauf schalt er sich einen Narren – hatte er denn fast achtzig Jahre gelebt, um nun nicht einmal das Warten gelernt zu haben? Dennoch beendete er die Andacht schneller als gewöhnlich und schloß, nachdem alle Gemeindemitglieder verabschiedet und nach einem letzten Händedruck und einem freundlichen Lächeln gegangen waren, sorgfältig die Flügel der Tür. Dann wandte er sich langsam um und sah die junge Frau
an, die sich von ihrem Stuhl erhob und auf ihn zukam. »Ich sah Sie«, sagte er fast vorwurfsvoll, »und war sehr erstaunt.« Sie hob ein wenig die Hand, und Sander bewunderte die vollkommene Schönheit ihrer Finger, sah dann auf die geschwungene Linie ihres Halses, die Rundung ihrer Brust und Hüften unter dem glänzenden Stoff des einfachen Kleides, und er erschrak. Mein Gott, dachte er, wann habe ich das letzte Mal eine Frau so angeschaut? »Herr Pfarrer«, sagte sie, »Sie gehen von einer falschen Voraussetzung aus ...« »Wieso?« fragte er unsicher; ihre Stimme war vollkommen. »Sie meinen, Sie kennen mich nicht«, erwiderte sie. »Wie könnte ich denn?« sagte Sander. »Sehen Sie – nur alte Menschen kommen zu meinen Gottesdiensten, junge Leute glauben nicht an den barmherzigen Gott, nicht nach ...« Er machte eine schwache Handbewegung. »... nach all dem. Wie könnte ich sie also kennen?« »Ich bin Martha Sonbeck«, erklärte die Frau. Sander mußte lachen. »Nein!« protestierte er. »Nein, Sie gewiß nicht!« Und er erinnerte sich an Martha Sonbeck – eine alte kleine Frau, runzelig wie eine vertrocknete Frucht; bis vor wenigen Wochen noch war sie zu seinen Andachten gekommen. Sein Gegenüber griff in eine Tasche ihres Kleides, brachte ein Papier zum Vorschein und gab es Sander. Der faltete es auseinander und musterte die farbigen Schriftzeichen und Abbildungen: Das Schriftstück war ein Prospekt – ein sehr gut gemachter, wie San-
der zugestehen mußte – und bot die Produkte einer ›Gesellschaft Zweites Leben‹ an. Diese Produkte wurden auf mehreren farbigen Bildern gezeigt: Es waren menschliche Körper. Sander blickte von den Fotografien auf. »Und Sie haben ein solches ... zweites Leben gekauft?« fragte er leise. Martha Sonbeck nickte. »Ja«, sagte sie, und als sie in Sanders Augen sah: »Verstehen Sie mich ... ich stand kurz vor dem Tod, war alt, krank ... Schmerzen, den ganzen Tag ... und da bekam ich den Prospekt zugeschickt.« Sander schüttelte müde den Kopf. »Und haben den Körper, der Ihnen von Gott gegeben war, abgelegt wie ein altes Kleidungsstück«, stellte er fest; jedoch seine Stimme enthielt keinen Vorwurf. »Das habe ich«, sagte Martha Sonbeck mit klarer Stimme, »und ich habe es keinen Augenblick bereut.« Sie schaute an sich herunter. »Dies, das jetzt mein Körper ist, ist schön«, fuhr sie fort, »schön und stark; er wird niemals krank werden und ein Vielfaches länger leben als mein vorheriger – und meine Empfindungsfähigkeiten, vor allem im Bereich des Sexuellen, sind ungleich tiefer als früher ...« Sander sah in ihre glänzenden Augen und konnte ein Zittern nicht unterdrücken. »Warum kommen Sie zu mir?« fragte er mit bebender Stimme und verspürte Ärger darüber, daß er sich so wenig unter Kontrolle hatte. »Ich kenne Sie nun schon so lange«, erwiderte Martha Sonbeck, »fast seit der Zeit der Katastrophe, und nach all den Jahren meine ich zu wissen, daß Sie ein guter Mensch sind, und ich glaube, wenn jemand
diese neue Chance verdient, dann Sie.« »Ich weiß nicht«, sagte Sander langsam, »ich denke, daß ich das nicht tun könnte; es mag ein Recht des Menschen sein, auf Gottes Schöpfung verändernd einzuwirken, aber so – nein, das ist nicht Recht, nein.« Die Frau schwieg für kurze Zeit, dann ging sie zur Tür und öffnete sie. »Gottes Schöpfung?« meinte sie, zu Sander gewandt, »ich glaube, Gott hat uns verlassen.« Sie trat nach draußen und schloß die Türflügel leise hinter sich. Sander starrte auf die Stelle, wo Martha Sonbeck gerade noch gestanden hatte. »Herr, vergib ihr«, sagte er schließlich mit müder Stimme, »und auch mir, der ich Zweifel spüre.« Und er sah auf den bunten Prospekt hinab, den er noch immer in der Hand hielt. Es war kalt, und als Sander aus dem warmen Abteil der Schnellbahn stieg, spürte er die Kälte doppelt stark. Er zog den grauen Schal fester um den Hals und versuchte, sich tiefer in seinen schwarzen Rock zu ducken, aber dennoch fror er. Der Himmel war von tiefhängenden bleifarbenen Wolken bedeckt, und vom letzten Schneefall waren die Straßen immer noch von einem schmutzigen Weiß überzogen. Sander sah nur wenige Menschen; diejenigen, die mit ihm aus der Bahn gestiegen waren, gingen mit zielbewußter Schnelligkeit davon, gebeugt unter der Last ihrer schweren Kleidung, und verschwanden entweder in den niedrigen Häusern, die die Straße säumten, oder sie bogen in Nebengassen ein und verschwanden aus Sanders Sicht. Einige jedoch strebten eilig die Allee entlang, dem hohen,
hell erleuchteten Gebäude zu, das an ihrem Ende aufragte. Eine große Leuchtschrift auf dem Dach verkündete in grellem Weiß, daß hier die ›Gesellschaft Zweites Leben‹ ihren Sitz hatte. Sander ging langsam auf den lichtdurchfluteten gläsernen Eingang des Hauses zu und blieb zögernd einige Minuten davor stehen; durch das Glas blickte er in eine große, von gelben Lampen warm ausgeleuchtete Halle, in der reger Betrieb herrschte. Schließlich gab er sich einen Ruck und ging zur Tür hin, die vor ihm Aufschwang und, als er in der Wärme der Halle angelangt war, hinter ihm zuviel. Ein wenig hilflos blieb er stehen und sah umher; doch ehe er einen Entschluß gefaßt hatte, kam bereits eine junge Frau in einem kleidsamen Kittel, der anscheinend, dem aufgenähten Abzeichen nach zu urteilen, eine Art Uniform des Personals darstellte, auf ihn zu. Sie besaß eine vollkommen geformte Gestalt und ein Gesicht von auserlesener Schönheit, das jedoch keineswegs nach einem Abklatsch von dem Martha Sonbecks aussah; Sander zweifelte dennoch nicht daran, daß sie einen Körper der ›Gesellschaft Zweites Leben‹ besaß. Das Mädchen sah ihn lächelnd an. »Was kann ich für Sie tun, mein Herr?« fragte sie. Sander schämte sich plötzlich seines Anliegens. Was konnte er sagen, das er wollte – vielleicht, daß er der Meinung sei, die Geschäfte der ›Gesellschaft Zweites Leben‹ seien nicht rechtens, gottlos? Oder daß dieses Mädchen und all die anderen in ihrer Uniform Knechte Satans seien, darauf ausgehend, den Menschen ihre Körper und Seelen zu stehlen? Aber das waren Phrasen, lächerliche Anschuldigungen, die den Mitarbeitern der ›Gesellschaft Zweites Leben‹ be-
stenfalls zur Erheiterung dienen mochten. Abgesehen davon – Sander war der Überzeugung, daß dies der wahre Hintergrund der Gesellschaft war: Es wäre ehrlich, dachte er grimmig, wenn ich sagte: ›Ihr seid die Horden Satans, im letzten Sturm auf die Bastion der menschlichen Seele begriffen – und diesmal wüßte ich nichts, was euch vom Sieg abhalten könnte.‹ Aber er sagte stockend: »Ich hätte gern ... Informationen; wenn ich vielleicht mit einem der leitenden Herren sprechen könnte?« Das Mädchen nickte, noch immer lächelnd. »Aber gewiß«, erwiderte sie freundlich, »ich bin sicher, daß der Präsident Sie gern empfangen wird; ich führe Sie zu ihm.« Und sie drehte sich um und ging auf die Liftschächte zu; Sander folgte ihr, verwundert über die Bereitwilligkeit, mit der auf seinen Wunsch eingegangen wurde. Er trat hinter dem Mädchen in eine Aufzugkabine und verließ mit ihr einige Stockwerke höher den Lift, um zu einer Milchglastür geführt zu werden, die mit einer Aufschrift in einfachen goldenen Lettern versehen war: PRÄSIDENT – Kommerzienrat S. Teufel. Das Mädchen öffnete die Tür, und Sander trat hinter ihr in ein Vorzimmer, wo an einem Schreibtisch eine junge Frau saß, ähnlich Sanders Begleiterin von wunderbarer Schönheit. Seine Führerin fragte: »Ist der Präsident gerade frei?« Das Mädchen am Schreibtisch bejahte und Sanders Begleiterin wandte sich an ihn. »Gehen Sie nur hinein!« sagte sie. Sander ging zu der holzgetäfelten Tür, die in das Arbeitszimmer des Präsidenten führte, und öffnete sie mit einer entschlossenen Handbewegung.
Er gelangte in einen kostbar eingerichteten Raum; die Wände waren mit Edelholzplatten massiv verschalt, der Boden von in prächtigen Farben leuchtendem Teppichbelag bedeckt und die Decke als Mosaik aus glänzendem Kunststoff gearbeitet. Die Fensterwand bestand aus durchgehendem Glas, das vom Boden bis zur Decke reichte, nun aber so polarisiert war, daß es kein Licht durchließ. In der Mitte des Raumes stand ein großer hölzerner Schreibtisch, vor ihm eine Gruppe tiefer Ledersessel, hinter ihm ein einzelner breiter Lehnstuhl. In ihm sah der Präsident: Er war ein großer, athletisch gebauter Mann mit ausgeprägten Gesichtszügen, zu kurzem blondem Haar konstrastierten leuchtend grüne Augen; sein Alter schien nur schwer bestimmbar. »Sie sind erstaunt, Hochwürden«, sagte er mit tönender Stimme, »daß ich kein würdiger alter Mann bin?« Sander winkte ab. »Nicht mehr«, erwiderte er, »schließlich wird der Präsident der ›Gesellschaft zweites Leben‹ wohl zuallererst ein Erzeugnis seiner Organisation benutzen – und sei es nur, damit das Anliegen der Gesellschaft glaubwürdig erscheint.« Der Präsident nickte. »Sehr wahr«, sagte er, »doch – darf ich nun fragen, was Sie zu mir führt, Hochwürden? Ich möchte annehmen, Besorgnis über die Art der Geschäfte, die die ›Gesellschaft Zweites Leben‹ durchführt, oder?« »So kann man es ausdrücken«, gab Sander zu, »ich möchte mehr über die Hintergründe dieser Angelegenheit erfahren ...« »Gut«, meinte der Kommerzienrat, »zuerst, denke
ich, werde ich Sie über das Vordergründige informieren.« Er öffnete ein Fach seines Schreibtisches und zog ein Vertragsformular hervor. »Dies ist der Standardvertrag«, erklärte er, »in ihm finden Sie alle Bedingungen, unter denen die Gesellschaft Zweitkörper verkauft.« Sander überflog das Papier; es war nicht allzu umfangreich und schien durchaus nichts Unbilliges zu enthalten. Schließlich las er einige Nachtragsparagraphen am Ende des Dokuments und fand einen interessanten Passus: »Nach erfolgter Übertragung des Verstandesinhaltes des Klienten«, so war es da zu lesen, »behält sich die ›Gesellschaft Zweites Leben‹ alle Verfügungsrechte über die verbleibende Gesamtheit des Erstkörpers vor.« Sander sah von dem Formular auf. »Was geschieht eigentlich mit den ... ursprünglichen Körpern?« fragte er. Kommerzienrat Teufel lächelte. »Das«, antwortete er, »gehört schon zu den Hintergründen, an denen Sie interessiert sind, Hochwürden – ich werde es Ihnen zeigen.« Er erhob sich und bedeutete Sander, ihm zu folgen; sie traten durch eine Wandtür in eine kleine Aufzugkabine. »Mein persönlicher Lift«, erklärte der Präsident, »er wird uns nach unten bringen, wo gerade eine Übertragung vorbereitet wird.« Er drückte auf einen Knopf, und Sander spürte ein kurzes Gefühl der Übelkeit, als sich die Kabine abwärts zu bewegen begann. Nach kurzer Zeit hielt der Aufzug an, die Tür öffnete sich und Kommerzienrat Teufel ging auf einen breiten Korridor hinaus, der sich bis zu einer Verteilerhalle erstreckte, wo andere Gänge und etli-
che Türen eine Vielzahl von Räumen anzeigten. Sander folgte dem Präsidenten in die Halle, die wie der Korridor von warmem gelbem Licht erhellt und kostbar eingerichtet war: Erlesene Wandbehänge schmückten die Mauern, die Decke war mit Mosaiken verziert. Ein Angestellter der Gesellschaft kam aus einem der Gänge und grüßte respektvoll, als er den Präsidenten sah – auch er war groß, von athletischem Körperbau, unwirklich gut aussehend. Kommerzienrat Teufel schritt durch eine der Türen, die sich vor ihm öffnete; Sander trat mit ihm in einen großen Raum. Der mochte wohl zehn Meter im Quadrat messen, an seinen Wänden standen Glasschränke, die wissenschaftliches Gerät enthielten: Sander sah Transformatoren und Gleichrichter, Halbleiterelemente und Kupferspulen, Widerstände und Transistoren, in Vielzahl auf kleine Plättchen montiert, Kabelständer, Pumpen, eine große fahrbare Apparatur, von weißem Reif bedeckt, und eine Vielzahl anderer Vorrichtungen, deren Verwendungszweck Sander nicht zu erkennen vermochte. In der Mitte des Raumes erhob sich eine Art Liege, ähnlich einem Zahnarztstuhl, über deren Kopfende, an einem elastischen gerippten Kabelschlauch angebracht, eine Kopfhaube hing, geformt wie die Trockenhaube eines Friseursalons. Auf der Liege befand sich in halb sitzender Stellung eine dickliche ältere Frau, an ihrer Seite einer jener athletischen jungen Angestellten der ›Gesellschaft Zweites Leben‹, der ihr beruhigend zuredete und, als er den Präsidenten erblickte, auf ihn deutete. Die Frau wandte sich Sir Teufel zu und streckte einen Arm aus.
»Ach, Herr Präsident«, seufzte sie, fast schluchzend, »ach Herr Präsident!« Kommerzienrat Teufel nahm ihre Hand und lächelte begütigend. »Aber, gnädige Frau«, sagte er, »wer wird denn Angst haben – glauben Sie mir, die Übertragung ist so leicht wie Einschlafen und Aufwachen: Sie spüren gar nichts!« Die Frau wollte wieder zu jammern beginnen, aber der Präsident wies auf eine Bahre, die gerade von einem Weißbekittelten durch die Tür hereingerollt wurde: Sie fuhr direkt an Sander vorbei, und er betrachtete fasziniert den nackten Körper einer jungen Frau, der darauf ausgestreckt war. Ein sehnsuchtsvoller Schmerz erfüllte ihn beim Anblick von solcher Kraft und Jugend und unendlicher Schönheit, und doppelt bewußt war er sich seines Alters und seiner Schwäche und des Stechens in allen Gelenken. Das ist es, dachte er: Was immer der Hintergrund dieser ›Gesellschaft Zweites Leben‹ sein mag – solcher Versuchung wird niemand, niemand widerstehen können. Und ich selbst? fragte er sich, und ich selbst? Mit einem ärgerlichen Kopfschütteln wies er diese Gedanken von sich und widmete seine Aufmerksamkeit dem Geschehen vor ihm: Die Frau hatte sich anscheinend unterdessen mit ihrem Schicksal abgefunden und eine Injektion erhalten, von der sie betäubt worden war. Über ihren Kopf wurde jene Haube gestülpt, und der Sitz etlicher Elektronen durch einen der jungen Männer einjustiert. Ein anderer eifriger Angestellter hatte inzwischen die große mit Feuchtigkeit beschlagene Apparatur, die Sander beim Eintritt in den Raum aufgefallen war, an die Liege herangefahren und stellte nun di-
verse Kabelverbindungen her, um schließlich dem nackten Frauenkörper auf der Bahre ebenfalls eine Haube anzupassen. Sir Teufel bedeutete Sander herbeizukommen und wies mit einer umfassenden Handbewegung auf die installierten Apparate. »Da haben Sie den Vorgang der Übertragung, Hochwürden«, sagte er; der Weißkittel, der die Bahre hereingebracht hatte, machte sich am großen Schaltbrett des fahrbaren Geräts zu schaffen. Lichter leuchteten auf, Motoren summten lauter, Oszillographen zeigten tanzende Kurven. »Das zentrale Übertragungsgerät ist dieses fahrbare hier«, erklärte der Präsident, »es bewerkstelligt über jene Helme die Transferierung des Geistesinhalts von einem Hirn ins andere ...« Er lächelte entschuldigend und hob abwehrend die Hände. »Aber, Hochwürden, fragen Sie mich nicht, wie das im einzelnen vor sich geht – ich weiß nicht mehr, als daß dabei Supraleitungs-Phänomene und kryotronische Techniken eine Rolle spielen: Das Übertragungsgerät zum Beispiel arbeitet unter flüssigem Helium ...« »Fertig«, sagte der Weißbekittelte und betätigte einige Schalter, um dann den Helm vom Kopf der nackten jungen Frau zu entfernen und ihre Bahre hinauszurollen. Die anderen jungen Männer folgten ihm. Sir Teufel lächelte. »Nun ja, die Technik der Übertragung gehört mehr oder weniger auch zum Vordergründigen, das Sie nicht so sehr interessiert, Hochwürden. Was dagegen die Hintergründe der Angelegenheit betrifft – schauen Sie her!« Und Sir Teufel trat an den Körper der dicken Frau heran, der nun seltsam klein und schlaff dalag, und
das Gesicht des Kommerzienrats war ganz Konzentration und geballte Willenskraft, frei von glattem Lachen glänzender Zähne. Seine Hände, muskulös, schlank und von bronzener Farbe, glitten schnell in verwirrendem Muster über den reglosen Leib auf der Liege und schlossen sich endlich mit leisem Klatschen. Nun lächelte der Kommerzienrat wieder und wandte sich Sander zu. Mit einer sachten, fast andächtigen Bewegung öffnete er seine Hände und hielt sie Sander entgegen. Der beugte sich vor und betrachtete die Wölbung dieser Hände, grenzenlos erstaunt: Denn da ruhte in ihnen ein kleiner Ball von Licht, handtellergroß diffuse gelbliche Helligkeit, die zu vibrieren oder zittern schien. »Was ist das?« fragte Sander schließlich. Sir Teufel lächelte. »Ein Grundmuster«, sagte er, »eine geistige Matrix, die Basis für den Geist dieser Frau.« Er ging langsam zu einem der Glasschränke, schob eine Tür zur Seite und zog ein Fach hervor, das einen wohl unterarmlangen zylindrischen Behälter enthielt. Mit einer Hand schob er von der Stirnseite des Zylinders, der aus einer Art türkisfarbenen Kunststoffs zu bestehen schien, eine Verschlußplatte zur Seite und führte die andere Hand mit der Lichtkugel vor die transparente Scheibe die sichtbar geworden war. Helles gelbes Licht fiel aus dem Zylinder, und als ihn Sir Teufel wieder verschloß, war seine Hand leer. »Etwa zwanzigtausendmal«, sagte er, »zwanzigtausend Matrices.« »Matrix?« meinte Sander mit rauher Stimme. »Matrices? Nein, das sind Seelen da drinnen, menschliche Seelen.«
Kommerzienrat Teufel wandte sich zur Tür. Sander folgte ihm, und sie gelangten in Sir Teufels Büro. »Gewiß«, sagte Sir Teufel, »man kann auch Seelen dazu sagen.« »Und Sie«, sagte Sander, fast fröhlich. »Sie sind nicht Sir Teufel, Sie sind der Teufel, Satan, der Böse.« »Schon«, gab Sir Teufel zu, »aber die Handelskammer hat mir nun einmal die Titel Sir und Kommerzienrat zuerkannt – meiner Verdienste wegen.« Sander schlug die Hände vors Gesicht und saß einen Augenblick gebeugt da. »Mein Gott«, seufzte er leise. »Gott?« sagte Sir Teufel sanft. »Aber Hochwürden, haben Sie noch nicht gemerkt, daß Gott von Euch gegangen ist?« Sander sah auf, Tränen in den Augen. »Der Herr ist barmherzig«, schluchzte er, »der Herr ist barmherzig!« Sir Teufel wies zum Fenster, das nun transparent war, und Sander blickte hinaus, auf das weiche blaue Glühen des Horizonts und auf die Wolken, die saphirenes Leuchten reflektierten; vereinzelte Schneekristalle glitten vorm Fenster vorbei, glitzernd, Tränen eines Engels. »Gott ist barmherzig«, sagte Sir Teufel, »aber ihr nicht.« Sander blickte ihn aus geröteten Augen an und nickte schwerfällig. »Vielleicht«, meinte er, jetzt ruhig und gefaßt, »vielleicht. Wie dem auch sei – Sie haben gewonnen, diesmal, endgültig.« »Sie sind alt, Hochwürden«, sagte Sir Teufel langsam. »Sie werden bald sterben. Aber Sie sind ein aufrichtiger Mensch, und ich achte Sie – darum will ich
Ihnen einen neuen Körper überlassen, ohne Vertrag, und lasse Ihnen Ihre Seele.« Sander starrte ihn mit weit geöffneten Augen an, schüttelte wie betäubt den Kopf, taumelte zur Tür, öffnete sie und lief schwankend durch den Korridor, in den Aufzug, fuhr mit erstaunten Menschen hinunter und stürzte ins Freie hinaus, wo ihn die Kälte wie ein Schlag ins Gesicht traf. Ein neuer Körper, hämmerte es in seinem Kopf, während seine Lungen stachen und seine Gelenke schmerzten wie von Messern geschnitten – ein neuer Körper, und ohne Vertrag. Aber Satan lügt, schrie sein Verstand auf, und allein die Tatsache, einen neuen Körper zu akzeptieren, mag dich deine Seele kosten. Er schaute um sich. Zu seiner Linken, vielleicht zwanzig Meter vom Hauptportal entfernt, öffnete sich in der Mauer des riesigen Gebäudes eine Tür, und ein junger Mann trat heraus: Groß, muskulös, leicht bekleidet und anscheinend nicht frierend, das Gesicht von eindrucksvoller, männlicher Schönheit. Sander schluchzte auf. Er wandte sich ab und lief davon, schwerfällig, stolpernd; die Schöße seines Rockes flatterten im kalten Wind, und er glich einem großen, mißgestalteten, schwarzen Vogel, der versuchte, sich zum Himmel emporzuschwingen und doch niemals, niemals mehr würde fliegen können.
Copyright © 1981 by Norbert Fangmeier Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Agentur UTOPROP, Wuppertal
Michael Nagula NACHWORT Sieht man sich in Sachen Science Fiction einmal auf dem deutschen Büchermarkt um, so wird man feststellen, daß mehr als neunzig Prozent aller Titel Übersetzungen aus dem angloamerikanischen Raum sind. Das hat seine Gründe, denn seit die SF in den fünfziger Jahren bei uns ihren Siegeszug antrat, bot vor allem dieser Markt eine Fülle relativ leicht erreichbarer Arbeiten, die zudem noch auf große Resonanz stießen. Es entstand nicht die Notwendigkeit, an eine alte Tradition anzuschließen, die auch Deutschland auf dem Gebiet der Science Fiction vorzuweisen hat, eine Tradition, die in Form der Utopie und fantastischen Reiseerzählung weit in die Vergangenheit reicht, in Form echter Science Fiction aber zumindest bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts hinein nachweisbar ist. Heute ist dies Genre hinsichtlich einheimischer Autoren in erster Linie ein Markt der Kurzgeschichte. Überhaupt scheint sie in dieser Form bei ihren Verfassern wie auch den Lesern das meiste Interesse erweckt zu haben, bedenkt man, daß selbst Kurd Laßwitz, mit dem in den Augen vieler die deutsche Science Fiction ihren Anfang nahm, vor allem Anerkennung durch seine Kurzgeschichten fand. Schon im Alter von dreiundzwanzig Jahren erschien 1871 in der SCHLESISCHEN ZEITUNG seine erste Veröffentlichung: Bis zum Nullpunkt des Seins, eine Geschichte, die sich selbst nicht sehr ernst nahm. Ihr
Thema ist ein Streit unter Künstlern auf futuristischen Instrumenten, die in Haßliebe zueinander in den Weltraum fahren, um dort als neue Sonne künftigen Liebespaaren zur Warnung zu sein. Ähnlich, wenn auch etwas abenteuerlicher, ist das Thema von Laßwitz' zweiter Geschichte Gegen das Weltgesetz, die zusammen mit der ersten 1878 als sein erstes Buch erschien. Wieder geht es um Liebende, doch bemüht sich der Autor diesmal um das ernste Anliegen, eine Parodie auf die Darwinsche Evolutionstheorie oder den Adelsdünkel schlechthin zu schaffen. Obwohl literarisch von geringem Wert, sind diese Stücke immerhin hochinteressant aufgrund ihrer vielen auf später entstandene Texte einflußnehmenden Ideen. Alles in allem lassen sich Laßwitz' Erzählungen, die auch neben seinen Romanen und wissenschaftlichen Abhandlungen manchmal noch erschienen, in drei Bereiche ordnen: in Märchen, technische Utopien und philosophische Geschichten. Erstere kann man in den meisten Fällen als unbedeutend abtun, sind sie doch bloß sentimental und bemüht didaktisch. Interessant ist die Minderheit des zweiten Bereiches, so mit Der Traumfabrikant die Geschichte eines herbeigeträumten und dadurch wirklich gewordenen Zusammenschlusses zweier Liebender oder mit Die Fernschule die Geschichte vom automatisierten Lernen der Schulkinder einer fernen Zukunft. Noch bedeutsamer als diese stark aufsatzhaften Werke sind aber seine philosophischen Erzählungen, deren bekannteste Auf der Seifenblase ist, in der eine Mikrowelt geschildert wird, wo alles Leben milliardenfach schneller abläuft als auf der Erde. Wie im Großteil seiner Arbeiten besticht die Klarheit der Darstellung
und Leichtigkeit seines Stils, sein sicheres Erfassen wissenschaftlicher Probleme. Natürlich blieb ein Autor wie Kurt Laßwitz nicht ohne Nachahmer. Der bekannteste und eigenständigste unter ihnen ist Carl Grunert, ein 1865 in Naumburg geborener und dort als Lehrer tätiger Schriftsteller, dessen erste Veröffentlichung noch unter dem Pseudonym Carl Friedland erfolgte. Im Gegensatz zu den meisten Autorenkollegen seiner Zeit verfaßte er niemals einen Roman, sondern beschränkte sich von vornherein auf Kurzgeschichten, die in insgesamt vier Sammlungen veröffentlicht wurden. Nachdem 1904 der Band Feinde im Weltall erschienen war, folgte noch im selben Jahr ein Buch mit dem Titel Im irdischen Jenseits, schon bald darauf Menschen von Morgen und 1908 schließlich mit Der Marsspion sein abschließendes Werk. Zwar erreichte Grunert in Deutschland niemals die Beliebtheit oder Bedeutung seines Vorreiters, trotzdem werden seine Arbeiten dem Publikum in neuerer Zeit wieder präsentiert. Er ist ein im Grunde eher biederer Schreiber, der aber interessant zu erzählen versteht. Ein Zeitgenosse jener Autoren war der 1863 in Danzig geborene Paul Scheerbart. Er, der Philosophie und Kunstgeschichte studierte und dann als hungerleidender Schriftsteller in Berlin lebte, ist als eine der kuriosesten Persönlichkeiten der deutschen Literatur verschrien und mit seinen Texten, die einen starken Trend zum Religiösen und Mythischen aufweisen, schwer einzuordnen. Von Stil und Inhalt her zählen sie zu den ungewöhnlichsten ihrer Zeit, beschäftigt er sich nun mit freundlichen Anarchisten auf einem fernen Asteroiden, deren Lebenssinn darin besteht,
Kunstwerke zu erschaffen und zu genießen, oder mit einer bizarren Zivilisation von Außerirdischen auf einer schwimmenden Insel. Letzterer trägt den Titel Steuermann Malwu und zählt zu den heute bekanntesten und mit am häufigsten nachgedruckten Erzählungen des Autors. Seine Texte sind zunächst von literarischer und weniger von technischer und wissenschaftlicher Bedeutung, was seine Worte belegen: »Was begreifen wir denn mit den Wissenschaften? Die geben uns überall nur die äußere Schale der Dinge und verraten vom inneren Wesen der Dinge nicht das Geringste. Gibt uns etwa die Wissenschaft die Fähigkeit, das Lebendige vom Nichtlebendigen ganz sicher zu unterscheiden?« So entwirft er seine Schriften denn auch fast ausnahmslos im Dialog und tritt als Fremdenführer in eine Welt auf, die seltsam aus den Bestandteilen einer bekannten zusammengesetzt ist und dieser doch diametral zu widersprechen scheint. Gerade die Jahrhundertwende weist ein steigendes Interesse an technisch orientierter Zukunftsliteratur auf. Mehr und mehr Autoren legten Romane über die Welt von Morgen vor; was aber fehlte, war ein Periodikum, in dem Kurzgeschichten aus diesem Gebiet vorbehaltlos und bloß nach dem Kriterium der Qualität erscheinen konnten. In dieser Situation wagte die Redaktion des schon seit 1880 bestehenden und noch heute laufenden Jahrbuchs DAS NEUE UNIVERSUM die Einführung von technischen Zukunftserzählungen. In der achten Ausgabe war es soweit. Um die Probe aufs Exempel zu machen, holte man sich zwei Geschichten aus England und änderte kurzerhand die Namen der Akteure, verlegte die Schauplätze in die
Heimat und fand zu guter Letzt auch einen Autoren, der die Patenschaft dafür übernahm: Friedrich Meister. So erschien 1887 mit Unser Trabant eine nur geringfügig veränderte Fassung der fast zwanzig Jahre zuvor in England veröffentlichten Erzählung Brick Moon des Pfarrers Edward Hale. Immerhin war ihr Echo so positiv, daß Meister in der Folgenummer des Jahrbuchs unter dem Titel Weiteres von Unserem Trabanten eine allerdings sehr kurz gehaltene Fortsetzung aus eigener Feder vorlegte. Jahre später erschien von ihm im siebzehnten Band als Die Weltfahrten und Abenteuer der ›Sternschnuppe‹ eine verdeutschte Fassung der 1889 in England entstandenen und von dem Mathematiker Hugh MacColl verfaßten Marsreiseerzählung Mr. Stranger's Sealed Packet. Diese Geschichten müssen bei dem überwiegend jugendlichen Publikum gut angekommen sein, denn nun begann man, regelmäßig solche Beiträge abzudrucken. Fürs erste blieb man bei dem Autoren, der sich so freundlich zur Verfügung gestellt hatte: Friedrich Meister. Montezuma ist nur eine von mehreren technisch und wissenschaftlich orientierten Kurzgeschichten, mit denen er sich vollkommen von fremdländischen Vorlagen löste. Aber nach und nach wurde die Suche nach neuen deutschen Talenten vorangetrieben. So erschienen schon bald auch Texte des 1866 in Nizza geborenen Erzählers, Dramatikers und Lyrikers Friedrich Wilhelm Mader, der der Nachwelt eher als Autor von Reiseberichten bekannt ist, bestenfalls noch als Verfasser des Romans Wunderwelten, in dem er seinen Akteur eine Reise durch das gesamte Sonnensystem machen läßt, wobei der Leser nebenbei noch alles Wissenswerte vom damaligen Stand der
Astronomie erfährt. Ein weiterer Reiseerzähler, der im NEUEN UNIVERSUM zu futuristischen Ehren kam, war der heute vergessene Colin Roß. In seiner 1913 erschienenen Kurzgeschichte Als der Welt Kohle und Eisen ausging geht es um das mittlerweile wieder brandaktuelle Thema weltpolitischer Auseinandersetzungen um die letzten Energieressourcen. Im Mittelpunkt steht wie ein Fels in der Brandung der deutsche Gelehrte. Mit seinem risikoreichen Vorgehen, das ihn am Ende das Leben kostet, setzt er die Welt in Erstaunen und das deutsche Volk in die ergötzliche Lage, mit Hilfe der neu erschlossenen Eisenerzvorkommen die Schlüsselstellung in der Stahlindustrie einzunehmen. Zunehmend in den Genuß der Lesergunst geriet aber ein Autor, der sich in den zwanziger Jahren einen Ruf vor allem als Verfasser von Zukunftsromanen schaffen sollte: Hans Dominik. Erst anonym, dann unter seinem Namen, erschienen ab etwa 1910 eine Art technischer Fabeln im NEUEN UNIVERSUM. Tote Apparate, Maschinen und Hebel wurden unter seiner Federführung lebendig und erzählten aus ihrem Leben. Und wirklich erwies es sich als Treffer, technische Aspekte dem Publikum auf so leicht verdauliche Weise nahezubringen. Dabei behandelten seine Texte stets nur zwei bestimmte Themenschwerpunkte: die Weltenergiekrise und die Nahrungsmittelknappheit. In seiner 1914 entstandenen Erzählung Ein neues Paradies nutzt er die eben erst entdeckte Radioaktivität aus und postuliert in Dreißig Jahre später eine verheißungsvolle Strahlung, die das Wachstum von Pflanzen sowohl in der Größenordnung wie auch zeitlich verändert und die als-
bald zur künstlichen Herstellung von Stärke und Eiweiß führt. Alle seine Kurzgeschichten aber verraten die Faszination der enormen Möglichkeiten, welche die Zukunft aufgrund neuer technischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse bringen kann. Solche Gedanken auch in Romanfolge zu gestalten, damit befaßte sich Hans Dominik erst gegen Kriegsende, als Die Macht der Drei entstand. Damit war der Anfang für seine Beliebtheit getan, und in den dreißiger und vierziger und fünfziger Jahren wurde er zum meistgelesenen Verfasser von Zukunftsliteratur in Deutschland. Leider ist über seinen Romanen das vorher entstandene runde Dutzend an Erzählungen, die vorwiegend im NEUEN UNIVERSUM erschienen, fast vollkommen in Vergessenheit geraten. In der Folgezeit beschränkte sich die Publikation von Science Fiction bei uns beinahe ausnahmslos auf Romane. Viele talentierte Kurzgeschichtenautoren ließen sich vom Sog des erfolgreichen Dominik mitreißen und streckten ihre eventuell herrlichen Storyideen zu Romanen. So kam es, daß der Markt für Erzählungen weitgehend zerstört wurde und erst 1955 wieder ein Forum entstand, das dem deutschen SFNachwuchs neue Chancen bot. Dennoch war es in erster Linie ein Forum amerikanischer Short Stories, das UTOPIA MAGAZIN. Innerhalb von vier Jahren erschienen sechsundzwanzig Ausgaben, in denen Beiträge von fast allen interessanten Autoren des angloamerikanischen Raumes versammelt waren, sowohl von Vertretern der alten Schule wie Raymond Z. Gallun, Robert A. Heinlein, Ross Rocklynne und A. E. van Vogt als auch von Vertretern einer modernen Richtung wie Isaac Asimov, Alfred Bester, Ray Brad-
bury und Walter Kubilius. Daneben erschienen von vornherein aber auch Gehversuche deutscher Autoren, etwa des damals noch nicht so bekannten Clark Darlton, der mit der zweiten Nummer durch Jesco von Puttkamer verstärkt wurde und mit der dritten Nummer durch den recht bald sehr beliebt werdenden Hellmut W. Hoffmann, dessen Schriftstellerkarriere aber mit der Einstellung des Magazins im Jahr 1959 endete. Trotzdem lag der Schwerpunkt des Magazins natürlich stets auf den amerikanischen Arbeiten, so daß von einem echten Forum deutscher Autoren nur bedingt die Rede sein konnte. Dies sollte sich so bald auch nicht ändern, zumal das UTOPIA MAGAZIN – zu dessen ständigen Mitarbeitern übrigens auch Walter Spiegl zählte, der Herausgeber dieser Reihe – fast gleichzeitig mit dem von Lothar Heinecke erst kurz zuvor bei einem anderen Verlag gestarteten Magazin GALAXIS wieder eingestellt wurde. Warum das geschah, weiß heute niemand mehr so recht zu sagen. Beide Projekte wurden von den Verlagen etwas links liegengelassen, weil sie naturgemäß schwerer zu betreuen waren als Heftromane, die sich inzwischen zu einem großen Geschäft zu entwickeln begannen. So herrschte für Freunde der SF-Kurzgeschichte, vor allem aus deutscher Feder, eine enorme Durststrecke, die nur durch das vereinzelte Auftreten von Anthologien erträglich gemacht wurde. In dieser Zeit startete der UllsteinVerlag seinen ersten Versuch in Sachen Science Fiction und veröffentlichte 1959 den Auswahlband Nur ein Marsweib, der vor rund vier Jahren als SCIENCE FICTION STORIES 69 neuaufgelegt wurde und solchen Beifall erhielt, daß man von Verlagsseite erste
Überlegungen zur Schaffung der vorliegenden Taschenbuchreihe anstellte. Als sich das Taschenbuch als Medium für die Kurzgeschichte in den sechziger Jahren immer mehr durchzusetzen begann, war das der Anfang für einen fieberhaften Auswurf zahlreicher Bände mit Übersetzungen aus dem angloamerikanischen Raum. Nur deutsche Autoren suchte man noch immer vergebens. Erst 1974 entwickelten Wolfgang Jeschke und Herbert W. Franke das Konzept eines regelmäßig erscheinenden Periodikums im Taschenbuch, das verstärkt Wert auf die Qualität der Arbeiten legte und einheimische Talente fördern helfen sollte. So debütierte mit der Zeit im SCIENCE FICTION STORY READER eine erkleckliche Zahl von Autoren, die nur auf ihre Chance gewartet hatten und ihr Können auch künftig oft unter Beweis stellen würde: Kurt Karl Doberer, Winfried Göpfert, Ronald M. Hahn, Dieter Hasselblatt, Christian MeyerOldenburg, Kai Riedemann, Jürgen vom Scheidt, H. W. Springer, Charlotte Winheller, Thomas Ziegler und viele andere, die der aufmerksame Leser teilweise auch in dieser Sammlung mit Beiträgen vertreten sehen wird. Der vorliegende Band mit SCIENCE FICTION STORIES bildet nun eine Neuheit im SF-Programm des Ullstein-Verlages. Seit mittlerweile mehr als zehn Jahren erscheint unter der Herausgeberschaft von Walter Spiegl die Reihe ›Ullstein 2000‹ mit gleichbleibendem Erfolg. Von vornherein war sie in Romane auf der einen Seite und Anthologiebände auf der anderen Seite unterteilt, die der Übersichtlichkeit halber konsequent durchnumeriert wurden. Besonders die Stories erhoben oft einen recht hohen qualitativen
Anspruch. Viele meist neuübersetzte Klassiker vereinten sich mit den wichtigsten Erzählungen moderner Autoren, in der Regel ausgesondert aus Originalanthologien bester amerikanischer Science Fiction. Auf diese Weise erschienen inzwischen in fast neunzig Bänden weit über fünfhundert Titel, die einen erstklassigen Querschnitt durch die Bandbreite dessen darstellen, was die Science Fiction dem Leser während der letzten vierzig Jahre zu bieten hatte. Mit der vorliegenden Folge der SCIENCE FICTION STORIES wird diese Tradition nun erstmals durchbrochen. Sie enthält ausschließlich bisher unveröffentlichtes Material deutscher Autoren, die teils aufgrund ihrer Romane oder Kurzgeschichten schon zu Ehren kamen, teils aber auch selbst dem eingesessenen Leser noch unbekannt sein werden. Der vorliegende Band will in bescheidenem Ausmaß dazu beitragen, durch neue Texte deutscher SF-Talente den Facettenreichtum unserer einheimischen Spielart dieses Genre vorzustellen. Interessierte Leser werden die thematische sowie stilistische Vielfalt des Präsentierten sicherlich wohl zu schätzen wissen.
ÜBER DIE AUTOREN Wolfgang Altendorf wurde am 23. März 1921 in Mainz geboren. Seine Jugend verlebte er in Pfeddersheim, einem heutigen Stadtteil von Worms, um schon mit sechzehn Jahren Redakteur bei der RHEINISCHEN LANDESZEITUNG zu werden. Während des Krieges, den er als Infanterist erlebte, entstand sein erster Roman. Nach Kriegsende wurde er kurzzeitig erneut Redakteur, machte sich aber rasch selbständig und schrieb – mangels Theater und Buchverlagen – Laienspiele. Schließlich assistierte er beim Godesberger Theater dem Intendanten Wendeler, was zu eigenen Arbeiten auf diesem Gebiet führte. 1949 gründete er einen Verlag, dessen Leitung er seiner Frau übergab, so daß er sich ausnahmslos dem künstlerischen Schaffen widmen konnte. Inzwischen sind auf diese Weise fünfunddreißig Bücher mit einer Gesamtauflage von fast siebenhunderttausend Exemplaren entstanden sowie etwa achthundert Bilder im Stil seines Linearen Realismus. Vierzehn Bühnenstücke von ihm wurden bisher aufgeführt und über zweieinhalbtausend Hörund Fernseharbeiten von ihm ausgestrahlt. Er erhielt Preise für Romane, Erzählungen und Lyrik und andere literarische Auszeichnungen, darunter den GerhardHauptmann-Preis und das Bundesverdienstkreuz. 1978 wurde er zum ersten Turmschreiber der Stadt Deidesheim gewählt. Reinmar Cunis wurde am 8. August 1933 in Bremen geboren und zählt heute zu den besten SF-Autoren deutscher Sprache. Mit siebzehn Jahren veröffent-
lichte er seine erste Geschichte. Schon bald schrieb er für verschiedene Zeitschriften, absolvierte eine Lehre als Bankkaufmann und studierte Soziologie, Psychologie und Wirtschaftswissenschaften. 1964 promovierte er, und zwei Jahre darauf wurde vom Norddeutschen Rundfunk sein Hörbild »Alpträume und Wunschbilder« ausgestrahlt, eine Untersuchung über Groschenhefte, der wenig später im Fernsehen sein Bericht »Die Erforschung der Zukunft« mit Robert Jungk als Gesprächspartner folgte. Er erstellte weitere Fernsehreportagen und ist heute Projektgruppenleiter beim Fernsehspiel des NDR. Sein erster SF-Roman mit dem Titel »Livesendung« erschien 1978 und schildert den Besuch eines Außerirdischen, der aus Gründen der Betriebsblindheit von einer sensationshungrigen Presse nicht wahrgenommen wird. Sein zweiter Roman mit dem Titel »Zeitsturm« und sein dritter, »Der Molsland-Zwischenfall«, erschienen in den beiden darauffolgenden Jahren. In letzter Zeit hat er sich verstärkt der Kurzgeschichte zugewendet. Kurt Karl Doberer wurde 1904 in Nürnberg geboren, graduierte dort als Maschineningenieur und arbeitete schließlich einige Jahre lang als Überwachungsingenieur bei Siemens-Schuckert. Nach ausgedehnten Reisen im Orient und in Nordafrika kehrte er in seine Heimatstadt zurück und studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, die er in Berlin noch durch Politikwissenschaften ergänzte. Anschließend lebte er sechzehn Jahre lang in den Metropolen der Welt und schrieb für die bekanntesten Zeitungen und Zeitschriften. Nach einer kurzzeitigen Tätigkeit als Programmassistent bei der BBC entstand 1936 sein erster
utopischer Roman: »Republik Nordpol«, die Geschichte eines jungen deutschen Antifaschisten, der in den Kriegswirren mit Schiff und Mannschaft in den Norden geht, um dort eine neue und menschlichere Lebensgrundlage zu schaffen. Seitdem erschienen in deutscher, englischer und französischer Sprache mehr als dreißig Bücher von ihm, bei denen es sich um Erzählsammlungen, Lyrikbände, Literaturbearbeitungen, Kinderbücher, Dokumentationen und Sachbücher aller Art handelt. Ihr zentrales Anliegen ist und bleibt dabei stets der Mensch. Dies zeigt sich besonders in seinen Büchern über frühe Chemie und moderne Automation. Norbert Fangmeier wurde 1948 in Schwerte/Westfalen geboren und zählt zu den weniger bekannten deutschen Talenten auf dem Gebiet der Science Fiction. Nach Absolvierung der Pflichtschulzeit studierte er Pharmazie und war bis 1971 ständiger Mitarbeiter des kritischen Fachblattes SCIENCE FICTION TIMES. Mit eigenen Arbeiten trat er erstmals in einem engen Kreis von Eingeweihten hervor. Sie erwiesen sich als so exzellent, daß zwei davon in die 1974 von Hans Joachim Alpers und Ronald M. Hahn herausgegebene Anthologie »Science Fiction aus Deutschland« übernommen wurden: »Heimatland« und »Am Rande des anderen Lebens«. Alles in allem erschienen bei uns etwa zehn Erzählungen von ihm, die teilweise sogar ins Spanische, Ungarische und Französische übersetzt wurden. Heute hat sich der Autor trotz seines großen Erfolges vom Schreiben zurückgezogen und stellt mit »Ausverkauf der Seelen« seine letzte in Deutschland noch nicht veröffentlichte Geschichte einem breiteren
Publikum vor. Erno Fischer ist das Pseudonym des am 27. Oktober 1947 in Sankt Ingbert im Saarland geborenen Wilfried Hary. Er interessierte sich schon früh für Literatur mit dem Schwerpunkt auf Abenteuer, Exotik und Phantastik, und zur Science Fiction stieß er im Alter von dreizehn Jahren durch einen Roman von Karl Herbert Scheer. Bald trieb ihn sein angeborener Drang zur Mitteilung zum Selberschreiben. Zunächst handelte es sich um eine Vielzahl von Glossen, Artikeln und Kurzgeschichten für Zeitungen und Illustrierte, bis er dann 1971 mit »Unternehmen Dunkelplanet« unter dem Pseudonym W. A. Travers seinen ersten SFRoman vorlegte. Aufgrund der in Sachen Science Fiction schlechten Marktsituation wandte er sich aber bald dem Horror- und Krimigenre zu, um erst Mitte der siebziger Jahre wieder verstärkt als Verfasser von Science Fiction aufzutreten. Rasch wurde er in Heftreihen wie GEMINI, ERDE 2000 und TERRA ASTRA zu einem der beliebtesten Autoren und avancierte zum Mitverfasser der neuen Romanserie DIE TERRANAUTEN, die ihm auch inhaltlich wesentliche Impulse verdankt. Heute lebt er mit seiner Frau Birgit in einem kleinen Ort nahe Saarbrücken. Gertrud Hanke-Maiwald wurde am 6. Mai 1918 in Mährisch-Ostrau geboren. Der Kontakt zum Slawischen von frühester Kindheit an war eigenen Aussagen nach wegbereitend für das, worüber sie später schrieb: den Menschen. Nach dem Besuch der Bürgerschule, in der man schon früh ihren Hang zum Schreiben erkannte und ausbaute, und verschiedenen
Kursen an der Frauenfachschule in Witkowitz heiratete sie 1942. Auch nach der Geburt ihres Sohnes blieb sie bis Kriegsende einer Bürotätigkeit in ihrem Geburtsort treu. Anschließend flüchtete sie nach Franken und begann dort, ihren Neigungen entsprechend, mit der Kurzgeschichte »Brot für den Heimkehrer« ernsthaft schriftstellerisch tätig zu werden. Im Laufe der Zeit folgten zahlreiche Arbeiten für das Feuilleton, für Frauenbeilagen, Kindergeschichten, Gedichte, Betrachtungen, Essays, Reportagen und kulturelle Artikel. 1963 hatte sie mit dem nach ihren Ideen gedrehten Fernsehfilm »Der dritte Hochzeitstag« einen ersten großen Erfolg. Etliche weitere schlossen sich an, darunter ein erster Preis neben Theodor Weißendorn bei einem Hörspiel- und Funkerzählungswettbewerb. In letzter Zeit erweckte sie durch verschiedene Prosa- und Lyrikbeiträge mit phantastischem Inhalt auch das Interesse des auf die Randgebiete der Science Fiction konzentrierten Lesers. Diethard van Heese wurde am 19. September 1943 in Stettin geboren und zählt zu den hoffnungsvollsten deutschen Nachwuchstalenten auf dem Gebiet der Science Fiction. Nach dem Besuch des Gymnasiums versuchte er sich ab 1964 in den verschiedensten Jobs: als Landarbeiter, Lagerist, Möbelpacker, Briefträger, Bote der Max-Planck-Gesellschaft, Metallarbeiter, Tankwart und vielem mehr. Anschließend begann er ein kaufmännisches Praktikum in diversen Textilfirmen. Bis 1971 war er als Handelsvertreter tätig, zog sich dann aber eine recht schwere psychosomatische Erkrankung zu, die es ihm unmöglich machte, seinem Beruf länger nachzugehen. Durch zwischenzeitliche
Erfolge ermutigt, versucht er sich seitdem als freier Schriftsteller und veröffentlichte bisher mehr als einhundertzwanzig Kurzgeschichten und etwa fünfundzwanzig Romane schicksalhafter, märchenhafter, erotischer und phantastischer Natur. Freunde der Science Fiction machte er vor allem durch seine im letzten Jahr erschienenen Erzählungen »Mondlicht«, »Die Muschel«, »Der Hauptgewinn« und »Moorhen« sowie den vom Universitas-Verlag verlegten Leinenband »Neue Geschichten des Grauens« auf sich aufmerksam. Zu seinen Lieblingsautoren gehören neben Wolfgang Altendorf und Irmtraud Kremp noch Ray Bradbury, Fred Hoyle und Jürgen vom Scheidt. Derzeit arbeitet er an einem SF-Jugendbuch. Sven Ove Kassau wurde am 7. April 1955 im schwedischen Vestra Vingakers geboren. Im Alter von vier Jahren übersiedelte er mit seinen Eltern nach Deutschland, besuchte bis 1971 eine Realschule in Hannover, begann danach eine Lehre als Schriftsetzer und ließ sich anschließend zum Großhandelskaufmann umschulen. Seit Mitte der siebziger Jahre ist er auch schriftstellerisch und zeichnerisch tätig. Neben Kurzgeschichten und Grafiken aus den Genre der Science Fiction, Fantasy und des Horrors schuf er auch mehrere Romane. Wesentlicher Abnehmer seiner Arbeiten war dabei stets der in Baden-Baden ansässige CTS-Verlag, für den er bis 1979 auch als Redakteur tätig war. Ende vorletzten Jahres gründete er nach eingehenden Erfahrungen bei dessen Tochterfirma Venus Records einen eigenen Musikverlag, dem 1980 in Verbindung mit einer Auftragsagentur für ansässige Buch- und Zeitschriftenverlage eine
Zweigniederlassung folgte. Als Autor erlangte er in erster Linie durch seine bei Heyne erschienenen Kurzgeschichten »Die Blumen der Stinx« und »Der Astronaut und die Blume« Bekanntheit. Eine Anzahl weiterer sowie ein umfangreicher SF-Roman von ihm sind bei verschiedenen Verlagen in Vorbereitung. Irmtraud Kremp wurde am 25. August 1934 in Essen geboren und zählt zu den wenigen weiblichen SFAutoren in Deutschland, die sich zu etablieren vermochten. Nach der Mittleren Reife besuchte sie zwei Jahre lang die höhere Handelsschule und hielt sich anschließend längere Zeit in den Vereinigten Staaten auf, wo sie verschiedenen Tätigkeiten nachging und das Erste und Zweite Cambridge Certificate in Englisch errang. Ihre literarischen Arbeitsgebiete umfassen neben der Lyrik und phantastischen Erzählung vor allem das Schreiben von SF-Kurzgeschichten. So überzeugende Arbeiten wie »Kontaktaufnahme«, »Zwiebeln mit blauer Schale«, »Der Spaziergang« und »Der Tag der goldenen Reifen« brachten ihr großen Beifall. Sie ist als Mitglied des Deutschen Schriftstellerverbandes in der Literaturwerkstatt Essen engagiert und derzeit hauptberuflich als Stenotypistin für Deutsch und Englisch tätig. Seit Mitte letzten Jahres arbeitet sie auch als Übersetzerin aus dem Amerikanischen. Gerd Maximovic wurde am 19. August 1944 in der Tschechoslowakei geboren, wuchs in Schwäbisch Gmünd auf und studierte Volkswirtschaft in Saarbrücken. Wie viele seiner Kollegen, kam er vom deutschen SF-Fandom zur Schriftstellerei, und seine er-
sten Geschichten – die später teilweise in Anthologien und Zeitschriften nachgedruckt wurden – erschienen zunächst in Amateurmagazinen. Seine professionelle Karriere begann mit der Kurzgeschichte »Die helfende Hand« in der von Hans Joachim Alpers und Ronald M. Hahn herausgegebenen Anthologie »Science Fiction aus Deutschland.« Außer einer erklecklichen Anzahl von Erzählungen, die er in Sammelbänden und Zeitschriften wie PLAYBOY unterbrachte, verfaßte er auch einen Roman mit dem Titel »Agent unter den Sternen«, der 1974 unter dem Pseudonym Maxim Bremer erschien. Fünf Jahre später brachte er in der Phantastischen Bibliothek des SuhrkampVerlages eine Kollektion seiner besten Geschichten heraus: »Die Erforschung des Omega-Planeten«. Der Großteil seiner Erzählungen ist stilistisch höchst bemerkenswert und brachte ihm von verschiedener Seite höchstes Lob ein. Eine weitere Kollektion mit neueren Arbeiten von ihm ist in Vorbereitung. L. D. Palmer ist das Pseudonym des am 5. September 1956 in Remscheid geborenen Uwe Anton, eines Großsammlers von Science Fiction und Comics, der zunächst innerhalb der Amateurszene als Herausgeber mehrerer bemerkenswerter Fanzines zu Ehren kam. Schon im Alter von siebzehn Jahren begann er seine ersten Romane zu schreiben, schränkte dies aber während des Studiums der Germanistik und Anglistik notgedrungen ein. Mittlerweile sind an die dreißig Romane und diverse Kurzgeschichten von ihm entstanden, deren Großteil dem Horror zuzurechnen ist. Seine bekanntesten Pseudonyme auf diesem Gebiet sind Olsh Trenton und John Spider. Seit
Mitte der siebziger Jahre ist er auch sehr erfolgreich als Übersetzer von Science Fiction und Kriminalromanen tätig, obwohl er sich in neuerer Zeit vor allem mit dem Übersetzen von Comics beschäftigt. Nach seinen frühen Veröffentlichungen »Der Mond fällt auf die Erde« und »Dem Erdball drohte die Vernichtung«, die als L. D. Palmer erfolgten, erschien 1979 unter eigenem Namen und in Zusammenarbeit mit Thomas Ziegler sein erstes SF-Buch: »Zeit der Stasis«, in dem heutige Gesellschaftszustände kritisch in eine nicht allzu ferne Zukunft extrapoliert werden. Zwei weitere umfangreiche Romane aus seiner alleinigen Feder stehen kurz vor der Vollendung. Kai Riedemann wurde am 4. Januar 1957 in Elmshorn/Schleswig-Holstein geboren, wo er neunzehn Jahre später mit dem Abitur auch den Pflichtteil seiner Schulausbildung abschloß. Erste schriftstellerische Versuche, die als Amateurerzählungen auf den Leserseiten der seinerzeit bekannten und beliebten SF-Serie RAUMSCHIFF PROMET landeten, reichen bis ins fünfzehnte Lebensjahr zurück. Seitdem liefert er in mehr oder minder regelmäßigen Abständen verschiedenartigste Beiträge – Grafiken, Cartoons, Artikel, Rezensionen und Stories – an Fanzines und schaffte 1979 mit »Heimsuchung« den endgültigen Sprung ins kommerzielle Geschäft. In seinen Erzählungen spielt die Technik eine meist untergeordnete Rolle. Stattdessen steht der Mensch im Mittelpunkt, seine Beziehungen zu anderen Menschen und die Störungen, die sich daraus in einer Welt der zunehmenden Entmenschlichung ergeben. Heute lebt der Autor in Tornesch, einem kleinen Ort im Norden von
Hamburg, und widmet sich mittlerweile im neunten Semester dem Studium der Germanistik und Allgemeinen Sprachwissenschaften. H. W. Springer ist das Pseudonym des am 15. September 1939 in Berlin geborenen und in NordrheinWestfalen lebenden Hans Wolf Sommer, der unter diesem Namen 1970 seinen ersten Roman vorlegte: »Versicherung mit Schwierigkeiten«. Es folgten in derselben Reihe noch vier weitere SF-Titel von ihm, die durch ihren sauberen Stil bestachen. Anschließend brachte er diesen Namen als Verfasser von vier Anschlußromanen zur deutschen Lizenzausgabe der amerikanischen Taschenbuchreihe MONDSTATION 1999 zu Ehren. Nebenher schrieb er sich unter ihm mit Geschichten wie »Privileg«, »Unser unsterblicher Präsident« und einem halben Dutzend weiterer, die meist in Ostdeutschland erschienen, als bemerkenswerter SF-Satiriker und deutscher Fredric Brown zu Ruhm, was er auch mit dem vorliegenden Beitrag wieder unter Beweis stellt. Seit 1979 ist er, der er unter einer Reihe anderer Namen noch mehr als einhundert Romane aus den Bereichen des Horrors und Krimis und an die fünfzehn Kriminalerzählungen für verschiedene Zeitschriften verfaßte, unter dem Pseudonym Michael Roberts einer der erfolgreichsten Autoren an der SF-Serie DIE TERRANAUTEN. Sozusagen als Ausgleich zum Schreiben von Romanen ist er seit einiger Zeit auch als Texter für Comics tätig. Ulrich Weise wurde 1944 in Oelsnitz/Sachsen geboren, machte eigenen Angaben zufolge zweiundzwanzig Jahre darauf ein miserables Abitur in Mönchen-
gladbach und begann noch im selben Sommer in Köln, später in Frankfurt, mit dem Studium der Soziologie und Philosophie. Relativ früh erschienen zwei Kinderbücher von ihm, die aber in der enormen Fülle des Angebots untergingen. Seine erste Veröffentlichung auf dem phantastischen Sektor erfolgte 1975 mit der Erzählung »Lichtdornen« in dem von Franz Rottensteiner editierten SF-Almanach POLARIS 3. Noch während ihre französische Übersetzung für den Druck vorbereitet wurde, erschien vier Jahre darauf in der von Jörg Weigand herausgegebenen Anthologie QUASAR 1 die Erzählung »Schicksalsfugen«. Der in dieser Sammlung vertretene Beitrag ist seine dritte Veröffentlichung, doch sind weitere schon bei verschiedenen anderen Verlagen in Vorbereitung. Der Autor betrachtet sich selbst nicht so sehr als Verfasser von Science Fiction, sondern ist mehr an einer Phantastik interessiert, die eine Landschaft sorgfältig gezogener Stilblüten schafft und auf diese Weise eine bestimmte dichte, homogene Atmosphäre erzeugt. »Das andere Gericht« ist ein Musterbeispiel dafür. Günter Zettl wurde am 13. März 1961 geboren und ist der einzige Nichtdeutsche in dieser Sammlung. Er stammt aus dem österreichischen Bruck/Mur in der Steiermark, wo er auch die Volksschule und das Bundesrealgymnasium besuchte. Nach der Matura begann er 1979 in Wien das Studium der Psychologie und Publizistik. Schon im Alter von fünfzehn Jahren versuchte er seinen zahlreichen Vorbildern wie John Brunner, Philip K. Dick, Herbert W. Franke, Ursula K. LeGuin, Stanislaw Lem, George R. R. Martin, Robert
Silverberg und Thomas Ziegler nachzueifern und schuf eigene Erzählungen, die nach und nach auch außerhalb der Amateurszene zur Anerkennung fanden. Der Durchbruch gelang ihm mit den Geschichten »Der Supremisierte«, »Das Opfer« und »Der Messias«, die zusammen mit einigen weiteren in allen über längere Zeit hinweg in Deutschland erscheinenden SF-Magazinen veröffentlicht wurden. Die vorliegende Erzählung stellt ihn erstmals in einem Taschenbuch vor, zwei weitere von ihm werden in den von Thomas Le Blanc edidierten Anthologien BETEIGEUZE und CANOPUS erscheinen. Schwerpunktthema seiner Arbeiten ist meist das Sektenunwesen. Darüber hinaus druckt sich in allen von ihnen seine eindeutige Stellung zur Toleranz und zum Liberalismus aus, zur Menschlichkeit und Brüderlichkeit.