ULLSTEIN 2000
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 8 von William P. McGivern Murray Leinster Leigh Brackett John D. MacDonald J. T. Mclntosh
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
ULLSTEIN BUCH NR. 2845 IM VERLAG ULLSTEIN GMBH, FRANKFURT/M – BERLIN – WIEN Aus dem Amerikanischen übersetzt von Birgit Reß-Bohusch, Hans Georg Simon und Walter Spiegl
Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1971 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1971 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3548028454
Es gab keine bösen Menschen mehr – man hatte sie alle ins Weltall verbannt –, bis auf zwei. Die wollten fliehen, und alles sah aus wie EIN KINDERSPIEL von William P. McGivern Er hatte den Tod gebracht, nun war er gestrandet auf einem unwirtlichen Planeten und zum Sterben verurteilt… DER SÄMANN von Murray Leinster Die Katastrophe war hereingebrochen, Zivilisation und Technik waren vernichtet. Geblieben war nur DIE ZITADELLE IM EIS von Leigh Brackett Die Jagd war eröffnet. In den Ruinen der geborstenen Wolkenkratzer warteten sie auf den Tod, nackt, waffenlos und mit dem Instinkt der Wildnis… JAGDBARES WILD von John D. MacDonald Er hatte zwanzig Jahre im Verborgenen gelebt, um der Wiedergeburt zu entgehen. Jetzt waren sie wieder hinter ihm her… NUR STERBEN IST SCHÖNER von J. T. McIntosh
William P. McGivern EIN KINDERSPIEL
»Guten Tag«, sagte das kleine Mädchen. Es war ungefähr einen Meter zwanzig groß, hatte seidiges blondes Haar und große blaue Augen. Das ernste, zarte Gesichtchen war ausnehmend hübsch, das Figürchen zerbrechlich. Die weiße Bluse steif gestärkt, der hellblaue Rock über dem Petticoat eng gerafft. Eine schwarze Samtschleife, die das Haar im Nacken zusammenhielt, und flache Lackschuhe mit weißen Socken. Die Beine dünn und staksig. »Na, so was«, sagte der alte Mann und legte die Zeitung weg. Er sah das Kind erstaunt an. Er saß in der Sonne, den schwarzlackierten Stuhl gegen die Mauer eines kleinen, solid gebauten Hauses gelehnt. Um ihn herum unzählige Wracks von Raumschiffen in ihrer phantastischen Schönheit, die Nasen gegen das Weltall gerichtet, das sie nie mehr durchqueren sollten. »Wo kommst denn du her?« fragte der Mann. Er hieß John Logan und bewachte seit sechsundzwanzig Jahren diesen RaumschiffFriedhof. So einen Besucher hatte er in all den Jahren nicht gehabt. »Aus der Stadt«, sagte das kleine Mädchen. Die Stadt war sieben Kilometer entfernt. Der alte John lachte. »Sag bloß zu Fuß.« Das kleine Mädchen sah weg und seufzte. »Natürlich zu Fuß«, sagte es mit der Geduld eines Kindes, das daran gewöhnt ist, von Erwachsenen belächelt zu werden.
»Dann wird sich deine Mutter aber bestimmt Sorgen machen«, sagte der alte John. »Das ist schon möglich«, sagte das kleine Mädchen. »Aber ich wollte hierher, also bin ich gekommen. Wenn ich nicht zu lange bleibe, bin ich bis zum Abendessen wieder zu Hause.« »Ich habe nichts dagegen, daß du hier bist«, sagte der alte John. »Ich will bloß nicht, daß sich deine Eltern aufregen.« »Werden sie schon nicht«, sagte das kleine Mädchen gleichgültig. »Darf ich hier spielen?« »Gern«, sagte der alte John. »Johnny!« rief er. »Komm ’raus, wir haben Besuch.« Die Tür des Hauses ging auf, und ein kräftiger Junge mit Apfelbacken kam heraus. Er war ungefähr fünf, hatte dunkelblondes Haar, das dringend wieder einmal hätte geschnitten werden müssen, und unzählige Sommersprossen um die Stupsnase. Voll scheuer Bewunderung musterte er das kleine Mädchen. »Das ist Johnny«, sagte der alte John. »Er sieht kaum Leute, deshalb ist er so genierig. Wie heißt du denn?« »Lucifer«, sagte das kleine Mädchen. Der alte John grinste. »Das ist doch kein Name für ein hübsches kleines Mädchen.« »Ich heiße aber so.« »Okay«, sagte der alte John. »Mir soll’s recht sein. Aber wie heißt du denn noch? Ich meine, wie wirst du von deinen Eltern gerufen?« »Lucifer«, sagte das kleine Mädchen geduldig. Der alte John gab es auf. »Okay«, sagte er wieder. »Dann heißt du eben so.« Das kleine Mädchen zog einen roten Gummiball aus der Tasche und ließ ihn auf und ab hüpfen. »Komm, spiel mit mir«, sagte es zu Johnny. Aber Johnny drückte sich noch fester an das Knie des alten John und starrte das kleine Mädchen schweigend an. Er zupfte vor Aufregung mit den dicken
Wurstfingerchen an seiner Hose. »Ich habe dir doch gesagt, daß er kaum Leute sieht«, sagte der alte John. Es stimmte und machte dem alten John oft Kummer. Er war Johnnys Großvater; die Eltern des Jungen waren beide tot, und es war seine Aufgabe, ihn aufzuziehen. Er wußte, daß er seine Sache nicht sehr gut machte. Er sorgte dafür, daß Johnny zu essen bekam, anständig angezogen war und genug Schlaf hatte, aber seine Arbeit zwang ihn, sieben Tage in der Woche auf diesen Friedhof aufzupassen, und deshalb konnte er dem Jungen wenig Abwechslung bieten. Nicht, daß er es nicht versuchte; aber Erwachsene können eben nicht richtig mit Kindern spielen. Ein Kind merkt sofort, daß ein Erwachsener, der auf allen vieren mit Zinnsoldaten und Bauklötzen spielt, nur ein Ersatz ist. »Nach einer Weile gewöhnt er sich schon an dich«, sagte der alte John hoffnungsvoll. »Klar«, sagte das kleine Mädchen und ließ seinen Ball hüpfen. »Das kommt bloß, weil er noch so klein ist.« Johnny sah das kleine Mädchen noch eine Weile an, dann setzte er sich möglichst gleichgültig auf den Boden und malte mit einem Stecken einen Kreis. »Ich bin gar nicht klein«, sagte er. Das kleine Mädchen spielte auf dem Asphaltstreifen, der sich um das Haus und den kleinen danebenliegenden Lagerraum zog. Plötzlich hüpfte es etwa dreißig Meter vom Haus des alten John weg und betrachtete die Raumschiffe, die in ordentlichen Reihen abgelagert waren. Dann kam es wieder zum alten John und seinem Enkel zurück. »Jetzt mache ich mich lieber auf den Heimweg«, sagte es, als sich die Sonne in den Himmel zurückzuziehen begann. »Kann ich morgen wieder zum Spielen hierherkommen?« »Aber natürlich. Ich möchte nur nicht, daß sich deine Eltern Sorgen machen.« »Gut, dann komme ich.« Sie ging zu Johnny und gab ihm den roten Gummiball. »Wenn du willst, kannst du damit spielen.«
Johnny nahm den Ball und sah dem kleinen Mädchen nach, als es aus dem Tor auf das Feld zumarschierte. Auf seinem ernsten, pausbäckigen Gesicht lag ein Ausdruck echter Bewunderung.
In dieser Woche kam das kleine Mädchen jeden Nachmittag zum Spielen auf den Raumschiff-Friedhof, und am dritten Tag folgte ihr Johnny überall hin, wie ein Hündchen. Er war nie in seinem Leben so glücklich gewesen. Nach dem Mittagessen stand er am Tor und wartete ungeduldig, bis sie auf dem Hügel auftauchte. Pausenlos quälte er seinen Großvater mit Fragen. »Kommt sie?« »Kommt sie wirklich?« »Kommt sie jetzt immer und spielt mit mir?« »Wie lang bleibt sie denn?« »Kann sie denn nicht bei uns wohnen?« Und wenn das kleine Mädchen dann auf dem Hügel auftauchte und das zierliche Figürchen sich gegen den Himmel abhob, dann rannte er ihm jauchzend vor Freude entgegen. Das kleine Mädchen verstand sich bestens mit Johnny und brachte ihm zum Beispiel Himmel und Hölle bei. Johnny war plump und tapsig und hüpfte so gut es eben ging von Quadrat zu Quadrat, während das kleine Mädchen grazil wie ein Reh war. Es verspottete Johnny nie und machte sich auch nie über ihn lustig. »Fast hättest du es geschafft, Johnny«, sagte es, wenn der Junge das Gleichgewicht verlor und vornüber kippte. »Es wird jedesmal besser.« Und es erzählte ihm endlose Geschichten und baute Städte für ihn und machte ihm aus einem Taschentuch und der schwarzen Samtschleife einen Piratenhut. Mit der Zeit fing das kleine Mädchen an, die Reihen zwischen den stummen, glänzenden Raumschiffen zu
erforschen. Der alte John sah das nicht besonders gern und warnte die Kinder immer wieder, nicht zu weit in das Labyrinth der verlassenen Raumschiffe vorzudringen. Das kleine Mädchen versprach jedesmal mit ernstem Gesicht, daß sie ganz bestimmt sehr vorsichtig seien, aber kaum waren sie außer Reichweite, dann war das Versprechen vergessen. Das kleine Mädchen hatte einen sehr gut ausgeprägten Orientierungssinn und fand immer mühelos den Weg zurück. Und Johnny hopste selig neben ihm her, lauschte auf seine Geschichten und betrachtete die großen Raumschiffe so sorglos wie ein Zugvogel. Das kleine Mädchen ging ganz systematisch vor. Es kämmte den Friedhof von links nach rechts durch und wagte sich täglich ein Stück tiefer in das riesige Gelände hinein. »Wir müssen alles gesehen haben«, sagte es zu Johnny. »Aber es ist doch immer das gleiche«, sagte Johnny, dem alles recht war, solange sie nur zusammen waren. »Das weiß man erst, wenn man wirklich alles gesehen hat«, sagte das kleine Mädchen. »Meinst du wirklich?« sagte Johnny, von dieser Logik fast eingeschüchtert. Sie gingen Hand in Hand durch die leeren Gassen zwischen den gigantischen Raumschiffen und plapperten mit ihren piepsigen Kinderstimmen. Und manchmal blieben sie stehen und sahen zu der schmalen Nase einer Rakete hinauf, die Hunderte von Metern über ihren Köpfen in den Himmel ragte. Nach zwei Wochen schließlich hatten sie die rückwärtige Front des Raumschiff-Friedhofs und damit den weitesten Punkt vom Haus entfernt erreicht. Es war sehr still hier und im Schatten der Giganten sehr dunkel. »Jetzt gehen wir besser wieder zurück«, sagte das kleine Mädchen.
»Gut«, sagte Johnny. »Gehen wir heim und spielen noch ein bißchen Brücke und Zug.« »Gern«, sagte das kleine Mädchen. »Schau!« rief es plötzlich und deutete auf den Boden. »Was denn?« »Hier, siehst du es denn nicht?« Es bückte sich und hob ein Stückchen Pfeifentabak auf. Johnny betrachtete das Stückchen Pfeifentabak mit ernsten Augen, konnte aber nichts Besonderes daran finden. Was Lucifer interessierte, interessierte ihn allerdings auch. »Das raucht mein Großvater«, sagte er. »Aber er geht doch nie bis hierher, oder?« »Nein.« Das kleine Mädchen zappelte vor Aufregung. »Das bedeutet, daß jemand anders hier war.« »Ja«, sagte Johnny. »Jemand anders war hier.« »Aber wer denn?« fragte das kleine Mädchen und war selig. »Wir müssen sie finden.« Johnny sah sich um und konnte aber niemand entdecken. »Wie denn?« »Wir suchen eben so lange, bis wir sie gefunden haben«, sagte das kleine Mädchen. »Und wir erzählen es deinem Großvater, und dann hilft er uns. Das wird lustig.« »Und wie!« sagte Johnny und klatschte in die Hände. Über ihren Köpfen knackte ein Schloß. Das Geräusch zerschnitt die schattige Stille. Die Kinder schauten hoch und sahen, wie eine Tür an der Rampe eines Raumschiffes aufging. Ein Mann in einer Lederjacke kam auf die Plattform heraus und lächelte auf die Kinder herunter. »Hallo, ihr zwei«, sagte er. »Habt ihr euch verlaufen?« »Nein, wir haben uns nicht verlaufen«, sagte das kleine Mädchen. »Wir wollten gerade heimgehen, und da haben wir ein Stückchen Tabak gefunden.«
Der Mann lachte. »Du hast Augen wie ein Luchs, was? Geht noch nicht. Ich komme herunter.« Er zog an einem Hebel am Rumpf des Raumschiffes, und eine Treppe fuhr aus und senkte sich langsam auf den Boden. Die beiden Kinder sahen ohne die geringste Angst zu. Der Mann war groß und hatte schwarze Haare und lange Koteletten. Seine Augen waren sehr hell und tanzten hin und her. Die Kinder fürchteten sich nicht, weil sie die Endprodukte einer Gesellschaft waren, die das Böse fast ganz ausgemerzt hatte. Kriege, Mord, Grausamkeit und Brutalität – diese Dinge waren ihnen unbekannt. Die wenigen, denen der Sinn noch nach Gewalttätigkeit stand, wurden von der Solarpolizei aufgespürt und auf fernen Asteroiden in Quarantäne gehalten. Deshalb schauten die Kinder völlig ruhig zu, wie der Mann die Treppe herunterkam und sich neben sie hockte. Der kleine Junge und das kleine Mädchen wußten, daß die Menschen gut waren. Die bösen wurden weggeschickt und konnten niemand mehr etwas zuleide tun. Dieser Mann mußte deshalb gut sein. Sonst hätte er nicht frei herumlaufen dürfen. »Was habt ihr denn hier gesucht?« fragte er die Kinder. »Wir haben gar nichts gesucht«, sagte das kleine Mädchen. »Wir machen immer solche Entdeckungsreisen. Wir haben natürlich nicht gedacht, daß wir jemand treffen. Das ist wahnsinnig aufregend, finden Sie nicht auch?« »Doch«, sagte der Mann. »Ich heiße übrigens Dan.« »Wir freuen uns, Sie kennenzulernen, Dan«, sagte das kleine Mädchen ernst. Der Mann musterte die kleinen, aufgeweckten Gesichter einen Moment und lächelte nachdenklich. »Ihr habt eben von einem Großvater gesprochen«, sagte er schließlich. »Wer ist denn das?« »Johnnys Großvater.« »Der Friedhofswärter?«
»Ja«, sagte das kleine Mädchen. »Aber jetzt müssen wir gehen, sonst macht er sich Sorgen.« »Wartet doch noch eine Sekunde«, sagte der Mann und rieb sich mit dem Handrücken über das dunkle Kinn. Sein Lächeln war gezwungen und hart. »Ich möchte euch ein Geheimnis verraten.« »Ich liebe Geheimnisse«, sagte das kleine Mädchen, und seine Augen leuchteten. »Ich auch«, sagte Johnny und lachte. »Okay: Ihr seid die einzigen auf dieser Welt, die wissen, daß ich hier bin. Das ist ein großes Geheimnis, oder nicht?« »Doch«, sagte das kleine Mädchen. »Ihr müßt das Geheimnis jetzt aber auch für euch behalten und dürft niemand sagen, daß ihr mich gesehen habt. Einverstanden?« »Warum denn?« fragte das kleine Mädchen. »Weil es sonst kein Geheimnis mehr ist«, sagte der Mann. »Begreifst du das denn nicht?« »Doch, ungefähr schon«, sagte das kleine Mädchen. »Aber es ist kein sehr wichtiges Geheimnis.« »Da täuschst du dich aber«, sagte der Mann mit leiser, eindringlicher Stimme. »Es ist sogar wahnsinnig wichtig. Wenn jemand wüßte, daß ich hier bin, würde es das größte Durcheinander geben, das ihr euch vorstellen könnt.« »Was für ein Durcheinander?« »Das kann ich euch jetzt noch nicht sagen. Aber eines Tages erfahrt ihr es. Allerdings nur, wenn ihr mir versprecht, niemand etwas zu sagen. Versprecht ihr mir das?« Das kleine Mädchen sah unentschlossen aus, und der Mann runzelte die Stirn. »Gut, ich verspreche es«, sagte das kleine Mädchen schließlich. »Ich auch«, sagte Johnny. »Gut«, sagte der Mann und holte tief Luft. »Dürfen wir Sie wieder besuchen?« fragte
das kleine Mädchen. »Ja, wenn ihr niemand von mir erzählt«, sagte der Mann. »Nicht einmal seinem Großvater.« »Bestimmt nicht«, sagte das kleine Mädchen. »Wir versprechen es. Komm, Johnny. Wir müssen gehen. Auf Wiedersehen, Dan.« »Auf Wiedersehen, Kinder.« »Auf Wiedersehen, Dan«, rief Johnny und lief hinter dem kleinen Mädchen her.
Dan sah den kleinen Gestalten zwischen den Schatten der riesigen Raumschiffe nach und strich sich nochmals mit dem Handrücken über das dunkle Kinn. Dann stieg er die Treppe wieder hinauf. Als er sich auf der Plattform umdrehte, waren die Kinder verschwunden. Unter ihm nichts als Stille und Leere. Dan öffnete die Luke und verschwand in dem hellerleuchteten Rumpf des Raumschiffes. Er ging einen breiten Gang entlang bis zu einem Raum, dessen Metallwände mit Knöpfen, Kontrollampen und Meßgeräten voll waren. Hinter einem Schreibtisch saß ein Mann und arbeitete an einem Diagramm mit Hilfe eines Sextanten. Er war klein, schmal gebaut und grauhaarig. Seine markanten Züge waren völlig ausdruckslos. Nur seine Augen verrieten ihn. »Na?« fragte er, ohne aufzusehen. »Warst du draußen?« »Ja«, sagte Dan und setzte sich auf die andere Seite des Schreibtisches. »Ich habe einen kleinen Abendspaziergang gemacht, Willie.« Der Mann, der Willie hieß, sah Dan wütend an. »Du weißt ganz genau, daß das gegen die Abmachung geht.« »Ist ja schon gut«, sagte Dan gleichgültig. »Hör mir doch erst einmal zu. Ich habe Stimmen draußen gehört und habe mich natürlich umgesehen. Wir hatten Besuch.«
Willie sprang so schnell auf, daß sein Stuhl nach hinten fiel. »Wer war hier?« fragte er. »Haben sie dich gesehen?« »Klar. Ich habe sogar mit ihnen gesprochen«, sagte Dan und lächelte. »Beruhige dich nur, es waren zwei Kinder. Der Enkel des Friedhofswärters und ein sonderbar aufgeputztes kleines Mädchen.« »Und du hast sie einfach laufen lassen?« »Denk doch nach, Willie! Wenn ich sie hierbehalten hätte, wäre in wenigen Stunden der Teufel los gewesen und es hätte von Leuten hier gewimmelt. Ich habe ihnen das Versprechen abgenommen, daß sie niemand etwas davon erzählen.« »Das kann uns das Leben kosten.« »Ach komm, übertreib nicht. Im Gegenteil: diese Kinder werden unser Problem lösen.«
Das kleine Mädchen und Johnny blieben vor einem Raumschiff ganz in der Nähe des Hauses stehen. Das kleine Mädchen sah Johnny ernst an. »Wir erzählen nichts«, sagte es. »Einverstanden?« »Klar«, sagte Johnny. »Auch nicht, wenn uns jemand danach fragt.« Johnny sah zu dem kleinen Mädchen auf, und sein rundes, rotbackiges Gesicht sah plötzlich ganz anders aus durch die tiefe Falte in der Stirn. »Doch – dann müssen wir es erzählen«, sagte er. »Wir dürfen nicht lügen.« »Das ist nicht gelogen«, sagte das kleine Mädchen mit Nachdruck. »Wir verschweigen bloß die Wahrheit.« »Da ist doch kein Unterschied«, sagte Johnny dickköpfig. Er sah sehr unglücklich aus. Mit dem kleinen Mädchen nicht einer Meinung zu sein machte ihn traurig. Er wußte, daß Lügen etwas Böses war. Genauso schlimm wie Stehlen oder
Betrügen. »Wenn du es erzählst, spiele ich nie wieder mit dir«, sagte das kleine Mädchen und sah Johnny mit seinen blauen Augen an. »Hast du verstanden? Ich nehme meinen roten Gummiball mit nach Hause und komme nie wieder.« Johnny fing an zu weinen. »Bitte, sag das nicht«, bettelte er. »Ich erzähle es keinem. Ganz bestimmt nicht. Versprich mir, daß du morgen wiederkommst. Bitte!« »Gut«, sagte das kleine Mädchen. »Wisch deine Tränen ab. Wenn du es niemand erzählst, komme ich jeden Tag und spiele mit dir.« »Ich erzähle es ganz bestimmt niemand.«
Am folgenden Nachmittag spielten sie wie immer Himmel und Hölle und warfen sich den Ball zu und sprangen quietschend durch den angenehmen Sonnenschein. Auf Erkundigungsreise gingen sie nicht. Einige Tage lang war alles wie immer, und dann ereignete sich ein Zwischenfall. Vor dem Tor landete ein kleines, schnittiges Flugzeug, ein ordentlich gekleideter Mann stieg aus, kam auf den alten John zu und begrüßte ihn. Er hatte ein sympathisches, braungebranntes Gesicht und eine freundliche, natürliche Art. Seine braunen Augen allerdings waren ausnehmend wachsam und beobachteten alles. Er machte seine Brieftasche auf und zeigte dem alten John seinen Ausweis vom Innerplanetarischen Service. Der alte John wollte aufstehen, aber der junge Mann hinderte ihn daran. »Machen Sie sich nicht die Mühe«, sagte er. »Es ist heute viel zu heiß für Höflichkeiten. Wie geht es? Alles in Ordnung?« »Ja, wie immer«, sagte der alte John. »Sind irgendwelche Fremde aufgetaucht?« »Nein.«
»Es ist im Grunde auch nicht anzunehmen, daß sie hier auftauchen«, sagte der junge Mann wie zu sich selbst. »Sie versuchen es bestimmt auf einem Stützpunkt, wo flugtaugliche und moderne Raumschiffe stehen, die noch mit allem ausgerüstet sind.« »Was?« fragte der alte John. »Ach, nichts«, sagte der junge Mann. In dem Moment kamen das kleine Mädchen und Johnny um die Ecke gehüpft und quietschten vor Freude. »Na«, sagte der junge Mann. »Wer sind denn die beiden?« »Mein Enkel«, sagte der alte John. »Und das kleine Mädchen spielt immer mit ihm.« »So?« sagte der junge Mann. »Und woher kommt das kleine Mädchen?« »Aus der Stadt. Es sagt, daß es immer zu Fuß kommt, aber ich nehme an, daß sein Vater es mit dem Flugzeug auf dem Feld absetzt.« »Ich versuche mal, ob sie mich ein bißchen mitspielen lassen«, sagte der junge Mann. »Nichts hält jünger, als sich mit Kindern zu beschäftigen. Lesen Sie ruhig Ihre Zeitung. Ich finde die beiden schon.« Der junge Mann ging um das Haus herum zu den Kindern, die hinter dem Lagerraum spielten. Sie saßen auf dem Boden und setzten Bilder aus Blättern, Zweigen und Papierschnipseln zusammen. »Zwei kleine Künstler seid ihr«, sagte er und beobachtete die Kinder mit wachsamen Augen. »Das soll der Mann sein«, sagte Johnny. »Welcher Mann?« »Der Mann aus dem – « Johnny biß sich auf die Zunge und stierte auf seine Schuhe. »Irgend so ein alter Mann«, sagte er. Der junge Mann tat so, als habe er der Stimme des kleinen Johnny nichts angehört. Er lächelte das kleine Mädchen an. »Es muß lustig sein, hier zu spielen«, sagte er. »Deshalb
spielen wir ja auch hier«, sagte das kleine Mädchen mit schlagender Logik. Der junge Mann lachte und setzte sich auf den Boden. »Erwachsene reden manchmal wirklich dummes Zeug, was?« »Manchmal schon«, sagte das kleine Mädchen und wandte sich scheu ab. »Sagt einmal, habt ihr auch schon zwischen den Raumschiffen gespielt?« fragte der junge Mann. »Natürlich«, sagte das kleine Mädchen. »Überall. Das macht Spaß.« »Und habt ihr dabei jemand getroffen, der hier herumkramt?« »Nein«, sagte das kleine Mädchen. Der junge Mann sah Johnny an und lächelte. »Und du?« »Ich?« fragte Johnny. »Ja, du. Hast du jemand getroffen?« Johnnys Lippen zitterten. »Sie hat es doch eben schon gesagt. Sie hat doch gesagt, daß sie niemand getroffen hat.« »Schon, aber jetzt frage ich dich«, sagte der junge Mann geduldig. »Aber warte noch, du brauchst nicht gleich zu antworten. Ich erzähle euch erst einmal, warum ich hier bin. Ihr wißt doch beide, was mit den bösen Menschen geschieht, oder? Sie werden auf Asteroide verschickt und müssen dort bleiben, bis wir glauben, daß sie wieder zurückkehren können. Wir versuchen, diesen Leuten zu helfen, aber es gibt welche, die sich dagegen sträuben und denen dann eben nicht zu helfen ist. Das sind die ganz Schlimmen. Die sind grausam, gewalttätig und gemein und haben keine Achtung vor anderen Menschen. Wenn wir sie freilassen, dann stehlen und morden sie. Deshalb lassen wir sie nicht frei. Aber ab und zu passiert es leider, daß solche Leute ausbrechen. Das ist dann sehr schlimm, und alle Planeten halten zusammen und suchen nach den Leuten, damit man sie wieder einsperren kann. Versteht ihr, was ich meine?« Das kleine Mädchen nickte, und Johnny
auch. »Gut«, sagte der junge Mann. »Also, jetzt hört gut zu: zwei Leute sind ausgebrochen, und ich versuche, sie wiederzufinden. Und nicht nur ich, sondern viele viele andere Agenten von anderen Planeten auch. Die beiden Männer sind sehr gefährlich, und wenn wir sie nicht finden, dann gibt es bestimmt ein Unglück. Wir glauben, daß die Männer auf der Erde sind und auf einen entfernten Asteroiden oder Planetoiden fliehen wollen. Dazu brauchen sie natürlich ein Raumschiff, und das ist der Grund, warum wir alle alten Friedhöfe absuchen. Es ist nämlich möglich, daß sie sich die einzelnen Ersatzteile zusammensuchen und ein Raumschiff wieder flugtauglich machen, um damit dann fliehen zu können.« Er beobachtete das unglückliche Gesicht Johnnys. »Habt ihr jetzt verstanden, wie ernst die Lage ist?« Johnny nickte. »Also, habt ihr jemand hier gesehen oder sogar getroffen? Wenn ja, müßt ihr mir das sagen. Der Mann, den ihr gesehen habt, könnte einer von den zwei bösen Leuten sein, und wir müssen sie doch finden, bevor sie Unheil anrichten. Hast du jemand gesehen, Johnny?« Johnny sah weg und kämpfte mit den Tränen. Das kleine Mädchen ließ seinen Ball hüpfen und sah den jungen Mann mit kühlen blauen Augen an. »Nein, ich habe niemand gesehen«, sagte Johnny leise. »Wenn ich jemand gesehen hätte, würde ich es Ihnen sagen.« »Was hast du denn, Johnny? Du bist ja völlig durcheinander.« Johnny wollte gleich dankbar auf die freundliche Art des jungen Mannes eingehen, aber das kleine Mädchen ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Das kommt, weil Sie von den bösen Leuten erzählt haben«, sagte es schnell. »Da fürchtet er sich. Ich fürchte mich auch.« »Stimmt das, Johnny?« fragte der junge Mann. »Ja, ich glaube schon«, sagte Johnny. »Ich glaube schon, daß es stimmt.«
Der junge Mann stand auf. »Na gut«, sagte er. »Wenn du jemand siehst, dann erzählst du es deinem Großvater.« Er sah das kleine Mädchen mit gerunzelter Stirn an, dann verabschiedete er sich und ging zu dem alten John zurück. Johnny sah das kleine Mädchen vorwurfsvoll an. »Warum hast du mich zum Lügen gezwungen?« flüsterte er. »Ich komme mir so schlecht vor.« »Möchtest du, daß ich gehe und nie wiederkomme?« fragte das kleine Mädchen, sah in den Himmel und warf den Ball in die Luft. »Nein, Lucy. Laß mich nicht allein.« »Das tu’ ich auch nicht. Ich verspreche es dir.«
Dan und Willie saßen im Kontrollraum des Raumschiffes. Zwischen ihnen stand ein Glasröhrchen mit sechs Pillen. »Noch eine Tagesration«, sagte Willie und starrte Dan aus verbitterten Augen an. »Wir müssen etwas unternehmen. Ich bin nicht ausgerissen, um zu verhungern.« Dan schlug mit der Faust in die flache Hand. »Verflucht, wo bleiben denn diese Kinder?« »Vielleicht kommen sie überhaupt nicht wieder. Du und deine brillanten Ideen.« »Sie müssen zurückkommen«, sagte Dan, aber seine Stimme klang nicht überzeugend. »Kinder sind neugierig. Im Moment beschäftigt die beiden offensichtlich etwas anderes, aber sie werden sich an mich erinnern und zurückkommen.« »Glaubst du, daß sie überhaupt wieder hierher zurückfinden?« »Klar.« Willie starrte wieder auf die Ernährungspillen. »Alles ist okay, und wir hängen wegen zwei Kindern fest. Wenn wir die Zündvorrichtung…«
»Die bekommen wir schon.« Willie stand auf und ging hin und her. »Ich bin nach wie vor der Meinung, daß wir dem Alten eins über den Schädel braten und uns das Ding einfach nehmen sollten.« »Eine sehr schlaue Idee«, sagte Dan sarkastisch. »Bis wir zurück wären und das Ding installiert hätten, wären sie uns schon auf den Fersen. Diese Friedhöfe sehen vielleicht harmlos aus, aber sie sind mit Alarmanlagen versehen wie keine Bank. Deshalb brauchen sie doch nur einen Wärter.«
Zwei Tage später drangen das kleine Mädchen und Johnny wieder tiefer in den Raumschiff-Friedhof vor. Daß sich an ihrer Freundschaft etwas geändert hatte, sah man Johnnys Gesichtchen an. Er betete das kleine Mädchen immer noch an, aber ein Anflug von Schuld und Angst trübte das runde Kindergesicht. »Moment«, sagte das kleine Mädchen, blieb stehen und stützte die Faust unter das Kinn. »Ich glaube, hier geht es ’rein. Genau. Komm, Johnny.« Sie führte Johnny sicher zu der Stelle, wo sie das Stückchen Pfeifentabak gefunden hatten. »Dan! Hallo, Dan!« rief es zu der Plattform hinauf. Die Tür öffnete sich mit einem Klicken, und Dan tauchte auf. Sein Gesicht war blaß und eingefallen, aber er strahlte. »Ich freue mich, daß ihr mich besucht«, rief er zu den Kindern hinunter. »Habt ihr nicht Lust, euch das Raumschiff anzuschauen?« »Doch, große sogar«, rief das kleine Mädchen zu Dan hinauf. »Vielen Dank.« Johnny war auch ganz begeistert; aber das Schuldgefühl wurde er doch nicht los. »Mein Großvater hat uns verboten, in die Raumschiffe hineinzusteigen«, rief er.
»Ach, komm«, sagte das kleine Mädchen. »Er erfährt es doch nicht.« Die Treppe glitt herunter, und das kleine Mädchen rannte hinauf. Johnny folgte ihm widerwillig. Dan führte die Kinder durch hellerleuchtete Gänge bis zum Kontrollraum und stellte ihnen seinen Freund Willie vor. »Wir freuen uns, Sie kennenzulernen«, sagte das kleine Mädchen höflich. Johnny sah mit ängstlichen Augen von dem einen Mann zum andern. »Er ist sehr scheu«, sagte das kleine Mädchen. »Machen Sie sich nichts daraus. Das geht vorbei.« »Das sind die beiden bösen Männer, Lucy«, sagte Johnny. »Die beiden, von denen uns der gute Mann erzählt hat.« Willies Augen sprühten Haß. Er machte einen Schritt auf Johnny zu, aber Dan hielt ihn zurück. »Immer mit der Ruhe«, sagte er und wandte sich an das kleine Mädchen. »Wer ist denn dieser gute Mann, von dem dein Freund da spricht?« »Das ist der Mann, der vor zwei Tagen da war«, sagte das kleine Mädchen. »Er hat uns von zwei bösen Männern erzählt, die ausgerissen sind. Er sucht nach ihnen.« »Habt ihr ihm von mir erzählt?« »Nein, natürlich nicht. Das ist doch ein Geheimnis.« »Jetzt hör mir einmal gut zu«, sagte Dan, kniete sich auf den Boden und legte seine beiden großen Hände auf die dünnen Arme des kleinen Mädchens. »Diese bösen Männer suchen uns, deshalb müssen wir uns verstecken. Wenn sie uns finden, bringen sie uns um. Verstehst du?« Das kleine Mädchen leckte sich über die Lippen. »Ja«, sagte es. »Aber ich fürchte mich.« »Du brauchst dich nicht zu fürchten«, sagte Dan beruhigend. »Aber ihr müßt uns helfen. Sonst finden uns diese bösen
Männer und bringen uns um. Helft ihr uns? Ihr wollt doch nicht, daß wir umgebracht werden, oder?« »Nein«, sagte das kleine Mädchen schnell. »Gut. Folgendes: wir müssen mit diesem Raumschiff fliehen. Aber wir können es nicht starten. Wir brauchen eine Zündvorrichtung. Wißt ihr, was das ist?« Das kleine Mädchen schüttelte den Kopf. Willie wandte sich ab und murmelte etwas in seinen Bart. Dan kümmerte sich nicht weiter um ihn, sondern sah dem kleinen Mädchen fest in die Augen. »Jetzt paß einmal gut auf«, sagte er. »Eine Zündvorrichtung ist ein Gerät, das wie ein schwarzes Rohr aussieht. Ungefähr fünfzehn Zentimeter lang. Es gibt zwei Sorten. Die eine ist für sehr kurze Reisen. Zum Beispiel wie von einer Startrampe zur anderen. Die andere ist für lange Strecken. Wir brauchen eine Langstreckenzündvorrichtung, und in dem Lagerraum neben dem Haus von deinem Großvater liegen welche.« »Er ist nicht ihr Großvater, sondern meiner«, sagte Johnny mit finsterem Gesicht. »Hast du mich bis jetzt verstanden?« fragte Dan, ohne Johnny zu beachten. »Ja, ich habe Sie verstanden«, sagte das kleine Mädchen. »Sehr schön. Du bist eben ein kluges Kind. Das habe ich gleich gemerkt. Jetzt sage ich dir, wo du die Zündvorrichtung findest, die wir brauchen. Das ist sehr wichtig. Wenn du in den Lagerraum hereinkommst, dann…« »Das nächste ist«, fuhr Dan fort, »wie du überhaupt hineinkommst. Da müssen wir sehr vorsichtig sein, denn der Großvater darf ja nicht merken, was wir machen, sonst bringen ihn die bösen Männer auch um. Versteht ihr das?« »Ich komme schon in den Lagerraum hinein«, sagte das kleine Mädchen stolz. »Ich habe Johnnys Großvater so oft die Tür öffnen sehen.« »So?« sagte Dan. »Wie macht er das denn?«
»In seinem Haus ist ein Kasten mit Hebeln«, sagte das kleine Mädchen. »Er zieht einfach an einem Hebel, und die Tür geht ganz von selbst auf. Aber er darf den Hebel nur zu bestimmten Zeiten ziehen, sonst geht eine Nachricht an irgend jemand, daß ein anderer an dem Kasten ist. Verstehen Sie?« »Ja, das verstehe ich«, sagte Dan. »Du hast Augen im Kopf, meine Kleine.« »Und außerdem«, sagte das kleine Mädchen mit derselben stolzen Stimme, »muß er seine Hand eine ganze Zeit in dem Kasten lassen, bevor er sie wieder herausnehmen darf. Sonst geht nämlich auch eine Nachricht an jemand.« »Irgend so ein elektrisches Auge oder eine Radarvorrichtung mit einem Zähler daran«, sagte Dan zu Willie und wandte sich wieder an das kleine Mädchen. »Kannst du den Hebel bedienen, solange sich der Großvater ein bißchen ausruht oder so?« »Ich denke schon«, sagte das kleine Mädchen. »Du willst doch nicht, daß ihn die bösen Männer umbringen, oder?« »Nein, bestimmt nicht.« »Dann sei vorsichtig. Es geht nur, wenn er schläft. Hast du noch Fragen? Du weißt, wo die Zündvorrichtungen sind, und du weißt, welche von den zwei Sorten du nehmen mußt. Die für die Langstrecke. Verstanden? Die nimmst du und kommst damit so schnell wie möglich hierher zurück. Okay?« »Ja. Wir beeilen uns.«
Kurz vor dem Haus blieb das kleine Mädchen stehen und sah Johnny ernst an. Der kleine Junge weinte. »Du weißt, was du deinem Großvater erzählen mußt, ja?« fragte es. »Ich will ihn nicht anlügen, Lucy.« »Du mußt aber.«
»Die sind die bösen Männer«, sagte Johnny. »Und du hilfst ihnen, zu fliehen. Ich will nicht schon wieder lügen.« »Aber du willst doch auch nicht, daß ich weggehe und nie wiederkomme, oder?« »Nein, aber ich will nicht lügen.« »Sei nicht so dickköpfig. Was sagst du zu deinem Großvater?« Der kleine Junge holte tief Luft. »Daß ich hingefallen bin und deswegen heule.« »Und was noch?« »Daß ich mich ein bißchen hinlegen will und er mir vorlesen soll.« »Gut. Vergiß nichts«, sagte das kleine Mädchen.
Der alte John erschrak, als er den Jungen weinen sah. Als er gehört hatte, was passiert war, nahm er Johnny mit ins Haus und gab ihm ein Glas Milch. Er war sehr erstaunt, als sich Johnny hinlegen und vorgelesen haben wollte; das sah dem Jungen gar nicht ähnlich. Aber er ging mit ihm in sein Zimmer hinauf, stopfte ihm ein Kissen unter den Kopf und begann mit seiner ruhigen, geduldigen Stimme zu lesen. Drunten machte das kleine Mädchen in aller Ruhe den Kasten auf und zog den Hebel in die Höhe. Es sah auf die Uhr über der Tür, und seine Lippen bewegten sich, während es die Sekunden zählte. Mit einem tiefen Seufzer zog es endlich die Hand zurück und rannte hinaus. Die Tür stand offen. Mit einem zufriedenen Lächeln verschwand das kleine Mädchen in dem Lagerraum.
»Johnny!« rief es später mit seiner lieblichen, hohen Stimme. »Johnny, geht es dir besser?«
Es stand mit nach innen gekehrten Fußspitzen vor dem Haus des alten John. Sein blondes Haar glänzte in der Sonne. Die beiden Beulen an seinen Taschen versuchte es mit den dünnen Ärmchen zu verdecken. »Johnny!« rief es. »Komm doch wieder ’raus und spiel mit mir.« Der kleine Junge kam schnell aus der Tür gelaufen. Der alte John sah den Kindern mit gerunzelter Stirn nach. »Er soll auf sein Knie aufpassen«, rief er. »Ja«, rief das kleine Mädchen zurück. »Wir passen schon auf.« Es zog Johnny durch die Reihen zwischen den riesigen Raumschiffen. Der kleine Junge folgte ihm nur widerwillig.
Dan wartete mit Willie auf der Plattform. Die beiden Männer standen wie versteinert da und starrten in die Leere. »Hoffentlich behältst du recht«, sagte Willie. »Du wirst schon sehen, es klappt«, sagte Dan. »Die Kleine ist schlau. In fünfzehn oder zwanzig Jahren wäre sie gerade richtig für uns.« »Du glaubst wohl an die Zukunft, was?« »Ich habe den Glauben zumindest noch nicht verloren. Wir hauen hier ab, und dann finden wir schon etwas. Mach dir um die Zukunft keine Sorgen.« Plötzlich hörten sie die Stimme des kleinen Mädchens, und kurz darauf tauchten die beiden kleinen Gestalten auf. »Wir haben sie«, rief das kleine Mädchen und winkte den beiden Männern zu. »Los, ’rein und fertigmachen«, sagte Dan zu Willie. Er lief die Treppe hinunter und nahm dem kleinen Mädchen die Zündvorrichtung aus der Hand. »Vielen Dank, Kinder«, sagte er und sah beide mit nachdenklichen Augen an.
»Bitte«, sagte das kleine Mädchen. »Jetzt müssen wir schnell wieder heim.« »Moment noch«, sagte Dan und lächelte. »Ich habe ein Geschenk für euch oben.« »Prima!« rief das kleine Mädchen und klatschte in die Hände. »Hast du gehört, Johnny? Das können wir dem Mann zeigen?« »Welchem Mann?« fragte Dan. »Wir haben Ihnen doch von dem Mann von neulich erzählt«, sagte das kleine Mädchen geduldig. »Ich meine den Mann, der nach Ihnen gefragt hat. Er war wahnsinnig nett und ist heute wieder da. Wir spielen Versteck mit ihm. Wollen Sie nicht mitspielen?« Dan sah schnell die schattige Gasse zwischen den Raumschiffen entlang und rannte die Treppe hinauf. Er verschwand in der Tür, die sich mit einem dumpfen Geräusch hinter ihm schloß, als würde die Luft aus einem Reifen gelassen. »Jetzt fliehen sie«, sagte Johnny und schluchzte laut auf. »Du hast ihnen geholfen, Lucy. Die Männer sind schlecht, und du auch.« Das Raumschiff zitterte plötzlich und hob vom Boden ab. In fünfzig Metern Höhe blieb es einen Moment in der Luft hängen, und Feuer glühte in den Antriebsdüsen auf. »Du hast ihnen geholfen zu fliehen«, schluchzte Johnny und stampfte mit beiden Füßen. »Du bist schlecht und böse, Lucy. Ich mag dich nicht mehr.« Das kleine Mädchen nahm den kleinen Jungen in die dünnen Ärmchen. »Sag das nicht«, flehte es mit Tränen in den Augen. Es beobachtete, wie das Raumschiff in die Atmosphäre eintauchte und nur noch einen Streifen blauweißen Feuers zurückließ. »Laß mich los, ich hasse dich«, schluchzte Johnny. Er machte sich von dem kleinen Mädchen frei, aber es packte ihn noch
einmal und drückte ihm den roten Gummiball in die Hand. »Bitte, behalte wenigstens den Ball, Johnny.« Aber der Ball bedeutete dem kleinen Jungen nichts mehr. Er warf ihn weg und rannte mit seinen stämmigen Beinchen davon. Seine Augen waren blind vor Tränen. Das kleine Mädchen sah ihm durch die einfallende Dunkelheit nach. Sie wirkte zerbrechlich und verloren zwischen den Weltraumgiganten. Mit einem Seufzer ging es in entgegengesetzter Richtung davon. Als es zu einem Raumschiff mit ausgefahrener Treppe kam, stieg es hinauf und ging in den Kontrollraum. Es setzte sich vor die Steuerung, zupfte den Rock über den Knien zurecht und schaltete ein. Das Raumschiff vibrierte. Das kleine Mädchen sagte nur ein Wort. »Venus.« »Verstanden«, sagte eine Stimme. »Ergebnis?« »Ausgezeichnet. Sie sind mit Kurzstreckenzündung gestartet. In einer Stunde explodieren sie. Treffe Sie auf 22 X – C. Wie üblich.« »Keinerlei Schwierigkeiten?« Das kleine Mädchen zögerte. »Nein«, sagte es dann. »Ich habe ihnen die Kurzstreckenzündvorrichtung gegeben und mir die für die Langstrecke behalten. Ich hätte Hilfe von der Erde haben können, aber so war es weniger gefährlich.« Das kleine Mädchen warf einen letzten Blick über den Friedhof. Dann betätigte es einen Schalter, und das Raumschiff hob langsam ab…
Der alte John und der Mann vom Innerplanetarischen Service fanden Johnny erst nach einer Stunde. Der kleine Junge lief völlig hilflos und aufgelöst zwischen den abgetakelten Raumschiffen herum. Der junge Mann wußte inzwischen, was passiert war, und kam sich sehr dumm vor.
»Doch, ich weiß es ganz genau«, sagte er später zu Johnny. »Sie gehört zu den Guten. Sie ist Agentin. Von der Venus. Das verdaue ich nie. Und wenn ich tausend Jahre alt werde. So ein tüchtiges Kind.« Johnny lachte und sah in den Himmel hinein. »Lucy!« rief er mit Bewunderung in den Augen. »Ich liebe dich. Ich habe dich schon immer geliebt.« Er hatte nur eine Angst: den roten Gummiball nicht wiederzufinden.
Originaltitel: I LOVE LUCIFER. Copyright © 1953 by Ziff-Davis Publishing Company. Aus AMAZING STORIES Dezember 1953 – Januar 1954. Übersetzt von Hans Georg Simon.
Murray Leinster DER SÄMANN
Wahrscheinlich landete das Ding aus dem Himmel nur deshalb im Seco Valley, weil es hier geregnet hatte, was urkundlich verbürgt in sechzig Jahren nur zweimal der Fall gewesen war. Vielleicht war es auch nur Zufall. Jedenfalls war der Regen schuld daran, daß Steve Hansum in das Tal kam, obwohl er kaum etwas anderes zu finden hoffte als backofenheiße Felsen, sonnendurchglühten Sand und ein so unmögliches Wüstenklima, daß selbst Echsen und Klapperschlangen das Gebiet mieden. Seco ist die spanische Bezeichnung für trocken, und das Seco Valley ist die Hölle auf Erden. Death Valley, nur vierzig Meilen entfernt, wirkt im Vergleich dazu wie das Paradies. Aber nun hatte es geregnet, und die ausgedörrten Steine schimmerten frisch in mannigfaltigen Farbschattierungen. Der Sand hatte die Regentropfen gierig aufgesogen, und über dem Tal, dem regenärmsten Gebiet auf der Erde, hing ein dünner Dunstschleier. Mag sein, daß das Ding aus dem Himmel von eben diesem Dunstschleier angelockt worden war. Steve Hansum erfuhr erst von dem Naturereignis, denn als solches konnte man es bezeichnen, als es schon wieder zu regnen aufgehört hatte. Er war Mitarbeiter eines Forschungsteams, das sich mit der Entwicklung von Pflanzen beschäftigte, die in Gebieten großer Dürre vorkamen. Seine Aufgabe war es, eine Abart der Stachelbirne zu züchten – ohne Stacheln –, die man in Wüstenstrichen anbauen und als Rinderfutter verwenden konnte, ohne die Stacheln mit dem
Lötkolben abbrennen zu müssen. Er kannte das Death Valley und das Seco Valley auch und hatte mit einem alten Prospektor namens Brady eine Abmachung getroffen, der zehn Meilen vom Seco Valley entfernt im tausend Meter hohen Gebirge hartnäckig an einer Schürfstelle arbeitete. Dieser Brady hatte also eines Tages gesehen, wie sich Wolken über dem Gebiet zusammenzogen, wo auch das Seco Valley lag. Das war, gelinde gesagt, ungewöhnlich. Dann hatte Brady beobachten können, wie es zu regnen begann. Im Death Valley regnet es ab und zu, so alle zehn Jahre einmal, und die Botaniker strömten bei solchen Gelegenheiten in Scharen herbei, um die Pflanzen und Blumen zu studieren, die gleich nach dem Regen aus dem Wüstenboden schießen, etwa zwei Wochen lang grünen und blühen und dann wieder vertrocknen und zu Staub zerfallen, wie es im Death Valley nun mal so üblich ist. Aber im Seco Valley hatte noch keiner eine Pflanze entdeckt. Dort regnete es ja auch so gut wie nie. Nachdem Brady sicher war, daß er seinen Augen trauen durfte, war er sofort aus den Bergen heruntergekommen, wie es der Abmachung entsprach, die er mit Steve getroffen hatte. Das war am Mittwoch gewesen. Er hatte Steve ein Telegramm geschickt, und die Antwort war postwendend gekommen. Gleich nachdem Steve das Antworttelegramm abgeschickt hatte, machte er sich auf den Weg. Inzwischen war es Donnerstag geworden. Auch am Freitag hielt sich Brady in San Felice auf, um auf Steve zu warten. Und in der Nacht von Freitag auf Samstag kam das Ding aus dem Himmel herunter.
Das Ding selbst war kein Flugkörper, jedenfalls konnte es nicht aus eigener Kraft fliegen, aber etwas, das fliegen konnte, mußte sein Kommen ermöglicht haben. Es erschien über dem Seco Valley in der Nacht, und die dünne Schnur, an der es
hing, reichte hinauf zu den Wolken und weiter in die Stratosphäre, bis zur Tropopause und noch weiter. Niemand vermag zu sagen, wie viele Meilen die Schnur hinaufführte. Der Faden an sich war schon bemerkenswert. Er war keine fünf Millimeter dick, schien aber stark genug, sein eigenes Gewicht zu tragen. Ein Drahtseil gleicher Stärke und derselben Länge wäre durch sein eigenes Gewicht zerrissen wie ein Wollfaden. Außerdem hing an diesem Faden noch ein fast kugelförmiger Gegenstand, etwas weniger als zwei Meter im Durchmesser, mit Luken und bullaugenähnlichen Fenstern an der Unterseite. Die Kugel durchstieß die Wolkendecke bei Nacht. In dieser Nacht war die Wolkendecke höher als die höchsten Berggipfel der umliegenden Gebirgszüge und verdunkelte den Himmel, so daß weder Mond noch Sterne zu sehen waren. Das Ding kam aus dem Himmel herunter und schien die Berggipfel zu sehen. Es muß wohl einen Antriebsmechanismus besessen haben, der es ihm erlaubte, sich mitsamt seinem Faden in der Horizontalen zu bewegen. Es bewegte sich von den Berghängen fort und sank immer tiefer, wobei es leicht aufund niederhüpfte, als ob sein Faden elastisch wäre, bis es knapp zweihundert Meter über dem Talboden hing. Da hielt es an. Nach einer Weile ging es etwa dreißig Meter tiefer, dann noch dreißig. Das Manöver wiederholte sich in kurzen Abständen noch mehrmals, bis die Kugel schließlich zehn Meter über dem Boden schwebte. Hier kam sie zur Ruhe, und es schien, als denke sie gründlich nach oder bereite sich auf etwas Wichtiges vor. Niemand beobachtete sie dabei. Die einzige menschliche Behausung im Umkreis von dreißig Meilen war Bradys Hütte, und der war drüben in San Felice und wartete auf Steve. Und gehört hatte auch keiner etwas, nicht einmal die Echsen oder Klapperschlangen, weil es hier keine gab. Zwar hatte es vor
zwei Tagen geregnet, aber von Feuchtigkeit war keine Spur mehr zu sehen, und es gab nichts Lebendiges im Tal. In der Luft entstand ein leises Geräusch, ein ganz leises Summen, das allmählich stärker wurde. Aus dem Summen wurde ein Brummen, ein Dröhnen, schließlich ein infernalisches Brüllen. Dann tauchte über den Berggipfeln der Jet auf, der um diese Zeit täglich von Chicago nach Los Angeles flog. Man konnte ihn natürlich nicht sehen, weil er über den Wolken flog, hörte in der Stille der Wüstennacht nur das laute Brüllen der vier Triebwerke. Der Kurs der Maschine führte genau über das Tal, wo zehn Meter über dem Boden die Kugel an ihrem Faden hing. Und dann passierte etwas da oben über der Wolkendecke. Bruchteile von Sekunden schien das Dröhnen einer der Düsen auszusetzen. Keiner der Passagiere in der Maschine merkte etwas, niemand spürte die leichte Erschütterung, als das große Flugzeug mit dem Sog seiner Düsen den sonderbaren Faden kappte. Unbeirrt folgte die Maschine ihrer Bahn. Aber das Ding, das aus dem Himmel herunterhing, machte einen heftigen Ruck nach oben. Dann wurde es von einer unsichtbaren Hand nach vorn geschleudert und fiel wie ein Stein herab. Auf dem Wüstenboden schlug es auf. Etwas ging entzwei. Es krachte wie bei einer Explosion, nur eben anders. Es klang nicht, als dehne sich komprimierte Luft schlagartig aus, sondern als schlügen Luftmassen in einem luftleeren Raum zusammen. Sekundenlang herrschte Totenstille, dann kam ein langanhaltendes Rauschen, als mehrere tausend Meter Faden aus dem Nachthimmel herunterfielen. In unregelmäßigen Windungen und Schleifen türmte sich der Faden über der zerschmetterten Kugel auf und bedeckte eine Fläche von über dreißig Meter im Durchmesser. Der Jumbo-Jet verschwand hinter dem Bergmassiv im Westen. Der Düsenlärm verklang. Stille kehrte wieder ein im Seco Valley.
Nach langer Zeit kroch etwas mühsam aus der zerbrochenen Kugel und bewegte sich außen darum herum. Es zog mal hier, drückte da – hoffnungslos. Dann wartete es und beobachtete den Himmel. Es wartete neben der zerbrochenen Kugel, bis der Morgen dämmerte, aber nichts geschah. Als dann die Sonne aufging, fielen ihre Strahlen auf einen Haufen Plastikschrott und ein Gewirr von mehreren tausend Meter Plastikfäden – sonst nichts. Nichts Lebendiges war im Seco Valley zu sehen.
Am Samstag kam Steve Hansum in San Felice an. Am Sonntagmorgen erreichten er, Brady, zwei Maulesel und Bradys Hund Gyp das Tal. Das war zwei Stunden vor Sonnenaufgang. Noch herrschte die Kühle der Nacht. Um acht Uhr wurde es warm im Tal, um neun Uhr heiß, und gegen zehn Uhr herrschte eine Temperatur wie in einem Backofen. Die Hitze war entsetzlich. Gegen Mittag hätte man auf einem flachen Stein Spiegeleier braten können, aber bei dieser Hitze kamen Hungergefühle gar nicht erst auf. Die Hitze zauberte Trugbilder in die Luft, und über den Felsen hing ein Flirren, daß einem die Augen weh taten, wenn man länger als eine Sekunde hinschaute. Nichts deutete mehr darauf hin, daß es hier vor ein paar Tagen geregnet hatte. Die Tatsache als solche schien bedeutungslos. Aber Steve hoffte, daß dem nicht so sei. Die Botaniker staunen immer wieder, daß im Death Valley Samenkörner zehn Jahre lang im heißen Sand liegen können und zu keimen, zu wachsen, zu grünen und zu blühen beginnen, wenn der Regen kommt, auf den unweigerlich die Sonne folgt, die den Samen reifen und trocknen läßt, der dann wiederum zehn Jahre im Sand auf den nächsten Regen wartet. Im Seco Valley waren die Verhältnisse ähnlich, nur daß es hier nicht alle zehn,
sondern nur alle dreißig Jahre einmal regnete. Und wenn es Steve gelingen wollte, nach diesem Regen Pflanzen zu entdecken, deren Samen es dreißig Jahre lang im Boden aushielten, dann bedeutete dies eine aufsehenerregende Entdeckung, über die man seitenlange Artikel für Fachzeitschriften schreiben könnte, die keiner las. Aber das war nun einmal der Grund, der Steve hierhergeführt hatte. Er entdeckte das Wrack etwa in der Mitte des Tals. Die Maulesel kletterten gerade den steinigen Pfad hinunter, der seit Entstehung der Erde vielleicht keine zwei Dutzend Male benutzt worden war. Steve blieb stehen, als er den hellen Gegenstand im Sonnenlicht glänzen sah, umgeben von einem weißlichen Gewirr undefinierbaren Materials. Er konnte sich beim besten Willen nichts darunter vorstellen. »Was ist denn das da vorn?« fragte er. »Ein Flugzeugwrack?« Brady zog die Augenlider zusammen und sagte nichts. »Schauen wir es uns mal an«, meinte Steve. »Vielleicht lebt noch jemand.« Brady gab keine Antwort. Die Maulesel folgten ihnen geduldig zum Talgrund hinunter. Gyp, der Hund, hatte die Nase am Boden. Er war mit der Wüste vertraut und hatte es nicht eilig. Dann waren Mensch und Tier unten angelangt und strebten auf die Absturzstelle zu. Der Talboden war uneben und zerklüftet. Vom Wind zu seltsamen Formen geschliffene Felsblöcke versperrten ihnen den Weg. Sie mußten mühsame, zeitraubende Umwege in Kauf nehmen. Stellenweise war der Sand so pulverfein, daß sie darin einsanken wie in Vulkanasche. Um neun Uhr, als es richtig heiß zu werden begann, waren sie noch nicht weit gekommen. Um zehn hatten sie das Wrack noch immer nicht erreicht. Die Maulesel trotteten so unbeteiligt gleichmütig dahin, daß man
sich schon wieder darüber aufregen konnte. Gyp hechelte nur noch und ließ die Rute hängen. Gegen elf war der Hund so abgekämpft, daß er sich nur noch mühsam dahinschleppte. Der Boden brannte unter seinen Pfoten, und die Sonne war wie ein Feuerball, der dicht über ihren Köpfen zu hängen schien. Ihre Strahlen brannten schmerzhaft auf der Haut. »Das kann keiner aus dem Flugzeug überlebt haben«, sagte Steve. »Ist kein Flugzeug«, antwortete Brady. »Hab’s vor einer Weile genau erkennen können.« Steve fragte nicht, was es sonst sein könnte. Für lange Gespräche war es viel zu heiß. Als Botaniker hielt er den Blick auf den Boden gerichtet auf der Suche nach Spuren von Pflanzenleben. Noch hatte er nichts entdeckt. Einmal kauerte er sich nieder und scharrte in einer seichten Senke den Sand beiseite. In dreißig Zentimeter Tiefe stieß er auf Bodenfeuchtigkeit. Er grub noch tiefer, aber nach weiteren dreißig Zentimetern wurde der Boden wieder trocken. Dreißig Zentimeter feuchter Sand waren alles, was vom Regen übriggeblieben war. Um halb zwölf blieb Brady vor dem Ziel ihres mühsamen Marsches stehen. Er stieß ein langes Brummen aus. Steve gab keinen Laut von sich. Es war kein Flugzeug, wie er zunächst angenommen hatte. Er wußte nicht, was es war. Er sah die Windungen und Schleifen des herabgestürzten Fadens, fünf Millimeter dick, schätzungsweise über tausend Meter lang. Keine Schnur im herkömmlichen Sinne aus feinen Fäden zusammengedreht, sondern glatt und aus einem Stück. Unter dem zerschmetterten Gegenstand konnte er sich nichts vorstellen, denn seine Gedanken waren nicht darauf eingestellt, mitten im Seco Valley auf eine zwei Meter große Plastikkugel zu stoßen. Einige Häufchen verschütteten oder ausgekippten Pulvers fielen ihm auf. Es sah aus wie Asche. Er dagegen
dachte nur an Samenkörnchen. Natürlich suchte er zuerst nach Überlebenden. In der Kugel entdeckte er nichts außer Gegenständen aus Kunststoff, die wie Maschinenteile aussahen. Gyp, der auf der Suche nach einem Fleckchen Schatten war, begann plötzlich zu knurren, dann zu bellen. Er litt zwar sehr unter der Hitze, aber etwas schien ihn mächtig zu interessieren. Er stand vor einer Öffnung in dem rätselhaften Wrack aus Kunststoff, und sein Bellen steigerte sich zu einem hysterischen Kläffen. Steve beugte sich herab und spähte in die Öffnung. Sie war nicht groß. Es mochte zwar etwas herausgekommen sein, jedenfalls war jetzt nichts mehr darin. Während er noch vornübergebeugt dastand, fiel ihm ein Geruch auf, weder unangenehm noch angenehm, aber anders als alles, was er je in seinem Leben gerochen hatte. »Brady«, sagte er verwundert. »Nach was riecht das?« Brady kam, roch an der Öffnung, brummte und spuckte aus. Gyp wich von der Öffnung zurück. Seine Haare hatten sich gesträubt, und er knurrte, kläffte und bellte wie wild. Er hatte eine Fährte gefunden. Er folgte ihr, wobei er wütend bellte. Dann blieb er stehen und blickte seinen Herrn an. Den heißen Sand schien er vergessen zu haben. »Komisch«, sagte Steve. Brady musterte den Hund und runzelte die Stirn. »Ein Geruch, den er nicht kennt«, sagte er. »Hab’ ich auch noch nie gerochen. Da ist eine Fährte. Folgen wir ihr?« »Was kann das sein?« fragte Steve. »Wozu der Fährte folgen? Und diese Haufen, die wie Samen aussehen…« Er hob eine Handvoll davon auf. Die Körnchen hatten einen winzigen harten Kern, umgeben von einem Gespinst, das wie gehärtete Spinnwebfäden aussah. Es waren tatsächlich Samen. Sie waren so leicht, daß der Wind sie über weite Flächen verstreuen konnte.
Steve dachte angestrengt nach und musterte die kleinen Haufen. Dann bückte er sich überrascht. Die Samen am Rand des Haufens sahen irgendwie verändert aus. Zusammen mit etwas Sand hob er einige davon auf. Aus jedem Samenkorn war ein haarfeiner Faden in den Sand gedrungen. Die Fäden waren lang und hingen wie feingesponnenes Silber von seiner Hand herab. Er kniete sich hin und begann vorsichtig im Sand zu graben. In vierzig Zentimeter Tiefe stieß er auf eine schwach feuchte Sandschicht, die vom letzten Regen seit dreißig Jahren herrührte. Und noch etwas fand er hier. Jeder dieser Samenfäden verdickte sich in der feuchten Bodenschicht zu einer Wurzel. Die einzelnen Wurzeln sahen aus wie kleine weiße Würmer. Es dauerte eine Weile, bis Steve das Entdeckte verarbeitet hatte. Nach einer Weile stieß er mühsam beherrscht hervor: »Brady, da sind tatsächlich Samen! Sie haben einen Fühler in den Sand geschoben, und als sie auf Feuchtigkeit stießen, fingen sie an zu wachsen. Das ist eine ganze neue Gattung.« Brady zeigte auf den wirren Haufen, der in Schleifen und Windungen auf dem Boden lag. »Genau wie das Seil«, sagte er. Dann blickte er seinen Hund an. »Und der Geruch, dem er gern folgen möchte. Wollen wir’s?« Steve zögerte. Er nahm eine Handvoll Samenkörner und schüttete sie in einen Briefumschlag, den er in die Tasche steckte. Er untersuchte die anderen Häufchen. Sie sahen alle gleich aus. Er füllte mehrere Reagenzgläser mit Samen und verschloß sie, bevor er sie in der Packtasche eines der Maulesel verstaute. »Ja, ich glaube schon«, sagte er unentschlossen. »Mir scheint, etwas hat den Absturz überlebt, ist herausgekrochen und hat sich von der Stelle entfernt. Ein erwachsener Mensch scheint das allerdings nicht gewesen zu sein. Vielleicht ein Kind, aber auch das ist unwahrscheinlich.«
Es war überhaupt alles unwahrscheinlich. Brady nahm einen der Wasserkanister, die die Maulesel schleppten, und gab Gyp zu saufen. Nachdem der Hund das Wasser getrunken und Bradys Hand geleckt hatte, nahm er die Fährte wieder auf. Wieder begann er zu knurren und den fremden Geruch zu verbellen. Die beiden Männer folgten ihm. Es ging auf die Hügel zu. Brady machte ein böses Gesicht, als sie dem Hund über den Sand folgten, und fluchte unablässig. Noch nie war Gyp so hysterisch gewesen, wenn er einer Spur folgte. Er führte die Männer zu einer Stelle, wo es zwischen den Felsen etwas Schatten gab. Vom versickerten Regenwasser hatte der Sand hier eine leichte Kruste bekommen. Man konnte Spuren erkennen. Und noch etwas: an dieser Stelle hatte sich etwas im Sand ausgeruht. Gyp kläffte die Stelle haßerfüllt und wütend an. Steve starrte auf den Boden, Brady runzelte die Stirn. »Was glaubst du, was hier gelegen hat?« fragte Steve. »Ich kenne kein lebend Ding, das solche Spuren hinterläßt oder so einen Eindruck im Boden, wenn es sich hinlegt«, sagte Brady. »Das interessiert mich brennend. Groß kann’s nicht sein. Jedoch groß genug, daß ihm eine Revolverkugel etwas anhaben könnte. Möchte es ganz gern mal sehen.« »Weder Vogel noch Säugetier, noch Wüstenechse«, sagte Steve, als versuche er mit sich selbst ins reine zu kommen. »Es stammt aus diesem – äh – Wrack im Tal. Folgen wir der Spur weiter, Brady, aber sei nicht zu schnell mit dem Colt.« Brady brummte nur. Sie gingen weiter. Nachmittags gegen vier war Gyp am Ende. Hitze und Trockenheit hatten ihn fertiggemacht. Steve hatte zwei Wasserflaschen leergetrunken, obwohl er sich sehr zurückgehalten hatte. Brady hatte vorgesorgt. Jeder der beiden Maulesel schleppte Wasser für wenigstens eine Woche.
Sie erreichten das Ende des Seco Valley kurz vor Sonnenuntergang. Sämtliche Schattierungen von Rot färbten den Himmel im Westen. Wortlos begannen sie mit dem Aufstieg. Gyp schaffte es kaum noch, eine Pfote vor die andere zu setzen. Brady ließ anhalten und gab ihm zu saufen. Dann senkte er die Nase wieder auf den Boden und knurrte. »So kenn’ ich ihn gar nicht«, sagte Brady beunruhigt. »So voll Haß ist er noch nie einer Fährte gefolgt, weder der einer Wildkatze noch sonst einer. Was mag das nur sein?« Steve hatte die ganze Zeit nachgedacht. Was waren das nur für Samen, die kleine Fäden ausschickten, vierzig Zentimeter tief in den Sand hinein, bis sie auf Feuchtigkeit stießen, wo sie zu Wurzeln anschwollen? So eine Pflanze gab es nicht. Solche Samen existierten nicht. Und dann dieses Wrack in der Wüste. Das war ein künstlich hergestellter Gegenstand. Aber nicht von Menschenhand! Genauso das Seil. Und der Geruch in der Kugel – Steve war inzwischen so weit, daß er sich das Wrack als kugelförmiges Gebilde vorstellte – war so fremdartig, daß er keine nähere Bezeichnung dafür fand. Und Gyps Verhalten… »Mir schwant etwas«, sagte Steve unvermittelt. »Wenn wir die nächste ebene Stelle erreichen, halten wir an, Brady. Ich möchte einen der Samen in Wasser legen.« Sie befanden sich inzwischen etwa siebzig Meter über dem Talboden. Brady hielt an. Steve nahm ein leeres Reagenzglas aus der Packtasche des Maulesels. Er füllte es zur Hälfte mit Wasser und trank lange aus der Feldflasche. Dann griff er in die Tasche, um den Briefumschlag mit den Samen herauszuziehen. Dabei hatte er Schwierigkeiten. Als er den Umschlag schließlich ein Stück herausgezogen hatte, zerriß er. Ein ganzes Bündel von feinen Haarfäden reichte in seine Tasche hinein. Jeder Faden war zwar fast mikroskopisch fein, aber gemeinsam besaßen sie eine ungeahnte Festigkeit und
Elastizität. Während er daran zerrte, spürte er etwas auf der Haut. Es war ein so grauenhaftes Gefühl, daß er sich, von Entsetzen gepackt, die Kleidung vom Leibe riß. Die Haarfäden hatten sich sogar durch sein Hemd geschoben. Auf seiner Haut lagen die weißen Verdickungen der Fäden, die Wurzeln der einzelnen Samenkörnchen. Alle Samen in dem Briefumschlag hatten ihre Fühler ausgestreckt und in der Feuchtigkeit von Steves Körper unter dem Hemd Wurzeln gebildet. Einige der Wurzeln hatten schon die Größe eines halben Bleistifts. Unter einer Decke aus Rot und Gold verschwand die Sonne hinter dem Gebirgszug. Dunkelheit ergoß sich ins Tal. Steve brach erneut der Schweiß aus, als er seine Brust abtastete. Aber die Haut war unverletzt. Keine der Wurzeln hatte versucht, Feuchtigkeit aus seinem Körper zu saugen. Steve begann zu zittern, obwohl es noch immer sehr warm war und die Felsen die gespeicherte Hitze abzugeben begannen. Stumm schnürte er seine abgelegten Sachen zu einem Bündel zusammen und holte frische Kleidungsstücke aus den Packtaschen. Sein Gesicht war aschfahl. »Was nun?« fragte Brady lakonisch. »Die Spur ist heiß, aber Gyp ist fertig.« »Ich finde, wir sollten ihr noch ein Stück weiter folgen«, sagte Steve. »Ich möchte unbedingt wissen, wer oder was das ist, das solche Samen bei sich hat.« Gyp hatte sich hingelegt und hechelte, aber als sich die Männer und Maulesel wieder in Bewegung setzten, stand auch er auf. Vorher hatte Steve ein Samenkorn aus einem verschlossenen Reagenzglas genommen und in das mit Wasser halb gefüllte Glas getan und dieses ebenfalls verschlossen. Knurrend und winselnd folgte Gyp der Fährte. Nun brach auch hier oben die Nacht herein, und es schien, als würden sie ihre Suche unterbrechen müssen. Aber dann ging der Mond auf,
und Gyp folgte der Fährte, getrieben von Wut und Haß auf das unbekannte Wesen. Es war deutlich zu erkennen, daß die Spur, der sie folgten, nicht über zu steile oder gefährliche Stellen führte. Nicht nur die Männer, sondern auch die Maulesel konnten ihr mühelos folgen. In einer Höhe zwischen dreihundert und dreihundertfünfzig Metern über dem Talboden sagte Brady: »Noch nie erlebt, daß ein wildes Tier sich solche Mühe gab, den leichtesten Weg nach oben zu finden.« »Wild dürfte wohl nicht die richtige Bezeichnung sein«, meinte Steve. »Dann halt zahm«, sagte Brady, aber er blieb skeptisch. »Uns gegenüber vermutlich nicht«, gab Steve zu bedenken. »Was zum Teufel ist es denn dann?« brummte Brady. »Wenn ich dir verriete, was ich vermute«, sagte Steve vorsichtig, »dann würdest du mir vermutlich eins über den Schädel ziehen, mich fesseln und zum nächsten Arzt schleppen. Schauen wir uns mal das Glas an, in das ich das Samenkorn gesteckt habe.« Sie hielten an. Steve zündete ein Streichholz an und hielt es über das Reagenzglas. Es war jetzt kein Wasser mehr darin. Statt dessen war es voll von feinen weißen Fäden, die sich in der Enge des Röhrchens zu einem festen Pfropfen zusammengedrückt hatten. Und dazwischen eine glitschig schimmernde weiße Wurzel. Am Hang über ihnen ertönte ein Geräusch. Dann hörte man einen Stein herunterpoltern, dem sich weitere Steine und Geröll anschlossen. Es wurde eine regelrechte Steinlawine daraus. Brady handelte blitzschnell. Er zerrte die Maulesel in den Schutz einer Felsgruppe. Steve sprang hinter ihnen her. Dann donnerte die Lawine vorbei, keine zwanzig Meter von ihrer Zuflucht entfernt. Gyp hob den Kopf und kläffte hysterisch. Die Steinlawine ergoß sich über eine steil abfallende Klippe. Eine Weile war Ruhe, dann tönte von tief unten dumpfes Geprassel und Gepolter heraus. Schließlich hörte auch das auf, und die Echos verhallten.
Vereinzelte Steine hüpften talwärts. Brady sagte mit brummiger Stimme: »Geröllabgänge bei Nacht sind eine Seltenheit. Meistens passiert so etwas bei Tage, wenn sich die Steine stark erhitzen.« »Das war nicht die Hitze, die diesen hier ausgelöst hat«, sagte Steve. »Vermutlich wird die Spur, der wir folgen, verschüttet sein. Ich glaube, es ist besser, wir lagern hier. Und du solltest Gyp an die Leine legen.« Im Grunde war dies alles verrückt, aber Brady widersprach nicht. Wenn sie schon ein Lager fernab einer Wasserstelle aufschlagen mußten, warum nicht hier. Er begann den Maultieren die Packtaschen abzunehmen. »Nichts Brennbares hier, um Feuer zu machen«, brummte er. »Ich hätte auch gar keins haben wollen«, antwortete Steve. »Kein Feuer, kein Licht, gar nichts. Und Gyp kommt an die Leine. Wenn er zu bellen anfängt, dann nichts wie ’raus aus den Decken!« »Dir geht etwas im Kopf herum«, sagte Brady. »Was ist es?« »Dumme Gedanken«, antwortet Steve. »Verrückte Ideen. Wahnwitzige Einfälle. Woher kommen die Samen, die so verrückt nach Feuchtigkeit sind, daß sie Fühler von fast einem halben Meter Länge in den Boden ausstrecken, um feuchte Sandschichten zu erreichen? Es würde unendliche Mühe kosten, eine solche Pflanze zu züchten. Und wer hat schon davon gehört, daß Samenkörner in der Tasche eines Menschen Keime durch sein Hemd bohren und den Körperschweiß aufsaugen? Diese Samen sind in einer Umgebung entstanden, wo es knochentrocken ist, und wenn sie auf Wasser stoßen, dann reagieren sie schnell wie der Blitz. Was glaubst du, wo solche Verhältnisse anzutreffen sind?« Brady brummte vor sich hin und schüttelte die Decken aus. »Was war das, bevor es abstürzte?« fragte er. »Nenn’s wie du willst, Kugel, Ball, Ei… eine Bezeichnung ist so gut wie die andere. Ich fürchte, in
unserem Sprachschatz wirst du keine Bezeichnung dafür finden. Was meinst du?« »Es hing an dieser Schnur herab«, sagte Brady mit einem Anflug von Eigensinn. »Vielleicht haben sie es aus einem Flugzeug heruntergelassen. Aber warum das?« »Ich sage nur ungern, was ich denke«, meinte Steve. »Könnte eine neumodische Sämaschine gewesen sein«, sagte Brady mit Ironie in der Stimme. Unter anderen Umständen wäre dies eine höchst alberne Erklärung gewesen, denn wer sollte schon im trockensten Teil des Landes etwas säen wollen, aber Steve dachte anders darüber. Er machte ein sorgenvolles Gesicht. »Damit könntest du sogar recht haben. Und wenn es stimmt, dann sieht es sehr schlecht für uns aus.« Brady hatte Gyp inzwischen an die Leine genommen. Steve legte sich auf seine Decke. Sein Körper war ausgepumpt, aber seine Gedanken gaben keine Ruhe. Mit offenen Augen lag er da und blickte zu den Sternen hinauf.
Steve hätte nicht zu sagen vermocht, wann er schließlich eingeschlafen war, aber ein lautes Krachen weckte ihn und das wütende Kläffen von Gyp, der wie wild geworden an seiner Leine zerrte. Brady richtete sich verschlafen auf. »Uuuaah«, gähnte er. »Da hat jemand einen Felsbrocken heruntergeworfen, aber nichts getroffen.« Wieder fiel ein Stein herab, und dann noch einer. Die Aufschlagstellen lagen immer näher. »Gyp und ich werden uns den Kerl mal vorknöpfen – « »Nein!« sagte Steve und schluckte nervös. »Wir ziehen uns lieber unter diesen Felsüberhang zurück, verlegen das Lager. Mehr unternehmen wir nicht. Mir – mir ist was eingefallen.
Wenn – falls wir unseren Freund in der Dunkelheit finden, könnte es sein, daß wir ihn töten müssen.« »Er versucht ja auch, uns umzubringen«, sagte Brady böse. »Ich glaube, ein Revolverschuß würde ihn verscheuchen. Bloß der Knall des Schusses. Probier’s mal.« Pause. Brady brummte in der Finsternis. Dann krachte sein Revolver. Der Knall eines 45ers hört sich in der Stille der Bergeinsamkeit unheimlich laut an. Echos sprangen von den Hängen zurück. Steve glaubte, ein schrilles Geräusch vernommen zu haben, das wie ein Angstschrei geklungen hatte, nur daß es ein sehr hohes Geräusch war, das knapp an der Grenze des menschlichen Hörbereichs lag. Aber Gyp begann schlimmer zu toben und zu bellen als jemals zuvor. »Jetzt ist es weg«, sagte Steve. »Jedenfalls wäre ich an seiner Stelle abgehauen. Nun weiß ich auch etwas mehr als vorhin. Es besitzt keine Schußwaffe oder etwas Ähnliches, sonst hätte es uns damit angegriffen. Glaubte wohl keine zu brauchen, als es kam. Was ich für eine vernünftige Einstellung halte. Es weiß, daß wir hinter ihm her sind.« Steves Stimme zitterte ein wenig. »Armer Teufel!« »Für was hältst du es?« fragte Brady mißtrauisch. »Für einen Verrückten? Dann müßte es schon ein übergeschnappter Liliputaner sein, den Spuren und dem Abdruck im Sand nach zu schließen.« Steve sagte bedächtig: »Hör zu, Brady. Unten beim Wrack hab’ ich eine Vermutung angestellt. Eine irre Vermutung, wenn man normale Maßstäbe anlegt. Es paßt zwar alles ins Bild, was bisher geschehen ist, aber trotzdem ist es verrückt. Wenn ich den armen Teufel zu sehen kriege, sage ich dir, was ich vermutet habe, und dann kannst du mich auslachen. Wenn ich es dir jetzt schon sagte, würdest du glauben, ich habe den Verstand verloren.« Brady blieb stur: »Was es auch sein mag, es hat versucht, uns umzubringen.«
»Und ich würde es nicht für eine Million Dollar umbringen«, antwortete Steve. »Ich fürchte nur, es wird uns dazu zwingen. Morgen früh verfolgen wir es weiter. Die Nacht über halten wir abwechselnd Wache, falls du es für richtig hältst, aber ich bin davon überzeugt, der Schuß hat ihn abgeschreckt. Jedenfalls besitzt er keine Waffen, und wir haben Gyp. Morgen bleibt Gyp an der Leine. Der arme Teufel befindet sich in einer schrecklichen Situation, und er wird sich nicht vorstellen können, daß wir ihm nichts antun wollen.« »Mir schwant langsam auch etwas«, sagte Brady. »Aber ich mache mit. Ein Risiko gehe ich jedoch nicht ein. Und«, fügte er dann hinzu, »ich verrate dir auch nicht, was ich denke.« Er wickelte sich wieder in seine Decken. Steve blieb noch lange sitzen und beobachtete die Sterne. Es kam kein Geräusch mehr. Nur der Nachtwind wehte ganz leise um die Felsen.
Im Morgengrauen untersuchte Steve das Reagenzglas mit der Pflanze. Die Wurzel und das Fadengewirr waren nicht länger weiß, sondern von unschöner, dunkelroter Farbe. Er öffnete den Verschluß. Drinnen war es trocken, absolut trocken. Die Pflanze, die aus dem winzigen Samenkorn entstanden war, hatte jedes Wassermolekül aufgesogen. Er berührte das Fadengewirr. Es bestand zum größten Teil aus Feuchtigkeit, fühlte sich aber nicht feucht an. Eher pulvrigtrocken. Und seine Struktur war fest. Als Brady sich aufrichtete, saß Steve noch immer da und starrte es an. »Was ist?« fragte Brady. »Diese Pflanze hat das ganze Wasser aufgesogen, und sie ist so hart und trocken wie Holz. Es gibt eine Äthylzellulose, die eine feste Gallerte ergibt aus zwei Prozent Trockenmasse und achtundneunzig Prozent Wasser. Aber aus wieviel Prozent Trockenmasse besteht dieses Gewächs hier? Wenn man ihm
alle Feuchtigkeit entzöge, würde sein Gewicht so gering sein, daß es keine Waage der Welt registrieren könnte. Dies ist eine Wüstenpflanze, die bisher nirgendwo aufgetaucht ist und an die niemand zu denken wagte. Es hat alles Wasser im Glas aufgesogen. Es hat sich rot verfärbt. Jetzt fängt es an, Knospen zu treiben. Und alles läuft in einer ungeahnten Schnelligkeit ab.« »Ich frage mich nur…« Steve runzelte die Stirn. »Wir müssen auf jeden Fall unseren Freund heute erwischen. Unten im Tal, wo die anderen Samen liegen, gibt es nur noch wenig Feuchtigkeit. Aber wir dürfen ihnen keine Zeit lassen zu keimen, zu blühen und Samen zu werfen. Falls er uns entkommt, behalte ich Gyp bei mir und schlage mein Lager unten beim Wrack auf. Du gehst nach San Felice, um zu telegrafieren.« Dann fiel ihm etwas ein, und er dachte eine Weile nach. »Hm… könnte klappen. Aber jetzt müssen wir aufbrechen. Schnell.« Minuten später befanden sie sich wieder auf dem Marsch und aßen ihr Frühstück im Gehen aus Konservenbüchsen. »Wenn wir ihn sehen«, sagte Steve, »wird nicht geschossen. Jedenfalls nicht gezielt. Der Knall genügt.« Brady schien nicht ganz überzeugt. »Geräusche pflanzen sich in großen Höhen nicht so gut fort, wo die Luft dünner wird. Du meinst, er ist laute Geräusche nicht gewöhnt?« »Nein«, sagte Steve und nickte. »In großen Höhen hört man Pfiffe besser als Schreie«, sagte Brady nachdenklich und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Wird auch ziemlich kalt sein da oben auf den Gipfeln. Und man kann sich in der dünnen Luft einen üblen Sonnenbrand holen. Und Wasser beginnt zu kochen, bevor man es auf hundert Grad erhitzen kann. Dauert über zehn Minuten, um ein Ei weichzukochen. Dieser Bursche scheint Höhenluft gewöhnt zu sein.«
»Höhenluft und noch Schlimmeres«, sagte Steve. »Die Luft, die er zu atmen gewöhnt ist, dürfte so dünn sein wie auf dem Mount Everest. Und der ist fast neuntausend Meter hoch.« Gyp begann zu bellen. Sie hatten die Stelle erreicht, von wo aus die Steine auf sie herabgeworfen worden waren. Brady hielt Gyp an der Leine. »Ich – äh – ich glaub’, ich hab’s«, sagte er langsam. »Weißt du, wenn man so viel allein in der Natur ist und die ganze Nacht die Sterne über einem sieht, dann – äh – interessiert man sich dafür. Hab’ mir sogar mal ein paar Bücher über die Sterne und die Planeten gekauft. Schwerverdauliches Zeug, aber ich hab’ mich durchgefressen. War mächtig interessant.« Dann zuckte er die Achseln. »Ich vermute, wir spinnen beide. Jetzt weiß ich auch, warum du vorhin ›armer Teufel‹ gesagt hast. Der ist verdammt weit von zu Hause fort. Ich werde ihn nicht töten, wenn es geht.« Immer höher stiegen sie hinauf. Ein kleiner Stein kam herabgehüpft, dann einige größere Kiesel. Steve blickte nach oben. Er entdeckte eine kleine Gestalt, etwa dreihundert Meter über ihnen. Sie bewegte sich schwerfällig, aber mit verzweifelter Zielstrebigkeit. Es war keine menschliche Gestalt. Brady blickte ebenfalls hinauf, aber er schwieg. »Das ist unser Freund«, sagte Steve. »Er weiß, daß wir hinter ihm her sind. Und er weiß, was er uns antun wollte. Er wollte alles vernichten. Hatte vor, die gesamte Menschheit auszurotten. Ich – glaube nicht, daß es ihm gelungen ist. Aber er rechnet damit, daß wir ihn töten wollen. Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe…« Gyp begann wütend zu kläffen. Das kleine Lebewesen blickte herunter. Vermutlich erkannte es, daß die beiden Menschen es sehen konnten. Aber es kletterte nicht schneller. Mühsam und schrecklich unbeholfen bewegte es sich weiter in die Höhe.
»Vielleicht können wir ihm den Weg abschneiden«, sagte Steve. »Es ist sicherer, ihm zu folgen«, meinte Brady. »Auf welche Weise hat er uns denn alle ausrotten wollen?« »Mit den Samen«, sagte Steve. »Die würden sich wie Unkraut vermehren. Es gibt bei uns keine Pflanze, die es mit dieser aufnehmen könnte. Sie würden alle vertrocknen und eingehen, weil ihnen die andere das Wasser wegnimmt. Der Wind würde die Samen verteilen. Sie würden sich in unseren Wäldern festsetzen, auf den Wiesen, in Wüstengebieten – einfach überall. Und wir wären machtlos, weil sie so schnell wächst.« Es ging jetzt einen steilen Hang hinauf. Das kleine, un-menschliche Wesen war hinter Felsen verschwunden. Gyp folgte unbeirrt seiner Spur. »Aber ich muß immer wieder an ihn denken«, sagte Steve. »Stell dir vor, du wiegst plötzlich das Doppelte deines Gewichts und müßtest Luft atmen, die so dick und feuchtigkeitshaltig ist, daß du fast daran erstickst. Und du hast die Wahl, an einem Ort zu bleiben, wo es für dich doppelt so heiß ist wie für uns unten im Tal, oder auf den Berg hinaufzuklettern – bei verdoppeltem Körpergewicht. Keine schönen Aussichten, wie? Und dann nimm an, du seist unbewaffnet und würdest von Wesen verfolgt, von denen du annehmen mußt, daß sie keine Gnade kennen, wobei du ganz genau weißt, daß du nie mehr nach Hause und zu deinesgleichen zurückkommen wirst, weil du auf einem anderen Planeten gestrandet bist. Aussichtslos. Und genau das trifft auf den Burschen da oben zu.« »Das hab’ ich schon kapiert«, sagte Brady. »Er ist übel dran. Aber wie können uns diese Pflanzen schaden. Es gibt genug Unkraut auf der Welt, und wir sind damit bisher gut zurechtgekommen.« Sie kamen um einen Felsvorsprung. Gyp jaulte auf und zerrte an der Leine.
»Unkraut«, erklärte Steve, »ist stärker als kultivierte Pflanzen. Wenn du ein Feld mit Gemüsepflanzen sich selbst überläßt, überwuchert das Unkraut die Pflanzen, weil es schneller wächst, sich rascher ausbreitet und üppiger wuchert. Stell dir vor, diese Pflanze in meinem Reagenzglas wird auf unsere Pflanzen losgelassen. Sie ist in der Lage, im Seco Valley zu existieren. Im Death Valley würde sie es geradezu ideal finden. Und was glaubst du, was sie in fruchtbarem, wasserreichem Boden anfangen würde. Sie würde das ganze Wasser aufsaugen und speichern. Für die anderen Pflanzen bliebe nichts übrig. Was geschähe dann mit dem Gras, den Büschen, den Bäumen?« Brady gab es einen Ruck. »Mein Gott! Alles andere würde eingehen!« »Und genau das ist dort passiert, wo diese Samen herkommen«, sagte Steve. »Diese Pflanzen können alle unsere Berge überwuchern. Auf den Ebenen blieb kein einziges Fleckchen von ihnen verschont. Sie würden in den Bergen das Regenwasser aufsaugen, und unsere Flüsse würden austrocknen. Die Wiesen würden verdorren. Kein Futter mehr für unsere pflanzenfressenden Tiere. Und wer weiß, was sie in den Seen und Teichen anstellen würden. Sie könnten sie trockenlegen und in ein Meer von Pflanzen verwandeln. Und da wir gerade bei Meeren sind… angenommen, der Wind treibt ihre Samen ins Meer. Könnten sie es auch austrocknen? Würden die Ozeane zu einer festen Masse trockener Wurzelflächen werden? Pflanzen wie diese finden alle Mineralien, die sie brauchen, im Meerwasser. Vielleicht haben sie dasselbe Unheil auf dem Planeten angerichtet, von dem der arme Teufel stammt. Es könnte sein, daß er deshalb so trocken ist, weil diese Pflanzen das ganze Wasser gebunden haben. Und wenn nun er und seine Artgenossen eine neue Welt suchen, in der sie leben können, dann müßten sie sie der ihren anpassen. Dazu brauchten sie nur bei uns eine Anzahl Samen
auszustreuen. Unser grüner Planet würde sich rostrot verfärben. In einigen Jahren würde es keine Wolken mehr geben. Die Eiskappen an den Polen würden bleiben, aber Seen und Meere würden verschwunden sein. Und die Menschen auch. Dann könnten unser Freund und seine Brüder hier auf der Erde einziehen.« Brady machte ein finsteres Gesicht. Er starrte Steve an. Übelkeit schien ihn zu befallen, nicht Angst. Er sah todunglücklich aus. Aber nicht erschrocken. »Und weiter?« fragte er in herausforderndem Tonfall. »Die Pflanze, die ich im Reagenzglas wachsen ließ«, fuhr Steve fort, »tat dies sehr schnell. Aber sie hat noch keine Samen geworfen. Ich glaube nicht, daß sie dies aus eigenen Stücken tun könnte. Ich vermute, daß ich sie dazu bringen könnte – ja, daß ich sie dazu bringen werde, weil es nützlich sein wird, eine Quelle für diese Samen zu besitzen. Ich glaube, es gibt eine winzige Kleinigkeit, an die die Freunde unseres Freundes nicht gedacht haben.« Sie kamen auf eine freie Fläche, aus deren Mitte sich ein mächtiger Felshöcker aus grauem Granit erhob. Er sah aus wie der kleine Bruder des Gipfels, der noch über tausend Meter weiter in den Himmel aufragte. Jenseits des granitenen Höckers breitete sich nahezu endlos das Panorama der Berglandschaft aus. Aber die beiden Männer hatten keine Zeit, die Aussicht zu bewundern. Sie sahen nur die kleine, unmenschliche Gestalt oben auf dem Höcker. Sie war sehr viel kleiner als ein Mensch, grotesk nach irdischen Vorstellungen – und irgendwie mitleiderregend. Sie taumelte, während sie sich bewegte. Sie war erschöpft und litt unter Übertemperatur, denn wo sie herkam, war es erheblich kälter. Und sie war so einsam, wie kein Mensch zuvor auf der Erde einsam war. Sie hatte die höchste Erhebung des Höckers erreicht, und es gab nichts mehr, wohin sie hätte fliehen können.
»Jetzt haben wir ihn«, sagte Brady, und Gyp begann laut zu bellen. »Kann kaum noch gehen«, sagte Steve. Er verlangsamte den Schritt und hob die Hand zum Zeichen, das überall als eine Geste des Friedens verstanden wurde. Das Wesen blieb stehen und blickte stumpf zu ihnen herunter. Es schwankte vor Erschöpfung. Die Entfernung betrug noch rund zweihundert Meter. Steve ging vorsichtig weiter, versuchte dem Wesen klarzumachen, daß er keine bösen Absichten verfolge. Aber wie sollte es ihn verstehen, da es zwischen ihm und dem Menschen keine gedanklichen und geistigen Verbindungen gab, die ihm das Verstehen ermöglicht hätten? Das Wesen drehte sich um und taumelte weiter. Steve blieb stehen. Er rief hinter ihm her. Aber das Wesen schien einen endgültigen Entschluß gefaßt zu haben. Es begann verzweifelt zu rennen. Es hatte die höchste Stelle des Höckers hinter sich gelassen, und nun ging es wieder nach unten, immer steiler und schneller. Und das Wesen lief immer schneller und schneller. Steve schien wie erstarrt. Aber das Wesen konnte nicht mehr anhalten. Es stolperte und stürzte und fand keinen Halt. Es rutschte, schlitterte, überschlug sich… Dann war es verschwunden. Es würde über fünfhundert Meter durch die Luft stürzen, bevor es aufschlug. Niedergeschlagen kehrte Steve zu Brady zurück. »Du hast gesehen, was passiert ist«, sagte er erschöpft. »Vielleicht war es dumm von mir. Aber was hätte ich anderes tun sollen? Wenn wir uns ihm hätten verständlich machen können, hätte es vielleicht Vertrauen zu uns – « »Hat keinen Zweck, darüber nachzudenken«, sagte Brady. Er hatte die Stirn in Falten gelegt. »Aber die Sachen mit dem Unkraut… Glaubst du, diese roten Gewächse werden alles überwuchern, wie du gesagt hast?«
Steve trat zu dem Maulesel mit der Packtasche, in die er das Reagenzglas gesteckt hatte. »Nein«, sagte er. »Das kann jetzt nicht mehr geschehen. Es haben sich keine Knospen gebildet, und es werden auch keine entstehen, weil diese Pflanzen sich sehr rasch entwickeln. Jede Pflanze benötigt eine tägliche Mindestmenge von Sonnenschein, um Knospen treiben und später Samen werfen zu können. Diese Mindestmenge Sonneneinstrahlung bestimmt, innerhalb welcher Breitengrade sie vorkommt und zu welcher Zeit des Jahres sie zu blühen beginnt. Pflanzen, die im Frühling blühen, brauchen weniger Sonnenbestrahlung als Sommer- oder Herbstblütler. Der kritische Faktor ist das Ultraviolett. Bei uns auf der Erde ist die Atmosphäre sehr dicht. Es dringt nur ein Bruchteil der ultravioletten Strahlung hindurch auf die Erde, ein winziger Bruchteil dessen, was die Sonne ausstrahlt. Diese Pflanze hier ist eine sehr viel dünnere Atmosphäre gewöhnt und an eine zehnfach stärkere Ultraviolettbestrahlung, als sie die Erde erhält. Diese Pflanze wird auf der Erde also niemals blühen und Samen werfen können, es sei denn, wir bestrahlen sie mit starken Ultraviolettlampen. Und das werden wir tun.« Steves Stimme klang ein wenig traurig, aber seine Zufriedenheit war unverkennbar. »Das sind die idealen Pflanzen für Gebiete mit extremer Trockenheit. Wir werden sie verändern müssen, und wir werden Abarten züchten müssen. Und wer weiß, welchen Rohstoff uns diese Pflanze eines Tages liefern wird, ganz abgesehen davon, daß wir sie als Rinderfutter anbauen können…« Brady schaltete sich ein. »Wir sollten versuchen, die Leiche des armen Teufels zu finden.« »Ja«, sagte Steve. »Ich wünschte, wir hätten uns anfreunden können…«
Es vergingen Tage, bevor Steve an etwas anderes denken konnte als an die unwiederbringliche Gelegenheit, die im Grunde gar keine gewesen war. Die Suche nach der Leiche des Wesens war ergebnislos geblieben. Eines Wesens, das sich lieber selbst in den Tod gestürzt hatte, als sich gefangennehmen zu lassen. Sie wußten, wo der Körper aufgeschlagen war, aber eine hohe Steilwand verwehrte ihnen den Aufstieg zu der Felsterrasse, auf die der arme Teufel vom Mars gestürzt war – einziger seiner Gattung auf einem fremdartigen Planeten, Millionen von Kilometern von seiner Heimat entfernt – und über der die Bussarde zu kreisen begonnen hatten.
Originaltitel: THE FEAR PLANET. Copyright © 1950 by Fictioneers, Inc. Aus SUPER SCIENCE STORIES Januar 1950. Übersetzt von Walter Spiegl.
Leigh Brackett DIE ZITADELLE IM Eis
1 Seltsames Erwachen Finsternis – Nichtsein. Eine Stimme aus dem Vakuum. »Erinnere dich. Du mußt dich erinnern. Wer bist du?« Qualvoll, so zurückgeholt zu werden. Er wollte antworten, konnte es aber nicht verhindern. »Ich weiß es nicht.« »Doch, du weißt es. Du mußt dich erinnern. Wer bist du?« Die Stimme wurde zur Folter. Immer wieder dieselbe Frage. »Wer bist du?« Er mußte sich erinnern. Er hatte doch einmal gewußt, wer er war. »Ich bin… ich bin – Fenway.« »Du kannst dich also doch erinnern. Ich habe es gewußt. Wo bist du, Fenway? Wo?« »Ich weiß es nicht.« »Du gehst, Fenway. Durch eine Straße. Zwischen Menschen und Gebäuden hindurch. Wohin gehst du, Fenway?« Plötzlich wußte er es. Er mußte geschlafen haben. Oder geträumt. Er ging die Avenue of the Americas hinunter. Er kam aus seinem Büro im Rockefeller Center. Es dämmerte. Die ersten Schneeflocken fielen herab. »Ich bin in New York. Es ist Winter. Ich gehe heim.« »Die Jahreszahl, Fenway. Ich will die Jahreszahl wissen.« »Ich bin müde. Ich will schlafen.« »Die Jahreszahl, Fenway.«
»Ich wurde geboren, ich habe geheiratet, mein Sohn wurde geboren… ich weiß es nicht. Ich… doch – neunzehnhundertsiebenundachtzig.« Die Stimme wurde schwächer, die Finsternis noch dichter. »Die Zitadelle, Fenway. Weißt du etwas über die Zitadelle?« »Die Zitadelle?« Das Wort bedeutete Angst, Schrecken und Zerstörung. »Vielleicht bleibt es uns doch erspart«, murmelte er. »Vielleicht stimmt es gar nicht, oder sie haben sich verrechnet. Die Zitadelle – ich will nicht. Laß mich schlafen.« Er ließ sich sinken. Noch tiefer hinein in die Finsternis. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, Gesichter gesehen zu haben. Haßerfüllte Gesichter. »Noch einmal, dann wird er sich erinnern«, sagte die Stimme. Dann war alles vorbei. Nur noch tiefer, schwerer Schlaf, Stille und Vergessen.
Ein schmaler Lichtstreifen auf dem Steinfußboden. Rostig rot. Er lag da und verstand gar nichts. Sein Kopf war bleischwer. Er war in einer kleinen Zelle eingeschlossen. Alles Stein. Und Stille. Und Dunkelheit. Er konnte sich an nichts erinnern. Er wußte nur, daß er einmal einen Namen, ein Zuhause und einen Grund gehabt hatte, zu leben. Er hatte keine Angst. Plötzlich stand er auf. Er war schweißgebadet. Erinnerungsfetzen flogen vorbei. Er sah an sich herunter. Seine Füße steckten in Sandalen. Seine langen, sehr muskulösen Beine hatten Narben. Um seine Lenden war ein weißes Tuch gebunden. Er betrachtete seine Hände. Sie waren kräftig, hatten aber keine Bedeutung. Er tastete sein Gesicht ab und fuhr sich über
das kurzgeschnittene Haar. Sein Name, die Farbe seiner Augen, die Farbe seiner Haare – er wußte nichts. Er machte drei unsichere Schritte und sah durch den Schlitz. Eine kupferfarbene Sonne an einem orangefarbenen Himmel. Über den Hügeln in der Ferne rote Staubwolken. Der Himmel stimmt nicht, dachte irgend etwas in ihm. Unter ihm, am Fuße der Klippen, die in die Ewigkeit abzufallen schienen, eine Stadt. Ein Meer aus Stein und Lehm, in kupfernes Licht getaucht. Die Geräusche der Stadt drangen zu ihm herauf. Eine große, reiche Stadt mit viel Leben. Aber auch da stimmte etwas nicht. Er hatte die flüchtige Vision von Wolkenkratzern, Autos und Flugzeugen, deren Bedeutung er aber nicht fassen konnte. Hinter der Stadt flaches Land mit Weiden und Wäldern, von Straßen durchzogen, über denen dick der Staub hing. Die Schatten änderten sich nicht. Die Sonne stand unbeweglich am Himmel. Es gab keine Zeit. Plötzlich ertönte irgendwo über ihm das metallische Dröhnen eines Gongs. Die Mauern erzitterten, und das Echo rollte über das Land. Als die Schläge verklungen waren, herrschte Stille in der Welt. Der Lärm in der Stadt hatte sich gelegt. Die Straßen leerten sich. Draußen, im Flachland, senkten sich die Staubwolken auf den Boden. Die endlosen Karawanen hatten sich in die Schatten der Wälder zurückgezogen. Die Dörfer waren still. Die Welt schlief. Und die Sonne stand immer noch an derselben Stelle. Die Angst kroch in ihm hoch. Die Stadt und die darunterliegenden Ebenen wirkten in dem erbarmungslosen Schein der Sonne wie tot. Er hämmerte mit beiden Fäusten gegen die eiserne Tür, bis er nicht mehr konnte. Auf der anderen Seite kein Laut. Er ging zu der Pritsche zurück, auf der er zu sich gekommen war. Auf einem Hocker daneben ein Wasserkrug, eine irdene Schüssel mit Fleisch und ein Kanten
Brot. Er hatte keinen Hunger, sondern trank nur, setzte sich auf die Pritsche, stützte den Kopf in die Hände und versuchte, sich zu erinnern. Und das war genauso sinnlos wie das Hämmern gegen die Eisentür. Sein Blick fiel auf die Schüssel mit dem Fleisch. Irgendwann wird jemand kommen, dachte er. Und dann werde ich erfahren, wer ich bin. Er wartete. Nach einer Zeit, die er nicht abschätzen konnte, hörte er endlich, wie draußen ein Riegel zurückgeschoben wurde. Er legte sich auf die Pritsche und stellte sich schlafend. Ein zweiter Riegel, ein dritter, dann ging die Tür auf. Schritte auf dem Steinfußboden. Eine schmale Gestalt beugte sich über ihn. Er riß die Arme hoch und packte sie.
2 Arika Die Gestalt reagierte wie ein Panther. Er preßte ihr eine Hand auf das Gesicht, um sie am Schreien zu hindern, und zerrte sie an den Spalt, durch den das Licht eindrang. Ein Mädchen. Blauschwarzes Haar und Augen, so dunkel und feurig wie glühende Kohlen. »Wenn du aufhörst, dich zu wehren, nehme ich meine Hand weg«, zischte er. »Und wenn du schreist, bring’ ich dich um.« Das Mädchen nickte. Er nahm die Hand von ihrem Gesicht. Ein sehr roter Mund, ein schmales Kinn und auffallend breite Backenknochen. Die gefährlichen Züge einer Raubkatze. Im selben Moment wechselte der Ausdruck auf dem Gesicht. Es wurde weich und lieblich und paßte zu der Stimme. »Warum behandelst du mich so schlecht?« fragte das Mädchen. »Kannst du dich denn nicht mehr an mich erinnern? Ich bin doch Arika.«
»Arika?« wiederholte er. »Arika? Nein, ich kann mich nicht an dich erinnern.« Er packte sie an den Schultern und schüttelte sie. »Ich kann mich an gar nichts erinnern. Wer bin ich? Sag mir, wer ich bin.« Ihre Augen füllten sich mit Mitleid. »So ist es schon die ganze Zeit«, sagte das Mädchen. »Ich habe gehofft, daß du dich jetzt wenigstens an mich erinnerst. Ich war doch erst vor vier Nächten hier und habe dir gesagt, daß alles für deine Flucht vorbereitet ist.« Sie legte ihm eine Hand auf die Brust. »Bitte, tu mir nicht weh. Laß mich los. Ich weiß nicht, wer du bist, ich weiß nicht, woher du kommst und warum du hier bist. Ich weiß nur, daß du ein Mensch bist und sie dich gefangen halten. Ich hasse die Numi.« Seine Enttäuschung war grenzenlos. »Vor vier Nächten?« fragte er und starrte sie ungläubig an. »Willst du damit sagen, daß jetzt auch Nacht ist?« »Hast du denn den Gong nicht gehört?« »Nacht«, sagte er und spähte durch den Spalt hinaus. »Nacht… Dunkelheit.« Das Mädchen schauderte zusammen. »Bitte, sprich das Wort nicht aus. Es ist genauso böse wie die Numi. Laß mich los. Wir sprechen später darüber. Wenn wir in Sicherheit sind. Komm, wir haben vor dem Taggong noch einen langen Weg vor uns.« Er ließ das Mädchen los. Langsam begriff er, was sie gesagt hatte. Flucht! Er wollte ’raus aus diesen engen Steinmauern, aber gleichzeitig hatte er Angst vor der Welt, die er durch den Spalt gesehen hatte. »Nacht«, wiederholte er. Sonnenuntergang, Dämmerung, Dunkelheit. Ein Mann in der Dämmerung auf dem Weg nach… Sein Kopf schwamm. Einen Augenblick glaubte er, daß der Schleier sich lüften würde. »Fen«, sagte er mit heiserer Stimme. »Mein Name… Fen!« Er bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. »Nein«, stöhnte
er. »Ich weiß es nicht. Es ist weg. Ich kann mich nicht erinnern.« Sie hielt sich an die eine Silbe, die er ausgesprochen hatte. »Du wirst dich wieder erinnern können, Fen«, sagte sie. »Aber du mußt jetzt erst einmal mitkommen. Ich bin nur eine Tempelsklavin. Wenn sie mich erwischen – « Sie ließ den Satz in der Luft hängen und schauderte zusammen. »Es ist deine einzige Chance, Fen.« Sie packte ihn an der Hand und zog ihn in einen Gang hinaus, in dem es noch dunkler war als in der Zelle aus Stein. Er wiederholte immer wieder die eine Silbe. Fen! Lieber namenlos sein, als bei einem Namen genannt zu werden, der keine Bedeutung hatte. Das Mädchen Arika führte ihn eine steile Treppe hinunter, die in den Felsen eingehauen war. Auf der letzten Stufe blieb sie stehen und drückte seine Hand. »Vorsicht«, flüsterte sie. »Hier ist es sehr gefährlich. Kein Geräusch.« Fen sah erst gar nichts. Dann tauchte plötzlich ein schmaler Streifen trüben Lichts auf. Der Streifen wurde breiter, bis Fen einen Durchgang erkannte. Ein Steinblock mußte zur Seite geglitten sein. Arika zog ihn hinter sich her. Der Steinblock glitt lautlos wieder an seine ursprüngliche Stelle zurück. Sie standen in einem Gang, der kaum einen Meter breit war. Hinter ihnen die Mauer, vor ihnen ein schwerer, schwarzer Vorhang. Und über ihnen ging beides in die Dunkelheit über. Das Mädchen zog ihn an der Mauer entlang. Fen versuchte, jede ihrer Bewegungen nachzumachen. Er hatte begriffen, daß sie den Vorhang nicht streifen durften. Die Luft war schwer und stickig, die absolute Stille erdrückend. Die Mauer machte einen endlosen Bogen. Schließlich blieb Arika stehen. Er deutete auf den Vorhang. »Was ist dahinter?« fragte er.
Sie zögerte. Ein boshaftes Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Sie tastete nach der Stelle, wo sich der Vorhang öffnen ließ. Sie machte ihn nur einen Spalt auf. Ein Gewölbe, das sich bis zu einem Himmel erhob, an dem Tausende von diamantenen Feuern glühten und den Raum darunter in ein milchiges Licht tauchten. Fen spürte sofort, daß auch hier wieder etwas nicht stimmte. Irgendwo, irgendwann hatte er einen Nachthimmel mit weißglühenden Feuern gekannt. Eine Erde, auf der fahles Licht lag. »Das ist der Tempel der Ewigen Nacht«, flüsterte ihm Arika ins Ohr. »Hier kannst du sehen, wie sie schlafen, die Numipriester, um ihre dunklen Götter zu beschwichtigen.« Sie lagen auf weißen Fellen. Priester hatte das Mädchen die Gestalten genannt, aber es waren keine Menschen. Die Form ihrer Körper war normal, aber die geballte Kraft, die in diesen Körpern zu stecken schien, hatte etwas Tierisches. Sie waren auch wie Tiere behaart. Das Schlimmste waren die Gesichter. Kalte, weise, brutale, schöne Gesichter, die selbst im Schlaf voll Wissen und Macht waren. Er konnte sich gegen die Angst, die ihn überkam, nicht wehren. Gesichter wie die der Numipriester waren ihm nicht fremd. Er erinnerte sich, solche Gesichter schon gesehen zu haben. Sie bedeuteten Folter, Qual und Pein. Er wandte den Kopf ab, und Arika ließ den Vorhang sinken. Das boshafte Lächeln lag immer noch auf ihrem Mund. Ein Lächeln, das gleichzeitig voll von Geheimnissen war. Voll von unausgesprochenen Gedanken. Sie tastete die Mauer ab, und wieder öffnete sich ein Durchgang, der zu einer Treppe führte. Es ging endlos in die Tiefe. Arika zählte jede Stufe. Mehrmals half sie ihm über ein kleines Hindernis hinweg.
Wenn auch nur ein Steinchen ins Rollen gekommen wäre, hätten sie beide ihr letztes Gebet sprechen können. Als sie unten angekommen waren, stieß Arika ein nervöses Lachen aus. »Die Numi haben den Tempel von Menschensklaven bauen lassen«, sagte sie. »Anschließend wurden alle umgebracht, damit nicht einer der Geheimgänge verraten werden kann. Aber man kann uns Menschen nicht ganz ausschalten.« Sie war stolz auf sich. Fen legte ihr zum Dank eine Hand auf die Schulter, aber seine Gedanken waren woanders. »Arika«, sagte er, »wer sind die Numi?« Sie starrte ihn ungläubig an. »Das kannst du doch nicht auch vergessen haben?« »Doch«, sagte er. »Ich habe die Numi vergessen. Und die Welt um mich ebenfalls. Ich lebe, aber ich weiß nicht, ob ich vorher gelebt habe. Wann und wo und wie habe ich vorher gelebt?« »Numi bedeutet ›neuer Mensch‹«, sagte Arika mit beruhigender Stimme. »Die Numi sind aus der großen Dunkelheit gekommen und haben uns Menschen besiegt. Du und ich, wir sind noch nicht sicher vor ihnen.« Sie waren am Ende eines Ganges angekommen. Arika blieb stehen und holte tief Luft. »Jetzt kommt das schlimmste Stück, Fen«, sagte sie. »Wenn wir es schaffen, durch das Grab der Numikönige zu kommen, sind wir frei und gerettet.« Sie öffnete den dritten Durchgang. Fen ging hinter ihr her in einen niedrigen, quadratischen Raum, in dem auf einem Dreifuß eine goldene Lampe brannte. An den Wänden hingen goldene Kränze. Die Namen der Toten waren in den Stein eingehauen. Fen dachte zuerst, diese Kammer sei das Grab der Könige, dann sah er aber den Torbogen, der in die eigentliche Grabstätte führte.
»Das hier ist nur für Leute, die aus irgendwelchen Gründen geehrt wurden«, sagte Arika mit leiser Stimme. »Die Könige sind da drin.« Der Raum hinter dem Torbogen war in rotgoldenes Licht getaucht, das sanft durch versteckte Öffnungen drang. Keinerlei Ornamente oder Schmuck. Als ob die Numi nur sich selbst brauchten. An den finsteren Mauern entlang die einbalsamierten Leiber verstorbener Könige in ihrem Festgewand. Sie standen senkrecht in Kristallpfeilern begraben, das Kinn stolz und arrogant erhoben. Fen hatte den Eindruck, von den bärtigen Mumien in ihren Glassärgen beobachtet und heimlich belächelt zu werden. Arika stieß einen tiefen Seufzer aus. »Die Götter scheinen mit uns zu sein, Fen«, sagte sie. »Komm, gehen wir schnell weiter.« Die menschlich-un-menschlichen Gesichter der Toten erfüllten Fen mit Angst und Schrecken. Er ging hinter Arika zwischen den Kristallpfeilern hindurch, und sie hatten schon fast den Torbogen auf der anderen Seite erreicht, als sie draußen das Stampfen von Hufen, das Klirren von Pferdegeschirr und Stimmen hörten. Arika drehte sich zu Fen um. In ihren Augen lag Todesangst, aber ihr Mund hatte einen harten Zug. »Zurück in die Vorkammer«, sagte sie.
3 Die Falle Steif und stumm wie die toten Könige standen sie an die Wand gedrückt. Wenn er den Kopf etwas zur Seite drehte, konnte er sehen, was in der Grabstätte vor sich ging. Ein Mann und eine Frau betraten den Raum mit den Kristallpfeilern. Das Gefolge, in kriegerischen Rüstungen, blieb am Eingang stehen. Der Mann hatte einen goldenen Bart und trug ein langes schwarzes
Gewand, in das silberne Fäden eingewirkt waren. Die Frau hatte die Haltung einer Herrscherin. Ihr Haar war schlohweiß, ihr Gewand purpurrot. Das Gesicht war glatt und nur von Sorgenfalten durchzogen. In den Augen lag ein irrer Blick. Es fiel kein Wort. Der Mann begleitete die Frau bis in die Mitte des Raumes, dann zog er sich mit einer Verbeugung zu dem Gefolge zurück. Die Frau stand jetzt völlig allein vor einem Toten und sah zu ihm auf. Ihre irren Augen musterten das wächserne Gesicht mit dem tiefschwarzen Bart. Das Schweigen und die Stille wurden für Fen zur unerträglichen Ewigkeit. Endlich sprach die Frau. »Du veränderst dich nicht, mein König«, sagte sie mit anklagender Stimme. »Warum wirst du nicht alt wie ich? Aber ich bin nicht gekommen, um dir diesen Vorwurf zu machen. Ich bin gekommen, um dir zu sagen, daß es Schwierigkeiten gibt in deinem Reich. Sie häufen sich von Tag zu Tag, und niemand hört auf mich. Das Menschenvieh wird immer aufsässiger, und dein Sohn, mein König, der nicht für deinen Thron geschaffen ist, wird immer weichlicher und bestraft es nicht.« Fen sah Arika an. Der katzenhafte Ausdruck, den er schon in der Zelle bemerkt zu haben glaubte, war wieder auf ihrem Gesicht. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt, ihr ganzer Körper war gespannt. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Die Numikönigin redete und redete und brachte eine Beschwerde nach der anderen vor. Eine böse, alternde Frau mit einem relativ jungen Gesicht und einer vergifteten Seele. »Ich bin es leid«, sagte sie plötzlich. »Du hörst mir ja nicht einmal zu. Ich gehe. Gute Nacht, mein König.« Ihr Gewand rauschte, als sie sich wütend umdrehte und auf den Torbogen zuging. Der Priester, der sie in die Grabstätte begleitet hatte, kam ihr entgegen und brachte sie zu ihrem Gefolge zurück. Kurz darauf war der Raum wieder leer wie zuvor. Fen hatte
gefürchtet, es nicht mehr durchzustehen. Seine Knie waren weich vor Angst und von der Anstrengung, nur kurz und flach atmen zu dürfen. Als man die Hufe wieder trappeln hörte, holte er tief Luft. »Sie sind weg, Arika«, sagte er. »Hörst du die Pferde?« Sie nickte. »Das widerliche Weib«, sagte sie. »Ich habe gewußt, daß sie manchmal während der Nacht hierherkommt und mit ihrem toten Mann spricht, aber warum ausgerechnet heute?« In diesem Moment kam der Priester zurück. Laut lachend und mit den Fäusten gegen die Kristallpfeiler schlagend durchquerte er mit schnellen Schritten die Grabstätte und kam auf die Vorkammer zu. Diesmal gab es kein Entrinnen. Er war auf dem Weg zu dem Tempel hinauf. Fen spürte, wie sich seine Muskeln ganz von selbst zusammenzogen. Arikas Augen waren nur noch zwei schmale schwarze Schlitze. Sie hatte beide Daumen in den breiten Ledergürtel gesteckt, der ihr kurzes gelbes Kleid zusammenhielt. Als der Priester in die Vorkammer kam, stürzte sich Fen von hinten über ihn. Er hatte die Stärke des Numi abzuschätzen versucht und sich eingebildet, den Mann ziemlich leicht überwältigen zu können. Daß die Numi aber nicht mit menschlichen Werten gemessen werden konnten, das hatte Fen nicht gewußt. Er hatte keine Ahnung gehabt, daß jemand, der auch nur entfernt menschliche Züge hatte, so stark sein konnte. Der Körper unter der schwarzen Robe schien nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Granit und Stahl zu sein. Mit einer einzigen Bewegung hatte ihn der Priester abgeschüttelt und zu Boden geschleudert. Er hörte Arika aufschreien, verstand aber ihre Worte nicht. Plötzlich haßte Fen den Numi. Es war ein Haß ohne Erinnerung und ohne Grund. Aber er war so abgrundtief, daß es nur den Tod gab. Arika und die Flucht waren vergessen. Fen hatte nur noch ein Ziel auf dieser Welt: diesen goldbehaarten Körper zu zerstören.
Ineinander verkrallt rollten sie aus der Vorkammer in die Grabstätte und kämpften zwischen den gläsernen Särgen. Fens Griff wurde immer härter. Er empfand keinen Schmerz mehr, und er konnte nicht mehr denken. Er wußte nur noch, daß er den Feind nicht loslassen durfte. Die Finger des Numi bohrten sich in seine Beine und schienen ganze Muskeln herausreißen zu wollen. Fen verbiß sich in das goldbehaarte Fleisch des Numi. Er hatte den Geschmack von Blut im Mund, spürte aber keinen Ekel, sondern nur noch den Drang zu töten. »Fen!« Arikas Stimme schien von sehr weit herzukommen. Seine Kraft ließ nach. Er wandte den Kopf nach dem Mädchen. Sie war schuld daran, daß er den Kampf verlieren würde. Warum hatte sie ihn ausgerechnet im entscheidenden Moment aus seinem mörderischen Haß reißen müssen? »Laß ihn doch los, Fen«, sagte das Mädchen. »Er ist tot. Schon seit einigen Sekunden. Fen! Wach doch auf und laß ihn los.« Der Numi hing schlaff in seinen Armen. Sehr langsam ließ Fen den Priester los. Der tote Leib glitt auf den Boden, und Fen stand auf. Jeder Muskel seines Körpers zitterte. Blut lief über seine Schenkel, sämtliche Knochen taten ihm weh. Arika stützte ihn. Sie sah ihn mit seltsamem Gesicht an. Er war zu müde, ihren Ausdruck richtig deuten zu können. Vielleicht war er zweifelnd, oder auch ängstlich. Oder berechnend? Warum wollte ihm dieses Mädchen überhaupt zur Flucht vor den Numi verhelfen? Der Priester trug einen weißen Leinenrock unter seiner Robe. Arika riß Streifen davon ab und verband Fens Wunden. »Sonst findet ein Blinder unsere Spur«, sagte sie. »Komm, wir müssen jetzt weiter.« Sie führte ihn aus der Grabstätte in das gleißende Licht der kupferfarbenen Sonne, die unbeweglich am Himmel stand. Es wehte ein starker Wind, und es roch nach Hitze und Staub. Der
Rand der Welt war hinter einem roten Schleier verborgen. Hoch über sich sah Fen den Tempel auf den Klippen. Warum hatten ihn die Numi dort oben gefangengehalten? Was hatten sie von ihm gewollt? Und was wollte Arika von ihm? Er lief hinter ihr den Hügel hinunter. Die Bäume rauschten im Wind. Das Grab der Könige befand sich am Fuß der Klippen, daran anschließend kam fast sofort die Stadt. Es mußte immer noch Nacht sein, denn nach wie vor war kein Leben in den Straßen. Auf halbem Weg blieb Arika stehen und holte hinter einem Busch ein Bündel hervor. »Hier, Fen«, sagte sie. »Zieh das an. Du mußt dein Gesicht versteckt halten.« Es war eine Art Kutte, formlos und schmutzig. Arika streifte das gleiche Kleidungsstück über und half Fen ungeduldig in die Ärmel. »Diese Kutten tragen die Menschen, wenn sie Trauer haben«, sagte Arika. »Sie dürfen nur nachts auf ihre Friedhöfe gehen, deshalb wird sich in den Straßen niemand um uns kümmern. Leute, die Trauer haben, gibt es immer.« »Warum dürfen sie denn nur nachts auf die Friedhöfe?« fragte Fen. »Weil das Menschenvieh – wie die Königin gesagt hat – tagsüber arbeiten muß. Der Mensch ist schließlich kein Schoßhündchen für den Numi.« Den Rest des Weges über den Hügel hinunter rannte sie. Fen konnte nicht Schritt halten mit dem Mädchen, und sie mußte mehrmals zurückkommen und ihn weiterzerren. Immer wieder sah sie über die Schultern zu dem riesigen Gong hinauf. Am Rand der Stadt verlangsamte sie den Schritt. Wie ein Elendsgürtel kreisten Tausende von Lehmhütten und Baracken den Palast und die eleganten Wohnviertel der Numi ein. Hier am Stadtrand regierten die Ablehnung, der Schmutz, Krankheit
und Tod. Hier gab es Ratten und den Geruch einer längst versunkenen Menschlichkeit mit all ihren Auswüchsen. »Ich weiß«, sagte Arika. »Die Luft in deiner Zelle war besser, Fen. Aber hier kannst du länger atmen.« Sie trafen nicht eine Menschenseele. Ab und zu das Weinen eines Kindes oder das Bellen eines Hundes. Droben, auf dem Dach des Tempels, erschienen zwei Priester. Arika zog Fen in eine noch dunklere Gasse und fing an zu laufen. Eine Sekunde später rollte der Taggong über das Land. Arika stieß Fen durch eine niedrige Tür, die nur mit einem Tuch verhängt war. Im Innern der Hütte bewegte sich der Schatten eines Mannes. »Alles in Ordnung?« fragte er. »Er hat einen Priester umgebracht«, sagte Arika. »Bleib hier, Fen.« Der Vorhang an der Tür wurde zur Seite geschoben und fiel wieder zurück. Fen wollte Arika zurückhalten, aber sie war schon weg. Vor ihm, auf dem Boden, nur noch die Kutte. Der Mann bückte sich und hob die Kutte auf. Als er sich wieder aufrichtete, sah Fen das Gesicht. Es war das Gesicht eines Numi.
4 Erinnerung an den Untergang Seine Wut war grenzenlos. Er hatte geahnt, daß Arika kein ehrliches Spiel mit ihm trieb, aber das hatte er nicht erwartet. Er griff nach dem Hals des Mannes und brachte nur noch ein Wort heraus. »Numi!« Der Mann entwand sich seinem Griff, riß den Vorhang einen Moment auf und ließ ihn wieder fallen. »Hast du gesehen?« fragte er.
Der Mann war bartlos, sein Körper nicht tierisch behaart. Aber sein Blick… »Ich bin Malech«, sagte der Mann. »Arikas Bruder.« »Arikas Bruder? Und wer ist Arika? Was will sie von mir? Was willst du von mir, Malech? Warum siehst du wie ein Numi aus, wenn du eigentlich keiner bist?« »Ich bin ein Halbblut«, sagte Malech. »Arika auch. Du kannst mir glauben, daß wir keine Liebe empfinden für unsere Väter, die uns unser Blut gegeben und uns auf Grund unseres Blutes verachten. Den Rest wirst du im Verlauf des Abends erfahren. Ich bin Sklave und arbeite als Gärtner im Palast. Wenn ich nicht sofort gehe und nicht pünktlich an meinem Arbeitsplatz bin, bekomme ich zehn Schläge auf den nackten Körper. Arika geht es im Tempel nicht anders. Deshalb ist sie eben so schnell weggegangen.« Malech schob Fen in einen Nebenraum. Er war klein, aber sauber. Eine Feuerstelle, zwei Schlafstellen, ein Tisch und vier Schemel. »Mehr Platz haben wir nicht«, sagte Malech. »Bleib hier. Du darfst nicht einmal aus dem Fenster sehen. Wasser, Wein und zu essen ist da. Verhalte dich ruhig und vertraue uns. Wenn dir das nicht gelingt und du wegläufst, dann tust du damit nur den Priestern einen Gefallen.« In der Tür blieb er noch einmal stehen. »Du hast einen Priester umgebracht«, sagte er, und seine braunen Augen glühten vor Freude. »Wie? Mit einem Messer? Oder einem Strick?« Fen schüttelte den Kopf. »Ich hatte keine Waffe.« »Mit den bloßen Händen?« fragte Malech ungläubig. »Dann müssen dir die Götter der Menschen hold sein. Übrigens, als Halbblut haben Arika und ich einige der seltsamen Fähigkeiten unserer Väter geerbt. Besonders Arika. Vielleicht gelingt es uns, dir deine Erinnerung wiederzugeben.« Er war weg, bevor Fen etwas sagen konnte. Fen starrte auf den Vorhang in der Tür. Der Gong war verklungen, dafür erwachten die Geräusche
der Stadt. Vielleicht gelingt es uns, dir deine Erinnerung wiederzugeben. Fen setzte sich und versuchte nachzudenken, aber er war zu erschöpft und verwirrt. Seine Wunden brannten, sein ganzer Körper schmerzte. Malech war ihm nicht sympathisch, und Arika traute er nicht. Er verstand gar nichts. Weder, warum man ihn gefangengehalten hatte, noch, warum er jetzt wieder frei war. Aber was auch immer passierte, nur nicht zurück in diesen Tempel. Falls er seine Erinnerung tatsächlich zurückerhalten sollte… Fen war fest entschlossen, in dieser Hütte auf die Rückkehr von Malech und Arika zu warten. Er wusch seine Wunden mit Wein aus, trank den Rest und legte sich auf eines der Strohlager, konnte aber nicht einschlafen. Sich erinnern! Wieder ein Mann mit Vergangenheit sein! Was für Erinnerungen würden sich ihm auf tun? Wie würde er die Erinnerung verkraften können? Würde er vielleicht erfahren müssen, daß seine Hände besudelt waren? Aber selbst schlechte Erinnerungen waren besser als keine. Besser als diese erstickende Leere. Dieses absolute Nichts.
Es war heiß, und der Wein umnebelte seine Gedanken. Sein Körper verlangte nach Ruhe, auch wenn sich der Geist dagegen sträubte. Die Welt entglitt ihm. Seltsam, dachte er, daß Arika ein Halbblut ist. Sie war ein so hübsches Mädchen, aber er traute ihr nicht. So ausnehmend hübsch… Er schlief, und in seinen Träumen erschienen riesige Gebäude, die in den dunklen Himmel hineinragten. Das Wort ›Nacht‹ wurde ihm wieder zur Qual. »Ich bin Fenway«, stöhnte er mehrmals. Arika weckte ihn auf. Er hatte den Gong, der die Nacht ankündigte, nicht gehört. Auch nicht, daß Arika und Malech
zurückgekommen waren. Sie mußten schon eine ganze Zeit dasein, denn über der Feuerstelle hing ein Topf, in dem etwas kochte, und der Tisch war gedeckt. Draußen heulte der Wind und jagte den Staub durch die Straßen. Fen stand auf. Er war völlig steif, fühlte sich aber sonst besser und hatte einen Bärenhunger. Aber seine Gedanken waren nicht mit Essen beschäftigt, dazu war er viel zu aufgeregt. Er erzählte Arika, was Malech gesagt hatte. »Stimmt das?« fragte er. »Kannst du das wirklich?« »Wahrscheinlich nicht auf einmal«, sagte das Mädchen, »aber ich werde es versuchen. Du mußt aber erst einmal essen, Fen. Sonst stört der Körper den Geist.« Er musterte den Bruder und die Schwester und versuchte, sich ein Urteil zu bilden, aber ohne Erfolg. »Warum hast du mich befreit?« fragte er plötzlich. »Das habe ich dir doch schon gesagt«, antwortete Arika. »Du bist ein Mensch und wurdest von den Numi gefangengehalten. Das ist nicht das erstemal, daß ein Mensch aus den Fängen der Numi befreit wurde, aber ich muß zugeben, daß es noch keinem gelungen ist, aus dem Tempel zu fliehen.« »Das mag sein, aber ich weiß deshalb noch immer nicht – warum?« »Muß es denn einen bestimmten Grund geben?« fragte Malech. »Hast du noch nie etwas getan, nur weil es gut war?« Fens Augen wurden schmal. »Du brauchst mich nicht darauf hinzuweisen, daß ich keine Erinnerung habe. Aber bitte, behaltet die Antwort für euch. Ich kann warten.« Er wandte sich wieder an Arika. »Was wollten die Priester von mir? Warum haben sie mich gefangengehalten?« Arika schüttelte den Kopf. »Ich habe es selbst nicht in Erfahrung bringen können. RhamSin – er war dein persönlicher Gefangenenwärter – ist ein bis ins Knochenmark gerissener und durchtriebener Mann. Dazu ist er schlau wie
kaum einer. Er regiert über den Tempel, wie der König über den Palast. Zwischen den beiden Männern besteht eine große Rivalität. Ich weiß nicht, warum dich RhamSin gefangengehalten hat, Fen, aber er muß einen Grund gehabt haben. Ich weiß lediglich, daß weder der König noch die anderen Priester etwas von deiner Existenz wußten. Sonst hätte er dich nicht in dieser Zelle versteckt gehalten. Es steht den Numi frei, mit Menschen anzufangen, was sie wollen. Sie können sie abschlachten, wie es ihnen gerade paßt. Vielleicht ist das der Grund, Fen, warum ich dich befreit habe. Ich hasse RhamSin. Seit ich groß genug bin, dort hinaufsteigen zu können, arbeite ich als Sklavin im Tempel. Vielleicht wollte ich mich bloß an ihm rächen und ihm das abnehmen, wovon er sich offensichtlich etwas erhoffte – nämlich dich.« Ein derart haßerfüllter Zug lag um ihren Mund, daß Fen glaubte, wenigstens einen Teil der Wahrheit gehört zu haben. Plötzlich lächelte sie. »Hast du dich unter den gegebenen Umständen nicht gefragt, warum RhamSin die Stadt nicht hat absuchen lassen nach dir?« »Nein, aber vielleicht ist es leichter, sich einfach einen neuen Menschen zu beschaffen.« »Das wäre eine Möglichkeit. Da übrigens nur die Priester, die königliche Familie und ein paar Auserwählte von den Geheimgängen im Tempel wissen, habe ich, schon allein um mich selbst abzusichern, auf einer der Treppen einen Gürtel fallen lassen, den Malech im Palast gestohlen hat. RhamSin wird glauben, daß der Besitzer des Gürtels dich befreit und direkt in den Palast gebracht hat. Wir sind also vorerst sicher vor seinen Nachstellungen.« »Das war sehr schlau von dir, Arika«, sagte Fen. »Wirklich, sehr schlau.« Arikas Lächeln wurde breiter. Ich möchte nur wissen, wie schlau du bist, dachte Fen. Zu schlau, um dir trauen zu
können? Er stand vom Tisch auf. »Ich kann nicht länger warten«, sagte er. »Mach dich an die Arbeit. Her mit dem Zauber – ich halte es nicht mehr aus.« »Reg dich nicht auf, Fen«, sagte Arika beschwichtigend. »Leg dich hin und entspanne dich. Du mußt mir helfen, Fen. Ich bin kein reiner Numi und kann deshalb mit dem Geist von Menschen und Tieren nicht einfach tun, was ich will. Wehr dich nicht gegen mich, Fen. Sträube dich nicht. Laß dich fallen.« Er streckte sich auf dem Strohlager aus, versuchte, seine Glieder zu entspannen und sich fallen zu lassen, wie Arika gesagt hatte. In ihren Augen glühten dunkle Feuer. Sie redete mit sanfter Stimme auf ihn ein. »Du mußt mir vertrauen, Fen«, sagte sie, und Malech gab ihr eine Trinkschale. Sie hielt sie an Fens Lippen. »In diesem Wein ist ein Zaubermittel, Fen«, sagte sie. »Es ist nicht gefährlich, sondern macht alles nur einfacher. Und die Zeit vergeht schneller. Trink den Wein, Fen.« Seine Kehle war wie zugeschnürt. Seine Muskeln waren schon wieder angespannt. Fast hätte er ihre Hand zur Seite geschlagen und wäre aufgesprungen. Aber sie stellte die Schale weg und blieb ganz ruhig. »Tu, was du willst, Fen«, sagte sie. »Ich kann und will dich zu nichts zwingen. Es geht um dein Gedächtnis, nicht um meines.« Fen kämpfte mit sich. »Gib mir die Schale«, sagte er nach einer Weile. Er trank sie mit einem Zug leer und legte sich wieder auf das Stroh zurück. Ihre Stimme war beruhigend. Nach einem Moment hatte er schon jeden Sinn für die Zeit verloren. Arikas Augen waren groß und feurig und hielten seinen Blick gefangen. Das Gesicht Malechs im Hintergrund konnte er schon nicht mehr erkennen. Es war völlig verschwommen. Er sah nur noch Arikas Augen.
Tiefe, zeitlose Finsternis. Eine Stimme… »Ich heiße Fenway«, sagte er. »Ich bin in New York.« Diesmal war es viel einfacher, zu antworten. Er erzählte vom Times Square an einem Sommerabend, vom Lichtermeer und der Menschenmenge. Und er erzählte vom Central Park an einem Morgen nach dem Regen. »Und bald wird alles nicht mehr existieren«, sagte er. »Die Wolkenkratzer, die Untergrundbahn und die Menschen. Dem Erdboden gleich und vergessen. Weggewischt.« Er lachte. »Sie bauen an der Zitadelle. Sie schlagen sie tief in den Felsen ein, unter den Palisades. Sie ist fast fertig. Und wofür das Ganze? Was nützt eine Zitadelle ohne Menschen?« Sein Lachen wurde erschreckend. »Bereut, denn das Ende ist nah! Ich bereue, einem Sohn das Leben geschenkt zu haben. Ich bereue, ihn gezeugt zu haben, um ihn sterben zu lassen.« »Fenway! Fenway!« Er wurde geschüttelt und kam langsam wieder etwas zu sich. »Du mußt dich erinnern. An dich selbst. An New York und die Palisades. Zeichne es auf. Zeichne eine Skizze von New York. Und von den Palisades. Du mußt dich auch dann noch erinnern, wenn du wieder wach bist.« Fen begann zu zeichnen. Bleistift und Papier kümmerten ihn wenig. Er zeichnete einfach. Und plötzlich überkam ihn eine solche Traurigkeit, daß er zu schluchzen anfing. »Ich werde nicht zeichnen«, sagte er. »Es hat doch keinen Sinn, sich am Abend der Zerstörung hinzusetzen und zu zeichnen.« Die Stimme rief ihn immer wieder, und er versuchte, vor der Stimme zu fliehen. Er rannte an dem grauen Flußufer entlang. Die Nacht senkte sich herab, dichter, kalter Nebel stieg auf, hängte sich an seine Glieder und hüllte die Welt ein, die bald untergehen sollte.
5 Das Geheimnis der Zeit Eine Kohlezeichnung auf einem Holzbrett. Zittrig, ungeschickt und nicht zu Ende geführt. Eine lange, schmale Halbinsel zwischen zwei Flüssen in der Nähe des Meeres. Fen starrte auf die Zeichnung. Seine Hände waren feucht. »Du hast gesagt, daß die Stadt New York heißt«, drängte Arika. »Erinnerst du dich denn nicht mehr daran?« Er sah flehentlich von dem Mädchen zu seinem Bruder. »Wo ist New York?« fragte er. Malech zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung.« In seiner Stimme lag ein seltsamer Unterton. Arika stand auf und nahm über der Lagerstätte zwei Backsteine aus der Wand. Aus dem Loch dahinter holte sie ein Bündel Pergamentrollen. Sie schien sehr aufgeregt zu sein. Sie legte die Rollen neben Fen. »Als die Numi aus der Großen Finsternis in den Teil der Welt kamen, in dem die Menschen lebten, haben sie in den Ländern, die sie durchzogen, diese Aufzeichnungen gemacht. Ich habe sie aus dem Tempel gestohlen. Schon vor ziemlich langer Zeit. Vielleicht ist deine Insel irgendwo eingezeichnet.« Fen studierte die Karten. Unverständliche Pläne einer unverständlichen Welt. Die Numi mußten unheimliche Strecken zurückgelegt haben. Die einzelnen Angaben waren in einer Sprache gemacht, die Fen nicht verstand, aber Arika zeigte ihm die Lage von Wüsten, Dschungel und Gebirgen, von Waldgebieten und Meer. Aber nichts ähnelte der Insel, die Fen aufgezeichnet hatte. Ein schneller Blick zwischen Arika und Malech. Das Mädchen rollte die letzte Karte auf und breitete sie vor Fen aus. »Das«, sagte sie, »ist die Geburtsstätte der Numi. Du erinnerst dich an die Halle der Ewigen Nacht oben im Tempel, nicht wahr? Ihr Geburtsland sieht genauso aus, habe ich mir
erzählen lassen. Weiß und grausam kalt. Eben das, was die Menschen die Große Finsternis nennen.« »Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte Fen. »Was ist denn die Große Finsternis?« »Die andere Seite der Welt«, antwortete das Mädchen. »Sie ist immer von der Sonne abgewandt und sieht nur die schwarzen Götter der Nacht, aus denen die Numi hervorgegangen sind.« Fen konzentrierte sich auf die letzte Landkarte. Endlose Gebiete von weißer Steinwüste, nur hier und da von kontinentähnlichen Linien unterbrochen. Malechs schnelles Auge entdeckte es zuerst. »Hier«, sagte er. »Seht doch – hier.« Er deutete mit dem Finger darauf. »Weg von der Sonne. Nicht einmal im Übergangsgebiet der Schatten, sondern direkt in der Großen Finsternis. Hier ist das Meer und da – die zwei Flüsse und die Insel dazwischen.« Er stieß ein kurzes Lachen aus. »Ein Wunder«, flüsterte Arika. »Ein Geschenk der Götter.« »Ich verstehe das Ganze nicht«, sagte Fen. »Ich auch nicht, Fen«, entgegnete Arika. »Hör zu und versuche dich zu erinnern.« Sie packte ihn an der Hand. »Ich habe versucht, dein Gedächtnis aus der Versenkung wieder hervorzuholen. Ich habe dir das Zaubermittel gegeben, damit die Sperren, die du dir selber aufgebaut hast, gebrochen werden und die Mauer, hinter der sich dein Gedächtnis verschanzt hat, in sich zusammenfällt. Ich habe mit dir gesprochen, und du hast mir gesagt, daß du Fenway heißt, und hast freiwillig aus deinem Leben erzählt. Aber die Dinge, von denen du gesprochen hast, sind nicht von dieser Welt. Du hast von riesigen Gebäuden erzählt und von etwas, das durch den Himmel braust, durch die Straßen und unter der Erde hindurch. Und dann noch von Tag und Nacht und Dingen, die wir nie gesehen haben und nicht kennen – vom Mond, von Sternen, von Dämmerung und Sonnenuntergang.« Ihre Fingernägel
bohrten sich in seine Hand. »Fen, deine Erinnerungen stammen aus der Welt, bevor der Schwarze Stern hernieder kam. Sie stammen aus der Welt vor der Zerstörung.« Er war froh, daß sie seine Hand hielt. Der Boden schien ihm plötzlich unter den Füßen wegzugleiten, und er fiel, wie von einer Spirale erfaßt, in ein Loch von unendlicher Tiefe. »Ich erinnere mich«, stöhnte er. »Ja, ich kann mich erinnern.« Er stützte das Gesicht in die Hände. Erinnerte er sich tatsächlich? Bruchstücke eines Lebens, das nicht seines zu sein schien, zogen an ihm vorbei. »Wenn ich mich an eine so weit zurückliegende Vergangenheit erinnern kann, heißt das dann, daß ich zu dieser Vergangenheit gehöre?« fragte er voll Angst. »Heißt das, daß mich RhamSin aus dieser Vergangenheit geholt hat?« Arika schüttelte den Kopf. »Das ist praktisch unmöglich«, sagte sie. »Ich muß allerdings zugeben, daß die Macht der Numipriester groß ist.« »Wo sind diese Palisades?« fragte Malech dazwischen. Fen konnte vor Entsetzen nicht antworten. Er hatte das Gefühl, über einem Abgrund zu schweben, der zwei Welten trennte. Und er gehörte zu keiner dieser beiden Welten. »Fen«, sagte Arika ruhig, »zeig mir, wo die Palisades sind.« Ohne auch nur nachzudenken, deutete Fen auf die Kohlezeichnung. Malechs Augen sprangen fast aus den Höhlen. »Das wollte RhamSin aus ihm herausbringen«, sagte er aufgeregt. »Die Lage der Zitadelle. Und wir wissen es jetzt. Durch Fen.« Fen begann zu reden. Es war, als spräche ein Toter. »Der Dunkle Stern«, sagte er. »Man beobachtete ihn durch ein Teleskop. Man beobachtete, wie er auf die Erde zugerast kam, und sagte den Menschen, daß das Ende gekommen sei. Ein Dunkler Stern, der plötzlich aus dem All auftauchte, um die Welt zu zerstören.«
»Erinnerst du dich an die Zerstörung?« flüsterte Arika. »Nein. So weit war es noch nicht«, sagte Fen. »Der Dunkle Stern war noch nicht einmal an der Sonne vorbei. Man hatte ihn gesichtet und wußte, welche Verheerung er anrichten würde. Man wußte, daß er einige der weiter entfernt liegenden Planeten zerstören und weiter auf die Erde zurasen würde. Auf der Erde herrschte Angst und Schrecken. Nicht für uns selbst bangten wir, aber für unsere Kinder. Manchmal glaubten wir einfach nicht, daß so etwas passieren könnte. Wir dachten an die Großstädte, die Gebirge und Wüsten. Wir dachten an das Meer und konnten uns nicht vorstellen, daß alles auf einmal nicht mehr existieren sollte. Daß sich alles ändern sollte.« »Aber es hat sich geändert«, sagte Arika mit finsterem Gesicht. »Wir wissen es aus der Legende: der Dunkle Stern raste knapp an der Erde vorbei. Er traf sie nicht, aber die Erde erzitterte und drehte sich immer langsamer, bis sie endlich stehenblieb und es keinen Tag und keine Nacht mehr gab. Die Städte stürzten ein, die Gebirge bewegten sich, die Meere liefen aus, und Millionen von Menschen starben.« »Sie wußten, was kommt«, sagte Fen mit einer Stimme, die aus einem Grab zu dringen schien. »Deshalb haben sie ja die Zitadelle gebaut. Sie wollten das Wissen und die Macht des Menschen für eventuelle Überlebende bewahren.« Malech stieß ein bösartig spöttisches Lachen aus. »Und die Numi suchen nach dieser Zitadelle und ahnen nicht, daß sie sich in der Großen Finsternis befindet, aus der sie stammen. Sie haben dieses New York sogar auf ihrer Karte eingezeichnet und hatten keine Ahnung, daß die Zitadelle dort steht. Und wir werden sie jetzt finden. Mit Fens Hilfe.« Fen sah ihn und Arika mit verzweifelten Augen an. »Was bedeutet es denn für mich, wer die Zitadelle findet?« sagte er. »Die Welt, die ich gekannt habe, ist verschwunden. Wie viele tausend Jahre sind seit der Zerstörung vergangen?« Arika
drückte seine Hand. Sie ignorierte seine Frage. »Fen«, sagte sie, »ist dir klar, was in deiner Macht steht? Du bist ein Mensch. Ein hundertprozentiger Mensch. Du hast gesehen, wie die Menschen unter der Herrschaft der Numi leben müssen. In den Städten als Sklaven und außerhalb der Städte als Verstoßene in der Wildnis. Seit die Numi aus der Großen Finsternis gekommen sind, die sie hervorgebracht hat, ist der Mensch gezwungen, vor sich hinzuvegetieren. Du kannst all dem Elend ein Ende machen, Fen. Du kannst diese Menschen von der Herrschaft der Numi befreien. Du kannst die Welt wieder zu dem machen, was sie vor der Zerstörung gewesen ist. Zu einer guten Welt, in der die Menschen gern leben. Du kannst den Menschen das verlorengegangene Wissen wiedergeben.« »Oder soll die Zitadelle vielleicht an die Numi fallen?« fragte Malech. »Damit sie uns mit dem Wissen der Menschen noch mehr quälen können als bisher?« Fen hatte begriffen. »Nein!« rief er aufgebracht. »Der Mensch hat die Zitadelle erbaut. Für den Menschen.« »Dann mußt du uns helfen, Fen«, drängte Arika. »Du mußt uns helfen, die Zitadelle zu finden, damit der Mensch das bekommt, was seiner würdig ist. Aus der Stadt herauszukommen – das schaffen wir schon. Und die Ausgestoßenen in der Wildnis werden uns jede nur mögliche Hilfe zukommen lassen. Führst du uns zu der Zitadelle?« Fen spürte, wie sich der Entschluß in ihm formte und einen grenzenlosen Haß gegen die Numi nach sich zog. »Ja«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich führe euch zu der Zitadelle. Wenn sie tatsächlich das Geheimnis der Macht enthält, dann werden die Numi in ihre Finsternis zurückgeschlagen. Vielleicht erinnere ich mich dort, in diesem New York, an meine ganze Vergangenheit.«
»Ich treffe sofort die nötigen Vorkehrungen«, sagte Malech und sprang auf. »Wir brauchen Pferde, wenn wir die Stadt verlassen wollen. Morgen nacht machen wir uns auf den Weg.« Er riß den Vorhang zur Seite und wollte aus der Hütte stürzen, aber im selben Moment kam ein Mann herein, der sehr menschliche Züge hatte. »Tempelsoldaten durchsuchen die Stadt«, rief er aufgeregt. Als er Fen sah, wurden seine Augen groß. »Von welcher Seite kommen sie?« fragte Malech. »Vom Grab der Könige«, sagte der Mann. »Sie gehen von Haus zu Haus.« Arikas Gesicht war weiß vor Wut und Verzweiflung. »RhamSin ist also nicht darauf hereingefallen«, sagte sie. »Wenn wir doch nur einen Tag Zeit hätten…« Fens Entschluß war gefaßt, und ihn konnte nichts mehr zurückhalten. »Wir werden die Zitadelle finden«, sagte er. »Wenn wir nicht bis morgen warten können, dann brechen wir eben sofort auf.« »Aber Pferde – « Fen schnitt Malech das Wort ab. »Ich habe hinter den Toren Pferde auf der Weide gesehen«, sagte er. »Wir können uns doch welche stehlen. Los, macht schnell!« Arika sah ihn erstaunt und fast abschätzend an, aber sie ließ sich von seiner Entschlußkraft anstecken. »Er hat recht, Malech«, sagte sie. »Wir müssen es riskieren.« Sie holte die Trauerkutten, rollte die Landkarten zusammen und steckte sie in ihren Gürtel. Fen verließ die Hütte als erster. Die schmale Straße war leer, nur in der Ferne sah man einige schattenhafte Gestalten von Tür zu Tür laufen und die Leute warnen. Der pfeifende Wind hüllte sie in Staubwolken, und die Sonne brannte rot und böse am ockerfarbenen Himmel. »Welche Richtung?« fragte Fen. »Hier«, sagte Malech. »Richtung Wüste.« Außerhalb des ersten Stadttores standen mindestens fünfzig Pferde in einem
Pferch. Daneben in einer anderen Einzäunung zehn kraftvolle, nervöse Tiere, die bereits gesattelt waren. »Die scheinen auf uns zu warten«, sagte Fen. »Das sind Numipferde«, warnte Malech. »Sie wehren sich gegen menschliche Reiter und führen sich wie Wildpferde auf, wenn sie…« »Nur keine Angst«, sagte Fen. »Das schaffen wir schon. Das Problem ist das zweite Tor.« Die Stadt war durch zwei Mauern eingefriedet, zwischen denen ein Streifen kahles Land lag. Das zweite Tor, das hinaus in die Wüste und in die Freiheit führte, war von gut zwölf Numisoldaten bewacht, die Schulter an Schulter standen und wie eine Mauer das Tor versperrten. »Wir können nicht einfach durch sie hindurchreiten«, sagte Malech. »Wir haben keine Chance.« Fens Augen glühten. Er hatte bereits die Lösung. »Gib mir deinen Dolch«, sagte er zu Arika. »Steigt auf und haltet für mich ein Pferd bereit.« Fen sprang über die Holzlatten in den Pferch mit den ungesattelten Pferden und versetzte dem erstbesten Tier einen Stich mit dem Dolch. Es schrie auf. Nach zwei Sekunden war das Geschrei der verletzten Pferde fast unerträglich. Die Herde war aufgebracht. Es roch mach Blut. Den blutigen Dolch hocherhoben, rannte Fen durch die tobenden Tiere und riß das Gatter auf. Die Herde raste los. Direkt auf das zweite Stadttor zu. Gegen die Masse von fünfzig Pferden hatten die Numisoldaten keine Chance. Sie hatten nicht einmal mehr die Zeit, zur Seite zu laufen. Die Herde trampelte sie nieder. Fen, Arika und Malech stürmten fast im selben Augenblick durch das Tor. »Schwerter!« rief Fen. »Malech, hol uns Schwerter!« Er wagte nicht, von seinem Pferd abzusteigen, das er kaum hatte bezwingen können. Wenn es nicht in der Herde durch die Panik angesteckt gewesen wäre, hätte es Fen wahrscheinlich
abgeworfen oder sich nicht von der Stelle gerührt. Malech riß sein Pferd in den Stand. Er sprang ab, lief die fünf Meter zurück und holte zwei Schwerter. »Soldaten!« schrie Arika. Fen lachte, als ihm Malech ein Schwert zuwarf. »Wir haben Numipferde«, rief er. »Sollen sie doch versuchen, uns einzuholen.« Im vollen Galopp rasten sie durch die Wüste.
6 Auf der Suche nach gestern Vor Stunden schon hatten sie die Karawanenstraße verlassen und ritten quer durch die Wüste. Fen hatte inzwischen den Kampf mit dem Pferd gewonnen. Es beugte sich seinem Schenkeldruck. Fen hing seinen Gedanken nach. Seine einzige und letzte Hoffnung war die Zitadelle. Vielleicht konnte er dort seine Erinnerung wiederfinden. Hier draußen in der Wüste gab es keinen Gong, der die Zeit in Tag und Nacht einteilte. Hier bestimmte die Sonne die Zeit. Sie hatten mehrmals angehalten, um die Pferde verschnaufen zu lassen. Einmal waren sie selbst abgestiegen und hatten einige Stunden geschlafen. Als sie gerade beschlossen hatten, sich und den Pferden wieder eine Pause zu gönnen, sahen sie die Staubwolke am Horizont hinter sich auftauchen. »RhamSin«, sagte Fen und deutete über die Schulter. Malech nickte. »Mit Ersatzpferden, Brot und Wasser«, sagte er. »Wir dürfen nicht rasten. Die Numi sind stärker als die Menschen.« Fen verzog das Gesicht zu einem häßlichen Grinsen. »Stärker vielleicht, aber…« Er sprach den Satz nicht zu Ende. Doch Arika und Malech wußten, was er hatte sagen wollen, und hatten nichts dagegen einzuwenden, daß er jetzt die Führung übernahm. Fen lenkte sein Pferd über felsigen Boden
oder Striche mit ganz lockerem Sand, wo der Wind die Spuren der Hufe verwischen würde. Der Durst wurde immer unerträglicher. Hunger und Müdigkeit hatten die drei Reiter längst vergessen, aber der Durst quälte sie derart, daß sie mehrmals abstiegen und an einer Stelle, wo der Boden einen Schatten von Grün zeigte, nach Wasser gruben. Manchmal hatten sie Glück und konnten sich und die Pferde durch ein paar Tropfen stärken. Plötzlich bäumte sich Fens Pferd auf und wollte dem Zügel nicht mehr gehorchen. Es bog nach rechts ab und raste im Galopp über das Gelände. Die anderen beiden Pferde folgten ihm. »Laß es laufen!« schrie Malech. »Es riecht Wasser.«
Eine Reihe von gespenstisch geformten Felsblöcken. Dahinter fiel die Wüste in ein Becken ab. Bäume, Grünland und Wasser! Sie glaubten, die Oase nie mehr zu erreichen. Sie war zum Greifen nahe gewesen, und jetzt ritten sie schon eine Stunde und waren immer noch nicht da. Plötzlich sahen sie die sechs Männer vor sich auftauchen. Sie kamen auf sie zugeritten. Ihre Speere glänzten in der Sonne. Fen, Arika und Malech hielten die Pferde an. Die sechs Männer kreisten sie ein. Als sie Malechs Gesicht sahen, fletschten sie wie Wölfe die Zähne. »Numi!« sagte einer mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich bin ein Halbblut«, verteidigte sich Malech. »Ich bin Sklave.« Er kehrte ihnen den Rücken und zeigte ihnen die Striemen. Fen drängte sich zwischen Malech und die Männer. »Sie haben mir das Leben gerettet«, sagte er. »Dieser Mann und seine Schwester haben mich aus dem Tempel befreit. Bitte, gebt uns zu trinken.« Sie musterten Fen wortlos. Ihr Zögern erschreckte ihn. Er wußte, daß Malech der Grund für dieses Zögern war.
Arika konnte sich vor Durst kaum mehr im Sattel halten und brachte keine Silbe heraus. Plötzlich überkam Fen die Wut. Er packte den Mann neben sich an den langen Haaren und zerrte ihn vom Pferd. »Wenn wir krepieren«, schrie er durch die geschwollene Kehle, »bleibt die Zitadelle ein ewiges Geheimnis. Ich bin nämlich der einzige, der weiß, wo sie ist. Habt ihr mich verstanden? Ich weiß, wo die Zitadelle ist.« »Die Numipriester sind uns auf der Spur«, sagte Arika mühsam. »Sie wollen das Geheimnis aus uns herauspressen. Wir bitten euch um euren Schutz.« Sie stieß ein kurzes Lachen aus. »Wovor habt ihr denn Angst? Wir sind doch nur drei.« Auf den Gesichtern der Ausgestoßenen nach wie vor dasselbe Mißtrauen, aber sie hatten an Sicherheit verloren. »Dieses Geheimnis kennt keiner«, sagte der Anführer. »Dann bringt uns doch um«, sagte Fen. »Meinetwegen können die Numi den Menschen bis ans Ende aller Zeiten versklaven und unterdrücken, wenn er nicht den Mut hat, sich zu befreien.« Der Anführer deutete auf Malech. »Für einen guten Menschen befindest du dich in zu schlechter Gesellschaft. Aber das soll Lannar entscheiden. Gebt mir eure Schwerter.« Fen und Malech gehorchten. Der Anführer gab seinem Pferd die Sporen. »Los!« rief er. »Kommt mit.« Am Rande der Mulde durften sie absteigen und aus einem Brackwasser trinken, dann ging es weiter. Kurz darauf wurden sie dem Stammeshäuptling vorgeführt. Beim Anblick des großen, wettergebräunten Mannes mit dem aufgeweckten, intelligenten Gesicht schöpfte Fen wieder Mut und Hoffnung. Der Anführer stieg vom Pferd und erstattete dem Häuptling Bericht. »Das ist der Mann«, sagte er, als er geendet hatte, und
deutete auf Fen, »der behauptet, das Geheimnis der Zitadelle zu kennen.« Jeder Muskel von Lannars Gesicht spannte sich. Seine Züge wurden stahlhart. »Stimmt das?« fragte er Fen. »Ja.« »Steigt ab. Ich will mit euch sprechen.« Sie folgten Lannar in eine Hütte, die mit offensichtlich erbeuteten Reichtümern angefüllt war. Seidentücher, Teppiche und Felle, verzierte Möbelstücke, von denen das eine nicht zum anderen paßte, Kristallgeschirr und Gold. Frauen brachten Brot, Trockenfleisch, Wein und Wasser. Fen, Arika und Malech bekamen je eine kleine Portion, die sie im Nu verschlungen hatten. »Nachher könnt ihr mehr haben«, sagte Lannar. »Wenn ihr jetzt zuviel eßt, wird euch schlecht.« Er lehnte sich nach vorn. »So, jetzt will ich wissen, was es mit dieser Zitadelle auf sich hat.« Fen sagte es ihm, und Lannar hörte aufmerksam zu. Die Männer im Hintergrund atmeten schwer. Schließlich rollte Arika die Karte mit der Insel vor Lannar aus. »Hier ist die Zitadelle«, sagte Fen und deutete auf das Stück Land zwischen den beiden Flüssen. Lannar stand auf und ging in der Hütte auf und ab. Er war ein zu erfahrener Mann, um auf Anhieb alles zu glauben. Er überlegte. Plötzlich packte er Fen an den Haaren, riß ihm den Kopf zurück und sah ihm mit seinem durchdringenden, unbestechlichen Blick in die Augen. »Du sagst die Wahrheit«, erklärte er. »Aber vielleicht haben dir die Numi diese Wahrheit eingepflanzt.« »Nein«, sagte Fen. »Es ist die echte Wahrheit.« »Erinnerungen, Träume«, sagte Lannar und ließ Fen los. »Du kannst es nicht beweisen.«
»Ich kann seinen Geist noch einmal zu öffnen versuchen«, sagte Arika. »Dann hörst du ihn selbst von seiner Vergangenheit sprechen.« Lannar sah das Mädchen mit geringschätziger Miene an. »Ich kenne die Tricks der Numi. Ich weiß, was sie mit dem Geist von Menschen anstellen können. Was nützt es mir, wenn ich Worte höre, die sich nicht beweisen lassen.« »Und was haben wir davon, wenn wir dir etwas vormachen?« fragte Malech. »Das weiß ich auch nicht«, antwortete Lannar. »Falls ihr es aber tut, habt ihr euren Grund. Ich habe es im Verlauf meines Lebens begriffen, und es hat viel Blut und Schmerz gekostet: man kann keinem Numi trauen.« »Numi!« stieß Malech zwischen den Zähnen hervor. »Numi!« Er stand auf und stellte sich vor Lannar. In seinen Augen glühte eine derart leidenschaftliche Wut, daß Fen fürchtete, er würde den um ein gutes Stück kleineren Mann packen und in Stücke reißen. Aber er lachte nur laut auf. »Numi«, wiederholte er. »Du weißt gar nicht, was für einen grausamen Witz du da machst. Mein Leben lang verfolgt mich dieser Witz. Die Numi spucken mich an, weil ich ein Mensch bin, und die Menschen wollen mich umbringen, weil ich ein Numi bin.« Er warf einen haßerfüllten Blick auf Arika. »Meine Schwester hat mehr Glück als ich. Sie sieht wenigstens menschlich aus. Wenn ich hier vor dir stehen würde, Lannar, behaart, mit Bart und mit dem Gewand eines Numi, würde ich mich ja nicht aufregen, aber mein Körper ist glatt, ich bin nackt und trage keinen Bart. Und trotzdem bin ich jemand, den man verachtet. Versuche es doch mit deinem Mut einmal bei RhamSin, Lannar. Es würde mich wirklich interessieren, ob du ihn auch mit einem arroganten Blick abfertigen kannst.« »RhamSin?« fragte Lannar.
»Ja«, sagte Malech. »RhamSin. Ich kann nicht mehr tun, als die Wahrheit sprechen. Den endgültigen Beweis kann dir RhamSin liefern. Wegen eines ganz normalen Gefangenen läßt sich RhamSin nicht aus dem Tempel locken. Und erst recht nicht wegen eines Sklaven.« »Gib uns die Dinge, die wir brauchen, Lannar«, sagte Fen, »und wir ziehen allein weiter.« »Nein«, sagte Lannar, plötzlich entschlossen. »Nein, Fen – ich komme mit. Bei jeder Karawane, die ich ausplündere, riskiere ich mein Leben. Allein schon die Möglichkeit, die Zitadelle zu finden, ist dasselbe Risiko wert. Eine ganze Reihe von meinen Männern wird bestimmt genauso denken wie ich.« Arika sprang auf und warf beide Arme um Fen. »Die Götter sind mit dir«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Er drückte das Mädchen an sich. In dem Moment hörte man draußen Pferdehufe. »Lannar!« schrie jemand. »Lannar! Die Numi kommen!«
7 Die Große Finsternis Hörnerklang verbreitete die Warnung über die Sümpfe hinweg. Die Brücken wurden hochgezogen. Fen beobachtete, wie die Abordnung der Numi bis an den Rand der Sümpfe ritt und dann die Pferde anhielt. Lannar lachte laut auf. »Seit Generationen versuchen sie uns auszurotten, aber es gelingt ihnen nicht. Sie kommen nicht durch die Sümpfe.« Er deutete auf die hängenden Schießstände zwischen den Bäumen. »Siehst du meine Leute auf ihren Posten? Selbst wenn es einem Numi gelingen sollte, ein Stück weiter vorzudringen, hätte er keine Chance. Sie kommen immer wieder, beschwatzen und bestechen uns, und wenn ihnen das Essen und das Wasser ausgeht, dann ziehen sie
wieder ab. Die ganze Abordnung in Schwarz mit Silber durchwirkt. Also alles Priester. Ihr habt uns nicht angelogen.« Numi. Beim Anblick des Mannes, der den Trupp anführte, schauderte er zusammen. Eine herrschsüchtige Gestalt auf einem pechschwarzen Pferd. »RhamSin«, flüsterte Arika. Einer der Priester trat mit seinem Pferd aus der Gruppe, setzte ein Horn an, um seine Stimme zu verschärfen, und hob gebieterisch die Hand. »Im Namen RhamSins«, rief er, »werdet ihr aufgefordert, den entlaufenen Sklaven Fenway herauszugeben. Er hat einen Priester ermordet und muß bestraft werden. Ihr aber sollt eure Belohnung haben.« Als aus der Oase keine Antwort kam, wiederholte er seine Aufforderung dreimal, dann trat RhamSin vor und ließ sich das Horn geben. »Fenway!« rief er. »Vor mir gibt es keine Flucht. Ich habe deinen Geist wieder aufgeweckt. Er gehört mir. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich rufen, und du wirst mir gehorchen.« Die Stimme bohrte sich wie ein glühender Strahl in Fens Körper. Er kannte diese Stimme. Sie hatte ihn unzählige Male gequält, und er hatte ihr gehorcht. RhamSin riß sein Pferd herum und ritt, von seinen Leuten gefolgt, im Galopp davon. Die Angst legte sich wie ein eiserner Ring um Fens Kehle. Der kalte Schweiß lief ihm über den Rücken. »Er lügt, Fen«, sagte Arika. »Er lügt!« Aber Fen schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Wahrscheinlich nicht.« Mit seltsam gefaßtem Gesicht wandte er sich an Lannar. »Wie lange braucht ihr, bis ihr aufbrechen könnt?« fragte er. »Meine Leute holen bereits die Pferde«, sagte er, und sein Blick bewies Fen, daß der Häuptling durch RhamSins Worte nicht ins Wanken geraten war. »Die Numi
reiten natürlich nicht zurück, sondern beobachten uns. Aber wir haben einen Geheimgang, der uns unter den Sümpfen hindurch direkt zu den Felsen hinaufführt. Die Numi müssen einen langen Umweg machen, bis sie dort sind. Damit gewinnen wir einen Vorsprung, den sie nicht so schnell wieder aufholen werden. Ich kann nicht zu viele Leute von hier wegnehmen, aber je weniger wir sind, desto schneller kommen wir vorwärts, denn dann brauchen wir nicht soviel Verpflegung. Ohne fremde Hilfe werden wir aber doch nicht auskommen, denn die Numi sind stärker als wir. Ich habe Boten zu anderen Stämmen von Ausgestoßenen geschickt und um ihre Unterstützung gebeten. Wir haben Schweres vor uns, Fen. In der Großen Finsternis können wir nicht lange existieren. Die Numi hingegen stammen aus der Großen Finsternis, sie brauchen keine Sonne und keine Wärme. Aber mein Entschluß ist gefaßt. In wenigen Stunden reiten wir. Bis dahin ruht euch noch aus.«
Sie waren schon seit Wochen unterwegs. Die Sonne sank in ihrem Rücken tiefer, die Schatten wurden länger, der Wind stärker. Das Gelände war rauh, und sie konnten nicht weit zurücksehen. Ab und zu jedoch konnten sie das Lager der Numi an einer Rauchsäule erkennen. Fen hatte den Eindruck, als würde der Abstand zwischen ihnen und den Verfolgern kleiner, aber Lannar beruhigte ihn immer wieder. »Gegen meine Wüstenpferde kommen die der Numi nicht an«, sagte er. »Erst wenn wir zu Fuß gehen müssen – und das wird kommen – sind wir im Nachteil.« Als die Stürme aufkamen und plötzlich Rauhreif auf der toten Natur lag, wurden die Männer immer ernster und finsterer. Keiner sagte mehr ein Wort. Sie hatten Angst. Arika wich Fen nicht von der Seite. Wenn sie sich um das Feuer scharten oder
schliefen, war sie immer neben ihm. Malech hielt sich abseits. Er mied mittlerweile auch seine Schwester. Sein Bart war gewachsen, sein Haar fiel ihm auf die Schultern herab. Er war genau wie die anderen in Felle und Leder gehüllt, aber er war trotzdem nicht mehr von einem Numi zu unterscheiden. Er schien die Wärme des Feuers nicht zu brauchen und schlief allein. Seine Kraft war unverändert, seine Miene wurde immer verächtlicher. Je mehr Malech einem Numi glich, desto größer wurde der Haß der Männer. Aber seine Kraft und sein unmenschliches Durchstehvermögen in schwierigen Situationen waren so nützlich, daß der Haß unausgesprochen blieb. Das erste Pferd starb. Die Männer zogen es ab und trockneten das Fleisch. »Sie werden alle eingehen«, sagte Lannar mit unbewegtem Gesicht, aber man sah ihm den Schmerz an. Die Sonne war bis zum Horizont heruntergesunken. Ein roter Ball, der schon längst keine Wärme mehr spendete. Sie stiegen in ein Tal ab, das voll Schnee und Dunkelheit war. Als sie die andere Seite erreichten, war die Sonne verschwunden. Der Himmel war noch hell. Das Land fiel ab und wurde immer flacher. Es wuchsen keine Bäume mehr, nicht einmal mehr Gestrüpp. Die Felsen waren mit Flechten bedeckt, die weiße gefrorene Erde steinhart. Ein Pferd nach dem anderen starb. Die Männer versteckten das gefrorene Fleisch für den Rückweg – falls es einen Rückweg geben sollte. Die Leute, die an die trockene Hitze der Wüste gewöhnt waren, litten unter der schneidenden Kälte. Drei wurden krank und starben. Ein vierter kam bei einem Sturz ums Leben. Dann kam eine Zeit, wo sich der Sturm in den tieferen Lagen legte und nur noch in den Wolkenschichten wütete. Der Schritt der Männer wurde langsamer, bis sie schließlich ganz stehenblieben. Sie starrten mit angstverzerrten Gesichtern in den Himmel hinauf und beobachteten die
ziehenden Wolken. Arika suchte Fens Hand, und Malech stand wie immer abseits, den Kopf hoch erhoben, eine fiebrige Glut in den Augen. Plötzlich war der Himmel klar, und die Kinder des Ewigen Tags sahen zum erstenmal in ihrem Leben den Mond und die Sterne. Von Panik erfaßt warfen sie sich auf den Boden und vergruben das Gesicht unter ihren Armen. Nur Malech lachte. Er sprang auf einen Eisblock und breitete die Arme aus, als wolle er den Sternenhimmel in sich aufnehmen. »Wovor habt ihr denn Angst, ihr Memmen?« schrie er. »Eure Väter haben den Nachthimmel gekannt und sich nicht gefürchtet.« Sein Hohn brachte die Männer zur Raserei. Sie fuhren in die Höhe und wollten sich auf ihn stürzen, aber Fen und Lannar hielten sie zurück. »Es stimmt«, rief Fen. »Ich habe den Mond und die Sterne auch schon gesehen. Ich kenne die Nacht. Ihr braucht euch nicht vor ihr zu fürchten.« Aber Fen empfand dieselbe Furcht. Lannar zwang die Leute weiter. Er war mit zwanzig Mann aufgebrochen. Zwölf davon sahen den Ozean. Ein Chaos von Eisschollen, das sich über die Erde gewälzt hatte. Sie hielten sich Richtung Norden und gingen an der Küste entlang. Halb verhungert, halb erfroren hatten die Männer längst vergessen, daß sie einmal unter der sengenden Sonne der Wüste gelebt hatten. Neun erreichten New York.
8 Die Zitadelle Fen stand mit Arika auf den Klippen über dem Fluß. Die anderen warteten in einer gewissen Entfernung. Der Ausdruck der müden Gesichter war erschreckend. Fen hatte Angst. Aber plötzlich vergaß er die Gesichter. Er sah über den weißen Fluß
hinweg auf die Insel mit der Stadt, die schweigend unter dem Sternenhimmel lag. Nicht ein Licht. Nur der kalte Schein des Mondes. Keine Stimme, nur das Heulen des Windes. Trotz des Todes war die Großartigkeit der Stadt geblieben. Die zertrümmerten Türme ragten stolz aus dem Eis hervor. New York war keine Stadt. New York war ein Traum von Titanen, und die Zerstörung der halben Welt hatte diesem Traum nichts anhaben können. Fen war überwältigt von Trauer und Verzweiflung. Die Erinnerungen brachen jäh über ihn herein. Bilder einer anderen Zeit, nach der er sich zurücksehnte. »Ich habe einmal hier gelebt«, stammelte er, und die Tränen rannen ihm über das Gesicht und erstarrten auf seiner Haut zu glitzernden Tropfen. »Erinnere dich, Fen«, sagte Arika. »Erinnere dich an die Tage, als die Stadt noch lebte und die Zitadelle gebaut wurde.« Ihre großen, dunklen Augen, voll vom Licht des Mondes, hielten ihn wieder gefangen. »Hier kannst du dich erinnern. Hier liegt deine Vergangenheit begraben. Sieh dir die Stadt an und erinnere dich.« Fens Gesicht veränderte sich. Er war nicht mehr Fen. Er war ein anderer Mensch, der eine andere Welt sah.
Auch er hatte die Zitadelle besichtigen wollen. Wie heutzutage jedermann. Das neunte Weltwunder, das größte Werk der Menschheit. Mit einer geradezu häßlichen Anziehungskraft wirkte es auf die Menschen. Ein Symbol des Todes. Eines Todes allerdings, der berechenbar war und dem man eine gewisse Sensation abgewinnen konnte. Tausende von Lichtern im Vergnügungspark. Kreischende Kinder in der Sommernacht, Marktschreier und Musik. Auf der anderen Seite des Hudson die Skyline von Manhattan. Er fing
an zu gehen. Und wie er ging, glaubte er die Vision einer Eislandschaft mit den Überresten einer zerstörten Stadt zu sehen. Auch er wollte die Zitadelle besichtigen. Lichter, Menschen, Eisverkäufer, Stimmen aus riesigen Lautsprechern. »Achthundert Meter tief in den Felsen versenkt – auf größerem Raum als das Empire State Building – mit Stahlgerüsten abgestützt – durch versiegelte Atomgeneratoren mit einer Betriebsdauer von über fünftausend Jahren geheizt und mit Frischluft versorgt.« An der Oberfläche gab es kaum etwas zu sehen. Nur eine große Falltür, die in den Felsen eingelassen war. Der Sprecher erklärte den Mechanismus des Eingangs. Das System war denkbar einfach und verlangte keine Werkzeuge, sondern lediglich eine ganz normal ausgebildete Intelligenz. Die Menge bewegte sich zum Eingang. Fen ebenfalls. Die Falltür war direkt vor ihm, aber er konnte sie nicht erreichen. Ein kaltes, hartes, glänzendes Hindernis versperrte ihm den Weg. Er mußte ohnmächtig geworden sein. Alles war sehr seltsam. Er hörte das Geräusch von Äxten, und manchmal war alles sehr dunkel und unsicher, und manchmal flogen rauchartige Visionen an ihm vorbei. Er hatte Angst und glaubte, sehr krank zu sein. Stimmen, Gelächter, Schluchzen, Schreie, Gebete. Die Stimmen von Wahnsinnigen. Das Geräusch der Äxte war nicht mehr zu hören. »Fenway, mach die Tür auf«, sagte jemand. Plötzlich sah er sie. Sie war geschlossen. Aus dem Eis gehauen. Aus dem Eis? Es war doch Sommer! Er bediente die einzelnen Hebel. Sie ließen sich widerstandslos in die Höhe ziehen. Das Geräusch komprimierter Luft. Die große Verschlußklappe schwang auf. In der Öffnung darunter Licht. Warme Luft schlug ihm entgegen. Und dann wurde ihm schwarz vor Augen. Als er wieder zu sich kam, lag er auf einem Metallboden. Jemand
hatte ihm die Felle ausgezogen. Es war angenehm warm; sogar fast heiß nach der unerträglichen Kälte. Über ihm ein Gewirr von Stahlträgern. Und Licht. Arika beugte sich über ihn. Sie strahlte. »Du hast es geschafft, Fen. Wir sind in der Zitadelle.« Sein Herz klopfte bis zum Hals hinauf. Er hatte also alles nur geträumt. Lannar stand neben ihm. Der harte Mann aus der Wüste hatte verweinte Augen. »Ich hätte dich umgebracht«, sagte er. »Wenn du es nicht geschafft hättest, hätte ich dich eigenhändig getötet.« Fen nickte. »Ich weiß«, sagte er und stand auf. »Ich habe Männer am Eingang postiert«, sagte Lannar. »Die Treppe, die hier herunterführt, ist sehr schmal. Wenn die Numi kommen, müssen wir sie einzeln erledigen.« Er runzelte die Stirn. »Ist das der einzige Zugang zur Zitadelle?« »Ja.« Wie in einem Traum gingen sie, von den anderen gefolgt, durch die stillen Hallen der Zitadelle, die zwölfhundert Jahre auf ihr Kommen gewartet hatte. Die Erbauer der Zitadelle hatten phantastische Arbeit geleistet. Bücher, zahllose Mikrofilme in zahllosen Archiven aufbewahrt. Beweise der Entwicklung der Menschheit von der ersten Axt aus der Steinzeit bis zu den letzten Errungenschaften vor der Zerstörung. Eine nicht zu überblickende Anzahl von Maschinen mit genauester Betriebsanleitung und Hinweis auf den jeweiligen Verwendungszweck. Ganze Stockwerke waren der Chemie, der Physik, der Elektrotechnik, dem Maschinen- und Städtebau, der Land- und Forstwirtschaft, der Medizin und jeder Wissenschaft, die den Menschen je beschäftigt hatte, gewidmet. Die Künste und die Philosophien gaben einen genauen Abriß über die Geschichte der Menschheit mit ihren
ganzen Hoffnungen, Träumen und Wahnvorstellungen. Nur etwas fehlte. Sie fanden nicht eine Waffe. »Ich glaube, sie sagten damals«, erinnerte sich Fen nach einigem Überlegen, »daß in der Zitadelle kein Instrument des Todes aufbewahrt sei.« Lannar stieß ein bitteres Lachen aus. »Ein edler Gedanke, wenn man nichts von den Numi weiß.« Sie hatten nicht einmal einen Bruchteil des Monuments gesehen, das den Glauben und den Mut des Menschen dokumentieren sollte. Ihr eigener Glaube und Mut hatten sie um die halbe Erde getrieben, und sie waren müde und hatten den Feind im Rücken. Völlig benommen kehrten sie in die Zentralhalle zurück. Die Wächter am Eingang hatten nichts zu melden. »Aber sie kommen«, sagte Malech. Der vorher ganz normale Haarwuchs auf seiner Haut war dichter geworden. Wahrscheinlich hatten die Kälte und die Finsternis die letzten Numi-Charakteristiken in Malech herausgebracht. »Malech«, bat Fen, »erklär mir, was ein Numi ist.« Malech ging zu dem großen Globus und deutete auf Europa. »Hier«, sagte er. »Diese Seite war von der Sonne abgewandt, als sich die Erde nicht mehr drehte. Die Luft fror, und die Menschen starben zu Millionen und aber Millionen. Nur ein paar konnten überleben. Sie scharten sich zusammen und paßten sich den neuen Lebensbedingungen an. Gegen die ewige Kälte wuchs ihnen ein Fell auf der Haut, und ihre Intelligenz wurde notgedrungen schärfer.« Malech lächelte und drehte den Globus. »Das waren die neuen Menschen, die Numi. Aber sie waren immer noch Menschen und konnten sich an die Sonne erinnern. Deshalb zogen sie aus, um die Sonne zu suchen und unter ihr zu leben.« »Und wo ist dein Platz, Malech?« fragte Lannar. »Bei den Numi oder bei uns?«
»Die Entscheidung habe ich schon lange getroffen«, sagte Malech. »Sprich, Malech.« Malech lachte laut auf, gab Lannar aber keine Antwort. Er sah auf den Mann aus der Wüste herunter, und der Globus drehte sich weiter und weiter. Lannar griff zu seinem Schwert. In dem Moment zerriß ein Schrei die Stille, und ein Mann kam kopfüber die Treppe heruntergefallen. Es war ein Numi.
9 Fens Mut Ein zweiter Tempelsoldat starb auf der Treppe. Dann Stille. Fen stand mit einem Satz am Fuß der Treppe. »Kommt herunter!« rief er, verfluchte die Numi und forderte sie auf, sich auf den unausweichlichen Tod gefaßt zu machen. »Wenn die Zeit reif ist«, ertönte RhamSins Stimme von oben, »dann werden wir kommen.« Er lachte. »Was wollt ihr denn jetzt mit der Zitadelle anfangen?« »Sie für die Menschheit verteidigen und erhalten.« »Für die Menschheit?« RhamSin lachte wieder. »Die Menschheit existiert nicht mehr, Fenway.« Die Männer in der Zitadelle hörten, wie die Numi am Eingang ihr Lager aufschlugen. Lannar ballte die Fäuste. »Nicht eine Waffe!« stöhnte er. »Die Numi können nicht ’rein, und wir nicht hinaus. Sie haben Verpflegung und Schnee, den sie zu Wasser schmelzen können. Wir haben kaum mehr etwas übrig. Die Numi sind stärker als wir und werden es länger aushalten. Ich habe nur noch eine Hoffnung: die anderen Stämme.« In dem Moment stöhnte Arika auf und brach neben dem Globus zusammen.
Fen fuhr herum, hob das Mädchen auf und nahm es in die Arme. »Malech«, stöhnte es. »Ich wollte ihn zurückhalten.« Am Fuß der Treppe die toten Tempelsoldaten, sonst niemand. Malech war verschwunden. Ein Zischen, und der Mann neben Lannar brach mit einem Pfeil in der Brust zusammen. »Macht die Treppe frei, ihr Menschenhunde«, befahl Malech aus seinem Versteck. Die Männer brachten sich hinter den Pfeilern, auf denen das Gewirr von Stahlträgern ruhte, in Sicherheit. Fen setzte das benommene Mädchen unter den Globus. Er spannte einen Pfeil in seinen Bogen und spähte in die Richtung, aus der Malechs Stimme gekommen war. Ungefähr zwei Schritt vom Fuß der Treppe entfernt führte eine Leiter auf eine Art Brücke, die direkt unter den Stahlträgern lag. Wahrscheinlich der Zugang zu dem Raum, in dem die Maschinen zum Öffnen und Schließen des Eingangs standen. Auf der Brücke stand Malech. Fen hob den Bogen, sah aber im selben Moment, daß er bei dem gegebenen Winkel keine Chance hatte. »Dort oben, Lannar!« rief Fen, und fast im selben Moment zischten die Pfeile von Lannars Männern durch die Luft. »Schießt nur eure Köcher leer«, höhnte Malech. Er war in der idealen Position, denn er beherrschte den Zugang zur Treppe. »Verräter!« rief Lannar. »Ich bin zum Verrat geboren«, sagte Malech und lachte böse auf. »Jemand mußte ich betrügen. Entweder meinen Vater oder meine Mutter. Arika hat sich für das Blut ihrer Mutter entschieden und sich auf die Seite der Menschen geschlagen. Aber auch nur, weil sie sich in dich verliebt hat, Fen. Arika hat unseren Plan zunichte gemacht, also mußte auch ich meine Entscheidung treffen. Daß ich mich für das stärkere Blut in mir entschieden habe, versteht vielleicht sogar ihr. Ich habe
unterwegs eine Nachricht für RhamSin hinterlassen. Laß doch die Menschen die Arbeit erledigen, habe ich ihm aufgeschrieben. Ich verspreche dir die Zitadelle.« »Und was verlangtest du dafür?« fragte Lannar. »Daß diese Menschen endlich in Vergessenheit geraten, daß man mir mein Blut nicht mehr zum Vorwurf macht und mich als das akzeptiert, was ich bin – ein Numi.« Fen gab dem Globus einen Schwung und schlich sich in der Deckung der massigen Kugel näher an die Brücke heran. »Fen«, rief Malech. »Fenway! Mann ohne Gedächtnis, hör mir zu. Weißt du, wer die Zitadelle entdeckt hat? Die Numi! Durch ihre Weisheit und ihre Magie. Du warst nur ein Werkzeug in der Hand des Priesters RhamSin.« Fen sprang von Pfeiler zu Pfeiler. »Du schaffst es nicht, Fenway«, rief Malech von der Brücke herunter. »Komm aus deinem Versteck.« »Nein!« schrie Lannar. »Warum denn nicht?« fragte Malech. »Es ist seine einzige Chance. Wenn er so weitermacht, durchbohre ich ihn.« Fen kam hinter dem Pfeiler hervor und ging quer durch die Zentralhalle auf die Leiter zu. Seine Pfeilspitze deutete auf den Boden. Malech zog sich in den Schatten der Brücke zurück und zeigte sich nicht mehr. »Du wolltest dich erinnern, Fenway«, fuhr Malech fort. »Das kannst du jetzt haben. Warum bleibst du denn stehen, Fenway? Fürchtest du dich vor der Wahrheit?« Der Schweiß glitzerte auf Fens nackter Brust. »Oder hast du Angst, daß die anderen die Wahrheit über dich erfahren, Fenway?« fragte Malech. »Sie beobachten dich, ihren großen Gott, der sie zu der Zitadelle geführt hat. Sollen sie nicht die Wahrheit über diese großartige Menschheit erfahren?« »Ich habe keine Angst«, rief Fen, aber es stimmte nicht. »Du warst nichts anderes als ein rebellierender Mann aus einem
Stamm von Ausgestoßenen, Fenway. Eine Ratte, die in RhamSins Fänge geriet und an der er seine Zauberkünste ausprobiert hat. Arika wußte Bescheid. Sie hat die Versuche von Anfang an miterlebt. Sie hat beobachtet, wie dir RhamSin die eigene Erinnerung genommen hat und durch die Erinnerung deiner Urväter an das Geheimnis heranzukommen versuchte. Und in dem Moment, in dem die Toten aus dir sprechen wollten, hat sie dich entführt. Die Ratte aus der Wüste. Warum, willst du wissen? Damit die Numikräfte, die wir beide besitzen, endlich Früchte tragen. Wir wollten dir das Geheimnis entlocken und es dann an den Meistbietenden verkaufen. Schaut euch euren Helden an, Männer aus der Wüste. Ich bin nur ein Halbblut. Wie meine Schwester. Aber er ist noch weniger wert: ein Werkzeug in unserer Hand. Und jetzt sagt, wer ein Recht auf die Zitadelle hat.« Fen riß den Bogen hoch. »Zu spät, Fenway«, rief Malech und zielte direkt auf Fens Herz. »Deine Herren und Meister sind da.« In dem Moment sauste ein Pfeil durch die Luft und bohrte sich in Malechs Brust. RhamSin stand am Fuß der Treppe. »Fenways Geist kann ich noch brauchen, Malech«, sagte er mit höhnischer Stimme. »Du hast ausgedient.« Malech ging in die Knie, und Fen lachte. Mit zwei Sätzen war er auf der Brücke und duckte sich zusammen. Er schoß in die Reihen der Numi, die die Treppe heruntergestürmt kamen. »Lannar«, rief er. »Los, ’rauf!« Fen gab den Männern und Arika Feuerhilfe. Lannar und das Mädchen schafften es. Die Männer blieben auf der Strecke. Sie duckten sich auf der Brücke zusammen. »Wir sind am Ende, Fen«, sagte Lannar. »Wir haben unsere Pfeile verschossen.« »Nein, Lannar«, sagte Fen. »Vielleicht gibt es doch noch eine Waffe, an die ich mich aber noch nicht richtig erinnern kann.«
Er sah auf die Numi herunter, die sich unter dem kalten Licht versammelten. Kaltes Licht? Was war es, an das er sich nicht richtig erinnern konnte? »Hilf mir, mich zu erinnern«, sagte Fen und verkrallte sich in Arikas Arm. »Ich habe dir einmal gesagt, Fenway«, erklärte RhamSin, »daß ich dich rufe, wenn es an der Zeit ist. Die Zeit ist gekommen. Ich warne dich. So nützlich du mir auch sein kannst, ich töte dich, wenn du dich mir widersetzt.« »Hör nicht auf ihn«, flüsterte Arika und durchbohrte ihn mit den pechschwarzen Augen. »Erinnere dich, Fen.« Die Zitadelle, die Menschenmenge, die Stimme aus den Lautsprechern – kaltes Licht. Radioaktiver Staub in einer zähen Flüssigkeit. Eine tödliche Zusammensetzung, zum friedvollen Gebrauch der Menschheit eingesetzt. Plastikröhren, die die gefährlichen Strahlen zurückhalten, spenden Licht für ewige Zeiten. »Rührt euch nicht«, sagte Fen nur. Mit einem Satz schwang er sich auf den ersten Stahlträger. RhamSin gab einen Befehl. Pfeile flogen. Fen sprang wie eine Katze von Träger zu Träger. Mit einem einzigen Schwertstreich hatte er das Kabel durchschnitten, an dem der Lüster mit den unzähligen Plastikröhren hing. An einen Träger geklammert wartete er, bis der letzte Schrei verklungen war. Arika und Lannar halfen ihm auf die Brücke zurück. Arika war leichenblaß. »Sie sind alle tot«, stammelte sie. »Aber wodurch?« »Die Männer der frühen Vergangenheit haben diese Zitadelle gebaut, damit sie ein Licht in der Dunkelheit sei«, sagte er. »Ein Licht der Hoffnung und des Friedens. Und jetzt ist der
Tod in die Zitadelle eingezogen, und meine Hände sind blutbeschmiert. Wir müssen eine neue Welt aufbauen. Das bin ich meinen Urvätern schuldig. Eine Welt ohne Krieg und Tod.« Er war nicht allein. Es gab noch Arika und Lannar, den Mann aus der Wüste. Seine Erinnerungen an das Leben vor der Gefangenschaft im Tempel würde er nie wiederbekommen, aber das war jetzt nicht mehr wichtig. Er wollte ein neues Leben beginnen, denn vor ihnen lag eine neue Welt.
Originaltitel: THE CITADEL OF LOST AGES. Copyright © 1950 by Standard Magazines, Inc. Aus THRILLING WONDER STORIES Dezember 1950. Übersetzt von Hans Georg Simon.
John D. MacDonald JAGDBARES WILD
Mit weiten, fast schwebenden Schritten, bedingt durch die geringere Schwerkraft der Erde, kamen die beiden Gestalten den Hang herunter auf die Pferche zu. Die Milliarden Facetten ihrer Augen reflektierten das Licht der Morgensonne wie ein irisierender Film von Öl auf Wasser. Entsprechend der Vorschriften, die bei der Inspektion der gefangenen Wesen zu beachten waren, trugen beide kleine Silberröhren, mit denen man bei genauem Zielen alle Nervenimpulse des Gegners neutralisieren konnte, mit Ausnahme der für das jeweilige Wesen lebensnotwendigen. Für die beiden bedeutete die Begegnung mit den eingesperrten Wesen eine aufregende Sache. Mit pfeifender Stimme sagte Thome, der Ältere der beiden: »Gestern traf eine neue Gruppe ein. Ich möchte wissen, was du davon hältst.« Sie blieben stehen und blickten durch den Elektrozaun. Riss, der Jüngere, stieß ein hohes, dünnes Geräusch der Zufriedenheit aus. »Vortrefflich. Sie befinden sich in hervorragender Kondition. Schau dir nur diesen da an.« Beide blickten mit Besitzerstolz auf einen jungen nackten Mann, der sie finster anstarrte. Er war gut einsachtzig groß und muskulös. Zahlreiche Narben verheilter Wunden bedeckten seinen gebräunten Körper. In seinen blauen Augen loderte wie eine heiße Flamme das Verlangen zu töten, während er durch die Maschen des Drahts starrte.
»Ist schon seltsam«, sagte Thome, »daß unsere Leute, als sie zum erstenmal hierher kamen, diese Kreaturen abstoßend fanden. Mir gefallen sie recht gut.« »Auf eine gewisse Weise ist es wirklich traurig«, sagte Riss. Er wandte sich um und zeigte auf die geborstene Skyline von Chicago. »Sie waren schon so weit fortgeschritten, daß sie Städte wie diese da erbauen konnten; ja sogar einen Teil der Energie des Atoms hatten sie sich nutzbar gemacht. Wer vermag zu sagen, wie weit sie es noch gebracht hätten?« Thome lachte. »Du hast zuviel Phantasie. Ihre Veranlagung, die sich von wilden Tieren kaum unterscheidet, hätte es ihnen nicht erlaubt, die Macht des Atoms richtig zu nutzen. Wir haben sie vor ihrer eigenen Zerstörungswut gerettet.« Riss zuckte mit den Schultern. »Du magst recht haben. Aber es könnte auch sein, daß wir uns in den vergangenen achtzig Jahren im Verlauf der Zuchtauslese nur auf Wildheit und Schläue konzentrierten und einen ausgleichenden Wesenszug in ihnen unterdrückten, der es ihnen schließlich doch erlaubt hätte, ihren angeborenen Zerstörungsinstinkt zu überwinden.« »In dieser Gruppe befinden sich prächtige Exemplare für die Jagd«, sagte Thome nicht ohne Stolz. »Ist schon etwas geplant?« »Morgen erwarte ich eine größere Gesellschaft. Wir werden zwanzig dieser Kreaturen in der zerstörten Stadt loslassen. Alle werden mitmachen, und derjenige bekommt eine Trophäe, der die meisten von ihnen zur Strecke bringt.« Riss machte ein besorgtes Gesicht. »In der Stadt können sie gefährlich werden. Es ist besser, wir jagen sie im freien Gelände.« Wieder lachte Thome. »Um so besser. Das erhöht den Reiz der Jagd. Möchtest du dir diesen da genauer ansehen?« Riss nickte. Thome justierte den Regler seiner kleinen Silberröhre. Als er zielte, ertönten rauhe Schreie der Angst aus dem Pferch. Nur der junge blonde Mann duckte sich und fletschte das starke,
weiße Gebiß. Sorgfältig richtete Thome die Silberröhre auf die Gruppe, und die Wesen erstarrten zur Unbeweglichkeit. Einer, den der Lähmungsstrahl im Zustand der Bewegung erfaßte, stürzte zu Boden. Nachdem Thome den Strom ausgeschaltet hatte, öffnete er das Tor, und die beiden betraten den Pferch. Der blonde junge Mann war in geduckter Stellung erstarrt. Sie gingen um ihn herum, während Riss seine Muskeln prüfte und die starken weißen Zähne inspizierte. »Prächtiges Exemplar«, sagte er schließlich. »Soll er für die Aufzucht verwendet werden?« »Falls er die Jagd ohne schwere Verletzungen übersteht.« Peter konnte die Augen nicht bewegen. Schon häufig hatte er diesen entwürdigenden Zustand ertragen müssen, und jedesmal war seine Wut darüber größer geworden. Die beiden fahlhäutigen Wesen mit den Silberröhren gingen wieder hinaus und schlossen das Tor. Ihre Bewegungen lagen gerade noch in seinem starren Blickfeld. Wieder wurde die Silberröhre auf die Gruppe im Pferch gerichtet, und der Zustand der totalen Starre hörte schlagartig auf. Peter blickte sie an, knurrte tief in der Kehle und wandte sich ab. Es juckte ihm in den Fingern, sie zu fassen, ihnen das weiße Fleisch herunterzureißen, seine Zähne in ihre dünnen Kehlen zu schlagen, ihnen die Facettenaugen einzuschlagen. Er fragte sich, warum sie ihn so genau gemustert hatten. Dieser Pferch war neu für ihn. Das erste, woran er sich erinnerte, war der Kinderpferch. Dort hatte er zum erstenmal erfahren, was es mit dem Zaun auf sich hatte. Eine einzige Berührung des Zauns, worauf er betäubt zu Boden gestürzt war, hatte ihm genügt. Andere Kinder im Pferch hatten den Zaun mehrmals berührt, mit denselben Folgen. Am Ende des Laufganges war der Futtertrog. Wenn gefüttert wurde, zahlte es sich auch aus, schnell zu laufen, zu knurren
und um sich zu schlagen. Denn wenn man zu viele Fütterungen versäumte, ließen die Kräfte nach und man bekam überhaupt nichts mehr. Die anderen stießen einen weg, und dann lag man im Dreck und hörte auf zu atmen. Im Kinderpferch war er der Stärkste gewesen. Alle respektierten seine Fäuste und seine starken Zähne. Er erinnerte sich, wie sie ihn aus dem Kinderpferch herausgenommen und in den Pferch für die jungen Männer gesteckt hatten. Er hatte den Kinderpferch nicht verlassen wollen. Noch eine Woche vorher hätte er ihn mit Freuden verlassen, froh über die Abwechslung. Aber ein komisches Gefühl hatte sich zu regen begonnen, immer dann, wenn er ein Mädchen erblickte, das Mary hieß. Als sie ihn dann herausholten, wollte er nicht mehr. Der Pferch der jungen Männer war riesig gewesen. Raufereien hatte es nur selten gegeben, denn man mußte arbeiten. Eine seltsame Tätigkeit. Sie hatten große Steine hin und her schleppen müssen, ohne Grund und Ziel. Und dann hatte man natürlich auch zum Futtertrog laufen müssen. Er wußte nicht mehr, wie lange er sich im Pferch der jungen Männer aufgehalten hatte. Er hatte sich kaum vom Kinderpferch unterschieden. Auch hier hatte es einen überdachten Schlafplatz gegeben und einen Futtertrog. Und natürlich den Zaun. Dann hatte man sie umquartiert. Vor einem Sonnenumlauf waren er und eine Anzahl anderer junger Männer in diesen viel kleineren Pferch gebracht worden. Der war winzig, verglichen mit dem vorhergehenden. Man fühlte sich eingepfercht, beengt. Als die beiden sich vom Drahtzaun entfernten und den Hang hinaufgingen, auf dem die weiße Kugel war, in der sie lebten, näherte sich Peter der Schlafstelle. Die anderen lachten ihn aus, weil er untersucht und inspiziert worden war. »Oh-oh, Peter, die werden dich schlachten und auffressen«, sagte einer.
Die anderen lachten. Peter tat so, als habe er nichts gehört. Langsam ging er an der Gruppe vorbei. Dann spannte er die Muskeln seiner kräftigen Schenkel und warf sich gegen sie. In Höhe der Fußgelenke stieß sein harter Körper gegen die Männer. Er war als erster wieder auf den Beinen. Seine Schläge waren so bemessen, daß sie nicht töteten, aber sie schmerzten höllisch. Klatschend trafen seine Fäuste auf Fleisch. Als einer auf seinen Rücken sprang, schüttelte er ihn mit einer heftigen Körperdrehung ab und schleuderte ihn gegen den Zaun. Man hörte ein dumpfes Zischen, dann roch es nach angesengtem Fleisch. Sie wichen vor Peter zurück. Keiner lachte mehr. Er pumpte den mächtigen Brustkorb voll Luft und trommelte mit den Fäusten darauf, daß es durch den ganzen Pferch dröhnte. Bei diesem Geräusch kam ein Mann aus der überdachten Schlafstelle. Seinen Körper bedeckten noch mehr Narben, als Peter trug. Er hatte Peters Herausforderung vernommen. Vorsichtig schlichen sie umeinander herum. Dumpfes Grollen drang aus ihren Kehlen. Sobald eine Herausforderung ausgestoßen war, mußte der Kampf mit dem Tode eines der beiden enden. Peter erkannte, daß er es mit einem erfahrenen, klugen Gegner zu tun hatte. Ein dichter Pelz gekringelten rötlichbraunen Haares bedeckte den Körper des anderen. Sein Gesicht war so vernarbt, daß die Oberlippe nicht mehr über die gelben Zähne reichte. Er sah aus wie ein zähnefletschendes Raubtier. Der Ältere stieß mit den Fingernägeln nach Peters Augen. Peter wich aus, packte das Handgelenk des anderen und warf sich mit ganzer Kraft herum. Blitzschnell reagierend machte der andere die Bewegung mit und verhinderte, daß ihm der Arm gebrochen wurde. Bei diesem Manöver brachte er die Schulter dicht an Peters Mund heran. Peter biß in das Fleisch der Schulter. Mit einem Ruck des Kopfes und unter
Anspannung der eisenharten Genickmuskeln riß er einen langen Streifen Fleisch aus der Schulter des anderen. Der Ältere brüllte auf, sprang zurück. Blut lief ihm über den Arm und tropfte von den Fingern auf die Erde. Die anderen im Pferch, etwa dreißig Männer, standen in einem losen Kreis um die beiden herum und beobachteten ausdruckslos und stumm. Wieder umkreisten sich die beiden Kämpfer. Dieses Mal war der Ältere vorsichtiger. Er wußte, daß er stärker war, aber sein Herausforderer verfügte über größere Schnelligkeit. Peter sprang plötzlich zur Seite. Dann warf er sich auf den Gegner. Sein Knie zielte nach dessen Unterleib. Der Ältere drehte sich zur Seite und fing den Stoß mit dem Hüftbein ab. Seine Arme schlossen sich um Peters Oberleib. Ein leises Brummen der Zufriedenheit drang aus seiner Kehle. Langsam spannte er die Arme. Peter holte tief Luft. Der Gegner hatte sein Gesicht fest gegen Peters Brust gepreßt, so daß Peter ihm nicht in die Augen sehen konnte. Mit beiden Händen packte er sein Haar und riß dem anderen den Kopf nach hinten. Dann ließ er mit der Rechten los und schob den Unterarm über den Mund des anderen. Peter fühlte den Schmerz, als der andere zubiß. Mit dem Unterarm begann er, das Gesicht der anderen zurückzudrängen. Aber der Ältere war stur. Schweiß lief ihnen über den Körper. Plötzlich knackte es, wie wenn ein trockener Zweig bricht. Der Ältere sank zu Boden. Sein Kopf hing wie abgeknickt nach hinten. Mit dem Fuß trat ihm Peter wuchtig ins Gesicht. Dann wandte er sich ab und stieß noch einmal seine Herausforderung aus. Aber es war keiner da, der sie annahm. Er ging zum Schlafplatz und warf sich auf das Stroh. Dort begann er, die Bißwunde am Unterarm abzulecken. Die Verletzung, war an einer ungünstigen Stelle, aber wenn er sie nicht sauberleckte, würde sie nicht ordentlich verheilen. Er hatte kein Verlangen danach, sich zu den anderen zu gesellen. Die hatten inzwischen Äste zusammengetragen und ein Feuer
angezündet. Er hörte, wie sie sich um die saftigen Fleischstücke des getöteten Gegners zankten. Obwohl sie heute schon gefüttert worden waren, würden sie den Mann aufessen, um einen Teil seiner Kraft zu bekommen. Nach einer Weile schlief Peter ein. Seine Brust hob und senkte sich langsam. Im Traum hatte er den Kampf noch einmal zu bestehen.
Bei Sonnenaufgang am nächsten Tag kam eine große Anzahl der Fremden mit den Silberröhren an den Drahtzaun. Eine ihrer schwebenden Plattformen wurde ganz dicht herangebracht. Sie zielten mit den kleinen Röhren, und plötzlich war Stille um Peter. Mit der Energie ihrer Hebestäbe hoben sie den erstarrten Körper auf, ließen ihn durch die Tür im Drahtzaun schweben und auf die Schwebeplattform fallen. Obwohl er mit aller Kraft versuchte, sich zu bewegen, gegen die Energie der Silberröhren war er machtlos. Andere aus dem Pferch wurden neben ihm abgeladen. Einer nach dem anderen fiel polternd herab. Einer fiel quer über Peters Beine. Das Tor wurde geschlossen, dann jagte die Schwebeplattform mit hoher Geschwindigkeit davon. Er wußte, daß sie sich hoch oben in der Luft befanden, und ihm wurde schwindlig. Er fühlte, wie ihm plötzlich der Magen nach unten rutschte, dann wurde die Plattform langsamer und verhielt schließlich reglos in der Luft. Mit den Hebestäben wurden sie aufgehoben und auf eine rauhe, geborstene Straßendecke geworfen. Er vernahm die Stimme eines dieser schwächlichen, verweichlichten Menschen, die für die Fremden als Diener arbeiteten. Es war die verhaßte Stimme eines derjenigen, die die Futtertröge füllten und die Pferche säuberten.
»Ihr seid in der Stadt. Ihr seid frei. Die Stadt könnt ihr nicht verlassen, denn auf der einen Seite grenzt sie an Wasser, auf den anderen Seiten liegen unendlich weite Ebenen. Aber die Stadt ist groß. Es gibt darin viele Verstecke. Die Meister werden kommen, euch zu jagen und zu töten. Auch ihr dürft euch wehren und töten, ohne dafür bestraft zu werden. In einer Stunde kommen die Meister. Es werden viele sein. Bei Einbruch der Dämmerung werden sie die Stadt verlassen. Bei Morgengrauen kehren sie zurück. Wer von euch drei Tage durchhält, ohne aufgespürt und getötet zu werden, wird wieder eingefangen und in die Pferche der Frauen gebracht.« Die Stimme brach ab. Der Druck der Unbeweglichkeit wurde plötzlich von ihnen genommen. Peter sprang auf die Füße und sah die Plattform bereits über den eingefallenen Dächern schweben. Er sah sich um. Er warf den Kopf in den Nacken und nahm Witterung. Die Meister würden also kommen, um sie zu töten. Gut! Sie würden aber auch kommen, um getötet zu werden. Er, Peter, würde dafür sorgen. Endlich hatte er Gelegenheit, ihnen das blasse Fleisch von den Knochen zu reißen. Von Stolz erfüllt über seine Kräfte, trommelte er wieder auf seinen Brustkorb. Es fiel weder ihm noch den anderen ein, sich zur besseren Verteidigung oder zum Angriff zu Gruppen zu verbünden. Sie strebten nach allen Richtungen auseinander. Zuerst ging er ziellos dahin. Dann fiel ihm plötzlich ein, daß die Meister die Jagd in einer Stunde eröffnen würden. Er hatte keine Ahnung, was eine Stunde sein mochte, aber er vermutete, daß es eine sehr kurze Zeitspanne sein würde. Die Zeit vom Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zerfiel in viele Stunden. Eine finstere Türöffnung ließ dahinter ein Versteck vermuten. Von herabgestürztem Mauerwerk war sie fast völlig zugeschüttet. Er zwängte sich durch und wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Eine durchhängende
Stiege führte nach oben. Rasch ging er darauf zu, berührte die Treppenstufen mit den Fingerknöcheln und atmete prüfend die Luft ein. Oben, am Ende der Stiege, war es hell. Das Gebäude hatte kein Dach mehr. Kein günstiger Ort, um sich zu verteidigen und zu kämpfen. Er verließ es. Beim Hinausgehen riß er eine Strebe vom Treppengeländer, die er als Keule benutzen konnte. Sie lag gut in seiner Hand. Feuerholz eignete sich nicht als Waffe; es war zu kurz und zu schwach. Diese Strebe dagegen war ein prächtiges Schlaginstrument. Er ließ sie durch die Luft sausen und lauschte auf das pfeifende Geräusch. Damit ließen sich vortrefflich die Schädel der Meister einschlagen, diese fahlen Weichlinge mit den Insektenaugen! Das dritte Gebäude, das er betrat, gefiel ihm besser. Der Raum war ungewöhnlich hoch. Seine nackten Füße verursachten kein Geräusch auf dem glatten, kalten Steinfußboden. Linker Hand sah er in einer Reihe mehrere Türen mit Metallgittern davor. Er steckte seine Keule zwischen zwei Metallstäbe und drückte sie auseinander. Das Metall war stark korrodiert. Es zerbrach. In dem kleinen Raum selbst war es dunkel. Er blickte nach oben. Ein Schacht führte hoch hinauf. Lange Metallseile hingen aus der Dunkelheit herab. Am liebsten wäre er an den beiden Seilen hinaufgeklettert und hätte sich oben versteckt. Aber mit der Keule in der einen Hand war dies ausgeschlossen. Er dachte lange nach. Dann fand er ein Stück verrottete Schnur. Das eine Ende band er um die Keule, das andere legte er sich um die Taille und verknotete es. Er sprang nach oben. Seine kräftigen Hände packten das Metallseil. Ruck um Ruck zog er sich in die Dunkelheit hinauf. Das Metallseil war leicht klebrig. Seine Oberarmmuskeln begannen von der Anstrengung zu schmerzen. Er stemmte die Fußsohlen gegen das Seil, so daß sein Körpergewicht nicht mehr nur an den Armen hing, und
ruhte sich aus. Einmal wagte er einen Blick hinunter und klammerte sich noch fester an das Seil. Als er das zweite Mal verschnaufte, traute er sich nicht mehr, in die Tiefe zu schauen. Mit geschlossenen Augen hing er am Seil. Endlich erreichte er das Ende. Die beiden Metallseile liefen hier über Trommeln. Von oben fiel ganz schwach Licht herein. Doch als er hinauflangte, berührte seine Hand flaches, kaltes Metall. Seine Muskeln schmerzten unerträglich. Er kletterte bis ganz oben hinauf, hielt sich mit der rechten Hand und den beiden Füßen am Seil fest und packte die Keule mit der Linken. Damit stieß er kräftig gegen das Metall. Es dröhnte hohl, gab aber nicht nach. Er überlegte, was er tun könnte. Dann sah er etwa eineinhalb Meter entfernt eine Eisenschiene an der Wand. Auf der Eisenschiene würde er stehen und sich aufrichten können. Kurzentschlossen legte er beide Arme um die Trommel, über die das Seil lief, hangelte hinüber zur Eisenschiene, hängte sich daran und zog den Körper hinauf. Nachdem er eine Weile auf dem Bauch gelegen hatte, richtete er sich auf der Eisenschiene auf. Die Öffnung in der Decke über der Schiene war so schmal, daß er die Wände mit Brust und Rücken berührte. Aber über ihm war es hell. An Metallgriffen, die er fand, kletterte er etwa drei Meter in die Höhe, bis er einen kleinen Raum betreten konnte. Es war eigentlich gar kein Raum, sondern ein rechtwinkliger Kasten, der, soweit er feststellen konnte, an Metallseilen hing und genau in den Schacht paßte, durch den er heraufgeklettert war. Vermutlich hatte man früher damit Menschen hinauf und hinunter befördert. In der Decke des Kastens war eine Luke, und er kletterte hindurch und stand auf dem Dach des Kastens. Von hier bis zu einer Öffnung in der Seitenwand des Schachtes waren es noch etwa zweieinhalb Meter. Er duckte sich, sprang, bekam den
Rand der Öffnung zu fassen, zog sich hinauf und wälzte seinen Körper hinaus auf einen Steinfußboden. Ein langer Gang erstreckte sich nach beiden Richtungen, mit vielen Türen zu beiden Seiten. Sie standen offen und hingen schief in den Angeln, so als habe sie eine starke Druckwelle aufgesprengt. Er schaute in die erste Öffnung. Mit großen Augen starrte er auf das graue Skelett eines Menschen, der hinter einem Kasten saß. Glasscherben lagen auf dem Boden, dazwischen große Fetzen verrotteten, weichen Gewebes. In einer Ecke stand ein etwas kleinerer Kasten, und darauf eine seltsame Maschine. Auf dem Boden neben dem kleineren Kasten lagen noch mehr Knochen, zierlichere als die hinter dem großen Kasten, und ein paar lange blonde Haarsträhnen. Es roch nach Tod, nach uraltem Tod. Seine Nackenhaare sträubten sich. Die Maschine war verrostet. Aus einem Schlitz ragte oben aus der Maschine ein Stück angesengtes Papier. Mit einem Schlag seiner Keule fegte er die Maschine von dem Kasten. Eine rötliche Wolke aus Staub und Rost stieg auf, als sie auf den Boden fiel. Die Gefahr, in der er schwebte, kam ihm wieder zu Bewußtsein. Er mußte feststellen, ob es noch einen anderen Ausgang aus diesem Gebäude gab. Er ging hinaus, lief durch den Gang, schaute in jede Türöffnung und suchte eine Möglichkeit, um hinunter zu gelangen. In fast allen Räumen entdeckte er Maschinen, Knochen – verrostet, verrottet und staubbedeckt. Schließlich fand er die Treppe, die hinunter führte. Ein zorniges Knurren drang aus seiner Kehle. Hier konnten die Jäger heraufkommen. Sofern er sich nicht verbarrikadierte. Er eilte mehrere Stockwerke hinab, und als er wieder um eine Ecke bog, blieb er ruckartig stehen. Vor Angst drohte ihm übel zu werden. Der Schwung hätte ihn fast über den Abgrund hinausgetragen. Denn hier hörten die Stufen unvermittelt auf. Erst zwanzig Meter tiefer begannen sie wieder. Es war, als habe ein Riesenmaul eine ganze Ecke aus
dem Gebäude herausgebissen. Er drehte sich um und ging wieder die Stufen hinauf. Er erreichte den Gang, auf den er aus dem Schacht hinausgeklettert war. Die Treppe führte noch ein Stück weiter hinauf. Oben hörte sie an einer hölzernen Tür auf. Er warf sich dagegen, und verrostete Angeln fielen auseinander. Das Holz splitterte. Er trat auf eine ebene Fläche hinaus, größer als der größte Pferch, in dem er sich je befunden hatte. Eine etwa hüfthohe Mauer umgab sie an allen Seiten. Er ging zu der Mauer und blickte hinab. Ihm wurde schwindlig. Unheimlich weit unten lag die Straße. Und noch während er hinunterschaute, entdeckte er unter sich eine der Schwebeplattformen über der Straße. Er knurrte böse. Zwei Jäger befanden sich am vorderen Rand der Plattform. Seinem scharfen Blick entging nicht, daß sie keine Silberröhren hielten, sondern gedrungene, dicke schwarze Stäbe mit einer glühenden Drahtschlinge über dem Lauf. Peter kannte diese Stäbe. Damit hatten sie einen der Männer, der während eines Kampfes im Käfig geblendet worden war, getötet. Der Meister hatte den Stab auf ihn gerichtet. Es hatte ein dumpfes Geräusch gegeben, wie ein heiseres Husten, und der Kopf des geblendeten Mannes war verschwunden. Heißes Blut war aus dem Halsstumpf geschossen. Jetzt suchten sie Peter, um ihn mit diesem schwarzen Stab ebenfalls zu vernichten. Er knurrte wieder. Dann fesselte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Die Schwebeplattform begann schneller zu fliegen. Ein nackter Mensch sprang hinter einem Ruinenberg hervor und schleuderte einen Stein nach den beiden Jägern. Ohne sich zu vergewissern, ob er getroffen hatte, drehte sich der Mann um und rannte. Peter lächelte zufrieden, als einer der Jäger von der Plattform stürzte. Der andere zielte mit dem Stab. Der davonlaufende Mann warf die Arme hoch, stolperte und stürzte auf die trümmerübersäte Straße. Er rührte sich nicht mehr. Sein
Blut schimmerte dunkelrot im Sonnenlicht. Die Plattform setzte auf der Straße auf. Der Jäger, der den fliehenden Mann erschossen hatte, lief zu seinem Jagdgenossen und beugte sich über ihn. Peter erkannte mit einem Male, daß die beiden sich unmittelbar unter ihm befanden. Er sah sich nach einem Gegenstand um, den er auf sie hinabwerfen konnte. Die Mauer um das Dach bestand aus großen Steinblöcken, die man aneinandergefügt und die Fugen verschmiert hatte. Das Material in den Fugen war herausgebröckelt. Er packte die Außenkante eines der Blöcke und zog. Armund Schultermuskeln traten wie dicke Seile hervor. Er zerrte, bis er Sterne vor den Augen sah. Langsam löste sich der Stein aus der Mauer und rutschte auf das Dach. Peter spähte wieder über den Rand. Sie waren noch immer da. Allerdings nicht unmittelbar unterhalb der Hauswand, sondern ein Stück davon entfernt. Es würde nicht genügen, den Stein einfach hinunterfallen zu lassen. Die scharfen Kanten drückten in seine Schenkel, schürften die Haut, als er den Block aufhob. Langsam zog er ihn in Brusthöhe, dann stemmte er ihn mit beiden Händen über den Kopf. Seine Beine zitterten. Mit durchgedrückten Knien ging er bis zur Mauer. Der Jäger, der von der Plattform gefallen war, saß jetzt auf der Straße. Peter hatte nur noch wenig Zeit. Er schob den einen Fuß etwas nach links, dann machte er zwei schnelle Schritte zur Seite und stieß den Steinblock mit beiden Armen so weit von sich, wie es seine Kräfte erlaubten. Im ersten Augenblick glaubte er, der Schwung würde ihn mit in die Tiefe reißen, aber er konnte sich an der Mauer abstützen. Fasziniert beobachtete er, wie sich der Steinblock in der Luft überschlug und immer kleiner wurde, während er hinabstürzte. Schon glaubte er, er habe sie verfehlt, plötzlich jedoch sah er sie nicht mehr. Der Steinblock zersprang in unzählige
Steintrümmer. Erst nachdem er die Splitter fliegen sah, hörte er den Aufschlag. Klumpen weißer Masse lagen auf der Straße, wo der Stein aufgeprallt war. In der Nähe stand die Schwebeplattform. Auf ihr lag einer der schwarzen Stäbe. Es würde nicht lange dauern, überlegte Peter, bis eine weitere Jagdgruppe hier vorbeikäme. Sie würden die Überreste ihrer Gefährten sehen und den geborstenen Steinblock. Sie würden heraufblicken und mit der Plattform in die Höhe schweben. Denn dies war die einfachste Weise, auf das Dach zu gelangen, und daran hatte er bis jetzt nicht gedacht. Folglich bot dieses Gebäude keinen Schutz. Aber was, wenn er eine dieser Schwebeplattformen erbeutete? Er rannte die Treppe hinunter bis zu dem Gang, auf den er aus dem Schacht gekommen war. Er sprang hinunter auf das Dach des Kastens, ließ sich durch die Luke hinab, kletterte hinunter auf die Eisenschiene an der Wand, hangelte hinüber zum Metallseil und rutschte dran hinunter. Er mußte aufpassen, daß ihm die Reibungshitze nicht die Handflächen verbrannte. Endlich war er unten, zwängte sich durch das aufgebrochene Gitter und ging zur Tür, die auf die Straße hinausführte. Fliegen sammelten sich auf der Leiche des Mannes, der auf der Flucht niedergeschossen worden war. Der schwarze Stab hatte ein kopfgroßes Loch durch seinen Brustkasten gebrannt. Mit gespannten Sinnen spähte Peter durch die Tür. Er hörte nichts, witterte nichts. Blitzschnell rannte er auf die Schwebeplattform zu. Den weißen Klumpen, die von den beiden Jägern übriggeblieben waren, schenkte er keinen Blick. Sein erster Gedanke war, den furchtbaren schwarzen Stab mit dem Fuß auf die Straße zu schleudern. Doch die Neugierde war stärker. Er hob ihn auf, richtete ihn auf den Mann, wie er es die Meister hatte tun sehen, und drückte auf den kleinen Knopf. Die Leiche wurde in die Höhe und etwa zwei Meter weiter geschleudert.
Er versuchte sich zu erinnern, wie sie die Schwebeplattformen gesteuert hatten, und ärgerte sich jetzt, daß er nicht besser aufgepaßt hatte. Die Plattform bestand aus einem silbernen Metall. Sie war so breit, wie er groß war, und vielleicht doppelt so lang. Sie war so dick wie sein Oberschenkel. Zwei kleine Hebel ragten am vorderen Rand durch schmale Schlitze in der Plattform. Er griff nach einem der Hebel und zog ihn zu sich heran. Die Plattform stieg so schnell senkrecht in die Höhe, daß er gegen den Boden gedrückt wurde. Bevor er sich von der Überraschung und vom Schock erholt hatte und den Hebel wieder nach vorn schieben konnte, befand er sich schon weit über dem Dach des Hauses, auf dem er noch vor kurzem gestanden hatte. In seiner Angst stieß er den Hebel jedoch zu weit nach vorn. Die Plattform stürzte wie ein Stein in die Tiefe, und ihm wurde übel. Er zog den Hebel bis etwa zur Mitte zurück, und die Plattform verhielt mitten im Sturz und blieb in unverändert gleicher Höhe hängen. Nur der Wind trieb sie langsam auf die Wand des Gebäudes zu. Die Öffnung, aus der der zweite Hebel ragte, war fast quadratisch. Man konnte ihn also nicht nur vor und zurück, sondern nach allen Richtungen bewegen. Vorsichtig, um nicht die gleichen Fehler wie vorhin zu begehen, griff er nach dem zweiten Hebel, drückte ihn leicht nach links, und die Plattform schwebte langsam von der Hauswand weg. Er zog den ersten Hebel ein kleines Stück zu sich heran, bis er sich über dem Dach des Gebäudes befand. Dann schob er den zweiten Hebel nach rechts. Die Plattform schwebte über das Dach hinweg. Langsam schob er den ersten Hebel nach vorn, bis die Schwebeplattform mit einem unsanften Stoß auf dem Dach aufsetzte. Er stieß einen Freudenruf aus, kratzte seine Brust und blickte mit Besitzerstolz auf die Plattform. In diesem Augenblick vernahm er den gedämpften Knall. Eine breite Lücke klaffte plötzlich in der Mauer, die das Dach
umgab. Staub und Steinsplitter flogen ihm ins Gesicht, so schmerzhaft, daß ihm Tränen in die Augen traten. Blitzschnell griff er nach dem schwarzen Stab, wirbelte herum und warf sich hinter die Mauerbrüstung. Auf dem Bauch kroch er ein Stück weiter und spähte über den Rand. Von schräg oben näherte sich eine Schwebeplattform dem Dach. Der eine Jäger hielt den schwarzen Stab, der andere steuerte die Plattform. Er stellte fest, daß sie unmittelbar über ihm hinwegfliegen würden. Angst ergriff ihn. Er hob den Stab und zielte. Dann sprang er auf die Füße, legte den Finger über den Auslöseknopf und richtete den Stab genau auf die beiden Gestalten. Neben seinem Fuß gähnte plötzlich ein Loch im Dach. Eine der Gestalten auf der Plattform stürzte zerschmettert über den Rand und fiel, sich überschlagend, in die Straßenschlucht hinab. Der zweite Jäger, dem plötzlich der Kopf fehlte, kauerte über den Steuerhebeln. Die Plattform kam noch immer auf ihn zu, stieg aber nun schräg nach oben. Unwillkürlich duckte er sich, als sie über ihn wegflog. Die Leichen unten vor dem Haus machten das Gebäude zu einem gefährlichen Aufenthaltsort. Früher oder später würde eine weitere Plattform vorbeifliegen, und von oben bot Peters Plattform auf dem Dach ein ausgezeichnetes Ziel. Wenn er sie nur verstecken könnte! Gab es denn kein Loch, wo sie hineinpaßte? Ratlos starrte er auf das Fluggerät. Es war ja so groß! Da spürte er wieder das Gewicht des schwarzen Stabes, den er noch in der Hand hielt. Einer der beiden Jäger hatte ein Loch in das Dach des Hauses geschossen. Er blickte hinunter auf einen der langen Gänge. Die Erregung packte ihn. Er richtete den schwarzen Stab auf eine Stelle des Daches dicht neben dem Loch und drückte auf den Knopf. Der unsichtbare Energiestrahl schnitt eine breite Spalte ins Dach. Er hielt den Daumen auf dem Knopf und bewegte den schwarzen Stab. Rechtzeitig fiel ihm ein, daß er
sich nicht selbst den Boden unter den Füßen herausschneiden durfte, und sprang zur Seite, bevor ein großes Rechteck aus dem Dach in die Tiefe des darunter liegenden Stockwerkes stürzte. Ein berstendes Krachen drang herauf, und eine Wolke grauweißen Staubes hüllte ihn ein. Er rannte zur Plattform, und behutsam mit den Hebeln umgehend, dirigierte er das Fluggerät genau über das Loch im Dach. Dann ließ er es langsam in das Loch hinunterschweben. Dicht über dem Fußboden des obersten Stockwerkes des Gebäudes hielt er die Plattform an und ließ sie nach vorn schweben, bis sie sich nicht mehr unmittelbar unter dem Loch in der Decke befand. Eine Wand versperrte ihm den Weg, und er legte sie mit dem schwarzen Stab nieder und brachte seine Plattform hindurch. Er prägte sich alle Hebelbewegungen ein, die nötig sein würden, falls er ganz schnell aus diesem Versteck würde fliehen müssen. Müde und abgespannt von der Jagd kehrte Thome zurück und traf Riss neben den leeren Pferchen. Hinter den geborstenen Türmen des alten Chicago ging die Sonne unter. Riss blickte ihm entgegen. »Hab’ ich dir nicht gesagt, daß es nicht ungefährlich sein würde?« Thome ließ sich erschöpft auf den Boden sinken und zuckte die Achseln. »Sie haben das Abenteuer gesucht, den Nervenkitzel. Ich habe sie gewarnt, habe ihnen gesagt, daß diese Kreaturen gerissen und gefährlich seien. Aber das reizte sie nur noch mehr. Der Wunsch zu töten war stärker als der Gedanke an die eigene Sicherheit. Fünf haben dafür mit ihrem Leben bezahlt. Sie kamen auf der Jagd um. Auch mich hätte es beinahe erwischt, als einer mit einer Keule auf mich losging, an einer Stelle, die wir verlassen wähnten.«
»Fünf?« fragte Riss überrascht und entsetzt. »Ich dachte, es wären nur zwei gewesen.« »Etwas später fanden wir noch drei weitere Leichen. Von den zwanzig Kreaturen, die wir freigelassen haben, kamen vierzehn um. Sechs befinden sich noch irgendwo in der Stadt.« Riss seufzte erleichtert. »Dann wird es also morgen nicht mehr so gefährlich sein.« Mit seinen dünnen weißen Fingern zupfte Thome Grashalme aus dem Boden. »Nicht mehr so gefährlich? Einer von ihnen – wir wissen nicht, wer es ist – hat eine Schwebeplattform und eine Energiewaffe erbeutet. Der Jäger wird zum Gejagten!« »Dann bedeutet dies also das Ende der Jagd«, sagte Riss mit fester Stimme. »Sie werden mit einem Schiff kommen und die Stadt ausräuchern.« Thome schüttelte den Kopf. »Nein, Riss. Sie beabsichtigen, ihr Wort zu halten. Schließlich ist diese Kreatur unbeholfen im Umgang mit der Plattform und dem Strahler.« »Hast du vor, morgen bei der Jagd mitzumachen?« fragte Riss. »Und du?« fragte Thome.
An einer Stelle, wo das Dach ein wenig eingesunken war, hatte sich eine Wasserlache gebildet. Peter fand sie und stillte seinen Durst. Und als der Morgen graute, sah er zwei Plattformen über der Stadt schweben. Er verließ das Dach und beobachtete sie aus dem Schutz der Dunkelheit des Gebäudes. Sie schienen etwas zu suchen. Die Aussichten standen schlecht für ihn, trotz des erbeuteten Fluggeräts und der Waffe. Vermutlich hatten sie mehrere Suchgruppen gebildet, zu jeweils zwei oder gar mehr Plattformen. Er ging in das oberste Stockwerk hinunter. Nachdem er lange gesucht hatte, stieß er in einem der Räume auf den Geruch von getrockneter Nahrung. Er fand eine große
Anzahl zylindrischer Metallbehälter. Einige hatte der Rost zerfressen, und der Inhalt war über die Regale gelaufen und getrocknet. Er nahm zwei Behälter, die noch unversehrt waren, und stieß mit einem spitzen Metallgegenstand Löcher hinein. Nachdem er das Blech auseinandergebogen hatte, kostete er den Inhalt. Der Geschmack war ungewohnt, aber nicht schlecht. Während er noch aß, spürte er, wie das Gebäude bebte. Er warf die Büchsen weg und rannte zum Dach hinauf. Nachdem er sich versichert hatte, daß keine der Schwebeplattformen unmittelbar über dem Gebäude war, ging er aufs Dach hinaus und vor bis zur Mauerbrüstung. Vorsichtig spähte er über den Rand. Unten schwebten zwei Plattformen unmittelbar über der Straße. Die Jäger, es waren vier, zielten mit ihren schwarzen Stäben auf die Grundmauern des Gebäudes. Wieder zitterte und bebte das Haus. Er hörte, wie Metall auseinanderbrach, wie Stein und Beton barsten. Sofort war ihm klar, was sie vorhatten. Das Gebäude würde einstürzen und ihn mit in die Tiefe reißen. Er rannte hinunter zu seiner Plattform und warf sich bäuchlings darauf. Den schwarzen Stab schob er unter seine Brust. Vorsichtig manövrierte er die Plattform genau unter das Loch in der Decke. Er schwitzte vor Angst. Wenn er mit der Plattform in die Höhe schwebte, würden sie ihn unweigerlich entdecken und verfolgen. Wenn er hier wartete, würden ihn die Trümmer des einstürzenden Hauses begraben. Langsam und schwerfällig begann sich das Gebäude zur Straße hin zu neigen. Es würde auf die Häuser gegenüber stürzen. Peter schob den zweiten Hebel nach links und machte die Bewegung des Gebäudes mit. Er schwebte nur wenige Zentimeter über dem Dach seines Hauses, das sich nun immer schneller zu neigen begann und unter ihm wegrutschte, als er die Plattform in der Luft verharren ließ. Die beiden anderen
Plattformen kamen in schnellem Steigflug aus der Straßenschlucht herauf, und er sah sie nur kurz, bevor eine mächtige Staubwolke aufstieg und ein scheinbar nie enden wollendes Dröhnen und Bersten die Luft erschütterte. Der Staub drohte ihn zu ersticken. Er zog den ersten Hebel ganz zu sich heran, den zweiten Hebel schob er bis zum Anschlag nach vorn. Der Flugwind nahm ihm den Atem, als er mit Höchstgeschwindigkeit durch die Staubwolke schoß. Dann war sie hinter ihm, wie eine gigantische grauweiße Qualle, und er blickte sich rasch nach den anderen Plattformen um. Er sah, wie sich die Gesichter mit den Insektenaugen ihm zuwandten. Plötzlich fehlte ein Stück von der Plattform, wo sich die Steuerinstrumente befanden. Sie schien in der Luft zu hängen, dann trudelte sie in die Tiefe wie ein Blatt im Herbstwind. Peter blickte sich um. Die zweite Plattform war hinter ihm und steuerte denselben Kurs wie er. Von dort war der Schuß gekommen, der ihn verfehlt und die andere Plattform getroffen hatte. Der Abstand war erheblich, und das beruhigte ihn etwas. Weit hinten bemerkte er zwei weitere Plattformen, die sich über die Gebäude der Stadt erhoben und die Verfolgung aufnahmen. Plötzlich erfaßte ihn eine Welle ungeheuren Schmerzes. Jeder Muskel seines Körpers zog sich krampfartig zusammen. Es war, als wolle sein Körper aus eigener Kraft in zahllose Fetzen auseinanderreißen. Er schrie und schlug seinen Kopf hart gegen die Metallfläche der Plattform, wie um die Schmerzen mit noch größeren Schmerzen zu betäuben. Dann war das Gefühl schlagartig vorbei, und die Stadt lag hinter ihm. Die Schmerzen hatten ihn geschwächt. Er erkannte, daß er es nur der Geschwindigkeit seiner Plattform zu verdanken hatte, daß er beim Durchfliegen des Energiefeldes nicht das Bewußtsein verloren hatte. Denn das war es, was diese plötzlichen Schmerzen ausgelöst hatte, und unter anderen
Umständen wäre er sofort in Bewußtseinslosigkeit erstarrt. Die Meister konnten solche Kraftfelder aufbauen, wo immer sie wollten. Als Kind war er einmal mit zwei Artgenossen aus einem Käfig ausgebrochen. Von oben hatten sie ein schmerzerzeugendes Kraftfeld um sie herum aufgebaut. Das war wirkungsvoller als ein Drahtzaun. Niemand kam hindurch, ohne das Bewußtsein zu verlieren. Hilflos blieb man liegen, bis sie kamen und einen holten. Auf das Nervensystem der Meister hatte dieses Energiefeld keine Wirkung. Langsam kehrten seine Kräfte wieder. Er spürte die Kälte. Tief unter ihm lag die Erdoberfläche. Reif bildete sich auf der Fläche der Plattform. Er schob den ersten Hebel ein Stück nach vorn, ohne jedoch die Fluggeschwindigkeit zu vermindern. Die Plattform hinter ihm folgte in unverändertem Abstand. Plötzlich wünschte er, er wäre wieder in seinem Pferch und unter seinesgleichen, wo man mit Fäusten, Zähnen und Krallen kämpfte und nicht mit solch rätselhaften Geräten. Er vermißte die Geborgenheit der Pferche. Am liebsten hätte er geweint, aus Verzweiflung über die Einsamkeit hier oben und aus Angst vor den Verfolgern, die unerbittlich hinter ihm her kamen und ihn töten würden. Man konnte den Jägern nicht entkommen. So lautete das Gesetz. Er blickte sich um. Der Abstand zwischen den beiden Plattformen war zu groß für die schwarzen Stäbe. Wut packte ihn. Er begann zu knurren. Er drehte sich auf dem Bauch herum, so daß er entgegengesetzt zur Flugrichtung lag. Mit der einen Hand hielt er sich an dem Geländer der Plattform fest, mit der anderen richtete er den schwarzen Stab auf die Verfolger. Er schaute wieder über die Schulter und schob seinen rechten Fuß an den Hebel heran, mit dem man die Geschwindigkeit regulierte. Vorsichtig legte er den großen Zeh darum. Nachdem er den
Blick wieder geradeaus gerichtet hatte, zog er den Hebel mit einem Ruck seines Fußes ganz zurück. Die Wucht der Verzögerung hätte ihm fast den Arm aus der Gelenkpfanne gerissen, mit dem er sich am Geländer festhielt. Die ihn verfolgende Plattform schien auf einmal riesengroß zu werden. Er drückte auf den Auslöser, während er mit dem Stab auf die beiden Gestalten zielte, sah, wie sie zurückgeschleudert wurden, während Flüssigkeit und weiße Masse nach allen Seiten auseinanderspritzten. Dann schoß die leere Plattform so dicht an ihm vorbei, daß er sie mit ausgestrecktem Arm hätte berühren können. Er richtete sich auf die Knie auf, warf sich herum, griff nach den Steuerhebeln und jagte seine Plattform mit Höchstgeschwindigkeit weiter. Aber die anderen beiden Plattformen hatten jetzt aufgeholt. Sie waren so nahe herangekommen wie vorhin die erste, bevor er die beiden Jäger getötet hatte. Er wagte es nicht, dieses Manöver noch einmal zu wiederholen. Sie hatten es gesehen und würden darauf vorbereitet sein. Weit voraus war die Plattform, die ihn steuerlos überholt hatte. Ohne das Gewicht der beiden Jäger wurde ihr Abstand zu Peter immer größer. Die Sonne stand hoch am Himmel, als er sich dem Rand eines ausgedehnten Waldes näherte. Er blickte zurück. Die Verfolger waren nicht vom Kurs abgewichen. Wieder schaute er voraus. In der unendlichen Weite des Waldes würden sie ihn niemals aufspüren. Aber sie würden sich die Stelle merken, wo er landen würde, und die Umgebung mit ihren Energiewaffen bestreichen. Ohne die Geschwindigkeit zu verringern, ließ er die Plattform langsam sinken, bis er nur wenige Meter über den höchsten Wipfeln der Bäume dahinflog. Die Aussichten auf Erfolg waren das Risiko wert. Seine Verfolger lagen noch weit zurück, kleine weiße Punkte auf
einer dünnen Metallscheibe, kaum größer als der Fingernagel seines kleinen Fingers. Er traf die nötigen Entscheidungen schnell. Er lag auf dem Bauch und zog den Geschwindigkeitshebel ganz zurück. Ruckartig hörte die Vorwärtsbewegung der Plattform auf. Dann ließ er sie bis auf die Baumwipfel herabsinken. Mit der einen Hand stieß er den Geschwindigkeitshebel wieder ganz nach vorn, mit der anderen die Höhensteuerung auf stärkste Steigung. Gleichzeitig ließ er alle Hebel los. Der Ruck des davonschießenden Fluggeräts zog ihm den Boden unter dem Körper weg. Er hatte gehofft, in die Baumkronen zu fallen, aber in diesem Augenblick war eine Lichtung unter ihm, und er stürzte hinab. Die Wucht des Aufschlags trieb ihm die Luft aus den Lungen, und er verlor das Bewußtsein…
»Sind jetzt alle tot?« fragte Riss. »Neunzehn sind tot. Der zwanzigste ist mit einer Plattform entkommen. Über einem Wald im Norden ließ er sich herunterfallen. Eine Stunde später war die Energie seiner Plattform aufgebraucht, und sie stürzte ab. Erst dann bemerkten die Trottel, die ihn verfolgten, daß er schon vorher abgesprungen war. Natürlich fanden sie die Stelle nicht, aber es steht außer Zweifel, daß er den Absprung nicht überlebt hat.« »Er war intelligenter als die anderen«, sagte Thome. »Ein interessantes Wild zum Jagen, mein Freund. Ein gefährliches Tier. Das beste, das ich kenne. Besser als die Feuerechsen auf der Venus oder die fliegenden Schlangen auf Callisto. Das Tier, das Mensch genannt wird, ist das beste.« »Wann findet die nächste Jagd statt?« »Nächste Woche erwarten wir eine neue Lieferung. Aber beim nächsten Mal werden die Plattformen mit komplizierten
Sperrmechanismen versehen, damit sie von den Kreaturen nicht gegen uns eingesetzt werden können, falls die welche erbeuten sollten.« »Ausgezeichneter Gedanke«, sagte Riss. Er blickte nachdenklich zu dem Pferch hinüber, wo die Kreaturen sich um einen Platz am Futtertrog balgten.
Die Nacht war hereingebrochen, als Peter aus der Betäubung erwachte. Sein Kopf schmerzte. Etwas stach in seine Seite. Es waren Stücke des zerbrochenen schwarzen Stabes. Seine empfindliche Nase nahm die Gerüche wahr, die der leichte Wind über den Waldboden wehte. Er knotete die Schnur auf, an der er noch immer seine Keule um die Taille trug. Nachdem er sich auf die Knie aufgerichtet hatte, lauschte er. Etwas raschelte im Laub. Er duckte sich zum Sprung, hechtete nach vorn und schlug mit der Keule zu. Er tötete das kleine Tier mit dem ersten Schlag. Im fahlen Licht des Morgengrauens sah er, daß das Tier mit langen, scharfen Stacheln bedeckt war. Nur die Unterseite war ungeschützt. Er riß sie mit einem spitzen Stück Holz auf und aß das rohe Fleisch. Gebraten hätte es besser geschmeckt, aber ihm fehlte alles, um ein Feuer zu machen. Eine Stunde später stieß er auf einen klaren Bach. Er trank und kühlte seine Prellungen. Sein Körper war vom Sturz aus den Baumkronen noch ganz steif und wie zerschlagen. Ein schönes Gefühl, frei zu sein und hingehen zu können, wo man wollte! In der Freiheit roch die Luft ganz anders. Der Waldboden unter seinen Füßen fühlte sich weich und elastisch an. Ziellos ging er unter den mächtigen Bäumen dahin, und es schien, als erwachten nach und nach uralte Instinkte, die seine Sinne schärften.
Dennoch ahnte er nicht, daß er umringt war, bis er den rauhen Ruf hörte. Dieses Zeichen ertönte, als er sich mitten auf einer kleinen Waldlichtung befand. Er blieb stehen, sah die Männer hinter den Bäumen hervor- und aus den Büschen kommen. Als er sich umdrehte, sah er, daß sie ihn von allen Seiten eingeschlossen hatten. Es waren kräftige Männer mit mißtrauisch blickenden Augen und verfilzten Bärten. Sie trugen Tierfelle, um die Taille mit Hautstreifen gegürtet. Zum erstenmal in seinem Leben wurde er sich seiner Nacktheit bewußt. An Flucht war nicht zu denken. Sie trugen Keulen wie er, aber im Gegensatz zu seiner primitiven waren ihre Keulen vorn mit scharfen Steinen bewehrt, die sie in das Holz gesteckt und mit dünnen Lederriemen festgebunden hatten. Einer, nicht ganz so kräftig wie die anderen und unbewaffnet, trat auf Peter zu. Peter hob drohend seine Schlagwaffe. »Wer bist du?« fragte der Fremde. »Ich bin Peter.« »Ich bin Saul. Woher kommst du?« »Aus den Pferchen. Die Meister ließen mich in der zerstörten Stadt frei, um mich zu jagen und zu töten. Glücklicherweise habe ich einige von ihnen töten können. Ich nahm ihre Plattform und ihre Waffe und kam hierher.« Saul blickte ihn verächtlich an. »Du trägst kein Fell und bist schmutzig. Du kommst wirklich aus den Pferchen, das sieht jeder.« Peter warf seine Keule weg und begann leise zu knurren. »Du bist der Anführer dieser Männer. Ich kann dich töten.« »Ja, so ist das in den Pferchen, aber hier nicht, mein Freund. Hier führt derjenige an, der die besten Führungseigenschaften hat, und nicht der mit den schärfsten Zähnen. Wenn du mir etwas antust, erschlagen dich die anderen auf der Stelle.«
Mürrisch blickte Peter die Männer der Reihe nach an. Er entdeckte keine Anzeichen der Mordlust wie bei seinen Artgenossen in den Pferchen, wenn sie den Ausgang eines Kampfes abwarteten. Nur stumme Verachtung und einen Ausdruck der Belustigung. Da schämte er sich. »Bist du auch geflohen?« fragte er den, der sich Saul nannte. »Mein Vater konnte fliehen. Ich wurde hier in den Wäldern geboren. Dieser Ort hier heißt Nicolet. Wir sind alle hier geboren, bis auf den da drüben. Der konnte vor fünf Jahren entkommen.« »Was treibt ihr hier?« fragte Peter. Saul reckte stolz die Schultern. »Wir leben in Hütten im Wald. Wir fangen wilde Tiere in Fallen und Schlingen, wir säen und ernten, und wir vermehren uns. Wir sind frei und stark. Wir nennen diese Wesen nicht Meister. Wir sind unsere eigenen Herren.« Er blickte sich um. Die anderen nickten und murmelten zustimmend. »Was habt ihr mit mir vor?« fragte Peter. »Wenn wir dich nicht bei uns haben wollen, werden wir dich töten. Wenn du dich uns anschließen willst, mußt du immer daran denken, daß wir unter unseresgleichen nicht kämpfen. Wir arbeiten. Das tut jeder. Arbeit ist etwas Schweres, aber auch Schönes. Wir werden dir ein Fell geben, das du tragen kannst. Eine unserer Töchter wird deine Frau werden. Alle werden mithelfen, eine Hütte für dich zu bauen. Du wirst unsere Gesetze achten und im Rat der Erwachsenen Sitz und Stimme erhalten, wie jeder von uns.«
Als die Nacht hereinbrach und die Schatten im Wald tiefer wurden, erklomm die Jagdgruppe eine Hügelanhöhe, und die Männer beschleunigten den Schritt, um das Dorf zu erreichen, das am Fuße des Hanges lag. Peter hatte sich ihnen
angeschlossen. Auch er trug jetzt das Fell eines frisch erlegten Tieres. In ihren Verstecken unter den Bäumen glühten die Kochfeuer wie rote Augen in der Wildnis. Er hörte die freudigen Rufe der Frauen und das klingende Lachen der Kinder. Plötzlich war er allein. Ein seltsames Brennen war in seinen Augen, und ihm schien, als sei ihm dieser Ort vertraut, mit seiner Wärme und seinen Geräuschen. Er erschrak, als Saul seinen Arm berührte. »Komm, Peter«, sagte er. »Sie warten schon auf dich. Die Männer haben von dir erzählt. Jetzt wollen dich alle sehen und begrüßen. Heute bist du mein Gast.« Saul ging voraus, und Peter folgte ihm langsam zu den Feuern, deren Schein warm in die Dunkelheit der Nacht hinausdrang.
Originaltitel: THE HUNTED. Copyright © 1949 by Fictioneers, Inc. Übersetzt von Walter Spiegl.
J. T. McIntosh NUR STERBEN IST SCHÖNER
Er war wieder auf der Flucht. Diesmal empfand er keine Belustigung darüber, nur die dumpfe Erwartung der Niederlage. Man konnte sich nicht ewig in der Gemeinschaft vor der Gemeinschaft verbergen. Sein größter Vorteil hatte immer darin bestanden, daß die Polizei selbstgefällig behauptete, es gäbe keine unbekannten und ungelösten Verbrechen. Aus diesem Grunde stellte sie auch nur zögernd Nachforschungen an, die sie für sinnlos hielt. Ein zweiter großer Vorteil war gewesen, daß er bisher allein gearbeitet hatte. Diesmal war er nicht allein. Er saß am Strand unter der heißen Sonne Floridas und winkte gelegentlich einem Mädchen im silbernen Badeanzug zu, das im Wasser schwamm. Wenn die Polizei nicht nach ihm suchte, befand er sich noch in Sicherheit. Aber diesmal würde sie nach ihm suchen, und das bedeutete, daß sich jeden Moment eine schwere Hand auf seine Schulter legen konnte. Dann waren seine Freiheit und sein Leben zu Ende. Als er so zurückdachte, konnte er keine Fehler in seiner Handlungsweise erkennen, wenigstens keine vermeidbaren Fehler. Gewiß, wenn er den Blue Moon-Nachtklub nicht aufgesucht hätte, wäre alles anders gekommen. Da er jedoch kein Hellseher war, hatte er das unmöglich vorausahnen können. Vielleicht hätte er Marita einen falschen Namen nennen sollen. Aber das hätte noch gefährlicher werden können. Wie sollte man es verhindern, daß Leute, die einen unter einem bestimmten Namen kannten, mit Leuten
zusammentrafen, denen man einen anderen Namen angegeben hatte? Ein braungebrannter junger Adonis lief ins Wasser, geradewegs auf das Mädchen im silbernen Badeanzug zu. Ohne ihn zu beachten, warf sie eine Kußhand zum Strand hin, und das Selbstbewußtsein des Adonis geriet ins Wanken. Er schwamm an dem Mädchen vorbei. Der Mann am Strand winkte. Sie liebte ihn, ganz offensichtlich. Ob sie wußte, daß er sie nicht liebte – und ob es ihr weh tun würde? Dicht neben ihm knisterte die Luft. Das geschah manchmal, wenn man von transmitterfreien Fernsehapparaten überwacht wurde. Er bekämpfte den Impuls, aufzuspringen und davonzurennen. Wenn es sich tatsächlich um das TTV handelte, dann war es das beste, ganz ruhig zu bleiben. Man durfte nicht vergessen, daß dieses Knistern in der Luft gleichbedeutend mit dem Anblick eines Polizisten war. Und man geriet garantiert in Schwierigkeiten, wenn man jedesmal beim Anblick eines Polizisten die Flucht ergriff. Das Knistern bedeutete lediglich, daß ihn jemand beobachtet hatte. Das konnte der Anfang oder das Ende sein. Es konnte aber auch eine ganz nebensächliche Episode bei der Suche nach einem anderen sein. Zwei Frauen schlenderten an ihm vorbei. Beide trugen Badeanzüge, obwohl sie sich das nicht mehr leisten konnten. Die eine sagte: »Siehst du das Mädchen in dem silbernen Badeanzug? Sie ist genau der Typ, den ich meine.« »Was für ein Typ?« fragte die andere. »Zu naiv, als daß es echt wirken könnte. Babyblaue Augen. Tut, als hätte sie keine Ahnung von ihren Kurven. Ich möchte wetten, daß sie schon mehr über Männer vergessen hat, als wir beide je in Erfahrung bringen konnten.«
Erstaunlich, dachte der Mann am Strand, wie genau Frauen über Frauen Bescheid wissen. Die eine hatte beinahe Susan Sonnenbergs Stimme gehabt. Susan Sonnenberg – in gewisser Hinsicht war es ihre Schuld, daß er wieder untertauchen mußte. Obwohl Susan vor mehr als einer Woche zu existieren aufgehört hatte, war sie es gewesen, die alles ins Rollen brachte. Warum hatte sie sich in sein Leben eingemischt?
»Direkt bis zum Eingang«, sagte Susan Sonnenberg mit Entschiedenheit, als das Taxi einen Straßenblock vom Musikosmos-Gebäude entfernt halten wollte. »Tut mir leid, Lady, ich habe keine Genehmigung«, erklärte der Taxipilot. »So etwas bekommen nur die hohen Tiere. Wenn ich vor dem Musikosmos lande, kreisen mich im Nu die Polypen ein.« »Bestimmt nicht. Ich besitze nämlich eine Genehmigung.« »Schön. Darf ich sie sehen?« »Ihretwegen wühle ich nicht eine halbe Stunde in meiner Handtasche herum. Sie müssen mir schon glauben.« »Ich gehe kein Risiko ein, Lady. Von hier aus können Sie das Musikosmos bequem zu Fuß erreichen.« »Das kann ich nicht, und ich werde es auch nicht versuchen. In meinem Alter ist es anstrengend genug, wenn man seinen Willen durchsetzen muß.« Der Pilot grinste. »Hören Sie, wenn Sie eine Genehmigung besitzen, müßte ich Sie eigentlich kennen. Darf ich fragen, wer Sie sind, Lady?« »Ich habe gesagt, daß ich eine Genehmigung besitze«, erklärte Susan. »Und Sie zweifeln sehr unhöflich an meinem Wort. Weshalb sollten Sie mir also glauben, wenn ich sage, ich sei Martha Washington?«
Dem Piloten war plötzlich etwas eingefallen, und er warf einen Blick auf ihre Hände. Starrköpfig verschränkte die alte Dame sie hinter dem Rücken. Aber seine Miene hatte sich bereits aufgehellt. »Sie sind Susan Sonnenberg, die Pianistin«, sagte er. »Ich habe eine Aufnahme dieser Chopin-Sonate, Des-Dur, wenn ich mich nicht täusche.« »B-Moll«, verbesserte Susan. »Wie Sie meinen. Jedenfalls die mit den fünf b. Den Trauermarsch spielen Sie zu schnell. Aber natürlich, Sie haben eine Genehmigung. Ich lande sofort.« Das Taxi steuerte den reservierten Landeplatz des Musikosmos-Gebäudes an und setzte vorsichtig auf. »Ich spiele nicht zu schnell, sondern Sie hören zu langsam«, entgegnete Susan. »Und den Satz vorher«, sagte der Pilot, »den mit den chromatischen Läufen, spielen Sie wie einen Trauermarsch. In dem Abschnitt, den man etwas schneller bringen müßte, behalten Sie die gleiche Geschwindigkeit bei.« »Sie sollten einmal mein Menuett in g hören«, entgegnete Susan beißend. »Ein paar Takte davon schaffe ich schon ganz ordentlich.« Der Pilot öffnete die Tür. Als Susan ihre Brieftasche zückte, schüttelte er den Kopf. »Das geht auf meine Rechnung, Miss Sonnenberg. Und wenn ich sage, daß Sie den zweiten Satz zu langsam und den dritten zu schnell spielen, so heißt das nicht, daß mir die Sonate nicht gefällt.« »Nun, es wäre auch überflüssig, in poetischen Ergüssen über mein Werk zu schwelgen«, sagte Susan sarkastisch und humpelte in das Gebäude. Sie stützte sich schwer auf ihren Stock. Das Musikosmos-Gebäude schwang sich wie eine Lobeshymne in den Himmel. Musik war heutzutage gefragt, sogar ernste Musik, einige Leute behaupteten, diese
Entwicklung habe begonnen, als man in den Schulen dazu überging, die Individualität der Kinder zu fördern, und sie sogar ermutigte, offen ihren Drang zu Kultur und Bildung zu zeigen. Andere brachten folgendes Argument vor: Was sollte man in einem Zeitalter, in dem die Entdeckung und Bestrafung von Verbrechen die Verbrechen selbst überflügelten, anderes tun, als legal zu lieben, fernzusehen, Bücher zu lesen und Beethoven oder Brahms zu hören? Eine dritte Gruppe, die Super-Optimisten, sagte: Wer weiß – vielleicht wird die Menschheit doch noch reif und vernünftig? Sechzig Jahre nach Borodins Tod hatte man aus seiner Komposition ein Musical gemacht, das hauptsächlich aus üppigen halbnackten Mädchen in Rot, Blond und Schwarz bestand. Sechshundert Jahre nach Borodins Tod war seine zweite Sinfonie in der Originalform ein Kassenschlager. Eine Entwicklung, die zum Nachdenken veranlaßte…
Old Benny tippte an die Mütze, als Susan das Gebäude betrat. Er war noch älter als sie – kein Mensch wußte, wie alt. »Man erwartet Sie in Studio Sieben«, sagte er undeutlich. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schüttelte er den Kopf und reichte ihr seinen Arm. Susan nahm die Hilfe dankbar an. Sie hatte vor acht Monaten einen bösen Sturz getan, und obwohl die Ärzte ihre Knochen kunstvoll zusammengeflickt hatten, fühlte sie sich alles andere als gesund. Merkwürdig, je besser die Wissenschaft für den Durchschnittsmenschen sorgte, desto schwerer wurde das Leben für einen halben Krüppel. War man im zwanzigsten Jahrhundert alt und wackelig – und reich –, dann konnte man sich von Dienern unterstützen und im Notfall sogar tragen lassen. Heutzutage gab es in den Vereinigten Staaten keinen einzigen Dienstboten mehr, und man mußte wegen des Parkproblems und der veränderten
Verkehrsbedingungen – Fußgänger hatten auf den Straßen nichts mehr zu suchen – weitere Wege zurücklegen und höhere Treppen steigen als jede alte Dame des vergangenen Jahrhunderts. Aus diesem Grund schätzte Susan die lässige, aber freundliche Hilfsbereitschaft von Old Benny. Und als ihr zu Bewußtsein kam, daß sie ihn heute zum letztenmal beanspruchen würde, blieb sie plötzlich stehen. Irgendwie mußte sie sich bei ihm bedanken. »Benny«, sagte sie, »ich bin eine vertrocknete, schrullige Alte. Weshalb sind Sie immer so nett zu mir?« Die unvermittelte Frage war zuviel für ihn. Ein Widerstreit der Gefühle zeichnete sich in seinem Gesicht ab. Er verstand nicht recht, was sie von ihm wollte. »Schon gut«, sagte Susan mit ungewöhnlicher Sanftheit. »Ich möchte Ihnen nur klarmachen, daß ich mich über Ihre Aufmerksamkeiten sehr gefreut habe.« »Aufmerksamkeiten?« fragte Benny, immer noch verwirrt. »Ja. Sie rufen Taxis für mich herbei und sorgen dafür, daß der Pilot bis zum Eingang kommt. Sie richten mir ein ruhiges Zimmer her, wenn ich mich nicht wohl fühle. Sie schnitzen mir den Stock zurecht, wenn er zu lang ist. Sie versorgen mich während der Proben mit Brötchen…« »Aber das ist doch meine Aufgabe, Miss«, sagte Benny verlegen. »Ich arbeite hier als Verwalter, als Mädchen für alles. Die meiste Zeit habe ich ohnehin nichts zu tun, und da – « »Und da helfen Sie den anderen, wo Sie können, Benny. Wahrscheinlich hätte ich Ihre Dienste weiterhin ganz selbstverständlich in Anspruch genommen, wenn mir nicht heute durch einen besonderen Umstand aufgefallen wäre, wieviel Sie schon für mich getan haben.« Sie zögerte, denn was sie ihm sagen wollte, klang, als verriete sie einem Hungrigen, daß sie zu einem Bankett geladen sei.
Aber sie konnte nicht einfach verschwinden, ohne sich von ihm zu verabschieden. So alt, ungelenk und einfältig Old Benny war, sie mochte ihn. »Heute bin ich nämlich zum letztenmal hier, Benny«, sagte sie ruhig, ohne ihren üblichen Sarkasmus. »Ich mache meine letzte Aufnahme und gehe dann ins Wiedergeburt-Zentrum.« Das plötzliche Aufleuchten seiner schwachen alten Augen verblüffte sie. Aber er sagte nur: »Ja, Miss Sonnenberg.« »Ich habe Sie einmal gekränkt, als ich Ihnen ein Trinkgeld anbot«, fuhr sie fort. »Ich möchte diesen Fehler nicht wiederholen. Ich weiß, daß Sie mir nicht helfen, weil Sie eine Belohnung erwarten. Aber haben Sie schon einmal von einer Gratifikation gehört?« »Gratifi…« »Manchmal, wenn jemand mehr als seine Pflicht getan hat, wenn jemand besondere Dienste geleistet hat, dann drücken die Menschen ihre Dankbarkeit durch eine sogenannte Gratifikation aus. Das ist nicht das gleiche wie ein Trinkgeld. Eine Gratifikation kann jeder akzeptieren.« »Wie sieht diese Gratifikation aus?« fragte Benny zweifelnd. »Ich habe nichts außer Geld. Aber Sie können sich damit etwas kaufen, das Ihnen Freude bereitet, und das soll Sie dann an mich erinnern. Danke, Benny – und leben Sie wohl!« Sie ließ ihn vor der Tür zu Studio Sieben stehen. Er hielt drei zerknitterte Banknoten in der Hand. Sorgfältig glättete er sie. Zweihundertfünfzig Dollar.
In Studio Sieben war man immer noch nicht fertig. Collini, der Dirigent, feilte an den Tuttis herum. Seit Einführung der Wellen-Aussteuerung waren die meisten Aufnahmen ein reines Zusammensetzspiel. Gewiß, einige altmodische Dirigenten und Orchester hielten sich an die
Zufallsmethoden von früher, aber im allgemeinen bereitete man heutzutage eine Schablone vor, einen Entwurf für ein ganz bestimmtes Werk, eine Art Konstruktion des gewünschten Orchesterklanges. Diese Schablone konnte ohne weiteres in Klänge umgesetzt werden, so wie sie war, aber dann erweckte sie höchstens das Interesse von Musikstudenten. Für alle anderen Menschen war sie zu mechanisch. Wenn die Schablone hergestellt war, zeichnete das Orchester die Musik auf; anschließend wurden Schablone und Orchestermusik automatisch verglichen. Die Maschinen kümmerten sich nicht um Ausdrucksnuancen, die sie nicht verstanden, sondern registrierten die echten, meßbaren Unterschiede – wo die zweite Trompete ein normales E anstelle eines erniedrigten E spielte, wo die zweiten Violinen die ersten übertönten, wo jemand der Bläsergruppe eine Pause nicht einhielt. Die Ingenieure, der Dirigent, die Solisten und der technische Leiter gingen Punkt für Punkt durch. Dann entschieden sie, was man lassen konnte und was man wiederholen mußte. Dieses System lieferte beileibe keine Musik von größerem künstlerischem Wert; es lieferte einwandfreie Musik, die sich rascher aufnehmen ließ als mit den herkömmlichen Methoden. Collini hatte die Orchester-Schablone noch nicht ganz fertiggestellt, und so zog sich Susan in einen Aufenthaltsraum zurück. Zu ihrem Entsetzen folgte ihr Weygand. »Das ist also die letzte Aufnahme-Sitzung von Susan Sonnenberg.« Weygand seufzte schmalzig. »Ihre Aussprüche treffen die Wahrheit immer im Kern, Mister Weygand«, sagte Susan. Er war ein pingeliger, konservativer Mann. Er mußte konservativ sein. Er war einer der Direktoren von Musikosmos, und was er mochte, mußte die Mehrzahl der Hörer mögen.
»Mozart G-Dur, Köchelverzeichnis 453«, fuhr er nachdenklich fort. »Man hätte als Ihr letztes Werk etwas Größeres, Edleres aufnehmen müssen – Beethovens L’Empereur beispielsweise. Aber wir haben ja noch den Empereur, den Sie vor vierzehn Jahren spielten.« »Ganz recht.« »Fühlen Sie nicht ein wenig Trauer oder Bedauern?« fragte Weygand. »Schließlich können Sie nicht mehr damit rechnen, Pianistin zu werden. Möglicherweise wenden Sie sich ganz von der Musik ab. Möglicherweise werden Sie nicht einmal berühmt.« Vielleicht ging er, wenn sie ihn schockierte. »Aber möglicherweise finde ich einen Mann, der mein Bett teilt.« Weygand faßte solche Dinge wörtlich auf. »Noch nicht. Damit müssen Sie mindestens noch vier Jahre warten.« Susan resignierte. Wenn sie ehrlich war, mußte sie zugeben, daß ihre Abneigung gegenüber Weygand auf der Verachtung der schaffenden Künstlerin gegenüber dem Theoretiker beruhte. Dazu kam allerdings, daß man schon immer im voraus wußte, was er sagen würde. »Ich habe als Pianistin meine Möglichkeiten voll ausgeschöpft«, sagte sie. »Ich möchte das alles nicht noch einmal wiederholen.« »Wirklich nicht?« fragte Weygand wehmütig. »Vielleicht werde ich diesmal Jazz-Trompeterin.« Weygand zog die Nase kraus. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie sind eine echte Künstlerin, Miss Sonnenberg.« »Meine technischen Fähigkeiten werden auch ziemlich hoch eingeschätzt. Vielleicht entscheide ich mich diesmal für Physik oder Medizin.« »Eine Wissenschaftlerin!« sagte Weygand entsetzt. »Oh, schon gut«, beruhigte ihn Susan lächelnd. »Wahrscheinlich hätte ich als Wissenschaftlerin keinen durchschlagenden Erfolg. Zufrieden?«
Weygand war sprachlos – und genau das hatte sie erreichen wollen. Sie genoß das Schweigen, bis ihr plötzlich einfiel, daß Weygand etwas für sie tun konnte. Und er würde es tun, das wußte sie. »Mister Weygand«, fragte sie, »kennen Sie Old Benny?« »Den Verwalter? Natürlich.« »Würden Sie etwas für mich tun? Könnten Sie ihn testen lassen?« »Was meinen Sie mit Testen?« Sie konnte nicht sagen, daß sie den Wiedergeburts-Test meinte. Der Gedanke war zu absurd. Die Wiedergeburt war den Menschen vorbehalten, die an der Spitze der WFA-Skala (Wert für die Allgemeinheit) standen. Zehn Prozent kamen insgesamt in den Genuß der Einrichtung. Zehn Prozent war nicht wenig. Susan gehörte selbstverständlich mit dazu. Sie stand sogar ziemlich an der Spitze. Aber alle ihre Freunde besaßen die Qualifikation. Künstler, Schriftsteller, Musiker, Naturwissenschaftler, Ärzte, Krankenschwestern – praktisch jeder, der im Leben bescheidenen Erfolg errungen hatte – gehörte dazu. Nur Benny nicht. Sie konnte am allerwenigsten mit Weygand über ihre Gefühle sprechen. Sie hatte eine Ahnung, eine Intuition, daß hinter Benny mehr steckte als ein gewöhnlicher Verwalter. Sie wußte, daß sie voreingenommen war – sie mochte Benny gern, und er konnte jeden Augenblick sterben, so gesund und rüstig er auch aussah. Es war typisch für sie, daß sie die Wiedergeburt für einen Menschen vorschlug, nur weil er ein netter Kerl war. Aber sie war davon überzeugt, daß es sich um mehr als das handelte. Die WFA-Skala berücksichtigte neben Intelligenz eine ganze Reihe von Fähigkeiten, unter anderem Einfühlungsvermögen, manchmal auch Empathie genannt. Das
bedeutete in anderen Worten, daß ein netter Kerl sich eher qualifizierte als die Sorte von Burschen, die Fliegen quälten. Benny hatte, wenn nichts anderes, zumindest ein hohes Einfühlungsvermögen. »Sie wissen genau, was ich meine«, sagte sie verärgert. Sie wollte das Wort WFA-Test nicht aussprechen. Das war gleichbedeutend mit Wiedergeburt. »Die Musikalitäts-Tests?« »Ja, die genügen«, entgegnete sie. Die M-Tests dienten einem völlig anderen Zweck, aber sie enthielten eine flüchtige Intelligenzprüfung und eine noch flüchtigere Persönlichkeitsprüfung. Wenn Benny irgendein Talent, eine Fähigkeit oder auch nur potentielle Intelligenz besaß, dann würden die Tests es aufdecken. Die WFA-Prüfung war dann nur noch eine Routineangelegenheit. »Ganz wie Sie wünschen, Miss Sonnenberg«, sagte Weygand. »Möchten Sie beweisen, daß Benny mehr wert ist, als es scheint?« Susan wich der Frage aus. »Sie wollen es für mich tun?« »Natürlich.« Einer der Ingenieure öffnete die Tür. »Wir sind jetzt soweit, Miss Sonnenberg.«
Es war keine gewöhnliche Sitzung. Jeder wußte, daß Susan sich unmittelbar danach ins Wiedergeburt-Zentrum begab. Obwohl das nicht gleichbedeutend mit dem Tod war und obwohl nur Verwandte und darüber hinaus nur weibliche Verwandte bei diesem Anlaß weinten, obwohl jeder, der wiedergeboren wurde, dankbar war, und jeder, dem diese Gunst versagt blieb, sie leidenschaftlich herbeisehnte – irgendwie war es doch so endgültig wie der Tod. Die Pianistin Susan Sonnenberg hätte ebensogut mit einem Herzversagen hier am Flügel zusammenbrechen können. Man würde ihr nach
der Wiedergeburt nicht sagen, daß sie Susan Sonnenberg gewesen war, außer die Psychologen hielten es für unschädlich, und es war bekannt, daß die Psychologen solche Enthüllungen nicht gern machten. Sie mußte die Aufnahme sorgfältig machen, denn man konnte nachträglich keine Veränderungen mehr einflicken, wenigstens nicht, was Susan Sonnenberg betraf. Merkwürdig – alles hatte sich auf eine lange, mühsame Sitzung vorbereitet, aber alle befanden sich in Hochform, und man mußte kaum etwas wiederholen. Als Susan sah, daß ihr Solopart auf Band gespeichert war, drehte sie sich um und verließ den Raum so unauffällig, daß Collini, Weygand und alle anderen dachten, sie wolle den Waschraum aufsuchen. Aber sie verließ das Gebäude und ging sogar Benny aus dem Weg. Susan mochte Abschiedsszenen nicht. Der Taxipilot, der sie zum Wiedergeburt-Zentrum brachte, war überraschend gelassen. »Ah, Sie sind die Pianistin«, sagte er. »Da muß ich wohl besonders vorsichtig fliegen, damit uns unterwegs nichts zustößt.« »Ich habe nichts dagegen«, meinte Susan. »In sechzig Jahren komme ich auch hierher. Das hätten Sie nicht gedacht, was? Ein Taxipilot und Wiedergeburt!« »Dann ist Vorsicht wirklich angebracht. Wir wollen uns beide die Chance auf Unsterblichkeit wahren, nicht wahr?« Sie erreichten das Wiedergeburt-Zentrum ohne Zwischenfall. Als Susan die Treppe hinaufhumpelte, seufzte sie erleichtert. Das nächste Mal konnte sie diese Stufen vermutlich leichter nehmen. Weygand nahm den Telefonhörer in die Hand. »Ja, hier spricht Weygand vom Musikosmos. WiedergeburtZentrum? Ja, natürlich… Benjamin Rice? Er könnte einer unserer Angestellten sein, aber der Name sagt mir im Moment
nichts. Susan Sonnenberg erwähnte ihn? In welchem Zusammenhang?« »Gewöhnlich stellen wir den persönlichen Freunden unserer Patienten ein paar Fragen«, erklärte die ruhige, anonyme Stimme. »Die Leute können über sich natürlich nur subjektive Auskünfte geben. Miss Sonnenberg sagte, daß dieser Benjamin Rice vom Musikosmos uns weiterhelfen könne.« »Hm, es ist jetzt drei Tage her, seit sie zum Zentrum ging«, sagte Weygand. »Wie fühlt sie sich?« Die anonyme Stimme wirkte ein wenig überrascht. »Wie erwartet, Mister Weygand. Ein Routinefall ohne Komplikationen. Nun zu diesem Benjamin Rice – « »Einen Augenblick. Könnte sie Old Benny gemeint haben? Hören Sie, ich werde Erkundigungen einziehen und Ihnen diesen Rice so bald wie möglich ins Zentrum schicken. Einverstanden?« »Vielen Dank, Mister Weygand.« Weygand ließ sich mit dem Personalbüro verbinden. »Wer ist denn Benjamin Rice?« fragte er. Die Nachprüfung dauerte nur kürze Zeit. »Einer der Verwalter, Mister Weygand. Brauchen Sie seine Akte?« »Nein, vielen Dank, die Auskunft genügt mir.« Er rief Benny in seinem winzigen Büro an. »Benny? Hier spricht Weygand. Das Wiedergeburt-Zentrum hat eben angerufen. Miss Sonnenberg scheint Ihren Namen dort hinterlassen zu haben. Offenbar will man Ihnen nun ein paar Fragen stellen. Nein, keine Angst, es ist alles in Ordnung. Nur eine Routineangelegenheit. Könnten Sie vielleicht einmal zum Zentrum gehen? Ach ja, Benny – « Er hatte sich eben erinnert, daß er Susan versprochen hatte, an Benny einen M-Test vorzunehmen. Das war ihm einen Augenblick entfallen.
»Schon gut«, sagte er und legte auf. Er mußte Walter Jennings vom Testbüro anrufen, und Jennings konnte dann Benny holen, wenn er alles vorbereitet hatte. Um sicherzugehen, daß er die Angelegenheit nicht wieder vergaß, rief Weygand Jennings sofort an. Benny nahm seinen Mantel vom Haken und zog ihn langsam, nachdenklich an. Etwas in seinem Innern sträubte sich dagegen, das Wiedergeburt-Zentrum zu betreten. Aber es ließ sich nicht ändern. Er legte auf seinen Schreibtisch einen Zettel mit der Aufschrift KOMME BALD WIEDER und verließ das Gebäude. Benny Rice war über hundert Jahre alt, und manchmal, wenn er sich im Musikosmos befand, merkte man es ihm an. Aber als er zum Wiedergeburt-Zentrum ging – es wäre ihm nicht eingefallen, einen Bus oder ein Taxi zu nehmen, obwohl die Entfernung mehr als zwei Meilen betrug und das Institut ihm die Fahrtkosten sicherlich ersetzt hätte –, richtete er sich mit einemmal auf. Seine Augen leuchteten, und er hatte die Haltung eines Fünfzigjährigen. Da die normale Lebenserwartung in diesen Tagen bei hundertsieben Jahren lag, war ein Mann mit fünfzig noch relativ jung. Physisch war Benny nahezu ein Wunder. Er wußte es, und deshalb ging er im Musikosmos gern ein wenig gebeugt und langsam, um nicht aufzufallen. Außerhalb des Musikosmos gab er vor, fünfzig zu sein. Es gelang ihm meist, seine Mitmenschen zu täuschen. Von außen war das Wiedergeburt-Zentrum ein kaltes, weißes, unpersönliches Gebäude. Um so verblüffender wirkte das Innere. Es hatte eher Ähnlichkeit mit einem Luxushotel als mit einem Krankenhaus oder Sanatorium. »Benjamin Rice?« fragte die hübsche blonde Empfangsdame. »Ja, ganz recht, Dr. Martin möchte Sie sprechen. Er ist draußen im Park. Sammy wird Sie hinbringen.«
Sammy war ein rothaariger Junge, der keinen Ton sagte. Das verwirrte Benny, denn Sammy wirkte freundlich und redselig. »Was ist denn los, Junge?« fragte er, als sie den Park hinter dem Institut betraten. »Hast du dir die Zungenspitze abgebissen?« Sammy warf ihm einen so intelligenten und verschmitzten Blick zu, daß Benny eine schlagfertige Antwort erwartete. Aber der Junge sagte nur: »Da – da!« In diesem Augenblick verstand Benny, und er ärgerte sich über seine eigene Dummheit. Sammy war natürlich eine der Wiedergeburten. Er besaß eine Menge Intelligenz; aber er hatte das Sprechen noch nicht erlernt. Das Mädchen am Empfang gehörte vermutlich auch zu den Wiedergeburten. Natürlich, wenn sich das Institut vier Jahre lang um die Leute kümmern mußte, dann wurden sie auch für die diversen Arbeiten in der Verwaltung eingesetzt. Dr. Martin sah nicht älter aus als zwanzig, aber er konnte keine Wiedergeburt sein. Das Institut war alles andere als eine Art Gesellschaftsklub. Die Wiedergeburten blieben zwar notwendigerweise einige Jahre im Zentrum, bis sie sich gewisse Grundinformationen angeeignet hatten, aber dann brachte man sie wieder in die Gemeinschaft. Martin konnte keine Wiedergeburt sein, weil man es einem wiedergeborenen Arzt nicht gestatten würde, sich im Zentrum vor der Außenwelt zu verbergen. Der junge Doktor sah lachend auf. »Benjamin Rice?« »Sie können Benny sagen, wie alle anderen.« »Schön. Sammy, du gehst zurück zum Empfang.« Sie befanden sich auf einer Rasenfläche. Zu Dutzenden standen Liegestühle aneinandergereiht. Auf den ersten Blick unterschied sich die Wiese kaum von den Erholungsanlagen eines normalen Sanatoriums oder Kurheims. Aber dann fiel ihm auf, daß die Patienten alle an die vierzehn Jahre alt waren und alle unter dem Einfluß von Schlafmitteln standen.
Mädchen und Jungen trugen kurze weiße Kittel, und das war am merkwürdigsten, denn normalerweise hätten Jugendliche dieses Alters sich energisch gegen eine solche Bekleidung gewehrt. Gesund und rosig sahen sie aus, diese überdimensionalen Babys, aber ihre Gehirne waren leer wie die Taschen eines alten Anzugs. Die Jungen wußten noch nicht, daß sie Jungen waren, und die Mädchen hatten keine Ahnung, daß sie Mädchen waren. »Sie arbeiten im Musikosmos, Benny?« »Ja, als Verwalter.« Martin schien verwirrt. »Wie kamen Sie mit Miss Sonnenberg aus?« »Großartig, Doktor. Sie war eine nette alte Dame. Es tat mir leid, daß sie hierherkam.« »Leid? Hätten Sie etwa gewollt, daß sie starb?« »Sie war eine nette Dame«, erwiderte Benny ausweichend. Martin wurde noch verwirrter. Susan hatte Bennys Namen angegeben, als man sie fragte, wen man konsultieren könne, falls noch Fragen zu ihrer Persönlichkeit auftauchen würden. Martin hatte angenommen, daß Benjamin Rice ein Kollege von Susan war, ein Musiker, Schriftsteller, Maler oder etwas Ähnliches. »Erzählen Sie mir von ihr«, sagte Martin ermunternd. »Sie war immer nett zu mir. Sie sagte auch, daß ich nett zu ihr sei, aber ich wußte nicht, was sie damit meinte. Natürlich, sie hatte es nicht leicht, besonders nach dem Sturz, und ich half ihr ein wenig. Die Leute behaupten, sie sei eine große Pianistin, aber davon verstehe ich nichts. Ich weiß nur, daß sie eine nette alte Dame war.« Martin schwieg. Ganz offensichtlich konnte Benny ihm nichts Nützliches verraten. Vermutlich hatte sich Susan Sonnenberg einen Scherz erlaubt, als sie seinen Namen eintrug. Oder steckte etwas anderes hinter der Sache?
»Seit wann kennen Sie Miss Sonnenberg?« fragte er beiläufig. »Seit einem Jahr. Nein, nicht ganz ein Jahr. Ich nahm die Stelle im Musikosmos letzten September an.« So war das also. Martin verwarf den Gedanken, daß die Sonnenberg und der alte Mann vor langer Zeit einmal verliebt ineinander gewesen waren. Die Idee erschien ihm ohnehin absurd. Martin stand auf. Er mußte sich jemand anderen suchen, der ihm verläßliche Informationen über die Sonnenberg lieferte. Benny war ein netter alter Mann, aber nicht sonderlich klug. »Würden Sie Miss Sonnenberg gern sehen?« fragte er. Benny trat einen Schritt zurück. »Nein«, erklärte er heftig. Das war interessant. Waren sie vor langer Zeit doch miteinander liiert gewesen? »Sie ist nicht mehr die Sonnenberg von früher. Aber wenn Sie die alte Dame gern gemocht haben, Benny, dann sollten Sie doch einen Blick auf sie werfen. Sie hat sich natürlich verändert. Ich glaube jedoch, daß Sie Ihre Haltung ändern werden, wenn Sie sie gesehen haben. Es liegt jetzt sehr viel Glück vor ihr.«
Benny sträubte sich nicht, als er über den Rasen geführt wurde. Martin blieb neben einem Liegestuhl stehen und deutete. Benny hielt den Atem an. Das Mädchen, das im tiefen Schlaf vor ihm lag, war vierzehn wie alle anderen hier. Ihr glattes, hübsches Gesicht zeigte schwache Ähnlichkeit mit Susan. Es verriet Intelligenz und einen gewissen Humor, aber sonst war es das Gesicht einer schönen Idiotin. Wiedergeburt war der Name für etwas, das mit einer echten Wiedergeburt nichts zu tun hatte. Die Menschen wurden nicht wiedergeboren. Man nahm ihnen sämtliche Erinnerungen und steckte sie in einen Verjüngungstank. Man drehte die Uhr ihres Lebens um achtzig
Jahre zurück. Sie erhielten neue Zellen anstatt der verbrauchten, Jugend anstatt Greisentums. Dafür mußten sie all ihre bisherigen Erfahrungen aufgeben. Das Mädchen, das schwache Ähnlichkeit mit Susan besaß, trug einen einfachen weißen Kittel, der ihren Körper kaum verdeckte. Ihre Figur, wenn auch noch schwach entwickelt, war ebenso reizvoll wie ihr Gesicht. Sie sah aus wie ein neugeborenes Kind, das irgendwie den Körper einer Halbwüchsigen erhalten hatte. Und das kam der Wahrheit ziemlich nahe. Betty Rogers – Martin hütete sich, diesen Namen in Bennys Gegenwart auszusprechen – besaß das gleiche Talent, die gleichen Fähigkeiten und die gleiche Intelligenz wie Susan Sonnenberg. Ob sie die gleiche Persönlichkeit erhalten würde, stand offen. Niemand wußte, welchen Anteil Erbanlagen und Umgebung bei der Bildung einer Persönlichkeit hatten. Betty und Susan besaßen die gleichen Erbanlagen, aber eine unterschiedliche Umgebung. Vielleicht war Betty glücklicher als Susan und leistete dafür weniger. Aber es war auch möglich, daß Betty noch mehr als ihre Vorgängerin leistete. »Ich dachte, sie müßte ein Baby sein«, sagte Benny heiser. Martin schüttelte den Kopf. »Das könnten wir natürlich auch bewerkstelligen, aber es ist unnötig und unerwünscht. Wir haben das Werk der Natur verbessert. Ein normales Kind braucht zwanzig Jahre, bis es körperlich und geistig reif ist. Wir bringen diesen jungen Leuten in vier Jahren alles bei, was sie wissen müssen. Mit achtzehn wird sich die Sonnenberg nicht von einer normalen Achtzehnjährigen unterscheiden. Wir beginnen nach der Pubertät, weil die Zeitspanne durchaus reicht und weil wir auf diese Weise eine Menge emotioneller Probleme ausschalten. Es ist beinahe sicher – « Er sprach den Satz nicht zu Ende. Er hatte sich mit Benny wie mit einem Gleichgestellten unterhalten. Die Verwirrung des alten Mannes zeigte ihm, daß er nichts verstanden hatte.
Martin führte ihn zurück. »Vielen Dank, daß Sie gekommen sind, Benny«, sagte er. »Sie haben mir sehr geholfen. Ich brauche nun noch ein paar Leute, die Miss Sonnenberg näher gekannt haben. Wen würden Sie mir vorschlagen?« »Vielleicht Mister Collini«, sagte Benny, stolz, daß er um Rat gefragt wurde. »Er ist Dirigent. Miss Sonnenberg hat oft mit ihm zusammengearbeitet.« »Danke, Benny. Das werde ich tun.« Auf dem Rückweg zum Musikosmos-Gebäude sah man Benny seine Jahre an. Susan Sonnenberg existierte nicht mehr. Das hübsche Geschöpf, halb Kind und halb Frau, das er gesehen hatte, war nicht Susan Sonnenberg und würde nie Susan Sonnenberg sein. Aber, so sonderbar das klang, diese Erkenntnis hatte nichts mit Bennys Niedergeschlagenheit zu tun. Schließlich war Susan Sonnenberg in einem Alter gewesen, wo man täglich mit ihrem Tod rechnen mußte. (Fünf Jahre jünger als er war sie, das wußte er.) Wenn sie tatsächlich gestorben wäre, hätte er auch nichts tun können. Als Benny an diesem Abend in seine Kammer zurückkehrte, nahm er die zweihundertfünfzig Dollar heraus, die ihm Susan gegeben hatte und die er bis dahin nicht angerührt hatte. »Kaufen Sie sich etwas, das Ihnen Freude bereitet!« hatte sie gesagt. »Und das soll Sie dann an mich erinnern.« Er wollte nicht an sie erinnert werden. Es hatte keinen Sinn. Am besten steckte er die Scheine zu dem übrigen Geld und dachte nicht mehr daran, woher es stammte. Er holte einen großen Umschlag hinter dem altmodischen Frisiertisch hervor und öffnete ihn. Zweitausend Dollar. Er wollte und brauchte sie nicht mehr. Als er den Umschlag verschloß und wieder an seinen Platz tat, lag das Geld von Susan immer noch auf dem Tisch.
Susan Sonnenberg lebte nicht mehr. Er wollte das Geld, das sie ihm gegeben hatte, so schnell und gründlich wie möglich loswerden. Er wollte nichts davon behalten, nicht einmal soviel, wie ein Streichholzheft wert war. Sollte er einen Nachtklub besuchen? Er hatte das seit zwanzig Jahren nicht mehr getan. Sein Leben war davon nicht ärmer geworden. Aber wenn man Geld ausgeben wollte, ohne es zu verbrennen… Aus einem Schrank holte er einen billigen, aber gutgeschnittenen Smoking – so gut geschnitten, daß er nicht mehr billig aussah, sobald Benny ihn angezogen hatte. Und Benny wirkte unternehmungslustig darin. Ein Siebziger, der eine kesse Sohle aufs Parkett legt, erweckt mehr Bewunderung als ein Sechziger in einer Hängematte. Man konnte zwar Bennys Alter noch Verhältnismäßig genau schätzen, aber es wirkte durchaus nicht störend, wenn er sich zu zwanzigjährigen Mädchen setzte. Benny wußte das recht gut. Während er sich umzog, pfiff er zufrieden und falsch vor sich hin. Er dachte ohne Bedauern an Susan. Es war leicht, sentimental zu werden, wenn jemand starb oder ins Wiedergeburt-Zentrum ging, aber wenn er ehrlich war, so mußte er zugeben, daß er in den letzten zwanzig Jahren keine echten Freunde besessen hatte. Das war zu gefährlich. Es ging an, daß Frauen sich in ihn verliebten, wenn sie ihn tatsächlich attraktiv fanden. Aber er durfte nicht zulassen, daß sich jemand, sei es Frau oder Mann, mit ihm befreundete. Und Susan hatte freundschaftliche Gefühle für ihn gehegt. Benny ging in ein Restaurant und stellte ein kleines, aber erlesenes Menü zusammen, zu dem er eine Flasche jugoslawischen Riesling trank. Dann suchte er den Blue Moon-Nachtklub auf. Bevor er in die Bar ging, besah er sich eine Zeitlang die Darbietungen. Ein Zauberer mit ein paar erstklassigen elektronischen Tricks
erhielt weit weniger Aufmerksamkeit, als er verdiente. Einige seiner Geräte waren funkgesteuert. Wenn er eine Binde vor die Augen legte, half er sich mit Radar. Und seine Tiere waren raffiniert konstruierte Roboter. Jemand hätte ihm den Rat geben sollen, altmodisch zu sein und ein paar Mädchen zu beschäftigen. Als Benny an die Theke trat, fand er zwei Animierdamen vor – eine in Rosa mit etwas verschwommenen Gesichtszügen, und eine in Rot, die all das besaß, was bei ihrer Kollegin nur angedeutet war. »Hallo«, sagte das Mädchen in Rosa. Benny lächelte sie sehr viel freundlicher an als das Mädchen in Rot. Aber sein Blick drückte doch deutlich aus, wie er sich die Sache vorstellte, und das Mädchen in Rosa seufzte philosophisch. »Das hier ist Marita«, sagte sie. »Wenn du mir einen Drink spendierst, verschwinde ich.« Marita sah man ihr Gewerbe nicht an, so wie man es Jahrtausende hindurch den Spitzenkönnerinnen auf diesem Gebiet nicht angesehen hatte. Ihr Kleid saß zwar hauteng, war aber sonst dezent, und sie selbst machte einen intelligenten Eindruck. Als er am nächsten Tag ins Musikosmos ging, war von Susans Geld nichts außer einem Kater und einer leichten Müdigkeit übriggeblieben.
Jennings legte eine Akte auf Weygands Schreibtisch. »Ich habe diesen Test mit Benny Rice durchgeführt. Möchten Sie das Ergebnis sehen?« »Nur, wenn es besonders interessant ist.« »Kommt darauf an, was Sie interessant nennen.« Jennings war ein großer, ungepflegter Mann, der fast immer müde und gleichgültig dreinsah. Er erinnerte an einen Motor, der auf niedrigen Touren lief. Hin und wieder jedoch riß ihn etwas aus
seiner Lethargie. Dann kam irgendwoher Energie, und er arbeitete mit Volldampf. Seine schlechte Laune hatte vor allem damit zu tun, daß nur wenige Menschen seinen Beruf verstanden oder auch nur zu verstehen versuchten. Sein halbes Leben lang verbrachte er damit, anderen Leuten zu erklären, daß seine Tests nur ein Potential zutage brachten. Wenn jemand den astronomischen Musik-Quotienten von 185 besaß, dann bedeutete das nicht, daß dieser Jemand ein großer Komponist, Musiker oder Dirigent war. Es bedeutete nur, daß er einen Musik-Quotienten von 185 besaß. Wenn die anderen Umstände günstig waren, konnte er vielleicht eine Musiker-Karriere einschlagen. Waren die Umstände hingegen nicht so günstig, landete er vielleicht irgendwo als Busfahrer oder Buchhalter. »Nun, ist er eine musikalische Null?« fragte Weygand. »Eine musikalische Null hätte einen Quotienten von 70 oder 80. Benny liegt bei 42 – das ist schon fast musikalischer Schwachsinn.« Weygand seufzte. »Danke, Jennings.« »Was sollte das Ganze überhaupt?« »Susan Sonnenberg bat mich, ihn testen zu lassen. Vermutlich weibliche Intuition.« Jennings verlor einen Moment lang seinen gequälten Ausdruck, und echte Begeisterung überkam ihn. »Wenn Susan Sonnenberg darum bat, dann weiß ich, was sie meinte. Wiedergeburt. Sie hatte gespürt, daß Benny nicht so dumm ist, wie er aussieht. Und sie behielt recht.« »Sie meinen, er hat Aussichten auf eine Wiedergeburt? Mit diesem Musik-Quotienten?« Wieder legte sich Verbitterung über Jennings’ Züge. »Präsident Fuller hatte einen Musik-Quotienten von 61«, sagte er. »Das hinderte ihn nicht daran, an der Spitze der WFA-Liste zu stehen.« Weygands hochgezogene Augenbrauen verrieten
sanfte Überraschung. »Mein M. Q. ist ebenso hoch wie meine WFA-Skala.« »Und Sie arbeiten in der Verwaltung von Musikosmos.« »Was hat das damit zu tun?« Jennings zuckte müde mit den Schultern. Manchmal fragte er sich, weshalb er immer wieder auf diese Dinge einging. »Soll ich bei Benny einen WFA-Test durchführen?« »Wenn er hohe Intelligenz besäße, wäre das sicher längst entdeckt worden, oder?« »Ja, gewiß.« »Dann vergessen Sie es wieder. Ich habe getan, was Susan von mir verlangte.«
Aber Jennings vergaß es nicht. Als er in sein Büro zurückkehrte, revidierte er insgeheim sein Urteil über Benny. Da man ihm nichts über den Hintergrund der Geschichte verraten hatte, war er automatisch davon ausgegangen, daß jemand Bennys Musikalität prüfen wollte. Nun, damit stand es schlecht – gelinde ausgedrückt. Jennings hatte Susan Sonnenberg in einer Hinsicht besser gekannt als alle anderen: er wußte über ihre Testresultate Bescheid. M. Q. 141 (»Nur 141?« hatte Weygand einmal gefragt. »Das zeigt, was Ihre Tests wert sind, Jennings. Sie ist die größte Pianistin der Welt.« Jennings hatte ihm zu erklären versucht, daß ein M. Q. von 141 oder sogar noch weniger für jemand von Susans Intelligenz und Beharrlichkeit durchaus ausreichte. Man benötigte mehr als ein hohes Potential, um Erfolg zu erringen.), Intelligenz-Quotient 155, technische Fähigkeiten 139, WFA 198. Verdammt, diese Tests waren völlig in Ordnung, wenn man sie nur mit Vernunft auswertete. Die drei Zahlen über Susan sagten eine Menge aus: I. Q. 155, technische Fähigkeiten 139, WFA 198. Offensichtlich besaß
sie eine hohe Intuition. Man konnte die Intuition nicht direkt messen, aber sie machte sich bemerkbar – wie Radium in Pechblende. Wenn 141, 139 und 155 einen Durchschnitt von 198 ergaben, dann witterte Jennings Radium. Auch als Mathematiker und Naturwissenschaftler war er gewillt, Susans Hinweis ernst zu nehmen. Nicht daß ihn Benny als Person interessierte. Ihm ging es nur darum, die Richtigkeit seines Testsystems zu beweisen. Als er wieder in seinem Büro saß, rief er in der Zentrale des Wiedergeburt-Instituts an und fragte nach Bennys WFA-Zahl. Eine Viertelstunde später wurde sie durchgegeben: 31. Als er das sah, hielt er den Atem an. Seine Augen glänzten, und er war wieder ein Motor, der auf Hochtouren lief. Da stimmte etwas nicht. Er mußte es nachprüfen. Die WFA-Zahl 31 war unmöglich. Gewiß, Benny besaß nicht das geringste musikalische Talent. Auch die übrigen Tests hatten ihn nicht gerade als Genie ausgewiesen. Aber die WFAZahl 31 bedeutete, daß jemand schwachsinnig war – daß er die Aufgaben eines Verwalters niemals erfüllen konnte. Irgend etwas war hier merkwürdig. Merkwürdig und erregend. Jennings ließ Benny wieder zu sich bitten. Er kam sofort. »Sie wollten mich sprechen, Mister Jennings?« »Ja. Nehmen Sie Platz, Benny. Vermutlich hat es Sie gewundert, daß Sie heute morgen getestet wurden. Offen gestanden, es war Susan Sonnenbergs Wunsch. Sie sagte nicht, weshalb sie es wollte, aber ich nehme an, daß sie die Überzeugung besaß, Sie hätten eine hohe WFA-Zahl.« »Bestimmt nicht«, wehrte Benny schlicht ab. »Und ich möchte auch nicht wieder in dieses Institut gehen, wenn ich das sagen darf, Mister Jennings.« »Aus reiner Neugier ließ ich mir Ihre WFA-Zahl durchgeben, Benny«, fuhr Jennings fort. »Sie beträgt 31. Und das ist
unmöglich. Sie können mir glauben, diese Zahl stimmt nicht. Erinnern Sie sich noch irgendwie an den Test?« »Kaum. Das ist jetzt siebzig Jahre her.« Jennings sprang auf. »Benny, wenn die Zahl 31 stimmen würde, könnten Sie sich nicht mehr erinnern, daß Sie den Test vor siebzig Jahren mitgemacht haben. Begreifen Sie das?« »Wenn Sie es sagen, Mister Jennings…« »Wissen Sie sonst noch etwas über den Test, der vor siebzig Jahren stattfand? War etwas Besonderes vorgefallen? Waren Sie krank oder sonst etwas?« »Ich weiß nicht mehr, Mister Jennings.« »Würden Sie den Test wiederholen, Benny?« »Nein, Mister Jennings.« Diese direkte Antwort brachte Jennings einen Moment lang aus dem Gleichgewicht. »Aber, Benny, Ihre Einstufung ist falsch. Sie muß es sein. Ich kann Ihnen natürlich nichts versprechen, aber sie muß höher liegen. Um wieviel höher, das weiß ich nicht.« Die oberen zehn Prozent lagen alle über 120. Höchstwahrscheinlich erreichte Benny diese Grenze nicht, und Jennings wollte dem alten Mann keine Hoffnungen machen, auch wenn Susan Sonnenberg viel von ihm gehalten hatte. Aber der Test mußte durchgeführt werden. »Hören Sie, Mister Jennings«, sagte Benny bittend. »Ich habe mein Leben lang gewußt, daß die Wiedergeburt nichts für mich ist. Ich bin dabei alt geworden. Andere Leute freuen sich vielleicht darauf, ich nicht. Ich habe die Tatsache seit so vielen Jahren akzeptiert, daß ich die Wiedergeburt nicht will.« »Aber Sie werden doch nicht dazu gezwungen. Die Wiedergeburt ist freiwillig – außer bei Leuten, deren WFA so hoch ist, daß wir sie nicht entbehren können. Benny, ich möchte doch nur, daß der Irrtum in Ihrer Akte berichtigt wird. Ihre WFA-Zahl kann nicht 31 sein. Sie war es nie. Angenommen, sie liegt bei 70… 100 oder gar 110. Möchten
Sie darüber keine Gewißheit haben? Sie gewinnen dadurch vielleicht größere Selbstachtung.« Benny zuckte mit den Schultern. »Wie Sie meinen, Mister Jennings. Wie Sie meinen.«
Ein paar Stunden später hatte Jennings das Ergebnis. Er starrte es ungläubig an. WFA-Zahl: 30. Er wußte nicht, was er Benny sagen sollte. Jetzt, da er es schwarz auf weiß sah, jetzt, da kein Zweifel mehr möglich war, drängten sich die Erklärungen von selbst auf. So wie Susan Sonnenbergs Gesamt-WFA größer war als der Durchschnitt der übrigen Zahlen, so konnte er bei Benny kleiner sein. I. Q. 98, M. Q. 42, technische Fähigkeiten 116, mathematische Fähigkeiten 126 – unglaublich hoch für einen Verwalter. Selbsteinschätzung 41 – das war viel zu niedrig. Gedächtnis 110. Nichts auf der Karte war niedriger als 41, und die mathematischen Fähigkeiten stiegen sogar bis auf 126, aber die WFA-Zahl lautete 30. Kriminelle, neurotische oder antisoziale Tendenzen hätten die Zahl beträchtlich senken können, aber Bennys Sozialverhalten war neutral. Da Jennings nicht wußte, was er zu Benny sagen sollte, ging er ihm aus dem Weg. Er schrieb lediglich eine Notiz, daß das neue Testergebnis das alte bestätigt habe. Dann versuchte er, was Weygand ihm geraten hatte – Benny zu vergessen.
Bennys Einzimmerwohnung war zwanzig Minuten vom Musikosmos-Gebäude entfernt. Als er sich auf dem Heimweg befand, überlegte er kühl und ruhig, ob er seine Stelle bei
Musikosmos aufgeben sollte. Ohne Hast wog er das Für und Wider der Entscheidung ab. Einerseits, wenn die Leute ihm erst einmal nachzuschnüffeln begannen, ließen sie sicher nicht locker, bis sie zuviel entdeckt hatten. Andererseits, wenn er sich einmal stellte und die Sache über sich ergehen ließ, dann ließ die Neugier der anderen vielleicht von selbst nach, und er war so sicher wie nie zuvor. Selten machten, sich die Menschen die Mühe, eine Untersuchung zu wiederholen. Halt, das wußte er nicht – bisher hatte er immer die Flucht ergriffen, wenn ihm der Boden unter den Füßen zu heiß geworden war. Eben als er zu dem Entschluß kam, diesmal so lange wie möglich auszuharren, merkte er, daß er verfolgt wurde. Sein Schritt blieb gleichmäßig. Wer konnte ihn verfolgen? Nur jemand, der nicht allzuviel über ihn wußte. Jemand, der ihn kannte, würde wissen, daß er wie jeden Tag vom Musikosmos heimging und daß es unsinnig war, ihm jetzt nachzuspüren. Vielleicht hatte er mit diesem WFA-Test einen Fehler begangen. Weshalb hatten sie ihn überhaupt getestet? Er war der Meinung gewesen, daß es irgend etwas mit Susan Sonnenberg zu tun hatte, daß sie den Test arrangiert hatte, um ihm einen Gefallen zu erweisen. Aber wenn das stimmte, weshalb wurde er dann verfolgt? Susan befand sich im Wiedergeburt-Zentrum und hatte keine Ahnung mehr von Benny Rice. Benny marschierte an dem Zeitungsstand vorbei, wo er gewöhnlich das Abendblatt kaufte, und kehrte dann plötzlich um, als habe er sich jetzt erst an die Zeitung erinnert. So hatte er Gelegenheit, seinen Verfolger genau zu sehen. Der Mann war zwischen dreißig und vierzig und das unauffälligste Wesen, das Benny je gesehen hatte. Selbst als Benny ihn genau musterte, konnte er kein charakteristisches Merkmal erkennen, das ihm später bei einer Identifizierung helfen würde.
Außerdem erwiderte er Bennys Blick so gleichgültig, daß der alte Mann einen Moment lang glaubte, er habe sich getäuscht. Aber er hatte sich nicht getäuscht. Dieser Mann war ein Meister seines Handwerks. Er war so gut, daß Benny den Verdacht nicht loswurde, jemand habe ihm einen Köder hingeworfen. Was machst du, wenn ich dich verfolge? schien der Fremde zu fragen. Benny traf seine Entscheidung blitzschnell. Er mußte sein Zimmer erreichen, denn dort befand sich sein Geld, das Geld, das er für die Flucht benötigte. Aber der Detektiv würde nicht vermuten, daß er das Zimmer sofort wieder verließ. Vergeben war die Möglichkeit, die Sache auszufechten. Wenn man von Spitzen-Detektiven verfolgt wurde, konnte man sich nicht mehr auf die Maske eines einfältigen Verwalters verlassen, der eine WFA-Zahl von 30 hatte. Wenn man von SpitzenDetektiven verfolgt wurde, war man kein einfältiger Verwalter und würde auch niemanden davon überzeugen können. Es spielte keine Rolle, wer den Mann beschäftigte und aus welchen Gründen; wenn es erst einmal soweit war, hieß es die Zelte abbrechen. Der Detektiv war nicht von der Polizei, denn die Polizei bespitzelte Verdächtige mit Hilfe des TTV. Seine beste Chance war es, weit, weit wegzugehen, bevor die Polizei sich für ihn interessierte. Er war wieder auf der Flucht.
Als Benny Rice am nächsten Morgen nicht im Musikosmos erschien, fiel das niemandem auf. Ganz bestimmt wurde seine Abwesenheit nicht bei Weygand oder Jennings gemeldet. Erst als eine Frau bei dem dümmlichen Portier nach Benny fragte, kam der Stein ins Rollen. Der Mann kombinierte die Ereignisse der vergangenen Tage und rief Mister Jennings von der Test-Abteilung an.
»Da erkundigt sich eine Dame nach Benny, Mister Jennings«, sagte er. »Er war doch in letzter Zeit häufig bei Ihnen. Wissen Sie vielleicht – « »Was soll das heißen? Ist Benny nicht an seinem Arbeitsplatz?« »Nein. Er hat sich den ganzen Vormittag nicht gezeigt. Ich dachte, Sie – « »Was ist das für eine Dame? Alt?« »Nein, jung.« Der Portier, der über die Blüte seiner Jahre hinaus war, ließ es dabei bewenden. »Sie soll zu mir kommen.« Zu seiner Überraschung sah sich Jennings einer etwa Fünfundzwanzigjährigen gegenüber, die Mannequin oder etwas Ähnliches zu sein schien. Sie stellte sich als Marita Herbert vor. »Ich möchte Sie nicht belästigen, Mister Jennings«, sagte sie. »Aber ich muß Benny Rice finden.« »Weshalb?« Ihr Lächeln verschwand nicht, aber es wurde ein wenig kühler. »Offen gesagt, Mister Jennings, das halte ich für meine Privatangelegenheit.« Jennings zuckte mit den Schultern. »Wenn ich Ihnen bei der Suche nach Benny helfen soll, müssen Sie mir schon mehr verraten. Ich habe nicht das geringste Interesse an Ihren Privatangelegenheiten, Miss Herbert, aber Benny Rice brauche ich noch.« »Noch?« »Weshalb suchen Sie Benny?« Sie machte eine verlegene, beinahe verärgerte Handbewegung. »Ich lernte ihn gestern kennen. Er ist dreimal so alt wie ich, aber er hat mich erregt. Ich möchte ihn wiedersehen. Ich muß ihn wiedersehen. Ich habe ihm sogar einen Detektiv auf die Fersen gehetzt.« Jennings schluckte. »Sie lieben ihn?« fragte er ungläubig.
»Das eigentlich nicht. Aber kann ich ihn denn nicht wiedersehen, ohne ihn zu lieben?« »Sie sagen, daß Sie einen Detektiv engagiert hätten. Wußten Sie denn nicht, wo er wohnt?« »Ich kannte nur seinen Namen. Der Detektiv, den ich anstellte, brachte heraus, daß er hier arbeitet. Als Verwalter, heißt es, aber das kann nicht stimmen.« »Weshalb nicht, Miss Herbert?« »Nun, kürzlich warf er mit dem Geld nur so um sich.« »Vielleicht hatte er auf das richtige Pferd gesetzt.« »Vielleicht, aber – nun, er ist sehr nett. Verständnisvoll. Klug, aber nicht so klug wie diese Professoren. Gebildet. Und er hat Geschmack.« Verblüfft sagte Jennings: »Viele solcher Leute sind Verwalter.« »Machen Sie Witze? Glauben Sie, ich erkenne Klasse nicht, wenn ich sie sehe? Hören Sie, Mister Jennings, ich möchte Benny Rice wiedersehen, weil – also, er brachte mir in ein paar Stunden eine neue Haltung bei. Er gab mir meine Selbstachtung zurück, verstehen Sie? Ich brauche ihn, so wie andere Leute eine Kirche brauchen. Können Sie sich überhaupt vorstellen, wovon ich rede?« Jennings dachte an Bennys WFA-Einstufung: 30. Er hatte zu früh aufgegeben. Natürlich war diese Zahl unglaublich, so wie er es Benny vor dem Test gesagt hatte. Er wollte nachdenken. »Lassen Sie mir Ihren Namen und Ihre Adresse hier, Miss Herbert. Wir geben Ihnen Bescheid, sobald wir mehr in Erfahrung gebracht haben. Jemand wird Benny aufsuchen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Die Mühe können Sie sich sparen. Er ist nicht da. Offenbar weiß ich mehr über ihn als Sie.« »Was wissen Sie denn, Miss Herbert?«
»Das habe ich Ihnen bereits gesagt. Er ist nicht in seiner Wohnung. Silver, der Detektiv, den ich anstellte, rief mich gestern abend an. Er sagte, er habe Benny bis zu seiner Wohnung verfolgt. Offenbar machte sich Benny während dieses Telefongesprächs aus dem Staub. Und seitdem hat ihn niemand mehr gesehen. Mein kluger Detektiv meint, er hätte ein paar Spuren, aber darauf verlasse ich mich nicht.« Als sie fort war, leuchteten Jennings’ Augen wieder. Irgendwie hatte Benny diesen WFA-Test gefälscht. Es gab keine andere Möglichkeit, denn der Benny, den Jennings kannte, hatte wenig oder gar keine Ähnlichkeit mit dem Benny, den Marita Herbert kennengelernt hatte. In einer Hinsicht hatte Benny etwas Außergewöhnliches geleistet – jeder normale Versuch, ein Testergebnis zu fälschen, würde sich unweigerlich bemerkbar machen. In anderer Hinsicht war er überraschend einfältig gewesen. Wie konnte jemand, der die Fähigkeit besaß, einen geübten Tester aufs Kreuz zu legen, sich die WFA-Einstufung 30 geben? Hätte Benny sich nur verstecken wollen, dann wäre 90 oder vielleicht 100 das Richtige gewesen. Am unauffälligsten war immer noch der Durchschnitt. Statt dessen hatte er zweimal eine Einstufung erzielt, die Mißtrauen erwecken mußte. Benny hatte sich in Jennings’ Gegenwart nie so intelligent gezeigt wie augenscheinlich bei Marita Herbert oder auch Susan Sonnenberg. Aber die WFA-Zahl 30 hätte ihm niemand abgenommen. Weshalb gab sich jemand als Schwachkopf aus, wenn er keiner war? Jennings wußte darauf nur eine Antwort. Bei der Polizei war man höflich, aber unbeeindruckt. Allerdings suchte Sergeant Basch Jennings auf. Er war ein eifriger junger Mann, der nicht so aussah, als wollte er lange Sergeant bleiben. »Soviel ich höre, ist dieser Rice verschwunden?« sagte Basch. »Er machte sich gestern wie immer auf den Heimweg, blieb aber nicht länger als fünf
Minuten in seiner Wohnung. Seitdem hat man ihn nicht mehr gesehen.« »Ich verstehe nicht ganz, wie Sie das mit den Tests meinen, Mister Jennings. Weshalb sind Sie überzeugt davon, daß Rice sie gefälscht hat?« »Wie bei allen Persönlichkeitstests müssen wir die empirische Methode anwenden«, sagte Jennings. »Die Daten werden ständig überprüft und mit anderen Ergebnissen verglichen. Dadurch ergibt sich eine ständige Verbesserung der Tests. Wir sind bereits so weit, daß wir den Test sozusagen umkehren können. Anstelle zu sagen: ›Dieser Mann hat die WFA-Zahl X und muß sich deshalb so oder so verhalten‹ sagen wir: ›Dieser Mann verhält sich so oder so und muß deshalb die WFA-Zahl X haben.‹ Dieser Benny Rice hat nun Musikosmos nicht gerade geleitet, aber seine Tätigkeit erfordert doch eine WFA-Zahl von etwa 80.« »Und die Tests haben 30 ergeben.« »Ja.« »Und das heißt?« »Und das heißt, daß an dem Test etwas faul ist. Ich meine, nicht an dem Test selbst oder an der Ausführung, sondern an der Art, wie Benny ihn ablegte.« »Ich verstehe. Nun vermuten Sie also – « »Daß er bestimmte Gründe hatte, um seine wahre Persönlichkeit zu verbergen. Ganz offensichtlich hat er ein Verbrechen begangen.« Basch schüttelte den Kopf. »Es gibt keine ungelösten Verbrechen, Mister Jennings. Das wissen Sie. Wenn hier irgendwo Verbrecher herumlaufen, dann erfahren wir es.« Sein Gesichtsausdruck wurde entschlossen. »Mit der Einführung des TTV haben die Verbrechen schlagartig aufgehört. Nicht natürlich die Verbrechen aus Leidenschaft, die
Affekthandlungen. Aber die Verbrechen aus Gewinnsucht. Es gibt einfach keinen Gewinn mehr.« »Sie übersehen eine wichtige Tatsache, Sergeant. Benny ist über hundert Jahre alt. Und wenn er den gestrigen Test fälschte, so fälschte er auch den vor siebzig Jahren!« »Ich bin nur ein harmloser Polizist. Ich verstehe Sie immer noch nicht.« »Wenn Benny sich bereits vor siebzig Jahren tarnte, dann geschah das Verbrechen – falls es eines war – vor jener Zeit.« Basch schnippte mit den Fingern. »Natürlich. Sie meinen, damals hatten wir noch kein TTV.« »Zumindest hatte man der Menschheit noch nicht eingebleut, daß sich Verbrechen nicht auszahlen.« Basch grinste jungenhaft. »Wenn der alte Knabe mit seinem Versteckspiel mehr als siebzig Jahre Erfolg hatte, dann gratuliere ich ihm.« »Darum geht es nicht. Möchten Sie nicht die Wahrheit herausfinden? Ich schon. Ich kann nicht begreifen, wie Benny diese Tests fälschte.« »Hören Sie, wenn ich aus irgendeinem Grund niedrig eingestuft werden möchte, dann beantworte ich Ihre Testfragen falsch.« »Unmöglich. Es handelt sich nicht um einen Fragebogen, bei dem Sie Ja oder Nein ankreuzen. Die Fragen sind ineinander verzahnt, und ich muß bei der Auswertung oft mehrere Antworten zusammenfassen. Inkonsequenzen bleiben nicht unentdeckt. Ich würde eine bewußte Fälschung des Tests sofort erkennen.« »Aber Sie sagten eben – « »Es gibt Ausnahmen. Ich beispielsweise könnte die Ergebnisse fälschen, weil ich die Tests und die richtigen Antworten kenne.« »Ist das möglich?«
»Ja, denn man prägt sich nicht so sehr die vielen bedeutungslosen Einzelantworten ein, sondern das Schema. Man kennt die Beziehungen, die ein Mensch mit normaler Intelligenz durchschaut, und andere, die er nicht mehr erfaßt. Man weiß, wann man richtig antworten muß, wann man eine Lücke lassen und wann man ein falsches Ergebnis niederschreiben muß.« »Aber dazu benötigt man sehr viel Verstand, nicht wahr?« »Ja.« In seinem Blick lag etwas Bedeutsames. Basch griff sich an die Stirn. »Sie wollen sagen, daß dieser Rice eigentlich ins Wiedergeburt-Zentrum gehört und daß er sich diese Chance verscherzt, wenn er den Schwachsinnigen spielt?« »Ganz recht.« Basch wurde ernst. »Wenn Sie recht haben – wenn er tatsächlich ein Verbrechen beging –, dann muß es schwerwiegend gewesen sein. Zumindest Mord. Nun, das werden wir bald herausfinden.« »Wie?« »Indem wir die Vergangenheit von Rice überprüfen. Wenn irgendwo in seiner näheren Umgebung ein Todesfall verzeichnet ist, müssen wir uns vergewissern, ob es sich tatsächlich um einen natürlichen Tod gehandelt hat.« »Läßt sich das heute noch feststellen?« »Gewiß.« »Und wie?« »Durch die verschiedensten Dinge. Angenommen, Sie erschießen mich hier und jetzt. Das Glas, Metall, Holz und Kunststoffmaterial im Zimmer würde eine Erschütterung erfahren und den Schuß für immer in der Molekularstruktur registrieren. Noch nach zehn Jahren ließe sich erkennen, daß ein Schuß abgefeuert wurde. Dann würde sich Pulverdampf absetzen. Selbst wenn man den Raum nach dem Mord
gründlich reinigt, bildet sich eine dünne Gasschicht. Eine genaue Untersuchung könnte sie ans Tageslicht bringen. Könnte wohlgemerkt – schwören möchte ich nicht darauf. Oder wenn ich zu Boden stürze, dann wird dieser Fall aufgezeichnet… Natürlich, für jedes brauchbare Indiz müssen wir hundert unbrauchbare in Kauf nehmen, von anderen Ereignissen, anderen Auseinandersetzungen…« »Sie meinen, sobald Sie einmal einen Grund haben, einen Raum gründlich zu untersuchen, entdecken Sie alles, was darin vorgefallen ist?« »So etwa. Ohne Interpretation geht es natürlich nicht.« »Und Sie wollen Bennys Vergangenheit unter die Lupe nehmen?« »Deshalb haben Sie mich doch hergeholt, oder?« Jennings schwankte. Eigentlich hatte er nichts gegen Old Benny. Und diese Untersuchungsmethoden, mit deren Hilfe man die Bewegungen von längst Verstorbenen feststellen konnte…
Marita stieg langsam die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. Sie fragte sich, ob sie richtig handelte. Seit dem Abend, an dem sie Benny getroffen hatte, war sie nicht mehr im Blue Moon gewesen. Aber wem nützte sie damit? Wenn man als Callgirl mäßigen Erfolg hatte, war es leicht, auf den Weg der Tugend zurückzukehren. Aber wenn man damit mehr verdiente als in den meisten anderen Berufen, dann fiel die Entscheidung schon schwerer. An der Tür steckte eine Notiz von Mrs. Gersteiner: Ein Mann, der sich J. S. nannte, hat zweimal angerufen! J. S. war John Silver, der Detektiv, den sie angestellt hatte, um Benny ausfindig zu machen. Vielleicht wußte er etwas. Aber sie war sich nicht mehr im klaren darüber, ob sie Benny Rice finden wollte. An dem Mann war etwas Sonderbares. Sie ging ins Bad und drehte den
Wasserhahn auf. Als sie sich auszog, widerstand sie nur mühsam dem Impuls, Silver doch anzurufen. Sie setzte sich in die Badewanne und seifte sich gründlich ein. Und plötzlich merkte sie, daß sie sich sauberer als seit Jahren fühlte. Als ihr wieder zu Bewußtsein kam, was Benny ihr bedeutete, sprang sie aus der Wanne und schüttelte das Wasser ab wie ein nasser Pudel. Ihre Hand rutschte vom Hörer, weil sie noch naß und seifig war, aber irgendwie gelang es ihr doch, Silvers Nummer zu wählen. »Miss Herbert? Ich habe ein paar Neuigkeiten für Sie. Ich komme auf einen Sprung bei Ihnen vorbei.« »Können Sie mir nicht am Telefon sagen, worum es geht?« »Kommt darauf an. Wäre es Ihnen lieber?« Sie zögerte. »Nein.« Dann legte sie auf, duschte und trocknete sich ab. Als es klingelte, hatte sie noch nicht einmal mit dem Anziehen begonnen. Silver legte ein unheimliches Tempo vor. Sie streifte ein Kleid über. Silver kam herein und musterte sie. »Nicht schlecht«, sagte er. »Nun, was wissen Sie?« entgegnete Marita knapp. Silvers Blicke tasteten sie ab, aber er faßte sich kurz. »Rice war fest zur Flucht entschlossen, als er seine Wohnung betrat. Das wurde nachträglich offenkundig. Wenn er mich oder einen anderen Verfolger abschütteln wollte, mußte er rasch handeln. Und so folgerte ich, daß er unmittelbar zum Flugplatz ging und die erstbeste Maschine nahm.« »So primitiv ist Benny nicht.« »Wirklich nicht? Lady, manchmal stolpert man gerade über die Feinheiten. Die einzige Antwort auf das TTV ist sofortiges Verschwinden.« »Die Polizei hat mit dem Fall überhaupt nichts zu tun.«
»Nein? Freund Rice scheint es aber angenommen zu haben. Wäre er sonst wie eine aufgescheuchte Katze geflohen?« »Und worin besteht nun Ihre Neuigkeit?« fragte Marita. »Oh. Er nahm tatsächlich die erstbeste Maschine. Florida mit Zwischenlandung in Washington. Ich dachte mir, daß er in Washington das Flugzeug wechseln würde, und ließ einen Mann Nachforschungen anstellen. Rice hat das Flugzeug gewechselt. Und raten Sie, wohin er flog? Nach Florida!« »Wie?« »Oh, er ist klug. Wenn man unterwegs nach Florida ist und die Maschine verläßt, denkt jeder, man habe sich für ein anderes Ziel entschlossen. Nur wenn man direkt verfolgt wird, ist dieser Schachzug schlecht.« »Benny Rice ist also in Florida?« »Er wohnt außerhalb von Miami. Ich weiß wo, aber ich ließ ihn nicht überwachen.« »Weshalb nicht?« »Er wird dortbleiben. Wenn ihn jemand bis Florida verfolgt hätte, wäre er jetzt nicht mehr in Freiheit. Und da er nicht verfolgt wird, hat er nicht den geringsten Anlaß, weiterzufliehen.« Silvers aggressive Selbstsicherheit verärgerte Marita. Er redete und handelte, als habe er eine Privatleitung zum lieben Gott. Dennoch, sie konnte ihre Frage nicht zurückhalten. »Wie soll ich das verstehen?« »Die Polizei überprüft zuerst die Verkehrsmittel. Flugplätze, Häfen, Bus- und Bahnlinien. Jemand, der sich auf der Flucht befindet, wird unweigerlich geschnappt. Die einzige Möglichkeit ist, daß man sich in einer Höhle verkriecht.« »Angenommen, Benny Rice denkt einen Schritt weiter als Sie?« »Dann ist er nicht in Miami. Sagen Sie, Lady, was finden Sie an diesem Greis?«
Er war näher getreten, als wollte er seine Worte unterstreichen. Plötzlich lagen seine Hände auf ihren Hüften. Sie hatte nicht gesehen, daß er sie bewegte. Marita wehrte ihn ungeduldig ab, aber er ließ nicht los. »Verschwinden Sie«, sagte sie ruhig. »Entweder Sie benehmen sich, oder Sie gehen.« »Mich können Sie nicht täuschen, Lady. Glauben Sie, ich ziehe keine Erkundigungen über meine Klienten ein?« »Ich habe Ihnen einen Auftrag gegeben. Ansonsten sind Sie tot für mich.« »Ich könnte lebendig werden.« Marita machte sich frei und holte mit einer raschen Handbewegung eine Pistole aus der Schublade. »Hinaus«, sagte sie. Sie hatte weder Furcht noch Verachtung gezeigt. Silver grinste immer noch. »Sie schulden mir eine Menge Geld. Ich könnte Ihnen die Summe erlassen.« »Ich zahle lieber.« Sein Grinsen erlosch. »Schön. Aber was stimmt mit mir nicht? Verliere ich meinen unwiderstehlichen Charme?« »Ich weiß nicht. Ich habe noch nichts dergleichen an Ihnen entdeckt.« In seinen Augen zeigte sich Überraschung und Unglauben. »Sie lieben tatsächlich diesen Greis«, sagte er leise. »Wer hätte das gedacht?« »Wie lautet seine Adresse?« fragte Marita. Marita winkte wieder und watete durch die Brandung auf ihn zu. Ihr silberner Badeanzug glänzte in der Nachmittagssonne. Benny beobachtete sie mit der freundlichen Versonnenheit des Alters. Er war kein stürmischer Liebhaber mehr. Er fand Vergnügen an ihrem ebenmäßigen Körper; aber das hätte er auch getan, wenn sie mit einem Mann hierhergekommen wäre.
Wasser glitzerte auf ihrer goldenen Haut, als sie sich neben ihm in den Sand warf. »Warum schwimmst du nicht, Benny?« »Ich glaube, daß ich beobachtet werde«, murmelte er. Sie nahm seine Hände und hielt sie fest, als könnte sie durch ihre Entschlossenheit die ganze Welt abwehren. »Sie werden uns niemals finden«, sagte sie. »Im Gegenteil«, erklärte Benny sanft, »sie finden uns ganz sicher, wenn du bei mir bleibst, Marita. Wenn du mir wirklich helfen willst, dann laß mich bitte allein.« »Nein. Niemals.« Benny seufzte. Wenn er nicht so überzeugt von seiner Niederlage gewesen wäre, hätte er vielleicht etwas unternommen. Man konnte eine Frau jederzeit loswerden – oder? »Marita«, sagte er vorsichtig, »du weißt, daß ich dich nicht liebe.« »Nein«, entgegnete sie bitter. »Du bist der einzige Mann, der mir je etwas bedeutet hat. Das konnte natürlich nicht glattgehen.« »Du bist zu jung für diesen Zynismus, Marita. Ich halte mehr von der Welt, obwohl ich viermal so alt bin wie du.« »Benny, warum sagst du mir nicht, was los ist? Kann ich dir helfen? Kann ich irgend etwas tun?« »Ja. Du kannst heimfliegen. Dann habe ich vielleicht eine Chance.« »Warum mußt du so reden? Wie kann ich dir denn schaden?« »Dein Detektiv wußte, daß ich in Miami war. Wenn die Polizei nach mir sucht, wird sie ihn verhören. Sie wird herausbringen, daß du nach Miami gezogen bist. Sie wird dich aufspüren und damit auch mich.« »Aber wir haben Miami doch verlassen.« »Ja. Dennoch sind wir noch so nahe, daß sie uns finden werden, wenn sie ihre Suche in Miami beginnen. Und wenn
wir ein Flugzeug, ein Schiff oder einen Zug nehmen, finden sie uns ebenfalls.« »Benny, was hast du getan? Was droht dir, wenn man dich gefangennimmt?« »Der Tod«, sagte er ruhig. Sie hielt den Atem an. Sie wollte weinen, aber es war so lange her, seit sie zum letztenmal geweint hatte. Sie konnte es nicht. »Ich hänge immer noch am Leben«, sagte er. »Ich bin alt, aber ich bin gesund. Wenn sie mich in Ruhe gelassen hätten, wäre ich vielleicht noch zwanzig Jahre hier auf der Erde geblieben. Oder dreißig. Aber wahrscheinlich spüre ich doch mein Alter, sonst würde ich kämpfen. Ich würde dich fortschicken und mich anderswo verkriechen.« »Das darfst du nicht tun«, sagte sie scharf. »Versprich mir, daß du es nicht tust.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nichts versprechen, Marita. Ich müßte weiterkämpfen – und sobald ich wieder Mut gefaßt habe, werde ich es auch tun. Noch kann ich sie schlagen – « Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Marita schrie auf, und in den Schrei sagte eine Stimme: »Benjamin Rice, ich beschuldige Sie des Mordes an Ralph Charles Coleman.« Benny sah lächelnd auf.
»Mister Rice, mit dieser Haltung kommen wir nicht weiter«, sagte der Anwalt kühl. »Ich habe den Auftrag erhalten, Sie zu verteidigen. Ich werde das aus besten Kräften tun, auch wenn Sie mich ständig beleidigen.« »Das kann ich mir vorstellen«, sagte Benny. »Sie akzeptieren ja auch die Ersparnisse einer Prostituierten für Ihre Arbeit.« Kensei atmete tief ein. »In Anbetracht dessen, was Miss Herbert für Sie tut, ist diese Bemerkung eine Niedertracht.« »Aber sie entspricht der Wahrheit.«
Kensei schluckte. »Rice, können Sie nicht erkennen, daß dieses Mädchen – Sie liebt?« Er hatte es ausgesprochen, aber nun war sein Gesicht rot vor Verlegenheit. »Offensichtlich darf ich das nicht vergessen«, entgegnete Benny. Er kämpfte jetzt. Es war zu spät zur Flucht; er hatte nichts mehr außer seinen Fäusten. Zuerst mußte er versuchen, diesen Mann loszuwerden. »Marita Herbert ist eine der prächtigsten Frauen, die ich kenne«, sagte Kensei. »Ich begreife nicht, wie sie ihr Herz an einen Mann wie Sie verlieren konnte. Aber ich will ihre Gefühle akzeptieren und annehmen, daß ein guter Kern in Ihnen steckt.« »Wie großmütig von Ihnen, Kensei«, sagte Benny. »Ich brauche Sie aber nicht. Ich will meine Schuld eingestehen.« »Das ist Ihre Sache.« »Warum verschwinden Sie dann nicht?« »Ich werde mein möglichstes für Sie tun, weil mich Marita Herbert darum gebeten hat. Innerlich hoffe ich, daß Sie in die Gaskammer kommen. Das wird mich jedoch nicht davon abhalten, Ihnen zu helfen.« Es hielt ihn nicht ab. Benny schwieg. Er mußte sich etwas Neues einfallen lassen. So klappte die Sache nicht. Marita hatte Kensei gewonnen, zumindest für sich. »Da Sie mich schon einmal dazu gezwungen haben, offen zu reden«, fuhr der Anwalt fort, und seine Wangen färbten sich noch dunkler, »möchte ich eines hinzufügen: Der Mord, den Sie vor zwanzig Jahren an Ralph Charles Coleman begingen – und ich zweifle nicht an Ihrer Tat – , war so gemein, daß ich lieber die Anklage vertreten würde. Für lumpige dreitausend Dollar haben Sie eine der bedeutendsten Stimmen des Jahrhunderts zum Schweigen gebracht.« »Er war ein langweiliges altes Ekel«, meinte Benny nachdenklich.
»Die größte Kapazität über Malaria, die es auf der Erde je gab… der Mann, der mehr Menschenleben als jeder andere rettete…« »Man wird mich nie überführen, und das wissen Sie«, sagte Benny. »Im Gegenteil, die Chancen, daß man Sie überführt, sind groß. Obwohl die Polizei damals annahm, daß er Selbstmord begangen hatte, ergab eine neuerliche Untersuchung des Raumes, daß er stürzte, still dalag und dann erst erschossen wurde. Daran besteht kein Zweifel, und Sie können die Sache nicht erklären.« »Weshalb sollte ich sie erklären?« »Weil man Sie schuldig sprechen wird, wenn Sie es nicht tun. Wie kann ein Mensch Selbstmord begehen, wenn er zuerst fällt und dann erschossen wird?« Benny zuckte mit den Schultern. »Er stand auf, erschoß sich und fiel wieder hin.« »Nein. Das Beweismaterial in Colemans Arbeitszimmer – der Raum blieb übrigens bis heute unbenutzt – ist eindeutig. Coleman fiel nur einmal. Und danach wurde er erschossen. Er wurde erschossen, als er am Boden lag. Das hätte er nicht selbst tun können.« Nein, dachte Benny, das hätte er nicht tun können. Er hat es nicht getan. Ich habe es getan. Komisch, auf diese eine Tatsache versteifen sie sich, und ein Dutzend anderer merkwürdiger Umstände beachten sie überhaupt nicht. So großartig konnten die vielgelobten Polizeimethoden nicht sein. Man hatte nun zwanzig Jahre lang eine Lüge geglaubt. Jetzt servierte er ihnen die nächste Lüge. Vielleicht entdeckten sie nach weiteren zwanzig Jahren endlich die Wahrheit.
Der Gefängniswärter war an der Tür. »Miss Herbert möchte Sie sprechen, Rice.« »Sie können gehen«, sagte Benny zum Anwalt. Er brachte es nicht fertig, Marita zu quälen, und wenn Kensei das Gespräch mitanhörte, durchschaute er vielleicht sein Spiel. »Sie möchte, daß ich bleibe.« Marita kam herein wie ein Sonnenstrahl. Wieder brach ein Schutzwall in Benny zusammen. Warum gab er nicht nach? Er konnte Kensei ohnehin nicht loswerden. Benny hielt Maritas Hände fest und lächelte. Kensei schluckte, als er die plötzliche Veränderung an ihm bemerkte. »Dreiviertel der Presse steht auf unserer Seite«, sagte Marita eifrig. »Die Reporter schreiben, daß du alt und völlig harmlos seist. Sie berufen sich außerdem darauf, daß du in den letzten zwanzig Jahren kein Verbrechen mehr begangen hast. Sie schreiben – Benny, ich kann es einfach nicht glauben. Du hast doch niemanden getötet. Du brächtest so etwas nicht fertig.« »Aber ich habe es getan«, sagte Benny sanft. »Marita, ich bin froh, daß du hier bist. Ich wollte Kensei dazu bewegen, den Fall aufzugeben. Aber er bleibt stur. Ich muß mir etwas anderes überlegen. Marita, du willst doch alles, was ich will?« »Ja.« »Ich will sterben.« »Nein!« flüsterte Marita, während Kensei entgeistert den alten Leoparden anstarrte, der plötzlich die Flecken gewechselt hatte. Er ging sanft und freundlich mit Marita um. »Das kannst du nicht wollen«, fuhr Marita bittend fort. »Du liebst das Leben. Du liebst es immer noch.« »Ja«, gab Benny zu, »wenn ich es auf meine Weise leben darf – in Freiheit. Marita, du weißt, daß man mich nicht freisprechen wird. Als die Polizei sich erst einmal um die Vergangenheit von Benny Rice kümmerte, war ich erledigt.
Sie verfolgten mein Leben zurück bis in die Zeit, als ich bei Coleman arbeitete, und natürlich nahmen sie dabei seinen Selbstmord noch einmal unter die Lupe. Vor zwanzig Jahren schrieb Coleman Briefe und führte Telefongespräche, die alle Leute von seinen Selbstmordabsichten überzeugten. Und ich konnte die Untersuchungen so steuern, daß die Beamten zu den von mir beabsichtigten Ergebnissen kamen. Aber was soll man tun, wenn die Polizei nach zwanzig Jahren die verdammten Vibrationen in Holz, Metall und Glas des Arbeitszimmers überprüft und die Tat rekonstruiert?« »Nicht die ganze Tat«, sagte Kensei. Sein Tonfall ließ Marita aufhorchen, und Benny starrte ihn plötzlich mißtrauisch an. »Wenn Sie mir nicht immer den skrupellosen Verbrecher vorgespielt hätten, wäre ich längst dahintergekommen«, sagte der Anwalt. »Sie sind natürlich Coleman.« Benny hatte es kommen sehen und beschloß, nicht zu leugnen. »Ja. Verstehen Sie jetzt, weshalb ich sterben möchte? Ich bin Coleman. Ein berühmter Mann, wie Sie selbst gesagt haben, Kensei. Aber Mord bleibt Mord, ob nun ein nutzloser alter Mann wie Benny Rice Coleman umbringt oder umgekehrt. Es ist das gleiche Verbrechen – vorsätzliche Tötung. Ich habe zwanzig Jahre als Benny Rice gelebt, und ich würde alles tun, um weitere zwanzig Jahre zu leben. Aber wenn ich sterben soll, oder, was noch schlimmer wäre, lebenslänglich ins Gefängnis komme, dann möchte ich lieber Benny Rice bleiben.« Marita runzelte die Stirn. »Mir ist es gleichgültig, wer du bist. Ich habe dich als Benny Rice kennengelernt. Wenn du einen anderen Namen trägst, so hat das nichts zu bedeuten.« »Ich weiß, Marita. Aber für mich bedeutet es doch etwas. Kensei, werden Sie mir zur Todesstrafe verhelfen, wenn Sie wissen, daß ich es so will?«
»Lieber würde ich Sie ins Wiedergeburt-Zentrum schicken«, sagte Kensei ruhig. Marita zuckte zusammen. Benny lachte. »Nein, vielen Dank. Um mich ins Wiedergeburt-Zentrum zu schicken, müßten Sie zuerst beweisen, daß ich vor zwanzig Jahren keinen Mord beging. Dann müßten Sie beweisen, daß ich Coleman und nicht Rice bin. Dann müßten Sie…« »Einen Augenblick«, unterbrach ihn Kensei scharf. »Mir ist eben etwas eingefallen. Wenn wir beweisen können, daß Sie Coleman und nicht Rice sind, dann entfällt das Mordmotiv. Sie haben Rice nicht wegen Ihrer eigenen dreitausend Dollar getötet – ein winziger Bruchteil Ihres Bankkontos. Sie müssen beweisen, daß Sie Coleman sind.« »Im Gegenteil«, erklärte Benny. »Ich muß Rice bleiben. Rice war nach Auffassung der Öffentlichkeit ein primitiver Mensch, der ein einfaches, brutales Verbrechen begangen hat. Coleman hingegen hatte den von ihm begangenen Mord in allen Einzelheiten geplant. Er hat Abschiedsbriefe geschrieben und Telefongespräche geführt, die seine Tat verwischen sollten. Er hat den Ermordeten so präpariert, daß jedermann ihn für Coleman hielt. Da Rice obendrein Colemans Alter und Größe hatte, muß man annehmen, daß Coleman den armseligen Verwalter nur einstellte, um ihn wenige Wochen später töten zu können.« Marita sah verloren und unglücklich drein. In den letzten Minuten war ihr Benny irgendwie entglitten. Die sonderbare Liebesbeziehung zwischen ihr und Benny war in mancher Hinsicht ungleich gewesen, aber sie hatten doch zusammengepaßt. Die Beziehung zwischen ihr und Ralph Charles Coleman, der ein großer Mann hätte sein können und, wie Benny sagte, ein langweiliges altes Ekel war, stimmte in keiner Hinsicht überein. Auch Kensei sah unglücklich drein. »Aber warum haben Sie es getan?« fragte er.
Benny überlegte. »Das erzähle ich Ihnen ein anderes Mal«, sagte er. Aber Kensei wußte, daß er log. Kensei wußte, daß er niemandem die Wahrheit verraten würde.
Kensei täuschte sich. Während des Verfahrens kam ein Augenblick, in dem die Möglichkeit erwähnt wurde, daß er Coleman und nicht Benny Rice war. Es kam ein Augenblick, in dem es so aussah, als wollte man ihn zu lebenslänglicher Haft und nicht zum Tode verurteilen. Es kam der Augenblick vor der Urteilsverkündung, in dem der Richter Benny fragte, ob er noch etwas zu sagen habe. Niemand zweifelte an Bennys Schuld. Es ging nur darum, ob er zu Gefängnis oder zum Tode verurteilt wurde. »Ja«, sagte Benny. Die Zuschauer murmelten. Während der Verhandlung war Benny so stumm geblieben, wie man es von einem Mann mit seinem WFA-Wert erwartete. Nun klang seine Stimme kräftig und laut, und er sah um Jahre verjüngt aus. »Es wurde die Möglichkeit erwähnt, daß ich Coleman und nicht Rice bin«, sagte Benny. »Alle taten das als lächerlich ab. Erscheint es Ihnen jetzt auch noch lächerlich?« Das Murmeln wurde zu einem Dröhnen. Jeder kannte Bennys I. Q. und WFA. Das hier war nicht Benny Rice. »Ich will Ihnen erklären, weshalb ich Benny Rice umgebracht habe«, sagte Ralph Charles Coleman. »Ich wollte die Wiedergeburt nicht. Ich wollte mein Leben zu Ende leben und dann friedlich sterben. Lebt ein Mensch weiter, wenn er ins WiedergeburtZentrum geht? Nein! Die Erinnerung an sein früheres Leben wird gelöscht. Er entwickelt sich zu einer neuen Persönlichkeit. Das wollte ich nicht. Ich wollte friedlich bis zu meinem natürlichen Ende leben. Viele Menschen denken und fühlen wie ich, aber der Stolz über das Ansehen, das sie
genießen, läßt sie verstummen. Außerdem fürchten sie die ewige Nacht. Die Wiedergeburt ist nur ein Vorverlegen des Todes. Man gibt sein Leben mit siebzig oder achtzig auf, anstatt weiterzuleben bis zum echten Tod. Mit achtzig drängte man mich immer häufiger, die Wiedergeburt zu akzeptieren. Ich wollte sie nicht. Ich wollte die zwanzig Jahre, die ich inzwischen noch gelebt habe, die zwanzig oder dreißig Jahre, die ich vielleicht noch hätte leben können. Aber Ralph Charles Coleman hatte keine Wahl. Er war zu bedeutend, zu wertvoll. Die Welt konnte es sich nicht leisten, seinen außergewöhnlichen Verstand zu verlieren. Der Druck wurde zum Zwang. Ich mußte fliehen. Ich war egoistisch. Was Ralph Charles Coleman für die Nachwelt bedeutete, war mir gleichgültig. Mein Privatleben hatte größeren Wert für mich. Ich wollte ich selbst bleiben. Und es gab nur eine Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen. Ich mußte aus dieser Welt scheiden. Mein Plan funktionierte, das müssen Sie mir bestätigen. Wenn die Menschheit den harmlosen alten Benny Rice in Ruhe gelassen hätte, wäre nicht das geringste dazwischengekommen. Ich wußte, daß ich keine musikalische Begabung besaß und nahm deshalb im Musikosmos die Stelle eines Verwalters an. Wie hätte ich mich verraten sollen, ohne jedes Talent? Aber leider suchte eine Frau meine Freundschaft, eine andere meine Liebe. So kam alles ins Rollen, und so entdeckte man, daß der Mann, der vor zwanzig Jahren gestorben war, nicht der gleiche war, der den Schuß abgefeuert hatte.« Er sah den Richter an. Im Saal herrschte lautlose Stille. Und in diesem Augenblick sah er die Szene, die sich damals abgespielt hatte, noch einmal vor sich. Old Benny war gestorben, und er hatte ihn erschossen. Aber er hatte ihn nicht umgebracht. Benny war an einem Herzanfall
gestorben, und erst danach hatte der brillante Ralph Charles Coleman den phantastischen Plan gefaßt, sich der Wiedergeburt zu entziehen. Nur ein Arzt war in der Lage gewesen, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Eine Menge Dinge mußten geschehen, und eine Menge Dinge waren geschehen. Aber in der Untersuchung hatte man nur herausgefunden, daß der Sturz vor dem Schuß erfolgt war. Coleman konnte freigesprochen werden. Selbst jetzt konnte er noch freigesprochen werden. Er konnte dafür sorgen, daß man eine gründlichere Untersuchung vornahm, bei der nicht nur Mordbeweise zusammengetragen wurden. Und dann erkannten die Polizeibeamten sicher, daß er einen Toten erschossen hatte. Aber für ihn gab es keinen echten Freispruch. Wenn man nachweisen konnte, daß er unschuldig war, dann landete er im Wiedergeburt-Zentrum. »Ich habe diese Erklärung abgegeben«, fuhr er fort, »weil lebenslängliches Gefängnis für mich noch schlimmer wäre als die Wiedergeburt. Ich habe einen Mann getötet, um der Wiedergeburt zu entgehen. Nun droht mir Gefängnis oder Tod. Darf ich um Gnade bitten? Ich möchte sterben.« Es entstand ein langes Schweigen. Und dann kam der Richter seiner Bitte nach.
Die Verwirrung hielt knappe neun Tage an. Nach der Hinrichtung entbrannte ein akademischer Streit, ob Coleman, rechtlich gesehen, für den Mord an Rice verurteilt werden konnte, nachdem man ihn als Rice für den Mord an Coleman angeklagt hatte. Man kam zu dem Schluß, daß der Schuldspruch falsch war. Und danach bemühte sich jeder, die Angelegenheit so rasch wie möglich zu vergessen. Innerhalb von drei Wochen heiratete Marita Kensei. Alle, sogar sie selbst, waren von dem Schritt überrascht. Er war ein
wenig alt für sie; aber immerhin, Benny Rice war sechzig Jahre älter gewesen. Man nannte ihn immer noch Benny. Einer der Hauptgründe für das rasche Verstummen der öffentlichen Meinung war der schlechte Geschmack, den dieser Prozeß hinterlassen hatte. Einige fanden, daß man selbst einem Mann wie Ralph Charles Coleman das Recht auf ein eigenes Leben zugestehen mußte. Einige fanden, daß dieser Mord eine Verzweiflungstat gewesen war, mit der Coleman nur versucht hatte, der Wiedergeburt zu entgehen. Die meisten waren der Meinung, daß die Affäre den Namen und Ruhm eines großen Mannes untergraben hatte. Deshalb war es besser, ihn Benny Rice zu nennen.
Im Wiedergeburt-Zentrum betrachtete Dr. Martin den schlafenden Jungen und dachte mit Verwunderung an den trotteligen Alten zurück, der ihn so zum Narren gehalten hatte. Mußte ein ausgezeichneter Schauspieler gewesen sein, der Knabe! Betty Rogers trat neben ihn. »Das ist ein Neuer, nicht wahr?« sagte sie – denn sie konnte jetzt reden. Auch kümmerte sie sich um ihr Aussehen, und das weiße Nylonkleid stand ihr gut. »Ja.« »Wie heißt er?« »Dick Herman.« Oder Benny Rice, oder Ralph Charles Coleman, dachte Martin. Armer alter Benny, der sich so gegen die Wiedergeburt gesträubt hatte und ihr doch nicht entgangen war. »Weshalb schläft er länger als die anderen?« »Wir wußten nicht genau, ob er bleiben durfte. Siehst du, Betty, wir wollten ihn hier haben, unbedingt, wie wir euch alle hier haben wollen, aber wenn jemand bestimmte Dinge getan hat, dann darf er nicht bleiben. Dick wurde hergebracht, weil wir uns so darum bemühten und weil jemand der Meinung war, daß ein so lieber Junge wie er nichts Böses getan haben
kann.« Und das war eine hübsche Umschreibung für die Tatsache, daß man Old Benny aus der Gaskammer geholt hatte, bewußtlos, aber nicht tot – und daß man ihn wiedergeboren hatte. »Weshalb dachten sie, er hätte etwas Böses getan, wenn es gar nicht stimmte?« fragte Betty. Auch die Fragen von wiedergeborenen Kindern waren schwer zu beantworten. »Er erzählte den anderen, daß er etwas Böses getan habe, weil er nicht hierherkommen wollte.« Die Polizei hatte letzten Endes doch noch entdeckt, daß Benny Rice eines natürlichen Todes gestorben war. Coleman hatte einen brillanten Plan entwickelt, durch den er zwanzig Jahre gewann. Und beinahe wäre er auch noch hingerichtet worden. Die Verantwortlichen hatten rote Köpfe bekommen, als sich die Wahrheit herausstellte. Martin überlegte flüchtig, ob die Machthaber das Untersuchungsergebnis vielleicht gefälscht hatten, weil sie wegen eines unwichtigen Mordes einen so großartigen Denker wie Coleman nicht verlieren wollten. Aber solche Überlegungen waren gefährlich. »Weshalb wollte er nicht hierherkommen?« fragte Betty. »Er hatte keine Ahnung, wie schön es hier ist«, erwiderte Martin geduldig. »Woher weißt du das alles? Wollte ich auch nicht hierherkommen?« »Dir war es gleichgültig. Sieh mal, Dick wacht auf.« Betty beugte sich wie eine Mutter über ihn. »Es wird dir hier gefallen, Dick«, sagte sie freundlich. Martin gab ihr innerlich recht. In ein paar Jahren heiratete er vielleicht sogar Betty Rogers. Aber das Wiedergeburt-Zentrum war schließlich keine Ehevermittlung. Ehen wurden im Himmel geschlossen.
Natürlich mit dem Material aus dem Wiedergeburt-Institut. »Du kannst noch nicht sprechen«, sagte Betty. »Aber das bringen wir dir bei. Sieh mal, wie nett er lächelt. Mir gefällt er.« Und im Himmel rührte sich etwas.
Originaltitel: IMMORTALITY… FOR SOME. Copyright © 1960 by Street and Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION März 1960. Übersetzt von Birgit Reß-Bohusch.