ULLSTEIN 2000
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 10 von Frank Herbert Robert Moore Williams Lawrence O’Donnell Eric Storm Lewis Padgett Ross Rocklynne
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
ULLSTEIN BUCH NR. 2860 IM VERLAG ULLSTEIN GMBH, FRANKFURT/M – BERLIN – WIEN Aus dem Amerikanischen übersetzt von Birgit Reß-Bohusch, Udo H. Schwager, Walter Ernsting und Walter Spiegl
Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1972 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1972 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 02860 8
Man hatte sie ausgebildet, Sand ins Getriebe zu streuen, auch ins eigene, wenn es sein mußte … SABOTAGE NACH MASS von Frank Herbert Zwischen Ruinen suchten sie nach Hinweisen auf ihre Herkunft; sie fanden die Spuren ihrer Schöpfer … RÜCKKEHR DER ROBOTER von Robert Moore Williams Das Haus war programmiert, alle Wünsche zu erfüllen, allerdings keine menschlichen … DAS FLÜSTERNDE HAUS von Lawrence O’Donnell Keiner verriet das Geheimnis des Bauwerks in der Wüste; denn wer den Schlüssel hatte, kehrte nie mehr zurück … DAS SCHWERT VON TORMAIN von Eric Storm Die Kluft war groß; sie mußte überbrückt werden, bevor es zur Katastrophe kam … HEXENJAGD von Lewis Padgett Es war die letzte Chance der Menschheit für einen neuen Anfang … TÖDLICHE VERWECHSLUNG von Ross Rocklynne
Frank Herbert SABOTAGE NACH MASS
»Das haben schon bessere Männer als Sie versucht!« sagte Clinton Watt unwirsch. »Ich erinnere an Paragraph 4, Absatz 91 des überarbeiteten Kommentars zur Verfassung«, entgegnete der außerordentliche Saboteur Jorj X. McKie. »Nachdem das Bedürfnis nach obstruktiven Vorgängen innerhalb der Regierung sich als ein wesentlicher Sicherheitsfaktor für die Menschenrechte etabliert hat, muß die Frage der Immunität daher mit äußerster Präzision definiert werden.« McKie saß an einem glänzenden Schreibtisch dem Sekretär für Sabotage der intergalaktischen Regierung, Clinton Watt, gegenüber. Eine Atmosphäre der Spannung lastete zwischen den grünen Wänden des Büros, deren einzige Unterbrechung die Sichtscheibe hinter Watt darstellte, die einen großen Ausschnitt der Anlagen der intergalaktischen Regierung und viele Menschen zeigte, die hastig ihrer morgendlichen Beschäftigung nachgingen. Watt, ein kleiner Mann, der vor Energie zu knistern schien, fuhr sich mit einer Hand über den rasierten Schädel. »Na schön«, sagte er plötzlich mit müder Stimme. »Dies hier ist das einzige Ministerium der Regierung, das niemals Immunitätsschutz gegenüber Sabotage haben wird. Sie haben den Vorschriften Genüge getan, indem Sie das Gesetz zitierten. Tun Sie also endlich Ihre verdammte Pflicht!« McKie, den seine bulligen, feisten Züge immer ein wenig wie den Großvater aller Kröten erscheinen ließen, machte ein
finsteres Gesicht. Seine rote Mähne schien von innen heraus zu leuchten. »Verdammte Pflicht!« schnappte er. »Glauben Sie tatsächlich, ich sei hierhergekommen, um Sie aus dem Sessel zu heben? Glauben Sie das wirklich?« Und dabei dachte er: Hoffen wir, daß er das glaubt! »Hören Sie mit dem Theater auf«, sagte Watt. »Wir wissen beide, daß Sie für diesen Sessel hier geeignet und wählbar sind.« Er schlug auf die Armlehnen. »Und wir wissen auch, daß der einzige Weg, mich auszuschalten und sich selbst zu qualifizieren, für Sie darin besteht, mich in meisterlicher Sabotage zu übertreffen. Na schön, McKie. Ich sitze jetzt seit über achtzehn Jahren hier. Noch fünf Monate, und es gibt einen neuen Rekord. Fangen Sie an. Ich warte.« »Ich bin nur aus einem Grund hierhergekommen«, sagte McKie. »Ich möchte über die Suche nach dem außerordentlichen Saboteur Napoleon Bildoon berichten.« McKie lehnte sich bequem zurück und dachte: Wenn Watt den wirklichen Grund meines Hierseins ahnen würde, würde er sich dann genauso benehmen? Vielleicht. Schon seit Beginn dieser Unterredung hatte sich sein Gegenüber recht seltsam benommen, aber unter Kollegen im Büro für Sabotage war es natürlich sehr schwer, ein wirkliches Motiv zu erraten. Vorsichtiges Interesse stand in Watts knochigem Gesicht zu lesen. Er befeuchtete seine Lippen mit der Zunge und fragte sich offensichtlich, ob es sich nicht doch um einen gut ausgedachten Trick handelte. Aber McKie war schließlich die Aufgabe übertragen worden, die Suche nach dem verschollenen Agenten, Bildoon, zu übernehmen, und es konnte durchaus möglich sein … »Habt ihr ihn gefunden?« fragte Watt.
»Ich bin nicht sicher«, antwortete McKie. Er fuhr sich mit den Fingern durch das dichte rote Haar. »Sie wissen, daß Bildoon ein Pan-Spechi ist.« »Heilige Zersetzung!« explodierte Watt. »Ich weiß, wer und was meine Agenten sind! Und wir kümmern uns um sie. Wenn also einer unserer besten Leute von der Bildfläche verschwindet, dann … Was soll das heißen, Sie sind nicht sicher?« »Die Pan-Spechi sind eine ziemlich eigenartige Rasse«, sagte McKie. »Sie haben humanoide Form angenommen, und deshalb vergessen wir oft, an ihren Lebenszyklus zu denken, der sich aus fünf Phasen zusammensetzt.« »Bildoon hat mir selbst gesagt, daß er noch mindestens für die Dauer von zehn Jahren das Bewußtsein seiner Gruppe behalten wird«, sagte Watt. »Ich glaube, er war ehrlich, aber …« Watt zuckte mit den Schultern, und es schien so, als habe ihn ein Teil seiner knisternden Energie verlassen. »Nun, das Bewußtsein der Gruppe ist die einzige Sache; bei der sie Eitelkeit zeigen, und daher …« Er zuckte wieder die Achseln. »Bei der Befragung der anderen Pan-Spechi im Büro mußte ich natürlich vorsichtig sein«, sagte McKie. »Aber ich habe eine Spur verfolgt, die bis Achus führte.« »Und?« McKie holte aus einer Tasche seiner weiten Jacke eine weiße Phiole und schüttete ein kristallines Pulver auf die Schreibtischplatte. Watt schob sich ein wenig vom Schreibtisch zurück und betrachtete das Pulver mißtrauisch. Er schnüffelte vorsichtig daran und roch Chalf, das Schnellkopierpulver. Trotzdem … »Es ist wirklich nur Chalf«, sagte McKie. Und er dachte: Wenn er mir das abnimmt, schaffe ich es vielleicht. »Dann formen Sie es«, sagte Watt. McKie konnte seine Erregung kaum noch verbergen. Er hielt den Speicherstab über die staubige Tischplatte. In der
Chalfschicht erschien ein Kreis mit vom Mittelpunkt ausgehenden Pfeilen, die wie Uhrzeiger angeordnet waren. In jedem Kreissegment stand ein Symbol: in einem das PanSpechi-Zeichen für das Bewußtsein, dann das Delta für das fünfte Geschlecht und schließlich die drei Linien, die die Schlafenden in der »Wiege« darstellen sollten. McKie deutete auf das Delta für das fünfte Geschlecht. »Ich habe einen Pan-Spechi in diesem Stadium gesehen. Er sieht ein wenig wie Bildoon aus und scheint auch einige seiner Eigenschaften zu haben. Die Identität eines solchen Wesens hundertprozentig genau zu bestimmen ist natürlich nie möglich. Nun, Sie wissen ja, wie diese quasi-femininen Wesen der fünften Generation reagieren.« »Lassen Sie sich bloß niemals von amourösen Neigungen zum Narren halten«, warnte Watt. »Auch wenn Sie einen schlechten Charakter haben, möchte ich Sie ungern in ein PanSpechi-Wesen verwandelt sehen.« »Bildoon würde niemals die Identität eines seiner Kollegen rauben«, sagte McKie. Er fühlte sich plötzlich etwas unsicher und zupfte an seiner Unterlippe. Dies war natürlich der empfindlichste Teil des ganzen Plans. »Sofern es überhaupt Bildoon war.« »Haben Sie den gegenwärtigen Besitzer des Gruppenbewußtseins getroffen?« fragte Watt, und seine Stimme klang echt interessiert. »Nein«, sagte McKie, »aber ich glaube, daß der Inhaber des Einzelbewußtseins irgendwie mit den Steuerwächtern zusammenhängt.« McKie machte eine Pause und wartete, ob Watt den Köder annehmen würde. »Ich habe noch niemals davon gehört, daß einem Pan-Spechi ein Ego-Wechsel aufgezwungen worden wäre«, sagte Watt nachdenklich, »aber das bedeutet natürlich nicht, daß es unmöglich ist. Angenommen, diese Steuerwächter haben
festgestellt, daß Bildoon Ihre Bemühungen sabotiert hat und … hm …« »Dann war Bildoon also tatsächlich hinter den Steuerwächtern her«, sagte McKie. Watt runzelte die Stirn. McKies Frage war außerordentlich geschmacklos. Senior-Agenten schnüffeln nicht einfach in der Arbeit ihrer Kollegen herum, es sei denn, sie arbeiteten gemeinsam an einem Projekt, oder die Information wurde freiwillig gegeben. Im Büro für Sabotage durfte aus verständlichen Gründen im allgemeinen die linke Hand nicht wissen, was die rechte tat. Es sei denn … Watt musterte seinen außerordentlichen Saboteur prüfend. McKie zuckte die Achseln, als er feststellte, daß Watt nichts zu sagen beabsichtigte. »Mit ungenügenden Informationen kann ich nicht arbeiten«, sagte er. »Ich sehe mich daher gezwungen, die mir übertragene Suche nach Bildoon einzustellen. Ich werde mich statt dessen ab sofort den Steuerwächtern widmen.« »Das werden Sie nicht!« schnappte Watt. McKie zwang sich, nicht auf das Bild zu sehen, das er auf die Schreibtischplatte gezeichnet hatte. Die nächsten Augenblicke waren die kritischen Momente. »Es wäre besser für Sie, wenn Sie für diese Ablehnung einen rechtlichen Grund hätten«, sagte McKie. Watt wandte sich halb in seinem Sessel um, warf einen Blick auf die Sichtscheibe, drehte sich wieder zurück und starrte die Wand an. »Die Situation ist außerordentlich delikat geworden, Jorj. Es ist bekannt, daß Sie einer unserer besten Saboteure sind.« »Sparen Sie sich den Honig für jemanden auf, der ihn brauchen kann«, knurrte McKie. »Dann lassen Sie es mich anders ausdrücken«, sagte Watt und richtete seinen Blick wieder auf McKie. »Die
Steuerwächter haben unserem Büro in den letzten Tagen eine regelrechte Drohung zukommen lassen. Es ist ihnen gelungen, einen Angehörigen des Obersten Gerichts davon zu überzeugen, daß sie die gleiche Immunität gegenüber unseren Bemühungen verdienen, wie zum Beispiel … nun, die öffentlichen Wasserwerke oder … äh … Nahrungsmittelfabriken. Richter Edwin Dooley hat das Büro für öffentliche Sicherheit eingeschaltet. Unsere Hände sind gebunden. Der leiseste Verdacht, daß wir die Verbotsverfügung mißachten könnten …« Watt fuhr sich vielsagend mit einem Finger über die Kehle. »Dann kündige ich«, sagte McKie. »Sie werden nichts dergleichen tun!« »Dieser Steuerwächterverein versucht doch offensichtlich, unser Büro auszuschalten, oder?« fragte McKie. »Ich erinnere mich genau an den Eid, den ich geschworen habe.« »Jorj, so ein simples Gemüt können Sie doch nicht sein«, sagte Watt. »Sie wollen aufhören und bilden sich ein, daß das unser Büro von der Verantwortung für Ihre Tätigkeit entbindet. Dieser Trick ist älter als die Zeitrechnung! Das nimmt uns keiner ab. Man wird sofort an Verschwörung denken.« »Dann werfen Sie mich doch ‘raus«, sagte McKie. »Ich habe überhaupt keinen vernünftigen Grund, Sie zu feuern.« »Weigerung, die Befehle eines Vorgesetzten zu befolgen«, sagte McKie. »Darauf würde niemand hereinfallen, Sie Narr!« McKie schien zu zögern. Dann sagte er doch: »Nun, die Öffentlichkeit hat keine Ahnung von den Vorgängen in unserem Büro und wie wir zum Beispiel die Befehlsgewalt wechseln. Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, daß wir in die Offensive gehen.« »Jorj, um Sie hinauszuwerfen, brauchte ich einen so überzeugenden Grund, daß … Vergessen Sie’s!«
Die Fettsäckchen unter McKies Augenhöhlen schoben sich nach oben, bis seine Augen nur noch Schlitze waren. Der kritische Moment war gekommen. Es war ihm gelungen, einen Jicuzzi-Stimulator in Watts Büro zu schmuggeln – vorbei an allen Detektoren –, indem er das Gerät einfach durch eine Imitation des Ansteckschildes getarnt hatte, das die Agenten des Büros trugen. Er berührte das Schild mit einem Finger und richtete dadurch die gebündelte Strahlung auf den Metallstaub, der auf der Schreibtischoberfläche lag. Watt hatte mit beiden Händen die Armlehne seines Sessels umklammert und beobachtete McKie aufmerksam und gespannt. »Wir haben die gesetzliche Auflage, die Steuerwächter in Ruhe zu lassen«, sagte Watt. »Alles, was mit diesen Leuten passiert oder was ihren Absichten, uns zu vernichten, zuwiderläuft – selbst wenn es völlig harmlose Unfälle wären –, wird uns in die Schuhe geschoben werden. Wir müssen in der Lage sein, uns zu verteidigen. Auf keine Person, die jemals mit uns zu tun gehabt hat, darf der leiseste Verdacht der Mitwirkung fallen.« »Wie wär’s, wenn wir den Fußboden eines Ganges, den ihre Boten benutzen, so glatt bohnern, daß er gefährlich wird? Oder was halten Sie von einer Türverriegelung, die mit Verzögerung …« »Nichts.« McKie starrte seinen Chef an. Jetzt hing alles davon ab, daß dieser Mann ganz still war. Er wußte, daß Watt Detektoren bei sich trug, die ihn vor konzentrierter Strahlung warnten. Aber dieses Jicuzzi-Gerät war so eingestellt, daß seine Ladung von der metallischen Staubschicht auf dem Schreibtisch reflektiert wurde, und das machte einige Sekunden relativer Ruhe erforderlich, damit die Energie wirken konnte.
Die beiden Männer saßen unbeweglich da und starrten sich an, bis Watt begann, sich darüber zu wundern, wie außerordentlich still McKie sich verhielt. Der Mann hielt ja sogar seinen Atem an! McKie holte tief Luft und stand auf. »Ich warne Sie, Jorj«, sagte Watt. »Sie warnen mich?« »Ich kann Sie, wenn erforderlich, sogar mit physischer Gewalt zurückhalten.« »Clint, alter Feind, sparen Sie sich den Atem. Was geschehen ist, ist geschehen.« Um McKies breiten Mund spielte ein Lächeln. Er wandte sich um und ging hinüber zur einzigen Tür des Raumes. Seine Hand lag schon auf dem Verschluß, als er noch einmal stehenblieb. »Was haben Sie getan?« rief Watt. McKie sah ihn ruhig an. Watts Kopfhaut begann zu jucken. Er fuhr mit der Hand darüber und spürte – lange, zuckende Tentakel! Unter seinen Fingern wurden sie länger, wuchsen aus der Kopfhaut heraus, ringelten sich und schlängelten sich hin und her. »Ein JicuzziStimulator«, keuchte Watt. McKie ging hinaus und schloß die Tür hinter sich. Watt sprang von seinem Sessel auf und rannte zur Tür. Verschlossen! Er kannte McKie und versuchte nicht, sie zu öffnen. In rasender Wut heftete er eine Molekulardispersionspackung gegen die Tür und sprang durch die entstandene Öffnung. Er landete draußen auf dem Gang und starrte erst in die eine, dann in die andere Richtung. Die Halle war leer. Watt seufzte. Die Tentakeln hatten aufgehört zu wachsen, aber sie waren jetzt lang genug, daß er sie mit seinen eigenen Augen sehen konnte; eine Masse hin- und herzuckender regenwurmartiger Gebilde, die nun ein Teil seines Körpers
waren. Und McKie mit dem Originalstimulans war der einzige, der diesen Prozeß umkehren konnte; es sei denn, Watt wäre bereit, eine unbestimmte Zeit selbst bei den Jicuzzi zu verbringen. Nein. Das kam überhaupt nicht in Frage. Watt begann, seine Situation zu analysieren. Die künstlich gewachsenen Tentakeln konnten nicht operativ entfernt werden, genausowenig wie sie nach hinten gebunden oder mit irgendeinem Mittel der Verkleidung verborgen werden konnten, ohne das Leben der Person zu gefährden, auf der sie wuchsen. Und sie würden ihn gerade jetzt, während dieser kritischen Phase der Schwierigkeiten mit den Steuerwächtern, behindern. Wie sollte er mit diesen Dingern, die ihren Medusentanz auf seinem Kopf vollführten, auf Konferenzen erscheinen oder Interviews abhalten? Das wäre lächerlich! Er würde sich zum Gespött machen. Und wenn McKie verborgen blieb, bis das gesamte Kabinett die Frage der Neubesetzung des Postens beriet … aber nein! Watt schüttelte den Kopf. Das war nicht die Qualität von Sabotage, die für einen Wechsel im Kommando dieses Büros erforderlich war. Diese Aktion war zu grob. Keinerlei Feinheit darin. Das war ganz einfach ein übler Scherz. Aber McKie war ja bekannt für seinen Mangel an Ernsthaftigkeit, seinen mangelnden Respekt vor jeglicher unsinnigen Dünkelhaftigkeit innerhalb der Regierung. War ich dünkelhaft? überlegte Watt. Wenn er ganz ehrlich war, mußte er das in gewissem Maße zugeben. Ich werde noch heute um meine Entlassung nachsuchen müssen, dachte er. Gleich nachdem ich McKie gefeuert habe. Es braucht mich bloß einer anzusehen, und es wird keine Zweifel mehr daran geben, warum ich ihn hinausgeschmissen habe. Das war so ziemlich der überzeugendste Grund, den man finden konnte. Watt ging nach rechts den Gang hinunter zum Labor, um zu sehen, ob man
ihm dort helfen konnte, diese zuckende Masse irgendwie unter Kontrolle zu bringen. Der Präsident wird bestimmt wünschen, daß ich bei der Stange bleibe, bis McKie seine nächsten Schritte unternimmt, dachte Watt. Irgendwie muß ich es schaffen, weiter diensttauglich zu bleiben. McKie wartete mit mühsam unterdrückter Nervosität im Wohnzimmer des achusianischen Hauses. Achus war der Zentralplanet der Region Vulpecula, eines Gebietes, in dem außerordentlicher Reichtum herrschte, und dieser Raum des auf einem Berggipfel errichteten Hauses bot einen prächtigen Ausblick nach Südwesten über die niedrigeren Erhebungen und Vorgebirge hinweg, auf denen der purpurne Schein der nach Westen wandernden Sonne der Klasse GIII lag. Aber McKie kümmerte sich nicht um die Aussicht, sondern bemühte sich, alle Ecken des Raumes gleichzeitig zu beobachten. Hier hatte er den Pan-Spechi im fünften Geschlechtsstadium zusammen mit dem im vierten Stadium befindlichen Besitzer des gemeinsamen Bewußtseins gesehen. Das konnte nur bedeuten, daß sich auch die »Wiege« mit den drei Schlafenden in der Nähe befinden mußte. Es war klar, daß dies ein äußerst gefährlicher Ort für jemanden war, der weder durch die Bande der Freundschaft noch durch gemeinsame Interessen geschützt war. Der Wert der Pan-Spechi für die menschliche Gesellschaft im Universum, an der sie teilhatten, war unschätzbar. Welche andere Rasse hatte ein solch außerordentlich feines Gefühl für Entscheidungen, wann sie behindern und wann sie helfen sollte? Wer sonst konnte ein wichtiges Mitglied seiner Gruppe einer Situation äußerster Gefahr aussetzen, ohne daß befürchtet werden mußte, das Wissen des Gefährdeten könnte verlorengehen? Es gab immer
einen Schlafenden, der übernehmen konnte, wenn der Verlorene von ihnen gegangen war. Trotzdem hatten natürlich auch die Pan-Spechi ihre Eigenheiten. Und ihre Gelüste waren bisweilen bizarr. »Ah, McKie.« Die Stimme, tief und männlich, kam von links. McKie wirbelte herum, um die Gestalt zu sehen, die durch die in glitzerndem Grün schimmernde und aus einem einzigen Smaragd geschnittene Tür eingetreten war. Der Sprecher war humanoid, hatte aber die für die PanSpechi typischen Facettenaugen. Er wirkte wie ein Erdenmensch (wenn man von seinen blau-grünen Augen absah) mittleren Alters. In dem gelben Trikotanzug, den er trug, sah er außerordentlich zierlich aus. Sein Schädel war fast quadratisch; er hatte eine plumpe Nase und einen breiten Mund. »Ich bin Panthor Bolin«, sagte der Pan-Spechi. »Seien Sie willkommen in meinem Heim, Jorj McKie.« McKie entspannte sich etwas. Die Pan-Spechi waren bekannt dafür, daß sie die Gastfreundschaft in Ehren hielten, wenn sie diese einmal gewährten … vorausgesetzt, daß der Gast nicht gröblich gegen ihre Sitten verstieß. »Ich fühle mich geehrt, daß Sie einverstanden waren, mich zu empfangen«, sagte McKie. »Die Ehre ist auf meiner Seite«, sagte Bolin. »Schon lange kennen wir Sie als eine Person, deren Verständnis für die PanSpechi außergewöhnlich subtil und ausgeprägt ist. Ich habe die Gelegenheit herbeigesehnt, mich ungestört mit Ihnen zu unterhalten. Und hier sind Sie nun.« Er deutete auf einen Stuhlhund, der zu seiner Rechten an der Wand stand, und schnippte mit den Fingern. Das halbtierische Wesen glitt hinter McKie. »Bitte setzen Sie sich.«
McKie, dessen Argwohn von neuem erwacht war, als Bolin von einer ungestörten Unterhaltung gesprochen hatte, ließ sich auf den Stuhlhund fallen und tätschelte ihn, bis er die Form angenommen hatte, die für ihn am bequemsten war. »Sind unsere Egos einander schon einmal nahe gewesen?« fragte McKie. »Sie schienen mich zu erkennen.« »Das Erkennen geht tiefer als das Ego«, sagte Bolin. »Wünschen Sie, daß wir unsere Identitäten vereinen, um diese Frage zu erörtern?« McKie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Bei den Pan-Spechi, deren einziges Ego sich im Verlaufe ihres Daseinskreises irgendwie von einem Mitglied der Gruppe zum anderen bewegte, war das eine heikle Angelegenheit. »Gut«, sagte Bolin. »Sollten Sie den Wunsch haben, Ihre Absicht zu ändern, würde es meine Ego-Gruppe als ein Zeichen höchster Ehre ansehen. Ihre Identität ist sehr stark, und wir respektieren sie.« »Ich bin … Ich fühle mich außerordentlich geehrt«, sagte McKie. Die Gefahren dieser Unterhaltung hatte er durchaus erkannt, und er wischte sich nervös über das Kinn. Jede PanSpechi-Gruppe zeichnete sich durch eine argwöhnische Haltung bezüglich ihres wandernden Gruppenbewußtseins aus. Das Ego erfüllte seinen gegenwärtigen Halter mit einem höchst empfindlichen Ehrgefühl. Fragen über dieses Gruppenbewußtsein konnten nur in solch verklausulierter Form hervorgebracht werden, wie sie McKie schon benutzt hatte. Trotzdem – wenn dies hier ein Mitglied jenes fünfteiligen Lebenszyklus war, zu dem auch der vermißte Außerordentliche Saboteur Napoleon Bildoon gehörte … wenn das der Fall wäre, dann wäre vieles erklärt. »Sie fragen sich, ob wir wirklich untereinander geistige Verbindung halten«, sagte Bolin. – McKie nickte. »Das
Konzept der Humanität«, sagte Bolin, »– unsere Bezeichnung dafür würde, grob übersetzt, Gemeinempfinden lauten –, ist auf viele verschiedenartige Lebensformen, Systeme und Denkweisen ausgedehnt worden. Und dennoch waren wir uns über diese Frage nie im klaren. Das ist einer der Hauptgründe dafür, daß wir uns eurer Lebensform und zum größten Teil auch eurem Metabolismus angepaßt haben. Wir wollten eure Stärken und eure Schwächen selbst erleben. Das hilft, aber es ist natürlich, nicht die perfekte Lösung.« »Schwächen?« fragte McKie, der plötzlich wieder sehr vorsichtig geworden war. Bolin räusperte sich. »Ich verstehe. Um Ihr Mißtrauen zu zerstreuen, werde ich so schnell wie möglich für Sie eines unserer Hauptwerke übersetzen lassen. Sein Titel lautet: Entwicklung des Einflusses des Schwachen. Eine der stärksten Bande der Sympathie, die uns mit Ihrer Rasse verbindet, ist zum Beispiel die Tatsache, daß wir beide äußerst leicht verletzbare, an die Oberfläche gebundene Lebewesen sind, als deren beste Verteidigungsart sich die soziale Struktur entwickelt hat.« »Es würde mich außerordentlich interessieren, diese Übersetzung zu sehen«, sagte McKie. »Wünschen Sie einen längeren Austausch von Höflichkeiten, oder würde es Ihnen etwas ausmachen, jetzt gleich zur Sache zu kommen?« fragte Bolin. »Ich – äh – ich bin beauftragt, nach einem verschwundenen Agenten unseres Büros zu forschen«, sagte McKie, »um sicherzugehen, daß ihm nichts zugestoßen ist.« »Ich habe volles Verständnis für Ihre heikle Aufgabe und Ihr Taktgefühl. Zunächst möchte ich nur das eine sagen: Der PanSpechi, den Sie suchen, braucht Ihre Hilfe zur Zeit nicht. Wir begrüßen jedoch Ihre Sorge um ihn. Sie wird denjenigen mitgeteilt werden, auf die sie die meiste Wirkung hat.«
»Das ist für mich eine große Erleichterung«, sagte McKie. Und insgeheim fragte er sich: Was hat er nun wirklich damit gemeint? Dieser Gedanke rief einen anderen hervor, und McKie sagte laut: »Immer wenn ich dem Problem der Kommunikation zwischen zwei Rassen begegne, erinnere ich mich an eine alte Anekdote.« »Oh?« Bolin gab sich höflich neugierig. »Die Geschichte handelte von zwei in der Kunst der Heilung von Geisteskrankheiten praktizierenden Ärzten, die sich jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeitsstätte begegneten. Sie kannten sich, aber eben nur von diesen Begegnungen. Eines Morgens, als sie sich wieder begegneten, wandte sich der eine an den anderen und sagte ›guten Morgen‹. Derjenige, dem der Gruß gegolten hatte, gab keine Antwort, sondern ging weiter auf sein Büro zu. Plötzlich jedoch blieb er stehen, drehte sich um, starrte dem sich entfernenden Mann nach und überlegte: ›Was hat er nun wirklich damit gemeint?‹« Bolin begann zu kichern, dann lachte er. Sein Gelächter wurde lauter und lauter, bis er sich die Seiten halten mußte. So komisch war das doch gar nicht, dachte McKie. Bolins Gelächter erstarb. »Eine sehr lehrreiche Anekdote«, sagte er. »Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür. Diese Geschichte zeigte deutlich, daß Ihnen bewußt ist, wie wichtig es bei jeder Kommunikation ist, daß wir uns des Charakters des anderen bewußt sind.« Wirklich? wunderte sich McKie. Wieso denn das? Und McKie erinnerte sich plötzlich daran, wie die Pan-Spechi innerhalb eines Lebenskreises, der aus einer Gruppe von fünf Protoplasma-Einheiten bestand, ein eigenes Bewußtsein von Individuum zu Individuum weitergeben konnten. Er fragte sich, was das wohl für ein Gefühl sein mochte, wenn der Besitzer des Bewußtseins die Identität aufgab, um zum fünften Geschlecht zu werden, indem er den Funken des Ego an ein
neuentstandenes Wesen aus der »Wiege« weitergab. Er fragte sich, ob das fünfte Geschlecht aus freiem Willen zum Hüter der »Wiege« wurde und sich selbst aufgab, indem es zur geheimnisvollen Identitätsnahrung für die drei Schlafenden wurde. »Ich habe gehört, was Sie mit Clinton Watt, dem Sekretär für Sabotage, angestellt haben«, sagte Bolin. »Die Nachricht von Ihrer Entlassung ist Ihnen vorausgeeilt.« »Ja«, sagte McKie. »Das ist auch ein Grund, warum ich hier bin.« »Sie sind also zu der Tatsache vorgedrungen, daß unsere PanSpechi-Gruppe hier auf Achus das Herz der Steuerwächterorganisation darstellt«, sagte Bolin. »Es war außergewöhnlich tapfer von Ihnen, direkt in die Höhle des Löwen zu gehen. Ich kann mir vorstellen, daß jemand von Ihrer Rasse wesentlich mehr Mut braucht, der Auslöschung seiner Identität ins Auge zu sehen, als das bei uns der Fall ist. Bewundernswert! Sie sind wirklich erstaunlich.« McKie kämpfte einen Anflug von Panik nieder, indem er sich daran erinnerte, daß die Unterlagen, die er in seiner privaten Schublade im Bürohauptquartier für den Fall hinterlassen hatte, daß er nicht zurückkäme, rechtzeitig entziffert werden konnten. »Ja«, fuhr Bolin fort. »Sie möchten sich vergewissern, daß die Beförderung eines Pan-Spechi zum Leiter Ihres Büros für die andere menschliche Rasse keine Bedrohung darstellt. Das ist verständlich.« McKie schüttelte benommen den Kopf. »Können Sie Gedanken lesen?« fragte er. »Telepathie gehört nicht zu unseren Fähigkeiten«, sagte Bolin, und seine Stimme klang drohend. »Ich hoffe, daß das eine allgemeine Frage war, die sich in keiner Weise auf die Intimsphäre meiner Bewußtseinsgruppe bezog.«
»Mir war so, als läsen Sie meine Gedanken«, sagte McKie und straffte sich. »So habe ich das auch interpretiert«, sagte Bolin. »Entschuldigen Sie meine Frage. Ich hätte Ihren Takt und Ihr Feingefühl nicht anzweifeln dürfen.« »Sie hoffen also, ein Gruppenmitglied als Sekretär des Büros einsetzen zu können«, sagte McKie. »Bemerkenswert, daß Sie diesen Verdacht gehabt haben«, sagte Bolin. »Wie können Sie sicher sein, daß wir nicht lediglich beabsichtigen, das Büro zu vernichten?« »Das bin ich nicht.« McKie sah sich im Raum um und bedauerte, daß er gezwungen war, allein zu handeln. »Auf welche Weise haben wir Ihren Verdacht erregt?« fragte Bolin nachdenklich. »Lassen Sie mich zunächst darauf hinweisen«, sagte McKie, »daß ich die Gastfreundschaft, die Sie mir anboten, akzeptiert und in keiner Weise gegen Ihre Sitten verstoßen habe.« »Was höchst bemerkenswert ist«, sagte Bolin. »Trotz all der Fallen, die ich Ihnen stellte, haben Sie sich in keiner Weise gegen unsere Sittengesetze vergangen. Das ist wahr. Sie bringen uns wirklich in Verlegenheit. Aber vielleicht haben Sie eine Waffe. Ja?« McKie nahm einen verschwommenen Gegenstand aus einer Innentasche. »Ah, das Jicuzzi-Rohr«, sagte Bolin. »Nun, lassen Sie mich sehen. Ist das wirklich eine Waffe?« McKie hielt den Gegenstand auf seiner Handfläche. Zunächst erschien er flach, wie ein handtellergroßes Stück rosaroten Papiers. Nach und nach veränderte sich dieses Bild, wurde überlagert von der Form eines Rohres, das auf dem Papier lag, dann kam eine S-förmige Drahtspirale zum Vorschein, die sich um das Rohr wand. »Unsere Rasse kann bis zu einem gewissen Grade ihre Gestalt verändern«, sagte Bolin. »Es stellt sich unter diesen
Voraussetzungen also die Frage, ob ich dies als eine Waffe betrachten muß.« McKies Finger schlossen sich fest um den Gegenstand. Man hörte einen dumpfen Knall. Begleitet von einem Geruch, der an verbrannten Zucker erinnerte, drangen purpurrote Lichtreflexe zwischen seinen Fingern hervor. »Zerstört«, sagte McKie. »Ich verfüge über keine Verteidigungsmittel mehr und bin Ihrer Gastfreundschaft voll und ganz ausgeliefert.« »Ah, Sie sind sehr klug«, sagte Bolin. »Aber haben Sie denn überhaupt nicht an Clinton Watt gedacht? Die Veränderung, die Sie ihm aufgezwungen haben, ist eine Qual für ihn. Jetzt haben Sie das einzige Instrument vernichtet, mit dem Sie den Prozeß hätten umkehren können.« »Er kann sich direkt an die Jicuzzi wenden«, sagte McKie. Er wunderte sich, warum Bolin sich so besorgt um Watt gab. »Ah, aber die werden dazu Ihre Erlaubnis einholen«, sagte Bolin. »Die sind so förmlich. Ihre Erlaubnis einzuholen dürfte mindestens drei Standardjahre dauern. Sie werden nicht das geringste Risiko eingehen, Sie zu beleidigen. Und selbstverständlich können Sie die Erlaubnis auch nicht von sich aus geben, ohne die Jicuzzi zu beleidigen. Sie wissen, daß die Jicuzzi wahrscheinlich ein Nervenbild von Ihnen nachbilden werden, um die Reaktion auf ihre Anfrage zu testen. Abgesehen von Ihren etwas seltsamen Einfällen, McKie, sind Sie keine hartherzige Person. Mir war nicht bewußt, wie wichtig Ihnen diese Begegnung ist.« »Da ich nun voll und ganz Ihrem guten Willen ausgeliefert bin«, sagte McKie, »habe ich eine Frage: Würden Sie versuchen, mich zurückzuhalten, falls ich gehen wollte?« »Eine interessante Frage«, sagte Bolin. »Sie verfügen über Informationen, die ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch
nicht enthüllt wissen möchte. Dessen sind Sie sich natürlich bewußt.« »Natürlich.« »Ich finde, daß die Verfassung ein ganz vorzügliches Dokument ist«, sagte Bolin. »Dieses profunde Bewußtsein der Identität eines Individuums und seiner Verbindung zur Gesellschaft als Ganzes. Von besonderem Interesse ist der Teil, der sich mit dem Büro für Sabotage beschäftigt, jene Ergänzungen, die darauf hinweisen, daß das Büro selbst von Zeit zu Zeit gewisse … äh … Korrekturen nötig haben könnte.« Worauf will er wohl hinaus? fragte sich McKie. Und er bemerkte, wie Bolin beim Nachdenken die Augen schloß, bis nur noch eine dünne Linie von Facetten zu sehen war. »Ich spreche zu Ihnen als oberste Instanz der Steuerwächter«, sagte Bolin, »wenn ich Sie daran erinnere, daß wir laut Gesetz gegen jegliche Sabotage immun sind.« Jetzt habe ich herausgefunden, was ich wissen wollte, dachte McKie. Wenn ich jetzt nur heil davonkomme! »Unterhalten wir uns einmal über das Training der Außerordentlichen Sabotage«, sagte Bolin. »Was lernen die Schüler über die Grundlagen und Notwendigkeiten der Aktivitäten des Büros?« Er wird mich nicht bei einer Lüge ertappen, dachte McKie. »Wir sagen den Schülern wahrheitsgemäß, daß es eine unserer Hauptaufgaben ist, Personalstellen zu schaffen, die von Politikern ausgefüllt werden sollen«, sagte er. »Je mehr Hände im Teig rühren, desto langsamer geht es.« »Sie haben sicher gehört, daß es eines der größten Vergehen gegen die Sitten der Pan-Spechi ist, dem Gastgeber etwas Unwahres zu erzählen«, sagte Bolin. »Und Sie wissen sicher auch, daß die Verweigerung einer Antwort auf bestimmte
Fragen ebenso ausgelegt wird, als hätten Sie die Unwahrheit gesagt.« »Das ist mir berichtet worden«, sagte McKie. »Wunderbar! Und was wird Ihren Schülern über die Fußangeln und Schlingen beigebracht, die Sie in den Weg der Gesetzgebung werfen?« »Ich zitiere aus dem zur Zeit gültigen Lehrbuch für das Training«, sagte McKie. »›Eine der Hauptaufgaben des Büros ist es, den Durchgang von Gesetzesvorlagen zu verlangsamen.‹« »Großartig! Und wie ist das mit den Debatten und regelrechten Redeschlachten, die, wie ja bekannt ist, von Agenten des Büros inszeniert worden sind?« »Reine Routineaufgaben«, sagte McKie. »Es ist unsere Pflicht, Diskussionen und Auseinandersetzungen innerhalb der Regierung zu provozieren, wo immer wir können. Die allzu temperamentvollen Typen, diejenigen, die sich nicht beherrschen können, die nicht auf dem Boden der Tatsachen bleiben, fallen dabei auf.« »Ah«, sagte Bolin. »Wie unterhaltsam.« »Den Wert der Unterhaltung haben wir dabei natürlich auch im Auge«, gab McKie zu. »Dramatik und Theatralik lassen wir möglichst häufig wirken, um die Öffentlichkeit zu faszinieren.« »Theatralische Obstruktion«, meinte Bolin sinnierend. »Obstruktion ist ein Faktor der Stärke«, sagte McKie. »Nur den Stärksten gelingt es, jegliche Obstruktion zu überwinden und innerhalb der Regierung erfolgreich zu sein. Die Stärksten … oder die Wendigsten, was aber so ziemlich das gleiche bedeutet, wenn es sich um die Regierung handelt.« »Wie einleuchtend«, sagte Bolin. Er rieb sich die Handrücken, eine typische Geste der Pan-Spechi, die
Zufriedenheit ausdrückte. »Haben Sie spezielle Anweisungen bezüglich politischer Parteien?« »Wir säen Zwietracht, wo immer das möglich ist«, sagte McKie. »Opposition neigt dazu, die Realitäten aufzuzeigen. Das ist einer unserer Leitsätze.« »Würden Sie die Agenten Ihres Büros als notorische Störenfriede bezeichnen?« »Aber natürlich! Meine Eltern waren glücklich, als ich schon im frühen Alter die deutlichen Anlagen eines Unruhestifters zeigte. Sie wußten, daß dies einmal sehr nützlich und förderlich sein könnte. Deshalb sorgten sie dafür, daß meine Veranlagung während meiner Schulzeit in die richtigen Bahnen gelenkt wurde; spezielle Ausbildung in angewandter Destruktion, fortgeschrittener Irritation, Ärgerniserregung I und II … Ich hatte die besten Lehrer.« »Sie würden also sagen, daß das Büro als Einrichtung nichts weiter als ein Sammelbecken für die Unruhestifter in der Gesellschaft darstellt?« »Ist das nicht offensichtlich? Damit wird eine gewisse Auslese erreicht, die der gesamten Gesellschaft dient.« McKie wartete, beobachtete den Pan-Spechi und fragte sich, ob seine Antworten ausreichend gewesen waren. »Ich spreche als Steuerwächter; dessen sind Sie sich wohl im klaren?« fragte Bolin. »Ich verstehe.« »Die Bevölkerung finanziert indirekt dieses Büro. Konsequenterweise kann man also sagen, daß das Volk Menschen dafür bezahlt, daß sie Ärger bereiten.« »Ist es nicht vergleichbar mit den Ausgaben für Polizei oder Steuerwächter und dergleichen?« fragte McKie. Auf Bolins Gesicht zeigte sich der Ausdruck äußerster Befriedigung. »Aber diese Institutionen arbeiten zum Wohle der Menschheit!« sagte er.
»Bevor das Training beginnt«, sagte McKie, und seine Stimme nahm einen ernsten, belehrenden Tonfall an, »wird der Saboteuranwärter ausführlich auch über die unerfreulichsten Perioden der Geschichte unterrichtet. Die Perfektionisten hatten einmal Erfolg … vor langer Zeit. Es gelang ihnen buchstäblich, auch den letzten Rest von Bürokratie aus der Regierung zu entfernen. Diese riesige Maschinerie mit ihrer Macht über Menschenleben arbeitete immer schneller.« McKies Stimme wurde lauter. »Gesetze wurden in einer einzigen Stunde vorgelegt und verabschiedet. Ernennungen wurden innerhalb von nicht mehr als vierzehn Tagen ausgesprochen und konnten genauso schnell wieder zurückgenommen werden. Neue Ministerien mit den unsinnigsten Aufgaben wurden urplötzlich ins Leben gerufen.« »Faszinierend«, sagte Bolin. »Eine äußerst leistungsfähige Regierung. Nicht wahr?« »Leistungsfähig?« erwiderte McKie. »Es war ein riesiges Rad, das immer schneller lief! Der gesamte Aufbau der Regierung war in äußerster Gefahr, in seine Bestandteile zu zerfallen, als es dann einer Handvoll Menschen, die weise genug waren, vorauszusehen, in welcher Gefahr sie sich befanden, gelang, in ihrer Verzweiflung das ins Leben zu rufen, was man damals Sabotagekommando nannte.« »Ah, ja. Ich habe von der Brutalität dieser Institution gehört.« Er versucht mich herauszufordern, dachte McKie, und er kam zu dem Schluß, daß jetzt ehrliche Wut von Hilfe sein konnte. »Zugegeben, am Anfang gab es Blutvergießen und schreckliche Zerstörungen«, sagte er. »Aber das große Rad lief wieder langsamer. Die Regierungstätigkeit wurde wieder kontrollierbar und überschaubar.« »Sabotage«, grinste Bolin. »An Stelle des Hemmschuhs der Bürokratie.« – Gut, daß er mich daran erinnert hat, dachte McKie. »Keine Aufgabe ist dem Büro für Sabotage zu klein,
keine zu groß«, sagte McKie. »Wir sorgen dafür, daß sich das Rad langsam und reibungslos dreht. Irgendein Mitarbeiter des Büros hat es vor langer Zeit folgendermaßen ausgedrückt: ›Im Zweifelsfall die Großen bremsen und die Kleinen fördern.‹« »Würden Sie sagen, daß die Steuerwächter zu den Großen oder zu den Kleinen gehören?« fragte Bolin mit milder Stimme. »Zu den Großen«, sagte McKie und wartete darauf, daß Bolin explodierte. Aber der Pan-Spechi schien lediglich amüsiert. »Eine unglückliche Antwort.« »Wie es schon in der Verfassung steht«, sagte McKie. »›Das Streben nach dem Unglücklichsein ist ein unabdingbares Recht aller Menschen.‹« Bolin klatschte in die Hände. Zwei Pan-Spechi in den Uniformen der Systempolizei traten durch die Smaragdtür. »Habt ihr es gehört?« fragte Bolin. »Wir haben es gehört.« »Hat er sein Büro verteidigt?« »Das hat er«, sagte der eine Polizist. »Ihr habt die gerichtliche Verfügung gesehen«, sagte Bolin. »Das ist bedauerlich, weil McKie die Gastfreundschaft meines Hauses akzeptiert hat, aber er muß, bis er vor Gericht gebraucht wird, verwahrt bleiben. Er ist entgegenkommend zu behandeln. Verstanden?« Ist er wirklich darauf aus, das Büro zu vernichten? fragte sich McKie konsterniert. Sollte ich alles falsch eingeschätzt haben? »Sie unterstellen also, daß meine Worte einer Sabotage gleichkommen?« fragte McKie. »Ein eindeutiger Versuch, den obersten Beamten der Steuerwächter von seinen Pflichten abzubringen«, sagte Bolin. Er erhob sich und verneigte sich. McKie stand ebenfalls von seinem Stuhlhund auf und legte einen Ausdruck der Zuversichtlichkeit an den Tag, die durchaus nicht seinen Gefühlen entsprach. Er legte seine
Hände aneinander und verbeugte sich tief. »Um es mit einem alten Sprichwort auszudrücken«, sagte er, »der Gerechte lebt in einem tiefen Keller, und der Himmel erscheint ihm nur als ein kleines rundes Loch.« Würdevoll gestattete McKie den Polizisten, ihn aus dem Raum zu geleiten. Er hörte noch, wie hinter ihm Bolin nachdenklich murmelte: »Was hat er nun wirklich damit gemeint?« »Höret! Höret! Die Sitzung des Hohen Systemgerichts, erste Instanz, Zentralsektor, ist eröffnet!« Der Robotdiener eilte geschäftig durch die im morgendlichen Sonnenlicht, das durch den Wetterschutz drang, liegende Gerichtsarena. Seine Stimme war den räumlichen Ausdehnungen genau angepaßt und drang bis in die entferntesten Winkel. »Alle Personen, die ein Anliegen an dieses Gericht haben, mögen vortreten!« Durch eine Öffnung hinter dem erhöhten Podium schwebte die silberne Halbkugel mit dem Ersten Vorsitzenden Edwin Dooley herein. Sein weißes Schwert der Gerechtigkeit lag quer auf dem Tisch vor ihm. Richter Dooley war sehr groß, hatte dunkle Augenbrauen, und die altmodische schwarze Robe über dem weißen Leinenanzug stand ihm ausgezeichnet. Er war für seine geradezu klassischen Grundsatzentscheidungen bekannt. Jetzt saß er ruhig und mit unbewegtem Gesicht da, um seine Unruhe und seinen Ärger zu verbergen. Warum hatte man ausgerechnet ihm dieses heiße Eisen zugeschoben? Weil er die gerichtliche Verfügung bezüglich der Steuerwächter erlassen hatte? Ganz gleich, wie er jetzt entschied – es würde auf jeden Fall Unruhen geben. Selbst Präsident Hindley verfolgte den Verlauf der Verhandlung über einen heißen Draht auf seinem Projektor. Der Präsident hatte ihn kurz vor dieser Verhandlung
angerufen. Die Unterhaltung war fast freundschaftlich verlaufen, mit Phil hin und Ed her, aber die Absicht war doch ganz offensichtlich gewesen. Wahlen standen bevor, und man brauchte Stimmen. Während der ganzen Unterhaltung waren weder das Budget noch das Büro für Sabotage erwähnt worden, aber der Präsident hatte eines ganz klargemacht: dem Sabotagebüro nicht zu schaden, aber alles zu tun, um die Unterstützung der Steuerwächter für die amtierende Regierung zu erhalten! »Gerichtsdiener, die Anwesenheitsliste«, sagte Richter Dooley. Und er dachte: Mein Urteil wird sich genau an die Buchstaben des Gesetzes halten! Dann sollen sie mal etwas dagegen sagen! Der Robotdiener ließ die Spule ablaufen und schnarrte die Namen herunter. Die Worte wiederholten sich auf einem Sichtgerät vor dem Richter, während der Robotdiener verkündete: »Das Volk gegen Clinton Watt, Jorj McKie und das Büro für Sabotage …« Dooley sah hinunter in die Gerichtsarena und betrachtete die Gruppe, die an dem schwarzen Tisch im Sektor der Verteidigung zu seiner Linken Platz genommen hatte: Den sauertöpfigen Watt mit seinem schrecklichen Medusenkopf, McKie, der aussah, als bemühe er sich krampfhaft, nicht über irgendeinen albernen Witz zu lachen, und zwischen den beiden Angeklagten ihr Anwalt, Pander Oulson, der Chefjurist des Büros für Sabotage. Oulson wirkte riesig und ein wenig ungeschlacht in der weißen Robe des Verteidigers. Sein Gesicht mit den buschigen Augenbrauen schien fast nur aus Narben zu bestehen. Am Tisch der Anklage zur Rechten des Richters saß Ankläger Holjance Vohnbrook, ein großer, hagerer Mann, in der roten Robe der Anklage. Neben ihm saßen ein etwas schüchtern wirkender Assistent und Panthor Bolin, der Pan-Spechi-Nebenkläger, der seine Facettenaugen unter feinädrigen Lidern verborgen hatte.
»Sind alle an der Verhandlung beteiligten Personen anwesend?« fragte Dooley. Oulson und Vohnbrook erhoben sich und nickten. »Mit Erlaubnis des hohen Gerichts«, sagte Vohnbrook, »möchte ich die hier anwesenden Angehörigen des Büros für Sabotage darauf aufmerksam machen, daß dieses Gericht dem Einflußbereich ihrer Tätigkeit entrückt ist.« »Falls der Ankläger über seine eigenen Füße stolpern sollte«, gab Oulson zurück, »so kann ich ihm versichern, daß dies ausschließlich auf seine eigene Tolpatschigkeit und nicht auf meine oder die Schuld eines meiner Mandanten zurückzuführen sein wird.« Vohnbrooks Gesicht lief puterrot an. »Es ist hinreichend bekannt, daß Sie …« Richter Dooley berührte den Griff seines Amtsschwertes, und ein lautes Trommeln erfüllte den Raum. Das Geräusch erstickte alle weiteren Worte des Anklägers. Als die Ruhe wiederhergestellt war, sagte Dooley: »Dieses Gericht wird keinerlei persönliche Schmähungen dulden. Ich möchte, daß das von Anfang an klar ist.« Oulson lächelte, wobei sich sein narbiges Gesicht zu einer Grimasse verzog. »Ich bitte um Entschuldigung, Euer Ehren«, sagte er. Dooley ließ sich in seine Halbkugel zurücksinken. Das Glitzern in Oulsons Augen war ihm nicht entgangen. Er hatte das Gefühl, daß der in Sabotage vortrefflich versierte Verteidiger diese Auseinandersetzung mit dem Ankläger bewußt provoziert hatte, um die Sympathie des Gerichts zu gewinnen. »Die Anklage lautet auf gesetzwidrige Sabotage, Verstoß gegen die entsprechenden gerichtlichen Verfügungen«, sagte Dooley. »Ist die Klageschrift beiden Parteien zugegangen, und wurde die Öffentlichkeit zu dieser Verhandlung durch entsprechende Verlautbarungen geladen?« »Ist erfolgt«, sagte der Robotdiener.
Oulson beugte sich über seinen Tisch und sagte: »Euer Ehren, der Beklagte Jorj X. McKie hat mich als Verteidiger nicht akzeptiert und wünscht eine Abtrennung des Verfahrens. Ich vertrete hier nur das Büro und Clinton Watt.« »Wer erscheint für den Beklagten McKie?« fragte der Richter. McKie war wie einem Mann zumute, der sich anschickt, über einen tiefen Abgrund zu springen, als er sich erhob und sagte: »Ich möchte mich selbst verteidigen, Euer Ehren.« »Ich halte es für meine Pflicht, Sie davor zu warnen«, sagte Dooley. »Ser Oulson hat mir ebenfalls bedeutet, daß ich damit ein großes Risiko eingehe«, sagte McKie. »Aber wie das bei allen Agenten des Büros der Fall ist, bin ich in Rechtsfragen gründlich ausgebildet. Ich bin Mitglied der Anwaltskammer und habe …« »Darf ich das hohe Gericht daran erinnern«, sagte Ankläger Vohnbrook, »daß der Beklagte McKie ein Außerordentlicher Saboteur ist. Jeder Äußerung dieses Mannes …« »Das Gesetz, das auf Außerordentliche Saboteure angewandt wird, ist das gleiche wie für alle anderen«, sagte Oulson. »Meine Herren!« rief der Richter. »Darf ich bitten! Ich werde in diesem hohen Hause Recht sprechen.« Er wartete einen langen Augenblick schweigend. Dann fuhr er fort: »Das Betragen beider Parteien in diesem Fall wird von mir auf das sorgfältigste beobachtet werden.« McKie zwang sich, einen ruhigen, gelassenen und zuversichtlichen Eindruck zu machen. Watt, der aus seiner profunden Kenntnis über diesen Außerordentlichen Saboteur diese Haltung als ein Zeichen von Gefahr deutete, zupfte nervös am Ärmel von Verteidiger Oulson. Oulson winkte ab. Watt funkelte McKie an.
»Wenn das hohe Gericht erlaubt«, sagte McKie, »so möchte ich bemerken, daß eine gemeinschaftliche Verteidigung im Augenblick und unter den gegebenen Umständen einen Verstoß gegen …« »Dieses Gericht ist sich der Tatsache wohl bewußt, daß diesem Fall eine Anklageschrift wegen Verstoßes gegen einen Erlaß des Robolex zugrunde liegt«, sagte Dooley. »Ich mache jedoch sowohl die Anklage als auch die Verteidigung darauf aufmerksam, daß ich in solchen Fällen meine eigenen Entscheidungen zu treffen pflege. Gesetze und Robolex sind von Menschen geschaffen und erfordern die Auslegung durch den Menschen. Außerdem möchte ich hinzufügen, daß sich in allen Konflikten zwischen menschlichen und maschinellen Einrichtungen meines Erachtens die menschlichen Vorrang haben.« »Ist dies ein Hearing oder eine Gerichtsverhandlung?« fragte McKie. »Auf der Grundlage der vorzulegenden Beweise werden wir wie bei einer Gerichtsverhandlung verfahren.« McKie stützte sich mit den Händen auf die Tischkante und musterte den Richter. Ein unbehagliches Gefühl stieg in ihm auf. Dooley war ein Bursche, mit dem nicht zu spaßen war. Und er hatte sich in diesem Fall alle Möglichkeiten offengelassen, der nicht nur eine unmittelbare Gefahr für das Büro darstellte, sondern weitreichende Folgen haben konnte – katastrophale Folgen unter Umständen. McKie unterdrückte seinen Selbsterhaltungstrieb und fragte sich, ob er Sabotage im Rahmen dieses Gerichts wagen durfte. »Die Anklage laut Robolex erfordert gemeinschaftliche Verteidigung«, sagte McKie. »Ich gebe Sabotage gegen Ser Clinton Watt zu, erinnere jedoch an Paragraph 4, Absatz 91 des überarbeiteten Kommentars der Verfassung, in dem der Sekretär für Sabotage ausdrücklich von jeglicher Immunität
gegenüber Sabotage ausgenommen wird. Diesen Punkt der Anklage erlaube ich mir also zurückzuweisen. Zu jenem Zeitpunkt war ich Mitarbeiter des Büros für Sabotage, und zu meinen Pflichten gehörte es auch, die Fähigkeiten und Qualifikation meines Vorgesetzten zu testen.« »Mmm«, machte Dooley. Er sah, daß der Ankläger schon erkannt hatte, wohin McKies Logik führte. Stand McKie, als er seine Unterredung mit dem Pan-Spechi führte, nicht mehr in Diensten des Büros, so fehlte der Anklage jegliche Rechtfertigung. »Wünscht der Ankläger Anklage wegen Verschwörung zu erheben?« fragte Dooley. Zum erstenmal, seit er die Gerichtsarena betreten hatte, wirkte Oulson geschäftig und aufgeregt. Sein narbiges Gesicht wandte sich Watt zu, und er flüsterte eifrig mit dem Angeklagten. Oulsons Gesicht wurde dunkler und dunkler, während er flüsterte. »Wir erheben zur Zeit keine Anklage wegen Verschwörung«, sagte Vohnbrook. »Wir wären jedoch mit einer Abtrennung des Verfahrens einverstanden …« »Euer Ehren!« rief Oulson und sprang auf. »Die Verteidigung muß gegen eine Abtrennung der Verfahren zum gegenwärtigen Zeitpunkt Einspruch erheben. Unsere Beweisführung beruht auf …« »Das Gericht macht beide Parteien in dieser Angelegenheit darauf aufmerksam, daß es hier nicht darum geht, den Beklagten zu überführen und den Ankläger zu entlasten, ehe wir den Fall überhaupt beginnen können. Wenn jedoch eine der Parteien die Absicht hat, dieses Gericht abzulehnen …« Mit selbstgefälligem Gesichtsausdruck verneigte sich Vohnbrook vor dem Richter. »Euer Ehren«, sagte er, »wir beantragen die Entlassung des Beklagten McKie aus der Anklage und bitten, ihn als Zeugen der Anklage bereitzuhalten.«
»Einspruch!« rief Oulson. »Die Anklage weiß genau, daß sie einen Kronzeugen nicht unter frei erfundenen …« »Einspruch abgelehnt!« sagte Dooley. »Beanstandet!« »Notiert!« Dooley wartete, bis Oulson sich wieder auf seinen Stuhl hatte sinken lassen. Das ist ein Tag, an dem man sich erinnern wird, dachte Dooley. Die Sabotage hat sich selbst ausgetrixt! Dann aber bemerkte er das hintergründig-humorvolle Glitzern in McKies Augen und wurde plötzlich gewahr, daß auch McKie in voller Absicht diese Entwicklung angesteuert hatte. »Die Anklage möge ihren ersten Zeugen aufrufen«, sagte der Richter und drückte auf einen Knopf, der dem Robotdiener den Befehl erteilte, McKie vom Tisch der Anklage in eine Kabinezubringen. Das Gesicht des Anklägers Vohnbrook nahm einen beinahe vergnügten Ausdruck an. »Rufen Sie Panthor Bolin.« Der Achusier erhob sich und begab sich in den Zeugenstand. Die Sichtscheibe des Robotdieners leuchtete auf, und er verkündete für das Protokoll: »Panthor Bolin von Achus IV, registrierter Zeuge im Fall A0115BD4GY74R6 vor dem hohen Systemgericht ZRZ. Der Treueeid ist geleistet; Panthor Bolin ist aussagebereit.« »Panthor Bolin, sind Sie der Leiter jener Organisation, die unter dem Namen Steuerwächter bekannt ist?« fragte Vohnbrook. »Ich … äh … j-ja«, stammelte Bolin. Er fuhr sich mit einem großen blauen Taschentuch über die Stirn und musterte McKie. Jetzt ist ihm klargeworden, was ich tun muß, dachte McKie. »Ich zeige Ihnen diese Aufnahme aus der Anklageschrift des Robolex«, sagte Vohnbrook. »Es handelt sich gemäß Bestätigung der Systempolizei um eine
Unterhaltung, die Sie mit Jorj McKie geführt haben und in deren Verlauf …« »Euer Ehren!« unterbrach Oulson. »Beide Zeugen der zitierten Unterredung sind hier anwesend. Es gibt also direktere Methoden, in dieser Angelegenheit wichtige Informationen zu bekommen, als sich einer Aufzeichnung zu bedienen. Weiterhin protestiere ich, da in diesem Fall immer noch eindeutig die Gefahr einer Anklage wegen Verschwörung besteht, auf das schärfste dagegen, daß mit Hilfe dieser Aufnahme hier ein Mann dazu gezwungen werden soll, gegen sich selbst auszusagen.« »Ser McKie steht nicht mehr als Angeklagter vor Gericht, und Ser Oulson ist nicht McKies Verteidiger«, brauste Vohnbrook auf. »Trotzdem hat der Einspruch einiges für sich«, sagte Dooley. Er sah zu McKies Kabine hinüber. »In der Unterhaltung, die ich mit Ser Bolin geführt habe, gibt es nichts, dessen ich mich schämen müßte«, sagte McKie. »Ich habe keinerlei Bedenken dagegen, daß die Aufnahme vorgeführt wird.« Bolin erhob sich auf die Zehenspitzen, schien etwas sagen zu wollen, und setzte sich wieder. Jetzt hat er Gewißheit, dachte McKie. Vohnbrook sagte mit einem Totenkopfgrinsen: »Ser Bolin, ich spiele Ihnen jetzt die Aufnahme vor. Doch vorher sagen Sie uns bitte, ob Ser McKie im Verlaufe der Unterhaltung irgendeiner Art von Zwang ausgesetzt war.« »Einspruch!« rief Oulson und schnellte in die Höhe. Sein Gesicht war zu einer düsteren Maske geworden. »Zur Zeit der angeblichen Unterredung war Ser McKie schon nicht mehr Angehöriger des Büros für Sabotage.« Er musterte Vohnbrook. »Die Verteidigung verwahrt sich dagegen, daß der Ankläger es
offensichtlich darauf anlegt, eine Verbindung zwischen McKie und …« »Angebliche Unterredung!« schnappte Vohnbrook. »Ser McKie hat ihrer Vorführung selbst zugestimmt!« Mit müder Stimme sagte Dooley: »Einspruch akzeptiert. Sofern nicht ernst zu nehmende Beweise einer Verschwörung vorgelegt werden können, werden keinerlei Bezugnahmen mehr auf McKie als Agenten des Büros für Sabotage zugelassen.« »Aber, Euer Ehren!« protestierte Vohnbrook. »Ser McKies Handeln fordert eine andere Interpretation doch geradezu heraus!« »Ich habe meine Entscheidung bereits bekanntgegeben«, entgegnete Dooley. »Fahren Sie fort.« McKie erhob sich in seiner Kabine und sagte: »Würden Euer Ehren mir gestatten, dem hohen Gericht behilflich zu sein?« Dooley lehnte sich zurück, die Hand am Kinn, und dachte über diese Frage nach. Er hatte ein Gefühl des Unbehagens bei diesem Fall, das sich immer mehr verstärkte, obgleich er nicht in der Lage war, konkret zu sagen, was es war. Jede Handlung, jedes Wort McKies erschien ihm verdächtig. Dooley erinnerte sich daran, daß dieser Außerordentliche Saboteur bekannt war für seine klugen Komplotte, für seine hintergründigen, raffiniert ausgeklügelten Anschläge. »Sie erhalten Erlaubnis, zu erklären, was Sie meinen«, sagte Dooley schließlich, »aber ich bin noch nicht bereit, Ihre Aussagen auch zu Protokoll zu nehmen.« »Die internen Vorschriften des Büros für Sabotage würden die Angelegenheit von selbst klären«, sagte McKie, der sich wohl bewußt war, daß er mit diesen Worten alle Brücken hinter sich abbrach. »Mit meiner Handlung habe ich erfolgreich den damals amtierenden Sekretär Watt sabotiert, wie aus den Unterlagen hervorgeht.«
»Den damals amtierenden Sekretär?« fragte der Richter. »So muß man es bezeichnen«, sagte McKie. »Nach den internen Vorschriften des Büros steht eindeutig fest, daß der Sekretär, wenn er einmal erfolgreich sabotiert wurde …« »Euer Ehren!« rief Oulson. »Wir laufen Gefahr, hier wichtige Geheimnisse zu offenbaren! Soviel ich weiß, ist diese Verhandlung öffentlich!« »Als designierter Sekretär des Büros für Sabotage werde ich entscheiden, wann es sich um einen Bruch der Sicherheitsvorschriften handelt und wann nicht!« schnappte McKie. Watt legte den Kopf auf die Arme und stöhnte. Oulson geriet ins Stottern. Dooley starrte McKie schockiert an. Vohnbrook unterbrach das Durcheinander. Der Ankläger sagte: »Euer Ehren, dieser Mann ist nicht vereidigt worden. Ich schlage vor, wir entlassen Ser Bolin für eine Weile und lassen Ser McKie seine Erklärung unter Eid wiederholen.« Dooley holte tief Luft und sagte: »Hat die Verteidigung im Augenblick noch Fragen an Ser Bolin?« »Im Augenblick nicht«, murmelte Oulson. »Ich nehme an, er wird noch einmal einvernommen werden?« »Das wird er«, sagte Dooley. Er wandte sich McKie zu. »Treten Sie in den Zeugenstand, Ser McKie.« Bolin bewegte sich wie ein Schlafwandler, als er den Zeugenstand verließ und sich zurück an den Tisch der Anklage begab. Seine Facettenaugen glitzerten seltsam. Er wirkte niedergeschlagen. McKie betrat den Zeugenstand, legte den Eid ab und wandte sich dann mit ernstem, entschlossen wirkendem Gesicht Vohnbrook zu.
»Sie haben sich selbst als den designierten Sekretär des Büros für Sabotage bezeichnet, Ser McKie«, sagte Vohnbrook. »Würden Sie uns das bitte genauer erklären?« Ehe McKie antworten konnte, hob Watt den Kopf und knurrte: »McKie, Sie Verräter!« Dooley faßte nach seinem Schwert, um seine Autorität zu unterstreichen, und brüllte: »Ich werde in diesem Verfahren keine weiteren derartigen Äußerungen hinnehmen!« Oulson legte Watt die Hand auf die Schulter. Beide starrten McKie an. Die Medusententakeln auf Watts Kopf zuckten erregt und färbten sich in allen Schattierungen des Spektrums. »Ich mache den Zeugen darauf aufmerksam«, sagte Dooley, »daß seine Aussage möglicherweise eine Verschwörung aufdecken könnte. Alles, was er sagt, kann auch gegen ihn verwendet werden.« »Keine Verschwörung, Euer Ehren«, sagte McKie. Er wandte sich Vohnbrook zu, schien aber in Wirklichkeit seine Worte an Watt zu richten. »Über Jahrhunderte hinweg ist die Funktion des Büros für Sabotage innerhalb der Regierung immer bekannter geworden, aber bestimmte Aspekte, wie zum Beispiel, wenn man es einmal so ausdrücken möchte, die Wachablösung, sind als streng geheim bewahrt worden. Es wird als Regel betrachtet, daß derjenige Mann, dem es gelingt, sich selbst vor Sabotage zu bewahren, am besten geeignet ist, das Büro zu leiten. Ist jedoch einmal erfolgreich Sabotage an ihm verübt worden, so hat der Sekretär des Büros von seinem Posten zurückzutreten und ihn dem Präsidenten und der Regierung zur Neubesetzung zur Verfügung zu stellen.« »Er ist also entlassen?« fragte Dooley. »Noch nicht«, sagte McKie. »Wenn jedoch die Sabotagehandlung subtil genug und von genügend weitreichender Wirkung ist, wird der Sekretär durch den
erfolgreichen Saboteur ersetzt. Dann ist er tatsächlich entlassen.« »Es liegt also jetzt beim Präsidenten und dem Kabinett, zwischen Ihnen und Ser Watt zu entscheiden – wollten Sie das damit sagen?« »Ich?« fragte McKie. »Nein. Ich bin der tatsächliche Nachfolger, weil mir eine erfolgreiche Sabotagehandlung gegen Ser Watt gelungen ist und weil ich zufällig gleichzeitig der dienstälteste Außerordentliche Saboteur bin.« »Aber es steht fest, daß Sie hinausgeworfen worden sind«, warf Vohnbrook ein. »Eine Formalität«, sagte McKie. »Es ist üblich, den Saboteur, der Erfolg gehabt hat, zunächst einmal zu feuern. Dadurch wird er, sofern er darauf reflektiert, als Sekretär des Büros wählbar. Ich jedoch habe im Augenblick keinerlei Ambitionen in dieser Richtung.« Watt sprang auf und starrte McKie an. McKie fuhr sich mit dem Finger zwischen Hals und Kragen, denn ihm war die physische Gefahr, der er entgegenging, durchaus bewußt. Ein Blick auf den Pan-Spechi bestätigte diesen Eindruck. Bolin hielt sich offensichtlich nur mit Mühe zurück. »Das ist ja alles außerordentlich interessant«, grinste Vohnbrook. »Aber können Sie uns vielleicht freundlicherweise erklären, welchen Einfluß das alles auf die gegenwärtige Verhandlung haben soll? Die Anklage lautet doch auf ungesetzliche Sabotage gegen die Steuerwächter, vertreten durch Ser Bolin. Wenn Ser McKie …« »Wenn der ehrenwerte Ankläger es gestattet«, sagte McKie, »so glaube ich, seine Befürchtungen zerstreuen zu können.« »Verschwörung!« rief Vohnbrook. »Was ist mit …« Ein lautes Trommeln unterbrach ihn, als Richter Dooley sein Schwert hob und das Dröhnen den ganzen Raum erfüllte. Als
die Ruhe wiederhergestellt war, legte der Richter das Schwert fest vor sich auf den Tisch. Dooley brauchte einen Augenblick, um sich zu beruhigen. Er spürte deutlich, auf welch schmalem, politischem Grat er sich bewegte, und er dankte den Sternen dafür, daß er sich immer noch die Möglichkeit offengelassen hatte, zu entscheiden, ob es sich hier um ein Gerichtsverfahren oder ein Hearing handelte. »Wir werden jetzt in Ruhe und Ordnung fortfahren«, sagte Dooley. »Dazu sind Gerichte nämlich da, meine Herren.« Er holte tief Luft. »Nun, es sind verschiedene Personen anwesend, deren Bemühen um Recht und Ordnung wohl außer Zweifel steht. Ich denke, zu ihnen sollten wir den Ankläger Ser Vohnbrook zählen; den ehrenwerten Rechtsanwalt der Verteidigung, Ser Oulson; Ser Bolin, dessen Rasse für Vernunft und Humanität bekannt ist; und die ehrenwerten Vertreter des Büros für Sabotage, deren Aktionen wohl manchmal Verbitterung und Ärger hervorrufen mögen, die aber, wie wir alle wissen, einzig und allein das Prinzip verfolgen, uns zu stärken und unsere innere Widerstandsfähigkeit zu festigen.« Dieser Richter hat den Beruf verfehlt, dachte McKie. Mit solchen Reden wäre er bei der Legislative besser aufgehoben. Vohnbrook ließ sich verlegen auf seinen Stuhl sinken. »Und jetzt«, sagte der Richter, »wenn ich mich nicht irre, bezieht sich Ser McKie auf zwei Sabotagehandlungen.« Dooley sah auf McKie herunter. »Ser McKie?« »So könnte es scheinen, Euer Ehren«, sagte McKie in der. Hoffnung, die augenblickliche Stimmung des Richters richtig erkannt zu haben. »Dieses Gericht sieht sich jedoch wahrscheinlich in der einzigartigen Lage, über diese Frage zu entscheiden. Sehen Sie, Euer Ehren, die zitierte Sabotagehandlung, auf die ich mich beziehe, wurde von einem Pan-Spechi-Agenten des Büros eingeleitet. Aber jetzt scheint
es so, als wolle ein Wiegengenosse dieses Pan-Spechi das Verdienst dieser Aktion einstreichen, dessen …« »Wagen Sie es, damit anzudeuten, daß ich nicht der Inhaber des Egos meiner Gruppe bin?« fragte Bolin. Ohne Kenntnis, wo und was es war, wußte McKie instinktiv, daß der Pan-Spechi eine Waffe auf ihn gerichtet hielt. Es war genügend bekannt, daß die Pan-Spechi eine Waffe zur Verteidigung ihres Ego besaßen. »Ich habe nichts dergleichen angedeutet«, sagte McKie hastig und so überzeugend wie möglich. »Aber Sie können die terranisch-menschliche Kultur nicht derart falsch interpretiert haben, daß Sie nicht wissen, was jetzt geschieht.« Durch irgendeinen Instinkt gewarnt, verfolgten der Richter und die anderen Beteiligten diese Auseinandersetzung schweigend. Bolin schien mit jeder Zelle seines Körpers zu zittern. »Ich bin betrübt«, murmelte er. »Wenn es irgendeine Möglichkeit gäbe, diese Betrübnis zu vermeiden, hätte ich sie ergriffen«, sagte McKie. »Sehen Sie einen anderen Weg?« Immer noch bebend, sagte Bolin: »Ich muß tun, was ich tun muß.« Mit leiser Stimme sagte Dooley: »Ser McKie, was geht hier eigentlich vor?« »Zwei Kulturen unternehmen zumindest den Versuch, einander zu verstehen«, sagte McKie. »Jahrhundertelang haben wir anscheinend voller Verständnis zusammengelebt. Aber der Anschein kann manchmal trügen.« Oulson wollte sich erheben, wurde aber von Watt zurückgehalten. Und McKie bemerkte, daß sein früherer Chef die Gefahr erkannt hatte. Ein Punkt zu Watts Gunsten. »Sie verstehen, Ser Bolin«, sagte McKie, »daß diese Dinge offen ausgesprochen und sorgfältig diskutiert werden müssen,
ehe vor diesem Gericht eine Entscheidung fallen kann. Das ist eine der Grundregeln der Gesetze, denen auch Sie sich unterworfen haben. Ich bin geneigt, Ihr Streben nach dem Sekretariat zu unterstützen, aber vor meiner Entscheidung warte ich das Ergebnis dieses Hearings ab.« »Was sind das für Dinge, die diskutiert werden müssen?« fragte Dooley. »Und was gibt Ihnen das Recht, Ser McKie, diese Verhandlung ein Hearing zu nennen?« »Eine Redewendung«, sagte McKie, aber seine Aufmerksamkeit war nach wie vor auf Bolin gerichtet. Er fragte sich, was das für eine schreckliche Waffe sein mochte, die die Pan-Spechi zur Verteidigung ihres Egos einsetzten. »Was sagen Sie, Ser Bolin?« »Sie verteidigen die heilige Unverletzlichkeit Ihres Heimes«, sagte Bolin. »Wollen Sie mir das gleiche Recht bestreiten?« »Richtig: Unverletzlichkeit, nicht Geheimnis«, sagte McKie. Dooley blickte von McKie zu Bolin, bemerkte den angespannten, lauernden Eindruck, den der Pan-Spechi machte und daß er eine Hand in der Jackentasche verborgen hielt. Der Richter hatte den Eindruck, daß der Pan-Spechi eine Waffe besaß, die er gegen alle an diesem Verfahren beteiligten einsetzen konnte. Er zögerte jedoch, die Wachen zu rufen, als er sich in Erinnerung gerufen hatte, was er über die Pan-Spechi wußte. Die Pan-Spechi waren als Mitglieder der menschlichen Rassen zugelassen und bekannt als gute Freunde, aber auch schreckliche Feinde, und es gab immer wieder Andeutungen auf ihre verborgenen Kräfte, ihre eifersüchtige Haltung, wenn es um das Ego ging, und ihre unerbittliche Wildheit, wenn es um die Verteidigung der »Wiege« ging. Langsam ließ Bolins Zittern nach. »Sagen Sie, was Sie glauben sagen zu müssen«, knurrte er. McKie betete insgeheim, daß der Pan-Spechi seine Reflexe unter Kontrolle haben möge, und wandte sich an die Kameras
an der gegenüberliegende Wand, die die Gerichtsverhandlung ins ganze Universum übertrugen. »Ein Pan-Spechi, der den Namen Napoleon Bildoon trug, war einer der besten Agenten des Büros für Sabotage«, sagte McKie. »Agent Bildoon verschwand genau zu dem Zeitpunkt von der Bildfläche, als Panthor Bolin den Posten des Leiters der Steuerwächter übernahm. Es ist höchst wahrscheinlich, daß die Steuerwächter-Organisation eine raffinierte und höchst subtile Sabotage des Büros für Sabotage selbst ist, und zwar eingeleitet durch Bildoon.« »Es gibt keine Person namens Bildoon!« schrie Bolin. »Ser McKie«, sagte Richter Dooley, »würde es Ihnen etwas ausmachen, diese Aussage in meinem Amtszimmer fortzusetzen?« Der Richter starrte den Saboteur an und bemühte sich, freundlich, aber gleichzeitig hart zu wirken. »Euer Ehren«, sagte McKie, »dürfen wir, aus Respekt einem anderen Menschen gegenüber, diese Entscheidung Ser Bolin überlassen?« Bolin richtete seine Facettenaugen auf das Podest und sagte leise: »Wenn es dem hohen Gericht gefällt, wäre es am besten, es öffentlich zu tun.« Er riß die Hand aus der Tasche. Sie war leer. Er beugte sich über den Tisch und packte die vordere Kante mit beiden Händen. »Bitte, fahren Sie fort, Ser.« McKie schluckte, im Augenblick überwältigt vor Bewunderung für diesen Pan-Spechi. »Es wird mir ein außerordentliches Vergnügen bereiten, unter Ihnen zu arbeiten, Ser Bolin«, sagte McKie. »Tun Sie, was Sie tun müssen«, knurrte Bolin. McKie sah die Verwunderung auf den Gesichtern von Watt und dem Rechtsanwalt und die fragenden Augen des Richters. »Nach der Terminologie der Pan-Spechi gibt es tatsächlich keinen Napoleon Bildoon«, sagte er. »Aber es hat einmal eine solche Person gegeben, einen Gruppenbruder von Ser Bolin. Ich nehme an, die Ähnlichkeit der Namen ist Ihnen aufgefallen.«
»Ah – ja«, sagte Dooley. »Ich fürchte, in den Augen der Pan-Spechi war ich ein verdammt neugieriger Bursche, ein Naseweis oder wie immer man das nennen mag«, sagte McKie. »Aber das alles nur, weil ich vermutete, jene Sabotagehandlung entdeckt zu haben, auf die ich mich vorhin bezogen habe. Die Steuerwächter hatten eine zu genaue Kenntnis des inneren Ablaufs des Büros für Sabotage gezeigt.« »Ich … äh … ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstehe«, sagte Dooley. »Das bestgehütete Geheimnis des Universums, der zyklische Ablauf und Wechsel des Pan-Spechi-Lebens und der Wechsel der Identität ist, was mich betrifft, kein Geheimnis mehr«, sagte McKie und schluckte hart, als Bolins Finger weiß wurden und die Tischkante umklammerten. »Bezieht sich das auf diese Verhandlung?« fragte der Richter. »Ganz bestimmt, Euer Ehren«, sagte McKie. »Sehen Sie, die Pan-Spechi haben eine einzigartige Drüse, die Denkweise, Vorherrschaft und den Zusammenhang zwischen Vernunft und Instinkt regelt. Die fünf Gruppenbrüder sind in Wirklichkeit eine einzige Person. Das möchte ich aus gutem Grund und rechtlicher Notwendigkeit klarmachen.« »Rechtlicher Notwendigkeit?« fragte Dooley. Verwirrt gingen seine Blicke zwischen Bolin und McKie hin und her. »Wenn die Drüse funktioniert, wird das Gruppenego des PanSpechi dominant, in dem sie arbeitet. Aber sie arbeitet nur eine begrenzte, ganz bestimmte Zeit lang; etwa fünfundzwanzig oder dreißig Jahre.« McKie sah Bolin an. Der Pan-Spechi hatte wieder zu zittern begonnen. »Bitte, verstehen Sie mich, Ser Bolin«, sagte er. »Ich tue das nur, weil es nötig ist, und es handelt sich nicht um Sabotage.«
Bolin hob sein Gesicht und sah McKie an. Die Gesichtszüge des Pan-Spechi erschienen schmerzverzerrt. »Bringen Sie es hinter sich, Mann!« krächzte er. »Ja«, sagte McKie und wandte sich wieder an den verwirrt dreinblickenden Richter. »Der Ego-Transfer bei den PanSpechi, Euer Ehren, bedingt eine Übergabe dessen, was wir allgemein vielleicht mit Grunderfahrung bezeichnen könnten. Der Austausch vollzieht sich durch Kontraktion, wenn der Inhaber des Bewußtseins stirbt, ganz gleich, wie weit er von der »Wiege« entfernt sein mag; dadurch scheint der Älteste in der »Wiege« stimuliert zu werden. Der Bewußtseinsinhaber hinterläßt dem Bruder auch, wo immer möglich, ein verbales Vermächtnis – und das ist meistens der Fall. Besonders diesmal.« Dooley lehnte sich zurück. Er begann zu verstehen, welche rechtliche Frage McKie angeschnitten hatte. »Der Sabotageakt, der einen Pan-Spechi zum Aspiranten für den Posten eines Sekretärs des Büros für Sabotage machen könnte, ist durch einen … nun, Bruder von Ser Bolin ausgelöst und eingeleitet worden. Ist das richtig?« fragte Dooley. McKie fuhr sich über die Augenbrauen. »Richtig, Euer Ehren.« »Aber dieser Gruppenbruder ist nicht mehr der Inhaber des Gruppenbewußtseins, wie?« »Sehr richtig, Euer Ehren.« »Der … äh … frühere Inhaber des Bewußtseins, dieser … Bildoon, ist nicht mehr zur Vorladung geeignet?« »Bildoon, oder was einmal Bildoon war, ist jetzt ein Wesen, das nur noch auf Instinktebene agiert und reagiert, Euer Ehren«, sagte McKie. »Er wird noch eine Weile in der Lage sein, als Wächter der »Wiege«, gewissermaßen als Kindermädchen, zu agieren und irgendwann einen anderen Zweck erfüllen, den ich lieber nicht erläutern möchte.« »Ich verstehe«, sagte Dooley und sah hinauf zum Wetterschutzdach. Langsam begriff er, was McKie hier riskiert
hatte. »Und Sie befürworten Ser Bolins Anspruch auf das Sekretariat?« »Wenn Präsident Hindley und das Kabinett der Empfehlung des dienstältesten Agenten des Büros folgen, was in der Vergangenheit immer der Fall war, wird Ser Bolin der neue Sekretär des Büros sein«, sagte McKie. »Ich bin dafür.« »Warum?« fragte Dooley. »Weil diese Pan-Spechi mit ihrem wandernden Ego eine weit gemeinschaftlichere Haltung gegenüber den Gefühlen anderer entwickeln als alle anderen im Kreise der menschlichen Wesen zugelassenen Rassen«, sagte McKie. »Das drückt sich in einem ausgeprägten Verantwortungsgefühl für alles aus, was Leben heißt, das jedoch nicht bis zur Rührseligkeit praktiziert wird. Wo es erforderlich ist, um Stärke hervorzurufen, opponieren sie durchaus. Ihr eigener Lebenszyklus bietet dafür einige klare Beispiele, die ich aber lieber nicht anführen möchte.« »Ich verstehe«, sagte Dooley, aber er mußte sich selbst eingestehen, daß das durchaus nicht der Fall war. McKies Hinweise auf unaussprechliche Vorgänge begannen ihn zu langweilen. »Und Sie sind der Meinung, daß diese Sabotagehandlung des Bildoon-Bolin ihn qualifizieren, vorausgesetzt, dieses Gericht beschließt, in ihnen eine Person zu sehen?« »Wir sind nicht die gleiche Person!« schrie Bolin. »Wie können Sie es wagen, zu behaupten, daß dieser watschelnde …« »Langsam«, sagte McKie. »Ser Bolin, ich bin sicher, daß Sie die Notwendigkeit dieser rechtlichen Fiktion einsehen.« »Rechtliche Fiktion«, sagte Bolin, als klammere er sich an die Worte. Seine Facettenaugen starrten McKie durch die Gerichtsarena an. »Vielen Dank für Ihre Höflichkeit, McKie.«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet, McKie«, sagte Dooley, der beschlossen hatte, den Zwischenruf Bolins zu ignorieren. »Ser Watt durch Sabotage des gesamten Büros zu sabotieren deutet auf eine Feinheit und geistige Überlegenheit hin, wie sie nie zuvor bei solchen Handlungen angewandt wurde«, sagte McKie. »Das gesamte Büro wird dadurch gestärkt.« McKie warf einen Blick zu Watt hinüber. Das Gewirr der Tentakeln auf dem Kopf des amtierenden Sekretärs hatte aufgehört zu zucken. Watt starrte Bolin prüfend an. Als er sich der Stille in der Gerichtsarena bewußt wurde, sah er zu McKie auf. »Pflichten Sie mir nicht bei, Ser Watt?« fragte McKie. »Oh, doch. Völlig«, sagte Watt. Die Offenheit in Watts Stimme erstaunte den Richter. Zum erstenmal wunderte er sich über die Hingabe, mit der diese Männer ihre Aufgabe versahen. »Das Büro für Sabotage ist eine sehr empfindliche Einrichtung«, sagte McKie. »Enthaltsamkeit und Entsagung ist eine der Haupteigenschaften, die ein guter Saboteur mitbringen muß. Deshalb möchte ich, daß Sie verstehen, was unser PanSpechi-Freund hier heute getan hat. Nehmen wir einmal an, Euer Ehren, ich hätte die intimsten Augenblicke zwischen Ihnen und Ihrer Frau ausspioniert und hätte sie hier vor Gericht in aller Öffentlichkeit bekanntgegeben. Nehmen wir weiter an, daß Sie die schärfsten moralischen Grundsätze bezüglich der Diskussion solcher Intimitäten in der Öffentlichkeit hätten. Nehmen wir an, daß ich diese Enthüllungen in den ordinärsten Worten gemacht hätte. Nehmen wir weiter an, Sie seien traditionsgemäß bewaffnet gewesen, mit einer absolut tödlichen Waffe, die ausschließlich für solche Blasphemisten bestimmt ist, gegen solchen …« »Schmutz!« krächzte Bolin.
»Jawohl«, sagte McKie, »Schmutz. Glauben Sie, Euer Ehren, Sie hätten ruhig dastehen können, ohne mich zu töten?« »Meine Güte!« sagte Dooley. »Ser Bolin«, sagte McKie, »ich drücke Ihnen und Ihrer ganzen Rasse meine demütigste Entschuldigung aus.« »Ich hatte gehofft, diese Qual unter Ausschluß der Öffentlichkeit im Zimmer des Richters über mich ergehen lassen zu können«, sagte Bolin. »Aber als Sie bei der öffentlichen Verhandlung damit angefangen hatten …« »Es mußte so sein«, sagte McKie. »Wenn wir es unter Ausschluß der Öffentlichkeit getan hätten, wären die Leute mißtrauisch geworden, wenn ein Pan-Spechi die Leitung …« »Leute?« »Die Nicht-Pan-Spechi«, sagte McKie. »Es wäre eine Barriere zwischen den Rassen entstanden und unsere Institution ist durch all das gestärkt worden«, fuhr McKie fort. »Die Vorkehrungen, die in der Verfassung getroffen sind, um eine langsam arbeitende Regierung zu garantieren, sind wieder einmal erklärt worden. Wir haben der Öffentlichkeit einen Einblick in die Arbeitsweise des Büros für Sabotage vermittelt und demonstriert, welch wertvollen Charakter der neue Sekretär hat.« »Meine Entscheidung in der strittigen Frage ist noch nicht gefallen«, sagte Dooley. »Aber, Euer Ehren«, sagte McKie. »Bei allem gebührenden Respekt vor Ihnen als Außerordentlichem Saboteur, Ser McKie«, sagte Dooley, »muß ich Ihnen sagen, daß ich die Entscheidung unter dem Aspekt der von mir selbst gewonnenen Eindrücke zu fällen gedenke.« Er sah Bolin an. »Ser Bolin, würden Sie einem Beauftragten dieses Gerichts gestatten, ausreichende Informationen zu sammeln, die es mir gestatten, einen
Urteilsspruch zu fällen, ohne befürchten zu müssen, meiner eigenen Rasse Schaden zuzufügen?« »Wir sind alle miteinander Menschen«, knurrte Bolin. »Aber die Terraner halten das Gleichgewicht der Kräfte«, sagte Dooley. »Ich muß mich an das Gesetz halten, das ist richtig, aber meine terranischen Brüder verlassen sich auch auf mich. Ich …« »Sie möchten, daß Ihre eigenen Beauftragten feststellen, ob Ihnen McKie die Wahrheit über uns erzählt hat?« »Äh … ja«, sagte Dooley. Bolin blickte McKie an. »Ser McKie, ich bin es, der sich bei Ihnen entschuldigen muß. Mir war nicht bewußt, wie sehr Ihre Rasse vom Haß gegenüber Fremden durchdrungen ist.« »Weil Sie außerhalb Ihrer natürlichen Bescheidenheit keine solche Angst haben«, sagte McKie. »Ich habe den Verdacht, daß Sie dieses Phänomen nur aus Ihren Schriften über uns kennen.« »Aber alle Fremden sind doch potentielle Teilhaber unserer Identität«, sagte Bolin. »Äh, ja.« »Wenn Sie mit Ihrer kleinen Plauderei fertig sind«, sagte Dooley, »würde es Ihnen dann etwas ausmachen, meine Frage zu beantworten, Ser Bolin? Wir befinden uns hier, wie ich hoffe, immer noch vor einem ordentlichen Gericht.« »Sagen Sie, Euer Ehren«, entgegnete Bolin, »würden Sie mir gestatten, die zärtlichsten Intimitäten zwischen Ihnen und Ihrer Frau zu beobachten?« Dooleys Gesicht verdüsterte sich, aber plötzlich sah er ganz klar die Analogie von McKies Erklärung vor sich, und er rang sich zu einer Antwort durch. »Wenn es nötig wäre, um das gegenseitige Verständnis zu fördern, ja.« »Ich glaube, daß Sie das tun würden«, murmelte Bolin. Er holte tief Luft. »Nach dem, was ich hier heute durchgemacht
habe, kann ich wahrscheinlich auch noch ein weiteres Opfer bringen. Ich werde Ihren Beauftragten das erbetene Privileg gewähren, muß aber bitten, sie zu absoluter Geheimhaltung zu verpflichten.« »Es wird Sie stärken für die Prüfungen, die als Sekretär des Büros für Sabotage vor Ihnen liegen«, sagte McKie. »Der Sekretär genießt, wie Sie wissen, keinerlei Immunität gegenüber Sabotage jeglicher Art.« »Aber«, sagte Bolin, »die Befehle des Sekretärs in Ausübung seiner verfassungsmäßigen Pflichten müssen von allen Agenten befolgt werden.« McKie nickte, und in Bolins Facettenaugen sah er schon das Glitzern, das ihm die vertracktesten Aufgaben mit endlosen detaillierten Berichten an das Büro anzukündigen schien – zumindest bis die Neugier dieses Mannes befriedigt und sein Rachedurst gestillt sein würden. Aber die anderen in der Gerichtsarena, die McKies Einsicht nicht hatten, fragten sich bei dieser Feststellung nur: Was hat er nun wirklich damit gemeint?
Originaltitel: THE TACTFUL SABOTEUR. Copyright © 1964 by Galaxy Publishing Corporation. Aus GALAXY SCIENCE FICTION Oktober 1964. Übersetzt von Udo H. Schwager.
Robert Moore Williams RÜCKKEHR DER ROBOTER
Wie von einer unsichtbaren Macht getragen, schwebte das Raumschiff langsam und majestätisch kaum vierzig Meter über der Oberfläche des Planeten dahin, während am blauen Himmel eine gewaltige, rötlich schimmernde Sonne – etwa 150 Millionen Kilometer entfernt – sich anschickte, zum Horizont hinabzusteigen. Ihre Strahlen wurden von glatten braunen Hügeln zurückgeworfen, trafen auf zerfallene Bauwerke und glitten über die unregelmäßigen und doch regelmäßigen Steinschluchten. Das Schiff wendete, kehrte zu den Hügeln zurück, umkreiste sie suchend und senkte sich schließlich auf eine Stelle herab, die verhältnismäßig eben erschien. Zischend öffnete sich eine Luke. Neun stand in der Öffnung und starrte mit unbeweglichen Augen über die trostlose Landschaft – ruhig und ohne Sentimentalität. Er sah die vielen Hügel, die weißen Mauerreste inmitten schmutzigbrauner Erde und die unzähligen rostbraunen Pfähle, die sich bis zum Horizont erstreckten. Hinter ihm flüsterte eine Stimme, fragend und fast ängstlich. »Es ist überall das gleiche«, antwortete Neun, und seine schmalen Lippen bewegten sich nicht. »Überall das gleiche tödliche Schweigen in den Ruinen einst mächtiger Städte. Nichts lebt mehr. Die Einwohner sind verschwunden.« Nach einigen Augenblicken sagte eine dritte Stimme: »Habe ich es nicht schon vorher gewußt? Wir verschwenden unsere Zeit. Es ist wahr, daß hier einst eine Rasse lebte; aber diese
Wesen waren sicherlich nicht intelligent genug, um unsere Vorfahren zu sein.« Neun, der immer noch in der offenen Luke stand, seufzte und sagte mit leiser Stimme: »Du vergißt eins, Sieben: Wir haben bisher nur oberflächliche Nachforschungen angestellt. Außerdem erinnere dich bitte der Tatsache, daß wir von unseren Vorfahren so gut wie nichts wissen – ja, wir wissen noch nicht einmal, ob wir überhaupt Vorfahren gehabt haben. Unsere Geschichte reicht zwar 8000 Jahre zurück, nicht aber in jene Zeit, die vor dem Erwachen der Ersten Fünf am Gestade des Meeres liegt. Die Fünf erwachten dort und wußten nicht, wie sie hingekommen waren. Vielleicht waren sie eine Schöpfung ganz besonderer Art, denn ihre Intelligenz war ungeheuer. In kürzester Zeit hatten sie von dem Planeten Besitz ergriffen, und sie waren sogar fähig, sich selbst nachzubauen und Ebenbilder zu konstruieren, die ihnen beim Aufbau einer Zivilisation halfen. Vielleicht waren die Ersten Fünf in einem Schiff gekommen, das im Meer versank. Vielleicht kamen sie von einem anderen Planeten. Wir haben das Rätsel ihrer Herkunft niemals lösen können.« Acht sah über die Schulter des vor ihm stehenden Neun. »Ich kenne die Geschichte unserer Rasse zur Genüge«, bemerkte Sieben leicht verstimmt, was auch über Gedankenfunk deutlich zu erkennen war. »Ich meine nur, wir haben auf diesem Planeten sehr wenig Leben gefunden, zumeist nur Überreste. Und dieses Leben bestand aus organischen Substanzen, einfach aus einer Ansammlung von Chemikalien. Und es ernährte sich von anderen Lebewesen. Pah! Ich bedanke mich für solche Vorfahren.« Ganz langsam schüttelte Acht seinen Kopf, und die Strahlen der roten Sonne blitzten auf blanken Metallteilen. Als habe er die Bemerkung von Sieben nicht gehört, sprach er ruhig: »Gleich in der ersten Minute, da ich diese Stelle hier sah, überkam mich das Gefühl, als sei ich schon einmal hier
gewesen. Diese niedrigen Hügel rund um die Stadt – nur die Stadt selbst hat sich verändert und –« Er zeigte mit seinem Arm gen Osten – »Dort müßte sich eigentlich ein See befinden, oder eine Einbuchtung des Meeres. Aber nein, ich täusche mich bestimmt.« Er schwieg eine Weile, und in seine starren Augen trat ein seltsamer Glanz. »Merkwürdig. Warum spreche ich eigentlich laut, statt meine Gedanken direkt über Funk zu übertragen? Warum unterhalten wir uns auf einmal mit unseren Sprechgeräten, obgleich die Verständigung mittels Gedankenfunk besser ist? Warum besitzen wir überhaupt diese Geräte, mit denen wir Laute hervorbringen und Geräusche aufnehmen können?« »Weil wir sie immer schon besaßen«, belehrte ihn Acht. »Die Ersten Fünf hatten diese Geräte. Warum, das weiß ich nicht, denn sie besaßen auch den Gedankenfunk. Vielleicht benötigten sie diese akustische Einrichtung, obwohl ich mir das nicht vorstellen kann. Es ist aber möglich, daß wir eines Tages ihren wahren Sinn entdecken.« »Du bist ein unverbesserlicher Träumer«, höhnte Sieben. »Es scheint tatsächlich so, daß immer wieder Fehlkonstruktionen entstehen, ganz gleich, wie sorgfältig auch die Gehirnsubstanz herangezüchtet wird. Warum bist du nicht bereit, der Realität ins Auge zu schauen? Warum dieses Suchen in der Vergangenheit, nach einem Tag, den es niemals gab? Ich bin gegen deine Pläne, genauso wie ich den Beschluß des Hohen Rates mißbillige, der diese überflüssige Expedition ermöglichte.« Neun entgegnete sachlich: »Der Rat konnte die Existenz der Sternenkarte nicht ignorieren, die jene Ersten Fünf bei sich trugen, als sie erwachten. Keiner von uns hatte jemals vermocht, mit dieser Karte etwas anzufangen, bis wir unsere neuesten Teleskope entwickelten, mit deren Hilfe wir dieses System entdeckten: Eine Sonne, neun Planeten, von denen der dritte einen merkwürdigen Trabanten hat. Ohne
Zweifel hat diese Sternenkarte etwas mit unserer Herkunft zu tun, denn sie muß aus unserer Vergangenheit stammen.« »Unsinn! Ich bin Realist und blicke in die Zukunft, aber niemals in die Vergangenheit.« »Besteht denn diese Zukunft aus etwas anderem als aus Bausteinen der Vergangenheit? Können wir sie überhaupt richtig gestalten, wenn wir die Vergangenheit nicht kennen? Für uns ist es ungeheuer wichtig zu erfahren, ob wir von Göttern abstammen – oder von einer Lebensform, die uns unterlegen war. Gehen wir.« Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ Neun die Luke und stieg auf den Erdboden hinab. Acht folgte ihm, und schließlich auch Sieben. Sie waren drei Gestalten aus Metall, keine anderthalb Meter hoch. Sie besaßen zwei Beine, zwei Arme, zwei Augen, eine Nase und einen Mund. Letzterer war eigentlich nichts anderes als ein unnötiger Durchbruch der sonst glatten Metallfläche, denn sie benötigten weder Nahrung noch Sauerstoff. Sie bezogen ihre Kraft aus der Energie langsam zerfallender Atome. Selbst die beiden Beine wären unnötig gewesen, denn im Laufe der vergangenen 8000 Jahre hatten sie eine eigene Körperkonstruktion entwickelt. Sieben schritt nicht hinter Acht und Neun her, denen die Berührung mit dem Boden zu gefallen schien, sondern erhob sich wenige Meter und schwebte leicht wie eine Feder dahin. Dann standen sie vor einem der vielen Hügel. Die Augen von Acht schweiften bis hinüber zum fernen Horizont, und in ihnen war ein seltsames Leuchten. Die unzähligen Fotozellen gaben ein wenig von dem wieder, was in seiner Gehirnsubstanz vor sich ging. »Es ist viel größer und gewaltiger«, sagte er, »als es von oben aussieht.« Aus seiner Stimme sprach eine schmerzliche Ungewißheit.
»Ja«, bestätigte Acht. »Wir hielten es für Hügel, in Wirklichkeit sind es jedoch die Reste gigantischer Bauten, Hunderte von Metern hoch. Und um uns herum sehen wir die Ruinen dieser ehemaligen Stadt. Welche Wesen mögen sie erbaut haben? Ich möchte zu gern wissen, ob sie vielleicht nicht doch unsere Vorfahren gewesen sind …« »Unsinn!« sagte die kalte Stimme von Sieben. Acht wandte sich langsam zu Sieben. Er sagte eindringlich: »Vielleicht ist es kein Unsinn. Seit ich dieses System aus der Ferne gesehen habe – neun Planeten, die eine Muttersonne umkreisen –, verläßt mich das Gefühl nicht mehr, als sei dies – unsere Heimat.« »Heimat!« stieß Sieben hervor. »Heimat! Dieses Wort ist für uns ohne Bedeutung, denn wir sind überall zu Hause. Und von noch weniger Bedeutung sollte für uns das Wort ›Gefühl‹ sein, denn jedes Gefühl widerspricht der Logik.« »Vielleicht hat nur die Logik keine Bedeutung für das Gefühl«, nahm Acht die Diskussion auf. »Doch möglicherweise entsinnst du dich der Tatsache, daß unsere Gehirne nach der Schablone der Ersten Fünf konstruiert wurden – und woher sollten wir wissen, ob nicht gerade auch das Gefühl in dieser Schablone eine gewisse Rolle spielte? Kann es sich nicht plötzlich wieder regen?« »Ich entsinne mich nur der Tatsache, daß wir Roboter sind.« Sieben blieb unbelehrbar. »Ich interessiere mich auch nicht für unseren Ursprung. Nur die Zukunft hat für mich Bedeutung, jene Zukunft, in der wir von Stern zu Stern ziehen werden.« »Roboter«, sann Acht vor sich hin. »Ich wundere mich sogar manchmal, woher wir diesen Namen haben.« »Die Ersten Fünf nannten sich so. Sie hatten ja auch eine eigene Sprache.« »Aber warum haben sie dann unter Tausenden von Möglichkeiten ausgerechnet diesen Namen erhalten?«
»Weil …« Sieben schwieg plötzlich. Acht konnte seine Denkimpulse deutlich spüren. Sieben versuchte sich selbst klarzumachen, warum er den Namen Roboter erhalten hatte, und als er die Antwort schließlich fand, war sie jenseits der Grenzen aller Logik. Oder sollte es überhaupt keine Antwort auf diese Frage geben? Aber das war auch nicht gerade logisch. Es gab eine Antwort und einen Grund. Sieben bewegte sich unsicher und sah seine beiden Gefährten an. Dann schaltete er seinen Gravitationsneutralisator aus und senkte sich auf den Boden. Es war so, als wolle nun auch er die Erde unter den Füßen spüren. Schweigend folgte er Neun, der voranging. Acht sagte nichts. »Was glaubst du, wie diese Rasse aussah?« fragte Sieben. Acht antwortete nicht, sondern stellte die Gegenfrage: »Warum mögen sie verschwunden sein? Könnte es uns eines Tages ähnlich ergehen?« Sieben und Neun wandten sich um und starrten ihn an. »Uns könnte das nicht passieren«, murmelte Sieben. »Ich hoffe es nicht«, nickte Acht. »Aber irgend etwas muß dieser Rasse zugestoßen sein und vielleicht …« »Wir haben keine Zeit zu verschwenden«, unterbrach Neun abrupt. »Wir müssen den Boden genau untersuchen. Vielleicht gelingt es uns, die verrosteten Überreste der Erbauer dieser Stadt zu finden. Ich hatte am Anfang noch geglaubt, wir würden sie noch lebend finden, aber diese Hoffnung habe ich aufgegeben. Doch ist es möglich, daß wir Ton- oder Bildkonserven finden. Irgendwo …« Langsam, unter den Strahlen der schwachen Sonne, schritten sie durch die Ruinen. Neun ging voran, ihm folgte Acht. Sieben machte den Schluß. Um sie herum bewegte sich die Luft, getrieben von einer ihnen unbekannten Kraft. Sie spürten den Wind, konnten sich diese Energie jedoch nicht erklären.
Acht starrte unruhig auf die Ruinen und fragte sich, wie wohl die Wesen ausgesehen haben mochten, die sich einst zwischen ihnen bewegt hatten. Seine Metallfüße berührten oxydiertes Eisen, das bei dieser Berührung zu Staub zerfiel. Er versuchte sich das Bild vorzustellen, in dem Millionen von Lebewesen die noch unversehrte Stadt bevölkerten. Er sah im Geiste ihre metallisch schimmernden Körper durch die Straßen wandeln, sah sie zu den Eingangsöffnungen emporschweben. Er stellte sich vor, wie sie des Nachts zum Himmel hochschauten, die Sterne beobachteten und Vermutungen über den seltsamen Satelliten anstellten, der ihre Welt umkreiste. Aber sie würden ihn sicherlich selbst besucht haben, dachte Acht. Bestimmt hatten sie das getan, vielleicht waren sie sogar zu den Sternen vorgestoßen, denn die zerfallenen Türme ihrer Stadt strebten in diese Richtung. Und doch kamen ihm plötzlich Bedenken. Er konnte sich nicht vorstellen, daß diese gewaltige Stadt von so kleinen Robotern, wie sie selbst es waren, bevölkert gewesen sein sollte. Irgend etwas mußte da anders gewesen sein. Aber was? Neun war vor einem riesigen Trümmerhaufen geborstener Mauern und Metallgerippe stehengeblieben. Seine Augen blickten hinein in eine schwarze Öffnung, ohne etwas entdecken zu können. Der Gang mußte direkt unter die Ruine führen. »Ich werde hineingehen«, sagte er. Sieben und Acht folgten ihm. Die Dunkelheit hüllte sie ein, bis auf Neuns Stirn ein Licht aufflammte und die Finsternis des unterirdischen Tunnels aufhellte. Wie kleine Explosionen wirbelte der Staub unter ihren Füßen auf und sank wieder zu Boden. Sie schritten weiter, und der Gang verbreiterte sich plötzlich zu einem kreisförmigen Saal, aus dem wiederum mehrere Gänge hinausführten. Die Türen, hinter denen diese Gänge lagen, waren noch geschlossen. Neun ging zu einer der Türen und drückte dagegen. Sie zerfiel unter seinen Händen. Es war
jedoch kein Gang, der dahinter lag, sondern eine kleine Kammer. Neun betrat sie und brach durch den Boden. Im Fallen schaltete er das Gerät ein, welches die Schwerkraft aufhob. Schwebend ließ er sich hinab. Erst als sie seine Gedanken über Funk vernahmen, folgten ihm Sieben und Acht. Neun sah ihnen entgegen, als sie durch den Schacht herunterschwebten. »Dieser kleine Raum muß dazu gedient haben, die Erbauer der Stadt in die oberen Stockwerke hinaufzutragen. Wer immer sie also waren, sie vermochten nicht die Schwerkraft zu neutralisieren.« Weder Acht noch Sieben gaben eine Antwort. Neun schritt weiter und ließ den Strahl seiner Lampe über Trümmer gleiten, bis etwas Außergewöhnliches seine Aufmerksamkeit erregte. »Hier ist eine Maschine«, erreichten seine Gedanken die anderen. »Oder vielleicht ist es – eine unserer früheren Lebensformen …?« Acht sah verrostete Räder unter dem verfallenen Antriebsgehäuse. In seinem Innern sträubte sich alles bei dem Gedanken, dies könne einst ein Roboter gewesen sein. Und doch war es schwer, den Punkt genau zu bestimmen, an denen eine Maschine nicht mehr eine Maschine war, sondern zum Roboter wurde. Die trennende Linie war nur schwach erkennbar. Metall, in Tausenden von Formen zu einem Ganzen zusammengesetzt und mit einem Gehirn versehen, das Eindrücke empfangen und vermitteln konnte, und man hatte einen Roboter. Wenn man das Gehirn wegließ, besaß man lediglich eine Maschine. Sieben erhob sich wieder in die Luft. »Es ist eine primitive Lebensform von uns, daran besteht wohl kein Zweifel. Die fundamentalen Eigenschaften eines Roboters sind vorhanden, die Konstruktion beweist es.« Acht schüttelte den Kopf: »Nein, ein Roboter ist mehr als nur eine hirnlose Maschine, die lediglich Befehle ausführt. Und was
sollte dies hier anderes sein? Ich sehe kein Anzeichen eines einmal vorhanden gewesenen Gehirns. Nein, dies ist eine Maschine, die irgendeinen bestimmten Zweck zu erfüllen hatte.« »Auch ein Roboter ist eine Maschine«, sagte Sieben. »Eine logische Maschine allerdings. Vielleicht war das Gehirn dieser Maschine in einem anderen Teil des Gebäudes.« Neun bewegte sich unruhig hin und her und meinte: »Ich bin geneigt, Acht zuzustimmen. Diese Maschine hier war nichts anderes als eine Pumpe, die Flüssigkeit – vielleicht Wasser – bis in die obersten Stockwerke pumpte. Seht her, hier ist die Druckkammer, und dies war ein primitiver Elektromotor. Nein, das war nur eine Maschine, niemals ein Roboter.« »Sind wir nicht selber hochentwickelte Maschinen?« murmelte Sieben unzufrieden. »Und wir nennen uns einfach selbst Roboter. Wenn ihr uns über einfache Maschinen erheben wollt, denkt ihr unlogisch. Ich gebe zu, diese Pumpe ist eine Maschine, aber sie ist auch gleichzeitig eine primitive Erscheinungsform des Roboters. Beides ist das gleiche. Sicher, zwischen ihr und uns fehlen wichtige Verbindungsglieder, aber vielleicht können wir einige von ihnen hier finden.« »Und wie erklärst du dir die Tatsache«, unterbrach ihn Acht, »daß sich lebloses, ungeformtes Metall selbst und von allein zu einer Maschine zusammenbaut?« Sieben schien eine Antwort geben zu wollen, schwieg aber dann. Er sah Acht lange an, ehe sein Blick zu der verrosteten Pumpe ging. Der grelle Schein seiner Lampe zerschnitt die Dunkelheit, aber rund um den Strahl war und blieb es um so finsterer. »Darauf weiß ich keine Antwort«, sagte Sieben schließlich. »Vielleicht war das Universum vor einer Million Jahren anders als heute. Ich kann es nicht wissen, wir alle wissen es nicht. Wir haben ein Glied in der Kette unserer
Vorgeschichte gefunden – und vielleicht finden wir noch weitere.« Acht gab keine Antwort und behielt seine Gedanken für sich. Es hatte wenig Zweck, mit Sieben zu diskutieren. Und im übrigen erkannte Acht, daß Sieben nicht so unrecht hatte. Roboter waren Maschinen, sicher. Aber konnten Maschinen träumen? In Acht regte sich eine seltsame Verwunderung, als er sich überlegte, aus welchem Grunde Roboter wohl zu träumen vermochten, Maschinen aber nicht. Schweigend folgte er Sieben und Neun, die den gleichen Weg zurückkehrten, den sie gekommen waren. Sie untersuchten das ganze Gebäude nach Überresten der Erbauer, aber sie fanden nur Gegenstände unbekannter Art, die bei der geringsten Berührung zu Staub zerfielen. Von den Wesen, die einst diese Welt bevölkert hatten, entdeckten sie keine Spur. Sie durchsuchten die ganze Stadt, und Sieben stolperte über den länglichen Körper eines gewaltigen Mechanismus, der noch nicht vollkommen verrostet schien. Er lag seitlich in einem Trümmerhaufen und hatte an der Unterseite acht Räder. Sieben arbeitete wie toll und räumte die Trümmer beiseite. Er entdeckte eine metallische Schiene, auf der die Maschine gelaufen sein mußte. »Ein weiteres Glied!« sagte Sieben enthusiastisch. »Eine höhere Form diesmal, denn sie hat die Fähigkeit, sich fortzubewegen.« »Aber sie konnte trotzdem nicht denken«, protestierte Neun. »Sie bewegte sich auf Schienen. Es mußte also etwas anderes gegeben haben, das sie lenkte – und für sie dachte.« »Aber was? Vielleicht war die Intelligenz, die diese Maschine leitete, die endgültige Form des Roboters?« Und wieder schwieg Sieben. Acht fühlte die starken Gedankenimpulse, die von ihm ausgingen. Die endgültige Form des Roboters … »Nein«, sagte Acht. »Es gab auf diesem Planeten eine andere, uns völlig unvorstellbare Lebensform,
die alle diese Maschinen zu ihrem Gebrauch schuf. Aber dieses Leben ist verschwunden und hat uns nur seine zerstörten Maschinen hinterlassen.« »Aber was kann dieses Leben vernichtet haben?« fragte Neun. »Was es zerstört hat? Ich weiß es auch nicht. Ich weiß nur, daß einst intelligente Wesen auf diesem Planeten existierten. Ganz vage vermag man diese Existenz noch zu verspüren. Aber wie sie aussahen oder warum sie verschwanden, das vermag ich nicht zu sagen.« Und weiter schritten sie durch die Ruinen. Allmählich sank die Sonne hinter den Horizont. Sehr, sehr langsam. »Seht dort!« schrie Neun plötzlich laut auf. Sie standen auf einem freien Platz inmitten der Trümmer. Vor ihnen erhob sich ein quadratischer Metallblock, der allen Witterungseinflüssen bisher erfolgreich widerstanden hatte. Aber Neun zeigte nicht auf diesen Block, sondern auf eine Figur, die unter verwitterten Steinen halb verborgen lag. Sieben war ruckartig stehengeblieben. »Ein Roboter!« sagte er. »Unser Ebenbild. Das ist der endgültige Beweis!« Sie bückten sich, räumten den Schutt beiseite und legten die Figur frei. Mehr als drei Meter lang war sie, also doppelt so groß wie sie selbst. Acht sah, daß es sich wirklich um einen Roboter handelte. Sieben hatte also recht gehabt. Hier war der Beweis. Die primitiven Maschinen hatten tatsächlich eine beachtliche Intelligenz entwickelt und sich allmählich in diese erstaunliche Lebensform umgewandelt. Und doch war da ein Unterschied, wie Acht erkannte, als er näher hinsah. Seine Hoffnung sank jäh und machte bitterer Enttäuschung Platz. »Nein, das ist keiner von uns. Es ist nur eine Statue.« Aus Metall gegossen, von einer dünnen Rostschicht überzogen, lag
die Statue vor ihnen, die Füße noch fest mit der ausgezackten Metallplatte verbunden, die einst Halt geboten hatte, bevor sie vom Sockel gestürzt war. Acht starrte darauf und vernahm die Gedanken von Sieben, der darauf hinwies, daß selbst diese leblose Statue ein weiterer Beweis war. Denn wozu hätte man sonst die Gestalt eines Roboters für ein Denkmal gewählt? Acht erkannte die Logik in den Gedanken seines Gefährten, aber er wehrte sich gegen die aufkommende Enttäuschung. Er sah in der Figur nicht die Nachbildung eines Roboters, sondern ganz einfach die Verkörperung einer Idee. Aber er wußte nicht, welche Idee das sein sollte. Schlank und fast zerbrechlich, und trotzdem voller Energie und Stärke, lag die Figur vor ihm zwischen den Trümmern einer Zivilisation, den einen Arm ausgestreckt und den Kopf stolz erhoben, als sei sie ein Gott. Ja, es mußte ein Gott gewesen sein, dachte Acht. Ein gefallener Gott. Und seine Gedanken gingen zurück in die Vergangenheit, versuchten sich den Schöpfer dieser Statue vorzustellen, ihren wahren Schöpfer. Der Künstler und Schöpfer war längst nicht mehr, und die Statue war gefallen. Acht wußte plötzlich, warum er träumen konnte, denn er träumte jetzt … Jene Rasse, die einst auf dieser Welt lebte, mußte auch geträumt haben. Ihn interessierte weniger das Schicksal dieser Rasse und ihre traurigen Überreste als jener Traum, den sie gehabt haben mochte. Denn alle materiellen Dinge sind vergänglich, ein Traum aber ist unsterblich. Nur ein Traum vermochte im Urschlamm zu beginnen und sich bis ans Ende aller Zeiten zu halten. Aber der Traum dieser Rasse – war zu Ende gegangen. Irgendeine furchtbare Katastrophe hatte diese Rasse vernichtet, ehe sie ihrem Traum unsterbliche Form geben konnte. Acht hatte nicht bemerkt, daß Sieben und Neun ihn verlassen und in ein Gebäude eingedrungen waren. Erst der Ruf von Neun riß ihn aus seinen Gedanken.
Es war ein großer Raum, wie Acht sofort erkannte. Ein Laboratorium oder eine Werkstatt. Die Bänke, die Maschinen – alles war vermodert und verrostet. Vermodert wie die Träume dieser Rasse … »Ich kann es lesen – es ist unsere Sprache!« klang die Stimme von Neun laut und dröhnend. Die geschriebene Sprache der Roboter – hier auf diesem vergessenen Planeten? Acht fühlte die vibrierenden Stöße seiner eigenen Gedanken. Es war fast schmerzhaft – wenn er Schmerz hätte spüren können. Sie hatten ihre Vergangenheit entdeckt, ihre Vorfahren gefunden. Alle anderen bisherigen Beweise konnten abgeleugnet werden, aber dieser nicht. Es war eine Metallplatte, auf der sich kein Rost festgesetzt hatte. Die Schrift war tief eingegraben und gut leserlich: »Nun stirbt die Menschheit. Ein mutierter Virus fällt über uns her, vernichtet alle lebenden Zellen und greift sogar tote Materie an. Auf der Erde besteht keine Hoffnung mehr. Die einzige Hoffnung ist, sie zu verlassen. Morgen wird unser erstes Raumschiff starten, das Ziel ist der Mars. Einige von uns werden sich im Kälteschlaf an Bord befinden, um der Beschleunigung zu widerstehen. Thoradsons Roboter werden unser Schiff steuern. Es mag sein, daß wir es überleben. Es mag aber auch sein, daß wir sterben. Wir verlassen unsere Erde – möge Gott uns begleiten.« Hier endete die Botschaft. Neun hatte sie vorgelesen, und seine Stimme verstummte plötzlich. Nur das dumpfe Echo hallte aus einer der dunklen Ecken. Dann herrschte Schweigen. Sieben drehte sich langsam um. »Menschheit?« fragte er. »Was ist Menschheit? Ich kenne keine Bedeutung für dieses Wort.« »Vielleicht«, bemerkte Acht mit ganz ruhiger Stimme, »vielleicht ist es der Name jener Lebensform, die uns schuf …« Sieben gab keine Antwort, und auch Neun schwieg. Durch
die Öffnung kam ein kurzer Windstoß und wirbelte Staub auf. Sieben stand neben Neun und sah auf die Metallplatte, las die Botschaft noch einmal, Wort für Wort. »Du mußt recht haben«, sagte er schließlich. »Sie gebrauchten das Wort ›Roboter‹.« Seine Stimme klang verwundert, vermischte sich jedoch mit einem Unterton von Unbehagen. »Eine organische Lebensform – ein Tier! Sie haben uns allem Anschein nach geschaffen und wie Sklaven benutzt. Sie benutzten uns, um ihre Raumschiffe zu steuern.« Acht bewegte sich, schwieg aber. Es gab nichts mehr zu sagen. »Und darum«, flüsterte Neun vor sich hin, »war es so unmöglich, das fehlende Verbindungsglied zwischen ihnen und uns zu finden. Sie schufen die Maschinen und leiteten sie durch ihre Intelligenz. Und endlich bauten sie Maschinen, denen sie einen Teil ihrer Intelligenz abgaben. Es muß sehr spät gewesen sein, fast am Ende ihrer Geschichte. Und sie haben nur wenige gebaut – vielleicht nur fünf. Sie müssen Angst gehabt haben. Es besteht kein Zweifel mehr: In gewissem Sinne waren sie unsere Vorfahren …« »Ja«, stimmte Acht ihm bei. »In einem gewissen Sinne.« »Aber sie starteten zu einem benachbarten Planeten, und unsere Sonne ist Lichtjahre von diesem entfernt. Wie ist das zu erklären?« »Sie haben vielleicht ihr Ziel verfehlt, oder die Roboter meuterten und brachten das Schiff zu einem anderen Stern. Bei der Landung wurde das Schiff zerstört, und nur fünf Roboter überlebten das Unglück.« »Das glaube ich nicht«, warf Sieben ein. »Du hast keine Beweise dafür.« »Nein«, gab Acht zu, »die habe ich nicht. Wir wissen ja auch nicht, was mit den – Menschen im Schiff geschah.« Sie standen vor dem zerfallenen Gebäude, drei kleine aus Metall bestehende Männer. Die Sonne war schon tief unter den
Horizont gesunken, und der Himmel war dunkelrot. Immer noch wehte der leichte Wind. Acht sah hinüber zu der gestürzten Statue. »Vielleicht haben sie sich von Pflanzen ernährt«, vermutete er. »Oder vielleicht haben sie sogar das Fleisch anderer Tiere gegessen. Sie mögen Schwächlinge gewesen und aus dem Urschlamm ihrer Welt heraus entstanden sein. Trotzdem möchte ich sie bewundern. Denn sie hatten einen Traum, sie lebten für ihn – auch wenn sie starben …« Der Roboter beugte sich herab, als er bei der Statue angelangt war, richtete sie auf und lehnte sie gegen den Metallblock. In seinem Innern arbeiteten winzige Motore, gespeist von der niemals endenden Kraft der zerfallenden Atome. Dann kehrten sie zu ihrem Schiff zurück, und bald schwebten sie hinauf in den dunkel werdenden Himmel, den fernen Sternen entgegen. Die stolzen, unsehenden Augen der einsamen Statue schienen dem Flug des Schiffes zu folgen, selbst dann noch, als es längst verschwunden war.
Originaltitel: ROBOT’S RETURN. Copyright © 1938 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION. Übersetzt von Walter Ernsting.
Lawrence O’Donnell DAS FLÜSTERNDE HAUS
Melton betrat nachdenklich das Wohnzimmer und stellte sich ans breite Fenster. Er hatte die Hände auf den Rücken gelegt, bewegte leicht die Finger und brütete vor sich hin. Michaela, seine Frau, stellte die elektrische Nähmaschine ab und beobachtete ihn. Nach einer Weile sagte sie: »Du stehst mir im Licht, Bob.« »Oh, entschuldige«, sagte Melton geistesabwesend und ging ein paar Schritte zur Seite. Er stand noch immer mit dem Rücken zu ihr und bewegte nervös die Finger. Michaela runzelte die Stirn, schaute sich nachdenklich im Zimmer um und schob ihren Stuhl zurück. »Trinken wir was«, meinte sie. »Du machst einen ziemlich verkrampften Eindruck. Vielleicht hilft ein starker Cocktail … oder was denkst du?« »Ein kräftiger Schluck Whisky tut’s auch«, entgegnete Melton, und seine Züge hellten sich etwas auf. »Ich gehe schon.« Er tat einen Schritt in Richtung Tür, die auf den Wohnungsflur hinausführte, dann zögerte er kaum merklich. Da fiel Michaela die Sache mit dem Kühlschrank ein, und sie sagte: »Laß mich das machen«, aber Melton brummelte etwas und ging entschlossen hinaus. Michaela setzte sich auf die Couch vor dem großen Wohnzimmerfenster und zog die Beine an. Sie biß sich leicht auf die Unterlippe, während sie angestrengt lauschte. Womit sie gerechnet hatte, traf ein. Bob schob das Öffnen des
Kühlschranks bis zum letzten Augenblick hinaus. Sie hörte Gläser klingen, als er sie aus dem Schrank holte, und das Gluckern des Alkohols, als er eingoß. Das Eis würde er ganz zuletzt aus dem Kühlfach holen. Als Bob das letztemal den Kühlschrank geöffnet hatte, war sie nicht in der Küche gewesen und hatte nur seinen erstaunten Ruf und eine Kette von saftigen Flüchen gehört. Eine Erklärung dafür war er ihr dann allerdings schuldig geblieben. Michaela rutschte unruhig auf der Couch herum. In den vergangenen drei Tagen waren noch weitere absonderliche Dinge passiert. Sie bewegte die Schultern, als fröstele sie, aber es war warm im Raum, und sie fror auch nicht wirklich. Genaugenommen war es eigentlich etwas zu warm im Haus, was ebenfalls zu den beunruhigenden Dingen zählte, die ihr bisher aufgefallen waren. Der Koksbrenner der Warmwasserheizung im Keller des Hauses funktionierte nach ihrem Dafürhalten viel zu gut. Melton kam mit zwei Highballgläsern zurück. Eines reichte er Michaela, bevor er sich in einen Sessel setzte. Die Stille zog sich in die Länge. »Ja, ich weiß«, sagte Melton schließlich. »Es fehlt Eis. Ich habe keines in die Gläser getan.« »Warum nicht?« »Weil wir heute Eis haben. Gestern war keines da. Heute sind die Eisschalen voll. Allerdings ist das Eis rot.« »Rotes Eis?« fragte Michaela. »Ich hab’s nicht getan.« Ihr Mann blickte sie finster an. »Habe ich auch gar nicht behauptet«, sagte er betont. »Ich könnte mir nicht vorstellen, daß du dich absichtlich in den Finger schneidest und das Blut in die Eisschalen laufen läßt, nur um mich zu beunruhigen. Ich stelle lediglich fest, daß das Eis heute rot ist.« »Macht nichts. Trinken wir den Whisky pur. Wo ist die Flasche?«
Melton langte hinter den Sessel und holte sie hervor. »Hab’ sie gleich mitgebracht, weil ich annahm, einer würde nicht genug sein. Hast du den Immobilienmakler angerufen, Liebling?« »Ja. Es kam nichts dabei heraus. Er meinte, wir hätten vielleicht Termiten im Haus.« »Ich wünschte, es wären Termiten. Lieber Termiten als … und was hast du über die Leute erfahren, die vor uns hier wohnten? Hat er dir keine Erklärung geben können?« »Nein. Er hat es zwar nicht gesagt, aber er hält uns wohl für Querulanten.« »Von mir aus kann er denken, was er will«, sagte Melton und trank einen Schluck aus seinem Glas. »Wir haben das Haus unter der Voraussetzung gekauft, daß es – daß es …« Seine Stimme wurde leiser, dann schwieg er. Michaela und er blickten sich lange in die Augen. Melton nickte nachdrücklich. »So ist es doch! Was soll man denn noch dazu sagen?« »Harmon sagte immer wieder, wir sollten Elektro- und Sanitärinstallateure kommen lassen. Nannte mir ein paar Adressen.« »Das hilft uns auch nicht weiter.« »Du bist ein Defätist«, sagte Michaela. »Schenk mir bitte noch einmal ein.« Und nachdem er es getan hatte, fuhr sie fort: »Vergiß nicht, daß wir Kohlen sparen.« »Auf Kosten meines Geisteszustandes.« »Vielleicht hast du die Kokszufuhr nicht richtig reguliert oder kennst dich mit dem Brenner nicht aus?« Melton stellte das Glas auf den Tisch und blickte seine Frau an. »Ich kenne mich mit Heizungsanlagen besser aus als irgend jemand anders.« Melton war Angestellter einer großen Werbeagentur und betreute den Etat einer Herstellerfirma von Heiz- und Klimaanlagen. Sie hatten sich dieses Haus gekauft,
weil es nicht allzuweit von Manhattan entfernt in einem kleinen Städtchen am Hudson River lag und er mit dem Vorortzug nur eine knappe Dreiviertelstunde bis ins Zentrum von New York brauchte. »Wenn ich schon für ein Produkt die Werbung mache, dann muß ich mich damit auch ein wenig beschäftigen. Ich weiß alles über Zuluft und Abluft, den Heizkessel und den Boiler. Man schaufelt Koks hinein, der bei soundsoviel Grad Hitze zu Schlacke verbrennt und dabei Energie abgibt, die das Wasser erwärmt, das in den Leitungen zirkuliert und über die Heizkörper in den Zimmern seine Wärme abgibt. Ein Gebläse ist auch da, aber es funktioniert nicht. Nimm zum Vergleich ein Streichholz. Wenn du es anzündest, verbrennt es doch.« »Richtig. Es verbrennt.« »Aber die Kohle in unserem Kessel verbrennt nicht«, sagte Melton herausfordernd. »Vor drei Tagen habe ich ein paar Schaufeln Koks auf die Glut geworfen. Seither ist die Glut nicht mehr ausgegangen, obwohl ich nicht mehr nachgelegt habe. Die Heizkörper geben Wärme ab, und das seit drei Tagen. So etwas gibt es doch nicht!« Er streckte die Hand aus und nahm Block und Kugelschreiber von einem Beistelltisch neben der Couch. »Ich habe ausgerechnet, wie lange es dauern darf, bis die Kohle im Brenner verglüht. Höchstens drei Stunden. Auf keinen Fall drei Tage!« »Was ist eigentlich mit der automatischen Auffüllanlage?« fragte Michaela. »Wir haben doch vermutet, daß es so etwas geben müßte. Hast du sie gefunden?« »Ich habe zwar den Boiler nicht auseinandergenommen, aber ich habe nachgesehen«, sagte Melton. »Komm mit, ich zeig’ dir was.« Er stand auf und ergriff Michaelas Hand. Er führte sie zur Kellertür, wobei sie an dem Kühlschrank in der Küche vorbeikamen, der rotes Eis produzierte.
Der Keller war geräumig und hatte einen Zementfußboden. In einer Ecke, neben dem Kokshaufen, stand der Boiler, ein rußund staubbedecktes Ungetüm, das einst weiß gewesen war. An allen Seiten ragten isolierte Rohre heraus, die an der Kellerdecke entlangführten und in der Mauer verschwanden. Die Luftklappe des Brenners war geschlossen, aber die rote Nadel des Rundthermometers stand auf 80 Grad Celsius. Melton öffnete die Kohlenklappe. Drinnen glühte es dunkelrot, und kleine bläuliche Flammen züngelten vom Kohlenbett auf. »Wo ist also der Nachfüllschacht, von dem du immer sprichst?« fragte er. »Vielleicht ist er eingebaut und von außen nicht zu erkennen«, sagte sie etwas verlegen. »Es ist ja eine ziemlich große Anlage.« »Was du siehst, ist nur die Isolierverkleidung, die den Brenner und den Boiler enthält. Deshalb sieht es so wuchtig aus. Aber mehr ist nicht da.« »Lassen wir doch das Feuer ausgehen und zünden es später wieder an. Vielleicht –« »Es ausgehen lassen? Wie soll ich es denn ausgehen lassen? Es gelingt mir nicht einmal, die Glut durch den Rost zu rütteln. Paß auf!« Er packte den herausragenden Griff des Drehrostes. Er ließ sich weder vor- noch zurückstoßen. Kein Fünkchen Glut fiel in den Aschekasten. »Die Räume sind überheizt. Wenn wir die Fenster nicht offenließen, wäre es nicht auszuhalten. Was soll erst geschehen, wenn es zu schneien anfängt und wir die Fenster schließen müssen?« Michaela drehte sich plötzlich um und ging zur Treppe, die nach oben führte. »Was ist denn los?« fragte Melton. »Es hat geklingelt.« »Ich hab’ nichts gehört.« Michaela war inzwischen oben an der Tür angelangt und blickte zu ihrem Mann herunter. »Ich weiß«, sagte sie
nachdenklich. »Man kann es auch nicht hören. Ist dir das noch nicht aufgefallen?« Sie machte eine hoffnungslose Bewegung mit der Hand, dann ging sie durch die Tür. Melton starrte noch eine Weile auf die Stelle, wo seine Frau gestanden hatte. Wenn er es sich genau überlegte, hatte er während der vergangenen drei Tage kein einziges Mal die Türglocke gehört. Trotzdem waren Leute gekommen, vorwiegend Vertreter, die den frischgebackenen Hausbesitzern Elektrogeräte, Möbel, Zeitschriftenabonnements und ähnliches verkaufen wollten. Jedesmal war Michaela an die Tür gegangen. Melton hatte bisher angenommen, sich immer in einem Teil des Hauses aufgehalten zu haben, wo man es nicht hören konnte, wenn es läutete. Stirnrunzelnd blickte er auf den Boiler. Die anderen hatten leicht reden, wenn sie meinten, er solle sich keine Gedanken machen. Aber er konnte es einfach nicht. Es war ja schließlich nicht nur die Sache mit der Heizung. Es gab noch andere Dinge. Was war bloß mit diesem Haus los? Oberflächlich betrachtet gar nichts. Jedenfalls nichts, was einem Kaufinteressenten bei der Besichtigung aufgefallen wäre. Die Eintragungen im Grundbuch waren in Ordnung gewesen. Melton hatte sich von einem Architekten beraten lassen, der den Kauf befürwortet hatte. Sie hatten zugegriffen und das Haus gekauft. Nach monatelangem Suchen nach einem geeigneten Objekt waren sie glücklich gewesen, ein eigenes Dach über dem Kopf zu haben. Bei den ständig steigenden Mieten war ihnen gar nichts anderes übriggeblieben, als zu kaufen. Und das Haus Pinehurst Drive Nummer 16 hatte ihren Wünschen und Vorstellungen genau entsprochen. Es war kein Neubau und alles andere als ultra-modern. Aber es hatte auf sie einen soliden, gediegenen Eindruck gemacht. Fünfzehn Jahre hatte es schon dagestanden, mit Blick über den
Fluß auf die Hudson Palisades. Es besaß ein gemauertes Fundament. Die beiden Geschosse, Erdgeschoß und erster Stock, waren aus Holz, wie die meisten Häuser in dieser Gegend. Die Räume waren geradezu ideal geschnitten für Melton, Michaela und ihren Bruder Phil, der bei ihnen wohnte, wenn er nicht gerade auf einer Sauftour war. Im Augenblick schien er das jedenfalls wieder einmal zu sein. Sie waren also eingezogen, und kaum standen die Möbel an ihrem Platz, als der Ärger auch schon anfing. Melton wünschte sehnlichst, daß Phil hier wäre. Der Bursche war trotz seiner exzentrischen Art ein ruhender Pol und die Sachlichkeit in Person. Aber Phil hatte das neue Haus noch gar nicht gesehen. Er wußte deshalb auch nicht, was es mit der Flurbeleuchtung im ersten Stock auf sich hatte, die Melton nach einigen Experimenten nicht mehr einzuschalten wagte. Irgend etwas war damit los. Sie funktionierte einwandfrei, aber in ihrem Licht sahen die Gesichter anders aus als sonst, ganz abgesehen davon, daß das Licht leicht fluoreszierend wirkte. Weder er noch Michaela mochten sich bei dieser Beleuchtung anschauen. An der Glühbirne lag es nicht; die hatten sie mehrmals ausgewechselt gegen neugekaufte, was auf die Eigenart des Lichtes keinen Einfluß gehabt hatte. Als Melton gestern Eiswürfel aus dem Kühlschrank hatte holen wollen, hatte er eine böse Überraschung erlebt. Mag sein, daß statische Elektrizität dran schuld gewesen war, aber beruhigend ist es trotzdem nicht, wenn es einem nach Öffnen der Tür wie Nordlicht entgegenstrahlt. Und es gab noch andere Dinge, die seltsam waren und sich nur gefühlsmäßig ausdrücken ließen, nicht aber mit Worten. Im Hause spukte es. Melton schien es, als ob das Haus sich regelrecht anstrenge, alles gründlich und ihnen recht zu machen, nur eben auf eine Art, die bei ihm ein Kribbeln im Körper hervorrief.
Zunächst hatten sich die Fenster nur mit Mühe öffnen lassen, mit sehr großer Mühe. Dann auf einmal – und ohne jeden ersichtlichen Grund – waren sie kinderleicht aufgegangen, fast wie von selbst, gerade noch im letzten Augenblick, als die Meltons drauf und dran gewesen waren, aus den überhitzten Räumen ins Freie zu laufen, um frische Luft atmen zu können. Melton hatte sich entschlossen, einen Freund zu besuchen, den er von seiner Werbetätigkeit her kannte. Der Mann war technisch erfahren und würde vielleicht in der Lage sein, einige der sonderbaren Erscheinungen zu erklären. Wie zum Beispiel die Mäuse. Falls es überhaupt Mäuse waren. Irgend etwas raschelte bei Nacht im Gebälk. Michaela hatte gemeint, ein Kobold könne es kaum sein, da es den Geräuschen nach zu schließen viel zu winzig dafür sei. Aber in den Fallen, die Melton aufgestellt hatte, war nichts gewesen. »Diese Mäuse erwischst du nicht«, hatte Michaela gesagt. »Die sind viel zu schlau und raffiniert. Eines Morgens wirst du in den Keller gehen und feststellen, daß jemand ein winziges Glas Whisky als Köder in eine der Fallen gestellt hat, und dann wird es dich erwischen.« Melton hatte das gar nicht komisch gefunden. Oben an der Kellertreppe war ganz unversehens ein verhutzelter, kleiner alter Mann aufgetaucht. Er trug viel zu weite Hosen und eine alte Lederjacke und blickte zu Melton herunter. Melton konnte seine Überraschung nicht verbergen. »Ärger mit der Heizung, wie?« fragte der Mann. »Ihre Frau sagte, Sie wüßten nicht, woran es liegt.« Hinter ihm tauchte jetzt Michaela auf. »Das ist Mr. Garr«, sagte sie zu ihrem Mann. »Ich habe ihn gestern angerufen.« Garrs ledriges Gesicht verzog sich zu einem Lächeln voller Falten. »Ich stehe unter fast jeder Berufsbezeichnung im Branchentelefonbuch«, sagte er. »Elektroinstallationen, Sanitär, Isolation und Anstrich … Es gibt einfach zu viele
Dinge in einem Haus, die sich nicht unter eine Rubrik bringen lassen. Wie die Geschichte mit Ihrer Heizung.« Er kam die Treppe herunter und schaute sich den Boiler aus der Nähe an. »Klempner, Heizungsmonteur, Fernsehtechniker – heutzutage muß man alles sein, wenn man seine Kunden zufriedenstellen will. Was ist denn mit dem Ding los?« »Das Luftgebläse funktioniert nicht«, sagte Melton und wich Michaelas vorwurfsvollem Blick aus. Garr holte eine Taschenlampe aus seiner Werkzeugtasche und leuchtete die elektrischen Zuleitungen ab. Dann stocherte er mit einem Schraubenzieher zwischen den Kabeln herum. Funken sprühten. Dann untersuchte er das Überdruckventil auf dem Boiler, nahm die Schutzhaube ab und schnalzte ein paarmal mit der Zunge. »Undicht«, sagte er. »Sehen Sie, wie das Wasser herausrinnt. Alles verrostet. Dadurch ist die Elektroleitung kurzgeschlossen.« »Können Sie den Schaden beheben?« »Muß ein neues Druckventil besorgen, Mr. – äh – Melton. Das Gebläse brauchen Sie ja nur ganz selten. Ist noch etwas nicht in Ordnung?« Bevor Melton etwas sagen konnte, schaltete sich Michaela ein. »Ja«, sagte sie. »Wir haben vor drei Tagen ein paar Schaufeln Koks in den Brenner gegeben, und das Feuer brennt noch immer.« Garr schien wenig beeindruckt. Er schaute in den Brenner, nickte ein paarmal freundlich und fragte: »Wie viele Schaufeln, sagten Sie?« »Vier«, antwortete Melton. »Nicht genug«, sagte Garr, der ganz offensichtlich von falschen Voraussetzungen ausging. »Sie müssen den Koks bis knapp unter die Feuerungstür auffüllen, dann kriegen Sie genügend Hitze.« »Das Haus ist auch so überheizt. Was muß man tun, damit das Feuer ausgeht?«
»Gar nichts. Lassen Sie es niederbrennen. Oder rütteln Sie die Glut in den Aschenkasten.« »Läßt sich nicht rütteln. Probieren Sie’s mal.« Garr rüttelte. »Stimmt. Vielleicht verklemmt. Um das zu reparieren, brauche ich anderes Werkzeug und wahrscheinlich auch einen neuen Drehrost.« Er richtete sich auf und blickte sich im Keller um. »Recht hübsches Haus, das da. Solid gebaut. Feste Fundamente.« »Und Mäuse«, sagte Melton. »Kleine Feldmäuse. Die gibt’s hier auf dem Land überall. Kommen im Herbst in die Häuser. Halten Sie eine Katze?« »Nein.« »Dann besorgen Sie sich eine«, riet Garr. »Ich hab’ eine, die kriegt ständig Junge. Wenn Sie das nächstemal wirft, heb’ ich Ihnen eins auf. Wirklich, ein hübsches Haus. Noch etwas, was ich reparieren soll?« Melton hatte Mühe, eine bissige Bemerkung zu unterdrücken, daß Garr bisher noch gar nichts repariert habe. »Den Kühlschrank könnten Sie sich mal ansehen«, schlug er statt dessen vor. »Der hat einige Mucken.« Oben in der Küche sah der Kühlschrank aus, als könne er kein Wässerchen trüben. Zwar waren die Eiswürfel nach wie vor rot, aber Garr nahm vermutlich an, die Meltons hätten Himbeersaft eingefroren oder Erdbeereis selber machen wollen. Er nahm seine Ölkanne und ölte den Motor. »Nehmen Sie dafür niemals etwas anderes als Nähmaschinenöl«, riet er bei dieser Gelegenheit. »Sonst ruinieren Sie den Motor.« Er zeigte auf die Bierflaschen, die im Kühlschrank standen. »Prima Sorte. Trink’ ich auch.« »Bedienen Sie sich«, sagte Melton. Er öffnete eine Flasche und füllte zwei Gläser. Michaela, die kein Bier mochte, ging ins Wohnzimmer, um ihr Highballglas zu suchen. Melton
setzte sich auf die Spülkombination, ließ die Beine baumeln und beobachtete den Kühlschrank mißtrauisch. »Ich hatte schon gedacht, da könnte vielleicht irgendwo ein Kurzschluß sein«, sagte er zu Garr. »Ich – äh – bekam so etwas wie einen Schlag, als ich gestern die Tür aufmachte.« Garr stellte sein Bierglas auf den Küchentisch. »Tatsächlich? Schauen wir mal nach.« Er schraubte die Rückwand Verkleidung ab und machte große Augen. »Komisch. So eine Verdrahtung hab’ ich noch nie gesehen.« Melton beugte sich vor. »Wirklich?« »Hm. Ein Wechselstromgerät, aber da hat einer ganz schon dran herumgepfuscht, Mr. Melton.« »Woran sehen Sie das?« »Diese Amateur-Elektriker«, schimpfte Garr. »Was soll überhaupt dieser Draht da? Und dieses Ding – was ist das eigentlich?« »Kunststoff?« »Stück von einem Thermometer, denk’ ich. Keine Ahnung. Hm-m.« Garr wiegte den Kopf hin und her, ließ mit seinem Schraubenzieher Funken fliegen und zuckte leicht zusammen, als er einen Schlag bekam. »Besser wär’s, wenn wir die Sicherung herausdrehten.« »Ich gehe schon«, sagte Melton. Er ging hinunter in den Keller, musterte die einzelnen Sicherungen und drehte schließlich die Hauptsicherung heraus. Dann rief er laut zu Garr hinauf, daß dies geschehen sei. Sekunden später kam Garrs Aufschrei. Melton hörte Schritte, dann erschien Garr in der Kellertür und rieb seine Hand, während er die Stufen herunterkam. »Das war nicht die Hauptsicherung«, sagte er vorwurfsvoll. »Aber sicher«, sagte Melton. »Sehen Sie doch her!« »Was? Ja. Tatsächlich. Na ja, vielleicht …« Er drehte an den anderen Sicherungen. Dann schraubte er einige ganz heraus.
»Gehen Sie hinauf in die Küche und rufen Sie, wenn sich der Kühlschrank ausschaltet. Ich habe die Hauptsicherung wieder ‘reingedreht.« Melton tat, wie ihm geheißen. Michaela kam in die Küche und schaute zu. »Was entdeckt?« fragte sie. »Keine Ahnung«, antwortete Melton und horchte auf das leise Schnurren des Elektromotors. »Unser Vorgänger muß im Haus eine völlig andere Elektroinstallation vorgenommen haben.« »Wer war das eigentlich?« fragte Michaela leise. »Einstein? Oder ein Marsmensch?« »Eher ein Bastler, der von elektrischen Anlagen mehr zu verstehen glaubte als andere.« Michaela strich mit der Hand über die glatte weiße Verkleidung des Kühlschranks. »Erst zwei Jahre alt. Kaum entwöhnt, Bob. Vielleicht bekommt er vom falschen Saft Verdauungsstörungen.« »Wenn ich das alles im Magen hätte, was an Nahrungsmitteln im Kühlschrank steht, würde ich mich vor Bauchschmerzen krümmen«, meinte Melton. »Was ist, Mr. Garr. Alles repariert?« Garrs runzeliges braunes Gesicht wirkte bekümmert, als er in die Küche kam. »Läuft noch immer, wie?« fragte er. »Hat nicht ein einziges Mal ausgesetzt?« »Kein einziges Mal.« »Dann ist diese Steckdose nicht über den Sicherungskasten im Keller abgesichert. Muß den Verputz von der Wand schlagen, um die Leitung zu finden.« Zweifelnd blickte er die Steckdose an. »Passen Sie auf«, sagte Melton. »Ich habe noch ein Paar Gummihandschuhe. Können Sie die brauchen?« »Klar«, meinte Garr und nickte. »Ich trinke mein Bier aus, während Sie sie suchen. Schmeckt abgestanden, wenn man es zu lange stehenläßt.«
»Michaela«, sagte Melton zu seiner Frau, »gieß bitte Mr. Garr nach.« Dann ging er. »Ja, ja«, machte Garr. »Mm-m … danke, Mrs. Melton. Hübsches Haus, das da. Hab’s schon Ihrem Mann gesagt. Gut gebaut.« »Es reicht für uns. Vorläufig. Später möchte ich die Küche neu einrichten. Diese modernen Herde und Kühlschränke, die es jetzt gibt –« Garr verzog das Gesicht. »Hab’ die Anzeigen gesehen. Nicht sehr praktisch, dieses neumodische Zeug. Nehmen Sie nur mal diese Kühlschränke mit der Glastür. Die beschlägt doch sofort von innen und überzieht sich mit einer Eisschicht. Glas ist gut, um die Sonne in ein Haus hereinzulassen, aber sonst …? Ich find’s jedenfalls verrückt, falls Sie mir die Bemerkung erlauben, Mrs. Melton.« »Vielleicht haben Sie recht«, sagte Michaela. »Durch die Glastür eines Kühlschranks können Sie eh nichts sehen. Und die Glastür des Backofens beim Herd beschlägt ebenfalls. Ehrliches, solides Metall ist immer noch das beste. Alles soll durchsichtig sein! Stellen Sie sich das doch bloß mal vor, Mrs. Melton. Wohin soll das noch führen, wenn man in einer Küche durch alle Türen schauen kann. Eines Tages machen sie noch Mülleimer aus Glas. Dann sieht man auch den Abfall. Da führt es wahrscheinlich hin, dieses neumodische Zeug.« »Einen gläsernen Mülleimer werde ich mir bestimmt nicht zulegen«, sagte Michaela. »Diese neuen Entwicklungen mögen zwar ganz gut und schön sein«, fuhr Garr unbeirrt fort, »aber das ist doch nichts für den Normalbürger. Der wird so etwas nicht haben wollen. Die Leute hängen zu sehr am Alten. Ich hab’ mein Haus so eingerichtet, wie ich es mir wünsche. Mache einen Großteil der anfallenden Arbeiten selber. Meine Stehlampen habe ich so hergerichtet, daß man sie höher und tiefer stellen kann, wie
man gerade Lust hat. Und ins Telefon hab’ ich einen Schalter eingebaut, so daß ich beim Schlafen nicht gestört werden kann. Wenn man handwerklich begabt ist, kann man zu Hause eine Menge tun, um sich das Leben so angenehm wie möglich zu machen.« »Hier sind die Handschuhe«, sagte Melton, der in diesem Augenblick zurückkam. »Ich finde, wie jemand zu Hause eingerichtet ist, sagt eine Menge über den betreffenden Menschen aus.« Garr nickte nachdrücklich. »Genau. Eine Wohnung, die so eingerichtet ist, wie man es in den einschlägigen Zeitschriften sieht, mag zwar ganz hübsch sein, aber gemütlich ist sie bestimmt nicht. Da traut man sich ja nicht mal, sich mit staubigen Hosen in einen Sessel zu setzen.« »Nun ja«, sagte Michaela, um das Thema zu wechseln. »Wir haben unsere eigenen Sachen mitgebracht. Das Haus war leer, als wir hier einzogen.« »Das ist seit zehn Jahren das erste Mal, daß ich es von innen sehe«, sagte Garr. »Damals wohnten hier Leute, die hießen Courtney. Er war Bauunternehmer. Die Familie zog später nach Kalifornien, und ein Mann namens French zog ein.« »Was war das für ein Mensch?« fragte Melton interessiert. »Hab’ ihn nur selten gesehen. Der scheint nicht oft ausgegangen zu sein.« »Und er hat Sie nie gerufen, um etwas in Ordnung bringen zu lassen?« »Hat vermutlich alles selber gemacht«, sagte Garr mit einem bösen Blick auf die Steckdose. »Jetzt will ich mich mal an die Arbeit machen.« Er arbeitete schnell und akkurat. Dann schraubte er die Verkleidung wieder auf den Steckkontakt, schob den Stecker hinein und stand mit einem Brummen auf. »Das hätten wir. Sonst noch etwas?« »Die Türklingel?« »Geht die nicht?«
»Nicht richtig«, antwortete Melton. »Das heißt –« »Könnten Sie mal hinausgehen und auf den Knopf drücken?« fragte Garr. »Natürlich.« Michaela beobachtete Garr. Nach einer Weile blickte Garr sie an. »Funktioniert doch«, sagte er. »Zumindest hat sie keinen Kurzschluß.« »Sie – äh – haben es läuten gehört?« »Klar hab’ ich’s gehört. Warum? Sie etwa nicht?« »Ich … doch, doch, ich hab’s auch gehört«, versicherte ihm Michaela, obwohl sie das Läuten nur gespürt hatte. »Sie funktioniert jetzt, Bob«, fügte sie hinzu, als ihr Mann in die Küche zurückkehrte. »Tatsächlich?« »Geht einwandfrei«, sagte Garr. »Nun, dann werde ich jetzt mal wieder gehen.« »Was bin ich Ihnen schuldig?« fragte Melton. Garr nannte eine bescheidene Summe. Melton gab ihm den Betrag. Dann tranken Sie noch eine Flasche Bier. Michaela sagte: »Entschuldigt mich, es hat geläutet.« Melton trank hastig sein Bier aus. Er hatte nichts gehört. Michaela kam zurück. »Es ist Phil. Er möchte was trinken.« Sie stellte den Cocktailshaker in die Spüle. Garr verabschiedete sich mit einem allgemeinen Händeschütteln. Melton seufzte, blickte nachdenklich zur Glocke über der Küchentür hinauf und öffnete den Kühlschrank. Fahles, bläuliches Licht strahlte ihm entgegen. Seine Linke, die er nach der Eisschale ausgestreckt hatte, begann zu zittern. Die Hand hatte plötzlich kein Fleisch mehr. Nur die Knochen waren zu sehen. Er schlug die Kühlschranktür zu und starrte auf seine Hand. Sie war völlig normal. Nachdem Melton eine Flasche und mehrere Gläser genommen hatte, ging er ins Wohnzimmer hinüber. Phil
Barclay, sein Schwager, hatte es sich auf der Couch bequem gemacht. Phil war vierzig Jahre alt, schlank und von kleinem Wuchs. Wie üblich war er makellos gekleidet. Sein rundes, sanftes Gesicht wirkte aufgeschwemmt. Er zog eine blonde Augenbraue in die Höhe und musterte Melton. »Ohne Eis, Bob?« »Ja«, antwortete Melton fest. »Wenn dir der Whisky so nicht schmeckt, brauchst du ihn ja nicht zu trinken.« »Whisky schmeckt mir immer«, versicherte ihm Phil. Er goß sich den Alkohol durch die Kehle, schüttelte sich und sank dann entspannt gegen die Lehne der Couch zurück. »Ahh!« stöhnte er. »Mein armer Kopf.« »Hast du einen Kater?« fragte Michaela mitfühlend. »Und was für einen«, antwortete Phil nicht ohne Stolz und suchte etwas in seiner Hosentasche. Er reichte seiner Schwester einen zusammengefalteten Zettel. »Hier ist mein Scheck für die ›Straße der Nymphen‹. Wesley hat ihn am Freitag in der Galerie bekommen.« »Gar nicht so übel«, meinte Michaela, nachdem sie sich den Scheck angesehen hatte. »Kann man wohl sagen – für eine Woche Arbeit mit Pinsel und Farben. Leg ihn in die Haushaltskasse. Jetzt tu ich die nächsten Monate keinen Strich mehr. Gibt’s noch was zu trinken?« »Eigentlich mußt du doch genug haben«, sagte Melton. Phil blickte ihn lange, durchdringend an. »Scheinst selber nicht ganz auf der Höhe zu sein, mein Lieber«, sagte er. »Und wenn ich mich nicht irre, schwitzt du.« »Es ist sehr warm hier.« »Viel zu warm«, bestätigte Phil. »Wenn ihr so weitermacht, habt ihr euren Kohlenvorrat in vier Wochen aufgebraucht. Oder heizt ihr mit Öl?«
»Kohle«, sagte Melton. »Und wir werden sie nicht verbrauchen. Jedenfalls nicht in diesem Haus.« »Mir gefällt’s auch nicht«, sagte Phil unvermittelt. Michaela legte die Handflächen zusammen und beugte sich vor. »Warum?« fragte sie. Phil grinste ein wenig. »Weiß auch nicht. Bin schließlich zum erstenmal hier. Will es mir gar nicht genauer ansehen. Ich war vorgestern schon mal hier.« »Und wir waren nicht zu Hause? Aber du hast doch einen Schlüssel.« »Hatte ich«, sagte Phil und starrte ins Leere. »Aber den wollte ich nicht benutzen. Die Türglocke ging nicht, darum klopfte ich. Dann –« Melton befeuchtete sich die Lippen. »Was geschah dann?« »Nichts«, sagte Phil. »Gar nichts.« »Aber warum –« »Ich hatte getrunken. War nicht ganz sicher auf den Beinen. Aber es waren keine Gespenster. Es war nur –« Phil machte eine Pause. »Ich weiß es wirklich nicht, Bob. Aber ich hatte plötzlich keine Lust mehr, ins Haus zu gehen. Ich kehrte in die Stadt zurück.« »Hattest du Angst?« fragte Michaela. Phil schüttelte den Kopf. »Komisch. Ich hatte eigentlich gar keine richtige Angst. Da war nichts, wovor man sich hätte fürchten müssen. Ich beschloß ganz einfach, das Haus nicht zu betreten.« »Aber warum denn nur?« wollte Michaela wissen. Ihre Stimme klang ein bißchen schrill. »Es lag doch gar keine Veranlassung vor, das zu tun. Das weißt du ganz genau!« Phil ließ den letzten Tropfen Whisky aus der Flasche ins Glas laufen und hielt die leere Flasche hoch. »Seht her. Leer. Aber ihr wißt, was drin gewesen ist. Man kann es riechen.« Melton schlug sich mit der Faust auf den Oberschenkel. »Das ist es!«
sagte er. »Dieser French! Wer war das überhaupt? Und was hat er mit diesem Haus angestellt? Verhext?« Plötzlich entstand ein Geräusch, ein klagendes Heulen, das irgendwie hohl klang und so, als käme es aus weiter Ferne. Melton geriet sekundenlang in Panik. Doch dann erkannte er das Geräusch: das Tuten eines Schleppkahns auf dem Fluß. »Dich scheint es ja ganz schön gepackt zu haben«, meinte Phil, »wenn dich so etwas auf achtzig bringen kann.« »Ich brauche ein Beruhigungsmittel. Habe zu angestrengt gearbeitet.« »Also«, sagte Phil und stand auf, »dann werde ich mir den Laden halt mal ansehen. Bleib ruhig sitzen, Mickey. Ich finde schon den Weg. Meinetwegen kannst du mitkommen, wenn du darauf bestehst, Bob.« Sie gingen durch alle Räume des Hauses. Melton sagte nur wenig. Aber als er im oberen Flur die Beleuchtung einschaltete, wartete er auf Phils Reaktion. Phil machte keine Bemerkung. Nur der Keller schien ihn auf seltsame Weise zu faszinieren. Er stocherte und suchte eine ganze Weile in den Ecken und Nischen herum. »Was suchst du eigentlich?« fragte Melton. »Eine verborgene Gruft?« »Was? Nein.« Phil blickte die kahle Wand lange an, dann ging er auf die Treppe zu. »Du sagst, zuletzt habe hier ein Mann namens French gewohnt?« »Ja. John French. Sein Name stand in den Unterlagen. Aber soweit ich bisher festgestellt habe, hat niemand diesen French jemals gesehen. Er ließ sich alles ins Haus bringen. Post bekam er nie. Hatte auch keinen Telefonanschluß.« »Wie steht es mit seinen Referenzen. Er muß doch welche angegeben haben, als er einzog.« »Das war vor zehn Jahren. Ich habe nachgefragt. Es waren die üblichen Referenzen – eine Bank, ein Rechtsanwalt.«
»Hatte er einen Beruf?« »Er privatisierte.« Phil drehte versuchsweise an den Wasserhähnen. »Es ist ein seltsames Haus«, sagte er. »Allerdings spukt es hier nicht. Es ist weder verwunschen, noch leben hier Poltergeister. Warum ist es nur so warm?« Melton erklärte es ihm. Dann blickte er unvermittelt die Kellertreppe hinauf und durch die offene Tür der Küche. Oben stand jemand, ohne sich zu bewegen, und beobachtete ihn. Er war sich deutlich bewußt, daß er auf außerordentlich ungewöhnliche Weise reagierte. Zunächst, nach einem kurzen Moment des Zweifels, schien ihm die Gegenwart der Gestalt nicht ungewöhnlich. Seine sich jagenden Gedanken klammerten sich an die Logik: ein Botenjunge vom Kaufmann, der Briefträger; doch dann, sogleich anschließend, kam ein beunruhigendes Gefühl der Desorientierung und die Einsicht, daß die Person da oben gar nicht hierher gehörte. Und auf diesen Eindruck folgte blitzartig die Erkenntnis, daß diese stumme Gestalt niemand anders war als – Als Michaela. Und was war das Schlimmste an der ganzen Sache. Er hatte sie überhaupt nicht erkannt. Einen kurzen, schockierenden Moment lang hatte er in ihr einen völlig fremden Menschen gesehen. Seine Magenmuskeln zogen sich zusammen, und sein Herz schlug schneller. Der ganze Zwischenfall ging so schnell vorüber, daß niemandem etwas auffiel. Michaela wich zur Seite, als er die Küche betrat. Melton öffnete den Schrank, um eine frische Flasche Whisky herauszuholen. »Wie gefällt dir das Haus?« fragte Michaela ihren Bruder. Phil lächelte. »Sehr praktisch«, sagte er, und Melton hätte sich beinahe verschluckt. »Glaubst du, daß tote Gegenstände psychische Eindrücke speichern können?« fragte Phil zwei Tage darauf, als er ein
Kissen unter seinen Kopf schob und es sich auf der Couch bequem machte. »Sag das noch mal«, bat Melton. Es war früh am Morgen, und Melton trank Kaffee und blickte ständig auf die Uhr. Er hatte den altmodischen Wecker genommen, nachdem die elektrische Uhr nicht mehr genau ging. »Diese Frage ist uralt«, erklärte Phil und gähnte. »Wenn jemand lange, lange Zeit in einem Haus lebt, dringen seine psychischen Ausstrahlungen in die Wand ein und ruinieren die Tapete. Oder irgend etwas anderes. Kapiert?« »Nein«, sagte Melton. »Jetzt halt den Mund. Ich hab’ Kopfschmerzen.« »Ich auch. Und einen Kater dazu. H-m-m-m-m. Ich könnte mir vorstellen, daß ein Sarg solche psychischen Ausstrahlungen aufnimmt, aber wahrscheinlich nur, weil ein Sarg einen ganz bestimmten – und nur diesen einen – Zweck zu erfüllen hat. Sieht man einen Sarg, weiß man ganz genau, wofür der gut ist.« »Deinen Sarg möchte ich jetzt gern sehen«, meinte Melton ohne Boshaftigkeit. »Mit dir drin.« »Nun, ich dachte, es könnte dich vielleicht interessieren, daß auch ich nicht an diesen Unsinn glaube. Aber ich kann mir vorstellen, daß dieser Mr. French das Haus so hergerichtet hat, daß es seinen Wünschen weitestgehend entsprach. Muß ein seltsamer Mensch gewesen sein. Was heißt hier Mensch? Mag sein, wie es sei. Ist dir eigentlich schon die Holzverkleidung aufgefallen?« »Ist geschellackt, falls du das meinst.« »Es hat zwar einen Überzug, aber nicht aus Schellack. Ich habe einige Versuche angestellt. Man kriegt das Zeug nicht herunter. Das Haus ist damit innen überzogen, sämtliche Innenwände, die Decken, der Fußboden und die Türen. Wie eine Isolationsschicht.«
»Ist es aber nicht. Noch nicht einmal der Bodenspeicher ist isoliert. Werde das mit Glaswolle nachholen müssen.« »Wenn du das tust, braten wir hier drin bei lebendigem Leib.« Aber Melton hing seinen eigenen Gedanken nach. »Das Haus gehört von Grund auf renoviert. Jawohl. Und den Kammerjäger lasse ich auch kommen.« »Wozu denn nur?« »Damit er die Mäuse ausrottet. Die Mäuse in den Wänden.« »Mäuse? Doch keine Mäuse!« »Was denn sonst?« fragte Melton. »Vielleicht Schlangen.« »Maschinen.« »Du spinnst ja. Ich bin auf den Speicher hinaufgegangen und habe in die Zwischenräume der Holzwände hineingeschaut.« »Hast du Mäuse entdeckt?« »Nein, aber wahrscheinlich sie mich. Deswegen habe ich sie nicht gesehen.« »Du verwirrst mich«, sagte Phil unglücklich. »Außerdem reden wir aneinander vorbei. Ich denke nicht an Maschinen wie Turbinen, Aggregate oder Atomzertrümmerer. Maschinen können so unscheinbar sein, daß man sie gar nicht erkennt. Wie dieser Schürhaken für den Kamin da drüben.« »Das ist doch keine Maschine.« »Es ist ein Hebel, oder?« fragte Phil, und sein Schwager brummte verächtlich. »Na schön, dann haben wir also Hebel im Haus und zwischen den Wänden. Wer benutzt sie? Dieser Schürhaken bewegt sich nicht von selbst und –« Melton brach unvermittelt ab und blickte mißtrauisch zu dem Schürhaken hinüber. Dann begegnete er Phils Blick. Phil grinste. »Siehst du«, sagte er vieldeutig. Melton stand auf, warf die Serviette auf den Tisch. »Maschinen in der Wand – Blödsinn!«
»Einfache und wiederum sehr komplizierte, aber auf jeden Fall als solche nicht erkenntlich. Farbe ist ganz einfach Farbe, aber man kann damit ein Kunstwerk wie die Mona Lisa malen.« »Du meinst also, French hat die Innenwände mit Farbe bemalt, die die Funktionen von Maschinen erfüllt?« »Da alles unsichtbar und ungreifbar ist, weiß ich das natürlich nicht. Aber was diese Geräusche in der Nacht angeht –« Er brach ab. »Na, was ist damit?« »Ich denke, das Haus lädt seine tagsüber verbrauchten Energiereserven wieder auf«, sagte Phil, worauf Melton vor sich hin zu murmeln begann und fast fluchtartig den Raum verließ. Mit Tom Garrett, dem Ingenieur von Instar Electric, aß er zu Mittag. Garrett war eine dicke kleine Kugel von einem Mann, mit einer spiegelglatten Glatze und kurzsichtigen Augen, mit denen er einen durch dicke Brillengläser eulenhaft betrachtete. Aber über das Haus wußte er auch nur wenig zu sagen. »Überleg doch mal, um was es im Grunde geht«, sagte er zum Ende der Unterhaltung zu. »Ein paar ungewöhnlich verlegte elektrische Zuleitungen. Und wenn ich ganz offen sein soll –« »Das bist du ja immer«, sagte Melton. »Tu dir also keinen Zwang an.« »– leidest du unter einer Neurose.« »Nicht ich allein; wir sind zu dritt.« »Warum nicht? Ein Haus ist dazu imstande. Die Umgebung des Menschen übt einen außerordentlich starken Einfluß auf ihn aus.« Er rülpste und entschuldigte sich. »Ich würde dir raten, Urlaub zu machen oder einen Arzt aufzusuchen. Neue Leitungen verlegen zu lassen kannst du dir sparen.«
»Neue Leitungen hab’ ich schon verlegen lassen. Ohne Erfolg.« »Nun, einen Trost kann ich dir mit auf den Weg geben«, sagte Garrett väterlich. »Verrückt bist du nicht. Jedenfalls noch nicht. Deine Knochenhand im Kühlschrank – nun, du weißt ja selbst, daß bei sehr intensivem Licht die Hand eines Menschen durchscheinend wirkt. Man kann die Knochen in Umrissen erkennen.« »Mag sein. Wenn ich aus dem Fenster schaue, erwarte ich etwas anderes zu sehen.« »Was denn?« »Weiß nicht. Halt etwas anderes.« »Hast du es schon gesehen?« Nach einer Weile sagte Melton: »Nein.« Garrett blickte ihn stumm an. Dann sagte er: »Du hast mich neugierig gemacht. Ich würde gern mal zu euch kommen und mir diese elektrischen Leitungen anschauen.« »Du bist herzlich eingeladen. Wann?« Garrett sah in seinem Notizkalender nach. »Hab’ noch einige Termine. Paß auf, ich rufe vorher an.« »Je früher, desto besser. Übrigens, ich habe schon daran gedacht, wieder auszuziehen.« »Woanders würdest du einen Heizungsofen finden, wie du ihn hast?« »Ich wünschte, es wäre so komisch, wie du es hinstellst«, sagte Melton bekümmert. »Und ich hätte gern, daß du die elektrischen Leitungen überprüfst. Ich habe so eine Ahnung, daß selbst du überrascht sein wirst. Mein Schwager hat noch viel verwegenere Einfälle in diesem Zusammenhang als ich, und –« »Was für Einfälle sind das?« Melton erläuterte. Es überraschte ihn, wie fasziniert Garrett zuhörte. »Weißt du«, sagte er dann, »der Gedanke mit den
Maschinen ist gar nicht so absurd. Je weiter wir technisch vorankommen, desto einfacher werden unsere Maschinen und Geräte. Denk bloß mal an die Vakuumröhren für Radios und so weiter, die heute alle durch winzige Transistoren ersetzt sind. Und die aufgedruckten Schaltkreise, die dieselbe Funktion erfüllen wie früher meterlange Drahtverhaue. Bei Verwendung von elektromagnetischer Energie, Neutronen und so weiter stellen wir immer wieder fest, daß die unkompliziertesten Maschinen die dafür am besten geeigneten sind, wie zum Beispiel eine einfache Eisenstange.« »Aber doch nicht Farbe!« »Es gibt Farben, die sind mehr als nur ein Anstrich«, sagte Garrett. »Es gibt Leuchtfarben, die speichern tagsüber das Sonnenlicht und strahlen es nachts wieder ab. Ich will damit nicht sagen, daß ich mich der Theorie deines Schwagers anschließe. Ich habe in dieser Hinsicht eine ureigenste Idee. Ich glaube nicht, daß wir in der Zukunft von immer mehr unförmigen Maschinen umgeben sein werden, die immer komplizierter werden. In der Zukunft wird alles so vereinfacht sein, daß es einem Menschen aus unserem Jahrhundert gar nicht als Maschine auffällt, bis er die Auswirkungen sieht.« »Nun ja«, sagte Melton. »Anders werden die Maschinen in der Zukunft wohl sein.« »Sehr viel anders, glaube ich. Jetzt muß ich gehen. Ich rufe dich an, Melton. Und befolge meinen Rat und suche einen Arzt auf.« »Jetzt sag’ bloß nicht, mir fehlte nichts«, sagte Melton. »Es hat schon so manch einer einen kerngesunden Eindruck gemacht und war doch innerlich faul wie ein alter Äpfel.« Dr. Farr strich sanft über seinen Schnurrbart. Das schien ihm zu gefallen, denn er setzte das Streicheln mit gleichmäßigen Bewegungen fort. »Ich sage das ja gar nicht, Bob«, sagte er.
»Die Hälfte meiner Patienten sind auf irgendeine Art verrückt, und solange sie es nicht wissen, ist alles mit ihnen in Ordnung. Alles eine Frage des Ausgleichs und der Anpassung.« »Hochtrabende Begriffe.« »Auf Grund der Versuche könnte festgestellt werden, daß du ein bißchen psychotisch bist«, sagte Farr, nachdem er seine Notizen zu Rate gezogen hatte. »Besonders was dein Orientierungsvermögen angeht. Das ist aber kein weiter bedeutsames Symptom. Da ich dich jedoch seit Jahren kenne – und ich bin bereit, dafür mit meinem Ruf als Arzt, soweit ich einen habe, zu bürgen –, ist diese Abweichung objektiv und nicht subjektiv zu sehen.« »Heißt das, daß das Haus der Schuldige ist?« »Es kann das auslösende Moment sein. Ein Trauma. Die Ursache kann etwas x-beliebiges sein. In deinem Fall ist es das Haus. Es wäre das beste, du ziehst aus.« »Das hab’ ich auch vor«, sagte Melton. Farr lehnte sich zurück und blickte auf das gerahmte Diplom an der Wand gegenüber. »Dein Freund hatte recht, als er von den Einflüssen der Umgebung auf den Menschen sprach. Sperrt man ein Kind in einen stockfinsteren Keller, wird es später immer Angst vor der Dunkelheit haben. Und warum? Weil die Dunkelheit nicht die natürliche Umgebung des Menschen ist. Genauso kann man es bei diesem Haus sehen. Wenn es dich kribblig macht, dann zieh aus.« »Und was ist mit Michaela und Phil?« »Du könntest sie anstecken. Oder du wirst angesteckt. Phil ist ohnehin ein Alkoholiker und auf dem besten Weg zum Delirium tremens. Schade. Er ist ein talentierter Künstler.« Melton sagte irgendwie entschuldigend: »Du weißt doch ganz genau, was aus Phil werden würde, wenn er nicht bei uns lebte. Und er zahlt für seinen Unterhalt.«
»Wenn er mal arbeitet. Zwei Bilder im Jahr. Aber was geht mich das an. Ich bin Arzt und kein Schulmeister. Ist er noch auf seiner Sauftour?« Melton runzelte die Stirn. »Hat seit zwei Tagen keinen Tropfen Alkohol zu sich genommen. Das ist schon seltsam. Die meiste Zeit macht er nämlich den Eindruck, als sei er voll bis zum Eichstrich. Ich kenne das bei ihm.« »Vielleicht hat er eine Flasche versteckt und trinkt nur, wenn ihn keiner beobachtet.« »Phil würde das nie tun. Er trinkt in aller Öffentlichkeit; ihm ist es egal, was die anderen darüber denken. Er braucht keine Entschuldigung, um sich vollaufen zu lassen. Wirklich komisch.« »Wie benimmt er sich?« »Nicht anders als sonst auch. Aber er hält sich sehr häufig im Keller auf.« »Vielleicht hat er unten Flaschen versteckt«, vermutete Farr. »Du mußt auf jeden Fall verhüten, daß er einen Schuldkomplex kriegt. Gib ihm zu trinken, wenn er Verlangen nach Alkohol verspürt. Man darf die psychologische Seite nicht übersehen. Er hat absolutes Vertrauen zu dir und Michaela. Daran darf sich nichts ändern. Sag ihm, er soll mal vorbeikommen. Möchte mir sein Herz ansehen. Er kriegt auch was zu trinken.« »Du bist mir ein schöner Arzt«, sagte Melton und lachte. »Ich muß gehen. Will noch einige Auskünfte über eine bestimmte Person einholen. Wir sehen uns in Bälde.« »Zieh aus«, rief ihm Farr noch nach. »In dem Haus spukt’s.« Es spukte zwar nicht im Haus, aber als Melton am Abend desselben Tages vor der Haustür stand und den Hausschlüssel aus der Tasche zog, hatte er das ganz deutliche Gefühl, daß er eigentlich gar nicht hineingehen wollte. Einige Verszeilen
eines Gedichtes fielen ihm ein: Und der Wanderer fragte: »Ist jemand hier?« und pochte an die mondhelle Tür … Wie ging es nur weiter? Nur der Lauscher Schar, lauschend auf Stimmen, die aus des Menschen Welt herüberdringen … Oder so ähnlich. Nicht definierbar und ungreifbar, wie Staubpartikel im Strahl des Mondlichtes. Griff man danach, faßte man ins Leere. Zog man die Hand zurück, waren die Staubkörnchen wieder da. Melton verzog das Gesicht und schloß die Tür auf. Im Wohnzimmer lag Phil auf der Couch und schien zu schlafen. Michaela legte ihr Nähzeug weg und stand auf, um ihn zu begrüßen. »War etwas?« fragte er. »Nichts Neues«, antwortete Michaela. »Gib mir deinen Mantel, damit ich ihn aufhängen kann.« Sie ging damit hinaus. Melton hob Michaelas Nähzeug auf. Weit war sie nicht gekommen. Er blickte zu Phil hinüber. »Du schweigst?« »Ich bin glücklich«, sagte Phil. »Mein Schweigen spricht für sich selbst.« »Trinkst du einen mit?« »Nein.« »Doktor Farr möchte dich mal sehen, wenn du wieder in der Stadt bist.« »Von mir aus gern«, sagte Phil. »Hast du etwas über John French erfahren?« »Ja«, sagte Michaela, die zurückgekommen war, »was hast du herausbekommen? Du sagtest doch, du wolltest dich darum kümmern.« Melton ließ sich in einen Sessel fallen. »Ich bin der Sache nachgegangen. Habe eine Detektei eingeschaltet. Aber es ist sinnlos. Der Kerl hat offensichtlich überhaupt nicht existiert. Niemand hat ihn jemals gesehen.« »Ist doch klar«, sagte Phil.
Melton seufzte. »Also gut«, sagte er. »Dann verrate du mir, wer er war. Vielleicht der Weihnachtsmann?« »Timeo Danaos. Das Feuer im Boiler brennt noch immer.« »Es ist auch noch viel zu warm im Haus. Warum habt ihr die Fenster nicht geöffnet?« »Die klemmen wieder«, sagte Michaela. »Diesmal haben wir sie überhaupt nicht öffnen können.« Plötzlich ging das Licht an. Melton fragte: »Warst du das, Phil?« »Nein.« Melton ging zum Wandschalter und drückte darauf. Das Licht blieb brennen. »John French, unser guter alter Freund«, murmelte Phil. »Der hat sich ein Haus gebaut, und wie!« Er stand auf und ging in die Küche. Melton hörte Schritte auf der Kellertreppe. »Ja«, sagte Michaela, »er geht schon den ganzen Tag hinunter.« »Voll wie eine Strandhaubitze.« »Ich weiß. Aber es ist nicht so wie sonst.« »Ja«, sagte Melton. »Aber er muß das Zeug im Keller haben. Vielleicht hat French ein paar Flaschen unten stehenlassen.« »Mit welchem Inhalt? Laß uns lieber nicht daran denken.« »Was hast du heute getan?« fragte Melton. »Nichts. So gut wie gar nichts. Ich wollte mit meiner Näharbeit weiterkommen, aber die Zeit vergeht so schnell. Bevor ich mich’s versah, war es sechs Uhr abends.« »Was gibt’s zum Abendessen?« Michaela schlug die Hand vor den Mund. »Ach du meine Güte, Bob. Das Abendessen habe ich glatt vergessen.« »Langsam beginne ich anzunehmen, daß du auch im Keller warst«, sagte Melton lächelnd, aber Michaela blickte ihn betroffen an. »Nein, Bob, ich war nicht unten. Nicht ein einziges Mal.« Melton blickte sie eine Weile stumm an, dann ging er in die
Küche und öffnete die Tür, die in den Keller hinunterführte. Das Licht brannte, und er konnte Phil sehen, der unten in einer Ecke stand und sich nicht rührte. »Komm ‘rauf«, sagte er. »Heute gibt’s das Abendessen aus dem Whiskyglas.« Melton kehrte ins Wohnzimmer zurück. Dann kam auch Phil, der leicht schwankte. Melton nickte mit finsterer Miene. »Das ist der Kater, der den Vogel fraß«, sagte er. Phil ging nicht darauf ein. »Sag mal, Bob, was würdest du tun, wenn du zehn Jahre lang bei den Ubangis verbringen müßtest?« »Dann würde ich mir das Küssen abgewöhnen«, sagte Melton. »Jetzt im Ernst! Was würdest du tun, wenn du in eine Ubangi-Hütte ziehen und lange Zeit dort bleiben müßtest? Mit den Eingeborenen hättest du nichts gemeinsam.« »Bestimmt nicht.« »Also?« »Also was? Was würdest du tun?« »Ich würde mir die Hütte anders herrichten«, sagte Phil. »Besonders dann, wenn ich den Eindruck erwecken wollte, ich sei auch ein Ubangi. Äußerlich würde ich nichts verändern, aber im Inneren würde ich die Hütte so herrichten, daß sie meinen Vorstellungen entspricht, und ich würde auch dafür sorgen, daß niemand außer mir sie betritt. Anstelle von Grasmatten würde ich Stühle und Sessel benutzen, um nur ein Beispiel zu nennen. Ich frage mich wirklich, wie French wohl das Haus möbliert haben mochte.« »Und für was hältst du diesen French?« fragte Melton. »Keine Ahnung. Ich glaube sogar, daß es unmöglich ist, sich in dieser Richtung überhaupt eine Vorstellung zu machen. Aber was er nicht war, das weiß ich genau.« »Was war er denn nicht?«
»Ein Mensch«, antwortete Phil. Michaela bewegte sich unruhig und zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Phil nickte in ihre Richtung. »Wir verbringen mehr Zeit im Haus als du, Bob. Mickey und ich. Es lebt. Es ist eine Maschine. Es ist beides gleichzeitig, eine Maschine und ein Lebewesen.« Melton machte eine Grimasse. »Und es hat sich wahrscheinlich auch schon mit euch unterhalten.« »Natürlich nicht! Dafür ist es nicht geeignet. French hat das Haus nicht selbst gebaut. Er ist eingezogen und hat es seinen Erfordernissen entsprechend hergerichtet. Wer oder was er auch gewesen sein mag, er hat Wärme gebraucht, für uns ungewöhnlich starke Hitze. Das läßt sich leicht ableiten. Andere Eigenheiten dagegen –« »Wie zum Beispiel der Kühlschrank«, warf Melton ein. »Ich habe mir den Fußbodenbelag unter dem Kühlschrank angesehen«, sagte Phil. »Da waren keine Eindrücke vom Kühlschrank. Nach zehn Jahren hätten da welche sein müssen. Etwas anderes muß anstelle des Kühlschranks in der Küche gestanden haben. Du wirst nichts erreichen, wenn du neue Leitungen legen läßt, Bob. French hat keine Drähte gebraucht. Er mag sie seinen Bedürfnissen entsprechend ein wenig anders verlegt haben, aber ich glaube, er brauchte im Grunde gar nichts anderes zu tun, als ein bißchen mit Atomen zu jonglieren.« »Ein lebendes Haus. Daß ich nicht lache!« »Ein Roboterhaus vielleicht. Ein Roboter braucht doch nicht menschenähnliche Form zu haben. Wir verfügen längst über Roboter, aber die sind alle so entwickelt, daß ihr Äußeres ihrer Funktion entspricht.« »Also gut«, sagte Melton gereizt. »Dann ziehen wir also aus.«
»Besser wär’s. Denn dieses Haus wurde für French gemacht, nicht für uns. Es funktioniert nicht richtig. Der Kühlschrank macht Mätzchen, weil er an eine Steckdose angeschlossen ist, die für ein ganz anderes Gerät gedacht war.« »Ich hab’ noch einige andere Steckdosen ausprobiert.« »Und ging’s dann besser?« Melton schüttelte den Kopf. »Der Kühlschrank benahm sich … äh … genauso komisch.« Er bewegte sich nervös. »Warum sollte French … das heißt, weshalb hat er sich überhaupt hier – « »Warum ein zivilisierter Weißer in einem Ubangi-Dorf wohnen sollte? Um Studien zu treiben, ethnologische oder entomologische zum Beispiel. Oder weil ihm das Klima gefällt. Oder um sich zu entspannen – oder um seinen Winterschlaf zu halten. Der Möglichkeiten gibt es viele. Woher French auch gekommen sein mag, er ist wieder zurückgekehrt, ohne sich die Mühe zu machen, das Haus in seinen ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen. So ist es.« Phil stand auf und ging hinaus. Melton hörte, wie er die Tür zum Keller hinter sich schloß. Melton ging zu Michaela hinüber und legte seinen Arm um ihre Schulter. »Wir ziehen aus, Liebling«, sagte er. Sie blickte aus dem Fenster. »Es wäre so hübsch hier, wenn nicht … Der Blick über den Fluß ist wirklich schön. Ich wünschte, wir brauchten nicht auszuziehen. Wann, Bob?« »Wollen wir uns schon morgen nach etwas anderem umsehen? Vielleicht eine Wohnung in der Stadt?« »Ja«, sagte Michaela. »Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es nun auch nicht mehr an.« Später, nachdem sie zu Bett gegangen waren, fand Melton keinen Schlaf. Er hörte Michaelas regelmäßige Atemzüge. Und er hörte noch etwas anderes. Es waren keine Mäuse, das wußte er inzwischen. Hinter den Wänden war leise, kaum
wahrnehmbare Bewegung, mehr spürbar als vernehmlich. Das Haus war dabei, sich wieder aufzuladen, verbrauchte Energie zu ersetzen. Der Roboter bereitete sich auf den kommenden Tag vor. Das Haus lebte nicht, es konnte nicht denken, es hatte kein Bewußtsein, keine Seele. Es war eine Maschine. Aber eine so unglaublich vielseitige Maschine, die nur deshalb arbeiten konnte, weil sie von einer an ein Wunder grenzenden Einfachheit war. Wie war das möglich? Dank neuer Erkenntnisse auf dem Gebiet der Elektronik? Oder lag es jenseits des Vorstellungsvermögens des Menschen? Mit dem Elektronenmikroskop können wir ein Stück in den Mikrokosmos hineinsehen, dachte Melton. Aber wir können nicht weit genug hineinsehen, so weit, daß – Es war, als strahle das Haus kaum wahrnehmbare rhythmische Impulse aus. Melton spürte, wie sein Körper und sein Geist in den Bann dieses zwingenden Rhythmus geriet. Es war eine erschreckende Erkenntnis, aber er konnte sich ihr nicht entziehen. Wer war John French – oder was? Plötzlich fühlte er wieder diese Entfremdung. Ohne Michaela anzusehen, sprang er aus dem Bett, tastete sich im Dunkeln die Treppe hinunter und stand bewegungslos im Hausflur. Er wartete. Nichts geschah. Er ging in die Küche. Die Tür zum Keller stand offen. Er konnte Phil nicht sehen, aber er wußte, daß sein Schwager unten am Fuß der Treppe stand. »Phil«, sagte er leise. »Ja, Bob?« »Komm ‘rauf.« Phil kam die Stufen herauf. Er trug einen Schlafanzug und schwankte leicht. »Was ist da unten?« fragte Melton. »Nichts.« »Alkohol?« »Nein.«
»Was denn dann?« »Nichts«, sagte Phil wieder, und seine Augen waren glasig und glänzten. »Ich stelle mich in die Ecke, lehne den Kopf an die Wand, und dann … dann male ich –« Seine Stimme war immer langsamer geworden, bis er mitten im Satz abbrach. »Nein«, sagte er nach einer Weile, »malen ist das nicht, oder? Aber ich glaubte –« »Was?« »Das Haus entsprach Frenchs Wünschen, nicht wahr?« fragte Phil. »Aber wir wissen nichts über Frenchs Wünsche. Wir wissen nicht, was er war. Ich frage mich wirklich, ob er vielleicht aus der Zukunft stammte. Oder von einem anderen Planeten. Jedenfalls muß es am Ort seiner Herkunft recht erstaunliche Dinge geben.« »Wir ziehen aus«, sagte Melton. »Sobald ich etwas Geeignetes finde.« »Ist gut.« »Gehen wir wieder schlafen.« »Ja«, sagte Phil. »Warum auch nicht. Gute Nacht, Bob.« »Gute Nacht, Phil.« Aber auch nach diesem Zwischenfall konnte Melton lange nicht einschlafen. French hat sich dieses Haus eingerichtet. Möchte mal wissen, ob French eines Tages wieder zurückkommt? Das Haus entspricht genau Frenchs Wünschen. Das Haus lebt. Nein, es lebt nicht. Es ist eine Maschine. Aus jedem Haus kann man, wenn man genug Geld investiert, eine Wohnmaschine machen. Also eine Maschine, wie French sie haben wollte. Nur, welche Auswirkungen hatten sie auf Menschen? Mutation? Verschiebung in eine andere Welt? Jedenfalls würde die Wirkung eine völlig ungewöhnliche sein.
Melton hatte keine Lust, diese Erfahrung zu machen. Morgen suche ich eine neue Wohnung, beschloß er. Und mit diesem geringen Trost schlief er endlich ein. Am nächsten Abend kam er etwas früher als sonst nach Hause. Ohne zu zögern, öffnete er die Haustür und trat ein. Michaela und Phil befanden sich im Wohnzimmer. Sie hatten stumm dagesessen und wandten nur die Köpfe, um ihm entgegenzublicken, als er hereinkam. »Ich habe eine Wohnung gefunden«, verkündete Melton strahlend. »Wir können gleich zu packen beginnen. Wie findet ihr das?« »Prima«, sagte Michaela. »Können wir morgen vormittag umziehen?« »Natürlich. French kann sein Haus wieder zurück haben.« Das Licht ging an. Melton wußte, daß keiner der beiden sich bewegt hatte. »Nichts hat sich verändert, wie? Na, uns kann es jedenfalls egal sein. Trinken wir was? Wie wär’s mit einem Cocktail, Mike. Ich nehm’s heute sogar mit den Eiswürfeln auf.« »Nein, danke.« »Hm-m. Und du, Phil?« »Nein, ich möchte auch nichts haben.« »Aber ich«, sagte Melton. Er ging in die Küche, ließ dann aber doch die Eiswürfel im Kühlfach und ging mit einem kleinen Glas Whisky ins Wohnzimmer zurück. »Essen wir heute auswärts?« fragte er. »Du meine Güte«, sagte Michaela. »Jetzt habe ich schon wieder das Abendessen vergessen.« »Wir sollten spätestens morgen ausziehen«, sagte Melton, »wenn nicht schon heute abend.« Er setzte sich. »Noch zu früh, um zu essen. Aber wir können die Zeit totschlagen,
indem wir etwas trinken.« Er blickte auf die Uhr. Zwanzig Minuten nach vier Uhr. Er blickte wieder hin. Zwanzig Minuten vor elf. Nichts hatte sich verändert. Nur der Himmel draußen war schwarz. Das war die einzige Veränderung. Michaela und Phil hatten sich nicht bewegt. Melton hatte noch genausoviel Whisky im Glas wie vorhin. Erst glaubte er, er leide unter Gedächtnisschwund. Dann fiel ihm ein, daß die Wahrheit ja viel einfacher war. Er hatte einfach den Denkprozeß unterbrochen, er konnte sich noch genau erinnern, wie er es getan hatte, und die Zeit war vergangen. Ein unglaubliches Phänomen, aber genauso unbestreitbar. Es war tatsächlich zwanzig Minuten vor elf Uhr abends. Dann kam die Entfremdung, kam ganz langsam über ihn und verging wieder. Michaela und Phil hatten sich noch immer nicht gerührt. Melton blickte auf die Uhr. Gleichzeitig spürte er, wie sich eine bleierne, dumpfe Schwärze über seine Gedanken legte. Wie Winterschlaf, dachte er. Grau, formlos, ohne – Zwölf Minuten nach acht. Draußen war der Himmel wieder blau. Das Wasser des Flusses war blau. Die Morgensonne glänzte im satten Grün des Laubes. »Mike«, sagte Melton. »Ja, Bob.« Fünf Minuten nach halb vier. Es war nicht die Zeit, die sich verändert hatte. Melton fühlte das sehr deutlich. Die Ursache lag beim Haus. Es war Nacht. Neun Uhr zwanzig. Das Telefon läutete. Melton streckte den Arm aus und nahm den Hörer ab. »Hallo«, sagte er. Dr. Farrs Stimme klang laut in dem stillen, überheizten Raum. Michaela und Phil saßen wie Holzfiguren im hellen Schein der Deckenlampe. Nach einer Weile sagte Melton:
»Nein, nein, wir haben es uns anders überlegt. Wir ziehen nicht aus –« Er legte auf. Winterschlaf, dachte er. Der Vorgang war von einer kumulativen Beschleunigung geprägt. Manche Lebewesen – nicht menschliche – brauchen vielleicht Perioden der Ruhe. Und sie bauen sich Maschinen, sehr einfache Maschinen, die für sie sorgen, während sie schlafen. Maschinen, die sich anpassen, die sich anderen Organismen anpassen können. Auch menschlichen Organismen. Mit gewissen Einschränkungen. Winterschlaf im Falle von John French, aber für Melton, Michaela und Phil? Die Auswirkungen würden anders sein. Denn sie waren nicht so wie French oder andere seiner Rasse. »Wir werden das Haus nicht mehr verlassen«, sagte Melton leise. Er stellte fest, daß es drei Minuten nach drei Uhr nachts geworden war. Die Maschine hinter den Wänden bewegte sich, lud sich auf. Mondlicht fiel durch die Fenster, durch die eigenartige Beschaffenheit des Glases leicht verzerrt. Die drei Menschen im Haus bewegten sich nicht. Sie warteten nicht mehr.
Originaltitel: THIS IS THE HOUSE. Copyright © 1946 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Februar 1946. Übersetzt von Walter Spiegl.
Eric Storm DAS SCHWERT VON TORMAIN
Caron arbeitete in einer der vielen Schenken auf Callisto, als er die Neuigkeit hörte. Ein betrunkener Raumfahrer, der soeben von den inneren Planeten gekommen war, hatte seinen Mund nicht halten können. Das erste, was Caron daraufhin tat: Er kündigte. »Wie, du willst gehen?« wunderte sich der Besitzer der Kaschemme und rollte mit seinen großen Augen. Er war einer der unzähligen Mutanten, die aus Kreuzungen verschiedener Rassen entstehen. »Das kann doch nicht dein Ernst sein!« »Und ob!« sagte Caron kalt. »Warum denn?« »Das ist meine Angelegenheit!« Caron lehnte sich abwartend gegen den rohen Holztisch. »Zahlt mir den restlichen Lohn aus!« »Natürlich – aber warum die Eile? Kannst du nicht wenigstens warten, bis ich einen Ersatzmann gefunden habe?« »Nein!« Der Besitzer zuckte mit den Schultern und griff in seine Rocktasche, zog ein Bündel schmutziger Geldscheine hervor und zählte ein kleines Päckchen davon herunter. Er reichte es Caron. »Du bist ein Narr, Caron«, versuchte er es noch einmal. »Hier bist du sicher. Sicher vor der Polizei!« Caron zählte achselzuckend das Geld nach.
»Einen Mann wie dich kann ich immer gebrauchen«, fuhr der Mutant fort. »Wenn du in der Nähe bleibst, würde sich dir vielleicht sogar mal eine Partnerschaft bieten. Nun …?« »Danke! Keine Zeit mehr dazu!« »Mann, ich habe dich aufgelesen, als es dir dreckig ging – und jetzt, wo ich dich brauche, gehst du einfach. Caron, wie würdest du einen solchen undankbaren Menschen nennen?« »Keine Ahnung!« sagte der kräftig gebaute Terraner. »Du gabst mir einen Job, und ich habe gearbeitet. Jetzt kündige ich. Was ist schon dabei?« »Aber warum denn, Mann? Warum?« Caron zögerte, hielt das Geldbündel unschlüssig in der Hand. Der Mutant hatte recht, von seinem Standpunkt aus gesehen. »Sie haben das Schwert von Tormain gefunden«, sagte er schließlich langsam. »Sie wollen das Gewölbe von Dretheeda aufbrechen.« »Na und? Deswegen verläßt du mich einfach?« »Ja!« Caron stopfte das Geld in seine Tasche und überprüfte mit einer Handbewegung den richtigen Sitz seines Blasters. »Ja, deshalb muß ich dich verlassen.« Er verließ das Büro, ohne sich umzusehen. Es war sehr schwer, die äußeren Planeten zu verlassen. Stets gab es zuwenig Raumschiffe und zuviel Menschen. Da Caron jedoch ein großer und starker Mann war, gelang es ihm in kürzester Zeit, eine leere Koje aufzutreiben. Natürlich kostete ihn das noch eine hübsche Stange Geld. Das Schiff war ein veralteter Frachter, der an jeder Nietstelle leckte und dessen Antrieb jeden Augenblick auseinanderzufliegen drohte. Caron bewunderte das Museumsstück, zuckte ergeben mit den breiten Schultern und willigte ein, auch noch körperliche Arbeit während des Fluges zu leisten. Der Kapitän sah aus wie ein richtiger Raumpirat,
der sein Geld damit verdiente, indem er an Reparaturkosten sparte. Die Sicherheitsvorschriften schien er noch nicht mal dem Namen nach zu kennen. Seine Mannschaft suchte er aus dem herumlungernden Gesindel der von ihm angelaufenen Raumhäfen heraus. Sein Navigator war aus dem gleichen Holz wie er. Es war ein fetter, wabbeliger Mann mit einer großen Narbe an der Stelle, wo das Ohr hingehörte. In dieser Gesellschaft fühlte sich Caron sicher und geborgen. Er arbeitete, daß ihm der Schweiß ausbrach, während der Kahn durch den Asteroidengürtel trampte, schuftete wie ein Wilder im Maschinenraum, um den Reaktor vor dem Auseinanderplatzen zu bewahren, und wunderte sich fortgesetzt darüber, daß nicht das ganze Schiff bereits mit tödlicher Strahlung verseucht war. Mindestens zwanzig Pfund verlor er an Gewicht, und die Linien um seinen Mund hatten sich tiefer und härter eingegraben als je zuvor. Sie erreichten schließlich die Raumstation, glitten an den beiden Monden vorbei, spuckten Flammen aus den brüchigen Düsen und landeten endlich mit einigermaßen heiler Haut in Port Murphy auf Mars. Noch ehe sich der rötliche Sand abkühlen konnte, sprang Caron aus der Rakete und eilte auf die Drahtumzäunung zu. Hinter ihm ertönten die Rufe der Hafenpolizei und das Röhren eines Blasterschusses. Aber er achtete nicht darauf, duckte sich und nahm einen Anlauf. Die geringe Gravitation half ihm; wie ein Segler glitt er über den nicht sehr hohen Zaun hinweg und überschlug sich beim Aufprall in dem weichen und nachgiebigen Sand. Sofort war er wieder auf den Beinen und rannte weiter. Schatten tauchten vor ihm auf. Gebäude! Hinter ihm war die Polizei. Und die Polizei suchte ihn, suchte ihn schon sehr lange. Es war sträflicher Leichtsinn, ausgerechnet zum Mars zurückzukehren. Sicher, die Verfolger wußten noch nicht, wer sich illegal einschleichen wollte, hielten ihn für
einen der vielen Tramps von den äußeren Planeten. Wenn sie einen solchen Tramp erwischten, würden sie ihn zu zehn Jahren Strafarbeit wegen unerlaubten Betretens fremden Bodens verdonnern. Bei ihm jedoch würde die Strafe anders ausfallen. Auf den ersten Blick würden sie ihn erkennen. Außerdem befand sich die Schablone seiner Gehirnwellen bei jedem Steckbrief. Sie würden ihn mit hinaus in den Weltraum nehmen, ihm einen Raumanzug und für fünf Stunden Luft geben und dann aus dem Schiff stoßen. Der Tod ist niemals schön, aber gewöhnlich ist er schnell. Doch so hilflos im leeren Raum zu treiben, nur in einem dünnen Anzug und ohne jede Aussicht auf Rettung – nein, das war nicht ein, das waren tausend Tode! Bei jedem Atemzug würde sich mit brennenden Messern die Gewißheit in das Gehirn graben, daß dies vielleicht sein letzter sei. Wieder eine Sekunde näher – dem Erstickungstod. Die kalten Lichtpunkte der Sterne würden das Gefühl absoluter Einsamkeit noch verstärken. Das war nicht der Tod, den Caron sich wünschte! Er verschwand in einer engen Gasse, lief an hohen, finsteren Gebäuden vorbei und verfluchte sein Pech, ausgerechnet auf einem modernen Raumhafen gelandet zu sein. In jenen alten Städten hätte er bessere Aussichten gehabt, der Polizei zu entkommen. Hier aber … Der Sand zu seinen Füßen wirbelte auf, als er plötzlich in seinem Lauf durch die leere Straße innehielt. Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen, als er den großen, eckigen Wagen sah, der in einer Seitenstraße stand. Es war eines jener Fahrzeuge, wie man sie zu Expeditionen in die Wüste benutzte: Geschlossene Fahrkabine und Laderaum, außerdem breite Gleitketten. Der Wagen stand verlassen und einsam da, als warte er auf jemand. Caron warf einen Blick zurück und atmete auf, als er keine Verfolger bemerkte. Mit einem Satz
stand er am Wagen, öffnete die hintere Tür und kletterte in den finsteren Laderaum. Mit aller Gewalt zog er die Luke hinter sich zu und begann, sich mit tastenden Händen ein Versteck zu suchen. Zwischen Kisten und Kasten fand er endlich ein schmales Plätzchen, das seinen bescheidenen Ansprüchen genügte. Er legte sich nieder und schloß die Augen. Die Strahlpistole hatte er in der Hand. Angespannt wartete er auf das, was kommen würde. Und er hatte nicht sehr lange zu warten. Durch die dünne Außenwand des Wagens drangen harte und befehlende Stimmen. »He, Sie da! Ist dies Ihr Wagen?« »Ja!« sagte eine sanfte Stimme. Sie mußte einem älteren Mann gehören. »Warum fragen Sie?« »Wir suchen einen flüchtigen Verbrecher, der sich hier in der Nähe befinden muß. Haben Sie ihn gesehen?« »Nein!« »Sind Sie ganz sicher?« »Natürlich bin ich sicher! Oder zweifeln Sie an meinem Wort?« Der Polizist brummte etwas Unverständliches und hantierte an der Wagentür herum. Ein schmaler Lichtstreifen fiel in das Innere, und Caron verkroch sich noch mehr hinter die Kisten. Sein Zeigefinger lag am Feuerknopf der Waffe. »Was haben Sie darin?« »Verpflegung und Ausrüstung.« »Und keiner kam hier entlang?« »Nein!« sagte eine bisher nicht gehörte Stimme. Sie gehörte einem jüngeren Mann. »Woher wollen Sie das wissen?« »Weil ich die ganze Zeit hier war!« »Mann, das hätten Sie auch eher sagen können!« sagte der Polizist und entfernte sich mit schweren Schritten. »He, Freunde! Hier ist er nicht. Machen wir, daß wir weiterkommen!« Aus der Ferne drang das Geräusch eines
Motors herüber. »Warum hast du gelogen, Earl?« fragte der ältere Mann. »Du bist doch gar nicht in der Nähe gewesen.« »Warum sollte ich nicht? Sie hätten den ganzen Wagen durchwühlt, und du weißt, wir haben empfindliche Geräte in den Kisten. Außerdem geht es sie nichts an, was wir vorhaben, Danver. Die Eingeborenen machen uns schon genug Schwierigkeiten.« »Vielleicht hast du recht, Earl. Nur liebe ich es nicht, die Behörden irrezuführen.« »Wer tut das nicht?« brummte Earl mißbilligend. »Du bist hier nicht auf der Erde, sondern auf dem Mars. Ich weiß schon, was ich tue.« Mit einem Knall wurde die hintere Tür wieder geschlossen, und Caron mußte sich anstrengen, wenn er etwas verstehen wollte. »Fahren wir los, Danver! Es wird allmählich Zeit. Auch sind wir fertig mit dem Verladen.« »Treibstoff aufgetankt und Proviant vorhanden! Bist du auch sicher, daß du den Weg kennst?« »Natürlich bin ich das!« »Gut! Ich hole noch …« Die Stimme verklang. In dem engen und dunklen Raum wurde es heiß. Caron wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er hatte unglaubliches Glück gehabt, daß sie ihn nicht gleich zu Anfang erwischt hatten. Welches Ziel der Wagen hatte und wie lange er in seinem Innern eingeschlossen war, das spielte keine Rolle. Er war vor der Polizei in Sicherheit – und vor der Todesstrafe. Er verzog den Mund zu einer Grimasse, als die Turbinen aufheulten. Und als das Holpern ihn rüttelte und schüttelte, versuchte er zu schlafen. Denn solange das Kettenfahrzeug in Bewegung war, war ein Entdecktwerden ausgeschlossen. Er erwachte, als der Wagen anhielt. Mühsam erhob er sich, verbiß den stechenden Schmerz in den Gliedern und kroch zur
Wagentür zurück. Der Metallgriff seines Blasters schlug heftig gegen die Wand, und das Geräusch hallte laut in dem engen Raum wider. Erschrocken verharrte er, horchte auf Schritte. Aber alles blieb ruhig. Als er die Tür erreicht hatte, versuchte er, sie aufzudrücken. Aber er strengte sich vergeblich an. Die Metallplatten bewegten sich nicht. Suchend glitten seine Finger über die glatte Fläche, fanden keinen Widerstand. Die Tür konnte nur von außen geschlossen oder geöffnet werden! Caron kauerte auf den Hacken und überlegte, was er als nächstes tun sollte. Er wußte nicht, wo sich der Wagen befand. Er konnte in der Stadt stehen, mitten unter Menschen und Polizisten. Oder in einer Halle, in einer Garage. Vielleicht würde er auch verhungern, bevor man die Wagentür öffnete. Er wollte hier heraus! Vorsichtig hob er seine Strahlpistole und zielte auf eine Stelle, an der er das Schloß vermutete. Dann schloß er die Augen und drückte auf den Knopf. Der grelle Schein durchdrang selbst die geschlossenen Lider. Seine Haut wurde von der plötzlichen Hitze angesengt, und in seinen Haaren knisterte es. Aber gleichzeitig verspürte er auch den kühlen Luftzug, der durch einen Spalt in der offenen Tür zu ihm hereindrang. Die kalte Luft der Marsnacht vertrieb die Hitze im Innern des Wagens. Behutsam ließ sich Caron aus der Öffnung gleiten, berührte den Boden und zuckte zusammen. Er stand auf rotem Wüstensand. Als er sich umblickte, sah er nichts anderes als Wüste, die sich im blassen Schein der fernen Sterne bis zum Horizont hinzog. Ein heftiger Wind wirbelte den feinen Sand auf, der durch die dünne Kleidung drang, sich in die Nasenlöcher setzte und sogar die Ohren verstopfte. Tief am Horizont stand der Mond Deimos, während das Flackern eines Lagerfeuers aus der Nähe zu ihm herüberleuchtete.
Er sank blitzschnell zu Boden. Robbend näherte er sich dem Feuer, in seiner Rechten den schußbereiten Blaster. Bald konnte er die Zelte erkennen. Die trockene Luft saugte die letzte Feuchtigkeit aus seiner Haut. Seine Kehle schmerze vor Durst. Hungrig war er und durstig. Jedes Glied schmerzte in der eisigkalten Nachtluft. Er benötigte Kleidung, Nahrung, Wasser und Ausweispapiere. All das konnte er in den Zelten finden. Von einer nahen Zeltstange herab hing ein gefüllter Wasserbehälter. Sein Inhalt versprach mindestens drei Tage Leben. Caron vergaß alle Vorsicht, als er an das Wasser dachte. Er erhob sich, schritt durch den Sand und streckte die Hand aus, um den Hahn zu öffnen. Er dachte nur an das Wasser. Ein Lichtkegel strahlte ihn an. Er wirbelte herum. Sein Blaster kam hoch. Doch er entfiel seinen Fingern, als er in die Mündung einer fremden Waffe starrte, die auf ihn gerichtet war. Hinter dieser Waffe sah er ein Gesicht. Es war das Antlitz einer Frau. Caron hatte genügend Zeit, das Mädchen zu bewundern. Und es lohnte sich beinahe, denn es war hübsch. Braune Haare umrahmten ebenmäßige Züge, die vom frischen Nachtwind leicht gerötet schienen. Er versuchte ein leichtes Lächeln und bewirkte nur, daß sich die ihn bedrohende Waffe ein wenig hob. Er versuchte zu sprechen, aber nur ein heiseres Krächzen drang durch seine spröden Lippen. »Wir sind Sie?« fragte das Mädchen. »Wo kommen Sie her?« »Ich …« schluckte Caron und fuhr mit der Hand zur Kehle. »Haben Sie Wasser?« »Trinken Sie. Aber seien Sie vorsichtig und vergessen Sie nicht, daß die Mündung meiner Waffe auf Ihren Rücken zeigt!« Ob Frau oder nicht, in ihrer Stimme klang die eisige Kälte harter und unerbittlicher Entschlossenheit. Caron wußte,
daß sie ihn ohne Gnade töten würde, falls er eine falsche Bewegung machte. Behutsam trank er und fühlte, wie seine Kehle wieder geschmeidig wurde. Er räusperte sich, als er sich umdrehte. »Danke!« sagte er. »Jetzt könnten Sie aber die Pistole langsam einstecken.« »Abwarten!« gab sie kühl zurück. »Wer sind Sie?« »Ein Prospektor«, log er. »Mein Wagen hatte eine Panne, und ich mußte zu Fuß weiter. Hätte ich nicht zufällig den Schein Ihres Feuers bemerkt, ich würde morgen tot sein.« Er bückte sich kaltblütig, hob seine Strahlpistole auf und ließ sie ins Gürtelhalfter gleiten. Dann richtete er sich auf, streckte sich und lachte sie an. »Ich muß ziemlich wüst aussehen«, murmelte er verlegen – oder er tat wenigstens so. »Leider mußte ich Wasser sparen und wusch mich nicht.« »Woher kommen Sie? Wohin wollen Sie?« gab sie kurz angebunden zurück. »Von Poryipha. Ich wollte nach Port Murphy.« Er sah zum Himmel hinauf und suchte die Sterne. »Anscheinend habe ich mich verirrt.« »Sie sind noch mehr als vierhundert Kilometer von Port Murphy entfernt«, sagte das Mädchen, und Caron zuckte unmerklich zusammen. »Sind Sie fremd hier?« fragte er. »Ja.« »Allein?« »Nein!« »Besonders gesprächig sind Sie aber nicht«, knurrte er und sah auf die Zelte. Dann begann er, auf das größte zuzuschreiten. »Vielleicht ist Ihr Herr Gemahl ein wenig freundlicher und weiß, wie man einen ehrlichen Reisenden behandelt, der um Gastfreundschaft bittet. Ich friere zu Tode hier draußen.« Langsam ging er weiter.
Hinter ihm ertönte das scharfe Zischen der Strahlpistole. Er erstarrte und erinnerte sich früh genug an die Tatsache, daß sie ihn töten würde, bevor er seine eigene Waffe ziehen konnte. Er war stehengeblieben. Und noch einmal ertönte eine leichte Explosion. Vor ihm wurde das Zelt aufgeschlagen, ein Mann schaute heraus. »Was ist denn los, Sonja? Was passiert?« »Nichts, Vater. Wo ist Earl?« »Komme schon«, sagte eine andere Stimme. Aus dem kleineren Nachbarzelt kroch ein jüngerer Mann. In seiner Hand lag eine schwere Pistole, deren Mündung auf Caron gerichtet war. »Wer ist das?« »Ich hörte ein Geräusch wie einen Schuß«, erklärte Sonja. »Und als ich nachschaute, erwischte ich diesen Fremden gerade dabei, als er unser Wasser stehlen wollte.« »So?« bemerkte Earl bissig. »Wasser stehlen? Kommen Sie ‘rein, Freund, damit wir uns näher betrachten können. Und du, Sonja, sieh mal nach dem Wagen. Ich habe eine merkwürdige Ahnung.« Caron sah das Mädchen an, dann den Mann. Er sah die Zeigefinger, die am Abzug lagen. Eine Sekunde lang zögerte er, dann zuckte er mit der Schulter. Wenn er noch lange so herumstand, würde er erfrieren. Und wenn er es zum Kampf kommen ließe, würde er noch schneller sterben. Er hatte keine Aussichten, wie immer er es auch drehte. Im Zelt war es überraschend warm. Ein älterer Mann sah ihm entgegen, als er gebückt durch den Eingang schritt. Das mußte Danver sein, der auf der aufgeblasenen Matratze saß. Keiner sprach ein Wort, aber Earl winkte mit der Waffe. Caron setzte sich auf eine Holzkiste. In diesem Moment betrat Sonja das Zelt. Ihre Stimme zitterte vor Empörung. »Dieser Schuft! Er hat das Schloß der Wagentür zerschossen. Wie sollen wir es reparieren?«
»Aha!« sagte Earl und grinste Caron an. »Was also will die Polizei in Port Murphy von Ihnen? Reden Sie schon!« »Von mir?« Caron machte ein unschuldiges Gesicht. »Stell dich nicht dumm, verfluchte Ratte!« schimpfte Earl. »Du hast dich im Wagen versteckt und mit der Strahlpistole dann das Schloß zerschossen. Warum sucht dich die Polizei?« »Illegales Betreten des Mars«, gab Caron zu. »Was nun? Werden Sie mich ausliefern?« »Vielleicht«, sagte der junge Mann. »Vielleicht auch nicht. Dann lassen wir dich nämlich einfach hier, und du kannst zu Fuß nach Port Murphy wandern.« »Das können wir nicht tun, Earl!« protestierte der alte Mann. »Er würde es nicht überleben.« »Na und? Was wäre schon verloren? Haben wir ihn vielleicht eingeladen, mit uns zu fahren? Es ist seine eigene Schuld.« »Das wäre glatter Mord, Earl!« sagte das Mädchen. »Wir können es nicht tun.« »Na, was sollen wir denn sonst mit ihm anstellen? Mitnehmen?« »Nein, aber …« »Aber was?« Er wandte sich an Caron. »Nun, was schlägst du vor? Eine Idee?« »Was soll ich denn jetzt tun?« Caron betrachtete den jungen Earl mit einem zynischen Lächeln. »Soll ich auf die Knie niederfallen und um mein Leben betteln?« Er stieß ein kurzes Lachen aus und sah hinüber zu dem Mädchen. Seine Stimme wurde weicher. »Gut, ich werde Sie überraschen. Ich bettele um mein Leben und bitte Sie, mich bis zur nächsten Ansiedlung mitzunehmen.« »Das geht nicht, denn …« sagte das Mädchen und verstummte, als habe es bereits zuviel gesagt. »Warum nicht? Ihr braucht mich nur in der Nähe einer Siedlung abzusetzen.«
Beim Klang seiner Stimme wurde sie unsicher. Sie sah fragend auf ihren Vater und zu dem jungen Mann hin. Danver schüttelte den Kopf, während Earl nur die Stirn in Falten legte. »Du weißt, daß es nicht geht, Sonja«, sagte er dann. »Es würde einen großen Umweg und eine Verzögerung unserer Pläne bedeuten. Nein, mein Vorschlag ist der beste!« »Also Mord?« Caron fror plötzlich trotz der Wärme im Zelt. »Hört zu, ich habe einen besseren Vorschlag: Ihr nehmt mich mit zur nächsten Siedlung. Ich kennen den Mars besser als ihr; kann euch führen. Ich kenne sogar einige freundlich gesinnte Eingeborenenstämme, durch deren Gebiet wir ungestört ziehen dürfen. Ich werde euch führen, bringe euch zu jedem gewünschten Ort.« Er wartete auf eine Antwort und spürte auf seiner Stirn den kalten Schweiß ausbrechen. Innerlich zitterte er, während seine Hand sich unmerklich und vorsichtig seiner Waffe näherte. »Du scheinst es ja mächtig eilig zu haben, bald eingesperrt zu werden«, sagte Earl. In seinen Augen flammte ein plötzlicher Verdacht auf. Die Mündung seiner Waffe preßte sich gegen Carons Magengegend. »Bist du ein Spion? War das Ganze vielleicht nur Theater? Willst du uns nur aufhalten?« »Nein, wieso ein Spion?« »Ob wir es mit ihm versuchen?« mischte sich der Alte ein. »Wenn er ein Spion ist, kann er die Polizei auf uns hetzen. Wenn er bei uns bleibt, besteht diese Gefahr nicht. Er kennt die Stämme. Fremder, sprechen Sie die Wahrheit?« »Ja!« sagte Caron. »Es war alles so schwer«, erzählte der alte Mann weiter, und seine Stimme wurde zu einem kaum verständlichen Flüstern. »Alle waren sie gegen mich, jeder wollte mich von meinem Ziel abhalten. Und jetzt, zwei Tagesreisen davon entfernt, muß das passieren!«
»Sei ruhig, Danver!« sagte Earl kalt. »Ich werde ihm seinen verdammten Mund schon stopfen.« »Er darf nicht verhindern, daß wir das Gewölbe erreichen!« »Das Gewölbe?« Caron starrte den alten Mann an, als sei dieser ein Gespenst. »Das Gewölbe von Dretheeda?« »Sie – kennen es?« Caron lachte bitter auf. Wie ein glühendes Riesenauge hing die Sonne am wolkenlosen Marshimmel. Die Hitze wurde vom Sand reflektiert und strahlte mit doppelter Intensität gegen die Metallplatten des Wüstenwagens. Ungehindert prallte die ultraviolette Strahlung auf die Oberfläche des Planeten. Durst quälte die Menschen, und Wasser wurde wertvoller als Gold. Caron stand vorn auf dem Verdeck des Wagens und hielt die Hand schützend an die Augen. Unaufhörlich beobachtete er die schweigende Wüste, in die sie immer weiter vordrangen. Neben ihm stand Sonja, in Shorts und einem verschwitzten weißen Hemd. »Sehen Sie was?« fragte Earl. Er hatte sich das höflichere »Sie« angewöhnt. Mit der Hand wischte er sich den Schweiß von der Stirn und versuchte, den flimmernden Glast mit zusammengekniffenen Augen zu durchdringen. »Allerdings«, entgegnete Caron und sprang mit einem elastischen Satz in den Sand hinab. »Es ist besser, Sie geben mir meine Waffe wieder. Zwischen uns und dem Gewölbe befindet sich ein feindlicher Stamm.« »Keine Sorge.« Earl winkte ab und machte keine Anstalten, Caron die Waffe zu geben. »Sie werden es kaum wagen, uns anzugreifen.« »Sie scheinen sich selbst was vormachen zu wollen, Earl.« Caron sah zuerst das Mädchen an, dann den jungen Mann. »Die Eingeborenen wissen genau, daß wir Wasser und
Nahrungsmittel haben. Außerdem wertvolle Waffen. Auch werden sie ahnen, daß wir im Begriff sind, ihr größtes Heiligtum zu schänden. Geben Sie mir die Waffe. Es ist besser so.« »Was – würden sie mit uns anstellen?« fragte Sonja und kletterte vom Wagen. »Töten, ausrauben – wenn wir Glück haben. Wenn nicht …« Er schwieg und zuckte die Achseln. Ein Gesicht schaute aus dem Wagen, lächelte. Es war Danver. Der Alte litt schwer unter der Hitze. Rote Flecken brannten auf seinen Wangen. In seinen Augen flackerte das Fieber. »Sind wir bald da, Caron?« »Ja. Vom Dach aus kann man das Gebäude bereits sehen. Aber zwischen ihm und uns befinden sich Eingeborene. Ich fürchte, wir müssen uns den Weg freischießen.« »Freischießen?« »Ja. Und wenn Sie einigermaßen Einfluß auf den Freund Ihrer Tochter haben, so machen Sie ihm klar, daß ich meine Waffe benötige. Ich habe so das Gefühl, als sei es sehr bald zu spät für solche Formalitäten.« »Sieht es so schlimm aus?« »Ja!« Das Lächeln auf den Zügen des alten Mannes verflog. Er sah besorgt aus. In seinen zittrigen Händen hielt er einen länglichen Kasten, den er erregt an die Brust preßte, als enthielte er einen wertvollen Schatz. »Earl!« rief er. »Komm doch mal her!« »Was gibt es, Danver?« »Gib Caron seine Pistole!« »Ich denke nicht daran! Er schießt uns in den Rücken und raubt uns aus. Niemals!« »Gib ihm seine Waffe zurück!« sagte der Alte und sah Earl an. »Ich befehle es dir!« »Du bist verrückt!«
»Tu, was er sagt!« mischte sich Sonja ein, die herangekommen war. »Wenn Caron meint, daß wir jede Waffe bald brauchen werden, dann glaube ich ihm das. Gib sie ihm also!« »Aber …« »Danke!« sagte Caron und ergriff mit einer blitzschnellen Bewegung die Strahlpistole, die in Earls Gürtel steckte. Leicht wog er sie in der Hand, ehe er sie in sein Halfter schob. »Danke! Ich nehme solange Ihre. Behalten Sie dafür meine. So, und nun wird es Zeit, daß wir weiterfahren. Je näher wir am das Gewölbe herankommen, desto sicherer fühle ich mich.« Schweigend kletterten sie in den Wagen zurück. Als der Abend dämmerte, kam der Angriff. Die Sonne war hinter dem weiten Horizont versunken, und die Schatten der kommenden Nacht krochen über den Himmel. Die Raupenketten des Wagens stießen gegen ein Hindernis. Es gab ein knirschendes Geräusch, und dann begann sich der Wagen auf der Stelle zu drehen. Earl stieß einen heftigen Fluch aus, fingerte nervös an der Steuerung herum, ehe er in den Polstersitz zurücksank. Seine Augen sahen starr aus dem Fenster und suchten den Horizont ab. »Eine der Ketten muß gerissen sein. Wir liegen fest!« »Und wenn schon!« rief Caron. »Wir müssen sofort ‘raus aus der Falle. Wenn wir hier bleiben und sie greifen an, sind wir so gut wie tot. Wir müssen es zu Fuß versuchen!« »Und draußen warten sie auf uns«, gab Sonja zu bedenken. Während die drei Menschen ausstiegen, beobachtete Caron die Umgebung. Seinen scharfen Augen entging nichts. Und dann hörte er das Geräusch. Mit einer Handbewegung warnte er seine Gefährten, die sich blitzschnell neben ihn hockten und hinter dem Felsbrocken, der am Wegesrand lag, in Deckung gingen. In ihren Händen lagen die schußbereiten Waffen. Zwei
Marsianer näherten sich vorsichtig dem manövrierunfähigen Fahrzeug. Sie waren etwa zweieinhalb Meter groß, von ihren krallenartigen Füßen bis zum kahlen Schädel. Vier Beine trugen den harten Schuppenpanzer des intelligenten Insektes, zwei weitere Gliedmaßen dienten als Arme. In den Klauen hielten sie primitive Steinäxte und Speere. Das spitz zulaufende Gesicht war das einer ins Riesenhafte vergrößerten Ameise, aber die Augen und Ohren waren fast menschlich zu nennen. Während des Gehens verbreiteten ihre Schuppenpanzer ein seltsames, reibendes Geräusch. Sie strömten einen widerlich süßen Geruch aus. Die beiden Wesen gingen dicht an dem Felsen vorüber und bemerkten die Menschen nicht. Sie schritten um den Wagen herum und waren dann außer Sicht. Caron gab den anderen einen Wink. Lautlos erhoben sie sich und folgten ihm. Das Licht der Sterne überwand allmählich die Dämmerung und verbreitete genügend Helligkeit. Und da erblickten die Menschen plötzlich vor sich das Ziel ihrer Fahrt. Wie ein silberner Kegel ragte vor ihnen das größte Heiligtum der Marsianer in die Höhe und reflektierte das Licht der Sterne. Unheimlich und gleichzeitig überwältigend schön war das symmetrisch gebaute Kunstwerk. Caron deutete mit dem Lauf der Waffe. »Das Gewölbe von Dretheeda«, sagte er leise. »Wir befinden uns gleich in der heiligen Zone. Fünfzehnhundert Meter noch, und kein Marswesen wird es wagen, uns zu berühren. Kommen Sie, Danver. Sie haben später noch Zeit genug, das Bauwerk zu bewundern. Erst müssen wir diese letzten Meter zurücklegen.« Vorsichtig schritt Caron voran. Die andern folgten dem schmalen Pfad, den er zwischen den Felsen fand. Um sich herum vernahmen sie das gelegentliche Rascheln eines Insektenpanzers aus hartem Chitin. Die Marsianer
warteten auf die völlige Dunkelheit, um den Wagen zu überfallen. Sie hatten die Menschen noch nicht bemerkt. In der Luft lag der süßliche Geruch, drang in die Nasen der vier und verursachte einen furchtbaren Niesreiz. Ihre Lungen schienen mit Feuer gefüllt. Und mitten hinein in die unheimliche Stille platzte das laute Niesen Earls. Eine Sekunde lang war alles still. Dann aber brach es hinter den Felsen hervor, eine Welle brauner Leiber, eine erstickende Flut blutdürstiger Lebewesen. Caron stieß einen Warnruf aus und hob die Waffe. Noch während der erste Schuß hinausjagte, brüllte er seine Befehle: »Sonja, neben Ihren Vater! Earl, kommen Sie näher zu mir! Und dann Bewegung! Schneller! Das Gewölbe ist unsere einzige Rettung!« Die braunen Körper der Eingeborenen sackten zusammen, als sie vom Energiestrahl getroffen wurden. Äxte und Speere flogen auf die Menschen zu. Ein Meer von Flammen schien die Menschengruppe zu umgeben, tauchte die Wüste in blendendes Licht. Caron strauchelte, als eine Axt seine Schulter streifte. Blut lief aus der Wunde, färbte sein Hemd rot. Sonja stieß einen schrillen Schrei aus, als ein Speer ihre Bluse aufschlitzte und haarscharf am Fleisch vorbei fuhr. Earl fluchte erschrocken, als ein Wurfspieß seine Hüfte streifte und eine tiefe Wunde riß. Danver stöhnte schmerzvoll auf, als ein Speer von hinten in seinen Rücken drang. Sonja stieß einen zweiten Schrei aus, warf sich neben ihren Vater. Caron schob sie brutal beiseite, nahm den schlaffen Körper des alten Danver in seine kräftigen Arme und begann, auf den nahen Metallkegel zuzulaufen. Die anderen folgten ihm, ohne zu zögern. Während des Laufes blitzen ihre Strahlpistolen auf, schickten Tod und Verderben in die Reihen der nachdringenden Marswesen. Bis der Angriff plötzlich
stoppte. Er legte den alten Mann behutsam auf den steinigen Boden, untersuchte ihn. Es war unmöglich, einen sterbenden Menschen dreihundert Kilometer durch die Wüste zu tragen. Unmöglich, diese Strecke überhaupt zu Fuß zu gehen. Unmöglich selbst für einen gesunden Menschen. Danver würde nicht allein sterben. Danver schlug die Augen noch einmal auf. »Sonja!« flüsterte er schwach. »Earl, Caron!« Er hustete, Blut netzte seine Lippen. »Das Gewölbe! Das Gewölbe von Dretheeda! Öffnet es und entschleiert die Geheimnisse. Das Schwert von Tormain ist der Schlüssel zu dem Gewölbe.« Seine Hand ließ den länglichen Kasten los, den er immer noch bis zuletzt an sich gepreßt hatte. Er gab ihn dem Mädchen. Caron seufzte, als er sah, wie der alte Mann sich ein letztes Mal streckte. Die Augen brachen. Danver war tot. Sie brauchten sehr lange, die verhältnismäßig kurze Strecke zurückzulegen. Die Sonne brannte auf sie herab, dörrte sie aus. Durst und geschwollene Lippen ließen sie fast verzweifeln. Aber immer wieder trieb sie der Wille vorwärts, nicht umsonst gelitten zu haben. Hinter ihnen lauerte die Wüste, voller Gefahren und Tod. Vor ihnen – was? Caron hatte so seine Vermutungen. Das Gewölbe von Dretheeda war bereits alt gewesen, als der Mars noch ein junger Planet war. Sichtbarer Beweis einer unsterblichen Legende. Eine fremde Rasse hatte es erbaut, ein Volk von den Sternen. Dieses Volk war alt gewesen, als das erste Marswesen aus dem Ei gekrochen kam. Selbst die Bewohner der Venus kamen zum Mars, bewunderten aus der Ferne das seltsame Gewölbe und entsannen sich ihrer eigenen mythischen Sagen, die man sich im amphibischen Königreich erzählte. Menschen der Erde versuchten, das Rätsel zu lösen, und erinnerten sich vage an die alten Geschichten und Märchen, in denen von Gnomen und Elfen, von wunderbaren Schwertern die Rede
war. Kein Lebender wußte, was das Gewölbe von Dretheeda enthielt. Earl hatte schon den Fuß des Metallkegels erreicht, als Caron Verdacht schöpfte. Der Mann berührte das Metall mit seiner Hand, schien nach etwas zu suchen. »Earl!« schrie Caron. »Warte auf uns! Warte!« Earl hörte nicht. Caron und das Mädchen begannen zu laufen. Sie erreichten Earl, der sich verwundert umsah, als habe er sie vergessen. Der Kasten stand offen auf dem Boden. »Hier – das muß es sein!« sagte Earl und zeigte auf einen feinen Riß in der glatten Wand des Kegels. »Ich habe es gefunden!« Caron sah gar nicht hin. Er hielt seine rechte Hand dicht über dem Griff seiner Waffe. Dann sagte er kalt: »Sonja! Nimm du den Kasten!« Sie starrte ihn an. »Was?« »Du sollst den Kasten nehmen!« Er wartete, bis sie seiner Aufforderung nachgekommen war. Dann erst wandte er sich an Earl, der keinen Finger mehr gerührt hatte. »Nicht so eilig, Earl! Wir sind zusammen hierhergekommen – und wir werden auch zusammen das Gewölbe untersuchen. Verstanden?« »Du Ratte!« Earl hatte seinen alten Ton wiedergefunden. »Wir wollen nichts mit dir zu tun haben. Sonja gib mir den Kasten!« Der junge Mann zitterte vor Erregung. Seine Hand näherte sich dem Gürtel. Caron schielte zu dem Mädchen hinüber. »Geh aus der Schußlinie«, sagte er leise. Caron ließ seine Rechte sinken, lächelte. Er sah zu Earl hin – und handelte blitzschnell. Noch ehe der versengende Strahl aus der Mündung fuhr, hatte er sich zu Boden geworfen. Er spürte die furchtbare Hitze an seinem Körper, rollte sich auf die Seite. Die Waffe sprang förmlich in seine Hand. Er zögerte nun nicht
mehr. Das Zischen der Detonation vermischte sich mit einem kurzen, schrecklichen Aufschrei. Dort, wo Earl gestanden hatte, war nur noch ein Häufchen rauchender Asche. Das Schwert von Tormain war kein Schwert im geläufigen Sinne, hatte aber eine gewisse Ähnlichkeit damit, obwohl es nicht geschaffen war, jemals von einer menschlichen Hand geführt zu werden. Die unscharfe Schneide war oval, etwa zwei Zentimeter breit und fast einen halben Meter lang. Die Scheide bestand aus einem seltsam flimmernden Metall und war von Ornamenten bedeckt, die längst tote Hände geschaffen hatten. Der Knauf war ein großer Diamant, der Griff …? Ein Saugarm würde ihn fassen können, oder vielleicht eine Klaue. Aber keine menschliche Hand. Falls es ein Schwert war … Und Caron wußte, daß es nie als Waffe gedacht war. »Es ist ein Schlüssel«, murmelte er, als er es aus dem Kasten hob, und unter den Sonnenstrahlen glitzerte es wie tausend Diamanten. »Ein Atom-Schlüssel! Die Zusammensetzung der Legierung ist entscheidend. Ein Elektronenschloß öffnet sich nur bei dem Klang einer ganz bestimmten Stimme, oder sogar nur dann, wenn eine bestimmte Gehirnwelle es anstrahlt. Nur eine einzige, atomare Zusammensetzung wird das Gewölbe öffnen.« Caron trat dicht an die Metallwand heran und betrachtete die kaum sichtbaren Spuren haarfeiner Linien. Er senkte die flimmernde Spitze des aus der Scheide gezogenen Schwertes in den Spalt. Nichts geschah. Dann flammten Energiestrahlen über die Metallfläche des Kegels, ein Zittern ging durch den Sandboden – und vor den Menschen befand sich eine schwarze Öffnung. Das Schwert fiel hinab in den Sand, blieb zitternd stecken.
Hinter der dunklen Öffnung begann es jetzt zu glühen. Sie konnten glatte, aber leuchtende Wände erkennen. Caron bückte sich, hob das Schwert auf, faßte Sonja an der Hand und trat über die Schwelle. »Eine Vorkammer, ähnlich wie eine Luftschleuse«, murmelte er nachdenklich. »Die innere Tür wird sich nicht eher öffnen, bis die äußere wieder geschlossen ist.« Er hob die Hand mit dem Schwert. »Wer immer dieses Bauwerk errichtet hat, er hat es auch mit allen erdenklichen Sicherheiten ausgestattet. Kein Lebewesen könnte das Innere durch puren Zufall betreten. Nur der Besitzer eines Schwertes hat diese Möglichkeit. Viele müssen im Laufe der Jahrtausende verlorengegangen sein. Ihr Vater hatte das seltene Glück, eines zu finden. Ich möchte gern wissen, wie viele noch im Sonnensystem verstreut sind. Heldenschwerter, Heiligtümer, Reliquien? Ob jemals nach uns ein anderer kommen wird?« Er senkte das Schwert, schob es in den Spalt der zweiten Tür. Wieder dauerte es Sekunden, ehe die verborgene Maschine reagierte. Hinter ihnen schloß sich die Tür zur Marswüste. Nichts mehr war von einem Ausgang zu erkennen. Und vor ihnen schien die Wand gleichzeitig zu verschwinden, unsichtbar oder durchsichtig zu werden. Seltsame Farben von nie gesehener Pracht wallten über einer unendlich weit scheinenden Landschaft von unbeschreiblicher Lieblichkeit. Caron stand wie erstarrt. Ohne zu denken, nahm er das zitternde Mädchen in seine Arme, drückte es an sich. Seine Augen weideten sich an dem Anblick des überirdischen Paradieses. Strahlen unbekannter Art drangen in seinen Körper, Gerüche ebenso unbekannten Ursprunges lagen in der lauen Luft. Er verspürte auf einmal weder Hunger noch Durst, sondern fühlte sich jung wie noch nie. Er schien ein Gott zu
sein, der auf dem Olymp steht und auf die kleinliche Welt der Menschen herabschaut. Sonja zitterte noch immer. Er sah sie an und wußte auf einmal, wie schön sie war. Viel schöner als alle Frauen, die er je gekannt hatte. Eine Bewegung erregte ihre Aufmerksamkeit. Es hatte keine festen Formen und keine bestimmte Gestalt, aber es sandte Gedankenimpulse aus, die von ihnen aufgenommen werden konnten. Und sie verstanden … Caron stieß aufgeregt hervor: »Das Gewölbe von Dretheeda ist eine Maschine. Das Volk von den Sternen hat sie für besondere Zwecke erbaut. Vielleicht als Klinik? Als Sanatorium? Äußerlich ist es nur ein Kegel, aber es birgt eine ganze Welt in sich. Strahlen werden auch uns verwandeln. Aber was immer auch das Gewölbe ist, es schenkt dem Menschen Unsterblichkeit. Hier gibt es weder Krankheit, Hunger, Durst oder Schmerz. Es ist das Paradies!« Er lächelte und nahm Sonjas Hand. Dann schritt er mit ihr hinein in die buntschillernde Landschaft, die so unwirklich schien und es vielleicht auch war. Aber was wußte der Mensch von der Technik eines vergangenen Volkes? Hinter ihnen schloß sich auch die zweite Tür, versiegelte das Gewölbe gegen eine wirkliche, aber rauhe und lebensfeindliche Welt.
Originaltitel: THE SWORD OF TORMAIN. Copyright © 1954 by Love Romances Publishing Co. Inc. Aus PLANET STORIES. Übersetzt von Walter Ernsting.
Lewis Padgett HEXENJAGD
Da sprach Gott zu Noah: Das Ende alles Fleisches ist bei mir beschlossen, denn die Erde ist voller Frevel von ihnen … Unter einem Sternhimmel stand Jeff Cody, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Er versuchte, das Innere eines Elektronenrechners zu durchforschen und gleichzeitig seine eigenen gewalttätigen Gefühle zu verbergen. Immer wieder drängte sich eine Vorstellung in den Vordergrund, vorbei an den Barrieren, die er um seine Verzweiflung errichtet hatte. Er schob sie zurück, wollte sie im Strudel seiner Oberflächengedanken ertränken. Der, Rechner hatte eine breite, glatte Glasfront. Lichter blinkten, Gegenstände spiegelten sich darin. Irgendwo in seinem Innern lag ein dünnes Kristallplättchen, das der Menschheit den Tod bringen konnte. Nicht Jeff Cody und seinem Volk – aber allen NichtTelepathen. Ein Mann besaß die Verantwortung für den Kristall. Cody. Allenby trat von einem Fuß auf den anderen. Sein Spiegelbild zeichnete sich verwischt im Kontrollpaneel des Rechners ab. Cody sagte, ohne sich umzudrehen: »Aber wenn der Induktor versagt, bleibt uns keine andere Wahl als –« Ein Bild vom Tod und vom Sterben überschattete seine Gedanken. Er hatte die Worte nicht laut gesprochen. Allenby unterbrach ihn augenblicklich. Seine Gedanken bohrten sich in Codys
Gehirn, bevor das Bild der Vernichtung feste Formen annehmen konnte. »Nein. Wir haben einen Rückschlag erlitten. Aber wir werden es wieder versuchen. Immer wieder. Vielleicht müssen wir – dieses Ding hier niemals einsetzen.« Er übermittelte flüchtig die Vorstellung des Kristallplättchens, das für den größten Teil der Menschheit den Tod bedeutete. »Rückschlag oder Versagen?« erwiderte Cody. »Das ist dasselbe. Wir haben unser Ziel zu hoch gesteckt. Niemand kann sagen, wodurch Telepathie entsteht. Niemand wird sie durch Maschinen erwecken können. Auch der Induktor schafft das nicht. Und du weißt es.« »Ich weiß gar nichts.« Allenbys Gedanken strahlten Ruhe aus. »Aber ich glaube immer noch, daß es sich verwirklichen läßt. Jeff, du stehst unter einem zu großen Druck.« Cody lachte trocken. »Merriam blieb drei Monate auf diesem Posten«, meinte er. »Brewster hielt es am längsten aus – acht Monate. Ich bin nun seit einem halben Jahr hier. Was ist los? Hast du Angst, daß ich auf die gleiche Art Schluß mache wie Brewster?« »Nein«, sagte Allenby. »Aber –« »Schon gut«, unterbrach Cody seine Gedanken ärgerlich. »Lassen wir das.« Er fühlte, daß Allenby sein Inneres vorsichtig auszuforschen versuchte. Allenby war Psychologe. Und deshalb hatte Cody ein wenig Angst vor ihm. In diesem Moment konnte er das Mißtrauen eines Experten nicht gebrauchen. Dicht unter der Oberfläche seiner Gedanken keimte etwas Furchtbares und doch Verlockendes, und er hatte nicht die Absicht, es bereits jetzt zu enthüllen. Mit äußerster Anstrengung schuf er ein Geflimmer angenehmer Bilder, die sich wie eine Nebelschicht zwischen ihn und Allenby legten. Fichtenwälder, die jenseits der hohen Kalksteindecke wuchsen,
eingehüllt von einem warmen Regen; ein klarer, stiller Himmel, nur hin und wieder durchzogen von den Rotoren eines Helikopters; das Gesicht seiner Frau, wenn sie gut gelaunt war und leise lachte. Er spürte, wie Allenbys Mißtrauen allmählich nachließ. Und er drehte sich nicht um, als er die Schritte des anderen vernahm. »Ich gehe jetzt«, sagte Allenby ohne Worte. »Ich wollte dich nur persönlich davon verständigen, daß wir wieder in einer Sackgasse gelandet sind. Alles in Ordnung, Jeff?« »Klar«, entgegnete Cody. »Laß dich nicht aufhalten.« Allenby ging. Cody horchte. Die Schritte durchquerten den Vorraum und wurden leiser. Eine Tür öffnete sich. Dann schnappte ein Schloß. Er war nun allein, wenn man davon absah, daß sich durch die Höhle unaufhörlich ein Strom von telepathischen Gedanken bewegte, die sein Inneres streiften und dann weiterwanderten. So ließ Cody auch jetzt die Bilder von Fichtenwäldern, einem strahlenden Himmel und einer lachenden Frau zur Tarnung über seine Gedanken schweben. Aber seine Blicke wandten sich zur Seite, und ohne den Kopf zu drehen, sah er am Rand des Arbeitstisches, in Reichweite seiner Hand, das Ding liegen, gegen das er eine Mauer der Abwehr errichtet hatte. Zu viele andere Telepathen waren in der Nähe. Was er sah, war ein Messer mit schwerer, schmaler Klinge und einer scharfen Spitze. Ein leichtsinniger Arbeiter hatte es vergessen. Er dachte an Brewster, der vor ihm hier gearbeitet und acht Monate durchgehalten hatte, bis er zusammenbrach. Brewster hatte einen Revolver benutzt. Aber ein Messer war auch nicht schlecht. Es gab eine Stelle am Schlüsselbein, dicht neben dem Halsansatz. Wenn man die Klinge da hineinstieß, verlosch das Bewußtsein im Nu, wie eine flackernde Kerze. Sobald die Bürde zu schwer wurde …
Telepathische Gedanken richteten sich auf ihn. Es war, als starrten ihn Hunderte von Augen an. Eine Welle der Angst durchlief die Höhle. Irgend etwas stimmte nicht. Aber Cody hatte seine Oberflächengedanken geschickt gesteuert. Er hatte das Messer nie richtig angesehen und erst in dieser Sekunde flüchtig an die Stelle neben dem Schlüsselbein gedacht. Nun atmete er befreit auf. Er jagte den Gedanken klar und deutlich durch die Höhle. Sie konnten ihn nicht mehr an seinem Vorhaben hindern. Niemand war nahe genug. »Der Induktor funktioniert also nicht«, sagte er laut. »Ihr könnt der Menschheit keine Telepathie vermitteln! Nun, dann muß eben der Telepathie ein Ende bereitet werden.« Er tat einen raschen Schritt zur Seite. Das Messer war in seiner Hand. Mit zwei Fingern tastete er das Schlüsselbein ab. »Soll der Induktor versagen!« dachte er. »Soll die Verfolgung beginnen! Soll die Rasse sterben! Entfesselt das Chaos! Mich berührt das nicht mehr.« Generationen zuvor hatte die Bombe das Problem geschaffen. Durch die Mutation war eine Gruppe von Telepathen entstanden. Und anfangs hatten die Kahlköpfe, wie man sie nannte, gehofft, mit Hilfe der Eugenik eine Lösung zu finden. Diese Hoffnung zerschlug sich. Die Zeit war zu knapp. Sie war auch zu knapp, um die Telepathie in der ganzen Rasse zu verbreiten – obwohl es sich um einen dominanten Erbfaktor handelte. So blieb nur eine einzige Lösung, an der die Kahlköpfe nun seit Jahren arbeiteten: eine mechanische Einrichtung, ein Induktor, mit dessen Hilfe man in einem Nicht-Telepathen Psikräfte wecken konnte. Es war theoretisch möglich. Die Gedanken der größten terranischen Wissenschaftler lagen offen vor den Telepathen. Und der Elektronenrechner hier in den Höhlen konnte das Problem lösen, wenn man ihm genug Informationen eingab.
Aber trotz des Wissensschatzes, den man bei den NichtTelepathen zusammenstahl, reichten die Daten nicht aus. Dennoch, es war der Ausweg. Wenn alle Männer und Frauen auf der Welt mit Hilfe eines kompakten kleinen Mechanismus die Gedanken ihrer Mitmenschen lesen konnten, ließ sich das Wunder bewerkstelligen. Die letzten Schranken würden fallen. Die Furcht und der Haß der Nicht-Telepathen würde schwinden – nicht sofort, aber im Laufe der Zeit, wenn sie tiefer in das Labyrinth der telepathischen Gedankenwelt eindrangen. Der Wall, das Anderssein, würde sich auflösen, und damit die Angst, die unerbittlich die Hexenjagd herbeizwang. Aber der Induktor war noch Theorie. Bis jetzt war es dem Rechner nicht gelungen, dieses Problem zu lösen. Statt dessen hatte er eine unerwartete Antwort auf das Grundproblem gefunden, eine kalte, entsetzlich logische Antwort. Vernichtet alle Nicht-Telepathen, sagte der Rechner. Die Methode? Er suchte in seinen riesigen Speichern und fand – Operation Apokalypse. Es gab ein Virus, das durch bestimmte Reize mutiert werden konnte. Es befand sich in der Luft und verbreitete sich rasch. Es konnte die menschlichen Nervenzellen vernichten. Nur Telepathen waren immun gegen das mutierte Virus. Kein Telepath kannte das Virus oder die Mutationsmethode. Allein der Rechner wußte diese Dinge, und niemand konnte die Gedanken eines Elektronengehirns lesen. Irgendwo in der großen Maschine befand sich ein winziger Kristall aus Bariumtitanat, der die Energiepünktchen eines Binär-Kodes enthielt. Und dieser Kode barg das Geheimnis des tödlichen Virus. Wenn Jeff Cody drei Schritte machte und in dem Sessel vor dem Kontrollpaneel Platz nahm und wenn er auf einen bestimmten Knopf drückte, dann untersuchte eine Monitorvorrichtung den Elektronenverlauf in seinem Gehirn und identifizierte ihn ebenso sicher wie anhand von
Fingerabdrücken. Nur ein Mann auf der Welt konnte die Frage beantworten, die der Monitor lautlos stellte. Und dann würde irgendwo auf dem Kontrollpaneel ein Lämpchen aufleuchten und darunter eine Zahl, und sobald Cody diese Zahl kannte, konnte er dem Rechner sein Geheimnis entreißen. Vor Cody hatte Brewster diese Bürde getragen. Und vor Brewster Merriam. Und nach Cody – irgendeiner mußte die schwere Verantwortung übernehmen. Einer, der sich bewußt war, was die Worte bedeuteten: Das Ende alles Fleisches ist bei mir beschlossen … und siehe, ich will sie verderben mit der Erde. Die Woge des Protestes sprengte die Verteidigung, die Cody errichtet hatte, als er das Messer nahm. Überall in der Höhle blieben Telepathen wie angewurzelt stehen und jagten ihre starken, drängenden Gedanken auf einen Punkt zu – Cody. Es war niederschmetternd. Noch nie zuvor hatte er einen heftigeren Zusammenprall gespürt. Er wollte nicht nachgeben, aber der Druck ihrer Gedanken war beinahe physisch. Er begann zu schwanken. Selbst Telepathen außerhalb der Höhle sandten ihm ihren Protest entgegen. Eine Viertelmeile über der Kalksteindecke, über dem Erdreich, in das sich die Wurzeln der Fichten verkrallt hatten, hielt unvermittelt ein Jäger an und richtete seine entsetzten Abwehrgedanken auf die Höhle. Sie waren gedämpft durch die Felsenschicht und durchsetzt von den flackernden Bewußtseinsregungen winziger Lebewesen, die auf dem Waldboden lebten. Jemand in einem Helikopter hoch oben am warmen blauen Himmel nahm Verbindung mit der Gruppe unter der Erde auf, schwach zwar und verschwommen, aber im gleichen Moment wie der Mann, der Codys Raum am nächsten war. »Nein, nein«, sagten die Stimmen in seinem Gehirn. »Das darfst du nicht! Du bist ein Teil von uns! Das darfst du nicht! Jeff, du bist ein Teil von uns!«
Er wußte, daß sie recht hatten. Vor ihm lag ein tiefer, dunkler Schacht, und der Schwindel zog ihn darauf zu, aber er wußte, daß er ein wenig seine ganze Rasse tötete, wenn er sich tötete. Nur Telepathen können die Erfahrung des Todes machen und doch am Leben bleiben. Immer wenn ein Telepath stirbt, spüren all die anderen in seiner Umgebung die Schwärze und Leere des verlöschenden Geistes, und etwas von dieser Leere bleibt in ihnen zurück. Es geschah so schnell, daß Cody immer noch mit zwei Fingern nach der richtigen Stelle am Schlüsselbein tastete, als der lautlose Protestschrei von hundert Telepathen ihn erreichte. Er verschloß hartnäckig seine Gedanken. Er konnte sie lange genug abwehren. Das Ganze dauerte nur eine Sekunde. Die Tür war verschlossen, und bis sie hereinkamen … Aber eine gewisse Unsicherheit hatte ihn erfaßt. Allenbys Gedanken waren nicht bei den anderen. Weshalb? Nun hatte er das Messer fest in der Hand. Nun spreizte er die beiden Finger ein wenig. Hatte Brewster das gleiche wie er gefühlt, als er vor einem halben Jahr hier stand und die untragbare Last der Verantwortung ablegte? War ihm das Abdrücken schwergefallen? Oder leicht – so leicht wie das Heben des Messers und … Ein grelles weißes Licht detonierte in seinem Gehirn. Es war wie ein Meteor, der durch seine Gedanken fuhr und sie zerriß. Bevor Cody das Bewußtsein verlor, dachte er, daß der Stich gar nicht schmerzte. So also sah der Tod in Wirklichkeit aus. Dann erkannte er, daß der Angriff von Allenby gekommen war. Er spürte, wie ihm das Messer aus der Hand glitt und wie seine Knie nachgaben. Dann spürte er lange Zeit gar nichts mehr. Als er wieder zu sich kam, kniete Allenby neben ihm auf dem Boden, und die spiegelnde Front des Rechners hatte einen
völlig ungewohnten Winkel. Die Tür stand offen. Alles wirkte fremd. »Nun, Jeff?« fragte Allenby. Cody sah ihn an. Die angestaute Spannung suchte in einem plötzlichen Haßausbruch Befreiung. So stark waren seine Gefühle, daß die übrigen Telepathen ihre tröstenden Gedanken hastig zurückschnellen ließen. »Es tut mir leid«, sagte Allenby. »Ich habe es erst zweimal im Leben getan. Ich mußte es tun, Jeff.« Cody schüttelte die Hand ab, die sich auf seine Schulter legte. Mühsam versuchte er sich zu erheben. Der Raum um ihn begann zu schwanken und sich zu drehen. »Einer muß die Verantwortung tragen«, sagte Allenby. »Es war schwer für dich, Merriam, Brewster und die anderen, aber –« Cody machte eine heftige Handbewegung, und Allenby unterbrach den Gedanken. »Ich verstehe dich«, fuhr er nach einer Pause fort. »Aber bevor du Selbstmord begehst, Jeff, bringe lieber einen anderen um. Töte Jasper Horne!« Entsetzen brannte in Cody. Er stand reglos da. Der Gedanke drang tiefer und nistete sich ein. Töte Jasper Horne! Oh, Allenby war ein kluger Mann. Er grinste Cody jetzt an. Sein rundes, derbes Gesicht hatte sich entspannt. »Na, fühlst du dich besser? Du brauchst eine Aufgabe, Jeff – ein festes Ziel. Monatelang waren dir jetzt die Hände gebunden. Es gibt Dinge, die ein Mensch nur erträgt, wenn er handelt. Gut, mache von deinem Messer Gebrauch! Nimm dir Horne vor!« Ein schwacher Zweifel durchzuckte Cody. »Ja«, entgegnete Allenby, »vielleicht versagst du. Vielleicht tötet er dich.« »Niemals«, sagte Cody laut, und seine Stimme kam ihm fremd vor. »Das Risiko besteht, und du mußt es eingehen. Sieh zu, daß du ihn erwischst. Du willst es selbst, nur hast du es bisher nicht
gewußt. Du mußt einen Menschen umbringen. Horne ist unser schlimmster Feind. Er stellt ein echtes Problem dar. Töte also ihn und nicht dich!« Cody nickte wortlos. »Gut. Wir werden ihn für dich ausfindig machen. Und ich besorge dir einen Helikopter. Möchtest du vorher Lucy sprechen?« Eine Welle der Besorgnis lief durch Codys Gedanken. Allenby erkannte es, ließ sich aber nichts anmerken. Die anderen Telepathen in der Höhle hatten sich schweigend zurückgezogen. Sie warteten. »Ja«, sagte Cody. »Ich spreche vorher mit Lucy.« Er ging auf die Tür zu. Jasper Horne – und die Gruppe, die er vertrat – war der Grund dafür, daß die Kahlköpfe es nicht wagten, den Rechner über die Natur des tödlichen Virus zu befragen. Dieses Geheimnis mußte vor Jasper Horne und seinen Paranoikern gehütet werden. Denn ihre Haltung war gefährlich: Weshalb töten wir nicht alle Menschen, bevor sie uns töten? Weshalb schlagen wir nicht zu, um unsere Haut zu retten? Fragen dieser Art ließen sich nur schwer beantworten, und Jasper Horne stellte sie stets im richtigen Moment. Wenn die Gruppe der paranoiden Telepathen einen Führer hatte, so war er es. Niemand wußte, wieviel er über die Höhlen in Erfahrung gebracht hatte. Er kannte ihre Existenz, aber nicht ihre Lage. Er hatte eine Ahnung von den Dingen, die darin vorgingen, trotz der Abschirmhelme, die alle Höhlentelepathen trugen. Wenn er über den Induktor Bescheid wußte, so tat er sicher alles, um ihn zu vernichten. Ganz bestimmt hatte er von der Operation Apokalypse gehört, denn er forderte die Höhlentelepathen ständig dazu heraus, das Virus freizusetzen. Ihm war auch klar, auf welche Weise er die Entscheidung erzwingen konnte. Sobald die Nicht-Telepathen ihre
Hexenjagd auf alle Telepathen begannen, gab es keine andere Wahl mehr, als Operation Apokalypse einzuleiten. Kein Mensch zögert, wenn sein Leben davon abhängt, den Feind zu töten. Aber wenn dieser Feind ein Bruder ist … Darin lag der Unterschied. Für die normalen Telepathen waren die Nicht-Telepathen eine Bruderrasse. Die Paranoiker sahen in ihnen Untermenschen, die man nach Belieben ausrotten konnte. So bemühte sich Jasper Horne in jeder nur erdenklichen Weise, unter den Nicht-Telepathen Unruhe zu stiften. Er wollte die Hexenjagd beschleunigen. Er wollte sichergehen, daß die Höhlentelepathen ihr Virus freiließen und die Untermenschen aus dem Wege räumten. Und Hornes Tun fand guten Nährböden. Seit der Bombe lebten die Menschen in Angst und Zerrissenheit. Ein Fortschritt schien nicht möglich. Die Gesellschaft schwankte zwischen Einkapselung und Expansion. Jeder mißtraute dem anderen. Das Bild war überall das gleiche: in American Gun und Sweetwater, in Jensen’s Crossing und Santaclare und all den anderen Städten entlang des Kontinents. Männer und Frauen gingen ihren Geschäften nach, zogen ihre Kinder groß, versorgten ihre Gärten, Läden und Fabriken. Die meisten von ihnen waren ganz normale Menschen. Aber in jeder Stadt lebten auch die Kahlköpfe, zogen ihre Kinder groß und versorgten ihre Läden. Harmlos in der Mehrzahl. Aber nicht alle … Zudem lag seit Wochen eine drückende Schwüle über dem Land; die gereizte Stimmung wuchs täglich. Abgesehen von ein paar Messerstechereien hatte es bisher keine Zwischenfälle gegeben. Niemand wagte anzufangen. Man wußte, daß auch die Gegner bewaffnet waren und daß jede Stadt ihr geheimes Bombenversteck mit den nötigen Zielvorrichtungen besaß.
Die Zeit war mehr als reif für eine Hexenjagd. Noch hatte sich kein Mob zusammengerottet. Noch hatten sich die Anhänger der Lynchjustiz kein bestimmtes Opfer ausgesucht. Aber die Kahlköpfe waren eine Minderheit. Man benötigte lediglich einen beschleunigenden Faktor – und die Paranoiker taten ihr Bestes, um ihn zu liefern. Cody warf einen Blick auf die graue Steindecke, während er den Schlüssel herumdrehte. Er zögerte einen Augenblick, bevor er die Wohnung seiner Frau betrat, nicht aus Unentschlossenheit, sondern weil er sich denken konnte, was ihn erwartete. Eine steile Falte stand zwischen seinen Brauen. Sie verriet Anspannung – eine Anspannung, die jeder Telepath empfand, seit er zum erstenmal die Höhlen betreten hatte. Die Felsendecke umschloß ein Labyrinth von Gedanken, die sich verschlangen und verknoteten und von den Wänden abprallten. Die Höhle von Babel, dachte Cody trocken und schob mit einem entschlossenen Ruck die Tür auf. Die Wohnung bedeutete ein zweites Babel. Zwar schützten ihn die Wände ein wenig vor den dumpfen, verzweifelten Gedanken der anderen, aber was ihn erwartete, war nicht erfreulicher. Und doch wußte er, daß er nicht gehen konnte, ohne sich von Lucy und dem Baby zu verabschieden. Das Wohnzimmer wirkte freundlich mit dem weichen, moosgrünen Diwan, der an drei Wänden entlanglief, den Hängeregalen, in denen Bücherspulen standen, den bunten Kissen und der gedämpften Beleuchtung. Ein elektrisches Feuer brannte hinter einem gotisch anmutenden Kamingitter. Er warf einen Blick durch das breite Fenster, das die vierte Wand ausfüllte. Licht fiel von Carsons Wohnzimmer nebenan auf die Straße, und gegenüber tranken June und Hugh Barton einen Cocktail vor ihrem Kaminfeuer. Ein freundliches Bild.
Aber hier in der Wohnung wurden die klaren Farben und das warme Licht von der tiefen Verzweiflung überschattet, die Jeff Codys Frau erfaßt hatte, seit – Nun, das Baby war drei Monate alt. »Lucy?« rief er. Keine Antwort. Aber eine neue Welle der Bitterkeit lief durch die kleine Wohnung. Nebenan knarrte das Bett. Jeff hörte einen Seufzer und dann Lucys müde Stimme: »Bist du es?« Sie schwieg einen Augenblick, und er ging bereits auf die Küche zu, als sie sagte: »Bring mir doch bitte noch etwas Whisky, ja?« »Sofort«, erwiderte er. Der Whisky schadete ihr sicher nicht. Und vielleicht kam sie damit besser über die nächsten Monate hinweg. Die nächsten –? Nein, die Entscheidung würde viel früher fallen. »Jeff?« Lucys Stimme klang streitsüchtig. Er trug den Whisky ins Schlafzimmer. Sie lag auf dem Rücken, die Füße gegen die Wand gestemmt, das rote Haar unfrisiert. Über ihre Wangen liefen Tränenfurchen, aber ihre Wimpern waren trocken. In der Ecke schlief das Baby, eingesponnen in seine eigenen, zusammenhanglosen Gedanken. Es träumte von Wärme und Weichheit, die sich leise bewegte – ein Traum ohne Substanz. Feine rötliche Locken ringelten sich auf seinem Köpfchen. Cody sah Lucy an. »Wie fühlst du dich?« Er spürte selbst, wie leer seine Frage klang. Lucy betrachtete ihn aus halbgeschlossenen Lidern, ohne einen Muskel zu rühren. Es war ein Blick, in dem sich Leid und Haß spiegelte. Ein leeres Wasserglas stand auf dem Nachttisch, dicht neben der schlaffen Hand. Cody entkorkte die Flasche und goß die braune Flüssigkeit in das Glas. Zwei Finger, drei. Sie sagte nichts. Als das Glas drei Finger hoch gefüllt war, stellte er die Flasche ab.
»Du brauchst doch nicht zu fragen, wie sich andere Leute fühlen«, sagte Lucy dumpf. »Ich lese deine Gedanken nicht, Lucy.« Sie zuckte mit den Schultern. »Das sagst du.« Cody warf einen Blick auf das schlafende Baby und gab keine Antwort. Aber plötzlich schnellte Lucy vom Bett hoch, daß die Federn quietschten und die Matratze schaukelte. Er gehört dir nicht. Er ist mein Sohn. Ganz allein mein Sohn. Ich muß mich nicht für ihn schämen. Er ist keine Mißgeburt. Kein Kahlkopf. Ein hübsches, normales, gesundes Baby … Sie sagte es nicht laut, aber das war auch nicht nötig. Ruhig führte sie den Gedanken zu Ende und fügte dann tonlos hinzu: »Und nun behaupte, daß du das nicht gelesen hast!« Schweigend reichte er ihr das Whiskyglas. Es war nun fünf Jahre her, seit die Bombe Sequoia zerstört hatte. Fünf Jahre, seit die Bewohner der Höhlenkolonie das letzte Tageslicht gesehen hatten. Und die Menschen, die man von Sequoia in die Höhlen geschleppt hatte, gingen – je nach Temperament – mit stumpfer Gleichgültigkeit oder brütendem Haß ihren Alltagsbeschäftigungen nach. Sie besaßen jede nur erdenkliche Bequemlichkeit. Sie waren so zufrieden, wie erfahrene Psychologen sie machen konnten, Psychologen, die ihre Wünsche lasen, noch bevor sie feste Form angenommen hatten. Aber sie waren Gefangene. Gleich in den ersten Monaten der Gefangenschaft hatte man die ersten Ehen geschlossen. Es handelte sich um ein großangelegtes Experiment, das nur unter den kontrollierbaren Verhältnissen der Höhlen stattfinden konnte. Man wollte damit vor allem guten Willen beweisen und die Gefangenen aus ihrer Isolierung holen. Kein Telepath hat im Grunde den Wunsch, einen NichtTelepathen zu heiraten, da die Verbindung zu einseitig wäre. Man kann sich verständigen – so wie sich normale Menschen
und Taubstumme durch eine Zeichensprache verständigen –, aber die Barriere bleibt. Und es kommt noch etwas hinzu: Selbst wenn ein Mensch die besten Erbanlagen und das beste Milieu besitzt, wird er doch von seinen ungelösten Problemen und Fehlschlägen in der Entwicklung gehemmt und eingeengt. Nicht so ein Telepath. Er hat immer Freunde, die ihm helfen, auf die er sich in Krisen und bei Unsicherheiten stützen kann. Sein Gemüt ist ausgeglichen und nur selten von Furcht oder Zweifeln belastet. Das wiederum führt zu einer völlig freien Persönlichkeitsentfaltung. Natürlich können sich auch bei einem Telepathen Psychosen einstellen, aber nur, wenn er über einen längeren Zeitraum hinweg Anforderungen ausgesetzt ist, die ein Nicht-Telepath niemals ertragen würde. (Die Paranoiker unter den Telepathen waren ein Sonderfall; bei ihnen spielten Erbanlagen eine große Rolle.) So ist eine Heirat zwischen Telepathen und Nicht-Telepathen von vornherein Belastungen ausgesetzt, da die unterlegenen Partner zu Minderwertigkeitskomplexen und unterschwelligen Ressentiments neigen. Dennoch umwarben die Höhlentelepathen die Gefangenen, und nach einiger Zeit hatten nahezu alle Nicht-Telepathen Partner in der kleinen Kolonie gefunden. Man hatte vor allem ein Ziel im Auge: die Gruppe der Telepathen durch Nachwuchs zu verstärken. Die Anlage war dominant, und das bedeutete, daß die Kinder nahezu ausnahmslos Telepathen wurden. Nur wenn ein Partner zu dem dominanten telepathischen Gen ein rezessives nichttelepathisches Gen besaß, konnte das Kind als NichtTelepath geboren werden. Das war bei Lucy und Jeff Cody geschehen … Kein Mensch sollte je wieder die Höhlen verlassen. Telepathen, die keine Abschirmhelme trugen, durften nichts von der Gefangennahme
erfahren, denn wenn die Welt je dahinterkam, dann brach die längst befürchtete Hexenjagd aus. Kein Kind sollte je das Tageslicht erblicken, außer es war so klein, daß es noch keine Erinnerungen besaß. Aber ein Telepathenkind stellte von Geburt an einen Gewinn für die kleine Gemeinschaft dar. Man hatte gehofft, daß in ein oder zwei Generationen die Gefangenen automatisch mit den Telepathen verschmelzen würden und daß man die neugeborenen Nicht-Telepathen nach oben schicken konnte, um wieder eine reine TelepathenKolonie zu erhalten. Aber der wachsende Druck hatte diesen Plan bereits zunichte gemacht. Lucy wischte sich mit dem bräunlich verfärbten Handrücken über den Mund und streckte Cody das leere Glas entgegen. Einen Moment lang genoß sie die wohlige Wärme, die der Whisky in ihrem Magen verbreitete. »Nimm auch einen Schluck«, sagte sie. »Das hilft.« Cody war nicht danach zumute, aber er schenkte sich einen Tropfen ein und trank gehorsam. Nach einer Weile stieß Lucy einen kleinen Seufzer aus und setzte sich im Schneidersitz aufs Bett. Sie strich die Haare aus den Augen. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich war unvernünftig.« Sie streckte ihm die Hand entgegen, und er nahm sie mit einem unglücklichen Lächeln. »Ich habe draußen etwas zu erledigen«, erklärte er. »In ein paar Minuten muß ich aufbrechen, Lucy.« Ihr Blick huschte sofort zum Babykörbchen in der Ecke. Ihre Gedanken, vom Alkohol zugleich verschwommen und klar geordnet, lagen offen vor ihm. Cody zuckte innerlich zusammen, aber er beherrschte sich eisern und ließ sich nichts anmerken. »Nein, das ist es nicht«, sagte er nur. »Ich bringe ihn erst nach oben, wenn du es willst.« Sie warf ihm einen erschreckten Blick zu. »Ist es schon zu spät?«
»Nein«, beruhigte Cody sie. »Natürlich nicht. Er besitzt noch kein Erinnerungsvermögen.« Lucy machte eine fahrige Handbewegung. »Ich will ihn nicht hier unten festhalten. Du weißt, daß ich es nicht will. Es ist schlimm genug für mich, und wenn mein Sohn niemals –« Sie verbannte den Gedanken an Sonnenschein, blauen Himmel, Weite. »Aber ein wenig möchte ich ihn noch behalten.« Sie schwang die Beine über den Bettrand. Ein wenig unsicher stand sie auf. Sie warf dem Baby einen leeren Blick zu und ging dann barfuß in die Küche. Gelegentlich stützte sie sich an der Wand ab. Cody tastete automatisch nach ihren Gedanken, zog sich aber wieder zurück. Er folgte ihr in die Küche. Sie stand am Spülbecken und ließ Wasser in ein Glas laufen. Durstig trank sie. »Ich muß gehen«, sagte Cody. »Mach dir keine Sorgen, Lucy.« »Eine … Frau«, entgegnete Lucy undeutlich über den Rand des Glases hinweg. »Eine andere … ich weiß es.« »Lucy –« »Eine von deiner Art«, sagte Lucy und ließ das Glas ins Becken fallen. Es rollte hin und her. Er sah sie nur hilflos an. Sagen konnte er nichts. Er konnte ihr nicht verraten, daß er aufbrach, um Jasper Horne zu töten. Er konnte ihr nichts über Operation Apokalypse oder den Induktor erzählen. Und sie hatte keine Ahnung von der Verantwortung, die er trug. Er konnte nicht sagen: »Wenn wir den Induktor rechtzeitig fertigstellen, Lucy, bist du frei … du und dein Kind.« Und er konnte nicht sagen: »Vielleicht muß ich dich töten … dich und unseren Sohn und alle NichtTelepathen auf der Welt … durch die Operation Apokalypse.« Nein, das alles konnte er nicht sagen. Sie fuhr sich mit der nassen Hand über das Gesicht, strich die Haare zurück und sah ihn aus verquollenen Augen an. Dann
tappte sie auf bloßen Füßen näher, legte ihm die Wange gegen die Schulter und umarmte ihn. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich – ich bin verrückt. Du hast es auch nicht leicht, Jeff.« »Nein.« »Wir schicken das Baby nächste Woche weg«, versprach sie. »Dann bin ich wieder normal. Ich … ich hasse Whisky. Es ist nur, weil …« »Ich weiß.« Er glättete ihr Haar. Es gab keine Worte für das, was er in ihrer Gegenwart empfand: Liebe, Mitleid, Gewissensqualen, Angst und Schmerz. Telepathen fiel es schwer, ihre Gefühle auszudrücken, da ihre Artgenossen sie auch so verstanden. »Hab Geduld mit mir, Lucy«, sagte er schließlich. »Uns steht eine schwere Zeit bevor. Vielleicht schlägt mein Vorhaben fehl. Ich – ich komme so rasch wie möglich wieder heim.« »Ich weiß, Liebling. Ich wollte nur, daß ich auch etwas – tun könnte.« Er hielt sie fest. »Ich bringe dir etwas Schönes mit«, versprach er. »Eine Überraschung. Ich weiß selbst noch nicht, was es sein wird, aber ich möchte dir eine Freude bereiten. Und noch eines, Lucy. Wenn ich wieder hier bin, können wir meinetwegen umziehen. In Höhle Sieben vielleicht. Du kannst neue Möbel bestellen und …« Er wußte kaum, was er redete. Illusionen und Wirklichkeit waren zu eng miteinander verknüpft. »Wir überlegen uns das gemeinsam, Liebling«, sagte sie. »Es ist schon gut.« »Dann gehe ich also.« Sie nickte. »Du wirst mir fehlen. Komm bald zurück!« Cody schloß das Liftgitter hinter sich und preßte den Kopf gegen die Stahlwand. Seine Schultern verrieten Müdigkeit. Er formte in Gedanken das Kodesignal, das den Mechanismus
auslöste. Irgendwo warf ein beschäftigter Kollege ein weiteres Bruchstück des Kodes ein, und ein dritter – er hatte sich verspätet und eilte nun zum Abendessen – übermittelte ihm die restlichen Symbole. Drei verschiedene Bilder mußten gleichzeitig projiziert werden, um den Lift zu betätigen. Es war eine Vorsichtsmaßnahme. Nur Telepathen konnten die Notausgänge bedienen. Die schräge Tür führte in ein Gewirr von tropfenden Blättern. Es roch nach Regen und nassen Fichten. Ein aufgescheuchter Hase schoß aus dem Unterholz. Cody schloß das getarnte Tor und blinzelte in den Regen. Von irgendwo weiter oben erreichte ihn ein wortloser Gruß. Ein Motor summte, und ein dunkles Seil schlängelte sich aus dem Grau. Cody setzte einen Fuß in den Steigbügel und spürte im nächsten Moment, wie das Seil mit dem Korb nach oben gezogen wurde. Er kletterte durch eine schmale Luke in den Helikopter. Arn Friedmann löste seine Blicke keine Sekunde von den Bedienungsinstrumenten. Das war auch nicht nötig. Während er sich ernst vorbeugte und mit ausdrucksloser Miene durch den Regen starrte, sandte er Cody einen kurzen Gruß zu. Cody sank erst einmal in die Polster und nahm die kühle, ungestörte Stille des weiten Himmels in sich auf. Die Verkrampfung lockerte sich. Er genoß das Gefühl. Die Höhle war so angefüllt mit unterdrückten Ressentiments, Schuldgefühlen und Spannungen, daß ein Telepath nach einiger Zeit kaum noch zu atmen wagte. Friedmann hatte ihm etwas Wichtiges mitzuteilen. Cody erkannte es schwach, obwohl der Pilot geduldig wartete, bis er sich entspannt hatte. Die Fichtenwälder blieben zurück, verhangen von Regenschleiern. Wasser lief über die Glaskanzel. Der Motor summte gleichmäßig. Lucy. Fünf Jahre lang hatte sie keinen Regen, keine Bäume, keinen Himmel gesehen. Und sie würde
bis an ihr Lebensende auf diesen Anblick verzichten müssen, wenn nicht … ein rascher Tod – oder der Induktor. Friedmanns Gedanken erreichten ihn. »Wir brauchen mehr Zeit. Wenn jetzt das Verfolgungsfieber ausbricht, greift es rasch um sich. Ich glaube, die Paranoiker verlassen sich darauf. Sie haben sich heimlich in den wichtigsten Städten verteilt – da, wo es am ehesten zu Tumulten kommt. Wie in American Gun. Jasper Horne ist dort.« »Seit wann?« fragte Cody. »Seit etwa drei Wochen. Und er hat ganze Arbeit geleistet. Du weißt, wie die Kerle vorgehen. Lesen fremde Gedanken und lassen im richtigen Moment ein paar Worte fallen, die das Feuer schüren. Ich glaube, Horne könnte in American Gun jederzeit mit einem Krawall beginnen.« »Nicht, wenn er tot ist«, erwiderte Cody düster. Er lehnte sich zurück, sah zu, wie der Nebel vorbeitrieb, und dachte an American Gun. Eine Spielerstadt. Jedenfalls war sie dadurch bekannt geworden. Kaum jemand wußte, daß sie ein berühmtes Forschungslabor beherbergte und daß einer der bedeutendsten zeitgenössischen Plastikformer dort lebte. Die Menschen kamen wegen der Glücksspiele nach American Gun. Ein Glücksspiel, dachte Cody. Als solches kann man meinen Auftrag auch betrachten. Die Sonne brach durch und trocknete die Regentropfen auf der Glaskanzel. Friedmann setzte Cody in den Außenbezirken von American Gun ab und flog weiter nach Osten. Er hatte fünfhundert Meilen entfernt in Bleeding, Kansas, einen Auftrag zu erledigen. Cody sah zu, wie der Helikopter in den klaren Himmel stieg. American Gun lag in einer flachen Hufeisenmulde, eingerahmt von Bergen und einem breiten, trägen Fluß. Transparente Kunststoffboote glänzten in der Sonne. Die Menschen am Ufer wirkten spielzeughaft klein.
Viele suchten Erfrischung in den schwach bewegten grünen Fluten. Denn der Wind, der vom Fluß her wehte, war heiß. Cody stand auf einem der niedrigen Vorberge und warf einen Blick auf American Gun. Jetzt, da er ein bestimmtes Ziel vor Augen hatte, erfüllte ihn eine gewisse Ruhe. An die hundert Häuser lagen vor ihm, klein und weit verstreut. Die Bäume ließen schlaff ihre Äste hängen. Nur die Kinder störte die Hitze nicht. Sie trollten umher wie gewohnt. Eine kleine Gruppe hatte sich unter einer Eiche zum Picknick niedergelassen. Cody sah eine aufgeschnittene Wassermelone auf dem weißen Tischtuch. Ein kleiner weißer Hund trottete mit hängender Zunge an ihm vorbei. Er warf Cody einen müden, aber argwöhnischen Blick zu. In seinem Gehirn spukte eine geifernde Bestie von der Größe eines Tigers herum. Mit einiger Mühe erkannte Cody in dem Zerrbild einen Dackel, den der kleine weiße Hund fürchtete. Langsam schlenderte Cody den Hang hinunter, auf American Gun zu. Er hatte keine Eile. Die feuchte, warme Luft umfächelte angenehm seine Haut. Sein Inneres war weit geöffnet. Fremde Gedanken durchströmten ihn. Er achtete nicht darauf. Seine Blicke waren auf ein langgestrecktes Bauwerk im byzantinischen Stil gerichtet, das mit jedem Schritt näherrückte. … Es gab Platz genug auf der Erde. Und es gab Feinde genug außer dem Menschen. Der Mensch hatte gekämpft, seit er aufrecht gehen konnte, und doch nie einen Sieg errungen gegen seinen ältesten Feind – gegen den Feind, der am blauen Himmel brannte, der sich im Boden verbarg, der Dämme sprengte und die Intelligenz der Menschenrasse immer wieder auf die Probe stellte. Feind und Freund zugleich – dieses Geschenk der Götter. Ohne die Kräfte der Natur hätte überhaupt kein Leben entstehen können. Nehmt den Planeten, hütet ihn, hegt ihn – und er wird euch dienen! Oder vergeßt ihn, während ihr eure
Händel austragt, und die brennende Sonne, die mächtigen Fluten, die unzähligen Mikroorganismen werden nach ihrem alten Schema weiterarbeiten – und für den Menschen ist kein Platz in diesem Schema! Entscheidet selbst! Cody hatte den kleinen Park vor dem langgestreckten Gebäude erreicht. Bäume kümmerten dahin, und der Rasen hatte eine bräunliche Farbe angenommen. In einem flachen Becken schwammen Goldfische, die immer wieder hoffnungsvoll nach Luft schnappten. Ihr Bewußtsein hatte Ähnlichkeit mit flackernden kleinen Kerzen auf einem Geburtstagskuchen. Cody blieb vor dem byzantinischen Bauwerk stehen. Er hatte nicht die Absicht, es zu betreten. Statt dessen wandte er sich den schulterhohen Kästen zu, die in unregelmäßigen Abständen in langen Reihen vor dem Gebäude errichtet waren. Frauen und Männer standen an den Kästen und schauten in die Sehöffnungen. Aber an einem drückend heißen Tag wie heute fand man immer ein paar freie Plätze. Cody beugte sich über das Okular, fischte eine Münze aus der Tasche und warf sie in den Schlitz. Eine grelle Schrift leuchtete aus dem Dunkel: Radiokobalt. Dann erschienen nacheinander eine Reihe von Zahlenanordnungen. Aufs Geratewohl drückte Cody einen Knopf. Der Mechanismus wurde in Gang gesetzt. Cody starrte in eine Wilsonsche Nebelkammer. Stark vergrößert sah er die Leuchtspuren der subatomaren Teilchen. Jedesmal, wenn zwei Elektronen zusammenprallten, klickte ein Zähler. Falls Cody richtig geraten hatte, kassierte er eine Menge Geld und konnte beweisen – Nichts. Überhaupt nichts. Aber als er vorsichtig die Gedanken der Umstehenden durchforschte, erkannte er, daß ein Gewinn für sie eine ganze Menge beweisen würde. Denn im Grunde genommen fehlte diesen Menschen die Zuversicht. Über allen lag die düstere Drohung, welche die Welt seit der
Bombe überschattete. Es gab keine nationalen Schranken mehr, aber es gab einen Wall um jede Stadt – und um jeden einzelnen Menschen. Das Überleben hing vom Glück ab. Und so blühten Spielerstädte wie American Gun. Hier, in den Kasinos, an den Automaten, bei Roulette, Crap und Faro, konnten die Menschen beweisen, daß die blinde Göttin sie bevorzugte, daß sie in Sicherheit waren. Die soziale Unsicherheit wurde abgeschoben auf eine mechanische Unsicherheit – das Fallen der Würfel oder das Drehen des Rades. Und die persönliche Verantwortung wurde abgeschoben auf Fortuna oder Tuche oder wie man sie immer nennen mochte. Menschen gingen an Cody vorbei ins Kasino, andere kamen heraus. Sein sensibles Gemüt spürte den Zündfunken, der in der Luft lag. Er kannte auch den Ursprung des Unbehagens, das ständig wuchs: Jasper Horne. Der Mann befand sich nicht umsonst seit drei Wochen in American Gun. Hier war der richtige Ort zur Entfesselung der Hexenjagd. Hier, in American Gun, war die Macht, die Cody niederdrückte und bis an den Rand des Selbstmordes getrieben hatte. Und hier war auch der Mann, der die Verantwortung dafür trug. Jasper Horne, dachte Cody, während die Leuchtspuren der Nebelkammer vor seinen Augen tanzten. Seine Gedanken richteten sich unerbittlich auf dieses Ziel. Allenby hatte recht. Er mußte Horne töten, nicht sich selbst. Auch dabei riskierte er sein Leben, aber er beging keinen Verrat an seinem eigenen Volk – er schüttelte die Verantwortung nicht einfach ab. Von Anfang an waren die Paranoiker der eigentliche Feind gewesen. Immer hatten sie eine Verständigung zwischen Telepathen und der übrigen Menschheit unterbunden. Sie hatten die Vernichtung von Sequoia verursacht und die Telepathen gezwungen, Gefangene in ihre Höhlenkolonie zu holen. Wäre das nicht geschehen, so hätte er Lucy niemals kennengelernt und ihr viel Leid erspart. Für sie und das Kind
gab es jetzt keine Lösung mehr, keinen Ausweg. Die Wunden, die entstanden waren, ließen sich nicht heilen. Die Erde war Feind und Freund zugleich. Aber die Paranoiker kannten nichts als Feindschaft, und ihr Anführer, Jasper Horne, hielt sich irgendwo hier in American Gun auf, in Jeff Codys Reichweite. Man mußte ihn beseitigen – schon deshalb, weil er und seine Leute Mörder aus den Telepathen machten. Die Leuchtspuren in der Nebelkammer verblaßten. Das Licht schaltete sich aus. Cody hatte nichts gewonnen. Er steckte noch eine Münze in den Schlitz und beobachtete die wirren Linien, während er das Opfer einzukreisen versuchte. Im Innern des byzantinischen Gebäudes wirbelten die Gedankenfetzen wie Rouletteräder. Das Kasino war ein Sammelpunkt für den Klatsch aus ganz American Gun. Hier fing er gelegentlich Ideen auf, die er mit Horne identifizierte. Vorsichtig peilte er diese Gedanken an und untersuchte sie, bis sich ein Bild von Hornes Gewohnheiten herauskristallisierte. Aber noch andere Dinge zeigten sich – Ereignisse, welche die Unruhe unter der Bevölkerung schürten. Kein Nicht-Telepath brachte sie mit der Anwesenheit des Paranoikers in Verbindung. Seit vierundzwanzig Stunden hatte sich in American Gun kaum jemand rasiert. Oh, es gab immer ein paar Mutige, denen es nichts ausmachte, Verdacht zu erregen und als Kahlköpfe zu gelten. Im Forschungslabor beispielsweise erschienen die meisten Mitarbeiter noch ohne Bartstoppeln. Aber sobald irgendwo in der Öffentlichkeit ein glattes Kinn auftauchte, mußte sich der Besitzer mißtrauische Blicke und abfällige Bemerkungen gefallen lassen. So war es vermutlich doppelt schwer, Horne zu töten. Jede Gewalttat konnte die Verfolgungsjagd auslösen – und eben diese Verfolgungsjagd wollte Cody durch den Tod des Paranoikers verhindern. Das bedeutete, daß er Horne
aussondern mußte, daß er ihn heimlich umbringen mußte, wenn keine Aufwiegler in der Nähe waren. (Es gab solche Männer in American Gun; Horne hatte sie entdeckt. Sie würden die Massen anführen, wenn der gefürchtete Augenblick kam.) Er ist im Last Chance. Cody hob den Kopf. Einen Moment lang blendete ihn die helle Sonne. Er ging rasch die Daten durch, die er bereits über American Gun gesammelt hatte. Das Last Chance war im Norden der Stadt, in der Nähe des Forschungslabors. Vielleicht befand sich Horne nicht mehr dort, wenn er eintraf, aber mit einem Ansatzpunkt ließ sich die Spur leicht verfolgen. Cody machte einen Bogen um den Goldfischteich mit seinen flackernden kleinen Bewußtseinsflammen und schlug einen Weg ein, der nach Norden führte. Sein Gehirn tastete unablässig die Umgebung ab. Manchmal traf er auf andere Telepathen. Durch sie hätte er Horne sofort und zuverlässig aufspüren können, aber sie trugen keine Abschirmhelme, und der Paranoiker war dadurch in der Lage, ihre Gedanken zu lesen. Und Horne durfte nicht gewarnt werden. Cody berührte das feingesponnene Fädennetz, das sich unter seiner Perücke verbarg. Solange er diesen Schutz trug, konnte Horne seine Gedanken nicht auffangen. Die Straßen füllten sich. Gerüche zuckten wie Wetterleuchten in der schwülen Atmosphäre, unbestimmt zuerst, dann ausgeschmückt mit immer mehr Einzelheiten. Jemand, so hörte Cody flüstern, hatte letzte Nacht die Spielbank Gold Horseshoe ausgeraubt und zwei Säcke von Credits erbeutet. Bei der Flucht hatte er die Perücke verloren. Ja, die Kahlköpfe ließen allmählich die Maske fallen. Sie stahlen und plünderten, wo sie nur konnten, um sich auf die Stunde X vorzubereiten. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie die Erde beherrschten. Cody ging ein wenig schneller. Vereinzelt erreichten ihn die Gedanken der Telepathen von American Gun. Wir verlieren die Kontrolle!
Lautlos wurde dieser Satz weitergegeben, von Gehirn zu Gehirn, von einer ängstlichen Gruppe zur anderen. Und während die Telepathen mit stoischen Mienen ihren normalen Tätigkeiten nachgingen, breitete sich in ihrem Innern Panik aus. An diesem Tag blieben die Kinder daheim, und die Familienhelikopter standen bereit. Über der Menge entdeckte Cody das grelle Schild des Last Chance. Er schob sich vorwärts, während seine Gedanken nach Horne suchten. Und trotz der lautlosen Panik, die in der Luft lag, fühlte er sich merkwürdig glücklich. Zum erstenmal seit vielen Monaten erschien alles ganz leicht und einfach. Töte Horne! Das war alles; das genügte. Töte Horne, sagte sein Inneres, und die Zweifel und Unsicherheiten der Vergangenheit waren ausgelöscht. Er blieb vor den altmodischen Lichtschranken-Türen des Last Chance stehen und suchte nach seinem Feind. Die Gerüchte drangen auf ihn ein, vage, als habe sie eben erst jemand ins Leben gerufen. Eine Gruppe von Frachthelikoptern war am Rand der Stadt gelandet, weil die Leitmaschine ein Leck im Treibstofftank hatte. Der Mechaniker stieß aus Versehen gegen eine Orangenkiste und zerbrach den Deckel. Zum Vorschein kamen sonderbare Gewehre – atomar vielleicht? Drei Bomben, in Schaumgummi verpackt? Bewußtlose Menschen, die zur Vivisektion in ein geheimes Labor der Kahlköpfe gebracht werden sollten? Dann überlagerte ein neues Gefühl die heiße, drückende Atmosphäre – der Hauch des Paranoikers. So wie bei Epilepsie der Anfall durch ein unerklärliches Gefühl des drohenden Unheils angekündigt wird, so umgibt den Paranoiker eine düstere Aura, die seine verzerrten Gedanken widerspiegelt. Cody kannte diese Erscheinung bereits, aber er hatte jedesmal von neuem das Gefühl, daß seine Verbindung mit der hellen, sonnigen Umwelt für ein paar
Sekunden abriß. Langsam drehte er sich um und überquerte die Straße. Er schob sich vorbei an den flüsternden Gruppen von Unrasierten, die ihm feindselige Blicke zuwarfen. Vor ihm war ein kleines Restaurant – das Copter Vane. Die Aura verstärkte sich. Cody blieb vor der Tür des Restaurants stehen und sandte seine tastenden Gedanken aus. Immer mehr Gerüchte verbreiteten sich. Einer kannte einen Mann, dessen Nachbar ein Kahlkopf war. Der Kahlkopf hatte vor einem Monat bei einem Duell drei Finger verloren, aber davon merkte man nichts mehr. Sicher eine Transplantation – in einem privaten Telepathen-Krankenhaus. (Aber Kahlköpfe duellierten sich nicht – ach was!) Die Kerle vollbrachten Wunder in der Medizin, aber normale Menschen hatten nichts davon. Wer weiß, was noch geschah, wenn man ihnen nicht bald das Handwerk legte! Doch auch Hornes eigene Gefühle lagen offen vor Cody da – Arroganz, Mißtrauen, Egoismus und Unbeugsamkeit. Und in dem wirren Gehirn regte sich schwach ein Gedanke, wie ein Funke in der Asche, der Cody erstarren ließ. Horne war nicht nach American Gun gekommen, um die Hexenjagd auszulösen. Sein eigentliches Motiv war weit gefährlicher. Es war – Was? Das konnte Cody noch nicht erkennen. Er hatte eine Sekunde lang den Schatten eines Gedankens gespürt und war dadurch gewarnt worden, mehr nicht. Hornes eigentliches Motiv lag tief vergraben. Aber Cody mußte es aufdecken, das stand fest. Er trat zur Seite, lehnte sich an die Wand des Gebäudes und starrte gelangweilt auf die Straße hinaus. Der Abschirmhelm schützte ihn, während er Hornes Gedanken abtastete. Vorsichtig … ganz vorsichtig. Der Paranoiker saß allein in einer Nische im Hintergrund des Restaurants. Er konzentrierte sich auf das Essen. Er dachte nicht bewußt an das Ding, das sich einen triumphierenden Augenblick lang an die Oberfläche seiner Gefühle geschoben
hatte. Und Cody wollte nicht in die Tiefen seines Bewußtseins eindringen, da er wußte, daß Horne das sofort spüren würde. Einen Weg gab es allerdings. Die richtigen Stichworte würden die richtigen Assoziationen hervorrufen. Aber er mußte Horne diese Stichworte ganz vorsichtig eingeben, damit sie natürlich wirkten – so als seien sie seinen eigenen Gedanken entsprungen. Cody starrte an den flüsternden Menschentrauben vorbei zum Last Chance. Horne war vor einer halben Stunde dort gewesen. Cody hakte ein. Er sandte den Begriff Last Chance zu Horne aus. Sofort zuckte der Paranoiker zusammen und tastete mißtrauisch die Umgebung ab. Er fand nichts. Cody wurde durch den Abschirmhelm geschützt. Und dann setzten die Assoziationen ein. Last Chance – alle lockt das Spiel. Und sie merken nicht, daß in Wirklichkeit ich mit ihnen spiele. Mit ihrem Leben. Ich kann sie töten. Alle, wenn es rechtzeitig – Die Gedankenkette zerriß, als im Restaurant die Videomusik laut wurde. Horne nahm die Gabel in die Hand und begann wieder zu essen. Cody stimmte seine Gedanken auf den Rhythmus der Musik ab und sandte Horne erneut eine Botschaft zu: Alle töten. Alle töten. Alle töten. Wir werden das Virus einsetzen, führte Horne den Gedanken, der nicht seiner war, weiter. Pomerance kommt seinem Ziel immer näher. Kontrolliert täglich die Schwingungen, welche die Mutation hervorrufen. Alle töten. Alle töten. ALLE TÖTEN! Cody stützte sich an der Wand ab. Der blinde Haß des Paranoikers war nur schwer zu ertragen. Pomerance, dachte er. Pomerance. Pomerance in seinem Labor, dachte Horne, und Cody sah das Bild, das er dabei formte, deutlich vor sich. Nur zwei Straßenzüge weiter befand sich die Forschungszentrale von American Gun. In einem der Labors war ein Biochemiker
namens Pomerance beschäftigt – ein Nicht-Telepath. Er arbeitete an einem bestimmten Experiment. Wenn es klappte, lieferte es den Paranoikern die Möglichkeit zur Herstellung eines ganz besonderen tödlichen Virus, ähnlich wie es die Höhlentelepathen für ihre Operation Apokalypse besaßen. Und das war der eigentliche Grund für Hornes Aufenthalt in American Gun. Die Vorbereitungen für die Verfolgungsjagd dienten nur als Vorwand. Er wollte damit die übrigen Telepathen täuschen, während er selbst die Arbeit des Biochemikers telegraphisch verfolgte. Pomerance hatte natürlich keine Ahnung von diesen Vorgängen. Ihm lag lediglich daran, wirksamere Bakteriophagen als bisher zu züchten – aber die Methode, die er dazu entwickelte, ließ sich auch für andere, weniger harmlose Zwecke verwenden. Unauffällig manipulierte Cody die Gedanken des Paranoikers. Er erfuhr noch einiges. Pomerance konnte versagen. In diesem Fall wurde die Verfolgungsjagd in die Wege geleitet. Es war natürlich besser, das Virus anzuwenden, um das Leben der Paranoiker nicht zu gefährden – aber wenn dieser Plan nicht klappte, war die Verfolgungsjagd der letzte Ausweg. Die Voraussetzungen dazu hatte er geschaffen. Er hatte die Gemüter in Erregung versetzt; die nötigen Aufwiegler waren bereits gefunden; er konnte jederzeit das Signal geben. Die Hexenjagd würde die Höhlentelepathen dazu zwingen, Operation Apokalypse einzuleiten. Aber noch wollte Horne abwarten, nur ein paar Tage, um die Fortschritte von Pomerance zu beobachten. Der Mann schien seinem Ziel sehr nahe zu sein. Zu nahe, dachte Cody und warf einen Blick auf den Eingang des Restaurants. Er verschwendete seine Zeit. Töte Horne, töte ihn jetzt! sagte er sich, aber er zögerte, denn in den Gedanken
des Paranoikers war noch etwas, das ihn verwirrte. Er besaß zuviel Selbstvertrauen. Dafür mußte es einen Grund geben. Cody arbeitete wieder mit vorsichtig ausgelegten Ködern, die den anderen nicht mißtrauisch machten. Ja, es gab einen Grund. Im Labor von Pomerance war eine Bombe versteckt. Weshalb? Horne besaß auch diese Information, und Cody entwand sie ihm geduldig. Der Biochemiker durfte nicht lebend in die Hände der feindlichen Telepathen fallen. Die Bombe explodierte, wenn Horne sich eine bestimmte Symbolkombination ins Bewußtsein rief – er wandte die Gedanken rasch von der gefährlichen Gleichung ab. Und sie explodierte außerdem, wenn Hornes Gehirn keine Impulse mehr aussandte. Das bedeutete – wenn Horne starb. Wie bei einer Alarmanlage wurde der Stromkreis der Bombe unterbrochen, sobald die Gedanken, die Hornes Gehirn Tag und Nacht ausstrahlten, einmal aussetzten. Horne übermittelte ein deutliches Bild des Bombenverstecks. Wenn Cody also Horne tötete, mußte auch Pomerance sterben. Aber weshalb war das für den Paranoiker so wichtig? Wieder durchforschte Cody sein Inneres, und plötzlich kannte er den Grund. Die Untersuchungen des Biochemikers kreisten um die Wirkung von Schwingungsdifferentialen auf Viren. Viren bestanden aus Nukleoproteiden. Aber es gab noch andere Nukleoproteide; die telepathische Funktion beispielsweise hing von der Schwingung der Nukleoproteide im menschlichen Gehirn ab. Wenn Pomerance Erfolg hatte, dann würde das bedeuten – Dann würde das bedeuten, daß sich die Telepathie künstlich erzeugen ließ! Es war die Lösung auf das Problem des Induktors, die einzige Lösung auf das Problem der Rassenspaltung. Aber während die Paranoiker die Erfindung zur Vernichtung aller Menschen
verwenden wollten, konnten die Höhlentelepathen damit die Welt vereinen. Sie konnten … Plötzlich merkte Cody, daß Horne seine Anwesenheit entdeckt hatte. Sofort begann Horne die tödliche Gleichung zu formen. Codys Gedanken rasten. Er konnte Horne umbringen, bevor der Paranoiker die Gleichung zusammengesetzt hatte, aber wenn er das tat, löste er gleichzeitig die Bombe aus. Pomerance würde sterben – und das durfte nicht geschehen. Zu viel hing von dem Biochemiker ab. Es gab nur eine Möglichkeit, Hornes Gedanken zu unterbrechen. Cody hatte einen tiefen Einblick in die stolze, unbeugsame und doch labile Persönlichkeit seines Gegners erhalten. Er wußte nun mehr über Horne als der Mann selbst. Und ein Faktor war entscheidend: Horne war zwar nicht verrückt; er hatte die Verbindung zur Wirklichkeit nicht verloren, aber wie viele Paranoiker wies er psychopathologische Symptome auf. Eines davon war seine starke Neigung zu Halluzinationen kurz vor dem Einschlafen. Und solche Halluzinationen ließen sich leicht durch Hypnose hervorrufen. Cody mußte Horne lediglich davon überzeugen, daß er einen Moment lang einer Halluzination zum Opfer gefallen war. Dann konnte er sich an die eigentliche Arbeit machen. Zumindest hatte Cody eine Vorstellung davon, welche Formen diese Halluzinationen für den Paranoiker mit seinem starken Geltungstrieb annehmen würden. Und so spiegelte er Horne vor, daß er von den Höhlentelepathen gekommen sei, um mit den Abtrünnigen einen Pakt gegen die übrige Menschheit zu schließen – genau die Art von Wunschdenken, die durch Hornes Phantasien geisterte. Gleichzeitig zeichnete er ein
Idealbild von Jasper Horne und übermittelte es zusammen mit den übrigen Vorstellungen. Die alten Griechen wußten, was die Betrachtung des Selbstbildnisses bedeutete – sie erzählten die Geschichte des Jünglings Narziß. Und auch Jasper Horne, der in seinem grenzenlosen Egoismus nie einen Vergleich mit anderen Menschen angestellt hatte, der sich zum Gott erhoben hatte, konnte der Verlockung nicht widerstehen. Er ließ sich von der tödlichen Gleichung ablenken und vertiefte sich in die Betrachtung seines Ichs. Cody beobachtete ihn vorsichtig. Der Paranoiker schwankte. Sein Wirklichkeitsempfinden sagte ihm, daß die Telepathen ihm niemals einen Pakt anbieten würden und daß ihn daher seine Sinne getäuscht hatten, als sie Codys Nähe ankündigten. Solche Täuschungen waren Horne nicht unbekannt, und allmählich glaubte er tatsächlich, daß ihm seine Phantasie einen Streich gespielt hatte. Cody hielt immer noch das Abbild Jasper Hornes als lockenden Köder aufrecht. Unauffällig flüsterte er dem Mann neue Stichworte zu. Anfangs entsprachen sie noch der Wahrheit – oder besser, dem Glauben des Paranoikers. Es waren angenehme, beruhigende Gedanken. Horne gab sich ganz der Betrachtung seines Ichs hin, das er schon so oft heraufbeschworen hatte – aber nie war es ihm so strahlend und deutlich erschienen. Narziß bewunderte sich im Spiegelbild von Codys Gedanken. Immer noch saß Horne allein an seinem Tisch im Restaurant. Allmählich ließ sein Mißtrauen nach, und Cody verlagerte seinen Angriff vorsichtig in andere Regionen. Seine Einflüsterungen wichen immer mehr von der Wahrheit ab, doch er achtete darauf, daß Horne sie als seine eigenen Gedanken akzeptierte. Ich hatte schon früher diese Halluzinationen. Gewöhnlich vor dem Einschlafen. Also muß ich jetzt schlafen. Ich bin auch müde. Meine Augenlider fühlen sich schwer an … Die einschläfernden, monotonen Gedanken
begannen Hornes Bewußtsein zu überlagern. Schritt für Schritt verstärkte Cody die Hypnose. Narziß betrachtete Narziß … Schlafe, schlafe, flüsterten Codys Gedanken. Du wirst erst wieder aufwachen, wenn ich es dir befehle. Nichts anderes kann dich wecken. Schlafe tief – schlafe! Der Paranoiker schlief. Cody rannte die Straße entlang. Kein anderer Telepath in American Gun war dem Forschungslabor näher als er. Er mußte Pomerance retten. Vielleicht mißlang der Versuch. Jasper Horne saß schlafend in einem überfüllten Restaurant, und jeden Moment konnte ihn jemand ansprechen und zurück in die Wirklichkeit bringen. Die Hypnose war nicht tief. Der letzte Befehl, den er seinem Feind gegeben hatte, würde nicht viel nützen. Cody rannte weiter. Angenommen, es gelang ihm, Pomerance rechtzeitig aus dem Labor zu holen. Konnte er dann zurück zum Restaurant laufen, bevor Horne erwachte? Nein, dachte Cody, die Hypnose ist nicht tief genug. Es wäre ein Wunder, wenn sie länger als ein paar Minuten anhielte. Wenn ich nur Pomerance retten könnte … Aber sobald Horne erkennt, was geschehen ist, schlägt er zu. Er löst die Hexenjagd aus. In American Gun ist alles vorbereitet; er hat das Dynamit verteilt und muß es lediglich zünden. Also schön. Ich weiß nicht, ob ich das Richtige tue. Ich hoffe es. Aber sicher bin ich nicht. Wenn ich Pomerance rette, leitet Horne die Hexenjagd ein, bevor ich ihn daran hindern kann. Aber Pomerance darf nicht sterben; er kann das Problem des Induktors lösen. Schnell! Er rannte auf einen Komplex von niedrigen, langgestreckten Gebäuden zu. Er kannte den Weg; er hatte ihn Hornes Gedanken entnommen. Da war die Tür. Er riß sie auf und stand im Labor.
Ein hagerer, grauhaariger Mann in einem fleckigen Kittel drehte sich um und starrte ihn an. Pomerance. Und während Cody auf ihn zulief, spürte er, daß im Copter Vane Jasper Horne aus der Hypnose erwachte. Panik hatte den Paranoiker ergriffen. Er tastete nach Pomerance. Cody rannte durch das Labor. Hinter Pomerance waren hohe Fenster, die den Blick auf den blauen Himmel und das welke bräunliche Gras freigaben. Wenn sie die Fenster erreichten – Cody schien es, als habe er den Raum ohne Zeitverlust durchquert. Ohne Zeitverlust, und doch spürte er, wie im Gehirn des Paranoikers die Gleichung entstand, die den Bombenmechanismus auslöste. Nun war sie komplett. Nun würde alles stillstehen – für immer. Aber es blieb noch Zeit. Cody schickte einen lautlosen Schrei aus, der alle Telepathen in American Gun alarmierte. Im gleichen Moment packte er Pomerance und riß ihn mit sich zum Fenster. Dann kam der Boden auf ihn zu, und der Luftdruck erfaßte ihn. Vor ihnen ragte das Fenster auf, hoch, hell, unterteilt von vielen kleinen Scheiben. Codys Schulter schlug dagegen. Holz und Glas splitterten, aber das Brüllen der Detonation verschluckte den Laut. Er fiel mit Pomerance durch die heiße, trockene Leere. Alles war dunkel, obgleich er wußte, daß die Sonne schien. Er fiel und fiel, und rings um ihn regnete es Glas, und das Dröhnen der Detonation wollte nicht enden. Vor dem Copter Vane standen zwei Durchreisende. Jasper Horne mischte sich unter die Menge und flüsterte seinem Nachbarn etwas zu. Der wiederholte die Worte laut. Einer der Durchreisenden lief rot an. (Horne hatte seine Gedanken durchforscht und wußte, wie man die Aggressionen des Mannes weckte.) Eine Sekunde später hatte der Fremde ein Messer in der Hand. Die Zuschauer bildeten einen Kreis und feuerten die beiden Gegner an. Der Sieger des Duells war ein
bärtiger Mann mit einer halben Glatze. Er hatte sein Messer gut eingesetzt. Zu gut, flüsterte Horne deutlich. Die Zuschauer nahmen den Satz auf. Jeder konnte ein Duell gewinnen, wenn er die Gedanken des Gegners las. Aber die Haare – wenn sie es fertigbrachten, Finger zu transplantieren, dann konnten sie auch für künstlichen Haarwuchs sorgen. Jasper Horne gab das Stichwort an einen Mann, den er als potentiellen Aufwiegler erkannt hatte. Der Mann zog die Stirn kraus, fluchte und trat einen Schritt vor. Geschickt stellte er dem Sieger des Duells ein Bein, als dieser eben die Klinge einstecken wollte. Das Messer flog im hohen Bogen auf das Pflaster. Drei Männer warfen sich auf den am Boden Liegenden. Zwei hielten ihn fest, während der dritte an seinen Haaren zerrte. Sie waren echt. Das Opfer brüllte vor Zorn und schlug so wild um sich, daß ein paar Umstehende zu Boden gingen. Einer von ihnen verlor seine Perücke … Er schwebte zwischen Schlaf und Erwachen, eingebettet in das Nichts, und wünschte sich nichts anderes, als diesen Zustand für alle Zeiten genießen zu können. Aber er war Telepath. Nicht einmal sich selbst konnte er etwas vorspiegeln, das der Wahrheit nicht entsprach. Und doch fiel ihm das Erwachen schwer. Es fiel ihm schwer, von neuem die Lasten des Alltags aufzunehmen und zu tragen. (War Pomerance durchgekommen?) Wenn sein Leben so weiterliefe wie in dieser Sekunde, befreit von jeder Unsicherheit, dann wäre es leicht, das graue, traumlose Schweigen zu verlassen, das so unendlich entspannte. (Aber Pomerance?) Und wie immer zwang ihn der Gedanke an einen anderen zur Rückkehr in die Gegenwart. Augenblicklich fand er sieh zurecht. Er war nicht allein auf seine verwirrten Gedanken
angewiesen. Überall, in den Höhlen und draußen im Freien, bewegte und beunruhigte eine Vorstellung die Gemüter: die Hexenjagd war ausgebrochen. Cody stellte eine Frage: Hätte ich Horne töten sollen, anstatt zu versuchen, Pomerance zu retten? Aber er wartete nicht auf Antwort. Die Entscheidung war schließlich getroffen. Er öffnete die Augen – er wußte genau, in welcher Krankenstation er lag – und sah in das runde, derbe Gesicht von Allenby. »Pomerance?« fragte er. »Lebt«, erwiderte der Psychologe. »Einige der Telepathen von American Gun erreichten euch gleich nach der Detonation. Sie mußten rasch arbeiten. Horne hatte die Verfolgungsjagd ausgelöst. Aber sie hielten einen Helikopter startbereit und leisteten dir und Pomerance auf dem Flug Erste Hilfe. Das war vor zwei Tagen.« »Vor zwei Tagen?« »Pomerance erlangte bereits nach ein paar Stunden wieder das Bewußtsein. Bei dir sah es schlimmer aus. Aber du wirst durchkommen.« »Hat das überhaupt noch einen Sinn?« flüsterte Cody. »Wie lange werden wir uns verteidigen können?« »Steh auf und zieh dich an«, befahl Allenby. »Wir haben eine Menge zu tun. Hier sind deine Sachen. Wie lange? Ich weiß nicht. Die Hetze breitet sich jetzt seit zwei Tagen aus. Die Paranoiker hatten alles genau geplant. Diesmal scheint es zu klappen, Jeff. Aber wir haben Pomerance. Und ich glaube, wir haben den Induktor.« »Aber Pomerance ist keiner von uns.« »Er steht auf unserer Seite. Nicht alle Menschen sind gegen die Telepathen eingestellt. Sobald Pomerance begriff, worum es ging, bot er uns freiwillig seine Hilfe an. Komm mit! Wir sind eben dabei, den Induktor zum erstenmal zu testen. Ich wollte, daß du es miterlebst. Schaffst du es?«
Cody nickte. Seine Muskeln waren steif, und er fühlte sich schwach, aber er empfand es als Geschenk, wieder gehen zu können. Er folgte Allenby in den Korridor. Die Gedanken der anderen Telepathen drangen auf ihn ein. Lucy fiel ihm ein. Nicht alle Menschen sind gegen die Telepathen eingestellt. Und nicht alle Telepathen sind gegen die Menschen eingestellt, dachte er. Ihm war klar, was sie Lucy und den anderen Gefangenen angetan hatten. »Sie wartet im Labor«, erklärte Allenby. »Sie hat sich freiwillig für den Versuch angeboten. Alle Wissenschaftler arbeiteten Tag und Nacht daran, Pomerances Theorie in die Tat umzusetzen. Nun steht der Induktor, wenigstens provisorisch. Hoffentlich –« Der Gedanke an die Verfolgungsjagd überschattete Allenbys Gemüt. Cody dachte: Ich werde Zeit finden, Cassius, ich werde Zeit finden – »Ja«, sagte der Psychologe. »Später, Jeff. Später. Im Moment konzentrieren wir uns ganz auf den Induktor. Du hast seit deinem Erwachen nicht an Jaspar Horne gedacht, oder?« Cody nickte. Jetzt, da er es tat, sah er in dem Anführer der Paranoiker nur noch eine Figur, die ihren festen Platz in einem größeren Gefüge hatte. Der persönliche Haß war verschwunden. »Ich glaube, jetzt muß ich ihn nicht mehr töten«, meinte Cody zustimmend. »Er ist nicht wichtig. Das Schlimmste, was er tun konnte, war die Auslösung der Verfolgungsjagd, und das hat er getan. Ich würde ihn umbringen, wenn ich die Möglichkeit dazu hätte, aber nun aus einem anderen Grund.« Er sah Allenby von der Seite an. »Wird der Induktor funktionieren?« »Das müssen wir herausfinden. Aber ich glaube es … ich glaube es ganz fest«, entgegnete Allenby und öffnete eine Tür. Cody folgte dem Psychologen in eine der Höhlen, die man zu einem Forschungslabor ausgebaut hatte.
Es herrschte hektischer Betrieb in der Höhle, aber Cody ließ sich von äußeren Sinneseindrücken nicht ablenken; er wandte sich sofort Lucy zu, die mit dem Baby auf dem Arm in einer Ecke stand. Einen Moment lang war er versucht, ihre Gedanken zu lesen, aber er beherrschte sich. Es gab Dinge, die er nicht erfahren wollte. »Die vielen Verbände haben nichts zu bedeuten«, sagte Cody. »Ich fühle mich großartig.« »Man hat es mir gesagt«, erwiderte Lucy. »Zum erstenmal im Leben war ich dankbar dafür, daß es die Telepathie gab. Ich wußte, daß die Ärzte mit absoluter Sicherheit erkennen würden, was dir fehlt.« Er legte den Arm um sie und warf einen Blick auf das schlafende Baby. »Ich dagegen erkannte gar nichts, als ich dich ansah. Ich dachte, du seist – tot. Aber Allenby und die anderen durchforschten dein Inneres und beruhigten mich. Ich wollte irgendwie helfen, doch es gab nichts für mich zu tun. Nur – das hier. Allenby sagte mir, daß er Freiwillige für das InduktorExperiment benötigte. Also meldete ich mich.« Lucy wußte also über den Induktor Bescheid. Nun, die Zeit der Geheimnisse war vorbei. Es zählte nicht mehr, wie viel oder wie wenig die Gefangenen in den Höhlen erfuhren. Es zählte nicht mehr, denn die Hexenjagd hatte begonnen. »Diesmal hat sie auf das ganze Land übergegriffen, nicht wahr?« fragte Lucy, und einen Moment lang erstarrte er (Telepathie?), bis er erkannte, daß seine Frau ihn besser verstand als ein anderer Nicht-Telepath. Alle Ehepaare erleben hin und wieder diese Augenblicke der Pseudo-Telepathie, wenn sie einander wirklich lieben. Und Lucy liebte ihn, trotz aller Mißverständnisse. Merkwürdig, daß sie es ihm jetzt erst zeigte, wo sie nur noch so wenig Zeit hatten. Denn wenn der
Induktor versagte … »Lucy«, sagte er, »wenn alles fehlschlägt, werden wir dafür sorgen, daß ihr die Höhlen verlassen und sicher heimkehren könnt –« Sie sah auf das Baby herunter und wandte sich von ihm ab. Cody erkannte plötzlich, daß ihm nicht einmal die Telepathie helfen konnte, wenn es darum ging, die Reaktionen einer Frau zu durchschauen. »Sind Sie noch nicht fertig?« fragte sie Allenby. »Sofort«, entgegnete er. »Geben Sie jemandem das Baby, Lucy.« Sie reichte Cody lächelnd das Kind. Dann ließ sie sich von Allenby zu dem isolierten Stuhl führen, der durch ein Gewirr von Drähten mit einem komplizierten Schaltpult verbunden war. Das Bewußtsein des Babys flackerte, und Cody dachte unwillkürlich an die kleinen Goldfische im Teich des Kasinos. Aber es gab einen gewaltigen Unterschied. Er hatte weder Mitleid noch Angst empfunden, als er die Lebensflämmchen der Tiere betrachtete. Das Bewußtsein seines Kindes brannte trotz seiner Winzigkeit und Hilflosigkeit mit einer geradezu lächerlichen Zuversicht, und doch geriet es bei jedem Reiz von außen sofort ins Zittern. So viele Dinge konnten die Flamme erschüttern, selbst in der besten aller Welten – aber, das wurde Cody mit einem Mal klär, in dieser Flamme wurde auch die Persönlichkeit des Kindes geschmiedet. Er warf einen Blick auf Lucy. Sie hatte auf dem Stuhl Platz genommen, und Elektroden wurden an ihren Schläfen befestigt. Ein hagerer, grauhaariger Mann, in dem er Pomerance erkannte, beaufsichtigte das Experiment. Seine Gedanken verrieten leise Verzweiflung. Diese Anwendung – ich weiß nicht, ob sie mit meiner Theorie übereinstimmt. Wenn ich nur Telepath wäre! Aber das läßt sich verwirklichen, falls
der Induktor funktioniert. Dieses Schaltbild – Die Gedanken des Biochemikers wandten sich komplizierten Dingen zu. Dicht gedrängt standen die Menschen im Höhlenlabor. Da waren die Wissenschaftler mit ihren Abschirmhelmen, aber da waren auch Dutzende von gefangenen Nicht-Telepathen. Sie alle wollten helfen. Sie alle hatten sich freiwillig gemeldet wie Lucy. Der Test begann. Lucy saß entspannt da. Ihre Gedanken beschäftigten sich mit dem Druck der Elektroden an Schläfen und Hinterkopf. Cody zog sich aus ihrem Inneren zurück. Er war nervös. Allenby sah ihn an. »Angenommen, der Induktor funktioniert?« fragte Cody stumm. »Was dann?« »Wir bieten die Telepathie der ganzen Menschheit an«, erwiderte Allenby. »Die Fernsehsender sämtlicher Städte sind bereits angezapft. Ich glaube, daß es sich sogar LynchGruppen überlegen, wenn man ihnen die Telepathie verspricht.« »Ich weiß nicht …« »Außerdem stehen viele Nicht-Telepathen auf unserer Seite. Wir …« Er unterbrach seine Gedankengänge. Denn etwas geschah in Lucys Gehirn. Es war wie eine Welle, wie eine Flut undefinierbarer, abstrakter Musik, als sich die Nukleoproteide veränderten. Sie wird Telepathin wie wir, dachte Cody. »Ausschalten«, sagte Allenby plötzlich. Er beugte sich vor und entfernte die Elektroden. »Warten Sie jetzt ein wenig, Lucy.« Er schwieg, aber seine Gedanken drangen nun auf Lucy ein. Bewege die rechte Handy Lucy! Bewege die rechte Hand! Keiner der Telepathen warf einen Blick auf Lucys rechte Hand. Sie durfte keinen Hinweis erhalten. Lucy rührte sich nicht. Ihr Inneres erinnerte Cody mit einem Mal erschreckend an Jasper Horne. Auch bei ihm hatte er die
Schranken gefühlt. Angst stieg in ihm hoch. Bewege die rechte Hand! Keine Reaktion. Versuch es mit einem anderen Befehl, schlug jemand vor. Lucy – steh auf! Steh auf! Sie rührte sich nicht. Vielleicht dauert es eine Zeitlang, meinte ein Telepath verzweifelt. Vielleicht, erwiderte Allenby, aber wir versuchen es jetzt mit der nächsten Testperson. »So, Lucy«, sagte Cody. »Komm zu mir. Wir machen den nächsten Versuch.« »Hat es nicht geklappt?« fragte sie. Sie trat vor ihn und starrte ihm in die Augen, als wollte sie die telepathische Verbindung erzwingen. »Wir wissen es noch nicht«, sagte er. »Achte auf June!« June Barton hatte auf dem Stuhl Platz genommen. Sie zuckte ein wenig zusammen, als die Elektroden angelegt wurden. Unbehagen beschlich Cody. Zum erstenmal seit seinem Erwachen dachte er an Jasper Horne. Wenn der Induktor versagte, stellte sich das gleiche Problem wie vorher. Operation Apokalypse. Kein Mensch konnte die Verantwortung ertragen. Das Ende alles Fleisches … Rasch wandte er sich anderen Dingen zu. Panik stieg in ihm hoch, während er mit einem Arm Lucy fest an sich drückte. {Mußte er sie töten – sie und das Kind? Vielleicht kam es nicht dazu. Nicht darüber nachdenken!) Er suchte nach einem Thema, das ihn von seiner Angst ablenken konnte. Der Induktor, fragte er aufs Geratewohl. Auf welcher Theorie beruht er? Wie funktioniert er? Kunashi sprang in die Bresche. Kunashi war Physiker. Und auch in seinen Gedanken schwang Angst mit, denn er war wie Cody mit einer Nicht-Telepathin verheiratet. »Du erinnerst dich an die Zeit, als wir dem Rechner unser Problem stellten?«
(June Barton wurden die Elektroden abgenommen.) »Wir sammelten alle Daten, deren wir habhaft werden konnten, um sie in den Rechner einzuspeisen. Wir lasen die Gedanken sämtlicher Wissenschaftler und kodierten die Erkenntnisse, die uns von Bedeutung erschienen. Nun, einige der Informationen stammten damals auch von Pomerance. Er hatte seine Theorie noch nicht sehr weit entwickelt, aber der Schlüsselgedanke existierte bereits – die Hypothese, durch Resonanz eine Mutation der Nukleoproteide hervorzurufen. Der Rechner kombinierte das mit anderen Daten und übermittelte uns die einfachste Lösung – das Virus. Er besaß nicht die nötigen Informationen, um die Theorie mit dem Konzept des Induktors zu koppeln, obwohl beide auf dem gleichen Prinzip der Resonanz beruhen.« (Wieder hatte jemand auf dem Stuhl Platz genommen. Die Elektroden wurden angepaßt. Cody spürte die Mutlosigkeit und Verzweiflung der anderen.) Kunashi fuhr verbissen fort: »Pomerance ist Biochemiker. Er versuchte ein bestimmtes Virus – Typ A der Japanischen Encephalitis – in eine Bakteriophagenart zu mutieren.« Er unterbrach sich nervös, fuhr aber gleich darauf wieder fort: »Die Vermehrung eines Virus – oder Gens – steht im Zusammenhang mit der hohen inneren Resonanz; es ist ein Nukleoproteid. Theoretisch kann sich jedes Protein in jedes andere umwandeln. Aber die physikalische Wahrscheinlichkeit einer solchen Umwandlung hängt vom Resonanzfaktor der beiden Zustände ab – er ist beispielsweise sehr hoch für die Aminosäuren-Proteinkette und für den Benzolring.« (Kunashis Frau hatte auf dem Stuhl Platz genommen.) »Eine wichtige Rolle bei der Umwandlung oder Vermehrung spielt auch die chemische Zusammensetzung der Proteine. Sie dürfte übrigens der Grund dafür sein, daß Telepathen Immunität gegenüber dem Apokalypse-Virus besitzen. Unsere Immunität
ist angeboren. (Wird es klappen? Wird es klappen?) Das Nukleoproteid dieses Virus muß eine hohe Affinität zu gewissen, stark schwingenden Partikeln im Zentralnervensystem der Nicht-Telepathen aufweisen. Solche Partikel sind im allgemeinen die besten Informationsspeicher. Das Virus greift also vermutlich die Informationszentrale des nicht-telepathischen Gehirns an. Die Affinität hängt vom Resonanzdifferential ab – und Pomerances Experimente zielten darauf ab, dieses Differential zu ändern. Eine solche Methode ermöglicht es, Virusarten zu mutieren. Und sie kann dazu verwendet werden, Telepathie zu wecken. Die Telepathie hat ihren Ursprung in der hohen Resonanz der Nukleoproteide innerhalb des Gehirns und –« Kunashi unterbrach sich. Seiner Frau wurden die Elektroden abgenommen, und im Innern des Physikers machte sich Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit breit. Cody versuchte ihn zu trösten, denn er verstand die Gefühle des Mannes nur zu gut. Kunashi trat auf seine Frau zu und unterhielt sich leise mit ihr. Plötzlich sagte Lucy: »Ich versuche es noch einmal.« »Glaubst du …« begann Cody, aber er wußte sofort, daß keine Änderung eingetreten war. Die Barriere in ihrem Innern hatte sich nicht gelöst. Dennoch nickte ihm Allenby zu. »Weshalb nicht? Diesmal lassen wir den Strom länger eingeschaltet. Keine Angst, wir gehen kein Risiko ein.« Cody nahm wieder das Baby, und Lucy wurden die Elektroden angelegt. »Später lassen sich die Dinger in einem Miniaturgerät zusammenfassen und – fertig, Lucy?« Wieder versuchten sie Lucys Barriere zu durchbrechen. Wieder spürte Cody Schranken, die ihn schwach an Jasper Horne erinnerten. Aber Lucy war nicht paranoid!
Dennoch brachte der Versuch nichts ein. Die Theorie von Pomerance war in allen Details geprüft und für richtig befunden worden – aber den letzten Beweis blieb sie schuldig. Und ohne diesen Beweis konnte man die Verfolgungsjagd nicht aufhalten. Sie ist nicht paranoid! dachte Cody. Das Baby in seinem Arm bewegte sich. Er tastete das winzige Bewußtsein ab und entdeckte nichts von Jasper Horne. Das Baby, dachte Allenby plötzlich. Nehmen wir das Baby! Fragen drangen auf den Psychologen ein. Aber er beantwortete sie nicht. Er wußte die Antwort nicht. Er hatte eine Ahnung, sonst nichts. Nehmen wir das Baby! Allenby schaltete den Strom aus und entfernte die Elektroden von Lucys Kopf. Vorsichtig legte man das Kind auf den Stuhl. Es war in Decken gewickelt. Ganz sanft befestigte man die Elektroden. Das Baby schlief. Einschalten, befahl Allenby. Seine Gedanken tasteten sich zu dem Kind vor. Es schlief weiter. Die endgültige Niederlage, dachte Cody. Telepathen und Nicht-Telepathen besaßen keine Gemeinsamkeiten. Die Barriere ließ sich nie umwerfen. Ein Friedensschluß zwischen den beiden Rassen war undenkbar. Die Hexenjagd konnte nicht mehr aufgehalten werden. Die Paranoiker behielten recht. Telepathen konnten nicht Seite an Seite mit Nicht-Telepathen leben. Und plötzlich detonierte in Codys Gehirn eine Bombe. Der Donner erschütterte die ganze Welt. Das Baby auf dem Stuhl rührte sich, öffnete die Augen und begann zu schreien. In dem winzigen Geschöpf keimte nebelhaft die Urfurcht aller Menschen auf – das Gefühl, hilflos durch den Raum zu fallen. Zum erstenmal in der Geschichte war Telepathie künstlich erzeugt worden.
Cody saß allein vor dem Kontrollpaneel des Rechners. In Kürze sollte über sämtliche Bildschirme des Landes der Appell der Telepathen laufen. Man bot als Friedensgabe den Induktor an, aber unter einer Bedingung – nur Kinder konnten ihn benutzen. Die Entscheidung lag bei der Menschheit. Wenn sie gewillt war, auf den Vorschlag einzugehen, dann würde die Verfolgung der Telepathen ein Ende nehmen. Aber wenn sie ihn ablehnte – dann würde Cody auf einen bestimmten Knopf des Kontrollpaneels drücken und die Operation Apokalypse auslösen. In sechs Stunden war das Virus fertig. In einer oder zwei Wochen mußten neunzig Prozent der Bevölkerung sterben. Vielleicht ging die Hexenjagd bis zum letzten Moment weiter, aber die Telepathen hatten viele Schlupfwinkel, und sie mußten sich nicht lange verbergen. Die Entscheidung lag bei der Menschheit … Allenby trat ein. »Wie wird die Sache ausgehen?« fragte Cody. »Ich weiß nicht. Es hängt vom Egoismus ab – der ja auch eine Art von Paranoia ist. Vielleicht hat der Mensch gelernt, sozial zu denken. Vielleicht nicht. Wir werden es bald erfahren.« »Ja – bald. Mit der Bombe hat alles angefangen …« »Nein, viel früher«, widersprach Allenby. »Es begann, als die Menschen sich dazu entschlossen, in Gruppen zu leben. Diese Gruppen dehnten sich aus, wurden immer größer – aber die endgültige Vereinigung kam nicht zustande, weil die Bombe einschlug. Danach zerfiel alles. Das war die falsche Reaktion. Die Wälle, die der Mensch zwischen sich und seinen Nachbarn errichtete, wurden immer unüberwindlicher. Furcht und Mißtrauen waren die beherrschenden Faktoren. Und das mußte zu Aggressionen führen. Aber das Gewissen einer Gesellschaft, die in Furcht aufgewachsen war, unterdrückte diese Aggressionen. Deshalb kann heutzutage kein
Erwachsener telepathische Gedanken empfangen – deshalb versagten Lucy und die anderen.« »Sie – wird es nie schaffen?« »Nie«, erklärte Allenby ruhig. »Im Grunde ist es Hysterie, die zu diesem Versagen führt. Nicht-Telepathen wissen nicht, was andere Menschen denken, aber sie glauben es zu wissen. Sie projizieren ihre eigenen angestauten Aggressionen in ihre Mitmenschen; unterbewußt haben sie das Gefühl, daß jedes andere Wesen ein potentieller Feind ist – und so wagen sie den Sprung zum Telepathentum nicht. Die unterbewußte Furcht läßt sich nicht überbrücken.« »Aber die Kinder –« »Solange sie noch jung genug sind wie dein Sohn, gibt es kein Hindernis. Die Erziehung hat noch nicht eingesetzt. Sie sind unverbildet. Keine Mauern engen sie ein.« »Und die Paranoiker?« fragte Cody nach einer Pause. »Sie waren schon als Kinder Telepathen. Was ist mit ihnen geschehen?« Allenby schüttelte den Kopf. »Darauf weiß ich noch keine Antwort, Jeff. Vielleicht ist es eine erblich bedingte Fehlfunktion. Aber das spielt jetzt keine Rolle; sie sind eine Minderheit unter den Telepathen – eine sehr kleine Minderheit. Sie konnten uns nur gefährlich werden, weil wir eine Minderheit gegenüber den Nicht-Telepathen darstellten und man uns gern als Sündenbock mißbrauchte. Aber das nimmt ein Ende, wenn –« »Wenn unser Angebot akzeptiert wird. Wenn nicht … wenn die Verfolgungsjagd weitergeht – dann trage ich immer noch die Verantwortung für Operation Apokalypse.« »Trägst du die Verantwortung?« fragte Allenby. »Tragen wir sie? Die Nicht-Telepathen können sich frei entscheiden.« »Die Übertragung beginnt«, sagte Cody. »Ich frage mich, wie viele unsere Botschaft hören werden.«
Der Mob, der durch die Straßen von Easterday tobte, angeführt von einem Paranoiker, sammelte sich vor einem stattlichen Haus mit breiter Veranda. Der Mob begann zu brüllen, als die Männer auf die Veranda traten. Aber der Paranoiker zögerte. Nicht so der Mann neben ihm. Fluchend rannte er vorwärts. Ein scharfer Knall, und zu seinen Füßen stieg eine Staubfontäne auf. »Sie haben Waffen!« schrie jemand. »Holt sie euch!« »Lyncht sie!« Der Mob drängte vorwärts. Wieder krachte ein Gewehr. Der Anführer – nicht der Paranoiker, sondern der scheinbare Anführer – stürzte und griff sich ans Bein. Auf der Veranda trat ein Mann vor. »Verschwindet von hier!« rief er scharf. »Aber rasch!« Der Anführer starrte ihn verblüfft an. »Doc!« sagte er. »Aber Sie sind doch keiner von diesen Kahlköpfen! Was machen Sie hier?« Der Doktor senkte das Gewehr nicht. »Eine Menge von uns sind keine Kahlköpfe«, sagte er und deutete auf die Männer, die grimmig die Veranda verteidigten. Der Mob mußte erkennen, daß jeder Telepath von entschlossenen Nicht-Telepathen flankiert wurde. Aber ihre Zahl reichte nicht aus. Das erkannte auch der Anführer. Er stand auf, untersuchte kurz die Fleischwunde im Bein und warf einen Blick über seine Schulter. »Die schnappen wir uns!« rief er. »Zehn von uns gegen einen von ihnen. Laßt keinen laufen!« Er stürmte los. Und er starb als erster. Auf der Veranda zuckte ein schmaler Mann mit Brille und einem dünnen Schnurrbart zusammen. Aber er wich nicht von seinem Platz. Der Mob zog sich zurück.
»Wie lange können Sie einer Belagerung standhalten, Doc?« rief jemand. Der Tote lag zwischen den beiden Gruppen auf dem Boden. Es herrschte drückende Hitze. Die Sonne wanderte unmerklich nach Westen. Der Mob drängte sich dichter zusammen. Dann leuchtete ein Bildschirm im Haus auf, und Allenbys Stimme sprach zu den Nicht-Telepathen. Die Botschaft war vorüber. Telepathen durchforschten die Gedanken ihrer Mitmenschen. Ihnen blieb nichts verborgen. Sie registrierten die echten Wünsche der Nicht-Telepathen und verglichen sie miteinander. Jeden Moment mußte die Entscheidung fallen. Jeff Cody saß allein vor dem Elektronenrechner und wartete auf die Antwort. Es konnte für vernünftige Menschen nur eine Antwort geben. Der Induktor würde zu neuen Ufern führen, neue Welten erschließen. Aber den Erwachsenen blieb dieses Paradies versperrt. Nur ihre Kinder konnten es erobern. Es konnte nur eine Antwort geben. Cody warf einen Blick auf das Kontrollpaneel. Denn die Erde ist voller Frevel von ihnen. O doch, auch die andere Antwort war möglich. Und wenn die Menschen sie wählten – das Ende alles Fleisches ist bei mir beschlossen. Ich will sie verderben mit der Erde. Codys Gedanken eilten voraus. Er sah, wie sein Finger auf den Knopf drückte, sah, wie Operation Apokalypse die Erde mit einer neuen Sintflut überschwemmte, sah, wie die Menschenrasse von den Vernichtungswogen weggespült wurde, bis nur noch die Telepathen am Leben waren. Er erinnerte sich an das Gefühl der entsetzlichen Leere, das ein Telepath empfindet, wenn ein Bruder stirbt. Und er wußte,
daß kein Telepath sein Inneres vor dem apokalyptischen Mord verschließen konnte. Die Wunde würde niemals heilen, denn in einer telepathischen Rasse schwächen sich die Erinnerungen nicht ab. Sie werden von einer Generation an die andere weitergereicht. Hundert Millionen Jahre konnten vergehen, und die alte Wunde würde immer noch brennen. Operation Apokalypse bedeutete auch für die Telepathen die Vernichtung. Die Schmerzen und das Schuldgefühl würde sie erdrücken. Plötzlich bewegte sich Cody. Sein Finger drückte auf einen Knopf. Sofort begann der Monitor zu arbeiten. Ein Summen, das sofort wieder verstummte. Ein Licht flammte auf und darunter eine Zahl. Cody drückte auf einen anderen Knopf. Die unfehlbaren Selektoren durchsuchten den Rechner nach dem winzigen Kristall, der den Kode für Operation Apokalypse enthielt. Der Kristall war bereit. Tausend Gehirne, die Codys Gedankengang mitverfolgt hatten, sprachen auf ihn ein. Er wartete einen Moment und erfuhr, daß die Menschheit sich noch nicht entschieden hatte. Die Stimmen in seinem Innern wurden zu einem erregten Schreien. Aber die letzte Entscheidung lag weder bei ihnen noch bei der Menschheit. Sie lag ganz allein bei ihm, und er wartete nicht mehr. Seine Hand umkrampfte den kühlen, glatten Kunststoffhebel und drückte ihn nach unten. Auf dem winzigen ferroelektrischen Kristall erloschen die Energiesymbole. Operation Apokalypse existierte nicht mehr. Immer noch tasteten Codys Finger über das Kontrollpaneel. Er löschte die Gedächtnisspeicher der riesigen Maschine. Die Daten gaben ihre Energie zurück an das endlose Universum
und verloren sich da. Endlich war das Elektronengehirn völlig leer. Es gab keine Möglichkeit, die Apokalypse zu wiederholen – dazu reichte die Zeit nicht aus. Cody konnte nichts mehr tun. Er mußte warten. Die anderen Telepathen nahmen Verbindung mit ihm auf, vereinten sich zu einem Gedankennetz, das die ganze Erde umspannte. Sie verurteilten nicht. Sie verstanden ihn, und er war ein Teil ihrer Gemeinschaft, die mit vereintem Mut und vereinter Kraft auf die Entscheidung der Menschheit wartete.
Originaltitel: HUMPTY DUMPTY. Copyright © 1953 by Street & Smith Publikations, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION September 1953. Übersetzt von Birgit Reß-Bohusch.
Ross Rocklynne TÖDLICHE VERWECHSLUNG
Die Wesen vom System der Sonne Procyon sahen schon auf den ersten Blick, daß der Planet Erde tot und unbewohnbar war. Tot deshalb, weil er Leben geboren hatte und nun – wenn auch nur indirekt – für seine völlige Auslöschung verantwortlich war. »Diese Art Welten stimmen mich immer traurig«, murmelte Tark, indem er zerstreut die bunten Federn seiner rechten Schwinge glättete. »Die dunklen, unfruchtbaren Welten, auf denen sich weder Leben regt noch jemals regen wird, kann ich ertragen. Aber solche, über die eine kosmische Katastrophe hereingebrochen ist – ich muß dann immer daran denken, was ihre Bewohner hätten alles noch leisten können, wenn sie dazu in der Lage gewesen wären.« Während er sprach, trug er Position und Aussehen des Planeten in sein Logbuch ein. Seine Gefährtin Vascar nickte nur und betätigte mit ihren krallenartigen Händen die Steuerung, um das kugelförmige Raumschiff mit ständig abnehmender Geschwindigkeit auf den dritten Planeten des Systems Sol zuzulenken. 2000 Kilometer über der Oberfläche legte sich das Schiff auf eine Kreisbahn und beobachtete das Bild unter sich. Tark schrieb immer noch. Seine Angaben würden bei ihrer Rückkehr einen Platz in den Archiven der Forschungsinstitute finden. Vascar sah mit ihren glänzenden, liderlosen Vogelaugen durch die Transparentscheibe über der Instrumententafel und sagte nachdenklich:
»Ein riesiger Meteor muß mit diesem Planeten zusammengestoßen sein – vielleicht ein aus seiner Bahn geratener Asteroid. Sieh dir nur diese großen Risse an, die von Pol zu Pol laufen! Auch Vulkanausbrüche sind noch zu bemerken. Die Kruste muß sich regelrecht geöffnet haben. Nein, Tark, hier wird es kaum noch Leben geben – außer vielleicht in jenem Grünstreifen, den wir bei unserer ersten Annäherung bemerkt haben.« Tark nickte. Er war ein richtiger großer Vogel. Seine Rasse hatte auf dem Planeten Alcon – 11,5 Lichtjahre von der Sonne entfernt – das Rennen um die Vorherrschaft gewonnen. Seine Flügel waren kurz – und in weiteren 1000 Jahren würde man kaum noch mit ihnen fliegen können, es sei denn in sehr dichter Atmosphäre. In seinen großen Augen lag Intelligenz und Wohlwollen. Zusammen mit Vascar hatte er seinen Heimatplaneten schon vor vielen Jahren verlassen, um die Sonnensysteme ihrer Umgebung zu erforschen. Die Entdeckung eines bewohnten Planeten war ihr erhabenstes Ziel – um so trauriger stimmte es sie, eine ausgestorbene Welt wie diese vorzufinden. Das Schiff beschrieb seine Kreisbahn um den Planeten Erde. Dieser bestand aus einem wirren Durcheinander von aufgebrochenen Bergketten, grundlosen und beängstigenden Spalten von unabsehbarer Länge, aus denen giftige Dämpfe stiegen. Vulkane, die Feuer und glühende Lava weit hinauf in den Himmel schleuderten, gab es fast überall. Die Meere waren aus ihrem Bett gedrängt worden und hatten sich in eine gesättigte Wasserdampfatmosphäre verwandelt. Von Leben keine Spur – außer dem grünen Streifen, der etwa 1000 Kilometer lang und 100 Kilometer breit sein mochte. »Ich glaube nicht, daß wir intelligentes Leben finden werden«, befürchtete Tark. »Die Katastrophe ist zu schnell über diese Welt hereingebrochen. Es würde mich nicht
überraschen, wenn sich ihre Rotationsgeschwindigkeit sogar verlangsamt hätte. Nein, ich halte es für fast unmöglich, daß irgendwelche Lebewesen diesem Chaos entronnen sind – vielleicht nur Pflanzen.« Vascar erinnerte ihn vorwurfsvoll: »Pflanzen auf jeden Fall – und wo es Vegetation gibt, wird es auch Tierleben geben.« Tark plusterte sich auf und zuckte mit den Schwingen. »Ich möchte das bezweifeln. Die Pflanzen erhalten das Kohlendioxyd, das sie zum Atmen benötigen, von den Vulkanen. Tiere sind dazu nicht notwendig. Trotzdem möchte ich, daß wir uns dort unten einmal umsehen. Ich hoffe immer, daß wir doch noch intelligentes Leben finden. Sollte das der Fall sein, so bin ich davon überzeugt, daß ihm unsere Hilfe sehr gelegen kommen wird. Damit hätten wir dann die Möglichkeit, einen der Hauptzwecke unserer Expedition zu erfüllen: nämlich Hilfe zu gewähren, wo immer es nötig sein sollte.« Vascar betätigte erneut mit ihren Krallen die Steuerung und lenkte das Schiff hinab auf den grünen Vegetationsstreifen. Aus dem Unterholz sprang ein Kaninchen. Tommy schnellte mit der Gewandtheit eines wilden Tieres darauf zu und packte mit kräftigen Händen das erschreckte Geschöpf. Er tötete es, zog das Fell ab und verschlang kurz darauf das rohe, rauchende Fleisch. Von irgendwo aus dem Himmel kam Blacky, die schwarze Krähe, herabgefallen und setzte sich auf die Schulter des letzten Menschen. Der Vogel war zahm und schien auf der Schulter sofort einzuschlafen. Die Ruhe des Waldes, nur von dem Piepsen und Rascheln der Vögel und kleineren Tiere unterbrochen, hüllte Tommy ein. Er begann zu denken und entsann sich der alten Zeiten, da es noch viele Menschen auf der Erde gab, mindestens aber hundert. Zwei von ihnen standen ihm besonders nahe, und er nannte sie »Vater« und »Mutter«.
Sie hatten ihn immer »Tommy« gerufen, daher wußte er, daß er so hieß. Aber Vater und Mutter waren schon lange nicht mehr. Eines Nachts war er von dem Beben der Erde geweckt worden. Erschreckt war er zusammen mit seinem Freund Blacky aus der schützenden Höhle gekrochen und fortgelaufen. Hinter ihm blieben nur Trümmer, Rauch und Zerstörung. Er hatte keinen seiner Angehörigen wiedergesehen; denn in der nahen Stadt fand er nur Tote, die unter Schutt und Asche begraben worden waren. Um selbst nicht zu verhungern und zu sterben, wanderte er weiter durch die Steppe und die übriggebliebenen Wälder, die für ihn die Welt darstellten. Er aß, trank, schlief und hatte nur einen einzigen Gefährten: Blacky, die zahme Krähe. Das Tier war schlau, es konnte alle Worte nachsprechen, die Tommy kannte. Ja, eigentlich kannte es noch viel mehr Wörter als Tommy; denn es hatte vorher schon einen anderen Herrn gehabt. Tommy war glücklich und zufrieden – bis vor einigen Monaten. Eine merkwürdige und nicht definierbare Sehnsucht hatte sich seiner bemächtigt – und er wußte nicht, daß es das Verlangen nach einem Menschen war. Die ewige Einsamkeit zermürbte ihn, aber er hatte keine Ahnung, was Einsamkeit war, da er vergessen hatte, was es mit der Geselligkeit auf sich hatte. Er setzte sich oft auf einen Stein und überlegte. Was wollte er denn? War er nicht glücklich und zufrieden? Gehörte nicht die ganze Welt ihm allein? Im Winter ging er nach Süden, im Sommer nach Norden. Er ernährte sich von Beeren und kleinen Tieren und hatte Blacky, mit dem er reden konnte. Sehr oft weinte er, obwohl er sich entsann, daß jenes Wesen, das er Mutter genannt hatte, damals gesagt hatte: »Ein Mann darf nicht weinen! Es wird alles wieder gut, Tommy.« Er sprach diese Worte sehr oft vor sich hin, und Blacky gab ihm dann recht.
»Es wird alles wieder gut!« krächzte er laut und schlug mit den Flügeln. »Sogar die Weizenpreise werden fallen!« Ja, Blacky war eine schlaue Krähe. Nicht nur, daß sie die Worte Tommys nachsprechen konnte; des öfteren schien sie sogar zu ahnen, was Tommy sagen wollte – und sagte es noch vor ihm. Dann blieb Tommy eben nichts anderes übrig, als mit dem Kopf zu nicken – und Blackys Worte nachzureden. Und diese Zufälligkeit besiegelte das Schicksal der Erde. Tommy schluckte die letzten Reste des Kaninchenfleisches hinunter und warf das Fell weg. Bewegungslos saß er auf seinem Stein und starrte mit tränenerfüllten Augen in das Dickicht. Was hatte diese Sehnsucht nur zu bedeuten? Langsam richtete er sich auf und begann, durch die hohen Gräser weiterzuwandern. Er schüttelte den Kopf und wollte etwas sagen, als Blacky schon genau wußte, welche Worte kommen würden. »Es wird alles wieder gut!« krächzte er, und Tommy wiederholte ein wenig ärgerlich die Worte. Er wurde müde. Die Sonne ging unter. Bald würde es Nacht sein – und die unbekannte Sehnsucht verstärkte sich. Wie sinnlos doch sein Leben war, wenn er stets allein und ohne einen anderen Menschen durch die Welt lief, die ihm gehörte. War er der letzte Mensch auf dieser Welt? Er wußte es nicht. Seine nackten Füße stießen gegen etwas Feuchtes. Er blieb stehen und schaute auf den Boden. Dann bückte er sich jäh und hob etwas auf. Fassungslos starrte er auf seinen Fund: ein frisch abgezogenes Kaninchenfell! Er wußte genau, daß er dieses Tier nicht erlegt hatte. Wer aber konnte es getan haben? Jemand anders? Es gab doch keinen anderen außer ihm – oder vielleicht doch? Er ließ das Fell fallen und untersuchte den Boden. Eine Fußspur! Er begann leicht zu beben. Es war die Spur eines Menschen!
Sicher, es war eine kleine Spur, ein geradezu winziger Abdruck – aber es war und blieb die Spur eines Menschen. Er blickte auf und beobachtete das Gebüsch vor sich. Es war ihm, als habe er dort ein leises Rascheln vernommen. Das Gefühl, von einem Augenpaar angestarrt zu werden, bemächtigte sich seiner mit unwiderstehlicher Gewalt. »Ruhig, Blacky!« flüsterte er dem Vogel zu. »Ruhig!« »Ruhig, Blacky!« schrie die Krähe laut und schwieg dann. Aber sie schwieg zu spät. Erschreckt von dem Lärm war in den Sträuchern eine Gestalt aufgesprungen und jagte mit schnellen, weiten Sätzen davon. Tommy kümmerte sich nicht um Blacky, sondern raste hinter dem Flüchtenden her. Ganz deutlich hatte er gesehen: es war ein Mensch – aber ein Mensch, der irgendwie anders war als er selbst. Der Vorsprung des Verfolgten wurde ständig größer, und bald hatte Tommy ihn aus den Augen verloren. Wütend blieb er stehen und warf dann mit einem Fluch einen Stein nach dem heranflatternden Blacky. Der krächzte schrill auf, als eine Feder langsam zum Waldboden herabsegelte. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst deinen Schnabel halten!« rief Tommy und fühlte eine grenzenlose Enttäuschung. Er ließ sich auf einem Baumstamm nieder und stützte sein Kinn in die Hände. Wieder war in ihm die rastlose Sehnsucht – und er wußte jetzt auch, was das war. Jener Mensch, der da vor ihm davongelaufen war, war ein Mädchen gewesen – ganz bestimmt das letzte Mädchen, das es auf der Erde gab. Und er selbst war der letzte Mann. Wie ein Schatten kam Blacky herangeschwebt und setzte sich auf Tommys Schulter. Tommy blickte ihn traurig an und sagte: »Es war alles nur deine Schuld, Blacky!« »Nur deine Schuld, Blacky!« bestätigte der Vogel und fügte hinzu: »Ich könnte dir eine knallen, Tommy!« Das hatte er von Tommys Vater gehört und behalten. Tommy sprang plötzlich
unvermittelt auf, so daß Blacky flatternd nach einem Halt suchte. Er ballte die Hände und fühlte eine unbändige Tatenlust. Diese Gestalt, dieses Mädchen – er mußte sie finden! Sie war genauso allein wie er – und dabei gehörten sie zusammen! Warum hatte sie nur Angst vor ihm? »Ein Mädchen!« flüsterte er. »Blacky! Das war ein Mädchen!« Der Gedanke an sich war so neu, daß er ihn kaum zu fassen vermochte. Seine Brust hob und senkte sich unter seinen Atemzügen, und in seine Augen kam ein neues Licht. Wie leer doch sein Leben bisher gewesen war. Langsam ließ er sich wieder auf den Boden sinken, legte das Gesicht auf die Arme und versuchte einzuschlafen. Blacky setzte sich auf einen Ast. Er hatte nicht die gleichen Sorgen wie Tommy, obwohl es auf der Erde auch keine Krähen mehr gab. Wenigstens hatten sie beide seit der Katastrophe keine mehr gesehen. Aber Blacky hatte sich mit seinem Schicksal abgefunden. In geringer Höhe überflog das kugelförmige Raumschiff den Vegetationsstreifen. Während Vascar steuerte, beobachtete Tark aufmerksam die unter ihnen dahingleitende Fläche. Sie entdeckten nichts, was man als intelligentes Lebewesen hätte bezeichnen können. Kaninchen, Ratten, Waschbären, Ottern und Rehe waren Tiere. Allerdings gab es Insekten, aber sie stellten bald fest, daß auch diese Form des Lebens sich lediglich mit dem Instinkt behalf. Von Intelligenz keine Spur. »Es sieht ganz so aus, als hätten gerade die intelligenten Wesen – falls es solche hier gegeben haben sollte – die Katastrophe nicht überlebt. Lange zurück kann der Zeitpunkt dieses Geschehnisses nicht liegen, denn der Wald ist noch zu jung.« »Du hast recht, Tark«, erwiderte Vascar. »Wie wäre es, wenn wir eine mehrtägige Ruhepause einlegten?«
»Warum nicht?« »Die Atmosphäre wird dicht genug zum Fliegen sein«, fuhr Vascar fort. »Ich freue mich so auf das Fliegen! Und vielleicht finden wir doch noch ein intelligentes Wesen, mit dem wir uns unterhalten können.« Er lachte auf, und es klang wie ein Trillern. »Als ob wir nicht unser ganzes Leben lang flögen! Und was das intelligente Lebewesen betrifft – ich glaube kaum noch daran.« Fünf Tage lang verfolgte Tommy die Spur des Mädchens. Er wußte jetzt genau, daß es ein Mädchen war – sicherlich das letzte, das es gab. Er wußte und fühlte, daß er sie finden müsse, aber er wußte nicht genau, warum eigentlich. Woher hätte er wissen sollen, daß es einen Fortpflanzungstrieb gab? Sie floh vor ihm – aber sie blieb stets nahe genug, so daß er sie niemals ganz aus den Augen verlor. Diese Tatsache erfüllte ihn mit einem freudigen Gefühl, obwohl er sie nicht verstand. Einmal – des Nachts – hatte er plötzlich das Gefühl, daß sie ganz in der Nähe war und ihn beobachtete. Vielleicht sehnte sie sich auch nach ihm, hatte nur Angst, zu ihm zu kommen. Und einige Tage danach – am hellichten Tag – jagte ihm ein seltsames Erlebnis einen furchtbaren Schrecken ein. Hoch über ihm in der Luft war plötzlich ein Heulen, und als er aufblickte, gewahrte er einen kugelrunden Gegenstand, der langsam über die Wipfel der Bäume dahinglitt. »Was mag das sein?« fragte Blacky, der Tommys Worte ahnte. »Was mag das sein?« wiederholte Tommy unwillkürlich. Er schaute hinter dem merkwürdigen Flugkörper her, bis er seinen Blicken entschwunden war. Dann aber setzte er seinen Weg mit der Unbekümmertheit eines naturverbundenen Wilden fort. Kurz darauf hatte er den Vorfall vergessen. »Sieh dich vor!« krächzte der Vogel. »Sieh dich vor!« warnte Tommy sich selbst. Die Krähe wußte fast immer, was er sagen wollte. Sie kannten sich schon zu
lange. Der Fluß vor ihnen war breit und voller Schaum und Schlamm. Tommy stand am Ufer und sah auf die schmutzigen Wellen. Dann erblickte er sie. »Da ist es!« schrie er. »Da ist das Mädchen! Es wird ertrinken!« Er hatte keine Zeit mehr, lange zu überlegen. Mit einem Sprung stürzte er sich in die Fluten, und Blacky entging nur mit Mühe einem Bad. Die Krähe flog auf und flatterte aufgeregt über ihrem Herrn, der mit kräftigen Bewegungen durch das aufgewühlte Wasser schwamm, auf das Mädchen zu, das dem anderen Ufer entgegenstrebte. Vielleicht hätte er es noch erreicht – vielleicht auch nicht. Er bemerkte nicht den heranschießenden Baumstamm, spürte nur den harten Schlag gegen den Kopf und verlor das Bewußtsein. Noch während er sank, vermeinte er in seinen Haaren eine Hand zu spüren, die ihn fest und kräftig wieder nach oben riß. Als er aufwachte, lag er auf dem Rücken und sah ihr ins Gesicht. Sie mußte ihn längere Zeit beobachtet haben, denn ihre Wangen wurden rot. Langsam erhob er sich und stand schwankend auf. Er blickte sie mit leuchtenden Augen an – ja, das war es, wonach er sich so lange gesehnt hatte! Vorsichtig machte er einen Schritt auf sie zu. In dieser Sekunde kam Blacky herangeflogen und ließ sich auf seiner Schulter nieder. Das Mädchen zuckte erschreckt zusammen, machte kehrt und war mit einem Satz in den Büschen verschwunden. Tommy setzte ihr mit großen, federnden Sprüngen nach, aber sein Fuß verfing sich in einer Baumwurzel, und er fiel zu Boden. Das Rascheln des Laubes und das Knacken der Äste verlor sich in der Ferne. Er stand auf. Obwohl er irgendwie wütend auf Blacky war, wußte er, daß er nicht enttäuscht war. Er würde sie wiederfinden – und dann würde er dafür sorgen, daß sie nicht mehr weglief.
Die Luft des Planeten Erde war über dem Grünstreifen frisch und erinnerte an die Atmosphäre ihres eigenen Planeten. Vascar plusterte ihr buntes Gefieder auf und spannte die Schwingen. Tark sah ihr zu, als sie einige trippelnde Schritte machte, um sich dann in die Höhe zu schwingen. Sie kreiste über ihm und zog einige gewagte Schleifen. »Komm herauf, Tark! Es ist wundervoll!« »Na schön«, willigte er ein. »Aber ich hole doch lieber eine Waffe.« »Ich wüßte nicht, wozu wir die gebrauchen sollten?« meinte Vascar, wartete aber, bis Tark zu ihr kam. Um ihren schlanken Vogelhals hatten die beiden Wesen eine Art Gürtel gehängt, in der ein glänzender Gegenstand steckte. Die Waffe! »Ich möchte die Hoffnung nicht aufgeben, daß wir doch noch intelligentes Leben entdecken«, sagte Vascar. »Es wäre schade um den Planeten. Wenn die Vulkane erst einmal ihre Tätigkeit einstellen, wird sich die Pflanzenwelt noch mehr ausdehnen – und Tiere werden sich weiter entwickeln.« »Sollen wir hier bleiben und den Planeten kolonisieren?« »Ohne mich! Alcon gefällt mir besser! Aber – oh! Sieh doch! Dort unten läuft ein seltsames Tier!« Tark sah hinunter und erblickte ein mittelgroßes Tier, das über eine Lichtung lief. Er flog etwas tiefer, kam aber gleich wieder hinauf zu Vascar. »Es ist nichts«, berichtete er. »Nur ein Tier, etwas größer als die anderen, die wir gesehen haben. Bestimmt das letzte seiner Art. Es ist nicht schön, denn man kann seine Haut sehen. Nein, es ist sogar häßlich und – ah – jetzt sehe ich, was du gemeint hast, Vascar!« Diesmal war er wirklich interessiert und schwebte hinunter. Eine seltsame Erregung pochte in seinen Adern. Würde ihr Wunsch doch noch in Erfüllung gehen?
Den beiden Vogelwesen aus einer anderen Welt bot sich ein merkwürdiger Anblick. Langsam und geräuschlos schwebten sie nun über dem fast nackten, Tier, das aufrecht gehend durch den lichten Wald eilte. Ein schwarzes, kleines Wesen – ihnen selbst nicht unähnlich – hockte auf der Schulter des Tieres. »Es muß Intelligenz besitzen!« flüsterte Vascar, und in ihren Augen leuchtete es auf. »Intelligente Wesen machen sich immer Tiere niederer Entwicklungsstufen dienstbar. Als Last-, Reit- oder Zugtiere. Dort siehst du es ja!« »Keine voreiligen Schlüsse!« warnte Tark. »Es kann ja auch umgekehrt sein. Vielleicht hält das schwarze Wesen, das uns so ähnlich sieht, die Haare des aufrecht gehenden Tieres frei von Ungeziefer – dann wäre also das Dienstverhältnis ganz anders, als du es siehst.« »Nein! Das glaube ich einfach nicht!« entrüstete sich Vascar. »Das Vogelwesen reitet auf der Schulter des nackten Tieres. Vielleicht kann es nicht mehr fliegen, weil es dieses Tier schon seit ewigen Zeiten als Beförderungsmittel benutzt. Nein, diese Tatsache weist unfehlbar auf Intelligenz hin. Da – Tark! Hast du gehört? Jetzt hat es sogar gesprochen! Ich habe es deutlich gehört. Und das Reittier hat geantwortet. Sicher ein Befehl – siehst du – das nackte Tier bleibt stehen! Da haben wir den Beweis der Intelligenz.« »Besonders musikalisch klingt die Stimme aber nicht – sie läßt sich eher mit einem Krächzen vergleichen.« Sie warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Was hast du denn nur, Tark?« fragte sie unmutig. »Es ist doch nur eine unserer Hauptregeln, die Intelligenz nicht unbedingt den Wesen zuzuschreiben, die uns am ähnlichsten sind, sondern allen eine gerechte Chance zu geben –« »Eben! Warum handelst du denn nicht nach dieser Regel?« Sie warf den Kopf zurück und flog davon.
Er folgte. Fast bewegungslos hingen sie fünf Minuten später über dem seltsamen Paar, das stehengeblieben war. Vascar horchte angestrengt nach weiteren Beweisen für die Intelligenz des schwarzen Vogels. Da hörte sie diesen ganz deutlich sagen: »Was nun, Blacky?« »Ja – was nun, Blacky?« wiederholte das federlose Tier. Vascar blickte Tark triumphierend an. »Na also! Da hast du den Beweis!« »Das weiße Tier hat anscheinend eine große Begabung, etwas Vorgesagtes nachzuahmen, aber ich würde trotzdem vorsichtig sein. Es ist nur natürlich, daß wir Verstand am liebsten dem Wesen zuschreiben möchten, das uns am ähnlichsten ist. Ich gebe zu, bisher weisen alle Anzeichen auf den Vogel hin, aber vielleicht irren wir uns.« Von unten kam wieder die Stimme des schwarzen Tieres. »Na, dann los, Blacky!« sagte es. »Dann los!« wiederholte das aufrecht gehende Lebewesen – und setzte sich in Bewegung. Vascar und Tark verstanden natürlich nicht den. Sinn der Worte, aber sie konnten ihn nun fast erraten. »Sieh nur«, machte Vascar ihren Gefährten aufmerksam, »wie das Reittier durch die Büsche schleicht. Das würde ein intelligentes Wesen niemals tun. Nein, es ist bestimmt wild und nur ein wenig gezähmt.« Sie flogen höher, um außer Hörweite zu sein. »Ich glaube, wir sollten versuchen, mit dem Vogel in Verbindung zu treten«, sagte sie. »Wir können ihm sicher helfen. Ganz bestimmt ist er der letzte seiner Art, sonst hätte er nicht Freundschaft mit diesem dummen, häßlichen Zweibeiner geschlossen.« Tark schüttelte seinen rotgefiederten Kopf. »Ich schlage vor, die beiden Wesen noch eine Zeitlang zu beobachten, denn es besteht die – wenn auch schwache – Möglichkeit, daß nicht das schwarze Vogeltier, sondern das
zweibeinige, federlose Wesen das intelligentere der beiden ist.« Aber Vascar hörte nicht auf ihn. Ihr ganzes Mitgefühl gehörte dem offensichtlich intelligenten Vogel, der auf Tommys Schulter ritt. Die beiden Vogelwesen von Alcon bemerkten vor lauter Aufregung nicht, daß hundert Meter vor ihnen ein weiteres Tier aufrecht gehend durch den Wald schlich. Dieses Tier war kleiner, anmutiger – aber zweifellos von der gleichen Art wie das federlose, weißhäutige Tier, auf dessen Schulter der schwarze Vogel saß. Unten schlich Tommy durch den Wald. Die Spur, die er verfolgte, war ganz frisch, und ab und zu konnte er das Knacken der Zweige vor sich vernehmen. In ihm war der Drang nach menschlicher Gesellschaft, und sein Instinkt sagte ihm vieles, was seine Erfahrung ihm verschwieg. Er und dieses Mädchen waren die letzten Menschen – und etwas in ihm sagte ihm, daß die Menschheit wieder neu entstehen würde, wenn er das Mädchen fände. Weiter pirschte er durch das dünne Unterholz. Blacky saß auf seiner Schulter, und über ihm schwebten die beiden farbenprächtigen Wesen aus einer anderen Welt. Doch davon ahnte er nichts. Nur die Krähe wurde unruhig. Ihre Halsfedern sträubten sich, und nervös flatterte sie mit den Flügeln. Am Rande einer Lichtung preßte sich Tommy gegen einen Baum. Nicht weit vor ihm stand sie. Sein Atem stockte, als er ihre zierliche, weiße Gestalt erblickte. Anscheinend war sie des Weiterlaufens müde, denn sie blickte ihm mit niedergeschlagenem und doch gespanntem Ausdruck entgegen. Alle ihre Glieder waren zur sofortigen Flucht gespannt, und die kleinste verdächtige Bewegung würde sie wie ein Reh davonschnellen lassen. Anscheinend wußte sie nicht genau, ob sie ihn fürchten müsse oder nicht. Weit oben in den Zweigen des Waldes ließen sich die beiden gefiederten Wesen nieder,
um die Szene auf der Lichtung in Ruhe beobachten zu können. Blacky mußte ihre Anwesenheit, die er nur ahnen konnte, als Bedrohung ihrer Sicherheit auffassen, denn er schlug plötzlich wild mit den Flügeln und begann heftig zu schreien. »Keinen Laut, Blacky!« rief die Krähe und schwang sich in die Luft. »Ich könnte dir eine knallen, Tommy!« Während Tommy starr vor Schreck dastand, drehte sich das Mädchen um und war mit wenigen Schritten im Unterholz verschwunden. Zum dritten Male hatte die Krähe sie verjagt. Mit unbändigem Zorn bückte sich Tommy und hob einige Steine auf. Er zielte und warf nach der aufgeregt hin und her fliegenden Krähe, die schrill aufkreischte. »Es ist nur deine Schuld, wenn sie davonläuft, Blacky!« schimpfte der Junge und hob den Arm, um den zweiten Stein zu werfen. Aber er vollendete die Bewegung nicht. Ein leises, scharfes Zischen zerriß die Luft, und Tommy stürzte, ohne einen Laut von sich zu geben, zu Boden. Nicht die leiseste Zuckung deutete an, daß er die verhängnisvolle Brücke vom Leben zum Tod überschritten hatte. Er fühlte nicht mehr, daß Blacky auf seiner Brust landete und erschreckt wieder davonflatterte, als das Mädchen aus dem Wald trat und zögernd näherkam, um sich über ihn zu beugen. Er hörte nicht das Schluchzen, das ihren Körper erschütterte. Tark jedoch hatte alles miterlebt. Mit einem wütenden Trillern riß er die Waffe aus Vascars Krallen. »Warum hast du das getan?« schrie er sie an. Er warf die Waffe im hohen Bogen von sich. »Du hast etwas ganz Schreckliches angestellt, Vascar!« Seine langjährige Gefährtin sah ihn erstaunt an. »Aber – es war doch nur ein Tier! Es wollte seinen Herrn töten, das hast du doch wohl auch gesehen? Es hat versucht, das intelligente Vogelwesen zu töten – das letzte intelligente Wesen dieser Welt.« Aber Tark ließ sich nicht beirren.
»Sie gehörten zusammen. Du hast ihre Art vernichtet. Das Weibchen klagt um seinen Gefährten. Nein, Vascar – in deiner irrtümlichen Auffassung hast du etwas ganz Furchtbares getan!« Doch Vascar ließ sich nicht belehren. »Dummes Zeug! Paß auf, jetzt werde ich Verbindung mit dem intelligenten Leben dieser Welt aufnehmen. Dort ist es –« Und sie flog auf die Krähe zu, die zu entfliehen suchte, als sie den riesigen Vogel auf sich zukommen sah. Tark blickte noch einmal zu dem weiblichen Tier hinab, das sich über die Leiche seines toten Gefährten beugte. Deutlich sah er die Tränen auf der glatten, federlosen Haut des Gesichtes und hörte das Schluchzen, das aus ihrem Munde kam. Dann flog er hinter Vascar her. Den ganzen Tag lang verfolgten sie Blacky. Sie umkreisten ihn, stellten ihn und versuchten, mit ihm zu reden. Aber der Vogel reagierte nicht, sondern schien sogar seine Sprache verloren zu haben. Es gelang ihm jedesmal, den beiden Riesenvögeln zu entkommen, die es schließlich aufgaben, in ihm den intelligenten Vertreter dieses Planeten zu sehen. Als es dämmerte, ließen sich beide auf einem Baum nieder. Tark war ruhig und still. Vascar sagte: »Ich glaube fast, daß es keinen Sinn hat. Mag das arme Wesen den Planeten für sich behalten. Sollen wir versuchen, dem Tier zu helfen, dessen Gefährten wir erschossen haben?« Tark blickte sie lange an. Seine Augen leuchteten rot in der herabfallenden Dunkelheit. Endlich sagte er: »Nein! Wir verlassen noch heute diese Welt.« Das Raumschiff der beiden Wesen von Alcon, der Welt im System der Sonne Procyon, verließ noch in der gleichen Stunde die tote Erde. Tark hatte die Steuerung übernommen, und das Schiff schoß in das schwarze Weltall hinaus. Schneller
und schneller jagte es durch den Raum, mit zunehmender Geschwindigkeit das Sonnensystem hinter sich zurücklassend. Selbst diese unheimliche Geschwindigkeit schien Tark noch nicht zu genügen. Es war, als wolle er vor etwas Gräßlichem, Unerträglichem fliehen. Vascar schaute ihn mit einem fragenden Blick an. »Haben wir es wirklich so eilig, Tark?« Er blickte sie nicht an, sondern starrte hinaus in die Unendlichkeit des Weltraums. »Nein«, sagte er endlich mit leiser Stimme. Aber er beschleunigte die Geschwindigkeit noch mehr, obwohl er genau wußte, daß auch das nichts mehr helfen würde. Er vermochte zwar der Erde zu entfliehen, auf der sich das schreckliche Erlebnis abgespielt hatte, aber niemals würde er dem Gedanken entfliehen können – und der Erinnerung an das, wofür er und Vascar verantwortlich waren. Nie mehr im Leben würde er seine Ruhe wiederfinden, immer und immer wieder würde ihn sein Gewissen quälen und ihn daran erinnern, daß er und Vascar der Erde die letzte Chance geraubt hatten.
Originaltitel: QUIETUS. Copyright © 1942 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Übersetzt von Walter Ernsting.