Ich ziehe das Hemd aus. Sie erglüht, denkt zweifellos, ich will mich verführen lassen. Meine Hände gleiten über die nac...
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Ich ziehe das Hemd aus. Sie erglüht, denkt zweifellos, ich will mich verführen lassen. Meine Hände gleiten über die nackte Brust hinauf und hinunter, suchen die Sicherungen und Verschlüsse. Ich führe den komplizierten, beschwerlichen Vorgang, meinen Körper zu öffnen, durch. Tief in mir ruft etwas Nein Nein Nein Nein Nein, aber ich achte nicht darauf. Das Herz hat seine eigenen Beweggründe. »Schau, Elizabeth. Schau mich an. Das bin ich. Schau mich an und flipp aus. Der Wirklichkeitstrip.« Meine Brust öffnet sich weit. DER WIRKLICHKEITSTRIP von Robert Silverberg und fünf weitere Science-Fiction-Stories von Autoren der Spitzenklasse.
In der Reihe der Ullstein Bücher: SCIENCE-FICTION-STORIES Band 1, 2, 11, 12, 53 bis 77
Science Fiction Ullstein Buch Nr. 31006 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M. – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Klaus Weidemann Umschlagillustration: Dell Alle Stories aus THE BEST FROM IF (Band 1 und 2) Copyright © 1973, 1974 by Universal-Award-House. Inc. Alle Rechte vorbehalten Frankfurt M – Berlin – Wien Printed in Germany 1979 Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh ISBN 3-548-31006-0
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Science-fiction-Stories hrsg. von Walter Spiegl. – Frankfurt/M, Berlin, Wien: Ullstein. NE: Spiegl. Walter [Hrsg.] 78./Von Robert Silverberg ... [Aus d. Amerikan. übers. von Klaus Weidemann]. – 1979. (Ullstein-Bücher: Nr. 31006: Ullstein 2000) ISBN 3-548-31006-0 NE: Silverberg. Robert [Mitarb.]
Science-FictionStories 78 von Robert Silverberg Fred Saberhagen Ron Goulart Ed Bianchi Michael G. Coney Sydney J. Van Scyoc
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Der Wirklichkeitstrip Robert Silverberg ...............................................
6
Schwingen aus dem Dunkel Fred Saberhagen ................................................
39
Prez Ron Goulart ........................................................
72
Gewohnheiten des rigelinischen Nachtfuchses Ed Bianchi ........................................................... 96 Störungssucher im All Michael G. Coney .............................................. 122 Mnarra Mobilis Sydney J. Van Scyoc .......................................... 147
Robert Silverberg DER WIRKLICHKEITSTRIP Robert Silverberg präsentiert eine melancholische Liebesgeschichte, die von einer gänzlich modernen Version des traditionellen Glotzäugigen-Monster-Themas aufgelockert wird.
1 Ich bin ein Wiedergutmachungsprojekt für sie. Sie wohnt auf meiner Etage des Hotels, ein Dutzend Zimmer die Halle hinunter: eine Poetin, privates Einkommen. Nein, das läßt sie zu alt klingen, wie eine Exzentrikerin in den mittleren Jahren. In Wirklichkeit ist sie nicht älter als dreißig. Größer als ich, mit langem braunem Haar und einer scharfen, knochigen Nase, die einen Höcker auf dem Rücken hat. Die Augen sind sehr glänzend. Eine eingeübte Zerlumptheit an ihrer Kleidung – sorgfältig ausgewählte schäbige Kleider. Ich bin nicht in der Position, Attraktivität bei Erdleuten richtig zu beurteilen, aber aus Bemerkungen von Menschen, die hier wohnen, entnehme ich, daß man sie nicht für gutaussehend hält. Ich begegne ihr oft auf dem Weg zu meinem Zimmer. Sie lächelt mich feurig an. Ohne Zweifel sagt sie sich dabei: Du armer, einsamer Mann. Laß mich dir helfen, die Bürde deines unglücklichen Lebens zu tragen. Laß mich dir zeigen, was es bedeutet zu lieben, denn auch ich weiß, was es heißt, allein zu sein ... Oder derartige Worte. Sie hat nie wirklich so etwas gesagt. Aber ihre Absichten sind durchsichtig. Wenn
sie mich sieht, kommt eine Art Hunger in ihre Augen, zum Teil mütterlicher Natur, zum Teil (denke ich) sexueller Natur, und ihr Gesicht nimmt eine wilde, verrückte Intensität an. Ihr Name ist Elizabeth Cooke. »Mögen Sie Gedichte, Mr. Knecht?« fragte sie mich heute morgen, als wir zusammen in dem uralten Fahrstuhl nach oben knarrten. Eine Stunde später klopfte sie an meine Tür. »Etwas zu lesen für Sie«, sagte sie. »Ich habe sie geschrieben.« Ein Bündel großer, gelber Papierbögen, oben zusammengeheftet – in schmieriger, blauer Mimeographie gedruckte Gedichte. Der Wirklichkeitstrip, war die Sammlung überschrieben. Begrenzte Auflage: 125 Exemplare. »Sie können sie behalten, wenn Sie mögen«, erklärte sie. »Ich habe noch mehr.« Sie trug eine helle Cordhose und einen durchsichtigen, rosafarbenen Schal, durch den ihre Brüste deutlich zu sehen waren. Kleine spitz zulaufende Brüste, die nicht sehr zweckdienlich aussahen. Als sie sah, daß ich sie studierte, blähten sich ihre Nasenflügel kurz auf, und sie blinzelte dreimal schnell. Zeichen der Begierde? Ich las die Gedichte. Ist es fair, wenn ich mir eine Beurteilung anmaße? Wenn ich auch elf seiner Jahre auf diesem Planeten gelebt habe, wenn ich auch das Umgangsenglisch recht gut beherrsche, verstehe ich wirklich das Innenleben der Poesie? Ich meinte, sie wären ziemlich schlecht. Ernste, anstrengende Gedichte, die, was man Stücke vom Leben nennt, einfingen. Ihre Umwelt, die grausame, lieblose Stadt. Die die Schranken zwischen den Menschen beklagten. Das Titelgedicht begann:
Er war auf dem Realitätstrip. Großer, schwarzer Mann, blutunterlaufene Augen, schlechte Zähne. Eisenhowerjakke, abgetragen. Geruch nach billigem Wein. Schätze, hat ein Messer in der Tasche. Schaute mich niederträchtig an. Strafregister. Vergewaltigung, Kindesmißhandlung, Drogenbesitz. Sagt sich heimlich, sklavische Hure, und ich sage mir heimlich, schwarzer Bruder, laß uns zusammen ausflippen, laß uns auf den Liebestrip gehen – Und so weiter. Warmes, direktes Gefühl – aber ist der Trieb, alle verletzenden Dinge zu lieben, ein ausreichender Mittelpunkt für Poesie? Ich weiß es nicht. Ich habe ihre Gedichte durch die Antenne gesteckt und sie Heimatwelt übermittelt, wenn ich auch bezweifle daß sie viel von ihnen über die Erde lernen werden. Es würde Elizabeth schmeicheln, wenn sie wüßte, daß, obwohl sie hier wenig Leser hat, sie etwa neunzig Lichtjahre entfernt welche erworben hat. Aber natürlich kann ich ihr das nicht sagen. Kurze Zeit später kam sie zurück. »Haben sie Ihnen gefallen?« fragte sie. »Sehr gut. Sie haben Sympathie für die, die leiden.« Ich glaube, sie erwartete, daß ich sie hereinbat. Ich habe mich gehütet, ihre Brüste diesmal anzuschauen. Das Hotel liegt in der 23. Straße West. Es muß über hundert Jahre alt sein – die Fassade ist beinahe barock, und eine Art vornehmer Zerfall kennzeichnet das Interieur. Das Haus hat eine bohemienhafte Tradition. Die meisten seiner Gäste sind ständige Bewohner, und viele von ihnen sind Künstler, Romanschriftsteller, Stückeschreiber und sowas. Ich habe neun Jahre hier gewohnt. Ich kenne eine Anzahl der Bewohner beim Namen und sie mich – aber ich habe
es zu keiner wirklichen Vertrautheit kommen lassen, natürlich hat jeder diese Entscheidung respektiert. Ich lade andere nicht in mein Zimmer ein. Manchmal lasse ich mich in ihre einladen, da es ja eine meiner Verpflichtungen auf dieser Welt ist, etwas über die Art und Weise, wie Erdleute leben und denken, in Erfahrung zu bringen. Elizabeth ist die erste, die versucht, in meine Privatsphäre einzudringen. Ich bin mir nicht sicher, wie ich das handhaben soll. Sie ist vor ungefähr drei Jahren eingezogen. Ihre Aufmerksamkeiten wurden vor vielleicht zehn Monaten erkennbar, und die letzten fünf oder sechs Wochen ist sie eine große Plage gewesen. Eine Konfrontation irgendeiner Art ist unvermeidlich: entweder muß ich ihr sagen, sie soll mich in Ruhe lassen, oder ich werde in eine unmöglich zu tolerierende Situation hineingezogen werden. Vielleicht findet sie, bevor es dazu kommt, jemand anderen, den sie noch mehr bemitleiden kann. Meine tägliche Routine variiert selten. Ich stehe um sieben auf. Zuerst Speisung. Dann säubere ich meine Haut (meine äußere, die Erdhaut, meine ich) und ziehe mich an. Von acht bis zehn übermittle ich Daten an die Heimatwelt. Dann gehe ich aus, um mein morgendliches Arbeitsgebiet abzudecken: mit Leuten reden, Zeitungen kaufen, oft Nachforschungen in Bibliotheken. Um eins kehre ich in mein Zimmer zurück. Zweite Speisung. Von zwei bis fünf übermittle ich Daten. Wieder ausgehen, vielleicht ins Theater, in einen Film, zu einer politischen Versammlung. Ich muß das Aroma dieses Planeten aufsaugen. Oft in Kneipen – ich bin dazu ausgerüstet, Alkohol aufzunehmen, obwohl ich ihn natürlich loswerden muß,
bevor er zu lange in meinem Körper gewesen ist –, und ich trinke und lausche und diskutiere manchmal. Um Mitternacht bin ich zurück in meinem Zimmer. Dritte Speisung. Übermittle Daten von eins bis vier in den Morgen. Dann drei Stunden Schlaf, und um sieben beginnt der Kreislauf von neuem. Es ist ein gemütlicher Stundenplan. Ich weiß nicht, wie viele Agenten Heimatwelt auf der Erde hat, aber ich liebe den Gedanken, daß ich einer der emsigsten und nützlichsten bin. Ich vermisse sehr wenig. Ich habe gute Dienste geleistet, und, wie man hier sagt, harte Arbeit ist ihre eigene Belohnung. Ich leugne nicht, daß ich das körperliche Unbehagen, das damit einhergeht, hasse und häufig echter Verzweiflung über die Isolation von meiner Art freien Lauf lasse. Manchmal denke ich sogar daran, um eine Versetzung auf Heimatwelt zu bitten. Aber was würde dort aus mir werden? Welche Arbeit könnte ich verrichten? Ich habe mein Leben einem Ziel gewidmet: unter den Erdleuten zu wohnen und über ihre Eigenarten zu berichten. Wenn ich das aufgebe, bin ich nichts. Natürlich ist da der körperliche Schmerz. Der beträchtlich ist. Die Schwerkraft der Erde ist beinahe doppelt so groß wie auf Heimatwelt. Sie verschafft mir ein bleiernes Leben. Meine inneren Organe sacken immer gegen den unteren Rand meines Rückenschildes durch. Meine Muskeln knacken vor Überanstrengung. Jede Bewegung eine willentliche Anstrengung. Mein Herz protestiert ständig. In meinen elf Jahren habe ich mich, wie man annehmen sollte, den Bedingungen etwas angepaßt – ich bin zäher und dicker
geworden. Ich habe den Verdacht, daß, würde ich jetzt sofort nach Heimatwelt befördert, ich wahrscheinlich schwindlig und verblüfft über die Leichtigkeit der Dinge sein würde. Ich würde springen und in die Höhe schnellen und stolpern und vielleicht sogar dieses niederdrückende Ziehen der Erde vermissen. Doch bezweifle ich das. Ich leide hier; immer drückt mich das Gewicht nieder. Aber ich möchte nicht zu selbstmitleidsvoll klingen. Ich wußte um die Bedingungen im voraus. Ich wurde simulierter Erdschwerkraft ausgesetzt, als ich mich bewarb und erhielt die Chance zurückzutreten, und ich entschloß mich, auf alle Fälle zu gehen. Ohne zu begreifen, daß eine Woche unter doppelter Schwerkraft nicht dasselbe ist wie das ganze Leben. Ich hatte jederzeit aus der Simulationskammer herausgehen können. Hier nicht. Das ewige Ziehen an jedem Molekül von mir. Der Druck. Mein Fleisch ist stets in Trauer. Und den äußeren Körper muß ich tragen. Diese listige Verkleidung. Für immer in dicke Massen synthetischen Fleischs eingewickelt, unter dem ich ersticke, das mich verschlingt. Sein sanfter, glitschiger Druck gegen das Ich darin. Das komplizierte Gestell, das es aufrecht hält, durch das ich es bewegen kann – ein Gestrüpp aus Streben und Stützen und Servomotoren und Kabeln, in dessen Mitte ich mich unaufhörlich zusammenkauern muß, obenauf die kleine Plattform im Darm. Ständig die eine oder andere von verschiedenartigen unbequemen Stellungen einnehmen, ständig die Lage wechseln und mich winden, eben mich an einem ungeschickt plazierten vorragenden Gegenstand stoßen, sodann versuchen, meinen steifen Körper gelenkig zu machen, um mich zu
beugen. Die Welt mittels Periskop durch mechanische Augen sehen. Eingeschlossen in diesem Fleischberg. Es ist ein cleveres Ding – es muß überzeugend menschlich aussehen, denn niemand hat mich jemals angezweifelt, und es altert von Jahr zu Jahr ganz geringfügig, ergraut ein wenig an den Schläfen, wird ein bißchen dicker um den Wanst. Es geht. Es redet. Es nimmt Nahrung und Getränke an, wenn es muß (und legt sie in einem auswechselbaren Beutel ab, nahe meines linksten Arms.) Und ich darin. Der verborgene Schachspieler. Der unsichtbare Reiter. Wenn ich es wagte, würde ich mich regelmäßig von diesem Deckmantel aus Fleisch befreien und in meiner eigenen Gestalt in meinem Zimmer herumkriechen. Aber das ist unmöglich. Elf Jahre jetzt, und ich war nie außerhalb meiner Protoplasmabehausung. Manchmal fühle ich, daß sie an mir festklebt, daß sie mittlerweile zu einem Teil meiner selbst geworden ist. Um essen zu können, muß ich es in der Mitte öffnen, eine Prozedur, die viele Minuten dauert. Dreimal am Tag knöpfe ich mich auf, so daß ich die Nahrungskonzentrate in meinen wahren Schlund stopfen kann. Fehlerhaftes Design nenne ich das. Sie hätten es ebenso gut so arrangieren können, daß ich die Nahrung in meinen Erdmund stecken konnte, um sie in meinem eigenen Verdauungstrakt ankommen zu lassen. Ich vermute, die neueren Modelle haben das. Ausscheidung ist ebenso beschwerlich bei mir – ich öffne mich, lange hinein, beseitige die Abfallwürfel, schließe meine Haut wieder. In die Toilette mit ihnen. Eine Plage. Und die Einsamkeit! Die Sterne anzuschauen und zu wissen, daß Heimatwelt irgendwo dort draußen
ist! An all das andere zu denken, Heiraten, Singen, Dividieren, Abstrahieren, während ich meine Tage in diesem zerfallenden Hotel auf einem fremden Planeten zubringe, niedergedrückt von der Schwerkraft und in einem beengten, falschen Körper eingeschlossen – immer allein, immer vorgebend, daß ich nicht bin, was ich bin, und daß ich bin, was ich nicht bin, spionieren, Fragen stellen, aufzeichnen, Bericht erstatten, mit dem Jammer der Einsamkeit fertigwerden, auf der Jagd nach dem Labsal der Philosophie. In all dem ist nur ein wirklicher Trost, abgesehen von dem Vergnügen zu wissen, daß ich Heimatwelt von Nutzen bin. Die Atmosphäre von New York wird mit jedem Jahr schlimmer. Die Straßen sind voller unfertiger Fahrzeuge, die unverdaute Kohlenwasserstoffe ausstoßen. Für die Erdleute ist das Umweltverschmutzung, und sie tuscheln ängstlich darüber. Für mich ist es Genuß. Es ist die einzige Spur Heimatwelt hier, diese süße Suppe organischer Verbindungen, die in der Luft schweben. Es berauscht mich. Ich gehe die Straße hinunter und atme tief ein, sauge die guten Moleküle durch meine falschen Nüstern in meine echte Lunge. Die Eingeborenen müssen mich für verrückt halten. Von Autoabgasen auf den Trip kommen! Kann ich wegen überenthusiastischen öffentlichen Atmens eingesperrt werden? Werden sie mich zu einer Überprüfung meines Geisteszustands festnehmen?
Elizabeth Cooke bombardiert mich weiterhin mit sehnsüchtigen Aufmerksamkeiten. Lächeln am Halleneingang. Hoffnungsvolles Leuchten in den Augen. »Vielleicht können wir bald einmal einen Abend zusammen essen, Mr. Knecht. Ich weiß, wir hätten uns so viel zu erzählen. Und vielleicht würden Sie gern die neuen Gedichte sehen, die ich gemacht habe.« Sie zittert. Augenlider flattern gespannt; Kopf auf langem Hals unbeweglich. Ich weiß, daß manchmal Männer bei ihr sind, also kann nicht Einsamkeit oder Frustration der Grund sein, warum sie sich mir widmet. Und ich bezweifle, daß mein äußeres Ich sie sexuell anzieht. Ich glaube, ich liege richtig, wenn ich sage, daß Frauen mich nicht als sexuell magnetisch ansehen. Nein, sie liebt mich, weil sie mich bemitleidet. Der traurige, schüchterne Junggeselle am Ende der Halle, der liebe, unglückliche Mr. Knecht – kann ich etwas Licht in sein trostloses Leben bringen? Und so weiter. Ich denke, so ist es. Wird es mir weiterhin gelingen, ihr auszuweichen? Vielleicht sollte ich in einen anderen Teil der Stadt ziehen. Aber ich habe hier so lange gelebt; ich habe mich an das Hotel gewöhnt. Seine lockere Lebensart hat viel dafür getan, die Härten meines Vorpostens zu erleichtern. Und mein vertrautes Zimmer. Das große, vielfach verglaste Fenster; die rissigen, grünen Bodenkacheln im Badezimmer, die klumpigen Muster des Neuverputzes an der Wand über meinem Bett. Die hohe Decke, der komische Kronleuchter. Dinge, die ich liebe. Aber natürlich kann ich es nicht zulassen, daß sie versucht, eine Affäre mit mir zu beginnen. Von uns wird erwartet, die Erdleute zu beobachten, nicht, uns mit ih-
nen einzulassen. Unsere Verkleidung ist nicht so schwer zu durchschauen, lebt man auf engem Raum zusammen. Irgendwie muß ich sie fernhalten. Oder flüchten.
2 Unglaublich! Einer von uns ist in genau diesem Hotel. Wie ich durch Zufall erfuhr. Diesen Nachmittag um eins, als ich von meiner Morgentour zurückkehrte: Elizabeth in der Vorhalle, als ob sie auf der Lauer auf mich läge, mit dem Geschäftsführer schwatzend. Fährt mit mir hinauf. Ihre Augen schauen in meine. »Manchmal glaube ich, daß Sie Angst vor mir haben«, beginnt sie. »Das dürfen Sie nicht. Das ist die große Tragödie des menschlichen Lebens – Leute verbarrikadieren sich hinter Mauern aus Angst und lassen niemals jemanden durch, jemanden, der sich um sie kümmern und freundlich zu ihnen sein könnte. Sie haben keinen Grund, Angst vor mir zu haben.« Ich habe einen, aber wie soll ich ihr das erklären? Um einer ausgedehnten Unterhaltung und möglichen Fallstricken zu entgehen, verlasse ich den Fahrstuhl ein Stockwerk zu früh. Laß sie glauben, ich besuche einen Freund. Oder eine Geliebte. Ich gehe langsam die Halle hinunter zur Treppe, verplempere die Zeit, warte, damit sie in ihrem Zimmer ist, wenn ich hinaufgehe. Ein Dienstmädchen macht sich in meiner Nähe zu schaffen. Es steckt seinen Schlüssel in eine Tür zur Linken: ein seltener faux pas für das sonst
tüchtige Dienstpersonal hier, es vergißt anzuklopfen, bevor es hineingeht, um das Zimmer zu machen. Die Tür öffnet sich, und der Bewohner drinnen steht entblößt da. Ein untersetzter, muskulöser Mann, bis zur Taille nackt. »Oh, Entschuldigung«, keuchte das Dienstmädchen, trat zurück und schloß die Tür. Aber ich habe es gesehen. Meine Augen sind flink. Die behaarte Brust ist gespalten, eine dunkle, klaffende Wunde, drei Zoll breit und etwa elf Zoll lang, sie beginnt zwischen den Brustwarzen und geht bis über den Nabel. Sichtbar ist die schwarze schimmernde Oberfläche eines Heimatwelt-Rückenschildes. Mein Landsmann, der sich für die zweite Speisung öffnet. Gelähmt und betäubt wanke ich zur Treppe und ziehe mich Schritt für bleiernen Schritt zu meiner Etage. Kein Zeichen von Elizabeth. Ich stolpere in mein Zimmer und lege den Riegel vor. Einer von uns hier? Nun, warum nicht? Ich bin nicht der einzige. Allein in New York mag es Hunderte geben. Aber im selben Hotel? Ich erinnere mich jetzt, ich habe ihn gelegentlich gesehen – ein schweigsamer, ernster Mann, gespannt, gehetzt aussehend, ungesellig. Zweifellos wirke ich auf andere ebenso. Die Welt auf Distanz halten. Ich weiß seinen Namen nicht, noch was für eine Art Leben er führt. Uns Heimatweltlern ist es untersagt, Kontakt untereinander herzustellen, außer in extremen Notfällen. Isolation ist eine notwendige Voraussetzung unserer Tätigkeit. Ich darf mich ihm nicht offenbaren – ich darf seine Freundschaft nicht suchen. Jetzt, wo ich weiß, daß er hier ist, ist es noch schlimmer für mich, als wenn ich vollkommen allein wäre. Die Erinnerun-
gen, in denen wir schwelgen könnten! Die Freunde, die wir gemeinsam haben könnten! Wir könnten einander das Ertragen der Schwerkraft erleichtern, das Unbehagen über unsere Verkleidungen, das abstoßende Klima. Aber nein. Ich muß vorgeben, nichts zu wissen. Die Regeln. Die grausamen, unbeugsamen Regeln. Ich muß meinem Geschäft nachgehen, er seinem; wenn wir uns begegnen, darf ich mir nichts anmerken lassen. Also sei es. Ich will mein Gelübde erfüllen. Aber es mag schwierig werden.
Er arbeitet unter dem Namen Swanson. Lebt seit achtzehn Monaten im Hotel – ein Musiker, dem Geschäftsführer zufolge. »Ein sehr seltsamer Mensch. Hält sich zurück. Macht keine Konversation, lächelt niemals. Verteidigt seine Privatsphäre. Neulich platzte ein Dienstmädchen in sein Zimmer, ohne zu klopfen, und ich dachte, er würde uns verklagen. Nun, wir bekommen hier alle möglichen Typen.« Der Geschäftsführer glaubt, mein Heimatweltler könnte tatsächlich ein Mitglied einer alten europäischen Königsfamilie sein, das im Exil lebt. Oder etwas ähnlich Romantisches. Der Geschäftsführer wäre überrascht.
Ich verteidige meine Privatsphäre ebenfalls. Gegen Elizabeth, ein neuer Angriff von ihr. In der Halle vor meinem Zimmer. »Meine neuen Gedichte«, sagte sie. »Falls Sie interessiert sind.« Und dann: »Kann ich hereinkommen? Ich würde sie Ihnen vorlesen. Ich liebe es, laut vorzulesen.« Und: »Bitte, tun Sie nicht immer so schrecklich ängstlich vor mir. Ich bin recht liebenswürdig.« »Tut mir leid.« »Mir auch.« Ärger, der sich jetzt in ihre leuchtenden Augen schlich, in ihre schmalen, angespannten Lippen. »Wenn Sie wollen, daß ich Sie in Ruhe lasse – sagen Sie es, ich werde gehen. Aber ich möchte, daß Sie wissen, wie grausam Sie sind. Ich verlange nichts von Ihnen. Ich biete nur Freundschaft an. Und Sie lehnen sie ab. Habe ich einen schlechten Geruch? Bin ich so häßlich? Hassen Sie meine Gedichte, und haben Sie Angst, es mir zu sagen?« »Elizabeth –« »Wir sind nur so kurze Zeit auf dieser Welt. Warum können wir nicht freundlicher zueinander sein, solange wir leben? Lieben, miteinander teilen, sich einander öffnen. Den Wirklichkeitstrip. Kommunikation, von Seele zu Seele.« Ihr Tonfall veränderte sich. Eine listige Schattierung. »Soweit ich weiß, stoßen Frauen Sie ab. Wir alle haben unsere Eigenarten. Aber es muß nichts Sexuelles zwischen uns sein. Einfach reden. Barrieren abbauen. Was meinen Sie? Sagen Sie nein, und ich werde Sie nie wieder belästigen, aber sagen Sie bitte nicht nein. Das ist, als würden Sie eine Tür zu Ihrem Leben zuschlagen, David. Und wenn Sie das tun, beginnen Sie zu sterben.«
Hartnäckig. Ich sollte ihr sagen, sie könne zum Teufel gehen. Aber da ist die Einsamkeit. Da ist ihre offenkundige Aufrichtigkeit. Ihre Herzlichkeit, ihr Eifer, mich aus meiner lunaren Isolation zu befreien. Kann sie eine Gefahr darstellen? Zu wissen, daß Swanson in der Nähe ist, so nahe, dennoch durch eiserne Gebote von mir getrennt, hat mein Gefühl des Alleinseins verstärkt. Ich kann es riskieren, Elizabeth näher an mich herankommen zu lassen. Es wird sie glücklich machen. Es kann mich glücklich machen. Es könnte sogar Heimatwelt wertvolle Informationen einbringen. Natürlich muß ich immer noch eine gewisse Distanz wahren. »Ich wollte nicht unfreundlich erscheinen. Ich glaube, Sie haben mich mißverstanden, Elizabeth. Ich habe Sie wirklich nicht zurückgewiesen. Kommen Sie herein. Bitte, kommen Sie herein.« Verblüfft betritt sie mein Zimmer. Der erste Gast überhaupt. Meine wenigen Bücher, mein bescheidenes Mobiliar, der Ultrawellensender, raffiniert als Skulptur getarnt. Sie setzt sich. Rock weit oberhalb der Knie. Schöne Beine, wenn ich die Qualitätskriterien richtig verstehe. Ich bin entschlossen, keine sexuellen Annäherungsversuche zuzulassen. Wenn sie etwas versucht, nehme ich Zuflucht zu – ich weiß nicht – Hysterie. »Lesen Sie mir Ihre neuen Gedichte vor«, sage ich. Sie öffnet ihre Mappe. Liest vor. Inmitten der bohemienhaften Nacht des Zweifels und der Leere, als der Gott der Horrortrips zu mir kam mit Kalten Händen, schaute ich auf und rief den Sternen ja zu. Und immer wieder ja. Ich steigere mich in das Ja hinein; Der Teufel bleibt unbeeindruckt. Und wartete darauf, daß du ja
Sagst, und zuletzt tatest du es. Und die Welt sagte, die Sterne sagten, die Bäume sagten, das Gras sagte, der Himmel sagte, die Straßen sagten ja und ja und ja – Sie ist in Ekstase. Ihr Gesicht ist gerötet. Ihre Augen sind freudig. Sie ist zu mir durchgebrochen. Nach zwei Stunden, als klar wird, daß ich sie nicht bitten werde, mit mir ins Bett zu gehen, geht sie. Um nicht länger als erwünscht zu bleiben. »Ich bin so froh, daß ich mich in Ihnen getäuscht habe, David«, flüstert sie. »Ich konnte es nicht glauben, daß Sie wirklich ein Lebensverneiner wären. Und Sie sind es nicht.« Ekstatisch. Ich gerate in tiefes Wasser. Jede Nacht verbringen wir ein oder zwei Stunden zusammen. Manchmal in meinem Zimmer, manchmal in ihrem. Gewöhnlich kommt sie zu mir, aber gelegentlich, aus Höflichkeit, suche ich sie nach der dritten Speisung auf. Mittlerweile habe ich alle ihre Gedichte gelesen; wir reden statt dessen über Kunst im allgemeinen, Politik, Rassenprobleme. Sie besitzt einen lebhaften, gut informierten, aufrührerischen Verstand. Obwohl sie ständig versucht, Informationen aus mir herauszulocken, spürt sie, wie empfindsam ich bin, und zieht sich schnell zurück, wenn ich sie abwehre. Fragt nach meiner Arbeit; ich erwidere ausweichend, daß ich Material für ein Buch sammle, und als ich es nicht näher erläutere, läßt sie es, wenn sie es auch liebenswürdig wieder versucht, einige Nächte später, dabei bewenden. Sie trinkt sehr viel Wein und bietet mir welchen an. Ich trinke ein Glas während des ganzen Besuchs. Oft
schlägt sie vor, daß wir zusammen essen gehen. Ich erkläre, daß ich Verdauungsschwierigkeiten habe und es vorziehe, allein zu essen. Sie akzeptiert das bereitwillig, beschließt aber augenblicklich, mir zu helfen, diese Probleme zu überwinden. Bald darauf fragt sie mich wieder, mit ihr zu essen. Es gibt gleich im Hotel ein ausgezeichnetes Spanisches Restaurant, sagt sie. Sie läßt von lästigen Fragen ab. Wo wurde ich geboren? Bin ich aufs College gegangen? Habe ich Angehörige irgendwo? War ich je verheiratet? Habe ich eine meiner Arbeiten veröffentlicht? Ich improvisiere Ausflüchte. Es bereitet mir keine Schwierigkeiten, nur habe ich noch nie jemanden auf der Erde so anhaltenden Kontakt mit mir gestattet, eine so ausgedehnte Möglichkeit, Unstimmigkeiten in meiner vorgeblichen Identität zu entdecken. Was, wenn sie durchblickt? Und Sex. Ihre Offerten werden immer weniger subtil. Sie scheint zu glauben, wir müßten eine sexuelle Beziehung haben, einfach weil wir so gute Freunde geworden sind. Keine Sache der Leidenschaft, sowenig wie eine der Kommunikation – wir unterhalten uns, manchmal machen wir zusammen Spaziergänge, wir sollten das auch machen. Aber natürlich ist es unmöglich. Ich habe die äußeren Organe, aber nicht das Vermögen, sie zu gebrauchen. Möchte auf keinen Fall, daß sie meine falsche Haut berührt. Wie sie ablenken? Wenn ich mich als impotent erkläre, wird sie eine Chance fordern, mich kurieren zu dürfen. Wenn ich Homosexualität vorgebe, wird sie eine Art Therapie dagegen in Gang bringen. Wenn ich einfach sage, sie ziehe mich körperlich nicht an, wird sie verletzt sein. Das mit der Sexualität ist
eine Herausforderung für sie, wie es einmal eine für sie war, eine Unterhaltung mit mir zu beginnen. Sie trägt oft den durchsichtigen rosa Schal, der ihre Brüste enthüllt. Ihre Röcke sind weit oben. Sie nimmt sexuell anregende Parfüms. Sie streift meinen Körper, wann immer die Gelegenheit dazu sich ergibt. Die Spannung wächst. Sie ist entschlossen, mich zu bekommen. Ich habe sie nicht in meinen Berichten an Heimatwelt erwähnt. Trotzdem übermittle ich einige ihrer physiologischen Daten, die ich durch Beobachten gesammelt habe. »Könnten Sie jemals zugeben, daß Sie in mich verliebt sind?« fragte sie heute nacht. Und sie fragte: »Tut es nicht weh, wenn Sie Ihre Gefühle die ganze Zeit unterdrücken? Wie ein Gefangener in sich selbst eingeschlossen dazusitzen?« Und: »Es gibt auch eine körperliche Seite des Lebens, David. Ich meine weniger das Leid das Sie mir zufügen, indem Sie es ignorieren. Aber ich bin besorgt über das Leid, das Sie sich selbst zufügen.« Schlägt die Beine übereinander. Läßt den Rock noch höher rutschen. Wir bewegen uns auf eine Krise zu. Ich hätte dies nie anfangen sollen. Ein brennend heißer Sommer hat sich auf die Stadt gelegt, und bei heißem Wetter ist mein Nervensystem immer am Rande einer Eruption. Sie könnte mich zu weit treiben. Ich könnte alles ruinieren. Ich sollte um eine Versetzung nach Heimatwelt bitten, bevor ich Schwierigkeiten verursache. Vielleicht sollte ich mich mit Swanson beraten. Ich glaube, was jetzt geschieht, erfüllt die Bedingungen eines Notfalls.
Elizabeth blieb heute bis nach Mitternacht. Ich mußte sie schließlich bitten zu gehen: muß noch arbeiten. Eine Stunde später schob sie einen Umschlag unter meine Tür. Neueste Gedichte. Liebesgedichte. Mit zittriger Hand geschrieben. David: Sie bedeuten mir so viel. Sie bedeuten die Sterne und Sternnebel. Können Sie mich meine Liebe nicht zeigen lassen? Können Sie Glück nicht annehmen? Denken Sie darüber nach. Ich bete Sie an. Was habe ich da in Gang gesetzt?
Heiß heute. Der vierte Tag unerträglicher Hitze hintereinander. Swanson zur Mittagszeit im Aufzug begegnet, wäre fast mit der Wahrheit herausgeplatzt. Ich muß vorsichtiger sein. Aber die Kontrolle entgleitet mir. Letzte Nacht, während der schlimmsten Hitze, war ich versucht, meine Verkleidung abzulegen. Ich konnte es nicht länger aushalten, hier eingesperrt zu sein, mich zu drehen und zu winden, um die Berührung mit der Maschinerie zu vermeiden. Der Versuchung kaum widerstanden. Irgendwie bin ich auch der Schwerkraft gegenüber empfindlicher. Ich leide an der Illusion, daß mein Rückenschild Risse bekommt. Erlitt diesen Nachmittag fast einen Kollaps auf der Straße. Fehlt mir gerade noch: Hitzschlag, ins Krankenhaus gebracht werden, Routinedurchleuchtung. Sie besitzen eine sehr seltsame Knochenstruktur, Mr. Knecht ...
In der Tat. Sezieren mich als nächstes, wobei dreitausend Medizinstudenten zuschauen. Und dann die UN benachrichtigen. Bedrohung aus dem Weltraum. Ja. Ich muß vorsichtiger sein. Ich muß vorsichtiger sein. Ich muß ...
3 Jetzt ist es passiert. Elf Jahre treuer Dienste in einem einzigen Moment des Wahnsinns vernichtet. Verletzung des Fundamentalen Gebots. Ich kann es kaum fassen. Wie war es nur möglich, daß ich – daß ich – bei meinem Respekt für meine Verpflichtungen auch nur erwägen konnte, geschweige denn, es tatsächlich tun. Aber es war furchtbar heiß. Die dritte Woche der Hitzewelle. Ich war am Ersticken in meinem falschen Körper. Und die Schwerkraft – erlebte New York auch eine Schwerkraftwelle? Dieses furchtbare Ziehen, schlimmer als je zuvor. Zerquetschte meine inneren Organe. Elizabeth war ein fürchterlicher Plagegeist, leidenschaftlich, liebevoll, zu Tränen gerührt, poetisch, ließ mir keine Minute Ruhe, bat mich drängend, mit hellerer Flamme zu brennen. Erklärte mir ihre Liebe in Sonetten, in üppigen, gewitzten Epen, in haiku. Blieb zwei Stunden in meinem Zimmer, zu meinen Füßen zusammengekauert, bewunderte die verborgene Schönheit meiner Seele. »Öffnen Sie sich, und lassen Sie Liebe herein«, flüsterte sie. »Es ist, als ob Sie sich Gott schenken. Machen Sie ein Zugeständnis, reißen Sie alle Schranken nieder. Warum nicht? Um der Liebe willen, David, warum nicht?«
Ich konnte ihr nicht sagen, warum nicht, und sie ging weg. Aber um Mitternacht war sie zurück und klopfte an meine Tür. Ich ließ sie ein. Sie trug einen knöchellangen seidenen Morgenrock, glänzend, abgetragen. »Ich bin high«, sagte sie heiser, die Stimme war eine Oktave zu tief. »Ich mußte drei Joints schmeißen, um den Nerv zu fassen. Aber hier bin ich. David, ich bin es müde, immer fortgeschickt zu werden. Wir waren einander so wunderbar nahe, und dann willst du das letzte Stück Wegs nicht gehen.« Gekicher. »Heute nacht tust du es. Laß mich nicht im Stich. Liebling.« Läßt den Morgenrock fallen. Nackt darunter. Schmale Taille, knochige Hüften, lange Beine, dünne Oberschenkel, blaue Adern laufen ihr quer über die Brüste. Das Haar wild. Eine Hexe. Eine Seherin. Rasend. Kommt auf mich zu, Augen schlitzäugig, Mund geöffnet, Zunge schnellt schlangenartig hin und her. Wie mager sie ist! Schweißperlen glänzen auf ihrer flachen Brust. Ergreift meine Handgelenke, zerrt mich grob zum Bett. Wir raufen ein wenig. Innerhalb meines falschen Körpers lege ich Schalter um, bewege heimlich Hebel. Ich bin stärker als sie. Ich kämpfe mich frei, durchbreche mit einer Anstrengung ihre Umklammerung. Sie steht entschlossen vor mir, stiert aus glühenden Augen. So verwundbar, so traurig in ihrer Nacktheit. Und dennoch so glühend. »David! David! David!« Schluchzend. Atemlos. Bittet mit den Augen und den Spitzen ihrer Brüste. Sammelt ihre Kräfte – jetzt macht sie ihren nächsten Ausfall, aber ich sehe ihn kommen und lasse sie an
mir vorbeistürzen. Sie landet auf dem Bett, vergräbt das Gesicht im Kissen, beißt in den Stoff. »Warum? Warum warum warum warum WARUM?« schreit sie auf. In einer Minute werden wir den Geschäftsführer hier haben. Mit der Polizei. »Bin ich so abscheulich? Ich liebe dich, David, weißt du, was das Wort bedeutet? Liebe, Liebe.« Setzt sich auf. Dreht sich zu mir um. Beschwörend. »Stoß mich nicht zurück«, wispert sie. »Das könnte ich nicht verwinden. Weißt du, ich wollte dich einfach nur glücklich machen. Ich meinte, ich könnte diejenige sein, nur war mir nicht klar, wie unglücklich du mich machen würdest. Und du stellst einfach nur da. Und sagst nichts. Was bist du, eine Maschine?« »Ich sage dir, was ich bin«, sagte ich. Damit fing das Unheil an. Alle Kontrolle verloren, alle Klugheit verschwunden. Mein Verstand von purem Gefühl so überwältigt, daß Überleben selbst keine Bedeutung hat. Daß ich ihr alles verdeutlichen muß, ist alles. Was immer es kostet. Ich ziehe das Hemd aus. Sie erglüht, denkt zweifellos, ich will mich verführen lassen. Meine Hände gleiten über die nackte Brust hinauf und hinunter, suchen die Sicherungen und Verschlüsse. Ich führe den komplizierten beschwerlichen Vorgang, meinen Körper zu öffnen, durch. Tief in mir ruft etwas Nein Nein Nein Nein Nein, aber ich achte nicht darauf. Das Herz hat seine eigenen Beweggründe. »Schau, Elizabeth. Schau mich an. Das bin ich. Schau mich an und flipp aus. Der Wirklichkeitstrip.« Meine Brust öffnet sich weit. Ich schiebe mich vorwärts, trete zwischen die He-
bel und Stützen, komme halb aus der menschlichen Hülle, die ich trage, heraus. So weit draußen war ich nicht seit dem Tag, als sie mich auf Heimatwelt darin eingeschlossen haben. Ich lasse sie mein glänzendes Rückenschild sehen. Ich wedele mit meinen Augenstielen. Ich zeige ein paar meiner Scheren. »Siehst du? Siehst du? Großer schwarzer Krebs aus dem Weltraum. Das ist es was du liebst, Elizabeth. Das ist es, was ich bin. David Knecht ist nur ein Kostüm, und das ist, was drinnen ist.« Ich war wie von Sinnen. »Du willst Wirklichkeit? Hier hast du Wirklichkeit, Elizabeth. Was bedeutet dir der Knechtkörper? Er ist eine Attrappe. Er ist eine Maschine. Komm her, komm näher. Willst du, daß ich dich küsse? Soll ich mich auf dich legen und Liebe machen?« Während dieser Episode hat ihr Gesicht eine erstaunliche Zahl von Gemütsregungen durchgemacht. Zuerst Unglaube bei offenem Mund. Und natürlich schreckerstarrt – unterdrückte Laute in der Kehle, Mund weit offen, Augen geweitet und starr. Hände fächeln über die Brüste. Plötzliche Scham vor einem außerirdischen Monster? Aber dann, als die vertraute Knechtstimme, nun bitter und leidenschaftlich, sich weiter aus dem schwarzen Ding in der aufstehenden Brust ergießt, eine Entspannung ihrer Reaktion. Neugier. Das poetische Feingefühl gewinnt die Oberhand. Nichts Menschliches ist mir fremd: Terence, nach Cicero. Nichts Fremdartiges ist mir fremd. Eh? Sie wird das Augenscheinliche vor ihren Augen akzeptieren. »Was bist du? Wo kommst du her?« Und ich sage: »Ich habe das Fundamentale Gebot verletzt. Ich verdiene es, zerrupft und dezimiert zu
werden. Wir dürfen uns nicht offenbaren. Falls uns etwas zustößt, das zu unserer Entlarvung führen könnte, erwartet man von uns, daß wir uns selbst in die Luft sprengen. Der Schalter ist gleich hier.« Sie kommt nahe heran und späht in die Höhle von David Knechts Brust hinein. »Von einem anderen Planeten? Du lebst hier in Verkleidung?« Sie versteht. Ihr Schock läßt nach. Sie lacht sogar. »Auf LSD habe ich Schlimmeres als dich gesehen«, sagt sie. »Du erschreckst mich nicht, David. David? Soll ich dich weiterhin David nennen?« Es ist irreal und traumhaft für mich. Ich habe mich offenbart, in dem Glauben, sie in Schrecken fortzutreiben; sie ist nicht mehr entsetzt und lächelt über meine Seltsamkeit. Sie kniet nieder, um besser zu sehen. Ich gehe ein Stück zurück. Meine Augenstiele bewegen sich unruhig hin und her – ich bin unsicher, irgendwie habe ich die Oberhand in diesem Gefecht verloren. Sie sagte: »Ich wußte, daß du ungewöhnlich warst, aber nicht so. Aber es ist in Ordnung. Ich werde damit fertig. Ich meine, die grundlegende Persönlichkeit war es, in die ich mich verliebte. Wen kümmert es, daß du ein Krebsmann aus der Grünen Galaxis bist? Ich kann dieses Opfer bringen. Deine Seele ist es, David, die ich liebe. Mach weiter. Mach dich wieder zu. Du siehst so nicht angenehm aus.« Triumph der Liebe. Sie will mich selbst jetzt nicht aufgeben. Eine Katastrophe. Ich krieche zurück in Knecht, hebe seine Arme zu seiner Brust und versiegle sie. Schock läßt meine Sinne trübe werden: die Ungeheuerlichkeit, die Verwegenheit. Was habe ich getan? Elizabeth sieht zu, ehrfurchtsvoll, sogar entzückt. Schließlich bin ich
wieder heil. Sie nickt. »Hör zu«, sagt sie mir, »du kannst mir vertrauen. Ich meine, du bist eine Art Spion, der die Erde ausspioniert, aber es ist mir gleich. Es ist mir gleich. Ich werde es niemandem erzählen. Schütte dich aus, David. Erzähl mir von dir. Verstehst du nicht? Das ist die größte Sache, die mir je passiert ist. Eine Chance zu beweisen, daß Liebe nicht nur körperlich, nicht nur Chemie ist, daß sie ein Seelentrip ist, daß sie nicht nur Rassenschranken niederreißt, sondern die Schranken der ganzen, verdammten Spezies, des Planeten selbst –«
Es brauchte mehrere Stunden, sie loszuwerden. Eine hochtrabende, intensive Unterhaltung, bei der Elizabeth die größten Gesprächsanteile hat. Sie stellt Theorien auf, warum ich zur Erde gekommen bin. Ich nicke, verneine, führe näher aus, die meiste Zeit über in Entsetzen über meinen Verrat gefangen, höre ich ihrem Monolog kaum zu. Und der Feuchtigkeitsgehalt, der mich zu verwesendem Abfall werden läßt. Schließlich: »Ich habe das Schlimmste hinter mir. Ich werde einen Spaziergang machen. Dann gehe ich auf mein Zimmer und schreibe ein wenig. Um diese Nacht in einem Gedicht festzuhalten, bevor sie mir entgleitet. Aber gegen Morgengrauen komme ich zu dir zurück, in Ordnung? Das sind vielleicht fünf Stunden von jetzt an. Du wirst da sein? Du wirst keine Dummheit machen? Oh, ich liebe dich so, David! Glaubst du es mir? Glaubst du es?« Als sie fort war, stand ich lange Zeit am Fenster
und versuchte, mich wieder zusammenzusetzen. Zerschmettert. Ausgetrocknet. Dachte an ihre Küsse, ihre Lippen, wie sie den Rand, der die Stelle markiert, wo meine Brust sich öffnet, entlangliefen. Die Faszination der Abscheu. Sie will mich selbst dann lieben, wenn ich unter der Außenhülle ein Krebstier bin. Ich brauchte Hilfe. Ich ging zu Swansons Zimmer. Er beeilte sich nicht, auf mein Klopfen zu reagieren – geschäftiges Übermitteln, kein Zweifel. Ich konnte ihn drinnen hören, aber er antwortete nicht. »Swanson?« rief ich. »Swanson?« Dann setzte ich das Notsignal in der Sprache von Heimatwelt hinzu. Er stürmte zur Tür. Blinzelnd, argwöhnisch. »Alles in Ordnung«, sagte ich. »Schauen Sie, lassen Sie mich rein. Ich bin in großen Schwierigkeiten.« Sprach Englisch. Aber ich gab ihm noch mal das Notsignal. »Woher wissen Sie Bescheid?« fragte er. »Den Tag, als das Zimmermädchen bei Ihnen hereinplatzte, während Sie aßen, ging ich gerade vorbei. Ich sah es.« »Aber Sie dürfen nicht –« »Außer in Notfällen. Dies ist ein Notfall.« Er stellte seine Ultrawellensender ab und lauschte aufmerksam meiner Geschichte. Er schaute finster drein. Er billigte es nicht. Aber er würde mich nicht verächtlich zurückweisen. Ich hatte eine kriminelle Dummheit begangen, aber ich war von seiner Art, ein Opfer derselben Schmerzen, derselben Einsamkeit, und er würde mir helfen. »Was haben Sie jetzt vor?« fragte er. »Sie dürfen ihr nichts antun. Es ist nicht erlaubt.«
»Ich will ihr nichts antun. Ich will nur von ihr freikommen. Sie soll aufhören, mich zu lieben.« »Wie? Wenn Sie sich ihr zeigten, und es hat nichts genützt –« »Untreue«, sagte ich. »Ihr zeigen, daß ich jemand anderen liebe. Kein Platz in meinem Leben für sie. Das wird sie forttreiben. Danach wird es keine Rolle spielen, daß sie Bescheid weiß – wer würde ihre Geschichte glauben? Das FBI würde lachen und ihr sagen, sie solle mit dem LSD aufhören. Aber wenn ich ihre Anhänglichkeit zu mir nicht breche, ist es aus mit mir.« »Jemand anders lieben? Wen?« »Wenn sie gegen Morgengrauen in mein Zimmer zurückkommt«, sagte ich, »wird sie uns beide dort finden, wie wir dividieren und abstrahieren. Ich glaube, das wird es bewerkstelligen, meinen Sie nicht?« So betrog ich Elizabeth mit Swanson. Die Tatsache, daß wir beide männliche menschliche Identitäten trugen, war natürlich irrelevant. Wir gingen auf mein Zimmer und legten unsere Verkleidungen ab – ein kühnes, verwirrendes Gefühl – und plötzlich waren wir nur noch mehr zwei Heimatweltler, empfänglich für die Bedürfnisse des andern. Ich ließ die Tür unverschlossen. Swanson und ich krochen auf mein Bett und begannen den Gesang. Wie seltsam es war, nach all diesen Jahren der Einsamkeit jene Vibrationen wieder zu spüren. Und wie wundervoll. Swansons Sinneshaare berührten meine. Das Wechselspiel war harmonisch. Eine gewisse Strenge in seiner Technik – er verachtete mich wegen
meiner Dummheit, und das mit Recht – aber als wir vom Singen erst einmal zum Dividieren übergingen, war alles vergeben. Und als wir zum Abstrahieren kamen, war es wahrhaft großartig. Wir stiegen zu einer Fülle orgiastischer Entleerungen auf. Morgendämmerung fiel über uns herein und fand uns unwillig, auch nur eine Pause zum Ausruhen zu machen. Ein Klopfen an der Tür. Elizabeth. »Komm rein«, sagte ich. Ein träumerischer, verzückter Gesichtsausdruck. Der augenblicklich verschwand, als sie uns beide ineinander verstrickt auf dem Bett sah. Ein fragendes Stirnrunzeln. »Wir haben uns gerade gepaart«, erklärte ich. »Dachtest du, ich wäre ein völliger Einsiedler?« Sie schaute von Swanson zu mir, von mir zu Swanson. Hand über dem Mund. Die Augen drücken Schmerz aus. Ich zog die Schraube ein wenig fester an. »Ich konnte dich nicht daran hindern, dich in mich zu verlieben, Elizabeth. Aber ich ziehe wirklich meine eigene Art vor. Wie dir hätte klar sein sollen.« »Sie jetzt hier zu haben, obwohl – wenn du wußtest, daß ich zurückkam –« »Nicht sie, genau genommen. Genau genommen auch nicht er.« »– so grausam David! Ein so wundervolles Erlebnis zu zerstören.« Mit zitternden Händen hielt sie vier Bögen Papier. »Ein ganzes Sonett«, sagte sie. »Über heute nacht. Wie wundervoll und so es war. Und jetzt – und jetzt –« Sie zerknüllte die Seiten. Schleuderte sie ins Zimmer. Drehte sich um. Rannte wild schluchzend hinaus. Die Hölle kennt keine vergleichbare
Wut. »David!« Ein erstickter Schrei. Und schlug die Tür zu.
Innerhalb von zehn Minuten war sie zurück. Swanson und ich waren noch nicht ganz damit fertig, unsere Körper anzuziehen – wir waren beide noch unverschlossen. Während wir arbeiteten, diskutierten wir weitere Schritte. Er glaubte, die Ehre geböte es, daß ich um eine Versetzung nach Heimatwelt ersuchte, nachdem ich nach der Indiskretion heute nacht hier nicht länger von Nutzen war. Ich teilte seine Meinung bis zu einem gewissen Grad, empfand aber Widerstreben zu gehen. Trotz der körperlichen Qual des Lebens auf der Erde hatte ich das Gefühl entwickelt, hierher zu gehören. Dann trat Elizabeth ein, sie strahlte. »Ich darf nicht so besitzgierig sein«, verkündete sie. »So bourgeois. So konventionell. Ich bin bereit, meine Liebe zu teilen.« Sie umarmte Swanson. Umarmte mich. »Eine ménage à trois«, sagte sie. »Es soll mich nicht kümmern, daß ihr beide eine körperliche Beziehung habt. Solange ihr mich nicht völlig aus eurem Leben ausschließt. Ich meine, David, wir hätten niemals eine körperliche Beziehung haben können, richtig, aber wir können die anderen Seiten der Liebe haben. Und wir werden auch deinen Freund mit einbeziehen. Ja? Ja? Ja?«
Swanson und ich reichten beide Gesuche um Versetzung ein, er nach Afrika, ich nach Heimatwelt. Es würde einige Zeit dauern, bis uns eine Antwort erreichte. Bis dahin hingen wir von ihrer Gnade ab. Er hatte eine verteufelte Wut auf mich, weil ich ihn mit hineingezogen hatte, aber welche Wahl hatte ich gehabt? Auch konnte keiner von uns Elizabeth entgehen. Wir waren ihrer Gnade ausgeliefert. Sie überschüttete uns beide mit schimmernden Wellen von Zärtlichkeit; wo immer wir uns hinwandten, sie war da, glühte vor Liebe. Die Dunkelheit unseres Lebens erleuchten. Ihr armen, einsamen Kreaturen. Leidet ihr sehr in unserer Schwerkraft? Wie steht es mit der Hitze? Und die Winter. Gibt es einen Brauch zu heiraten auf eurem Planeten? Habt ihr Poesie? Ein glückliches Trio. Wir gingen zusammen ins Theater. In Konzerte. Sogar zu Parties in Greenwich Village. »Meine Freunde«, sagte Elizabeth, und ließ bei keinem Zweifel darüber aufkommen, daß sie mit beiden von uns zusammenlebte. Skandalös angehauchtes Tun; sie liebte es, gewagt zu wirken. Swanson erduldete es verdrossen, ließ sich ihre Mätzchen gefallen, aber privat schwang er bombastische Reden, daß ich ihn in all das hineingezogen hatte. Elizabeth brachte ein neues mimeographisches Gedichtbändchen heraus, das uns beiden gewidmet war. Trip zu dritt, nannte sie es. Schamlos erotisch. Ich führte einige der Gedichte in einem meiner Berichte an Heimatwelt an, verlor dann aber den Mut und versteckte das Bändchen im Wandschrank. »Haben Sie Nachricht von Ihrer Versetzung erhalten?« fragte ich Swanson zuletzt zweimal wöchentlich.
Er hatte nicht. Noch hatte ich es. Herbst kam. Elizabeth, die auf beiden Klavieren spielte, sah dünn und fiebernd aus. »Ich habe niemals solches Glück gekannt«, verkündete sie häufig, eine Hand umfaßte Swanson, die andere mich. »Ich denke überhaupt nicht mehr an eure Fremdartigkeit. Ich denke von euch nur als Leute. Süße, wundervolle, einsame Leute. Hier in der Dunkelheit dieser entsetzlichen Stadt.« Und einmal sagte sie: »Was, wenn jeder hier wie ihr ist und ich die einzige bin, die wirklich menschlich ist? Aber das ist albern. Ihr müßt die einzigen eurer Art sein. Die Vorhut, die auskundschaftet. Wird euer Planet unseren erobern? Ich hoffe es wirklich! Alles in Ordnung bringen. Endlich die Herrschaft der Liebe und Vernunft errichten!« »Wie lange wird das noch so weitergehen?« murmelte Swanson.
Ende Oktober kam seine Versetzung durch. Er ging fort, ohne auch nur einem von uns Lebewohl zu sagen und ohne eine Nachsendeadresse zu hinterlassen. Nairobi? Addis Abeba? Kinshasa? Ich hatte mich daran gewöhnt, daß er die Last, die Elizabeth darstellte, gemeinsam mit mir trug. Nun traf mich die volle Wucht ihrer Zuneigung. Meine Arbeit litt darunter. Ich hatte keine Zeit, meine Berichte ordnungsgemäß einzureichen. Und ich lebte in Angst vor ihrem Tratsch. Was erzählte sie wohl ihren
Freunden im Dorf? (Ihr kennt doch David? Er ist kein wirklicher Mensch, wißt ihr. In seinem Innern ist doch tatsächlich so ein Krebsding aus einem anderen Sonnensystem. Aber was spielt das für eine Rolle? Liebe ist ein universales Phänomen. Der wirklich Liebende zieht keine Grenzen um die Planeten.) Ich sehnte mich nach meiner Erlösung. Heimzugehen, meine Strafe hinzunehmen, meine falsche Haut loszuwerden. Meinen Verstand von Elizabeth reinigen. Am dreizehnten November kam meine Antwort durch den Ultrawellensender. Gesuch abgelehnt. Ich sollte auf der Erde bleiben und meine Arbeit wie bisher fortsetzen. Versetzungen nach Heimatwelt wurden nur aus gesundheitlichen Gründen genehmigt. Ich erwog, einen vollständigen Bericht meines Verrats an Heimatwelt zu senden, um derart meinen sicheren Rückruf zu erwirken. Aber, überwältigt von Verzweiflung, zögerte ich. Düsteres Brüten ergriff von mir Besitz. »Warum so traurig?« fragte Elizabeth. Was konnte ich sagen? Daß mein Versuch, ihr zu entkommen, fehlgeschlagen war. »Ich liebe dich«, sagte sie. »Ich habe mich noch nie so wirklich gefühlt.« Rieb sich gegen meine Wange. Finger verwirrten mein Haar. Ein verführerisches Geflüster. »David, mach dich nochmal auf. Deine Brust, meine ich. Ich will das innere Du sehen. Um mich zu vergewissern, daß es mich nicht ängstigt. Willst du? Du brauchst mich dich nur einmal sehen zu lassen.« Und dann, als ich es getan hatte: »Darf ich dich küssen, David?« Ich war entsetzt. Aber ich ließ sie. Ihr war nicht bange. Verklärt vor Glück. Sie ist eine kosmische Plage, aber ich fürchte, ich fange an, sie zu mögen.
Kann ich sie verlassen? Ich wünschte, Swanson wäre nicht verschwunden. Ich brauche Rat.
Entweder ich breche mit Elizabeth, oder ich breche mit Heimatwelt. Es ist absurd. Jeden Tag entdecke ich neue Abgründe der Mutlosigkeit. Ich hin unfähig, meine Arbeit zu machen. Ich habe erneut um Versetzung ersucht, ohne in Details zu gehen. Heute der erste Schnee des Winters.
Gesuch abgelehnt.
»Als ich dich zusammen mit Swanson fand«, sagte sie, »war es ein furchtbarer Schock. Ein noch gewaltigerer Schlag, als du zum erstenmal aus deiner Brust herauskamst. Ich meine, es war erschreckend herauszufinden, daß du nicht menschlich warst, aber das traf mich nicht emotionell – es erschien mir nicht bedrohlich. Aber dann ein paar Stunden später zurückzukommen und dich zusammen mit einem deiner eigenen Art zu finden, zu wissen, daß du mich ausschließen wolltest, daß ich keinen Platz in deinem Leben hatte – nur, wir haben das Problem gelöst, nicht wahr?«
Küßt mich. Freudentränen in den Augen. Wie konnte dies geschehen? Wo hat es alles angefangen? Leben war einmal so einfach. Ich habe versucht, die Kette der Ereignisse, die mich von dort nach hier gebracht haben, zurückzuverfolgen, und ich kann es nicht. Heute war ich für acht Stunden außerhalb meines falschen Körpers. Die längste Periode bisher. Elizabeth spricht davon, mit mir während des Winters zu den Inseln zu fahren. Eine abgelegene Hütte, die ihr ihre Freunde besorgen wollen. Natürlich darf ich meinen Posten nicht ohne Erlaubnis verlassen. Und es dauert Monate, auch nur Antwort zu erhalten.
Lassen Sie mich die Wahrheit zugeben: Ich liebe sie.
1. Januar. Das neue Jahr beginnt. Ich habe meine Demission an Heimatwelt gesendet und die Ultrawellenanlage zerstört. Die Bindeglieder sind gerissen. Morgen, wenn die städtischen Behörden öffnen, werden Elizabeth und ich zum Standesamt gehen.
Originaltitel THE REALITY TRIP Aus IF, Mai–Juni 1970 Copyright © 1970 by Universal Publishing and Distributing Company
Fred Saberhagen SCHWINGEN AUS DEM DUNKEL Die Berserker-Erzählungen des Autors sind eine fortlaufende Chronik des Triumphes des menschlichen Geistes. Gegen die kalten, mit tödlicher Präzision vorgehenden Mordmaschinen muß der Mensch zu seinen äußersten Mitteln greifen, ganz wie es die tapferen Krieger in dieser Story tun. In Maloris erstem und einzigem Kampfeinsatz erschien ihm der Berserker als Priester jener Sekte, in die Malori auf dem Planeten Yaty hineingeboren worden war. In einer traumähnlichen Vision, die eine Analogie zu einem nur zu wirklichen Kampf war, sah er die hochgewachsene Gestalt in einem Talar vor einer deformierten Kanzel stehen, mit feindselig glühenden Augen und drohend erhobenen Armen, die wie Flügel aussahen in den weiten Ärmeln des Talars, in denen sie steckten. Als sie sich senkten, verdüsterten sich die Lichter des Universums draußen vor den Kirchenfenstern, und Malori war verdammt. Selbst mit vor Entsetzen über die Verdammung hämmerndem Herzen entsann sich ein Teil von Maloris Bewußtsein der wahren Natur seiner selbst und der seines Widersachers, und daß er nicht machtlos gegen ihn war. Seine Traumfüße ließen ihn auf die Kanzel und ihren Dämonenpriester zugehen, während überall um ihn herum das Kirchenfensterglas barst und Splitter erbärmlicher Angst auf ihn niederprasseln ließ. Er schlug Haken und wich jenen Stellen
des glatten Fußbodens aus, wo der Priester mit raschen Gebärden wütend zuschnappende Steinmäuler schuf, die vor Zähnen nur so starrten. Malori schien unbegrenzte Zeit zu haben, um sich zu entscheiden, wohin er den Fuß zu setzen hatte. Waffe, dachte er wie ein Chirurg, der einem unsichtbaren Gehilfen Anweisungen gab. Hier – in meiner rechten Hand. Von jenen, die ähnliche Schlachten überlebt hatten, hatte er erfahren, daß der nichtmenschliche Gegner jedem in anderer Gestalt erschien und daß jedes menschliche Wesen den Kampf als einen einzigen Alptraum durchleben mußte. Manchen erschien ein Berserker als gierige Bestie, anderen als Teufel, Gott oder Mensch. Andere wieder packte ein an die Substanz gehendes Entsetzen, das keine sichtbare Gestalt annahm, und dem nicht begegnet werden konnte. Der Kampf war ein Alptraum, der im Unterbewußtsein stattfand. Das Wachbewußtsein wurde von sanftem elektrischem Druck auf das Gehirn unterdrückt. Augen und Ohren waren verbunden, weil es die Unterdrückung des bewußten Denkens erleichterte, die Kiefer waren festgebunden, um die Zunge vor Bissen zu schützen, und der nackte Körper wurde von Schutzfeldern unbeweglich gehalten, die die Tausende von Grav von ihm abhielten, die bei jedem Manöver des Einmannschiffes auftraten. Es war ein Alptraum, aus dem das blanke Entsetzen allein einen niemals erwecken konnte; Erwachen kam nur, wenn der Kampf vorbei war, kam nur bei Tod, Sieg oder Abschaltung. In Maloris Traumhand tauchte jetzt ein Fleischermesser auf, scharf wie eine Rasierklinge und massiv wie das Fallbeil einer Guillotine. So groß war es, daß,
wäre es gewesen, was es zu sein schien, es bei weitem zu schwer gewesen wäre, um es auch nur anzuheben. Der Fleischerladen seines Onkels auf Yaty war, wie alle menschlichen Werke auf diesem Planeten, dahingegangen. Aber das Hackmesser kehrte nun wieder zu ihm zurück, verzaubert, perfektioniert, um ihm in seiner Not zu helfen. Er packte es fest mit beiden Händen und ging vorwärts. Als er näherkam, wuchs die Kanzel zu einem Turm in die Höhe. Der in ihre Vorderseite geschnitzte Drache, der eigentlich ein Engel hätte sein müssen, wurde lebendig und versengte ihn mit rosenrotem Feuer. Mit einem Schild, das aus dem Nirgendwo kam, wehrte er die Flammen ab. Draußen, vor den Überbleibseln der Kirchenfenster, waren die Lichter des Universums jetzt nahezu erloschen. Malori stand vor dem Unterteil der Kanzel und holte mit dem Hackmesser aus, als wolle er von oben her nach dem Priester schlagen, der außerhalb seiner Reichweite über ihm stand. Dann, ohne jeden Vorgedanken, visierte er sein Ziel an und führte einen krachenden Schlag gegen den Sockel der Kanzel. Sie wankte, hielt aber stand. Verdammung kam. Bevor ihn die Teufel jedoch erreichten, wurde die Energie aus dem Traum abgezogen. Innerhalb weniger als einer Sekunde realer Zeit war er nicht mehr als ein verschwommener visueller Eindruck, einige Sekunden später nur noch eine verblassende Erinnerung. Malori kam wieder zu Bewußtsein, Augen und Ohren waren noch verbunden. Er schwebte in besänftigender Vergessenheit. Bevor Erschöpfung und Entzug der Sinneswahrnehmungen in der Weise zusammenwirken konnten, daß sie eine Psychose in ihm
hervorriefen, begannen Elektroden an seinem Schädel sein Gehirn mit kribbelnden Stromstößen zu füttern. Es war das sicherste Signal, das einem Gehirn verabreicht werden konnte, das vielleicht auf dem Grat zu einer von einem Dutzend verschiedener Sorten des Wahnsinns stand. Das Kribbeln rief ein weißliches, tosendes Streulicht und Töne hervor, die seinen Kopf auszufüllen schienen und ihm gleichzeitig irgendwie ein Gefühl von der Lage seiner Gliedmaßen vermittelten. Sein erster voll bewußter Gedanke war: er hatte gerade mit einem Berserker gekämpft und hatte überlebt. Er hatte ihn besiegt – oder ihn zumindest zurückgeschlagen – sonst wäre er nicht hier. Und das war keine geringe Leistung. Berserker waren anders als alle Gegner, denen menschliche Wesen irdischer Abstammung gegenüber gestanden hatten. Sie waren verschlagen und intelligent und waren doch keine Lebewesen. Sie waren Relikte eines vor vielen Zeitaltern geführten interstellaren Krieges, Automaten, Kriegsschiffe zumeist. Sie waren darauf programmiert, jegliches Leben, wo immer sie es antrafen, zu vernichten. Yaty war nur der letzte von vielen von Menschen besiedelten Planeten gewesen, der einen Berserkerangriff zu erdulden gehabt hatte, und er hatte noch Glück gehabt; fast die gesamte Bevölkerung war erfolgreich evakuiert worden. Und jetzt kämpften Malori und andere im tiefen Weltraum, um die Hope zu beschützen, eines der gewaltigen Evakuierungsschiffe. Die Hope war eine Kugel mit mehreren Kilometern Durchmesser, groß genug, um einen beträchtlichen Anteil der Pla-
netenbevölkerung aufzunehmen, die, von Stasisschutzfeldern umgeben, reihenweise übereinandergestapelt waren. Eine lokale Lockerung der Felder ermöglichte ihnen das Atmen, um ihren verlangsamten Metabolismus am Leben zu erhalten. Die Reise zu einem sicheren Sektor der Galaxis würde mehrere Monate in Anspruch nehmen, weil die meiste Zeit damit zugebracht werden mußte, Nebenarme des großen Taynarusnebels zu durchqueren. Hier waren Gase und Staub viel zu dicht, um es einem Schiff zu erlauben, den Normalraum zu verlassen und mit Überlichtgeschwindigkeit zu reisen. Selbst die Reisegeschwindigkeit im Normalraum unterlag engen Restriktionen. Bei nur wenigen tausend Kilometern pro Sekunde konnten bemanntes Schiff wie auch Berserkermaschine gleichermaßen von den Gaswolken, die weitaus dünner waren als der menschliche Atem, zerschmettert werden. Taynarus war eine Wildnis von auf keiner Sternkarte verzeichneten Wolken und Ranken aus verstreuter Materie, die durch Korridore relativ leeren Weltraums miteinander verbunden waren. Ein großer Teil der Wildnis wurde von interstellarem Staub völlig von dem Licht der äußeren Sonnen abgeschirmt. Durch dunkle Untiefen, Sümpfe und Fluten des Nebels flüchteten die Hope und ihr Begleitschiff Judith, gefolgt von einer Meute Berserker. Manche Berserker waren sogar noch größer als die Hope, aber diejenigen, die die Verfolgung aufgenommen hatten, waren wesentlich kleiner. In Weltraumregionem in denen die Materie so dicht war, ging eine Rasse dazu über, kleine und schnelle Schiffe zu bauen; denn in dem Maße, wieder wirksame Querschnitt eines Schiffes
zunahm, verringerte sich unausweichlich seine faktische Höchstgeschwindigkeit. Die Hope, die für diese Verfolgungsjagd schlecht gerüstet war (in der Eile, in der die Evakuierung vollendet werden mußte, hatte es keine andere Möglichkeit gegeben), durfte nicht darauf hoffen, dem kleineren und wendigeren Gegner zu entkommen. Deshalb hatte man das Begleitschiff Judith gebaut, das stets versuchte, eine Position zwischen der Hope und der Meute der Berserker einzunehmen. Die Judith war das Trägerschiff der kleineren Kampfschiffe, die sie ausspie, wann immer der Feind zu nahe kam, und die die Überlebenden wieder an Bord nahm, wenn das drohende Unheil wieder einmal abgewendet worden war. Zu Beginn der Verfolgungsjagd hatte es fünfzehn der Einmannschiffe gegeben. Jetzt waren es noch neun. Die Kribbelinjektionen aus Maloris Lebenserhaltungssystem ließen nach und hörten dann auf. Noch einmal saß sein Wachbewußtsein unbeweglich auf seinem Thron. Das allmähliche Nachlassen der Schutzfelder war, wie er wußte, ein sicheres Zeichen dafür, daß er bald wieder die Welt der wachen Menschen teilen würde. Kaum daß sein Kampfschiff, die Nummer Vier, automatisch in der Judith eingedockt hatte, begann Malori eilig die Anschlüsse an die Systeme des winzigen Schiffes zu trennen. Er zog einen locker sitzenden Overall über und kroch aus der engen Kabine heraus. Ein hagerer Mann mit knorrigen Gelenken und linkischem Gang, so eilte er einen Laufsteg entlang, der durch eine widerhallende, hangarähnliche Halle führte. Er bemerkte, daß drei oder vier andere
Kampfschiffe neben dem seinen bereits zurückgekehrt waren und wieder auf ihren Rampen ruhten. Die künstliche Schwerkraft schwankte nur geringfügig, aber Malori stolperte und wäre in seiner Hast, die kurze Leiter hinabzusteigen, die zum Einsatzdeck führte, fast gestürzt. Petrovich, Kommandant der Judith, ein bulliger, mittelgroßer Mann mit ehernen Gesichtszügen, erwartete ihn auf dem Deck. »Hab – hab ich meinen Abschuß gemacht?« stotterte Malori, als er herangeeilt kam. Die militärischen Anredeformen wurden an Bord der Judith in der Regel wenig beachtet, und Malori war ohnehin Zivilist. Daß man ihm überhaupt erlaubt hatte, ein Kampfschiff zu übernehmen, war ein Zeichen für die Verzweiflung des Kommandanten. Petrovich schaute ihn finster an. Seine Antwort war schonungslos. »Malori, Sie waren katastrophal. Sie haben nicht das geringste Gespür dafür.« Für Malori brach die Welt ein klein wenig zusammen. Er war sich bis zu diesem Moment nicht bewußt gewesen, wie wichtig ihm gewisse Ruhmesträume waren. Er konnte nur schwächliche und linkische Worte finden. »Aber – ich dachte, ich hätte es richtig gemacht.« Er versuchte sich den Alptraum des Kampfes in Erinnerung zu rufen. Etwas mit einer Kirche. »Zwei Mann mußten ihre Schiffe von ihren ursprünglichen Kampfzielen abziehen, um Sie zu retten. Ich habe mir die Bänder Ihrer Geschützkameras schon angesehen. Sie sind mit der Nummer Vier geradewegs an dem Berserker vorbeigerauscht, als hätten Sie nicht die geringste Absicht gehabt, ihn zu zerstören.« Petrovich betrachtete ihn sich genauer,
zuckte die Achseln und dämpfte seine Stimme ein wenig. »Ich will Sie nicht zur Sau machen, Sie haben natürlich nicht einmal begriffen, was vor sich ging. Ich stelle bloß Tatsachen fest. Wir verdanken es nur dem Zufall, daß die Hope zwanzig AE tief in einer Formaldehydwolke voraus steckt. Wäre sie zu diesem Zeitpunkt in einer exponierten Position gewesen, hätten sie sie gekriegt.« »Aber –« Malori versuchte einen Einwand vorzubringen, aber der Kommandant ließ ihn einfach stehen. Weitere Kämpfer trafen ein. Luftschleusen seufzten, und Rampen knirschten, und Petrovich hatte eine Menge wichtigerer Dinge zu tun, als hier herumzustehen und mit ihm zu debattieren. Für ein paar Augenblicke stand Malori verlassen da, er fühlte sich ›klein und häßlich‹ gemacht, besiegt und gedemütigt. Unwillkürlich warf er der Nummer Vier einen sehnsüchtigen Blick zu. Sie war ein kurzer, fensterloser Zylinder, nicht viel mehr als mannshoch im Durchmesser; sie ruhte auf ihren metallenen Schienen, während Techniker sich an ihr zu schaffen machten. Von der stummelartigen Mündung des Hauptlasers, der noch immer heiß war vom Feuern, stiegen jetzt, wo sie wieder Luft um sich hatte, Rauchwolken auf. Da hatte er sein Hackmesser. Kein Mensch konnte beim Steuern von Schiffen oder Bedienen von Waffen mit einer guten Maschine konkurrieren. Die schleichende Langsamkeit der menschlichen Nervenimpulse und des bewußten Denkens machte es Menschen unmöglich, direkte Kontrolle über ihre Schiffe während eines Kampfes gegen Berserker auszuüben. Aber das menschliche Unterbewußtsein war nicht in gleicher Weise limi-
tiert. Einige seiner Prozesse konnten nicht auf spezifische synaptische Aktivitäten innerhalb des Gehirns zurückgeführt werden, und einige Theoretiker vertraten die Ansicht, daß diese Prozesse außerhalb der Zeit stattfanden. Die meisten Physiker waren über diese Interpretation entsetzt – aber für den Weltraumkampf war es eine nützliche Arbeitshypothese. Beim Kampf waren die Computer der Berserker mit ausgeklügelten Zufallsstreuungsvorrichtungen gekoppelt, die für das feine Gespür, die Unvorhersehbarkeit sorgten, was ihnen einen Vorteil gegenüber einem Gegner verschaffte, der sich folgerichtig einfach für dasjenige Manöver entschied, das der Statistik nach den größten Erfolg versprach. Auch die Menschen verwendeten Computer, um ihre Schiffe zu steuern, hatten jetzt aber einen Vorteil über die besten Zufallsstreuer errungen, und zwar indem sie einmal mehr auf ihre eigenen Gehirne bauten, von denen Teile ganz offensichtlich von aller Hast befreit waren, weil sie außerhalb der Zeit operierten, wo selbst das schnelle Licht so unbeweglich wie erstarrtes Eis sein mußte. Die Sache hatte ihre Kehrseite. Manche Leute (einschließlich Malori, wie es jetzt den Anschein hatte) waren einfach nicht für die Aufgabe geeignet. Ihr Unterbewußtsein schien an solch vergänglichen Angelegenheiten wie Leben oder Tod wenig interessiert. Und selbst bei geeigneten Personen wurde das Unterbewußtsein gewaltigem Streß ausgesetzt. Anschlüsse an äußere Computer überlasteten das Gehirn auf bisher unverstandene Weise. Einer nach dem anderen wurden die aus dem Kampf zurückkehrenden menschlichen Piloten aus ihren Schiffen geschafft, der
eine litt an Katatonie, der andere an hysterischen Erregungszuständen. Die geistige Gesundheit konnte vielleicht wiederhergestellt werden, aber der Mann oder die Frau war danach als Partner eines Kampfcomputers wertlos. Das System war noch so neu, daß die Bedeutung dieser Kehrseite den Menschen an Bord der Judith erst allmählich bewußt wurde. Die ausgebildeten Mannschaften der Kampfschiffe waren aufgebraucht worden, ebenso wie ihre Ersatzmänner. So kam es, daß Malori, ein Historiker, und andere untrainierte Leute in den Kampf geschickt wurden. Aber indem man sich ihrer Gehirne bediente, gewann man einen kleinen Aufschub. Malori begab sich vom Einsatzdeck zu seiner kleinen Einzelkabine. Er hatte seit einiger Zeit nichts mehr gegessen, aber er war nicht hungrig. Er wechselte die Kleidung, ließ sich in einem Sessel nieder und betrachtete das Bett, dann die Bücher und Bänder und die Violine, aber er unternahm keinen Versuch, sich zu beschäftigen oder auszuruhen. Er rechnete mit einem umgehenden Anruf von Petrovich. Denn jetzt gab es für Petrovich keinen anderen Ausweg mehr. Er lächelte fast, als der Kommunikator läutete und ihm die Aufforderung übermittelte, sich umgehend mit dem Kommandanten und anderen Offizieren zu treffen. Malori bestätigte und brach auf. Mit sich nahm er einen braunen, lederartigen Kasten, etwa in der Größe einer Aktentasche, den er aus einigen hundert anderen, ähnlichen Kästen auswählte, die sich in einem kleinen, an seine Kabine angrenzenden Raum befanden. Der Kasten trug die Aufschrift: CRAZY HORSE. Petrovich schaute auf, als Malori den kleinen Pla-
nungsraum betrat, in dem die Handvoll Schiffsoffiziere bereits um einen Tisch versammelt saß. Der Kommandant warf einen Blick auf den Kasten, den Malori bei sich trug, und nickte. »Wie es scheint, haben wir keine andere Wahl, Mr. Historiker. Uns gehen die Leute aus, und wir werden auf Ihre Pseudopersönlichkeiten zurückgreifen müssen. Glücklicherweise haben wir inzwischen die notwendigen Adapter in allen Kampfschiffen fertig installiert.« »Ich denke, die Erfolgsaussichten sind ausgezeichnet«, sagte Malori sanft, während er auf dem für ihn freigelassenen Sitz Platz nahm und den Kasten mitten auf den Tisch stellte. »Sie besitzen natürlich kein wirkliches Unterbewußtsein, aber wie wir in unseren früheren Diskussionen überein gekommen sind, werden sie für mehr hochentwickelte Zufallsstreuungsvorrichtungen sorgen, als wir sie auf anderem Wege beschaffen könnten. Jede besitzt eine außergewöhnliche, wenn auch künstliche Persönlichkeit.« Einer der Offiziere beugte sich vor. »Die meisten von uns haben diese Diskussionen, von denen Sie sprechen, versäumt. Könnten Sie uns ein wenig ins Bild setzen?« »Gewiß.« Malori räusperte sich. »Diese Pseudopersönlichkeiten, wie wir sie gewöhnlich nennen, werden bei Computersimulationen historischer Probleme verwendet. Ich war in der Lage, einige Hundert davon von Yaty mitzubringen. Viele sind Modelle von Militärs.« Er legte die Hand auf den Kasten vor sich. »Die hier ist eine Rekonstruktion der Persönlichkeit eines der fähigsten Kavallerieführer der altertümlichen Erde. Sie gehört nicht zu der Gruppe, die wir für den ersten Versuch ausgewählt haben, ich habe sie
nur mitgebracht, um jedem von Ihnen, der daran interessiert ist, das Konzept und den inneren Aufbau zu demonstrieren. Jede Pseudopersönlichkeit enthält etwa vier Millionen Bögen gedruckter Information.« Ein anderer Offizier hob die Hand. »Wie können Sie die Persönlichkeit von jemandem genau rekonstruieren, der gestorben sein muß, lange bevor es irgendwelche Techniken der direkten Aufzeichnung gegeben hat?« »Wir können uns der Genauigkeit natürlich nicht sicher sein. Wir können uns nur nach historischen Aufzeichnungen und was wir von Komputersimulationen über das betreffende Zeitalter ableiten richten. Es sind nur Modelle. Aber sie dürften ihren Zweck für den Kampf ebenso erfüllen wie für die historischen Studien, für die sie hergestellt wurden. Ihre Entscheidungen dürften grundlegende Aggressivität und Entschlossenheit widerspiegeln –« Der völlig unerwartete Knall einer Explosion ließ die versammelten Offiziere wie ein Mann aufstehen. Petrovich hatte trotz schneller Reaktion nur noch Zeit, sich von seinem Sessel zu befreien, bevor eine zweite und weitaus heftigere Explosion durch das Schiff widerhallte. Malori war schon fast an der Tür, auf dem Weg zu seinem Kampfposten, als die dritte Explosion kam. Sie hörte sich an wie das Ende der Galaxis, und er sah, daß Einrichtungsgegenstände durch die Gegend flogen und daß die Schotte rund um den Versammlungsraum sich zu schließen begannen. Malori hatte den einen klaren und ruhigen Gedanken, wie unfair es war, daß er jetzt sterben würde, und dann hörte er eine Zeitlang ganz zu denken auf.
Erwachen war ein langsamer, unangenehmer Vorgang. Er erkannte, daß die Judith nicht völlig zerstört worden war, denn er atmete noch, und die künstliche Schwerkraft hielt ihn noch immer auf allen vieren auf dem Deck fest. Ohne Schwerkraft wäre es vielleicht angenehmer gewesen, denn sein Körper war ein ungeheurer, pochender Schmerz, ein Schmerz, der von einem Zentrum irgendwo in seinem Schädel ausstrahlte. Er hatte nicht die Absicht, die Schmerzensquelle ausfindig zu machen. Allein der Gedanke, seinen Kopf anzurühren, war qualvoll. Schließlich wurde der Drang herauszufinden, was vor sich ging, stärker als die Furcht vor dem Schmerz, und er hob den Kopf und unterzog ihn einer Untersuchung. Er hatte eine große Beule über der Stirn und kleine Verletzungen in seinem blutverkrusteten Gesicht. Er mußte einige Zeit weg gewesen sein. Der Versammlungsraum war völlig zerstört worden. Überall lagen Trümmer herum. Da lag ein zerquetschter Körper, der tot sein mußte, und da noch einer und noch einer, halb begraben unter Einrichtungsgegenständen. War er der einzige Überlebende? Ein Schott war weit aufgerissen worden, und der Planungstisch war übel zugerichtet. Und was war das für ein großes, unvertrautes Stück Maschinerie, das am anderen Ende des Raums stand? So groß wie ein hoher Aktenschrank, aber weitaus komplizierter. Seine Beine waren irgendwie seltsam, so als könnten sie beweglich sein ... Malori erstarrte in äußerstem Entsetzen, denn das Ding bewegte sich tatsächlich, es schwenkte einen Komplex aus Geschütztürmchen und Linsen auf ihn zu, und er begriff, daß er eine funktionell konstruierte
Berserkermaschine vor sich hatte, die ihn ihrerseits gesehen hatte. Es war eine der kleinen, die für Enterund Kontrollzwecke verwendet wurden. »Komm her«, sagte die Maschine. Ihre quieksende, lächerliche Stimme war eine Parodie des menschlichen Sprechorgans, aufgezeichnete Silben der Stimmen von Gefangenen, die elektronisch wieder zusammengesetzt und abgespielt wurden. »Das Schlechtleben ist erwacht.« In seiner Angst dachte Malori, daß die Worte an ihn gerichtet waren, doch er vermochte sich nicht zu rühren. Dann trat jedoch ein Mann durch das Loch im Schott, den Malori noch nie gesehen hatte – ein verwildert und ungepflegt aussehender Kerl in einem schmutzigen Overall, der vielleicht einmal zu einer militärischen Uniform gehört haben mochte. »Ich sehe, Herr«, sagte der Mann zu der Maschine. Er sprach die interstellare Standardsprache mit rauher Stimme, in der Spuren eines kultivierten Akzents anklangen. Er ging einen Schritt auf Malori zu. »Sie da, können Sie mich verstehen?« Malori brummte etwas Unverständliches, versuchte zu nicken und richtete sich langsam zu einer unbeholfenen sitzenden Stellung auf. »Die Frage ist«, fuhr der Mann, noch ein Stück näher kommend, fort, »wie wollen Sie es später haben, leicht oder schwer? Wenn man mit Ihnen Schluß macht, meine ich. Ich entschied mich schon vor langem, daß ich es kurz und schmerzlos haben will, und nicht allzu bald. Und auch, daß ich hie und da entlang des Weges meinen Spaß haben möchte.« Trotz der heftigen Schmerzen im Kopf überlegte Malori jetzt, und er begann zu verstehen. Es gab ei-
nen Namen für Menschen wie den Mann vor ihm, die mehr oder weniger bereitwillig mit den Maschinen zusammenarbeiteten. Aber im Augenblick hatte Malori nicht die Absicht, diesen Namen auszusprechen. »Ich will es kurz und schmerzlos«, war alles, was er sagte. Er blinzelte und versuchte trotz der Schmerzen sich den Nacken zu reiben. Der Mann musterte ihn noch eine Weile schweigend. »Gut«, sagte er dann. Sich wieder an die Maschine wendend, fügte er in einem anderen, unterwürfigen Tonfall hinzu: »Ich kann leicht mit diesem verletzten Schlechtleben fertigwerden. Es wird keine Schwierigkeiten geben, wenn Sie uns hier allein lassen.« Die Maschine richtete eine metallverkleidete Linse auf ihren Diener. »Vergiß nicht«, summte sie, »die Hilfstruppen müssen einsatzbereit gemacht werden. Die Zeit wird knapp. Ein Mißerfolg wird unangenehme Stimuli nach sich ziehen.« »Ich werde es nicht vergessen, Herr.« Der Mann sagte es in unterwürfigem Tonfall, und er meinte es ehrlich. Die Maschine betrachtete sie beide noch eine Weile und brach dann auf; die Metallbeine bewegten sich plötzlich präzise und fast anmutig. Kurze Zeit später vernahm Malori das vertraute Geräusch der sich schließenden Luftschleuse. »Wir sind jetzt allein«, sagte der Mann und sah zu ihm herab. »Wenn Sie mich irgendwie nennen wollen, sagen Sie Greenleaf zu mir. Lust, zu versuchen, mich zu überrumpeln? Wenn es so ist, tragen wir es besser gleich aus.« Er war nicht viel größer als Malori, aber er hatte riesige Hände, und er wirkte trotz seiner Abgerissenheit sehr zäh und tüchtig. »In Ordnung,
das ist eine kluge Entscheidung. Wissen Sie, Sie haben wirklich Glück gehabt, wenn Sie sich darüber auch noch nicht im klaren sind. Berserker sind anders als andere Herren, die Menschen haben – anders als Regierungen, Parteien, Gewerkschaften und ihre Zwecke, die dich nur ausnutzen und dann einfach fallenlassen. Nein, wenn die Maschinen keine Verwendung mehr für dich haben, erledigen sie dich schnell und sauber – wenn du gute Dienste geleistet hast. Ich weiß es, ich habe gesehen, wie sie das mit anderen Menschen gemacht haben. Kein Grund, warum sie es nicht tun sollten. Alles, was sie mit uns vorhaben, ist, daß wir sterben, nicht, daß wir leiden.« Malori sagte nichts. Er hoffte, daß er bald würde aufstehen können. Greenleaf (der Name schien so unpassend, daß er wahrscheinlich echt war, überlegte Malori) nahm eine Einstellung an einem kleinen Gerät vor, das er aus einer Tasche hervorgeholt hatte und nun fast unsichtbar in einer großen Hand verborgen hielt. Er fragte: »Wie viele Geleitschiffe außer diesem hier versuchen noch, die Hope zu beschützen?« »Ich weiß nicht«, log Malori. Die Judith war das einzige gewesen. »Wie heißen Sie?« Der größere Mann schaute immer noch auf das Gerät in seiner Hand. »Ian Malori.« Greenleaf nickte, und ohne daß sein Gesicht eine besondere Gefühlsregung zeigte, ging er zwei Schritte vor und trat Malori präzise und mit brutaler Gewalt in den Magen. »Das war für den Versuch mich zu belügen, Ian Malori«, sagte die Stimme seines Bezwingers, die
Malori dumpf von irgendwo über sich vernahm, als er über das Deck kroch und versuchte, wieder Atem zu schöpfen. »Begreifen Sie, daß ich mit unfehlbarer Sicherheit sagen kann, wann Sie lügen. Also, wie viele Geleitschiffe gibt es?« Mit der Zeit konnte Malori sich wieder aufsetzen und Worte hervorwürgen. »Nur dieses hier.« Ob Greenleaf wirklich einen Lügendetektor hatte, oder ob er nur versuchte, es so aussehen zu lassen, indem er Fragen stellte, deren Antworten er schon kannte, wußte Malori nicht. Aber er beschloß, daß er von nun an ohne jede Skrupel die reine Wahrheit sagen würde. Noch ein paar Tritte wie den letzten, und er wäre vollkommen hilflos, zu nichts mehr nutze, und die Maschinen würden ihn umbringen. Er machte die Entdeckung, daß er unter keinen Umständen sterben wollte. »Welchen Dienstgrad hatten Sie, Malori?« »Ich bin Zivilist.« »Was für einer?« »Historiker.« »Und warum sind Sie hier?« Malori setzte zu einem Versuch an, aufzustehen, entschied aber dann, daß dadurch nichts gewonnen wäre und blieb auf dem Deck sitzen. Er mußte vermeiden, auch nur einen Augenblick lang über seine Situation nachzudenken, ansonsten würde ihn so entsetzliche Angst packen, daß er unfähig wäre, noch zusammenhängend zu denken. »Es war ein Projekt ... wissen Sie, ich habe von Yaty eine Reihe von ..., was wir historische Modelle nennen mitgebracht – programmierte Antwortklischees, die wir für die Geschichtsforschungen verwenden.«
»Ich entsinne mich, von solchen Dingen gehört zu haben. Was war das für ein Projekt, das Sie erwähnten?« »Wir wollten versuchen, die Persönlichkeiten von Militärs als Zufallsstreuer für die Kampfcomputer in Einmannschiffen zu verwenden.« »Aha.« Greenleaf ging in die Hocke, eine geschmeidige und sichere Bewegung angesichts seines abgerissenen Aussehens. »Wie funktionieren sie beim Kampf? Besser als das Unterbewußtsein eines lebenden Piloten? Die Maschinen wissen alles, was es darüber zu wissen gibt.« »Wir sind nicht dazu gekommen, es auszuprobieren. Sind von dem Rest der Besatzung hier alle tot?« Greenleaf nickte gleichgültig. »Das Entern war nicht schwierig. Eure automatische Verteidigung muß versagt haben. Ich freue mich, daß noch ein Mann am Leben ist und klug genug ist, mit uns zusammenzuarbeiten. Es wird mir in meiner Karriere helfen.« Er blickte auf eine teure Präzisionsuhr an seinem schmutzigen Handgelenk. »Stehen Sie auf, Ian Malori. Es gibt Arbeit für uns.« Malori stand auf und folgte dem anderen zum Einsatzdeck. »Die Maschinen und ich haben uns umgesehen, Malori. Diese neun kleinen Kampfschiffe, die Sie noch an Bord haben, sind zu wertvoll, um von ihnen keinen Gebrauch zu machen. Die Maschinen sind sich jetzt sicher, die Hope zu fassen, aber sie besitzt bestimmt automatische Verteidigungsanlagen, die wahrscheinlich ein ganzes Stück zäher sind als die dieses Kahns. Die Maschinen haben während dieser Jagd große Verluste hinnehmen müssen, daher haben
sie die Absicht, diese neun kleinen Schiffe als Hilfstruppen einzusetzen – gewiß wissen Sie einiges über Militärgeschichte?« »Ein wenig.« Die Antwort war vielleicht eine Untertreibung, aber sie schien als wahr akzeptiert zu werden. Der Lügendetektor, wenn es einer war, war weggesteckt worden. Aber Malori würde trotzdem nicht mehr Risiken eingehen, als er mußte. »Dann wissen Sie wahrscheinlich, wie einige der Generäle der alten Erde ihre Hilfstruppen einsetzten. Sie trieben sie vor die Hauptstreitmacht der verläßlichen Truppen, wo man sie jederzeit töten konnte, falls sie versuchen sollten abzuhauen, und natürlich waren sie die ersten, die im Kampf gegen den Gegner aufgerieben wurden.« Auf dem Einsatzdeck sah Malori nur wenige Spuren von Zerstörung. Neun zähe kleine Schiffe warteten, mit neuen Waffen, neuem Treibstoff versorgt und in gewendeter Stellung, in ihren Abschußrampen. Alle Maßnahmen, die man nach ihrer Rückkehr von ihrem letzten Einsatz für notwendig befunden hatte, waren wie üblich in Minutenschnelle ausgeführt worden. »Malori, als Sie bewußtlos waren, habe ich mir die Kontrollen dieser Schiffe angesehen, und ich vermute, daß sie nicht vollautomatisch arbeiten.« »Richtig. Es muß ein die Kontrolle ausübender Verstand oder Zufallsstreuer an Bord angeschlossen werden.« »Sie und ich werden sie als Hilfstruppen der Berserker in den Kampf schicken, Malori.« Greenleaf schaute wieder auf sein Chronometer. »Wir haben weniger als eine Stunde, uns etwas einfallen zu lassen
und nur ein paar Stunden mehr, um die Arbeit zu vollenden. Je schneller, desto besser. Wenn wir Zeit verlieren, wird man uns dafür leiden lassen.« Er schien den Gedanken daran geradezu zu genießen. »Was schlagen Sie vor, wie wir vorgehen?« Malori öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, tat es dann aber doch nicht. Greenleaf sagte: »Es kommt natürlich nicht in Frage, einige Ihrer Militärpersönlichkeiten einzusetzen, weil sie sich vielleicht nicht bereitwillig genug als bloßes Kanonenfutter verwenden lassen könnten. Ich nehme an, sie sind irgendwelche Führerpersönlichkeiten. Aber vielleicht haben Sie ein paar Persönlichkeiten aus anderen Berufsfeldern, eine fügsamere Gattung?« Malori stützte sich gegen den leeren Kontrollsessel des Einsatzoffiziers. Er zwang sich, scharf nachzudenken, bevor er sprach. »Zufälligerweise sind ein paar Persönlichkeiten darunter, an denen ich ein bestimmtes persönliches Interesse habe. Kommen Sie.« Malori führte den anderen, der dichtauf folgte, zu seiner Junggesellenkabine. Irgendwie war es erstaunlich, daß sich darin nichts verändert hatte. Auf dem Bett lag seine Violine, und auf dem Tisch waren die Musikbänder und ein paar Bücher. Auch einige der Pseudopersönlichkeiten, an deren Studium er ein besonderes Interesse hatte, befanden sich hier, ordentlich übereinander gestapelt in ihren lederartigen, gerundeten Kästen. Malori hob den obersten Kasten vom Stapel. »Dieser Mann war ein Violinenspieler, wofür ich mich selber gern halte. Sein Name würde Ihnen wahrscheinlich nichts sagen.«
»Musikgeschichte war niemals mein Steckenpferd. Aber erzählen Sie mir mehr.« »Er war ein Erdenmensch, der im zwanzigsten Jahrhundert CE lebte – ein sehr religiöser Mensch, wie ich hörte. Wir könnten die Pseudopersönlichkeit einschalten und sie fragen, was sie vom Kämpfen hält, wenn Sie mißtrauisch sind.« »Das wäre wohl ratsam.« Nachdem Malori ihm die richtige Steckdose neben der kleinen Computerkonsole der Kabine gezeigt hatte, steckte Greenleaf die Anschlüsse selber zusammen. »Wie verständigt man sich mit ihr?« »Einfach reden.« Greenleaf wandte sich in scharfem Tonfall an den lederartigen Kasten. »Ihr Name?« »Albert Ball.« Die Stimme, die aus dem Konsolenlautsprecher antwortete, klang bei weitem menschenähnlicher als die des Berserkers vorhin. »Wie gefällt Ihnen der Gedanke, in einen Kampf verwickelt zu werden, Albert?« »Eine abscheuliche Vorstellung.« »Wollen Sie uns etwas auf der Violine vorspielen?« »Mit Vergnügen.« Aber keine Musik ertönte. Malori warf ein: »Wenn Sie wirklich Musik hören wollen, müssen weitere Anschlüsse vorgenommen werden.« »Ich denke, das wird nicht nötig sein.« Greenleaf trennte die Albert-Ball-Einheit von ihren Anschlüssen und begann den Stapel mit den anderen durchzusehen. Er runzelte die Stirn beim Anblick der unbekannten Namen. Es waren alles in allem zwölf bis fünfzehn Kasten. »Was sind das für Leute?« »Albert Balls Zeitgenossen. Ebenfalls Künstler.«
Malori ließ sich auf das Bett sinken, um ein paar Augenblicke auszuruhen. Es fehlte nicht viel, und er würde in Ohnmacht fallen. Dann erhob er sich um sich neben Greenleaf vor den Stapel der Pseudopersönlichkeiten zu stellen. »Das hier ist ein Modell von Edward Mannock. Er war auf einem Auge blind und hätte niemals die physischen Voraussetzungen für den Dienst in einem beliebigen militärischen Truppenverband erfüllt.« Er deutete auf einen anderen. »Dieser Mann diente kurze Zeit in der Kavallerie, aber sein Pferd warf ihn immer wieder ab, und so wurde er schnell in eine Versorgungseinheit verbannt. Und diese hier war ein gebrechlicher, an Tuberkulose leidender Jüngling, der im Alter von dreiundzwanzig Standardjahren starb.« Greenleaf gab es auf, die Kästen zu betrachten, und drehte sich um, um Malori ein weiteres Mal zu mustern. Malori konnte fühlen, wie die Muskulatur seines mißhandelten Magens sich in der Vorahnung eines weiteren brutalen Schlages zusammenziehen wollte. Es würde zuviel für ihn sein, es würde ihn umbringen, wenn es noch einmal dazu kam ... »In Ordnung.« Greenleaf runzelte die Stirn und warf einen weiteren prüfenden Blick auf seine Präzisionsuhr. Dann schaute er mit einem schwachen Lächeln auf. Das Lächeln ließ ihn seltsamerweise wie das genaue Gegenteil eines Menschenfreundes aussehen. »In Ordnung! Musiker, würde ich meinen, sind der schlimmste Feind der Militärs. Wenn die Maschinen zustimmen, werden wir sie einbauen und die Schiffe damit in den Kampf schicken. Ian Malori, vielleicht erhöhe ich Ihre Belohnung.« Sein freundliches Lächeln wurde breiter. »Wir haben uns vielleicht
gerade ein weiteres Standardjahr Leben erkauft, falls das hier so gut klappt, wie ich es mir vorstelle.« Als die Maschine einige Minuten später wieder an Bord kam, machte Greenleaf eine Verbeugung und erklärte ihr den Plan in seinen Grundzügen, während Malori zu seinem Entsetzen feststellte, daß er sich ebenfalls verbeugte. »Fahrt fort damit«, stimmte die Maschine zu. »Tut ihr es nicht, wird sich das Schiff, das mit Leben verseucht ist, vielleicht in den Stürmen, die vor uns aufziehen, verbergen können.« Dann ging sie rasch wieder fort. Wahrscheinlich hatte sie selber Reparaturund Ausbesserungsarbeiten auf ihrem Robotschiff zu verrichten. Zu zweit ging der Einbau rasch von statten. Sie brauchten nichts weiter zu tun, als das Gehäuse des Kampfschiffes zu öffnen, eine Pseudopersönlichkeit aus ihrem Kasten zu nehmen, die Standardanschlüsse und -klemmen zusammenzustecken und die Gehäuseluke wieder zu schließen. Da höchste Eile geboten war, beschränkte sich die Überprüfung darauf, von jeder Pseudopersönlichkeit eine gesprochene Antwort zu erhalten, sobald diese in einem Schiff aktiviert worden war. Die meisten Antworten waren ausgesprochene Gemeinplätze über nichtexistentes Wetter, altertümliche Speisen oder Getränke oder auch kuriose Phrasen, die, wie Malori wußte, nur freundlich gemeinte, zwanglose Bemerkungen waren. Alles schien gutzugehen, aber in letzter Minute bekam Greenleaf Befürchtungen. »Ich hoffe, daß diese empfindsamen Gentlemen, wenn sie sich über ihre wahre Situation klarwerden, mutig zur Wehr setzen werden. Sie werden in der Lage sein, es zu begreifen,
nicht wahr? Die Maschinen erwarten nicht, daß sie gut kämpfen, aber wir wollen auch nicht, daß sie durchdrehen.« Malori, am Rande der Erschöpfung, zerrte gerade an der Luke von Nummer Acht und fiel beinahe von dem gekrümmten Rumpf herunter, als sie plötzlich aufsprang. »Sie dürften ihre Situation innerhalb einer Minute nach dem Abschuß erfassen, würde ich meinen, zumindest in den Grundzügen. Ich erwarte nicht, daß sie begreifen, daß sie sich im interstellaren Raum befinden. Ich vermute, Sie sind Soldat gewesen. Falls sie sich sträuben sollten zu kämpfen – ich überlasse die Frage Ihnen, wie mit widerspenstigen Hilfstruppen umzugehen ist.« Als sie die Pseudopersönlichkeit in Schiff Nummer Acht einschalteten, lautete ihre Testantwort: »Ich möchte mein Schiff rot angestrichen haben.« »Sofort, Sir«, sagte Malori rasch, knallte die Schiffsluke zu und machte Anstalten, zu Nummer Neun hinüberzugehen. »Was sollte das bedeuten?« Greenleaf runzelte die Stirn, schaute aber auf sein Chronometer und ging dann weiter. »Ich nehme an, der Maestro hat bereits gemerkt, daß er im Begriff ist, eine Reise in einer Art Fahrzeug anzutreten. Was die Frage angeht, warum er es gern rot gestrichen haben möchte ...« Malori brummte etwas, versuchte die Nummer Neun aufzumachen und ließ die Frage in der Luft hängen. Schließlich waren alle Schiffe einsatzbereit. Greenleaf legte den Finger auf den Abschußschalter und hielt inne. Ein letztes Mal blickten seine Augen prüfend in die von Malori. »Bisher haben wir gute Arbeit
geleistet. Wir sind für eine Belohnung fällig, solange diese Geschichte nur einigermaßen gut funktioniert. Haben Sie jemals zugesehen, wie einem Menschen bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen wird?« Malori mußte sich abstützen, um nicht zu wanken. »Ich habe alles getan, was ich konnte.« Greenleaf betätigte den Abschußschalter. Ein vielstimmiges Raunen von Luftschleusen ertönte. Die neun Schiffe waren fort, und gleichzeitig leuchtete eine holographische Darstellung auf dem Bildschirm über der Konsole des Einsatzoffiziers auf. In der Mitte des Schirms waren die Judith, ein fettes, grünes Symbol, und neun kleinere, grüne Punkte, die sich langsam und unsicher in ihrer Nähe bewegten. Weiter weg markierte eine gleichbleibende Formation roter Punkte, was von der Meute der Berserker übriggeblieben war, die die Hope und ihr Begleitschiff so lange und so unbarmherzig verfolgt hatte. Da waren mindestens fünfzehn rote Punkte, stellte Malori düster fest. »Der Trick dabei«, sagte Greenleaf, als spräche er zu sich selbst, »ist, sie so zu bearbeiten, daß sie vor ihren Befehlshabern größere Angst haben als vor dem Feind.« Er langte nach der Instrumententafel und betätigte die Schalter, die seine Stimme zu den Schiffen hinaussenden würden. »Achtung, Einheiten Eins bis Neun!« bellte er. »Die Waffen einer weit überlegenen Macht sind auf Sie gerichtet, und jeder Versuch zum Ungehorsam oder zur Flucht wird schwer bestraft werden ...« Er fuhr noch eine Minute lang fort, sie einzuschüchtern, indessen beobachtete Malori auf dem Schirm, daß das schlechte Wetter, das der Berserker
erwähnt hatte, heraufzog. Ein Graupelschauer aus atomaren Partikeln trieb durch diesen Abschnitt des Sternennebels, er kreuzte die Flugbahn der Judith und die der seltsamen Hybridenflotte, die sie begleitete. Die Hope, bei diesem Maßstab nicht sichtbar, konnte sich den Sturm vielleicht zunutze machen, um den Verfolgern zu entkommen, außer die Berserker machten schnell. Die Sichtweite auf dem Bildschirm nahm rasch ab, und Greenleaf brach seinen Vortrag ab, da klar wurde, daß die Verbindung abgerissen war. Fragmente von Anweisungen an die Hilfsschiffe Eins bis Neun, gesprochen von den unnatürlichen Stimmen der Berserker, drangen zu ihnen durch, bevor der Geräuschvorhang jegliche Verbindung unmöglich machte. Die Verfolgung der Hope war noch nicht wieder aufgenommen worden. Eine Zeitlang war es still auf dem Einsatzdeck, bis auf gelegentliches Knattern von dem Bildschirm. Rund um sie herum warteten die leeren Abschußrampen. »Und das ist alles«, sagte Greenleaf schließlich. »Jetzt können wir nur hoffen.« Er setzte wieder sein schwaches Lächeln auf und schien die Situation fast zu genießen. Malori betrachtete ihn neugierig. »Wie werden Sie – so leicht damit fertig?« »Warum nicht?« Greenleaf reckte sich und stand von der jetzt nutzlosen Konsole auf. »Wissen Sie, wenn ein Mensch erst einmal seine alten Gewohnheiten, die Schlechtlebe-Gewohnheiten aufgibt, und sich eingesteht, daß er wirklich mit ihnen fertig ist, sind die neuen Gewohnheiten gar nicht so übel. Von
Zeit zu Zeit, wenn die Maschinen Gefangene machen, gibt es sogar Frauen.« »Gutleben«, sagte Malori. Jetzt hatte er den obszönen, provozierenden Beinamen ausgesprochen. Aber im Moment hatte er keine Angst. »Selber Gutleben, kleiner Mann.« Greenleaf lächelte noch immer. »Wissen Sie, ich glaube, Sie sehen immer noch auf mich herab. Sie stecken jetzt ebenso tief drin wie ich, erinnern Sie sich?« »Ich glaube, ich bemitleide Sie.« Greenleaf gab ein kurzes, verächtliches Schnauben von sich und schüttelte mitleidig den Kopf. »Wissen Sie, ich habe vielleicht ein längeres und schmerzfreieres Leben vor mir als die meisten Menschen – Sie haben gesagt, eines der Persönlichkeitsmodelle starb mit dreiundzwanzig. War das damals das durchschnittliche Lebensalter?« Malori, der sich noch immer abstützte, begann die Andeutung eines seltsamen, grimmigen Lächelns aufzusetzen. »Nun, für seine Generation auf dem europäischen Kontinent war es das wohl. Der Erste Weltkrieg wütete zu der Zeit gerade.« »Aber Sie sagten, er starb an einem Leiden.« »Keineswegs. Ich sagte, er hatte ein Leiden, Tuberkulose. Zweifellos hätte es ihn eines Tages umgebracht. Aber er starb im Kampf, 1917 CE, an einem Ort, der Belgien hieß. Seine Leiche ist nie gefunden worden, wie ich mich entsinne, Artilleriesperrfeuer hatte sie und sein Flugzeug völlig zerstört.« Greenleaf stand plötzlich sehr still da. »Flugzeug! Was sagen Sie da?« Malori richtete sich auf – es schmerzte etwas – und ließ seine Stütze los. »Ich sage Ihnen jetzt, daß Geor-
ges Guynemer – das war sein Name – dreiundfünfzig feindliche Flugzeuge abgeschossen hat, bevor er getötet wurde. Warten Sie!« Maloris Stimme war plötzlich scharf und bestimmt, und Greenleaf hielt in seinem drohenden Vormarsch nur aus purer Überraschung inne. »Bevor Sie Gewalt gegen mich anwenden, sollten Sie vielleicht darüber nachdenken, ob Ihre oder meine Seite den Kampf, der da draußen stattfindet, gewinnt.« »Den Kampf ...« »Es sind neun Schiffe gegen fünfzehn oder mehr Maschinen, aber ich habe kein allzu pessimistisches Gefühl. Die Pseudopersönlichkeiten, die wir in den Kampf geschickt haben, werden sich nicht einfach abschlachten lassen.« Greenleaf starrte ihn noch einen Augenblick lang an, wirbelte dann herum und stürzte zur Einsatzkonsole. Der Bildschirm war noch immer völlig weiß von Störungen, und es gab nichts, was getan werden konnte. Langsam sank er in den Sessel. »Was haben Sie mir angetan?« hauchte er. »Diese Sammlung invalider Musiker – Sie können nicht bei allen gelogen haben.« »Oh, jedes Wort, das ich sagte, war wahr. Natürlich waren nicht alle Kampfpiloten des Ersten Weltkrieges Invaliden. Einige erfreuten sich bester Gesundheit und waren geradezu fanatisch darauf bedacht, daß es auch dabei blieb. Und ich habe nicht gesagt, daß sie alle Musiker wären, obwohl ich natürlich wollte, daß Sie das annahmen. Ball war das größte musikalische Talent unter den Fliegerassen, aber er war doch nur ein Amateur. Er sagte immer, er hätte seinen wahren Beruf gehaßt.«
Greenleaf war jetzt in dem Sessel zusammengesackt, er schien sichtlich zu altern. »Aber einer war blind ... es ist unmöglich.« »Das dachten seine Gegner auch, als sie ihn zu Beginn des Krieges aus einem Internierungslager entließen. Edward Mannock, auf einem Auge blind. Er mußte einen Prüfer überlisten, um in die Armee aufgenommen zu werden. Die Tragik dieser überragenden Männer war natürlich, daß sie sich darin aufzehrten, sich gegenseitig umzubringen. Damals kämpften sie nicht gegen Berserker, jedenfalls gegen keine, die sie schneidig mit Flugzeug und Maschinengewehr hätten bekämpfen können. Ich nehme an, Menschen haben immer irgendwelchen Berserkern gegenübergestanden.« »Warten Sie, ich will mich vergewissern, daß ich Sie richtig verstehe.« Greenleaf sprach in fast bittendem Tonfall. »Wir haben die Pseudopersönlichkeiten von neun Kampfpiloten hinausgeschickt?« »Neun der besten. Ich glaube, zusammengenommen können sie über fünfhundert Luftsiege für sich beanspruchen. Es wurde natürlich viel dabei übertrieben, aber dennoch ...« Wieder herrschte Schweigen. Greenleaf drehte seinen Sessel langsam wieder dem Bildschirm zu. Nach einer Weile begann der Sturm atomarer Teilchen nachzulassen. Malori, der auf dem Deck gesessen hatte, stand wieder auf, diesmal schneller. Das Hologramm zeigte ein einzelnes, glühendes Symbol, das aus dem Sturm auftauchte und sich rasch der Position der Judith näherte. Das näherkommende Symbol war rot. »Da haben wir's«, sagte Greenleaf und stand auf.
Aus einer Tasche brachte er eine stummelartige kleine Handfeuerwaffe hervor. Zuerst richtete er sie auf den zusammenschrumpfenden Malori, aber dann setzte er sein freundliches Lächeln auf und schüttelte den Kopf. »Nein, sollen die Maschinen Sie haben. Das wird weitaus unangenehmer sein.« Als sie hörten, wie die Luftschleuse sich zu öffnen begann, hob Greenleaf die Waffe und richtete sich gegen seinen Schädel. Malori vermochte den Blick nicht wegzureißen. Die innere Schleusentür klickte, und Greenleaf drückte ab. Mit einem Satz hatte Malori den Abstand zwischen ihnen zurückgelegt und die Waffe aus Greenleafs schlaffer Hand gerissen, fast noch bevor der Körper seinen Fall vollendet hatte. Er wirbelte herum und richtete die Waffe auf die Luftschleuse, die gerade ächzend aufschwang. Der Berserker, der dort stand, war derjenige, den er schon vorher gesehen hatte, oder jedenfalls das gleiche Modell. Aber er hatte eine Reihe gewaltsamer Veränderungen durchgemacht. Ein Metallarm war gekürzt worden, aus dem Stumpf hingen abgerissene Kabel lose herab. Der gesamte Metallrumpf war mit kleinen Löchern durchsiebt, und um das Oberteil spielten wie ein Heiligenschein elektrische Entladungen. Malori feuerte, aber die Maschine ignorierte den Aufschlag der Sprengladung. Sie würden Greenleaf natürlich keine Waffe überlassen haben, mit der sie hätten verletzt werden können. Für den Augenblick ignorierte die übel zugerichtete Maschine Malori ebenfalls. Sie taumelte vorwärts und beugte sich über Greenleafs nahezu enthaupteten Körper. »Var – Var – Var – Verrat«, quiekste der Berserker. »Äußerste un-
angenehme äußerste unangenehme Stum – Stum – Stimuli. Schlechtleben Schlechtleben hat –« Inzwischen hatte sich Malori der Maschine von hinten genähert und die Mündung der Waffe in eines der noch immer heißen Löcher gestoßen, wo Albert Ball oder vielleicht Frank Luke oder Werner Voss oder einer der anderen bereits erfolgreiche Vorarbeit mit dem Laser geleistet hatte. Zwei Sprengladungen in seinen Rumpf, und er Berserker brach zusammen. Er lag so still da wie der Mann unter ihm. Der elektrische Heiligenschein erstarb. Malori trat zurück, betrachtete sie beide und wirbelte dann herum, um erneut den Einsatzbildschirm zu betrachten. Der rote Punkt trieb von der Judith fort, das Schiff, das er darstellte, war jetzt offensichtlich nur noch untätige Maschinerie. Aus dem nachlassenden atomaren Sturm heraus näherte sich ein einzelner grüner Punkt. Eine Minute später traf die Nummer Acht ein und bumste mit einem leichten Aufprall gegen ihre Rampenkissen. Die Lasermündung begann sofort heftig zu rauchen in der Atmosphäre. An verschiedenen Stellen war das Schiff vom Feuer des Gegners zernarbt. »Ich nehme vier weitere Siege für mich in Anspruch«, sagte die Pseudopersönlichkeit, kaum daß Malori die Luke öffnete. »Heute habe ich von meinen Flügelmännern, die dem Vaterland große Opfer brachten, vorzügliche Rückendeckung erhalten. Obwohl uns der Feind zahlenmäßig im Verhältnis zwei zu eins überlegen war, glaube ich nicht, daß auch nur ein einziger entkam. Aber ich muß energisch dagegen protestieren, daß mein Schiff noch immer nicht rot angestrichen wurde.«
»Ich werde mich sofort darum kümmern, mein Herr«, murmelte Malori, als er die Anschlüsse der Persönlichkeit an das Kampfschiff zu trennen begann. Er kam sich ein bißchen idiotisch vor, weil er versucht hatte, einem Stück Hardware gegenüber Beteuerungen abzugeben. Dennoch faßte er die Pseudopersönlichkeit behutsam an, als er sie zu dem kleinen Aufbau leerer Kästen trug, die auf dem Einsatzdeck warteten. Sie trugen die deutlich lesbaren Aufschriften: ALBERT BALL; WILLIAM AVERY BISHOP; RENÉ PAUL FONCK; GEORGES MARIE GUYNEMER; FRANK LUKE; EDWARD MANNOCK; CHARLES NUNGESSER; MANFRED VON RICHTHOFEN; WERNER VOSS. Sie waren Engländer, Amerikaner, Deutsche, Franzosen gewesen. Sie waren Juden, Violinspieler, Invaliden, Preußen, Rebellen, haßerfüllt, Lebemänner, Christen gewesen. Und die neun waren vieles andere mehr gewesen. Vielleicht gab es nur das eine Wort – Mensch –, das sie alle einbeziehen konnte. In genau diesem Augenblick waren die nächsten Menschen viele Millionen Kilometer entfernt, aber trotzdem fühlte Malori sich nicht ganz allein. Behutsam legte er die Pseudopersönlichkeit zurück in ihren Kasten, obwohl er wußte, daß selbst zehntausenfach stärkerer Druck, als seine Hände ihn auszuüben vermochten, sie nicht beschädigen würde. Vielleicht würde sie mit in die Nummer Acht hineinpassen, wenn er den Versuch machte, die Hope zu erreichen. »Sieht so aus, als gäbe es jetzt nur dich und mich, Roter Baron.« Der Mensch, dem sie nachgebildet war, war im Alter von nicht ganz sechsundzwanzig Jahren
nach weniger als achtzehn sieg- und ruhmreichen Monaten über Frankreich ums Leben gekommen. Davor, in der Kavallerie, hatte ihn sein Pferd immer wieder abgeworfen.
Originaltitel: WINGS OUT OF SHADOW Aus IF, März–April 1974 Copyright © 1974 by UPD Publishing Corporation
Ron Goulart PREZ Unserem kulturellen Erbe gemäß sollten die Hauptnutznießer der Entwicklung der künstlichen anatomischen Ersatzteile unsere Lieblinge sein. Prez – halb Hund, halb Kyborg, mit der Intelligenz eines zehn Jahre alten Jungen, beweist das alte Sprichwort erneut: Der Hund ist des Menschen bester Freund und sein schlimmster Feind! Die liebliche Blondine warf ihre Kleidung in den tiefen Kamin und trat zurück, um sie brennen zu sehen, die schlanken Hände über dem gut proportionierten Hinterteil zusammengehakt. »Das ist gemütlich, nicht?« fragte sie über die Schulter. »Es ist etwas besonders Wohltuendes daran, an einem frostigen Wintertag Kleider zu verbrennen, nicht wahr?« Sie drehte sich schnell herum, sprang über den dikken weißen Vorleger und packte hastig die Hosen, die Norbert Penner gerade abgelegt hatte. Sie faltete sie zu einem Bündel zusammen und schleuderte sie in die Flammen. »Hey, Benny«, sagte Penner, der halb aus seinem Allejahreszeiten-Unterzeug heraus war. »Die sind nicht aus Papier.« Das Mädchen zuckte die Achseln. »Du bist nicht verworfen genug, Norby. Nein, runzle nicht die Stirn. Ich liebe dich. Aber ich wette, du denkst, was diese Hosen gekostet haben.« »Zweiundfünfzig Dollar.«
Penner war ein großer, schlanker Mann, achtundzwanzig Jahre alt, mit dunkelblondem Haar und einer kleinen Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen. Benny hielt die Hände gegen das Feuer. »Entspann dich.« »Sie werden zu qualmen anfangen.« Penner war aus dem Unterzeug heraus. Er schob es bedachtsam mit dem Fuß in eine sichere Ecke des großen Raums, an dessen Decke Tragbalken verliefen. »Brennende Hosen qualmen wie der Teufel.« »Du ärgerst dich zu sehr, Norby«, sagte das Mädchen. »Du bist mein Gast, oder nicht? Wir haben dieses Sechzehnzimmer- und Dreibäderhaus ganz für uns allein. Wir haben sechsundneunzig Morgen wundervolles, frühwinterliches, ländliches Connecticut draußen. Du kannst bis zum Frühling hierbleiben. Entspann dich. Tausende von Leuten reisen Hunderte von Meilen, nur um ein paar Tage in Neuengland zu verbringen.« »Man verbrennt ihnen auch nicht die Hosen.« »Du hast keine Ahnung. Nicht alle Leute sind so konservativ wie du.« Sie keuchte schweigend, als rußiger Qualm langsam vom Kamin aufstieg. »Siehst du?« Penner schlenderte zu einem Fenster hinüber und betrachtete das wellige Gelände. Benny sagte: »Ich habe das Gefühl, du liebst mich überhaupt nicht wirklich, Norby. Ich glaube sogar, du willst mich noch nicht einmal jetzt lieben. Du bist nicht in der Stimmung, oder?« »Ich war es, bevor du meine Hosen verbrannt
hast.« »Das ist eine Ausrede, oder nicht?« Sie breitete die Arme aus, eine Geste, die er aus dem Augenwinkel wahrnahm. »Laß uns den Zwischenfall mit dem Feuer vergessen, Norby. Komm jetzt rüber, willst du?« Penner sah zu, wie ein Ahornblatt zu Boden kreiste. Er wandte sich um und ging zu dem Mädchen. »Du bist schön.« »Ja. Danke«, antwortete Benny und faßte ihn mit einer Hand um den Nacken, mit der anderen um die Brust. »Aber meine physische Erscheinung ist nicht halb so schön wie mein inneres Wesen.« Sie ließ die Hand auf seiner nackten Brust ruhen. »Das innere Wesen eines Menschen ist es, worauf es ankommt, meinst du nicht auch?« »Hm.« »So formuliert es der seines Amtes enthobene Bischof Dix im Meditator – Gespräch mit den Verstorbenen im Technischen Zeitalter. Ich weiß, daß du nicht völlig mit Bischof Dix übereinstimmst, aber du mußt sehen, daß es das innere Wesen eines Menschen ist, worauf es ankommt. Meinst du nicht auch?« »Ich glaube«, sagte Penner, der sich langsam auf eine zebragestreifte Couch zurückbewegte, »es gibt Augenblicke, wo man redet, und Augenblicke, wo man besser den Mund hält.« Sanft hob er die jetzt schweigende Benny hoch und legte sie auf die lange Couch. Er kniete auf dem weichen Vorleger, beugte sich nach vorn und küßte ihre rechte Hand, die auf ihrem Nabel lag. »Benny«, sagte er. Eine feuchte Nase drückte sich gegen seine rechte Hinterbacke. Heißer Atem folgte. »Wo hast du das Futter versteckt, Hungerleider?«
Penner sprang hoch, wirbelte in der Luft herum und kam dem Hund gegenüber auf die Füße. »Hau ab – sch.« Der Hund, ein mittelgroßer und zottiger schwarzer Köter, schnaubte. »Mach dir nichts draus, Hungerleider. Benny, es ist nichts zu Fressen für mich in der Küche. Der Robotspender rattert und würgt nur, wenn ich den Futterknopf drücke. Jemand hat vergessen, die Maschine zu laden.« Benny setzte sich auf und streichelte den Kopf des alten Hundes. »Nun, Prez, haben wir dir nicht gesagt, du sollst nicht so hereinplatzen.« »Die Tür war offen«, sagte der Hund. Sein linkes Auge loderte einen Moment lang auf. Es war aus Vinyl. »Ich respektiere die Privatsphäre von Leuten, selbst die von Hungerleidern. Die Tür war jedoch offen.« Penner grunzte plötzlich, sprang auf und trat dem alten Hund in die Seite. Das Tier gab ein dumpfes Geräusch von sich, und Penner heulte auf. »Au – au –« »Du hast seine Metallseite getreten«, sagte Benny. »Kommt schon. Ich will nicht, daß die beiden Leute, die mir am liebsten sind, sich zanken.« »Er ist keine Person«, sagte Penner. »Er ist eine Promenadenmischung.« »Hungerleider«, sagte Prez. »Gleich trete ich dich gegen die lebende Seite deines Schwanzes«, sagte Penner. Er zog eine Grimasse, ging und fand sein Unterzeug. »Du Monstrum der Wissenschaft.«
Prez leckte Bennys Knie. »Wie lange soll das noch so weitergehen, Benny?« Das Mädchen lächelte den alten Hund an. »Prez, du trottest zurück in dein Krawallzimmer, und bald füttern wir dich.« »Tu nicht so gönnerhaft mit mir«, befahl ihr der Hund. »Du und eine Leute haben dazu beigetragen, mich in ein modernes Wunder zu verwandeln. Ihr habt es finanziert. Ich bin jetzt so gescheit wie der durchschnittliche zehn Jahre alte Junge.« »Wunder«, sagte Penner, der seine Kleidung wieder anlegte. »Jede gelangweilte Matrone unten in Westport hat einen kybernetischen Pudel. Anstatt die verdammten Viecher an Altersschwäche sterben zu lassen, ersetzen sie ihre abgenutzten Teile durch künstliche.« »Es sähe dir ähnlich, mich jemandem zu übergeben, der mich lebend seziert«, sagte der Hund und zeigte die Zähne. Die Hälfte von ihnen war aus Plastik. »Einem Schrottplatz.« »Zumindest verdiene ich mir meinen Lebensunterhalt. Ich bin keiner, der auf Kosten anderer lebt.« »Hör zu, ich habe sechs verdammte Jahre in Manhattan gearbeitet«, rief Penner dem zottigen Hund zu. »Ich war Chefredakteur bei Barnum & Sons während vier dieser verdammten Jahre. Ich war es, der die Lupoff-Manuskripte aufgekauft und in eine veröffentlichungsreife Form gebracht hat. Man hat dem alten Lupoff den verdammten Nobelpreis gegeben. Jetzt habe ich mich also fortgemacht, um etwas Zeit zu haben, zu mir selbst zu finden.« »Wenn du zu dir selbst finden willst«, sagte der
Hund, »schaust du dich in der falschen Nachbarschaft um. Du bist nicht unter Deinesgleichen, Hungerleider.« Penner zog einen Schuh an und humpelte hinüber, um Prez zu treten. Der alte Hund jaulte. Penner sagte: »Verdammt, Benny. Warum mußtet ihr es so einrichten, daß er spricht?« »Es kostete nur fünftausend extra«, sagte Benny. »Als sie den Vinylkehlkopf eingesetzt haben, meinte Vater, wir könnten ebenso gut erster Klasse reisen.« Sie lächelte freundlich zu Penner auf. »Norby, entspann dich. Ich habe dir das mit Prez erklärt. Es ist sentimental, nicht wahr? Immerhin ist er mein Hund, seit ich ein kleines Mädchen war.« »Zwei Jahre und drei Monate alt«, sagte Prez. »Reizend wie das Hinterteil einer Wanze warst du.« »Wir können es uns gewiß leisten, ihn zu unterhalten«, sagte Benny. »Stell dir vor, Norby. Prez ist gut über zwanzig, und er ist gesünder und gescheiter als je zuvor. Und ich hatte ihn über zwanzig Jahre lang. Seit –« »August neunzehnhundertsiebenundachtzig«, sagte der Hund. »Und ich werde dieses Jahrzehnt lange überleben. Ich werde sogar noch in den zwanziger Jahren des Einundzwanzigsten dasein, Hungerleider.« »Selbst drei Jahre sind eine lange Zeit.« Penner zog den anderen Schuh an und setzte sich in einen schwarzen ledernen Klubsessel. »Soll das eine Drohung sein?« fragte der Hund. »Ich weiß, du würdest mich gern um die Ecke bringen, Hungerleider.« Benny sagte: »Sachte, Prez.«
Der Hund peitschte den Schwanz hin und her. Musikboxklänge begannen aus ihm herauszukommen, ein sanftes Wiegenlied. »Erinnerst du dich, Benny?« »Natürlich.« Sie tätschelte den Hund und lächelte zu Penner hinüber. »Er hat zweitausend miniaturisierte Musikbänder in seinen Bauch eingebaut.« »Ich weiß«, sagte Penner. »Sie haben mich nach dem bekannten Jazzmusiker Lester Young genannt«, sagte der Hund. »Sein Spitzname war Prez, das Kürzel für Präsident. Weil er nach Ansicht von Musikern der beste Jazzsaxophonist seiner Zeit war.« Benny hob den Hund hoch und trug ihn zum Türeingang. Er spielte gerade One O'Clock Jump, als sie ihn auf dem Parkett absetzte. Schnee begann zu fallen, als Penner am nächsten Morgen eine Viertelmeile vor dem verschachtelten zweistöckigen Gebäude stand. Er lehnte am Briefkastenpfosten und beobachtete den Himmel. Die Luft wurde plötzlich kälter, und Schneeflocken trafen seine Wangen. Gleichzeitig ertönte der US-Postkopter, und Penner erspähte ihn, wie er von der Besitzung der Pfeiffers eine halbe Meile die Landstraße weiter unten aufstieg. Die Straße hieß Maitland-Scott Lane, benannt nach Bennys Urgroßvater, demjenigen, der die Wollfabriken der Familie gegründet hatte. Der Kopter sauste näher und senkte sich schwankend herab. Als er noch dreißig Meter über Penners Kopf war, kletterte ein zehn Jahre alter Junge auf einem Schleudersitz heraus und eine herabbaumelnde Strickleiter hinunter.
»Sechsundzwanzig Cent Nachgebühr«, sagte der Junge. »Für wen ist das Paket?« »Für Prez, wie gewöhnlich.« »Wir wollen es nicht.« »Aber es ist zerbrechlich, steht drauf. Kommt den ganzen Weg von Algier.« Der Junge kam die Leiter herab, sprang auf den Boden. In einer Hand hielt er ein Päckchen, in der anderen ein Bündel Briefe. »Dieser Prez hat bestimmt einen Haufen Brieffreunde. Mein Dad, Floyd Dell im Schiff oben, wissen Sie, er sagt immer, Prez ist schon ein toller Hund. So viele Brieffreunde rund um die Welt zu haben. Letztes Jahr habe ich an ein Kind in Neufundland geschrieben, aber daraus ist nichts geworden.« Penner nahm die Briefe. »Schick das andere Zeug zurück nach Algier.« »Wir sind verpflichtet, es zu übergeben.« »Oh, na schön.« Penner angelte mit einem Finger nach Wechselgeld und gab dem Jungen einige Münzen. Der Junge übergab das Paket und erwischte die baumelnde Leiter. »Dieser Schnee. Wir sind erst kürzlich von Kalifornien hierher gezogen. Das ist richtiger Schnee. Ich habe noch nie welchen gesehen. Mein Vater sagt, wir gehen zurück nach Kalifornien, selbst wenn dort lauter Idioten rumlaufen. Er hat vergessen, daß es in Connecticut so kalt ist. Wie ergeht es Ihnen? Sie sind doch auch ein Fremder?« »New York ist nicht so viel anders.« Er gab dem linken Fuß des Jungen Schwung. Der Postbote steckte den Kopf aus der Kabine. »Ist schon ein verrückter Hund, den ihr da habt. Ich
hatte von Küste zu Küste mit allen möglichen Typen zu tun und sah einen Haufen Schwimmfüße und Idioten, aber Ihr Hund hier muß der Prinz aller verrückten Kerle sein. Was hat er all diesen Leuten zu schreiben?« »Jazz.« »Jazz? Oh, na klar, ich erinnere mich daran. Schwarze pflegten ihn vor einem halben Jahrhundert zu spielen.« Penner nickte und machte sich auf den Rückweg zum Haus. Bald befand er sich zwischen Bäumen – der Erdboden war über und über mit Ahornbäumen und Pinien bedeckt. Der Schnee kam jetzt senkrecht herunter, schneller. Er schleuderte das Algierpäckchen mit Absicht ins Unterholz. Ein blauer Eichelhäher schaute von einem dünnen Zweig aus auf. Ein schlanker, bloßer Arm ragte aus der ein Stück weit geöffneten Vordertür heraus, als er näher kam. »Hier, wärm dich auf.« Penner nahm den heißen Rumdrink von Benny entgegen und ließ die Post auf einen metallbeinigen Dielentisch fallen. »Warum bist du nackt?« »Sei nicht so neugierig.« »Du warst zum Frühstück angezogen, wie ich mich entsinne.« »Also schön«, sagte das Mädchen und machte das scharlachrote Band in seinem Haar los. »Ich muß in einer Stunde fort, und ich dachte, ich verbringe die letzte Stunde mit dir, Norby. Romantisch.« »Fort?« »Ich erhielt einen Anruf von Dad.« »Deinem Vater?«
»Das ist er. Wir nennen ihn Dad. Ein Anflug von Sentimentalität.« »Ich meinte, was hat er damit zu tun, daß du fort mußt?« »Er ist in der Schweiz.« »Ja, das weiß ich auch. Darum haben wir dieses Haus auch für die nächsten sechs Monate ganz für uns allein.« »Ein kleiner Notfall ist eingetreten«, sagte Benny. »Ich muß etwas in Amsterdam abholen und es ihm in die Schweiz bringen.« »Du willst allein gehen?« Benny biß sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf. »Ich muß, Norby. Einige von Dads geschäftlichen Unternehmungen müssen in aller Unauffälligkeit durchgeführt werden. Ich werde nur drei oder vier Tage fort sein. Ich bin für eine Robotmaschine in Kennedy II vorgemerkt, die heute nachmittag um fünf startet.« »Du hast dir schon einen Platz reservieren lassen?« »Während ich mich auszog. Komm, trink aus. Wir lieben uns.« Penner stellte den Becher beiseite. »Es hat zu schneien angefangen.« »Dann lieben wir uns hier drinnen.« »Ich habe nur eine Bemerkung über das Wetter gemacht, nicht mich beklagt.« Er faßte sie bei den Schultern. Prez sagte vom anderen Ende des Flurs: »Wo ist die Post, Hungerleider?« »Hier vorn.« Er ließ das Mädchen los, ergriff die Briefe und näherte sich Prez. »Jetzt gehst du in die Küche oder das Krawallzimmer und kümmerst dich
um deine Post. Belästige uns die nächste Stunde nicht, oder ich mache etwas Gemeines mit dir.« »Du bist heute offener mit deinen Drohungen, aber ich habe dich seit geraumer Zeit verdächtigt«, sagte der Hund. »Aber im Moment will ich mich nur um meine Jazzfreunde kümmern. Irgendwelche Pakete?« »Nein.« »Überfällig. Ich erwarte einige. Ich werde diese Hungerleider im Postamt anrufen müssen.« »Ja, tu das. Sie mögen dich alle.« Penner ging zurück zu Benny und schloß sie und sich im zweiten Gästezimmer im Erdgeschoß ein. Das Eßzimmer war voll automatisiert. Penner saß am oberen Ende des langen, weißbeschichteten Tisches und fuhrwerkte an den Bedienungsknöpfen herum. Er brachte die sechs Lichter zum Aufflammen und druckte dann den Aperitifknopf. Ein Spalt neben seiner linken Hand glitt auf, und ein Dubonnet erschien. Penner nippte daran und betätigte den Menüschirm, der an der Wand montiert war. Prez sprang in den Sessel, der Penner am nächsten stand. »Bestell mageres rotes Fleisch«, meinte er. »Zurück in dein Quartier.« »Sachte, Hungerleider. Du hast gehört, was Benny gesagt hat, als sie ging. Du sollst dich um das Haus und den alten Prez kümmern. Also sei nett.« »Du darfst nicht auf die Sessel.« »Okay, okay.« Der zottige schwarze Hund sprang auf den Fußboden und wedelte mit dem Schwanz. »Bestell das Fressen.« »Nee. Du gehst dahin zurück, wo du hingehörst.
Ich bringe dir später ein paar Brocken.« Prez bellte verachtungsvoll. »Du solltest dahin zurückgehen, wo du hingehörst. Brooklyn Heights, nicht wahr? Dein gesellschaftliches Niveau.« Penner sagte nichts. »Etwas anderes als das hier. Nicht bei dem Gehalt, das Barnum & Sons zahlte.« »Ich habe fünfundzwanzigtausend im Jahr verdient.« »Zwanzigtausend«, sagte der Hund. »Ich habe es überprüft.« »So? Wie?« »Ich habe meine Methoden. Ich bleibe in Fühlungnahme.« Prez saß auf dem Hartholz und biß nach seiner Flanke. »Flöhe?« »Nein, meine Verkabelung juckt. Das verdammte Wetter läßt einem die Verkabelung jucken. Erinnere dich daran, wenn du alt wirst, und sie anfangen, dich in einen Kyborg zu verwandeln.« »Zu schade, daß du so kälteempfindlich bist, Prez.« Der Hund überkugelte sich und rieb die Schultern gegen den glatten Fußbodenbelag. »Ich habe das Postamt angerufen, und sie bestehen darauf, daß sie eines meiner Pakete ausgeliefert haben, Hungerleider.« »Richtig, das stimmt. Ich vergaß es zu erwähnen«, sagte Penner. »Draußen im Wald fiel mir ein Päckchen hin. Ich war mit den Gedanken anderswo.« »Du hast es ungefähr wo fallenlassen?« »Drei Meter oder so von der alten Pumpe.«
»Du kannst es jetzt holen gehen, und wir nehmen an, wir sind quitt.« »Das ist wohl nicht dein Ernst, Prez. Wir sind jetzt allein. Du gehst.« Der Hund schaukelte ein paar Mal auf dem Rücken hin und her. In seiner Brust knurrte es. »Okay, ich gehe, weil ich sehr besorgt um mein Paket bin. Bei der Pumpe?« »Ja, links, wenn du auf das Tor zugehst.« Prez trottete in den Flur. Penner folgte ihm und hielt die Tür auf. Der Hund lief in den schweren Schneefall hinaus. Der Erdboden war einen halben Meter hoch mit Neuschnee bedeckt, und Prez sank ein und hinterließ dunkle Löcher, als er ging. Penner schlug die Tür zu und verriegelte sie. Er rannte durch das übrige Haus, verriegelte Türen, aktivierte alle elektrischen Fensterverriegelungen und Einbrecherschlösser. Im Eßzimmer bestellte er ein Currygericht. Das erste, was Prez tat, war an der Vordertür, dann an der Hintertür zu kratzen. Er bellte, heulte, schrie Beleidigungen. Heftige Winde zogen kurz nach zehn herauf, und die Laute des ärgerlichen Hundes wurden verschluckt und verloren sich. Als Penner zu Bett ging, fiel der Schnee mit der Heftigkeit eines Blizzards. Von Prez war nichts mehr zu hören. Das Frühstückradio sagte: »Gegenwärtige Berichte deuten darauf hin, daß alles an Bord des die Schweiz anfliegenden automatischen Überschallsuperjets der New Airlines verlorenging, als das Flugzeug in den sturmgeschüttelten Atlantik stürzte. Unter den als
Passagiere aufgeführten Personen auf dem NWAFlug befanden sich Asmund Crowden, der bekannte Investmentmakler, der Sänger Merlo Benninger und Benny Maitland-Scott, die reizende, vielgereiste Tochter des Wollmagnaten ...« Penner setzte seine Kaffeetasse ab. Er langte mit dem Arm über den Tisch und stellte lauter. Das Radio sagte: »Mit an Bord gewesen sein soll auch der ehemalige Meister im Halbschwergewicht Kid –« Es gab ein Knattern, und der Ton versiegte. Penner stieß mit der Handkante gegen das Lautsprechergitter. Das kleine Radio klickte und kippte um. Penner rannte ins Wohnzimmer und setzte das Unterhaltungssystem in Gang. Er legte einen Schalter in der Wandvertäfelung um, und der wandgroße TVSchirm erwachte zum Leben. »Das ist natürlich ein Kakadu, liebe Kinder«, erklärte der rundliche Mann in der scharlachroten Musikkapellenuniform und der lockigen roten Perücke. »Ist er nicht hübsch, Mr. Crackerjacker?« »Ich würde sagen, Cap, er hat ein kleines Stück Fleisch aus Ihrem Daumen gepickt.« »Hurensohn«, sagte der Captain. Penner stieß einen anderen Schalter um. Der Verteidigungsminister erschien. »Ich glaube, wir können zu einer Übereinkunft gelangen, Gentlemen. Ich habe großen Respekt vor Ihrem Komitee, und ich sage Ihnen jetzt in aller Aufrichtigkeit, daß wir so etwas nicht auf Zivilisten abwerfen würden.« Auf der nächsten Station sagte ein Schwarzer in einem Arbeitskittel: »Hallo, Rick. Martin hier mit dem
Wetterbericht. Wie du der Karte, die unser Computer zeichnet, entnehmen kannst, steht uns Einwohnern von Connecticut noch weit mehr von der Sorte bevor. So ist es, Schnee und noch mehr Schnee. Sieht ganz so aus wie der schlimmste Blizzard seit neunzehnhunderteinundsiebzig.« Hinter Penner fragte eine Stimme: »Weshalb die Aufregung?« »Prez –« Der schlampige schwarze Hund rekelte sich in einem geblümten Liebessessel. »Bin dir nicht böse«, sagte der Hund und kratzte sich mit dem Hinterfuß das Ohr. »Ich nehme an, du hast einfach nicht gemerkt, daß ich letzte Nacht ausgesperrt wurde. Du hast mein Schreien sicher nicht hören können, während der Sturm wütete.« »Wie bist du hereingekommen?« »Ich kenne ein paar Tricks. Elektronische Tricks, einfaches Schloßaufknacken«, erklärte ihm der Hund. »Du wirkst unsicher.« Penner sagte: »Die Nachrichten. In den Nachrichten haben sie gerade gesagt, daß Bennys Robotjet abgestürzt ist.« »Benny? Nein. Bist du sicher, daß sie im Flugzeug war?« »Ja – sie haben ihren Namen durchgegeben.« »Es könnte ein Irrtum sein.« »Du hast recht, Prez. Ich werde die verdammte Fluggesellschaft anrufen.« Er schritt zum Telefon auf dem runden Marmorkaffeetisch. Er nahm den Hörer ab. »Verdammt.« »Was ist?« »Die Leitung ist tot.«
»Passiert während dieser Blizzards. Dies ist nicht Manhattan, nicht einmal die Vororte. Noch ist nicht alles unterirdisch in diesem Engpaß der Wälder. Bäume fallen um und unterbrechen die Telefonverbindung.« Penner war im Flur. Das Telefon dort war ebenfalls tot. Er ging durch das große Haus und überprüfte alle Telefone. Er kehrte in den Flur zurück und riß den Wandschrank auf. Er hatte die Hand auf einem buntkarierten Halstuch, als Benny nach ihm rief. »Norby, Norby, Liebling, wo bist du?« Sie schien im Wohnzimmer zu sein. Penner ging dorthin. »Benny, wo bist du?« »Ich weiß nicht genau, Norby. Das ist alles sehr seltsam, nicht wahr? Trotzdem, was für eine angenehme Überraschung, herauszufinden, daß Bischof Dix recht hat.« Ihre Stimme kam von dem Hund. Penner hob unwillkürlich die Arme, und seine Hände bewegten sich kraftlos hin und her. Er ließ das Tuch fallen und begann durch den Mund zu atmen. »Benny, wie zum Teufel bist du in den verdammten Hund hineingekommen?« Prez Augen waren fest geschlossen, und seine Schnauze war gerade noch offen. »Ich bin in der – nun – was Bischof Dix die Andere Wirklichkeit nennt, Norby.« »Wolltest du nicht in die Schweiz?« »O, Norby, bist du schwer von Begriff! Norby, ich bin tot.« »Tot? Nein –« »Doch. Ich bin jetzt hier in der Anderen Wirklich-
keit. Aber ich kann immer noch ab und zu mit dir reden. Das wird schön sein, nicht wahr?« Penner blinzelte, schüttelte den Kopf und hob behutsam den Hund hoch. »Benny, was hast du gesagt?« »Ich setze mich von hier drüben aus mit dir in Verbindung, Norby, durch die Medien des Geistes. Frag mich nicht warum oder wieso, Liebling, aber die beste Methode, mit dir Verbindung aufzunehmen, scheinen die elektronischen Teile vom armen alten Prez zu sein.« »Ja, aber«, sagte Penner. »Bitte bleib da, damit ich mit dir reden kann, Norby. Es ist so seltsam hier, und ich kenne noch niemanden. Außer ein paar Leuten aus dem Flugzeug. Du bleibst beim Haus, bis Dad etwas tun kann. Und, Norby, ich glaub, ich kann dir jetzt sagen, daß ich dich in meinem Letzten Willen bedacht habe.« Penner war dem alten Hund von Angesicht zu Angesicht gegenüber. »Wozu braucht ein zweiundzwanzigjähriges Mädchen einen Letzten Willen?« »Er kam gelegen, oder nicht? Nun, wo ich verschieden bin und so. Ich will nur, daß du es weißt, damit du darauf vorbereitet bist. Du und der liebe arme Prez.« »Ich will jetzt nicht darüber sprechen, Benny.« »Eine halbe Million ist alles, was ich von meinem Besitz für dich abzweigen konnte, Norby. Wird das reichen?« Penner ließ den Hund fallen. »Eine halbe Million Dollar?« Prez sagte: »Autsch. Was soll das, Hungerleider?«
»Benny!« rief Penner. »Gerätst du wieder aus dem Häuschen?« fragte Prez. »Benny hat gerade mit mir gesprochen. Durch dich, Prez. Hast du es nicht gehört?« »Nein.« Der Hund sprang zurück auf den Liebessessel und machte es sich bequem. »Das ist schon in gewisser Hinsicht erstaunlich. Wie sich herausstellt, hat Bischof Dix recht gehabt, wie?« »Bischof Dix. Der seines Amtes enthobene Bischof Dix. Er hat die Kirche verlassen.« »Ich nehme an, das muß man auch, wenn man so verrückte Ideen hat.« »Aber es funktioniert, Prez. Benny kann mit mir reden von – wo immer sie ist.« Der zottige Hund kratzte sich am Ohr. »Ich glaube, ich gehe hinaus und schnüffle ein bißchen im Wald herum.« Penner sagte: »Nein. Du bleibst hier.« »Ich muß aufs Klo«, sagte der Hund. »Ich mache dir was im Krawallzimmer zurecht. Du mußt im Haus bleiben. Ich will dich nicht draußen im Blizzard aufs Spiel setzen. Benny wird weiter versuchen durchzukommen.« »Okay, ich mache mit.« Der Hund schnupperte. »Ich habe Hunger. Erinnerst du dich an das magere rote Fleisch, daß ich letzten Abend erwähnt habe?« »Sicher, ich hole dir ein hübsches kleines Steak und tue es in deinen Napf.« »Ein großes Steak, Hungerleider. Und ich fresse es hier.« Penner sagte nach einem Moment: »Okay, Prez.«
Penner schaute von der elektrischen Schreibmaschine auf und betrachtete das Schneetreiben draußen vor den Fenstern des Wintergartens. Der Schnee war einen Meter zwanzig hoch, und der Wind tobte und heulte. »Ich dachte, du hättest eine besondere Diktiermaschine für deine Korrespondenz«, meinte er zu Prez. Prez lag auf dem weißen Ledersofa und plagte sich mit einem Steakknochen ab. Er hielt inne, um zu sagen: »Dafür bin ich nicht in Stimmung. Es macht mehr Spaß, dir zu diktieren. Benny hilft mir gewöhnlich auch manchmal aus. Großer Spaß an stürmischen Tagen. Jetzt mach dich ans Tippen.« »Macht großen Spaß – der Privatsekretär einer Promenadenmischung zu sein.« »Was ist das, Hungerleider?« »Ach, nichts.« Seit dem ersten Mal gestern hatte Penner noch zweimal mit Benny gesprochen. Er hatte entschieden, daß es die Mühe wert war, sich mit Prez abzugeben, wenn er auf diese Weise mit dem Mädchen in Verbindung bleiben konnte. »Weiter.« »Wo war ich stehengeblieben?« »Die Solisten bei dieser Session, mein lieber Dick, waren Dicky Wells, Benny Carter, Wayman Carver, Leon ›Chu‹ Berry ... Wie vielen dieser Burschen schreibst du, Prez?« »Über hundert.« Der Hund brachte den Knochen mit beiden Vorderpfoten wieder in die richtige Lage. »Ich stehe mit über hundert begeisterten Jazzfans auf der ganzen Welt in Verbindung. Wir tauschen Briefe, Listen? Bänder und andere Sachen aus, manchmal Exotisches, Denkwürdigkeiten.«
»Exotisches?« »Das Postsystem ist oft sehr lax. Wir tauschen Pillen und ab und zu eine Prise Schnupftabak.« »Du bist drogensüchtig?« »Nein, ich besitze nur eine Art wissenschaftlicher Neugier«, erwiderte der Hund. »Wenden wir uns wieder dem Brief zu.« Nachdem Penner drei weitere Briefe getippt und in Umschläge gesteckt hatte, sagte er: »Genug für heute.« »Gib sie noch auf.« »Unwahrscheinlich, daß sie heute abgeholt werden.« »Das Postamt wird offen sein.« »Es ist zwei Meilen entfernt, und wir haben immer noch Blizzard.« Er ließ die Briefe auf die geschlossene Schreibmaschine fallen. »Ich erwarte auch zwei, drei Pakete.« »Ich gehe, wenn es wärmer geworden ist«, sagte Penner. »Heute.« »Werde nicht unverschämt, Prez.« »Dann gehe ich.« Der Hund, mit dem Knochen im Maul, sprang auf den Fußboden. »Nein, das wirst du nicht.« »Dann du.« Penner atmete langsam ein und aus. »Ich lasse es auf einen Versuch ankommen. Du bleibst hier, und wenn Benny versucht mich zu erreichen, erklär es ihr.« »Bring einen Bogen Zwölf-Cent-Briefmarken mit,
wenn du schon einmal dort bist.« Prez trottete aus dem Zimmer. Penner warf sich gegen die Vordertür des Hauses und stolperte hinein. Er fiel über den Teppichvorleger, stürzte auf seinem Weg nach unten gegen den Tisch für die Postsachen, ließ zwei Briefe, eine Zeitschrift und drei Pakete fallen. Sein Gesicht war mit Reif überzogen und von brennend roter Farbe. Er machte einen schiefen Liegestütz und arbeitete sich in eine sitzende Stellung hoch. Er wickelte den kalten und durchweichten Wollschal mit den steifen, in wollenen Fausthandschuhen steckenden Fingern ab. »Norby, Schatz? O, mein Liebster, wo bist du?« rief Bennys Stimme. »Eine Minute, eine Minute!« schrie er zurück. »Immer langsam.« Er grunzte und zerrte an seinen Stiefeln. Sie waren schlammverschmiert und tröpfelten braunes Schmelzwasser auf seine Ärmel. Als nächstes rollte er sich aus dem Schneemantel heraus. »Norby, geht es dir gut? Bitte sprich mit mir. Es wird immer schwieriger, dich von hier drüben aus zu erreichen. Es kostet große Anstrengung.« »Ich komme, ich komme. Ich habe ebenfalls Probleme, Benny.« Er legte die restliche Winterkleidung ab und ging im Zickzack ins Wohnzimmer. Prez lag auf dem Fußboden nahe des Kastens für die Zeitschriften auf dem Rücken, die Füße in der Luft. »Norby, stimmt etwas nicht?« »Ich bin okay.« Penner, der sich neben den Hund
hinhockte fügte hinzu: »Manchmal wünschte ich, du hättest dir ein besseres Kommunikationsmittel ausgedacht.« »Ich habe keine große Wahl. Hör zu, Norby, es wäre eine große Hilfe, wenn du –« »Wenn ich was?« Prez machte die Augen auf. »Wo ist die Post?« Penner preßte den Hund an den Schultern gegen den Fußboden. »Benny, was wolltest du?« »Laß mich los«, sagte der Hund. Penner tat es. Die warme Hand legte sich wie ein Seestern auf seine nackte Brust. Penner setzte sich in dem breiten Bett auf und sagte: »Autsch.« »Ruhig, Norby. Du bist ganz schön zerfahren, oder nicht?« Penner wickelte die Lampenschnur auf und fand den Kippschalter. Es wurde hell, und er sah Benny in einem gelbbraunen Regenmantel und einem dunklen Kopftuch auf der Bettkante sitzen. Er packte ihren Ellbogen. Die Kleidung war kalt, noch feucht von Schneeflocken. »Wie bringt Bischof Dix das zuwege?« »Was? Ich wollte dir keinen Schreck einjagen, Norby. Ich weiß, daß du mich erst in einigen Tagen erwartet hast. Nachdem der Flug abgesagt worden war, habe ich die Nacht in New York verbracht. Ich habe dich gleich am nächsten Morgen angerufen, aber das Telefon ging nicht. Also habe ich mich entschlossen, mir den Weg zu dir zurückzukämpfen, und hier bin
ich – schließlich.« Sie beugte sich vor, um ihn zu küssen. »Dann bist du nicht in den sturmgepeitschten Wassern des Atlantik ertrunken?« »Unser Flug wurde abgesagt«, sagte das liebliche blonde Mädchen. »Ich rief Dad an, und er sagte, er würde andere Vorkehrungen treffen. Also habe ich einen Wagen gemietet und blieb die meiste Zeit in Port Chester stecken – aber hier bin ich.« Penner berührte sie wieder. »Benny, wegen Prez.« »Ist er wohlauf? Die Kälte spielt ihm manchmal übel mit.« »Es geht ihm gut. Kann er eigentlich seine Stimme verändern? Das heißt, weißt du, ob er jemals so etwas getan hat?« Benny lachte. »Hat er dich aufgezogen. Ja, er ist sehr gut darin, andere Leute nachzumachen. Wir hatten das einbauen lassen.« Penner sagte: »Du bleibst hier. Ich bin in ein paar Minuten zurück. Mir ist da etwas eingefallen.« »Kann es nicht warten?« »Nein.« »Ich werde mich ausziehen.« »Tu das«, sagte er. Penner ergriff einen Morgenmantel und stieg in Pantoffel. Er schoß aus dem Schlafzimmer und die Treppe hinunter. Prez war aus dem Liebessessel, den er als Schlafplatz gewählt hatte, verschwunden. Penner wählte den schwersten Schürhaken aus dem vollen, an der Kaminwand verschraubten Stander. Er streifte durch das düstere Haus und ermittelte den
Aufenthaltsort des zottigen, schwarzen Hundes unter einem alten Schreibtisch im Krawallzimmer. »Komm raus, du Stinker.« Der Hund kauerte in einem Nest aus zerrissenem Paketeinwickelpapier. Eine schwedische Briefmarke hatte sich an seinem schlaffen linken Ohr festgesetzt. »Was jetzt, Hungerleider?« Penner sagte: »Wir haben gewiß viel Spaß gehabt. Du und dein verdammter Schabernack. Schön, wie dir bekannt sein sollte, ist Benny zurück. Ich werde die Sache bereinigen.« »Das wird ein falscher Zopf werden.« Penner schob seine freie Hand unter den Schreibtisch und erwischte Prez. »Paß auf –« Prez fletschte die Zähne, dann biß er Penner in die Hand. »Verdammt.« Penner befreite die blutende Hand. »Jetzt bist du wirklich unten durch, Prez.« »O nein«, sagte der Hund. »Du bist es.« »Was?« »Du bist gerade mit Tollwut infiziert worden.« Penner schaute von der verletzten Hand zu dem Hund unterm Schreibtisch. »Keine Witze, Prez. Zufälligerweise weiß ich, daß es in diesem Teil des Landes seit zehn Jahren keinen Fall von Tollwut mehr gegeben hat.« »Ich weiß«, sagte der Hund. »Deshalb mußte ich mir den Virus auch schicken lassen.« Originaltitel: PREZ Aus IF Febr. 1970 Copyright © 1970 by Universal Publishing and Distributing Company
Ed Bianchi GEWOHNHEITEN DES RIGELINISCHEN NACHTFUCHSES Ed Bianchis ergreifende Erzählung fängt das ganze Drama des natürlichen Lebensprozesses und dessen Wandlungsfähigkeit ein. Dies ist eine zeitlose Geschichte des Überlebenskampfes, von einem ungewöhnlichen Standpunkt aus geschildert. Er erwachte abrupt. Seine Muskeln waren gespannt, und er knurrte, aber seine Augen und sein Gehirn wurden erdrückt. Gefahr ... Reiz ... Licht flackerte um ihn herum. Sein Kopf dröhnte von Empfindungen. Das Licht – das Licht! Er konnte es nicht abschütteln. Er kam zuckend auf die Füße. Das Licht war grell und quälend ... ein wirbelndes Durcheinander. Mit der Besonnenheit langjähriger Erfahrung wandte er sich um und suchte den tiefsten Winkel seiner Furche auf. Als letzte Alternative versuchte er, die Augen, indem er sie fest verschloß, in dem Fell seines Schwanzes zu verbergen. Seine Augenlider zitterten bei der Anstrengung, aber das Licht war ein rotes Glühen, das in sein Gehirn brannte. Geblendet und frustriert sprang er zur Wand, schlug mit den Fangen um sich und grub ein Loch für Kopf und Schnauze. Und einen Atemweg. Indem er den Kopf fest hineinstieß, vermochte er die Folter des Lichts so weit zu bändigen, daß er fühlte, er konnte weiterschlafen.
Er war ein noch junges, unvermähltes Männchen und darum von niedrigem Status. Demgemäß grenzte seine Furche nahe des Eingangs an den Haupttunnel. Er fürchtete sich nicht vor den Tagjägern. Sie wagten sich gewöhnlich selten in den Tunnel. Außerdem hatte er viele während seiner nächtlichen Jagden getötet. Selbst bei diesem Licht, das in seine Furche brannte, so wußte er, konnte er gut genug kämpfen, um sich zu retten. Nein, das Problem mit seiner Furche war, daß, wenn er tagsüber aufwachte, das Licht ausreichte, um ihn wahnsinnig zu machen. Sein von seiner gespannten Haut gesträubtes Fell glättete sich langsam. Sein Atem wurde ruhiger. Seine Augenlider entspannten sich. Das verbleibende Licht in seinen Augen war dem Sternenlicht ähnlich genug, um ihn nicht länger zu stören. Schlaf stellte sich ein. Die Gedanken zerschmolzen und trieben davon. Er erwachte. Aber diesmal zuckten seine angespannten Muskeln nicht vor plötzlicher, instinktiv gefühlter Gefahr. Das schwache Licht, das ihn erreichte, war das der Sterne, so düster, daß es fast nicht zu existieren schien. Er verweilte einige Minuten, streckte sich, machte Kampfbewegungen, stimmte Körper und Nervensystem wieder auf einander ab. Zum 'zigsten Mal verspürte er jene Verfassung von Gesundheit, Bereitschaft und Stärke. Er trottete aus seiner Furche heraus den Tunnel hinab, suchte sich seinen Weg und strebte dem Sternenschein entgegen. Andere waren bereits draußen. Sie streiften vor dem Eingang herum, schnüffelten und suchten die Büsche nach Spuren von Beute ab. Er strebte geradewegs auf das Gestrüpp zu, duckte
sich unter Zweigen hindurch und trottete über den weichen Humus. Seine Augen waren weit offen und wachsam. Ein schlafender, im Buschwerk verborgener Tagjäger oder ein Buschfresser, der sich auf dem Boden wälzte – jeder wäre heute nacht recht. Er war gerade hungrig genug, daß die Nahrungsmenge, die sie boten, seinen Hunger befriedigen würde. Eine Witterung ließ ihn schlagartig in Laufschritt verfallen. Ein Sprung unter einen Zweig, eine rasche Drehung, ein Blick, ein Nachsetzen und ein Satz, ein Beißen und Umkrallen – und der Buschfresser, dem Blut aus einem dutzend Wunden quoll, war sein. Als seine Anspannung nachließ, erkannte er, daß er gerade seine Mahlzeit gefangen hatte. Er begann die Mahlzeit mit der Flanke des Tieres, biß und zerrte an dem feuchten, warmen Fleisch. Als er genug hatte, legte er sich ein kleines Stück von dem Kadaver entfernt nieder und begann zuversichtlich die letzten Blutspuren von den Pfoten zu lecken. Er hatte Glück gehabt und leichte Beute gemacht, und er fragte sich, was er wohl mit dem Rest der Nacht anfangen würde. Er ruhte einige Zeit, um sein Mahl zu verdauen. Dann streifte er gemächlich durch das Buschwerk. Die Sterne über ihm, strahlende Nadelpunkte, die dennoch schmerzhaft anzuschauen waren, erregten noch immer seine Aufmerksamkeit und Scheu. Der Himmel war so voll von ihnen, daß es nahezu unmöglich sein würde, noch mehr dort anzubringen. Sie erhellten die Dinge sanft und gleichmäßig, weitaus wohltuender als die grellen, stechenden Strahlen, die während des Tages von etwas unvorstellbar Hellem ausgingen.
Eine neue Witterung erregte seine Aufmerksamkeit. Ein Weibchen. Nur ihre Witterung. Ein unvermähltes Weibchen ohne Begleitung. Er trottete in ihre Richtung davon. Sein erster Blick sagte ihm, daß sie gesund war. Das Sternenlicht beschien ihren Pelz. Ihr Körper war straff und gepflegt. Ihre Reaktionen waren vorzüglich – sie wirbelte in dem Moment herum, da sie ihn bemerkte. Er setzte seine Annäherung fort, verlangsamte aber. Er kam ihr recht nahe, bevor sie nervös zurückzuckte. Er hielt an. Sie wandte sich um, um zu gehen. Er sprang nach ihr. Sie wirbelte herum, um sich zu verteidigen, und er schob ihre Schnauze auf gleiche Linie mit seiner. Die Schmähung ärgerte sie. Er umrundete sie heiter und fuhr fort, sie mit Finten zu necken. Schließlich sprang sie ihn in ärgerlicher Verwirrung an. Er drehte sich um, um die Herausforderung anzunehmen. Sie setzte sich auf und lief dann empört davon. Er ließ sie gehen in dem Bewußtsein, eine gute Vorstellung abgegeben zu haben. Den Rest der Nacht verbrachte er mit einem fröhlichen Spaziergang und einigen erfolglosen Sätzen nach Beute. Die ganze Zeit über funkelten die Sterne am Himmel. Als der Himmel heller wurde, steuerte er auf den Tunnel zu. Er wußte, daß das Licht bald unerträglich werden würde, und daß dann die Tagjäger in der Lage sein würden zu töten. Er folgte seinem Gespür und dem Geräusch der andern am Tunneleingang. Er machte den Rückweg, ohne auf Schwierigkeiten zu stoßen und tauchte rasch in dem behaglichen Dunkel des Tunnels unter.
Er hielt nicht an, um die Gesellschaft der andern am Tunneleingang zu suchen, sondern ging ins Innere weiter. Einmal glaubte er, das Weibchen zu wittern, aber unsicher und ein wenig hungrig von der so frühen Mahlzeit kümmerte er sich nicht darum nachzuforschen. Er tauchte in seiner Furche unter, achtete darauf, die Augen gegen das aufkommende Licht zu schützen und legte sich zum Schlaf nieder. Im Tunnel schienen die letzten purpurnen Strahlen des Tageslichts, als er erwachte. Die exotischen Lichtfunken blendeten ihn, aber sie waren nicht hell genug, um wirklich unangenehm zu sein. Fasziniert sprang er in den Tunnel hinaus. Die grelle Farbe war dort strahlender, als er erwartet hatte. Er stand in schmerzhafter Faszination da, gebannt von dem flackernden Purpur. Unfähig, dem Licht standzuhalten, stolperte er zurück und verfehlte, geblendet wie er war, den Eingang zu seiner Furche. Er ging weiter zurück, bis ein paar kaum merkliche Biegungen des Tunnels ihn von dem Licht abschirmten. Er machte eine Pause und ging dann ein kleines Stück weiter, bevor er haltmachte, um sein Augenlicht wiederzugewinnen und auf das Schwinden des letzten Tageslichts zu warten. Er überlegte gerade, ob er dem jetzt schwindenden Licht nach oben folgen sollte, als er herausgefordert wurde. Das Knurren kam von einem Männchen mit höherem Rang als er, das offenbar wenig Sympathie für jene hegte, die versuchten, sich die Vorrechte Höherstehender auszuborgen. Er wußte, daß sein Widersacher noch nicht völlig wach oder an das Licht gewöhnt sein konnte. Seinen Vorteil ausnutzend, rea-
gierte er mit einem energischen und verwirrenden Sperrfeuer aus Drohungen und Finten. Sein Widersacher wurde bösartig, wollte auf ihn losgehen, sprang hoch, schlug um sich, alles wirkungslos. Befriedigt von seiner Verteidigungsvorführung zog er sich schließlich zurück und trottete rasch dem Sternenlicht entgegen. Am Eingang machte er halt, um mit größter Sorgfalt Umschau zu halten, zu wittern und zu lauschen. Eine nur halb eingestandene Hoffnung wurde begraben, und er machte sich auf den Weg ins Unterholz, der erste Jäger der Nacht. Beutemachen war schwer diese Nacht, und mehrere Stunden lang war das einzige, dessen er fähig zu sein schien, ein Tier zu erblicken und es dann zu verlieren. Er machte keine Beute bis später in der Nacht, als er einen Tagjäger fing, der den Fehler begangen hatte, zu gut zu fressen und sich zu dürftig zu verbergen. Er starb langsam, seine Kehle war aufgerissen, seine Kiefer zuckten konvulsivisch, und seine Zähne blitzten im Sternenlicht auf. Er war hungrig, und nur indem er den Körper sorgfältig von all seinem Fleisch befreite, gelang es ihm, seinen Hunger zu stillen. Nach einer Weile der Entspannung verließ er den Kadaver und suchte wieder die Luft nach einer Witterung ab. Er verfolgte ein paar Möglichkeiten weiter, hatte jedoch kein Glück. Das Weibchen war nicht in der Nähe – oder zumindest nirgendwo, wo er sie finden konnte. Er kehrte früh zum Tunnel zurück und verbrachte geraume Zeit am Eingang. Aber schließlich entschied er, daß die Mühe vergebens war, und ging hinein, um
den kommenden Tag zu erwarten. Als er aufstand, war die Nacht bereits hereingebrochen, und er wußte, er hatte die beste Gelegenheit verpaßt. Also nahm er sich Zeit in seinen Vorbereitungen, den Tunnel zu verlassen. Draußen widmete er sich dem harten Geschäft der Jagd und vollbrachte ein wesentlich besseres Werk, als es ihm vorige Nacht gelungen war. Er verbrachte die Nacht einigermaßen zweckmäßig, zuerst jagte er, verzehrte dann sein Mahl mit viel Hingabe und hatte sogar eine Rauferei mit einem etwa gleichrangigen Männchen. Unvermittelt teilten ihm seine Sinne die Anwesenheit des Weibchens mit. Er ließ alle Vorwände in einem Augenblick fallen. Es war eine Angelegenheit von Minuten für ihn, ihrer Witterung zu folgen. Sie hatte eine schwere Nacht gehabt und suchte noch immer nach Beute, als er sie fand. Er blieb seitlich hinter ihr, als sie dahinstreifte – und sie ignorierte ihn. Viele Minuten lang strengte er alle Sinne an, um Beute zu erspähen. Er erhaschte die Umrisse eines Tieres durch eine dicht gedrängt stehende Buschgruppe und jagte ihm nach. Ein eiliger Blick nach hinten zeigte ihm, daß sie ebenfalls die Verfolgung aufgenommen hatte. Das Tier war besonders schnell und schwer zu fassen, aber er war nicht in der Stimmung, sich jetzt abschütteln zu lassen, und mit einer wütenden Anstrengung überholte er sein Opfer und brachte es in vollem Lauf zu Fall. Das Weibchen kam Augenblicke später an. Sie zö-
gerte ein kurzes Stück entfernt und rang mit sich, ob sie die Mahlzeit einfach nehmen, ihm drohen oder weggehen sollte. Schließlich ging sie auf die Beute zu und begann, nach einigen Ermunterungen, zu fressen. Sie fraß langsam und mit einer Miene der Unsicherheit. Gelegentlich schaute sie zu ihm auf, bevor sie weiterfraß. Die ganze Zeit über lag er nahe daneben und wartete darauf, daß sie ihre Mahlzeit beendete. Schließlich entschied sie, daß sie genug hatte, und schaute wieder zu ihm auf. Er tat nichts. Sie kam herüber und legte sich neben ihm nieder, um ihr Mahl zu verdauen. Als er in seiner Furche lag, versuchte er sich zu erinnern, was sie getan hatten. Er erinnerte sich an Gehen – ja, Gehen. Sie waren die ganze Zeit über gegangen. Warum? Durch Sternenschein und Buschwerk. Sie waren die ganze Nacht über gegangen. Und dann am Tunneleingang – obwohl die ersten Spuren des Tageslichts sich bereits zeigten, hatte er gewollt, daß sie dort bei ihm blieb. Sie hatte seinen Wunsch anscheinend nicht gespürt. Sie war gleich hineingegangen. Aber er hatte dort draußen bleiben wollen, selbst als das Licht immer intensiver wurde. Er konnte sich nicht entschließen, darüber hinwegzusehen, so beschloß er, einfach schlafenzugehen – und rasch, bevor es zu hell wurde. Er war überrascht festzustellen, daß sie diese Nacht am Tunneleingang auf ihn wartete. Das war etwas, das er nicht erwartet hatte. Ihre Anwesenheit gab ihm jedoch ein warmes Gefühl.
Schon kamen sie einander näher. Sie schien sich in seiner Nähe sicher zu fühlen. Er spürte ihr vermehrtes Vertrauen in ihn, und es beunruhigte ihn ein wenig. Sie bewegten sich still und langsam durch die Nacht. Sie taten es aus Liebe zur Stille, nicht aus Heimlichkeit. Er dachte einmal, daß sie wirklich jagen sollten. Sie würden etwas zu fressen brauchen. Aber sie schien zu sehr in die Stille und Wärme zwischen ihnen verliebt zu sein, um zu jagen. Sie hatten keinen Hunger. Er liebkoste sie. Sie hatten keinen Hunger. Er fühlte keinen, bis er und sie zurück am Tunneleingang waren und der Tag anzubrechen drohte. Dann fühlte er ihn qualvoll. Sie steuerte weiter auf den Tunnel zu, aber er mußte anhalten. Ein Winseln entfuhr ihm. Sie wandte sich um, um ihn anzuschauen – etwas in ihr antwortete und drückte Anteilnahme aus. Beinahe wäre sie zu ihm zurückgekommen. Aber angesichts der wachsenden Helligkeit wandte sie sich wieder ab und ging langsam hinunter. Sich selbst überlassen, fühlte er sich erschöpft. Seine Qual erfüllte ihn mit einsamen Gewissensbissen. Er stolperte in den Tunnel und betrat seine Furche. Die Dunkelheit, in der er sich niederlegte, hatte etwas Tröstliches. Und Schlaf war immer gütig. Dunkelheit? Wieder Nacht. Noch nicht lange war es Nacht, aber das Licht war Sternenlicht, und die Jäger waren unterwegs. Erfühlte, daß er gut geschlafen hatte und daß er sehr, sehr hungrig war. Er begegnete ihr, als sie aus den tiefer gelegenen
Teilen des Tunnels kam, und sie gingen zusammen weiter ins Freie hinaus. Sie hatten eine fröhliche, aber zielstrebige Jagd diese Nacht, sie machten zweimal Beute, die sie miteinander teilten. Den größten Teil der restlichen Nacht spielten sie sanft und liebevoll. Sie wurde schläfrig, und er ließ sie ruhen, während er ihr Fell in Ordnung brachte. Als sie diesmal zum Tunnel zurückgingen, wirkte sie ziemlich matt und machte mit ihm am Eingang halt. Sie legte sich nieder. Einen Augenblick lang war er entsetzt. Aber seine Bedenken hatten jetzt wenig Bedeutung. Er legte sich neben sie. Das Spiel begann mit kurzem, versuchsweisem Tätscheln. Lecken folgte. Dann kam Knabbern. Lebhaftere Bewegungen. Heftig, erregt. Das Licht wurde heller. Gegenstände sprangen ihnen ins Bewußtsein. Das Licht funkelte auf ihrem Fell, glitzerte in verzückten Augen, erhöhte ihre Erregung, verstärkte ihre wachsende Ekstase. Die glänzenden Farben des angehenden Tages umgaben sie und trugen zu der Gewalt bei, die ihre Körper und ihren Verstand bestürmte. Ihnen dürstete nach Empfindungen. Sie erhielten sie durch Berührungen, Tätscheln, Liebkosungen, Stöße, Kontraktionen, Beugungen. Ihr Ansturm war nicht weniger heftig als seiner – manchmal biß sie ihn fest genug, um ihn aufheulen zu lassen. Das Licht war zu hell, zu blendend, zu toll machend, um sie sehen zu lassen – Vernunft stand außer Frage. Sie schlugen um sich und verausgabten sich in einem allesumhüllenden Meer aus unerträglichem Gefühl.
Ein unvorstellbarer Schmerz in seinem Oberschenkel, ein anderer in seiner Schulter – in seinem Rücken, und das Tageslicht brannte sein Gehirn aus! Fänge – Zähne! Er schlug mit den Beinen um sich und versuchte nach den Angreifern zu beißen. Schmerz – Licht! Er krabbelte auf die Füße und fühlte, wie Fänge und Zähne ihn wieder herabzwingen wollten. Die Angreifer mit sich schleppend, steuerte er, auf was das tiefer gelegene Ende des Tunnels sein mußte, zu. Sein Körper schien einzig und allein dazu bestimmt zu sein, Schmerz zu fühlen. Er hämmerte damit. Noch nie hatte er sich so zerschlagen und unfähig gefühlt, so aufgerieben von Schmerz ... Die Angreifer waren fort. Er konnte es nur undeutlich wahrnehmen, und dann wurde der Gedanke in einer Flut von Qual ertränkt, die in seinen Körper drang, in sein Gehirn, in seine Augen – seine Ohren. In seinen Ohren war, was er nicht hören wollte, was er wünschte, daß der Schmerz es – dieser unglaubliche Schmerz – ertränken würde. Aber er hörte es wieder und wieder – die erbärmlichen Todesschreie, den seelenlosen Lärm der Raubtiere ... Erwachen war eine launenhafte Angelegenheit – er vermied sie, so gut es ging. Der Schmerz wurde nur durch Monotonie gemildert. Das Hämmern hatte nicht aufgehört. Nein, er brachte es nicht fertig, völlig wach zu werden. Er erreichte nur die Grenzlinie des Bewußtseins. Und es war unerträglich. Der einzige Schrekken, der fort war, war das Licht. Die Schreie, der Blutgeruch, die Hilflosigkeit, das Schwächegefühl, das an Tod grenzte, blieben.
Als er schließlich eine gewisse Zeitspanne bei Bewußtsein verbringen konnte, ohne vor Schmerzen wahnsinnig zu werden, schien es ihm, als hätte er sein gesamtes Leben unter Qualen verbracht. Er wurde sich gewahr, daß er gefüttert wurde und daß diese Furche größer und dunkler war als jede, in der er je, selbst als Welpe, gewesen war. Es gab andere hier, einige gesund – aber die meisten wie er aufgerissen, mit getrocknetem Blut auf Wunden und Fell. Und einer, der sich fast tagelang fortwährend im Todeskampf hin und her warf, um nur vor Erschöpfung zu schlafen, bis er starb. Vermählte Paare waren hier, einige mit geringfügigen Wunden. Die meisten taten so, als hätten sie all dies schon einmal durchgemacht. Es mag Tage gedauert haben, bevor ihm die Bedeutung dessen, was er durchmachte, erstmals bewußt wurde – die Augenblicke, während denen er denken konnte, waren selten. Er hatte noch immer große Schmerzen, und wenn er nicht vor Qual schrie oder winselte, waren es andere Dinge, wegen denen er schrie und winselte. Sein Verstand war nicht zu gebrauchen, denn es gab zu vieles, das er nicht vergessen konnte. Aber dennoch dachte er manchmal über die Paare und ihre Wunden nach – und über seine Wunden und ihre – und er dachte an Schreie. Er wußte jetzt Bescheid. Er hatte gelernt, warum Paare so viele Schrecken kannten. Er wußte, woher die Verletzten kamen und wohin sie gingen und warum die älteren es vorzogen, Tagjäger zu jagen. Es hatte ihn fast das Leben gekostet, das herauszufinden. Hatte es ihn sogar noch teurer zu stehen
kommen lassen. Viele hatten es auf diese Weise herausgefunden. Viele würden es wahrscheinlich nie herausfinden. Wie viele nicht? Es war eine furchtbare, entsetzliche Tücke des Schicksals, diese Drohung, die über seiner Art schwebte. Es war an der Zeit, daß sein Schicksal sich entschied. Es dauerte lange, bevor er auch nur daran dachte aufzustehen. Und als er es versuchte, ließen ihn das Zerreißen getrockneten Bluts, das Spannen verletzter Muskeln und das Aufplatzen unverheilter Wunden schreiend vor erbärmlicher Qual wieder zurücksinken. Er fand sich damit ab, den Rest seines Lebens dort, wo er lag, zu verbringen, in fortwährendem Schmerz und am Rande des Todeskampfes. Schließlich begann eines der gesunden Männchen ihn anzuschubsen, um ihn auf die Füße zu zwingen. Der Schmerz war jetzt erträglich. Er brachte sogar eine Andeutung von Verteidigung zustande. Aber bald genug schlurfte er von seinem Widersacher fort. Einmal fiel er, und er fühlte, er sollte eigentlich nicht wieder aufstehen. Aber die Aussicht auf wiederkehrende Kräfte war zu groß. Er brachte es fertig, wieder auf die Füße zu kommen. Er arbeitete sich in den Haupttunnel vor und blieb dort stehen. Er konnte nicht jagen. Er konnte nicht leben. Er wandte sich um und betrat wieder die Furche. Vorsichtig legte er sich wieder hin. Er war nicht beunruhigt. Aber morgen und den Tag darauf würde er aufstehen. Und vielleicht würde er das Licht der Sterne wiedersehen.
Er fuhr fort aufzustehen und gewann langsam seine Fähigkeiten zurück. Zuerst ging er nur herum, aber bald half er den Gesunden, wenn sie sich um die Verletzten kümmerten. Er verbrachte gehörige Zeit in dieser Eigenschaft. Einmal half er einen, der zu leiden aufgehört hatte, hinaus in den Sternenschein zu schleifen. Die Aufgabe milderte seine Freude, die Sterne zu sehen. Sie würden ihr sanftes Licht nur so lange ausstrahlen, bis sie von der Gewalt des Tages ausgelöscht wurden. Und wenn man sie dieser Gewalt aussetzte, würden Angehörige seiner Art sterben. Während seiner letzten Nächte in der Gemeinschaftsfurche wagte er sich manchmal in den Sternenschein hinaus, in dem Bemühen, seine vor langem verlorene Kunst des Jagens wiederzugewinnen. Während einer solchen Nacht stellte er zufällig einen Tagjäger und tötete ihn. Er beschloß, in seine eigene Furche zurückzukehren. Seine ehemalige Furche war belegt, und er war nicht dumm genug, den jungen gesunden Dieb herauszufordern. Er ging weiter den Tunnel hinab. Irgendwo am Weg bemerkte er eine Furche, die frei war. Er konnte sich vorstellen warum. Er ging hinein und wurde nicht herausgefordert. Offenbar hatten ihm seine Wunden genug Status verschafft, um es ihm zu erlauben, sich bequem in eine Nachbarschaft mit größerem Prestige einzufügen. Aber es brauchte viele Nächte der Jagd, bevor er fühlte, daß er seine alten Fähigkeiten wiedergewonnen hatte. Er hatte seit kurzem ausschließlich Tagjäger gejagt –
aber diese Nacht würde es indessen anders sein. Seine sorgsame Untersuchung der Büsche wurde von mehr als Hunger getrieben. Als er schließlich einen fand, ihn ansprang, mit den Zähnen packte und zu Boden zerrte, machte er sich auf eine wohlüberlegtere Weise als sonst an die Aufgabe, ihn zu töten. Der wilde Blick in seinen Augen war gewöhnlich nicht bei einem zu finden, der nach Nahrung jagte. Dennoch zögerte er mehrere Male, bevor er sein Opfer verließ, um nach seiner nächsten Beute des Abends zu suchen. Er hatte viele mehr getötet, bevor er schließlich fraß, ausruhte und sich auf den Rückweg zum Tunnel machte. Er trottete mit einer neuartigen Befriedigung durch die Nacht. Er hatte nur einen kleinen Bruchteil der Tagjäger in dieser Gegend getötet, aber einige Nächte wie diese würden zu mehr dienen, als nur seinen Durst auf Rache stillen helfen. Die Sterne standen strahlend am ganzen Himmel, und kein Schmerz hatte ihn während der Nacht gestört. Er fühlte sich besser als seit langem. Er bewegte sich unter den Büschen hindurch, ohne auf die Jäger zu achten, die zweifellos irgendwo zwischen ihnen schliefen. Er fühlte fast die gleiche Ekstase, wie er sie als Welpe gefühlt hatte. Er war sich jetzt sicher, ein Problem lösen zu können, das seine Artgenossen ihr ganzes Leben lang herausgefordert hatte – und viele vor ihnen. Er hielt so plötzlich an, daß er fast strauchelte. Die schwachen Witterungen, die die Brise herbeiwehte, hatten ihn innerhalb eines Augenblicks erschüttert, alarmiert und alle Vorsätze zunichte gemacht. Er sprang vorwärts, um nachzuforschen. Zum er-
stenmal mißtraute er einem Sinn, der ihn noch nie fehlgeleitet hatte. Aber da war er, ein Welpe, der über dem Kadaver eines Tagjägers stand, der zu groß war, als daß er ihn selbst erlegt haben konnte. Kein Zweifel der Welpe hatte eines seiner Beutetiere gefunden und sich ein Mahl daraus gemacht. Es bedurfte für ihn keines weiteren Beweises, daß die Opfer seiner anderen Raubzüge gleichfalls gefunden und sich zunutze gemacht worden waren. Er machte sich nicht einmal die Mühe, den Welpen wegzujagen – er würde einfach wiederkommen, wenn er fortging. Er würde diese Nacht selbst keinen Tagjäger töten. Er lag wach, als der Tag anbrach. Aber nun war es nicht das Licht, das ihn vom Schlafen abhielt – das Licht war hier sanfter, mehr wie Sternenlicht, als in der alten Furche. Nein, es war ein Schäumen, ein Ausgehöhltwerden tief in seinem Körper, das sein Wachsein verursachte. Er kannte keine Zuversicht jetzt – nur ein grausames Verblassen seines Ichs. Gegen diese Gefahr konnte nicht angegangen werden – sie war keine Drohung von Zähnen oder Muskeln. Sie war abstrakt und verwirrend, entzog sich jedem Angriff. Er fühlte sich hilflos. Nächte folgten und zwischen ihnen kaum beachtete Tage. Er jagte, tötete und fraß. Zeit, die in mühseliger Arbeit verschwendet wurde, Dinge, die vor Übermüdung unbemerkt blieben. Dann eine Nacht plötzlichen Schreckens. Er fiel taumelnd, fühlte einen Aufprall, rollte zur Seite und kam schlitternd zum Halten. Seine Angst war schnell gemeistert – wo war er? An einer tiefen Stelle. Er sah einen Rand über sich, einen unnatürlichen Horizont,
der die Sterne dahinter verdeckte. Der Boden war feucht und frisch. Er war in einer Art Furche, etwas, das aus dem Boden herausgegraben war. Es war anders als alle Furchen, die er kennengelernt hatte. Dieser Ort war tief, ohne zu zu sein – er hatte keine abzweigenden Tunnel oder Furchen. Durch Fallen war er hineingekommen. Um herauszukommen würde er springen oder klettern müssen. Er hatte es noch nie zuvor gesehen, auch nichts Vergleichbares. Es war neu hier. Es war dem Tunnel nahe genug, daß er es, wäre es schon länger hier gewesen, längst entdeckt haben würde. Aber daß es neu war, erstaunte ihn nicht. Viele Dinge veränderten sich, wenn Sturm war. Büsche wurden entwurzelt. Die Erde wurde weich und stank. Letzten Tag hatte es einen Sturm gegeben. Er war von ihm geweckt worden und hatte ihm eine Weile gelauscht, und er hatte sich eines andern Sturms erinnert, den er vor geraumer Zeit gehört hatte. Stürme taten vieles. Dieser hatte etwas Seltsames getan. Er hatte einen der hohen Büsche getötet und umgeworfen. Er hatte ihn betrachtet, als er darum herumgegangen war. Es war sonderbar, einen hohen Busch auf dem Boden liegen zu sehen – sie sahen so viel größer aus, als wenn sie standen. Dann war er gefallen. Er hatte den Schock jetzt überwunden, und er spürte, daß dieser Ort freundlich war. So freundlich wie jede Furche, die er kannte. Er machte sich daran, ihn genauer zu betrachten. Seine Neugier veranlaßte ihn zu einer intensiven Untersuchung seiner Umgebung. Erst als sie ihm so vertraut war wie die Gegend
oben, fing er an, sich mit Graben in die Wand der Grube zu vergnügen. Er grub ganz zwanglos, und langsam begann das Loch, das er erzeugte, die Gestalt einer Furche anzunehmen. Noch bevor er fertig war, hatte sie einen schmalen Eingang so lang wie sein Körper und Platz genug dahinter, daß er sich bequem umdrehen konnte. Er hatte noch nie eine Furche gegraben, wahrscheinlich weil er noch nie eine Stelle gehabt hatte, um eine zu graben, aber er empfand nichts Ungewöhnliches dabei. Die Furche wurde bereits recht geräumig, als ihm auffiel, daß sie heller als vorher geworden war. Er wandte sich zum Eingang um und wurde von der Intensität des einfallenden Lichts in Schrecken versetzt. Es war für ihn bereits zu hell, um einen Weg aus der Grube zu suchen. Bald würden die Tagjäger unterwegs sein. Nur die Tatsache, daß er hier unten in Sicherheit war, bewahrte ihn davor, die Nerven zu verlieren. Trotz des unangenehmen Lichts blieb er dem Eingang gegenüber, bereit, jedem Tagjäger, der sich hereinwagen sollte, entschlossenen Widerstand zu leisten. Lange Zeit waren keine zu sehen. Das Licht wurde immer heller und unerträglicher, aber seine Widerstandsfähigkeit dagegen wurde von seinem Überlebensinstinkt gestärkt. Erinnerungen an vergangene Tage dienten nur dazu, seine Muskeln zu straffen. Da – da war ein Tagjäger – zwei – noch mehr. Die Witterungen waren deutlich – ein kleines Rudel war oben. Sie hatten ihn gewittert, und die Gefahr war nahe. Sie kamen nicht näher – sie gingen auf und ab. Sie waren verwirrt. Seine Augenlider waren jetzt fest geschlossen – er
konnte nicht länger hoffen zu sehen. Dennoch brannte das Licht in wütendem, rotem Wahnsinn durch sie hindurch. Verteidigung würde fast unmöglich sein. Wenn er die Augen öffnete, würde ihm das Licht den Verstand ausbrennen. Er hörte ein Scharren und erhielt eine neue Witterung. Ein Tagjäger war in der Grube. Kaum daß er das erkannt hatte, hörte er piepsende Schreckensschreie und Kletterversuche an den Wänden der Grube. Sie setzten sich geraume Zeit fort, ohne daß ihre Raserei abnahm. Schließlich hörten sie auf, und die Witterung kam jetzt aus größerer Entfernung. Er war sicher hier. Die Tagjäger hatten Angst vor der Grube. Verzweifelt griff er nach dieser Tatsache und wirbelte herum, um das Gesicht und die gepeinigten Augen in der Wand der Furche zu vergraben. Er war sicher hier – der Tag würde verstreichen, und er würde noch leben. Die Tagjäger hatten Angst vor der Grube, dem Tunnel, davor, unter der Erde zu sein. Er war sicher hier. Der Tag schleppte sich dahin, und es gelang ihm, einen Teil davon zu verschlafen. Die Nacht kam. Er erwachte und verließ die Grube. Er fand einen Tagjäger, erlegte ihn und fraß ein dringend benötigtes Mahl. Dann kehrte er zur Grube zurück und verbrachte den Rest der Nacht damit, die Furche zu erweitern und sie zu einer Schleife zu verlängern. Lange bevor der Tag drohte, verließ er die Grube, um zum Tunnel und seiner eigenen Furche zurückzukehren. Es war bereits tiefe Nacht, als er erwachte. Er brauchte eine ganze Weile, um sich auf die durch sein
Verschlafen hervorgerufene Zeitverschiebung einzustellen. Er verpaßte die Gruppe, die er normalerweise am Eingang sah – sie waren schon lange fort, auf ihrer nächtlichen Jagd. Der Himmel war seiner Berechnung voraus. Die Buschfresser waren geschäftiger, als für sie gut war, wie seine Vernunft ihm sagte. Er überraschte einen und machte leichte Beute. Es war der erste, den er seit langem gefressen hatte. Er sättigte ihn nicht völlig, aber er beschloß, vorläufig nicht weiterzujagen. Er ließ den Kadaver zurück und schlenderte in den Sternenschein hinaus. Die Vorzeichen waren erfreulich diese Nacht, und er bemerkte, daß er seine Wachsamkeit sich lockern ließ. Seit seiner Gesundung hatte er sich nicht so über die Sterne gefreut. Sein Körper gemahnte ihn nicht länger an seine ehemaligen Gebrechen. Er spürte wieder seine Gesundheit und innere Kraft. Da war eine Leichtigkeit in ihm, die er seit langem nicht mehr verspürt hatte. Er kam auf eine Lichtung, die er während anderer Nächte kennen- und liebengelernt hatte. Hier waren die Sterne zu sehen, wie sie den ganzen Himmel umspannten. Hier konnte er Tüpfelchen und Dünste und Explosionen sehen, die ewig stillstanden in der rastlosen Nacht. Farben und strahlendes Funkeln, Stumpfheit und Strukturen, alles wundervoll anzuschauen, aber stets ein wenig schmerzhaft, stets stimulierend, wie etwas zu Wundersames, um es zu ertragen. Geblendet wandte er die Augen ab. Es war gefährlich, die Sterne zu lange anzustarren – seine Augen waren voll von ihren Geistern. Es dauerte einige Minuten, bevor er das Sehvermögen wiedergewann.
Solche Gefahren waren nicht leicht zu akzeptieren. Die Nacht zu erforschen war keine erfreuliche Sache, wenn erst einmal die Sterne bekannt waren. Seine Freude an dem Moment war zerstört. Düstere Regungen waren in ihm, als er die Lichtung hinter sich ließ. Gefahren waren immer gegenwärtig, und in Augenblicken des Erstaunens mußte man sich besonders davor hüten. So war es immer gewesen. Weder zu seinen Lebzeiten, noch nicht einmal zu denen seiner Eltern hatte jemand Schönheit geschaut, ohne sich selbst der Gefahr auszusetzen. Aber erst in dieser Nacht hatte er die ganze Tragweite dieser morbiden Wahrheit erkannt. Sie war immun gegen jede Anstrengung, sie zu ändern. Der Verstand des Jägers zog sich unsicher von einer Drohung zurück, die überall lauerte. Von den Sternen, die hoch oben schienen, den Blättern um ihn und dem Boden unter seinen Füßen. Er ging weiter, seine Depression hinter sich herschleppend. Er registrierte die Witterung eines Weibchens zuerst gleichgültig. Hunger nagte an ihm. Er war zerzaust und des Sehens müde. Gegebenheiten, die er nicht begreifen konnte, hatten seine Freuden von allen Seiten zerquetscht. Er hielt an. Die Luft bewegte sich ruhig um ihn, die Büsche um ihn flüsterten. Das hatten sie immer getan, aber er mußte stillstehen, um sie zu verstehen. Die Witterung eines Weibchens verschmolz mit ihnen, wurde Teil der harmonischen Ruhe. Es besänftigte ihn. Die düsteren Regungen in ihm wurden schwächer. Das Weibchen kam aus dem Busch vor ihm heraus, sie bewegte sich langsam, bedächtig. Sie hielt an und musterte ihn. Sie hatte Narben an der Hinterflanke,
aber sie waren gut verheilt. Er meinte, Kummer in ihren Augen zu erkennen, eine hilflose Hoffnung auf Trost. Er wollte, daß sie sich abwandte und fortging. Es war etwas Erschreckendes an ihrer Ruhe – eine Unschuld, die nicht aus Unwissenheit geboren wurde. Sie bewegte sich gleichmäßig und langsam, während er bewegungslos dastand und eine aufsteigende Angst zu leugnen versuchte, die wuchs, als sie bittend näherkam. Sie stand jetzt unsicher da, beunruhigt. Noch einen Moment, und sie würde ängstlich werden. Er trottete vor und liebkoste sie. Eine wundersame Nacht! Eine Nacht, die vor Licht und Zuversicht und wiedergewonnener Hoffnung übersprudelte. Er hatte niemals auf eine Nacht wie diese gehofft, er hätte sich die Freude nicht vorstellen können, die er plötzlich als auf wundervolle Weise real erkannte. Sie spielten wie Junge unter den Sternen, beinahe wahnsinnig vor Erlösung. Die Welt hatte eine Neuerung erfahren. Unschuld war überall. Sie war freundlich und froh. Wenn sie leidenschaftlich wurde, war es aus Dankbarkeit über das Ende einer langen und feigen Versagung. Sie hatte nicht vorgehabt, das, was sie durchgemacht hatte, zu erleben. Aber daß sie gelitten hatte, machte sie ihm noch teurer. Sie fühlten eine stumme Gemeinsamkeit von lang bekannten Dingen. Schließlich ruhten sie sich in der Helle des warmen Sternenlichts aus. Der Tag nahte. Mit ihm kehrte der Druck, die Angst vor dem kommenden Licht zurück.
Wieder erlebte er die Qual der Erfordernisse und sah, wie sie sich auch in ihr widerspiegelte. Das Licht würde bald stärker werden, und sie zögerten. Die Zeit drängte, und da war Gefahr. Instinkte schrien ihren Einspruch, und keiner konnte ignoriert werden. Der Verstand des Jägers traf eine Entscheidung. Er rappelte sich auf und begann zu laufen, und, nach einem Blick zurück, um sich zu vergewissern, daß sie folgte, verdoppelte er seine Geschwindigkeit zur Hetzjagd. Es wurde heller. Sie verbrachten diesen Tag und viele Tage danach – in seiner Furche in der Grube. Sie hatte gezögert, als er in die Grube gesprungen war. Aber sie war nachgekommen. Sie hatte gezittert, als es Tag und das Innere der Grube mit unerträglicher Helligkeit überflutet wurde. Sie hatte vor Entsetzen gewimmert, als die Tagjäger kamen. Sie war sich niemals so sehr der Gefahr bewußt gewesen, aber sie blieb bei ihm. Sie zehrte von seiner Fassung. Die Gefahr war draußen, nur zu wirklich, aber hier war sie sicher. Er gab ihr das Gefühl der Sicherheit. Sie wollte sich sicher fühlen. Und dort, wo die Furche sich mit sich selbst kreuzte, gab er ihr das Gefühl der Geborgenheit, und sie schlief. Er kam mit einer wachen Freude aus der Furche in die Nacht heraus. Die Welt hatte eine große Veränderung erfahren. Diese Nacht jagten sie mit einem übersprudelnden Lebensgefühl, das keiner von ihnen vorher gekannt hatte. Wie die Idee sich verbreitete, kann wohl niemals ge-
nau festgestellt werden. Die Grube war dem Tunnel nahe und wurde im Laufe der Zeit gut bekannt. Auch die Furche wurde nicht übersehen, und mehr als einmal mußte er gelegentliche Störenfriede herausjagen. Aber wie jemand den Zweck der Grubenfurche erkannte, ist unklar. Aber mit der Zeit gesellte sich ein anderes Paar in die Grube zu ihnen. Keines der Paare bediente sich seiner Furche als ständiges Zuhause – sie waren noch immer ein wenig zu hell, um angenehm in ihnen zu schlafen. Nichtsdestoweniger bedienten sie sich ihrer oft. Und wenn auch nur wenige Erwachsene in der Lage waren, die Grubenfurchen zu verstehen, die Jungen lernten rasch. Junge hielten sich dort auf. Sie wuchsen zu starken und gesunden Tieren heran, und nur wenige starben. Des Nachts pflegten sie in der Grube zu spielen oder zum Jagen zu kommen. Es war oft amüsant, die Jungen bei ihren Versuchen, das Geschäft der Jagd zu erlernen, zu beobachten, gelegentlich war es zum Verzweifeln, aber ebenso oft überraschten sie ihn. Sie veranlaßten ihn, sich zu fragen, ob er so rasch aufgewachsen war. Und er kannte Nächte, in denen er sich in der Grube umzuschauen pflegte und sah, daß es noch Platz genug gab, um eine weitere Furche einzufügen. Einige erwachsene Paare, ein paar Junge, die keine mehr waren, hatten sich dort zu ihnen gesellt. Einige hatten sich sogar ihr ständiges Zuhause in der Grube eingerichtet, obwohl es ihm ein Rätsel war, wie sie im Tageslicht gut schlafen konnten. Er und seine Gattin hatten viele Junge, viele wundervolle Nächte, viele warme Tage. Er wurde alter als
viele und lebte, um die zweite Grube bauen zu helfen. In einer angenehmen Nacht ging er allein jagen, verließ Junge, Gattin und Freunde für die Schönheit einer einsamen Nacht, für die Liebe zu den Sternen. Er verbrachte lange Zeit mit Wandern und Wittern und genoß die Nacht. Solche Dinge hatten ihm stets Genuß versprochen – nun gaben sie ihm mehr als je zuvor. Er spürte, daß die Dinge sich gewandelt hatten. Vielleicht gab es mehr Schönheit auf der Welt – oder weniger Gefahr. Er nahm eine Witterung auf und folgte ihr mit einer Geschicklichkeit, die durch lange Erfahrung geschärft war. Er näherte sich dem Busch lautlos, hielt an und suchte ihn sorgfältig ab. Der Tagjäger war gut versteckt und schlummerte fest. Er bewegte sich vorsichtig zum unteren Teil des Busches vorwärts. Er wartete ruhig, schätzte ab, wie er den Sprung am besten machte. Dann bewegte er sich etwas zur Seite, spannte sich und sprang. Er packte den Tagjäger an einem Hinterbein und zerrte es zu Boden. Der Tagjäger landete über ihm, Fange und Zähne zerfetzten erst Luft, dann Fleisch. Er mühte sich, seinen Vorteil wiederzugewinnen und unterlag. In diesem Augenblick unterbrach ich den Kontakt mit ihm. Sie können sich wohl kaum den Kummer vorstellen, den ich empfand, ihn wie jeden anderen Angehörigen seiner Rasse sterben zu sehen. Ich kannte ihn intim, wenn er auch niemals von mir erfuhr oder argwöhnte, daß er studiert wurde. Während der Jahre, die ich auf Rigel IV verbrachte, hatte ich viele Kontakte gemacht, viele fremde Verstande kennen-
gelernt, aber seiner war es, vor dem ich den größten Respekt zu haben lernte. In der Geschichte jeder intelligenten Spezies gibt es nur wenige von seinem Schlag, jeder ist ein Übergangspunkt in den Geschehnissen, die über Erfolg oder Scheitern einer Lebensform entscheiden. Als ich auf Rigel ankam, war die Nachtfuchskolonie am Scheitern. Ich befaßte mich damit, das natürliche Ende einer Spezies zu studieren. Aber noch bevor ich ging, hatten sich die Grubenbewohner etabliert und wiesen eine gesunde Wachstumsrate auf, und ich war Zeuge –, und habe es zum erstenmal dokumentarisch festgehalten – wie eine wichtige Verhaltensänderung einer Tiergemeinschaft in ihrem natürlichen Stadium auftrat. Ohne meine Hilfe oder die irgendeiner anderen Lebensform hatte er es vermocht, aus einer Laune des Zufalls Hoffnung für seine Rasse zu schöpfen. Es war unvorstellbares Glück, daß unsere Verstande sich jemals begegneten. Ich kann nur Dankbarkeit dafür empfinden, daß ich ihn so gut gekannt habe, daß ich den Geist eines ursprünglichen Genies geteilt habe.
Originaltitel: HABITS OF THE RIGELIAN NICHTFOX Aus IF, Nov.–Dez. 1971 Copyright © 1971 UPD Publishing Corporation
Michael G. Coney STÖRUNGSSUCHER IM ALL Ein kybernetisches Problem, gekoppelt mit einem Konflikt ökonomischer Interessen, erzeugt eine Krise, deren Lösung neues Licht auf die Arbeitsweise des Verstandes wirft. Das Schiff trieb gewaltig im Raum dahin, ein schwarzes Ungeheuer gegen den Hintergrund der Sterne, eine ungeheure Drohung ging von ihm aus. Gebannt beobachtete er die Heckbildschirme, als er nach den Kontrollen griff und fest zustieß, obgleich der Hebel schon bis zum Anschlag durchgedrückt war. Finger der Angst streichelten seinen Nacken – zwangen den kleinen Scout schneller zu werden, zu beschleunigen, um von dem Ungeheuer hinter sich fortzukommen. Aber die Beschleunigung war verschwindend gering, als wäre das Schiff unfähig, aus dem Schwerefeld des Riesenfrachters auszubrechen. Als er die Schirme anstarrte, kam es ihm so vor, als würde der Frachter eher wachsen als kleiner werden. Er pumpte die Hebel, mühte sich um mehr Schubkraft. Die Vibration der Raketen veränderte sich. Das kleine Schiff erzitterte vorübergehend, zögerte. Der Steuerbordmotor schaltete sich aus, und er sah, wie die ungeheure Masse nach und nach aus dem Aufnahmebereich der Heckbildschirme glitt. Fieberhaft arbeitete er an der Steuerung, mühte sich vergebens, den weiten Bogen zu korrigieren. Und plötzlich schob sich der Frachter wie ein herankommender Mörderwal in den Bereich des vorderen Bildschirms. Er vermochte nicht zu schreien. Seine Lippen bewegten sich tonlos, als der Frachter immer größer wurde und langsam in einer karmesinro-
ten Explosion verging – sich in eine große Wolke auseinanderstrebender Trümmerteile und weißer Flammen auflöste. Dann schrie er krächzend – wieder und wieder –, als das Erkundungsschiff in den karmesinroten Feuerball eintauchte. Der immer noch schreiende DeGrazza schrie sich wach, und helles Sonnenlicht, das ihm karmesinrot durch die Augenlider schien, ergoß sich durch das Fenster seines Schlafzimmers. »Die Altairer haben ihr zweites Schiff innerhalb einer Woche verloren. Spurlos irgendwo in ihrem Asteroidengürtel verschwunden. Sie brauchen einen Schuldigen, also machen sie Galactic Computers verantwortlich. Manchmal frage ich mich, ob wir die irdischen Computer beibehalten sollen ... Sie sehen heute nicht gerade frisch aus, DeGrazza. Stürmische Nacht?« »Ich hatte schon bessere.« »Ich kann Robbin damit beauftragen, wenn Sie wollen – aber ich hätte Sie nicht aus dem Urlaub zurückgerufen, wenn es nicht wichtig wäre.« Cobb betrachtete DeGrazza kritisch, und ihm entgingen die entzündeten Augen und die dunklen Schatten darunter nicht. Hoffentlich bricht er nicht zusammen. Manchmal empfand Cobb es als schwierig, an seinem sich selbst aufgebürdeten Ruf als zäher Bursche und Boss von Galactic Computers festzuhalten – insbesondere dann, wenn er gute Leute wie DeGrazza sah, die vor Überarbeitung Anzeichen von Nervosität und Spannung zeigten.
»Es geht schon.« DeGrazza unternahm eine bewußte Anstrengung, sich zusammenzureißen. »Die Sache mit dem weganischen Frachter hat mich wohl etwas mitgenommen. Und es war nicht unser Computer, der den Reaktor falsch eingestellt hat«, fügte er bitter hinzu. »Diese verdammten Weganer hatten den Regler umgangen, um mehr Energie rauszuholen. Ich sehe es jetzt noch!« »Ich habe Ihren Bericht gelesen«, sagte Cobb in verständnisvollem Tonfall, während er sich für diese Heuchelei haßte. Aber er mußte DeGrazza für diesen Job haben. »Es war eine schlimme Sache für Sie.« Eine schlimme Sache. Niemand, dachte DeGrazza, kannte die genauen Einzelheiten jener letzten zehn Minuten an Bord des Frachters, der die Erde umkreist hatte. Die Weganer hatten das Schiff aufgegeben und es ihm überlassen, mit dem durchgehenden Reaktor fertigzuwerden. Als der Kapitän sich hastig davonmachte, hatte er DeGrazza davon unterrichtet, daß, falls das Schiff verlorengehen würde, man Galactic Computers zur Kasse bitten würde. Dann, als er allein in dem verlassenen Frachter war, hatte er das überhitzte Kupplungsgestänge entdeckt, das die Weganer selbst eingepaßt hatten. Es war verzogen und unmöglich zu verstellen gewesen. Es waren ihm nur noch Minuten geblieben, das Schiff zu verlassen, und die Explosion war auf der halben Erde gesehen worden. In der Folge stand sein Wort gegen das der Weganer. »Was ist es diesmal für ein Job?« fragte er resigniert und fragte sich, warum er die Stellung nicht einfach aufgab. Die Antwort war klar. Mary versicherte ihm, daß ihre finanziellen Mittel kaum ausreichten; die
Ausbildung der Kinder kostete ein Vermögen – und der Job war gut bezahlt. »Ziemlich einfach. Sie machen eine Reise als Kopilot in einem altairischen Raumer. Halten Sie die Augen offen. Achten Sie darauf, ob sich Ihnen ein Anhaltspunkt bietet. Es ist eine ziemlich kurze Reise, von Altair Sechs durch den Asteroidengürtel nach Altair Acht. Achten Sie auf diese Asteroiden – die meisten sind nicht kartographiert.« »Unser Computer sollte damit leicht fertigwerden. Er ist radargekoppelt.« »Die Altairer haben eine Abänderung eingebaut«, unterrichtete ihn Cobb sanft, während er sich auf die Explosion vorbereitete. Sie kam. Als DeGrazza sein ausgedehntes Vokabular erschöpft hatte, fragte er, was für eine Abänderung? »Die Altairer sind ein ängstliches Volk. Sie haben ein doppeltes Kontrollsystem mit einem altairischen Gehirn eingebaut.« »Sie meinen, ein organisches Gehirn?« fragte DeGrazza leicht angeekelt. Diese Art organisch-mechanischer Verknüpfung war unter verschiedenen außerirdischen Spezies weit verbreitet. Sie betrachteten es als Fortschritt in Richtung auf den Tag, an dem ein intelligentes Wesen seine Umgebung allein vermittels gedanklicher Kontrolle beherrschen würde. »Tja – allerdings. Es ist mit unserem Computer parallel geschaltet. Empfängt die gleichen Anweisungen von der Programmeingabe, dem Radar und so weiter, mittels doppelter Verkabelung – aber es unternimmt nichts, außer es erhält den unumstößlichen
Nachweis, vom Piloten oder dem Radar, daß der Computer einen Fehler macht. Dann kann es sich über unsere Anlage hinwegsetzen.« »Also ist das Gehirn überflüssig«, kommentierte DeGrazza. »Das hätte ich auch gedacht, aber die Altairer denken anders. Sie sagen, falls unser Computer während eines Notfalls versagen sollte, etwa infolge einer Überlastung in der Dateneingabe, ist immer noch das Gehirn da. Es ist schnell. Es kann ohne die Programmeingabe instruiert werden.« »Wie geht das?« »Oh, wußten Sie das nicht?« fragt Cobb unschuldig. »Die Altairer sind Telepathen.« Er sah DeGrazza freundlich an. »Das fehlt mir gerade noch«, murmelte DeGrazza angeekelt. »Einen dieser komischen Käuze, der meine Gedanken abhört, um mich zu haben, während ich versuche, einer Auseinandersetzung zwischen unserem Computer und ihrem verfluchten Gehirn Einhalt zu gebieten.« Cobb bemerkte: »Also sind Sie zu derselben Schlußfolgerung gelangt. Irgendwo gibt es einen Konflikt zwischen Computer und Gehirn. Möglicherweise über eine bestimmte Sorte von Instruktionen.« »Wenn ich merke, daß sich irgend etwas zwischen ihnen zusammenbraut«, knirschte DeGrazza wütend, »verpasse ich dem Gehirn eine Kugel.« Aber das kannst du nicht machen, DeGrazza, denn Rettung der Anlagen hat Vorrang vor Selbsterrettung. Sie sagen, deshalb, weil eine Untersuchung fehlerhafter Trieb-
werke Erkenntnisse einbringen könnte, die Hunderten das Leben retten, aber du weißt, daß sie lügen. Die Maschine hat den Menschen ersetzt – deshalb ist sie wertvoller und muß zuerst gerettet werden. Aber das Gehirn ist organisch. Wie lautet die Prioritätsvorschrift hier? Früher einmal war es ein weiter Weg von der Erde nach Altair, aber Hyperantrieb und FTL machten das anders, und die Reise ließ ihm wenig Zeit zum Träumen. Er wurde am Raumhafen abgeholt und in die Büros der Altair Hoppers geleitet. Die Altairer waren humanoid – große, sanfte Geschöpfe mit leuchtenden Augen, und sie betrachteten ihn, seine ungeschlachte, gedrungene, bärtige Gestalt, als wäre er ein Mörder. Er fragte sich, was sie wohl dachten – welche Signale die Mitglieder des Empfangskommitees untereinander austauschten, als sie mit DeGrazza zusammentrafen, der Verkörperung jener Gesellschaft, deren Computer ihre Kollegen in den Tod zwischen den Asteroiden gesteuert hatten. DeGrazza, dein Schuldgefühl bleibt nicht verborgen. Diese Männer können deine Gedanken lesen. Die Computer sind narrensicher – denk das, wenn du kannst! Gegen Ende des zweiten Tages der Siebentagereise unternahm DeGrazza ein Experiment, nachdem er sich zuvor vergewissert hatte, daß der altairische Pilot fest schlief. Er warf einen Blick auf den vorderen Bildschirm und sah nichts Widriges, abgesehen von dem gelegentlichen Streifen eines außerhalb gelegenen Gesteinsbrockens des Asteroidengürtels. Die Ka-
bine des Raumers war winzig, der Hauptteil des großen Schiffes wurde von Frachtraum für langsamen interplanetarischen Handelsverkehr in Anspruch genommen. Die beiden Sitze für Pilot und Kopilot standen Seite an Seite einem gemeinsamen Steuerpult gegenüber. In das Armaturenbrett des Steuerpults waren zusätzlich zu den Kontrollen Bug- und Heckbildschirme eingelassen, und dahinter, zwischen den Instrumenten und dem Schiffsbug, befanden sich der Radar, der Computer und vermutlich das Gehirn. DeGrazza streckte die Hand aus und tippte wahllos eine Serie von Koordinaten in die Programmeingabe des Computers, dabei beobachtete er die Nadeln des Gyroskops sorgfältig. Das Schiff schien zu zögern, es schlingerte leicht – dann, als das Gehirn mit Hilfe des Radars spürte, daß keine Hindernisse voraus waren, die irrigen Daten korrigierte und das Schiff wieder auf Kurs brachte, kamen die Nadeln zur Ruhe. Die erste Runde ging an die Altairer. DeGrazza lehnte sich zurück und überlegte. Den Informationen, die ihm die Altairer zur Verfügung gestellt hatten, hatte er entnommen, daß die Gehirne vor ihrem Einbau tatsächlich hypnotisiert und programmiert wurden, nur dann zu reagieren, wenn ihr Unterbewußtsein eine unerwartete Abweichung registrierte. Somit waren sie also normalerweise nur dann munter, wenn das Schiff sich zwischen den größeren Asteroiden befand und Kurskorrekturen häufig waren. Aus diesem Grund konnte das Gehirn auch nicht jahrelang in einem einsamen, untätigen Monolog vor sich hingrübeln und dabei wahnsinnig werden. Theoretisch. Das Gehirn, sagte er sich, war ein organischer
Computer, nichts weiter. Überdies konnte es nur in Begriffen von Zahlen denken, so sagten sie. Warum also waren zwei Schiffe zwischen den Asteroiden zerschellt? Hatte das Gehirn des Schiffes vor ein paar Augenblicken gedacht? War das Gehirn entsetzt und verwirrt gewesen, als das Schiff mit einem Verrückten an den Kontrollen einen Irrsinnskurs einschlug? Ruhig Blut, DeGrazza. Es ist durchaus möglich, daß das Gehirn deine Gedanken lesen kann und den Test, den du geplant hast, bevor deine Finger die Tasten berührten, vorhergesehen hatte. Aber das sollte eigentlich unmöglich sein, weil das Gehirn keine abstrakten Ideen erfassen kann – sondern nur digitale Symbole. Wie drückt man Angst in Zahlen aus? Grollt das Gehirn dem Computer auf eine mathematische Weise? Die Kabine war sehr klein, wie ein Mutterleib – das Gefühl, daß mehr als zwei Intelligenzen anwesend waren, erzeugte Platzangst. Wie viele können denken, und wie denken sie? DeGrazza, Altairer, Gehirn, Computer. Überall ein Konflikt. Das Schiff schlingerte wieder, plötzlich und gewaltsam, und diesmal hatte DeGrazza die Kontrollen nicht berührt. Wieder kam der Stoß – er starrte auf den Schirm, sah aber nichts, was die Abweichung erklärte. »Was ist los?« Der Altairer war munter. Er griff nach den manuellen Positionskontrollen und spähte auf die Gyro-
skopnadeln. Rasch brachte er das Schiff wieder auf Kurs. »Ich weiß es nicht«, gab DeGrazza zu. »Es ging plötzlich durch. Ich habe nichts angefaßt.« »Dann hatte der Computer eine Funktionsstörung«, stellte der Außerirdische mit befriedigtem Unterton fest. »Es ist ein Glück, daß das nicht zwischen den eigentlichen Asteroiden passiert ist.« DeGrazza ging in die Defensive. »Vielleicht bekam das Gehirn einen Koller.« »Wäre ich an Ihrer Stelle gewesen, hätte ich das Gehirn getestet, während ich schlief«, bemerkte der Altairer schlau. »Ich denke mir daß Sie das taten.« »Das ist richtig«, murmelte DeGrazza widerwillig. Dann, in plötzlich aufflammendem Ärger: »Haben Sie meine Gedanken gelesen? Wir stellen besser eines klar. Wenn Sie meine Mitarbeit wollen, müssen Sie sich aus meinem Verstand raushalten. Ich sage Ihnen, ich will das nicht haben. Und vergessen Sie nicht, daß Sie keinen Beweis dafür haben, daß unsere Computer nicht richtig funktioniert haben. Das ist nur eine Vermutung und würde Ihnen vor Gericht nichts nützen. Aber gemeinsam könnte uns eine Entdeckung gelingen – wenn Sie das Gedankenlesen sein lassen.« »Sachte, DeGrazza«, mahnte ihn der Fremde freundlich. »Ich habe nicht in Ihrem Gehirn herumgeschnüffelt. So funktioniert die Sache nicht. Wenn ich keine willentliche Anstrengung mache, mich zu konzentrieren, ist alles, was ich von Ihnen empfange, ein allgemeiner Eindruck der zuoberst liegenden Gefühle in Ihrem Bewußtsein.« »Belassen Sie's dabei.« »Selbstverständlich. Und nun, wenn Sie verzeihen,
was kam bei Ihrem privaten Test mit dem Gehirn heraus?« »Es funktionierte. Es übernahm die Steuerung.« »Dann muß der Fehler am Computer liegen.« »Hören Sie zu«, sagte DeGrazza verzweifelt. »Ich arbeite seit zwanzig Jahren für Galactic Computers, und während all dieser Zeit hatten wir nie eine schwerwiegende Funktionsstörung. Die Anlage selbst ist narrensicher – sie hat doppelt gedruckte Schaltkreise. Wenn Fehler auftraten, dann stets im Hilfssystem, und das ist ebenfalls sehr zuverlässig. Aber der Computer muß einwandfrei arbeiten. Die Kombination von Computer plus Gehirn ist es, die Störungen verursacht. Es kann nichts anderes sein. Eine Art Feedback zwischen beiden.« »Das Gehirn kann nicht versagen«, erklärte der Fremde kategorisch. Diesmal war der weganische Frachter unter seinen Füßen. Er stieß sich ab, um die kurze Strecke zur Luftschleuse des Erkundungsbootes zurückzulegen. Der Weltraum war wie Öl – er schwebte langsam, viel zu langsam dahin, hantierte mit ungeschickten Fingern an den Düsenkontrollen, legte den Kurs fest, der ihn die Strecke in der kürzesten Zeit zurücklegen lassen würde, und vergaß in seiner Hast die langsame Rotation des gewaltigen Schiffes. Er trieb viel zu schnell für eine weitere Kurskorrektur an seinem Boot vorbei – er würde eine Umkreisung machen und sich der Luftschleuse aus der entgegengesetzten Richtung nähern müssen. Die Rumpfplatten schlichen vorbei – eine horizontale Schweißnaht, eine blinde Metallfläche, wieder und wieder der Strich einer Schweißnaht – wie viele Platten, in Gottes Namen, hatte der Umfang eines Erkundungsbootes?
Schließlich die Luftschleuse. Er ergriff den vorstehenden Handgriff, trat in den engen Raum hinein und drehte sich um, um die Luke zuzuziehen. Er sah den schwarzen Frachter wie einen übermäßig aufgepumpten Schlauch sich aufblähen und bersten. Feuer fegte auf das Boot zu, verschlang es ... »DeGrazza!« Der Ruf hallte in seinen Ohren, als er sich an die Oberfläche des Bewußtseins kämpfte. Er öffnete die Augen. Vor ihm stand der Altairer, er starrte mit einem Ausdruck von Entsetzen und Sorge in sein Gesicht. Er schaute an ihm vorbei und sah das Interieur der Kabine. Er fühlte Schweiß seinen Nakken hinunterlaufen. Er war in dem altairischen Raumer, der vor drei Tagen von Altair VI gestartet war, und der weganische Frachter lag Wochen zurück. »Was gibt es?« fragte er. »Ihr Geist wird heimgesucht«, erwiderte das fremde Geschöpf langsam. DeGrazza, du wirst von den vereinten Gespenstern von Vergangenheit und Zukunft heimgesucht, die deinen Verstand auspressen, bis er vor Schmerz aufschreit, nachts, wenn deine Verteidigung nachläßt. Mary, der weganische Frachter, die Kinder, Mary, das Gehirn, Cobb, der Altairer, Mary – alle reiben deine Sinne auf, greifen aus der Vergangenheit nach dir. Aber welche unbekannten Ängste wirken aus der Zukunft zurück und lassen deinen Verstand mit bösen Vorahnungen erstarren? »Wovon reden Sie? Ich habe manchmal Alpträume, das ist alles. Wenn Sie nicht in anderer Leute Gehirn herumschnüffeln würden, würden Sie sich nicht er-
schrecken. Lassen Sie mich bitte in Ruhe.« DeGrazza sank in seinen Sitz zurück. Er zitterte ebenso sehr von dem Traum wie vor Ärger über die Einmischung des Altairers. »Ich habe den Kontakt nicht gesucht. Die Ausstrahlungen waren so stark, daß ich sie nicht fernhalten konnte. Ich habe noch nie ein so klares gedankliches Bild gesehen.« »Haben Sie keine Träume?« Ein nachdenkliches Schweigen. Dann: »Gelegentlich. Ähnlich wie Ihre – aber meine sind eine Rassenerinnerung, die die meisten Angehörigen meines Volkes befällt. Wir sehen eine gigantische Explosion am Himmel, die von einem Gefühl höchsten Entsetzens begleitet wird. Wahrscheinlich war es die Ähnlichkeit mit Ihrem Traum, die mich störte.« »Eine Rassenerinnerung?« »Sie kennen die altairische Geschichte nicht? Wir waren einmal eine junge, kriegerische Rasse, die wenig mit unserem heutigen furchtsamen Selbst gemein hatte. Wir hatten uns von Altair Sechs, wie Sie ihn nennen, zu den beiden nächsten Planeten, Sieben und Acht, ausgebreitet, aber unsere Wissenschaft hatte uns keine Vernunft gelehrt.« »Wissenschaft und Vernunft sind nicht immer synonym, in keiner Sprache«, bemerkte DeGrazza wehmütig. »Das geschah vor langer Zeit, und wir denken gerne, daß wir seither Fortschritte gemacht haben. Jedenfalls proklamierte Altair Sieben, die erste Kolonie, eines Tages die Unabhängigkeit. Stellen Sie sich das vor – sie waren vom selben Stamm wie ihre Väter auf Altair Sechs, trotzdem wollten Sie als etwas Geson-
dertes angesehen werden.« »Ich habe Beispiele kennengelernt, wo so etwas funktioniert hat.« »Aber wir sind Telepathen – alle aus derselben Familie. Es war wie eine Amputation.« »Oder als würde man ein lebendes Gehirn in einen Kasten stecken?« fragte DeGrazza skeptisch. »Das ist eine notwendige Maßnahme, die aus der uns eigentümlichen Vorsicht geboren wurde, die ihrerseits wieder aus den Ereignissen geboren wurde, die der Unabhängigkeitserklärung von Altair Sieben folgten. Wie ich schon sagte – die Tatsache, daß Angehörige unserer eigenen Rasse sich selbst von uns abgeschnitten hatten, wurde als sehr schmerzlich empfunden. Annäherungsversuche wurden gemacht, aber ohne Erfolg. Sie wurden zurückgewiesen – und nach und nach verhärtete sich die Haltung beider Parteien immer mehr. Diplomatische Beziehungen wurden schließlich völlig abgebrochen. All das geschah vor Jahrhunderten, wissen Sie. Dann kam es zur Krise. Die abgespaltene Kolonie Altair Sieben erhob Anspruch auf Altair Acht mit der Begründung, daß Acht von ihrem Planeten aus kolonisiert worden war. Was völlig richtig war – aber das Volk von Altair Acht war es ganz zufrieden, bei uns zu bleiben. Ein regelrechter Krieg entbrannte. Unsere Vorfahren hatten sich über eine lange Zeitspanne hinweg auf diesen Tag vorbereitet – es war von vornherein klar, wie er ausgehen würde. Interplanetarische Raketenprojektile wurden gleichzeitig von Sechs und Acht aus abgeschossen. Sie waren zeitlich so abgestimmt, daß sie mit Sabotageakten auf Sieben selbst zusammenfielen.«
»Nicht gut Kirschen essen in jenen Tagen«, murmelte DeGrazza. »Es hieß, sie oder wir. Es dauerte nicht lange, und der ganze Planet Altair Sieben war von gigantischen Explosionen verhüllt. Die halbe Bevölkerung sah von meinem Planeten aus zu, und was sie sahen, wurde für ihr ganzes Leben in ihr Gedächtnis eingebrannt und ihre Kinder, die danach geboren wurden, sahen es in ihren Eltern, und ihre Kinder in ihnen. Die Erinnerung an die Desintegration von Altair Sieben hält bis zum heutigen Tage an und mit ihr die Angst. Es überrascht kaum, daß jede Form von Gewalt meinem Volk verhaßt ist und furchtsame Selbsterhaltung heute unsere primäre Charaktereigenschaft ist.« »So wurde also Altair Sieben zu Ihrem Asteroidengürtel«, bemerkte DeGrazza. »Das Zeugnis unserer Schande wird für immer sichtbar sein. Der Asteroidengürtel ist sogar heute noch hoch radioaktiv.« »Radioaktiv?« DeGrazza kam ein Gedanke. »Allerdings.« »Ich frage mich –« DeGrazza starrte auf den Radarschirm und beobachtete die vielfältigen sich bewegenden Funken, durch die sie der Computer mittels häufiger Kurskorrekturen hindurchleitete. »Aber wenn sich das Gehirn jederzeit über den Computer hinwegsetzen kann, dann muß es das Gehirn sein, das von der Strahlung beeinflußt wird«, hatte DeGrazza gesagt. Und der Altairer, der des wiederholt vorgebrachten Arguments müde wurde, hatte noch einmal erwidert. »Das Gehirn ist abgeschirmt.«
Er hatte DeGrazza das Gehäuse gezeigt, in dem das Gehirn residierte, und dem Erdenmenschen versichert, daß es bleiausgekleidet und gegen Kumulationseffekte gefeit war. So saß DeGrazza wiederum seine Solowache ab, während der Fremde in seinem Sitz döste, die Asteroiden über die Bildschirme huschten und der Radar anzeigte, daß noch weitere und größere voraus waren. Noch zwei Tage und nur der Keim einer Idee bisher, die sich wahrscheinlich, wenigstens auf dieser speziellen Reise, als untauglich erweisen würde. DeGrazza prüfte seine Gedanken kritisch. Hölle, er wollte nicht, daß das Schiff mit einem Asteroiden zusammenstieß. Andererseits begeisterte ihn die Aussicht auf eine ganze Reihe von Reisen, während denen er darauf wartete, daß etwas schiefging, wenig. Was also willst du, DeGrazza? Was ist es, auf das du in dieser Sternennacht hoffst? Bist du sicher, daß es nicht der Tod ist, den du suchst, den raschen Tod durch Entweichen der Luft und Platzen der Blutgefäße, der dich für immer von den Banden zu Mary und Cobb, dem Frachter und der Radioaktivität befreien wird? Oder ist es so, daß du den zeitlosen Effekt von Weltraumreisen willkommen heißt, in dem Bewußtsein, daß du stillstehst, während andere alt werden? Solcherart wird der Zugriff der Beißzange gemildert, die zusammenlaufenden Klauen von Vergangenheit und Zukunft sind beschwichtigt, und der Verstand spürt, daß letzte Woche letzte Woche und nächste Woche nicht näher ist, denn du, DeGrazza, befindest dich auf einer höllischen Antiklinale aus Raum/Antizeit. Und du betrügst dich selbst, denn jede verstrichene Sekunde bringt dich der Zukunft näher. Diese Zukunft, die dich in der Mitte des
Komplexes aus Relais und Sensoren und dem Gewebe aus Bauelementen erwartet, das, wie du sehr gut weißt, so pannen- und narrensicher mit seinen doppelten Leitungen ist, daß nichts schiefgehen wird ... Und dennoch war vor drei Standardtagen etwas schiefgegangen, als das Schiff offensichtlich vorübergehend außer Kontrolle geraten war und der Altairer es mit der Handsteuerung wieder auf Kurs gebracht hatte. Es war nicht weiter schlimm gewesen, weil sie nicht von fliegenden Felsbrocken umgeben gewesen waren. Der Blick auf den Radar bestätigte, daß sie jetzt mitten drin waren – ein Asteroid zehn Grad Steuerbord sah so groß wie Island aus, und andere ähnlich große waren ringsum. Drei Tage zuvor hatte es wenig Asteroiden gegeben, trotzdem war das Schiff vom Kurs abgekommen. War die Strahlungstheorie richtig? DeGrazza zog kurz den Gedanken in Erwägung, daß die Explosivkraft von Altair VII eine Art unsichtbarer Antimaterie geschaffen haben könnte, verwarf die Möglichkeit aber als zu weit hergeholt. Der riesige Meteor wuchs auf dem Radarschirm heran, und er betrachtete ihn nervös und überschlug, wie weit Steuerbord er vorbeiziehen würde. Diesmal zog sich sein Magen bei der Vorstellung zusammen, daß der Gehirncomputer, zu einem Zeitpunkt nur wenige Meilen entfernt, auf die Idee kommen könnte, verrückt zu spielen. Das Problem, ein paar Einschlaglöcher zu flicken und dann weiterzureisen, würde sich gar nicht erst stellen – das Schiff würde spurlos auf diesem Kleinplaneten verschwinden, seine Bruchstücke zwischen den radioaktiven Felsklip-
pen verstreut werden. Der Asteroid, der jetzt den halben Radarschirm einnahm, kroch in die Ecke des Bildschirms. Mit den Jahren hatte DeGrazza gelernt, auf seine Vorahnungen zu vertrauen. Seine Finger zögerten über den Kontrollen, während seine Augen die sich ausbreitende Berglandschaft, die Spalten und die tiefen, pechschwarzen Schatten beobachteten. Er starrte auf den Fremden neben sich, dessen Augenlider im Halbschlaf flatterten, und er fragte sich, ob er ihn wecken sollte. Als die Steuerdüsen ansprachen, traf ihn die gewaltsame Bewegung trotzdem nur halb vorbereitet, und er wurde von seinem Sitz zum Schott geschleudert. Sein Kopf schnellte zurück und schmetterte mit einem dumpfen Schlag gegen das Metall. Hilflos und benommen sah er zu, wie das Schiff drehte und genau auf die Fülle zerklüfteter Bergspitzen zusteuerte ... Das ist er, DeGrazza – dies ist der Höhepunkt, auf den du gewartet hast. Dies ist der Augenblick, in dem du ein für allemal zu entscheiden haben wirst, ob du leben oder sterben willst. Denn du kannst jetzt ganz leicht sterben – indem du einfach wie gelähmt liegenbleibst, deinem Selbsterhaltungstrieb gestattest, in die Vergangenheit dahinzuschwinden, mit jedem verstreichenden Augenblick schwächer wirst und in angenehme Bewußtlosigkeit versinkst. Du kannst jetzt sterben, wenn du willst. Wenn du wirklich willst ... Die Umrisse des Asteroiden wurden klarer, kamen näher und breiteten sich auf dem Schirm aus. Scharfe,
silberne Bergspitzen, tiefschwarze Schluchten und gedrängte, öde Flächen glitten vorüber. Trübe sah er ein rasch näher kommendes, gigantisches, zertrümmertes und ineinander verflochtenes Stahlgebilde, das scharfe Schatten über einen zerklüfteten Berghang warf. Er schrie auf und mühte sich verzweifelt, die Kontrollen zu erreichen. Zu schwach um aufzustehen, rüttelte er die schlaffe Gestalt des Altairers neben sich. Die trüben Augen öffneten sich flatternd. »Stellen Sie Verbindung mit dem Gehirn her!« Die Augen des Fremden wurden klar. Er warf einen raschen Blick auf den Schirm. Es gab eine kaum merkliche Pause, dann schwang der Asteroid aus dem Blickfeld, und die Landschaft kippte weg. Die Sterne erschienen. Sie waren wieder auf Kurs. DeGrazza, du lebst. Das war es, was du schließlich wolltest. »Vielleicht erkennen Sie jetzt die Vorzüge des Gehirns«, bemerkte der Fremde einige Minuten später. »Es wäre unmöglich gewesen, die Kontrollen rechtzeitig zu erreichen, aber das Gehirn reagierte auf meine Anweisungen augenblicklich und setzte sich über den von Radar und Computer festgesetzten falschen Kurs hinweg.« »Sie unterstellen zuviel«, murmelte DeGrazza. Er fühlte sich immer noch schwindelerregend schwach. »Warten Sie einen Moment«, sagte er plötzlich. »Sie behaupten, daß das Gehirn telepathische Anweisungen entgegenzunehmen pflegt und sie ohne Rücksicht auf das, was der Radar anzeigt, ausführt? Ich dachte, es wäre nur der Computer, der übergangen
wird.« Er runzelte die Stirn. »Auch der Radar kann sich irren. Allen technischen oder elektrischen Apparaten wohnt die Möglichkeit einer Funktionsstörung inne. Deshalb haben telepathische Instruktionen Vorrang vor allen anderen.« »Ich verstehe«, murmelte DeGrazza. Seine Unpäßlichkeit war vergessen, Interesse und Wille zum Leben wiederhergestellt, und sein Verstand stürzte sich auf die Möglichkeiten, die diese neue Information eröffnete. »Fragen Sie das Gehirn, warum es den Kurs geändert hat«, sagte er unvermittelt, nichtsdestoweniger fühlte er, daß diese Erklärung zu einfach war. Tief im Hintergrund seines Verstandes gab es eine Antwort auf die Frage, warum dies nicht ging. »Unmöglich. Das Gehirn kann nur in Zahlen denken. Es könnte die Bedeutung derartiger Fragen nicht erfassen.« Natürlich. »Richtig«, sagte DeGrazza. Er war sich darüber im klaren, daß er daran vor zwei Tagen hätte denken sollen. »Dann fordern Sie das Gehirn auf, die Abfolge der letzten Kurskorrekturen zu wiederholen.« Er war so auf die Idee mit der Strahlung und einem Gehirn/Computer-Konflikt fixiert gewesen, daß er es versäumt hatte, diesem deutlichen Fingerzeig nachzugehen. Wenn er herausfand, worauf das Schiff zugesteuert war, mochte er herausfinden warum. »Das kann geschehen«, sagte der Altairer zustimmend. DeGrazza legte sich einen Schreibstift und Notizblock zurecht. »278-125«, begann der Fremde, seine Augen waren
geschlossen, er konzentrierte sich auf die Bilder, die ihm das Gehirn übermittelte. DeGrazza schrieb flott mit. »279-127 – das sind die gegenwärtigen Kontrolldaten im Computer. Es kann eine Weile dauern, weiter zurückzugehen.« »Machen Sie weiter.« »279-126-279-125-279-127-278-129 – Es geht jetzt weiter zurück. 278-128-198-128 – Das war meine Ausweichaktion. Nichts. 46-310 – 45-308 –« »Was ist das?« »46-308 –« leierte der Altairer. »46-310 – nichts – 279-128 279-129 – 278-129 –« »Wieder auf Kurs«, murmelte DeGrazza. »Das ist, bevor das Schiff außer Kontrolle geriet. Wachen Sie auf.« Er stupste den Fremden an, der immer noch wie hypnotisiert Koordinaten vor sich hinmurmelte. »Sie haben die Zahlen notiert?« »Ja, ausgezeichnet, danke.« DeGrazza studierte den Notizblock und verglich die Liste mit den entsprechenden Zahlen auf dem Computerausdruck. »Sagen sie Ihnen etwas?« »Sie sagen mir dies«, antwortete der Erdenmensch grimmig. »Was den Computer anbetraf, waren wir auf dem richtigen Kurs. Es gibt keine Spur von 46Ablesungen auf dem Computerausdruck. Was beweist, daß es das Gehirn war, und nur das Gehirn, das uns vom Kurs abgebracht hat.« Er zeigte dem Außerirdischen die Liste. »46-308 –«, las der Fremde laut vor. »45-308 – 46308 – Das ist sonderbar.«
»Was ist sonderbar?« »Ich erinnere mich an diese Zahlen. Ich habe sie gestern selbst der Programmeingabe eingegeben. Ich sah eine Staubwolke auf dem Bildschirm – zu dünn, als daß man sie auf dem Radar hätte bemerken können, aber ich dachte, es wäre ratsam, ihr auszuweichen, weil sie genügend große Partikel enthalten haben konnte, um den Rumpf zu durchlöchern. Sie können mit Wolken nicht vorsichtig genug sein. Es war kurz vor Ihrer Wache, und ich dachte, Sie würden die Gefahr vielleicht nicht richtig einschätzen.« Oder du hättest, DeGrazza, geradewegs in die Wolke eintauchen können, erfüllt von Todeswünschen und ohne auf das Leben eines Außerirdischen Rücksicht zu nehmen, der, sozusagen, eine Stufe über dem Affen steht, wenn er auch eine widernatürliche telepathische Begabung besitzt. Und der Außerirdische will leben, weil das seiner Denkweise entspricht, wie es auch deiner Denkweise entsprechen sollte. Aber dich treibt es in den Tod, weil es so wohltuend sein wird, nicht mehr getrieben zu werden ... »Haben Sie das Gehirn nicht telepathisch instruiert?« »Das Gehirn ist nur von Nutzen, wenn der Computer zusammenbricht«, erwiderte der Fremde steif. »Aber das Gehirn hat gewöhnlich Kenntnis von den Zahlen, weil es die Eingabeinformationen nachprüft.« »Also hat etwas das Gehirn eingeschaltet.« DeGrazza dachte nach. »Ich frage mich – warten Sie. Haben Sie diese Zahlen kurz vor Ihrer Schlafperiode eingefüttert?« »Allerdings.« Plötzlich zog die ganze Szene des Beinaheunglücks
vor DeGrazzas innerem Auge vorüber – der in das Sichtfeld des Bildschirms gleitende Asteroid, sein eigenes Vorgefühl der Gefahr, seine über den Kontrollen schwebenden Finger, der immer großer werdende Asteroid, die Berge, die sich deutlich und gewaltig auf dem Schirm abzuzeichnen begannen, der hinter ihm schlummernde Altairer, dessen Augenlider flatterten und flatterten ... Und das plötzliche Eintauchen in die Gefahr. »Das ist es!« keuchte DeGrazza. »Es wird REMs genannt«, erklärte er dem Fremden. »Die raschen Augenbewegungen, die man an den Augenlidern erkennen kann, und die anzeigen, daß ein Schläfer träumt. Sie haben geträumt, kurz bevor das Schiff außer Kontrolle geriet – ich sah Sie. Und vor zwei Tagen, als wir zum erstenmal die Kontrolle verloren, schliefen Sie ebenfalls, wenn Sie auch aufgewacht sind und das Schiff wieder auf Kurs gebracht haben.« »Ich sehe den Zusammenhang nicht.« »Ich erkläre es Ihnen. In der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts stellte ein irdischer Wissenschaftler einen Vergleich zwischen einem Gehirn und einem Computer an. Er behauptete, der Zweck des Schlafens sei es, zu träumen. Träumen befreit den Verstand in der Tat von unwesentlichem, angesammeltem geistigem Schutt, gerade so wie man einen Computer vor der Neuprogrammierung löscht. Er führte Versuche mit Menschen und Computern durch, beraubte sie ihrer Träume, beziehungsweise verhinderte die Löschung ihres Programms. Sowohl Menschen als auch Maschinen zeigten in der Folge ähnliche hallu-
zinatorische Verhaltensmuster.« »Ich habe von dieser Theorie gehört.« »Sie sehen die Implikationen? Sie sind ein Pilot, Sie lieben Ihre Arbeit, Sie pendeln immerzu zwischen Altair Sechs und Acht hin und her. Navigation ist ein Teil Ihrer Arbeit, Sie lieben sie. Sie leben und essen nach dem Kompaß. Sie lesen Koordinaten ab, Sie speisen Koordinaten ein, Sie schlafen mit Koordinaten.« »Sie träumen Koordinaten ...« »Und das Gehirn empfangt einen projizierten telepathischen Traum mit einer Serie von Koordinaten und glaubt, daß es eine direkte Instruktion erhält und handelt dementsprechend. Wie man es gelehrt hat, setzt es sich über Computer, Radar, gesunden Menschenverstand und alles übrige hinweg. Ohne zu erkennen, denn das kann es nicht, daß sich Ihr Verstand im Schlaf von seinem Ballast befreit.« Es folgte ein langes, nachdenkliches Schweigen. Der Bildschirm wurde jetzt langsam frei, die größeren Asteroiden trieben weit hinten, nur dünn gesäte, glitzernde Tüpfelchen blieben zurück, durch die der Computer das Schiff mit unfehlbarer Präzision hindurchleitete. Und hinter dem Staub schwoll der Lichtpunkt, der Altair VIII war, zu einer glühenden Scheibe an. DeGrazza machte es sich in seinem Sitz bequem. Er erwog einen längeren Aufenthalt auf ihrem Bestimmungsplaneten, bevor er heimkehrte. Er nahm an, daß er ihn verdient hatte. Du hattest recht, DeGrazza. Die Lösung zu dem Problem liegt im altairischen Verstand. Und jetzt kannst du nach Hause gehen zu Mary und Cobb und der Zukunft, denn du
weißt, daß sie dich rasch zurückhaben wollen, deines Verdienstes und deiner Intelligenz wegen, wenn schon nicht deiner selbst wegen. Vergiß diesen langen Urlaub – es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken, denn du weißt, du wirst hier nicht bleiben. Du mußt weiter vorwärts hasten und die Zukunft verzehren, wie sie kommt, denn das ist deine wahre Lebensart, das Strychnin des Todes, wo immer du es spürst, begierig zu verzehren und geschickt zu meiden. Bis die Verheißung der Pille eines Tages zu süß ist ... Aber nicht dieses Mal. Nächstes Mal? Schließlich sprach der Fremde. »Ich fürchte, es spricht einiges für das, was Sie sagen. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, daß Sie recht haben. Ich habe gleichfalls mit Interesse die Schriften Ihrer Evansschule über Gedanken über Träume gelesen, trotzdem fiel mir die Lösung nicht ein. Es ist ein trauriger Gedanke, daß wir in unseren Anstrengungen, interplanetarische Reisen sicherer zu machen, das Gegenteil erreicht haben. Wie lauten Ihre Vorschläge?« »Wie ich schon früher sagte, die Computer haben noch nie versagt. Sie werden die Gehirne entfernen müssen.« »Wahrhaftig«, seufzte der Altairer. »Wir können unsere Träume nicht abstellen.« In der Tat, dachte DeGrazza mit einer inneren Vorahnung. Als das Schiff am letzten Tag seiner Reise nach Altair VIII dahineilte, fragte er sich, was die nächste Nacht bringen würde und ob seine Traumfeuerbälle von zerklüfteten Asteroidenbergspitzen und schwarzen Schluchten, die mit atemraubender Geschwindigkeit auf ihn zurasten, abgelöst werden würden.
Wenn es nur so einfach wäre wie, sagen wir, einen Knopf zu drücken, um einen Computer zu löschen. Lebewohl, DeGrazza, mit deinem gefolterten Geist und deinen verschlingenden inneren Zwängen. Wir können keine Überlegenheit empfinden, nur Sympathie – denn dieses Mal hast du uns etwas gelehrt; dennoch gibt es so vieles, daß wir dich lehren könnten, wenn du uns nur ließest. Aber du bist so sehr von Selbstmitleid gefangen genommen, daß du dich kaum derer um dich herum gewahr wirst – Mary, Cobb und – der Altairer. DeGrazza und Erde, ich danke Euch im Namen von Altair. Und du weißt nicht einmal meinen Namen ...
Originaltitel: TROUBLESHOOTER Aus IF Mai–Juni 1970 Copyright © 1970 by Universal Publishing and Distributing Company
Sydney J. Van Scyoc MNARRA MOBILIS 1 In dieser beklemmenden Geschichte über die Feste der Natur stellt Sydney J. Van Scyoc knifflige Fragen über die »natürliche Ordnung der Dinge«. Versetzt auf eine ferne Welt, präsentiert er einen Konflikt besonderer Art, mit einem höchst ungewöhnlichen Helden. Als die Hitze anfing, durch Boden und Felsgestein nach oben zu entweichen, und die Blattbüschel, die sie diesen Morgen geschaffen hatte, sie mit ständig kleiner werdenden Mengen Sonnenenergie versorgten, wußte Mnarra, daß der Abend nahte. Sie wurde langsamer, hielt an und rief ihre Plasmaarme zurück, die sich durch den Boden oberhalb ihres Hauptkörpers getastet hatten. Wieder vereint, löste sie das straffe Kabel elastischer Wurzelstränge, das sie an die Blattbüschel anschloß, die mittlerweile zwei Meilen südlich ihrer jetzigen Position lagen. Dann begann sie ein neues Kabel nach oben gerichteter Stränge zu bilden. Als sich die Stränge nahe der Oberfläche auftrennten, trieb sie neue, glänzende Blattbüschel heraus, die die spärliche Frühlingsvegetation auf dem Hang überragten. Die Blätter falteten den Monden tiefgrüne Flächen entgegen. Rinnsale reflektierter Sonnenenergie erreichten Mnarra. Sie kauerte sich für die Nacht in einer Höhlung im Kalkstein zusammen. Sie war ein zeitloses Wesen, das allein umherwanderte, und weder Felsgestein, Erdreich, noch
Wasser hinderten sie. Nur des Nachts machte sie halt, und dann besänftigte sie sich mit althergebrachten elektrochemischen Verschmelzungen, tiefverwurzelte Verhaltensweisen, die so alt waren wie die Zeit. So alt wie Mnarras Lebenszeit. Stunden später alarmierten sie die Blattbüschel. Sonnenlicht ließ die Dunkelheit grau werden. Bald würde der Tag anbrechen, das Fest. Mnarra fertigte die scharlachroten Blüten an, mit denen sie die neue Sonne stets begrüßte. Die Sonne ging auf. Ihre neuen Blätter übertrugen die Energie heftig. Mnarra erschauderte vor Entzücken. Ihre Blüten entfalteten sich prachtvoll, je eine aus der Mitte jedes Blattbüschels, samtartige Blütenblätter, die sich aus lieblichen, goldenen Knospen spiralig aufrollten. Sie begann sich wieder in Bewegung zu setzen. Nordwärts, immer nordwärts während der Frühlingstage. Das elastische Kabel aus Wurzelsträngen zog sich hinter ihr her. Die Blattbüschel versorgten sie großzügig mit Nahrung. Auf dem anderen Hügel zwei Meilen südlich welkten die Blattbüschel, die ihr den vorigen Tag gedient hatten. Die scharlachroten Blumen, die die letzte Morgendämmerung festlich begangen hatten, hingen schlaff herab und starben ab. Aber das war ohne Bedeutung. Mnarra hatte geschaffen. Mnarra hatte Nahrung hervorgebracht. Nun setzte Mnarra ihre jahreszeitliche Reise fort. So war es immer. Brennan, an Bord des einzigen Schwebers der Siedlung, hing knapp über dem Kamm des Hügels. Auf seiner Westseite wuchs saftiges und grünes Erdgras. Am Fuße des Hügels am Rand der Ebene war New
Powell, eine Ansammlung von Kuppeln und Schlafunterkünften, jede mit einem eigenen großen Rasenvorfeld ausgestattet. Dann die Felder, die sich wie Strahlen vom Rand der Siedlung her ausbreiteten. Erntereifes Korn erstreckte sich in einem breiten Streifen nach Westen hin. Bohnen, Tomaten, Kürbisse, Rüben wuchsen in blühenden Reihen. Und begrenzt wurden die Strahlen von einem hoch aufgeschossenen, bogenförmigen Weizenfeld. Brennans Blick glitt wieder den Hügel hinauf, um die grasenden Jerseyrinder zu begutachten. Es waren arbeitsreiche zehn Monate seit der Landung gewesen. Ackerland mußte geschaffen, Behausungen errichtet werden, die Milchviehherde mußte aus Keimzellen im Inkubator zu geburtsfähigen Kälbern herangezogen und dann behutsam durch eine mutterlose Kindheit geleitet werden. Aber nun war ihre erste Anbausaison erfolgreich in Gang gesetzt, und wenn er hier so hing, konnte Brennan vergessen, daß dies eine fremde Welt war. Stattdessen konnte er sich einbilden, daß er und seine Gruppe sich in der Zeit zurückbewegt hatten, in eine Epoche, in der die Erde ein Ort welliger Hügel und sich wiegenden Grases war, in eine Zeit, als der Himmel blau war, als aufgedunsene, weiße Wolken, dahintreibenden, großen unbeseelten Göttern gleich, an ihm vorüberzogen. Er konnte hier hängen und so tun, als ob City-Amerika niemals das Verbrechen an dem nordamerikanischen Kontinent begangen hätte, daß es den verseuchten, grauen Himmel, Resultat der totalen Verstädterung, niemals gegeben hätte und daß die Werte des idyllischen Landlebens bewahrt worden wären.
Und dann konnte er vom Kamm des Hügels aus nach Norden vorrücken und sich auf einer fremden Welt wiederfinden. Seine Schultern strafften sich, als er es tat. Die Vegetation, unter ihm jetzt, war ihrer äußeren Form nach nicht allzu verschieden von dem, was er in der amerikanischen Wildnis vor Jahrhunderten vielleicht hätte vorfinden können. Grüne Pflanzen breiteten sich vor ihm aus, manche mit gefingerten, andere mit fächerförmigen, ovalen oder runden Blättern. Das wechselte mit den Jahreszeiten. Brennan hatte die näheren Hügel seit den Monaten der Landung ein Dutzend Male überflogen. Im Spätsommer war die Vegetation üppig und grün gewesen. Im Herbst war sie grün geblieben. Und zum Winter war sie nicht braun geworden. Dann, als der Frühling einsetzte, war die Vegetation trotz häufiger Schauer verwelkt. Dunkelgrün wurde zu Blaß oder auch Gelb. Jetzt, zwei Wochen nach Brennans letzter Erkundung, schaute der kahle Erdboden in großen dunklen Flecken durch. Brennan ging mit dem Schweber tiefer. Er hatte die Pflanzen unten nie blühen oder Samen tragen sehen. Ebensowenig schien es eine andere Form der Fortpflanzung zu geben. Er zog den Schweber wieder hoch, in der Hoffnung, daß sich ihm hinter den Hügeln im Norden eine andere Szene darbieten würde. Was er vorfand, war derselbe gelbgrüne Teppich, spärlich und entmutigend. Er hing über den welkenden Hügeln und war beunruhigt. Vielleicht war das für Frühling normal. Vielleicht auch nicht. Letzten Herbst hatten sie die
Felder und Hänge, die sie für sich ausgewählt hatten, von der heimischen Vegetation befreit, in der Überzeugung, daß sie wieder zum Vorschein kommen würde, daß sie sie nochmals würden ausreißen müssen. Aber das war nicht geschehen. Der Erkundungsbericht hatte ihnen zweifellos wenig über den Zyklus des hiesigen Pflanzenlebens verraten, bis auf die Tatsache, daß die meisten Arten ungenießbar und viele für warmblütige Säugetiere giftig waren. Die logische Annahme, angesichts der beobachteten Phänomene, war, daß das Pflanzenleben dieser Welt einem anderen jahreszeitlichen Zyklus folgte als das der irdischen Vegetation, daß es sich durch radikal verschiedene Methoden reproduzierte. Aber er war mit dem Schwebeboot nicht herausgeflogen, um die sterbenden Hänge zu betrachten. Heute war der Tag, an dem er der Kraterzone einige Meilen nördlich der Siedlung seinen ersten Besuch abstattete. Er stieg auf. Mit Hilfe des Erkundungsberichts hatte er sich ein Bild von ein paar Dutzend kleineren Kratern gemacht – flach, vielleicht ein Meter fünfzig im Durchmesser – die den Arm der Ebene, der rund um die Hügel im Norden herumreichte, mit Pocken zernarbten. Eine halbe Stunde später überquerte er das letzte Hindernis aus Hügeln und hielt überrascht den Atem an. Unten lag eine ausgedehnte Landfläche, vollkommen verunstaltet von Kratern, die zwölf Meter und mehr maßen – und tief waren. Sie reihten sich zu einer verrückten Kette aneinander, einige mit scharfen Rändern, die relativ neu aussahen, andere wiederum abgetragen und sich mit Erde füllend. Ungläubig schwenkte er den Schweber herum, um
das Gelände abzumessen. Gegen Mittag landete er auf einem Hang und stieg aus dem Schweber aus. Die Krater nahmen einen drei Meilen breiten und sieben Meilen langen Streifen der Ebene in Anspruch. Das gesamte Gelände war von Pockennarben überzogen, Krater folgte auf Krater. Nur wenige schienen jüngeren Datums zu sein. Die meisten waren älter. Ein paar hatten sich wieder mit Erde gefüllt, und nur leichte Einbuchtungen markierten ihre Standorte. Andere wiederum enthielten Wasser. Brennans Schultern versteiften sich vor Ärger. Die Erdbehörde hatte seinen Leuten erlaubt, ihre Siedlungen und Felder nur zehn Meilen von dieser Zone der Verwüstung entfernt zu errichten – ohne sie von dem Ausmaß des Phänomens in Kenntnis zu setzen, ohne auch nur den Versuch zu machen, den Kräften, die die Pockennarben verursachten, auf die Spur zu kommen, ja, nicht einmal Karten hatte sie anfertigen lassen, die die Verteilung der Kraterzonen über die Oberfläche des Kontinents hätten veranschaulichen können. Eine der wenigen handfesten Tatsachen, die er aus dem Bericht erfahren hatte, war, daß dieses Gebiet eines von Dutzenden über den Kontinent verstreuten war. Unvermittelt stieg Brennan wieder in den Schweber ein und ließ den Hang unter sich zurück. Er glitt abwärts, näherte sich dem Krater, der vor erst kurzer Zeit entstanden sein mußte, und steuerte den Schweber in ihn hinein. Behutsam wich er den steil abfallenden Wänden aus. Er kippte das Fahrzeug, um über den Seitenrand zu spähen, löste die Handlampe aus ihrer Befestigung und leuchtete damit nach unten.
Er konnte auf dem Kraterboden nichts anderes als Dreck erkennen. Vergruben sich Meteoriten selbst? Er runzelte die Stirn. Und was das anging, fielen Meteoriten innerhalb scharf umrissener geographischer Zonen nieder? Er ließ den Schweber aufsteigen. Meteoriten waren eines der zahlreichen Themen, die seine nur oberflächliche City-Amerika-Ausbildung nicht gestreift hatte. Aber wenn diese Krater nicht das Resultat von Meteoriteneinschlägen waren, welche andere Erklärung bot sich an? Explosive Ablagerungen natürlicher Gase? Wenn dem so war, was hatte sie detonieren lassen? Er machte den Rückweg über die Ebene, umging die aufragende Hügelkette. Er schwebte in niedriger Höhe dahin und betrachtete grimmig das Terrain. Jenseits der verwüsteten Zone fand er nicht einmal die Spur eines Kraters. Gegenwärtig schien die Siedlung also nicht bedroht. Trotzdem kam er später in der Woche mit einer Schar von Männern noch einmal zurück. Sie ließen sich in vier Krater jüngeren Datums herab, um den Versuch zu machen, durch Ausgrabungen herauszufinden, was für Gesteins- oder Metallkörper mit solcher Kraft auf den Boden eingewirkt haben konnten. Sie fanden nichts auszugraben und kamen mit leeren Händen wieder nach oben. Als sie ihre Ausrüstung für den Rückmarsch zusammenpackten, kratzte DiChiara, Brennans Stellvertretern nachdenklich in dem dunklen Erdboden herum. »Ich sehe keine Anzeichen dafür, daß das hier vulkanisches Gebiet ist.« Brennans Blick wanderte von der Ebene zu den
sanft geschwungenen und mit ihren beinahe fleischartigen Konturen irgendwie sinnlich erscheinenden Hügeln. Er war sich der Tatsache nur zu bewußt, daß sein Blick ungeübt war. »Ich auch nicht«, sagte er ohne Überzeugung. »Nächste Woche mache ich mit dem Schweber einen Erkundungsflug nach Süden.« DiChiara warf ihm einen scharfen Blick zu. »Du glaubst, du findest da unten eine zweite Kraterzone?« »Ich weiß nicht, was ich finden werde.« DiChiara richtete sich auf. »Vielleicht sollte ich mitkommen.« Brennan gab sich unverbindlich. »Vielleicht, Dick.« Er machte seine Schaufel auf dem Rücken fest. Die Expedition war unergiebig gewesen. Seine Unruhe war jetzt größer als zuvor. Eigentlich hätte sich etwas auf dem Grund der Kratersohlen befinden müssen. Wenn es kalt war, grub Mlondas sich tief ein, das Kabel aus Wurzelsträngen, das ihn an seine Blattbüschel anschloß, spannte sich dann. Aber an warmen Tagen glitt er nahe an die Oberfläche, und als dünne Plasmaschicht bewegte er sich leicht und von Wurzeln und Knoten ungehindert durch den Humus. Es war Frühling jetzt, und die Wurzeln wuchsen kraftlos. Aber Mlondas trauerte nicht um den Pflanzenteppich, der oben verwelkte. Wo er dünner wurde, war die Erde kahl, und Sonnenwärme tastete sich mit freundlichen Fingern hindurch. Bald verriet ihm die Intensität der Hitze, daß die Sonne im Zenit stand. Er hielt inne, um sich moleküldünn in der obersten Humusschicht auszubreiten. Morgendämmerung war das Fest, die Gelegenheit, große, wachsartige, weiße
Blumen zu erschaffen, die seine Verzückung kundtaten. Aber Mittag war wohltuender. Verzückt aalte er sich in der warmen Erde. Die Zeit verging, und Mlondas zog sich zusammen, glitt in eine tiefere Erdschicht und setzte seinen Weg fort. Die Minuten zum Verweilen waren kurz. Mlondas, ein uraltes Geschöpf, wanderte langsam. Er wanderte langsam. Nach Norden, wenn Frühling war. So war es immer. Sie glitten dreißig Meter über der Ebene dahin, Brennan und DiChiara. Brennan beobachtete aufmerksam den Erdboden und versuchte, sich seine Verärgerung nicht anmerken zu lassen. Er hatte sich auf einen Alleinflug gefreut. Aber DiChiara hatte ihn überredet, ihn mitzunehmen. Und jetzt war DiChiara auf ihrem Weg nach Süden ständig am Schwatzen. »Hast du dich jemals gefragt, warum die romanischen Volksgruppen sich zu einer redseligen, lebhaften Rasse entwickelten, während Nordeuropäer in der Regel gehemmt und ziemlich zurückhaltend sind?« »Nein«, gab Brennan gleichgültig zu. »Vergleich mal die klimatischen Bedingungen, unter denen sie sich entwickelten. Die romanischen Völker brauchten niemals ihre Gefühle zu unterdrücken. Sie konnten sich das ganze Jahr über im Freien aufhalten. Aber die Skandinavier waren monatelang zusammen eingeschlossen, hereingetrieben von den sie umgebenden feindlichen Elementen. Keine Möglichkeit, dem anderen aus dem Weg zu gehen, außer – sich in sich selbst zurückzuziehen. Wenn sie, wie die
romanischen Völker, ihren Gefühlen freien Lauf gelassen hätten, wenn sie – na, nimm zum Beispiel den Krach zwischen Swenson und Diaz letzten Winter während der Regenzeit, als es um die Schlafunterkünfte ging. Swen reagierte einfach –« Brennans Hände verstärkten ihren Griff um die Kontrollen. Also waren sie wieder bei Swenson. »Swenson hat die Genehmigung, eine eigene Behausung an einem beliebigen Ort innerhalb der Grenzen der Siedlung zu errichten. Ich habe das vor Monaten schon bewilligt.« DiChiara nickte. »Gewiß. Gewiß. Aber Swen will einen Platz auf der anderen Seite der Felder. Er ist schwedischer Abstammung. Er will Zurückgezogenheit. Er beabsichtigt nächsten Monat, wenn er und Tilla verheiratet sind –« »Nein. Unsere Politik, Dick, ist – bis das Schiff zurückkehrt, leben wir in einer Einheit zusammen. Swen und Tilla haben ein halbes Dutzend Wohnhäuser für Ehepaare zur Auswahl, wenn sie selbst keines bauen wollen.« DiChiara war nicht zufriedengestellt. »Jetzt schau mal, Bren, das hier ist nicht City-Amerika. Diese Leute sind hierher gekommen, weil sie frei sein wollten – und du verwaltest New Powell wie eine Siedlung auf der Erdseite des Mondes.« Brennan schaute sich DiChiara genau an. Er lächelte grimmig. Er entsann sich seiner Kindheit und des fahlen Sonnenlichts, das auf die asphaltierte Spielplatzfläche auf dem Grund des mit Betonplatten ausgekleideten Canyons fiel. Er entsann sich der verbissenen Kämpfe, einen Platz darauf zu ergattern. Dann warf er einen Blick auf die strahlende Sonne
über ihm. »Ich leite New Powell so wie einen Fremdkörper auf einer Welt, über die wir sehr wenig wissen. Während der nächsten vier Jahre werden wir lernen. Dann können wir uns ausbreiten und unsere Freiheit genießen.« »Um Gottes willen, Bren! Was gibt es da zu lernen? Es gibt kein tierisches Leben hier. Nicht einmal Insekten. Soviel hat das Erkundungsschiff immerhin herausgefunden. Wenn Swen und Tilla sich also eine Stelle aussuchen, die heimische Vegetation beseitigen und irdisches Gras aussäen, das Gelände einzäunen, wenn sie Kinder bekommen haben und wie jeder andere jeden Tag auf die Felder herauskommen –« Brennan schüttelte den Kopf. »Laß das Thema fallen, Dick.« Wie jede von der Erdbehörde finanzierte Siedlung, war New Powell mit Maschinen, Lebensmitteln, Samen und sonstigen Versorgungsgütern ausgestattet, um das Überleben der ersten fünf Siedlungsjahre zu sichern. Nach Ablauf dieser Zeitspanne würde das Erkundungsschiff zu einer Bestandsaufnahme zurückkehren. Wenn es ihnen bis dahin gelang, den Planeten in Besitz zu nehmen, gehörte er ihnen. Aber waren sie gescheitert, würden sie nach City-Amerika zurückgebracht werden, und jene, die entschlossen waren, einen neuen Versuch zu machen, würden auf das untere Ende der Teilnehmerliste des Planeten gesetzt werden. Brennan war sich darüber im klaren, daß sein Training als Leiter der Siedlung ebenso unzureichend gewesen war wie vormals seine City-AmerikaAusbildung. Aber eines hatte er sich fest gemerkt. Es waren nicht immer die rauhen, feindseligen Welten, die die Siedler scheitern ließen. Manchmal waren es
die üppigen Welten. Die Welten, die es einem zu leicht machten. Diese konnte eine sein. Die Kolonisten sahen sich hier keinen landschaftlichen oder klimatischen Anomalien gegenüber. Es gab keine feindselige Fauna. Der Himmel war strahlend, die Luft angenehm zu atmen. Die Felder trugen bereits Früchte, und der junge Milchviehbestand wuchs und gedieh. Aber Brennan hatte nicht die Absicht, seinen Leuten zu gestatten, in ihrer Wachsamkeit nachzulassen und ein sorgloses Leben zu führen, bevor sie die ersten fünf Testjahre überstanden hatten. Sie setzten ihren Weg über die Ebene in drückendem Schweigen fort. Fünf Meilen südlich von New Powell steuerte Brennan einen Zickzackkurs und grub dabei breite Streifen in das gelbgrüne Gelände. Zehn Meilen südlich erwachte DiChiara wieder zum Leben. »Hast du dir jemals vorgestellt, was passieren wird, wenn all diese Pflanzen absterben und die Erde kahl ist, wenn die Regenzeit kommt?« »Ich habe darüber nachgedacht. Aber die schweren Regenfälle sind erst im Spätherbst fällig. Bis dahin wird sich die Pflanzendecke gewiß wieder neu gebildet haben.« DiChiara zuckte mit den Schultern. »Nan Perry meint, wir sollten die Hügel gleich jetzt besäen. Nur um sicherzugehen.« Brennan zog die Augenbrauen hoch. »So?« »Wir haben genug Grassamen, um ein Dutzend der näheren Hügel zu besäen. Sie würden jetzt Wurzeln bilden und dem Boden Halt geben. Noch einen Monat und es könnte zu spät dazu sein.« Brennan schüttelte den Kopf. »Nein, wir streuen so
weit draußen keine Samen aus, nicht, bevor wir nicht mehr Zeit gehabt haben, den hiesigen Lebenszyklus genauer kennenzulernen.« »Sehr schön, es wird unseren Lebenszyklus durcheinanderbringen, wenn die Hügel sich senken und uns mit Schlamm überschwemmen.« Brennan seufzte. »Schau mal, Dick, es gibt keine Anzeichen dafür, daß die Hügel sich jemals gesenkt haben. Wir sind im Spätsommer gelandet, und da war die Vegetation üppig. Und bis zum Spätsommer dieses Jahres wird irgend etwas geschehen. Der Boden wird wieder bewachsen sein.« DiChiara taxierte Brennan düster. »Vielleicht solltest du dir diese Ansicht einrahmen und bei der nächsten Gemeindeversammlung aufhängen lassen. Ich höre so manches, von dem du keine Ahnung hast.« Brennan runzelte die Stirn. »Tatsächlich?« »Ein paar unserer Leute glauben, daß wir diese Welt getötet haben.« Brennans Augenbrauen wölbten sich in offenkundigem Unglauben. »Schau dich doch mal um. Es ist Frühling – und alles ist am Eingehen. Alles, außer unseren Saaten. Twan Yano meint, wir haben den Leib durchbohrt, und das Tier stirbt. Nan Perry sagt, daß wir die Ökologie des Planeten durch das Ausstreuen unserer planetenfremden Samen bereits zerstört haben. Nick Sorenson glaubt, daß wir ein neues Element eingeführt haben, ein Element, das es hier vorher nicht gegeben hat und das jetzt alles Pflanzenleben vergiftet hat. Kerri Rice sagt –« Seine Aufzählung wurde unterbrochen. Brennan
schwenkte den Schweber plötzlich herum, die Augen aufmerksam auf den Boden gerichtet. Er beschrieb einen weiten Bogen und brachte den Schweber herunter. »Schon gut, schau dir das an!« DiChiara, sich an dem Haltegriff für Passagiere festklammernd, schaute. Seine Rede ging in ein für romanische Völker atypisches Schweigen über. Brennan stieg aus. Zu seinen Füßen schoß umfangreiches dunkelgrünes Blattwerk aus dem Boden. Die Blätter wuchsen in Büscheln, in Dutzenden von jungen, kräftigen Büscheln. Jedes Büschel wurde von einer einzelnen scharlachroten Blüte gekrönt, deren samtartige Blütenblätter sich graziös von einem tief gelegenen goldenen Zentrum emporwanden. Plötzlich strahlte DiChiara, sein finsteres Gesicht war wie verwandelt. »Ha! Es ist Frühling, Brennie! An dieser Stelle blüht es!« Er lachte. »Ha, glaubst du –« »Ich glaube, wir lassen die Blumen besser da, wo sie sind.« »Und bringen stattdessen die Leute her. Schweben sie paarweise herüber. Zuerst Yano und Nan Perry. Als nächstes Sorenson und Rice. Schroeder und Vincinzi. Dann –« Brennan schüttelte den Kopf. »Nein, selbst wenn man sie paarweise herbeischaffen würde, würde das fünfundsiebzig Rundflüge bedeuten. Ich denke, wir können jedem, der Lust hat herauszuwandern, einen freien Tag zugestehen.« »Hm.« DiChiara erwog den Vorschlag und nickte dann lebhaft. »Gewiß. Schicken einfach den Schweber mit Picknickvorräten heraus. Machen uns einen Feiertag daraus, einen richtigen Feiertag. Ein Frühlingsfest.«
Brennan war weniger an Festen als an Fakten interessiert. Er bückte sich, berührte ein einzelnes, gekräuseltes Blatt, drehte es um und betrachtete es. »Ich habe diese Pflanze vorher noch nie gesehen«, sagte er nachdenklich. »So? Hm, viele Pflanzen sprießen nur zu bestimmten Jahreszeiten, etwa nicht?« »Viele Pflanzen – irdische Pflanzen – blühen nur zu bestimmten Jahreszeiten. Das Blattwerk wird dagegen in der Regel über längere Zeiträume hinweg getragen.« Brennan betrachtete stirnrunzelnd die Ebene. Er stieg wieder in den Schweber ein. »Schauen wir, ob wir ein weiteres Exemplar davon aufspüren.« Sie beschrieben mit dem Schwebeboot eine Reihe sich erweiternder Halbkreise. Einige Minuten später entdeckten sie das zweite Gewächs. Sie näherten sich ihm und landeten. Und standen wortlos davor. Das zweite Blättergewächs lag zwei Meilen südlich des ersten. Und es war am Absterben. DiChiara blickte unbehaglich in Richtung des ersten Gewächses. »Hm, schließlich haben wir keine Ahnung, wie alt diese Blätter schon sind«, sagte er. »Wer weiß? Es könnte eine Art sein, die nach ein oder zwei Wochen eingeht.« »Vielleicht.« DiChiara schritt um die verdorrte, absterbende Pflanze herum. »Oder Wassermangel? Es hat Schauer gegeben, aber hier draußen, wer weiß –« Er zuckte mit den Schultern. Er schien seiner Theorie selbst nicht recht zu trauen. Brennan wies die Theorie zurück. »Das andere Gewächs ist nur zwei Meilen entfernt. Es wirkte nicht
ausgedorrt.« »Hm.« DiChiaras Miene hellte sich auf. »Wenn wir noch einen Rundflug machen, finden wir vielleicht ein drittes Exemplar. In besserem Zustand.« Brennan kaute nachdenklich auf der Lippe. »Gute Idee.« Sie flogen mit dem Schweber davon. Das dritte Blattbüschelgewächs lag fast drei Meilen weiter südlich. Dieses Gewächs war nicht am Absterben. Es war bereits eingegangen. »Ich glaube, wir holen besser das Ag-Team hierher, bevor wir den anderen etwas von diesen Pflanzen sagen«, sagte Brennan, nachdem sie um die braune Pflanze herumgeschritten waren und die verdorrten Blüten betastet hatten. DiChiara nickte. »Es wäre wirklich schlecht für die Moral, wenn alle davon erführen. Das einzige Grünzeug – und es stirbt so schnell ab, wie es wächst.« »Das muß nicht unbedingt etwas heißen, Dick. Wir können nicht erwarten, daß das hiesige Pflanzenleben demselben jahreszeitlichen Rhythmus folgt wie das auf unserer eigenen Welt.« Gut gesagt. Klang vernünftig. Aber Brennan hatte, als er in Richtung New Powell abhob, ein seltsames Gefühl. »Wenigstens haben wir in unserem Hinterhof keine weitere Kraterzone gefunden«, betonte DiChiara.
2 Brennans seltsames Gefühl verstärkte sich noch, als er und DiChiara zwei Tage später mit dem Ag-Team
über die Ebene wanderten, in der Erwartung, das Blumengewächs zehn Meilen südlich von New Powell vorzufinden. Sie fanden es stattdessen sechs Meilen südlich, jung und kraftvoll in der Vormittagssonne blühend. DiChiara zog seinen Schrittzähler zu Rate und bestimmte ihre Position. Er knurrte. »Das hier ist nicht die Stelle, an der wir unsere blättrigen Freunde zurückgelassen haben. Oder, Bren?« Brennan war im Begriff, die Blattbüschel abzuschreiten, um ihren Umfang abzumessen. »Das ist gar nicht dasselbe Gewächs. Es ist länglicher. Und es bedeckt eine etwas kleinere Fläche.« DiChiara hockte sich hin und berührte die Spitze eines Blattes. Er wandte sich an Schroeder, New Powells Chefagritechniker. »Nun, Schroeder, was hältst du davon?« Schroeder schürzte die asymmetrischen Lippen. »Was ich davon halte?« Er unterzog die Blattbüschel einer oberflächlichen Untersuchung. »Es ist eine Art Gewächs. Es wächst aus dem Boden. Ich denke, es lebt hier.« DiChiara war konsterniert. Brennan lächelte gezwungen. Angesichts der blühenden Aussaaten waren Schroeder und Vincinzi ein wenig ›naßforsch‹. Die Wanderung über die Ebene war zu einem Wettstreit geworden, das Ag-Team hatte versucht, das Kommandoteam auszustechen. »Ich dachte, der Kernpunkt, Dick, war, ein gesundes mit einem kranken Gewächs zu vergleichen – und festzustellen, wodurch der Unterschied verursacht wurde.« DiChiara fuhr sich durch das dunkle Haar. »Aber
das gesunde Gewächs, an das wir dabei dachten, ist vier Meilen weiter weg. Und das kranke Gewächs ist noch zwei Meilen weiter.« »Und das bereitet euch beiden Kopfschmerzen?« meinte Schroeder. Es bereitete dem Führungsteam keine Kopfschmerzen. Oder es hätte ihm keine bereitet. Aber weniger als zwei Meilen von dem neuen Blattbüschelgewächs entfernt, stießen sie auf ein zweites, ein absterbendes Gewächs. Zwei Meilen hinter diesem trafen sie auf ein abgestorbenes. »Das ist dasjenige, das wir uns neulich angeschaut haben«, sagte DiChiara kopfschüttelnd. »Es war in demselben Zustand, in dem das erste jetzt ist. Und das dahinter – zwei Meilen weiter draußen – war in demselben Zustand wie das, auf das wir heute zwei Meilen weiter vorn gestoßen sind. Und zwei Meilen hinter dem –« Schroeder stöhnte. »Zwei Meilen hinter dem«, beharrte DiChiara störrisch, »war das abgestorbene Gewächs. Abgestorben wie dieses hier.« Vincinzi zog einen Schreibblock aus der Tasche. »Dick, könntest du das nochmal wiederholen und mich eine graphische Darstellung davon machen lassen?« »Ich glaube kaum, daß er das nochmal zusammenbringt«, sagte Schroeder. Aber DiChiara hatte keine Mühe. Und dann drängten sie sich um Vincinzi und studierten aufmerksam ihre Skizze. »Es könnte bedeutsam sein, daß alle Vegetationsflecken in einer Linie von Nord nach
Süd angeordnet sind«, sagte sie nachdenklich, während sie an ihrem Kugelschreiber nagte. »Und für die blühende Entwicklungsstufe der Pflanze gibt es ebenfalls eine Nord-Süd-Abfolge.« DiChiara nickte. »Das jüngste Gewächs ist immer am weitesten im Norden, das verwelkende in der Mitte und das abgestorbene im Süden.« »Und was beweist das?« wollte Schroeder wissen. Vincinzi erklärte ihre Skizze ausführlich, um die fortschreitende Entwicklung der Lebensstufe des Gewächses zu veranschaulichen. »Meinst du, es macht etwas aus, wenn wir ein paar der welken Büschel ausgraben?« fragte sie Brennan. Er zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht, daß es schaden kann. Die Wurzeln könnten uns weitere Aufschlüsse geben.« Sie erfuhren, daß die Büschel keine Wurzeln besaßen. Die Stengel reichten einige Zoll weit in den Boden. Darunter war nichts. Sie legten die ausgegrabenen Büschel auf den Boden und starrten sie ratlos an. »Was hält die verdammten Dinger am Leben?« knurrte Schroeder, dessen Interesse schließlich doch geweckt war. DiChiara grinste. »Nichts hält sie am Leben. Sie sind tot.« Schroeder blickte finster drein und trat nach dem Gewächs zu ihren Füßen. »Okay, laßt uns wieder nach Norden gehen und Proben von den beiden anderen Pflanzen nehmen.« Die mittlere Pflanze, am Absterben, war wie die erste wurzellos. Die Büschel der am nördlichsten gelegenen Pflanze widerstanden jedoch ihren Bemühungen, sie auszureißen. Als sie einen halben Meter tief
gegraben hatten, schaufelten sie Erde aus dem Umkreis des Unterteils des Pflanzenstengels. Ein einzelner drahtiger Strang setzte sich vom Stengel aus fort. Vincinzi wischte Erde von ihm ab und untersuchte ihn behutsam mit dem Zeigefinger. Sie schaute zu den drei Männern auf. »Er ist hart. Die Festigkeit nimmt zur Mitte des Strangs hin zu. Wir werden weitere Pflanzen entwurzeln müssen, wenn wir seinen Weg verfolgen wollen.« »Du kannst eine Pflanze entwurzeln, die keine Wurzel hat?« fragte Schroeder grimmig. »Es könnte eine große gemeinsame Wurzel geben«, erklärte Vincinzi, die sich aufgerichtet hatte. »In der Nähe der Mitte der Blattbüschelgruppe.« Brennan ging in die Hocke und untersuchte den widerstandsfähigen Strang. Er schüttelte den Kopf. »Wir werden nicht tiefer in das Gewächs hineingraben. Aber wir könnten noch etwas an den Rändern herumstochern.« Sie gruben weiter. Alle drahtartigen Stränge wuchsen auf die Mitte der Blattbüschelgruppe zu. »Okay«, sagte Schroeder rachsüchtig, als sie von dem grünen Gewächs zurücktraten. »Wir marschieren noch zwei Meilen in genau südlicher Richtung, Kinder, und wir graben das ganze Gewächs aus. Wir graben zwei, wenn nötig drei Meter tief, um die Hauptwurzel zu finden. Ich will sie nämlich sehen.« Er legte sich die Schaufel über die Schulter. »Einwände, Brennan?« Brennan spähte in Richtung Süden, die Augen nachdenklich zusammengekniffen. Das dortige Gewächs war offensichtlich dem Tode geweiht. »Keine Einwände.«
Diesmal verlief ihr Marsch nach Süden schweigsam. Als sie die sterbende Pflanze erreichten, machten sie sich verbissen an die Arbeit, gruben, schichteten die schlaffen Blattbüschel mit ihren ebenso schlaffen Stengeln auf einer Seite auf. Sie gruben bis zu einer Tiefe von ein Meter fünfzig. Es wurde langsam dunkel. Sie gruben dreißig Zentimeter tiefer. Danach aßen sie deprimiert. »Also, ich weiß nicht«, sagte Schroeder schließlich. »Etwas müßte da unten sein – irgendwo.« »Vielleicht, wenn wir weitergraben würden«, meinte DiChiara lahm. »Ganz bestimmt«, sagte Schroeder angeekelt. »Warum holen wir nicht die ganze Siedlung her und graben die ganze Ebene um. Wenn wir nichts finden – könnten wir das Gelände im Herbst immerhin für Anbauzwecke verwenden.« Es war dunkel, als sie den Rückmarsch über die Ebene antraten. Die beiden Monde über ihnen waren golden und grau gegen den dunklen Himmel. In der Ferne konnten sie das schwache Licht von New Powell sehen. Bald darauf sahen sie noch etwas. Vier Meilen vor New Powell wuchs ein völlig neues Blattbüschelgewächs, grün und kraftvoll sproß es aus dem Boden. Vincinzi nahm es gelassen auf, Schroeder ärgerlich, Brennan schweigend. DiChiara wurde hysterisch. Als er wieder still geworden war, sagte Vincinzi: »Wißt ihr, ich glaube, diese Pflanzen begeben sich nach Norden, weil es Sommer wird. Ich glaube, sie wandern.« Brennan nickte, akzeptierte die unvermeidliche Schlußfolgerung. »Ich denke, du könntest recht ha-
ben, Vin.« »Ich glaube, keiner wird uns abnehmen, wie wir den Tag verbracht haben«, seufzte Schroeder. DiChiara stand auf. »Na, ich weiß jedenfalls, wie ich den Rest der Nacht verbringen werde. Im Bett.« Er stolperte in Richtung New Powell davon. Die Nacht verlief nicht ungestört. Seltsame Dinge geschahen oben. Der Erdboden wurde auf unbestimmte Weise erschüttert. Mnarra erzitterte und grub sich tiefer ein, die neuen Wurzelstränge spannten sich. Sie kauerte sich unsicher zusammen. Später glitt sie vorsichtig in die oberen Bodenschichten zurück. Die Störung war vorüber. Eine Zeitlang blieb sie wachsam, bereit sich zurückzuziehen. Schließlich entspannte sie sich und beschwichtigte sich mit den Verschmelzungen der Nacht. Ihre neu gebildeten Blattbüschel fingen milde, silbergoldene Mondstrahlen ein und fütterten sie damit, während sie träumte. Es war Vormittag, als Vincinzi die Kuppel des Leiters der Siedlung betrat. Sie zögerte unsicher vor der Tür zu Brennans Büro. »Ich bin ein wenig bestürzt, Bren. Da ist etwas, das uns letzte Nacht hätte auffallen sollen, als wir zu dem Schluß kamen, daß diese Pflanzen wandern.« Brennan nickte und deutete auf die Papiere, die auf seinem Sekretär lagen. »Ich bin gerade darauf gestoßen.« »Oh?« Überrascht beugte sie sich vor und studierte die Karte, die er in groben Zügen gezeichnet hatte. »Wir können davon ausgehen, daß sie irgendwann morgen nacht am Südende der Viehweide aus dem
Boden schießen, wenn sie ihren Kurs mit derselben Geschwindigkeit beibehalten«, sagte er. »Ob sie knapp innerhalb oder außerhalb des Zaunes zum Vorschein kommen, hängt davon ab, wie genau sie ihre Durchschnittsgeschwindigkeit von zwei Meilen pro Tag einhalten.« »Ja, das stimmt mit meiner Berechnung überein.« »Hast du es jemandem gegenüber erwähnt?« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht einmal gegenüber Schroeder. Wir können das Vieh nicht an das Blattwerk heranlassen. Was meinst du?« »Nein, das können wir nicht«, Brennan pochte gegen den Mikrofilmbetrachter auf dem Sekretär. »Letzte Nacht habe ich die Aufzeichnungen über die Flora noch einmal durchgesehen. Das Erkundungsteam hat nur die am häufigsten vorkommenden Arten einer Untersuchung unterzogen. Diese Art war nicht darunter. Aber die meisten der hiesigen Arten sind giftig.« »Wenn sie nur zu dieser Jahreszeit und nur in vereinzelten Exemplaren auftritt, hat das Erkundungsteam sie vielleicht nicht zu Gesicht bekommen.« Vincinzi runzelte nachdenklich die Stirn. »Wir haben keinen Ort, wo wir das Vieh zumindest zeitweilig unterbringen könnten, oder?« »Wir schmeißen heute noch Bohnen aus dem Kuhstall raus.« Die geschlossenen Viehunterkünfte des vorigen Winters waren demontiert, ihre Bauteile zu einem einzigen, offenen Unterstand auf der Viehweide und zu einem zeitweiligen Lagerschuppen für das erste Getreide umgebaut worden. Brennan lenkte Vincinzis Aufmerksamkeit wieder auf die Karte. »Die Weide ist fünf Meilen lang und wird auf der einen
Seite von den Hängen und auf der anderen Seite von dem Arm der Ebene, der bis an New Powell heranreicht, begrenzt. Die Pflanzen, oder was immer sie sein mögen, müßten zweimal innerhalb des umzäunten Geländes auftauchen.« »Haben wir nicht etwas Reservezaun, mit dem wir das Blattwerk umgeben könnten, wenn es zum Vorschein kommt?« »Den haben wir. Aber wir erheben Anspruch auf dieses Land, Vin. Vorläufig nur auf dieses kleine Stück. Östlich von uns ist ein halber Kontinent und westlich von uns ist noch einer. Ich will, daß dieses Blumenbeet lernt, uns zu umgehen.« Vincinzi lächelte matt angesichts dieser Vorstellung. »Ich glaube nicht, daß unsere Leute jemals ein Blumenbeet dressiert haben, Bren.« »Es ist eine Fertigkeit, die die meisten CityAmerikaner zu entwickeln versäumen«, pflichtete ihr Brennan trocken bei. »Meine Idee ist die. Morgen demontieren wir den Viehunterstand auf der Weide. Gegen Mittag stellen wir an der Stelle, an der wir mit dem Auftauchen der Pflanzen rechnen, eine Wache auf. Sobald sie zum Vorschein kommen, sichern wir sie mit Dachverschalungen von dem Viehunterstand. Das Zeug ist ganz schön hart. Das sollte sie im Zaum halten. Dann spannen wir für ein paar Tage einen Zaun um das Gewächs. Am nächsten Tag postieren wir Wachen auf der gesamten Weide, denn wenn wir erst einmal das Schema durchbrochen haben, ist es unmöglich vorherzusagen, wann und wo neues Blattwerk wieder zum Vorschein kommen wird. Wenn es wieder auftaucht, machen wir die Prozedur noch einmal.«
»Mit anderen Worten, wir ersticken die Pflanzen?« »Ich hoffe, daß es dazu nicht kommt. Meiner Karte nach werden sie die westliche Hälfte der Weide passieren. Ich wäre schon zufrieden, wenn wir sie auf die andere Seite des Zauns drängen und dafür sorgen könnten, daß sie dort bleiben.« Vincinzi hatte Bedenken. »Aber weißt du, es könnte sein, daß diese Art nicht seitlich ausweichen kann. Mir kam der Gedanke, daß es vielleicht eine sehr tiefliegende, sich meilenweit erstreckende Wurzel gibt und Blattwerk und Blumen in Abständen an ihr entlang hochwachsen. Ich nehme an, sie liegt weit tiefer, als wir letzte Nacht gegraben haben.« »Hm. Wenn das der Fall ist, können wir ihr vielleicht beibringen, nicht entlang des Abschnitts aufzutauchen, der innerhalb unseres Landes liegt.« »Vielleicht. Aber das wiche von den Grundsätzen ab, mit denen wir die Pflanze gestern behandelt haben. Da waren wir sehr darauf bedacht, vorsichtig mit ihr umzugehen.« »Da wußten wir auch noch nicht, daß sie durch die Viehweide wandern würde. Ich würde mit keiner der hiesigen Arten, die innerhalb unseres Territoriums auftauchen würde, sachte umgehen.« Vincinzi war noch nicht völlig zufrieden mit dem vorgeschlagenen Plan. Aber sie hatte auch keinen Gegenvorschlag. »Wir werden die anderen über die Pflanzen unterrichten müssen, nicht wahr?« »Ich berufe für heute abend eine Gemeindeversammlung ein.« Es war nie zuvor geschehen. Bei Einbruch der Nacht machte Mnarra halt, zog sich zusammen und erzeugte ein neues
Kabel aus Wurzelsträngen. Die Stränge teilten sich auf und erreichten die richtige Höhe. Dann begann sie frische Blattbüschel auszutreiben. Sie konnte spüren, daß sie nicht so aufgingen, wie sie es hätten tun sollen. Sie konnte spüren, daß sie irgendwie gehemmt wurden. Und obwohl es Rinnsale von Mondlicht hätte geben müssen, waren da keine. Kein einziges. Das war noch nie geschehen. Beunruhigt ließ sie sich nieder und versuchte, ihren nächtlichen Gewohnheiten nachzugehen, die sich über die Jahrhunderte hinweg etabliert hatten. Aber die traumhaften elektrochemischen Verschmelzungen beschwichtigten sie nicht, übten keine beruhigende Wirkung auf sie aus. Etwas war oben nicht in Ordnung, etwas Gravierendes. Schließlich gelang es ihr, sich in einen Zustand des Halbbewußtseins zu versetzen. Sie ruhte sich aus. Plötzlich spürte sie, daß der Erdboden beinahe Mittagswärme erreicht hatte. Sie beeilte sich, zu vollem Bewußtsein zu erwachen und streckte sich, breitete sich zu einer dünnen Schicht aus. Es war wahr. Die Sonne war schon lange aufgegangen. Aber ihre Blätter hatten ihr keine Botschaft des Morgenlichts gesandt. Sie hatten keine Blumen geschaffen, das Fest nicht begangen. Es war nie zuvor geschehen. Sie bewegte sich durch den Boden nach oben, bis sie die oberste Erdschicht erreichte. Sie konnte die Stengel ihrer eigenen Blattbüschel fühlen. Sie waren nicht, wie sie hätten sein sollen. Sie waren durch die Erde nach unten geschoben, zollweit tiefer gedrückt, als normal war. Und sie waren schlaff und kraftlos. Sie wagte sich nicht an die Luft oben, um den Ursachen
nachzugehen. Das wäre regelwidrig gewesen. Stattdessen zog sie sich wieder in die Tiefe zurück, zog sich zu einer kugelförmigen Formation zusammen und dachte nach. Die fehlende Sonnenenergie, die die Blattbüschel ihr hätten zuführen sollen, tat ihr nicht weh. Nicht heute. Ihr Plasma enthielt Bestandteile, die sich ohne besondere Schwierigkeiten in Energie zurückverwandeln ließen. Aber sie war kein Wesen unbeschränkter Substanz. Es gab Grenzen. Sie konnte nur nach oben gleiten und darauf hoffen, daß der morgige Blätterbestand nicht behindert werden würde. Sie würde kein großes Stück Weg zurücklegen, zum einen, weil die Hälfte des Tages bereits verstrichen war, zum anderen, weil sie keine Lust hatte, mit ihrer Energie verschwenderisch umzugehen. Sie würde ein kurzes Stück zurücklegen und sich dann ausruhen. Dann würde sie neue Wurzelstränge und Blätter schaffen. Und so geschah es. Und es ging nicht. Noch ging es den Tag darauf. Endlich erkannte sie, daß sie einen radikalen Schritt würde unternehmen müssen. Sie würde von ihrer Route abweichen müssen. Sie würde ihren festgelegten Meridian verlassen und einen neuen Kurs einschlagen müssen. Es war Frühling, aber Mnarra würde einen, wenn nötig zwei Tage westwärts wandern. Denn sie war dabei, etwas herauszufinden, das sie niemals auch nur geargwöhnt hätte. Die Blattbüschel hatten ihr mehr als nur Energie gegeben. Sie hatten für die Stimulation gesorgt, die für ihr Wohlbefinden, ihren Willen zum Leben, unentbehrlich war. Sie wußte nun etwas, das kein Wesen ihrer Rasse je zuvor gewußt hatte.
»Es hat eine ganze Weile gedauert, aber da vegetiert sie«, sagte DiChiara triumphierend. Es war der Abend, an dem die Blattbüschel ihr eiliges Wachstum am Rande von New Powells Gemeinderasenfläche beendeten. Brennan nickte. Sein Plan hatte funktioniert, obwohl er Bedenken gehabt hatte. Er sah die seltsamen Pflanzen zu seinen Füßen prüfend an. Dieses Gewächs war kleiner als die, die er auf der Ebene gesehen hatte. Aber das Blattwerk machte einen gesunden Eindruck. Er warf einen Blick auf die rundherum versammelten Mitglieder der Gemeinde. Ihr lebhaftes Interesse war nicht zu verkennen. »Und wo blüht sie jetzt?« »Keine Ahnung«, gab Brennan zu. »Vielleicht hält jemand die Nacht über Wache.« »Ha! Ich weiß von zweiunddreißig, die genau das vorhaben.« »Na dann frohe Blumenwache. Ich jedenfalls habe die Absicht, mich aufs Ohr zu legen. Morgen wird uns die Pflanze wieder Kopfschmerzen bereiten.« »Meinst du?« DiChiara war überrascht. »Ja. Sie ist heute fast genau westwärts gewandert«, betonte Brennan. »Wenn sie morgen wieder nach Norden wandert, können wir sie gehen lassen. Aber wenn sie sich westwärts hält, wird sie in den Feldern auftauchen.« »Ah, oh.« DiChiara warf einen Blick in Richtung der Felder. »Aber sie könnte dort nicht viel Schaden anrichten, Bren. Ich meine, dieses Gewächs hier hat einen Durchmesser von weniger als drei Meter fünfzig.« »Die Gewächse auf der Ebene waren wohl eher sie-
ben Meter fünfzig im Durchmesser. Gut möglich, daß es morgen eine größere Fläche bedecken wird, um den Verlust der letzten Tage wettzumachen.« »Wie? Du nimmst Schroeder die Theorie von der seitlich wachsenden, sechs Meter tief liegenden Wurzel ab?« Brennan schüttelte den Kopf. »Bis jetzt habe ich keine Theorie gehört, die ich unterschreiben könnte. Mich beeindruckt nur, daß diese Spezies erstaunliche Anpassungsfähigkeiten zeigt. Teil der Anpassung an die ungewohnten Bedingungen, die wir geschaffen haben, könnte sein, das Wachstum für ein paar Tage zu beschränken – und sich dann gewaltig auszudehnen.« »Hm. Was unternehmen wir also, wenn sie anfängt, den Weizen zu überwuchern?« Brennan schüttelte müde den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich werde das Problem überschlafen.« Und das tat er. Aber kurz nach Tagesanbruch war er wieder wach, seine Neugier stachelte ihn auf. Eine Viertelstunde später brach er zum Standort der Pflanze auf. Er erreichte ihn eine halbe Stunde zu spät. Vincinzi sprach mit leiser Stimme. »Sie erblühte genau bei Sonnenaufgang, Bren. Es war das bewegendste Erlebnis, das ich jemals hatte. Die Blüten kamen aus den Stengeln hervor und entfalteten sich in dem Moment, in dem die Sonne über dem Hügel aufging. Es war wie eine Begrüßung. Eine Begrüßung des neuen Tages.« Brennan blickte in den Kreis der Gesichter. Das von Vincinzi war nicht das einzige, das deutliche Anzeichen von Scheu zeigte. Seine Leute – es waren über zweiunddreißig von ihnen hier – saßen und standen
mit verwirrten Gesichtern da und betrachteten die Pflanze beinahe ehrfurchtsvoll. Die Blütenblätter der Blumen schraubten sich scharlachrot und graziös von tief gelegenen, goldenen Mittelpunkten empor. Frischer Tau perlte auf ihren Blättern. »Vielleicht komme ich morgen dazu, den Vorgang zu beobachten«, sagte Brennan.
3 Mlondas erreichte den Treffpunkt zur festgesetzten Zeit. Flüssig glitt er in die richtige Position. Er wartete. Er wartete den ganzen langen Tag über und sonnte sich in der oberen Bodenschicht. Mnarra kam nicht. Manchmal passierte so etwas. Es gab geringfügige Diskrepanzen in ihren Reisegeschwindigkeiten. Der eine kam vor dem anderen an. Mlondas wartete einen weiteren Tag ab, seine Blattbüschel hungrig der Sonne zugewendet. Er fraß sich voll. Er ließ seine Substanz anwachsen. Dann wartete Mlondas noch einen Tag. Der zeitliche Abstand zwischen ihren Ankünften war noch nie so groß gewesen. Das war niemals vorgekommen. Am vierten Tag tat Mlondas etwas, das er nie zuvor getan hatte. Er wanderte von der Frühlingspaarungszone aus nach Süden. Mnarra war aufgehalten worden. Er mußte zu ihr gelangen, weil er schon bald seine Sommerreise nach Norden antreten mußte. Er mußte die Herbstpaarungszone gleichzeitig mit Mrruka erreichen. Er bewegte sich rasch vorwärts, ohne sich die Zeit zu nehmen, sich in den oberen Schichten zu sonnen. Hinter ihm welkten die wachsartigen, weißen Blumen.
»Da kommt noch eins.« Brennan schaute überrascht von seinen Papieren auf. In der offenen Tür stand Schroeder, seine Miene drückte Unwillen aus. »Es kommt von Norden her, es ist weiß.« Brennan starrte seinen Chefagritechniker an. Er erhob sich schwerfällig. »Wo ist es?« »Vier Meilen außerhalb. Swen und Tilla wanderten gerade zur Kraterzone hinauf. Swen hatte den Schrittzähler. Das hier bewegte sich schnell, Bren. Weitaus schneller als das andere. Das welkende Gewächs liegt fast vier Meilen nördlich des neu gewachsenen.« »Und das dritte Gewächs?« »Sie haben es nicht gefunden. Sie stießen zuerst auf die Kraterzone.« Brennan traf eine rasche Entscheidung. »Ich hole wohl besser den Schweber raus. Lust, mitzukommen?« Schroeder kam mit. Sie stiegen in den Spätnachmittagshimmel auf und fanden Swens Bericht bald bestätigt. Das erste Gewächs, mit frischen Blättern und Blüten, die tatsächlich weiß waren, lag vier Meilen nördlich von New Powell. Das zweite, welkende Gewächs lag vier Meilen nördlich des ersten. Und das dritte, braun und verwelkt, befand sich in der Nähe der Mitte der Kraterzone. Es war schwer von der übrigen Vegetation zu unterscheiden, die jetzt ebenso braun und welk war. »Das verdammte Ding, was immer es sein mag, ist schnell.« Brennan nickte. »Es ist so schnell, daß es in wenigen Stunden schon innerhalb des Weidelandes auf-
tauchen wird, Guy.« Rasch wendete er das Schwebeboot und steuerte in Richtung New Powell. Glücklicherweise war der Viehunterstand auf dem Weideland noch nicht demontiert worden. »Wir müssen rasch eine Wachmannschaft zusammenstellen und sie auf der nördlichen Weide postieren.« Innerhalb einer Stunde war die Wachmannschaft einsatzbereit. Die neue Pflanze traf kurz nach Einbruch der Dämmerung ein, aggressiv bohrte sie ihre mannigfachen grünen Spitzen durch den Boden. Rasch deckten sie sie zu und zäunten sie ein. Dann standen sie darum herum. »Irgendwas Neues von der anderen?« fragte Schroeder. Martens war gerade aus New Powell eingetroffen. »Sie durchbrach den Rasen eine halbe Meile von ihrem letzten Standort entfernt.« »An einer freien Stelle?« fragte Brennan. Vorletzte Nacht hatte die Pflanze versucht, unter dem Fußboden einer der Speicherkuppeln emporzukommen. Das Resultat war eine von einem dreißig Zentimeter hohen Blumenbeet umringte Kuppel gewesen. Am nächsten Abend hatte sich nirgendwo in New Powells und seiner Umgebung Blattwerk gezeigt. »Ja. Sie befindet sich direkt in der Mitte der Wohngebietsrasenfläche. Sie ist wieder klein. Ungefähr vierfünfzig im Durchmesser.« Brennan nickte und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder der Wachmannschaft zu. »Ich will, daß ihr die ganze Nacht hier Wache haltet. Macht Rundgänge entlang der ganzen Weide. Benutzt die Handlampen. Dieses Exemplar zeigt ein gegenüber dem anderen abweichendes Verhalten. Immerhin besteht die Möglichkeit, daß es noch vor morgen an einer an-
deren Stelle wieder auftaucht.« Er und Schroeder kehrten nach New Powell zurück, um den anderen Vegetationsflecken zu begutachten. »Wenigstens hält dieser Job die Gemüter davon ab, darüber nachzugrübeln, was dort draußen vor sich geht«, sagte Schroeder leise und deutete nach hinten. Brennan unterließ es, in Richtung der finster gewordenen Ebene zu blicken. Vor einer Woche war die Vegetation dort am Eingehen gewesen. Jetzt war sie tot. Seine Überzeugung, daß sich das Land bis zum Spätsommer wieder mit einem Pflanzenteppich bedecken würde, begann schmerzhaft zu wanken. »Wir werden ein Schlammbad nehmen müssen, wenn das Zeug vor der Regenzeit nicht wieder nachwächst«, fuhr Schroeder leise fort. »Ich habe Aggregate zur Erosionsbekämpfung aufgestellt. Aber es wird nicht möglich sein, dieses Gebiet unter Kontrolle zu halten. Nicht einmal unsere Hänge und Weiden, wenn sich das restliche Land in eine Schlammpfütze verwandelt.« »Ich weiß«, sagte Brennan ausdruckslos. »Wir können nichts tun als abwarten.« »Und hoffen?« murrte Schroeder. »Hältst du heute nacht Blumenwache?« »Wahrscheinlich«, sagte Brennan. Mutlosigkeit hatte sich seiner bemächtigt. Ihre eigenen Felder blühten und gediehen, aber der Rest der Welt schien zu sterben. Gegen seinen Willen und gegen alle Vernunft fühlte er sich für den Tod, der sich über das Land legte, verantwortlich. Mlondas reagierte mit Jähzorn, als seine Blattbüschel nie-
dergedrückt wurden, als sie den Erdboden durchstießen. Er war tagelang von der Treffpunktzone aus nach Süden gewandert, und er hatte nicht die Absicht, sich am Fortkommen hindern zu lassen. Von nichts und niemandem. Die Tage des Wartens und Sichvollfressens hatten seine Substanz anwachsen lassen. Es hatte keinen Sinn, sie zu schonen, indem er hier, wo er behindert wurde, abwartete. Er bewegte sich vorwärts und trennte die Verbindung zu den Blättern, denen so übel mitgespielt worden war. Er bewegte sich, zu einer dünnen Schicht ausgebreitetet, rasch durch die oberen Bodenschichten und wich dann in die Tiefe aus. Er war auf der Suche. Es dauerte Stunden, bevor er den ersten Hinweis darauf fand, daß Mnarra in der Nähe gewesen war. Spuren ihrer Körperwärme hafteten noch immer dem Boden an. Er entschied sich rasch. Noch nie war er vom Kurs abgewichen. Es war niemals notwendig gewesen, sowenig wie jemals die Notwendigkeit bestanden hatte, sich südlich der Paarungszone zu wagen. Diesmal war es anders. Er folgte Mnarras Spur. Die Einwohner von New Powell umstanden ehrfurchtsvoll das Riesenblattgewächs. Es wallte über das gesamte breite Rasenstück nördlich der Kuppelzone und rauschte in der abendlichen Brise. Brennan, DiChiara, Schroeder und Vincinzi umschritten das Gewächs. »Es ist mindestens doppelt so groß wie die früheren Gewächse«, brummte Schroeder, nachdem sie den Umfang abgemessen hatten. »Und seht euch das an, es ist mehrere Handbreit höher als sonst.« Brennan besah es sich und nickte. Er konnte nur beipflichten. Dieses neue Gewächs lag nur eine halbe
Meile nördlich der Stelle, an der rote Blüten die Sonne heute morgen begrüßt hatten, und mehr als drei Meilen von dem Weideland entfernt, wo sie das andere Blattgewächs vorigen abend zugedeckt hatten. »Bren, glaubst du, daß die Gewächse zusammengetroffen sind und sich vereinigt haben?« fragte Vincinzi. »Das würde die vergrößerte Fläche erklären.« »Ich weiß es nicht.« Brennans Blick wanderte umher. »Aber ich denke, jedermann in New Powell wird heute nacht Blumenwache schieben.« Er hatte seine eigene Decke gestern nacht erstmals auf dem Gras ausgebreitet. Er hatte unruhig geschlafen, war häufig aufgewacht, um sich zu vergewissern, daß er das Auftauchen der Blüten nicht verpaßt hatte. Bei Tagesanbruch war der Himmel dann grau geworden, und er richtete sich auf. Dutzende von Gesichtern glitzerten schweigend in dem trüben Licht. »Laß es dir nicht entgehen, Bren«, sagte Vincinzi sanft, als er den Kopf wandte, um nach dem Stand der Sonne am Osthimmel zu sehen. Er ließ es sich nicht entgehen. Zuerst sah er den scharlachroten Sonnenrand über dem Hügel. Dann drehte er den Kopf, um die scharlachroten Blumen majestätisch aus ihren Blätterthronen emporsteigen zu sehen. Sie schoben sich langsam in die frische Morgenluft empor und entfalteten sich augenblicklich, stolz und hoch aufragend. Es war eine feierliche Begrüßung. Er fühlte es. Eine Begrüßung des Tages. Ehrfurcht erfaßte ihn, drängte Zweifel und Ärger beiseite. Es dauerte viele Minuten, bevor er den Blick von den scharlachroten Blumen abwandte und sich regte. Dies war, wonach er sich sein Leben lang gesehnt hatte. Für diesen flüchtigen
Anblick der Erhabenheit der Schöpfung, der Eintracht der Natur, hatte er die leeren Jahre, die schmerz- und angsterfüllten Jahre erduldet. »Was meinst du, sollen wir heute nacht wieder eine Patrouille auf der Weide aufstellen?« fragte DiChiara. »Heute nacht?« Brennan überlegte widerwillig, nur von dem Wunsch beseelt, seine Decke auszubreiten und sich zu setzen. »Ich glaube, es wäre wohl besser, nur für alle Fälle. Du bist verschiedenmalig bei Sonnenaufgang hier gewesen. Warum leitest du die Patrouille nicht selbst?« »Ich mache es, wenn sonst keiner will.« »Vielleicht kannst du Harder überreden, es zu machen.« Brennan tat die Angelegenheit mit einem Schulterzucken ab. »Bleibst du noch, Vin?« Sie nickte. »Ich will wissen, ob die beiden Gewächse sich wirklich vereinigt haben. Aber ich habe mir selber das Versprechen abgenommen, daß ich höchstens noch einen weiteren Abend bleibe.« Die frühen Abendstunden wurden gesellig verbracht. Gesprächsgruppen bildeten sich, vermengten sich, bildeten sich neu. Erfrischungen wurden herumgereicht. Lieder wurden gesungen, Lieder, die trotz allem die asphaltschwarzen Jahre CityAmerikas überdauert hatten. In den frühen Morgenstunden streckten sich die Siedler auf ihren Decken aus oder zogen sich zu nahe gelegenen Schlafunterkünften zurück. Es wurde still auf dem Rasen. Nur leise Stimmen, bruchstückhafte Unterhaltungen waren zu hören. Brennan legte sich kaum einen Meter vom Rande des Blattwerks entfernt nieder. »Das sollten wir öfter machen.«
Vincinzi rollte sich auf den Bauch. »Bei einem Blumenbeet Wache halten?« »Nein, spontane Zusammenkünfte veranstalten. Ohne Programm, ohne formelle Vereinbarung. Bloß ein allgemeines abendliches Zusammensein.« Vincinzi lächelte. »Das wäre fein. Ich glaube, wir haben noch zu wenige unserer von City-Amerika geprägten Lebensgewohnheiten abgeschüttelt.« »Wir sind jetzt kaum ein Jahr hier.« Einigen der Siedler war die Umstellung leicht gefallen, rasch hatten sie die unpersönliche Fassade abgelegt, die für ein Überleben im Menschengewühl des städtischen Lebens unumgänglich war. Bei anderen – Brennan eingeschlossen – hatte es länger gedauert, bis sie aufgetaut waren. »Weißt du, ich habe mich auf der planetarischen Teilnehmerliste eingetragen, weil ich die Sterne sehen wollte. Und da sind sie.« Seine Augen wanderten über die von winzigen Diamanten durchsetzte Schwärze. Vincinzi lachte. »Ich würde sagen, sie sind seit unserer Landung jede Nacht dort oben gewesen.« »Nun ja, es ist eigentlich das erste Mal – letzte und heute nacht – daß ich lange genug unter meinem Dach hervorgekommen bin, um ihren Anblick zu genießen.« Ein großer Teil seiner Geschäftigkeit, so argwöhnte er, hatte den Zweck gehabt, ihn vor dem Schock zu bewahren, seine gesamten Lebensumstände, sein gesamtes lebenslanges Bezugssystem plötzlich total und auf Dauer verändert vorzufinden. Bald dösten sie ein. Dann wurde der Osthimmel grau, und die Einwohnerschaft von New Powell erwachte. Brennan setzte sich auf und rüttelte Vincinzi an der Schulter.
»Es ist Zeit.« Vincinzi richtete sich auf und schaute umher. »Alle da.« »Noch nicht ganz.« Brennan überblickte die Versammlung. Die meisten saßen weiter hinten. Hinter ihnen standen weitere in ihrem Nachtzeug. Nahe der Schlafunterkünfte drängten sich noch Dutzende in dem Halblicht. »Willst du ein Stück zurückgehen? Wir könnten wahrscheinlich besser sehen.« »Du?« Brennan zuckte die Achseln. »Ich bin es zufrieden hier.« »In Ordnung, ich nehme das Parkett. Aber ich behalte mir das Recht vor, später zurückzugehen.« Ihre Hand kam langsam vor. Legte sich in seine. Seine Schulter schob sich vor. Berührte die ihre. Die Sonne ging auf. Vincinzis Hand faßte die von Brennan fest. »Sie sind verschmolzen.« Die Blumen stiegen langsam und stolz empor. Die Blütenblätter waren gemasert, scharlachrot auf weiß, weiß auf scharlachrot. In stummer Huldigung der Sonne ragten sie auf. Ein gemeinschaftlicher Seufzer der Ehrfurcht kam von den Siedlern. Brennans Herz zog sich zusammen. Wieder der Moment, der Moment, auf den er sein Leben lang gewartet hatte. Der Moment der Eintracht, die Sonne ein scharlachroter Ring, die Blüten hoch aufragend – – und erblühende Erde vor ihm. Erde, die in einer großartigen, dunklen Fontäne aus dem Mittelpunkt des Blumengewächses aufblühte.
Die in einer explosiven Fontäne aufblühte, die Brennan erst zurückwarf und ihn dann mit sich trug. Er hörte einen Schrei. Ob er selbst es war, der geschrien hatte, oder Vincinzi, erfuhr er nie. Sie waren eins miteinander, eins mit den strahlenden Blumen, mit der Erde, in ihrem letzten Moment. Es dauerte viele Tage, bevor die von der Explosion zerstreuten Fragmente von Mnarras unverbrauchtem Plasma sich einen Weg durch Felsgestein, Erdboden und Wasser bahnten, um sich in der Kalksteinhöhlung viele Meilen südlich des neuen Kraters wiederzuvereinigen. Dann war Mnarra wieder ganz, die Frühlingsaussaat vollbracht, dem uralten Ritual Genüge getan. Die Jungen, die sie in Verein mit Mlondas geschaffen hatte, wuchsen grün und üppig in einem Umkreis von Hunderten von Meilen. Sie wucherten, ihre ausgreifenden Wurzeln lockerten dabei den Boden auf. Es hatte also keine Rolle gespielt, daß es dieses Jahr Störungen und Abänderungen gegeben hatte. Selbst während der Nacht vor der herkömmlichen Feier der Paarung, vor der explosiven Ausstreuung ihrer Samen in die Winde über ihnen, hatte sie Unruhe oben gespürt, hatte sie Erschütterungen und Verfestigungen des Bodens wahrgenommen. Vielleicht würde es nie wieder geschehen. Aber sie durfte jetzt nicht verweilen. Weit, weit im Süden hatte Mtunas gewiß seine Frühlingsaussaat mit Mpurta vollendet. Nun würde er nach Norden wandern, zu der Paarungszone, wo er und Mnarra Ende Herbst zusammentreffen würden, um diese Hälfte der ihr anvertrauten Ländereien zu besäen. Mnarra besaß eine Verantwortung. Wenn es ihr mißlang, mit Mtunas zusammenzutreffen, wenn es ihnen mißlang, sich zu paaren und keine Aussaat
stattfand, wäre das Land Regen und Winden schutzlos ausgeliefert. Geschwind stieß Mnarra ein Kabel Wurzelstränge aus. Sie trennten sich auf. Sie trieb große hungrige grüne Blätter aus. Sie fütterten sie. Sie wanderte südwärts. Eine Woche nach der Explosion stand DiChiara im Büro des Leiters der Siedlung, müde und mit Schatten unter den Augen. Er starrte auf die Skizze, auf der Brennan die Route, die die toten Blumen durch das Dorf genommen hatten, eingezeichnet hatte. Sein eigenes blutrotes X markierte die Unglücksstelle – zwanzig ihrer Leute auf der Stelle getötet, unter ihnen Brennan, Leiter der Siedlung, und Agritechnikerin Vincinzi; Dutzende mit zum Teil lebensgefährlichen Verletzungen; zwei Schlafunterkünfte schwer beschädigt. DiChiara hatte es von der Weide aus beobachtet, das Erblühen der fremdartigen Pflanzen bei Morgengrauen und das darauffolgende Erblühen des Landes. Er hatte den donnernden Knall und die Schreie gehört. Aber stundenlang hatte er es nicht glauben wollen. Manchmal glaubte er es heute noch nicht. Er heftete Brennans Skizze in der Nähe des Sekretärs an der Wand fest, damit sie ihn immer an das wirkliche Geschehen gemahnte. Schroeder erschien an der Bürotür. Er wirkte ernst. »Keine Spur von der Pflanze. Ich habe Swen heute morgen fünfzehn Meilen nach Norden und Harder heute nachmittag fünfzehn Meilen nach Süden geschickt. Ich glaube nicht, daß wir diese Blumen erwischen werden, Dick. Nicht jetzt.«
DiChiara schlug frustriert mit der Faust auf die Sekretärplatte. »Du hast die Jungs nach einem Suchschema vorgehen lassen?« »Wie üblich.« DiChiara setzte sich, er schaute finster drein. Er hatte Dutzende von Theorien über die Explosion gehört. Aber DiChiara interessierte sich nicht für Theorien. »Irgendwelche anderen Arten auf dem Weideland aufgetaucht?« »Nein.« Vier Tage nach der Explosion war die zweite Krise über sie hereingebrochen. Tausende heimischer Sämlinge waren plötzlich aus dem Boden geschossen, grüne und zarte Sprößlinge, die rasch wuchsen – überall, auf den Rasenflächen, auf den Feldern, auf dem Weideland. Die Siedler verloren die Hälfte ihres Viehs an die giftigen Sämlinge, bevor ihre betäubten Gemüter die Natur der Krise erfaßten. »Ich glaube, wir haben sie vertilgt, Dick. Parnell brachte eine interessante Theorie vor –« DiChiara schüttelte den Kopf. »Nein. Ich will Fakten, Guy. Irgendwie hat diese Vegetation direkt unter unseren Augen neue Samen gebildet. Das muß geschehen sein, bevor die Pflanzen auf der Ebene verwelkt sind. Also, statt daß unsere Leute theoretisierend auf dem Rasen herumsitzen, will ich, daß Beobachter auf die Ebene geschickt werden. Jeden Tag, Guy. Ich will detaillierte Beobachtungen des Lebenszyklus der heimischen Vegetation, und zwar von Tag zu Tag. Nächstes Jahr will ich im voraus wissen, wann ihr damit rechnet, daß die Pflanzendecke sich neu bildet, damit ich Wachmannschaften auf dem Weideland aufstellen kann. Ich will nicht noch mehr Vieh verlieren, Guy.«
Schroeder nickte. »Ich verstehe. Soll ich die Suche nach den Blumen noch fortsetzen?« DiChiara überlegte. »Nein. Ich akzeptiere deine Schlußfolgerung, daß sie von der Bildfläche verschwunden sind. Aber sie werden wiederkommen, Guy. Nächsten Frühling werden sie wieder auf die Kraterzone zusteuern – darauf könnte ich wetten. Und bei Frühlingsanfang werden wir Wachen aufstellen, die nach ihnen Ausschau halten.« Die Kolonisten würden das nächste Mal auf die heimtückischen Blumen vorbereitet sein. Wenn das Blattwerk zum Vorschein kam, würden sie es ausgraben, niederbrennen, ersticken und ausrotten. Es würde keine weiteren Explosionen geben, weder innerhalb New Powells noch in seiner Umgebung – außer die Siedler machten die Explosionen selbst, um die Pflanzen in Grund und Boden zu bombardieren und ihrer Existenz ein Ende zu bereiten. Aber DiChiara brauchte sein Vorhaben nicht zu erläutern. Schroeder verstand. Ganz New Powell verstand. Wenn die scharlachroten und weißen Blumen das nächste Mal über die Ebene angewandert kamen, würden sie sterben.
Originaltitel: MNARRA MOBILLIS Aus IF, Mai–Juni 1973 Copyright © 1973 by UPD Publishing Corporation