Mirjam-Christina Redeker Wahrnehmung und Glaube
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Mirjam-Christina Redeker Wahrnehmung und Glaube
Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von Friederike Nüssel und Christoph Schwöbel
Band 155
De Gruyter
Mirjam-Christina Redeker
Wahrnehmung und Glaube Zum Verhältnis von Theologie und Ästhetik in gegenwärtiger Zeit
De Gruyter
ISBN 978-3-11-024782-4 e-ISBN 978-3-11-024783-1 ISSN 0563-4288 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Redeker, Mirjam-Christina. Wahrnehmung und Glaube : zum Verhältnis von Theologie und Ästhetik in gegenwärtiger Zeit / Mirjam-Christina Redeker. p. cm. - (Theologische Bibliothek Töpelmann, ISSN 0563-4288 ; Bd. 155) Includes bibliographical references (p. ) and index. ISBN 978-3-11-024782-4 (hard : alk. paper) 1. Aesthetics - Religious aspects - Christianity. 2. Hermeneutics Religious aspects - Christianity. 3. Theology, Doctrinal. I. Title. BR115.A8R43 2010 261.517-dc22 2010044274
Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
” 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Jan
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 2007/08 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der „Friedrich Schiller Universität“ Jena als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde das Manuskript geringfügig überarbeitet. Ein besonders herzlicher Dank gilt meinem Doktorvater und Lehrer Professor Dr. Michael Trowitzsch, der mich unterstützte und mein Forschungsprojekt sehr gefördert hat. Herrn Prof. Martin Leiner danke ich ebenfalls sehr herzlich für die freundliche Übernahme des Zweitgutachtens und die Unterstützung und Kollegialität in der Sozietät. Herrn Professor Oswald Bayer danke ich für die vielfältigen Anregungen durch Lektüre, Vorlesungen und Seminare. Darüber hinaus danke ich ihm für die Gespräche während der Abfassung der Dissertation und seine Empfehlung als ehemaliger Herausgeber dieser Reihe. Ebenso danke ich dem Verlag, insbesondere Frau Sabina Dabrowski, für die wertvollen Hinweise zur Erstellung des druckfertigen Manuskripts. Ich danke meinen Eltern, dem Theologenehepaar Barbara und Werner Wedler und meiner Schwester, die sich parallel zu meinen Studien mit der theologischen Ästhetik Hans Urs von Balthasars beschäftigte, zunächst von ganzem Herzen für die wichtigen Gespräche und vielfältigen Anregungen, die ich immer wieder erhalten habe. Gleichzeitig danke ich ihnen von Herzen für das Korrekturlesen. Ebenfalls danke ich meiner Freundin Jenny Lagaude für ihr ausdauerndes Korrekturlesen und die wertvollen Hinweise. Mein Dank geht ferner an die Konrad-Adenauer-Stiftung für die freundliche Gewährung eines dreijährigen Promotionsstipendiums. Als Stipendiatin hatte ich die Möglichkeit, mich intensiv und konzentriert mit meinem Thema zu beschäftigen und darüber hinaus zu wichtigen gesellschaftlichen, historischen und kulturellen Themen Seminare zu besuchen und mit DoktorandInnen anderer Fachrichtungen in den Austausch zu treten. Ebenfalls danke ich der Friedrich-SchillerUniversität Jena für die Gewährung eines Kurzstipendiums zum Abschluss der Promotion. Für großzügige Druckkostenzuschüsse danke ich der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands sowie der Vereinigten Kirchen- und Klosterkammer Erfurt.
VIII
Vorwort
Ein besonders herzlicher Dank gilt an dieser Stelle aber meinem Mann, der meinen theologischen Denk- und Studienweg von Anfang an in zahlreichen Gesprächen und gemeinsamer Lektüre mit begleitet hat, der diese Arbeit nicht nur durch sein Mitdenken befördert hat, sondern der auch immer wieder unser Leben jenseits des Schreibtisches bereichert hat. Ihm ist dieses Buch in Liebe und Dankbarkeit gewidmet.
Mirjam-Christina Redeker
Januar 2011
Inhalt Einleitung .......................................................................................................
1
A. Theologische Modelle der Verhältnisbestimmung von Theologie und Ästhetik I. 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 II. 1. 1.1 1.2 1.3 1.4
„Das Schöne im Lichte des Wahren“. Offenbarung als Kriterium theologischer Ästhetik ................................................. Eberhard Jüngel – Wahrheit als Kriterium des Schönen ......... „Sein in Herrlichkeit“ als „Ende des Zwielichts“ – Das eschatologische Kriterium als Wahrheitskriterium ........... Metaphorologie . .............................................................................. Anthropomorphismus als Grundproblem neuzeitlicher Hermeneutik ................................................................................... Geistesgegenwart und Sinnlichkeit .............................................. Das ontologische Primat der Möglichkeit vor der Wirklichkeit ...................................................................................... Erfahrung und Glaube ................................................................... Fazit ................................................................................................... Matthias Zeindler – Gott und das Schöne ................................ Zur Methode .................................................................................... Die Doxologie als Ort und Form der Rede von der Schönheit Gottes ............................................................................ Gotteserfahrung .............................................................................. Die Schönheit der Welt als Gleichnis der Schönheit Gottes ... Schönheit der Schöpfung und Sünde .......................................... Fazit ...................................................................................................
33 35 40 43 45
Die Ästhetische Erfahrung des Glaubens. Theologische Ästhetik als Wahrnehmungstheorie ............................................. Gerhard Ebeling – Wirklichkeit wahrnehmen ........................... Hermeneutik und Ästhetik ............................................................ Erfahrungstheologie ....................................................................... Der Lebensbezug religiöser Erfahrung ....................................... Erfahrung als Wahrnehmen der Sprachsituation .......................
49 49 49 51 56 58
11 11 11 18 21 22 24 26 29 32 32
X
1.5 1.6 1.7 1.8 1.8.1 1.8.2 1.9 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 III. 1. 1.1
Inhalt
Der ästhetische Offenbarungsbegriff .......................................... Der Wirklichkeitsbezug des Glaubens ........................................ Gotteswort und Menschenwort ................................................... Die leibliche Dimension des Glaubens ....................................... Das Gebet und seine Gesten ......................................................... Das leibliche Empfangen der sakramentalen Gestalt des Wortes Gottes ................................................................................. Fazit ................................................................................................... Oswald Bayer – „Sinn und Geschmack fürs Endliche“ ........... Integratives Denken ....................................................................... Das schöpferische Wahrnehmen Gottes als Kriterium des geschöpflichen Wahrnehmens ...................................................... Wahrnehmen als bewusstes Sehen ............................................... Die Externität der Anrede (promissio) durch das Leibliche Wort ................................................................................................... Die leibliche Vermittlung – Rede an die Kreatur durch die Kreatur ............................................................................................... Poietologische Theologie ............................................................... Fazit ................................................................................................... Hermann Timm – Zwischen theologischer Ästhetik und ästhetischer Theologie .................................................................... Pneumatologische und inkarnationstheologische Voraussetzungen .............................................................................. Theologische Erfahrungslehre als Einübung in die Wahrnehmungsfähigkeit der Schöpfung ...................................... Geerdete Vernunft als inkarnatorische Vernunft ...................... Lebensgelassenheit ......................................................................... Metapher und Symbol .................................................................... Fazit ................................................................................................... Eilert Herms – „Die Sprache der Bilder und die Kirche des Wortes“ ............................................................................................ Zum Verhältnis von Offenbarung und Erfahrung ................... Wahrnehmen als Aisthesis des Erlebens ..................................... Szenisches Erinnern als Medium der Offenbarung .................. Gebrauchswert als Qualitätskriterium von Kunst ..................... Fazit ...................................................................................................
66 68 72 76 77 79 79 82 82 86 88 91 95 105 106 110 110 112 116 122 124 127 128 129 136 137 143 145
Der Rezeptionsvollzug des Subjekts. Religiöse Erfahrung als Selbstdeutung endlicher Freiheitserfahrung ......................... 149 Wilhelm Gräb – Reflexionssubjektivität als gemeinsamer Konstitutionsort von religiöser und ästhetischer Erfahrung ... 149 Reflexionssubjektivität als Grundlage von Erfahrung .............. 149
Inhalt
1.2 2. 2.1 2.2 3. 3.1 3.2 4. IV.
Religionskultur als Ausdrucksgestalt geglückter Sinndeutungen des Lebens ............................................................ Ulrich Barth – Religiöse und ästhetische Erfahrung ................. Die gemeinsame Wurzel religiöser und ästhetischer Erfahrung in funktionaler Perspektive ........................................ Interdependenzen und Differenzen religiöser und ästhetischer Erfahrung ................................................................... Dietrich Korsch – Kultische Darstellung und kulturelle Selbstdeutung.................................................................................... Die Einheit des Subjekts als Grundlage des Deutungsvorgangs .......................................................................... Darstellung im Kult ........................................................................ Fazit ................................................................................................... Zusammenfassung Teil A ..............................................................
XI
159 163 163 165 173 173 176 179 184
B. Zum Verhältnis von theologischer und ästhetischer Hermeneutik
I. 1. 1.1
1.2 1.3 1.4 2. 2.1 2.2 3. 3.1 3.2 4. 5. 5.1 5.2
Erfahrung als Schlüsselbegriff theologischer und Ästhetischer Hermeneutik ............................................................ „Erfahrung als Kriterium der Theologie“. Theologie – eine Erfahrungswissenschaft ......................................................... Der allgemeine Begriff der Erfahrung ......................................... Exkurs: Grundzüge des Erfahrungsbegriffs in der Philosophie der Neuzeit ................................................................ Das Grundproblem der Erfahrung .............................................. Der spezifische Begriff der Erfahrung ....................................... Ergänzung des Erfahrungsbegriffs .............................................. Erfahrung und Sünde ..................................................................... Bestimmung der Sündenerfahrung .............................................. Der Sünder als creator secundus .................................................. Religiöse Erfahrung und Glaubenserfahrung ............................. Religion und Glaube ....................................................................... Religiöse Erfahrung als potentielle Glaubenserfahrung ........... Der Begriff der Ästhetischen Erfahrung .................................... Zur Möglichkeit einer Strukturanalogie von religiöser und ästhetischer Erfahrung ................................................................... Erfahrungsformen .......................................................................... Wahrnehmung des Atmosphärischen als Grundlage religiöser und ästhetischer Erfahrung ..........................................
191 191 191 193 196 202 207 209 211 215 217 218 227 231 241 241 245
XII
5.3 5.4 5.5 5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.6 5.7 6. 6.1 6.2 II.
Inhalt
Der Widerfahrnischarakter und die Passivität ............................ Der responsorische Charakter der Erfahrung ............................ Person und Subjekt ......................................................................... Reflexionssubjektivität und Person .............................................. Das fragmentarische Subjekt ........................................................ Die Perspektive der Ersten Person als Bindeglied zwischen religiöser und ästhetischer Erfahrung ........................ Transzendenzund Immanenz als Grundproblem der Verhältnisbestimmung ................................................................... Verweilen und Situativität .............................................................. Inhaltliche Überschneidungen ...................................................... Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium als hermeneutisches Prinzip ................................................................ Die Unterscheidung von Erfahrung und Offenbarung als fundamentaltheologisches Prinzip ...............................................
250 251 254 254 260 263 266 269 271 272 276
1. 1.1 1.2 1.3 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 3.
Die Relevanz der Ästhetik für eine theologische Hermeneutik .................................................................................... Endlichkeit der Vernunft ............................................................... Endlichkeit, Dogmatismus und das Recht der Ästhetik ........... Die Eindimensionalität der Vernunft .......................................... Reproduktionshermeneutik und Erfahrungshermeneutik ....... Ausdrucksgestalt .............................................................................. Das Leibliche Wort als Ausdrucksgestalt des Glaubens ......... Die Sprachlichkeit der Sprache ...................................................... Das Bildhafte des Bildes ............................................................... Bildlichkeit der Sprache und Sprachlichkeit der Bilder ........... Fiktionalität ...................................................................................... Deuten oder Verstehen ..................................................................
278 279 279 287 293 301 305 311 313 320 326 331
III. 1. 2. 3.
Auf dem Weg zu einer theologischen Ästhetik .......................... Schönheit als Thema einer theologischen Ästhetik ................... Rezeption als Problem theologischer Ästhetik .......................... Wahrnehmung als Grundbegriff theologischer Ästhetik .........
339 339 345 351
Schlusswort ................................................................................................... Literatur ......................................................................................................... Sachregister ................................................................................................... Personenregister ...........................................................................................
355 365 399 407
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A: Theologische Modelle der Verhältnisbestimmung von Theologie und Ästhetik Theologische Modelle
I. „Das Schöne im Lichte des Wahren“. Offenbarung als Kriterium theologischer Ästhetik Offenbarung als Kriterium theologischer Ästhetik 1. Eberhard Jüngel – Wahrheit als Kriterium des Schönen 1.1 „Sein in Herrlichkeit“ als „Ende des Zwielichts“ – Das eschatologische Kriterium als Wahrheitskriterium E. Jüngels Aufsatz: „Auch das Schöne muß sterben“ (1984) gilt allgemein als dessen bestimmtester und klarster Text zum Verhältnis von Theologie und Ästhetik. Dabei wählt Jüngel als Ausgangspunkt seiner Argumentation den philosophischen Ästhetikbegriff Schillers, welcher Ästhetik als Lehre vom Schönen versteht. Für Schiller gilt Schönheit jedoch als Schein, ja der Schein bildet das Wesen der Kunst. Die Kunst vermag dabei als Erzeugung von Scheingebilden zur Veredlung der menschlichen Bildung beizutragen. Aber da sich Schönheit Schiller zufolge noch nicht als maßgebend durchgesetzt hat, ist der Schein der Kunst nur als Vorschein auf Künftiges zu verstehen. „Was wir als Schönheit hier empfunden, Wird einst als Wahrheit uns entgegengehn.“1 Jüngel bringt analog dazu die eschatologische Grenze im Gespräch von Theologie und Ästhetik zur Geltung.2 Die Ausgangsthese des Aufsatzes behandelt den Zusammenhang von Schönheit und Wahrheit, indem Jüngel konstatiert „daß es das Wahre ist, das, wenn es auf eine bestimmte [...] Weise in die Sinne fällt, schön genannt zu werden verdient“3. Dieses Wahrheitsverständnis im Sinne der Lichtung (als Freiwerden), des Aufleuchtens bzw. Strahlens gewinnt Jüngel im Anschluss an Heidegger.4 Das so beschriebene Schöne ist sich selbst jetzt schon licht und gegenwärtig, und insofern 1 2
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SCHILLER, F., Die Künstler, in: DERS., Sämtliche Werke Erster Band: Gedichte/ Dramen I, hg. v. G. Fricke und H. G. Göpfert, München 81987, 173-187, 175. Vgl. ERNE, P. TH., Lebenskunst. Aneignung ästhetischer Erfahrung. Ein theologischer Beitrag zur Ästhetik im Anschluss an Kierkegaard (Studies in philosophical theology 11), Kampen 1994, 36-39, hier bes. 36. JÜNGEL, E., „Auch das Schöne muß sterben“ – Schönheit im Lichte der Wahrheit. Theologische Bemerkungen zum ästhetischen Verhältnis, in: DERS., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, München 1990, 378-396, 380. Vgl. JÜNGEL, Auch das Schöne, 388. Vgl. HEIDEGGER, M., Der Ursprung des Kunstwerks, in: DERS., GA Bd. 5: Holzwege, hg. v. F.-W. v. Herrmann, Frankfurt a. M. 1977, 1-74, 21ff/ [=25ff].
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verdient es wahr genannt zu werden. „Denn Wahrheit ist, bevor sie zur adaequatio intellectus et rei, also zur Richtigkeit der Erkenntnis herabsinkt, ursprünglich dies: daß das Seiende sich selber gegenwärtig wird.“5 Dieser Zustand des sich selbst gegenwärtigen Seins wird möglich, wenn das Wahre, das in Jesus Christus liegt, einst umfassend erschlossen sein wird. Das uns gegenwärtig noch tief verborgene und zwielichtige Sein wird ohne Schein sein. „Dann werden Wahrheit und Schönheit identisch sein.“6 In diesem Punkt wird die metaphysische Einheit des Schönen und Wahren (in der Tradition wird die Trias durch das Gute vervollständigt) als eschatologische Verheißung in den Blick genommen. In der Schönheit des Kunstwerks manifestiert sich also nur der Vorschein des Wahren. Denn wahr ist eigentlich nur das schöpferische Licht der Offenbarung in Jesus Christus. Im Unterschied zur Wahrheit des Evangeliums ist die Wahrheit im Kunstwerk nicht unmittelbar erschlossen. Außerdem wird von Jüngel die Vergänglichkeit dieses Schönen als Glanz und Schein des Wahren unterstrichen. Es wird demnach streng zwischen der theologischen Wahrheit einerseits und der ästhetischen Schönheit andererseits unterschieden. Dabei wird das wahrnehmbare und augenscheinliche Schöne zum einen als Vorschein der noch ausstehenden, kommenden Wahrheit bewertet, zum anderen aber als Gegensatz zum Glauben, da die Schönheit eine Darstellbarkeit des – dem Glaubensurteil zufolge – noch nicht verwirklichten Heils beansprucht. Insofern relativiert Jüngel „Schönheit“ im doppelten Sinne: zunächst als „Vorschein“, dann aber als „Illusion“. Schönheit wird somit als Bedrohung des Glaubens wahrgenommen, die mit einem immanenten Erlösungsweg in Konkurrenz zum christlichen Erlösungsweg tritt, wie ihn das Evangelium vorzeichnet.7 Diese Argumentation ist durch ein implizites kreuzestheologisches Denken bestimmt, denn Jüngel benennt mit Hinweis auf Deuterojesaja eine Grenze der theologischen Darstellung des Schönen: „Er hatte keine Gestalt noch Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerz und Krankheit. Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichtig erachtet“ (Jes, 52,2f). Die Erinnerung an diese Grenze, daran, dass Jesus Christus am Kreuz 5 6 7
JÜNGEL, aaO, 388. AaO, 395. Vgl. ZINK, M., Theologische Bildhermeneutik. Ein kritischer Entwurf zu Gegenwartskunst und Kirche (Ästhetik – Theologie – Liturgik Bd. 24), Münster u.a. 2003, 69.
Offenbarung als Kriterium theologischer Ästhetik
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keine Gestalt noch Schönheit besaß, wird von Jüngel auch nicht mit einer Ästhetik des Hässlichen relativiert.8 Wenn Jesus Christus die endgültige Offenbarung Gottes ist und er keine Schönheit besitzt, so kann zwischen dem Offenbarsein Gottes und der Schönheit keine Gleichung oder ein positives Verhältnis aufgezeigt werden. Das Schöne ist demzufolge in seiner Profanität und damit Humanität wahrzunehmen.9 „Gerade weil Jesus das Wahre selbst ist, tilgt er nach Jüngel den schönen Schein.“10 Jüngel verweist zutreffend auf das Ästhetikverständnis der Gegenwartskunst, das sich am ehesten als „Ästhetik des Hässlichen“ umschreiben ließe, da diese nur noch im negativen Sinne am Schönheitsbegriff anzuknüpfen vermag. Die dort thematisierte fehlende Ganzheit, die Aufdeckung von Ungeborgenheit und Zerrissenheit11, wird nun von Jüngel dialektisch unter das allgemeine Streben des Kunstschönen nach Antizipation der Wahrheit im schönen Schein subsumiert. Dass Jüngel die Eigenart und das Selbstverständnis gegenwärtiger Kunst in ihrer Abgrenzung gegenüber Religion bzw. spezifischen religiösen Inhalten herausarbeitet, ist nicht nur gerechtfertigt, sondern auch geboten. Es zeigt sich hier jedoch eine scharfe Trennung zwischen Welt (und Religion) im allgemeinen (worunter man dann auch die dem Schönen verpflichtete Kunst zu rechnen hätte) und dem christlichen Kerygma im besonderen. Verdient allein das Wahre, schön genannt zu werden, so kommt das Schöne nicht als eigenständige Größe neben der Wahrheit in den Blick, sondern als der Wahrheit im Sinne des Vorscheins dienende Größe. Das Schöne muss – Jüngels Titel zufolge – also sterben, wenn die Wahrheit zum endgültigen eschatologischen Durchbruch kommt. 8
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Vgl. JÜNGEL, Auch das Schöne, hier bes. 384. 394. Vgl. LEMPP, E., Von der Schönheit. Ein Versuch über die Entmythologisierung des Schönen und die Humanisierung der Sehnsucht, in: NZSTh 39 (1997), 323-329, hier bes. 327.; Vgl. auch NEBEL, G., Das Ereignis des Schönen. Stuttgart 1953, 202f. Vgl. LEMPP, Von der Schönheit, 323, Anm. 1. ROTH, M., Fundamentaltheologie als Schönheitslehre?, in: STOCK, K. / ROTH, M. (Hgg.), Glaube und Schönheit. Beiträge zur theologischen Ästhetik (Beiträge zur Theologie und Religionsphilosophie Bd. 4), Aachen/Mainz 2000, 10-33, 29. Vgl. JÜNGEL, Auch das Schöne, 394. Vgl. JÜNGEL, aaO, 384. Aber auch Jüngel fragt, ob das Ende immer als Ganzes erfahren wird, oder ob es sich dabei vielmehr um ein Postulat handelt. So gilt zwar, dass das Wahre das Ganze sei, jedoch muss dem Ganzen nicht automatisch mehr Wahrheit zugesprochen werden. Vielmehr kann Wahrheit auch fragmentarisch sein. (Vgl. JÜNGEL, E., Die Welt als Möglichkeit und Wirklichkeit. Zum ontologischen Ansatz der Rechtfertigungslehre, in: DERS., Unterwegs zur Sache. Theologische Bemerkungen [BEvTh Bd. 61], München 1972, 206-233, 206.)
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Wahrheit wird somit einstmals ohne den ehemaligen Träger des Vorscheins der Wahrheit ganz und gar dasein. Jüngel möchte demzufolge auf Halbwahrheiten und Teilwahrheiten verzichten, was dazu führt, dass er einen eschatologischen Wahrheitsbegriff entfaltet, der christologisch qualifiziert wird. Von diesem einheitlichen Wahrheitsverständnis aus kann auch das Kunstschöne einer Kritik unterzogen werden. Im Gegensatz zu einer Trennung unterschiedlicher Wahrheitsverständnisse (pluraler Wahrheitsbegriff), die sich gegenseitig Autonomie zugestehen und in neuzeitlich verstandener Toleranz nebeneinander existieren, bezieht Jüngel die Transzendentalien Wahres und Schönes absolut aufeinander. Es ist zunächst bemerkenswert, dass Jüngel zwei Formen ästhetischer Theorie in seiner Definition von Ästhetik verbindet, d.h. sowohl Darstellungsästhetik, welche Kunst unter der Wahrheitsfrage behandelt, als auch Rezeptionsästhetik, welche die Wirkung auf den Wahrnehmenden in Form ästhetischer Erfahrung beschreibt12: Demnach ist unter Ästhetik „diejenige Theorie“ zu verstehen, „die sich mit dem beschäftigt, was wahrgenommen, und zwar genauerhin als schön wahrgenommen wird.“13 Im Unterschied zu dem unten zu beschreibenden ästhetischen Horizont, bei dem entweder ein weiteres Verständnis von Ästhetik im Sinne von Aisthesis, der Lehre von der Wahrnehmung, vorherrscht oder ästhetische Erfahrung als Erfahrung von Kunst näher bestimmt wird, schränkt Jüngel seinen Ästhetikbegriff auf die Lehre vom Schönen, insbesondere des Kunstschönen, ein. Dabei wird dennoch nicht auf den Zusammenhang dieser Wahrnehmung des Schönen (als Form der Rezeption) und der Wahrheit (als Grund des Seins) verzichtet.14 Allerdings herrscht hier ein Wahrnehmungsverständnis vor, das die Wahrnehmung des Schönen mit der Wahrnehmung des Wahren verbindet. Wahrnehmung wird also durch den Wahrheitsbegriff qualifiziert. Dabei fungiert die Wahrheit des christlichen Glaubens, d.h. das
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Vgl. ERNE, Lebenskunst, 36. Vgl. zur Unterscheidung beider Formen der Ästhetik JAUSS, H. R., Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1991, 62: „Der seit langem herrschenden Darstellungsästhetik entgegen, die im Werk den Ort einer objektiv in ihm erscheinenden Wahrheit sah, nahm die neue Rezeptionsästhetik Werk und Wirkung ineins, um die Werke in der geschichtlich fortschreitenden Konkretisation ihres Sinns zu begreifen, der sich in der Konvergenz von Wirkung und Rezeption, vorgegebener Werkstruktur und aneignender Interpretation immer wieder neu konstituiert.“ JÜNGEL, Auch das Schöne, 380. Vgl. ERNE, aaO, 36f.
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christliche Wahrheits- und Wirklichkeitsverständnis, als inhaltlicher Maßstab. Jüngels offenbarungstheologische Prämisse wirkt sich somit auf sein Offenbarungs- und Schöpfungsverständnis aus, das zwar eine revelatio generalis für möglich hält, sie aber de facto zugleich durch die revelatio specialis relativiert, in der das Schöpfungslicht als von Gott ausgehendes und der Kreatur vom Schöpfer gewährtes erkannt wird. Nur der Glaubende kann die Schöpfung als Schöpfung wahrnehmen. Für die allein aus dem Glauben erwachsende Gotteserkenntnis bekräftigt Jüngel entsprechend: „Gotteserkenntnis ist als solche eine auf das Ganze gehende Erkenntnis. Sie kann sich deshalb nicht teilen und schließt jede halbe Wahrheit als Halbwahrheit aus sich aus.“15 Des weiteren wird die Verborgenheit des Wahren mit der Gefallenheit der Schöpfung begründet. So kommt er zu dem Schluss, dass unter den Bedingungen unserer gefallenen Welt, die das wahre Licht durch die Helligkeit der Welt (das grelle Licht der Welt) verbirgt16, die „Erscheinung im Lichte des eigenen Seins“ nur als „schöner Schein, als Erscheinung des Schönen“, begegnet. Selbstverständlich erkennt Jüngel dem Kunstwerk im „schönen Schein“, der im Unterschied zum abwertenden „bloßen Schein“ zu verstehen ist, einen Anteil an der Wahrheit des Schöpfungslichts sowie an der Wahrheitsfindung des Ganzen zu.17 Allerdings weist sowohl dieses ursprüngliche göttliche Licht sowie das dem Kreatürlichen eigene Licht eine Verborgenheit in dieser Welt auf, die nur durch das lichtende Wort des Evangeliums aufzudecken ist. Jüngel argumentiert hier eschatologisch von der Verheißung der kommenden und noch ausstehenden Wahrheit her, die im Unterschied zum schönen Kunstwerk durch unmittelbare Wahrheit in Eindeutigkeit ausgezeichnet ist. Auch für Jüngel setzt sich im Anschluss an Schiller und Heidegger in der Erscheinung des Schönen Wahrheit durch18, da „das Schöne zielgerichteter Vorschein und insofern Angeld auf Wahrheit ist“19. Das unmittelbare Wahr-Nehmen der Wahrheit steht jedoch noch
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Vgl. JÜNGEL, E., Das Dilemma der natürlichen Theologie und die Wahrheit ihres Problems. Überlegungen für ein Gespräch mit Wolfhart Pannenberg, in: DERS., Entsprechungen. Gott, Wahrheit, Mensch. Theologische Erörterungen II, Tübingen 32002, 158-177, 171. Vgl. JÜNGEL, Auch das Schöne, 390f. Vgl. auch JÜNGEL, aaO, 391. Vgl. ebenso aaO, 383: „Das Schöne ist [...] ein signum efficax: ein den Schein des Ganzen erzeugendes Zeichen. Wir wollen das so Bewirkte mit der idealistischen Tradition den schönen Schein nennen.“ Vgl. JÜNGEL, Auch das Schöne, 388. AaO, 392.
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aus.20 Im Licht des auferstandenen Gekreuzigten begegnet nun aber das Ursprungslicht der Offenbarung in Herrlichkeit, das zugleich auf die Herrlichkeit des Vaters verweist. Jüngel redet vom Licht der Offenbarung, unter dessen Eindruck die Zeugnisse des Neuen Testaments verfasst worden sind21 und welches durch diese Texte hindurch erfahren werden kann. In theologischen Entwürfen neueren Datums, die sich in expliziter oder impliziter Form der hermeneutischen Theologie verpflichtet fühlen, begegnen zunächst eine Fülle von Ansätzen, in denen durchgängig eine wahrheitsästhetische Auffassung von Kunst vorherrscht (vgl. Jüngel, Leuenberger, Grözinger, Bahr, Schwebel22). Dabei steht insbesondere das Bilderverbot im Zentrum der Argumentation dieser wahrheitsbezogenen Ästhetik, da durch das Bilderverbot als Ausdruck der Wahrheit der christlichen Kritik der Wahrheitsanspruch von Kunst überprüft werden soll.23 20
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Vgl. ebenso DALFERTH, I. U., Kombinatorische Theologie. Probleme theologischer Rationalität (QD 130), Freiburg i. Br. u.a. 1991, 156f. Es „müßte, um die Möglichkeit von Wahrnehmung zu wahren, die Wahrnehmung Gottes als Wahrnehmung Jesu Christi präzisiert werden und mit der Tradition zwischen der eschatologischen Kommunikation Jesu Christi mit uns im Glauben, die jetzt schon statt hat, und der eschatologischen Wahrnehmung Jesu Christi am Ende der Zeiten unterschieden werden, so daß die visio ihre spezifische Funktion behielte. Es gälte dann zwar weiterhin, daß es Glaubenserkenntnis grundsätzlich nur in Situationen der Kopräsenz Jesu Christi mit uns gibt. Aber während diese sich jetzt nur im Modus indirekt vermittelter Kommunikation zwischen Anwesenden vollzieht, die kommunizieren und interagieren, ohne sich wahrzunehmen, würde sie dann auch im Modus direkter Wahrnehmung stattfinden.“ (157). Vgl. JÜNGEL, Auch das Schöne, 395. Wobei Schwebel von einem pluralen Wahrheitsbegriff ausgeht und demzufolge Jüngel gegenüber Kritik dahingehend äußert, dass er keine Kombination von Wahrheit des Evangeliums und Kunst vornehmen kann. Vgl. SCHWEBEL, H., Wahrheit der Kunst – Wahrheit des Evangeliums. Einer Anregung Eberhard Jüngels folgend und widersprechend, in: MERTIN, A./ SCHWEBEL, H. (Hgg.), Kirche und moderne Kunst. Eine aktuelle Dokumentation, Frankfurt a. M. 1988, 135-145; Vgl. auch SCHWEBEL, H., Die Kunst und das Christentum. Geschichte eines Konflikts, München 2002. Vgl. ERNE, Lebenskunst, 31. Vgl. auch MERTIN, A., Der allgemeine und der besondere Ikonoklasmus. Bilderstreit als Paradigma christlicher Kunsterfahrung, in: MERTIN, A./ SCHWEBEL, H. (Hgg.), Kirche und moderne Kunst. Eine aktuelle Dokumentation, Frankfurt am Main 1988, 146-168, 164, der betont: „Das Paradigma christlicher Kunsterfahrung ist der Bilderstreit“, was als Ausdruck einer solchen Differenztheorie Jüngels zu verstehen ist. Vgl. aber auch LÜTHI, K., Tendenzen zeitgenössischer Kunst – eine Kunst des Bilderverbotes?, in: MÜLLER, W. E. / HEUMANN, J. (Hgg.), Kunst-Positionen. Kunst als Thema gegenwärtiger evangelischer und katholischer Theologie, Stuttgart u.a. 1998, 56-68, bes. 66. Vgl. ebenso BEYER, A., Künstler ohne Hände – Fastenzeit der Augen? Ein Beitrag zur Ikonologie des
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Mit Markus Zink ist Jüngels Position als eine „Differenztheorie“ zu beurteilen. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass sie das (schöne) Kunstwerk zwar für theologisch relevant hält, aber ausschließlich in Form des „Gesetzes“. Als „religiös“ bzw. spezifisch „christlich“ gerät es sofort unter Illusions- und Ideologieverdacht. Damit gehört die Kunst und das Schöne im Allgemeinen nach diesem Modell zur Kategorie der „Welt“. Da die Welt aber für sich betrachtet nicht Gegenstand von Theologie oder Glauben sein kann, wird die Geltung dieser Größen auch entsprechend eingeschränkt. Nur in einer Verhältnisbestimmung von Gott und Welt kann auch das Verhältnis zu Kunst und dem Schönen erörtert werden, wobei der Bruch und die Differenz hervorgehoben werden, da sich Welt nicht von sich aus auf Gott beziehen kann. In dieser Theorie wird positiv der Anspruch erhoben, der Kunst erst eigentlich zu ihrer Autonomie und Weltlichkeit zu verhelfen, indem sie davon befreit wird, eigene Heilsansprüche verwirklichen zu müssen. Alle Bezüge, welche die Kunst selbst darüber hinaus vertreten könnte, werden damit irrelevant. Zusammenfassend sind drei Differenzkriterien zu nennen, die als Hauptargumente in der Unterscheidung aufzufassen sind: zum einen wird eine systematische Trennung des Wahrheitsgehalts vonKunst und christlichem Glauben vertreten, zum anderen fungiert das Bilderverbot als sowohl ästhetisches wie theologisches Kriterium, des weiteren wird das Verhältnis von „Wort“ und „Bild“ zugunsten des Wortes entschieden, d.h., das Bild besitzt gegenüber dem Wort eine bloß untergeordnete Funktion.24 Dieser Ver-
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Unsichtbaren, in: STÖHR, J. (Hg.), Ästhetische Erfahrung heute, Köln 1996, 340-359. Vgl. zur Kritik an der im Namen der Postmoderne begegnenden Ikonologie STÖHR, J., ‚Das Geistige in der Kunst’ oder wo die Zeitgeister sich scheiden. Zum Bewußtsein historischer Distanz: Wie ein nachmodernes ‚creative misreading’ auf die ästhetische Erfahrung des Modernismus zurückwirkt, in: DERS. (Hg.), Ästhetische Erfahrung heute, 308-339, 321ff: Stöhr traut der neuen Ikonologie nicht zu, dass Heterogene der Moderne zur Geltung zu bringen, da ein mystisches Denken immer auf Einheit aus ist (vgl. aaO, 323). „Die Ikonologen der Unsichtbarkeit fliehen ‚in die falsche Burg’ eines ‚Geistigen in der Kunst’ statt zur ‚Geistesgegenwart der Ikonologie’ (Andreas Beyer) und zur Erforschung der Sichtbarkeit zurückzukehren.“ (327) Für den Bezug zur religiösen Erfahrung zieht er dann die Schlussfolgerung, dass eine „Sakralisierung“ bzw. „Respiritualisierung“ der gegenstandslosen Kunst gegen ihren Verlust an Bedeutung gerade die sakrale und spirituelle Erfahrung suspendiere (vgl. aaO, 328). Vgl. ZINK, Bildhermeneutik, 413ff. Im Anschluss an die dialektische Theologie K. Barths argumentieren ähnlich Kurt Marti, Kurt Lüthi (vgl. z.B. LÜTHI, K., Mut zum fraglichen Sein. Wege eines Theologen zu zeitgenössischer Kunst und Literatur [Hora-Studien Bd. 6], Wien 1996), Hans-Eckehard Bahr, Andreas Mertin, Albrecht Grözinger, Wolfgang Erich Müller sowie auf kunstphilosophischer Seite Gottfried Boehm.
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hältnisbestimmung von Wort und Bild wendet sich Jüngel in seiner Metaphorologie zu. 1.2 Metaphorologie Jüngels Interesse an der ästhetischen Fragestellung erschöpft sich nicht in der oben erläuterten Beschäftigung mit der Kunst als Schein, sondern es wird gleichsam vertieft durch seine hermeneutisch-ästhetische Untersuchung der Sprache, insbesondere der Metapher und des Gleichnisses als Sprachformen, die uns im biblischen Sprachgebrauch begegnen.25 Dabei ist vorausgesetzt, dass Wirklichkeit sowie Erfahrung von Wirklichkeit immer sprachlich verfasst sind. Jüngel betont als Kriterium eines geglückten Metapherngebrauchs, dass dieser sowohl für denjenigen, der die Metaphern bildet bzw. sich ihrer bedient, als auch für den, der Metaphern hört, eine „entdeckende Sprache“ darstellt, die zugleich zum Wahr-Nehmen drängt.26 Jüngels Rede von „Gottes Zur-Sprache-Kommen“, welche seine narrative27, poetische und von der metaphorisch verstandenen Gleichnisrede Jesu aus konzipierte Theologie strukturiert, ist von Fuchs’ Verständnis des „Sprachereignisses“ beeinflusst28, in dem sich das Reich Gottes selbst ereignet. Der Begriff des Wortes Gottes deutet hin „auf das Sprachliche der Sprache, nämlich das Ereignis des Ansprechens und Angesprochenwerdens.“29 Für Jüngel wie für Fuchs kommt Gott insbesondere in der Gleichnissprache selbst zur Sprache, womit nicht Gott 25
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Vgl. auch RICOEUR, P., Stellung unf Funktion der Metapher in der biblischen Sprache, in: DERS./ JÜNGEL, E., Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache (EvTh.S), München 1974, 45-70. Vgl. JÜNGEL, E., Metaphorische Wahrheit. Erwägungen zur theologischen Relevanz der Metapher als Beitrag zur Hermeneutik einer narrativen Theologie, in: DERS., Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen II, Tübingen 32002, 103-157, 131.155. Vgl. dazu auch SCHNEIDER-FLUME, G., Dogmatik erzählen. Ein Plädoyer für biblische Theologie, in: NZSTh 45 (2003), 137-148, 138: „Dietrich Ritschl und Eberhard Jüngel verwiesen die Dogmatik an das Erzählen um der Erfahrung willen. Narrative Theologie ist in der narrativen Struktur der Geschichte Gottes begründet, die so erzählt werden kann und so erzählt werden muss, dass sie Menschen als ihre je eigene Geschichte erzählt wird und dass Menschen in sie geradezu hineinerzählt werden.“ Vgl. auch FUCHS, E., Marburger Hermeneutik (HUTh 9), Tübingen 1968, 2; „’Gott kommt zur Sprache’“ (aaO, 19); „Wahrheitsfindung durch Erzählung“ (aaO, 30). Vgl. JÜNGEL, E., Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 61992, bes. XVIIf. und § 19 „Die Menschlichkeit Gottes als zu erzählende Geschichte“, 409-430. JÜNGEL, Geheimnis, aaO, 215.
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und Wirklichkeit einfach identifiziert werden, sondern Gott sich wirklich in der menschlichen Zeit und Sprache offenbart und begegnet.30 Hier deutet sich schon eine Nähe zum ästhetischen Gleichnisverständnis an. Kann man dies als hermeneutisches Gleichnisverständnis bezeichnen31, so sind die Übergänge hin zu einer ästhetischen Gleichnisdeutung fließend. Entscheidend ist Jüngels Ablehnung eines tertium comparationis zwischen Sache und Bild. Denn mit dem Bild selbst stellt sich die Sache ein. Der Bezug zur religiösen Erfahrung des Glaubens wird durch die Identifikationsmöglichkeit des Glaubenden mit den Handlungsträgern des Gleichnisses ermöglicht. Als sprachlicher Grundzug der Gleichnisrede kann der Anthropomorphismus angesehen werden, der das alttestamentliche und neutestamentliche Gottesbild gleichermaßen bestimmt. Die den Gleichnissen zugrundeliegende Bildlichkeit ist die der Metapher, welche als „Poiesis“ Wirklichkeit schafft.32 Dabei stellt das Wort vom Tode Gottes für Jüngel die Grundmetapher dar, die er als „Meta-metapher“, d.h. als Mehr als Metapher bezeichnet. Gottes zur Sprache-Kommen, Gottes eigene Selbstmetapher, wird als „mehr als notwendig“ bestimmt.33 Das Kreuz ist somit als Kriterium für jede Bildung von Metaphern anzusehen.34 Als Grundmetapher ist dabei jedoch immer die Identifikation des Gekreuzigten mit dem Auferstandenen gemeint.35 Jüngel entwickelt sein Gleichnisverständnis, indem er davon ausgeht, dass Jesus Christus, der Sohn, das personale Gleichnis Gottes, des Vaters, ist. Insofern ist seine Konzeption offenbarungstheologisch, trinitarisch und zugleich christologisch begründet. Jedoch erweitert Jüngel diesen deduktiven Ansatz durch hermeneutische Einsichten, die er in Auseinandersetzung mit Bultmanns existentialer Interpretation gewinnt, so dass sowohl hermeneutische Theologie als auch neuzeitlich gebotene Erfahrungstheologie fruchtbar gemacht werden. Die eigentliche Grundlage seiner Metaphorologie bildet für Jüngel die Analogielehre. Im Hintergrund steht die Annahme, dass Gottes 30 31 32
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34 35
Vgl. FUCHS, Marburger Hermeneutik, 2. Vgl. THEISSEN, G. / MERZ, A., Der historische Jesus, Göttingen 21997, 289. Vgl. JÜNGEL, E., Paulus und Jesus. Eine Untersuchung zur Präzisierung der Frage nach dem Ursprung der Christologie (HUTh 2), Tübingen 72004 , 87-174, bes. 135142.173f. Vgl. STOELLGER, P., Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont (HUTh 39), Tübingen 2000, 435ff, hier bes. 436.448.453. Vgl. JÜNGEL, Metaphorische Wahrheit, 151. Vgl. aaO, 152.
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Sprache und menschliche Sprache ursprünglich voneinander geschieden sind und sich Gott zuerst auf diese Welt bezieht, also zur Welt kommt bzw. Mensch wird. Damit unterstreicht Jüngel die Differenz von Gott und Welt. Und aus dieser grundlegenden ontologischen Differenz schließt er, dass für das angemessene Reden von Gott weder eine Attributionsanalogie noch eine analogia entis hilfreich sind. Die einzig mögliche analoge Rede von Gott ist die des Evangeliums. Im Evangelium aber, vor allem in den Gleichnissen, begegnet die Form der Verhältnisanalogie, die Jüngel auch als ‚Analogie des Advent’ bezeichnet.36 Für dieses Analogieverständnis ist nun wiederum das Verständnis Jesu als Gleichnis Gottes grundlegend, aus welchem Jesu eigene Gleichnisrede abgeleitet ist. Denn mit dem Modell der Verhältnisanalogie ist nur etwas über den Inhalt der Sprache des Evangeliums ausgesagt, aber noch nichts über deren Ereignischarakter. Die entscheidende Frage ist hier also noch nicht beantwortet, nämlich die Frage, „was die Analogie zur Analogie des Glaubens (analogia fidei) macht.“37 Die Antwort auf diese Frage liefert die theologische Kategorie der Offenbarung, welcher auf menschlicher Seite der Glaube entspricht. Wenn Gott sich nicht in menschlicher Sprache offenbart hätte, dann könnten wir ihn gar nicht als Redenden denken, da allein schon die Aussage „Gott hat geredet“ eine anthropomorphe Aussage ist. Ohne die Rede von Offenbarung als sprachlichem Ereignis ist das Reden von Gott belanglos. „In diesem Ereignis und als dieses vollzieht sich die Analogie des Glaubens, in der nicht etwa menschliche Worte Gott zu nahe treten, sondern Gott als Wort in menschlichen Worten Menschen nahe kommt.“38 Jüngel will die Berechtigung der Metapher retten, indem er sie ontologisch durch die Metapher des Absoluten begründet, die als ‚mehr als notwendig’ verstanden wird.39 Die Ableitung einer theologischen Metaphorologie aus der Offenbarung in Jesus Christus wird besonders deutlich, wenn Jüngel die Meta-Ebene des christlichen Glaubens beschreibt: „Weil der christliche Glaube von Gott zu reden hat, wenn er die Wahrheit sagen will, deshalb muß er mehr sagen, als die Wirklichkeit der Welt zu sagen vermag.“40 Jüngels Metaphorologie kann man demnach als eine dezidiert theologische Ästhetik beschreiben, die sich in
36 37 38 39 40
Vgl. dazu auch STOELLGER, Metapher und Lebenswelt, 462ff. JÜNGEL, Geheimnis, 384. AaO, 393. Vgl. STOELLGER, Metapher und Lebenswelt, 478, Anm. 111. JÜNGEL, Metaphorische Wahrheit, 104 [Hervorhebung M. R.].
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seiner hermeneutisch-ästhetischen Auslegung der Gleichnisse zeigt, in denen Gott selbst als konkret wahrnehmbar zur Sprache kommt. 1.3 Anthropomorphismus als Grundproblem neuzeitlicher Hermeneutik Wenn der Anthropomorphismus41 unter einem gewissen Ideologieverdacht stand und noch steht, weil einerseits die Differenz zwischen Gott und Mensch nicht explizit ausgesagt wird und andererseits von menschlichen Eigenschaften nicht auf göttliche Eigenschaften geschlossen werden kann, so ist dieses Missverständnis leicht aus dem Wege zu räumen. Denn wie Metapher und Gleichnis, so ist auch der Anthropomorphismus analoge Rede von Gott. Der Anthropomorphismus ist die unverzichtbare Grundlage jeglicher belangvollen Rede von Gott, da man ohne diese Art der Rede die Beziehung zwischen Gott und Mensch gar nicht zur Sprache bringen könnte. Freilich gewinnen die anthropomorphen Aussagen über Gott nur ihre spezifische Bedeutung durch die Relationen, die in ihnen ausgesagt werden. Deshalb gilt auch für den Anthropomorphismus, dass er nur eine Verhältnisanalogie zur Sprache bringt, keine Attributionsanalogie oder analogia entis. Aber indem er die theologische Notwendigkeit dieser analogen Redeweise aufzeigt, geht es ihm um die Gestalt und den Formcharakter der biblischen Sprache. Theologische Sprache würde ohne den Rückgang auf die Sprache des Glaubens ihren Gegenstand verfehlen. Auf die spezifische Sprache der Bibel kann man also in keinem Fall verzichten. Indem Jüngel sich dem relationalen Charakter anthropomorpher Rede widmet, untersucht er das Wesen der Sprache. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass nicht nur religiöse Rede die Eigenart besitzt, anthropomorph verfasst zu sein, sondern die Sprache im allgemeinen einen Bezug zum Menschen und damit einen „anthropomorphen Grundzug“ besitzt.42 Jüngel weist darauf hin, dass der Mensch alles, wovon er redet, „secundum recipientem hominem“ zur Sprache bringt. Diese Anpassung an das menschliche Fassungsvermögen gilt auch für das Wort Gottes. Sie ist nun aber nicht als Mangel zu beschreiben, sondern steht für den wirklichen Anredecharakter des göttlichen Wortes, dem der Mensch als Angesprochener zu entsprechen vermag.43
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42 43
Vgl. JÜNGEL, E., Anthropomorphismus als Grundproblem neuzeitlicher Hermenneutik, in: DERS., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens, Theologische Erörterungen III (BEvTh Bd. 107), München 1990, 110-131. Vgl. JÜNGEL, Anthropomorphismus, 128f. Vgl. aaO, 130.
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Gottes Zur-Sprache-Kommen, wie es uns in den biblischen Texten bezeugt ist und in besonderer und vollkommener Gestalt in der Geschichte Jesu Christi begegnet, ist nichts anderes als die Menschwerdung Gottes in der Geschichte.44 Dieses Geschehen stellt demzufolge für Jüngel den „bedeutungsvollsten Anthropomorphismus“45 dar. So findet die Menschwerdung Gottes ihren Ausdruck in der ganz und gar menschlichen Rede der Bibel, die im Wort zugleich die Erfahrung von Anwesenheit und Abwesenheit vereint. Darin entspricht sie der Erfahrung des einerseits entzogenen, andererseits aber im Geist gegenwärtigen Auferstandenen. Man kann also zusammenfassend sagen, dass Jüngel mit den Untersuchungen zur anthropomorphen Redeweise der biblischen Texte sowie der Sprache des Glaubens, die selbst die theologische Begriffssprache beeinflusst, einen wichtigen Beitrag zur Beschreibung von Gestalt und Form der Sprache geleistet hat. 1.4 Geistesgegenwart und Sinnlichkeit Wenn wir noch einmal der Frage nachgehen, was die Analogie der Rede des Evangeliums zur Analogie des Glaubens macht, dann ist die Kategorie der Offenbarung zwar für die theologische Reflexion ein hinreichendes Kriterium, jedoch führt die Rede von der Offenbarung im weiteren Nachdenken zu der Frage, wie sich Offenbarung überhaupt vermitteln kann. Um diese Frage zu beantworten, verweist Jüngel auf das Phänomen der Geistesgegenwart: „Geistesgegenwart ist das ursprünglichste Vermögen des Ich, durch Übertreffen des mit dem Jetztsein identischen Hierseins völlig präsent zu sein.“46 Wenn Jüngel von völliger Präsenz spricht, dann meint er die Einheit von Leib und Geist. Diese Einheit schließt auch die Sinnlichkeit des Menschen mit ein. Aber die Sinnlichkeit ist nicht eine für die Geistesgegenwart zu vernachlässigende Größe. „Geistesgegenwart ist gerade auf Sinnlichkeit angewiesen. In seiner Sinnlichkeit, als Leib, ist das Ich jetzt hier, während es als Geist diese seine sinnliche Anwesenheit durch Entfernung in die Vergangenheit und Zukunft einholt und zur Gegenwart qualifiziert.“47 Der Gedanke der Geistesgegenwart findet sich bei Jüngel im Kontext der Erfahrung des anredenden Wortes, die sowohl die Erfahrung
44 45 46 47
Vgl. ebd. Vgl. ebd. JÜNGEL, Geheimnis, 234. Ebd.
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von Entfernung als auch Gegenwart einschließt. Das Wort, welches in oben beschriebenem Sinne den Hörer über sich selbst hinausbringt und von sich selbst entfernt, vermag dies nur in Bezogenheit auf dessen Leiblichkeit, da es gerade der ganze Mensch ist, der zur Gegenwart und Annahme seiner leiblichen Verfasstheit qualifiziert werden soll. Das Wort des Evangeliums erfasst also gerade nicht nur den Geist, sondern indem das Ich seiner Sinnlichkeit als Erfahrung der Anwesenheit inne wird, vermag erst das Ich als Geist die Beziehung zwischen Leiblichkeit, Zukunft und Vergangenheit in der Gegenwartserfahrung herzustellen. Somit findet sich in der leiblich vermittelten Geistesgegenwart eine wesentliche Form der unmittelbaren Wahrheitserfahrung, die Jüngel im Unterschied zur Satzwahrheit als Sich-Selbst-Gegenwärtigsein des Seienden umschreibt.48 Damit wird – wohl im Anschluss an Kierkegaard49 – die Leibgebundenheit des Geistes unterstrichen, wobei es Jüngel um eine dialektische Bezogenheit von Geist und Leib geht. Der Geist hat nur insofern einen Vorrang vor dem Leib, als er – zwar in Gebundenheit an den Leib – die Beziehungen beider steuert.50 In diesen Überlegungen begegnet uns eine wahrnehmungstheoretische Beschreibung und Lokalisation der Sprache, die Jüngel – wie oben gezeigt wurde – im ursprünglichen und eigentlichen Sinne für metaphorisch verfasst hält. Dass diese Erfahrung der Anrede nun aber nicht abstrakt, sondern unmittelbar leiblich vermittelt ist, verdient besonders hervorgehoben zu werden.51 Insbesondere diese Nähe zu einer das Leibliche berücksichtigenden Wahrnehmungstheorie des Glaubens ist im Grunde einem weiten Begriff von Ästhetik verpflichtet, so dass bei Jüngel von einem zweifach bestimmten Verständnis der ästhetischen 48
49 50
51
Vgl. JÜNGEL, Auch das Schöne, 388. Vgl. zum ganzen Menschen bzw. zum ‚totus homo’ auch JÜNGEL, Der Gott entsprechende Mensch. Bemerkungen zur Gottebenbildlichkeit des Menschen als Grundfigur theologischer Anthropologie, in: DERS., Entsprechungen, 290-317, 292. Vgl. KIERKEGAARD, S., Der Begriff Angst, in: DERS., Gesammelte Werke, hg. v. E. Hirsch und H. Gerdes, 11. und 12. Abteilung, Gütersloh 31991, 1-169. Vgl. dazu auch die Überlegungen zur Rezeptionsästhetik. Vgl. FISCHER, H., Art. Rezeption II. Systematisch-theologisch, in: TRE 29, Berlin/ New York 1998, 143-149 sowie den Artikel eines theologischen Vertreters der Rezeptionsästhetik ERNE, P. TH., Art. Rezeption III. Praktisch-theologisch, in: TRE 29, aaO, 149-155. Erne betont darin auch für den Bereich der Praktischen Theologie, dass der Gedanke der Rezeption die Konstruktivität der Erfahrung unterstreiche, wobei sich diese nach christlichem Verständnis aus einer menschlichen Selbsttätigkeit und einer Abhängigkeit im Gottesgedanken zusammensetze (vgl. aaO, 153). Leider führt Jüngel diesen Gedankengang nicht aus, gibt allerdings Anregung zum Weiterdenken.
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Erfahrung – als Erfahrung des Schönen und als Form der Wahrnehmung – gesprochen werden kann. Hieran ließen sich Überlegungen zur strukturellen Analogie zwischen ästhetischer und religiöser Erfahrung anschließen, die über einen leiblichen Wahrnehmungsbegriff zu vermitteln wären. 1.5 Das ontologische Primat der Möglichkeit vor der Wirklichkeit52 Mit seinen fundamentaltheologischen Überlegungen gibt Jüngel für eine theologische Ästhetik und darüber hinaus wichtige Kriterien an die Hand, die von ihm auf die Gleichnisrede bezogen werden. Im Unterschied zur aristotelischen Metaphysik und der darauf basierenden gesamten abendländischen Metaphysik, die der Wirklichkeit immer den ontologischen Vorrang vor der Möglichkeit gab, möchte Jüngel das ontologische Primat der Möglichkeit begründen, indem er das gegenteilige, sich auch in der Theologiegeschichte widerspiegelnde Postulat destruiert. Jüngel geht vom Wirklichkeitsverständnis der Tradition aus, um dessen Einseitigkeit mit der Kategorie der Möglichkeit zu überwinden. Für eine theologische Anthropologie hieße das Jüngel zufolge, „daß der Mensch als Angesprochener gegenüber der Wirklichkeit dessen, was er als Aussagender verarbeitet, Möglichkeiten eingeräumt bekommt, die sich gar nicht verarbeiten, sondern nur genießen lassen. [...] Möglichkeiten, die man, statt zu verarbeiten, nur genießen kann, werden nicht alt, werden nicht verbraucht, wenn sie andauern; und sie sind erfüllt, wenn sie vergehen.“53 Die Notwendigkeit zur Destruktion dieser „Priorität der Wirklichkeit im Sinne einer das Mögliche verwirklichenden Energie und Entelechie“54 wird nun von Jüngel christologisch sowie soteriologisch mit der Rechtfertigungslehre begründet, welche auf christliche Anthropologie zurückverweist und zugleich ethische Implikationen besitzt. Denn nach Luther kann sich der sündige Mensch, der nicht gerecht ist, durch seine gerechten Taten nicht gerecht machen, d.h. eine gerechte Wirklichkeit verschaffen, da seine Wirklichkeit im Sündersein besteht. Dennoch hat der Mensch vor Gott seiner Möglichkeit nach einen ontologischen Vorrang, indem der gerechtfertigte Mensch mit sich als Sünder durch Gottes schöpferisches Werk zusammengefügt wird. Damit wird die christ-
52 53 54
Vgl. JÜNGEL, Die Welt als Möglichkeit und Wirklichkeit, passim. JÜNGEL, Der Gott entsprechende Mensch, 314f. JÜNGEL, Die Welt als Möglichkeit und Wirklichkeit, 215.
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liche Existenz als eine Existenz ex nihilo charakterisiert.55 Indem in der Rechtfertigung – ebenso wie in der Schöpfung – Gott als derjenige in den Blick kommt, der das Mögliche – nämlich das Leben angesichts des Todes und des radikalen Nichts – möglich und das Unmögliche – nämlich die lebensfeindliche Macht der Sünde und die Wirklichkeit des Sünders – unmöglich macht, stellt sich eine ganz neue Frage jenseits der Alternative von Möglichkeit und Wirklichkeit, nämlich die Frage nach der Wahrheit und die Frage nach dem, der den Menschen wahr zu machen vermag.56 In Schöpfung und Neuschöpfung verweist Gottes Handeln am Menschen auf dessen Möglichkeitshorizont, in dem er im Unterschied zur Wirklichkeit der Welt gerade nicht von der dieser Wirklichkeit entsprechenden „vita activa“ bestimmt wird, sondern ganz empfangend aus der „vita passiva“ leben darf. Dabei ist entscheidend, dass die Möglichkeit der Welt im Unterschied zu deren Wirklichkeit durch Externität bestimmt ist. Diese Externität ist somit die Zukünftigkeit als eschatologische Möglichkeit der Welt.57 In diesem Zusammenhang bedenkt Jüngel, wie dieses „externfuturisch Mögliche“ als Externes in der Welt zur Geltung kommen kann. Das Mögliche muss Jüngel zufolge die Wirklichkeit ansprechen, was im Ereignis des Wortes seine Konkretion findet.58 Eine das Wirkliche angehende Sprache, welche nicht in den Bedingungen des Wirklichen aufgeht, sondern in diesem machtvoll dem Unmöglichen entgegentreten kann, findet sich mit E. Fuchs in der Kategorie des „Sprachereignisses“, das sachlich an Luthers Theologie der gewissmachenden, verheißungsvollen promissio gewonnen wird und sich begrifflich an modernen sprachwissenschaftlichen Theorien orientiert.59 Dass dieser Anspruch des Möglichen nur als Zuspruch von Freiheit begegnet, besitzt zudem ethische Implikationen. Nicht nur im Hinblick auf die Potentialität von Leben, die beispielsweise im Ungeborenen zukünftige Wirklichkeit wahrnimmt, sieht der Glaube darüber hinaus in diesem Leben schon die Möglichkeit der von Gott angeredeten Person, die durch sein schöpferisches Wort Wirklichkeit wird und dem sündigen Menschen immer wieder neu zugesprochen wird. Ebenso erblickt der Glaube in jedem Menschen den nach Gottes Möglichkeit Gerechtfertigten, als der er von dem Zwang
55 56 57 58 59
Vgl. aaO, 215ff, hier bes. 219. Vgl. aaO, 221f. Vgl. aaO, 226f. Vgl. JÜNGEL, Die Welt als Möglichkeit und Wirklichkeit, 227. Vgl. aaO, 228.
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der Wirklichkeit, sich selbst rechtfertigen zu müssen, befreit ist. Er ist von der Herrschaft der Wirklichkeit befreit, um zugleich zu einem Leben nach der Möglichkeit Gottes befähigt und berufen zu sein. Besteht die Autorität des Möglichen im Sprachereignis als Anrede, so ist dieses zur Unterscheidung der Wirklichkeit befähigende Geschehen durch die Gewährung von Zeit als Raum der Freiheit gekennzeichnet.60 Die Gnade zwingt nicht durch das Wort, sondern sie stellt im anredenden Sprachgeschehen vor die Entscheidung, indem sie im Vollzug des Sprachgeschehens – wie es uns in exemplarischer und exzeptioneller Weise im Gleichnis Jesu selbst begegnet – bitten lässt. Das Gleichnis führt in die Freiheit, es nimmt sich Zeit und gewährt damit Zeit.61 Eine ästhetisch besonders wertvolle Umschreibung gewinnt Jüngel, wenn er das Gleichnis als „Kostprobe“ der Gottesherrschaft beschreibt.62 So wie wir im Leiblichen Wort des Abendmahls die Güte des Vaters zu schmecken bekommen, so stellt auch das Christuswort als Anrede (im Sinne der promissio) ein solches „Leibliches Wort“ dar, welches wir mit allen Sinnen zu uns nehmen und schmecken sollen. Als Kostprobe steht es allerdings unter dem eschatologischen Vorbehalt. Uns ist im Bild des Festmahls eine umfassende und endgültige Freude an der vollendeten Gottesherrschaft verheißen, deren Anbruch wir aber immer wieder von neuem zu schmecken bekommen. 1.6 Erfahrung und Glaube Indem Jüngel das Sprachereignis der Anrede, das er exemplarisch an den Gleichnissen Jesu vor Augen führt, in seinem Möglichkeitshorizont entdeckt, charakterisiert er die Möglichkeit als eine wesentliche Kategorie der Glaubenserfahrung. Jüngel möchte diese Glaubenserfahrung nicht mit einer allgemeinen religiösen Erfahrung gleichsetzen. Aber sein Erfahrungsbegriff, welcher sein Kriterium an der alle alltägliche Erfahrung erhellenden Erfahrung des Offenbarungsinhalts als Erfahrung mit der Erfahrung gewinnt, weist eine Dimension auf, die nicht nur 60 61
62
Vgl. aaO, 230. So kann Jüngel im Anschluss sowie in Abgrenzung zu Rudolf Bultmann formulieren: „Die Gottesherrschaft wird nicht abstrakt proklamiert, um den Menschen im Augenblick zur Entscheidung zu zwingen (gegen Bultmannns Kerygmaverständnis). Sondern die Gottesherrschaft nimmt sich Zeit, die Zeit eines Gleichnisses, um den Menschen in seiner ihm anvertrauten Welt aufzusuchen. Und so gewährt die Gottesherrschaft in den Gleichnissen den Menschen Zeit, Vertrauen zu finden, um so verstehend in die Situation der Entscheidung zu gelangen, die die Pointe des Gleichnisses anbietet.“ (aaO, 231). Vgl. JÜNGEL, Die Welt als Möglichkeit und Wirklichkeit, ebd.
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die Offenbarung in stärkerem Zusammenhang mit der Erfahrung zu denken Anlass bietet, sondern auch diese Erfahrung mit der Erfahrung als Gewinn der Möglichkeit in unserer durch die Wirklichkeit dominierten Alltagserfahrung aufzeigt. Insofern besitzt Jüngels Entwurf im Ansatz auch einen alltagsästhetischen Charakter, da er die Alltagserfahrung neu wahrzunehmen anregt.63 Jüngel unterstreicht in seinem Erfahrungsverständnis, „daß das Widerfahrnis Gottes auch und gerade dann, wenn es im Widerspruch zu den Erfahrungen, die wir in unserer Welt machen, erfahrbar sein sollte, in dieser seiner Widerspruchs-Funktion doch als eine der Welt- und Selbsterfahrung des Menschen standhaltende Erfahrung ausweisbar sein muß.“64 Dabei ist insbesondere für seinen Umgang mit Kunst im allgemeinen und mit dem Schönen im besonderen die Richtung dieser Erfahrungsbeschreibung zentral, welche die Erfahrung mit der Erfahrung nur von Gottes zuvorkommender Anrede her zu denken gewillt ist: „Es ist ein Unterschied, ob man meint, aufgrund der Welt- und Selbsterfahrungen die Erfahrbarkeit Gottes erweisen zu können, oder aber umgekehrt, aufgrund der Offenbarung Gottes die menschlichen Welt- und Selbsterfahrungen in einem neuen Licht verstehbar werden zu lassen.“65 In diesem Zusammenhang verweist Jüngel auch auf die Begrenztheit unserer alltäglich gemachten Erfahrungen: „Gemachte Erfahrungen sind zwar ein – etwa als Geschichte – präsenter Bestimmungsgrund aller weiteren Erfahrungen. Sie sind aber nicht auch Kriterium für die Grenzen der Erfahrbarkeit. Denn sie können ihrerseits z.B. darüber nicht entscheiden, welche Erfahrungen man mit ihnen selber machen wird. Jede gemachte Erfahrung ist grundsätzlich in dem Sinn unabgeschlossen, daß sie – nicht nur durch weitere Erfahrungen ergänzt, sondern – ihrerseits selber zum Gegenstand von Erfahrungen werden kann.“66 Von den allgemeinen Erfahrungen ist also die Erfahrung des 63
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Wobei Ebeling die Frage nach der Wirklichkeit erst wieder neu stellt und Wirklichkeit gerade nicht als menschlich gedeutete Tatsächlichkeit, sondern als coram deo bestehende Wirklichkeit des sündigen Menschen vor Gott interpretiert, der ihn in seiner verlorenen Wirklichkeit rechtfertigt und somit eine neue Qualität dieser sündigen Wirklichkeit schafft. Das Sündersein des Menschen wird nicht aufgehoben, aber es wird eine anders qualifizierte Wirklichkeit ermöglicht. Somit eröffnet Ebeling gerade ausgehend von der Kategorie der Wirklichkeit neue Zugänge zu dieser, indem er ebenfalls die Rede von der „Erfahrung mit der Erfahrung“ gebraucht. Im Grunde handelt es sich in dem unterschiedlichen Gebrauch des Wirklichkeitsbegriffs um eine unterschiedliche Akzentuierung der Aspekte. JÜNGEL, Das Dilemma der natürlichen Theologie, 175. Ebd. AaO, 175f.
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Glaubens als neue Erfahrung grundsätzlich zu unterscheiden: „Es ist diese neue Erfahrung vielmehr als eine Erfahrung mit der Erfahrung zu verstehen. Der als Gotteserfahrung sich ereignende Glaube besteht auf jeden Fall darin, daß wir mit unseren alltäglichen Erfahrungen eine neue Erfahrung machen, die zwar aus unseren alltäglichen Erfahrungen nicht einfach entspringt (wie sollte sie sonst eine Erfahrung mit der Erfahrung sein?), die aber an unseren alltäglichen Erfahrungen sich als das ausweisen muß, was sie ist. Daß dabei unsere alltäglichen Erfahrungen zugleich in eine fundamentale Krise geraten können, die ihre Alltäglichkeit aufgrund des besonderen Ereignisses der Gotteserfahrung aufbricht, widerspricht dem Wesen der Erfahrung keineswegs.“67 Diese Fragestellung leitet fundamentaltheologisch zum Problem der natürlichen Theologie über, dem sich Jüngel mit seinem Erfahrungsbegriff stellt: „Das unabweisbare Problem der natürlichen Theologie auf einem anderen Weg als dem der natürlichen Theologie wahrzunehmen bedeutet demnach, von dem Ereignis der Offenbarung Gottes her, die ja als solche bereits in der Weise der Erfahrung sich ereignet und nicht etwa erst durch Erfahrung ergänzt werden muß, eine neue Möglichkeit von Erfahrung freizulegen, durch die unsere Alltagserfahrungen einerseits kritisch befragbar, andererseits aber gerade dadurch besser auf die in ihnen vertretene, jedoch wegen der allzu großen Nähe in der Regel eben nicht wahrgenommene Wahrheit ansprechbar werden.“68 Der Anspruch der natürlichen Theologie auf Allgemeingültigkeit wird jedoch fundamental in Frage gestellt: „Was die natürliche Theologie als Wahrheit verkehrt vertritt, ist der Anspruch des höchst besonderen Ereignisses des Wortes Gottes auf Allgemeingültigkeit. Und die Verkehrung dieser Wahrheit besteht in der Umkehrung des Allgemeingültigkeitsanspruches dieses höchst besonderen Ereignisses zur Behauptung einer Allgemeinheit, der dann das einzigartige Ereignis als ein besonderer Fall eines umfassenderen Verhältnisses subsumiert wird.“69 Galt Luther die Vernunft insofern als „Hure“, als sie ihre weltliche Aufgabe in der Subsumtion der Besonderheit der Offenbarung unter die Allgemeinheit der Vernunft überschreitet, so protestierte Schleiermacher gegen die Unterordnung der Religion unter Moral oder Metaphysik, um die Eigenständigkeit des besonderen Phänomens Religion zur Geltung zu bringen. Barth verbindet diese Momente dahingehend,
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AaO, 176. JÜNGEL, Das Dilemma der natürlichen Theologie, ebd. JÜNGEL, E., Gott – um seiner selbst willen interessant. Plädoyer für eine natürlichere Theologie, in: DERS., Entsprechungen, 193-197, 194.
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daß die Besonderheit und Eigenständigkeit des sich der Offenbarung Gottes verdankenden christlichen Glaubens unangetastet bleiben. Unter den genannten Theologen besteht aber darin Einigkeit, dass dem höchst besonderen Ereignis der Offenbarung ein unbedingter Anspruch auf Allgemeingültigkeit zukommt, da eine absolute Gottlosigkeit des Menschen ontologisch für unmöglich gehalten wird.70 Demzufolge gilt, dass der christliche Glaube „von sich her so etwas wie eine durch Gott eröffnete Erfahrung mit der Erfahrung“ ist, „eine Erfahrung, in der alle gemachten Erfahrungen und das Erfahren selbst noch einmal und von Grund auf neu erfahren werden“. 71 1.7 Fazit Jüngel nimmt ausgehend von seinem offenbarungstheologischen Ansatz eine kritische Position zum Phänomen des Schönen ein. Er behandelt die Lehre vom Schönen bzw. das Verhältnis von Gotteslehre und Schönheitslehre einerseits im offenbarungstheologischen Kontext, andererseits im eschatologischen Rahmen. Jüngel bewegt sich dabei mit seiner spezifischen Fragestellung im Zusammenhang von Hermeneutik und Ästhetik, was in der Erörterung von Form und Inhalt der Sprache der Gleichnisse kulminiert. Dieses formgeschichtliche Interesse entstammt der Bultmann-Schule und verbindet Jüngel, Ebeling und Bayer gleichermaßen.72 Jüngel verknüpft in seinem Verständnis von Ästhetik zwei Ansätze ästhetischer Theorie, zum einen Darstellungsästhetik, welche Kunst unter der Wahrheitsfrage behandelt, und zum anderen Rezeptionsästhetik, welche die Wirkung auf den Wahrnehmenden in Form ästhetischer Erfahrung beschreibt. Dabei wird Wahrnehmung von Jüngel durch den Wahrheitsbegriff qualifiziert. Wie oben erläutert, geht er dabei vom Ästhetikverständnis Schillers aus, der das Schöne als Vorschein der noch ausstehenden Wahrheit denkt. Dieses Ästhetikverständnis wird eschatologisch interpretiert, wobei die Kategorie des Schönen christologisch gebrochen wird.73 So begegnet bei Jüngel ein anästhetisches Denken, das durch die oben erwähnte grundlegende Bildkritik mitbestimmt ist. Aufgrund der 70 71 72 73
Vgl. JÜNGEL, Gott, 195. JÜNGEL, aaO, 196. Vgl. auch zur Formgeschichte KÖRTNER, U. (Hg.), Hermeneutik und Ästhetik. Die Theologie des Wortes im multimedialen Zeitalter, Neukirchen-Vluyn 2001. Vgl. auch KÖRTNER, U., Zur Einführung: Hermeneutik und Ästhetik. Zur Bedeutung einer theologischen Ästhetik für die Lehre vom Wort Gottes, passim in: DERS. (Hg.), Hermeneutik und Ästhetik, 1-18.
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Entgegensetzung von Wort und Bild ordnet er das worthaft verfasste eindeutige Kerygma der Zweideutigkeit des Bildes bzw. des Kunstwerkes über. Die offenbarungstheologische Grundorientierung, aber auch die hermeneutische Konzentration auf das Wort lassen die Möglichkeit des Offenbarungsmediums bzw. der Ansage der „Stunde der Wahrheit“ durch das Kunstwerk nicht aufkommen: „Der Gedanke, daß die Kunst Wahrheit nicht schafft, sie vielmehr aufzudecken hilft, schließt eine notwendige Konkurrenz zum biblischen Wahrheitsanspruch a limine aus. Der Vorstellung des die Wahrheit aufdeckenden Charakters der Kunst kann sich die Theologie auf keinen Fall von vornherein verschließen.“74 Wird damit sowohl dem Selbstverständnis als auch der Chance, welche die Kunst für das genuin theologische Verständnis von Wahrnehmung im Kontext des Glaubens bereithält, schon umfassend entsprochen? So kann Gegenwartskunst durchaus christologische und kreuzestheologische Implikationen aus sich heraussetzen. Gerade die Thematisierung der Wahrheit in ihrer Nichtdarstellbarkeit der Ganzheit, wie sie in den Gebrochenheitsdarstellungen moderner Kunst begegnet, wird von Jüngels eschatologischer Kritik nicht getroffen.75 Denn Schwebel zufolge ist die Relevanz der Kunst heute gerade dort aufzuspüren, wo sie den „Riß in allem Leben“ 76 zu Tage fördert. Eine Affinität der sich selbst thematisierenden Gebrochenheit moderner Kunst zur Christologie lehnt Jüngel jedoch aus fundamentaltheologischen Gründen ab. Denn er setzt die Erscheinung der Liebe Gottes, die - „sub contrario“ – in der Niedrigkeit Jesu Christi erfahrbar wird, der Erscheinung des Nicht-Identischen, des Fragmentarischen in der Kunst strikt entgegen, weil dieses die abwesende Ganzheit thematisiere. Jedoch sollte sich eine theologische Erfahrungslehre darüber Rechenschaft ablegen, wie die ästhetische Erfahrung das menschliche Leben und daher auch den Glauben bestimmt, geht es doch der Theologie um die Rede von dem, was alle Darstellung aufhebt, wodurch dann aber der Bezug auf alle Darstellungsformen gleichermaßen gege-
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GRÖZINGER, A., Praktische Theologie und Ästhetik, 69. Vgl. auch die prinzipiell zustimmende Konzeption Schwebels, der allerdings bei Jüngel die konstruktive Bezugnahme von Gegenwartskunst und Kreuzeserfahrung vermisst. Vgl. SCHWEBEL, Wahrheit der Kunst, 135-145. SCHWEBEL, aaO, 141. Vgl. auch ERNE, TH., Vom Fundament zum Ferment. Religiöse Erfahrung mit ästhetischer Erfahrung, in: HERRMANN, J. u.a. (Hgg.), Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute, München 1998, 283295, 284f. Vgl. auch ERNE, Lebenskunst, 38: „Das spezifisch neuzeitliche Ende der Kunst in der Moderne wäre die ästhetische Realisation der christologischen Kritik am schönen Schein.“
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ben ist. Moderne Kunst versteht sich z.T. als Repräsentantin von unverfügbarer Wahrheit in gleichzeitiger Negation endlicher Wahrheit, worin sie indirekt auf einen ihr unverfügbaren Grund verweisen kann. Wenn Jüngel von dem Schönen als Vorschein des Wahren spricht, dann weist er damit der ästhetischen Erfahrung eine gewichtige Stellung zu und zieht ihr gleichzeitig eine eindeutige Grenze. Denn für Jüngel gibt es keine Unterscheidung zwischen der hermeneutischen und der soteriologischen Exklusivität Jesu Christi; die Christozentrik ist in seiner Argumentation theologisches Prinzip.Jedoch gibt es nach Jüngel Erfahrung von Wahrheit, die ästhetische Erfahrung mit einschließt. Dies ist in den metaphorischen Sprachformen der Bibel der Fall. Dabei stellt sich die Frage, ob die biblischen Texte, unter deren Eindruck wir dem christlichen Kerygma begegnen können, nicht selbst als Kunstwerke aufzufassen sind und darum in der Erfahrung dem Kunstwerk vergleichbar die noch ausstehende Wahrheit antizipieren, indem sie auf das zukünftige Schauen verweisen. Jüngel schreibt der Sprache im allgemeinen einen metaphorischen Grundzug zu und wendet diese Einsicht auf die besondere Sprache des Glaubens an, die „durch und durch metaphorisch“77 ist. Den Übergang von Sein zur Sprache, verstanden als „Gottes Zur-Sprache-Kommen“, bestimmt er als Ereignis von Wahrheit. Dieses Wahrheitsereignis ist christologisch fundiert und als „absolute Metapher mehr als ‚nur’ eine Metapher im traditionellen Sinne ist“.78 Allerdings ist zu fragen, was Jüngel mit der Rede von der Metametapher gewinnt, wenn er mit großer rhetorischer Kunst dem zweideutigen Schweigen der Neuzeit über Gott und der daraus erwachsenden Not die „Tugend der Theologie“ in Form der alle Notwendigkeit sprengenden Metametapher von „Gottes Liebe“ entgegensetzt.79 Jüngels Hauptintention besteht darin, Gottes Zur-Sprache-Kommen von der Inkarnation bis zum Kreuz Jesu als notwendige Bedingung der Denk- und Sagbarkeit Gottes zu begründen. Uns begegnet demnach ein metasprachliches ‚Wort’, das allen sprachlichen Metaphern und Anthropologisierungen vorausliegt. Darum kann man Jüngel in seiner Rede von der Metametapher der göttlichen Liebe insofern zustimmen, als selbstverständlich die Unterscheidung von Christus und Metapher bzw. jeder menschlichen Rede von Gott zu treffen ist.
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JÜNGEL, Metaphorische Wahrheit, 144. Vgl. STOELLGER, Metapher und Lebenswelt, 468. Vgl. aaO, 459ff.
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2. Matthias Zeindler – Gott und das Schöne 2.1 Zur Methode Zeindler konzentriert sich in seiner Untersuchung auf den Begriff des Schönen und seine theologischen Implikationen. Es geht ihm darum, den Begriff des Schönen für die Theologie, insbesondere für die Gotteslehre fruchtbar zu machen. Deshalb entwirft er eine dezidiert theologische Ästhetik. Dabei stellt die vorangehende philosophische Analyse des Schönen das Vorverständnis für seine folgenden theologischen Reflexionen dar. Insofern geht Zeindler in der Verhältnisbestimmung von theologischer und philosophischer Ästhetik davon aus, dass beide Disziplinen jeweils unterschiedliche Prämissen haben. Jedoch wird dieses Problem von ihm selbst nicht eigenständig thematisiert.80 Sein eigener Entwurf einer theologischen Ästhetik wird im weiteren Verlauf der Arbeit nach den Kategorien Gott, Natur bzw. Schöpfung und Kultur differenziert und die philosophischen Denkansätze werden aus dieser Perspektive überprüft, vertieft, erweitert und gegebenenfalls korrigiert.81 Zeindler kritisiert an der gegenwärtigen theologischen Beschäftigung mit Fragen der Ästhetik, dass zwar die Ästhetik im allgemeinen in theologischen Auseinandersetzungen zunehmend ins Bewusstsein rückt, die Lehre vom Schönen jedoch dabei eher eine marginale Rolle spielt.82 Ästhetik als Schönheitslehre behandelt eine besondere sinnliche Erfahrung, die Erfahrung des Schönen und des Wohlgefälligen, wobei der Genuss als Merkmal des Glaubens in den Blick gerät.83 Anhand von zentralen Gesichtspunkten, die Zeindler in das Gespräch über Gott und das Schöne in der Theologie eingebracht hat, sollen seine theologischen Prämissen anhand der ausgewählten Verhältnisbestimmung von Schönheit und Sünde näher untersucht und auf ihre Stimmigkeit hin befragt werden, da diese Dimension ein wesentliches Kriterium für die Verhältnisbestimmung von religiöser und ästhetischer Erfahrung in der Gegenwart darstellt.
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Vgl. aber dazu JÜNGEL, Das Dilemma der natürlichen Theologie, 158, Anm.1. Vgl. ZEINDLER, M., Gott und das Schöne. Studien zur Theologie der Schönheit (FSÖTh Bd. 68), Göttingen 1993, 222. Vgl. ZEINDLER, aaO, 23. Vgl. auch ROTH, Fundamentaltheologie als Schönheitslehre, 22.
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2.2 Die Doxologie als Ort und Form der Rede von der Schönheit Gottes In der Frage nach der Schönheit hebt Zeindler besonders den formalen Aspekt hervor. Grundlegend ist dabei, dass Gottes Schönheit als Schönheit seiner herrlichen Liebe verstanden wird. Dieser Gedanke bildet auch das Kernstück seiner Ausführungen, daher werden sich alle folgenden Überlegungen immer darauf zurückbeziehen. Da nach Zeindler Gott selbst am Werk ist, wenn seine Schönheit erkannt wird, gilt auch für die theologische Ästhetik der Grundsatz von Gottes Souveränität und die daraus folgende Ablehnung natürlicher Theologie. Zunächst schließt sich Zeindler Karl Barths Zentralbestimmung der Form Gottes als trinitarischer an.84 Dabei handelt es sich um eine bestimmte Leiblichkeit des dreieinigen Gottes. Seine trinitarische Form entspricht dem Wesen seiner immanenten göttlichen Liebe, wobei die Form Gottes als schöne Form i.S. eines Gleichgewichts von Gegensätzen wie Freiheit und Ordnung oder Vielfalt und Einheit zu verstehen ist. Diese schöne Form ist in ihrer Vollkommenheit und Einzigkeit als evident gedacht.85 Barth und Zeindler zufolge kann also die Liebe – als Inhalt des göttlichen Wesens verstanden – nicht ohne die Beschreibung ihrer formalen Seite als Schönheit erfasst werden. Weil Gott selbst Freude an seiner Form der Liebe als Schönheit empfindet, muss er seinem Wesen der Liebe als Begegnungs- und Kommunikationsgeschehen entsprechend diese Freude auch mit den Menschen teilen wollen, indem er ihnen an seiner eigenen Freude Anteil gibt. Die Teilhabe an der Freude Gottes ruft wiederum bei den Menschen Freude und das daraus entspringende Lob hervor.86 Insofern ist vor allem die Doxologie ein hervorragender Ort, an dem die Schönheit Gottes87 objektiv zur Sprache kommt.
84 85 86 87
Vgl. ZEINDLER, Gott und das Schöne, 256ff. 262f. Vgl. ebd. Vgl. ZEINDLER, Gott und das Schöne, 264. Vgl. zur Rede von der Schönheit Gottes auch M. Trowitzschs Überlegungen zu K. Barths Präzisierung des Herrlichkeitsbegriffs durch den Begriff der Schönheit Gottes: TROWITZSCH, M., „Der ewigreiche Gott“. Zur Rede von Gott bei Karl Barth, in: LANDWEHR, M., Gott – „hundertmal wichtiger“. Karl Barth (1886-1968). Bünder Vorträge 2001 und Beigaben (Schriftenreihe der Karl Barth-Gesellschaft e.V., Heft 7), Bünde 2002, 16-35. Barth selbst markiert hier eine wesentliche Bestimmung einer theologischen Ästhetik: „Es liegt in der Natur der Sache, daß die eigentliche Begründung unseres Satzes, daß Gott schön ist, weder in wenigen noch in vielen Worten über diese Schönheit, sondern nur durch diese Schönheit selbst gegeben werden kann. Gottes Wesen spricht in seiner Offenbarung selbst für seine Schönheit.“ (BARTH, K., Die Kirchliche Dogmatik, Studienausgabe Bd. 9 (II/1 § 31), Zürich 1987, 741). Barth bestimmt diese Schönheit Gottes näher: Gott ist derjenige, „der Wohlge-
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Gottes schöne Form im Sinne des Bildes seines innersten Wesens als Liebe spiegelt sich für Zeindler im Anschluss an Paulus in exzeptioneller Weise auf dem Antlitz des menschgewordenen Gottes.88 Jesu Christi Anteilnahme an Gottes Schönheit ist immer auch im Sinne der Anteilnahme an seiner Herrlichkeit zu verstehen, die Gott, indem er in Jesus Christus die Welt mit sich versöhnte, die Wiederkehr und Anteilgabe dieser Herrlichkeit für den Menschen ermöglichte. Dabei wird diese Herrlichkeit wiederum durch die Liebe, mit der Gott als Vater seinen eigenen Sohn für die Welt gibt, qualifiziert, so dass sowohl seine Schönheit als auch seine Herrlichkeit kreuzestheologisch interpretiert werden müssen.89 Zunächst wird auch der Ort der Rede von der Schönheit Gottes, wie sie im eigentlichen Sinne nur im Lob gegeben ist, auf das Lob der Kirche im Gottesdienst beschränkt. So ereignet sich im Lob ein Gewahrwerden der Schönheit Gottes90, in das der Einzelne als Erkennender der Schönheit Gottes einstimmen kann. Denn das Loben und Preisen der Herrlichkeit, d.h. Schönheit Gottes, wird als ein eigentlich in Gott begründetes Geschehen verstanden. Gottes Herrlichkeit bewirkt die menschliche Verherrlichung, womit die Freude des Menschen an Gott als ein „Zurückstrahlen von Gottes eigener Freude“91 verstanden ist. Dieses Zurückstrahlen kann für Zeindler unter Verweis auf R. Bohren nur durch den Heiligen Geist ermöglicht werden, da Gottes Sein als Schön-Werden seine Gegenwart im Geist darstellt.92 Die Erfahrung von Schönheit wird von Zeindler nun als ästhetische Erfüllung verstanden. Im gottesdienstlichen Lob kann eine Intensität dieser spezifischen Schönheitserfahrung erreicht werden, die sich grundlegend von der Zerstreutheit der Alltagserfahrung unterscheidet und in ihrer Festlichkeit unverfügbar bleibt.93 Diese spezifische Schön-
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89 90 91 92
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fallen erregt, Begehren schafft und mit Genuß belohnt und das damit, daß er wohlgefällig, begehrenswert und genussvoll ist“ (aaO, 734). Vgl. ZEINDLER, aaO, 266 und 2 Kor 4,6: „Denn Gott, der da hieß das Licht aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben, daß durch uns entstünde die Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi.“ Vgl. ZEINDLER, aaO, 256. Vgl. aaO, 283. AaO, 282. Vgl. ZEINDLER, Gott und das Schöne, 92ff. Vgl. dazu BOHREN, R., Daß Gott schön werde. Praktische Theologie als theologische Ästhetik, München 1975, 15: „Praktische Theologie ist von der Pneumatologie her als theologische Ästhetik zu entwerfen.“ Vgl. hierzu auch die Betonung des Festcharakters bei MOLTMANN, J., Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, Gütersloh 1995, wo der Schlußparagraph des
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heitserfahrung Gottes gibt Anlass, nach Zeindlers generellem Verständnis von Gotteserfahrung im Gottesdienst zu fragen. 2.3 Gotteserfahrung Zeindlers Untersuchung „Gotteserfahrung in der christlichen Gemeinde“ geht der Frage der Erfahrbarkeit Gottes nach. Sie fragt nach den Bedingungen, dem Wesen und den theologischen Implikationen der Gotteserfahrung des christlichen Glaubens. Damit versucht er eine Diskussion wiederaufzunehmen, an der sich im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts auf protestantischer Seite vor allem Ebeling, Jüngel, Pannenberg und Sauter beteiligten.94 Den Begriff der Gotteserfahrung gebraucht Zeindler, weil er den Begriff „religiöse Erfahrung“ für unangemessen hält. Die theologische Begründung für die Ablehnung des Begriffs der „religiösen Erfahrung“ liegt für Zeindler primär in der Wahrung des Gegenstandsbezuges: „Theologisch gesprochen gründet Erfahrung des biblischen Gottes im Sich-zur-Erfahrung-Bringen Gottes selbst.“95 Aus Furcht vor der Subsumtion des christlichen Glaubens unter einen allgemeinen Begriff der religiösen Erfahrung wird an der spezifischen Eigenart der Erfahrung des biblischen Gottes festgehalten: „Das bedeutet, dass die Erfahrung des biblischen Gottes primär deshalb eine Erfahrung sui generis ist, weil sie Erfahrung dieses Gottes ist, und erst in zweiter Linie, weil sie religiöse Erfahrung ist.“96 Wie Zeindler betont, wird dieses Erfahrungsverständnis von innen gewonnen und offenbarungstheologisch gefüllt. Der Gehalt bestimmt damit die Form. In Zeindlers Untersuchung, welche die grundlegende soziologische Eingebundenheit der Gotteserfahrung ekklesiologisch und pneumatologisch zu begründen beabsichtigt, wird der ästhetische Blickwinkel i.S. des Wahrnehmungsbezugs nicht explizit behandelt. Er bildet jedoch ein wesentliches Strukturmoment bei der Verortung der primären Gotteserfahrung im Gottesdienst und dort besonders im Abendmahl. Bei der Frage nach der Möglichkeit von unmittelbarer Gotteserfahrung im Unterschied zu kreatürlich vermittelter Gotteserfahrung stellt Zeindler eine grundsätzliche methodische Überlegung voran: „Das Fehlen oder
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95 96
letzten Kapitels V „Herrlichkeit. Göttliche Eschatologie“ (aaO, 350-367) lautet: „Die Fülle Gottes und das Fest der ewigen Freude“ (aaO, 364-367). Vgl. hierzu ZEINDLER, M., Gotteserfahrung in der christlichen Gemeinde. Eine systematisch-theologische Untersuchung (Forum Systematik Bd. 13), Stuttgart/ Berlin/ Köln 2001, 14, Anm. 17. ZEINDLER, aaO, 69. ZEINDLER, Gotteserfahrung, 69.
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Vorhandensein kreatürlicher Vermitteltheit von Gotteserfahrung ist als Unterscheidungsmerkmal zwischen den beiden genannten Erfahrungstypen nicht geeignet, ist doch auch das, was als unmittelbare Gotteserfahrung bezeichnet wird, in höchstem Masse kreatürlich vermittelt.“97 Nach Zeindler ist die Funktion der christlichen Gemeinde als Ort von Gotteserfahrung und bei der Konstitution von Gotteserfahrung zu klären. Daher ist es sein Anliegen, „auf dem Wege der Rekonstruktion von Struktur und Gehalt von Gotteserfahrung den Ort und die Bedingungen zu klären, wo und unter denen Gottes Sich-zur-ErfahrungBringen erwartbar ist.“98 Zeindler definiert Erfahrung als Strukturierung und Interpretation von Wirklichem, wobei weder Erfahrung noch die ihr zugrundeliegende Wahrnehmung rein passivisch zu bestimmen sind, sondern das Moment der Aktivität des Subjekts enthalten, das näher als strukturierende Aktivität verstanden wird. „Diese strukturierende Aktivität ist bereits auf der ersten Stufe des Erfahrungsgeschehens anzusetzen, dort, wo Reize organisiert und als Gegenstände konstituiert werden: der Wahrnehmung.“99 Erfahrung ist demnach die Einordnung von Wahrgenommenem in einen Sinnzusammenhang. Allerdings gibt es auch einzelne Wahrnehmungen, die sich nicht einordnen lassen. Sie können dazu führen, dass der Sinnzusammenhang als solcher in Frage gestellt wird. Insofern bildet die „Singularität der Wahrnehmung [...] die Basis des in der Erfahrung aufbewahrten Innovationspotentials.“100 Jede neue Erfahrung wird von Zeindler als Begegnung mit einem Wirklichen ausserhalb des bisherigen Erfahrungshorizontes verstanden, wobei die Widerständigkeit des Begegnenden und damit die „extra-nos-Struktur“ in den Blick kommt.101 Gerade die Gotteserfahrung kann nicht innerhalb unseres Erfahrungshorizontes liegen, sie kann nicht eine Erfahrung unter anderen Erfahrungen sein, da sie die alle anderen Erfahrungen begründende Erfahrung ist. Das aktive Moment der Erfahrung, die Leistung des Subjekts, wird mit der Kategorie der Aneignung näher beschrieben. „Durch Aneignung wird Wirkliches in einer Weise konstituiert, die einem Subjekt die Möglichkeit des theoretischen, praktischen und ästhetischen SichVerhaltens zu ihm eröffnet.“102 Diese subjektive Seite im Erfahrungs97 98 99 100
AaO, 26. AaO, 33. AaO, 44. ZEINDLER, Gotteserfahrung, 45. Auf diese Weise ergeben sich auch in der Wissenschaft immer wieder „Paradigmenwechsel“. 101 Vgl. aaO, 55f. 102 AaO, 74. Vgl. auch 43f.
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prozess wird demnach von Zeindler im Anschluss an Dalferth als aneignende und damit interpretierende Tätigkeit bestimmt103, wobei die Aneignungskategorie streng von der Selbstsetzung bzw. Wirklichkeitskonstitution zu unterscheiden ist. Wenn Zeindler Erfahrung formal mit der Interpretations- und Aneignungsleistung des Subjekts verknüpft („Ein w wird als F erfahren.“104), ist intendiert, dass nicht allein die Faktizität eines Widerfahrnisses schon als Erfahrung zu bezeichnen ist, sondern dieses Widerfahrnis identifizierend nach seinem Gehalt zu bestimmen, d.h., in einem bestimmten Sinne anzueignen und zu interpretieren ist. Wie auch schon in der Diskussion des philosophischen Erfahrungsverständnisses, wird zunächst der soziologische Charakter von Erfahrung im allgemeinen in den Blick genommen. Nach Zeindler „gründet die Gemeinschaftlichkeit von Erfahrung in der sozialen Natur des Menschen“105. Diese Gemeinschaftlichkeit der Erfahrung ist aber nur durch die gemeinschaftliche Teilhabe an einem bestimmten Symbolsystem möglich. Mit dieser soziologischen Verankerung will Zeindler nicht die Individualität von Erfahrung und ihre Nichtdeduzierbarkeit bzw. Nichtsubsumierbarkeit unter allgemeine Erfahrung bestreiten. Aber er unterstreicht die Abhängigkeit und Angewiesenheit jeder individuellen Erfahrung und jedes individuellen Symbolgebrauchs von einem sozial vermittelten Symbolsystem. Es ist sozusagen die „Möglichkeitsbedingung für Erfahrung“.106 Methodisch wird dieser soziologische Bezug jedoch als Erläuterung und allgemeiner Erweis des schon pneumatologisch begründeten Gemeindebezugs verstanden. Die Soziologie besitzt nach Zeindler nicht die von ihr behauptete Neutralität, darum kann sie nicht den theologischen Prämissen vorgelagert werden. Den Vorrang der Sozialität gewinnt Zeindler biblisch-theologisch aus dem Erwählungsgedanken, denn diese führt zu einer erneuerten Sozialität in der Gemeinde.107 Dabei ist entscheidend, dass der Gemeinde und insbesondere dem Gottesdienst dieser Gemeinde als Ort der Erfahrbarkeit Gottes keine Ausschließlichkeit zukommt, sondern sie für alle außergemeindliche Gotteserfahrung eine kriteriologische und interpretative Funktion erhält.108 „Der Gottesdienst ist erfahrungstheologisch [...] darin zentral,
103 104 105 106 107 108
Vgl. aaO, 46.74 u.ö. AaO, 231 u.ö. AaO, 58. ZEINDLER, Gotteserfahrung, 61. Vgl. aaO, 179. Vgl. aaO, 216.
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dass er der paradigmatische Ort der Gotteserfahrung ist.“109 Diesen paradigmatischen Charakter gewinnt der Gottesdienst aus der Tatsache, dass an ihm göttliches und menschliches Handeln in ihrer Durchdringung deutlich zur Anschauung kommen: „Göttliches Handeln vollzieht sich durch menschliches Handeln, oder genauer: ‚in, mit und unter’ menschlichem Handeln.“110 Gottes Gemeinschaft mit den Menschen bildet dabei die vertikale Dimension, die Gemeinschaft unter den Menschen die horizontale Dimension des Gottesdienstes.111 Diese beiden Dimensionen sind für das Gottesdienstgeschehen konstitutiv, da sich die horizontale Dimension immer aus der vertikalen ergibt. Dass Gottes Handeln Beziehung stiftet zwischen Gott und Mensch und daraus folgend auch unter den Menschen wird aktuell erfahrbar in der feiernden Gemeinde und ihrer Gemeinschaft: „’In, mit und unter’ der Gemeinschaft der Gottesdienstgemeinde kann Gegenwart Gottes in seinem Heilshandeln erfahren werden.“112 Zentrale Bedeutung innerhalb des Gottesdienstes gewinnt nun das Abendmahl in der Hinsicht, dass in ihm drei Aspekte zur Geltung kommen: erstens die Zusage der Gemeinschaft mit Gott, zweitens die Feier der Gemeinschaft mit Gott und drittens die Vereinigung der Gemeinschaft durch die gemeinsame Feier.113 Außerdem hat das Abendmahlsgeschehen eine dreifache Zeitstruktur: „Christus ist in der Feier des Abendmahls präsent als der Vergangene, der Gegenwärtige und der Zukünftige.“114 Wie schon der Gottesdienst im allgemeinen, so ist das Abendmahl im besonderen jener Ort, an dem Gott als der dreieinige begegnet und erfahren wird: Als Schöpfer wird er präsent durch die Elemente, als Versöhner durch das Zusprechen der Vergebung und die Mahlgemeinschaft, als Erlöser bzw. Vollender schließlich durch die Vorwegnahme des eschatologischen Freudenmahls, denn „[i]n der dabei sich verwirklichenden Sozialität ‚schmecken und sehen’ die Teilnehmenden schon etwas von der verheissenen eschatologischen Vollendung menschlicher Gemeinschaft.“115
109 110 111 112 113 114 115
AaO, 226. AaO, 229. Vgl. aaO, 229f. AaO, 230. Vgl. ZEINDLER, Gotteserfahrung, 232. AaO, 243. AaO, 246.
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Zeindler gewinnt am Abendmahl nicht nur – wie oben beschrieben – den Gehalt, sondern ebenso auch die Gestalt und Struktur der Gotteserfahrung. Dazu dient ihm die reformatorische Wendung, welche die Art und Weise der Realpräsenz Christi in den Abendmahlselementen beschreibt und die so ähnlich auch in der Konkordienformel festgehalten wurde116: „’In, mit und unter’ gemeindlicher Sozialität wird Gottes heilvolle Gegenwart erfahrbar.“117 Somit bekommt das Abendmahl paradigmatische Bedeutung für die Frage nach der Gotteserfahrung in der Gemeinde. Gott ist in der Gemeinde real präsent, er ist mit den Menschen und handelt unter ihrem Handeln. „In dem Masse, da diese Struktur auf Gotteserfahrung generell verallgemeinerbar ist, lässt sich deshalb von einer eigentlichen In-mit-und-unter- Struktur dieser Erfahrung sprechen.“118 Mit den drei Präpositionen sollen sowohl Differenz als auch Einheit von göttlichem und menschlichem Handeln in unterschiedlicher Nuancierung beschrieben werden. So betont das räumliche in nach Zeindler das Enthaltensein von göttlichem Handeln im menschlichen Handeln: Gott lässt sich ganz und gar auf die Wirklichkeit des Menschen ein. Das mit unterstreicht zugleich Verbundenheit bei bleibender Unterscheidung von Gott und Mensch; das unter drückt Zeindler zufolge am stärksten das Verborgensein des göttlichen Handelns unter und in dem Handeln des Menschen aus. In reformatorischem Sinne betont Zeindler, dass sich Gott in seinem Eingehen in die Welt verwechselbar macht und deshalb das Wort, an das er sich ebenfalls gebunden hat, eine notwendige interpretierende Rolle im Erfahrungsvollzug spielt. Somit ist das Abendmahl ein sprachlich-gestisches Geschehen, „in welchem sich Wort und Handlung gegenseitig erhellen und in welchem sich in diesem gegenseitigen Verweisen jene Transparenz einstellen kann, durch die in einem menschlichen Handeln Gott selbst erfahrbar wird.“119 Um die zu veranschlagende Deutungsaktivität nun nicht als willkürliche Deutung eines Subjekts relativieren zu müssen, wird diese von
116 Sie geht eigentlich auf D. Hollaz zurück und wird in der Konkordienformel in anderer Reihenfolge festgeschrieben: „sub pane, cum pane, in pane“ (Konkordienformel. Solida Declaratio VII, 35, BSLK, 983); vgl. ZEINDLER, aaO, 247. 117 AaO, 203. 118 AaO, 247. Vgl. auch DALFERTH, I. U., Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie, Tübingen 1994, 176: Hier kennzeichnet Dalferth die Struktur der Gotteserfahrung als „Differenzerfahrung“, „in der Gott anhand von anderem als er selbst sich als Gott erfahrbar macht“. Dabei wird Offenbarung charakterisiert als „Erfahrungsprozeß, in dem Gott sich selbst in, mit und unter anderem als er selbst für uns und durch uns so zur Erfahrung bringt, wie er ist“ (aaO, 177). 119 ZEINDLER, Gotteserfahrung, 248f.
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Zeindler im Kontext des durch den Heiligen Geist ermöglichten Erschließungsgeschehens von Neuem behandelt.120 Dabei geht es im Anschluss an Dalferth darum, diesen Deutungsakt als Entdeckung dessen zu verstehen, das immer schon zuvor real vorhanden ist und erst als eröffnete Wirklichkeit gewonnen wird.121 Zeindler überträgt nun die am Abendmahl gewonnene „In-mitund-unter-Struktur“ nicht nur auf außergottesdienstliche, sondern auch auf außergemeindliche Vollzugsformen. Außerhalb der Gemeinde wird diese Struktur erweitert als kreatürliches Geschehen verstanden. Die Konstitutionsbedingungen für Gotteserfahrung innerhalb und außerhalb der Gemeinde sind demzufolge identisch. Hierbei werden der menschliche Deutungsakt durch das Erfahrungssubjekt und das diesem zugrundeliegende Wirken des Heiligen Geistes als „pneumatologisch zu verstehende[...] Interpretationsperspektive“122 zusammengedacht. Kriterium und Voraussetzung der Gotteserfahrung außerhalb der Gemeinde bleibt allerdings die Erfahrung innerhalb der Gemeinde, die durch Partizipation bestimmt ist und eine speziell christliche Perspektive vermittelt. 2.4 Die Schönheit der Welt als Gleichnis der Schönheit Gottes Zeindler zufolge kann sich Gotteserfahrung als ästhetische Erfahrung durch das Versöhnungshandeln Gottes am Kreuz ereignen, weil der Mensch durch das Versöhnungsgeschehen als Glaubender die Kreatur in ihrem Gabecharakter zu erkennen, zu sehen vermag.123 Diese Einsicht korrespondiert eng mit den Überlegungen über die Form der Rede von der Schönheit Gottes, die Zeindler in der Doxologie gegeben sieht. Insofern kann erst der im Glauben Gerechtfertigte ein wirklich schöpfungsgemäßes Verhältnis zur Schöpfung entwickeln, ja Schöpfung als Schöpfung wahrnehmen. In diesem Kontext macht Zeindler darauf aufmerksam, dass der Glaubende in seiner ästhetischen Schöpfungswahrnehmung gleichzeitig aufgrund seines Konstituiertseins im Kreuz eine gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit für das Leiden der Kreatur zu entwickeln fähig ist.124 Dabei führt die eschatologische Perspektive dazu, die Spannung zwischen gefallener, gleichzeitig von Gott erhaltener und zukünftig erwarteter wiederhergestellter Schöpfung auszuhalten und ein durch Liebe bestimmtes Verhältnis zu dieser 120 121 122 123 124
Vgl. aaO, 249. Vgl. hierzu aaO, 250f. AaO, 321. Vgl. ZEINDLER, Gott und das Schöne, 349. Vgl. aaO, 354ff.
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Schöpfung zu entwickeln, weil der Glaubende an Gottes Blick auf die Wahrheit der Kreatur partizipieren kann. Erst in diesem Zusammenhang wendet sich Zeindler explizit der Erfahrung des Menschen, respektive seiner Glaubenserfahrung als Erfahrung der göttlichen Liebe zu, wobei er sich dabei dem von Jüngel und Ebeling parallel vertretenen Verständnis als Erfahrung mit der Erfahrung anschließt. Dabei hebt Zeindler hervor, dass die Glaubenserfahrung - oder wie er später präzisieren wird: die Gotteserfahrung -nicht zur allgemeinen Deutung aller Erfahrung herabgewürdigt werden darf, sondern als Erschließungskraft dieser neuen Erfahrung auch unbekannte, lichtende Erfahrungen meint.125 Zeindler verbindet in seiner Analyse der Schönheit Schöpfungstheologie und Eschatologie, indem er darauf verweist, dass in der Schönheit der Schöpfung gleichnishaft die verheißene Schönheit der eschatologischen Schöpfung aufleuchtet. Jedoch stellen für ihn die weltlichen Gleichnisse aufgrund der Gefallenheit der Schöpfung keine eigenständigen Offenbarungsquellen dar.126 Anhand des Verständnisses der ersten Schöpfung als Gleichnis des eschatologischen Gottesreiches und als Gleichnis Gottes wird Zeindlers offenbarungstheologischer Denkansatz deutlich, der sich im Anschluss an Barth der Analogielehre verpflichtet. Dieses Analogiedenken wird durch eine Ontologie der Relation gewonnen. Von der Schönheit Gottes, der von Anfang an sowohl auf ein Verhältnis zu sich selbst als auch zur Welt ausgerichtet ist, wird der Bezug zur Kultur und Schöpfung gefunden.127 Dass die Wahrnehmungsfähigkeit und Aufmerksamkeit für das Schöne der Schöpfung zum Glaubensakt hinzugehört, begründet Zeindler mit der Notwendigkeit seines Erfahrungsbezugs. Hier begegnen sich Welterfahrung und Gotteserfahrung, indem die Schöpfung als göttliche Gabe wahrgenommen wird.128 125 Vgl. aaO. 350ff. 126 Vgl. ZEINDLER, Gott und das Schöne, 362f. Vgl. dazu LINK, CHR., Die Welt als Gleichnis. Studien zum Problem der natürlichen Theologie (BEvTh Bd. 73), München 21982, 310. 127 Vgl. ZEINDLER, aaO, 287. 128 Vgl. aaO, 365f. Die Grenze, welche dem Menschen als homo faber im Schönen begegnet, wird von Zeindler ebenso als ein wichtiger Beitrag zur Schöpfungsethik verstanden. In anderem Zusammenhang weist Zeindler auf, wie sich auch bei einem Verständnis der Autonomie und Unabhängigkeit der Kunst ethische Dimensionen ergeben können, die exemplarisch in einer rezeptiven Haltung des Respekts und dem Verzicht auf Gewalt ihren Ausdruck finden. Vgl. ZEINDLER, M., Kunstwahrnehmung als exemplarische Beziehung. Zum Verhältnis von Kunst und Ethik, in: NZSTh 38 (1996), 74-96. Auch für Körtner muss sich eine theologische Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre auch auf eine ethische Wahrnehmungstheorie be-
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Die ebenfalls ästhetisch bestimmte Freude an Gott ist auch durch Attraktivität gekennzeichnet, die wiederum die Gemeinschaft zwischen Mensch und Gott stiftet. Da aber die Wahrnehmung der göttlichen Schönheit nicht auf vorausgehender Geschmacksbildung basiert, kommen in der Erfahrung der Schönheit Gottes nur verstärkt der Geschenkcharakter, die ekstatische Struktur des Glaubens und damit die Passivität und empfangende Grundhaltung des Menschen vor Gott zum Ausdruck, was mit der Anschauung im Sinne der zeitlichen Dimension des Verweilens näher charakterisiert und bestimmt werden kann.129 Im Anschluß an Augustin erneuert Zeindler die Rede vom Genießen (frui) Gottes, die eine außerordentlich hohe Ausdruckskraft für eine theologische Ästhetik besitzt, da sie ebenso wie der Begriff der Resonanz im Zusammenhang des als Antwort verstandenen Lobes göttliche und menschliche Seite der Wahrnehmung verbindet, indem sie das Geschehen der Schönheitswahrnehmung Gottes sinnlich und bildlich zu umschreiben versucht.130 Davon ist die eschatologische Wahrnehmung als „unmittelbares Gegebensein für den Wahrnehmenden“ zu unterscheiden, nämlich die Wahrnehmung Gottes im Schauen.131 Der Modus des Glaubens ist also als die mittelbare Anwesenheit im Wort verstanden. Wie Gottes Liebe selbst, so vergegenwärtigt sich auch die Form seiner Liebe im Wort der Verkündigung.132 Dagegen meint die eschatologische Wahrnehmung unmittelbare sinnliche Wahrnehmung im Wort in der Gemeinschaft der Heiligen, wobei auch das eschatologische Sein als ein leibliches Sein vorzustellen ist (1 Kor 15, 42-50), das allerdings eine qualitativ vollkommen neue Sinnlichkeit kennt.
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ziehen (KÖRTNER, U. H. J., Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder, Göttingen 1999, 76f.). Vgl. auch FISCHER, J., Wahrnehmung als Proprium und Aufgabe christlicher Ethik, in: DERS., Glaube als Erkenntnis. Zum Wahrnehmungscharakter des christlichen Glaubens (BEvTh 105), München 1989, 91-118. Vgl. ZEINDLER, Gott und das Schöne, 267ff. Vgl. ZEINDLER, Gott und das Schöne, ebd. Allerdings ist zu fragen, warum Zeindler nicht analog dazu auch das Genießen der Welt theologisch zu denken vermag? Vgl. zur Kritik der augustinischen Rede vom frui deo zugunsten eines frui mundo im Rahmen einer ästhetischen Frömmigkeit ROTH, M., Sinn und Geschmack fürs Endliche. Überlegungen zur Lust an der Schöpfung und der Freude am Spiel, Leipzig 2002, hier bes. 38. Vgl. ZEINDLER, aaO, 259. Vgl. zu diesem Wahrnehmungsbegriff auch DALFERTH, I. U., Kombinatorische Theologie, 157. Vgl. ZEINDLER, aaO, 258ff.
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2.5 Schönheit der Schöpfung und Sünde In dem Werk „Gott und das Schöne“ finden sich Ausführungen zu Schönheit der Schöpfung und Sünde, die einen Unterpunkt zum Kapitel C: „Die Schönheit der Schöpfung“ darstellen. Dieser Teil korrespondiert mit dem nachgeordneten Unterpunkt „Glaube und Schönheit der Schöpfung“ als Ausdruck der Schöpfungsgemäßheit, die in der Sünde des Menschen pervertiert und korrumpiert wird. Parallel dazu findet sich im Teil „Die Schönheit der Kultur“ der Abschnitt: „Schönheit der Kultur und Sünde“, welchem wiederum der sich daran anschließende Abschnitt „Versöhnung und Schönheit der Kultur: die Kirche“ entspricht. Zeindler bestimmt die ästhetische Dimension der Sünde als Hässlichkeit, wobei das Hässliche nicht allein wegen der unvollkommenen Beschaffenheit deformiert ist, eine disharmonische Form oder eine Gestaltstörung besitzt, sondern auch eine Form der Verletzung und der Zerstörung darstellt.133 Die Dimension der Sünde im Kontext der Schönheit muss nach Zeindler in zweifacher Hinsicht untersucht werden: Zum einen nach der „objektiven Seite“, inwiefern die Schöpfung selbst von der sündigen Haltung des Menschen mit beeinflusst ist, zum anderen nach der „subjektiven Seite“ in Hinsicht auf die Konsequenzen für die menschliche Wahrnehmung.134 Zeindler arbeitet zunächst die lebensfeindliche und gemeinschaftszerstörende Tendenz der Sünde in umgekehrter Entsprechung zur Schönheit heraus, indem er es als „Sich-Abwenden“ im Unterschied zum „Verweilen“ charakterisiert.135 In Differenz zu einer schöpfungsgemäßen, der Kreatürlichkeit entgegenkommenden Dankbarkeit macht der Sünder auch die außermenschliche Kreatur zum Objekt seiner Selbstbehauptung.136 Des weiteren wird durch die Sünde nicht nur die uns umgebende Ordnung und deren ästhetische Phänomenalität beeinträchtigt, sondern gleichermaßen die menschliche Wahrnehmung von Schönheit und Hässlichkeit, was dazu führen kann, dass der Mensch in seinen ästhetischen Urteilen auch die Realität verkennt.137 Diese Gedanken entwickelt Zeindler auch mit einem Hinweis auf W. Mostert. Nach Mostert besteht das Wesen der Sünde in der Verweigerung ge-
133 134 135 136 137
Vgl. aaO, 339. Vgl. ZEINDLER, Gott und das Schöne, 337ff. Vgl. aaO, 340ff. Vgl. aaO, 339. Vgl. aaO, 342.
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genüber dem gnädigen Gott138, indem nämlich der Sünder das Geschaffene nicht als Gabe annimmt, sich nichts gewähren lassen kann, sondern alles als sein feindliches Umfeld auffasst. Das bringt ihn dazu, die Schönheit nicht mehr wahrzunehmen und das Geschaffene nicht als Gabe sein lassen zu können. Im Zusammenhang der Untersuchung der subjektiven Seite des Verhältnisses von Sünde und Schöpfung verhandelt Zeindler im Kapitel „Sünde und ästhetische Wahrnehmung der Schöpfung“139 die Sündendimension in der Schöpfung, die am Naturschönen orientiert ist, jedoch in diesem Begriff nicht aufgeht. Da die Gesichtspunkte bzw. Manifestationen der Sünde im Verhältnis zur Schöpfung mit denen der Sündendimension in der Kultur, welche stärker am Kunstschönen ausgerichtet ist, nahezu identisch sind, sollen jene nur im zweiten Zusammenhang erläutert werden.140 Zeindler beschreibt den abstoßenden Charakter des Hässlichen, der in sieben Pervertierungen von Schönheit begegnet:141 1.) Die Selbstabschließung des Menschen trägt insofern Hässlichkeit an sich, als diese letztlich in ihrem Ziel gegen die Gemeinschaft gerichtet ist, also als Gegenteil des Schönen, das gerade Gemeinschaft zu stiften versteht, charakterisiert wird. 2.) Die Ignoranz gegenüber der Schönheit der Kultur korrespondiert mit den oben gemachten Aussagen zur Verweigerung des Verweilens und Gewährenlassens der Schöpfergüte. In diesem Zusammenhang verweist Zeindler indirekt auf die Situation des Menschen, der sich im Ignorieren der Schönheit letztlich als nur zur Selbstrechtfertigung Fähiger verhält, indem er durch reine Produktion (und somit auch Funktionalisierung) sich selbst als Wahrnehmenden, Empfangenden und Gestaltenden verleugnet und die im Gabecharakter des Schönen dem Menschen zukommende Dimension verkennt. 3.) Unter Manipulierung des Schönen versteht Zeindler die Lokalisierung des Schönen (bei Zeindler hier identisch mit dem Ästhetischen) und damit Eingrenzung des Schönen in bestimmte Bereiche unserer Wirklichkeit, was als bloße Verschönerung, Verhübschung bzw. Dekoration seine inhaltliche Auflösung bedeutet. Im Zusammenhang dieses 138 Vgl. MOSTERT, Gott und das Böse. Bemerkungen zu einer vielschichtigen Frage, in: ZThK 77 (1980), 453-478, 469; DERS., Sünde als Unterlassung. Bemerkungen zur Hermeneutik des Verhältnisses von Sünde, Gesetz und Wirklichkeit, in: DERS., Glaube und Hermeneutik. Gesammelte Aufsätze, hg. v. P. Bühler und G. Ebeling, Tübingen 1998, 157-175. 139 ZEINDLER, Gott und das Schöne, 342-347. 140 Vgl. ebd: 1.) Ignoranz; 2.) Manipulierung; 3.) Idolisierung; 4.) Ästhetizismus. 141 ZEINDLER, Gott und das Schöne, 388ff.
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„Provinzialismus“ merkt Zeindler an, dass die Provinzialisierung auch gerade durch die Beschränkung der Kunst auf den Begriff der Schönheit erreicht wurde. Insofern stellt gerade die Ablehnung des Schönheitsbezugs in der modernen Kunst eine Reaktion auf diese Lokalisierung und Funktionszuweisung durch die Gesellschaft dar.142 4.) Die Idolisierung des Schönen in der Kultur wird von Zeindler als Ignoranz des Gabecharakters der Kultur durch Gott verstanden, wodurch es zu einer Vergötzung des Irdischen und Immanenten kommt. 5.) Der Ästhetizismus meint, ohne einen außerästhetischen Bezug auskommen zu können. Im Grunde handelt es sich hierbei letztlich um eine Missachtung des Schönen, da es nichts anderes als „bloß Schönes“ zu sein beansprucht. Damit einhergehend ist ein Phänomen der Ästhetisierung bzw. Verhübschung der Alltagswelt verbunden, das keine Räume des Anästhetischen mehr kennt.143 6.) Des weiteren ist eine Manifestation der Sünde im Missbrauch des Schönen zu sehen, wie er in der Medienwelt und Warenästhetik anzutreffen ist. 7.) Die ästhetische Partikularisierung kann als Pervertierung zu einer sozialen Abgrenzung führen, die gemeinschaftszerstörende Tendenzen hat.144 2.6 Fazit Bei Zeindler herrscht ein Ästhetikverständnis im Sinne der Lehre vom Schönen vor. Dabei etabliert er den im gegenwärtigen ästhetischen Diskurs vermissten Schönheitsbegriff im Zusammenhang der Schönheit Gottes und der Wahrnehmung dieser Schönheit durch den Menschen. Jedoch versteht er Schönheit mit Karl Barth als Eigenschaft Gottes. Insofern gilt sie ihm nicht nur als Vorschein von Wahrheit, sondern als Erscheinung von Wahrheit. Schönheit wird somit selbst zur Qualität der Selbstoffenbarung Gottes. Der Mensch verhält sich adäquat zur Schönheit Gottes im Lob. Die Schönheit der Welt, die als Liebeserweis des Versöhners verstanden wird, gilt ihm als Gleichnis für die Schönheit Gottes. Das Nicht-Schöne und Nicht-Identische wird also als am Kreuz Jesu Christi grundlegend Überwundenes offenbar.
142 Vgl. aaO, 389, hier bes. Anm. 40. 143 Vgl. ZEINDLER, Gott und das Schöne, 390, hier bes. Anm. 42. 144 Vgl. aaO, 391.
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Allerdings ist gerade an dieser Stelle zu fragen, welchen hermeneutischen Ort das Nicht-Identische, Fragmentarische und Hässliche besitzt, mit dem wir weiter konfrontiert bleiben und was nicht nur auf den unangemessenen und damit sündhaften, also nichtschöpfungsgemässen Umgang mit der guten Gabe der Schöpfung zu reduzieren ist. Ferner ist zu fragen, ob es theologisch sinnvoll ist, wie Zeindler eine theologische Grundunterscheidung zwischen der Objektivität der Doxologie und der Subjektivität des Lobenden zu treffen, worin dieser die Gefahr einer Anthropologisierung bzw. eines Subjektivismus gegeben sieht. Als objektive Aussagen sind Zeindler zufolge nämlich solche Aussagen zu verstehen, die Gottes Sein und Handeln unter Absehung des menschlichen Subjekts sowie ohne Berücksichtigung der Auswirkungen seines Seins und Handelns auf den Menschen thematisieren. Wie gelangt Zeindler aber zu jenem archimedischen Punkt, von wo aus er theologische Aussagen in der Alternative von Objektivität und Subjektivität treffen kann? Ist nicht die Reflexion des Glaubens immer schon, gerade weil sie erkenntnistheoretisch vom homo peccator et deus iustificans auszugehen hat, nur mit den Auswirkungen auf den Menschen denkbar? Die theologische Begründung für die Ablehnung des Begriffs der „religiösen Erfahrung“145zugunsten der „Gotteserfahrung“ liegt für Zeindler primär in der Wahrung des Gegenstandsbezuges.146 Aus Furcht vor der Subsumtion unter einen allgemeinen Begriff der religiösen Erfahrung wird an der spezifischen Eigenart der Erfahrung des biblischen Gottes festgehalten.147 Zeindler setzt sich mit dem Thema des Schönen auch innerhalb der Erörterung verschiedener ästhetischer Erfahrungsformen auseinander, welche die Schöpfungserfahrung mit umfasst. Des weiteren wird ästhetische Erfahrung implizit in der Erfahrung des Gottesdienstes, besonders des Abendmahls, verhandelt, indem diese Erfahrung und auch die über Gottesdienst und Gemeinde hinausgehende Erfahrung als Erfahrung göttlicher Realpräsenz näher bestimmt wird. Zeindler versteht dabei unter ästhetischer Erfahrung eine besondere sinnliche Erfahrung: die Erfahrung des Schönen und des Wohlgefälligen. Eine unmittelbare Wirkung ästhetischer Erfahrung ist die Freude und die Attraktivität 145 Ebenso lehnt Zeindler in seinem Buch „Gotteserfahrung in der christlichen Gemeinde“ den Begriff der Glaubenserfahrung als zu subjektivistisch gefärbt ab. 146 „Theologisch gesprochen gründet Erfahrung des biblischen Gottes im Sich-zurErfahrung-Bringen Gottes selbst.“ (ZEINDLER, Gotteserfahrung, 69). 147 „Das bedeutet, dass die Erfahrung des biblischen Gottes primär deshalb eine Erfahrung sui generis ist, weil sie Erfahrung dieses Gottes ist, und erst in zweiter Linie, weil sie religiöse Erfahrung ist.“ (ebd).
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des Erfahrenen. Aber auch das Hässliche ist Gegenstand ästhetischer Erfahrung. Für Zeindler ist jedoch die ästhetische Erfahrung insgesamt pervertiert. Diese Pervertierung ist ein Phänomen menschlicher Sünde. Des weiteren vermisst man auch in den Untersuchungen zur Gotteserfahrung in der christlichen Gemeinde die Kategorie des Wortes Gottes, die wiederum das Gegenüber und Korrektiv für die Gotteserfahrung in der Gemeinde bilden muss. Da aber gerade das Wort das „Extra-Nos“ – auch und gerade im Abendmahlsgeschehen – repräsentiert, kann es nicht durch eine allgemeine Sprachstruktur, durch Tradition oder Lehre ersetzt werden, sondern stellt vielmehr auch deren Gegenüber und Korrektiv dar. Zeindlers Analyse ist darin recht zu geben, dass die Theologie aus ihrer Perspektive eine Beschreibung der Wirklichkeit, in unserem Fall der kulturellen Wirklichkeit, vornehmen kann und soll, da es sich in der christlichen Beschreibung der Wirklichkeit um eine Sicht der Gesamtwirklichkeit handeln muss, wenn sie sich nicht auf einen Teilaspekt reduzieren lassen will. Jedoch ist zu fragen, ob man sich dem Phänomen der Sünde dadurch nähert, dass man Manifestationen der Sünde z.T. mit Phänomenen unserer Kultur identifiziert.148 Wenn das Gottesverhältnis des Menschen gestört ist, pervertiert der Mensch alle Verhältnisse einschließlich des Verhältnisses zu Schöpfung und Kultur. Ich halte es jedoch für problematisch, solche ambivalenten Phänomene wie „Ästhetisierung der Lebenswelt“149 oder „ästhetische Partikularisierung“ mit Sünde im christlichen Sinne schlicht zu identifizieren, wenngleich alle diese Formen zu Manifestationen von Sünde werden können und durchaus in dieser Pervertierung begegnen. Man vermisst an dieser Stelle einige fundamentaltheologische Erörterungen, die den Sachverhalt klarer herausarbeiten. 148 Zu Zeindlers Thematisierung des Zusammenhangs von Sünde und Ästhetik lässt sich folgendes ergänzen: Es ist zunächst zu fragen, welche „Zeichen einer Gott widersprechenden Kultur“, die neben einem Leidensbezug ebenso durch Freudlosigkeit und Abscheulichkeit gekennzeichnet ist, Zeindler konkret meint. Da er im weiteren Verlauf gerade die Gestaltungen der Gegenwartskunst in ihrem fremden Charakter würdigt, können diese oftmals ebenfalls von Abscheulichkeit und Gemeinschaftszerstörung geprägten Formen nicht von Zeindler gemeint sein und unter eine „Gott widersprechende Kultur“ subsumiert werden. In dieser Hinsicht hätte Zeindler noch schärfer und begrifflich klarer akzentuieren können. Hier zeigt sich auch die Schwierigkeit, mit „objektiven“ Kriterien Formen unserer Kultur eindeutig als „gottwidrig“ und „gottgemäß“ zu kategorisieren. 149 Vgl. BUBNER, Ästhetisierung der Lebenswelt, in: DERS., Ästhetische Erfahrung, Frankfurt am Main 1989, 143-156. Bubner bewertet diese zunehmende Ästhetisierung der Lebenswelt kritisch, da sie die Differenz und Distanz zwischen Kunst und Leben einebnet.
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Von Zeindlers offenbarungstheologischem als auch christozentrischem Ansatz her ist einleuchtend, dass er die Gesamtwirklichkeit auf ihre Wahrheit hin befragen muss. Daher kann Zeindler auch in der Kirche eine die Gesellschaft zur Wachheit gegenüber dem z.T. unscheinbaren Schönen oder auch Schwachen aufrufende Größe sehen, da in Jesus Christus die ästhetische Perversion bezwungen ist, woran die Kirche als Glaubensgemeinschaft partizipieren kann.150 In diesem Kontext nimmt Zeindler noch eine Unterscheidung zu Barths Bestimmung der Kirche im Unterschied zur Kultur vor, indem er sie als Kultur versteht, die durch ihre Verkündigung Gestaltungsaufgaben in der Welt wahrnimmt, wobei Zeindler Gottes aktive weltgestaltende Voraussetzung dieses Handelns nicht auf die Kirche als Institution beschränken möchte.151 Zeindlers Argumentation ist also durchaus stimmig, jedoch muss nach der Tragfähigkeit seines Ansatzes für die gegenwärtige Theologie im Gespräch mit Kultur und Gesellschaft weiter gefragt werden.152
150 Vgl. ZEINDLER, Gott und das Schöne, 392ff.399f. 151 Vgl. ZEINDLER, Gott und das Schöne, 374f. Gegenüber einer völlig dem Ästhetizismus verfallenen Welt ist es selbstverständlich eine Aufgabe des Evangeliums, wieder Frei-Räume vom Zwang zum Ästhetischen zu ermöglichen. Jedoch wird diese Aufgabe schon als gesellschaftliches Erfordernis (beispielsweise im Städtebau als Zonen des Anästhetischen) erwogen, so dass die Autonomie des Weltlichen zur Anerkennung durch die Theologie kommen sollte. Vgl. WELSCH, W., Ästhetisches Denken, Stuttgart 51998, 9-40. 63-68 sowie DERS., Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart 1996, 194: „Auch heute hat sie [die Kunst] – anders als im pseudopostmodernen Animationsbetrieb – in der Zuwendung zu Verborgenem, in der Exploration von unwahrnehmbar Gewordenem, Ausgeschlossenem oder Abweichendem eine ihrer wichtigsten Aufgaben.“ 152 Im Unterschied zu Zeindler verhilft Jüngel – von ähnlichen Voraussetzungen herkommend – der Kunst stärker zu ihrem Eigenrecht, indem er sie zwar in Beziehung, jedoch in unterschiedene Beziehung zum christlichen Kerygma setzt, was von seinem philosophischen Ästhetikverständnis her möglich ist. Kritiker Jüngels sehen gerade darin eine Schwäche, dass Jüngel keine dezidiert theologische Ästhetik zu entwerfen vermag. Jedoch muss sich eine theologische Ästhetik notwendig auf die philosophische Ästhetik beziehen.
II. Die Ästhetische Erfahrung des Glaubens. Theologische Ästhetik als Wahrnehmungstheorie Theologische Modelle Theologische Ästhetik als Wahrnehmungstheorie
1. Gerhard Ebeling – Wirklichkeit wahrnehmen 1.1 Hermeneutik und Ästhetik Der Klärung des Zusammenhangs von Sprache und Ästhetik widmete sich, wie oben dargestellt, E. Jüngel, welcher die metaphorische Sprache des Glaubens als Medium der Offenbarung versteht. Das Verständnis der Hermeneutik als Sprachverstehen begegnet ebenso bei G. Ebeling, der dazu formuliert: „Das primäre Verstehensphänomen ist nicht das Verstehen von Sprache, sondern das Verstehen durch Sprache. Das Wort ist eigentlich nicht Objekt des Verstehens, also das, was ein Verstehensproblem aufgibt, zu dessen Lösung es der Auslegung und eben darum auch der Hermeneutik als der Verstehenslehre bedarf. Vielmehr ist das Wort dasjenige, was Verstehen eröffnet und vermittelt, also etwas zum Verstehen bringt. Das Wort selbst hat hermeneutische Funktion.“1 Diesem Wortverständnis liegt eine „relationale Ontologie“ zugrunde, die den Menschen in seinem „Gegenübersein zum Text“ wahrnimmt. Gleichzeitig lehnt sich Ebeling darin auch an eine phänomenologische Hermeneutik an, die den Menschen als Mängelwesen in seinem Gegenübersein zum Text als ergänzungsbedürftig ansieht.2 Um Ebelings Wirklichkeitsverständnis umfassend einordnen zu können, muss man sich vor Augen führen, wie bei ihm Sprache in einem ganz umfassenden Sinne als Erschließungsphänomen fungiert. In dieser Hinsicht berühren sich auch das hermeneutische Anliegen im allgemeinen und dasjenige des Wahrnehmungsbezugs und der Kunstdeutung im besonderen. Im Laufe der Philosophiegeschichte ist eine Tendenz wahrnehmbar, dass immer dann, wenn das Zutrauen in den Begriff und die Bestimmtheit des rationalen Denkens stark ist bzw. Begriffe als Wahrheit anerkannt sind, das Bewusstsein für Sprache abnimmt. Diese Hochschätzung des Begriffs ist gegenwärtig tief erschüttert, ja hat sich zu einem prinzipiellen Misstrauen gegenüber dem Begriff entwickelt. Gleichzeitig hat konsequenterweise die Besinnung auf Sprache wieder
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EBELING, G., Wort Gottes und Hermeneutik, in: DERS., Wort und Glaube (abgekürzt WuG) I, Tübingen 31967, 319-348, 333f. Vgl. zu dieser Einordnung HUIZING, Homo legens, 91ff.
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zugenommen.3 Den engen Zusammenhang von Wirklichkeitsbezug und Sprachlichkeit als Grundphänomen kann man mit dem hermeneutischen Anliegen Heideggers und seines Schülers Gadamer erhellen, die Ebeling auf je unterschiedliche Weise für seine theologische Ortsbestimmung wichtige Anregungen gegeben haben.4 Die Aktualität der Ebelingschen Theologie für die gegenwärtige Theologie, die sich mit der wachsenden Bedeutung der Ästhetik auseinanderzusetzen hat, besteht nicht zuletzt darin, dass Ebeling die Zentralstellung und den fundamentalen Charakter der Sprachlichkeit herausgearbeitet hat. Diesem Anliegen versuchen auch viele gegenwärtige ästhetische Entwürfe Rechnung zu tragen. Jedoch ist hier zugleich eine Differenzierung und Präzisierung erforderlich, da der Sprachbezug vieler gegenwärtiger ästhetischer Theorien sich gerade als Gegenwende zur Tradition versteht und vorrangig die Selbstergreifung der Sprache thematisiert bzw. die Sprache als eigenständige, in sich geschlossene Sprachwelt behandelt. Ebeling und Gadamer ist jedoch dieses abgedichtete Sprachverständnis fern; sie betonen mit dem nicht aufzuhebenden Traditionsbezug den elementaren Weltbezug der Sprache, wo3 4
Vgl. SCHULZ, W., Metaphysik des Schwebens. Untersuchungen zur Geschichte der Ästhetik, Pfullingen 1985, 102f. Ebelings „Theologische Sprachlehre“ (EBELING, G., Einführung in theologische Sprachlehre, Tübingen 1971) knüpft philosophisch sowohl an Heideggers Spätphilosophie als auch an Gadamers Hermeneutik des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins an (vgl. EBELING, Sprachlehre, 107 und DERS., Gott und Wort, in: DERS., Wort und Glaube II. Beiträge zur Fundamentaltheologie und zur Lehre von Gott, Tübingen 1969, 396-432, 402). Für Gadamer gilt für die Hermeneutik die Sprache als „das universale Medium, in dem sich das Verstehen selbst vollzieht“ (GADAMER, H.-G., Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in: DERS., Gesammelte Werke Bd. 1: Hermeneutik I, Tübingen 61990, 392). Für Gadamer stellt die „Sprachlichkeit“ (GADAMER, Wahrheit und Methode, 393/[=367/368] nämlich „die Vollzugsweise der hermeneutischen Erfahrung dar“ (aaO, 445/[=418]). Ebeling übernimmt diese Einsichten für eine hermeneutische Theologie: „Das Grundphänomen ist nicht das Verstehen von Sprache, sondern das Verstehen durch Sprache.“ (EBELING, Sprachlehre, 146; vgl. oben EBELING, Hermeneutik, 333f). Ebeling verwahrt sich im übrigen gegen ein Ausspielen der Begrifflichkeiten von „hermeneutischer Theologie“ und „theologischer Hermeneutik“, wie es in folgender Argumentation anzutreffen ist: „’Hermeneutische Theologie’ sei, weil eingeengt auf die rein spirituelle Sinnfrage, als eine Mißgeburt der Moderne abzutun; ‚Theologische Hermeneutik’ dagegen, postmodern aufgefaßt als der Weg ‚Vom Mythos zu den Medien’, überbiete solchen Spiritualismus und gebe der Körperlichkeit des Überlieferungsprozesses Raum.“ Vgl. diese Darstellung bei EBELING, G., Hermeneutik zwischen der Macht des Gotteswortes und seiner Entmachtung in der Moderne, in: DERS., Wort und Glaube IV. Theologie in den Gegensätzen des Lebens, Tübingen 1995, 209-225, 210; Vgl. zu dieser These NETHÖFEL, W., Theologische Hermeneutik. Vom Mythos zu den Medien (NBST Bd. 9), Neukirchen-Vluyn 1992.
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mit das Spannungsverhältnis zu jenen ästhetischen Theorien angedeutet ist.5 Mit Figal kann man das Anliegen der Hermeneutik in Philosophie und Theologie dahingehend zusammenfassen, dass sie sich als „Philosophie der begrenzten Vernunft“ versteht, da sie der Geschichtlichkeit und Sprachlichkeit des Denkens Rechnung tragen will und somit auf einen Absolutheitsanspruch verzichtet.6 1.2 Erfahrungstheologie Mit dem Ausgeführten ist schon angedeutet, dass Ebeling seine Theologie als Erfahrungstheologie versteht. In seinem Erfahrungsverständnis kommt sein hermeneutisches Denken zum Tragen, da er unter Erfahrung nicht nur die eigene Lebenserfahrung fasst, sondern die gesamte überlieferte Erfahrung des christlichen Glaubens. Das heißt also, dass die eigene Lebenserfahrung durch die Begegnung mit anders gearteter Erfahrung erweitert und bereichert wird. Auch die wissenschaftliche Welterfahrung als eine Form der Welterfahrung und die lebensmäßige Erfahrung, die wir mit ihr machen, gehören in den Erfahrungshorizont.7 Entscheidend ist dabei, dass die spezifisch religiöse Erfahrung für Ebeling in der allgemeinen Lebenserfahrung angelegt ist.8 Dass sich christliche Theologie mit menschlicher Erfahrung auseinandersetzen muss, hat seinen Grund im elementaren Erfahrungsbezug der Bibel. Denn in der Bibel geht es um menschliches Leben coram deo. Daraus ergibt sich ein hermeneutisches Prinzip für den Umgang mit der Bibel: „Den Erfahrungsbezug der Bibel abblenden hieße, ihren 5 6
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Vgl. SCHULZ, Metaphysik des Schwebens, 101ff. FIGAL, G., Der Sinn des Verstehens. Beiträge zur hermeneutischen Philosophie, Stuttgart 1996, 11ff: „Diese Konzeption einer begrenzten und derart unreinen, aber darin gerade nicht grenzenlos relativierten Vernunft ist im hermeneutisch zentralen Begriff des Verstehens angezeigt: Verstehen ist ein sich jeweils in besonderer Perspektive artikulierendes geschichtliches Erkennen, dessen Medium nicht selten die Sprache ist.“ (aaO, 12f). Vgl. EBELING, G., Dogmatik des christlichen Glaubens Bd. I: Prolegomena = Teil 1. Der Glaube an Gott, den Schöpfer der Welt, Tübingen 31987, 41f. Vgl. EBELING, G., Dogmatik des christlichen Glaubens Bd. III = Teil 3. Der Glaube an Gott, den Vollender der Welt, Tübingen 31993, 18 (vgl. auch oben). Vgl. dazu auch die Einschätzung Moltmanns, der Ebelings Theologie insgesamt als „theologia naturalis moderner Existenz“ (MOLTMANN, J., Anfrage und Kritik. Zu G. Ebelings „Theologie und Verkündigung“, in: EvTh 24 [1964], 25-34, 31) bezeichnet hat. Vgl. dazu ebenfalls GOEBEL, H. TH., Wort Gottes als Auftrag. Zur Theologie von Rudolf Bultmann, Gerhard Ebeling und Wolfhart Pannenberg, Neukirchen-Vluyn 1972, 173f.
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Lebensbezug verkümmern lassen.“9 Die Dimension des Lebens und der Lebenserfahrung ist der eigentliche Horizont, in welchem die Theologie überhaupt sinnvoll von ihrer Sache reden kann. „Wer erfassen will, was es um den christlichen Glauben ist, der muß jedenfalls so offen wie möglich dasjenige wahrnehmen und einbeziehen, was ihm das Leben an Erfahrungen vermittelt oder auch versagt.“10 Andererseits wird die Verhältnisbestimmung von Glaube und Leben den ambivalenten Sachverhalt zu bedenken haben, dass der Glaube sich als „lebenswichtig“, „lebensnotwendig“ versteht, aus der Außenperspektive aber als „lebensfern oder gar lebensfeindlich“ gilt.11 Hierbei geht es Ebeling primär um das Verhältnis von Lebens- und Glaubenserfahrung als Bedingung der Möglichkeit theologischer Erkenntnis.12 In der Verhältnisbestimmung von Glauben und Leben stellt die Erfahrung das tertium comparationis dar.13 Alle allgemeinen Erfahrungen, die per se einen „Transzendenzbezug“ besitzen, sind auf die Glaubenserfahrung ansprechbar. Damit gewinnt die Erfahrung eine vermittelnde Position zwischen Glauben und Leben, wobei hier besonders die Bedeutung der Existentialien und der sich im Sprachgeschehen äußernden existentialen Interpretation in der Philosophie Martin Heideggers und deren theologische Rezeption bei Rudolf Bultmann von Ebeling herangezogen werden müssen.14 Göttliche und menschliche Wirklichkeit sollen so miteinander vermittelt werden. Hier sind nur wesentliche Strukturelemente des Erfahrungsbegriffs Gerhard Ebelings zusammenzufassen15, wobei seine Konzeption der Erfahrung ein Paradigma des Grundproblems der Erfahrung in der Vermittlung von Besonderem und Allgemeinem darstellt.
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EBELING, Theologie in den Gegensätzen des Lebens, in: DERS., WuG IV, aaO, 3-23, 18. Schon in den frühen Vorlesungen zum „Wesen des christlichen Glaubens“ (1959) fragt Ebeling nach Wirklichkeit und Ort des Glaubens. Vgl. hierzu auch HILLER, D., Konkretes Erkennen. Glaube und Erfahrung als Kriterien einer im Gebet begründeten theologischen Erkenntnistheorie, Neukirchen-Vluyn 1999, 92ff. EBELING, Dogmatik I, 2. AaO, 79. Vgl. auch HILLER, Konkretes Erkennen, 93. Vgl. aaO, 101. Vgl. aaO, 101ff. Vgl. EBELING, G., Die Klage über das Erfahrungsdefizit in der Theologie als Frage nach ihrer Sache, in: DERS., Wort und Glaube III. Beiträge zur Fundamentaltheologie, Soteriologie und Ekklesiologie, Tübingen 1975, 3-28. Erfahrung wird dann auch zum Grundbegriff der „Dogmatik des christlichen Glaubens“, denn „[d]urch ihn wird die Lebenswirklichkeit aufgeboten und in die dogmatische Aufgabe einbezogen“ (EBELING, Dogmatik I, 41).
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Ebeling interpretiert den in der heutigen Theologie beklagten Mangel an Erfahrung, aber auch an Praxisbezug jeder Art, als Verlust einer Bereitschaft, sich selbst Erfahrungen auszusetzen. Mit der Rede „über“ Erfahrung hat man noch keine Erfahrung, ist man noch außerhalb von ihr.16 Er selbst steckt das Bezugsfeld der Erfahrung in vierfacher Hinsicht nach Strukturmomenten ab: 1. der Lebensbezug, der vorrangig im Kontext der alltäglichen und verworrenen Lebenserfahrung begegnet;17 2. der Geschichtsbezug, der in der eigenen Lebenserfahrung als erinnerter Lebensgeschichte und durch das Teilhaben an überlieferter Erfahrung, welche nur sprachlich möglich ist, gegeben ist; 3. der Wirklichkeitsbezug in Form des Einzelnen, Konkreten, Kontingenten, wobei die Spannung zum Ganzen grundlegend bleibt; 4. der Wahrnehmungsbezug, der die menschliche Sinneswahrnehmung und die Bezogenheit von innerer und äußerer Erfahrung beschreibt. In der religiösen Erfahrung kommen alle diese Bezüge zusammen, was ihre Unterscheidung von Metaphysik und Moral verdeutlicht.18 Entscheidend ist dabei allerdings, dass Erfahrung phänomenologisch betrachtet immer durch diese allgemeinen Strukturmomente bestimmt ist.19 Sowohl für die profanen Wissenschaften als auch für die Theologie wird aufgrund des allgemeinen Erfahrungsmangels die „Erfahrung mit der profanen Erfahrung“20 gefordert, wobei die Theologie mit ihrem
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Vgl. EBELING, Erfahrungsdefizit, 15f. Allerdings hat selbst das abstrahierende und kontrollierbar werdende Experiment einen entfernteren Lebensbezug. Vgl. EBELING, Erfahrungsdefizit, 17-21. F. Wagner kritisiert an dieser Konzeption zu Recht die Ungeklärtheit der Begriffe des Lebens, der Geschichte, der Wirklichkeit und der Wahrnehmung und ihren viel zu allgemeinen und abstrakten Charakter, der genauso gut auf andere Begriffe anwendbar ist und sich darum gerade nicht der spezifischen religiösen Erfahrung annähert. Vgl. WAGNER, F., Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986, 464f. Man kann allerdings auch eine gewisse Plausibilität für solche offenen und weiten Begriffe finden, da die Begriffsklärung insgesamt noch unabgeschlossen ist und darum eine Offenheit auch vor vorschnellen Verengungen oder Einseitigkeiten bewahrt. Vgl. HILLER, Konkretes Erkennen, 94. EBELING, Erfahrungsdefizit, 22. Vgl. auch JÜNGEL, E., Unterwegs zur Sache. Theologische Bemerkungen (BEvTh Bd. 61), München 1972, 8, wo unabhängig von Ebeling diese Wendung begegnet: „Es wird dabei um die Beziehung von Besonderem und Selbstverständlichem, von Evangelium und Welterfahrung gehen, mithin um so etwas wie eine neue Erfahrung mit der Erfahrung. Denn der Glaube ist ja auf jeden Fall eine Erfahrung, die wir mit der Erfahrung machen und machen müssen.“ Vgl. DERS., Metaphorische Wahrheit, 156 sowie DERS., Das Dilemma der natürlichen Theologie, 176: „Daß dabei unsere alltäglichen Erfahrungen zugleich in eine fundamentale Krise geraten können, die ihre Alltäglichkeit aufgrund des besonderen Er-
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Lebensbezug einen eigenen wissenschaftstheoretischen Beitrag leisten kann, der wiederum eine kriteriologische Wirkung auf die gesamte Wissenschaft auszuüben vermag. Die „Erfahrung mit der profanen Erfahrung“ als religiöser Erfahrung kann dort gemacht werden, wo die Welterfahrung an ihre Grenzen kommt, d.h., wo sie mit ihrer Relativität, Endlichkeit, Kontingenz und Geschichtlichkeit konfrontiert wird.21 So kommt religiöse Erfahrung immer „in, mit und unter der profanen Erfahrung“ 22 zur Geltung. Zur Verhältnisbestimmung von christlicher Glaubenserfahrung, religiöser Erfahrung und profaner Erfahrung bemerkt Ebeling, dass die Aufgabe einer christlichen Theologie darin besteht, „das spezifisch Christliche in Hinsicht auf die profane Welterfahrung so zur Sprache zu bringen, daß damit Grundelemente religiöser Erfahrung überhaupt angesprochen und zum Bewußtsein gebracht werden.“23
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eignisses der Gotteserfahrung aufbricht, widerspricht dem Wesen der Erfahrung keineswegs.“ (ebd). Damit ist deutlich, dass Jüngel vom Glauben als einer ganz und gar neuen Erfahrung ausgeht, eine „durch das Wort vom Kreuz ermöglichte Erfahrung mit der Erfahrung“ (JÜNGEL, Geheimnis, XIII). Dabei ist der Glaube „nicht einfach eine fixierbare Erfahrung unter anderen, sondern die verwirklichte Bereitschaft, mit der Erfahrung selber neue Erfahrungen zu machen“ (aaO, 225). Ebeling dagegen schließt phänomenologisch von der allgemeinen Welterfahrung über die religiöse Erfahrung, die auch religiöse Elemente in menschlichen Grenzerfahrungen oder Kontingenzerfahrungen einschließt, auf die christliche Glaubenserfahrung, wobei er diese Denkbewegung als Interpretation der lutherischen Rede von Gesetz und Evangelium versteht. Dennoch drängt die Lebenserfahrung zum Glauben und nicht umgekehrt. Vgl. auch TRACK, J., Erfahrung Gottes. Versuch einer Annäherung, in: KuD 22 (1976), 1-21, 6.9, wo Track den unmittelbaren und individuellpersönlichen Charakter der Erfahrung und das Moment der Passivität als „Widerfahrnischarakter“ der Erfahrung betont (6f). Allerdings argumentiert Wagner sehr konsequent, wenn er diesen an der allgemeinen Erfahrung gewonnenen religiösen Erfahrungsbegriff ad absurdum führt: „Die persönliche religiöse Erfahrung resultiert dann daraus, dass die alltägliche Erfahrung im Lichte der Interpretationsmöglichkeiten einer religiösen Tradition so gedeutet wird, dass das erfahrende Subjekt mittels der tradierten Deutungsmöglichkeiten die gegebene alltägliche Erfahrung bestimmt und interpretiert.“ (WAGNER, Was ist Religion, 467) „Lassen sich einzelne religiöse Erfahrungen also nicht direkt auf ein Handeln Gottes zurückführen, so kann gleichwohl das immer schon vorausgesetzte und beanspruchte Konstituiertsein des religiös-erfahrenden Bewußtseins selber als ‚Geschenk Gottes’ verstanden werden. [...] Aber der Grund, auf den es sein Konstituiertsein bezieht, ist unter der Bedingung des religiösen Bewußtseins ein von diesem dependierender Grund, da das Verhältnis von Grund und Gegründetem in der einseitigen Beziehung des religiösen Bewußtseins auf den göttlichen Grund begründet ist.“ (aaO, 469). Vgl. HILLER, Konkretes Erkennen, 94. EBELING, Erfahrungsdefizit, 24. Ebd.
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Dabei argumentiert Ebeling jedoch nicht wie Schleiermacher ausgehend von der Erfahrungswelt des Menschen, die auf den Glauben als Restauration der Einheit von Gott und Mensch ausgerichtet ist, sondern beschreibt vielmehr die Bewegung des Glaubens hin auf die Erfahrungswelt, welche im Glauben als Ort des Unglaubens aufgedeckt wird.24 Die Weite des Erfahrungshorizonts wird im christlichen Glauben durch das Zusammenspiel von Gottes-, Welt- und Selbsterfahrung bestimmt, wobei der Glaube „diese gottgemäße Erfahrung mit aller Erfahrung“25 ist. Dabei werden die generelle coram-Struktur und die speziellere simul-Struktur miteinander verknüpft: Der Mensch ist von sich aus vor Gott ein Sünder, von Gott aus ein gerechtfertigter Sünder. In der Erfahrung der Grundsituation des Menschen, die als Gesetz in der Welterfahrung erscheint, wird die Angewiesenheit auf das Wort Gottes deutlich.26 Wie Schleiermacher im „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ die Grundverfasstheit des Menschen beschreibt, die allerdings erst in sekundärer Weise worthaft bestimmt ist, so geht Ebeling von einer Grundverfasstheit des Menschen als Sprachwesen aus, d.h., der Mensch ist von der Sprache schlechthin abhängig, seine Grundsituation ist die Wortsituation.27 So wird positiv vorausgesetzt, dass der Mensch, der Sprache hat, auch schon verantwortlich ist, und dass der Mensch Grunderfahrungen von Passivität, von Güte machen kann. Ebeling beschreibt also die in der Phänomenologie der Sprache ausgelegte Fundamentalanthropologie als allgemein menschliche Grundsituation. Jedoch weist insbesondere die Struktur der Verantwortung einen spezifisch religiösen Charakter auf. Wie wir auch bei Ebelings Wirklichkeitsverständnis beobachten können, geht es ihm in seinem religiösen Erfahrungsverständnis nicht um religiöse Spezialerfahrungen, sondern um entscheidende Erschließungserfahrungen, in denen das, wovon alle menschlichen Lebenserfahrungen handeln, durch den christlichen Glauben offengelegt wird. Man kann also sagen, dass Ebeling damit die Tiefendimension der Erfahrung im allgemeinen in den Blick zu nehmen versucht. Damit sind spezielle religiöse Phänomene, die durch Geistwirkung zustande kommen, nicht geleugnet, aber sie sind als religiöse Phänomene
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Vgl. HILLER, aaO, 98. EBELING, aaO, 25. Vgl. auch TRACK, J., Art. Erfahrung III/2. Theologiegeschichtlich. Neuzeit, in: TRE Bd. 10, Berlin/ New York 1982, 116-128, 125f. Vgl. dazu v.a. EBELING, Gott und Wort, passim.
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zugleich Lebensphänomene bzw. verdichtet sich in diesen religiösen Erfahrungen die Lebensproblematik als solche.28 1.3 Der Lebensbezug religiöser Erfahrung Wie aus der Fragestellung zu entnehmen ist, geht es bei der Erörterung der Verhältnisbestimmung von theologischer und ästhetischer Hermeneutik immer auch um das Verständnis von Religion und die Berechtigung des Begriffs der religiösen Erfahrung innerhalb einer christlichen Theologie. Darum soll dieses Problem vor der eigentlichen Behandlung der Wahrnehmungsthematik bei Ebeling kurz erläutert werden. Ebeling untersucht die Frage nach dem Verhältnis von Christentum und Religion innerhalb seiner „Dogmatik des christlichen Glaubens“.29 Dabei versteht er das Christentum als bestimmte Form der Religion. In dieser phänomenologischen Argumentation gilt, „daß der Glaube, zumindest vornehmlich, ein religiöses Phänomen ist.“30 Es stellt sich dabei allerdings sofort die Frage, ob nicht der Glaube ein Moment an sich habe, das sich der Subsumtion unter einen Allgemeinbegriff der Religion widersetzt, ob also dem christlichen Glauben nicht von jeher eine religionskritische Tendenz innewohnt. Ebeling versteht Religion gerade nicht als einen Allgemeinbegriff, sondern als die faktische Lebenswirklichkeit auch des Christentums, wobei er phänomenologisch argumentiert.31 Religiöses scheint bei aller Unselbstverständlichkeit in der Gegenwart mit dem Menschlichen gleichursprünglich zu sein32, wobei sowohl menschliche Sprache als auch Religion immer vielgestaltig und ohne eine gemeinsame Grund- oder Urform sind. Dieses Argument ist ein historisches, das nur von den geschichtlichen Religionsformen ausgehen kann und nicht auf einen abstrakten Religionsbegriff verweist. Generell scheint es im Menschsein also eine gewisse Empfänglichkeit für Religion zu geben, wie auch immer wir sie näher bestimmen.33 Gegenwärtig ist nun aber ein zunehmender Mangel der Religion dahingehend zu verzeichnen, dass sie nicht mehr in ausreichendem Maße zur „Lebensdurchdringung“ in der Lage ist.34
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Vgl. EBELING, Dogmatik III, 15f. EBELING, Dogmatik I, 111. AaO, 79. Vgl. ebd. Vgl. aaO, 112. Hier bezeichnet Ebeling Religion auch als „Urphänomen“. Vgl. aaO, 113. Vgl. aaO 115.
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Im Unterschied zu einer vor allem in soziologischen Religionstheorien vorherrschenden funktionalistischen Sichtweise, die ihr Interesse vornehmlich auf die als Sinndeutung verstandene Formalstruktur von Religion richtet, soll in dieser Erörterung des Verhältnisses von Religion und Wirklichkeit die Kontinuität mit der Religionsgeschichte und damit auch die Relevanz für die Lebenswirklichkeit nicht aufgegeben werden.35 Daher schreibt Ebeling: „Religion, so möchte ich definieren, ist die geschichtlich geformte vielgestaltige Verehrung einer Manifestation des Geheimnisses der Wirklichkeit.“36 Damit widersetzt er sich dem Missverständnis, allgemeine anthropologische oder ontologische Bedingungen der Möglichkeit von Religion den aktualen Bedingungen von Religion als geschichtlich manifestierter Lebenswirklichkeit gleichzusetzen, denn aus allgemeinen Lebensproblemen entspringt nicht gleich Religion. Ebeling vertritt die These, dass der Vollzug des Transzendierens gerade keine produktive Leistung ist, sondern nur dann von Religiosität zu sprechen ist, wenn sich „eine Manifestation des Göttlichen als Widerfahrnis und Gewährung“ vorausgehend ereignet hat. Religionskritiker wie Feuerbach und Marx gehen dagegen von einem Verständnis der Religion als projizierender Aktivität aus, weshalb sie sich die Frage nach ihrem Wirklichkeitsverständnis stellen lassen sollte. Vielmehr muss Ebeling zufolge ‚das Heilige’ als Erfahrungsgrund von Religion angesehen werden, allerdings ebenfalls nicht in einem diffusen Sinne, sondern in konkreter geschichtlicher Gestalt.37 Anhand des Symbolischen manifestiert sich eine dem Heiligen entsprechende Denkweise und Sprache, die sich zwischen Ding und Bild bewegt.38 Somit verweist das Symbolische immer auch auf eine religiöse Dimension, ohne dass diese ausdrücklich werden muss. Als Kriterium für die Integrität von Religion genügt nun aber nicht etwa schon das Vorhandensein von Sprache und Lebensformen einer Religion, sondern sie muss durch ihre Lebbarkeit und Lebendigkeit in Erscheinung treten.39 Bedenkt man das Verhältnis von Christentum und Religion, so ist das Absolute am Christentum als Religion in der Kategorie des Evangeliums, d.h. der Evangeliumsgemäßheit zu sehen.40 Dabei handelt es sich in entscheidendem Maße um eine extern bleibende und damit unver-
35 36 37 38 39 40
Vgl. aaO, 116f. AaO, 117. Vgl. Dogmatik I, 117f. Vgl. aaO, 119. Vgl. aaO, 124. Vgl. aaO, 135.
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fügbare Wahrheit, denn das Wahre am Christentum ist der Glaube als Versetztsein des Menschen außerhalb seiner selbst.41 Für das Christentum gilt demzufolge religionskritisch, dass der Glaube das Kriterium der Religion darstellt. Die Unterscheidung zwischen Religion als vielgestaltigem Gebilde und dem Evangelium als religionskritischer Kraft ist unbedingt aufrecht zu erhalten. Dennoch gilt, dass „Religion als Lebensbedingung des Glaubens“ anzusehen ist.42 Das trifft insofern zu, als reines Evangelium ohne Religion nicht verkündbar ist, da es das Evangelium stets nur in Relation zum Gesetz gibt: Es geht also nicht nur um die Möglichkeit eines Religionsbezuges seitens des Christentums, sondern um die notwendige Relation beider Größen, da die religiöse Dimension für eine sachgemäße Interpretation des Gesetzes notwendig ist. „Deshalb kann das Christentum wesenhaft nicht ausschließlich Evangelium darbieten, sondern muß in seiner Existenz als Religion die Beziehung von Gesetz und Evangelium zur Darstellung bringen.“43. Für die Konfrontation des durch den Wahrheitsbezug ausgezeichneten Evangeliums mit der Religion folgt daraus: „Die im Sinne des Evangeliums in Brauch genommene christliche Religion ist die zur Wahrheit gebrachte Religion.“44 Die Relation von Religion und Glaube verändert also nicht nur die Evangeliumsverkündigung, sondern diese wandelt auch die Religion, indem sie vom Evangelium in den Dienst der Wahrheit genommen wird. Bei alledem gilt, dass das Christentum dauerhaft Selbstkritik mit dem Maßstab des Evangeliums üben muss, was allerdings nicht auf eine Scheidung von Christentum und Religion hinauslaufen darf. Man kann also zusammenfassen, dass Ebeling den Religionsbegriff aufgrund der Unterscheidung und Bezogenheit von Gesetz und Evangelium im christlichen Glauben etabliert. 1.4 Erfahrung als Wahrnehmen der Sprachsituation Dem vorausgehenden Gedankengang liegt eine Prämisse zugrunde, die nach Ebeling nicht spezifisch theologisch ist: Die gesamte Wirklichkeit ist im Grunde relational verfasst. Und diese Relationalität besteht nicht nur im substantiellen Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Sie besteht vielmehr in einer allem Seienden gemeinsamen, dieses Seiende als Seiendes konstituierenden Tiefendimension. Im Unterschied zu
41 42 43 44
Vgl. aaO, 136. AaO, 138. EBELING, Dogmatik I, 139. Ebd.
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einer Substanzontologie, die auch unser gesamtes neuzeitliches Wissenschaftsverständnis beherrscht und der ein Wirklichkeitsverständnis der objektivierenden ratio entspricht, ist eine Ontologie der Relation auf die Wirklichkeit im ganzen bedacht und ausgerichtet. Besonders deutlich wird dieser ontologische Unterschied, wenn man ihn auf die Theologie und die theologische Anthropologie anwendet. Denn dann gilt folgendes Prinzip: „Das Reden von Gott und von der Welt ist nur dann situationsgemäß verstanden, wenn es als das Reden des Menschen und zugleich als das Reden zum Menschen und vom Menschen verstanden wird.“45 Denkt die Substanzontologie ausgehend von einem Substantiv, so rekurriert die Ontologie der Relation auf eine Präposition, ein Verhältniswort: das Wörtchen coram (in Gegenwart, im Angesicht, vor). Die so gedachte Relation nennt Ebeling „coram-Relation“.46 Die Präposition coram lässt sich etymologisch, genauso wie ihr althebräisches Äquivalent liphnej bzw. al-pnej auf das Phänomen des Angesichts zurückführen. Dies ist gerade auch im Zusammenhang theologischer Ästhetik bedeutsam, da für das Innewerden dieser coramRelation die elementare sinnliche Wahrnehmung konstitutiv ist. Denn im Gesicht begegnen sich Innen und Außen, durch das Gesicht blickt der Mensch aus sich heraus. Am Gesicht ist erkennbar, was im Menschen vorgeht, und durch das Gesicht nimmt der Mensch auch das von außen auf ihn Zukommende wahr. Das Gesicht birgt zugleich ein aktives und passives Moment in sich und ist prinzipiell korrelativ verfasst. Der Mensch ist Sehender und Gesehener zugleich, wobei nach Ebeling das Moment der Passivität den Vorrang hat. Sehen ist jeweils abhängig vom Gesehenwerden oder Nichtgesehenwerden. Insofern wird eine Bewegung von der Aktivität hin zur Passivität des mir Widerfahrenden vollzogen, wobei Ebeling auf die Verschränkung von Aussehen und Ansehen hinweist.47 In jedem Falle geht es in der Begegnung immer um das gegenseitige Bestimmen der jeweiligen Gegenwart, das erst ein Kommunikationsgeschehen ausmacht. Hier wird Ebelings somatologisches Denken deutlich.48 Neben diesem ästhetischen Moment i.S. des Gewahrwerdens49, das auch durch die gegenseitig gewährten Kategorien von Raum (bzw. Ort) 45 46 47 48 49
EBELING, Dogmatik I, 348. Vgl. aaO, 348f. Vgl. aaO, 350. Vgl. dazu auch TIMM, Diesseits des Himmels. Von Welt- und Menschenbildung. Facetten der Religionskultur, Gütersloh 1988, 71ff (Somatisierung). Vgl. hierzu das Ästhetikverständnis W. Welschs, der Ästhetik als Aisthesis i.S. des „Gewahrwerdens“ versteht (vgl. WELSCH, Ästhetisches Denken, 48 und das entsprechende Kapitel zur Ästhetik der Gegenwart; vgl. auch FERRY, L., Der Mensch
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und Zeit bestimmt ist, weist Ebeling auf die prinzipiell externe Konstitution des menschlichen Seins hin: „Für das Sein des Menschen ist konstitutiv, daß er ein Gegenüber hat und ein Gegenüber braucht, von dem her er überhaupt erst der wird, der er ist. [...] Man muß es auf das Widerfahrnis ankommen lassen, was der andere von einem hält.“50 Für unseren Zusammenhang ist nun das Gefüge der drei elementaren coram-Relationen, in denen sich der Mensch vorfindet, entscheidend: coram deo, coram mundo, coram meipso existiert der Mensch immer nur zusammen mit anderen. Der in dieser Zusammengehörigkeit der coram-Relationen aufzudeckende Lebensbezug als Sprachbezug soll den Zugang zur Erfahrung im allgemeinen ermöglichen, denn ein Erfahrungsbezug ohne Sprachbezug ist nicht möglich, ja es ist überhaupt erst durch ihn sinnvoll, von der sich in Sprache artikulierenden Erfahrung als Erfahrung zu reden. Deshalb kann Ebeling seine relationale Theologie wie folgt zusammenfassen: „die Grundsituation des Menschen als Wortsituation.“51 Das Wort Gottes ist nach Ebeling generell als Näherbestimmung des Offenbarungsbegriffs zu verstehen: „Offenbarung in theologischem Sinne ist ein Geschehen, welches das Zusammensein Gottes und des Menschen betrifft, und zwar des Menschen in seinem Zusammensein mit der Welt.“52 Dieses Zusammensein Gottes und des Menschen wird von Ebeling als „sprachliches Zusammensein“53 präzisiert. Im Anschluss an Luther sehen Ebeling und Fuchs den Menschen in seiner genuinen Sprachlichkeit, die das Wesen der menschlichen Existenz ausmacht. So wie der Mensch im existentiellen Sinne Gewissen ist, wird er auch durch Sprache und ihren Außenbezug, „das Angesprochensein, das Gehörsein, das einer Urteilsinstanz Ausgesetztsein“54 bestimmt. Ebeling versteht „Wort“ als „Wortgeschehen“ bzw. „Sprachgeschehen“.55 Damit soll der Ereignischarakter des Evangeliums unterstrichen
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als Ästhet. Die Erfindung des Geschmacks im Zeitalter der Demokratie, Stuttgart/ Weimar 1992). EBELING, Dogmatik I, 351. EBELING, Gott und Wort, 417 u.ö. EBELING, Dogmatik I, 249. Vgl. aaO, 260. Vgl. aaO, 107. EBELING, Hermeneutik, 342: „Wort ist darum nur recht verstanden, wenn es als ein Geschehen im Blick ist, zu dem zumindest zwei gehören – wie zur Liebe. Die Grundstruktur des Wortes ist darum nicht Aussage – das ist eine abstrakte Abart des Wortgeschehens -, sondern Mitteilung, gewiß nicht in dem abgeblaßten Sinne von Information, sondern in dem gefüllten Sinn von Partizipation und Kommunikation.“ Vgl. FUCHS, E., Was ist ein Sprachereignis? Ein Brief (1960), in: DERS., Zur
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werden: Es ist die lebendigmachende „Freudenbotschaft, die Freude verkündet und Freude wirkt“56. Der Mensch wird nach Ebeling durch die Botschaft des Evangeliums verwandelt, indem das im christlichen Sprachgeschehen begegnende Wort in seine eigene Sprachlichkeit tritt. Ebeling verweist auf die Bedeutung der Sprache in den Gleichnissen Jesu, die dadurch ausgezeichnet sind, dass sie auf das Verborgene achten und dabei das Leben im ganzen entdecken.57 Auch in den Gleichnissen wird das Alltäglichste interessant, wenn man darauf aufmerksam wird.58 Ganz allgemeine Alltagssituationen, in denen wir uns affektiv verhalten, stellen für Ebeling Anknüpfungsmomente für eine Glaubenssituation dar, wenn man sich ganz neu auf sie einlässt. Mit dieser generell symbolischen, das Verborgene vergegenwärtigenden Funktion des Wortes schreibt Ebeling der gesamten Sprache eine religiöse Potentialität zu. Die „Sprachlichkeit der Wirklichkeit“59 wird fundamentaltheologisch erörtert, indem die Grundsituation des Menschen als Sprachsituation näher bestimmt wird. Nach Ebeling ist der Mensch ein Wesen, „das Sprache hat“.60 Hierbei spielt insbesondere das Staunen und die Wahrnehmung des Augenblicks eine entscheidende Rolle, welche die Bereitschaft einschließt, sich von außen beschenken zu lassen.61 Entspricht ein Wort einer bestimmten Situation, so wird Ebeling zufolge gerade die Polarität von Besonderem und Allgemeinem, durch welche Erfahrung ausgezeichnet ist, aufrechterhalten. Das Wort, welches das menschliche Leben im ganzen betreffen soll, darf diese beson-
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57 58 59 60
61
Frage nach dem historischen Jesus (Gesammelte Aufsätze II), Tübingen 21965, 424430. Vgl. auch FUCHS, E., Hermeneutik, Bad Cannstatt 21958; DERS., Marburger Hermeneutik, passim; DERS., Zum hermeneutischen Problem in der Theologie. Die existentiale Interpretation (Gesammelte Aufsätze I), Tübingen 21965; DERS., Glaube und Erfahrung. Zum christologischen Problem im Neuen Testament (Gesammelte Aufsätze III), Tübingen 1965. EBELING, G, Dogmatik des christlichen Glaubens Bd. II = Teil 2. Der Glaube an Gott, den Versöhner der Welt, Tübingen 31989, 93. Vgl. auch PETZOLDT, M., Die Theologie des Wortes im Zeitalter der neuen Medien, in: KÖRTNER, U. H. J. (Hg.), Hermeneutik und Ästhetik. Die Theologie des Wortes im multimedialen Zeitalter, Neukirchen-Vluyn 2001, 57-97, 58. Vgl. EBELING, Dogmatik II, 442. Vgl. aaO, 443. EBELING, G., Theologie und Wirklichkeit, in: DERS., WuG I, 192-202, 202. EBELING, Gott und Wort, 418: „Der Mensch spricht, weil er von anderen Sprache als ihm vorgesprochene empfangen hat und weil er sich danach sehnt, auf sein eigenes Sprechen wiederum ein Echo, eine Antwort zu erhalten.“ Vgl. EBELING, Dogmatik II, 444.
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deren Situationen nicht übergehen.62 So lässt sich beispielsweise zeigen, wie sich Luther mit großer Leidenschaft für eine figurative Redeweise einsetzte, wie sie uns schon in der variationsreichen, lebendigen biblischen Bildsprache begegnet, um damit der Gefahr einer scholastischen Begriffssprache zu entgehen. Es findet sich auch bei Luther ein metaphorischer Sprachreichtum, wo das Reden von Christus und der menschlichen Sünde miteinander verbunden wird, ja sogar das Lob bis ins Hymnische gesteigert wird.63 Dieser Sprachreichtum ist eben nicht willkürlich oder beliebig, sondern hat zur Folge, dass sich Verstand und Gemüt weiten können, was eine entscheidende Voraussetzung für die Erfahrungsfähigkeit darstellt. So schließt sich Ebeling dieser Verschränkung von Sprache und Leben an, indem er konstatiert: „Gotteserkenntnis ist Sprachgeschehen“.64 „Hier kommt es darauf an, in welchem Verhältnis Leben und Sprache zueinander stehen. Wenn ich recht sehe, ist menschliches Leben nicht bloß in der Weise auf Sprache bezogen, daß sie als Kommunikationsmittel etwas Zusätzliches ist, damit sich das menschliche Leben in Sprache hinein ergießen und sich mitteilen kann. Sprache ist vielmehr das Constituens des Menschseins. Von daher könnte man sagen, daß menschliches Leben Sprache ist – allerdings in einem sehr weiten Sinne von Sprache. Diese Weite erschließt sich, wenn man das Verhältnis von Sprache als Potenz und Sprache als aktueller Vielsprachigkeit sowie die Beziehung beider zum Leben bedenkt.“65 „Wenn von Überlieferung durch das Wort die Rede ist, will dies in der ganzen Weite dessen verstanden sein, wie Wort sich vollzieht. Man darf es also nicht auf bloßes Reden und Nachreden reduzieren, muß vielmehr den Lebensvollzug berücksichtigen, aus dem heraus und in den hinein empfangenes Wort verantwortet und so gelebt wird. Dem Sachverhalt, der gemeint ist, werden wir am ehesten gerecht, wenn wir das Empfangen, das sich hier vollzieht und auswirkt, als einen Vorgang der Empfängnis verstehen, in welchem Leben durch Zeugen von Leben weitergegeben wird.“66 62 63 64 65
66
Vgl. EBELING, Dogmatik II, 445. Vgl. EBELING, G., „Christus .. factus est peccatum metaphorice“, in: DERS., WuG IV, 583-609, 598f. EBELING, G., Elementare Besinnung auf verantwortliches Reden von Gott, in: DERS., WuG I, 349-371, 369. EBELING, G., Gespräch über Dietrich Bonhoeffer. Ein Interview, in: DERS., WuG IV, 647-657, 656. Hier ist allerdings auch die Kritik Pannenbergs an Ebeling zu erwähnen, der dessen mythisches Wortverständnis kritisiert, das er in der Einheit von Gotteswort und Menschenwort gegeben sieht. EBELING, Sprachlehre, 66f.
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Ebeling nähert sich dem Problem von Sprache und Glaube, indem er das Sprachproblem als Hauptthema der modernen Dichtung beschreibt. Wie Hugo von Hofmannsthal in seinem berühmten „Brief“ von Lord Chandos an Francis Bacon konstatiert, versagt sich auch gerade für den Dichter das Wort und droht zu verstummen. Diese Phänomene sind Anzeichen einer tiefen Sprachkrise.67 Aus dem Bewusstsein dieser tiefen Sprachkrise und des damit zusammenhängenden völligen Sprachzerfalls ist aber bei Hofmannsthal ein Text von ungemeiner Sprachgewalt und Aussagekraft hervorgegangen, der eigentlich das Gegenteil des Behaupteten, nämlich die Macht der Sprache verkörpert.68 Allerdings ist die Ursache der Sprachkrise deutlich geworden: Wenn der Verstehenszusammenhang brüchig wird, steht die Sprache in der Gefahr, sich zu verselbständigen. Sie löst sich von ihrem Erfahrungsgrund ab und wird zu einer diffusen Allgemeinheit, die Konkretes nicht mehr zu fassen vermag.69 In der modernen Literatur und Kunst ist deshalb ein Ringen darum zu beobachten, wie inmitten eines allgemein zu verzeichnenden Sprachverlustes und Sprachverschleißes noch echte Aussagen mit glaubhaften Worten gemacht werden können, die Ausdruck eines gewissenhaften Sprachgebrauchs sind. Darum gehen sie wieder ganz zurück, um das, was unfasslich ist, sprachlich zu ertasten und aufzuspüren.70 Angesichts eines allgemein herrschenden Sprachzynismus kann dies bedeuten, für eine Weile einen radikalen Sprachminimalismus zu üben.71 Denn im allgemeinen, im alltäglichen und im wissenschaftlichen Umgang mit Sprache ist zu beobachten, wie sprachlich Konkretes in Allgemeines eingeordnet und diesem untergeordnet wird. Die Beschränkung auf die Allgemeinbegriffe büßt dabei Wirklichkeit ein, auch wenn die Sprache nicht auf das Verallgemeinern verzichten kann.72 Ein widerstrebendes Moment begegnet dagegen da, wo die „Atomisierung der Wirklichkeit“ auch zu einer „Atomisierung der Sprache“ führt, was insbesondere im alltäglichen Dasein in freudigen und belebenden Augenblicken geschieht.73 Für den Zusammenhang von Sprache und Erfahrungsbezug ist die oben genannte Prämisse entscheidend, dass Erfahrung immer schon
67 68 69 70 71 72 73
Vgl. aaO, 72. Vgl. aaO, 82. Vgl. aaO, 83. Vgl. aaO, 85f. Vgl. aaO, 87. Vgl. aaO, 75. EBELING, Sprachlehre, aaO, 77.
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sprachlich verfasst ist: „Denn ob mir etwas und was mir zur Erfahrung kommt, ist nicht einfach nur durch die Empfänglichkeit der Sinne bedingt, sondern hängt auch an der Aufgeschlossenheit für Sinn, an den bereits mitgebrachten Möglichkeiten, etwas als etwas zu bestimmen, etwas auf etwas hin zu betrachten, etwas zu anderem in Beziehung zu setzen, mit ihm zu vergleichen, in ursächlichem oder zielgerichtetem und zweckbestimmtem Verhältnis zu sehen usw. Man mag sich das im einzelnen daran erläutern, wie in einer bestimmten Erfahrungssituation von verschiedenen Menschen ganz Verschiedenes wahrgenommen wird, also ihnen nicht dasselbe zur Erfahrung kommt.“74 Deshalb kann man Erfahrung, Wahrnehmung und Sprache auf keinen Fall in einen eindeutigen kausalen Zusammenhang bringen, nach welchem aus Wahrnehmung Erfahrung und aus Erfahrung Sprache wird. Wahrnehmung und Erfahrung werden in Sprache nicht einfach abgebildet, sondern Wahrnehmung, Erfahrung und Sprache sind in einem hermeneutischen Zirkel zu begreifen. „Die Vorstellung, als sei die Erfassung der Sache, also die Wahrnehmung selbst, ein gleichsam nackter Tatbestand, dem dann erst nachträglich eine sprachliche Einkleidung zuteil werde, ist ebenso falsch wie die Erwartung, durch ein Entfernen der sprachlichen Hüllen könne man zur reinen Wahrheit vordringen.“75 Erfahrung kann demzufolge nur durch sprachliche Vermittlung gesammelt werden, was dann zur Erschließung von Wirklichkeit führen kann. Dabei müssen jedoch die Sinne durch Offenheit für den jeweiligen Sinn und Zusammenhang geschärft werden, was dem unmittelbaren Erleben Tiefe und Weite vermittelt und in die Wahrheit führt. Allerdings entscheidet zunächst die Fähigkeit zum Sehen darüber, ob ich Wahrnehmungen vermitteln kann und überhaupt auf Phänomene aufmerksam werde und dies weitergeben kann.76 Erst durch Sprache wird ein Augenblicksereignis zu seiner Deutlichkeit und Wahrheit gebracht, wobei Mehrdeutigkeit nicht ausgeschlossen bleibt.77 Dabei wird Sprache von Ebeling jedoch in einem weiteren Sinne verstanden, denn die Wahrnehmung durch Sprachlichkeit des Menschen leitet sich aus dem oben beschriebenen Antlitzcharakter und der Wahrnehmung des Gesichts des anderen ab, die immer auch schon ein „Bild“ impliziert: Somit ist Sprache als Kommunikations- und Begegnungsstruktur verstanden, welche die dialogische Verfasstheit des Menschen und seine dialogische Wirklichkeit unterstreicht. 74 75 76 77
AaO, 116. Ebd. Vgl. aaO, 134. Vgl. EBELING, Sprachlehre, 118.
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Im Kontext der Erfahrung geht es darum, Sprache wie ein Widerfahrnis zu empfangen, denn im Hören gehen wir zunächst passiv mit der Sprache um, wobei mit diesem Empfangen schon eine spezifische Weise von Aktivität impliziert ist, auf die später zurückzukommen ist.78 In diesem Sinne ist Reden „ein Vernehmenlassen“ und Hören entsprechend „ein Vernehmen“. Aber Reden entspringt auch erst aus dem Hören, d.h. aus einem vorgängigen Vernehmen.79 Im Unterschied und Gegensatz zur Verifikationsmethode, durch die der logische Positivismus ein sehr enges Verständnis von Wahrheit vertritt, das auf die „sinnlich-empirische Feststellbarkeit“ sowie „logistische Verrechenbarkeit und Stimmigkeit“ reduziert wurde80, wird Sprache hier in einem viel weiteren Sinne verstanden. Aus theologischer Perspektive müssen die Sprache der allgemeinen Welterfahrung und die Sprache der Theologie auf ihr gegenseitiges Verhältnis hin untersucht werden.81 Das kann allerdings nun nicht heißen, dass die theologische Sprachlehre als ein Spezialfall der allgemeinen Sprachlehre verstanden würde, denn das bedeutete ja eine Subsumtion des Besonderen unter einen Allgemeinbegriff.82 An der Bibel lässt sich erweisen, dass die Sprache des Glaubens ihrem Wesen nach in die Sprache der Welt tief eingesenkt ist. Allein „in dieser Begegnung mit der Sprache der Welt, ja nur durch sie kommt der Glaube überhaupt zur Sprache“.83 Die entscheidende Funktion der Sprache besteht für Ebeling darin, dass sie das Verborgene des Glaubens „in, mit und unter“ den greifbaren Erscheinungsweisen von Wirklichkeit erfasst.84 Das Evangelium begegnet also nicht als isoliertes Wort neben der nackten Wirklichkeit, sondern gerade in ihr.85 Für das Erfahrungsverständnis heißt es, eine Offenheit auch für Erfahrungen zu erlangen, welche die eigene Gegenwart übersteigen.86 Denn Wirklichkeitserschließung beginnt für Ebeling mit dem Staunen. Wird die Wirklichkeit nachdenklich und lauschend wahrgenommen, so können wir die Erfahrung des Geheimnisses der Wirklichkeit machen. Dieses Geheimnis der Wirklichkeit verweist wiederum auf das Geheimnis des Lebens.87 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87
Vgl. aaO, 196. Vgl. auch heute verstärkt das Anliegen der Rezeptionsästhetik. AaO, 197. AaO, 215. Vgl. aaO, 220. Vgl. aaO, 224. AaO, 230. Vgl. aaO, 246. Vgl. EBELING, Sprachlehre, 247. Vgl. aaO, 262. Vgl. EBELING, Dogmatik I, 291.
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Zunächst ist für Ebelings spezifisches Wahrnehmungsverständnis festzuhalten, dass es in seiner Tiefendimension und Tragweite über das allgemeine Wahrnehmungsverständnis im Sinne von sinnlicher Wahrnehmung hinausgeht: „Wir pflegen das Vernehmen begegnender Wirklichkeit als Wahrnehmung zu bezeichnen. Ob jedoch eine Wahrnehmung wirklich das ist, was diese Bezeichnung beansprucht, das bedarf der Prüfung durch Verifizierung des Wahrgenommenen als Wirklichkeit. Verifizierung ist vergewisserndes Wahrmachen von Wahrnehmung.“88 Dabei wird „wahrnehmen“ „beim Wort genommen“, indem es als „wahr-nehmen“ interpretiert wird, was auch die Dimension des Wahrmachens und des Zur-Wahrheit-Bringens umgreift. Das Wahrheitsverständnis gewinnt Ebeling hier im Anschluss an Heidegger, woraus sich auch die Unverzichtbarkeit des Wahrheitsbezugs für das Verhältnis zur Ästhetik ableitet. „Das so verstandene Wahrnehmen und Wahrmachen gehört in eine Dimension der Wirklichkeitsbegegnung, in der es nicht nur um die Wahrheit unserer Erkenntnis, sondern um die Wahrheit unserer Wirklichkeit selbst geht.“89 Die Wahrheit über unsere Wirklichkeit besteht im entscheidenden Maße darin, dass wir zum einen coram deo Geschöpfe sind und diese Geschöpflichkeit immer wieder als Sünder verfehlen. Zum anderen sind wir in Christus die Wahrgenommenen und zugleich wahr gemachten Geschöpfe, indem wir gerechtfertigt werden.90 Damit ist schon angedeutet, dass Wahrnehmung ein bedeutsames Moment in einem umfassenden, von Gott ausgehenden Erschließungsgeschehen ist. Diesem Erschließungsgeschehen gilt es sich in der Beschäftigung mit Ebelings Offenbarungsbegriff nun gesondert zuzuwenden. Ein besonderer und in unserem thematischen Zusammenhang sehr bedeutsamer Aspekt ist die ästhetische Dimension der Offenbarung. 1.5 Der ästhetische Offenbarungsbegriff Bevor wir uns dem ästhetischen Offenbarungsbegriff im besonderen zuwenden, muss zunächst die Verhältnisbestimmung von Offenbarung und Erfahrung, die oben schon angedeutet wurde, zur Sprache kommen. 88 89 90
EBELING, Wirklichkeit, 198. Ebd. Die im Wahrnehmungssinne verstandene Ästhetik sucht Ebeling neben der Bibel in der Erfahrung mit Liedern von Paul Gerhardt und anderen Dichtern. Vgl. EBELING, G., Erfahrungen mit Liedern von Paul Gerhardt, in: DERS., WuG IV, 646. Des weiteren beschäftigt sich Ebeling mit dieser Fragestellung in: DERS., Lautere Sprache – nährendes Wort, in: DERS.,WuG IV, 658-661.
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Ausgangspunkt der Überlegungen Ebelings ist die Einsicht, dass der Offenbarungsbegriff nicht notwendig auf den religiösen Bereich allein zu beschränken ist. In jedem Falle wird mit dem Begriff der Offenbarung ein unverfügbares Geschehen – sei es ein künstlerischer Einfall, das Aufgehen eines Gedankens, eine Intuition oder eine Vision, in der das diskursive Verstehen in den Hintergrund tritt, – umschrieben. Insbesondere im Kunstgeschehen als schöpferischem Akt schwingt sowohl inneres Erleben als auch Gefühl mit, dass selbst und gerade in einem sprachlichen Kunstwerk mehr ausgesagt und vernommen wird, als die Worte selbst auszurichten vermögen.91 In Ebelings Verhältnisbestimmung von revelatio generalis und revelatio specialis werden – insbesondere im Kontext des Pneumatischen – Phänomene beschrieben, die dem Religiösen nahe stehen, die aber dem Profanen verwandt und darum entsprechend verstehbar sind (vgl. die Inspiration des Künstlers oder die Intuition des Wissenschaftlers).92 Des weiteren verweist Ebeling auf profane ekstatische Momente und Widerfahrnisse, die kaum von religiösen Erfahrungen zu unterscheiden sind. In beiden Fällen handelt es sich um Befreiungserlebnisse, die Zwänge und Grenzen zu sprengen vermögen. Auch in der profanen Sprache werden zur Beschreibung wunderbarer Phänomene, Glückszustände oder künstlerischer Leistungen immer wieder das Natürliche übersteigende Formulierungen herangezogen.93 Hierbei ist besonders zu berücksichtigen, dass Ebeling nicht im klassischen Sinne an einem Begriff der revelatio generalis an sich interessiert ist, sondern Offenbarung in ihrem weiten und besonderen Sinne immer auf den Menschen bezogen ist. Gerade in unserer ästhetisierten Umwelt, die auch unser Lebensgefühl massiv bestimmt, werden – insbesondere in der Kunst – auch Bedürfnisse religiöser Natur angesprochen, was von der Gegenwartskunst – allerdings in Abgrenzung zu institutionalisierten Formen von Religion – eigens thematisiert wird. Kunst stellt nun nicht einfach einen Ersatz für die Offenbarung im religiösen Sinne dar, sondern ist eine Erscheinung der Art, dass man in ihr der Offenbarung im weiteren Sinne begegnen kann.94 Gott bindet sich dabei in seiner Offenbarung an
91 92 93 94
Vgl. EBELING, Dogmatik I, 247. Vgl. EBELING, Dogmatik III, 18. Vgl. aaO, 22f. Vgl. EBELING, Dogmatik I, 248.
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einen Offenbarungsträger, was insbesondere unter religionsphänomenologischen Gesichtspunkten hervorzuheben ist.95 Ästhetische Offenbarung wird also analog zur religiösen Erfahrung und somit als Bedingung eines lebendigen Glaubens verstanden, der aber wiederum dem Kriterium des Evangeliums unterliegt. 1.6 Der Wirklichkeitsbezug des Glaubens Die Erörterung des Wirklichkeitsbezugs des Glaubens beginnt Ebeling mit der etymologischen Klärung des deutschen Wortes für „Wirklichkeit“: Wirkliches ist immer das in irgendeiner Weise Wirksame, Tätige, Mächtige, sich zur Geltung Bringende, Beachtung Fordernde, auf Zukunft Ausgerichtete.96 Für den Zusammenhang von Wirklichkeit und Glaube gilt daher: „Der Glaube leitet uns nicht an, von der Wirklichkeit abzusehen, sondern gerade: sie wahrzunehmen in dem tiefen Sinn dieses Wortes ‚wahrnehmen’, wie man eine Gelegenheit, einen Auftrag, ein Amt wahrnimmt. Der Glaube flieht nicht vor der Wirklichkeit, sondern er hält ihr stand.“97 Als Voraussetzung für das Einlassen auf die Wirklichkeit wird die menschliche Art und Weise angesehen, in einer dauerhaften radikalen Fraglichkeit zu leben, die uns als Erfahrung von Passivität begegnet. Die grundlegenden Ereignisse des Daseins wie Geburt und Tod widerfahren uns passiv und liegen all unserer Aktivität zugrunde.98 Reden wir von der Wirklichkeit Gottes, so reden wir von Gott als Begegnendem, der uns anredet und ins Dasein ruft. 99 Dieses uns anredende Wort muss als ein Geschehen eröffnendes Wort verstanden werden, denn dieses Wort wirkt, was es verspricht.100 In diesem Kon-
95
Vgl. EBELING, aaO, 250f. Vgl. auch Hamanns Bestimmung der Schöpfung als „Rede an die Kreatur durch die Kreatur“ (HAMANN, J. G., Aesthetica in nuce, in: DERS., Sämtliche Werke Bd. II: Schriften über Philosophie/ Philologie/ Kritik 1758-1763, hg. v. J. Nadler, Wien 1950, 195-217, 198, 29. 96 Vgl. EBELING, G., Glaube und Unglaube im Streit um die Wirklichkeit, in: DERS., WuG I, 393-406, 398. 97 EBELING, aaO, 401. 98 Vgl. EBELING, G., Das Wesen des christlichen Glaubens, Tübingen 1959, 101. Vgl. auch DERS., Sprachlehre, 34f, wo Ebeling betont, dass Luther den Vorrang der Passivität vor der Aktivität gerade nicht als Eliminierung des menschlichen Personseins, sondern vielmehr als seine Konstituierung hervorkehrt. Es handelt sich um eine Form der Passivität, wie sie hinter der Aussage „ich bin geliebt“ steht, „deren Widerfahrnis in eminentem Sinne actus des Menschen ist und so sein Leben, seine Praxis bestimmt, gerade weil sie nicht sein opus ist.“ 99 Vgl. EBELING, Wesen, 104. 100 Vgl. aaO, 106f.
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text ist also „Wort Gottes“ als ein Beziehungsgeschehen zu begreifen, das von Gott her auf uns Menschen hin geschieht und durch welches Gott als Gott am Menschen handelt. Gottes Wort schließt seine Tat ein, und das heißt für das Wesen des christlichen Glaubens, dass im Wort Gott selbst zu Worte kommt und in diesem Wort verlässlich begegnet.101 Dabei meint das Reden von konkret begegnendem, hörbarem, verstehbarem Wort Gottes stets sein Wort in Gestalt von menschlichen Worten.102 Es stellt sich also nicht die Frage, wie Gott verständlich mit dem Menschen reden kann, sondern seine Zuwendung zum Menschen in, mit und unter menschlicher Rede ist gerade Ausdruck seiner Menschlichkeit.103 Luther unterscheidet allerdings das in menschlichen Worten begegnende Gotteswort und das einfache Menschenwort hinsichtlich ihrer jeweiligen Wirkung: „Sooft Gottes Wort gepredigt wird, da macht es die Gewissen fröhlich, weit und gewiß. Denn es ist ein Wort der Gnade, ein gutes und wohltuendes Wort. Sooft aber Menschenwort verkündigt wird, macht es das Gewissen in sich selbst traurig, eng und furchtsam. Denn es ist ein Wort des Gesetzes, des Zorns und der Sünde, da es zeigt, was man nicht getan hat und was man alles tun sollte.“104 Das Wort Gottes kann nur vom Evangelium her verstanden werden. Indem Gott zu Worte kommt, offenbart er seine ganze Menschlichkeit in der Hinwendung zum Menschen. So erweist sich dieses Wort als notwendiges, da es ein die Not wendendes Wort ist, es ist heilsnotwendiges Wort, dem Klarheit und Licht zukommt. Als Gabe Gottes kann uns das Sichtbare und Greifbare nur kraft des damit verbundenen Wortes begegnen105, wie es auch an den Sakramenten deutlich wird. Entscheidend für Ebeling ist die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Wirklichkeit, denn die Frage nach der Wirklichkeit des Glaubens ist nicht von der übrigen Wirklichkeit zu isolieren.106 Der Rechtfertigungslehre zufolge besteht die Wirklichkeit des Glaubens in der Rechtfertigung des Menschen.107 Dadurch wird auch das Verhältnis 101 102 103 104
Vgl. aaO, 110. Vgl. aaO, 111. Vgl. aaO, 112. „quoties verbum dei praedicatur, reddit laetas, latas, securas conscientias in deum, quia est verbum gratiae, remissionis, bonum et suave, quoties verbum hominis, reddit tristem, angustam, trepidam conscientiam in seipsa, quia est verbum legis, irae et peccati, ostendens, quid non foecerit, et quanta debeat.“ (LUTHER, M., In epistolam Pauli ad Galatas M. Lutheri commentarius [1519], WA 2, 437-618, 453). 105 Vgl. EBELING, Wesen, 115. 106 Vgl. aaO, 150. 107 Vgl. aaO, 153.
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zur Welt verändert, was Auswirkungen auf das allgemeine Wirklichkeitsverständnis hat.108 Es gehört zum Wesen des Glaubens, dass die Welt sein Material und seinen Gegenstand darstellt, dass der Glaube an der Welt seinen Widerstand und zugleich seine Konkretion und damit seine Wirklichkeit hat. Der Glaube ist dann als Entscheidung über die Wo-Frage zu verstehen, nämlich über die Frage, wo der Mensch wohnt, wo er seine Bleibe hat.109 Der Glaube macht die Welt zu dem, was sie ist, indem er sie als Schöpfung Gottes ansieht, wodurch Raum für eine reine Freude an der Welt geschaffen wird.110 Der Ort des Glaubens ist die Welt bzw. die Zeit. Hierin besteht der konkrete Bezug auf die uns angehende Wirklichkeit: „Da-Sein und Jetzt-Sein des Glaubens in Welt und Zeit“ ist das „Leben des Glaubens“.111 Der Glaube, der sich allein auf die Zusage Gottes verlässt und sich allein an dieses zusagende Wort hält, weiß darum, dass das, was geglaubt wird, nicht Objekt der Erfahrung im geläufigen Sinne werden kann. Der Glaube glaubt gegen alle Erfahrung. Indem ich die Wahrheit des Glaubens bekenne, sammle ich Erfahrungen, die nur der Glaube macht. Auch die Anfechtungen des Glaubens sind als Erfahrungen des Glaubens zu verstehen. „Der Glaube glaubt nicht nur mehr, als er erfährt, sondern entgegen aller Erfahrung.“112 Der Bibel kommt dabei eine entscheidende Mittel- und Schlüsselstelle von Erfahrung zu Erfahrung und von Glaube zu Glaube zu, d.h. im Erfahrungsaustausch.113 Dieses Wortgeschehen ist in sich sprachschöpferisch. Es eröffnet neue Möglichkeiten, die uns angehende Wirklichkeit zu verstehen.114 Das Wortgeschehen bedeutet im Grunde, „daß einer dem anderen das, wovon die Rede ist, zu-sagt, es durch sein Sagen gewissermaßen zu ihm hinträgt, so daß es nun bei ihm bzw. er bei der in Rede stehenden Sache ist“.115 Konkret bedeutet das: Wenn Gott im Segen sein Angesicht leuchten lässt, so bekommt für uns die Welt ein anderes Gesicht.116 Dabei ist die Elementarsprache des Glaubens die
108 109 110 111 112 113 114 115
Vgl. aaO, 156. Vgl. aaO, 146. Vgl. aaO, 211. AaO, 212. AaO, 224. Vgl. EBELING, Wesen, 245. Vgl. aaO, 252. AaO, 254. Vgl. PANNENBERG, W., Anthropologie in theologischer Perspektive. Religiöse Implikationen anthropologischer Theorie, Göttingen 1983, 380-383. 116 Vgl. EBELING, aaO, 255. Vgl. dazu auch TIMM, Diesseits, 75f.147.188ff.
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Symbol- und Gebärdensprache: seien es das Kreuzeszeichen, das frühchristliche Symbol des Fisches oder auch der Bruderkuss.117 Ebeling zeigt unterschiedliche Möglichkeiten des Umgangs mit der Wirklichkeit auf: Da ist einerseits der Mythos als diejenige Form, welche das Geheimnis der Wirklichkeit zur Darstellung zu bringen versucht, indem sie unmittelbar auf den Lebensbezug schaut, wie er im alltäglichen Weltbild begegnen kann. Ausgehend von den beiden Definitionen der Religion als „schlechthinniger Abhängigkeit“ (Schleiermacher) und der Erfahrung des „Heiligen“ als „fascinosum et tremendum“ (Otto), beschreibt Ebeling die Berührungspunkte zwischen Kult und Leben da, „wo das Geheimnis der Wirklichkeit im Leben selbst am beunruhigendsten und erschütterndsten erfahren wird, wo es Ergriffenheit und ehrfürchtiges Staunen erregt“.118 Andererseits sucht im Unterschied dazu die Naturwissenschaft gerade das Rätsel der Wirklichkeit zu lösen, indem sie vom Lebensbezug abstrahiert.119 Allerdings – so analysiert Ebeling – unterliegt sie dabei oft einer Täuschung, da es sich bei dieser Abstraktion lediglich um einen methodischen Rückzug handelt, der nicht totale Beziehungslosigkeit zum Leben bedeuten kann. Es hängt nun in entscheidendem Maße davon ab, ob der Naturwissenschaft dieses Wissen um das Geheimnis der Wirklichkeit abhanden kommt oder ob sie den Lebensbezug wach hält. In diesem Zusammenhang richtet Ebeling die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Theologie gerade nicht an einem apologetischen Streben nach wissenschaftlicher Anerkennung aus, sondern fordert die Theologie vielmehr zu ihrer Wächterfunktion und Mitwirkung auf, das strittige Problem von Wissenschaft und Leben im Bewusstsein zu halten.120 Was bedeutet nun aber Lebenswirklichkeit aus der Perspektive des Glaubens? Sie besteht nach Ebeling immer aus der nicht zu hintergehenden Einheit zwischen sündigem Menschen und rechtfertigend an ihm handelndem Gott. Auch in den Aussagen über Gott den Schöpfer der Welt kann das Thema der Sünde nicht an den Rand geschoben oder gar ausgespart werden, da das Thema der Sünde gerade den Menschen in seiner wahren Verfasstheit beschreibt.121 Dabei wird die Frage nach der Sünde des Menschen als eine für die Gegenwart unverzichtbare fundamentaltheologische Frage bestimmt, denn am Umgang mit der Sün-
117 118 119 120 121
Vgl. EBELING, Sprachlehre, 23. EBELING, Dogmatik I, 120. Vgl. aaO, 299. Vgl. EBELING, Dogmatik I, 59. Vgl. aaO, 72.
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denlehre entscheidet sich die Sachgemäßheit jeder Theologie, deren Gegenstand der „homo reus ac perditus et deus iustificans vel salvator“122 ist. 1.7 Gotteswort und Menschenwort Wenn die Wirklichkeit Gottes für uns darin konkret wird, dass er uns begegnet und anredet, dann ist es theologisch geboten, über das Verhältnis von Gotteswort und Menschenwort nachzudenken. Denn die Frage nach dem Verhältnis von Gotteswort und Menschenwort hat wie kaum eine andere theologische Frage einen weitreichenden Einfluss auf die Grundsätze kirchlichen Handelns. Aus evangelischer Sicht ist sie eine fundamentaltheologische Frage und bildet das Zentrum theologischer Hermeneutik. Deshalb ist es verständlich, dass Ebeling falsche theologische Entscheidungen, die auf dieser grundsätzlichen Ebene getroffen werden, als Kardinalfehler bezeichnet. „Es ist ein Kardinalfehler der Theologie, wenn von Gott geredet wird als einem Teil der Wirklichkeit und wenn eben darum Gott vorgestellt wird als Zusätzliches zur übrigen Wirklichkeit, so daß von Gott und Welt zunächst in ihrem Ansichsein als getrenntem Nebeneinander und dann erst von ihrer Beziehung als ergänzendem Beieinander oder konkurrierendem Gegeneinander die Rede sein müßte“.123 Wenn Gott als außerhalb unserer Wirklichkeit Seiendes gedacht wird und nicht als das Geheimnis der Wirklichkeit, dann muss sich dies auf das Verständnis des göttlichen Wortes auswirken: „In jenem Kardinalfehler, von dem die Theologie ständig bedroht ist, gründet auch das fundamentale Mißverständnis, als sei Wort Gottes sozusagen eine separate Wortschicht neben dem zwischenmenschlichen Wort, das man sonst allein als Wort zu bezeichnen pflegt. Wort Gottes sei darum eigentlich gar nicht Wort im Sinne des normalen, natürlichen, geschichtlichen, zwischenmenschlichen Wortgeschehens.“124 Aus diesem Missverständnis ergibt sich nach Ebeling wiederum der falsche Schluss, Gottes Wort müsse erst übersetzt, in 122 LUTHER, M., Ennaratio Psalmi L I (1538), WA 40/II, 313-470, 328,1f. vgl. auch die Zeilen 17-20; Vgl. den Aufsatz von EBELING, G., Theologie zwischen reformatorischem Sündenverständnis und heutiger Einstellung zum Bösen, in: DERS, WuG III, 173-204, wo Ebeling die „fundamentaltheologische Relevanz des Themas Sünde“ (173) unterstreicht. Vgl. GESTRICH, CHR., Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt. Die christliche Lehre von der Sünde und ihrer Vergebung in gegenwärtiger Verantwortung, Tübingen 1989, passim; vgl. auch HAAS, H.-ST., „Bekannte Sünde“. Eine systematische Untersuchung zum theologischen Reden von der Sünde in der Gegenwart (NBST Bd. 10), Neukirchen-Vluyn 1992, 41.55. 123 EBELING, Hermeneutik, 340. 124 Ebd.
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Menschensprache umgewandelt werden, damit es der Mensch verstehen kann. Mit diesem metaphysischen Vorbehalt aber entfernt man sich weit vom Wort-Gottes-Verständnis der Bibel: „Wenn die Bibel von Wort Gottes redet, so meint sie hier ohne Vorbehalt Wort als Wort, auf seinen Wortgehalt gesehen ganz normales, sagen wir ruhig: natürliches, mündliches, zwischen Mensch und Mensch geschehendes Wort.“125 Ganz im Sinne einer neuzeitlich gebotenen Metaphysikkritik verabschiedet sich Ebeling radikal von sprachlichen Überresten einer „Hinterwelt“ bzw. „Überwelt“, derer man sich indirekt gern bei der Rede vom Wort Gottes bedient. Vielmehr ergeht Gottes Wort in dieser Wirklichkeit immer als Menschenwort und nicht zunächst und eigentlich als Gotteswort, das erst in einem zweiten Schritt im Menschenwort erscheint oder gar in dieses transformiert werden muss. An diesem Problem kann man wohl den Grundkonflikt der Philosophie- und Theologiegeschichte ablesen, der in gewisser Weise immer in Auseinandersetzung zwischen einem latenten Platonismus, der sich im Rationalismus noch einmal Durchsetzung verschafft hat, und einem radikalen Empirismus im Sinne David Humes stand. Die Frage ist nun, ob sich Ebeling in seiner Argumentation Hume und Kant anschließt oder ob er ein eigenständiges Wirklichkeits-, Erfahrungs- und damit auch Inkarnationsverständnis entwickeln kann. Man kann in der näheren Bestimmung des Ebelingschen Inkarnationsverständnisses zunächst auf den alten christologischen Streit verweisen, wobei sich Ebeling als Lutheraner – grob gesagt – auf der Seite der Alexandriner verorten ließe, die besonders die Personeinheit von Gott und Mensch betonen.126 Insofern steht hier wohl die lutherische Lehre von der Realpräsenz Christi im Hintergrund, was auf das Verständnis des Leiblichen Wortes, in dem Christus ganz und gar gegenwärtig ist, zurückzuführen ist. Gottes Wille zum Zusammensein mit den Menschen ist immer ein sprachliches Zusammensein, ein Zusammensein im Wort. Wie Pannenberg zu recht bemerkt, wird von Ebeling aber nicht nur eine säkulare Sprachtheorie auf die Theologie angewendet, sondern die „Sache der Theologie“ bildet „den Leitfaden für ein tieferes Verständ-
125 AaO, 341. 126 Auf dieses Problem stoßen wir auch in der von Luther und Hamann geprägten Theologie O. Bayers, welcher die Inkarnation im Anschluss an Hamann streng von der Idiomenkommunikation der beiden Naturen aus denkt. Jüngel dagegen betont stärker die Unterschiedenheit der beiden Naturen, wobei er dabei auch von reformierten Positionen geleitet sein könnte.
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nis der Sprache“127. Das Wort Gottes ist nach Ebeling „keine separate Sonderwirklichkeit“ neben oder über der menschlichen Sprache, sondern „wahres, eigentliches, letztgültiges“ Wort.128 Dabei ist nun aber gerade das Wesen der menschlichen Sprache von Gott her zu verstehen, denn der Mensch ist „in seiner Sprachlichkeit seiner selbst nicht mächtig“129. Ebelings Sprachkonzentration hat seinen Grund einerseits in der Manifestation der Beziehung von Gott und Mensch im Wort, wobei das Inkarnationsgeschehen als „Inverbation“130 näher bestimmt wird, andererseits in der oben beschriebenen Sprachlichkeit des Menschen. Es geht Ebeling nicht darum, den Zusammenhang zwischen Inkarnation und Gotteswort, wie es als mündliches Menschenwort ergeht, zu relativieren, sondern er möchte ihn noch viel stärker und radikaler fassen, als es in denjenigen Konzeptionen geschieht, die letztlich von einer Erscheinung des Gotteswortes in menschlichem Wort reden. Ebeling zufolge ist vielmehr die Eigenart von Gotteswort und Menschenwort und der Umgang mit ihnen entscheidend, wie es insbesondere im Umgang mit dem Wortgeschehen durch den sündigen Menschen erscheint, der dieses missbraucht und durch seine Lüge verdirbt. In dieser Situation begegnet ihm auch das Gotteswort als tötendes Gesetz. Die ganze Wirklichkeit, die als von Gott gewährte Wirklichkeit wahrgenommen werden könnte (vgl. Röm 1,18ff; 3,9ff), verkennt der sündige Mensch. Allein durch den lebendigen Geist, in dem der gegenwärtige Christus begegnet, vermag der Mensch diese Wirklichkeit als Gottes Schöpfung wahrzunehmen. Dieses Erschließungsgeschehen will dem Menschen nur das sagen, was immer schon erkennbar ist, was er aber in seiner Verblendung ignorieren will. Darum wäre es auch falsch, gerade das Gotteswort, das immer als Menschenwort – und nur als Menschenwort – in der menschlichen Sprache begegnet, analog dem Inkarnationsgeschehen bzw. lediglich als Akkomodation, als Anpassung des Göttlichen an das Menschliche, zu interpretieren, da es immer schon menschlich die Wirklichkeit bestimmt und nur beides, Göttliches und Menschliches, zusammen ausgesagt werden können.131 Denn Gott begegnet in der Welt ja nur durch den Menschen in dessen eigener Selbst-
127 128 129 130 131
PANNENBERG, Anthropologie, 380. EBELING, Hermeneutik, 340. EBELING, Gott und Wort, 417. EBELING, Dogmatik II, 65. In gewisser Weise bedient sich Jüngel, wie wir oben zeigten, einer solchen Akkomodationstheorie, was mit seinem offenbarungstheologischen Einsatz und seiner spezifischen Christologie zu begründen wäre.
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und Welterfahrung.132 Aber gerade in diesem gebrechlichen, machtlosen und brüchigen menschlichen Wort will Gott zur Sprache kommen, da nur das Menschenwort Ausdruck dessen sein kann, was im Menschen vorgeht.133 Dass nur dasjenige ausgesagt werden soll, was den Menschen und seine Welt betrifft, hat seine Ursache in Ebelings Offenbarungsverständnis, das er soteriologisch entfaltet. In diesem Zusammenhang stellt sich nun die Frage nach dem Analogieproblem, das eng auf das Sprachproblem bezogen ist. Wie kann von Gott in den Worten unserer menschlichen Sprache angemessen geredet werden? Hierbei stößt man auf das Spezifikum religiöser Sprache, die einen metaphorischen und symbolischen Charakter hat. Ebeling möchte sich dem Sprachproblem nähern, indem er es dem allgemeinen Sprachproblem gegenüber öffnet, denn auch und gerade in der Alltags- und Umgangssprache gehen wir selbstverständlich mit Anspielungen um, und uns wird zugemutet, Ungesagtes134 mitzuhören und Gestik und Mimik mit zum Verstehensvollzug heranzuziehen. Jüngel vergleichbar versteht Ebeling unter der Analogie des Wortgeschehens eine Analogie der Proportionalität, der Entsprechung von Relationen. Die lebensmäßige Entsprechung ist nämlich selbst ein Sprachgeschehen in Form der Anrede Gottes an den Menschen und der daraus erfolgenden menschlichen Antwort. Für das Analogieproblem bedeutet die Entsprechung zweier Relationen, dass die Beziehung zwischen Gott und Mensch mit der Beziehung zwischen Mensch und Mensch in einem vergleichbaren Verhältnis zu stehen kommt. Nur im Sprachgeschehen hat unsere Gottesbeziehung seine eigentliche Erfahrungsgrundlage.135 Der besondere Lebens- und Erfahrungszusammenhang wird von Ebeling136 mit den bis ins Sinnliche hineinreichenden Zentraltexten des Inkarnationsglaubens untermauert, die vom Sehen und Berühren des Wortes sprechen (vgl. Joh 1,14: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“ und 1 Joh 1,1: „Das da von Anfang war, das wir gehört haben, das wir gesehen haben mit unsern Augen, das wir beschaut haben und unsre Hände betastet haben, vom Wort
132 Vgl. EBELING, Dogmatik I, 392ff. 133 Vgl. aaO, 260. 134 Körtner betont, dass der Leser im Leseprozess die Räume des Ungesagten auszufüllen hat (KÖRTNER, U. H. J., Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik, Göttingen 1994, 83). 135 Vgl. EBELING, Dogmatik I, 400ff. 136 Vgl. dazu auch unten Timm.
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des Lebens“).137 Dass sich der christliche Glaube in diesem Kontext auch mythischer Redeweise bedient, um diesen Erfahrungs- und Lebensbezug zum Ausdruck zu bringen, stellt Ebeling zufolge deshalb keine Gefahr dar, da ja das Mythische durch die fundamentale Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf selbst verändert wird. Der neuzeitliche Mensch begeht nur immer wieder im Umgang mit dem Mythischen den Fehler, von seinem wissenschaftlichen und „objektiven“ Weltbild ausgehend die Vorstellungsgehalte des Mythos ebenfalls innerhalb seines wissenschaftlichen Systems auf objektive Weise deuten zu wollen, womit er gerade den elementaren Lebensbezug der Texte völlig verfehlt.138 Des weiteren ist auf das Vergegenwärtigungsgeschehen der Menschwerdung im Einzelnen zu verweisen, wie es durch den Heiligen Geist geschieht. Wie auch in der Öffnung und Erweiterung des Offenbarungsverständnisses hebt Ebeling hierbei immer wieder die Aufgabe des Heiligen Geistes hervor, sich in den verschiedensten Dimensionen dem menschlichen Geist mitzuteilen, denn der Heilige Geist ist ein Geist, der aus jeder Form der Selbstisolation zu befreien bestrebt ist – auch und gerade aus einer vermeintlich christlichen Isolation.139 Stellte für Ebeling anfänglich allein die existenzerschließende Mitteilung als Zusage im Evangelium im Unterschied zum Wort des Gesetzes als Zukunft verschließendes Wort den eigentlichen Bezugspunkt seiner Sprachkonzeption dar, so nimmt er später die ganze Breite des Sprachphänomens wahr, indem er vom Wort Gottes als „Geheimnis“ und der „Tiefendimension“ in allem Wortgeschehen spricht, die Wahrheit erschließt.140 1.8 Die leibliche Dimension des Glaubens W. Nethöfel kritisiert an Ebeling den Vorrang einer Worttheologie und setzt dieser eine Hermeneutik entgegen, welche die Körperlichkeit des Überlieferungsprozesses in der Gemeinde als Leib Christi hervor-
137 Vgl. EBELING, Dogmatik II, 92ff. 138 Vgl. aaO, 395ff. 139 Ebenso wird aber auch – wie es häufig in liberaler Argumentation geschieht – die Reduktion der Frage nach dem Heiligen Geist auf den Akt der Selbstreflexion des Bewusstseins für eigentlich „geistlos“ erklärt, da sie sich überhaupt nicht dem Reichtum des Geisteswirkens aussetzt (vgl. EBELING, Dogmatik III, 76). 140 Vgl. EBELING, Gott und Wort, 418; vgl. auch JÜNGEL, Geheimnis, 340ff.393ff.
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hebt.141 Dabei wird der „Körper als Medium“142 verstanden. Bei dieser Kritik wird allerdings die Bedeutung des Wortes und der Sprache im leiblichen Vollzug nicht ausreichend wahrgenommen: „So muß man zum einen die Bedeutung des gesprochenen Wortes sehen, das auf die leibliche Gegenwart des Kommunikationspartners zielt und gerade darin die Körperlichkeit und Körperschaftlichkeit der christlichen Paradosis konstituiert.“143 Wie auch im folgenden zu zeigen sein wird, kann man schwerlich behaupten, Ebeling hätte sich nicht des Themas von Körper und Sprache angenommen, wie man auch in seiner Physiognomie und Somatologie erkennen kann.144 Anhand zweier leiblicher Vollzüge des Glaubens soll dies nun konkretisiert werden. 1.8.1 Das Gebet und seine Gesten Für Ebelings Konzeption ist die Zentralstellung des Gebets nun näher zu untersuchen, da Ebeling das Gebet immer im Zusammenhang der gesamten Lebens- und Alltagserfahrung behandelt, welche in das Gebet einbezogen werden soll, um sie zum Material der Gotteserfahrung zu machen. Die Konzentration auf das Gebet kann zur Wahrnehmung der Grundsituation des Menschen in seiner Wortsituation anleiten, da sie die Erfahrbarkeit Gottes aufweist. Anhand der verschiedenen Gebetsgesten, wie z.B. das Händefalten als Ausdruck der Konzentration und des Bindens, das Emporheben des Kopfes oder das Aufrichten des ganzen Körpers als Zeichen für die Bereitschaft zu empfangen oder auch das Niederknien als Geste der Unterwerfung, macht Ebeling deutlich, von welcher inneren Lebendigkeit die Passivität, welche sich im Gebet leiblichen Ausdruck verschafft, durchwirkt ist. Hier widerfährt dem Menschen ein Getroffensein und ein Beschenktsein, an denen er unmittelbar beteiligt wird.145 Im Gebet kann sich in ausgezeichneter Weise das Geheimnis der Wirklichkeit manifestieren.146
141 NETHÖFEL, W., Hermeneutik unterwegs, in: DERS., Theologische Hermeneutik, Kap. V, 127-169; vgl. auch Kap. VI; Vgl. dazu auch Ebelings Reaktion: EBELING, Macht des Gotteswortes, 210. 142 Vgl. NETHÖFEL, Theologische Hermeneutik, 171, vgl. 171-176. 143 PETZOLDT, Theologie des Wortes, 87. 144 Vgl. auch EBELING, G., Worthafte und sakramentale Existenz, in. DERS., Wort Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen (KiKonf Bd. 7), Göttingen 1964, 197-216. 145 Vgl. EBELING, Dogmatik I, 199. 146 Vgl. aaO, 192.
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In diesem Zusammenhang kommt Ebeling auch auf das Moment des Affektiven zu sprechen, das aufgrund der Abwertung des Leiblichen zugunsten des Geistigen von der Theologie lange tabuisiert wurde. Im Gebet kommen die verschiedensten und stärksten Affekte der Angst, Freude, Verzweiflung oder Gewissheit, des Jubels oder der Klage zusammen. Die Betonung der Affekte unterstreicht nur die Passivität des Gebetsgeschehens, da der Mensch Affekte nicht selbst bestimmen oder hervorbringen kann, sondern diese über ihn kommen und ihm als Widerfahrendes und zu Erleidendes begegnen.147 Insofern berührt das Gebet eine Wirklichkeit, die allem menschlichen Denken und Tun entzogen ist, so dass man das Gebet nach Ebeling sogar als Grenzgeschehen verstehen kann. 148 In entscheidendem Maße wird in der Gebetssituation das Gegenüber-Sein von Gott und Mensch im Sinne einer relationalen Ontologie hervorgehoben, was einem Denken des An-und-für-Sich-Seins von Gott und Mensch, wie es die Substanzmetaphysik vornimmt, widerspricht.149 Im Kontext des Gebets, genauerhin des Lobgebets, begegnet auch die Rede von der Schönheit als Schönheit der Schöpfung und der den Schöpfer lobenden Welt.150 Ebeling widmet sich in seiner „Dogmatik des christlichen Glaubens“ innerhalb der Schöpfungslehre dem Lob der Schöpfung, wobei die Billigungsformel aus Gen 1 herangezogen wird.151 Dass die Welt allerdings so schön und gut ist, erscheint dem Menschen aufgrund der Sünde nicht evident. Von daher gilt das Urteil über die Schönheit der Welt nur als Glaubensaussage. Allein der Glaube nimmt dann die „Spuren der Güte Gottes“ an dem ihn umgebenden Geschaffenen und sich selbst wahr. Diese Spuren begründen allerdings nicht den Glauben, sondern stellen lediglich „erinnernde Zeichen“ des Gabecharakters der Schöpfung dar. Stimmen die Geschöpfe in das Lob über das Geschaffene ein, so bekräftigen sie darin das göttliche Urteil über die Schöpfung, nämlich dass alles sehr gut und damit auch schön sei. Entscheidend ist für Ebelings Glaubensverständnis, dass sich in der
147 Vgl. auch das Affektverständnis Luthers, wonach im Glauben eine neue Ausrichtung bzw. ein neues Ausgerichtetwerden im Sinne einer Affektveränderung geschieht. 148 Vgl. aaO, 200. 149 Vgl. aaO, 215. 150 AaO, 310f. In diesem Abschnitt greife ich auf die Einsichten Zeindlers zurück (ZEINDLER, Gott und das Schöne, 148f), der allerdings unter dem Abschnitt „Schönheit der Schöpfung und Lob“ lediglich diesen einen Aspekt des impliziten Ästhetikverständnisses Ebelings hervorhebt. 151 EBELING, Dogmatik I aaO, 310f.
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Rede vom Lob spiegelt, wie die Gottes- und Welterkenntnis untrennbar zusammengedacht werden müssen.152 1.8.2 Das leibliche Empfangen der sakramentalen Gestalt des Wortes Gottes Im Zusammenhang der Sakramente Abendmahl und Taufe unterstreicht Ebeling deren Gemeinsamkeit, „daß sie als elementare leibliche Vollzüge in geistlicher Hinsicht gewichtig und erheblich sind“.153 Im Unterschied zu einer bloßen Dinglichkeit geht es bei der Leiblichkeit dieser Vollzüge um die leibhaftige Ganzheit der Person, wobei in den Sakramenten als elementaren Empfangshandlungen auch der Zusammenhang zwischen unserer allgemeinen menschlichen Erfahrung und einer allgemeinen religiösen Erfahrung aufscheint.154 „Durch die Taufe wie durch das Abendmahl ereignet sich dasjenige, was der Glaube ist, nämlich Sein in Christus, in der Weise leiblicher Handlung als Einbeziehung in bestimmte Situationen des Lebens Jesu, und zwar in diejenigen, in denen sich sein Leben und Sterben als ein Ganzes darstellt, als Hingabe für die anderen.“155 Außer dem jeweiligen Gestalt- und Gabecharakter gehört nach Ebeling (neben der Einsetzung) ebenfalls der Gemeindeaspekt zu den konstitutiven Elementen des Sakraments und hat einen entscheidenden Einfluss auf die Struktur der Leiblichkeit. Indem die Leiblichkeit der Handlung auf die Erfahrung Christi in seiner Leiblichkeit Bezug nimmt, das Abendmahl am Leib Christi Anteil gibt und die Taufe den Menschen in den Leib Christi eingliedert, wird in den Sakramenten (wie auch im Hören des Evangeliums) der Leib Christi als creatura verbi konstituiert. Diese Leiblichkeit ist eben nicht abstrakt, sondern kann immer wieder neu konkret in jedem Gottesdienst erfahren werden. 1.9 Fazit Bei Ebeling findet sich noch keine explizite Verhältnisbestimmung von Theologie und Ästhetik, jedoch geht er davon aus, dass Offenbarung 152 „Wichtiger ist aber an Ebelings Ausführungen, dass er den traditionellen Topos des Schöpfungslobs aufnimmt, einen Topos, der auch in der Schöpfungslehre der Gegenwart nicht unbeachtet geblieben ist, den aber ausser Ebeling niemand mit der Schönheit der Kreatur in Verbindung gebracht hat.“ (ZEINDLER, Gott und das Schöne, 149). 153 EBELING, Dogmatik III, 318. 154 AaO, 318ff. 155 AaO, 323.
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auch eine ästhetische Dimension besitzt. Daran anknüpfend lässt sich eine explizite Verhältnisbestimmung von ästhetischer und religiöser Erfahrung vornehmen. Bei Ebeling wird das Thema in unterschiedlichen Kontexten behandelt. So findet sich innerhalb seines „weiten Offenbarungsverständnisses“ die Form des „ästhetischen Offenbarungsverständnisses“, das er allerdings im Unterschied zur revelatio generalis versteht. Die Ästhetik ist in diesem Kontext als Lehre von der Kunst verstanden, der Sache nach aber herrscht ein Ästhetikverständnis im Sinne der allgemeinen Wahrnehmungslehre vor. Wahrnehmung begegnet im besonderen im Sprachgeschehen, was Ebelings hermeneutischen Bezug unterstreicht. Der zentrale Ort der ästhetischen Thematisierung von Schönheit ist aber die Beschreibung des Lobs der guten und schönen Schöpfung innerhalb der Schöpfungslehre. Nach Ebeling ist ästhetische Erfahrung eine spezifische Erfahrung, in welcher der Mensch eine Ahnung von seiner Grundsituation bekommen kann, und zwar stärker, als dies etwa in der Alltagserfahrung oder wissenschaftlichen Erfahrung der Fall ist. Insbesondere dann, wenn sich in der Kunst menschliche Lebenserfahrung verdichtet, kann diese den Menschen auf eine Weise ansprechen, die über sprachliche Kommunikation weit hinausgeht. Ästhetische Erfahrung hat somit eine Affinität zur religiösen Erfahrung. Allerdings stellt nun Kunst nicht einfach einen Ersatz für die Offenbarung im religiösen Sinne dar, sondern ist eine Erscheinung der Art, dass in ihr der Offenbarungscharakter im weiteren Sinne begegnet. Andererseits wird sowohl in der religiösen als auch der ästhetischen Erfahrung ein Streit um die Wirklichkeit (Glaube und Unglaube) geführt, denn auch innerhalb der Kunst wird um die Wirklichkeit im ganzen gestritten. Besonders in Ebelings „Dogmatik des christlichen Glaubens“156 lässt sich eine implizite Ästhetik aufzeigen, die in der hermeneutischen Methode und der erfahrungsbezogenen Durchführung schon angelegt ist. Diese Implikationen sieht auch H. Timm bei Ebeling, „wo die Somatologie längst am Werk ist, wenn auch hermeneutisch unterreflektiert. Ich meine die Grundsituation des ‘coram’: der Mensch vor Gott, vor der Welt, vor seinem eigenen Gewissen. Er wird durch den Anruf des Wortes gestellt, nämlich in Frageposition.“157 Die Verbindung zu Kunst und Ästhetik besteht zunächst im Verständnis der Wahrnehmung, denn Wahrnehmen verknüpft unter der Voraussetzung, dass Kunst auch auf Wahrheit ausgerichtet ist, religiöse
156 EBELING, G., Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. I-III. 157 TIMM, Jahrzehnt, 171.
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Erfahrung bzw. Glaubenserfahrung mit ästhetischer Erfahrung. Ebeling versteht demnach Wahrnehmung als Moment der Erfahrung. Ebelings hermeneutische Theologie findet in einer theologischen Ästhetik ihre Fortsetzung und Erweiterung, denn Ebeling versteht das Wort Gottes als Offenbarungsgeschehen, welches sprachlicher Gestalt bedarf, um als Verborgenes mitteilbar zu werden. Das verborgene „Geheimnis“ der Wirklichkeit Gottes ist also nur durch das Wort zugänglich. „Geheimnis“ ist demnach als die Tiefendimension in jedem Wortgeschehen verstanden.158 Und gerade hier hat Ästhetik als Wahrnehmungslehre anzusetzen. Auch bei Ebeling wird die explizite Verhältnisbestimmung von Offenbarung und Erfahrung vorgenommen, da sich die Offenbarung immer auf die Lebenswirklichkeit des Menschen bezieht.159 Insofern ist Theologie von ihrem Wesen her Erfahrungswissenschaft. Glaubenserfahrung ist zwar grundsätzlich neue Erfahrung, aber sie bezieht sich nicht auf etwas Neues, sondern auf die allgemeine menschliche Erfahrung in allen ihren Dimensionen. Indem Ebeling diesen weiten Erfahrungsbegriff theologisch entwickelt, weist er der Theologie eine kritische Rolle im Gespräch der Wissenschaften zu. Ebelings Anknüpfung an einen „allgemeinen Erfahrungsbegriff“160 geht in entscheidendem Maße auf seine Unterscheidung von Gesetz und Evangelium161 zurück. Wenn Gesetz im Anschluss an Gogarten auch die gesamte Lebenswirklichkeit in ihrer pluralen Gestalt umfasst, so nimmt das Evangelium einen direkten Bezug auf die allgemeine Erfahrung. Es ist dabei zu kritisieren, dass bei Ebeling die für das Gesetzesverständnis wichtigen Begriffe wie „Wirklichkeit“, „Erfahrung“ und „Leben“ mehrdeutig und damit unzureichend bestimmt bleiben.162 Jedoch halte ich es für problematisch, daraus abzuleiten, dass die Differenz zwischen der Wirklichkeitsinterpretation unter dem Gesetz und der Wirklichkeitsinterpretation unter dem Evangelium nicht deutlich 158 Vgl. EBELING, Gott und Wort, 418. 159 Vgl. oben die entsprechenden Kapitel. Vgl. zu dieser Fragestellung auch SCHWÖBEL, CHR., Offenbarung und Erfahrung – Glaube und Lebenserfahrung. Systematisch-theologische Überlegungen zu ihrer Verhältnisbestimmung, in: HÄRLE, W./ PREUL, R. (Hgg.): Lebenserfahrung, MJTh III; MThSt 29), Marburg 1990, 68-122. 160 Wie HILLER, Konkretes Erkennen, 114ff. 161 Vgl. dazu auch KNAUER, P., Verantwortung des Glaubens. Ein Gespräch mit Gerhard Ebeling aus katholischer Sicht (FTS Bd. 3), Frankfurt am Main 1969, 67: „Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ist die Unterscheidung zwischen dem, was von der Wirklichkeit unter Absehung von der Wahrheit des christlichen Glaubens erkennbar ist, und dem, was nur im Glauben erkannt wird.“ 162 Vgl. auch HÄRLE, W./ HERMS, E., Deutschsprachige protestantische Dogmatik nach 1945 Bd. 2 (VF 28), hg. v. G. Sauter, München 1983, 1-87, 18.
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wird.163 Die Unklarheit der Begriffe macht wiederum die große sachliche Nähe zur Kunst und Ästhetik deutlich. Ebelings Theologie ist wohl nur grundsätzlich zu kritisieren, da sie in der Durchführung recht konsequent erscheint: „In den Vordergrund tritt die Absicht einer eigenen Erforschung der menschlichen Erfahrungswirklichkeit. Diese wird dann auf ihre ontologische Tiefendimension hin durchsichtig gemacht. Ebeling setzt dabei phänomenologisch bei der Wirklichkeit des erfahrenen Lebens an, um sie dann auf ihre Tiefendimension hin zu hinterfragen. Im Gefolge von Schleiermacher will er ‚das Grundgesetz des Seins am Lebensvorgang’ ablesen.“164
2. Oswald Bayer – „Sinn und Geschmack fürs Endliche“165 2.1 Integratives Denken Im Denken Oswald Bayers wird Hamanns metakritischer Blick auf die Neuzeit aufgegriffen und auf die Moderne und Postmoderne bezogen. Darin besteht die Leistung und Tragweite dieses Ansatzes. Im Zusammenhang der Gegenwartsanalyse von Moderne und Postmoderne hält Bayer fest, dass zwar Moderne und Postmoderne i.S. eines propagierten Individualismus und Pluralismus antinomistisch zu sein beanspruchen, jedoch angesichts der heutigen Stress- und Überforderungssymptome nur von einem scheinbaren Antinomismus und einer subtileren Form neuer Gesetzlichkeit ausgegangen werden muss.166 Es begegnet hier ein neuer Typus hermeneutischer Theologie, der einen Paradigmenwechsel eingeleitet hat. Zunächst findet sich bei Bayer ein neuer Umgang mit der Schrift, der Text und Leben unmittelbar zusammenschließt, dabei aber jede Form von – letztlich neuzeitlichem und subjektivistischem – Fundamentalismus bzw. Biblizismus vermeidet. Vielmehr wird die jeweilige Sprachform (Klage, Lob, Dank etc.) des Gottesdienstes, der den Ausgangspunkt aller theologischer Rede bildet, als Lebensform interpretiert. Bevor jedoch der eigene Ansatz Bayers zur Sprache kommt, müssen zunächst einige Anmerkungen zum Denken Hamanns gemacht wer163 Vgl. KÖRTNER, Theologie, 223. 164 THAIDIGSMANN, E., Auf der Suche nach dem Fundamentalen. Zum Thema ‚Wirklichkeit’ in der Theologie Gerhard Ebelings, in: EvTh 42 (1982), 350-366, 354. 165 Vgl. in diesem Zusammenhang auch ROTH, M., Sinn und Geschmack fürs Endliche, passim, der sich in seinem Titel und in der Durchführung explizit an Bayer anlehnt. 166 Vgl. BAYER, OSWALD, Zugesagte Gegenwart, Tübingen 2007, 15ff.
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den, ohne dessen Einfluss viele Gedankengänge Bayers nicht zu verstehen sind. In seinem Werk begegnet dieser direkte Bezug auf Hamann neben einer starken Lutherrezeption zahlreich. Dem neuzeitlichen Denken sowie der Aufklärung wird bei Hamann nicht einfach widersprochen, sondern er ist als "radikaler Aufklärer" durchaus konsequent neuzeitlich. Jedoch wird in fundamentaler Weise gegen ein Herrschaft beanspruchendes substanzmetaphysisches bzw. subjektmetaphysisches Denken in metakritischer Weise protestiert, wodurch über die Moderne und ihre herrschenden Denkmuster hinausgegangen werden soll. Wie in der Substanzmetaphysik die Substanz für dasjenige steht, das gegenüber den veränderbaren Akzidentien bleibende Kontinuität stiftet, so erhält auch das Subjekt bzw. Bewusstsein in der Neuzeit diese einheitsstiftende und kontinuitätsstiftende Funktion. Für einen Theologen stellt sich allerdings die Frage, ob angesichts des Sünderseins des Menschen überhaupt von Kontinuität oder bleibender Identität des menschlichen Subjekts ausgegangen werden kann, wenn doch im Geschehen der Taufe ein Bruch zwischen altem und neuem Menschen geschieht. Dieser Bruch muss auch subjektivitätstheoretisch eingeholt werden. Im metakritischen Denken geht es also eher um die Erweiterung als die bloße Verabschiedung eines neuzeitlichen Denkens. Hamann stimmt beispielsweise in der prinzipiellen Metaphysik- und damit Totalitätskritik mit der Neuzeit und Moderne überein. Indem aber auf die „Monarchie der reinen Vernunft" verwiesen wird, soll der defizitäre Charakter des neuzeitlichen Denkens, das sich Hamann zufolge nicht in ausreichendem Maße über seine Voraussetzungen Rechenschaft ablegt, offengelegt werden. Monarchisch ist das Denken dann, wenn Rationalität zum alleinigen Dreh- und Angelpunkt des Wirklichkeitsverständnisses gemacht wird. Die Erweiterung des Denkens zur Mannigfaltigkeit und Vielfalt, welche die Herrschaft des Einen überwinden will, ist darum Ziel dieses metakritischen Denkens, was allerdings gegenwärtig nicht einem „postmodernen Pluralismus“ Tor und Tür öffnen soll.167
167 Vgl. zu dieser Differenzierung auch WELSCH, W., Religiöse Implikationen und religionsphilosophische Konsequenzen ‚postmodernen’ Denkens, in: HALDER, A. u.a. (Hgg.), Religionsphilosophie heute. Chancen und Bedeutung in Philosophie und Theologie (BTRW: Experiment Religionsphilosophie [ERP] III), Düsseldorf 1988, 117129, 118: „[...] die neuere Wissenschaftstheorie (Kuhn, Feyerabend, Hübner) hat vollends Pluralität und Spezifität von Rationalität verbindlich gemacht. Eine daran anknüpfende definitive Verabschiedung der Totalitätsansprüche von Rationalität macht den vernünftigen Kern der gegenwärtigen ‚Krise der Rationalität’ aus, und
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Geht es diesem Denken auch um die Einbeziehung sinnlicher Aspekte und Gegebenheiten des Denkens, so kann dies entsprechend nicht auf rein rationale Weise geschehen, sondern es muss neue Wege des Denkens ausloten, wobei eine Vernunftkritik immer auch vernünftig bzw. vernunftorientiert zu sein hat. Dabei gilt es, einen neuen Begriff von Vernunft zu entwickeln, der die Defizite des monarchischen Denkens auszugleichen versteht. Dieser erweiterte Vernunftbegriff und seine Angewiesenheit auf Vorgegebenes wird mit dem Verständnis von Vernunft als Sprache168 zum Ausdruck gebracht. Für Hamann ist darum auch die Vernunft weder rein selbständig entwerfend, noch rein erinnernd und tradierend, sondern beides zugleich. Die Vernunft ist nämlich geschichtlich und darin unrein. Indem die Sprache als „Mutter der Vernunft und Offenbarung“169 angesehen wird, ist gerade die Angewiesenheit auf Überlieferung bei gleichzeitiger Aneignung und Neugestaltung von Sprache hervorgehoben. Dabei wird die Vernunft – theologisch gesprochen – auf ihre Relation zur promissio verpflichtet. Somit fungiert die Sprache als Grundlage und Kriterium der Vernunft. Dieses Verständnis wird im wesentlichen durch die Konzeption des äußeren Wortes der promissio als ein an den Menschen ergangenes und ergehendes Wort gewonnen, auf das der Mensch hört, das er vernimmt und auf das er sprachlich antwortet.170 Aber schon in der Schöpfung, die Tag für Tag als „Rede an die Kreatur durch die Kreatur“ ergeht, wie auch in der Menschwerdung, welche die konkreteste „Rede an die Kreatur durch die Kreatur“ darstellt, begegnet dieses Wort als irdisches und sinnliches. Es ergeht nicht als Göttliches in seiner Reinform an den Geist, sondern ist immer schon geschichtlich und sinnlich vermittelt. Somit kann das Sprachverständnis auch ausgeweitet werden auf die
dem korrespondiert eine neue Zuwendung zu religiösen und mythischen Dimensionen der Wirklichkeit.“ 168 Vgl. dazu v.a. BAYER, O., Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants (Spekulation und Erfahrung: Abt. 2, Untersuchungen; Bd. 50), Stuttgart-BadCannstatt 2002, passim, hier bes. 315f. Dabei ist die Sprache nicht lediglich als „Organon“, sondern in entscheidendem Maße als „Criterion“ der Vernunft verstanden, was der Vernunft ihre Grenzen aufzeigt. 169 Vgl. HAMANN, J. G., Brief an Jacobi vom 28.10.1785, in: DERS., Briefwechsel Bd. 6: 1785-1786, hg. v. A. Henkel, Frankfurt am Main 1975, 105-108, 108, 21f. Vgl. auch BAYER, Vernunft ist Sprache, 315. 170 Vgl. BAYER, O., Autorität und Kritik. Zu Hermeneutik und Wissenschaftstheorie, Tübingen 1991, 58. Vgl. auch WYLLER, T., Glaube und autonome Welt. Diskussion eines Grundproblems der neueren systematischen Theologie mit Blick auf D. Bonhoeffer, O. Bayer, K. E. Løgstrup (TBT Bd. 91), Berlin 1998, 121.
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physische Empfindungsfähigkeit des Menschen, die zugleich „Mutter der menschlichen Vernunft“171 ist. Einen wesentlichen Gesichtspunkt, der jedoch auf die Sinnlichkeit des Denkens Bezug nimmt, stellt der Ausgangspunkt beim Sündersein des Denkers dar, der sich nur in selbstkritischer Weise auf sein Denken beziehen kann. Gerade dieser Ansatzpunkt, der in keinem der Denkvollzüge ausgeblendet werden darf, führt zu einer vernunftkritischen, nicht vernunftabweisenden Haltung gegenüber einem Systemdenken, das zeitgebundene Hypothesen zu zeitlosen Wahrheiten erklärt (vgl. Hegel). Es wäre also zu zeigen, dass dieses selbstkritische Denken integrativere Züge trägt als ein die Sinnlichkeit abwertendes Denken. Hier kommen gleichzeitig auch Defizite in den Blick, die erneut zur Geltung zu bringen sind, da ein theologisches Denken wissenschaftstheoretisch auch auf die Voraussetzungen jeder anderen Form des Denkens hinweisen kann. Andere (beispielsweise naturwissenschaftliche oder humanwissenschaftlich-empirische) Formen des Denkens basieren ebenfalls auf Behauptungen, Einfällen, Erzählungen, Mythen und weltanschaulichen Vorgaben, ohne welche diese Systeme hinfällig werden. Hermeneutisch ist die Einsicht in die notwendige Angewiesenheit auf Voraussetzungen anerkannt, jedoch hat sich diese selbstkritische Betrachtung keinesfalls dahingehend durchgesetzt, dass sich ein Denken jeweils seiner Vorläufigkeit und Geschichtlichkeit bewusst wäre. Indem Hamann an dem historischen und zeitlichen Charakter der Wahrheit festhält, argumentiert er letztlich christologisch – jedoch nicht in einem spekulativen Sinne, sondern in einem wirklichkeitsbezogenen, kontingenten und ausdrücklich zeitlichen Sinne, da Gott selbst in seinem Sohn Jesus Christus in die Geschichte eingetreten ist. Eine Verbindung von vernunftkritischem, sinnlichem und zeitlichem Denken stellt auch das Phänomen der Geschlechtlichkeit bei Hamann und zugleich Humboldt dar, die beide die Geschlechtlichkeit der Sprache gegen die „Reinheit von Vernunft und Sprache“ angehen. In diesem Sinne ist auch ihre Anknüpfung und Kritik an der Aufklärung zu verstehen, da beide auf das Licht der Aufklärung hoffen, das „keine
171 Vgl. HAMANN, Brief an Jacobi vom 28.10.1785, 108, 21f. Vgl. auch HAMANN, J. G., Zwey Scherflein zur neusten Deutschen Litteratur (1780), in: DERS., Sämtliche Werke Bd. III: Schriften über Sprache/ Mysterien/ Vernunft 1772-1788, hg. von J. Nadler, Wien 1951, 229-242, 239.
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‚blinde Illumination’ mehr ist, sondern wahres Licht, d.h. barmherzige Wärme, die unangefochtene Nähe Gottes bei den Menschen“172 ist. 2.2 Das schöpferische Wahrnehmen Gottes als Kriterium des geschöpflichen Wahrnehmens Eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen Luther und Hamann besteht Bayer zufolge in der Sichtweise und damit anthropologischen Grundbestimmung des Menschen. Während in den meisten der – vorrangig von Schleiermachers Ästhetik und Hermeneutik geprägten – Entwürfe die Glaubenswahrnehmung des Menschen zum Ausgangspunkt des Denkens genommen wird, geht es Luther und Hamann nun nicht im Gegensatz dazu um eine vollkommen isolierte Wahrnehmung des Menschen durch Gott, sondern um die Rezeption des göttlichen Sehens durch den Menschen.173 Es geht in dieser Konzeption Bayers um die Wahrung der Norm und des Kriteriums für unsere menschliche Wahrnehmung, die sich der Mensch als Sünder ohne jede gesellschaftliche Achtung, mit der er sich selbst rechtfertigen will, von Gott zusagen lassen muss. Denn in dieser Niedrigkeit und Verlorenheit wird er von Gott angesehen und schöpferisch angeredet.174 Im Unterschied zu einer permanenten Selbstreflexion geht es um den Menschen als Resonanzraum des Schöpfers.175 Das Sündenverständnis Bayers steht in einem präzisen Zusammenhang mit dem Verlust dieser Wahrnehmungsfähigkeit, wenn Bayer – ebenso wie Walter Mostert – die menschliche Undankbarkeit als Hauptsünde des Menschen bezeichnet, denn darin nimmt der Mensch seine Gegenwart nicht wahr: „Verkannt wird, was gegenwärtig ist, was
172 Vgl. BAYER, Vernunft ist Sprache, 460.458. Vgl. ebenso DERS., Hamanns Metakritik über den Purismum der Vernunft (1784), in: DERS., Vernunft ist Sprache, 199-425, 201ff. 173 Vgl. dazu THAIDIGSMANN, E., Gottes schöpferisches Sehen. Elemente einer theologischen Sehschule im Anschluss an Luthers Auslegung des Magnifikat, in: NZSTh 29 (1987), 19-38: Was hier thematisiert wird, ist „die Wahrnehmung der menschlichen Wirklichkeit durch den in seiner Wahrnehmung sich zusagenden und richtenden Gott.“ (19). 174 Vgl. THAIDIGSMANN, Gottes schöpferisches Sehen, 20. 175 Was Luther am Beispiel des Magnificat der Maria erläutert, interpretiert Thaidigsmann so: „Nicht ihr [Marias, M. R.] Sein, sondern Gottes Tun an ihr wird von ihr in Lob und Dank so zur Sprache gebracht, daß alle Reflexion in Unmittelbarkeit aufgehoben ist.“ (THAIDIGSMANN, aaO, 25).
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sich hier und jetzt uns nicht nur anbietet, sondern darbietet, gewährt und mitteilt – was es nur zu sehen, nur wahrzunehmen gilt.“176 So besteht dann auch Glaube eben im Seinlassen der guten Schöpfung und der Wahrnehmung des Gabecharakters des Lebens: „Das Wahrnehmen des Gewährten im Nehmen, Essen und Loben – das ist Glauben. Wer glaubt, der ‚schmeckt und sieht, wie freundlich der Herr ist’ (Ps 34,9), der hat ein Auge für die Menschenfreundlichkeit Gottes. Wer es nicht hat, glaubt nicht; er sündigt: Sünde ist nicht in erster Linie Übertretung eines Verbots (peccatum commissionis), sondern das Übersehen und Übergehen eines Gebotes als eines Gebotenen, als einer Gabe und Chance, die einem geboten wird (peccatum omissionis). Der Sünder ist in erster Linie ein Kostverächter.“177 Durch die Sünde ist Luther zufolge die Seh- und Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen korrumpiert worden und es bedarf einer neuen Sichtweise von außen, um diesen festgefahrenen Blickwinkel mittels der Affekte und des Willens verlassen zu können. So sagt E. Thaidigsmann: „Solche Veränderung des einzelnen Menschen aber geschieht für Luther dadurch, daß ein Mensch von Gott angesehen wird und so erfährt, daß er in seiner Niedrigkeit und Nichtigkeit von ihm entdeckt und wahrgenommen wird. In diesem Entdecken und Wahrnehmen nimmt Gott teil am Geringen und teilt sich darin zugleich selbst mit.“178
176 BAYER, O., Schöpfung als Anrede. Zu einer Hermeneutik der Schöpfung, Tübingen 21990, 156. Vgl. ebenso DERS., Zugesagte Freiheit. Zur Grundlegung theologischer Ethik, Gütersloh 1980, 97f, Anm. 66: „Die Hauptsünde ist also nicht die Übertretung eines Verbots (peccatum commissionis), sondern das Nicht-Nehmen dessen, was einem geboten – gewährt – ist, das Übersehen und Übergehen, das peccatum omissionis, das Auslassen der Chance.“ Hierbei stützen sich Mostert und Bayer auf LUTHER, M., Vorlesung über die Stufenpsalmen (1532/33), WA 40/III, 1-475, 240, 5f. (zu Ps 127,2). Mostert will mit seinem Verständnis des peccatum omissionis gerade die Wahrnehmung dafür schärfen, dass die Sünde wahrhaft erst in der „Erfüllung des Gesetzes als Wirklichkeitskonstruktion“ erscheint, „sofern diese nämlich die Herstellung der Wirklichkeit des Recht-Seins und der Verwirklichung des Seins der Welt sein will.“ (MOSTERT, Sünde, 168). Mostert fragt nun nach der Wurzel dieser Absicht und bestimmt das peccatum radicale näher als „Ur-Unterlassung“ (aaO, 168f), welche das eigentliche peccatum omissionis darstellt: nämlich die „Nichtwahrnehmung jener nicht gesetzlich auslegbaren Wirklichkeit Gottes, des Schöpfers“ (aaO, 168), wodurch die Unterlassung der Dankbarkeit gegenüber dem Schöpfergott als erste Stufe des Sündenfalls erscheint. 177 BAYER, Schöpfung, 165f. 178 THAIDIGSMANN, Gottes schöpferisches Sehen, 26. Vgl. ebeso DERS., Gottes schöpferisches Sehen und die autonome Würde der Vernunft. Was gibt Luther im Blick auf Kant zu denken?, in: SCHARBAU, FR.-O. (Hg.), Kant, Luther und die Würde des Menschen. Veröffentlichungen der Luther-Akademie Sondershausen – Ratzeburg e.V. Bd. 2, Erlangen 2005, 21-38, 31ff.
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Wie ist nun diese Teilhabe an der Wahrnehmung Gottes klarer zu fassen? Der „theologus crucis“ wird in seinem Hinschauen dem Werden und der Geschichte von Mensch und Welt gewahr, die ihm in ihrer Fragmentarität begegnen. Dabei ist „Grund und Maß allen Seins [...] das schöpferische Wahrnehmen Gottes. [...] Sein schöpferischer Blick ist in seiner seinsverleihenden Kraft und Macht ein schenkender. Er läßt sein, was für andere Augen nicht ist.“179 Dieser Blick Gottes auf mich und das durch Jesus Christus vollbrachte Werk der Wiedergeburt und Neuschöpfung kann dazu führen, mir meine eigenen Augen und Ohren für eine erneuerte und befreite Weltwahrnehmung zu öffnen, „mich bis in die Wurzel meiner Existenz von der Sorge als der Flucht in reine Zukunft und von der Sucht, Verantwortung für alles zu übernehmen, zu heilen und mich in dem selben Maße dankbar die Welt als Schöpfung wahrnehmen zu lassen, in dem ich nüchtern der Grenzen inne werde, die mir gesetzt sind.“180 Somit erhalten auch alle endlichen Freuden ihr Recht und ihren Raum, ja ihre Schönheit. Demzufolge kommt Bayer zur Charakterisierung des Glaubens als „Sinn und Geschmack fürs Endliche“181 erst aufgrund dieser erneuerten Wahrnehmungsperspektive, denn der in Undankbarkeit gefangene alte Mensch hat gerade diesen Sinn und Geschmack verloren. Daraus folgt also für Bayer: „Der Genuß des Endlichen ist dessen gerechtfertigter Gebrauch.“182 2.3 Wahrnehmen als bewusstes Sehen Bayer ist sich wie Ebeling der zweifachen Bedeutung des Wortes „wahrnehmen“ bewusst, wobei Bayer das Wahrheitsmoment eher zurückstellt. Allerdings umschließt auch Wahrheit als geschichtliche dieses Verständnis. Bayer widmet sich vornehmlich der vorethischen Bedeutung des Wortes: „’Wahrnehmen’ meint ja zunächst ein bewußtes Sehen, dann aber auch das Ergreifen einer gebotenen Chance, einer guten Gelegenheit. Offenbar ist Letzteres ohne das Erste gar nicht sinnvoll; dem Tun muß, soll es wirklich verantwortliches Handeln sein, ein Sehen und Hören vorausgehen.“183 Bayer versteht nun dieses erste und grundlegende Wahrnehmen als Antwort auf die Schöpfung Gottes im staunenden Lob, das allerdings
179 THAIDIGSMANN, Gottes schöpferisches Sehen, 36. 180 BAYER, Schöpfung, 157. 181 Ebd. 182 Ebd. 183 BAYER, Schöpfung, 158.
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erst aus der Wiedereröffnung der tauben Ohren und blinden Augen erfolgen kann.184 Dabei differenziert Bayer im Anschluss an Hamann zwischen einem sehenden und nicht erkennenden Auge und einem sehenden und erkennenden Auge. In Gottes Offenbarung durch alles Weltliche redet Gott durch die Natur und Geschichte zu uns, er lässt sich nach Röm 1,18ff durch die Schöpfung erkennen. Aber der Mensch hat gar nicht die Augen für das, was es zu sehen gibt, sondern nur für anderes; auch ist das menschliche Ohr verstopft, das wie im Heilungswunder erst wieder zu öffnen ist.185 Er nimmt Natur und Geschichte entweder als stumm oder aber als vieldeutiges Stimmengewirr wahr.186 Werden im Vollzug dieses antwortenden Staunens und Lobens dem Menschen seine Augen geöffnet, so überwindet er allein in der Haltung des Lobes und damit des Gebetes seine sündige Undankbarkeit und nimmt die Welt als Geschöpf schöpfungsgemäß dankbar wahr.187 Sind also Augen und Ohren geöffnet, so darf man sich allem Weltlichen zuwenden, weil es durch Gott erschlossene Anrede ist.188 Im Staunen über die Schöpfung wird diese als Zuspruch wahrgenommen, wobei die ausgesprochene Diesseitigkeit und Weltimmanenz zum Tragen kommt189, der ein „Sinn und Geschmack fürs Endliche“190 entspricht. Entscheidend ist nun, dass Bayer diese durch das Staunen hervorgerufene Weltwahrnehmung nicht irrational versteht, sondern gerade die innere Zusammengehörigkeit von Staunen und Denken hervorhebt. Ja, man kann von einer Form des „ästhetischen Denkens“ reden, in der das Staunen zu denken aufgibt, die staunende Wahrnehmung ins Denken treibt und gerade in verstärkterem und umfassenderem Maße denkt.191 184 Vgl. aaO, 159. Luther formuliert pointiert: „Also ist unser Haus, Hoff, Acker, Garten und alles vol Bibel, Da Gott durch seine Wunderwerck nicht allein prediget, Sondern auch an unsere Augen klopffet, unsere Sinne rueret und uns gleich ins Hertz leuchtet, so wirs haben woellen, Auff das wir soellen auffmercken und warnemen, wie dieser Artikel von der todten Aufferstehung in den Creaturen gebildet und fuergemalet ist.“ (LUTHER, M., Predigt am Sonntag Exaudi 1. Corinth 15 [25. Mai 1544], WA 49, 422-441, 434, 16-19). 185 Vgl. BAYER, Schöpfung, 11ff. 186 Vgl. aaO, 23. 187 Vgl. Schöpfung, 159. 188 Vgl. aaO, 13. 189 Vgl. aaO, 161. 190 Vgl. aaO, 157. 191 Vgl. aaO, 160. Vgl. auch WELSCH, Ästhetisches Denken, 46: „Das Denken muß als solches eine ästhetische Signatur aufweisen, muß ästhetischen Zuschnitts sein. Das heißt vor allem: Es muß in besonderer Weise mit Wahrnehmung – aisthesis – im
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Bayer präzisiert die Wahrnehmung durch deren Affekte des Staunens, Seufzens und Schauens. In Anlehnung an biblische Rede sieht Bayer das hebräische fdy im Sinne einer leiblichen und affektiven Erkenntnis als Äquivalent für ‚Wahrnehmung’.192 Der Affekt des Staunens ist nun näher zu bestimmen. Das Staunen in der Wahrnehmung ergibt sich nicht unmittelbar aus dem Sichtbaren, sondern wird durch das Wort vermittelt, in dem Gott sich als der Erlöser und darin auch als der Schöpfer sehen lässt. Somit ist das „Staunen in der Wahrnehmung des Schöpfers primär soteriologisch bestimmt“193. Schöpfung und Neuschöpfung bleiben demnach streng aufeinander bezogen. Bayer unterstreicht insbesondere die zeitliche Dimension des Wortes ‚wahrnehmen’ und verschränkt sie mit der räumlichen Dimension in Taufe und Abendmahl.194 Nur in einer Verschränkung der Zeiten lässt sich die Gegenwart im doppelten Sinne von Zuspruch und Anspruch wahrnehmen, was in einer zeitlichen Rückbesinnung auf die Taufe erfolgen muss, denn in der Taufe ereignet sich der Bruch zwischen altem und neuem Menschen, der seinen Gegenwartsbezug jenseits von Vergangenheits- oder Zukunftsverklärung überwindet. „Was ‚Schöpfung’ ist, lässt sich also an der Welt, wie sie uns begegnet, nicht einfach ablesen. Von der Welt als Schöpfung kann auch nicht in kosmosfrommer Naivität geredet werden. Nur in einer zweiten Naivität, durch den Bruch des Todes und des Gerichtes hindurch, in der Überwindung der Todesmächte, ist ‚Schöpfung’: als neue Schöpfung.“195 Das heißt in der konsequenten Verknüpfung von Schöpfungslehre und Eschatologie: „Nur durch das Gericht hindurch läßt sich die Welt als Schöpfung wahrnehmen.“196 Deshalb bleibt für Bayer die Unterscheidung von Sünde und Rechtfertigung sowie Sehen und Schauen grundlegend.
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Bunde sein. Ästhetisches Denken ist eines, für das Wahrnehmungen ausschlaggebend sind. Und zwar sowohl als Inspirationsquelle wie als Leit- und Vollzugsmedium.“; „Die entscheidenden Gehalte sind von Grund auf ästhetisch signiert und bleiben es; vor allem können sie durch Reflexion nicht substituiert werden [...]. Sie können und müssen jedoch durch Reflexionen weiter geklärt und präzisiert werden. Ausgeschlossen sind der strikte, reflexionsfeindliche Intuitionismus einerseits und der vermeintlich wahrnehmungsunabhängige Logizismus andererseits.“ (aaO, 55). Vgl. BAYER, Schöpfung, 169f. AaO, 174. AaO, 162f. BAYER, Schöpfung, 176. Als Begründung verweist Bayer auch auf Lk 23, 44f, wo der Riss, der durch die Schöpfung ging, so beschrieben ist, dass “die Sonne ihren Schein verlor” und „Finsternis über das ganze Land kam” (aaO, 76). AaO, 163. Vgl. Zu dieser Verknüpfung auch BONHOEFFER, D., Schöpfung und Fall, in: DERS., Werke Bd. 3, hg. v. M. Rüter u. I. Tödt, Gütersloh 22002.
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Als erstes Moment der Antwort auf die Anrede und den Zuspruch des Schöpfers sieht Bayer also die Dreiteilung von Loben, Danken und Denken in ihrer Zusammengehörigkeit von Wahrnehmen und Sprechen gegeben. Als zweites Moment der Antwort erwächst daraus jedoch das Wahr-Nehmen dieser Antwortsituation als Wahrnehmen von Verantwortung, als Weitergeben der empfangenen Gabe. Insofern entsprechen sich göttlicher Zuspruch und der daraus erwachsende Anspruch an den Menschen.197 Angesichts der Sünde und des Seufzens der ganzen Kreatur kann es also ein erneuertes Schauen nur auf der Grundlage eines erneuerten Hörens geben, das den neuen Gehorsam mit einschließt.198 Es gilt also, eine erneuerte „Kultur der Wahrnehmung“ wiederzuerlangen. Insofern ist das Seufzen ebenso ein Affekt der Wahrnehmung des Schöpfers und seiner Schöpfung, der sich im Mitleiden, Klagen und Bitten äußert. Diese Unerlöstheit inmitten der Zusage der Rettung setzt Hoffnung auf das umfassende Schauen derselben frei, wobei Bayer auch diese Hoffnung an ihren Sitz im Leben, die Klage, verweist. Hierbei ist wiederum der Ernst des Gerichtes und dessen forensischer Kontext im Blick, da es immer auch angesichts des Seufzens der Kreatur um das Schauen der göttlichen im Unterschied zur irdischen Gerechtigkeit geht.199 Bayer unterscheidet also präzise zwischen den Zeiten, wenn er das Wahrnehmen als bestimmtes und bewusstes Sehen im Sinne des Staunens angesichts der Neuschöpfung, die durch Taufe, Abendmahl und das Wort der Schrift zugesprochen wird, sowie das Seufzen angesichts der Unerlöstheit von dem eschatologischen und in Hoffnung erwarteten umfassenden Schauen unterscheidet. 2.4 Die Externität der Anrede (promissio) durch das Leibliche Wort Einerseits ist unter Anrede zunächst die sprachliche Anrede im allgemeinen zu verstehen, anderseits umfasst sie alle Formen von Begegnung, Kommunikation und Beziehung. Eine wesentliche Voraussetzung für Bayers Bestimmung der Passivität des Menschen stellt die Hervorhebung seiner externen Konstituierung dar. Im Unterschied zu Schleiermacher, der im „Gefühl 197 Vgl. BAYER, aaO, 161f. Vgl. zu diesem ähnlichen Gedanken Heideggers auch KRAFT, P. B., Das anfängliche Wesen der Kunst. Zur Bedeutung von Kunstwerk, Dichtung und Sprache im Denken Martin Heideggers (EHS. Reihe 20, Philosophie; Bd. 128), Frankfurt a. M. u.a. 1984, 47. 198 Vgl. BAYER, aaO, 178. 199 Vgl. BAYER, Schöpfung, 181-184.
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schlechthinniger Abhängigkeit“ in der Immanenz des Selbstbewusstseins verbleibt, in die selbst Gott als „Woher“ dieser Grundkonstitution des endlichen Bewusstseins einbezogen ist, bewahrt Bayer im Anschluss an Luther und Hamann den Anredecharakter und die Externität des zukommenden Wortes, das sich der Mensch nicht selbst sagen kann, sondern von außen zusagen lassen muss, was die promissio in ihrem Gabecharakter als Leibliches Wort unterstreicht.200 Versucht man, aufgrund der unterschiedlichen Begegnungsweisen Gottes die unterschiedlichen Widerfahrnisse auch auf Seiten des empfangenden Subjektes zu beschreiben, so gilt es, nach Kategorien der Beschreibung von Passivität zu suchen. Wie schon das Wort Wider-fahrnis zum Ausdruck bringt, das Bayer im Unterschied zu einem empirischen Erfahrungsbegriff vorrangig verwendet, geht es primär um etwas dem Menschen Entgegenstehendes, etwas ihn von außen Affizierendes und ihm Begegnendes. Dabei interpretiert Bayer Luthers Begriff der experientia, der immer zugleich aktivisch und passivisch konnotiert ist, primär unter passivem Aspekt, da für Luther der Gabecharakter des Lebens eine zentrale Stellung einnimmt. Jedoch drückt sich in der Beschreibung, dass mir Gottes Anrede widerfährt, ein ganz eigentümliches Verständnis des Subjekts aus.201 Das Subjekt wird dabei als eine Art Resonanzraum beschrieben, der durch die Anrede in Schwingung gerät. Zwar begegnet dem Menschen zunächst ein affektreiches Wort, das auch als solches zu beschreiben ist, jedoch stellt sich ebenfalls auf Seiten des Subjekts eine affektive Betroffenheit ein. Analog zur Beschreibung des Atmosphärischen202 geht es in diesem Zusammenhang um die Relation zwischen anredendem Wort 200 Vgl. BAYER, Gott als Autor, 74f.; „Leiblich wird dieses Wort genannt, weil es seinen Realgrund in der Geschichte Jesu Christi besitzt, der als sinnlich-empirischer Mensch zugleich Gott und Mensch ist; und diese Geschichte vergegenwärtigt sich selbst im Herrenmahl als einem zugleich leiblichen und geistlichen Geschehen.“ (KORSCH, D., Das rettende Wort. Zu Gestalt und Entwicklung der Theologie Oswald Bayers, in: ThR 60 [1995], 192-203, 192). „Mit seiner Konzeption des ‚leiblichen Wortes’ hat B. das Programm einer intensiven Verknüpfung von wirkendem Wort und empfangendem Glauben, von Theologie und Verkündigung, von Begriffsstrukturen und aktualen Sprachvollzügen vorgelegt [...]“ (aaO, 201). 201 Vgl. bei G. Böhme den Begriff des Atmosphärischen. Vgl. BÖHME, G., Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik (Neue Folge Bd. 927), Frankfurt a. M. 1995. 202 Vgl. hierzu SCHMITZ, H., Der Leib, der Raum und die Gefühle, Stuttgart 1998, der insbesondere auf die „Ursituation“ unseres Lebens hinweist, die sich als ein Verstricktsein in Situationen darstellt und über das leibliche Spüren vermittelt ist. Bei der Vermittlung dieser Erfahrungen spielen die Künste eine herausgehobene Rolle. Vgl. ebenso DERS., System der Philosophie Bd. II, 2. Teil: Der Leib im Spiegel der Kunst, Bonn 21987 sowie DERS., Die Liebe, Bonn 1993, 139ff. Vgl. auch BÖHME, Aisthetik, 101-116.
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und dem dieses Wort in Betroffenheit erfahrenden und erlebenden Hörer. Wie ist jedoch diese Relation, die ja nicht einfach die Differenz von Subjekt und Objekt beschreibt, zu denken? „Die seit Aristoteles im europäischen Kulturzusammenhang herrschende Ontologie ist eine Dingontologie oder, besser gesagt, eine Substanzontologie. Das eigentlich Seiende ist ein Dies-da, ein Ding, eine Substanz, und was ein Etwas zwischen den Substanzen ist, ist nur, insofern die Substanzen sind.“203 Wird das Verhältnis von Subjekt und Objekt in Analogie zur Substanzontologie verstanden, so kann nicht von deren Kommunikation, sondern nur von deren Autonomie die Rede sein. Bayer zufolge haben metaphysische Bestimmungen – in diesem Fall Substanz- und Subjektmetaphysik – der Theologie keine Vorgaben dahingehend zu machen, dass sie ein Herrschaftsverhältnis über die verantwortliche Rede des Glaubens ausbilden. Die Vernunft ist als eigene Sprache anzusehen, die selbstverständlich auf die Reflexion des Glaubens bezogen bleiben muss. Wie ist nun aber das ‚gegenständliche’ Wort zu fassen, damit es nicht als bloßes Objekt der Rezeption in den Blick gerät bzw. als Subjekt die menschliche Rezeption übergeht? Wir müssen uns hierbei auf die Suche nach neuen Kategorien begeben, die diesem Verhältnis von freier Bereitschaft der Annahme des Wortes und „Gottes Rede an die Kreatur durch die Kreatur“ gerecht zu werden vermögen. Hierbei kommen wir nicht ohne die anthropologische Grundbestimmung des Menschen als Sünder und das darauf bezogene rechtfertigende Handeln Gottes aus, wobei der Sünder in seinem leibhaften Personsein (im Unterschied zu einer Rede vom reinen Subjekt bzw. Bewusstsein) in den Blick zu nehmen ist. Für die Verhältnisbestimmung von religiöser und ästhetischer Erfahrung trägt diese Konzeption bei, dass sich die religiöse Erfahrung als eine Wahrnehmung beschreiben lässt, die sich nicht mit einer subjektivistischen und innerlichen Rezeptionsästhetik erfassen lässt, sondern die gerade als Wahrnehmung des Anderen dieses äußere Wort würdigt. Es liegt hierbei also der Versuch vor, jenseits einer subjektivistischen Erfahrungstheorie die Erfahrung im Sinne der passiven Erfahrung eines Wahrgenommenwerdens durch Gott selbst zu bestimmen. Wenn mich das Wort der Schrift trifft, so werde ich in entscheidendem Maße selbst ausgelegt. Ebenso bedeutet die „Rede an die Kreatur durch die Kreatur“ eine mich als Sünder erreichende Anrede, die nicht ohne die Externität der iustitia aliena Christi am Kreuz zu
203 AaO, 54.
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begreifen ist. Der Mensch wird als Person bleibend extern konstituiert, da er in seinem Sündersein die selbständige Personalität eingebüßt hat. Diese Einsichten basieren in entscheidendem Maße auf der theologischen Annahme der grundsätzlichen Angewiesenheit des Subjekts. Bayer nimmt in der Sprache und Tradition, d.h. auch im Überlieferungsgeschehen sowie in den vorgegebenen Kommunikations- und Ordnungsstrukturen Größen an, die dem Subjekt grundsätzlich vorgegeben sind. Als allgemeinste Struktur hat wohl die Kommunikation im Sinne von Beziehung zu gelten, wie sie existentiell und elementar erfahren werden kann, jedoch sind ebenso welthafte Bedingungen des Lebens eingeschlossen. Diese Angewiesenheit wird theologisch zu einer grundsätzlichen Angewiesenheit des Subjekts bzw. vielmehr der Person auf die Anrede Gottes in Schöpfung und Neuschöpfung. Zu diesen vorgegebenen Strukturen gehören Bayer zufolge auch die Primärtexte des Glaubens mit den in ihnen zur Sprache kommenden „verleiblichten Elementarerfahrungen“.204 Darum orientiert sich Bayer methodisch auch an diesen Primärtexten wie Lied, Gebet, Bekenntnis, Katechismus sowie der Predigt biblischer Texte. Durch diesen Sprachgewinn findet eine Erweiterung unserer Wahrnehmungsmöglichkeiten statt, indem wir frei auf das hören, was schon vor uns gesagt wurde, so dass wir darauf frei antworten: „Nach einem treffenden Wort Hamanns ist ein Autor, wer in seiner unverwechselbar eigenen, besonderen Situation besonnen nachsprechen kann, was sein älterer Bruder gesagt und geschrieben hat.“205 Das heißt also für unseren Zusammenhang des äußeren Wortes, dass nur derjenige, der liest, also wahrnimmt, empfängt, was andere vor ihm gesagt haben, auch darin aktiv analysiert, versteht, selber synthetisiert, antwortet und schreibt. Das bedeutet, dass es einen Spielraum zwischen Hören auf Fremdes und Reden von eigenem, zwischen Empfangen und Überliefern gibt. Es gibt also keinen unmittelbaren oder direkten Zugriff jedes Einzelnen auf die Wahrheit, sondern wir können auch mit unserem Denken nie beim Anfang beginnen.206 Der Prediger verbindet diese beiden Momente, der Rezipient führt sie in seiner Aneignung und im Bezug auf sein konkretes Leben weiter. Daraus folgt, dass die Rede von der Wahrheit immer auf den jeweiligen „Sitz im Leben“ dieser Anrede zu beziehen ist. Wahrheit ist also aposteriorisch am antwortenden Lob bzw. an der Klage abzulesen.207 204 205 206 207
BAYER, Schöpfung, 7. BAYER, Schöpfung, 7. Vgl. ebd. Vgl. aaO, 8.
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Entscheidend ist dabei auch für Bayer die jeweils literaturwissenschaftliche Untersuchung der Sprach- und Lebensformen von Bibel, gottesdienstlicher Feier und Leben, indem er insbesondere den promissioCharakter der Sprachhandlungen herausarbeitet. Hierbei schließt er sich ausdrücklich an die Sprechakttheorie Austins an. Man kann also sagen, dass ein wesentlicher Bestandteil der ästhetischen Methode Bayers in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung besteht. So können neben den Bibeltexten ebenfalls geistliche und literarische Texte gleichermaßen herangezogen werden und die Bibel als poetischer Text gelesen werden, wobei die Natur als liber naturae ebenfalls ein Text des Schöpfergottes als Poeten darstellt, was allerdings nicht ohne weiteres zu entschlüsseln ist. Wahrheitskriterium dieser unterschiedlichen Lesevorgänge bleibt aber das Leibliche Wort in seiner Gestalt von Evangelium und Sakrament (CA 5). In diesem Zusammenhang ist auch auf Gadamers Text- und Traditionsverständnis zu verweisen, dem sich Bayer hier indirekt weitestgehend anschließt, ohne jedoch die These einer Horizontverschmelzung zu teilen. Nach diesem hermeneutischen Verständnis wird also gegenüber einer rezeptionsästhetischen Orientierung die Textautorität in den Vordergrund gerückt, womit die intentio operis gegenüber der Alternative von intentio auctoris bzw. intentio lectoris eine Aufwertung erfährt.208 2.5 Die leibliche Vermittlung – Rede an die Kreatur durch die Kreatur Der Anrede durch das leibliche Wort korrespondiert auf menschlicher Seite das Hören auf dieses Wort, aus dem der Glaube entspringt.209 Bayer zufolge ist darum das Gehör für den christlichen Glauben i.U. zur philosophischen Tradition zunächst der primäre Sinn des Menschen.210 So bestimmt auch schon Luther biblisch-theologisch die Ohren zu den eigentlichen Organen eines Christen.211 Die Begründung dafür 208 Vgl. hierzu KÖRTNER, U. H. J., Perspektiven Hermeneutischer Theologie im Anschluss an Rudolf Bultmann, in: BThZ 16/2 (1999), 258-266, 264. Vgl. auch KLEIMANN, B., Das ästhetische Weltverhältnis. Eine Untersuchung zu den grundlegenden Dimensionen des Ästhetischen, München 2002, 275. 209 Vgl. Röm 10,17. 210 BAYER, Wahrnehmen als Hören und Glauben, unveröffentlichter Vortrag 211 Vgl. LUTHER, WA 57 III, 222,7 (zu Hebr 10,5; 1518). Vgl. auch Luthers Merseburger Predigt vom 6. August 1545 über Ps 8, auf die O. Bayer in seinem Vortrag aufmerksam macht: Auch wenn man Christi Reich „nicht sieht, wie man das weltliche [Reich] sieht, so hört man’s dennoch.“ Denn „Christ Reich [ist] ein Hör-Reich, nicht ein Sehe-Reich. Denn die Augen leiten und führen uns nicht dahin, da wir Christum finden und kennen lernen, sondern die Ohren müssen das tun“ (WA 51,11,25-32). Die zentralen Texte Israels, das „Höre Israel“ in Dt 6,4, das Bilderverbot in Dt 4,15-
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ist sowohl schöpfungs- als auch rechtfertigunstheologisch zu suchen: „Dem Hören kommt in unserer menschlichen Wahrnehmung deshalb der Primat zu, weil die Welt aus dem Nichts – d.h.: unverdient – ins Dasein gerufen wurde.“212 Diesem schöpfungstheologischen Ruf ins Sein entspricht der rechtfertigungstheologische Ruf aus der Todesverfallenheit des Sünders in das Leben in Christus. In einem zweiten Schritt sind dann allerdings Hören und Sehen nicht mehr voneinander zu trennen, denn derjenige der auf die Anrede des Herrn hört, vermag auch anders zu sehen: Ihm werden die Augen für die Schöpfung geöffnet.213 So gilt es mit Bayer festzuhalten, dass „Gottes schöpferisches Wort zwar zuerst, aber keineswegs ausschließlich durch reines Hören wahrgenommen wird. Es erschließt sich vielmehr allen Sinnen, schließt sie, die durch dieses Wort geschaffen wurden, auf, läßt sich durch sie wahrnehmen.“214 Die viel besprochene „Weltlichkeit“ der lutherischen Theologie gründet in Luthers spezifischem Verständnis der Neuschöpfung, die wiederum auf das Schöpfungsverständnis im allgemeinen zu beziehen ist: „Neuschöpfung ist die Bekehrung zur Welt als die Bekehrung zum Schöpfer im Hören seiner Stimme, mit der er sich durch die Kreaturen hören läßt, in der er uns durch die Kreaturen anredet, anspricht – nicht etwa, wie Augustin will, uns von den Kreaturen weglockt, wegführt [...]. Im Gegenzug zu dieser augustinischen Verinnerlichung als Ent19, das Schöpfungswort von Gen 1,1-3 oder Gottes Zusage an Abraham in Gen 12,13: alle diese Texte betonen den Primat des Hörens vor dem Sehen. Dem korrespondiert auf neutestamentlicher Seite Röm 4,11, wo Abraham als Prototyp und Vorbild aller Glaubenden beschrieben wird, der allein auf Gottes Wort und Zusage vertraut. Ebenso betonen Hebr 11,1 sowie Joh 20,29 den Primat des Hörens vor dem Sehen. 212 Vgl. BAYER, Wahrnehmen als Hören und Glauben, aaO, 3. Welsch zufolge nimmt die Philosophie des 20. Jahrhunderts eine besondere Kritik der Vorherrschaft des Sehens vor dem Hören vor: „Heidegger und Wittgenstein [...]haben die Orientierung am Sehen geradezu als das proton pseudos der abendländischen Denkgeschichte identifiziert und demgegenüber Momente des Hörens zur Geltung gebracht.“(Vgl. WELSCH, Grenzgänge der Ästhetik, aaO, 242. Vgl. auch HEIDEGGER, Holzwege, Frankfurt am Main 1950, 246fsowie DERS., Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, 180 u.ö.). So resümiert Welsch in seinen Überlegungen zu einer Kultur des Hörens: „Während daher zum Sehen Nachprüfung, Kontrolle und Vergewisserung gehören, verlangt das Hören das akute Aufmerken auf den Moment, das Gewahren des Einmaligen, die Offenheit für das Ereignis. Zum Sehen gehört eine Ontologie des Seins, zum Hören hingegen ein Leben vom Ereignis her. Daher hat das Sehen auch eine Affinität zu Erkenntnis und Wissenschaft, das Hören hingegen zu Glaube und Religion.“ (WELSCH, Auf dem Weg zu einer Kultur des Hörens?, in: DERS. Grenzgänge der Ästhetik, aaO, 231-259, 248). 213 Vgl. BAYER, aaO, 6. 214 Vgl. BAYER, aaO, 7.
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weltlichung redet Luther einer geradezu penetranten Diesseitigkeit Gottes das Wort. Gott will so Schöpfer sein, daß er uns nicht anders als durch die Kreaturen anredet.“215 Entscheidend für Bayers Wahrnehmungslehre ist die Einsicht, dass der Christ aufgrund seiner Sündenerkenntnis gar kein direktes und ungebrochenes ästhetisches Verhältnis zur Natur und Schöpfung besitzen kann. Der Sünder wird nur durch den Bruch des Todes hindurch gerettet, so dass er die Leiden seiner Mitgeschöpfe sowie seine eigenen leiblichen Gebrechen nicht übergehen kann.216 Darum kann nicht mehr im Sinne einer ungebrochenen Kosmosfrömmigkeit und Naivität gedacht werden, welche die Natur gerade angesichts der Umweltzerstörungen verklärt. Mit seinem ganzen Leib nimmt nun der durch den Tod hindurch wiedergeborene Mensch die alte Welt nüchtern wahr, ja leidet noch viel massiver unter ihr, da der Widerspruch zwischen erfahrener Weltwirklichkeit und zugesagter Erlösungswirklichkeit zur Klage drängt.217 Auch die Einsicht in die Schöpfung als Schöpfung ist ihm nicht unmittelbar gegeben, sondern wird ihm als Gabe des Glaubens durch die Schöpfungsmittlerschaft Christi geschenkt. Des Schöpfers "Rede an die Kreatur durch die Kreatur" geschieht nun Bayer zufolge immer sinnlich und leiblich vermittelt. Darum steht das Verständnis der Engel als Hermeneuten in engem Zusammenhang mit dieser Vermittlung. Diese sind nämlich immer sichtbar, leiblich und weltlich vorzustellen und können auch Menschen „aus Fleisch und Blut“218 sein. Vom „Sitz im Leben“ der promissio Gottes ausgehend, der im Gottesdienst die Verschränkung von Sprach- und Lebensformen erfahrbar macht, begegnet die viva vox evangelii als Gerechtsprechung des Gottlosen durch einen anderen Menschen im mündlichen Wort, also auf kreatürlichem Wege.219 Um jedoch diese Konzentration auf das Wort ganz zu erfassen, muss auf den Handlungs- bzw. Tatcharakter dieses Wortverständnisses rekurriert werden. Zur Interpretation des lutherischen promissio – Verständnisses verweist Bayer des öfteren auf die Sprech215 BAYER, O., Aus Glauben leben. Über Rechtfertigung und Heiligung, Stuttgart 21990, 37. 216 Vgl. BAYER, Gott als Autor, 196. Vgl. oben. 217 Vgl. BAYER, Gott als Autor, 197. 218 Vgl. aaO, 232. „Es gibt kein Geschöpf, das Gott nicht zu seinem Boten, zu seinem Engel machen könnte: Menschen und Gestirne, Tiere und Elemente, eine bestimmte Tonfolge in einer Fuge Bachs, der Torso Apolls, [...], Musik also, Schönheit der Kunst, aber auch das Häßliche – alles was geschaffen ist: das Sichtbare und das Unsichtbare.“ (aaO, 230). 219 Vgl. BAYER, Aus Glauben leben, 51.
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akttheorie Austins, wodurch insbesondere das „Sprachhandeln“ Gottes erhellt werden soll. Unser Handeln, ein Blick oder eine Geste „spricht“, wenn Handeln als sprechendes Handeln verstanden wird. „Mit dem ‚Wort’ geht es um Kommunikation schlechthin. Der Satz ‚Gott hat die Welt durch das Wort geschaffen’ heißt dann schlicht: Er will mit uns, samt allen Kreaturen, Gemeinschaft haben.“220 Somit wird die Schöpfung als Stiftung und Bewahrung von Gemeinschaft verstanden. Diese Kommunikation kann jedoch nicht vom Menschen ihren Ausgang nehmen, sondern wird ihm, der seine Kommunikation zu Gott eigenmächtig unterbricht, gnädig gewährt. Das Wort kommt dem sündigen Menschen zuvor und ermöglicht so seine Antwort in der wiedergewonnenen Freiheit. Dabei ist das Wort allerdings nicht als Kommunikationsangebot aufgrund der Sünde des Menschen zu verstehen, sondern ergeht als Gesetz und Evangelium immer schon. Nur muss der Sünder durch den Heiligen Geist erst wieder zum Hörer des Wortes werden, da er die an ihn ergehende Anrede permanent überhört und übersieht. Dogmatisch sind dabei wichtige Unterschiede wahrzunehmen, die zwischen Schöpfung, Erlösung und Vollendung bestehen, und gleichzeitig ist die Unterscheidung der Zeiten zu wahren. Ausgangspunkt der theologischen Betrachtung bleibt jedoch der Mensch in seiner sündigen Faktizität. Die promissio dieses Wortes besteht nun allerdings nicht in einer bloßen Zukunftsverheißung, sondern dieses Wort wirkt, was es verspricht, im Leben jedes Einzelnen. Sie drückt sich aus in der Erfahrung des unverdienten Lebensgeschenkes, welches beispielsweise ein Kind elementar in der Liebe und Zuwendung seiner Eltern erfahren kann, die wiederum die Voraussetzung für eine beiderseitige Kommunikation ist. Diese Anrede geschieht immer leibhaft vermittelt, da ja auch das Lächeln oder die körperliche Nähe ‚Wort’ und Kommunikation sind.221 „Die ganze Sprache des Menschen ist von Anfang an von seiner Leiblichkeit durchdrungen. Umgekehrt sind die Gebärden des Menschen und seine Sprache so ineinander verflochten, daß auch das Gesicht eines Menschen ‚spricht’. Wort und Leib, Wort und Handlung sind so miteinander verbunden, daß sie nicht getrennt werden können.“222 Im Anschluss an Hamann verbindet Bayer in seinem Wortverständnis die Weite und Bestimmtheit des Wortes Gottes, wobei das 220 AaO, 54. 221 Vgl. zur elementaren Bedeutung dieser Urvertrauen stiftenden Vollzüge einerseits ERIKSON, E. H, Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart 101991, 241ff sowie BALTHASAR, H. U. VON, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. Bd. III/1: Im Raum der Metaphysik, Einsiedeln 1965, 946. 222 BAYER, Aus Glauben leben, 55.
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Problem der natürlichen Theologie innerhalb seiner Schöpfungslehre verhandelt wird. Das Verhältnis von natürlicher zu geoffenbarter Religion ist so zu bestimmen, dass der Mensch eigentlich die Offenbarung durch alles Weltliche, durch Natur und Geschichte nur zu sehen braucht. Aber seine Augen sind verbunden und blind, die Ohren taub und verstopft. Darum muss sich ein Heilungswunder im Sinne der Neuschöpfung ereignen.223 Hamann selbst machte innerhalb dieser Überlegungen eine wesentliche Unterscheidung geltend, die auch für die Gegenwart kennzeichnend ist. Wird nämlich die Natur durch den verobjektivierenden Umgang der instrumentellen Vernunft versklavt, so wird sie – oft im Gegenzug – romantisch vergöttlicht. Beide Formen stellen aber einen Missbrauch dar, da sie dem schöpfungsgemäßen Umgang des Menschen mit der Schöpfung widersprechen.224 Wenn diese Unterscheidung gewahrt wird, kann die „Welt als Text“ (das liber naturae), der verdorben und darum unleserlich geworden ist, auch wieder in den Blick genommen werden.225 Das Weltliche ist neu erschlossen worden und darf deshalb auch in seiner Verweisfunktion wahrgenommen werden. „Hamann geht es bei der Buchmetaphorik nicht um die Schriftlichkeit im Sinne des starren Fixiertseins des Buchstabens, um eine objektivierbare Positivität, sondern um etwas Lebendiges, Bewegtes, um ein Kommunikationsgeschehen, um ‚eine so innige Beziehung auf einander.. wie Autor, Buch und Leser’“.226 Bayer übernimmt die Schöpfungsformel „Rede an die Kreatur durch die Kreatur“ bekanntlich von Hamann.227 Hierbei sind insbesondere die beiden Präpositionen auffällig, die einerseits die Vermittlung des unsichtbaren Gottes im Hören unterstreichen, andererseits das Moment der Schöpfungsmittlerschaft Jesu mit einschließen.228 Ähnlich der Abendmahlsformel des „in, mit und unter“, deren Präpositionen sowohl Nähe als auch Distanz zum Ausdruck bringen sollen, müssen die Präpositionen des „an“ und „durch“ verstanden werden. „An“ symboli-
223 Vgl. BAYER, Schöpfung, 11. Somit kann die Gnade auch als „Öffnung der Augen“ (vgl. SCHAEFFLER, R., Erfahrung als Dialog mit der Wirklichkeit. Eine Untersuchung zur Logik der Erfahrung, Freiburg/ München 1995, 711 u.ö.) umschrieben werden. 224 Vgl. BAYER, Schöpfung, 24-28. 225 Vgl. auch aaO, 20. 226 Vgl. aaO, 13. HAMANN, J. G., Brief an Jacobi vom 1.12. 1784, in: DERS., Briefwechsel Bd. 5, hg. v. A. Henkel, Frankfurt a. M. 1965, 270-272, 272, 14-18. 227 Hamann gewinnt diese Formel u.a. an Ps 19. Vgl. HAMANN, Aesthetica in nuce, 198, 30-32, wo die Formel mit Ps 19, 3-5 „begründet“ wird, wobei insbesondere die Präposition „durch“ auf diesen Psalm zurückzuführen ist. 228 Vgl. BAYER, Schöpfung, 16.
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siert ebenfalls sowohl Bezug als auch Unterscheidung: „Die beiden Präpositionen markieren den theologisch entscheidenden Punkt: Gott redet weltlich, durch die Kreatur, aber doch so, daß diese Rede sich als Rede an die Kreatur zu verstehen gibt.“229 Die Botschaft ergeht also an die Welt, die zugleich der Mittler dieser Botschaft ist. So wird diese Formel von Bayer als Aussage der wechselseitigen Verschränkung von Gottes Freiheit und Liebe interpretiert. 230 Freiheit steht dann für Gottes Distanz zur Welt: Die Anrede ergeht immer an ein Anderes, das ihm gegenübersteht, von dem sich der Anredende unterscheidet. Die Liebe kommt insbesondere in Gottes Eingehen – nicht nur auf die Welt – sondern sogar in die Welt zum Ausdruck, was seinen Kulminationspunkt in der Schöpfungsmittlerschaft und Inkarnation des Sohnes findet.231 Bayer hält die Weltgegenwart Gottes für theologisch nicht ausreichend erörtert, was auch der theologische Personalismus beförderte. Die Weltgegenwart Gottes besteht darin, dass Gott „mich samt allen Kreaturen“ geschaffen hat.232 Wissenschaftsgeschichtlich wird die Trennung von naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Methode gepflegt, nämlich das Auseinanderreißen von Geschichte als Verstehen und Natur als Erklären, so dass Theologie ihre Themen dann allein i.S. der verstehenden Wahrheit und mit Hilfe der Methoden der Geschichtswissenschaft konzipiert. Aber auch die Natur hat eine Geschichte, auf die Bezug genommen werden muss.233 Bayer zieht es vor, den schwierigen Weg zwischen einem Spinozismus, der die Weltgegenwart und Weltimmanenz Gottes bedenkt, und einem Personalismus zu gehen. Er möchte dabei dem Charakter der Schöpfung als Anrede in der oben beschriebenen Metapher vom „Buch der Natur“ begegnen.234 Bis hinein in den genetischen Code des menschlichen Geschöpfs und seiner Mitgeschöpfe ist die Welt als lesbares Buch bzw. als Text vorgestellt. Auch hier geht es um ein Moment der Anrede, was der Personalismus verabsolutiert hat und konsequent von der Dingwelt abschirmt.235 In der Formel der „Rede an die Kreatur durch die Kreatur“ geht es gerade nicht nur um eine „rein“ personale Begegnung. Der Schöpfer 229 230 231 232 233
AaO, 17. Vgl. ebd. Vgl. BAYER, Schöpfung, 17. Vgl. aaO, 1. Vgl. aaO, 2. Vgl. auch DERS., Schöpfung als Geschichte, in: NZSTh 45 (2003), 62-70, passim. 234 Vgl. BAYER, Schöpfung, aaO, 4f. 235 Vgl. ebd.
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redet weltlich, durch die Kreatur, aber so, dass diese Rede personal als Rede an die Kreatur ergeht. Mit all den anderen Autoren verbindet Bayer das Verständnis der göttlichen Anrede als kreatürliches und zeitliches Medium.236 Im Unterschied zu Hegels Abstraktion, dass nur derjenige zu denken beginnt, dem Hören und Sehen vergangen ist, betont Bayer im Anschluss an Hamann die Anschaulichkeit und Sinnlichkeit des Denkens.237 Selbst einunanschauliches Denken wurzelt in ganz materialistischer Weise „im Essen der Gabe und im Hören der Zusage, im Hören und Sehen, Tasten und Schmecken“238. Als paradigmatischer Ort gilt wiederum das Abendmahl, an dem die Einheit von Schöpfer und Geschöpf sichtbar und erfahrbar wird.239 Den Gabecharakter der Schöpfung sieht Bayer im Anschluss an Luther in hervorgehobener Weise im Geschehen von Taufe und Abendmahl, wo sich mit der Gabe der Elemente das Gabewort des Lebens („Nehmet hin und esset: Das ist mein Leib für euch!“) für den Sünder verbindet.240 Hier ist der „Sitz im Leben“ einer Rede von der Schöpfung als 236 „Gottes Anrede an die Kreatur ist nicht ohne kreatürliches und zeitliches Medium.“ (BAYER, aaO, 18). 237 In Hamanns „Aesthetica in nuce“ konzipiert Hamann eine Schöpfungstheorie, in welcher der Naturbegriff Voraussetzung der Erkenntnistheorie ist. Die Natur aber „würkt durch Sinne und Leidenschaften“ (HAMANN, Aesthetica in nuce, 206). Da Gott aber in seinen „Geschöpfen zu sehen und zu schmecken, zu beschauen und mit Händen zu greifen“ ist (aaO, 207), ist es für die Theologie notwendig, „den natürlichen Gebrauch der Sinne von dem unnatürlichen Gebrauch der Abstractionen zu läutern, wodurch unsere Begriffe von den Dingen eben so sehr verstümmelt werden, als der Name des Schöpfers unterdrückt und gelästert wird“ (ebd.). 238 BAYER, Gott als Autor, 244. Vgl. dazu auch THAIDIGSMANN, E., Die Gabe des Wortes und die Frage der Gerechtigkeit. Zum Verständnis der Theologie Oswald Bayers, in: LÜPKE, J. VON/ SCHWANKE, J. (Hgg.), Wirksames Wort. Zum reformatorischen Wortverständnis und seiner Aufnahme in der Theologie Oswald Bayers, Wuppertal 2004, 33-48, 43: „Der Ansatz bei der promissio führt so zur vernunftkritischen Erarbeitung der fundamentalen Konstitution von Wirklichkeit vor allem Wissen und Tun durch das promissionale Gabewort.“ 239 Vgl. BAYER, Schöpfung, 28ff: „Das Herrenmahl ist der Ort, an dem die bislang hervorgetretenen Momente einer christlichen Lehre von der Schöpfung in paradigmatischer Weise versammelt sind. Hier teilt sich die Wahrheit des Seins Jesu Christi, die Gemeinschaft und Einheit von Schöpfer und Geschöpf, konkret mit.“ (29). 240 Vgl. aaO, 164. In diesem Verständnis der elementaren Vorgabe schreibt auch Hamann: „Weh uns, wenn es auf uns ankommen sollte erst Schöpfer Erfinder und Schmiede unsers künftigen Glücks zu werden. Das erste Gebot heist: Du sollt eßen Gen. II. und das letzte: kommt, es ist alles bereit.“ (HAMANN, J. G., Brief an Jacobi vom 5.12.1784, in: DERS., Briefwechsel Bd. 5: 1783-1785, hg. v. A. Henkel, Frankfurt a. M. 1965, 272-276, 275, 26-28). Vgl. auch Thaidigsmann, der in Bayers Theologie diesen „soteriologischen Grundimpuls“ herausarbeitet: „Der soteriologische Grund-
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kategorischer Gabe.241 Die Güte des Schöpfers kann gehört, gesehen und geschmeckt werden. Am Abendmahl sind die verschiedenen Dimensionen der leiblichen Vermittlung am deutlichsten abzulesen. Weltliche Materie ist auch der Mund und die Stimme eines Mitmenschen, der mir die Gabeworte zuspricht, leiblich sind die natürlichen Nahrungsmittel und das untereinander Gemeinschaft stiftende Mahl. Dabei wird der Gekreuzigte als Einladender dieses Mahles verstanden, so dass Leiden und Tod nicht in ästhetisch ungebrochener Weise übergangen werden.242 In den Sakramenten teilt sich Gott in der Gemeinschaft von Schöpfer und Geschöpf selbst mit. Man könnte fragen, was denn das Sakrament gegenüber den anderen Kreaturen auszeichnet. Einzig die Zusage Gottes, hier sich ganz dem Gläubigen zu geben, macht den Unterschied aus: „Zwar ist Gott bei allen Kreaturen und in allen – ‚tiefer, innerlicher, gegenwärtiger als die Kreatur sich selbst’; aber er läßt sich darin nicht fassen. Deshalb besteht ein Unterschied zwischen ‚seiner Gegenwärtigkeit und deinem Greifen’. Es ist etwas anderes, ‚wenn Gott da ist und wenn er dir da ist. Dann aber ist er dir da, wenn er sein Wort dazu tut und bindet sich damit an und spricht: hier sollst du mich finden. Wenn du nun das Wort hast, so kannst du ihn gewißlich greifen und haben und sagen: hier habe ich dich.’ Ja, Jesus Christus selbst, in dem Schöpfer und Geschöpf eines sind, wirst du ‚nicht ertappen, ob er gleich in deinem Brot ist, es sei denn, daß er sich dir anbinde und bescheide dich zu einem sonderlichen Tisch durch sein Wort und deute dir selbst das Brot durch sein Wort, da du ihn essen sollst, welches er denn tut im Abendmahl und spricht: Das ist mein Leib...’“243. In diesem Zusammenhang ist es auch erforderlich, von der vermittelten Anrede zu sprechen, da Hamann die Letztbegründung, also das Apriori allen Denkens, nicht im Kantischen „Ich denke“ der transzendentalen Apperzeption finden kann, sondern auch dieses Apriori für ein historisch vermitteltes und verfasstes hält, da der Mensch allein durch die Anrede konstituiert wird: „Ein auf solche Weise promissional verfaßtes historisches Apriori ist die Bedingung der Möglichkeit auch einer
impuls in Bayers Theologie zielt auf die Rettung derjenigen Wirklichkeitsdimension und Wirklichkeitserfahrung, die fundamentaler ist als Wissen und Tun und was sich vom Menschen her an diese heftet.“ (THAIDIGSMANN, Gabe des Wortes, 46). 241 Vgl. BAYER, Schöpfung, 165. 242 Vgl. aaO, 166f. 243 BAYER, Schöpfung, 30, mit Zitaten aus LUTHER, M., Daß diese Worte Christi „Das ist mein Leib“ noch fest stehen, wider die Schwärmgeister (1527), WA 23, 38-320, 137,33; 150,4; 150,13-17; 15, 29-32.
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logischen, mathematischen und physikalischen Weltwahrnehmung.“ 244 Dieses historische Apriori ist aber im Unterschied zum reinen rationalen Apriori „unrein“.245 Die Kritik der reinen Vernunft im cartesischen oder kantischen Sinne bezieht sich insbesondere auch auf die Leugnung der jeweiligen individuellen Autorschaft dieser Denker. Sie schreiben und argumentieren Hamann zufolge im Namen der „reinen Vernunft“ und gestehen sich dabei ihre Abhängigkeit vom Sinnlichen und Zufälligen nicht ein. Sie beanspruchen damit für ihre Erkenntnisse gewissermaßen zeitlose Gültigkeit und Wahrheit, was Hamann zufolge unmöglich ist. „Wahrheit“ ist immer zeitlich verfasst und trägt ganz individuelle Züge. Grundlage dieses Denkens stellt der Glaube an die demütige Kondeszendenz Gottes dar, der sich als Schöpfer seinen Geschöpfen zuwendet, der menschliche Gestalt annimmt, leiblich wird und sich durch den lebendigen Geist im Leiblichen Wort des Evangeliums und Sakraments ergreifen und berühren lässt. „Der unsichtbare Gott, dessen Unsichtbarkeit sich durch das Bilderverbot schützt, hat sich selbst ein definitives Bild gemacht, sich ganz in dieses Bild hineingegeben, sich darin ‚ausgeschüttet’. Jesus Christus ist das ‚Bild des unsichtbaren Gottes’ (Kol 1,15; Hebr 1,3) – nicht etwa nur sein Abbild; ‚in ihm wohnt’ vielmehr ‚die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig’ (Kol 2,9; vgl. Kol 1,19).“246 Nach Luther muss demzufolge auch die Einheit von Gotteswort und Menschenwort als wahr anerkannt werden, denn das leibliche Wort ist „die Gestalt, in der im Heiligen Geist Jesus Christus selbst zu uns kommt, in der er sich selbst vergegenwärtigt, sich selbst ganz und gar zu eigen gibt: als Gott für uns.“247 Darum ist mit Luther auch scharf gegen jede Form der Spekulation anzugehen, die ihre Angewiesenheit auf sinnliche Vorgaben ignoriert: „Alle sind sie der Spekulation verfallen – was für Luther besagt, daß sie ‚nur mit Gedanken umgehen’. Sie flattern und geistern in ihren eigenen Gedanken und suchen dort, was sie nur in leiblicher und sinnlicher Erfahrung finden“248. Dieses Verständnis wird auch auf den Umgang mit dem biblischen Text angewandt, der für Luther im wesentlichen durch Sinnlichkeit und Leibhaftigkeit geprägt ist. So kann er auch vom „gustare“ eines
244 245 246 247 248
BAYER, Gott als Autor, 244. Ebd. BAYER, Wahrnehmen als Hören und Glauben, aaO, 9. AaO, 8. BAYER, Gott als Autor 262.
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Textes reden, was ja soviel heißt wie „kosten, schmecken und genießen“.249 Nach Luther erkennt der Leser der heiligen Schriften angesichts dessen, was die Texte erkennen, insbesondere aus ihrem „Saft und Mark“ „schmecken“ lassen, nur sein eigenes Unvermögen, diese zu verstehen, wodurch ihm die Grenzen seines Verstandes bewusst werden.250 In diesem Zusammenhang kommt es also immer wieder auf die eine Sache qualifizierenden Affekte an. Jedoch – und das ist der entscheidende Unterschied zu jeder Form einer neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie – geht es hierbei in erster Linie nicht um die Affekte des Menschen, sondern um diejenigen des Wortes Gottes, in denen Gott dem Menschen geistesgegenwärtig sein will. Insofern ist diese Form einer theologischen Ästhetik auf die „sinnlichen Wirkweisen des deus dicens“ und seines Wortes ausgerichtet. Denn dieser anredende Schöpfer, Erlöser und Vollender stellt gerade kein affektfreies Wesen dar, sondern spricht konkret, sinnlich und zeitlich erfahrbar an – auch in den unverständlichen Situationen der Anfechtung, im Gesetz und im Evangelium.251 Jedoch ist nicht nur angesichts gegenwärtiger Rezeptionsästhetik nach der Art und Weise der menschlichen Aneignung zu fragen. Können die Affekte des göttlichen Wortes dann nicht direkt auf die Widerfahrnisse des Menschen in Gesetz, Evangelium und Verborgenheit Gottes bezogen werden? Indem Bayer den Begriff des „Widerfahrnisses“ gegenüber dem mehrdeutigen Erfahrungsbegriff vorzieht, hebt er das dem Menschen von außen Widerfahrende besonders hervor und betont den für Luthers Erfahrungsaspekt vorherrschenden passiven Aspekt der Erfahrung. Wird der Glaube mit Luther als allein Gottes Werk verstanden, so „widerfährt der Glaube dem Menschen; er ‚kommt’ zu ihm (Galater 3,23 und 25). Der Mensch erfährt ihn, indem er ihn erleidet.“252 Es kommt in diesem Zusammenhang auf ein Geschehen an, welches beide Seiten – die Seite des Empfangenden und die Seite des Widerfahrenden – zugleich in den Blick zu nehmen bestrebt ist, um dieses Geschehen als Widerfahrnis fassen zu können. Beschriebe man nämlich lediglich die Seite des Rezipienten in seinem Rezeptionsvollzug, verbliebe man in der Innerlichkeit des Subjekts, das dann letztlich die Wirklichkeit im Rezeptionsvollzug erst konstituierte. 249 250 251 252
Vgl. BAYER, Gott als Autor, aaO, 294. Vgl. aaO, 288. Vgl. aaO, 296. BAYER, Aus Glauben leben, 30.
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Jedoch kann nicht von einer Weise der Rezeption gesprochen werden, wie es die Rezeptionsästhetik anstrebt, sondern es muss von ganz unterschiedlichen Formen der Wahrnehmung und Rezeption, die dem jeweiligen Widerfahrnis entsprechen, ausgegangen werden, die sich nicht auf eine Rezeptionsform reduzieren lassen. Damit wird die Vorstellung eines einheitlichen Subjekts fundamental in Frage gestellt. Bayers Verständnis des Leiblichen Wortes steht auch insofern in Spannung zur gegenwärtigen Rezeptionsästhetik, als diese in besonderer Weise semiotisch und zeichentheoretisch argumentiert. Geht man im Verständnis des Leiblichen Wortes jedoch von einer realpräsentischen Abendmahlslehre aus, kann man das Leibliche Wort nicht einfach zeichentheoretisch erfassen. Die theologische Rezeptionsästhetik sollte keine unkritische Vereinnahmung bzw. Anpassung an rezeptionsästhetische Modelle darstellen, da beiden ein sehr unterschiedliches Verständnis von Rezeption zugrunde liegt. Die Schwierigkeit im Erfahrungs- wie im Rezeptionsverständnis liegt in dem Dilemma, sprachlich nicht über die Kategorien von Subjekt und Objekt, Innerlichkeit und Äußerlichkeit hinausgehen zu können. 2.6 Poietologische Theologie Im Zusammenhang einer poietologischen Theologie ist auch auf den Zusammenhang von eigener Lebensgeschichte und biblischer Geschichte zu verweisen253, wobei Hamanns „Gedanken über meinen Lebenslauf“ einen wichtigen Bezugspunkt darstellen sollen. Eine Theologie der erzählten Geschichten hat eine sowohl anthropologische, rezeptionsästhetische wie theologische Grundlage. Zur anthropologischen „Grundbestimmung“ zählt in entscheidendem Maße, „daß der Mensch der in Geschichten Verstrickte ist“254. Zur Verstrickung tragen verschiedene Einzelgeschichten bei. Dabei gibt es ein Moment, das die Lebensgeschichte zur je meinigen und zu der einen Lebensgeschichte verknüpft. Dieses verbindende Moment stellt bei Hamann die Bekehrungsgeschichte dar, welche bibliomorph verstanden ist, nämlich im Medium biblischer Sprache erzählt wird, was eine enorme Identifikation mit den biblischen Figuren und ihren Geschichten voraussetzt.255 Dies ist ein sowohl literarischer als auch rezeptions253 BAYER, Wer bin ich? Gott als Autor meiner Lebensgeschichte, in: DERS., Gott als Autor, 21-40. 254 SCHAPP, W., In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a.M. 31985, 123. Vgl. auch BAYER, aaO, 28. 255 „Hamann nimmt die eigene Lebensgeschichte nicht isoliert wahr, weil er sie als Geschichte Israels en miniature versteht. Die Geschichte Israels ist damit nicht etwa
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ästhetischer Vorgang, da der Hörer die biblischen Geschichten als seine eigenen erfährt. Theologisch wird der Leser in und durch die Geschichte und einzelnen Geschichten angesprochen. Der Sprecher dieser Geschichten ist Gott als „Autor“, d.h. als Autor der biblischen Geschichte sowie als Autor und Ausleger der eigenen Lebensgeschichte. Dabei findet eine gegenseitige Erläuterung der Momente statt. Die Vielfalt der Einzelgeschichte in der Lebensgeschichte entspricht der Vielfalt der biblischen stories, die wiederum ein Abbild des vielgestaltigen Redens Gottes ist.256 2.7 Fazit Ausgehend von den menschlichen Sprach- und Lebensformen entwickelt Bayer eine Poetologie, die Gott als Poeten der Welt versteht. Die Rede Gottes an die Kreatur durch die Kreatur (Hamann) ist leiblich verfasst und ergeht als äußeres Wort. Mit dieser Konzeption verknüpft Bayer Ästhetik und Hermeneutik, wobei auch er stark an der Sprache im engeren Sinne orientiert bleibt, dabei aber auch eine Ausweitung auf eine allgemeine Kommunikationsstruktur der Anrede, die weltlich vermittelt ist, vornimmt. Bayer verhandelt die ästhetische Fragestellung auf unterschiedlichen Ebenen. Auf allen Ebenen jedoch vertritt er eine theologische Ästhetik im Anschluss an Johann Georg Hamann257, der in seiner „Aesthetica in nuce“ schöpfungstheologische und eschatologische Bezüge der Ästhetik kreuzestheologisch verknüpft.258 Die Ästhetik bestimmt Bayers fundamentaltheologisches Denken im Sinne eines ästhetischen Denkens, das die Sinnlichkeit nicht von der „reinen Vernunft“ scheidet, sondern den Zusammenhang von Sinnlichkeit und Rationalität bedenkt.259 Mit dem Interesse an Sinnlichkeit ist zugleich die Frage nach der Leistungsfähigkeit und den Grenzen der Vernunft gestellt.
256 257 258 259
zur Seelengeschichte eines Individuums verengt. Vielmehr erfährt sich durch sie und den in ihr redenden Gott ein einzelner Mensch mit seiner konkreten Lebensgeschichte aus leerer Subjektivität [...] gerade herausgeführt und in die Weite der Schöpfung und Geschichte hineingestellt.“ (BAYER, Wer bin ich, 32). Vgl. Hebr 1,1. Dieses Verständnis verbindet ihn mit H. Timm, wobei Bayer konsequent die Gefahr des Ästhetizismus bzw. einer Naturfrömmigkeit (i.S. des Spinozismus) abwehrt. Vgl. auch RINGLEBEN, J., Dornenkrone und Purpurmantel. Zu Bildern von Grünewald bis Paul Klee, Leipzig 1996, 11. Dabei versteht Hamann in seiner Metakritik über den Purismus der Vernunft von 1784 die Sinnlichkeit gerade nicht nur als „Materiallieferanten“ (Vgl. BAYER, Hamanns Metakritik, 407), sondern vielmehr „ist der Verstand durch das Wort an die
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Des weiteren wird Ästhetik als Wahrnehmungslehre im Zusammenhang von Bayers Schöpfungsverständnis („Schöpfung als Anrede“) und der darin verankerten sinnlich vermittelten Rede Gottes „an die Kreatur durch die Kreatur“ sowie den damit verbundenen menschlichen Sprach- und Lebensformen verhandelt. Dabei ist immer die Schöpfungsmittlerschaft Jesu Christi notwendige Voraussetzung solcher Rede. Denn erst durch die Menschwerdung kann im Evangelium die allgemeine Struktur dieser schöpfungsgemäßen Anrede und kondeszendenten Kommunikation und Anrede im Schöpfungsakt erkannt werden. Einen besonderen Ausdruck findet Ästhetik als Lehre von der Wahrnehmung im Verständnis des Leiblichen Wortes, wie es in Predigtwort und Abendmahl begegnet und entsprechend rezeptiv empfangen werden soll. Dabei beschäftigt sich Bayer unter formgeschichtlichen Fragestellungen mit literaturwissenschaftlicher Methodik, indem er insbesondere Gattung und Form mit dem Sitz im Leben, d.h. der Lebensform der Primärtexte des Glaubens verknüpft. Innerhalb dieser Untersuchungen am Text nimmt er auch eine Näherbestimmung der promissio durch die Sprechakttheorie Austins vor. Mit dieser Konzeption verknüpft Bayer Ästhetik und Hermeneutik, wobei er stark an der Sprache im engeren Sinne orientiert bleibt. Für Bayer steht das Konstituiertwerden der Person durch das göttliche Wort in jeder Anredesituation im Vordergrund. Das heißt, die Person wird immer wieder neu durch das Wort konstituiert. Daher versteht Bayer den Text der überlieferten Sprachformen als etwas Aktives, Eigenständiges und darin auch Autorität Gebietendes, der mich auslegt und dem ich mich auch zu unterwerfen habe, indem ich darauf höre, was mir dieser Text sagen will.260 Der Leser erfährt sich als vom Text ausgelegt, wobei die Textsubstanz nicht aufzehrend angeeignet werden kann, sondern der Text vielmehr den Leser verändert. Damit bleibt die durch den Text konstituierte Identität eine andere, fremde und darin zugeeignete Identität.261 Die Rede vom „äußeren Wort“ un-
Sinnlichkeit gebunden“, was bedeutet, dass er nicht im materialistischen Sinne bloß aus ihr abgeleitet ist (aaO, 387). 260 Darin unterscheidet sich Bayer allerdings von einem innerlichen Verständnis von Schriftautorität, da diese „nur in der Wirksamkeit der Wiedergeburt im Prozess der Lektüre sich ausweisen kann“ (HUIZING, Der erlesene Mensch, 27). Bayer bewahrt vielmehr die Externität der Schrift, indem er die Autorität der Schrift, die mir auch und gerade in ihrem promissionalen Charakter begegnet, selbstwirksam denkt und die Wiedergeburt sich erst aus der Annahme des rechtfertigenden Vergebungszuspruchs ergeben kann. 261 Vgl. BAYER, Autorität, 30.
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terstreicht diesen Aspekt. Geht es hier um die Auslegung meiner selbst, so ist damit eine existentiale Ebene des Verstehens angesprochen. Dem Leser widerfährt der Text als Gesetz und Evangelium, das er seinerseits als Gabe zu empfangen hat. Bayer versteht das äußere Wort zugleich als Grund des Glaubens (fides creatura verbi), der über eine bloße kausale Veranlassung zum Glauben weit hinausreicht. Dieses aktive Wortverständnis begründet Bayer mit Luther pneumatologisch, indem er darauf verweist, dass sich der Geist in seiner Freiheit immer an das äußere Wort bindet und damit nicht nur den Glauben ermöglicht, sondern zum Glauben ermächtigt.262 Durch diese Bindung des Geistes an das äußere Wort kommt die rechtfertigende promissio zustande. Das äußere Wort ist zugleich Leibliches Wort, das in der Gestalt von Predigt und Sakrament begegnet. Das Wesen dieses Wortgeschehens versucht Bayer im Dialog mit der Sprachphilosophie zu entfalten: Demnach plädiert er dafür, das Wort nicht einfach als Gegenstand oder Zeichen, sondern das Wortgeschehen (promissio) als Ganzes in den Blick zu nehmen: als Sprechakt bzw. Worthandlung. Damit konzentriert sich Bayer auf die überlieferten Sprach- und Lebensformen als ein „Datenfeld“ mit vorgegebener Struktur, wobei er danach fragt, wer der Stifter dieser Struktur ist. Indem Gott selbst dem Menschen sprachlich begegnen will, ist schon seine Anrede sprachlicher Art. Dabei wird Sprache in einem umfassenden und weiten Sinn als Kommunikation verstanden. Es ist allerdings zu fragen, warum diese promissio bei Bayer eine sprachtheoretische Begründung erhalten muss.263 Denn durch die Sprechakttheorie lässt sich nicht der spezifische Charakter der promissio als Gotteswort erschließen. Im Grunde bildet jedoch die Hamannsche Verankerung der Vernunft in der Sprache die nicht nur sprachtheoretische, sondern gerade theologische Begründung einer solchen möglichen Verbindung der promissio mit der Sprechakttheorie, denn Hamann zufolge ist auch die Sprachtheorie theonomisch sowie schöpfungstheologisch verankert. Insofern könnte man die Näherbestimmung der Wirksamkeit der promissio durch die Sprechakttheorie mit Hilfe einer Strukturanalogie von promissio und performativen Sprechakten begründen. Die Sprechakttheorie ist also nicht in genuin theologischer, sondern in 262 Vgl. aaO, 158ff. 263 Vgl. dazu DALFERTH, I. U., Religiöse Sprechakte als Kriterien der Religiosität? Kritik einer Konfusion, in: LingBibl 44 (1979), 101-118, 101: „So gibt es weder lexikalische, noch syntaktische oder semantische Kriterien, die religiöse und nichtreligiöse Äußerungstexte eindeutig zu unterscheiden erlauben; und das heißt, daß Religiosität keine sprachlich-grammatisch explizierbare Kategorie darstellt“ .
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theorie ist also nicht in genuin theologischer, sondern in sprachhermeneutischer Hinsicht von Bedeutung. Für Bayer ergibt sich der hermeneutische Charakter der Theologie daraus, dass Gott der deus dicens ist.264. Er hat also seinen Grund im sprachlichen Charakter der Selbstmitteilung Gottes.265 Der Sinngehalt ist nach Bayer „im Text und nicht im Urheber des Textes“266 zu entdecken. Entscheidende Voraussetzung dieser Hermeneutik ist die Bindung des Heiligen Geistes an Laute und Buchstaben.267 Die Frage nach der Aneignung der Anrede durch das Subjekt klammert Bayer aus, da er den Begriff der Aneignung in bezug auf das Wortgeschehen sogar für irreführend hält. Vielmehr sieht er Wortgeschehen und Rechtfertigungsgeschehen so eng aneinander gebunden, dass in beiden die gleiche Grundstruktur herrscht. Ist also im Wortgeschehen von Aneignung die Rede, so muss diese auch im Rechtfertigungsgeschehen zur Sprache kommen. Die iustitia aliena kann aber niemals angeeignet, sondern nur von Gott zugeeignet werden. Deshalb steht bei Bayer die Zueignung des Wortes im Vordergrund.268 Weder Selbstvergewisserung noch Selbstbesinnung sind in der Begegnung mit dem Wort möglich, sondern das Subjekt erfährt sich gleichsam als exzentrisch konstituiert. Das Problem des neuzeitlichen Denkens, das insbesondere Bayer in seiner Metakritik verhandelt, besteht gerade darin, dass dieses immer eine a priorische Konstante benötigt, von der aus sie Wirklichkeit beschreibt. Diese Konstante ist wie ein archimedischer Punkt.269 Die Frage 264 BAYER, O., Hermeneutische Theologie, in: KÖRTNER, U. (Hg.), Glauben und Verstehen. Perspektiven Hermeneutischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 2000, 39-55, 45: „Weil Gott selbst Hermeneut ist, muß Theologie hermeneutische Theologie sein.“ 265 Vgl. BAYER, aaO, 49. Bayer leitet aus der Etymologie des Wortes „Theologie“ ab, „daß und wie Gott und Wort zueinandergehören“ (aaO, 45). Bayer konstatiert für die Theologie Schleiermachers und Bultmanns die Gemeinsamkeit „der Scheu, vom deus dicens direkt und nicht im Spiegel des homo recipiens zu reden“ (aaO, 41). 266 BAYER, Hermeneutische Theologie, 52, wo Bayer auf RICOEUR, P., Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I, München 1973, 175-198, 194, verweist. 267 Vgl. BAYER, aaO, 53. Vgl. zu dieser Formulierung HAMANN, J. G., Metakritik über den Purismum der Vernunft (1784), in: DERS., Sämtliche Werke Bd. III: Schriften über Sprache/ Mysterien/ Vernunft 1772-1788, hg. v. J. Nadler, Wien 1951, 281-289, 286: „Laute und Buchstaben [...] die wahren, ästhetischen Elemente aller menschlichen Erkenntnis und Vernunft“. 268 Vgl. vor allem BAYER, Leibliches Wort. Reformation und Neuzeit im Konflikt, Tübingen 1992, 63ff. 269 Vgl. Kants Kopernikanische Wende oder das Prinzip der Zentralperspektive, das sich seit der Renaissance durchzusetzen begann. Nach Bayer gelangt dieses Prinzip der neuzeitlichen Subjektmetaphysik mit Descartes zum Durchbruch.
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ist für Bayer, ob theologisches Denken mit der bloßen Frage nach dem Selbstkonstituiertsein des Subjekts schon die Frage nach der Wahrheit des Menschen gestellt hat oder lediglich nach dem Woher seines Konstituiertseins. Er unterstreicht damit, dass die Subjektivität und Freiheit des Menschen gerade nicht als zwar gesetzte, aber an und für sich bestehende gesehen werden können, sondern von Gott jeweils neu zugesprochen und gewährt werden müssen.270 Dennoch kann über Bayer hinausgehend vom Subjekt als prinzipieller Aneignungskategorie i.U. zu einer Begründungskategorie gesprochen werden.271
3. Hermann Timm – Zwischen theologischer Ästhetik und ästhetischer Theologie 3.1 Pneumatologische und inkarnationstheologische Voraussetzungen Timm zufolge ist der Heilige Geist in seinem Wirken nicht auf eine reflexionslogische Binnenwelt der Glaubensgedanken einzuengen, sondern wirkt vielmehr ebenso in vorreflexiven Gefühlen, in vitalen Antriebsenergien des Körpers und in den unterschiedlichen Sinnesgaben von Gesicht, Gehör, Geschmack, Gespür und dem Miteinander von Mensch, Mitmensch, Natur, Mikro- und Makrokosmos. An der Philosophie des 19. Jahrhunderts, respektive der Philosophie des Deutschen Idealismus, kritisiert Timm deren Verengung des Geistverständnisses auf den Bereich des Noetischen, indem die rezeptive Genialität oder die Kräfte der Imagination innerhalb der Vernunft auf Kosten der Ganzheitlichkeit vernachlässigt worden sind. Unter dem Aspekt einer lebendigen Spiritualität wirken aber diese Kräfte insbesondere in liturgischen, sozialen, ästhetischen oder kosmologischen Zusammenhängen, was Auswirkungen auf die Konzeption einer Pneumatologie haben muss.272 Timm bezeichnet seinen methodischen Weg – bei gleichzeitiger Problematisierung der Anwendbarkeit – als „phänomenologisch“, was 270 Vgl. BAYER, Gott als Autor, 81. Davon sind das bestehende Personsein und die Würde der Person zu unterscheiden, die durch den Schöpfungsakt vorausgesetzt werden müssen und in ethischen Diskursen relevant werden. Vgl. zur Unterscheidung von Personsein i.U. zum Personwerden DALFERTH, I. U./ JÜNGEL, E., Person und Gottebenbildlichkeit, in: BÖCKLE, FR. u.a. (Hgg.), CGG Bd. 24, Freiburg 1981, 57-99. 271 Vgl. dazu DALFERTH, I. U., Subjektivität und Glaube. Zur Problematik der theologischen Verwendung einer philosophischen Kategorie, NZSTh 36 (1994), 18-58, 31. 272 Vgl. TIMM, H., Das Weltquadrat. Eine religiöse Kosmologie (Phänomenologie des Heiligen Geistes Bd. 1: Elementarlehre), Gütersloh 1985, 14f.
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er wie folgt erläutert: „Soll Methode die intellektuelle Technik [...] bezeichnen, kann Phänomenologie keine haben. Denn sie strebt hinter die fingierten Konstruktionen und autoritativen Meinungen zurück ins Vortheoretische, um möglichst nahe an die Sache selbst heranzukommen. [...] Was immer gegeben ist, ist jemandem gegeben, und Erscheinungen sind solche für das Bewußtsein, das durch seine Art der Wahrnehmung das Wahrgenommene seinerseits mitbestimmt. So jedoch, daß dieses Oszillieren von Bewußtsein und Bewußtseinsgegenstand als reflexionsbindende Vorgegebenheit zu gelten hat. Darauf legt Phänomenologie ihren – idealismuskritischen – Akzent.“273 Timm ist bestrebt, mittels der Inkarnation seinen methodischen Weg dogmatisch zu fundieren: „Das sind zum einen die Welt – und Menschwerdung des Heiligen, und es ist zum anderen die Realpräsenz seiner innerweltlich überdauernden Bezeugungen.“ „Und diese Eigenaussage liegt im Gedanken der Ankunft und des grenzweisen Eintretens der Transzendenz in die Erfahrung, liegt im kontingenzermöglichenden Ein- und Zufall des Heiligen für den offenbarungsbedürftigen Menschen“ 274. Damit will Timm die Geistreligion „inkarnatorisch“ zurückbinden. Das Vernehmen von Wirklichkeit wird einem analytischen Weltblick entgegengesetzt, dem ebenso das Primat des Beobachtens vor dem Reflektieren sowie der Vorrang des Beschreibens vor dem der Deutung bzw. Wertung entspricht. Timm möchte diejenigen Sinnbestände, die dem „ich denke, ich kann, ich glaube“ bild – und sprachlogisch vorgelagert sind, wieder freilegen, wobei er an die Fähigkeiten des homo religiosus in Achtsamkeit, Behutsamkeit und im erwartungsvollen Hinhorchen appelliert. Dabei bleibt die Phänomenologie „alternativlos an den Logos des offenbaren Geheimnisses gewiesen“275. Als Programmatik für die Entfaltung des Weltlebens des Geistes ergibt sich eine Dreiteilung in folgenden Hinsichten: Zum einen wird unter dem Aspekt der revelatio generalis die Natur als Schöpfung verhandelt, was für Timm eine Religionskosmologie leisten soll.276 Zum anderen wird die Religionsanthropologie anhand des Gebetes (Stichwort: Sprachnot lehrt beten) entwickelt. Zum dritten soll das sakramentale Denken in der Näherbestimmung des Verhältnisses von Geist und Buchstabe innerhalb der „Symbolik“ Gestalt gewinnen. 273 274 275 276
TIMM, Weltquadrat, 15f. AaO, 16f. AaO, 18. AaO, 20.
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3.2 Theologische Erfahrungslehre als Einübung in die Wahrnehmungsfähigkeit der Schöpfung Bevor wir uns Timms Ansatz im einzelnen zuwenden, muss zunächst sein Verständnis „ästhetischer Erfahrung“ näher erläutert werden. Timm versteht unter „aisthesis“ das Gewahrwerden bestimmter „Appellqualitäten“ der uns umgebenden Welt, die wir über unsere Sinne empfangen.277 Im Unterschied und Gegenzug zu einer reinen Subjektmetaphysik bzw. zu einem introvertierten experimentalwissenschaftlichen Verständnis möchte Timm mit seiner phänomenologischen Methode wieder eine Dimension freilegen, die darin ihre Bedeutung hat, „Natur vor Ort ihrer Aisthesis, ihrer sinnenfälligen Phänomenalität eigens aufsuchen zu wollen.“278 Neben dem Buch des Lebens, der Bibel, soll in der Doppellektüre der Wahrheit auch das „Buch der Natur“ zur Sprache kommen. Mit dem Begriff der „Semiotheologie“ will Timm nicht etwa eine Halbtheologie (Semitheologie) einführen, sondern vielmehr auch die theoretische Wahrnehmung der Theologie auf die Zeichenwelt (semeion) ausweiten.279 Indem Timm primär schöpfungstheologisch argumentiert, kommt bei ihm die Kreatürlichkeit in ihrer „tageshelle[n], sinnenwache[n]“ Schöpfungsfrömmigkeit“ in den Blick, so dass der gesamte Lebensraum „als Anwesen und Ansinnen des Geistes“ begriffen werden kann.280 Timm entwickelt darum seine Methode insbesondere im Gegenüber zur historischen Methode, die ihre schärfste Ausformung im „Historismus“ gefunden hat.281 Wird nun im Gegenzug dazu die Phänomenalisierung postuliert, die auf den „Selbsterweis des Phänomens“ rekurriert, so soll damit die historische Methode keinesfalls ausgetauscht, sondern ergänzt werden: „Zielt doch Phänomenalisierung auf den Mehrwert von Wahrheit gegenüber allem was war und damit dem Erledigten zufällt. Sie ent277 TIMM, Diesseits, 87. 278 TIMM, Geerdete Vernunft. Von der Lebensfrömmigkeit des Okzidents (Luchterhand Essay Bd. 8), Hamburg/ Zürich 1991, 33. 279 Vgl. TIMM, H., Hermann Timm, in: HENNING, CHR. / LEHMKÜHLER, K., Systematische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Tübingen 1998, 247256, 251. 280 TIMM, Jahrzehnt, 87. 281 TIMM, Geerdete Vernunft, 88: „Er ist eine Folge der verabsolutierten Chronologie auf Kosten der Topologie, und die wiederum resultiert aus der Denkflucht der Wissenschaft: Flucht aus dem Welt-, dem Wohn-, dem Gegenwartraum ins kontrapräsentische Anderwärts.“ Vgl. dazu auch Überlegungen Moltmanns, der nach einer Periode geschichtlicher Orientierung dann topologische Bezüge verstärkt in den Blick nimmt.
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springt einer Geistesgegenwart, die ihrerseits Geistesgeschichte erst offenbart“.282 Eine solche Annäherung könnte in Anlehnung an die Sokratik im Stil des Fragens vorgehen, „weil der Fragesatz, anders als thetische Behauptungen, seinen Gegenstand nicht in Beschlag nimmt. [...] Fragwürdig machen heißt durch Fragen würdigen“.283 Des öfteren rekurriert Timm auf Husserls Methode der Phänomenologie oder auf Heideggers Metaphysikkritik und Gadamers Hermeneutik. Der Sache nach haben wir es allerdings bei Timm weniger mit der Beschreibung eines intentionalen Bewusstseinsvollzugs im Sinne Husserls als mit einer Theorie präreflexiver Wahrnehmung von Phänomenalität zu tun.284 Diesen Rückgang auf die Phänomenalität sieht Timm gegenwärtig gegeben: Ausgehend von Religionsgeschichte und Gegenwart, in denen die Inspirationsmöglichkeit einer Gestaltwahrnehmung begegnet, sind insbesondere neue Formen von Religiosität bestrebt, den ekstatischen, „mondsüchtigen“ Gedankenflug des Menschen ins irdische Sinnenleben heimzuholen. Allerorts kann man den Mangel an einer spirituellen Erfahrungsschule feststellen.285 Daraus folgt für Timm, dass der Geist „aus [dem] Dickicht der intellektuellen Absprachen ins Offene hinaustreten, ins Ungeschützte“286 muss, denn jenseits der methodisch kontrollierbaren Sicherheit liegt nicht gleich das Feld des Irrationalen. Unser gesamtes Reflexionswissen ist umgeben von der sinnhaften Erscheinungswelt der Dinge, von Personen, geschichtlichen Zeugnissen, also symbolischen Formen i.S. von „Wahr-zeichen“. Gerade Bilder können Timm zufolge ein hervorragendes Element für die „Epiphanie des Heiligen“ sein.287 Heiliges will auch erfahren werden, ganz immanent und sinnhaft gegenwärtig, in natürlicher Vernünftigkeit. Begegnet der Geist nun zunächst in der Phänomenalität des präsentischen Lebens, ehe er re-präsentiert wird? Müssen seine Spuren nicht in originären Anschauungen des empirischen Daseinskosmos des tagtäglichen Lebens aufgespürt werden? 282 TIMM, Geerdete Vernunft, 89f. 283 AaO, 53, wo sich Timm Heideggers Satz: „Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens“ (HEIDEGGER, M., Die Frage nach der Technik (1953), in: DERS., GA Bd. 7: Vorträge und Aufsätze, hg. v. F. -W. v. Herrmann, Frankfurt a. M. 2000, 5-36, 36/[=40]) anschließt. 284 Vgl. auch PICHT, G., Kunst und Mythos, in: DERS., Vorlesungen und Schriften, hg. v. C. Eisenbart, Stuttgart 41993. 285 TIMM, H., Zwischenfälle. Die religiöse Grundierung des All-Tags, Gütersloh 1983, 10. 286 AaO, 11. 287 TIMM, Zwischenfälle, ebd.
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In seinem religiösen Anschauungsunterricht sucht Timm nach einer Methode, die beidem gerecht wird: nämlich nach dem Ereignischarakter der von ihm so genannten „Zwischenfälle“ im Sinne der Situationsbeschreibung und einer nachträglichen Reflexion des Kontextes, welche den Sprachmitteln gerecht zu werden versucht, so dass das liber vitae und das liber naturae synoptisch zusammengelesen werden.288 Im liber naturae und dessen phänomenologischer Beschreibung begegnet uns ein vorprädikativer Weltglaube289, auf den im hermeneutischen Sinne als Vorverständnis zurückgegriffen werden kann.290 So setzt sich die Erfahrungswirklichkeit aus Geistesgeschichte und Geistesgegenwart zusammen. Im Anschluss an Hamann stellt sich Timm darum einem Purismus als Wissenschaftsideal entgegen, wie er insbesondere in Kants Kritik der reinen Vernunft begegnet. Denn bei diesem geht es um logisches Funktionieren des Urteilens und durchgängige Regelhaftigkeit des Willens, um sie von der mannigfaltigen Erfahrungswelt abheben zu können.291 Diese puristische Denkgesinnung rechnet gar nicht mit der Möglichkeit, dass die conditio humana prinzipiell eine unklare oder gemischte sein könnte, denn dem Reinen fehlt Timm zufolge der Blick in den Spiegel.292 Insofern stellen Hamanns Überlegungen, wenn man sie insbesondere mit Kants eigenen Aussagen vergleicht, eine wesentlich radikalere Form des Aufklärungsanliegens dar, da die Unverzichtbarkeit der bildlichen Vorstellungen konsequent eingelöst wird. „Wir mögen unsre Begriffe noch so hoch anlegen, und dabei noch so sehr von der Sinnlichkeit abstrahieren, so hängen ihnen doch noch immer bildliche Vorstellungen an, deren eigentliche Bestimmung es ist, sie, die sonst nicht von der Erfahrung abgeleitet sind, zum Erfahrungsgebrauche tauglich zu machen. Denn wie wollten wir auch unseren Begriffen Sinn und Bedeutung verschaffen, wenn ihnen nicht irgend eine
288 AaO, 15. 289 Vgl. HUSSERL, E., Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik (Philosophische Bibliothek Bd. 280), red. u. hg. v. L. Landgrebe, Hamburg 61985, 23. 290 TIMM, Zwischenfälle, 16. 291 AaO, 39. 292 Vgl. 1 Kor 13,12. Denn die Kreaturen sind ein Spiegel (speculum), in dem Gott widerleuchtet, wovon auch die Bezeichnung des Erkennens als Spekulieren abgeleitet werden kann (vgl. TIMM, aaO, 43). Hier schließt sich Timm an H. Seuses Verbindung von Erkenntnis und Spekulation i.S. des Widerleuchtens an.
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Anschauung (welche zuletzt immer ein Beispiel aus irgend einer möglichen Erfahrung sein muß) untergelegt würde?“293 Eine herausragende Funktion erhält in diesem Argumentationsgang der Begriff der Erfahrung, indem er die vorbegriffliche Selbstverständlichkeit der Lebenspraxis metaphorisch in sich trägt. Ursprünglich verstand man darunter ein Hinfahren i.S. von leibhaftem Unterwegssein; wer etwas erfahren will, muss mit der Bewegungsempfindung in den eigenen Beinen vertraut sein, wovon dann auch unser Begriff des Lebenswandels seine inhaltliche Prägung erhalten hat. „Erfahrung im ersten und prägnantesten Sinne ist somit als direkte Beziehung auf Individuelles definiert. Daher sind die an sich ersten Urteile als Urteile mit individuellen Substraten, Urteile über Individuelles, die Erfahrungsurteile. Die evidente Gegebenheit von individuellen Gegenständen der Erfahrung geht ihnen voran, d.i. ihre vorprädikative Gegebenheit. Die Evidenz der Erfahrung wäre sonach die von uns gesuchte letztursprüngliche Evidenz und damit der Ausgangspunkt der Ursprungsklärung des prädikativen Urteils“.294 So sind wir beim Erfahrungsbegriff immer schon von der Bildlogik des Ausgangs bestimmt, wobei der lebensmäßige Zusammenhang zwischen – wie Timm sagt – statischer und kinetischer Begrifflichkeit bzw. zwischen Substanzontologie (Sein als Bestand) und Relationsontologie (Wirklichkeit als Bewegungsvorgang) deutlich wird.295 In einem kurzen geistesgeschichtlichen Rückblick weist Timm auf die jeweils herrschende Vorstellung hin: Auch die neuzeitliche Subjektivitätsphilosophie machte von einer positionalen Leitbildlichkeit Gebrauch, indem sie den jeweiligen Aktcharakter betonte, nämlich Setzen, Stellen, Legen. Ging die Antike von der resultierenden Zuständlichkeit aus, so beschrieb die Neuzeit den Grund des Wirklichkeitsbewusstseins als Satz und Bau, also als fundamentum: Das Ich setzt sich selbst. Diese Selbstsetzung und ihre Entgegensetzung der Welt als Gegen-stand in der Vor-stellung wurde von Fichte herausgearbeitet. Das Sich-selber-Setzen des konstituierenden Lebenssubjekts als Ich oder exzentrische Positionalität konzipierte dann später Plessner. Goethe hingegen hob besonders die Polarität und den Progress hervor, Schelling die immer fortgehende Erkenntnis der Philosophie, die nie starre, stillstehende, dogmatische Wissenschaft; auch Hegel dachte die
293 KANT, I., Was heißt: Sich im Denken orientieren?, in: DERS., Werkausgabe Bd. V: Schriften zur Metaphysik und Logik 1, hg. v. W. Weischedel, Frankfurt a. M. 1977, 267-283, 267/ [=A 304, 305]. 294 HUSSERL, Erfahrung und Urteil, 21. 295 TIMM, Zwischenfälle, 48.
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Dialektik als höhere, vernünftige Bewegung. Die nachidealistische Philosophie war dann ohne archimedischen Punkt: Das Letztgegebene wurde als horizontale Offenheit ohne einen definitiven Standpunkt verstanden. 296 3.3 Geerdete Vernunft als inkarnatorische Vernunft Theologischer Ausgangspunkt der Überlegungen Timms stellt – wie oben ausgeführt – Gottes Inkarnation in Jesus Christus sowie die sich daraus ergebende, allerdings von Timm ausdrücklich hervorgehobene, Somatisierung des Geistes in seiner dem Logos entsprechenden Kondeszendenz, dem Niederkommen des Geistes, dar. Dabei bewegt er sich in der religiösen Denktradition Hamanns, Lavaters oder auch Herders, die eine leibseelische und psychosomatische Konkretion des Daseins zur Grundlage ihres Nachdenkens erklärten. Man kann sich Timms Verständnis von Inkarnation vielleicht durch den Begriff des Gestalthaften nähern, weil das durch die Texte der Bibel vermittelte Antlitz Christi und sein Widerschein in unserem Angesicht die Mitte seiner Christologie und Anthropologie bilden.297 Es geht ihm dabei um eine Veranschaulichung des christlichen Inkarnationsverständnisses unter Einbeziehung des sprachanthropologischen Mythenverständnisses, wodurch ein insgesamt erfahrungsnäherer Begriff der Inkarnation ausgebildet werden soll. Indem eine metakritische Remythologisierung298 nicht gescheut wird, soll die mehrdimensionale Wahrnehmung – insbesondere durch das Ersehen bzw. Erhören im „inkarnatorischen Gesichtmachen“ geschärft werden, da in ihnen das unmittelbare Anwesen und Aufleuchten geschaut werden kann. Der starke Bezug von Inkarnation und Schöpfung, der auch die Perspektive des Eingebundenseins des Menschen in die Schöpfung 296 Vgl. den homo viator in Heideggers Holzwegen, wo das In-der-Welt-Sein unterwegs sein, Wege in bewussten oder unbewussten Vorgängen nachgehen heißt. Dabei waren die Wege, nicht die Werke Heideggers Motto, Wege, die vielleicht im Ungangbaren enden. Diese Form der Metaphysikkritik und Modernität findet in der Bewegtheit ihren Selbstzweck (vgl. TIMM, Zwischenfälle, 53f). 297 Vgl. auch HUIZING, Der inszenierte Mensch, 18, der sich in seinem Verständnis von Inkarnation an Timm anschließt: „Die Urschriftsteller, vulgo: die Evangelisten, erstellen literarische Porträts Jesu. [...] Ihre Kunst erlernten die Urschriftsteller anhand des Selbstporträts Jesu in den Gleichnissen [...] Im Gezüge, im Fleisch des Textes hat sich Jesus unsterblich inkarniert.“ Vgl. auch TIMM, H., Gottes Vater- und Sohnschaft im Christentum. Über die Nachbildung der Inkarnationssymbolik, in: ThPr 23/ 3 (1988), 161-174. 298 Vgl. TIMM, Jahrzehnt, 45ff..
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schärfer in den Blick zu nehmen bestrebt ist, wirkt sich unmittelbar auf die anthropologischen Bestimmungen aus. Dabei bildet dann das Leben in seiner Fülle in gewisser Weise eine Grenze für die Vernunft, da der Mensch ohne seine somatischen Bezüge als reines Vernunftwesen nicht adäquat bestimmt werden kann.299 Darum fordert H. Timm eine Einschränkung der Möglichkeiten unserer wissenschaftlich-technischen Intelligenz und damit einhergehend eine Besinnung der Vernunft auf ihr Erdenmaß.300 Er spricht darum auch vom „Wieder-geburtlich-Werden“ des Denkens, die er auch als ReInkarnation, allerdings in einem transzendentalen Sinne verstehen will.301 Ein ästhetisches und phänomenologisches Denken ist dann viel weniger vom Begriffs- als vom Verbalprinzip bestimmt. Im Unterschied zum subsumierenden Begriff tritt Sprache hier als ein Zeigen oder Sehen-Lassen in Erscheinung.302 Im Zusammenhang von Schillers Anthropologisierung der Idyllenliteratur und der Frage, warum das autonome Ich nach Naturerfahrung strebt, konstatiert Timm für diese Zeit folgende Antwort, die seinem eigenen Anliegen nahe kommt: „Es gehört zur Natur unserer selbst, in einer Welt leben zu wollen, die mehr und anderes ist als nur unsere eigene, selbst konstituierte. Weder theoretische noch praktische Ver299 Vgl. TIMM, Diesseits, 68.71ff. 300 TIMM, H., Wahr-Zeichen. Angebote zur Erneuerung religiöser Symbolkultur, Stuttgart u.a. 1993, 10. An anderer Stelle möchte Timm das Verständnis des Ästhetischen zu einer „Besinnungswissenschaft“ ausweiten (vgl. TIMM, H., Sprachenfrühling. Perspektiven evangelisch-protestantischer Religionskultur, Stuttgart 1996, 73). 301 TIMM, Jahrzehnt, 190. Vgl. auch ANDRÉ, H., Ereignismacht im Schönen. Vorbemerkungen zu einer Ontologie und Theologie des Ästhetischen hg. v. H. Beck, in: SJP XIX (1974), 283-314, 296f: „Zweifellos war die weitgehende Zerstörung des natürlichen Weltbildes durch die neuzeitlich-naturwissenschaftliche Errechenbarmachung der Natur derjenige Prozeß, der die Zerstörung des Bild- und Symbolsinnes begünstigen konnte, aber nicht notwendig ihn herbeiführen mußte. Sonst könnte man auch sagen: die Entwicklung der physikalischen Akustik hätte die Musik zerstören müssen. Die Denkform des exakten Physikers ist die identifizierende, die möglichst alles Sichereignen in die Funktionsgleichung einzufangen versucht; die Denkform des bild- und seinssinntreuen Aufschließens hingegen ist die analogisierende, die den Verhältnisgleichheiten in der Welt auf die Spur zu kommen sucht. Der Analogiker vermag auch im naiven Weltbild, das dem wissenschaftlichastronomischen Weltbild zu widersprechen scheint, eine Ausdruckswahrheit aufzudecken, gegen die auch der Identiker keinen Machtanspruch geltend machen kann, weil sie seiner Blickrichtung und daher der Kompetenz seiner Forschungsreichweite grundsätzlich sich entzieht.“ 302 In diesem Zusammenhang verweist Timm auch darauf, dass das Wort „Ereignis“ ursprünglich etwas mit dem Sehen und Sichtbarwerden zu tun hat, da es etymologisch von „Eräugnis“ herrührt (vgl. TIMM, Jahrzehnt, 169).
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nunft können uns das Recht darauf verbürgen. Sie sind zu puristisch für die gemischten Existenzverhältnisse der Humanität.“303 Die Vernunftform, welche dem Leben entspräche, stellt die „geerdete Vernunft“ dar. Heute kann eine „Reflexionsfähigkeit des Wissens“ nur als „Resonanzfähigkeit des Glaubens im Rahmen einer geerdeten Vernunft“304 verstanden werden. Timm definiert den Begriff der „geerdeten Vernunft“ auch nicht in seinem gleichnamigen Essay, aber er beschreibt ihn in Abgrenzung zu der von Max Weber analysierten kalten Ratio des Nordens, der Ratio des Okzidents, als ein gerade nicht aus Fernost zu importierendes Vernunftverständnis – auch wenn der Orient und das Denken und Empfinden der Mittelmeerländer starken Einfluß nehmen – sondern als „dichtersprachlich geerdete Vernunft des Abendlandes“305. In einem fundamentaltheologischen Sinn gilt es, die Möglichkeiten, die in der Rückbesinnung auf den Begriff der Ästhetik als allgemeiner Wahrnehmungslehre liegen, zu einer Erweiterung des Vernunftbegriffs zu führen, die in der Tradition Hamanns und Goethes den „Purismus“ der neuzeitlichen und aufgeklärten Vernunft beklagt und in metakritischer Weise einen Versuch „nach-aufklärerischen“ Denkens zu wagen, wobei dieses „nach“ in verschiedene Hinsichten zu entfalten ist. Dabei geht es nicht darum, nun im Gegenzug zum Rationalismus in Irrationalismus zu verfallen, sondern um die Erweiterung eines eingeschränkten, die Wirklichkeit beschneidenden Vernunftverständnisses.306 Wird in phänomenologischer Tradition die Lebenswelt bzw. Umwelt des Menschen in den Blick genommen, so wird der „Anspruch an die passionierte, die emphatisch vernehmende Vernunft als Berufung zur Wahrheit“ erfahren.307 Dabei knüpft Timm erneut am Religionsbegriff an, den er zunächst in Absetzung zur immer sekundären systematisch reflektierenden Denkform als „Ordnungsgestalt des Daseins“ im Sinne eines Symbolsystems von Mensch und Welt näher bestimmt.308 Im Anschluss an Hamann kommt Timm zu der Einsicht, dass es kein Denken ohne wortbildliche Anschauung geben kann, sondern
303 304 305 306
TIMM, Geerdete Vernunft, 106f. TIMM, Wahr-Zeichen, 19. TIMM, Geerdete Vernunft, 117. Wie es im philosophischen Kontext W. Welsch ebenfalls für sein Konzept des „ästhetischen Denkens“ betont. 307 TIMM, Diesseits, 155. Vgl. zum Verständnis des Denkens als Vernehmen i.U. zum Begreifen bei Heidegger auch KRAFT, Das anfängliche Wesen der Kunst, 49. 308 TIMM, Diesseits, 14.
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diese gerade Voraussetzung für jenes ist.309 Zwar schätzt Hamann in seiner „Aesthetica in nuce“ das Wort sehr, weist allerdings dem Bild die eigentliche Funktion zu, Träger der sinnlichen Gottesoffenbarung zu sein. Damit wird auch in johanneischer Tradition an die Bildfähigkeit und Bildpflichtigkeit des Glaubens erinnert, in der zunächst immer Bilder und Szenen erzeugt werden, die wiederum Worte hervorbringen.310 An Kants Einsicht anknüpfend, dass alle Begriffe ohne Anschauungen leer sind, geben diese Anschauungen zu denken und führen zu einem Nachdenken. Diese Anschauungserlebnisse können dann in einem ‚post-modernen’ Sinne dem Denken eine Grenze setzen, zum Innehalten und Besinnen anregen, woraus schöpferische Kraft erwachsen kann. Ereignet sich in solchen Anschauungserlebnissen Offenbarung im religiösen Sinne, so spricht man Timm zufolge von „GeistesGegenwart“.311 Anhand von zahlreichen Beispielen312 legt Timm dar, dass der Mensch trotz des heliozentrischen Weltbildes immer von Geburt an Geozentriker und Erdbewohner bleibt, da ihm Wahrnehmungsphänomene nur auf diese Weise begegnen.313 Timm geht es in diesem Zusammenhang sowohl um eine Erweiterung als auch Rückbesinnung der Vernunft. Insbesondere die Raumdimension gilt es wieder hinzuzugewinnen, damit die Inkarnationslogik wieder ihre „Erdrelativität“ zum Tragen bringen kann. Timm betont, dass die Ästhetik verstanden als aisthesis i.S. der Wahrnehmung eine Grenze für die Zweckrationalität des Menschen darstellt, indem er gegenüber der Vorstellung einer totalen Intentionalität oder Täterschaft des Menschen eine andere Wirklichkeitssicht des ursprünglichen Vernehmens und Empfangens vertritt.314 Diese Rückbesinnung der Vernunft geschieht in einem allgemeinen theoretischen Wahrnehmungswandel, der auch eine idealismuskritische Hinwendung zu Kategorien wie Natur, Schöpfung oder Kosmos beinhaltet, die unser Dasein bestimmen.315 Dabei geht Timm durchaus neuzeitkritisch, wenn auch nicht die Neuzeit verurteilend, vor. Für die Wahrnehmungsdefizite der Gegenwart macht er insbesondere die durch den methodischen Atheismus
309 310 311 312 313 314 315
Vgl. aaO, 15f. Vgl. aaO, 136. AaO, 107. Vgl. insbesondere sein Buch: TIMM, Zwischenfälle, passim. Vgl. TIMM, Diesseits, 17. Vgl. TIMM, Sprachenfrühling, 73. Vgl. TIMM, Diesseits, 39f.
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gewonnene Selbstgewissheit der cogitatio Descartes verantwortlich, welche das Andere ihrer selbst zur bloßen res extensa erklärt. Diese sich selbst und absolut setzende Subjektivität, welche die Welt zum Mittel ihres Machtaufweises benutzt, bleibt bestimmende Struktur des neuzeitlichen Denkens und Handelns.316 Die „vernehmende Vernunft“ 317 lässt dagegen dem Externen der Sache, dem Anderen ein Eigenrecht, ja gibt ihm sogar zunächst das Primat. Somit soll eine Vernunftform gefunden werden, die vom eigenständig wahrmachenden und konstruierenden Charakter zu ihrer sinnlich vermittelten wahrnehmenden, ‚anschauenden’ Form geführt wird.318 Ein solches Denken möchte das unverfügbare Geheimnis der Dinge bewahren, um es nicht dem Machbarkeitswahn der neuzeitlichen Vernunft vollständig auszuliefern. Damit könnte gerade die Freiheit und Selbständigkeit des Anderen gewahrt bleiben, indem dieses Andere nicht auf das Eigene der subjektiven Vernunft reduziert wird319, was durchaus ethische Konsequenzen besitzt.320 Hier stellt sich die alte Frage, wie sich denn Objekt und Rezeptionssubjekt zueinander verhalten können. Die Vorgegebenheit der Dinge, die uns beanspruchen und berühren, kann dann auch erst vom Empfangenden durch seine eigene Empfänglichkeit vollendet werdet. In diesem Zusammenhang argumentiert Timm rezeptionsästhetisch, ist sich allerdings dieser Problematik bewusst und verfällt nicht in eine Subjektzentrierung. Die Frage bleibt allerdings, ob dabei die Realien nur den Anstoß zur Leistung des Subjektes geben (im Sinne des „inneren Wortes“) oder ob Timm hier konsequent die Externität des äußeren Wortes denkt.321 Man könnte Timms Forderung nach einer „nachkopernikanischen Bedenkzeit“ durchaus mit einigen Strömungen postmodernen Denkens vergleichen, ohne ihn gleich als „postmodernen Theologen“ titulieren zu müssen. Die postmodernen Denker erbitten sich in der Besinnung auf die Moderne ebenfalls etwas Bedenkzeit, nicht zuletzt nach der „Dialektik der Aufklärung“. In diesem Sinne verfährt Timm dann auch mit Begriffen wie Be-sinnung, Besonnenheit, welche eine neue Sinn-
316 317 318 319 320
Vgl. aaO, 50f. Vgl. TIMM, Jahrzehnt, 84. Vgl. aaO, 154f. Vgl. TIMM, Diesseits, 86. Vgl. z.B. bei LÉVINAS, E., Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/ München 21987. 321 Vgl. TIMM, Diesseits, 155.
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lichkeit mit einschließen.322 Damit einhergehend soll die einseitige Temporalbestimmung des Denkens zugunsten der Lokalbestimmung ausgeweitet werden, um sich auch der Schöpfungsthematik wieder adäquat zuwenden zu können.323 „Die Utopien machen einer Retopologisierung der Vernunft Platz.“324 Eine zentrale Rolle nimmt in der Konzeption der Wahrnehmungslehre das Verhältnis von mundus sensibilis und mundus intelligibilis ein: Timm zufolge ist der mundus sensibilis als Ursprung erfahrener Werte und Wahrheiten zu verstehen.325 Es handelt sich um eine einfache Sinnerkenntnis, die daraus erwächst, dass wir als Körpersubjekte immer schon in den mundus sensibilis eingebunden sind.326 Hier begegnen uns in appellativer Weise die Dinge, um uns leibhaft konkret – bis hin zum haptisch-taktilen Elementarkontakt – anzurühren. Bevor wir es uns erklären können, sind wir schon von ihm befangen.327 Timm entwickelt diese Einsicht aus dem lutherischen Verständnis des verbum visibile, wie es uns neben dem Wortempfang in der Sakramentalpräsenz des Leiblichen Wortes begegnet.328 Ebenso wie Bayer betont Timm den jeweiligen Handlungscharakter von Sprache, wie er im Segen oder in der Realpräsenz des Abendmahls und dessen Gabewort begegnet, indem Segen und Gabewort tun, was sie sagen, wenn sie gesagt werden.329 Wir begegnen bei Timm einem spezifischen Verständnis der Inkarnation Gottes, das eine starke Affinität zum Inkarnationsverständnis Ebelings aufweist, aber dabei von Jüngels Konzeption der Inkarnation als „Gottes-zur-Sprache-Kommen“ abweicht. Im Christentum wird nämlich aus bloß ideellem Durchblicken „leibhafte Anschauung im Gegenüber. Ecce homo – Ecce Deus. Ansehen der Person, wo immer auf Erden.“330 322 Timm spricht in diesem Zusammenhang von heutiger Aufklärung, „einer Aufklärung zweiter Potenz, die sich metakritisch von ihrem früheren Glauben an die Allmacht der Wissenschaft (Szientismus) emanzipiert. ‚Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit’, wie Immanuel Kant 1784 ‚Aufklärung’ definierte, heißt heute: Besinne dich! Nimm Vernunft an! Die Vernunft liegt im vergessenen, verkannten und verdrängten, jedenfalls verwahrlosten Diesseits des Labors [...]. Metaaufklärung kommt aus der Wissenschaftswelt zurück aufs Anwesen sinnlichen Daseins zu ebener Erde, ‚Lebenswelt’ genannt.“ (TIMM, Geerdete Vernunft, 11f). 323 Vgl. TIMM, Diesseits, 58. 324 TIMM, Geerdete Vernunft, 17. 325 Vgl. TIMM, Diesseits, 64. 326 Vgl. aaO, 155. 327 Vgl. aaO, 96. 328 Vgl. auch O. Bayer. 329 Vgl. auch TIMM, aaO, 188. 330 TIMM, Geerdete Vernunft, 59.
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Es geht Timm um ein „sensibleres Denken“, das eine aus der sinnlichen Rezeptivität gebildete Denkgesittung bzw. Denkgesinnung darstellt.331 So könnte der „Kon-sensus“ der Vernunft gefunden werden, wobei die synästhetische Funktion im Unterschied zu einer auf die einzelnen Teilgebiete beschränkten Ästhetik hervorgehoben wird. „Die vernehmende Vernunft wird also in Unterscheidung zum metaphysischen Gedanken eines reinen Selbstbewußtseins vorgestellt, wobei es sich gerade nicht um eine autokratische Vernunft“332 handeln kann. Sondern die inkarnierte und damit sinnliche Vernunft stellt eine Erweiterung und Aufhebung der beschriebenen Eindimensionalität des Denkens dar.333 3.4 Lebensgelassenheit Was es bedeutet, „am Leben gelassen zu sein“, verhandelt Timm im Zusammenhang des Verhältnisses von Religion und Theologie bzw. Sünde und Glaube, da der homo religiosus im christlichen Sinne als homo peccator verstanden ist. Als sich selbst Rechtfertigender bestünde dann seine Religiosität im „Seinwollen wie Gott“. An dieser Identifizierung wie überhaupt an der Thematisierung der Sünde des Menschen und der einseitigen Betonung der Rechtfertigungs- und Erlösungslehre zeigt Timm kein primäres Interesse, da er den Schöpfungsgedanken zweckfrei erfassen will und den Schwerpunkt seiner Erörterung auf die Schöpfung in ihrer Vorfindlichkeit und Nichtgöttlichkeit legen möchte. Damit zusammenhängend möchte Timm die beengende Konzentration auf die Gewissens- und Selbstbewusstseinstheorie ausweiten auf die Selbstoffenbarung der Gotteswelt, wie sie uns in allen Sinnen begegnen kann.334 Somit können Phänomene als „Körpersprache des Heiligen, als Realpräsentation des Geistes“335, wie es auch das verbum visibile im Sakrament darstellt, erfahren werden. Es wird nun weitergefragt, in wel331 TIMM, Jahrzehnt, 67. 332 AaO, 84f. 333 AaO, 88. Vgl. dazu Hamanns Verständnis der Vernunft als vernehmende: „Indem Hamann die Selbstverklärung der endlichen Vernunft als Fiktion aufzuklären sucht, will er die Wirklichkeit der Vernunft nicht preisgeben, sondern wieder zurückgewinnen. Um zu dem ‚natürlichsten Brauch der Vernunft’ zurückzukehren, muß diese sich als kreatürlich, von Gott angesprochen verstehen. Ihre Wirklichkeit hat sie in einem Mitteilungsgeschehen, in dem sie nicht so sehr ein konstruierendes als vielmehr ein empfangendes Vermögen ist.“ (LÜPKE, J. VON, Anthropologische Einfälle. Zum Verständnis der ‚ganzen Existenz’ bei Johann Georg Hamann, in: NZSTh 30 (1988), 225-268, 255). 334 Vgl. TIMM, Diesseits, 142. 335 AaO, 145.
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chen Formen sich die Phänomenologie heute bewegt, wo der Begriff der Stimmung bzw. des Atmosphärischen als räumliches „Worin“ eine hervorragende Stellung einnimmt. Des weiteren zählen verschiedene Formen der Körperempfindung sowie die aktive und passive Berührung hinzu.336 Da Timm die Welt von einer soteriologischen Überforderung befreien will, vermeidet er es, den sündigen Charakter der Welterfahrung zu problematisieren, um diese vom Schöpfer ausgehende Zweckfreiheit der Schöpfung gedanklich aufrecht zu erhalten. Ebenso möchte er die Schöpfung vor einem permanenten Offenbarungsanspruch bewahren.337 Wie wir bei Ebeling sehen konnten, richtet sich Schöpfungstheologie auch und zunächst auf eine Offenlegung elementarer Wirklichkeitserfahrung. Dabei versteht Timm Wirklichkeit gerade nicht als „Erfolgskalkül des sich selbst totalisierenden Intellekts“, sondern „als Fülle der Anmutungen des je anderen“, die gerade durch seine Unverfügbarkeit ausgezeichnet ist.338 Im Unterschied zu einer Jenseitsprojektion, aber auch zu einer Vorordnung der Möglichkeit vor der Wirklichkeit, wird hier – ähnlich Ebelings Ansatz – sprachschöpferisch die oftmals außer Acht gelassene Primärwirklichkeit wieder erfahrbar gemacht.339 Allerdings wird – im Unterschied zu Ebeling – die Wirklichkeit nicht primär als Wirklichkeitserfahrung des Sünders in den Blick genommen. Es ist zwar durchaus geboten, eine Unterscheidung zwischen Schöpfung und Erlösung vorzunehmen, was allerdings nicht zu einer Abtrennung beider führen darf. Darum verlagert er auch in seiner Betrachtungsweise den Akzent auf die zweite Hälfte der Aussage von der Lebensgelassenheit. In seinem Übersetzungsvollzug interessiert nicht so sehr der dem Gericht Entkommene, vom Tode Befreite und insofern „am Leben Gelassene“ als vielmehr der „am Leben Gelassene“. Am Leben zu sein bedeutet somit gelassen zu sein, „eingelassen nämlich in die Endlichkeit der Humanität“340. Für Timm sollte die alte Form der Religionskritik einer Erweiterung ausgesetzt werden, so dass sie metakritisch auf die „Pneumatik der Lebenswelt“341 zielen kann, wodurch wiederum positiv am Religionsbegriff anzuknüpfen wäre.
336 337 338 339 340 341
Vgl. aaO, 145f. Vgl. aaO, 62f. AaO, 87. AaO, 90. TIMM, Wahr-Zeichen, 22. AaO, 24.
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Dabei interpretiert Timm den Gelassenheitsbegriff indikativisch, d.h. als Ausdruck des Evangeliums im Sinne der Verheißung. „Am Leben lassen“ meint zunächst die Tötungsblockade im Sinne des Gebots342, aber evangeliumsgemäß ist Timm zufolge die Geisteshaltung der Gelassenheit, welche die Lebensfragen nicht in Wissensfragen überführt, sondern diese ohne Anstrengung immer wieder neu zu stellen vermag. Gelingt diese Lebenshaltung, so spricht der Glaube von Segen, womit Sterblichen „sich selbst leben zu lassen“ ermöglicht wird.343 Auch die Aufnahmefähigkeit der „Anmutsqualitäten der Dinge“344 führt zum Begriff des Lassens, das einen ergänzenden Widerpart sowie ein Qualitätskriterium für menschliches Tun darstellt. Denn gerade die Grenze des Tuns, die humane Selbstbegrenzung als Fähigkeit, die Wirklichkeit „sein zu lassen“, hat weitreichende ethische Konsequenzen, wie auch W. Mostert in diesem Zusammenhang betont.345 Insofern gilt es, durch das Einhalten schöpferischer Pausen oder durch die Sprache der Doxologie des im Sabbat an sein Ziel gekommenen Wechsels von Tun und Lassen inne zu werden.346 3.5 Metapher und Symbol Die von Timm selbst durchgeführte phänomenologische Methode ließe sich wie folgt zusammenfassen: Zunächst wird das sinnenfällig Wahrnehmbare beschrieben, dann werden die schon eingeschlossenen Anklänge herausgearbeitet, um dann in einem dritten Schritt ein „kategoriales Äquivalent für die jeweilige Wechselinterpretation von Anschauung und Begriff“347 vorzunehmen. Als Mittel stehen die metaphorische und gleichnishafte Redeweise zur Verfügung, da metaphorische Rede einen ureigenen Erkenntnis-wert besitzt. Die Erfahrung ist in grundsätzlicher Weise durch Metaphorik bestimmt, denn nichts ist in der Erfahrung, nicht einmal die begriffliche Erfassung derselben, in der uns Erfahrenes als eindeutig gegeben wäre.
342 343 344 345 346
TIMM, Sprachenfrühling, 34. AaO, 35. TIMM, Diesseits, 64. AaO, 64ff. Vgl. MOSTERT, Sünde, 174f. Vgl. auch TIMM, Diesseits, 170. Vgl. auch MOLTMANN, J., Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, München 1985, 288: „Die Feier des Sabbat führt zu einer erhöhten Wahrnehmungsfähigkeit für die Schönheit aller Dinge, das Essen, die Kleidung, den Leib und die Seele, weil das Dasein selbst herrlich ist. Die Fragen nach den Möglichkeiten des Machens und nach dem Nutzen werden vergessen angesichts der Schönheit aller Geschöpfe, die in sich selbst sinnvoll sind.“ 347 TIMM, Zwischenfälle, 17.
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Alles Erfahrene kann darum nur im Hinblick auf „ein Anderes“ gesehen und verstanden werden, denn das Andere ist immer schon enthalten.348 Szenisches beispielsweise kann darum auch nur erzählenderweise eingebracht werden. Timm, der auch vom Menschen als „animal symbolicum“ redet, legt seinen Ausführungen folgendes Symbolverständnis zugrunde: „Dabei soll ‚Symbol’ – dem griechischen sym-ballein folgend – den zweieinigen Zusammenfall der Dichotomie von mundus sensibilis und mundus intelligibilis (Sinnlichkeit und Sinn, Anschauung und Begriff, Geist und Natur) bezeichnen.“349 Symbole stellen für Timm dabei nur Bruchstücke dar bzw. sind immer nur Stückwerke des fehlenden Ganzen. Diesen fragmentarischen Charakter leitet Timm von der ursprünglichen Bedeutung des Symbols als freundschaftliches Erkennungszeichen ab, das gerade durch die Bruchkante des Tons seinen Sinn erhält, wenn es beim Wiedersehen (noch) zusammenpasst. Somit können Symbole auf die „Ergänzungsbedürftigkeit“350 des Lebens verweisen: „Symbole wirken nur, wenn sie zu denken geben, nachzudenken, so nachzudenken, daß die fehlende Hälfte das Unterpfand beseelt und zur Materialisation des Geistes macht.“351 Für das Religionsverständnis bedeutet dies in gewisser Weise einen Rückzug auf gleichnishaftes Tun und Anschaulichwerden in der vorreflexiven Primärerfahrung, was jedoch der „Besonnenheit“ im Sinne des Be-sinnens entgegenkommt.352 So wäre die Bildungs- und Einbildungskraft wieder ganz neu zu entdecken, wie es Timm am Lauf der Sonne exemplarisch vor Augen führt353: Der Geschehenscharakter gibt dem Visuellen eine überlegene Symbolkraft; jeden Morgen neu muss der Augenmensch nämlich sein Sehen empfangen, was Ausdruck der creatio continua unserer schlechthinnigen Abhängigkeit354 ist.
348 Vgl. aaO, 18. 349 TIMM, H., Remythologisierung? Der akkumulative Symbolismus im Christentum, in: BOHRER, K. H. (Hg.), Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt a. M. 1983, 432-456, 437. 350 TIMM, Wahr-Zeichen, 133. 351 AaO, 134. 352 Vgl. TIMM, Zwischenfälle, 19f. 353 Timm verweist in diesem Zusammenhang auf das Licht vom Osten: Die Genesis der solaren Weltanschauung; die erste Tageshälfte ist primär dem Augenmenschen zugedacht; Dazu gehören auch Stichworte wie Morgengrauen – Morgendämmerung – Morgenrot – Sonne – Lichtblick – Lichtstrahl (vgl. TIMM, Zwischenfälle, 24f). 354 Vgl. aaO, 34.
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Wie auch bei Jüngel – allerdings mit anderen Akzentuierungen und Implikationen – kann Timm zufolge die Primärwirklichkeit insbesondere im Medium der Gleichnisrede vermittelt werden, was sich an den Gleichnissen Jesu in hervorragender Weise exemplifizieren lässt. So kann die Wirklichkeitserfassung des wissenschaftlich-technischen Verstandes wieder zur geschöpflichen Vernunft gebildet werden.355 Im Zusammenhang der geerdeten Vernunft, die sich wieder einem symbolischen Denken verpflichtet weiß, verweist Timm auf die reiche symboli(sti)sche, bilddenkerische bzw. denkbildliche Tradition des Christentums. Diese Geistes- und Wahrnehmungshaltung birgt in sich auch insofern ethische Dimensionen, als der „Re-spekt“ das unmittelbar Nächste wahrnimmt und darin würdigt. Hat sich das Christentum in der Vergangenheit sehr auf den temporalen Aspekt des Geschichtsdenkens konzentriert, so kann die Phänomenalisierung mit Anschauung und Gefühl die Gegenwart als Gegenwart in der Liebe gegenüber einem einseitigen Vergangenheits- bzw. Zukunftsbezug wertschätzen. Diesem symbolischen Realismus muss wieder ein Eigenrecht zukommen, da die Reflexionsphilosophie alles Anschauliche, Besondere und Heterogene lediglich unter Allgemeinbegriffe zu subsumieren bestrebt ist. Programmatisch bedeutet das für Timm, den vorhandenen Traditionsbestand in die Erfahrungswerte der relativ kleinen, überschaubaren und unmittelbar erfahrbaren Lebenswelt zu übertragen. Phänomenologisch kann dieser veränderte Blickwinkel dreifach bestimmt werden: Zum einen erzeugt das wiedergewonnene Erstaunen einen gefühlsmäßigen oder erkenntnismäßigen Erregungszustand. Zum anderen wirkt die eigene Erfahrung auch als Aufforderung an die Mitmenschen, an dieser Erfahrung zu partizipieren. Des weiteren begegnet das Wort mit einer Dignität, die den objektiven Geltungsanspruch verbindlich verbürgt und Wahrheit beansprucht.356 In jedem Falle führen die beschriebenen Wahrnehmungsphänomene zu Realitätssteigerungen. Werden diese bewusstgemacht, so können sie als logifizierte Phänomene bezeichnet werden. Wird Heiliges jedoch nur als Abstraktum verstanden, so befinden wir uns auf einer rein transzendentalen Ebene, die allen Vorstellungen von Gott, Welt und Mensch vorausliegt.357 Der Lebensbegriff muss notwendigerweise in 355 TIMM, Diesseits, 90f. Für das Gleichnis konstatiert Timm auch die Nähe von christlicher Theologie und moderner Dichtung, da beide Formen des Wirklichkeitsumgangs „im wohl kalkulierten Diesseits der metaphysisch-ontologischen Letztbegründung“ verbleiben (aaO, 164). 356 TIMM, Weltquadrat, 10f. 357 AaO, 12f.
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der Beschreibung des Heiligen hinzutreten, weil allein das Leben ein leibhaft konkretes Bewusstsein des Daseins zu vermitteln vermag. 3.6 Fazit Timms theologische Erfahrungslehre, die er als Einübung in die Wahrnehmungsfähigkeit der Schöpfung konzipiert, bewegt sich auf der Grenze zwischen theologischer Ästhetik und ästhetischer Theologie.358 In gewissem Sinne steht Timm dabei in der Tradition Hamanns, der eine theologische Ästhetik als Wahrnehmungstheorie entworfen hat. Ausgehend von der Praxis stellt sich die Frage nach einem angemessenen theologischen Verständnis des Ästhetischen. Dieses sah Hamann in einer durch den Heiligen Geist inspirierten Wahrnehmung als Modell für eine theologische Rezeptionsästhetik gegeben. Es geht ihm um die ‚glaubende’ Wahrnehmung in aller Niedrigkeit, welche der Wirklichkeit der Schöpfung gerecht zu werden versucht. Timms primäres Interesse besteht in der Wiedergewinnung einer Wahrnehmungsfähigkeit der Schöpfung. Man kann also von einer Verknüpfung der fundamentaltheologischen, inkarnationstheologischen und schöpfungstheologischen Fragestellung sprechen. Diese Verknüpfung gelingt ihm über die Pneumatologie. Timm versucht dabei den Schöpfungsglauben gegenüber einer rein naturwissenschaftlichen Weltsicht als alltagsweltliche Naturästhetik zu begründen, wobei er weisheitliches Denken aufnimmt.359 Timm versteht unter ästhetischer Erfahrung jene Erfahrung, die durch „aisthesis“ geschieht, d.h. durch das Gewahrwerden bestimmter Appellqualitäten der uns umgebenden Welt, die wir über unsere Sinne empfangen. Er spricht in diesem Zusammenhang von der Epiphanie des Heiligen. Dieses Gewahrwerden gilt es immer wieder neu einzuüben, und zwar in der Doppellektüre der Wahrheit: im „Buch des Lebens“, der Bibel, und im „Buch der Natur“. In seinem Erfahrungsverständnis geht Timm davon aus, dass Erfahrung ohnehin in grundsätzlicher Weise durch Metaphorik bestimmt ist. Denn nichts ist in der Erfahrung, nicht einmal die begriffliche Erfassung derselben, in der uns Erfahrenes als eindeutig gegeben wäre. Ge358 Sein Schüler Klaas Huizing entwirft dagegen eine dezidiert „ästhetische Theologie“. Vgl. HUIZING, K., Das erlesene Gesicht. Vorschule einer physiognomischen Theologie, Gütersloh 1992, der die Erfahrungserkenntnis als Gestalterkenntnis interpretiert. Diese Gestalterkenntnis bezieht sich auf den inkarnierten Christus, der im Leib des Buches der Bibel begegnet. Insbesondere in seinen Gleichnissen hat sich Christus selbst abgebildet (Vgl. HUIZING, Der inszenierte Mensch, 25). 359 TIMM, Jahrzehnt, passim.
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rade Bilder können dabei ein hervorragendes Element für die Epiphanie des Heiligen sein. An diesem spezifischen Verständnis von ästhetischer Theologie ist die schöpfungstheologische Vereinnahmung der Inkarnation Christi zu prüfen, da die Inkarnation in soteriologischer Dimension nicht hinreichend in den Blick kommt. Das hat zur Folge, dass die Rolle der Sünde nur marginal zur Sprache gebracht wird. Jedoch ist bei Timm die Gefahr eines Spinozismus gegeben, da er – gerade auch in seinem Verständnis der Inkarnation – besonders die Weltimmanenz Gottes hervorhebt.360 Dabei geht das Spannungsverhältnis zwischen der Weltimmanenz des Schöpfers und seiner Erhaltung sowie der Welttranszendenz des Schöpfers als seinem Gegenübersein zur Welt verloren. Timms Verdienst ist es, insbesondere die Wahrnehmungsdimension für den Glauben auf eine poetische Weise neu erschlossen zu haben, was auch ein erneutes schöpfungstheologisches Anknüpfen an der Rede vom „Buch der Natur“ erlaubt. Seine Ästhetik ist also insofern theologisch, als er sie materialdogmatisch, d.h. also schöpfungstheologisch, inkarnationstheologisch sowie pneumatologisch begründet. Timms Theologie ist aber in der Hinsicht ästhetisch, dass er diese materialdogmatischen Kriterien ästhetisch vereinnahmt und somit unterordnet.
4. Eilert Herms – „Die Sprache der Bilder und die Kirche des Wortes“ Herms’ Denken ist durch das Anliegen geprägt, das wesenhafte Bezogensein der menschlichen Existenz auf Gott nachzuweisen, was ihn auch mit K. Rahner und W. Pannenberg verbindet. Neben der Naturhaftigkeit und Sinnhaftigkeit gehört zu den Strukturmomenten von erfahrbarer Wirklichkeit „auch die existenzmäßige Angewiesenheit auf Transzendenz“361, die von Herms theologisch als Geschöpflichkeit gedeutet wird. Dieses Erfahrungsverständnis als Transzendenzbezug hat wiederum Auswirkungen auf den Begriff der religiösen Erfahrung, „[d]enn nur wenn religiöse Erfahrung die Gültigkeit von Erfahrung überhaupt beanspruchen kann, darf sie als der Ort gedacht werden, an dem das menschliche Subjekt seine Realität erfaßt und nicht etwa bloß psychische Manifestationen, die gerade dazu dienen, der Person ihre
360 Vgl. zur Kritik dieser Einseitigkeit BAYER, Schöpfung, 4f. 361 HERMS, E., Theologie – eine Erfahrungswissenschaft (TEH Nr. 199), München 1978, 75 und vgl. dazu ZEINDLER, Gotteserfahrung, 18.
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eigene Realität zu verstellen und dadurch erträglich zu machen.“362 In diesem Verständnis wird die Bezogenheit der besonderen, religiösen Erfahrung, auf Erfahrung im allgemeinen hervorgehoben. 4.1 Zum Verhältnis von Offenbarung und Erfahrung Eine entscheidende Interpretationshilfe erfährt die Verhältnisbestimmung von ästhetischer und Glaubenserfahrung bei Herms durch die zentrale Fragestellung der Relation von Offenbarung und Erfahrung. Herms untersucht die Möglichkeit, den Begriff der „Offenbarung“ durch den Begriff der „Erfahrung“ auslegen zu können. Dabei muss allerdings folgendes vorausgesetzt werden: „Beide Begriffe müssen tatsächlich denselben Gegenstand intendieren, dieselbe Sache meinen.“363 Diese Gegenstandsintention besteht im „Inbegriff dessen, was überhaupt als durch endliche Subjekte bestimmbar Wirkliches in Betracht kommen kann“364. Es muss dabei gezeigt werden können, dass sich beide Begriffe gegenseitig konkretisieren. Herms postuliert von folgenden Prämissen ausgehend die Anknüpfung an einen allgemeinen Erfahrungsbegriff: Zum ersten muss Theologie als Erfahrungswissenschaft eigene handlungsorientierende Theorien entwickeln und einen theologischen Begriff theologischer Praxis gewinnen, zum zweiten hat Erfahrungserkenntnis überhaupt aber immer schon theo-logischen Charakter, d.h., religiöse Erfahrung muss als allgemeiner Begriff von Erfahrung überhaupt verstanden werden, die Theologie soll also demzufolge dialogfähig sein.365 Herms ist vom empiristischen Erfahrungsbegriff Kants geprägt, den er allerdings gegen-
362 HERMS, Theologie, 24. 363 HERMS, E., Offenbarung und Erfahrung, in: DERS., Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen 1992, 246-272, 255. 364 AaO, 256. 365 Vgl. HERMS, Theologie, 21ff. Von daher kritisiert er selbstverständlich Mosterts Begriff der religiösen Erfahrung als einer individuellen Erfahrung: „Theologie bezieht sich auf nicht theoriefähige Wirklichkeit, wo immer sie ihren Gegenstand als eine Sache von schlechthin individueller Erfahrung auffaßt. Das schlechthin Einmalige äußert sich als solches weder in Sprache, noch ist es durch diese zu erreichen. Es erscheint nicht in der Welt und kann kein Gegenstand für das Handeln in ihr sein.“ (HERMS, aaO, 23; vgl. auch 92, Anm. 46). Eine Kritik am positivistischen Erfahrungsbegriff muss seiner Ansicht nach nicht zwangsläufig auf eine vollständige Relativierung des neuzeitlichen Erfahrungsbegriffs, wie sie bei Mostert begegnet, hinauslaufen. (Vgl. HERMS, aaO, 94, Anm. 73). Man kann der Kritik an Mosterts “Individualismus” also nur in diesem Punkt zustimmen, dass die Vermittlung von Besonderem und Allgemeinem bei Mostert nicht ausreichend reflektiert worden ist, jedoch ist der Vorwurf des Individualismus bzw. Subjektivismus ungerechtfertigt.
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über Hegels Erfahrungsbegriff für zu eng erachtet.366 Dabei schließt sich Herms denjenigen philosophischen Strömungen neuzeitlicher Philosophie und Wissenschaftstheorie an, deren „Erfahrungsbegriff entschlossen ontologisch bestimmt worden ist als Begriff der Erfahrungswelt, die als solche der Inbegriff von allem durch endliche Subjekte überhaupt bestimmbaren Wirklichen ist.“367 Ein wesentlicher Gewinn besteht jedoch andererseits für Herms in der nachkantischen Unverzichtbarkeit der Rede von dem aller Erfahrungserkenntnis zugrundeliegenden Selbstbewusstsein. „Die Einsicht der Nachkantianer, daß die Theorie des Selbstbewußtseins inhaltlich grundlegend und umfassend ist für die Theorie von Erfahrung, beseitigt auch die beiden formalen Mängel, die der Theorie in ihrer Kantischen Fassung anhängen: Zunächst werden erst durch die Vorgegebenheit von Selbstbewußtsein für die selbstbewußt handelnden Individuen diejenigen reflektierenden Erkenntnisakte verständlich, denen sich die Theorie der Erfahrung selber verdankt.“368 In einem ersten Schritt gerät hier der Erfahrungsbegriff in seiner erkenntnistheoretischen Dimension in den Blick. Erweitert wird dieses Erfahrungsverständnis durch die ontologische Näherbestimmung „d.h. wenn die Möglichkeitsbedingungen aller sachhaltigen Erkenntnis zugleich als die Möglichkeitsbedingungen aller von endlichen Subjekten erkennbaren – und damit ipso facto auch handelnd bestimmbaren – Sachen gedacht werden.“369 Die für Herms grundlegende Prämisse stellt der Gedanke der Einheit der Wirklichkeit, ja der eine Sinn von Wirklichkeit, dar.370 Im Anschluss an Hegel und Schleiermacher sei nicht hinter die allgemeine Vermittlung von Konkretem zurückzugehen. Für das Erfahrungsverständnis bedeutet das, dass hier die Einheitlichkeit des Erfahrungsbegriffs vorausgesetzt wird. Im Anschluss an Schleiermacher gilt, dass es zwar viele Zugänge zur Wirklichkeit gibt, aber die Offenbarung es vermag, sie in einem Punkt zu vereinigen. Die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung besteht nämlich nicht nur im jeweiligen Konstituiertsein (das transzendentale „Ich denke“), sondern die Bedingung der Möglichkeit des Konstituiertseins ist zugleich auch die Bedingung des 366 Vgl. HERMS, Gesellschaft gestalten. Beiträge zur evangelischen Sozialethik, Tübingen 1991, 350, Anm.1. 367 HERMS, Offenbarung und Erfahrung, 257 (Hervorhebungen M. R.). 368 HERMS, E., Art. Erfahrung II. Philosophisch, in: TRE 10, Berlin/ New York 1982, 89109, 97. 369 Vgl. HERMS, Offenbarung und Erfahrung, 256f. 370 Vgl. HERMS, E., Art. Erfahrung IV. Systematisch-theologisch, in: TRE 10, 128-136, hier bes. 134.
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Konstituiertwordenseins im ontologischen Sinne. Diese Bedingung des Konstituiertwordenseins ist die gleiche wie von Dingen und Sachen selbst, also der Gegenstände von Erfahrung. Insbesondere Fichte und Hegel haben dieses theologische bzw. metaphysische Erfahrungsverständnis als Korrektur des einseitig erkenntnistheoretischen Erfahrungsverständnisses entwickelt und somit die Voraussetzung für einen ontologischen Grundbegriff geschaffen. Hier wird die spezifische begriffliche Unterscheidung deutlich, die Herms zwischen dem Begriff der „Offenbarung“ und dem der „Erfahrung“ vornimmt. Demnach beschreibt „Offenbarung“ dasjenige Erschließungsgeschehen, „durch das sie [d.h. endliche Subjekte als Vernunftwesen] in völliger Passivität die Möglichkeitsbedingungen ihrer freien Selbstbestimmung empfangen.“371 „Erfahrung“ hat dann diesen Aspekt des Konstituiertwordenseins einzuschließen. Dadurch gibt Herms nicht den aktiven Charakter des „Erfahrungmachens“ preis, sondern setzt für die Aktivität des Handelns das passive Erschlossensein des Selbsterlebens voraus.372 Durch Offenbarung und Erfahrung wird also die Existenz des Menschen in der Welt als durch die unendliche Freiheit Gottes (definitiv) bestimmte „Praxissituation endlicher Freiheit“ erschlossen, wobei es in der Offenbarung um den Konstitutionsprozess und in der Erfahrung um das Konstitutionsresultat geht.373 Des weiteren fasst ‚Offenbarung’ die Existenz des Menschen unter dem Aspekt ihrer unübertragbaren Individualität, ‚Erfahrung’ dagegen die menschliche Existenz unter dem Aspekt der Intersubjektivität.374 In diesem Punkt kann auch an die Kulturtheorie Schleiermachers erinnert werden, nach welcher Religion und Kunst eine identische Aufgabe besitzen: das stimmige Verhältnis von Individualität und Allgemeinheit auszubilden.375 Die Begründung aller gemachten und zu machenden Erfahrung findet sich schon in der Schöpfung. Allerdings vermag erst die Versöhnung diese Einsicht zu bewirken und dauerhaft zu erhalten.376 371 372 373 374 375
HERMS, Offenbarung und Erfahrung, 259. Vgl. aaO, 260. Vgl. HERMS, Offenbarung und Erfahrung, 264. Vgl. aaO, 264f. Vgl. SCHLEIERMACHER, F. D. E., Ethik (1812/13), hg. v. H. - J. Birkner, Hamburg 21990, 122. Vgl. TIMM, H., Die heilige Revolution. Das religiöse Totalitätskonzept der Frühromantik. Schleiermacher, Novalis, Friedrich Schlegel, Frankfurt am Main 1978, 57: „Die ästhetisch- religiöse Klangfülle des modernen Individualitätsbegriffs ist ursächlich mit dem Namen Schleiermachers liiert.“ Vgl auch GRÖZINGER, Praktische Theologie und Ästhetik, 76. 376 Vgl. HERMS, Offenbarung und Erfahrung, 268.
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Herms argumentiert bei seiner Konzeption von Erfahrung in apologetischer Absicht von einem Kompatibilitätsanspruch aus.377 Das heißt auch, dass sich Theologie als Wissenschaft allgemeinen wissenschaftlichen Standards anzupassen hat, damit sie überhaupt konsens- bzw. dissensfähig ist. Für dieses Erfahrungsverständnis ist der Begriff der „Selbsterfahrung“ entscheidend. Es handelt sich dabei um die je meinige Form eines spezifischen Evidenzerlebnisses: „Ob der Mensch den ihm an sich schon durch seine kreatürliche Existenz bekannten Willen des Kreators unverfälscht erfaßt und erfüllen kann, das hängt davon ab, daß ihm dieser majestätische Wille in einer konkreten geschichtlichen Selbsterfahrung unverstellt und in einer sein Lebensgefühl prägenden (und damit seinem Streben das endgültige Ziel gebenden) Weise begegnet. Das wiederum geschieht christlicher Erfahrung zufolge allein in der Begegnung mit dem gekreuzigten Christus Jesus.“378 Das heißt bezogen auf das Evidenzerlebnis der inneren Begegnung mit dem gekreuzigten Jesus Christus und damit als nähere Bestimmung der spezifisch christlichen Selbsterfahrung: „Diese – durch Enttäuschung befreiende – Selbsterfahrung ist für den Menschen genauso wie seine Existenz selber unverfügbares Geschenk göttlicher Gnade. [...] Und so wird auch der Mensch erst mit dieser Erfahrung dessen inne, daß die konkrete Gestalt seiner Gottebenbildlichkeit die des begnadigten Sünders ist.“379 Im Unterschied zu einer Konzeption der konsequent individuellen Beschreibung von Erfahrung der Sündhaftigkeit aufgrund des mich verurteilenden Wortes und der gerechtsprechenden promissio (vgl. W. Mostert) rekurriert Herms insbesondere im Zusammenhang der „Selbsterfahrung“ bzw. des „Selbsterlebens“ auf die allgemeine Vermittelbarkeit und Beschreibbarkeit der Erfahrung, wobei er die Dimension der Rechtfertigung des Sünders nicht etwa relativiert, sondern vielmehr für vermittelbar hält. „Der ursprüngliche und unhintergehbare Ausgangspunkt für jede mögliche Verständigung über uns selbst ist: unser uns in unserem Selbsterleben präsentes, also unser erlebtes Selbst. Als derart erlebtes ist es begrifflicher (theoretischer) Beschreibung fähig; beschreibbar.“380 Hierbei geht Herms davon aus, dass diese Kommunizierbarkeit von Erfahrung ihre individuelle Prägung nicht 377 Diesen stellt der Denker Mostert gerade in Frage: Vgl. MOSTERT, W., „Erfahrung als Kriterium der Theologie“, in: ZThK 72 (1975), 427-460, 442ff; DERS., Sinn oder Gewißheit? Versuche zu einer theologischen Kritik des dogmatistischen Denkens (HUTh 16), Tübingen 1976, 116.146ff.170. 378 HERMS, Gesellschaft gestalten, 255f. 379 HERMS, Gesellschaft gestalten, 324. 380 AaO, 286.
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negiert, was vor allem auch das Geschehen der Unverfügbarkeit als Begründungsgeschehens von Erfahrung einschließt. Ein grundlegender Unterschied beispielsweise zu der Erfahrungskonzeption Mosterts liegt in der apologetischen Ausrichtung dieses am allgemeinen Erfahrungsverständnis durchaus anknüpfenden – wenn auch christlich akzentuierenden – Ansatzes. Die Frage von Sinn oder Gewissheit wird zugunsten der neuzeitlich vorherrschenden Sinnsuche entschieden.381 Eine Näherbestimmung erhält die Selbsterfahrung jedoch durch das charakteristische Verhältnis von Innerlichkeit und Äußerlichkeit im Selbsterleben, was Herms gewissermaßen auf die Aktivität des leibhaft auf die Um- und Mitwelt Einwirkenden und die Passivität der leibhaften Erfahrung von Sinnlichkeit bezieht, wodurch eine Reziprozität von Bestimmung bei gleichzeitigem Bestimmtwerden zum Ausdruck gebracht wird: „Im Selbsterleben des Menschen ist ihm sein Für-andereSein, seine Äußerlichkeit gegeben als bedingt durch sein Für-sich-Sein, durch seine Innerlichkeit. [...] Umgekehrt ist im Selbsterleben auch die Innerlichkeit jedes individuellen Selbsts nur gegeben als ursprünglich und wesentlich bedingt durch seine Äußerlichkeit.“382 Dieses Selbsterleben des Menschen ist Herms zufolge immer leibhaft verfasst. Herms interpretiert Leibhaftigkeit konsequent als körperlich und geistig bestimmt. Führt man nämlich die Leibhaftigkeit lediglich auf die passiv erfahrene Sinnlichkeit (insbesondere durch die Sinnesorgane) zurück, so sieht man die Leibhaftigkeit nur im Sinne der Körperhaftigkeit. Jedoch ist die Innerlichkeit nicht mit der Geistigkeit des Menschen gleichzusetzen, wenn gerade der Dualismus von Leib und Seele als dem biblischen Menschenbild widersprechend herausgestellt worden ist. Vielmehr prägt das Leibhafte das Geistige und umgekehrt, so dass der Mensch als ganzheitlicher zu beschreiben ist. Darum kann Herms pointiert formulieren: „Der konkrete Begriff des individuellen Geistes ist nicht der Begriff seiner Körperlosigkeit, sondern der seiner Leibhaftigkeit.“383 Damit widersetzt sich Herms auch einem in der Philosophie vorherrschenden Trend, sich dem Erfahrungsbegriff der empirisch arbeitenden Naturwissenschaften blind zu unterwerfen und dabei die Unterscheidung von Verstand (Wissenschaften) und Vernunft (Philosophie) nicht zu berücksichtigen. Das Geistige ist ohne das Leibliche
381 Vgl. HERMS, Offenbarung und Erfahrung, 271; Vgl. dagegen MOSTERT, Sinn, passim, der die Gewißheitsfrage für grundlegender als die Sinnfrage hält. 382 HERMS, Gesellschaft gestalten, 287. 383 Ebd.
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nicht zu denken, da alle Geistigkeit immer leiblich verfasst ist und gerade nicht in ihrer „Reinheit“ vorkommt. Jedoch darf der Erfahrungsbegriff wiederum nicht so verkürzt werden, dass der empirisch bestimmte Mensch nun nicht mehr als aktiv die Umwelt Gestaltender und damit Handelnder in den Blick geraten kann. Diesen Sachverhalt deutlich gemacht zu haben ist das Verdienst der transzendentalen Philosophie Kants, an welcher Herms sein begriffliches Denken geschult hat. Methodisch arbeitet Herms phänomenologisch im Sinne einer Ontologie des leibhaften Personseins.384 Zur näheren Bestimmung fragt er nach dem „allgemeinen Horizont [...], in dem der Mensch seiner Leiblichkeit inne und diese zu einem Gegenstand seiner Selbsterkenntnis wird.“385 Dabei vertritt Herms folgende These: „Der Mensch wird seiner selbst inne, indem er sich erlebt als eine geschichtlich existierende individuelle Person. Er wird seiner selbst inne, indem er ‚erlebt’: die Existenz der Identität seines Personseins im Wandel seines Personseins.“386 Eine wesentliche anthropologische Voraussetzung besteht darin, dass nach biblischem Verständnis der Mensch nicht nach Körper und Geist bzw. Seele zu scheiden ist, sondern dass er sich – wie oben herausgearbeitet wurde - als ganzheitlich in seiner Leibhaftigkeit und Sinnlichkeit erfährt. Ein sinnliches Erleben des Leibes geht also über den physiologischen Begriff des Sinnesapparates sowie über den Begriff des Körpers weit hinaus. „Demgegenüber ist der Begriff des sinnlichen Erlebens: der Begriff des unmittelbaren für mich Präsentseins der Welt als Gesamtzusammenhang aller auf ihre Mitwelt bezogenen Individuen, einschließlich meiner selbst als eines ebenfalls auf Mitwelt bezogenen Individuums.“387 Das „Erleben meines Leibes“ wird also verstanden als „der von mir selbst als mein eigener erlebter Körper – ein Medium, in dem ich mir selbst präsent bin als: durch meine Mitwelt bestimmt; aber zugleich auch als: eine diese Mitwelt durch freiwillentlich gewählte Bewegungen meines Körpers bestimmende Instanz.“388 Somit „kann das Wesen unserer Leiblichkeit und Sinnlichkeit, wie sie Inhalt unseres
384 Vgl. HERMS, Eilert Herms, in: HENNING, CHR. / LEHMKÜHLER, K. (Hgg.), Systematische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Tübingen 1998, 317-350, 347. 385 HERMS, Gesellschaft gestalten, 29. 386 HERMS, Gesellschaft gestalten, ebd. 387 AaO, 32. 388 Ebd.
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Erlebens sind, nur erfaßt werden, wenn wir die erlebte Einheit unserer Existenz als ursprünglich ansetzen“389. Insbesondere den Human-, Sozial- und Naturwissenschaften wäre zu zeigen, dass ihr jeweiliges Vorverständnis zwar die Erfahrungswissenschaft ermöglicht, jedoch nicht aus ihr abzuleiten ist. Darum hat sich jede Wissenschaft bzw. Beschreibungsweise der Wirklichkeit auf die jeweilige Konstitution und Bestimmung des personalen Daseins zu besinnen und dabei die Pluralität der Seinsverständnisse anzuerkennen und nach Wegen der Kommunikation zu suchen. 390 Für Herms begründet die Rechtfertigungslehre und die daraus resultierende Freiheit das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens.391 Daraus ergibt sich für Herms die Konsequenz, dass die reformatorische Theorie der Freiheitskonstitution die Wirklichkeit genauer und umfassender zu beschreiben versteht als neuzeitliche Freiheitstheorien (wie z.B. diejenige Kants). Im Unterschied zu E. Hirsch vollzieht Herms gerade keine „Umformung des Christentums in der Neuzeit“, die alle reformatorischen Einsichten am neuzeitlichen Selbstverständnis ausrichtet, sondern er beurteilt im Lichte der reformatorischen Erkenntnisse kritisch die neuzeitlichen Positionen. Im Zuge eines Verständnisses von Theologie als Erfahrungswissenschaft möchte Herms nicht einen Import empirischer und handlungsleitender Kategorien vornehmen, sondern vielmehr eine eigenständige Theorie entwerfen, welche den „Herausforderungen der Erfahrungswirklichkeit im Horizont des christlichen Wirklichkeitsverständnisses“392 gerecht zu werden vermag. Dazu ist es allerdings erforderlich, zunächst ein dezidiert theologisches Wirklichkeitsverständnis zu entfalten. Die Erschließung der Wirklichkeit des Menschen als Rechtfertigung des Sünders, um deren Verständnis die Theologie bemüht ist, obliegt Herms zufolge dem Wirken des Heiligen Geistes als Hermeneuten.
389 Ebd. Dazu bemerkt Herms, dass es Sinnlichkeit als Form der Rezeptivität nur im Zusammenhang von „Spontaneität unseres willkürlichen Verhaltens“ geben kann (aaO, 33). 390 Vgl. HERMS, Eilert Herms, 348f. 391 Vgl. auch HERMS, Eilert Herms, 333. 392 AaO, 343.
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4.2 Wahrnehmen als Aisthesis des Erlebens Herms beschreibt die Aisthesis als Wahrnehmung in einem weiten und fundamentalen Sinne als Aisthesis des Erlebens393. Dieses Verständnis bestätigt die Einordnung dieses Ansatzes in den Kontext einer Theologischen Ästhetik als Wahrnehmungstheorie: „’Aisthesis’ bezeichnet jedenfalls ein Geschehen, das unser Menschsein grundlegend und schlechterdings durchgehend, ohne jede Unterbrechung, bestimmt.“394 Dabei schließt sie „das Kontinuum unseres organischen Empfindens“ ein, „aber darüber hinaus [ist sie] das ganze passionale Kontinuum unseres Erlebens [...] und nur innerhalb dieses Ganzen auch das Kontinuum des organischen Empfindens.“395 Herms möchte den Begriff der Aisthesis also deutlich von einem emotiven Verständnis abheben. Deshalb ist die „konkret verstandene Aisthesis“ für Herms „dasjenige Leidenskontinuum, durch das alle Bedingungen unseres Aktivseins gesetzt sind, nicht nur die jeweils jetzt den Freiheitsgebrauch herausfordernden, sondern auch die dauernden, die das Freiheitsleben überhaupt möglich, ja notwendig machen. Dieses Kontinuum des Erleidens erschöpft sich nicht im organischen Empfinden, sondern es ist das Kontinuum des Erlebens, das uns unsere Gegenwart als dauernde Gegenwart leibhaften Personseins zu verstehen gibt. Das alle Bedingungen unseres Aktivseins setzende passionale Kontinuum der Aisthesis ist dieses Kontinuum des Erlebens unseres je besonderen leibhaften Personseins unter den dauernden Bedingungen menschlichen Personseins überhaupt.“396 Bezogen auf die Aisthesis des Erlebens heißt das, dass unterschiedliche äußere Sinneserfahrungen immer nur im Zusammenhang mit dem Selbsterleben der Person auftreten und in diesem Zusammenhang genauso den Phänomenbereich des Glaubens bilden. An diesem Phänomenbereich partizipieren Herms zufolge alle Personen, da alle an einer unteilbaren Wirklichkeit Anteil haben. Für die Leibhaftigkeit dieses Wahrnehmens gilt darum ebenso notwendig die Prämisse der geteilten Wirklichkeit, da Leibhaftigkeit in der Bezogenheit von Innerlichkeit und Äußerlichkeit auf den Leib als Instrument der Kommunikation mit anderen und unserer Welt verweist: „Wahrnehmen ist eine leibhafte Aktivität leibhafter Personen, die als solche per-
393 HERMS, EILERT, Der Ort der Aesthetik in der Theologie, in: DERS., Phänomene des Glaubens. Beiträge zur Fundamentaltheologie, Tübingen 2006, 116-135. 394 AaO, 117. 395 AaO, 121. 396 AaO, 122.
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sonale-Individuen-in-Gemeinschaft sind. Wahrnehmen als Aktivität personalen Lebens kann es nur geben und gibt es nur als Aktivität personalen Zusammenlebens.“397 Es ist nun weiter zu fragen, was Herms unter dem „Leidenskontinuum“ der Aisthesis versteht. Dafür ist nochmals auf das oben beschriebene Verständnis der Selbsterfahrung bei Herms zurückzukommen: Im Selbsterleben sind sowohl die Aktivität des leibhaft auf die Um- und Mitwelt Einwirkenden als auch die Passivität der leibhaften Erfahrung von Sinnlichkeit aufeinander bezogen, wodurch eine Reziprozität von Bestimmung bei gleichzeitigem Bestimmtwerden zum Ausdruck gebracht wird. Dieses Ineinander von Äußerlichkeit, die zugleich durch Innerlichkeit bedingt ist, sowie die Innerlichkeit nur gegeben als ursprünglich und wesentlich bedingt durch seine Äußerlichkeit drückt ein doppeltes passives Bedingtsein aus. Dieses Bedingtsein, welches immer auch die menschliche Aktivität als Gestaltungsraum gewährter Freiheit aus sich heraussetzt, gründet allerdings auf der Passivität des Sich-nicht-selbst-gesetzt-Habens und damit im Schöpferwillen Gottes, dem sich das Geschöpf verdankt. Herms kritisiert dabei die einseitige Betonung der Subjektivität in Kants Ästhetik und die entsprechende Einengung der ästhetischen Fragestellung auf den Erkenntnisbereich i.U. zu einem weiten Verständnis der Aisthesis als „passionales Kontinuum, in dem alle Bedingungen unseres Frei- und Aktivseins gesetzt sind, also als das passionale Kontinuum des Erlebens“398.Den Begriff des „Erlebens“ interpretiert Herms von der subjektivitätstheoretischen wie psychologischen Einsicht Schleiermachers, „daß nämlich die Einheitlichkeit des Lebenszusammenhangs endlicher Subjektivität nicht als ein durch die Vernunft (die Erkenntnistätigkeit) des Menschen gestifteter und getragener gedacht werden kann, sondern nur als getragen und gestiftet durch die dritte Instanz: das Gefühl, verstanden als ‚unmittelbares Selbstbewusstsein’“399.
397 HERMS, Leben. Wahrnehmen, Verstehen, Erkennen, Gestalten, in: DERS., Phänomene des Glaubens. Beiträge zur Fundamentaltheologie, Tübingen 2006, 320-346, 331. 398 HERMS, Der Ort der Aesthetik in der Theologie, aaO, 134. 399 HERMS, Calvin über den unfreien Willen, in: DERS., Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen 1992, 56-80, 78. Vgl. auch HERMS, Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher, Gütersloh 1974 sowie HERMS, Die Bedeutung der „Psychologie“ für die Konzeption des Wissenschaftssystems beim späten Schleiermacher, in: DERS., Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, 173-199.
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Die Voraussetzung dafür besteht darin, dass „nur kraft des Erlebens – des unmittelbaren Erschlossenseins – unseres je eigenen Lebens und nur in seinem Horizont [...] überhaupt dasjenige für uns als von uns wahrnehmbar, verstehbar, wissenschaftlich erkennbar und gestaltbar da ist, was wir ‚Leben’ nennen.“400 Wie Herms unter Bezugnahme auf das Griechische und Aristoteles hervorhebt, gehören im Verständnis der Lebenswahrnehmung Fühlen und Wahrnehmen des Lebens unmittelbar zusammen, wobei Wahrnehmen „ein Zusammenhang von Akten ist, Fühlen hingegen ein Vorgang, den wir bloß erleiden“.401 Wahrnehmen wird näher konzipiert als „der elementare Verstehensakt [...], mit dem wir auf die erlittene Gegenwart von etwas für uns als dieses Bestimmte und in seiner Bestimmtheit von uns zu verstehende reagieren.“402 Dabei beinhaltet das Wahrnehmen zwei Züge: zum einen die Angemessenheit bzw. Wahrheit und zum anderen die Leibhaftigkeit bzw. Ganzheitlichkeit. „Angemessen wahrgenommen ist das Wahrzunehmende, wenn wir es so nehmen, wie es uns in seinem dauernden Eigenwesen erschlossen ist. [...] Die Wahrnehmung entspricht dem erschlossenen Eigenwesen des Wahrzunehmenden und der damit erschlossenen Verheißung also dann, wenn sie erwartungsvoll und erwartungsgeleitet nach ihm greift, und sie ist in dem Maße angemessen bzw. unangemessen, wie dieses Erwarten, das der Wahrnehmung inhärent ist (!), erfüllt bzw. nicht erfüllt wird.“403 Zum Inhalt dieser Aisthesis hält Herms fest: „Ihr Inhalt ist immer der konkrete Inhalt des Erlebens, und das heißt, Inhalt der Aisthesis ist: die dauernde Gegenwart unseres leibhaften Personseins als durch uns selbst zu verstehende; also erstens: unsere Gegenwart als durch uns selbst zu verstehende, zweitens: unsere durch uns zu verstehende Gegenwart als eine dauernde und drittens: diese durch uns zu verstehende dauernde Gegenwart als eine leibhafte.“404 Insbesondere die zweite Dimension ist durch die Trias des Guten, Wahren und Schönen gekennzeichnet, welche Herms zufolge eine theologische Ästhetik zu entfalten hat: „Durch die Aisthesis als Erleben des Dauerns unserer durch uns selbst zu verstehenden Gegenwart wird Erinnerung gestiftet, kraft deren wir des dreifachen Charakters dieses Dauerns inne werden: Wir werden dessen inne, daß dieses Dauern
400 401 402 403 404
HERMS, Leben, aaO, 342. Vgl. HERMS, Leben, aaO, 320f. AaO, 330. AaO, 330f. Vgl. HERMS, Der Ort der Aesthetik in der Theologie, aaO, 122.
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erstens Verheißung des Guten ist, daß es zweitens gleichzeitig die zuverlässige, und in diesem Sinne wahre Verheißung des Guten ist, und genau damit drittens auch die Erreichung des verheißenen Guten und somit das Werden des Schönen.“405 An dieser Stelle wird deutlich, dass Herms seine theologische Ästhetik im Kontext der Lehre von der Offenbarung behandelt, ja sogar die Lehre von der Offenbarung als Aesthetik entfalten will.406 Ist Offenbarung das Erscheinen des Wahrseins des Evangeliums, so ist der Zusammenhang des Guten als Güte des Schöpfers, der Wahrheit, die er uns in seinem Sohn Jesus Christus mitteilt sowie in der Verheißung und Verwirklichung der angebrochenen Herrlichkeit und des Werdens des Schönen durch den Heiligen Geist gegeben. 4.3 Szenisches Erinnern als Medium der Offenbarung Die Voraussetzung für das Verständnis des Bildes als Medium der Offenbarung besteht für Herms im neuzeitlichen Faktum der Entgöttlichung der sichtbaren Welt, wobei die sichtbare Darstellung, auch die Darstellung Gottes in Bildern, als Zeichen zu verstehen ist. Bildet die Entgöttlichung der Welt die Prämisse dieses Denkens, so folgt daraus, dass für nichts mehr der absolute Bezug zu Gott zu postulieren ist und auch nicht mehr postuliert werden kann. Hierin setzt sich Herms mit Nietzsches Metaphysikkritik auseinander, indem die allgemeine metaphysische Bestimmung des Menschen inhaltlich nicht näher beschrieben werden kann. Steht im Hintergrund seiner Ausführungen die Zeichentheorie, so hat sich jedes Wahrheitsbewusstsein Herms zufolge die Frage nach dem Wahr-Werden von Zeichen zu stellen. Ausserdem ist zu klären, in welchem Medium Zeichen wahr zu werden vermögen. Hierbei ist die Unterscheidung zwischen Darstellung und Deutung, zwischen Medium der Offenbarung sowie Grund und Gegenstand der Offenbarung zu wahren. Denn wie in einem Betrachter das, was der Gegenstand der Offenbarung sein soll, zugänglich ist, ist mit der inhaltlichen Bestimmung von Offenbarung noch nicht gegeben und damit ungeklärt. Offenbarung ist dann Herms zufolge zu verstehen „als der Gesamtzusammenhang szenischer Erinnerung, durch den Menschen zur 405 AaO, 123. 406 Vgl., aaO, 135: „Diese verstehende Nachzeichnung [des Offenbarwerdens Gottes durch sich selbst in seinen Werken, Anm. M.R.], diese Theorie, der Offenbarung wird erst konkret werden, wenn sie als Aesthetik entwickelt wird: als Theorie des Gesetztwerdens und Erschlossenwerdens des menschlichen Daseins durch das passionale Kontinuum des Erlebens.“
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Gewissheit vom Wahrsein des Lebenszeugnisses Jesu Christi und dann später des Lebenszeugnisses der Christen für diese Wahrheit des Lebenszeugnisses Jesu befördert werden.“407 Herms versteht das Offenbarungsgeschehen als etwas Formales, das er von Grund und Inhalt der Offenbarung unterscheidet. Das Erschließungsgeschehen macht die Offenbarung zur Offenbarung und eröffnet somit Glaubensbewusstsein. Die christliche Offenbarung wird durch das Glaubensbewusstsein der Jünger Jesu eröffnet, womit die Zirkulation und Weitergabe einsetzt. Dieses Glaubensbewußtsein wurde beispielsweise durch Visionen gewonnen und dann tradiert.408 Im Wort konnte sich dieses Bewusstsein manifestieren und wurde durch Erschließungsmomente weitergegeben. Solche Erschließungsmomente können aber auch ebenso durch Bilder hervorgerufen werden bzw. werden auch durch die Tradierung im Wort zum inneren Bild. Als Wesen dieser Weitergabe hat die Erschließung zu gelten. Medium der Glaubenskommunikation ist im eigentlichen nicht das Wort als Mitteilung äußerer Art, sondern eine innere Imagination, die Bilderwelt unserer leibhaften Erinnerung. In dieser Sphäre ereignet sich Offenbarung als „durch den Geist Gottes gewirkte Erscheinung des Wahrseins eines bestimmten Datums und Traditums, nämlich des sinnlich begegnenden christlichen Zeugnisses.“409 Der Charakter dieser Sinnlichkeit ist nun aber noch genauer zu untersuchen: Die Aisthesis, welche eine solche christliche Daseinsgewissheit hervorzubringen vermag, ist als solche unsichtbar, wie Paulus in 2 Kor 4,18 betont: Sie impliziert zwar organisches Empfinden wie zu Tastendes, zu Schmeckendes, zu Riechendes, zu Sehendes oder zu Hörendes, ist „jedoch selbst als Wirklichkeit des Erlebens und als erlebte Wirklichkeit nicht wiederum organisch empfindbar“.410 Herms versteht auch das alttestamentliche Bilderverbot in diesem Sinne: „Dieses Verbot ist nicht die Bestreitung der 407 HERMS, Der Ort der Aesthetik in der Theologie, aaO, 125. 408 „Dieses Zeugnis begegnet den Jüngern durch das Leben in der Gemeinschaft mit Jesus, die dieser ihnen angeboten hat und gewährt. [...] Erst indem die mit Jesus Lebenden die Szenen von Jesu Gefangennahme, Verurteilung und Tod am Kreuz miterleben und erst indem auch diese Szenen zum Bestandteil ihrer Erinnerung werden, enthüllt sich ihnen der ganze Eigensinn von Jesu Lebenszeugnis als Hingabe des Lebens an die kommende Gottesherrschaft – und sie fliehen entsetzt (Mk 14,50). Aber dann kommt der Moment, in dem die Herrschaft des Schöpfers, die das Dasein Jesu selbst von Anfang an bestimmte, nun auch selbst nach dem Leben der Jünger greift – und das heißt: sich von sich aus ihnen vergegenwärtigt.“ (HERMS, aaO, 126). 409 HERMS, Die Sprache der Bilder und die Kirche des Wortes, in: BECK, R. u.a. (Hgg.), Die Kunst und die Kirchen. Der Streit um die Bilder heute, München 1984, 242-259, 244. 410 Vgl. HERMS, Der Ort der Aesthetik in der Theologie, aaO, 127.
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Selbstpräsenz des Schöpfers für die Geschöpfe im Medium der Aisthesis, sondern genau umgekehrt insistiert es gerade auf dem Dasein Gottes für uns in diesem Medium, das über das Empfinden hinausgeht. Es insistiert darauf dadurch, daß es der falschen Behauptung widerspricht, das Sein Gottes finde sich im Bereich des organisch zu Empfindenden. [...] Das Bilderverbot insistiert gerade auf dem Dasein Gottes für uns und zwar im Medium der Aisthesis, freilich nur im Medium der Aisthesis als Erleben, die nicht selbst organisch zu empfinden ist, obwohl sie selbst das organisch empfindbare notwendig einschließt.“411 Dass die szenische Erinnerung dabei leibhafte Erinnerung ist, umfasst in besonderer Weise ihre Kommunikabilität: „Es ist Erinnerung, die gestiftet wird durch die Aisthesis als Erleben des Dauerns unserer leibhaften Gegenwart, unserer Gegenwart in Bezogenheit auf andere, in Gemeinschaft und in Auseinandersetzung mit anderen Menschen; und diese Erinnerung kann keine andere sein als die Erinnerung an unsere Geschichte mit anderen und ihre Szenen.“412 Herms versteht die „Kirche des Wortes“ als creatura verbi. Das Wort ist dabei nicht als Medium der Kommunikation des Glaubens, sondern als Grund und Gegenstand des Glaubens und der Glaubensgemeinschaft gedacht.413 Es handelt sich also um ein Offenbarwerden und Offenbarsein der Wahrheit des Christusbekenntnisses.414 Wort wird somit Herms zufolge mit dem Christusereignis identifiziert, es ist also Offenbarung Gottes als Schöpfer, Versöhner und Vollender. Der Gegenstand des Glaubens als Erscheinung des Wahrseins der Christusbotschaft ist nun nach Herms ursprünglich nicht im Medium des mündlichen und schriftlichen Wortes gegeben, sondern im Medium der szenischen Erinnerung, in der Sprache der Bilder: „Das Medium der Offenbarung ist szenische Erinnerung.“415 Das heißt, in der Kirche finden solche Erfahrungen statt, wie sie auch schon von Anfang an in ihrem Ursprungsgeschehen stattgefunden haben, nämlich Erschließungserfahrungen. Dabei versteht Herms diese szenische Erinnerung als „ursprüngliche Form der Sprache der Bilder“.416
411 412 413 414 415 416
AaO, 127f. AaO, 123. Vgl. HERMS, Die Sprache der Bilder, aaO, 242. Ebd. AaO, 245. AaO, 242f. Vgl. auch folgende Predigtbände: TROWITZSCH, M., Eine Schlußbetrachtung, in: DERS., Leben in einem Haus aus Licht. Über die Menschlichkeit Gottes, Freiburg u.a. 1993, 165-174; DERS., Die bunte Gnade Gottes. Von der Einbil-
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Verstünde man nun aber den Gegenstand des Glaubens nur als sinnlich begegnendes Datum, verleugnete man seinen Wahrheitsbezug. Denn der Gegenstand des Glaubens ist als eine durch den Heiligen Geist bewirkte Erscheinung des Wahrseins zu verstehen. In dem sinnlich begegnenden christlichen Zeugnis erscheint die Wahrheit, ist also als ein Phänomen der Wahrheit zu begreifen.417 Ist der Gegenstand des Glaubens die Erscheinung des Wahrseins der Christusbotschaft, so kann Herms zufolge diese Gegenstandsart durch zwei Merkmale näher bestimmt werden. Zum einen handelt es sich formal um ein „Erscheinen-von-etwas-für-uns“, das uns in unserem leibhaften Personsein mit einbezieht. Zum anderen sind diese Erscheinungen des Wahrseins von Zeichen inhaltlich durch Komplexität ausgezeichnet.418 Eine wichtige Näherbestimmung erhält das szenische Erinnern durch unser eigenes szenisches Erleben, wobei wir in unserer individuellen Leibhaftigkeit beteiligt sind.419 Diesen Zusammenhang von Erinnern und eigenem leiblichen Erleben, das immer synästhetischen Charakter hat, fasst Herms in folgenden Leitsatz: „Die szenische Erinnerung ist die ‚Sprache’ der Bilder, und in der Sprache der Bilder artikulieren wir unsere szenische Erinnerung.“420 Herms unterscheidet dabei die aktive und passive Seite dieses Geschehens: Die Passivität unserer szenischen Erinnerung wie unseres Erlebens ermöglicht den aus ihr erwachsenden aktiven Gebrauch der Zeichen, wobei er zugleich deren Verhältnisbestimmung klärt.421 Für Herms ist es entscheidend, dass der Heilige Geist im Inneren wirkt und es sich bei seinem Wirken um eine Aneignungskategorie handelt, die das Wort wahr werden lässt. Entscheidend ist Herms die Imagination, welche durch ein äußeres Wort bzw. Bild ausgelöst wird und zu einem inneren Wort, einem inneren Bild oder einer inneren Szene wird bzw. das szenische Erinnern
417
418 419 420 421
dungskraft des Glaubens, München 1988 sowie DERS., Niemand sah den Engel der Frühe. Jenaer Predigten, Bielefeld 2000. Vgl. HERMS, Sprache der Bilder, 244: „Der Gegenstand des Glaubens ist die gnadenweise, unverdiente und befreiende Erscheinung des Wahrseins dieses in der christlichen Verkündigung enthaltenen Wirklichkeitsverständnisses.“ Vgl. aaO, 246. Vgl. aaO, 247. HERMS, Sprache der Bilder, 249. Vgl. aaO, 250. „Die gesamte Sphäre unserer semiotischen Aktivität bleibt eingebettet und umfangen von der Sphäre des passiv konstituierten Gefüges unserer szenischen Erinnerung.“ (aaO, 252).
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anregt. Im Grunde begegnet hier ein rezeptionsästhetischer Ansatz, der gewisse formalistische Züge trägt und stark introjektiv argumentiert. Diese Einsichten gewinnt Herms aus der Interpretation Luthers422, schließt sich aber indirekt Schleiermachers Höherbewertung des Inneren vor dem Äußeren an. Denn in der religiösen Rede geht es darum, dass Inneres zu Innerem spricht und nur durch ein äußeres Mittel, ein äußeres Wort „dieselbe innere Erfahrung in Anderen hervorzurufen“423 ist. Insofern wurde die von Luther intendierte „Darreichung des leiblichen Wortes“ (CA 5) zu einer „Selbstmitteilung“ des minister verbi divini umgeformt. Auch bei Herms begegnet der Gedanke der „Aeußerung und Darstellung“424 einer dem Wort zugrundeliegenden Sache. Insofern wird die religiöse Erfahrung zugleich als Erschließungsund Verarbeitungsgeschehen verstanden, so daß Evidentwerdung und Erschließung sowie aktive Rezeption zwei Momente eines Geschehens darstellen. Wahrnehmung ist immer schon durch Erfahrung geprägt und setzt erneut Erfahrung frei. „Sprache der Bilder“ kann deshalb als ein gelungener Begriff gewertet werden, da er sowohl artistische Gebilde aller Art als auch die Bildhaftigkeit des Wortes umfasst. Ein entscheidendes Kriterium für artistische Gebilde besteht allerdings für Herms in ihrer Humanität, die sich aus einer beabsichtigten Kommunikationsbewegung ergibt und im Produkt manifestiert425, so dass er ein ethisches Bewertungskriterium einführt, an dem die jeweilige Evangeliumsgemäßheit abzulesen ist. 4.4 Gebrauchswert als Qualitätskriterium von Kunst Herms arbeitet nicht mit einem eindeutigen Ästhetikbegriff, sondern geht im zuvor behandelten Kontext primär von einem Ästhetikverständnis im Sinne der aisthesis (verstanden als leibhafte Wahrnehmung) aus. In der Auseinandersetzung mit der Bilderfrage behandelt er zunächst ein weites Bildverständnis im Sinne des szenischen Erinnerns und widmet sich dann im besonderen den Bildern der bildenden Kunst, wodurch der Ästhetikbegriff keine Einschränkung erfährt, sondern eine gewisse Konzentration. Kunst wird für Herms durch vier wesentliche Gesichtspunkte geprägt: „a) die Bezogenheit auf die Aisthesis des Erlebens und die durch 422 Vgl. HERMS, Luthers Auslegung, passim. 423 SCHLEIERMACHER, F. D. E., Der christliche Glaube. Zweite Auflage (1830/31), in: DERS., Kritische Gesamtausgabe (KGA) I. 13, 1, hg. v. R. Schäfer, Berlin/ New York 2003, § 14, 115-127, 116. 424 Vgl. aaO, § 18, 139-143, 141. 425 Vgl. HERMS, Sprache der Bilder, 252ff.
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sie etablierten gegenwartsorientierenden Erinnerungsbestände, b) die Absicht der Repräsentation dieser Bestände, c) die Absicht ihrer Kommunikation und d) eine für die Erreichung dieser Absicht genügende Kompetenz“.426 Ästhetik und Wahrnehmung werden bei Herms gerade nicht unter ihrem Wahrheitswert (vgl. Jüngel etc.), sondern vielmehr unter ihrem Gebrauchswert beleuchtet. Was Kunst nämlich darstellt, ist die Bedingung für die leibhafte Aneignung und Mitteilung der Botschaft in einer jeweiligen Lebensgeschichte: „Die Sprache der Bilder schließt das artistische Gebilde und das Bild des Wortes ein.“427 Die Pointe besteht also darin, dass insbesondere Kunstwerke eine wesentliche Bedingung für die kommunikative Leistung bezogen auf die jeweilige elementare Erinnerungs- und Erwartungsarbeit darstellen.428 Daraus ergibt sich für Herms ein „ästhetisches Wertkriterium“ bzw. Qualitätskriterium, das aus Sicht des Glaubens an der medialen Leistung des Kunstwerks ausgerichtet werden und sich messen lassen muss: „Die Humanität eines artistischen Gebildes bemißt sich unter anderem daran, mit welcher Entschiedenheit die Chance wahrgenommen wird, durch signifikante Variation von Gewohntem eine individuelle Darstellungsintention der intersubjektiven Teilhabe zugänglich zu machen.“429 An dieser Formulierung wird der Anspruch einer an Schleiermacher geschulten theologischen Ästhetik deutlich, die in der religiösen Erfahrung die Verhältnisbestimmung von individueller Darstellung und allgemeiner Mitteilbarkeit vornimmt, da gerade das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem ein Grundproblem im Erfahrungsverständnis darstellt. Das bedeutet also, dass der kommunikative und rezeptive Zusammenhang jeweils auszuweisen ist. Zugleich sucht Herms i.S. der Kantischen Kritik der Urteilskraft nach verallgemeinerungsfähigen Qualitätsurteilen, die zwar nicht in dem Urteil, dass etwas schön sei, aufgehen, aber der Struktur nach die Kriterien für die Erfahrung von Bildern einfordern, die überprüfbar sind. Für Herms ist die kontingente Autonomie von Kunst in jedem Fall zu akzeptieren, wobei für den Glauben wiederum das Kriterium darin bestehen muss, in selbständiger und autonomer Weise die Werke der Kunst anzueignen. Dabei ist nicht notwendigerweise auf deren objektiven Gehalt zu rekurrieren.430
426 427 428 429 430
HERMS, Der Ort der Aesthetik in der Theologie, aaO, 131. HERMS, Sprache der Bilder, aaO, 252. ERNE, Lebenskunst, 46. HERMS, Sprache der Bilder, 253. ERNE, Lebenskunst, 47.
Theologische Ästhetik als Wahrnehmungstheorie
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Dabei ist dieser Gesichtspunkt keinesfalls als generelle Zustimmung zum Kantischen Ästhetikverständnis zu verstehen, da Herms in dieser Theorie des Schönen eine zu starke Betonung des rein Subjektiven ohne „konstitutive Bedeutung für das ‚vernünftige’ Handeln und Erkennen“ feststellt.431 Diesen Zusammenhang des Guten, Wahren und Schönen wahrt ein solches Verständnis von Ästhetik, welches auf der Grundlage ihres Gegenstandes konzipiert ist, der Aisthesis „als das passionale Kontinuum des Erlebens, durch das alle Bedingungen des Dauerns der Gegenwart unseres leibhaften Personseins gesetzt und erschlossen sind. Sie wird daher eine Theorie über das ursprüngliche Geschehen des Gesetztwerdens und das Erschlossenwerdens des Daseins in seiner Qualität als das von seinem Ursprung her in sich selbst (sic!) Gute (uns durch die Zukunft unserer Gegenwart anziehende), als das Wahre (das von seinem Ursprung her zuverlässige) und als das Schöne (nämlich als das, worin das Gute erreicht wird und zu genießen ist) sein.“432 4.5 Fazit Herms leitet die theologische Fragestellung, wie sich Glaube und Erfahrung zueinander verhalten und welche Erfahrungsformen dabei für den Glauben konstitutiv sein können. In diesem Rahmen wird das Verhältnis von religiöser und ästhetischer Erfahrung behandelt. Denn auch die ästhetische Erfahrung kann zum Medium des Erschließungsgeschehens Offenbarung werden, wenn sie sich als Bilderfahrung im szenischen Erinnern vollzieht. Dieses Verständnis ist nach Herms gerade auch für die uns überlieferten Texte der Bibel grundlegend. Für Herms kann das szenische Erinnern in seiner Innerlichkeit und Bildlichkeit als Medium der Offenbarung fungieren, so dass Herms im Unterschied zu Jüngel, der Kunst am Wahrheitsverständnis kritisch misst, die Qualität von Kunst an ihrem Gebrauchswert festmacht. Dieser Gebrauchswert bleibt jedoch ebenfalls am Wahrheitverständnis sowie Menschenbild des christlichen Glaubens orientiert. Ausgehend von den Prämissen, Theologie als Erfahrungswissenschaft müsse eigene handlungsorientierende Theorien entwickeln und einen inhaltlich theologischen Begriff theologischer Praxis gewinnen, fordert Herms die Anknüpfung an einen allgemeinen Erfahrungsbegriff. Denn Erfahrung überhaupt hat immer schon theologischen Charakter, religiöse Erfahrung muss also als allgemeinster Begriff von Er-
431 Vgl. HERMS, Der Ort der Aesthetik in der Theologie, aaO, 135. 432 HERMS, Der Ort der Aesthetik in der Theologie, aaO, 135.
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fahrung überhaupt verstanden werden. In der Erörterung dieser Frage ist für ihn die Verhältnisbestimmung von Offenbarung und Erfahrung fundamental. Offenbarung und Erfahrung sind dabei immer als zwei Momente eines Geschehens streng aufeinander bezogen, wobei die Erfahrung des szenischen Erinnerns durch ein äußeres Wort ausgelöst wird, welches innerlich unter dem Wirken des Heiligen Geistes anzueignen ist. Herms beschreibt Offenbarung und Erfahrung somit als zwei konstitutive Elemente eines Geschehens, wobei Offenbarung das für das Glaubenssubjekt passive Moment meint (Konstituiertwerden), während Erfahrung das aktive Moment des Aneignens und Weitergebens etc. darstellt (Konstituiertsein). Auf diese Weise öffnet er sich dem neuzeitlichen Erfahrungsbegriff, jedoch auf der theologischen Grundlage, dass Gott die alles bestimmende Wirklichkeit ist, deren Wirkweise sich als Schöpfung, Erlösung und Vollendung beschreiben lässt. Dadurch begegnet er dem einseitigen empirischen Erfahrungsverständnis und qualifiziert Erfahrung inhaltlich durch die christliche Botschaft. Für die Näherbestimmung der religiösen Erfahrung zieht er allerdings auch umfassend religionspsychologische und religionssoziologische Theorien (W. James, S. Freud und E. Durkheim) mit heran. Jedoch wahrt er hier ausgehend von der christlichen Rechtfertigungslehre, die sein Wirklichkeitsverständnis prägt und demzufolge sein Qualitätskriterium darstellt, die kritische Distanz zu diesen Modellen. Für Herms ist ästhetische Erfahrung die Erfahrung dargestellter erinnerter Erfahrung. Denn Erinnerung muss geäußert werden, damit sie kommunizierbar ist. Nun gibt es aber erinnerte Erfahrung, die nur im Kunstwerk dargestellt werden kann, weil es nicht möglich ist, sie durch wissenschaftliche Sprache oder Alltagssprache auszudrücken. Zu dieser Art von Erfahrung gehören auch religiöse Erfahrung und Glaubenserfahrung. Herms versteht Ästhetik im doppelten Sinne als Lehre von der Wahrnehmung und als Lehre von der Kunst, wobei ihn insbesondere der Aneignungsvollzug als Rezeptionsvollzug interessiert, was seine Nähe zum folgenden Modell deutlich macht. Das Verhältnis von Aktivität und Passivität im Wahrnehmungsvollzug bestimmt Herms grundsätzlich anders als Bayer.433 Er geht zunächst davon aus, dass sich die menschliche Person nicht selbst hervorbringen kann. Sie ist als solche qua Schöpfungsgeschehen immer schon konstituiert und von daher
433 Ganz ähnlich, aber mit anderen Akzenten, bestimmt dieses Verhältnis auch Gräb: Die Reflexionssubjektivität findet sich zwar als passiv konstituiert vor, ist aber im Vollzug nur aktiv zu denken.
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im Grunde immer schon passiv. Diese Passivität ist gleichsam der Ermöglichungsgrund für die Selbsttätigkeit bzw. Aktivität des Subjekts. Auf diesem Hintergrund widmet sich Herms der aktiven Rezeption, Wahrnehmung und interpretierenden Erfahrung, die als aktive subjektive Vollzüge zum notwendigen Konstituiertwordensein hinzukommen. Was immer die Person aktiv vollzieht, diese Aktivität ist doch im Grunde nur verdankte Aktivität und deshalb schlechthinnige Passivität. Diese anthropologische Grundlegung wirkt sich auch auf das Verständnis menschlicher Erfahrung, insbesondere religiöser Erfahrung aus. Jede Erfahrung vollzieht sich in jener eigentümlichen Dialektik von grundlegender Passivität und aktueller Aktivität. Das Spezifikum der religiösen Erfahrung besteht darin, dass sich die Person ihrer grundlegenden oder schlechthinnigen Passivität trotz aller Aktivität innewird. Diese Bestimmung bleibt zunächst formal, wird aber dann von Herms auf dem Hintergrund der lutherischen Rechtfertigungslehre material entfaltet. Das Prinzip der Aktivität des Selbst leitet auch sein Verständnis des Rechtfertigungsgeschehens als eines Aneignungsgeschehens. Rechtfertigung geschieht durch Aneignung dessen, was in den Selbstdarstellungen des christlichen Glaubens dem Menschen äußerlich gegenübertritt, d.h., sie geschieht dadurch, dass sich der Mensch der Wahrheit des christlichen Rechtfertigungsglaubens innewird. Deshalb bildet in der Relation von Wort und Glaube das äußere Wort den Gehalt der Symbole, die als Zeichen für die Selbstoffenbarung Gottes fungieren und als solche verstanden werden können. Insofern ist Herms zufolge das äußere Wort die Möglichkeitsbedingung der Selbstoffenbarung Gottes.434 Äußeres Wort als „Äußerung“ und „Darstellung“ einer dem Wort zugrundeliegenden Sache435 umfasst in diesem Kontext auch Kunstwerke als Zeugnis des Glaubens bzw. verstehbare Sprachzeichen der biblischen Texte, die für den Einzelnen szenischen Charakter gewinnen können. Von diesem äußeren Wort unterscheidet Herms das innere Wort, welches die jeweils kontingent begegnende Verwirklichung der durch das äußere Wort gegebenen Möglichkeit der Offenbarung darstellt. Es vermag die jeweilige Intention des äußeren Wortes in ein wirkliches Verständnis zu überführen, was als „neue Selbsterfahrung“ im Glauben erlebt wird.436 Er unter-
434 Vgl. HÄRLE, W./ HERMS, E., Rechtfertigung. Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens. Ein Arbeitsbuch, Göttingen 1980, 119. 435 Vgl. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube, § 18, 141. 436 Vgl. HÄRLE/ HERMS, Rechtfertigung, 119f.
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scheidet demnach zwischen dem äußeren Wort, das alle Formen von Selbstdarstellungen des Glaubens umfasst und mit dem Personen Umgang haben, und dem inneren Wort, welches den unverfügbaren Grund und damit das innere Wirken des Geistes an der Person repräsentiert.437 Durch die Aneignung des äußeren Wortes wird dieses zum inneren Wort und somit zum Grund des Glaubens. Die Aneignung bzw. die Verinnerlichung des äußeren Wortes geschieht nur ubi et quando visum est deo (CA 5) und ist somit unverfügbar. Auf diese Weise schließt sich Herms indirekt Schleiermachers Höherbewertung des Inneren vor dem Äußeren an. Denn in der religiösen Rede geht es darum, dass Inneres zu Innerem spricht und nur durch ein äußeres Mittel, ein äußeres Wort „dieselbe innere Erfahrung in Anderen hervorzurufen“ ist.438 Die Frage ist jedoch, ob es gerechtfertigt ist, zwischen innerem und äußerem Wort als zwei Seiten eines Geschehens zu unterscheiden. Denn die Abgrenzung des äußeren Wortes vom inneren Wort war im reformatorischen Sinne die Abgrenzung zwischen zwei unterschiedlichen Ereignissen. Innen und Außen charakterisieren jedoch nicht Innen- und Außenseite des einen Wortgeschehens, sondern beschreiben die unterschiedliche Herkunft der Anrede, wobei das innere Wort das wahnhafte Selbstgespräch des Menschen, das äußere Wort jedoch die biblisch vermittelte Anrede Gottes bezeichnet. Insgesamt ist der Entwurf von Herms sehr schwer einem Modell zuzuordnen. Er weist sowohl Züge eines hermeneutisch geprägten Ästhetikverständnisses auf als auch Momente eines subjektivitätstheoretisch begründeten Verständnisses von Religion und Kunst, dem wir uns im folgenden zuwenden wollen. Dennoch überwiegen meines Erachtens die hermeneutischen Bezüge.
437 Vgl. HÄRLE/ HERMS, aaO, 119-121. 438 SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube, § 14, 116.
III. Der Rezeptionsvollzug des Subjekts. Religiöse Erfahrung als Selbstdeutung endlicher Freiheitserfahrung Theologische Modelle Der Rezeptionsvollzug des Subjekts
1. Wilhelm Gräb – Reflexionssubjektivität als gemeinsamer Konstitutionsort von religiöser und ästhetischer Erfahrung 1.1 Reflexionssubjektivität als Grundlage von Erfahrung Moderne Ästhetik vertritt die Auffassung, dass aufgrund der Mehrdeutigkeit der Kunst nicht mehr ohne weiteres abgeleitet werden kann, was diese darstellen will. Gerade moderne Kunstwerke sind schon von ihrer Intention her deutungsoffen. Diese Konzeption wird von Gräb auf die Religion übertragen. Was Religion und Kunst also jeweils darstellen, ist nicht mehr am Objekt, sondern nur durch die Reflexionsleistung des Subjekts zu bestimmen. Für Gräb u.a. stellt dabei die „leibhaft gebundene Reflexionssubjektivität“1 das Verbindungsglied bzw. den gemeinsamen Konstitutionsort zwischen religiöser und ästhetischer Erfahrung dar. Wird die religiöse Erfahrung von Gräb als „Selbstdeutung endlicher Freiheitserfahrung im Horizont der Idee des Unbedingten“2 verstanden, welche das Sich-Gegründetwissen des Individuums in Gott reflektiert,3 so erscheint als Konstitutionsort religiöser Erfahrung die leibhaft gebundene Reflexionssubjektivität, welche auf die transzendentale Ursprungserfahrung rekurriert. So kann dieses Geschehen durchaus mit ästhetischen und mit religiösen Deutungskategorien erfasst und umschrieben werden, da die
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GRÄB, W., Kunst und Religion in der Moderne. Thesen zum Verhältnis von ästhetischer und religiöser Erfahrung, in: HERRMANN, J. u.a. (Hgg.), Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute, München 1998, 57-72, 62: „Das Bezugssystem für die Konstitution ästhetischer Erfahrung ist die leibhafte Reflexionssubjektivität. Unter den soziokulturellen Bedingungen der Moderne ist dies zum Bewußtsein der ästhetischen Erfahrung selber geworden.“ GRÄB, Kunst und Religion, 65: „Religiöse Erfahrung ist Selbstdeutung endlicher Freiheitserfahrung im Horizont der Idee des Unbedingten, das SichGegründetwissen des Individuums in Gott. Der Konstitutionsort religiöser Erfahrung ist die leibhaft gebundene Reflexionssubjektivität.“ Vgl. ebd. Vgl. auch HENRICH, D., Das Selbstbewußtsein und seine Selbstdeutungen. Über Wurzeln der Religionen im bewußten Leben, in: DERS.: Fluchtlinien. Philosophische Essays, Frankfurt a.M. 1982, 99-124.
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religiöse Erfahrung ebenso wie die ästhetische Erfahrung durch sinnliche Wahrnehmung verursacht wird.4 Diese These ist unter Rückgang auf den Erfahrungsbegriff, Gräbs Anknüpfung an Dieter Henrichs Verständnis von Selbstbewusstsein und Selbstdeutung, an Kants Ästhetikkonzeption der „Kritik der Urteilskraft“ sowie an Schleiermachers Religionsverständnis zu erläutern. Erfahrung im allgemeinen wird Gräb zufolge durch einen wie auch immer gearteten Widerstand, der auf das Subjekt bewusst einwirkt, hervorgerufen. Dieser Widerstand hat wiederum Einfluss auf sein eigenes „selbstkontrollierte[s] Verhalten“, auf seinen weiteren „Selbstund Weltumgang“.5 Dabei werden in jedem Falle einer Transzendentalphilosophie entsprechend allgemeine Strukturen von Erfahrung in den jeweiligen Erfahrungen gesucht, wobei spekulative Fragen außer acht gelassen werden. Gräb übernimmt zwar die transzendentale Konzeption des Subjekts im Sinne Kants, knüpft aber andererseits an ein Subjektverständnis im Sinne des empirischen Ich an, was dem Gesamtduktus der Argumentation im Kontext eher entspricht.6 In der gemeinsamen Analyse ästhetischer und religiöser Erfahrung erweist sich demzufolge die „Erfahrungssubjektivität“ als Erfahrung stiftender Bezugsrahmen: „Denn Subjektivität ist als ein System sich aufeinander beziehender Tätigkeiten zu denken. An deren durch widerständige Anstöße ausgelöstem Zusammenspiel ist zu zeigen, wie ästhetische und religiöse Erfahrungen zustande kommen, wie sie sich bilden, was sie rein als solche spezifische ausmacht, wie ästhetische und religiöse Erfahrung miteinander verbunden sind, wodurch sie sich voneinander unterscheiden, wie sie am Aufbau dessen beteiligt sind, was als ein ‚Kunstwerk’ oder als das ‚Heilige’ angesehen werden kann.“7 4
5 6 7
Hier verweist Gräb auf Schleiermachers Ausdruck, die Kunst verhalte sich zur Religion wie die Sprache zum Wissen (vgl. SCHLEIERMACHER, Ethik [1812/13], 74f: „Wenn demnach das Bilden der Fantasie in und mit seinem Heraustreten Kunst ist, und der Vernunftgehalt in dem eigenthümlichen Erkennen Religion, so verhält sich Kunst zur Religion wie Sprache zum Wissen.“). „Diese Rede meint, daß die Religion, wo sie die sinnliche Wahrnehmung von Tönen, Gebärden, Formen und Farben zu sprechenden Zeichen für spezifische Gemütsgestimmtheiten gestaltet, sich der Methode der Kunst, also des freien Zusammenspiels sinnlicher Elemente mit dem Allgemeinen der ideellen Begriffsbildung absichtsvoll bedient.“ (GRÄB, Kunst und Religion, 69). AaO, 58. Vgl. zu dieser Unterscheidung SCHULZ, Metaphysik des Schwebens, 110ff. GRÄB, ebd. D. Henrich verweist darauf, dass Subjektivität i.U. zum Subjekt die Prozessualität unterstreicht: „Von einem Subjekt ist dann zu sprechen, wenn eine Aktivität im Wissen von sich fundiert ist und wenn ein Prozeß von diesem Wissen
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Daraus folgt für Gräb, dass in der Beschreibung dessen, was religiöse Erfahrung einerseits und ästhetische Erfahrung andererseits ausmacht, zwar auf die gemeinsamen Konstitutionsbedingungen – vornehmlich die Reflexionssubjektivität – rekurriert wird, jedoch dasjenige, was Erfahrung genannt zu werden verdient, am jeweiligen Resultat dieses Reflexionsprozesses ausgerichtet wird. Ähnlich der Kantischen Konzeption der ästhetischen Urteilskraft wird für das Zustandekommen beider Erfahrungsformen die intellektuelle und organische Funktion des Subjekts, die Verstehens- und Rezeptionsmöglichkeit sinnlicher Wahrnehmung sowie die Tätigkeit der Einbildungskraft unterstrichen. Dabei handelt es sich – wie auch bei Kant – um ein zweckfreies Zusammenspiel dieser Erkenntnisfunktionen, welche in der Subjektivität bzw. im transzendentalen Subjekt verankert sind.8 Gräb zufolge muss sowohl die ästhetische Produktion als auch deren Rezeption als „Resultat eines frei kombinatorischen Spiels gegebener sinnlicher Elemente mit dem nicht gegebenen Allgemeinen der Einbildungskraft“ verstanden werden.9 Im Anschluss an Kant ist die ästhetische (wie auch bei Gräb analog die religiöse) Anschauung reflexiv und durch einen Spielcharakter, nämlich das freie Spiel der Erkenntniskräfte, ausgezeichnet, wobei aufgrund der anhaltenden Spannung zwischen der Anschauung und der durch sie ausgelösten Reflexivität die ästhetische Erfahrung nicht zu einem Abschluss im Sinne einer kognitiven Erkenntnis kommen kann.10
8 9 10
her eingeleitet und unterhalten wird. Insofern also die beiden Prozesse solche sind, in die das Subjekt eintritt und als solches sich ausbildet, und insofern weitere Aktivitäten von ihnen her modifiziert werden, ist es möglich, von Subjektivität in einem prozessualen Sinn zu sprechen.“ (HENRICH, D., Bewußtes Leben. Einleitung und Übersicht zu den Themen des Bandes, in: DERS., Bewußtes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik, Stuttgart 1999, 11-48, 19). Das heißt also für Henrich, dass sich das Subjekt „als Subjektivität vollziehen“ muss (HENRICH, Versuch über Kunst und Leben, 38). Vgl. GRÄB, Kunst und Religion, 66f. AaO, 60. Vgl. hierzu auch BUBNER, R., Zur Analyse ästhetischer Erfahrung, in: OELMÜLLER, W. (Hg.), Kolloquium Kunst und Philosophie Bd. 1. Ästhetische Erfahrung, Paderborn u.a. 1981, 245-262, 262: „Wenn auch der wahre Gehalt von Kunst nie auf den definitiven Begriff zu bringen ist, so regt im Falle des Kunstwerks der sinnliche Ausgangspunkt zur Suche nach der Totalität im Detail an und lockt eine Reflexion hervor, die nie zum Abschluß gelangt und sich gleichwohl auch nicht mit sich selbst zu befriedigen vermag. Im Prozeß solcher Erfahrung konstituiert sich das, was wir Einheit des Werkes nennen.“ Vgl. BUBNER, R., Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, in: DERS., (Hg.), Ist eine philosophische Ästhetik möglich? (NHP Bd. 5 [1973]), 38-73, 38ff. Vgl. auch BUBNER, R., Zur Analyse ästhetischer Erfahrung, in:
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Funktionieren sowohl die ästhetische Produktion als auch die ästhetische Rezeption nach dem Muster eines „frei kombinatorischen Spiels gegebener sinnlicher Elemente mit dem nicht gegebenen Allgemeinen der Einbildungskraft“11, so leitet Gräb daraus nun sein Verständnis ästhetischer Erfahrung ab, die als Erfahrung der Begegnung mit Kunst die allgemeine Kontingenzerfahrung des Lebens noch verstärkt.12 Denn das Kunstwerk findet sich nicht immer schon als bloße Symbolisierung von Ideen vor, sondern wird, was es ist, durch das ästhetische Urteil des Rezipienten. „Die ästhetische Erfahrung haftet an ihren Gegenständen und reflektiert sich zugleich ganz in der Selbstdeutung des Subjekts, das die Erfahrung macht. Dieses spürt, das etwas mit ihm geschieht und geschehen ist. Es beginnt, diese Veränderung zu deuten, etwa über das Bild zu sprechen, das so eindrücklich wirkt [...]“13. Das ästhetische Erfahrungsurteil, also das Resultat ästhetischer Erfahrung, wird von der Reflexionssubjektivität gefällt, denn was das Kunstwerk verkörpert, seine Idee oder Bedeutung, ist immer erst im Vollzug der Reflexion und des Reflexionsurteils, das allerdings von einer Erkenntnis im objektiven und kognitiven Sinne sowie von einem moralischen Urteil zu unterscheiden ist, zu gewinnen. Damit zeigt Gräb eine grundlegende Offenheit gegenüber der Reflexionskunst der Gegenwart.14 An diesem Zusammenhang wird deutlich, dass Gräb urteilslogisch argumentiert: nämlich in Anlehnung an das Kantische Verständnis des ästhetischen Urteils in der „Kritik der Urteilskraft“.15 Kants Lehre vom Schönen, wonach im ästhetischen Urteil primär der Formcharakter des Kunstwerks das Spiel der Erkenntniskräfte an-
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DERS.: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a. M. 1989. 52-69. Ebenso SCHULZ, Metaphysik des Schwebens, 111. GRÄB, Kunst und Religion, ebd. Vgl. aaO, 62. Vgl. auch KLEIMANN, Das ästhetische Weltverhältnis, 334: Hier betont Kleimann, wie sehr die ästhetische Erfahrung vom Widerfahrnis abhängig ist, ja die ästhetische Erfüllung wird sogar an die Bedingung von Kontingenz gekoppelt, da durch sie ästhetische Erlebnisse mit einem Reiz des Überraschenden möglich werden. Vgl. W. GRÄB, Einige vorläufige Bemerkungen zum Verhältnis von ästhetischer und religiöser Erfahrung, in: DERS./ JÖRG HERRMANN/ BIRGIT WEYEL (Hgg.), Ästhetik und Religion. Interdisziplinäre Beiträge zur Identität und Differenz von ästhetischer und religiöser Erfahrung (Religion-Ästhetik-Medien Bd. 2), Frankfurt a.M. u.a. 2007, 17-22, 22. Vgl. GRÄB, Lebensgeschichten. Lebensentwürfe. Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 22000, 108. Vgl. dazu auch ROHRMOSER, G., Art. Ästhetik II. Als philosophisches und neuzeitlich religionsphilosophisches Problem, TRE Bd. 1, Berlin/ New York 1977, 554-566, 559. Vgl. ebd. sowie HUIZING, Der inszenierte Mensch, 31f.
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regt, wird von Gräb generalisiert. Ästhetik wird von Gräb als Lehre vom Schönen definiert, wobei das Hässliche dialektisch unter den Schönheitsbegriff subsumiert wird. Dabei ist der Begriff der Schönheit nicht an einer Idee des Schönen orientiert, sondern ist als Gelungenheit verstanden: „Rein ästhetische Urteile sagen von der ästhetischen Erfahrung immer nur das inhaltlich Unbestimmte aus, daß ihr Gegenstand gefällt, daß er ‚schön’ sei. ‚Schön’ eben in diesem rein formalen Sinn des Zusammenstimmens von sinnlicher Affektion und virtueller Idee, wonach auch das Häßliche ‚schön’ sein kann.“16 Glückt das oben beschriebene freie Zusammenspiel von sinnlicher Wahrnehmung und Einbildungskraft, d.h. die Wahrnehmung des jeweils Besonderen und des Allgemeinen der Anschauung, so kann das Urteil, dass etwas schön sei, als ästhetisches Urteil bezeichnet werden. Entscheidend ist dabei für Gräb, womit er sich ebenfalls an Kant anschließt, dass durch eine kontingente äußere Affektion die Subjektivität zu einer Selbsttätigkeit angeregt wird. Damit soll die Kontingenz und äußere Unverfügbarkeit der ästhetischen Erfahrung zum Ausdruck gebracht werden, denn die in der Erfahrungssubjektivität liegenden Konstitutionsbedingungen machen die Kunst erst zur Kunst.17 Die eigentliche Leistung im Aneignungsprozess vollbringt somit das Subjekt. Analog dazu lässt sich auch der Aneignungsprozess der religiösen Erfahrung beschreiben. Das äußere Wort stellt gewissermaßen nur den Anlass und äußeren Reiz dar, welcher dann erst durch das Subjekt, vielmehr das Bewusstsein, reflektierend angeeignet wird. Der Grund religiöser Erfahrung, sei er als Universum oder Unendliches bezeichnet, wird dabei im Unterschied zur aktiven Subjektivität passiv vorgestellt, wobei sich grundsätzlich eine Anrede durch das Universum, also Offenbarung, ereignet, welcher das Bewusstsein allerdings nur als Gesetztwordensein bzw. Sich-nicht-selbst-gesetzt-Habens inne wird. Es gibt also religiöse Erfahrung nur aufgrund der prinzipiellen Offenheit des Subjekts für diese Erfahrungsform. Das hat zur Folge, dass das jeweilige Gefühl innerhalb der Kontingenzerfahrung sowohl in der religiösen wie ästhetischen Erfahrung zwar passiv empfangen wird, da es das Subjekt kontingent trifft, jedoch eigentlich nur in einem logischen Sinne die Passivität und Nichtaktivität des Subjekts zulässt. Diesem metaphysischen Grundsatz korrespondiert bei Gräb allerdings ein philosophischer, wie er sich bei D. Henrich findet: „Und so ist das Subjekt, insoweit es in diesem propositionalen Sinn von sich etwas weiß, wirklich selbst gar nichts ohne seine Gedanken. Man darf sogar sagen, 16 17
GRÄB, Kunst und Religion, 64. Vgl. GRÄB, Lebensgeschichten, 104ff. Vgl. DERS., Kunst und Religion, 56f.
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daß es nichts sei, ohne in seinen Gedanken zu sein. Dieser wie immer nur partiale Anschluß an Descartes, aber auch an Hegel, läßt sich mit dem Hinweis ergänzen und plausibler machen, daß ich von mir nur dann etwas wissen kann, wenn ich – wie unausdrücklich immer – über den Gedanken von einem Einzelnen verfüge, das ich selber bin.“18 Wir haben es hierbei in gewissem Sinne mit einer Intellektualisierung des Wahrnehmungsvollzuges im allgemeinen zu tun, der ebenfalls die Beschreibung der ästhetischen Erfahrung kennzeichnet. Die mich jeweils treffende Erfahrung meiner „schlechthinnigen Abhängigkeit“ wird von der Reflexionssubjektivität aktiv als Kontingenzerfahrung gedeutet.19 In der Konsequenz bedeutet dieses Verständnis eine Unabhängigkeit von den Inhalten der Religion: „Die Religion geht ihre eigenen Wege. Weder an der Zustimmungsbereitschaft zur kirchlichen Lehre noch an Kultfrequenzziffern kann sie festgemacht werden. Auch wo die Theologie ein Offenbarungswissen zu entfalten beansprucht, gilt dies als bloße Behauptung. Das Offenbarungswissen muss zum Gehalt der eigenen Selbstthematisierung werden können. Ebenso strittig bleibt der Verweis auf die Begegnung mit dem ‚Heiligen’, auf übermächtiges Betroffensein von Göttlichem, solange es nicht seine Plausibilität findet in der je eigenen religiösen Erfahrung, also in der Erschlossenheit des eigenen Selbst in der Beziehung zu Gott.“20 Gräb beansprucht, die Religion in ihrer Reinheit aufzusuchen und ihr zu ihrer Autonomie zu verhelfen: „Rein bei sich ist die Religion nur in der sich als Gottesbewußtsein auslegenden Selbstdeutung endlicher Freiheit.“21 Die religiöse Erfahrung selbst stellt sich als Ergebnis eines Prozesses dar, in dem zunächst eine bestimmte Gemütsgestimmtheit durch eine sinnliche Wahrnehmung hervorgerufen worden ist, welche dann mit religiösen Kategorien gedeutet wird. Die Empfindungen gestalten sich zunächst als vorsprachlich und vorreflexiv. Erst diese bestimmten Deutungskategorien machen die individuelle „Erfahrung“ mitteilbar, so dass der Erfahrungsbegriff im Vollsinn von seiner Mitteilbarbeit, Verständlichkeit und somit Allgemeinheit her näher bestimmt wird. So sind auch Schleiermachers Verständnis der Kommunikabilität des Gefühls und Kants Anspruch auf Allgemeingültigkeit im ästhetischen
18 19 20 21
HENRICH, D., Subjektivität als Prinzip, in: DERS., Bewußtes Leben, 49-73, 63f. Die Frage stellt sich, ob es auch Wahrnehmungen ohne Deutungen geben kann, die durch Präreflexivität, wie das Beispiel des Atmosphärischen zeigt, geprägt sind. GRÄB, Kunst und Religion, 65. AaO, 66.
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Urteil vergleichbar. Erfahrung ist demnach das allgemein mitteilbare Resultat eines zwecklosen Spiels der Erkenntniskräfte.22 Zum näheren Verständnis gilt es, sich hier etwas eingehender mit dem Gefühlsbegriff Schleiermachers, der für Gräb u.a. leitend ist, auseinanderzusetzen, wobei insbesondere die Kunsttheorie in den Blick kommen soll. Das Gefühlsvermögen wird von Schleiermacher als eine Form des Bewusstseins verstanden, wobei sich das Subjekt sowohl seiner selbst als auch des Einheit stiftenden Gesetztwordenseins vor aller Reflexion unmittelbar gewiss werden kann.23 Diese Form des individuellen Bewusstseins muss allerdings verallgemeinerungsfähig und damit mitteilungsfähig sein. Die Art der Mitteilung wird von sprachlichen Vollzügen, die auf die Vermittlung von Inhalten des denkenden Bewusstseins ausgerichtet ist, losgelöst, um den „unwillkürlichen Gefühlsausdruck“ hervorzuheben: „Einzig der unwillkürliche Gefühlsausdruck und – in bewußter und vollkommener Form – die Kunst sind Schleiermacher zufolge geeignet, die Inhalte des Gefühlsbewußtseins (also auch den im religiösen Gefühl gesetzten Inhalt absoluten Gegründetseins) in genuiner Weise zu äußern und damit zur perzipierbaren Darstellung zu bringen.“24 Die Relation von Individuellem und Mitteilung spielt demzufolge für die Verhältnisbestimmung von Besonderem und Allgemeinem eine hervorragende Rolle. Das Gefühl als unmittelbares Selbst-Bewusstsein unterstreicht die Individualität im Unterschied zum objektiven Bewusstsein, ist jedoch auf Vermittlung angelegt.25 Dieser doppelten Bestimmung ist nachzugehen. Einerseits ist das Gefühl als ein Bewusstsein selbständig und nicht in das wollende oder denkende Bewusstsein – zu vergleichen mit Kants Unterscheidung – aufzulösen. Andererseits muss nach einer Form der Mitteilung gesucht werden, die sowohl objektiven als auch subjektiven Charakter besitzt.26 Als Schlüssel ergibt sich für Schleiermacher das individuelle Symbolisieren27, das durch eine Kommunikationsstruktur ausgezeichnet ist, wodurch er diesen beiden Erfordernissen gerecht zu werden versucht: „Denn das Individuelle muss, weil es das Nichtteilbare ist, als das Nichtmitteilbare gedacht 22 23
24 25 26 27
Vgl. aaO, 67. Vgl. LEHNERER, TH., Selbstmanifestation ist Kunst. Überlegungen zu den systematischen Grundlagen der Kunsttheorie Schleiermachers, in: SELGE, K.-V. (Hg.), Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, Bd. 1 (SchlA 1,1), Berlin/ New York 1985, 409-422. 409. Vgl. LEHNERER, Selbstmanifestation, 409. Vgl. aaO, 413. Vgl. aaO, 414. Vgl. SCHLEIERMACHER, Ethik (1812/13), 258ff.
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werden: es ist das Unübertragbare. Die Tätigkeit des Symbolisierens dagegen bezeichnet gerade eine Form des Übertragens, insofern durch sie etwas in ein anderes, das Symbolisierte in das Symbol überführt und so der allgemeinen Kommunikation zugänglich gemacht wird.“28 Es ist dabei entscheidend, dass das Symbolisieren nicht außerhalb des Individuums vorgestellt wird, sondern im Individuum nur Individuelles zum Inhalt erhebt.29 Die anthropologische Begründung der Einheit der Kunst tritt insbesondere daran zutage, dass nicht nur der Künstler in seiner Produktion, sondern auch jede kunstlose und alltägliche Gefühlsmitteilung, in der sich jedoch ebenfalls der Manifestationstrieb und das individuelle Symbolisieren äußert, in den Blick gerät.30 Diese kunstlose Gefühlsmitteilung begegnet in hervorragender Weise in der geselligen Mitteilung von Gefühlen, wie sie insbesondere im Fest und demzufolge auch in der gemeinsamen Feier des Gottesdienstes vorkommt.31 „Künstlerische Tätigkeit verläuft parallel zur kunstlosen: vom Gefühl zur äußeren Darstellung.“32 Im Unterschied zu kunstlosen und spontanen Gefühlsäußerungen kommt die Selbstmanifestation des Künstlers durch Bewusstsein, eine willentliche und geistige Vermittlung zustande, was zur Unterscheidung der unbewusst ablaufenden Gefühlsregung auch ‚Stimmung’ genannt wird.33 Die subjektive Selbstmanifestation und die innere Beteiligung werden durch die Bestimmung der Kunsttätigkeit als „Identität von Besonnenheit und Begeisterung“34 aufrechterhalten, so dass die künstlerische Tätigkeit als „doppelte[r] Gefühlsausdruck“ bestimmt ist.35
28 29 30 31
32 33 34 35
LEHNERER, Selbstmanifestation, 415. Vgl. ebd. Vgl. zur methodischen Grundlegung Schleiermachers (spekulative, empirische und kritische Methode) aaO, 422. Vgl. auch LEHNERER, Selbstmanifestation, 421. Vgl. zu Schleiermachers Gottesdienst- und Festverständnis: VOLP, R., Kunst als Sprache von Religion. Ein Beitrag zur Semiotik Friedrich Schleiermachers, in: SELGE, K.-V. (Hg.), Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, Bd. 1 (SchlA 1,1) Berlin 1985, 423-438, 434-437 : „Das religiöse Fest als Zeichenprozeß“. Vgl. auch VOLP, „Die Kunst, Gott zu feiern“. Sieben Grundsätze zur Gestaltung einer lebendigen Religion, in: GRÖZINGER, A./ LOTT, J. (Hgg.), Gelebte Religion. Im Brennpunkt praktisch-theologischen Denkens und Handelns (Hermeneutica Bd. 6: Practica), Rheinbach-Merzbach 1997, 225-240. LEHNERER, aaO, 419f. Vgl. aaO, 420. AaO, 421. Ebd.
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Bezieht man diese Erkenntnisse nun wieder auf das Verhältnis von Religion und Kunst36, so kann Kunst für die Religion Sprachfunktion erlangen, ja „Kunst als Sprache von Religion“37 verstanden werden. Es lässt sich zusammenfassend festhalten, dass Gräb die religiöse Erfahrung analog Schleiermachers Bestimmung der Religion definiert, nämlich als Sich-Gegründetwissen in Gott. Das, was Schleiermacher noch intuitiver und impliziter versteht, wird nun von Gräb explizit gemacht und damit stärker intellektualisiert. Gräb redet auch von einem Konkurrenzverhältnis zwischen Kunst und Religion: „Kunst gilt hier als die in die Immanenz verlagerte, sinnfällige Ausdrucksgestalt der alltagstranszendenten Sinndeutung individuellen Erlebens. Damit substituiert die Kunst die Religion.“38 Dem-
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Vgl. LEHNERER, TH., Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (Deutscher Idealismus. Philosophie und Wirkungsgeschichte in Quellen und Studien Bd. 13), Stuttgart 1987, wo Lehnerer insbesondere den Vergleich von Kunst und Religion in der dritten Rede interpretiert: Hier betont Schleiermacher die innere Verwandtschaft von Kunst und Religion, die beide dem Druck der Rationalität ausgesetzt sind. Zum einen kann in besonderem Maße „der Anblik großer und erhabner Kunstwerke“ zur Religion bilden (SCHLEIERMACHER, F. D. E., Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, in: DERS., Kritische Gesamtausgabe (KGA) I. 12: Über die Religion [2.-4. Aufl.]. Monologen [2.-4. Aufl.], hg. v. G. Meckenstock, Berlin/ New York 1995, 171) zum anderen sind „die Kunstwerke der Religion [...] immer und überall ausgestellt; die ganze Welt ist eine Gallerie religiöser Ansichten“ (aaO, 154). Vgl. darüber hinaus MÜLLER, Beraubung, aaO, 153ff. Hier verweist Müller auch auf die Bedeutung von Kants Erhabenheitsbegriff in der Kritik der Urteilskraft für die Konzeption des Religionsbegriffs bei Schleiermacher: „In Friedrich Schleiermachers Philosophie bzw. Theologie taucht der Begriff des Erhabenen an unterschiedlichen Stellen auf: in seinen Reden Über die Religion (1799), in seinen Vorlesungen zur Ästhetik, schließlich in denen zur Psychologie.“ (153) „Diese Einheit von Objekt- und Selbstbeziehung ereignet sich in der Einheit des unmittelbaren Selbstbewußtseins als Gefühl, das einen Indifferenzpunkt des Denkens und Wollens als unmittelbare Einheit des Gesetztseins und Setzens, der Abhängigkeit und Freiheit bezeichnet. Genau dieser Affekt wird von Schleiermacher dem religiösen Gefühl zugeschrieben“ (aaO, 154f). Vgl. den gleichnamigen Aufsatz: VOLP, Kunst als Sprache von Religion, passim. GRÄB, Kunst und Religion, 57. Vgl. auch DERS., Lebenskulturen von Selbstdeutungen. Religion und Kunst, in: KORSCH, D./ DIERKEN, J. (Hgg.), Subjektivität im Kontext. Erkundungen im Gespräch mit Dieter Henrich (Religion in Philosophy and Theology 8), Tübingen 2004, 127-141, 129: „Unter den Bedingungen der Moderne ist es jedoch insbesondere die Kunst, sind es die ästhetischen Erfahrungen, in die uns Kunstwerke führen, die es machen, daß wir unsere Selbstdeutungen mit Weltgehalten vermittelt finden können.“ In diesem Zusammenhang verweist Gräb auf Henrich (HENRICH, Versuch über Kunst und Leben, 13-48), der herausarbeitet, „daß die Kunstproduktion angesichts des Zerfalls der religiösen Symbolsysteme die den Weltsinn bildende, unseren allgemeinen Selbst- und Weltumgang formierende Kraft der Religion übernommen hat.“ (GRÄB, Lebenskulturen, ebd.).
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zufolge findet Gräb in der formalen Funktionsweise von religiöser und ästhetischer Erfahrung ihre Gemeinsamkeiten, konstatiert jedoch die entscheidende Differenz im „Woraufhin der Deutung“: Im Falle der ästhetischen Erfahrung wird in den jeweiligen Wahrnehmungen die Verstärkung der Kontingenz im Zusammenklang von Selbst und Welt erfahren und reflektiert, während die religiöse Erfahrung in den einzelnen Wahrnehmungen den Ermöglichungsgrund all dessen und damit die Kausalitätsstruktur von Selbst und Welt bedenkt, dabei aber ebenfalls Kontingenzerfahrung bleibt.39 Beide Erfahrungsformen sind Gräb zufolge durch ein Moment der Unterbrechung des Alltagsbewusstseins gekennzeichnet, wobei beide in gewisser Weise voneinander abhängig sind.40 Gräb definiert ästhetische Erfahrung als „immanente Glückserfahrung“, während religiöse Erfahrung die Erfahrung eines Ursprungs einschließt und sich als „transzendentale Ursprungserfahrung“41 äußert. Eine solche Ursprungserfahrung kann sich demnach nur als spezifische Selbsterfahrung vollziehen. Das heißt, dass in der ästhetischen Erfahrung die individuelle Welt in ihrer Endlichkeit in den Blick kommt, während innerhalb der religiösen Erfahrung die unendliche Unterschiedenheit zu dieser Welt aufscheint. Beide Erfahrungen können jedoch durch die Begegnung mit Kunstwerken gesammelt werden. Interessanterweise geht Gräb allerdings nicht auf gegenwartskünstlerische Ästhetik-Konzeptionen ein. Hier hätte sich zumindest eine 39 40
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GRÄB, Lebensgeschichten, 111f. Vgl. GRÄB, Kunst und Religion, 70: „Autonome Kunst kann Religion zur Sprache bringen, ohne etwas Bestimmtes über diese mitzuteilen. Das Religiöse der modernen Kunst liegt nicht in der Symbolisierung religiöser Ideen oder dogmatischer Gehalte, nicht in der Bebilderung religiöser Vorstellungen. Das der autonomen Kunst selber innewohnende religiöse Moment tritt als Unterbrechung des kulturellen, auch und gerade des konsum-kulturellen Alltagsbewußtseins hervor. In einem Kunstwerk spricht Religion sich aus, sofern dieses nicht allein gefällt, sondern in Distanz bringt; es Distanz zum eingespielten symbolischen Universum provoziert, die Suche nach Sinn verlangt. Kunst läßt Distanzerfahrungen machen, die Individuen auch zu religiösen, die ursprüngliche Ermöglichung ihrer Freiheit thematisierenden Selbstdeutungen anregen können.“ Philosophisch lehnt sich Gräb hierbei an die Subjektivitätstheorie Dieter Henrichs an, der davon ausgeht, dass Kunstwerke die Subjektivität nur dann in ihrem Kern zu erreichen vermögen, wenn diese Distanz erreicht wird (HENRICH, Versuch über Kunst und Leben, 333). GRÄB, Kunst und Religion, 66: „Ästhetische Erfahrung spricht sich als immanente Glückserfahrung aus, religiöse Erfahrung als transzendentale Ursprungserfahrung. In ästhetischer Erfahrung kommt dem Individuum die Welt endlich entgegen. In religiöser Erfahrung weiß es sich unendlich von ihr unterschieden.“ Auch hier wird die Beschäftigung mit D. Henrich deutlich, denn Gräb versteht die Begriffe „Glück“ und „Grund“ immer auch als philosophische Begriffe.
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Bezugnahme auf den Erhabenheitsbegriff angeboten, da dieser nicht nur auf Kant zurückgeht, sondern auch in der Verhältnisbestimmung von ästhetischer und religiöser Erfahrung eine Rolle spielt.42 Diese Aussparung könnte darin ihren Grund haben, dass Gräb ebenso den Bezug zum Heiligen per se als Definition des Religiösen ablehnt, da er die strenge Rückbindung an den Erfahrungsbegriff sowohl für die religiöse wie ästhetische Erfahrung fordert.43 Dennoch steht für die religiöse Erfahrung anscheinend die Kategorie des „Erhabenen“ im Hintergrund der Verallgemeinerung, da Gräb die religiöse Erfahrung als Erfahrung des Grundes und Gesetztwordenseins in Analogie zur ästhetischen Erfahrung gewinnt. Denn das Spiel der Erkenntniskräfte wird ja gerade bei Kant auch auf die Erfahrung des Erhabenen übertragen, wobei er diese Erfahrung nicht als „religiöse Erfahrung“, sondern gerade als Erfahrung des Erhabenen bezeichnet. 1.2 Religionskultur als Ausdrucksgestalt geglückter Sinndeutungen des Lebens44 Gräb versteht Religion als Ausdruck eines Sinndeutungsbestrebens des Menschen, der seine eigene Individualität insbesondere in Auseinandersetzung und Bewältigung seiner Kontinuitäts-, aber auch Diskontinuitätserfahrungen, der Verarbeitung seiner fragmentarischen und unter der Endlichkeit stehenden jeweiligen Lebensgeschichte erwirbt.45 Indem die Frage nach der Wahrheit innerhalb der Religion zur Frage
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Vgl. auch die Rezeption des Erhabenheitsbegriffs bei Lyotard. Vgl. dazu BÖHME, Kants Kritik der Urteilskraft, 64f. Vgl. GRÄB, aaO, 65: „Ebenso strittig bleibt der Verweis auf die Begegnung mit dem ‚Heiligen’, auf übermächtiges Betroffensein von Göttlichem, solange es nicht seine Plausibilität findet in der je eigenen religiösen Erfahrung, also in der Erschlossenheit des eigenen Selbst in der Beziehung zu Gott.“ GRÄB, Lebensgeschichten, passim. Vgl. GRÄB, Lebensgeschichten, 27f; vgl. auch LUTHER, H., Leben als Fragment. Der Mythos von der Ganzheit, WzM 43 (1991), 262-273: „Sehen wir unser Leben als Fragment, werden wir freier. Oder. Verstehen wir unser Leben als Fragment, können wir aufatmen und leben.“ (264); Vgl. auch BONHOEFFER, D., Brief an Karl und Paula Bonhoeffer vom 20.2.1944, in: DERS., Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, in: DERS., Werke Bd. 8, hg. v. Chr. Gremmels u.a., Gütersloh 1998, 330f/[=241f]; sowie Brief an Eberhard Bethge vom 21.2.1944, in: DERS., Widerstand und Ergebung, 332-337, 335f/[=243-247, 245f]. Vgl. zum Begriff des Fragments ebenfalls GRÖZINGER, Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, aaO, 325-328.
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nach ihrer „Lebensdienlichkeit“ wird, findet eine Funktionalisierung der Religion statt.46 Da die Kirchen kein Deutungsmonopol auf die Sinndeutung des Lebens und damit auf ein wesentliches Merkmal von Religion besitzen, begegnet Religion insbesondere auch in der Kunst als sozialer Ort für eine Kultpraxis, wobei schon die religiöse Dimension ästhetischer Erfahrung anklingt: „Denn diese Kunstsphären verdanken sich in ihrem Entstehen – mal mehr, mal weniger – dem freien Zusammenspiel von Ideen und Materialien, von Formen und Farben, von Harmonien und Disharmonien, von Eindruck und Ausdruck, von Sinn und Gestalt. Kunstwerke setzen auf solch freies Zusammenspiel in den Köpfen und Herzen derer, die sie betrachten, hören, lesen. Sie provozieren durch ihre Werke die Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen menschlicher Existenz, gerade dadurch, daß sie eingespielte Erfahrungsmuster aufbrechen, den vertrauten Horizont unserer Alltäglichkeit überschreiten und so die eigene Antwort verlangen auf die Frage nach der Orientierung und Bewährung in ihm.“47 Gräb betont also innerhalb seiner Bestimmung der religiösen Dimension ästhetischer Erfahrung ebenso wie U. Barth den Unterbrechungscharakter, die Erfahrung von Distanz oder einer „gesteigerte[n] Kontingenzerfahrung“, welche auch in der Kunstbegegnung eine religiöse Erfahrung auslösen kann, indem das Subjekt zu einer entsprechenden Selbstdeutung angeregt wird.48 Befinden sich die Kirchen demzufolge in Konkurrenzsituation zu anderen Sinndeutungsangeboten, so müssen sie überzeugend zeigen, dass sie mit ihren Symbolen, Ritualen, mit Gottesdienst und Predigt
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Vgl. auch GRÄB, W., Von der Religionskritik zur Religionshermeneutik, in: DERS. (Hg.), Religion als Thema der Theologie. Geschichte, Standpunkte und Perspektiven theologischer Religionskritik und Religionsbegründung, Gütersloh 1999, 118-143. Vgl. auch GRÄB, Lebensgeschichten, 44. Vgl. auch LEHNERER, TH., Religiöser Synkretismus und moderne Kunst, in: DREHSEN, V. / SPARN, W. (Hgg.), Im Schmelztiegel der Religionen. Konturen des modernen Synkretismus, Gütersloh 1996, 313-322. Vgl. GRÄB, Lebensgeschichten, 115ff. Vgl. zum Unterbrechungscharakter auch HEIDEGGER, M., Der Ursprung des Kunstwerks, in: DERS., GA Bd. 5: Holzwege, hg. v. F. - W. v. Herrmann , Frankfurt am Main 1977, 1-74, 21/[=24]: „In der Nähe des Werkes sind wir jäh anderswo gewesen, als wir gewöhnlich zu sein pflegen.“ Vgl. ebenso die Betonung des Unterbrechungscharakters der ästhetischen Wahrnehmung und Erkenntnis: „Damit ein Stück Vergangenheit von der Aktualität betroffen werde, darf keine Kontinuität zwischen ihnen bestehen.“ (BENJAMIN, W., Das Passagen-Werk, Aufzeichnungen und Materialien N [Erkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts], in: DERS., Gesammelte Schriften Bd. V/1, hg. von R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1991, 570-611, 587 [N 7,7]).
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christliche Religion so zu inszenieren verstehen, dass die religiösen Deutungsangebote den Menschen bei ihrer Lebensdeutung dienen und somit sowohl im Leben als auch im Sterben sich als hilfreich erweisen. Folglich sollten von der Kirche Sinndeutungen in den jeweiligen plural verfassten Alltagskulturen vorgenommen werden, was eine bestimmte Form von Alltagsästhetik im Sinne einer Wahrnehmungskultur des Alltags zur Folge hätte.49 In Beachtung der kleineren und größeren Transzendenzen des Lebens handelt es sich bei religiöser Erfahrung um eine wesentliche Form von Kontingenzbewältigung, da wir insbesondere mit unserer Endlichkeit konfrontiert sind. Für das Verhältnis von ästhetischer und religiöser Erfahrung bedeutet das nun, dass insbesondere der Kultus und damit die Religionskultur im allgemeinen als ästhetisch geglückte Ausdrucksgestalt und damit auch als gelungene Form eigenen religiösen Erlebens, nämlich der geglückten Kontingenzbewältigung, zu gelten hat. In exemplarischer, aber hervorgehobener Weise sollte also auch das Kultische als Ausdrucksform des Gottesdiensterlebens und der Wahrnehmungsweisen in den Blick geraten.50 So kann Gräb von einer expliziten ästhetischen Dimension religiöser Deutungskultur sprechen, wobei er sich in der praktisch-theologischen Reflexion der gottesdienstlichen Vollzüge an gegenwärtige rezeptionsästhetische und semiotische Theorien anlehnt: Alle diese ästhetischen Vollzüge religiöser Kommunikation, die auf Inszenierung hin angelegt sind, werden nun als selbständig und autonom vom Subjekt zu empfindende und anzueignende verstanden, denn das Subjekt legt in Verknüpfung mit seiner Lebensgeschichte den Text aus und vollendet somit die Predigt, die zum offenen Kunstwerk wird. Ebenso wie Vertreter der Rezeptionsästhetik (vgl. H.R. Jauss, W. Iser51) geht Gräb in seinem Vergleich bzw. seiner Strukturanalogie zwi49
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Vgl. GRÄB, Lebensgeschichten, 47f. Vgl. ebenso GRÄB, W., Religion in der Alltagskultur, in: GRÖZINGER, A./ LOTT, J. (Hgg.), Gelebte Religion. Im Brennpunkt praktisch-theologischen Denkens und Handelns (Hermeneutica Bd 6: Practica), Rheinbach-Merzbach 1997, 30-43, hier bes. 32.35: „Die implizite Religion der Alltagskultur verlangt nach einer Kulturhermeneutik, die hinreichende Sensibilität besitzt für jene Vorstellungen vom Leben und Einstellungen zum Leben, welche die Präferenzen und Distanzierungen der Individuen und Individuengruppen gegenüber den alltagsästhetischen Konfigurationen und Symbolisierungen erkennen lassen.“ Vgl. auch GRÄB, Lebensgeschichten, 93ff. Im Unterschied zu Isers Ausklammerung der historischen Rezeptionsbedingungen und der Konzentration auf den Leseprozess sowie den „impliziten Leser“ des Textes (vgl. ISER, W., Die Appellstruktur der Texte, in: WARNING, R. [Hg.], Rezeptionsästhetik, München 41994, 228-252), knüpft Jauss noch stärker an Gadamers wirkungsgeschichtlichem Verständnis der Hermeneutik an (vgl. JAUSS, H. R., Literaturge-
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schen ästhetischer und religiöser Erfahrung nicht von einer Darstellungsästhetik aus, die an der Darstellung von Wahrheit im Werk festhält52, sondern sieht gerade Werk und Wirkung zusammen. Dabei knüpft er ebenfalls an semiotische Theorien (vgl. U. Eco) an, die insbesondere die Zweideutigkeit, Bedeutungsvielfalt sowie Bedeutungsoffenheit von Kunstwerken als ästhetische Phänomene betonen, wobei dem Subjekt als Empfänger die Interpretation und Deutung zugewiesen wird.53 Wie oben schon an der Kategorie der Reflexionssubjektivität gezeigt wurde, ist nun Gräb zufolge eine Verhältnisbestimmung von Kunst und Religion bzw. Ästhetik und Religion nur in genauer Analyse ästhetischer und religiöser Erfahrung durchzuführen. Hierbei geht Gräb primär von Ästhetik als Lehre vom Schönen und der Kunst aus, schließt jedoch auch eine allgemeine Wahrnehmungslehre mit ein. Es geht ihm also um die Untersuchung des Zustandekommens der Erfahrung eines ästhetischen bzw. religiösen Phänomens. Das heißt exakter, dass die jeweiligen Konstitutionsbedingungen von ästhetischer und religiöser Erfahrung in den Blick geraten müssen54: „Denn nur im analytischen Rückgang auf die genuinen Konstitutionsbedingungen ästhetischer und religiöser Erfahrung zeigen sich auch deren Erfahrungsgegenstände in der ihnen eigenen ästhetischen oder religiösen Ursprünglichkeit.“55 „Was ein ‚Kunstwerk’ oder das ‚Heilige’ ist, wird – ohne auf ihnen fremde Bestimmungsgrößen zurückzugreifen – beschreibbar allein in der Bestimmung der Erfahrung, in der das ‚Kunstwerk’ oder das ‚Heilige’ sich in produktiven Akten künstlerischer Gestaltung oder rezeptionsästhetischer Wahrnehmung konstituieren.“56 Stellt somit – wie oben ausgeführt – die „leibhaft gebundene Reflexionssubjektivität“ den gemeinsamen „Konstitutionsort“ von religiöser sowie ästhetischer Erfahrung dar, so sind diese beiden Erfahrungsformen nicht identisch, aber können durchaus in der Erfahrung des Einzelnen ausgetauscht werden. Zur Identität bzw. Differenz beider Erfahrungsformen lässt sich daher festhalten, dass für Gräb das eigentliche
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schichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: WARNING, R. [Hg.], Rezeptionsästhetik, 126-162). Vgl. auch BUBNER, R., Ästhetische Erfahrung (es 1564), Frankfurt am Main 1989, 111: „Sichtlich hängt aber der mit Kunst verbundene Wahrheitsanspruch von der Bereitstellung eines Werkbegriffs ab, weil die ästhetisch zur Erscheinung kommende Wahrheit einen unzweideutigen Ort ihres Erscheinens braucht.“ Vgl. unten die Kritik zu diesem Verständnis Ecos. Vgl. GRÄB, Lebensgeschichten, 100ff, hier bes. 102f. Vgl. GRÄB, 102f. AaO, 103.
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Unterscheidungskriterium nicht im jeweiligen „sinnlich-ideellen Gehalt“ liegt, sondern im jeweiligen „Woraufhin der Deutung“ von bestimmten Wahrnehmungen. Im Falle der ästhetischen Erfahrung wird dabei in bestimmten Wahrnehmungen „das allgemeine Gefühl des freien Zusammenstimmens und -klingens von Selbst und Welt“ reflektiert, im Falle der religiösen Erfahrung „das allgemeine Gefühl ursprünglicher Ermöglichung“ dieses Zusammenstimmens und Zusammenspiels.57 Die jeweilige Deutung ist wiederum erst das Ergebnis eines Kommunikationsprozesses.58
2. Ulrich Barth – Religiöse und ästhetische Erfahrung 2.1 Die gemeinsame Wurzel religiöser und ästhetischer Erfahrung in funktionaler Perspektive U. Barth geht von dem historischen und soziologischen Tatbestand aus, dass Kunst von jeher in allen Kulturen als Partner der Religion fungierte. Mit Hinweis auf die Kulturtheorie Arnold Gehlens wird das darstellende Handeln damit als kulturelle Urfunktion der Menschheit aufgefasst, so dass die Bereiche der Kunst und der Religion nicht etwa als ursprünglich selbständig anzusehen sind, sondern von Anfang an einer gemeinschaftlichen Sphäre angehören.59 In ausführlicher Weise widmet sich Barth der neuesten Form der Ästhetik, der Rezeptionsästhetik, die im englischen Empirismus des 17. und 18. Jahrhunderts ihre Wurzeln hat. Hierbei steht nicht mehr der ästhetische Gegenstand und dessen Struktur im Mittelpunkt des Interesses, sondern die jeweilige ästhetische Erfahrung des Rezipienten. In diesem grundlegenden Verständnis stimmen Gräb und U. Barth überein. Es wird der Frage nachgegangen, was wir erleben, wenn wir etwas als schön empfinden bzw. beurteilen.60 Im Anschluss an Gehlen wird dabei die Bedeutung der menschlichen Subjektivität hervorgehoben, welche die Kunstproduktion tief geprägt hat und spätestens seit der Renaissance zur Autonomisierung der Kunst gegenüber der Kirche führte, wobei auch soziologische Phänomene wie die Ausdifferenzierung der Sozialsysteme zur Erklärung 57 58 59
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GRÄB, Lebensgeschichten, aaO, 111. Vgl. aaO, 112. Vgl. BARTH, U., Religion und ästhetische Erfahrung. Interdependenzen symbolischer Erlebniskultur, in: DERS., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 235-262, hier 235. Vgl. aaO, 238.
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dieser Entwicklung herangezogen werden müssen.61 Eine Zäsur im Verhältnis von Kunst und Religion stellt im 19. Jahrhundert die religiöse Prägung des Ästhetischen bei gleichzeitiger Ästhetisierung der Religion dar, wie sie insbesondere in der Romantik begegnet.62 Aus dieser Entwicklung ergibt sich nun für Barth seine eigene Aufgabenstellung. In der Untersuchung der Verhältnisbestimmung von religiöser und ästhetischer Erfahrung geht es ihm zunächst erst einmal um die Konsensfähigkeit gegenüber einer philosophischen Ästhetik, weshalb sich Barth auch auf die gegenwärtig vorherrschende Rezeptionsästhetik beschränkt. Der Vergleich von ästhetischer und religiöser Erfahrung soll nun – analog zu Gräb – unter strikt funktionalem Blickwinkel erfolgen, wobei nicht schon dogmatisch von einer prinzipiellen Konvergenz oder Divergenz beider Erfahrungsformen ausgegangen werden kann. Es ist vielmehr die Frage zu untersuchen, inwieweit zwischen beiden Erlebnis- und Erfahrungsformen strukturelle Überschneidungen hinsichtlich des Aufbaus des menschlichen Geistes zu verzeichnen sind. In dieser Fragestellung berühren sich die Entwürfe von Gräb und Barth. Bei beiden wird als systematische Ausgangsbasis Kants Kritik der Urteilskraft gewählt. Dieser Bezug auf Kant ist der Überzeugung geschuldet, dass die entscheidende Analyse der ästhetischen Erfahrung bei Kant zu finden ist, aus dessen Ästhetik sich für Barth vier grundlegende Merkmale der ästhetischen Erfahrung ableiten lassen, zu denen dann die religiöse Erfahrung in Beziehung gesetzt werden soll.63 Bei Barth ist jedoch gegenüber Gräb durch die Betonung des Transzendenzcharakters und das Moment des Widerfahrnisses bzw. der Evidenz eine indirekt stärkere Anknüpfung an idealistisches Gedankengut zu beobachten. Die im folgenden zu umreißenden Merkmale der ästhetischen Erfahrung weisen bei aller Divergenz eine große Nähe zur religiösen Erfahrung auf. Barth führt diese Wirkmechanismen und Strukturanalogien auf die gemeinsame „Form wechselseitiger Funktionsäquivalenzen“64 zurück, die in den kulturellen Überschneidungen und Synthesen von Religion und Kultur begründet sind.
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GEHLEN, A., Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt a. M. 31986, 15-17. Vgl. BARTH, U., Religion in der Moderne, 239. Ebd. Vgl. aaO, 240. BARTH, U., Religion in der Moderne, 261.
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2.2 Interdependenzen und Differenzen religiöser und ästhetischer Erfahrung Das erste Merkmal der ästhetischen Erfahrung bei Barth bezieht sich auf den „Sinnerfüllungscharakter ästhetischer Erfahrung“.65 Das Revolutionäre an Kants ästhetischer Theorie besteht auch Barth zufolge darin, dass die Eigenschaften des Schönen für Kant nicht mehr am Gegenstand selbst aufzusuchen sind, sondern ihren eigentlichen Ursprung in der produktiven Tätigkeit unseres Bewusstseins haben. Die Konstitution des ästhetischen Gegenstandes wird also durch unsere Anschauungsweise hervorgebracht, indem Schönheit als Wert den Dingen erst vom Subjekt verliehen wird.66 Damit werden die reflexiven Funktionen der menschlichen Subjektivität als grundlegendes Konstitutionsprinzip der ästhetischen Erfahrung angesehen67, wobei Kant nicht auf das Gefühl als solches rekurriert, um die Öffentlichkeitsdimension 65 66 67
AaO, 240. Vgl. dazu auch KUTSCHERA, F. VON, Ästhetik, Berlin/ New York 1989, 139. Wie weit die Subjektivierung im Detail reicht, wird gegenwärtig diskutiert von KULENKAMPFF, J., Kants Logik des ästhetischen Urteils (PhA Bd. 61), Frankfurt a. M. 21994; FRICKE, CH., Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils (QSP Bd. 26), Berlin/ New York 1990; Vgl. kritisch dazu STOLZENBERG, J., Das freie Spiel der Erkenntniskräfte. Zu Kants Theorie des Geschmacksurteils, in: FRANKE, U. (Hg.), Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks. Ästhetische Erfahrung heute – Studien zur Aktualität von Kants „Kritik der Urteilskraft“ (ZAAK Bd. 45, Sonderheft), Hamburg 2000, 1-28; grundsätzlich stimmt Barth dabei mit Stolzenberg überein, aber die Rolle, die Kant der Einbildungskraft bei der Apprehension der Form zumisst, ist nicht eindeutig zu klären: Stiftet diese ihre Beziehungen gänzlich frei, oder hat ihre Zuordnung der Elemente einen gewissen Anhaltspunkt an der Form des vorgestellten Gegenstandes? Für Barth spricht sehr vieles für die erste Lesart, aber in Kants erster Einleitung zur Kritik der Urteilskraft findet sich folgende Formulierung: „Wenn denn die Form eines gegebenen Objekts in der empirischen Anschauung so beschaffen ist, daß die Auffassung des Mannigfaltigen desselben in der Einbildungskraft mit der Darstellung eines Begriffs des Verstandes (unbestimmt welches Begriffs) übereinkommt, so stimmen in der bloßen Reflexion Verstand und Einbildungskraft wechselseitig zur Beförderung ihres Geschäfts zusammen, und der Gegenstand wird als zweckmäßig, bloß für die Urteilskraft, wahrgenommen, mithin die Zweckmäßigkeit selbst bloß als subjektiv betrachtet;“ (KANT, I., Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, in: DERS., Werkausgabe Bd. X, hg. v. W. Weischedel, Franfurt a.M. 21977, 7-68, 34). Eine mittlere Position begegnet dagegen in KANT, I., Kritik der Urteilskraft (KdU), 160/ [B 69], selbst: „[S]o läßt sich doch noch wohl begreifen: daß der Gegenstand ihr gerade eine solche Form an die Hand geben könne, die eine Zusammensetzung des Mannigfaltigen enthält, wie sie die Einbildungskraft, wenn sie sich selbst frei überlassen wäre, in Einstimmung mit der Verstandesgesetzmäßigkeit überhaupt entwerfen würde“. Hier wird also die Wirkungsweise der Einbildungskraft als ein von der reflektierenden Urteilskraft gelenktes freies Nachzeichnen der Gegenstandsform aufgefasst.
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und die Kommunikativität nicht preisgeben zu müssen, die sich im Verhältnis von Subjektivität und Intersubjektivität äußert.68 Indem Kant vom Geschmacksvermögen ausgeht, unterstreicht er zugleich den grundsätzlichen Reflexionscharakter der ästhetischen Erfahrung. Demzufolge leitet sich auch das ästhetische Gefühl aus der Reflexionsleistung des Geschmacks ab, da es sich um eine durch die Reflexion des Subjekts geschaffene Lust handelt.69 Im Unterschied zu einer denkenden Selbstbezüglichkeit ist Reflexion bei Kant auf den inneren Aufbau der ästhetischen Erfahrung selbst orientiert, der sich allein der Tätigkeit der Urteilskraft verdankt. Demzufolge wird dasjenige als schön beurteilt, dessen Vorstellung durch das Zusammenwirken von sinnlicher Einbildungskraft und reflektierender Urteilskraft eine interne Zweckmäßigkeit aufzeigt. Dabei stellt selbstverständlich die gegebene Vorstellung eines einzelnen Gegenstands den Ausgangspunkt der Reflexionsbewegung dar. Die reflektierende Urteilskraft ist dabei als Fähigkeit verstanden, zu einem Besonderen ein Allgemeines zu finden, wobei sie nicht wie der Verstand über Begriffe verfügt, sondern in einem freien Spiel der Erkenntniskräfte wirkt. Der Verstand als Begriffsbildungsvermögen kommt nur als potentiell ordnungsstiftende Instanz in Betracht. Somit stellt nach Kant die anschauliche Zweckmäßigkeit der im produzierten Kunstwerk anzutreffenden Form des Gegenstandes gleichsam die Erklärung der innersubjektiven Zweckmäßigkeit des menschlichen Kognitionsapparates dar, wobei es sich immer um ein vorprädikatives, nichtbegriffliches Erleben dieser Kongruenz handelt. Der intentionale Gehalt der ästhetischen Erfahrung wird nun Barth zufolge von Adorno70 weitergeführt, indem dieser das Wohlgefallen, das durch die Aufdeckung der subjektiven Zweckmäßigkeit einer Gegenstandsvorstellung hervorgerufen wird, im eigentlichen Sinne als Stimmigkeitserlebnis darstellt.71 Mit der Spezifizierung und Ergänzung der Kantischen Theorie zur Stimmigkeitswahrnehmung im Adornoschen Sinne ist nun auch der Sinnerfüllungscharakter im Durchgang 68
69
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Vgl. BAEUMLER, A., Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft (1923), Darmstadt 1975. Vgl. BARTH, U., Religion in der Moderne, 241f. Vgl. KANT, KdU, 120/[= B 11]: „Das Wohlgefallen am Schönen muß von der Reflexion über einen Gegenstand, die zu irgendeinem Begriffe (unbestimmt welchem) führt, abhangen“; vgl. auch KANT, aaO, 102/ [=B XLVII]. 224/ [= B 155]. 227/ [= B 160]. 240/ [= B 179]. Vgl. ADORNO, TH. W., Ästhetische Theorie, in: DERS., Gesammelte Schriften Bd. 7, hg. v. R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1970. Vgl. BARTH, U., Religion in der Moderne, 243.
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über das Reflexionsvermögen des menschlichen Subjekts eingeholt worden. Denn eine Stimmigkeitserfahrung ist immer zugleich auch eine Sinnerfahrung. Eine Gesamtgestaltung ist als in sich stimmig anzusehen, wenn deren Elemente als untereinander sinnvoll verbunden erscheinen und die sich sinnlich-reflexiv vollziehende Zuordnung zu einem sinnvollen Zusammenhang führt. Da es sich immer um vorsprachliche Deutungsleistungen handelt, ist die reflektierende Urteilskraft gerade kein Bestimmungs-, sondern ein Deutungsvermögen, wobei das Subjekt nun nicht etwa passiv rezipiert, sondern vom jeweiligen Subjekt selbst aktiv Deutung hervorgebracht wird, was wiederum nicht ohne Bezug auf eine gegebene Vorstellung geschehen kann.72 Barth schließt sich hier dem Votum Dieter Henrichs an, der das Hauptproblem der philosophischen Ästhetik darin gesehen hat, eine Erklärung dafür zu finden, warum Kunst im Bewusstseinserleben überhaupt Resonanz findet.73 Diese Erfahrung von Resonanz kann also nur in der Lebensbedeutung der Kunst in Form einer ästhetischen Erfahrung eine ganz eigentümliche Weise der Sinnerfüllung finden, die so nirgendwo anders vorkommt. Allerdings gründet in diesem sinnstiftenden Potential nach Barth auch das Konkurrenzverhältnis zur Religion. Das zweite Charakteristikum neben dem Sinnerfüllungscharakter der ästhetischen Erfahrung besteht Barth zufolge in ihrem „Unterbrechungscharakter“. Auch dieser Unterbrechungscharakter wird von Kant als dem Subjektivitätstheoretiker des Ästhetischen abgeleitet, da er in besonderer Weise die Unabhängigkeit der ästhetischen Einstellung gegenüber dem menschlichen Denken und Wollen in den Blick genommen hat, welche Kant zufolge nur auf transzendentalem Wege zu gewinnen ist.74 Auch bei Gräb war dieses Moment der Unterbrechung schon in den vergleichenden Charakteristika der beiden Erfahrungsformen der religiösen und ästhetischen Erfahrung erläutert worden. Entscheidend für Kant ist dabei die Tatsache, dass das Schöne nur in der bloßen Beurteilung gefällt75, so dass die Sphäre des Schönen als heautonom anzusehen ist.76 Über Schopenhauer, Wagner bis hin zu Musil lässt sich der Befreiungscharakter der Kunst von der Welt auf72 73 74
75 76
Vgl. BARTH, U., Religion in der Moderne, 244. HENRICH, D., Versuch über Kunst und Leben, passim. Vgl. BARTH, U., aaO, 245. Vgl. auch PETER, J., Das transzendentale Prinzip der Urteilskraft. Eine Untersuchung zur Funktion und Struktur der reflektierenden Urteilskraft bei Kant (Kantstudien: Ergänzungshefte; 126), Berlin/ New York 1992. Vgl. KANT, KdU, 241/ [= B 180]. Vgl. BARTH, U., Religion in der Moderne, 246.
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zeigen, die sich bis hin zu einer säkularisierten Gestalt der Erlösung in der Kunstreligion entwickelt.77 Gegenwärtig begegnet noch eine Steigerung der Autonomieforderung, welche die Unterbrechungsfunktion der Kunst von allen anderen Vollzügen noch vorantreiben möchte, was auch zu einer erneuten Einbeziehung religiöser Momente in die ästhetische Erfahrung geführt hat. Das dritte Moment der ästhetischen Erfahrung wird ebenfalls, wenn auch indirekt, aus Kants Überlegungen abgeleitet, wobei es sich um den „Widerfahrnischarakter der ästhetischen Erfahrung“78 handelt. Zwar ist im Zusammenhang der ästhetischen Erfahrung und des ästhetischen Urteils das Gemüt in spontaner Weise aktiv und die Gegenstandsanschauung in ihrer Gegebenheit nur deren Anlass, so dass es jeweils darauf ankommt, „was ich aus dieser Vorstellung in mir selbst mache“79. Ebenso kann man bestimmte Situationen der möglichen Kunstbegegnung aufsuchen, wo die Chance eines ästhetischen Erlebnisses – wie etwa in einem Museum – gesteigert wird. Aber diese Erlebnisse selbst lassen sich keinesfalls durch das Subjekt herbeiführen, sondern ereignen sich „ungesucht“ – wie Kant sagt.80. Auch das Verweilen im Gefühl des Wohlgefallens findet „ohne weitere Absicht“ statt81, obwohl subjektiv von einer Bewusstseinsspontaneität ausgegangen werden kann. Für Kant ergibt sich dieser zufällige Charakter aus drei Gründen: Zum einen existiert kein allgemeines inhaltliches Kriterium dafür, wann ein Gegenstand als schön zu gelten hat82, womit sich Kant auch gegen das gebräuchliche Ideal einer Regelästhetik ausspricht. Zum anderen stellt das ästhetische Urteil logisch betrachtet ein Einzelurteil dar, so dass der jeweilige Geschmack als kontingenter Einzelfall anzusehen ist, der nur „vermittelst des Anlasses der gegebenen Vorstellung“83 aktiv wird. Des weiteren kann auch das freie Spiel der Erkenntniskräfte nicht durch sich allein wirken und das Gefühl des Wohlgefallens auslösen.84 Das oben beschriebene Stimmigkeitserlebnis bzw. die Kongruenz oder Konvergenz stellt sich daher jeweils kontingent ein und ist eine unverfügbare Größe.85
77 78 79 80 81 82 83 84 85
AaO, 247. AaO, 249. KANT, KdU, 117/ [= B 6] AaO, 163/ [= B 72]. 254/ [=B 199]. AaO, 138/ [= B 37]. AaO, 215/ [= B 143]. AaO, 134/ [= B 31]. Vgl. BARTH, U., ebd. Vgl. BARTH, U., Religion in der Moderne, 250.
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Kant erweiternd und phänomenologisch ergänzend führt Barth zufolge Nicolai Hartmann die innere Wechselbeziehung von thematischem und medialem Stoff weiter aus. Bedingen sich jeweils Sujetverstehen und Materialverstehen gegenseitig, so kommt hier insbesondere der Widerfahrnischarakter zum Tragen: Denn die ästhetische Schau kann nur dann stattfinden, wenn mediales und thematisches Verstehen zur Deckung gelangen, wobei es aber zu einer Stimmigkeitsentdeckung auf beiden Seiten – sowohl thematisch wie auch medial – kommen muss. Dieser hohe Kontingenzgrad jener Kongruenzerfahrung kann auch als Evidentwerden bezeichnet werden, womit eine große Nähe zum Offenbarungserlebnis besteht.86 Im Zusammenhang des Widerfahrnischarakters verweist Barth auch im besonderen auf Heidegger, dessen ontologischer Zuschnitt des Kunstverstehens den Widerfahrnischarakter als Offenbarungscharakter hervorhebt. In seinen hermeneutischen Überlegungen konstatiert Heidegger, dass dasjenige, was für das Verstehen von Welt gilt, auch dem Wesen der Kunst zugrunde liegt. Demnach verdankt sich die Wahrheit des Seienden der Entbergung und Lichtung des Seins. In der Kunst vollzieht sich also ein „Geschehenlassen der Ankunft der Wahrheit des Seienden“87. Das Wesen der Kunst wird dabei im „Sich-ins-Werksetzen der Wahrheit“88 gesehen. An Heideggers Beispiel wird deutlich, wie die philosophische Ästhetik in säkularisierte Offenbarungstheologie überführt werden kann. Jedoch gilt auch unabhängig von Heidegger ganz generell, dass der Widerfahrnischarakter der ästhetischen Erfahrung eine Tendenz hin zu religiösen Offenbarungserlebnissen besitzt.89 Das vierte Moment, den „Transzendierungscharakter der ästhetischen Erfahrung“90, beschreibt Barth anhand von Lyotards KantInterpretation und Weiterführung.91 Generell sehen manche Philoso86 87 88
89 90
91
Vgl. HARTMANN, N., Ästhetik, Berlin 21966, 54.64. Vgl. BARTH, U., aaO, 251. HEIDEGGER, M., Der Ursprung des Kunstwerks, 59/[=59]. Vgl. ebd. u.ö. Vgl. zu Heideggers Kunstverständnis auch LAMBROU, A., Von der Umkehr in die Herkunft der Kunst. Zu einer neuen Wesensbestimmung der Kunst im Horizont der Frage nach der Technik (EHS. Reihe 20, Philosophie; Bd. 440), Frankfurt a. M. u.a. 1994, 125ff. Vgl. BARTH, U., aaO, 252. Zum Transzendenzcharakter jeder ästhetischen Darstellung vgl. BENSE, M., Aesthetica. Einführung in die neue Aesthetik (Internationale Reihe Kybernetik und Information, Bd. 13), Baden-Baden 21982, 38f.46. Vgl. PRIES, CH./ LYOTARD, J. - F., Das Undarstellbare – wider das Vergessen. Ein Gespräch zwischen Jean-François Lyotard und Christine Pries, in: PRIES, CH. (Hg.), Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989, 319347, vgl. auch die Bibliographie 368f.
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phen in der gegenwärtigen postmodernen Ästhetik eine Wiedergeburt der Ästhetik des Erhabenen.92 Das Neue an Lyotards Entwurf besteht nun darin, die Kategorie des Erhabenen zu einem Wesensmerkmal aller Kunst gemacht zu haben, wobei dem Erhabenen dabei die Funktion der Darstellung des Nichtdarstellbaren zukommt. Dabei ist insbesondere das vorurteilsfreie ästhetische Urteil zentral, da in ihm das Inkommensurable, im Verständnis Lyotards die Unübertragbarkeit in andere Bereiche, zum Ausdruck kommt.93 Ebenso ist zu berücksichtigen, dass Lyotard sich, wenn auch negativ, in seinem Denken auf das Absolute bezieht: „Das Absolute ist in ihm nicht schlechthin ausgeschlossen – nur ‚gibt’ es das Absolute nicht. Es kann es nicht ‚geben’, weil das Absolute darin vergegenständlicht und zu einem Endlichen herabgesetzt wäre. Das Absolute, das Unendliche ist strikt als NichtDarstellbares, als Unfaßliches zu wahren – und gerade als solches wirksam.“94 „Lyotards Bezugnahme auf Absolutes wäre allerdings mißverstanden, wenn man sie im Sinn eines Offenbarungsdenkens auffaßte. Die Berufung auf das Absolute hat keine transzendentpositive, sondern immanente und darin negative, prohibitive Funktion: Das Absolute wirkt als Berufungsinstanz gegen die Verabsolutierung und Homogenisierung des Endlichen, gegen übergreifende Herrschaftsansprüche“95. Aus den vier umschriebenen Momenten der ästhetischen Erfahrung schlussfolgert Barth nun eine Entsprechung dieser Strukturen in der religiösen Erfahrung. Entscheidend dabei ist allerdings, dass es sich nicht einfach um eine identische Wiederholung handelt, sondern – wie schon bei Gräb erläutert – signifikante Unterschiede zu Tage treten.
92
93
94 95
Vgl. WELSCH, W. / PRIES, CH. (Hgg.), Ästhetik im Widerstreit. Interventionen zum Werk von Jean-François Lyotard, Weinheim 1991; Vgl. auch HOEPS, R., Das Gefühl des Erhabenen und die Herrlichkeit Gottes. Studien zur Beziehung von philosophischer und theologischer Ästhetik (BDS Bd. 5), Würzburg 1989. Vgl. LYOTARD, J. - F., Le différend, Paris 1983; DERS., Leçons sur l’Analytique du sublime, Paris 1991 bzw. DERS., Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen, München 1994. Vgl. auch BARTH, U., Religion in der Moderne, 253ff sowie BÖHME, Kants Kritik der Urteilskraft, 7.64-82, hier bes. 75. Böhme weist darauf hin, dass für Lyotard die Versinnlichung des Absoluten im Erhabenen, dessen Darstellung aber unmöglich ist, durch das Scheitern der Versinnlichung dieses Absoluten geschieht. „Die Versinnlichung geschieht hier so, daß im Scheitern die Schranken der Sinnlichkeit durchbrochen werden“. WELSCH, Religiöse Implikationen, 126. WELSCH, aaO, 127.
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Neben dem Transzendierungsmoment stellt ja das Widerfahrnismoment ein besonders typisches Merkmal der Religion dar, welches zumeist passivisch beschrieben wird.96 Der entscheidende Unterschied zur ästhetischen Erfahrung im Widerfahrnischarakter besteht darin, in der religiösen Erfahrung auf einen vorausliegenden Ermöglichungsgrund zurückzuverweisen.97 Der Unterbrechungscharakter, wie er sich insbesondere im Kult äußert, ist allerdings in der Religion nicht total, sondern Religion bleibt immer auf das Leben im ganzen ausgerichtet.98 An dieser Stelle unterscheidet Barth den Unterbrechungscharakter der Kunst qualitativ von dem der Religion: Barth unterstellt der künstlerischen Unterbrechung, dass sie sich ohne Konsequenzen in unser Leben eintragen lasse, was insbesondere ethische Forderungen ausblende. 99 Der Sinnerfüllungscharakter innerhalb der Religion bezieht sich nun auch nicht auf endliche Sinnbezüge, sondern unterstreicht die Unbedingtheitsdimension von Sinn, die allerdings Barth zufolge immer das Ergebnis von Deutungsprozessen bleibt.100 Doch unterscheidet Barth auch hier wieder das uns ganz erfassende Kunsterleben von dem stark reflexiven Charakter des religiösen Erlebens, wobei er sich an Kierkegaards Höherbewertung der ethischen und religiösen Einstellung anschließt. Auch hier nimmt Barth wiederum eine qualitative Unterscheidung vor, in der die Reflexion der menschlichen Sinndeutung, wie sie in der Religion begegnet, dem Sich-Verlieren an die spezifischen Erlebnisgehalte in der Kunsterfahrung überordnet wird.101 Selbstverständlich gewinnt der Einzelne durch die Erfahrung seines Sünderseins und die Erfahrung von Gnade ein sein Ich bis in die Tiefen erschütterndes Bewusstsein; jedoch bleibt zu fragen, ob jedes Kunsterleben ohne jede Form von Erschütterung oder Selbstzweifel bleiben muss.102 Das Transzendierungsmoment beim Kunsterleben wird von Barth als eigene Form der Spiritualität gewertet, wobei er im Anschluss an Hegel die Kunst auf den Bereich des sinnlichen Scheinens einschränkt. Dabei bleibt die ästhetische Erfahrung in grundsätzlicher Weise an
96 97 98 99
Vgl. BARTH, U., Religion in der Moderne, 256. Vgl. die Interpretation bei Gräb. AaO, 257. Dieser Zusammenhang wird von anderen gerade stark betont. Vgl. z.B. ERNE, Vom Fundament zum Ferment, passim. 100 Vgl. BARTH, U., aaO, 258. 101 Vgl. aaO, 259. 102 AaO, 260.
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sinnliche Medien geknüpft, so dass gewissermaßen von einer „Transzendenz in der Immanenz“ gesprochen werden kann.103 Zwar sind die Symbole der Religion nicht ohne sinnliche Momente vorzustellen, jedoch sei sich Barth zufolge das religiöse Bewusstsein dieser „Inadäquatheit“ bewusst. Auch in diesem Falle wertet Barth das religiöse Bewusstsein als die konsequentere Fassung des Transzendenzgedankens, weil in ihm – wie auch schon Hegel sah – die Selbsttranszendierung zu sich selbst gelangt. Jedoch weiß Barth auch um die Probleme, die sich daraus für eine intersubjektive Aneignung in der religiösen Erfahrung ergeben. Denn sowohl die Intersubjektivität als auch die eigene Aneignung ist in jedem Falle von sinnlichen Bedeutungsträgern abhängig. In jedem Fall ist es für die immanente Transzendenz des Kunsterlebens leichter, anschaulich und sinnlich zu sein, während die religiösen Vorstellungswelten in der Gefahr der Abstraktheit stehen. Zusammenfassend lässt sich für Barth festhalten, dass alle dargelegten Momente der ästhetischen Erfahrung eine außerordentlich große Nähe zur Religion aufzeigen und demzufolge sogar in potenzierter Form in der expliziten Religion wieder auftreten. Insbesondere in funktionaler Hinsicht kann es daher zu Überschneidungen kommen, die auch das zumindest latent bestehende Konkurrenzverhältnis erklären. Dieses funktionale Verständnis gewinnt Barth auch durch seine oben beschriebene These der Gleichursprünglichkeit von Kunst und Religion.104 Eine der wichtigsten Funktionen ist in beiden Erlebnisformen die Erbauungsfunktion, wobei gegenwärtig das Kunsterleben diese Funktion der Religion streitig macht und sie zu weiten Teilen schon übernommen hat. Andererseits verhilft auch das Ästhetische in der Gegenwart, die Empfindung für das Religiöse wieder neu zu entdecken.105 Das Hauptproblem in der Verhältnisbestimmung von religiöser und ästhetischer Erfahrung liegt für Barth vorrangig in ihrem funktio103 BARTH, U., Religion in der Moderne, 260f. Vgl. auch bei Gräb die Rede von der immanenten Glückserfahrung. 104 AaO, 235. 105 NIETZSCHE, F., Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, in: DERS., Werke in 3 Bden Bd. I, hg. v. K. Schlechta, Darmstadt 1997, 435-1008, 547 (150): „Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen. Sie übernimmt eine Menge durch die Religion erzeugter Gefühle und Stimmungen, legt sie an ihr Herz und wird jetzt selber tiefer, seelenvoller, so daß sie Erhebung und Begeisterung mitzuteilen vermag, was sie vordem noch nicht konnte.“. Aber auch : „Glaubt man sich noch so sehr der Religion entwöhnt zu haben, so ist es doch nicht in dem Grade geschehen, daß man nicht Freude hätte, religiösen Empfindungen und Stimmungen ohne begrifflichen Inhalt zu begegnen, zum Beispiel in der Musik;“ (aaO, 530f [131]).
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nalen Konkurrenzverhältnis, wobei das Kunsterleben durch seine große Anschaulichkeit und offenkundige Erlebnistiefe jeweils Sinnwelten eröffnet, ohne damit Zumutungen zu verbinden. Darum bewertet Barth Kunst als „Ersatzreligion“ als höchst ambivalentes Phänomen.106
3. Dietrich Korsch – Kultische Darstellung und kulturelle Selbstdeutung 3.1 Die Einheit des Subjekts als Grundlage des Deutungsvorgangs Einen mit Gräb verwandten Ansatz vertritt auch Dietrich Korsch, der allerdings nicht so zugespitzt von der Reflexionssubjektivität als Instanz religiöser Erfahrung spricht, sondern sich stärker auf die Kategorie der Deutung und die Subjektivität im allgemeinen beschränkt. Die These seines Buches: „Religion mit Stil. Protestantismus in der Kulturwende“ formuliert er wie folgt: „Die These dieses Buches lautet, daß es gerade unter der Bedingung des Funktionswandels der Kultur in der Gegenwart angezeigt ist, gesellschaftliche Selbstverständigung und religiöse Selbstaufklärung miteinander zu verknüpfen. Diese Verknüpfung wird hier über die Figur des Stils vorgenommen.“107 In dieser Konzeption wird die fundamentale Rolle der Ästhetik in ihrer Bedeutung für eine Darstellungs- und Deutekultur gesehen. Dabei wird Ästhetik ebenfalls in einem allgemeinen Sinne als Wahrnehmungslehre verstanden. Jede Darstellung, die uns begegnet, wird durch ihre Erscheinung sinnlich vermittelt, denn nur das uns sinnlich Affizierende kann auch einer Deutung unterzogen werden. So verhalten wir uns als deutende Wesen zur empirischen Wirklichkeit, die ihrerseits als Darstellung Deutung beansprucht.108 „Deuten ist [...] das elementare Verhalten menschlicher Subjektivität angesichts ihres eigenen inneren Aufbaus, nämlich stets leibbezogen zu existieren.“109 Die dabei zu machende Voraussetzung besteht in der eigenen Ausdrucksfähigkeit durch kulturell vermittelte Symbole, die erst Verstehen ermöglichen.110 Dieser These liegt die Annahme zugrunde, dass das ganze Leben von Deutungsvorgängen bestimmt ist. Korsch sieht nun eine Verwandt106 BARTH, U., Religion in der Moderne, 262. 107 KORSCH, D., Religion mit Stil. Protestantismus in der Kulturwende, Tübingen 1997, VI. 108 Vgl. aaO, 42. 109 KORSCH, Religion, 41. 110 Vgl. aaO, 41f.
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schaft zwischen Religion und insbesondere Kunst darin gegeben, dass beide „Erscheinungsweisen der Deutungsform“ darstellen, insofern sie auf die jeweiligen Bedingungen rekurrieren, die mit dem Erfordernis von Deutung des als different Begegnenden in der Einheit gegeben sind. Diese Selbstbezüglichkeit bildet also gerade keinen Differenzpunkt zwischen religiöser und ästhetischer Erfahrung, sondern vielmehr der jeweilige Modus dieses Selbstbezugs, verstanden als Transzendenz- bzw. Immanenzbezug. Beide nennen diese Einheit des menschlichen Wesens in unterschiedlichen Akzentuierungen „Gefühl“.111 In der Kunst kann dieses „Gefühl“ nach Korsch so interpretiert werden, „durch die Mannigfaltigkeit von Erscheinungen ein Gemeintes oder Intendiertes wahrzunehmen und dabei sich selbst als Wahrnehmenden kennenzulernen.“112 In der „Haltung der Selbstbezüglichkeit“ unterscheiden sich religiöse Darstellungen und künstlerische Darstellungen somit nicht. Aber die Art und Weise dieses Selbstbezugs wird nun in der Religion dahingehend bestimmt, dass diese das „Woher“ der Einheit des Gefühls als unmittelbares Selbstbewusstsein (Schleiermacher), das sie mit der Kunst teilt, als transzendenten Grund bestimmt.113 Was ist nun aber exakter unter „Einheit“ zu verstehen? Selbstverständlich handelt es sich zunächst um die Einheit von „Seele“ und „Leib“. Des weiteren ist diese Einheit näher als „plurale Einheit“ bestimmt. In allen Brüchen, Formen und Stationen des Lebens, die insbesondere unter heutigen sozialen Bedingungen nicht mehr klar abgrenzbar sind, sondern wo verschiedene Stile gleichzeitig und unverbunden in unterschiedlicher Intensität gelebt werden können (Stichwort: „patchwork-identity“), hält sich doch die Kontinuität dessen durch, was man mit „Individualität“ bzw. „Subjektivität“ bezeichnen kann, zu der man sich nämlich immer wieder verhalten muss, indem man seine eigene Lebensgeschichte deutend erzählt. Korsch definiert „Subjektivität“ darum auch als „Selbstvollzug des Bewußtseins, in dem es seines eigenen Grundes inne wird“114. Hierbei setzt sich Korsch mit den spätmodernen sowie postmodernen Thesen auseinander, die eine solche Lebenseinheit bzw. das autonome Subjekt in seiner Einheit leugnen. Diesem Einwand begegnet Korsch 111 112 113 114
Vgl. aaO, 44. Vgl. aaO, 29. Vgl. aaO, 45. Vgl. dazu auch DERS., Tat und Grund des Bewußtseins, aaO, passim. KORSCH, Tat und Grund des Bewußtseins. Variationen des Subjektivitätsparadigmas, in: DERS./ J. DIERKEN (Hgg.), Subjektivität im Kontext. Erkundungen im Gespräch mit Dieter Henrich (Religion in Philosophy and Theology 8), Tübingen 2004, 91-108, 91.
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damit, dass er die Lebenseinheit nicht als vom Subjekt hervorgebrachte Leistung und Tat versteht, sondern in dieser Einheit kommt vielmehr die Angewiesenheit des Subjekts zum Ausdruck.115 „Gott, als Instanz der Einheit des Lebens, ist nicht nur derjenige, der diese Einheit als Aufgabe setzt, sondern auch derjenige, der für ihr Gelingen einsteht.“116 Anhand des ersten Gebotes: „Ich bin der Herr, dein Gott“ macht Korsch die Verbundenheit der Dimension des Unbedingten („Herr“) mit unserem eigenen endlichen Dasein („dein Gott“) deutlich, „indem das in Menschensprache repräsentierte Ich Gottes zum Grund und zur Entsprechung meines Selbstverhältnisses wird“117. Ebenso kann Korsch zufolge ein Grundtext wie das Glaubensbekenntnis als Ausdruck und Inbegriff religiöser Deutung angesehen werden, insofern hier unser menschliches Deuten in Gottes eigenes Leben als Grund unserer Einheit eingegliedert ist. „Das Glaubensbekenntnis spricht, auf die Person Jesu konzentriert, von Gottes Gegenwart im menschlichen Lebensvollzug des Deutens, indem Gott selbst als sich Mitteilender verstanden wird. Das Gebet Jesu ist die aus dem Zentrum des Glaubens heraus geübte Praxis, die Deutungen und Vorstellungen des Glaubens exakt ins Lebens zu ziehen. Das Gebet ist so die Mitte christlichen Lebens.“118 In Anlehnung an Hegel und Fichte wird die „Einheit Gottes“ auf die „Dupliziät des Bewußtseins“ bezogen, welches aus dieser Zusammengehörigkeit von Personalität Gottes und der Personalität des Menschen allererst zu seiner eigenen „Einheit des Bewußtseins“ kommt. Das heißt, dass die Personalität Gottes auf die Geschichte des Bewusstseins bezogen ist, indem Gott immer schon als Einheit dieser Duplizität des Bewusstseins vorausgesetzt und in Anspruch genommen wird. Im Unterschied zu Hegel wird aber die Trinität als Selbstdifferenzierung Gottes nicht mit dem Hervorgehen der Welt aus Gottes Selbstunterscheidung zusammengedacht, sondern vielmehr von Gottes Gegenwart in der Welt ausgehend christologisch und pneumatologisch begründet. „’Personalität’ kann Gott dann insofern zugeschrieben werden, als er selbst in einer Geschichte steht. [...] [E]s ist die die menschlichen Selbstdeutungsvorgänge in sich aufnehmende Geschichte der Gegenwart unmittelbarer Einheit in aller Differenz. So daß man auch sagen kann: Durch den Menschen hat Gott seine spezifische Geschich-
115 Vgl. KORSCH, Dogmatik im Grundriß. Eine Einführung in die christliche Deutung menschlichen Lebens mit Gott, Tübingen 2000, 74f. 116 KORSCH, Dogmatik im Grundriß, 55. 117 Ebd. 118 KORSCH, aaO, 196.
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te.“119 Somit begleitet die Geschichte der Personalität Gottes die menschliche Geschichte als Instanz der Gewissheit und ermöglicht damit gleichzeitig die Entwicklung der menschlichen Personalität.120 Theologisch liegt demzufolge die Grundlage des Subjekts und seines Lebens im Empfang des Lebens aus Gott. Im Empfangen wird das Ich auch zur „Eigenaktivität“ gebracht, so dass durch die Anrede des göttlichen Du und den Zusammenhang aller Subjekte erst das Selbstverhältnis angeregt wird. Trotz der intersubjektiven Einbindung möchte Korsch allerdings das Subjekt nicht als Produkt intersubjektiver Strukturen verstehen. Die Anregung zur Selbsttätigkeit und zum Selbstbewusstsein muss ja erst vom Subjekt angenommen und vollzogen werden.121 Daher kann die Relation von Offenbarung und Glaube exemplarisch am Credo entfaltet werden. Denn auch wenn sich durch die Offenbarung Gottes Wesen ausdrückt, so ist die Erkenntnis der Offenbarung nur durch die menschliche Bewusstseinstätigkeit möglich. „Genau im Modus subjektiver Selbstbetätigung ist der Mensch an der Erkenntnis von Gottes Offenbarung beteiligt. Und eben in dieser subjektiven Selbstbetätigung entdeckt der Mensch sein Konstituiertsein durch Gott“122. Dabei gewinnt das Selbst seine Bestimmtheit aus der passiven Gerechtigkeit in Jesus Christus als „Evangelium“, was Korsch zufolge jeder theologischen Kritik des Selbstbewusstseins als Selbstbestimmung im Sinne des Gesetzes zugrunde liegt. Aber aus der Erfahrung, durch das Individuum Jesus Christus als dem Grund und Gegenstand der Glaubensgewissheit allererst konstituiert zu sein, kann das neue Selbst dann auch bestimmend und aktiv tätig werden.123 3.2 Darstellung im Kult Die beschriebene Gleichheit des Mediums von Kunst und Religion lässt sich diesem Entwurf zufolge am treffendsten mit „Darstellung“ (performance) bestimmen, unter die dann so konkretes darstellendes und inszenierendes Handeln wie die worthafte Predigt oder der rituelle und promissionale Rahmen des Abendmahls innerhalb des Gottesdienstes zu subsumieren sind. 119 120 121 122 123
KORSCH, Dialektische Theologie nach Karl Barth, Tübingen 1996, 225. Vgl. aaO, 226. Vgl. KORSCH, Dogmatik im Grundriß, aaO, 242ff. KORSCH, Dialektische Theologie, aaO, 206. Vgl. KORSCH, Glaubensgewißheit und Selbstbewußtsein. Vier systematische Variationen über Gesetz und Evangelium (Beiträge zur historischen Theologie 76), Tübingen 1989, 243.
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Nach Korsch ist die Darstellungsweise der christlichen Religion in hervorragender Weise am Kult, d.h. am christlichen Gottesdienst abzulesen, da diese Form gelebter Religion Interpretation und Deutung hervorbringt. Wie schon oben angedeutet, stellt die Kunst bzw. eine neue Form der Ästhetik die entscheidende Bezugsgröße für die Religion der Gegenwart dar, da die Darstellung insbesondere in einer zunehmenden „Ästhetisierung der Lebenswelt“124 zu einer Schlüsselkategorie geworden ist. Sowohl in künstlerischen als auch in religiösen Vollzügen haben wir es mit darstellendem Handeln zu tun.125 In dieser gesellschaftlichen Situation gehört es jedoch zu einer wesentlichen Erfahrung, dass die Religion zunehmend zu einem Angebot sich ästhetisch präsentierender Selbstauslegungen geworden ist und diese Konkurrenz auch auszuhalten hat. Ein theologisches Problem zur Analyse dieser Lage besteht auch in der vormals vorgenommenen Unterscheidung von Dogmatik und Religionstheorie. Gerade die Schleiermacher-Schule, der sich auch Korsch verpflichtet weiß, stellt die Frage nach dem Wesen der Religion neu und möchte damit einen Beitrag zur Klärung einer (insbesondere protestantischen) Krise der Ästhetik des Kults leisten. Bei aller Anknüpfung an Schleiermachers Rede von der Strukturverwandtschaft von Kunst und Religion wird von Korsch auch die Schwierigkeit gesehen, unter den veränderten Bedingungen der Gegenwart dieser Strukturanalogie zu entsprechen.126 Diesen veränderten Bedingungen versucht Korsch – wie auch Gräb, Drehsen oder H. Luther – durch eine besondere Berücksichtigung der die Lebensstadien deutenden Kasualien gerecht zu werden. Dabei versucht er, der Verabschiedung einer substantialistischen Kunsttheorie insofern zu entsprechen, indem der Schwerpunkt der Betrachtung auf die Notwendigkeit gelegt wird, die eigene Identität in einem Akt zu wählen und dadurch Selbstdeutungen vorzunehmen.127 Eine erste Einsicht Korschs stellt das Zugeständnis an eine plurale Gesellschaft dar, innerhalb derer man „mit dem Vorliegen unterschied-
124 BUBNER, R., Ästhetisierung der Lebenswelt, in: DERS., Ästhetische Erfahrung, Frankfurt am Main 1989, 143-156. 125 Zu Schleiermachers Begriff der „Darstellung“ als bildende Äußerung des Gefühls vgl. seine „Güterlehre“ in SCHLEIERMACHER, Ethik (1812/13), bes. 72ff. 126 Vgl. KORSCH, Religion, 56. 127 Vgl. aaO, 57ff.
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licher Deutungsperspektiven desselben rituellen Geschehens zu rechnen“ hat.128 Eine wesentliche Funktion kultischer Darstellung und kultureller Selbstdeutung besteht darin, gerade den Bereich der nicht selbst gesetzten und damit nicht frei gewählten Selbstdeutung des „Woher“ meiner Existenz in ihrer Einheit und Ganzheit, die ich nicht selbst begründen kann, zu repräsentieren.129 Dabei besteht nun eine hervorragende Funktion des Kultes darin, zunächst den Übergang der Selbstdeutung von verschiedenen Lebensvollzügen als frei wählbare, zu einer bestimmten Selbstdeutung des Lebens, nämlich des christlich-religiösen Lebens, welche die Bedingtheit und das Konstituiertsein des Lebens selbst thematisiert, sprachlich zu schaffen. „Deshalb ist im Glauben die Unmittelbarkeit des Aktes der Selbst-Voraussetzung aufgehoben, indem das Individuum Christus als eigene Individuation des Subjektes erfahren wird. Das Ziel der Verkündigung läuft deshalb darauf hinaus, daß auch andere Subjekte sich ihrer prinzipiellen Individualität in Christus innewerden. [...] Die Verkündigung spricht zu diesem Zwecke Subjekte auf ihre Selbstverantwortlichkeit an [...] Das ist ihr reflexiver Zug. Und sie stellt auf der anderen Seite das Bild Christi vor Augen. Das ist ihr ästhetisches Moment. Die Reflexivität humanen Existierens auf die Ästhetik des Glaubens hin durchsichtig werden zu lassen, ist der Inbegriff homiletischer Kunst und das Leitbild kirchlicher Praxis.“130 Dabei ist ein Verständnis von Sprache leitend, das diese als „sprachbildendes Wirken“ auffasst, so dass die Deutung zu einer neuen Selbstsicht verhilft (vgl. Paulus).Des weiteren müssen diese Sprachformen mit dem gelebten Leben in Zusammenhang stehen, damit gerade der Alltag dieser Deutung unterzogen werden kann. Leitend ist die Vorstellung, dass die Funktion des Kultes gerade darin besteht, diesen Übergang einer Selbstdeutung im Alltag zu einer vertieften Selbstdeutung, welche die Konstitutionsbedingungen („Gewählt- oder Bestimmtsein“) der eigenen Subjektivität mit einbezieht, zu inszenieren und darin eine Deutungshilfe als Lebenshilfe zu gewährleisten, die dem Individuum zu Selbständigkeit verhilft. Dadurch wird sich das Individuum selbst durchsichtig und erwirbt „Deutungskompetenz“131 für das eigene Leben. „Der Wendepunkt zwischen Gesetz und Evangelium hat 128 AaO, 61. Vgl. auch die Kategorie des Heiligen und des Opfers in der Gegenwartskunst, die hier ganz andere Deutungen beansprucht als im Kontext einer Erlösungsreligion. 129 Vgl. aaO, 62f. 130 KORSCH, Glaubensgewißheit und Selbstbewußtsein, aaO, 270. 131 Vgl. KORSCH, Religion, 64ff, hier bes. 65.
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die Form einer notwendigen Umdeutung des eigenen Lebens; einer Umdeutung, die auf die Mitteilung des Evangeliums erfolgt. [...] [D]iese Integration der Deutung der Christusgeschichte in die eigene Lebensgeschichte erfolgt auf die Weise und in der Tiefe, daß die Deutung des über Christus erschlossenen Gottesverhältnisses als GrundDeutung des eigenen Lebens angeeignet wird.“132 Diese Differenzerfahrung des Glaubens, die zu einer neuen Lebensweise führt, verhilft dem Menschen auch zur Ausbildung eines eigenen Stils in seinem Leben, wozu er immer auf die Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen „Stilprägungen“ angewiesen bleibt, was Teil seiner religiösen Bildungsaufgabe bleibt.133 Auch der religiöse Stil entwickelt sich, indem die lebensgeschichtlichen Erlebnisse im Horizont des Glaubens deutend rekonstruiert werden.134 Da es nun der Kunst ebenfalls um die Ganzheitlichkeit des menschlichen Lebens geht, hat diese auch an der Erweiterung der Deutungsmöglichkeiten teil. Korsch geht hier von einem Verhältnis der Korrespondenz aus, das zu einem jeweils vertiefteren Verständnis führen kann. Entscheidend ist jedoch die Differenz, dass das Christentum – Schleiermacher zufolge – den Übergang von einer Deutungsperspektive zur vertieften Deutungsperspektive selbst thematisiert, ja dass sogar der Protestantismus diesen Ereignis- und Umschlagpunkt der Rechtfertigung des Sünders zur Freiheitserfahrung (‚Freiheit von’ als ‚Freiheit zu’) in hervorragender Weise beleuchtet.135
4. Fazit Die unterschiedlichen Ansätze, die sowohl die Lebensgeschichte als auch den Rezeptionsprozess des reflektierenden Subjekts einbeziehen, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: W. Gräb und U. Barth kommen darin überein, dass die Reflexionssubjektivität als Bindeglied zwischen ästhetischer und religiöser Erfahrung fungiert. Für Korsch nimmt die Subjektivität eine vergleichbare Stelle ein. Insofern ist ihre inhaltliche Nähe im Vergleich zu den anderen Entwürfen der verschiedenen Modelle stärker gegeben, so dass hier auch ein zusammenfassendes Fazit erfolgen kann. 132 133 134 135
AaO, 91. Vgl. aaO, 104ff. Vgl. aaO, 9.38. Vgl. aaO, 66.
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Gräb und Korsch verhandeln die ästhetische Fragestellung als Rezeptionsästhetik innerhalb einer Religionstheorie. Dabei leitet sie die Frage, wie sich Religion und Kultur zueinander verhalten und welche Rolle dabei die Erfahrung in der Vermittlung von Religion und Kultur spielt. Ihr Interesse gilt der Näherbestimmung von Religion und religiöser Erfahrung durch den Aufweis einer Strukturanalogie zur ästhetischen Erfahrung, wobei sie das Verhältnis von Glaube und Erfahrung ebenfalls näher zu klären versuchen. Bei den unterschiedlichen Entwürfen von Gräb, Barth sowie Korsch wird Ästhetik vorrangig im Sinne einer Rezeptionslehre verstanden, die sich allerdings primär auf die Gebilde von Kunst und Kultur bezieht, so dass man auch von Ästhetik als Kunstlehre sprechen kann. Da die ästhetische Theorie im Anschluss an Kant entwickelt wird, spielt insbesondere auch das subjektive ästhetische Urteil darüber, ob etwas als schön zu gelten habe, eine Rolle. Die Entwürfe von Gräb und Barth kommen darin überein, dass die Reflexionssubjektivität als Bindeglied zwischen ästhetischer und religiöser Erfahrung fungiert. Beide bestimmen ästhetische Erfahrung in Anlehnung an die Kantische Konzeption der ästhetischen Urteilskraft. Insofern unterstreichen sie hier die Tätigkeit der Einbildungskraft und das zweckfreie Zusammenspiel der Erkenntnisfunktionen, welche im transzendentalen Subjekt verankert sind. Gräb zufolge muss sowohl die ästhetische Produktion als auch die Rezeption als „Resultat eines frei kombinatorischen Spiels gegebener sinnlicher Elemente mit dem nicht gegebenen Allgemeinen der Einbildungskraft“136 verstanden werden. Was ein Kunstwerk verkörpert, seine Idee oder Bedeutung, ist immer erst im Vollzug der Reflexion und des Reflexionsurteils, das allerdings von einer Erkenntnis im objektiven und kognitiven Sinne sowie von einem moralischen Urteil zu unterscheiden ist, zu gewinnen. Daraus leitet Gräb nun sein Verständnis ästhetischer Erfahrung ab, die als Erfahrung der Begegnung mit Kunst die allgemeine Kontingenzerfahrung des Lebens noch verstärkt. Denn das Kunstwerk findet sich nicht immer schon als bloße Symbolisierung von Ideen vor, sondern wird erst, was es ist, durch das ästhetische Urteil des Rezipienten. Damit zeigt Gräb eine grundlegende Offenheit gegenüber der Reflexionskunst der Gegenwart. Für Gräb stellt sich die leibhaft gebundene Reflexionssubjektivität, welche auf die transzendentale Ursprungserfahrung rekurriert, als Konstitutionsort religiöser Erfahrung dar. Diese spezifische Gemütsgestimmtheit kann mit ästhetisch-religiösen Deutungskategorien erfasst 136 GRÄB. Lebensgeschichten, 106.
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und umschrieben werden, da die religiöse Erfahrung wie die ästhetische Erfahrung durch sinnliche Wahrnehmung verursacht wird. Dabei wird die religiöse Erfahrung als „Selbstdeutung endlicher Freiheitserfahrung im Horizont der Idee des Unbedingten“137 verstanden, welche das Sich-Gegründetwissen des Individuums in Gott reflektiert. Für Korsch ist Deuten „das elementare Verhalten menschlicher Subjektivität“.138 Jede Darstellung, die uns begegnet, wird durch ihre Erscheinung sinnlich vermittelt, denn nur das uns sinnlich Affizierende in seiner sinnlichen Gestalt kann auch einer Deutung unterzogen werden und kann für andere deutend erschlossen werden. So verhalten wir uns als deutende Wesen zur empirischen Wirklichkeit, die ihrerseits als Darstellung Deutung beansprucht. Insofern ist religiöse Erfahrung im Grunde religiös gedeutete Erfahrung. In allen Brüchen, Formen und Stationen des Lebens, die insbesondere unter heutigen soziologischen Bedingungen nicht mehr klar abgrenzbar sind, hält sich doch die Kontinuität dessen durch, was man mit „Individualität“ bzw. „Subjektivität“ bezeichnen kann, zu der man sich nämlich immer wieder verhalten muss, indem man seine eigene Lebensgeschichte deutend erzählt. Die Art und Weise dieses Selbstbezugs wird nun in der Religion dahingehend bestimmt, dass diese das „Woher“ dieser Kontinuität als transzendenten Grund bestimmt. Wird der Glaube - wie bei Korsch - als Wesen der christlichen Religion bzw. des Christentums verstanden, so geht er von der Möglichkeit einer positiven Bezugnahme von Religion auf einen christlichen Gottesbegriff aus. Neben dieser Anknüpfung an Schleiermacher muss jedoch ebenfalls vom Gottesgedanken ausgehend auf die Religion im Sinne Hegels oder auch Barths Bezug genommen werden, da beide Ansätze zusammengehören, sich allerdings nicht als Synthese vereinen lassen.139 Insofern wird das Verhältnis von Religion und Glaube durchaus als Problem dargelegt, jedoch in einer positiven Verhältnisbestimmung bis hin zur Identifikationaufgehoben. Das Verhältnis von Gesetz und Evangelium wird zwar als das Verständnis von Gesetz als Selbstbewusstsein und Ausdruck der Selbstbestimmung, die ihre theoretische Gestalt in der „Subjektivitätstheorie“ findet, und dem „Evangelium“ als „Glaubensgewißheit“ die in der „Christologie“ reflektiert wird, dargelegt, jedoch wird die Religion als Phänomen nicht in diese Selbst-
137 GRÄB, Kunst und Religion, 65. 138 KORSCH, Religion, 41. 139 Vgl. KORSCH, Dialektische Theologie, aaO, 310.
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differenzierung des Glaubens eingetragen.140 „Indem die evangelische Theologie sich auf die Religion als Lebensvollzug konzentriert, setzt sie sich die Vernünftigkeit der Vernunft am Ort individuellen Lebens trotz aller Rationalitätsprobleme voraus. Im religiösen Akt, also zentral im Glauben, wird um Gottes vermittlungslose Gegenwart im Leben gewußt.“141 Die hier behandelten Entwürfe beleuchten die subjektive Seite der Erfahrung und sehen gerade hier eine enge Verbindung zwischen ästhetischer und religiöser Erfahrung gegeben. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Subjektivitätstheorie der komplexen Wirklichkeit des Menschen gerecht wird. Subjektivität ist nur eine unter anderen Lebensfunktionen des Menschen. Eine Theorie ästhetischer und religiöser Erfahrung kann darum nicht diese eine Lebensfunktion als die einzige darstellen und alle anderen vernachlässigen. Die ‚Erkenntniskräfte’ des Menschen stellen etwas Bedingtes dar und dürfen deshalb nicht mit der Substanz des Menschseins identifiziert werden. Vielmehr sind sie als ein „Modus“ zu verstehen und damit als ein Akzidens.142 Wenn im folgenden die Subjektivitätstheorie an ihrem Mangel an einer Reflexion des Sündenverständnisses gemessen wird, so soll doch zugleich eine billige Kritik an der scheinbar ‚egoistischen’ Subjektivitätstheorie ausgeschlossen werden, die selbst auch die Relativität des Subjekts reflektiert.143 Problematisch ist jedoch das Verständnis der Sünde als „allein im Modus der Selbstzuschreibung“144 mögliches, da damit die Tatsache der Sünde an das Bewusstsein von Sünde und Schuld geknüpft wird. Des weiteren wird Sünde lediglich als „Diffe-
140 141 142 143
Vgl. KORSCH, Glaubensgewißheit und Selbstbewußtsein, aaO, 273. KORSCH, Dialektische Theologie, ebd. Vgl. LÜPKE, J. VON, Anthropologische Einfälle, 250. Vgl. HENRICH, Subjektivität als Prinzip, 67: „Die Subjektphilosophie steht darum auch nicht im Dienst der Selbsterhöhung oder der Stabilisierung eines autistischen Bildes von Selbstmacht. Ist sie doch die Voraussetzung dafür, daß eine Vertiefung des Lebens verstanden werden kann, die sich gerade in der Lösung vom Eigeninteresse, im Blick auf seinen Lebensgrund, in der Unterordnung unter seine Aufgabe und in der Relativierung auf seinen Lebenskontext vollzieht.“; Vgl. auch aaO, 70: „Damit wird nunmehr auch deutlich, daß die Subjektphilosophie über den ihr gemäßen Realismus sowohl den Vorwurf des Subjektivismus abweisen wie dem Programm eines unbegrenzten Szientismus entgegentreten kann und muß – und zwar aus ein und derselben Begründung.“ Vgl. auch aaO, 72: „Subjektivität ist nicht selbstexplikativ, und sie ist in sich ein Gefüge von nicht aufeinander zu reduzierenden, aber durcheinander modifizierten und so aneinander gebundenen Momenten. Sie ist auch nicht auf sich selbst eingeschränkt, sondern weist in doppelter Weise über sich hinaus: in ihren Grund und auf eine Welt.“ 144 Vgl. GRÄB, Sinn fürs Unendliche, 327.
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renzerfahrung“bzw. als „Defizienzbewußtsein“ oder Distanz zwischen Gott und Mensch beschrieben.145 Die Komplexität der Wirklichkeit des Menschen besteht allerdings nicht nur in der Vielfalt seiner Lebensfunktionen, sondern auch in der Gebrochenheit und dem Selbstwiderspruch seiner eigenen Lebenswirklichkeit. Gegen die subjektivitätstheoretische Sicht auf die Erfahrung ist also hamartiologisch Einspruch zu erheben. So sagt Gestrich treffend, durch die Sünde bestehe „eine Kluft zwischen der Einheit animal rationale, also zwischen dem gereiften wirklichen Menschen samt seiner Kultur auf der einen Seite und Gott auf der anderen Seite. Diese Kluft, und nicht ein schmerzhafter Riß, der angeblich mitten durch die Welt oder jedenfalls durch den Menschen hindurchgeht, ist die von der Philosophie kunstvoll verleugnete Grundgestalt der Sünde.“146
145 Vgl. KORSCH, Religion, 181. u.ö.. 146 GESTRICH, CHR., Homo peccator und homo patiens. Das Verhältnis von Sünde und Leiden als Problem der theologischen Anthropologie und Gotteslehre, in: ZThK 72 (1975), 240-268, 261.
IV. Zusammenfassung Teil A Theologische Modelle Zusammenfassung
Am Ende des darstellenden Teils dieser Arbeit haben wir die Gelegenheit eines kurzen Rückblicks, der zugleich einen Ausblick auf den zweiten Teil der Arbeit bieten soll. Die dargestellten theologischen Entwürfe haben trotz der Unterschiede in den theologischen Prämissen sowie in der methodischen Durchführung doch einiges gemeinsam: Alle Autoren verbindet gleichermaßen die Frage, wie der Glaube zur Erfahrung kommt bzw. wie er sich zur Erfahrung verhält. Diese hermeneutische Frage bildet den Hintergrund ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema Ästhetik. Dass sich die ästhetische Fragestellung aus der Erfahrungsthematik ergibt, ist eine Einsicht, die sich erst in den letzten zwanzig Jahren in der Theologie durchgesetzt hat. So ist der Ansatz von Gerhard Ebeling vor allem noch darauf ausgerichtet zu zeigen, dass der Glaube nicht fern von aller Erfahrung, sondern dass Erfahrung notwendige Bedingung des Glaubens ist. Daraus ergibt sich seine fundamentale Kritik am Erfahrungsverständnis der empirischen Wissenschaften. Die Relevanz und die Tragweite des Ästhetischen für die Theologie ist daher bei Ebeling zwar nur angedeutet, sie ergibt sich jedoch vor allem aus seinem vielschichtigen Verständnis von Wahrnehmung. Gerade in dieser Hinsicht ist es durchaus lohnend, die ästhetischen Implikationen der Worttheologie Ebelings weiterzudenken und zu entfalten. Am Entwurf Ebelings wird besonders deutlich, dass die Theologie in Opposition gegen die empirischen Wissenschaften eine Bewegung hin zur Ästhetik vollzogen hat. Denn die Ästhetik bietet die Möglichkeit, Erfahrung auf eine andere, dem Thema der Theologie angemessenere Weise zu denken. So sind alle Autoren darin einig, dass die Theologie sich mit Fragen der Ästhetik auseinandersetzen muss, wenn sie der Wirklichkeit des Glaubens gerecht werden will. Des weiteren ist bemerkenswert, dass die ästhetische Fragestellung in Entwürfen ganz verschiedener theologischer Orientierung ihren Platz gefunden hat. Alle im ersten Teil der Arbeit untersuchten theologischen Entwürfe verbindet diese innere Bewegung von Hermeneutik zu Ästhetik und umgekehrt. Darin zeigt sich, dass sich die Frage nach Ästhetik und Theologie auch in bezug auf eine Theologie des Wortes Gottes behandeln lässt. Begegnet Gotteswort im Menschenwort, so manifestiert es sich auch außerhalb der menschlichen Sprache im engeren Sinne. Eine theologische Ästhetik nimmt die Formen wahr, in denen das Gotteswort uns erscheint, d.h. die „Weisen seiner Erscheinung und seiner
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Vernehmbarkeit“.1 Unter Berücksichtigung dieser ästhetischen Dimension ist Theologie als Grammatik und Formenlehre der christlichen Sprach- und Lebensformen zu verstehen.2 Die untersuchten Entwürfe verbindet ebenso das Verständnis des christlichen Glaubens als Weise des Verstehens, wobei „Wort“ gerade nicht auf verbale Kommunikationsvorgänge reduziert wird, sondern die Gesamtbewegung von Glauben und Verstehen, Hören und Verstehen sowie Lesen und Verstehen, mit anderen Worten von Oralität und Literalität umfasst.3 Insbesondere bei Jüngel, Ebeling und Bayer spielt die Methode der Formgeschichte eine grundlegende Rolle, wenn der Übergang von der Hermeneutik zur Ästhetik gesucht wird. Hier besteht aber die Gefahr, Sinnlichkeit und Worthaftigkeit auseinander zu reißen. Dieser Gefahr versucht Timm zu begegnen, indem er seinen Ansatz auf dem Hintergrund einer schöpfungsgemäßen umfassenden Sinnlichkeit entfaltet. Die Frage nach dem Verständnis von religiöser Erfahrung ist in den behandelten Entwürfen vor allem eine Frage nach ihrer aktivischen oder passivischen Grundstruktur. Sie spitzt sich thematisch in der Frage nach dem Verhältnis von Innen und Außen im Wortgeschehen zu. Will man bestimmen, was religiöse Erfahrung wesentlich ist, dann kann man dies nicht tun, ohne nach den Bedingungen religiöser Erfahrung zu fragen. Eine dieser Bedingungen ist die grundlegende Verfasstheit des Menschen als Subjekt oder als Person. Dabei ist entscheidend, ob religiöse Erfahrung auf der Ebene menschlicher Subjektivität oder auf der Ebene der Personalität angesiedelt ist. Gräb, Barth und Korsch vertreten jeweils auf ihre Weise die Ansicht, dass sich ästhetische sowie religiöse Erfahrung auf der Ebene menschlicher Subjektivität vollzieht. Dagegen wird sowohl bei Ebeling als auch bei Bayer der Personbegriff im Anschluss an Luther stark gemacht. Der Rückgang auf den Personbegriff geschieht in Abgrenzung gegenüber dem neuzeitlichen Subjektbegriff, da sich dieser im Horizont der Wirklichkeit der Sünde als nicht tragfähig erweist. Wenn die menschliche Subjektivität durch die Sünde korrumpiert ist, dann kann durch sie auch keine wirkliche Glaubensgewissheit entstehen. Es muss also ein Kontinuum geben, welches durch die Sünde nicht gebrochen ist, da dieses nur von Gott aufrechterhalten werden kann, indem er den Menschen als Ge1 2
3
Vgl. KÖRTNER, Theologie, 247. Vgl. BAYER, Autorität, 187: „Sie [die Theologie im obigen Sinn, M. R.] intendiert primär nicht, wie Hegel, den ‚Begriff’. Sie sucht auch nicht, wie Schleiermacher und Feuerbach, primär das ‚Motiv’. Sie hebt vielmehr auf die ‚Form’ ab.“; Vgl. auch KÖRTNER, aaO, 247. Vgl. aaO, 9.
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Theologische Modelle
schöpf anredet. Dieses Kontinuum ist die menschliche Person. Deshalb ist sie das eigentliche Gegenüber der göttlichen Anrede. Es ist allerdings fraglich, ob der Personbegriff und der Subjektbegriff gegeneinander ausgespielt werden müssen. Es wird sich erweisen, dass in der Konzeption der Erste- Person-Erfahrung sowie in der Berücksichtigung der Rezeptionsästhetik die jeweiligen Anliegen der Verfechter der Personalität bzw. der Subjektivität zu ihrem jeweiligen Recht kommen. Im folgenden Teil der Arbeit soll gezeigt werden, dass bei einer Vorordnung der Personalität des Menschen dennoch auf die Rede von seiner Subjektivität nicht verzichtet werden kann, wenn die beteiligte Rezeption von Ausdrucksgestalten des Glaubens adäquat gedacht werden soll. Allen Entwürfen gemeinsam ist ferner das mediale Verständnis von Erfahrung und Sprache. Glaube wird nicht durch oder aufgrund von Erfahrung konstituiert, sondern auf diese Weise weitergegeben, vermittelt und zur Darstellung gebracht. Auch religiöse und ästhetische Erfahrung sind darum Medien des Glaubens.4 Im Sprachverständnis verbindet Ebeling und Bayer ihre Konzeption der promissio dei.5 Wort Gottes wird gerade nicht als separate Sonderwirklichkeit neben der menschlichen Sprache verstanden, die dann erst in menschliche Sprache übersetzt werden müsste, sondern ergeht immer schon genuin an den Menschen in menschlicher Sprache. Bei beiden herrscht ein promissionales Wortverständnis vor, wobei sie die Aussagefunktion der Sprache durchaus für theologische Sätze in Anspruch nehmen wollen. Wenn aber Sprache theologisch verstanden wird, dann eignet sich allein das promissionale, zusprechende und versprechende Wortverständnis zur näheren Bestimmung des Evangeliums. Denn schon das Schöpfungsgeschehen ist durch die göttliche Kondeszendenz und seine faktische Anrede gekennzeichnet6, die allerdings vom Sünder nicht als solche unmittelbar wahrgenommen wird. Diese Positionen verbindet also die Erweiterung der Wort-Gottes-
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Deshalb sind Texte und Bilder sekundäre Medien, ohne die allerdings das Wirken der primären Medien unmöglich ist. Vgl. zum Begriff des Mediums HUIZING, Der inszenierte Mensch, 21ff u.ö., hier bes. 23, der insbesondere die Schrift als eindrucksverstärkendes Medium interpretiert. Wobei Bayer – mit H. Weder und I. U. Dalferth – den Ereignischarakter klarer durch Sprechhandlungen zum Ausdruck gebracht sieht. Ebeling verschließt sich allerdings auch nicht vollständig der Verbindung hermeneutischer und sprachanalytischer Ansätze. Vgl. dazu EBELING, G., Lutherstudien II: Disputatio de homine. Teil 3: Die theologische Definition des Menschen. Kommentar zu These 20-40, Tübingen 1989, 31.50. Vgl. auch PETZOLDT, Theologie des Wortes, 91. Vgl. BAYER, Schöpfung, passim.
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Theologie zu einer Sprachtheologie, in der Metaphorologie, Symboltheorie oder Theorien religiöser Sprache einbezogen werden, die in erster Linie auf die Bildhaftigkeit der Sprache verweisen. Herms dagegen bedenkt das Verhältnis von Gotteswort und Menschenwort vor allem als Verhältnis von äußerem und innerem Wort. Das äußere Wort ist die Menge der Zeichen, die Menschen als religiöse Sprache äußern. Durch Vermittlung des Geistes kann dieses äußere Wort zum inneren Wort und somit zum Gotteswort werden. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die einzelnen theologischen Entwürfe sich mit ästhetischen Theorien auseinandersetzen, die ihrem eigenen denkerischen Hintergrund entsprechen. Insofern haben die Autoren unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und von daher die Thematik entfaltet. Die jeweilige Schwerpunktsetzung liegt der gegliederten Darstellung gewissermaßen zugrunde. Somit haben sich drei grundlegende Aspekte ergeben, die für die theologisch-ästhetische Fragestellung bedeutsam sind und aus denen wir die jeweiligen Modelle abgeleitet haben: Es sind dies - die Frage nach dem Schönen und seinem Verhältnis zur Wahrheit der Offenbarung, - die Frage nach der Wahrnehmung der göttlichen Anrede und Gegenwart, sowie - die Frage nach der Entstehung von religiösen Deutungskonzepten aufgrund der subjektiven Rezeption von Wirklichkeit. Diese drei Modelle stehen in der theologischen Landschaft nebeneinander, ohne wirklich miteinander ins Gespräch zu kommen. Diese Tatsache macht deutlich, dass die Anliegen dieser doch so verschiedenen Ansätze noch in ein konstruktives Gespräch zu bringen sind, unter der Voraussetzung, dass ein solches Gespräch möglich und sinnvoll ist. Denn gerade bei einem nicht nur für die Systematische, sondern auch für die Praktische Theologie so bedeutsamen Thema ist es geboten, nicht nur einen Schwerpunkt zu setzen, sondern die Vielfalt der Aspekte in den Blick zu nehmen. Vor allem der Umgang mit ästhetischen Begriffen in den verschiedenen theologischen Ansätzen macht deutlich, dass eine theologische Erfahrungslehre zunächst klären muss, in welchem Verhältnis ästhetische Erfahrung zur religiösen Erfahrung steht und wie sich diese Erfahrungsformen zur Wirklichkeit des Glaubens verhalten. Auf diesem Hintergrund ist sodann die hermeneutische Frage nach der Beziehung von göttlichem Wort und menschlichem Wort zu stellen, eine Frage, die in allen dargestellten Entwürfen impliziert ist. Ästhetisch konkretisiert sich diese Frage vor allem darin, wie es zur Wahrnehmung göttlicher Anrede im Medium menschlicher Aus-
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Theologische Modelle
drucksgestalten kommen kann. Ein hermeneutisches Problem ergibt sich allerdings aus dem Sachverhalt, dass göttliche Anrede immer menschlich rezipiert wird und somit die Frage nach dem Verhältnis von Subjektivität und Objektivität im Vernehmen gestellt werden muss. Gerade deshalb aber ist die Frage nach dem inneren Grund jener Bewegung der Theologie hin zur Ästhetik genauer in den Blick zu nehmen. Es wird sich zeigen, dass diese Bewegung nicht nur mit der Eindimensionalität des neuzeitlichen Erfahrungsverständnisses zu tun hat, sondern auch mit der Insuffizienz des hinter diesem Erfahrungsverständnis liegenden Menschenbildes. Denn christliche Anthropologie hat ihr Spezifikum vor allem in der Rede von der Sünde, die sich auf alle Bereiche des menschlichen Lebens auswirkt, auch auf die Ebene menschlicher Wahrnehmung und Rezeption bis hin zur menschlichen Vernunft. Die Rede von der Sünde hat darum in einer christlichtheologischen Hermeneutik ebenso wie in einer christlichtheologischen Erfahrungskonzeption, Subjekttheorie, Wissenschaftstheorie und Ästhetik ihre feste Verankerung. Die christliche Hamartiologie übt für die Verhältnisbestimmung von Theologie als Wissenschaft und anderen Wissenschaften, insbesondere den Erfahrungswissenschaften, eine kriteriologische Funktion aus. Gleichwohl bezieht sich christliche Rede von der Sünde auf einen Mythos (Gen 3; vgl. auch Röm 5,12ff sowie Röm 7,7ff), dessen Bildersprache nicht vollkommen stimmig zu deuten ist. Aber darin ist diese Rede von der Sünde das Paradigma für die hermeneutische Bewegung der Sprache hin zum Bild und der Theologie hin zur Ästhetik. Wo die Wirklichkeit nicht allein mit den Methoden der Empirie erfasst und mit den Gesetzen der Logik ausgesagt werden kann, sind offene Sprachund Ausdrucksformen nötig, welche die Wirklichkeit nicht zugunsten eines stimmigen Deutungskonzeptes nivellieren. Dieses Verhältnis von Sprache und Bild, ja die Wechselbeziehung von Sprachlichkeit und Bildlichkeit wird uns ebenfalls im folgenden Teil beschäftigen. Denn gerade diese poetische Wechselbeziehung ist es, welche letztlich die Sprache der Bibel und die Sprache unseres Glaubens so reich macht.
B. Zum Verhältnis von theologischer und ästhetischer Hermeneutik
Verhältnis von theologischer und ästhetischer Hermeneutik
I. Erfahrung als Schlüsselbegriff theologischer und ästhetischer Hermeneutik Erfahrung als Schlüsselbegriff Die Untersuchung des Verhältnisses von Theologie und Ästhetik in gegenwärtigen systematisch-theologischen Entwürfen hat gezeigt, dass jene Verhältnisbestimmung ein hermeneutisches Problem ist. Und sie hat weiterhin gezeigt, dass sich Theologie und Ästhetik bei der Auseinandersetzung mit Erfahrung am nächsten kommen. Daher ist die Kernfrage jener Verhältnisbestimmung die nach dem Verhältnis von ästhetischer und religiöser Erfahrung sowie der Glaubenserfahrung. Der im folgenden zu untersuchende Erfahrungsbegriff stellt deshalb die Voraussetzung für eine derartige Verhältnisbestimmung zwischen theologischer und ästhetischer Hermeneutik dar. Dieses Verhältnis ist angesichts der Bedeutung des Erfahrungsbegriffs sowohl für die Theologie als auch für die Ästhetik anhand einer möglichen Strukturanalogie von religiöser und ästhetischer Erfahrung zu untersuchen.
1. „Erfahrung als Kriterium der Theologie“. Theologie – eine Erfahrungswissenschaft 1.1 Der allgemeine Begriff der Erfahrung Soll im zweiten Teil dieser Arbeit eine eigenständige Weiterführung der in den Entwürfen begegnenden Verhältnisbestimmung von theologischer und ästhetischer Hermeneutik vollzogen werden, so kann diese nicht ohne Rekurs auf den Erfahrungsbegriff geschehen, der sowohl für die theologische als auch ästhetische Diskussion im ausgehenden 20. Jahrhundert unverzichtbar war. Vielmehr kann anhand des Erfahrungsbegriffs die Verhältnisbestimmung paradigmatisch erfolgen, zumal auch die oben dargestellten Modelle auf diesen Begriff direkt oder indirekt verweisen. Will man sich mit der spezifischen Konzeption des Erfahrungsbegriffs im theologischen und ästhetischen Sinne auseinandersetzen, so muss zunächst eine allgemeine Klärung zum Begriff der Erfahrung vorgenommen werden, wobei vorausgesetzt wird, dass man mit einer Begriffsuntersuchung allein der Sache der Erfahrung nur bedingt näherkommt.
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Verhältnis von theologischer und ästhetischer Hermeneutik
Generell gehen wir mit Paul Tillich davon aus, dass Erfahrung nicht Quelle, sondern Medium ist, durch das Inhalte existentiell angeeignet werden.1 Es gilt also, die Konstitutionsbedingungen religiöser und ästhetischer Erfahrung in den Blick zu nehmen, ohne zwangsläufig die Subjektivität als Konstitutionsprinzip der Lebenserfahrung vorauszusetzen. Dabei sollen die Dimensionen religiöser wie ästhetischer Erfahrung zur Sprache kommen, wobei wiederum nicht ein Prinzip die Herrschaft gewinnt, sondern verschiedene Dimensionen zu entfalten sind. Diese sind jedoch theologisch zu beurteilen und somit in ihrem Verhältnis zur christlichen Glaubenserfahrung zu beleuchten. Zwischen religiöser und ästhetischer Erfahrung besteht – wie insbesondere W. Gräb und U. Barth herausgearbeitet haben – eine Strukturanalogie. Bei der Untersuchung dieser Strukturanalogie ist auf das Verhältnis von Passivität und Aktivität und das jeweilige tertium comparationis zu achten. Des weiteren muss nach einem inneren Grund der großen Affinität zwischen religiöser und ästhetischer Erfahrung gefragt werden. Bis heute gilt die Einsicht des Philosophen Hans Georg Gadamer: „Der Begriff der Erfahrung scheint mir – so paradox es klingt – zu den unaufgeklärtesten Begriffen zu gehören, die wir besitzen.“2 Während für die empirischen Wissenschaften der Umgang mit der Erfahrung insofern selbstverständlich ist, als empirische Verfahren in Forschung und allgemeiner Wissenschaftstheorie weiterhin vorherrschen und der Erfolg des geplanten Experiments und der technischen Verfügbarkeit zum Erfahrungserweis wird, so ist im Gegensatz dazu das Individuum, das sich selbst erfährt, dem zufälligen Widerfahrnis ausgeliefert, welches nicht sogleich einzuordnen und zu deuten ist, sondern als Unausweichliches begegnet.3 Es erfährt sein Leben als „Er1
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„Erfahrung ist nicht die Quelle, aus der die Inhalte der systematischen Theologie genommen werden können, sondern das Medium, durch das sie existentiell empfangen werden.“ (TILLICH, P., Systematische Theologie Bd. I, Stuttgart 31956, 53). Vgl. dazu auch Dalferth, der betont, dass der Bezug auf Lebenserfahrung keine „Strategie, theologischen Gehalten ihre verlorene oder vermißte Plausibilität oder Aktualität wiederzugewinnen“, darstellt. Vielmehr verhilft der Glaube dazu, „die Lebenserfahrung in ihrer Vieldeutigkeit zu durchschauen und unter den Bedingungen dieser Vieldeutigkeit dennoch eindeutig zu leben“ (DALFERTH, I. U., Glaube und Lebenserfahrung, in: DERS., Gedeutete Gegenwart. Zur Wahrnehmung Gottes in den Erfahrungen der Zeit, Tübingen 1997, 86-98, 91. Vgl. auch DERS., Einführung: Lebenserfahrung als theologisches Problem, in: HÄRLE, W. / PREUL, R. (Hgg.), Lebenserfahrung (MJTh III; MThSt 29), Marburg 1990, III-XI. GADAMER, Wahrheit und Methode, 352/[=329]. Vgl. auch EBELING, Erfahrungsdefizit, 4f.; MOSTERT, Erfahrung, 442.
Erfahrung als Schlüsselbegriff
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fahren-müssen“4. Der allgemeine Sprachgebrauch weiß noch davon, dass wir unterschiedliche Erfahrungen sammeln oder machen. Dabei ist dieses Machen, „anders als es dem sonstigen Gebrauch entspricht, gerade kein Herstellen, kein Erzeugen, überhaupt keine Tätigkeit, sondern ein Erleiden. Der Mensch ist in der Erfahrung dem ausgeliefert, was auf ihn zukommt.“5 Als erfahren gilt ein Mensch, wenn er sein Leben lang praktische Fähigkeiten erworben hat, die ihn reifen ließen und ihn urteilsfähig gemacht haben.6 Einerseits wird Erfahrung beispielsweise im Begriff der „Lebenserfahrung“ als allgemeine Wiederholung der immer gleichen oder ähnlichen Erfahrung gebraucht. Andererseits argumentieren wir als Individuum im Unterschied zur Allgemeinheit, wenn wir auf unsere einmaligen und persönlichen Lebenserfahrungen verweisen, die durch eine hervorragende Evidenz ausgezeichnet sind.7 Im Grunde lässt sich für jeden Erfahrungsvorgang eine eigentümliche Spannung von Allgemeinem und Besonderem feststellen, was sich auch im philosophischen Erfahrungsbegriff widerspiegelt. Exkurs: Grundzüge des Erfahrungsbegriffs in der Philosophie der Neuzeit Schon der Empirismus, für den – verallgemeinernd gesagt – eigentlich nur die sinnliche Einzelbeobachtung wahr und die Allgemeinheit überhaupt nur als Summe von Einzelbeobachtungen aussagbar ist, kann sich in der Praxis doch nur des Erkenntnismittels der Induktion bedienen, um seinen Evidenzbereich zu erweitern, wobei er die Einzelfälle schon auf die bloß gedanklich vorgege-
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6 7
Vgl. BADER, G., „Erfahrung mit der Erfahrung“, in: GEISSER, H. F. / MOSTERT, W. (Hgg.), Wirkungen hermeneutischer Theologie. Eine Zürcher Festgabe zum 70. Geburtstag Gerhard Ebelings, Zürich 1983, 137-154, 147: „Denn nicht nicht erfahren zu können ist eigentlich das, was wir im Kern Erfahrung nennen.“ BOLLNOW, O. F., Was ist Erfahrung?, in: VENTE, R. E. (Hg.), Erfahrung und Erfahrungswissenschaft. Die Frage des Zusammenhangs wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung, Stuttgart u.a. 1974, 19-29, 20. Vgl. auch 21.26. Allerdings schließe ich mich dem Einwand Langes an, dass Bollnow den Erfahrungsbegriff zu einseitig auf das Unerwartete (vgl. LANGE, D., Erfahrung und die Glaubwürdigkeit des Glaubens [HUTh 18], Tübingen 1984, 53, Anm. 142) und v.a. zu eindimensional auf schmerzhafte Erfahrungen (Vgl. dazu BOLLNOW, aaO, 20f.) bezieht. Vgl. zum Begriff der Erfahrung auch HEIDEGGER, M., Das Wesen der Sprache, in: DERS., GA Bd. 12: Unterwegs zur Sprache, hg. v. F. W. v. Herrmann, Frankfurt a. M. 1985, 147204, 149/[=159]. Vgl. BOLLNOW, Was ist Erfahrung, aaO, 25. Vgl. auch KESSLER, A./ SCHÖPF, A./ WILD, CHR, Art. Erfahrung, in: HPhG Bd. 2, München 1973, 373-386, hier bes. 374.
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Verhältnis von theologischer und ästhetischer Hermeneutik
bene Allgemeinheit hin reflektiert.8 Gerade diese Schwierigkeit versucht Kant insofern zu lösen, als er die Korrelativität von Allgemeinheit und Gegenständlichkeit im Erfahrungsbegriff zusammendenkt, so dass die Rezeptivität im Verhältnis zur Aktivität des Geistes in den Blick kommt. Die Erfahrung bleibt wie im Empirismus auf Sinnlichkeit angewiesen, jedoch kann nur von Erkenntnis eines Gegenstandes gesprochen werden, wenn die Wahrnehmungen auch entsprechend einer allgemeinen Regel (Kategorie) der spontanen Synthesisleistung des transzendentalen Subjekts unterstellt werden, so dass von einer theoretischen Konstitution der Erfahrung ausgegangen werden kann.9 Diese kategorialen Bestimmungen bleiben dem Besonderen als Inhalt der Anschauung gegenüber allerdings fremd.10 Hegel hingegen behält das philosophische Erfahrung-Machen der „Umkehrung des Bewußtseins“ in einer dialektischen Bewegung vor, wodurch die Erfahrung zu einer geschichtlichen Bewegung der Theorie wird. Das unmittelbare Bewusstsein als solches kann gar keine Erfahrung haben, da die im empirischen Sinne verstandenen Erfahrungen als solche nicht mit dem Begreifen des Allgemeinen, des Absoluten vermittelt sind. Erst im absoluten Wissen sind Einzelheit und Allgemeinheit wirklich miteinander vermittelt in der absoluten Identität des Denkens mit seinem Gegenstand, wobei allerdings das Einzelne – nicht zuletzt in Hegels System – nur noch zum Moment des Allgemeinen wird. Damit ist für Hegel erst die Wissenschaft grundgelegt.11 Dagegen bringt Kierkegaard wieder die Kategorie des Einzelnen gegen jede Form eines spekulativen Systems im Sinne Hegels ins Spiel, jedoch wird hier nicht das Einzelne, sondern der Einzelne in seiner Existenz zum Kriterium der Wahrheit. Außerdem wird später von Seiten des „hermeneutischen Denkens“ (Heidegger/ Gadamer) geltend gemacht, dass im Gegensatz zum Primat des Begriffs das Sein, welches als Sprache in der Überlieferung geschichtlich begegnet, einen Vorrang besitzt. Dabei wird die philosophische Erfahrungsweise von der empirischen unterschieden, da letztere nur mit Abstraktionen arbeitet, um die Wiederholbarkeit und Austauschbarkeit des Subjekts zu gewährleisten, wobei das Einmalige, der personale Bezug zur Lebenswelt (In-der-Welt-Sein), vernachlässigt wird. Darüber hinaus bestreitet beispielsweise Gadamer, dass Erfahrung ausschließlich im wissenschaftlichen Sinne verstanden werden darf, wenn 8 9 10 11
Vgl. aaO, 379f. Vgl. auch KESSLER/ SCHÖPF/ WILD, Art. Erfahrung, 377f und HERMS, Art. Erfahrung II., 96. Vgl. KESSLER/ SCHÖPF/ WILD, aaO, 385. Vgl. aaO, 379-383, hier bes. 385 und BADER, Erfahrung mit der Erfahrung, hier bes. 147f und ADORNO, TH. W., Drei Studien zu Hegel, in: DERS., Gesammelte Schriften Bd. 5: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Drei Studien zu Hegel, hg. v. R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1970, 247-380, 295-325.
Erfahrung als Schlüsselbegriff
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er sie durch Begriffe wie Offenheit, d.h. Endlichkeit, Negativität und Geschichtlichkeit näher bestimmen will.12 Gegen Hegels Begriff des Erfahrung-Machens wendet er ein, dass „Erfahrung [...] nicht die Wissenschaft selbst“ sein kann. „Sie wird nicht in vorgängiger Allgemeinheit gewußt. Darin liegt die grundsätzliche Offenheit der Erfahrung für neue Erfahrung“13. Auch Heidegger, der die allgemeinen Erfahrungswissenschaften und die Technik scharf kritisiert, gebraucht den geschichtlich verstandenen Begriff der „Lebenserfahrung“ vorrangig mit einem passivisch-widerfahrnishaften und negativen Charakter.14 Außerdem kann die geforderte Umwandlung der Philosophie nur darin bestehen, den „Ausgangspunkt des Weges zur Philosophie“ in der „faktische[n] Lebenserfahrung“ zu sehen.15
Will nun die Theologie den Glauben denkend verantworten, dann ist sie angehalten, aus sich selbst heraus eine Ontologie und Erkenntnistheorie zu entwerfen.16 Dabei muss sie ihr Verhältnis zur Philosophie reflektieren, um nicht entweder selbst zur Religionsphilosophie zu werden oder aber die Philosophie zur bloßen Hilfswissenschaft zu degradieren.17 12 13 14
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Vgl. KESSLER/ SCHÖPF/ WILD, aaO, 383. GADAMER, Wahrheit und Methode, 356f/[=333f]. Vgl. HERMS, Art. Erfahrung II., 102. Allerdings differenziert Heidegger zwischen dem passiven und aktiven Sinn der faktischen Lebenserfahrung, indem er diese doppelt bestimmt: „‘Erfahrung’ bezeichnet: 1. die erfahrende Betätigung, 2. das durch sie Erfahrene.“ „’Erfahren’ heißt nicht ‚zur Kenntnis nehmen’, sondern das Sich-Auseinander-Setzen mit, das Sich-Behaupten der Gestalten des Erfahrenen.“ (Vgl. HEIDEGGER, M., Einleitung in die Phänomenologie der Religion (1920/21), in: DERS., GA Bd. 60: Phänomenologie des religiösen Lebens, hg. v. M Jung u. Th. Regehly, Frankfurt a. M. 1995, 1-125, 9). Vgl. aaO. 10f.15: „Bisher waren die Philosophen bemüht, gerade die faktische Lebenserfahrung als selbstverständliche Nebensächlichkeit abzutun, obwohl doch aus ihr gerade das Philosophieren entspringt, und in einer [...] Umkehr wieder in sie zurückspringt.“ (15). Vgl. MOSTERT, W., Zur ontologischen Frage bei Martin Luther (1993), in: DERS., Glaube und Hermeneutik, 89-100, 91f; EBELING, G., Verantworten des Glaubens in Begegnung mit dem Denken M. Heideggers. Thesen zum Verhältnis von Philosophie und Theologie, in: DERS., Wort und Glaube II, 92-98, passim; Vgl. auch JÜNGEL, E.,/ TROWITZSCH, M., Provozierendes Denken. Bemerkungen zur theologischen Anstößigkeit der Denkwege Martin Heideggers, in: Wirkungen Heideggers (NHP 23), Göttingen 1984, 59-74, 64: „Theologie [...] kann sich dem Denken Heideggers nur von weither und aus eigenem Grund und Boden kommend zuwenden.“ Wie schon erwähnt, berühren – aber eben nur berühren – sich beispielsweise das Denken Heideggers und die Theologie Luthers in der Überwindung des metaphysischen Denkens. Für unseren Zusammenhang der Kritik der Metaphysik als Ermöglichung eines neuen Erfahrungszugangs zum Sein des Menschen als Sünder ist vor allem Heideggers Unterscheidung von Sein und Seiendem relevant, weil das Denken
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Verhältnis von theologischer und ästhetischer Hermeneutik
1.2 Das Grundproblem der Erfahrung Das Grundproblem jeder Erfahrungstheorie besteht in der Frage, wie das Besondere und das Allgemeine innerhalb der Erfahrung vermittelt sind. Dieser Sachverhalt soll im Folgenden anhand zweier hermeneutisch-theologischer Erfahrungstheorien erörtert werden. In Gerhard Ebelings theologischer Erfahrungstheorie18 wird dieses Problem insofern thematisiert, als er das Bezugsfeld der Erfahrung vierfach absteckt: als Lebensbezug, der vorrangig in der eigenen Lebenserfahrung begegnet, als Geschichtsbezug, der in der eigenen Lebenserfahrung als erinnerter Lebensgeschichte und durch das Teilhaben an überlieferter Erfahrung gegeben ist, als Wirklichkeitsbezug, der in der Begegnung mit dem Einzelnen, Konkreten, Kontingenten in Spannung zum Ganzen gegeben ist. Und schließlich als Wahrnehmungsbezug, der durch die menschliche Sinneswahrnehmung und die Bezogenheit von innerer auf äußere Erfahrung gegeben ist. In der religiösen Erfahrung kommen nach Ebeling alle diese Bezüge zusammen.19 Ebeling interpretiert allerdings den in der Theologie der letzten Jahrzehnte häufig beklagten Mangel an Erfahrung, aber auch an Praxisbezug jeder Art, als Verlust einer Bereitschaft, sich selbst Erfahrungen auszusetzen. Mit der Rede „über“ Erfahrung hat man noch keine Erfahrung, ist man noch außerhalb von ihr.20 Die Weite des Erfahrungshorizonts wird Ebeling zufolge im christlichen Glauben durch das Zusammenspiel von Gottes-, Welt- und Selbsterfahrung bestimmt, wobei der Glaube bzw. die Glaubenserfahrung „diese gottgemäße Erfahrung mit aller Erfahrung“21 ist. In der Erfahrung der Grundsituation des Menschen, die als Gesetz in der Welterfahrung erscheint, wird die Angewiesenheit auf das Wort Gottes deutlich.22 Wie Schleiermacher im „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ die Grundverfasstheit des Menschen beschreibt, die allerdings erst in sekundärer Weise worthaft bestimmt ist, so geht Ebeling von
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in der Erfahrung seiner Schwäche und Ohnmacht die Macht des Seins erfährt. Ebeling weist allerdings mit Recht darauf hin, dass die Theologie diese ontologische Differenz nun gerade nicht theologisch deuten kann, um nicht selbst metaphysisch zu sein. Vgl. EBELING, Verantworten, 97f. Ebelings Aufsatz „Die Klage über das Erfahrungsdefizit in der Theologie als Frage nach ihrer Sache“ stellt auch für W. Mostert, auf dessen Erfahrungskonzeption wir im weiteren Verlauf eingehen werden, eine wichtige Grundlage zur Auseinandersetzung dar. Vgl. MOSTERT, Erfahrung, 428. Vgl. EBELING, Erfahrungsdefizit, 17-21. Vgl. aaO, 15f. AaO, 25. Vgl. auch TRACK, Art. Erfahrung III/2., 125f.
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einer Grundverfasstheit des Menschen als Sprachwesen aus. Das heißt, der Mensch ist von der Sprache schlechthin abhängig, seine Grundsituation ist die Wortsituation.23 So wird positiv vorausgesetzt, dass der Mensch, der Sprache hat, auch schon verantwortlich ist und dass der Mensch Grunderfahrungen von Passivität, von Güte machen kann. Ebeling beschreibt also die in der Phänomenologie der Sprache ausgelegte Fundamentalanthropologie als allgemein menschliche Grundsituation. Eine eigene Akzentuierung, die jedoch im Anschluss an Ebelings Erfahrungstheorie vorgenommen wird, begegnet bei Walter Mostert. Im folgenden soll dieses theologische Erfahrungsverständnis vorgestellt werden, das zugleich die Basis für die weiteren Überlegungen darstellt. Mit der Forderung nach einer spezifisch theologischen Sprache setzt Mostert nicht bei einer zunächst allgemeinverständlichen Sprache ein, sondern bezieht sich auf eine erst zu entdeckende neue theologische Sprache, wenn sich „die Theologie nach neuer und ursprünglicher evangelischer Sprache fragen lassen“24 sollte. Damit begegnet Mostert auch dem Problem des allgemeinen Erfahrungs- und Sprachbegriffs. Auch Mostert will den Bezug zum Allgemeinen wahren, indem er in Analogie zur Dichtung davon ausgeht, „daß das Allgemeine in der Erfahrung zu äußerster Individuation kommt“25. Für Mostert begegnet das „Allgemeine“ der Erfahrung in der Sprache der Literatur, der Tradition sowie insbesondere in der erzählten Erfahrung mit Gott, wie sie in der Bibel festgehalten ist. Allerdings kann der Einzelne an dieser „Allgemeinheit“ nur durch eine Selbsterfahrung Anteil bekommen. Es kommt Mostert zufolge nicht darauf an, eine lediglich zahlenmäßige Erweiterung des Subjekts vorzunehmen, da ja die Seinsverfassung aller identisch ist. Erfahrung wird aber nicht dadurch allgemein, dass sie möglichst viele Subjekte einbezieht, sondern dadurch, dass sie im Rahmen der von vielen Generationen überlieferten und erzählten SelbstErfahrung mit Gott geschieht. Es geht Mostert also – im Anschluss an Luther – um die Erweiterung der individuellen Erfahrung auf die Affekte, auf das Erleiden, das passive und empfangende Hören. Die Selbsterfahrung wird insofern intensiviert, als sie eine Tiefendimension gewinnt, in welcher die wahre Natur des Menschen aufgedeckt wird.26
23 24 25
Vgl. dazu v.a. EBELING, Gott und Wort , passim. MOSTERT, Sinn, 106. Vgl. auch aaO, 32. MOSTERT, Erfahrung, 443f, Anm. 16.
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deckt wird.26 Diese spezifische Selbsterfahrung wird dem Menschen dann zuteil, wenn er durch die Anrede Gottes in Gesetz und Evangelium mit seiner konkreten und realen Situation als Sünder konfrontiert wird. Die Sündenerfahrung als grundlegende Erfahrung qualifiziert dann alle anderen Erfahrungen. Glaube und Selbsterfahrung als Sünder sind in der Anrede Gottes begründet, die immer an einen Einzelnen ergeht, wenn sie wirklich das Sein betreffende und somit seinsverändernde Erfahrung sein soll.27 Die Anrede hat somit konstituierenden Charakter, als sie die angeredete Person erst durch das Wort schafft, wobei die Person wiederum allein durch ihren relationalen Charakter bestimmt ist. Die weiterführende Konzeption Mosterts wird besonders an der Erfahrung der Güte deutlich.28 Mostert geht nicht von einer allen zugänglichen allgemeinen Erfahrung der Güte aus, die als Voraussetzung für eine spezifisch christliche Konzeption dienen könnte. Der Mensch, wenn er sich nicht schon immer dagegen wehrte, könnte grundlegende Erfahrungen der Güte sammeln, sich als vom Schöpfer gesetztes Geschöpf erfahren. Ein wesentlicher Grundzug der Erfahrung der Güte ist die Erfahrung einer ursprünglichen Rezeptivität des je eigenen Lebens. Jedoch ist diese Erfahrung nur in Korrespondenz mit der Erfahrung des Sünderseins zu beschreiben29: Weil der Mensch Sünder ist, erfährt er die Güte nur als Negation, als Verweigerung, diese als Lebensgabe, die er sich nicht selbst schenken kann, anzunehmen.30 Gleichzeitig erhält die Sündenerfahrung dahingehend eine Präzisierung, dass nun erst in der Weigerung, die Güte als externe Gabe und die Angewiesenheit auf Rezeptivität anzuerkennen, die Form der Sünde zum Vorschein kommt. Das heißt, der Sünder erfährt sein Wesen gerade im 26 27
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Vgl. MOSTERT, W., Ist die Frage nach der Existenz Gottes wirklich radikaler als die Frage nach dem gnädigen Gott?, in: DERS., Glaube und Hermeneutik, 101-133, 125f. „Die Frage: Was ist der Mensch? konnte Luther nicht mehr beantworten mit dem Hinweis auf ein Allgemeines, also die Vernunft. Was der Mensch ist, ist erkennbar nur an den Menschen, an ihrer jeweiligen Biographie, nicht an einem Entwurf vom Menschen. Und es muß zuallererst an und in mir selbst erkannt werden. [...] Nicht die Vernunft, sondern die konkrete Person definiert, was der Mensch ist.“ (MOSTERT, W., Der Humanist, in: SCHULTZ, H. J. [Hg.], Luther kontrovers, Stuttgart/ Berlin 1983, 88-99, 98). Vgl. MOSTERT, Erfahrung, 455-458. Vgl. Ebd. Vgl. aaO, 456: Für das ganze Leben des Menschen gilt, dass er sich immer wieder „einer ursprünglichen, ontisch vorgegebenen Güte“ gegenüber verschlossen hält, denn wir existieren „von den Händen der Mutter, die den Säugling wickelt, bis zu den Händen der Menschen, die unseren Leichnam begraben, aus der Erfahrung der Güte“.
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Abweichen von dieser Güte, die ebenfalls ontologisch verstanden wird. In Bestreitung aller allgemeinen anthropologischen Grundkonzepte als Verfälschung des realen Seins des Einzelnen wird der Sündenbegriff für die Erfahrung durch das spezifische Wortgeschehen vorausgesetzt. Diese spezifische Sündenerfahrung wird dennoch auf die allgemeine Lebenswelt bezogen und eröffnet erst die wirkliche Erfahrung von Güte und Rechtfertigung. Für Luther stellt die Erfahrung des Menschen als einer individuellen Person eine Zuspitzung und Erweiterung – gerade keine Verengung – der allgemeinen Erfahrung als eines anthropologischen Phänomens dar. Erst in der Selbsterfahrung kann sich der Einzelne als Autor auch des Überindividuellen erkennen. Er selbst pflegt einen falschen Umgang mit den Vorstellungen, er missbraucht alles nur eigeninteressiert und selbstverwirklichend. Doch da der Mensch seine eigene Person, sein eigenes Sein und seine eigene Erfahrung gar nicht kennt, wird ihm nicht bewusst, dass er selbst zur Vermehrung der Übel beiträgt. So kommt Mostert zu folgendem Schluss: „Nicht daß zu individuell gedacht wird, ist das Übel der Geschichte, sondern daß die Menschen in viel zu geringem Maße mit ihrem Sein vertraute Individuen sind, macht die Geschichte verbesserungsbedürftig.“31 Wenn er im Anschluss an Kierkegaard betont, dass die Wahrheit nur vom Individuum zu erkennen ist32, so ist damit doch in jedem Falle die Wahrheit des Seins des Sünders gemeint. Als das Kernproblem in der Diskussion um die Frage nach der Vermittlung von Besonderem und Allgemeinem stellt sich jedoch die Frage nach der Einheit aller Erfahrung heraus. Bei der Unterscheidung von je eigener und allgemeiner Erfahrung stößt man Dietz Lange zufolge auch bei der eigenen Lebenserfahrung auf Aussagen über Regelmäßigkeiten. Wir können uns immer nur auf unsere eigene Erfahrung beziehen, wenn wir uns aneignend auf bereits vorhandene fremde Erfahrung beziehen.33 Darum wendet Lange gegen Mostert ein, dass das
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MOSTERT, Sinn, 137. Vgl. MOSTERT, Erfahrung, 435. Vgl. LANGE, Erfahrung, 38f. Vgl. auch SAUTER, G., Erwartung und Erfahrung, in: DERS., Erwartung und Erfahrung. Predigten, Vorträge und Aufsätze (TB. Neudrucke und Berichte aus dem 20. Jahrhundert Bd. 47. Systematische Theologie), München 1972, 283-308, 300, wo Sauter den Vermittlungscharakter der Erfahrung betont: „‘Erfahrung’ ist nicht eine bloße Bezeichnung für unmittelbares (ursprüngliches) Erleben, sondern ein Begriff für Umgang mit Wirklichkeit“. „Durch diesen Begriff wird nichts anderes als die Orientierungsbedürftigkeit des Menschen angezeigt; sie bedarf der kommunikativen, auf Verständigung angewiesenen Regelung, und ‘Erfahrung’ ist jeweils das Ergebnis dieses Prozesses, mit dem sich zugleich ein Hori-
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„eigene Ich“, das Mostert zufolge „ein schlechthin Neues unter der Sonne“34 ist, gerade kein gänzlich Neues darstellen kann, da es ja immer schon am Allgemeinen partizipiert.35 Wie oben gezeigt, wird man Mosterts Verständnis des Ich aber nur gerecht, wenn man es unmittelbar im Sinne der Ontologie der Person versteht, die von Gott her relational verfasst ist und ihr Zentrum in der Externität besitzt. Das Neue der Existenz des Menschen besteht eigentlich in einer Lösung von sich selbst hin zu Christus als Befreiungsgeschehen des Heiligen Geistes.36 Daher kann man Mosterts individuellen Erfahrungsbegriff nicht von einer allgemeinen Anthropologie und einem allgemeinen Begriff des Individuums her kritisieren. Vielmehr „ist eine selbständige ontologische Fragestellung notwendig“37, welche sich nicht auf allgemeine Seinsstrukturen, sondern auf das Personsein des Menschen bezieht.38 Die relational konstituierte Person partizipiert allerdings an einem allgemeinen Zusammenhang – nämlich der Sünde. Jedoch wird diese Allgemeinheit nur am Einzelnen offenbar. Ebenso steht hinter allen Aussagen über die Erfahrung des Sünderseins folgende Prämisse: „Die Erfahrung des Sünderseins ist metaphysisch nicht deduzierbar, und daß wir allzumal Sünder seien, ist nur aus der Erfahrung des Sünderseins wahr.“39 Die grundlegenden Einwände gegen dieses individuelle Erfahrungsverständnis, das sich am Sündersein des Einzelnen orientiert, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen. Sie gehen zunächst von einer transzendentalen Prämisse aus: dem Gedanken der Einheit der
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39
zont für Erwartungen an die Wirklichkeit herausbildet.“ Zum Verhältnis von Wahrheit und Transsubjektivität vgl. aaO, 305. MOSTERT, Erfahrung, 444. Vgl. LANGE, Erfahrung, 39, Anm. 111. Vgl. MOSTERT, W., Hinweise zu Luthers Lehre vom Heiligen Geist, in: DERS., Glaube und Hermeneutik, 217-244, 235f. MOSTERT, Erfahrung, 432. Damit wird eine fundamentale Kritik einerseits an der klassischen Substanzmetaphysik und andererseits an der generalisierenden und totalitären neuzeitlichen Vernunft vorgenommen. Daraus zieht Mostert folgende Konsequenz: „Der eigentliche Gegensatz, aus dem die neuzeitliche Erfahrungswissenschaft entstand, ist daher nicht der zwischen Vernunft und Offenbarung, sondern es ist [...] die Entdeckung der Realität des Individuellen, gegenüber der Aufhebung des Individuellen in das Generelle der metaphysischen Vernunft.“ (AaO, 436). Insofern vollzieht sich die Entdeckung der Erfahrung und die Entdeckung des Individuums gleichzeitig (vgl. aaO, 432-437; vgl. auch TROWITZSCH, M., Gott als „Gott für dich“. Eine Verabschiedung des Heilsegoismus [BEvTh 92], München 1983, 22). Im Freiheitskampf des Individuums trug allerdings die Vernunft den Sieg über die Offenbarung davon, wobei das eigentliche Subjekt, das Individuum, unterlag. MOSTERT, aaO, 450.
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Wirklichkeit. Lange vertritt die These, dass sowohl eine deduktive Erfahrungstheorie als auch eine subjektive Erfahrungskonzeption von der Grundannahme einer Einheit der Wirklichkeit und der Geschichte ausgehen, sobald sie überhaupt allgemeingültige Aussagen treffen. Diese Annahme trifft nun auch dann zu, wenn die Versicherung durch die individuelle Existenz in der Neuzeit verbindlich ist. Lange wendet gegen Mostert ein, dass es sich bei der Konzeption der Einheit der Wirklichkeit nicht um ein „metaphysisches Dogma“ handelt, sondern dass sie „die unerläßliche Voraussetzung der Mitteilbarkeit von Erfahrung“40 darstellt. Mit diesem Argument verbindet sich die Frage nach der Möglichkeit und Notwendigkeit einer Letztbegründung wissenschaftlicher Aussagen. Die Möglichkeit einer Letztbegründung bestreitet Mostert insofern, als das Subjekt, welches diese Begründung vornimmt, aufgrund der Wirklichkeit der Sünde keinen Selbststand haben kann. Die Begründung von Erfahrung bleibt immer im Bereich des Fragmentarischen. Was Mostert mit „Erfahrung“ als Erfahrung des Sünderseins meint, ist „metaphysisch nicht deduzierbar"41. Lange räumt im übrigen Mostert gegenüber folgendes ein: Auch wenn sich die Einheit der Wirklichkeit gerade in der Grunderfahrung der Mitteilung erweist, so stellt doch der Vertrauenssprung in die Mitteilung der individuellen Erfahrung auch ein ihr wesentliches Moment dar.42 Das heißt, dass eine jede Erfahrung, die an einem allgemeinen Horizont orientiert ist, „unvermeidlich auf Metaphysik hinführt“, wobei diese „nur zu einer abstrakten Einheit vordringen“ kann, „denn selbst in einer geschichtlichen oder Prozeßmetaphysik kommt die wirkliche individuelle Erfahrung letztlich doch nur als Einzelfall, nicht aber in ihrer konstitutiven Einmaligkeit vor.“43 Insofern weiß auch er um die Begrenztheit und Tendenz jeder Erfahrung.44 Man kann der Kritik an Mosterts „Individualismus“ also nur in diesem Punkt zustimmen, dass die Vermittlung von Besonderem und Allgemeinem bei Mostert nicht ausreichend reflektiert worden ist. Jedoch ist der Vorwurf eines generellen Individualismus bzw. Subjektivismus ungerechtfertigt: „Individualismus ist ja insofern eine Spielform des Dogmatismus, als in ihm sich [...] ein Wille rücksichtslos verwirklichen will“45 beziehungsweise dem einzelnen Individuum seine Verge-
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LANGE, Erfahrung, 50. Vgl. auch Anm. 132. MOSTERT, Erfahrung, 450. Vgl. LANGE, Erfahrung, 51. AaO, 57f., vgl. auch 58, Anm. 154. Vgl. aaO, 58. MOSTERT, Sinn, 125.
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wisserungsmöglichkeiten vorgeschrieben werden. Das Individuelle kann nach Mostert an Luther selbst exemplifiziert werden, denn bei ihm stand „die eigene Erfahrung ganz im Dienste der Gewinnung einer Sprache, eines Denkens, eines Glaubens, die in strengster experientieller Weise [...] Welterkenntnis nur im hermeneutischen Zusammenhang mit Selbsterfahrung zu denken vermochten“46 1.3 Der spezifische Begriff der Erfahrung In der Frage nach dem spezifischen Begriff der Erfahrung ist zugleich die Frage nach dem spezifischen Denkhorizont mitgesetzt, innerhalb dessen von Erfahrung die Rede sein soll. Das Wort „spezifisch“ im Unterschied zu „allgemein“ bezieht sich demnach nicht nur auf die Erfahrung eines Einzelnen, wenngleich spezifische Erfahrung nur von Einzelnen gemacht werden kann. Es bezieht sich auch auf dasjenige, wovon christliche Theologie herkommt und dem sie nachdenkt: auf den christlichen Glauben. Der christliche Glaube selbst besitzt seiner Natur nach einen eminenten Erfahrungsbezug, da Glaube und Lebenserfahrung miteinander korrespondieren. Jedoch können Glaube und Erfahrung auch in einen scharfen Widerspruch zueinander geraten, wenn mit Luther „wider alle Erfahrung“ zu glauben ist.47 Luther war es aber auch, der zum ersten Mal explizit die konstitutive Tragweite der Erfahrung für die Sache der Theologie in den Blick nahm und auf die Formel brachte: „Sola autem experientia facit theologum“48, wobei die Erfahrung auf die Schrift bezogen bleibt, und die Konfrontation mit der Erfahrung dem Wort zum Ernstfall und zur Bewährung wird.49 In der Anfechtungserfahrung wird die Erfahrung des Einzelnen mit dem Wort zur Verifikationsinstanz. Einerseits kann Erfahrung zur Voraussetzung des Glaubens werden, andererseits ist der Glaube selbst immer auf Erfahrung aus, so dass sie nicht voneinander zu trennen sind. Der Glaube stellt „sich zur Erfahrung nicht gleichgültig, streitet vielmehr darum, was in Wahrheit so zu heißen verdient.“50 So kann auch gesagt werden, dass die Erfahrung Gewissheit verschafft, denn letztlich ist sie auf das Wirken des Heiligen Geistes zurückzuführen. 46 47 48
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Ebd. Vgl. EBELING, Erfahrungsdefizit, 13. LUTHER, M., Tischrede Nr. 46 /Sommer/ Herbst 1531), WATR I, 16, 13; Vgl. auch DERS., In Esaiam Scholia ex D. Mart. Lutheri praelectionibus collecta, WA 25, 79401, 106, 26f, sowie EBELING, Erfahrungsdefizit, 10. Vgl. aaO, 12f. AaO, 6.
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Die Erfahrung des Glaubens als Erfahrung mitten im Lebenszusammenhang hat somit eine hervorragende lebenshermeneutische Bedeutung51, weshalb Luther gerade die individuelle Glaubenserfahrung hervorhebt: „Ein jeglicher soll darauf acht haben, was Gott mit ihm wirkt, vor allen Werken, die er mit anderen tut. Denn es wird keines Seligkeit darinnen stehen, was er mit einem anderen, sondern was er mit dir wirkt.“ 52 Insofern geht es Mostert wie auch Ebeling um den Aufweis eines Erfahrungsdefizits sowohl in den Erfahrungswissenschaften53 als auch in der Selbsterfahrung des Einzelnen. Die Metaphysik, welche erst in der Neuzeit vollends ihre Herrschaft ausübt, trug entscheidend dazu bei, dass dem Denken die Bedingungen des Daseins aus dem Blick gerieten und überdies noch jede Artikulation dieser Grunderfahrungen in der Tradition unbegreiflich werden musste.54 Seit dem neuzeitlichen Empirismus wird ein Gegensatz zwischen Erfahrung und metaphysischem Denken und Offenbarungsdenken als Quelle des Wissens postuliert. Orientiert sich die christliche Theologie unkritisch am neuzeitlichen Wissenschaftsbegriff, dann steht sie in der Gefahr, sich selbst als erfahrungsfern zu sehen. Will sie überdies dieses Defizit ausgleichen, dann verliert sie an Sachgemäßheit.55 Daher fordert Mostert, den vermeintlichen Gegensatz zwischen Vernunft und Offenbarung durch den Versuch aufzuheben, die Vernunft unter Verzicht ihrer herrschenden Rolle zu einer „Wahrnehmung der Erfahrung“56 zu nötigen. Denn das Ich ist ohnehin permanent mit seiner Selbstverwirklichung beschäftigt und bemerkt gar nicht, wie beschränkt diese Erfahrung der bloß selbstproduzierten Wirklichkeit 51
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Vgl. KÖPF, U., Art. Erfahrung III/1. Theologiegeschichtlich. Mittelalter und Reformationszeit, in: TRE 10, Berlin/ New York 1982, 109-116, 114f.; Vgl. auch TRACK, Art. Erfahrung III/2., 119. LUTHER, M., Das Magnificat verdeutscht und ausgelegt, in: Luther Deutsch, hg. v. K. Aland, Bd. 5, Stuttgart/ Göttingen 21963, 274-340, 298 (entspr. WA 7, 538-604, 565). Vgl. zur Kritik am Erfahrungsbegriff der Erfahrungswissenschaften auch BOLLNOW, Was ist Erfahrung, 22. Vgl. MOSTERT, Sinn, 9f. 82. Vgl. auch den Hinweis auf Sprachtraditionen, die verborgene Erfahrungen wieder zutage fördern können und „gegen den herrschenden Gebrauch des Wortes Erfahrung als einer Restriktion aufs Empirische also gerade die amplifizierende, ins Weite und Offene führende Funktion der Erfahrung einzuüben“ (MOSTERT, Frage nach der Existenz, 105) bereit sind. Dieses Modell – hier die Sache der Theologie, dort die Erfahrungswissenschaften – wiederholt sich innerhalb der Erfahrungswissenschaften als Theorie-Praxis-Problem. Für die Theologie kommen dabei vor allem die Humanwissenschaften als Partnerwissenschaften in Betracht. Vgl. MOSTERT, Erfahrung, 427-431. AaO, 439. Daraus ergäbe sich auch ein inhaltlich neu bestimmter Vernunftbegriff.
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eigentlich ist.57 Darum kann die Theologie auch nicht einfach jenen eingeschränkten Erfahrungsbegriff übernehmen, sondern hat einen eigenen sachgemäßen „Beitrag zur Erfahrungsforschung“58 zu leisten, indem sie als „Gewißheitsforschung“59 dem Humanum dient. Ergründet sie die Erfahrung des Individuellen, gelangt sie in ihr theologisches Zentrum.60 Daraus erwächst zwischen Glaube und humaner Vernunft gegen die generalisierende und sich damit absolut setzende Vernunft eine Solidarität, die der Realität des Individuums zugute kommt.61 Was aber meint Erfahrung inhaltlich? Mostert verzichtet bewusst auf eine absolut formulierte Definition der Erfahrung und umreißt diese folgendermaßen: „Erfahrung bezeichnet [...] die Wirklichkeit unter dem Aspekt der Realität des Individuellen“62. Da für Mostert das Problem des Menschseins mit dem des Seins als Individuum und Sünder zusammenfällt, erfährt sich derjenige, der sich nicht als Sünder erfährt, auch nicht als Mensch und damit letztlich überhaupt nicht real.63 Die in gegenwärtiger Hamartiologie begegnende Rede von den Sündenfolgen, die zum Teil mit der Sünde selbst identifiziert werden, 57 58 59 60
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Vgl. MOSTERT, W., Ein Christ ist immer im Werden. Zu einem Grund-Satz Luthers, in: DERS., Glaube und Hermeneutik, 257-266, 260. MOSTERT, Erfahrung, 440; vgl. DERS., Sinn, 56f u.ö. Vgl. auch schon EBELING, Erfahrungsdefizit, 27f. MOSTERT, Sinn, 139. Wenn das Denken wirklich erfahrungsbezogen sein will, so muss es konkret auf die Erfahrung des einzelnen Menschen bezogen sein, d.h., es darf sich nicht in allgemeinen Statistiken und deskriptiven Konstruktionen von Einzelfällen, in denen das Einzelne unter das Allgemeine subsumiert wird, verlieren. Vgl. MOSTERT, Erfahrung, 437-441. Weil das Subjekt der Erfahrung und das Subjekt der Reflexion dieser Erfahrung identisch sein müssen, soll die Generalisierungstendenz zugunsten der Individuierung verändert werden, da nur so die Verantwortung auf seiten der Person verbleiben kann. Im Unterschied zu einer denkerischen Transzendierung der Erfahrung begibt sich der Mensch in einen Erfahrungsprozess, dessen bestimmende Faktoren das Zeitliche und Geschichtliche sind, in dem er sich auch selbst verändert (vgl. aaO, 441-445, hier bes. 442 und 444). „[S]o ist gerade nicht die wissenschaftliche Analogie der Weg zur Entsprechung, sondern die individuelle Apperzeption des Individuellen“ (444). AaO, 441. Vgl. HAAS, Bekannte Sünde, 49, Anm. 227. Vgl. MOSTERT, aaO, 449. 452. Die „Parafunktion“ des metaphysisch-wissenschaftlichen Denkens, die darin besteht, über ihren Zuständigkeitsbereich hinaus das existentielle Vergewisserungsproblem lösen zu wollen, wird von Mostert als „Realitätsflucht“ charakterisiert. Als das eigentlich Reale tritt nun aber im Gegensatz zu dieser Form der Generalisierung und Neutralisierung das wahre Personsein des Individuums als durch die Sünde bestimmt zutage. Diese Erfahrung läuft nun allerdings nicht auf ein moralisches Urteil hinaus, sondern ist ontologisch zu verstehen (vgl. MOSTERT, aaO, 446-449).
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lenkt innerhalb der Theologie von der Wahrnehmung des anthropologischen Grundproblems in bezug auf das Gottesverhältnis ab. Oftmals sind diese Versuche in einem „Plausibilitätsverlust“ begründet, der durch den allgemeinen empirischen Nachweis der Sünde aufgehoben werden soll.64 Dabei sollte nach Mostert allerdings der Wirklichkeitsund Gegenwartsbezug nicht darin bestehen, dem modernen Menschen nur eine Verstehenshilfe für das zu geben, was mit Sünde gemeint ist. Vielmehr sollte die Theologie auf die Verdrängung des Grundproblems des Humanum in jedem Einzelnen aufmerksam machen, die letztlich für die Genese und Wirksamkeit des Übels verantwortlich ist.65 Nach Mostert darf die Theologie, wenn sie der „Sache des Menschen dienen“ soll, „nicht einfach dem zeitgenössischen Denken dienen. Sie muss ihre Solidarität mit dem Menschen anders als in der Verbrüderung mit dem zeitgenössischen Denken bewähren. Sie muss sich von diesem Denken entfremden, weil es selbst dem Menschen entfremdet ist.“66 Mosterts Hamartiologie versucht, das Grundproblem, das der Mensch selbst ist, an seiner Wurzel zu verstehen, indem es ihm mit der Rede vom peccatum radicale wirklich ernst ist. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, kann sich die Theologie aber nicht an einem ihr fremden Erfahrungsbegriff, der normierend festlegt, was als Erfahrung zu gelten hat, orientieren67, sondern muss in Distanz dazu gehen. Nur 64
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Pannenberg differenziert beispielsweise den Begriff des Selbstwiderspruchs nicht deutlich genug von der Sünde selbst. Damit ist Sünde auch empirisch als dieser Selbstwiderspruch aufzeigbar. Daraus folgt nun aber, dass die Sünde nicht vorrangig als ein pervertiertes Gottesverhältnis verstanden wird, sondern eher als eine immanente Bestimmung des Menschen. Das verkehrte „Weltverhältnis“ oder die „Gebrochenheit im Selbstverhältnis“ werden mit dem Inbegriff von Sünde identifiziert. Erst sekundär werden sie mit dem gebrochenen Verhältnis von Gott und Mensch verbunden. Vgl. PANNENBERG, Anthropologie, 77ff 83ff.275f; Vgl. dazu auch KLEFFMANN, T., Die Erbsündenlehre in sprachtheologischem Horizont. Eine Interpretation Augustins, Luthers und Hamanns (BHTh 86), Tübingen 1994, 5, Anm. 14. Vgl. HAAS, Bekannte Sünde, 49, Anm. 227; Vgl. MOSTERT, Sinn, 25 und insgesamt § 3 „Zeitgenossenschaft und Sache“, 15-25. AaO, 108. Nach Mostert besteht eine eigentümliche Dialektik zwischen den Anpassungsversuchen der Theologie an die allgemeingültigen Wissenschaftsstandards und dem Verlust ihrer Sache: Dabei setzt die Theologie unreflektiert voraus, dass die Wissenschaft eine nicht mehr hinterfragbare Autorität ist und die Probleme der Zeitgenossen authentisch artikuliert und insofern den Zeitgenossen auch wirklich repräsentiert (vgl. aaO, 16.20f). Vgl. auch die Überlegungen von EBELING, Erfahrungsdefizit, 26: „Fragwürdig ist es darum auch, wenn der beklagte Erfahrungsmangel in der Theologie durch einen bloßen Empirie-Import ausgeglichen werden soll, der dann bezeichnenderweise in Kirchensoziologie, Sozialethik oder gruppendynamischer Praxis und dergleichen stecken bleibt [...]. Denn es kommt darauf an, daß die Konfrontation mit der Empirie
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so nimmt sie ihre kriteriologische Aufgabe wahr, das herrschende Erfahrungsdefizit in der Selbst- und Welterfahrung des Menschen aufzudecken: „Sie [sc. die Theologie, M.R.] muss zu einem grundlegenden Konflikt mit dem modernen Selbstbewusstsein unter Einschluss der Wissenschaft bereit sein“68. Wie oben in der Untersuchung des Grundproblems der Erfahrung als Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem ausführlich dargestellt wurde, geht es Mostert in entscheidendem Maße um die „Individuierung des Erfahrenden“69. Insbesondere in der religiösen Erfahrung kommt es darauf an, dass das Dabeisein des Einzelnen gewährleistet ist: „Das Princip der Erfahrung enthält die unendlich wichtige Bestimmung, daß für das Annehmen und Fürwahrhalten eines Inhalts der Mensch selbst dabei seyn müsse, bestimmter daß er solchen Inhalt mit der Gewißheit seiner selbst in Einigkeit und vereinigt finde.“70 Jedoch hat der Mensch ein besonderes Interesse daran, seine „Lebensäußerungen zu entindividuieren“71, wobei er sich auf einer permanenten Flucht vor sich selbst ins Allgemeine befindet72, denn die Erfahrung seiner Realität wäre für ihn unheimlich, schaute er in die Abgründigkeit seines Seins: „Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen.“73 An diesem Punkt wird die Schwäche der Individualität offenbar, die sich „also aus der Weigerung, das Böse und Gemeine als Element des Seins zu akzeptieren“74, ergibt. Wenn das Subjekt individuiert werden muss, indem es mit der Erfahrung seines Selbst konfrontiert wird, dann heißt das aber,
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theologisch reflektiert und dem Verständnis und dem Leben des Glaubens integriert wird.“ MOSTERT, Sinn, 24. Vgl. auch BAYER, Zugesagte Freiheit, 17; DERS., Theologie (HST Bd. 1) Gütersloh 1994, 115-117, wo Bayer ebenfalls die Theologie als Konfliktwissenschaft im Anschluss an Luther bestimmt. Vgl. TROWITZSCH, Gott als „Gott für dich“, 22. Vgl. dazu auch den Hintergrund der kierkegaardschen Kategorie des Einzelnen im Gegenzug zu einer spekulativen Allgemeinheit, die das Besondere unter das Allgemeine subsumiert. HEGEL, G. W. F., Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827). Erster Theil. Die Wissenschaft der Logik, Einleitung § 7, in: DERS., Gesammelte Werke Bd. 19, hg. von W. Bonsiepen und H. - Chr. Lucas, Hamburg 1989, 33f, 33. Vgl. MOSTERT, Erfahrung, hier bes. 434ff. AaO, 443. Vgl. aaO, 454. Vgl. dazu auch TROWITZSCH, Gott als „Gott für dich“, aaO, 22f. Bei dieser Flucht ins Allgemeine gibt das Individuum zwar moralische Defizite zu, doch „Wer ist schon vollkommen?“; es kann sich jedoch als Person im ontologischen Sinne nicht annehmen. BÜCHNER, G., Brief an die Braut, Gießen, November 1833, in: DERS.,Werke und Briefe 2. Bd., Frankfurt a. M. 1982, 373-375, 374. MOSTERT, Erfahrung, 449.
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dass der Mensch in die Erfahrung seines Sünderseins geführt werden muss. So fällt die „Erfahrung überhaupt mit der bestimmten Erfahrung des Sünderseins“75 zusammen. Hier wird die zuvor allgemeine Erfahrung mit Hilfe der theologischen Kategorie des Sünderseins gedeutet und damit erst als bestimmte Erfahrung ausgewiesen. Deshalb kann nämlich das Sündersein nicht einfach aus der allgemein zugänglichen Erfahrung abgeleitet werden, da diese Erfahrung gerade zum Beweis ihres Gegenteils herangezogen wird. Die allgemeine Erfahrung zeigt nur die Verdrängung dieser Frage nach dem Sein des Menschen und seiner Verantwortung für die Hervorbringung des Bösen.76 Mostert unterwirft sich also nicht dem allgemein herrschenden Evidenzzwang, der darin besteht, nur das für wahr zu halten, was auch im allgemeinen Sinne empirisch evident ist.77 Aus dem Dargestellten ergibt sich nun, dass man bei Mostert von der Sündenerfahrung im Gegenüber zur allgemeinen Erfahrung sprechen muss, d.h. vorrangig von einer, nämlich der Grunderfahrung gegen die allgemeine Erfahrung.78 Jedoch ist sie als spezifische Erfahrung mit der allgemeinen Erfahrung zu bestimmen, die aus dem Hören auf das göttliche Wort erwächst. Die Erfahrung des Sünderseins erweist sich somit für den Einzelnen als eine Erweiterung und Öffnung der allgemeinen Erfahrung für die Begegnung mit Gott, der den Sünder gerecht machen will. 1.4 Ergänzung des Erfahrungsbegriffs Das Problem des Erfahrungsbegriffs kann – wie wir oben gesehen haben – nicht dadurch gelöst werden, dass man bei der Frage nach dem Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem dem einen oder dem anderen den Vorrang gibt. Auch Mostert kommt nicht ohne Generalisierungen aus, da er in der Sprache der Reflexion immer schon ein Allgemeines beansprucht. Zwar räumt er gegen die Definierbarkeit von Erfahrung immer wieder ein, dass „[e]rst die Erfahrungen [...] sagen [können], was Erfahrung ist“79. Es bleibt aber dennoch die Frage, ob 75 76 77
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Ebd. Vgl. aaO, 449-453. Vgl. HAAS, Bekannte Sünde, 56. Vgl. DESCARTES, R., Discours de la méthode, Quatrième Partie, 3., in : DERS., Discours de la méthode, Hamburg 1990, 54/[=34]: „je jugeai que je pouvais prendre pour règle générale, que les choses que nous concevons fort clairement et fort distinctement, sont toutes vraies“. Vgl. auch EBELING, Das Problem des Bösen als Prüfstein der Anthropologie, in: DERS., WuG III, 205-224, passim. MOSTERT, Erfahrung, 442.
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man nicht von allgemeinen Strukturen der Erfahrung sprechen kann, welche die besondere Selbsterfahrung des Sünderseins erhellen. Was Sünde in ihrer tiefsten Wirklichkeit ist, lässt sich wohl kaum mit empirischen Erfahrungsmustern erklären. Aber es lässt sich mit Hilfe solcher Erfahrungsmuster erhellen, unter welchen allgemeinen Bedingungen sich Sünde am Menschen verwirklicht. So ist generell zu fragen, ob nicht bei allen Präzisierungen Mosterts Erfahrungsbegriff unklar und missverständlich bleibt, weil er auch als spezifischer Begriff zwar auf den allgemeinen Erfahrungsbegriff angewiesen ist, diese Angewiesenheit jedoch leugnet. Gleichzeitig steht ein solcher Erfahrungsbegriff in der Gefahr, in ein Sprachspiel zu verfallen und so eine wirkliche Kritik an den Erfahrungswissenschaften als unplausibel erscheinen zu lassen. Nur unter Bezugnahme auf einen auch allgemein und philosophisch gebräuchlichen Erfahrungsbegriff ist die Vermeidung eines rein theologischen Sprachspiels möglich bzw. wird der Rede von der Einheit der Wirklichkeit Rechnung getragen.80 Das Allgemeine und das Besondere stehen auch in einem spezifisch christlichen Erfahrungsbegriff immer wieder in einem Spannungsverhältnis, welches nicht ein für allemal geklärt werden kann, sondern je neu zur Sprache gebracht werden muss. Dieses Spannungsverhältnis drückt sich allerdings stärker im Begriff „Widerfahrnis“ aus, wie ihn Luther gebrauchte und wie er besonders in der Theologie Oswald Bayers wieder aufgenommen wird.81 Denn hier ist die Allgemeinheit nicht durch transzendentale Kategorien vermittelt, sondern sie ist schon mitgesetzt durch dasjenige, was von außen auf mich zukommt. Erfahrung wird demnach dem Einzelnen durch dasjenige ermöglicht, was ihm widerfährt, sei es der Widerspruch des Gesetzes, der Zuspruch des Evangeliums oder gar der An-
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Jedoch den Gewinn einer nova lingua bei Luther, den Mostert meines Erachtens nach ebenfalls anstrebt, beschreibt KLEFFMANN, Erbsündenlehre, 214: „Das Bad aber ist die Taufe, der Tod des alten und Anfang des neuen Menschen – dem im weiteren Kontext der Übergang von der Vernunft, d.h. dem von der Logik, den Kategorien und den entsprechenden Begriffen von Mensch, Welt und Gott bestimmten Verstehen des alten Menschen, zur nova lingua, zur neuen Sprache im Glauben entspricht.“ Vgl. BAYER, Theologie, 413-418. Dort charakterisiert Bayer die drei für eine theologia viatorum irreduziblen Widerfahrnisse folgendermaßen: „(a) der sich gegen mich richtende Widerspruch des mich der Sünde überführenden [...] Gesetzes, (b) der Zuspruch des Evangeliums [...], (c) der Ansturm der [...] erdrückend unbegreiflichen Verborgenheit Gottes“ (413).
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sturm der Verborgenheit Gottes.82 Gerade das letztere wird in Mosterts Erfahrungskonzeption nicht ausreichend thematisiert. Die Radikalität der Sünde des Menschen kann nur dann sachgemäß zur Sprache gebracht werden, wenn der Mensch nicht nur als Akteur der Sünde und damit des Bösen, sondern auch als ein das Böse Erleidender in den Blick kommt, und nicht nur im Blick auf das von Menschen hervorgebrachte, sondern auch das vom Menschen unabhängige Übel. 83 Denn die damit verbundene Anfechtung ist als solche ebenso radikal und durchdringt die ganze menschliche Existenz.
2. Erfahrung und Sünde Zu den Bedingungen eines theologischen Erfahrungsbegriffs zählt die Entfaltung dessen, was Sünde in bezug auf die Erfahrung des Einzelnen heißt. Wurde der spezifische Erfahrungsbegriff als Erfahrung des Sünderseins bestimmt, so darf die Frage nach der inhaltlichen Näherbestimmung dieser Erfahrung in unseren Überlegungen nicht fehlen. Das Sündersein des Menschen ist somit auch als grundlegende Voraussetzung für die Bestimmung des dem Menschen zukommenden Wortes über seine Situation anzusehen, welches er sich gerade deshalb nicht selbst sagen kann. Erst innerhalb dieser grundlegenden Verhältnisbestimmung, die nicht nur in allgemeiner Weise ein Konstituiertsein des religiösen Bewusstseins vorauszusetzen hat, sondern ebenfalls und im besonderen vom konkreten geschichtlichen Ort des Kreuzes Jesu ausgeht, ist die Rede von den Dimensionen religiöser Erfahrung anzusiedeln. Insofern erweist sich die Wahrhaftigkeit der Theologie, aber auch der Philosophie anhand ihres Umgangs mit dem Problem der Sünde bzw. dem Problem des Bösen. Dieser Wahrheitsbezug ist jedoch nicht „überbietungstheoretisch“, sondern anthropologisch zu verstehen.84 Denn die Wahrheit Christi ist eine anthropologische, in der das Elend des Menschen als Menschen, der sich selbst immer wieder als herrlich beschreibt, offenbar wird. Hier am Kreuz ereignet sich die Wahrheit,
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AaO, 415f: „‘Gott’ bleibt darin meist anonym, fast immer ins Passivum verhüllt, kein Liebhaber des Lebens, sondern dessen Verkläger und Verneiner, der Gottes offenbarem Willen und dem Evangelium widerspricht.“ Vgl. auch MOSTERT, W., Über das Böse und die Gerechtigkeit Gottes, in: DERS., Glaube und Hermeneutik, 176-185, passim. Dieses Kriterium ist allerdings kein „moralisches“ für die Kunst, obgleich sich aus dieser Anthropologie ein bestimmtes Menschenbild ableitet.
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welche vor der Sünde des Menschen nicht Halt macht.85 Aufgrund der Sünde können für die Theologie keine rationalen Begründungsstrategien ausreichend sein. Ebenso sind auch alle anderen Wahrnehmungsformen als korrumpiert anzusehen. Am Umgang mit der Sündenlehre entscheidet sich also – um mit Ebeling zu reden – die „Sachgemäßheit“ jeder Theologie und, da es in der Theologie letztlich um das Verhältnis Gott – Welt – Mensch geht, auch diejenige der Anthropologie.86 Der Vollzug und das Wirken des Wortes als Vergebung und Hinwegnahme der Sünde ist dann derjenige Aspekt des einen Vergebungsgeschehens, der immer wieder erneut vom Einzelnen zu erfahren ist. Auch die Sündenerkenntnis ist nicht als einmaliges, in sich abgeschlossenes Geschehen vorzustellen, sondern sie muss immer wieder unter dem Wort vollzogen werden, denn das Sündersein haftet dem Geschöpf an, auch wenn es die Rechtfertigung des Sünders erfahren kann. Der Sünder ist mithin immer wieder neu auf das Wort angewiesen, nicht nur auf das Wort des Evangeliums, sondern auch auf das des Gesetzes, da er sonst der Eigendynamik der Selbstrechtfertigung durch das eigene Denken verfällt. Insofern muss die folgende Aussage als grundlegend für christliche Anthropologie angesehen werden: „Der Mensch lebt, faktisch und ontologisch früher als aus dem Denken, aus dem Hören, aus dem Empfangen.“87 Die Sprachformen, in denen die Selbsterfahrung des Sünders erst wirklich begegnet, sind diejenigen der Erzählung88, des Gebets und des Bekenntnisses.89 Diesem Sprachge-
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Auch das Geschehen des Kreuzes in seiner Geschichtlichkeit hat die Balance zwischen Mythos und Metaphysik zu wahren, indem es gleichzeitig gegenüber Mythos und Metaphysik kritisch bleibt. EBELING, Problem, 209: „Der Prüfstein der Anthropologie ist das Problem des Bösen.“ MOSTERT, W., Scriptura sacra sui ipsius interpres. Bemerkungen zu Luthers Verständnis der Heiligen Schrift, in: DERS., Glaube und Hermeneutik, 9-41, 16. Vgl. dazu auch KORSCH, Dogmatik im Grundriß, 240-270, hier bes. 243f. Korsch versteht Empfangen als „Grundvollzug menschlichen Lebens überhaupt“ (243), den er nicht nur auf das Hören der Anrede allein reduzieren will: „Empfangen als umfassende und elementare Dimension menschlichen Lebens verlangt auch nach tätiger Darstellung, nach symbolischem Geben und Annehmen, das diese Struktur als solche anschaulich macht.“ (244) Diese Darstellung der Grundstruktur des Empfangens wird in den Sakramenten Taufe und Abendmahl leiblich vollzogen. „Die ‘Begreiflichkeit einer Sache’, ihre ‘Erklärung’, kontrastiert Hamann der Wahrheit, die offenbar nur erzählt werden kann und schon deshalb nicht zeitlos ist. Zeitlos sein aber will die Erklärung, um mit ihrer Zeitlosigkeit Allgemeingültigkeit zu verbinden; sie will immer, überall und von jedem nachvollzogen werden können. Mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit täuscht sich die Methode des Erklärens jedoch über sich selbst. Denn auch eine Erklärung ist, wie eine Erzählung, jeweils
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schehen entspricht wesentlich die hörende und empfangende Existenz des Menschen. 2.1 Bestimmung der Sündenerfahrung Wenn als erster entscheidender Gesichtspunkt des inhaltlichen Verständnisses der Sünde im Anschluss an Mostert das Wesen des Sünderseins als „peccatum omissionis“ in den Blick kommen soll, so ist darunter in Abgrenzung zur Tradition nicht ein Versäumnis gegenüber dem Gesetz zu verstehen.90 Mostert will mit seinem Verständnis des peccatum omissionis gerade die Wahrnehmung dafür schärfen, dass die Sünde wahrhaft erst in der „Erfüllung des Gesetzes als Wirklichkeitskonstruktion“ erscheint, „sofern diese nämlich die Herstellung der Wirklichkeit des Recht-Seins und die Verwirklichung des Seins der Welt sein will“91. Mostert fragt daher nach der Wurzel dieser Absicht, gleichsam nach dem peccatum radicale, jener „Ur-Unterlassung“92, welche das eigentliche peccatum omissionis darstellt: Es ist die „Nichtwahrnehmung jener nicht gesetzlich auslegbaren Wirklichkeit Gottes, des Schöpfers“93. Der Mensch unterlässt die Dankbarkeit gegenüber dem Schöpfer und seinen Gaben, wobei diese Unterlassung die Wurzel seines gestörten Gottesverhältnisses, die Wurzel des Sündenfalls darstellt.94 Dieses Sündenverständnis erweist sich auch besonders im Kontext ästhetisch-theologischer Hermeneutik als fruchtbar, da Sünde als Unterlassung auf das Geschöpfsein des Menschen als Wahrnehmenden und Rezipierenden bezogen ist. Dieses Verständnis ist wesentlich erfahrungsbezogen, da es die Erfahrung des Sünderseins, die Spannung und
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individuell. Ja, sie ist in Wahrheit selbst eine Erzählung, eine erzählte Geschichte“ (BAYER, Autorität, 89f, vgl. ebd., auch Anm. 34). Damit werden die Konzeptionen Mosterts sowie Bayers als Theologie bestimmt, die von den grundlegenden Sprachformen der promissio ausgehen (vgl. auch BAYER, Leibliches Wort, 306-313 u.ö. und DERS., Theologie, hier bes. 438-453: Bayer interpretiert hier in eindrücklicher und überzeugender Weise die promissio anhand Austins Theorie der Sprachhandlung). Den Zusammenhang der Sprachbewegung des Textes und der daraus resultierenden Selbstbewegung beleuchtet Bayer in seiner Ethik: BAYER, O., Sprachbewegung und Weltveränderung. Die Neusetzung des Ethos durch die Bergpredigt, in: DERS., Freiheit als Antwort. Zur theologischen Ethik, Tübingen 1995, 26-40. Vgl. MOSTERT, Sünde, 164f. MOSTERT, Sünde, 168. AaO, 168f. AaO, 168. Vgl. aaO, 169; Vgl. auch BAYER, Zugesagte Freiheit, 97f, Anm. 66.
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Erfahrung des homo iustus et peccator besser zur Darstellung bringt.95 Dabei sind die beiden Aspekte der Sünde und des Gerechtfertigtseins nicht als Teilaspekte zu verstehen, die sich gegenseitig relativieren, sondern sie betreffen beide die ganze Existenz.96 Mostert schließt sich Paulus und Luther an, indem er die Sünde als einen ontologischen Begriff strikt von der Unmoral unterscheidet.97 Er sieht überdies einen strukturellen Zusammenhang zwischen der in der mittelalterlichen Bußtheologie auftretenden Frage nach den merita und dem neuzeitlichen Phänomen der Reproduktion, der „gesetzliche[n] Fabrikation von Wirklichkeit“98. Denn in beiden Denkmustern zeichnet sich die gleiche ontologische Frage ab, nämlich wie der Mensch sich aus sich selbst heraus seiner selbst vergewissern kann. Aber je stärker die intellektuelle Bemühung nach einer ontologischen Vergewisserung, desto mehr entfernt sich der Mensch gerade von dem Sein, dessen er sich vergewissern will. Sünde ist also wesentlich omissio realitatis. Dieser Wirklichkeitsverlust lässt sich in dreifacher Gestalt ausmachen: „als Verlust der Wahrnehmung des Schöpfers“, als „Verzerrung der Erfahrung“ und „als Vernichtung der schöpfungsmäßigen Weltgestalt“99. Obwohl der Mensch mit seinem Handeln oft positive Absichten verbindet, manifestiert sich die „Sünde als wahnhafte Setzung guter Wirklichkeit und Vernichtung geschaffener Wirklichkeit“100, wovon die politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Ideologien des Zwanzigsten Jahrhunderts in eindrücklicher Weise Zeugnis ablegen.
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Einerseits könnte man dafür die allgemeine Alltagserfahrung anführen. Dass mir auch als Christen die Sünde anhängt, ist aber in dieser eindeutigen Bestimmung wiederum nur von der geistlichen Erfahrung mit dem Evangelium abhängig. Vgl. JÜNGEL, E., Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht, Tübingen 1998, 185. 96 Vgl. JÜNGEL, aaO, 186f. 97 Vgl. auch MOSTERT, Sinn, 138: „Deshalb hat Luther verneint, daß der Mensch das Gesetz oder den Gesamtsinn gebrauchen könne, um seiner selbst gewiß zu werden, also gleichsam das dogmatische Problem des Menschen ethisch zu lösen“. 98 MOSTERT, Sünde, 170; Vgl. auch MOSTERT, Zur ontol. Frage, 96. 99 MOSTERT, Sünde, 171f. 100 HAAS, Bekannte Sünde, 58. Vgl. auch die besten Absichten im allgemeinen Fortschrittsoptimismus, der die Welt an ein heilvolles Ziel führen soll. Gegenwärtig manifestiert sich dieser Fortschrittsoptimismus vor allem in einem Glauben an die Technik (insbesondere die technischen Möglichkeiten der Medizin), der ihrer Ambivalenz überhaupt nicht inne ist, weiterhin in den Ideologien, die in diesem Jahrhundert in besonderer Weise zur Herrschaft gelangt sind oder aber auch die im Privaten spürbare Sehnsucht nach Wohlstand, die den Einzelnen zu einem Opfer des Marktes gemacht hat und ihn zum bloßen Konsumenten degradiert.
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Sünde bedeutet also Abwendung des Menschen von Gott durch gleichzeitige Hinwendung zum Eigenbau von Wirklichkeit.101 Insofern ist auch das Gesetz nicht in der Lage, dieses gestörte Verhältnis wiederherzustellen. Denn es erscheint dem Sünder ebenfalls als Hinweis auf eine von ihm zu erstellende Wirklichkeit, dieWerkgerechtigkeit. Damit ist aber sein wahrer Sinn verkannt: „In Wahrheit verweist das Gesetz auf die Wirklichkeit Gottes“ 102. Da die Wahrnehmung dieser Wirklichkeit Gottes vom Sünder ausgeblendet und verweigert wird, ist die Sünde ihrem Wesen nach aversio a Deo oder Unglaube als Verweigerung des Glaubens.103 Der Unglaube betrifft jedoch – ebenso wie der Glaube – den ganzen Menschen und manifestiert sich als totale Selbstbezogenheit.104 Der Glaube dagegen als konkrete Lebensgemeinschaft mit Gott, „der sich, gestützt auf Jesus, dem Schöpfer und Vater anvertraut, führt zur Erfahrung der Güte der Schöpfung“105. Anhand der Definition des Glaubens wird aber auch deutlich, was Sünde als Unglaube bedeutet: Der Unglaube führt zu einem nihilistisches Seinsverständnis, welches davon ausgeht, dass das Gute in der Schöpfung vom Menschen selbst als Kampf gegen das Böse verwirklicht werden muss.106 Der Mensch ist gezwungen, Wirklichkeit unter dem Blickwinkel der Reproduktion wahrzunehmen. Als Grund jener Reproduktionshermeneutik, wie sie unten noch ausführlich in den Blick genommen werden soll107, offenbart sich Sünde dann in entscheidendem Maße als Unfähigkeit des Sünders zum Genießen108 und als „Blindheit gegenüber nicht von ihm produzierter 101 102 103 104
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Vgl. MOSTERT, Sünde, 172f. Vgl. aaO, 170; vgl. auch 174. Vgl. aaO, 170. Vgl. auch HAAS, Bekannte Sünde, 58f. Vgl. dazu JÜNGEL, Rechtfertigung, 116: „So wie der Glaube Gott das Seine nur eben dadurch gibt, daß er von Gott nimmt und sich von der in Jesus Christus offenbar gewordenen Fülle des Reichtums Gottes mit Gnade und immer wieder mit Gnade beschenken läßt (vgl. Joh 1,16), so raubt der Unglaube Gott das Seine, so versucht der Unglaube, Gott seiner Gottheit zu berauben, indem er sich von Gott nicht geben lassen, sondern statt dessen in räuberischer Weise von ihm nehmen will, wonach er giert.“ MOSTERT, W., Theologische Bemerkungen zum Verständnis der Sünde, unveröffentlicht, undatiert, handschriftlich, 1-16, 13. Vgl. aaO, 14. Vgl. Kapitel 1.3: „Reproduktionshermeneutik und Erfahrungshermeneutik“ innnerhalb von II: „Die Relevanz der Ästhetik für eine theologische Hermeneutik“. Vgl. auch MOSTERT, W., Die theologische Bedeutung von Luthers antirömischer Polemik, in: DERS., Glaube und Hermeneutik, 137-154, 150: „In der Feier des Abendmahls stellt die Kirche nach Luthers Erkenntnis den Menschen liturgisch so dar, wie er in Wahrheit ist: als reinen Empfangenden, der sich selbst von Gott empfängt. Diese Wahrheit ist dem Sünder verborgen. [...] Ohne die Offenbarung des
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Wirklichkeit, nämlich der Schöpfung“109. Das Genießenkönnen der Wirklichkeit Gottes ist besonders im Hören auf das lebendige, Leibliche Wort in der Predigt und in der Erfahrung des Abendmahls präsent, denn Gottes Menschenfreundlichkeit lässt sich schmecken: „Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist.“(Ps 34, 9). Die Rede von Sünde ist allerdings zugleich auch die Rede von ihrer Überwindung. Wird das Sündersein anerkannt, kann sich Vergebung der Sünden im konkreten Glauben an Gottes Wirklichkeit, die auch mit Gnade bezeichnet wird, ereignen: „Sündenvergebung ist die Aufhebung der Orientierung des Menschen an sich selbst, Rechtfertigung die Orientierung an Gott.“110 Das schon im vorangehenden Abschnitt näher beleuchtete Problem der Erkenntnis der Sünde wird nun noch einmal von ihrem Wesen her als das Problem der Sünde deutlich. Die Wirklichkeit der Sünde befindet sich „in einem unauflösbaren Wahrnehmungszusammenhang“111 mit Gottes Wirklichkeit. Der Seinsund Wirklichkeitsverlust wird behoben, wo die Sünde erkannt und bekannt wird. Das Sein des Menschen kommt dann als Lassen gegenüber seinem eigenen Sein als Unterlassen in den Blick. Diese Art Gelassenheit erscheint als Sein-Lassen Gottes und der Schöpfung.112 Die Gelassenheit gestaltet sich als äußerste Lebensintensität, wobei sie gerade nicht in eine Wirklichkeitsflucht oder Gleichgültigkeit verfällt, sondern
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Sünderseins in der Sündenvergebung kann die Feier des Abendmahls nicht gelingen. Das Abendmahl ist die Feier der Gegenwart Jesu Christi als Subjekt des Heils gegen den Sünder.“ MOSTERT, Sünde, 167. Vgl. auch 172ff. MOSTERT, Die theol. Bedeutung, 145. MOSTERT, Sünde, 158. Vgl. auch HAAS, Bekannte Sünde, 59. Vgl. auch die Bedeutung des Begriffs der Gelassenheit bei Martin Luther, der diese mit dem unbedingten Vertrauen auf Gottes Treue und Trost im Kampf mit Sünde, Tod und Teufel gleichsetzt (vgl. sein Kirchenlied „Gott der Vater wohn uns bei“ (EG 138 ): „dir uns lassen ganz und gar“. Vgl. HEILER, F., Art. Gelassenheit, in: RGG Bd. II, Tübingen 31958, 1309-1310, 1310. Für Härle stellt der Begriff des Lassens den Schlüsselbegriff für Luthers Glaubensverständnis als menschliches Werk dar. HÄRLE, W., Der Glaube als Gottes- und/oder Menschenwerk in der Theologie Martin Luthers, in: DERS./ PREUL, R. (Hgg.), Glaube (MJTh IV; MThSt 33), Marburg 1992, 3777, 75: „Die Art und Weise, in der der Mensch am Zustandekommen und Wirklichsein des Glaubens durch Gottes Werk beteiligt ist, läßt sich meines Erachtens am besten zum Ausdruck bringen durch das Wort ‘Lassen’, das in gleicher Weise eine passive Aktivität wie eine aktive Passivität bezeichnet. Dieses Lassen ist positiv zu beschreiben als das ‘Geschehenlassen’ von Gottes Glauben erweckendem Werk und es ist negativ zu beschreiben als das ‘Unterlassen’ alles dessen, wodurch der Mensch sich dem Wirken Gottes verschließen oder entziehen könnte.“ Jedoch bestimmt Härle diese grundlegende Passivität, die im Begriff des Lassens zum Ausdruck kommt, immer noch aktivisch. Das kann man als ein Zugeständnis an das neuzeitliche Denken verstehen.
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extremster Ausdruck der Ungelassenheit gegenüber der Sünde ist.113 Als theologische Gelassenheit lässt sie Gott Gott sein und wendet gegen die Sünde auf, was allein ihr widerstehen kann, nämlich Gott in seinem gnädigen Wirken am Sünder und nicht der Sünder in der Produktion einer Scheinwirklichkeit. Gott ist Schöpfer des Menschen gerade dann, wenn er den Sünder aus dem Schöpferwahn befreit.114 2.2 Der Sünder als creator secundus Weil der Sünder gezwungen ist, Wirklichkeit unter dem Aspekt der Reproduktion wahrzunehmen, entwirft er sich notwendig auch als Subjekt115 der Reproduktion. Obwohl er eigentlich keine kreatorische, sondern nur eine kreative Potenz hat, maßt er sich an, selbst Schöpfer zu sein. Das Gute, welches er immer schon vorfindet, kann er nicht als vorgegebene Güte annehmen, darum bläht sich der homo faber zu einem creator secundus116 auf. Der homo faber „verhält sich so, daß er da, wo etwas ist, nämlich die Schöpfung, von einem Nichts ausgeht und tut, als müsse erst noch etwas entstehen, und zwar durch ihn“117. Er gelangt
113 Zu den Begriffen der Gelassenheit und des Sein-Lassens im Werk M. Heideggers vgl. die Untersuchung von KETTERING, E., Nähe. Das Denken Martin Heideggers, Pfullingen 1987, hier bes. 159ff. 248-257: „Die andersgeartete Struktur des ‘wesentlichen’ Denkens gegenüber dem metaphysischen Denken kommt [...] am besten in dem Terminus ‘Sein-lassen’ zum Ausdruck.“ Das unscheinbare Wörtchen ‘lassen’ „bildet Heideggers Gegenbegriff gegen die metaphysisch-transzendentalen Begriffe ‘vorstellen’, ‘setzen’ und ‘konstituieren’. Ferner steht es in der Wendung ‘Gelassenheit’ in Opposition zum ‘Wollen’.“ (aaO, 159f) Vgl. v.a. HEIDEGGER, M., Gelassenheit (30. Oktober 1955), in: DERS., GA Bd. 16: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, hg. v. H. Heidegger, Frankfurt a. M. 2000, 517-529, passim. Im Hintergrund von Mosterts Darstellung stehen natürlich vorrangig die Aussagen Luthers, jedoch lässt sich aufgrund des Literaturverzeichnisses eine intensive Lektüre Heideggers nachweisen. Auch in Auseinandersetzung mit dem metaphysikkritischen Denken oder dem Problem der Technik lässt sich eine Nähe im Denken erkennen, die jedoch – insbesondere bei Mosterts theologischem Begriff der Gelassenheit – nicht zu einer Gleichsetzung Anlass gibt. Bei allen Unterschieden ist ihnen jedoch insbesondere in bezug auf die Problematik der Technik gemeinsam, dass die Haltung der Gelassenheit nichts mit Gleichgültigkeit oder Teilnahmslosigkeit zu tun hat (vgl. MOSTERT, Sünde, 174; KETTERING, Nähe, 251f). 114 Vgl. MOSTERT, aaO, 174f. 115 Vgl. MOSTERT, Erfahrung, 454. 116 Vgl. MOSTERT, Gott und das Böse, 470; Vgl. zu dem Begriff ebenfalls DERS., Sünde, 173; DERS., Bemerkungen, 8f, wo Mostert das Problem der creatio secunda bespricht. Vgl. LUTHER, M., Enarratio Psalmi LI, WA 40/ II, 466, 3-6. 117 MOSTERT, Sünde, 173f. Vgl. dazu auch FRISCH, M., Homo Faber. Ein Bericht, Frankfurt a. M. 1957, passim und die Interpretation von KUSCHEL, K.-J., Im Spiegel
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„in die groteske und alberne Situation“118, das bereits Gegebene erst zu schaffen und sich sogar selbst hervorbringen zu müssen. Er verzerrt die Wirklichkeit, wobei er eigentlich nur lächerlich wirkt. Dieser Versuch, selbst schöpferisch zu sein, verwandelt die Schöpfung in ein Chaos.119 Darum muss es der creator secundus auch aktuell immer wieder erst zerstören, um selbst reproduzierend tätig zu werden.120 Dabei bringt sich das Subjekt der zweiten Schöpfung in Konkurrenz zu dem Subjekt der ersten Schöpfung, nämlich Gott.121 Sünde wird also näher bestimmt als „der Unwille oder das Unvermögen des Menschen, der Endlichkeit seiner Akte auch endlich zu entsprechen“122. Die Endlichkeit der Akte wird nämlich in ihrer Bedeutung verkannt, wenn diese zur eigenen Selbstvergewisserung missbraucht werden. Gegenüber dem Standpunkt der Moralisierung des Glaubens vertritt Mostert einen Standpunkt, der dem Selbstverständnis des tätigen, modernen Menschen widerspricht: Er postuliert „nicht die Vertreibung des Bösen durch den Menschen zur Herstellung des Guten, sondern die Verhinderung der Zerstörung des Guten durch den Sünder.“123 Als Subjekt kommt dabei nicht der Mensch in Betracht, der in seinem fanatischen Kampf gegen das Böse selbst wieder zu bösen Mitteln greift, indem er das Gute, in das der Mensch immer schon eingelassen ist, selbst herstellen will.124 Das Heil empfängt der Mensch nur extra se, so wie er auch allein durch das externe Wort wahrgemacht, ja zu seinem natürlichen Sein gebracht wird. Der Mensch ist also ganz passiv gedacht, wenn er das Gute Gott anheimstellt und dem Guten darin dient,
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der Dichter. Mensch, Gott und Jesus in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1997, 110-117. MOSTERT, Gott und das Böse, 469. Vgl. ebd. Vgl. aaO, 470. Vgl. MOSTERT, Bemerkungen, 8. MOSTERT, Erfahrung, 454. MOSTERT, Gott und das Böse, 470. Vgl. auch dort 457.471f und 468: „Denn das ist doch die crux aller Ethik, oder sollte es wenigstens sein, daß sie den in den Kampf gegen das Böse schickt, der es selbst verursacht.“ Vgl. dazu auch TROWITZSCH, M., Die nachkonstantinische Kirche, die Kirche der Postmoderne – und Martin Luthers antizipierende Kritik, in: DERS., Über die Moderne hinaus. Theologie im Übergang, Tübingen 1999, 24-58, 38f; Vgl. auch die ähnlichen Konzeptionen Bonhoeffers, auf die GOSDA, P., „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“. Gott und die Götzen in den Schriften Dietrich Bonhoeffers (Neukirchener Theologische Dissertationen und Habilitationen Bd. 26), Neukirchen-Vluyn 1999, 292 verweist. Vgl. MOSTERT, Gott und das Böse, 471f. Vgl. auch GOSDA, aaO, 292.
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es einfach sein zu lassen und sich in die Gelassenheit der Kinder Gottes und in das „Vernehmen des Ja“125 einzuüben. Es lässt sich also zusammenfassend festhalten, dass das hier vorgelegte Erfahrungsverständnis als theologisches kritisch ist. Die Interpretation des Erfahrungsbegriffs durch die spezifisch theologische Rede von der Sünde schließt die Auseinandersetzung mit dem allgemeinen Erfahrungsverständnis keineswegs aus, vielmehr bringt sie eine menschliche Grundsituation zur Sprache, die in jenem allgemeinen Erfahrungsbegriff übergangen ist. Dadurch wird der Erfahrungsbegriff wieder an die Wirklichkeit des Einzelnen zurückgebunden und somit seine existentielle Tiefe erschlossen.
3. Religiöse Erfahrung und Glaubenserfahrung Nachdem der Begriff der Erfahrung eingeführt und spezifiziert worden ist, wollen wir uns dem Begriff der religiösen Erfahrung zuwenden.126 Nicht nur in bezug auf den Erfahrungsbegriff im allgemeinen, sondern auch auf den Begriff der religiösen Erfahrung im besonderen herrscht eine gewisse Unklarheit. Nicht alle, die von religiöser Erfahrung sprechen, meinen damit ein- und denselben Sachverhalt. Hinter dem jeweiligen Verständnis der religiösen Erfahrung stehen meist recht verschiedene Auffassungsweisen von Religion, deren Gemeinsamkeiten nicht leicht auf einen Nenner zu bringen sind. Denn die verschiedenen Zugangsweisen zu dem Phänomen Religion sind wiederum bedingt durch epistemologische Grundentscheidungen. Diese Unklarheit ist jedoch nicht das Hauptproblem der Begriffsklärung, da zumindest das Wortfeld unstrittig ist, innerhalb dessen sich die Frage nach Religion bewegt.127 125 Vgl. MOSTERT, aaO, 476f. Jedoch begegnet die Neuzeit einem streng durch Externität und Passivität konstituierten Menschsein mit Befremden, da sich das neuzeitliche Subjekt durch sein Handeln in der Geschichte selbst konstituiert (vgl. MOSTERT, Sinn, 141ff). 126 Vgl. zum theologischen Gebrauch des Erfahrungsbegriffs LANGE, D., Glaubenslehre Bd. I, Tübingen 2001, 27-51. Ebenso zum Begriff der „religiösen Erfahrung“ LAUSTER, J., Religion als Lebensdeutung. Theologische Hermeneutik heute, Darmstadt 2005, 16-27. 127 Vgl. MOSTERT, W., Glaube – der christliche Begriff für Religion, in: DERS., Glaube und Hermeneutik, aaO, 186-199, 186: „Über Glaube und Religion zu sprechen ist also auch ohne präzises begriffliches Übereinkommen möglich, weil jeder weiß, wohin die Sprache ihn mit diesen Wörtern führt, in das Wortfeld nämlich, wo Gott, das Jenseits, der Tod, die Seele, Heil, Unheil, der Stand des Ich und seine Identität usw. zur Sprache kommen.“
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Als problematisch ist vor allem eine andere Unklarheit anzusehen, aus welcher die in praktisch-theologischen wie in systematischtheologischen Entwürfen begegnende Identifizierung von Religion und christlichem Glauben entspringt.128 Die Identifikation von religiöser Erfahrung und Glaubenserfahrung folgt jener unmittelbar. Auf diese Weise ergeben sich Verkürzungen, die nicht nur zu Lasten des Glaubensbegriffs, sondern auch des Religionsbegriffs gehen. So erscheint es mir um der theoretischen und praktischen Klarheit willen als notwendig, zunächst das Verhältnis von Religion und Glaube zur Sprache zu bringen. 3.1 Religion und Glaube Nahezu jede philosophische, theologische und soziologische Strömung hat eine Vielfalt an Religionstheorien aus sich heraus entfaltet. 129 Jene Vielfalt kann im Rahmen dieser Arbeit nicht berücksichtigt werden, da nicht alle Theorien für die Frage nach der religiösen Erfahrung relevant sind. Um die Problematik des Religionsbegriffs zu verdeutlichen, sollen jedoch zwei für die Theologiegeschichte bedeutende Religionstheorien herangezogen werden, die sich auf die Erfahrungsseite konzentrieren. So kann das Problemfeld, in dem wir uns bei der Näherbestimmung von religiöser Erfahrung bewegen, klarer umrissen werden. Eine der klassischen Bestimmungen findet sich bei dem Philosophen William James. Er versteht unter Religion „die Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von einzelnen Menschen in ihrer Abgeschiedenheit, die von sich selbst glauben, daß sie in Beziehung zum Göttlichen stehen.“130 Damit betont James die Innenseite der Religion, d.h. ihre innere und individuelle Erfahrbarkeit, die auch in der Diskussion der 70er und 80er Jahre rezipiert worden ist.131 Religiöse Erfahrung kann als eine spezifische
128 Vgl. zum theologischen Gebrauch des Erfahrungsbegriffs LANGE, Glaubenslehre I, 27-51. Ebenso zum Begriff der „religiösen Erfahrung“ LAUSTER, Religion, 16-27. 129 Vgl. SCHMIDINGER, H. M., Art. Religion VIII. Vom 19. Jh. bis zum Beginn des 20. Jh. 1.-9., HWP Bd. 8, Darmstadt 1992, 683-701. 130 JAMES, W., Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, Frankfurt a. M./ Leipzig 1997, 63f. Vgl. zu W. James Religionsbegriff: DEUSER, H., Zum Religions- und Wahrheitsbegriff bei William James, in: JUNG, M. u.a. (Hgg.), Religionsphilosophie. Historische Positionen und systematische Reflexionen (Religion in der Moderne Bd. 6), Würzburg 2000, 151-164; LAUSTER, Religion, 18ff. 131 Vgl. dazu WAGNER, Was ist Religion, 465f. James zufolge erleben Menschen in der Religion etwas, „was sie selbst als etwas Göttliches interpretieren.“ (LAUSTER, aaO, 18f). Religion stellt demnach „eine innere Haltung und Einstellung zu etwas dar, was ein Mensch erlebt und was er als letzte, göttliche Wahrheit deutet. Die Religion
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Art des eigenen subjektiven Erlebens aufgefasst werden.132 Religiöse Erfahrung ist dann anzusehen als ein „Vorgang im Bewusstsein, in dem ein Mensch von der Wirklichkeit so berührt und ergriffen wird, dass er diese Wirklichkeitserfahrung als eine Erscheinungsform einer transzendenten, göttlichen, übersinnlichen Dimension jener Wirklichkeit interpretiert. Dadurch eröffnet sich ihm eine neue Sicht auf eben diese Wirklichkeit und damit auch auf sich selbst.“133 James ist der Ansicht, dass Religion grundsätzlich den Menschen bereichert, vor allem um eine zusätzlich eröffnete Dimension des Gefühls, um einen feierlichen Zustand des Geistes, geprägt von Glückseligkeit und einer Stimmung feierlichen Annehmens.134 Was dieser Berührung und Ergriffenheit zugrunde liegt, die Außenseite der Religion, gehört nach James in den Bereich des Spekulativen und entzieht sich somit der wissenschaftlichen Beurteilung. Die Vielfalt an religiösen Erfahrungen, der positiven und der negativen, versucht James mit Hilfe der Psychologie formal zu analysieren und zu erklären. James vertritt also ein lebensweltlich-pragmatisches Verständnis von Religion bzw. religiöser Erfahrung. Das Wahrheitskriterium dieses pragmatistischen Ansatzes besteht zunächst im „Will to Believe“, so dass der Gehalt des Glaubens noch als Korrelat einer moralischpraktischen Weltperspektive begegnet. Später überwiegt bei James im religiösen Erfahrungsbegriff die mystische Wahrnehmung des Göttlichen.135 Eine wesentlich andere Definition vertritt Rudolf Otto. Für ihn ist die religiöse Erfahrung nicht aus einer Formanalyse von Erfahrung überhaupt zu gewinnen, sondern nur aus der Formanalyse ganz bestimmter situativer Erfahrungen, die er als Erfahrung des Heiligen bzw. Numinosen bezeichnet. Das Heilige ist jedoch eine Wirklichkeit, die außerhalb und unabhängig vom Individuum existiert. Insofern begründet Otto religiöse Erfahrung phänomenologisch, weil er die
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ist eine deutende Antwort, eine Reaktion des menschlichen Bewusstseins auf eine bestimmte Art und Weise seines Wirklichkeitsumgangs.“ (ebd.). Vgl. zu dieser Unterscheidung auch I.U. DALFERTH, Religiöse Erfahrung und Offenbarung, in: W. GRÄB/ J. HERRMANN/ L. KULBARSCH/ J. METELMANN/ B. WEYEL (Hgg.), Ästhetik und Religion. Interdisziplinäre Beiträge zur Identität und Differenz von ästhetischer und religiöser Erfahrung (Religion-Ästhetik-Medien Bd.2), Frankfurt a.M. u.a. 2007, 183-203, 184. LAUSTER, aaO, 20. Vgl. JAMES, Vielfalt, 57.71.74.80ff u.ö. Vgl. JUNG, M., Religiöse Erfahrung. Genese und Kritik eines religionsphilosophischen Grundbegriffs, in: DERS. u.a. (Hgg.), Religionsphilosophie. Historische Positionen und systematische Reflexionen (Religion in der Moderne Bd. 6), Würzburg 2000, 135-149, 143ff.
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transzendentalen Bedingungen religiöser Erfahrung auf ihren transzendenten Grund zurückführt, da Erfahrung des Heiligen auch immer Erfahrung des ganz Anderen ist. Er fragt allerdings vor allem danach, was religiöse Erfahrung bei dem Menschen auslöst. Die Erfahrung des Numinosen erzeugt im Menschen einerseits ein „Gefühl des mysterium tremendum, des schauervollen Geheimnisses“136 und wird andererseits als ein „Fascinans“, als „etwas eigentümlich Anziehendes, Bestrickendes, Faszinierendes“137, empfunden. Was der Mensch erfährt, hat also einen äußeren Grund. Er erfährt das Heilige so, wie es sich zeigt. „Es ist eine Dimension der Wirklichkeit, die sich dem Individuum erschließt. In der Begegnung mit dem Numinosen widerfährt dem Individuum etwas, das sowohl seine Ausdrucks- als auch seine Verstehensmöglichkeiten übersteigt.“138 Daher entspricht der Begegnung mit dem Heiligen zunächst ein „primitives religiöses Gefühl“, das sich durch Rationalisierung und Versittlichung hin zur „Gottesfurcht“ und zum „Glauben“ im christlichen Sinne entwickeln kann. Otto denkt also das Verhältnis von Religion und Glaube als ein hierarchisches. Der Glaube im christlichen Sinne ist die höchste Ausformung von Religion. Der menschliche Geist hat allerdings in sich eine „verborgene Anlage“, die ihm in der Begegnung mit dem Heiligen die „synthetische Erkenntnis a priori“ beider Momente des Heiligen, des Rationalen und des Irrationalen, ermöglicht.139 Auch das Irrationale ist also ein Wesenszug der Religion sowie der religiösen Erfahrung. Je mehr sich allerdings Otto zufolge das rationale Moment durchsetzt, desto mehr bewegt sich die Religion hin zum christlichen Glauben. Wenn wir also nach dem Verhältnis von Religion und christlichem Glauben fragen, dann tun sich folgende Problemfelder auf: Religion ist zunächst ein Phänomen, das sich bestimmten religiösen Erfahrungen bzw. Erlebnissen verdankt. Allerdings lässt sich wohl nicht letztgültig entscheiden, ob jene Erfahrungen eher von transzendenten oder von transzendentalen Bedingungen abhängig sind. Insofern ist die Frage nach religiöser Erfahrung – und damit letztlich die Frage nach Religion – immer abhängig von der Frage nach Erfahrung überhaupt.
136 OTTO, R., Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 351963, 13. 137 OTTO, aaO, 42. 138 LAUSTER, Religion. 22. Für die Religionswissenschaft zeigt sich der religiöse Gegenstand ursprünglich nur im religiösen Akt, so dass von einem dialektischen Verhältnis von religiösem Akt und religiösem Gegenstand ausgegangen werden muss. 139 Vgl. OTTO, Das Heilige, 137-142.
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Der christliche Glaube ist ohne Religion nicht denkbar.140 Allerdings setzt sich im christlichen Glauben immer auch ein religionskritisches Prinzip durch. Für Otto ist es das Rationale, welches sich gegenüber der irrationalen Unmittelbarkeit religiöser Erfahrung behauptet. Allerdings ist an dieser Stelle zu fragen, ob es sich bei jenem religionskritischen Prinzip des christlichen Glaubens wirklich um ein rationales Prinzip handelt. Religionsphänomenologisch lässt sich außerdem sagen, dass die menschliche Lebenserfahrung, die immer schon artikuliert begegnet, nach Deutungen verlangt und zumindest die Möglichkeit einer religiösen Deutung einschließt, wie es Bultmann klassisch formulierte: „Im menschlichen Dasein ist ein existenzielles Wissen um Gott lebendig als die Frage nach ‚Glück’, nach ‚Heil’, nach dem Sinn von Welt und Geschichte, als die Frage nach der Eigentlichkeit des je eigenen Seins“141. Damit eröffnet sich ein weiteres Problemfeld, nämlich das Problem der„natürlichen Religion“. Ist Religion prinzipiell als ein natürliches Phänomen, eine natürliche Anlage des Menschen aufzufassen, oder ist sie immer schon kulturell vermittelt? Schleiermacher hat der Religion „eine eigne Provinz im Gemüthe“142 zugeschrieben, um sie vor möglichen Vermischungen mit Metaphysik und Moral zu bewahren. Damit hat er gleichzeitig die Frage nach der natürlichen Religion positiv beantwortet. Allerdings ging er davon aus, dass Religion nur als positive, d.h. kulturell vermittelte Religion in Erscheinung treten kann. „Unter natürlicher Religion sind dann jene Bewusstseinsvollzüge zu fassen, in denen Menschen beim Versuch, sich selbst in ihrer Wirklichkeit zu verstehen, immer schon nach einem letzten Begründungszusammenhang bzw. einem letzten Sinnhorizont ausgreifen. Diese natürliche Religiosität geht [...] stets aus einem kulturellen Vermittlungsprozess hervor.“143 Auch dieAlltagsreligiosität, auf die wir später noch zu sprechen kommen, kann solch einen kulturellen Vermittlungsprozess auslösen, ist sie doch selbst ein symbolisches Universum, das freilich von dem anderer Religionen grundlegend verschieden ist. Auch wenn der christliche Glaube von der Religion unterschieden ist, so ist doch der christliche Glaube ähnlichen transzendentalen, psychosozialen und kulturellen Bedingungen unterworfen wie die Religion und verdankt sich zum Teil auch bestimmten religiösen Erfahrun-
140 Was alleine schon an dem engen Bezug zum Judentum deutlich wird. 141 BULTMANN, R., Das Problem der Hermeneutik, in: DERS., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, Tübingen 61993, 211-235, 232. 142 SCHLEIERMACHER, Über die Religion, 35, 14f. 143 LAUSTER, Religion, 164 (Hervorhebungen M. R.) .
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gen. „Trifft es zu, daß der Mensch auch unter den Bedingungen sündiger Radikalverkehrung nicht aufhört, Gottes Geschöpf zu sein, so darf die christliche Theologie die expliziten Vollzüge, in denen die kreatürliche Hinordnung des Menschen auf Gott – in welch verkehrter und sinnwidriger Weise auch immer – dadurch zum Ausdruck gebracht wird, daß eine Beziehung zu einem fundierenden Grund von Selbst und Welt wahrgenommen wird, nicht unvermittelt und ohne weiteres für Unglauben erklären.“144 Eine scharfe Trennung zwischen Religion und Glaube aus rein theologischen Gründen, auch wenn es ihr um die Reinheit des Glaubens gehen mag, verkennt schlechterdings die menschliche Wirklichkeit des Glaubens. Sie verkennt, dass der Mensch als ganzer, mit all seinen Gefühlen, Ängsten, Bedürfnissen, Sehnsüchten, Entwicklungen und Widersprüchlichkeiten, glaubt. Insofern ist es für unsere Fragestellung wichtig, die inhaltlichen Überschneidungen von Glaube und Religion im Auge zu behalten, ohne jedoch den christlichen Glauben als einen Spezialfall von Religion zu behandeln. Denn christlicher Glaube verdankt sich nicht nur religiösen Erfahrungen, sondern auch und im besonderen Maße Erfahrungen, die den religiösen Bedürfnissen des Menschen widersprechen. Das Verhältnis von Glaube und Religion hat W. Mostert in Auseinandersetzung mit der klassischen griechischen Religion sehr diffenziert entfaltet. Sie gilt ihm dabei als Paradigma von Religion im positiven Sinne. Es geht ihm also von vornherein um ein positives, jedoch nicht um ein unkritisches Verhältnis. Im Unterschied zur christlichen Religion kennt die griechische Religion keine Erlösung, ja sie besitzt keinen soteriologischen Charakter, da die Götter den Menschen kein Heil bringen. Jedoch gibt es eine entscheidende Tiefendimension im Verhältnis des Menschen zu den Göttern: „In der Anschauung der Götter bleibt der Mensch menschlich, ist er vor Größenwahn und Verzweiflung bewahrt, also vor der Hybris, kennt er den Unterschied seiner und der göttlichen Welt, überfordert er sich nicht in Erwartung hoher Ziele, ist er aber zugleich seiner selbst gewiß, lebt er [...] in Übereinstimmung mit sich und der Physis.“145 Daraus ergibt sich dann auch ein ganz spezifisches Verständnis dessen, was man als „Heil“ bezeichnet: „Das Heil, das diese reservierte, um nicht zu sagen desinteressierte, auf jeden Fall aber nicht engagierte Präsenz des Göttlichen dem Menschen bringt, ist die wahre Einschät-
144 WENZ, G., Graf Feuerbach und der Tod. Zur Kritik der dogmatischen Religionskritik Barths, in: DERS., Tillich im Kontext. Theologiegeschichtliche Perspektiven (Tillich-Studien Bd. 2), Münster u.a. 2000, 147-181, 178. 145 MOSTERT, Glaube, 188.
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zung der Kräfte, die er hat, ist der Zuspruch des Maßes, und das ist nichts Moralisches, erst recht nichts Moralistisches, sondern etwas Ontologisches.“146 Diese Begrenzung des Menschen auf seinen Raum wird von Mostert also durchaus als positiv interpretiert.147 Er entwickelt daraus ein positives Religionsverständnis, das sich kriteriologisch an dieser Beschränkung der menschlichen Hybris orientiert. Dabei ist die Voraussetzung der menschlichen Religion auch für den Griechen die vom Menschen unabhängige „Offenbarkeit des Göttlichen“, aus der erst die Offenheit des Menschen für das Göttliche resultiert: „Die Religion des Menschen ist ihrerseits nichts anderes als Offenheit, Aufgeschlossenheit des Menschen für das Göttliche.“148 Mostert zufolge besteht die Gewissheit vom Göttlichen beim Menschen einerseits nicht in einem intellektuellen oder spekulativen Akt, sondern gerade in der „Anschauung seines Wesens“. Zum anderen will der Mensch in seiner Gewissheit des Göttlichen über dieses verfügen und sich seiner bemächtigen.149 „Den Akt, durch den das offenbare Göttliche vom Menschen selbst in Verwaltung genommen wird, der zugleich der einzige Grund seiner Verborgenheit ist, nennt der religiöse Grieche Hybris.“150 Dabei ist Hybris nicht als Negierung des Göttlichen zu verstehen, sondern hat ihren Kern vielmehr in der Bestreitung der göttlichen Unabhängigkeit vom Menschen.151 Aus dieser Beschreibung der griechischen Religion können Mostert zufolge zwei wesentliche Merkmale von Religion überhaupt abgeleitet werden: „Präsenz des Göttlichen vor dem aufgeschlossenen Menschengeist und demzufolge Abwesenheit des Göttlichen gegenüber der Verschlossenheit des Menschen.“152 Ist sich Religion dieser Gefahr der Hybris, der Indienstnahme des Göttlichen, bewusst, dann hat sie zumindest eine Affinität zum christlichen Glauben. Der christliche Glaube wiederum begegnet allen Formen von Religion mit großer Offenheit, insofern das Moment der Anschauung dominiert, da der Glaube nichts anderes ist als „ein Aufspüren und Entdecken der Manifestationen Gottes.“153 Sein religionskritisches Moment besteht allerdings darin, dass er alle positiven Religionen ein146 147 148 149 150 151 152 153
AaO, 189. Vgl. ebd. AaO, 190, wo Mostert auf Apg 17,22 Bezug nimmt. AaO, 190f. AaO, 191. Vgl. ebd. Vgl. MOSTERT, Glaube, 193. AaO, 199.
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schließlich der eigenen kritisch daraufhin prüft, ob und wie die Hybris als Verstellung des Göttlichen erkannt und gewertet wird. „Sofern aber Religion schlechthin auf dieses Ziel angelegt ist, darf man Glaube als christlichen Begriff für Religion betrachten.“154 Nicht nur der Offenbarungsbegriff, wie oben in der Darstellung Ebelings gezeigt wurde, sondern auch der Begriff der Fragmentarität und der ihm korrespondierende Begriff der Hybris, der das Nichtanerkennen dieser menschlichen Fragmentarität und der daraus resultierenden Begrenzung thematisiert, bilden also mögliche inhaltliche Überschneidungspunkte zwischen Religion und Glaube. So lassen sich Sünde und Fragmentarität bzw. Heil und gelingendes Leben durchaus aufeinander beziehen. Entscheidend ist dabei, dass es in diesen Beziehungen Überschneidungen gibt, die jedoch nicht zur Identifikation führen können. Nach Ebeling ist Luthers theologische Methode der Fundamentalunterscheidung von Gesetz und Evangelium sowohl auf das Phänomen Religion als auch auf den Glauben in all seinen Erscheinungen anzuwenden. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die Religion grundsätzlich der Wirklichkeitsstruktur des „Gesetzes“, der Glaube aber der Wirklichkeitsstruktur des „Evangeliums“ zugeordnet werden kann. Religion hat allerdings, wie wir gesehen haben, eine Affinität zur Freiheit des Evangeliums. Sie hat die Möglichkeit, Glaube zu werden. Es gibt religiöse Erfahrungen, in denen der Mensch durch den Heiligen Geist aus seiner Verkrümmung in sich selbst herausgehoben werden kann. Im religiösen Fanatismus begegnet dagegen die Kehrseite, indem Menschen so intensiv an Glaubensinhalten festhalten, dass wir von Vergesetzlichung sprechen können. „Das Insistieren auf der konstitutiven und unveräußerlichen Bedeutung der Religionsthematik für das Menschsein des Menschen und die Annahme, daß Religion ein anthropologisches Universales sei, muß im übrigen die Einsicht in die Zweideutigkeit des Religiösen ebensowenig ausschließen wie die evangelische Überzeugung, daß religiöse Zweideutigkeit eindeutig dem Verkehrten zuneigt, wenn Religion nicht in Beziehung gebracht wird zur Offenbarung Gottes in Jesus Christus, wie der Geist sie erschließt.“155 Umgekehrt gilt, dass der Glaube immer menschlicher Glaube ist und dadurch notwendig auch religiös verfasst ist. Ein Glaube in der Welt kommt beispielsweise nicht ohne Rituale aus, die das Religiöse
154 Ebd. 155 WENZ, Graf Feuerbach und der Tod, 179.
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am Glauben repräsentieren.156 Auch der menschliche Glaube neigt also permanent zu dieser „Gesetzlichkeit“ in Form der Ritualisierung, ist aber positiv auch auf diese Form der „Weltlichkeit“ angewiesen.157 Der Glaube bedarf demnach der Religion, um sich darstellen und entfalten zu können. Aber diese Verbindung zeigt etwas von der Menschenfreundlichkeit Gottes an, auch durch diese religiöse Wirklichkeit hindurch und in ihr Glauben zu stiften, ja, sie sogar zu gebrauchen. Theologisch ist dieses Eingehen Gottes in und auf die Welt vom Gedanken der freien Inkarnation Gottes und seinem Geistwirken in der Welt zu begründen. Es kann dabei nicht um ein Sich-Aufheben Gottes in die Welt gehen, sondern Gottes Gottsein erweist sich gerade in der Freiheit des Sich-Einlassens auf diese menschliche Welt.158 Christliche Theologie „hat das religiöse Verhältnis vielmehr trotz seiner allen möglichen Fehlbestimmungen ausgesetzten Unbestimmtheit als aufzuhebendes Moment ihrer selbst zu begreifen, so wie auch der sog. historische Jesus von der irdischen Leibhaftigkeit des auferstandenen Gekreuzigten nicht einfachhin abzulösen ist, sondern dieser unvergessen anhaftet.“159 Thematisiert nämlich die Kunst beispielsweise das Problem des Menschen, das Gelingen seines Lebens selbst in die Hand nehmen zu 156 Luther sah beispielsweise den dem Glauben entsprechendsten Gottesdienst im Hausgottesdienst, der ohne alle Rituale, ja ohne Kirche auskäme, allerdings als längst nicht erreicht, ja als letztlich nicht zu verwirklichen an. 157 Vgl. dazu auch BOHREN, Daß Gott schön werde, 103: „Die Ernährung des Christentums durch das Nichtchristentum zeigt die Angewiesenheit der Kirche auf die Gesellschaft. Die Kirche ist nicht autark, Isolationismus verträgt sie nicht. Sie kann sich nicht selbst ernähren, nicht selbst versorgen.“ 158 Wie es Bohren in seiner Untersuchung von Praktischer Theologie und Ästhetik betont: „Gott wird Mensch an Weihnachten; aber die Menschen von Pfingsten werden noch nicht Gott. – Das ist ein grundsätzlicher Unterschied, der auch für die Probleme der Praktischen Theologie grundlegend ist. [...] Gehe ich von Pfingsten aus, von der Einwohnung Gottes im Menschen, dann muß ich auch das Menschliche, die Verhältnisse und Institutionen, in denen Menschen leben, von diesem Einwohnen Gottes her denken: Pneumatologie wird zur kritischen Theorie für unsere Wirklichkeit. Gott ist im Geist in einer anderen Modalität dem Menschen gegenwärtig als er in Christus war. Der Geist wird anonym, ist kaum mehr zu identifizieren, er mischt sich mit dem Menschlichen. Er kann sich im Menschlichen verstecken, er kann sich verlieren; denn nun vereinigt er sich nicht bloß mit dem Sündlosen aus Nazareth, sondern mit dem Sünder von überall und anderswo, und dieses Vereinigen und Vermischen hat vielerlei Gestalt.“ „Indem sich der Geist ins Menschliche mischt, geht er über das Menschliche hinaus, geht er hinein ins Materielle. Er wirkt, indem er sich einmischt; das Geschöpfliche, das Gemachte wird sein Vehikel. In solchem Einmischen wird der Geist einerseits fragwürdig, wortbedürftig und andererseits stellt er unsere Denkgewohnheit in Frage. Denn er ist der Schöpfergeist einer neuen Welt.“ (BOHREN, Daß Gott schön werde, 60f). 159 WENZ, Graf Feuerbach und der Tod, 178f.
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wollen, so wird die Problematik der Sünde der Phänomenalität nach offenbar. Aus der Tradition der Dialektischen Theologie ist man geneigt zu fragen, ob diese Beschreibungen der Phänomenalität von Wirklichkeit schon auf das Wirken des Heiligen Geistes zurückzuführen oder nicht vielmehr als Ausdruck der subjektiven Wirklichkeitserfahrung des Menschen zu verstehen sind, da doch menschliche Endlichkeit und Schuld160 Themen der Kunst seien. Behandelt jedoch die Kunst Fragmentaritätserfahrungen und Endlichkeitserfahrungen oder stellt sie sich der Frage nach gelingendem Leben, so sind diese Auseinandersetzungen theologisch anzuerkennen und zu würdigen. Es ist demnach die Möglichkeit des Geistwirkens für diese menschlichen Gebilde nicht auszuschließen, da sie nicht nur Machwerk des Menschen sind, sondern sich im Schaffensprozess etwas entfalten und ereignen kann, was dem Rezipienten das Geheimnis des Lebens und seiner Erlösungsbedürftigkeit zu erschließen vermag. Dem Menschen kann sich angesichts eines künstlerischen Gegenstandes etwas aufschließend ereignen, ohne dass es vom Künstler beabsichtigt gewesen sein müsste. Dabei kann es gerade nicht nur um religiöse Topoi gehen, die etwa im Bild zitiert werden und somit nur die Erinnerungsleistung des Rezipienten betreffen. Wird eine solche erschließende Erfahrung jedoch weder im Nachhinein noch erinnernd auf die konkreten Aussagen über das christliche Wirklichkeitsverständnis bezogen, so können diese singulären Erfahrungen kaum eine lebensprägende Kraft entwickeln. Insofern bleiben die Texte des Alten und Neuen Testaments auch Kriterium einer solchen Erfahrung mit der ästhetischen Erfahrung.161 Religion stellt demnach das Gewand des Glaubens dar, d.h., man hat das Christentum immer nur als Religion und in Form von Religion. Dieses Faktum rechtfertigt die Rede von „religiöser Erfahrung“, so dass auch die religiöse Erfahrung als eine „Erfahrung mit der Erfahrung“ verstanden werden kann, wobei die Glaubenserfahrung in einem umfassenden Sinne wiederum eine Erfahrung mit jeder Erfahrungsform, also auch mit der religiösen oder ästhetischen Erfahrung darstellt. Dieses Verständnis ist mit I.U. Dalferth auch als dritte Verstehensmöglichkeit religiöser Erfahrung neben der Konzeption von Erfahrung als subjektives Erleben und dem Verständnis der Erfahrung von Phä160 Hierbei ist jedoch keine Identifizierung von Sünde und Schuld gemeint, als sei „Sünde nur eben die theologische Vokabel für das ethische Phänomen ‚Schuld’“ (BAUR, J., Schuld und Sünde, in: NZSTh 24 [1982], 311-319, 316). 161 Ebenso muß diese spezifische Erfahrung zumindest vom Rezipienten artikuliert werden können, denn unartikulierte religiöse Erfahrung mit ästhetischer Erfahrung ist für unsere Untersuchung gegenstandslos und vage. „Zum Wesen einer religiösen Lebensdeutung gehört ihr bewusster Vollzug“ (LAUSTER, Religion, 169).
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nomenen anzusehen: nämlich als bestimmer „Modus allen Erlebens und Erfahrens, also gar keinen besonderen Typ von Erfahrung neben anderen, sondern das, was gelegentlich als ‚Erfahrung mit der Erfahrung’ umschrieben wird: eine bestimmte Einstellung zu und Umgangsweise mit allem Erfahren und Erleben, die in einer Sichtweise gründen, die nichts bislang Unbekanntes und Verborgenes enthüllt, sondern längst Bekanntes auf neue Weise qualifiziert.“162 Dementsprechend versteht Dalferth das Offenbarungsgeschehen nicht vorrangig als Enthüllungsgeschehen eines bislang Verborgenen. Vielmehr ist Offenbarung primär dasjenige Geheimnis, welches das gesamte Leben durchdringt und damit neu qualifiziert.163 3.2 Religiöse Erfahrung als potentielle Glaubenserfahrung Religion beruht, wie wir soeben erläutert haben, auf vielfältigen religiösen Erfahrungen. Religiöse Erfahrung bzw. Erfahrungen sind aber zunächst zu unterscheiden von religiösen Erlebnissen. Erlebnisse sind unmittelbare, situativ gebundene, individuelle Wahrnehmungszusammenhänge. Individuelles Erleben ist in seiner Artikulation immer an bestehende Deutungsangebote gebunden. Geschieht das individuelle Erleben in einem Deutungszusammenhang, dann wird es mittelbar zur Erfahrung.164 So kann sich religiöse Erfahrung zunächst unmittelbar als Erlebnis vollziehen, dessen Gottesbezug erst im nachhinein deutlich und artikuliert wird.165 Dennoch ist – wie unten noch auszuführen ist – Deutung nur auf die reflektierte Ausdrücklichkeit im Verstehensprozess bezogen und dieser wiederum nicht vollständig in den Deutungsvollzug aufzuheben. Vielmehr bleibt in jeder Erfahrung ein Rest, der nicht umfassend ausdrücklich und transparent wird, sondern vielmehr die Unverfügbarkeit dieses Geschehens unterstreicht.
162 DALFERTH, Religiöse Erfahrung und Offenbarung, aaO, 184. 163 AaO, 190. 164 Vgl. JUNG, M., Erfahrung und Religion. Grundzüge einer hermeneutischpragmatischen Religionsphilosophie (Alber Thesen Philosophie Bd.2)), Freiburg/Br./ München 1999, 262ff. Vgl. dazu auch LAUSTER, aaO, 22ff. Auch G. Haeffner resümiert folgendermaßen: „Die Frage ist, ob – ähnlich wie das für die Lebenserfahrung galt – die religiösen Erlebnisse nicht überhaupt erst zu religiösen Erfahrungen werden im Rahmen dieses deutenden und wertenden Vor- und Rückbezugs im biographischen Kontext.“ (HAEFFNER, G., Erfahrung – Lebenserfahrung – religiöse Erfahrung. Versuch einer Begriffsklärung, in: RICKEN, F. [Hg.], Religiöse Erfahrung. Ein interdisziplinärer Klärungsversuch [MPhS Neue Folge Bd. 23], Stuttgart 2004, 15-39, 39). 165 Vgl. HAEFFNER, Erfahrung, 35.
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In vielen Definitionen der religiösen Erfahrung wird diese allgemein als „Transzendenzerfahrung“ bezeichnet. Ebeling redet in diesem Zusammenhang sogar vom „Transzendenzwiderfahrnis“166, um die Unverfügbarkeit dieses Geschehens zu betonen. Für ihn stellen zunächst auch die Grundaussagen des christlichen Glaubens wie Geschöpflichkeit, Sünde, Versöhnung und Erlösung „Transzendenzaussagen“ dar, denn sie beziehen sich zwar auf das Leben in der Wirklichkeit, thematisieren diese aber coram deo, also in bezug auf jene Tiefendimension, die der Erfahrung nicht zugänglich ist.167 Das entscheidende und grundlegende Transzendenzwiderfahrnis ist jedoch für den christlichen Glauben das Kommen Jesu Christi.168 Ebeling zufolge stellen die vielfach begegnenden und unterschiedlich gedeuteten Transzendenzerfahrungen zudem das „Material der Glaubenserfahrungen“ dar, so dass dann wiederum die Glaubenserfahrungen „freigelegte und auf die Gottesbegegnung in Jesus Christus ausgerichtete Transzendenzerfahrungen“169 sind. Wohl muss sich die Glaubenserfahrung in einer ständigen Kritik der mit allgemeinen Transzendenzerfahrungen verbundenen Weltbilder befinden, jedoch ist der Glaube ohne diese Erfahrungen nicht lebensfähig.170 Mit dieser Verhältnisbestimmung wird jedoch nicht allgemeine Transzendenzerfahrung auf spezielle christliche Glaubenserfahrung bezogen. Glaubenserfahrung bleibt Transzendenzerfahrung, insofern in ihr die Frage nach wahrem Leben, seinem Grund und Ziel gestellt wird.171 Da wir an anderer Stelle den christlichen Glauben von Religion im allgemeinen unterschieden haben, soll nun der Unterschied von christlicher Glaubenserfahrung und religiöser Erfahrung zur Sprache kommen. Wir hatten dabei im Anschluss an Ebeling festgehalten, dass nach der theologischen Methode der Fundamentalunterscheidung von Gesetz und Evangelium die Religion der Wirklichkeitsstruktur des „Gesetzes“, der Glaube aber der Wirklichkeitsstruktur des „Evangeliums“ zugeordnet werden kann. Diese Unterscheidung soll nun auch auf die Seite der Erfahrung angewendet werden. 166 167 168 169 170
EBELING, Dogmatik I, 46. Vgl. aaO, 47. Vgl. ebd. EBELING, Dogmatik II, 317. Vgl. aaO, 318: „Man hat daran so etwas wie Wegweiser, Orientierungshilfen und Leitseile, die der Glaubenserfahrung vorbereitende Dienste leisten. [...] Desgleichen werden aber auch von dem her, was uns in Jesus begegnet, unsere Transzendenzerfahrungen sowie die Deutungen, die wir ihnen zu geben pflegen, nicht minder kritisch zurechtgerückt“. 171 Vgl. aaO, 316.
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So können wir sagen: Es gehört zwar zu religiösen Erfahrungen als„Transzendenzerfahrungen“, dass sie erhebend, Glück spendend etc. sein können, indem sie den Menschen über sich hinausbringen und mit dem Grund der Wirklichkeit konfrontieren, jedoch sind sie nicht als genuin „Heil stiftend“ und „Heil zusagend“ im christlichsoteriologischen Sinne zu verstehen. Heilsstiftung und Heilszusage sind aber ein wesentliches Moment christlicher Glaubenserfahrung. Zwar kann sich in der religiösen Erfahrung die Frage nach Heil regen, sie wird aber in einer radikal anderen Weise im christlichen Glauben beantwortet – und zwar mit einer totalen Infragestellung des Menschen, der vor Gott als Sünder beschrieben wird. Dadurch wird das christliche Verständnis des Menschen als Sünder und seine Rechtfertigung durch Gott, wie sie uns in Jesus Christus begegnet, zum Drehund Angelpunkt des christlichen Glaubensverständnisses. Soweit ist das religionskritische Moment des Glaubens zu akzentuieren. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Glaube nicht auf die alltagsreligiösen Vollzüge angewiesen wäre. Vielmehr partizipiert er an ihnen, vermischt sich mit ihnen zuweilen bis zur Unkenntlichkeit und ist darum in seinem kritischen Bezug zur Religion zu verstehen. Hatten wir in den Überlegungen zum allgemeinen Erfahrungsbegriff schon auf die Bedeutung der subjektiven Evidenz sowie die damit verbundene subjektive Unvertretbarkeit der Erfahrung im Sinne der Lebenserfahrung hingewiesen, so muss dieser Gesichtspunkt für die religiöse Erfahrung erläutert werden. Denn religiöse Erfahrung ist in besonderem Maße durch Unvertretbarkeit gekennzeichnet. Religiöse Erfahrung ist zunächst generell auf je meine Lebenserfahrung172 bezogen. Alle individuellen lebensweltlichen Erfahrungen werden mit „symbolische[n] Universa“173 gedeutet, d.h., alle Widerfahrnisse des Lebens werden in ein Sinn- und Wertsystem eingegliedert, welches auch als unsichtbare Religion bzw. Alltagsreligion begegnen kann, wobei der Transzendenzbezug religiöser Lebensdeutung eine 172 „Lebenserfahrung ist die Erfahrung, die man mit dem Leben macht und die für dieses Leben künftig von Bedeutung sein wird bzw. sein kann. ’Mit dem Leben’ meint in erster Linie das je eigene Leben, wie es sich im Versuch, es zu leben, herausstellt. Gemeint sein kann aber auch das Leben ‚überhaupt’, ‚wie es eben so ist’, das man mit anderen teilt bzw. erleidet. Dabei schwingt die Bedeutung von ‚Leben’ zwischen dem aktiven Vollzug – sein Leben leben, d.h. führen – und dem letztlich passiven Erleben des eigenen Lebens, sofern es bestimmt ist durch seine naturale und soziale Bedingtheit. – Weil das Leben alle Lebensvollzüge umfaßt, kann Lebenserfahrung nicht ein spezieller Modus von Erfahrung sein, der in der Realität neben anderen Modi stünde. Sie wird im Kontext aller Erfahrungen mit-gemacht, wenngleich nicht notwendig ausdrücklich.“ (HAEFFNER, Erfahrung, 21f) 173 LUCKMANN, TH., Die unsichtbare Religion, Frankfurt am Main 1991, 80.
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besondere Ausdrücklichkeit dieser Tiefendimension darstellt.174 An dieser Bestimmung der religiösen Erfahrung als vertiefter Alltags- und Lebenserfahrung ist entscheidend, dass religiöse Erfahrung eine Intensitätserfahrung des Lebens darstellt.175 Das genuin „Religiöse“ der religiösen Erfahrung charakterisiert Haeffner darum auch folgendermaßen: „Es ist das Bewußtsein, getroffen worden zu sein von einem Anund Zuspruch, der in die Tiefe der Person zielt. [...] Es handelt sich vielmehr um eine Bedeutsamkeit, die sich von anderen nicht der Region, sondern dem Rang und der Intensität nach unterscheidet“176. Jedoch besteht die Gefahr einer so allgemeinen Bestimmung der Religion wie bei Haeffner, die sich an jede Alltagserfahrung anschließen kann, zumindest in ihrem diffusen Charakter, der letztlich nur durch die Artikulation des einzelnen Subjekts überwunden werden kann.177 Allerdings ist nochmals darauf hinzuweisen, dass religiöse Erfahrungen in bestimmten Situationen178, die eine bestimmte Grundhaltung der Person einschließen und eine spezifische Grunderfahrung voraussetzen, zuverlässiger begegnen. Wer sich dem Alltag bewusst entzieht, um sich für religiöse Erfahrung zu öffnen, der wird um so sicherer
174 Vgl. LAUSTER, Religion, 165. Vgl. auch M. Josuttis, der hervorhebt, dass Alltagsreligion bzw. „[g]elebte Religion [...] in gespürter Erfahrung“ besteht (JOSUTTIS, M., „Du mußt dein Leben ändern!“ Religion als Erfahrung, in: HERRMANN, J. u.a. (Hgg.), Die Gegenwart der Kunst, 250-260, 250), wobei er die Differenz von religiösen und ästhetischen Erfahrungen in der „Macht, die das Körpergeschehen auslöst“ sieht (aaO, 255). Vgl. dazu auch SCHMITZ, H., Das Göttliche und der Raum (System der Philosophie Bd. III/ 4), Bonn 21995, 91: „Eine Atmosphäre, die ein Gefühl (oder eine Konstellation von Gefühlen) als ergreifende Macht ist, ist göttlich, wenn ihre Autorität für den Ergriffenen unbedingten Ernst besitzt.“; Vgl. auch JOSUTTIS, M., Vom Umgang mit heiligen Räumen, in: GRÖZINGER, A./ LOTT, J. (Hgg.), Gelebte Religion. Im Brennpunkt praktisch-theologischen Denkens und Handelns (Hermeneutica Bd.6: Practica), Rheinbach-Merzbach 1997, 241-251. 175 Vgl. auch ADRIAANSE, H. J., Vorzeichnung der religiösen Erfahrung in der Alltagserfahrung; Auszeichnung der Alltagserfahrung in der religiösen Erfahrung, in: CASPER, B./ SPARN, W. (Hgg.), Alltag und Transzendenz. Studien zur religiösen Erfahrung in der gegenwärtigen Gesellschaft, Freiburg (Br.)/ München 1992, 51-66. 176 HAEFFNER, Erfahrung, 36. 177 Dabei wird sich diese Artikulation immer an bestehenden Artikulationsformen der geschichtlichen Religionsgemeinschaften orientieren, selbst wenn dies in einem „patch-work“ der Deutungen geschieht. Alltagserfahrung wird also mit einem schon bestehenden und bewährten Deutungsangebot der Tradition vertieft, was sich an der großen Resonanz der Kasualpraxis zeigen lässt. Aber auch aus dieser Tradition wird nur ein jeweils persönlich angeeigneter Teil rezipiert. 178 Zum Situationsbegriff vgl. auch GANDER, H.-H., Interpretation – Situation – Vernetzung. Hermeneutische Überlegungen zum Selbst- und Weltbezug im multimedialen Zeitalter, in: KÖRTNER (Hg.), Hermeneutik und Ästhetik, 19-33.
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auch religiöse Erfahrung haben. Diese Bestimmung gilt ebenso für ästhetische Erfahrung.
4. Der Begriff der Ästhetischen Erfahrung Der Begriff der ästhetischen Erfahrung ist zwar erst seit Mitte der 70er Jahre explizit in verstärktem Gebrauch179, muss jedoch ebenso wie der Begriff der religiösen Erfahrung im Zusammenhang mit dem Erfahrungsbegriff im allgemeinen betrachtet werden.180 Im Zuge der Entdeckung, dass alle Wissenschaft notwendig erfahrungsbezogen sein muss, wurde der Begriff der Erfahrung auch in die ästhetische Diskussion integriert. Der dem Begriff der ästhetischen Erfahrung zugrundeliegende Sachverhalt bestimmte allerdings schon die gesamte kantische und nachkantische Diskussion zur Ästhetik. Nach wie vor ist zwar der Begriff der „Erfahrung“, insbesondere der „ästhetischen Erfahrung“, ein unscharfer Begriff, aber er wird benötigt, um gegenüber einer eher platonisch geprägten Wahrheitsästhetik den von ihr vernachlässigten Erfahrungs- und Rezeptionsbezug einzubringen.181 Als Anknüpfung an diesen Begriff und zugleich als Absetzung von seinem allgemeinen Verständnis können Gadamers „Wahrheit und Methode“ (1960) sowie Adornos „Ästhetische Theorie“ (1970) verstanden werden.182 Beide 179 Vgl. BUBNER, R., „Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik“, in: DERS. (Hg.): Ist eine philosophische Ästhetik möglich?, Neue Hefte für Philosophie (NHP) Bd. 5 (1973), 38-73 sowie JAUSS, H.R., Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt am Main 1991. 180 Vgl. auch STÖHR, J. (Hg.), Ästhetische Erfahrung, passim. Vgl.ebenso KULENKAMPFF, J., Ästhetische Erfahrung – oder was von ihr zu halten ist, in: FREUDIGER, J. u.a. (Hgg.), Der Begriff der Erfahrung in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, München 1996, 178-198; Vgl. FRÜCHTL, J., Ästhetische Erfahrung und Einheit der Vernunft. Thesen im Anschluß an Kant und Habermas, in: KOPPE, F. (Hg.), Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen, Frankfurt am Main 21993, 147-164, 147, der als Zäsuren in der Begriffsentwicklung Gadamers „Wahrheit und Methode“ (1960) und Adornos „Ästhetische Theorie“ von 1970 benennt. „Die Konjunktur des ästhetischen Erfahrungsbegriffs darf nicht losgelöst von Sinn und Relevanz des Erfahrungsbegriffs überhaupt gesehen werden. Philosophisch kann auch hier wiederum Adorno als paradigmatisch gelten, denn der Begriff der Erfahrung ist prädestiniert für ein Denken, dem es um die Erkenntnis des Besonderen (als Besonderen) oder um eine nicht ‚verblendete’, nicht wissenschaftlich reglementierte Erkenntnis auf der Basis kompetenter und mimetisch empfindsamer Subjektivität geht.“ (148) 181 Vgl. zum Problem der ästhetischen Erfahrung und der Einheit der Vernunft FRÜCHTL, J., Ästhetische Erfahrung, 147. 182 Vgl. ADORNO, TH. W., Ästhetische Theorie, passim.
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Theorien nehmen den Begriff der ästhetischen Erfahrung zwar auf, folgen aber darin wieder der platonischen Tradition, indem sie den Vorrang der sich in der Kunst ins Werk setzenden Wahrheit vor der Erfahrung betonen.183 Während Kant in der ästhetischen Urteilsbeschreibung auf den Begriff der „subjektiven Allgemeinheit“ aufbaute, der eine Alternative zur platonischen Wahrheitsästhetik darstellte, führt diese Wahrheitsästhetik von Hegel über Heidegger und Gadamer zu Adorno, zur Gefühlsästhetik und zur sprachanalytischen Ästhetik, welche gerade die Privatheit des Geschmacksurteils vertritt. Damit eng verbunden ist die Entdeckung der Selbsterfahrung des Subjekts. Das Subjekt wird im Begriff des Individuums in seiner NichtVerallgemeinerbarkeit verstanden. Auch die existentialistische Konnotation der Selbsterfahrung als „eigentlicher“ Erfahrung geht in den Begriff der ästhetischen Erfahrung als Selbsterfahrung ein (vgl. z.B. den Begriff des „Lebensgefühls“).184 Im 20. Jahrhundert bekam allerdings die Forderung Gewicht, das Kantische Verständnis ästhetischer Erfahrung müsse dadurch erweitert werden, wovon Kant diese Erfahrung einst befreien zu müssen glaubte: nämlich durch das Empirisch-Sinnliche und Körperliche. Die Bewahrung der spezifischen Rationalität ästhetischer Erfahrung findet auch darin statt, dass man kognitive, moralisch-praktische und emotive Momente reintegriert. In der ästhetischen Erfahrung ereignet sich eine Harmonie der Erkenntnis- und Gemütsvermögen, die nicht nur die Vernunft und Einbildungskraft, sondern das empirische Gefühl der Lust und Unlust und des Begehrungsvermögens der Praktischen Vernunft umfasst.185 Kant zufolge ist das ästhetische Urteil aber gerade nur verallgemeinerbar und damit rational, wenn es transzendental begründet wird. Dieses kantische Argument wird durch dasjenige Adornos ergänzt, dass die spezifische Rationalität des ästhetischen Urteils gerade darin besteht, auf die anderen Rationalitäts- oder Vernunftformen hin durchlässig zu sein. Das harmonische Zusammenspiel der Erkenntnis- und Gemütsvermögen ist also auf die Einheit der Vernunft ausgerichtet.186 183 Somit wird auch die ästhetische Erfahrung als eine Erfahrung verstanden, die durch ein Kunstwerk oder auch einen schönen Gegenstand ausgelöst wird. Wahrheit begegnet - wie schon bei Heidegger - in den Kunstwerken bzw. ihrer Darstellung. Dabei ist Wahrheit aber nicht statisch verstanden, sondern als ein jeweiliges Geschehen, das in einzelnen Erfahrungen mit Kunstwerken zu machen ist. 184 Vgl. FRÜCHTL, Ästhetische Erfahrung, 150. 185 FRÜCHTL, aaO, 151. 186 Vgl. hierzu allerdings auch die Kritik an Früchtl: KOPPE, F. (Hg.), Das Ästhetische als Einheit der Vernunft. Vorlage Josef Früchtl, in: DERS. (Hg.), Perspektiven der
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Nach Kant ist im Urteil mit dem Prädikat „schön“ eine einzelne Gemütsgestimmtheit angesichts eines Gegenstandes gemeint, nicht aber dessen begrifflich zu fassende Bestimmtheit, sondern die Erfülltheit der allgemeinen Erkenntnisbedingungen. Das ästhetische Urteil enthält die Paradoxie, in einem singulären Urteil Bewusstsein von möglicher Erkenntnis bzw. Angemessenheit unserer Erkenntniskräfte überhaupt zu sein. Dabei ist das Urteil auf die allgemeinen Bedingungen seines Zustandekommens zu beziehen, d.h., ein einzelnes ästhetisches Urteil ist auf die Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis überhaupt ausgerichtet. Es ist aber dennoch ein Reflexionsurteil, das immer auf einen einzelnen Gegenstand bezogen ist.187 Im Prozess der Wahrheitsfindung gelangt die ästhetische Erfahrung Kant zufolge in die Rolle, der wissenschaftlichen Erkenntnis Vorschläge zu unterbreiten. Mittels der ‚Belebung’ der Erkenntnisvermögen wird somit der ‚Erfahrung des Neuen’ vorgearbeitet. Der ästhetischen Erfahrung schreibt Kant deshalb ein kreatives Potential zu, nämlich das bisher Nichtmitteilbare, Individuelle „allgemein mitteilbar zu machen“.188 Mit dieser Abstraktionsleistung realisiert ein ästhetisch Urteilender die Maxime, „aus einem allgemeinen Standpunkte“ 189 zu denken. Diese transzendentale Abstraktion bei Kant hat Adorno jedoch als Generalisierung des Anderen kritisiert. Denn dabei ist der Andere nicht der ‚konkret Andere’, das individuelle, empirische Subjekt in der Gesamtheit seiner Vermögen, sondern eben der ‚generalisierte Andere’,
Kunstphilosophie, 354-362, 354.361f: „Problematischer ist wohl der vollends holistische Anspruch, der als ‚Einheit der Vernunft’ den spezifisch ästhetischen Charakter ausmachen soll: als im Verbund mit durchgängiger Reflexivität unterstellte Gleichgewichtigkeit (Parität) der triadischen Momente sowohl des kognitiv-theoretischen als auch des moralisch-praktischen als auch des emotiv-expressiven Aspekts von Erfahrung und Kommunikation, die nach Früchtl erst zusammen und gleich bedeutsam miteinander Kunst konstituieren. [...] Entschärft wird der unterstellte VernunftHolismus allerdings dadurch, dass Früchtl in der Frage der Kunstbewertung seinen Anspruch ein Stück weit zurücknahm. Um ein Kunstwerk als gelungen zu beurteilen, bedürfe es vielleicht doch nicht [...] der affirmativen Zustimmung des Urteilenden zur holistisch umfassenden Wahrheit dieses Werks. Es genüge, als Voraussetzung positiver Wertung, ein Ernst-nehmen-Können in dem Sinne, dass es hier jedenfalls um eine Möglichkeit unserer selbst gehe. Dem kann man leicht zustimmen, denn ohne diese hermeneutische Brücke bliebe jede Wertschätzung von Kunst am Ende bodenlos.“ (361f). 187 FRÜCHTL, Ästhetische Erfahrung, 154. 188 KANT, KdU, 254/ [=B 198f.] Vgl. FRÜCHTL, aaO, 155. 189 KANT, KdU, 227/ [=B 159].
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ein auf allgemeine Erkenntnisbedingungen reduziertes, transzendentales Subjekt.190 Insbesondere in Auseinandersetzung mit der Ästhetischen Theorie Adornos, aber auch Heideggers und Gadamers191 sowie zur Näherbestimmung der ästhetischen Erfahrung unterscheidet M. Seel Überbietungs- und Entzugsästhetik, welche ihm zufolge die beiden Pole darstellen, zwischen denen sich eine Theorie der Ästhetik und in derselben eine Theorie der ästhetischen Erfahrung bewegt. Diese Unterscheidung korrespondiert mit der oben benannten Unterscheidung von Wahrheitsästhetik und Erfahrungsästhetik.192 Überbietungstheoretisch argumentieren darum nach Seel alle Formen von Darstellungsästhetik, die von der Darstellung einer bestimmten Wahrheit bzw. Idee im Kunstwerk ausgehen. Entzugsästhetisch nennt Seel dagegen solche „Theorien, die eine spezifische Rationalität des ästhetischen Verhaltens bestreiten im Namen eines exklusiven Konzepts der reinen Reflexion bzw. sprachlosen Intensität“.193Entzugstheoretiker beleuchten also lediglich die Wirkung eines Gegenstandes auf den Betrachter wie z.B. alle Formen von gegenwärtiger Reflexionskunst. Entzugstheorien entziehen sich sowohl der Frage nach der Wahrheit von Kunst als auch der Frage nach der Darstellbarkeit einer Idee. Es stellt sich dabei jedoch die Frage, warum sich diese unterschiedlichen Ästhetiktheorien ausschließen müssen, kann sich doch gerade eine Entzugsästhetik um der Wahrheit willen der Wahrheitsfrage enthalten, was sie mit Formen mystischer Erfahrung verbindet, und ebenso eine Wahrheitsästhetik die Frage nach dem Beobachter und der Aneignung dieser Wahrheit mit bedenken. Diese Relation beider Theorien 190 Die Suche nach dem konkret Anderen findet sich sogar bei Kant selbst, indem er in der Kritik der reinen Vernunft nach der empirischen Subjektivität fragt. Kants Auffassung nach stellt die innere und die äußere Erfahrung nur eine einzige Erfahrung dar. Bei Husserl ist es die „ineinander verklammerte Erfahrung des Kantischen empirischen Subjekts“, welche unter dem Terminus der Lebenswelt verhandelt wird. „Das vorwissenschaftliches Alltagsbewußtsein der Lebenswelt bildet eine Einheit von Welt- und Selbsterfahrung, die analog zu derjenigen von äußerer und innerer Erfahrung bei Kant gesetzt werden kann.“ (FRÜCHTL, Ästhetische Erfahrung, 153f). 191 Diese bezeichnet Seel als bekannteste Überbietungsästhetiker (SEEL, Die Kunst der Entzweiung, aaO, 46). 192 Überbietungsästhetik nennt Seel jene „Theorien, die eine spezifische Rationalität des ästhetischen Verhaltens bestreiten im Namen eines integralen Konzepts von Wahrheit und Erkenntnis, für das die gelungenen Kunstwerke unverzichtbare Instanzen sind. Eine besondere, von anderen Beurteilungsmodi abgehobene Logik der ästhetischen Beurteilung kann es demnach nicht geben, weil die ästhetische Erfahrung ein herausragender – wenn nicht der herausragende – Modus des (emphatischen) Erkennens ist.“(SEEL, Die Kunst der Entzweiung, aaO, 46). 193 SEEL, Die Kunst der Entzweiung, ebd.
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fasst Seel folgendermaßen zusammen: „Der Entzugstheoretiker behält recht mit der Behauptung, daß der Überbietungstheoretiker seinen Gegenstand verfehlt; der Überbietungstheoretiker reüssiert mit dem Einwand, daß die Entzugstheorie ihren Gegenstand nicht trifft.“194 Wird nach der Relevanz dieser Überlegungen für eine theologische Ästhetik gefragt, so muss jede Ausdrucksgestalt und die ihr zugrundeliegende Ästhetik durchaus und unbedingt auf Wahrheit befragt werden, so dass auch eine „Darstellungs- oder Wahrheitsästhetik“ nicht als überwunden anzusehen ist. Vielmehr ist eine theologische Ästhetik per se Wahrheitsästhetik, da sie mit dem vermittelten Selbsterschließen und Erscheinen der Wahrheit rechnet, die sich selbst zueignet.195 Das schließt aber nicht aus, dass sie sich dennoch auf entzugsästhetische Theorien bezieht. Ästhetische Erfahrung ist Seel zufolge immer auch Erfahrung der Erfahrung. Eine totale Identifikation von Erfahrung und Erkenntnis im szientistischen Sinne Kants ließe allerdings für die ästhetische ‚Erfahrung’ keine eigenen Erkenntnisansprüche mehr zu. Die Rede von der Erfahrung der Erfahrung im Kunstwerk wird von Früchtl transzendentalphilosophisch verstanden und dahingehend präzisiert, „daß wir in einer ästhetischen Erfahrung erfahren, was für die Erfahrung überhaupt konstitutiv ist.“196 Bei Seel wird die transzendentalphilosophische Formel von der Erfahrung der Erfahrung in Anknüpfung an Phänomenologie und Hermeneutik interpretiert, woraus sich für die ästhetische Erfahrung ergibt, dass wir in ihr eine Erfahrung mit situativ gebundenen Erfahrungen machen.197 Dabei ist die Struktur des wahrnehmenden Umgangs mit den 194 AaO, 53. 195 Vgl. dazu auch W. MOSTERT, Wahrheit – ein Hinweis (1986), in: DERS., Glaube und Hermeneutik. Gesammelte Aufsätze, hg. v. Pierre Bühler u. Gerhard Ebeling, Tübingen 1998, 80-88, 86:. „Aber wie sind wir wahr? Nicht anders, als indem wir die Wahrheit anschauen und auf sie hören, das Wahrgemachtwerden durch den Logos der Wahrheit zulassen, ihm nicht widerstehen.“ Gadamer will beispielsweise in seinem Werk „Wahrheit und Methode“ „die Erfahrung von Wahrheit, die uns durch das Kunstwerk zuteil wird, gegen die ästhetische Theorie [...] verteidigen, die sich vom Wahrheitsbegriff der Wissenschaft beengen läßt.“ (GADAMER, Wahrheit und Methode, aaO, XXIX). Im Unterschied zu einer sich oft auf Kant berufenden Entzugstheorie gehören (vgl. auch aaO, 87) für ihn Wahrnehmung und Bedeutung zusammen. Damit betont Gadamer in seinem Verständnis der Kunstwahrnehmung das Geschichtliche dieser Erfahrung, die weniger auf das augenblickliche Erlebnis als vielmehr auf ein Wahrheit vernehmendes und Erkenntnis einschließendes Erfahren ausgerichtet ist (vgl. auch 85.94). In der Konsequenz eines solchen Verständnisses werden dann bei Gadamer allerdings Kunst und Erkenntnis gleichgesetzt. 196 FRÜCHTL, Ästhetische Erfahrung, 157. 197 Vgl. die Darstellung Seels durch Früchtl: aaO, 160f.
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ästhetischen Objekten zu untersuchen. Es gilt nicht entweder die Aktivität der ästhetischen Wahrnehmung oder die zeichenhafte Artikuliertheit bzw. Ausdrücklichkeit ästhetischer Gegenstände, sondern vielmehr verweist der Gegenstand Seel zufolge auf die Grundstruktur der Wahrnehmungssituation sowie auf die Situation derjenigen Erfahrung, die präsentiert wird. In der Erfahrung des ästhetischen Gegenstands in ästhetischen Situationen geht es um das Offenbarwerden des nicht Verrechenbaren, worin das Besondere der ästhetischen Gegenwärtigkeit aufscheint.198 Dabei sind einzelne Wahrnehmungsereignisse und fortlaufende Wahrnehmungsfolgen nicht schon selbst als ästhetische Erfahrungen zu werten.199 Es handelt sich aber auch nicht einfach um subjektlose Situationen. Durch die Gefühle gewinnt das Subjekt Anteil an den Situationen, die Gefühle sind also nicht akzidentiell zu verstehen. Vielmehr ist die Prägnanz von Situationen an die Präsenz von jeweiligen Gefühlen gebunden. Werden Erfahrungen als identisch oder ähnlich wahrgenommen, so verweisen sie auf die Gleichheit von Situationen, die hinter diesen Erfahrungen stehen. Geteilte Erfahrungen können dabei zu geteilten Einstellungen führen. Sie präsentieren Erfahrungen in ihrer Integrität und in ihrer jeweiligen Bedeutsamkeit, was ebenso kognitive Leistungen einschließt. Nach Bohrer handelt es sich um „eine exzentrische Gewärtigung“ solcher an Situationen gebundener Gefühle, „die inzentrisch wirksam wird.“200 Zudem stellt diese Gewärtigung ein Innewerden und Erkennen einer außerhalb dieser ästhetischen Erfahrung selbst liegenden Erfahrungssituation von Welt dar. „Ästhetisch ist die Erfahrung mit der Gemachtheit von Erfahrungen, die für die Gegenwart der Erfahrenden bestimmend sind oder durch die ästhetische Erfahrung für ihre Gegenwart bestimmend werden. [...] Im Vollzug ästhetischer Erfahrungen treten die Menschen aus der Verbundenheit mit ihrer Lebensform nicht aus; sie treten vor Objekte oder nehmen Interesse an Objekten, an denen sie erkennen und erfahren, was sie aus Erfahrung gegenwärtig bindet und benimmt. [...] Ästhetisch machen wir Erfahrungen mit Erfahrungen. Dieser strukturelle Gegenstand und nicht ein besonders zu qualifizierender Erfahrungsprozeß bestimmt allererst die Eigenart der ästhetischen Wahrnehmung. [...] Wir erfahren ästhetisch nicht die ästhetische Erfahrung, die wir gerade machen; diese Möglichkeit schließt der Erfahrungsbegriff
198 Vgl. SEEL, Die Kunst der Entzweiung, 278ff u.ö. 199 Vgl. aaO, 80. 200 Vgl. aaO, 106f.
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bereits aus. Wir machen Erfahrung mit der Gemachtheit bedeutsamer Erfahrungen.“201 Für das ästhetische Objekt bedeutet das nun, dass es zum Medium der Vergegenwärtigung von Erfahrungen wird. Dieses Objekt selbst wird dahingehend produktiv, dass gemachte Erfahrungen und mögliche noch zu machende Erfahrungen durch sie zum Bewusstsein gebracht werden können.202 Dabei ist aber die Bedeutung eines Kunstwerks – entgegen denEntzugstheoretikern – nicht einfach mit den Wirkungen, die es hervorruft, also auch nicht mit der ästhetischen Erfahrung gleichzusetzen. Vielmehr bedeutet es seine Gehalte, die auch durch seine Wirkung auf den Betrachter dargestellt werden. Das heißt also, dass ein gelungenes Kunstwerk die Erfahrung bedeutet, „die ästhetisch zur Erfahrung kommt“.203 Darum ist auch ein Kunstwerk Seel zufolge gerade dann misslungen, wenn wir an ihm und durch es nichts über unsere (möglichen) Situationen in der Welt erfahren können.204 Im Unterschied zu Kant geht es im Anschluss an Husserl, Heidegger und Gadamer nicht mehr um die Erfahrung der Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, sondern um die Erfahrung wirklicher und gemachter Erfahrung. Gemeinsam ist sowohl der kantischen als auch den hermeneutischen Konzeptionen die reflexive und holistische Struktur, jedoch gelingt die spezifisch ästhetische reflexive Beziehung auf die Erfahrung in beiden Fällen nur, weil das Subjekt in seinen Rationalitätsformen ‚im Spiel’ ist. Die Erfahrung gehört zur ‚empirischen Subjektivität’ und damit zur ‚Lebenswelt’. Lebensweltliche und ästhetische Erfahrung, profane und ästhetische Welterschließung sind insofern von verschiedener Art, als nur letztere das Erfahrene noch einmal präsentiert: „Indem das ästhetische Objekt oder das Kunstwerk auf sein Wie verweist, verweist es auf den reflexiven Umgang mit dem Was.“205 Kunst ist nämlich diejenige Interpretin der Lebenswelt, die das Orientierungsbedürfnis der Alltagspraxis am unmittelbarsten befriedigt: Sie
201 SEEL, Die Kunst der Entzweiung, 170f. Reden wir beispielsweise von einem Gedicht, so im Licht seiner Erfahrungen an ihm. 202 Vgl. aaO, 218. 203 AaO, 280f. Vgl. auch aaO, 278ff. 204 Vgl. SEEL, Die Kunst der Entzweiung, 278f. Umgekehrt ist John Dewey zufolge das ‚Runde’ an der Erfahrung auch als Keimzelle des Ästhetischen zu verstehen. Angemessenheit und Intuition drücken dabei das Spiel zwischen Tun und Geschehenlassen aus. Vgl. SCHNEIDER, H. J., Die Leibhaftigkeit ästhetischer Erfahrung. Ein Hinweis auf John Dewey und Francis Bacon, in: KOPPE (Hg.), Perspektiven, 104108, 104f. 205 FRÜCHTL, Ästhetische Erfahrung, 161.
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besitzt die „Präsentationskapazität“ von lebensweltlichen Erfahrungen, dabei aber auch immer einen Mangel an Klarheit und Deutlichkeit.206 Mit Kant beziehen wir uns ästhetisch auf einen Gegenstand, indem wir auf seine Konstitutionsbedingungen zurückkommen. Diese Konstitutionsbedingungen können dadurch erschlossen werden, indem eine intime Beziehung zu unseren Affekten aufgebaut wird.207 Die Autonomie der Kunstwerke wird dabei durch ihre Formanalyse gewährleistet, indem sie die Erfahrung von Kunst vor Subjektivismus bewahrt.208 Seel versteht ästhetische Erfahrung des weiteren in einem formalen Sinne als Gelungenheitserfahrung. Schönheit bezeichnet demnach im ästhetischen Urteil Adäquatheit und Harmonie. Diese Gelungenheitserfahrung umfaßt ebenfalls Erfahrungen des Fragmentarischen und Häßlichen, wobei das Kriterium der Gelungenheit zum Kriterium der Stimmigkeit modifiziert wird.209 Nach Seel ist das ästhetische Verstehen von vornherein beurteilend und wertend. Ein ästhetisches Objekt verstehen, heißt beurteilen, inwiefern es gelungen ist oder nicht. Es handelt sich also um ein schlichtes Urteil. „Ästhetisch“ verweist auf das in der ästhetischen Wahrnehmung Relevante. Als gelungen beurteilt werden nach Seel „ästhetische Gebilde, die von den Wahrnehmenden verstanden werden als Präsentationen solcher Erfahrungsgehalte, die sie teilen oder – durch ästheti-
206 Vgl. ebd. Vgl. hierzu aber auch die Kritik Seels an Früchtl bezüglich dessen Verknüpfung von Holismus und Lebensweltdeutung: KOPPE (Hg.): Das Ästhetische als Einheit der Vernunft, 356f: „An der These, die Kunst sei die privilegierte Interpretin der Lebenswelt, möchte Früchtl auch nach dem Relativierungsvorschlag Seels festhalten. Wenn lebensweltliche Erfahrungen durch eine als holistisch zu bezeichnende Verschränkung der Vernunftmomente charakterisiert seien und ästhetische Erfahrungen sich ebenfalls als holistisch, darüber hinaus aber noch als reflexiv erwiesen, dann müßte man ihnen und besonders den Kunstwerken als verobjektivierten Erfahrungen einen direkteren, unreduzierten Zugang zur Lebenswelt zuerkennen.“ (357). 207 Vgl. FRÜCHTL, Ästhetische Erfahrung, 162. 208 Vgl. aaO, 163f. Mit Früchtl ist zu konstatieren, dass der Begriff der ästhetischen Erfahrung in einem auf alle drei Weltdimensionen bezogenen Sinn auch eine am Werkbegriff orientierte Kunsttheorie zu integrieren vermag. Im Verhältnis zur inneren oder subjektiven Welt und zur Welt in allen ‚ontologischen’ Dimensionen werden die lebensweltlichen, Selbst und Welt verklammernden, holistischen Erfahrungen verobjektiviert. W. Benjamin zufolge („Geschichtsphilosophische Thesen“) stellt aber allererst der Gegenwartsbezug einer solchen Erfahrung eine Welterschließung als gelungen her (vgl. ebd.). Auf die Theologie übertragen heißt dies, dass Christus in seinem geschichtlichen Gekommensein eine grundlegende Welterschließung ermöglicht, die der Mensch in einen aktuellen Bezug zu mir bringen kann. 209 Vgl. SEEL, M., Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität, Frankfurt a. M. 1997, 44.277ff u.ö.
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sche Erfahrung – zu teilen gekommen sind; ohne viel Abstriche gelungen sind Objekte und Werke, die von den Urteilenden verstanden [...] werden können als Explikate von und Beispiele für eine von ihnen geteilte Einstellung.“210 Diese Einstellung verweist wiederum auf eine Situation zurück, besitzt also einen Erfahrungsort. Insofern bezieht sich dieses qualitative Kriterium ästhetischer Wertaussagen nicht nur auf das individuelle Verstehen, sondern ebenso auf den intersubjektiven Anspruch des ästhetischen Urteilens. Es geht um Gemeinsames in der Erfahrung der Angehörigen einer geschichtlichen Zeit. Der Bezugspunkt ist die zeitgebundene Gegenwart des In-der-Welt-Seins, das auf einen Anspruch verweist, der immer auf ein Allgemeines auszuweiten ist. Entscheidend ist jedoch, dass ein gelungenes Werk dem erfahrenden Betrachter einen Freiheitsraum bietet, auf die Welt ihrer gemachten und noch ausstehenden Erfahrungen zu reagieren, so dass ihnen ein Spielraum gegenüber der eigenen Erfahrung erwächst.211 Wir lassen uns demzufolge auf Situationen ästhetischer Erfahrung ein, weil es die entscheidende Situation ist, um unsere Erfahrung zu erkennen. Diese ganzheitlich verfasste Erkenntnis der ästhetischen Erfahrung ist nur aufgrund der eingenommenen Differenz zur Erfahrungssituation möglich.212 Kunst besitzt dabei – gerade im nachmetaphysischen Zeitalter – Statthalterfunktion. Sie zielt nicht auf eine das Ganze der Lebenspraxis umfassende Lehre, aber sie ermöglicht es insbesondere durch ihre Form, die Antworten der Religion und der Metaphysik ‚modern’, d.h. frei von Dogmatik und jedem Beweis in ‚subjektiver Allgemeinheit’ anzueignen, und sie so der „Natur der Vernunft“ (Kant), dem „bewußten Leben“ (Henrich) dienstbar zu machen. Insofern trifft der Satz Adornos zu, die Kunst sei scheinhaft, was die Metaphysik scheinlos immer sein wollte.213
210 SEEL, Die Kunst der Entzweiung, 160f. 211 Vgl. SEEL, aaO, 281. Dieses Verständnis ästhetischer Erfahrung könnte auch für unser Nachdenken über religiöse Erfahrung bedeutsam werden. 212 Vgl. aaO, 283. 213 Vgl. FRÜCHTL, Ästhetische Erfahrung, 164. „Was die metaphysische Statthalterrolle betrifft, möchte Früchtl nicht mehr behaupten, als daß der Kunst allein schon durch ihre Nähe zur Lebenswelt als dem trivialen Kern der Metaphysik eine metaphysische Funktion zukomme, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Erst recht könne ihr in einem nachmetaphysischen, von großen Gewißheiten entzauberten Zeitalter die Dimension individueller Sinnerfahrung zugesprochen werden, insofern sie von einem Erkenntnisprivileg gerade Abstand nehme.“ (KOPPE [Hg.], Das Ästhetische als Einheit der Vernunft, 356).
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Um einem subjektivistischen Verständnis bzw. einer Engführung entgegenzuwirken, ist jedoch zu betonen, dass es sich bei einem ästhetischen Objekt um den Gegenstand in seinem Erscheinen handelt, wie er uns als Phänomen gegeben ist.214 Diesem Gegenstand in seinem Erscheinen kann dann auch nur in einem nicht-instrumentellen Sinne entsprochen werden, indem dem ästhetischen Objekt mit verweilender, vernehmender Aufmerksamkeit begegnet wird, welche die Gegenstände in ihrer Objektivität sein lässt.215 So geht es auch Seel zufolge in der ästhetischen Wahrnehmung um eine bestimmte Form des „Gewahrseins“216 ästhetischer Objekte in ihrem Gegebensein als Erscheinung, was von einer begrifflich festgelegten Erkenntnis äußerer Sinneseindrücke i.S. ihres Soseins zu unterscheiden ist.217 Jedoch ist die Gegenwart des Betrachters immer im Vernehmen der Gegenwart des mir Erscheinenden mitgesetzt.218 Dementsprechend beschreibt Wolfgang Welsch den Begriff der Wahrnehmung wie folgt: „‚Wahrnehmung’ ist ein weiterer Begriff als ‚Sinneswahrnehmung’. Für ästhetisches Denken sind gerade Wahrnehmungen ausschlaggebend, die nicht bloße Sinneswahrnehmungen sind. ‚Wahrnehmung’ ist hier vielmehr in dem zugleich fundamentaleren und weiterreichenden Sinn von ‚Gewahrwerden’ zu verstehen. Dieser bezieht sich auf ein Erfassen von Sachverhalten, das zugleich mit Wahrheitsansprüchen verbunden ist. Derlei Wahrnehmung ist wörtlich als ‚Wahr-nehmung’ aufzufassen. Hat den Charakter von Einsicht. Und solches Wahrnehmen gibt es sowohl sinnlich wie unsinnlich.“219Als Begründung für eine solche notwendige Erweiterung und Umprägung des logozentrischen Denkens um das aisthetische Denken führt Welsch die Angemessenheit dieses ästhetischen Denkens gegenüber unserer v.a. durch mediale Wahrnehmungsprozesse geprägten gegenwärtigen Wirklichkeit an.220 214 Vgl. SEEL, Ästhetik des Erscheinens, München/ Wien 2000, 19f. 215 Vgl. den Hinweis auf Heideggers und Hegels Ästhetik bei SEEL, aaO, 31f. Vgl. auch aaO, 85. 216 Vgl. SEEL. Ästhetik des Erscheinens, aaO, 45. 217 Vgl. aaO, 47.106. 218 Vgl. aaO, 60ff. 219 WELSCH, Ästhetisches Denken, aaO, 48. Vgl. auch aaO, 109: „Wahrnehmungen dieser Art haben mit Innewerden, Gewahrwerden, Merken und Spüren zu tun.“ 220 Vgl. aaO, 57. Vgl. auch aaO, 110: „[E]in aisthetisches Denken, das sowohl Ästhetik wie Anästhetik umfasst – scheint mir gegenwärtig aus nicht etwa, wie manche argwöhnen, modischen Gründen, sondern wegen seiner Begreifenskapazität und Wirklichkeitskompetenz an der Zeit zu sein. Es ist – so meine These – heute das eigentlich realistische, will sagen: das der gegenwärtigen Wirklichkeit [...] noch am ehesten, nämlich wenigstens stellenweise gewachsene Denken.“
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Wahrnehmung stellt für Welsch auch den Grundbegriff einer Ästhetik dar, die unter Bezugnahme auf deren Begründer Baumgarten wieder zur Aisthetik erweitert werden soll. „Der Ausdruck ‚Aisthetik’ zeigt dabei den elementaren Rückbezug dieser Ästhetik auf aisthesis, auf Wahrnehmung, an. Dieser Rückbezug macht den Kern ‚aisthetischen Denkens’ aus.“221
5. Zur Möglichkeit einer Strukturanalogie von religiöser und ästhetischer Erfahrung In den vorangegangenen Kapiteln über religiöse und ästhetische Erfahrung sind schon einige Gemeinsamkeiten beider Erfahrungsformen zutage getreten. Diese Gemeinsamkeiten sind nun der Ausgangspunkt, von dem wir die Frage nach einer strukturellen Analogie beider Erfahrungsformen genauer beleuchten wollen. Diese Analogie soll in mehrfacher Hinsicht entfaltet werden. Wird Theologie und in ihr religiöse Erfahrung in Analogie zu Ästhetik bzw. ästhetischer Erfahrung verstanden, so handelt es sich um die Vergleichbarkeit zweier Verhältnisse aufgrund ihrer strukturellen Ähnlichkeit: So wie sich A zu B verhält, verhält sich C zu D. Diese strukturelle Vergleichsebene ist zunächst von der inhaltlichen Ebene zu unterscheiden, wie sie in den damit verbundenen Lebensthemen gegeben ist, so beispielsweise in der Frage nach der Fragmentarität oder dem Gelingen des Lebens. Auf dieser inhaltlichen Ebene kann sodann das Problem der Deutung des Lebens thematisiert werden. Darüber hinaus ist letztendlich zu fragen, ob religiöse Erfahrung eine ästhetische Dimension besitzt oder zumindest besitzen kann. Und auch umgekehrt ist danach zu fragen, ob ästhetische Erfahrung im Grunde eine religiöse Dimension hat. Auf diese Weise erfährt unsere Fragestellung eine Zuspitzung, anhand derer die Gemeinsamkeiten und Unterschiede besonders deutlich zutage treten. Eine solche Zuspitzung ist nicht zuletzt deshalb notwendig, damit es nicht zu Verwechslungen kommt, die am Ende zu begrifflicher Diffusion sowohl in der Ästhetik als auch in der Theologie führen. 5.1 Erfahrungsformen Bevor wir uns einer möglichen Verhältnisbestimmung zwischen religiöser und ästhetischer Erfahrung zuwenden können, ist allerdings eine 221 AaO, 109.
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weitere begriffliche Klärung notwendig. Das begriffliche Problem besteht vor allem darin, wie religiöse und ästhetische Erfahrung in einem Oberbegriff zusammengefasst werden können. Als genus proximum kommen dabei unterschiedliche Bezeichnungen in Frage. Kann man religiöse Erfahrungen als Erfahrungsformen, Erfahrungsweisen oder Erfahrungsarten bezeichnen? Der Begriff „Erfahrungsform“222 impliziert von vornherein, dass man Erfahrung rein formal unter Absehung ihrer materialen, inhaltlichen Seite unterscheiden kann. Er impliziert folglich, dass man zwischen Form und Inhalt von Erfahrung überhaupt unterscheiden kann. Erfahrung umfasst aber immer schon die Relation von Erfahrendem und Erfahrenem. Zwar ist es möglich, ein und denselben Gegenstand ästhetisch und religiös zu erfahren, aber der erfahrene Inhalt ist doch jeweils ein anderer. Der Begriff „Erfahrungsweise“ impliziert zwar keine Unterscheidung von Form und Inhalt, dafür aber wiederum eine Unterscheidung von Modus und Inhalt. Insofern tut sich hier das gleiche Problemfeld auf. Daher scheint wohl der Begriff „Erfahrungsart“ als Oberbegriff am angemessensten zu sein, da er sich nicht an einem Aspekt von Erfahrung orientiert. Der Begriff „Art“ gibt nicht einer besonderen Bestimmung implizit den Vorrang, aber er macht deutlich, dass es sich um etwas Spezifisches handelt. Jedoch wird er in seiner Begriffsgeschichte inzwischen im naturwissenschaftlich-biologischen Sinne gebraucht, so dass wir – bei aller Problematik – am philosophischen Begriff der Form festhalten wollen, wie ihn auch Jung gebraucht. Wenn wir nun also ästhetische und religiöse Erfahrung als Erfahrungsformen bezeichnen, die es zu vergleichen gilt, dann ist zunächst diejenige Wirklichkeit in den Blick zu nehmen, aus der beide Erfahrungsformen hervorgehen: das alltägliche menschliche Leben und somit die menschliche Alltagserfahrung. Alltagserfahrung ist keine Erfahrungsform, sondern ein ganzer Komplex von Erfahrungsformen, die sich gegenseitig durchmischen und in ihrer Charakteristik abschwächen. So ist es gerade die Komplexität von Erfahrungsformen, die der Entfaltung einzelner Erfahrungsformen im Wege steht. Und doch birgt die Alltagserfahrung immer wieder die Möglichkeit, dass einzelne Erfahrungsformen sich entfalten, gerade dann, wenn bestimmte nicht alltägliche Widerfahrnisse den Menschen zeitweise der Alltagserfahrung entheben. Die Entfaltung einzelner Erfahrungsformen
222 Vgl. zu diesem Begriff JUNG, Erfahrung, passim, der allerdings ebenso von unterschiedlichen „Erfahrungsmodi“ (aaO, 387) oder „verwandten Erfahrungsweisen“ (aaO, 349) spricht.
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führt dann zur Modifizierung der Alltagserfahrung. So kann man durchaus von Alltagsreligion oder gar von einer Ästhetik des „Alltagslebens“ sprechen.223 Gerade religiöse Erfahrung kann zu einer erheblichen Modifizierung der Alltagserfahrung bis hin zur Transzendierung beitragen, weil sie sui generis Transzendenzerfahrung ist. Ein ähnliches Potential bis hin zur Transzendierung der Alltagserfahrung besitzt auch die ästhetische Erfahrung, so dass man geneigt ist, auch sie als Transzendenzerfahrung zu bezeichnen. Aber Erfahrung, die Alltagserfahrung transzendiert, ist noch nicht per se Transzendenzerfahrung. Sie wird aber in jedem Fall zur Meta-Erfahrung, zur Erfahrung mit Erfahrung. Der Zusammenhang von Alltagserfahrung sowie religiöser und ästhetischer Erfahrung wird auch anhand des Denkens und der Sprache deutlich. Denn poetische und auch wissenschaftliche Sprache sind jeweils Modifikationen der Alltagssprache, allerdings in sehr unterschiedlichen Hinsichten. Das heißt allerdings auch, dass poetische Sprache und wissenschaftliche Erfahrung nur aufgrund dieser Alltagserfahrung bestehen und durch sie bestimmt werden. Jedoch beinhaltet das poetische Wort auch im Unterschied zu dieser Alltagssprache eine ursprüngliche und grundlegende Erfahrung, die auf das Denken der Sprache ausgerichtet ist.224 Der Meta-Charakter beider Erfahrungsformen tritt vor allem dann zutage, wenn sie vom hermeneutischen Denken her betrachtet werden, wie es bei Seel in bezug auf die ästhetische Erfahrung geschieht und wie man ebenso für die religiöse Erfahrung geltend machen kann. Seel bestimmt – wie oben erwähnt – die ästhetische Erfahrung als „Erfahrung mit gemachten Erfahrungen“. Das jeweilige ästhetische Interesse entsteht dabei an der Erfahrung um der Erfahrung willen. Wir machen also in der ästhetischen Erfahrung eine Erfahrung mit der eigenen Erfahrung.225 In beiden Fällen führen diese Erfahrungsformen zur Unterbrechung, ja sogar zur Brechung der Alltagserfahrung. Diese Brechung
223 Vgl. auch LEFEBVRE, H., Kritik des Alltagslebens. Grundrisse einer Soziologie der Alltäglichkeit, Frankfurt a. M. 1987, 91-105; HELLER, A., Das Alltagsleben. Versuch einer Erklärung der individuellen Reproduktion, Frankfurt a. M. 1978; POTT, H.-G., Alltäglichkeit als Kategorie der Ästhetik. Studie zur philosophischen Ästhetik im 20. Jahrhundert (Studienreihe Humanitas; Studien zur Philosophie), Frankfurt a. M. 1974 sowie DEWEY, J., Kunst als Erfahrung, Frankfurt a. M. 1988, 18, der seine Ästhetik als Erprobung der „Wiederherstellung der Kontinuität zwischen der ästhetischen Erfahrung und den gewöhnlichen Lebensprozessen“ versteht. 224 Vgl. KRAFT, Das anfängliche Wesen der Kunst, 121. 225 Vgl. SEEL, Die Kunst der Entzweiung, 329.
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kann sodann Umdeutungen von Wahrnehmungen im Erfahrungsvollzug zur Folge haben.226 Die hermeneutische Konzeption der „Erfahrung mit der Erfahrung“ soll dabei als bewusste Ergänzung zum Konzept der „Erfahrung der Erfahrung“ i.S. eines rein transzendentalphilosophisch-theoretischen Ansatzes verstanden werden. Ebeling versteht nun insbesondere die Glaubenserfahrung als gottgemäße Erfahrung mit aller Erfahrung, wobei es sich um eine grundsätzlich neue Qualifizierungaller Erfahrung im Sinne von 2 Kor 5,17 handelt. Modale Bildtheologien wie die P. Tillichs oder in unserer Darstellung die Kunsttheorie Gräbs verstehen bei aller Betonung der Unterschiede zwischen beiden Erfahrungsformen die ästhetische Erfahrung aufgrund ihres Transzendenzbezugs als mögliche religiöse Erfahrung, wobei der Ansatz bei der jeweiligen Kunstrezeption gefunden und auch phänomenologisch begründet wird.227 W. Gräbs und U. Barths Theorien sind insbesondere deshalb als modal zu verstehen, weil in ihnen eine Strukturanalogie zwischen ästhetischer und religiöser Erfahrung aufgezeigt wird, wobei diese Erfahrungsformen bei beiden nicht miteinander zu identifizieren sind. Wie unten zu zeigen sein wird, kann von der „personalen Bildbedeutung“ nur auf der Basis einer modalen Bildtheorie die Rede sein. Allerdings gibt es keinen zwingenden Grund anzunehmen, dass eine ästhetische Erfahrung, die dem Betrachter die personale Bedeutung eines Kunstwerks erschließt, auch gleichzeitig eine religiöse Erfahrung darstellt. Nach Jung ist von gewissen Familienähnlichkeiten zwischen religiöser und ästhetischer Erfahrung auszugehen.228 Dabei besteht zwischen beiden Erfahrungsformen nicht ein Verhältnis von Gattungsart zu Gattungsart, sondern ein Art-Nebenart-Verhältnis. Denn in der ästhetischen Erfahrung finden sich zwar wie im Fall religiöser Erfahrung auch referentielle Bezüge, aber eben nicht notwendigerweise. Ebenso begegnet in der ästhetischen Erfahrung aber ein fiktionaler Bezug, der wiederum auch in der religiösen Erfahrung angetroffen werden kann.229 Die religiöse Erfahrung ist dadurch ausgezeichnet, dass das Subjekt im Ausdruck seiner Erfahrung nicht als freier Schöpfer der Inhalte seiner Erfahrung, sondern als referentiell gebunden erscheint. Damit erkennt das Subjekt zum einen seine Endlichkeit und zum anderen eine es selbst übersteigende Realität an, die es nicht selbst erzeugt hat. Die 226 227 228 229
Vgl. SEEL, aaO, 82. Vgl. Zu dieser Einordnung ZINK, Bildhermeneutik, 363ff. Vgl. JUNG, Erfahrung, 341. Vgl. aaO, 385.
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Subjekte haben in dieser Erfahrungsform einen referentiellen Bezug zu transsubjektiver Realität.230 Sie zeigt als spezifische Erste-PersonErfahrung die Individuation im Unterschied zur wissenschaftlichen Dritte-Person-Erfahrung, denn diese Individuierung vollzieht sich durch ein jeweils sich interpretativ vollziehendes Wählen.231 5.2 Wahrnehmung des Atmosphärischen als Grundlage religiöser und ästhetischer Erfahrung Wahrnehmung ist unbestritten die grundlegende Bedingung eines jeden Erfahrungsvorgangs. Ob es sich dabei um sinnliche oder um anderweitige Wahrnehmung handelt, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Wahrnehmung ist daher auch als ein grundlegendes Moment der ästhetischen Erfahrung sowie religiösen Erfahrung zu verstehen und darzulegen. Das eigentliche Wahrnehmungsereignis – so lautet unsere These – liegt vor jeder Subjekt-Objekt-Spaltung.232 Erst wenn das Wahrgenommene durch transzendentale Kategorien strukturiert wird, kann man von Erfahrung sprechen. Ob man nun aber aufgrund der Wahrnehmung von Wirklichkeit ein ästhetisches oder ein religiöses Erlebnis hat, lässt sich nicht einfach transzendental erklären. Es gibt ein unverfügbares Moment, das sich ebenfalls noch vor der Subjekt-Objekt-Spaltung befinden muss. Ob dieses Moment zur Wahrnehmung selbst gehört oder zu ihr hinzukommt, lässt sich nicht abschließend beurteilen. Auf jeden Fall ist gerade in diesem Moment mit dem Einbruch transzendenter Wirklichkeit zu rechnen, wenn eine Wahrnehmung zum religiösen Erlebnis wird. Bei der inhaltlichen Struktur von Erfahrung spielen Vermittlungsprozesse eine große Rolle. Dabei ist vor allem auf die kulturgeschichtlichen und sprachlichen Rahmenbedingungen ästhetischer bzw. religiöser Erfahrung zu achten. So hat das Denken einerseits die Sprachabängigkeit aller menschlichen Welterfahrung zu berücksichtigen und
230 Vgl. aaO, 389. 231 Vgl. aaO, 392. 232 Vgl. hierzu Heideggers „In-der-Welt-Sein“ als Relationsgeschehen, in dem die Unterscheidung von Subjekt und Objekt sekundär ist. Hierbei ist insbesondere an die Sprache zu denken, die als Kontext dem Subjekt vorgegeben ist, aber auch an „Welt“ in einem umfassenden Sinne (vgl. HEIDEGGER, M., Sein und Zeit, in: DERS., GA Bd. 2, hg. v. W. v. Herrmann, Frankfurt a. M. 1977, §12 und 13, 71-84/[=53-62] u.ö.). Vgl. dazu auch Merleau-Pontys Wahrnehmungsbegriff, der die Welt dem Subjekt gegenüber vorordnet.
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andererseits die Wahrnehmung als Grund menschlichen In-der-WeltSeins zu fassen.233 Die Rede von der Wahrnehmung als Grund sollte aber nicht zu dem Schluss führen, dass Wahrnehmung immer schon strukturiert ist, d.h. als Erfahrung stattfindet. Wir hatten bereits erwähnt, dass es Wahrnehmungen gibt, die noch nicht strukturiert bzw. gedeutet sind, die Erlebnisse. Im Erlebnis hat Wahrnehmung also durchaus eine zeitliche Dimension und demzufolge eine eigene Wirklichkeit. Insofern ist auch die Annahme möglich, dass es Wahrnehmung gibt, die nicht unmittelbar in Erfahrung übergehen muss. Für diese Fragestellung sind zwei Wahrnehmungstheorien von besonderer Bedeutung, die sich mit solcherlei Wahrnehmung auseinandersetzen. So gehört zur Wirklichkeit, die wahrgenommen werden kann, auch dasAtmosphärische. Nach Gernot Böhme sind darunter im Anschluss an H. Schmitz Wirklichkeiten aus der Klasse der„Halbdinge“ zu verstehen.234 Das Atmosphärische ist etwas, demgegenüber eine vollständige Distanzierung nicht möglich ist. Denn es ist zwar eine Wirklichkeit, die dem Subjekt gegenübertritt und von ihm wahrgenommen werden kann. Aber als Wirklichkeit kann sie nicht ohne einen subjektiven Anteil in Erscheinung treten, den Ich-Pol, der die Seite der affektiven Betroffenheit bzw. des eigenleiblichen Spürens ausmacht.235 Das Atmo233 Vgl. WIESING, L., Merleu-Pontys Entdeckung der Wahrnehmung, in: MERLEAUPONTY, M., Das Primat der Wahrnehmung, hg. u. mit einem Nachwort versehen von L. Wiesing, Frankfurt a. M. 2003, 85-124, 117. 234 Vgl. BÖHME, Aisthetik, 59.61ff.Vgl. hierzu aber auch die Kritik Seels, der die Atmosphären lieber aus verschiedenen Dimensionen wie „Temperaturen, Gerüchen, Geräuschen, Sichtbarkeiten, Gesten und Symbolen bestehendes Erscheinen einer Situation“ verstanden wissen will (vgl. SEEL, Ästhetik des Erscheinens, München/ Wien 2000, 153). 235 „[D]as atmosphärische Spüren von Anwesenheit [stellt sich dar als, M. R.] das grundlegende Phänomen von Wahrnehmung.“ (BÖHME, Aisthetik, 42.) Vgl. dazu auch HUIZING, Einleitung: Medien-Ästhetik als Aufbauwissenschaft der Theologie, in: DERS., Der inszenierte Mensch, 15-40, 17. 35ff. Allerdings zieht Huizing aus dieser Bezugnahme auf den Begriff der Atmosphäre eine sehr einseitige theologische Konsequenz, die er inhaltlich im Begriff der „Liebesatmosphäre“ zusammenfasst, formal an die eigenleibliche Erfahrung zurückbindet und funktional im christlichen Sinn als „Wiedergeburt“ oder „Konversion“ bestimmt: „So definiert, wird die Schnittmenge von ästhetischer und (christlich) religiöser Erfahrung auf urbildliche Eindruckserfahrungen – die sich durchaus auch partiell in abstrakten Verdichtungen der Liebes-Atmosphäre darstellen können – eingeschränkt.“ (aaO, 36). Diese spezifischen Gesten, die zu Toleranz und Solidarität anregen sollen, lassen sich nun Huizing zufolge als Reinszenierungen in den neuen Medien aufsuchen. (vgl. aaO, 39). In jedem Falle bleibt der Begriff der durch Christus initiierten Liebesatmosphäre theologisch eigenartig diffus, wenn er mit der ethischen Anregung zu Toleranz und Solidarität umschrieben wird. Hier soll zwar die Verbindung von Ästhetik und Ethik
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sphärische ist also ebenso Bestandteil subjektiver Wirklichkeit, welche nur in affektiver Betroffenheit in ihrem Was-Sein bestimmt werden kann. In der affektiven Betroffenheit werden aber die Gegenstände nicht als Gegenstände aufgelöst, wie auch das wahrnehmende Subjekt nicht durchweg in seiner Wahrnehmung aufgelöst wird, sondern sie begegnen sich durch Ingression oder Diskrepanz als dem jeweils Anderen ihrer selbst.236 Die Wahrnehmung des Atmosphärischen gehört demnach zu jenen Wahrnehmungen, die gar nicht in eine Erfahrung des Objekts durch ein Subjekt übergehen können. Das Atmosphärische ist oft Teil von Erlebnissen, die sich einer endgültigen Deutung entziehen. Eine weitere Wahrnehmungstheorie ist die „Phänomenologie der Wahrnehmung“ von Maurice Merleau-Ponty. Wahrnehmung ist nach Merleau-Ponty nicht ohne die Korrespondenz von Welt- und Leibbezug zu denken. Wahrnehmung ist phänomenologisch betrachtet immer als „Wahrnehmung des Leibes“ zu verstehen. „Jede äußere Wahrnehmung ist unmittelbar einer bestimmten Wahrnehmung meines Leibes synonym, so wie jede Wahrnehmung meines Leibes sich in der Sprache äußerer Wahrnehmung auslegt.“237 Der Leib hat folglich nicht nur eine physiologische, sondern auch eine transzendentale Bedeutung für die Wahrnehmung.238 Dabei ist der Gegenstand im Wahrnehmungsvollzug nicht von der inneren Konstituierung durch das Subjekt abhängig, sondern kommt dadurch zustande, „daß ich wahrnehmend-erfahrend eintauche in die Dichte der Welt“.239 Diese Korrespondenz von Leibund Welterfahrung stellt für Merleau-Ponty die Grundlage seiner Phänomenologie der Wahrnehmung dar. Gerade das Wissen um die Leiblichkeit der Wahrnehmung führt den Menschen zu einer veränderten Wahrnehmung und damit zu einem anderen Selbst- und Weltverhältnis: „Doch also ein neues Verhältnis zu unserem Leib wie zur Welt findend, werden wir auch uns selbst wiederfinden, da der Leib, mit
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aufgezeigt werden, jedoch findet dabei eine Preisgabe des Verständnisses von Soteriologie und Christologie zugunsten einer vorbildhaften Gemütsgestimmtheit statt, die in ihrer Absicht, Schleiermachers Theologie für die Gegenwart zu erschließen, sehr selektiv vorgeht. Vgl. BÖHME, Aisthetik, 46ff . Vgl. auch BÖHME, G., Kommunikative Atmosphären. Jochen Bockemühl zum 70. Geburtstag, in: BASFELD, M./ KRACHT, TH. (Hgg.), Subjekt und Wahrnehmung. Beiträge zu einer Anthropologie der Sinneserfahrung, Basel 2002, 103-115. MERLEAU-PONTY, M., Phänomenologie der Wahrnehmung (PPF Bd. 7), Berlin 1974, 242. Vgl. WIESING, Merleau-Pontys Entdeckung der Wahrnehmung, 94. MERLEAU-PONTY, Phänomenologie, 240.
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dem wir wahrnehmen, gleichsam ein natürliches Ich und selbst das Subjekt der Wahrnehmung ist.“240 Die leibliche Wahrnehmung ist eng mit der Gegenwart von Wirklichkeit verbunden. Gegenwärtigkeit aber ist keine transzendentale Kategorie, keine Eigenschaft, die man einem Seienden zuschreiben kann. Sie verbindet religiöse und ästhetische Erfahrung, welche beide auf die Grenzen des Intellekts in bezug auf die Wahrnehmung verweisen.241 Der Wahrnehmung kommt daher ein Primat gegenüber dem Denken zu: „Intellektuelle Schlüsse können zwar zu dem Ergebnis kommen, dass etwas möglich, wahr oder notwendig ist, aber nicht zu dem Ergebnis, dass etwas als gegenwärtig oder präsent erscheint. Die augenblickliche Gegenwart von etwas kann nur wahrgenommen werden.“242 Wahrnehmung ist somit als Präsenzbewusstsein zu verstehen, nämlich als Bewusstsein der Gegenwart von etwas. Ganz deutlich wird die Gegenwärtigkeit wahrgenommener Wirklichkeit durch einen anderen Menschen. Die Gegenwart eines Anderen bringt das Ich gerade deshalb zur Selbstwahrnehmung, weil das Ich selbst wahrgenommen wird. „Das ‚Ich’ wird durch die Gegenseitigkeit errungen, ich muss mich dazu erheben, den anderen als zur Gegenseitigkeit mit mir fähig zu denken.“243
240 AaO, 243. 241 Vgl. auch BAYER, Wer bin ich, 36, der die Gegenwärtigkeit der biblischen Texte in ihrem Charakter „pro me“ gegeben sieht: „Eine Geschichte der Bibel als meine Geschichte zu hören“. Huizing möchte das Moment der Gegenwärtigkeit sogar zu einer „Hermeneutik der gespürten Präsenz“ (HUIZING, Der erlesene Mensch, 144) ausweiten. 242 WIESING, Merleau-Pontys Entdeckung der Wahrnehmung, 112f. Jedoch ist Merleau-Ponty nicht in einem irrationalistisch-emotiven Sinne misszuverstehen, sondern seine Argumentation ist phänomenologisch in dem Sinne, dass sie sich auf die Gegebenheitsweise im Bewusstsein bezieht: „Seine [Merleau Pontys, M. R.] Beschreibungen richten sich nicht auf die Leistungen des Bewusstseins bei der Entstehung eines bewussten In-der-Welt-Seins, sondern ausschließlich – quasi rezeptionsästhetisch – auf die Erfahrungsweise, wie etwas im Bewusstsein gegeben ist. Das Primat der Wahrnehmung vor anderen Formen des Bewusstseins besagt, dass in jeder Bewusstseinsform das Bewusstsein als ein Bewusstsein von Etwas im gegenwärtigen Moment erscheint und dass damit jedes Bewusstsein an ein Gegenwartsbewusstsein gebunden ist.“ (WIESING, aaO, 122). „In diesem Sinne ist jedes Bewusstsein ein Wahrnehmungsbewusstsein, sogar unser Selbstbewusstsein.“ (MERLEAU-PONTY, Das Primat der Wahrnehmung und seine philosophischen Konsequenzen,in: DERS., Das Primat der Wahrnehmung, 26-84, 27.) „Was mir verbietet, meine Wahrnehmung als einen Akt des Verstandes zu betrachten, ist die Tatsache, dass ein solcher Akt den Gegenstand entweder als möglich oder als notwendig erfassen würde, dass der Gegenstand aber in der Wahrnehmung ‚wirklich’ ist.“ (aaO, 32). 243 AaO, 61.
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Die hier beschriebenen Aspekte von Wahrnehmung erhellen die ästhetische und die religiöse Erfahrung gleichermaßen. Denn beide Erfahrungsformen bergen Wahrnehmungen und Erlebnisse, die sich einer letztgültigen Deutung entziehen, seien es atmosphärische Wahrnehmungen oder leiblich-gegenwärtige Wahrnehmungen. Diese Wahrnehmungen führen gerade zu der für beide so charakteristischen Offenheit und Unabgeschlossenheit, die wiederum ihre Faszination und ihr Geheimnis ausmachen. Die Unterscheidung der Wahrnehmung von etwas („Wahrnehmung als“) vom haptischen Moment der Wahrnehmung („Wahrnehmung dass“) ist ebenfalls zur Präzisisierung des Wahrnehmungsbegriffs heranzuziehen, wobei letzteres den Vorrang der passiven Struktur sowie die Responsivität betont, das die Begegnung durch etwas anderes meiner selbst unterstreicht.244 „Wahrnehmung dass“ ist hier also mit Dieter Mersch im aisthetischen und damit aufnehmenden Sinne verstanden245 Somit zeigt und ereignet sich Wahrnehmung zunächst grundlegend und kann auch nur als Gabe passiv entgegengenommen werden.246 „[D]ass also Wahrnehmung, bevor sie Wahrnehmung-als sein kann, immer schon Wahrnehmung-dass ist, mithin ‚Ex-sistenz-Wahrnehmung’, dass also Ex-sistenz als ein Ekstatisches stets noch voraus-zu-setzen ist, ehe etwas als etwas zur Erscheinung gelangt und damit auch zur Bestimmung oder Reflexion gebracht werden kann.“247 Wir können also festhalten, dass sowohl ästhetische als auch religiöse Erfahrung von Wahrnehmungen lebt, die sich nicht kategorial bestimmen lassen, die aber das Bewusstsein nachhaltig verändern, vor allem in bezug auf die Evidenz oder die Gewissheit von Wirklichkeit. Sowohl ein religiöses Werk als auch ein Kunstwerk können meine Selbstdeutungen erschüttern und mit einer Autorität Sinn setzen, dem sich der „Hörer“ beugen muss, da er Evidenz erlebt. Dieses Evidenzerlebnis kann jedoch nicht eindimensional als Leistung meiner Reflexi244 Vgl. D. MERSCH, Ästhetische Erfahrung und religiöse Erfahrung, in: GRÄB, W./ HERRMANN, J./ KULBARSCH, L./ METELMANN, J./ WEYEL, B.(Hgg.), Ästhetik und Religion. Interdisziplinäre Beiträge zur Identität und Differenz von ästhetischer und religiöser Erfahrung (Religion – Ästhetik – Medien Bd. 2), Frankfurt a. M. u.a. 2007, 271-281. 275f: „Vielmehr meint die Figur des Responsiven, sich zunächst von einem noch Unbestimmten, Nichtidentischen ‚angehen’ oder affizieren zu lassen und es nicht bereits als etwas lokalisiert oder angeeignet haben“ (276). 245 „Wahrnehmung dass“ ist auch im Unterschied zu Martin Seels Akzentuierung dieser „Wahrnehmung dass“ i.S. eines reflexiven Akts verstanden. Vgl. M. SEEL, Ästhetik des Erscheinens, München/ Wien 2000, 50ff. 246 Vgl. MERSCH, aaO, 276f. 247 AaO, 277.
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onssubjektivität angesehen werden, sondern muss nach mehreren Dimensionen beschrieben und unterschieden werden. Was da geschieht, lässt sich eben nicht allein im „Subjekt“ oder allein im „Werk“ lokalisieren, sondern in einem Zwischengeschehen, in einem Raum der Begegnung, nicht im subjektiven Erlebnis, sondern im sinnstiftenden Ereignis, das als Ort von Wahrheit erfahren werden kann.248 In diesem Zusammenhang redet Huizing in seiner „Ästhetischen Theologie“ von „ästhetischer Evidenz“, die er wie folgt erläutert: „Am Anfang steht die affektive Betroffenheit durch die faszinierende Erscheinung des Vor-Augen-gemalten Christus“249. Evidenz kann sich demnach also auch durch „Impressivität einer konkreten Gestalt“250 ereignen. 5.3 Der Widerfahrnischarakter und die Passivität Sowohl ästhetische als auch religiöse Erfahrung beziehen sich auf Erfahrungen, hinter denen eine grundlegende Passivität des Menschen zum Vorschein kommt. Ob diese Passivität als Folge von Kontingenz oder von Schicksal bestimmt wird, spielt in diesem Zusammenhang eine eher untergeordnete Rolle. Die Erfahrung von Passivität ereignet sich vor allem in Form von bestimmten Widerfahrnissen, deren Eintreten nicht vom Willen des Menschen abhängt. Sie ereignet sich aber auch im Innewerden der Tatsache, dass sich das Ich, ja der ganze Mensch als solcher, nicht selbst gesetzt hat. Diese Erfahrung bezieht sich aber nicht nur auf den Anfang, sondern auf den ganzen Verlauf des je eigenen Lebens. Die Unverfügbarkeit des eigenen Lebenslaufes und die damit verbundene Deutungsproblematik ist eine Lebenserfahrung, auf die sich Religion und Kunst gleichermaßen beziehen, sie ist also Inhalt beider Erfahrungsformen. Der Widerfahrnischarakter der Wirklichkeit ist vom neuzeitlichen Denken lange Zeit verdrängt worden, weil es ihm vor allem darum ging, sich Wirklichkeit verfügbar zu machen. Wenn schon von Kontingenz die Rede war, dann auch gleich von den Bewältigungsstrategien, die das Subjekt entwickelt, um wiederum auf verfügbare Weise damit 248 Vgl. dazu auch den Gedanken Heideggers, der betont, dass das Kunstwerk als Ereignis zu verstehen sei, das zugleich Wahrheit hervorbringt und in Erscheinung bringen kann (vgl. LAMBROU, Von der Umkehr, 174f; Vgl. auch WETZEL, M., Ästhetik der Wiedergabe. Heideggers Ursprungstheorie des Kunstwerks und ihre Dekonstruktion, in: STÖHR, J. (Hg.), Ästhetische Erfahrung heute, 86-125, 108. 249 HUIZING, Der erlesene Mensch, 23. 250 AaO, 22.
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umzugehen. Oder es wurden Techniken ersonnen, welche die Kontingenz möglichst aus dem menschlichen Leben herausdrängen sollten. Der Mensch will im Grunde gar nichts dem Zufall überlassen, sondern alles unter Kontrolle haben. Geschieht etwa eine Naturkatastrophe, dann wird heute danach gefragt, wer für die Schäden an Personen und Sachen verantwortlich zu machen ist, die ja im Grunde „vermeidbar“ gewesen wären. Die Wirklichkeit und Lebensgeschichte des Einzelnen spielt in solchen Theorien keine Rolle. So ist es eigentlich kein Wunder, dass sich die Erfahrungen von Passivität eine besondere Nische in der Kunst gesucht haben, wo sie zur Darstellung kommen und präsent werden. Denn der Mensch macht trotz aller Wissenschaft und Technik selbstverständlich Erfahrungen von Passivität, die jedoch nicht mehr ausreichend reflektiert und aufgezeigt werden. Die Kunst ist darum dem Menschen phänomenologisch näher, indem sie diese Erfahrungen nicht verdrängt. In der Begegnung mit Kunstwerken und damit in der ästhetischen Erfahrung können diese Passivitätserfahrungen freigesetzt und persönlich angeeignet werden, so dass es zu neuen Erfahrungen von Passivität kommt. Ulrich Barth spricht deshalb auch vom „Widerfahrnischarakter der ästhetischen Erfahrung“ 251, weil Kunst nicht nur die Unverfügbarkeit des Lebens thematisiert, sondern weil sie selbst ein unverfügbares Geschehen auslöst, innerhalb dessen mir Wirklichkeit entgegentritt, die mein Leben oder zumindest meine Lebensdeutung verändert. Auch darin sind sich also ästhetische und religiöse Erfahrung ähnlich, dass es in beiden nicht zu einer Erkenntnis des ‚Gegenstandes’ kommt, sondern vielmehr im Spiel der Erkenntniskräfte die Konstitutionsbedingungen des Erkenntnisvermögens zum Tragen kommen. In beiden wird also die passivisch-widerfahrnishafte Gegebenheitsweise des endlichen Bewusstseins vorgestellt. 5.4 Der responsorische Charakter der Erfahrung Mit R. Schaeffler können sowohl die Wahrnehmung als auch die Erfahrung als Akte „in der Form responsorischen Gestaltens“252 aufgefasst werden. Dieser antwortende Charakter in der Rezeption des Kunstwerkes, in der Reaktion auf Erlebnisse und Wahrnehmungen in der Religion oder der Anrede in der Glaubenserfahrung gibt der ästhetischen ebenso wie der religiösen und vor allem der Glaubenserfahrung eine dialogische Grundstruktur. Der dialogische Charakter der Erfahrung besteht
251 Vgl. BARTH, U., Religion in der Moderne, 249. 252 Vgl. SCHAEFFLER, Erfahrung als Dialog, 300.
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vor allem darin, dass sie mich etwas mir selbst gegenüber Fremdes und Anderes entdecken lässt, das durch ein Selbstgespräch nicht auffindbar gewesen wäre.253 Gleichzeitig fordert sie das Subjekt zu einer Antwort heraus, die wiederum aus meiner persönlichen Begegnung mit der Wirklichkeit erwächst.254 Die Entdeckung des mir Fremden führt zu einer weiteren Gemeinsamkeit von religiöser und ästhetischer Erfahrung, die in der Unterscheidung eines Momentes innerhalb der Erfahrung besteht: dem des „Ereignisses“. Denn die Erfahrung ist auf ihr inneres und aktivierendes Moment angewiesen, das sich auf den „je größere[n] Anspruch des Wirklichen“255 bezieht. Insofern ist es „dasjenige innere Moment der Erfahrung, das uns der Beschränktheit unserer jeweiligen Erfahrungsweise überführt“.256 Beide Erfahrungsformen – die religiöse wie die ästhetische Erfahrung – besitzen sowohl ein aktives als auch ein passives Moment: zum einen als Erfahrungsakt, zum anderen als Widerfahrnis, durch das dem Betrachter in beiden Erfahrungsformen die Augen geöffnet werden.257 Dabei erlebt das Subjekt der ästhetischen Erfahrung das jeweilige „Sehen-Können“, „Hören-Können“ oder „Gestalten-Können“ als Geschenk, zumindest aber als kontingentes Geschehen, das ihm selbst nicht verfügbar ist. Das Gelingen der Begegnung mit der Wirklichkeit wird von beiden Erfahrungsformen als zukommende Gabe erlebt.258 Innerhalb dieser Gemeinsamkeit des Dialogischen in beiden Erfahrungsweisen besteht nach Schaeffler allerdings der spezifische Unterschied zwischen religiöser und ästhetischer Erfahrung im „antizipatorische[n] Charakter“ der religiösen Erfahrung.259 Damit ist insbesondere die eschatologische Dimension des Glaubens gemeint.260 Ebenso wird der Erfahrende in der ästhetischen Erfahrung nicht vor die soteriologi-
253 Vgl. dazu auch HEIDEGGER, Der Ursprung des Kunstwerks, 4f/[=9f]: Das Kunstwerk „macht mit Anderem öffentlich bekannt“. 254 Vgl. SCHAEFFLER, aaO, 313. 255 SCHAEFFLER, Erfahrung als Dialog, 318. 256 AaO, 319. 257 Vgl. aaO, 491. 258 Ebd. 259 Vgl. aaO, 426. 260 Damit zusammenhängend schließt keine religiöse Erfahrung neue Erfahrungen als Manifestationen der alles bestimmenden Wirklichkeit aus oder relativiert die frühere Manifestationsweise. Vgl. aaO, 466f, wo Schaeffler auf Paulus verweist, der die Bewährungsprobe seiner neuen Christuserfahrung gerade darin sah, dass durch diese neue Erfahrung die Glaubensüberlieferung Israels in einem neuen Lichte zu verstehen und nicht etwa überholt ist.
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sche oder eschatologische Frage nach Sein und Nichtsein gestellt.261 Allerdings hat ästhetische Erfahrung eine Affinität zur religiösen Erfahrung aufgrund ihrer Unverfügbarkeit.262 Schaeffler geht prinzipiell davon aus, dass die ästhetische Erfahrung religiöse Implikationen besitzt und umgekehrt. Religiöse Erfahrungen haben der Kunst einerseits immer wieder Impulse gegeben263, auf welche der Betrachter in seinen ästhetischen Erfahrungen antwortete. Andererseits ist die religiöse Erfahrung in ihren Sprachelementen wesentlich auf die ästhetische Erfahrung angewiesen.264 Darum sieht Schaeffler gerade in der Interferenz und Bezogenheit der strukturverschiedenen Erfahrungsweisen ihr Spannungsverhältnis begründet.265 Somit finden sich auch in den einzelnen Erfahrungsformen Aspekte der anderen Erfahrungsform, die allerdings dieses Erfahrungsfeld (wie beispielsweise das Religiöse im Ästhetischen) nur teilweise und eingeschränkt erfassen.266 Wie schon in der Erörterung des Grundproblems der Erfahrung deutlich geworden ist, bezieht sich die Rede von Erfahrung immer auch auf die mögliche Objektivierbarkeit von Erfahrung, womit jedoch der grundlegende Unterschied zwischen eigenen unmittelbaren Erlebnissen und allgemein mitteilbaren, kommunizierbaren Erfahrungen hervorgehoben werden soll.267 Damit soll nicht die Individualität der ästhetischen, religiösen oder auch ethischen Erfahrungen geleugnet werden, die insbesondere für diese Erfahrungsformen unverzichtbar ist. Für die hier untersuchten Erfahrungsformen von religiöser und ästhetischer Erfahrung kann allerdings die Bedeutung der Intersubjektivität konstatiert werden: Die „Fähigkeit, das Zeugnis fremder Erfahrungsweisen in den eigenen Umgang mit dem Wirklichen einzubeziehen, wird zur Bewährungsprobe dafür, daß jeder von beiden nicht in seinen subjektiven Vorurteilen befangen bleibt“268. Darüber hinaus ist der Austausch mit dem Anderen auch insofern von Bedeutung, als wir 261 Schaeffler weist darauf hin, dass eine „ästhetische Überwältigung“ strikt von einer religiösen zu unterscheiden ist, da die Begegnung mit dem Heiligen den Tod bringen kann und nur durch die göttliche Zusage selbst überwunden werden kann (vgl. aaO, 493). 262 Vgl. aaO, 489ff und 494. 263 Vgl. SCHAEFFLER, Erfahrung als Dialog, 488. 264 Schaeffler verweist auf die Rede vom Gottes „Herrlichkeit“ oder dem „Widerschein auf dem Antlitz aller Kreatur“ (aaO, 492). 265 Vgl. aaO, 495. 266 Vgl. aaO, 497. 267 Vgl. aaO, 303ff. 268 AaO, 505.
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in ihm „dem je größeren Anspruch des Wirklichen im Spiegel einer für uns nicht unmittelbar nachvollziehbaren Antwort“269 begegnen. Religiöse Erfahrung lädt zudem ein und ermächtigt zugleich zur Erzählung der eigenen Lebensgeschichte.270 Religiöse Gemeinschaften, zu denen auch die christliche Gemeinde zählt, sind also nicht nur „Kommunikationsgemeinschaften“, sondern auch „Erfahrungsgemeinschaften“, indem sie im Ritus das Geheimnis des Glaubens gemeinsam vollziehen. Auch und gerade hier findet ebenso intersubjektive Begegnung statt.271 Bei allen Gemeinsamkeiten sind jedoch die Strukturverschiedenheiten nicht zu unterschlagen: Denn das Kantische „freie Spiel der Gemütskräfte“, das eine wesentliche Bedingung der ästhetischen Erfahrung ausmacht, führt im Unterschied zur religiösen Erfahrung dazu, dass die Erfahrungsinhalte austauschbar sind.272 5.5 Person und Subjekt 5.5.1 Reflexionssubjektivität und Person Nachdem wir über Strukturen und Eigenschaften ästhetischer und religiöser Erfahrung nachgedacht haben, wollen wir uns der Frage zuwenden, welches anthropologische Konzept wir zugrunde legen sollten, um diesen spezifischen Erfahrungsformen gerecht zu werden. Eines hat sich in unserer Untersuchung bereits angedeutet: Der Begriff der Subjektivität, der sich im Zuge neuzeitlicher Wissenschaftstheorie entwickelt hat, stößt im Blick auf ästhetische und religiöse Erfahrung an seine Grenzen, selbst dann, wenn er auf die leibliche Verfasstheit des Menschen ausgeweitet und dementsprechend als „leibhaft gebundene Reflexionssubjektivität“ konzipiert wird. Denn zweierlei kann die Konzeption der „Subjektivität“ nicht leisten: Zum einen kann sie unmittelbare Wirklichkeit nicht denken. Was das Subjekt als wirklich erfährt, ist immer schon transzendental vermittelt. Zwar gehen die meisten Subjektivitätstheorien von einer Wirklichkeit aus, die auch unabhängig vom Subjekt existiert, aber diese Wirklichkeit lässt sich nicht denken. Was sich aber nicht „denken“ lässt, kann nicht Gegenstand wissenschaftlicher Überlegung sein. Zwar hat die Phänomenologie von Hegel über Husserl bis hin zu Merleau-Ponty immer wieder versucht, die Unterscheidung von subjektiver und objektiver Wirklich-
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AaO, 516f. Vgl. aaO, 720. SCHAEFFLER, Erfahrung als Dialog, 532ff. Vgl. aaO, 492.
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keit, die Unterscheidung von Schein und Sein zu durchbrechen, aber sie hat dies stets auf dem Boden der Subjektivitätstheorie getan, ohne sie als solche in Frage zu stellen. Zum anderen kann die Subjektivitätstheorie die Grundstruktur der Passivität nur auf der Ebene der Konstitution, nicht aber auf der Ebene des aktiven Erfahrungsvollzugs denken. Außer der eigenen Konstitution rechnet diese Konzeption also alles der Leistung des Subjekts zu. Die Möglichkeit der „Anrede“, des Sich-Zeigens oder einer anderen Eigenaktivität der Wirklichkeit im Vollzug der Erfahrung ist somit von vornherein ausgeschlossen. Auch die von Schaeffler herausgearbeitete dialogische Grundstruktur ästhetischer und religiöser Erfahrung lässt sich mit dem Konzept der Subjektivität schwerlich vereinbaren. Das Spiel der Erkenntniskräfte ist zwar in der ästhetischen und religiösen Erfahrung ein freies Spiel, sie sind also nicht von vornherein bestimmten Gesetzen unterworfen. Jedoch sind es immer die eigenen aktiven Erkenntniskräfte, die den Erfahrungsinhalt bestimmen. Ging die Moderne davon aus, dass die grundlegende Kontinuität denkerischer Vergewisserung im Subjekt verankert ist, so haben zahlreiche postmoderne Denker273 diese Kontinuität in Frage gestellt. Das Subjekt selbst geriet unter den Verdacht, lediglich eine denkerische Konstruktion oder gar Projektion, zumindest aber eine Abstraktion von dem konkreten Menschen zu sein. Theologisch ist daher für die Frage nach einer umfassenden Konzeption die Destruktion des Subjektgedankens in der Postmoderne-Diskussion wahrzunehmen. Denn an diesem Punkt kommen sich die postmoderne Subjektkritik und die theologische Subjektkritik sehr nahe, ohne jedoch ineinander aufzugehen. Die theologische Kritik am Subjektgedanken geht vor allem davon aus, dass der Mensch aufgrund der Sünde nicht einfach Wirklichkeit rezipiert, sondern dass er auch scheinhafte Wirklichkeit fabriziert. Menschliche Deutung von Wirklichkeit ist somit immer der Gefahr der Wahnhaftigkeit ausgesetzt. Die Konstruktion des Subjektgedankens hatte jedoch gerade das Ziel, zu sicherem Wissen und somit zur Wahrheit zu gelangen. Und ihr geistiger Vater Descartes tat dies, indem er zunächst jeglichem Denkinhalt mögliche Täuschung unterstellte. Sein methodischer Zweifel machte jedoch am unmittelbaren Selbstbewusstsein des Cogito Halt. Das Cogito als solches wollten Descartes und die neuzeitlichen Subjektivitätstheoretiker nicht anzweifeln. Die menschliche Vernunft wurde für integer gehalten und somit alles, was von dem Cogito her seine Be273 Vgl. die Ansätze des sogenannten Dekonstruktivismus und Neostrukturalismus: vgl. BEELMANN, A., Art. Subjektivität II., in: HWP 10, Basel 1998, 464-470, 468.
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gründung erfahren hat. An dieser Stelle setzt jedoch die theologische Subjektkritik ein, indem sie die Integrität des Denkens selbst in Zweifel zieht. So nützlich der Subjektgedanke auch sein kann für die Analyse des Denkens und seiner Strukturen, so wenig kann er doch zur Frage nach der Wahrheit beitragen. Denn mit der bloßen Frage nach dem Selbst-Konstituiertsein des Subjekts ist noch nicht die Frage nach der Wahrheit des Menschen gestellt. Insofern ist nach einer Konzeption zu suchen, die weiter gefasst ist und die Subjektivitätstheorie zu integrieren vermag. Denn die Subjektivitätstheorie ist eine nach wie vor sehr leistungsfähige Konzeption und bleibt für die Betrachtung ästhetischer und religiöser Erfahrung bedeutsam, wenngleich sie nicht alles zu leisten in der Lage ist. Eine anthropologische Bestimmung, welche die Subjektivitätstheorie einbeziehen kann, ohne ganz in ihr aufzugehen, ist die Bestimmung des Menschen als leibhafte Person. Der Personbegriff wurde in der christlichen Theologie bis zum Mittelalter fast ausschließlich für die Bestimmung der göttlichen Trinität verwendet. Im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnete er dagegen selbständige Menschen mit der Fähigkeit des Denkens sowie im juristischen Sinne Menschen in bestimmten gesellschaftlichen Positionen. Eine öffentliche Person war durch eine bestimmte Amtswürde ausgezeichnet. Personsein und Würde wurden auf diese Weise eng verknüpft. Aber auch eine andere Bestimmung des Personbegriffs setzte sich im Lauf der Zeit durch. Personsein konnte nur von einem bestimmten, konkreten Menschen ausgesagt werden. Ein Merkmal der Person ist also ihre Individualität.274 Für die christliche Anthropologie wurde der Personbegriff erst durch Luther bedeutsam. Gerade weil Luther dem Gebrauch des Personbegriffs für trinitarische Spekulationen skeptisch gegenüberstand, konnte er ihn wieder für die Anthropologie fruchtbar machen. Luther hat die verschiedenen profanen Bestimmungen des Personbegriffs theologisch verarbeitet, indem er dessen relationale Implikationen auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch anwendete. So ist der Mensch in zweierlei Hinsicht bzw. in zweierlei grundlegenden Relationen Person, nämlich coram mundo und coram deo. Für die Relation coram mundo gilt der allgemeine Sprachgebrauch von Person. Er ist definiert durch eine spezifische Funktion der Rolle oder Würde in der Gesellschaft. Coram deo gelten jedoch ganz andere Bestimmungen, die eine
274 Vgl. KIBLE, B., Art. Person II. Hoch- und Spätscholastik; Meister Eckhart; Luther, HWP Bd. 7, Darmstadt, 1989, 283-300, hier bes. 283 sowie SCHERER, G., Art. Person III. Neuzeit 1.-9., HWP Bd. 7, 300-319.
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Person ausmachen. Im Verhältnis zu Gott ist der Mensch nicht durch seine Autonomie Person und auch nicht durch seine Vernunft oder seine gesellschaftliche Würde. Denn die Person coram deo unterliegt einer Totalbestimmung, welche all die Eigenschaften coram mundo irrelevant für das Gottesverhältnis macht, nämlich der Sünde. Person vor Gott ist der Mensch nur durch die Rechtfertigung, die Gott ihm schenkt, durch das schöpferische Wort, das Gott ihm zuspricht. Personsein besitzt der Mensch demnach nicht schon einfach, es ist nicht das „transzendentale Ich“ bzw. das „Bewusstsein“, das er immer schon mitbringt, sondern das Personsein wird allererst durch ein anredendes Wort geschaffen. Person ist sowohl aktiv als auch passiv bestimmt, jedoch nur passiv konstituiert. Die Person wird durch das Wort erst konstituiert, indem sie glaubt. Der glaubende Mensch vertraut der schöpferischen Anrede Gottes. Dieses Vertrauen ist im Personzentrum angesiedelt, das Luther in Anlehnung an den biblischen Sprachgebrauch275 als „Herz“ bezeichnet. Damit ist jedoch nicht eine „Provinz im Gemüt“ gemeint oder jener Trivialgebrauch von „Herz“ im Sinne von Gefühl. Und der Begriff „Herz“ meint auch nicht die Innenseite der menschlichen Existenz, welche der Außenseite gegenübergestellt ist. „Herz“ umfasst vielmehr alle Dimensionen der menschlichen Existenz. Und doch ist es wiederum die Mitte, welche die Person im Innersten zusammenhält. Damit ist auch schon jene Paradoxie, jene Zerrissenheit umschrieben, durch welche das menschliche Herz gekennzeichnet ist. „Das Herz des Menschen, das mit Recht als Zentrum des Menschen gilt, ist paradoxerweise selbst die exzentrische Bewegung von sich fort.“276 Das Herz ist also der anthropologische Ort, an dem das Gottesverhältnis insgesamt angesiedelt ist, in positiver wie in negativer Hinsicht. Es ist Ort des Glaubens, aber auch Ort des Unglaubens. „Das Herz selbst ist nichts anderes als der ununterbrochene Vollzug des aus sich heraustretenden Glaubens und Trauens oder eben deren defizienter Modi: des Mißtrauens, Zweifelns und Verzweifelns.“277 Gerade die existentiellen, vorreflexiven Vorgänge, welche dann die Reflexion bestimmen, sind hier zu verorten. So ist das Herz bei Luther letztlich auch Ort der Sünde. Und solange das Herz von der Macht der Sünde beherrscht wird, ist auch 275 Vgl. FABRY, H.-J., Art. + +, ThWAT Bd. IV, Stuttgart u.a. 1984, 413-451. Vgl. STOLZ, F., Art. „+ leb Herz“, THAT Bd. I, München/ Zürich 21975, 861-867; vgl. ebensoȱSAND,ȱA.,ȱArt.ȱΎ΅ΕΈÇ΅,ȱEWNTȱBd.ȱII,ȱStuttgartȱu.a.ȱ21992,ȱ615-619.ȱȱ 276 EBELING, G., „Was heißt ein Gott haben oder was ist Gott?“. Bemerkungen zu Luthers Auslegung des ersten Gebots im Großen Katechismus, in: DERS., WuG II, 287-304, 298. 277 Ebd.
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die Vernunft, die Reflexion, die eigentlich gute Gabe Gottes, nicht frei von der Macht der Sünde. Weil das Herz korrumpiert ist, ist auch die Vernunft korrumpiert. Es spricht daher einiges dafür, die Begriffe „Person“ und „Herz“ als „Personzentrum“ auch für eine anthropologische Konzeption ästhetischer und religiöser Erfahrung fruchtbar zu machen, da beide Erfahrungsformen von Wahrnehmungen und Erlebnissen herkommen, welche noch vor der Reflexion liegen und dennoch den Menschen in seiner gesamten Existenz angehen, so dass er aus seiner Alltagserfahrung herausgerissen wird. Das leibhafte Personsein kann durchaus Reflexionssubjektivität, also das Spiel der Erkenntniskräfte im Sinne Kants, einschließen278. Leibhaftes Personsein ist dabei im anthropologischen Sinne eine weitere Bestimmung als Reflexionssubjektivität. Mit Luther stellt die Frage nach der Personkonstitution nämlich die Frage nach der Wahrheit dieser Person dar.279 Diese Person findet sich als Person gerade nicht immer schon vor, ist sich gerade nicht in einem transzendentalen Sinne als „Ich denke“ schon voraus- und mitgesetzt, sondern wird in einem Akt der Neuschöpfung allererst konstituiert. Ist der Mensch als Subjekt durch ein Selbstverhältnis definiert, so ist er als Person durch sein Gegenübersein bestimmt. Der Mensch ist gerade darin Person im eigentlichen Sinne, dass er auch dann ein Gegenüber hat, wenn er mit nichtmenschlicher Wirklichkeit zu tun hat, wenn er sich also in allem als Mensch „coram deo“ versteht. Die Wahrheit seines Personseins besteht aber darin, dass er Sünder und ein zu Rechtfertigender zugleich ist. Innerhalb dieses Rahmens ist allerdings durchaus mit subjektiven Verstehensvollzügen zu rechnen, denn mit der Infragestellung des Subjekts als grundlegendem Prinzip wissenschaftlicher Begründung ist keineswegs der Sachverhalt in Frage gestellt, dass es menschliche Subjektivität überhaupt gibt. Als Person ist der Mensch selbstverständlich 278 Vgl. oben Gräb, Kap. 1: „Wilhelm Gräb - Reflexionssubjektivität als gemeinsamer Konstitutionsort von religiöser und ästhetischer Erfahrung“ innerhalb des ersten Teils der Arbeit A, Abschnitt III. 279 Vgl. HERMS, Offenbarung und Erfahrung, 259: „Kant hat zwar im Unterschied zu allen vorangegangenen Theoretikern der Erfahrung erkannt, daß es zur Konstitution von Erfahrung nur im Medium von Selbstbewußtsein kommen kann; zugleich aber noch verkannt, daß Selbstbewußtsein erstens nicht nur als Resultat von Reflexionsakten in Betracht kommen kann, sondern zuvor schon als deren Möglichkeitsbedingung gedacht werden muß; ferner, daß es als diese Möglichkeitsbedingung der Reflexionstätigkeit nicht durch diese Tätigkeit, sondern nur für sie, und das heißt: passiv, konstituiert sein kann; und drittens, daß es als dieses unmittelbare Selbstbewußtsein die Gestalt des Selbstgefühls hat, das alle Reflexionsakte ermöglicht und begleitet.“ Vgl. ebenso Ebelings Begriff des Wahrnehmens als Wahrmachen.
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auch Subjekt. Die Subjektivität gehört zum Personsein des Menschen ebenso wie seine Rationalität, Emotionalität, Affektivität, seine Instinkte und Verhaltensmuster, seine Sinnlichkeit und seine Leiblichkeit. Die Reflexionssubjektivität ist eine aktiv und spontan verarbeitende und rezipierende Funktion der Personalität des Menschen. Sie ist Grundlage seiner Deutung von Lebenswirklichkeit und seiner Selbstdeutung inmitten dieser Lebenswirklichkeit. So können alle neuzeitlichen Ästhetikkonzeptionen in der Betonung von Künstler bzw. Rezipient selbstverständlich von einem Subjekt ausgehen, das durch Einheit und Kontinuität in Denken und Handeln ausgezeichnet ist, und sie können selbst in der Zerstörung der Einheitlichkeit des Subjektes oder in der Beschränkung auf die Rede vom empirischen Subjekt in der Postmoderne nicht ohne diesen Bezugspunkt auskommen.280
280 Dennoch ist die Postmoderne als Kind der Moderne zu betrachten, die zugleich auf das Subjektverständnis der Moderne bezogen bleibt und dennoch das Subjektverständnis der Neuzeit in Frage stellen kann, wobei sie allerdings aus theologischer Perspektive zu keiner umfassenden Metakritik in der Lage ist. Vgl. positiv zur Bedeutung der Postmoderne für die Theologie: SCOBEL, G., Postmoderne für Theologen? Hermeneutik des Widerstreits und bildende Theologie, in: HÖHN, H.-J. (Hg.), Theologie, die an der Zeit ist. Entwicklungen, Positionen, Konsequenzen, Paderborn u.a. 1992, 175-229. Vgl. hier auch den Hinweis auf Welschs Unterscheidung von Postmoderne, Moderne und Neuzeit: „Denn die Postmoderne setzt sich zwar entschieden von der Neuzeit, sehr viel weniger hingegen von der eigentlichen Moderne ab. Nach-neuzeitlich ist sie gewiß, nach-modern aber kaum, sondern eher radikalmodern.“ (WELSCH, W., Unsere postmoderne Moderne, Berlin 41993, 65-85, 66). Zur Unterscheidung postmoderner von modernen Kunstwerken vgl. BRÜDERLIN, M., Beitrag zu einer Ästhetik des Diskursiven. Die ästhetische Sinn- und Erfahrungsstruktur postmoderner Kunst, in: STÖHR, J., Ästhetische Erfahrung heute, 282-307, hier bes. 303ff. Hier betont Brüderlin, das postmoderne Kunstwerk unterscheide sich in seiner „komplex-reflexiven Struktur“ grundlegend von dem „selbtreflexiven der Moderne“ (303), da das postmoderne Kunstwerk den Betrachter stärker darin fordert, im Rezeptionsvollzug seine Kreativität zu aktivieren. Hierbei steht Ecos Theorie des offenen Kunstwerks im Hintergrund, welche die prinzipielle Unabgeschlossenheit des Kunstwerks zur Voraussetzung hat, wobei es immer wieder zu neuen Vernetzungen unterschiedlicher Systeme kommen kann (Vgl. ECO, U., Das offene Kunstwerk, übersetzt von G. Memmert, Frankfurt a. M. 81998. Vgl. dazu auch wieder HENRICH, Versuch über Kunst und Leben, passim. Wie auch alle anderen Subjekttheorien der Gegenwart hält Henrich das Subjekt für „fragil“ und „unversöhnt“, wobei er eine Selbst-Gewissheit seitens der Subjektivität annimmt, die allen Fragmentaritätserfahrungen vorgeschaltet ist. Vgl. zur bleibenden Fragilität und damit Aufhebung der Subjektivität auch BUTLER, J., Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a. M. 2001. Vgl. auch TIMM, Wahr-Zeichen, 153, der auf ein Pauluswort, das diese menschliche Fragilität besonders betont, hinweist: „Wir haben aber solchen Schatz in irdenen Gefäßen, auf daß die überschwängliche Kraft sei Gottes und nicht von uns.“ (2 Kor 4,7).
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Daher gehören alle diese Lebensfunktionen der Person auch zu den Bedingungen, denen ästhetische und religiöse Erfahrung sowie Glaubenserfahrung unterworfen sind. Wer sich jedoch lediglich auf die Subjektivität beschränkt, wird der Wirklichkeit personaler Erfahrung nicht gerecht. Insofern ist die Frage nach den Konstitutionsbedingungen von Erfahrung nicht per se im Sinne ihrer subjektiven Voraussetzungen zu interpretieren. In Anlehnung an Gadamers geschichtliches Verständnis des InterEsse unter Einschluss der Kontinuität biographischer und sozialer Gegebenheiten, ist auch die ästhetische Erfahrung als eine Form des Sichverstehens zu bestimmen, wobei hier die personale, nicht – wie bei Gadamer – die weltanschauliche, Bedeutung hervorgehoben werden soll. Sowohl in der ästhetischen als auch in der religiösen Erfahrung findet nämlich eine Art von Kontinuitätsunterbrechung statt, indem ich durch die inter-essierte Betrachtung, die sich auch in Form einer szenischen Erinnerung vollziehen kann, verändert werde, so dass meine Identität durch die Betrachtung in gewisser Weise unterbrochen wird. Bezogen auf die ästhetische Erfahrung ist die Erfahrung von Kunst als ein er-öffnendes Geschehen zu verstehen. Im Deutschen gibt es nur Aktiv oder Passiv, aber kein Medium, was dem Geschehen von Erfahrung als Widerfahrnis am adäquatesten entspräche. In der Bildbetrachtung ist der Werkbezug und die Rezeption durch die Person als eine hermeneutische Einheit zu betrachten, denn etwas hat für mich nur eine personale Bedeutung, wenn es etwas in mir Liegendes aufschließt. Somit ist die Frage nach dem Sein des Betrachters im Betrachtungsvorgang relevant.281 5.5.2 Das fragmentarische Subjekt Auch wenn im folgenden dem Personbegriff gegenüber dem Subjektbegriff der Vorzug gegeben werden soll, so kann auf den Subjektbegriff nicht verzichtet werden. Ein Ansatz, der die für einen theologisch verantworteten Erfahrungsbegriff erarbeiteten Momente aufgreift, stellt das Subjektverständnis Henning Luthers dar. In diesem werden sowohl das responsorische Moment, der Widerfahrnischarakter, die personalistische Bedeutung des Anderen282 sowie das Problem der Sünde 281 Vgl. ZINK, Bildhermeneutik, 94ff. 282 „Daß unsere jeweils erreichte Ich-Identität fragmentarisch bleiben muß, ergibt sich daraus, daß wir immer auf andere angewiesen sind. Das Ideal der scheinbar autarken, in sich selbst ruhenden und selbstgenügsamen Persönlichkeit leugnet mit der Fragmentarität gerade dieses Angewiesen-Sein und Verwiesen-Sein auf Andere.“ (LUTHER, H., Leben als Fragment, 267).
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des Menschen aufgegriffen. Die Sünde, welche sich Mostert zufolge in einer Haltung des Nicht-Empfangen-Könnens äußert, ist nur durch die Rechtfertigung des Sünders zu durchbrechen, welche als Lebensgelassenheit auch ein Einwilligen in die Begrenzungen des Lebens darstellt. Für unseren Zusammenhang von Theologie und Ästhetik ist auch der ästhetische Begründungsrahmen des Fragmentbegriffs von Bedeutung283: „Der Begriff des Fragments entstammt dem ästhetischen Vorstellungsrahmen. Er lässt sich aber insofern auf unseren Diskussionskontext übertragen, als vielfach der Sozialisations- und Personalisationsvorgang implizit wie ein künstlerischer Gestaltungsprozess verstanden wird, über dessen Ergebnis ähnlich wie bei Kunstwerken nach bestimmten Kriterien der Gelungenheit befunden wird. Der Begriff des Fragments kontrastiert dem der Totalität, also der in sich geschlossenen Ganzheit, der Einheitlichkeit und dauerhaften Gültigkeit.“284 Insbesondere der Begriff der „Totalität“ und „Ganzheit“ verweist auf die Ansprüche eines Denkens, das die Fragmentarität des Denkens und Lebens unberücksichtigt lässt. Theologisch bedenkt dieses Problem der Fragmentarität in bezug auf das Gottesverhältnis die Sündenlehre. Totalitätsansprüche sind immer Ausdruck des menschlichen Anspruchs „esse sicut Deus“: „Sünde ist also nicht das Streben nach Selbstverwirklichung, sondern vielmehr das Aus-Sein auf vollständige und dauerhafte Ich-Identität, auf Ganzheit – Eigenschaften, die allein Gott eignen.“285 Jedoch ist Fragmentarität nicht allein auf die Sünde zurückzuführen. Zum einen ist der Zusammenhang von Sünde und Tod, wie ihn insbesondere auch die Tradition betont, deutlich, zum anderen aber bringen die Widerfahrnisse des Lebens ganz eigene Erfahrungen von Brüchen mit sich, die das Leben immer als Torso und Fragment zurücklassen, da jedes Leben durch die Spuren des Todes und der Endlichkeit bestimmt wird.286 283 Vgl. zum Begriff des Fragments sowie zur Konzeption der Ganzheit eines Kunstwerks auch LOHMANN, G., Fragmentierung, Oberflächlichkeit und Ganzheit individueller Existenz. Negativismus bei Georg Simmel, in: ANGEHRN, E. u.a. (Hgg.), Dialektischer Negativismus. Michael Theunissen zum 60. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1992, 342-367, 344f; 358f, der im Zusammenhang des Fragments auf Simmel und die Lebensphilosophie verweist. 284 LUTHER, H., Identität und Fragment. Praktisch-theologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen, in: DERS., Religion im Alltag. Bausteine zu einer praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 160-182,167. 285 LUTHER, H., Leben als Fragment, 271. 286 „Wir sind Ruinen aufgrund unseres Versagens und unserer Schuld ebenso wie aufgrund zugefügter Verletzungen und erlittener und widerfahrener Verluste. Dies ist der Schmerz des Fragments.“ (LUTHER, H., Leben als Fragment, 267); „Die nicht
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Darüber hinaus beinhalten Fragmente aber ebenso ein Zukunftspotential, indem sie über sich hinausweisen. Dieses Moment ist theologisch als ihre eschatologische Dimension zu beschreiben.287 Vollendung des jeweils fragmentarischen Lebens kann es für den Glaubenden nur durch und in Gott geben, wie wir es im Glauben an die Auferstehung Jesu Christi bekennen, die der Grund unserer Auferstehungshoffnung und des Glaubens an ein „Ewiges Leben“ ist: „Fragmente – seien es die Ruinen der Vergangenheit, seien es die Fragmente aus Zukunft – weisen über sich hinaus. Sie leben und wirken in Spannung zu jener Ganzheit, die sie nicht sind und nicht darstellen, auf die hin aber der Betrachter sie zu ergänzen trachtet. Fragmente lassen Ganzheit suchen, die sie selber aber nicht bieten und finden lassen.“288 Die Erfahrung von Fragmentarität setzt jedoch immer die Frage nach der Vollendung aus sich heraus. Wird die Möglichkeit der Vollendung nicht als Möglichkeit eigener Aktivität angesehen, dann transzendiert sich das Subjekt selbst. „Selbsttranszendenz ist aber nur dann möglich, wenn die Ich-Identität gerade nicht als vollständige und dauernde, sondern nur als fragmentarische verstanden ist.“289 Die Annahme unserer Fragmentarität bedeutet somit Annahme von Endlichkeit, Schuld und Vergebungsbedürftigkeit. Wir können uns selbst nicht vervollkommnen, sondern erwarten die Vollendung durch Gott. H. Luther begibt sich in seiner Konzeption des fragmentarischen Subjekts auch in ein Gespräch mit postmodernen Theorien, die das Subjekt dekonstruieren und ebenfalls von einem fragmentarischen Subjekt reden, da das einheitliche und ganze Subjekt eine Konstruktion darstellt. Mag H. Luther auch von diesen Überlegungen inspiriert sein, so begründet er seine Theorie des fragmentarischen Subjekts zum einen phänomenologisch, zum anderen theologisch: eine theologische Anthropologie kann nur so vom Menschen reden, dass er als Sünder und zu Rechtfertigender in den Blick kommt. Dass der Mensch fragmentarisch ist, muss ihm allerdings immer wieder von außen zugesagt werden, da der Mensch seine Endlichkeit und Begrenztheit immer wieder zu überwinden bestrebt ist: sei es in einem übermäßigen Narzissmus, sei es
vorhersehbare und planbare Endlichkeit unseres Lebens, die jeder Tod markiert, läßt unser Leben immer zum Bruchstück werden. Der Tod vernichtet prinzipiell die Möglichkeit einer in sich ruhenden und ganzheitlichen Gestaltung des Gesamtlebens“ (aaO, 266). 287 Vgl. LUTHER, H., Leben als Fragment, 273. 288 LUTHER, H., Identität und Fragment, 167. 289 AaO, 169.
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in gesellschaftlichen Ideologien, die den Menschen ganz machen wollen.290 5.5.3 Die Perspektive der Ersten Person als Bindeglied zwischen religiöser und ästhetischer Erfahrung Ästhetische und religiöse Erfahrung sind nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass sie primär personale Erfahrungsformen sind, wie wir soeben herausgearbeitet haben. Ihre spezifische Gemeinsamkeit besteht vor allem auch darin, dass sie Erfahrung der Ersten Person sind.291 Indem ästhetische und religiöse Erfahrung Erste-Person-Erfahrungen sind, haben sie einen existentiellen Charakter. Sie sind beide in entscheidendem Maß vom Interesse, dem Dabei-Sein und Darin-Sein, des Erfahrenden bestimmt, was diese Erfahrungsformen von der distanzierten Beobachterperspektive der Erfahrung der Dritten Person unterscheidet. Nur die Erfahrungen, die ich wirklich gemacht habe, sind für mich von existentieller Bedeutung. War für die ästhetische Erfahrung festgehalten worden, dass sie als „Erfahrung mit der Erfahrung“ auf Situationen verweist, so wird diese Bestimmung durch die Rede von der Ersten Person präzisiert und individualisiert. In dem jeweiligen Bezug auf Situationen bleibt sie Erfahrung eines bestimmten Betrachters in bezug auf zwar verallgemeinerbare Situationen, die aber ihren individuellen Charakter behalten. Auch in dieser Hinsicht stellt also die Rede von einem „Subjekt“ eine Abstraktion dar. Bayer versucht, diese Schwierigkeit dahingehend aufzubrechen, dass er mit Ricoeur von einem „erzählenden Selbst“ ausgeht.292 Dabei ist nicht nur der Autor der Erzählung relevant, den 290 Vgl. dazu auch TROWITZSCH, M.: Gott, der Fremde, in: DUMMER, J. / VIELBERG, M. (Hgg.), Der Fremde – Freund oder Feind? Überlegungen zu dem Bild des Fremden als Leitbild (= Altertumswissenschaftliches Kolloquium 12), Stuttgart 2004, 151159, 155f: „Die christliche Theologie [...] vertritt entschieden die Auffassung, daß nur Gott, der heilige, überlegene Gott, Gott, der Fremde, dem verzweifelten und hochmütigen Menschen in seiner furchtbaren Fassungslosigkeit Halt und verläßliches Gegenüber zu geben vermag – nicht nur Grenze und Maß zu geben imstande ist, sondern sie tatsächlich gibt.“; „Theologisch geredet: in Betracht kommt hier zuerst und zuvörderst nicht das Gesetz, sondern das Evangelium, nicht der immer dringlicher zu erhebende Appell, sondern lediglich die Wahrnehmung, ja schon begründet zu sein, gut begründet zu sein, gehalten zu werden und sich darum dahingestellt sein lassen zu können, das Lob der Grenze, die Einwilligung in die Vergänglichkeit, die völlige Entbehrlichkeit, das Heilige zu setzen, weil es sich selbst souverän gesetzt hat.“ (aaO, 158). 291 JUNG, Erfahrung, passim, hier bes. 268-285. 292 Zwar erzählt primär der Mythos, aber auch die Naturwissenschaft verbleibt nicht nur im Erklären, sondern muss ebenso erzählen (BAYER, Autorität, 89-95).
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Bayer in entscheidendem Maße in Gott selbst sieht, sondern auch der Protagonist der Erzählung, dem das Leben widerfährt, das er nacherzählen kann. Insofern kann man also in beiden Fällen von einer Erfahrung der Ersten Person sprechen. Für die Glaubenserfahrung gilt jedoch, dass sie als Erfahrung der Ersten Person eine auf die Zweite Person bezogene relationale Erfahrung ist. Sowohl das Personsein Gottes als auch das Personsein des Menschen sind immer relational verfasst, da es Person nur in Relation gibt, ja „Person“ selbst ein relationaler Begriff ist. Aufgrund seiner Relationalität ist das konkrete Ich allerdings auch auf Kommunikation seiner Erfahrung angewiesen. Die Voraussetzung der Kommunikation von Erfahrung ist aber ihre Artikulation. Das Ich legt seine Erfahrung als Subjekt immer schon in symbolischen Formen aus und stellt eigene Erlebnisse in kulturell vermittelte Kontexte. Diese kulturellen Kontexte können auch schon den phänomenalen Gehalt des subjektiven Erlebens selbst bestimmen, so dass der Artikulationsprozess auch als „prädiskursive[s] Bildbewußtsein“ verstanden werden kann.293 Die Artikulation in der subjektiven Erfahrung stellt somit eine „Präfiguration des erfahrenen Gehalts“294 dar. Der erfahrene Gehalt verliert zwar durch die Artikulation seinen individuellen Charakter, jedoch behält auch die artikulierte Erfahrung ihren Charakter als Erfahrung der Ersten Person, da auch die symbolischen Formen Ausdrucksgestalten von Erfahrungen der Ersten Person sind. Durch ihre Kommunikabilität sind sie jedoch nicht Ausdrucksgestaltung von IchErfahrung im Sinne der Ersten Person Singular, sondern von WirErfahrung im Sinne der Ersten Person Plural.295 Mit diesen Überlegungen will Jung aus religionsphilosophischer Perspektive insbesondere der religiösen Erfahrung gerecht werden, indem er ihre Binnenperspektive schützt, ohne jedoch theologisch zu argumentieren. Er versteht religiöse Erfahrung als Ausdruck existentieller Wirklichkeitsdeutung, die sich einem Wissensmodell der Dritten-Person-Erfahrung entzieht, wie sie am Ideal der Objektivität der Naturwissenschaften vollzogen wird.296
293 294 295 296
Vgl. JUNG, Erfahrung, 273f. AaO, 283. Vgl. aaO, 131f.274. Vgl. aaO, 277ff. Allerdings nimmt der Religionsphilosoph, der die religiöse Erfahrung als Erste-Person-Erfahrung würdigt, diese aus einer Beobachter-, nicht aus einer Beteiligungsperspektive wahr. Er würdigt die symbolischen Ausdrucksformen, deren sich der Einzelne zur Äußerung seiner Erfahrung bedient, jedoch werden diese symbolischen Ausdrucksformen formal behandelt.
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Die Erfahrung der Dritten Person ist insofern beliebig, als sie austauschbar ist. Durch die Perspektive der Ersten Person wird jedoch ein spezifisches Realitätsverhältnis herausgearbeitet, das sowohl religiöser als auch ästhetischer Erfahrung zugrunde liegt. Beide Erfahrungsformen können nur in der Ersten-PersonPerspektive adäquat artikuliert und kommuniziert werden. Deshalb ist Jung bemüht, eine Theorie religiöser Erfahrung zu entwickeln, welche das subjektive Erleben und die kulturelle, d.h. intersubjektive Symbolform durch den oben im Anschluss an Dilthey eingeführten Begriff der „Artikulation“ verbindet.297 Religiöse und ästhetische Erfahrung können darum Jung zufolge als „spezifizierende Artikulationsschemata der Ersten Person“298 aufgefasst werden. Aufgrund ihrer kulturellen Eingebundenheit und Vermittlung, die existentiell und semantisch von Bedeutung ist, gibt es zwischen beiden Erfahrungsformen häufige Transformationen, Inklusionen oder auch Modifikationen.299 Religiöse Erfahrung ist auf ästhetische Erfahrung angewiesen, und ästhetische Erfahrung ist auf religiöse Erfahrung hin durchlässig aufgrund ihres existentiellen und personalen Charakters. Sie unterscheiden sich aber grundlegend in der Bezugnahme auf eine „transsubjektive Realität“, wo Fiktionalität in der ästhetischen Erfahrung der referentiellen Gebundenheit in der religiösen Erfahrung gegenübersteht. Die religiöse Erfahrung ist durch ihre referentielle Gebundenheit auf Wahrheit bezogen, die ästhetische Erfahrung dagegen primär auf Fiktionales und Schein. Es ist allerdings im weiteren zu fragen, ob das einen Wahrheitsbezug der ästhetischen Erfahrung prinzipiell ausschließen muss. Die Gemeinsamkeit der Erfahrung der Ersten Person wird noch durch den Widerfahrnis- und Passivitätscharakter dieser Erfahrungsform vertieft.300 Es handelt sich also um die Erfahrung einer gewissen bzw. relativen Passivität auch in der ästhetischen Erfahrung. Dieser Widerfahrnischarakter der beiden Erfahrungsformen begegnet immer als Erfahrung der Ersten Person. Da das Subjekt eine transzendentalphilosophische Größe darstellt, abstrahiert die Rede vom religiösen Subjekt, die lediglich für das religiöse bzw. ästhetische Urteil als Bezugsgröße in Betracht kommt, vom empirischen Ich. Jedoch ist der religiöse Vollzug empirisch nur durch
297 298 299 300
Vgl. JUNG, Erfahrung, 131f.263 u.ö. AaO, 388. Vgl. aaO, 389. Vgl. im Anschluss an Dilthey JUNG, Erfahrung, passim.
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das religiöse Personsein zu bestimmen.301 Religion umfasst nun nach ihrem Selbstverständnis die gesamte Existenz, dagegen Ästhetik nur eine bestimmte Dimension der Wirklichkeit bzw. der Darstellung einer spezifischen Welt- und Wirklichkeitsweise. In diesem Kontext ist also ein ‚ästhetisches Subjekt’ noch eher zu erheben, wenn die Ästhetiker vom Vollzug der ästhetischen Erfahrung abstrahieren. Die unmittelbare ästhetische Vollzugserfahrung ist aber ebenso eine Erfahrung der Ersten Person im oben beschriebenen Sinne. Die Wahrnehmung selbst, d.h. der Wahrnehmungsvollzug, kann ebenso nicht von der Person abstrahiert werden, sie bezieht sich gleichzeitig auf seine Individualität. Die ästhetische Wahrnehmung bleibt auch dann individuell, wenn sie ihren Wahrnehmungsvollzug allgemein deutet, interpretiert und versteht. Ebenso bleibt sie individuell und personhaft bestimmt, wenn sie ihre Deutung und ihre Interpretation, d.h. ihr ästhetisches Urteil, anderen ansinnt. Der Subjektbegriff erweist sich also auch im ästhetischen Urteil nur als bedingt anwendbar. Wird jedoch die Reflexionssubjektivität als Bindeglied zwischen religiöser und ästhetischer Erfahrung verstanden, dann kommt man zu einer Gegenstandsbestimmung von einerseits ästhetisch-immanent und andererseits religiös-transzendent – wie anhand der Konzeptionen von Gräb und Barth gezeigt wurde. 5.6 Transzendenz und Immanenz als Grundproblem der Verhältnisbestimmung Werden ästhetische und religiöse Erfahrung ins Verhältnis gesetzt und ihre strukturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet, dann wird der Hauptunterschied zwischen beiden Erfahrungsformen in der Regel darin bestimmt, dass sich ästhetische Erfahrung auf immanente, religiöse Erfahrung aber auf transzendente Wirklichkeit bezieht. In diesem Zusammenhang hat M. Seel darauf aufmerksam gemacht, dass die Ästhetik von Schiller bis Adorno beide Bezüge in sich vereint, da sie das gute und erlöste Leben vorwegnimmt, indem sie das fragmentarische Leben als etwas zu Überwindendes charakterisiert. Damit aber bezieht sie sich auf zukünftige und somit transzendente Wirklichkeit. Durch diese Transzendierung wird sie zu einer Art säkularisierten Eschatologie. An dieser Stelle sieht Seel allerdings die hart
301 Vgl. KANT, Kritik der praktischen Vernunft, in: DERS., Werkausgabe Bd. VII, hg. v. W. Weischedel, Frankfurt am Main 21977, 103-302, 254ff/ [=A 223ff]: „V. Das Dasein Gottes, als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft“.
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erkämpfte Autonomie der Kunst gefährdet. Er hebt dagegen die Freiheit und das radikal Präsentische der ästhetischen Erfahrung und ihrer spezifisch ästhetischen Rationalität hervor. So plädiert er für eine Akzeptanz der Kontingenzen des Lebens, welche sogar die Enttäuschung und das Scheitern einer positiven Erfahrung als Preis der Freiheit in Kauf nimmt.302 Besitzt Ästhetik also einen Bezug auf Erlösung und Sinnerfüllung als Kontingenzbewältigung, so wird durch diesen sowohl „horizontalen“ als auch „vertikalen“ Transzendenzbezug die Autonomie der Kunst unterlaufen. Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe moderner Künstler, deren Kunst einen impliziten oder expliziten Transzendenzbezug hat, ohne jedoch als religiöse Kunst gelten zu wollen. Die Wiederentdeckung der östlichen und westlichen Mystik sowie die Rede vom „Erhabenen“ hat diesen neuen Transzendenzbezug von Kunst befördert, da sie nicht auf religiöse Vorstellungen und Denkinhalte festgelegt ist.303 302 Vgl. SEEL, Die Kunst der Entzweiung, 330ff. 303 Vgl. insgesamt die Versuche, religiöse und ästhetische Erfahrung über die „negative Theologie“ und das Problem der „Nichtdarstellbarkeit“ ins Gespräch zu bringen: Vgl. dazu LESCH, W. (Hg.), Theologie und ästhetische Erfahrung. Beiträge zur Begegnung von Religion und Kunst, Darmstadt 1994. Vgl. dazu ausdrücklich STÖHR, J., Das Geistige in der Kunst, 327ff: Dieser betont, dass nachmoderne Kunstpoiesis nicht um Transzendenz- oder Erhabenheitserfahrungen im herkömmlichen Sinne bemüht ist, sondern vielmehr gehen Künstler selbstreflexiv hinter unmittelbare ästhetische Erfahrungen zurück, um zu klären, wie Erhabenheitserfahrungen gemacht werden. Darum ist die „neue Bedingung der Möglichkeit religiöser Erfahrung zunächst und zuallererst die Einsicht in ihre Verunmöglichung“ (327). So ist die Gegenwart eines autonomen Tafelbildes Stöhr zufolge nicht mit der Realpräsenz eines Transzendenten im kultischen Bild gleichzusetzen. Diese fundamentale Horizontveränderung von der Moderne zur Nach- oder Postmoderne ist immer mit zu berücksichtigen, da diese Kunst nicht mehr mit der „Möglichkeit einer Visualisierung des Numinosen“ (329) rechnet. Vielmehr wendet sich diese Gegenwartskunst den Konstitutionsbedingungen der Kunst selbst zu (328f). So kann man auch für das Moment der ‚Leere’ im Zusammenhang der Darstellung des Undarstellbaren ergänzen: „Sofern Kunst sich sakralen Themen zuwendet, ein Heiliges anklingen oder aufscheinen läßt, ist das Religiöse unweigerlich mehr abwesend als anwesend. Denn nicht das Gestaltete kann heilig sein, allenfalls das noch zu Gestaltende, Numinose.“ (GÖRNER, R., Die heilige Leere. Zur [neuen] Spiritualität der Kunst, in: MUT, Nr. 415 (2002), 68-77, 77). Für die Kunst der Gegenwart spielt – wie oben erwähnt – die Verbindung von Mystik und dem kantischen Begriff der Erhabenheit eine wichtige Rolle: Vgl. dazu SCHOENER, G.-A., Religiöse Erfahrung und das Problem der Zeit (Berichte aus der Philosophie), Aachen 1997, 42-54. Vgl. ebenso HERRMANN, J., „Wir sind Bildhauern gleich“. Von der Verwandlung mystischer in ästhetische Erfahrung, in: DERS. u.a. (Hgg.), Die Gegenwart der Kunst, 87-105. In der Gegenwartskunst ist allerdings in der Darstellung des Unaussprechlichen nicht mehr der Mythos an sich entscheidend, sondern vielmehr die Struktur des Mythos. Umgekehrt ist auch der Mythos in der Moderne nicht einfach wiederzubeleben, sondern
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Friedhelm Mennekes versucht aufgrund des umstrittenen Gebrauchs des Transzendenzbegriffs in der gegenwärtigen ästhetischen Diskussion, von der „Transparenz“, d.h. der Durchlässigkeit der einzelnen ästhetischen Erfahrung für die Selbsterfahrung zu sprechen. Über die Erfahrung des Selbst kann sich dann möglicherweise auch religiöse Erfahrung innerhalb einer Kunstbegegnung ereignen. Somit wird als Qualitätskriterium für Kunst u.a. die „Artikulation einer maßgebenden Sinn- und Formsuche“ und die „Gestaltung einer irgendwie gearteten Transparenzerfahrung, die zur religiösen Erfahrung offen ist“304, verstanden. Wir können also festhalten: Im allgemeinen besitzt Kunst und demzufolge auch Ästhetik zunächst einen Immanenzbezug, dessen Ziel man auch mit Gräb als „immanente Glückserfahrung“ bezeichnen kann.305 Mit der theoretischen Ablehnung eines generellen Transzendenzbezuges von Kunst ist jedoch noch nicht die Möglichkeit eines solchen in Frage gestellt. Ästhetische Erfahrung hat nicht per se einen Transzendenzbezug, sie kann ihn aber dann bekommen, wenn sie auf religiöse Erfahrung hin transparent wird. Dass ästhetische Erfahrung eine Tendenz zur Transzendierung hat, lässt sich jedoch nicht bestreiten, da sie die Alltagserfahrung ohnehin unterbricht und sich der Mensch als Person in seiner Wirklichkeit fraglich wird. Und umgekehrt ist festzuhalten, dass auch religiöse Erfahrung keinen reinen Transzendenzbezug hat, wenn sie als Erfahrung mit Erfahrungen bestimmt wird. Religion ist ein Verhältnis zur ganzen Wirklichkeit. Ihr Transzendenzbezug besteht darin, dass sie in dieser Wirklichkeit ihre Tiefendimension wahrnimmt. Religiöse Erfahrung ist also als Transzendenzerfahrung immer zugleich Immanenzerfahrung. begegnet in der Kunst als ästhetische Struktur. Darum ist vor vorschnellen Parallelisierungen zu warnen. Jedoch besitzt die Kunst in bezug auf den Mythos eine poietische Kraft“, wenn dieser zu einem Ereignis wird, zu Zeichenbewegungen, die ihr Sujet umspielen. Vgl. auch den Ausstellungskatalog zur Erfurter Ausstellung „Unaussprechlich schön“: SCHIERZ, K. U./ OPITZ, S., Unaussprechlich schön. Das mystische Paradoxon in der Kunst des 20. Jahrhunderts im Rahmen des kulturellen Themenschwerpunktes 2003 in Erfurt ‚Wege zu Meister Eckhart – Mystiker, Theologe, Europäer’, 4. Mai – 22. Juni 2003, Kunsthalle Erfurt, Köln 2003. 304 Vgl. MENNEKES, F., Neue Kunst in alten Kirchen. Über Konzeption und Erfahrungen in der Kunst-Station Sankt Peter Köln, in: Jahresring 88/89. Jahrbuch für Kunst und Literatur (1988/89), 225-253, 241. Andere – wie z.B. H. Schwebel – behalten den Transzendenzbegriff für die Kunst bei und sehen in den unterschiedlichen Kunstphänomenen einen Widerschein der generellen Orientierung des Menschen an der göttlichen Transzendenz. Vgl. dazu ZINK, Bildhermeneutik, 390. 305 Vgl. Gräb, Kap. 1: „Wilhelm Gräb - Reflexionssubjektivität als gemeinsamer Konstitutionsort von religiöser und ästhetischer Erfahrung“ innerhalb des ersten Teils A, Abschnitt III.
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5.7 Verweilen und Situativität Sowohl der religiösen als auch der ästhetischen Erfahrung ist – wie schon oben erwähnt wurde – ein Moment eigen, das sie von anderen Erfahrungsvollzügen unterscheidet: das Moment der Unterbrechung, das den Menschen aus den alltäglichen Vollzügen herausnimmt und ihn zur Kontemplation und zum Verweilen bringt. Die alltäglichen Erfahrungsvollzüge sind durch den funktionalen Umgang mit Wirklichkeit bestimmt. Durch das funktionale Zusammenspiel, durch den Gebrauch von Gegenständen wird dem Menschen aber die Wirklichkeit nicht gegenwärtig. Erst die Unterbrechung dieser funktionalen Vollzüge lässt dem Menschen Wirklichkeit gegenwärtig werden. Welsch spricht – wie oben im Kontext des Wahrnehmungsbegriffs erwähnt - in diesem Zusammenhang vom „Gewahrwerden“.306 Dieses Gewahrwerden, etwa von Schönem oder Hässlichem, von Erhabenem oder sogar der Gegenwart von Heiligem, bringt den Menschen in die Lage äußerster Konzentration. Alle anderen Gegenstände werden nicht mehr wahrgenommen, sondern ausschließlich dasjenige, dessen man gewahr wird. Diese fundamentale Konzentration reicht bis ins Emotionale, Affektive und Leibliche hinein. Der Begriff der „Gegenwart“ 307, der neben der zeitlichen Dimension auch eine räumliche Dimension besitzt308, bietet gegenüber einer abstrakten Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt den Vorteil, nicht von einem „Gegenstand“ (Objekt) auszugehen, sondern die Gegenwart im Sinne eines räumlichen und zeitlichen Bei- und Ineinanders zu denken. Was mir gegenwärtig ist, kann mir nicht Gegenstand sein. Diese Bestimmung korrespondiert wiederum dem Personbegriff und der Bestimmung des personalen Gegenüberseins. Werden die alltäglichen Vollzüge unterbrochen, indem mir Wirklichkeit gegenwärtig wird, dann spielen die Anschauungsformen von Raum und Zeit keine Rolle in der Wahrnehmung, so 306 Vgl. WELSCH, Ästhetisches Denken, 48. 307 Vgl. BAYER, Gegenwart. Schöpfung als Zuspruch und Anspruch, in: DERS., Schöpfung, 155-168, wo allerdings die zeitliche Dimension der Gegenwart im Vordergrund steht. Vgl. zur ästhetischen und religiösen Bedeutung der Begriffe Verweilen und Gegenwart auch THEUNISSEN, M., Freiheit von der Zeit. Ästhetisches Anschauen als Verweilen, in: DERS., Negative Theologie der Zeit, Frankfurt a. M. 1991, 285-298, 294: Danach scheint im ästhetischen Verständnis von Verweilen „eine in die Gegenwart eingelassene Ewigkeit auf. Sie ist sowohl von der vergangenen wie von der zukünftigen Ewigkeit strukturell verschieden, wenn auch in der Gegenwart beide mitgegenwärtig sind.“ Theunissen betont jedoch den Unterschied eines solchen Ewigkeitsverständnisses zum christlichen Ewigkeitsverständnis, das die Spannung zur Zukünftigkeit des Ewigen Lebens aufrechterhalten muss. 308 Vgl. auch TILLICH, P., Systematische Theologie Bd. I, 227.
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dass man auch, wie in der Sprachkunst oft geschehen, vom ‚Verweilen’ redet. 309 Im Verweilen lassen sich Raum und Zeit nicht voneinander trennen, so dass man von einem Zeitraum der Erfahrung sprechen kann.310 Mit dem Problemfeld des Verweilens und der Gegenwart ist auch zugleich das der Situativität der Erfahrung verbunden, denn in der ästhetischen und in der religiösen Erfahrung werden mir Situationen oder situativ gebundene Erfahrungen im Verweilen gegenwärtig. So werden mir in beiden Erfahrungsformen relevante Lebenssituationen existentiell erschlossen.311 Diese Erschließung vollzieht sich in ganz spezifischer Weise und ist bei der religiösen Erfahrung auf ein Anredegeschehen bezogen. Betrachtet man ein Kunstwerk auch unter dem phänomenologischen Aspekt des Sich-Zeigens, so kann man die Hauptaufgabe der Kunst mit Seel auch als „Weltweisenwahrnehmung und Weltweisenartikulation“312 verstehen. Kunstwerke sind dann als Zeichen313 einer bestimmten Sicht der Welt zu beurteilen, indem sie menschliche Lebenssituationen in ihrer existentiellen Bedeutsamkeit darstellen. Damit wäre ein wichtiges Kriterium für ein gelungenes Werk gefunden. Weisen der Welt- und Lebenserfahrung kommen somit als Gegenstände der Erfah309 Vgl. dazu auch GADAMER, Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest (1974), in: DERS., Gesammelte Werke Bd. 8: Ästhetik und Poetik I. Kunst als Aussage, Tübingen 1993, 94-142, hier bes. 136.139, der darauf aufmerksam macht, dass sich im Verweilen das Wesen der Zeiterfahrung der Kunst zeigt, indem sie uns „zu weilen lernen“ aufgibt. Ein anderer Aspekt des Verweilens besteht darin, das, was ist, sein zu lassen, wobei das Sein-Lassen gerade nicht auf ein Wiederholungserlebnis aus ist, sondern vielmehr eine Begegnung ermöglicht. Vgl. auch DERS., Kairos – Über die Gunst des Augenblicks und das weise Maß. Ein Gespräch zwischen Hans-Georg Gadamer und Bernd H. Stappert, in: Sinn und Form, 54. Jahr (2002), Heft 2, 149-160. 310 Vgl. auch SEEL, Ästhetik und Aisthetik. Über einige Besonderheiten ästhetischer Wahrnehmung – mit einem Anhang über den Zeitraum der Landschaft, in: DERS., Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt a. M. 1996, 36-69, 46ff. 311 Vgl. auch den Gedanken, dass alle Erfahrung ein Erschließungsmoment besitzt: QUELQUEJEU, B./ JOSSUA, J.-P., Art. Erfahrung, in: NHThG Bd. 1, München 1991, 349-359, 350: „Zwar können alle Erfahrungen beschrieben werden, aber man kann sie nicht wiederholen, um sie in ihrem unmittelbaren Gehalt nachzuvollziehen, man kann sie auch nicht gänzlich über rationale Vermittlungen weitergeben: sie beruhen auf einer Art ‚Erschließung’.“ 312 Vgl. SEEL, M., Kunst, Wahrheit und Welterschließung, in: KOPPE, F. (Hg.), Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen, Frankfurt a. M. 21993, 36-80, 44. 313 Auf diesen Zusammenhang von phänomenologischer und semiotischer Bildtheorie macht insbesondere Seel aufmerksam: SEEL, Ästhetik des Erscheinens, 281ff aufmerksam.
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rung zur Wahrnehmung314. Und von dieser Bestimmung her ergibt sich ein qualitatives Kriterium zur Beurteilung von Kunst: „Die Gültigkeit von Kunstwerken ist die der gelingenden Weltweisenartikulation. Dieses Gelingen macht es möglich, sich und andere mit gegenwartsrelevanten (gegenwartsbildenden, gegenwartserhellenden, gegenwartssprengenden) Sichtweisen erkennend zu konfrontieren.“315 Analog dazu ist zu fragen, ob nicht auch die Religion im allgemeinen als eine bestimmte Weltweisenartikulation verstanden werden kann. Denn auch die religiösen Phänomene sind kunstvoll kommunizierte Artikulationen von Erfahrung, die jedoch die immanente Erfahrung transzendieren. Auch die Religion ist der Vollzug einer Sichtweise der Weltwirklichkeit, indem sie menschliche Lebenssituationen in bezug auf die Wirklichkeit des Göttlichen darstellt. Hier gibt es also ebenfalls eine Gemeinsamkeit zwischen ästhetischer und religiöser Erfahrung. Christliche Theologie aber kann die Glaubenserfahrung selbst nicht als eine Weltweisenartikulation verstehen, da es im Glauben um das Verstehen der ganzen Wirklichkeit aus der Perspektive des von Gott zum Glauben Berufenen geht, es sich also hier gerade nicht um eine partikulare Wahrheit handelt. Jedoch steht die Glaubenserfahrung immer in Beziehung zu den verschiedenen Weltweisenartikulationen.
6. Inhaltliche Überschneidungen Nachdem wir die strukturellen Analogien und Gemeinsamkeiten in den Blick genommen haben, wollen wir uns nun der Frage zuwenden, ob es nicht auch inhaltliche Überschneidungen zwischen ästhetischer und religiöser Erfahrung sowie christlicher Glaubenserfahrung gibt. Diese Fragestellung soll nun aber nicht zu der Annahme verleiten, man könne die strukturellen und die inhaltlichen Aspekte voneinander trennen. Um der theologischen Klarheit willen ist jedoch eine gesonderte Thematisierung notwendig, wobei sich auch in den Überlegungen zur strukturellen Analogie der jeweiligen Erfahrungsformen inhaltliche Aspekte abzeichneten. Da wir in allen Überlegungen davon ausgehen, dass es sich bei jeglicher dem Menschen widerfahrender oder von ihm erfahrener Wirklichkeit um von Gott gewirktes Sein und insofern Anrede Gottes an den Menschen handelt, wollen wir auch im Blick auf die Verhältnisbestim314 Vgl. SEEL, Kunst, Wahrheit und Welterschließung, 44. 315 SEEL, Kunst, Wahrheit und Welterschließung, 79.
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mung jener Erfahrungsformen dem Prinzip der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium folgen. 6.1 Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium als hermeneutisches Prinzip Jene Unterscheidung von Gesetz und Evangelium erfordert zunächst eine Klärung der Begriffe. Wenn wir dieses theologisch-hermeneutische Unterscheidungsprinzip auf das Problem der Erfahrung und die jeweiligen Erfahrungsformen anwenden, dann legt sich wiederum die von Ebeling entwickelte Theorie nahe, wonach zunächst die gesamte Lebenswirklichkeit des Menschen als von Gott gewirkte theologisch unter dem Begriff Gesetz zu erfassen ist: „Die Charakterisierung des Menschseins überhaupt als des Seins unter dem Gesetz hat von dem Gesetz nicht als einem Kodex auszugehen, sondern als etwas, was in und mit dem Leben selbst immer schon in Aktion ist. Darum ist auch nicht in erster Linie, wenn überhaupt, an bestimmte sittliche Ideen und Prinzipien zu denken, die dem Menschen angeboren und als Richtschnur im Gewissen wirksam seien. Ebensowenig ist der Hauptton auf ein bestimmtes kulturelles Gesamtklima zu legen, das den Menschen in seinen Grundüberzeugungen und bis in bestimmte Verhaltensmodelle hinein prägt.“ 316 Gesetz ist also die Gesamtheit aller anthropologischen und soziokulturellen Grundstrukturen, die das menschliche Leben bestimmen und zu seiner Erhaltung beitragen. Diese Grundstrukturen haben allerdings aufgrund der Sünde eine ambivalente Wirkung: so wie sie zur Erhaltung des Lebens unter den Bedingungen der Sünde ihren Sinn haben, so können sie auch zu der Erkenntnis führen, dass das wahre menschliche Leben in seinem Innersten zerstört ist. Gerade dann, wenn Menschen an diesen Strukturen scheitern, entfalten diese Strukturen ihre das Leben des Einzelnen zerstörende Wirkung. Aber gleichzeitig rufen sie die Sehnsucht nach dem wahren Leben wach, welches ohne jene Gesetzesstrukturen auskommt. Die lutherische Tradition hat jene Ambivalenz der Wirkung des Gesetzes als Unterscheidung von usus politicus und usus elenchticus legis herausgearbeitet. Mit dem Widerspruch gegen den Schöpfer gerät der Mensch unweigerlich in den Selbstwiderspruch, der sich in der ambivalenten Gesetzeserfahrung ausdrückt: „Es liegt letztlich an diesem Widerspruch des Sünders gegen den Schöpfer und damit gegen sein eigenes Geschöpfsein, daß
316 EBELING, Dogmatik III, 268.
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das Problem der Fundamentalunterscheidung in der dogmatischen Besinnung ein solches Gewicht erhält.“317 Ruft gerade das Scheitern am Gesetz die Sehnsucht nach dem wahren Leben wach, so korrespondiert dieser Sehnsucht jene andere Grundstruktur von dem Menschen entgegentretender Wirklichkeit, die ihm die Möglichkeit des wahren Lebens eröffnet. Diese Grundstruktur göttlicher Anrede bezeichnen wir – ebenfalls in Anlehnung an Ebeling – als Evangelium. Wie die Anrede Gottes als Gesetz prinzipiell nicht auf die Bibel beschränkt ist, so ist auch die Anrede Gottes als Evangelium nicht prinzipiell auf die Bibel beschränkt. Allerdings macht die Bibel jene Wirklichkeit als Anrede Gottes erst offenbar. Die Bibel ist also Quelle jener theologisch-hermeneutischen Unterscheidung, wie sie auch Quelle menschlichen Redens von der Sünde ist.318 So können wir jene Fundamentalunterscheidung mit Ebeling zusammenfassen: „Alles, was zur Forderung, zur Anklage, zur Verurteilung wird, ist dem striktesten theologischen Sprachgebrauch nach Gesetz. Alles, was Glauben weckt, aufrichtet, tröstet, Frieden schenkt, und zwar in Hinsicht auf das Sein vor Gott, das ist im Sinne Jesu Christi und gilt in seinem Namen, verdient darum, Evangelium zu heißen.“319 Gehen wir von diesem weiten Gesetzesverständnis aus, so finden sich Gesetzesstrukturen in Religion und Kunst, in der Gesellschaft, Wissenschaft, Philosophie, Geschichte, d.h. in der gesamten menschlichen Kultur. Kunst thematisiert darum den Bereich des „Gesetzes“ nicht nur, indem sie der Idee der Schönheit und Vollkommenheit von Wirklichkeit und somit jener tiefen menschlichen Sehnsucht (danach) Ausdruck verleiht. Sie thematisiert das Gesetz auch im Blick auf die Gebrochenheit und Abgründigkeit des menschlichen Lebens. Sie gibt darum auch der Ahnung Raum, dass das wahre, eigentliche Leben des Menschen im Grunde zerstört ist, jener Ahnung, die in der Glaubenserfahrung zur Klarheit gelangt. Insofern gibt es hier eindeutig inhaltliche Überschneidungen und Anknüpfungspunkte, an denen eine Begeg317 EBELING, Dogmatik III, 289. Vgl. auch aaO, 269f. Korsch definiert das Gesetz etwas eingeschränkter als „Struktur der Selbstbestimmung“, wobei es sich auf alle gliedernden und ordnenden Vollzüge bezieht. Darum sollen sich auch Gesetz und Evangelium entsprechend auf eine Verbindung von Subjektivitätstheorie und Christologie beziehen, wobei die Glaubensgewissheit immer auf das Selbstbewusstsein bezogen sein muss (vgl. KORSCH, Glaubensgewißheit und Selbstbewußtsein, aaO, 263.274ff). 318 „Solche Erbsunde ist so gar ein tief bose Verderbung der Natur, daß sie kein Vernunft nicht kennet, sondern muß aus der Schrift Offenbarung gegläubt werden.“ (LUTHER, M., Schmalkaldische Artikel, III. Teil, in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 111992, 405-468, 434). 319 EBELING, Dogmatik III, 291.
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nung und eine gegenseitige Bereicherung von Kunst und Religion und eine Begegnung beider mit dem christlichen Glauben sinnvoll und notwendig ist. Ebenso verhält es sich aber auch mit der Grundstruktur des Evangeliums. Die Kunst thematisiert nicht nur die Zerstörung des wahren Lebens, sondern sie bringt auch die Sehnsucht und die Möglichkeit der Eröffnung wahren Lebens zum Ausdruck, selbst dann, wenn sie sich im Rahmen einer Entzugsästhetik von Transzendierungstendenzen befreien will, weil sie gerade darin die Verhinderung wahrer Freiheit und wahren Lebens vermutet. Die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks liegt nun gerade darin, dass die Kunst nicht auf Erfahrungsund Erklärungsmuster angewiesen ist, sondern der bloßen Wahrnehmung Raum geben kann. Aufgrund der Freiheit und Unvoreingenommenheit der Wahrnehmung hat Kunst das Potential, sehr unterschiedlichen Erfahrungen in ihrer Deutung Raum zu geben. Dabei handelt es sich um Erfahrungen von Freiheit, Zuwendung, von Glück und Gnade, die der Mensch immer wieder im Alltag macht, die auch in den Religionen als Erfahrung von Güte und Heil vorkommen und in der christlichen Glaubenserfahrung zur Klarheit gelangen. Insofern ist ästhetische Erfahrung per se auf die Eröffnung von neuen Lebenssichten und auch Lebensmöglichkeiten hingeordnet. Sowohl in bezug auf die Wirklichkeit des Gesetzes als auch des Evangeliums können wir festhalten, dass sich ästhetische und religiöse Erfahrung sowie Glaubenserfahrung nicht im Verhältnis von Scheinhaftigkeit und Wahrheit befinden, sondern eher im Verhältnis von Transparenz und Klarheit. Diese Klarheit der christlichen Glaubenserfahrung ist aber nicht etwa eine Klarheit des Denkens und der Deutung von Wirklichkeit, sondern eine Klarheit des personalen Verhältnisses zur Wirklichkeit. Was die christliche Glaubenserfahrung spezifiziert, ist eben gerade jenes Verständnis von Wirklichkeit als Anrede, als Anspruch und Zuspruch des Schöpfers und Erlösers und Vollenders. Allerdings kann aus der Nichtnotwendigkeit der Kunst ein entscheidender Unterschied zur Gesetzesstruktur der Kultur im allgemeinen abgeleitet werden: „Kultur ist zunächst nicht Charisma. Sie ist geboten. Sie entsteht notwendigerweise im Kampf ums Überleben und steht in dieser Hinsicht unter dem Vorzeichen des Gesetzes. – Kunst ist nicht in der Weise notwendig wie die Kultur. Sie ist fürs Überleben nicht notwendig, wenn sie auch sonst als lebensnotwendig erscheint, weil ohne Kunst das Dasein heillos und das Überleben ohne Sinn wäre. Sie steht unter dem Vorzeichen der Gnade.“320 Dass sie also unter dem 320 BOHREN, Daß Gott schön werde, 102.
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Vorzeichen der Gnade steht, heißt nicht, dass man Kunst nun mit dem Evangelium identifizieren könnte oder sollte. Vielmehr ist der Horizont beschrieben, in dem man Kunst erfahren kann, so dass Erfahrungen mit Kunst heilvollen Charakter haben können. Entscheidend ist dabei, dass die Kunst Phänomene der Wirklichkeit darstellt und darin sehen lässt, was sonst verborgen bleibt, nämlich die Widerfahrnishaftigkeit, Endlichkeit und Schuldbehaftetheit des Lebens. Diese Sicht der Wirklichkeit – verstanden als Qualitätskriterium – unterscheidet auch Kunst von den Bildern des schönen Scheins.321 Das Wort im christlichen Sinne kann dieser dargestellten Wirklichkeit begegnen und mit ihr in den Dialog eintreten. Dabei soll sie die dargestellte Wirklichkeit nicht uminterpretieren, sondern ihre eigene interpretatorische Kraft angesichts solcher Darstellungen entfalten. Das Wort vermag dann auch, mit seiner spezifischen christlichen Wirklichkeitssicht auf das aufmerksam zu machen, was sonst nicht gesehen wird. Kunst sieht mehr als der Alltagsblick. Diese Distanz und zugleich Bezogenheit auf die Alltagserfahrung und der tiefere Blick auf dieselbe verbindet ästhetische Erfahrung, religiöse Erfahrung und spezifisch christliche Glaubenserfahrung. Jedoch ist der Blick des christlichen Glaubens der Blick des den Sünder rechtfertigenden Gottes und insofern nicht nur ein Mehr-Sehen, sondern ein Radikal-Anders-Sehen. Allerdings kennt der Mensch auch Erfahrungen und Widerfahrnisse, die nicht unter die Grundstrukturen Gesetz und Evangelium subsumiert werden können. Diese Erfahrungen von Sinnlosigkeit, von Kontingenz, Naturkatastrophen, Unfällen, unheilbaren Krankheiten, Erfahrungen von unverschuldeter Fragmentarität und Zerstörung des Lebens werden von der Kunst ebenfalls in eindrücklicher Weise zum Ausdruck gebracht. Auch hier hat die Kunst einen entscheidenden Vorteil durch ihre Freiheit der Wahrnehmung und der Gestaltung. Religion und Glaube suchen hier stets nach Antworten auf die Frage nach dem Sinn solcher Wirklichkeit und stehen in dieser Hinsicht immer wieder unter Rechtfertigungsdruck. Dieser Druck wird beiden nicht nur von seiten der Religionskritik auferlegt, sondern er äußert sich auch als Anfechtung in der Religion und im Glauben selbst. An dieser Stelle ist es gerade die Chance der Kunst, Religion und Glaube dieser Anfechtung und Aporie eine unvoreingenommene Sicht gegenüberzustellen. Von der Kunst können sie die Freiheit lernen, diese Er321 Vgl. MERTIN, A., Verweile doch! du bist so schön! Der Zauber der Bilder, in: HENTSCHEL, M./ TÖRNER, G./ WEINDL, B. (Hgg.), Knockin’ on Heaven’s Door. Praxismodelle für KU – RU – Jugendarbeit. Bd. 2: Spuren des Paradieses. Mit Jugendlichen die Dimensionen der Schönheit in ihrer Lebenswelt wahrnehmen, Gütersloh 2000, 24-29.
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fahrungen und Widerfahrnisse nicht zu deuten und Gott als den Verborgenen, aller Sinndeutung Entzogenen zu verstehen. Die Klarheit des Verstehens bleibt der Hoffnung auf die Vollendung und endgültige Offenbarung im Eschaton vorbehalten. 6.2 Die Unterscheidung von Erfahrung und Offenbarung als fundamentaltheologisches Prinzip Die soeben zur Sprache gebrachte Unterscheidung von Transparenz und Klarheit innerhalb der verschiedenen Erfahrungsformen führt uns nun zu der Frage, wie angesichts der vorangegangenen Überlegungen das Verhältnis von Erfahrung und Offenbarung zu denken ist. Der Glaube als Erfahrung mit aller Erfahrung lebt prinzipiell von der Offenbarung im Christusgeschehen, welche ohne Erfahrung, sei es religiöse oder ästhetische oder Alltagserfahrung, nicht denkbar ist. Das in Christus eröffnete Heilsgeschehen manifestiert sich in jedem Menschen, der zum Glauben an Christus kommt. An diesem Geschehen ist das von und über Christus schriftlich überlieferte Wort maßgeblich beteiligt, das den Menschen durch die in ihm geschehende Anrede und durch die szenisch-narrative Bezeugung Jesu Christi als heilsstiftender göttlicher Person in ein vertrauensvolles und enges Gottesverhältnis bringt. Das Wortgeschehen vollzieht sich also in mehrfacher Gestalt, und wenn der Mensch im Wortgeschehen eine Erfahrung mit seiner Erfahrung macht, dann geschieht Offenbarung. Deshalb ist das glaubensstiftende Wort der Offenbarung immer ein verbum externum (CA5), ein Wort also, das von der Heiligen Schrift herkommt. In der Offenbarung, die als Erfahrung des äußeren Wortes jedem Einzelnen widerfährt, wird der Mensch als glaubende Person konstituiert. Dieses Geschehen ist als grundlegend passiv anzusehen. Luther bestimmt das für das Offenbarungsverständnis entscheidende Verhältnis von Passivität und Aktivität folgendermaßen: Der Glaube ist als ein von Gott gestiftetes Urmoment zu verstehen und im Personzentrum des Menschen zu lokalisieren. Dieser Umstand verweist streng auf die grundlegende Passivität des Glaubens. Dennoch muss in der Bezogenheit von Offenbarung und Erfahrung die aktive Seite der Rezeptivität des Subjekts einen Ort erhalten. Auch für Luther ist Glaube im Vollzug aktiv und im Verstehen verantwortend. Deshalb ist nach der Bedeutung der ästhetischen und religiösen Erfahrung für das Offenbarungsverständnis zu fragen. Offenbarung ereignet sich zwar immer in konkreten Erfahrungsformen, jedoch haben deshalb ästhetische wie religiöse Erfahrung als solche nicht von vornherein den Charakter von Offenbarung, auch wenn man dies ange-
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sichts ihrer Eigenschaft als unterbrechende und transzendierende Erfahrungsformen vermuten könnte. Durch diese Eigenschaft sind sie allerdings prädestiniert, um als Medium für Offenbarung zu fungieren. In struktureller Analogie zur ästhetischen Erfahrung ist auch im Offenbarungsgeschehen und in der Vermittlung dieser Erfahrung durch den Heiligen Geist die Dialektik von Präsentation bzw. Erscheinung und Verbergung bzw. Entzug anzutreffen. 322 Wenn wir im Anschluss an Herms Offenbarung als ein umfassendes Erschließungsgeschehen betrachten, welches durch die Entstehung von Evidenz gekennzeichnet ist, dann haben die verschiedenen Erfahrungsformen eine besondere Bedeutung für dieses Geschehen. Denn Erfahrung ist ebenfalls ein Erschließungsgeschehen, wenn auch ein partikuläres. Für Herms ist daher die Erfahrung im allgemeinen das Medium des Offenbarungsgeschehens. Erfahrung ist demnach nicht Grund des Glaubens, aber sie ist Medium des Glaubens. Glaube ohne Erfahrung ist leer und ohne Weltbezug. Der Grund des Glaubens aber ist die Offenbarung, die zwar von einer der Erfahrung nicht zugänglichen Wirklichkeit herkommt, aber sich dennoch im Medium der Erfahrung ereignet. Gott kann sich also im heilsstiftenden Christusgeschehen dem Menschen sowohl im Medium der religiösen als auch der ästhetischen Erfahrung offenbaren, wie er sich auf diese Weise auch als Schöpfer erschließt. Das in der Bibel bezeugte Christusgeschehen bleibt daher auch Kriterium dafür, was als Offenbarung und als Glaubenserfahrung gelten kann. 323
322 Vgl. zur strukturellen Entsprechung zwischen einem spezifisch christlichen Verständnis der Christus-Offenbarung und der ästhetischen Wahrnehmung auch Walter Benjamin. Zu W. Benjamins Ästhetik vgl. den Exkurs bei GRÖZINGER, Exkurs: Walter Benjamins messianische Ästhetik, in: DERS., Praktische Theologie und Ästhetik, 135-152, 135ff. 323 Vgl. TILLICH, Systematische Theologie Bd. I, 51ff. Vgl. schon unten das Kap. 1.: „Erfahrung als Kriterium der Theologie“ — Theologie – eine Erfahrungswissenschaft, innerhalb des Abschnitts I: „Erfahrung als Schlüsselbegriff theologischer und ästhetischer Hermeneutik“.
Verhältnis von theologischer und ästhetischer Hermeneutik II. Die Relevanz der Ästhetik für eine theologische Hermeneutik Die Relevanz der Ästhetik Im ersten Teil unserer eigenen Überlegungen wurde der Begriff der Erfahrung als Schlüsselbegriff sowohl theologischer als auch ästhetischer Hermeneutik herausgearbeitet. Da christlich-theologische Hermeneutik in ihrer Konzeption des Erfahrungsbegriffs nicht auf die Rede von der Sünde als grundlegender Bedingung menschlicher Erfahrung verzichten kann, haben wir die theologische Erfahrungstheorie Walter Mosterts in unsere weiteren Überlegungen einbezogen, da sie den hamartiologischen Aspekt konsequent entfaltet. Bevor wir uns allerdings dem Verhältnis von religiöser Erfahrung und ästhetischer Erfahrung zuwenden konnten, war zunächst eine Klärung notwendig, wie sich die allen Religionen und religiösen Bewegungen gemeinsame religiöse Erfahrung von der spezifisch christlichen Glaubenserfahrung unterscheiden lässt und in welchem Verhältnis beide Erfahrungsformen zueinander stehen. Sodann haben wir gezeigt, inwiefern man von einer strukturellen Analogie von religiöser und ästhetischer Erfahrung sprechen kann und wie beide Erfahrungsformen innerhalb christlicher Glaubenserfahrung möglich sind. Dabei hat sich herausgestellt, dass es auch materiale Überschneidungen beider Erfahrungsformen gibt, gerade dann, wenn sie ins Verhältnis zur christlichen Glaubenserfahrung gesetzt werden. Die strukturelle Analogie ästhetischer und religiöser Erfahrung sowie ihre Bedeutsamkeit für eine theologische Hermeneutik des christlichen Glaubens führt uns nun allerdings grundsätzlich weiter zur Frage nach der Relevanz der Ästhetik überhaupt für die theologische Hermeneutik. Sie bildet gleichsam den Hintergrund der folgenden Überlegungen. Zunächst ist grundsätzlich zu verhandeln, inwiefern die Integration ästhetischer Überlegungen in die theologische Hermeneutik nicht nur möglich, sondern auch notwendig ist. Dies soll am Problem der Endlichkeit des Menschen und seinem Gebrauch der Vernunft erörtert werden. Wenn jedoch die Bedeutung der Ästhetik und auch der Kunst speziell für die theologische Hermeneutik herausgearbeitet ist, dann ergibt sich die Frage, in welchem Verhältnis die Äußerungen des Glaubens aus Schrift und Tradition zu anderen menschlichen Äußerungen aus Kunst und Kultur stehen. Der hermeneutische Kern dieser Thematik ist die Frage nach dem Verhältnis von Gotteswort und Menschen-
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wort sowie innerem und äußerem Wort, welche auch in ästhetischer Hinsicht zu entfalten ist. Der hermeneutische Begriff der Ausdrucksgestalt wird sich für dieses Problemfeld als hilfreich erweisen, wie auch die anschließenden Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Bild und zum Problem der Fiktionalität die Relevanz der Ästhetik für eine theologische Hermeneutik deutlich machen. Der thematische Komplex wird abgeschlossen mit einer begrifflichen Klärung, die für eine theologische Hermeneutik notwendig ist und sich vor allem im Gespräch der verschiedenen im ersten Teil der Arbeit dargestellten Ansätze theologischer Ästhetik als fruchtbar erweisen könnte. Es wird sachlich streng unterschieden zwischen dem Vorgang des Deutens und dem Vorgang des Verstehens und zwar so, dass beide nebeneinander zu ihrem Recht kommen.
1. Endlichkeit der Vernunft 1.1 Endlichkeit, Dogmatismus und das Recht der Ästhetik Das christliche Wirklichkeitsverständnis findet seinen Ausdruck in der Lehre von der Sünde, die darin einen Beitrag zur Kritik an der im wissenschaftlichen Denken verbreiteten Monarchie der Vernunft leistet, wenn sie auf das menschliche Denken und die Vernunft angewandt wird. Eine das Sündersein des Menschen konsequent anerkennende Wissenschaft ist sich der Gefahr des Dogmatismus (Mostert) bewusst und erkennt im fragmentarischen und korrumpierten Charakter des Denkens ihre Identität. Nach christlich-theologischem Verständnis ist die menschliche Vernunft ebenso den Bedingungen menschlicher Existenz unterworfen wie alle anderen menschlichen Lebensvollzüge auch. Diese zwei menschlichen Grundbedingungen sind zum einen die Geschöpflichkeit und zum anderen die Wirklichkeit der Sünde. Als Geschöpf Gottes, zumal als ein Geschöpf, dem die Bibel Gottebenbildlichkeit nachsagt, mag der Mensch zwar am göttlichen Logos partizipieren, jedoch kann diese Partizipation selbst unter Absehung von der Wirklichkeit der Sünde nur als fragmentarisch gelten, weil das endliche Geschöpf vom unendlichen Schöpfer unterschieden bleibt. Allein diese Bestimmung menschlicher Existenz war in der neuzeitlichen Philosophie ein Ärgernis für die Bestimmung der Vernunft. Die Annahme eines Schöpfergottes hat Fichte mit der Begründung abgelehnt, dass Gott als Inbegriff vernünftiger Moralität kein Schöpfergott sein könne, weil dies ansonsten ein willkürlicher Gott sei. Vernünftige
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Moralität aber habe nichts mit Willkür zu tun.1 Besonders an diesem Gedankengang wird eindrucksvoll deutlich, inwiefern die neuzeitliche Vernunft als oberstes Prinzip mit dem Gottesgedanken identifiziert wird. Demzufolge kann dann auch die Vernunft des Menschen mit dem göttlichen Logos gleichgesetzt werden. Aus dieser Identifikation resultiert also die Relativierung des Schöpfungsgedankens einerseits und die Verabsolutierung der Vernunft andererseits. Dieser Sichtweise muss christliche Theologie widersprechen, weil die Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf auch im Blick auf die Vernunft für sie eine grundlegende Prämisse ist. Ein anderer Einspruch gegen die Verabsolutierung der Vernunft argumentiert ausgehend von der Bestimmung des Menschen als Sünder. Ist die gesamte menschliche Existenz der Sünde unterworfen, dann bleibt menschliches Wahrnehmen und Denken davon nicht unberührt. Wenn der sündige Mensch all seine Lebensvollzüge dazu nutzt, um sich selbst zu rechtfertigen und sich selbst ins rechte Licht zu rücken, aber auch um für sein Leben die größtmögliche eigene Sicherheit zu erreichen, warum sollte er nicht auch gerade das eigene Denken und die eigene Wahrnehmung dafür einsetzen? Und sei es, dass er sein eigenes Denken derartig verabsolutiert, dass es keine Instanz gibt, die es in Frage stellen könnte. Diesen engen Zusammenhang von Sünde und Verfehlung des Denkens hat in eindrücklicher Weise W. Mostert in seiner theologischen Kritik des Dogmatismus vor Augen geführt. Mostert entwickelt seine Kritik am Dogmatismus aus der Perspektive der Bestimmung des Menschen als Sünder, der wir uns unter 1. schon inhaltlich zuwandten. In der Unterscheidung von Dogmatischem und Dogmatistischem geht es allerdings darum, eines mit dem Leben selbst gegebenen ambivalenten „Denkphänomens“ inne zu werden, welches „nur in einer ontologischen Fragestellung recht zu beschreiben ist.“2 Denn die „dogmatische Strukturiertheit des Denkens ist insofern ein neutrales Phänomen, als sie vom Denken nicht subtrahierbar ist.“3 Mostert postuliert daher als Aufgabe christlicher Theologie, dass sie „formal die Bewußtmachung und Darstellung der dogmatischen und soteriologischen Verfaßtheit des Denkens“4 ist und so einen Beitrag zur allgemeinen
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Vgl. WAGNER, F., Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, Gütersloh 21995, 107ff. MOSTERT, Sinn, 13. AaO, 28. MOSTERT, Sinn, 30.
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Selbstkritik des Denkens leistet.5 Die Theologie sollte das Sein des denkenden Menschen als Problem erkennen, denn der denkende Mensch kann für sie nur als der zugleich sündige Mensch in den Blick kommen. Diese Selbstkritik ist insofern fundamental, als sie im Anerkennen meines je eigenen Denkens als sündiges, korrumpiertes Denken den sündigen Gebrauch der Vernunft erkennt.6 Denn analog zur Thematik des Sünderseins besteht das eigentliche Problem im Denken nicht zuerst darin, dass es dogmatisch und damit auf Gewissheit und Absicherung aus ist, sondern darin, dass es seine grundlegende Verfasstheit nicht akzeptieren und anerkennen will und dadurch zum dogmatistischen Denken wird: „Das Vermögen des Denkens, sich nicht bloß im einzelnen, sondern als es selbst zu irren, in die Irre zu gehen, diesen Irrtum zu ahnen und sich doch nicht als Irrtum zu vergegenwärtigen, ist der Boden, auf dem das Dogmatische in der Form des Dogmatismus gedeihen kann.“7 Dogmatistisches Denken zwingt alles Individuelle in das Prokrustesbett der Sinnsuche, in das Schema der Sinntotalität, wodurch aber die Individualität und die Vielfalt des natürlichen und geschichtlichen Lebens vehement bedroht ist.8 Dogmatisches Denken dagegen, das wohlgemerkt nicht nur der Theologie eigen ist, sondern jede Form des selbstkritischen Denkens meint, übt Selbstreflexion und Selbstkritik. Es ist sich seiner Grenzen in der Suche nach Sinn bewusst und kann letztlich in die Fragmentarität und Korrumpiertheit allen Denkens einwilligen. Wie kann es aber zu dieser Art der Selbstkritik kommen, wenn das Denken immer schon auf Gewissheitssuche aus ist? Wie gelangt es in 5 6
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Ebd. Vgl. JOEST, W., Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967, passim; vgl. hier insbesondere den Exkurs zur theologischen Beurteilung der ratio bei Luther, 202210. Vgl. EBELING, Sündenverständnis, 202: „Nicht die ratio als solche, sondern die das Irrationale zu Unrecht verdrängende, dadurch aber selbst unvernünftig werdende und sich allen Interessen prostituierende ratio wird von Luther als die ‚Hure Vernunft’ in engsten Zusammenhang mit der Sünde gebracht. Damit öffnet sich der Blick auf eine Vernunftkritik, die, vom Glauben geleitet, die Ambivalenz des Rationalen aufdeckt: als der Macht, die zwar viel gegen die Auswirkungen des Bösen, jedoch nicht weniger zu deren Steigerung vermag, vor allem aber nichts Entscheidendes gegen die Wurzel des Bösen [...]. Das Nachdenken über kritische Rationalität sollte dafür Verständnis gewinnen, daß die Macht der menschlichen ratio an der Macht menschlicher Sünde ihre Grenze hat. Unter der Erfahrung der Endlichkeit, des Tragischen und des Absurden meldet sich der Sachverhalt an, der theologisch als peccatum radicale erfaßt wird.“ Vgl. ebenfalls zur Bedeutung der selbstkritischen Subjektivität im Anschluss an Hamann BAYER, Autorität, 30 und DERS., Theologie, 436f. MOSTERT, Sinn, 29. Vgl. aaO, 62.
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Verhältnis von theologischer und ästhetischer Hermeneutik
Distanz zu sich selbst? Schließlich ist es illusionär, den Dogmatismus von einem außerhalb des Denkens liegenden Punkt aus kritisieren zu wollen.9 „Vielmehr kommt es auf den Ort und die Art des Anfangs für das Denken an. [...] Ist es so, daß sich das Denken wohl in seinem Selbstbewußtsein, nicht aber ontologisch aus den Bedingungen des Daseins entfernen kann, so müssen zwingend diese ontologischen Bedingungen Eingang in das Selbstbewußtsein des Denkens finden“10. Wird die Erfahrung der Bedingtheit und Endlichkeit zum Ausgangspunkt genommen und ihre Verdrängung im Denken problematisiert, so erweist sich die Kritik des Denkens, die ihrerseits immer nur denkerisch möglich ist, als Metakritik.11 Insofern wäre auch eine „Metakritik der dogmatistischen Kritik an der Theologie“12 vollzogen. Vornehmlich anhand der lutherischen Tradition weist Mostert nach, wie dienlich ihr Verständnis des Menschen „für die Befreiung des Menschen von einem ihm selbst verderblichen Denken“13 sein kann. 9 10
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Eine solche autoritäre Argumentation läge beispielsweise in der Behauptung eines Offenbarungswissens vor. MOSTERT, Sinn, 6. Vgl. auch HABERMAS, J., Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, in: DERS. u.a. (Hgg.), Hermeneutik und Ideologiekritik (TheorieDiskussion), Frankfurt a.M. 1971, 120-159, 133: Habermas betont, dass „die Reflexion der Grenze hermeneutischen Verstehens“ in das hermeneutische Bewusstsein Aufnahme finden muss. Vgl. dazu auch TROWITZSCH, M., Verstehen und Freiheit. Umrisse zu einer theologischen Kritik der hermeneutischen Urteilskraft (ThSt[B] 126), Zürich 1981, 21, Anm. 58. Vgl. zum Begriff der Metakritik im Anschluss an Hamann BAYER, Autorität, 5f. Die schon im Titel seiner Wissenschaftstheorie und Hermeneutik anklingende Verhältnisbestimmung von Autorität und Kritik ist Bayer zufolge durch eine Metakritik zu erhellen, da nämlich beide aufeinander verwiesen sind. Vgl. ebenso LÜPKE, Anthropologische Einfälle, hier bes. 258-262. Vgl. zu Hamanns Interpretation der Metakritik DICKSON, G. G., Johann Georg Hamann’s relational metacriticism (TBT Bd. 67), Berlin/ New York 1995. MOSTERT, Sinn, 139. Damit kritisiert und überwindet Mostert auch die Anfrage Hans Alberts an die Religion, die sich durch ihr Dogma gegen jede Korrektur immunisiere, was nun durch eine Ideologiekritik verändert werden soll. Denn keine wissenschaftliche Theorie könne Anspruch auf unbedingte Gewissheit erheben, weil keine Theorie dafür absolute Begründungen aufzeigen kann. Mostert überwindet – wie oben gezeigt wurde – den einfachen Rückgriff auf einen archimedischen Punkt außerhalb des Denkens, der erst zum sogenannten „Münchhausen-Trilemma“ führt, und weist zudem das Dogmatische jeden Denkens unter Zurückweisung einer Einschränkung des Dogmatismusproblems auf eine Wissenschaft – wie in diesem Falle die Theologie – auf. Vgl. ALBERT, H., Traktat über kritische Vernunft (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften Bd. 9), Tübingen 51991, 35-44.223f.226.237.252.254f und dazu auch SCHULZ, W., Philosophie in der veränderten Welt, Stuttgart 61993, 204. MOSTERT, Sinn, 167. Vgl. dazu auch TROWITZSCH, Verstehen und Freiheit, 15. Trowitzsch tritt ebenfalls vehement für eine Einbeziehung der Hamartiologie in die
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Denn die Theologie erliegt einem Irrtum, wenn sie meint, in der Verbindung des dogmatistischen Denkens mit dem Glauben vertrete sie schon die Sache des Menschen.14 Luthers Denken stellt für Mostert insofern ein Paradigma sachgemäßer Theologie dar, als er die Selbstkritik des Denkers vollzieht, in der Selbsterkenntnis des aktuellen, gegenwärtigen Seinszustandes das eigene Sündersein erfährt und darin allein die Möglichkeit einer Gewissheitserfahrung sieht, die extra se begründet ist.15 Diese Gewissheitserfahrung an der eigenen Person, also der Glaube, entsprang nun gerade nicht aus Luthers Persönlichkeit, sondern stellte für ihn nach dem Wegfall aller institutionellen Vergewisserungsmöglichkeiten die einzig haltbare Verifikationsinstanz coram deo dar.16 Es ist das wahr- und gewissmachende Wort, das Ereignis der promissio, welches den Zusammenhang der Lüge aufdecken kann. Die Erfahrungshinweise über das wahre Sein des Menschen können gegen den Dogmatismus vorgebracht werden, weil dieser die Erfahrung des Einzelnen erfolgreich verdrängt.17 Es gilt also, den Menschen entgegen der Tendenz des Dogmatismus, der auch in Form eines kollektiven Subjektivismus begegnen kann, wieder mit seinem wahren Sein vertraut zu machen und aufzuzeigen, „warum er eigentlich nach dem Sinnziel fragt und es nicht besitzt, den Ort also bloßzulegen, aus dem er flüchten möchte in die Absicherung durch die Gesellschaft, die er eben dadurch zerstört.“18 Dogmatik kann die Bedingtheit des Menschen aufgrund der Erfahrung akzeptieren und die Qualifizierung des menschlichen Seins als Sündersein hinnehmen.19
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Wissenschaftstheorie und Hermeneutik ein. Bayer macht deutlich, dass die Sünde von Wissenschaftstheorie und Hermeneutik nicht zu unterschätzen ist: „Die Sünde des Menschen ist die bestimmende Macht auch und gerade des Erkennens und Verstehens bis in die Verästelungen vermeintlich ‘objektiver’ Erkenntnisse hinein.“ (BAYER, Theologie, 437). Vgl. MOSTERT, Sinn, 167. Vgl. aaO, 122f. Vgl. aaO, 130.138f.174. Die lutherische Traditionskritik wird als Befreiung zur eigenen Erfahrung verstanden, so dass durch die unmittelbare Beziehung der Schrift auf die individuelle Erfahrung das Gewissen des Einzelnen, in dem sich die allgemeine Grundverfasstheit vorfindet, zum Verifikationshorizont wird. Die Sache der Schrift wird zur Sache des Menschen, indem ihm eine Sprache zur Erkenntnis seiner selbst gegeben ist (vgl. aaO, 69). Vgl. aaO, 149.161. AaO, 161. An anderer Stelle merkt Mostert an, dass der Dogmatismus aus der Erfahrung hervorgeht, der sich allein über sein Handeln definierende Mensch habe das angesteuerte Ziel noch nicht erreicht, sowie aus der untergründigen Befürchtung, es überhaupt auf diese Weise erreichen zu können (Vgl. aaO, 92). Vgl. aaO, 138.
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Verhältnis von theologischer und ästhetischer Hermeneutik
Ein solches Denken erweist sich als sachgemäßer und zeitgenössischer als ein dogmatistisches Denken, das gerade alles Negative in denkerischer Spekulation überspielt und sich statt auf die Erfahrung allein auf Vorstellungen gründet. Denn echte Sachgemäßheit und Zeitgenossenschaft nimmt den Menschen auch mit seinen dunklen und abgründigen Seiten – und damit wirklich im ontologischen Sinne – wahr.20 Der Dogmatismus der vorherrschenden Wissenschaft muss also „von unten her“21, d.h. vom wahren Sein des Menschen als Sünder, gleichsam transzendiert werden, was zu einer Selbstkritik des Denkenden als Sünder führt.22 Mit Hilfe dieser von Mostert so bezeichneten „methodischen via negationis“23 konnte über den Erweis des Wesens des dogmatistischen Denkens auch sein Gegenteil aufgezeigt werden, das vom Autor bestimmt wird als „eine Erfahrung, die aus der Erkenntnis des Individuums von sich selbst die Wirklichkeit gegen das Denken ausspielt, die Wahrheit des Menschen zu erforschen sucht und daher dogmatisch ist, wie man Dogmatik als Disziplin zu verstehen hat: als systematische Wahrheitsforschung oder Erfahrungsforschung.“24 Neben der Berücksichtigung der Wissenschaften als Gegenstand der Erfahrungsforschung werden dabei in besonderem Maße Geschichte, Politik, Literatur und Kunst eine hervorragende Bedeutung gewinnen.25 Dieser theologische Beitrag zu einer humanen Erfahrungsforschung gründet im Unterschied zu einem dogmatistischen, auf Selbstvergewisserung und Sinnkonstitution ausgerichteten Denken auf der Heilsgewissheit des Glaubens. Der Titel des Werks „Sinn oder Gewißheit?“ wird nun in seiner ausschließenden Bedeutung klar. Mit dieser provokativen Frage trifft der Autor in das Zentrum der Frage nach dem Menschen: die Personalität. Allein in der Erfahrung einer externen Gewissmachung wird er seiner Personalität, die nur relational verfasst sein kann, gewahr, während die eigene Produktion von Sinn substanzhaft im ewigen Bei-sich-selbst-Sein verharrt.26 20 21 22 23 24 25 26
Vgl. MOSTERT, Sinn, 20.25.162. AaO, 57. Vgl. aaO, 60f. AaO, 66. AaO, 162. Vgl. aaO, 103. Vgl. 146ff.170. Einen kritischen Einwand gegen Mosterts Alternative „Sinn oder Gewißheit?“ formuliert Lange (LANGE, Erfahrung, 92, hier bes. Anm. 214), indem er die Gewissheitsfrage des christlichen Glaubens nicht von der allgemeinen Sinnfrage trennen oder sie als Antagonismus behandeln möchte. Lange sieht richtig, dass Mostert diese Alternative aufstellen kann, weil er die Sinnfrage ausnahmslos als
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Wenn Theologie ihre eigene Sache als Sache des Menschen vertritt, so ist sie damit einerseits anderen Wissenschaften sowie der Kunst gegenüber solidarisch, weil sie um die eigene Begrenztheit und Gefahr des dogmatistischen Denkens in seiner Suche nach Sinntotalität weiß27, andererseits aber unterscheidet sie sich insofern von ihnen, als sie auf deren Defizite in der Wahrnehmung des Menschen verweist.28 Wissenschaft und Kunst könnten ihrerseits diesem theologischen Beitrag zur Erfahrungsforschung gegenüber mit Offenheit begegnen und müssten sich in ihrer Sicht des Menschen nicht hermetisch abriegeln. Für die Sprache der Dogmatik bedeutet das, dass sie ihre theologische Rede im Unterschied zu einem sich endgültig und abschließend im System manifestierenden Dogmatismus offenhält: „Unter diesem Aspekt also muss die dogmatische Sprache sich selbst relativieren, das Schwebenlassen, das Erwägen, das Meditieren und Kontemplieren bewußt zu ihrer eigenen Redeweise machen, sich also offen halten.“29 Die Funktion des Ästhetischen bei dieser Verhältnisbestimmung von Wissenschaftslehre und Sündenlehre soll anhand der Gefahr der Eindimensionalität der Vernunft bzw. des Herrschaftsstrebens des operationalen Denkens erörtert werden. Sie lässt sich insbesondere an der
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Funktion der Selbstrechtfertigung interpretiert, was Lange als unbegründet bestreiten möchte. Mosterts Anliegen ist nach Auffassung der Verfasserin nur dann recht erfasst, wenn man es auf dem Hintergrund des weiten Ontologie-Verständnisses Luthers liest, in dem immer wieder auf den rechten Gebrauch der Vernunft (ratio) hingewiesen wird. Es geht wohl nicht darum, gute und erhaltende Weltgestaltung als „sinn-los“ zu bezeichnen, sondern um die grundlegende Einsicht in das Sein des Sünders, der seinem Handeln – insbesondere in gesellschaftlicher und geschichtlicher Hinsicht – eine Vergewisserungsfunktion auferlegt und es damit überfordert. Wiederum wird nicht der grundlegende Ansatz Mosterts bei der Sündenlehre gesehen, die nicht durch Relativierungen verharmlost werden kann. In gewisser Weise löst in der Neuzeit der Sinnaspekt des Handelns den Verdienstaspekt (meritumAspekt) des Handelns ab, der sich ebenfalls auf gute und sinnvolle Werke bezog. Vgl. MOSTERT, Sinn, 103ff zum Problem des theologischen Dogmatismus. Auch die Theologie kann das „metaphysische Bedürfnis des Menschen“, das sich in seinem Systemdenken manifestiert, nicht abschaffen, aber sie kann den Antworten, die mit einem Anspruch auf Letztbegründung auftreten, mit gebührender Skepsis und Kritik begegnen (vgl. BAYER, Autorität, 6). Vgl. MOSTERT, aaO, 22. MOSTERT, W., Dogmatik und Hermeneutik im Blick auf die „Dogmatik des christlichen Glaubens, in: GEISSER, H. F./ MOSTERT, W. (Hgg.), Wirkungen hermeneutischer Theologie. Eine Zürcher Festgabe zum 70. Geburtstag Gerhard Ebelings, Zürich 1983, 123-136, 131. Der Dogmatiker muss die Dogmatik also demzufolge „unter der Leitfrage betreiben: Was ist mir entgangen, wo steht dem, was zu erkennen, zu vernehmen ist, der Einspruch meiner Thesen und Fragen entgegen?“ Es geht Mostert um die „Offenheit für nicht gemachte Erfahrung, Erfahrung der Liebe Gottes nämlich“ (133).
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Bedeutung der ästhetischen Erfahrung im allgemeinen sowie der Kunst im besonderen nicht nur für die Geistesgeschichte, sondern auch für den Glauben und die Theologie beantworten. 30 Die Ästhetik vermag – der Theologie vergleichbar – auf einer anderen Ebene die Grenzen der Vernunft als solcher in den Blick zu nehmen, andere Zugänge zur Wirklichkeit aufzuzeigen und gerade in dieser Hinsicht Strukturen von Passivität im Menschsein anzudeuten. Gerade deshalb ist der Postmoderne-Begriff darin besonders produktiv, wo er zur Verabschiedung eines eindimensionalen Vernunftbegriffs beiträgt. An diese Vernunftkritik ist im oben beschriebenen Sinne anzuknüpfen, da sich in ihr Spuren des Endlichkeitsbewusstseins finden lassen, auf die sich eine Sündenlehre immer zu beziehen hat. Die Kunst könnte insbesondere für das theologische Denken, das zuweilen selbstvergessen und unkritisch ist, freilegen, wo der Ort, aber auch die Grenzen der Vernunft liegen, wenn man die Kunst selbst als eine mögliche Form der Darstellung versteht. Die Ortsbestimmung des Logos kann dann zugleich eine „Erinnerung an elementare Formen der Erfahrung von Phänomenalität, die der ‚Phänomenologie’ vorausliegen“31 bedeuten. Insofern ist die Kunst als Repräsentantin der Wirklichkeit zu verstehen, welche auch die Theologie in die Wirklichkeit führen kann und Wirklichkeit und Wort Gottes aufeinander beziehen hilft. Unterliegt auch die postmoderne Ästhetisierung als ‚Ästhetizismus’ oftmals einer neuen Form der Gesetzlichkeit, so vermag andererseits gerade Gegenwartskunst, die Fragmentarität des heutigen Menschen sehr präzise zu fassen, womit sie gerade im positiven Sinne die Seite des Gesetzes und die Angewiesenheit des Menschen auf Gnade zum Ausdruck zu bringen vermag. Diese beiden Aspekte gilt es in der Diskussion von Postmoderne zusammenzuhalten.
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„Gemeint ist die metaphysikkritische Konzentration der Philosophie auf Wissenschaftstheorie im Verbund mit Sprachanalyse, die nach der Jahrhundertwende (in subtiler Fortsetzung des klassischen Positivismus) fortschreitend insbesondere das angelsächsische Philosophieren bestimmten und unter deren Bann alles andere, nicht zuletzt die Ästhetik, an den Rand oder ganz aus dem Blick geriet. Es war der Bann des durch faszinierende Erfolge legitimierten Modells der mathematischen Naturwissenschaften, das als das Paradigma von Wissenschaft und Rationalität überhaupt Geltung erlangte und damit die Kulturwissenschaften und deren methodische Grundlagen, wo sie nicht auf den einheitswissenschaftlichen Leisten instrumentaler Vernunft zu schlagen waren, zwangsläufig ausgrenzte.“ (KOPPE, [Hg.], Perspektiven, 8 [Vorwort]). PICHT, Kunst und Mythos, 158.
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1.2 Die Eindimensionalität der Vernunft Wie sich schon in der Philosophiegeschichte zeigt, deutet die Selbständigkeit der ästhetischen Fragestellung als Frage nach der Relevanz von Sinnlichkeit und Gefühl auch zugleich hin auf die Frage nach der Leistungsfähigkeit und nach den Grenzen der Vernunft.32 An erster Stelle ist hier die Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens zu nennen, der in seiner „Aesthetica“33 den Begriff der Ästhetik etablierte. Hier definiert Baumgarten die Ästhetik als eine Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis („scientia cognitionis sensitivae“) in Ergänzung der Logik als einer Wissenschaft der theoretischen Erkenntnis. Das Ziel dieser sinnlichen Erkenntnis ist es, die sinnliche Erkenntnis zur Vollkommenheit zu führen. Unter dieser Vollkommenheit im Sinnlichen („perfectio cognitionis sensitiuae“) ist Baumgarten zufolge die Schönheit zu verstehen. 34 Trotz der Betonung der sinnlichen Erkenntnis bleibt diese der begrifflich-logischen Erkenntnis untergeordnet. Hamann bekommt mit seiner „Aesthetica in nuce“ über sein spezifisches Sprach- und Schöpfungsverständnis noch konsequenter die Sinnlichkeit des Denkens als Grundgestalt aller Erkenntnis in den Blick, welche die Herrschaft des logischen Vernunftgebrauchs zu durchbrechen vermag. Damit hat Hamann eine entscheidende Grenze der Vernunft formuliert. Angesichts des Verhältnisses von Ästhetik und Erkenntnislehre, wie es in der gegenwärtigen Ästhetik-Diskussion verhandelt wird, stellt sich die Frage nach der Endlichkeit der Vernunft vor allem als Frage nach ihrer Eindimensionalität. Stellt die Eindimensionalität des Denkens unter dem Aspekt der Rationalität eine besondere Qualität dar, so besteht in dieser Eindimensionalität aus ästhetischer Sicht gerade die Schwäche des rationalen Denkens, weil es seine eigenen Bedingungen nicht anerkennt, denn auch die denkerische Abstraktion kommt nicht ohne Sinnlichkeit zustande.35 32 33 34 35
Vgl. dazu auch BÖHME, H. / BÖHME, G., Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt am Main 21992. BAUMGARTEN, A. G., Aesthetica, 2 Bde, Frankfurt a.d. Oder 1750/58. Vgl. BAUMGARTEN, Aesthetica, § 14, 6. Vgl. dazu BAYER, O., A priori willkürlich, a posteriori notwendig. Die sprachphilosophische Verschränkung von Ästhetik und Logik in Hamanns Metakritik Kants, in: NZSTh 42/2 (2000), 117-139. „Wörter haben also ein ästhetisches und logisches Vermögen. Als sichtliche und lautbare Gegenstände gehören sie mit ihren Elementen zur Sinnlichkeit und Anschauung, aber nach dem Geist ihrer Einsetzung und Bedeutung, zum Verstand und Begriffen. Folglich sind Wörter sowohl reine und empirische Anschauungen, als auch reine und empirische Begriffe: empirisch, weil Empfindung des Gesichts oder Gehörs durch sie bewirkt; rein, in so fern ihre Bedeutung durch nichts, was zu jenen Empfindungen gehört,
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Verhältnis von theologischer und ästhetischer Hermeneutik
Dabei steht andererseits die Betonung der Sinnlichkeit des Denkens immer wieder in der Gefahr bzw. unter dem Vorwurf des Irrationalismus.36 Denn das Festhalten an der Sinnlichkeit kann mitunter die Infragestellung der Rationalität als solcher bedeuten. Wird beispielsweise im Namen der Ästhetik die Grundwissenschaft einer „aisthesis“ gegenüber der Eindimensionalität der Vernunft gefordert, so besteht die Schwierigkeit, dass sich im Begriff der „aisthesis“ wiederum ein neues Prinzip durchsetzt, dem sich alle anderen Wirklichkeitszugänge unterzuordnen haben. In diesem Fall kann man zumindest von der Gefahr eines neuen Dogmatismus sprechen. Von daher kann es bei der Betonung der Sinnlichkeit des Denkens gar nicht darum gehen, das Denken selbst durch reine Sinnlichkeit zu ersetzen, sondern vielmehr darum, es zu ergänzen.37 Wird also die Sinnlichkeit als Ergänzung bestimmt, so
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durch nichts, was zu jenen Empfindungen gehört, bestimmt wird.“ (HAMANN, Metakritik, 288,1-9). Vgl. zu diesem Problemfeld auch die Überlegungen zum Verhältnis von Mythos und Rationalität, wie sie JAMME, CHR., „Gott an hat ein Gewand“. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1999, passim, vorträgt. Er macht darauf aufmerksam, dass der Mythos gerade als „Form der Rationalität“ anzusehen ist. (aaO, 11) „Gemeinhin nutzt man die Berufung auf den Mythos zur Kritik einer auf Zweckrationalität geschrumpften, im Subjekt zentrierten Vernunft; von dieser Rationalitätskritik ist der Irrationalismus deutlich unterschieden. [...] Theorie-Verzicht wäre der schlechteste Ausweg vor der dem Denken und Erkennen notwendig innewohnenden ‚Gewalt’.“ (aaO, 226). Was allerdings auch nicht bei Welsch beabsichtigt ist. Er betont, dass es klar sei, „daß hier nicht Wahrnehmung gegen Denken oder Imagination gegen Reflexion ausgespielt werden kann.“ (WELSCH, Ästhetisches Denken, 53). Und es heißt weiter: „Schon von der einfachsten sinnlichen Wahrnehmung gilt, daß reflexive Strukturen in sie eingebaut sind [...]“ (aaO, 54). „Wahrheit, Wissen und Wirklichkeit haben in den letzten zweihundert Jahren zunehmend ästhetische Konturen angenommen. Erstens zeigte sich, daß ästhetische Anteile für unser Erkennen und unsere Wirklichkeit grundlegend sind. Das begann mit Kants transzendentaler Ästhetik und reicht bis zur Selbstreflexion der gegenwärtigen Naturwissenschaft. Zweitens setzte sich zunehmend die Einsicht durch, daß Erkennen und Wirklichkeit ihrer Seinsart nach ästhetisch sind. Das war Nietzsches Entdeckung, die seither auch von anderen unter Rückgriff vorwiegend auf nautische Metaphern zum Ausdruck gebracht wurde und bis zum Konstruktivismus unserer Tage reicht. Wirklichkeit ist keine erkenntnisunabhängige, fest vorgegebene Größe, sondern Gegenstand einer Konstruktion./ Hatte man früher gemeint, Ästhetik habe es mit sekundären, nachträglichen Realitäten zu tun, so erkennen wir heute, daß das Ästhetische schon zur Grundschicht von Erkenntnis und Wirklichkeit gehört.“ (WELSCH, W., Ästhetisierungsprozesse. Phänomene, Unterscheidungen, Perspektiven, in: DZPh 41 [1993], 7-29, 25).
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um das Ausschließende und Monarchische der Rationalität in der Neuzeit zu beschränken.38 Die Rede von der „transversalen Vernunft“ 39 bei Wolfgang Welsch beabsichtigt zwar, die Idee einer Einheit der Vernunft mit der Pluralität ihrer Auslegungsgestalten zu verknüpfen, indem die Vernunft als eine solche vorgestellt wird, die ständig Übergänge vornimmt. Sie wird dabei nicht mehr als allgemeine Struktur verstanden, sondern gerade in ihrem Vollzug wahrgenommen.40 Ausgehend von der an Nietzsche anknüpfenden Ansicht, dass Wirklichkeit als solche immer schon fiktional verfasst ist, besteht bei Welsch allerdings die Gefahr, in der aisthesis ein neues eindimensionales Prinzip zu etablieren.41 Für den Glauben dagegen ist Wirklichkeit ‚real’ in einem ganz spezifischen Sinne, nämlich nicht ‚real’ im gegenständlichen Sinne einer res extensa i.U. zur res cogitans oder als ‚Ding an sich’, sondern von der Realität der Schöpfung her. Daher ist es nicht zu rechtfertigen, innerhalb einer theologischen Ästhetik auf inhaltliche Bestimmungen zu verzichten und dagegen rein formal zu argumentieren und sich der These von der Fiktionalität aller Wirklichkeit anzuschließen.42
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Vgl dazu auch Heidegger, der hervorhebt, dass das Denken durch die Kunst den Geschehenscharakter der Wahrheit erfahren kann (vgl. KRAFT, Das anfängliche Wesen der Kunst, 68). Vgl. WELSCH, Ästhetisches Denken, passim; DERS., Grenzgänge, passim sowie DERS., Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt a. M. 1996. Vgl. aaO, 764: „Vernunft ist nicht, Vernunft geschieht“. Vgl. auch KORSCH, Religion, 5ff. Jedoch wird Korsch zufolge diese Struktur der Subjektivität nicht daraufhin beleuchtet, dass sie empirisch nur in individuellen Subjekten begegnet, die sich selbst auslegen, so dass bei Welsch die hermeneutische Dimension fehlt. Vgl. auch GRÄB, Der hermeneutische Imperativ. Lebensgeschichte als religiöse Selbstauslegung, in: W. SPARN (Hg.), Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie und ihre Entstehenszusammenhänge, Gütersloh 1990, 79-89. Des weiteren vermisst Korsch bei Welschs Analyse der transversalen Vernunft die Bezugnahme auf Religion als Stilprägung von empirischen Subjekten, womit er eine wesentliche gesellschaftstheoretische Dimension ausspare (vgl. KORSCH, Religion, 8) Vgl. SEEL, Ästhetik und Aisthetik, 46: „Wer Wahrnehmung und Wirklichkeit selbst ästhetisch faßt, verliert alle Möglichkeit, den besonderen Spielraum ästhetischer Wahrnehmung zu fassen. Wer die ästhetische Differenz lediglich als innerästhetische Differenz begreifen kann, verliert jeden Begriff ästhetischer Differenz.“ Vgl. zu dieser Gefahr in der Rede von „dem Ästhetischen“ bei Welsch auch KLEIMANN, Das ästhetische Weltverhältnis, 44. Auch die liberale Theologie sieht im „Woher“ des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit bzw. in der Kontingenzbewältigung a priori-Annahmen bzw. metaphysische Bestimmungen, hinter die sie nicht zurückgehen kann.
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Wenn die Wirklichkeit allerdings nur unzulänglich mit den Mitteln wissenschaftlicher Rationalität allein darzustellen ist, wie in Übereinstimmung mit Welsch gesagt werden kann, dann liegt der Vorteil des Ästhetischen im Grunde darin, dass es immer ein integratives und offenes Moment behält. Merleau-Ponty geht in der Beschreibung der Rolle der Kunst sogar noch einen Schritt weiter: „Ich glaube zum Beispiel, wenn die Begegnung mit dem Konkreten das Ziel des Wissens ist, nun, dann müssen wir in gewisser Hinsicht die Kunst über die Wissenschaft stellen, insofern sie einen Ausdruck des konkreten Menschen erreicht, den die Wissenschaft nicht anstrebt.“43 Kunst thematisiert neuerdings gerade die Unzulänglichkeit von Begriffen bzw. von Rationalität überhaupt: Sie thematisiert das Unaussprechliche, das Erhabene, d.h. also Wirklichkeit, die sich den Begriffen entzieht. Theologie kann hier vielleicht Entscheidendes von der Kunst lernen. Kunst hat nicht den Anspruch, Letztaussagen zu machen, sie ist deshalb als Korrektiv ‚Letztbegründungen’ zu verstehen. Die Kunst sprengt die Festlegung der Eindeutigkeit und eindimensionalen Herrschaftsbestrebungen auf, welche die ratio – insbesondere in ihrer neuzeitlichen Gestalt – als Zugang zur Wirklichkeit einnehmen will. Theologisch korrespondieren diesen ästhetischen Einwänden bestimmte Formen Negativer Theologie, die mit einer „Renaissance“ des Mystischen einhergehen. Aufgrund unserer eingeschränkten Fragestellung können allerdings diese Theorien nicht näher erörtert werden. Die ästhetische Dimension stellt also eine notwendige Ergänzung dar, darf aber nicht selbst wiederum zum Prinzip werden, sonst ergeben sich auch Folgeprobleme für den Theologiebegriff: Wäre dann auch die Theologie der Ästhetik im Sinne der aisthesis untergeordnet? Eine Beiordnung mit gegenseitigen Affinitäten und Überschneidungen erscheint plausibler und differenzierter zu sein. Theologische Ästhetik hat darum metakritisch zu sein, um nicht einer Ästhetisierung bzw. Medialisierung zu verfallen. Als auf die allgemeine Wahrnehmung bezogene Theorie kann theologische Ästhetik den Begriff des Wortes erweitern und damit die Grenzen der verbalen Kommunikation hin zum Bereich des Nonverbalen (und Leiblichen) öffnen. Zur Wortdimension gehören dann sowohl Bildliches und Musikalisches etc., die ihren Ausdruck in Kunst und Kultur finden. Auf diese Weise kann die ganze als Schöpfung gedeutete Welt als Möglichkeitsraum für das Wort einbezogen werden.44 Hierbei ist jedoch ein
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MERLEAU-PONTY, Das Primat der Wahrnehmung und seine philosophischen Konsequenzen, 71. Vgl. KÖRTNER, Theologie, 24.
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Kriterium zur Beurteilung notwendig, die sich in der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium vollzieht. Die Verweigerung des Anschauens, des Betrachtens und Sinnens der Schöpfergaben steht dem Glauben nicht an. Darum muss insbesondere diese Dimension ins Denken re-integriert werden. Hierbei ist zwischen passivem Empfangen und aktivem Rezipieren zu unterscheiden. Wie oben schon erwähnt, betont Luther immer wieder, dass der Glaube nicht nur die zur Selbstrechtfertigung missbrauchten Werke tötet, sondern auch die zur Selbstrechtfertigung missbrauchte Vernunft.45 Im Zusammenhang der Gelassenheit und des Genießens, das seine besondere Gestalt im Empfang des Leiblichen Wortes im Abendmahl und in der Predigt, in denen mir der menschgewordene Gott begegnet, gewinnt, sind wir schon auf die Bedeutung der Sinnlichkeit in der Zueignung der Gnade zu sprechen gekommen.46 Die Monarchie, die Herrschaft der Vernunft, durch die diese subjektivitätstheoretisch zur einzigen Aneignungsform der Glaubensinhalte geworden ist, bedroht also sowohl die von Gott gewählte Zueignungsform seiner sinnlich erfahrbaren Menschenfreundlichkeit als auch den Menschen in seinem Geschöpfsein. Die Theologie sollte als Wissenschaft sowohl eine solche Verkürzung in Form der Rationalisierung als auch die Verwertung allgemeiner empirischer Daten kritisch betrachten, wobei sie jedoch den empirischen Wissenschaften ihr Eigenrecht zugestehen sollte, sofern sie keinen Anspruch auf totale Erkenntnis des Menschen erheben. Versteht sich Theologie im Sinne Luthers weder spekulativ noch moralisch, sondern praktisch im Sinne einer sapientia experimentalis, ist Theologie also Erfahrungswissenschaft der Erfahrung, wie sie vom einzelnen Theologen in seinem Sündersein als oratio, tentatio und meditatio gemacht wird, so geschieht ein solches Lernen „im Hören auf die sprachlich-geschichtlich sich mitteilende Wahrheit“47. Andererseits muss im Gegenzug ein falscher „Intuitionismus“ oder ein „Sinnlichkeitsrausch“, der den Glauben „zum Anfassen“ propagiert, abgewehrt werden.
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Vgl. auch KLEFFMANN, Erbsünde, 187-246. Für Hamann, der sich darin Luther anschließt und zugleich Zeitgenosse im Widerspruch gegen System und Struktur ist, wie wohl auch Mostert zu charakterisieren wäre, lässt sich also feststellen: „Gegen die neuzeitliche Rationalität in ihrem Purismus und Puritanismus wie auch gegen jenen Spiritualismus, den selbst Barth nicht überwindet, ist für Hamann von dem Christusereignis her auch dessen Selbstmitteilung und Zueignung konstitutiv sinnlich“ (BAYER, Autorität, 179f). BAYER, Autorität, 192.
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Analog der ‚Navigationsleistung’ der Theologie, sich zwischen Mythos und Metaphysik zu bewegen48, bzw. als ein Spezialfall dieses Problems, ist Glaube als Verstehen zwischen Rationalität und Sinnlichkeit zu lokalisieren, ohne auf eines der beiden Herrschaft beanspruchenden Prinzipien festgelegt werden zu dürfen. Im folgenden soll anhand der Unterscheidung von Reproduktionsund Erfahrungshermeneutik deutlich gemacht werden, inwiefern Wahrnehmung im Sinne der passiven Anschauung einer Erfahrungshermeneutik entsprechen kann, welche die eigene Sündhaftigkeit und die Fehlbarkeit der Vernunft zu integrieren vermag.49 In diesem Zusammenhang soll auch die Weiterführung der hermeneutischen Fragestellung durch die Ästhetik innerhalb einer theologischen Erörterung zum Tragen kommen. Denn das Grundproblem der Gegenwart besteht nach Mostert in folgendem: „Da die Rezeption von Wirklichkeit durch die Sinne und damit die Kategorie des Genusses aus dem Gesamthaushalt unserer denkerischen Mittel, Wirklichkeit zu verifizieren, verschwunden sind, hat die Erfahrung keine Chance mehr, das Denken zu korrigieren.“50 48 49
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Vgl. aaO, 123f u.ö. „Wie Schleiermacher so haben die Romantiker [...] nach Wahrnehmungsbegriffen gesucht, die der Gegenwart des Ursprünglichen, des echten und wahren Wesens entsprechen. In dieses Suchen nach Sprache gehören die Wörter Anschauung, Gefühl (aus Kants Erkenntnistheorie in neue Bedeutung überführt), Sinn, Geschmack u.a., auch der Begriff der Ahnung [...]. Alle diese Begriffe haben rezeptive Struktur, bezeichnen Einstellung auf Annahme des Vorgegebenen, von sich aus Seienden. Diese rezeptive Struktur dient der Intensivierung des Geistes, der Erweiterung des kärglichen Instrumentariums rationalistischer Methoden.“ (MOSTERT, W., Von der Wut des Verstehens und dem Sinn, der gegen sie aufkommt, in: DERS., Glaube und Hermeneutik, 42-55, 47). MOSTERT, Frage nach der Existenz, 110; Vgl. auch Schleiermachers Anliegen der „Anschauung des Universums“. Am Beispiel der Frage nach der Existenz Gottes, die selbst in der Theologie für die eigentlich radikale Frage der Moderne gehalten wird, welche die Frage nach einem gnädigen Gott für überwunden hält, kann das erfahrungs- und lebensfeindliche Denken dargestellt werden (vgl. aaO, 103ff). Fragen wir nun nach dem Dasein Gottes, so scheint noch die vergangene Frage nach dem gnädigen Gott auf, indem wir letztlich nach einem „uns selbst dienlichen gnädigen Dasein“ fragen. „Aber wir wissen zugleich und erfahren täglich, daß uns eine metaphysische, wissenschaftliche Lösung dieser Frage versagt ist, daß also die kritische Destruktion der natürlichen Theologie (durch Kant) sich in der Erfahrung bewährt.“ (aaO, 105f.). Es gilt also, in der Frage nach Gott wieder die existentielle Situation aufzudecken und zur Erfahrung zurückzufinden, denn die Gottesfrage ist eine Frage der menschlichen Existenz und nicht des Denkens (vgl. aaO, 106). Darum kann Mostert die These aufstellen, dass die Frage nach dem gnädigen Gott radikaler sei als die Frage nach der Existenz Gottes (vgl. MOSTERT, Frage nach der Existenz, 113). Auch wenn das Mittelalter nicht streng zwischen der Frage nach der Existenz
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1.3 Reproduktionshermeneutik und Erfahrungshermeneutik Die Gegenüberstellung von Reproduktionshermeneutik und Erfahrungshermeneutik durchzieht das gesamte Werk Mosterts und hat auch für unsere Fragestellung entscheidende Bedeutung. Die Struktur einer permanenten Produktivität von Denkinhalten begegnet Mostert zufolge nämlich in der Wissenschaft im allgemeinen und in der Theologie im besonderen.51 Diese Methode der Reproduktion, die „Gott als denkerisches Bedürfnis [...] operational verifiziert“52 ist deshalb als subjektivistisch zu bezeichnen, weil sie „grundsätzlich alles Seiende als Seiendes vor das Forum des Denkens“53 zwingen will. In dieser Vorgehensweise, die sich seit dem Mittelalter immer massiver durchsetzt, wird offenbar, „daß sich auch die hermeneutische Vernunft des Menschen als ohnmächtig gegenüber der Sünde erweist und diese sich ihr geradezu einprägt“54. Wie oben schon hervorgehoben wurde, will Mostert das Sündersein des Menschen als grundlegende ontologische Bedingung vom Beginn des Denkens an in das Selbstbewusstsein des Denkens, also auch des hermeneutischen Denkens, einbeziehen.55 Wird aber in dieser Weise auf das Subjekt des Denkens zurückgegangen, so ist die Kritik
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Gottes und seiner Gnade unterscheidet, so ist doch die Frage nach der Existenz Gottes nicht erst eine moderne Frage, sondern ein Produkt des Mittelalters, in dem die Wissenschaft entsteht. Man kann von einem reziproken Verhältnis der Frage nach der Existenz Gottes und der Frage nach dem gnädigen Gott reden, wobei jeweils andere Lösungen gesucht werden. Die Frage nach dem gnädigen Gott erwuchs Mostert zufolge aus der schwindenden Plausibilität der Existenzbeweise. Luther wandelte allerdings die Frage nach dem gnädigen Gott entscheidend um, da er die der Frage innewohnende aktive Reproduktion der Gnade und Selbstvergewisserung überwand (vgl. MOSTERT, Frage nach der Existenz, 115ff). Historisch betrachtet stellt nach Mostert vorrangig nicht die Vorstellung, sondern die produktive Methode des metaphysischen Gottesbeweises deren eigentliche Schwierigkeit dar. Ebenso begegnet die Reproduktion schon in der mittelalterlichen Frage nach dem gnädigen Gott, welche die Gnade als aktiv zu reproduzieren bemüht ist. So richtete sich auch Kants Kritik nicht so sehr gegen die Denkinhalte der Metaphysik, sondern gegen das Vermögen der Vernunft, dieses Gedachte auch im subjektiven und produktiven Denkvorgang verantworten zu können (vgl. aaO, 118.120, Herv. M. R.). AaO, 119. Ebd. TROWITZSCH, Verstehen und Freiheit, 20. Vgl. MOSTERT, Sinn, 6; Vgl. auch TROWITZSCH, aaO, 21.
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am Denken nur im oben beschriebenen Sinne als Selbstkritik des erforschenden Subjekts möglich.56 Mostert postuliert damit eine neue Hermeneutik, nach welcher die Pole des eigentlichen Denkens „das Sein des Menschen als Erfahrung und die Sprache als die Einstimmung in die Erfahrung“57 darstellen. „Diese Erfahrungshermeneutik ist die Durchbrechung der monolithischen Einheit von Denkinteresse und Ideologiekritik (als Kritik an fremdem Denken) auf Grund der Entdeckung der fundamentalen Bedeutung der Selbstkritik für die Erkenntnis.“58 Wie ist wiederum diese Selbstkritik zu verstehen? Geht es um eine radikale und fundamentale Kritik des Menschen als animal rationale?59 Luther spricht ja der ratio des Menschen lediglich in der Heilsfrage, die sich im rechten Verhältnis zu Gott äußert, jede Einsicht und Entscheidungskraft ab. „Das bedeutet aber, daß er [...] auch sich selbst nicht wesenhaft erkennt – denn das Wesen seines Selbst ist ja eben: der von Gott in diese Geschichte Geschaffene und zu diesem Ziel allein auf diesem Weg Bestimmte zu sein.“60 Der entscheidende Gesichtspunkt besteht nämlich nach Luther nicht so sehr darin, dass der Mensch seine rationalen Fähigkeiten nutzt, sondern vielmehr wie und wozu er sie benutzt,
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Vgl. MOSTERT, aaO, 60f.; DERS., Frage nach der Existenz, passim, wo Mostert auf das Subjekt der Frage und auf das mit der Frage verbundene soteriologische Interesse rekurriert. MOSTERT, Erfahrung, 447. MOSTERT, Sinn, 60. Ein Blick auf Luthers Verständnis der Vernunft soll die Darstellung Mosterts erhellen. Zunächst stellt sich die Frage, was an der Vernunft sündig ist und was nicht. Einerseits kann Luther die ratio als hohe Gabe des Menschen rühmen, andererseits sieht er gerade in den Entscheidungen der Vernunft eine wesentliche Manifestation der Sünde des Menschen (vgl. JOEST, Ontologie, 203. 207). Man kann aber bei Luther keinesfalls von einem Irrationalismus im allgemeinen sprechen. Einen interessanten und weiterführenden Gedanken für eine positiv mit dem biblischen Verständnis des Menschen als Sprachwesen vermittelte ‘Definition’ des Menschen als animal rationale, die über die herkömmliche Definition hinausweist, bietet BAYER, Autorität, 41: „‘Vernunft’ ist Sache des Menschen als des Sprachwesens, als des Lebewesens, das spricht: das vernimmt und antwortet.“ Damit geht Bayer hinter die lateinische Definition des Menschen als ‘animal rationale’ zurück „auf die griechische Fassung dieser Definition (Der Mensch ist das Lebewesen, welches das Wort hat)“. Zum Wirken des Wortes Gottes auf die ratio des Menschen bemerkt EBELING, Macht des Gotteswortes, 219: „Das Wort Gottes hingegen ruft den Menschen in seinem unvernünftigen Umgang mit der Ratio buchstäblich zur Vernunft und spricht ihn auf die Vermessenheit oder Verzweiflung hin an, in die er sich als animal rationale verirrt.“ JOEST, Ontologie, 205; vgl. auch 206.
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aus welcher Motivation heraus er sie gebraucht.61 Darin besteht die Sünde des Menschen, dass er die Vernunft einerseits als Mittel seiner Selbstliebe benutzt und zum anderen ihren Gebrauch nicht auf den ihr zustehenden irdischen Bereich einschränken kann: „Er will aus eigener Willenskraft ‘secundum dictamen rationis’ sein eigenes Verhältnis zu Gott ins Rechte bringen. Damit wird die ratio zum Prinzip der Religion der Werkgerechtigkeit und Selbstrechtfertigung. [...] Die eigentlichste Sünde der Vernunft des fleischlichen Menschen sieht Luther in dieser Grenzüberschreitung, in der die ratio aus dem Organ der Weltbestimmung zum Organ der Selbstbestimmung coram Deo gemacht wird“62. Insofern ist der Interpretation M. Trowitzschs zuzustimmen, der die „Kritik der interessierten Vernunft“63 als „Kritik des zuhöchst an sich selbst interessierten, des im Verstehen und Auslegen das Seine suchenden und sich dazu der Tradition lediglich bedienenden Menschen“ versteht. „Verstehen und Interesse sind beim Sünder verhängnisvollerweise immer schon in ein solches Verhältnis zueinander geraten, daß [...] von einem gebieterisch, ja tyrannisch all sein Verstehen reglementierenden Interesse des Menschen an dem Seinen [...] gesprochen werden muß.“64 In einem solchen Subjektivismus ist die Möglichkeit aus61
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Vgl. aaO, 207. Vgl. auch den Hinweis Mosterts auf die Definition Kants zur Aufklärung, „daß nicht die Vernunft als solche den Wandel bewirkt, sondern ihr Gebrauch, der Mut, sie selbständig in Gang zu setzen“ (MOSTERT, Erfahrung , 435, Anm. 10). JOEST, Ontologie, 208f. MOSTERT, Sinn, 60f. TROWITZSCH, Verstehen und Freiheit, 25. Sowohl Mostert als auch Trowitzsch knüpfen dabei am Interesseverständnis Kierkegaards an, der immer wieder betont, dass der Mensch sogar ein absolutes Interesse an sich selbst hat. Vgl. KIERKEGAARD, S., Die Krankheit zum Tode, in: DERS., Gesammelte Werke, hg. v. E. Hirsch u. H. Gerdes, 24. und 25. Abteilung, Gütersloh 41992, 1-134, 8ff/ [=XI 127ff]. Vgl. auch ESSER, A., Art. Interesse, in: HPhG Bd. 3, München 1973, 738-747, 744f. Einen ähnlichen Ansatz vertritt schon J.G. Hamann, der radikale Aufklärer: „Die auf Reinheit von allem Zufälligen und Besonderen, auf Allgemeinheit und Notwendigkeit drängende Vernunft diagnostiziert Hamann als gewalttätig. Er parallelisiert die Aufklärung mit dem römischen Katholizismus unter dem Gesichtspunkt des Strebens nach Allgemeinheit, der damit verbundenen Methode der Abstraktion und des dabei erwirkten Despotismus des Systems. Er kämpft gegen die Herrschaft der instrumentellen Vernunft, die den neuzeitlichen Umgang des Menschen mit den Mitgeschöpfen prägt“ (vgl. BAYER, Autorität, 69, Herv. M. R.). Innerhalb der Philosophie finden sich ebenfalls immer wieder selbstkritische Entwürfe wie z.B. die Untersuchung M. Horkheimers, wo dieser unter einem soziologischen Interesse die gesellschaftlichen Herrschaftsbedingungen auf die in ihnen wirksame „instrumentelle Vernunft“ hin betrachtet. Mostert verweist neben Hamann, Heidegger und Adorno/Horkheimer auch auf Denker wie Schleiermacher, Hölderlin und Schelling, die in den Manifestationen der Herrschaft der Vernunft ebenfalls die Grundproblematik des Menschen und seines Selbstverständnisses erspürten. Vgl. MOSTERT, W.,
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geschlossen, dass das Subjekt sich als vor dem Forum des Seienden oder Gottes stehend erfährt. Um sich seine Daseinsvergewisserung, die es nie de facto besitzt, zu verschaffen, unterwirft es alles Seiende und Gott seinem Denkbedürfnis.65 Gott und das Seiende werden zu einem Konsumgut depotenziert und damit für die eigenen Zwecke verbraucht.66 Ja, der Mensch versteht sich als „Reproduktion seiner selbst“ und als „Materialisierer seines [...] Wesens“67. Der Mensch will alles Theoretische, um es zu beherrschen und in den Griff zu bekommen, in die Praxis umsetzen.68 Anstatt das Sein Gottes Handeln zu überlassen und es allein aus seiner Hand zu empfangen, beschränkt er es auf die bloße Reproduktion und entgöttlicht damit Gott, der seine Gottheit in seinem gnädigen Handeln am Menschen erweist.69 „Die Hermeneutik des Indikativs ist verkümmert und durch eine Hermeneutik des Imperativs verdrängt worden. Wahrnehmung von Wirklichkeit, die nicht vorher vom Menschen produziert worden ist, ist zu einem intellektuellen Problem geworden.“70 Eine Erfahrungshermeneutik vollzieht nun dagegen eine Wandlung hin zur Subjektivität. Demzufolge kann nicht mehr im metaphysischen Sinne nach der Existenz oder der Gnade Gottes gefragt werden, sondern „[m]an muß aus dem Fragen ein Erfahren machen, also sein Sein in das Fragen integrieren“71. Dass der Mensch aber vor dem Forum des Seienden oder coram deo steht, ist dem Denken nur als Ergebnis seiner eigenen individuellen Erfahrung möglich.72
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Leben und Überleben als Thema der Eschatologie, in: DERS., Glaube und Hermeneutik, 247-256, 247f. Mostert bemerkt zum Verhältnis der Herrschaft des instrumentellen Verstandes und des Bösen: „Der immer wieder instrumentalisierte Verstand hat zwar philos[ophisch] u. zivilisatorisch die Führungsrolle übernommen, aber das als vergangen erklärte Vor- und Untermenschliche hat sich der Hegemonie dieses Verstandes keineswegs unterworfen.“ (MOSTERT, Bemerkungen, 8). Nach Kierkegaard „an meinem eigenen Selbst interessiert, weil und insofern ich erst dieses werden muß, d.h. das Selbst erscheint als Telos“ (ESSER, Art. Interesse, 744). Vgl. MOSTERT, Frage nach der Existenz, 129. MOSTERT, W., „Fides creatrix“. Dogmatische Erwägungen über Kreativität und Konkretion des Glaubens, in: DERS., Glaube und Hermeneutik, 200-214, 206. Vgl. aaO, 207. Jedoch weist die fundamentale Frage nach dem gnädigen Gott, die durch eine operationale Hermeneutik charakterisiert wurde, einen eminent theologischen Gehalt auf, insofern „in ihr nach Gott gefragt wird, der den Menschen von der Reproduktion Gottes und von dem Zwang befreit, überhaupt Gott als Reproduktionsphänomen zu denken“ (MOSTERT, Frage nach der Existenz , 121). MOSTERT, Sünde, 166. MOSTERT, Frage nach der Existenz, 121. Vgl. aaO, 119.
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Hatten wir konstatiert, dass der Mensch auf Vergewisserung und Sinn-re-produktion aus ist, in der er nicht an ein Ziel kommen kann, sondern sich in der permanenten Wiederholung der Herstellung seiner Denkexponenten seines ungesicherten Daseins selbst vergewissert, so geht eine Erfahrungshermeneutik auf den Grund dieses Mangels und Vergewisserungsbedürfnisses zurück, sie „fragt also in die Erfahrung zurück“ und entdeckt „als Ursprung der Defizienz die Sünde“73. In einem so begegnenden hermeneutischen und methodischen Individualismus, der streng von einer subjektivistischen Befriedigung des Gewissheitsmangels durch das eigene Denken zu unterscheiden ist, verbinden sich im Individuum die Seinserkenntnis als Sünder und ein hermeneutischer Gebrauch der Individualität.74 Doch wie wird der Sünder seines eigenen Seins ansichtig, wer deckt ihm die Wahrheit über sich selbst auf? Allein das verbum externum, das uns zuerst in der Schrift begegnet, offenbart einerseits das wahre Sein des Menschen und bringt andererseits den dem Menschen in seinem Geschöpfsein entsprechenden Gottesbezug ans Licht. Durch diese neue Hermeneutik ist Verstehen meines eigenen Daseins nicht durch meine eigene Anstrengung zu erreichen, sondern vielmehr durch das rezeptive Hören auf ein Ausgelegtwerden durch die Schrift, wobei Gott durch den Heiligen Geist sein Wort vergegenwärtigt.75 So kann der Sünder wahrnehmen, dass die Gottesferne und „Gottesfinsternis“ einen entscheidenden Bezug zu seinem eigenen Sündersein hat, indem die Reproduktion Gott in seinem Gottsein zum Verschwinden brachte.76 73 74
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AaO, 125. Vgl. ebd.; Insofern ist auch die unnatürliche Frage nach dem gnädigen Gott, die von dem Menschen als Sünder gestellt wird, welcher seine eigentliche Natur verlassen hat, zerbrochen (vgl. aaO, 127), und Gott kann nun allererst als der Gnädige in der menschlichen Erfahrung erscheinen. Vgl. MOSTERT, aaO, 130, hier bes. Anm. 37: „Darum ist die mittelalterliche Frage nach dem gnädigen Gott durch Luther nicht aus der Welt geschafft worden. Sie ist ja die Frage des Sünders, daher ist sie geschichtlich-eschatologisch überhaupt nicht lösbar, sondern nur in der Rechtfertigung des Sünders [...]. Heute existiert sie wissenschaftlich-konventionell als Frage nach der Existenz Gottes.“ Zur Schrift, die sich im Hörer selbst auslegt, vgl. die einschlägigen Bemerkungen bei MOSTERT, Scriptura sacra, 40 u. ö. Vgl. MOSTERT, Frage nach der Existenz, 131. Auch wenn Mostert in diesem Zusammenhang nicht auf Buber verweist, so soll doch ein kurzer Hinweis auf dessen Werk die gemeinsame Formulierung der „Gottesfinsternis“ erhellen. Vgl. BUBER, M., Gottesfinsternis. Betrachtungen zur Beziehung zwischen Religion und Philosophie, in: DERS., Werke. Erster Band. Schriften zur Philosophie, München 1962, 503603, passim. Buber treibt als jüdischen Denker eine ganz ähnliche Fragestellung wie Mostert um, die er allerdings nicht so eindeutig wie dieser lösen will. Im modernen
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Hier wird die christologische Zentrierung im Erfahrungsbegriff Mosterts ganz besonders deutlich. Gott wird Mensch, damit der Mensch als Sünder zu sich selbst befreit werden kann77, als Geschöpf neben anderen Geschöpfen. Gott erscheint in der geschöpflichen Natur des Menschen und ist so in der Mitte seiner Erfahrung.78 Der Mensch als Sünder kann nur in diese grundlegende Erfahrung der Güte, von der er immer wieder abweicht, hineingebracht werden, indem ihm das Andere seiner selbst in der Sprache erscheint.79 Die eigentliche wissenschaftstheoretische Prämisse der Theologie besteht also für Mostert darin, dass die Erfahrung der Theologie immer eine immanente Frage ist, die ihr nicht erst sekundär zukommt. Theologisch gesprochen stellt dann die Christologie und demzufolge die Soteriologie, die uns auf die Bedingungen unseres Seins einstimmt, ein immanentes Problem des Menschseins dar.80 So wie Gottes Wort Mensch wurde und Gott auf diese Weise in seiner Menschlichkeit begegnet, so verbinden sich in der Schrift, deren Inhalt Christus als Mensch und Gott ist, Gotteswort und Menschenwort, so dass das fleischgewordene Gotteswort als Men-
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Denken ist Gott zu einer Vorstellung und gedanklichen Abstraktion des Menschen geworden, wobei der Zugang zu dem Gott, der den Menschen anredet und zu dem er „Du“ sagen kann, verstellt wurde. Die Zeit, in der wir leben, wird als Zeit der „Gottesfinsternis“ diagnostiziert, die Buber analog dem Phänomen der Sonnenfinsternis beschreibt. Im Verlauf der Geistesgeschichte ist etwas zwischen Gott und den Menschen getreten, was nur von Gott her wieder zu erhellen und zu lichten ist. Mostert bestimmt nun aber diese Gottesfinsternis eindeutig, indem er sie auf das Sündersein des Menschen bezieht. Insofern ist dieses „etwas“, das zwischen Schöpfer und Geschöpf getreten ist, das Sündersein des Menschen. Von Christus her wird diese Finsternis erhellt.; Mostert kann sogar sagen, dass sich das Göttliche in uns selbst, nämlich in unserer Hybris dem Schöpfer gegenüber verborgen hat (MOSTERT, Glaube, 196). Vgl. oben, MOSTERT, W., Menschwerdung. Eine historische und dogmatische Untersuchung über das Motiv der Inkarnation des Gottessohnes bei Thomas von Aquin (BHTh 57), Tübingen 1978, passim. Vgl. auch MOSTERT, Frage nach der Existenz, 129. Mostert verhandelt das Sprachproblem also in christologischer Hinsicht, was sich aus dem Rückbezug auf die Erfahrung des Sünderseins ergibt. Dabei ist vorausgesetzt und folgt aus dem Gesagten, dass diese Versöhnung als Schaffung der vom Sünder nicht selbst zu leistenden Entsprechung nur von der Güte Gottes ausgehen kann (vgl. auch MOSTERT, Erfahrung, 458-460). Insofern ist auch nicht die Sünde allein der Schlüssel einer neuen Hermeneutik, sondern die Bezogenheit der Liebe auf den Sünder, der fragt: „Wie komme ich in das ontische Prius vor meinem Sündersein, wie komme ich in die Liebe [...]?“ (459) Vgl. MOSTERT, Dogmatik, 128: Hier bestimmt Mostert das hermeneutische Problem so, dass es entscheidend sei, „ob das, wovon die Sprache sein muß, auch erscheint.“ Vgl. auch TROWITZSCH, Über die Moderne hinaus, hier bes. 128. Vgl. MOSTERT, Erfahrung, 458-460, hier bes. 460.
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schenwort in der Schrift erscheint. Dieses Wort, nämlich Christus als unserem Denken vorausliegende Sprache, kann sich der Mensch nicht selbst sagen, weil die Wahrheit immer erscheint und vernommen werden will. Der Mensch kann sich der Wahrheit empfangend öffnen und so in das Hören auf das Externe einüben81 : „Aber wie sind wir wahr? Nicht anders, als indem wir die Wahrheit anschauen und auf sie hören, das Wahrgemachtwerden durch den Logos der Wahrheit zulassen, ihm nicht widerstehen.“82 Damit ist ausgesagt, dass Wahrheit einen Geheimnischarakter besitzt, der dem Menschen entzogen bleibt, was sich insbesondere auch in der Begegnung mit dem Geheimnis der Aura eines Bildes zeigen kann.83 Luthers Schriftumgang führte zu der Erfahrung und Entdeckung der Priorität der Sprache vor dem Denken, da in der gewissmachenden Sprache des Evangeliums seine eigene Existenz als Sünder zur Auslegung kam, wodurch ihm allererst Selbsterkenntnis und das Ertragen dieser Realität möglich wurden.84 Aber diese neue Hermeneutik in der Erfahrung der Güte eröffnet auch eine große Weite, die Mostert zufolge nicht dogmatistisch auf Jesus Christus oder den christlichen Glauben eingeschränkt werden darf, wenngleich sie dogmatisch in Jesus Christus ihr Kriterium und inhaltliches Zentrum behält.85 Gottes Anrede versteht sich als eine „Rede an die Kreatur durch die Kreatur“86. Die neue Hermeneutik, die dem Theoretischen, d.h. dem Gedanken, dem Bild, dem Gedicht, der Religion und anderem Raum gibt, kann sich dann auch in den anderen Wissenschaften und Künsten manifestieren.87 Es geht Mostert um die Suche
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Vgl. MOSTERT, Leben, 250; vgl. auch zur Sprachlichkeit der Wahrheit, MOSTERT, W., Über die Wahrheit der Schriftauslegung, in: DERS., Glaube und Hermeneutik, 56-65 und DERS., Wahrheit – ein Hinweis, in: DERS., Glaube und Hermeneutik, 8088. Vgl. auch MOSTERT, Frage nach der Existenz, 131: Am entscheidenden Beispiel der mittelalterlichen Frage nach dem gnädigen Gott kommt Mostert nun zu folgendem Schluss: „Skopus und Telos der Transformation der Frage nach dem gnädigen Gott ist also ein dreifältiger Befreiungsvorgang: die Befreiung des Menschen aus dem Reproduktions- und Internalisierungszwang, die Befreiung Gottes aus der Rolle der Legitimationsinstanz für die menschliche Unnatur, die Befreiung der Sprache aus der Restriktion auf den Aktivismus zu ihrer wahren Aufgabe, nämlich gehört zu werden.“ (Hervorhebung M. R.) MOSTERT, Wahrheit, 86 (Hervorhebungen M. R). Vgl. dazu GRÖZINGER, Exkurs: Walter Benjamins messianische Ästhetik, 135ff, hier bes. 151. Vgl. MOSTERT, Sinn, 110f. Vgl. MOSTERT, Erfahrung, 460. Vgl. BAYER, Schöpfung, 9-32. Vgl. MOSTERT, Fides creatrix, 207.
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nach Wahrnehmungsbegriffen, die eine rezeptive Struktur aufweisen: „Diese rezeptive Struktur dient der Intensivierung des Geistes, der Erweiterung des kärglichen Instrumentariums rationalistischer Methoden.“88 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Sünde durch die beschriebene Art der Reproduktionshermeneutik, den oben beschriebenen Operationalismus89, repräsentiert wird. Die Gnade, welche als Grundlage einer Erfahrungshermeneutik entgegengesetzt wird, „zeigt sich also der Sünde bzw. dem Sünder insofern auch ontologisch überlegen, als sie nicht in der Sündenstruktur reproduziert werden muß, sondern sich mit der Natur des Menschen als eines Geschöpfes verbindet.“90 Christus eröffnet in seiner Menschwerdung die Erfahrung der Rechtfertigung. Insofern erhält das Abendmahl, in dem der Mensch die Wahrmachung durch das Leibliche Wort sinnlich erfährt, eine Schlüsselstellung für die Hermeneutik. Hier ist der Ort, an dem der sündige Mensch ganz empfangend und genießend sein Wahrgemachtwerden geschehen lassen darf.91 Als theologisch-ästhetische Konsequenz für eine christliche Anthropologie und zugleich Fundamentaltheologie ergibt sich daraus dann folgendes: „Das Gabe-Wort des Abendmahls stellt das rechte Verhältnis von Gott und Mensch im rechten Verhältnis von Wort und Leib, Sprache und Natur, Sinn und Sinnlichkeit dem Menschen und der ganzen Schöpfung zugute wieder her.“92 Im Grunde manifestiert sich im ständigen Drang zur Reproduktion der Wirklichkeit das Unvermögen zum Genießen der Schöpfung und des Schöpfers sowie die Unfähigkeit zum passiven Hören.93 Vernimmt jedoch der sündige Mensch das Wort, das ihn aus seiner Selbstbezogenheit befreit, so stellt sich dennoch die Frage, wie er dieses Wort vernehmen kann, was ihm zwar passiv zukommt, aber das er doch 88 89
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MOSTERT, Von der Wut, 47. Vgl. auch MOSTERT, Frage nach der Existenz, 120: „Je mehr es sich herausstellt, daß der Operationalismus zum einzigen Instrument der Verifizierung von Wirklichkeit wird, um so mehr werden alle Ideale und Ideen, wird aber auch die Natur verbraucht werden.“ MOSTERT, aaO, 129. Vgl. MOSTERT, Zur ontol. Frage, 93f. Vgl. auch J. Baurs Deutung der Adamsage: „In all dem hat er seinen Stand im Empfangen des göttlichen Gebens. [...] In sich selbst hat er keinen Stand; er ist vollkommen im völligen Empfangen (BAUR, Schuld und Sünde, 317). Daraus folgt für das Verhältnis des Menschen zu Gott: „Die eine Schuldigkeit des Menschen ist, im Empfangen ausgespannt auf den Geber zu sein, gegründet in der allein schöpferischen Macht, ‚aus Glauben auf Glauben hin’ zu leben“ (aaO, 318). THAIDIGSMANN, Gabe des Wortes, 45. Vgl. MOSTERT, Frage nach der Existenz , 132.
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annehmen oder ablehnen kann. Im Falle der Annahme dieses Wortes muss jedoch der Rezeptionsvollzug näher bestimmt werden können und darf nicht mit dem Verweis auf das freie „Wirken des Heiligen Geistes“ vernachlässigt werden. Daher soll es im folgenden um Gestalten des Wortes und deren Rezeption durch den Menschen gehen. Einen wesentlichen Gesichtspunkt, der aber auf die Sinnlichkeit des Denkens Bezug nimmt, stellt der Ausgangspunkt beim Sündersein des Denkers dar, der sich nur in selbstkritischer Weise auf sein Denken beziehen kann. Gerade dieser Ansatzpunkt, der in keinem der Denkvollzüge ausgeblendet werden darf, führt zu einer vernunftkritischen, nicht vernunftabweisenden Haltung gegenüber einem Denken, das bestimmte Hypothesen zur zeitlosen Wahrheit erklärt .94
2. Ausdrucksgestalt Die Problematik der Gestalten des Wortes und ihrer Rezeption durch den Menschen verdichtet sich in der theologischen Frage nach dem Verhältnis von innerem und äußerem Wort95, die schon seit der Reformation und ihrer Begegnung mit neuzeitlichen Denkstrukturen umstritten ist. Die innere Aneignung des äußeren Wortes ist zwar notwendige Bedingung des Glaubens, ist aber deshalb nicht mehr als seine innere Gestalt, d.h., sie gehört nur zu seiner inneren Seite. Die äußere Seite des Glaubens ist die Vielfalt seiner Ausdrucksgestalten, die wiederum als äußeres Wort Glauben erwecken können. Der Mensch als Geschöpf ist in seinem Selbst- und Weltverhältnis ein von Gott Angesprochener. Im Anschluss an Ebeling soll hier die menschliche Grundsituation als Wortsituation verstanden werden.96 Die Anrede Gottes vollzieht sich als Rede an die Kreatur durch die Kreatur in der Schöpfung, also als elementares und mittelbares Kommunikationsgeschehen. Durch die Sünde ist dieses elementare Kommunikationsgeschehen jedoch gestört und verzerrt. Der Mensch nimmt das ihm Widerfahrende nicht als göttliche Anrede wahr, obwohl sie an ihn ergeht. Darum bedarf der Mensch des Wortes Gottes in beiderlei Gestalt als Gesetz und Evangelium, das wiederum als Leibliches Wort in
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In diesem Punkt begegnen sich die Entwürfe Bayers, Ebelings und Mosterts. „verbum externum“ und „leiblich Wort“ werden in der lateinischen und der deutschen Fassung von CA 5 synonym verwendet (BSLK, aaO, 58). Hierbei sollen die Differenzen zwischen Ebeling und Bayer bezüglich des allgemeinen oder spezifischen Wortverständnisses außer Acht gelassen werden.
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der schriftgemäßen Evangeliumsverkündigung und in den Sakramenten begegnet. Der Glaube als durch die Anrede bestimmtes Selbst-, Welt- und Gottesverhältnis ist in vielerlei Hinsicht ein Geschehen, welches der Aufhebung dieser Störung und Verzerrung entgegenwirkt. Er ist nicht als solcher die Aufhebung der Störung, aber er ist auf dem Weg dieser Aufhebung. In seinem inneren Vollzug geschieht dies durch die existentielle Aneignung des an den Menschen ergehenden äußeren Wortes, des in der Bibel bezeugten und gepredigten Wortes. Dieses Wort ist selbst Gestalt gewordener Glaube. Die Aneignung des äußeren Wortes ist dabei ein wesentlich unverfügbares Geschehen (CA 5). Eine Annäherung an diesen theologischen Sachverhalt, der sich aber immer medial vollzieht, lässt sich meines Erachtens am besten mit der Kategorie der Ausdrucksgestalt erreichen, wie sie M. Jung im Anschluss an W. Dilthey von seinem hermeneutisch-pragmatischen Erfahrungsbegriff her entwickelt. Diese Theorie versucht, das individuelle Erleben sowie die allgemeine Symbolik des Glaubens als notwendiges Verhältnis zusammenzudenken und dabei weder subjektivistisch noch objektivistisch zu argumentieren. Dabei wird insbesondere die religiöse Erfahrung als Prozess verstanden, welcher aus der Korrelation von innerem, individuellem Erleben und der intersubjektiv vermittelten symbolischen Form erwächst. In der Wahl einer Ausdrucksgestalt wählen die Individuen auch ihr eigenes Selbst- und Weltverhältnis. Das heißt, artikuliert ein Individuum seine Erfahrung, so äußert es nicht nur ein einzelnes innerlich Erlebtes, sondern in der Artikulation findet eine Bewertung und Interpretation des Lebens insgesamt statt. Das individuelle Erleben wird also mit der allgemeinen Symbolik über die Kategorie der „Ausdrucksgestalt“ verbunden.97 Jung ist bemüht, über Dilthey hinaus, der die Frage nach der transphänomenalen Referenz religiöser Erfahrung und ihrer Wahrheitsansprüche ausgeklammert hat, eine Theorie von religiöser Erfahrung zu entwickeln, welche das subjektive Erleben und die kulturelle, d.h. intersubjektive Symbolform durch den oben eingeführten Begriff der „Artikulation“ verbindet.98 In der Erfahrung klärt sich für das Subjekt das jeweilige Selbst- und Weltverhältnis gerade darin, dass es in Ausdrucksgestalten, die symbolisch sein können, vermittelt wird. Dieser religiöse oder ästhetische Deutungsrahmen gehört zum individuellen Erleben mit hinzu, wobei
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Vgl. JUNG, Erfahrung, Einleitung, 9-16. Vgl. JUNG, Erfahrung, 263.
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die Interpretation immer schon Teil jeder Erfahrung ist, da es ansonsten keine bestimmte Erfahrung gäbe.99 Dilthey unterschied zwischen innerer Erfahrung in dem Sinne, dass die äußere Erfahrung eine Erfahrung aus der Beobachterperspektive, die innere Erfahrung jedoch eine Erfahrung aus der Teilnehmerperspektive ist. 100 Es ging ihm also nicht um den Rezeptionsvorgang, sondern um die Differenzierung von Erfahrungsformen. Aber er hat durch diese Unterscheidung deutlich gemacht, dass die innere Erfahrung auch eine allgemeine Erfahrung sein kann. Wenn aus der individuellen Teilnehmerperspektive eine kollektive wird, dann ist die innere Erfahrung nicht mehr Erfahrung der Ersten Person Singular, sondern der Ersten Person Plural. Um zur kollektiven Erfahrung zu werden, braucht die innere Erfahrung aber nach Jung bestimmte Ausdrucksgestalten. Werden Erfahrungen ausgedrückt und damit verallgemeinert, so kann sie jeder rezipieren und zu einer eigenen Erfahrung werden lassen. Der Glaube bedient sich ebenfalls solcher Ausdrucksgestalten, denn diese sind nicht nur eine Möglichkeit des Glaubens, sondern eine Notwendigkeit, denn Glaube verlangt danach, kommuniziert zu werden. In dieser Aneignung selbst muss allerdings wieder eine Individuierung hin zur Einzelerfahrung erfolgen. Die Sprache besitzt also in diesem hermeneutischen Geschehen eine Schlüsselfunktion. Allerdings reicht die Theorie der Ausdrucksgestalt nicht aus, um differenziert zu beschreiben, was in der Korrelation von Wort und Glaube eigentlich geschieht. Denn hier wird nur die Seite der aktiven Rezeption und des Interpretierens als Wesen der religiösen Erfahrung beschrieben. Nach reformatorischem Verständnis ist jedoch das passive Empfangen als Konstitution (in der Schöpfung) und als Vollzug (in der Schöpfungserfahrung und in der Erfahrung der Rechtfertigung des Sünders) Wesen der Glaubenserfahrung, so dass die aktive Rezeption und Interpretation der allgemein vermittelten Ausdrucksgestalten etwas Sekundäres gegenüber der primären Passivität darstellen. Rezeption und Interpretation des „äußeren Wortes“ gehören demnach zur Antwort, nicht zum Grund des Glaubens, der Tillich zufolge außerhalb der gegenwärtigen menschlichen Erfahrung in einem geschichtlichen Ereignis liegt, so dass es in dieser geschichtlichen Konkretheit auch die Norm jeder religiösen Erfahrung und damit Interpretation darstellt.101
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Vgl. aaO, 264 im Unterschied auch zu R. Schaefflers Verständnis der uninterpretierten Erfahrung (vgl. SCHAEFFLER, Erfahrung als Dialog, 432). 100 Vgl. JUNG, Hermeneutik zur Einführung, Hamburg 2001, 73f. In diesem Sinne könnte auch Herms gelesen werden. 101 TILLICH, Systematische Theologie Bd. I, 51ff.
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Das Verhältnis von Aktivität und Passivität innerhalb des Glaubensvollzuges drückt sich sehr eindrücklich in Luthers kurzer Beschreibung des gottesdienstlichen Geschehens bei der Einweihung der Schlosskirche zu Torgau im Oktober 1544 aus, wo er die Korrelation von Wort und Antwort betont. Der Gottesdienst hat seinen Sinn und sein Wesen darin, „das unser lieber Herr selbs mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir widerumb mit jm reden durch Gebet und Lobgesang“.102 In dieser Beschreibung wird einer individualistischen Erfahrung des Wortes Gottes vehement widersprochen: „Die Erfahrung, dass die Bibel sich als Wort Gottes ereignet, kann also keine Einzelerfahrung eines Individuums sein, sondern sie ist Erfahrung der Kirche, die durch sie konstituiert wird.“103 Glaubenserfahrung kann zwar nicht rein passiv verstanden werden, denn sie ist insofern schon aktiv, als der Erfahrende immer schon etwas Vorgegebenes mitbringt, an das er anknüpft. Dennoch ist der Mensch bei der inneren Aneignung des Wortes, d.h. in dem Moment, wo das Wort sein innerstes Personzentrum ergreift und formt, ein im elementaren Sinn Empfangender, weil dieses Ergreifen und Formen ohne sein Zutun geschieht.104 Diese existentielle Passivität des Menschen im Wortgeschehen wird am deutlichsten in der Sprachform der Absolution erkennbar: „Deine Sünden sind dir vergeben!“105 In dieser Sprachform wird Wirklichkeit zugesagt und in der Zusage zugleich gesetzt. Diese Beschreibung der Passivität entspringt allerdings aus der Rechtfertigungslehre und nicht aus der Erkenntnislehre. Gerade hier wird deutlich, welche Weiche innerhalb der Theologie gestellt wird, 102 LUTHER, M., Predigt am 17. Sonntag nach Trinitatis, bei der Einweihung der Schlosskirche zu Torgau gehalten (5. Oktober 1544), WA 49, 588-615, 588, 16-18. 103 COORS, M.,Vom Lesen der Bibel als Heiliger Schrift. Zur Grundlegung einer theologischen Schriftlehre, in: NZSTh 45/3 (2003), 328-345, 340. 104 Vgl. dazu auch LÜPKE, Anthropologische Einfälle, 231: „Das Zentrum der Person liegt außerhalb ihrer im Wort Gottes.“ 105 Bei Bayer herrscht allerdings durch den Bezug auf die elementaren Sprach- und Ausdrucksformen des Glaubens, wie sie primär im Gottesdienst begegnen, ein starker Textbezug vor, wobei ebenso das Liedgut herangezogen wird, allerdings primär unter dichterischem Aspekt. Bei Bayer finden auch konkrete künstlerische Bezüge Eingang in die dogmatischen Überlegungen, wie z.B. die Hildesheimer Tür von St. Bernward, Büchners Werk, christliche Kunst im Lied wie bei P. Gerhardt u. J. Klepper, Camus sowie Sartre. Bayer hat allerdings kein Interesse an der näheren Erörterung dieser Vermittlung im Leben. Er geht davon aus, dass sich die Grundworte der promissio selbst vermitteln. Aber schon Luther fragt in seinem Katechismus immer wieder nach der konkreten Bedeutung für das gegenwärtige Leben („Was ist das; Wie geschieht das“)? Ohne einen gewissen Bildungshintergrund, ohne jegliche Kenntnis des Sprachspiels kann also auch Gottes Wort nicht wirksam werden.
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wenn die Rechtfertigungslehre und damit zusammenhängend die Sündenlehre der Erkenntnislehre übergeordnet wird. Ordnet man dagegen die Rechtfertigungslehre der Erkenntnislehre unter, dann geht dieses entscheidende Moment der Passivität verloren und die Rechtfertigung des Sünders wird zu einem Akt der Selbstdeutung mit Hilfe eines religiösen Musters, welches dem Sünder hilft, mit seiner endlich bedingten Unzulänglichkeit und Kontingenz fertig zu werden. Wird also das äußere Wort als Ausdrucksgestalt des Glaubens verstanden, dann muss dabei bedacht werden, dass das Wortgeschehen kein bloßes Aneignen oder Verinnerlichen, sondern zugleich ein Wirksamwerden des Gesprochenen ist. Im Wortgeschehen geschieht also nicht einfach nur Deutung als lebensbezogene, existentielle Aneignung von Inhalten. Es geschieht eine Seinsveränderung, über die der Mensch nicht verfügen kann. Zum Zwecke dieser qualitativen Veränderung bedient sich Gott jener Ausdrucksgestalten der Bibel und des Gottesdienstes: Wort und Sakrament. In und durch die Ausdrucksgestalten geschieht die promissio. 2.1 Das Leibliche Wort als Ausdrucksgestalt des Glaubens Das Leibliche Wort kann nur in dem Sinne als Ausdrucksgestalt verstanden werden, dass es als sinnlich ergehendes Wort in den unten zu beschreibenden Ausdrucksformen begegnet. Allerdings ist das Leibliche Wort als Evangelium und Sakrament theologisch von diesen allgemeinen und vom Leiblichen Wort abgeleiteten Ausdrucksformen zu unterscheiden. Das Leibliche Wort umfasst also das sinnliche Wort in seiner Anrede und Aufnahme und seinem gleichzeitigen Wirksamwerden am Menschen. Als solches begegnet es zunächst in Wort und Sakrament und führt hin zur Wahrnehmung der sinnlich-leiblichen Anrede Gottes durch das „Buch der Natur“ als Schöpfungserfahrung, die allerdings erst vom Schriftwort her als eindeutig zu verifizieren ist. Das Verständnis des Leiblichen Wortes macht damit Ernst, dass der Mensch nach der Bibel nicht mehr nach sinnlichem und geistigem Vermögen zu unterscheiden ist, sondern gerade in seiner Gesamtheit als leibliche Person in den Blick kommt. Die angebliche Dichotomie zwischen Leib und Geist ist somit überwunden. Ebenso ist die Differenzierung zwischen innerem und äußerem Wort, wie es hermeneutisch als Aneignung und Zueignung unterschieden werden kann, zunächst streng auf Wort und Sakrament zu beziehen und nicht beliebig zu erweitern.106 106 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Luthers Unterscheidung zwischen Zeichen und Gnadenzeichen und dazu COTTIN, J., Das Wort Gottes im Bild. Eine Herausforderung für die protestantische Theologie, Göttingen 2001, 266ff: „Die einzig mögliche
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Die Rede vom „Leiblichen Wort“ (CA 5) geht davon aus, dass sich in, mit und unter menschlichem Reden und Symbolisieren Wort Gottes ereignet. Gotteswort und Menschenwort verhalten sich analog zu den zwei Naturen Christi: sie lassen sich nicht voneinander getrennt aussagen und sind dabei doch nicht identisch.107 Gottes Wort ist als Leibliches Wort wie jedes Menschenwort leiblich vermittelt, nicht nur aufgrund sinnlicher Vorstellungsgehalte und metaphorischer Mittel, sondern weil jede Sprachvermittlung sinnlich, akustisch im Hören und visuell beim Lesen verfasst ist.108 Auch die physikalischen Medien (Schall- und Lichtwellen) sind an diesem Prozess beteiligt, da Worte nur physisch in Erscheinung treten können.109 Dass das Wort Gottes leiblich vermittelt ist, gilt daher als inkarnationstheologische Konsequenz, jedoch ebenso „grundsätzlich für jede Weise des Zur-SpracheKommens Gottes. Weil Gottes Reden nur sinnlich vermittelt werden kann, kann grundsätzlich alles von ihm Geschaffene zum Medium seiner Offenbarung werden“110 (Ps 19). Soll nun aber doch wieder der Vorrang des Wortes vor dem Bild und allen anderen Ausdrucksformen theologisch gesichert werden, so dass zwar das Bild nebst anderen künstlerischen Figurationen auf die Seite der Antwort des Menschen auf die Offenbarung zu stehen kommt, jedoch in diesen Formen keinesfalls Offenbarung und damit Verkündigung des Evangeliums stattfinden kann?111 Als Argument für die Betonung einer Theologie des Wortes wird bekanntlich Luthers Entdeckung des Zusammenhangs von Wort und hörendem Glauben herangezogen, der damit die Externität des Glaubensgrundes hervorhebt.112 Ein Bild
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und direkte Sichtbarwerdung Gottes und seines Wortes ist das Sakrament. Das Bild ist an den Menschen gebunden, nicht an das Göttliche.“ (aaO, 269). Vgl. KÖRTNER, Theologie, 145. Vgl. auch KÖRTNER, Historischer Jesus – geschichtlicher Christus. Zum Ansatz einer rezeptionsästhetischen Christologie, in: HUIZING, K. u.a., Lesen und Leben. Drei Essays zur Grundlegung einer Lesetheologie, Bielefeld 1997, 99-135. Vgl. KÖRTNER, Theologie, 177. AaO, 182. Vgl. hierzu BAHR, H.-E., Theologische Untersuchung der Kunst. Poiesis, München/ Hamburg 1965, 232: „Die pneumatische Gegenwart Christi bleibt ausschließlich an seine Bezeugung im Medium der Sprache und im Sakrament gebunden. In Bild, Musik und anderer künstlerischer Figuration antworten wir darauf. Im Prozess der Verkündigung (sensu strictu) haben Wort und Sakrament exklusive Alleingeltung. Zur Antwort auf diese Selbstvergegenwärtigung des Heilsereignisses sind jedoch alle Gestaltmöglichkeiten menschlicher Kunst aufgerufen.“ Vgl. zur Kritik an Bahr auch SCHRÖER, H., Art. Ästhetik III. In praktisch-theologischer Hinsicht, TRE Bd. 1, Berlin/ New York 1977, 566-572, 568f. „Nam si quaeras ex Christiano quodnam sit opus quo dignus fiat nomine Christiano, nullum prorsus respondere poterit nisi auditum verbi dei, id est fidem.“ (HIRSCH,
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Christi, das ein Künstler hervorbringt, ist ebenso eine Ausdrucksgestalt der Glaubenserfahrung wie das „Bild“ Christi, das die Evangelisten aufgrund ihrer Erfahrung mit Christus, dem Wort Gottes, zeichnen, mit dem Unterschied, dass die eine Ausdrucksgestalt die andere voraussetzt.113 Als abgeleitete Ausdrucksgestalt bringt sie wiederum ihre eigene Glaubenserfahrung ein, die erneut Glauben wecken kann. Demzufolge hat eine genaue Differenzierung zwischen dem „Wort Gottes“, das Jesus Christus ist, dem Leiblichen Wort in Evangelium und Sakrament als grundlegender Ausdrucksgestalt sowie den vielfältigen abgeleiteten Ausdrucksgestalten der Glaubenserfahrung zu erfolgen.114 Somit kann das Bild auch nach Luther nicht per se Gott offenbaren, ihn aber aussagen und damit den Menschen auf Offenbarung ausrichten.115 Es liegt allerdings in der Verfügung des Heiligen Geistes, an welcher Ausdrucksgestalt sich Offenbarung ereignet und der Mensch Glaubenserfahrung macht. So kann man mit Cottin schlussfolgern: „Es gibt also keine Spiritualität des Bildes und noch viel weniger heilige Bilder, sondern nur ein Wirken des Geistes, der sichtbar macht. Das theologische Subjekt ist immer der Geist und niemals das Bild, das immer nur ein neutrales Objekt ist. Darum kann es im protestantischen BeE./ RÜCKERT, H. [Hgg.], Luthers Vorlesung über den Hebräerbrief. Nach der vatikanischen Handschrift, Berlin/ Leipzig 1929, 250; vgl. auch LUTHER, M., In epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius ex praelectione D. Martini Lutheri collectus (1531), WA 40 I, 343: „ad solum auditum fidei spiritus sanctus detur nobis quodque prorsus nihil aliud a nobis exigatur, quam quod ab omnibus actionibus nostris desistamus et tantum audiamus Evangelium.“ So auch in DERS., „Von den guten Werken“ (1520), WA 6, 202-276, 216: „Alszo leszen wir noch nie, das yemand der heilig geist gebenn sey, wan er gewirckt hat, aber altzeit, wan sie habenn das Evangelium von Christo unnd die barmhertzickeit gottis gehoret. Ausz dem selben wort musz auch noch heut und altzeit der glaub und sonst nindert herkommen.“ 113 Wenn man bedenkt, welche Bedeutung die biblia pauperum, die vielen Malereien und Skulpturen in den Kirchen sowie die Musik über Jahrhunderte für den Glauben der Menschen hatten, die des Lateinischen nicht mächtig waren und demzufolge das reine Wort des Evangeliums gar nicht hören konnten, dann kann man die Funktion der ästhetischen und religiösen Ausdrucksgestalten des Glaubens für den Glauben erst wirklich ermessen. Auch anhand der Bilder und der Musik hat sich Gottes Wort in dem Sinne ereignet, dass Menschen Glaubenserfahrung machen konnten. 114 Dieser Gedanke variiert die Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes (vgl. BARTH, K., Die Kirchliche Dogmatik, Studienausgabe Bd.1 [I/1 §§ 1-7], Zürich 1986, 89ff), wo zwischen dem verkündigten, dem geschriebenen und dem geoffenbarten Wort unterschieden wird, die jeweils Gestalten des einen Wortes Gottes sind. 115 Vgl. COTTIN, Wort Gottes im Bild, 266ff. Cottin kommentiert Luthers differenzierte Bezogenheit von Wort und Bild wie folgt: „Das Bild interpretiert die Wirklichkeit, bedarf aber selbst auch der Interpretation. Es sagt sehr viel mehr als Wort (Symbolisierung), aber es bedarf dieses Wortes, um verstanden zu werden (Bedeutung).“ (COTTIN, aaO, 263).
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reich und darüberhinaus in jeder biblisch gegründeten Theologie im strikten Sinne keine ‚Theologie des Bildes’ geben. Es kann nur eine Theologie des Wortes unter Einbeziehung des Bildes geben, oder wenn man will, eine ‚Theologie in Bildern’.“116 Da sich in den Ausdrucksgestalten die innere und die äußere Seite des Wortgeschehens verbindet, wollen wir nun noch einmal gesondert auf das Verhältnis von äußerem, zugeeignetem, und innerem, angeeignetem, Wort eingehen. Die theologische Formel vom „Gotteswort im Menschenwort“ sollte die Unterscheidung von „innerem“ Wort als selbstbezogenem Wort und „äußerem Wort“ als an Gottes Wirken gebundenes Wort unterstreichen: „Gerade dadurch, daß das in der Vorläufigkeitsgestalt des Menschenworts verlautende Gotteswort das noch ausstehende, eschatologische Offenbarwerden der göttlichen Herrlichkeit antizipatorisch gegenwärtig werden läßt, wahrt es seine ‚Exteriorität’ gegenüber allem, was der Mensch, auch in seinem Glauben, Hoffen und Lieben, sich selber sagen könnte.“117 Denn insbesondere in den transzendentalphilosophischen Theorien wird der Dialog mit der Wirklichkeit als dieses Selbstgespräch des Subjekts gedeutet, so dass die „Erfahrung“ des Subjekts auch als „Konstruktion“ verstanden ist.118 Die Unterscheidung von innerem und äußerem Wort als sakramentalem Wort ist also notwendig, um die Anrede Gottes vom Selbstgespräch des Subjektes zu unterscheiden. So stellt sich ebenfalls die Frage, ob das äußere Wort notwendige – wenn auch nicht hinreichende – Bedingung bzw. Voraussetzung für das göttliche Handeln und unseren Glauben ist. Das Problem an dieser Zuordnung liegt in der Vermischung verschiedener Kategorien. Man kann zum einen den Wahrnehmungsvollzug theologisch bestimmen, so dass das äußere Wort als rein göttliche Aktivität in den Blick kommt, die dem Menschen zugeeignet wird. Davon ist jedoch zum anderen der menschliche Rezeptionsvollzug zu unterscheiden, der sekundär und nachgeordnet ist, jedoch ebenfalls beschrieben werden kann. Er besitzt insofern auch für die Theologie Relevanz, da zur Ganzheitlichkeit des Geschöpfes auch Wahrnehmung und Erfahrung gehören.119 Daher plädiert Korsch für die Möglichkeit,
116 AaO, 206f. 117 SCHAEFFLER, R., Philosophische Einübung in die Theologie. Erster Band: Zur Methode und zur theologischen Erkenntnislehre (Scientia et religio Bd. 1/1), Freiburg/ München 2004, 369. 118 Vgl. SCHAEFFLER, Philosophische Einübung, 228. 119 In der gegenwärtigen – bekanntlich auch umstrittenen – Hirnforschung werden in verstärktem Maße hirnphysiologische Wahrnehmungstheorien verhandelt. Vgl.
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„die Wirkweisen des göttlichen Wortes in Gesetz und Evangelium durchaus mit den Mitteln selbstbewußtseinstheoretischer Analyse zu beschreiben“120. Angesichts dieser Überlegungen ist zu fragen, ob nicht Herms mit seiner Betonung des „inneren Wortes“ und Bayer mit seiner Betonung des „äußeren Wortes“ jeweils unterschiedliche Aspekte dieses in sich komplexen Geschehens beleuchten. Bayer bezieht sich mit der Rede vom äußeren, externen und Leiblichen Wort auf die Autorität der Heiligen Schrift, welche durch das bedingungslose Wirken ihres göttlichen Autors gegeben ist. Herms dagegen bezieht sich auf die Rezeption und Wahrnehmung, die er als notwendige Bedingung von Glauben versteht. Er wendet sich also primär der Verarbeitung und existentiellen Aneignung zu, die er eigenständig thematisiert. Herms versteht das äußere Wort als „Inbegriff von Selbstdarstellungen des Glaubens, deren Inhalt (Signifikat) das Wort Gottes ist“. Dabei bezieht sich das äußere Wort auf den intersubjektiven Umgang mit dem Wort Gottes, während das innere Wort als ekstatischer Grund dieser Selbstdarstellungen angesehen wird.121 Man gewinnt den Eindruck, dass Bayer die strenge Unterscheidung von innerem und äußerem Wort aus seelsorglichen Erwägungen heraus vornimmt und das äußere Wort in seiner Externität sowie seinem promissio-Charakter isoliert. Denn gerade in seelsorglichen Situationen wird die Wirkmacht des göttlichen Zuspruchs sowie die Passivität des Menschen am reinsten erfahrbar.122 Doch nicht nur das promissionale Wort in Evangeliumsverkündigung und Sakramentsgabe sind als wirkendes Wort zu verstehen. Auch das antwortende Glaubenszeugnis, das allein auf Gottes wirkender Kraft beruht, ist in dieses Wirken des äußeren Wortes eingeschlossen. So kann die gottesdienstliche Rezitation eines Textes ebenso wie das Singen eines Chorals, der zugleich Antwort auf das empfangene Wort ist, zur göttlichen Anrede werden.123 Insofern ist diese antwortende Aktivität des Hörers in das Verhältnis von innerem und äußerem Wort einzubeziehen.124
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BREIDBACH, O., (Hg.), Natur der Ästhetik – Ästhetik der Natur (Ästhetik und Naturwissenschaften: Neuronale Ästhetik), Wien/ New York 1997. KORSCH, Das rettende Wort, 202. HÄRLE/ HERMS, Rechtfertigung, 121. Luther verstand auch das Bußsakrament als seelsorgliche Situation. So hat er sein Verständnis der promissio zwar anhand biblischer Texte, jedoch auf dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem Bußsakrament gewonnen. Vgl. SCHAEFFLER, Philosophische Einübung, 227. Vgl. aaO, 240: Darum hat das religiöse Wort Schaeffler zufolge auch einen vorrangig doxologischen Charakter: Es ist die „Weitergabe des wirkenden Wortes, durch das
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Tillich, der sich im Kontext der Mystik mit dem Problem der Innerlichkeit beschäftigte125, hat allerdings die Frage aufgeworfen, ob die Unterscheidung von Innen und Außen in bezug auf das Wort Gottes überhaupt angemessen ist. Er beschreibt die Anrede Gottes als relationales Geschehen zwischen Innen und Außen: „Wenn Gott zu uns spricht, dann ist das nicht das ‚innere Wort’, sondern es ist sein Geist, der uns – metaphorisch gesprochen – von außen ergreift, aber dieses ‚von außen’ liegt jenseits von außen und innen, es transzendiert beide. Nur weil Gott auch im Menschen ist, kann der Mensch nach Gott fragen und kann Gottes Antwort vom Menschen vernommen werden. Die Begriffe innen und außen verlieren ihren Gegensatz in der Beziehung von Gott und Mensch. Wenn der Terminus ‚inneres Wort’ bedeuten soll, daß der Mensch zu sich selbst spricht, muß er verworfen werden.“126 Gerade an dem Schlüsselphänomen der Beziehung zwischen Mensch und Gott, dem Gebet, wird die Schwierigkeit einer Unterscheidung von innen und außen deutlich. Denn insbesondere im Gebet bedient sich Gott meiner eigenen menschlichen Stimme als Medium, mit der er mich anredet. Gott bleibt darin aber gerade Gegenüber und der ganz Andere.127 Auch bei einer innerlich vernommenen Anrede bleibt das Wort Gottes also eine externe Größe. Sie verliert diese Externität allerdings, wenn sie als im Menschen angelegte Möglichkeit verstanden und zur anthropologischen Grundstruktur verwässert wird.128 Die theologische Unterscheidung zwischen Gott und Mensch ist dann auf das höchste gefährdet. Um jener Unterscheidung willen ist auch an der Unterscheidung von innerem und äußerem Wort festzuhalten, mit dem Hinweis, dass diese Unterscheidung selbst metaphorische Rede ist. Wenn wir also daran festhalten wollen, dann ist zu betonen, dass inneres und äußeres Wort aufeinander angewiesen sind. Äußeres Wort ohne inneres Wort kann nicht zum Glauben führen, inneres Wort ohne äußeres Wort ist Selbstgespräch des Menschen und kann darum höchs-
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Gott selbst [...] ermächtigt hat und immer neue Generationen seines ‚erwählten Volkes’ zum Einstimmen in dieses Gotteslob befähigt.“ Dabei ist das „göttliche[...] Wort in der Gestalt des Menschenworts“,„als lobpreisende Anrede Gottes, zugleich wirkende Anrede an immer neue Hörer.“ Vgl. TILLICH, Systematische Theologie Bd. II, Stuttgart 31958, 92; Vgl. DERS., Systematische Theologie Bd. III: Das Leben und der Geist. Die Geschichte und das Reich Gottes, Stuttgart 1966, 278ff. TILLICH, P., Systematische Theologie Bd. III, 151f. Vgl. auch KÖRTNER, Theologie, 264; Vgl. auch LÉVINAS, E., Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (Alber-Reihe Philosophie), Freiburg/ München 1992, 322: „Das unendlich Außerhalb-Bleibende wird zur ‚inneren’ Stimme“, ohne deshalb seine Exteriorität aufzugeben. Vgl. BAYER, Leibliches Wort, 38.
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tens zu einer Einbildung, jedoch ebenfalls nicht zum Glauben führen. Die Betonung des einen Aspekts darf daher nicht zur Vernachlässigung des anderen führen. Die Gegenüberstellung von äußerem Wort als passiv empfangenem und innerem Wort als aktiv gestaltetem Wort ist dabei wohl zu einseitig. Die Passivität in der Schöpfungserfahrung sowie die Passivität in der Erfahrung der Rechtfertigung besitzen zwar beide die gleiche Grundstruktur. Jedoch besteht der entscheidende Unterschied der Theorien von Herms und Bayer darin, dass sich Herms vorrangig auf eine Konstitutionspassivität bezieht129, während Bayer zwar im Schöpfungswort ebenso diese Konstitution benennt, jedoch eine Vollzugspassivität in der Betonung des externen Rechtfertigungswortes sowie der creatio continua beschreibt. Indem Bayer auch auf die verschiedenen passiven Sprachformen des Glaubens und Lebens rekurriert, bestimmt er die Grundstruktur von Glaube und Leben als aktuell erfahrbare Passivität, während die Passivität in Schleiermacherscher Tradition als lediglich „schlechthinnige“ zugunsten der aktuellen endlichen Freiheitserfahrung schöpfungstheologisch isoliert bleibt. Diese Passivität ist zwar nicht erfahrbar, aber sie ist Gegenstand der transzendentaltheoretischen Reflexion über die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung. Gerade anhand dieser Gegenüberstellung wird deutlich, dass Aktivität und Passivität keine einander ausschließenden Strukturen sind, auch sie sind aufeinander angewiesen. Nachdem das Leibliche Wort als grundlegende Ausdrucksform beschrieben worden ist, soll im folgenden anhand der Ausdrucksformen Sprache und Bild die Spannung zwischen aktivem und passivem Moment im Rezeptionsvollzug exemplarisch aufgezeigt werden. 2.2 Die Sprachlichkeit der Sprache Bevor Sprache als Ausdrucksgestalt in den Blick genommen werden kann, muss festgehalten werden, dass sich Sprache nicht in ihrem medialen Charakter als Ausdrucksgestalt erschöpft. Geht es um die Sprachlichkeit des Menschen, so ist damit eine existentiale und ontologische Kategorie angesprochen. Sie wird also vorausgesetzt, wenn von den Sprachformen des Glaubens die Rede ist, die sich auf diese grundsätzliche Sprachlichkeit des Menschen beziehen. Mit der Sprachlichkeit ist allerdings zugleich eine Sprachfähigkeit und Ansprechbarkeit sowie die Möglichkeit eines Sich-Verschließens gegenüber der Sprache Gottes 129 Vgl. HERMS, Offenbarung und Erfahrung, 259. Jedoch hat Herms die transzendentalphilosophische Frage Kants nach der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis im Anschluss an Schleiermacher theologisch umgeformt.
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gemeint. Diesem Sachverhalt versuchen sowohl Ebeling als auch Bayer gerecht zu werden, indem sie vom Sprachwesen Mensch ausgehen, der mit seiner Sprachfähigkeit zugleich vernunftfähig ist, jedoch diese Gabe im Gottes- und Weltverhältnis missbraucht. Deshalb ist es notwendig, zwischen Wort Gottes und Sprache Gottes zu unterscheiden130, da die Rede von der Sprache Gottes die Vermittlung und Medialität dieser Rede stärker in den Blick nimmt.131 Wort Gottes dagegen bezieht sich auf das Ereignis der Offenbarung und damit primär auf den Inhalt der göttlichen Rede. Insofern sollen Sprache als auch Bild als abgeleitete Ausdrucksgestalten im Unterschied zu der grundlegenden Ausdrucksgestalt des Leiblichen Wortes in den Blick kommen. Darüber hinaus ist eine weitere Differenzierung notwendig, durch welche Sprache nach ihrem ersten und ihrem zweiten Sinn unterschieden wird: zum einen primär im instrumentellen Sinne, zum anderen im medialen und implizit metaphorischen Verständnis.132 Gerade der zweite Sinn der Sprache ist für unsere theologischhermeneutischen Überlegungen interessant. So ist bei Herder, Humboldt und Hamann die Sprache nicht im Sinne einer referentiellen Bedeutung von Wörtern verstanden, sondern vielmehr von der Aktivität des Sprechers her konzipiert. Humboldt versteht Sprache als energeia, nicht bloß als ergon.133 Sprache wird demnach als energetisches Geschehen gedacht. Sprachwissenschaftlich betrachtet heißt das, die Sprache nicht als einmal Geschaffenes, sondern als ständig wirkende Kraft zu betrachten. Sprache wird im Zusammenhang von Artikulation und Explikation einer impliziten Bedeutung verstanden. Form und Gehalt gehören dabei elementar zusammen.134 Darum ist die Subjekt-Objekt130 Vgl. BADER, G., Art. Sprache/ Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie VI. Systematisch-theologisch, in: TRE 31, Berlin/ New York 2000, 765-781, 766f.776f. 131 „Stammt die Theologie des Wortes [...] primär aus alttestamentlich-jüdischer, d.h. prophetischer Überlieferung, so entsteht Theologie der Sprache vornehmlich aus griechisch-hellenistischer, d.h. poetischer Tradition.“ „Daß nicht erst das prophetische Wort, sondern bereits die poetische Natur der Sprache Anlaß zu Theologie ist: das ist das fruchtbare Ärgernis, das der theologischen Betrachtung der Sprache zugrunde liegt.“ (BADER, G., Art. Sprache/ Sprachwissenschaft/ Sprachphilosophie VI., 766). 132 Vgl. aaO, 767. 133 Vgl. HUMBOLDT, W. VON, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: DERS., Gesammelte Werke Bd. 6, Berlin/ New York 1988/ [=Berlin 1848], 1-425, 42: „Sie [die Sprache, M. R.] selbst ist kein Werk (ergon), sondern eine Thätigkeit (energeia).“ 134 Vgl. JUNG, Erfahrung, 289f.
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Problematik innerhalb der Sprache im Anschluss an W. von Humboldt stärker im Sinne eines „Liebesverhältnisses“ zu denken: Die Wahrnehmung der Geschlechtlichkeit in der Sprache führt zur Ablehnung eines reinen und aktiven Prinzips und lässt der Denkfigur der Dialogik mehr Raum. Insbesondere das schon oben erwähnte Sprachverständnis Hamanns, das die Sinnlichkeit der Sprache betont, stellt die spezifische Leiblichkeit der Sprache sakramentstheologisch akzentuiert in den Mittelpunkt: „Die Grundthese von Hamanns Metakritik über den Purismum der Vernunft lautet: ‚das ganze Vermögen zu denken beruht auf Sprache’. Sie besagt, daß die Vereinigung von Sinnlichkeit und Verstand, die Hamann gegenüber Kants Trennungen geltend macht, sich ursprünglich in der Sprache vollzieht; entsprechend ist von einer sprachphilosophischen Verschränkung von Ästhetik und Logik zu reden. Hamann macht diese Verschränkung deutlich, indem er die Sprache im Blick auf die Sinnlichkeit der Wörter einerseits und deren Bedeutung andererseits mit der Verschränkung von Element und Einsetzung im Sakrament vergleicht.“135 Dieses sinnliche Sprachverständnis lässt sich dann auch auf die Bildhaftigkeit der Sprache anwenden. 2.3 Das Bildhafte des Bildes Wenden wir uns im folgenden dem Bild in Unterscheidung und Gemeinsamkeit zum Wort zu, so soll daran nur exemplarisch gezeigt werden, was ebenso für Ton oder Gestik zu zeigen wäre. Das Bild bietet sich insofern an, da wir gegenwärtig in einer Sehkultur und Bilderwelt leben, in der die Unterscheidung für den jeweiligen Sehprozess von entscheidender Bedeutung ist. Musik spielt im Protestantismus nicht zuletzt wegen J. S. Bachs Einfluss eine wichtige Rolle, wohl auch,
135 BAYER, A priori willkürlich, 138. Sprache wird von Hamann analog dem Sicht- und Lautbarwerden Gottes in der menschlichen Natur Jesu Christi als Sicht- und Lautbarwerden von Gedanken verstanden. Dabei steht auch die Sinnlichkeit sowohl im theologischen Sinne für die Erniedrigung als auch für das Besondere, Rezeptive und Konkrete, während der Verstand als Erhöhung und als auf Allgemeines ausgerichtet aufgefasst wird. Beide vermag die Sprache zu vermitteln: „Sprache wird also verstanden als Vermittlung zweier Extreme – Sinnlichkeit und Verstand – kraft eines Zusammenspiels von Erniedrigung und Erhöhung, von Übersetzung des Gedankens in sinnliche Wortkörper und Verstehen der Wortkörper als verständlicher Sinnträger.“ „Für die Metakritik der Kantischen Unterscheidung und Zuordnung von Sinnlichkeit und Verstand besagt dies, daß sich in der Sprache der sicht- und hörbare Wortkörper mit dem denk- und verstehbaren Geist seiner Wortbedeutung gleichsam in einer Person, einem Wesen, vereinigt und beide miteinander im Austausch begriffen sind.“ (BAYER, Vernunft ist Sprache, 356).
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weil sie das Hören (auf das mündlich ergehende Wort) ergänzt. Das Sehen ist im Protestantismus aufgrund der Bilderkritik reformatorischer Strömungen in den Hintergrund getreten. Das Hören als die unmittelbarste Form der Begegnung mit dem biblischen Wort bekam Vorrang vor dem Sehen, auch dort, wo den Bildern ihre Nützlichkeit für den Glauben nicht abgesprochen wurde. Das Bild bekam eine Hilfsfunktion, es wurde zur Illustration des Wortes degradiert und auch qualitativ daran gemessen. Diese Degradierung des Bildes führte aber auch gleichzeitig zur Befreiung der Kunst aus den Fesseln der Religion. Denn die Bilder waren für Luther weder notwendig für den Glauben, noch war ein sakraler Inhalt für die Qualität des Bildes entscheidend. Die Bilder waren Adiaphora, wie es Luther in einer seiner berühmten Invokavit-Predigten ausdrückt: „Die Bilder sind weder das eine noch das andere, sie sind weder gut noch böse, man kann sie haben oder nicht haben.“136 Für W. Hofmann ist das der Freibrief für die Kunst in der Moderne.137 Durch die Autonomie des Bildes und der Kunst können aber nun Bild und Wort bzw. Sehen und Hören wieder in ihrer Bezogenheit aufeinander gedacht werden.138 Was zeichnet nun aber das Bild gegenüber der Sprache aus bzw. worin besteht seine Eigenart? Reden wir nicht auch von der „Sprache der Bilder“ und ordnen sie damit der allgemeinen Sprachlichkeit unter? Max Imdahl unterscheidet in seiner Lehre von der „Ikonik“ zwischen Bild und Sprache, denn was das Bild unaustauschbar macht, „widersetzt sich aller sprachlichen Substitution.“139 Während es im nächsten Abschnitt um die Parallelen zwischen Wort und Bild bei gleichzeitiger Differenzierung ihrer Funktionen gehen soll, wird hier das genuin
136 LUTHER, M., Predigt am Mittwoch nach Invocavit, in: DERS., Acht Sermone gepredigt zu Wittenberg in der Fastenzeit (Invocavitpredigten), in: Luther Deutsch, hg. v. K. Aland, Bd. 4, Stuttgart/ Göttingen 21964, 61-94, 78, entspricht DERS., Ein Sermon durch M.L. Mitwoch nach Invokavit gepredigt. 12. März 1522, WA 10/III, 30-40, 35. 137 Vgl. HOFMANN, W., Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion, in: DERS. (Hg.), Luther und die Folgen für die Kunst (Katalog der Ausstellung in d. Hamburger Kunsthalle, [10.11.83-8.1.84]) Hamburger Kunsthalle, München 1983, 2371. 138 Vgl. dazu auch BENJAMIN, W., Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: DERS.: Gesammelte Schriften Bd. I/1: Abhandlungen, hg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991, 203ff. Zu W. Benjamins mimetischem Verständnis der Sprache im Sprechen und Lesen vgl. auch GRÖZINGER, Praktische Theologie und Ästhetik, 142f: „Wenn in Sprache und Schrift das mimetische Vermögen des Menschen eingegangen ist, dann ist der innerste Kern beider deren Bildcharakter.“ (143). 139 IMDAHL, M., Ikonik. Bilder und ihre Anschauung, in: BOEHM, G. (Hg.), Was ist ein Bild? (Bild und Text), München 32001, 300-324, 310.
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„Bildhafte des Bildes“ verhandelt. Dabei kann dem Bild jeweils Sprache voran- bzw. nachgehen, aber entscheidend ist vielmehr der Bildsinn, der methodisch in einem Zusammenspiel von Wirkung des Bildes auf den Betrachter, dem Prozess der Betrachtung sowie der Art der Darstellung des Bildes entsteht. Dieser Ansatz unterscheidet sich von einem semiotischen Ansatz, der den Werkcharakter des Kunstwerks dem vollständigen Verfügungsbereich des Rezipienten zuschreibt.140 Versteht man allerdings im Anschluss an Imdahl die Rezeptionsästhetik entgegen der allgemeinen Ausrichtung am Rezipienten als fundamental werkorientiert, so bleibt dennoch das erfahrende Ich bzw. der Betrachter im Zentrum, da in seinem ästhetischen Blick, der sich ebenso wie in der religiösen Erfahrung im „Inter-Esse“ äußert, die personale Bedeutung eines Bildes zum Ausdruck kommt. Somit kann Imdahls „Ikonik“ als „Bindeglied zwischen dem rezeptionsästhetischen und dem werkorientierten Zugang“141 aufgefasst werden. Der Begegnungspunkt zwischen Bildwirklichkeit und Glaube manifestiert sich somit im Betrachter-Ich, das aber nicht vom Werkbezug zu isolieren ist.142 Will man die Einseitigkeit einer Rezeptionsästhetik dahingehend überwinden, dass man die Werkorientierung bei gleichzeitiger Konzentration auf die Sinnerfahrung des Betrachters beibehält, so kann man zunächst nach der Bildgemäßheit der jeweiligen ästhetischen Sinnerfahrung fragen, die ja immer auch als strukturierende Erfahrung Selbst- und Denkerfahrung bleibt.143 Eine ästhetische Erfahrung ist insoweit bildgemäß, als die Entsprechung zu den Eigenschaften des jeweiligen Kunstwerks gefunden wird. Damit ist zugleich ein intersubjektives Moment der Überprüfbarkeit einer Interpretation benannt, wobei die Interpretation nicht der Rezeption übergeordnet werden darf, sondern umgekehrt dieser unterliegt.144 Dabei ist nicht schon mit der Mehrdeutigkeit des Kunstwerks der Sinn des Kunstwerks umschrieben, sondern dieser ist als „Potential“ zu 140 Vgl. ZINK, Bildhermeneutik, 23f. Vgl. dazu auch BOEHM, G., Bildsinn und Sinnesorgane, in: STÖHR, J. (Hg.), Ästhetische Erfahrung heute, 148-165. Boehm zufolge resultiert die spezifische Repräsentanz des Bildes aus der Spannung zwischen der verweisenden Referenz und der visuellen Präsenz: „Das Genuine eines jeweiligen Bildsinnes verdankt sich in gleichem Maße der besonderen ‚logischen’ Struktur des Bildes wie der besonderen sinnlichen Erfahrungsform, die ihr allein zu entsprechen vermag.“ (164). 141 ZINK, Bildhermeneutik, 519. 142 Vgl. aaO, 518f. 143 Vgl. aaO. 144 Vgl. hierzu auch FIGAL, G., Für eine Philosophie von Freiheit und Streit. Politik – Ästhetik – Metaphysik, Stuttgart/ Weimar 1994, 93: „So können Interpretationen ein Schlüssel sein, der den Raum des Werkes öffnet. Eintreten muss dann jeder selbst.“
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verstehen oder wie Boehm sagt als „Bildpotential“.145 Es wird nicht einfach „überbietungstheoretisch“146 ein Begriff oder eine Idee ins Bild umgesetzt, sondern der Sinn des Bildes besteht in seiner „Bewegung“ als „Struktur des Bildgefüges“.147 Somit entsteht der Bildsinn auch erst jeweils im Vorgang des Betrachtens.148 Im Unterschied also zu einem „wiedererkennenden Sehen“, das zugunsten eines „objektiven Bildes“ vom Betrachter absieht, will das „sehende Sehen“ nicht nur „etwas“ sehen, sondern vielmehr wie der Betrachter es sieht.149 Der Betrachter muss sich im Vollzug des „sehenden Sehens“ selbst zum Objekt des Bildes machen, dann kann er sich in verstärktem Maße als Subjekt erfahren. Er erfährt sich hier als „Hingabe der Person an die Präsenz einer Erscheinung.“150 Hermeneutisch betrachtet ist die ästhetische Anschauung als Teilhabe an der Bildwirklichkeit zu verstehen, nämlich als Bindung des betrachtenden Subjekts an das, was objektiv vor Augen steht.151 Günter Wohlfahrt fasst die Bildbetrachtung in Analogie zur musikalischen Interpretation: „Ein Bild interpretieren heißt zunächst: Die Augen in ihm spielen lassen, strenger: es spielen, so, wie in der Musik ein Stück interpretieren heißt: es spielen. Denk dir nichts über das Bild aus, das Bild soll sich gleichsam in
145 Vgl. BOEHM, Kunsterfahrung als Herausforderung der Ästhetik, in: OELMÜLLER, W. (Hg.): Kolloquium Kunst und Philosophie Bd. 1. Ästhetische Erfahrung, Paderborn u.a. 1981, 13-28. 20.26. 146 Vgl. zu diesem Begriff oben Kap. 4: „Ästhetische Erfahrung“. 147 Vgl. BOEHM, aaO, 22 u.ö. 148 Vgl. ZINK, Bildhermeneutik, 17ff u. 208ff. Vgl. zur wachsenden Bedeutung des Betrachters bzw. Empfängers in der Kunst insbesondere des nördlichen Europas als eine Folge der Reformation HOFMANN, W., Luther und die Folgen für die Kunst, in: BECK u.a. (Hgg.), Die Kunst und die Kirchen. Der Streit um die Bilder heute, München 1984, 67-82 sowie HOFMANN, W. (Hg.), Luther und die Folgen für die Kunst (Katalog d. Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle), passim. Vgl. BOHREN, Dass Gott schön werde, passim. Das Kunstwerk besitzt allerdings trotz aller Beobachterperspektive ein werkimmanentes „Für-Sich-Sein“, so dass jenseits von Beobachter und auch Autor für eine phänomenologische Erschließung des Werks gilt: „Nicht Zurückführung ins Biographische, sondern das In-Aktion-Treten des geschaffenen Werkes läßt Kunst erfahrbar werden.“ (SCHWEBEL, H., Autonome Kunst im Raum der Kirche, Hamburg 1968, 26). 149 Vgl. ZINK, Bildhermeneutik, 77. Im Unterschied zum „wiedererkennenden Sehen“ ist auch das „Lesen“ zu bewerten. Gadamer konstatiert, dass man von den Zeichen, seien es Buchstaben, Worte oder Sätze, wegsehen muss, damit man etwas in sie hineinsehen kann, nämlich ihre Bedeutung. (Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode I, 96/[=86]). 150 ZINK, aaO, 79. 151 Vgl. aaO, 83.
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dir ausdenken. Du darfst nicht einfallen in die Konjunktionen und Disjunktionen des Bildes, du darfst dich nicht einmischen in das stille Augengespräch der Farben untereinander. Vielmehr kommt es darauf an, daß du diesem Gespräch geduldiger zuhörst und das Bild ausreden läßt, daß du dir nicht zu schnell ein Bild machst. Das Bild sagt: du sollst dir kein Bildnis machen! Im Bild sind Wendungen, mit denen es sich an uns wendet, uns auf einmal anblickt. Dieser Blick ist sprechend.“152
Durch das „Spiel der Augen“ lässt sich der Betrachter vom Bild leiten, wobei das betrachtende Subjekt relational zum Objekt des Bildes steht, indem es dieses für sich zum Ereignis werden lässt.153 Dabei muss der Betrachter methodisch von sich absehen.154 Es gibt in der Bilderfahrung also Gestimmtheiten oder Stimmungen, die der Betrachter nur durch und in der Anschauung machen kann. Darum ist diese Erfahrung auch auf das Bild bezogen und somit eine „Objekterfahrung“, die aber nicht von der „Subjekterfahrung“, der Selbsterfahrung des Betrachters zu lösen ist.155 Eine Möglichkeit, wie wir sie auch oben in den Entwürfen von U. Barth und W. Gräb kennenlernten, besteht darin, das Bild von einem reflexiven Rezeptionsvorgang abhängig zu machen, wenngleich sich diese Reflexivität von der begrifflichen Reflexivität durch ihre Unabgeschlossenheit und ihren Spielcharakter unterscheidet. Damit wird die referentielle Allgemeinheit, die jedes Bild durch seinen Bezug auf Sprache besitzt, enthüllt, denn selbst Bilder mit einem totalen Anspruch auf Selbstreferenz kommen nicht ohne Reste von Referentialität aus. Es handelt sich dabei um eine sprachanaloge Referenz, die sich in der Zeichenfunktion des Bildes wiederfindet. Daraus ist allerdings nicht notwendig eine generelle Überordnung der Sprache über das Bild abzuleiten, zumal das Bildhafte und seine Bedeutung mit dem jeweiligen Referenzbezug noch nicht erfasst sind.156 Ebenso geht das Bild nicht im semiotischen Zeichenverständnis auf, denn im Bild ist die bildliche Referenz nicht von seiner Präsenz zu lösen. In Vorgang der Betrachtung des Bildes geht es vielmehr um die visuelle Präsenz, wobei die Anschauung selbst im Zentrum steht. Dagegen stellt für die Semiotik jeder Mitteilungsvorgang einen Signifikationsprozess dar. 152 WOHLFART, G., Das Schweigen des Bildes. Bemerkungen zum Verhältnis von philosophischer Ästhetik und bildender Kunst, in: BOEHM (Hg.), Was ist ein Bild, 163-183, 172. 153 Vgl. ZINK, aaO, 84. 154 Vgl. aaO, 85. 155 Vgl. ZINK, Bildhermeneutik, 40. 156 Vgl. aaO, 43ff.
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Analog dazu lässt sich dieses Verständnis von visueller Präsenz auch auf Gottesdienst- und Abendmahlsverständnis übertragen, denn weder Abendmahl, Kirchenmusik noch der Gottesdienstraum lassen sich rein semiotisch verstehen. Im Bild (bzw. in der Liturgie) stellt sich eine Präsenz ein, in der sich etwas als Bild (bzw. in der Musik oder Liturgie) zeigt, nämlich seine „Repräsentanz“.157 Wie ein Bild oder eine andere Ausdrucksform etwas zeigt, so stellt es die „Funktion des präsentativen Pols“ dar. Der Bildinhalt oder das Sujet ist dagegen die „referentielle Funktion“. Stellt man sich also den Bildinhalt ohne Bild rein referentiell vor, so wird deutlich, dass die Semiotik dem Wie der präsentativen Darstellung nicht gerecht zu werden vermag.158 Entscheidend ist also, dass das Bild nicht einem Sachverhalt, d.h. einer Referenz, Ausdruck gibt, sondern eine eigenständige Sache in ihrer Präsenz darstellt. Dabei stellt das Bild selbst die Sache dar, es ist also nicht durch die „Referenz“ zu ersetzen.159 Das Bild ist somit eine ganz eigene Art der Mitteilung, die rezeptionsabhängig ist. Nur in der Seherfahrung werden die am Bild zu findenden Phänomene aufgedeckt. Nach Imdahl ist das Bild gerade nicht nur Zeichen für etwas anderes, sondern seine Verweisfunktion ist mit seiner Präsenz unauflöslich verbunden.160 Das heißt also, dass innerhalb der Ikonik das Medium nicht von der Referenz abzutrennen ist. In der Konsequenz bedeutet das, dass Imdahl den Bildsinn nicht von der Sprache her erschließt. Das Bildhafte selbst ist „das nur Bildmögliche“161, worin sich Sprache und Bild schon insofern unterscheiden, als bestimmte Inhalte sprachlich betrachtet nur als Antonyme erscheinen, im Bild aber in ihrer Polarität eine Einheit bilden
157 158 159 160
Vgl. aaO, 65ff. Vgl. ZINK, Bildhermeneutik, 67. Vgl. aaO, 106ff. Theologisch wird insbesondere die Präsenz eines Bildes mit dem biblischen Bilderverbot in Zusammenhang gebracht, das ja insbesondere in der Anbetung des Bildes aufgrund der darin vermuteten Präsenz der Gottheit die Einzigkeit Jahwes, der unsichtbar ist und sich nicht an Götterbilder bindet, gefährdet sah. Dass dann allerdings der Tempel und die Lade doch eine solche sakrale Dimension der Gegenwart Gottes entfalten konnten, zeigt, dass die Präsenz des als heilig betrachteten Gegenstandes oder Raumes eine entscheidende Wirkung besaß, die natürlich auf der Unterscheidung von „heilig und profan“ basierte. Nach der Tempelzerstörung konnte die Bedeutung dann auf die Präsenz der Tora übergehen. Die negative Präsenz von Bildern und ihre Macht kann man gegenwärtig an der Werbung und ihren schönen Bildern studieren. Vgl. zu dieser Problematik auch OELMÜLLER, W., Die Macht der Bilder und die Grenzen von Bilderverboten. Das biblische Bilderverbot philosophisch betrachtet, in: Orien. 62 (1998), 163-167. 161 IMDAHL, Ikonik, 308.
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können.162 Zudem ist ein entscheidendes Kennzeichen des Bildes die Simultaneität, die gerade sprachlich nicht geschaffen werden kann. Die jeweilige Dynamik des Bildgeschehens lässt Wirkräume entstehen, wobei die bildhafte Simultaneität und Sukzessivität die Bildelemente zum Tragen bringen kann.163 Auf unseren Kontext von Bild und Religion angewendet, kann das Bild nicht in einen theologischen Satz transformiert werden, sondern es ist in dieser Übertragung mit Brüchen zu rechnen. Eine weitere Differenzierung des Sachverhalts wird daher durch die Unterscheidung von „Vor-Begriff“ und „Nach-Begriff“ nach Michael Bockemühl erreicht. Der Weg vom Vor- zum Nachbegriff ist Bockemühl zufolge durch eine eigene produktive Erkenntnisleistung bestimmt.164 Innerhalb dieses Prozesses kann sich die Sprache durch das Bild erweitern oder sie wird an ihre Grenzen gegenüber dem Bild geführt. Das Entscheidende am „Nach-Begriff“ ist eben gerade, dass er nur im Vollzug der Anschauung hervorgebracht werden kann, wobei er sich immer auch auf den „VorBegriff“ bezieht.165 Dieses Verhältnis von „Vorbegriff“ zu „Nachbegriff“ lässt sich auch auf die sinnlich wahrnehmbaren Gottesdienstvollzüge übertragen, wo ein bestimmtes darstellendes Handeln zu einer Erweiterung unserer Alltagssprache führt, die durch theologische Begrifflichkeiten nicht in dieser Form zu erwarten wäre. Dabei soll gerade kein Verzicht auf Begrifflichkeit oder Rationalität eingefordert werden, sondern dem Bild (Raum, Ton) die Möglichkeit zugesprochen werden, in der Transformation vom Vor- zum Nachbegriff Theologie mit zu gestalten und durch seine sinnliche Präsenz zu bilden. Damit wird allerdings auch die Theologie an ihre sprachlich-begrifflichen Grenzen geführt. Insofern kann es auch eine „Kritik“ der Theologie durch Kunst geben, wobei jedoch 162 Vgl. dazu v.a. Imdahls Interpretation der Giotto-Fresken in der Arenakapelle von Padua in ihrer inneren Dynamik (IMDAHL, M., Giotto. Arenafresken. Ikonographie – Ikonologie – Ikonik, München 31996 sowie DERS., Giotto. Zur Frage der ikonischen Sinnstruktur (1979), in: DERS., Gesammelte Schriften Bd. 3: Reflexion – Theorie – Methode, hg. und eingel. von G. Boehm, Frankfurt a. M. 1996, 424-463. 163 Vgl. IMDAHL, Sprache und Bild – Bild und Sprache. Zur Miniatur der Gefangennahme im Codex Egberti (1970), in: DERS, Gesammelte Schriften Bd. 2: Zur Kunst der Tradition, hg. und eingel. von G. Winter, Frankfurt a. M. 1996, 94-103, 101 und DERS., Ikonik, 310, wo es heisst: „Als heilsgeschichtliches Ereignisbild kann die ottonische Miniatur ohne die biblischen Texte nicht sein. Was sie aber als hochkomplexe szenische Simultaneität zur unmittelbaren Anschauung vergegenwärtigt, ist im Medium der Sprache weder als empirische Tatsache zu beschreiben noch auch als imaginierte Vorstellung zu erzeugen.“ 164 Vgl. ZINK, Bildhermeneutik, 181. 165 Vgl. aaO, 182f.
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auch Kunst und Bild ihr inhaltliches Kriterium in Jesus Christus besitzen. Das Bild kann insofern eine heuristische Funktion für die Theologie übernehmen. 2.4 Bildlichkeit der Sprache und Sprachlichkeit der Bilder Nachdem zunächst die „Sprachlichkeit der Sprache“ sowie die „Bildlichkeit des Bildes“ in ihrer Eigenständigkeit in den Blick genommen worden sind, so ist doch nun nach einer Verhältnisbestimmung beider Ausdrucksformen zu fragen. Dabei soll allerdings weder Sprache auf Bild noch Bild auf Sprache reduziert werden. Neben den oben ausgeführten genuinen Bestimmungen gibt es vielmehr Überschneidungsbereiche, die als Bildlichkeit der Sprache oder „Sprache der Bilder“ bis hin zur „Sprache der Dinge“166 zu beschreiben sind. Dabei ist die Sprachlichkeit der Bilder nicht mit ihrer Worthaftigkeit gleichzusetzen, sondern Sprache in ihrem Anredecharakter intendiert.167 In der oben beschriebenen Differenztheorie168 wird die Differenz zwischen Sprache und Bild besonders hervorgehoben. Dabei fungiert das Medium der Sprache als exklusives Medium der Theologie bzw. des Glaubens, wobei man sich auf Bibel und Predigt bezieht. Somit 166 Vgl. HOFMANNSTHAL, H. VON, Ein Brief (1902), in: DERS., Gesammelte Werke in Zehn Einzelbänden Bd. 7: Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen, hg. v. B. Schoeller, Frankfurt a. M. 1979, 461-472. Als Lord Chandos nimmt Hofmannsthal an, dass „die Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben, sondern auch zu denken mir vielleicht gegeben wäre, weder die lateinische noch die englische noch die italienische und spanische ist, sondern eine Sprache, von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen, und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde.“ (472) Ebenso fragt Gadamer, „ob Sprache, wenn man sie wahrhaft denken will, nicht am Ende ‚Sprache der Dinge’ heißen muss“. „Ist nicht die Sprache weniger die Sprache des Menschen als die Sprache der Dinge?“ (GADAMER, H.-G., Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge, in: DERS., Gesammelte Werke Bd. 2: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register, Tübingen 21993, 66-76, 72f . 167 Dabei ist wiederum Anrede nicht mit der spezifisch im Evangelium ergehenden „promissio“ gleichzusetzen, sondern das Kunstwerk kann ebenso anklagen und darin als Gesetz anreden. Vgl. dazu die Kunstausstellung „Warum!“ (FLÜGGE, M./ MESCHEDE, F. (Hgg.), „warum! Bilder diesseits und jenseits des Menschen“ vom 28. Mai – 3. August 2003 in Berlin [Ausstellungskatalog], Ostfildern-Ruit 2003) womit zum einen die Frage gestellt wird, warum alles Menschliche und Leidvolle so ist und zugleich, warum Gott Mensch geworden ist. Vgl. zur Unverzichtbarkeit der Sprachlichkeit des Bildes bei gleichzeitiger Bedeutung der Bildhaftigkeit bzw. bildhafter Motive für die spezifischen Sprachformen der Bibel auch BISER, E., Theologische Sprachtheorie und Hermeneutik, München 1970, 566. 168 Vgl. Jüngel sowie Zeindler.
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wird das Wesen des Glaubens als genuin sprachliches bestimmt.169 Jedoch erkennt die Differenztheorie dabei nicht die Sinnpotenz des Bildes vollständig an.170 So charakterisiert etwa R. Volp das Bild dagegen als religiöse „Grundkategorie“. Dabei weitet Volp sein Bildverständnis – Herms vergleichbar – auf die „Vision“ aus, so dass das Kunstwerk gegenüber dieser Urvision, die im szenischen Erinnern begegnet, nachgeordnet wird.171 Postuliert man, dass das „Ich“ sprachlich konstituiert ist, so wird das Ich immer nur als schon strukturiertes verstanden, d.h. als „Selbst“ i.S. der Strukturierungsaktivität in allen Wahrnehmungsprozessen bzw. Sprache demzufolge als „syntaktisches Gewebe“172. Wird Sprache in diesem allgemeinen Sinne aufgefasst, dann kann man auch mit Herms insofern von der „Sprache der Bilder“ sprechen, als die durch Bilder hervorgebrachten Bewusstseinsvorgänge – seien sie künstlerischer oder innerer Natur – im Kontext des „Gewebes“ unseres Bewusstseins stehen.173 „Das christliche Zeugnis schließt also notwendig die Sprache aller artistischen Gebilde und das Bild aller Worte ein, in denen Glaubende ihr individuelles Wahrheitsbewußtsein intersubjektiv artikulieren.“174 Wird Kirche als „Kirche des Wortes“ verstanden, dann bezieht sich das Wortverständnis jedoch nicht auf das verbale Medium, sondern vielmehr darauf, dass die Existenz dieser Kirche vom „Wort Gottes“ ausgeht.175 In diesem Verständnis meint „Wort“ in einem allgemeinen Sinne, dass sich die Kirche der „Offenbarung“ verdankt. Dabei geht es also nicht vordergründig um das Medium des Redens, sondern darum, dass das Wort Fleisch ward. Zwar ordnet Herms semiotisch das Bild der sprachlichen Funktion des Zeichens unter, aber grundsätzlich geht es ihm um das „Medium“ der Offenbarung als solcher. Dabei ist das eigentliche Medium des Glaubens die personale Mitte des Menschen, wie Herms für das szenische Erleben hervorhebt: „[D]ie Form allen Erlebens ist, daß wir selber uns mit unserem szenischen Erleben gegenwärtig sind als wir selber.“176 Die im Bewusstsein 169 Vgl. ZINK, Bildhermeneutik, 443. Hans-Eckehard Bahr betont beispielsweise, dass die geistige Gegenwart Christi an seine Bezeugung in Wort und Sakrament, das wiederum sprachbezogen ist, gebunden sei. Musik und Bild sowie andere künstlerische Ausdrucksformen stellen nur das Antwortgeschehen auf das Wort dar. 170 Vgl. aaO, 451. 171 VOLP, Art. Bilder VII., passim. 172 Vgl. HERMS, Sprache der Bilder, 250. 173 Vgl. ZINK, Bildhermeneutik, 456. 174 HERMS, aaO, 257. 175 Vgl. ZINK, aaO, 461. 176 HERMS, aaO, 247.
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präsente Lebenswirklichkeit stellt immer etwas Geschichtliches dar, wobei es zugleich von Erinnerung und Erwartung bestimmt ist. Aus diesem Grund vollzieht sich jeder Akt des Bewusstseins im Modus der „szenischen Erinnerung“, so dass selbst das bildnerische Kunstwerk oder Sprache im allgemeinen in einem abgeleiteten Sinne Medien sind. Obwohl Herms in mancher Hinsicht semiotisch argumentiert, versteht er das Kunstwerk nicht lediglich als Zeichen oder Mitteilung von etwas, sondern fragt nach der hermeneutischen Relevanz des Bildes: Denn der hermeneutische Prozess des Gläubigen, der sich auch in der Begegnung mit einem Kunstwerk vollziehen kann, ist zentral für die Bestimmung der Gegenwart Christi im Leben der Kirche. Was die Tradition mit dem „Christusgeschehen“ zusammenfasst, ereignet sich in der lebendigen personalen Erfahrung, die immer in pluraler Gestalt begegnet.177 Somit besteht das Kriterium der „Worthaftigkeit“ des christlichen Bildes nicht im Bezug auf konkrete biblische Inhalte allein, sondern vielmehr in der Beziehung auf die menschliche und göttliche Person Jesu Christi durch das jeweilige Medium des Bildes, das darin zur Anrede wird.178 Theologisch hat diesen inneren Zusammenhang von Reden und Sehen auch Hamann reflektiert. Denn diese Beziehung sagt etwas aus über das Verhältnis von Gott und Mensch: „Rede, daß ich von dir gesehen werde. Der Lesende erfährt sich als Gelesenen bzw. der Hörende weiß, daß er gesehen wird. Von Gott, dem Autor, aus könnte es heißen: Höre, daß ich dich sehe bzw. lies, daß ich in dir lese.“179 Dabei ist allerdings das Verständnis von Sehen bzw. von Sichtbarkeit ein tieferes als das bloße Voraugenhaben des sinnlich Gegebenen: Mit der Formel ‚Rede, daß ich dich sehe’, behauptet Hamann, „daß zum wahren Sehen das Hören gehört, d.h. Verstehen von Sinncharakteren, eben die Worthaftigkeit des Sichtbaren. Das gilt umso mehr, wo das zu Vernehmende nichts gegenständlich Gegebenes, sondern Geist ist – eben im Gottesverhältnis.“180
177 Vgl. ZINK, Bildhermeneutik, 461f. 178 Vgl. aaO, 461ff. 179 RINGLEBEN, J., „Rede, daß ich dich sehe.“. Betrachtungen zu Hamanns theologischem Sprachdenken, in: NZSTh 30 (1988), 209-224, 214. 180 AaO, 215. Vgl. Hamanns Aesthetica in nuce (HAMANN, Aesthetica in nuce, 195-217, wo er zu den Bildworten bemerkt: „In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit.“ (197). Hamann zufolge vermag die Poesie „den natürlichen Gebrauch der Sinne von dem unnatürlichen Gebrauch der Abstractionen zu läutern“ (207), indem sie in Bildern spricht, in welchen „der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit“ für die Sinne und Leidenschaften bewahrt ist, denn diese „reden und verstehen nichts als Bilder“ (197).
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So wird gerade in den Vollzügen des Glaubens deutlich, wie sehr Hören und Sehen aufeinander angewiesen sind. „‚Hören’ beim Lesen heißt dann die Wahrnehmung seines Redens im Gelesenen, der Schrift, und ‚Sehen’ die Wahrnehmung des Redenden selbst in ‚seiner’ Schrift. Aber auch für den Lesenden möchte gelten, daß er erst da ganz dabei ist, wo er nicht nur ‚hört’, sondern auch selber ‚sieht’.“181 Nach Biser gibt es zwei weitere Möglichkeiten, das nähere Verhältnis von Bild und Wort zu bestimmen: einerseits können Bild und Wort kombiniert werden, wie es beim „Wortbild“ oder in der „Bildsprache“ geschieht. Andererseits aber wurde immer wieder in der christlichen Tradition die Gefährdung des Wortes durch das Bild zu einseitig betont.182 Jedoch – so Biser – können die Bilder das Denken über die Sprache nur deshalb beeinflussen, weil es einen elementaren Konnex zwischen Bild und Wort gibt, dass nämlich „mit jedem substantiell gesprochenen Wort eine zeichenhafte Selbstanzeige verbunden ist“. Jedes Wort hat ebensoviel zu „zeigen“ wie zu „sagen“. „Und darin gründet die Möglichkeit, Wort und Bild zu Bildworten und Sprachbildern zu verknüpfen.“183 Es ist auch Dalferth zufolge zwischen begrifflichem und nichtbegrifflichem Denken zu unterscheiden, wobei dem bildlichen Denken ein weiterer Begriff des Denkens zu Grunde liegt. Zum Denken im weiteren Sinn ist alles Operieren mit Zeichen (Vorstellungen, Bildern, Wörtern, Metaphern, Begriffen, Symbolen usw.) zu zählen, das sich potentiell auf den Gebrauch von Zeichen beziehen kann. Denken im engeren Sinn dagegen ist durch eine striktere Regulierung des Zeichengebrauchs auf begriffliches Denken einzugrenzen und von anderen Zeichenoperationen wie ‚wahrnehmen’ (percipere) ‚vorstellen’ (repraesentare), ‚etwas kennen’ (noscere), ‚sprechen’ (dicere) usw. zu unterscheiden. Begriffliches Denken, d.h. diskursives und schließendes Den181 RINGLEBEN, Rede, daß ich dich sehe, 216. Vgl. v.a. Apg 4,20, wo es heißt: „Wir können's ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben“ oder 1Joh 1,1-3: „Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unsern Augen, was wir betrachtet haben und unsre Hände betastet haben, vom Wort des Lebens - und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist -, was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir auch euch, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt; und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. Und das schreiben wir, damit unsere Freude vollkommen sei.“ 182 Vgl. BISER, E., Bild und Wort. Eine Gedankenskizze, in: OrthFor 1 (1987), 261-267, 263. Bis hin zu Wittgensteins Lehrsatz von der „Sprachverführung des Denkens“ durch die Bilder und Bildvergleiche. 183 AaO, 264.
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ken, ist nicht nur den Regeln des Zeichengebrauchs generell untergeordnet, sondern unterliegt der im Vergleich dazu strengeren Bedingung des zu vermeidenden Widerspruchs. „Doch nicht alles Denken ist begriffliches Denken. Neben den Formen begrifflichen Denkens in Begriff, Urteil und Schluss, zu denen Kant ‚erkennen’ (cognoscere), ‚verstehen’ (intelligere), ‚einsehen’ (perspicere) und ‚begreifen’ (comprehendere) rechnet, gibt es auch vielfache Formen nicht-begrifflichen Denkens in Bild, Metapher und Erzählung. Diese verdienen nicht weniger die Bezeichnung ‚Denken’, auch wenn sie nach anderen Regeln vollzogen werden als begriffliches Denken. Während sich begriffliches Denken in der Sinneinheit des Satzes und der logischen Verknüpfungen von Sätzen zur Darstellung bringt, kommt nichtbegriffliches Denken in der Sinneinheit von Texten zur Darstellung, deren komplexere Strukturen vielschichtigere Denkprozesse und dichtere Denkstile auszudrücken und darzustellen erlauben.“184 Eine spezifische Form des nichtbegrifflichen Denkens stellt das bildliche Denken bzw. Denken in Bildern dar, das insbesondere für Ästhetik und Theologie Relevanz besitzt und sich auch in poetischen Texten zur Darstellung bringen kann bzw. auf diese Weise angeeignet wird. Es ist also im Rezeptionsvollzug gerade nicht nur auf ein begriffliches Denken und seine subjektiven Strukturbedingungen zu rekurrieren, sondern es müssen die anderen spezifischen Regeln des nichtbegrifflichen Denkens beachtet werden und der Lebensvollzug jedes Denkvollzugs in den Blick kommen.185 Für das Bildverständnis und das Verhältnis von Wort und Bild ist jedoch festzuhalten, dass eine reine Selbstreferenz des Bildes unmöglich ist, das Bild demnach aufgrund seines Eingebundenseins in die Kultur immer schon Anteil an anderen Manifestationen des Geistes hat und sich direkt oder indirekt auf diese bezieht. So wie in jedem Bildverständnis auch immer Referentialität mitschwingt oder von der „Poesie“ bzw. „Sprache“ der Bilder gesprochen wird, so besitzt auch Sprache, insbesondere die Metapher, eine genuine „Bildlichkeit“. Die Rede von der „bildlichen Sprache“ ist der Tatsache geschuldet, dass die Erfahrung unserer Sinne die Voraussetzung für alle Sprache darstellt. Insbesondere in einer theologischen Ästhetik ist 184 DALFERTH, I. U., Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003, 31f, hier bes. 32. 185 Vgl. DALFERTH, Wirklichkeit, 32. Vgl. Zum Denken in Bilder, Vorstellungen, Metaphern und Sprachbildern auch DALFERTH, I. U., Mit Bildern leben. Theologische und religionsphilosophische Perspektiven, in: GRAEVENITZ, G. VON u.a. (Hgg.), Die Unvermeidlichkeit der Bilder (Literatur und Anthropologie Bd. 7), Tübingen 2001, 77-102.
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man aufgrund der Bildlichkeit und dem Metaphernreichtum der Bibel sowie der Bedeutung der bildenden Kunst für das Christentum dazu geneigt, die religiöse Sprache als „bildlich“ zu bezeichnen. Allerdings ist bei aller Bildlichkeit der Sprache auch wiederum auf den spezifischen Unterschied zwischen Sehen und Lesen zu verweisen: Lesen ruft zwar innere Vorstellungen u. damit „Bilder“ hervor, sie stehen dem Leser aber nur im Sinn, vor Augen steht dagegen ein abstraktes Zeichen: Lesen und Sprechen sind grundsätzlich referentiell strukturiert, so dass Lesen eine auf semiotische Funktionen reduzierte anästhetische Form der Wahrnehmung darstellt.186 Die Metapher ist als besondere Form der Bildsprache zu verstehen, die insbesondere für theologische Betrachtungen relevant ist.187 Hierbei sind die Funktionen von Metapher und Bild zu vergleichen, die darin übereinkommen, beide Sinn zu stiften oder aufzufinden. Allerdings ist gewissermaßen ihre Arbeits- und Wirkweise eine andere. Bei der Metapher wirkt nicht das Bildhafte, sondern gewissermaßen die jeweilige (sprachlich-begriffliche) Interpretation. Hier begegnet also immer schon die genuine Verbindung von Sprache und Bild i.U. zur bildhaften Präsenz des Bildes. Das Bild zeigt also, die Metapher dagegen weckt Assoziationen und innere Bilder.188 Ebenso wie das Bild verändert aber die Metapher auch die Signifikanz von etwas insofern, als Sinn „erfunden“ wird.189 Im Unterschied zum Bild beinhaltet die Metapher eine logische Struktur, wobei aber auch die Metapher in der Sprache ihre Deutungsoffenheit bewahren kann. Es ist darum wesentlich, die jeweilige Wirkweise von Metapher und Bild zu unterscheiden, denn Sprache und Bild lassen sich nicht vollständig ineinander übertragen. Gemeinsam ist ihnen allerdings ihre spezifische Verständnisweise des Seins und ihrer „Anderssicht“ auf die
186 Vgl. ZINK, Bildhermeneutik, 78. 187 Vgl. dazu auch GRÖZINGER, Sprache und Bild. Auf dem Weg zu einer elementartheologischen Hermeneutik, in: ZILLESSEN, D. u.a. (Hgg.), Praktisch-theologische Hermeneutik. Ansätze – Anregungen – Aufgaben, Rheinbach-Merzbach 1991, 45-57, 54-57. 188 Vgl. ZINK, Bildhermeneutik, 190ff. Dabei ist die Metapher nach Ricoeur immer als impliziter Vergleich zu verstehen: „Der Vergleich sagt ‚dieses ist wie das’; die Metapher sagt: ‚dieses ist das’.“ „[J]ede Metapher ist insofern ein impliziter Vergleich, als der Vergleich eine entfaltete Metapher ist.“ (RICOEUR, P., Die lebendige Metapher [Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt Bd. 12], München 21991, 33f). 189 Vgl. ZINK, aaO, 195.
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Wirklichkeit. Die Darstellung dieser Beziehung zur Wirklichkeit begegnet dann sprachlich als Metapher oder eben im Bild.190 Untersucht man Sprache und Bild in bezug auf ihren wissenschaftstheoretischen Umgang mit der Wahrheitsfrage, so ist mit Zink festzuhalten: „In der Wahrheitsfrage besitzen Bild und Sprache verschiedene epistemologische Funktionen. Während das Bild eine Präsenz setzt, ist es eine vorzügliche Funktion der Sprache, ins Bewusstsein zu rufen, was nicht sinnlich gegenwärtig ist. Darum ist es eine sprachliche Funktion, die Bilder in einen ‚Dialog’ zueinander zu bringen und darüber zu urteilen, inwiefern sie ‚wahr’ sind. Die Bilder indes geben der Sprache Rederecht und lassen sie nach Wahrheit fragen. Die Essentialität des Bildes entspricht dem bildhaften Übergang vom Sein in die Erscheinung und ist daher, der Boehmschen Kategorie der ‚Potentialität’ zugeordnet, eine potentielle Wahrheit.“191 Der Zusammenhang von Sprache und Bild führt uns weiter zu einer Thematik, in der sich die hermeneutisch-ästhetische Fragestellung innerhalb der Theologie in besonderer Weise verdichtet: die Thematik der Fiktionalität. 2.5 Fiktionalität Ein wichtiges Moment in Religion und Kunst sind ihre fiktionalen Ausdrucksgestalten. Sowohl Religion als auch Kunst versuchen auf ähnliche Weise, Wirklichkeit auszusagen. Ihre Sprache ist nicht eindeutig und direkt, sondern mehrdeutig und metaphorisch. Wirklichkeit wird nicht erklärt, beschrieben oder ausgesagt, sondern sie wird erzählt, in Szene gesetzt. Darin besteht die Fiktionalität religiöser und ästhetischer Sprache. Der Begriff „Fiktionalität“ kommt ursprünglich aus der Literaturwissenschaft und bezeichnet die Eigenschaft eines Textes, der eine Wirklichkeit (einen Gegenstand, eine Situation, einen Erzählzusam190 Vgl. aaO, 197ff. G. Boehm zufolge sind „(s)tarke Bilder [...] solche, die Stoffwechsel mit der Wirklichkeit betreiben. Sie bilden nicht ab, sie setzen aber auch nicht nur dagegen, sondern bringen eine dichte, ‚nicht unterscheidbare’ Einheit zustande.“ (BOEHM, G., Zuwachs an Sein. Hermeneutische Reflexion und bildende Kunst, in: GADAMER, H.-G., Die Moderne und die Grenze der Vergegenständlichung, hg. v. B. Klüser, München 1996, 93-125, 106). Vgl. ebenso BOEHM, G.: Die Wiederkehr der Bilder, in: DERS. (Hg.), Was ist ein Bild, 11-38, hier bes. 26ff: „Die Bildhaftigkeit, die uns die Metapher darbietet, läßt sich, Einzelbeobachtungen zusammenfassend, als ein Phänomen des Kontrastes kennzeichen. [...] Das eigentliche ‚Wunder’ der Metapher ist die Fruchtbarkeit des gesetzten Kontrastes. Er fügt sich zu etwas Überschaubarem, Simultanem, etwas, das wir ein Bild nennen.“ (aaO, 29). 191 ZINK, Bildhermeneutik, 205.
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menhang) beschreibt, die nicht real existiert bzw. unserer Erfahrung nicht zugänglich ist. So kann ein fiktionaler Text eine frei erfundene Geschichte erzählen oder auch eine Geschichte, die zwar historisch nachgewiesene Eckdaten besitzt, aber nur dann erzählt werden kann, wenn ihre „Lücken“ narrativ ausgestaltet werden. Fiktionale Texte entstehen nicht in der Absicht der Vortäuschung falscher Tatsachen, sondern in der Absicht, dem Leser etwas zu Bewusstsein zu bringen, das ihm nicht mit Hilfe wissenschaftlicher Sprache oder Alltagssprache zu Bewusstsein gebracht werden kann. So sind etwa auch Metaphern fiktionaler Natur, weil sie Wirklichkeit nicht direkt, sondern im übertragenen Sinne aussagen. Die adäquate Begegnung mit fiktionalen Ausdrucksgestalten setzt nach Eco ein grundlegendes hermeneutisches Einverständnis mit ihrem Inhalt voraus. Eco spricht hier sogar von einem „Fiktionsvertrag“: „Die Grundregel jeder Auseinandersetzung mit einem erzählenden Werk ist, daß der Leser stillschweigend einen Fiktionsvertrag mit dem Autor schließen muß, der das beinhaltet, was Coleridge ‚the willing suspension of disbelief’, die willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit nannte. Der Leser muß wissen, daß das, was ihm erzählt wird, eine ausgedachte Geschichte ist, ohne darum zu meinen, daß der Autor ihm Lügen erzählt. Wie John Searle es ausgedrückt hat, der Autor tut einfach so, als ob er die Wahrheit sagt, und wir akzeptieren den Fiktionsvertrag und tun so, als wäre das, was der Autor erzählt, wirklich geschehen.“192 Diese literaturwissenschaftliche Bestimmung lässt sich nicht nur ebenso auf Werke der Bildenden Kunst und der Musik, sondern auch auf Werke der Religion und des Glaubens anwenden.193 Den Begriff der „Fiktionalität“ hat sich aber auch die philosophische Ästhetik zu eigen gemacht, um einer Frage Ausdruck zu verleihen, die schon seit Nietzsche die ästhetische Diskussion beherrscht: ob nicht unsere Erkenntnis selbst fiktional verfasst ist bzw. ob nicht alles, was wir als Wirklichkeit empfinden, eigentlich Fiktion ist.194 Welsch 192 ECO, U., Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur, München/ Wien 1994, 103. 193 Insofern ist es irreführend, wenn ein Prediger seinen Hörern historisch-kritische Einsichten über den Text mitteilt, da er ihnen damit die Möglichkeit abschneidet, sich in den Text hinein zu begeben und sich dort unterzubringen. Er kündigt den Fiktionsvertrag mit dem biblischen Autor. 194 Vgl. NIETZSCHE, FR., „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“, in: DERS., Werke in 3 Bden Bd. III, hg. v. K. Schlechta, Darmstadt 1997, 309-322: „Man darf hier den Menschen wohl bewundern als ein gewaltiges Baugenie, dem auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fließendem Wasser das Aufthürmen eines unendlich komplizierten Begriffsdomes gelingt – freilich, um auf solchen Fundamenten Halt zu finden, muss es ein Bau wie aus Spinnefäden sein, so zart, um von
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versucht nachzuweisen, dass auch die Naturwissenschaft sich ästhetischer Erkenntnismittel bedient, zu denen nicht zuletzt die Fiktion gehört.195 Nietzsche zufolge ist der Erkenntnisvorgang als ein metaphorischer zu verstehen. Darum gebraucht er das Bild vom Künstler, der nur mit fiktionalen Mitteln arbeiten kann, um es auf den denkenden Menschen im allgemeinen zu übertragen, der für ihn ein animal fingens ist.196 Mit diesen Überlegungen wird aus dem kantischen Prinzip, nach welchem sich die uns erscheinende Wirklichkeit nach unserem Erkenntnisvermögen richtet, die letzte ästhetische Konsequenz gezogen.197 Wenn aber Fiktionalität zur Erkenntnis selbst gehört, dann ist es vollkommen abwegig, Fiktionalität per se mit Unwahrhaftigkeit, Täuschung oder Verblendung in Verbindung zu bringen. Allerdings tut sich hier ein gefährlicher Abgrund auf, wenn mit dem Diktum der Fiktionalität aller Wirklichkeit – wie es Nietzsche vertrat – letztlich die Frage nach der Wahrheit obsolet geworden ist. Wenn Wahrheit nur ein „bewegliches Heer von Metaphern“198 ist, dann wird der die Metaphern setzende Mensch zum Maß aller Dinge. Die Suspension der Wahrheitsfrage, die Nietzsche als Befreiung von einer die Menschlichkeit des Menschen behindernden Fessel begrüßte, wird aus theologischer Sicht zur verstärkten Entfesselung einer den Menschen letztlich zugrunde richtenden Macht: der Macht der Sünde. Deshalb kann auch die Theologie nicht auf den Begriff der Fiktionalität von Wirklichkeit verzichten. Der Mensch ist nach Luther zwar durchaus „animal rationale“, aber er hat gleichzeitig ein „cor fingens“, mit dem er phantasiert und sich in Utopien verstrickt. 199 Vor allem das Bild, das er von sich selbst hat, ist im höchsten Maße fingiert. Indem der Mensch sich selbst nach seinem eigenen Ideal entwirft, bedient er sich des Mittels der Fiktion. Aber an dieser Stelle beginnt er auch, dieses Mittel für seine Zwecke zu missbrauchen. Die Fiktion als ein an sich
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der Welle mit fortgetragen, so fest, um nicht von jedem Winde auseinandergeblasen zu werden.“ (aaO, 315). Vgl. WELSCH, Vernunft, 495ff u. 505ff. Vgl. auch WELSCH, Grenzgänge, 47. Vgl. aaO, 46f. „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind [...].“ (NIETZSCHE, Über Wahrheit und Lüge, 314). Vgl. LUTHER, M., Vorlesungen über 1. Mose (1535-45), WA 42, 348, 37-42; Vgl. auch BAYER, O., Umstrittene Freiheit. Theologisch-philosophische Kontroversen, Tübingen 1981, 142f.
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neutrales künstlerisches und erkenntnisleitendes Mittel wird ambivalent. Mit dem Verzicht auf die Wahrheitsfrage ist dann aber auch jede Fiktion erlaubt, auch die ethische Fiktion der Neubestimmung dessen, was gut und böse ist. Insofern muss die Theologie, indem sie an der Wahrheitsfrage festhält, die philosophische These von der Fiktionalität aller Wirklichkeit bzw. ein Verständnis von Wahrheit als ästhetischer Kategorie in Frage stellen200, gerade wenn die Theologie davon ausgeht, dass der Mensch ständig der Gefahr ausgesetzt ist, Wirklichkeit und Wahrheit zu fingieren. Gegen ein negatives Verständnis von Fiktionalität wollen wir an ihrem literarischen Sinn festhalten, nach dem sich Fiktionalität nicht auf ein Seins-, sondern auf ein Mitteilungsverhältnis bezieht. Danach ist die Fiktion nicht die Setzung von Wirklichkeit, sondern sie will etwas über die Wirklichkeit vermitteln. Nach W. Iser ist Fiktionalität im Akt des Lesens ein Ereignis der Wahrheit. W. Iser knüpft also wieder am Wahrheitsverständnis an. Denn für den Leser entfaltet sich Wirklichkeit neu, wenn er sich in Fiktion hineinbegibt. Als Mitteilungsstruktur vermittelt die Fiktion somit die neu erschlossene Wirklichkeit mit dem Subjekt.201 Ganz in diesem Sinne soll auch beim Lesen der Heiligen Schrift die Fiktionalität ihrer Texte auf ihre existenz- und damit wirklichkeitserschließende Kraft hin verstanden werden.202 Denn für die göttliche Offenbarung gilt, dass sie niemals unmittelbare Offenbarung, sondern immer sinnlich vermittelt ist. Gottes Geschichte mit den Menschen ist immer in Geschichten vermittelt. Fiktionalität ist also immer Bestandteil göttlicher Anrede, weil diese Anrede Gottes Wirklichkeit vermittelt. Gerade die Fiktionalität der religiösen Erfahrung und der Glaubenserfahrung ermöglicht die Begegnung mit einer Wirklichkeit, die der Erfahrung nicht unmittelbar zugänglich ist. Um uns anzureden, bedient sich Gott unseres Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Erkenntnisvermögens im freien Spiel. Darin erscheint Gottes Freiheit in seinem Wirken. Manche Theologen mögen sich an der Freiheit der Kunst im Umgang mit der Heiligen Schrift reiben, gerade dann, wenn sie Fiktionen schafft, die von der Bibel nicht vorgegeben sind. Dabei sollten sie jedoch nicht vergessen, dass die Fiktionalität – ebenso wie die Metaphorik und die Poetik – ein wichtiges und unverzichtbares Moment der Bibel selbst ist. Wer dies vergisst, gerät leicht in einen Biblizismus, der auch eine Spielart des neuzeitlichen Rationalis-
200 So nämlich WELSCH, Grenzgänge der Ästhetik, aaO, 45. 201 Vgl. ISER, W., Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 1993. Vgl. auch KÖRTNER, Der inspirierte Leser, 172ff. 202 Vgl. KÖRTNER, Theologie, 372f.
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mus ist. Darum ist mit der Menschlichkeit der Sprachformen des Glaubens als Ausdrucksgestalten ernst zu machen, die wiederum auch auf menschliche Weise rezipiert werden. So ist die Bibel als menschliches Wort zu verstehen, in welchem Gott zur Sprache kommt. Insofern können auch die Rezeptionsästhetik und das aktive, schöpferische Autorsein des Menschen zu ihrem Recht gebracht werden. So sehr sich allerdings Gottes Wort fiktionaler Zusammenhänge bedient, so wenig ist es jedoch selbst als fiktional aufzufassen. Denn die göttliche promissio ist kein Wirklichkeit bezeichnendes oder vermittelndes, sondern Wirklichkeit setzendes, schöpferisches Heil stiftendes Wort. Es ist somit ein Wort, das unser menschliches Rezipieren, unser Empfangen und Aneignen, aber auch die Fiktionalität unserer Selbstwahrnehmung verändert. Ist das menschliche Rezeptionsvermögen verändert, dann wird Gott nicht mehr als Ursache oder als Erklärungsmuster der Welt gesehen, sondern er wird als Autor und Poet (deus poeta)203 des je eigenen Lebens verstanden und wahrgenommen. Der Mensch wiederum ist aufgrund der Anrede Gottes fähig, poetisch zu sein. Verselbständigt sich des Menschen Poet-Sein, wird er zum „Macher“ und „Hersteller“ seines Lebens, zum „homo poeta“ (Nietzsche)204 sowie zum „homo faber“ (Frisch)205, der sich selbst und seine Wirklichkeit mit Hilfe der Vernunft entwerfen muss und letztlich daran scheitert. Somit kann durch das Moment der Fiktionalität die Vernunft in ihre Grenzen verwiesen werden, ohne dass sich Fiktionalität von der Vernunft des Menschen zu lösen braucht: „Rationalität und Fiktionalität durchdringen sich. So sehr die Vernunft in weltlichen Bezügen als Vermögen der Aufklärung wirkt, so blind ist sie in der Wahrnehmung
203 Vgl. BAYER, Poetologische Theologie? Zu einer Poesie des Versprechens, in: KÖRTNER U. H., (Hg.), Poetologische Theologie. Zur ästhetischen Theorie christlicher Sprach- und Lebensformen. Ein Werkstattbericht (Interdisziplinäre Forschung und fächerverbindender Unterricht Bd. 2), Ludwigsfelde 1999, 21-46, 23: „Gott tut, was er sagt, und sagt, was er tut; [...] Um diese Sprachlichkeit der Allmacht Gottes, seines Schöpfertums, ausdrücklich zu bezeichnen, ist der Gottestitel des ‚Poeten’ angemessen, den das nizäno-konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis gebraucht (‚Ich glaube an Gott, [...] den Poeten`’: BSLK 26, 25). [...] Gott redet und handelt als ‚Schriftsteller’, als ‚Autor’. ‚Autor’ und ‚Poet’ ist Gott in bestimmter Weise: als Herr und Hort des verläßlichen Wortes.“ 204 NIETZSCHE, F., Die fröhliche Wissenschaft, in: DERS., Werke in drei Bden, hg. v. K. Schlechta, Bd. II, Darmstadt 1997, 7-274, 140 (Nr. 153); vgl. auch NIETZSCHE, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (1887), in: DERS., Werke in drei Bden, hg. v. K. Schlechta, Bd. II, 761-900, 799ff. 205 Vgl. den Roman von FRISCH, M., Homo faber, passim.
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ihrer selbst und ihres Verhältnisses zu Gott.“206 Fiktionalität vermag demnach – in einem poetischen Sinne – das Verhältnis zum Schöpfer zum Ausdruck zu bringen, insofern sie sich nicht selbst absolut setzt und den Menschen als Schöpfer divinisiert. Sie führt dann zur Befreiung des Menschen von seinen eigenen Selbst-Fiktionen. 3. Deuten oder Verstehen Die Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und dem Menschen erscheinender Wirklichkeit, wie sie im vorigen Kapitel zur Sprache gekommen ist, führt uns in ein weiteres Problemfeld, das sich im Laufe dieser Untersuchung aufgetan hat: Religiöse und ästhetische Erfahrung, aber auch Glaubenserfahrung sind Erfahrungsformen, die sich auf situativ gebundene Wahrnehmungen und Erfahrungen beziehen. Folgt man Gräb, Korsch und Barth, so besteht ihr Spezifikum darin, dass sie die vielfältigen Erfahrungen in einen kohärenten Sinnzusammenhang bringen. Dieser Vorgang wird mit dem Begriff der Deutung bezeichnet. Religion wird grundsätzlich verstanden als „Selbstdeutung endlicher Freiheitserfahrung“207. Die Grundlage dieses Deutungsgeschehens ist die leibhaft gebundene Reflexionssubjektivität. Ein wichtiges und sehr hilfreiches Beispiel für die Deutekraft der Religion ist dabei die Kasualpraxis: Menschen aus jedem sozialen Milieu und aus jeder Bildungsschicht nehmen die kirchliche Kasualpraxis in Anspruch. An wichtigen Schwellen ihres Lebens wollen sie nicht nur den Segen empfangen, sondern sie wollen auch eine Rekonstruktion ihrer bisherigen Lebensgeschichte in religiöser Hinsicht, d.h. in bezug auf Gottes Wirken in ihrem Leben, erfahren. Diese Rekonstruktion des Vergangenen gibt Sicherheit und Vertrauen für die Zukunft. Die kohärente Deutung der eigenen oder gemeinsamen Lebensgeschichte mit allen Höhen und Tiefen gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Die Religion bietet dafür eine Fülle von Möglichkeiten. Gerade in einer Zeit, in welcher das Leben des Einzelnen immer mehr von wirtschaftlichen und technischen Prozessen bestimmt wird, bekommt die religiöse Dimension wieder wachsende Bedeutung. Im Unterschied zu Gräb, Korsch und Barth soll hier jedoch davon ausgegangen werden, dass der christliche Glaube grundsätzlich nicht unter dem Begriff Religion subsumiert werden sollte. Anhand der Kasualpraxis lässt sich zwar wiederum zeigen, dass der Glaube nicht ohne Religion auskommt. Die Kasualpraxis entspricht in der Regel einem
206 LÜPKE, Anthropologische Einfälle, 264. 207 GRÄB, Kunst und Religion, 65.
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religiösen Grundbedürfnis, indem hier die Lebensdeutung und der Segen im Mittelpunkt stehen. Ob die Menschen, welche die Kasualpraxis in Anspruch nehmen, aber im christlichen Sinne glauben oder im unbestimmten Sinne religiös sind, das spielt für die Stimmigkeit dieser Praxis eine untergeordnete Rolle. Sowohl die Tiefgläubigen als auch die allgemein Religiösen brauchen die Kasualpaxis. Aber mit jenen religiösen Deutevollzügen ist das Proprium des christlichen Glaubens noch lange nicht erfasst. Denn der christliche Glaube ist in seinem Kern kein deutender, sondern ein verstehender Vollzug. Demzufolge ist die Kategorie der Deutung nicht zu verabsolutieren, wie es in den genannten Entwürfen im Begriff der ‚(Lebens)deutung’ geschieht, sondern als in einen umfassenden Verstehensvollzug integriertes Geschehen zu begreifen. Dem Unterschied zwischen Deuten und Verstehen soll nun im folgenden nachgegangen werden. Eine solche Unterscheidung wird sich auch im hermeneutischen Umgang mit religiöser und ästhetischer Erfahrung als fruchtbar erweisen und so eine wichtige Grundvoraussetzung für eine hermeneutisch-theologische Ästhetik sein. Zwischen dem Vorgang der Deutung und dem Vorgang des Verstehens besteht ein hermeneutischer Unterschied. Demnach ist Deutung die Herstellung einer Sinnstruktur in bezug auf erfahrene Wirklichkeit, meist mit Hilfe von Deutungs- oder Erfahrungsmustern. Verstehen dagegen ist das Erschließen einer schon bestehenden Sinnstruktur von Wirklichkeit.208 Um also eine bereits bestehende Sinnstruktur in ihrer Bedeutsamkeit für mich zu erschließen, muss ich sie deuten. Aber auch das Verstehen geschieht nicht von selbst, es ist abhängig von Artikulationen der Erfahrung dieser Sinnstruktur. So kann ich einen fremdsprachigen Text nur dann verstehen, wenn ich die Fremdsprache gelernt habe. Oder ich kann den Text eines Autors nur dann verstehen, wenn ich auch andere Texte dieses Autors und den Autor selbst kenne. Allerdings kann ich einen Text deuten, ohne ihn im obigen Sinne zu verstehen. Verstehen bezieht sich aber nicht nur semantisch auf Artikulationen, sondern im weiteren Sinne auch auf die Sinnstruktur meiner gesamten Lebenswirklichkeit. Diesem hermeneutischen Verstehensbegriff liegt allerdings die Prämisse zugrunde, dass die Lebenswirklichkeit eine Sinnstruktur hat, die dem Menschen erschlossen werden kann. Verstehen zielt also letztlich auf Wahrheit, während Deutung Kohärenz und Stimmigkeit anstrebt. Wer auf den Begriff des Verstehens verzich208 Vgl. GADAMER, H.-G., Art. „Verstehen“, in: RGG Bd. VI, Tübingen 31962, 13811383.
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tet und nur noch von Deutung redet, der verzichtet implizit oder sogar explizit auf die Wahrheitsfrage. Verstehen ist aber nach Gadamer kein rein intellektueller Vorgang, sondern ein die ganze Existenz betreffendes Geschehen. Daher ist Verstehen in einem weiteren Sinne jener Vorgang, in welchem eine Person sich eine vorgegebene Symbolgestalt als mögliche Artikulationsform des eigenen Lebens aneignet.209 Deutung dagegen ist immer selbst Artikulation (auch mit Hilfe symbolischer Ausdrucksgestalten) durch das Subjekt, wobei das Subjekt ein vorrangig produktives oder rezeptives Verhältnis zu den Ausdrucksgestalten pflegen kann.210 Denn es findet immer eine Umformung von eigener erlebter und gelebter Erfahrung (1.P.Sg.) zu artikulierten Ausdrucksgestalten statt (1.P.Pl.).211 Dennoch ist für Gadamer innerhalb der Hermeneutik die Deutung als ein Verstehensmoment konzipiert, wobei es vorrangig um das Verstehen von Texten geht. Das Verhältnis von Verstehen und Deuten versucht Dalferth im sprachanalytischen Horizont differenzierter zu betrachten, indem er beide Vorgänge als aufeinander angewiesene denkt. Dabei geht er zunächst ebenso von einem grundlegenden Verstehensvollzug aus: „Verstehen ist ein elementarer Vorgang menschlichen Lebens, stets kreativ, aber auch von sehr verschiedener Form und Gestalt.“212 Des weiteren wird der Verstehensbegriff wirkungsgeschichtlich konzipiert: „Jedes Verstehen ist eingebettet in Verstehensprozesse, die ihm vorausgehen, und solchen, zu denen es weiterführt. [...] Verstehen setzt eine Verstehenspraxis voraus und eröffnet Anschlussmöglichkeiten für weiteres Verstehen: Insofern ist Verstehen ein permanenter Übergang von Verstehen in Weiter- und Andersverstehen.“213 Für Dalferth ist Verstehen Erschließung von Wirklichkeit in ihrer Bedeutsamkeit für uns, wobei sich das Verständnis der Wirklichkeit auch verändern kann. Erst wenn uns Wirklichkeit in einem für uns bedeutsamen Sinn erschlossen ist, können wir Situationen deuten. „’Deuten’ ist daher ein expliziterer Vorgang als ‚verstehen’, dieses ein grundsätzlicherer Vorgang als ‚deuten’. Deuten setzt, wie rudimentär auch immer, Verstehen voraus und nimmt es in Anspruch. Denn im Verstehen erfassen wir nicht einfach etwas, sondern erschließen den Sinn von etwas für uns, und erst dieses
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JUNG, Erfahrung, 341. Vgl. JUNG, Erfahrung, 325. AaO, 326f. DALFERTH, Wirklichkeit, 28. AaO, 30.
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Sinnerschließen erlaubt es uns, uns in einer Situation bewusst in bestimmter Weise zu verhalten, sie also z.B. als etwas zu deuten.“214 Wenn Dalferth die Bewusstheit und Ausdrücklichkeit des Deutens als dessen Spezifikum betont, dann stellt sich allerdings die Frage, ob dann das Verstehen etwa ein unbewusster und impliziter Vorgang ist bzw. ob es nicht auch ein unbewusstes und implizites Deuten von Situationen gibt. Des weiteren stellt sich die Frage, warum sich Verstehen auf Wirklichkeit im allgemeinen bezieht und Deuten auf Situationen im besonderen. Ist nicht zum Beispiel die Lebenswirklichkeit eines Menschen die Gesamtheit seiner Lebenssituationen? Wenn das Verstehen als Erschließung eines für das Subjekt bedeutsamen Sinnes diesem Subjekt situative Deutemuster liefert, wäre es dann nicht sinnvoller, zwischen impliziter und expliziter Deutung zu unterscheiden? Die Schwierigkeit der Unterscheidung liegt wohl vor allem darin begründet, dass der Begriff des Verstehens in der Alltagssprache nicht eindeutig verwendet wird. So kann man laut Alltagssprache einen Sachverhalt verstehen, man kann ihn aber auch richtig oder falsch verstehen. Habe ich den Sachverhalt richtig verstanden, dann habe ich ihn verstanden; habe ich ihn falsch verstanden, dann habe ich ihn nicht verstanden. Angesichts dieser alltagssprachlichen Begriffsverwirrung legt es sich nahe, das richtig oder falsch Verstehen eher als Deuten zu bezeichnen. Denn wenn ich einen Sachverhalt deute, dann stelle ich eine Sinnstruktur her. Stimmt diese Sinnstruktur mit der Sinnstruktur des Sachverhalts überein, dann habe ich ihn verstanden. Stimmt die Sinnstruktur meiner Deutung nicht mit der Sinnstruktur dieses Sachverhalts überein, dann habe ich ihn nicht verstanden. Damit ist deutlich geworden, dass die Unterscheidung von Deuten und Verstehen nur dann sinnvoll ist, wenn Verstehen streng auf Wahrheit bezogen bleibt, d.h., auf eine Sinnstruktur, die unabhängig von mir existiert. Das Deuten ist dagegen nicht auf Wahrheit, sondern auf Stimmigkeit und Kohärenz bezogen. Insofern ist es abwegig, den Begriff der Deutung auf Wahrheit zu beziehen und dementsprechend von richtiger oder falscher Deutung zu sprechen. Besser ist es, von stimmiger und nicht stimmiger Deutung zu reden. Verstehen von Wirklichkeit ist jedoch die Übereinstimmung der Sinnstruktur meiner Selbst- und Weltdeutung mit der Sinnstruktur der 214 AaO, 30f. „Daß alles, was wir verstehen, als Verstehen von etwas als etwas gedeutet werden kann, heißt nicht, daß alles Verstehen im Vollzug ausdrücklich ein Verstehen von etwas als etwas ist“. „Wir verstehen vielmehr unmittelbar, aber nicht zeichenunvermittelt, sondern im Horizont unserer jeweiligen kulturellen Symbolisierungstradition, die uns durch ihr spezifisches Zeichenrepertoire und seine Semantik (unsere Sprache) nahelegt, als was wir etwas verstehen (können).“ (31).
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Wirklichkeit. Da Verstehen aber nicht nur ein intellektuelles Geschehen ist, sondern ein existentiell umfassendes Geschehen, ist Verstehen die Übereinstimmung oder Entsprechung meiner Existenz mit der Sinnstruktur bzw. der Wahrheit der Wirklichkeit, wobei das Deuten zu den Grundvollzügen menschlicher Existenz gehört. Dabei ist jedoch vorauszusetzen, dass Wahrheit nicht im Sinne der adaequatio oder der rectitudo, sondern im Sinne der ÒÂû¿¼À¸verstanden wird. Wenn wir also am Begriff der Wahrheit als Sinnstruktur der Wirklichkeit festhalten und Wahrheit vom Geschehen der Offenbarung her verstehen, dann ist eine Kritik am ausschließlichen Gebrauch des Begriffs Deutung bei Gräb, Korsch und U. Barth geboten. Denn der Glaube ist kein reines Deutegeschehen, sondern er ist insofern ein Verstehensvollzug, als er der im Wort offenbarten Wahrheit entspricht. Dass die Übereinstimmung des Glaubenden mit der offenbarten Wahrheit ein lebenslanger und unabgeschlossener Prozess ist, darf in diesem Zusammenhang allerdings nicht unerwähnt bleiben. Weil aber der Glaube ein Geschehen ist, das in seiner Entsprechung zur Wahrheit immer auf dem Wege ist, ist er ebenso auf die Überlieferungen der Glaubensgeschichte angewiesen. Gerade darin erweist er sich aber wiederum als ein Verstehensprozess im Sinne Gadamers: „Das Verstehen ist selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln.“215 Damit betont Gadamer – wie auch in anderem Kontext Hamann – die Geschichtlichkeit des Verstehensvollzuges. Der zeitliche Abstand zwischen dem zu Verstehenden und dem Verstehenden wird als Überlieferungszusammenhang und Wirkungsgeschichte bezeichnet. Damit ermöglicht der geschichtliche Abstand das Verstehen. Es geht um die Erkenntnis des „wahren Gehalt[s]“ und der „wahre[n] Bedeutung“, die erst durch den historischen Abstand klar hervortreten.216 Denn je größer die Wirkungsgeschichte ist, desto vielfältiger sind die Möglichkeiten, sich der Wahrheit zu nähern. In der hermeneutischen Horizontverschmelzung, die sich der Unterschiedlichkeit der jeweiligen Horizonte inne ist, wird dann die Aktualisierung und damit Anwendung auf konkrete Lebenssituationen vorgenommen. Der Begriff des Verstehens wird bei Gadamer stärker verdeutlicht am Beispiel der Begegnung mit dem Kunstwerk. Der Prozess des Verstehens gestaltet sich so, dass er das verstehende Subjekt bis an den Rand des Verschwindens bringt. Dafür begegnet das zu Verstehende 215 GADAMER, Wahrheit und Methode, 295/[=274f]. 216 Vgl. JUNG, Hermeneutik, 123f.
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primär in der Gestalt von Tradition und rückt um so mehr in den Vordergrund. Für Gadamer ist eine Theorie der Erfahrung von Kunst zugleich als Theorie des Kunstwerks zu konzipieren, „weil die Erfahrung des Kunstwerks Verstehen einschließt“ und „das Verstehen der Begegnung mit dem Kunstwerk selber zu[gehört], so daß nur von der Seinsweise des Kunstwerks aus diese Zugehörigkeit aufgehellt werden kann.“217 Auslegendes Verstehen ist als Prozess gedacht, wobei sich die Auslegung auf dasjenige bezieht, was die Sprache mit uns macht. Ist bei Heidegger das Ek-sistieren auf Zukunft ausgerichtet, so bei Gadamer stärker auf die Vergangenheit, indem der Ausleger immer in ein Überlieferungsgeschehen einrückt. Gadamer möchte somit die Emphase der neuzeitlichen Subjekttheoretiker in bezug auf die Produktivität und Aktivität, Reflexivität sowie Deutungshoheit des Subjekts insofern einschränken, als er den Kontext der Tradition und der überlieferten Sprachformen hervorhebt. Die Frage ist jedoch, ob das Verstehen den jeweiligen Aktivitätscharakter des verstehenden Subjekts einbüßt, wenn Verstehen als Geschehen verstanden wird.218 Gadamers Anliegen findet sich in der Theologie Bayers wieder. Hier wie dort wird aus der Kritik am modernen Subjektivismus das Verstehen als ein auf Überlieferung angewiesenes Geschehen verstanden, so dass man von einem „autopoietischen Prozeß“ sprechen kann, der eine Sprachontologie voraussetzt.219 Was Bayer allerdings nicht mitvollzieht, ist Gadamers implizite Subjektivierung der Sprache. Ebenso wie Dilthey oder Heidegger geht es Bayer immer um die aktuelle Artikulation und den Gebrauch der Sprache in den elementaren Sprachformen. Das heißt, Sprache ist als lebendige im Austausch und in Korrelation zwischen der Erfahrung der Ersten Person des Sprechers und deren Artikulation sowie den allgemeinen sprachlichen Ausdrucksformen zu denken. Dabei spielt insbesondere die Affektivität des Wortes sowie die Situation, in der sich die göttlichen Affekte an den Menschen vermitteln, eine bedeutende Rolle. Wie oben bei Bayer gezeigt wurde, kommt allerdings dem Verstehenden – wie bei Gadamer – primär die Rolle des Hörenden zu. Das Programm einer Kontextualisierung hat also Auswirkungen auf das Verständnis von Rationalität und Subjektivität. Allerdings nicht in dem Sinne, dass die Tradition der Erschließung von Textsinn automatisch zugehörig wäre, sondern sie bleibt in individueller Aneignung auf die Tradition bezogen. Dabei kommt es insbesondere auf die Rolle der 217 GADAMER, Wahrheit und Methode, 106/[96]. 218 Vgl. zu diesem Urteil JUNG, Hermeneutik, 117. 219 Vgl. aaO, 130.
Die Relevanz der Ästhetik
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Ersten Person und des jeweiligen Sprechers der Sprachformen des Glaubens an. Diesem Problem hat sich Theologie immer wieder neu zu stellen, zumal der Einzelne schon über den biblischen Text in ein Traditionsgefüge eingebunden ist. Darum muss auch einem neuen Sprachgebrauch, der die Erfahrung der Ersten Person adäquater zum Ausdruck bringt, Raum gegeben werden, wobei auch hier niemals traditionslose Ausdrucksformen entstehen können. Insbesondere durch die Offenheit zu Kunstformen der Gegenwart wird diese prinzipielle Offenheit gewahrt.220 Dass die subjektivitätstheoretischen Entwürfe den Deutungsbegriff gegenüber dem Verstehensbegriff bevorzugen, ergibt sich aus der Sache. Denn in der Bindung an die Reflexionssubjektivität und ihre Funktionsweise der Konstruktion von Gegenständen und Inhalten ist lediglich die Grundannahme der Endlichkeit und des Sich-nicht-selbstGesetzthabens (Schleiermacher) kein Resultat des Deutungsvollzugs, sondern eine transzendentale Gegebenheit. Der hermeneutische Begriff des Verstehens dagegen hat diesen Entwürfen zufolge insofern metaphysische Implikationen, als in ihm ein inhaltliches Sich-Erschließen der Wahrheit selbst vorausgesetzt wird, was im Zuge der MetaphysikKritik Nietzsches nicht zu halten ist. Obwohl die Grenzen des Deutungsbegriffs für eine hermeneutische Theorie im oben ausgeführten Sinne aufgezeigt worden sind, soll nun jedoch hervorgehoben werden, welche Unverzichtbarkeit im Deutungsbegriff liegt. Denn das Deuten ist ein elementarer Lebensvorgang, und insofern ist Verstehen auf Deuten angewiesen. Wenn der Mensch seine Lebenswirklichkeit nicht deuten würde, könnte er sie auch nicht verstehen. Denn wenn der Mensch nicht darauf aus wäre, eine Sinnstruktur in seiner Lebenswirklichkeit zu finden, dann wäre er auch nicht darauf aus, die dieser Lebenswirklichkeit eigene Sinnstruktur zu erschließen. Wenn wir Verstehen als einen lebenslang andauernden und nie abgeschlossenen Prozess beschreiben, dann gehört das Deuten notwendig zum Verstehensprozess hinzu. Denn der Mensch entspricht nicht von sich aus der Wahrheit, sondern er ist immer auf dem Weg zu dieser Entsprechung. Erschließt sich ihm aber die Wahrheit nicht, dann bleibt er beim Deutevorgang stehen. Im Verstehensprozess verhalten sich Deuten und Verstehen allerdings zirkulär zueinander. Erschließt sich dem Menschen Wahrheit durch die Offenbarung, dann ändert sich seine Deutung und wird zum Verstehen, weil sie der Wahrheit entspricht. Wenn der Mensch der Wahrheit innewird, dass er Sünder ist, dann zerbrechen seine Selbst220 Vgl. zu Gadamer JUNG, Hermeneutik, 131f.
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deutungen und er beginnt zu verstehen. Dieses Verstehen setzt dann allerdings wieder neue Deutungen aus sich heraus. Menschen werden also immer auf Deutungen angewiesen sein, gerade weil ihre Vernunft nicht nur endlich, sondern auch nach christlichem Verständnis korrumpiert ist. Darum wird es immer wieder den Versuch des Menschen geben, sich selbst Wirklichkeit kohärent machen zu wollen, um insbesondere die Frage nach dem Sinn beantworten zu können. Jedoch führen diese Deutungsversuche ohne den Rückbezug auf das mir erschlossene Verstehen nicht zur Gewissheit, die sich nur in der Wahrheit zeigt.
Verhältnis von theologischer und ästhetischer Hermeneutik
III. Auf dem Weg zu einer theologischen Ästhetik Auf dem Weg zu einer theologischen Ästhetik
Die soeben beschriebenen Gedankengänge sollen nun in die folgenden Überlegungen zu einer theologischen Ästhetik einbezogen werden. So ist deutlich geworden, dass theologische Ästhetik nicht auf einen theologischen Wahrheitsbegriff verzichten kann. Es ist aber auch klar geworden, dass sich Wahrheit als Offenbarung nicht nur durch das Wort im eigentlichen Sinne erschließt. Die Erschließung von Wahrheit ist ein Sprachgeschehen im weiteren Sinne. Wenn wir aber von Offenbarung als Erschließungsgeschehen von Wahrheit ausgehen, dann ist die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium nötig, damit der Wahrheitsbezug nicht statisch wird. Theologische Ästhetik hat sich ferner hermeneutisch mit dem Sachverhalt auseinanderzusetzen, dass auch das Wort, auf das sich der Glaube hörend bezieht, eine Ausdrucksgestalt des Glaubens ist, eine solche jedoch, in der sich Wahrheit erschließt. Ausdrucksgestalten kommen immer von Erfahrung her. Innerhalb der Erfahrung muss jedoch zwischen ästhetischer, religiöser und Glaubenserfahrung unterschieden werden, da sich sonst begriffliche Verschiebungen ergeben und das Proprium der jeweiligen Erfahrungsformen verlorengeht. Theologische Ästhetik hat also damit ernst zu machen, dass sie vom Glauben herkommt und auf seine Vollzüge und Ausdrucksgestalten bezogen ist. Sie hat aber auch damit ernst zu machen, dass der Glaube nicht nur von Glaubenserfahrung, sondern ebenso von anderen Erfahrungsformen lebt, vor allem von ästhetischer und religiöser Erfahrung, wie er auch von Deutungen lebt, die sich jenen vielfältigen Erfahrungen verdanken.
1. Schönheit als Thema einer theologischen Ästhetik Theologische Ästhetik muss sich notwendigerweise auf das Phänomen des Schönen beziehen, da ihr diese Auseinandersetzung durch die geschichtlichen Gestalten theologischer Ästhetik vorgegeben ist. Die entscheidende Frage ist allerdings, wie der Begriff des Schönen auf den theologischen Wahrheitsbegriff bezogen wird. Diese Frage wird in den unterschiedlichen Gestalten theologischer Ästhetik sehr verschieden beantwortet.
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Schon Hamann hatte eine christologische Neubestimmung der Lehre vom Schönen vorgenommen. Von Christus her, dem menschgewordenen und leidenden Gott, findet nach Hamann eine Umwertung aller, auch der ästhetischen Werte statt. Dabei werden die klassischen ästhetischen Ideale hinterfragt und kritisch im Lichte des Kreuzestodes Jesu der Korrumpiertheit der menschlichen Existenz gegenübergestellt, was Hamann als „ästhetischen Gehorsam des Kreuzes“1 versteht. Für Hamann ist die Ästhetik darüber hinaus auch schöpfungstheologisch und eschatologisch zu konzipieren.2 In einer christlichen Ästhetik ist Gott als absoluter Schriftsteller aufzufassen, der als Autor der Welt darum auch Kunstrichter am Ende der Zeiten sein wird. Ebenso ist Christus als Schöpfungsmittler endzeitlicher „Kunstrichter“. Die wahre Schönheit und Erhabenheit liegt darum erst in der eschatologischen Überwindung des Leidens und Sterbens des auferstandenen Christus.3 Eine theologische Ästhetik hat sich daher mit Ringleben auf die Schönheit aus der verborgenen Auferstehungsherrlichkeit zu beziehen, ihre Begriffe sind dabei durch die Spuren der Passionsgeschichte geprägt. Darum steht christliche Rede von Schönheit unter dem eschatologischen Vorbehalt des Glaubens (Joh 1,14). Gerade die kantische Ästhetik hatte die Verbindung von Schönem und Wahrem in Frage gestellt, indem sie das ästhetische Urteil als Resultat des freien Spiels der Erkenntniskräfte begreift. Schönheit ist Kant zufolge eben nicht dadurch Schönheit, dass sie einen Wahrheitsbezug hat, sondern dadurch, dass wir sie als Schönheit wahrnehmen. Ob ein Gegenstand schön ist oder nicht, sagt demzufolge noch nichts darüber aus, ob in ihm Wahrheit in Erscheinung tritt. Einem solchen Verständnis zufolge ist es dann auch problematisch, von der Schönheit etwa des Leidens und Sterbens Christi zu sprechen, wenn dabei das Hässliche als dialektisches Pendant des Schönen aufgefasst wird oder unter dem Paradigma von Stimmigkeit oder Angemessenheit auch in der Darstellung des Fragmentarischen und Verletzten als ‚schön’ verstanden wird.4
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HAMANN, Zwey Scherflein, 234, 22. Vgl. HAMANN, Aesthetica in nuce, passim. Vgl. RINGLEBEN, aaO, 12. Hegel zufolge findet im Christentum eine Umwertung des Schönheitsideals statt, da die christliche Kunst Schmerz und Leid thematisiere. Damit behandelt christliche Kunst das Unschöne, Nicht-Ideale, Quälende, Verzweifelte, Hässliche, was als ein unverzichtbares Moment des Ästhetischen aufgefasst wird: „Geistige Schönheit“ hat Hegel zu Folge dialektisch das Gegenteil von Schönem, nämlich Häßliches, in sich aufgenommen, was nicht nur inhaltlich, sondern auch formal christlich bestimmt ist. Goethe und Storm haben dagegen vehement einen ästhetischen Protest gegen die
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Hält man jedoch am Verständnis der Ästhetik als Lehre vom Schönen fest, so kann es theologisch – wie sich an den Entwürfen von Jüngel und Zeindler zeigt – keinen Begriff vom Schönen geben, der nicht am Wahrheitsbezug von Kreuz und Auferstehung sein Kriterium findet. Schönheit ist Jüngel zufolge als „Vor-Schein“ das Aufscheinen von etwas Ausstehendem. So steht der ästhetische Vorgang zwischen den Zeiten einer sich gegenwärtig ankündigenden Offenbarung, die sich noch versagt, und ihrer endgültigen Ereignung. Hier liegt auch die strukturelle Analogie zum Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens. Es ist die Durchdringung von der vorläufigen Welt, deren „Gestalt“ vergeht (1 Kor 7,31), und der kommenden Welt (1 Joh 3,20).5 Der ästhetische Vorgang hat demnach die Aura des Noch-Nicht: Für den gläubigen Betrachter schließt „das Schöne ein Geheimnis ein, das erst durch ihn [den Glauben, M.R.] aufzuschließen ist. Das Schöne ist ‚versiegelt’ auf das hin, was dem Glauben – eschatologisch – er-
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christlichen Kreuzesdarstellungen geführt. Hegel sah im Schmerz eine Grenze der Kunst und die Gefahr der Verletzung des Schönheitsideals. Darum plädierte er für die Wiederkehr des klassischen Ideals, wie es in der italienischen Malerei begegnet. Der Hegelschüler Karl Rosenkranz verfasste dann eine „Ästhetik des Häßlichen“ (ROSENKRANZ, K., Ästhetik des Häßlichen, Leipzig 21996). Erst die Kunst der Moderne hat das ästhetische Prinzip ‚des Hässlichen’ auf die gesamte formale Gestaltung ausgeweitet, was ihre Autonomie unterstreicht. Hier können auch wieder christliche Themen in freier Aneignung Aufnahme finden. Es ist zu fragen, wie die Passionsdarstellungen ihrerseits die ästhetischen Maßstäbe der Kunst beeinflusst und umgeformt haben, indem sie Leiden, Schmerz, Unschönes und Dissonantes gestalteten. Wie schon in der Romantik wird gegenwärtig die neuzeitliche Erfahrung der Ausgesetztheit des Subjekts in der Kunst erneut thematisiert (Vgl. RINGLEBEN, Dornenkrone, 17f.) Des weiteren ist daran zu erinnern, dass das Kreuz – insbesondere bei Adorno – als Ausdruck des Bilderverbots gewertet wurde. Denn im Kreuz sei eine Kritik aller Bilder als Bild anzutreffen, da es als Bild wiederum nur ein Bild der Bildlosigkeit sein könne (Vgl. dazu ERNE, Vom Fundament zum Ferment, 290). Schiller: „Was wir als Schönheit hier empfunden, Wird einst als Wahrheit uns entgegengehn.“ (F. SCHILLER, Die Künstler, in: DERS., Sämtliche Werke Bd. I, 175. Vgl. dazu auch RINGLEBEN, Dornenkrone, 8: „Man kann auch sagen, daß die Wahrheit des Schönen der jähe Einstand ist (exaiphnes bei Platon) zwischen dem Leben, das es im Werk aufscheinen läßt, und der Todesverfallenheit, der es sich zu entringen sucht – Wahrheit, Leben, Tod deuten wiederum einen Bezug an zu Grundworten des christlichen Glaubens – und deren Überwindung es denen verspricht, die seinen Zauber erfahren.“ Diese eschatologische Dimension bezeichnete Ernst Bloch philosophisch als Ästhetik des Vorscheins. Vgl. BLOCH, E., Das Prinzip Hoffnung. In fünf Teilen, Kap. 1-37, in: DERS., Gesamtausgabe Bd. 5, Frankfurt a. M. 1959, 108f.
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schlossen ist.“6 Dabei ist jedoch Vorsicht geboten, die Sprache der Kunst umfassend zu eschatologisieren.7 Dem bloßen Verweischarakter des Schönen8 widersprechend versucht M. Roth in seiner fundamentaltheologischen Schönheitslehre zur Geltung zu bringen, „daß das Schöne nicht nur ein Vorschein des Wahren ist, etwas, das vergeht, wenn das Wahre zum Erscheinen kommt, sondern daß das Schöne die Erscheinung des Wahren als Wahres, d.h. Gottes gnädiges Handeln als Gottes gnädiges Handeln, bezeichnet.“9 Die Erfahrung des gnädigen Handelns Gottes, die Erfahrung seiner Liebe, ist also auch Erfahrung von Schönheit, nicht nur von Wahrheit. „Aus der Perspektive der Auferstehung Jesu erschließt sich das Kreuzesgeschehen als Geschehen der bedingungslosen Liebe und Vergebung Gottes. Die Schönheit des Kreuzesgeschehens ist seine Erschließung als Gottes Gnaden- und Liebeshandeln, schön ist die lustvolle Erfahrung der Liebe Gottes.“10 Gerade diese ästhetische Glaubenserfahrung kann dann aber auch zur gläubigen Schönheitserfahrung werden, wie sie in Paul Gerhardts Lied „Geh aus, mein Herz“ (EG 503) zur Sprache kommt, wo die irdische Schönheit zum Verweis und zum Gleichnis der himmlischen Herrlichkeit wird . Wird der Begriff der Schönheit- wie bei Zeindler im Anschluss und in Weiterführung von Karl Barths Lehre vom Schönen, die sich innerhalb seiner Lehre von Gottes Vollkommenheit der göttlichen Freiheit findet - theologisch konzipiert, dann legt sich eine am biblischen Begriff der „Herrlichkeit“ orientierte theologische Lehre vom Schönen nahe. Diese ist dann als Lehre von der Schönheit Gottes zu präzisieren, da Gott Schönheit und Herrlichkeit zukommt. Innertrinitarisch ist diese Herrlichkeit als vollkommene Liebe näherzubestimmen und entspricht Gottes Verhältnis zur Welt.11 Karl Barth beschreibt darum den Kern einer theologischen Ästhetik wie folgt: „Es liegt in der Natur der Sache, daß die eigentliche Begründung unseres Satzes, daß Gott schön ist, 6 7
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SCHUMANN, F. K., Das Schöne als Frage des christlichen Glaubens, in: DERS., Wort und Gestalt. Gesammelte Aufsätze (GIF 13), Witten/ Ruhr 1956, 258-271, 260. Ebenso gilt dies für eine theologische Vereinnahmung der Kunst. Auch in Anerkennung der Autonomie der Kunst kann es um ihre theologische Einordnung und Beurteilung gehen, da sich Theologie dem Umgang mit Kunst und Manifestationen des Ästhetischen nicht entziehen kann. Vgl. auch VOGEL, H., Der Christ und das Schöne, in: DERS., Gesammelte Werke Bd. 9, Stuttgart 1983; BUESS, E., Zu einem theologischen Begriff des Schönen, in: ThZ 7 (1951), 365-385. ROTH, Fundamentaltheologie als Schönheitslehre, 30. Ebd. „Die Herrlichkeit Gottes ist ja die Liebe Gottes.“ (BARTH, Die Kirchliche Dogmatik, Studienausgabe Bd. 9 (II/1 § 31), Zürich 1987, 727).
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weder in wenigen noch in vielen Worten über diese Schönheit, sondern nur durch diese Schönheit selbst gegeben werden kann. Gottes Wesen spricht in seiner Offenbarung selbst für seine Schönheit.“ 12 Barth bestimmt diese Schönheit Gottes näher, indem er Gott als denjenigen beschreibt, „der Wohlgefallen erregt, Begehren schafft und mit Genuß belohnt und das damit, daß er wohlgefällig, begehrenswert und genussvoll ist“13. Dabei handelt es sich aber Barth zufolge gerade nicht um einen allgemeinen philosophischen Schönheitsbegriff, „sondern die Schönheit Gottes ist die Schönheit Jesu Christi.“14 Barth führt den Begriff der Schönheit demnach als Hilfsbegriff zur Auslegung und Präzisierung von Gottes Herrlichkeit ein, um damit die Formfrage der Offenbarung zu klären.15 Eine Konzentration auf den biblisch-theologischen Begriff der Herrlichkeit führt meines Erachtens zu einer größeren Klarheit und Eindeutigkeit, da der Begriff der Schönheit sonst theologisch umgeformt und interpretiert wird, also entsprechend von der philosophischen Tradition abgegrenzt wird. Einen weiterführenden Entwurf hat der katholische Theologe Hans Urs von Balthasar auf eindrückliche Weise vorgelegt.16 Er hat vom johanneischen Begriff der Herrlichkeit ausgehend den theologischen Gegensatz von theologia crucis und theologia gloriae grundsätzlich in Frage gestellt und ihn zu überwinden versucht, indem er im johanneischen Sinne die Zusammengehörigkeit von theologia crucis und theologia gloriae betont. Ausgansgpunkt ist bei Hans Urs von Balthasar immer die göttliche Liebe. Denn gerade im Kreuz Jesu Christi offenbart sich die Gestalt der göttlichen Liebe als Herrlichkeit seiner Auferstehung. „Ist das Kreuz das radikale Ende jeder weltlichen Ästhetik, so ist gerade dieses Ende der entscheidende Aufgang der göttlichen Ästhetik“. Theologisch korrespondiert darum der göttlichen Liebe das Ästhetische, wobei für von Balthasar der Gestaltbegriff zur theologischästhetischen und zur christologischen Grundkategorie wird. Das hat
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BARTH, K., KD II/1, 741). Vgl. aaO, 734. BARTH, aaO, 750. „Dürfen und müssen wir sagen, daß Gott schön ist, dann sagen wir eben damit, wie er erleuchtet, überführt, überzeugt. Wir bezeichnen dann [...] die Form und Gestalt, in der sie [die Offenbarung] Tatsache ist und Gewalt hat.“ (BARTH, KD II/1), 733. Vgl. dazu auch ESTHER-MARIA WEDLER, Splendor caritatis. Ein ökumenisches Gespräch mit Hans Urs von Balthasar zur Theologie in der Moderne (Erfurter Theologische Studien Bd. 94), Würzburg 2009, 217. BALTHASAR, H. U. VON, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. Bd. I: Schau der Gestalt, Einsiedeln/ Trier 31988, 442).
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auch im Blick auf die Erkenntnistheorie Konsequenzen. Denn auch das Verstehen der Offenbarung Gottes ist für von Balthasar nicht zuerst eine Frage der Vernunft, sondern ein eminent ästhetisches Problem: das heißt, „wie wird die Offenbarung Gottes vom menschlichen Subjekt in der Geschichte wahrgenommen?“17 „Im lauschenden Schauen der offenbaren Gestalt geht der Blick hindurch zum Urquell der Wahrheit.“18 Theologische Rede von der Schönheit Gottes kann darum nicht von „weltlichen“ Kategorien ausgehen, sondern muss „Schönheit“ als genuin theologischen Begriff entwickeln.19 Dabei legt sich die aus der platonischen Metaphysik stammende Beziehung des Guten, Wahren und Schönen in einem grundlegenden Sinne für eine theologische Ästhetik nahe. Wird nämlich – wie bei E. Herms – die Theorie der Offenbarung, verstanden als „Nachzeichnung des Offenbarwerdens Gottes durch sich selbst in seinen Werken“, als Ästhetik entfaltet, die wiederum „als Theorie des Gesetztwerdens und Erschlossenwerdens des menschlichen Daseins durch das passionale Kontinuum des Erlebens“20 konzipiert ist, so gehören die vom Schöpfer, der in sich selbst gut ist, dem Geschaffenen gewährte Güte (vgl. Gen 1,31), das Wahre als vom Schöpfer und Versöhner zuverlässig und wahrmachend vermittelte sowie das Schöne als das, „worin das Gute erreicht wird und zu genießen ist“ in Gegenwart und verheißener Zukunft der angebrochenen Gottesherrschaft, die der heilige Geist als Macht der Liebe immer wieder neu stiftet , untrennbar zusammen.21 An diesem Entwurf ist zu sehen, wie theologische Ästhetik den Begriff der Schönheit so aufgreifen kann, dass sie die Erfahrung von Schönheit positiv als Wirken des heiligen Geistes bestimmt, der uns die Güte des Schöpfers und die Gnade des Versöhners so vermittelt, dass wir in dieses Liebes- und Gnadengeschehen hineingenommen werden und zum Wirken des Guten befähigt werden. Somit ist auch hier das Schöne als die Erscheinung des Wahren, nämlich als Gottes gnädiges Handeln als Liebeshandeln, verstanden.22
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Vgl. WEDLER, ESTHER-MARIA, Splendor caritatis, aaO,126. BALTHASAR, Vom Schauvermögen der Christen, in: DERS., Homo creatus est. Skizzen zur Theologie V, Einsiedeln 1986, 52-60, 53. Zum Begriff „Gestalt“ vgl. auch BALTHASAR, Die christliche Gestalt, in: DERS., Pneuma und Institution. Skizzen zur Theologie IV, Einsiedeln 1974, 38-60; vgl. ebenso DERS., Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Bd. I-III, Einsiedeln 1961-69 sowie DERS., Theodramatik. Bd. II. Die Personen des Spiels. Teil 1: Der Mensch in Gott, Einsiedeln 1976, 20-33). Vgl. BALTHASAR, Herrlichkeit I, 15ff. HERMS, Der Ort der Aesthetik in der Theologie, aaO, 135. Vgl. HERMS, ebd. 135. Vgl. wiederum ROTH, Fundamentaltheologie als Schönheitslehre, 30.
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2. Rezeption als Problem theologischer Ästhetik Wie schon in der Einleitung erwähnt, wird durch die theologische Ästhetik und eine theologische Poetologie23, welche die Rezeptionsästhetik24 einschließt, die hermeneutische Fragestellung erweitert. Weil das Wort Gottes in seiner Vernehmbarkeit Leibliches Wort ist, hat sein Verstehen auch eine sinnliche Wahrnehmbarkeit zur Voraussetzung. Mit „Wort Gottes“ ist diejenige Erfahrung existentiellen Angesprochenseins gemeint, die stets nur sinnlich vermittelt sein kann. Dabei bedarf die Lehre vom Wort Gottes einer theologischen Theorie ästhetischer Erfahrung. Jedoch ist – im Sinne der Theologie des Wortes Gottes – eine theologische Ästhetik in ihrer kritischen Wahrnehmungsfunktion zu sehen, da die Rede vom Wort Gottes angesichts von postmodernem Ästhetizismus und Pluralismus die Wahrheitsfrage zu stellen hat25, wie auch oben in der hermeneutischen Unterscheidung von Deuten und Verstehen herausgearbeitet werden sollte. Die folgenden Überlegungen sollen nur in indirektem Anschluss an die unter Teil A vorgestellten Entwürfe getroffen werden, nehmen jedoch die schwierige Verhältnisbestimmung von Aneignung und Zueignung von Wort, Bild und Sakrament wieder auf. Die hermeneutischen Theologieentwürfe von Fuchs und Ebeling haben schon aufgrund ihrer formgeschichtlichen Ausrichtung Ansätze einer impliziten theologischen Ästhetik geschaffen. Hier setzen auch Bayers Analysen zu den Sprach- und Lebensformen des Glaubens an. Die genannten Entwürfe bemühen sich darum, Sinnlichkeit und Worthaftigkeit ergänzend zu verstehen und sie nicht gegeneinander auszuspielen.26 Die Frage nach der Sinnlichkeit der göttlichen Anrede setzt allerdings auch die Frage nach ihrer Rezeption aus sich heraus. Diese Frage wird von Bayer aus theologischen Gründen ausgeklammert, da sich die Rezeptionsästhetik auf die Semiotik bezieht. Der Wirklichkeit und Wirksamkeit des Leiblichen Wortes als Evangelium und Sakrament kann jedoch eine bloße Zeichenlehre keinesfalls gerecht werden. Daraus folgt, dass theologische Hermeneutik die semiotische Rezeptionsäs23
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Vgl. KÖRTNER (Hg.), Poetologische Theologie, passim; Vgl. insbesondere KÖRTNER, Formgeschichte und Rezeptionsästhetik. Zur Bedeutung der literarischen für die biblische Hermeneutik, in: DERS., Der inspirierte Leser, 114-136. Vgl. auch SCHIERZ, K. U./ OPITZ S. (Hgg.), Unaussprechlich schön (Katalog), passim. Vgl. auch WARNING, R. (Hg.), Rezeptionsästhetik, passim. Vgl. KÖRTNER, Theologie, 247. Vgl. DERS., Zur Einführung: Hermeneutik und Ästhetik, 2. Vgl. auch KÖRTNER, Theologie, 9f.
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thetik nicht unkritisch „importieren“ darf. In der Aufnahme rezeptionsästhetischer Einsichten – wie sie beispielsweise auch bei Körtner vorliegen – muss es daher um eine genaue Zuordnung von reproduktivem und produktivem Verstehen gehen. Hierbei ist die hohe Bedeutung der Symbole zu beachten. Denn es gibt keine reine, innere Erfahrung, sondern Erfahrung ist immer als in symbolische Form gebrachte artikulierte Erfahrung zu verstehen bzw. wird durch symbolische Formen vermittelt und auch produktiv angeeignet.27 Die Bedeutung des Rezipienten beim Vorgang des Hörens kann am Beispiel der Predigt herausgearbeitet werden. Nach neueren homiletischen Entwürfen soll die Predigt – in Anlehnung an Ricoeurs Hermeneutik – die Textwelt des Predigttextes entfalten.28 Dabei ist zwischen der „Oralität“ und „Literalität“ des Textes im Vollzug der Interpretation zu unterscheiden, wobei zwischen der ursprünglichen Mündlichkeit eines Textes, seinem „Sitz im Leben“, seiner Verschriftlichung und der heutigen erneuten Mündlichkeit im Predigtvollzug differenziert werden muss. Wird der „Text“ in seiner ursprünglichen Mündlichkeit nämlich verschriftlicht, wird er gegenüber einem möglichen Leser und insbesondere gegenüber seinem Autor und Verfasser selbständig.29 Im Hörer sollen durch die Predigt Bilder der befreienden Wirkung des Evangeliums entstehen, die faktisch wie in jedem Rezeptionsvollzug ganz individuell sind und nicht durch den Prediger vorgegeben werden. So werden sowohl der Prediger als Leser als auch der Hörer als Rezipient noch einmal zu eigenständigen Autoren. Die Predigt ist dabei ein neuer Text, der durch den biblischen Text in entscheidendem Maße inspiriert ist, aber sie ist nicht mit ihm identisch. Schon im Akt des Lesens fungiert der Text als Resonanzboden, der in Schwingungen gebracht beim Leser neue Töne erzeugt, die in der Predigt zur klingenden Aufführung kommen. Indem der Hörer mit seinen eigenen Bildern und Assoziationen die Predigt mit vollendet und erst zu ihrem Ziel führt, 27 28
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Vgl. JUNG, Hermeneutik, 82f. P. Ricoeur, der die theologische Hermeneutik insbesondere E. Jüngels, aber auch Bayers und anderer stark prägte, orientiert seine Hermeneutik am Paradigma des geschriebenen Textes. Durch die Verschriftlichung wird ebenfalls stärker auf die Objektivität des Textes rekurriert. Dabei ist Verstehen aber nicht nur ein Vernehmen, sondern auch eine Rekonstruktion. Die Aneignung ist jeweils als eine Bemühung zu verstehen, eine in den Bezügen des Textes angedeutete Welt ins Bewusstsein zu heben. Dabei geht es ihm aber primär nicht um Texte im allgemeinen, sondern um erzählte Texte. Der Mensch ist dabei aber nicht nur ein erzählendes Wesen, sondern ebenso auch ein erzähltes Wesen. Indem von ihm erzählt wird, wird er eigentlich erst Mensch. Im Narrativen findet sich das Ineinander von Gleichzeitigkeit (Horizontverschmelzung) und Differenz (Zeitenabstand). Vgl. KÖRTNER, Theologie, 22.
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kann auch er als Medium des Wortes Gottes verstanden werden.30 Wie schon oben festgehalten, ist das Bild als Bestandteil des Wortes anzusehen bzw. als szenisches Erinnern im Sinn von Herms immer schon dem Wort vorgeschaltet. Hierbei ist wiederum eine entscheidende Differenzierung vorzunehmen. Wird – wie in gegenwärtigen Predigtlehren häufig anzutreffen – dem Leser die Rolle des Vollenders der Predigt zugeschrieben, so darf das nicht in dem Sinne verstanden werden, als könne der Leser die Wirkung der promissio durch sein Zutun vervollkommnen. Vielmehr handelt es sich um ein sekundäres Verstehensmoment, das in einer christlichen Rezeptionsästhetik immer hervorgehoben werden muss. Die Rezeptionsästhetik, die sich aus der Semiotik entwickelte, ist in ihrer Argumentation zunächst pragmatisch und geht von der Faktizität der individuellen Rezeption durch den Leser bzw. Hörer aus. Insbesondere Ecos Theorie des „offenen Kunstwerks“, die sehr differenziert die Rezeption von geschlossenen oder offenen Kunstwerken unterscheidet, geht davon aus, dass der Sinn eines Textes jeweils im Akt des Lesens neu hervorgebracht wird. Das heißt, dass Texte keinen schon von vornherein feststehenden Sinn besitzen, sondern ihn allererst im Akt des Lesens bzw. Hörens jeweils neu erlangen. Dabei dient Eco – wie auch Ricoeur – die intentio operis als regulative Idee einer jeden Interpretation und Rezeption, die nicht mit der falsch verstandenen postmodernen Beliebigkeit eines „anything goes“ verwechselt werden darf. Zu dieser intentio operis gehört die Mehrdeutigkeit eines insbesondere poetischen Textes schon hinzu.31 Eine für die theologische Diskussion entscheidende Rolle spielt dabei die oben beschriebene Konstruktionsleistung des Lesenden oder Hörenden im Rezeptionsvollzug. Im Unterschied zu poststrukturalistischen Autoren geht aber Ricoeur davon aus, dass sich das Subjekt beim Lesen bzw. Hören eines Textes neu verstehen lernt.32 Nur in diesem Sinne kann positiv an Rezeptionsästhetik angeknüpft werden, wenngleich der Aneignungsvollzug durchaus aktiv zu beschreiben ist.33 Das
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Vgl. aaO, 266ff. Vgl. auch DERS., Der inspirierte Leser, passim. Vgl. KÖRTNER, Theologie, 322ff. Vgl. aaO, 324. 345. Vgl. auch KÖRTNER, Der inspirierte Leser, passim. Vgl. zum Problem der Aneignungswahrheit ERNE, Lebenskunst, passim. Wie Erne richtig beobachtet, kommt mit der Autonomie der Kunst auch das Problem der Rezeption bzw. der Aneignung im Selbstbewusstsein der Kunst in den Blick. Und wo die inhaltlichen Verbindlichkeiten fallen, wird auch die ästhetische Erfahrung und der Lebensbezug der Kunst immer maßgeblicher (vgl. aaO, 3-5). Erne zufolge kommen nun das Anliegen der Gegenwartskunst, die freie Reproduktion im Lebensvollzug des Betrachters anzuregen und zu vollenden, und das reformatorische Glau-
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Ausgelegtwerden durch den Text, der eine nicht zu konstruierende Sache und Wirkung besitzt, behandelt eine grundsätzlichere Ebene dieses Geschehens und ist durch Passivität seitens des Subjekts bestimmt. So betont auch Huizing in seinen ästhetisch-theologischen Überlegungen: „Die Bedeutung Christi für die Leser ist eben nicht unabhängig von der materialen Struktur der Texte zu haben. Christus hat sich namentlich in den Gleichnissen material selbst porträtiert oder inkarniert.“34 In bezug auf das Evangelium als göttliche Anrede kann also nur von dessen Zueignung gesprochen werden, da die Wahrheit des Evangeliums nicht zu rezipieren, sondern nur zu verstehen ist. Als poetischer Text aber kann der Bibeltext aktiv angeeignet, also rezipiert und gedeutet werden. Die Frage ist nur, ob man in der Rezeptionsästhetik die Kategorie der Deutung wieder zu einem einheitlichen Prinzip der Konstitution macht oder ob sie ein – allerdings unverzichtbares – Moment im Vollzug des Verstehens ist. Wenn man die Rede von „Gott als Schriftsteller und Autor“ aufnimmt, so ist damit der Anredecharakter der biblischen Schriften unterstrichen, wobei die „Poesie des Versprechens“35 nicht die Mehrdeutigkeit eines Wortes oder der Rede ausschließen muss. Zwischen Mehrdeutigkeit und Beliebigkeit besteht ein entscheidender Unterschied, denn die Mehrdeutigkeit des Textes bezieht sich auf das konkrete Wie des Erschlossenseins der Anrede. Anders gesagt: Ich bringe mich mit meinem Leben in den Texten unter. Das entspricht auch einer konsequenten Berücksichtigung des Verhältnisses von Sprach- und Lebensform. Im Anschluss an Hamann kann man die Verschriftung des Wortes als End- und Zielpunkt seiner Inkarnation in Erniedrigung und
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bensverständnis, das ebenfalls als Rezeptionsform verstanden werden kann, darin überein, dass sich in ihnen Aneignung im Lebensvollzug des Subjekts vollzieht. Gegenüber den Glaubensinhalten, die angeeignet werden, behält dieser selbsthafte Vollzug des Glaubens den Vorrang. Somit ist der Glaube mit Ringleben auf ästhetische Erfahrung zu beziehen. Die erste entscheidende Strukturanalogie zwischen religiöser und ästhetischer Erfahrung besteht also in der Kategorie der Rezeption. Eine theologische Ästhetik kann sich der „ästhetische[n] Rezeptivität unter dem Gesichtspunkt der selbsthaften Beteiligung des Subjekts an seiner eigenen Erfahrung“ (aaO, 4) nähern. Insofern gibt Erne denjenigen Entwürfen theologischer Ästhetik des Vorzug, die nicht mehr nach der Wahrheit der Kunst fragen, sondern stärker die jeweilige Wirkung der Kunst betrachten (vgl. aaO, 4f.). Allerdings ist die Alternative zwischen Werkästhetik, die stärker den objektiven Aspekt bedenkt, und Erfahrungsästhetik, welche den subjektiven Aspekt beleuchtet, zu einfach. Gerade eine theologische Ästhetik hat ihren eigenen Erfahrungsbegriff zu entwickeln und diese gängige Alternative zu überwinden. Vgl. auch ERNE, Vom Fundament zum Ferment, passim. HUIZING, Der inszenierte Mensch, 25. BAYER, Poetologische Theologie, passim.
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Entäußerung verstehen, wobei sich das göttliche Wort damit auch dem Konflikt der Interpretation und dem Konflikt mit anderen Worten aussetzt. So ist es angemessen, mit Eco von einer unverzichtbaren Mitarbeit des Lesers beim Zustandekommen des Textsinns auszugehen. Des weiteren ist eine Ergänzung der Rezeptionsästhetik in anderer Hinsicht geboten, hat doch im Sinne Heideggers die rezeptionsästhetische Sichtweise durch die werkimmanente Betrachtung eine wichtige Korrektur erfahren36, um sie vor subjektivistischen Einseitigkeiten und Verengungen zu schützen37, wobei diese Gefahr auch umgekehrt bei der rein werkimmanenten Deutung bzw. der Frage nach der ‚objektiven’ Wahrheit der Kunst besteht. So plädiert Wolfgang Kemp für eine werkorientierte Rezeptionsästhetik: „Der rezeptionsästhetische Ansatz versucht der simplen Tatsache Rechnung zu tragen, dass ein Text gelesen, ein Bild betrachtet, ein Musikstück gehört wird. Dass jedes Werk Teil eines Kommunikationsvorgangs ist, der nicht in einen aktiven Sender und in einen passiven Empfänger aufzulösen, sondern nur als dialogischer Prozess zu begreifen ist.“38 Es kommt also auf eine Verschränkung zwischen der Subjektivität des Betrachters und der Bilderfahrung (bzw. Texterfahrung etc.) an, die sich an den Eigenschaften des Kunstwerks zu orientieren hat.39 Diese 36
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Vgl. dazu auch den Hinweis auf Heidegger bei TROWITZSCH, Der ewigreiche Gott, 28. Hier äußert sich Heidegger zu dem Mörike-Gedicht „Auf eine Lampe“ (MÖRIKE, E., Auf eine Lampe, in: DERS., Werke und Briefe, Erster Bd. Erster Teil [I/1], hg. v. H. Arbogast u.a., Stuttgart 2003, 132, in dem es heißt: „Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst“ und davor: „Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein?“ Heidegger schreibt dazu an Emil Staiger, einen Zürcher Germanisten: „Die Frage lautet so, daß sie zur Antwort neigt: Niemand mehr, kaum einige, nur wenige. Die Frage ist traurig gestimmt. Wehmut spricht in dem Gedicht, daß das Kunstwerk in seinem Wesen den Menschen entgeht.“ Jedoch vermag die Wehmut nicht, ihn zu bezwingen: „Er hält in ihr stand. Denn er weiß: die rechte Art eines Kunstgebildes, die Schönheit des Schönen, waltet nicht von Gnaden der Menschen, insofern sie das Kunstwerk achten oder nicht, ob sie, was schön ist, in ihren Genuß nehmen oder nicht. Das Schöne bleibt, was es ist, unabhängig davon, wie die Frage Wer achtet sein? beantwortet wird. Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst [...] Das aber spricht gegen das entscheidende Gewicht dieses Achtens, insofern das Schöne niemals erst durch solches Dafürhalten das Schöne wird.“ (HEIDEGGER, Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger (1951), in: DERS., GA Bd. 13: Aus der Erfahrung des Denkens, hg. v, H. Heidegger, Frankfurt a.M. 1983, 93-109.105f). Vgl. dazu auch zu Heidegger und Adorno, die beide Kunst als ‚Ort’ der Wahrheit verstehen (vgl. A. GRÖZINGER, Praktische Theologie und Ästhetik, 61ff). KEMP, W., Der Anteil des Betrachters. Rezeptionsästhetische Studien zur Malerei des 19. Jahrhunderts, München 1983, 28. Vgl. ZINK, Bildhermeneutik, 312. Vgl. hierzu auch die philosophischen Überlegungen Henrichs, welcher der Kunst die hervorragende Fähigkeit zuspricht, „zu einer
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Verhältnis von theologischer und ästhetischer Hermeneutik
Verschränkung führt auch zu einem inneren Bezug des Betrachtenden zu dem betrachteten Werk. Die jeweilige Autonomie von Betrachter und Werk wird durch die Angewiesenheit auf das Andere begrenzt und in seiner Absolutheit in Frage gestellt.40 Dass die Bedeutung der Rezeption für die Kunst insbesondere in der Wirkung des Werks auf die Selbsterfahrung des Betrachters zu verstehen ist, hat Thomas Erne herausgearbeitet. In seiner Interpretation Kierkegaards bestimmt er die jeweilige Aneignung ästhetischer Erfahrung zur Lebenskunst in dem Sinne, dass es für die Wahrnehmung erheblich ist, was ich selbst bin – nicht zuletzt unter ethischen Gesichtspunkten. Dieser Ansatz richtet sich in seinem Kern gegen wahrheitsästhetische Ansätze, die Kunst als Darstellung einer feststehenden objektiven (inhaltlichen) Wahrheit auffassen. Kunst und Glaube befinden sich aber gerade in keinem Konkurrenzverhältnis, da sich der jeweilige Autonomieanspruch nur auf den Rezeptionsvorgang bezieht, so dass es in beiden Erfahrungsformen nur um die Wahrheit ihres Aneignungsprozesses gehen kann. Das jeweilige Sujet des Kunstwerks spielt demnach für diese Aneignung, in der sich eine personale Bildbedeutung manifestieren kann, Erne zufolge keine Rolle. Er betont jedoch, dass es sich beim Aneignungsvollzug nicht um eine subjektive Funktionalisierung des Kunstwerks handelt, sondern vielmehr um eine „Rezeption in der Form der Entäußerung an endliche Inhalte“41. Allerdings besteht hier wiederum die Gefahr der Überbetonung der Form, so dass dem Werk durch die Beschränkung auf die selbsthafte Aneignung nicht entsprochen wird.42 Tillich zufolge handelt es sich beim Vernehmen der göttlichen Anrede um eine qualifizierte Form der Rezeption und des Verstehens. Dabei ist der Glaube als „Widerfahrnis verwandelnden Verstehens [...] nur als Gabe“ zu begreifen, so dass die Aneignung von Schrift und Anrede in der Predigt als Zueignung verstanden ist.43 Insofern ist der Akt des Lesens und Verstehens als gläubige Rezeption anzusehen. Der Text selbst vollendet sich durch den Akt des Lesens in seiner intentio operis. Jedoch ist der Leser dabei nicht als stiller Beobachter am Rande zu verstehen, sondern die Gabe der Rezeptivität bringt bei ihm einen schöpferischen Aneignungs- und Rezeptionspro-
40 41 42 43
verwandelten Weise der Vergegenwärtigung von Subjektivität“ zu finden (vgl. HENRICH, Versuch über Kunst und Leben, 247). Vgl. ZINK, aaO, 360. ERNE, Lebenskunst, 128. Vgl. ZINK, Bildhermeneutik, 403ff. Vgl. KÖRTNER, Theologie, 344. Vgl. zum Unterschied von Aneignung und Zueignung oben das Fazit zu Bayer.
Auf dem Weg zu einer theologischen Ästhetik
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zess in Gang, so dass der Sinn bzw. die Sache des Textes im Akt des Lesens kreativ entsteht, ja dass er selbst wieder zum Autor eines neuen Textes wird, indem er den schriftlichen Text mit seinem Welt- und Selbstverständnis verbindet.44 Dies ist die Grundlage der für das Verstehen selbst so bedeutsamen Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte der Artikulationen von Glaubenserfahrung. In der Folgegeneration der Begründer der Rezeptionsästhetik wird Rezeption insbesondere als Kommunikation verstanden und die Rezeptionsästhetik zur Kommunikationsästhetik erweitert45, wobei der Rezeptionsakt physisch-körperlich verstanden ist.46 Diese Entwicklung bietet ebenfalls mögliche Anknüpfungspunkte, insbesondere an Bayers Verständnis der „Rede an die Kreatur durch die Kreatur“, in der sich ein Kommunikationswille des Schöpfers ausdrückt.
3. Wahrnehmung als Grundbegriff theologischer Ästhetik Wenn theologische Ästhetik ihren Gegenstand und ihre Aufgabe in einem allgemeinen Sinne vom Begriff der aisthesis herleitet, dann versteht sie sich als Wahrnehmungslehre des Glaubens. Sie ist dann Lehre von der Wahrnehmung der unterschiedlichen Weisen und Gestalten göttlicher Anrede als Grundlage und Vollzug des Glaubens, wobei in der Wahrnehmung des Glaubens immer auch das Moment des „WahrNehmens“ und somit der Wahrheit mitschwingt. Wird göttliche Anrede als solche wahr genommen, dann entsteht und vollzieht sich Glaube. Der Begriff der Wahrnehmung eignet sich auch aufgrund seiner passivischen Implikationen als Grundbegriff der Glaubenserfahrung, da er im besonderen die wahre Stellung des Menschen vor Gott beschreibt.47 Insofern kann im Zusammenhang der Wahrnehmung nicht 44
45
46 47
Vgl. KÖRTNER, Der inspirierte Leser, 120. 173 u.ö. Vgl. ISER, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 21984. Hier betont Iser, „daß sich das Buch als eine Wirkungstheorie und nicht als eine Rezeptionstheorie versteht.“ (AaO, 8). „Eine Wirkungstheorie ist im Text verankert – eine Rezeptionstheorie in den historischen Urteilen der Leser.“ (Ebd.) Vgl. KÖRTNER, Theologie, 345f. Vgl. auch ISER, W., Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München 31994. Vgl. dazu AISSEN-CREWETT, M., Rezeption und ästhetische Erfahrung. Lehren aus der literaturwissenschaftlichen Rezeptionsästhetik für die Bildende Kunst, Potsdam 1999, 163ff. AaO, 178ff. Vgl. dazu auch BOHREN, R., Glaube und Ästhetik – ein vergessenes Kapitel der Theologie, in: BThZ 6, Heft 1(1989), 2-7: „[d]er Glaube nimmt göttliche Wirklichkeit
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Verhältnis von theologischer und ästhetischer Hermeneutik
auf einen theologisch bestimmten Wahrheitsbegriff verzichtet werden: Gott nimmt den Menschen in Jesus Christus wahr. Das heißt, er nimmt ihn bei seiner Wahrheit. Er nimmt ihn als Sünder wahr, indem er ihn nicht verachtend, sondern beachtend ansieht und darin rechtfertigt. Wahrnehmen geschieht demnach in der Begegnung. Darin ist der so bestimmte Begriff der Wahrnehmung Kriterium der menschlichen Wahrnehmung. Wahrnehmung in diesem Sinne ist Ausdruck der Passivität des Menschen coram deo. In Bezug auf die Wahrnehmung des Glaubens hat wiederum die Kunst ihre besondere Bedeutung, da bestimmte Kunstwerke die Wahrnehmung für göttliche Anrede sensibilisieren können. Gerade in dieser Hinsicht steht theologische Ästhetik der „Wahrheitsästhetik“ nahe, welche dem Kunstwerk eine den Erkenntnismöglichkeiten der Wissenschaften überlegene hermeneutische Rolle zuschreibt48. Einige Ästhetikkonzeptionen der Gegenwart lehnen indessen die von Schelling bis Adorno vertretene Wahrheitsästhetik, die davon ausging, dass sich im Kunstwerk Wahrheit erschließt, als gescheitert ab.49 Andere Konzeptionen, die versuchen, zwischen Wahrheitsästhetik und Entzugsästhetik zu vermitteln, unterscheiden wiederum zwischen Wahrheit und Geltung. 50 Wird am Wahrheitsbegriff festgehalten, so in der Betonung des metaphorischen Charakters der Rede vom Kunstwahren. Dieser Position wird innerhalb einer reinen „Geltungstheorie“ widersprochen: „Kunstwerke gelten nicht in dem Sinn, in dem Aussagen durch ihre Wahrheit gelten.“51 Somit kann die „Wahrheit der Kunst“ als Modus der ästhetischen Geltung verstanden werden. Ein Kunstwerk ist also dann als gelungen zu bezeichnen, wenn es etwas zur Geltung bringt. Damit ist gesagt, dass
48
49 50 51
wahr in der Weise, daß in ihm das Wahrgenommene seinerseits wahrnehmbar wird.“ (BOHREN, aaO, 4) „Der wahrnehmende Glaube braucht seine Sinne: das Gehör bleibt nicht isoliert, zum Wort treten die Zeichen und Wunder [...]. Die Gemeinde ist nicht nur zum Hören, sie ist zum Schauen bestellt, nicht nur des Sichtbaren, sondern auch des Erhofften“ (aaO, 6). GADAMER, H.-G., Ästhetische und religiöse Erfahrung, (1964/1978), in: DERS., Gesammelte Werke Bd. 8: Ästhetik und Poetik I. Kunst als Aussage, Tübingen 1993, 143-155, wo sich Gadamer im Anschluss an Platon mit dem Moment des Wiedererkennens beschäftigt, das sich in beiden Erfahrungsformen jeweils unterschiedlich manifestiert. „Einmal besteht das Angebot im Heimischwerden, in der innerweltlichen Glückserfahrung, sodann in der unmöglichen Möglichkeit einer die eigene Endlichkeit transzendierenden Lebensform.“ (HUIZING, Der inszenierte Mensch, 29). Vgl. SEEL, Kunst, 36. SEEL, Kunst, 37. AaO, 38f.
Auf dem Weg zu einer theologischen Ästhetik
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ein Kunstwerk nicht von sich aus einen Wahrheitsanspruch haben kann, sondern nur einen Geltungsanspruch.52 Diese Beurteilung ist gerade im theologischen Kontext von Bedeutung. Ein Kunstwerk kann demnach dazu verhelfen, der Wahrheit der göttlichen Anrede Geltung zu verschaffen, indem es etwa die Strukturen von grundlegender Passivität des Lebens in ihrem Situationskontext aufzeigt oder Themen wie Leben, Tod, Glück, Gnade, Schuld, Schmerz, Leid, Liebe, Sinn und Würde zur Sprache bringt. Die theologisch-ästhetische Relevanz der Kunst ist daher wie folgt zu markieren: „Nicht in der allgemeinen Zuordnung der Dinge zu Gott, sondern in der besonderen Situation des Menschen vor Gott; [...] hat die Sache der Theologie ihren Ort im Leben.“53 Theologische Ästhetik ist also per se Wahrheitsästhetik, aber nur in dem Sinne, dass sie mit dem vermittelten Selbst-Erschließen der Wahrheit rechnet. Wenn wir aber davon ausgehen, dass Gottes Freiheit gerade nicht bei der menschlichen Wahrnehmung und Rezeption endet, dann sind als Medien seiner Selbsterschließung auch autonome Kunstwerke denkbar.
52 53
SEEL, Kunst, 42. EBELING, Sündenverständnis, 177. Und weiter heißt es: „Die konzentrische Ausrichtung der gesamten Theologie auf die Situation des Sünders sorgt deshalb dafür, daß Theologie gerade auch beim Reden vom Heil sachgemäß bleibt.“ (aaO, 178).
Schlusswort Wenn wir auf die Untersuchung zurückblicken, dann stellt sich die Frage, inwieweit sich die ästhetischen Fragestellungen innerhalb der Praktischen Theologie unabhängig oder in Bezugnahme auf die expliziten und impliziten ästhetischen Gedankengänge in der Systematischen Theologie der Gegenwart entwickelt haben. Wie sich in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die empirische Wende in der Praktischen Theologie vollzog, weil die Orientierung an der Wort-GottesTheologie und ihrem Paradigma der Verkündigung der Wirklichkeit des Glaubens nicht gerecht zu werden schien, so vollzog sich später die ästhetische Wende, weil auch die einseitige Orientierung an den Human- und Sozialwissenschaften der Wirklichkeit des Glaubens nicht zu entsprechen vermochte. Es ist allerdings festzustellen, dass sich die Praktische Theologie an philosophischen Entwicklungen und Diskussionen seit W. Benjamin und Th. W. Adorno orientiert hat, deren Fragestellungen heute wieder erörtert werden. War in einer an der Wort-Gottes-Theologie orientierten Praktischen Theologie der Bezug zur Systematischen Theologie sehr stark, so ist er im Zuge der empirischen Wende so gut wie verloren gegangen. Durch die ästhetische Wende ist die Praktische Theologie wieder offener geworden für dogmatische Fragestellungen, allerdings kommen sie auch hier nicht wirklich zum Tragen. Der Bezug auf die Neue Phänomenologie von H. Schmitz und die Semiotik von U. Eco ist beispielsweise intensiver als derjenige auf die Dogmatik. Eine Ausnahme bilden in der Gegenwart die Ansätze des an dritter Stelle vorgestellten Modells, welche ausdrücklich wieder an Schleiermachers Theorie des darstellenden Handelns anknüpfen. Insbesondere Wilhelm Gräb argumentiert in enger Verbindung von systematischer und praktischer Theologie. Diese Verknüpfung gelingt ihm über die Theologie Schleiermachers sowie die Auseinandersetzung mit der Kantischen Ästhetik. Auch in der Religionspädagogik hat es solche eigenständigen systematisch-theologischen Reflexionen zur Ästhetik als Wahrnehmungslehre gegeben.1 1
Vgl. ZILLESSEN, D., Und der König stieg herab von seinem Thron, Frankfurt/ M. 1997; DERS., Religionspädagogische Lernwege der Wahrnehmung, in: DERS. u.a. (Hgg.), Praktisch-theologische Hermeneutik, 59-85. Vgl. BIEHL, Wahrnehmung und ästhetische Erfahrung, passim.
356
Schlusswort
Selbst dann, wenn man Praktische Theologie als Handlungswissenschaft definiert, darf nicht aus dem Blick geraten, dass sie immer noch Theologie ist. Sie muss sich darum stets im Dialog mit der Systematischen Theologie befinden, wobei vorausgesetzt ist, dass nicht nur die Praktische Theologie von der Systematischen zu lernen hat, sondern auch umgekehrt. Wenn dieser Dialog unterbleibt, dann geschieht auch in der ästhetischen Orientierung nichts anderes als das, was Ebeling schon an der empirischen Orientierung kritisiert hatte: Dieser hatte darauf hingewiesen, dass die Theologie ihren eigenen Erfahrungsverlust nicht durch einen bloßen Theorieimport kompensieren könne, sondern dass sie besser ihr eigenes Erfahrungsvermögen wiedergewinnen sollte. Der Dialog mit Bezugswissenschaften ist dafür unerlässlich.2 So ist Ebelings Kritik am Theorieimport aus den Bezugswissenschaften heute in einem neuen Kontext wieder aufzunehmen: Die Theologie kann ihren ästhetischen Erfahrungsverlust nicht durch einen ästhetischen Theorieimport kompensieren. Sie kann nur im Gespräch mit Kunst und Ästhetik die eigene ästhetische Dimension des Glaubens und der Religion wiederzuentdecken versuchen. Zunächst ist daher zu erörtern, welcher Ertrag sich aus der Verhältnisbestimmung von Theologie und Ästhetik sowie von religiöser und ästhetischer Erfahrung in bezug auf die Glaubenserfahrung ergibt. Wenn die Dimension des Ästhetischen als eigene Dimension des Glaubens entdeckt wird, dann kann Theologische Ästhetik weder aus einer Theologisierung der Ästhetik noch aus einer Ästhetisierung der Theologie gewonnen werden. Die Wiederentdeckung der immer schon vorhandenen ästhetischen Dimension des Glaubens befreit die Theologie von dem Zwang, die Glaubensvorstellungen rational zu plausibilisieren, und sei es mit der Denkfigur der Dialektik, mit Hilfe derer sich alle Gegensätze und Spannungen scheinbar aussöhnen lassen. Sie befreit also die Theologie von dem Anspruch, eine rein rationale Wissenschaft zu sein, ohne dass die alte Vorstellung des Gegensatzes von Vernunft und Glaube wieder aufgenommen wird, die zu einem Irrationalismus führt: „Das ganz Andere lässt sich – insbesondere dort, wo theologia crucis auch theologia resurrectionis werden und Destruktivität nicht zur ausschließlichen Form der Darstellung des diesseits der Auferstehung
2
Eine Anknüpfung besonders auch an das Erfahrungsverständnis G. Ebelings hat es allerdings in der Religionspädagogik gegeben. Vgl. NIPKOW, K. E., Grundfragen der Religionspädagogik Bd. 3: Gemeinsam leben und glauben lernen, Gütersloh 1982, 215ff.
Schlusswort
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ausschließlich im Kreuz offenbar werdenden Christus machen will – nur unter ästhetischem Vorbehalt theologisch erfassen.“ 3 So vermag gerade die Kunst in ihrer Nichtbeanspruchung der Wahrheit die Theologie an das ihr eigene Wahrheitsverständnis zu erinnern, indem sie das Kriterium der Ideologie- und Irrtumsfähigkeit glaubwürdig in jedem Wahrheitsverzicht umsetzt. Der Vernunft wird damit ihre Grenze aufgezeigt, und die Theologie kann in dem anderen ihrer selbst das ihr eigene Kriterium der Sündhaftigkeit, der Fehlbarkeit des Menschen mit den Augen des Glaubens wahrnehmen. Denn dieses Kriterium ist einem ständig drohenden Verlust ausgesetzt. Wenn sich die Ästhetik unabhängig von der Theologie dem Problem der Endlichkeit der Vernunft annimmt, so erkennt sie ihrerseits etwas von der wahren Verfasstheit des Menschen bzw. nimmt einen Mangel an Wirklichkeitsbezug im rationalistisch verengten Vernunftverständnis der Wissenschaften wahr: „Wenn es nämlich richtig ist, was jeweils unterschiedlich Nietzsche, Blondel und Heidegger diagnostizierten, daß das moderne Gefühl der Abwesenheit bzw. des Todes Gottes im Zusammenhang steht mit einer radikalen Vorordnung von Subjektivität bzw. einer cartesianischen resp. kantischen Zerfällung der Vernunft und damit einer Depotenzierung von Sinnlichkeit überhaupt, dann bedarf es umsomehr einer Besinnung auf ein alle Grundkräfte des Menschen berührendes aktiv-passives Vermögen der Einbildungskraft.“4 Diese Konzentration auf Sinnlichkeit und Wahrnehmung kann dann auch zu einer Veränderung des Weltverhältnisses beitragen: „Künstler verwirklichen Wirklichkeit durch Präsentation, machen sie gestalterisch bewußt und retten so die Dinge vor ihrer Annullierung durch die Subjektivität von Wissenschaft, Technik und Idealismus.“5 Man kann allgemein feststellen, dass auch in der autonomen Kunst der Gegenwart religiöse und metaphysische Fragen des Menschen zur Darstellung kommen. Diese Erfahrungen werden zwar gegenwärtig auch aus den Diskursen der Philosophie verdrängt, sie tauchen jedoch in anderem Kontext wieder auf.6 Allerdings besteht die Gefahr, dass die 3 4
5 6
FRISCH, R., Aesthetica crucis. Karl Barths Theologie im Kontext der ästhetischen Moderne des 20. Jahrhunderts, in: NZSTh 45 (2003), 227-251, 247. LARCHER, G., Vom Hörer des Wortes als „homo aestheticus“. Thesen zu einem vernachlässigten Thema heutiger Fundamentaltheologie, in: DERS. (Hg.), Hoffnung, die Gründe nennt. Zu Hansjürgen Verweyens Projekt einer erstphilosophischen Glaubensverantwortung, Regensburg 1996, 99-111, 100. TIMM, Geerdete Vernunft, 113. Die sogenannten ‚postmodernen Denker’ und Dekonstruktivisten meinen mit der Andersheit des anderen Ernst zu machen, indem sie der Vernunft der anderen ge-
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Schlusswort
Künste bzw. die Ästhetik zum Theologie- und Metaphysikersatz werden7, wie es schon in der Romantik, im Idealismus sowie bei Nietzsche und Schopenhauer der Fall gewesen ist. Sie ist ebenfalls bei einer Überhöhung der Rolle der Ästhetik für die Theologie gegeben. Insofern kann eine Theologische Ästhetik nur dann ihrer Sache gerecht werden, wenn durch den hermeneutischen Bezug von Theologie und Ästhetik die Theologie durch das Andere ihrer selbst zu einer eigenständigen Ästhetik findet: „Wo heute – und schon seit langem – Kunst noch christlich dient, da ‚bedient’ sie sich umgekehrt selbst auch der Religion, des Kultischen und des aus dem Kult her sich erbauenden christlichen Lebens, nämlich um Erfahrungen der Welt und des Lebens einzubringen, die nicht ohne weiteres in der christlichen Erfahrung schon mitumfasst sind. Sie sind auch nicht ohne weiteres und bruchlos vom religiösen Heilsleben aufholbar und einholbar, nachträglich zu taufen oder als irregegangene und reuig zurückkehrende wieder mit ihm zu versöhnen.“8 So kann die Kunst verschüttete oder verdrängte Erfahrungen, insbesondere von Endlichkeit, Passivität und Fragmentarität, offenlegen und somit der Theologie die „Beschaffenheit des Menschen“9 vor Augen führen. Jedoch sind diese Erfahrungen nicht einfach als allgemeine Sündenerfahrungen oder Ahnungen derselben zu verstehen, sondern setzen diese Frage nach dem Menschen immer wieder neu in Gang. Sie sind bei allen Parallelen immer auch ganz eigene Erfahrungen mit der Wirklichkeit, die nicht von der Theologie unter ihr christliches Menschenbild zu subsumieren sind: „Das Problem ist dann freilich das, ob und wie der Glaube der christlichen Religion zu seiner
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genüber aufgeschlossen sind. Ob diese Poststrukturalisten oder Dekonstruktivisten allerdings wirklich der Andersheit und Fremdheit eines Kunstwerks zu entsprechen vermögen, indem sie jegliche Form der Transzendenz in ihm ausschließen, bezweifelt jedoch STEINER, G., Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Mit einem Nachwort von B. Strauß, München/ Wien 1990: Kunstwerke überwältigen uns nämlich nach Steiner mit ihrer Andersheit im Sinne einer „Heimsuchung“. Denn immer wenn Kunstwerke „in uns eintreten“ (240), dann erfahren wir „den gestaltbildenden Druck einer realen Gegenwart in den semantischen Zeichen“ (281). Daraus schlußfolgert er: „Die Begegnung mit dem Ästhetischen ist neben bestimmten Arten religiöser und metaphysischer Erfahrung der ‚ingressivste’ Aufruf zur Wandlung.“ (190). Neben der Kunst ist es gegenwärtig auch die Ethik, die innerhalb der Anthropologie die metaphysischen Fragen nach Wesen und Würde des Menschen stellt. Vgl. LARCHER, Vom Hörer des Wortes, 101. HALDER, A. / WELSCH, W., Kunst und Religion, in: BÖCKLE, F. u.a. (Hgg.), CGG Bd. 2 (Enzyklopädische Bibliothek), Freiburg u.a. 21981, 43-70, 59. So die Übersetzung der Titel zweier Bilder von René Magritte: La condition humaine, der wiederum auf den anthropologischen Grundbegriff der conditio humana verweist.
Schlusswort
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Erfahrung hin sich auch noch von solcher weltlichen Lebenserfahrung durch die Kunst etwas sagen lassen kann, die anscheinend den äußersten Widerspruch zu ihm bildet; und zwar deshalb, weil diese Kunst die Widersprüchlichkeit der gegenwärtigen Wirklichkeit selbst in sich aufgenommen hat, die zu einer Welt der Unbehaustheit, zur Entmenschung des Menschen geworden ist.“10 Wenn uns beispielsweise autonome Künstler die Anstößigkeit und Radikalität des Kreuzes – sei es als bloßes Zeichen oder auch als Übermalung11 – neu vor Augen halten, dann tragen diese Bilder dazu bei, dass das Kreuz neu erschüttern kann. Im Hören und Blicken auf das Andere gelangen wir daher wieder in eine wichtige Distanz zu dem Wort vom Kreuz, das immer noch ein skandalon ist. So wie auch die Inszenierung eines Textes im Gottesdienst den Text aufführt und damit das Wort der Schrift mir gegenüberstellt. Autonome Kunst drückt zumeist die Wirklichkeit des Menschen und der Welt aus. Damit kann sie für den Glaubenden bestimmte Fragen vertiefen oder auch verschärfen helfen und insofern eine Transparenz auf die Wahrheit des Evangeliums hin erreichen, nämlich auf die angebrochene und zugleich noch ausstehende Erlöstheit des Menschen in Jesus Christus. Somit ist Kunst Hilfe für die Wahrnehmung des Glaubenden und kann den Suchenden auf einen Weg führen, auf dem ihm die göttliche Anrede – „ubi et quando visum est Deo“12 – widerfahren kann. Dies gilt insbesondere für diejenige Kunst, deren Bilder im oben beschriebenen Sinne aus dem Evangelium, dem Leiblichen Wort, abgeleitet sind. Sie verdanken sich einer Inspiration im eigentlichen Sinne, denn die Bibel inspiriert jeden Hörer und Leser und schafft selbst in der Darstellung ihrer Worte nicht einfach nur Wiederholungen und Illustrationen ihrer selbst, sondern kreative Antworten als Ausdruck des Glaubens an Christus. Diese Ausdrucksgestalten des Glaubens können wiederum erneut zum anredenden Wort für andere werden.
10
11 12
HALDER/ WELSCH, Kunst und Religion, 64. „Modernen Künstlern [...] sind diese Szenen der Passion erneut wichtig geworden [...]. Und sie haben das Kreuz als Zeichen konkreten und mitzulebenden Leides gestaltet [...]. Schon der Akt solcher Zuwendung und der Bewahrung von Spuren des Leidens und Zerfalls, welche Bewahrung einen stillen, aber intensiven Protest gegen die Verfahrensweisen der Wegwerfgesellschaft einschließt [...], bedeutet ein Moment der Brüderlichkeit und Rettung. Und das Kreuz tritt in der klassischen Moderne [...] wie noch in der Gegenwart immer wieder auch als Zeichen des Klar- und Lichtwerdens und der Erhöhung auf“ (aaO, 66). Vgl. die Kunstwerke von Arnulf Rainer. CA 5, BSLK, 58.
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Schlusswort
Wenn aber die Theologie eine eigenständige Theologische Ästhetik entwickeln will, dann kann Huizings Bestimmung der „Ästhetik als Elementarwissenschaft der Theologie“13 nicht zugestimmt werden, denn diese Grundentscheidung führt zu einer Ästhetisierung der Theologie und des ihr eigenen Gegenstandes, des christlichen Glaubens. Ästhetik kann für die Theologie nur Bezugswissenschaft sein. Wenn wir eine Lehre als Elementarwissenschaft der Theologie bezeichnen wollen, dann können als solche nur die Hamartiologie und die Rechtfertigungslehre in Frage kommen, die auch noch das Verhältnis von Theologie und Ästhetik bzw. theologischer und ästhetischer Hermeneutik umfassen. Wir müssen also vielmehr eine theologische Ästhetik entwickeln, die nicht auf Ästhetik basiert bzw. mit ihr identifiziert wird, sondern selbst ästhetisch denkt. So wie auch Hamann kein ästhetisches Christentum vertreten hat, aber eine christliche Ästhetik.14 Es geht dabei um eine „Hermeneutik, die die Spannung von Besonderem und Allgemeinem, von Materialität und Gedanke – und für die Unverletzlichkeit dieser Spannung steht die Ästhetik – aufzunehmen bereit ist.“15 Von daher ist die Rede von einer Strukturanalogie zwischen ästhetischer und religiöser Erfahrung, wie wir sie oben im Anschluss an Gräb und Barth beschrieben haben, prinzipiell zu begrüßen, wenn die Erfahrungsformen nicht miteinander identifiziert werden, sondern in ihrer Eigenständigkeit in den Blick kommen. Beide Erfahrungsformen haben einen unmittelbaren Einfluss auf die Glaubenserfahrung. Man wird jedoch keine Strukturanalogie zwischen Glaubenserfahrung und ästhetischer Erfahrung aufgezeigen können. Religiöse und ästhetische Erfahrung sind in bezug auf ihre Phänomenalität miteinander vergleichbar. Es können einige Gemeinsamkeiten festgestellt werden, die jedoch auch mit anderen Erfahrungsformen bestehen. Insofern ist es für die Glaubenserfahrung elementar, diese Parallelen der Erfahrungsformen zu kennen und zu erkennen, da auch die Glaubenserfahrung an beiden Erfahrungsformen partizipiert. Eine ekstatische Erfahrung beispielsweise aufgrund von Musik oder von religiösen Praktiken ist noch keine Glaubenserfahrung. Zur Glaubenserfahrung wird sie erst dann, wenn sie mit der Begegnung des Leiblichen Wortes Gottes verbunden ist. Daher zeigt die Strukturanalogie zwischen religiöser und ästhetischer Erfahrung ihre Bezogenheit, aber auch ihren Unterschied zur Glaubenserfahrung auf. So kommt die
13 14 15
Vgl. HUIZING, Der erlesene Mensch, 16. Vgl. BURGER, E., J. G. Hamann. Schöpfung und Erlösung im Irrationalismus, Göttingen 1929, 68. GRÖZINGER, Praktische Theologie und Ästhetik, 275.
Schlusswort
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grundsätzliche methodische und hermeneutische Ausrichtung der Theologie als Konfliktwissenschaft zum Tragen, welche die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium beherrscht. Über die Strukturanalogie sollte auch die Rede von religiöser Erfahrung bzw. Religion aufgenommen werden, da gerade die Gegenüberstellung zur Ästhetik den Religionsbegriff, wie er im 21. Jahrhundert begegnet, näher zu bestimmen vermag. Sie zeigt, dass die Theologie bei einer rechten Unterscheidung den Begriff der Religion nicht zu scheuen braucht, da er insbesondere in seiner Parallelität zur Ästhetik die Phänomenalität der Glaubenserfahrung, die in besonderer Weise nämlich in Gestalt religiöser und ästhetischer Erfahrung gelebt wird, zu erhellen vermag und eine Verständigung auch über den Glauben und die ihm eigene Medialität zu leisten vermag. So ist es eine genuine Aufgabe theologischer Ästhetik, den Weg von Gottes Offenbarung nachzuzeichnen.16 Hauptsächlich in der Beschreibung des darstellenden Handelns im Gottesdienst, wo die ästhetischen Bezüge offensichtlich sind, ist der Ort einer Ästhetik innerhalb der Praktischen Theologie. Darum müssen auch systematisch-theologische Erwägungen zur Liturgie weiterentwickelt werden, wie sie bei Ebeling und Bayer schon in der Reflexion der Gebetsgesten und Sprachformen des Glaubens begonnen wurden. Die Bedeutung, aber auch die Grenzen der liturgischen Formen beleuchtet eine Beobachtung Heideggers, die er bei einem Besuch im Kloster Beuron machte: „An der Liturgie [...] erfuhr ich erneut, wie unumgänglich es bleibt, Wege zu finden u. Formen, um das wesentlich Gedachte in das Wohnen einzugestalten. In der Liturgie vollzieht sich ein Wohnen im Lobpreis Gottes; aber oft ist auch der Zweifel da, in wie weit noch eine fruchtende Nähe lebendig ist. Andrerseits läßt sich durch eine liturgische Bewegung weder in der katholischen noch in der protestantischen Kirche eine gestaltungskräftige u. geschichteschaffende Frömmigkeit erzwingen – wenn nicht der Gott selber spricht. Darum mag es doch ein rechter Weg sein, das Hören auf den Zuspruch, die Ahnung seines Bereiches vorzubereiten u. in dem Einzelnen zu erwecken.“17
Es geht also um die Frage, auf welche Weise sich Gott dem Glaubenden in seinem Wort mitteilt und wie der Glaubende diese Mitteilung empfängt. Man könnte somit den Ort einer theologischen Ästhetik in der Pneumatologie suchen (R. Bohren). Ebenso ist die Ästhetik in der Gotteslehre als Lehre von der Schönheit Gottes vorstellbar (Zeindler). Sie könnte auch in der Schöpfungslehre mit dem Verständnis der Schöp16 17
Vgl. GRÖZINGER, Praktische Theologie und Ästhetik, 104. HEIDEGGER, M., „Mein liebes Seelchen“. Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915-1970, hg. v. G. Heidegger, München 2005, 270f.
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Schlusswort
fung als „Rede an die Kreatur durch die Kreatur“ aufgrund der Sinnlichkeit dieser Rede sowie im Lob über die Schöpfung angesiedelt werden (Bayer/ Ebeling). Als Theorie der Zueignung des wahren Sehens im Sinne der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus wäre sie auch in der Christologie zu verorten und somit die Lehre von der Offenbarung als Ästhetik zu entfalten, wie es Hans Urs von Balthasar vorgelegt hat.18 Die ästhetische Rede von der Schönheit Gottes ließe sich ebenfalls in der Eschatologie als Erwartung des vollkommenen Schauens der Herrlichkeit und Schönheit Gottes begründen (Jüngel). Jedoch haben die grundlegenden Überlegungen zur Wahrnehmung gezeigt, dass der Glaube einerseits ein elementarer Vorgang des Sehens, Hörens und Schmeckens ist und andererseits ein Vorgang des Verstehens. Wenn man, wie Nicolai Hartmann, den ursprünglichen Wortsinn des Begriffs „homo sapiens“ herausarbeitet, so kommt der Mensch als der „Schmeckende“, „der das Organ hat für die Wertfülle des Lebens“, in den Blick.19 Diese grundlegende Sinnlichkeit des Menschen bestimmt sein Denken fundamental, das wiederum Einfluss auf sein Handeln gewinnt.20 Der Mensch als Sünder hat jedoch eine falsche Wahrnehmung und Deutung von der Wirklichkeit Gottes und der Welt und seiner selbst. So sind diese materialdogmatischen Erwägungen schon mit dem Grundverständnis des Menschen als von sich aus Blinder und Tauber zu beginnen, der von Gott wahrgenommen wird und durch diesen Blick und sein Ansehen gerechtfertigt wird. Diese Einsicht in die Wahrheit des Menschen vor Gott gehört an den Anfang jeder Theologie. Somit ist der theologische Ort einer Ästhetik innerhalb
18
19
20
Vgl. BALTHASAR, H.U. v., Herrlichkeit. Eine theologische Aesthetik, Bde. I-III, 1961-1969 sowie dazu WEDLER, ESTHER-MARIA, Splendor caritatis. Ein ökumenisches Gespräch mit Hans Urs von Balthasar zur Theologie in der Moderne (Erfurter theologische Studien Bd. 94), Bamberg 2009. Vgl. HARTMANN, N., Ethik, Berlin 41962, 17. Vgl. auch JÜNGEL, E., Wertlose Wahrheit. Christliche Wahrheitserfahrung im Streit gegen die „Tyrannei der Werte“, in: DERS., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens, Theologische Erörterungen III (BEvTh Bd. 107), München 1990, 90-109, 95. Der Zusammenhang von Ästhetik und Ethik, der auch in den philosophischen Debatten immer wieder behandelt wird, kann hier jedoch nicht ausführlich untersucht werden, da sich diese Arbeit auf den Zusammenhang von theologischer und ästhetischer Hermeneutik anhand des Erfahrungsbegriffs konzentrieren möchte. Vgl. dazu v.a. ERNE, TH., Lebenskunst, passim, hier besonders Teil B: Lebenskunst 53-123.
Schlusswort
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einer Fundamentaltheologie21 anzusetzen, die auf das Fundament jeder christlichen Theologie, nämlich der Offenbarung Gottes in Jesus Christus bezogen ist, und darum immer zugleich auch eine Theorie der Offenbarung ist. Dabei verstehe ich Fundamentaltheologie durchaus im Sinne Ebelings, der das Fundament der Theologie im rechten Unterscheiden von Gesetz und Evangelium sieht, wobei das Gesetz erst am Evangelium deutlich wird und umgekehrt. Im Unterschied zu Huizings Identifizierung von Ästhetik und Elementarwissenschaft wird hier Ästhetik als Wahrnehmungslehre der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium unterstellt und daraus die Verortung dieser Wahrnehmungslehre innerhalb einer Fundamentaltheologie abgeleitet, deren fundamentum etwas anderes ist als sie selbst. Die Wahrnehmung Gottes bleibt das Kriterium jeder menschlichen aisthesis und aller menschlichen Wahrnehmungsvollzüge, jedoch umschließt sie diese Vollzüge und macht sie nicht unverzichtbar, solange die Welt unklar ist.
21
Vgl. EBELING, Erwägungen zu einer evangelischen Fundamentaltheologie (1970), in. DERS., Theologie in den Gegensätzen des Lebens, Wort und Glaube Bd. 4, Tübingen 1995, 377-419, 412.
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398
Literatur
mit einem Nachwort versehen von Lambert Wiesing, Frankfurt am Main 2003, 85-124. Wohlfart, Günter: Das Schweigen des Bildes. Bemerkungen zum Verhältnis von philosophischer Ästhetik und bildender Kunst, in: BOEHM (Hg.): Was ist ein Bild, aaO, 163-183. Wyller, Trygve: Glaube und autonome Welt. Diskussion eines Grundproblems der neueren systematischen Theologie mit Blick auf Dietrich Bonhoeffer, Oswald Bayer, K.E. Løgstrup (TBT Bd. 91), Berlin 1998. Zeindler, Matthias: Gotteserfahrung in der christlichen Gemeinde. Eine systematisch-theologische Untersuchung (Forum Systematik. Beiträge zur Dogmatik, Ethik und ökumenischen Theologie Bd. 13), Stuttgart/ Berlin/ Köln 2001. –, Gott und das Schöne. Studien zur Theologie der Schönheit (FSÖTh Bd. 68), Göttingen 1993. –, Kunstwahrnehmung als exemplarische Beziehung. Zum Verhältnis von Kunst und Ethik, in: NZSTh 38 (1996), 74-96. Zillessen, Dietrich / Alkier, Stefan / Koerrenz, Ralf / Schroeter, Harald (Hgg.): Praktisch-theologische Hermeneutik. Ansätze – Anregungen – Aufgaben, Rheinbach-Merzbach 1991. Zillessen, Dietrich: Religionspädagogische Lernwege der Wahrnehmung, in: DERS./ALKIER, ST./KOERRENZ, R./SCHROETER, H. (Hgg.): Praktisch-theologische Hermeneutik. Ansätze – Anregungen – Aufgaben, Rheinbach-Merzbach 1991, 59-85. –, Und der König stieg herab von seinem Thron. Das Unterrichtskonzept religion elementar, Frankfurt am Main 1997. Zink, Markus: Theologische Bildhermeneutik. Ein kritischer Entwurf zu Gegenwartskunst und Kirche (Ästhetik – Theologie – Liturgik Bd. 24), Münster/ Hamburg/ London 2003.
Sachregister Abendmahl 35, 38ff., 79, 90f., 101f., 107, 210, 214, 291, 300, 318 Aisthesis 14, 59, 112, 136, 137, 138, 140f., 144f. analogia entis 20f. analogia fidei 20 Analogie 20, 22, 24, 75, 93, 159, 197, 204, 241, 271, 277f., 316, 341 Aneignung 11, 36, 84, 94, 104, 109, 144, 147f., 172, 234, 301305, 305, 309, 336, 341, 345ff., 350 Anthropologie 5, 23f., 59, 70, 74, 116, 183, 188, 200, 205, 207, 209f., 247, 256, 262, 300, 324, 329, 358 Anthropomorphismus 19, 21f. Ästhetik 2ff., 6-9, 11-14, 16, 20, 23f., 29f, 32f., 34, 42, 47-50, 59ff., 66, 79ff., 86, 92, 96, 98, 104, 106f., 110, 118f., 122, 127f., 131, 136ff., 144ff., 149ff., 157f., 162-167, 169f., 173, 177ff., 184f., 188, 191, 213, 219, 225, 230f., 234f., 240ff., 246, 249f., 259, 261, 266, 268, 270, 277ff., 286-290, 292, 299, 306, 309, 313-317, 324, 327, 329, 332, 339-345, 348-353, 355ff., 360ff
ästhetische Erfahrung 14, 17, 47, 49, 80, 151, 158, 162, 165, 177, 231-235, 237ff., 249f., 259, 268, 315f., 368f., 373f., 382, 385, 388, 391, 395, 398 Ästhetizismus 44f., 48, 106, 286, 345 Auferstehung 262, 341ff., 356 Aufklärung 83, 85, 120f., 295, 330 Ausdrucksgestalt 7, 157, 159, 161, 235, 279, 301ff., 305, 307, 311f., 339 Autor 1, 5, 8, 92, 94, 97, 99, 101, 103ff., 110, 199, 263, 284, 316, 322, 327, 330, 332, 340, 346, 348, 351, 367 Bewusstsein 5, 32, 49, 63, 71, 83, 93, 127, 140, 153, 155f., 171f., 182, 194, 219, 233, 237, 248f., 257, 282, 321, 326f., 346 Bibel 2, 4f., 8, 21f., 31, 51, 65f., 70, 73, 89, 95, 112, 116, 127, 145, 188, 197, 248, 273, 277, 279, 302, 304f., 320, 325, 329, 359, 370f., 377, 379 Bild 1, 7, 17, 19, 26, 30, 57, 64, 103, 117, 119, 125, 140, 142, 144, 152, 178, 188, 226, 263, 267, 279, 299, 305ff., 311ff., 316-328, 341, 345, 347ff. Bilderverbot 16f., 95, 103, 140, 318, 391
400
Sachregister
Böse, das 44, 206, 209, 213, 215f., 389f. Christologie 19, 30, 39, 74, 116, 181, 247, 273, 298, 306, 362, 370, 383f. Darstellung 6, 8, 12, 30, 50, 58, 71, 139, 143f., 147, 155f., 162, 165, 169f., 173, 176ff., 181, 186f., 210, 212, 215, 224, 232, 234f., 244, 251, 266f., 280, 286, 294, 315, 318, 324, 326, 340, 350, 356f., 359 Deutung 40f., 111, 139, 158, 162f., 167, 173-178, 181, 221, 227, 241, 247, 249, 255, 259, 266, 274, 300, 305, 331-337, 348f., 362 Dogmatismus 201, 279-285, 288 Doxologie 33, 40, 46, 124 Empirismus 73, 163, 193, 203 Endlichkeit 54, 123, 158f., 161, 195, 216, 226, 244, 261f., 275, 278f., 281f., 287, 337, 352, 357f. Erfahrung 3ff., 8, 11, 14, 17ff., 22f., 26-42, 46, 50-56, 58, 6071, 79f., 84, 93, 98f., 103f., 111f., 114f., 124, 126-133, 137, 143-154, 158-187, 191-221, 226-258, 260-278, 281-286, 291-304, 307f., 311f., 315, 317, 322, 324, 327, 329, 331ff., 336f., 339, 341f., 344-351, 355f., 358, 360f. Erfahrungsformen 4, 46, 145, 151, 158, 162, 164, 167, 187, 241ff., 249f., 252f., 258, 263,
265f., 270ff., 276f., 303, 331, 339, 350, 352, 360 Erfahrungshermeneutik 213, 292ff., 296f., 300 Erfahrungstheologie 6, 19, 51 Erhabene, das 8, 169, 290, 390f. Erinnern 139, 142, 145, 321, 347 Erkenntnistheorie 52, 101, 194, 195, 292, 344 Erleben 64, 67, 134, 138, 141f., 166, 199, 226f., 229, 265, 302, 321 Erscheinung 15, 30, 45, 57, 67, 74, 80, 117, 140ff., 162, 173, 181, 184, 221, 240, 246, 249f., 277, 306, 316, 326, 340, 342, 344 Eschatologie 2, 35, 41, 90, 266, 296, 362, 374, 389 Evangelium 12, 20, 53, 58, 65, 69, 76, 81, 95, 104, 107, 176, 181, 209, 212, 263, 273, 275, 305, 307, 320, 345, 348, 359, 363 Fiktionalität 265, 279, 289, 326ff. Form 2, 4, 14, 16f., 20, 22ff., 29, 31, 33ff., 40, 42f., 51, 53, 56, 68, 71, 75, 76, 80, 82, 85, 89, 103f., 107, 114, 116, 120, 123, 132, 135, 141, 155, 161-167, 171f., 177, 179, 185, 194, 198, 204, 225, 226, 239f., 242, 250f., 260, 270, 281, 283, 286, 288, 291, 302, 312, 314, 319, 321, 324f., 333, 343, 346, 350, 356, 358
Sachregister
Fragmentarität 7, 88, 224, 241, 260ff., 275, 281, 286, 358 Freiheit 25f., 33, 87, 98, 100, 108, 110, 120, 131, 135, 137, 154, 157f., 179, 206, 211, 224f., 267, 269, 274f., 282, 293, 295, 315, 328f., 342, 353 Fundamentaltheologie 13, 32, 50, 52, 136f., 300, 342, 344, 357, 363, 372, 380, 386, 392 Gebet 52, 77f., 94, 175, 304, 310, 380 Gefühl 55, 67, 91, 126, 137, 153, 155ff., 163ff., 168, 170, 174, 196, 220, 230, 232, 257, 287, 292, 357 Geist 22f., 34, 40, 74, 76, 84, 98, 103, 108, 110f., 113, 125, 127, 134, 139f., 142, 200, 220, 224f., 277, 287, 297, 305, 307, 310, 313f., 322, 344 Gelassenheit 124, 214f., 217, 291 Gemeinde 35-40, 46f., 76, 254, 352 Genießen 42, 213, 300 Geschichte 4, 16, 18, 22, 27, 50, 53, 85, 88f., 92, 99f., 105f., 141, 160, 175, 199, 201, 211, 217, 221, 248, 273, 284, 294, 310, 327, 329, 344, 367, 376, 393, 394f, 397 Gesetz und Evangelium 54, 58, 81, 98, 108, 176, 178, 181, 198, 224, 228, 272f., 275, 291, 301, 309, 339, 361, 363, 385
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Gestalt 4, 12, 21f., 39, 57, 69, 79, 81, 92, 95, 103, 108, 111, 132, 137, 160, 168, 181, 212, 225, 250, 258, 276, 290, 291, 301f., 307, 310, 322, 333, 336, 341ff., 361 Gewissheit 78, 133, 140, 176, 202, 223, 249, 259, 281f., 338 Glaube 1ff., 13, 20, 25f., 28f., 42ff., 49-56, 58, 61, 63, 65, 68ff., 76, 78ff., 84, 87, 95, 96, 103f., 110, 122, 124, 129, 137, 143, 145, 147f., 176, 180f., 184, 186, 192, 195f., 198, 200, 202, 204, 209f., 213f., 217f., 220224, 228f., 235, 275ff., 283, 291f., 296, 298f., 302f., 311, 315, 331f., 335, 339, 348, 350f., 356, 358, 362, 363 Glaubenserfahrung 4, 7, 26, 41, 46, 52, 54, 81, 129, 146, 191f., 196, 203, 217f., 226ff., 244, 251, 260, 264, 271, 273-278, 303f., 307, 329, 331, 339, 342, 351, 356, 360f. Gleichnis 19ff., 26, 40f., 45, 126, 342 Glück 158, 221, 229, 274, 353 Gnade 26, 69, 75, 99, 132, 141, 171, 213, 214, 274, 286, 291, 293, 296, 300, 344, 353 Gottesdienst 2, 34-38, 46, 79, 97, 156, 160, 177, 225, 304, 318, 359, 361 Gotteserfahrung 28, 35-41, 46f., 54, 77, 128
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Sachregister
Hamartiologie 188, 204f., 282, 360 Hässliche, das 43, 47, 153, 340 Hässlichkeit 43f. Heil 216f., 221ff., 229, 274, 330, 353 Heilige, das 4, 57, 76, 110, 142, 150, 162, 219, 220, 263, 391 Heilige Schrift 4, 7f., 82, 91, 93 104, 202, 276, 278, 297ff., 305, 309, 329, 348, 350, 359 Hermeneutik 2-6, 14, 18ff., 29, 44, 49ff., 56, 60f., 72, 74ff., 84ff., 106ff., 113, 161, 184f., 188ff., 195, 198, 200, 204, 209ff., 217, 221, 230f., 235, 248, 259, 277ff., 282ff., 292, 294, 296-300, 303, 320, 325, 333, 335ff., 345f., 355, 360, 362 Herrlichkeit 2, 11, 16, 34f., 75, 98, 139, 170, 253, 308, 342ff., 362 Herz 172, 257f., 342 Hybris 7, 222ff., 298 Idealismus 110, 157, 357 Identität 11, 21, 83, 107, 134, 152, 156, 162, 177, 194, 217, 219, 249, 260ff., 279, 362 Immanenz 92, 157, 172, 266 Individualismus 82, 129, 201, 297 Inkarnation 31, 73, 74, 100, 111, 116f., 121, 128, 225, 298, 348, 390 Jesus Christus 12, 19, 20, 34, 48, 85, 88, 102f., 116, 132, 139,
176, 213, 224, 228f., 299, 307, 320, 323, 352, 359, 362f. Kirche 12, 16, 34, 43, 48, 128, 140f., 161, 163, 213, 216, 225, 273, 304, 316, 321f., 361 Kontingenz 54, 152f., 158, 250, 275, 305 Kreatur 15, 40, 41, 43, 68, 79, 84, 91, 93, 95, 97, 99ff., 106f., 253, 299, 301, 351, 362 Kreuz 12, 19, 31, 40, 45, 54, 93, 140, 209, 341, 343, 357, 359 Kult 71, 171, 176f., 358 Kultur 3, 7, 32, 41, 43ff., 47f., 91, 96, 164, 173, 180, 183, 273f., 278, 290, 324 Kunst 1ff., 5, 7f., 11, 13-18, 27, 29ff., 42, 45, 47f., 63, 67, 80, 82, 91f., 97, 113, 116, 118, 131, 140, 143-163, 167, 169-181, 209, 225, 230, 232, 233-239, 243, 250f., 253, 259f., 267f., 270-275, 278, 284ff., 289f., 304, 306, 314, 316f., 319, 325ff., 329, 331, 336, 340, 342, 347, 349-352, 353, 356ff. Leben 1, 25, 30, 47, 51f., 61f., 68, 70f., 79, 81f., 91, 94-101, 107, 117f., 122ff., 127, 137f., 140f., 149, 151, 154, 157ff., 167, 171, 173, 175, 178f., 182, 192, 198, 206, 224, 226-230, 239, 242, 251, 259-264, 266, 272f., 280, 296, 299, 304, 306, 310f., 322f., 331, 341, 346, 348, 350, 353
Sachregister
Leib 4, 22f., 76, 79, 92, 97f., 101, 124, 127, 133ff., 174, 247, 300, 305 leibliches Wort 4, 26, 92, 108f., 211, 301, 306, 310, 345 Leiblichkeit 5, 23, 33, 79, 98, 134, 247, 259, 313 Liebe 30f., 33f., 41f., 45, 60, 92, 98, 100, 126, 285, 298, 342ff., 353, 393 Liturgie 318, 361 Logos 111, 116, 235, 279f., 286, 299 Medium 7, 50f., 77, 101, 105, 126, 134, 139ff., 145, 186, 188, 192, 237, 258, 260, 277, 306, 310, 318-322, 347 Metakritik 84, 86, 106, 109, 194, 259, 282, 287, 313 Metapher 18ff., 31, 100, 124, 324ff. Metaphorologie 18ff., 187 Metaphysik 24, 28, 50ff., 83, 98, 115, 150ff., 195, 201, 203, 210, 221, 239, 292f., 315, 337, 344 Moderne 3, 17, 30f., 50, 82f., 120, 125, 149, 157, 163-173, 216ff., 251, 255, 259, 267, 292, 298, 314, 326, 341, 343, 357, 359, 362 Möglichkeit 13, 16, 24ff., 28, 30, 36f., 52, 57f., 102, 114, 123, 129f., 148, 181, 184, 201, 221, 224, 226, 233, 236f., 241f., 255, 262, 267f., 273f., 283, 289, 295, 303, 308, 310, 311, 317, 319, 323, 327, 352
403
Moral 28, 53, 221, 330, 391 Musik 97, 117, 172, 306, 307, 313, 316, 318, 321, 327, 360 Mystik 7, 267, 310 Mythos 50, 71, 76, 113, 125, 159, 188, 210, 263, 267, 286, 288, 292 Natur 32f., 37, 67, 89, 95, 97, 99, 100f., 110ff., 117, 119, 125ff., 197, 202, 218, 239, 273, 297, 298, 300, 305, 309, 312f., 320f., 327, 342 natürliche Theologie 28 negative Theologie 269 Neuzeit 31, 55, 82f., 109, 115, 119, 135, 193, 201, 203, 217, 256, 259, 285, 289 Objekt 43, 49, 70, 93, 105, 120, 149, 157, 237f., 240, 245, 269, 307, 312, 316f. Offenbarung 11f., 16, 20, 22, 27f., 33, 39, 60, 66ff., 79ff., 84, 89, 99, 119, 129, 130ff., 137ff., 145f., 148, 153, 176, 187, 200, 203, 213, 219, 224, 227, 258, 273, 276f., 306f, 311f., 321, 329, 335, 337, 339, 341, 343, 344, 361, 362, 363 Offenbarungstheologie 169 Ontologie 41, 49, 59, 78, 93, 96, 117, 134, 195, 200, 281, 285, 294, 295 Passivität 42, 54f., 59, 68, 77f., 91f., 131, 133, 137, 142, 146f., 153, 192, 197, 214, 217, 250, 251, 255, 265, 276, 286, 303, 304, 309, 311, 348, 352f., 358
404
Sachregister
Person 25, 79, 94, 107, 110, 121, 128, 134, 136, 147f., 175, 185f., 198ff., 204, 206, 230, 245, 254, 256ff., 263-268, 276, 281, 283, 303ff., 313, 316, 322, 333, 336f. Phänomen 22, 29, 45, 47, 56, 59, 85, 142, 173, 181, 212, 217, 220f., 224, 226, 240, 246, 280, 298, 326, 339 Phänomenalität 43, 112f., 226, 286, 360f. Phänomenologie 55, 110ff., 120, 123, 195, 197, 235, 247, 254, 286, 355 Postmoderne 17, 82, 216, 255, 259, 267, 286, 394 Praktische Theologie 2, 30, 34, 131, 159, 187, 277, 314, 349, 355f., 360f. Präsenz 2, 22, 222f., 236, 248, 315-319, 325f. Psychologie 137, 157, 219 Rationalismus 73, 118 Realpräsenz 39, 46, 73, 111, 121, 267 Rechtfertigung 25, 69, 90, 97, 132, 135, 147f., 179, 199, 210, 212ff., 229, 257, 261, 297, 300, 303, 305, 309, 311 Reflexionssubjektivität 147, 149, 151ff., 162, 173, 179f., 254, 258f., 266, 268, 331, 337 Relation 41, 58f., 84, 92, 129, 147, 155, 176, 234, 242, 256, 264 Religion 1-5, 13, 28, 53-58, 67, 71, 96, 99, 122, 131, 148-183,
195, 217-230, 239, 249ff., 261, 266ff., 271, 273, 275, 282, 289, 295, 297, 299, 314, 319, 326ff., 331, 356, 358ff. Religionsphilosophie 13, 83, 195, 218f., 227, 324 religiöse Erfahrung 7f., 30, 35, 46, 51, 54, 81, 93, 128f., 143, 146, 149-154, 157ff., 164, 181, 185, 219, 224, 226-230, 239244, 249-254, 260, 263-268, 274-278, 302, 352 Rezeption 14, 23, 52, 86, 93, 105, 120, 143, 147, 151f., 159, 180, 186ff., 251, 260, 292, 301, 303, 309, 315, 345, 347, 350ff. Sakrament 95, 102, 108, 122, 305ff., 313, 321, 345 Schein 11-15, 18, 30, 34, 90, 255, 265, 341 Schöne, das 11-17, 23, 29, 32ff., 40-45, 48, 78f., 145, 167, 341ff., 349 Schönheit 11ff., 32ff., 40, 41-45, 78ff., 88, 97, 124, 153, 165, 238, 273, 275, 287, 339, 340, 341ff., 349, 361f. Schöpfung 15, 25, 32, 40-47, 68, 70, 74, 78, 80, 84, 87-91, 94, 96-102, 106f., 111f., 116, 119, 122f., 127f., 131, 146, 186, 213, 214ff., 269, 289f., 299, 303, 360, 362 Semiotik 156, 317, 318, 345, 347, 355 Sinn 5, 27, 42, 51, 60, 64, 68, 82, 88f., 95, 108, 114, 118, 121,
Sachregister
125, 130ff., 151, 153, 158, 160, 170f., 182, 185, 195, 197, 199, 201-206, 212f., 217, 221, 229, 231, 238, 240, 246, 249, 259, 268, 270, 272ff., 280-285, 292295, 297, 299, 300, 304, 312, 315, 323, 325, 327, 329, 333, 338, 347, 351, 352, 353 Sinnlichkeit 22f., 43, 85, 101, 103, 106, 114, 125, 133ff., 137, 140, 170, 185, 194, 259, 287f., 291f., 300f., 313, 345, 357, 362 Soteriologie 52, 247, 298 Sprache 1f., 5, 7, 18-25, 29, 31, 33, 49ff., 54ff., 60-67, 74ff., 82, 84ff., 91, 93f., 96, 98, 105-109, 112, 117, 121, 124, 128f., 140146, 150, 156ff., 178, 184, 186ff., 192ff., 197, 202, 207ff., 217f., 228, 243, 245, 247, 276, 279, 283, 285, 292, 294, 298ff., 303, 306, 311ff., 317-327, 330f., 334, 336, 342, 353 Sprechakt 108f. Stil 113, 173, 179 Subjekt 37, 54, 83, 92ff., 105, 109f., 128, 150ff., 155, 160f., 165ff., 174, 176, 180, 185, 200f., 204, 206, 214ff., 232ff., 236f., 244ff., 250, 252, 254f., 258-265, 269, 288, 293ff., 302, 307, 312, 316f., 329, 333ff., 344, 347 Subjektivismus 46, 129, 182, 201, 238, 283, 295, 336 Subjektivität 1, 6, 46, 106, 110, 120, 137, 150ff., 157f., 163,
405
165, 173f., 178ff., 185f., 188, 192, 231, 234, 237, 254f., 258ff., 281, 289, 296, 335f., 349f., 357 Sünde 7, 25, 32, 43ff., 47, 62, 69, 71f., 78, 87, 90f., 98, 122, 124, 128, 182f., 185, 188, 198ff., 204-217, 224, 226, 228, 255, 257, 260f., 272f., 278-283, 293301, 328 Sündenerfahrung 198, 207, 211 Sünder 24, 43, 55, 66, 86f., 93, 97f., 101, 186, 195, 198, 200, 204, 207, 210, 213ff., 225, 229, 258, 262, 275, 280, 284, 295, 297ff., 305, 337, 352, 362 Symbol 71, 124f., 156, 270 Taufe 79, 83, 90f., 101, 208, 210 Technik 111, 113, 169, 195, 212, 215, 251, 357 Theologie 2-19, 23-34, 41f., 4756, 59ff., 65, 71ff., 77-84, 9296, 99ff., 105, 109ff., 117, 122, 126ff., 132--140, 144ff., 152, 154, 157, 160, 176, 181f., 184199, 202-211, 214, 216, 222, 225f., 238, 241, 246, 250, 256, 259, 261, 263, 267, 269, 271, 277, 280-286, 289, 290ff., 298, 303-308, 310, 312, 319f., 324, 326, 328ff., 336f., 342-363 Transzendentalphilosophie 150 Transzendenz 111, 128, 172, 174, 230, 266ff., 358 Trinität 175, 256
406 Vernehmen 65f., 111, 118, 188, 217, 240, 346, 350 Vernunft 8, 28, 51, 83-87, 93, 99, 103, 106-122, 126, 133, 137, 182, 188, 198, 200, 203, 208, 231ff., 238f., 255, 257f., 266, 273, 278-282, 285-295, 313, 328, 330, 338, 344, 356, 357 Verstehen 1, 4, 49ff., 67, 100, 109, 137, 159, 169, 173, 185, 208, 221, 238, 271, 276, 282, 292, 293, 295, 297, 313, 322, 331-337, 344ff., 351 Vertrauen 26, 214, 257, 331 Verweilen 43, 168, 269f. Vision 67, 321 Wahrheit 11-21, 25, 28ff., 41, 45, 48ff., 53, 58, 64ff., 70, 75f. 80f., 85, 88, 94, 100ff., 110, 112, 118, 126f., 138-142, 147, 159, 162, 169, 187, 192, 194f., 199ff., 209f., 213, 218, 231235, 250, 255, 258, 265, 270f., 274, 284, 288ff., 297-344, 348352, 357, 359, 362 Wahrnehmung 1ff., 8, 14, 16, 24, 29f., 36, 42ff., 53, 59, 61, 64, 66, 77, 80, 86-93, 96, 105, 107, 111ff., 116, 119, 127, 136, 138, 143ff., 150ff., 159ff., 181, 184, 187f., 192, 203, 205, 211ff., 219, 235ff., 240f.,
Sachregister
245-251, 263, 266, 269ff., 274ff., 280, 285, 288ff., 296, 305, 308f., 313, 323, 325, 330, 350-359, 362f. Wahrnehmungslehre 3f., 42, 80f., 97, 107, 118, 121, 162, 173, 351, 355, 363 Werk 14, 24, 33, 43, 80, 83, 88, 104, 160, 162, 169f., 214f., 232, 235, 239, 249, 270, 293, 297, 304, 312, 327, 341, 349f. Widerfahrnis 27, 37, 57, 60, 65, 68, 104f., 152, 192, 208, 252, 260, 265, 350 Wirklichkeit 1f., 13, 18ff., 24ff., 39f., 44ff., 49, 52f., 57f., 61-74, 77-87, 99, 101, 104, 109, 111, 115, 118, 122ff., 127ff., 135f., 140, 146, 173, 181-188, 199204, 208, 211-222, 225-229, 240, 242, 245-255, 258, 260, 266, 268-275, 277, 279, 284, 286, 288-292, 296, 300, 304, 307f., 324, 326-335, 338, 345, 351, 355, 357ff., 362 Wissenschaft 36, 54, 71, 96, 112, 115, 121, 132, 135, 188, 194f., 205f., 231, 235, 251, 273, 279, 282-287, 290ff., 330, 356f. Wort Gottes 4, 21, 29, 49, 51, 55, 60, 69, 72-77., 81, 96, 186, 196, 286, 294, 298, 304-312, 321, 330, 345
Personenregister Adorno, Theodor 166, 231f., 234, 267, 295, 341, 349, 352, 355 Bahr, Hans E. 16f., 306, 321 Barth, Karl 28, 33, 41, 45, 342 Barth, Ulrich 160, 163-180, 185, 192, 251, 266, 291, 317, 331, 335, 360 Baumgarten, Alexander G. 241, 287 Bayer, Oswald 8, 29, 82-101, 104-109, 121, 147, 185f., 206, 208, 211, 264, 282f., 294, 301, 304, 309, 311, 312, 336, 345, 350, 361f. Benjamin, Walther 238, 277, 355 Bloch, Ernst. 341 Blondel, Maurice 357 Böhme, Gernot 3, 92, 170, 246 Bohren, Rudolf 34, 225, 361 Bonhoeffer, Dietrich 62, 84, 159 Bubner, Rüdiger 47 Bultmann, Rudolf 26, 29, 51f., 95, 221 Camus, Albert 1, 304 Dalferth, Ingolf U. 37, 39f., 186, 192, 227, 323, 333f. Descartes, René 109, 120, 154, 256 Dewey, John 237, 393 Dilthey, Wilhelm 265, 302f., 336
Ebeling, Gerhard 6, 27, 29, 35, 41, 44, 49-81, 88, 123, 184ff., 196, 203, 210, 224, 228, 235, 244, 272f., 301, 312, 345, 356, 361, 362 Eco, Umberto 162, 327, 347, 349, 355 Feuerbach, Ludwig 57, 185, 222, 225f. Fichte, Johann G. 115, 131, 175, 279 Freud, Siegmund 146 Frisch, Max 330 Früchtl, Josef 233, 235f., 238, 240 Fuchs, Ernst 18, 25, 60, 345 Gadamer, Hans Georg 50, 192, 194, 232, 235, 237, 260, 270, 316, 320, 333, 335ff., 352, 375 Gehlen, Arnold 163 Gestrich, Christoph 183 Gräb, Wilhelm 147-164, 167, 170ff., 177, 179f., 185, 192, 258, 266, 268, 317, 331, 335, 355, 360 Grözinger, Albrecht 16, 17 Habermas, Jürgen 231, 282, 374 Hamann, Johann G. 4, 73, 83ff., 89, 92, 98ff., 105f., 108, 114, 118, 122, 127, 210, 281ff., 287, 291, 295, 312f., 322, 335, 340, 348, 360 Härle, Wilfried 214
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Personenregister
Hartmann, Nicolai 169, 362 Hegel, Georg W. F. 85, 115, 130, 154, 171f., 175, 185, 194, 232, 255, 340 Heidegger, Martin 11, 15, 66, 96, 118, 169, 194f., 215, 232, 237, 289, 295, 336, 349, 357, 361 Henrich, Dieter 1, 150, 153, 157f., 174, 239, 260 Herder, Johann G. 312 Herms, Eilert 128-148, 187, 277, 303, 309, 311, 321f., 344, 347 Huizing, Klaas 4, 127, 246, 248, 250, 348 Humboldt, Wilhelm von 85, 312 Hume, David 73 Husserl, Edmund 234, 237, 255 Imdahl, Max 314f., 318 Iser, Wolfgang 161, 329, 351 James, William 146, 218, 219 Jauß, Hans R. 161 Jüngel, Eberhard 6, 11-31, 35, 41, 48, 49, 54, 73ff., 126, 144f., 185, 320, 341, 362 Kant, Immanuel 6, 73, 87, 121, 151, 153, 159, 164-170, 180, 194, 231-239, 258, 292, 324, 340 Kierkegaard, Sören 11, 23, 194, 199, 296 Korsch, Dietrich 173-181, 185, 210, 273, 289, 308, 331, 335 Körtner, Ulrich H. J. 42, 75, 346 Lavater, Johann C. 4 Luther, Henning 260ff.
Luther, Martin 4, 7f., 24, 28, 60, 62, 68f., 73, 86f., 89, 92, 95, 97, 101, 103f., 108, 143, 177, 185, 195, 197ff., 202f., 206, 208, 212, 214, 225, 256ff., 276, 281, 291, 293f., 297, 304, 307, 309, 314, 316, 328 Lyotard, Jean-François 159, 169f. Marx, Karl 57 Merleau-Ponty, Maurice 245, 247f., 255, 290 Mostert, Walter 44, 86f., 124, 129, 132, 196-208, 211f., 216, 222f., 261, 279f., 282ff., 291299 Nietzsche, Friedrich 289, 327, 328, 330, 357f. Otto, Rudolf 71, 220f. Pannenberg, Wolfhart 15, 35, 51, 73, 128, 205 Paulus (Apostel) 19, 34, 140, 178, 212, 253 Ricoeur, Paul 264, 325, 346f. Ringleben, Joachim 340, 348 Rosenkranz, Karl 341 Sauter, Gerhard 35, 81, 199 Schaeffler, Richard 252f., 255, 309 Schiller, Friedrich 11, 15, 267, 341 Schleiermacher, Friedrich 6, 28, 55, 71, 82, 91, 130f., 137, 144, 155ff., 174, 177, 179, 181, 185, 196, 221, 292, 295, 311, 337 Schmitz, Hermann 246, 355 Schwebel, Horst 16, 30, 268
Personenregister
Seel, Martin 234-240, 243, 267, 270f. Steiner, George 358 Theunissen, Michael 261, 269, 365, 387 Tillich, Paul 192, 222, 303, 310, 350 Timm, Hermann 75, 80, 106, 110-128, 185
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Trowitzsch, Michael 282, 295 Wagner, Falk 53, 54, 167 Welsch, Wolfgang 96, 118, 240f., 269, 288ff., 327 Zeindler, Matthias 6, 32-48, 320, 341f., 361