Stephan Herzberg Wahrnehmung und Wissen bei Aristoteles
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Stephan Herzberg Wahrnehmung und Wissen bei Aristoteles
Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler, Michael Quante
Band 97
De Gruyter
Wahrnehmung und Wissen bei Aristoteles Zur epistemologischen Funktion der Wahrnehmung von
Stephan Herzberg
De Gruyter
ISBN 978-3-11-021236-5 e-ISBN 978-3-11-021237-2 ISSN 0344-8142 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Herzberg, Stephan. Wahrnehmung und Wissen bei Aristoteles : zur epistemologischen Funktion der Wahrnehmung / von Stephan Herzberg. p. cm. − (Quellen und Studien zur Philosophie, ISSN 0344-8142 ; Bd. 97) Revision of the author’s thesis − Universität Tübingen, 2008. Includes bibliographical references (p. ) and index. ISBN 978-3-11-021236-5 (hardcover : alk. paper) 1. Aristotle. 2. Perception (Philosophy) 3. Knowledge, Theory of. I. Title. B491.P38H47 2010 121−dc22 2010036355
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Meinen Eltern
Vorbemerkung Die vorliegende Untersuchung ist die berarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2007/08 von der Fakultt fr Philosophie und Geschichte der Eberhard Karls Universitt Tbingen angenommen wurde. Sie ist im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefçrderten Projekts „Aristoteles’ Epistemologie im Zusammenhang seiner theoretischen Hauptschriften“ entstanden. Dem Projektleiter und meinem Doktorvater Prof. Dr. Drs. h.c. Otfried Hçffe mçchte ich fr zahlreiche Verbesserungsvorschlge und stete Ermutigung herzlich danken. Meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Anton Friedrich Koch (Heidelberg) verdanke ich entscheidende Klrungen und Einsichten whrend der Zeit meiner Promotion. Beide gaben mir immer wieder die Gelegenheit, Teile der vorliegenden Untersuchung in ihren Oberseminaren zur Diskussion vorzustellen. Herrn Prof. Dr. Johannes Brachtendorf danke ich fr die Mçglichkeit, an seinem Lehrstuhl zu arbeiten und in diesem Rahmen mein Studium des Aristoteles fortzusetzen. Wichtige einzelne Hinweise erhielt ich von Jun.-Prof. Dr. Klaus Corcilius (Hamburg) und Prof. Lloyd P. Gerson Ph.D. (Toronto), denen ich hiermit herzlich danke. Klaus Corcilius und Tim Wagner mçchte ich fr das berlassen einer bisher unpublizierten De Anima-bersetzung danken. Tbingen, im September 2010
Stephan Herzberg
Abkrzungen der Aristotelischen Werke An. Post. An. Pr. Cael. Cat. De an. Div. EE EN Gen. an. Gen. corr. Hist. an. Insomn. Int. Juv. Mot. an. Mem. Met. Meteo. Part. an. Phys. Pol. Probl. Protr. Rhet. Sens. Somn. Top.
Analytica posteriora Analytica priora De caelo Categoriae De anima De divinatione per somnum Ethica Eudemia Ethica Nicomachea De generatione animalium De generatione et corruptione Historia animalium De insomniis De interpretatione De juventute et senectute De motu animalium De memoria et reminiscentia Metaphysica Meteorologica De partibus animalium Physica Politica Problemata physica Protreptikos Ars rhetorica De sensu et sensibilibus De somno et vigilia Topica
Soweit nicht anders angegeben, stammen die bersetzungen vom Verfasser.
Inhalt Einleitung: Aristoteles – ein Empirist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen . . . . . . . . . . 1.1 Die Wahrnehmung als gnsis tis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Aristoteles’ Begriff der epistÞmÞ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Anti-fundamentalistische Interpretationsanstze . . . . . . . . . 1.4 Wahrnehmung und Wissen nach dem Protreptikos . . . . . . . .
18 18 26 40 47
2. Weltzugang und Sinnestuschungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.1 Die Wahrnehmung als gehaltvoller Zustand . . . . . . . . . . . . . 57 2.2 Das Kausalmodell und die Fallibilitt der Wahrnehmung . . 79 2.3 Reprsentationalismus oder Direkter Realismus? . . . . . . . . . 89 2.4 Aristoteles und das ,argument from illusion‘ . . . . . . . . . . . . 100 3. Der Gehalt der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Platons anti-empiristische Analyse im Theaitet . . . . . . . . . . . 3.2 Grundriß des Aristotelischen Wahrnehmungsbegriffs . . . . . . 3.3 Die idia und koina aisthÞta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Das aisthetische Ganze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109 109 121 127 133
4. Wahrnehmung und Intellekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Zwei Interpretationsmodelle der akzidentellen Wahrnehmung 4.2 Assoziation innerhalb der animalischen Wahrnehmung . . . . 4.3 Wahrnehmung und Wahrnehmungsmeinung . . . . . . . . . . . 4.4 Wahrnehmung und Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137 137 155 164 175
5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs . . 5.1 Wahrnehmung und Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Von der Wahrnehmung zur empeiria nach An. Post. II 19 . . 5.3 Vom ,fr uns Bekannteren‘ zum ,an sich Bekannteren‘ . . . . . 5.4 Von der empeiria zu den Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
182 182 195 204 213
6. Jenseits von Fundamentalismus und Kohrentismus . . . . . . . . . . 218
X
Inhalt
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Primrliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.1 Textausgaben, bersetzungen und Kommentare . . . . . . I.2 Andere Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Sekundrliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
222 222 222 223 223 224
Index locorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Index nominum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Index rerum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
Einleitung: Aristoteles – ein Empirist? Wenn wir uns fragen, welche Rolle die Wahrnehmung im Wissenserwerb spielt, scheinen sich zwei Funktionen unterscheiden zu lassen: Zum einen versorgt die Wahrnehmung unser Denken mit basalen Informationen, ohne die wir nicht zu einem sachhaltigen Wissen ber die Welt kommen kçnnten. Zum anderen fhren wir die Wahrnehmung auch als rechtfertigenden Grund fr eine bestimmte Meinung an, etwa wenn wir uns fr die Meinung, daß ein bestimmter Gegenstand rot ist, darauf berufen, daß wir gesehen haben, daß dieser Gegenstand rot ist. Whrend die Wahrnehmung im ersten Fall in einer kausalen Beziehung zu unseren kognitiven Zustnden steht, geht es im zweiten Fall um eine begrndende Beziehung zu einer bestimmten Meinung ber die Welt. Den Empirismus kann man nun erst einmal als eine epistemologische Position bestimmen, in welcher der Wahrnehmung beide Funktionen in einem eminenten Sinn zugesprochen werden: Die Wahrnehmung ist zum einen der Ursprung unseres gesamten Wissens, indem sie unsere kognitiven Aktivitten mit Informationen ber die Welt ,nhrt’ (gewissermaßen der ,Stoff‘), zum anderen stellt sie in der Form extern verursachter Sinneseindrcke das selbst nicht mehr rechtfertigungsbedrftige Fundament dar, auf das sich alle unsere Meinungen begrndend zurckfhren lassen mssen, wenn sie als Wissensansprche auftreten wollen (gewissermaßen der ,Boden‘).1 Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs wird immer wieder gerne als empiristisch charakterisiert.2 Dafr scheinen nicht nur einige programmatische Passagen zu sprechen, in denen Aristoteles die zentrale Bedeutung der Wahrnehmung fr den Erwerb demonstrativen Wissens (epistÞmÞ) betont.3 Auch die grundstzliche Annahme, daß der Intellekt (nous) ber keine 1
2 3
Das Problem an dieser empiristischen Konzeption ist, daß wir anscheinend beides zugleich nicht haben kçnnen: Entweder die Wahrnehmung ist als bloß ,kausales Zwischenstck‘ zwischen der Welt und unseren Meinungen aufgrund ihrer fehlenden begrifflichen Struktur nicht rechtfertigungsfhig, oder sie ist schon immer begrifflich verfaßt und kann andere Meinungen begrnden, was sie dann aber selbst wiederum rechtfertigungsbedrftig macht. Hierzu Sellars 1963. So etwa Barnes 1975, 259; Barnes 1982, 92; Modrak 1987, 123, 157 – 179; Lesher 1973, 65. Vgl. An. Post. I 18, 81a38 f.; I 31, 88a13 f.; De an. III 8, 432a7 f.; Sens. 437a1 – 3.
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Einleitung: Aristoteles – ein Empirist?
angeborenen und unbewußt vorliegenden Wissensinhalte verfgt, scheint auf eine empiristische Epistemologie hinauszulaufen: Die fr das demonstrative Wissen konstitutive Kenntnis der Prinzipien wird nach Aristoteles allein auf der Basis der Wahrnehmung als einem angeborenen und unterscheidungsfhigen Vermçgen erworben.4 Das Problem ist, wie diese Aussagen interpretatorisch einzulçsen sind und was sich daraus fr Aristoteles’ Epistemologie im ganzen ergibt. Man kçnnte nun der Meinung sein, daß Aristoteles bloß die These vertreten will, daß unser gesamtes Wissen seine kausale Herkunft in der Wahrnehmung hat und es keine angeborenen oder apriorischen Wissensinhalte gibt. In diesem auf die Genese des Wissens bezogenen Sinn kann man Aristoteles ohne weiteres als einen Empiristen bezeichnen; dieser schwchere Sinn ist fr die vorliegende Untersuchung nicht von Interesse. Einige der einschlgigen Passagen zum Wert der Wahrnehmung scheinen es aber nahezulegen, daß Aristoteles einen Empirismus im starken Sinn vertritt, und zwar in genau jenen beiden Spielarten, die gegenwrtig als ,Begriffsempirismus‘ und ,Urteilsempirismus‘ unterschieden werden.5 Nach dem ,Begriffsempirismus‘ gibt es Beobachtungsbegriffe, die sich durch eine psychologische Theorie der Abstraktion unmittelbar aus dem Wahrgenommenen gewinnen lassen, ohne daß dabei der Intellekt eigene, apriorische Inhalte beitrgt. Diese Beobachtungsbegriffe sind basal und auf sie mssen sich alle anderen Begriffe definitorisch zurckfhren lassen.6 Nach dem ,Urteilsempirismus‘ lassen sich alle synthetischen Urteile ausschließlich durch Bezugnahme auf Wahrnehmungen begrnden. Das bedeutet, daß all unsere Wissensansprche auf Wahrnehmungsmeinungen begrndend zurckgefhrt werden mssen, die selbst durch Sinneseindrcke gerechtfertigt werden. Diese stellen als ein ,unmittelbar Gegebenes‘ die Rechtfertigungsbasis fr unser gesamtes Wissen ber die Welt dar. Wesentlich fr diese Spielart des Empirismus ist, daß hier die Wahrnehmung eine rechtfertigende Rolle im Wissenserwerb spielt: Als ein Grund kann sie unmittelbar aus einer bestimmten Meinung ein ,empirisches Wissen‘ machen und mittelbar weitergehende Wissensansprche sttzen, etwa in der Weise, daß man seinen Anspruch, die Prinzipien einer Sache erfaßt zu haben, durch Rckgang auf eine bestimmte Klasse von Beobachtungen rechtfertigt.
4 5 6
An. Post. II 19, 99b26 – 35, 100a10 f. Fr diese Unterscheidung vgl. Kutschera 1982, 438 f.; Sellars 1989, 165 – 228; Wolterstorff 1995, 262 f. Hierzu genauer Kambartel 1968, 21 ff.; Kutschera 1982, 435 – 455.
Einleitung: Aristoteles – ein Empirist?
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Einige Passagen scheinen es nun nahezulegen, Aristoteles einen Empirismus in genau diesen beiden Spielarten zuzuschreiben.7 Fr einen ,Begriffsempirismus‘ wird immer wieder die Passage De an. III 8, 432a3 – 9 angefhrt8 : „Da aber kein einziger Gegenstand, wie es scheint, neben den wahrnehmbaren Grçßen getrennt existiert, sind die Gegenstnde des Denkens in den wahrnehmbaren Formen, das in Abstraktion Ausgesagte wie auch die Haltungen und Eigenschaften der wahrnehmbaren Dinge. Und daher kçnnte jemand, ohne etwas wahrgenommen zu haben, rein gar nichts lernen noch etwas verstehen, und wenn man betrachtet, muß man notwendig zugleich eine Vorstellung betrachten (ja· di± toOto oute lμ aQshamºlemor lgh³m oqh³m #m l²hoi oqd³ nume¸g, ftam te heyq0, !m²cjg ûla v²mtasl² ti9 heyqe?m)“ (De an. III 8, 432a3 – 9).
Hier scheint der intelligible Gegenstand (noÞton) irgendwie potentiell in den wahrnehmbaren Formen enthalten zu sein (als Teil in einem literalen Sinn) und nur noch – im Sinne des ,leave out and retain‘10 – von den individuellen Eigenschaften abstrahiert werden zu mssen, ohne daß dabei der Intellekt etwas ,Neues macht‘, d. h. apriorische Inhalte hervorbringt. Fr einen ,Urteilsempirismus‘ kçnnte An. Post. I 18 angefhrt werden: „Es ist auch einleuchtend, daß wenn eine bestimmte Wahrnehmung ausbleibt, notwendig auch ein bestimmtes Wissen ausbleibt, welches unmçglich zu erwerben ist, wenn wir wirklich Wissen erwerben entweder durch Induktion oder durch Demonstration und die Demonstration vom Allgemeinen abhngt (1j t_m jahºkou), die Induktion dagegen vom Speziellen (1j t_m jat± l´qor), und es unmçglich ist, das Allgemeine zu betrachten außer durch Induktion […] und 7 Vgl. Barnes 1982, 92: „The ultimate source of knowledge, in Aristotle’s view, is perception. Aristotle was a thoroughgoing ,empiricist‘ in two senses of that slippery term. First, he held that the notions or concepts in terms of which we seek to grasp and explain reality are all ultimately derived from perception […] Secondly, he thought that all science or knowledge is ultimately grounded on perceptual observations.“ Vgl. auch Barnes 1975, 259. Vgl. Modrak 1987, 123; 161: „In short, noetic activity of all sorts, including the exercise of knowledge, depends on perception; this psychological dependence has an epistemological counterpart. According to the Posterior Analytics, knowledge is dependent upon perception in that perception is the ultimate source of universal concepts and indemonstrable first principles.“ 8 Auch die Passagen De an. III 7, 431a16 f. und 431b2 kçnnten in diesem Sinn verstanden werden, wenn man das noÞton als eine ,verallgemeinerte Reprsentation‘ des wahrgenommenen partikularen Gegenstands auffaßt, der im einhergehenden phantasma prsentiert wird (Modrak 1987, 172). 9 Die mçglichen Lesarten dieser Stelle werden in Kap. 5.1 diskutiert. 10 Vgl. Locke, An Essay Concerning Human Understanding III 3, § 7.
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Einleitung: Aristoteles – ein Empirist?
eine Induktion durchzufhren ohne Wahrnehmung zu haben unmçglich ist. Die Wahrnehmung richtet sich nmlich auf das Einzelne (jah’ 6jastom), denn man kann davon kein Wissen erwerben – weder nmlich aus dem Allgemeinen ohne Induktion noch durch Induktion ohne die Wahrnehmung“ (An. Post. I 18; bers. Detel).11
Jedes Wissen im Sinne der epistÞmÞ kommt durch einen Beweis (apodeixis)12 zustande, der von obersten Prmissen, den Prinzipien (An. Post. I 2, 71b16 – 23), abhngt, die sich auf universelle und notwendige Tatsachen13 beziehen (katholou: I 4, 73b26 ff.; I 31, 87b32 f.). Dieses katholou kann aber nur durch Induktion erkannt werden, die wiederum beim Einzelnen (kath’ hekaston) ansetzt, wofr die Wahrnehmung zustndig ist.14 Das vorliegende Kapitel kçnnte man nun so verstehen, daß das Erkennen dieser obersten Prmissen durch ein induktives Schließen zustandekommt. Auf dieses induktive Verfahren, das bei der Wahrnehmung ansetzt, kçnnte man sich dann berufen, um seinen Anspruch, die Prinzipien erfaßt zu haben, zu rechtfertigen. Letztlich wrde somit alles Wissen auf der Wahrnehmung beruhen und durch sie legitimiert werden. Auch die ,Genetische Epistemologie‘ (Hamlyn) von An. Post. II 19 (99b36 – 100b5) kçnnte in diesem empiristischen Sinn verstanden werden: Die Frage, wie wir mit den Prinzipien bekannt werden (99b18), wird einige Zeilen spter in der ,Schwierigkeit‘ (diapoq¶seiem %m tir) aufgenommen, ob die kognitiven Zustnde als ganze erst entstehen oder unbewußt schon immer in uns vorliegen. Da letzteres nicht 11 Vgl. auch EN VI 3, 1139b26 – 31. 12 Ein Beweis zielt darauf, die urschlich-essentiellen Strukturen eines bestimmten Phnomens aufzudecken und es dadurch zu erklren. Hierzu Kap. 2.1 13 Wenn in dieser Untersuchung in Bezug auf Aristoteles von ,Tatsachen‘ die Rede ist, dann sind damit immer akzidentelle oder essentielle Verhltnisse des Zukommens gemeint. Fr Aristoteles besteht die Welt aus individuellen Substanzen und nicht aus Tatsachen. Die Zugehçrigkeit zu einer bestimmten Gattung und Art gewinnen die individuellen Substanzen durch essentielle Eigenschaften. Sie werden in ,essentiellen Prdikationen‘ (An. Post. I 22, 83a39 f.; I 4, 73a34 – 37) als Tatsachen dargestellt und fungieren in Beweisen als unvermittelte und erklrungskrftige Prmissen. Den Substanzen kommen bestimmte Akzidentien entweder notwendig (sog. per se-Akzidentien: z. B. dem Dreieck die Winkelsumme von 1808; vgl. Met. V 1025a30 – 34) oder bloß zufllig zu (z. B. dem Sokrates eine bestimmte Farbe). Diese akzidentellen Verhltnisse des Zukommens lassen sich in ,akzidentellen Prdikationen‘ (An. Post. I 22, 83a25 – 29) als Tatsachen darstellen. Ontologisch betrachtet bilden essentielle und akzidentelle Verhltnisse jeweils eine ,substantielle‘ bzw. ,akzidentelle Einheit‘ (vgl. Met. V 6; Met. X 1, 1052a22 – 25). 14 Das kath’ hekaston kann hier so aufgefaßt werden, daß es eine singulre Tatsache und nicht bloß eine singulre Qualitt bezeichnet (vgl. auch An. Post. I 31, 87b37 – 88a2; EN III 5, 1112b34 – 1113a2; VII 5, 1147a25 – 34; Top. V 3, 131b22 – 27).
Einleitung: Aristoteles – ein Empirist?
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mçglich ist, mssen sie erworben werden, was aber ex nihilo, also ohne irgendein Vorwissen, nicht mçglich ist (99b25 – 32). Hier kommt nun die Wahrnehmung als ein ,angeborenes unterscheidungsfhiges Vermçgen‘ (d¼malim s¼lvutom jqitij¶m : 99b35), das wir mit den anderen Lebewesen gemeinsam haben, ins Spiel. Als ein solches Vermçgen kann sie jene ,Kenntnis‘ (gnsis) gewhren, welche die Grundlage fr den Erwerb des Prinzipienwissens darstellt und dabei hinsichtlich ihrer Rangs an Genauigkeit unterhalb des gesuchten Prinzipienwissens bleibt (99b33 f.; 100a10 f.). Aristoteles skizziert, wie ausgehend von der Wahrnehmung ber das Gedchtnis und die Erfahrung die Kenntnis der Prinzipien zustandekommt und schließt diese Beschreibung mit dem Satz ab: „Es ist also klar, daß uns die ursprnglichen Dinge (ta prta) notwendig durch Induktion bekannt werden; denn auch die Wahrnehmung bringt auf diese Weise das Allgemeine hinein“ (100b3 ff.; bers. Detel mit nderungen). Auch das kçnnte man so verstehen, daß die Kenntnis der Prinzipien durch ein induktives Verfahren, das auf wahrgenommenen Tatsachen basiert, erworben wird und auf das man sich dann als Rechtfertigung des Wissensanspruchs, die Prinzipien erfaßt zu haben, berufen kann. Entgegen dieses ersten Eindrucks in Richtung eines Empirismus betont Aristoteles aber auch die Grenzen der Wahrnehmung hinsichtlich des Wissenserwerbs. In An. Post. I 31 sagt Aristoteles dezidiert, daß wir „durch Wahrnehmung nicht wissen kçnnen“: „Auch durch Wahrnehmung ist es nicht mçglich zu wissen (oqd³ di’ aQsh¶seyr 5stim 1p¸stashai). Auch wenn nmlich die Wahrnehmung sich auf das Quale und nicht auf ein Dieses richtet (B aUshgsir toO toioOde ja· lμ toOd´ timor) – wahrgenommen wird doch jedenfalls notwendigerweise ein Dieses, und zwar irgendwo und jetzt (aQsh²mesha¸ ce !macja?om tºde ti ja· po» ja· mOm). Das Allgemeine und auf alles Zutreffende (1p· p÷sim) dagegen kann nicht wahrgenommen werden, denn es ist kein Dieses und auch nicht jetzt; sonst wre es nicht allgemein, denn was immer und berall (t¹ c±q !ei` ja· pamtawoO) ist, nennen wir allgemein. Da nun die Demonstrationen allgemein sind, dieses aber nicht wahrgenommen werden kann, ist es einleuchtend, daß man durch Wahrnehmung auch nicht wissen kann (oqd’ 1p¸stashai di’ aQsh¶seyr 5stim); vielmehr ist klar, daß selbst wenn man wahrnehmen kçnnte, daß das Dreieck Winkel gleich zwei Rechten hat, wir nach einer Demonstration suchen und nicht, wie einige behaupten, wissen wrden. Wahrgenommen nmlich wird notwendig das Einzelne, das Wissen dagegen ist das Kennen des Allgemeinen“ (87b28 – 39; bers. Detel).
Daß man ,durch Wahrnehmung nicht wissen kann‘ (oqd³ di’ aQsh¶seyr 5stim 1p¸stashai), darf nicht so verstanden werden, als ob Aristoteles hier im Gegensatz zu anderen Aussagen die Relevanz der Wahrnehmung fr den
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Einleitung: Aristoteles – ein Empirist?
Wissenserwerb gnzlich bestreiten wrde. Aristoteles verneint vielmehr, daß ein Wahrnehmungsinhalt als Prmisse eines Beweises verwendet werden kann, durch den man eine Tatsache im strikten Sinn weiß (epistasthai hapls). Whrend sich der Akt des Wahrnehmens nmlich immer auf einen einzelnen Gegenstand an einer bestimmten Raum-Zeit-Stelle bezieht (tºde ti ja· po» ja· mOm)15, basiert Wissen im Sinn der epistÞmÞ immer auf Prmissen, die allgemein im strikten Sinn sind, d. h. sich auf universelle und ewige Tatsachen beziehen (!e· ja· pamtawoO ; vgl. auch I 4, 73a28 – 34, b26 f.): „Wahrgenommen nmlich wird notwendig das Einzelne, das Wissen dagegen ist das Kennen des Allgemeinen“ (87b37 ff.).16 Da universelle Tatsachen kein Inhalt der Wahrnehmung sein kçnnen, kann durch Wahrnehmung auch kein Wissen zustande kommen. Aristoteles sagt damit also nichts anderes, als daß man sich fr die wissenschaftliche Begrndung eines Phnomens nicht einfach und allein auf eine Wahrnehmung berufen kann. Dennoch mildert er diese Empirismus-Kritik dahin gehend ab, indem er in Bezug auf die Untersuchung eines natrlichen Ereignisses wie der Mondfinsternis sagt, daß „wir aus dem Beobachten, daß dies oft geschieht, das Allgemeine erjagend, einen Beweis gewinnen wrden: Denn aus mehreren einzelnen Tatsachen wird das Allgemeine klar“ (88a3 ff. und a13 f.). Aus dieser ersten Durchsicht der einschlgigen ußerungen des Aristoteles zur Rolle der Wahrnehmung im Wissenserwerb ergibt sich, daß die Wahrnehmung zumindest eine notwendige Bedingung fr den Erwerb 15 Wie Detel (1993 II, 493 f.) zu Recht bemerkt, ist das, was Gegenstand der Wahrnehmung (aUshgsir) ist, genau das, was nicht Gegenstand des Wahrnehmens (aQsh²meshai) ist, nmlich das toiºmde (vgl. An. Post. II 19, 100a17: hier jahºkou). Andererseits ist das, was Gegenstand des Wahrnehmens ist, genau das, was nicht Gegenstand der Wahrnehmung ist, das tºde ti. Wir werden auf diese Unterscheidung noch eingehen. 16 Es zeichnet sich schon hier ab, daß es bei Aristoteles keine ,empirische 1pist¶lg’ geben kann, die sich auf singulre, wahrnehmbare Tatsachen bezieht – in dem Sinn, wie in der gegenwrtigen Epistemologie vom ,empirischen Wissen‘ gesprochen wird (z. B. Kern 2006, 77): Hier fungieren Wahrnehmungsinhalte als Grnde, durch die ein ,Wahrnehmungswissen‘ hervorgebracht wird (vgl. etwa Audi 2003, 28 f.). Bei Aristoteles dagegen bilden Wahrnehmbares und Wißbares zwei verschiedene ,Bereiche‘ der Wirklichkeit (vgl. De an. III 8, 431b21 f.), denen verschiedene kognitive Vermçgen und Dispositionen entsprechen (vgl. An. Post. I 33; Met. VII 15, 1039b27 – 1040a7; EN VI 2, 1139a6 – 14; VI 3, 1139b19 - 24). Was Gegenstand der epistÞmÞ ist, kann nicht Gegenstand der Wahrnehmung und der doxa sein und was Gegenstand von Wahrnehmung und doxa ist, kann nicht im Sinne der epistÞmÞ gewußt werden (hierzu Gerson 2009, 67 – 70). Wir werden im Kap. 5.3 noch sehen, daß Aristoteles die sog. platonische ,Zwei-Welten-Epistemologie‘ nicht einfach bernimmt, sondern entscheidende Verfeinerungen an dieser Lehre vornimmt.
Einleitung: Aristoteles – ein Empirist?
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demonstrativen Wissens darstellt; sie hat eine zentrale epistemologische Funktion. Darin unterscheidet sich Aristoteles von Positionen, die der Wahrnehmung bloß die Kompetenz zugestehen, uns ber das Angenehme und Unangenehme zu informieren.17 Aristoteles betont in De sensu, daß die Sinne nicht nur der bloßen Erhaltung (sytgq¸ar 6mejem) dienen, indem mit ihnen das Empfinden des Lustvollen bzw. des Schmerzvollen einhergeht, das fr die elementaren Reaktionen des Fliehens und Verfolgens (ve¼ceim – di¾jeim) verantwortlich ist. In Lebewesen, die auch ber Verstand verfgen, sind die Fernsinne auch ,um des Guten willen‘ (toO ew 6meja) da: „Denn sie zeigen uns viele Unterschiede an, aus denen sowohl das Wissen der Gegenstnde des Denkens als auch der Gegenstnde des Handelns hervorgeht“ (Sens. 437a2 f.).18 Was bedeutet das aber genauer? Was trgt die Wahrnehmung zum Wissenserwerb bei? Wie ist ihr Gehalt zu bestimmen? Bildet die Wahrnehmung die rechtfertigende Basis, auf die sich unser ganzes Wissen zurckfhren lßt? Oder hat sie eine bloß kausale Funktion als sensorischer Informationslieferant? Was muß noch hinzukommen, um die fr das demonstrative Wissen konstitutiven Prinzipien zu erkennen? Diese Fragen wurden in der Vergangenheit fast ausschließlich anhand des Schlußkapitels der Zweiten Analytiken diskutiert: In der Tat ist es wichtig, wie der hier skizzierte aisthetisch-epagogische Vorgang (99b36 – 100b5) und der nous (100b5 – 17) jeweils verstanden und im Hinblick auf die Erkenntnis der Prinzipien zueinander gewichtet werden.19 Je nachdem, wie diese beiden Gewichte verteilt werden, scheint Aristoteles eher einen Em-
17 So betont etwa Descartes am Ende seiner Meditationes, daß uns die Sinne von der Natur nur deshalb gegeben wurden, „um dem Geist anzuzeigen, was fr das Kompositum, von dem er ein Teil ist, gnstig oder ungnstig ist, und die insofern klar und deutlich genug sind“ (AT VII, 83). 18 pokk±r c±q eQsacc´kkousi diavoq²r, 1n ¨m F te t_m mogt_m 1cc¸metai vqºmgsir ja· B t_m pqajt_m. Der Terminus phronÞsis wird hier nicht im engen, technischen Sinn von EN VI 5 verwendet, sondern in einem weiten Sinn, der auch ein theoretisches Wissen bezeichnen kann (vgl. hierfr auch Sens. 437a11; Protr. B 71, B 77, B 103; Met. I 2, 982b24). Wir werden auf diese Stelle und auf den Terminus phronÞsis genauer in Kap. 4.2 eingehen. Wenn nicht anders angegeben, wird im Folgenden der Protreptikos nach der Einteilung von Dring zitiert. Ich bin mir der Mngel seiner Fragmentsammlung bewußt (vgl. Flashar 2006, 172 f.). Fr die vorliegenden Zwecke sind diese Mngel aber unerheblich. 19 Fr einen genauen berblick ber die verschiedenen Interpretationsmçglichkeiten vgl. Detel 1993 II, 839 – 844; Horn/Rapp 2005, 27 – 45.
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Einleitung: Aristoteles – ein Empirist?
pirismus oder Rationalismus zu vertreten.20 In der Vergangenheit wurde dieses Kapitel von vielen Interpreten so gelesen, daß der im letzten Abschnitt (100b5 – 17) eingefhrte nous als ein spezifisch auf die Erkenntnis der Prinzipien ausgerichtetes Vermçgen das vorher skizzierte aisthetisch-epagogische Verfahren abschließt. Da durch die Induktion nur ein ,empirisches Allgemeines‘ und gerade nicht das katholou im strikten Sinn gewonnen werden kann, scheint nur ein intuitives Vermçgen in der Lage zu sein, eine im hçchsten Maß gewisse Kenntnis der Prinzipien zu gewhrleisten.21 Nun sprechen aber gute Grnde dafr, eine solche intuitionistische Interpretation abzulehnen22 – vor allem der exegetische Grund, daß der Abschnitt ber den nous uns gerade nicht darber informieren will, wie wir die Prinzipien erkennen (p_r te c¸momtai cm¾qiloi : 99b18), sondern bloß eine Antwort auf die zweite Frage darstellt, welches die kognitive Haltung oder Verfassung ist (t¸r cmyq¸fousa 6nir)23, in der wir uns befinden, wenn wir die Prinzipien mit Hilfe der ,Induktion‘ (epaggÞ) erkannt haben.24 Wenn also der Terminus nous in II 19 kein besonderes intuitives Vermçgen der Prinzipienerkenntnis bezeichnet, wrde ihre Erkenntnis allein auf der Wahrnehmung und dem darauf aufbauenden induktiven Vorgang ,basieren‘ (was auch immer das heißen mag). Also mßte man Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs als
20 Vgl. Barnes 1975, 248 f.: „B 19 is Janus-faced, looking in one direction towards empiricism, and in the other towards rationalism. The principles are apprehended by ‘induction’ (epaggÞ) in an honest empiricist way; but they are also grasped by nous, or ‘intuition’ as it is normally translated, in the easy rationalist fashion. It is a classic problem in Aristotelian scholarship to explain or reconcile these two apparently opposing aspects of Aristotle’s thought.“ 21 Vgl. etwa Ross 1949, 86: „Aristotle is thus neither an empiricist nor a rationalist, but recognizes that sense and intellect are mutually complementary.“ 22 Hierzu genauer Horn/Rapp 2005, 27 – 45. 23 Solche kognitiven Haltungen, die die ,Teile‘ des vernnftigen Seelenvermçgens qualitativ charakterisieren – die hexis gehçrt zur Kategorie der Qualitt und zeichnet sich gegenber der diathesis durch ihre grçßere Bestndigkeit aus (Cat. 8, 8b25 – 28) –, kommen durch eine bestimmte kognitive Ttigkeit zustande und befhigen ihren Besitzer dazu, eine bestimmte kognitive Leistung zu vollbringen. 24 Vgl. Barnes 1975, 257: „It is Aristotle’s first question, not his second, which asks about the process or method by which we gain knowledge of the principles; and the method is, in a word, inductive. Nous, which answers the second question, is not intended to pick out some faculty or method of acquiring knowledge: nous, the state or disposition, stands to induction as understanding (epistÞmÞ) stands to demonstration. Understanding is not a means of acquiring knowledge. Nor, then, is nous.“ Vgl. auch Kosman 1973, 385.
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empiristisch charakterisieren.25 Doch damit sind die Fragen, welche Rolle genau die Wahrnehmung im Wissenserwerb spielt und in welchem Sinn hier von einem Empirismus gesprochen werden muß, noch nicht beantwortet und sie kçnnen, wie sich noch zeigen wird, allein auf der Grundlage von An. Post. II 19 auch nicht beantwortet werden: Die Diskussionen um dieses Kapitel konzentrieren sich vor allem auf den bergang von der Erfahrung (empeiria) zur Erkenntnis der Prinzipien.26 Wer hier eine intuitionistische Interpretation des nous als eines speziell auf die Prinzipien ausgerichteten, intuitiven Erkenntnisvermçgens ablehnt, scheint quasi automatisch eine empiristische Interpretation zu vertreten, ohne daß damit schon hinreichend klar wre, welche epistemologische Funktion der Wahrnehmung hier genau zugeschrieben muß und welche Art von Empirismus hier vorliegt. Die isolierte Konzentration auf An. Post. II 19 greift zu kurz, um diese Fragen einer befriedigenden Klrung zuzufhren. Auch neuere Interpretationen, die sich gegen einen fundamentalistischen Empirismus wenden, beantworten die Frage nach der epistemischen Rolle der Wahrnehmung nur in der Weise, daß sie Aristoteles’ Epistemologie in ihrem theoretischen Anspruch fr wenig ambitioniert erklren und somit fr nur gering explikationsfhig halten: Wenn der Wissenserwerb bloß in einer ,Vertiefung‘ oder grçßeren intellektuellen Vertrautheit mit schon erworbenen Kenntnissen besteht27 oder sich auf die bloße Konsistenzprfung und richtige Anordnung tieferer und weniger tiefer phainomena beschrnkt28 oder einen bloß kausalen Prozeß darstellt, in dem sich die Kenntnis der Prinzipien auf natrliche Weise aus dem diskriminativen Vermçgen der Wahrnehmung und dem Gedchtnis entwickelt29, dann muß man zur Rolle der Wahrnehmung im Wissenserwerb nicht mehr viel sagen. Es ist dann ausreichend darauf hin25 Barnes 1975, 259: „the answer Aristotle gives to the first question is whole-heartedly empiricist“. 26 Dieser bergang ist der ,blinde Fleck‘ in der ,Genetischen Epistemologie‘ von An. Post. II 19: In 100a6 – 9 geht Aristoteles unmittelbar von der Erfahrung – wenn man das C in 100a6 epexegetisch versteht, so daß das Folgende (100a6 ff.) den Inhalt der Erfahrungserkenntnis beschreibt – zum ,Prinzip der technÞ und epistÞmÞ’ ber – wenn man archÞ hier im terminologisch engen Sinn als Prinzip und nicht bloß in einem wçrtlichen Sinn als ,Anfang‘ (Phys. VI 5, 236a14 f.; Mot. an. 702b1) versteht. Lediglich 100a14 – b3 kçnnte man als eine sehr allgemeine Skizze dieses bergangs ansehen. Aus Met. I 1, 981a5 f. erfahren wir bloß, daß eine Vielzahl von Erfahrungsinhalten fr die Kunst bzw. fr das Wissen notwendig sind. 27 Burnyeat 1981, 130 – 133. 28 Nussbaum 1986, 251, 257. 29 Frede 1996, 170 f. Wir werden auf die gerade angesprochenen anti-fundamentalistischen Interpretationen im Kap. 1.3 noch genauer eingehen.
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zuweisen, daß die Wahrnehmung uns eine bestimmte Art von Kenntnis (gnsis tis) gewhrt, indem sie Gegenstnde voneinander unterscheiden und vorlufig identifizieren kann, oder irgendwie zur Etablierung allgemein anerkannter Tatsachen einen Beitrag leistet. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, die Rolle der Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Erwerbs demonstrativen Wissens (epistÞmÞ) przise herauszuarbeiten und damit zu einem besseren Verstndnis von Aristoteles’ Epistemologie30 beizutragen. Wir werden in folgender Weise vorgehen: In Kap. 1 werden wir zunchst die beiden Begriffe ,Wahrnehmung’ (aisthÞsis) und ,Wissen’ (epistÞmÞ) innerhalb des Aristotelischen Theorierahmens einer begrifflichen Klrung unterziehen. Auf der Grundlage von De an. III 3, 427a17-b29 lßt sich zeigen, daß fr Aristoteles die Wahrnehmung einen genuinen Typ des Erkennens (gnrizein, gnsis) bildet, whrend das demonstrative Wissen (epistÞmÞ) eine spezifische Form des anderen Typs des Erkennens darstellt, nmlich des diskursiven Denkens (dianoeisthai), das auf eine Annahme oder ein Urteil (hypolÞpsis) ber einen bestimmten Bereich des Seienden abzielt. Als ein diskriminatorisches Vermçgen gewhrt uns die Wahrnehmung eine bestimmte Art der Kenntnis (gnsis tis); sie erschließt uns in einer nichtbegrifflichen Weise die sinnliche Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit (Kap. 1.1). Im Anschluß daran wird Aristoteles’ Konzeption des demonstrativen Wissens (epistÞmÞ) dargestellt, das von sich aus auf eine andere Art 30 Wenn in dieser Untersuchung von ,Aristoteles’ Epistemologie‘ die Rede ist, dann immer im Bewußtsein der Tatsache, daß sich bei Aristoteles weder eine spezifische philosophische Disziplin mit diesem Namen noch eine Pragmatie finden lßt, die sich in einer zusammenhngenden Weise mit der Natur, den Quellen und Grenzen unseres Wissens beschftigt und fr die die Frage nach der Rechtfertigung unserer Wissensansprche zentral ist. Auch wenn Aristoteles, wie wir noch genauer sehen werden, skeptische Fragestellungen und Argumente kennt und sich mit ihnen in einem bestimmten Maß auseinandersetzt (Met. IV 4 – 6), geht diese Auseinandersetzung nicht so weit, daß diese Fragestellungen ihn zu einer grundlegenden Reflexion ber die Mçglichkeit, die Quellen und Grenzen unseres Wissens motiviert und somit eine eigenstndige ,Erkenntnistheorie‘ hervorbringt. Dennoch finden wir ber das ganze Werk verstreut einzelne Stcke, die man fr eine ,Theorie des Wissens‘ heranziehen kann: (i) die Lehre von den dianoetischen Tugenden im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik als eine Untersuchung der verschiedenen Formen des Vernunftvermçgens und seinem ergon, die Wahrheit; (ii) die Zweiten Analytiken als eine Theorie einer besonderen Form des Wissens, des Wissens aus Beweis (epistÞmÞ), und den Bedingungen seines Zustandekommens; (iii) eine Theorie der Erkenntnis der fr die epistÞmÞ konstitutiven Prinzipien (An. Post. II 19; Met. I 1); (iv) eine Auseinandersetzung mit skeptischen Argumenten (Met. IV 4 – 6); (v) eine Theorie des Denkens (De an. III 4 – 8).
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des Wissens verweist: Wenn die epistÞmÞ nur durch Beweis zustandekommt und dieser von Prinzipien, also unvermittelten und erklrungskrftigen Prmissen, ausgeht, mssen wir auch von diesen Prinzipien irgendeine Art von Wissen haben, und zwar ein nicht-demonstratives. Die Spannung zwischen den Anforderungen, die Aristoteles an dieses Wissen der Prinzipien stellt, und den drftigen Aussagen darber, wie wir dieses besondere Wissen erwerben, hat Interpreten immer wieder dazu bewogen, den nous zu einem spezifisch auf die Prinzipien ausgerichteten, intuitiven Erkenntnisvermçgen zu machen, der das in An. Post. II 19 skizzierte induktive Verfahren abschließt. Interpreten, die einen solchen Intuitionismus ablehnen, erklren meist allein die Induktion fr hinreichend; der Anspruch, die Prinzipien erfaßt zu haben, wird dann durch Rckgang auf unmittelbar gegebene Sinneseindrcke gerechtfertigt (Kap. 1.2). Gegen diese beiden traditionellen Interpretationen, die rationalistische wie die empiristische, wurde in der jngeren Vergangenheit immer wieder der grundstzliche Einwand vorgebracht, daß Aristoteles das Interesse an so etwas wie Evidenz, Gewißheit und Rechtfertigung und berhaupt die damit verbundene ,Idee eines Fundaments‘ fehle. Dieser ,anti-fundamentalistische Konsens‘ hat sich in der Aristoteles-Exegese in ganz unterschiedlichen Interpretationen niedergeschlagen, wie etwa darin, daß Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs als eine bloße Vertiefung schon erworbener Kenntnisse beschrieben wird oder als ein Kohrentismus, ein Fallibilismus oder eine kausale Theorie charakterisiert wird (Kap. 1.3). Was das ,Vertiefungsmodell‘ betrifft, so lßt sich zeigen, daß sich fr Aristoteles durchaus ein solches herausarbeiten lßt; es handelt sich hier aber bloß um ein protreptisches Modell (Kap. 1.4), das nicht Aristoteles’ letztes Wort in Bezug auf eine Theorie der Wissensgewinnung ist. Auch wenn neuere Interpretationen auf je andere Weise einen ,Mythos des Gegebenen‘ (Sellars) vermeiden, insofern also als systematisch attraktiv angesehen werden kçnnen, besteht doch ihr interpretatorischer Mangel darin, daß sie (i) die epistemische Rolle der Wahrnehmung nicht genauer klren und (ii) Aristoteles entweder keine theoretisch anspruchsvolle und interpretatorisch explikationsfhige Theorie des Wissenserwerbs zubilligen31 oder ihn in einen letztlich ihm fremden Kontext stellen.32 Die vorliegende Untersuchung versucht, diese beiden Mngel zu beheben. 31 Das trifft auf das ,Vertiefungsmodell‘ Burnyeats (Burnyeat 1981) und die kausale Interpretation Fredes (Frede 1996) zu. 32 Diese Kritik kann gegen die kohrentistische Interpretation von Nussbaum (Nussbaum 1986) und die fallibilistische von Detel (Detel 1993) vorgebracht werden.
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Um nun die Rolle der Wahrnehmung im Erwerb demonstrativen Wissens genauer bestimmen zu kçnnen und um die Frage zu entscheiden, ob Aristoteles’ Epistemologie als empiristisch charakterisiert werden sollte, muß zuerst geklrt werden, ob die Wahrnehmung gegenber skeptischen Argumenten als ein absolut sicheres Fundament aufgewiesen wird und was sie berhaupt zum Wissenserwerb beitragen kann, wie also ihr Gehalt bestimmt werden muß. Diese Fragen kçnnen nun aber nicht auf der Grundlage der Zweiten Analytiken beantwortet werden, da Aristoteles hier weder die Wahrnehmung als solche thematisiert, noch den Wahrnehmungsbegriff in einem einheitlichen Sinn verwendet.33 Wir werden daher so vorgehen, daß wir zuerst fragen, ob die Wahrnehmung bei Aristoteles prinzipiell in der Lage ist, jene Anforderungen zu erfllen, die fr einen Empirismus konstitutiv sind. Hierfr wenden wir uns in Kap. 2 – 4 zentralen Passagen aus De anima und aus den Parva naturalia zu. Wenn wir fragen, wie der Gehalt der Wahrnehmung bestimmt werden muß, setzt das voraus, daß man Aristoteles berhaupt so etwas wie einen ,Gehalt der Wahrnehmung‘ oder ein ,Gerichtetsein auf etwas‘ zuschreiben darf. In Kap. 2.1 wird sich zeigen, daß Aristoteles durchaus das Spezifikum der Wahrnehmung, einen kognitiven Zugang zu einer bestimmten Art von Objekten zu haben, anerkennt. Dieses Merkmal kann aber nicht mit einem anspruchsvollen Begriff der Intentionalitt, gemß dem intentionale Zustnde bestimmte Wahrheits- und Erfllungsbedingungen besitzen, interpretiert werden. Der Aristotelischen Wahrnehmungstheorie liegt ein Kausalmodell zugrunde, in dem sich ein bestimmter Wahrnehmungsgehalt immer durch seine externe Ursache, also durch das aisthetische eidos, festgelegt wird. Somit setzt das Vorliegen eines bestimmten Gehalts notwendig das Vorliegen eines externen Gegenstands voraus, der diese Wahrnehmung verursacht hat (Kap. 2.1). Gegen dieses Kausalmodell lßt sich einwenden, daß hier nicht mehr erklrt werden kann, wie Sinnestuschungen zustande kommen kçnnen; Aristoteles spricht ja der Wahrnehmung im Hinblick auf alle drei Arten wahrnehmbarer Objekte verschiedene Grade von Fallibilitt zu (Kap. 2.2). Es wird diskutiert, ob Aristoteles zur Erklrung der Mçglichkeit von Sinnestuschungen sein Kausalmodell verlassen muß und zu einer bestimmten Form des Repr33 In An. Post. II 19 spricht er zum einen von einem „angeborenen unterscheidungsfhigen Vermçgen“, das auch die Tiere besitzen (99b34 f.), zum anderen scheint er der Wahrnehmung auch irgendeine Art von katholou zuzusprechen (100a17-b5). Nach I 18 ist Ausgangspunkt der Induktion die Wahrnehmung, die ,das Einzelne‘ (kath’ hekaston) zum Inhalt hat (81b6). Es ist nicht klar, ob hier ein einzelner Gegenstand oder eine singulre Tatsache gemeint ist (vgl. fr das kath’ hekaston als eine singulre Tatsache: I 31, 88b37 - 88a2).
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sentationalismus gezwungen ist. Wir werden uns mit einer besonders elaborierten reprsentationalistischen Interpretation auseinandersetzen und fr einen Direkten Realismus argumentieren. Zu diesem Zweck werden wir die verschiedenen Arten von Sinnestuschungen bei Aristoteles herausarbeiten und daraufhin befragen, ob bei ihnen die phantasia im Sinne eines der veridischen Wahrnehmung und der Tuschung gemeinsamen Faktors involviert ist (Kap. 2.3). In diesem Zusammenhang werden wir uns auch mit Aristoteles’ Replik auf das ,argument from illusion‘ beschftigen. Es wird sich zeigen, daß Aristoteles von einer teleologisch begrndeten Zuverlssigkeit der Sinne ausgeht; die jeweiligen Normalzustnde, in denen die Sinne korrekte Informationen liefern, sind bestimmbar. Wer hier noch weitere Begrndungen verlangt, sucht einen Beweis fr dasjenige, fr das es keinen Beweis mehr gibt (Kap. 2.4). Nachdem die Frage nach dem sinnlichen Weltzugang bei Aristoteles geklrt ist, wendet sich die Untersuchung der Frage nach der Bestimmung des Wahrnehmungsgehalts zu. Die Frage nach dem Gehalt und dem epistemologischen Status der Wahrnehmung war fr Aristoteles nicht neu, vielmehr hatte schon Platon am Ende des ersten Teils seines Theaitet eine anti-empiristische Analyse der Wahrnehmung vorgenommen: Die Wahrnehmung wird hier auf die Aufnahme der spezifischen Qualitten beschrnkt; ihr wird ein Urteilen sowie ein genuiner Weltzugang abgesprochen, der in einem bewußten Unterscheiden verschiedener sinnlicher Qualitten bestehen wrde. Wir werden Platons Analyse darstellen (Kap. 3.1) und im Anschluß daran kurz aufzeigen, in welchen Punkten Aristoteles gegenber Platon den Kompetenzbereich der Wahrnehmung erweitert. Hier wird sich zeigen, daß fr Aristoteles die Wahrnehmung nicht bloß die (kausale) Rolle eines sensorischen Informationslieferanten fr das Denken spielt. Vielmehr handelt es sich bei der Wahrnehmung um ein zur Diskrimination und zum Bewußtsein der eigenen Ttigkeit fhiges Vermçgen, das uns schon unterhalb der diskursiv-begrifflichen Ebene einen genuin aisthetischen Weltzugang gewhrt (Kap. 3.2 – 3.4). Umstritten ist nun allerdings, ob der Wahrnehmungsgehalt bei Aristoteles nur auf das ,an sich Wahrnehmbare‘, also auf die idia und koina aisthÞta, beschrnkt werden muß oder ob dieser nicht auch um bestimmte Objekte aus der Klasse des ,akzidentell Wahrnehmbaren‘, nmlich um gedankliche Gehalte (noÞmata), erweitert werden kann. Durch solche noÞmata kçnnte das ,an sich Wahrgenommene‘, also der bloß in seinen perzeptuellen Qualitten wahrgenommene Gegenstand, begrifflich spezifiziert werden. Aristoteles kçnnte dann aus heutiger Sicht ein begrifflich-propositionaler Wahrnehmungsgehalt zugeschrieben werden, was fr unsere Ausgangsfrage nach der epistemischen Rolle der Wahrnehmung und dem Charakter seiner Epistemologie
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im ganzen von entscheidender Bedeutung wre. Hier mßte allerdings eine interpretatorisch haltbare Erklrung dafr gefunden werden, wie etwas zu einem Teil des Gehalts werden kann, was prinzipiell nicht in der Lage ist, einen Wahrnehmungssinn zu affizieren. Diese Frage wird anhand zweier Interpretationsmodelle der ,akzidentellen Wahrnehmung‘ diskutiert (Kap. 4.1). Es wird gezeigt, daß sich gewichtige Argumente gegen die Annahme vorbringen lassen, daß das Wahrnehmungsvermçgen selbst dazu in der Lage ist, auf gedankliche Inhalte (noÞmata) zurckzugreifen, diese mit dem ,an sich Wahrgenommenen‘ zu kombinieren und auf diese Weise einen komplexen Gehalt hervorzubringen, der dann aus einer sinnlichen und einer begrifflichen Komponente bestehen wrde. Nicht betroffen von dieser Kritik ist die Mçglichkeit, daß sich die ,perzeptuelle Kombination‘ auf Gehalte bezieht, die einen perzeptuellen Ursprung haben (Kap. 4.2). Anschließend wird dann ein Interpretationsmodell genauer ausgearbeitet, das fr die begriffliche Spezifikation des Wahrgenommenen den Intellekt einfhrt: Der in seinen perzeptuellen Qualitten wahrgenommene Gegenstand wird innerhalb einer Wahrnehmungsmeinung (doxa), die eine Art des diskursiven Denkens (dianoeisthai) bzw. der Annahme (hypolÞpsis) darstellt, begrifflich charakterisiert. Wahrnehmung und Intellekt sind in einer engen Kooperation ttig; die aktuale Wahrnehmung ist das perzeptuelle Antezedens fr die Bildung einer Wahrnehmungsmeinung. Es wird aufgezeigt, daß dieses ,noetische Interpretationsmodell‘ die grçßere Konsistenz besitzt und sich in Aristoteles’ Psychologie als ganze besser integrieren lßt (Kap. 4.3). Hinsichtlich des epistemischen Status der Wahrnehmung wird schließlich anhand von De insomniis gezeigt, daß das Bilden einer Wahrnehmungsmeinung einer Beurteilung bzw. Korrektur durch ein bergeordnetes Vermçgen unterliegt (Kap. 4.4). Damit gewinnen wir ein erstes Zwischenergebnis: Die Frage, ob die Wahrnehmung bei Aristoteles prinzipiell dazu in der Lage ist, jene Anforderungen zu erfllen, die fr einen Urteilsempirismus konstitutiv sind, kann mit einem klaren Nein beantwortet werden. Aristoteles kann keine Position zugeschrieben werden, in welcher der Anspruch, die Prinzipien erfaßt zu haben, durch Rckfhrung auf bestimmte Beobachtungen legitimiert wird, so daß die Wahrnehmung das selbst nicht mehr rechtfertigungsbedrftige Fundament des gesamten Wissens bilden wrde: Weder hat die Wahrnehmung einen propositional-begrifflichen Gehalt, so daß sie eine ausreichend ,breite‘ sinnliche Belegbasis fr andere Meinungen darstellen kçnnte, noch ist sie als solche schon ,selbst-rechtfertigend‘, vielmehr unterliegt sie der Beurteilung bzw. der Korrektur bergeordneter seelischer Vermçgen.
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Aristoteles liefert uns auch keinen anti-skeptischen Aufweis dafr, daß es sich bei der Wahrnehmung um ein absolut sicheres Fundament handelt. Auf dieser Grundlage34 kann dann die Frage in Angriff genommen werden, in welcher Weise die Wahrnehmung am Wissenserwerb beteiligt ist und wie man Aristoteles’ Epistemologie im ganzen charakterisieren sollte. Gegenber den jngeren anti-fundamentalistischen Interpretationen soll gezeigt werden, wie auf der Grundlage von An. Post. II 19 und im Zusammenhang mit anderen Passagen eine differenzierte Interpretation der Aristotelischen Theorie des Wissenserwerbs rekonstruiert werden kann (Kap. 5). Hier ist zunchst auf die Frage einzugehen, woher die fr jeden Wissenserwerb notwendigen Begriffe stammen, durch die der wahrgenommene Gegenstand eindeutig identifiziert werden kann, um an diesem wissenschaftsrelevante Beobachtungen zu machen. Die Untersuchung wird sich kritisch mit der einflußreichen Lehre auseinandersetzen, nach der die Begriffe bzw. noetischen Gehalte in einem literalen Sinn in den phantasmata enthalten sind und – im Sinne eines ,Empirismus der Begriffe‘ – aus diesen nur abstrahiert oder ,freigelegt‘ werden mssen. Wir werden eine Interpretation entwickeln, die sowohl einen Begriffsempirismus als auch einen Apriorismus vermeidet (Kap. 5.1). In einem zweiten Schritt werden wir dann die ußerst knappen und umstrittenen Aussagen von An. Post. II 19 34 Wenn hier eine zusammenhngende Interpretation von Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs versucht wird und dafr De anima herangezogen wird, so bedeutet das nicht automatisch, Aristoteles’ Theorie der Seele zu ,epistemologisieren‘, wie das in der Vergangenheit oft geschah. Wenn man das Kapitel An. Post. II 19 unter der Fragestellung liest, wie man darin gerechtfertigt sein kann, die Prinzipien erfaßt zu haben, oder woher unsere grundlegenden Begriffe stammen, dann scheinen sich einige Passagen aus De an. III 4 – 8 als Antworten anzubieten. Wie sich allerdings noch zeigen wird, werden solche Fragen irrtmlicher Weise Aristoteles als seine eigenen Fragen unterstellt; die ,Noetik‘ von De anima ist ihrem Anspruch nach viel bescheidener. Es geht um eine allgemeine Theorie des Denkens, in der Fragen nach Kriterien oder bestimmten Verfahrensweisen der Wissensgewinnung keine Rolle spielen. Daß Aristoteles in De an. III 4 – 8 die (nicht-diskursive) Erkenntnis des to ti Þn einai (430b28) bzw. die epistÞt (431b23) anfhrt, entspringt keinem spezifisch epistemologischen Problem (etwa: ,Wie kçnnen wir jemals sicher sein, die grundlegenden Strukturen der Wirklichkeit erfaßt zu haben?’), sondern ist einfach der Tatsache geschuldet, daß diese Gegenstnde unter die Klasse der noÞta fallen – wie eben auch die epistÞmÞ eine Art der dianoia bzw. hypolÞpsis ist – und somit zu den Gegenstnden des Denkvermçgens gehçren, das durch jene individuiert und bestimmt ist. Wenn man das im Blick behlt, kann man ohne weiteres De anima fr eine Interpretation von Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs heranziehen, um (i) den Status und den Inhalt der Wahrnehmung genauer zu bestimmen und (ii) die verschiedenen Arten der Kognition (De an. III 3) genauer herauszuarbeiten.
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unter Rckgriff auf Ergebnisse frherer Kapitel einer Interpretation unterziehen. Dabei werden wir uns zunchst auf den Weg von der Wahrnehmung zur Erfahrung (empeiria) konzentrieren. Wir werden einen Deutungsvorschlag vorlegen, demgemß aus diesem Kapitel nicht die Konsequenz gezogen werden muß, daß sich der Wissenserwerb bei Aristoteles auf einen rein kausalen Vorgang beschrnkt. In II 19 werden vielmehr nur die seelischen Vorgnge und Zustnde (mit ihren jeweiligen Gehalten) notiert, ohne daß dabei auf die zugehçrigen methodisch geregelten ,epistemischen Handlungen‘genauer eingegangen wird (Kap. 5.2). Im Anschluß daran wird die fr An. Post. II 19 vorgelegte Interpretation in den grçßeren Rahmen seiner Metaphysik gestellt: Der fr Aristoteles zentrale Grundsatz, daß sich der Wissenserwerb von dem „fr uns Bekannteren“ zu dem „an sich Bekannteren“ vollzieht, wird hinsichtlich seiner metaphysischen und kognitiven Implikationen genauer interpretiert. Von den hier gewonnenen Ergebnissen aus zeigt sich, daß das auf der Wahrnehmung basierende induktive Verfahren nicht als Legitimationsgrund dafr fungieren kann, eine bestimmte Meinung als Wissen zu deklarieren. Es ist eher im Sinne eines Hilfsmittels zu verstehen, um in den kognitiven Zustand der Kenntnis der Prinzipien zu gelangen (Kap. 5.3). In einem letzten Schritt werden wir kurz auf den bergang von der Erfahrung zur Prinzipienerkenntnis eingehen (Kap. 5.4). Abschließend soll dann auf der Grundlage des Erarbeiteten versucht werden, die vorgelegte Interpretation vor dem Hintergrund gegenwrtiger Debatten zu positionieren (Kap. 6). Am Ende dieser Arbeit wird sich zeigen: Gegenber den in den letzten Jahrzehnten entwickelten anti-fundamentalistischen Interpretationsanstzen ist eine differenziertere Interpretation der Aristotelischen Theorie des Wissenserwerbs mçglich, die die bliche Klassifizierung von epistemologischen Fundamentalismus und Kohrentismus unterluft: Die Wahrnehmung ist weder das letzte, selbst nicht mehr rechtfertigungsbedrftige Fundament all unseres Wissens, noch ist die Beziehung zwischen Wahrnehmung und Denken35 wie im Kohrentismus eine bloß kausale, in welcher der Wahrnehmung bloß die Rolle eines ,kausalen Zwischenstcks‘ zwischen der Welt und unseren Meinungen ber sie zukommen wrde. Vielmehr ist das Wahrnehmen ein Unterscheiden (krinein), das sich in einer rein sinnlichen Weise seiner selbst bewußt ist. Als solche gewhrt uns schon das Wahrnehmen eine bestimmte Art von Kenntnis (gnsis), von der aus dann durch die Beteiligung des Intellekts innerhalb methodisch geleiteter epistemischer Handlungen komplexere Arten von Kenntnissen entstehen, die 35 Im generischen Sinn von De an. III 3, 427b15, b25.
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andere Bereiche der Wirklichkeit, nmlich das Allgemeine und Notwendige, zum Gegenstand haben. Aristoteles reduziert die Wahrnehmung weder auf einen rein sensorischen Informationslieferanten, noch macht er sie zum letzten Rechtfertigungssttzpunkt. Vielmehr spricht er ihr einen genuin eigenen Weltzugang zu, der mit Hilfe des Intellekts durch Begriffe angereichert werden und in hçhere Arten von Kenntnissen berfhrt werden kann.
1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen 1.1 Die Wahrnehmung als gnsis tis Fr Aristoteles bilden Wahrnehmen (aisthanesthai) und Denken (noein) die beiden Typen des Erkennens (gnrizein); beide Ttigkeiten kommen darin berein, daß wir hier auf je unterschiedliche Weise etwas von etwas anderem unterscheiden (krinein) und einen bestimmten Bereich vom Seienden kennenlernen.1 Der Terminus ,Denken‘ (noein) wird hier in einem weiten, generischen Sinn verwendet (De an. III 3, 427b9, b27), nmlich als Bezeichnung fr die diskursiven Ttigkeiten des menschlichen Intellekts (nous), den Aristoteles allgemein als das Vermçgen bestimmt, „mit dem die Seele denkt und Annahmen macht“ (De an. III 4, 429a23). Das diskursive Denken (dianoeisthai) vollzieht sich im Verbinden und Trennen einfacher gedanklicher Gehalte (noÞmata) bzw. Begriffe und resultiert in einer Annahme oder einem Urteil (hypolÞpsis), in dem etwas von etwas anderem ausgesagt wird.2 Das diskursive Denken ist also der Prozeß, dessen Ergebnis eine bestimmte Annahme ist.3 Innerhalb der dianoia bzw. der hypolÞpsis 4 als 1
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Vgl. De an. III 3, 427a19 ff.: doje? d³ ja· t¹ moe?m ja· t¹ vqome?m ¦speq aQsh²mesha¸ ti eWmai (1m !lvot´qoir c±q to¼toir jq¸mei ti B xuwμ ja· cmyq¸fei t_m emtym); De an. III 9, 432a16: t` te jqitij`, d diamo¸ar 5qcom 1st· ja· aQsh¶seyr ; Insomn. 458b2 f.: to¼toir c±q lºmoir t_m 1m Bl?m cmyq¸fol´m ti ; Mot. an. 700b20 f.: jqitij± c±q p²mta. Das Seiende ist nach Aristoteles entweder wahrnehmbar oder denkbar (De an. III 8, 431b22: C c±q aQshgt± t± emta C mogt²). De an. III 6, 430a26-b6; Met. VI 4, 1027b29 f. Die durch den Intellekt gestifteten gedanklichen Einheiten (430b5 f.) aus Unverbundenem (ta asyntheta: Met. IX 10, 1051b17) bilden das ,dianoetische Korrelat’ einer Aussage (Int. 16a10 f.) bzw. einer Schlußfolgerung (Mot. an. 701a10 f.). Fr Aristoteles ist die gedankliche Ebene gegenber der sprachlichen primr: Die schriftlichen ußerungen sind ,Symbole’ (symbola) unserer sprachlichen ußerungen, diese sind wiederum ,Symbole’ der ,Widerfahrnisse unserer Seele’. Letztere sind ,Abbilder’ (homoimata) der Dinge (Int. 16a3 – 8). Man kann mit Weidemann (2002, 135 ff.) davon ausgehen, daß es sich bei diesen seelischen pathÞmata um Inhalte der Denkseele, also um Gedanken (noÞmata) handelt, die das noetische Korrelat der Begriffe bilden (z. B. ,Mensch’: Int. 16a14 f.). Einem Allgemeinbegriff liegt also ein noÞma zugrunde und diesem entspricht – in einem Universalienrealismus – das ,Eine im Vielen’. Hicks 1907, 457; Gerson 2009, 77. Dieser weite, generische Sinn (vgl. Siwek 1964, 322 Anm. 604) ist von dem engen zu unterscheiden, wie er etwa in EN VI 3, 1139b17 vorliegt.
1.1 Die Wahrnehmung als gnsis tis
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ihrem Ergebnis lassen sich je nach Bereich des Seienden verschiedene Arten unterscheiden: Im Idealfall resultiert das diskursiv-begriffliche Denken ber das Allgemeine und Notwendige im demonstrativen Wissen (epistÞmÞ)5, dasjenige Denken aber, das sich auf das bezieht, was sich auch anders verhalten kann, resultiert im Idealfall in der praktischen Einsicht (phronÞsis)6 bzw. der wahren Meinung (doxa alÞthÞs; De an. III 3, 427b10, b25; EN VI 5, 1140b27 f.). Whrend das Urteil der phronÞsis den Prozeß des ,praktischen Denkens’ abschließt (EN VI 2, 1139a26 f.), das sich auf dasjenige bezieht, was dem guten Leben des Menschen berhaupt zutrglich ist (VI 5, 1140a28, b5 f.), geht es der doxa bloß um die Feststellung von kontingenten Tatsachen (EN III 4, 1111b33; An. Post. I 33).7 Da nach Aristoteles gilt, daß die menschliche Seele niemals ohne Vorstellungsgehalt (phantasma) denkt (De an. III 7, 431a16 f.), jede Episode des Denkens also von phantasmata begleitet sein muß, kann Aristoteles auch sagen, daß neben der hypolÞpsis (mit ihren verschiedenen Arten) die phantasia eine ,Komponente‘8 des Denkens (noein) ist (De an. III 3, 427b27 f.).9 Darin zeigt sich die grundstzliche 5 6 7
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Vgl. EN VI 6, 1140b31 f.: 1pe· d’ B 1pist¶lg peq· t_m jahºkou 1st·m rpºkgxir ja· t_m 1n !m²cjgr emtym. Ich verstehe hier phronÞsis nicht in einem weiten Sinn (Sens. 437a1 – 3; Met. I 2, 982b24; Protr. B 71, B 77), sondern in dem engen, technischen Sinn von EN VI 5. An dieser Stelle muß kurz darauf hingewiesen werden, daß der vorliegende Abschnitt De an. III 3, 427a17-b29 nur eine ,Landkarte’der beiden kognitiven Vermçgen und ihrer verschiedenen Arten skizziert und keinen epistemologischen Charakter im engen Sinn hat: Es wird nicht gesagt, daß es das Ziel unseres diskursiven Denkens sei, zu wahren Urteilen ber einen bestimmten Bereich Wirklichkeit zu kommen, sondern nur, daß es innerhalb des Denkens sowohl Richtiges als auch NichtRichtiges gibt (427b9 ff.). Dagegen wird in der Lehre von den dianoetischen Tugenden der Vernunft besitzende Seelenteil mit seinen beiden Vollzgen, dem epistÞmonikon und dem logistikon (EN VI 2, 1139a12), im Hinblick auf sein ergon, die Wahrheit (1139b12), untersucht. Es geht um die jeweils ,bestmçgliche Disposition’ (B bekt¸stg 6nir : 1139a16), also Tugend, durch die dieses Ziel, das alÞtheuein, erreicht wird. Solche dianoetischen Tugenden sind wahrheitsgarantierend (VI 6, 1141a3 f.: oXr !kghe¼olem ja· lgd´pote diaxeudºleha). Wedin 1988, 73. Peq· d³ toO moe?m, 1pe· 6teqom toO aQsh²meshai, to¼tou d³ t¹ l³m vamtas¸a doje? eWmai t¹ d³ rpºkgxir… Diese Unterscheidung kann man m. E. als Aristoteles’ eigene ansehen. Der Einwand, die phantasia komme auch einigen nicht-vernunftbegabten Lebewesen zu (De an. III 3, 428a24), so daß jene nicht eine Komponente des Denkens sein kçnne, lßt sich dadurch entkrften, daß hier eine spezifische Art der phantasia gemeint ist. In der besonderen Weise, wie der Mensch von den phantasmata Gebrauch macht (vgl. De an. III 11, 434a9 f.; Mem. 449b30 – 450a9), wird die phantasia zu einer Komponente des Denkens. Hierauf werden wir in Kap. 5.1 genauer eingehen.
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1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen
Abhngigkeit des menschlichen Denkens vom Wahrnehmungsvermçgen (vgl. 427b15 f.).10 Von diesem dianoetischen Denken (dianoeisthai), dem noein im weiten Sinn, unterscheidet Aristoteles an anderer Stelle ein nichtdiskursives Denken, das noein im engen Sinn, das im Erfassen der einzelnen intelligiblen Gegenstnde (noÞta) besteht (De an. III 6, 430a26 ff.). Das liegt zuerst einmal ganz im Rahmen von Aristoteles’ Theorie: So wie die verschiedenen Wahrnehmungssinne auf die ihnen jeweils eigentmlichen Gegenstnde (idia aisthÞta) bezogen sind, durch die sie individuiert und bestimmt werden, so ist ebenfalls das Denkvermçgen auf die intelligiblen Gegenstnde als die ihm eigentmlichen Gegenstnde bezogen (De an. III 4, 429a17 f.). Sachlich legt sich diese nicht-diskursive Form des Denkens insofern nahe, als der Intellekt mit den noÞta nicht in der Weise des Verbindens und Trennens operieren kann, solange er diese nicht vorher in ihrem Gehalt erfaßt hat. Die Schwierigkeiten eines epistemologischen Intuitionismus ergeben sich erst dadurch, daß zur Klasse der noÞta auch die Essenzen oder substantiellen Formen der Dinge gehçren (De an. III 4, 430b27 f.)11, die das Ziel unserer Erkenntnisbemhungen darstellen (vgl. Met. VII 6, 1031b6 f.). In diesem Fall ist es umstritten, ob wir hier einen nous im Sinne eines spezifisch auf die Essenzen bzw. Prinzipien ausgerichteten Erkenntnisvermçgens annehmen drfen oder den nous bloß als Bezeichnung der kognitiven Haltung (hexis), in der wir sind, wenn wir die Prinzipien schon erkannt haben, verstehen sollten.12 Innerhalb der unterschiedlichen Arten des diskursiven Denkens erkennen wir also die Wirklichkeit in der Weise, daß wir etwas von etwas anderem begrifflich unterscheiden und schließlich zu einem Urteil ber einen notwendigen oder kontingenten Sachverhalt kommen, dem eine Verbindung gedanklicher Inhalte zugrundeliegt. Dieses begrifflich-urteilende Denken bildet nun den einen Typ des Erkennens, von dem Aristoteles das Wahrnehmen als den anderen Typ unterscheidet (De an. III 3, 10 Daraus folgt, daß sich das Denken des Menschen nicht vom Kçrper abtrennen kann (De an. I 1, 403a8 ff.) im Unterschied zum Denken Gottes, der nichts anderes als ein ewiges, nicht-prozessuales und nicht an Vorstellungsgehalte gebundenes Denken seiner selbst ist. 11 Oehler (1985, 182 – 186) unterscheidet innerhalb Met. IX 10 zwischen den t± !s¼mheta (1051b17) und den lμ sumheta· oqs¸ai (b27): Whrend erstere die Gegenstnde oder Inhalte der isolierten Begriffe sind, die sich ber alle Kategorien erstrecken, handelt es sich bei letzteren um die reinen Formen oder das wesentliche Sein (t¹ t¸ Gm eWmai) der Dinge, das in der Wesensdefinition (bqislºr) expliziert wird (vgl. Met. VII 5, 1031a11 – 14). 12 Darauf werden wir noch im nchsten Abschnitt dieses Kapitels eingehen.
1.1 Die Wahrnehmung als gnsis tis
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427a19 ff., b27).13 Auch hier unterscheiden wir etwas von etwas anderem14, beziehen uns also diskriminatorisch auf die Wirklichkeit – und zwar auf kontingent Seiendes (EN VI 3, 1139b21 f.; An. Post. I 31). Auch hier prsentiert sich uns etwas Wahres oder Falsches.15 Im Unterschied zum diskursiven Denken vollzieht sich hier aber das Unterscheiden nicht mit Hilfe von Gedanken bzw. Begriffen. Das Wahrnehmen geht auch nicht mit dem Bilden einer Annahme oder eines Urteils einher (was logos voraussetzt: De an. III 3, 428a22 ff.): Die Sonne kann ein Fuß breit aussehen, ohne daß man gleichzeitig der berzeugung sein muß, daß sie ein Fuß breit ist (vgl. De an. III 3, 428b2 ff.). Dennoch handelt es sich fr Aristoteles bei der Wahrnehmung um einen genuinen Typ des Erkennens (gnrizein); auch sie gewhrt uns eine bestimmte Art von Kenntnis (gnsis tis): In Gen. an. I 23 findet sich die Aussage, daß alle Lebewesen in einem unterschiedlichem Maß Anteil an einer gnsis tis haben und die Wahrnehmung diese gnsis tis sei (731a32 ff.16 ; Protr. B 76). Bevor wir diesen Punkt anhand mehrerer Stellen noch etwas weiter verdeutlichen, wollen wir drei wichtige Beobachtungen festhalten: (1) Der Raum des Kognitiven ist bei Aristoteles weiter als der Raum des begrifflich-diskursiven Denkens. Der Bereich unterhalb der dianoia ist nicht ,blind‘ oder rein sensorisch; vielmehr kommt schon auf der Ebene der Wahrnehmung, insofern es sich bei ihr um ein angeborenes und unterscheidungsfhiges Vermçgen handelt, ein genuiner Weltzugang zu13 Im Unterschied zum Denken ist das Wahrnehmen an ein Organ gebunden (De an. III 4, 429a13 – 18). In beiden Fllen handelt es sich um eine rezeptive Beziehung. Vgl. Oehler 1985, 188, 191; Burnyeat 2002, 71 f. 14 Vgl. An. Post. II 19, 99b35; De an. III 2, 426b8 – 427a14; III 4, 429b14 f. Zum Terminus krinein innerhalb der Aristotelischen Psychologie vgl. die eingehende Untersuchung von Ebert 1983, der nachweist, daß krinein hier bis auf wenige Ausnahmen ,unterscheiden’ (discern, discriminate) und nicht ,urteilen’ bedeutet. Das krinein der verschiedenen, einem bestimmten Sinn zugeordneten Qualitten ist somit schon eine basale kognitive Ttigkeit (Ebert 1983, 184, 195). 15 Vgl. De an. III 3, 428a3 f. (d¼malir C 6nir jah’ $r jq¸molem ja· !kghe¼olem C xeudºleha); EN VI 2, 1139a18 (tq¸a d¶ 1stim 1m t0 xuw0 t± j¼qia pq²neyr ja· !kghe¸ar, aUshgsir moOr eqenir). 16 !kk± ja· cm¾se¾r timor p²mta let´wousi, t± l³m pke¸omor, t± d’ 1k²ttomor, t± d³ p²lpam lijq÷r. aUshgsim c±q 5wousim, B d’ aUshgsir cm_s¸r tir. In Gen. an. I 23 mçchte Aristoteles zeigen, daß die Fortpflanzung nicht das einzige ergon der Lebewesen ist, sondern daß sie auch an einer bestimmten Art gnsis Anteil haben. Der Rang dieser gnsis ist je nach Perspektive unterschiedlich: Im Hinblick auf die phronÞsis (hier im weiten Sinn vgl. Sens. 437a11) scheint der Besitz der Sinne fast nichts zu sein, hinsichtlich einem Leben ohne Wahrnehmung aber das beste. Einem Zustand des Todes oder der Nicht-Existenz ist das Erlangen dieser gnsis vorzuziehen.
22
1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen
stande.17 (2) Im Idealfall gewhren uns die verschiedenen kognitiven Ttigkeiten verschiedene Arten von Kenntnissen (gnseis), die jeweils unterschiedliche Bereiche der Wirklichkeit in unterschiedlichen Graden von Genauigkeit18 zum Inhalt haben. Hier zeigt sich eine fr Aristoteles’ Theorie des Wissens wichtige Konsequenz: Der Begriff der Kenntnis (gnsis) ist fr Aristoteles weiter19 als der Begriff des ,bewiesenen Wissens‘ (epistÞmÞ), das nur eine besondere Art von Kenntnis unter anderen ist und durch eine besondere Art von diskursiver Ttigkeit, nmlich durch den Beweis hervorgebracht wird.20 (Schon hier deutet sich die Vielfalt der Wissensformen an, die Aristoteles im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik entfaltet.) Bei allen anderen Resultaten intellektueller Ttigkeiten, die nicht mit einem Beweis verknpft sind, spricht Aristoteles schlicht von ,Kenntnissen‘ (gnseis): Das reicht von dem fr jeden Wissenserwerb notwendigen Vorwissen21, das sich auf die Bedeutung grundlegender Termini, die Existenz bestimmter Gegenstnde und das Vertrautsein mit wissenschaftsbergreifenden Grundstzen (Axiomen) bezieht, ber das durch die Induktion22 und durch Dihairese hervorgebrachte Wissen23, bis hin zur Kenntnis der fr das demonstrative Wissen konstitutiven Prinzipien, also der ersten, unvermittelten und urschlichen Prmissen eines Beweises.24 Hier kann Aristoteles durch den weiten Begriff des gnrizein (wie auch gignskein) eine Zirkularitt in der Bestimmung des demonstrativen Wissens vermeiden25 : „Zu wissen nun glauben wir eine jede Sache schlechthin, und nicht auf die sophistische, die zufllige Weise, wann immer wir von der Ursache glauben Kenntnis zu besitzen (cim¾sjeim), aufgrund derer die Sache besteht“ (An. Post. I 2, 17 Auf diesen genuin aisthetischen Weltzugang werden wir in Kap. 2 – 3 genauer eingehen. 18 Zu den unterschiedlichen Kriterien von ,genau’ und dementsprechend den verschiedenen Arten von Genauigkeit vgl. Aristoteles’ ußerungen in An. Post. I 27; Met. I 2, 982a25 – 28; EN I 1; Part. an. I 5; Met. II 3. 19 Hier handelt es sich um einen basalen oder grundlegenden Begriff, fr den es keine Definition im herkçmmlichen Sinn gibt. Man kçnnte hier an jene Bestimmung denken, die am Anfang von Platons Theaitet von Sokrates beilufig in das Gesprch eingebracht wird: Danach besitzt das Wissen zumindest die beiden Merkmale „immer vom Seienden und untrglich“ (toO emtor !e¸ ja· !xeud´r : Tht. 152c5) zu sein. 20 Vgl. Burnyeat 1981, 100 ff. 21 Vgl. An. Post. I 1, 71a1 - 17 und II 19, 99b29 f.; EN VI 3, 1139b26. 22 Vgl. An. Post. I 1, 71a21; I 3, 72b29 f. und I 18, 81b3 f. 23 Vgl. An. Post. II 5, 91b34. 24 Vgl. An. Post. II 19, 99b22. 25 Vgl. Barnes 1975, 97; Detel 1993 II, 53.
1.1 Die Wahrnehmung als gnsis tis
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71b9 ff.; bers. Detel); „Denn dann behaupten wir, einen Gegenstand zu wissen (eQd´mai26), wenn wir glauben, die erste Ursache zu kennen (cmyq¸feim)“ (Met. I 3, 983a25 f.).27 (3) Interessanterweise sind die beiden Typen des Erkennens, Wahrnehmung und Denken (mit den verschiedenen Arten der doxa, phronÞsis und epistÞmÞ), gerade nicht mit zwei strikt voneinander getrennten Gegenstandsbereichen, dem Singulren und Kontingenten einerseits und dem Allgemeinen und Notwendigen andererseits, korreliert, vielmehr gibt es hier berschneidungen. Im Modus der doxa und der phronÞsis kann sich der Intellekt auch auf das Kontingente beziehen, indem er diese Gegenstnde begrifflich charakterisiert und ber diese zu einer Annahme kommt. Das wird fr den Wissenserwerb von entscheidender Bedeutung sein. Vor dem Hintergrund dieser verschiedenen Formen des Erkennens (gnrizein) und der daraus resultierenden Kenntnisse (gnseis), die Aristoteles gemß ihrer Genauigkeit und des Rangs ihrer Gegenstnde in eine Hierarchie bringt, wollen wir jetzt anhand einiger Stellen herausarbeiten, wie Aristoteles die von der Wahrnehmung gewhrte Art von Kenntnis genauer charakterisiert: (1) An mehreren Stellen spricht Aristoteles davon, daß uns der Sehsinn, der uns von den einzelnen Sinnen am meisten ein Erkennen gewhrt (poie?m cmyq¸feim : Met. I 1, 980a26 f.28), die vielfltigen phnomenalen Unterschiede der Wirklichkeit ,deutlich macht‘ (dgkoOm : 980a27; Protr. B 5129) oder ,anzeigt‘ (eQsacc´kkeim : Sens. 437a230, a5 f.31). Grundstzlich stellen uns die Sinne die ,maßgeblichsten Kenntnisse‘ (juqi¾tatai 26 Fr eQd´mai an dieser Stelle vgl. auch Met. II 2, 996b14 ff. 27 Fr diese sich auf die Ursachen und Prinzipien beziehende Verwendung von gnrizein vgl. Phys. I 1, 184a10 – 14; An. Post. I 2, 72a38 f.; I 3, 72b24 f.; II 19, 100b4; Met. I 1, 981b6; II 2, 994b29 f.; III 2, 996a21; auch An. Post. I 31, 87b38 f.; II 19, 99b18, b22; Met. I 1, 981a30; Part.an. I 5, 645a10. Fr gignskein in derselben Verwendung vgl. An. Post. I 2, 71b9 – 12; 72a28; II 19, 99b21; Met. V 1, 1013a18 f.; VII 1, 1028a36 f. Ausnahmen davon sind: I 3, 72b21; II 11, 94a20. 28 Vgl. Ross (Oxford-bersetzung, 1552): „this, most of all the senses, makes us know and brings to light many differences between things.“ Vgl. auch der LSJ (355) zu gnrizein: make known, point out, become known, gain knowledge, become acquainted with, discover. Auf die Eingangspassage von Met. I 1 werden wir in Kap. 1.4 genauer eingehen. 29 „Wie nmlich die Sehkraft nichts schafft oder hervorbringt, denn ihre Aufgabe ist allein, jedes einzelne der sichtbaren Dinge zu unterscheiden und deutlich zu machen (t¹ jq¸meim ja· dgkoOm), uns aber ermçglicht, mit ihrer Hilfe etwas zu tun“ (bers. Dring). 30 pokk±r c±q eQsacc´kkousi diavoq²r 31 diavoq±r l³m c±q pokk±r ja· pamtodap±r B t/r exeyr eQsacc´kkei d¼malir
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1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen
cm¾seir) ber die einzelnen Dinge zur Verfgung, etwa „daß es (das Feuer)
warm ist“ (Met. I 1, 981b11 ff.). Hier stellt sich natrlich die Frage, ob die Wahrnehmung bzw. die mit ihr verbundene Kenntnis nur die Qualitt ,warm‘ zum Inhalt hat oder auch die Tatsache ,daß das Feuer warm ist‘. Manche Stellen legen es in der Tat nahe, daß uns in der Wahrnehmung eine bestimmte singulre Tatsache offenbar wird (EN VI 3, 1139b21 f.32 ; Top. V 3, 131b2333, b27).34 Wir werden auf diese Frage noch spter eingehen. An dieser Stelle bleibt erst einmal festzuhalten, daß uns die Wahrnehmung mit der Wirklichkeit in ihrer phnomenalen Mannigfaltigkeit bekannt macht. (2) Die von der Wahrnehmung gewhrte Kenntnis spielt im Wissenserwerb eine grundlegende Rolle: Das Wahrgenommene ist das ,fr uns Bekanntere‘ (An. Post. I 2, 72a2 f.; Phys. I 5, 189a5), von dem der Wissenserwerb, der zum ,an sich‘ oder ,der Natur nach Bekannteren‘ fhrt (An. Post. I 2, 72a3; Phys. I 1, 184a16 – 21), ausgehen muß.35 Die Induktion im Sinne einer ,Heranfhrung‘ macht nichts anderes, als einen allgemeinen Gesichtspunkt an mehreren Einzelfllen zu verdeutlichen36, die ihrerseits fr uns ,deutlich‘ oder,bekannt’sind (An. Post. I 1, 71a8 f.; Phys. I 2, 185a13 f.). In An. Post. II 19, wo Aristoteles die Entstehung der verschiedenen kognitiven Zustnde bzw. Kenntnisse von der Wahrnehmung aus bis zur Prinzipienkenntnis beschreibt, sagt Aristoteles, daß es bei Lebewesen, bei denen sich neben der Wahrnehmung kein Bleiben des Wahrnehmungsinhalts findet, keine gnsis außerhalb des Wahrnehmens gibt: „Fr diejenigen nun, in denen es nicht zustandekommt, entweder ganz oder in bezug auf was es nicht zustande32 „Von dem, was anders sein kann, wissen wir, wenn es außerhalb unserer Beobachtung geschieht, nicht (kamh²mei), ob es der Fall ist oder nicht“ (bers. Wolf ). 33 „Denn alles Wahrnehmbare ist, wenn es sich der Wahrnehmung entzieht, ungewiss (%dgkom). Unklar (!vam´r) ist nmlich, ob es noch zukommt, weil es nur durch die Wahrnehmung erkannt wird“ (bers. Rapp/Wagner). 34 Diese Frage kann natrlich nicht bloß durch Hinweis auf Aristoteles’ Formulierung mit einer propositionalen Konstruktion entschieden werden (vgl. Graeser 1978, 92 Anm. 2). Hierzu ausfhrlich Kap. 3 – 4. 35 Wieland (1992, 71 Anm. 2) hat berzeugend nachgewiesen, daß cm¾qilom hier nicht ,erkennbar’, sondern schon ,bekannt’ bedeuten muß; wir setzen in jeder Untersuchung schon immer bei einer Kenntnis an. Er fhrt hier das Regreßproblem an: Wenn wir bei jedem Wissenserwerb von etwas Erkennbarem ausgehen wrden, das wir erst noch erkennen mßten, kçnnten wir wieder fragen, wie wir das erkennen. Dafr, daß es sich hier schon um ein Bekanntes handeln muß, spricht das Bl?m cm¾qilom in EN I 2, 1095b4: Man muß schon immer sittlich gebildet sein, um die Vorlesung ber Ethik zu hçren. 36 Die Induktion macht das Allgemeine ,bekannt’ (cm¾qilom poie?m : I 3, 72b29 f.; I 18, 81b3) oder ,deutlich’ (dgkoOm : An. Post. II 5, 91b35; Met. VI 1, 1025b15 f.). Vgl. Wieland 1992, 95.
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kommt, gibt es keine Kenntnis außerhalb des Wahrnehmens (oqj 5sti to¼toir cm_sir 5ny toO aQsh²meshai)“ (99b37 ff.; bers. Detel). In der ,Genetischen Epistemologie‘ (Hamlyn) dieses Kapitels geht es Aristoteles in erster Linie um die Beantwortung der Frage, wie wir mit den Prinzipien bekannt werden (99b18), in zweiter Linie um die Frage, welches der kognitive Zustand ist, in dem wir uns befinden, wenn wir sie kennen. Die erste Frage wird anschließend in folgender ,Schwierigkeit‘ (diapoq¶seiem %m tir) wieder aufgenommen und genauer expliziert37: „ob die Zustnde nicht in uns sind, sondern zustande kommen oder in uns sind, aber verborgen bleiben“ (99b25 f.; bers. Detel). Einerseits kçnnen wir diese Kenntnisse nicht schon immer in uns haben, da wir dann Kenntnisse besitzen wrden, die dem Rang nach hçher wren als die daraus resultierenden Beweise, ohne daß uns das bewußt wre. Wenn wir sie andererseits erwerben, ohne sie schon zu besitzen, stellt sich das Problem, wie das mçglich ist, wenn wir berhaupt keine Kenntnisse besitzen. Daraus folgt, daß es weder mçglich ist, die Prinzipien immer schon zu besitzen, noch daß wir sie ex nihilo, ohne irgendeine vorangehende Kenntnis, erwerben. Dieses aus Platons Menon bekannte Problem lçst Aristoteles mit der Einfhrung der Wahrnehmung als einem angeborenen und unterscheidungsfhigen Vermçgen (d¼malim s¼lvutom jqitij¶m : 99b25 – 35).38 Als ein solches Vermçgen kann die Wahrnehmung zwei Bedingungen erfllen: Sie stellt zum einen ohne eine vorherige Belehrung die fr jeden Wissenserwerb notwendigen Vorkenntnisse (pqoup²qwousa cm_sir : 99b29) bereit, ohne die wir sonst keine weiteren Kenntnisse gewinnen kçnnten. Die Kenntnisse, die sie gewhrt, sind zum anderen nicht ,ranghçher gemß der Genauigkeit‘ (tiliyt´qa jat’ !jq¸beiam : 99b33 f.)39 als die zu erwerbenden Kenntnisse. Die kognitiven Zustnde des Wissens liegen somit nicht schon immer in uns vor, noch entstehen sie aus solchen, die ,an sich bekannter‘ wren (cmystij¾teqom), sondern sie entstehen ,im Ausgang von der Wahrnehmung‘ (!p¹ aQsh¶seyr : 100a10 f.).40 Insofern die Wahrnehmung als ein angeborenes Vermçgen 37 Die zweite Frage nach dem kognitiven Zustand wird zuvor in zwei Problemen reformuliert (hierzu Detel 1993 II, 858 f.). 38 Vgl. auch De an. III 3, 428a3 f., wo Aristoteles bezglich aisthÞsis, doxa, epistÞmÞ und nous von Vermçgen oder Haltungen spricht, „durch die wir unterscheiden und Wahres oder Falsches sagen“. 39 Der Grad an Genauigkeit bemißt sich hier an der Nhe zu den hçchsten Prinzipien vgl. An. Post. I 27, 87a34 f.; I 24, 86a14 – 17; Met. I 2, 982a25 ff. 40 Aristoteles unterscheidet noch nicht wie Kant (Kritik der reinen Vernunft B 1) zwischen einem ,mit der Erfahrung anheben’ und ,aus der Erfahrung entspringen’, weshalb ich in epistemologischen Zusammenhngen keinen Unterschied dem Sinn
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1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen
schon ,unterscheidungsfhig‘ und damit ,kognitiv‘ ist, kann sie uns mit der sinnlichen Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit in einer nicht-begrifflichen Weise bekannt machen. Auf diese Weise kann sie einen Teil des fr jeden Wissenserwerb notwendigen Vorwissens bereitstellen41, von dem ausgehend dann die hçherrangigen Kenntnisse entstehen (An. Post. II 19, 100a10 f.; Sens. 437a2 f.).
1.2 Aristoteles’ Begriff der epistÞmÞ Im letzten Abschnitt haben wir schon gesehen, daß es sich bei der epistÞmÞ um eine bestimmte Art von hypolÞpsis handelt, nmlich um eine solche, die aus der Ttigkeit des Beweisens resultiert und sich auf das Allgemeine und Notwendige bezieht (De an. III 3, 427b25; EN VI 6, 1140b31 f.42). Nach Aristoteles wissen wir dann etwas schlechthin (epistasthai hapls), wenn wir die Ursache kennen, durch die eine Sache43 ist, daß es die Ursache jener Sache ist und daß sich diese Sache nicht anders verhalten kann (An. Post. I 2, 71b9 – 12). Aristoteles entfaltet diese Art des Wissens mit Hilfe einer bestimmten Art des Schlusses, nmlich des ,wissenschaftlichen Schlusses‘ (syllogismos epistÞmonikos), den er,Beweis‘ (apodeixis) nennt; durch einen Beweis kommt Wissen im Sinne der epistÞmÞ zustande (jah’ dm t` 5weim aqt¹m 1pist²leha :
nach zwischen 1n/1j c.gen. (99b29, 100a6; Sens. 437a2) und !pº c.gen. (100a10 f.) mache. 41 Die Wahrnehmung liegt nach De an. II 5 von Geburt an schon auf der Stufe der ,ersten Entelechie’ vor (wie ein erworbenes Wissen: 417b16 – 19). Welsch (1987, 117 – 122) spricht hier von einem ,aisthetischen Vorwissen’ oder ,Elementarwissen’, auf deren Grundlage die Wahrnehmung unterscheiden kann. Man kann fragen, wie sich die durch die Wahrnehmung gewhrten Kenntnisse zu dem in An. Post. I 1 erwhnten Vorwissen verhalten. Wir darauf in Kap. 5.1 eingehen. 42 Demonstratives Wissen (epistÞmÞ) bezieht sich grundstzlich auf das Allgemeine und Notwendige (An. Post. I 6, 74b6; I 33, 88b31 f.; hierzu Kosman 1973, 377 f.; Burnyeat 1981, 109 f.). ,Allgemein’ (jahºkou) wird hier im strikten Sinn von An. Post. I 4 (jat± pamtºr ja· jah’ art¹ ja· Ø aqtº: 73b26 f.) verstanden. Aristoteles lßt aber auch das, was in der Regel geschieht (¢r 1p· t¹ pok¼), als Gegenstand der epistÞmÞ zu (Met. VI 2, 1027a20 f.; An. Post. I 30). 43 Da sich nach Aristoteles die Frage nach der Ursache (t¹ di± t¸) immer auf ein Verhltnis des Zukommens beziehen muß (Met. VII 17, 1041a10 f., a23: t· %qa jat² timor fgte? di± t¸ rp²qwei), d. h. warum einem Gegenstand als Mitglied einer bestimmten Spezies bestimmte Eigenschaften notwendig zukommen (die sog. per seAkzidentien: An. Post. I 7, 75b1; I 10, 76b4), kçnnen wir hier pq÷cla auch als ,Tatsache’ auffassen.
1.2 Aristoteles’ Begriff der epistÞmÞ
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71b19).44 Ein Beweis unterscheidet sich darin von einer herkçmmlichen Deduktion, daß seine Prmissen wahr, ursprnglich, unvermittelt und in Bezug auf die Konklusion ,an sich bekannter und frher‘und urschlich sind (71b21 f.). Solche unvermittelten und erklrungskrftigen Prmissen, die Aristoteles auch als ,Prinzipien des Beweises‘ (72a7)45 bezeichnet, verweisen auf einen in der Wirklichkeit vorliegenden allgemeinen und notwendigen Zusammenhang, der fr andere urschlich ist. Wenn wir einen solchen Zusammenhang, also das Prinzip in seiner internen Struktur, ,durchschaut‘ haben, wissen wir, warum bestimmten Gegenstnden, insofern sie einer bestimmten Art angehçren, bestimmte Merkmale notwendig zukommen und sind dann imstande, solche allgemeinen Tatsachen oder Phnomene aus unvermittelten und urschlichen Prmissen – d. h. der Mittelbegriff verweist auf eine Aristotelische Ursache, die ,an sich bekannter‘ ist – zu erklren. So kçnnen wir durch Kenntnis der Form-Ursache oder des Wesens46 einer bestimmten Art aufzeigen, warum die Angehçrigen dieser bestimmten Art bestimmte Eigenschaften notwendig besitzen. Diese notwendigen Eigen44 Bei Aristoteles’ epistÞmÞ handelt es sich um eine besondere Art von Wissen, das nicht mit dem Wissensbegriff der Standardanalyse im Sinne ,gerechtfertigter wahrer Meinung’ gleichgesetzt werden darf (wie es sich prima facie von EN VI 3, 1139b33 f. nahelegen kçnnte). Wie Burnyeat (1981, 100 – 115) gezeigt hat, handelt es sich hier um ein Expertenwissen, das viel restriktivere Bedingungen erfllen muß als der Wissensbegriff der Standardanalyse: Die epistÞmÞ im strikten Sinn bezieht sich nur auf das Allgemeine und Notwendige und kommt nur durch Beweis zustande. Dabei mssen die Prmissen eines Beweises die in An. Post. I 2 aufgestellten Bedingungen erfllen. Sind einem etwa die Prmissen nicht ,bekannter’ als die zu erklrenden Tatsachen, dann hat man die 1pist¶lg nur in einem akzidentellen Sinn (EN VI 3, 1139b34 f.). Daraus folgt aber gerade nicht, wie Burnyeat zu Recht hervorhebt, daß man dann bloß ber ,Meinung’ verfgen wrde. Vielmehr gibt es bei Aristoteles innerhalb der epistÞmÞ verschiedene Abstufungen (etwa An. Post. I 13; I 24). 45 Hier wird ,Prinzip’ in einem engen Sinn verwendet. In einem weiten Sinn werden innerhalb der Apodeiktik die Hypothesen, Definitionen und die Axiome Prinzipien genannt (An. Post. I 2, 72a14 – 24; I 10; Met. III 2, 996b26 ff.). In der vorliegenden Untersuchung verwenden wir die Begriffe des Prinzips und der Ursache der Einfachheit halber gleichbedeutend, wohl wissend, daß alle Ursachen Prinzipien, aber nicht alle Prinzipien Ursachen sind. 46 Innerhalb der vier verschiedenen Typen von Ursachen (Phys. II 3; Met. V 2) bildet die Form-Ursache den primren Bezugspunkt (vgl. Owens 1963, 178 f., 234). Sie koinzidiert mit der ousia im primren Sinn, der Seinsursache eines selbstndig existierenden Gegenstands (Met. V 8, 1017b14 ff.). Als prtÞ ousia ist diese verantwortlich fr die Selbstndigkeit und Bestimmtheit der Einzelsubstanz und als solche die primre Antwort auf die Was-ist-Frage, enthlt also das definitorische Sein.
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schaften oder ,per se-Akzidentien‘ (t± jah’ art± sulbebgjºta)47, die im Unterschied zu den zuflligen Akzidentien (An. Post. I 6, 74b12.; Met. VI 2) jedem Exemplar einer bestimmten Art notwendig zukommen, im Unterschied zu den essentiellen Eigenschaften aber nicht zum Wesen (ousia) bzw. zur Definition (horismos) selbst gehçren (Met. V 30, 1025a30 – 34), spielen innerhalb der Aristotelischen Konzeption der epistÞmÞ eine entscheidende Rolle: Sie beschreiben das Feld der demonstranda 48 einer Wissenschaft, mit denen der Forscher in der Form eines ,Wissen des Daß‘ (eQd´mai t¹ fti) schon vertraut sein muß, bevor er mit der eigentlichen Ursachenforschung beginnen kann (An. Post. II 1 – 2; vgl. auch De an. I 1, 402b21 – 25).49 Wissen 47 Bei Aristoteles finden sich auch die Ausdrcke t± jah’ art± p²hg oder t± jah’ art± rp²qwomta. Hufig spricht man von „notwendigen, nichtdefinitorischen Attribute[n]“ (Kullmann 1998, 63, 94 f.) oder auch von den aus dem Wesen der Sache ,abgeleiteten’, notwendigen Eigenschaften (vgl. Ross 1924, 349: „which yet flows from the nature of the subject“; zu der Redeweise eines ,Ausstrçmens’ der per seAkzidentien aus dem Subjekt oder den Prinzipien der Substanz vgl. Thomas von Aquin, etwa S.Th. q. 77 a. 6 ad tertium [hier emanatio]). Aristoteles unterscheidet diese notwendigen und nicht-definitorischen Prdikate von den notwendigen und definitorischen Prdikaten anhand zweier Verwendungsweisen von jah’ artº: Whrend bei Letzteren das Prdikat in der Definition des Subjekts vorkommt (als essentielles Merkmal, d. h. als generisches oder spezifisches), kommt bei Ersteren das Subjekt in der Definition des Prdikats vor (An. Post. I 4, 73a34-b4; I 22, 84a11 – 17). Zur Frage, ob das sulbebgj¹r jah’ artº mit dem Udiom oder Proprium gleichgesetzt werden kann, vgl. Tugendhat 1958, 59 Anm. 26. Ontologisch bilden die notwendigen Akzidentien den „Zwischenbereich, in dem sich sulbebgjºr und jah’ artº durchdringen“ (Tugendhat 1958, 50) – wir werden auf die ontologischen und epistemologischen Implikationen dieses sulbebgjºr-Begriffs in Kap. 5.3 noch eingehen. Hier wollen wir erst einmal mit Tugendhat (1958, 37) festhalten: „Indem das sulbebgjºr das jah’ artº in sich aufnimmt, das ursprnglich die Prsenz als solche im Gegensatz zum sulbebgj´mai auszeichnet, wird durch das sich daraus ergebende sulbebgj¹r jah’ artº der Boden gelegt fr die in den Zweiten Analytiken entwickelte neue Form von Wissenschaft, deren Wesen nicht mehr darin besteht, das Einfache bloß als solches definitorisch zu schauen, sondern in seiner Zwiefltigkeit und d. h. seinem Vorliegen zu begrnden“. 48 Vgl. An. Post. I 7, 75a40-b2; I 10, 76b3 f., b13; I 22, 84a11 f.; Met. III 2, 997a19 ff.; VI 1, 1025b12 f.; Part an. I 5, 645b1 f. 49 Hierzu Detel 2005b, Detel 2005c und Kullmann 1998, Kap. II. Wie Detel zu Recht betont, ist das Gewinnen eines solchen nicht-demonstrativen Wissens allgemeiner Tatsachen durch Wahrnehmung, Induktion und andere Methoden alles andere als trivial. Aristoteles schreibt außerdem der Kenntnis solcher allgemeiner Tatsachen, die das Zukommen der per se-Akzidentien zum Inhalt haben, auch einen Nutzen fr den Erwerb der Kenntnis des Wesens einer Sache zu (De an. I 1, 402b21 – 25). Sie weisen gewissermaßen den Weg zum Wesen einer Sache, insofern bei ihnen die urschliche Analyse ansetzt. Wir werden darauf in Kap. 5 eingehen.
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im Sinne der epistÞmÞ beschrnkt sich dann nicht mehr auf ein bloß definitorisches Wissen – d. h. auf die Kenntnis der essentiellen Eigenschaften einer Sache, wie sie in der unvermittelten Prmisse eines Beweises logisch entfaltet werden –, sondern bezieht sich auf ein komplexes ontologisches Feld, in dem bestimmte notwendige Merkmale, die schon in der Erfahrung (empeiria) erfaßt werden kçnnen, aus ihren essentiell-urschlichen Strukturen erklrt werden. Konkret zeigt sich dieses demonstrative Wissen in einem System tief gestaffelter Demonstrationen, das eine ganze wissenschaftliche Theorie oder Disziplin bildet.50 Wenn nun das Wissen im Sinne der epistÞmÞ nur durch Beweis zustandekommt, und dieser von Prinzipien, also unvermittelten und erklrungskrftigen Prmissen ausgeht, mssen wir auch von diesen Prinzipien irgendeine bestimmte Art der Kenntnis haben. Nach Aristoteles ist es fr das epistasthai hapls sogar erforderlich, die Prinzipien des Beweises in einem hçheren Maße als die Konklusionen zu kennen und daher auch von ihnen in einem hçheren Grad berzeugt zu sein (l÷kkom cmyq¸feim ja· l÷kkom piste¼eim : An. Post. I 2, 72a30 ff., a38 f.). Das folgt fr Aristoteles aus dem allgemeinen Prinzip, daß eine bestimmte, an einem Gegenstand verursachte Eigenschaft dem Verursachenden im hçheren Grad zukommen muß: „stets nmlich trifft dasjenige, aufgrund dessen ein jedes zutrifft, jenem gegenber in hçherem Grade zu (l÷kkom rp²qwei), wie etwa: aufgrund dessen wir lieben, das ist liebenswert in hçherem Grade. Daher, wenn wir wirklich wissen aufgrund der ursprnglichen Dinge, und berzeugt sind, dann wissen wir auch jene Dinge, und sind berzeugt, in hçherem Grade, weil aufgrund jener auch die spteren Dinge zutreffen“ (An. Post. I 2, 72a29 – 32; bers. Detel).51 Das, was also Grund fr das Wissen einer bestimmten Sache ist, muß nach Aristoteles selbst in einem hçheren Grade gewußt werden (vgl. I 25, 86a38 f., b27 ff.). Doch was heißt hier, etwas in einem hçheren Grad zu wissen? Aristoteles’ Redeweise von verschiedenen Graden des Wissens und des berzeugtseins darf nicht im Sinne einer hçheren subjektiven ,Evidenz‘ oder ,Gewißheit‘ verstanden werden.52 Hinter diesen verschiedenen Graden steht eine ontologische Rangordnung, in der das Fundierende an der Spitze steht, also ein essentiell-urschlicher Zusammenhang, aus dem sich er50 Vgl. Detel 2005b, 201. 51 Fr dieses Kausalverstndnis vgl. Met. II 1, 993b24 ff. Hierzu weiterfhrend Gerson 2005, 180 – 188. Fr den Fall des Wissens der Prinzipien vgl. auch Met. I 2, 982b2 ff.: „Am meisten wißbar sind aber die Prinzipien und Ursachen: Denn durch diese und aus diesen wird das brige erkannt, nicht aber diese durch das Untergeordnete“. 52 Vgl. Burnyeat 1981, 127 f.
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schließt, warum einer bestimmten Spezies bestimmte Eigenschaften notwendig zukommen. Dieses ontologisch Primre oder Vorrangige bildet das Ziel unserer Erkenntnisbemhungen (Met. VII 6, 1031b6 f.53). Die Erkenntnis dieses ontologisch Primren, das am weitesten von der Wahrnehmung entfernt ist, ist fr uns schwierig – Aristoteles illustriert unsere epistemische Situation mit dem berhmten Nachtvçgel-Gleichnis (Met. II 1, 993b7 – 11) – und nur auf die Weise zu erreichen, daß man von der Wahrnehmung, welche die zuflligen Eigenschaften zum Gegenstand hat, ausgeht und sich schrittweise zu den Ursachen und Prinzipien vorarbeitet.54 Diesen Weg des Wissenserwerbs beschreibt Aristoteles an vielen Stellen als das Voranschreiten oder den bergang vom ,fr uns Bekannteren‘ zum ,an sich Bekannteren‘55, wobei hier nicht vergessen werden darf, daß ontologisch gesehen das ,fr uns Bekanntere‘ gleichzeitig das ,an sich‘ oder ,der Natur nach Unklarere‘ oder ,weniger Bekannte‘ ist.56 Wenn Aristoteles also davon spricht, daß fr das epistasthai hapls die Prinzipien der Beweise in einem hçheren Grad bekannt sein mssen als die Schlußstze, kçnnen wir das so verstehen, daß wir hierfr schon das ontologisch Primre erkannt haben mssen und eine ,ousiale Perspektive‘ einnehmen kçnnen, in der wir die Prinzipien als ,an sich bekannter‘ und als ,an sich berzeugender‘ ansehen, weil nurdurch sie alles andere hinreichend begrndet werden kann. Dagegen sind in der gegenlufigen, ,symbebekotischen Perspektive‘ die Prinzipien im Unterschied zu singulren, beobachtbaren Tatsachen oder bloßen Symptomen ,weniger bekannt‘ oder ,weniger klar‘. Genau dieser Unterschied kommt in Aristoteles’ Lehre vom ,Beweis des Warum‘ und vom ,Beweis des Daß‘ in An. Post. I 13 zum Ausdruck, aus der sich zwei Formen der epistÞmÞ, das t¹ fti 1p¸stashai und das t¹ diºti 1p¸stashai, ergeben. Whrend im ,Beweis des Warum‘ der Mittelbegriff auf eine ,an sich bekanntere‘ Ursache 53 1pist¶lg te c±q 2j²stou 5stim ftam t¹ t¸ Gm 1je¸m\ eWmai cm_lem 54 Eine treffende Beschreibung gibt Gerson 2005, 140: „The governing idea of Aristotle’s account of embodied human cognition deserves to be acknowledged as one of the most elegant ideas in the history of philosophy. Roughly, the idea is that cognition is the mirror image of reality. Or, to change the metaphor, the stages of cognition unpack the packaged real world in reverse order.“ 55 Vgl. Phys. I 1, 184a16 – 23; Met. VII 3, 1029b3 – 12; An. Post. I 2, 71b33 – 72a5; De an. II 2, 413a11 f.; EN I 4, 1095b2 ff.; Top. VI 4, 141b5 – 19. Wir werden auf diesen Grundsatz in Kap. 5.3 noch genauer eingehen. 56 Vgl. Phys. I 1, 184a19 f.; De an. II 2, 413a11. Der ontologisch niedere Rang des ,fr uns Bekannteren’ kommt besonders in Met. VII 3 zum Ausdruck, wo Aristoteles sagt, daß das fr jeden Einzelnen Bekannte und Erste oft nur „schwach (an sich) erkennbar ist (Aq´la 1st· cm¾qila) und wenig oder nichts vom Seienden besitzt (ja· lijq¹m C oqh³m 5wei toO emtor)“ (1029b9 f.).
1.2 Aristoteles’ Begriff der epistÞmÞ
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verweist57, ein bestimmtes Phnomen also aus einem allgemein-urschlichen Zusammenhang bewiesen wird und dafr dieser Zusammenhang selbst verstanden sein muß58, wird im ,Beweis des Daß‘, wo der Mittelbegriff auf eine ,fr uns bekanntere‘ Wirkung verweist, aus einer Wirkung auf die Ursache zurckgeschlossen.59 Die Ursache selbst wird bloß in ihrer Existenz, in ihrem ,Daß‘, aufgewiesen, nicht aber in ihrer Verflechtung mit dem Verursachten verstanden, so daß man auch nicht weiß, wie genau ein Phnomen in dieser Ursache fundiert ist und was sich sonst noch aus dieser Ursache ergibt. Wenn nun fr die epistÞmÞ die Prinzipien ,an sich bekannter‘ sein mssen, also in der ,ousialen Perspektive‘ gewußt werden mssen, und Wissen ausschließlich demonstratives, d. h. durch Beweis hervorgebrachtes, Wissen wre, dann wrde das einen infiniten Begrndungsregreß zur Folge haben, wodurch demonstratives Wissen unmçglich wird. Diese Konsequenz scheint sich nur dadurch vermeiden zu lassen, daß man eine zirkulre Begrndungsstruktur zulßt (An. Post. I 3, 72b5 ff.). Diese beiden von Aristoteles angefhrten Positionen60 basieren auf der Annahme, daß es nur eine Art von Wissen gibt, nmlich demonstratives (72b8, b13, b16). Sie geben Aristoteles die Gelegenheit, auf zwei Annahmen aufmerksam zu machen, die fr die Konsistenz seiner Konzeption von epistÞmÞ unverzichtbar sind. (i) Aus dem infiniten Regreß ergibt sich folgende Konsequenz61: Das Unendliche,
57 In An. Post. II 16, 98b19 f. spricht Aristoteles auch vom ,Beweis aus der Ursache’. Auch fr die Begriffsbestimmung gilt, daß wir das ,an sich Sptere’durch das ,an sich Frhere’ oder ,an sich Bekanntere’ definieren sollten (Top. VI 4). 58 Hat man das Wesen einer Sache erkannt, kann diese Einsicht in einer ,essentiellen Prdikation’ expliziert werden. 59 Aristoteles’ Beispiel in An. Post. I 13, 78a31 – 36 ist: Die Planeten flimmern nicht; was nicht flimmert, ist nahe; also mssen die Planeten nahe sein. In einem solchen ,Beweis des Daß’ steht im Obersatz ein ,fr uns bekannteres’ Phnomen, im Untersatz ein durch Induktion aufgefundener Zusammenhang (die beiden Prmissen werden hier umgestellt). In der Konklusion steht die ,an sich bekanntere’ Ursache, auf die zurckgeschlossen wurde. 60 Wer diese beiden Positionen vertreten hat, ist umstritten. Hierzu Detel 1993 II, 86 – 98. 61 Es muß betont werden, daß es sich hier nicht wie spter im ,Agrippa-Trilemma’ um ein skeptisches Argument gegen die Mçglichkeit von Wissen berhaupt handelt, was dann eine grundstzliche Reflexion ber die Mçglichkeit von Wissensansprchen endlicher Vernunftwesen zur Folge htte (vgl. etwa Kern 2006, 58). Vielmehr sieht Aristoteles hier nur die Mçglichkeit einer bestimmten Art von Wissen gefhrdet, nmlich das demonstrative Wissen (72b5 f.: oq doje? 1pist¶lg eWmai). Er sieht sich dadurch nicht veranlaßt, den Wissensbegriff als solchen nher zu untersuchen,
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1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen
d. h. eine unendliche Reihe von Begrndungen, kann nicht durchgegangen werden (72b10 f.) und wenn man doch in der Beweiskette irgendwo stehenbleibt, htte das zur Folge, daß diese ,Prinzipien‘ unerkennbar wren (!cm¾stour : b12), da diese ja nicht aus anderem bewiesen werden kçnnten. Wenn aber die Prinzipien nicht gewußt werden, dann kann auch das aus ihnen Gefolgerte nicht ,schlechthin‘ oder ,eigentlich‘ gewußt werden, da es dann von bloßen Hypothesen (1n rpoh´seyr) abhngen wrde (72b11 – 15). Demonstratives Wissen wre somit unmçglich. Um diese Konsequenz zu vermeiden, muß Aristoteles neben dem Wissen aus Beweis noch eine andere Art des Wissens annehmen, das sich auf die Prinzipien bezieht und das nicht-demonstrativ ist: „Wir aber behaupten, daß nicht jedes Wissen demonstrierbar, sondern das der unvermittelten Dinge undemonstrierbar (!mapºdeijtom) ist“ (72b18 ff.; bers. Detel).62 (ii) Gegen das Beweisen im Zirkel fhrt Aristoteles an, daß ein Beweis stets von Prinzipien ausgeht, die gegenber dem Begrndeten ,an sich frher‘ und ,an sich bekannter‘ sind, also auf allgemeine und notwendige Tatsachen verweisen. Daher ist es unmçglich, daß dasselbe denselben Dingen gegenber zugleich und in derselben Hinsicht vorrangig und nachrangig ist (72b25 – 30), was der Fall wre, wenn man zirkulres Beweisen zuließe. Aristoteles geht von einer asymmetrischen Begrndungsstruktur aus, die in einer ontologischen Rangordnung fundiert ist. Aristoteles’ Konzeption demonstrativen Wissens impliziert also zwei Annahmen: (1) Auch die Prinzipien mssen in ihrer internen Struktur gewußt werden und drfen nicht bloß hypothetisch angesetzt werden (vgl. I 3, 72b21; II 19, 99b20 ff.). Die Prinzipien mssen sogar in einem hçheren Grad als das Bewiesene gewußt werden (I 2, 72a28 – 37). Nur dadurch ist es mçglich, etwas schlechthin, nmlich aus Prinzipien, zu wissen.63 sondern begegnet dieser Schwierigkeit einfach durch die Einfhrung einer anderen Art des Wissens, nmlich eines nicht-demonstrativen (72b18 ff.). 62 Vgl. auch schon die Bemerkung in I 2, 71b16 f., wo Aristoteles von einem 6teqor toO 1p¸stashai tqºpor spricht. Kosman (1973, 382) weist hier mit Recht darauf hin, daß man darunter entweder eine andere Weise des 1p¸stashai oder eine andere Weise als das 1p¸stashai verstehen kann (zu dieser Schwierigkeit vgl. auch II 19, 99b23 ff.). Wirft man einen Blick auf die Zweiten Analytiken insgesamt, dann zeigt sich, daß es sich bei dem nicht-demonstrativen Wissen der Prinzipien um eine andere Gattung als die epistÞmÞ handelt, um den nous (II 19, 100b5 – 17; er ist das ,Prinzip des demonstrativen Wissen’), und es innerhalb der epistÞmÞ verschiedene Abstufungen gibt (etwa I 13; EN VI 3, 1139b34 f.). 63 Es handelt sich hier um eine komplexe Kenntnis der Prinzipien, die beinhaltet, wie die Prinzipien mit dem Prinzipiierten kausal verflochten sind, und die Kosman
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(2) Diese besondere Art des Wissens darf nicht durch einen Beweis zustande kommen, um den Regreß zu vermeiden (I 2, 72b18 – 25). Dieses Wissen stellt eine andere Gattung als die epistÞmÞ dar und ist ihr Prinzip (72b24; I 33, 88b36; II 19, 100b15).64 Auf diese besondere Art des Wissens kommt Aristoteles in An. Post. II 19 zurck. Hier mçchte er klren, „wie wir mit den Prinzipien bekannt werden (c¸momtai cm¾qiloi) und welches die kognitive Haltung (cmyq¸fousa 6nir) ist“, in der wir uns befinden, wenn wir dieses Wissen besitzen (99b18). Die erste Frage nach der Weise des Erwerbs der Prinzipienkenntnis beantwortet er so, daß wir diese nicht schon immer unbewußt besitzen und auch nicht ex nihilo erwerben kçnnen, sondern sie auf der Grundlage des diskriminatorischen Vermçgens der Wahrnehmung gewinnen. Am Ende des hier beschriebenen kognitiven Vorgangs65, der von der Wahrnehmung ber das Gedchtnis und die Erfahrung bis zum „Prinzip der Kunst und des Wissens“ verluft, sagt er, daß uns die Prinzipien notwendig durch Induktion bekannt werden (100b466). Die zweite Frage wird so beantwortet, daß fr die kognitive Haltung oder Verfassung, in der wir uns befinden, wenn wir die Prinzipien erkannt haben, keine ,andere Gattung‘ neben der epistÞmÞ als allein der nous zustndig sein kann. Nur dieser ist unter den kognitiven Haltungen genauer67 und wahrer68 als die epistÞmÞ und kommt daher als (1973, 384) durch folgende Analogie treffend zum Ausdruck bringt: „We understand the principles, that is, have a grasp of them which stands in the same relation to simply knowing them to be true as scientifically understanding a phenomenon stands to simply knowing it to be the case.“ 64 Das kommt terminologisch dadurch zum Ausdruck, daß Aristoteles, wenn er von diesem nicht-demonstrativen Wissen der Prinzipien spricht, in der Regel die Verben gnrizein oder ginskein verwendet: Wir wissen eine Tatsache, wenn wir ihre Ursache kennen (vgl. An. Post. I 2, 71b9 ff.; II 19, 99b20 ff.; Met. I 3, 983a25 f.). Dadurch wird eine Zirkularitt vermieden (vgl. Barnes 1975, 97). Der Begriff der Kenntnis im Sinne des gnrizein/gnsis ist der weitere Begriff. 65 Ich verwende vorlufig den Ausdruck ,Vorgang’ und nicht ,Verfahren’, weil Aristoteles in II 19 so etwas wie eine genetische Erklrung des Erwerbs der Prinzipienkenntnis anzudeuten scheint, also uns darber informiert, was passiert, wenn wir dabei sind, die Prinzipienkenntnis zu erwerben und weniger uns darber informiert, was wir tun sollen, um eine solche Kenntnis zu erwerben. Das zeigt sich besonders an der hufigen Verwendung von (1c)c¸cmeshai und der Bemerkung, daß die Seele von solcher Beschaffenheit sei, daß sie einen solchen Prozeß erleiden kann (100a13 f.). Was fr eine Art von Vorgang hier beschrieben wird und was dieser zum Inhalt hat, werden wir in Kap. 5 untersuchen. 66 d/kom dμ fti Bl?m t± pq_ta 1pacyc0 cmyq¸feim !macja?om 67 ,Genauer’ kann hier mit Met. I 1, 982a25 f. so verstanden werden, daß sich dieses Wissen im hçchsten Maß auf die Prinzipien bezieht.
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1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen
einziger dafr in Frage. Damit scheint das Kapitel II 19 das in Kapitel I 3 fr die Konsistenz des demonstrativen Wissens geforderte nicht-demonstrative Wissen der Prinzipien erlutert zu haben. Das Problem ist nun, daß es eine offensichtliche Spannung gibt zwischen den Anforderungen an dieses besondere Wissen der Prinzipien und Aristoteles’ Aussagen darber, wie wir in diese kognitive Haltung, den nous, gelangen: Hier finden wir in An. Post. II 19 (mit Met. I 1) nur eine grobe Skizze, die so etwas wie eine sukzessive Entstehung verschiedener Arten von Kenntnis (gnsis), beginnend bei der Wahrnehmung bis hin zum nous, beschreibt und der Aristoteles den Namen ,Induktion‘ gibt (epaggÞ: 100b4).69 Aristoteles geht davon aus, daß es nicht-demonstrative Wege oder Verfahrensweisen (methodoi) fr die Erkenntnis der Prinzipien gibt, die auf je verschiedene Weise von Wahrnehmung, Gewçhnung (EN I 7, 1098b4; Met. VI 1, 1025b11 – 16), dem Verdeutlichen eines allgemeinen Gesichtspunkts an einzelnen Fllen (An. Post. I 1, 71a8 f.)70 oder der Dialektik (Top. I 2, 101a36-b4)71 Gebrauch machen. Alle diese methodischen Ansatzpunkte sind nun aber nicht hinreichend, um in die von Aristoteles als nous bezeichnete Haltung zu kommen, in der wir die Prinzipien in einem hçheren Grad kennen und von ihnen in einem hçheren Grad berzeugt sind: Die Dialektik im Sinne einer berprfung der Prinzipienkandidaten auf ihre Konsistenz spielt nur eine vorbereitende Rolle.72 Und auch wenn man 68 Vgl. Met. II 1, 993b27 ff. 69 Dieser Terminus ist bei Aristoteles in einem weiten Sinn zu verstehen; er bezieht sich auf eine ganze Familie von Vorgehensweisen, denen gemeinsam ist, ,vom Einzelnen zum Allgemeinen’ aufzusteigen (Top. I 12). Vgl. Ross 1949, 48; Kosman 1973, 386; Barnes 1975, 256. 70 Dieses ,Aufzeigen des Allgemeinen durch das Klarsein des Einzelnen’, d. h. die Verdeutlichung eines allgemeinen Gesichtspunktes an einem einzelnen Sachverhalt (vgl. Wieland 1992, 95 – 100; Detel 1993 I, 259 – 262) kann als eine Form von ,Induktion’ angesehen werden (vgl. Met. VI 1, 1025b11 – 16). Eine andere, ambitioniertere Form von Induktion liegt dem ,Beweis des Daß’ zugrunde (An. Post. I 13, 78a33 ff.). 71 „Ferner ist sie aber fr die ersten (Stze) einer jeden Wissenschaft ntzlich: Denn es ist unmçglich, ausgehend von den eigentmlichen Prinzipien einer vorliegenden Wissenschaft irgend etwas ber diese (Prinzipien) zu sagen, da die Prinzipien gegenber allen (anderen Stzen) vorrangig sind; es ist dagegen notwendig, sie mit Hilfe der ber sie bestehenden anerkannten Meinungen durchzugehen. Dies aber ist das Eigentmliche oder im hçchsten Maße Eigene der Dialektik: Da sie ein Prfungsverfahren ist, erçffnet sie einen Weg zu den Prinzipien von allen Disziplinen“ (bers. Rapp/Wagner). Zu den verschiedenen Interpretationsmçglichkeiten vgl. Rapp/Wagner 2004, 274. 72 Vgl. Horn/Rapp 2005, 42 ff.
1.2 Aristoteles’ Begriff der epistÞmÞ
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die Induktion in einem anspruchsvolleren Sinn interpretiert (vgl. An. Post. I 13, 78a33 ff.), liefert sie immer nur eine ,komparative Allgemeinheit‘, die sich auf eine begrenzte Anzahl beobachteter Einzelflle sttzt, und nicht das fr die epistÞmÞ geforderte katholou im strengen Sinn (An. Post. I 4, 73b26 f.; I 31, 87b32). Diese begrenzte Reichweite des von Aristoteles angedeuteten aisthetisch-induktiven Verfahrens hat nun Interpreten immer wieder dazu bewogen, den nous nicht nur als angezielte kognitive Haltung zu verstehen, sondern zu einem Teil des Wegs zu den Prinzipien selbst zu machen: Als ein spezifisch auf die Prinzipien ausgerichtetes, intuitives Erkenntnisvermçgen wrde der nous auf der Grundlage des vorausgegangenen induktiven Verfahrens eine besondere Form von infallibler Erkenntnis hervorbringen, welche die von Aristoteles aufgestellten Anforderungen erfllt und damit die problematische epistemische Lcke schließt. Aristoteles wrde demnach eine Art Verbindung zwischen Empirismus und Rationalismus vertreten, insofern fr das Erkennen der Prinzipien sowohl Induktion als auch noetische Intuition als sich ergnzende kognitive Ttigkeiten beteiligt wren.73 Hier liegt es nahe, auf einige Passagen aus De an. III 4 – 8 und Met. IX 10 zurckzugreifen und diese in einem streng epistemologischen Sinn zu verstehen: Der nous wre demnach nicht bloß das Vermçgen des Denkens (im weiten Sinn von De an. III 4, 429a2374), das auf die intelligiblen Gegenstnde (noÞta) bzw. die erworbenen gedanklichen Inhalte (noÞmata) im allgemeinen bezogen ist (429a17 f.75), mit diesen operiert und durch Verbinden oder Trennen wahre oder falsche Urteile bildet (III 6, 430a26-b6). Vielmehr wrde der nous in einem engen Sinn (vgl. De an. III 4, 430b27 f.: b d³ moOr oq p÷r) auf eine besondere Klasse von intelligiblen Gegenstnden bezogen sein, nmlich auf das wesentliche Sein von Gegenstnden oder ihre substantielle Form, die von ihm in einem besonderen, intuitiven Akt infallibel erfaßt wird. So wie es innerhalb der wahrnehmbaren Gegenstnde die 73 Vgl. Ross 1949, 86: „Sense-perception supplies the particular information without which general principles could never be reached; but it does not explain our reaching them; for that a distinct capacity possessed by man alone among the animals is needed, the power of intuitive induction which sees the general principle of which the particular fact is but one exemplification. Aristotle is thus neither an empiricist nor a rationalist, but recognizes that sense and intellect are mutually complementary.“ Vgl. Lee 1935, 122: „final act of insight whereby after the experience of particular instances […] we finally see the general principles involved“. Fr einen genaueren berblick vgl. Horn/Rapp 2005, 30 – 35. 74 k´cy d³ moOm è diamoe?tai ja· rpokalb²mei B xuw¶. 75 ¦speq t¹ aQshgtij¹m pq¹r t± aQshgt², ovty t¹m moOm pq¹r t± mogt²
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1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen
,eigentmlichen Gegenstnde‘ (idia aisthÞta) gibt, auf die das Wesen des jeweiligen Sinnes von Natur aus ausgerichtet und ber die kein Irrtum mçglich ist (De an. II 6), so gibt es dann auch innerhalb der denkbaren Gegenstnde eine Klasse infallibel erfaßbarer einfacher Wesenheiten (III 6, 430b27 – 30).76 Diese intuitive Einsicht in das Wesen einer Sache kann dann in einem zweiten Schritt in Form einer essentiellen Prdikation entfaltet werden und als unvermittelte und erklrungskrftige Prmisse das Prinzip eines Beweises bilden; innerhalb der Aristotelischen Epistemologie wre somit die Intuitivitt der Diskursivitt vorgeordnet.77 Mit der Annahme dieses intuitiven Erkenntnisvermçgens, das den bei der Wahrnehmung ansetzenden induktiven Weg abschließt, kann ein Hçchstmaß an Sicherheit und Gewißheit garantiert werden. Wenn man dagegen eine solche intuitionistische Interpretation des nous ablehnt, d. h. die Aussagen ber den nous in II 19 bloß als Antwort auf die zweite Frage nach der kognitiven Haltung (99b18) versteht78, und nach wie vor Aristoteles’ beide Annahmen beherzigt, daß die Prinzipien in einem starken Sinn gewußt werden mssen und dieses Wissen auf eine nicht-demonstrative Weise zustande kommen muß, muß man den aisthetisch-induktiven Prozeß aufwerten; er allein muß dann irgendwie zur Kenntnis der Prinzipien fhren.79 Der Wahrnehmung als Ausgangspunkt kme dann eine entscheidende epistemologische Bedeutung zu, etwa im Sinne des ,Urteilsempirismus‘ als eine rechtfertigende Basis, die alle anderen Meinungen sttzt: Der Anspruch, die Prinzipien einer Sache erfaßt zu haben, also im Zustand des nous zu sein, wre dann durch Rckgang auf eine bestimmte Klasse von ,gegebenen‘ Wahrnehmungseindrcken legitimiert. Die beiden skizzierten Interpretationsrichtungen verbinden sich mit einer bestimmten These ber die Struktur der Rechtfertigung oder Begrndung von Wissensansprchen; sie implizieren in je unterschiedlicher
76 Vgl. Oehler 1985, 182 – 186. 77 Vgl. Oehler 1985, 161, 251. Es liegt dann nahe, die Forschung mit dieser intuitiven Einsicht in die Prinzipien beginnen zu lassen, aus der dann alle anderen Tatsachen ,top down’ bewiesen werden kçnnen. Zu dieser ,AFE-Auslegung’ vgl. Detel 1993 I, 263 – 279. 78 Vgl. Barnes 1975, 257. Auf dieser Linie sind auch jene Interpretationen anzusiedeln, fr die der moOr das Vermçgen bezeichnet, das Allgemeine in einzelnen Fllen zu erfassen und innerhalb der Induktion aktiv zu sein (Lesher 1973, 52, 58). 79 Vgl. Barnes 1975, 259: „the answer Aristotle gives to the first question is wholeheartedly empiricist“.
1.2 Aristoteles’ Begriff der epistÞmÞ
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Weise einen erkenntnistheoretischen Fundamentalismus. Dieser lßt sich durch zwei Annahmen charakterisieren80 : (1) Es gibt zwei Klassen von berzeugungen: berzeugungen, die durch andere gerechtfertigt werden, und berzeugungen, die sich selbst rechtfertigen, also ,selbst-evident‘ sind. (2) Letztere bilden das Fundament fr alle anderen berzeugungen. Diejenige Interpretationsrichtung, die den nous als ein spezifisch auf die Prinzipien ausgerichtetes, intuitionistisches Vermçgen in den Erkenntnisweg miteinbezieht, ist insofern als fundamentalistisch im epistemologischen Sinn zu bezeichnen, als die Wahrheit dieses Aktes, nmlich die Prinzipien erfaßt zu haben, durch den noetischen Akt selbst garantiert wird. In Analogie zum Modell visueller Wahrnehmung wird dieser noetische Akt als eine zweistellige Relation zwischen dem Vermçgen und bestimmten Gegenstnden verstanden und ein besonderes Evidenzerlebnis angenommen: Im intuitiven Akt ,sehen‘ wir die Prinzipien in derselben Weise, wie sich in der Wahrnehmung die (eigentmlichen) Gegenstnde einfach aufdrngen.81 Dadurch wird es berflssig, nach einer weiteren Begrndung oder Rechtfertigung zu fragen, da uns bestimmte Dinge die Wahrheit der Auffassungen ber sie aufnçtigen82 ; der drohende Begrndungsregreß wird durch selbst-evidente Prinzipien gestoppt. Diese intuitionistische Interpretation scheint sich aus folgendem Grund nahezulegen: Wenn fr Aristoteles die Unabhngigkeit der Wirklichkeit von den Meinungen und Wissensansprchen ber sie gilt83 – wir also in unseren Urteilen (und Wissensansprchen) die Objektivitt bestimmter Sachverhalte unterstellen – und daraus die prinzipielle Irrtumsanflligkeit unserer Urteile folgt84, nun aber Aristoteles gerade betont, daß der Gegenstand des Wissens im Sinne der epistÞmÞ von der Wahrnehmung ,am weitesten entfernt‘ (poqqyt²ty l²kista) und am schwierigsten zu erkennen ist (An. Post. I 2, 72a3 f.; Met. I 2, 80 Vgl. Dancy 1985, 53 ff. 81 In Entsprechung zum nous im engen Sinn (De an. III 4, 430b27 f.) und zum ontologisch Einfachen im engen Sinn, den reinen Formen (Met. IX 10, 1051b26 f.), kann hier von einem nicht-propositionalen oder prlogischen Wahrheitsbegriff gesprochen werden. Hier ist keine Tuschung mçglich, sondern lediglich ein ,Berhren’ oder vollstndiges Verfehlen des Gegenstands. Hierzu Oehler 1985, Teil II, 4.Abschnitt; Tugendhat 1992. 82 Vgl. Rorty 1981, 176 ff. 83 Vgl. Met. IX 10, 1051b6 – 9: „Nicht darum nmlich, weil unsere Meinung, du seiest weiß, wahr ist, bist du weiß, sondern darum, weil du weiß bist, sagen wir die Wahrheit, indem wir dies behaupten“ (bers. Bonitz). 84 Vgl. Koch 2006b, 51 – 58.
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1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen
982a24 f.)85, wobei er die Fallibilitt des Menschen mit Nachdruck unterstreicht (De an. III 3, 427a29-b286 ; An. Post. I 9, 76a26 ff.87), so kçnnte das die skeptische Frage evozieren, wie wir jemals sicher sein kçnnen, daß unser fallibles Denken die objektive Wirklichkeit erfaßt hat. Es scheint kein Kriterium zu geben, um die Wahrheit oder Falschheit eines Urteils, die sich auf diese subjektunabhngige Wirklichkeit bezieht, endgltig festzustellen. Aufgrund der hervorgehobenen epistemischen Ferne einerseits und der menschlichen Fallibilitt andererseits scheint die Wahrheit im Sinne des metaphysischen Realismus „radikal nicht-kognitiv“88 zu sein. Genau diese skeptische Konsequenz kçnnte die intuitionistische Interpretation vermeiden: Die Wahrnehmung, die die idia aisthÞta zum Gegenstand hat, und der nous als ein besonderes Vermçgen, das auf das wesentliche Sein der Gegenstnde bezogen ist, wrden dann jeweils die beiden ,a-logischen Grenzflchen‘89 oder Quellen des diskursiven Denkens (dianoia) bilden, indem sie dieses mit aisthetischen bzw. noetischen Elementar-Gehalten versorgen und somit den ,Kontakt‘ zur objektiven Wirklichkeit garantieren. Auch die empiristische Interpretationsrichtung, die fr das Erkennen der Prinzipien allein ein aisthetisch-induktives Verfahren ansetzt, enthlt eine fundamentalistische Annahme: Fr den Anspruch, die Prinzipien erkannt zu haben, beruft man sich im Sinne einer Legitimation auf ein induktives Verfahren, das auf bestimmten Wahrnehmungsmeinungen basiert, die ihrerseits durch unmittelbar gegebene Sinneseindrcke begrndet werden. Letztere sind als extern verursachte Eindrcke selbst nicht mehr rechtfertigungsbedrftig; als unmittelbar Gegebenes ist die Wahrnehmung somit der Rechtfertigungssttzpunkt all unserer Meinungen ber die Welt.90 Neben dem aus sachlichen Grnden zu kritisierenden ,Mythos des Gege85 Es handelt sich ja hier um die ontologisch grundlegendsten Dinge (vgl. Met. VII 6, 1031b6 f.; VII 15, 1039b31 ff.). 86 „Und doch htten sie zugleich auch ber den Irrtum sprechen mssen, denn er ist den Lebewesen eigentmlicher und die Seele verbringt mehr Zeit in diesem Zustand“. 87 „Es ist freilich schwer, Kenntnis darber zu gewinnen, ob man weiß oder nicht. Schwer nmlich ist es, Kenntnis darber zu gewinnen, ob wir aufgrund der Prinzipien einer jeden Sache wissen oder nicht – was das Wissen wirklich ist“ (bers. Detel). Das ist eine Schlsselstelle fr Detels fallibilistische Interpretation der Zweiten Analytiken. 88 Koch 2006b, 55. 89 Vgl. Welsch 1987, 42 – 45. 90 Treffend wird das von McDowell (1994, 6) beschrieben: „The putatively reassuring idea is that empirical justifications have an ultimate foundation in impingements on the conceptual realm from outside. So the space of reasons is made out to be more extensive than the space of concepts.“
1.2 Aristoteles’ Begriff der epistÞmÞ
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benen‘ (Sellars) wird hier die Induktion als ein Schlußverfahren bzw. ein Verfahren der Rechtfertigung verstanden, was an Aristoteles’ Verstndnis von epaggÞ vorbeigeht.91 Außerdem kann gegen diese Interpretation angefhrt werden, daß die einzige Art von Wahrnehmungsgegenstnden, bei denen unter Standardbedingungen eine Tuschung ausgeschlossen ist, die ,eigentmlichen Gegenstnde‘ (idia aisthÞta) sind (De an. II 6, 418a12; III 3, 427b12; 428b19). Diese Inhalte sind aber offensichtlich kognitiv zu ,schmal‘92, als daß auf ihrer Grundlage alle unsere Meinungen ber die Welt gerechtfertigt werden kçnnten. Grundstzlich kann gegen solche Interpretationen, in denen das Rekurrieren auf eine noetische Intuition oder ein aisthetisch-induktives Verfahren im Sinne einer Rechtfertigungsbasis durch ein ,Problem der Gewißheit‘ motiviert ist, Aristoteles’ ,epistemischer Optimismus‘ angefhrt werden93 : Seine grundstzlichen Aussagen zur Erreichbarkeit der Wahrheit94, sein teleologisch begrndetes Vertrauen in die Zuverlssigkeit unserer kognitiven Vermçgen95, in die endoxa und in die Autoritten des theoretischen und praktischen Wissens lassen so etwas wie das ,Problem des Wissens‘ – also die Frage, wie es mçglich ist, daß endliche, fallible Wesen dennoch Wissen besitzen kçnnen96 – gar nicht erst aufkommen. Strkstes Indiz fr die Realisierbarkeit des Wissensideals ist Aristoteles’ Lehre von den dianoetischen Tugenden, die er als wahrheitsgarantierend ansieht: Aristoteles sieht es als mçglich an, daß sich das Denkvermçgen, dessen Werk die (theoretische bzw. praktische) Wahrheit ist (EN VI 2, 1139b12), in eine solche Disposition oder Verfassung bringen lßt, durch die man die Wahrheit erfaßt (alÞtheuein) und Irrtum ausgeschlossen ist (VI 6, 1141a3 f.).
91 Wie schon oben bemerkt, fallen unter diesen Begriff eine Vielfalt von Vorgehensweisen, denen gemeinsam ist, ,vom Einzelnen zum Allgemeinen’ aufzusteigen (Top. I 12). Warum es fr Aristoteles verfehlt ist, die ,Induktion’ berhaupt mit der Frage nach der Rechtfertigung von Wissensansprchen in Verbindung zu bringen, werden wir in Kap. 5 noch genauer sehen. 92 Vgl. Taylor 1990, 142; Vasiliou 1996, 117. 93 Vgl. die treffende Formulierung von Hçffe 2006, 103: „Getragen ist das ganze Vorgehen von einer Zuversicht in die Erkennbarkeit der Welt und zugleich einer Skepsis gegen den ersten Anschein.“ 94 Vgl. Met. II 1; Rhet. I 1, 1355a14 – 17; EE I 6, 1216b30 f.; Protr. B 32 – 37. 95 Fr die Wahrnehmung vgl. De an. II 6, 418a24 f.; De an. III 12 – 13; fr die natrliche Beziehung zwischen verschiedenen Gattungen von Seiendem und ihren kognitiven Vermçgen vgl. EN VI 2, 1139a8 – 11. 96 Vgl. Kern 2006, 9, 56.
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1.3 Anti-fundamentalistische Interpretationsanstze Gegen die beiden skizzierten Interpretationsrichtungen wurde in der Vergangenheit immer wieder der grundstzliche Einwand vorgebracht, daß Aristoteles das Interesse an so etwas wie Evidenz, Gewißheit und Rechtfertigung und berhaupt die damit verbundene ,Idee eines Fundaments‘ fehle und seine Auffassung davon, was die Natur des Wissens ist, eine andere sei als diejenige, die der Standardanalyse zugrundeliegt. Im Folgenden sollen einflußreiche nicht-fundamentalistische Interpretationsanstze der Aristotelischen Epistemologie vorgestellt werden, die jeweils in unterschiedlicher Weise diesem grundstzlichen Einwand Rechnung tragen: (1) Nach Burnyeat darf die epistÞmÞ, wie sie in den Zweiten Analytiken behandelt wird, nicht im Sinne des Wissensbegriffs der Standardanalyse – also als gerechtfertigte, wahre Meinung – verstanden werden, als ob hier eine Meinung durch einen Beweis, der von selbst-evidenten Prinzip ausgeht, zu Wissen erhoben wird.97 Vielmehr ginge es bei der epistÞmÞ um eine besondere Art des Wissens, nmlich um ein Expertenwissen, das sich auf das Allgemeine und Notwendige bezieht; dieses besondere Wissen sei von einem eher herkçmmlichen Wissen zu unterscheiden und setze dieses voraus.98 Die Zweiten Analytiken drften also nicht so gelesen werden, als ob Aristoteles hier den Wissensbegriffs als solchen analysiert. Dieses Expertenwissen werde analog zur moralischen Gewçhnung durch zunehmende intellektuelle Gewçhnung und Vertrautheit auf der Grundlage schon erworbener Kenntnisse erreicht; die bestehenden Kenntnisse werden immer weiter vertieft.99 Im kognitiven Zustand des nous zu sein, bedeute nichts anderes als vollkommen mit den Prinzipien und dem Netz, in dem sie stehen, vertraut zu sein.100 Mit dieser Interpretation wird Aristoteles’ Theorie des Wissenser97 Burnyeat 1981, 101, 132. 98 Burnyeat 1981, 100 ff. 99 Burnyeat 1981, 130: „If so, then the passage suggests that what is needed to complete the process may not be more evidence […] but intellectual practice and familiarity. There is such a thing as intellectual habituation as well as moral habituation, and in Aristotle’s view both take us beyond mere knowing to types of contemplative and practical activity which are possible only when something is so internalized as to have become one’s second nature.“ 100 Burnyeat 1981, 131 f.: „Faced with propositions which one has come to know perfectly well on inductive grounds and which are convincing and, moreover, knowable in themselves, all one needs to do is: become fully and completely familiar and convinced. That conviction and understanding is moOr, the cmyq¸fousa 6nir which grasps the things which are most knowable and familiar in themselves“.
1.3 Anti-fundamentalistische Interpretationsanstze
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werbs jedoch in ihrem theoretischen Anspruch fr wenig ambitioniert erklrt und daher auch fr wenig explikationsfhig gehalten.101 (2) Burnyeats Kritik an einer fundamentalistischen Interpretation wird von Nussbaum aufgegriffen und in Richtung eines ,internen Realismus‘ weiterentwickelt: Demnach bewege sich Aristoteles immer nur innerhalb der endoxa 102, d. h. innerhalb der Sprache und ihrer begrifflichen Strukturen, und lehne einen außersprachlichen Zugang zur Wirklichkeit ab, durch den wir so etwas wie selbst-evidente Prinzipien erkennen kçnnten, welche dann die Basis fr eine asymmetrische Rechtfertigungskette bilden wrden.103 Vielmehr bestehe das Ziel des Philosophen in nichts anderem, als die endoxa einer Konsistenzprfung zu unterziehen und so viele wie mçglich von ihnen zu bewahren. In der Prinzipienforschung gehe es lediglich darum, die endoxa in die richtige Ordnung zu bringen, d. h. zwischen solchen, die ,tiefer‘ in unserer epistemischen Praxis verwurzelt sind, und ,abgeleiteten‘ zu unterscheiden104 ; in der kognitiven Haltung des nous zu sein, bedeute nichts anderes, als die grundlegende Rolle von bestimmten Meinungen, die wir schon immer in unserer wissenschaftlichen Praxis in einer vor-reflexiven Weise benutzen, einzusehen und darber Rechenschaft ablegen zu kçn-
101 Burnyeat 1981, 133: „His treatment of this process in B 19 and its companion, the first chapter of the Metaphysics, is by our standards perfunctory in the extreme. It is natural, therefore, but mistaken – a mistake encouraged by the translation of 1pist¶lg as ,knowledge’ – to try to get less perfunctory answers to our epistemological questions out of the body of the Posterior Analytics. That is bound to give a distorted picture of what Aristotle is doing. Of course, epistemological matters are raised here and there […] But they are not central. Aristotle’s thought is concentrated on the t´kor, the achieved state of understanding which is the end and completion of the epistemological process.“ 102 Nussbaum spricht hier von den phainomena (im Sinne von EN VII 1, 1145b3) im Sinne von „what we ordinarily say and believe“ (240) oder „our shared interpretations“ (243), also den weithin akzeptierten Meinungen oder endoxa (Top. I 1, 100b21 – 23). Im Unterschied zu Owen (1961) nimmt sie keine Ambiguitt dieses Terminus (einerseits ,akzeptierte Meinungen’, andererseits ,Beobachtungen’) an, sondern argumentiert fr eine radikal-sprachimmanente Auffassung unseres Weltzugangs. 103 Nussbaum 1986, 243, 257: „Appearances and truth are not opposed, as Plato believed they were. We can have truth only inside the circle of the appearances, because only there can we communicate, even refer, at all.“ 104 Nussbaum 1986, 257: „Appearances come at different levels of depth: by which we mean that the cost of doing without one will vary with the case, and must be individually scrutinized.“
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1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen
nen.105 Hier werden keine neuen Bereiche der Wirklichkeit ,jenseits der Meinungen oder der Sprache‘ entdeckt, sondern die endoxa werden in die richtige Hierarchie gebracht, in welcher die besonders festen als ,Wissen‘ bezeichnet werden kçnnen. Bei aller systematischen Attraktivitt dieser Interpretation stellt sich die Frage, ob Aristoteles hier nicht in einen ihm vollkommen fremden Theorierahmen gestellt wird. (3) Detel wendet sich gegen die intuitionistische Interpretation, nach welcher der nous ein spezifisches Vermçgen des infalliblen Erfassens der Prinzipien darstellt. Der in An. Post. II 19 beschriebene aisthetisch-induktive Vorgang fhre nicht zu den Prinzipien im Sinne oberster wahrer und erklrungskrftiger Prmissen, sondern nur zu allgemeinen, wahren und unvermittelten Stzen.106 Erst in der konkreten Praxis des Beweisens, also des immer weiter gehenden Verdichtens des Mittelterms auf das ,Unteilbare und Eine‘ hin (I 23, 84b35 f.)107, ließen sich diese Prmissen durch ihre Erklrungskraft als Prinzipien etablieren.108 In der Aristotelischen Forschungspraxis stehe somit nicht die infallible Einsicht in die Prinzipien am Anfang, aus denen dann ,top down‘ alles andere abgeleitet wird. Vielmehr werde auf der Basis der Induktion ein allgemeiner, unvermittelter Satz fixiert, der als Prinzipien-Kandidat in die kreative Theorie-Konstruktion eingehe und sich erst dort aufgrund seiner explanatorischen Fruchtbarkeit als Prinzip erweisen kçnne. Grundstzlich geht Detel von einem Fallibilismus aus, d. h. wir kçnnen nie endgltig sicher sein, ob wir wirklich die essentiellen Strukturen
105 Nussbaum 1986, 251: „To have nous, or insight, concerning first principles is to come to see the fundamental role that principles we have been using all along play in the structure of a science. What is needed is not to grasp the first principles – we grasp them and use them already, inside our experience […] We move from the confused mass of the appearances to a perspicuous ordering, from the grasp that goes with use to the ability to give accounts.“ Vgl. Wieland 1992, 69 – 85. 106 Detel 1993 II, 829, 858, 886: „daß II 19 sich zwar mit dem Weg zu den Prinzipien beschftigt, aber nur zu den Prinzipien als allgemeinen, wahren, unvermittelten Stzen, nicht zu den Prinzipien als Prinzipien.“ Zu diesem wichtigen Unterschied zwischen der Erkenntnis, daß die Prinzipien wahr sind (also eine bestimmte Ursache existiert), und der Erkenntnis des Prinzips als Prinzip, also wie dieses Prinzip mit dem von ihm Abhngigen kausal verflochten ist (vgl. An. Post. I 2, 71b11 [fti 1je¸mou aQt¸a 1st¸], b23 [oQje?ai]), vgl. Kosman 1973, 383 f. 107 Vgl. auch Lesher 1973, 56 f. 108 Zu dieser Relationalitt der Prinzipien im Hinblick auf das Begrndete vgl. auch Wieland 1992, 63: „da jedes Prinzip immer Prinzip von etwas ist, lßt sich ein Prinzipsein nur daraus erkennen, daß es die von ihm verlangte Begrndung des Prinzipiierten faktisch leistet.“ Vgl. auch Kosman 1973, 387.
1.3 Anti-fundamentalistische Interpretationsanstze
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der Wirklichkeit erfaßt haben, wie wir es beanspruchen (I 9, 76a26 ff.)109 ; skeptische Konsequenzen kçnnen allerdings durch Aristoteles’teleologische Annahmen ausgeschlossen werden.110 Der Fallibilismus wir von Detel dahingehend abgemildert, daß sich mit der Zeit eine ,methodisch geregelte epistemische Praxis’111 herausbildet, in der wir durch das Beachten logischer und methodischer Regeln und das Entwickeln explanatorisch fruchtbarer Theorien unsere Wissensansprche so gut wie mçglich begrnden kçnnen. (Hierbei handelt es sich natrlich nicht um ,wahrheitsgarantierende Grnde’.) Insofern sind nach Detel Fragen der Rechtfertigung nicht vollkommen abwesend.112 Die Anforderung, daß die Prinzipien in einem starken Sinn gewußt werden mssen, um das epistasthai hapls zu garantieren, wird von Detel relational interpretiert: „Der Grad unseres Wissens von X hngt ab von der demonstrativen und explanatorischen Kapazitt von 109 Vgl. Detel 1993 II, 883: „Aber es ist von entscheidender Wichtigkeit, zu beachten, daß diese Beschreibung der Einsicht damit vereinbar sein muß, daß dieser Sprung, also die Annahme allgemeiner Strukturen und ihrer allgemeinen Beziehungen, zuweilen nicht korrekt ist – oder daß zumindest offen bleibt, ob sie korrekt ist. Denn sowohl die Annahme einfacher allgemeiner Strukturen als auch die Annahme allgemeiner Beziehungen zwischen ihnen ist fr Aristoteles stets fallibel.“ Ebd. 884: „aber ob wir wirklich eine wahre Kenntnis von ewigen Gegenstnden besitzen, kçnnen wir niemals mit Sicherheit wissen.“ Detel 1993 I, 301: „aber damit ist nicht notwendigerweise etwas darber gesagt, daß oder wie wir wissen kçnnen, ob unser Anspruch auf Einsicht oder Wissen auch berechtigt ist“. 110 Vgl. Detel 1993 II, 836: „Vielleicht ist es am angemessensten, mit Rcksicht auf An. III 12-III 13 Aristoteles’ Position so zu beschreiben, daß die in II 19 aufgefhrten Differenzierungen auf der Stufe der Erfahrung und der Einsicht nicht smtlich oder berwiegend falsch sein kçnnen, daß wir aber bei keiner einzigen von ihnen die methodologischen Mittel besitzen, um sie als endgltig wahr und erfolgreich zu erweisen.“ 111 Detel (2005, 33 f.) unterscheidet zwischen einer „Wissenskultur“ als einer „methodisch geregelten epistemischen Praxis“ und einem „Wissensideal“: „Gerade auf der Grundlage eines Konzepts perfekten Wissens und perfekter Wissenschaft kçnnen wir nach Aristoteles aber einsehen, dass wir als endliche menschliche Wesen stets in einer fragilen epistemischen Situation sind, die das Scheitern unserer Wissensansprche niemals endgltig auszuschließen gestattet. Unsere konkrete epistemische Situation in aktiver Forschung wird durch methodische Praktiken strukturiert, die dafr sorgen sollen, dass wir unsere Wissensansprche mçglichst gut begrnden und eventuelle Fehler mçglichst schnell entdecken kçnnen. Wir kçnnen den Bereich dieser methodisch geregelten epistemischen Praxis Wissenskultur nennen.“ 112 Vgl. Detel 2004, 3: „in general questions of justification are by no means completely absent from the Analytics […] as immediate explanatory premises they must be justified by showing that they sit at the top of actually constructed analyses and sets of demonstrations making up a whole scientific theory.“
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1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen
X im Rahmen bestimmter Theorien“.113 Detels fallibilistische Interpretation rckt Aristoteles wieder sehr nahe an jenes Modell von Epistemologie heran, in dem es um die Rechfertigung von Wissensansprchen und dann auch um das Problem der Vereinbarkeit von Fallibilitt und Wissenszuschreibung114 geht: Die Erklrungskraft ist das Mittel, um Wissensansprche als solche zu etablieren, aber letztendlich kann sich auch ein explanatorisch fruchtbares und bewhrtes Prinzip als bloß vermittelt oder auch falsch herausstellen. (4) Eine anders gelagerte nicht-fundamentalistische Interpretation legt Michael Frede vor. Auch Frede wendet sich gegen die Auffassung, der nous sei ein besonderes, intuitives Vermçgen der Prinzipienerkenntnis; vielmehr handelt es sich nach Frede beim nous um eine mit der Zeit erworbene Disposition, durch die wir, wenn wir diese besitzen, die richtigen Begriffe der relevanten Eigenschaften der Dinge innehaben und dadurch die notwendigen Zusammenhnge zwischen diesen Eigenschaften durchschauen.115 Diese Disposition entwickelt sich nach Frede allein aus dem unterscheidungsfhigen Wahrnehmungsvermçgen und dem Gedchtnis und diesem Erwerb liegt gerade nicht zustzlich noch der nous auf der Stufe der ,ersten Potenz‘zugrunde. Wenn wir berhaupt von so etwas wie einem ,potentiellen nous‘ sprechen wollen, dann immer nur in dem Sinn, daß damit nichts anderes gemeint ist als die besonders kraftvolle Weise, wie sich beim Menschen die Wahrnehmungs- und Gedchtnisleistungen vollziehen, auf deren Grundlage sich normalerweise die richtigen Begriffe entwickeln.116 Bei diesem Prozeß, in dem der nous erworben wird, handelt es sich nach Frede um einen grundlegend natrlichen Mechanismus, der ohne unser Zutun abluft, nicht von bestimmten methodischen Erwgungen abhngig 113 Detel 1993 II, 83. 114 Hierzu Kern 2006. 115 Frede 1996, 168: „It is assumed that to be rational in itself already is to have the right notions of things, of their crucial features, and thereby to be aware of the necessary relations between these features and, thereby, the relations between the things characterized by these features“. 116 Frede 1996, 170: „His view quite definitely is not that it takes the ability to perceive, the ability to remember, and, in addition, potential reason. The view rather is that reason develops out of our ability to discriminate perceptually and to remember […] Hence it seems that, if we want to talk about potential reason at all, it is not an ability which we have innately in addition to the specifically human forms of the abilities to perceive and to remember; to be potentially rational seems to consist in nothing else but the particular powerful way in which human beings can perceive and remember, which, in the course of an ordinary development, gives rise to concepts and ultimately to the right kind of concepts.“
1.3 Anti-fundamentalistische Interpretationsanstze
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ist und auf dessen Zuverlssigkeit wir uns einfach verlassen mssen.117 Die Beziehung zwischen Wahrnehmung und Wissen sei daher eine rein natrlich-kausale und keine epistemisch-rechtfertigende118 : Auch wenn fr diesen natrlichen Prozeß eine Menge spezifischer Beobachtungen notwendig seien, so gewnne das Prinzipien-Wissen seinen epistemischen Status nicht dadurch, daß man sich auf diese Beobachtungen im Sinne einer Legitimation beruft.119 Daher spricht Frede auch von einem ,Rationalismus‘. Der Anspruch, die Prinzipien erfaßt zu haben, wird also nicht dadurch gerechtfertigt, daß man ein bestimmtes aisthetisch-induktives Verfahren anfhrt; das Kapitel II 19 sagt uns nicht, was wir tun sollen, um die Disposition des nous zu erwerben, sondern lediglich was passiert, wenn wir diese erwerben. (5) Gegen eine Interpretation, die Aristoteles einen ,Kontext der Rechtfertigung‘ unterstellt, wird auch eingewandt, daß Aristoteles hinsichtlich der Natur des Wissens mit anderen Philosophen der Antike die Auffassung teile, daß es sich bei Wissen im Sinne der epistÞmÞ nicht um eine bestimmte Art von Meinung (doxa) handelt – nmlich um eine solche Meinung, die bestimmte, in einer epistemischen Gemeinschaft festgelegte Kriterien erfllt –, sondern um einen ,natrlichen Zustand‘ sui generis. 120 Im klassischen Standardmodell unterscheidet sich derjenige, der ,weiß, daß p‘, von demjenigen, der bloß ,meint, daß p‘, darin, daß der erste eine bestimmte Rechtfertigungsbedingung erfllt, die ihn darin legitimiert, seine Meinung als Wissen (oder zumindest als Wissensanspruch) zu deklarieren. Der Wissende bleibt aber nach wie vor in dem Glaubens- oder Meinungszustand, in dem er vorher war; zwischen Wissen und Meinung besteht ein bloß begrifflicher Unterschied.121 Dagegen stellen nach Gerson epistÞmÞ und doxa zwei kognitive Zustnde dar, die jeweils ein distinktes Wesen besitzen und die sich auf jeweils verschiedene Bereiche der Wirklichkeit, das Notwendige 117 118 119 120
Frede 1996, 171. Frede 1996, 172. Frede 1996, 172. Nach Gerson (2009) stellt diese Auffassung von der Natur des Wissens einen Mittelweg zwischen einem ,kriteriologischen’ und einem ,naturalistischen’ Zugang dar: „Knowledge is as real as a fever or a pregnancy, but it is not an object of scientific investigation in the same way these are“ (1 f.); „knowledge is a natural state that is in essence not reducible to the subject matter of empirical science“ (9). 121 Gerson 2009, 4: „we might properly conclude that the only real or objective thing is the belief; the knowledge is just the belief considered in terms of these other factors. There is, in short, only a conceptual difference between a belief and that same belief considered as knowledge.“
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1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen
bzw. das Kontingente, beziehen. Daraus folgt zum einen, daß es fr Aristoteles kein ,empirisches Wissen‘ im Sinne von empirischer epistÞmÞ geben kann.122 Eine weitere Konsequenz aus dieser Auffassung ber die Natur des Wissens ist, daß die Rechtfertigungsbedingung nicht konstitutiv fr Wissen ist: Whrend im Standardmodell das Erfllen einer bestimmten Begrndungs- oder Rechtfertigungsauflage berhaupt erst eine Meinung zu Wissen erhebt, ist in dieser Konzeption die Rechtfertigungsfhigkeit lediglich eine Konsequenz daraus, im Zustand der epistÞmÞ zu sein.123 Ganz allgemein gesprochen, geht es Aristoteles nicht um die Legitimation von Wissensansprchen und das Etablieren von Wissen gegenber bloßer Meinung, sondern eher darum, wie man aus den kognitiven Zustnden der Wahrnehmung und der doxa in die Zustnde der epistÞmÞ und des nous gelangt. Die skizzierten Interpretationsanstze teilen ein anti-fundamentalistisches Anliegen: Die Prinzipien werden weder in einem intuitiv-infalliblen und von der Wahrnehmung unabhngigen Akt geschaut, noch wird der Anspruch, die Prinzipien erkannt zu haben, durch Berufung auf die Wahrnehmung legitimiert. Aristoteles’ Epistemologie wird von dem Bedrfnis nach einem ,Fundament des Wissens‘ freigesprochen. Diese systematische Attraktivitt wird aber dadurch erkauft, daß – zumindest in (1) und (4) – von Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs nicht mehr viel brig bleibt. Man kann sich darauf beschrnken, den Wissenserwerb als eine intellektuelle Gewçhnung oder Vertiefung bereits vorhandener Kenntnisse oder als einen bloß kausalen Prozeß zu beschreiben. Damit wird Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs – und in diesem die Rolle der Wahrnehmung – in ihrem theoretischen Anspruch stark reduziert und fr wenig explikationsfhig gehalten; fr die gegenwrtige Epistemologie wre Aristoteles von geringem Interesse.124 Ich halte die grundstzliche Kritik von Burnyeat und Gerson an Interpretationen, die fr Aristoteles’ Theorie des Wissens den Begriff der Rechtfertigung als zentral ansehen, fr zutreffend. Gegenber Burnyeat mçchte ich aber folgendes zeigen: Fr Aristoteles lßt sich tatschlich das Modell einer ,Vertiefung‘ oder einer ,immer grçßer werdenden Bekanntschaft‘ mit der Wirklichkeit herausarbeiten, es stellt aber nicht das einzige und endgltige Modell des Wissenserwerbs dar. Jenes Modell impliziert eine epistemische Relation zur Wirklichkeit, die in einem ,mehr oder weniger‘ (l÷kkom ja· Httom), also in Graden vorliegt: In diesem Modell bleibt die Wahrnehmung, indem sie bloß die zuflligen Eigenschaften einer 122 Gerson 2009, 2, 67. 123 Gerson 2009, 6. 124 Vgl. Burnyeat 1981, 133.
1.4 Wahrnehmung und Wissen nach dem Protreptikos
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Sache erfaßt, an der ,Oberflche‘, whrend die Weisheit (sophia), die eine Kombination von epistÞmÞ und nous darstellt, also auch die Prinzipien in einer qualifizierten Weise kennt, den ,Grund‘ der Wirklichkeit erreicht. Wie sich im nchsten Abschnitt dieses Kapitels zeigen wird, handelt es sich hier um ein protreptisches Modell. Neben diesem Modell lßt sich aber m. E. eine differenziertere und theoretisch anspruchsvollere Theorie des Wissenserwerbs bei Aristoteles rekonstruieren, in der wir uns innerhalb der verschiedenen kognitiven Zustnde in einer Weise auf die Wirklichkeit beziehen, die durch Wahr- und Falschsein gekennzeichnet ist.125 Wir werden in Kap. 5 genauer sehen, wie die einzelnen Schritte zwischen Wahrnehmung und Prinzipienkenntnis differenzierter beschrieben werden kçnnen und welche Rolle dabei die Wahrnehmung spielt.
1.4 Wahrnehmung und Wissen nach dem Protreptikos Aus den Anfangsstzen von Met. I 1 lßt sich ein Argument rekonstruieren, das einen Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Wissen im Sinne eines immer tiefer gehenden Bekanntwerdens mit der Wirklichkeit herstellt. „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen. [a] Indiz (sgle?om) dafr ist die Liebe (!c²pgsir) zu den Wahrnehmungen: [b] Denn auch ohne den Nutzen werden sie um ihrer selbst willen geliebt und am meisten von den anderen die durch die Augen. [c] Denn nicht allein damit wir handeln, sondern auch wenn wir keine Handlung beabsichtigen, ziehen wir das Sehen allen anderen sozusagen vor. [d] Ursache aber ist, daß dieser von den Sinnen uns am meisten ein Erkennen gewhrt (l²kista poie? cmyq¸feim) und viele Unterschiede offenbart (pokk±r dgko? diavoq²r)“ (Met. I 1, 980a21 – 27).
Aristoteles geht es in dieser Eingangspassage darum, die in Met. I 1 – 2 entfaltete hçchste Form des Wissens, die Weisheit als Wissen der ersten Ursachen und Prinzipien (I 1, 981b28 f.), anthropologisch zu fundieren. Hierfr beruft er sich auf das Streben nach Wissen, das jedem Menschen von Natur aus zukommt. Die gerade zitierten Eingangsstze enthalten eine differenzierte Argumentation, die allerdings, wie sich im Folgenden zeigen wird, nur vor dem Hintergrund der parallelen Passage im Protreptikos verstanden werden kann. Die allquantifizierte Aussage, daß allen Menschen von Natur aus das Verlangen nach Wissen zukommt, wird durch ein Indiz oder Anzeichen 125 Vgl. die kurze Beschreibung des Wissenserwerbs in De an. II 5, 417a31 f. als eines oftmaligen Wechsels in kontrre Zustnde.
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1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen
(sÞmeion) begrndet, nmlich durch die Liebe (agapÞsis) und die damit verbundene Freude126 der Menschen an der Wahrnehmung. Damit macht Aristoteles auf ein spezifisch menschliches Phnomen aufmerksam: Auch ohne den Nutzen lieben wir die Wahrnehmungen rein um ihrer selbst willen, und zwar am meisten das Sehen; wir haben z. B. Freude am bloßen Betrachten des gegliederten Astwerks eines Baums, ohne daß damit irgendein Nutzen verbunden wre. Das Tier hat dagegen keine Freude am Sehen oder Hçren bestimmter Dinge als solchen, sondern lediglich akzidentell: Es freut sich an den Dingen nur insofern, als diese eine bestimmte Begierde erfllen (vgl. EN III 13, 1118a16 – 20)127; man kçnnte von einem ,haptischen Blick‘ im Unterschied zu einem ,kontemplativen Blick‘ sprechen. Auch wenn das Sehen aufgrund der Tatsache, daß es mehr als alle anderen Sinne die Wirklichkeit in ihrer Mannigfaltigkeit erschließt, fr die praktischen Notwendigkeiten des Lebens (z. B. Nahrungsaufnahme) eine große Relevanz besitzt (vgl. Sens. 437a3 – 9), ziehen wir es auch ohne diese praktische Bedeutung allen anderen Sinnen vor und lieben es am meisten. Der Grund fr die Liebe zum Sehen liegt nun nach Aristoteles darin, daß dieser Sinn uns am meisten ein Erkennen gewhrt (l²kista poie? cmyq¸feim) und viele Unterschiede offenbar macht (pokk±r dgko? diavoq²r).128 Das Sehen ermçglicht uns die grçßte und differenzierteste Bekanntschaft mit Wirklichkeit, insofern mit diesem Sinn auch alle koina aisthÞta wahrgenommen werden (Sens. 437a8 f.), und darum lieben wir es am meisten von allen Sinnen. Diese Eigenschaft, nmlich das gnrizein, scheint somit allen Sinnen in verschiedenen Graden zuzukommen. Aristoteles fhrt nun die Liebe zur Wahrnehmung als ein Indiz (sÞmeion) fr unser natrliches Wissensver126 Generell gilt fr Aristoteles: Mit der Liebe ist die Freude verbunden; man hat Freude an dem, was man liebt. Vgl. EN I 9, 1099a8 f.; III 13, 1117b29 f.: „Denn jeder Mensch, der eines von diesen beiden Dingen liebt, freut sich an dem, wovon er ein Liebhaber ist“ (bers. Wolf ). Daher ist die bersetzung von Bonitz an dieser Stelle zu korrigieren. 127 „Auch bei den anderen Tieren gibt es keine Lust, die mit den Sinnen verbunden ist, es sei denn nebenher. Denn fr die Hunde ist nicht der Geruch der Hasen lustvoll, sondern deren Verzehr, der Geruch aber bewirkt, daß sie sie bemerken. Ebenso ist fr den Lçwen nicht das Gebrll des Ochsen lustvoll, sondern sein Verzehr“ (bers. Wolf ). 128 Das widerspricht dann nicht Sens. 437a3 – 12, wo Aristoteles dem Hçren und nicht dem Sehen ,akzidentell’den ,grçßten Beitrag’ zum Wissenserwerb zuspricht (437a5, a11 f.), wenn zwischen dem Beitrag zum Wissen (epistÞmÞ) – als einer bestimmten Art von Kenntnis, die an das Hçren bedeutungsvoller Stze gebunden ist – und dem Beitrag zum Bekanntwerden mit der Wirklichkeit berhaupt, dem gnrizein bzw. der gnsis, unterschieden wird.
1.4 Wahrnehmung und Wissen nach dem Protreptikos
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langen an. In einem terminologisch strikten Sinn ist ein Indiz nach An. Pr. II 27, 70a6 f. ein beweisender Satz, der nach Rhet. I 2, 1357b1 – 25 im Unterschied zu den notwendigen oder zwingenden Indizien (tekmÞrion) einen Sachverhalt in fallibler Weise anzeigt129, z. B. die rauhe Beschaffenheit der Zunge den Fiebernden (Div. 462b31). In welcher Weise zeigt nun aber das bloße Betrachten eines Gegenstands ohne einen bestimmten praktischen Nutzen das grundlegende Verlangen des Menschen nach Wissen, nach der Kenntnis der ersten Prinzipien und Ursachen an? Aristoteles begrndet unsere Liebe zum Sehen mit der Eigenschaft, daß dieser Sinn uns im Vergleich zu den anderen Sinnen das grçßtmçgliche und differenzierteste Erkennen der Wirklichkeit ermçglicht. Wenn nun unsere Liebe zur Wahrnehmung, und am meisten die zum Sehen, ein Indiz fr unser natrliches Verlangen nach Wissen sein soll, dann – so kann man annehmen – aus dem Grund, daß das Wissen noch mehr jene Eigenschaft verwirklicht, die das Sehen innerhalb der Sinne am meisten verwirklicht. Die beiden Weisen des Erkennens, das Wahrnehmen und das Denken in seinen unterschiedlichen Arten, wrden dann in einem unterschiedlichen Grad unser Verlangen nach einer mçglichst umfassenden und differenzierten Bekanntschaft mit der Wirklichkeit erfllen. An ihrer Spitze wrde der kognitive Zustand des nous stehen, in dem der in der Wahrnehmung gewonnene Zugang zur Wirklichkeit seine Vollendung findet, da hier die Wirklichkeit in ihren letzten urschlichen Zusammenhngen erkannt wird. Im Sinne einer solchen Kontinuitt kçnnten wir dann die Liebe zur Wahrnehmung als ein Indiz dafr verstehen, daß es uns als Menschen letztlich um das Wissen im Sinne der Weisheit gehen muß; das Wissen setzt den in der Wahrnehmung begonnenen Weg des Bekanntwerdens mit der Wirklichkeit fort und bringt ihn zur Vollendung. Es lßt sich nun zeigen, daß die hier angenommene Interpretation von Met. I 1, 980a21 – 27 durch einen Abschnitt im Protreptikos besttigt wird. Diese exoterische Schrift ist leider verloren und uns nur noch im gleichnamigen Werk des Neuplatonikers Jamblich zugnglich.130 Hier findet sich 129 In Rhet. I 2, 1357b1 – 25 unterscheidet Aristoteles von den Zeichen im allgemeinen die notwendigen, die er tejl¶qia nennt; hier handelt es sich um zwingende Anzeichen, die den entsprechenden Sachverhalt untrglich anzeigen. Die Art, wie sich das Zeichen im allgemeinen zum Angezeigten verhalten kann, gliedert er disjunktiv (b1 f.) in das Verhltnis vom Einzelnen zum Allgemeinen und das vom Allgemeinen zum Einzelnen. 130 Flashar (2006, 171 ff.) weist zu Recht darauf hin, daß fr Aristoteles’ Protreptikos lediglich ein Testimonium und ein Fragment wirklich bezeugt sind. Alle anderen Textpassagen, wie sie sich etwa in der Sammlung bei Dring finden, sind – wohl in
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eine Passage (B 71 – 77 Dring; 43.27 – 45.3 Pistelli), die sprachliche und sachliche bereinstimmungen zu Met. I 1, 980a21 – 27 aufweist; der in Met. I 1 skizzierte Gedanke scheint in den von Jamblich zusammengestellten Exzerpten genauer ausgefhrt zu werden.131 Aus einem Vergleich der beiden Passagen hat Werner Jaeger den Schluß gezogen, daß „der berhmte Eingang der Metaphysik im wesentlichen nur eine verkrzte Wiedergabe der klassischen Darstellung im Protreptikos ist“, wo derselbe Gedankengang „nur in einem grçßerem Anlauf und mit einer mehr ins Einzelne gehenden Logik entwickelt“ wrde.132 Der Eingang der Metaphysik sei „ein zum aktuellen Zweck des Lehrvortrags aus der Vorlage zusammengerafftes Material […] das nicht einmal ganz fest verkittet worden ist“; demgegenber sei die Passage im Protreptikos inhaltlich reicher und argumentativ stringenter.133 Daß nun der Abschnitt Met. I 1, 980a21 – 27 nicht bloß ein „aus der Vorlage zusammengerafftes Material“darstellt, sondern aus diesem eine konsistente, wenn auch sehr gedrngte Argumentation herausgearbeitet werden kann, deutete sich schon an.134 Ich werde im Folgenden die Passage des Protreptikos in einer Anordnung prsentieren, die mir von der Argumentation her am sinnvollsten erscheint.135 [a] „Wenn wir das Sehen um seiner selbst willen lieben, dann bezeugt dies hinreichend (Rjam_r laqtuqe? ), daß alle (Menschen) in hçchstem Maß das
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den meisten Fllen – Exzerpte aus dem Protreptikos, wie Bywater nachwies. Sie stimmen in Wortschatz, Stil und Inhalt mit den berlieferten Schriften des Aristoteles berein, sind aber von Jamblich fr seine eigenen Zwecke berarbeitet, gekrzt und anders zusammengestellt worden (Dring 1993, 10). Daher ist es weniger ratsam, von ,Fragmenten’ zu sprechen. Auf die philologischen Probleme, die sich daraus fr eine Rekonstruktion des Aristotelischen Protreptikos ergeben, brauche ich hier nicht einzugehen, wie etwa: Stand dem Jamblich berhaupt der Aristotelische Protreptikos oder nur eine Mittelquelle zur Verfgung? Wenn er ihn direkt kannte, hat er ihn zuverlssig exzerpiert? Ist der Aristotelische Protreptikos die einzige Quelle fr den Abschnitt bei Jamblich oder sind noch andere exoterische Schriften zu vermuten? In welchem Maß lßt sich der ursprngliche Aufbau des Aristotelischen Protreptikos berhaupt rekonstruieren? Zumindest fr den im Folgenden zu untersuchenden Abschnitt ist sowohl eine direkte Bekanntschaft mit der Aristotelischen Vorlage als auch die Zuverlssigkeit des Aufbaus einigermaßen sicher. Bis auf die Hinweise bei Jaeger (1955) und Ross (1924, 115) ist mir keine genauere Interpretation dieser Passage bekannt. Jaeger 1955, 69. Jaeger 1955, 69 f. In diesem Sinne wrde ich eher mit Dring (1993, 101) von „Parallelfassungen“ sprechen. In der bersetzung orientiere ich mich an Dring (1993) und Flashar (2006).
1.4 Wahrnehmung und Wissen nach dem Protreptikos
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Wissen und das Erkennen lieben (t¹ vqome?m ja· t¹ cicm¾sjeim 1sw²tyr !cap_sim)“ (B 72).
[b] „Wenn jemand etwas liebt aufgrund der Tatsache, daß ihm etwas anderes zukommt, dann ist es klar, daß dieser eher (l÷kkom) das wnschen wird, dem diese (Eigenschaft) in hçherem Maß zukommt (l÷kkom rp²qwei): Wie z. B. wenn jemand das Spazierengehen whlt, weil es gesund ist, das Laufen aber fr ihn noch (l÷kkom) gesnder wre und er dazu fhig wre, dann wrde er dieses eher (l÷kkom) whlen, und er htte es schon getan, wenn er es frher gewußt htte. Wenn nun eine wahre Meinung (!kghμr dºna) dem Wissen (vqºmgsir136) hnlich ist, und wenn das wahre Meinen whlenswert ist, insofern und insoweit es dem Wissen wegen des Wahrheitsgehalts hnlich ist, wenn dieser (nun aber) dem Wissen in hçherem Maß (l÷kkom) zukommt, dann wird das Wissen whlenswerter sein als das wahre Meinen“ (B 71). [c] „Nun unterscheidet sich das Leben vom Nicht-Leben durch das Wahrnehmen, und durch die Anwesenheit und das Vermçgen von dieser wird das Leben definiert, und dieser beraubt, lohnt es sich nicht zu leben, als ob das Leben selbst durch die Wahrnehmung aufgehoben wre“ (B 74). „Das Vermçgen des Sehens unterscheidet sich aber von den Wahrnehmungsrumen dadurch, daß es am schrfsten ist (savest²tg), und daher whlen wir es auch am meisten. Jede Wahrnehmung aber ist ein erkennendes Vermçgen (d¼malir cmyqistij¶) mittels des Kçrpers, wie das Gehçr den Ton mittels der Ohren wahrnimmt“ (B 75). „Denn indem sie das Leben lieben, lieben sie das Wissen und das Erkennen (t¹ vqome?m ja· t¹ cmyq¸feim). Denn aus keinem anderen Grund ehren sie es als wegen der Wahrnehmung und am meisten wegen des Gesichtssinns: Denn offensichtlich lieben sie dieses Vermçgen ber alle Maßen. Denn dieses ist im Vergleich zu den anderen Wahrnehmungen einfach wie eine Art Wissen (¦speq 1pist¶lg tir)“ (B 73). [d] „Wenn das Leben (also) whlenswert ist wegen der Wahrnehmung, die Wahrnehmung aber eine Art von Kenntnis ist (cm_s¸r tir), und wir das Leben deshalb vorziehen, weil die Seele mit ihr erkennen (cmyq¸feim) kann“ (B 76) [e] (ferner) sagten wir frher, daß von zwei Dingen immer dasjenige whlenswerter ist, dem dieselbe (Eigenschaft) in hçherem Maß (l÷kkom) zukommt: Dann ist es notwendig, daß von den Wahrnehmungssinnen der Gesichtssinn am meisten whlenswert und ehrwrdig ist, noch whlenswerter aber als dieser und als alle anderen Sinne und als das Leben selbst das Wissen (vqºmgsir), weil es noch autoritativer fr die Wahrheit ist (juqiyt´qa t/r !kghe¸ar). Daher 136 Der Terminus phronÞsis wird hier in einem weiten, untechnischen Sinn verwendet, der nicht von epistÞmÞ und sophia unterschieden ist (vgl. Ross 1924, 123 zu Met. I 2, 982b24). Vgl. auch Met. XIII 4, 1078b15, Sens. 437a3, a11. Hierzu Schneeweiß 2005, 46 f.
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1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen
erstreben alle Menschen am meisten das Wissen (p²mter %mhqypoi t¹ vqome?m l²kista di¾jousi)“ (B 77).
Satz [a], der dem Eingangssatz der Metaphysik sehr nahe steht, kann als Ausgangsbehauptung angesehen werden137; genauso markiert der letzte Satz des Abschnitts [e] das Erreichen des Argumentationsziels. Sieht man von einigen in ihrer Einordnung umstrittenen Exzerpten ab (B 70, B 73)138, so lßt sich doch in dieser Passage folgender argumentativer Kern herausarbeiten, der fr unsere Interpretation von Met. I 1, 980a21 – 27 entscheidend ist: Mit dem ersten Satz [a] ist die These verbunden, daß unsere Liebe zum Sehen um seiner selbst willen ein ,hinreichendes Zeugnis‘ (Rjam_r laqtuqe? )139 ist fr die Behauptung, daß alle Menschen in hçchstem Maß (1sw²tyr) das Wissen lieben. Begrndet wird dieser Zusammenhang durch Einfhrung eines „topischen Prinzips“140 oder einfach nur eines topos [b], den man als ,l÷kkom-topos‘ bezeichnen kçnnte: „Wenn jemand etwas liebt aufgrund der Tatsache, daß ihm etwas anderes zukommt, dann ist es klar, daß dieser in hçherem Maß (l÷kkom) das wnschen wird, dem diese (Eigen137 Vgl. auch Flashar 2006, 61; im Unterschied zu Dring (1993, 67), der diesen Satz hinter B 71 anordnet, und Schneeweiß (2005, 98), der B 72 als Konklusion der Argumentation ansieht. 138 B 70 scheint nicht zum vorliegenden Abschnitt zugehçren: In der FragmentSammlung von Walzer/Ross wird B 70 dem vorangehenden Abschnitt zugeordnet; dem folgt auch Schneeweiß (2005, 128). Schwierig ist auch die Einordnung von B 73: Schneeweiß (2005, 98) [im Unterschied zu Schneeweiß 1966, 84 f.] und Flashar (2006, 62) schließen diesen Abschnitt nach B 77 an wie auch schon bei Jamblich. Dagegen spricht, daß B 76 – 77 das in B 74 – 75 Gesagte (Leben-WahrnehmenErkennen) aufnimmt und darauf den l÷kkom-topos aus B 71 anwendet; im letzten Satz von B 77 wird das Argumentationsziel erreicht: „Daher erstreben alle Menschen am meisten das Wissen“. Gegenber diesem Ergebnis fllt B 73 zurck. Gegen eine Einordnung von B 73 vor B 74 – 75 scheint zu sprechen, daß in B 74 – 75 der Zusammenhang zwischen Leben-Wahrnehmen-Sehen-Erkennen von Grund auf entwickelt wird, whrend B 73 damit beginnt, daß die Liebe zum Leben eigentlich eine Liebe zum Denken und Erkennen ist. 139 So bersetzt Schneeweiß 2005, 99. Diese bersetzung ist der m. E. zu starken bersetzung von Dring (1993, 67: ,hinlnglicher Beweis’) und Flashar (2006, 61: ,hinreichender Beweis’) vorzuziehen. Der Terminus laqtuqe?m (LSJ 1082: bear witness, give evidence) wird bei Aristoteles meist im Sinne einer nachtrglichen Besttigung verwendet: So bezeugen die Vorgnger nachtrglich eine bestimmte von Aristoteles aufgestellte Theorie (vgl. Met. I 7, 988b16 f., XII 6, 1072a4 ff.), die Theorie bezeugt die Phnomene und die Phnomene die Theorie (Cael. 270b5 f.; vgl. auch Insomn. 460a26 ff.; Met. I 2, 982b22; EN II 1, 1103b2 f.). 140 Jaeger 1955, 70 ohne nhere Erluterung. Dieses ,Prinzip’ steht den vier Topoi ber das l÷kkom ja· Httom sehr nahe (Top. II 10).
1.4 Wahrnehmung und Wissen nach dem Protreptikos
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schaft) in hçherem Maß (l÷kkom) zukommt“ (B 71). Dieser topos wird am Beispiel des Spazierengehens und der wahren Meinung verdeutlicht: Wenn jemand das Spazierengehen liebt, weil es fr ihn gesundheitsfçrdernd ist, dann kann man daraus schließen, daß er das Joggen, wenn es noch mehr gesundheitsfçrdernd ist und unter der Voraussetzung, daß er es als solches kennt und vollziehen kann, dem Spazierengehen vorziehen wrde. Wenn eine wahre Meinung whlenswert ist, insofern sie in ihrem Wahrheitsgehalt dem Wissen hnlich ist, dann kann man daraus schließen, daß das Wissen whlenswerter ist, weil diesem das Wahrsein mehr zukommt (l÷kkom rp²qwei). Nun wird die Wahrnehmung von den Menschen ohne irgendeinen Nutzen geliebt und sie stellt fr ihn einen hohen Wert dar [c]; das Leben ist ohne die Wahrnehmung (mit der ja das Wachsein verbunden ist: Somn. 454a1 – 7) nicht lebenswert. Von den verschiedenen Wahrnehmungssinnen ist das Sehen am genauesten und daher lieben wir es auch am meisten; es verhlt sich zu den anderen Sinnen schon wie eine Art von Wissen [c]. Wenn also das Leben whlenswert ist wegen der Wahrnehmung, d. h. wir hier eigentlich das Wahrnehmen lieben, das Wahrnehmen nun aber eine gnsis tis ist, wir also das Leben lieben, weil die Seele mit der Wahrnehmung erkennen kann [d], nun aber dem Sehen unter den Sinnen am meisten die Eigenschaft, etwas zu erkennen, zukommt, dann ist unter der Voraussetzung des l÷kkomtopos (daß von zwei Dingen, denen dieselbe Eigenschaft zukommt, dasjenige whlenswerter ist, dem diese Eigenschaft in grçßerem Maß zukommt) das Sehen innerhalb der verschiedenen Arten von Wahrnehmung am whlenswertesten. Wenn nun von allen kognitiven Krften dem Wissen die Eigenschaft des Erkennens in hçchstem Maße zukommt – da es die Wirklichkeit bis auf ihre letzten Ursachen und Prinzipien durchdringt und somit noch maßgeblicher fr die Wahrheit ist (juqiyt´qa t/r !kghe¸ar : B 77) –, dann ist dieses von allem am whlenswertesten. Durch die Einfhrung des ,l÷kkom-topos‘ ist gezeigt, warum die Liebe zum Sehen das noch grçßere Verlangen nach Wissen anzeigt, daß also alle Menschen letztlich und am meisten das Wissen im Sinne der Weisheit erstreben. An dieser Argumentation sind zwei Punkte hervorzuheben: (1) Das Erkennen muß in einem komparativischen Sinn verstanden werden; es kommt den verschiedenen kognitiven Vermçgen in einem unterschiedlichen Grad zu (l÷kkom, l²kista). Dieses graduelle Verstndnis setzt voraus, daß dieser Terminus hier so etwas wie ein Bekanntwerden mit der Wirklichkeit meint; in diesem kommen Wahrnehmen und Denken berein, und zwar in einer jeweils unterschiedlichen Tiefe: Die Wahrnehmung macht die Wirklichkeit in ihren mannigfaltigen akzidentellen Eigenschaften offenbar, das Denken bersteigt diesen Zugang in Richtung auf ihre letzten essentiell-
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1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen
urschlichen Zusammenhnge. Beide Vermçgen stehen in einem kontinuierlichen Zusammenhang. (2) Aristoteles stellt im vorliegenden ProtreptikosAbschnitt nicht nur einen Zusammenhang her zwischen der Liebe zur Wahrnehmung und der Eigenschaft, die Wirklichkeit zu erschließen, sondern er bringt auch die Liebe zum Leben ins Spiel, womit eine anthropologische Relevanz dieser kognitiven Vermçgen deutlich wird: Das Leben ist aus keinem anderen Grund lebenswert als aufgrund der Wahrnehmung; ohne die Wahrnehmung ist das Leben nicht wert, gelebt zu werden (B 74). Das Wahrnehmen ist aber ein Erkennen oder ein Bekanntwerden mit der Wirklichkeit. Wir lieben also das Leben, weil die Seele mit der Wahrnehmung erkennen kann (B 76).141 Unsere Liebe zum Leben ist eigentlich eine Liebe zum Erkennen. Demgemß besteht fr den Protreptikos das ergon des Menschen in nichts anderem als dem alÞtheuein, dem Besitz der ,genauesten Wahrheit‘, also der ,Wahrheit ber das, was ist‘142 : „ein besseres Werk des Denkens oder des denkenden Teils unserer Seele kçnnen wir nicht nennen als die Wahrheit. Die Wahrheit ist also das maßgeblichste Werk dieses Seelenteils“143 (B 65). Dieses ergon hat eine motivationale Grundlage im Menschen; auf dieses luft das natrliche Verlangen des Menschen nach einer mçglichst umfassenden und differenzierten Durchdringung der Wirklichkeit zu. Dieses Verlangen zeigt sich in Phnomenen wie dem, daß wir das Wachsein dem Schlafen auch dann vorziehen wrden, wenn wir im Schlafen alle mçglichen Freuden genießen kçnnten (B 101). Grund hierfr ist, daß die Vorstellungen im Schlaf immer falsch sind, die im Wachsein aber meistens wahr sind.144 Daß der Trumende sich immer im Irrtum befindet, ist so zu verstehen, daß er keinerlei Kontakt mit der Realitt hat (diaxeu´ deshai vs. !kghe¼eim). Ein anderes Phnomen ist unsere Angst vor dem Tod; auch diese zeigt die Lern- oder Wißbegier der Seele an145 : Wir fliehen das Dunkle und Unbekannte und suchen von Natur aus das Klare und Bekannte 141 …di± t¹ cmyq¸feim aqt0 d¼mashai tμm xuwμm aRqo¼leha… 142 oqj %kko 1st·m aqtoO 5qcom C lºmg B !jqibest²tg !k¶heia ja· t¹ peq· t_m emtym !kghe¼eim
143 b´ktiom d’ oqd³m 5wolem k´ceim 5qcom t/r diamo¸ar C toO diamooul´mou t/r xuw/r Bl_m !kghe¸ar. !k¶heia %qa t¹ juqi¾tatom 5qcom 1st· toO loq¸ou to¼tou t/r xuw/r. 144 …tºte l³m pokk²jir !kghe¼eim, jahe¼domtor d’ !e· diexeOshai. t¹ c±q t_m 1mupm¸ym eUdykºm 1sti ja· xeOdor ûpam. Dieser Begriff von Falschheit kçnnte im Sinne von Met. V 29 als ein ontologischer Begriff des Falschen bezeichnet werden; er kommt nicht Aussagen, sondern den Dingen selbst zu (1024b17, b23). Die Trume reprsentieren etwas, das es nicht gibt: „Denn diese sind zwar etwas, aber nicht das, dessen Erscheinung sie hervorbringen“ (b23 f.). 145 …de¸jmusi tμm vikol²heiam t/r xuw/r.
1.4 Wahrnehmung und Wissen nach dem Protreptikos
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(t¹ vameq¹m ja· t¹ cmystºm : B 102). Diese Phnomene zeigen nach Aristoteles, daß wir das Bekannte, Deutliche und Offenbare lieben (t¹ cmyst¹m ja· t¹ vameqºm ja· t¹ d/kom) und wenn wir das lieben, dann lieben wir auch das Erkennen und Wissen (t¹ cicm¾sjeim ja· t¹ vqome?m : B 102). Dieses natrliche Verlangen nach Wissen zeigt sich schließlich auch im haul²feim, dem (kognitiven) Sich-Wundern ber eine bestimmte Tatsache 146, deren Ursachen man noch nicht oder noch nicht hinreichend kennt: „Denn weil sie staunen, beginnen die Menschen jetzt und begannen sie anfnglich zu philosophieren, wobei sie zu Beginn ber die naheliegenden Merkwrdigkeiten staunten, dann allmhlich so voranschritten und bei den bedeutenden Dingen Schwierigkeiten sahen (diapoq¶samter), z. B. bei dem, was dem Mond widerfhrt und was mit der Sonne geschieht und den Sternen und hinsichtlich der Entstehung des Alls. Wer aber in Schwierigkeiten steckt und sich wundert, der ist der Meinung, daß er nicht weiß (oUetai !cmoe?m) […] so daß es klar ist – wenn sie doch Philosophie betrieben, um der Unwissenheit zu entgehen –, daß sie das Verstehen um des Wissens willen verfolgten und nicht wegen eines Nutzens“ (Met. I 2, 982b12 – 21; bers. Szlezk). Das Staunen ber eine bestimmte Tatsache impliziert also das Bewußtsein einer Unkenntnis und das Eingestehen einer Schwierigkeit oder kognitiven Verlegenheit, was die Suche nach den Ursachen und Prinzipien evoziert, worin sich nichts anderes als das Verlangen nach Wissen um seiner selbst willen zeigt.147 Die Wahrnehmung des Menschen erfllt nun dieses natrliche Verlangen nach dem Klaren und Bekannten, d. h. nach dem Erkennen, auf einer ersten Stufe und hier besonders das Sehen aufgrund seiner großen wirklichkeitserschließenden Kraft (Met. I 1, 980a26 f.; Protr. B 75, B 77). Die Liebe zum Leben ist eigentlich eine Liebe zum Erkennen und diese Liebe wird in einem ersten Schritt durch das Sehen erfllt. Insofern kommt dem Wahrnehmen und besonders dem Sehen als einem Erkennen eine genuine 146 Dieses ,Staunen darber, daß p’ ist zu unterscheiden vom ,stummen Bestaunen’ eines Gegenstands oder einer Person. Zu haul²feim in diesem zweiten Sinn vgl. EN I 2, 1095a26. 147 Bei Aristoteles impliziert das ,Staunen darber, daß p’ die bewußte Unkenntnis der Ursachen einer bestimmten Tatsache (oUetai !cmoe?m). Diese Unklarheit ber die Ursachen ist aber vom grundlegenden Vertrauen getragen, irgendwann, wenn man auf dem Weg der Ursachenforschung weiter voranschreitet, die Weisheit als die hçchste Form des Wissens zu erlangen. Aristoteles beginnt also nicht damit, berhaupt an der Zuverlssigkeit unserer kognitiven Vermçgen zu zweifeln und diese einer grundlegenden Prfung zu unterziehen, um am Ende die Zuverlssigkeit und Reichweite unserer Wissensquellen prziser und sicherer bestimmen zu kçnnen.
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1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen
Glcksrelevanz zu: Die spezifisch menschliche Sinnesfreude, die sich auf das aisthÞton als solches, also auf seine aisthetische Bestimmtheit bezieht und dieses nicht bloß im Hinblick auf die Befriedigung einer bestimmten Begierde als lustvoll empfindet (EN III 13; Sens. 443b18 ff.), zeigt sich schon eingebunden in das ergon des Menschen, der Bettigung des hçchsten seelischen Vermçgens (nous) im alÞtheuein, und damit schon auf den bios therÞtikos hingeordnet. Außerdem wird schon an dieser Stelle deutlich, daß die Wahrnehmung nicht bloß als Mittel oder Instrument fr die hçheren Verstandesttigkeiten fungiert, also als ,blinder‘ Informationslieferant, der das Denken mit dem nçtigen ,Material‘ versorgt.148 Vielmehr bildet die Wahrnehmung eine erste Stufe der Durchdringung der Wirklichkeit im Hinblick auf ihre reichhaltigen phnomenalen Unterschiede, die im intellektuellen Erfassen der letzten Ursachen und Prinzipien, also der essentiellen Zusammenhnge, seine Vollendung findet.
148 Vgl. Welsch 1987, 43: „Die aUshgsir ist der unentbehrliche Material-Requisiteur, der das Einfache beibringen muß, das der kºcor nicht hat und nicht haben kann, aber unbedingt braucht“.
2. Weltzugang und Sinnestuschungen 2.1 Die Wahrnehmung als gehaltvoller Zustand Um die Frage beantworten zu kçnnen, welche Rolle die Wahrnehmung im Wissenserwerb spielt, muß vor allem geklrt werden, was wir berhaupt wahrnehmen kçnnen, d. h. wie der ,Gehalt‘ der Wahrnehmung bestimmt werden muß. Bevor aber diese Frage angegangen werden kann, muß vorher geklrt sein, in welchem Sinn man bei Aristoteles berhaupt von so etwas wie einem ,Gehalt der Wahrnehmung‘ sprechen kann.1 Man kçnnte mit Brentano den Terminus ,Gehalt‘ so verstehen, daß es sich hier um das allen psychischen Phnomenen zukommende Merkmal handelt, auf etwas bezogen zu sein, also „die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt […] oder die immanente Gegenstndlichkeit“.2 Dieses fr mentale Zustnde zumindest ,kritische‘ Merkmal bezeichnet man als ,Intentionalitt‘. Die eher metaphorische Beschreibung im Sinne einer ,Beziehung auf etwas‘ (,aboutness‘) kann so przisiert werden, daß alle intentionalen Zustnde Wahrheits- bzw. Erfllungsbedingungen besitzen: Mit dem jeweiligen Gehalt dieser Zustnde werden Bedingungen darber festgelegt, wie die Welt aussehen wrde, wenn der Zustand wahr (im Fall des Wahrnehmens oder Wissens) bzw. erfllt (im Fall des Wnschens oder Hoffens) wre.3 Die Zustnde kçnnen also hinsichtlich ihrer Wahrheit oder Falschheit bzw. ihres Erflltseins oder Nichterflltseins beurteilt werden.4 Das setzt voraus, daß diese Gehalte von der jeweils vorliegenden externen Ursache bzw. dem aktual 1
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Bei Aristoteles findet sich an einigen Stellen der Terminus aUshgla (z. B. An. Post. II 19, 99b37; De an. III 8, 432a9; Mem. 450a31 f.; Insomn. 461b22), der die dem Wahrnehmenden zugngliche Sinnesaffektion meint. Der Sache nach drfte aber auch an anderen Stellen der Gehalt der Wahrnehmung thematisiert werden, wie etwa im Kapitel De an. II 6 und An. Post. I 31, 87b28 ff., II 19, 100a16-b1. Brentano 1924, 124 f. Es zeigt sich schon hier ein erster Unterschied zu Aristoteles: Whrend Brentano diese „intentionale Inexistenz“ als Eigenschaft aller psychischen Phnomene auffaßt, die diesen „ausschließlich eigentmlich“ sei (125), sind fr Aristoteles auch Ernhrung, Wachstum und Fortpflanzung psychische Phnomene. Hierzu genauer Frede 1992. Vgl. Beckermann 2001, 270 f.; Gunther 2001, 5 f.: „intrinsic to its content is a set of conditions that prescribes what the world would be like if the belief were true“. Hier kann man auch von „semantic normativity“ sprechen. Beckermann 2001, 270 f.
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2. Weltzugang und Sinnestuschungen
vorliegenden Weltzustand abweichen kçnnen mssen, was auch Flle einschließt, in denen gar kein externer Gegenstand vorliegt (z. B. das Vorstellen von Abwesendem oder die Halluzination). Diesen im Ausgang von Brentano skizzierten Begriff von Intentionalitt werde ich im Folgenden als den anspruchsvollen Begriff von Intentionalitt bezeichnen. Wenn bei Aristoteles die Wahrnehmung als intentional in diesem anspruchsvollen Sinn angesehen werden soll, mßte sich nachweisen lassen, daß sie die gerade genannte ,Abweichungsbedingung‘ erfllt; sie mßte wie im Fall der Halluzination auch ,leerlaufend‘ sein kçnnen. Im Folgenden soll erst einmal am Text selbst herausgearbeitet werden, (a) an welchem Merkmal Aristoteles den Unterschied der Wahrnehmung gegenber anderen seelischen Vermçgen festmacht und (b) ob er fr dieses unterscheidende Merkmal irgendeine Art von Erklrung skizziert. Auf dieser Grundlage kçnnen wir dann sehen, ob der Begriff der Intentionalitt in seiner oben skizzierten anspruchsvollen Bedeutung berhaupt auf Aristoteles’ Wahrnehmungslehre interpretatorisch anwendbar ist. Wahrnehmen und Denken5 bilden die beiden Typen des Erkennens (gnrizein). Beide Vermçgen kommen darin berein, daß sie jeweils in unterschiedlicher Weise unterscheidungsfhig sind und wir durch sie jeweils etwas anderes vom Seienden kennenlernen (De an. III 3, 427a19 – 21). Als eine prgnante Beschreibung dessen, was Wahrnehmung und Denken als kognitive Vermçgen von anderen seelischen Vermçgen unterscheidet, kann das Kapitel De an. III 8 angefhrt werden, wo Aristoteles das bisher ber Wahrnehmung und Denken Gesagte zusammenfaßt: „Nun aber, indem wir die Hauptpunkte des ber die Seele Gesagten zusammenfassen (sucjevakai¾samter), wollen wir wiederum sagen, daß die Seele in gewisser Weise alles Seiende ist (B xuwμ t± emta p¾r 1sti p²mta): Denn das Seiende ist entweder wahrnehmbar oder denkbar, es ist aber das Wissen in gewisser Weise (pyr) das Wißbare, die Wahrnehmung aber das Wahrnehmbare: Wie dies aber mçglich ist (p_r d³ toOto), muß man untersuchen. Das Wissen und die Wahrnehmung also werden unterteilt entsprechend zu den Dingen (eQr t± pq²clata6), die dem Vermçgen nach in Entsprechung zu denen, die dem Vermçgen nach sind, die der Aktualitt in Entsprechung zu denen, die aktual sind: Das Wahrnehmungsvermçgen und das Wissensvermçgen der Seele sind dem Vermçgen nach diese Dinge, das eine das Wißbare, das andere das 5
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Im weiten Sinn von De an. III 3, 427b9, b27 verstanden als eine Ttigkeit des Intellekts, die sich im Verbinden und Trennen von Gedankeninhalten (noÞmata) vollzieht, auf phantasmata angewiesen ist (De an. III 7, 431a16 f.) und sich in einem wahren oder falschen Urteil ber einen bestimmten Bereich der Wirklichkeit niederschlgt (diamoe?tai ja· rpokalb²mei : vgl. III 4, 429a23). Zu dieser bersetzung vgl. Ross 1961, 309 und Movia 2001, 227.
2.1 Die Wahrnehmung als gehaltvoller Zustand
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Wahrnehmbare. Notwendig aber ist, daß sie entweder diese Dinge selbst sind oder ihre Formen. Die Dinge selbst nun sind sie nicht: Denn nicht der Stein ist in der Seele, sondern die Form: Daher ist die Seele wie die Hand: Denn auch die Hand ist das Werkzeug der Werkzeuge, und der Intellekt ist die Form der Formen und die Wahrnehmung die Form der wahrnehmbaren Dinge“ (De an. III 8, 431b20 – 432a3).
Wahrnehmungs- und Denkvermçgen kommen darin berein, daß sie im jeweiligen Akt auf eine bestimmte Weise mit ihren spezifischen Gegenstnden, dem Wahrnehmbaren (aisthÞton) bzw. dem Intelligiblen (noÞton), identisch werden. Unter der Annahme, daß das Seiende im Sinne einer vollstndigen Disjunktion entweder wahrnehmbar oder denkbar ist, ergibt sich daraus, daß die Seele als aisthetische und noetische alles Seiende ist, dies aber in einer gewissen Weise (pyr). Diese besondere Weise der Identitt wird dann mit dem Begriff der Form (eidos) erlutert: Man hat nicht den wahrnehmbaren oder denkbaren Gegenstand selbst in der Seele, sondern seine jeweilige Form. Mittels der Form im Sinne eines ,kognitiven Instruments‘7 ist es mçglich, sich auf den Gegenstand selbst zu beziehen; man wird mit dem jeweiligen Gegenstand formal identisch. 8 Daß die aisthetische und noetische Seele ,in gewisser Weise alles‘ ist, kçnnen wir also erst einmal so verstehen, daß kognitive Wesen ,ber sich hinausgreifen‘ kçnnen oder ,bei allem‘ sein kçnnen, ohne gleichzeitig ihre physische Basis in der Weise zu verndern, daß sie dies alles selbst ,sein‘ mssen: Sie haben, wie Thomas von Aquin sagt, nicht nur „ihre eigene Form“, die ihre Identitt konstituiert, sondern kçnnen auf eine andere Weise „auch die Form eines anderen Gegenstands haben“; sie sind damit nicht nur auf sich beschrnkt, sondern haben „eine grçßere Weite und Ausdehnung“.9 Der Mensch kann sich im
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Vgl. Owens 1980, 24; Owens 1981, 78 f. So wie die Hand als Werkzeug ihrerseits verschiedene Werkzeuge gebrauchen kann, so sind Intellekt und Wahrnehmung Instrumente der Seele, die ihrerseits durch Gebrauch intelligibler bzw. wahrnehmbarer Formen die Wirklichkeit erkennen (De an. III 8, 432a1 – 3). Im Bereich des Denkbaren gilt diese formale Identitt nur fr die ,zusammengesetzten Substanzen‘ (z. B. der Stein), die also Materie besitzen und insofern nicht vollstndig intelligibel sind. Bei den ,reinen Formen‘ dagegen wird der Denkende in der intellektuellen Bezugnahme mit seinem Objekt im genuinen Sinn identisch (Met. XII 9, 1075a1 – 5; De an. III 4, 430a3 f.). Hierzu Gerson 2009, 87. Vgl. Thomas von Aquin, S.Th. q. 14 a. 1 corpus: „…cognoscentia a non cognoscentibus in hoc distinguuntur, quia non cognoscentia nihil habent nisi formam suam tantum; sed cognoscens natum est habere formam etiam rei alterius, nam species cogniti est in cognoscente. Unde manifestum est quod natura rei non cognoscentis est magis coarctata et limitata: natura autem rerum cognoscentium habet
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2. Weltzugang und Sinnestuschungen
Wahrnehmen und Denken die gesamte Wirklichkeit ,zu Eigen machen’. Dieses ,Haben der Form eines anderen Gegenstands‘ heißt nicht, daß diese Form in derselben Weise besessen wird wie die fr das eigene Sein konstitutive Form: Ich kann die Form des Hauses in meinem Intellekt ,haben‘, ohne selbst zu einem Haus zu werden, oder die Form des Grnen in meinem Wahrnehmungsvermçgen haben, ohne selbst grn zu werden.10 Aristoteles zeigt diese besondere Weise von Identitt mit pyr an (431b23). Auf die Frage, ob und, wenn ja, wie das Zustandekommen einer solchen kognitiven oder formalen Identitt im Wahrnehmen und Denken nach Aristoteles erklrt werden kann, werden wir gleich zu sprechen kommen. Hier ist erst einmal nur festzuhalten, daß Aristoteles das Spezifikum kognitiver Vermçgen daran festmacht, daß wir uns mittels der Form auf den vorliegenden Gegenstand selbst beziehen kçnnen; in der Wahrnehmung wird uns die individuelle Substanz durch und in ihren wahrnehmbaren Eigenschaften prsent.11 Die aisthetische Form darf hier nicht als ein ,inneres Bild‘ aufgefaßt werden, sondern fungiert lediglich als kognitives Instrument dieser Bezugnahme.12 Aristoteles’ Epistemologie basiert auf den wahrnehmbaren
maiorem amplitudinem et extensionem. Propter quod dicit Philosophus 3 de Anima quod ,anima est quodammodo omnia‘.“ Vgl. auch S.Th. q. 80 a. 1 corpus. 10 Vgl. Owens 1981, 76: „But in the actuality of cognition, through the causal influence of another agent acting upon him, as well as through his own activity, the cognitive agent becomes and is an object that is other than himself, without ceasing physically to be his own self.“ Im Folgenden wird sich noch zeigen, daß mit dieser besonderen Weise des Besitzes aisthetischer Formen durch kognitive Wesen nicht notwendig jede Art von organischer Vernderung ausgeschlossen ist. 11 Das zeigt sich auch sprachlich darin, daß wir mit ,weiß‘sowohl das Akzidens selbst als auch seinen Trger bezeichnen kçnnen (Met. VII 6, 1031b24 f.). 12 Aristoteles’ Direkter Realismus wird betont von Owens 1981, 79 f. Fr eine reprsentationalistische Interpretation der aisthetischen eidÞ im Sinne mentaler Bilder vgl. Thomas Reid, Essays on the Intellectual Powers of Man II, § 8: „This theory in general is, that we perceive external objects only by certain images which are in our minds, or in the sensorium to which the mind is immediately present. Philosophers, in different ages, have differed both in the names they have given to those images, and in their notions concerning them […] By Aristotle and the Peripatetics, the images presented to our senses were called sensible species or forms; those presented to the memory or imagination were called phantasms; and those presented to the intellect were called intelligible species; and they thought, that there can be no perception, no imagination, no intellection, without species or phantasms. What the ancient philosophers called species, sensible and intelligible, and phantasms, in later times, and especially since the time of Des Cartes, came to be called by the common name of ideas.“
2.1 Die Wahrnehmung als gehaltvoller Zustand
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Gegenstnden selbst samt ihrer intelligiblen Struktur (432a5) und nicht auf so etwas wie ,Ideen‘ oder ,Impressionen‘ von diesen Gegenstnden. Eine andere Passage, in der Aristoteles das unterscheidende Merkmal der Wahrnehmung gegenber Vernderungen unbeseelter Entitten beschreibt, findet sich in Phys. VII 2: „In wie vielen Weisen also das Unbeseelte qualitativ verndert wird, in diesen auch das Beseelte, in wie vielen Weisen aber das Beseelte, nicht hinsichtlich dieser aller das Unbeseelte; denn es erfhrt keine qualitative Vernderung in Bezug auf die Wahrnehmungssinne. Auch bleibt es dem einen verborgen, dem anderen aber nicht (oq kamh²mei), wenn ein Erleiden stattfindet. Nichts aber hindert, daß es auch dem Beseelten verborgen bleibt, wenn die qualitative Vernderung nicht in Bezug auf die Wahrnehmungssinne (jat± t±r aQsh¶seir) geschieht“ (Phys. VII 2, 244b12 – 245a2).
Das Spezifikum der Wahrnehmung wird hier so beschrieben, daß ihr bestimmte qualitative Vernderungen, insofern sie im Bereich der Wahrnehmungssinne geschehen, nicht verborgen bleiben (oq kamh²mei), also ,kognitiv zugnglich‘ sind. Im Hinblick auf den allgemeinen Begriff der Bewegung kçnnen wir dieses Spezifikum so erlutern: Nach Phys. III 2, 202a9 ff. bringt jedes Bewegende ein bestimmtes eidos mit, was Prinzip und Ursache der Bewegung ist und eine Bewegung zu einer kategorial bestimmten, einer substantiellen oder qualitativen oder quantitativen macht.13 Das Wahrnehmen unterscheidet sich von den herkçmmlichen qualitativen Vernderungen darin, daß der Wahrnehmende sich der jeweiligen perzeptuellen Qualitt, die eine bestimmte Art von Vernderung in seinem Sinnesorgan verursacht, bewußt ist.14 13 eWdor d³ !e· oUseta¸ ti t¹ jimoOm, Etoi tºde C toiºmde C tosºmde, d 5stai !qwμ ja· aUtiom t/r jim¶seyr, ftam jim0, oXom b 1mtekewe¸ô %mhqypor poie? 1j toO dum²lei emtor !mhq¾pou %mhqypom. 14 An dieser Stelle muß noch kurz auf eine Passage eingegangen werden, in der auf den ersten Blick von so etwas wie Intentionalitt im Sinne einer universalen Eigenschaft kognitiver Vermçgen die Rede zu sein scheint. Innerhalb von Met. XII 9 bringt Aristoteles einen Einwand gegen die Formulierung B mo¶sir mo¶seyr mºgsir (1074b34 f.) vor: „Es scheint aber so zu sein, daß das Wissen und die Wahrnehmung und die Meinung und das Denken immer auf etwas anderes (!e· %kkou) bezogen sind, auf sich selbst aber nur nebenbei“ (Met. XII 9, 1074b35 f.). Mit dem !e· %kkou wird hier nun nicht so etwas wie das ,mentale Spezifikum‘ des intentionalen Bezugs angezeigt, sondern lediglich herausgestellt, daß die genannten Arten von Erkenntnis auf einen externen Gegenstand bezogen sind. Von diesen ist jenes Denken zu unterscheiden, daß nach dem Erwerb intelligibler Formen, d. h. nach dem lamh²meim, im Besitz jener ist, mit diesen identisch geworden ist und auf der Stufe einer ,ersten Entelechie‘die erworbenen Inhalte betrachten (heyqe?m) kann, wann immer es dieses
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2. Weltzugang und Sinnestuschungen
Schon hier zeichnet sich ab, daß der oben skizzierte anspruchsvolle Begriff von Intentionalitt nicht angemessen ist, um das, was Aristoteles als Spezifikum der Wahrnehmung ansieht, interpretatorisch adquat zu erfassen: Aristoteles stellt in den angefhrten Passagen lediglich den kognitiven Zugang zum externen Gegenstand heraus und fhrt nicht schon so etwas wie Wahrheitsbedingungen oder semantische Normativitt ein. Das wird noch deutlicher, wenn wir einen Schritt weitergehen und uns kurz der Debatte darber zuwenden, wie Aristoteles dieses unterscheidende Merkmal der Wahrnehmung zu erklren versucht. (Das unterscheidet ihn von einem naiven Direkten Realismus.) Aristoteles belßt es ja in De an. III 8 nicht bei der Aussage, daß die Seele ,irgendwie alles‘ ist, sondern stellt auch die Frage, wie dies mçglich ist (p_r d³ toOto). Fr die aisthetische Bezugnahme scheint Aristoteles in De an. II 12 mit der berchtigten Formel von der ,Aufnahme der wahrnehmbaren Formen ohne die Materie‘, mit der er das Wahrnehmungsvermçgen definiert, irgendeine Art von Erklrung zu skizzieren.15 Diese Formel wird noch an anderen Stellen erklrend eingesetzt (III 2, 425b23 f.; III 12, 434a29 f.) und markiert den Unterschied zu den nichtkognitiven Wesen, die „zusammen mit der Materie erleiden“ (II 12, 424b1 ff.). Die Formel wird gegenwrtig im Rahmen einer Debatte um Aristoteles’ Wahrnehmungstheorie diskutiert, in der es darum geht, ob sich will, sofern nicht ußere Umstnde hindern (De an. II 5, 417a29, b5, b23 f.). Auch dieses heyqe?m hat einen bestimmten Gehalt: Aktualisiert es sich auf dieser Stufe, dann denkt es nach Aristoteles „sich selbst“ (art¹m : III 4, 429b9; gegen die Lesart von Bywater und Ross). Das kann man mit Gerson (2009, 79) so interpretieren, daß sich der Denkende der in seinem Intellekt prsenten Formen bewußt wird und diese Prsenz beruht im Fall der,Formen ohne Materie‘auf einer realen Identitt zwischen Denken und Gedachtem, im Fall der ,Formen in Materie’ nur auf einer formalen Identitt. Wenn der Denkende die noetischen Formen kennt, dann ist er mit den intelligiblen Gegenstnden auf eine bestimmte Weise identisch; der Intellekt ist ja vor dem Wissenserwerb nichts anderes als reine Potenz, er hat keine eigene Bestimmtheit. Denkt er sich selbst, dann denkt er damit die von ihm aufgenommenen intelligiblen Gehalte. Dagegen ist das Sich-selbst-Denken Gottes nicht an eine vorherige Aufnahme intelligibler Gehalte gebunden; es denkt in exklusiver Weise sich selbst (Met. XII 9, 1074b38 – 1075a5). Das !e· %kkou bringt also nicht das spezifische Merkmal aller kognitiven Vermçgen zum Ausdruck, berhaupt auf etwas bezogen zu sein oder einen bestimmten Gehalt zu haben, sondern nur den externen Gegenstandsbezug, in dem sich Wahrnehmung, Meinung und empirisches Wissen vom Betrachten der noetischen Formen unterscheiden. In beiden Fllen haben wir es mit gehaltvollen Ttigkeiten zu tun. 15 Dagegen zieht Putnam (2000, 8) die Mçglichkeit in Betracht, daß es sich hier lediglich um eine vor-theoretische Redeweise handelt, die ausdrckt, daß wir uns in der Wahrnehmung der Eigenschaften externer Gegenstnde bewußt sind.
2.1 Die Wahrnehmung als gehaltvoller Zustand
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fr Aristoteles berhaupt die Frage nach einer Erklrungsbedrftigkeit und Erklrbarkeit der Wahrnehmung als einer gehaltvollen und bewußten seelischen Ttigkeit stellt und, wenn ja, welche Art von Erklrung er entwickelt und ob diese systematisch akzeptabel ist. Interessant ist diese Frage vor allem vor dem Hintergrund der gegenwrtigen Philosophie des Geistes, in der es hauptschlich um die Integrierbarkeit mentaler Phnomene in ein naturwissenschaftliches Weltbild geht.16 Bevor ich im Folgenden genauer auf die Formel von II 12 eingehe, skizziere ich kurz die Debatte um Aristoteles’ Theorie des Wahrnehmungsvorgangs.17 Aristoteles behandelt den Wahrnehmungsvorgang innerhalb von De an. II 5 – III 2 mit dem begrifflichen Instrumentarium seiner Physik (Phys. III 1 – 3; Gen. corr. I 4 und I 7): Das Wahrnehmen vollzieht sich „im Bewegtwerden und Erleiden“ (1m t` jime?sha¸ te ja· p²sweim sulba¸mei : De an. II 5, 416b33 f.), das genauer als „eine Art von qualitativer Vernderung“ bestimmt wird (alloisis tis: 416b34 f.; II 4, 415b24). Zentral fr Aristoteles’ allgemein-strukturelle Beschreibung des Wahrnehmungsvorgangs ist der Gedanke, daß sich der Wahrnehmende in irgendeiner Weise dem Gegenstand der Wahrnehmung angleicht. Das wird mit Hilfe folgender Formeln erlutert, die der allgemeinen Lehre vom Wirken und Leiden entnommen sind: (i) Das, was wahrnehmen kann18, ist potentiell das, was der wahrnehmbare Gegenstand schon aktual ist (II 5, 418a3 f.). (ii) Wird es von einem Wahrnehmbaren affiziert, ist es nach dem Erleiden dem Gegenstand „angeglichen und wie jener“ (¢lo¸ytai ja· 5stim oXom 1je?mo : II 5, 418a5 f.), also dem Gegenstand in irgendeiner Weise assimiliert.19 (iii) Das Erleiden (paschein), auf dem diese Angleichung an den Gegenstand beruht, ist von besonderer Art: Hier liegt nicht der herkçmmliche Fall von qualitativer Vernderung vor, wo eine bestimmte Qualitt verloren geht und durch eine andere ersetzt wird. Vielmehr handelt es sich eher um „eine Bewahrung (sytgq¸a) des dem Vermçgen nach Seienden durch das der Wirklichkeit nach Seiende“ oder eine „Steigerung in sich selbst und in eine Wirklichkeit“ 16 Vgl. Beckermann 2001, Kap.1 17 Vgl. hierzu den exzellenten berblick in Caston 2005. 18 Es ist unter den Interpreten umstritten, ob aQshgtijºm hier das beseelte Organ oder bloß das seelische Vermçgen meint. Ich mçchte mich hier nicht festlegen und whle eine neutrale bersetzung (vgl. auch Burnyeat 2002, 44 Fn. 41). 19 Aristoteles nimmt hier Bezug auf seine allgemeine Analyse des Wirkens und Leidens in Gen. corr. I 7: Nur solche Dinge kçnnen aufeinander eine Wirkung ausben, die der Gattung nach gleich, der Art nach aber verschieden sind (323b32 ff.). Das Leidende wird dem Wirkenden angeglichen und diese Angleichung ist eine Entstehung zum jeweiligen kontrren Zustand (324a10 ff.).
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2. Weltzugang und Sinnestuschungen
(II 5, 417b2 – 7): So wie jemand, der schon ein bestimmtes Wissen besitzt und dieses fr die Betrachtung bloß abrufen muß, so wird beim Wahrnehmenden unter Einfluß des externen Gegenstands das angeborene Vermçgen nur noch aktualisiert, ohne daß dieses dabei verlorenginge; es wird vielmehr bewahrt. Derjenige, der wahrnehmen kann, befindet sich wie der schon Wissen Besitzende auf der Stufe der ,ersten Entelechie‘: Das aktuale Wahrnehmen wird „auf gleiche Weise ausgesagt wie das Betrachten“ (II 5, 417b18 f.). Fr diese zweite Art von Vernderung ist der Begriff ,Vernderung‘ nicht mehr angemessen; da aber ein geeigneter Terminus fehlt, mssen die herkçmmlichen Begriffe ,Erleiden‘ und ,Vernderung‘ in einer anderen Bedeutung weitergebraucht werden, als ob sie eigentlichen Bezeichnungen wren (II 5, 418a3). Diese besondere Art des Erleidens fhrt zur Angleichung des Vermçgens an den Gegenstand. (iv) Schließlich definiert Aristoteles die Wahrnehmung als dasjenige, was ,die wahrnehmbaren Formen ohne die Materie aufnehmen kann‘ im Unterschied zu den Pflanzen, die „zusammen mit der Materie erleiden“ (II 12, 424a17-b3). Wie wir schon gesehen haben, fungiert die Form bei den kognitiven Vermçgen als Instrument der Angleichung an den Gegenstand. Der Zusatz „ohne die Materie“ scheint einen Erklrungswert zu besitzen, wie eine bewußte Bezugnahme auf den externen Gegenstand mçglich ist. Auf diese Formeln kann hier im einzelnen nicht weiter eingegangen werden, entscheidend ist hier nur, daß Aristoteles das allgemeine Modell der Vernderung, wie er es in der Physik entfaltet, fr die Wahrnehmung modifiziert und damit ihrem Spezifikum – Bewußtwerdung einer externen Qualitt – auch auf einer explanatorischen Ebene Rechnung trgt.20 Interpretatorisch umstritten ist nun, in welchem Maß das allgemeine Modell der Vernderung in Bezug auf die Wahrnehmung als einer bewußten und gehaltvollen Ttigkeit modifiziert wird. Nach Burnyeat handelt es sich bei der alloisis tis von II 5 um eine vollkommen andere Art von Vernderung21, in welcher der Wahrnehmende dem Gegenstand bloß in einem kognitiven Sinn assimiliert wird. Hier passiert nichts anderes, als daß sich der Wahrnehmende einer bestimmten wahrnehmbaren Qualitt bewußt wird, ohne daß dabei irgendwelche materiellen Prozesse im Organ ablaufen, die dem Wahrnehmungsvorgang 20 Die beiden Kapitel II 5 und II 12, in denen sich diese Formeln finden, sind fr die Wahrnehmungsabhandlung von De anima von grundlegender Bedeutung: In beiden soll „allgemein“ (joim0 ; jahºkou) „ber jede Wahrnehmung“ (peq· p²sgr aQsh¶seyr) etwas gesagt werden (417a32 f.; 424a17). 21 Burnyeat 2002, 36 f., 46.
2.1 Die Wahrnehmung als gehaltvoller Zustand
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zugrundeliegen und durch die er erklrt werden kçnnte; wir kçnnen ihn nur in phnomenalen Begriffen beschreiben.22 Mit dem herkçmmlichen Begriff der Vernderung23 hat diese alloisis tis nur noch den rezeptiven Bezug auf den externen Gegenstand gemeinsam.24 Wenn das Kapitel II 5 mit den Formeln der Potentialitt (i) und der Assimilation (ii) abgeschlossen wird (418a3 – 6), dann liegt hier ein gegenber der Analyse des Wirkens und Leidens in Gen. corr. I 7, 324a10 – 13 vollkommen anderer Sinn vor.25 Burnyeat sttzt sich fr diese Interpretation zum einen auf die mit der Formel (iii) eingefhrte zweite Art von Vernderung, von der Aristoteles sagt, daß sie keine Vernderung mehr ist oder zumindest eine „andere Gattung von Vernderung“ darstellt (417b6 f.).26 Aristoteles siedelt das Wahrnehmungsvermçgen auf der Stufe einer ,ersten Entelechie‘ an, woraus folgt, daß das aktuale Wahrnehmen in gleicher Weise ausgesagt wird wie das Betrachten, d. h. wie das bloße Aktualisieren eines erworbenen Wissens, bei dem diese hexis nicht verlorengeht. Diese Gleichsetzung faßt Burnyeat als eine vollstndige und erschçpfende Klassifikation des Wahrnehmungsvorgangs im ganzen auf: Wenn dieser mit der stÞria, der zweiten Art von Vernderung, gleichgesetzt wird, dann sind Vernderungen der ersten Art, in der bestimmte Qualitten ,untergehen‘ und durch andere ersetzt werden (417b3), fr den Wahrnehmungsvorgang prinzipiell ausgeschlossen.27 Der zweite Bezugspunkt einer solchen Interpretation, nach der wir uns im Wahrnehmen bloß einer externen Qualitt bewußt werden, ohne daß damit materielle Prozesse im Wahrnehmungsapparat einhergehen wrden, ist die 22 Burnyeat 1992, 21, 22: „the effect on the organ is the awareness, no more and no less“. Burnyeat rumt hier lediglich ,stabile‘ organische Bedingungen ein (1992, 22; 2002, 75). 23 Aristoteles macht auf den theoretischen Rahmen von Phys. III 1 – 3, in dem die Analyse von De an. II 5 vorerst verstanden werden soll, explizit aufmerksam: „In einem ersten Schritt laßt uns also sprechen, als ob das Erleiden und das Bewegtwerden und das Ttigsein dasselbe sind. Denn auch die Bewegung ist eine Art Ttigkeit (1m´qcei² tir), wenn auch eine unvollendete, wie in anderen Schriften gesagt worden ist“ (417a14 – 17). 24 Burnyeat 2002, 58. 25 Burnyeat 2002, 46, 73 f.: „But what it means for the perceiver to be potentially such as the sensible object is actually, to be affected and altered by the sensible object, so as to be assimilated to it – all of that is dramatically different from what it would have been before […] By the end of II 5 the familiar theorems from De Generatione et Corruptione I 7 and Physics III 1 – 3 have been filled with a whole range of new meanings undreamed of in earlier philosophy.“ 26 fpeq C oqj 5stim !kkoioOshai…C 6teqom c´mor !kkoi¾seyr 27 Burnyeat 2002, 77 – 83.
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2. Weltzugang und Sinnestuschungen
Formel (iv). Hier macht Aristoteles ber die Wahrnehmung die allgemeine Aussage, daß sie „das Aufnahmefhige fr die wahrnehmbaren Formen ohne die Materie“sei (424a18 f.) im Unterschied zu den Pflanzen, die „zusammen mit der Materie erleiden“ (p²sweim let± t/r vkgr : 424b2). Interpreten, die in der Tradition des Thomas von Aquin stehen, haben Aristoteles so interpretiert, daß der Ausdruck ,ohne die Materie‘ eine besondere Weise der Aufnahme der wahrnehmbaren Form bezeichnet, wie sie in der bewußten Wahrnehmung eines externen Gegenstands vorliegt. Diese Aufnahme grndet sich auf eine besondere Seinsweise, die eine wahrnehmbare Form haben kann. Nach Thomas hat eine wahrnehmbare Form in ihrem Trger ein ,natrliches Sein‘ (esse naturale), im Wahrnehmenden dagegen ,intentionales oder geistiges Sein‘ (esse intentionale sive spirituale). Wird die Form gemß ihrem esse naturale aufgenommen, findet eine ,natrliche Vernderung‘ (immutatio naturalis) im Aufnehmenden statt (etwa wenn Holz erhitzt wird), wird sie dagegen gemß ihrem esse spirituale aufgenommen, findet eine ,geistige Vernderung‘ (immutatio spiritualis) im Aufnehmenden statt, durch die eine ,intentio‘ der wahrnehmbaren Form im Organ entsteht.28 In diesem Sinn unterstellt Owens Aristoteles eine besondere Weise des Seins, mit der eine besondere Weise der Vernderung verbunden ist29 : Wenn eine Wand die Form des Roten aufnimmt, wird diese im literalen Sinn rot; der Mensch dagegen kann diese Form in einer Weise aufnehmen, ohne literal rot zu werden: Er wird mit dem jeweiligen Gegenstand kognitiv identisch und diese kognitive Identitt wird hergestellt durch die Form, wenn sie „ohne die Materie“ aufgenommen wird.30 Der Ausdruck ,ohne die Materie‘ darf nach dieser Interpretation nicht so verstanden werden, als ob er sich auf die Materie des wirkenden Gegenstands bezieht, die nicht aufgenommen wird; das trifft auf jeden physischen Prozeß zu, kann also kein Spezifikum ko28 S.Th. q. 78 a. 3 corpus. Hierzu genauer Perler (2004), der zu Recht darauf hinweist, daß ,spirituale‘ nicht quivalent ist zu ,immateriell‘, sondern die „Existenzweise in einer kognitiven Relation zu etwas anderem“ bezeichnet, die jeweils von der Natur des Aufnehmenden abhngig ist (47). 29 Vgl. Owens 1980, 18: „to be a cow in the actuality of cognition need not at all have the same sense of being as that of existence in physical reality. Yet in the Aristotelian context, on account of the multisignificance of being, this can be a genuine kind of being, a true existence of its own type.“ Vgl. Owens 1981: „Explanation of cognition as a special way of being appears in Aristotle without traceable ancestry“ (74); „in this case the becoming is recognized as a kind different from the physical type […] It does not consist in an alteration or a modification of the faculty. It is a different type of coming into being“ (76). 30 Owens 1980, 24: „What is received in the soul is not the material thing, but the form that makes the percipient be that thing“; Owens 1981, 78 f.
2.1 Die Wahrnehmung als gehaltvoller Zustand
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gnitiver Vorgnge sein.31 Ebensowenig kann die Materie des Aufnehmenden gemeint sein; die Wahrnehmung basiert ja auf bestimmten (stabilen) physiologischen Bedingungen (wie der transparente Zustand der korÞ).32 Daraus muß geschlossen werden, daß sich der Ausdruck ,ohne die Materie‘ auf eine besondere Art der Aufnahme der wahrnehmbaren Form beziehen muß, wie sie in der kognitiven Beziehung auf den wahrnehmbaren Gegenstand vorliegt. Burnyeat unterscheidet sich von diesem thomasischen Ansatz insofern, als er an der besonderen Weise einer ,spirituellen Vernderung‘ festhlt, die ontologische Prmisse einer besonderen Seinsweise aber aufgibt. Das Wahrnehmen ist nichts anderes als ein bloßer Akt des Bewußtwerdens der externen Qualitt, ohne daß sich dabei die physische Basis des Aufnehmenden in der Weise verndert, daß sie dadurch die externe wahrnehmbare Form in derselben Weise (,literal‘) besitzt wie der wahrnehmbare Gegenstand selbst.33 Im Gegensatz zu einer solchen ,spiritualistischen Interpretation‘ beziehen sich nach der ,literalistischen Interpretation‘ alle oben angefhrten Formeln (i)-(iv) auf einen physiologischen Prozeß im Sinnesorgan34, der – im Sinne des Verhltnisses von Materie und Form – der Wahrnehmung als einer gehaltvollen und bewußten Ttigkeit zugrundeliegt. Demnach handelt es sich um eine literale Assimilation an den Gegenstand, um eine prinzipiell beobachtbare physiologische Vernderung des Organs. Das Organ wird hier in einer Weise verndert, daß es die externe Qualitt entweder in genau derselben Weise besitzt wie der externe Gegenstand oder zumindest in einer abgeleiteten Weise, wie etwa das an sich transparente Innere des Auges durch die ,geliehene Farbe‘35 gefrbt ist. Im Unterschied zu 31 Vgl. Thomas von Aquin, In De Anima II, 24: „Agens autem agit per suam formam, et non per suam materiam; omne igitur patiens recipit formam sine materia“; vgl. Owens 1980, 22; Owens 1981, 77, 92; Burnyeat 1992, 24; Burnyeat 2001. 32 Burnyeat 1992, 23. 33 Burnyeat 1992, 24; 2001, 140: „The patient receives a sensible form without matter when it becomes like the agent in form without becoming similarly disposed in matter. The patient is red or warm in a way, but not in the way the agent is. The sensible forms red and warmth are present in the perceiver in a different manner from the manner they are present in the object perceived.“ 34 Etwa Sorabji 1992, 209 – 214. 35 Sorabji 1992, 212; Sorabji 2001, 53: „So that it may take on alien colour during perception.“ Es ist das Verdienst von Caston (2005, 250 – 253), mit aller Klarheit darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß sich Sorabji in diesem Punkt von anderen literalistischen Interpreten (z. B. Everson) unterscheidet: Das Auge verndert sich nicht in seiner materiellen Beschaffenheit, so daß es die Qualitt in derselben Weise wie der externe Gegenstand intrinsisch besitzen wrde (wie die Tomate die rote
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2. Weltzugang und Sinnestuschungen
Burnyeat ist die in II 5 eingefhrte zweite Art von Vernderung gegenber der herkçmmlichen Bedeutung nicht radikal verschieden und gilt auch fr unbeseelte Entitten, stellt also keine besondere Klasse von Vernderungen dar.36 Auch wenn man sie allein auf die Form des Lebewesens, also die aisthetische Seele, bezieht, sind materielle Prozesse nicht ausgeschlossen, ja sogar notwendig.37 Auch II 12 kann im Sinne eines rein natrlichen Vorgangs verstanden werden, wenn vorausgesetzt wird, daß (fr einige Vorsokratiker) Pflanzen tatschlich externe Materie beim Erwrmen aufnehmen38 : Demgegenber wrde in der Wahrnehmung keine Materie des wahrgenommenen Gegenstands aufgenommen werden, sondern es wrde nur eine physische Vernderung des Organs stattfinden, durch die es die externe Qualitt in sich repliziert. Auf der Grundlage dieser literalen Angleichung des Organs wrde sich dann der Wahrnehmende auf den vorliegenden Gegenstand beziehen.
Farbe), sondern es ist lediglich extrinsisch gefrbt. Dennoch handelt es sich um eine wirkliche, literale Frbung. 36 Sorabji 1992, 221: „I presume that the point could even be extended to a purely physical switch, such as a rock’s switching from its perch on a ledge to falling in the direction of its natural position, just so long as that could be viewed as a switch towards its true nature.“ Vgl. auch Everson 1997, 93; Rapp 2001, 70 f. 37 Daraus kçnnte sich ein latenter Dualismus ergeben, in dem Sinne, daß im aktualen Wahrnehmen sowohl materielle Prozesse im Organ im Sinne der ersten Art von Vernderung (vhoq² tir rp¹ toO 1mamti´ou) als auch eine bloße Aktivierung des Vermçgens im Sinne der zweiten Art von Vernderung (sytgq¸a) stattfinden. Gerade das Beispiel des Baumeisters (417b9) macht klar, daß Bauen nicht bloß aus der Aktivierung eines bestimmten erworbenen Vermçgens besteht, sondern hier zahlreiche materielle Vernderungen involviert sind (vgl. Caston 2005, 268). Dennoch scheint mir gerade bei der Wahrnehmung der Zusammenhang zwischen Prozessen, die mit dem Wahrnehmen einhergehen, und der stÞria-haften Aktivierung des Vermçgens enger zu sein (allgemein: Sens. 436b6 f.). Das wird deutlich, wenn man sich klarmacht, daß ein seelisches Vermçgen eine Form ist und als solche eine spezifische Urschlichkeit besitzt (vgl. De an. II 1 – 3, besonders 415b8 – 27). Die Urschlichkeit der aisthetischen Seele besteht ganz allgemein darin, die Prozesse zu steuern, die fr eine bewußte Wahrnehmung erforderlich sind (z. B. die Aufrechterhaltung eines bestimmten organischen Mittelzustands: De an. II 11, 424a4 ff.). Diese spezifische seelische Urschlichkeit ist es, die den Wahrnehmungsvorgang zu einer alloisis tis macht und fr den organischen und kognitiven Charakter dieses Vorgangs verantwortlich ist. Die seelische Aktivitt schlgt sich in dieser besonderen Art von Vernderung nieder und ist m. E. kein real distinktes Ereignis (etwa ein ,mental event‘) – so wie auch die aisthetische Seele etwas in dem Organ ist und von diesem nur „dem Sein nach“ verschieden ist (II 12, 424a24 – 28). 38 Sorabji 1992, 217. Vgl. auch Hicks 1907, 419.
2.1 Die Wahrnehmung als gehaltvoller Zustand
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Mit diesen beiden Interpretationsrichtungen sind zwei unterschiedliche systematische Anliegen verbunden, welche die Frage nach der Erklrbarkeit der kognitiven Eigenschaften der Wahrnehmung betreffen: In der literalistischen Interpretation lßt sich ein physiologischer Prozeß isolieren, der nach seinem Verhltnis zur Wahrnehmung als einer gehaltvollen und bewußten Ttigkeit befragt werden kann. Dieses Verhltnis kçnnte man im Sinne des Aristotelischen Hylemorphismus39 und seinem Grundsatz, daß das Wahrnehmen Kçrper und Seele gemeinsam zukommt40, so bestimmen, daß die Wahrnehmung ,in‘diesen physiologischen Vernderungen ,besteht’, ohne gleichzeitig auf diese reduzierbar zu sein. Die physiologischen Prozesse verhalten sich dann zum Merkmal der bewußten Bezugnahme wie die Materie zur Form.41 Damit wird Aristoteles fr die gegenwrtige Philosophie des Geistes interessant; aus seiner philosophischen Psychologie scheint sich eine konsistente und berzeugende Position gewinnen zu lassen, die in die gegenwrtige Debatte um die Integrierbarkeit mentaler Phnomene in ein naturwissenschaftliches Weltbild eingebracht werden kann. Das setzt jedoch voraus, daß Aristoteles psychische Phnomene durch Rekurs auf materielle Vernderungen fr erklrbar hlt.42 Einer solchen systematischen Inanspruchnahme, die in frheren Jahren in Aristoteles vor allem den Ahnherrn des Funktionalismus sah, tritt Burnyeat mit seiner Interpretation entschieden entgegen. Anhand seiner Interpretation von Aristoteles’ Wahrnehmungstheorie mçchte er zeigen, daß Aristoteles ein vollkommen anderes Materie-Verstndnis hat, das fr die gegenwrtige Philosophie des Geistes, die von einem cartesischen Materie-Verstndnis ausgeht, nicht mehr glaubhaft ist. Die Aristotelische Physik basiere auf der Annahme irreduzibler, kausal eigenstndiger Qualitten, deren Agieren nicht durch Bezugnahme auf materielle Vorgnge erklrt werden kçnne. Daß ein natrlicher Kçrper ber Bewußtsein verfgt, sei fr Aristoteles ein factum brutum, das weder erklrungsbedrftig noch erklrbar ist, da fr ihn bestimmte Typen 39 Fr die Aristotelische xuw¶ mit Ausnahme des moOr gilt: (1) Abhngigkeit/NichtAbtrennbarkeit von der Materie: De an. II 1, 412b6 ff.; II 1, 413a3 f.; II 2, 413b27 f. (2) Irreduzierbarkeit: De an. II 2, 414a19 – 22; Met. VII 17, 1041b11 – 33. (3) substantielle Urschlichkeit: De an. II 1, 412a19 ff.; II 2, 413b11 ff.; II 4, 415b8 – 416a18. 40 De an. I 1, 403a3 – 7; Sens. 436a7 f., b1 – 8. 41 Sorabji 1974, 68 f.; Nussbaum/Putnam 1992, 40 f. 42 Ich kann in dieser Untersuchung nicht auf die grundstzliche Frage eingehen, was es fr Aristoteles heißt, ein seelisches Phnomen zu erklren und was genau Anspruch und Methode seiner philosophischen Psychologie ist, die ja Teil der Naturphilosophie ist (De an. I 1, 402a1 – 17).
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von Materie schon essentiell wahrnehmungsfhig sind.43 Aristoteles fehle jegliches Bedrfnis, seelische Zustnde wie die Wahrnehmung durch materielle Prozesse zu erklren und damit in ein bestimmtes naturwissenschaftliches Weltbild zu integrieren, was sich besonders an seiner Wahrnehmungstheorie zeigen lasse.44 Burnyeat kommt zu dem Ergebnis, daß Aristoteles’ philosophische Psychologie aus heutiger Sicht keinerlei systematische Attraktivitt besitzt. Gegen beide Interpretationsrichtungen lassen sich grundlegende Einwnde vorbringen: So wurde gegen den Spiritualismus immer wieder angefhrt, daß es sich beim Wahrnehmen um eine Ttigkeit handelt, die Seele und Kçrper gemeinsam zukommt (De an. I 1, 403a5 ff.; Sens. 436b1 – 8); deshalb mßten auch physiologische Prozesse involviert sein, in denen der Wahrnehmungsvorgang besteht, ohne auf diese reduzierbar zu sein. Gegen den Literalismus, der davon ausgeht, daß die wahrgenommene Qualitt nach dem Erleiden auch dem Organ in einem univoken Sinn zukommt, kçnnen Aristoteles’ eigene Aussagen gegen die Annahme solcher Replika (De an. I 5, 409b23 – 410a13) sowie berhaupt absurde Konsequenzen45 angefhrt werden. Eine alternative Interpretation, welche die gegen beide Seiten vorgebrachten Einwnde vermeidet, ist die von Victor Caston. Nach ihm wird die externe Qualitt im Organ nicht repliziert, sondern nur in einem analogen Sinn aufgenommen: Der Wahrnehmende durchluft eine physiologische Vernderung, in der sein Organ bloß in einer bestimmten Hinsicht dem ußeren Gegenstand hnlich wird: Die Proportion, welche die jeweilige Qualitt des Gegenstands konstituiert46, wird innerhalb der physiologischen Vernderung des Organs durch ein anderes Paar kontrrer Qualitten exemplifiziert, so daß das Organ mit der externen Qualitt bloß
43 Burnyeat 1992, 19: „One might say that the physical material of animal bodies in Aristotle’s world is already pregnant with consciousness, needing only to be awakened to red or warmth.“ 44 Burnyeat 1992, 22: „For Aristotle such capacities are part of animal life and in Aristotle’s world the emergence of life does not require explanation.“ 45 Die Replika im Augeninneren (korÞ) mßten dann ebenfalls ber bestimmte koina aisthÞta verfgen, etwa ber eine bestimmte Grçße und Gestalt. 46 Nach Aristoteles ist jede aisthetische Gattung (also die Gegenstnde des Gesichtssinns, Gehçrs, Geruchs, Geschmacks- und Tastsinns) durch ein bestimmtes Paar kontrrer Qualitten konstituiert (außer beim Tastsinn, wo es mehrere Gegensatzpaare gibt: De an. II 6, 418a16). Die idia aisthÞta ergeben sich durch die Mischung der jeweiligen kontrren Qualitten in einer bestimmten Proportion (Sens. 442a12 – 29).
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in dieser durch einen bestimmten Typ von Bewegung bermittelten47 Proportion bereinkommt. Auf der Grundlage dieser bloß analogen hnlichkeit, also dieser homoiotÞs tis (vgl. EN VI 2, 1139a10 f.), kann sich dann der Wahrnehmende auf den externen Gegenstand beziehen.48 Nach dieser kurzen Skizze der Debatte um Aristoteles’ Wahrnehmungstheorie gehen wir nun auf die umstrittene Passage von II 12 genauer ein. Bei allen interpretatorischen Divergenzen scheint soviel klar zu sein, daß Aristoteles in diesem Abschnitt den oben beschriebenen kognitiven Charakter des aisthetischen Bezugs in irgendeiner Weise erklrt oder zumindest erlutert; die Formel (iv) und das anschließende Siegelring-Wachs-Beispiel haben irgendeinen Erklrungswert fr die spezifisch aisthetische alloisis. Es soll im Folgenden um eine genaue Interpretation des Siegelring-WachsBeispiels gehen. Dabei wird die Frage leitend sein, was genau durch dieses Beispiel erklrt oder verdeutlicht werden soll. „Allgemein muß man aber ber jede Wahrnehmung feststellen, daß die Wahrnehmung das Aufnahmefhige fr die wahrnehmbaren Formen ohne die Materie ist, wie z. B. das Wachs das Siegel des Rings ohne das Eisen und das Gold aufnimmt, es nimmt das goldene oder eherne Siegel an, aber nicht insofern (der Ring) Gold oder Erz ist. In gleicher Weise erleidet aber auch die Wahrnehmung jedes einzelnen (Wahrnehmbaren49) von dem, was Farbe oder Geschmack oder Ton hat, aber nicht insofern (es) als jedes einzelne von jenen bezeichnet wird, sondern insofern (es) ein dieses solches ist und gemß der Bestimmtheit (jahºkou d³ peq· p²sgr aQsh¶seyr de? kabe?m fti B l³m aUshgs¸r 1sti t¹ dejtij¹m t_m aQshgt_m eQd_m %meu t/r vkgr, oXom b jgq¹r toO dajtuk¸ou %meu toO sid¶qou ja· toO wqusoO d´wetai t¹ sgle?om, kalb²mei d³ t¹ wqusoOm C t¹ wakjoOm sgle?om, !kk’ oqw Ø wqus¹r C wakjºr7 blo¸yr d³ ja· B aUshgsir 2j²stou rp¹ toO 47 Hier kann sich Caston vor allem auf die analogen Bewegungen von Mem. 452b11 – 16 berufen, mit denen Aristoteles das Erkennen großer und entfernter Dinge erklrt (vgl. Caston 1998, 260 – 263): „denn man denkt große und entfernte Dinge nicht dadurch, dass man das Denken dorthin ausstreckt, so wie manche es vom Gesichtssinn behaupten (denn auch, wenn sie nicht existieren, muss man sie in gleicher Weise denken), sondern durch eine Bewegung in Proportion dazu; denn in ihr sind die gleichen Figuren und Bewegungen mçglich. Worin besteht nun der Unterschied, wenn man die grçßeren Dinge denkt, oder aber jene denkt, die kleiner sind? Denn alles Innere ist kleiner, und zwar so, dass es in Proportion steht [zu dem ußeren]“ (bers. King). 48 Caston 2005, 316: „Aristotle seems committed to there being some physiological change in perception, without its necessarily resulting in a replica of the perceptible quality. That is just what it is for a form to be received without the matter: information about the object is transmitted by preserving only certain aspects of its form, thus effecting transduction. For Aristotle, proportions provide the relevant, information-bearing feature in a range of cases“. 49 Vgl. Hicks 1907, 416.
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5womtor wq_la C wul¹m C xºvom p²swei, !kk’ oqw Ø 6jastom 1je¸mym k´cetai, !kk’ Ø toiomd¸, ja· jat± t¹m kºcom)“ (De an. II 12, 424a17 – 24; bers. Caston mit
nderungen).
Die Formel wird von Aristoteles mit dem Siegelring-Wachs-Beispiel erlutert. Ich fasse das Siegelring-Wachs-Beispiel als Element eines Vergleichs auf, mit dem etwas an der Wahrnehmung verdeutlicht werden soll. Das Wachs ist kein genuiner Fall einer ,Aufnahme der Form ohne die Materie‘. Das Beispiel wird auch in Aristoteles’ Gedchtnislehre bloß als Veranschaulichung verwendet (Mem. 450a30-b11) und berhaupt in der Klassischen Antike gerne zur Verdeutlichung kognitiver Phnomene herangezogen (vgl. Theaitet 191a-e). Betrachten wir erst einmal das Beispiel als solches. Unstrittig ist, daß das Wachs nicht die Materie des Siegelrings, also die Materie des Agenten, aufnimmt und dadurch selbst etwa ehern wird: „wie z. B. das Wachs das Siegel des Rings ohne das Eisen und das Gold aufnimmt“. Doch das scheint nicht der Punkt zu sein, den Aristoteles mit „ohne die Materie“ deutlich machen will; die Formel wre ihrem Inhalt nach, wie Owens zu Recht bemerkt50, unterboten. Vielmehr kommt es in dem Beispiel auf folgendes an: „es nimmt das goldene oder eherne Siegel an, aber nicht insofern (der Ring) Gold oder Erz ist (!kk’ oqw Ø wqus¹r C wakjºr).“51 Das kçnnen wir so interpretieren, daß das Zeichen des Siegelrings nicht als materialisiertes, nmlich als Zeichen eines goldenen oder ehernen Rings, sondern rein nach seiner geometrisch beschreibbaren Beschaffenheit oder Form aufgenommen wird: An dem im Wachs eingeprgten Zeichen lßt sich nicht erkennen, mit welcher Art von Materie es im Siegelring verbunden ist. Dennoch vollzieht sich diese rein ,formale‘Aufnahme in einer realen qualitativen Vernderung des Wachses, was in Mem. 450a30 ff.52 deutlich wird. Im folgenden Satz fhrt Aristoteles den Gesichtspunkt, auf den es ihm bei diesem Vergleich ankommt, noch genauer aus: „In gleicher Weise aber erleidet auch die Wahrnehmung jedes einzelnen (Wahrnehmbaren) von dem, was Farbe oder Geschmack oder Ton hat, aber 50 Owens 1980, 22; Owens 1981, 77, 92. 51 Hier kçnne man geneigt sein, sich t¹ sgle?om als implizites Subjekt zu ergnzen (also: „und das goldene oder eherne Zeichen empfngt, aber nicht, insofern es Gold oder Erz ist“; vgl. Theiler 1994, 47). Grammatikalisch ist aber nur mçglich, daß sich wqus¹r C wakjºr auf b dajt¼kior bezieht (vgl. Hicks 1907, 416; Caston 2005, 301), dem ja in erster Linie eine bestimmte materielle Beschaffenheit zukommt, dem Siegelzeichen dagegen nur in abgeleiteter Weise. 52 „Denn die entstehende Bewegung senkt ein Zeichen ein, gleich einem Abdruck des Wahrnehmungseffekts, hnlich wie Leute, die mit Siegelringen Siegel aufstempeln“ (bers. King).
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nicht insofern (es) als jedes einzelne von jenen bezeichnet wird, sondern insofern (es) ein dieses solches ist und gemß der Bestimmtheit (blo¸yr d³ ja· B aUshgsir 2j²stou rp¹ toO 5womtor wq_la C wul¹m C xºvom p²swei, !kk’ oqw Ø 6jastom 1je¸mym k´cetai, !kk’ Ø toiomd¸, ja· jat± t¹m kºcom)“ (424a21 – 24).
Jeder Einzelsinn ist auf eine bestimmte aisthetische Gattung als der ihm eigentmlichen Klasse von Gegenstnden ausgerichtet (De an. II 6; III 2, 426b8). Die einzelnen Qualitten, also die Instanzen einer aisthetischen Spezies (z. B. ein partikulres Rot), inhrieren stets in einem konkreten Gegenstand oder einer individuellen Substanz als ihrem Trger. Dem Ring mit dem Siegel entspricht also der konkrete Gegenstand oder die individuelle Substanz mit ihren aisthetischen Qualitten (rp¹ toO 5womtor wq_la C wul¹m C xºvom), die einen bestimmten Sinn affizieren. Entscheidend hinsichtlich der Wahrnehmung ist nun die folgende Qualifizierung: „aber nicht insofern (es) als jedes einzelne von jenen bezeichnet wird, sondern insofern (es) ein dieses solches ist und gemß der Bestimmtheit“ (!kk’ oqw Ø 6jastom 1je¸mym k´cetai, !kk’ Ø toiomd¸, ja· jat± t¹ kºcom). Hier ist umstritten, auf was das 6jastom 1je¸mym bezogen werden muß. Ich skizziere im Folgenden drei Mçglichkeiten, wie diese Passage verstanden werden kann: (i) Man ergnzt als implizites Subjekt den einzelnen Gegenstand, der bestimmte perzeptuelle Qualitten besitzt (rp¹ toO 5womtor : 424a22), und faßt das 6jastom 1je¸mym als Prdikat auf. Das 1je¸mym versteht man so, daß es sich auf die Klasse der konkreten Gegenstnde oder individuellen Substanzen bezieht, die dann als jeweils einzelne (Ø 6jastom) angesprochen werden, d. h. unter dem Aspekt ihrer Partikularitt betrachtet werden. Diesem Aspekt stellt Aristoteles das Ø toiomd¸ gegenber, das dann den qualitativen Aspekt der konkreten Gegenstnde meint, also insofern sie Trger bestimmter perzeptueller Qualitten sind. Wir kçnnten dann bersetzen: „In gleicher Weise erleidet aber auch die Wahrnehmung jedes Wahrnehmbaren von dem, was Farbe oder Geruch oder Ton besitzt, aber nicht insofern (es) als einzelnes von jenen (individuellen Substanzen) bezeichnet wird, sondern insofern (es) eine bestimmte Qualitt besitzt und gemß dem logos.“53 53 Vgl. Theiler 1994, 47: „Ebenso erleidet die Wahrnehmung (der Sinn) unter der Einwirkung von jedem, das Farbe, Geschmack und Schall besitzt, aber nicht, insofern es als jedes von ihnen gilt, sondern als so und so beschaffen und nach der begrifflichen Form“. Vgl. Bolton 2005, 219: „Similarly, sense in each case is acted on by the agency of that which possesses [special sensibles such as] color, or flavour or sound but not [acted on by that object] insofar as it is said to be each of those things [those incidental objects of perception such as a gold thing, or a bronze thing or a ring], but only insofar as it is of that sort [e.g., colored or flavoured or resonant in a
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Versteht man den Abschnitt in dieser Weise, dann wird hier nichts anderes als die Lehre aus De an. II 6 vorgetragen: Auch wenn jede wahrnehmbare Qualitt in einer individuellen Substanz inhriert, wird das Wahrnehmungsvermçgen nicht von der individuellen Substanz als solcher (Ø 6jastom), sondern nur von der Qualitt (Ø toiomd¸) und ihrem kºcor – im Sinne einer bestimmten Proportion, die fr eine bestimmte aisthetische Qualitt konstitutiv ist – affiziert. Nur die aisthetische Qualitt ist ,an sich wahrnehmbar‘ (jah’ art¹m aQshgtºm), whrend die individuelle Substanz (z. B. der Sohn des Diares) lediglich ,akzidentell wahrnehmbar‘ (jat± sulbebgj¹r aQshgtºm) ist. Das Wahrnehmungsvermçgen erleidet nichts von dem Gegenstand, insofern er eine individuelle Substanz ist, sondern insofern er eine bestimmte Qualitt besitzt (II 6, 418a23 f.: oqd³m p²swei Ø toioOtom rp¹ toO aQshgtoO).54 Damit wrde diese Passage die Bewegungsursache der Wahrnehmung herausstellen.55 Wenn man nun annimmt, daß der Gehalt der Wahrnehmung ausschließlich durch die Bewegungsursache festgelegt wird, wrde aus II 12 folgen, daß wir nur die perzeptuelle Qualitt wahrnehmen kçnnen.56 Im Hinblick auf die Frage nach einer mçglichen Erklrung des Merkmals der Wahrnehmung, auf einen Gegenstand bewußt bezogen zu sein, wre II 12 in dieser Interpretation von geringem Interesse. certain way] as determined by its account“. Vgl. auch Hicks 1907, 105, der allerdings nicht den einzelnen Gegenstand aus a22 als implizites Subjekt annimmt, sondern das 6jastom 1je¸mym und somit 6jastom nochmals als Prdikat verstehen muß (Hicks 1907, 416). Hierzu Caston 2005, 306. 54 Vgl. Hicks 1907, 416: „This means that the object acts upon sense not in so far as it is a concrete object, but in so far as it is coloured or flavoured, or sonorous: e. g. when we perceive the white rose by sight, it is not the rose qu rose, but the rose qu white, which acts upon the sight.“ Vgl. auch Theiler 1994, 128. 55 Vgl. Bolton 2005, 219 f.: „in characterizing perception as the ‘receiving‘ of perceptible form Aristotle is talking primarily about what the efficient cause of perception is“. 56 So Welsch (1987, 205 f. Anm. 86) gegen Thomas von Aquin: „Aristoteles hat einzig und allein die Frage zum Thema […] was denn nun im aisthetischen Verstehen eigentlich aufgeht und was nicht, was also als Inhalt des Wahrnehmens aufscheint und was demgegenber vordraußen bleibt. Und die klare und einfache Antwort und die eindeutige Auskunft der Darlegung ist die: aufgeht die aisthetische Bestimmtheit allein; draußen bleibt alles Trgerhafte derselben […] Es geht also durchaus um die – von Thomas nicht erkannte – Frage, welche Inhalte sich im aisthetischen Verstehen berhaupt abzeichnen, und nicht um die – von Thomas supponierte – Frage, was die besondere Seinsweise solcher Inhalte im aisthetischen Verstehen im Unterschied zu ihrer natrlichen Existenz ist. Das ,ohne‘ des Aristoteles meint ein Ausgeschlossensein bestimmter Inhalte aus der Wahrnehmungssphre. In Thomas’ Auslegung wird es zu einer Bestimmung des Wahrnehmungsmodus.“
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(ii) Man ergnzt als implizites Subjekt den einzelnen Gegenstand aus 424a22 (rp¹ toO 5womtor), faßt das 6jastom 1je¸mym als Prdikat auf, bezieht das 1je¸mym aber auf die Klasse der perzeptuellen Qualitten (also die idia aisthÞta von 424a22). Aristoteles wrde es dann darauf ankommen, daß die Wahrnehmung nicht insofern etwas von dem Gegenstand erleidet, als dieser ber eine partikulre Qualitt verfgt, sondern insofern diese von einer bestimmten strukturellen Beschaffenheit oder allgemeinen Charakteristik ist.57 Man kçnnte dann die Passage folgendermaßen bersetzen: „In gleicher Weise erleidet aber auch die Wahrnehmung jedes Wahrnehmbaren von dem, was Farbe oder Geruch oder Ton besitzt, aber nicht insofern (es) als jedes von diesen (Qualitten) bezeichnet wird, sondern insofern es diese Art von Ding ist und gemß seinem logos.“58
Aristoteles wrde demnach herausstellen, daß die gehaltvolle Bezugnahme auf den wahrnehmbaren Gegenstand auf einer bestimmten Proportion oder strukturellen Beschaffenheit beruht. Im Unterschied zu (i) wird hier nicht nur eine Aussage ber die Bewegungsursache bzw. den Inhalt der Wahrnehmung gemacht (die als solche nicht ber II 6 hinausgehen wrde), sondern auch eine Aussage ber die fr die Wahrnehmung spezifische Art der Aufnahme einer Form, auf welcher die aisthetische Bezugnahme beruht.59 Nach Caston bezeichnet die Formel der ,Aufnahme der Form ohne Materie‘ eine physiologische Vernderung, in der die externe Qualitt im Organ nicht replikativ aufgenommen wird; die Qualitt trifft nicht in demselben Sinn auf das Organ zu, wie sie auf den wahrnehmbaren Gegenstand zutrifft. Vielmehr besitzt das Organ die externe Qualitt nur in einem analogen Sinn, insofern es mit dieser Qualitt nur in einer bestimmten Proportion bereinkommt, mittels der sich der resultierende Zustand auf den externen Gegenstand bezieht.60 Die Proportion, die die jeweilige perzeptuelle Qualitt konstituiert, wird im Organ durch ein anderes Paar kontrrer Qualitten exem57 Caston 2005, 306. 58 Caston 2005, 301: „Similarly in this case, the sense of each [perceptible] is affected by what has color, or flavour, or sound, though not in so far as it is said to be each of these, but in so far as it is this sort of thing and in accordance with its logos“. 59 Caston 2005, 306: „The sense organ receives a particular perceptible quality, such as crimson, by being acted on by a crimson object. But it is affected not in so far as the object is crimson, but in so far as it has a more general feature by which it is crimson – the proportion […] that characterizes crimson and so is part of its form and account.“ 60 Caston 2005, 300: „These changes essentially involve the transmission of information or content. The resulting state is about the object, by means of a more limited kind of likeness, through a kind of transduction or transposition of characteristics found in the object“.
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plifiziert. In dieser Interpretation wird II 12 hinsichtlich des Spezifikums der Wahrnehmung ein grçßerer Erklrungswert zugesprochen als in Interpretation (i); der Ausdruck ,ohne die Materie‘ bezieht sich auf eine besondere Art der Rezeption einer Form, die der Wahrnehmung als einer gehaltvollen Ttigkeit zugrundeliegt. Caston orientiert sich in seiner Interpretation am Erklrungsideal der gegenwrtigen Philosophie des Geistes: „At issue is nothing less than how psychological phenomena fit into the natural world for Aristotle, and consequently whether his approach is viable one for our own investigations.“61 Whrend nach Interpretation (i) mit dem SiegelringWachs-Beispiel nichts anderes als die Bewegungsursache der Wahrnehmung verdeutlicht wird, ist nach Interpretation (ii) unter der ,Aufnahme der Form ohne die Materie‘ eine besondere Art von Vernderung zu verstehen, durch die die Wahrnehmung als gehaltvolle Ttigkeit erklrt werden kann.62 (iii) Es gibt noch eine dritte Mçglichkeit, wie die obige Passage verstanden werden kann. Diese schließt sich an Interpretation (ii) an, ist aber im Unterschied zu dieser weniger ambitioniert. Auch hier wird als implizites Subjekt der einzelne Gegenstand von 424a22 (rp¹ toO 5womtor) angenommen und das 1je¸mym auf die perzeptuellen Qualitten bezogen. „In gleicher Weise erleidet aber auch die Wahrnehmung jedes einzelnen (Wahrnehmbaren) von dem, was Farbe oder Geschmack oder Ton hat, aber nicht insofern (es) als jedes einzelne von jenen bezeichnet wird, sondern insofern (es) ein dieses solches ist und gemß der inhaltlichen Bestimmtheit.“
Im Unterschied zu Caston wird hier der Ausdruck ,Ø toiomd¸, ja· jat± t¹m kºcom’ nicht so verstanden, daß er eine bestimmte Proportion oder strukturelle Beschaffenheit meint, durch die der aisthetische Bezug erklrt werden kann, sondern vielmehr so, daß hier bloß der Inhalt der Wahrnehmung nher charakterisiert wird. Die Entgegensetzung Ø toiomdi´ – Ø 6jastom ist dann parallel zu der schon in An. Post. I 31, 87b29 (toiºmde – tºde ti) und II 19, 100a17 (jahºkou – jah’ 6jastom)63 skizzierten Unterscheidung so zu ver61 Caston 2005, 246. 62 Gegen eine solche ambitionierte Interpretation wendet sich Putnam (2000, 9): „a more charitable interpretation is possible, on which Aristotle was not describing a mechanism to explain Intentionality (an ‘account of content’ in the sense of our present-day philosophy of language), but simply committing himself to the commonsense view that in sense perception we are directly aware of properties of objects and not of representations“. 63 Darauf weist Detel (1993 II, 494) hin. In An. Post. I 31, 87b29 f. bezieht sich die aUshgsir auf das toiºmde ja· lμ tºde ti und das aQsh²meshai auf das tºde ti ; in An. Post. II 19, 100a17 bezieht sich die aUshgsir auf das jahºkou und das aQsh²meshai auf das jah’ 6jastom. Von diesem jahºkou ist sowohl dasjenige im strengen Sinn (An.
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stehen, daß ein bestimmter Sinn zwar von dem einzelnen Gegenstand, insofern er ber eine partikulre perzeptuelle Qualitt verfgt, affiziert wird, an diesem Gegenstand aber die jeweilige Qualitt nicht bloß in ihrer Partikularitt, sondern als ein „dieses solches“ (toiomd¸; z. B. dieses Rot)64 und „gemß der inhaltlichen Bestimmtheit“ (jat± t¹m kºcom) wahrnimmt. So wie das Wachs das Siegel des Rings nicht als ein materialisiertes, also goldenes oder ehernes (!kk’ oqw Ø wqus¹r C wakjºr), annimmt, sondern rein nach seiner Form, so nimmt die Wahrnehmung die Qualitt in ihrer allgemeinen qualitativen Bestimmtheit wahr, also nicht bloß als die Qualitt dieser bestimmten Substanz.65 Innerhalb der Kategorie des Qualitativen ist somit auch eine ,Wahrnehmung des Allgemeinen‘mçglich, nmlich des Typus, der durch eine partikulre Qualitt instantiiert wird.66 Fr welche Interpretation man sich auch immer entscheidet, es wird auch an dieser Stelle deutlich, daß der anspruchsvolle Begriff von Intentionalitt, der mit Wahrheits- und Erfllungsbedingungen verbunden ist, unangemessen ist, um das in der Formel von II 12 bezeichnete Spezifikum der Wahrnehmung zu erlutern. In diesem Kapitel wird nmlich ein Kausalmodell 67 entfaltet, in dem ein bestimmter Wahrnehmungsgehalt immer durch seine externe Ursache, also das aisthetische eidos, festgelegt wird: Somit impliziert das Vorliegen eines bestimmten Gehalts notwendig das Vorliegen eines externen Gegenstands mit einem bestimmten aisthetischen eidos, das als Bewegungsursache68 der Wahrnehmung fungiert. In diesem Modell wird die Bezugnahme auf Nicht-Existentes oder Abwesendes unmçglich. Nach De an. II 12 ist es ausgeschlossen, daß es einen Wahrnehmungsgehalt gibt,
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Post. I 4, 73b26 f.) als auch das undifferenziert-Allgemeine (Phys. I 1, 184a21 – 26) zu unterscheiden. Mit dem toiomd¸ ist eine demonstrative Funktion verbunden, ein ,dieses solches‘. Man kçnnte hier auch von einem ,demonstrativen Begriff‘ sprechen (McDowell 1994, 56 – 60), wenn man ,Begriff‘ in einem weiten Sinn versteht. Ich gehe davon aus, daß Eigenschaften bei Aristoteles erst durch ihre Trger individuiert werden. Vgl. im Hinblick auf das zweite Kapitel der Kategorien Oehler 2006, 220 ff. Vgl. Wieland 1992, 88 Anm. 3. Nach unserer Interpretation kann dagegen das Allgemeine innerhalb der ersten Kategorie (z. B. Speziesbegriffe wie ,Mensch‘, die sich auf den ,akzidentell wahrnehmbaren’ substantiellen Trger einer Qualitt beziehen) nicht durch die Wahrnehmung erfaßt werden. Hierzu Kap. 4.1 – 4.3 Vgl. Charles 2000, 115; Hamlyn 1968, 113. Wenn in dieser Untersuchung im Hinblick auf Aristoteles von einem ,Kausalmodell der Wahrnehmung‘ gesprochen wird, dann ist das streng zu unterscheiden von der Verwendung dieses Terminus bei Grice oder von so etwas wie einer ,kausalen Sinnesdatentheorie‘. Vgl. De an. II 7, 418a31 f. Hierzu Bolton 2005, 218.
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ohne daß mit diesem ein externes aisthetisches eidos verbunden wre, das fr diesen Gehalt kausal verantwortlich ist; es kann keine bloße ,Rotempfindung‘ geben, ohne daß ein ußerer roter Gegenstand vorliegt, der diese Empfindung verursacht. Aristoteles’ Wahrnehmungstheorie, wie sie in De an. II 5 – 12 entfaltet wird, kann daher nicht mit Hilfe des anspruchsvollen Begriffs von Intentionalitt erlutert werden.69 Wenn wir im Folgenden vom ,Gehalt der Wahrnehmung‘ sprechen, dann in dem schon skizzierten weniger anspruchsvollen Sinn, einen kognitiven Zugang zur perzeptuellen Qualitt eines externen Gegenstands zu haben.70 Aus diesem Kausalmodell der Wahrnehmung ergeben sich mindestens zwei problematische Konsequenzen: (1) Da im kausalen Modell ein bestimmter Gehalt immer schon das Vorliegen der entsprechenden externen Ursache voraussetzt – das aisthetische eidos, durch das er festgelegt wird –, scheint es unmçglich zu sein, daß der Gehalt von der externen Ursache abweicht (wie in der qualitativen Tuschung) oder diesem vielleicht gar nichts in der Wirklichkeit entspricht (wie in der existentiellen Tuschung). Wenn nun Aristoteles der Erkenntnis der verschiedenen Klassen von Wahrnehmungsgegenstnden einen bestimmten Grad von Fallibilitt zuspricht (De an. III 3, 428b18 – 25), drngt sich die Frage auf, ob er nicht fr die Erklrung dieses Phnomens sein Kausalmodell modifizieren muß und zu irgendeiner Form von Reprsentationalismus gezwungen ist. (2) Wenn der Gehalt allein durch die externe Bewegungsursache festgelegt wird, im Hinblick auf das Wahrnehmungsvermçgen aber nur Qualitten, also die aisthetischen eidÞ, kausal wirksam sind71, hat das zur Konsequenz, daß der 69 Das stellt zu Recht Caston (1998, 256 f.) heraus. Vgl. auch Rapp 2001, 78 f. 70 Vgl. auch Kahn 1966, 46: „In general, Aristotle thinks of sensation as external and ‘intentional‘, as directed towards an object outside the sentient body itself“ (46). Auch wenn Aristoteles außerhalb von De Anima Phnomene untersucht, die als ,intentional‘ in einem anspruchsvollen Sinn bezeichnet werden kçnnten (wie z. B. das Im-Gedchtnis-Haben als ein Bezug auf Abwesendes: Mem. 450a25-b21), so sollte man das mit Nussbaum und Putnam eher im Sinne einer Familienhnlichkeit verstehen als im Sinne eines intentionalen Realismus, der davon ausgeht, daß es einen gemeinsamen Kern gibt, in dem psychische Phnomene wie Wahrnehmen, Hoffen, Wnschen, Sich-Erinnern bereinkommen: „Aristotle’s account also seems free of the difficulty we have just found in Brentano, namely the tendency to treat all Intentionality as a unitary phenomenon. In Aristotle we find instead a subtle demarcation of numerous species of cognition and desire, and of their interrelationships“ (Nussbaum/Putnam 1992, 51). 71 Im Unterschied zur neuzeitlichen Tradition sind fr Aristoteles die jedem Sinn eigentmlichen Gegenstnde (idia aisthÞta) irreduzibel-real und als solche kausal wirksam (vgl. Broadie 1992).
2.2 Das Kausalmodell und die Fallibilitt der Wahrnehmung
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Wahrnehmungsgehalt auf bloß sensorisch-qualitative Inhalte beschrnkt ist. Entitten außerhalb des Pathetisch-Qualitativen, die ,akzidentell wahrnehmbaren‘ Objekte, wrden dann aufgrund ihrer fehlenden Urschlichkeit nicht in den Gehalt eingehen kçnnen. Daraus ergibt sich das Problem, wie ein solch ,enger‘, nmlich rein sensorisch-qualitativer Gehalt, epistemisch grundlegend sein kann. Es scheint sich eine Kluft zu ergeben zwischen dem, was die Wahrnehmung gemß dem kausalen Modell von De anima wahrnehmen kann, und dem, was sie in Aristoteles’ Wissenstheorie und Wissenspraxis leisten muß. Wir werden uns in den nchsten Abschnitten dieses Kapitels mit dem Problem der Fallibilitt beschftigen. Es wird zu fragen sein, wie Aristoteles die Mçglichkeit von Sinnestuschungen erklrt und ob er hierfr zu irgendeiner Form von Reprsentationalismus gezwungen ist. Auf die Frage nach der Bestimmung des Wahrnehmungsgehalts werden wir in Kap. 3 – 4 eingehen.
2.2 Das Kausalmodell und die Fallibilitt der Wahrnehmung Aristoteles klassifiziert den Akt des Wahrnehmens als ein Bewegtwerden und Erleiden und przisiert diesen als eine bestimmte Art von qualitativer Vernderung (De an. II 5, 416b33 ff.). Aristoteles faßt also das Wahrnehmen als eine Relation zwischen Wahrnehmungsvermçgen und Wahrnehmungsgegenstand auf (pros ti: Cat. 6b2 f.72 ; Met. V 15, 1021a33 ff.); eine Wahrnehmung mit einem bestimmten Gehalt impliziert das Vorliegen des entsprechenden externen Gegenstands. Folgende Punkte sind an dieser AktObjekt-Relation hervorzuheben: (i) Die Relation ist ontologisch asymmetrisch: Auch wenn sprachlich gesehen die Wahrnehmung auf das Wahrnehmbare hin und das Wahrnehmbare auf die Wahrnehmung hin benannt werden (Cat. 7, 6b28 – 36), gilt ontologisch nur eine einseitige Relation: Whrend der Herr nicht ohne den Knecht ist und der Sieger nicht ohne den Besiegten und beide zusammen entstehen und sich auch zusammen wieder aufheben (Cat. 7b15 – 2273), kann das Wahrnehmbare (nicht das Wahrgenommene) auch ohne die Wahrnehmung sein, die Wahrnehmung aber nicht 72 „Es gehçren aber auch Dinge wie diese zu den Relativa: Haltung, Zustand, Wahrnehmung, Wissen, Lage“ (bers. Oehler). 73 „Das Relative scheint von Natur zugleich zu sein; und in den meisten Fllen trifft das zu. Denn zugleich ist das Doppelte und das Halbe, und wenn das Halbe ist, ist das Doppelte, und wenn der Sklave ist, ist der Herr […] Diese Relative heben sich auch wechselweise auf: ist kein Doppeltes, so ist auch kein Halbes“ (7b15 – 20; bers. Oehler).
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2. Weltzugang und Sinnestuschungen
ohne das Wahrnehmbare, und die Wahrnehmung kann das Wahrnehmbare nicht mit aufheben74 : „Denn das Wahrnehmbare scheint frher (pqºteqom) zu sein als die Wahrnehmung: Denn das Wahrnehmbare, aufgehoben, hebt die Wahrnehmung mit auf, die Wahrnehmung aber hebt das Wahrnehmbare nicht mit auf […] Denn wenn Lebewesen aufgehoben wird, wird Wahrnehmung aufgehoben, Wahrnehmbares aber wird sein (aQshgt¹m d³ 5stai), zum Beispiel Kçrper, Warmes, Sßes, Bitteres und alles andere Wahrnehmbare […] aber das Wahrnehmbare existiert schon, bevor Wahrnehmung existiert“ (Cat. 7, 7b36 – 8a9; bers. Oehler).
Dieser Unterschied zwischen sprachlicher und ontologischer Relativitt wird von Aristoteles auch am Ende von Met. IV 5 hervorgehoben, wo er sich damit auseinandersetzt, in welchem Sinn es nichts Wahrnehmbares geben wrde, wenn die wahrnehmungsfhigen Wesen nicht wren: „daß aber das Zugrundeliegende (t± rpoje¸lema), welche die Sinneswahrnehmung hervorbringen (poie? tμm aUshgsim), nicht auch ohne die Sinneswahrnehmung sind, ist unmçglich. Denn nicht ist die Sinneswahrnehmung Wahrnehmung ihrer selbst, sondern es gibt doch etwas anderes neben der Sinneswahrnehmung, was notwendig frher als die Wahrnehmung ist (d !m²cjg pqºteqom eWmai t/r aQsh¶seyr). Denn das Bewegende ist von Natur aus frher als das Bewegte, auch wenn diese aufeinander bezogen ausgesagt werden, ist dies nicht weniger der Fall“ (Met. IV 5, 1010b33 – 1011a2; in Anlehnung an Bonitz).
In De an. III 2, 426a15 – 26 behandelt Aristoteles diese Frage mit Hilfe seines modalen Instrumentariums: Das aktuale Wahrnehmen und das aktuale Wahrgenommene, die zwar extensional dieselbe Wirklichkeit bilden, „dem Sein nach“ oder begrifflich aber verschieden sind, werden zugleich zerstçrt und zugleich erhalten (ûla vhe¸qeshai ja· s¾feshai : 426a15 ff.; vgl. das sumamaiqe?m in Cat. 7). Davon muß aber das Wahrnehmbare unterschieden werden, das nicht dieselbe Wirklichkeit mit dem Akt des Wahrnehmens bildet, also unabhngig von diesem existiert und nicht mit der Wahrnehmung zugleich aufgehoben wird (426a19 – 26). (ii) Diese ontologische Unabhngigkeit des Wahrnehmbaren zeigt sich auch physiologisch darin, daß im Akt der Wahrnehmung nicht nur das Vermçgen bewahrt wird (De an. II 5, 417b3 ff., b18 f.), sondern auch das jeweilige aisthÞton im Zustand des Wahrnehmbarseins bleibt und nicht wie die Nahrung etwas vom Ernh-
74 Das gilt ebenfalls fr das Verhltnis von Wißbaren und Wissen (Cat. 7b23 – 35), worin sich Aristoteles’ erkenntnistheoretischer Realismus zeigt.
2.2 Das Kausalmodell und die Fallibilitt der Wahrnehmung
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rungsvermçgen erleidet und diesem assimiliert wird (II 4, 416a34-b7).75 Anders als bei physischen Kontakten im allgemeinen kommt es in der Wahrnehmung zu keiner reziproken Affektion des Bewegenden.76 Beim Wahrnehmen ist die kausale Relation einseitig; nur der Wahrnehmende wird dem Gegenstand angeglichen (II 5, 418a5 f.). Die aisthÞta bleiben im Wahrgenommenwerden durch einen bestimmten Wahrnehmenden das, was sie sind, und sind dadurch mehreren Betrachtern als dieselben zugnglich.77 Diese besondere Art von Affektion wird durch das Medium garantiert, das den fr jede qualitative Vernderung notwendigen Kontakt diskreter Kçrper (haphÞ: Gen. corr. I 6, 322b22 ff.) herstellt.78 (iii) Die Wahrnehmung ist wesentlich auf einen vorliegenden (hyparchein) oder externen Gegenstand bezogen; ohne einen solchen kann sie nicht stattfinden (De an. II 5, 417a3 – 6). Die Wahrnehmung ist auf den ußeren Gegenstand angewiesen wie das Brennbare auf das Feuer (417a6 ff.). In diesem Punkt unterscheidet sich das Wahrnehmen vom therein (im Sinne der Aktualisierung eines schon erworbenen Wissens): Das, was das Wahrnehmen bewirkt, muß außerhalb vorliegen (t± poigtij± t/r 1meqce¸ar 5nyhem : 417b19 ff.), weshalb die Initiative hier nicht wie im Fall des Betrachtens beim Subjekt selbst liegt (417a27 f., b23 f.: 1p’ aqt`; III 4, 429b7: di’ artoO), sondern beim externen Gegenstand. Es handelt sich um einen rezeptiven Akt, in dem wir nur das wahrnehmen kçnnen, was gerade in der Wirklichkeit vorliegt und sich uns aufdrngt. Allgemein gilt also fr die Wahrnehmung,
75 De an. II 4, 416a34 ff.: „Ferner erleidet die Nahrung etwas vom sich Nhrenden, aber nicht dieser von der Nahrung“. Vgl. auch Gen.corr. I 7, 324b1 f. 76 In diesem Sinn unterscheidet sich das aisthÞton von dem herkçmmlich „auf natrliche Weise Bewegenden“, das auch selbst bewegt wird (ja· t¹ jimoOm vusij_r jimgtºm : Phys. III 1, 201a23 ff.), da es das Bewegte berhrt (III 2, 202a6 – 9; Gen. corr. I 6, 323a12 – 33). 77 Genau das wird innerhalb der „Geheimlehre“ der Herakliteer im Theaitet bestritten. Das aisthÞton ist hier immer zusammen mit einer bestimmten aisthÞsis – beide sind „Zwillinge“ – ein singulres Produkt eines Zusammentreffens von Wirkendem und Leidendem (Tht. 156d3 – 157a2). Dagegen vgl. Met. IV 5, 1010b21 – 24: „Ich meine z. B., es kann zwar derselbe Wein, wenn er selbst oder wenn der Kçrper des Kostenden sich verndert hat, einmal sß und das anderemal nicht sß erscheinen; aber das Sße selbst, so wie es ist, wofern es ist, hat sich nie verndert“ (bers. Bonitz). 78 Vgl. De an. III 12, 434b27 – 435a10; Phys. VII 2, 245a4 – 9. Auf das Medium kann ich hier nicht nher eingehen. Wichtig ist, daß bei Aristoteles das Medium die jeweilige Qualitt nicht auf dieselbe Weise besitzt wie das Wahrnehmungsvermçgen.
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2. Weltzugang und Sinnestuschungen
wenn a fr ein wahrnehmungsfhiges Subjekt und x fr einen wahrnehmbaren Gegenstand steht79 : a nimmt x wahr $ x affiziert a Die gerade skizzierte aisthetische Relation steht im Einklang mit unseren vortheoretischen berzeugungen: Wir fassen das Wahrnehmen als einen passiven Vorgang auf, in dem sich uns etwas von der denkunabhngigen Welt aufdrngt und in uns einen bestimmten Wahrnehmungsgehalt verursacht. Dabei garantiert die Annahme der kausalen Abhngigkeit von wahrnehmungsunabhngig existierenden Gegenstnden die generelle Zuverlssigkeit der Wahrnehmung.80 Liegt dagegen der externe Gegenstand nicht vor oder verursacht dieser externe Gegenstand nicht unsere Wahrnehmung, dann gehen wir intuitiv nicht davon aus, daß wir diesen Gegenstand im eigentlichen Sinn wahrnehmen.81 Dieses Modell hat auch den Vorteil, daß der Bezug zur ,Außenwelt‘ gesichert ist: Die skeptische Frage, ob berhaupt meinem Eindruck z. B. von etwas Rotem ein externer Gegenstand entspricht, der diesen Eindruck verursacht hat und der selbst rot ist, kann in diesem Modell nicht aufkommen. Gegen dieses Kausalmodell der Wahrnehmung lßt sich nun einwenden, daß hier nicht mehr erklrt werden kann, wie Wahrnehmungstuschungen zustande kommen kçnnen: Weder lßt sich erklren, wie ein Gehalt von seiner externen Ursache abweichen kann (wie in qualitativen Tuschungen), noch wie ein Gehalt ganz ohne eine externe Ursache zu-
79 Eine bewußte Wahrnehmung eines ußeren Gegenstands kommt nach Aristoteles erst dann zustande, wenn die sensitiven Bewegungen, die von den einzelnen, peripheren Sinnesorganen ausgehen, das Zentralorgan affizieren, das im Herzen lokalisiert ist (Insomn. 461a30-b1). Zusammen mit diesem ,intentionalen Bewußtsein‘ kommt am Zentralorgan auch das ,reflexive Bewußtsein‘ zustande, das sich auf die Ttigkeit des Wahrnehmens selbst bezieht (De an. III 2, 425b12 – 25; Somn. 455a15 ff.) und eine intrinsische Eigenschaft des Wahrnehmungsakts selbst darstellt (vgl. Kosman 1975; Oehler 1984, 72). 80 Strawson 1988, 103: „we assume […] the general reliability of our perceptual experiences; and that assumption is the same as the assumption of a general causal dependence of our perceptual experiences on the independently existing things we take them to be of.“ 81 Hierzu Snowdon 1988, 198 f. Ein solcher Fall wre das visuelle Erscheinen einer Uhr, die sich vor jemandem befindet, ohne daß dabei diese Uhr die Erscheinung verursachen wrde; die Erscheinung wrde vielmehr durch eine Stimulation seines Gehirns verursacht. Nach der ,kausalen Intuition‘ wird diese Uhr deshalb nicht gesehen, weil nicht sie es ist, die den visuellen Eindruck hervorruft.
2.2 Das Kausalmodell und die Fallibilitt der Wahrnehmung
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standekommen kann (wie in existentiellen Tuschungen).82 Zwar scheint Aristoteles an einigen Stellen so zu sprechen, als ob die Wahrnehmung der jedem Sinn eigentmlichen Qualitten (idia aisthÞta) infallibel ist (De an. II 6, 418a11 f.; III 3, 427b12), als ob es also keine Kluft zwischen Gehalt und Ursache geben kann, aber an einer wichtigen Stelle in De an. III 3 rumt er im Blick auf die anderen beiden Klassen von Wahrnehmungsobjekten auch fr die Wahrnehmung der idia aisthÞta die Mçglichkeit der Tuschung ein: „Die Wahrnehmung der eigentmlichen Gegenstnde ist wahr oder hat den geringstmçglichen Anteil an der Falschheit. An zweiter Stelle kommt aber (die Wahrnehmung), daß dasjenige, was den (eigentmlich) wahrnehmbaren Gegenstnden akzidentell zukommt, (diesen) akzidentell zukommt83 und hier ist es schon mçglich, sich zu tuschen. Denn daß etwas weiß ist, (darber) tuscht sich (die Wahrnehmung) nicht, ob aber das Weiße dies ist oder etwas anderes, darin tuscht sie sich. Das dritte aber ist (die Wahrnehmung) der gemeinsamen Gegenstnde, die den akzidentell zukommenden Gegenstnden folgen, denen die eigentmlich wahrnehmbaren Gegenstnde zukommen (ich meine z. B. Bewegung und Grçße). ber diese kann man sich am meisten tuschen hinsichtlich der Wahrnehmung“ (De an. III 3, 428b18 – 25).
Nun gibt es in der Epistemologie ein einflußreiches Argument, in dem die Mçglichkeit von Sinnestuschungen durch die Einfhrung von Sinnesdaten fr alle Flle des Wahrnehmens erklrt wird: Das Akt-ObjektModell, d. h. die kausale Relation zwischen Gegenstand und Vermçgen, wird hier so modifiziert, daß an die Stelle des externen Gegenstands als des unmittelbaren Objekts der Wahrnehmung ein innerer oder mentaler Gegenstand, ein ,Sinnesdatum‘84, tritt. Dieses Sinnesdatum kann auch ohne einen entsprechenden externen Gegenstand vorliegen, es kann dann also einen bestimmten Gehalt auch beim Fehlen der entsprechenden externen Bewegungsursache geben; man spricht daher auch von einem ,wahrheitsneutralen Erscheinen‘. Dieses in verschiedenen Formen auftretende Argu82 In dieser Untersuchung werde ich stets zwischen einer Wahrnehmungs- oder Sinnestuschung im Sinne eines tuschenden sinnlichen Eindrucks und einem Wahrnehmungsirrtum im Sinne einer fr wahr gehaltenen Wahrnehmungstuschung, also einer falschen Meinung ber das Wahrgenommene, unterscheiden. 83 Ich orientiere mich an dieser Stelle an den gngigen bersetzungen (vgl. Smith [Oxford-bersetzung] 681; Ross 1961, 283; Theiler 1994, 56; Hamlyn 1968, 56), die Bywaters (1888, 58) Umstellung des „$ sulb´bgje to?r aQshgto?r“ von 428b24 nach 428b20 folgen und es in einem inversen Sinn – Substanzen kommen den ,eigentmlich wahrnehmbaren‘ Qualitten akzidentell zu (De an. II 6, 418a20 – 24) – verstehen. Auf diese Passage werde ich in Kap. 4.1 genauer eingehen. 84 Zu einer allgemeinen Charakterisierung von Sinnesdaten vgl. Ryle 1949, 210 ff.
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2. Weltzugang und Sinnestuschungen
ment ist unter der Bezeichnung ,argument from illusion‘ bekannt.85 Wichtige Elemente dieses Arguments sind zwar schon Platon (Tht. 152b2 – 8, 154a3 – 8) und Aristoteles (Met. IV 5, 1009b2 – 9) gelufig, doch setzen sie sich mit diesem Argument nicht insofern auseinander, als es fr einen indirekten oder reprsentationalistischen Zugang zur Wirklichkeit angefhrt wird, sondern als sich aus diesem eine Unentscheidbarkeit 86 zwischen wahrem und falschen Eindruck und somit eine skeptische Konsequenz ergibt: Demnach kann keine Wahrnehmung als eine veridische von einer bloßen Sinnestuschung unterschieden werden, da es kein Kennzeichen (tekmÞrion) gibt, wodurch der Schlafende oder Kranke vom Wachenden oder Gesunden unterschieden werden kann (Tht. 158b8 – c2) und somit die Majoritt keinen Maßstab fr die veridische Wahrnehmung bilden kann (Met. IV 5, 1009b2 - 6); keine Wahrnehmung ist hier ,mehr wahr‘ als eine andere (1009b10). Wir werden auf Aristoteles’ Auseinandersetzung mit diesem Argument im Abschnitt 3.4 genauer eingehen. Im Folgenden soll erst einmal anhand der Rekonstruktion dieses Arguments bei Ayer87 herausgearbeitet werden, wie hier die Mçglichkeit tuschender Eindrcke durch die Einfhrung von Sinnesdaten erklrt wird, und zwar in der Weise, daß ein Sinnesdatum das unmittelbare Objekt jeder Wahrnehmung ist. Es wird dann im nchsten Abschnitt zu fragen sein, ob auch fr Aristoteles ein Reprsentationalismus – sei es im ,internalistischen‘ oder im ,externalistisch-kausalen‘ Sinne88 – angenommen werden muß, um Sinnestuschungen erklren zu kçnnen. Das ,argument from illusion‘ kann folgendermaßen rekonstruiert werden: (a) Die Tatsache der ,conflicting appearances‘. Ein materieller Gegenstand x kann verschiedenen Beobachtern einer Art oder einem Beobachter unter verschiedenen Bedingungen als F und nicht-F89 erscheinen. (Fr eine genaue Explikation dieses Phnomens vgl. Met. IV 5, 1009b2 – 9; Tht. 154a3 – 8.) So erscheint der Turm dem Fernstehenden in einer anderen Grçße und Gestalt als dem Nahestehenden, oder das Ruder erscheint im 85 Wie sich noch zeigen wird, kommt es hier nicht darauf an, daß man sich tuscht, sondern nur darauf, die Mçglichkeit von Erscheinungen zu erklren, die den Gegenstand nicht so prsentieren, wie er wirklich ist. 86 Vgl. die ausfhrliche Studie von Lee 2005, 19 ff., 135 f., 168 – 176. 87 Ayer 1940, 1 – 11. Fr eine alternative Darstellung vgl. Schantz 1990, 18. 88 Nach ersterem ist uns der innere Gegenstand selbst kognitiv zugnglich (etwa als inneres Bild), nach letzterem handelt es sich beim inneren Gegenstand lediglich um eine kausale Grçße, die eine bestimmte Erscheinung produziert. 89 Mit „nicht-F“ ist hier ein kontrres Prdikat in ein und derselben aisthetischen Gattung gemeint.
2.2 Das Kausalmodell und die Fallibilitt der Wahrnehmung
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Wasser gebrochen, außerhalb des Wassers aber gerade. Hier handelt es sich um eine schlichte phnomenologische Tatsache: Die Dinge kçnnen anders erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind, bedingt durch bestimmte innerhalb des Wahrnehmungsapparats (Krankheit, Drogen) oder ußerlich vorliegende Faktoren (Abstnde, Lichtverhltnisse). Wir sind mit dieser Tatsache schon immer vertraut und in unserer Alltagsberzeugung von der direkten Zugnglichkeit der externen Gegenstnde mit ihren intrinsischen Qualitten berhaupt nicht erschttert.90 Wrden wir diesem phnomenologischen Faktum widersprechen, wren wir zu der ußerst unplausiblen Annahme gezwungen, daß ein Gegenstand x, wenn ihm die intrinsische Eigenschaft F zukommt, jedem Beobachter immer und unter allen Umstnden als F erscheinen muß.91 (b) Annahme intrinsischer Eigenschaften. Gemß dem Nichtwiderspruchsprinzip, daß x nicht zugleich und in derselben Hinsicht F und nicht-F sein kann, und der Annahme der Persistenz von x92 nehmen wir an, daß x ber eine intrinsische Qualitt verfgen muß, die sich unter den verschiedenen perzeptuellen Bedingungen nicht ndert (z. B. das Ruder im Wasser bleibt gerade) und somit eine der beiden sich widersprechenden Erscheinungen falsch sein muß, d. h. dem Gegenstand nicht intrinsisch zukommt. (c) Schwache Annahme von Sinnesdaten. Auch im Fall der Sinnestuschung nehmen wir etwas wahr, d. h. diese Erscheinung verfgt ber einen bestimmten phnomenal beschreibbaren Gehalt: x sieht fr jemanden G aus, z. B. das Ruder im Wasser sieht geknickt aus, d. h. das im Wasser eingetauchte Ruder sieht aus wie ein außerhalb des Wassers befindliches Ruder, das wirklich geknickt ist.93 Wie in der Wahrnehmung unter Standardbedingungen scheinen wir auch hier etwas direkt wahrzunehmen. Nun kann es sich aber nicht um den extern vorliegenden physischen Gegenstand handeln. Also muß ein nicht-physisches Objekt angenommen werden, ein Sinnesdatum. Sinnesdaten werden also hier eingefhrt, 90 Vgl. Austin 1962, 26 f.; Schantz 1990, 19. 91 Zu dieser unplausiblen Annahme, deren Implikation die oft gebrauchte und scheinbar plausible Annahme „Wenn x F und nicht-F erscheint, dann kann F dem x nicht intrinsisch sein“ ist, vgl. Austin 1962, 29, 50; vor allem Burnyeat 1979, 74 ff. 92 Diese Annahme impliziert die metaphysische Prmisse, daß es in der Zeit persistierende Gegenstnde mit intrinsischen Eigenschaften gibt, was eine Herakliteische Flußtheorie oder auch der Berkeley’sche Phnomenalismus leugnen wrde. Ersterer zufolge kçnnten die sich widersprechenden Erscheinungen verschiedenen einmaligen physischen Episoden zugeordnet werden, letzterem zufolge werden die verschiedenen Ideen gemß einer regelmßigen Sukzession zu einem ,Gegenstand‘ zusammengefaßt, ohne dabei einen persistierenden Gegenstand in der denkunabhngigen Wirklichkeit anzunehmen. 93 Ryle 1949, 217.
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2. Weltzugang und Sinnestuschungen
um den spezifischen sinnlichen Gehalt einer Sinnestuschung zu erklren; das Sinnesdatum gibt eine Antwort auf die Frage, was dasjenige ist, was wir direkt wahrnehmen, wenn es sich nicht um einen Teil einer materiellen Gegenstands, sondern um eine Illusion handelt.94 Damit ist aber noch nicht gezeigt, daß wir niemals materielle Gegenstnde und immer nur Sinnesdaten wahrnehmen.95 Die entscheidenden Argumente fr diese reprsentationalistische These folgen in einem zweiten Teil des Arguments: (d) Argumente fr die Annahme, daß wir immer nur Sinnesdaten annehmen. (i) Das wichtigste Argument ist hier das Argument der phnomenalen Ununterscheidbarkeit: Es gibt keinen phnomenal-qualitativen, d. h. im Erscheinen selbst gegebenen Unterschied zwischen veridischer Wahrnehmung und Sinnestuschung; beide sind voneinander phnomenal ununterscheidbar. Unabhngig von anderen berzeugungen (z. B. daß ich krank bin, die Abstnde nicht stimmen oder gerade Gegenstnde im Wasser geknickt erscheinen) lßt sich aufgrund des phnomenalen Gehalts allein nicht feststellen, ob dieser von einem materiellen Gegenstand herrhrt oder eine bloße Illusion ist. Aus dieser qualitativen Identitt von wahrer und falscher Erscheinung wird dann auf die ontologische Identitt, also auf einen ,inneren Gegenstand‘ geschlossen; der phnomenal ununterscheidbare Gehalt wird durch eine gemeinsame reprsentationale Entitt erklrt. Diese reprsentationale Entitten bestehen unabhngig davon, ob der externe Gegenstand vorliegt oder nicht. Veridische Wahrnehmung und Sinnestuschung kommen damit in einer gemeinsamen Reprsentation im Sinne eines ,hçchsten gemeinsamen Faktors‘96 berein, der ein ,wahrheitsneutrales Erscheinen‘ verursacht. (ii) Ein weiteres Argument, das besonders aus kognitionswissenschaftlicher 94 Ayer 1940, 4: „By using it they are able to give what seems to them a satisfactory answer to the question: What is the object of which we are directly aware, in perception, if it is not part of any material thing?“ 95 Vgl. Austin 1962, 20: „The primary purpose of the argument from illusion is to induce people to accept ,sense-data‘ as the proper and correct answer to the question what they perceive on certain abnormal, exceptional occasions; but in fact it is usually followed up with another bit of argument intended to establish that they always perceive sense-data.“ 96 McDowell 1998, 386: „the argument is that since there can be deceptive cases experientially indistinguishable from non-deceptive cases, one’s experiential intake – what one embraces within the scope of one’s consciousness – must be the same in both kinds of case. In a deceptive case, one’s experiential intake must ex hypothesi fall short of the fact itself, in the sense of being consistent with there being no such fact. So that must be true, according to the argument, in a non-deceptive case too […] we have to conceive the basis as a highest common factor of what is available to experience in the deceptive and the non-deceptive cases alike“.
2.2 Das Kausalmodell und die Fallibilitt der Wahrnehmung
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Sicht attraktiv ist, rekurriert auf bestimmte, innerhalb des Wahrnehmungssystems vorliegende Bedingungen: Whrend es im Fall von Halluzinationen offensichtlich ist, daß diese von pathologischen Bedingungen beeinflußt sind, tendieren wir dazu, solche Bedingungen bei Wahrnehmungen unter Standardbedingungen zu bersehen: Hier meinen wir, wie durch ein Fenster auf die ußere Welt zu blicken. Doch auch hier muß es bestimmte kausale Faktoren geben97, zu denen wir aber keinen Zugang haben. Daher mssen wir annehmen, daß der perzeptuelle Gehalt nur durch das letzte Glied eines komplexen kognitiven Verarbeitungsprozesses und nicht durch den externen Gegenstand selbst hervorgebracht wird.98 Das ,argument from illusion‘ beruht auf folgenden Annahmen.99 (i) Annahme der phnomenalen Ununterscheidbarkeit: Es gibt keine qualitative Differenz zwischen Sinnestuschung und veridischer Wahrnehmung; das im Wasser gebrochen erscheinende Ruder ist phnomenal ununterscheidbar von dem in Wirklichkeit gebrochen erscheinenden Ruder. Dieser Annahme setzt Austin die gegenteilige Annahme gegenber: Auch wenn wir Sinnestuschungen kontrafaktisch mit den gleichen Termini beschreiben, mit denen wir auch die veridische Wahrnehmung beschreiben, drfe daraus nicht geschlossen werden, daß das, was beschrieben wird, in beiden Fllen dasselbe ist; es gibt hier durchaus unterscheidende Merkmale.100 (ii) Diese phnomenale Ununterscheidbarkeit wird als notwendige Bedingung fr die Mçglichkeit des Irrtums angesehen: kein Wahrnehmungsirrtum ohne phnomenale Ununterscheidbarkeit. Dagegen wendet Austin zu Recht ein, daß auch mangelnde Aufmerksamkeit oder eine nicht hinreichende Un97 Das findet sich schon bei den Kyrenaikern angedeutet: „Denn weil von demselben Gegenstand die einen gelblich erleiden, die anderen aber dunkelrot und wieder andere weiß, so ist es wahrscheinlich, daß auch die, die in einem Zustand gemß der Natur sich befinden, entlang der unterschiedlichen Einrichtung der Sinnesvermçgen nicht auf dieselbe Weise von denselben Gegenstnden bewegt werden“ (¢r c±q !p¹ toO aqtoO oR l³m ¡wqamtij_r oR d³ voimijtij_r oR d³ keujamtij_r p²swousim, ovtyr eQjºr 1sti ja· to»r jat± v¼sim diajeil´mour paq± tμm di²voqom t_m aQsh¶seym jatasjeuμm lμ ¢sa¼tyr !p¹ t_m aqt_m jime?shai ; Adv. Math. VII 198).
98 Vgl. auch Frege, Der Gedanke, 71: „Eigentlich ist doch diese Reizung des Sehnerven nicht unmittelbar gegeben, sondern nur Annahme. Wir glauben, daß ein von uns unabhngiges Ding einen Nerv reize und dadurch einen Sinneseindruck bewirke; aber genau genommen erleben wir nur das Ende dieses Vorganges, das in unser Bewußtsein hereinragt. Kçnnte nicht dieser Sinneseindruck, diese Empfindung, die wir auf einen Nervenreiz zurckfhren, auch andere Ursachen haben, wie ja auch derselbe Nervenreiz in verschiedener Weise entstehen kann?“ 99 Fr das Folgende vgl. Austin 1962, Kap. 5. 100 Austin 1962, 49.
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2. Weltzugang und Sinnestuschungen
tersuchung des Gegenstands zu einer Tuschung fhren kann.101 (iii) Aus der notwendig vorausgesetzten qualitativen Identitt wird auf eine ontologische Identitt geschlossen, d. h. auf ein Sinnesdatum oder einen ,highest common factor‘ (McDowell), dessen Existenz sowohl mit dem Vorliegen des entsprechenden externen Gegenstands als auch mit seinem Fehlen vereinbar ist. In seiner Umkehrung besagt dieses Prinzip, daß eine ontologische Differenz auch eine qualitative Differenz verlangt: Wenn zwei Dinge sich ihrer Natur nach unterscheiden, kçnnten sie demnach nicht als phnomenal identisch erscheinen, was Austin bezweifelt.102 Auf der Grundlage dieser drei Annahmen besteht ein notwendiger Zusammenhang zwischen der Mçglichkeit von Sinnestuschungen und dem Reprsentationalismus: Wenn wir uns tuschen kçnnen mssen, d. h. wenn das unbestreitbare Faktum tuschender Eindrcke mçglich sein soll, dies aber eine phnomenale Ununterscheidbarkeit voraussetzt und diese wiederum eine ontologische Identitt, d. h. einen ,highest common factor‘ impliziert, dann sind wir zu einem Reprsentationalismus gezwungen. Im folgenden Abschnitt wird im Hinblick auf Aristoteles zu fragen sein, ob auch er zur Erklrung der Mçglichkeit von Sinnestuschungen zu einer bestimmten Form des Reprsentationalismus gezwungen ist, wie einige Interpreten annehmen. Das wrde bedeuten, daß das in De anima entfaltete Kausalmodell der Wahrnehmung modifiziert werden mßte: Unmittelbar wahrgenommen wrde dann nicht mehr der externe Gegenstand, sondern ein ,inneres Objekt‘, das vom Vorliegen der externen Bewegungsursache in einem bestimmten Sinn unabhngig wre. Daß Aristoteles die Fallibilitt der Wahrnehmung – auch die der idia aisthÞta – anerkennt, wurde schon oben belegt (De an. III 3, 428b18 f.). Generell kritisiert er seine Vorgnger dafr, daß in ihren Wahrnehmungstheorien Irrtum unmçglich wird und diese der fundamentalen Tatsache des Irrtums, die zur conditio humana gehçrt, nicht Rechnung tragen kçnnen: „Und doch htten diese zugleich auch ber den Irrtum sprechen mssen, denn er ist den Lebewesen eigentmlicher und die Seele verbringt eine lngere Zeit in diesem Zustand“ (De an. III 3, 427a29b2).
101 Austin 1962, 51 f. 102 Austin 1962, 50: „If I am told that a lemon is generically different from a piece of soap, do I ,expect‘ that no piece of soap could look just like a lemon? Why should I?“ Hierzu ausfhrlich Burnyeat 1979.
2.3 Reprsentationalismus oder Direkter Realismus?
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2.3 Reprsentationalismus oder Direkter Realismus? Um die Frage zu beantworten, ob Aristoteles zur Erklrung der Mçglichkeit von Sinnestuschungen zu einer bestimmten Form von Reprsentationalismus gezwungen ist, wird im Folgenden die reprsentationalistische Interpretation von Victor Caston vorgestellt und einer Kritik unterzogen. Anhand einer genaueren Analyse von Sinnestuschungen soll gezeigt werden, daß Aristoteles’ Position eher als ein Direkter Realismus charakterisiert werden sollte.103 Caston geht von einem Problem aus, das sich fr die Wahrnehmung in folgender Weise stellt104 : (1) Wahrnehmen besteht in einer Relation zwischen Vermçgen und einem Gegenstand. (2) Es kann keine Relation geben, wenn nicht jedes der beiden Relata existiert. (3) Manchmal nimmt man etwas wahr, das nicht existiert. Das Problem wird generell bezeichnet als Problem der Mçglichkeit des Denkens dessen, was nicht ist (t¹ lμ em).105 Hier werden verschiedene intentionale Zustnde, wie z. B. das Hoffen auf Zuknftiges, das Erinnern von Vergangenem, das Frchten von Nicht-Existentem oder das Erscheinen einer Halluzination angefhrt. Sollen solche intentionalen Zustnde mçglich sein – es ist ja nicht zu bestreiten, daß man hier ,etwas‘ sieht oder ,etwas‘ denkt – und die Objekt-Relation beibehalten werden (anders als in den Adverbialtheorien), dann mssen besondere Gegenstnde als Objekte eingefhrt werden, an die man denkt oder die man wahrnimmt, also Sinnesdaten bzw. kausale Zwischen-Entitten, die den jeweiligen Gehalt anstelle des ußeren Gegenstands hervorbringen. Genau dieses ,Problem der Intentionalitt‘ diagnostiziert Caston auch fr Aristoteles: Nach Caston war sich Aristoteles dieses Problems bewußt und er entwarf dafr eine systematisch attraktive Lçsung; er konzipierte eine ,generelle Theorie der Intentionalitt‘106, die alle Flle der Bezugnahme auf Nicht-Existentes, Abwesendes etc. erklren kann und als eine kausale Theorie der Reprsentation verstanden werden muß. Aristoteles kritisiert an den Erkenntnistheorien seiner Vorgnger, daß sie den Irrtum nicht erklren kçnnen; sie sind zu der protagoreischen These 103 Gegen einen Reprsentationalismus bei Aristoteles wenden sich Welsch (1987, 93, 186 f., 195), Vasiliou (1996, 128 – 131), Putnam (2000), Bolton (2005, 218). 104 In Anlehnung an Caston 1998, 253. 105 Caston 1998, 253. 106 Caston 1998, 254 ff.
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gezwungen, daß alles Erscheinende wahr sei (De an. III 3, 427b3; Met. IV 5, 1009b14 f.). Sie gleichen das Denken dem Wahrnehmen an und konzipieren das Wahrnehmen als einen physischen Prozeß, in dem ein bestimmter Gehalt immer schon das Vorliegen des entsprechenden externen Gegenstands voraussetzt (Met. IV 5, 1009b13; De an. III 3, 427a26 f.). Aber auch in Aristoteles’ eigener Wahrnehmungstheorie, wie er sie in De an. II 5-III 2 im Sinne eines kausalen Modells entfaltet, sind Tuschungen unmçglich.107 Nach Caston reagiert Aristoteles auf diesen Mangel mit der Einfhrung der phantasia in De an. III 3, die fr Caston ein tragfhiges Modell fr die Intentionalitt mentaler Zustnde im ganzen darstellt.108 Aristoteles definiert die phantasia als „eine durch die aktuale Wahrnehmung entstehende Bewegung“ (429a1 f.).109 Als ein solches kausales ,Echo‘110 bleibt sie auch nach dem Verschwinden der ußeren Ursache im Wahrnehmenden zurck und ist der ursprnglichen Wahrnehmung in einer bestimmten Hinsicht hnlich (blo¸am !m²cjg eWmai t0 aQsh¶sei : 428b14); ihr Gehalt ist auf (mçgliche) Objekte der Wahrnehmung beschrnkt (¨m aUshgsir 5stim : b12 f.).111 Weil sie den ursprnglichen Wahrnehmungseffekt konserviert, kann das Lebewesen gemß dieser Bewegung kognitive Ttigkeiten vollbringen, die einen Gehalt erfordern, der vom Vorliegen wahrnehmbarer Gegenstnde unabhngig ist (z. B. Gedchtnis, prospektives Denken in der praktischen berlegung; aber auch Trume, Sinnestuschungen). Entscheidend ist, daß der phantasia keine spezifischen Gegenstnde zugehçrig sind wie etwa dem Wahrnehmungs- oder Denkvermçgen, die durch ihre Gegenstnde identifiziert und bestimmt werden (De an. II 4, 415a16 – 22). Vielmehr sind die Gehalte der phantasia durch den ursprnglichen perzeptuellen Input bestimmt, den jene konserviert. Dies hat viele Interpreten zu der berechtigten Annahme veranlaßt, daß es sich bei der phantasia nicht um ein genuines seelisches Vermçgen handelt, sondern bloß um eine Fhigkeit, Wahrneh107 Caston 1996, 21, 39. 108 Caston 1998, 270 f.: „if he has only this simple causal model to work with, he will face the same dilemma as his predecessors. Unless content can diverge from cause, error will be impossible. Aristotle’s reaction in On the Soul 3.3 is significant. Having posed the problem of error, he immediately turns to argue for a distinct, new process he calls ‘phantasia’, which he will later use to explain the content of all remaining mental states. He recognizes, in effect, that his own theory of sensation and conception cannot form the basis for a general theory of Intentionality. To solve the problem of error, a new process must be found that cannot be reduced to the others.“ 109 Fr eine genaue Analyse des gesamten Textabschnitts vgl. Wedin 1988, 24 – 30. 110 Caston 1998, 272. 111 Vgl. Wedin 1988, 26: „The genitive ‘¨m’ restricts vamtas¸a to objects, that are or, possible, can be objects of perception.“
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mungseffekte zu speichern. Als ein passives Reservoir von Wahrnehmungsresten stellt die phantasia anderen Vermçgen reprsentationale Hilfsmittel zur Verfgung und unterliegt somit einem fremden Zugriff; sie kann sich gegenber ihren eigenen Inhalten nicht aktiv verhalten.112 Wenn Aristoteles die phantasia als eine gespeicherte, auf eine aktuale Wahrnehmung zurckgehende Bewegung definiert, spricht das auch dafr, daß es sich bei dem phantasma, das durch die phantasia entsteht (428a1 f.), nicht um ein direkt beobachtbares mentales Abbild oder eine Kopie der ursprnglichen Wahrnehmung handelt, sondern um einen physiologischen Zustand, durch den im Lebewesen ein bestimmter reprsentationaler Gehalt hervorgebracht wird.113 Die hnlichkeit, die zwischen phantasma und ursprnglicher Wahrnehmung besteht (428b14), ist dann in erster Linie eine hnlichkeit hinsichtlich der kausalen Krfte114, auf deren Grundlage das phantasma am Zentralsensorium115 einen Gehalt hervorbringen kann, welcher dann der ursprnglichen Wahrnehmung auch in einem phnomenalen Sinn hnlich ist. Ein phantasma reprsentiert einen ursprnglich wahrgenommenen Gegenstand also nicht dadurch, daß es ihn in einem literalen Sinn abbildet, sondern weil es ber den gleichen Typ von kausaler Kraft wie der ursprngliche Wahrnehmungseffekt verfgt. Das phantasma ,erbt‘ die kausale Kraft der ursprnglichen Wahrnehmung und kann somit außerhalb einer aktualen Wahrnehmung einen phnomenal gleichen Gehalt am Zentralsensorium hervorbringen. Daher bezeichnet Caston seine Interpretation als eine kausale Theorie der Reprsentation. Auf diese Weise wird der sinnliche Gehalt unabhngig vom externen Gegenstand, denn er kann 112 Das hat Wedin (1988) in aller Deutlichkeit gezeigt: „imagination is not a faculty in its own right but rather subserves the operation of full-fledged faculties in the sense that images [vamt²slata] are required as the means by which such a faculty is able to represent its object in complete intentional acts“ (xi). Vgl. auch D. Frede 1992, 281; Corcilius 2008, 211 – 215. 113 Caston 1998, 283: „Thus phantasmata are not tiny pictures that look like objects in the world or require interpretation. They are changes in the perceptual system which represent in virtue of their causal powers. Phantasmata can correctly be described as ‘imagistic’ or ‘pictorial’, therefore, only in the sense that they are capable of producing quasi-perceptual experiences, experiences which are phenomenally similar to perceptual experiences.“ 114 Caston 1998, 274: „A phantasma will thus have similar causal powers to the stimulation from which it derives, including the ability to produce an experience phenomenally like a sensation.“ 115 Nach Aristoteles kommt eine bewußte Wahrnehmung dann zustande, wenn die sensitiven Bewegungen, die von den ußeren Sensorien herkommen, das Zentralsensorium affizieren (vgl. Insomn. 461a30-b1).
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jetzt auch durch eine gespeicherte sinnliche Bewegung hervorgebracht werden, wie z. B. im Gedchtnis oder im Traum. Das eingelagerte phantasma kann außerdem durch pathologische Faktoren (Fieber, Trunkenheit, Drogen) so verndert werden, daß es sich von seiner kausalen Vorgeschichte verselbstndigt und am Zentralsinn einen Gehalt hervorbringt, der nicht mehr seiner ursprnglichen Ursache gleicht, sondern einer anderen mçglichen Wahrnehmung116 : Das Zentralsensorium wird dann gleichsam wie von einem wahrnehmbaren Gegenstand affiziert (Insomn. 460b25). Die phantasia ist nach Caston in jedem perzeptuellen Irrtum involviert.117 Damit ist die Mçglichkeit von Sinnestuschungen sichergestellt: Das phantasma kann eine Erscheinung hervorbringen, die phnomenal ununterscheidbar ist von der veridischen Wahrnehmung, ohne daß dafr der entsprechende Gegenstand wirklich vorliegen muß. Ob die Erscheinung dann von einem wirklichen Gegenstand oder einer pathologischen Ursache herrhrt, kann allein aus der phnomenalen Qualitt nicht entschieden werden, sondern nur durch kollaterale Informationen.118 Die phnomenale Gleichheit zwischen Wahrnehmung und Illusion beruht auf demselben Typ von Bewegung, die am Zentralsensorium ankommt.119 Dieser Typ von Bewegung ist Wahrnehmung und Illusion gemeinsam. Damit sind wir in einem Reprsentationalismus, also einer ,highest-common-factor‘-Konzeption: „Aristotle, that is, rejects disjunctivism.“120 Der sinnliche Gehalt wird in Castons Interpretation durch das physiologische Endprodukt einer Kausalkette festgelegt, die entweder auf den externen Gegenstand ohne zustzliche Vernderung oder auf ein phantasma zurckgeht. Abgesehen von der Frage, ob es berhaupt sinnvoll ist, bei Aristoteles nach einer generellen Theorie von Intentionalitt zu suchen, kçnnen gegen diese elaborierte Interpretation zwei Einwnde vorgebracht werden: zum einen die fehlende Differenzierung verschiedener Arten von Sinnestu116 Caston 1998, 275. 117 Caston 1998, 272: „In general, Aristotle thinks that phantasia is involved in every perceptual error, including those cases where we make a mistake about proper sensibles.“ 118 Caston 1998, 273, 277: „For if we undergo the same sorts of changes that we undergo in perception, it will seem to us as though we are genuinely perceiving […] such experiences will be indistinguishable phenomenologically from sensations and so easily mistaken for them […] Their difference lies in their aetiologies, not something that need be manifest perceptually within the experience itself; if we can detect the difference, it will be through collateral information.“ 119 Caston 1998, 277. 120 Caston 1998, 277.
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schung bei Aristoteles, zum anderen die zu starke Rolle der phantasia, die nach Caston in jeder sinnlichen Tuschung involviert ist. Ganz allgemein kçnnen wir zwischen qualitativen Tuschungen (der externe Gegenstand erscheint anders als er ist, d. h. in einer anderen Beschaffenheit) und existentiellen Tuschungen (z. B. Halluzinationen) unterscheiden.121 Die meisten unserer sinnlichen Tuschungen sind lediglich qualitativ, was bedeutet, daß ein externer Gegenstand vorliegt, der aber in einer Beschaffenheit erscheint, die ihm in Wirklichkeit nicht zukommt. Von daher muß die disjunctio completa ,entweder man nimmt den Gegenstand wahr oder ein bloß immaterielles Objekt‘ aufgegeben werden: Wenn ich mich tusche, folgt daraus nicht notwendig, daß ich berhaupt keinen externen Gegenstand wahrnehme.122 Insofern lassen sich Sinnestuschungen nicht einfach unter die ,Bezugnahme auf Nicht-Existentes‘ subsumieren. Es ist die einseitige Orientierung an diesen wenigen Fllen von existentiellen Tuschungen oder ,delusions‘, die die Einfhrung von Sinnesdaten oder reprsentationalen Entitten am meisten motiviert.123 Wenden wir uns nun auf dieser Grundlage der Beschreibung von Sinnestuschungen bei Aristoteles zu und fragen wir uns, ob in allen Fllen die phantasia im oben skizzierten technischen Sinn124 involviert ist. Auch bei Aristoteles findet sich die Unterscheidung zwischen qualitativen und existentiellen Sinnestuschungen: „Dann gebraucht man falsch von solchem, was zwar etwas ist, aber aufgrund seiner Natur entweder nicht so erscheint, wie es beschaffen ist, oder als das, was nicht existiert (t± d³ fsa 5sti l³m emta, p´vuje l´mtoi va¸meshai C lμ oX² 1stim C $ lμ 5stim), wie z. B. das Schattenbild (sjiacqav¸a) und die Trume: Denn diese sind zwar etwas, aber nicht das, dessen Vorstellung sie hervorbringen“ (Met. V 29, 1024b21 – 24).125 121 Austin spricht hier von ‘illusions’ im Unterschied zu ‘delusions’, vgl. Austin 1962, 23. 122 Vgl. Austin 1962, 8 f. 123 Vgl. Austin 1962, 25. 124 Von der phantasia im technischen Sinn, wie sie ab De an. III 3, 428b10 behandelt wird, ist der „metaphorische Sinn“ zu unterscheiden, von dem Aristoteles in 428a2 spricht und der bloß das sinnliche ,Erscheinen‘ (phainesthai) meint. 125 Vgl. Ross’ bersetzung (Oxford-bersetzung, 1618): „There are things which exist, but whose nature it is to appear either not to be such as they are or to be things that do not exist, e. g. a sketch or a dream; for these are something, but are not the things the appearance of which they produce in us.“ Hierzu Ross’ Kommentar (1924, 345): „it answers to the distinction between illusion and hallucination. A picture in two dimensions seems to be an object in three, but at any rate it is a physical reality; the dream, which seems a physical reality, is not one at all.“
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Diese Unterscheidung lßt sich in der folgenden Weise genauer ausfhren: Unter den qualitativen Tuschungen gibt es zum einen solche, die aufgrund fehlender ußerer Standardbedingungen zustande kommen (z. B. falsche Abstnde, schlechte Lichtverhltnisse): So spricht Aristoteles in Met. IV 5, 1010b4 ff. vom Einfluß der Entfernung auf die Wahrnehmung von Grçßen und Farben. Hier kann man an die unterschiedlichen Erscheinungen der Grçße der Sonne denken (De an. III 3, 428b2 f., Insomn. 458b29, 460b18 f.) wie auch an das ,Schattenbild‘ (sjiacqav¸a): Das Schattenbild ist schon bei Platon ein Standardbeispiel fr eine qualitative Tuschung (vgl. Rep. VII 523b6, X 602d3, Tht. 208e8). Hier handelt es sich um Bilder, die nur aus der Ferne den Eindruck von Stabilitt und Einheitlichkeit hervorrufen, bei Annherung aber zunehmend verschwimmen.126 Alle diese Dinge erscheinen beim Fehlen ußerer Standardbedingungen anders, als sie wirklich sind. Ein Fall, wie unter diesen ußeren Bedingungen Wahrnehmungstuschungen, die Farben (also idia aisthÞta) zum Inhalt haben, zustande kommen kçnnen, wird in De Sensu erwhnt: Bei zu großen Abstnden kann es vorkommen, daß zwei nebeneinander liegende Farben wie eine vermischte erscheinen (Sens. 440a29 f.). Wir meinen dann etwa, einen orangenen Farbton zu sehen, doch in grçßerer Nhe stellen wir fest, daß es sich um zwei verschiedene Farben, gelb und rot, handelt. In all diesen Fllen wird die Weise, wie der Gegenstand dem Wahrnehmenden erscheint, durch ußere Faktoren verndert; die phantasia im engen Sinn ist hier nicht involviert. Aristoteles verwendet zwar den Terminus phainesthai; dieser bezeichnet aber in einem weiten Sinn das bloße sinnliche Erscheinen (Sens. 440a29, b17) und nicht die Beteiligung eines gespeicherten Wahrnehmungseffekts. Hçchstens der Einfluß einer ,sinnlichen Ergnzung‘ einer unklaren Wahrnehmung ist denkbar (De an. III 3, 428b28 ff.).127 Aristoteles kennt aber auch qualitative Tuschungen, die aufgrund von Faktoren entstehen, die innerhalb des Wahrnehmungssystems vorliegen. Hier gibt es zum einen solche aufgrund von sinnlichen Nachwirkungen (Insomn. 459b9 – 23): Blickt man lange auf eine Farbe und wendet sich dann einer anderen zu, erscheint diese andere Farbe anders, als sie eigentlich ist; wendet man sich von Flssen zu ruhenden Gegenstnden, erscheint das Ruhende fließend. Hier ist nun aber keine gespeicherte kausale Kraft beteiligt, sondern der Effekt der frheren Wahrnehmung hlt noch an und beeinflußt 126 In Protr. B 104 gebraucht Aristoteles die Tuschung des Schattenbilds in Bezug auf die scheinbar großen Gter des menschlichen Lebens, die wegen der Schwche unseres Erkennens flschlicherweise fr groß gehalten werden. 127 Hierzu D. Frede 1992, 286; auch Rapp 2001, 93.
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die aktuale Wahrnehmung. Daher kann hier von einer Beteiligung der phantasia im eigentlichen Sinn nicht gesprochen werden. Erst wenn die Wahrnehmungseffekte nach der abgeschlossenen Wahrnehmung abgespeichert sind und dann zu einem spteren Zeitpunkt durch ein genuines seelisches Vermçgen abgerufen werden, liegt ein Fall von phantasma im strengen Sinn vor (Insomn. 459a17 f.). Das wird in De an. III 8, 432a9 f. deutlich, wo Aristoteles sagt, die phantasmata seien wie die aisthÞmata „bloß ohne die Materie“, d. h. bei den phantasmata liegt kein Bezug mehr zum ußeren, bewegenden Gegenstand vor, wie es bei den Wahrnehmungseffekten (aisthÞmata) der Fall ist. Aristoteles spricht auch von Tuschungen, die aufgrund pathologischer Zustnde entstehen, also in Krankheit, Trunkenheit, Wahn oder Emotionen.128 Ist hier die phantasia im engen Sinn involviert? Aristoteles beschreibt Sinnestuschungen aufgrund pathologischer Zustnde in Insomn. 460b1 – 16129 : „Im Hinblick auf unsere anfngliche Untersuchung muß eines als Ausgangspunkt gelten, was aus dem Gesagten hervorgeht, nmlich daß, auch wenn das von außen her stammende Wahrnehmungsobjekt verschwunden ist, die Wahrnehmungseffekte, die als solche wahrnehmbar sind, zurckbleiben, und außerdem (pq¹r d³ to¼toir), daß wir uns bezglich unserer Wahrnehmungen leicht tuschen, wenn wir in Zustnden von Erregung sind, der eine im einen, der andere im anderen, z. B. der Feige in Furcht, der Schnellverliebte, wenn er sich verliebt hat, so daß aufgrund einer kleinen hnlichkeit (!p¹ lijq÷r bloiºtgtor) der eine seine Feinde, der andere seinen Geliebten zu sehen meint (doje?m bq÷m); und je strker man unter dem Einfluß der Erregung steht, desto geringer ist die hnlichkeit, aufgrund derer sich diese Erscheinungen zeigen (va¸metai) kçnnen. In derselben Weise werden auch in Zustnden des Zorns und 128 Met. IV 5, 1010b6 f.; De an. II 10, 422b8 f.; Insomn. 461a23 f.; Probl. III 9 – 10; Probl. XXX, 14, 957a28 ff.; EN X 5, 1176a13 f. 129 Auf den ersten Blick behandelt De Insomniis gemß dem allgemeinen Programm der Parva Naturalia (Sens. 436a16 f., Somn. 453b17 ff.) die Fragen, was der Traum ist, welchem Seelenteil er zukommt und durch welche Ursache er entsteht. Es scheint jedoch mit der Untersuchung des Traums eine zweite Untersuchung verbunden zu sein, die sich mit Wahrnehmungstuschungen und Wahrnehmungsmeinungen beschftigt (z. B. 458b10 – 13, b25 – 33). Vgl. Van der Eijk 1994, 75: Vor allem Insomn. 2 bietet „wichtige Informationen zu Aspekten der aristotelischen Sinneslehre, die in An. und den brigen PN kaum erçrtert werden“, ohne allerdings eigenstndig zu sein. Beide Abhandlungen erhellen sich vielmehr gegenseitig. Dies zeigt sich an vielen Stellen: „ebenso (blo¸yr) (wie im Wachzustand) meinen wir zu sehen…“ (458b14); „neben dem Traum etwas in Gedanken…ebenso (jah²peq) im Wachen“ (458b15 f.) und „Gedanken ber Wahrnehmung…so (ovty) auch im Schlaf“ (b16 f.); 459a6 f.; „wie…so (¦speq-ovty) auch im Schlaf“ (461b30 – 462a2); 461a31; 461b24 ff.
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aller Begierden alle Menschen leicht tuschbar, und zwar um so strker, je strker sie unter dem Einfluß dieser Erregungen stehen. Daher auch erscheinen (va¸metai) Fiebernden manchmal Tiere an den Wnden, weil sie die Linien aufgrund einer kleinen hnlichkeit kombinieren“ (Insomn. 460b1 – 13; bers. Van der Eijk).
Dem in diesen Zustnden Befindlichen erscheint es so, als ob es sich um eine wirkliche Wahrnehmung (einen wirklichen Feind, den wirklichen Geliebten, wirkliche Tiere) handelt „aufgrund einer kleinen hnlichkeit“ (!p¹ lijq÷r bloiºtgtor : 460b6, b12; 461b10). Je grçßer der pathologische Zustand ist, desto geringer muß die in der Realitt vorliegende hnlichkeit des die jeweilige Erscheinung hervorrufenden Gegenstands (ein bestimmter Mensch oder Linien an der Wand) mit dem erscheinenden Gegenstand (dem Feind oder den Tieren, wahrscheinlich Schlangen) sein, um die jeweilige tuschende Erscheinung hervorzurufen (b8). Entscheidend ist, daß in diesen Fllen stets ein externer Gegenstand eine bestimmte tuschende Erscheinung in uns hervorruft.130 Selbst der Fall des Fiebernden, dem Schlangen an der Wand erscheinen (b12 f.), und der leicht als eine Halluzination, also als existentielle Tuschung oder,delusion‘aufgefaßt werden kçnnte, setzt einen ußeren wahrgenommenen Gegenstand voraus131, nmlich die Linien an der Wand, die fr den Fiebernden in einer bestimmten Weise zusammenlaufen. Diese Involvierung eines externen Gegenstands zeigt sich auch an Aristoteles’ allgemeiner Erklrung des Wahrnehmungsirrtums: „Denn das Sichversehen und das Sichverhçren geschieht erst, wenn man etwas Wirkliches (!kgh´r ti)132 sieht oder hçrt, nicht aber das, was man (zu sehen oder zu hçren) meint (oUetai)“ (Insomn. 458b31 ff.; bers. Van der Eijk mit nderungen). Es ist fraglich, wie in den Beispielen von Insomn. 460b1 – 13 zustzlich zur aktualen Wahrnehmung noch die phantasia beteiligt sein soll133, wenn fr Aristoteles die phantasia im engen Sinn eine erfolgte oder abgeschlossene Wahrnehmung voraussetzt (De an. III 3, 428b13, 429a1 f.;
130 Mit Van der Eijk (1994, 195) verstehe ich das pq¹r d³ to¼toir in 460b3 so, daß hier ein neuer Punkt beginnt, so daß die in 460a32-b3 beschriebenen gespeicherten Wahrnehmungen nicht auch fr das Folgende vorausgesetzt werden mssen. 131 Vgl. Probl. III 10, 872b4, III, 30, 875b9 f.: „Warum erscheint den Betrunkenen manchmal ein Objekt vervielfacht, obwohl sie doch nur das eine sehen?“ (bers. Flashar). 132 Auch in Insomn. 461b22 f., b29 verwendet Aristoteles t¹ !kgh´r fr den externen Gegenstand. 133 Gegen Caston 1998, 272 Anm. 56: „More generally, he treats standard sceptical cases of perceptual error by reference to phantasia“.
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Insomn. 459a17 f.).134 Wie auch immer man die Mçglichkeit beurteilt, daß die aktuale Wahrnehmung durch eine synchrone phantasia in ihrem Gehalt beeinflußt wird: Der tuschende Eindruck wird nicht durch ein eingelagertes und durch physiologische Faktoren freigesetztes phantasma festgelegt, das dieselbe kausale Kraft hat wie ein mçgliches aisthÞma, an seine Stelle tritt und somit eine typgleiche Bewegung am Zentralsensorium produziert, die als ,highest common factor‘ beschrieben werden kçnnte. Vielmehr wird die aktuale Wahrnehmungsbewegung, die vom vorliegenden Gegenstand herstammt, durch physiologische Faktoren sekundr verndert, und zwar so, daß es fr den im pathologischen Zustand Befindlichen so aussieht, als ob er Schlangen sieht. Jene Tuschungen aufgrund pathologischer Faktoren, die die Einfhrung von reprsentationalen Entitten am meisten motivieren, werden also von Aristoteles als solche behandelt, die einen externen Gegenstand und damit ein aisthÞton voraussetzen. Das gilt nicht fr Trume, die klarerweise ein phantasma implizieren, da hier etwas erscheint, ohne daß ein aktuales aisthÞton als Bewegungsursache vorliegt. In De Insomniis behandelt er neben der Entstehung von Traumerscheinungen (460b28 – 461b3; b11 – 21) auch das Thema der Tuschung im Schlaf (461b7 – 11; b29 – 462a8). Er nhert sich diesem Thema ber die Analyse von Wahrnehmungstuschungen (schon Insomn. 458b25 – 28), denen das ganze zweite Kapitel gewidmet ist: „Wie wir sagten, daß der eine Mensch durch die eine, der andere durch die andere Erregung leicht tuschbar ist, so ist auch der Schlafende (leicht tuschbar) durch den Schlaf und durch das Bewegtwerden der Wahrnehmungsorgane und durch das, was sich sonst noch um die Sinneswahrnehmung ereignet, so daß das, was eine kleine hnlichkeit zu etwas anderem hat, als jenes andere erscheint“ (Insomn. 461b7 – 11; bers. Van der Eijk). Beide Flle von Tuschungen sind in dem Sinn analog, als sie beide einen sinnlichen Gehalt besitzen – im Wachen durch pathologische Zustnde (458b27; 460b4 ff.), im Schlaf durch interne Bewegungen aufgrund von Fieber oder Trunkenheit verzerrt (461a22 f.) –, der frwahrgehalten werden kann (461b5 f.; b29 ff.; 462a7 f.). Sie unterscheiden sich darin, daß ein Traum im strikten Sinn nicht gesehen wird, da ja im Schlaf die peripheren Wahrnehmungsorgane nicht affiziert werden und in Aktualitt sind. Dagegen ist in der Wahrnehmungstuschung immer ein ußerer Gegenstand beteiligt (458b31 – 459a1).135 Im Normalfall geht Aristoteles davon aus, daß man den Traum als 134 Vgl. Rapp 2001, 88. 135 Im Lauf der Untersuchung modifiziert Aristoteles die Annahme, daß das Wahrnehmungsvermçgen im Schlaf vollkommen inaktiv ist (vgl. Somn. 455a33 ff.;
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bloßen Traum erkennt und ihn als falsch auffaßt (vgl. Insomn. 462a5 – 8136 ; Met. IV 5, 1010b10 f.). Sieht man einmal von den Trumen ab, dann faßt Aristoteles Sinnestuschungen als solche auf, die den Bezug auf einen externen Gegenstand als Bewegungsursache voraussetzen und im Fall pathologischer Faktoren einer sekundren Vernderung innerhalb des Wahrnehmungssystems (d. h. auf dem Weg zum Zentralsensorium) unterliegen. Wenn man davon ausgeht, wofr es gute Grnde gibt, daß die phantasmata eine abgeschlossene Wahrnehmung voraussetzen und von diesem kausalen Input ,zehren’, ist ihre Rolle in den sinnlichen Tuschungen viel geringer, als es Caston annimmt. berhaupt schreibt Aristoteles schon der Wahrnehmung als solcher in Bezug auf ihre verschiedenen Klassen von Gegenstnden unterschiedliche Grade der Fallibilitt unabhngig von der phantasia zu (De an. II 6; III 3, 428b18 – 30).137 Damit ist der Spielraum fr eine reprsentationalistische Interpretation deutlich eingeschrnkt. Fr einen Direkten Realismus spricht außerdem, daß das Wahrnehmen bei Aristoteles nicht mit phainesthai im Sinne eines ,wahrheitsneutralen Scheinens‘formuliert wird. Whrend im Reprsentationalismus der,highest common factor‘ oder das Sinnesdatum das primre Objekt und dementsprechend der Begriff des ,wahrheitsneutralen Erscheinens‘ grundlegend ist, ist im Direkten Realismus das ,wahrheitsneutrale Erscheinen‘ nur eine sekundre Abstraktion von zwei grundlegend verschiedenen Zustnden, in denen man entweder den Gegenstand wahrnimmt oder es einem nur so erscheint, als wrde man ihn wahrnehmen.138 Wahrnehmung und tuschender Eindruck sind zwei vollkommen verschiedene Zustnde, die nicht 458a29) dahingehend, daß auch im Schlaf das Zentralsensorium in einer bestimmten, einer aktualen Wahrnehmung hnlichen Weise affiziert wird (459a4 f.; 460b24 f.; 461a27 f., b27 ff.); dadurch entsteht die Traumerscheinung, die ein phantasma ti (462a16) ist. 136 „denn hufig sagt whrend des Schlafes etwas in der Seele, daß das Erscheinende ein Traum ist; wenn er jedoch nicht bemerkt, daß er schlft, wird nichts der Erscheinung widersprechen“ (bers. Van der Eijk). 137 Vgl. Rapp 2001, 87. 138 Child 1992, 300: „The disjunctive conception reverses that order of explanation. What is fundamental is the idea of a state of affairs in which a subject sees something; that idea is explained in terms only of the subject and the world, without reference to any ‘inner’ entity […] The idea of hallucination is derivative from that of seeing; an hallucination is a state of affairs in which the subject is not seeing anything, but which is for him just like a case of vision. And the idea of experience, neutral between vision and hallucination, is an abstraction from the more fundamental and specific ideas of vision and hallucination.“
2.3 Reprsentationalismus oder Direkter Realismus?
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zu demselben Genus gehçren. Daher spricht man auch von Disjunktivismus. 139 In diesem Sinn wird phainesthai von Aristoteles meistens so verwendet, daß es ein unklares (De an. III 3, 428a14), trgerisches (II 10, 422b9; Insomn. 459b12, b15, 460b8, b11, b20; Probl. III 10, 872b4, III 30) oder ein nicht-paradigmatisches Erscheinen (wie bei geschlossenen Augen: III 3, 428a7, a16; Insomn. 458b1) bezeichnet. Man kçnnte hier auch von einem nicht-epistemischen Scheinen, einem ,bloßen Anschein‘ sprechen. Wenn wir nun Aristoteles die Position eines Direkten Realismus zuschreiben, gemß dem sich uns die Wirklichkeit in ihrer Mannigfaltigkeit ,erschließt‘ oder ,erçffnet‘, heißt das nicht, daß er damit irgendein krudes Verstndnis des Weltzugangs htte, das sich nur in phnomenalen Begriffen beschreiben ließe, etwa daß wir in der Wahrnehmung auf die Welt wie durch ein Fenster blicken. Vielmehr ist gerade seine Vier-Ursachen-Lehre imstande, sowohl eine phnomenologische Beschreibung als auch eine physiologische Erklrung des Wahrnehmungsvorgangs zu integrieren: Nach Aristoteles sind fr die Definition der Kçrper und Seele gemeinsam zukommenden Affektionen alle vier Ursachen heranzuziehen.140 Aristoteles vertritt ein Modell, in dem sich auf paradigmatische Weise der direkte Zugang zur Welt und die notwendigen kausalen Vorgnge vereinbaren lassen.141 Wie an vielen Beispielen gezeigt werden kçnnte, wird eine bloß phnomenale Beschreibung – die fr ihn allein nur,dialektisch und leer‘wre (diakejtij_r ja· jem_r : De an. I 1, 403a2) – mit Hilfe bestimmter philosophischer Termini differenziert und durch Angabe der Bewegungs- und Materieursache ,vertieft‘. Auch die Beschreibung der Wahrnehmung als ,disclosure‘ kann Aristoteles auf diese Weise vertiefen, indem er physiologische Ursachen angibt und Fachbegriffe einfhrt, wie in De an. II 12 die Formel von der ,Aufnahme der wahrnehmbaren Form ohne die Materie‘. Die Vier-Ursachen-Lehre erlaubt Aristoteles somit Erklrungen, die weder bloß ,dialektisch und leer‘, also rein phnomenal, noch rein naturalistisch sind, sondern beides miteinander vereinbaren kçnnen. 139 Vgl. McDowell 1998, 381, 386 ff. 140 Vgl. De an. I 1, 403a25 ff.: „Daher sind die Definitionen von solcher Art wie z. B.: das Zrnen ist eine bestimmte Bewegung eines so beschaffenen Kçrpers oder Teils oder Vermçgens von diesem (Objekt) und um dieses (Zweckes) willen.“ Fr den Schlaf vgl. Somn. 455b16 – 25. 141 Das betonen auch moderne disjunktivistische Anstze, vgl. McDowell 1998, 387. Auch fr Snowdon (1988, 208) und Putnam (2000, 9) schließen solche Beschreibungen physiologische Faktoren nicht aus.
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2. Weltzugang und Sinnestuschungen
2.4 Aristoteles und das ,argument from illusion‘ Das ,argument from illusion‘ wird bei Aristoteles nicht im Kontext der Frage nach der Art und Weise unseres Weltzugangs diskutiert – ob wir also aufgrund der phnomenal-qualitativen Identitt zwischen Wahrnehmung und Tuschung zur generellen Annahme von Sinnesdaten als dem unmittelbaren Objekt unseres Bewußtseins gezwungen sind. Vielmehr diskutiert Aristoteles in seiner Auseinandersetzung mit Protagoras dieses Argument, insofern sich aus diesem das epistemologische Problem der Unentscheidbarkeit zwischen Wahrnehmung und Tuschung und damit eine skeptische Konsequenz ergibt. „Gleichermaßen aber ergab sich auf Grund der wahrnehmbaren Dinge fr einige auch die Meinung, die Wahrheit finde sich im Erscheinenden. Denn die Wahrheit, so glauben sie, drfe nicht nach der grçßeren oder geringeren Zahl der Urteilenden entschieden werden; dasselbe aber erscheine den einen beim Kosten sß, den anderen aber bitter, so daß, wenn alle krank oder verrckt, zwei oder drei aber gesund oder bei Verstand wren, man von diesen meinen wrde, daß sie krank und verrckt sind, die anderen aber nicht; ferner erscheine auch vielen der brigen Lebewesen hinsichtlich derselben Dinge das Gegenteil von dem, was uns erscheint, und jeder Einzelne habe im Verhltnis zu sich selbst nicht immer dieselbe gemß der Wahrnehmung gegebene Meinung. Was nun davon wahr sei oder falsch, sei verborgen (%dgkom); denn um nichts ist das eine mehr (oqh³m l÷kkom) wahr als das andere, sondern beides auf gleiche Weise (blo¸yr). Daher sagt Demokrit, entweder sei nichts wahr oder es sei uns verborgen. berhaupt mssen sie wegen ihrer Annahme, Denken sei Wahrnehmung und diese sei Vernderung, sagen, daß das gemß der Wahrnehmung Erscheinende notwendig wahr sei; auf Grund dieser Voraussetzungen sind nmlich sowohl Empedokles als auch Demokrit und so gut wie jeder von den anderen auf solche Meinungen verfallen. Denn auch Empedokles sagt, wenn sich der Zustand (6nir) der Menschen ndere, ndere sich ihr Denken“ (Met. IV 5, 1009a38-b12; bers. Szlezk mit nderungen).
Wie auch bei Platon (Tht. 154a3 – 8) so lassen sich auch hier drei Stufen unterscheiden: Ein und dasselbe Objekt zeigt sich in kontrren Erscheinungen sowohl (i) zwei Individuen, die verschiedenen Spezies angehçren (z. B. einem Menschen und einem Hund), als auch (ii) zwei Individuen derselben Spezies, schließlich (iii) demselben wahrnehmenden Individuum in verschiedenen Zustnden.142 Welche Erscheinung hiervon nun wahr ist, wurde bisher durch eine kanonische Menge (Majoritt) festgelegt. Um nun die Protagoreische These, daß alle Erscheinungen wahr sind, absichern zu kçnnen, muß gezeigt werden, daß wir uns fr die Bestimmung der Wahrheit 142 Vgl. Demokrit DK 68 A 135.
2.4 Aristoteles und das ,argument from illusion‘
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einer Erscheinung gerade nicht an einer solchen kanonischen Menge orientieren kçnnen (1009b2 f.). Hierfr wird folgende Annahme gemacht: Wenn die Majoritt krank oder verrckt wre und nur zwei oder drei gesund und bei Verstand wren (moOm 5weim), wrden die Kranken fr gesund und die Gesunden fr krank gehalten werden. Diese Annahme erlangt aber ihre argumentative Kraft erst dann, wenn man zustzlich annimmt, daß zwischen dem Zustand des Kranken und Gesunden bzw. des Verrckten und Verstndigen eine phnomenale Ununterscheidbarkeit besteht und es darber hinaus kein externes Kennzeichen gibt, um zu beweisen, daß man in einem dieser Zustnde ist. Erst unter dieser Voraussetzung rechtfertigt sich die These, daß man die Wahrheit nicht nach einer bestimmten Anzahl von Personen bestimmen darf. Den Hintergrund fr diese entscheidende Annahme bildet eine Passage aus Platons Theaitet, wo es um die Frage geht, wie die allgemein akzeptierte Falschheit von Sinnestuschungen in Krankheit, Wahnsinn und Traum erschttert werden kann, um die Protagoreische Lehre143 zu sttzen: „Sokrates: So wollen wir denn auch das nicht zurcklassen, was noch brig ist davon. Es ist aber noch brig das von den Trumen und Krankheiten, besonders auch dem Wahnsinn, und was man nennt sich verhçren (paqajo¼eim) oder sich versehen (paqoq÷m) oder sonst eine Sinnestuschung (paqaish²meshai). Denn du weißt wohl, daß es das Ansehen hat, als kçnne durch alle diese Flle einstimmig der Satz widerlegt werden, den wir jetzt eben durchgegangen sind, und als wren auf alle Weise unsere Wahrnehmungen falsch in diesen Fllen, und es fehlte viel daran, daß, was einem Jeden erscheint, dasselbe auch sei, sondern ganz im Gegenteil, als sei nichts von dem was erscheint […] Was fr ein Argument, Jngling, bleibt also dem noch brig, welcher sagt, Wahrnehmung sei Wissen, und was jedem erscheine, das sei auch so dem, welchem es erscheint? […] Merkst du auch nicht diesen Einwurf dagegen, besonders was Wach- und Traumzustand betrifft? […] Den du, meine ich, oft gehçrt haben wirst (l pokk²jir se oWlai !jgjo´mai), wenn man nmlich die Frage aufwirft, was fr ein Kennzeichen (tejl¶qiom) jemand wohl angeben kçnnte, wenn einer fragte, jetzt gleich gegenwrtig, ob wir nicht schlafen, und alles, was wir denken, nur trumen, oder ob wir wachen und im Wachen uns unterreden? Theaitet: Und wahrlich, Sokrates, es ist sehr schwierig, durch was fr ein Kennzeichen man es beweisen (1pide?nai) soll. Denn es folgt ganz genau fr beide Zustnde dasselbe. Denn was wir jetzt gesprochen haben, das kçnnen wir eben so gut im Traum zu 143 Fr eine Rekonstruktion des Inhalts von Protagoras’ AlÞtheia auf der Grundlage der antiken Testimonien vgl. Lee 2005, Kap. 2. Lee macht plausibel, daß sich Protagoras fr seinen Homo-Mensura-Satz auf das ,argument from conflicting appearances‘ berief; die Wahrheit der Wahrnehmung werde durch das von Platon und Aristoteles als bekannt vorausgesetzte ,undecidability argument‘ abgesichert, das Protagoras als ,argument-stopper‘ gegen den common-sense verwendet haben kçnnte.
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2. Weltzugang und Sinnestuschungen
sprechen meinen; und wenn wir im Traumzustand meinen, Trume zu erzhlen, so ist ganz wunderbar, wie hnlich (%topor B bloiºtgr) diese jenen sind. Sokrates: Du siehst also, daß das Bestreiten nicht schwer ist, wenn sogar darber gestritten werden kann, ob der Zustand des Wachens vorliegt oder der des Traums. Und da die Zeit des Schlafens der des Wachens gleich ist (Usou), und die Seele in jedem von diesen Zustnden behauptet (dial²wetai), daß die ihr jedesmal gegenwrtigen Meinungen zweifellos wahr sind: so behaupten wir also fr eine gleiche Zeit, einmal, daß das Eine, dann wieder eben so, daß das Andere wirklich ist, und beharren beidemal gleich fest (diiswuqifºleha) auf unserer Meinung […] Verhlt es sich nun nicht mit Krankheiten und mit dem Wahnsinn eben so, bis auf die Zeit, daß die nicht gleich ist?“ (Tht. 157e1 – 158d9; bers. Schleiermacher mit nderungen)
Das Argument beruft sich darauf, daß sich kein Kennzeichen (tekmÞrion) dafr angeben lßt, daß wir gerade nur schlafen und alles, was wir denken, nur trumen, oder daß wir wachen und uns wirklich unterreden.144 Dieses Argument wird von Sokrates als bekannt vorausgesetzt („oft gehçrt“).145 Die Unentscheidbarkeit zwischen Schlaf- und Wachzustand, die gleichermaßen fr den gesunden und pathologischen Zustand gilt146, wird mit der phnomenalen Ununterscheidbarkeit begrndet: (i) Was man jetzt spricht, kçnnte man genauso gut im Schlaf zu sprechen meinen; zwischen beiden Zustnden besteht eine ungewçhnlich große qualitative hnlichkeit (Tht. 158c5 – 8).147 (ii) Die Zeit von Schlafen und Wachen ist gleich und (iii) in beiden Zustnden findet sich die gleiche Kraft des Frwahrhaltens (Tht. 158d1 – 6).148 (i) und (iii) gelten auch fr die Zustnde von Krankheit und Wahnsinn (Tht. 158d8 – 9). Diese Argumentation wird dazu benutzt, um die These des Protagoras, daß alle Erscheinungen wahr sind (Tht. 152a), abzusichern; die Bestimmung der illusionren Erscheinung als falsch soll damit unmçglich gemacht werden. Aristoteles diskutiert in Met. IV 5 dieses Argument, insofern aus diesem die skeptische Konsequenz folgt, daß dann die Wahrheit und Falschheit verborgen (%dgkom) ist, „denn um nichts ist das eine 144 Vgl. Descartes, AT VII, 19: „Whrend ich aufmerksamer darber nachdenke, sehe ich dermaßen klar, daß niemals durch sichere Anzeichen Wachen und Schlafen unterschieden werden kann“. 145 „l pokk²jir se oWlai !jgjo´mai…“ (Tht. 158b8). 146 Das Argument wird in 158b so eingeleitet, daß es allgemein gegen die Falschheit von Wahnzustnden und Trumen angewandt werden kann, ,am meisten‘ (l²kista) aber hinsichtlich Wachen und Trumen. Am Ende des Arguments in 158d8 – 9 wird die bertragbarkeit auf die Flle von Krankheit und Wahnsinn hervorgehoben. 147 „%topor B bloiºtgr to¼tym 1je¸moir.“ Levett (1990, 281) bersetzt hier treffend: „there is an extraordinary likeness between the two experiences.“ 148 dial²wetai, diiswuqifºleha.
2.4 Aristoteles und das ,argument from illusion‘
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mehr (oqh³m l÷kkom)149 wahr als das andere, sondern beides auf gleiche Weise“ (1009b10 f.). Jede Erscheinung wre dann epistemisch gleichberechtigt und es gbe keine kanonische Menge der richtig Urteilenden, die festlegt, welche Erscheinungen sich auf die Wirklichkeit beziehen und welche nicht. Wie entkrftet nun Aristoteles dieses ,Unentscheidbarkeitsargument‘? Welche Antwort gibt er auf die Frage, woher wir berhaupt wissen, daß wir nicht bloß trumen oder halluzinieren und wirklich im ,Normalzustand’ sind, in dem wir uns auf die wahrnehmbaren Gegenstnde selbst beziehen? In Aristoteles’ Replik kçnnen folgende Elemente unterschieden werden: (a) Grundstzlich kritisiert Aristoteles die Forderung, daß es ein Kennzeichen geben muß, durch das bewiesen werden kçnnte, daß man gerade nicht trumt, sondern wach ist, oder daß man gerade nicht halluziniert, sondern gesund ist. Hier in Zweifel zu geraten und ein Kennzeichen zu verlangen, durch das man den Wachenden vom Schlafenden und den Gesunden vom Kranken unterscheiden und berhaupt den ,richtig Urteilenden‘ (t¹m peq· 6jasta jqimoOmta aqh_r : Met. IV 6, 1011a5 f.) bestimmen kçnnte, zeugen von der mangelnden Bildung (apaideusia)150, fr alles einen Beweis zu verlangen (vgl. Met. IV 4, 1006a5 – 9151) und nicht zu erkennen, daß das Prinzip eines Beweises selbst nicht mehr bewiesen werden kann (Met. IV 6, 1011a8 – 13). Niemand ist wirklich im Zweifel, ob die Grçßen oder die Farben so sind, wie sie dem Entfernten oder wie sie dem Nahestehenden, wie sie dem Gesunden oder wie dem Kranken erscheinen (IV 5, 1010b3 – 9). Die Normalzustnde sind von den pathologischen unterscheidbar; wir wissen schon immer, wer sich in den richtigen Zustnden befindet.152 Das zeigt sich besonders in den Handlungen, in denen wir wissen, welche Zustnde normal sind: „denn es macht sich ja niemand, wenn er whrend eines Aufenthalts in Libyen des Nachts in Athen zu sein glaubt, auf, in das Odeon zu gehen“ (1010b10 f.; bers. Bonitz). Aristoteles bringt 149 Das oq l÷kkom, das bei Sextus zum skeptischen Schlagwort wird (vgl. PH I 188 – 191), wird auch schon von Platon in hnlicher Weise gebraucht, um Flle zu beschreiben, in denen die Wahrnehmung Kontrres gleichermaßen kundgibt (Rep. 523c2 – 3). 150 Auf Aristoteles’ Konzept der paideia und ihren Zusammenhang mit Fragen der Rechtfertigung werde ich in Kap. 5.3 noch genauer eingehen. 151 „Manche verlangen nun aus Mangel an Bildung, man solle auch dies beweisen; denn Mangel an Bildung ist es, wenn man nicht weiß, wofr ein Beweis zu suchen ist und wofr nicht“ (bers. Bonitz). 152 Vgl. auch EN X 2, 1173b23 ff. Hierzu Lee 2005, 170: „we do not hesitate to prefer the ,appearance‘ of the healthy and waking persons to the others.“
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2. Weltzugang und Sinnestuschungen
auch noch das Argument aus Tht. 178c, nach dem wir selbstverstndlich Expertenmeinungen akzeptieren (1010b11 – 14). Fr Aristoteles gibt es keinen Grund zum Zweifel daran, wer im richtigen Zustand ist und den Maßstab darstellt: im Fall der Wahrnehmung die Gesunden, im Fall des Wissens die Experten. In der Ethik kçnnte man hier an den spoudaios denken, der das wahrhaft Gute vom scheinbaren unterscheidet: Was ihm als gut erscheint, ist wahrhaft gut.153 (b) Ein weiteres Element der Replik besteht darin, die Beschreibung des Phnomens der ,conflicting appearances‘ zu korrigieren, um so die daraus folgende epistemische Gleichberechtigung aller Erscheinungen zu entkrften. Das betrifft vor allem den Fall, daß demselben Beobachter ein und derselbe Gegenstand in kontrren Eigenschaften erscheinen kann, und das anscheinend sogar zu derselben Zeit (jat± t¹m aqt¹m wqºmom : Met. IV 6, 1011a31 f.; IV 5, 1009b8 f.). Hier muß man folgende Differenzierungen vornehmen, die sich an den verschiedenen Klassen wahrnehmbarer Gegenstnde orientieren. (i) Hinsichtlich der Wahrnehmung der idia aisthÞta gilt: „Keiner dieser (spezifischen Sinne) sagt zur selben Zeit ber dieselbe Sache, daß sie sich zugleich so und nicht so verhlt“ (1010b18 f.). Jeder Sinn ist durch eine bestimmte aisthetische Gattung definiert und von Natur aus auf diese abgestimmt (De an. II 6, 418a24 f.). Solche ,eigentmlichen Qualitten‘ (idia aisthÞta) kçnnen durch keinen anderen Sinn wahrgenommen werden und ber sie kann man sich unter Normalbedingungen nicht tuschen; die Zuverlssigkeit der Wahrnehmung ist hier teleologisch garantiert.154 Widersprchliche Erscheinungen kommen hier nur dann zustande, wenn sich entweder der Gegenstand selbst oder der Kçrper des Wahrnehmenden verndert hat (Met. IV 5, 1010b21 ff.)155 ; z. B. erscheint 153 Vgl. EN III 6, 1113a29 – 33: „Der Gute beurteilt jedes Einzelne richtig, und in allen Einzelsituationen zeigt sich ihm, was wahr ist. Jede Disposition hat nmlich ihren eigenen Bereich des Werthaften und Angenehmen, und der Gute zeichnet sich vielleicht am meisten dadurch aus, dass er in allen Einzelfllen die Wahrheit sieht, indem er gewissermaßen Richtschnur und Maß (jam½m ja· l´tqom) dafr ist“ (bers. Wolf ); EN X 5, 1176a15 f.: „In allen solchen Dingen aber gilt dasjenige als [wirklich] so beschaffen, was dem Guten so erscheint“ (bers. Wolf ). Vgl. auch Protr. B 39. 154 Vgl. De an. III 12 – 13. Hierzu Block 1961; Gaukroger 1981, 79 f. 155 Der Einfluß innerer Bedingungen wird schon in IV 5, 1010b6 f., b22 und EN X 5, 1176a13 ff. erwhnt. Das wird nher ausgefhrt in Met. XI 6, 1062b33 – 1063a5: „Den Meinungen und Vorstellungen aber derer, die gegen einander streiten, gleiches Gewicht beizulegen ist Torheit; denn offenbar mssen die einen von ihnen sich im Irrtum befinden. Das erhellt aus den Sinneswahrnehmungen; denn niemals erscheint dasselbe den einen sß, den anderen entgegengesetzt, ohne daß bei den einen
2.4 Aristoteles und das ,argument from illusion‘
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im Zustand der Krankheit alles bitter (De an. II 10, 422b8 f.). Nach Aristoteles kçnnen wir aber den jeweiligen Normalzustand problemlos bestimmen, in dem ein bestimmter Sinn seine von der Natur festgelegte Aufgabe optimal erfllt. Die anderen Situationen, in denen sich uns derselbe Gegenstand in einer kontrren Qualitt prsentiert, kçnnen wir dann als nicht-paradigmatisch ansehen und ignorieren. (ii) Auch Konflikte im Fall der,assoziativen Wahrnehmung‘, wo ein bestimmter Sinn das idion aisthÞton eines anderen Sinns wahrnimmt – wenn wir etwa auf der Grundlage der frheren visuellen und gustativen Wahrnehmung eines gelben und sßen Gegenstands (z. B. Honig) in einer spteren nur visuellen Wahrnehmung eines gelben Gegenstands sagen, daß wir (,akzidentell‘) das Sße sehe (De an. III 1, 425a21 f., a30 f.)156 – lassen sich durch die natrlich festgelegte Kompetenz der Einzelsinne entscheiden: „Ferner haben auch die Sinneswahrnehmungen selbst ber das einem fremden und das ihrem eigenen Gebiet Angehçrige, ber das Nahe und das Entfernte nicht gleiche Gltigkeit (oqw blo¸yr juq¸a), sondern ber die Farbe entscheidet das Gesicht, nicht der Geschmack, ber die Speise der Geschmack, nicht das Gesicht“ (Met. IV 5, 1010b14 – 17; bers. Bonitz). Im Fall des Sßen kann der Geschmackssinn widersprechen, der auf diesem Gebiet die grçßere Autoritt besitzt. Der perzeptuelle Widerspruch stellt sich in diesem Fall zwar in demselben Subjekt und zur selben Zeit ein, aber nicht in derselben Hinsicht, d. h. nicht in demselben spezifischen Sinnesvermçgen. (iii) Weiterhin gibt es sich widersprechende Erscheinungen im Fall der koina aisthÞta (Bewegung, Ruhe, Gestalt, Grçße, Zahl: De an. II 6, 418a17 f.; III 1, 425a16), da es fr diese keinen spezifischen Sinn gibt, sondern diese mehreren Sinnen gemeinsam sind, d. h. von mehr als einem Sinn wahrgenommen werden kçnnen (III 1, 425b4 – 11).157 ber diese Klasse von aisthÞta kann man sich das Sinnesorgan und der Geschmack fr die bezeichneten Flssigkeiten verdorben und beschdigt ist. Ist dem aber so, so hat man die einen fr das Maß (l´tqom) anzusehen, die anderen aber nicht“ (bers. Bonitz). 156 Wie sich in Kap. 3.3 noch zeigen wird, kann Aristoteles den Ausdruck ,akzidentell wahrnehmen‘nicht nur im absoluten Sinn verwenden – insofern hierunter alles fllt, was nicht aus sich heraus das Wahrnehmungsvermçgen affizieren kann und somit nur beilufig, durch Verbindung mit einem ,an sich Wahrnehmbaren‘, wahrgenommen wird –, sondern auch in einem relationalen Sinn: Das Sße ist in Bezug auf den Gesichtssinn ,akzidentell wahrnehmbar‘ (vgl. Philoponus, In De an. 454.15 – 26). 157 Daß der ,Gemeinsinn‘ fr die nicht-akzidentelle Wahrnehmung der koina aisthÞta zustndig wre, gehçrt zu den immer wieder einmal anzutreffenden Irrtmern in der Aristoteles-Exegese. Die kontrafaktische berlegung in der Passage 425b4 – 11 macht dagegen deutlich, daß wir die koina aisthÞta auch nur mit einem Sinn
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2. Weltzugang und Sinnestuschungen
am meisten tuschen (III 3, 428b24 f.). Aristoteles gibt in Met. IV 6 folgendes Beispiel fr den Fall, daß ein Gegenstand demselben Menschen und zu derselben Zeit in kontrren koina aisthÞta erscheint: „Denn der Tastsinn hlt einen Gegenstand bei der berkreuzung der Finger fr zwei, der Gesichtssinn aber fr eines“ (1011a33 f.). Auch hier muß man die Beschreibung des perzeptuellen Konflikts dahingehend korrigieren, daß hier „nicht demselben Sinn in derselben Beziehung und auf dieselbe Weise und in derselben Zeit etwas als verschieden“ erscheint (1011a34 ff.158 ; bers. nach Bonitz). Diesen perzeptuellen Konflikt kann Aristoteles in De Insomniis so lçsen, daß er auch hinsichtlich der koina aisthÞta Kompetenzunterschiede zwischen den einzelnen Sinnen annimmt: „Und bei der Kreuzung der Finger erscheint das eine als zwei, aber dennoch sagen wir nicht, es seien zwei; denn der Gesichtssinn ist autoritativer (juqiyt´qa159) als der Tastsinn“ (Insomn. 460b20 ff.). Der im Hinblick auf dieses koinon autoritativere160 oder maßgeblichere Wahrnehmungssinn ,widerspricht‘ einer bestimmten Erscheinung (vgl. 461b4 f.: 2t´qa juqiyt´qa !mtiv0). Durch die Annahme unterschiedlicher sinnlicher Autoritten im Hinblick auf die koina aisthÞta kann ein Sinn einen anderen korrigieren, wodurch ein perzeptueller Konflikt gelçst werden kann. Nach Aristoteles kçnnen wir ohne Probleme bestimmen, welcher Sinn uns in Bezug auf ein bestimmtes koinon aisthÞton die korrekten Informationen liefert und daher als autoritativ angesehen werden muß. (c) Schließlich kann mit Aristoteles gegen die Unentscheidbarkeit eingewandt werden, daß die Argumentation auf einer unsachgemßen Verengung auf die mir gerade gegebene Erscheinung beruht und die Verbindung zu anderen Wahrnehmungs- und Gedchtnisinhalten als auch zu Gehalten des theoretischen Wissens ausgeklammert wird.161 Daß diese immer schon
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wahrnehmen kçnnen. Die anderen Sinne kçnnen zur Korrektur der besonders irrtumsanflligen Wahrnehmung der koina aisthÞta beitragen. In 425a27 wird der Terminus aisthÞsis koinÞ in einem untechnischen Sinn verwendet und bezeichnet die jedem Einzelsinn zukommende und somit ,gemeinsame’ Fhigkeit, die koina aisthÞta wahrzunehmen (Gregoric 2007, 69 – 82). !kk’ ou ti t0 aqt0 ce ja· jat± t¹ aqt¹ aQsh¶sei ja· ¢sa¼tyr ja· 1m t` aqt` wqºm\ Der Terminus juq¸yr bezeichnet bei Aristoteles meist den primren oder eigentlichen Wortsinn (vgl. De an. II 1, 412b9; II 6, 418a24; LSJ 1013: in the proper sense). Er kann aber auch im adjektivischen Sinne eine besondere Kompetenz oder Autoritt fr eine bestimmte Leistung bezeichnen (vgl. Met. I 1, 981b11; IV 5, 1010b15; Insomn. 460b21; LSJ 1013: with full authority). Hier liegt eine relative Autoritt vor (vgl. Van der Eijk 1994, 202, 225). Koch (2006a, 17) spricht hier zu Recht von einem ,Gesamtschein‘: „Denn wir urteilen in der Regel nicht gemß einem begrenzten visuellen oder akustischen
2.4 Aristoteles und das ,argument from illusion‘
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die Wahrnehmung begleiten und in ihrer Gesamtheit dazu beitragen, eine Wahrnehmung als wahr oder falsch, d. h. als bloße Erscheinung, zu bestimmen, zeigt sich an dem von Aristoteles oft herangezogenen Beispiel der Sonnenbreite (De an. III 3, 428b2 ff.; Insomn. 458b29, 460b18 ff.). Auch wenn die Sonne nur einen Fuß breit zu sein scheint, glauben wir das nicht, sondern sind der berzeugung, daß sie grçßer als die Erde ist. Aristoteles spricht davon, daß ,etwas anderes‘ (6teqºm ti) der Erscheinung ,widerspricht‘ (460b19 f.). In diesem Fall ist ein bergeordnetes Wissen gemeint.162 Man kçnnte hier auch an die im Wasser geknickt erscheinenden Gegenstnde (Platon, Rep. X 602c10 – 11) oder an eine Fata Morgana denken: Aufgrund unseres Wissens, daß gerade Gegenstnde im Wasser geknickt erscheinen oder daß bei einer bestimmten Temperatur Luftspiegelungen entstehen, kçnnen wir solche Erscheinungen als falsch beurteilen.163 Aristoteles nimmt aber nicht nur an, daß ein autoritativer Sinn oder ein bergeordnetes Wissen (also der Intellekt) eine bestimmte sinnliche Erscheinung korrigieren kann, sondern geht auch von der Mçglichkeit aus, sich des Fehlens innerer Standardbedingungen (pathologische Zustnde, Traum) bewußt zu sein. Wenn wir nicht zu krank sind, sind wir uns bewußt (lμ kamh²meim), daß die Erscheinungen, die uns im Fiebertraum erscheinen, falsch sind (Insomn. 460b14 ff.).164 Ebenso kann man im Schlaf wahrnehmen oder sich bewußt sein, daß man schlft (462a3, a7): In diesem Fall „sagt whrend des Schlafes etwas in der Seele, daß das Erscheinende ein Traum ist; wenn er jedoch nicht bemerkt, daß er schlft, wird nichts der Erscheinung widersprechen“ (462a6 ff.; bers. Van der Eijk). Sind also die pathologischen Zustnde zu stark bzw. der Schlaf zu tief, kann dieses bergeordnete Vermçgen gehemmt sein und man „folgt den Erscheinungen“ (459a7 f.). Auf die Mçglichkeit der Beurteilung und Korrektur sinnlicher Informationen durch ein bergeordnetes Vermçgen und die Frage, was sich Schein, sondern gemß einem Gesamtschein, zu dem außer der Wahrnehmung auch die Erinnerung und unsere theoretischen Erkenntnisse beitragen.“ 162 Vgl. Van der Eijk 1994, 201. 163 Hier ergibt sich natrlich der Einwand, daß dieses Wissen, das eine Wahrnehmung korrigieren kann, selbst auf der Wahrnehmung beruht und somit eigentlich keine epistemische Autoritt gegenber den Sinnen beanspruchen darf. Die Autoritt eines solchen Wissens kçnnte man dann entweder mit seiner Kohrenz verteidigen oder mit der Einfhrung apriorischer Prinzipien. Auf diese Frage werden wir noch eingehen. Zu diesem Einwand, aus dem ein skeptisches Argument gewonnen werden kann, vgl. Perler 2006, 155 f. 164 Ob diese Beurteilungskompetenz dem primren Wahrnehmungsvermçgen oder dem Intellekt zukommt, ist unklar (459a6 ff.; 462a3). Hierzu Van der Eijk 1994, 50.
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2. Weltzugang und Sinnestuschungen
daraus fr den epistemologischen Status der Wahrnehmung ergibt, werden wir in Kap. 4.4 noch genauer eingehen. Hier ist erst einmal festzuhalten, daß Aristoteles’ Replik Antworten auf zwei skeptische Fragestellungen enthlt: (1) Die Frage, ob wir berhaupt unseren Sinnen trauen drfen, also davon ausgehen drfen, daß sie die Gegenstnde so prsentieren, wie sie tatschlich (in ihrer qualitativen Beschaffenheit) sind, wird von Aristoteles mit der teleologischen Annahme beantwortet, daß jeder Sinn von Natur aus auf eine bestimmte aisthetische Gattung (idia aisthÞta) ausgerichtet oder ,abgestimmt‘ und hierfr ,maßgeblich‘ ist (Met. IV 5, 1010b15 ff.). Unter den jeweiligen Normalbedingungen prsentiert ein Wahrnehmungssinn den Gegenstand so, wie er tatschlich ist. Diese Normalbedingungen im Hinblick auf einen bestimmten Sinn sind fr Aristoteles problemlos bestimmbar; wir kçnnen sie im jeweiligen Fall von nicht-paradigmatischen Situationen unterscheiden. Fr die besonders irrtumsanflligen koina aisthÞta geht Aristoteles von einer Hierarchie aus, in dem es fr die verschiedenen koina aisthÞta jeweils einen ,autoritativeren‘ oder ,maßgeblicheren‘ (juqiyt´qa) Sinn gibt, der einem anderen ,widersprechen‘ kann. Eine solche Hierarchie wird in De Insomniis fr das koinon aisthÞton der Anzahl zwar angedeutet (460b21 f.; 461b3 ff.), aber weder im einzelnen ausgefhrt noch begrndet. Die sich aufdrngende Frage, wie wir berhaupt wissen kçnnen, welcher Sinn autoritativer ist, also den Gegenstand so prsentiert, wie er tatschlich ist und daher die Informationen eines anderen Sinns korrigieren darf, wird von Aristoteles nicht gestellt. Wir mßten hierfr auf irgendein wahrnehmungsunabhngiges Kriterium zurckgreifen, durch das wir die Informationen der verschiedenen Sinne berprfen und den autoritativeren bestimmen kçnnten. Ein solches unabhngiges Kriterium suchen wir bei Aristoteles vergebens. (2) Die radikalere Frage, woher wir denn berhaupt wissen, daß wir nicht bloß trumen oder halluzinieren, sondern uns wachend auf die Wirklichkeit selbst beziehen, beantwortet Aristoteles damit, daß man darber nicht wirklich in Zweifel sein kann. Hier nach weiteren Grnden zu suchen, ist ein Zeichen mangelnder paideia, insofern man nicht zwischen dem Begrndungsbedrftigen und dem nicht mehr Begrndungsbedrftigen unterscheiden kann und einen Beweis dafr sucht, wofr es keinen Beweis mehr gibt. Wir sind uns schon immer darber im Klaren, ob wir im Normalzustand sind oder nicht, was sich in unseren Handlungen zeigt (Met. IV 6, 1011a11).
3. Der Gehalt der Wahrnehmung 3.1 Platons anti-empiristische Analyse im Theaitet 1 Das im letzten Kapitel skizzierte Kausalmodell der Wahrnehmung wirft nicht nur die Frage auf, wie das Zustandekommen von Sinnestuschungen und der Bezug auf Abwesendes und Nicht-Existentes erklrt werden kann. Aus diesem Modell folgt auch, daß die Wahrnehmung auf bloß qualitative Inhalte beschrnkt ist, da Objekte außerhalb der Kategorie des PathetischQualitativen aufgrund ihrer fehlenden Wirksamkeit hinsichtlich der Wahrnehmung nicht in ihren Gehalt eingehen kçnnen. Hinsichtlich der Frage nach der Rolle der Wahrnehmung im Wissenserwerb kçnnte man dann die Meinung vertreten, daß der Wahrnehmung bloß die Aufgabe zukommt, unser Denken mit elementaren sensorischen Informationen zu versorgen; als ein solcher Informationslieferant stnde sie in bloß kausalen Beziehungen zu unseren Meinungen ber die Welt. Bevor wir genauer herausarbeiten, welche Kompetenzen Aristoteles der Wahrnehmung zuspricht und ob die Wahrnehmung tatschlich nur die Rolle eines ,kausalen Zwischenstcks‘ zwischen der Welt und unseren Meinungen ber sie spielt, wollen wir kurz Platons Analyse des Wahrnehmungsgehalts im ersten Teil seines Theaitet skizzieren. Vor dem Hintergrund dieses Abschnitts, mit dem Aristoteles bestens vertraut war2, werden die Konturen des Aristotelischen Wahrnehmungsbegriffs deutlicher hervortreten und die Rolle der Wahrnehmung im Wissenserwerb prziser bestimmt werden kçnnen. Theaitets erster Definitionsvorschlag von Wissen (epistÞmÞ) lautet, daß Wissen nichts anderes als Wahrnehmung (Tht. 151e1 – 3) bzw. daß Wahrnehmung Wissen ist (e6 – 7); jeder Fall von Wissen ist ein Fall von Wahrnehmung und jeder Fall von Wahrnehmung ein Fall von Wissen. Diese 1
2
Dieser Abschnitt erhebt nicht den Anspruch, einen eigenen Beitrag zur PlatonInterpretation zu leisten, besonders zur Frage nach dem Verhltnis des Theaitet zur Epistemologie der mittleren Dialoge. Hçchst kontrovers wird hier diskutiert, ob es auch von der wahrnehmbaren Wirklichkeit epistÞmÞ geben kann bzw. doxa von den Ideen mçglich ist. Da es mir im Folgenden nur um den Gehalt der Wahrnehmung geht, klammere ich diese Fragen der Platon-Forschung aus und orientiere mich im Folgenden an Burnyeats ,Reading B‘ als „a self-sufficient critique of empiricism“ (Burnyeat 1990, 60). Burnyeat 1990, 106.
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3. Der Gehalt der Wahrnehmung
Identifikation impliziert zum einen, daß Wissen zu einem passiven Prozeß gemacht wird, zu dem ich nichts anderes als eine angeborene Disposition mitbringen muß, was zur Folge hat, daß Wissensunterschiede und epistemische Autoritten, also Experten, geleugnet werden.3 Zum anderen impliziert die Identifikation, daß Wahrnehmung zum Wissen erhoben wird, so daß auf die Wahrnehmung die beiden Kennzeichen des Wissens „des Seienden und untrglich“ (toO emtor !e¸ 1stim ja· !xeud´r) zutreffen (152c5 – 6): So wie mir etwas erscheint oder wie ich es wahrnehme, so ist es auch in der Wirklichkeit. Das ist der Berhrungspunkt mit dem HomoMensura-Satz des Protagoras, mit dem die These des Theaitet sachlich identifiziert wird (152a). Der Homo-Mensura-Satz des Protagoras wird dabei mit einem perzeptuellen Beispiel erlutert: „Nicht wahr er meint dies so, daß wie ein jedes Ding mir erscheint, ein solches ist es auch mir, und wie es dir erscheint, ein solches ist es wiederum dir. Ein Mensch aber bist du sowohl als ich“ (152a6 – 8; bers. Schleiermacher).4 Diese These wird anschließend durch das ,argument from conflicting appearances‘ plausibilisiert: „Wird nicht bisweilen, indem derselbe Wind weht, den einen von uns frieren, den andern nicht? Oder den einen wenig, den anderen sehr stark?“ (152b2 – 4). Sokrates legt dem Theaitet zwei Mçglichkeiten vor, diese sich widersprechenden Erscheinungen zu erklren: Entweder der Wind ist ,an sich‘ kalt oder nicht-kalt und mir erscheint er nur jeweils anders, oder der Wind ist so, wie er von einem bestimmten Individuum wahrgenommen wird. Theaitet entscheidet sich spontan fr die letztere protagoreische Position. In einem weiteren Schritt wird der Terminus ,erscheinen‘ (phainesthai) mit dem Terminus ,wahrnehmen‘ (aisthanesthai) gleichgesetzt, so daß schließlich aus der These des Protagoras in ihrer perzeptuellen Anwendung die These des Theaitet folgt: Das Wahrnehmen nach dem Homo-Mensura-Satz des Protagoras erfllt die beiden implizit vorausgesetzten Bedingungen von Wissen, vom Seienden zu handeln und untrglich zu sein (toO emtor !e¸ 1stim ja· !xeud´r).5 Die Widerlegung dieser These, Wahrnehmung sei Wissen, vollzieht sich nun auf verschiedenen Ebenen, nmlich der These des Theaitet, des Protagoras und der Herakliteer, die in einer bestimmten Weise miteinander verbunden sind; nach Tht. 160d5 – e2 ,koinzidieren‘ (sympiptein) diese drei Thesen. Auf einer ersten Ebene wird die Flußontologie der Herakliteer 3 4 5
Lee 2005, 2, 38 f. Diese Erluterung kann nach Lee (2005, 12) als eine enge Paraphrase aus Protagoras’ AlÞtheia aufgefaßt werden. Vgl. Burnyeat 1990, 11; Lee 2005, 79 f.
3.1 Platons anti-empiristische Analyse im Theaitet
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angegriffen. Diese wird zur Sttzung der Protagoreischen These als sog. ,Geheimlehre‘ eingefhrt, die auf die Wahrnehmung angewandt zu einer Relationalitt perzeptueller Qualitten fhrt: Diese sind weder dem Objekt noch dem Subjekt intrinsisch, sondern haben einen Zwischenstatus (metaxy: 154a2), der im weiteren Gang des Dialogs als ein Zusammenhang von vier Gliedern entfaltet wird: Ein Wirkendes und ein Leidendes, die sich selbst in stndiger Vernderung befinden, treffen zusammen und erzeugen ein singulres wahrgenommenes Objekt (z. B. das Weiße) und einen zugehçrigen singulren Akt (z. B. das Sehen: 156d3 – 157a2). Die extreme Version dieser Flußontologie, in der sich alle Dinge auf jede Art und Weise verndern (181c1 – 182c10), fhrt dazu, daß nicht einmal mehr eine bestimmte Farbe identifiziert werden kann, wodurch ein Wahrnehmungsurteil unmçglich wird (182d1 – 7). Innerhalb dieser Theorie ist damit die Wahrnehmung kein mçglicher Kandidat von Wissen, da hier Propositionalitt unmçglich wird.6 Die zweite Ebene der Widerlegung betrifft die Lehre des Protagoras, fr dessen These das Unentscheidbarkeitsargument (158b8 – c2) vorgebracht werden kann: Kein mentaler Zustand kann gegenber einem anderen aufgrund seiner phnomenalen hnlichkeit als ,wahr‘ (z. B. Wachen) bzw. ,falsch‘ (z. B. Trumen, Halluzinieren) ausgezeichnet werden. Die Protagoreische These wird in unterschiedlichen Anlufen widerlegt: Sokrates weist zum einen nach, daß auch Protagoras Wissensunterschiede und damit Expertenwissen zulassen muß und selbst als Lehrer mit einer Schrift auftritt, die den Titel AlÞtheia trgt (161c2 – 163a6). Zum anderen muß er gemß seiner These auch die gegnerische Verneinung seiner eigenen These frwahrhalten; eine Relativierung der Wahrheit der gegnerischen Verneinung htte zur Folge, daß Protagoras’ These außer fr ihn selbst fr niemanden mehr gelten wrde (170c2 – 171c9). Das wrde dem Universalittsanspruch widersprechen, mit dem Protagoras seine AlÞtheia vortrgt. Die dritte Ebene der Widerlegung betrifft die These des Theaitet, Wahrnehmung sei Wissen, auf die ich mich nun konzentrieren werde. Diese Widerlegung kann auch als eine systematische Kritik an einem unklaren Wahrnehmungsbegriff verstanden werden; das macht den Theaitet auch fr die Epistemologie interessant. 6
Lee (2005, 112 – 117) macht gegen Burnyeat geltend, daß mit dem Kollaps dieser Lehre nur gezeigt ist, daß der Herakliteismus in seiner extremen Form als eine mçgliche Sttzung fr Theaitet und Protagoras nicht in Frage kommt. In einer abgemilderten Form kann er weiterhin ein Element der sog. ,Zwei-Welten-Lehre‘ Platons sein. Es liege damit kein Implikationsverhltnis zwischen Theaitet, Protagoras und Heraklit vor, so daß aus einer Widerlegung der Herakliteischen Theorie keine Widerlegung des Protagoras folge.
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3. Der Gehalt der Wahrnehmung
Im Abschnitt 152b-c setzt Sokrates phainesthai mit aisthanesthai gleich. In einem spteren Abschnitt des Dialogs, wo es um die falschen Wahrnehmungen (xeude?r aQsh¶seir : 158a1) in Traum, Krankheit und Wahnsinn als einen mçglichen Einwand gegen Protagoras geht, ist nicht nur von Wahrnehmen und Erscheinen (158a2, a6 – 7), sondern auch von einem „Falsches Meinen“die Rede (xeud/ don²fousim : 158b2). Die hier gegenber einem bloßen, nicht-epistemischen Scheinen eingebrachte Behauptungskomponente7 kommt in den folgenden Beispielen und den fr die Ununterscheidbarkeit angefhrten Argumenten zum Vorschein: Die Wahnsinnigen glauben (oUymtai : 158b3), Gçtter zu sein, oder sind der Auffassung (diamo_mtai : 158b4), im Traum zu fliegen. Im Wachen wie im Schlafen ,behauptet‘ oder ,verficht‘ (dial²wetai) die Seele, „daß die ihr jedesmal gegenwrtigen Meinungen (dºclata) auf alle Weise wahr sind“ (158d3 – 4); in beiden Zustnden findet sich die gleiche Festigkeit der Meinung (blo¸yr 1v’ 2jat´qoir diiswuqifºleha : d5 – 6). Die These des Protagoras, die bisher mit phainesthai formuliert wurde (152a7, 158a2 – 3, 158a6 – 7), wird jetzt auch mit dokein formuliert: „was jemand auch immer meint, ist dem Meinenden wahr“ (158e6, 161c2 – 3, 162c8-d1).8 Die Pointe, auf die Platon mit diesem terminologischen Wechsel aufmerksam machen will, ist die, daß die Termini phainesthai, aisthanesthai, dokein, doxazein nicht eindeutig verwendet werden, weil die dahinter stehenden Konzepte der sinnlichen Affektion, des Meinens und schließlich des Wissens nicht klar sind und miteinander vermischt werden. Es ist das Anliegen des ersten Teils des Theaitet, diese Vermischung zu entwirren und die These, Wahrnehmung sei Wissen, zu widerlegen.9 Diese Klrung kann auch vor dem Hintergrund jenes Wahrnehmungsbegriffs gelesen werden, wie er von Platon selbst etwa in der Politeia (VII 523a-525a und X 602c-603a) vorausgesetzt wird.10 Hier entwirft Platon im Rahmen des Erziehungsprogramms der Philosophenkçnige ein Seelenmodell, das Wahrnehmung und Vernunft denselben Grad von 7 Daß don²feim hier kein bloßes ,Vorstellen‘ ohne einhergehende berzeugung von der Wahrheit des Vorgestellten meinen kann, hat Ebert (1966, 41 f.) herausgestellt: Es gehçrt notwendig zum Traum, daß der Trumende ihn fr die Realitt selbst hlt. Ebert gibt hier auch den Hinweis auf Platons Beschreibung des ,Schaulustigen‘ in Rep. 476c, wo der Trumende gerade nicht ber den Status seiner Erscheinung reflektieren kann, sondern einen schçnen Gegenstand fr das Schçne selbst hlt. 8 Vgl. 168b5, 170a3 – 4, 171e2, 177c7 – 8. Auch Aristoteles paraphrasiert den Satz des Protagoras mit beiden Termini: „alles, was jemand meint oder was scheint, ist wahr“ (t± dojoOmta…ja· t± vaimºlema : Met. IV 5, 1009a6 ff.). 9 Vgl. Frede 1987, 5. 10 Zum Folgenden vgl. Burnyeat 1976, 34 ff.
3.1 Platons anti-empiristische Analyse im Theaitet
113
Autonomie zuspricht: Die Wahrnehmung prsentiert der Seele zum einen Gegenstnde, die nicht zugleich in eine entgegengesetzte Wahrnehmung umschlagen (d. h. nicht-amphibolisch sind), wie z. B. ein Finger; diese Gegenstnde werden der Seele als schon hinreichend von der Wahrnehmung unterschieden (Rjam_r rp¹ t/r aQsh¶seyr jqimºlema) prsentiert. Zum anderen gibt es auch Gegenstnde, die sich zugleich in ihrem Gegenteil zeigen (d. h. amphibolisch sind), z.B. groß und klein, dick und dnn, weich und hart, leicht und schwer; diese macht die Wahrnehmung der Seele als gegenstzliche kund (523c3: dgko?; 523e5: dgkoOsim ; 524a2: paqacc´kkei ; 524a9: sgla¸mei). Im ersten Fall ist das von der Wahrnehmung Prsentierte so eindeutig, daß die Vernunft nicht zur nheren Untersuchung aufgefordert wird (523b1: oq paqajakoOmta tμm mºgsim eQr 1p¸sjexim); die Seele wird nicht gezwungen, die Vernunft weiter zu fragen (523d4 – 5). Im zweiten Fall dagegen ist die Seele im Zweifel und ruft die berlegung und die Vernunft zur weiteren Betrachtung und Beurteilung herbei (524b4 – 5).11 Die Seele ist eine Instanz, der die Wahrnehmung ihre Inhalte meldet und die diesen entweder vertraut oder die Vernunft zur weiteren Beurteilung herbeiruft.12 Entscheidend ist hier, daß die Wahrnehmung unabhngig von der Vernunft Urteile fllen kann und damit der Seele als ein der Vernunft gleichberechtigtes Vermçgen gegenbersteht; die Wahrnehmung wird als ein urteilendes Vermçgen angesehen und ist in diesem Sinn selbstndig. (i) Ihre Ttigkeit wird mit der Terminologie des ,Kundtuns‘, ,Vermeldens‘ und ,bedeutungsvollen Sagens‘ beschrieben (523c3: dgko?; 524a9: sgla¸mei ; 524a2: paqacc´kkei ; 524a7: k´cei ; 524b1: 2qlgme?ai).13 (ii) Das Subjekt der ais-
11 Rep. 523a9 – b4: „Ich zeige dir also, sprach ich, wenn du es siehst, in den Wahrnehmungen einiges, was gar nicht die Vernunft zur Betrachtung auffordert, als werde es schon hinreichend durch die Wahrnehmung bestimmt, anderes hingegen, was auf alle Weise jene herbeiruft zur Betrachtung, als ob dabei die Wahrnehmung nichts gesundes ausrichte“ (bers. Schleiermacher). Rep. 524b3 – 5: „Natrlich also versucht die Seele bei dergleichen zuerst berlegung und Vernunft herbeirufend zu erwgen, ob jedes solche angemeldete eins ist oder zwei“ (bers. Schleiermacher). 12 Was hier unter der Seele genauer zu verstehen ist, ist fr unsere Zwecke nicht von Belang. 13 Vgl. Soph. 262c1 – d6: Ein Satz als eine Verbindung (sulpkoj¶) aus Namen (emola) und Zeitwort (N/la), wie z. B. „der Mensch lernt“, macht etwas kund (dgko? ). Der Satz ,benennt‘ nicht nur, sondern ,bestimmt‘ auch etwas; wer ihn ausspricht ,redet‘ und ,nennt‘ nicht nur. Aristoteles spricht in Int. 4 davon, daß jeder Satz (logos) zwar etwas ,bedeutet‘ (sglamtijºr), nicht aber notwendig ein Behauptungssatz (!povamtijºr) ist. Ein solcher liegt nur dann vor, wenn der ußerung das Wahr- oder Falschsein zukommt. Z.B. bedeutet ,Mensch‘ etwas, sagt aber nichts darber aus,
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3. Der Gehalt der Wahrnehmung
thetischen Ttigkeit ist nicht die Seele, sondern das Sinnesvermçgen selbst (523d5, e1, 524c3: exir ; 524a1: aUshgsir). (iii) Der Wahrnehmungsgehalt weist eine als-Struktur auf (525a5 – 6). (iv) Wahrnehmung und Vernunft sind zwei voneinander unabhngige Wissensquellen, d. h. die Vernunft ist in ihrer Erkenntnis, was z. B. die Einheit ist (525a1), nicht auf die Wahrnehmung angewiesen. Die Wahrnehmung regt lediglich die Vernunft an oder fordert sie heraus; beide sind konkurrierende Vermçgen.14 Auch in Rep. X werden diese beiden Vermçgen als urteilend (602e9, 603a1: don²feim) und daher konkurrierend beschrieben: Das Urteil der Wahrnehmung, der ins Wasser gehaltene Stab sei krumm, widerspricht dem Urteil der Vernunft, der Stab sei gerade.15 Im Theaitet deutet sich nun in der Ausdrucksweise des Sokrates eine erste Klrung der Termini phainesthai, aisthanesthai, dokein und doxazein an. Im ersten Einwand gegen Protagoras gibt er seine These mit den Worten wieder: „Denn wenn einem jeden wahr sein soll, was er mittels der Wahrnehmung meint (di’ aQsh¶seyr don²f,)“ (161d3); in 161e8 ist von „Vorstellungen und Meinungen“ die Rede (vamtas¸ar te ja· dºnar). Besonders deutlich wird diese przisierende Ausdrucksweise in 179c3 – 4: „ber den gegenwrtigen Zustand eines jeden, woraus die Wahrnehmungen und die Meinungen aufgrund der Wahrnehmungen entstehen“ (p²hor, 1n ¨m aR aQsh¶seir ja· aR jat± ta¼tar dºnai c¸cmomtai). Die hier nur angedeutete begriffliche Klrung wird im Schlußabschnitt des ersten Teils des Theaitet (184b-186e) genauer ausgefhrt.16 Sokrates beginnt mit einer grammatischen Unterscheidung zwischen dem, womit (è) der Mensch etwas wahrnimmt, und dem, durch das (diû ox) der Mensch etwas wahrnimmt. Sokrates legt nun Theaitet die Frage vor, ob es ,richtiger‘ (aqhot´qa) ist zu sagen, daß die Augen das sind, womit wir sehen, oder daß die Augen das sind, durch das wir sehen. Die Redeweise, daß wir ,durch die Augen‘ etwas sehen, scheint Theaitet ,richtiger‘ zu sein als zu sagen, daß wir ,mit den Augen‘ etwas sehen. Sokrates hebt hervor, daß es ihm bei dieser Frage nicht bloß um eine sprachliche Spitzfindigkeit geht, daß etwas ist oder nicht ist. Hierfr muß noch ein ,Aussagewort‘ (N/la) hinzugefgt werden. 14 Burnyeat 1976, 34 ff.; Burnyeat 1990, 60 f. 15 Ebd. 16 Hier schließe ich mich der Interpretation von Cooper (1970) und Burnyeat (1976; 1990, 58 ff.) an, die im Unterschied zur traditionellen Interpretation von Cornford (1935) annehmen, daß es in diesem Abschnitt nicht um eine bloße Weiterfhrung oder Anwendung einer mit der Zwei-Welten-Lehre der Mittleren Dialoge korrelierten Epistemologie geht, sondern um eine Unterscheidung zwischen ,sensation‘ und ,judgement‘.
3.1 Platons anti-empiristische Analyse im Theaitet
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sondern daß dahinter ein sachliches Problem steht (184c1 – 5). Dieses Problem wird durch das Modell des hçlzernen Pferdes verdeutlicht: Wrde gelten, daß wir ,mit den einzelnen Wahrnehmungsorganen‘ wahrnehmen, dann wrde das bedeuten, daß alle Wahrnehmungen in uns unverbunden nebeneinander liegen wie in einem hçlzernen Pferd. Das Individuum wre ein bloßer ,Container‘ fr verschiedene Wahrnehmungsakte.17 Das Gegenmodell hierzu ist, daß ,alle Wahrnehmungen in einer bestimmten Form zusammenlaufen‘ (eQr l¸am tim± Qd´am […] p²mta taOta sumte¸mei) und diese Form fr die Wahrnehmungen verantwortlich ist; daß dieses Zentrum ,Seele‘ genannt wird, ist nicht von primrer Bedeutung (184d3). Auf dieses Zentrum bezieht sich die Formulierung ,mit der Seele‘18, whrend die einzelnen Organe nur als Instrumente19 fungieren; mit der Seele und durch die Organe als kçrperliche Werkzeuge nehmen wir wahr20 : „Arg wre es auch, Sohn, wenn diese mancherlei Wahrnehmungen wie im hçlzernen Pferde in uns nebeneinander lgen, und nicht alle in irgendeinem, du magst es nun Seele oder wie sonst immer nennen, zusammenliefen, mit der wir dann vermittelst jener, daß ich so sage, Werkzeuge (Ø di± to¼tym oXom aqc²mym) wahrnehmen, was nur wahrnehmbar ist“ (184d1 – 5; bers. Schleiermacher). Dieses Zentrum ist fr die einzelnen Ttigkeiten primr verantwortlich und diesem ordnen sich die einzelnen Sinne als Instrumente unter. Mit dieser Unterscheidung ist aber nicht nur die Einheit des Bewußtseins der verschiedenen Wahrnehmungsakte garantiert, vielmehr dient diese Unterscheidung im Folgenden auch als Grundlage fr die begriffliche Klrung des Verhltnisses von Wahrnehmung, Meinung und Wissen und damit der Widerlegung, Wahrnehmung sei Wissen. Theaitet stimmt dem von Sokrates aufgestellten Prinzip zu, daß das, was durch das eine sinnliche Vermçgen wahrgenommen wird, nicht durch ein anderes Vermçgen wahrgenommen werden kann, jeder Sinn also seine eigentmlichen Gegenstnde hat: „Wirst du auch wohl zugeben wollen, daß du dasjenige, was du vermittelst des einen Vermçgens wahrnimmst, unmçglich (!d¼matom) vermittelst eines andern wahrnehmen kçnntest; als was vermittelst des Gesichtes, das nicht vermittelst des Gehçrs, und was vermittelst des Gehçrs, 17 Burnyeat 1976, 33. 18 Fr diese Ausdrucksweise vgl. auch Aristoteles, De an. I 4, 408b15; Sens. 436b7. 19 Mit Burnyeat (1976, 30 Anm. 6) gehe ich davon aus, daß eqcama hier eine ganz unspezifische Bedeutung hat, d. h. nicht schon im Sinne von ,kçrperlichen Organen’ verstanden werden darf. 20 Vgl. auch Tht. 185d3; 185e7.
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3. Der Gehalt der Wahrnehmung
das nicht vermittelst des Gesichtes?“ (184e8 – 185a2; bers. Schleiermacher).21 Daraus folgt, daß das, was ber verschiedene Sinnesgegenstnde Gemeinsames gedacht wird (diamoe?shai peq·: 185a4) – in 185b8 – 9 spricht Sokrates auch vom t¹ joim¹m kalb²meim peq· aqt_m –, weder durch das eine noch durch das andere sinnliche Vermçgen wahrgenommen werden kann, also kein mçglicher Inhalt der Wahrnehmung ist.22 Zu diesen gemeinsamen Inhalten gehçrt an erster Stelle, daß die jeweiligen Sinnesgegenstnde ,sind‘: „ber Ton nun und ber Farbe, denkst du nicht ber diese beiden zuerst dieses, daß sie beide sind (fti !lvot´qy 1stºm)?“ (185a8 – 9); Sokrates spricht bei dieser gemeinsamen Bestimmung (koinon) auch von der ousia, die „am meisten alle begleitet“ (l²kista 1p· p²mtym paq´petai : 186a2 – 3).23 Nach diesem primren koinon nennt Sokrates Verschiedenheit und Einheit24, Anzahl, hnlichkeit und Unhnlichkeit, spter auch schçn und schndlich, gut und schlecht25, schließlich auch den Nutzen als Bestimmungen, die allen spezifischen Sinnesgegenstnden gemeinsam zukommen (tº t’ 1p· p÷si joim¹m : 185c4 – 5). Diese gemeinsamen Bestimmungen kçnnen nicht durch ein bestimmtes Sinnesvermçgen oder Sinneswerkzeug26 erfaßt werden, vielmehr untersucht die Seele diese Bestimmungen ,durch sich selbst‘ (di’ art/r): „Vermittelst wessen wirkt denn nun dasjenige Vermçgen, welches dir das in allen und auch in diesen Dingen gemeinschaftliche offenbart, womit du von ihnen das Sein oder Nichtsein aussagst, und das wonach ich jetzt eben fragte? […] Aber, beim Zeus, Sokrates, dies wßte ich nicht zu sagen, außer daß es mir scheint, als gbe es berall gar nicht ein solches besonderes Werkzeug (eqcamom Udiom) fr dieses wie fr jenes, sondern die Seele scheint mir vermittelst ihrer selbst (di’ art/r) das gemeinschaftliche in allen Dingen zu erforschen (t± joim²…peq· p²mtym 1pisjope?m)“ (185c4-e2; bers. Schleiermacher). Was fr eine Art kognitive Ttigkeit ist hier gemeint? Feststeht, daß sich die ,Ttigkeit der Seele durch 21 Zu einer unterschiedlichen Interpretation der Strke dieses Prinzips vgl. Burnyeat 1990, 56 f. Schon hier wird deutlich, daß dieses Prinzip bei Aristoteles (De an. II 6, 418a11 f.) schwcher verstanden werden muß, da es bei ihm die koina aisthÞta gibt, die von mehreren spezifischen Vermçgen wahrgenommen werden kçnnen (De an. III 1, 425a15 f.). 22 Das diamoe?shai muß hier in einem weiten Sinn verstanden werden. Man erkennt etwas, das zwei verschiedenen Sinnesgegenstnden gemeinsam ist. 23 Neben dieser Formulierung spricht Platon auch von 5stim/auj 5sti (185c4 – 5), oqs¸a/lμ eWmai (c9), oqs¸a ja· fti 1stºm (186b6), oqs¸a (b7; c3; c7; d3). 24 „Nicht auch, daß jedes von beiden vom andern verschieden, mit sich selbst aber identisch ist?“ (185a11 – 12). In 185c10 kurz t¹ taqtºm te ja· t¹ 6teqom genannt. 25 jak¹m ja· aQswq¹m ja· !cah¹m ja· jajºm (186a9). 26 Platon kann d¼malir auch im Sinne von eqcamom verwenden (185a5).
3.1 Platons anti-empiristische Analyse im Theaitet
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sich selbst‘ keines Sinnesorgans bedient, demnach also kein aisthetischer Akt ist.27 Daraus kçnnte man den Schluß ziehen, daß es sich um einen intuitiven Akt des nous im Sinne einer geistigen Schau handelt, wie er z. B. in den mittleren Dialogen hufig anzutreffen ist; in diesem Sinn kçnnte man das Erfassen des primren koinon der ousia (185c9, 186a2, b6) und der anderen koina als geistige Schau der Ideen von Sein, Identitt und Verschiedenheit verstehen.28 Eine nicht-intuitionistische Interpretation wrde dagegen folgendermaßen aussehen: Das primre koinon ,Sein’ wird in Form einer Proposition eingefhrt, in der das Vorliegen bestimmter Qualitten behauptet wird (fti !lvot´qy 1stºm : 185a9; c4 – 5). Hier wird der Anspruch erhoben, daß etwas der Fall ist (z. B. daß dort etwas Rotes ist); wir haben es mit einem Wahrnehmungsurteil zu tun.29 Die Seele kann den Unterschied zwischen dem Harten und Weichen und das Sein dieses Unterschieds beurteilen: „Aber das Sein von beiden, und daß sie sind30, und ihre Gegensetzung gegen einander und das Bestehen dieser Entgegensetzung (tμm oqs¸am aw t/r 1mamtiºtgtor), dies versucht also unsere Seele selbst durch 27 Hier zeigt sich der Unterschied zwischen den koina bei Platon und den koina aisthÞta bei Aristoteles, auf die wir noch nher eingehen werden (Kap. 3.3). Whrend die koina bei Platon kein Gegenstand der Wahrnehmung sind, vielmehr durch ein hçheres Vermçgen erfaßt werden, sind die koina bei Aristoteles von mehreren Sinnen ,an sich‘ wahrnehmbar (De an. II 6, 418a8 – 11, a18 ff.; III 1, 425a27). Nun darf man aber nicht meinen, daß die platonischen koina von Aristoteles in die Sphre des Wahrnehmbaren hineingeholt werden: Nur ein platonisches koinon, nmlich die Einheit (6m) bzw. Zahl (!qihlºr), taucht bei Aristoteles wieder als koinon aisthÞton auf (De an. II 6, 418a18 f.; III 1, 425a16; Sens. 437a9). Die Eigenschaft ,Einheit und Verschiedenheit‘ (t¹ taqtºm te ja· t¹ 5teqom) ist fr Aristoteles kein ,direkter‘ Gegenstand der Wahrnehmung, sondern Ergebnis der unterscheidenden Ttigkeit der ,gemeinsamen Wahrnehmung‘ (De an. III 2, 426b8 – 23) bzw. der Ttigkeit des sensus communis (Somn. 455a15 – 22). 28 Nach Cornford (1935) sind oqs¸a und die folgenden koina als von der sinnlichen Welt abgetrennte Gegenstnde des Wissens zu verstehen, die nur in einer geistigen Schau zugnglich sind. Der Theaitet wrde somit nichts anderes tun, als auf der Grundlage der Zwei-Welten-Lehre und der mit ihr korrelierten Epistemologie die Gleichsetzung von Wahrnehmung und Wissen zu widerlegen. 29 Nach Kahn besitzt das eWmai eine ,veridical nuance‘ (im Unterschied zur ,veridical construction‘: z. B. ,es ist so, daß p‘). Diese begleitet implizit die gesamte Verwendung der Kopula in jedem assertorischen Satz und steht dem bloßen (nichtepistemischen) ,Scheinen‘ gegenber: „Even where the syntax is unambiguos, a copula use of the verb may bear a veridical value, that is to say, it may serve to call attention to the truth claim that is implicit in every declarative sentence […] In the copula use a veridical nuance emerges whenever there is any contrast between being so and seeming so“ (Kahn 1981b, 105). 30 Mit Cooper (1970, 137 Anm. 18) kann das epexegetisch verstanden werden.
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3. Der Gehalt der Wahrnehmung
Betrachtung und Vergleichung zu beurteilen“ (186b6 – 9; bers. Schleiermacher mit nderungen). Fr eine solche Interpretation kçnnte angefhrt werden, daß die ,Ttigkeit der Seele durch sich selbst‘ diskursiv beschrieben wird31: Die Seele setzt in dieser ihr eigenen, von den Sinneswerkzeugen unabhngigen Ttigkeit etwas miteinander ins Verhltnis, wie das Vergangene, Gegenwrtige und Zuknftige bei den Wertprdikaten (!makocifol´mg : 186a11), unterscheidet durch intensive Prfung und Vergleich (1pamioOsa ja· sulb²kkousa pq¹r %kkgka jq¸meim : 186b8) und zieht bestimmte Schlsse ber das Wahrgenommene (t± d³ peq· to¼tym !makoc¸slata : c2 – 3; peq· 1je¸mym sukkocisl`: d3); dies alles vollzieht sich nicht ,auf einen Schlag‘und ohne gewisse Voraussetzungen, sondern verlangt Zeit, Mhe und Unterricht (186c3 – 4). Diese der Seele eigentmliche Ttigkeit wird in 187a8 als doxazein bezeichnet; ihr diskursiver Charakter kommt noch einmal zum Vorschein, wenn Sokrates das doxazein als Konklusion des Denkens (dianoeisthai) im Sinne eines Gesprchs der Seele mit sich selbst bestimmt (189e4 – 190a7; Soph. 264b1: dºna d³ diamo¸ar !poteke¼tgsir).32 Es handelt sich hier um eine urteilende, dianoetische Ttigkeit der Seele. Gegenber der Wahrnehmung kçnnen somit folgende Unterschiede angefhrt werden: Whrend die Wahrnehmung Menschen und Tieren von Natur aus (physei) zukommt und mit der Geburt zur Verfgung steht (186b11 – c1)33, somit also kein weiteres Wissen voraussetzt, wird die spezifisch seelische Ttigkeit durch viele bungen und Unterricht erworben. Das wendet sich indirekt gegen die Protagoreische Infragestellung von Wissensautoritten.34 Whrend bei der Wahrnehmung von pathÞmata die Rede ist, die durch den Kçrper zur Seele gelangen (186c1 – 2, d2), cha31 Vgl. Cooper 1970; Frede 1987, 7. 32 „Denn so schwebt sie mir vor, daß, so lange sie denkt, sie nichts anders tut als sich unterreden, indem sie sich selbst antwortet, bejaht und verneint. Wenn sie aber langsamer oder auch schneller zufahrend nun etwas feststellt, und auf derselbigen Behauptung beharrt, und nicht mehr zweifelt, dies nennen wir dann ihre Meinung“ (bers. Schleichermacher mit nderung). 33 Aristoteles lehnt sich in An.Post. II 19, 99b34 f. an diese Formulierung an, wenn er davon spricht, daß das Vermçgen der Wahrnehmung allen Lebewesen zukommt und angeboren (s¼lvutom) ist. Der entscheidende Unterschied zu Platon besteht jedoch darin, daß Aristoteles die Wahrnehmung als ein unterscheidungsfhiges (d¼malir jqitij¶) und zur Reflexion auf ihre eigene Ttigkeit fhiges Vermçgen ansieht. Hierzu Genaueres in den folgenden Abschnitten dieses Kapitels. 34 Auf diesen Aspekt kçnnte auch die Digression mit ihrer Betonung der ,Muße‘ (swok¶: 172c2, d5) als Gegenmodell zur Leugnung epistemischer Autoritten hinweisen. Auch Aristoteles betont den Zeitaspekt: „Denn das Wissen muß mit dem Menschen verwachsen; das aber braucht Zeit“ (EN VII 5, 1147a22).
3.1 Platons anti-empiristische Analyse im Theaitet
119
rakterisiert Platon die seelische Ttigkeit mit Hilfe der Terminologie des Schließens (186c3: !makoc¸slata ; d3: sukkocisl`), was auf die Aktivitt eines urteilenden Vermçgens hinweist. Damit ist die Vermischung zwischen Wahrnehmen und Meinen aufgelçst: Die Wahrnehmung ist nichts anderes als ein angeborenes, auch den Tieren zukommendes passives Vermçgen, durch den Kçrper von den eigentmlichen Sinnesqualitten affiziert zu werden, die dann zur Seele als dem Zentrum der Wahrnehmung gelangen (186c1 – 2). Die Wahrnehmung besitzt keine Kompetenz, Meinungen bzw. Urteile35 ber das Wahrgenommene zu bilden. Insofern fr ein Urteil Begriffe beherrscht und miteinander verbunden werden mssen, handelt es sich hier vielmehr um eine diskursive, rationale Ttigkeit, die auf Lernen beruht (186c4). Mit Kant kçnnte man sagen: Die Sinne urteilen nicht.36 Dadurch verlieren die einzelnen Sinne ihre Autonomie, die in Rep. VII und X im Vermçgen des Urteilens bestand.37 Die einzelnen Wahrnehmungssinne spielen nur noch die Rolle von kçrperlichen Instrumenten und werden der Seele als Zentrum und eigentliches Subjekt jeder Wahrnehmung untergeordnet. Platon hat mit dieser Analyse gezeigt, daß Wahrnehmung und Meinung voneinander zu trennen sind: Das Wahrnehmungsurteil ist schon eine dianoetische Ttigkeit; was umgangssprachlich als ,Wahrnehmung‘ bezeichnet wird, impliziert schon immer hçhere Leistungen. Im Sophistes wird das Wahrnehmungsurteil als phantasia bezeichnet: die Konklusion eines Gesprchs, das die Seele nicht mit sich allein, sondern durch oder mit Hilfe der Wahrnehmung (di( aQshgseyr) gefhrt hat (s¼lleinir aQsh¶seyr ja· dºngr : 264a4 – b4). Eine zweite Konsequenz aus Platons Analyse ist, daß ein genuin aisthetischer Weltzugang unmçglich wird: Wenn ein solcher Zugang darin besteht, daß man zwischen verschiedenen sinnlichen Qualitten unterscheiden und diesen Unterschied als der-Fall-seienden behaupten kçnnen muß, z. B. daß dieses Rote vom benachbarten Grnen verschieden ist (186b7: tμm oqs¸am aw t/r 1mamtiºtgtor), nun aber diese beiden Leistungen der dianoetischen ,Ttigkeit der Seele durch sich selbst‘ zugeschrieben werden mssen (185a, c9), dann ist fr die Wahrnehmung allein ein Zugang zur Wirklichkeit unmçglich.38 Die Wahrnehmung versorgt lediglich die hçhere Ttigkeit der 35 Ich verstehe hier unter Urteil die ußerung einer Meinung. Wir haben viele Meinungen, mssen diese aber nicht unbedingt in einem Urteil kundtun. 36 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht I § 11; Kritik der reinen Vernunft B 350. 37 Burnyeat 1976, 36. 38 Darauf macht Ricken (1989, 223) aufmerksam.
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3. Der Gehalt der Wahrnehmung
Seele mit sensorisch-qualitativen Inhalten. Dies gilt auch dann, wenn Platon der Wahrnehmung so etwas wie rudimentre Begriffe, z. B. Farbprdikate, zugestehen wrde, wie es sich von 186b2 – 4 aus nahelegt39 : Der Tastsinn kçnnte dann zwar das Harte als Hartes wahrnehmen, nicht aber feststellen, daß dort etwas Hartes ist, d. h. kein Urteil ber die Wirklichkeit fllen.40 Auf dieser Grundlage kann schließlich die These des Theaitet widerlegt werden, daß Wahrnehmung und Wissen dasselbe seien: (i) Von etwas Wissen zu haben impliziert, von etwas die Wahrheit zu erreichen.41 (ii) Von etwas die Wahrheit zu erreichen impliziert, von etwas das Sein, die ousia, zu erreichen. Nach der nicht-intuitionistischen Interpretation ist demnach der Ort der Wahrheit das sich auf das Seiende beziehende Urteil. (iii) Der Wahrnehmung ist es nicht mçglich, das Sein zu erreichen, da die Wahrnehmung keine Urteile mit einem wahrheitsbeanspruchenden ,ist‘ fllen kann. (iv) Daraus folgt, daß die Wahrnehmung auch nicht die Wahrheit von etwas erreichen und damit nicht mit Wissen identifiziert werden kann. (v) In den Eindrcken der Wahrnehmung ist kein Wissen, wohl aber in den Schlssen ber diese, die eine ,Ttigkeit der Seele durch sich selbst‘ darstellen. Die These des Theaitet ist somit widerlegt. Platon hat gezeigt, daß in den Kompetenzbereich der Wahrnehmung lediglich die Aufnahme der ,eigentmlichen Qualitten‘ fllt. Er nimmt somit eine anti-empiristische Analyse der Wahrnehmung vor: Indem er aufgezeigt, welche nicht-perzeptiven, hçheren Leistungen schon immer in ein gewçhnliches Wahrnehmungsurteil eingeflossen sind, zeigt er wie ,schmal‘ die empirische Basis ist und daß sie zu ,schmal‘ ist, um Wissen begrnden zu kçnnen. Mit Burnyeat gesprochen: „the perception by itself is blind and can tell us nothing“.42 Die Wahrnehmung liefert keine nicht-inferentiell gewußten Tatsachen, die in rechtfertigende Beziehungen zu anderen berzeugungen 39 Nach Tht. 186b2 – 4 scheint der Tastsinn die „Hrte des Harten“und die „Weichheit des Weichen“ wahrnehmen zu kçnnen. Cooper (1970) spricht hier von „minimal perceptual concepts“ (141). Eng verbunden mit der Wahrnehmung sei eine unmittelbare Konzeptualisierung der Sinnesdaten: „…the labelling function goes together with sensory awareness and is reasonably grouped together with it in contrast with reflective judgment“ (134); „perception, then, includes sensory awareness and the minimum interpretation of its objects which is involved in labelling them…“ (141). 40 Vgl. Burnyeat 1990, 64: „Perception is aware of red as red, of hardness as hardness. What it cannot do is go beyond this awareness to determine what is objectively the case in an interpersonal world.“ 41 Zu dem hier vorausgesetzten Wissensbegriff vgl. schon Tht. 152c5 – 6 (toO emtor !e¸ 1stim ja· !xeud´r). 42 Burnyeat 1990, 62. Vgl. auch Frede 1987, 8.
3.2 Grundriß des Aristotelischen Wahrnehmungsbegriffs
121
treten kçnnten, sondern bezieht sich auf einzelne Qualitten; sie besitzt somit keine epistemisch-rechtfertigende Autoritt: „In jenen Eindrcken also ist kein Wissen, wohl aber in dem Schluß ber jene“ (186d2 – 3).43 Der Theaitet geht sogar noch einen Schritt weiter: Indem der Wahrnehmung abgesprochen wird, erfassen zu kçnnen, daß dort etwas Rotes ist und daß es sich vom benachbarten Grnen unterscheidet (185a), haben wir durch die Sinne allein noch nicht einmal einen eigenen Zugang zur Wirklichkeit; sie fungieren bloß als ,Werkzeuge‘ fr die hçheren seelischen Funktionen.
3.2 Grundriß des Aristotelischen Wahrnehmungsbegriffs Der kurze Blick in den Theaitet hat gezeigt, daß im damaligen Diskussionskontext der Akademie die Frage nach dem Gehalt und dem epistemologischen Status der Wahrnehmung keine fremde war. Nun ist es eine in der Forschung gelufige These, daß Aristoteles den Kompetenzbereich der Wahrnehmung gegenber Platon stark erweitert hat.44 Das soll kurz anhand folgender Punkte verdeutlicht werden: (a) Aristoteles fgt der Klasse der jedem Sinn eigentmlichen Gegenstnde (idia aisthÞta) die sog. koina aisthÞta (Bewegung, Ruhe, Gestalt, Grçße, Zahl und Eines45) hinzu, die von mindestens zwei Sinnen wahrgenommen werden kçnnen (De an. II 6, 418a17 – 20; III 1, 425a15 f.).46 Beide bilden zusammen die Klasse des ,an sich Wahrnehmbaren‘, von denen die idia aisthÞta als die ,im eigentlichen Sinn‘ (juq¸yr : 418a24) wahrnehmbaren Gegenstnde bezeichnet werden. (Darauf werden wir im nchsten Abschnitt noch genauer eingehen.) Mit den koina aisthÞta gibt Aristoteles Platons Prinzip auf, daß das, was durch ein Vermçgen wahrgenommen wird, unmçglich durch ein anderes wahrgenommen werden kann (Tht. 184d7 – 185a3). In der Wahrnehmung prsentiert sich uns also eine bestimmte 43 1m l³m %qa to?r pah¶lasim oqj 5mi 1pist¶lg, 1m d³ t` peq· 1je¸mym sukkocisl`. 44 Vgl. Sorabji 1992, 196: „he gives to perceptual content one of the most massive expansions in the history of Greek philosophy“. 45 Im Gegensatz zu Ross (1961, 270), der hen nicht liest, scheint es gut begrndet zu sein, hen hier dennoch eigens anzufhren: Das hen ist das „Prinzip der Zahl“ (Met. V 6, 1016b17 ff.; X 1, 1052b23 f.), durch das anderes gezhlt wird, das aber selbst nicht gezhlt werden kann, weshalb es im eigentlichen Sinn keine Zahl ist (Met. XIV 1, 1088a4 – 8) und daher in De an. III 1 gesondert erwhnt wird. 46 Hier wird nur ein koinon Platons, also was ber verschiedene Sinnesgegenstnde Gemeinsames gedacht werden kann (diamoe?shai peq· c. gen.; Tht. 185a4), zum koinon aisthÞton bei Aristoteles, nmlich die Anzahl.
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3. Der Gehalt der Wahrnehmung
Qualitt gemeinsam mit bestimmten koina aisthÞta, wie z. B. eine Farbe in einer bestimmten Grçße (Sens. 445b10 f.). (b) Das von Platon beschriebene Phnomen, ber zwei verschiedene Qualitten etwas Gemeinsames denken oder erfassen zu kçnnen (185a4: diamoe?shai peq· !lvot´qym ; 185b8 – 9: t¹ joim¹m kalb²meim peq· aqt_m), z. B. daß sie voneinander verschieden und mit sich identisch sind, daß sie einander hnlich oder unhnlich sind, wird von Aristoteles der Kompetenz des Wahrnehmungsvermçgens zugesprochen47 und nicht wie im Theaitet der Ttigkeit der Seele ,durch sich selbst‘ (Tht. 185e). Nach Aristoteles ist es ein und dasselbe sinnliche Vermçgen, das in ungetrennter Zeit zwei Qualitten derselben oder unterschiedlicher aisthetischer Gattung voneinander unterscheiden (krinein)48 kann (De an. III 2, 426b8 – 427a14). Es ist auch kein besonderes Vermçgen notwendig, um zu erkennen, daß beide Qualitten zu einem Gegenstand gehçren (III 1, 425b2; auch 425a23 f.). Der Wahrnehmung wird außerdem die Fhigkeit zugesprochen, ihre eigene Ttigkeit wahrzunehmen, wir nehmen z. B. wahr, daß wir etwas sehen (De an. III 2, 425b12 – 25; EN IX 9, 1170a29-b1). Fr diese diskriminatorischen und reflexiven Leistungen ist ein Wahrnehmungsvermçgen von hoher Komplexitt notwendig: Nach Aristoteles bilden die fnf Einzelsinne gemeinsam ein Vermçgen, das nicht nur als ein ,besonderes‘ (z. B. als Gesichtssinn), sondern auch als ein ,gemeinsames‘ ttig sein kann und somit Leistungen vollziehen kann, welche die Kompetenz der Einzelsinne bersteigen (z. B. gleichzeitig zwischen dem Gelben und dem Sßen zu unterscheiden).49 Diesem komplexen Vermçgen liegt ein sensorisches System zugrunde, in dem die peripheren Sinnesorgane in einem Zentralorgan konvergieren, das im Herzen lokalisiert ist. In De Somno spricht Aristoteles die diskriminatorischen und reflexiven Leistungen dieser joimμ d¼malir (455a16) bzw. dem im Herzen lokalisierten Zentralsinn (timi joim` loq¸\ t_m aQshgtgq¸ym "p²mtym ; t¹ j¼qiom aQshgt¶qiom : 455a19 ff.) zu, in dem alle spezifischen Sinne konvergieren (Somn. 455a3450 ; Juv. 467b2951). Fr dieses ,gemeinsame Vermçgen‘ bzw. diesen ,gemeinsamen Teil aller Sinne‘ hat sich in der Aristotelischen Tradition die Bezeichnung ,Gemeinsinn‘ 47 Vgl. De an. III 2, 426b14 f.: …tim· ja· aQshamºleha fti diav´qei. !m²cjg dμ aQsh¶sei7 aQshgt± c²q 1stim. 48 Zum krinein als einem Unterscheiden vgl. Ebert 1983. 49 Vgl. Gregoric 2007, 39. 50 pq¹r d sumte¸mei tükka. Auffllig ist hier die hnlichkeit zu Tht. 184d3 – 4, wo es allerdings die Seele ist, in der die einzelnen Wahrnehmungen zusammenlaufen (p²mta taOta sumte¸mei). 51 eQr d t±r jat’ 1m´qceiam aQsh¶seir !macja?om !pamt÷m
3.2 Grundriß des Aristotelischen Wahrnehmungsbegriffs
123
(sensus communis) etabliert. Welche Aristotelischen Termini52 genau das treffen, was in der Tradition unter dem ,Gemeinsinn‘ verstanden wurde, und welche Leistungen diesem sinnlichen Vermçgen zugeschrieben werden sollten, sind hçchst umstrittene Fragen, auf die hier nicht nher eingegangen werden kann.53 Hier ist nur von Belang, daß Aristoteles ein ,gemeinsames Vermçgen‘ kennt, das als ,sinnliches Zentrum‘ die Leistungen der Einzelsinne koordiniert und als solches eine Erweiterung der Kompetenz der Wahrnehmung mçglich macht. Durch dieses kçnnen Ttigkeiten erklrt werden, die einerseits das Vermçgen der Einzelsinne bersteigen, andererseits aber unterhalb des Intellekts liegen. Hier sind vor allem jene Leistungen zu nennen, durch die schon auf der perzeptuellen Ebene ein einheitliches Bewußtsein und ein genuin aisthetischer Weltzugang zustande kommen: Nach Aristoteles kommt es erst dann zu einer bewußten Wahrnehmung eines vorliegenden Gegenstands, wenn die sensitiven Bewegungen, die von den peripheren Organen ausgehen, das Zentralorgan affizieren und somit der von außen verursachte kausale Vorgang sein Ziel erreicht hat (Insomn. 461a30-b1). Dieses ,intentionale‘, auf den externen Gegenstand bezogene Bewußtsein ist von einem Bewußtsein der eigenen Ttigkeit, einem ,reflexiven‘ Bewußtsein begleitet (De an. III 2, 425b12 – 25; Somn. 455a16 f.). Nach Aristoteles ist jeder Wahrnehmungsakt mit einem Bewußtsein seiner eigenen Ttigkeit verbunden (EN IX 9, 1170a29-b1).54 Bei diesem refle52 Vgl. etwa aUshgsir joim¶ (De an. III 1, 425a27; Mem. 450a10 f.), joim¹m aQshgt¶qiom (Juv. 467b28; Juv. 469a12), joimo` m lºqiom t_m aQshgtgq¸ym "p²mtym (Somn. 455a19 f.), j¼qiom aQshgt¶qiom (Somn. 455a21, a33), t¹ j¼qiom (Insomn. 460b17), !qwμ t/r aQsh¶seyr (Insomn. 461a6 f.). 53 Vgl. die Studie von Gregoric 2007, der die divergierende Terminologie eingehend untersucht und sich um eine konsistente Antwort auf die Frage bemht, welche Funktionen dem Gemeinsinn zugeschrieben werden mssen. Zentral ist fr Gregoric die These, daß die verschiedenen Funktionen, die ber die Einzelsinne hinausgehen, nicht alle einem einzigen Vermçgen zugesprochen werden drfen, sondern – basierend auf dem ,begrifflichen Unterschied‘ zwischen den verschiedenen seelischen Vermçgen – zwischen einer ,perceptual capacity‘ und einer ,sensory capacity‘, die sowohl die ,perceptual capacity‘ als auch das phantastikon umfaßt, unterschieden werden kann. Der ,Gemeinsinn‘ kann dann im Sinne der Tradition auf die Leistungen der ,perceptual capacity‘ bezogen werden (52 – 61). Fr die von Gregoric eingefhrte Unterscheidung gibt es natrlich keine textlichen Anhaltspunkte; sie rechtfertigt sich allein durch ihre Erklrungskraft. Dagegen stellt fr Welsch (1987, Kap. VI) der,Gemeinsinn‘ berhaupt keine Lehre des Aristoteles dar, sondern ein Konstrukt der Interpreten. An die Stelle des ,Gemeinsinns‘ setzt er die Lehre von der ,Sinneseinheit‘. 54 Mssen wir dann auch niederen Lebewesen, die etwa nur berden Tastsinn verfgen, diese Fhigkeit zuschreiben? Aristoteles ordnet diese Fhigkeit dem Zentralsinn zu,
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3. Der Gehalt der Wahrnehmung
xiven Bewußtsein handelt es sich nun aber nicht um einen zweiten, auf einer hçheren Stufe angesiedelten Akt, der von einem ,inneren Sinn‘ hervorgebracht wird55, sondern um ein Element oder eine intrinsische Eigenschaft des Wahrnehmungsakts selbst, das durch das Wahrnehmungsvermçgen, insofern es als ,gemeinsames‘ ttig ist, geleistet wird.56 Dabei ist der ,reflexive‘ Aspekt dem ,intentionalen‘ nachgeordnet; das Bewußtsein der eigenen Ttigkeit kommt erst durch den Bezug auf einen ußeren Gegenstand zustande (Met. XII 9, 1074b35 f.).57 Wird also das Zentralsensorium durch die von einem peripheren Sinnesorgan ausgehende sensorische Bewegung affiziert, dann nimmt man den entsprechenden ußeren Gegenstand wahr und ist sich gleichzeitig dieser Wahrnehmung bewußt. Nimmt man jetzt noch die Fhigkeit der Unterscheidung zwischen Qualitten derselben oder verschiedener aisthetischer Gattungen hinzu, dann zeigt sich genauer, wie ein genuin aisthetischer Weltzugang mçglich wird: Wir kçnnen uns auf der Grundlage des komplexen Wahrnehmungsvermçgens auf bestimmte Qualitten beziehen, diese voneinander unterscheiden, auf einen Gegenstand hinordnen und sind uns dieses Wahrnehmungsaktes selbst noch einmal bewußt. Die Wahrnehmung ist hier kein unselbstndiges Werkzeug der Seele, das unser Denken mit elementaren sensorischen Informationen versorgt, sondern ein unterscheidungsfhiges und reflexives Vermçgen, das ein einheitliches sinnliches Bewußtsein hervorbringt. Wir sehen an dieser Stelle, wie die Wahrnehmung die allgemeine Bestimmung des Erkennens erfllt: Das Erkennen (gnrizein) ist ein Akt, in dem wir etwas von etwas anderem unterscheiden und Wirkliches erfassen (De an. III 3, 427a20 f.). der jedem wahrnehmungsfhigen Wesen als solchem zukommt und im Herz, das zugleich Sitz des Tastsinns ist, lokalisiert ist (Somn. 455a22 f.). Er macht keine einschrnkenden Bemerkungen darber, ob nur einige Lebewesen diese Fhigkeit haben. Wenn das tatschlich der Fall wre, welches Vermçgen wre dann fr die Reflexion verantwortlich? Eine ganz andere Antwort besteht darin, die Selbstreflexion nicht mehr als aisthetisch, sondern als eine Art des Denkens anzusehen, das nur vernnftigen Wesen zukommen kann. 55 Vgl. Kosman 1975. 56 Hierzu genauer Caston 2002, 779. Ob auch das reflexive Bewußtsein als ein intentionaler Zustand angesehen werden kann, der sich auf den gegenstandsbezogenen Wahrnehmungsakt richtet, wodurch die Analysierbarkeit und Erklrbarkeit gewahrt bliebe, lasse ich hier offen. Nach Caston folgt daraus nicht, daß es sich um einen zweiten, getrennten mentalen Zustand handelt. Vielmehr werden beide Typen von Gehalt (der ,intentionale‘ und der ,reflexive‘) in einem token instantiiert sind, wodurch das reflexive Bewußtsein weiterhin eine intrinsische Eigenschaft des Wahrnehmungsakts bleibt. 57 Vgl. Oehler 1984, 72; Oehler 1985, 201.
3.2 Grundriß des Aristotelischen Wahrnehmungsbegriffs
125
Vom Denken (noein im weiten Sinn von 427b27) als der anderen Art des Erkennens unterscheidet sich das Wahrnehmen darin, daß es an einen organischen Apparat gebunden ist, auf aisthÞta ausgerichtet ist und sich ohne Begriffe (noÞmata) vollzieht. (c) Aristoteles rechnet auch die phantasia und das Gedchtnis (mnÞmÞ) dem Wahrnehmungsvermçgen zu. Im Unterschied zu Platon, wo der Terminus phantasia ein Wahrnehmungsurteil bezeichnet (s¼lleinir aQsh¶seyr ja· dºngr : Soph. 264b2), versteht Aristoteles die phantasia nicht-doxastisch: Bei der Frage, zu welchem seelischen Vermçgen die phantasia zhlt, lehnt Aristoteles explizit die platonische Bestimmung der phantasia als ,Verbindung von Meinung und Wahrnehmung‘ab (428a25 – 28). Sie gehçrt fr Aristoteles zum wahrnehmungsfhigen Seelenteil (428b12 ff.) und kann auch Tieren zukommen (428a23 f.; Met. I 1, 980b25 f.). Zwischen dem aisthÞtikon und phantastikon besteht nur ein Unterschied ,dem Sein nach‘ (Insomn. 459a16 f.). Bei der phantasia handelt es sich nicht um ein genuin seelisches Vermçgen mit eigenen Gegenstnden, sondern bloß um ein passives Reservoir von Wahrnehmungseffekten, auf das andere Vermçgen zurckgreifen kçnnen, um Sachverhalte zu reprsentieren, die vom Vorliegen wahrnehmbarer Gegenstnde unabhngig sind.58 Neben der phantasia ordnet Aristoteles auch das Gedchtnis (mnÞmÞ) – nicht das Erinnern (anamnÞsis: Mem. 453a4 – 14) – dem wahrnehmungsfhigen Seelenteil zu, das Aristoteles als „Besitz einer Vorstellung als Abbild dessen, wovon es die Vorstellung ist“ definiert (Mem. 451a14 – 17). Mit dem Gedchtnis ttig zu sein, heißt also nicht, einen Wahrnehmungsinhalt bloß abzuspeichern, sondern ein phantasma als ein Abbild (eikn) dessen, wovon es die Vorstellung ist, zu verwenden und zustzlich zeitlich zu datieren. Wird das phantasma in dieser Weise vom primren Wahrnehmungsvermçgen verwendet (als mnÞmoneuma), bringt es einen reprsentationalen Gehalt hervor, dem der Verweis auf seinen perzeptuellen Ursprung beigefgt ist; es lßt uns an den ursprnglichen Wahrnehmungsgegenstand denken.59 Auf dieser Grundlage kçnnen subrationalen Lebewesen auch reidentifizierende und assoziierende Leistungen zugesprochen werden. ,Intelligentes‘ animalisches Verhalten kann somit ohne Rckgriff auf den Intellekt erklrt werden.60 (d) Trotz dieser Aufwertung der Kompetenz des Wahrnehmungsvermçgens im engen Sinn (Diskrimination, Selbstreflexion) und im weiten Sinn (phantasia, Gedchtnis) hlt Aristoteles an der strikten Trennung von 58 Vgl. Wedin 1988; D. Frede 1992, 281; Corcilius 2008, 211 – 215. 59 Hierzu genauer King 2004. 60 Hierzu genauer Lorenz 2006, 148 – 173.
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3. Der Gehalt der Wahrnehmung
Wahrnehmung und Denkvermçgen fest (De an. III 3, 427b6 – 14, b27). Das zeigt sich besonders darin, daß Aristoteles die berzeugungsunabhngigkeit der Wahrnehmung betont: „Es erscheint aber auch Falsches, ber das man zugleich eine wahre Annahme (rpºkgxir) hat, so scheint die Sonne ein Fuß breit zu sein, man ist aber davon berzeugt (piste¼etai), daß sie grçßer als die bewohnte Erde ist“ (De an. III 3, 428b2 ff.).61 Die Sonne kann ein Fuß breit erscheinen, auch wenn man gleichzeitig die berzeugung besitzt, daß sie grçßer als die bewohnte Erde ist. Der kurze berblick konnte zeigen: Auch wenn man im Sinne des Kausalmodells annimmt, daß der Gehalt der Wahrnehmung auf bestimmte qualitative Szenarien (z. B. ein in einer bestimmten Gestalt ausgedehnter Farbton) beschrnkt ist, heißt das nicht, daß die Wahrnehmung bloß die kausale Rolle eines sensorischen Informationslieferanten fr das Denken spielt. Aristoteles wertet vielmehr die Wahrnehmung zu einem unterscheidungsfhigen und reflexiven Vermçgen auf, das als solches schon ein Erkennen (gnrizein) gewhrt, in dem uns die Wirklichkeit in ihrer sinnlichen Mannigfaltigkeit prsent wird.62 Die Sinne sind fr Aristoteles keine bloß unselbstndigen Werkzeuge der Seele, sondern bilden gemeinsam ein komplexes Vermçgen, was besonders durch Aristoteles’ Lehre vom Zentralsinn zum Ausdruck kommt. ber diesen Befund hinaus ist es nun allerdings umstritten, wie weit Aristoteles’ Erweiterung der aisthetischen Kompetenz reicht. Das betrifft vor allem die Frage, ob der Wahrnehmungsgehalt bei Aristoteles auf die idia aisthÞta zusammen mit bestimmten koina aisthÞta beschrnkt werden muß oder ob auch bestimmte Objekte aus der Klasse des ,akzidentell Wahrnehmbaren‘, wie etwa gedankliche Inhalte (noÞmata), zu einem Teil des Wahrnehmungsgehalts werden kçnnen. Hierfr mßte das Wahrnehmungsvermçgen imstande sein, ein ,an sich wahrnehmbares‘ Objekt mit einem ,akzidentell wahrnehmbaren‘ Objekt zu einem neuen Gehalt zu kombinieren. Inwieweit eine solche ,perzeptuelle Kombination‘ innerhalb des Aristotelischen Theorierahmens denkbar ist, wird Gegenstand des nchsten Kapitels sein. In den nchsten beiden Abschnitten dieses Kapitels wollen wir das in diesem Abschnitt unter den Punkten (a) und (b) Angesprochene noch etwas vertiefen.
61 Vgl. Insomn. 458b28 f.; EE 1235b27; De an. II 2, 413b29 ff.. 62 Wir werden auf die epistemologischen Konsequenzen dieser Aufwertung der Wahrnehmung in Kap. 5 noch genauer eingehen.
3.3 Die idia und koina aisthÞta
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3.3 Die idia und koina aisthÞta Gemß dem methodischen Grundsatz, daß ein Vermçgen definiert wird, indem man die entsprechende Ttigkeit untersucht und diese wiederum, in dem man ihren jeweiligen Gegenstand bestimmt (De an. II 4, 415a16 – 22), behandelt Aristoteles nach einer allgemeinen Darlegung des Wahrnehmungsvorgangs in II 5 (joim0 peq· p²sgr aQsh¶seyr : 416b32 f.) im anschließenden Kapitel II 6 die Gegenstnde der Wahrnehmung (aisthÞta): „Man muß im Hinblick auf jeden Wahrnehmungssinn zuerst ber die wahrnehmbaren Gegenstnde sprechen“ (418a7 f.). In II 6 werden aber noch nicht die jedem Sinn eigentmlichen Gegenstnde im einzelnen untersucht, vielmehr handelt es sich um eine allgemeine Darlegung63 dessen, in welchen verschiedenen Weisen ein Gegenstand ,wahrnehmbar‘ genannt werden kann.64 Aristoteles unterscheidet drei Sinne, in denen ein Gegenstand als ,wahrnehmbar‘ bezeichnet werden kann, von denen er die ersten beiden Sinne zur Klasse des ,an sich Wahrnehmbaren‘ zusammenfaßt, whrend der dritte Sinn die Klasse des ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ bildet. Es gibt also zwei Klassen von Dingen, deren Elemente in unterschiedlicher Weise ,wahrnehmbar‘ genannt werden. Hier stellt sich die Frage, ob es zwischen diesen beiden Klassen eine sachliche Gemeinsamkeit gibt oder ob sie nur den Namen ,aisthÞton’ gemeinsam haben. Wre letzteres der Fall, wren die Elemente der zweiten Klasse, das ,akzidentell Wahrnehmbare‘, nur im quivoken Sinn wahrnehmbar. Auf diese entscheidende Frage werden wir im nchsten Kapitel eingehen, jetzt geht es um die erste Klasse, das ,an sich Wahrnehmbare‘. Zum ,an sich Wahrnehmbaren‘ zhlen zum einen die dem jeweiligen Sinn eigentmlichen Gegenstnde (idia aisthÞta), die nicht durch einen anderen Sinn wahrgenommen werden kçnnen (418a11 f.), zum anderen die von mehreren Sinnen, mindestens aber von zweien, wahrnehmbaren Gegenstnde (koina aisthÞta: Bewegung, Ruhe, Gestalt, Grçße, Zahl: 418a17 – 20). Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß die idia aisthÞta ,im eigentlichen Sinn‘ oder ,primr‘ (juq¸yr) wahrnehmbar sind: „Von den an 63 Vgl. Philoponus, In De an. 310.32 – 33: pqºteqom dia¸qes¸m tima paqad¸dysi jahºkou t_m aQshgt_m p²mtym, posaw_r k´cetai. Die sich in den Kapiteln II 7 – 11 anschließende Untersuchung der jedem Sinn eigentmlichen Gegenstnde ist nach Sens. 439a6 ff. ebenfalls ,allgemein‘. 64 Wie auch in anderen Fllen des pokkaw_r kecºlemom geht es Aristoteles hier nicht um eine Mehrdeutigkeit des Terminus ,aQshgtºm‘, sondern darum, daß mehrere Dinge oder Klassen von Dingen in einem unterschiedlichen Sinn als aQshgtºm bezeichnet werden.
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3. Der Gehalt der Wahrnehmung
sich wahrnehmbaren Gegenstnden sind die eigentmlichen Gegenstnde im eigentlichen Sinn wahrnehmbar, und auf diese ist das Wesen jeder Wahrnehmung von Natur aus ausgerichtet“ (418a24 f.). Innerhalb der Klasse des ,an sich Wahrnehmbaren‘ gibt es also eine Abstufung.65 Das kann so verstanden werden, daß nur die idia aisthÞta eine kausale Eigenstndigkeit im Hinblick auf die Affektion eines bestimmten Sinns besitzen.66 Sie sind von solcher Beschaffenheit, daß sie aufgrund ihrer spezifischen Natur als perzeptuelle Qualitten das Medium in Bewegung setzen und dadurch das Organ affizieren und das Wahrnehmungsvermçgen in die Aktualitt bringen kçnnen. So besitzen etwa die Farben das Vermçgen, im aktual transparenten Medium und dadurch im Wahrnehmungsorgan eine qualitative Vernderung hervorzurufen (De an. II 7, 418a31-b2, 419a9 – 15); das gilt auch fr das Feuerartige und Leuchtende, was nicht im Licht gesehen wird (poie? aUshgsim : 419a2 – 7). Im Unterschied dazu sind die koina aisthÞta hinsichtlich der Affektion des Wahrnehmungsvermçgens auf die idia aisthÞta als ihre ,Vehikel‘67 angewiesen. Diese Abhngigkeit zeigt sich etwa in der Bemerkung, daß die koina aisthÞta „am meisten durch den Gesichtssinn wahrgenommen werden“ (Sens. 437a8) oder daran, daß sie einem bestimmten idion aisthÞton ,zukommen‘ (rp²qwei : 425b10).68 Beide treten immer gemeinsam auf (t± !jokouhoOmta : 425b5; t¹ !jokouhe?m !kk¶koir : 425b869): Uns prsentiert sich immer eine Qualitt gemeinsam mit bestimmten koina aisthÞta, wie z. B. in einer bestimmten Grçße; sie werden ,mitwahrgenommen‘.70 Nach De an. II 6 kann der Wahrnehmungsgehalt 65 Vgl. Graeser 1978, 70. 66 Vgl. Graeser 1978, 70 f. Im Unterschied zur neuzeitlichen Tradition sieht Aristoteles die idia aisthÞta (also nach Boyle die ,sekundren Qualitten‘) als irreduzible Eigenschaften an, die als solche kausal wirksam sind (Broadie 1992). 67 Vgl. Modrak 1987, 55. 68 Vgl. auch das 2pol´mym in De an. III 3, 428b22 f. Wie dieses zu verstehen ist – ob hier die koina den Trgern folgen (Ross, Hicks) oder den idia (H. Maier) –, ist umstritten. Das „$ sulb´bgje to?r aQshgto?r“ in 428b24 (ohne die Umstellung von Bywater 1888, 58) wrde ebenfalls diese asymmetrische Relation zwischen den koina und den idia ausdrcken. 69 Zu diesem Ausdruck bemerkt Graeser 1978, 72: „It signifies extensional equivalence. In other words, wherever there is colour there is size too and vice versa.“ 70 Vgl. Sens. 445b10 f.: „Denn es ist unmçglich, zwar etwas Weißes zu sehen, aber nicht in einer bestimmten Grçße“ (!d¼matom c±q keujºm l³m bq÷m, lμ pos¹m d´). Den notwendigen Zusammenhang zwischen idia und koina aisthÞta im Unterschied zu einer bloß zuflligen Verbindung wie in einer Assoziation betont Beare (1906, 283ff ). Die Notwendigkeit bezieht sich hier aber nur darauf, daß die idia berhaupt mit koina auftreten, nicht aber auf bestimmte koina.
3.3 Die idia und koina aisthÞta
129
beispielsweise mit folgendem offenen Satz beschrieben werden: x (rot) { x (rund) { x (groß) { x (eines) { x (sich bewegend). Man kçnnte von einem qualitativen Szenario in Raum und Zeit sprechen (z. B. ,das Herankommende‘ [t¹ pqosiºm]: An. Pr. I 27, 43a36, Insomn. 458b10 – 15).71 Zum ,an sich Wahrnehmbaren‘ bildet das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ die Komplementklasse. Whrend das ,an sich Wahrnehmbare‘ – und hier an erster Stelle die idia aisthÞta – dadurch gekennzeichnet ist, aufgrund intrinsischer Eigenschaften einen bestimmten Sinn affizieren zu kçnnen, fllt unter das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ alles andere, das nicht aus sich heraus, sondern nur beilufig, durch die zufllige Verbindung mit einem ,an sich wahrnehmbaren‘ Gegenstand, in eine Beziehung zum Wahrnehmungsvermçgen treten kann: „Daher erleidet auch (das Wahrnehmungsvermçgen) nichts von dem wahrnehmbaren Gegenstand, insofern er ein solcher ist72 (di¹ ja· oqd³m p²swei Ø toioOtom rp¹ toO aQshgtoO). Hierunter fallen alle Objekte außerhalb der Kategorie des Pathetisch-Qualitativen. In dieser Unterscheidung verschiedener Klassen von aisthÞta betrachtet Aristoteles das Seiende im Hinblick darauf, ob es einen Sinn aufgrund bestimmter intrinsischer Eigenschaften affizieren kann oder nicht, nicht aber im Hinblick auf seine ontologische Selbstndigkeit oder Unabhngigkeit: Substanzen sind im Hinblick auf die Wahrnehmung nur ,akzidentell wahrnehmbar‘, perzeptuelle Qualitten ,an sich wahrnehmbar‘. Ausschlaggebend hierfr sind bestimmte Eigenschaften, die eine Entitt aufgrund ihrer kategorial erfaßbaren Natur hat oder nicht hat. Aristoteles spricht nun aber auch dort vom ,akzidentellen Wahrnehmen‘, wo ein bestimmter Sinn die eigentmlichen Gegenstnde eines anderen Sinns wahrnimmt (De an. III 1, 71 Fr den Unterschied zwischen bewegenden und ruhenden Wahrnehmungsobjekten vgl. Insomn. 459b18 ff. Eine umstrittene Stelle aus De memoria kçnnte nahelegen, daß die Wahrnehmung der koina aisthÞta etwas mit der phantasia zu tun hat. In Mem. 450a10 f. nimmt Ross eine Umstellung von „ja· t¹ v²mtasla…1st¸m“ aus 450a10 f. nach a13 vor (mit Berufung auf Freudenthal). Hlt man gegen Ross an den Handschriften fest, htte das die Konsequenz, daß im Unterschied zu De an. II 6 die koina aisthÞta mit Hilfe der phantasmata (wie die Zeit) wahrgenommen werden und die phantasia eine Funktion des gemeinsamen Wahrnehmungsvermçgens ist. Mit Ross’ Umstellung wrde dagegen die Wahrnehmung der koina in den Bereich des primren Wahrnehmungsvermçgens fallen. In beiden Fllen wird also das Bezugsobjekt von è in „è ja· wqºmom“ (450a10) unterschiedlich besetzt: zum einen mit dem Vermçgen (primre Wahrnehmung), zum anderen mit dem Mittel (phantasma). Hierzu Wiesner 1985, 185. 72 Ich beziehe das Ø toioOtom mit Ross (1961, 240) auf das aQshgtºm und verstehe es so, daß das Vermçgen nichts von dem wahrnehmbaren Gegenstand erleidet, insofern er Sohn des Diares ist, sondern nur insofern er weiß ist.
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3. Der Gehalt der Wahrnehmung
425a30 f.), z. B. der Gesichtssinn das Sße (a22).73 Diese besondere Art von Wahrnehmung basiert darauf, daß man zwei Qualitten verschiedener aisthetischer Genera an einem Gegenstand zugleich unterscheidend wahrnehmen kann: „Dies aber (ist mçglich), weil wir von beiden faktisch eine Wahrnehmung haben, mit der wir sie, wenn sie zusammenfallen, zugleich erkennen“ (425a23 f.). Wenn nun in dieser Wahrnehmung das idion aisthÞton des einen Sinnes ,akzidentell‘ vom anderen Sinn wahrgenommen wird, dann wird hier ,akzidentell wahrnehmbar‘ nicht mehr im absoluten, sondern im relativen Sinn verwendet: Das Sße ist im Hinblick auf den Gesichtssinn ,akzidentell wahrnehmbar‘; an der Natur des idion aisthÞton ndert sich durch diese Bezeichnung nichts, es wird hier nur im Hinblick auf einen anderen Wahrnehmungssinn betrachtet.74 ,Akzidentell wahrnehmbar‘ in diesem Sinn (= ,akzidentell2‘) bedeutet also nur, daß dieser Gegenstand keine Wirkung auf einen bestimmten Wahrnehmungssinn ausbt (z. B. das Sße auf den Gesichtssinn); dagegen bedeutet ,akzidentell wahrnehmbar‘ in De an. II 6 (= ,akzidentell1‘) die prinzipielle Unfhigkeit, das Wahrnehmungsvermçgen zu affizieren, wie sie auf alle Gegenstnde außerhalb der Kategorie des pathetisch-Qualitativen zutrifft.75 Dieser Unterschied wird von Aristoteles in De an. III 1 selbst angedeutet: „Denn es wre so, wie wir jetzt mit dem Gesichtssinn das Sße wahrnehmen: Dies aber (ist mçglich), weil wir von beiden faktisch eine Wahrnehmung haben, mit der wir, wenn sie zusammenfallen, zugleich erkennen. Wenn aber nicht, wrden wir niemals anders als akzidentell wahrnehmen (wie etwa den Sohn des Kleon, nicht weil er der Sohn des Kleon ist, sondern weil er weiß ist, diesem aber akzidentell zukommt, Sohn des Kleon zu sein“ (De an. III 1, 425a22 – 27). Mit dem „wenn aber nicht“ (eQ d³ l¶: a24) verneint Aristoteles den Fall, daß wir von beiden Qualitten eine Wahrnehmung haben (!lvo?m 73 ¦speq mOm t0 exei t¹ ckuj» aQshamºleha. Dieses Beispiel wurde in der Tradition immer wieder fr die Mçglichkeit einer ,assoziativen Wahrnehmung‘ bei Aristoteles herangezogen. Darauf werde ich genauer in Kap. 4.2 eingehen. 74 Vgl. Graeser 1978, 78. 75 Dieser Unterschied wurde schon von den griechischen Kommentatoren gesehen, die zwei Verwendungsweisen von ,jat± sulbebgj¹r aQshgtºm‘ unterscheiden. Vgl. Philoponus, In De an. 312.29 – 37; 454.15 – 26: „vgs· c±q fti t± jat± sulbebgj¹r aQshgt± ditt² 5stim, C t¹ %kk, aQsh¶sei rpop?ptom, ¦speq B exir jq¸mei t¹ ckuj» !p¹ t/r wqoi÷r […] C owm toOtº 1sti jat± sulbebgj¹r aQshgtºm, C fpeq oqdeliø aQsh¶sei rpop¸ptei, ¢r B oqs¸a7 B c±q oqs¸a oqdeliø aQsh¶sei rpop¸ptei, !kk± cim¾sjetai 1j t_m aqt0 sulbebgjºtym […] dittoO owm emtor toO jat± sulbebgj¹r aQshgtoO, oqd´teqom t_m sglaimol´mym to¼tym p²hor poie?“. Vgl. auch Themistius, In De an. 81.35 – 82.18; Simplicius, In De an. 127.26 ff.; Sophonias, In De an. 70.36 – 71.11.
3.3 Die idia und koina aisthÞta
131
5womter tucw²molem aUshgsim : a23). Die Konsequenz wre dann, daß wir „niemals anders als akzidentell wahrnehmen wrden“ (oqdal_r #m !kk’ C jat± sulbebgj¹r Ñshamºleha : a24 f.), nmlich so wie den Sohn des Kleon
(= ,akzidentell1‘). Hinsichtlich der koina aisthÞta ergibt sich nun ein grundstzliches Problem, das sich aus einer Spannung zwischen dem Phnomen und dem Kausalmodell ergibt. Wir hatten schon gesehen, daß Aristoteles phnomenologisch exakt feststellt, daß jedes idion aisthÞton mit bestimmten koina aisthÞta einhergeht (t¹ !jokouhe?m !kk¶koir), sich also jede Qualitt in einer bestimmten rumlichen oder auch zeitlichen Erstreckung76 dem Wahrnehmenden prsentiert. Solche koina aisthÞta scheinen uns wie die idia ,unmittelbar gegeben‘ zu sein, im Unterschied zu den ,akzidentell1 wahrnehmbaren‘ Gegenstnden. Dieses direkte Gegebensein kçnnte es nahelegen, auch fr diese gemeinsamen Objekte einen spezifischen Sinn anzunehmen. Diese Konsequenz will Aristoteles vermeiden und betont in De an. III 1, 424b22 ff. die Vollstndigkeit der fnf Sinne und daß es kein spezifisches Vermçgen fr die koina geben kann (425a14). Aus der kontrafaktischen Annahme eines spezifischen Sinns fr die koina aisthÞta wrde nmlich folgen, daß fr die koina dasselbe gelten wrde wie fr jedes idion aisthÞton: Es wrde von den anderen spezifischen Sinnen nur ,akzidentell2‘ (¨m 2j²stg aQsh¶sei aQshamºleha jat± sulbebgjºr), also gewissermaßen ,assoziativ‘, wahrgenommen werden, wie z. B. das Sße durch den Gesichtssinn (425a15).77 Das widerspricht aber dem Phnomen: Wir nehmen die koina zusammen mit einem bestimmten idion wahr; sie bilden keinen zustzlichen, assoziierten Gehalt. Genauso unangemessen ist es, wenn wir die koina nur „akzidentell1“ wahrnehmen wrden, also wie den Sohn des Diares; vielmehr besteht zwischen idia und koina ein notwendiger Zusammenhang. Wie kann dann aber ihr unmittelbares Gegebensein begrifflich eingeholt werden? Aristoteles’ Lçsung ist, daß wir von den koina eine ,gemeinsame Wahrnehmung‘ (aUshgsir joim¶) haben, und zwar ,nicht akzidentell‘ (425a27 f.). Den verschiedenen Sinnen ist die Fhigkeit gemeinsam, 76 Diesen Ausdruck bernehme ich von Tugendhat 1976, 452. 77 Mit Owens 1982 gehe ich davon aus, daß es sich hier um die Konsequenz der von Aristoteles abgelehnten Annahme eines spezifischen Sinns fr die koina aisthÞta handelt. Faßt man 425a15 dagegen als Aristoteles’ eigene Meinung auf, dann mßte es – um den Widerspruch zu De an. II 6, 418a8 ff. zu vermeiden – einen dritten, von Aristoteles selbst vertretenen Sinn von ,akzidentell wahrnehmbar‘ geben, der dann vorliegt, wenn ein koinon aisthÞton nur durch einen spezifischen Sinn wahrgenommen wird (z. B. Beare 1906, 284 f.; Graeser 1978, 85; Welsch 1987, 287 – 294; Modrak 1987, 64, 413 Anm. 19).
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3. Der Gehalt der Wahrnehmung
die koina wahrnehmen zu kçnnen.78 Damit meint Aristoteles gezeigt zu haben, daß wir keinen spezifischen Sinn fr die koina haben kçnnen (oqj %q’ 1st·m Qd¸a : a28) und wir diese dennoch nicht ,akzidentell1‘, also bloß nebenbei, wahrnehmen. Die koina aisthÞta bewegen sich zwischen den idia aisthÞta und dem ,akzidentell Wahrnehmbaren1‘; sie sind zusammen mit den idia unmittelbar gegeben, diesen gegenber aber sekundr. Wenn nun die koina aisthÞta kausal von den idia abhngig sind und nur durch diese gegeben sein kçnnen, also nicht als solche das Wahrnehmungsvermçgen affizieren kçnnen (425a19 f.), stellt sich die Frage, wie die ,direkte Wahrnehmung‘ der koina erklrt werden kann. Die Antwort hierauf liegt in Aristoteles’ Charakterisierung der Wahrnehmung als ein Unterscheiden (krinein: De an. II 11, 424a5; III 2, 426b10). Eine bestimmte Grçße oder Gestalt ergibt sich durch zwei verschiedene aneinander angrenzende Farbausdehnungen.79 Auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen zwei Qualitten eines aisthetischen Genus (jq¸mei t±r toO rpojeil´mou aQshgtoO diavoq²r : De an. III 2, 426b10; im Unterschied dazu Tht. 185a) kçnnen wir diese Farbgrenzen erkennen und dadurch die koina aisthÞta wahrnehmen.80 Tuschende Eindrcke, die bei den koina aisthÞta sehr hufig sind (De an. III 3, 428b22 – 25), kommen meist durch falsche Abstnde zustande (Met. IV 5, 1010b4 f.): Hier sind uns die Farbgrenzen zu undeutlich gegeben, um ein hinreichendes krinein vorzunehmen, so daß sich ein tuschender Eindruck ergibt; wenn z. B. etwas Eckiges aus der Ferne wie etwas Rundes aussieht oder der Farb-
78 Der Terminus aUshgsir joim¶ in 425a27 kann nicht als Bezeichnung des ,Gemeinsinns‘ verstanden werden. Zum einen wird dieser erst in Somn. 455a19 f. eingefhrt, zum anderen wird dieser nirgendwo von Aristoteles als fr die koina zustndig erklrt. Ich schließe mich hier Gregoric 2007, 79 an: „the phrase aUshgsir joim¶ at 425a27 should be understood as a perceptual ability common to the individual senses. It is not a technical term, but a description of the ability of the individual senses to perceive one set of features in the world, namely the common perceptibles […] it is common to the individual senses in that each individual sense has it“. Hierzu auch Welsch 1987, Kap. VI.7. 79 Vgl. Sellars 1949, 553: „Our visual field […] presents us with geometrical points, lines, planes, and solids as the boundaries of qualitative differences – a line, for example, being a boundary between two adjacent color expanses.“ Vgl. auch Busche 2001, 49. 80 Hier sprechen viele Interpreten von einer ,Interpretation‘ oder einem aktiven Element in der Wahrnehmung (vgl. Ebert 1983, 196). Zum Verhltnis zwischen p²sweim und jq¸meim vgl. De Haas 2005.
3.4 Das aisthetische Ganze
133
kontrast zwischen zwei Ziegeln nicht deutlich genug ist, so daß sie wie ein einziger Ziegel erscheinen.81
3.4 Das aisthetische Ganze Wie sich im letzten Abschnitt gezeigt hat, ist Aristoteles darum bemht, den notwendigen Zusammenhang zwischen den idia und koina aisthÞta herauszustellen. Beide bilden zusammen den Wahrnehmungsgehalt. Wir haben im letzten Abschnitt auch gesehen, daß die Wahrnehmung der koina aisthÞta darauf beruht, daß eine Grenze etwa zwischen zwei Farbausdehnungen unterscheidend wahrgenommen wird. Das setzt aber voraus, daß uns mindestens zwei verschiedene Farbtçne gleichzeitig prsent sind. Wir haben also nicht nur ein isoliertes idion aisthÞton vor Augen, sondern mindestens zwei idia, die in ihrer gegenseitigen Angrenzung ein bestimmtes koinon ergeben. Phnomenologisch muß man sogar noch einen Schritt weiter gehen: Ein einzelner Gegenstand – z. B. ein Mensch oder andere sinnlich wahrnehmbare Einzelsubstanzen (vgl. Met. VII 3, 1029a33 f.; VII 15, 1039b28) – besteht aus mehreren sinnlichen Qualitten, die zusammen eine Einheit bilden und seine ,Gestalt‘ (morphÞ) ausmachen. Aristoteles spricht in Phys. I 1 davon, daß das fr uns zuerst Offenbare und Klare das ,mehr Zusammengegossene‘ (t± sucjewul´ma l÷kkom), das (undifferenziert) Allgemeine (to katholou) und das Ganze (to holon) ist, das Vieles als Teile umfaßt und an dem wir spter seine Elemente unterscheiden kçnnen (184a21 – 81 An dieser Stelle muß eine Erluterung hinsichtlich der geometrischen Gegenstnde angefgt werden: Auf der einen Seite geht Aristoteles davon aus, daß geometrische Formen wie Dreieck oder Kreis als Eigenschaften des Seienden, insofern es eine ndimensionale Grçße darstellt, durch Abstraktion gewonnen werden; sie werden als potentiell vorliegende Eigenschaften durch das Konstruieren in die Wirklichkeit berfhrt (Met. IX 9, 1051a29 ff.; XIII 3). Auf der anderen Seite gibt es unter den koina aisthÞta geometrische Gegenstnde, nmlich Figuren, Grçßen und Anzahlen; diese werden hier aber direkt wahrgenommen. Dieser Widerspruch kann folgendermaßen gelçst werden: Die koina konstituieren zusammen mit den idia eine konkrete, sinnlich wahrnehmbare Grçße, d. h. den phnomenal gegebenen Gegenstand. Aus dieser phnomenal gegebenen Grçße wird erst die bestimmte geometrische Form durch Abstraktion herausgehoben. Mit Mem. 450a1 ff. kann das so verdeutlicht werden: Wenn man geometrisch die Rechtwinkligkeit eines Dreiecks beweisen will, dann zeichnet man ein bestimmtes Dreieck, das von jedem Sinneswesen direkt wahrgenommen werden kann. Der Beweis betrifft aber nicht dieses Dreieck oder diese ausgedehnte Form, sondern die mathematische Eigenschaft des Dreieckig-Seins, die von diesem konkreten Dreieck abstrahiert wird.
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3. Der Gehalt der Wahrnehmung
26).82 Wir haben es also mit einem sinnlichen holon zu tun, das einem einzelnen Gegenstand zugehçrt. In unserem Alltagsverstndnis gehen wir davon aus, daß wir ein solches sinnliches holon in einem Akt erfassen: Wir erblicken z. B. von Ferne ein Haus, an dem wir aus grçßerer Nhe etwa Ziegel, Fenster und Blumenksten unterscheiden kçnnen. Hier kommt das Kausalmodell sehr schnell an seine Grenzen: Sowohl bei sehr einfachen sinnlichen Gegenstnden (z. B. ein roter Ball) als auch bei komplexen Gegenstnden (z. B. dieses Haus) ist es notwendig, daß mindestens zwei idia aisthÞta derselben aisthetischen Gattung dem einen wahrnehmenden Subjekt gleichzeitig gegeben sind. Das ist aber kaum erklrbar, wenn man davon ausgeht, daß ein bewußter Wahrnehmungsakt Ergebnis der kausalen Affektion durch eine bestimmte Qualitt in einer bestimmten aisthetischen Gattung ist. Aristoteles formuliert selbst das Problem, das sich aus seinem Kausalmodell ergibt, wenn er sagt, daß es unmçglich ist, daß der derselbe Sinn als unteilbarer und in unteilbarer Zeit zugleich kontrre Bewegungen vollzieht (De an. III 2, 426b29 ff.).83 Der Schlssel fr die Lçsung dieses Problem der gleichzeitigen Prsenz zweier verschiedener Qualitten derselben Gattung scheint fr Aristoteles in einer Modifikation des t¹ aqt¹ Ø !dia¸qetom in 426b30 zu liegen: Das Ø !dia¸qetom muß einerseits beibehalten werden, um die Einheit des sinnlichen Bewußtseins nicht zu gefhrden, andererseits muß es auch eine Mçglichkeit geben, daß der Sinn auch Ø diaiqetºm ttig ist. Beide Funktionen erfllt der Punkt: Er kann als einer zugleich zwei Funktionen erfllen, nmlich sowohl Endpunkt wie auch Anfangspunkt zweier Abschnitte einer Linie oder Zentrum verschiedener Linien sein.84 Diese Erluterungen befriedigen wenig85 und es verwundert 82 „Es ist aber uns zu allererst klar und deutlich das mehr Zusammengegossene (t± sucjewul´ma l÷kkom): Spter aber werden aus diesem erkennbar die Elemente und Prinzipien, wenn man dieses unterscheidet. Daher muß man von dem Allgemeinen zum Einzelnen fortschreiten: Denn nach der Sinneswahrnehmung ist das Ganze (t¹ fkom) bekannter, das Allgemeine ist aber ein Ganzes: Denn das Allgemeine umfaßt Vieles als Teile (pokk± c±q peqikalb²mei ¢r l´qg t¹ jahºkou).“ 83 !kk± lμm !d¼matom ûla t±r 1mamt¸ar jim¶seir jime?shai t¹ aqt¹ Ø !dia¸qetom, ja· 1m !diaiq´t\ wqo´ m\. Zu diesem ganzen Problem vgl. Gregoric 2007, 145 – 162. 84 In De Sensu geht Aristoteles besonders auf das Problem der gleichzeitigen Wahrnehmung von Qualitten unterschiedlicher Gattungen ein. Hierfr skizziert er als Lçsung die Analogie mit einem Gegenstand, der als der Zahl nach einer verschiedene Qualitten besitz und in dieser Hinsicht ,dem Sein nach‘ verschieden ist (Sens. 449a13 – 20). Aristoteles scheint davon auszugehen, damit auch das Problem der gleichzeitigen Wahrnehmung von Qualitten derselben Gattung gelçst zu haben (449a18 f.). Gemß der Annahme in 449a2 f.: Wenn es nicht mçglich ist, verschiedene Qualitten derselben Gattung zugleich mit einem Vermçgen wahrzu-
3.4 Das aisthetische Ganze
135
nicht, wenn das Problem der gleichzeitigen Wahrnehmung kontrrer Qualitten seit Alexander von Aphrodisias immer wieder eine spirituelle Interpretation der ,Aufnahme der Form ohne die Materie‘ motiviert hat.86 Wie auch immer diese Frage beantwortet wird, Aristoteles trgt jedenfalls unserem Vorverstndnis Rechnung, daß sich uns der Gegenstand auf den ersten Blick als ein phnomenal Ganzes prsentiert, auch wenn wir nachtrglich vielleicht verschiedene einzelne Akte unterscheiden mssen. Systematisch ergibt sich aus dem Bisherigen, daß wir Aristoteles keine naive Theorie der aisthetischen Bezugnahme unterstellen drfen, in der man sich – im Sinne einer simplen Subjekt-Objekt-Relation – auf ein isoliertes aisthÞton bezieht (z. B. auf ,dieses Rote‘). Das kçnnte sich nahelegen, wenn man sich allein an den Aussagen vom Erleiden (paschein) und Aufnehmen (dechesthai) eines bestimmten eidos, also am Kausalmodell der Wahrnehmung, orientiert. Vielmehr deutet sich mit der Fhigkeit des intra- und intergenerischen Unterscheidend ein Bewußtsein von einer sinnlichen Mannigfaltigkeit oder ein – wenn auch vor-sprachlicher – ,holistischer Bezug‘ auf die Wirklichkeit an.87 Man unterscheidet verschiedene idia aisthÞta derselben oder verschiedener aisthetischer Gattungen auf der Grundlage des sinnlichen Vermçgens88 und dieses Vermçgen liegt im Modus einer ,ersten Entelechie‘ vor; es basiert auf dem angeborenen diskriminatorischen ,Wissen‘ der verschiedenen aisthetischen Genera: „Der erste Wechsel des Wahrnehmungsvermçgens geschieht von dem Erzeuger her, wenn man aber geboren worden ist, dann verhlt sich schon wie das Wissen auch das Wahrnehmen. Denn das Wahrnehmen gemß der Aktualitt wird auf gleiche Weise ausgesagt wie das Betrachten“ (De an. II 5, 417b16 – 19). Das kann so verstanden werden, daß die Wahrnehmung schon ,weiß‘, was sie wahrnehmen kann, sie muß es nicht erst lernen89 : „Wir haben nmlich die Wahrnehmungsvermçgen nicht durch wiederholtes Sehen oder Hçren erworben, sondern umgekehrt: Weil wir die Wahrnehmungsvermçgen schon
85 86 87 88 89
nehmen, dann auch nicht Qualitten verschiedener Gattungen. Nun wurde Letzteres als mçglich aufgezeigt, also muß auch Ersteres mçglich sein. Vgl. Welsch 1987, 328. Fr eine ambitionierte Interpretation der Punkt-Analogie in De an. III 2, 427a9 – 14 vgl. Gregoric 2007, 145 – 162. Vgl. auch Rolfes 1924, 133 Anm. 63. Hierzu systematisch Tugendhat 1976, 370 ff.; Evans 1982, 151 – 170. Hierzu genauer Ebert 1983, 193. Vgl. Welsch 1987, 117: „Dies also ist charakteristisch und fundamental fr Aristoteles’ Verstndnis des Wahrnehmungsgeschehens, daß der Sinn allem Wahrnehmen zuvor die Topographie seiner Region schon beherrscht.“
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3. Der Gehalt der Wahrnehmung
hatten, haben wir sie gebraucht; wir haben sie nicht durch den Gebrauch erst bekommen“ (EN II 1, 1103a28 – 31; bers. Wolf ). Der jeweilige Sinn, der dem krinein zugrundeliegt, zeigt also die Klasse der Gegenstnde an, aus denen etwas wahrgenommen werden kann. Durch dieses angeborene ,kritische Wissen‘ ist man in der Lage, die verschiedenen Farbtçne im jeweiligen Gesichtsfeld zu unterscheiden. Das Erfassen eines aisthÞton ist somit nie ein einfaches Bezogensein auf eine isolierte Qualitt, sondern ein ,kritischer‘und holistischer Bezug, der stets die jeweilige Mannigfaltigkeit eines bestimmten aisthetischen Genus impliziert, aus dem das einzelne aisthÞton unterscheidend wahrgenommen wird. Man ist in erster Linie auf ein bestimmtes aisthetisches Genus bezogen (De an. III 2, 426b8 f.). Der demonstrative Bezug auf eine bestimmte perzeptuelle Qualitt (tod· t¹ keujºm) setzt implizit einen Bezug auf eine sinnliche Mannigfaltigkeit voraus. Diese bewußte Unterscheidungsleistung kann ohne Begriffe vollzogen werden, sie basiert lediglich auf der angeborenen aisthetischen Disposition; es handelt sich um eine vor-sprachliche Leistung: Tier und Mensch kçnnen beide zwischen zwei Farbtçnen unterscheiden und dieser Unterschied ist ihnen bewußt (De an. III 2, 425b12 f.). Der Mensch kann zustzlich, indem er sich Farbprdikate bedient (z. B. Int. 16a15), das Wahrnehmungsurteil fllen, daß das Rote vom Grnen verschieden ist. Mit diesen Begriffen wird ein vorsprachlich zugnglicher Unterschied nur nachtrglich konzeptualisiert. Hier zeigt sich wiederum: Schon unterhalb der diskursiv-begrifflichen Ebene gelingt es Aristoteles, auf der Grundlage des angeborenen aisthetischen Vermçgens einen genuin aisthetischen Weltzugang zu garantieren, in dem wir uns diskriminatorisch und reflexiv auf die Wirklichkeit in ihrer sinnlichen Mannigfaltigkeit beziehen. Es zeigt sich an dieser Stelle auch die Grenze jener Interpretationen, die den Weltzugang bei Aristoteles als einen immer schon sprachlich vermittelten auffassen.90 Vielmehr besitzen wir auf der Grundlage der Wahrnehmung als eines angeborenen, unterscheidungsfhigen Vermçgens schon immer einen vor-sprachlichen Weltzugang. Im Unterschied zu Platon ist also die Wahrnehmung nicht auf bestimmte sensorische pathÞmata beschrnkt, die dem hçheren diamoe?shai zur Verfgung gestellt werden, es handelt sich vielmehr schon um ein Erkennen im genuinen Sinn. Andererseits ist das von der Wahrnehmung Prsentierte noch nicht eindeutig identifiziert. Das sinnliche Ganze ist hier noch frei von kategorialen Bestimmungen oder kognitiven Spezifikationen, die – nach unserer Interpretation – erst durch die Ttigkeit des nous zustande kommen (vgl. Kap. 4.3). 90 Nussbaum 1986, 243, 257.
4. Wahrnehmung und Intellekt 4.1 Zwei Interpretationsmodelle der akzidentellen Wahrnehmung Wir haben im letzten Kapitel gesehen, daß Aristoteles gegenber Platons Analyse im Theaitet den Kompetenzbereich der Wahrnehmung stark erweitert, indem er der Klasse der ,an sich wahrnehmbaren‘ Gegenstnde die ,gemeinsamen Gegenstnde’ hinzufgt und der Wahrnehmung diskriminatorische und reflexive Leistungen zuspricht. Auch wenn aus dem Kausalmodell eine Beschrnkung des Wahrnehmungsgehalts auf perzeptuelle Qualitten in einer bestimmten raum-zeitlichen Erstreckung zu folgen scheint und man aus heutiger Sicht hier von einem nicht-propositionalen oder nicht-begrifflichen Gehalt sprechen kçnnte, folgt daraus nicht, daß der Wahrnehmung bloß die Funktion zukommen wrde, das Denken mit elementaren sensorischen Informationen zu versorgen. Vielmehr stellt das Wahrnehmen fr Aristoteles eine genuine Form des Erkennens (gnrizein) dar, in der wir uns diskriminatorisch und reflexiv auf die Wirklichkeit in ihrer sinnlichen Mannigfaltigkeit beziehen. Es ist nun allerdings umstritten, ob der Gehalt tatschlich nur auf das ,an sich Wahrnehmbare‘, also auf die idia und koina aisthÞta, beschrnkt werden muß oder ob dieser nicht auch (durch Annahme eines besonderen Mechanismus) um bestimmte Objekte aus der Klasse des ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ erweitert werden kann, durch die das ,an sich Wahrgenommene‘, also der in seinen perzeptuellen Qualitten wahrgenommene Gegenstand, kognitiv als etwas spezifiziert wird.1 Hier wre besonders an Instanzen aus der ersten Kategorie zu denken (Spezies- und Gattungsprdikate), die als noÞmata den wahrgenommenen Gegenstand in seinem substantialen Sein charakterisieren (Met. VII 4, 1030a21 ff.) und diesen somit eindeutig identifizieren.2 Aristoteles kçnnte 1 2
Viele Interpreten verwenden hier auch die Ausdrcke ,Interpretation‘ oder ,Deutung‘ (vgl. Geyser 1917, 161, 179; Ebert 1983, 196 f.). Das ist fr den Wissenserwerb unerlßlich: Damit es berhaupt mçglich ist, einen bestimmten Gegenstand durch Raum und Zeit zu verfolgen, um an diesem Beobachtungen zu machen, die Eigenschaften zum Inhalt haben, die sich spter als notwendige Eigenschaften einer bestimmten Art und damit als wissenschaftsrelevant herausstellen, muß dieser Gegenstand eindeutig als Instanz einer bestimmten Art
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4. Wahrnehmung und Intellekt
dann aus heutiger Sicht ein propositionaler oder begrifflicher Gehalt zugesprochen werden, was fr die Rolle der Wahrnehmung im Wissenserwerb und die Debatte um Aristoteles’ Empirismus von entscheidender Bedeutung wre. Dafr mßte allerdings eine interpretatorisch berzeugende Erklrung dafr gefunden werden, wie etwas zu einem Teil des Wahrnehmungsgehalts werden kann, das prinzipiell nicht in der Lage ist, einen Wahrnehmungssinn zu affizieren. In der Frage, ob Aristoteles ein propositional-begrifflicher Gehalt zugesprochen werden kann oder nicht, spielt Aristoteles’ Lehre vom ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ eine entscheidende Rolle: Der Abschnitt De an. II 6, 418a20 – 24, wo Aristoteles den Begriff des ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ einfhrt, wird fr ganz unterschiedliche Interpretationen als exegetische Grundlage in Anspruch genommen. Je nach Position schwankt die Einordnung dieser vier Zeilen zwischen einer bloß technischen ,Nebenbemerkung‘ ohne weitergehende Relevanz und einer ,Schlsselstelle‘, in der eine Theorie angedeutet wird, aus der Folgerungen fr die Frage nach der Bestimmung des Wahrnehmungsgehalts bei Aristoteles gezogen werden kçnnen. „Akzidentell aber wird ein Wahrnehmbares genannt, wenn z. B. das Weiße der Sohn des Diares wre: Denn akzidentell wird dies wahrgenommen, weil dem Weißen akzidentell dies zukommt, was wahrgenommen wird. Daher erleidet auch (das Wahrnehmungsvermçgen) nichts von dem wahrnehmbaren Gegenstand, insofern er ein solcher ist (jat± sulbebgj¹r d³ k´cetai aQshgtºm, oXom eQ t¹ keuj¹m eUg Di²qour uRºr7 jat± sulbebgj¹r c±q to¼tou aQsh²metai, fti t`
keuj` sulb´bgje toOto3 ox aQsh²metai7 di¹ ja· oqd³m p²swei Ø toioOtom rp¹ toO aQshgtoO“ (De an. II 6, 418a20 – 24).4
Liest man diesen Abschnitt im ganzen von De an. II 6, dann scheint er auf den ersten Blick folgende Aussage zu machen: Whrend die ,an sich wahrnehmbaren‘ Gegenstnde, und hier an erster Stelle die idia aisthÞta, aufgrund ihrer spezifischen Natur einen bestimmten Wahrnehmungssinn affizieren kçnnen, fllt unter das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ alles andere, was nicht ,als solches‘, sondern nur durch die zufllige Verbindung mit einer ,an sich wahrnehmbaren‘ Qualitt in einen Bezug zum Wahrnehmungsvermçgen treten kann. Der letzte Satz der zitierten Passage bringt die entscheidende Bedingung dafr zum Ausdruck, wann ein Gegenstand ,akzidentell wahrnehmbar‘ (im absoluten Sinn, vgl. Kap. 3.3) genannt werden muß: dann
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identifiziert sein. Hier spielen Substanz- oder Sortalbegriffe eine entscheidende Rolle. Hierzu genauer Tugendhat 1976, 453 – 457. Abweichend von Ross, der hier ein Komma setzt. Dazu Genaueres weiter unten. Auf die bersetzungsschwierigkeiten dieser Passage werde ich im Rahmen der folgenden Darstellung unterschiedlicher Interpretationsmodelle genauer eingehen.
4.1 Zwei Interpretationsmodelle der akzidentellen Wahrnehmung
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nmlich, wenn er aufgrund seiner spezifischen Natur nicht in der Lage ist, den Wahrnehmenden zu affizieren.5 (Def 1) x wird ,akzidentell wahrgenommen‘ genau dann, wenn (1) x aufgrund seiner spezifischen Natur nicht in der Lage ist, das Wahrnehmungsvermçgen zu affizieren (oqd³m p²swei) und (2) x einem y zukommt, das ,an sich wahrgenommen‘ wird (t` keuj` sulb´bgje toOto). Diese beiden Bedingungen legen folgendes nahe: (1) Der Unterschied zwischen dem ,an sich‘ und dem ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ stellt eine vollstndige Disjunktion dar: Ein Seiendes gehçrt im Hinblick auf eine mçgliche Affektion des Wahrnehmenden aufgrund seiner spezifischen, kategorial bestimmbaren Natur entweder zur Klasse des ,an sich‘ oder des ,akzidentell Wahrnehmbaren‘. (2) Das Verhltnis des Zukommens (sulbebgj´mai) zwischen Qualitt und ,akzidentell wahrnehmbarem‘ Objekt bildet eine in der Wirklichkeit vorliegende Tatsache, z. B. daß dieses Weiße der Sohn des Diares ist. Beide bilden zusammen eine ,akzidentelle Einheit‘ (vgl. Met. V 6, 1015b16 – 23). Auf beide Punkte muß noch etwas genauer eingegangen werden. (1) Die bisher entwickelte Unterscheidung zweier Klassen von aisthÞta kann mit Hilfe der Ursachenlehre von Phys. II 3 genauer interpretiert werden6 : Hier unterscheidet Aristoteles zwischen Ursachen ,im eigentlichen Sinn‘ (t± oQje¸yr kecºlema : 195b3 f.) oder ,Ursachen an sich‘ (jah’ arto` aUtiom : II 5, 196b26 ff.) einerseits und ,akzidentellen Ursachen‘ (II 3, 195a32 – 35) andererseits. Die ,akzidentelle Ursache‘ wird hier in hnlicher Weise wie das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ erlutert: „Ferner (gilt dies) aber auch bei der Ursache im akzidentellen Sinn und ihren Gattungen: So ist etwa (Ursache) des Standbilds auf eine Weise Polyklet, auf andere Weise der Bildhauer, weil dem Bildhauer das Polyklet-Sein akzidentell zukommt (fti sulb´bgje t` !mdqiamtopoi` t¹ Pokujke¸t\ eWmai)“ (Phys. II 3, 195a32 – 35).
Hier ist nun nicht der Ort, um auf die Debatte einzugehen, ob Aristoteles’ vier Typen von aitiai bloß als Erklrungen oder als reale Ursachen zu verstehen sind. Man kçnnte Aristoteles’ Unterscheidung hier nmlich als eine bloß intensionale verstehen: Ein und dieselbe individuelle Substanz wre 5
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Fr eine explizite Formulierung dieser Bedingung vgl. Owens 1982, 236: „failure to act upon the sense organ is the only criterion given for incidental perception“. Wedin (1988, 94) spricht von der ‘crucial condition’: „Somehow incidental objects do not affect the perceiving agent.“ Vgl. auch De an. III 1, 425a25 ff. Vgl. Everson 1997, 36 f.
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unter der einen Beschreibung, z. B. als Bildhauer, eigentliche Ursache des Standbilds, unter der anderen Beschreibung aber, z. B. als Polyklet, akzidentelle Ursache des Standbilds. Die beiden Beschreibungen wren auf die Frage nach dem Warum (t¹ di± t¸) des Standbilds im unterschiedlichen Grad informativ oder explanatorisch gehaltvoll und dieser unterschiedliche Grad wre ausschlaggebend fr ihren jeweiligen urschlichen Status. Aristoteles’ Lehre von den aitiai mßte dann in einem epistemischen Sinn verstanden werden: als Erklrungen, die innerhalb eines bestimmten Kontextes eine informative Antwort auf die Warum-Frage geben.7 Wichtig ist in unserem Zusammenhang, daß die Unterscheidung von De an. II 6 ein nicht-epistemisches Konzept von ,akzidenteller Urschlichkeit‘ verlangt8 : Was jeweils als ,eigentliche Ursache‘ gilt, hngt einzig und allein von bestimmten intrinsischen Eigenschaften ab. Der Unterschied zwischen dem ,an sich Wahrnehmbaren‘ als der ,eigentlichen Ursache‘ der Wahrnehmung und dem ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ als der ,akzidentellen Ursache‘ ist ein extensionaler: So wie das Vermçgen der Heilkunst die ,eigentliche Ursache‘ fr die Heilung eines Patienten ist und der Baumeister, dem das Arzt-Sein zufllig zukommt (Met. VI 2, 1027a2), hinsichtlich dieser Heilung „ein bloßer Name“ ist (1026b13 f.)9, von dem also keinerlei Wirkung hinsichtlich der Heilung ausgeht, so ist es einzig und allein die Qualitt des Weißen in oder an einer individuellen Substanz, welche die Wahrnehmung verursacht. Der ,Sohn des Diares‘ oder ,Sohn des Kleon‘ als ein Seiendes in der Kategorie der Relation ist hinsichtlich der Affektion des Wahrnehmenden wirkungslos; aitiologisch betrachtet sind solche Bestimmungen bloße ,Namen‘. Es handelt sich beim ,Sohn des Kleon‘ um eine mçgliche ,akzidentelle Ursache‘ unter vielen anderen, die dem Weißen in der Realitt zukommen (t¹ d³ jat± sulbebgj¹r !ºqistom7 %peiqa c±q #m t` 2m· sulba¸g : Phys. II 5, 196b28 f.).10 Die perzeptuelle Qualitt des Weißen und der ,Sohn des Diares‘ bilden
7 Zu einer solchen Interpretation vgl. Sorabji 1980. Fr eine nicht-epistemische Interpretation vgl. Freeland 1991. 8 Vgl. Everson 1997, 37 – 45. 9 Hierzu D. Frede 1992b, 44: „you cannot really say that the architect caused the healing. This is causality only in a manner of speaking, for it was really the doctor (in him) who did it; it is not even the proper way of speaking that I was cured by an architect.“ 10 Hier kçnnte auch die ,allgemeine Farbe‘ von Met. XIII 10, 1087a19 f. angefhrt werden. Vgl. auch Aristoteles’ Hierarchisierung der Ursachen (unmittelbarer – mittelbarer; nher – entfernter) in Phys. II 3 und Met. V 2.
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zusammen eine ,akzidentelle Einheit‘ (Met. V 6, 1015b16 – 23).11 Gemß Aristoteles’ restriktiver Bestimmung von Identitt in den Sophistischen Widerlegungen, wonach ,Koriskos‘ und ,gebildet‘ nicht dasselbe bezeichnen (179a1 ff.), weil sie nicht „gemß der Substanz ununterscheidbar und eines“ sind (179a37 ff.), sind die Ausdrcke ,weiß‘ und ,Sohn des Diares‘ nicht koextensional.12 In beiden Fllen wird auf Unterschiedliches in der Realitt referiert. In diesem Sinn markiert auch der qua-Operator in De an. II 6, 418a23 (Ø toioOtom) keinen bloß intensionalen Unterschied. (2) Hinsichtlich der Weise, wie Aristoteles das Zukommen (sulbebgj´mai) zwischen dem Weißen und dem Sohn-des-Diares-Sein beschreibt, wurde immer wieder auf die besondere Art der Formulierung aufmerksam gemacht. Aristoteles weicht hier von der Standard-Form prdikativer Aussagen ab; die Farbqualitt ist jeweils das logische Subjekt: ,Das Weiße ist der Sohn des Diares’ (418a21); ,dem Weißen kommt das Sohn-des-Kleon-Sein zu’ (425a26 f.). Gemß der kanonischen prdikativen Ordnung, an der sich das ontologische Grundverhltnis von selbstndig existierenden Individuen und von diesen abhngigen Eigenschaften ablesen lßt, wrden wir dagegen erwarten, daß an der Subjektstelle ein Terminus aus der ersten Kategorie, an der Prdikatsstelle der Name einer Qualitt steht, wie z. B. in der nicht-essentiellen Prdikation ,Kleon ist weiß‘ (vgl. An. Post. I 22, 83a27 ff.). Semantisch gesehen fallen jene Formulierungen unter die ,akzidentellen‘ oder ,unnatrlichen‘13 Prdikationen, die in An. Pr. I 2714 und An. Post. I 19 – 11 Beide unterscheiden sich im Sinne einer ,minor real distinction‘. Fr diese hilfreiche Begrifflichkeit vgl. Gerson 2005, 223 Anm. 57. 12 Wie Judson (1991, 78 f. Fn. 15) zu Recht bemerkt, setzt das eine „very fine-grained ontology“ voraus. Die Annahme eines extensionalen Unterschieds im Sinne einer ,minor real distinction‘ bedeutet jedoch nicht, daß damit Aristoteles ein Reprsentationalismus zugeschrieben werden muß. Sinnesqualitten sind fr Aristoteles reale Eigenschaften der Dinge, durch die und in denen sich uns ein Gegenstand sinnlich prsentiert. 13 Die Griechischen Kommentatoren sprechen hier von ,natrlichen‘ (jat± v¼sim) und ,unnatrlichen‘ (paq± v¼sim) Prdikationen (vgl. Barnes 1975, 114 f.). Diese Terminologie hat den Vorteil, daß sie eine Verwechslung mit dem anderen Sinn von ,akzidenteller Prdikation‘ vermeidet, wo nmlich das Prdikat nicht wie in ,essentiellen Prdikationen‘ das Wesen oder ein Teil des Wesens des Ausgesagten bezeichnet, sondern nur eine akzidentelle Eigenschaft (z. B. An. Post. I 4, 73a34 – 37). 14 „Denn wir sagen manchmal, daß jenes Weiße (t¹ keuj¹m 1je?mo) Sokrates ist und das Herankommende (t¹ pqosi¹m) Kallias“ (An. Pr. I 27, 43a35 f.). In diesem Kapitel An. Pr. I 27 unterscheidet Aristoteles zwischen Seiendem, das von nichts anderem allgemein ausgesagt werden kann, solchem, von dem selbst nichts mehr anderes ausgesagt werden kann, und solchem, das sowohl von anderem ausgesagt als auch von dem anderes ausgesagt werden kann, also Seiendes ,mittlerer Allgemeinheit‘
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2215 behandelt werden. Hier steht an der Subjektstelle ein Terminus, der etwas ontologisch Unselbstndiges bezeichnet (z. B. das Weiße) und somit etwas anderes (z. B. den Menschen) meint (6teqºm ti em)16, von dem das Prdikat eigentlich ausgesagt wird, whrend in der Standardprdikation der Subjektterminus etwas bezeichnet, das ohne etwas anderes zu sein (oqw 6teqºm ti £m : I 19, 81b27) z. B. die Eigenschaft ,weiß‘ besitzt. In An. Post. I 22 gibt Aristoteles folgende Beispiele: (1) „Das Weiße geht“ (83a2) und „das Gebildete ist weiß“ (83a11) sowie (2) „jenes Große ist Holz“ (83a2 f.) und „das Weiße ist Holz“ (83a5).17 Wenn wir solche Aussagen machen, dann meinen wir eigentlich, (1’) daß der Mensch, der weiß ist, geht (83a3 f.) und daß der Mensch, der gebildet ist (è sulb´bgjem eWmai lousij`: a11 f.), weiß ist, sowie (2’) daß das Holz groß ist (83a3) und daß das, „dem das Weiße zufllt, Holz ist“ (è sulb´bgje keuj` eWmai : 83a5 f.). Wir meinen aber nicht, daß das Weiße fr Holz oder das Gebildete fr weiß Trger (hypokeimenon) sind; das Prdikat wird eigentlich von etwas anderem, nmlich dem ontologisch selbstndigen Trger, ausgesagt (vgl. Met. IV 4, 1007b2 – 5). Diese ,unnatrlichen‘ Prdikationen suggerieren durch ihre undurchsichtige syntaktische Struktur eine falsche ontologische Ordnung, in der Akzidentien als Trger von Substanzen erscheinen.18 Genau diese Abweichung von der natrlichen prdikativen Ordnung findet sich nun bei der Beschreibung des ,akzidentellen Wahrnehmens‘; die Interpreten sprechen hier von einer ,inverse ontology‘19 oder einer besonderen ,perceptive predication‘.20 Diese Abweichung ist einem besonderen Interesse geschuldet: Aristoteles geht es
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(Hçffe 2006, 52; hierzu genauer Patzig 1959, 15 – 18), von denen die Argumente und wissenschaftlichen Untersuchungen am meisten Gebrauch machen (43a42 f.). Hier wird dann etwas ,akzidentell ausgesagt‘, wenn etwas, was von keinem mehr ausgesagt werden kann, dennoch von etwas ausgesagt wird. An der Subjektstelle steht hier ein demonstrativer Terminus (t¹ keuj¹m 1je?mo ; t¹ pqosi¹m), an der Prdikatsstelle ein Eigenname. Vgl. An. Post. I 19, 81b25 – 29: „Ich sage auf zufllige Weise, wie wir etwa von jenem weißen Ding (t¹ keujºm…1je?mº) sagen, es sei ein Mensch, wobei wir nicht auf hnliche Weise reden wie daß der Mensch weiß ist; dieser ist nmlich, ohne etwas anderes zu sein (oqw 6teqºm ti £m), weiß, das Weiße dagegen, weil es fr den Menschen zufllig war, weiß zu sein“ (bers. Detel). An. Post. I 4, 73b6, b8; I 19, 81b27; I 22, 83a13 f., a32, b23. Daraus ergeben sich zwei Typen von unnatrlicher Prdikation: (1) Akzidens von Akzidens, (2) Substanz von Akzidens. Vgl. Tugendhat 1958, 125 Anm. 6; Graeser 1978, 75. Graeser 1978, 74: „Within the framework of perceptual language genuine substances are treated as attributes and non-substances are treated as genuine subjects.“ Cashdollar 1973, 161 ff.
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um die Herausstellung eines besonderen kausalen Verhltnisses hinsichtlich der Wahrnehmung und nicht wie in der Standard-Prdikation um die Verdeutlichung ontologischer Verhltnisse. Die perzeptuelle Qualitt ist deshalb das logische Subjekt, weil sie die ,eigentliche Ursache‘ der Affektion des Wahrnehmungsvermçgens ist, whrend der ,Sohn des Kleon‘ mit der ,eigentlichen Ursache‘nur akzidentell verbunden ist: Wir nehmen den Sohn des Kleon wahr, „nicht weil er der Sohn des Kleon ist, sondern weil er weiß ist, diesem aber akzidentell zukommt, Sohn des Kleon zu sein“ (425a25 ff.).21 Fr die Frage, wie der Wahrnehmungsgehalt bei Aristoteles bestimmt werden muß, ist es nun entscheidend, ob das ,akzidentell Wahrnehmbare‘zu einem Teil des Wahrnehmungsgehalts werden kann oder nicht. Im Folgenden sollen zwei konkurrierende Interpretationsmodelle der Lehre vom ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ dargestellt und diskutiert werden. Modell A. Mit dem Herausstellen unterschiedlicher Arten von kausaler Beziehung, die zwischen verschiedenen Gattungen des Seienden und dem Wahrnehmungsvermçgen bestehen, ist die Aussage von De an. II 6 noch nicht erschçpft. Dieses Kapitel scheint noch einen weiteren Gesichtspunkt auf einer tieferen Ebene zu enthalten, der den Gehalt der Wahrnehmung betrifft. Dieser Gesichtspunkt ist aber von Aristoteles nicht direkt intendiert, als ob Aristoteles an dieser Stelle explizit seine Ansichten zum Gehalt der Wahrnehmung darlegen oder gar fr einen engen, nicht-propositionalen Gehalt argumentieren wrde. Vielmehr ergibt sich jener Gesichtspunkt aus zwei Annahmen, die dem Kapitel II 6 implizit zugrundeliegen. (1) Im Unterschied zur Behandlung der ,eigentlichen‘ und ,akzidentellen Ursache‘ in Phys. II 3 geht es im Kapitel De an. II 6 nicht um irgendeine Art von Affektion, sondern um eine solche, in welcher das Affizierte einen kognitiven Zugang zum affizierenden Gegenstand hat. Der Wahrnehmende ist sich der Qualitt, die eine bestimmte Vernderung in ihm verursacht, bewußt. Ihm wird die individuelle Substanz durch und in ihren wahrnehmbaren Eigenschaften prsent. Anders ausgedrckt: Daß das Wahrnehmungsvermçgen von einem eigentmlichen Objekt als seiner ,eigentlichen Ursache‘ affiziert wird, hat zur Folge, daß man dieses eigentmliche Objekt wahrnimmt. Daher spricht Aristoteles in II 6 nicht nur von den verschiedenen Klassen von 21 Aus dieser kausalen Prioritt ergibt sich dann auch eine kognitive Prioritt, da die Wahrnehmung des ,an sich Wahrnehmbaren‘ keinerlei Lernen voraussetzt. Vgl. Bywater 1888, 57: „In the order of being the sensible attribute is conceived as the sulbebgj¹r of the substance, but in the order of knowledge the relative position of things is reversed: the sensible attribute is in the latter case the primary fact, the substance the secondary or accessory fact, the sulbebgjºr.“
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aisthÞta, sondern gleichzeitig auch von verschiedenen Arten des aisthanesthai (418a9, a22 f.). (2) Wenn man als zweites gemß dem Kausalmodell annimmt, daß der Wahrnehmungsgehalt allein durch die Bewegungsursache, die externe Qualitt, festgelegt wird, also nur das wahrgenommen wird, was ,als solches‘ einen Sinn affizieren kann, dann folgt, daß das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ aufgrund seiner fehlenden kausalen Eigenstndigkeit nicht in den Gehalt der Wahrnehmung eingehen kann.22 Das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ ist dann nur noch in einem quivoken Sinn wahrnehmbar.23 Singulre Tatsachen, wie z. B. daß das Weiße ein Mensch ist, sind fr die Wahrnehmung nicht zugnglich, sie liegen bloß außerhalb der Wahrnehmung vor. Wir sehen jetzt, wie sich aus dem Kapitel II 6 unter Einbezug dieser beiden Annahmen eine restriktive Aussage hinsichtlich des Wahrnehmungsgehalts ergibt: Dieser ist demnach auf die idia und koina aisthÞta eingeschrnkt, erfaßt also den Gegenstand nur in seiner sinnlichen Beschaffenheit. Die Bedingung dafr, wann ein Gegenstand ,akzidentell wahrgenommen‘ wird, kann unter Einbezug der beiden impliziten Annahmen nun so formuliert werden: (Def 2) x wird ,akzidentell wahrgenommen‘ genau dann, wenn (1) x aufgrund seiner spezifischen Natur nicht in der Lage ist, das Wahrnehmungsvermçgen zu affizieren, und daher nicht in den Wahrnehmungsgehalt eingeht und (2) x einem y zukommt, das ,an sich wahrgenommen‘ wird und daher in den Wahrnehmungsgehalt eingeht. Die Funktion dieses Abschnitts innerhalb von De an. II 5-III 2 kçnnte in dieser Interpretation folgendermaßen bestimmt werden: Durch die Einfhrung des Begriffs des ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ soll der Weg fr die Behandlung der jedem Sinn eigentmlichen Objekte in II 7 – 11 freige22 In diesem Sinne wird dann (i) von manchen Interpreten das ox in De an. II 6, 418a23 nicht auf das akzidentell wahrgenommene Objekt, also das vorangehende toOto, sondern auf das t` keuj` bezogen. Vgl. Ross 1961, 239 im Sinne der Paraphrase des Themistius: „because being Diares’ son is incidental to the white object, which he perceives (directly).“ Vgl. auch die bersetzung von Smith ([Oxford-bersetzung] 665) und Kahn 1981, 402 Anm. 17. Auf die sprachlichen Schwierigkeiten dieser Lçsung wurde schon oft hingewiesen (vgl. Hicks 1907, 363; Graeser 1978, 72 f.). (ii) Das Ø toioOtom wird dann so verstanden, daß das Wahrnehmungsvermçgen nichts vom Gegenstand als Sohn des Diares erleidet, sondern nur insofern er weiß ist (Ross 1961, 240). 23 Wenn Aristoteles von ,aQshgt²‘ spricht, ist das also kein Indiz dafr, daß die ,akzidentell wahrnehmbaren‘ Objekte in irgendeiner Weise „Implikate des Wahrnehmungsbewußtseins“ sind (gegen Welsch 1987, 298 f.).
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macht werden, indem all das ausgesondert wird, was im strikten Sinn nicht wahrnehmbar ist. Dadurch soll verhindert werden, daß jene eigentlich nicht wahrnehmbaren Objekte in die Abhandlung von II 7 – 11 hineingeraten und „die Lehre verwirren“.24 Demnach wrde Aristoteles an dieser Stelle keine Aussagen ber die Erkenntnis dieser Objekte machen; ihm wrde es nur darum gehen, ihnen die Wahrnehmbarkeit im strikten Sinn abzusprechen. Wenn aus II 6 die Beschrnkung des Wahrnehmungsgehalts auf die idia und koina aisthÞta folgt, stellt sich natrlich sofort die Frage, wie wir dann die Trger der sinnlichen Qualitten, die individuellen Substanzen, als solche erkennen kçnnen. Diese wrden wir nach unserem Alltagsverstndnis als wahrnehmbar betrachten (vgl. Met. VII 15, 1039b28); nach II 6 fallen sie aber als Elemente der ersten Kategorie unter die Klasse des ,akzidentell Wahrnehmbaren‘. Die Frage nach ihrer Erkennbarkeit darf natrlich nicht so verstanden werden, als ob es hier wie in den Sinnesdaten-Theorien um die Frage ginge, wie ,hinter‘ den ,an sich wahrnehmbaren‘ Qualitten das ,materielle Objekt‘erkannt werden kann.25 Es ist fr Aristoteles schon immer der Gegenstand selbst, der sich uns in der Wahrnehmung durch und in seinen sinnlichen Qualitten prsentiert. Die Frage lautet hier vielmehr, als was fr einer (t¸ 1sti der ersten Kategorie), d. h. als zu welcher Art gehçrig, der bisher nur in seinem poiºm erkannte Gegenstand identifiziert werden kann (z. B. als ein Mensch etc.). Viele Vertreter dieses Interpretationsmodells haben fr diese Identifikation des Wahrgenommenen den Intellekt ins Spiel gebracht26, der auf der Grundlage des Wahrgenommenen eine Inferenz vor24 Philoponus, In De an. 310.32 – 35: pqºteqom dia¸qes¸m tima paqad¸dysi jahºkou t_m aQshgt_m p²mtym, posaw_r k´cetai, Vma t± juq¸yr aQshgt± !p¹ t_m jat± sulbebgj¹r aQshgt_m, ûpeq oqd³ aQshgt² 1sti, t` oQje¸\ kºc\ wyq¸sar peq· to¼tym t¹m kºcom poi¶sgtai, ja· lμ paqap¸ptomta j!je?ma taq²ss, tμm didasjak¸am. 25 Dieses Mißverstndnis kçnnte sich nahelegen, wenn der Unterschied zwischen ,an sich‘ und ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ mit ,direkt‘ und ,indirekt wahrnehmbar‘ wiedergegeben wird (vgl. Bywater 1888, 57; Hicks 1907, 77, 430, 472; Hett 1936, 101 f.; Block 1960, 94). 26 Vgl. Philoponus, In De an. 312.29: b c±q moOr 1stim t_m oqsi_m !mtikgptijºr. Sophonias, In De an. 70.36 – 71.8: oq c±q aQshgt¶ timor oqs¸a, !kk± kocisl` kgpt¶, oXom toO k¸hou […] B l³m c±q exir jah’ art¹ ja· pqogcoul´myr toO wq¾lator !mtek²beto, B d³ xuwμ tμm oqs¸am sum´cmyje“. Fr eine solche ,noetische Interpretation‘ vgl. auch Geyser 1917, 161: „Diese zweite, die ,akzidentelle‘ Wahrnehmung, ist somit ein zum ursprnglichen Wahrnehmungsakt hinzutretender Denkakt der Deutung des Gegenstandes, an dem die sinnlich wahrgenommene Qualitt haftet“; Kahn 1966, 46; Kahn 1981, 402 f.: „It is in virtue of our intellectual capacities that we can recognize and distinguish the incidental sensibles“; Kahn 1992, 367 f.: „What is not always noted by the commentators is that the incidental sensibles represent the overlap or conjoined action of sense and intellect.“
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nimmt27: Man sieht z. B. dieses Weiße oder ein anderes markantes Merkmal28 und schließt auf der Grundlage eines bestimmten Wissens, daß es sich um einen Menschen oder um Kleon handelt. (Man schließt also auf sein WasSein und nicht auf sein Daß-Sein.) Hier handelt es sich nicht mehr um einen genuin aisthetischen Akt; das ,akzidentell Wahrnehmbare‘, das sich hier auf die erste Kategorie bezieht, fllt nicht mehr in die Kompetenz des Wahrnehmungsvermçgens, sondern involviert die Ttigkeit des Intellekts.29 Damit wird dem fr Aristoteles’ Psychologie wichtigen Einschluß- oder Bedingungsverhltnis zwischen hçheren und niederen seelischen Vermçgen Rechnung getragen, gemß dem die verschiedenen seelischen Vermçgen nicht unverbunden nebeneinander liegen, sondern eine Einheit bilden, indem jeweils das hçhere Vermçgen das niedrigere der Potenz nach enthlt (De an. II 3, 414b28 – 32). Wie eine solche Kooperation von Wahrnehmung und Intellekt genauer interpretiert werden kann, werden wir in Kap. 4.3 genauer untersuchen. 27 Vgl. Philoponus, In De an. 318.1 – 2: t± c±q jat± sulbebgj¹r aQshgt± oqd³m dqø eQr t±r aQsh¶seir ja· de?tai kºcou toO 1n %kkym sukkocifol´mou ; 454.20 – 22: B c±q oqs¸a oqdeliø aQsh¶sei rpop¸ptei, !kk± cim¾sjetai 1j t_m aqt0 sulbebgjºtym. 28 Vgl. Philoponus, In De an. 315.21 – 24. In 454.24 gibt Philoponus fr ein markantes Merkmal das Beispiel an, daß Kleon einen pqoc²styq trgt. 29 Dieses ,noetische Interpretationsmodell‘ bewhrt sich vor allem in der Interpretation der schwierigen Passage De an. III 4, 429b10 – 22. Nachdem sich bisher Aristoteles in diesem Kapitel besonders mit der Organlosigkeit und Leidensunfhigkeit des Intellekts, seiner Plastizitt und seinem Vorliegen in reiner Potentialitt beschftigt hat, kommt er in diesem Abschnitt auf unterschiedliche kognitive Gegenstnde (idia aisthÞta, wahrnehmbare Substanzen, substantielle Formen, abstrakte oder mathematische Formen) zu sprechen, die sich in ihrer unterschiedlichen Abtrennbarkeit von der Materie unterscheiden und die entweder mit verschiedenen kognitiven Vermçgen oder einem unterschiedlich disponierten kognitiven Vermçgen erfaßt werden (429b21 f.: 2t´q\ %qa C 2t´qyr 5womti jq¸mei). Aristoteles fhrt hier u. a. den Unterschied zwischen den wahrnehmbaren Substanzen und ihren substantiellen Formen an, z. B. das Fleisch und das Sein des Fleisches (429b12 f.). Geht man mit dem Modell A davon aus, daß die Wahrnehmung nur das ,an sich Wahrnehmbare‘ zum Inhalt haben kann, dann kann es nicht die Wahrnehmung alleine sein, durch welche die zusammengesetzten Substanzen erfaßt werden. Kahn bezieht das erste Glied der Adjunktion C %kk\ C %kkyr 5womti jq¸mei (429b14) auf die Wahrnehmung, das zweite auf den nous, der sich „auf eine andere Weise verhlt“, insofern er zusammen mit der Wahrnehmung ttig ist und auf diese Weise die zusammengesetzten Substanzen erfaßt (Kahn 1992, 370). Auch das Etoi wyqist` C ¢r B jejkasl´mg 5wei pq¹r artμm ftam 1jtah0 in 429b16 f. kann in dieser Interpretation auf den nous bezogen werden, der entweder getrennt oder gemeinsam mit der Wahrnehmung operiert (Kahn 1992, 371). Zu einer vollkommen anderen Interpretation dieser Passage vgl. Modrak 1987, 119, 123.
4.1 Zwei Interpretationsmodelle der akzidentellen Wahrnehmung
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Modell B. Gegen eine solche Einfhrung des Intellekts kçnnte nun die These vertreten werden, daß es das Wahrnehmungsvermçgen allein ist, das das ,akzidentell wahrnehmbare‘ Objekt in seinem Zukommen zu einem bestimmten idion aisthÞton erkennt – ganz gleich ob das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ einen perzeptuellen oder noetischen Ursprung hat. Das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ wre trotz seiner fehlenden kausalen Eigenstndigkeit hinsichtlich der Wahrnehmung in einem univoken Sinn wahrnehmbar. Fr eine solche Interpretation kann Cashdollar als maßgeblicher Vertreter angesehen werden.30 Fr Cashdollar ergibt sich aus dem Modell A ein zu trivialer Sinn von ,akzidenteller Wahrnehmung‘: Jeder perzeptuellen Qualitt kommen eine Vielzahl von Bestimmungen außerhalb der Kategorie des Qualitativen zu (z. B. daß das Weiße ein Mensch ist, daß es Sohn des Diares ist etc.), woraus folgt, daß sich jede eigentliche Wahrnehmung einer solchen Qualitt nebenbei immer auch auf eine Vielzahl von Bestimmungen aus der komplementren Klasse des ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ bezieht.31 Nach Cashdollar bildet dagegen das Verhltnis zwischen dem ,an sich Wahrnehmbaren‘ und dem ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ (t` keuj` sulb´bgje toOto : II 6, 418a22 f.) eine Tatsache, die nicht nur wahrnehmungsunabhngig in der Realitt vorliegt, sondern die auch in der Wahrnehmung selbst gegeben ist.32 Der Wahrnehmende ist sich bewußt, daß das Weiße der Sohn des Diares ist; der Wahrnehmungsgehalt wre dann als propositional zu bezeichnen.33 Fr das Erkennen dieser Verbindung ist die 30 Cashdollar 1973. Viele Interpreten sind ihm bisher in seinem Grundansatz gefolgt. Vgl. Gaukroger 1981, 84; Welsch 1987, 298 ff.; Sorabji 1992, 196 – 203; Bolton 2005, 219 – 222; Gregoric & Grgic 2006, 11 f. 31 Cashdollar 1973, 157: „Moreover, that view would have made incidental perception trivial. Every white thing happens to be some particular ‘this’ or other, so that it is the case that every proper sensation is of something incidentally.“ 32 Cashdollar 1973: „The exemplary cases, however, make it apparent that awareness ,that x is y‘ (rightly or wrongly) is always involved in incidental perception […] But it is only such instances where one in seeing the white is aware of, for instance, the son of Cleon that give incidental aisthÞsis what place it has in the tripartite listing and in his account of perception in general“ (157); „To perceive the conjunction of subject and attribute is therefore possible within Aristotle’s account of aisthÞsis generally. If the present account is correct, perception of such a synthesis is also necessary therein“ (170). 33 Vgl. Cashdollar 1973, 157 f.: „The exemplary cases, however, make it apparent that awareness ,that x is y‘ (rightly or wrongly) is always involved in incidental perception“. Vgl. auch Modrak (1987, 69 ff.) und Sorabji (1992, 197 ff.): „This already involves perceiving a proposition, in other words, that something is the case“; „Perception was all along treated in the De Anima as admitting a propositional content“. Vgl. auch Gregoric & Grgic 2006, 11 f.
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4. Wahrnehmung und Intellekt
Wahrnehmung allein hinreichend; es handelt sich um einen rein perzeptuellen Akt, den man dann als ,akzidentelle Wahrnehmung‘ (aUshgsir jat± sulbebgjºr) bezeichnen kann.34 Dieser komplexe Gehalt kommt dadurch zustande, daß das primre Wahrnehmungsvermçgen das ,an sich Wahrgenommene‘ mit einem anderen kognitiven Gehalt, einem phantasma oder einem noÞma, kombiniert. In dieser,perzeptuellen Kombination‘, die sich in dieser Interpretation grundstzlich auf alle Arten von Objekten außerhalb der perzeptuellen Qualitten beziehen kann, greift das Wahrnehmungsvermçgen selbst z. B. auf einen Gedanken zurck und verbindet diesen mit einem aktualen Wahrnehmungsgehalt zu einem neuen Gehalt, der im Fall einer Verbindung mit einem noÞma aus einer sinnlichen und begrifflichen Komponente bestehen wrde.35 Durch diesen assoziierten Gehalt wird das Wahrgenommene kognitiv spezifiziert, so daß die Wahrnehmung eine Tatsache (daß x F ist) zum Inhalt haben und als propositional bezeichnet werden kann. Nach diesem Modell handelt es sich hier um einen Fall genuiner Wahrnehmung und nicht schon um eine Ttigkeit, die den Intellekt involviert.36 Insofern sich das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ auf alle Kategorien beziehen kann und nicht notwendig einen noetischen Ursprung haben muß37, kann auch den Tieren ein Gehalt zugesprochen werden, der das ,an sich Wahrnehmbare‘ bersteigt.38 Im Fall des Menschen steht dieser ,akzidentellen Wahrnehmung‘ein kognitiv hçherwertiger Gehalt, nmlich ein noÞma, zur Verfgung, wodurch ein begrifflicher Gehalt zustandekommt.39 Die Extension des Terminus ,akzidentell wahrnehmbar‘ ist jetzt eingeschrnkt durch eine zustzliche kognitive Bedingung. Das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ bezieht sich jetzt nicht mehr auf die Klasse all jener Gegenstnde, die als solche das Wahrnehmungsvermçgen nicht affizieren 34 Cashdollar (1973, 157 Fn. 5) macht darauf aufmerksam, daß sich dieser Ausdruck im Text nicht findet. 35 Cashdollar 1973: „There must be a perceptual combination of the quality proper to the operating sense with the other concept“ (160). 36 Cashdollar 1973, 156, 165. Eine solche Wahrnehmung ist fr Cashdollar eine weitere Funktion des ,primren Wahrnehmungsvermçgens‘ (170). 37 Cashdollar 1973, 163 f., 167 f. 38 Vgl. Sorabji 1992, 200 ff.: „It is not quite excluded, then, that Aristotle might grant some animals universal concepts. What is clear is that he grants them predicational perception and a little experience“; vgl. besonders Sorabji 1993, 7. 39 Etwa Gregoric´ & Grgic´ 2006, 12: „We would also admit that the ability to perceive incidental sensibles is vastly enhanced by language and reason, but we would emphasise that rationality is not a necessary condition of incidental perception. Otherwise, non-rational animals could not have incidental perception“.
4.1 Zwei Interpretationsmodelle der akzidentellen Wahrnehmung
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kçnnen und die einem ,an sich Wahrgenommenen‘ in der Wirklichkeit zufallen, sondern auf bestimmte kognitive Spezifizierungen der ,an sich wahrgenommenen‘ Gegenstnde. Das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ nimmt die Stelle des ,second term‘ in einer spezifisch ,perzeptuellen Synthesis‘ ein.40 Der Ausdruck ,Sohn des Diares‘ bezeichnet dann nicht mehr nur ein Seiendes in der Kategorie der Relation, sondern ist eine definite Beschreibung, durch die etwas Wahrnehmbares identifiziert werden kann. Der Ausdruck ,Mensch‘ bezeichnet dann nicht mehr nur ein Seiendes in der ersten Kategorie, sondern ist ein sortales Prdikat, durch das eine eindeutige Bezugnahme auf etwas Wahrnehmbares hergestellt wird. Das Zukommen (sulbebgj´mai) zwischen Qualitt und ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ stellt hier eine kognitive Relation dar: Hier wird etwas (z. B. das Weiße) als etwas (z. B. als Sohn des Diares) identifiziert und diese Erkenntnis kann wahr oder falsch sein.41 Damit bekommt der Abschnitt 418a20 – 24 gegenber dem Modell A einen vollkommen anderen Sinn: Die Aussagen zum ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ werden nicht mehr auf der Ebene der Gegenstnde in ihrem kausalen Verhltnis zur Ebene des Vermçgens angesiedelt, sondern auf einer kognitiven Ebene. Die Funktion dieses Abschnitts besteht jetzt nicht mehr darin, das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ als eigentlich nicht Wahrnehmbares aus der folgenden Darlegung auszuschließen. Vielmehr finden sich in diesen vier Zeilen Spuren einer ,Theorie der akzidentellen Wahrnehmung‘42, gemß der auch das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ dem Wahrnehmenden bewußt ist und in den Gehalt eingeht. Der Abschnitt hat jetzt ein viel grçßeres Gewicht: Er kann zur Interpretation von Aristoteles’ Epistemologie und anderer Passagen herangezogen werden und vermeidet eine Kluft zwischen dem, was die Wahrnehmung nach De anima wahrnehmen kann, und dem, was sie in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs und seiner Wissenspraxis leisten muß. Das strkste Argument fr das Modell B ist der Abschnitt De an. III 3, 428b18 – 27, wo Aristoteles der Wahrnehmung von allen drei im Kapitel De 40 Vgl. Cashdollar 1973, 162: „This is exactly what is meant by incidental perception: that the second term of the synthesis is a cognized attribute of that which is perceived necessarily“; ebd. 165: „The material thing which is the source of the special percept exists under many possible descriptions any of which might be possible but not necessary candidates for the second term.“ 41 Cashdollar 1973, 162: „The exemplary cases reveal that incidental perception is the true or false recognition of a particular substance“. 42 Vgl. Cashdollar 1973, 168 Fn. 24: „But I have no doubt that these peculiar phrases are the vestiges of a well-drawn theory of incidental perception the full account of which did not find its way into DA or PN.“
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4. Wahrnehmung und Intellekt
an. II 6 unterschiedenen Arten wahrnehmbarer Gegenstnde, also auch dem ,akzidentell Wahrnehmbaren‘, bestimmte Grade der Fallibilitt zuordnet. „Die Wahrnehmung der eigentmlichen Gegenstnde ist wahr oder hat den geringstmçglichen Anteil an der Falschheit. An zweiter Stelle kommt aber (die Wahrnehmung), daß dasjenige, was den (eigentmlich) wahrnehmbaren Gegenstnden akzidentell zukommt, (diesen) akzidentell zukommt43 und hier ist es schon mçglich, sich zu tuschen. Denn daß etwas weiß ist, (darber) tuscht sich (die Wahrnehmung) nicht, ob aber das Weiße dies ist oder etwas anderes, darin tuscht sie sich (de¼teqom d³ toO sulbebgj´mai taOta <$ sulb´bgje to?r aQshgto?r> ja· 1mtaOha Edg 1md´wetai diaxe¼deshai7 fti l³m c±q keujºm, oq xe¼detai, eQ d³ toOto t¹ keuj¹m C %kko ti, xe¼detai). Das dritte aber ist (die Wahrnehmung) der gemeinsamen Gegenstnde, die den akzidentell zukommenden Gegenstnden folgen, denen die eigentmlich wahrnehmbaren Gegenstnde zukommen (ich meine z. B. Bewegung und Grçße). ber diese kann
43 Ich orientiere mich an dieser Stelle an der Lesart von Ross und an den gngigen bersetzungen (vgl. Smith [Oxford -bersetzung] 681; Ross 1961, 283; Theiler 1994, 56; Hamlyn 1968, 56), die Bywaters (1888, 58) Umstellung des ,$ sulb´bgje to?r aQshgto?r‘ von 428b24 nach 428b20 folgen und es in einem inversen Sinn verstehen. Problem in diesem Abschnitt ist die Formulierung ,toO sulbebgj´mai taOta‘ in 428b19 f.: Diese kçnnte man im inversen Sinn des Zukommens von II 6, 418a22 f. und III 1, 425a26 f. so verstehen, daß hier wahrgenommen wird, daß ein substantieller Trger einer ,an sich wahrnehmbaren’ Qualitt zukommt. Hierfr fehlt aber der Dativ. Daher konjeziert Torstrik ,toO d sulb´bgje to¼toir‘ (die Wahrnehmung dessen, was diesen [den idia aisthÞta] zukommt). Einen anderen Weg, um die inverse Interpretation aufrechtzuerhalten, schlgt Bywater ein: Er transponiert das ,$ sulb´bgje to?r aQshgto?r‘ von 428b24 nach b20, um damit den notwendigen Dativ zu gewinnen. Es wird dann folgendermaßen bersetzt: „Next comes perception that what is incidental to the objects of perception is incidental to them“ (Smith [Oxford-bersetzung] 681); „Next to it comes the perception that the objects which accompany these special sensibles do accompany them“ (Paraphrase Ross 1961, 283); „Secondly {there is the perception} that those things which are incidental to these objects of perception are so“ (Hamlyn 1968, 56); „In zweiter Linie geht sie darauf, daß den Sinnesgegenstnden nebenbei zugehçrt, was ihnen zugehçrt“ (Theiler 1994, 56). Das ,to?r sulbebgjºsim‘ in 428b23 wird dann ebenfalls in dieser inversen Verwendung auf die ,akzidentell wahrnehmbaren‘ substantiellen Trger selbst bezogen, denen die idia (nicht-invers) zukommen: ,oXr rp²qwei t± Udia‘. Im Gegensatz zu Torstrik und Bywater geht Heinrich Maier davon aus, daß das sulbebgj´mai in 428b20 und b23 im herkçmmlichen nicht-inversen Sinn zu verstehen ist, d. h. die Wahrnehmung bezieht sich auf die akzidentellen Eigenschaften. Dann aber muß das ,oXr rp²qwei t± Udia‘ in 428b23 gestrichen werden. Fr eine andere Lçsung, ohne die Umstellung von Bywater, vgl. Hicks 1907, 469: Er faßt das ,toO sulbebgj´mai taOta‘ von 428b20 im herkçmmlichen nicht-inversen Sinn auffaßt, so daß es sich auf die Akzidentien bezieht, die einer Einzelsubstanz zukommen.
4.1 Zwei Interpretationsmodelle der akzidentellen Wahrnehmung
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man sich am meisten tuschen hinsichtlich der Wahrnehmung“ (De an. III 3, 428b18 – 25).
Die Fallibilitt wird im Fall des ,akzidentell Wahrnehmbaren’ an der zweigliedrigen Struktur festgemacht: Das idion aisthÞton ,weiß‘ wird mit etwas anderem verbunden und diese Verbindung oder Synthesis kann wahr oder falsch sein. Dafr muß aber das andere Glied, mit dem das idion verbunden wird, dem Wahrnehmenden kognitiv prsent sein. Wenn es also mçglich sein soll, sich in der Wahrnehmung darber zu tuschen, daß das Weiße z. B. ein Mensch ist, muß auch das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ zu einem Teil des Wahrnehmungsgehalts werden kçnnen. Es muß fr den Wahrnehmenden mçglich sein, daß ihm das Wahrgenommene als ein Mensch erscheint, um sich ber diesen Sachverhalt tuschen zu kçnnen. Auch in De an. III 6 scheint Aristoteles dem Erkennen des ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ – auch wenn der Terminus hier nicht vorkommt – eine Fallibilitt zuzusprechen und zwar analog zur t· jat± timºr-Struktur des Aussagens und Denkens. „Aber nicht jeder (Modus des) Intellekts (ist wahr oder falsch), sondern der sich auf das Was-es-ist gemß dem Was-es-heißt-(fr eine Sache)-zu sein beziehende ist (immer) wahr, und (hier gibt es) nicht Etwas-von-Etwas: Aber wie das Sehen der eigentmlichen Qualitt (immer) wahr ist, ob aber das Weiße ein Mensch ist oder nicht, nicht immer wahr ist, so verhlt es sich bei dem ohne Materie (b d³ moOr oq p÷r, !kk’ b toO t¸ 1sti jat± t¹ t¸ Gm eWmai !kgh¶r, ja· oq t· jat² timor7 !kk’ ¦speq t¹ bq÷m toO Qd¸ou !kgh´r, eQ d’ %mhqypor t¹ keuj¹m C l¶, oqj !kgh³r !e¸, ovtyr 5wei fsa %meu vkgr)“ (De an. III 6, 430b27 – 30).
Aus diesem Abschnitt wird deutlich, daß Aristoteles nicht nur auf der noetischen Ebene zwischen dem Erfassen des Unteilbaren (Met. IX 10, 1051b17 – 3244) und der Synthesis von Gedanken (s¼mhesir mogl²tym : De an. III 6, 430a27 f.45) unterscheidet, sondern dieser Unterschied auch fr die aisthetische Ebene gilt: Whrend das Sehen der idia aisthÞta immer wahr ist oder im geringsten Maße fallibel (III 3, 428b19), kann man sich in der ,akzidentellen Wahrnehmung‘ darin tuschen, ob das Weiße ein Mensch ist oder nicht.46 Bezglich der Frage, wie aber das Wahrnehmungsvermçgen 44 Statt der Disjunktion ,wahr oder falsch‘ gibt es bei diesen einfachen Gegebenheiten nur die Wahrheit im Sinne des Denkens oder Erfassens, dem das berhaupt nicht Gedacht- oder Erfaßt-Werden gegenbersteht, genauso wie ein Gegenstand berhrt (hicc²meim) oder nicht berhrt wird. Hierzu ausfhrlich Oehler 1985. 45 Vgl. Int. 16a12 f.; Met. VI 4, 1027b29 f., 32 f. 46 Auch in De an. II 6, 418a16 (t¸ t¹ jewqysl´mom C poO, C t¸ t¹ xovoOm C poO) und Met. IV 5, 1010b19 – 21 (!kk’ oqd’ 1m 2t´q\ wqºm\ peq¸ ce t¹ p²hor Alvisb¶tgsem, !kk± peq· t¹ è sulb´bgje t¹ p²hor) scheint eine fallible ,akzidentelle Wahrnehmung’ vorzuliegen.
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4. Wahrnehmung und Intellekt
allein fhig sein soll, sich eines solchen akzidentellen Zukommens bzw. eines solchen singulren Sachverhalts bewußt zu werden (z. B. daß das Weiße ein Mensch ist), muß man so etwas wie eine ,perzeptuelle Kombination‘ annehmen: hnlich wie in den assoziativen Verbindungen innerhalb des Erinnerns (vgl. Mem. 451b10 – 22) assoziiert der Wahrnehmende spontan mit einer ,an sich wahrgenommenen‘ Qualitt einen schon erworbenen kognitiven Gehalt, etwa einen Gedanken (noÞma). Die Wahrnehmung selbst leistet also eine Kombination, die zu einer spezifisch ,perzeptuellen Synthesis‘ fhrt, die wahr oder falsch sein kann. Die ,akzidentelle Wahrnehmung‘ besteht dann im Bewußtsein dieser Verbindung. Die Bedingung dafr, wann eine ,akzidentelle Wahrnehmung‘ stattfindet, muß in dieser Interpretation folgendermaßen bestimmt werden: (Def 3) x wird ,akzidentell wahrgenommen‘ genau dann, wenn (1) x einem y zukommt, das ,an sich‘ wahrgenommen wird und (2) eine ,perzeptuelle Kombination‘ stattfindet zwischen y und x und (3) y als x identifiziert wird. Was als ,akzidentell wahrgenommen‘ bezeichnet wird, ist hier nicht mehr die Klasse der Dinge, die als solche kein Wahrnehmungsvermçgen affizieren kçnnen und die dem ,an sich Wahrgenommenen‘ in der Wirklichkeit zufallen kçnnen, sondern das, was zugleich mit dem ,an sich Wahrgenommenen‘ erfaßt wird, was man mit diesem zusammen im Bewußtsein hat. Es handelt sich nicht mehr bloß um ein bestimmtes Seiendes außerhalb der Kategorie des Qualitativen, sondern um einen bestimmten kognitiven Inhalt, durch den das ,an sich Wahrgenommene‘ interpretiert oder spezifiziert wird.47 Ohne Zweifel besitzt dieses Interpretationsmodell eine besondere Attraktivitt. Zum ersten steht sie in bereinstimmung mit unserem All47 Cashdollar gibt sogar die ,entscheidende Bedingung‘ auf, daß das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ hinsichtlich des Wahrnehmungsvermçgens kausal wirkungslos ist: Vom ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ gehe vielmehr ein dritter Typ von psychischer Bewegung aus (Cashdollar 1973, 159). Das zeigt sich auch darin, wie Cashdollar die schwierige Stelle II 6, 418a23 f. versteht (1973, 160 Anm. 10): Er bezieht das ox in 418a23 auf das akzidentell wahrgenommene Objekt, also das vorangehende toOto, und das Ø toioOtom im folgenden Satz auf das Weiße. Demnach erleidet das Wahrnehmungsvermçgen nichts vom Wahrnehmbaren, insofern es weiß ist, sondern insofern es der Sohn des Diares ist. Graeser (1978, 72 f.) pldiert dagegen zu Recht dafr, in der bersetzung von De an. II 6, 418a23 auf das ,consistency-requirement‘ zu verzichten: Das ox ist auf das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ (toOto) zu beziehen und das Wahrnehmungsvermçgen erleidet nichts von diesem, insofern es der Sohn des Diares ist. Vgl. auch Hicks 1907, 363.
4.1 Zwei Interpretationsmodelle der akzidentellen Wahrnehmung
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tagsverstndnis: Wir gehen davon aus, daß uns in einem Wahrnehmungsakt mehr als bloß partikulre sinnliche Qualitten gegeben sind, daß wir z. B. etwas als einen Tisch oder als einen Menschen wahrnehmen.48 Wir unterstellen außerdem, daß auch der Wahrnehmungsgehalt subhumaner Lebewesen ber einzelne sinnliche Qualitten hinausgeht, etwa daß der Hund jemanden als seinen Herrn, der Esel etwas als Stroh oder der Hase etwas als gefhrlich wahrnehmen kann und sich dadurch ,verstndig‘ oder ,klug‘ (vqºmilom : Met. I 1, 980b1 f.; Hist. an. IX 1, 608a11 – 21) verhalten kann. Aristoteles scheint den Tieren einen Gehalt zuzuschreiben, der ber das bloße Erfassen des ,an sich Wahrnehmbaren‘ hinausgeht.49 Wenn ihnen nun aber kein nous zukommt, muß die Lcke vom Wahrnehmungsvermçgen gefllt werden und hier bietet sich das Modell B an.50 Dafr mssen aber den Tieren so etwas wie ,rudimentre Begriffe‘ zugeschrieben werden, die dann in einer solchen propositionalen Wahrnehmung die Prdikatsstelle einnehmen; der Lçwe verfgt dann ber einen rudimentren Begriff des Ochsen.51 Schließlich kann dieses Interpretationsmodell als Erklrung zahlreicher Stellen herangezogen werden, in denen Aristoteles so von der Wahrnehmung spricht, als ob sie eine singulre Tatsache erfassen kann.52 Die 48 Vgl. auch Aristoteles’ Rede von den wahrnehmbaren Einzelsubstanzen (z. B. Met. VII 15, 1039b27 f.; XII 1, 1069a30 ff.). 49 Immer wieder zitiertes Beispiel ist EN III 13, 1118a20 f.: „Ebenso ist fr den Lçwen nicht das Gebrll des Ochsen lustvoll, sondern sein Verzehr. Dass der Ochse in der Nhe ist, bemerkt er am Gebrll (fti d’ 1cc¼r 1sti, di± t/r vym/r Õsheto)“ (bers. Wolf ). Hierzu Sorabji 1992, 197 f.: „Having distinguished animals from men as lacking reason in the De Anima, he none the less allows the lion to entertain propositions about the ox he is going to eat in the Nicomachean Ethics“; Sorabji 1993, 5. 50 Vgl. Sorabji 1992, 196: „an animal that follows a scent does not merely perceive the scent in isolation, but perceives it as lying in a certain direction […] But this already involves predication: the scent is connected with a direction. We can put this by saying that the animal perceives that the scent comes from that direction, or perceives it as coming from there. If animals lack reason and belief, these predications must be something that their perception can carry out“. 51 Sorabji 1993, 7: „The point is that animals too are allowed by Aristotle, at the opening of the Metaphysics (1.1), to have a little experience. And that is how the lion can have a rudimentary concept of the ox“; Sorabji 1996, 316. 52 Vgl. Top. V 3, 131b22 f. (!vam³r c²q 1stim eQ 5ti rp²qwei, di± t¹ t0 aQsh¶sei lºmom cmyq¸feshai); Met. I 1, 981b11 ff. (!kk’ oq k´cousi t¹ di± t¸ peq· oqdemºr, oXom di± t¸ heql¹m t¹ pOq, !kk± lºmom fti heqlºm); EN VI 3, 1139b21 f. (t± d’ 1mdewºlema %kkyr, ftam 5ny toO heyqe?m c´mgtai, kamh²mei eQ 5stim C l¶). Man kann auch an den Untersatz des sog. ,praktischen Syllogismus‘ denken, wo Aristoteles der Wahrnehmung, die fr die Erfllung des im deliberativen Denken erreichten letzten Unterzwecks zustndig ist, die Gehalte zuspricht, die das ,an sich Wahrnehmbare‘ bersteigen; hier wird das aisthÞton in einer bestimmten kognitiven Hinsicht erfaßt
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4. Wahrnehmung und Intellekt
drohende Kluft zwischen De anima und seiner Wissenstheorie und wissenschaftlichen Praxis kann damit vermieden werden, da die Wahrnehmung in Modell B ber einen hinreichend komplexen Gehalt verfgt, um die ihr zugeschriebene epistemologisch-grundlegende Rolle zu erfllen. Trotz dieser Attraktivitt stellen sich gegenber dem Modell B gewichtige Einwnde. So kçnnte man fragen, ob diese Interpretation den Abschnitt De an. II 6, 418a20 – 24 nicht hoffnungslos berstrapaziert: Kommt mit einer Interpretation, die hier die Spuren einer ,Theorie der akzidentellen Wahrnehmung‘ vermutet, nicht jene ,Verwirrung‘ in die Lehre von De anima, die nach Philoponus gerade vermieden werden sollte? Um erklren zu kçnnen, wie etwas, was prinzipiell nicht in der Lage ist, einen Sinn zu affizieren, dem Wahrnehmenden dennoch kognitiv prsent werden kann, muß – in Anknpfung an Aristoteles’ Bemerkungen zur Assoziation in seiner Untersuchung der anamnÞsis – so etwas wie eine ,perzeptuelle Kombination‘ oder ,spontane Assoziation‘ postuliert werden. Im Fall des Menschen wrde das primre Wahrnehmungsvermçgen auf einen gedanklichen Inhalt zurckgreifen, diesen mit einem aktualen Wahrnehmungsgehalt kombinieren und somit einen neuen, komplexen Gehalt hervorbringen, der aus einer sinnlichen und begrifflichen Komponente besteht. Genau hier liegt der entscheidende Schwachpunkt dieser Interpretation. Sie macht Annahmen, die sich im Rahmen der Aristotelischen Psychologie nicht halten lassen: (1) Das Wahrnehmungsvermçgen leistet die Verbindung oder Synthesis der beiden Gehalte. Dafr muß es auf einen im Intellekt, und zwar im Modus der,ersten Entelechie‘ vorliegenden gedanklichen Gehalt ,zurckgreifen‘. Ein solcher ,Rckgriff ’durch das Wahrnehmungsvermçgen ist m. E. aber nur in Bezug auf phantasmata mçglich: Weil es sich bei der phantasia nicht um ein seelisches Vermçgen im strikten Sinn handelt, sondern bloß um ein passives Reservoir von Wahrnehmungseffekten, die zu ganz unterschiedlichen reprsentationalen Zwecken von genuinen seelischen Vermçgen genutzt werden kçnnen, stellt es kein Problem dar, daß sich die Wahrnehmung dieser gespeicherten Gehalte als reprsentationale Hilfsmittel bedient. Anders sieht es aber im Fall von Denkinhalten aus. Hier handelt es sich um die spezifischen Gegenstnde eines genuinen seelischen Vermçgens (De an. III 4, 429a17 f.). Es ist nicht denkbar, wie ein anderes Vermçgen, das zudem noch ,unter‘ dem Denkvermçgen steht, auf dessen Inhalte einen direkten Zugriff haben kçnnte. Aristoteles stellt außerdem heraus, daß eine fallible Synthesis, wie sie ein solcher begrifflicher Gehalt darstellen wrde, eine Leistung des (EN III 5, 1113a1 f.: eQ %qtor toOto C p´peptai ¢r de?7 aQsh¶seyr c±q taOta ; VII 5, 1147a26: aUshgsir Edg juq¸a).
4.2 Assoziation innerhalb der animalischen Wahrnehmung
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Intellekts ist (De an. III 6, 430a26-b6). (2) Weiterhin geht man im Modell B davon aus, daß der gedankliche Inhalt dem Wahrnehmenden kognitiv prsent ist: Das, was er wahrnimmt, nimmt er als etwas Bestimmtes wahr. Hierfr muß der gedankliche Inhalt im Modus der ,zweiten Entelechie‘ vorliegen. Das bedeutet, daß es das Wahrnehmungsvermçgen zustandebringen mßte, diesen gedanklichen Gehalt zu aktivieren, also in den Modus der zweiten Entelechie zu berfhren, damit dieser Gehalt das wahrgenommene Objekt wirklich kognitiv spezifizieren kann. Aber auch dieses Aktivieren obliegt dem Intellekt und nicht der Wahrnehmung (De an. II 5, 417b23 f.; III 4, 429b7). (3) Aristoteles zieht berhaupt eine scharfe Grenze zwischen einer synthesis noÞmatn, wie sie durch den Intellekt zustandekommt, und einer Kombination von Vorstellungsgehalten. Zwischen phantasmata und noÞmata besteht ein wesentlicher Unterschied; letztere kçnnen auf erstere nicht reduziert werden (De an. III 8, 432a10 – 14). Die skizzierten Kritikpunkte richten sich gegen die Annahme, daß sich eine ,perzeptuelle Kombination‘ auch auf Inhalte des Denkvermçgens beziehen kann, wodurch ein begrifflich-propositionaler Wahrnehmungsgehalt zustandekommt. Nicht betroffen von dieser Kritik ist die Mçglichkeit, daß sich die ,perzeptuelle Kombination‘ auf solche ,akzidentell wahrnehmbaren‘ Objekte bezieht, die einen perzeptuellen Ursprung haben und durch die phantasia aufbewahrt werden. Das soll im folgenden Abschnitt anhand der animalischen Wahrnehmung kurz verdeutlicht werden. In dem sich anschließenden Abschnitt (4.3) wird dann das ,noetische Modell’, das fr die begriffliche Spezifikation des Wahrgenommenen den Intellekt einfhrt, am Text genauer herausgearbeitet. Es wird sich zeigen, daß sich dieses in die Aristotelische Psychologie als ganze besser integrieren lßt.
4.2 Assoziation innerhalb der animalischen Wahrnehmung Der Wahrnehmung kommt fr das berleben der Lebewesen eine grundlegende Bedeutung zu (De an. III 12 – 13: toO eWmai 6meja ; Sens. 436b20: sytgq¸ar 6mejem). Die Kompetenz des Wahrnehmungsvermçgens muß dafr in irgendeiner Weise ber das bloße Erfassen des ,an sich Wahrnehmbaren‘ hinausgehen: Der Hund scheint den Geruch, der einem Hasen zukommt, als ,Beute‘ wahrzunehmen und das Schaf einen bestimmten optischen Eindruck, der einem Wolf zukommt, als ,Feind‘.53 Mssen wir fr 53 Von Interpreten werden hier immer wieder Passagen wie EN III 13, 1118a20 f., Hist. an. IX 10, 614b20 f. angefhrt (z. B. Sorabji 1992, 196 ff.).
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4. Wahrnehmung und Intellekt
den Wahrnehmungsgehalt der Tiere so etwas wie ,rudimentre Begriffe‘ annehmen, durch welche eine perzeptuelle Qualitt als etwas, z. B. als ntzlich oder schdlich, spezifiziert wird und die fr ein bestimmtes Verhalten, z. B. Verfolgen oder Fliehen, verantwortlich sind? Im Folgenden werden wir sehen, daß hier eine sparsamere Interpretation mçglich ist, die ohne das Zuschreiben solcher Ntzlichkeits- und Schdlichkeitsprdikate auskommt. Dem berleben dienen in grundlegender Weise der Tast- und Geschmackssinn. Die Fernsinne dagegen sind ,um des Guten willen’da, dienen aber in den Lebewesen, die zur Fortbewegung fhig sind, auch dem berleben (De an. III 12, 434b22 – 27).54 Wir kçnnen also zwischen (a) der berlebensdienlichen Funktion der Nahsinne bei den ortsgebundenen Lebewesen, (b) der zustzlichen berlebensdienlichen Funktion der Fernsinne bei den bewegungsfhigen Lebewesen und (c) der Funktion ,um des Guten willen‘ (tou eu heneka)55 unterscheiden. Diese drei Zielbestimmungen sind am ausfhrlichsten im ersten Kapitel von De Sensu dargelegt: „(a) Den Lebewesen aber, insofern jedes ein Lebewesen ist, kommt notwendig Wahrnehmung zu: Denn durch dieses Vermçgen unterscheiden wir das Lebewesen-Sein vom Nicht-Lebewesen-Sein. Um aber eigens56 sogleich auf das einzelne (zu sprechen zu kommen): Der Tastsinn und der Geschmackssinn kommen allen (Lebewesen) notwendig zu, der Tastsinn aus dem in den Abhandlungen ber die Seele dargelegten Grund, der Geschmackssinn wegen der Nahrung: Denn mit diesem Vermçgen unterscheidet (das Lebewesen) das Lustvolle und das Schmerzhafte an der Nahrung, so daß es das eine flieht, das andere verfolgt, und berhaupt ist der Geschmack eine Affektion des Nhrvermçgens. (b) Die Sinne aber, die durch ußere Medien57 wahrnehmen, also Geruch, Gehçr und Sehsinn, kommen denen von den Lebewesen zu, die sich fortbe54 „Die anderen Sinne aber sind um des Guten willen (toO ew 6meja) und kommen nicht schon jeder beliebigen Gattung der Lebewesen zu, sondern kommen einigen, nmlich den Bewegungsfhigen, notwendig zu: Denn wenn sie sich erhalten (s¾feshai) wollen, ist es notwendig, daß diese nicht allein beim Betasten wahrnehmen, sondern auch von weitem“ (De an. III 12, 434b24 – 27). 55 Dieser Ausdruck meint bloß, daß diese Sinne auch noch einem hçheren Zweck dienen; diese Ntzlichkeit kommt ihnen ,akzidentell’ zu (z. B. leistet der Hçrsinn akzidentell den grçßten Beitrag zum Wissenserwerb, insofern dieser an den Austausch bedeutungsvoller Stze gebunden ist: Sens. 437a11 f.). 56 Das Adverb Qd¸ô (LSJ: privately, separately; privatim) wird von Aristoteles besonders in biologischen Kontexten verwendet (meist mit dem gegenteiligen Begriff joim0 : Hist. an. IV 7, 532b27; VI 18, 571b7 f.; Gen. an. III 10, 759a25ff ). 57 Im Unterschied zu den ,angewachsenen’ Medien beim Tast- und Geschmackssinn sind diese Medien ,abgegrenzt‘ (diyq¸shai : De an. II 11, 423a10).
4.2 Assoziation innerhalb der animalischen Wahrnehmung
157
wegen kçnnen; allen, die sie haben, kommen sie um der Erhaltung willen zu, damit sie, indem sie im voraus wahrnehmen, die Nahrung verfolgen als auch das Schlechte und Verderbende fliehen; (c) den Lebewesen aber, die auch Vernunft (ja· vqom¶seyr)58 besitzen, kommen sie (die Fernsinne) um des Guten willen (toO ew 6meja)59 zu: Denn sie zeigen viele Unterschiede an, aus denen sowohl das Wissen der intelligiblen als auch der praktischen Dinge hervorgeht (1n ¨m B te t_m mogt_m 1cc¸metai vqºmgsir ja· B t_m pqajt_m)“ (Sens. 436b10 – 437a3).
Tast- und Geschmackssinn kommen jedem Lebewesen notwendig zu, da sie fr das Wahrnehmen der zutrglichen und schdlichen Nahrung zustndig sind. Der Tastsinn kommt allen Lebewesen zu (De an. II 2, 413b4 f.), er ist ,der notwendigste‘ (414a3: !macjaiot²tgm), da er fr die Wahrnehmung der Nahrung zustndig ist, die in einer Wahrnehmung der Elementarqualitten besteht (II 3, 414b7 – 13). Insofern die schmeckbaren Gegenstnde auch unter den Tastsinn fallen (414b11) und Aristoteles bis II 10 den Geschmackssinn noch nicht als solchen vom Tastsinn unterscheidet, ist auch jener berlebensnotwendig.60 Beide Sinne werden von Aristoteles als not58 Hier wird der Terminus vqºmgsir im Sinne eines kognitiven Vermçgens gebraucht (vgl. Schneeweiß 2005, 46 f. in Auseinandersetzung mit Jaeger 1955); viele bersetzer geben vqºmgsir an dieser Stelle mit ,Intelligenz‘ wieder (vgl. Ross 1955, 183; Beare (Oxford-bersetzung), 694; Dçnt 1997, 48; Laurenti 2004, 197). Hiervon ist die Verwendung von vqºmgsir zwei Zeilen spter (437a3 und auch in 437a11) zu unterscheiden: Hier wird dieser Terminus im Sinne einer kognitiven Disposition (d. h. auf der Stufe einer,ersten Entelechie‘oder einer 6nir) verwendet, der ein bestimmtes Wissen von etwas bezeichnet (vgl. Ross 1955, 183: ,knowledge‘; Laurenti 2004, 197: ,conoscenza‘; Beare [Oxford-bersetzung], 694: ,knowledge‘), nmlich sowohl das theoretische als auch das praktische Wissen. Fr vqºmgsir im Sinne des theoretischen Wissen vgl. Protr. B 71, B 77, B 103 [hier unterscheidet Aristoteles zwischen der vqºmgsir, die wir zum bloßen Leben brauchen, und derjenigen, die wir zum vollkommenen Leben brauchen und die auf die Wahrheit ausgerichtet ist]; Met. I 2, 982b24; Gen. an. I 23, 731a35. Fr vqºmgsir im engen, terminologischen Sinn vgl. EN VI 5. 59 Rolfes 1924, 3: ,Wohlsein‘; Ross 1955, 1961: ,for the sake of well-being‘; Laurenti 2004: ,benessere‘, ,stare bene‘. Beare bersetzt als einziger zutreffend (Oxfordbersetzung, 694): ,for the attainment of a higher perfection‘. 60 In der Aufzhlung der,anderen‘ Sinne außer dem Tastsinn fehlt der Geschmackssinn (De an. II 3, 415a4 ff.). Das Schmecken impliziert ein Tasten oder eine Berhrung (II 10, 422b6; II 11, 423b2 f.) im Unterschied zum Sehen, Hçren und Riechen. Da im Unterschied zu den Fernsinnen beim Tastsinn das Medium, nmlich das Fleisch, nicht abgegrenzt ist, sondern angewachsen ist (weshalb es von uns unbemerkt bleibt und der Gegenstand zugleich mit jenem wahrgenommen wird), kçnnte es scheinen, daß man Tast- und Geschmacksqualitten nur durch einen Sinn wahrnimmt. Daß hier (im Fall des Fleischs) aber verschiedene Wahrnehmungen vorliegen, zeigt sich an
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4. Wahrnehmung und Intellekt
wendig fr das berleben des Lebewesens bezeichnet (434b22 f.)61, kein Lebewesen kann ohne Tastsinn und Geschmackssinn sein. In De Sensu ist der Geschmackssinns, der wie der Tastsinn allen Lebewesen notwendig zukommt, fr die Unterscheidung des Angenehmen und des Schmerzhaften (t¹ Bd¼ – t¹ kupgqºm) an der Nahrung zustndig, damit das Lebewesen diese fliehen bzw. verfolgen kann (ve¼ceim – di¾jeim : Sens. 436b15 ff.). Fr diese berlebensdienliche Funktion ist nun die mit jeder Wahrnehmung verbundene Lust- bzw. Unlusterfahrung entscheidend: Bei Aristoteles’ Begriff der aisthÞsis lßt sich bekanntlich zwischen einer objektiven Seite, dem Gehalt, und einer subjektiv-affektiven Seite unterscheiden62, zu der die Selbstwahrnehmung (De an. III 2, 425b12 – 25; EN IX 9) und die mit der Wahrnehmung verbundene Lust- bzw. Unlusterfahrung gehçrt (De an. II 2, 413b23). Diese Lust- bzw. Unlusterfahrung steht in einem sachlichen Zusammenhang mit dem Streben (im engeren Sinn: mit der Begierde): „Wem aber Wahrnehmung zukommt, dem auch Lust und Schmerz und das Lustvolle und Schmerzvolle; denen aber diese zukommen, auch die Begierde: Denn diese ist ein Streben nach dem Lustvollen“ (II 3, 414b4 ff.; b15 f.). Fr das berleben relevant ist nun besonders diese affektive Seite, da das Empfinden des Lustvollen bzw. des Schmerzvollen, das die Wahrnehmung begleitet und den Wahrnehmungsgehalt als lust- oder leidvoll charakterisiert, fr die elementaren Reaktionen des Fliehens bzw. Verfolgens (ve¼ceim – di¾jeim) verantwortlich ist (vgl. De an. III 12, 434b16 ff.).63 Komplexer ist die berlebensnotwendige Funktion der Wahrnehmung bei den zur Fortbewegung fhigen Lebewesen, denen die Fernsinne notwendig zukommen (vgl. De an. III 12, 434b25 f.): „Die Sinne aber, die durch ußere Medien wahrnehmen, also Geruch, Gehçr und Sehsinn, kommen denen von den Lebewesen zu, die sich fortbewegen kçnnen; allen, die sie haben, kommen sie um der Erhaltung willen (sytgq¸ar 6mejem) zu, damit sie, indem sie im voraus wahrnehmen (pqoaishamºlema), die der Zunge: Hier werden sowohl Tast- als auch Geschmacksqualitten wahrgenommen. Das gilt aber nicht fr das brige Fleisch (II 11, 423a11 – 21). Auch in III 12 findet sich die Bezeichnung des Geschmackssinns als ,B ceOs¸r 1stim ¨speq "v¶ tir‘ (III 12, 434b18); vgl. auch Part.an. II 17, 660a21 f. 61 axtai l³m owm !macja?ai t` f]\ (434b22 f.). Das bezieht sich auf beide Sinnesvermçgen (vgl. Hicks 1907, 580; Ross 1961, 324, Movia 2001, 245). 62 Vgl. Kahn 2005, 196 f. 63 Vgl. Kahn 2005, 197: „It is an essential function of the sensory psyche not only to provide the animal with information about the environment but also to govern its behavior in pursuing pleasure and avoiding pain.“ Zum Zusammenhang zwischen Lust/Unlust und Streben genauer Corcilius 2008, Teil I.
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Nahrung verfolgen als auch das Schlechte und Verderbende fliehen“ (Sens. 436b18 – 437a1).
Damit diese Lebewesen erhalten bleiben, mssen sie in der Lage sein, den Gegenstand nicht nur durch Berhrung wahrzunehmen, sondern auch aus der Ferne (vgl. De an. III 12, 434b26 f.: ja· %pohem): Schon beim Riechen, Hçren oder Sehen mssen die elementaren Reaktionen des Verfolgens oder Fliehens ausgelçst werden kçnnen, ohne daß dafr der Gegenstand erst betastet oder gar geschmeckt werden mßte. Dies kçnnte nun so interpretiert werden, daß diese Tiere einen bestimmten Gegenstand als etwas sehen, riechen oder hçren, das man fliehen oder verfolgen muß: An der Stelle des ,als etwas‘ wrden dann rudimentre Begriffe, wie z. B. ,Freßfeind‘, ,Beute‘ oder ,ntzlich‘, ,schdlich‘ etc., stehen, die mit einem bestimmten Verhalten verbunden wren. Fr eine solche Zuschreibung rudimentrer Begriffe kennt die Aristotelische Tradition seit Avicenna den inneren Sinn der aestimatio, dessen Gegenstand die in den partikulren Sensibilia enthaltenen intentiones sind, die durch die ußeren Sinne nicht erfaßt werden. Hier handelt es sich um Ntzlichkeits- und Schdlichkeitsprdikate, also z. B. das zu Fliehende am Wolf.64 Die aestimatio verbindet diese intentiones mit den vorher empfangenen Formen.65 So heißt es bei Thomas von Aquin: „Es ist jedoch dem Sinnenwesen notwendig, gewisse Dinge zu suchen oder zu fliehen, nicht nur weil sie dem sinnlichen Wahrnehmen zusagen oder nicht zusagen, sondern auch wegen bestimmter anderer Zutrglichkeiten und Ntzlichkeiten oder Nachteile. So flieht das Schaf den Wolf, wenn es ihn kommen sieht, nicht wegen der Hßlichkeit der Farbe oder der Gestalt, sondern gleichsam als natrlichen Feind (quasi inimicum naturae). Desgleichen sammelt der Vogel die Strohhalme, nicht weil die die Sinne erfreuen, sondern weil sie zum Nestbau taugen. Es ist also dem Sinneswesen notwendig, solche Bestimmtheiten (intentiones) zu erfassen, die der ußere Sinn nicht erfaßt. Und fr dieses Erfassen muß es ein besonderes Prinzip geben, da das Wahrnehmen der sensiblen Formen auf die Vernderung des Sinnflligen hin erfolgt, nicht aber die Wahrnehmung der genannten Bestimmtheiten“ (Thomas von Aquin, S.Th. q. 78 a. 4 corpus).
64 Hierzu Wirmer 2004, 45 ff. 65 „Und es scheint, daß [dieses Vermçgen] auch dasjenige ist, welches ber die Zusammensetzung und Trennung der Vorstellungen verfgt“ (Avicenna, De anima p. 45, 1.6 – 11; zitiert nach Wirmer). Bei Thomas von Aquin heißt dieses Einschtzungsvermçgen, insofern es dem Menschen zukommt, vis cogitativa (S.Th. q. 78 a. 4 corpus): Sie stellt die partikulren intentiones zusammen wie die intellektive Vernunft die allgemeinen intentiones; daher wird sie auch ratio particularis genannt.
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4. Wahrnehmung und Intellekt
Es ist vollkommen zutreffend, wenn Thomas feststellt, daß das Schaf den Wolf nicht etwa aufgrund einer unattraktiven Farbqualitt meidet. Zu fragen ist, ob als Grund fr dieses Fluchtverhalten schon eine Art QuasiBegriff bzw. ein eigener Sinn eingefhrt werden sollte: Das Schaf wrde einen bestimmten Gegenstand als ,schdlich‘ oder ,Feind‘ wahrnehmen. Nun finden sich aber bei Aristoteles keinerlei Hinweise auf einen solchen spezifischen inneren Sinn und ihm zugehçrige Objekte. Außerdem kçnnen nach Pol. I 2 die Tiere nur das Schmerzhafte und Lustvolle wahrnehmen und einander anzeigen, das Ntzliche und Schdliche (und damit verbunden das Gerechte und Ungerechte) ist dagegen dem logos-begabten Menschen vorbehalten.66 Ich werde im Folgenden anhand eines Abschnitts aus De Sensu eine sparsamere Interpretation fr die Wahrnehmung der fortbewegungsfhigen Tiere entwickeln, die ohne die Annahme solcher rudimentren Begriffe auskommt. Die Fernsinne kommen den fortbewegungsfhigen Lebewesen um des berlebens willen zu, „damit sie im voraus wahrnehmend (pqoaishamºlema) die Nahrung verfolgen als auch das Schlechte und Verderbende fliehen“. Was ist die Bedeutung von pqoaish²meshai ?67 Man muß hier vor allem an das Riechen und Hçren denken; diese werden ja in Sens. 436b19 vor dem Sehen genannt: Der Hund kann den entfernten Hasen, den er noch nicht sieht, riechen und der Lçwe kann den Ochsen, der noch nicht in seinem Blickfeld ist, hçren. Diese Wahrnehmung durch die Fernsinne ist sowohl auf einen rumlich entfernten als auch hinsichtlich des Augenblicks des Betastens zeitlich vorangehenden Gegenstand bezogen. Das pqoaish²meshai ist also nicht in einem absoluten Sinn als ein Vorhersehen (vgl. pqooq÷m in Div. 462b25; Somn. 453b21) zu verstehen, sondern in einem relativen Sinn, bezogen auf den Augenblick des Betastens; in diesem Sinne wird der Hase durch den Geruch ,im voraus wahrgenommen‘. Das pqoaish²meshai der Fernsinne kann mit EN III 13 genauer erlutert werden: „Denn fr die Hunde ist nicht der Geruch der Hasen lustvoll, sondern deren Verzehr, der Geruch aber bewirkt, dass sie sie bemerken. Ebenso ist fr den Lçwen nicht das Gebrll des Ochsen lustvoll, sondern sein Verzehr. Dass der Ochse in der Nhe ist, bemerkt er am Gebrll (oqd³ c±q ta?r asla?r t_m kacy_m aR j¼mer wa¸qousim !kk± t0 bq¾sei, tμm d’ aUshgsim B aslμ 1po¸gsem7 oqd’ b k´ym t0 vym0 toO bo¹r !kk± t0 1dyd07 fti d’ 1cc¼r 1sti, di± t/r vym/r Õsheto)“ (EN III 13, 1118a18 – 21; bers. Wolf ). 66 Pol. I 2, 1253a13 ff. 67 Vgl. die bersetzungen von Laurenti (,avvertito in precedenza‘), Rolfes (,im voraus wahrnehmend‘), Beare (,guided by antecedent perception‘). Der LSJ (1467) gibt an: ,perceive or observe beforehand‘.
4.2 Assoziation innerhalb der animalischen Wahrnehmung
161
Fr die elementare Reaktion des Verfolgens oder Fliehens ist nun aber mehr erforderlich als eine bloße ,Voraus-Wahrnehmung‘: Der im voraus wahrgenommene Gegenstand, z. B. die vom Hund gerochene Spur des Hasen, muß noch eine weitere Information erhalten, damit ein Verfolgen ausgelçst werden kann; der Hund hat ja keine Lust- bzw. Unlustempfindung am Geruchseindruck selbst, sondern am Verzehr (1118a16 – 23). Der durch den Geruch im voraus wahrgenommene Hase wird mit einem frheren optischen und haptischen Wahrnehmungsinhalt, also Inhalten der phantasia bzw. des sinnlichen Gedchtnisses68, verbunden; Geruch, Farbe und Tasteindruck wurden damals mit Hilfe des komplexen Wahrnehmungsvermçgens zusammen an einem Hasen wahrgenommen. Mit diesen Wahrnehmungsinhalten ging damals eine bestimmte Lustempfindung einher, also ein Hase, der so aussah, sich so anfhlte und besonders gut schmeckte. Diese frhere haptische Lust am Verspeisen des Hasen, also an der Beseitigung eines kçrperlichen Mangelzustands, wird beim jetzigen Riechen eines anderen Hasen im Zustand des Hungers wieder aktual, d. h. sie kommt dem Tier wieder zu Bewußtsein (entweder mit einer Datierungsleistung wie im Fall des Gedchtnisses oder ohne eine solche wie bei der phantasia): Diesen Geruch hat der Hund schon frher wahrgenommen und damals war dieser Geruch mit einer bestimmten haptischen Wahrnehmung samt Lustempfindung an der Wiederherstellung eines natrlichen Zustands verbunden. Fr diese Verbindung des jetzt wahrgenommenen Geruchs mit der frher wahrgenommenen haptischen Qualitt gengt es, eine Assoziation 69 anzunehmen, die in De an. III 1 impliziert ist: „Denn es wre so, wie wir jetzt mit dem Gesichtssinn das Sße wahrnehmen: Dies aber (ist mçglich), weil wir von beiden faktisch eine Wahrnehmung haben, 68 Nicht alle Lebewesen verfgen ber Gedchtnis (Mem. 453a7 f.; Met. I 1, 980a29); Gedchtnis setzt Zeitwahrnehmung voraus (Mem. 450a18 f.) und ist mit einer Datierungsleistung verbunden. Das Gedchtnis wird von Aristoteles definiert als „der Besitz einer Vorstellung als Abbild dessen, wovon es die Vorstellung ist“ (Mem. 451a15 f.; bers. King). Ganz allgemein gesprochen besteht der Unterschied zu Lebewesen, die bloß ber phantasia verfgen, darin, daß immer dann, wenn jemand mit dem Gedchtnis ttig ist, er „in seiner Seele sagt, daß er dies frher gehçrt oder wahrgenommen oder gedacht hat“ (Mem. 449b22 f.). Whrend das sinnliche Gedchtnis auf abgespeicherte Wahrnehmungsinhalte bezogen ist, ist das gedankliche Gedchtnis auf Inhalte des Intellekts bezogen (Mem. 450a12 ff.). 69 Assoziative Verbindungen spielen in Aristoteles’ Analyse der Erinnerung (!m²lmgsir) in Mem. 451b10 – 20 eine große Rolle (hierzu Sorabji 1972, 42 – 46; King 2004, 119 f.). Fr eine eingehende Interpretation solcher assoziativer Verbindungen auf der Grundlage der phantasia vgl. Lorenz 2006, 148 – 173.
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4. Wahrnehmung und Intellekt
mit der wir sie, wenn sie zusammenfallen, zugleich erkennen“ (De an. III 1, 425a21 – 24).
Auch wenn Aristoteles an dieser Stelle eine gleichzeitige Wahrnehmung des Sßen und Weißen an einem Gegenstand beschreibt, in der die Qualitt des einen Sinns der ,Nebenbestand‘ des jeweils anderen Sinns ist (vgl. auch 425a30 f.), ist es dennoch nicht falsch, hier auch eine Assoziation impliziert zu sehen: Wenn wir frher einmal das Gelbe und Sße zugleich an demselben Gegenstand, z. B. dem Honig, wahrgenommen haben, kçnnen wir spter basierend auf der phantasia bei einer bloßen Wahrnehmung des Gelben, das Sße damit assoziieren.70 Auch wenn an dieser Stelle nicht explizit von einer frheren Wahrnehmung des Gelben und Sßen die Rede ist, so legt sich diese Interpretation sachlich nahe: Wie sonst sollte der Hund allein durch den Geruch des Hasen eine Lust an dessen Verzehr bekommen? Seine Lust bezieht sich ja nicht auf den Geruch selbst, d. h. auf die perzeptuelle Qualitt als solche, sondern auf ein bestimmtes haptisches Erlebnis, nmlich den Verzehr (EN III 13, 1118a18 f.). Ein Indiz fr eine solche Assoziation scheint die besondere Verwendung des Terminus anamnÞsis in EN III 13 zu sein: „Denn wir nennen nicht die unmßig (!jok²stour), die sich an den Gerchen von pfeln, Rosen oder Weihrauch erfreuen, sondern eher die, die sich am Geruch von Parfm und Speisen freuen: Denn an diesen Dingen freuen sich die Unmßigen, weil durch diese ihnen eine Erinnerung an die Inhalte der Begierden entsteht (di± to¼tym !m²lmgsir c¸metai aqto?r t_m 1pihulgl²tym)“ (1118a10 – 13). Im Unterschied zum engen Sinn von anamnÞsis, der mit einer absichtlichen Suche nach einem bestimmten Gedchtnisinhalt verbunden ist und nur dem Menschen zukommt (Mem. 451b2 – 5; 453a9)71, liegt hier ein weiter Sinn vor: Der frhere 70 Fr diese Interpretation vgl. Philoponus, In De an. 455.19 – 25: sulba¸mei pot³ sumeqc/sai d¼o aQsh¶seir, oXom peq· l´ki ûla exim ja· ceOsim […] ja· !pova¸metai fti ckuj¼ 1stim t¹ toioOtom ; 459.31 f.: p_r !p¹ toO namhoO 5sti cm_mai t¹ ckuj¼, diºti 5wolem !lvo?m aUshgsim pqºteqom (das pqºteqom bernimmt er von Plutarch). Vgl. Auch Simplicius, In De an. 184.29 – 185.1: EQ lμ jat± tμm sumdqolμm t_m diavºqym aQsh¶seym, oq c¸metai B !lvo?m ûla cm_sir eQ lμ jat± sulbebgjºr, ¢r ftam namh¹m Qdºmter ja· ¢r ckuj» cm t¹ aqt¹ jq¸mylem di± t¹ Edg jat± tμm sumdqolμm 1p· toO aqtoO Ñsh/shai.“ Vgl. auch 182,18 – 23. Eine Interpretation im Sinn der Asso-
ziation findet sich bei Ross 1961, 271: „to the ‘perception’ of sweetness by sight, which of course is not really perception of sweetness, but the being reminded, by the visible quality of what we see, of the sweetness which we have formerly found associated with that visible quality“; Welsch 1987, 290 f. Die Mçglichkeit einer solchen Interpretation wird von Hamlyn (1968, 118 f.) und Graeser (1978, 84, 95 Anm. 22) eingerumt. 71 Zur anamnÞsis im strikten Sinn vgl. King 2004, 54 f.
4.2 Assoziation innerhalb der animalischen Wahrnehmung
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Wahrnehmungsinhalt steht hier sofort zur Verfgung und muß nicht erst durch eine absichtliche Suche zurckgeholt werden.72 Das pqoaish²meshai kçnnen wir also durch assoziative Verbindungen erklren73 : Der aktuale Wahrnehmungsgehalt wird mit einem frheren sinnlichen Eindruck samt zugehçriger Lustempfindung verbunden; fr diese Verbindung ist das Wahrnehmungsvermçgen, insofern es als ein ,gemeinsames‘ ttig sein kann, zustndig. Der aktuale Wahrnehmungsgehalt bleibt dabei auf die perzeptuelle Qualitt, z. B. einen bestimmten Geruch, beschrnkt. Wir brauchen nicht anzunehmen, daß hierfr der aktuale Wahrnehmungsgehalt durch Begriffe angereichert und erweitert werden mßte. Wie am Ende des letzten Abschnitt schon deutlich wurde, lßt sich nun aber nicht die fr das Modell B entscheidende Annahme aufrechterhalten, daß solche ,perzeptuellen Kombinationen‘ auch in dem Fall mçglich sind, wo das ,akzidentell wahrnehmbare‘ Objekt einen noetischen Ursprung hat. Das wrde bedeuten, daß das Wahrnehmungsvermçgen allein dazu imstande wre, auf gedankliche Inhalte (noÞmata) ,zurckzugreifen‘ und diese mit einem aisthÞton in einer falliblen Synthesis zu kombinieren. Aristoteles sagt dagegen ganz klar, daß es der Intellekt ist, der eine solche synthetischidentifikatorische Leistung vollbringt und fhrt als Beispiel eine singulre, wahrnehmbare Tatsache an, nmlich daß Kleon weiß ist (t¹ d³ 6m poioOm 6jastom, toOto b moOr : De an. III 6, 430b5 f.). Grundstzlich fallen fr Aristoteles Ttigkeiten, die mit gedanklichen Inhalten operieren, in die Kompetenz des Intellekts. Im folgenden Abschnitt soll gezeigt werden, daß das traditionelle ,noetische Modell‘ (Modell A), in dem der Wahrnehmungsgehalt gemß des Kausalmodells auf die idia und koina aisthÞta beschrnkt ist und der wahrgenommene Gegenstand durch den Intellekt in seinem substantialen Sein, d. h. begrifflich, charakterisiert wird, durch den 72 Zu einer solchen anamnÞsis vgl. Platon, Phaidon 73d, wo der Anblick einer Leier das Bild des Besitzers unmittelbar hervorruft. Man nimmt hier etwas aktual wahr und denkt dabei noch an etwas anderes (6teqom 1mmo¶s,: 73c9; 1m t0 diamo¸ô 5kabom t¹ eWdor : 73d8-9), was als Erinnerung bezeichnet wird (toOto d´ 1stim !m²lmgsir : 73d910). Das setzt voraus, daß man frher einmal Leier und Besitzer zusammen wahrgenommen hat. So sieht man eine Leier oder ein Kleid und denkt an den Menschen, dem die Leier gehçrt; oder man sieht den Simmias und denkt an Kebes; oder man sieht den gemalten Simmias und denkt an Simmias selbst. Sokrates faßt das so zusammen, daß uns Erinnerungen entweder aus hnlichen oder unhnlichen Dingen entstehen (Phd. 74a2 – 3, 74cd). 73 Aus dieser Verbindung eines gegenwrtigen Eindrucks mit einem frheren Eindruck, der damals mit einer bestimmten Lustempfindung einherging, kann sich mit der Zeit eine kognitive hexis herausbilden, die verhaltensbestimmend wird. Hierzu genauer Lorenz 2006, 148 – 173.
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4. Wahrnehmung und Intellekt
Text besser gesttzt ist und sich in Aristoteles’ Psychologie als ganze besser integrieren lßt.
4.3 Wahrnehmung und Wahrnehmungsmeinung Nach Aristoteles liegen die verschiedenen seelischen Vermçgen in einem Lebewesen nicht beziehungslos nebeneinander, sondern bilden eine Einheit, in der das niedere ,der Potenz nach‘ im hçheren enthalten ist: „Denn immer liegt das Frhere dem Vermçgen nach im Folgenden vor (!e· c±q 1m t` 1ven/r rp²qwei dum²lei t¹ pqºteqom), sowohl bei den Figuren als auch beim Beseelten, wie z. B. im Viereck das Dreieck, im Wahrnehmungsvermçgen das Ernhrungsvermçgen“ (414b29 – 32).74 Aus diesem Einschlußverhltnis folgt zum einen, daß das hçhere Vermçgen in einer kausalen Abhngigkeit vom niederen steht: „Denn ohne das Ernhrungsvermçgen gibt es nicht das Wahrnehmungsvermçgen“ (415a1 f.). Zum anderen folgt daraus, daß das niedere auf die Leistung des hçheren Vermçgens ausgerichtet ist.75 Fr den Menschen als einem leib-seelischen Wesen (sumhetºm : EN X 7, 1177b28 f.) ergibt sich aus diesem Prinzip, daß einerseits die Ttigkeit des Intellekts76 auf die Wahrnehmung angewiesen ist, andererseits aber auch die Wahrnehmung in einer bestimmten Weise auf die Leistung des Intellekt ausgerichtet ist.77 Das legt die Vermutung nahe, daß sich die menschliche Wahrnehmung 74 Dieses Einschlußmodell, das Aristoteles ausgehend vom Beispiel geometrischer Figuren gewinnt, ist Aristoteles’ Antwort auf die Frage nach der Einheitlichkeit des Seelenbegriffs. Der Begriff der Seele ist auf dieselbe Weise einheitlich wie derjenige der Figur (414b20 f.: t¹m aqt¹m tqºpom eXr #m eUg kºcor xuw/r te ja· sw¶lator): In beiden Fllen ist ein koinos logos (entweder im Sinne der Art oder der Gattung) keinem der einzelnen Instanzen eigentmlich. Die Einheit ist in beiden Fllen vielmehr eine nicht-generische, die durch ein modales Einschlußverhltnis zustandekommt: Die Nhrseele teilt mit der Wahrnehmungsseele nicht dieselbe Gattung, sondern sie verhlt sich zur Wahrnehmungsseele wie die Mçglichkeit zur Vollendung usw.; d. h. die Wahrnehmungsseele verwirklicht im Tier Potenzen der Nhrseele, die in der Pflanze nicht realisiert sind. Wenn man die Seele definieren will, darf man nicht nach einer gemeinsamen Gattung suchen, sondern man muß bei einem bestimmten Typ ansetzen; die anderen Typen sind dann darin enthalten. Es gilt: Der Begriff jedes einzelnen Vermçgens ist auch der eigentmlichste fr die Seele (415a12 f.). 75 Busche (2001, 16) spricht hier von der „kausale[n] Bedingungshierarchie“ und der „finale[n] Zweckhierarchie“. 76 Im weiten Sinn von De an. III 4, 429a23. 77 Das zeigt sich besonders in Sens. 437a1 - 17, wonach die Fernsinne in vernunftbegabten Lebewesen auch um eines hçheren Zweckes willen da sind. Dieser Nutzen kommt ihnen aber nur ,akzidentell’ zu.
4.3 Wahrnehmung und Wahrnehmungsmeinung
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innerhalb dieser seelischen Inklusion in irgendeiner Weise von der animalischen Wahrnehmung unterscheiden muß.78 Wenden wir uns zuerst der kausalen Abhngigkeit des menschlichen Intellekts vom Wahrnehmungsvermçgen zu. Diese Abhngigkeit zeigt sich darin, daß das menschliche Denken – also jene sich im Verbinden oder Trennen von Gedankeninhalten79 bzw. Begriffen vollziehende Ttigkeit des Intellekts, die im Idealfall in einem wahren Urteil resultiert und dann je nach Gegenstandsbereich entweder eine vqºmgsir oder eine 1pist¶lg oder eine dºna !kgh¶r ist (De an. III 3, 428a9 f., a25) – nicht ohne Wahrnehmung und phantasia mçglich ist.80 Ohne Hilfe der Wahrnehmung kçnnten wir zu keinem sachhaltigen Wissen ber die Wirklichkeit kommen und wenn wir einen bestimmten Sachverhalt mit Hilfe von Begriffen durchdenken, stellen wir uns dabei immer etwas vor Augen, wofr wir phantasmata, d. h. gespeicherte Wahrnehmungsinhalte, bençtigen: „Von der Vorstellung wurde bereits in ,ber die Seele‘ gesprochen und ohne Vorstellung kann Denken nicht sein (ja· moe?m oqj 5stim %meu vamt²slator). Denn im Denken tritt derselbe Begleiteffekt auf wie auch beim Zeichnen eines Diagramms. Dabei zeichnen wir nmlich, obwohl wir gar keinen Gebrauch machen von einer bestimmten Grçße des Dreiecks, doch ein Dreieck mit bestimmter Grçße. Ebenso setzt sich der Denkende, auch wenn er keine Grçße denkt, eine solche vor Augen, denkt sie aber nicht als eine Grçße“ (Mem. 450a1 – 5; bers. King).81
In diesem anschaulichen, sich etwas ,vor Augen stellenden‘ (t¸hetai pq¹ all²tym) Denken, hat das Wahrnehmungsvermçgen, insofern es phantasmata zur Verfgung stellt, nur eine Hilfsfunktion82 : Es fungiert nicht im Sinne einer aktualen, auf einen vorliegenden Gegenstand bezogenen Wahrnehmung (rp²qweim t¹ aQshgtºm : De an. II 5, 417b25). Anders verhlt 78 Allgemein dazu Sellars 1949, 547: „The Aristotelian also insists that the lower level properties of higher level substances are not identical with the lower level properties of lower level substances […] The lower order properties of higher order substances are thus as bound up with the higher order properties of these substances as the higher order properties are bound up with them.“ 79 Es sei hier noch einmal daran erinnert, daß fr Aristoteles die sprachlichen ußerungen in einer Symbolrelation zu den Inhalten des Denkens stehen und diese wiederum in einer Abbildrelation zu den Dingen. Einem Allgemeinbegriff liegt also ein noÞma zugrunde und diesem entspricht – in einem Universalienrealismus – das ,Eine im Vielen‘. 80 Vgl. die grundstzliche Bemerkung in De an. III 3, 427b15 f., daß es ohne Wahrnehmung keine phantasia gibt und ohne phantasia keine ,Annahme‘ (rpºkgxir). 81 Vgl. auch De an. III 7, 431a16 f.: di¹ oqd´pote moe? %meu vamt²slator B xuw¶ 82 Hierzu genauer Kap. 5.1
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4. Wahrnehmung und Intellekt
es sich, wenn wir innerhalb der Gattung des Denkens bzw. der Annahme (hypolÞpsis) eine Stufe weiter nach unten zur doxa gehen (427b25). Hier haben wir es in den meisten Fllen mit einem Denken zu tun, das in einem Urteil ber etwas, das dem Wahrnehmenden aktual vorliegt, resultiert und das somit eine aktuale Wahrnehmung voraussetzt (dºna aQshgtoO).83 Wie auch in den anderen Arten des Denkens bzw. der hypolÞpsis ergibt sich auch eine solche Wahrnehmungsmeinung84 durch eine vom Intellekt geleistete Synthesis, die sich in diesem Fall auf einen aktual wahrgenommenen Gegenstand bezieht, wie z. B. ,Kleon ist weiß‘ (De an. III 6, 430b4 ff.; Met. IX 10, 1051b6 – 9), und die als wahr behauptet wird. Fr Aristoteles impliziert jede Meinung (doxa) eine berzeugung (pistis), „denn es ist unmçglich, daß jemand, der eine Meinung hat, nicht von dem, was er meint, berzeugt ist“ (III 3, 428a20 f.; opinio implicat fidem 85). Im Unterschied zum ,Denken mit einem phantasma‘spielt hier die Wahrnehmung eine konstitutive Rolle: Erst das Vorliegen86 eines bestimmten wahrgenommenen Gegenstands – ontologisch: eine ,akzidentelle Einheit‘ (z. B. Sokrates, der weiß ist) – gibt diesem Akt seinen Gehalt und macht ihn so zu einem empirischen, zu einem auf den aktual vorliegenden Gegenstand bezogenen: „Denn wir sagen nicht nur, daß das Herankommende ein Mensch oder ein Pferd ist, sondern auch daß es weiß oder schçn ist: Die Meinung kçnnte darber ohne Wahrnehmung nichts sagen, weder wahr noch falsch“ (Insomn. 458b10 – 13). Der Wahrheitswert der Meinung kann sich aufgrund der Unbestndigkeit der zugrundeliegenden Tatsache ndern: „ber das, was Verbindung und Trennung zulßt, kann dieselbe Meinung (dºna) und dieselbe Erklrung wahr und falsch werden (c¸cmetai xeudμr ja· !kgh¶r), und man kann damit bald die Wahrheit sagen, bald die Unwahrheit“ (Met. IX 10, 1051b13 ff.; Cat. 4a37 - b187; An. Post. I 33, 88b30 – 89a1088 ; De an. III 3, 428a19). Wenn 83 Vgl. Insomn. 458b10 – 15; Met. IX 10, 1051b6 – 9; EN VII 5, 1147a25 f., 1147a33, 1147b9 f. (dºna aQshgtoO). Im engen Sinn richtet sich die dºna auf das, was sich auch anders verhalten kann, im Unterschied zur 1pist¶lg, die sich auf Notwendiges richtet (An. Post. I 33). Fr die ,bliche Meinung‘, nach der sich die dºna dagegen auf alles beziehen kann (Ewiges, Unmçgliches, ,bei uns Liegendes‘) vgl. EN III 4, 1111b31 ff. 84 Im Folgenden verwende ich ,Meinung‘ und ,Urteil‘ immer so, daß ein Urteil die Explikation einer Meinung ist. 85 Siwek 1965, 325 Anm. 624. 86 Es gilt also auch hier das !macja?om c±q rp²qweim t¹ aQshgtºm von De an. II 5, 417b25. 87 In Cat. 4a21-b13 zeigt Aristoteles, daß dieses ,wahr oder falsch werden‘ nicht so verstanden werden darf, daß dºna oder kºcor ,fr Kontrres empfnglich‘ sind (dejtij¹m t_m 1mamt¸ym): Diese durchlaufen selbst keine Vernderungen (aqt±
4.3 Wahrnehmung und Wahrnehmungsmeinung
167
solche Wahrnehmungsmeinungen als eine Art des diskursiven Denkens (dianoia) bzw. der Annahme (hypolÞpsis) eine Ttigkeit des Intellekts darstellen (diamoe?tai ja· rpokalb²mei) und gleichzeitig eine aktuale Wahrnehmung voraussetzen, stellt sich die Frage nach dem Verhltnis dieser beiden kognitiven Ttigkeiten zueinander. Gemß dem Modell B ist das Wahrnehmungsvermçgen selbst dazu in der Lage, auf einen Gedanken zurckzugreifen und in einer ,perceptual combination‘ den in seinen perzeptuellen Qualitten wahrgenommene Gegenstand begrifflich zu charakterisieren, wodurch schon auf der aisthetischen Ebene ein propositional-begrifflicher Gehalt zustandekommt.89 Die menschliche Wahrnehmung unterscheidet sich in dieser Interpretation nur darin von der tierischen, als dem Menschen in der ,akzidentellen Wahrnehmung‘ auch Gedanken und nicht nur Vorstellungen und Gedchtnisinhalte zur Verfgung stehen.90 Daraus wrde fr das Verhltnis von Wahrnehmung und doxa folgen, daß in der doxa nichts anderes geschieht, als daß der Wahrnehmungsgehalt als wahr angenommen wird (vgl. De an. III 3, 428a22: p²s, le` m dºn, !jokouhe? p¸stir). Es wrde sich dann nur der epistemische Modus ndern, nicht aber die Struktur des Gehalts; die Begriffe kommen schon auf der aisthetischen Ebene hinzu. In diesem Modell besitzt die Wahrnehmung eine besonders große Selbstndigkeit: Wir nehmen wahr, daß eine bestimmte perzeptuelle Qualitt einem bestimmten Gegenstand zukommt, und kçnnen anschließend – etwa nach der Prfung, ob Standardbedingungen vorliegen – eine Wahrnehmungsmeinung bilden, in der wir diesen bestimmten Eindruck als wahr behaupten. Abgesehen von der letab²kkomta), sie sind ,auf alle Weise unbewegt‘; was sich ndert, ist die Tatsache (pq÷cla): „Denn dadurch, daß die Tatsache besteht oder nicht besteht, deshalb wird auch gesagt, die Aussage sei wahr oder falsch, nicht deshalb, weil sie selbst fr Kontrres empfnglich wre“ (4b8 ff.). Aristoteles sieht noch nicht die Mçglichkeit, diesen ,Gelegenheitssatz‘mittels einer exakten Datierung und Lokalisierung in einen ,bleibenden Satz‘ (Quine) umzuformen. 88 Wenn Aristoteles in 89a5 f. sagt, daß die Meinung ,unsicher‘ (!b´baiom) ist wie auch die Natur, dann bezieht sich das nicht auf den Grad des Frwahrhaltens, sondern auf ihren spezifischen Gegenstand, auf dasjenige, was sich auch anders verhalten kann (1mdewºlemom ja· %kkyr 5weim). 89 Vgl. Cashdollar 1973, 170: „To perceive the conjunction of subject and attribute is therefore possible within Aristotle’s account of aisthÞsis generally. If the present account is correct, perception of such a synthesis is also necessary therein.“ 90 Vgl. Gregoric & Grgic 2006, 12: „We would also admit that the ability to perceive incidental sensibles is vastly enhanced by language and reason, but we would emphasise that rationality is not a necessary condition of incidental perception. Otherwise, non-rational animals could not have incidental perception“.
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4. Wahrnehmung und Intellekt
schon genannten Schwierigkeit, wie die Wahrnehmung dazu in der Lage sein soll, auf noÞmata zurckzugreifen und diese mit einem aisthÞma zu kombinieren, wird in dieser Interpretation dem Zusammenspiel von Wahrnehmung und Intellekt innerhalb des Einschlußverhltnisses der seelischen Vermçgen kaum Rechnung getragen. Demgegenber spielt innerhalb der ,noetischen Interpretation‘ (Modell A), wo eine kognitive Spezifikation des ,an sich Wahrgenommenen‘ nicht ohne eine Ttigkeit des Intellekts mçglich ist, die Kooperation zwischen Wahrnehmen und Denken eine viel grçßere Rolle. Hier ist der nous dafr verantwortlich, daß das Wahrgenommene gedanklich bzw. begrifflich spezifiziert wird.91 Doch wie ist die ,gemeinsame Aktivitt von Wahrnehmung und Intellekt‘ genauer zu verstehen? Die innerseelische Ausrichtung der menschlichen Wahrnehmung auf den Intellekt kann unterschiedlich stark bestimmt werden. Hier kçnnte man prima facie an die folgenden beiden Mçglichkeiten denken: (a) Der noetische Bezug der menschlichen Wahrnehmung ist so stark, daß die Wahrnehmung vom Intellekt ,berformt‘ und somit von gedanklichen Inhalten ,durchdrungen‘ ist.92 Wahrnehmung und Intellekt gehen eine so enge Verbindung ein, daß von zwei selbstndigen Ttigkeiten nicht mehr die Rede sein kann. Vielmehr muß man von der einen Ttigkeit des ,aisthetischen Intellekts‘ausgehen, an der sich ein begrifflich-noetischer und ein perzeptueller Aspekt unterscheiden lassen. Durch diese ,vermischte Ttigkeit‘ wird ein begrifflich-propositionaler Gehalt hervorgebracht. Ge91 Hier kçnnte man auch an den Fall des ,verstndigen Hçrens‘ (oder ,Vernehmens‘) – d.h. das Hçren nicht nur eines Lauts (xºvor), sondern eines bedeutungsvollen Tons (vym¶; vgl. De an. II 8, 420b32 f.: sglamtij¹r c±q d¶ tir xºvor 1st·m B vym¶; auch Sens. 437a10 – 15) bzw. artikulierten Tons (di²kejtor ; vgl. Hist. an. IV 9, 535a30b2 f.: di²kejtom […] Udiom toOt’ !mhq¾pou 1st¸m) – denken, was in einer ußerst schwierigen Passage von De Interpretatione beschrieben wird: „denn jemand, der ein solches Wort ausspricht, bringt sein Denken (bei der mit ihm gemeinten Sache) zum Stehen, und jemand, der es hçrt, kommt (in seinem Denken bei dieser Sache) zum Stillstand“ (Int. 16b20 f.; bers. Weidemann). 92 Eine solche Position wird von Kahn (1992) vertreten: „More generally, our perceptual experience is penetrated through and through by conceptual elements that derive from nous. This is a point which Aristotle takes for granted but rarely discusses in any detail“ (365); „What is not always noted by the commentators is that the incidental sensibles represent the overlap or conjoined action of sense and intellect“ (367 f.); „…only in the human case, since only here is the sense informed by a noetic capacity […] It is only in the case of human perception, enriched by the conceptual resources provided by its marriage with nous, that Aristotle can speak of us as perceiving a man“ (369).
4.3 Wahrnehmung und Wahrnehmungsmeinung
169
gen eine solche Interpretation kann eingewandt werden, daß die Verbindung zwischen Wahrnehmung und Intellekt in einem zu starken Sinn verstanden wird: Aus Kahns Annahme „our perceptual experience is penetrated through and through by conceptual elements that derive from nous“93 wrde folgen, daß sich die menschliche Wahrnehmung von der animalischen in einem betrchtlichen Sinn unterscheiden und in einer separaten Untersuchung thematisiert werden mßte. Das ist aber nicht der Fall: Aristoteles sieht vielmehr die Wahrnehmung als eigenstndiges, nicht-rationales kognitives Vermçgen an, das in De anima und den Parva Naturalia fr Tier und Mensch gleichermaßen untersucht werden kann.94 Außerdem ist es in einer solchen Interpretation nur noch schwer zu erklren, wie die berzeugungsunabhngigkeit der Wahrnehmung, die Aristoteles an mehreren Stellen betont (De an. III 3, 428b2 ff.; Insomn. 458b28 f.), aufrechterhalten werden kann, da ja das Ziel jeder intellektuellen Ttigkeit ein Urteil ist (427b15 f.). (b) Eine weniger starke Bestimmung der noetischen Ausrichtung des menschlichen Intellekts kçnnte darin bestehen, daß beide Vermçgen zwar in besonders enger Weise verbunden sind, aber dennoch eigenstndige Ttigkeiten hervorbringen. Die Wahrnehmung, die in ihrem Gehalt auf die idia und koina aisthÞta beschrnkt ist, ist dann das perzeptuelle Antezedens fr die Bildung einer Wahrnehmungsmeinung durch den Intellekt: Wir sehen einen bestimmten Gegenstand in seinen ,an sich wahrnehmbaren‘ Qualitten und sogleich formen wir eine Meinung ber das, was wir wahrnehmen, und in dieser Meinung wird das Wahrgenommene begrifflich spezifiziert. So sehen wir etwas Rotes und denken es als Ball, weshalb wir auch sagen kçnnen, daß wir den Ball sehen; wir sehen etwas Weißes und denken es als Mensch, weshalb wir auch sagen kçnnen, daß wir einen Menschen sehen.95 Beide Ttigkeiten laufen in ein und demselben ,seelischen Zentrum‘ zusammen, wo die Einheit des Bewußtseins zustandekommt: Das, was wir wahrneh93 Kahn 1992, 365. Diese Formulierung ist McDowells Konzeption sehr hnlich: „But conceptual capacities, capacities that belong to spontaneity, are already at work in experiences themselves, not just in judgements based on them“ (McDowell 1994, 24). 94 Trotz der unbestreitbaren Unterschiede der Wahrnehmung bei unterschiedlichen Arten von Lebewesen (vgl. Lloyd 1996, 126 – 137) kçnnen wir davon ausgehen, daß Aristoteles das in De Anima skizzierte Modell der Wahrnehmung auch fr die menschliche Wahrnehmung als zutreffend ansieht. 95 Vgl. Thomas von Aquin, In De an. § 396: …sed statim quod ad occursum rei sensatae apprehenditur intellectu. Sicut statim cum video aliquem loquentem, vel movere seipsum, apprehendo per intellectum vitam eius, unde possum dicere quod video eum vivere.
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4. Wahrnehmung und Intellekt
men, wird als etwas Bestimmtes durch den Intellekt erfaßt. Das Zusammenspiel von Wahrnehmung und Intellekt wird hier nicht so stark wie in (a) gedeutet, wodurch die Probleme von (a) vermieden werden; außerdem kommt die skizzierte Erklrung unserem Alltagsverstndnis sehr nahe. Diese Interpretation kann nun noch etwas verfeinert und innerhalb des Aristotelischen Theorierahmens genauer ausgefhrt werden. Wenn wir also davon ausgehen, daß das ,an sich Wahrgenommene‘ nur durch den Intellekt begrifflich spezifiziert wird, und wir uns fragen, welche Art von dianoetischer Ttigkeit dafr zustndig ist, dann bleibt im Rahmen von De an. III 3, 427b25 nur die doxa brig96 : Sie allein ist unmittelbar auf das, was wir aktual wahrnehmen, bezogen und erfaßt den in seinen perzeptuellen Qualitten wahrgenommenen Gegenstand gedanklich, indem sie ber diesen ein bestimmtes Urteil fllt, z. B. daß dieses Weiße da ein Mensch ist (Insomn. 458b10 – 15; b16 f., b24 f.97).98 In dieser Meinung, die sich als eine Art von dianoetischer Ttigkeit in einer synthesis noÞmatn vollzieht (De an. III 6), werden beide Elemente dieser ,akzidentellen Einheit‘ oder singulren Tatsache (Met. V 6, 1015b16 – 23) gedanklich erfaßt: Wer die Meinung besitzt, daß dieses Weiße ein Mensch ist, muß denken kçnnen, daß dieses Weiße ein Mensch ist, und ist zu dem Schluß gekommen, daß dieses Weiße ein Mensch ist.99 Die begrifflichen Elemente kommen mit der doxa ins Spiel und der empirische, d. h. auf eine aktual vorliegende singulre Tatsache bezogene Gehalt durch die zugrundeliegende Wahrnehmung. In welchem Verhltnis stehen nun aber aisthÞsis und doxa zueinander? Wenn man das Zusammenspiel beider Ttigkeiten nicht einfach als einen ,mixed 96 Ich gehe davon aus, daß der Terminus vqºmgsir an dieser Stelle (427b25) im engen, technischen Sinn von EN VI 5 verstanden werden muß. Zwar beziehen sich sowohl dºna als auch vqºmgsir auf das, was sich auch anders verhalten kann (EN VI 5, 1140b27 f.), die vqºmgsir ist aber auf ein praktisches Ziel ausgerichtet – auf das, was fr das gute Leben berhaupt zutrglich ist (1140a28, b5 f.). Demgegenber geht es der dºna bloß um die Feststellung einer kontingenten Tatsache (III 4, 1111b33). 97 Auch aus diesen beiden Stellen wird deutlich, daß das dianoetische Denken, das sich auf einen aktual wahrgenommenen Gegenstand bezieht, von der Art der dºna ist (peq· ox c±q aQshamºleha, pokk²jir ja· diamoo¼leh² ti […] d 1mmooOlem t0 dºn, don²folem). 98 Vgl. Gerson 2009, 71: „The formulation of a belief results from sense-perception. The belief transcends the sense-perception in the specific sense that one who has the belief judges an identity of that which appears to the senses.“ 99 Mit Evans (1982, 103 – 107) kann man auch sagen, daß hier ein ,Generality Constraint‘ erfllt sein muß: Man muß eine ,Idee‘ von dem Objekt (x) und der Eigenschaft (F) besitzen, die es einem erlaubt, indefinit viele Gedanken von x (xG, xH…) bzw. von F (aF, bF…) zu denken.
4.3 Wahrnehmung und Wahrnehmungsmeinung
171
case‘ bestimmen will, liegt es nahe, beide Ttigkeiten als voneinander getrennte und unmittelbar nacheinander ablaufende anzusetzen. Die Wahrnehmung erfaßt demnach auf der Grundlage des ,Gemeinsinns‘ verschiedene Qualitten an einem Gegenstand (z. B. sß, gelb, weich) und daraufhin schließt der Intellekt auf der Basis eines bestimmten Wissens, daß es sich bei dem Wahrgenommenen z. B. um Honig handeln muß.100 Der Intellekt bildet also die Wahrnehmungsmeinung, daß dieses Gelbe, Sße und Weiche, was er sieht, Honig ist.101 Doch diese Erklrung scheint auf den ersten Blick folgenden Einwand hervorzurufen: Im Alltag vergewissern wir uns nicht erst, ob alle Anwendungsbedingungen fr einen bestimmten Begriff vorliegen, sondern wir bilden in der Regel aufgrund eines markanten wahrnehmbaren Merkmals unmittelbar eine bestimmte Wahrnehmungsmeinung. Wir kçnnen von einer ,nicht hinreichend begrndeten‘ Wahrnehmungsmeinung sprechen, die sich in manchen Fllen als Irrtum herausstellen kann. Genau einen solchen Fall schildert Aristoteles in De an. III 1: „Die Sinne nehmen die eigentmlichen Qualitten der jeweils anderen akzidentell wahr, nicht insofern sie diese selbst sind, sondern insofern sie eine einzige (Wahrnehmung bilden), wenn die Wahrnehmung zugleich entsteht bei demselben Gegenstand, wie z. B. bei der Galle, daß sie bitter und gelb ist (denn nicht kommt einem anderen Sinn zu das Sagen, daß beide eines sind). Daher irrt man sich auch (!pat÷tai), und wenn es gelb ist, meint man (oUetai), daß es Galle ist“ (De an. III 1, 425a30-b3).
Wir kçnnen an der Galle zwei Qualitten (bitter, gelb) wahrnehmen und Aristoteles betont, daß kein zustzliches Vermçgen angenommen werden muß, um zu erklren, wie beide Qualitten als zu einem Gegenstand gehçrend wahrgenommen werden. Aristoteles kommt dann auf den Irrtum zu sprechen und erklrt diesen so, daß man etwas Gelbes sieht und irrtmlich ,glaubt‘ oder,meint‘ (oUetai)102, daß das wahrgenommene Gelbe Galle ist.103 Hier liegt eine falsche Meinung (doxa) darber vor, was das aktual Wahrgenommene ist; man tuscht sich ber das t¸ 1sti (in der ersten Kategorie) 100 Ich hatte schon darauf hingewiesen, daß es hier nicht um einen Schluß auf die Existenz eines ,materiellen Objekts‘ geht, sondern um einen Schluß auf das Was (der ersten Kategorie) des schon durch und in seinen perzeptuellen Qualitten erfaßten Gegenstands. 101 Vgl. Philoponus, In De an. 318.1 – 2: t± c±q jat± sulbebgj¹r aQshgt± oqd³m dqø eQr t±r aQsh¶seir ja· de?tai kºcou toO 1n %kkym sukkocifol´mou ; 454.20 – 22: B c±q oqs¸a oqdeliø aQsh¶sei rpop¸ptei, !kk± cim¾sjetai 1j t_m aqt0 sulbebgjºtym. 102 Fr die Verwendung von oUeshai im Sinne eines Meinens vgl. auch Platon, Theaitet (z. B. 158b3, 170d9, 170e9). 103 di¹ ja· !pat÷tai, ja· 1±m × namhºm, wokμm oUetai eWmai.
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4. Wahrnehmung und Intellekt
eines Gegenstands, den man in seinen perzeptuellen Qualitten wahrnimmt.104 In allgemeiner Form wird solch ein sinnlicher Irrtum in De Insomniis beschrieben: „Denn das falsche Sehen und das falsche Hçren geschehen erst dann, wenn man etwas Wirkliches (!kgh´r ti) sieht und hçrt, nicht allerdings dieses, was man meint (oUetai)“ (Insomn. 458b31 ff.).105 Hier mssen wir kurz auf den Terminus oUeshai eingehen. Bei Aristoteles lassen sich im groben folgende Verwendungen unterscheiden: (i) im Sinne eines Fr-wahr-Haltens, das sich auf einen bestimmten Sachverhalt bezieht, z. B. „daß es Gçtter gibt“ (Rhet. II 23, 1398a16 ff.); (ii) oUeshai kann sich aber nicht nur auf einen Sachverhalt, sondern auch auf einen anderen kognitiven Zustand beziehen: Jemand meint, etwas zu wissen (An. Post. I 9, 76a28 f.; I 24, 85b28) oder auch etwas nicht zu kennen (Met. I 2, 982b18). Wenn sich dann herausstellt, daß sich jemand tuscht, dann meint dieser bloß etwas zu wissen106 oder er meint nur, etwas im Gedchtnis zu haben, hat es aber gar nicht im Gedchtnis (Mem. 452b24 ff.; hier auch doje?m107). (iii) Whrend sich oUeshai in den gerade genannten Fllen auf einen bestimmten kognitiven Zustand als solchen bezieht (etwas wissen, etwas im Gedchtnis haben), bezieht es sich in unserer Stelle De an. III 1 auf die Bestimmtheit des Wahrgenommenen.108 Wrde sich nmlich oUeshai auch hier auf den kognitiven Zustand des Sehens als solchen beziehen, dann wrde das bedeuten, daß man nur meint zu sehen, in Wahrheit aber gar nicht sehen, sondern nur halluzinieren wrde. In III 1 geht es aber darum, flschlicherweise zu meinen, daß das Gelbe, was man gerade sieht, Galle ist. Diese Meinung bezieht sich auf die Was-Bestimmung eines wahrgenommenen Gegenstands: Man
104 Vgl. auch De an. II 6, 418a16 (t¸ t¹ jewqysl´mom C poO, C t¸ t¹ xovoOm C poO); Met. IV 5, 1010b20 f. 105 t¹ c±q paqoq÷m ja· paqajo¼eim bq_mtor !kgh´r ti ja· !jo¼omtor, oq l´mtoi toOto d oUetai. Van der Eijk (1994, 18) bersetzt hier zu Recht: „nicht das, was man (zu sehen oder zu hçren) glaubt“. 106 Bei dieser Verwendung von oUeshai spricht der LSJ zutreffend von ,whnen‘ (1208); Ebert (1974, 39) charakterisiert das zu Recht als ein ,unbewußtes Meinen‘. 107 Mem. 452b24 – 27: „Wenn man aber meint (mit dem Gedchtnis ttig zu sein), aber nicht ttig ist, dann meint man (nur) (oUeshai), etwas im Gedchtnis zu haben. Denn nichts hindert, daß man sich tuscht und meint (doje?m), etwas im Gedchtnis zu haben, obwohl man nichts im Gedchtnis hat“. 108 Vgl. auch Insomn. 462a21 ff.: „wenn sie whrend des Schlafs die Augen kaum geçffnet halten, so erkennen sie, wenn sie erwacht sind, sofort das, was sie im Schlaf schwach als das Licht der Lampe zu sehen meinten (åomto), als das wirkliche Licht der Lampe“ (bers. Van der Eijk).
4.3 Wahrnehmung und Wahrnehmungsmeinung
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hlt das wahrgenommene Gelbe fr etwas, was es nicht ist, nmlich fr Galle.109 Diese Wahrnehmungsmeinung kann nun als eine nicht hinreichend begrndete angesehen werden.110 Der Intellekt schließt aufgrund eines markanten sinnlichen Merkmals, daß es sich beim Wahrgenommenen um Galle handelt. Solche unmittelbar gebildeten Meinungen sind im Alltag sehr hufig. Wir vergewissern uns nicht erst, ob alle Anwendungsbedingungen eines Begriffs vorliegen, was weitere Beobachtungen notwendig machen wrde. Wir gehen vielmehr aufgrund eines bestimmten charakteristischen Merkmals davon aus, daß es sich bei dem Wahrgenommenen z. B. um Honig handelt. Diese Meinungen mssen nicht in Urteilen artikuliert werden; sie zeigen sich darin, daß wir nach ihnen handeln. Haben wir aber Grnde zum Zweifeln, etwa in unklaren Wahrnehmungssituationen (De an. III 3, 428a14 f.), pathologischen Zustnden (Insomn. 460b14 f.), im Traum (Insomn. 462a5 ff.) oder bei sich widersprechenden Erscheinungen (Met. IV 5 – 6), dann berprfen wir die einzelnen Bedingungen unserer Wahrnehmung – was sich an der Komplexitt des jeweiligen Gehalts ausrichtet111 –, um zu einem begrndeten Urteil ber das Wahrgenommene zu kommen. Wir kçnnen dann auch die Behauptungskomponente der falschen, voreilig gebildeten Wahrnehmungsmeinung zurcknehmen: Es scheint uns dann bloß so, daß dies ein Mensch ist (De an. III 3, 428a13 ff.). Dieses nichtdoxastische propositionale Erscheinen ist dann ein Grenzfall, der dadurch 109 Hier kçnnte der Verdacht aufkommen, der Wahrnehmungsinhalt sei wie in den Sinnesdatentheorien als solches weder wahr noch falsch – also ein ,wahrheitsneutrales Erscheinen‘ –, vielmehr sei nur das Meinen bzw. Urteilen ber diesen wahr oder falsch. Dagegen spricht aber, daß Aristoteles die Wahrnehmung selbst als wahr oder falsch bezeichnet (De an. II 6; III 3, 428b18 – 25) und in III 3, 428b2 davon spricht, daß ,Falsches erscheint‘ (va¸metai xeud/). Wir kçnnen das so beantworten, daß wir bei Aristoteles zwischen einem tuschendem sinnlichen Eindruck und einem Wahrnehmungsirrtum unterscheiden: Ein Wahrnehmungsirrtum kommt dann zustande, wenn ein tuschender Eindruck frwahrgehalten wird. 110 Geyser (1917, 179) spricht hier zu Recht von einem ,voreiligen Schließen‘. 111 Wenn das Wahrgenommene, auf das sich die Meinung bezieht, etwa nur Farben beinhaltet, dann reicht es fr die Bildung einer begrndeten Wahrnehmungsmeinung aus, daß wir keinen Grund fr die Annahme haben, daß unser Wahrnehmungsapparat gestçrt ist und die ußeren Bedingungen (Lichtverhltnisse, Abstnde) nicht optimal sind. Wenn aber bestimmte Beobachtungsbegriffe im Spiel sind, dann ist außerdem eine berprfung notwendig, ob die Anwendungsbedingungen fr diese Begriffe vorliegen. Je nach Komplexitt sind dann weitere Beobachtungen erforderlich; z. B. im Fall des Begriffs ,Khlschrank‘, ob ein schrankartiges Gebilde vorliegt, das einen Innenraum hat, ber einen Mechanismus der Temperaturregelung verfgt etc.
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4. Wahrnehmung und Intellekt
zustandekommt, daß die Behauptungskomponente einer Meinung oder eines Urteils nachtrglich zurckgenommen wird. Es ist nach Aristoteles also nicht so, daß uns zuerst ein Sachverhalt bloß erscheint und wir diesen erst nach einer berprfung der Wahrnehmungsbedingungen als wahren behaupten, sondern wir bilden unmittelbar die Meinung, daß z. B. das Gelbe vor uns Honig ist.112 Wahrnehmung und Intellekt sind also beide in der Weise einer engen Kooperation ttig: Durch Gedanken (noÞmata), die als erworbene Inhalte des Denkvermçgens bereitliegen, kann der in seinen perzeptuellen Qualitten wahrgenommene Gegenstand kognitiv spezifiziert werden und diese Spezifikation vollzieht sich in einer unmittelbar gebildeten Wahrnehmungsmeinung. Die Begriffe, durch die das ,an sich Wahrgenommene‘ genauer bestimmt wird, kommen erst mit der doxa ins Spiel.113 Fr Aristoteles’ Epistemologie ergeben sich daraus zwei wichtige Konsequenzen, auf die wir im folgenden Kapitel noch nher eingehen werden: (1) Insofern die doxa eine Art des diskursiven Denkens (dianoia) bzw. der Annahme (hypolÞpsis) ist (427b25), wird ihr Gegenstand, das Kontingente (1mdewºlemom ja· %kkyr 5weim), begrifflich erfaßbar. Der Intellekt (im weiten Sinn von 429a23) kann 112 Wie sind dann aber Aristoteles’ Aussagen zur Fallibilitt der Wahrnehmung in De an. III 3, 418b18 – 25 zu verstehen, wo Aristoteles die ,akzidentelle Wahrnehmung‘ als einen genuinen Fall der Wahrnehmung zu behandeln scheint, der ein spezifischer Grad von Fallibilitt zukommt (428b21 f.: fti l³m c±q keujºm, oq xe¼detai, eQ d³ toOto t¹ keuj¹m C %kko ti, xe¼detai)? Aristoteles erkennt in diesen Passagen zweifellos an, daß es fallible propositionale Gehalte gibt, die sich auf einen aktual vorliegenden einzelnen Gegenstand beziehen. Das idion aisthÞton wird durch einen anderen Inhalt kognitiv spezifiziert, der gemß II 6 ein ,akzidentell Wahrnehmbares‘ reprsentieren wrde. Diese Bemerkungen sind meiner Auffassung nach einfach so zu verstehen, daß Aristoteles bloß dem Phnomen der Fallibilitt Rechnung tragen will, ohne an dieser Stelle eine spezifische Erklrung zu entwickeln: Wo er im Rahmen der Wahrnehmung auf die Fallibilitt zu sprechen kommt, muß er diese Flle erwhnen, ohne diese aber in den vorausgegangenen Kapiteln De an. II 6-III 2 eigens erklrt zu haben. Hier ging es ihm ja in erster Linie um die fnf verschiedenen Sinne und ihre Gegenstnde sowie um andere Funktionen des Wahrnehmens. Die Flle komplexer Gehalte (daß x F ist) werden im Rahmen der Wahrnehmung genannt, weil sie zumindest die Wahrnehmung eines idion aisthÞton enthalten. Nach der hier vertretenen Interpretation handelt es sich nicht um einen rein perzeptuellen Gehalt, sondern schon um eine Wahrnehmungsmeinung bzw. Wahrnehmungsurteil. Die Wahrnehmung spielt hier aber weiterhin eine konstitutive Rolle, da diese Meinungen bzw. Urteile einen empirischen Gehalt haben, d. h. sich auf ein aktual vorliegendes kontingentes Verhltnis beziehen (vgl. Met. IX 10, 1051b8 f.; Insomn. 458b10 – 14). 113 Fr eine solche Position in der gegenwrtigen Epistemologie vgl. Evans 1982, 226 f.
4.4 Wahrnehmung und Rechtfertigung
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sich im Modus der doxa auch auf den Bereich des Vernderlichen beziehen114 : Wir kçnnen dadurch auch eine ,akzidentelle Einheit‘ (d. h. eine singulre Tatsache) gedanklich erfassen. Das hat wichtige Konsequenzen fr die Kontinuitt zwischen den verschiedenen kognitiven Zustnden innerhalb von Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs. (2) Die unterste Ebene im Raum des Denkens, Urteilens und Begrndens – also der dianoia – sind Wahrnehmungsmeinungen, die als solche schon eine Ttigkeit des Intellekts darstellen. Diese setzen den Erwerb von noÞmata voraus und kçnnen mehr oder weniger gut begrndet sein. Damit deutet sich schon hier an, daß fr Aristoteles ein Empirismus ausgeschlossen ist, in dem die Wahrnehmung das letzte, nicht mehr rechtfertigungsbedrftige Fundament darstellt, auf das sich unser gesamtes Wissen begrndend zurckfhren lßt.
4.4 Wahrnehmung und Rechtfertigung Nach Aristoteles unterliegt das Bilden einer Wahrnehmungsmeinung einer zweifachen Kontrolle: Eine Wahrnehmungsmeinung wird dann nicht gebildet, wenn wir uns (i) der fehlenden Standardbedingungen bewußt sind (pathologische Zustnde, Traum) oder (ii) ein ,autoritativerer‘ (juqiyt´qa) Sinn oder ein bergeordnetes Wissen der jeweiligen Erscheinung ,widerspricht‘. Fr diese Prfung und Korrektur ist nach De Insomniis eine Art ,Beurteilungsvermçgen‘ (t¹ 1pijq?mom : 461b6) verantwortlich. Grundstzlich gilt sowohl fr den Wachzustand wie fr den Schlaf, daß wenn die sensitiven Bewegungen, die von den ußeren Sensorien herkommen, das ,primre Wahrnehmungsvermçgen‘ oder Zentralsensorium affizieren, wir uns einer extern vorliegenden wahrnehmbaren Qualitt bewußt werden115 bzw. uns ein bestimmtes Traumbild erscheint (461a7).116 Nach De Insomniis wird am Zentralsensorium aber auch eine Meinung ber das Wahrgenommene gebildet: „Denn dadurch, daß von dort her die Bewegung zum Prinzip (der Wahrnehmung) gelangt, meint117 man auch im Wachzustand, daß man sieht und hçrt und wahrnimmt (doje? bq÷m ja· !jo¼eim ja· aQsh²meshai)“ 114 Vgl. Gerson 2009, 69: „The diversity of belief and knowledge is, according to Aristotle, balanced by their generic unity“. 115 Wie wir schon ausgefhrt haben, ist mit diesem ,intentionalen Bewußtsein‘ ein ,reflexives Bewußtsein‘ der eigenen Ttigkeit verbunden, das ebenfalls durch den Zentralsinn hervorgebracht wird (Somn. 455a16 f.). 116 Vgl. Van der Eijk 1994, 76 f. 117 Ross 1955, 275: ,think‘; Beare (Oxford-bersetzung), 733: ,believe‘.
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4. Wahrnehmung und Intellekt
(461a30-b1; bers. Van der Eijk).118 Dieses Meinen zeigt sich besonders im Fall von Wahrnehmungsirrtmern: Wenn wir nicht wissen, daß uns jemand einen Finger unter das Auge drckt, erscheint das Eine zweifach und wir meinen auch, daß es zweifach ist (462a1: oq lºmom vame?tai !kk± ja· dºnei). Wenn wir uns dessen aber bewußt sind, dann scheint es uns nur so, wir sind aber nicht der Meinung (462a2: vame?tai l³m oq dºnei d´). Und auch wenn uns nicht bewußt ist, daß wir schlafen, meinen wir einen weißen Menschen zu sehen (458b14 f.: dojoOlem bq÷m) oder meinen, daß das hnliche das Wirkliche selbst sei (461b29: doje? t¹ floiom aqt¹ eWmai t¹ !kgh´r). Aristoteles geht davon aus, daß wir uns sowohl pathologischer Zustnde als auch des Schlafs bewußt sein kçnnen. Wenn die Kraft des Schlafs nicht zu groß ist, dann „sagt etwas in der Seele (k´cei ti 1m t0 xuw0), daß das Erscheinende nur ein Traum ist“ (462a6 f.)119 und wir meinen dann nicht, daß wir etwas Wirkliches sehen. Das gilt auch fr die pathologischen Zustnde: Wenn wir nicht zu krank sind, bleibt es uns „nicht verborgen, daß (eine bestimmte Erscheinung) falsch ist“ (lμ kamh²meim fti xeOdor : 460b14 f.), es ist uns dann bewußt, daß wir nur halluzinieren. Wahrnehmungsmeinungen werden auch dann nicht gebildet, wenn in Bezug auf ein bestimmtes koinon aisthÞton ein ,autoritativerer‘ Sinn ,widerspricht‘. Die Korrekturmçglichkeit erklrt Aristoteles mit der Unterscheidung zwischen einem Vermçgen, aufgrund dessen die sinnlichen Erscheinungen entstehen, und einem Vermçgen, aufgrund dessen das j¼qiom die Erscheinungen beurteilen kann: „Der Grund dafr, daß diese Dinge geschehen, liegt darin, daß das Vermçgen, kraft dessen das Entscheidende120 urteilt (jq¸meim tº te j¼qiom), nicht dasselbe ist wie dasjenige, kraft dessen die Erscheinungen entstehen“ (Insomn. 460b16 ff.; bers. Van der Eijk).121
118 Vgl. 461a25 – 29: „Wenn aber in den Wesen, die Blut haben, das Blut zur Ruhe kommt und sich scheidet, bewirkt das Bewahrtbleiben der Bewegung der Wahrnehmungseffekte, die von jedem der Wahrnehmungsorgane her kommt, sowohl daß die Traumbilder krftig sind wie daß etwas erscheint und daß man meint, daß man sieht (ja· va¸mesha¸ ti ja· doje?m […] bq÷m)“ (bers. Van der Eijk). Vgl. auch 458b14 f.; 461b3, b5, b29 (doje?m). Fr eine Verwendung von doje?m im nichtdoxastischen Sinn vgl. 458b29; 460b26. 119 Dem Wahrnehmungsprinzip wird damit eine weitaus aktivere Rolle zugesprochen als in De Somno; vgl. Van der Eijk 1994, 76. 120 Ross 1955, 271: ,ruling faculty‘; Beare (Oxford-bersetzung, 732): ,controlling sense‘; Laurenti 2004, 275: ,la parte dirigente in noi‘. 121 aUtiom d³ toO sulba¸meim taOta to` lμ jat± tμm aqtμm d¼malim jq¸meim tº te j¼qiom ja· è t± vamt²slata c¸metai.
4.4 Wahrnehmung und Rechtfertigung
177
Als Indizien fr die Existenz eines solchen Beurteilungsvermçgens fhrt Aristoteles das Beispiel der Sonnenbreite an, wo auf der Grundlage eines bergeordneten Wissens eine bestimmte Erscheinung122 als falsch beurteilt wird, sowie das Beispiel der berkreuzten Finger (vgl. Met. IV 6, 1011a33 f.; Probl. XXXV 10)123, wo ein ,autoritativerer‘ Sinn einem anderen ,widerspricht‘: „Anzeichen dafr ist, daß die Sonne als einen Fuß breit erscheint, hufig aber etwas anderes dieser Erscheinung widerspricht (!mt¸vgsi d³ pokk²jir 6teqºm ti pq¹r tμm vamtas¸am). Und wenn man zwei Finger bereinander kreuzt, erscheint das Einfache als zweifach, aber trotzdem sagen (valem) wir nicht, es sei zweifach; denn das Gesicht hat mehr Autoritt (juqiyt´qa) als der Tastsinn. Wre der Tastsinn als einziger da, so wrden wir auch zum Urteil (1jq¸molem) kommen, das Einfache sei zweifach“ (460b20 ff.; bers. Van der Eijk).
Im zweiten Fall wird ein bestimmter Wahrnehmungsinhalt daraufhin beurteilt, ob er von einem autoritativeren Sinn hervorgebracht wurde. Hinsichtlich der besonders irrtumsanflligen koina aisthÞta gibt es unterschiedliche Grade sinnlicher Autoritt: Im Fall des koinon aisthÞton der Anzahl (arithmos) ist der Gesichtssinn ,autoritativer‘ (juqiyt´qa) als der Tastsinn und ersterer kann daher letzterem ,widersprechen‘ (461b5). Das setzt voraus, daß das Vermçgen, das eine Erscheinung ,affirmiert‘, auf diesen widersprechenden Sinn ,hçren‘ kann. Wenn wir dagegen nicht ber den autoritativeren Gesichtssinn verfgen wrden, wrde das Wahrnehmungsprinzip den vom Tastsinn gemeldeten Eindruck besttigen und wir wrden meinen, daß wir zwei Gegenstnde wahrnehmen (460b22; 461b3). Es stellt sich nun die Frage, welchem Vermçgen diese Beurteilungsfunktion zugesprochen werden soll. Hier legen es einige Stellen nahe, daß es das ,primre Wahrnehmungsorgan‘ (t¹ j¼qiom aQshgt¶qiom) bzw. der Zentralsinn ist, in dem alle Einzelsinne konvergieren (Somn. 455a33 f.: pq¹r d sumte¸mei tükka), dem diese Beurteilungskompetenz zukommt: Diesem ,aisthetischen Zentrum‘ werden die unterschiedlichen sinnlichen Informationen der einzelnen Sinne ,gemeldet‘ (eQsacc´kkeim : 461b3) und dieser Zentralsinn scheint auch auf den ,Einspruch‘ (!mtiv²mai) des jeweils autoritativeren Vermçgens ,hçren‘ zu kçnnen, um auf dieser Grundlage einen bestimmten Eindruck als korrekt zu ,besttigen‘.
122 Wie schon in 460b17 werden hier die Termini vamtas¸a und v²mtasla in einem weiten Sinn verwendet (vgl. auch De an. III 3, 428a1 f.). 123 Zu diesem ,Experiment‘ vgl. Van der Eijk 1994, 201 f.
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4. Wahrnehmung und Intellekt
„Denn in der Regel (fkyr) besttigt das Wahrnehmungsprinzip (vgsim124 B !qw¶) das, was aus jedem Wahrnehmungsorgan hervorkommt, wenn nicht ein anderer Sinn mit grçßerer Autoritt widerspricht (2t´qa juqiyt´qa !mtiv0125)“ (461b3 ff.).
Andere Stellen legen es dagegen nahe, daß auf der Grundlage eines solchen Wahrnehmungssinns ,mit grçßerer Autoritt‘ eine – in diesem Fall begrndete – Wahrnehmungsmeinung gebildet wird bzw. beim Fehlen eines solchen Sinns oder auch der Hemmung des Beurteilungsvermçgens aufgrund einer zu großen Affektion126 eine falsche Wahrnehmungsmeinung gebildet wird: „Wre der Tastsinn als einziger da, so wrden wir auch zum Urteil kommen (1jq¸molem), das Einfache sei zweifach“ (460b22; bers. Van der Eijk). Aristoteles bringt genau diesen Sachverhalt im nchsten Kapitel mit dokein im Sinne eines Meinens zum Ausdruck (461b3: t¹ 4m d¼o doje?; auch 462a1: oq lºmom vame?tai !kk± ja· dºnei eWmai d¼o t¹ 6m), das an mehreren Stellen in diesem Kapitel vom bloßen Erscheinen (phainesthai) unterschieden wird.127 Außerdem wird in 459a6 die doxa fr zustndig erklrt, eine bestimmte Erscheinung unter fehlenden Standardbedingungen fr falsch zu erklren. Das spricht dafr, daß die Beurteilung der Sinnesinformationen und das ,Besttigen‘ des korrekten Eindrucks im Menschen schon zu den Leistungen des Intellekts gehçren128 ; das Vermçgen, aufgrund dessen das j¼qiom die Wahrnehmungen beurteilen und entscheiden wrde, wre dann schon ein noetisches. Das legt sich besonders im Beispiel der Sonnenbreite nahe, das ja Aristoteles als Indiz fr die Existenz eines Beur124 Vgl. Ross 1955, 275: ,affirms‘; Laurenti 2004, 277: ,afferma‘. 125 Fr das ,widersprechen‘ (!mtiv²mai) vgl. auch 460b19, 462a7. 126 Vgl. 459a7 (jat´wetai); 461b6 (t¹ 1pijq?mom jat´wgtai). In diesem Fall sagt Aristoteles auch, daß wir uns ,gemß der falschen Erscheinungen bewegen‘ (460b15: 1±m d³ le?fom × t¹ p²hor, ja· jime?shai pq¹r aqta´ ; 459a7 f.). 127 Vgl. 461a27 f., a31 f.; 461b5 f. (doje? d³ oq p²mtyr t¹ vaimºlemom), b29 (doje? t¹ floiom aqt¹ eWmai t¹ !kgh´r); 462a1 f. Dem bloßen ,Scheinen‘ wird nicht nur das ,Meinen‘ (doje?m), sondern auch das ,Sagen‘ oder ,Erklren‘ gegenbergestellt. Vgl. 460b21: „aber dennoch sagen (valem) wir nicht, daß es zwei sind; denn der Gesichtssinn hat eine grçßere Autoritt als der Tastsinn.“ 128 Man kçnnte das vgsim B !qw¶ in 461b4 mit Van der Eijk (1994, 225) aber auch so verstehen, daß hier nur das Eintreffen einer bestimmten Wahrnehmungsbewegung von den ußeren Sensorien am Wahrnehmungsprinzip besttigt wird. Das ist aber m. E. nicht vereinbar mit der folgenden Einschrnkung „wenn nicht ein Sinn von grçßerer Autoritt widerspricht“. Was hier durch das !mtiv²mai des autoritativeren Sinns nicht zustandekommt, ist das Besttigen eines bestimmten Eindrucks als des korrekten Eindrucks (vgl. 460b21). Das Eintreffen des falschen Eindrucks wird dennoch am ,primren Wahrnehmungsvermçgen‘ registriert.
4.4 Wahrnehmung und Rechtfertigung
179
teilungsvermçgens anfhrt. Das, was hier der falschen sinnlichen Information ber ein bestimmten koinon aisthÞton (nmlich die Grçße: l´cehor) widerspricht (6teqºm ti), ist kein Sinn mit grçßerer Autoritt, sondern eine bergeordnete theoretische berzeugung: „Es erscheint aber auch Falsches, ber das man zugleich eine wahre Annahme hat (rpºkgxim !kgh/); etwa erscheint die Sonne ein Fuß breit, man ist aber berzeugt, daß sie grçßer als die bewohnte Erde ist“ (De an. III 3, 428b2 ff.; Insomn. 458b28 f.). Ob die Beurteilung der sinnlichen Informationen und das ,Besttigen‘ des korrekten Eindrucks zum Zentralsinn gehçrt oder schon zum Intellekt, der auf dieser Grundlage eine Meinung hervorbringt, ist umstritten.129 Der enge Zusammenhang zwischen dem Eintreffen der sensitiven Bewegungen am Zentralsinn, der Bewußtwerdung und dem Bilden einer Meinung legen jedenfalls folgendes nahe: Wenn die Bewegungen von den ußeren Sensorien das Wahrnehmungsprinzip erreichen und kein Sinn widerspricht, dann werden wir uns nicht nur eines bestimmten Gegenstands bewußt, sondern wir meinen auch, etwas zu sehen (461a31 f.). Wenn es die Kontrollfunktion nicht geben wrde, wrden wir das Erscheinende frwahrhalten (461b5 f.) oder „das hnliche fr das Wirkliche selbst halten“ (461b29) oder „auch meinen, daß das eine zwei sind“ (462a1). In einer solchen ,noetischen Interpretation‘ scheint allerdings die Ttigkeit des Zentralsinns und damit die Wahrnehmung insgesamt – insofern der Zentralsinn das ,Prinzip der Wahrnehmung‘ und das ,primre Wahrnehmungsvermçgen‘ ist – noetisch ,berformt‘ zu sein und damit die Selbstndigkeit der aisthÞsis nicht mehr gegeben zu sein.130 Eine alternative, berzeugende Interpretationsmçglichkeit hat Van der Eijk vorgeschlagen: Man kçnnte nmlich annehmen, daß Aristoteles den Referenten fr das Vermçgen, aufgrund dessen das j¼qiom einen bestimmten sinnlichen Eindruck beurteilt und gegebenenfalls auch besttigt, absichtlich unbestimmt lßt.131 Der,Einspruch‘ kann je nach Situation von verschiedenen Sinnen kommen und im Menschen auch von einem bergeordneten Wissen. Die Beurteilung und Prfung der Wahrnehmungsinhalte kann auf verschiedenen Arten von Informationen beru129 Zu diesem Problem genauer Van der Eijk 1994, 50, 200 f. 130 Aristoteles wrde hier wieder Platons Theaitet sehr nahe kommen. 131 Van der Eijk 1994, 201: „Zu diesen Fragen ist die Mçglichkeit zu berlegen, daß Aristoteles den Referent von t¹ j¼qiom absichtlich unspezifiziert lßt, weil (wie die folgenden Beispiele zeigen) die Rolle des ,Entscheidenden‘ in verschiedenen Situationen von verschiedenen Faktoren gespielt wird; t¹ j¼qiom wre dann als ,dasjenige, was in einem bestimmten Fall ber die Richtigkeit einer Vorstellung entscheidet‘aufzufassen.“ Ebd. 226: „Diese Unbestimmtheit ist funktional, weil die Rolle des Beurteilenden nicht immer von demselben Vermçgen gespielt wird“.
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4. Wahrnehmung und Intellekt
hen und stnde im einen Fall unter der Regie des ,primren Wahrnehmungsvermçgens‘ (wie im Beispiel der berkreuzten Finger), im anderen Fall unter der Regie des Intellekts (wie im Beispiel der Sonnenbreite).132 Wir haben anhand einiger Passagen aus De Insomniis deutlich gemacht, daß Aristoteles die berprfung und Korrektur unserer Wahrnehmungsinhalte vorsieht, damit auf dieser Grundlage begrndete Wahrnehmungsmeinungen gebildet werden kçnnen.133 Es hat sich gezeigt, daß Aristoteles davon ausgeht, daß wir uns pathologischer Zustnde oder Trume – wenn sie nicht zu stark sind – bewußt sein kçnnen (lμ kamh²meim). In diesen Fllen kommt es nicht zu einem Fr-wahr-Halten des sinnlich Prsentierten. Das gilt auch bei der Wahrnehmung der besonders irrtumsanflligen koina aisthÞta, wo ein Sinn mit grçßerer Autoritt oder ein bergeordnetes Wissen der Erscheinung ,widersprechen‘ kann. Fr Aristoteles’ Epistemologie ergibt sich daraus die wichtige Konsequenz, daß die Wahrnehmung (im Unterschied zu den ,erfassenden Sinneseindrcken‘ der Stoa) nicht schon an sich selbst-rechtfertigend ist, sondern erst nach einer Beurteilung durch den Zentralsinn bzw. den Intellekt autorisiert wird. Innerhalb des Wissenserwerbs, wo es meistens um komplexe Wahrnehmungsinhalte geht, fllt die Prfung und Korrektur der Wahrnehmung dem Intellekt zu. Erst aufgrund dieser Autorisierung kçnnen die Wahrnehmungsgehalte in den Prozeß des Wissenserwerbs eintreten. Damit kçnnen wir als ein erstes Ergebnis festhalten: Die Frage, ob die Wahrnehmung bei Aristoteles prinzipiell dazu in der Lage ist, jene Anforderungen zu erfllen, die fr einen Urteilsempirismus konstitutiv sind, kann mit einem klaren Nein beantwortet werden. Aristoteles kann keine Position zugeschrieben werden, in welcher der Anspruch, die Prinzipien erfaßt zu haben, durch Rckfhrung auf bestimmte Beobachtungen legitimiert wird, so daß die Wahrnehmung das selbst nicht mehr rechtfertigungsbedrftige Fundament des gesamten Wissens bilden wrde: Weder hat die Wahrnehmung einen propositional-begrifflichen Gehalt, so daß sie eine ausreichend ,breite‘ sinnliche Belegbasis fr andere Meinungen darstellen kçnnte; am unteren Ende der dianoia bzw. der hypolÞpsis stehen Wahrnehmungs132 Zu dieser Funktionalitt wrde auch der Terminus jq¸meim (460b17, b22) passen. In De an. III 4, 429b10 – 22 wird mit diesem Terminus sowohl eine unterscheidende Ttigkeit der Wahrnehmung als auch eine des Intellekts beschrieben. Vgl. Ebert 1983; De Haas 2005. 133 Es zeigt sich an dieser Stelle, daß auch in einer naturwissenschaftlichen Abhandlung wie De Insomniis die epistemologische Perspektive, d. h. Perspektive der Wahrheit, nicht ausgeklammert wird. Die hier entwickelte Beurteilungsfunktion dient dem Bilden begrndeter Wahrnehmungsmeinungen.
4.4 Wahrnehmung und Rechtfertigung
181
meinungen, die schon eine Leistung des Intellekts darstellen und somit kein letztes ,Gegebenes‘ sind. Die Wahrnehmung ist außerdem nicht ,selbstrechtfertigend‘, vielmehr unterliegt sie der Beurteilung bzw. der Korrektur bergeordneter seelischer Vermçgen. Aristoteles liefert uns schließlich auch keinen anti-skeptischen Aufweis dafr, daß es sich bei der Wahrnehmung um ein absolut sicheres Fundament handeln wrde.
5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs 5.1 Wahrnehmung und Begriff Auf der Grundlage des Bisherigen kann nun die Frage in Angriff genommen werden, auf welche Weise die Wahrnehmung am Wissenserwerb beteiligt ist und wie man Aristoteles’ Epistemologie im ganzen charakterisieren sollte. Gegenber den jngeren anti-fundamentalistischen Interpretationen soll in diesem Kapitel gezeigt werden, wie auf der Grundlage von An. Post. II 19 und im Zusammenhang mit anderen Passagen eine differenzierte Interpretation der Aristotelischen Theorie des Wissenserwerbs rekonstruiert werden kann. Zunchst ist jedoch auf die Frage einzugehen, woher die fr jeden Wissenserwerb notwendigen Begriffe stammen. Die Notwendigkeit von Begriffen fr den Wissenserwerb kann anhand von An. Post. II 19 folgendermaßen verdeutlicht werden: Das „Prinzip der Kunst und des Wissens“ basiert auf der Erfahrung (empeiria: 100a6 ff.). Deren Inhalte entstehen aus wiederholten Beobachtungen, die mit Hilfe des Gedchtnisses gespeichert werden: „Aus Wahrnehmung also entsteht Gedchtnis, wie wir sagen, aus dem Gedchtnis aber, wenn es oft von demselben zustandekommt, Erfahrung: Denn die vielen Erinnerungen sind der Zahl nach eine Erfahrung. Aus der Erfahrung aber oder aus jedem Allgemeinen, das in der Seele zum Stehen gekommen ist, das Eine neben dem Vielen, was als Eines und Dasselbe in allen jenen ist, (entsteht) ein Prinzip der Kunst und des Wissens“ (An. Post. II 19, 100a3 – 8).1 Inhalt der empeiria ist eine auf der Grundlage einer endlichen Anzahl von beobachteten Einzelfllen mit Hilfe des Gedchtnisses festgestellte Allgemeinheit2 : Die Exemplare einer Spezies x, die wir bisher wahrgenommen haben, verfgen ber die Eigenschaft F. Beispiel fr einen 1
2
Ich verstehe das C in 100a6 mit Barnes (1975, 253) als epexegetisch, so daß sich die Charakterisierung „aus jedem Allgemeinen, das in der Seele zum Stehen gekommen ist, das Eine neben dem Vielen, was als das eine und dasselbe in allem jenen ist“ auf den Inhalt der Erfahrung bezieht. Vgl. Barnes 1975, 253: „and the depth of his experience is determined by the number of B’s he has witnessed. He differs from the man of knowledge in that his universal judgement is limited to past, observed, cases of A’s belonging to B.“ Vgl. auch Frede 1996, 159 ff.
5.1 Wahrnehmung und Begriff
183
Erfahrungsinhalt ist in Met. I 1 die Annahme (hypolÞpsis), daß dem Sokrates bei der Krankheit F das Medikament G half und ebenso dem Kallias bei der Krankheit F das Medikament G (981a7 ff.; vgl. auch EN VI 8, 1141b20 f.).3 Es geht also um das Feststellen eines komparativ-allgemeinen Zukommens einer Eigenschaft zu einer bestimmten Spezies.4 Der propositionale Erfahrungsinhalt basiert auf einer endlichen Zahl einzelner Beobachtungen, in denen die jeweilige Eigenschaft zu bestimmten Zeitpunkten an verschiedenen Instanzen dieser Spezies festgestellt wurde. Solche Beobachtungen sind aber nur mçglich, wenn der jeweils zu untersuchende Gegenstand als Instanz dieser Spezies identifiziert ist. Dies leisten Sortalbegriffe, also Substanzprdikate bzw. noÞmata aus der ersten Kategorie, die ein Prinzip der Abgrenzung und Zhlbarkeit enthalten; durch diese ist es erst mçglich, einen wahrnehmbaren Gegenstand als denselben bzw. artgleichen Gegenstand durch Raum und Zeit zu verfolgen, um an diesem bestimmte Beobachtungen zu machen.5 Ohne die Identifikation durch einen solchen Begriff kçnnten wir nie eindeutig auf einen bestimmten Gegenstand Bezug nehmen, uns wre nur eine situationsabhngige Bezugnahme mittels deiktischer Termini mçglich, wie z. B. „dieses Weiße da“ (tod· t¹ keujºm : Mem. 449b16). Mit einer solchen vagen demonstrativen Bezugnahme kommt man epistemologisch nicht sehr weit. Das Problem scheint nun zu sein, daß wir einerseits also schon Begriffe fr den Wissenserwerb brauchen, andererseits der Intellekt am Anfang des Wissenserwerbs gerade in reiner Potenz (De an. III 4, 429a21 f.) vorliegt, d. h. ber keinerlei gedanklichen Inhalte verfgt, die er in den Wissenserwerb einbringen kçnnte.6 Es stellt sich die Frage, wie wir die notwendigen Begriffe gewinnen. 3
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6
Dieses Beispiel aus Met. I 1, 981a7 ff. legt es nahe, daß die einzelnen epistemischen Stufen keine Genese von Begriffen bezeichnen, sondern propositional interpretiert werden sollten (vgl. Barnes 1975, 259 f.; Liske 1997, 42; Gregoric & Grgic 2006, 9 – 13). Von dieser Art des Allgemeinen ist dasjenige im engen Sinn zu unterscheiden, das ein streng allgemeines und ewiges Zukommen bezeichnet (jat± pamtºr ja· jah’ artº: An. Post. I 4, 73b26 f.; I 31, 88a5 f.). Dieses Allgemeine im strengen Sinn haben wir erst dann erkannt, wenn wir die Prinzipien bzw. das Wesen der jeweiligen Spezies erfaßt haben. Zu den sortalen Termini genauer Tugendhat 1976, 453 – 457; Rapp 1995, 259 ff. Neben deiktischen und sortalen Termini ist natrlich auch ein objektives raumzeitliches Lokalisationssystem fr die eindeutige situationsunabhngige Bezugnahme notwendig. Ich gehe in der folgenden Interpretation davon aus, daß der ,Genetischen Epistemologie‘ von An. Post. II 19 der nous auf der Stufe der ,ersten Potenz‘ zugrundeliegt (vgl. Kosman 1973, 385; Lesher 1973, 52; dagegen Frede 1996, 170), d. h. als bloßes
184
5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs
Hier lassen sich zuerst einmal zwei Mçglichkeiten denken: Entweder diese grundlegenden Begriffe sind schon implizit oder latent in den Wahrnehmungsgehalten bzw. den phantasmata enthalten und mssen nur noch abstrahiert oder ,herausgehoben‘ werden – hier spricht man von einem Empirismus der Begriffe. Oder aber diese Begriffe haben eine nicht-empirische, apriorische Quelle und werden vom nous eingebracht. Fr die erste Mçglichkeit scheint sich die Aussage des Aristoteles aus De an. III 8 anfhren zu lassen, daß die intelligiblen Formen in den aisthetischen Formen sind, letztere also die Basis fr die Abstraktion noetischer Gehalte bilden: „Da aber kein einziger Gegenstand, wie es scheint, neben den wahrnehmbaren Grçßen7 getrennt existiert, sind die Gegenstnde des Denkens in den wahrnehmbaren Formen, das in Abstraktion Ausgesagte wie auch die Haltungen und Eigenschaften der wahrnehmbaren Dinge. Und daher kçnnte jemand, ohne etwas wahrgenommen zu haben, rein gar nichts lernen noch etwas verstehen, und wenn man betrachtet, muß man notwendig zugleich eine Vorstellung betrachten“ (De an. III 8, 432a3 – 9).8
7 8
Vermçgen begrifflich zu denken und zu Annahmen oder Urteilen zu kommen. Der Mensch macht in der Prinzipienforschung von all seinen Vermçgen Gebrauch, also vom diskriminatorischen Vermçgen der Wahrnehmung, dem damit verbundenen Vermçgen des Gedchtnisses und dem Vermçgen des Denkens (nous). Mit Hilfe von diesen kommt er in die kognitive Haltung des nous. Ich verstehe hier unter megethos nicht das koinon aisthÞton, sondern in einem weiteren Sinn alle wahrnehmbaren zusammengesetzten Substanzen. In diesem letzten Satz kommt die grundstzliche Abhngigkeit des Wissens von der Wahrnehmung in der zweifachen Weise zum Ausdruck, daß (i) der Wissenserwerb bei der Wahrnehmung ansetzen muß und (ii) jeder Akt des menschlichen Denkens (im weiten Sinn von De an. III 3, 428a9, a27) von einem Vorstellungsgehalt (phantasma) begleitet ist. Hier ist klar, daß das erste heyqe?m in ftam te heyq0 im Sinne einer bloßen Aktualisierung schon erworbener gedanklicher Gehalte im Unterschied zum vorhergehenden lamh²meim zu verstehen ist, also den bloßen bergang von der ,ersten‘ zur ,zweiten Entelechie‘ meint (fr diese Verwendung von heyqe?m vgl. De an. II 1, 412a23; II 5, 417a28, b5, b19; dagegen heyqe?m im Sinne von ,Beobachten‘ vgl. An. Post. I 31, 88a3; EN VI 3, 1139b22). Unklar ist dagegen, wie das zweite heyqe?m zu verstehen ist. Ross und Siwek lesen hier ûla v²mtasl² ti, so daß das v²mtasla das direkte Objekt des heyqe?m wre und das heyqe?m im Sinne eines ,Betrachtens einer Vorstellung‘ (vgl. Mem. 450b18, b24 ff.) zu verstehen wre. Oder aber man faßt ûla als Prposition auf (z. B. Somn. 455a22 f.) und liest ûla vamt²slati (vgl. Hicks 1907, 546; Theiler 1994, 149). Dann wrde das zweite heyqe?m das erste dem Sinn nach aufgreifen und die instrumentelle Rolle der phantasmata (vgl. De an. III 7, 431a17) fr das Denken herausstellen (also: „und wenn man Betrachtungen anstellt, muß man notwendig zusammen mit einer Vorstellung Betrachtungen anstellen“). Weiter unten werde ich zeigen, daß man sich hier ruhig der Lesart von Ross und Siwek anschließen kann, ohne reprsentationalistische
5.1 Wahrnehmung und Begriff
185
Was heißt es, daß die noetischen Formen „in“ den wahrnehmbaren sind? In De an. III 4 bestimmt Aristoteles den ontologischen Status der noÞta als einen potentiellen: „in den Gegenstnden, die Materie haben, existiert jedes von den intelligiblen Formen dem Vermçgen nach“ (430a6 f.). Was ist unter einer solchen ,potentiellen Existenz in der Materie‘ genauer zu verstehen? In einem literalen Sinn kçnnte man diese beiden Passagen so verstehen, daß die noetischen Formen wie Stcke in den einzelnen zusammengesetzten Substanzen enthalten sind, die dann durch ,Weglassen‘ und ,Absehen‘ von der partikularen Materie herausgehoben werden. Der Intellekt mßte dann nur das Allgemeine, was schon da ist, vom Einzelnen scheiden, ohne dabei ,etwas Neues zu machen‘.9 Gegen diese Interpretation kann zu Recht eingewendet werden, daß es vollkommen unerklrlich ist, wie Begriffe bzw. noÞmata, die allgemeine oder auch wesentliche Strukturen abbilden, welche auf alle Instanzen einer bestimmten Art gleichermaßen (im Sinne des kath’ hen) zutreffen, in den wahrnehmbaren Formen bzw. den phantasmata implizit enthalten sein sollen und nur noch abstrahiert werden brauchen10 : Ein phantasma geht auf eine frhere Wahrnehmung zurck, die etwas Einzelnes (kath’ hekaston) zum Gegenstand hatte (De an. II 5, 417b22). Der Gehalt dieser Wahrnehmung wurde durch das wahrnehmbare eidos, also durch die kausal wirksamen perzeptuellen Eigenschaften einer Sache festgelegt und in der phantasia konserviert. Das phantasma ist also immer auf ein mçgliches Objekt der Wahrnehmung eingeschrnkt. Es ist vollkommen unklar, auf welche Weise hier intelligible Gehalte (noÞmata), die als solche gerade nicht wahrnehmbar sind, zum realen Bestandteil eines phantasma werden sollen. Aristoteles betont in De an. III 8, 432a10 ff. den wesentlichen Unterschied zwischen Vorstellungsgehalten und Gedanken; letztere sind auf erstere nicht reduzierbar: Wenn wir Gedanken miteinander verbinden, ergeben sich wahre oder falsche Urteile, was bei einer Verbindung von Vorstellungsgehalten nicht der Fall ist. Das potentielle Enthaltensein der intelligiblen Formen in den wahrnehmbaren bzw. den phantasmata muß also anders als in einem piktorialen Konsequenzen frchten zu mssen. Am Ende dieses Abschnitts wird genauer ausgefhrt, was es fr Aristoteles heißt, ein ,phantasma zu betrachten‘. 9 Vgl. Locke, An Essay concerning Human Understanding III 3, § 6 – 8. Zu einer systematischen Kritik dieser Vorstellung von ,Enthaltensein‘ vgl. Kambartel 1968, 30 – 36. 10 Außerdem ist an dieser Stelle wie auch in De an. III 8 von ,Abstraktion‘ (!va¸qesir) der noetischen Formen keine Rede; der Terminus ist bei Aristoteles den Gegenstnden und dem Verfahren der Mathematik vorbehalten. Hierzu genauer Cleary 1985.
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5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs
Sinn verstanden werden. Kahn bringt ausgehend von Aristoteles’ Akt-Potenz-Lehre den ,Intellekt, der alles bewirkt’ ins Spiel. Den potentiell in den wahrnehmbaren Gegenstnden vorliegenden noÞta steht der ebenfalls in Potenz (nmlich der ,ersten Potenz‘) vorliegende ,Intellekt, der alles wird‘ gegenber. Damit die noÞta aufgenommen werden kçnnen, ist ein AktivVermçgen notwendig und das ist der,Intellekt, der alles wirkt‘: Indem dieser alle noÞta kontinuierlich betrachtet (De an. III 5, 430a22) und mit diesen Gegenstnden real identisch ist, kann er die potentiell im Wahrnehmbaren vorliegenden noÞta aktualisieren, so daß diese dann vom passiven Intellekt aufgenommen werden kçnnen.11 Dieser Intellekt begleitet den induktiven Vorgang des Wissenserwerbs von Anfang an und ermçglicht es uns, Begriffe bzw. noÞta zu erfassen.12 Da fr Kahn der ,aktive Intellekt‘ berindividuell und der Art nach identisch mit dem gçttlichen Intellekt ist, hat unser Lernen und Forschen eine ,metaphysische Garantie‘; man kann von einem ,SuperRationalismus‘ sprechen.13 Abgesehen von der berechtigten Kritik am ,Mythos der Abstraktion‘ kann diese Interpretation wegen ihrer Annahme einer obskuren metaphysischen Einwirkung kritisiert werden: Liske wendet hier zu Recht ein, daß durch die Einwirkung eines solchen allwissenden berindividuellen nous die von Aristoteles als epistemologisch notwendig angesehene Wahrnehmung und die zugehçrige Induktion berflssig werden.14 Im Sinne des Thomas von Aquin faßt Liske den ,aktiven Intellekt‘ als Teil der menschlichen Seele auf. Dieser ist die ermçglichende Bedingung dafr, daß die potentiell im Wahrnehmbaren vorliegenden noÞta wirklich eingesehen und vom passiven Intellekt aufgenommen werden kçnnen. Der aktive Intellekt gleicht dabei die potentiellen noÞta seiner eigenen geistigen Natur an. Im Unterschied zu Thomas von Aquin verfgt aber der aktive Intellekt schon ber die Gehalte, die aus der Wahrnehmung gewonnen werden sollen, so daß ein apriorisches Element in das Erkennen hineinkommt.15 Um Wahrnehmung und Induktion dadurch nicht berflssig zu machen, deutet Liske dieses apriorische Wissen als ein „Gebrauchswissen“: 11 Vgl. Kahn 1981, 408: „the intellect actualizes its object, the intelligible form or essence, by somehow identifying this object with itself in act“. 12 Vgl. Kahn 1992, 369: „For him the universal is present in sense-experience only if we include the incidental sensibles with their noetic component, and it is made available only if the percipient subject possesses the nous or logos required to detect it […] the whole process of epaggÞ […] is made possible for sense-perception only in the human case, since only here is the sense informed by a noetic capacity“. 13 Kahn 1981, 411 – 414. 14 Liske 1997, 36 f. 15 Liske 1997, 37 f.
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Die in diesem Sinn apriorisch gewußten Begriffe ermçglichen es uns von Anfang an, mit den Wahrnehmungsinhalten ordnend und verstehend umzugehen, indem wir durch sie einen bestimmten Gegenstand als substantiellen Trger bestimmter Qualitten identifizieren kçnnen.16 Kahn und Liske kritisieren beide zu Recht eine Interpretation im Sinne eines Empirismus der Begriffe. Dieser impliziert ein naives Verstndnis des Enthaltenseins der intelligiblen Formen in den aisthÞta und postuliert einen Vorgang der Abstraktion, der sich textlich nirgendwo festmachen lßt. Andererseits kann aber auch die Annahme eines apriorischen Wissens vom Text her nicht gerechtfertigt werden (De an. III 4, 429b31 f.; An. Post. II 19, 99b26 f.). Auch die Annahme eines „impliziten Gebrauchswissens“ hilft hier m. E. nicht weiter: Ein solches Wissen beinhaltet die Kenntnis, was zu einem Gegenstand gehçrt und was nicht, d. h. ein Prinzip der Abgrenzung. Dieses ,ontologische Grundwissen‘ kann aber fr Aristoteles nicht a priori vorausgesetzt werden. Merkwrdig ist außerdem, daß der ,aktive Intellekt‘ schon beim Wahrnehmen beteiligt sein soll.17 Ich werde im Folgenden zuerst einen eigenen Interpretationsvorschlag zu De an. III 8, 432a3 – 9 machen, der sowohl einen Empirismus der Begriffe als auch einen Apriorismus vermeidet, und im Anschluß daran eine Mçglichkeit skizzieren, wie man das Problem, woher die epistemologisch grundlegenden Begriffe kommen, lçsen kann. Grundstzlich gilt, daß die phantasia, die ein bloß passives Reservoir von Wahrnehmungseffekten darstellt, von (genuin) seelischen Vermçgen zu reprsentationalen Zwecken genutzt werden kann.18 So kann das Wahrnehmungsvermçgen einen aktualen Wahrnehmungsgehalt mit einem phantasma assoziativ kombinieren; innerhalb der Ttigkeit des Gedchtnisses fassen wir ein phantasma als Abbild (eikn)19 eines frheren Wahrnehmungsgegenstands auf (Mem. 450b20 – 27); im deliberativen Denken greifen wir auf phantasmata zurck, um uns verschiedene Optionen prospektiv vorzustellen und auf dieser Grundlage zu einer Entscheidung zu 16 Liske 1997, 38, 41: „Ein verstehendes Wahrnehmen verlangt, daß wir einen substantiellen Artbegriff a priori kennen und dazu gebrauchen kçnnen, den Gegenstand, von dem wir diverse Qualitten wahrnehmen, als den substantiellen Trger dieser Bestimmungen zu identifizieren.“ 17 Auch Liskes Interpretation hngt von einer bestimmten metaphysischen Prmisse ab, nmlich daß fr Aristoteles der ,aktive Intellekt‘ ein Vermçgen der menschlichen Seele ist, was allerdings sehr umstritten ist. 18 Hierzu genauer Corcilius 2008, 212 f. 19 Im Wesen des Abbildes liegt es, von sich selbst weg auf etwas anderes hin (allou) zu verweisen.
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kommen (De an. III 7, 431a14 – 17, 431b6 – 10); schließlich nutzt auch das theoretische Denken die phantasmata, was Aristoteles an zwei Stellen aber nur andeutet und nicht genauer ausfhrt (De an. III 7, 431b10 – 19; Mem. 449b30 – 450a9). Fr das theoretische wie fr das praktische Denken gilt gleichermaßen: „Daher denkt die Seele niemals ohne einen Vorstellungsgehalt“ (De an. III 7, 431a16 f.) und „das Denkvermçgen denkt die intelligiblen Formen in den Vorstellungsgehalten“ (431b2).20 Auf welche Weise macht das theoretische Denken von den phantasmata Gebrauch? Fungieren die phantasmata als Grundlage fr die Abstraktion noetischer Gehalte? Nheren Aufschluß ber diese Fragen gewinnen wir durch folgende Passage aus De memoria: „Von der Vorstellung wurde bereits in ,ber die Seele‘ gesprochen und ohne Vorstellung kann Denken nicht sein. Denn im Denken tritt derselbe Begleiteffekt auf wie auch beim Zeichnen eines Diagramms. Dabei zeichnen wir nmlich, obwohl wir gar keinen Gebrauch machen von einer bestimmten Grçße des Dreiecks, doch ein Dreieck mit bestimmter Grçße. Ebenso setzt sich der Denkende, auch wenn er keine Grçße denkt, eine solche vor Augen, denkt sie aber nicht als eine Grçße; und wenn die Natur der Sache zu den Grçßen, wiewohl ohne nhere Bestimmung, gehçrt, dann setzt er sich eine bestimmte Grçße, denkt sie aber nur als Grçße. Weshalb es nun nicht mçglich ist, etwas ohne Kontinuum zu denken, genauso wenig wie das, was nicht in der Zeit ist, ohne Zeit – das ist eine andere Frage“ (Mem. 449b30 – 450a9; bers. King).
Die phantasmata-Gebundenheit des Denkens lßt sich am Zeichnen eines Diagramms veranschaulichen; in beiden tritt derselbe ,Begleiteffekt‘ (to auto pathos) auf. So wie es fr einen geometrischen Beweis notwendig ist, eine bestimmte Figur zu zeichnen, und zugleich fr den Beweis unerheblich ist, welche Grçße die gezeichnete Figur hat, so ist es fr das Denken notwendig, daß es durch ein phantasma begleitet wird, und zugleich unerheblich, welche besonderen Eigenschaften das phantasma hat. Wenn sich der Denkende auf einen allgemeinen noetischen Gehalt wie z. B. das definierbare Wesen einer Sache bezieht, muß er sich dennoch gleichzeitig eine wahrnehmbare Grçße vor Augen stellen, die er dann aber „nicht als eine Grçße denkt“ (moe? d’ oqw Ø posºm : a5). Darauf mssen wir genauer eingehen: Der Denkende steht in einem kognitiven Bezug zu einem intelligiblen Gegenstand (noÞton)21, der nicht in die Kategorie des Quantitativen gehçrt (lμ pos¹m mo0 : 450a4), also 20 Die phantasmata-Bindung wird primr fr das praktische Denken aufgezeigt. Aristoteles geht aber davon aus, daß diese ebenso fr das theoretische Denken gilt (431b10 ff.). 21 Das Denken ist ,an sich‘ auf ein bestimmtes noÞton bezogen, so wie die Wahrnehmung auf das ,an sich Wahrnehmbare‘ bezogen ist (De an. III 4, 429a17 f.).
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etwa eine substantielle Form, wie z. B. die eines Hundes. Auf der Grundlage dieser Kenntnis sucht sich der Denkende einen geeigneten Vorstellungsgehalt im Reservoir der phantasia, der diesen allgemeinen Gehalt auf seine Weise, nmlich als eine wahrnehmbare Grçße, veranschaulichen oder sinnlich reprsentieren kann. Es kann nmlich nicht darum gehen, die einem Gegenstand zugehçrigen inneren Wesenszge, also seine essentiellen Eigenschaften, selbst zu versinnlichen; hier gilt der strikte Unterschied zwischen noÞma und phantasma (De an. III 8, 432a10 ff.): Das phantasma ist stets auf einen mçglichen Gegenstand der Wahrnehmung bezogen und als solche eine repraesentatio singularis. Es kann daher den gedanklich-allgemeinen Gehalt nicht in einem literalen Sinn veranschaulichen oder abbilden, sondern muß diesen irgendwie sinnlich ,bersetzen‘. Doch worin besteht bei Aristoteles eine solche bersetzung, in der das phantasma den vom noÞma vorgegebenen allgemeinen Gehalt auf seine Weise anzeigt? Mein Vorschlag ist, daß das phantasma lediglich anschaulich macht, in welchen charakteristischen Eigenschaften sich die innere Wesensstruktur innerhalb der zusammengesetzten Einzelsubstanz22 niederschlgt. Das phantasma reprsentiert sozusagen die von der substantiellen Form verursachten ,typischen Auslufer‘ innerhalb des materiellen Einzeldings. Um nun diesen Grad von Allgemeinheit zu erreichen, d. h. um zeigen zu kçnnen, wie z. B. ein Hund berhaupt aussieht, mssen wir mehrere phantasmata zusammenstellen23 ; dafr muß es zwischen diesen gewisse hnlichkeiten geben. Bei diesen hnlichkeiten handelt es sich aber um rein ußerliche, die durch unterschiedliche perzeptuelle Inputs zustande kommen.24 Die so zusammengestellten phantasmata werden dann vom Denkenden in einer bestimmten Hinsicht aufgefaßt oder gedacht (moe?: 450a5, a7), und zwar im Hinblick auf einen allgemeinen Gesichtspunkt, der vom jeweiligen Denkinhalt (noÞma) vorgegeben ist, und unter Absehung von individuellen Unterschieden; das phantasma wird „nicht als Grçße gedacht“. In dieser besonderen Auffassungsweise wird das vom Denkenden benutzte phantasma als allgemeines 22 Man kçnnte auch von der „wahrnehmbaren Grçße“ von De an. III 8, 432a4 sprechen. 23 Nach Aristoteles kann das Denken mehrere Vorstellungsgehalte zusammenstellen und einer gemeinsamen Hinsicht unterordnen (De an. III 11, 434a9 f.). In der Interpretation dieser Stelle folge ich Corcilius 2008, 224 – 227. 24 Dagegen Caston 1998, 285: „Different phantasmata, that is, can be treated as equivalent, insofar as they each have a certain part of their content in common; and that aspect of a phantasma which allows it to be treated in this way would be a concept or mºgla“. Ich bin dagegen der Auffassung, daß der gemeinsame Aspekt nicht das noÞma selbst ist, sondern bloß sein sinnliches Pendant.
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betrachtet. 25 Diese allgemeine Vorstellung – man kçnnte auch von einem Schema sprechen – wird also nicht eigens von der phantasia im Sinne einer produktiven Einbildungskraft hervorgebracht, sondern ist das Ergebnis einer bestimmten Betrachtungsweise durch den Intellekt.26 Der Vorstellungsgehalt in dieser Hinsicht betrachtet ist dann fr das Denken dasjenige, was zeigt, wie z. B. ein Hund berhaupt aussieht. Das ist die spezifische Weise, wie vernnftige Wesen die phantasia nutzen kçnnen (vgl. die phantasia logistikÞ in De an. III 10, 433b29). In dieser besonderen Verwendungsweise ist die phantasia eine Komponente des Denkens (De an. III 3, 427b27 f.).27 Die gerade interpretierten Passagen machen deutlich, daß der noetische Gehalt schon vorausgesetzt werden muß, um berhaupt die entsprechenden phantasmata zusammenzustellen, die jenen sinnlich reprsentieren kçnnen. Der Denkinhalt ist gewissermaßen als Leitfaden vorgegeben und nicht umgekehrt – wie im Empirismus der Begriffe – erst aus den phantasmata gewonnen. Das Denken sucht sich im Hinblick auf die schon erkannte intelligible Form die geeigneten Vorstellungsgehalte und faßt diese in einer bestimmten Weise auf. Die phantasmata sind nicht die primre Basis, aus denen noetische Gehalte gewonnen werden, sondern fungieren bloß als sekundres, reprsentationales Vehikel. Auf der Grundlage dieser Interpretation mçchte ich fr die folgende Passage, die ein literales Enthaltensein der noetischen Formen in den phantasmata nahelegt, eine alternative Interpretation vorschlagen: „Da aber kein einziger Gegenstand, wie es scheint, neben den wahrnehmbaren Grçßen getrennt existiert, sind die Gegenstnde des Denkens in den wahrnehmbaren Formen, das in Abstraktion Ausgesagte wie auch die Haltungen und 25 Wenn man das therein in De an. III 8, 432a9 in diesem spezifischen Sinn versteht, nmlich als ein ,Auffassen als etwas‘ durch den Intellekt, dann kann man ohne Probleme mit Ross und Siwek ûla v²mtasl² ti lesen: Dann wird in jedem Akt des Denkens oder Betrachtens notwendigerweise ein phantasma in einer bestimmten Hinsicht betrachtet. 26 Der Intellekt ist es, der das phantasma betrachtet (therein) oder denkt (noein). Es gibt hier nur ein seelisches Vermçgen, das aktiv ist, und keinen mit dem Denkakt einhergehenden zweiten Akt des ,Sich-etwas-Vorstellens‘ einer eigenen ,Einbildungskraft‘. Die phantasia ist kein eigenstndiges seelisches Vermçgen mit eigenen Gegenstnden und mit der Mçglichkeit, im Modus einer ,zweiten Aktualitt‘ ttig zu sein (Wedin 1988, 55). Vielmehr ist einzig das Denkvermçgen aktiv, das primr auf die noÞta bezogen ist und diese „in den Vorstellungsgehalten denkt“ (De an. III 7, 431b2). 27 Vgl. Wedin 1988, 73. Somit kann man das doje? in 427b28 als Aristoteles’ eigene Meinung ansehen.
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Eigenschaften der wahrnehmbaren Dinge. Und daher kçnnte jemand, ohne etwas wahrgenommen zu haben, rein gar nichts lernen noch etwas verstehen, und wenn man betrachtet, muß man notwendig zugleich eine Vorstellung betrachten (De an. III 8, 432a3 – 9).
Aristoteles macht hier zunchst eine Aussage, die auf der metaphysischen Ebene angesiedelt ist und fr die man sich auf das allgemeine Vorverstndnis (hs dokei) berufen kann: Sieht man einmal von den gçttlichen Substanzen ab, kann getrennt von den wahrnehmbaren Einzelsubstanzen nichts selbstndig existieren. Die substantiellen Formen sind in den Einzeldingen, wodurch diese in ihrer Identitt und Bestimmtheit konstituiert werden und einer bestimmten Art zugehçrig sind. Aus dieser metaphysischen Annahme scheint sich nun etwas fr die Weise unseres Erkennens zu ergeben: Die noetischen Formen sind in einer nicht genauer bestimmten Weise ,in‘ den aisthetischen Formen, ebenso das in Abstraktion Ausgesagte, also die mathematischen Eigenschaften, als auch die Haltungen (hexeis) der wahrnehmbaren Dinge und die Eigenschaften (pathÞ). Auf der Grundlage der bisherigen Interpretation verstehe ich das so, daß die noetischen Formen in den aisthetischen gedacht werden (vgl. De an. III 7, 431b2): Weil sie in der Wirklichkeit nie getrennt von den wahrnehmbaren Einzeldingen vorkommen, sondern in diesen existieren (eidos enon: Met. VII 11, 1037a29), werden sie, wenn sie gedacht werden, immer im Zusammenhang mit dem gedacht, was durch sie informiert und konstituiert wird. Die Form ist immer Form von etwas und dieses Informierte, das zusammengesetzte Einzelding, wird durch das phantasma reprsentiert. Am phantasma selbst zeigen sich die Wirkungen der dem Einzelding intrinsischen Form. Wenn ich daran denke, was den Menschen zum Menschen macht, so habe ich dabei immer vor Augen, wie sich dieses Wesen in einzelnen Menschen berhaupt niederschlgt. Das noÞton wird in den Vorstellungsgehalten gedacht, aber nicht aus den Vorstellungsgehalten gewonnen. Die epistemologische Funktion der phantasia ist dementsprechend eingeschrnkt: Ein phantasma kann als eine vom Denken benutzte sinnliche Reprsentation dabei behilflich sein, mehrere Exemplare als Exemplare einer bestimmten Art, die auf ihre substantielle Form untersucht werden sollen, vorlufig zu identifizieren. Somit leisten die phantasmata einen Beitrag zur Etablierung jenes ,Wissen des Daß‘, das die unverzichtbare Grundlage fr jedes ,Wissen des Warum‘ bildet. Die Erkenntnis der substantiellen Form einer Sache kommt durch Beobachtungen, Induktion und urschliche Analyse zustande und nicht
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dadurch, daß man phantasmata inspiziert und daraus die noetischen Formen abstrahiert.28 Wie gewinnen wir aber dann die fr den Wissenserwerb notwendigen Begriffe, die uns berhaupt erst eindeutige Beobachtungen ermçglichen? Aristoteles gibt nirgendwo eine Erklrung dafr, wie wir so etwas wie Sortalbegriffe erwerben.29 Das Problem lßt sich lçsen, indem man zwei Weisen unterscheidet, in denen man nach Aristoteles einen Begriff besitzen kann: Ein Begriff kann zum einen in einer gehaltvollen oder ,wissenschaftlichen‘ Weise gewußt werden, indem man seine essentiellen Bestandteile und damit seine Definition kennt. Auf der Grundlage dieser Kenntnis der Definition lßt sich dann eine Prdikation formulieren, die als eine Prmisse in einem Beweis fungieren kann. In diesem Sinne kann auch der dritte Anlauf der ,Genetischen Epistemologie‘ in 100a14-b5 so interpretiert werden, daß hier nicht ein Begriff immer hçherer Allgemeinheit gewonnen wird, sondern ein Begriff hinsichtlich seiner basalen und urschlich relevanten Bestandteile ,vertieft‘ wird (t± !leq/ st0 : 100b2) – im Beispiel ,Mensch‘ neben ,Lebewesen‘ (100b3) also ,vernunftbegabte Seele‘.30 Den Begriff ,Mensch‘ in diesem gehaltvollen Sinn zu kennen, bedeutet also, einen ,Einblick‘ in ein essentielles Verhltnis zu haben; man weiß, was es heißt, ein Mensch zu sein. Von dieser gehaltvollen Weise, einen Begriff zu kennen, lßt sich nun eine bloß diskriminatorische Weise des Begriffsbesitzes unterscheiden.31 Hier wird ein Begriff nur in einigen charakteristischen Merkmalen gewußt, wie z. B. der Mensch als aufrecht gehendes, zweibeiniges Wesen oder Wasser als durchsichtige Flssigkeit etc. Diese Merkmale erlauben es, vorlufig zu entscheiden, was unter diesen Begriff fllt und was nicht, also einen einzelnen 28 Von ,Abstraktion‘ ist in De anima, wie gesagt, keine Rede. Wenn man dennoch eine solche annimmt, stellt sich sofort die Frage, in welchem Verhltnis die Abstraktion der noetischen Formen zu dem in An. Post. II 19 skizzierten aisthetisch-induktiven Verfahren steht. 29 Vgl. Barnes 1975, 255: „Man, then, is not directly implanted in our minds by the senses, as Aristotle’s words in B 19 suggest; but in that case we need an account, which Aristotle nowhere gives, of how such concepts as man are derived from the data of perception.“ 30 Fr diese Interpretation vgl. auch Gregoric & Grgic 2006, 26 f. 31 Fr diese Unterscheidung vgl. auch Frede 1996, 163 f.: „Even when the use of something like concepts is involved, these concepts do not necessarily reflect the relevant feature or features of the things discriminated by means of the concept. On Aristotle’s view it does not seem to suffice for thinking that we have a notion of, say, a human being which allows us, by and large, to distinguish successfully between human beings and other things; the notion rather has to be based on a sufficient grasp of what it is to be a human being“.
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Gegenstand als F zu identifizieren. Die Annahme einer solchen diskriminatorischen Weise des Begriffsbesitzes fr Aristoteles kann durch zwei Passagen gerechtfertigt werden: „Unmçglich nmlich ist es zu wissen, was es ist, ohne zu wissen, ob es ist. Das Ob-es-ist jedoch besitzen wir zuweilen auf zufllige Weise, zuweilen aber auch indem wir etwas von der Sache selbst besitzen, wie etwa vom Donner, daß er ein gewisses Gerusch in den Wolken ist, und von der Verfinsterung, daß sie eine gewisse Wegnahme des Lichtes ist […] Diejenigen Dinge nun, von denen wir auf zufllige Weise wissen, daß sie sind, besitzen unmçglich auf irgendeine Weise eine Verbindung zum Was-es-ist; denn wir wissen nicht einmal, daß sie sind“ (An. Post. II 8, 93a20 – 26; bers. Detel). „Da eine Definition nun eine Bestimmung des Was-es-ist genannt wird, ist einleuchtend, daß die eine Art eine Bestimmung dessen sein wird, was der Name bezeichnet, oder eine andere namenshnliche Bestimmung, wie etwa das: was es bezeichnet, was ein Dreieck ist. Und wenn wir davon Kenntnis besitzen, daß es ist, so untersuchen wir, warum es ist; schwierig allerdings ist es, auf diese Weise Dinge zu erfassen, von denen wir nicht wissen, daß sie sind. Die Ursache dieser Schwierigkeit ist zuvor genannt worden: daß wir nicht einmal wissen, ob sie sind oder nicht, es sei denn auf zufllige Weise“ (An. Post. II 10, 93b29 – 35; bers. Detel).
Aristoteles nennt in beiden Passagen den wissenschaftstheoretischen Grundsatz, daß jedes Wissen, das nach den Ursachen bzw. dem Wesen einer Sache fragt, ein ,Wissen des Daß‘ (eidenai to hoti) voraussetzt. Dieses Wissen kann man entweder auf eine ,akzidentelle Weise‘ haben oder so, daß wir auch „etwas von der Sache selbst besitzen“32 ; nur letzteres gewhrt uns ein ,Wissen des Daß‘ und damit einen Weg zur Kenntnis des Wesens (pq¹r t¹ t¸ 1stim : 93a29). Diese Art des Wissens wird nun mit einem semantischen Wissen, nmlich der Kenntnis bestimmter Wortbedeutungen, in Zusammenhang gebracht: Die Kenntnis dessen, was ein Name bedeutet (t¸ sgla¸mei t¹ emola : 93b30), kann entweder defizient sein, so daß kein ,Wissen des Daß‘ zustandekommt (wenn man z. B. ,Donner‘ als ,Zorn der Gçtter‘ definiert): „Diejenigen Dinge nun, von denen wir auf zufllige Weise wissen, daß sie sind, besitzen unmçglich auf irgendeine Weise eine Verbindung zum Wases-ist; denn wir wissen nicht einmal, daß sie sind“ (II 8, 93a24 ff.). Hier handelt es sich um bloße Nominaldefinitionen. Eine solche Definition kçnnte man mit De an. I 1, 403a2 auch als „dialektisch“ und „leer“ bezeichnen. Oder aber das semantische Wissen enthlt bestimmte charakteristische Merkmale, die eine vage oder vorlufige Identifikation des Gegenstands gestatten, wenn z. B. ,Donner‘ als ,ein bestimmter Schall in den 32 5womt´r ti aqtoO toO pq²clator (An. Post. II 8, 93a22).
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Wolken‘ definiert wird (93a22 f.). In diesem Fall kann man aufgrund der ,Definition der Wortbedeutung‘ auf den Gegenstand referieren.33 Dieses semantische und Referenz-ermçglichende Wissen fllt nun fr Aristoteles unter das Vorwissen, auf das jede Wissenschaft angewiesen ist (An. Post. I 1, 71a12 ff.34): Man muß schon ber eine vorlufige Kenntnis dessen verfgen, was bestimmte fr eine Wissenschaft grundlegende Termini bedeuten, genauso wie man voraussetzen muß, daß eine bestimmte Gattung existiert. In dieser vorlufigen Weise sind bestimmte Begriffe jedem vernunftbegabten Lebewesen mit dem Beherrschen einer Sprache schon gegeben. Dieses sprachliche Wissen, das eine vorlufige Bezugnahme ermçglicht, muß nun auch bei der Beschreibung des Erwerbs der PrinzipienKenntnis in II 19 vorausgesetzt werden.35 Das lßt sich mit Sens. 437a11 – 17 begrnden: Aristoteles stellt hier heraus, daß in vernunftbegabten Lebewesen der Hçrsinn den grçßten Beitrag zum ,hçheren Zweck’ des Wissenserwerbs leistet, da der Wissenserwerb auf dem bedeutungsvollen Satz, insofern er gehçrt wird, basiert. Diese zentrale Bedeutung der Sprache fr das Wissen wird allerdings nicht nher ausgefhrt. Das sprachliche Wissen macht den epagogischen Vorgang nicht berflssig, da diese Begriffe nur in einer vorlufig-diskriminatorischen Weise gewußt werden; es erfllt also die Auflagen von 99b33 f., nicht genauer als das gesuchte Wissen zu sein.
33 Vgl. Charles 2000, 35: „The initial grasp on an account of what ,F‘signifies provides a springboard from which one can come to know non-accidentally that F exists“; ebd. 40: „This Stage 1 knowledge enables one to conduct a successful enquiry into what exists“. 34 Detel (1993 II, 29) macht hier zur Recht darauf aufmerksam, daß Aristoteles die vorausgesetzten Definitionen sowohl mit t¸ t¹ kecºlemºm 1sti (71a13) als auch mit tod· sgla¸mei (a15) erlutert: „Definitionen als Worterklrungen bezeichnen vielmehr stets auch die definierte Sache (wenn auch in einem wissenschaftlich noch unbefriedigendem Sinne), sind also nicht bloße Bedeutungsanalysen.“ 35 Barnes (1975, 251) bestreitet einen Zusammenhang zwischen An. Post. I 1 und II 19: „The fact is that A 1, which deals with the ,intellectual learning‘ of derived propositions, is inapplicable in B 19, which is concerned with a non-intellectual acquisition of underivable principles“. Dagegen ist zu sagen: Das Vorwissen von I 1 gilt sowohl fr deduktiv als auch fr induktiv zustandekommendes Wissen (71a5 – 9) innerhalb ganz unterschiedlicher Formen von Rationalitt. Auch hinsichtlich des Erkennens der Prinzipien mssen wir ein solches Vorwissen annehmen (vgl. An. Post. II 19, 99b26 – 35).
5.2 Von der Wahrnehmung zur empeiria nach An. Post. II 19
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5.2 Von der Wahrnehmung zur empeiria nach An. Post. II 19 In An. Post. II 19, 99b36 – 100b5 behandelt Aristoteles die Frage, wie wir die Prinzipien erkennen (p_r te c¸momtai cm¾qiloi : 99b18), also die obersten, nicht mehr beweisbaren, wahren und urschlichen, d. h. erklrungskrftigen Prmissen, aus denen ein bestimmter Sachverhalt bewiesen werden kann und deren Kenntnis fr das demonstrative Wissen (epistÞmÞ) konstitutiv ist. Bei Aristoteles’ Antwort handelt es sich um nicht viel mehr als eine Skizze: Nach einer Darlegung der Schwierigkeiten (99b20 – 30)36 wird der Erwerb der Prinzipienkenntnis in drei Anlufen beschrieben (99b36 – 100a3; 100a3 – 937; 100a14-b3), wobei die spteren Anlufe das in den frheren Anlufen Gesagte nochmals deutlicher darlegen sollen (100a14 f.). Dabei fllt ein Zweifaches auf: Zum einen geht Aristoteles in 100a6 – 9 unmittelbar von der Erfahrung (empeiria) – wenn man das C in 100a6 epexegetisch versteht, so daß das Folgende (100a6 ff.) den Inhalt der Erfahrungserkenntnis beschreibt – zum ,Prinzip der technÞ und epistÞmÞ‘ ber; lediglich 100b1 – 3 kçnnte man als eine sehr grobe Beschreibung dieses bergangs ansehen, wenn man „die Dinge ohne Teile und das Allgemeine“, auf welche 36 Die erste Frage, wie wir mit den Prinzipien bekannt werden, wird anschließend in folgender ,Schwierigkeit‘ (diapoq¶seiem %m tir) wieder aufgenommen und genauer expliziert: „ob die Zustnde nicht in uns sind, sondern zustande kommen oder in uns sind, aber verborgen bleiben“ (99b25 f.; bers. Detel). Einerseits kçnnen wir diese Kenntnisse nicht schon immer in uns haben, da wir dann Kenntnisse besitzen wrden, die dem Rang nach hçher (oder: ,genauer‘) wren als die daraus resultierenden Beweise, ohne daß uns das bewußt wre. Wenn wir sie andererseits erwerben, ohne sie schon zu besitzen, stellt sich das Problem, wie das mçglich ist, wenn wir zuvor berhaupt keine Kenntnisse besitzen. Es ist weder mçglich, die Prinzipien immer schon zu besitzen, noch kçnnen sie ex nihilo, ohne irgendeine vorhergehende Kenntnis, erworben werden. Dieses aus Platons Menon bekannte Problem lçst Aristoteles mit der Einfhrung der Wahrnehmung als einem angeborenen und unterscheidungsfhigen Vermçgen (d¼malim s¼lvutom jqitij¶m : 99b32 f.). Als ein solches Vermçgen kann die Wahrnehmung zwei Bedingungen erfllen: Sie stellt zum einen ohne eine vorherige Belehrung die fr jeden Wissenserwerb notwendigen Vorkenntnisse bereit, ohne die wir sonst keine weiteren Kenntnisse gewinnen kçnnten. Die Kenntnisse, die sie gewhrt, sind zum anderen nicht ,ranghçher gemß der Genauigkeit‘ (tiliyt´qa jat’ !jq¸beiam : 99b33 f.) als die zu erwerbenden Kenntnisse. 37 Nach diesem zweiten Anlauf hat Aristoteles sein Ziel schon erreicht: Die hçheren kognitiven Zustnden bis zur Kenntnis der Prinzipien liegen weder abgesondert schon immer in uns vor, noch entstehen sie im Ausgang von anderen ,an sich bekannteren‘ Zustnden, sondern sie entstehen ,im Ausgang von der Wahrnehmung‘ (!p¹ aQsh¶seyr : 100a10 f.). Das bisher Dargelegte wird dann mit dem Bild von der zurckweichenden Schlachtlinie illustriert.
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die hier angedeutete Vertiefung abzielt, als urschlich relevante Begriffe versteht. Zum anderen fllt der weite Geltungsbereich der Skizze auf: Sie gilt sowohl fr den Bereich des Werdens, also die Prinzipien der technÞ, als auch fr den Bereich des notwendig Seienden, also die Prinzipien der epistÞmÞ (100a8 f.). Auf den ersten Blick kçnnte es nun so aussehen, als ob aus Aristoteles’ skizzenhafter Darlegung die Konsequenz gezogen werden mßte, den Wissenserwerb als einen rein natrlichen Mechanismus zu verstehen38, in dem ausgehend vom Vermçgen (dynamis) der Wahrnehmung, die eine bestimmte Art von Kenntnis gewhrt, die anderen ,hçheren‘ – nmlich ,genaueren‘ und ,an sich bekannteren‘– kognitiven Haltungen (hexeis) entstehen, nmlich Gedchtnis und Erfahrung bis hin zur Kenntnis der Prinzipien. Eine solche rein kausale Interpretation wird durch die hier verwendete kausale und passive Terminologie nahegelegt.39 Wrde Aristoteles den Wissenserwerb tatschlich als einen rein kausalen Mechanismus ansehen, dann wren allerdings methodologische berlegungen zur Prinzipienforschung, wie sie sich an vielen Stellen innerhalb des Corpus Aristotelicum finden40, obsolet; das Erfassen der Prinzipien wrde allein von der Zuverlssigkeit des natrlichen Prozesses abhngen und der Wahrnehmung wrde dabei lediglich eine kausale Rolle zukommen. Alternativ zu dieser rein kausalen Lesart scheint mir eine differenziertere Interpretation mçglich: Diese versteht die hier skizzierte kognitive Stufenfolge als eine Beschreibung der seelischen Vorgnge, die methodisch geregelten kognitiven Handlungen zugrundeliegen, d. h. die verschiedenen kognitiven Zustnde werden notiert, ohne daß dabei auf die zugehçrigen methodischen Operationen genauer eingegangen wird. Auf diese Weise kçnnen die Aussagen des Aristoteles zum Wissenserwerb an anderen Stellen mitherangezogen und zusammen mit II 19 dann in einen grçßeren Zusammenhang gestellt werden. In diesem Abschnitt werden wir uns auf den Weg von der Wahrnehmung bis zur Erfahrung (empeiria) konzentrieren. Daß Aristoteles in II 19 nichts Genaueres zum bergang von der Erfahrung zur Prinzipienerkenntnis sagt, liegt darin begrndet, daß es fr ihn im Bereich der Ursachen- oder Prinzipienerkenntnis eine Vielfalt von Methoden gibt, die sich jeweils an der Natur des Gegenstands ausrichten: „Man darf auch nicht berall die Ursache auf die 38 Vgl. die schon in Kap. 1.3 skizzierte Interpretation von Frede 1996. 39 (1c)c¸meshai (99b36, 37, 38, 100a1, 2, 3, 4, 11); Aqele?m, Rst²mai (100a6, 12, 15, b2); B d³ xuwμ rp²qwei toia¼tg owsa oVa d¼mashai p²sweim toOto (100a13 f.). 40 Vgl. De an. I 1; Met. VII 17; An. Pr. I 30; An. Post. II 1 – 2; Part. an. I 1, 639b9 ff.
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gleiche Weise suchen“ (EN I 7, 1098a33-b1; bers. Wolf ).41 Die Frage nach der jeweiligen Methode der Ursachen- oder Prinzipienerkenntnis kann nur innerhalb eines bestimmten Sachgebiets geklrt werden und bleibt deshalb in der allgemeinen Skizze von II 19 ausgespart. Gemeinsam ist dagegen allen Wissenschaften (und daher kann dies auch in II 19 allgemein dargestellt werden), daß sie auf Erfahrungswissen, also auf das eidenai to hoti, angewiesen sind (vgl. An. Pr. I 30; An. Post. II 1 – 2). Wie dieses Erfahrungswissen erworben wird, was es genau zum Inhalt hat und welche Relevanz es fr die Erkenntnis der Ursachen und Prinzipien besitzt, werden wir in diesem und den beiden folgenden Abschnitten genauer untersuchen. Whrend man in lteren Interpretationen von II 19 noch davon ausging, daß in diesem Kapitel eine Abstraktion von Begriffen beschrieben wird42, ist es Konsens der neueren Interpretationen, daß eine scharfe Trennung zwischen Begriffen und Propositionen nicht mçglich ist: Jedes vollstndige Erfassen eines wesentlichen Begriffs, in dessen Definition man also nicht auf etwas anderes Bezug nimmt, impliziert das Erkennen eines definitorischessentiellen Verhltnisses und damit die Darstellbarkeit dieses Verhltnisses in einer erklrungskrftigen demonstrativen Prmisse. 43 Der in II 19 beschriebene Vorgang kann somit durchaus auch propositional interpretiert werden. Das wurde schon im letzten Abschnitt fr die empeiria aufgezeigt: Inhalt der Erfahrung ist ein ,komparativ-allgemeines‘ Zukommen einer Eigenschaft zu einer bestimmten Art, das sich auf der Grundlage einer bestimmten Anzahl von Beobachtungen an den Gegenstnden dieser Art ergab. Dieses Wissen beruht noch nicht auf der Kenntnis der Ursache, durch die man begrnden kçnnte, warum allen Instanzen dieser Art bestimmte Eigenschaften notwendig zukommen (die per se-Akzidentien). Eine differenzierte Interpretation von II 19 ist m. E. mçglich, wenn man eine von Detel eingebrachte, bisher leider noch kaum beachtete Unterscheidung heranzieht: Aristoteles skizziert seine ,Genetische Epistemologie‘ nicht nur in drei ,Anlufen‘ (99b36 – 100a3; 100a3 – 9; 100a14-b3), sondern es lassen sich auch drei verschiedene Ebenen unterscheiden, auf denen die Darlegung angesiedelt ist: Detel unterscheidet zwischen epistemischen Fhigkeiten, epistemischen Vorgngen oder Handlungen und den Gegen-
41 Vor allem auch De an. I 1, 402a10 – 22. Zur Pluralitt der Prinzipien-Forschung vgl. Wieland 1992, 52 f. 42 Vgl. Ross 1949, 675. 43 Vgl. Kahn 1981; Modrak 1987, 164; Taylor 1990, 127.
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stnden oder Resultaten.44 Ich werde im Folgenden diese drei Ebenen etwas modifizieren, indem ich zwischen seelischen Vermçgen, kognitiven Vorgngen und kognitiven Zustnden mit ihren jeweiligen Gehalten, also den jeweiligen Kenntnissen 45, unterscheide. Es ist klar, daß in II 19 nicht die Genese von bestimmten seelischen Vermçgen beschrieben werden soll, wie es die Worte „aus der Wahrnehmung also entsteht Gedchtnis“ nahelegen kçnnten, sondern der Erwerb bestimmter kognitiver Zustnde mit ihren jeweiligen Gehalten skizziert werden soll, letztlich der Erwerb der Kenntnis der Prinzipien. Die entscheidende Frage lautet: Auf der Grundlage welcher seelischer Vermçgen und durch welche Vorgnge oder ,epistemische Handlungen‘ kommen die Gehalte dieser hçchsten Gattung von Kenntnis zustande? Mit Hilfe der Unterscheidung dieser drei Ebenen lassen sich die verschiedenen Stufen von II 19 in einem ersten Schritt folgendermaßen interpretieren: (1) Auf der Ebene der seelischen Vermçgen mssen die beiden ,unterscheidungsfhigen‘ oder kognitiven Vermçgen, das Wahrnehmungsvermçgen und das Denkvermçgen (im weiten Sinn von De an. III 4, 429a23), vorausgesetzt werden. Mit dem Wahrnehmungsvermçgen sind noch zwei andere aisthetische Vermçgen verknpft, nmlich zum einen die phantasia als die Fhigkeit, Sinneseindrcke zurckzubehalten und zu speichern, zum anderen das auf der phantasia basierende Gedchtnis. Die phantasia wird (im Unterschied zu Met. I 1, 980b26) in II 19 nicht explizit genannt46, muß aber vorausgesetzt werden. Das Gedchtnis beruht nmlich auf der phantasia (Mem. 450a13), insofern es der Besitz eines phantasma ist, das im Hinblick auf die ursprngliche Wahrnehmungssituation, aus der es hervorgegangen ist, als Abbild aufgefaßt, d. h. in einen Verweisungszusammenhang gestellt wird, und zeitlich datiert wird (Mem. 451a15 f.); das mnÞmoneuma bringt also einen reprsentationalen Gehalt hervor, dem der Verweis auf seinen perzeptuellen Ursprung beigefgt ist. Auch wenn das Denkvermçgen in der ,Genetischen Epistemologie’ nicht explizit erwhnt wird, nehme ich an, daß dem in II 19 beschriebenen Vorgang auch der nous auf der Stufe der ersten Potenz zugrundeliegt: Es geht um den menschlichen 44 Detel 1993 II, 863 f.: Unter epistemischen Fhigkeiten bzw. Zustnden versteht er Wahrnehmung, Erinnerung, Erfahrung und das Prinzip von Kunst und Wissen; unter epistemischen Vorgngen oder Handlungen das Unterscheiden, Bleiben, zur Ruhe kommen und das Induzieren; epistemische Gegenstnde sind fr ihn Wahrnehmungsinhalte, das Allgemeine, die „Dinge ohne Teile“. 45 Jede Art des cmyq¸feim, angefangen von der Wahrnehmung bis hin zum Erfassen der Prinzipien, gewhrt eine bestimmte Art der cm_sir (vgl. Kap. 1.1). 46 Aristoteles spricht lediglich vom „Bleiben des Wahrnehmungsgehalts“ (lomμ toO aQsh¶lator : 99b36 f.)
5.2 Von der Wahrnehmung zur empeiria nach An. Post. II 19
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Wissenserwerb und das einzige, was wir nach 99b26 – 34 nicht voraussetzen drfen, ist ein schon mit den intelligiblen Inhalten gefllter nous. Wir haben im letzten Abschnitt schon deutlich gemacht, daß auch diese Bedingung insofern eingeschrnkt werden muß, als wir auch hier ein Vorwissen ansetzen mssen (99b30 mit Bezug auf An. Post. I 1), und zwar ein sprachliches (I 1, 71a13), das die Auflagen von 99b32 ff. erfllt. Wie sich in Kap. 4.3 gezeigt hat, kann mit Hilfe des nous das Wahrgenommene im Rahmen einer Wahrnehmungsmeinung (doxa) begrifflich charakterisiert werden. Die Wahrnehmung liefert eine vor-begriffliche Kenntnis des Gegenstands, die in einem zweiten Schritt, nmlich innerhalb des Denkens, mit Begriffen angereichert und differenziert wird. (2) Als einen ersten kognitiven Vorgang erwhnt Aristoteles, daß bei einigen Lebewesen ein „Bleiben des Wahrnehmungsinhalts“ entsteht, d. h. der Wahrnehmungsgehalt in der phantasia abgespeichert wird oder „in der Seele“ bewahrt bleibt. Dieser Vorgang bringt nach Aristoteles zustzlich zur Wahrnehmung eine weitere Art von Kenntnis hervor: „Und wenn Wahrnehmung in ihnen vorhanden ist, kommt in einigen Tieren ein Bleiben des Wahrnehmungsinhalts zustande, in anderen dagegen kommt es nicht zustande. Fr diejenigen nun, in denen es nicht zustandekommt, entweder ganz oder in bezug auf was es nicht zustandekommt, gibt es keine Kenntnis außerhalb des Wahrnehmens“ (99b36 – 39; bers. Detel). Auf dieser Grundlage werden dann Gedchtnisleistungen mçglich, indem der gespeicherte Wahrnehmungsgehalt als Abbild dessen, wovon er perzeptuell herstammt, verwendet wird. In Met. I 1 werden die Lebewesen mit Gedchtnis „verstndiger“ (vqomil¾teqa) genannt und diejenigen, die auch ber Gehçr verfgen, als „lernfhiger“ (lahgtij¾teqa) bezeichnet (980b20 – 25). Das Gedchtnis ist also in Verbindung mit dem Hçren eine Bedingung fr den Wissenserwerb (b24 f.; besonders Sens. 437a11 – 15). (3) Anknpfend an die Fhigkeit, mehrere Wahrnehmungsinhalte in der Seele aufzubewahren und dann auch mittels des Gedchtnisses in einen Verweisungszusammenhang zu stellen, beschreibt Aristoteles das Zustandekommen eines nchst hçheren Gehalts, nmlich einer diaphora bzw. eines logos bei vernunftbegabten Lebewesen (100a1 f.).47 47 Die beiden Termini beziehen sich m. E. auf verschiedene Stufen: Aus einer Vielzahl von Gedchtnisinhalten entsteht eine diaphora. Bei den Lebewesen mit Intellekt entsteht aus den auf diese Weise gespeicherten Wahrnehmungsgehalten ein logos, bei den anderen nicht. Mit „den anderen“ (100a3) wren hier also Lebewesen gemeint, die zwar eine diaphora ausbilden, aber keinen logos. Bei der diaphora kçnnte man an gewisse ußerliche hnlichkeiten bestimmter phantasmata untereinander denken, whrend logos einen genuinen Begriff meint, dem ein gedanklicher Inhalt (noÞma) zugrundeliegt.
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Die einzige nhere Charakterisierung des hier ablaufenden kognitiven Vorgangs ist, daß viele im Gedchtnis aufbewahrte Wahrnehmungsinhalte eine diaphora bzw. einen logos hervorbringen. Mit der Herausbildung eines logos auf der Grundlage des Gedchtnisses muß, wie das Folgende zeigt, der Inhalt der empeiria gemeint sein: „aus dem Gedchtnis aber, wenn es oft an demselben (Gegenstand) entsteht, (kommt) die Erfahrung (zustande). Denn die vielen Gedchtnisinhalte sind der Zahl nach eine Erfahrung. Aus der Erfahrung aber oder aus jedem Allgemeinen, das in der Seele zum Stehen gekommen ist, das Eine neben dem Vielen, was als Eines und Dasselbe in allen jenen ist…“ (100a4 - 8). Neben dem Aspekt der Hufigkeit (pokk_m : 100a1; pokk²jir : a4 f.; Met. I 1, 980b29) kommt hier noch ein zweiter Aspekt hinzu: Die hufigen Erinnerungen beziehen sich auf „dasselbe Ding (toO aqtoO)“.48 In Met. I 1 heißt es dazu, daß „die vielen Gedchtnisinhalte derselben Sache (toO aqtoO pq²clator) das Vermçgen einer Erfahrung zustandebringen“ (980b29 f.). Diesen zweiten Aspekt kann man so verstehen, daß die Erfahrung aus Beobachtungen einer wiederkehrenden Eigenschaft an demselben Gegenstand (oder einem artgleichen) zustandekommt.49 Hierfr muß aber der Gegenstand, an dem dieses vorlufig-allgemeine Zukommen eines bestimmten Merkmals beobachtet wurde, eindeutig identifiziert sein. Diese Identifikation kommt durch Begriffe innerhalb einer Wahrnehmungsmeinung (Kap. 4.3) zustande. (4) Die empeiria ist fr Aristoteles nun kein seelisch-kognitives Vermçgen wie Wahrnehmung oder Denken, sondern mit ihr wird eine Art der Annahme (hypolÞpsis)50 bzw. in epistemologischer Sicht auch eine Form des Wissens, das eidenai to hoti (Met. I 1, 981a29), bezeichnet. Das ihr zugrundeliegende Vermçgen ist das Denkvermçgen (im weiten Sinn), was sich vor allem daran zeigt, daß ihre Inhalte als ennoÞmata beschrieben werden (Met. I 1, 981a6) und sie eine Art von Annahme (hypolÞpsis) ist, die sich auf eine endliche Anzahl von Beobachtungen sttzt (981a7). In II 19 wird der empeiria außerdem explizit ein Allgemeines zugesprochen (100a6 ff.). Dieses Allgemeine bezeichnet noch nicht das die epistÞmÞ kennzeichnende strikte allgemeine und notwendige Zukommen einer Eigenschaft zu einer bestimmten Spezies (An. Post. I 4, 73b26 f.), dessen Kenntnis sich aus dem Erfassen der Ursache ergibt: Wir 48 Vgl. die bersetzung von Barnes (1975, 81): „when it occurs often in connection with the same thing“. 49 Vgl. auch Gregoric & Grgic 2006, 9 ff. An dieser Stelle zeigt sich, daß Aristoteles selbst nicht klar zwischen Begriffen und Propositionen trennt: Im ,ersten Anlauf‘ scheint es eher um den Erwerb von Erfahrungsbegriffen zu gehen, im ,zweiten Anlauf‘ eher um die Feststellung eines komparativ-allgemeinen Sachverhalts. 50 Vgl. den generischen Sinn von hypolÞpsis in De an. III 3, 427b25 f.
5.2 Von der Wahrnehmung zur empeiria nach An. Post. II 19
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wissen hier, warum allen Instanzen einer bestimmten Spezies bestimmte Eigenschaften notwendig zukommen. Bei dem Erfahrungs-Allgemeinen handelt es sich vielmehr um ein komparativ-allgemeines Zukommen, basierend auf den bisherigen Beobachtungen: Verschiedene Individuen, die wir bisher wahrgenommen haben, verfgen ber die Eigenschaft F. Dem Erfahrungswissen fehlt die Kenntnis der Ursache und damit auch die strikte Allgemeinheit: „Denn die Erfahrenen wissen zwar das Daß, das Warum wissen sie aber nicht“ (Met. I 1, 981a28 f.).51 Im Rckgriff auf die Ergebnisse der frheren Kapitel kçnnen wir nun den bisher allein auf der Grundlage von II 19 beschriebenen kognitiven Vorgang, der zum Erfahrungswissen fhrt, noch etwas genauer interpretieren: Voraussetzung fr jeden Wissenserwerb ist ein bestimmtes sprachliches Wissen, d. h. wir mssen die Bedeutung bestimmter Grundbegriffe schon kennen. Diese Begriffe, die wir nur in einer diskriminatorischen Weise kennen, machen es mçglich, das Wahrgenommene innerhalb einer Wahrnehmungsmeinung (doxa) begrifflich zu spezifizieren und somit dem Denken (dianoia im weiten Sinn) zur Verfgung zu stellen: Wir kçnnen eine bestimmte Eigenschafte an einem Gegenstand einer bestimmten Art, also ein bestimmtes Verhltnis des Zukommens, erkennen, indem wir beide Glieder des Zukommens gedanklich erfassen. Das erlaubt es uns, Gegenstnde einer bestimmten Art (z. B. Menschen) durch die Zeit zu verfolgen, um an ihnen wissenschaftsrelevante – nmlich (potentiell) notwendige und nicht bloß zufllige – Eigenschaften feststellen zu kçnnen. Durch das Gedchtnis wird es dann mçglich, aktuale Beobachtungen im Lichte von frheren Beobachtungen zu machen; wir registrieren hnlichkeiten oder Unterschiede zu frheren Beobachtungen. Wenn sich bestimmte hnlichkeiten in unserem Gedchtnis verdichten, sich also aufgrund einer gewissen Anzahl von Beobachtungen eine gewisse Kohrenz von Gedchtnisinhalten hinsichtlich eines bestimmten Gegenstands abzeichnet, kommt es irgendwann zu einem Erfahrungsurteil, d. h. wir stellen ein vorlufig-allgemeines Zukommen eines Merkmals an einer bestimmten Art fest. Das Gedchtnis selbst erfaßt zwar nicht dieses empirisch-Allgemeine52, es ist aber die notwendige Bedingung hierfr: Es stellt nicht bloß das sinnliche Material zur 51 Wenn Aristoteles in Met. I 1, 981a10 den Unterschied zwischen Erfahrung und Kunst bzw. Wissen so bestimmt, daß man im letzteren Fall weiß, „daß allen von einer solchen Beschaffenheit, die aufgrund einer einzigen Art ausgegrenzt wurden“ bei einer bestimmten Krankheit ein bestimmtes Heilmittel half, dann fungiert das verschiedenen Individuen gemeinsame eidos als Ursache fr den spezifischen Wirkungszusammenhang; das eidos wird in seinen urschlichen Implikationen gewußt. 52 Das stellt Detel (1993 II, 870) zu Recht fest.
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Verfgung, sondern es prsentiert uns Inhalte, in denen sich schon gewisse hnlichkeiten deutlich machen: „die Seele aber ist von solcher Beschaffenheit, daß sie dies erleiden kann“ (100a13 f.). Das ist natrlich nur mçglich, wenn das Gedchtnis ber eine innere Struktur verfgt, in dem sich Beobachtungen an bestimmten Gegenstnden ,anreichern‘ lassen und nicht bloß eine ungeordnete Ansammlung stattfindet. In dieser Hinsicht kçnnte man das Gedchtnis auch als eine Quelle von Wissen ansehen und nicht nur als einen Aufbewahrungsort.53 (Unser Gedchtnis ist nicht bloß wie ein Gefß, sondern wie ein Haus mit verschiedenen Etagen und Zimmern.) Wenn hier unter den einzelnen Beobachtungen ein bestimmtes Maß an hnlichkeit erreicht ist, dann kann auf dieser Grundlage ein Erfahrungsurteil gebildet werden, z. B. kann der Arzt auf der Grundlage der bisherigen Beobachtungen an einer endlichen Anzahl von Patienten ein hnliches Krankheitsbild feststellen. Dieser bergang wird m. E. mit dem Ausdruck des ,in der Seele zur Ruhe kommenden Allgemeinen‘ beschrieben (Aqel¶samtor toO jahºkou 1m t0 xuw0 : 100a6 f.) und kann mit dem Bild der sich stabilisierenden Schlachtlinie illustriert werden (2m¹r st²mtor 6teqor 5stg : a12 f.).54 Durch einen kurzen Blick auf An. Post. I 31 kçnnen wir das bisher Dargelegte noch weiter verdeutlichen: In diesem Kapitel macht Aristoteles vor allem die Grenzen der Wahrnehmung deutlich; sie ist nicht in der Lage, eine allgemeine und notwendige Tatsache zu erfassen, auf deren Grundlage man die epistÞmÞ erwerben kçnnte. Aristoteles zeigt neben den Grenzen nun aber auch die epistemologische Relevanz der Wahrnehmung auf: „Aber dennoch wrden wir aus dem (aufmerksamen) Beobachten55, daß dies oft geschieht, das Allgemeine erjagend einen Beweis haben“ (88a3 f.).56 Hier setzt Aristoteles voraus, daß wir ein singulres Ereignis (toOto sulba?mom) beobachten kçnnen. In unserer bisherigen Interpretation kçnnen wir das so 53 In De memoria wird die epistemologische Funktion des Gedchtnisses nicht thematisiert (vgl. King 2004, 56). Vielmehr wird hier vorausgesetzt, daß das Gedchtnis Wahrnehmungs- und Wissensinhalte zum Gegenstand haben kann (vgl. Mem. 449b16 f. [tod· t¹ keujºm, t¹ heyqo¼lemom], b19 [1pist¶lg, aUshgsir], b21 [5lahem C 1he¾qgsem, Ejousem C eWdem], 450a12 ff., 451b3 [1pist¶lgm C aUshgsim]). 54 Zur epistemologischen Bedeutung der Termini Aqele?m und Rst²mai vgl. Int. 16b20 f.; Phys. VII 3. 55 heyqe?m kann bei Aristoteles nicht nur das Aktualisieren des erworbenen Wissens bezeichnen (vgl. De an. II 5, 417b5), sondern auch das Beobachten (EN VI 3, 1139b22). Vgl. LSJ 796: ,to observe‘. 56 oq lμm !kk’ 1j toO heyqe?m toOto pokk²jir sulba?mom t¹ jahºkou #m hgqe¼samter !pºdeinim eUwolem
5.2 Von der Wahrnehmung zur empeiria nach An. Post. II 19
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erklren, daß dieser Inhalt schon gedanklich erfaßt worden ist; der Beobachtende kennt schon die Begriffe ,Mond‘ und ,verfinstern‘. Dieses Ereignis wiederholt sich nun und Aristoteles sagt ausdrcklich, daß man dieses Ereignis als sich wiederholendes, d. h. als zu frheren beobachteten Ereignissen typ-gleiches, wahrnimmt (88a3 f.: 1j toO heyqe?m toOto pokk²jir sulba?mom). Das setzt das Gedchtnis voraus, in dem einzelne Beobachtungen bewahrt und datiert werden kçnnen und zwar in einer geordneten Weise: Die einzelnen gespeicherten Beobachtungen lassen sich durch andere typ-gleiche anreichern, so daß sich eine hnlichkeit abzeichnet. Aus dieser Vielzahl von Beobachtungen „erjagen“ wir dann, wie Aristoteles sagt, das Allgemeine (t¹ jahºkou hgqe¼samter), d. h. wir erfassen den allgemeinurschlichen Zusammenhang, dessen einzelne Instanzen wir bisher wahrgenommen haben. Es ist aus der bisherigen Verwendung von katholou in diesem Kapitel klar, daß hier das fr die epistÞmÞ konstitutive strikt allgemeine Zukommen gemeint ist (vgl. !e· ja· pamtawoO : 87b3257), dem das po» ja· mOm der einzelnen Wahrnehmung gegenbersteht. Mit dem „Erjagen“ dieses allgemein-urschlichen Zusammenhangs wechseln wir in die kognitive Haltung der epistÞmÞ und das zeigt sich darin, daß wir demonstrative Begrndungen geben kçnnen (t¹ jahºkou #m hgqe¼samter !pºdeinim eUwolem). Aristoteles kommt es bei diesem Sprung auf den Aspekt der Hufigkeit an: „Denn aus den vielen Einzelnen wird das Allgemeine klar“ (88a4 f.). Diese Hufigkeit kann aber nur methodisch erreicht werden, nmlich durch gezielte Beobachtungen an einem Gegenstand vor dem Hintergrund bisheriger Beobachtungen, fr die sich im Gedchtnis mit der Zeit eine Kohrenz abzeichnet. In diesem Sinne kann dann Aristoteles sagen, daß wir das Allgemeine „aus dem Sehen“ haben (88a14; II 2, 90a28 ff.). Welche Rolle die von Aristoteles fr jede Stufe herausgestellte Hufigkeit (An. Post. I 31, 88a3 ff.; II 19, 100a4 f.; Met. I 1, 981a5 f.) innerhalb seiner Wissenstheorie spielt, werden wir im nchsten Abschnitt noch klren. Wir haben uns in diesem Kapitel auf das Verhltnis zwischen Wahrnehmung und Erfahrung konzentriert. Die empeiria ist epistemologisch bedeutsam, weil sie selbst eine Form des Wissens darstellt: Sie stellt das Tatsachenwissen zur Verfgung (eQd´mai t¹ fti : Met. I 1, 981a29), von dem jede Wissenschaft, die nach den Ursachen und Prinzipien fragt (eQd³mai t¹ diºti), ausgehen muß (vgl. An. Post. II 1; Part. an. I 1, 639b9 ff.; I 5, 645b2 f ).58 Diese empirische Phnomenbasis ist nichts primitiv Gegebenes, 57 An. Post. I 4, 73b26 f.: jat± pamtºr te rp²qw, ja· jah’ art¹ ja· Ø aqtº 58 Vgl. Detel 2004, 5: „Knowledge of facts is, for Aristotle, the foundation of scientific knowledge.“
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5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs
sondern beruht, wie wir gesehen haben, auf einem Prozeß der Verallgemeinerung. Bevor wir uns dem Weg von der Erfahrung zur Kenntnis der Prinzipien zuwenden, wollen wir Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs vor dem Hintergrund seiner Metaphysik noch etwas genauer beleuchten. In diesem Zusammenhang werden wir auch auf den Inhalt des Erfahrungswissens genauer eingehen.
5.3 Vom ,fr uns Bekannteren‘ zum ,an sich Bekannteren‘ Ganz allgemein besteht fr Aristoteles der Wissenserwerb in einem bergang59 von einem kognitiven Zustand in den anderen, und zwar von Zustnden, die sich auf das ,fr uns Bekanntere‘ beziehen, zu solchen, die sich auf das ,an sich Bekanntere‘ beziehen.60 Das ,fr uns Bekanntere‘ oder ,Frhere‘, nmlich das durch die Wahrnehmung erfaßte Einzelne (kath’ hekaston), ist nicht dasselbe wie das ,an sich‘oder,der Natur nach Bekanntere‘ oder ,Frhere‘, nmlich das dem demonstrativen Wissen zugngliche Allgemeine (katholou: An. Post. I 2, 71b33 – 72a5). Bei Aristoteles bilden Wahrnehmbares und Wißbares zwei verschiedene ,Bereiche‘ der Wirklichkeit (vgl. De an. III 8, 431b21 f.), denen verschiedene kognitive Vermçgen bzw. Zustnde entsprechen, die durch jene Gegenstnde individuiert werden.61 Was Gegenstand der epistÞmÞ und des nous ist, kann nicht Gegenstand der Wahrnehmung und der doxa sein und was Gegenstand von Wahrnehmung und doxa ist, kann nicht im Sinne der epistÞmÞ oder des nous62 gewußt werden.63 Man kann nach Aristoteles also keine Meinungen ber Notwendiges und kein demonstratives Wissen ber Zuflliges haben.64 59 Vgl. das letaba¸meim in Met. VII 3, 1029b3, b12 (vgl. LSJ 1109: ,pass from one state to another‘), das pqo²ceim in Phys. I 1, 184a19, das pokk²jir 1n 1mamt¸ar letabak½m 6neyr in De an. II 5, 417a31 f.; vgl. auch Met. I 2, 983a11 – 21. 60 Vgl. An. Post. I 2, 71b33 – 72a5; II 19, 100a11; Phys. I 1, 184a16 – 23; Met. VII 3, 1029b3 – 12; Top. VI 4, 141b5 – 19; EN I 4, 1095b2 ff.; De an. II 2, 413a11 f. Dieser Grundsatz gilt sowohl fr das lamh²meim im engen Sinn des ,Belehrtwerdens‘ – als Gegenbegriff zur didasjak¸a (vgl. De an. II 5, 417b12 ff.)– als auch fr das lamh²meim im weiten Sinn, dem eigenstndigen Forschen und Entdecken (f¶tgsir ; erq¸sjeim ; vgl. De an. III 4, 429b9). 61 Vgl. Met. VII 15, 1039b28 – 1040a7; EN VI 2, 1139a6 – 17. 62 Im engen Sinn von An. Post. II 19, 100b9 – 15 und EN VI 6. 63 Hierzu Gerson 2009, 67 – 70. 64 Vgl. etwa EN VI 3, 1139b19 – 24; VI 5, 1140b27 f.; Met. VII 15, 1139b34 f. Wenn Aristoteles davon spricht, daß die Meinung ,unsicher‘ (!b´baiom : An. Post. I 33, 89a5) ist wie auch die Natur, dann bezieht sich das nicht auf den Grad des Fr-
5.3 Vom ,fr uns Bekannteren‘ zum ,an sich Bekannteren‘
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Wissen im Sinne der epistÞmÞ ist somit keine bestimmte Art von Meinung, die eine bestimmte Rechtfertigungsauflage erfllt und damit als Wissen bezeichnet werden darf.65 Vielmehr handelt es sich um zwei vollkommen verschiedene kognitive Zustnde, die sich jeweils auf zwei verschiedene Arten von Gegenstnden beziehen. Der allgemeine Grundsatz, daß sich der Wissenserwerb vom ,fr uns Bekannteren‘ zum ,an sich Bekannteren‘ vollzieht, besagt nicht nur, daß wir fr die Gewinnung demonstrativen Wissens bei der Wahrnehmung ansetzen (vgl. An. Post. II 19, 100a11) und uns – durch das ,seiner Natur nach weniger Bekannte‘ hindurch 66 – bis zu den Prinzipien, die fr die Wahrnehmung am weitesten entfernt sind (Met. I 2, 982a24 f.), schrittweise vorarbeiten mssen. Vielmehr macht Aristoteles hier auch eine Aussage ber den ontologischen Rang der jeweiligen Gegenstnde der Erkenntnis: Was ,fr uns bekannter‘ ist, nmlich die durch die Wahrnehmung erfaßten zuflligen Eigenschaften eines Gegenstands, die ihm ,hier und jetzt‘ zukommen, ist zugleich dasjenige, was ,an sich unklarer‘ oder ,der Natur nach weniger bekannt‘ ist.67 Entsprechend gilt: Was ,an sich bekannter‘ ist, nmlich die Ursachen und Prinzipien, die Gegenstnden einer bestimmten Spezies ,immer und berall‘ zukommen und durch die erklrt werden kann, warum dieser bestimmten Spezies bestimmte Eigenschaften notwendig zukommen, ist gleichzeitig dasjenige, was ,fr uns unklar‘ oder schwieriger zu erkennen ist. Diese Unterscheidung kommt, wie in Kap. 1.2 schon kurz dargelegt wurde, durch zwei Perspektiven zustande: Aus der Perspektive dessen, was sich uns unmittelbar erschließt (,symbebekotische Perspektive‘), sind uns die zuflligen Eigenschaften einer Sache bekannter als ihre Prinzipien. Aus der Perspektive dessen, was ontologisch grundlegender und somit fr die Begrndung einer Tatsache oder eine Definition68 auch berzeugender ist (,ousiale Perspektive‘), sind dagegen die Ursachen und Prinzipien bekannter.
65
66 67 68
wahrhaltens, sondern auf ihren spezifischen Gegenstand, dasjenige, was sich auch anders verhalten kann (1mdewºlemom ja· %kkyr 5weim). Wenn jemand hier einen ,guten Grund‘fr seine Meinung vorbringt und diese somit zu ,Wissen‘macht, dann bleibt er in demselben Meinungs- oder Glaubenszustand, in dem er vorher war. Er erfllt bloß eine von der epistemischen Gemeinschaft festgelegte Rechtfertigungsbedingung, die ihn darin legitimiert, seine Meinung als ,Wissen‘ oder ,Wissensanspruch‘ zu deklarieren (vgl. Gerson 2009, 4 f.). Vgl. Met. VII 3, 1029b4: di± t_m Httom cmyq¸lym v¼sei Vgl. Phys. I 1, 184a19 f.; De an. II 2, 413a11; Met. VII 3, 1029b4. Aristoteles spricht hier auch von kognitiven Zustnden, die weniger Genauigkeit besitzen (An. Post. II 19, 99b33 f.). Vgl. Top. VI 4, 141b5 – 19.
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5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs
Ontologisch gesehen besteht also eine Abstufung zwischen Prinzipien und zuflligen Eigenschaften: „Das fr jeden Einzelne Bekannte und Erste ist oft nur schwach (an sich) erkennbar und besitzt wenig oder nichts vom Seienden“ (Met. VII 3, 1029b8 ff.).69 Diese Abstufung wird von Aristoteles nun aber nicht im Sinne zweier vollkommen getrennter ontologischer Bereiche, dem des Essentiell-Notwendigen und dem des Akzidentell-Zuflligen, konzipiert.70 Vielmehr wird der Unterschied zwischen dem Notwendigen und dem Akzidentellen in Form verschiedener Arten von Eigenschaften, nmlich essentiellen und zuflligen, in den Gegenstand selbst verlegt, so daß es von demselben Gegenstand in jeweils anderer Hinsicht doxa und epistÞmÞ geben kann (An. Post. I 33). Das Voranschreiten (metabainein) aus dem kognitiven Zustand der Wahrnehmung oder der Meinung (doxa) in den des Wissens (epistÞmÞ) oder der Einsicht (nous) ist also durchaus ein berstieg aus dem Bereich des Zuflligen in den des Notwendigen und Prinzipiellen – allerdings ein immanenter, der innerhalb des Gegenstands bleibt und an diesem verschiedene Arten von Eigenschaften erfaßt.71 69 t± d’ 2j²stoir cm¾qila ja· pq_ta pokk²jir Aq´la 1st· cm¾qila, ja· lijq¹m C oqh³m 5wei toO emtor. Aristoteles kennt innerhalb seiner Metaphysik Rangunterschiede, die sich aus der Erfllung bestimmter Eigenschaften ergeben und durch Komparationsformen von t¸liom, !cahºm oder he?om zum Ausdruck gebracht werden: So stellt nach Met. VI 1 die gçttliche Substanz die „wrdigste Gattung“ des Seienden dar (1026a21), da sie abgetrennt (wyqistºm) und unvernderlich (!j¸mgtom) ist; innerhalb der Wissenschaften nimmt daher die Theologie den ersten Rang ein. Die Wrde des Gegenstands bemißt sich hier in erster Linie an der Eigenschaft des Abgetrenntseins: Wenn es nmlich neben den natrlichen Substanzen keine andere geben wrde, wrde die Physik und nicht die Mathematik den ersten Platz beanspruchen (1026a27 ff.); innerhalb der mathematischen Wissenschaften steht die Astronomie am hçchsten, weil sie sich mit den selbstndigen ewigen Substanzen beschftigt (Met. XII 8, 1073b5 – 8; vgl. Liske 2005, 102 f.). Fr andere ,Wrdezuschreibungen‘ vgl. Part. an. I 5; Resp. 477a14 – 25; Gen. an. II 3, 736b32 f.; Protr. B 23, B 61. 70 Zu dieser traditionellen Interpretation einer mit einer ,Zwei-Welten-Ontologie‘ korrelierten Epistemologie bei Platon vgl. Cornford 1935, dagegen Ebert 1974. 71 Wieland (1992) ist hier insofern zuzustimmen, als es sich nicht um einen berstieg aus einer ,subjektiven Erkenntnisordnung‘ in eine ,objektive Seinsordnung‘ handelt und man in beiden Stadien stets auf denselben Gegenstand bezogen bleibt: „Das, was zunchst uns bekannter ist und was spter von Natur aus bekannter ist, bezieht sich auf ein und dieselbe Sache – nur daß sie das eine Mal aus Prinzipien erkannt ist, das andere Mal noch nicht […] Denn auch was uns zunchst bekannt ist, ist die ,Sache selbst‘, nur ist sie noch nicht erkannt“ (73). Wenn man Aristoteles’ Verstndnis von der Natur des Wissens als extensional auffaßt, ist hier dennoch von einem berstieg im eigentlichen Sinn zu sprechen, nmlich aus dem ,akzidentellen Vorhof‘ in den ,essentiellen Kern‘ der Sache. Gegenber Wieland ist zu bezweifeln, wie das ,an sich
5.3 Vom ,fr uns Bekannteren‘ zum ,an sich Bekannteren‘
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Ontologisch wird nun dieser Hiat zwischen ,akzidentellem Vorhof‘ und ,essentiellem Kern‘ durch die notwendigen Akzidentien oder per se-Akzidentien (t± jah’ art± sulbebgjºta) berbrckt: Jede konkrete Substanz besitzt neben ihren essentiellen und zuflligen Eigenschaften auch ,notwendige Akzidentien‘: Sie kommen einer bestimmten Art notwendig zu – in ihrer Definition kommt das Subjekt, dem sie zukommen, vor (An. Post. I 4, 73a37 ff.) –, ohne fr diese aber wesentlich bzw. definitorisch relevant zu sein. Diese aus dem Wesen eines Gegenstands ,abgeleiteten Eigenschaften‘72 sind gewissermaßen die ,Auslufer‘ der substantiellen Form innerhalb des Bereichs des Kontingent-Mannigfaltigen und bilden einen „Zwischenbereich, in dem sich sulbebgjºr und jah’ artº durchdringen“.73 Als solche machen die per se-Akzidentien berhaupt erst eine Wissenschaft des Empirischen mçglich, insofern die empirisch feststellbaren notwendigen, aber nicht-essentiellen Eigenschaften die demonstranda eines apodeiktischen Zusammenhangs bilden: Sie sind jene Eigenschaften, deren notwendiges und schlechthin allgemeines Zukommen jede Wissenschaft (epistÞmÞ) aus der Kenntnis der Ursache ihres Gegenstands beweisen muß.74 Wissen im Sinne der epistÞmÞ beschrnkt sich dann nicht mehr auf ein bloß definitorisches Wissen – d. h. auf die Kenntnis der essentiellen Eigenschaften einer Bekanntere‘ in unserem Sprechen oder unserem Vorverstndnis ber die Sache enthalten sein soll (79, 85, 97). In diesem Sinn kann auch gegenber der kohrentistischen Interpretation von Nussbaum (1986) geltend gemacht werden, daß der Wissenserwerb nicht bloß in der richtigen Ordnung der phainomena besteht, in der zwischen tiefen und abgeleiteten Meinungen unterschieden wird, sondern in einem wirklichen berstieg des ,fr uns Bekannteren‘ auf das ,an sich Bekanntere‘ hin. 72 Vgl. Ross 1924, 349: „which yet flows from the nature of the subject“. In der Tradition spricht man auch davon, daß diese notwendigen Eigenschaften durch die Prinzipien der Substanz verursacht sind, whrend die zuflligen Eigenschaften ihre Ursache in der konkreten Materie haben vgl. Thomas von Aquin, De ente et essentia c.6. 73 Vgl. Tugendhat 1958, 50. 74 Vgl. An. Post. I 7, 75b1 f.; I 10, 76b3 f.; I 22, 84a11 f.; Part. an. I 5, 645b1 f.; Met. III 2, 997a19 ff. Hierzu Tugendhat 1958: „Indem das sulbebgjºr das jah’ artº in sich aufnimmt, das ursprnglich die Prsenz als solche im Gegensatz zum sulbebgj´mai auszeichnet, wird durch das sich daraus ergebende sulbebgj¹r jah’ artº der Boden gelegt fr die in den Zweiten Analytiken entwickelte neue Form von Wissenschaft, deren Wesen nicht mehr darin besteht, das Einfache bloß als solches definitorisch zu schauen, sondern in seiner Zwiefltigkeit und d. h. seinem Vorliegen zu begrnden“ (37); „Eben darin unterscheidet sich aber gerade das neue eWmai jat± sulbebgjºr vom bisherigen, daß das em, von dem es gesagt wird, sich nicht in der Prsenz, die es jah’ artº ist, erschçpft, sondern von sich aus auf die Mannigfaltigkeit weiterer Bestimmungen angelegt ist“ (52).
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5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs
Sache, wie sie in der unvermittelten Prmisse eines Beweises logisch entfaltet werden –, sondern bezieht sich auf ein komplexes ontologisches Feld, in dem das Zukommen bestimmter Merkmale, die einer Art als solcher zukommen, aus ihren essentiell-urschlichen Strukturen erklrt wird. Aristoteles kennt aber nicht nur auf der ontologischen Ebene eine Brcke zwischen aisthÞta und epistÞta, sondern auch auf der Seite der kognitiven Zustnde, was fr die Interpretation von An. Post. II 19 von entscheidender Bedeutung ist: Die per se-Akzidentien sind schon der Erfahrung (empeiria) zugnglich, wenn auch nur in der Weise, daß die Erfahrung ein bloß komparativ-allgemeines Zukommen einer Eigenschaft feststellen kann, das auf einer endlichen Zahl frherer Beobachtungen basiert. Wir wissen in diesem Stadium noch nicht, ob allen Individuen dieser Art diese Eigenschaft notwendig zukommt, ob es sich also um eine Allgemeinheit im strengen Sinn (von An. Post. I 4, 73b26 f.) handelt. Das wissen wir erst, wenn wir das Wesen der Sache oder ihr Prinzip erkannt haben: Hier wird das Prinzip in seiner internen Struktur verstanden, wodurch wir auch erkennen, in welchen notwendigen Eigenschaften sich dieses Prinzip im Gegenstand niederschlgt und wie diese Eigenschaften mit dem Prinzip kausal zusammenhngen. Eine in der Erfahrung als wiederkehrend festgestellte Eigenschaft kann sich also nach dem Erkennen des Wesens, quasi in ,ousialer Perspektive‘, als eine notwendige herausstellen. Damit kçnnen wir aber schon in der Erfahrung, wenn auch unbewußt, die ,urschlichen Auslufer‘ des Wesens erfassen, betreten also schon hier den Boden der epistÞta, wenngleich wir jene erst im Licht des Prinzips oder Wesens als solche erkennen. Die per se-Akzidentien sind aber nicht nur dasjenige, in deren Wissen sich die schon erworbene Prinzipien- oder Wesenserkenntnis ußert – wenn man also die Ursache kennt, warum sie einer bestimmten Art notwendig zukommen –, sondern sind auch umgekehrt fr die Kenntnis der Prinzipien relevant: Haben wir diejenigen Eigenschaften, die sich uns an Gegenstnden einer bestimmten Art innerhalb der Erfahrung als immer wiederkehrende prsentieren, hinreichend untersucht, so daß wir von ihnen Erklrungen geben kçnnen, dann erçffnet uns dieses Wissen nach Aristoteles auch ein Wissen ber die Ursachen dieser notwendigen Eigenschaften.75 Ohne an dieser Stelle genauer 75 „…sondern auch die Eigenschaften leisten umgekehrt einen großen Beitrag zum Wissen des ,Was es ist‘: Denn wenn wir in der Lage sind, ber die Eigenschaften, wie sie uns erscheinen, Erklrungen geben zu kçnnen, entweder ber alle oder die meisten, dann werden wir auch ber das Wesen am besten Erklrungen geben kçnnen“ (De an. I 1, 402b21 – 25). Die Przisierung „ber alle oder die meisten“ weist auf die Erfahrung hin.
5.3 Vom ,fr uns Bekannteren‘ zum ,an sich Bekannteren‘
209
ausfhren zu kçnnen, wie Aristoteles diesen allgemeinen methodologischen Grundsatz etwa in seiner Theorie der Seele oder in anderen Disziplinen einlçst, kann man hier doch so viel sagen: Aristoteles deutet ein induktives Verfahren an, in dem wir – im Sinne des ,Beweis des Daß‘ (An. Post. I 13) – aus einer Wirkung auf ihre Ursache zurckschließen. Die Ursache wird hier bloß in ihrer Existenz erschlossen (oder auch „erjagt“: An. Post. I 31, 88a3 f.), nicht aber schon wie im ,Beweis des Warum‘ in ihrer internen Struktur verstanden. Man weiß induktiv, daß x die Ursache oder das Prinzip fr p sein muß, aber man kennt x selbst noch nicht; x ist einem ,an sich’ noch weniger bekannt als p. Um ein Prinzip als Prinzip zu erkennen, d. h. die Weise, wie es ,arbeitet’ oder wie es mit dem Prinzipiierten verflochten ist, bedarf es, wie Kosman und Detel zu Recht betonen, der demonstrativen Praxis76, in der sich Prinzipien als erklrungskrftig zeigen.77 Diese durch die Erfahrung gewhrleistete epistemologische Brcke ist berhaupt erst dadurch mçglich, daß das Denken (im generischen Sinn von De an. III 3, 427b15 f.) in den Bereich des Kontingenten hineinreicht. Die beiden Typen des Erkennens, Wahrnehmen und Denken, sind gerade nicht mit zwei strikt voneinander getrennten Gegenstandsbereichen korreliert: Im Modus der doxa und der phronÞsis kann sich der Intellekt auch auf das Kontingente beziehen, indem er dieses begrifflich charakterisiert und darber ein Urteil fllt. Trotz des wesentlichen Unterschieds zwischen aisthÞta und epistÞt ist damit eine Kontinuitt zwischen den verschiedenen kognitiven Zustnden oder Kenntnissen in An. Post. II 19 garantiert. An dieser Stelle gewinnen wir ein weiteres Argument gegen die These, Aristoteles vertrete eine empiristische Epistemologie, in welcher man den Anspruch, die Prinzipien erfaßt zu haben, durch einen induktiven Rckgang 76 Damit zeigt sich, daß der Beweis auch schon am Erwerb der Prinzipienkenntnis beteiligt ist und nicht bloß aus dieser resultiert: zum einen als , Beweis des Daß’ (An. Post. I 13), der von einem ,fr uns bekannteren’ Phnomen auf die Existenz der ,an sich bekannteren’ Ursache zurckschließt, zum anderen in der Weise des Konstruierens mçglichst erklrungskrftiger ,Beweise des Warum’, durch die wir die Prinzipien als solche verstehen. Vgl. Kosman 1973, 389: „For the way in which we come to see whether explanations are explanations, i. e. come to recognize principles as principles, just is the act of explaining. Ultimately for Aristotle the process by which we explain is the process by which we acquire and grow to understand principles; it is in employing them in the act of explanation that we come to see their truth, recognize their explanatory power, and thus understand them qua principles.“ 77 Im Unterschied zu Detel vertrete ich die Meinung, daß die demonstrative Praxis nicht dazu dient, ein Prinzip erst als solches zu etablieren oder die Prinzipienkenntnis berhaupt erst zu rechtfertigen. Vielmehr zeigt es sich in der demonstrativen Praxis, daß man im Zustand der Prinzipienkenntnis ist.
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5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs
auf basale Wahrnehmungseindrcke rechtfertigt. Das wrde nmlich bedeuten, daß man den Anspruch, etwas ,an sich Bekannteres‘ erkannt zu haben, durch etwas ,an sich Unbekannteres‘ oder ,Unklareres‘ begrnden mßte. Das wre aber nicht nur, wie wir gleich sehen werden, Indiz mangelnder Bildung (apaideusia). Vielmehr ist es fr Aristoteles unmçglich, daß auf diese Weise Wissen im eigentlichen Sinn zustandekommt: „Dann nmlich hat jemand Wissen, wenn er auf bestimmte Weise berzeugt ist und ihm die Ausgangspunkte (archai) bekannt sind. Sind ihm diese nicht bekannter als die Schlußfolgerungen, wird er das Wissen nur zufllig haben“ (EN VI 3, 1139b33 ff.; bers. Wolf ). In diesem Fall wrde keine ,wissenschaftliche Vorgehensweise‘ vorliegen (Top. VI 4, 141b15 ff.). Die Prinzipien gewinnen ihren epistemischen Status nicht durch etwas Rangniederes, vielmehr sind sie ,durch sich selbst bekannt‘ oder ,berzeugend‘ (Top. I 1, 100b1 f.; Phys. II 1, 193a3 – 6), d. h. sie kçnnen nur durch etwas von demselben ontologischen Rang expliziert werden, nmlich in einer ,unvermittelten Prmisse‘.78 Die Wahrnehmung und das auf ihr aufbauende induktive Verfahren kçnnen also nur ein notwendiges Hilfsmittel sein, um in den kognitiven Zustand der Prinzipienkenntnis zu gelangen79, nicht aber ein Legitimationsgrund dafr, eine bestimmte Meinung als Wissen zu deklarieren. Die Vielzahl hnlicher Beobachtungen ist nicht der Grund, um die Einsicht in einen allgemein-urschlichen Zusammenhang zu legitimieren, sondern die Ursache, durch die man in den Zustand der Prinzipien-Kenntnis gelangt. Wahrnehmung und Induktion fhren zu dieser Kenntnis hin (epagein) oder plausibilisieren diese nachtrglich80, kçnnen aber nicht deren Wahrheit rechtfertigen.81 Fr Aristoteles ist die Rechtfertigung nicht konstitutiv fr die epistÞmÞ; wir mssen nicht eine bestimmte Art von Rechtfertigung – im Sinne einer,epistemischen Pflicht‘ – geben, um eine Meinung als Wissen bzw. Wissensanspruch bezeichnen zu drfen. Vielmehr ist das Geben einer Erklrung eine Konsequenz daraus, daß man in einem be78 Vgl. Burnyeat 1981, 111. 79 Vgl. An. Post. I 31, 88a3 f.: „Aber dennoch wrden wir aus dem (aufmerksamen) Beobachten, daß dies oft geschieht, das Allgemeine erjagend einen Beweis haben“ (88a3 f.). 80 Vgl. Met. VI 1, 1025b11: aR l³m aQsh¶sei poi¶sasai aqt¹ d/kom 81 An dieser Stelle zeigt sich auch, daß die von Aristoteles vorgesehene berprfung und Korrektur unserer Wahrnehmungsinhalte durch die Vernunft (vgl. Kap. 4.4) auch ohne die Einfhrung apriorischer Inhalte auskommt: Die Einsichten der Vernunft werden zwar im Ausgang von der Wahrnehmung erworben, aber nicht durch diese legitimiert: Wenn wir im Zustand der epistÞmÞ und des nous sind, dann sind diese als solche unabhngig von ihrer perzeptuellen Basis.
5.3 Vom ,fr uns Bekannteren‘ zum ,an sich Bekannteren‘
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stimmten kognitiven Zustand ist.82 Das Wissen ist diskursiv einlçsbar, was sich zum einen darin zeigt, von den Prinzipien selbst eine nicht-demonstrative Erklrung geben zu kçnnen, indem man deren interne Struktur in einer essentiellen Prdikation bzw. einer ,Definition des Unvermittelten‘ freilegt. Diese Erklrung bewegt sich auf derselben Rangstufe wie das Prinzip selbst, der Ebene des ,an sich Bekannteren‘. Zum anderen ußert sich die Prinzipienerkenntnis in der Fhigkeit, berzeugende Erklrungen fr das Zukommen der notwendigen Akzidentien zu einer bestimmten Gattung zu geben (De an. 402b25 – 403a2); in dieser explanatorischen Leistung – und nicht in einem besonderen Evidenzerlebnis – zeigt sich erst ein Prinzip als Prinzip. Schließlich zeigt sich die Prinzipienkenntnis auch an der Fhigkeit zu lehren, die ja von der Kenntnis der Ursachen abhngt (Met. I 2, 982a28 ff.). Dennoch sind Aristoteles das ,Fordern einer Begrndung‘ (kºcom !nioOm) wie das ,Geben einer Begrndung‘ (kºcom didºmai) nicht unbekannt. Beide sind jedoch nicht intrinsischer Teil seiner Konzeption von epistÞmÞ, sondern Gegenstand der Bildung (paideia).83 Sie ist neben dem demonstrativen Wissen eine bestimmte Weise (tropos) kognitiver Kompetenz in einem bestimmten Wissensbereich (Part. an. I 1, 639a1 – 5).84 Nimmt man die vielen verstreuten Bemerkungen zur paideia zusammen, lßt sich sagen, daß der ber paideia Verfgende beurteilen kann, was einen Beweis erfordert und was nicht und wenn ja, in welcher Weise. Als eine solche ,wissenschaftstheoretische Tugend‘ zeigt sich die paideia in folgenden Fllen: (i) Dinge, die berhaupt keines Beweises bedrfen. So ist es fr Aristoteles ein Mangel an Bildung, fr den Satz vom Widerspruch als „das sicherste unter allen Prinzipien“ (Met. IV 3, 1005b22 f.) einen Beweis zu verlangen: „Manche verlangen nun aus Mangel an Bildung (!paideus¸a), daß man auch dies [nmlich den Satz vom Widerspruch, S.H.] beweist: Denn Mangel an Bildung ist es, nicht zu wissen, wofr ein Beweis zu suchen ist und wofr nicht. Denn gnzlich ist es unmçglich, daß es von allem einen Beweis gibt (denn das wrde ins Unendliche gehen, so daß es so keinen Beweis geben wrde)“ (Met. IV 4, 1006a5 – 9). 82 Vgl. Gerson 2009, 6, 29. 83 Hierzu grundstzlich Detel 2004, 13 f. 84 „Bei jeder Art von theoretischer Einsicht und jedem Forschungsgebiet, mçgen sie banaler oder angesehener sein, gibt es offensichtlich zwei verschiedene Weisen, in denen man sie zu eigen haben kann, von denen man die eine zu Recht (wissenschaftliche) Sachkenntnis nennt, die andere Bildung von einer bestimmten Art (d¼o va¸momtai tqºpoi t/r 6neyr eWmai, ¨m tμm l³m 1pist¶lgm toO pq²clator jak_r 5wei pqosacoqe¼eim, tμm d’ oXom paide¸am tim²)“ (bers. Kullmann).
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5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs
Dennoch ist es mçglich, dieses hçchste Prinzip durch einen elenchos zu rechtfertigen (Met. IV 4, 1006a11 – 18). Ebenfalls lcherlich ist es, einen Beweis dafr zu suchen, daß es physis gibt. Dies ist vielmehr ,offensichtlich‘ (phaneron); wer aber Offensichtliches durch Nicht-Offensichtliches beweisen will, kann nach Aristoteles nicht beurteilen (krinein), was „durch sich selbst und was nicht durch sich selbst bekannt“ ist (t¹ di’ art¹ ja· lμ di’ art¹ cm¾qilom : Phys. II 1, 193a3 – 6). Die Unbeweisbarkeit gilt auch fr den Zustand des Gesundseins und Wachens: Wer an der Mçglichkeit zweifelt, daß es eine ,kanonische Menge‘ gibt, die entscheidet, wer gesund und wer berhaupt der richtig Beurteilende (jqimoOmta aqh_r) ist und dafr einen Beweis fordert, der gleicht dem, der fragt, ob wir jetzt schlafen oder wachen (Met. IV 6, 1011a4 – 7). Alle diese Zweifel lassen sich auf denselben Fehler zurckfhren: „Diese Leute verlangen, daß es fr alles eine Begrndung (kºcor) gebe; denn sie suchen ein Prinzip und wollen dieses durch einen Beweis (!pºdeinir) erfassen […] sie suchen eine Begrndung fr etwas, wofr es keine Begrndung gibt; denn das Prinzip des Beweises ist nicht ein Beweis“ (Met. IV 6, 1011a8 – 13; bers. Szlezk).
Damit fallen auch diese skeptischen Fragestellungen unter den Mangel an Bildung (!paideus¸a). (ii) Dinge, die in einem unterschiedlichen Modus begrndbar sind. Hierunter fallen die Aussagen zur „gegenstandsgerechten Genauigkeit“85 : Whrend in der Mathematik Beweise im Modus der strengen Notwendigkeit ihrem Gegenstand angemessen sind, sind es in den Wissenschaften, die sich auf das Kontingente beziehen, nur Begrndungen im Modus des hs epi to poly (vgl. auch Met. II 3, 995a12 – 17). „Denn einen gebildeten Menschen erkennt man daran, daß er in jeder Gattung der Dinge nur so viel Genauigkeit sucht, wie die Natur der Sache zulßt: Von einem Mathematiker bloße Plausibilittsargumente zu akzeptieren ist hnlich verfehlt, wie von einem Redner strenge Beweise zu verlangen“ (EN I 1, 1094b23 – 27; bers. Wolf )
Außer dieser Beurteilungsfhigkeit unterschiedlicher Beweisbedrftigkeit fllt unter die paideia auch die Kompetenz zu beurteilen, ob etwas in methodischer Hinsicht treffend dargelegt ist oder nicht (Part an. I 1, 639a6 f.).
85 Hierzu Hçffe 1996, Teil II.
5.4 Von der empeiria zu den Prinzipien
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5.4 Von der empeiria zu den Prinzipien In der Frage, wie wir von der Erfahrung in den kognitiven Zustand der Prinzipienkenntnis kommen, in dem wir wissen, warum einer bestimmten Art bestimmte Eigenschaften notwendig zukommen, scheint es so zu sein, daß sich Aristoteles auf der theoretischen Ebene – also im Sinne einer allgemeinen Reflexion auf die epistemische Praxis – nicht festlegt. Aus mehreren Stellen wird deutlich, daß er fr die Prinzipienforschung eine Vielzahl von Methoden vorsieht86, die sich jeweils nach der Art des Gegenstands richten: „Man darf auch nicht berall die Ursache auf die gleiche Weise suchen“ (EN I 7, 1098a33 f.; bers. Wolf ); „Denn man muß fr jedes einzelne Gebiet herausfinden, welches die (angemessene) Weise (der Behandlung) ist“ (De an. I 1, 402a18 f.). Diese Leerstelle innerhalb seiner Theorie des Wissenserwerbs zeigt sich nicht nur in der Lcke zwischen empeiria und dem ,Prinzip von Kunst und Wissenschaft‘ in An. Post. II 19, sondern auch in der Vieldeutigkeit des Begriffs der epaggÞ 87: Hat es manchmal den Anschein, daß es sich hier bloß um eine nachtrgliche Verdeutlichung eines allgemeinen Gesichtspunkts an einzelnen Fllen handelt88, so kçnnte man ebenso gut den Eindruck gewinnen, die Induktion sei in einer anspruchsvolleren Weise zu verstehen, nmlich als ein Mittel, das uns zur Erkenntnis der Ursache hinfhrt.89 Hier fllt grundstzlich auf, daß Aristoteles zwar einen ,wissenschaftlichen Schluß‘ (syllogismos epistÞmonikos), nmlich den Beweis (apodeixis), kennt (An. Post. I 2, 71b17 f.), der in den Zustand des demonstrativen Wissens (epistÞmÞ) fhrt, nicht aber komplementr zu diesem eine ,wissenschaftliche Induktion‘ (also eine epaggÞ epistÞmonikÞ), die in den Zustand der Prinzipienkenntnis (nous) fhrt. Diese Stelle bleibt also leer und muß je nach Art des Gegenstands durch verschiedene Verfahrensweisen gefllt werden; wir sind auf die jeweiligen Einzeldisziplinen verwiesen. Dennoch zeigte sich im Lauf der bisherigen Untersuchung, daß sich einige allgemeine Richtpunkte fr diesen methodisch geregelten bergang zur Prinzipienkenntnis herausarbeiten lassen: Aus Aristoteles’ Charakterisierung der Prinzipien eines Beweises (An. Post. I 2, 71b20 – 23) lassen sich nmlich zwei Stufen der Erkenntnis eines Prinzips 86 Top. I 2; EN I 7; De an. I 1. Hierzu Wieland 1992, 52 f. 87 Ross 1949, 48: „He uses the word to mean a variety of mental processes, having only this in common, that in all there is an advance from one or more particular judgements to a general one.“ Vgl. auch Wieland 1992, 100. 88 Vgl. An. Post. I 1, 71a8 f.; Met. VI 1, 1025b15 f. 89 Vgl. An. Post. I 18; II 19, 100b4; EN I 1, 1095a31 f.; VI 3, 1139b27 – 31.
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5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs
gewinnen, die Kosman als Erkenntnis der bloßen Wahrheit oder Existenz eines Prinzips und der Erkenntnis des Prinzips als Prinzips – insofern man hier erkennt, in welcher Weise das Prinzip dem Prinzipiierten zugehçrig ist – unterschieden hat.90 Fr die erste Stufe kçnnen wir gemß An. Post. I 13 den ,Beweis des Daß’, dessen Unterprmisse durch Induktion gewonnen wird (I 13, 78a34 f.), annehmen, durch den wir ausgehend von bestimmten Wirkungen die Existenz einer bestimmten Ursache erkennen (oder „erjagen“: I 31, 88a3 f.). Dieses Wissen findet aber erst dann seine Vollendung, wenn man die urschlichen Beziehungen zum Verursachten durchschaut und damit die Fhigkeit besitzt, Tatsachen in einem bestimmten Bereich durch jene Ursache zu erklren. Erst dann hat man ein Prinzip als Prinzip erkannt. Fr diese beiden Stufen der Prinzipienerkenntnis ist nun in bestimmten Bereichen das Erfahrungswissen in besonderer Weise relevant. Abschließend sollen hierfr kurz zwei Beispiele angefhrt werden und daraufhin befragt werden, welche epistemische Rolle hier die generalisierten Beobachtungen spielen. Es ist eine grundlegende methodische Maxime des Aristoteles, zuerst die Tatsachen oder Phnomene (t¹ fti, t± vaimºlema) festzustellen und erst dann nach den Ursachen (t¹ diºti) dieser Phnomene zu fragen.91 (Ich werde mich im Folgenden auf die empirischen Phnomene beschrnken, von denen die einzelnen Wissenschaften der wahrnehmbaren Substanzen ausgehen, und die phainomena im Sinne der akzeptierten Meinungen92 und die mit diesen verbundenen Verfahren93 ausklammern.) Die phainomena sind nun alles andere als ein primitiv Gegebenes, sie stellen vielmehr jene generalisierten Beobachtungen dar, die wir schon als Inhalt der empeiria kennengelernt haben (An. Pr. I 30, 46a17 – 27).94 Nach Aristoteles muß die fr jede Wissenschaft konstitutive Warum-Frage (t¹ di± t¸) immer an eine gegebene Tatsache und nicht an einen bloßen Gegenstand gerichtet sein (Met. VII 17, 90 Kosman 1973, 383. 91 Fr diese Maxime vgl. An. Post. II 1; II 2, 89b23 – 31; II 8, 93a17 ff.; Part.an. I 1, 639b9 ff., 640a14 f.; I 5, 645b2 f. 92 Vgl. EN VII 1, 1145b3, hierzu genauer Owen 1961, 84 ff. Fr eine explizite Unterscheidung dieser beiden Bedeutungen von phainomena vgl. Cael. III 4, 303a22 f.: pokk± t_m 1mdºnym ja· t_m vaimol´mym jat± tμm aUshgsim
93 Hierzu Rapp 2002 II, 300 – 308. 94 Aristoteles ordnet dem ,Wissen des Daß‘ (eQd´mai t¹ fti) und dem ,Wissen des Warum‘ (t¹ diºti) zwei verschiedene Teile innerhalb einer Wissenschaft oder sogar zwei verschiedene Wissenschaften zu (An. Post. I 13): So versorgt etwa die Faktensammlung (auch Rstoq¸a : Hist.an. I 6, 491a12) von den Himmelserscheinungen die bergeordnete Astronomie mit den notwendigen Phnomenen (t± vaimºlema pq¹r !stqokocij¶m : 78b39; B !stqokocijμ 1lpeiq¸a : An. Pr. 46a19 f.).
5.4 Von der empeiria zu den Prinzipien
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1041a10 f.). Die Phnomene mssen also schon immer in der Zweigliedrigkeit des t· jat± timºr gegeben sein, damit eine sinnvolle Untersuchung mçglich wird. Solche Phnomene, die in dieser Zweigliedrigkeit den Gegenstand der Forschung bilden, beinhalten nicht bloß irgendwelche Eigenschaften der Gegenstnde, sondern, wie wir schon sahen, notwendige Eigenschaften. So formuliert Aristoteles in Part. an. I 1 seine methodische Maxime folgendermaßen: „Es ist aber notwendig, zuerst die Eigenschaften in jeder Gattung durchzugehen, welche allen Lebewesen an sich zukommen, danach aber die Ursachen von diesen versuchen durchzugehen“ (Part. an. I 5, 645b2 f.; vgl. auch I 1, 639b9 ff.; 640a14 f.). Die phainomena kçnnen nun in zwei Weisen fr den Weg zu den Prinzipien relevant sein. (a) In den empirischen Wissenschaften des sublunaren Bereichs kçnnen die Phnomene potentiell urschliche Tatsachen, also allgemein-urschliche Zusammenhnge, enthalten. Daher ist es Aufgabe der Wissenschaft, die Phnomene mçglichst vollstndig zu erheben, um dann die urschlichen Beziehungen zwischen diesen Phnomenen zu entdecken; es geht also dann darum zu prfen, welche Tatsachen unvermittelte (also nicht mehr beweisbare) essentielle Zusammenhnge beschreiben, die fr andere Tatsachen urschlich sind.95 Als Methode hierfr ist die Suche nach immer hçheren Mittelbegriffen anzusehen, die sich durch ihre Erklrungskraft als Prinzipien zeigen kçnnen (An. Post. I 23).96 „Daher ist es Aufgabe der Erfahrung, die Prinzipien ber jedes Einzelne bereitzustellen. Ich meine z. B., daß die astronomische Erfahrung (die Prinzipien) der astronomischen Wissenschaft (bereitstellt). Denn nachdem die Phnomene hinreichend erfaßt wurden, wurden auf diese Weise die astronomischen Beweise gefunden. Ebenso aber verhlt es sich auch bei jeder anderen Kunst und Wissenschaft: Wenn somit die Eigenschaften, die jedem einzelnen zukommen, erfaßt worden sind, ist es dann unsere Aufgabe, unverzglich die Beweise darzulegen. Denn wenn nichts gemß der Sachkunde von den wahrhaft den Dingen zukommenden Eigenschaften ausgelassen wurde, werden wir imstande sein ber alles, ber das ein Beweis mçglich ist, diesen zu finden und zu beweisen, von dem es aber von Natur aus kein Beweis gibt, dieses deutlich zu machen“ (An. Pr. I 30, 46a17 – 27, bers. nach Kullmann).
In diesem Sinne kann auch der methodische Grundsatz aus der Nikomachischen Ethik verstanden werden: „Man darf auch nicht berall die 95 Vgl. Kullmann 1998, 60 f: „Das bedeutet, daß das Sammeln der Fakten […] nur a potiori als das Ermitteln der Prinzipien (!qwa¸) angesehen werden kann; d. h. nach dem Sammeln von Fakten ist eine Prfung der Fakten notwendig. Man muß herausfinden, welche Fakten als Beweise fr andere Fakten dienen kçnnen.“ 96 Kullmann 1998, 61.
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5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs
Ursache auf die gleiche Weise suchen; in einigen Fllen gengt es vielmehr, das Daß richtig aufgezeigt zu haben“ (I 7, 1098a33 ff.; bers. Wolf ); „Denn Ausgangspunkt ist das Daß, und wenn uns dies hinreichend deutlich ist, wird nicht noch darber hinaus das Warum erforderlich sein“ (I 2, 1095b6 f.; bers. Wolf ). In einigen Fllen enthlt also die Darlegung der Phnomene implizit schon solche Tatsachen, die fr andere urschlich sind. Wichtig ist hier die mçglichst vollstndige Feststellung der Tatsachen (t± rp²qwomta peq· 6jastom : 46a23 ff.). (b) In den Wissenschaften, die nur ber eine eingeschrnkte Beobachtungsbasis verfgen (Part. an. I 5, 644b22 – 645a4) und meistens nach der hypothetisch-deduktiven Methode vorgehen, fungieren die phainomena als fr die Theorie normierende Basis: Den Phnomenen kommt eine epistemische Bedeutung hinsichtlich der Wahrheit der Theorie zu. So kritisiert Aristoteles in der Frage nach der Position der Erde die Pythagoreer dafr, daß ihre Theorie nicht den Phnomenen entspreche, sondern daß sie vielmehr die Phnomene gewaltsam ihren eigenen Theorien und Meinungen anpassen, indem sie eine ,Gegen-Erde‘ einfhren (Cael. II 13, 293a25 ff.).97 Der Grundfehler bestehe darin, daß sie das t¹ pistºm nicht aus den Phnomenen gewinnen, sondern eher aus den Theorien (a29 f.).98 In diesen Aussagen werden die wahrnehmbaren Phnomene nicht als Wissensquelle behandelt, sondern nur als Besttigung einer im Sinne der hypothetisch-deduktiven Methode vorausgesetzten Theorie; Grund hierfr ist das nur eingeschrnkt zur Verfgung stehende empirische Material. Die Phnomene sind fr die Wahrheit der Theorie normierend: Den Phnomenen muß die Theorie Rechnung tragen (Cael. II 14, 297a4; Gen. an. III 10, 760b33) und sie darf die Phnomene nicht aufheben (Cael. III 4, 303a22 f.; Gen.corr. I 1, 315a4). 97 oq pq¹r t± vaimºlema to»r kºcour ja· t±r aQt¸ar fgtoOmter, !kk± pqºr timar kºcour ja· dºnar art_m t± vaimºlema pqos´kjomter ja· peiq¾lemoi sucjosle?m. 98 t¹ pist¹m oqj 1j t_m vaimol´mym !hqoOsim !kk± l÷kkom 1j t_m kºcym. Hier ist es schwierig, wie der Terminus t¹ pistºm zu bersetzen ist. Die bersetzung mit ,das Glaubhafte‘ oder ,das Glaubwrdige‘ (vgl. Rhet. I 2, 1356b29; I 15, 1376b32) ist hier zu schwach, da es sich scheinbar um so etwas wie einen ,normierenden Maßstab‘ handelt. Andererseits ist eine bersetzung mit ,warrant‘ oder,pledge‘ (LSJ 1408) im Sinne einer ,Wahrheitsgarantie‘ oder eines ,Beweises‘ zu stark. Ich entscheide mich daher fr ,Besttigung‘. Vgl. auch Owens Rede von den Phnomenen als einem ,Prfstein‘ (touchstone: Owen 1961, 90). Vgl. auch Gen. an. III 10, 760b31 ff.: !kk’ 1²m pote kgvh0, tºte t0 aQsh¶sei l÷kkom t_m kºcym pisteut´om, ja· to?r kºcoir, 1±m blokoco¼lema deijm¼ysi to?r vaimol´moir. Cael. I 7, 276a14 f.: toOto d³ pist¹m 1j t/r 1pacyc/r
5.4 Von der empeiria zu den Prinzipien
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In all diesen Fllen sind die Phnomene fr die Wissenschaft eine epistemische und nicht bloß kausale Ausgangsbasis, die dafr aber in ihrer Wahrheit berprft sein mssen: Aristoteles bestimmt als Ziel der Naturwissenschaft dasjenige Phnomen, was sich immer als fr die Wahrnehmung maßgeblich oder autoritativ prsentiert (t´kor […] t/r d³ vusij/r t¹ vaimºlemom !e· juq¸yr jat± tμm aUshgsim : Cael. III 7, 306a17). Nur die Phnomene, die auf zuverlssigen und (durch den Intellekt) gesicherten Wahrnehmungen basieren, kçnnen also der ,Prfstein‘ (Owen) fr die Wahrheit der Theorie sein. Ebenso mssen auch in anderen Bereichen die endoxa hinreichend geprft, konsistent gemacht und etabliert sein (EN VII 1, 1145b2 – 7).
6. Jenseits von Fundamentalismus und Kohrentismus Im Laufe der Untersuchung hat sich an mehreren Stellen gezeigt, daß wir Aristoteles einen Empirismus in seinen beiden hauptschlichen Spielarten, den Begriffs- und den Urteilsempirismus, nicht zuschreiben kçnnen. Einerseits ist die Wahrnehmung prinzipiell nicht in der Lage, als sinnliche Belegbasis fr unsere gesamten berzeugungen ber die Welt zu fungieren: Ihr Gehalt ist auf die idia und koina aisthÞta beschrnkt und sie unterliegt der Beurteilung und Korrektur hçherer Vermçgen. Eine begriffliche Komponente, wodurch uns berhaupt erst singulre Tatsachen zugnglich werden kçnnten, kommt erst innerhalb von Wahrnehmungsmeinungen (doxa) zustande. Als eine Art des diskursiv-begrifflichen Denkens (dianoia) stellen diese Wahrnehmungsmeinungen aber schon eine Ttigkeit des Intellekts dar und sind damit kein letztes ,Gegebenes’ mehr. Außerdem hat sich gezeigt, daß Aristoteles’ Verstndnis von der Natur des Wissens es nicht erlaubt, die Wahrnehmung und das auf ihr basierende induktive Verfahren als Legitimation fr die Prinzipienerkenntnis anzufhren: Die verschiedenen kognitiven Zustnde, angefangen von der Wahrnehmung bis hin zur Prinzipienkenntnis (nous), sind bei Aristoteles durch ihre jeweiligen Gegenstnde bestimmt; zwischen ihnen besteht ein extensionaler Unterschied. Die jeweiligen Gegenstnde wiederum stehen bei Aristoteles in einer ontologischen Hierarchie. Die Erkenntnis der grundlegenden Strukturen der Wirklichkeit, das ,an sich Bekanntere‘, kann nicht durch etwas Rangniederes, das ,an sich weniger Bekanntere‘, begrndet werden. Die Induktion ist also lediglich ein Hilfsmittel, um in den kognitiven Zustand des nous zu kommen, nicht aber ein Rechtfertigungsinstrument. Die Hufigkeit hnlicher Beobachtungen, die wir durch methodisch geleitete Verfahren erreichen, kann uns ber die empeiria zu diesem kognitiven Zustand hinfhren, ist aber nicht der Grund, der uns dazu berechtigt, uns einen solchen Zustand zuzuschreiben. Daß wir in einem solchen Zustand sind, erkennen wir an unserer Kompetenz, berzeugende Erklrungen fr eine bestimmte Tatsache zu geben. Schließlich sind auch die phainomena, von denen jede Wissenschaft ausgehen muß und an denen sie sich im Sinne eines ,Prfsteins‘ (Owen) orientiert, alles andere als ein primitiv Gegebenes: Sie basieren vielmehr auf generalisierten Beobachtungen, die begriffliche Leistungen involvieren und in ihrer Zuverlssigkeit schon durch den Intellekt beurteilt
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wurden. Als solche bilden sie den Inhalt der empeiria; sie stellen fr Aristoteles eine bestimmte Form des Wissens, nmlich das Tatsachenwissen (eidenai to hoti), dar. Wenn also die Wahrnehmung nicht die Rolle eines epistemischen Fundaments spielen kann, das in einer begrndenden Relation zu anderen Meinungen steht, wir also Aristoteles keinen fundamentalistischen Empirismus zuschreiben kçnnen, sind wir dann gezwungen, die Beziehung zwischen Wahrnehmung und Denken (im generischen Sinn) als eine bloß kausale zu bestimmen? Ist die Wahrnehmung lediglich ein ,kausales Zwischenstck‘ zwischen der Welt und unseren Meinungen ber sie?1 Wir mßten dann Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs als kohrentistisch charakterisieren: Der Wissenserwerb wrde sich allein im Raum der dianoia bzw. hypolÞpsis oder innerhalb der begrifflichen Schemata und der Sprache abspielen und die verschiedenen Meinungen wrden ein Netz bilden, innerhalb dessen sie sich gegenseitig sttzen.2 Die Wahrnehmung htte nur die Aufgabe, die diskursiven Ttigkeiten in diesem ,logischen Raum der Grnde‘ mit sensorischen Informationen zu versorgen und somit den ,Kontakt‘ zur Welt herzustellen. Doch Aristoteles widersetzt sich auch dieser Einordnung, wie sich durch Rckgriff auf zwei Ergebnisse dieser Untersuchung zeigen lßt: (i) Zum einen folgt aus seiner gegenstandsorientierten Wissenskonzeption, daß sich der Wissenserwerb in einem realen berstieg aus dem Bereich des Zuflligen, den in der Wahrnehmung festgestellten Akzidentien, in den Bereich des Notwendigen und Allgemeinen, den grundlegenden Strukturen der Wirklichkeit, vollzieht. Der Unterschied zwischen dem ,fr uns Bekannteren‘ und dem ,an sich Bekannteren‘ bezeichnet einen realen Unterschied in der Sache selbst, der durch die per seAkzidentien berbrckt wird. Diesen Unterschied betont Aristoteles gerade innerhalb seiner Kritik zirkulrer Begrndungen; fr Aristoteles muß die Begrndungsrelation asymmetrisch sein (An. Post. I 3, 72b25 – 30). Die Wissensgewinnung kann somit nicht in der bloßen Konsistenzprfung und richtigen Anordnung der etablierten Meinungen (phainomena, endoxa) in tiefere und abgeleitete bestehen. Vielmehr gelangen wir mittels methodisch geregelter Verfahren in immer hçhere kognitive Zustnde, die sich auf je1
2
Vgl. Davidson 1987, 277: „Die Beziehung zwischen einer Empfindung und einer Meinung kann nicht logischer Natur sein, denn Empfindungen sind weder Meinungen, noch lassen sie sich mit irgendwelchen anderen propositionalen Einstellungen identifizieren […] Es handelt sich um eine Kausalbeziehung. Empfindungen sind die Ursache einer Reihe von Meinungen, und in diesem Sinne bilden sie tatschlich das Fundament oder die Basis fr jene Meinungen.“ Vgl. Nussbaum 1986.
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weils hçherrangige Bereiche des Seienden beziehen. (ii) Zum anderen ist die Wahrnehmung kein ,blinder‘ Informationslieferant, der bloß eine kausale Rolle im Wissenserwerb spielen wrde. Das Wahrnehmen ist vielmehr aufgrund der internen Komplexitt des zugrundeliegenden Vermçgens schon eine unterscheidende Ttigkeit (krinein), die sich ihrer selbst in einer nicht-begrifflichen Weise bewußt ist. Im Unterschied zum Theaitet, in dem die Wahrnehmung eine Art unselbstndiges Werkzeug fr die Ttigkeit der Seele ist, wird die Wahrnehmung von Aristoteles als ein unterscheidungsfhiges und reflexives Vermçgen bestimmt. Sie kann Qualitten verschiedener Sinne unterscheiden und einem bestimmten Gegenstand zuordnen. Diese Ttigkeit ist der Wahrnehmung selbst bewußt und sie ist darin immer auf das Ganze eines bestimmten aisthetischen Genus bezogen. Damit kann ihr schon unterhalb der diskursiv-begrifflichen Ebene ein genuiner Weltzugang zugesprochen werden.3 Die Wahrnehmung ist fr Aristoteles ein Typ des Erkennens (gnrizein). Als ein solches kognitives Vermçgen gewhrt sie uns eine spezifische Art der Kenntnis (gnsis tis), von der aus dann durch die Beteiligung des Intellekts innerhalb methodisch geleiteter epistemischer Handlungen komplexere Arten von Kenntnissen entstehen, die andere Bereiche der Wirklichkeit, nmlich das Allgemeine und Notwendige, zum Gegenstand haben. Der in der Wahrnehmung gewhrte Weltzugang wird durch Begriffe bzw. gedankliche Inhalte innerhalb von Wahrnehmungsmeinungen (doxa) begrifflich angereichert und hçheren kognitiven Vermçgen und Ttigkeiten zur Verfgung gestellt. Der bergang von der Wahrnehmung in die Gattung der dianoia bzw. hypolÞpsis, deren unteres Ende die doxa bildet, ist somit kein mysteriçser Wechsel von einem ,logischen Raum der Natur‘ in einen ,logischen Raum der Grnde‘, sondern eine kontinuierliche Ausdifferenzierung des in der Wahrnehmung begonnenen krinein. Die Wahrnehmung ist als ein nicht-begriffliches, aber dennoch genuin kognitives, nmlich un3
Wir hatten schon gesehen, daß dieser aisthetische Weltzugang im Sinne eines direkten Realismus interpretiert werden sollte; um seine Fallibilitt zu garantieren, sind wir nicht zu einer reprsentationalistischen Modifikation des Kausalmodells gezwungen. Mit einem solchen direkten genuin aisthetischen Weltzugang stellt sich nicht wie im Kohrentismus die Frage, wie wir berhaupt wissen kçnnen, ob unsere empirischen berzeugungen die Wirklichkeit ,treffen‘. Wenn man wie Aristoteles davon ausgeht, daß die Wahrnehmung selbst einen genuinen Weltzugang besitzt und dieser Weltzugang sekundr durch Begriffe bzw. Gedanken angereichert werden kann, dann ergibt gar nicht erst das fr den Kohrentismus problematische Bild, aus dem System der eigenen berzeugungen ,aussteigen‘ zu wollen, um ,nachzuschauen‘, ob alles mit ihnen in Ordnung ist.
6. Jenseits von Fundamentalismus und Kohrentismus
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terscheidungsfhiges und nicht nur kausales Vermçgen unverzichtbare Quelle des Wissens. Auf diese Weise kann bei Aristoteles die Gefahr des Oszillierens der Erkenntnistheorie zwischen Kohrentismus und Fundamentalismus gar nicht erst aufkommen.
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Index locorum1 Categoriae 7, 6b2 f.: 79 7, 6b28 – 36: 79 7, 7b15 – 22: 79 7, 7b36 – 8a9: 80 De interpretatione 16a3 – 8: 18 A 2 16a14 f.: 18 A 2 16a15: 136 16b20 f.: 168 A 91 Analytica priora I 27, 43a35 f.: 141 A 14 I 30, 46a17 – 27: 214, 215 II 27, 70a6 f.: 49 Analytica posteriora I 1, 71a8 f.: 34 I 1, 71a12 ff.: 194 I 2, 71b9 – 12: 22 f., 26 I 2, 71b11: 42 A 106 I 2, 71b20 – 23: 213 I 2, 71b21 f.: 27 I 2, 71b33 – 72a5: 30, 204 I 2, 72a3 f.: 37 I 2, 72a29 – 32: 29 I 3, 72b5 – 30: 31 f. I 4, 73a37 ff.: 207 I 4, 73b26 f.: 26 A 42, 35, 200 f., 208 I 9, 76a26 ff.: 38, 43 I 13: 30 f., 209 I 13, 78a34 f.: 214 I 18: 3 f. I 19, 81b25 – 29: 142 I 22: 142 I 23, 84b35 f.: 42 1
I 31, 87b28 – 39: 5 f. I 31, 87b29 f.: 76 I 31, 88a3 f.: 202 f., 209 f. I 31, 88a4 ff.: 6 I 33: 206 II 8, 93a20 – 26: 193 f. II 10, 93b29 – 35: 193 f. II 19: 7 – 9, 33 f., 41 A 101, 42, 44 f. II 19, 99b36 – 100b5: 4 f., 195 – 198 II 19, 99b36 – 39: 25, 199 II 19, 100a1 f.: 199 II 19, 100a3 – 8: 182, 200 II 19, 100a17: 76 II 19, 100a14-b5: 192 II 19, 100b5 – 17: 8 Topica I 1, 100b1 f.: 210 I 1, 100b21 ff.: 41 A 102 I 2, 101a36-b4: 34 II 10: 52 V 3, 131b23: 24 V 3, 131b27: 24 VI 4, 141b5 – 19: 205 A 68, 210 Sophistici elenchi 179a1 ff.: 141 179a37 ff.: 141 Physica I 1, 184a21 – 26: 133 II 3, 195a32 – 35: 139 II 5, 196b28 f.: 140 III 1, 201a23 ff.: 81 A 76 III 2, 202a6 – 9: 81 A 76 VII 2, 244b12 – 245a2: 61 VII 2, 245a4 – 9: 81 A 78
Kursiv gedruckte Seitenzahlen verweisen auf Stellen, an denen sich eine bersetzung und Diskussion der jeweiligen Passage finden.
Index locorum
De caelo II 13, 293a25 ff.: 216 II 14, 297a4: 216 III 4, 303a22 f.: 216 III 7, 306a17: 217 De generatione et corruptione I 1, 315a4: 216 I 6, 322b22 ff.: 81 I 7, 323b32 ff.: 63 A 19 I 7, 324a10 ff.: 63 A 19 I 7, 324a10 – 13: 65 De anima I 1, 402a18 f.: 213 I 1, 402b21 – 25: 208 A 75, 211 I 1, 403a2: 99, 193 I 1, 403a5 ff.: 70 I 4, 408b15: 115 A 18 I 5, 409b23 – 410a13: 70 II 2, 413b23: 158 II 2, 414b4 ff.: 158 II 3, 414b28 – 32: 146, 164 II 4, 415a16 – 22: 90 II 5, 416b33 ff.: 63, 79 II 5, 417a3 – 6: 81 II 5, 417b2 – 7: 63 f. II 5, 417b3: 65, 80 II 5, 417b6 f.: 65 II 5, 417b16 – 19: 135 II 5, 417b18 f.: 64, 80 II 5, 417b19 ff.: 81 II 5, 418a3 f.: 63, 64 II 5, 418a3 – 6: 65, 81 II 5, 418a5 f.: 63 II 6: 74, 127 II 6, 418a17 f.: 105 f. II 6, 418a17 – 20: 121 II 6, 418a20 – 24: 138, 143 – 149 II 6, 418a23 f.: 74 II 6, 418a24 f.: 104, 128 II 7, 418a31 f.: 77 A 68, 128 II 12, 424a17 – 24: 71 – 77 II 12, 424a17-b3: 62, 64, 68 II 12, 424a18 f.: 66 II 12, 424a24 – 28: 68 A 37 III 1, 425a15 f.: 121 III 1, 425a21 f.: 105
231
III 1, 425a21 – 24: 161 f. III 1, 425a22 – 27: 130 III 1, 425a25 ff.: 143 III 1, 425a27 f.: 131 III 1, 425a30 f.: 105, 129 f. III 1, 425a30-b2: 171 – 173 III 1, 425b2: 122 III 1, 425b4 – 11: 105 III 2, 425b12 – 25: 122 f., 158 III 2, 425b23 f.: 62 III 2, 426a15 – 26: 80 III 2, 426b8 – 427a14: 122 III 2, 426b10: 132 III 2, 426b29 ff.: 134 III 3, 427a17-b29: 19 A 7 III 3, 427a19 ff.: 18, 21, 58 III 3, 427a26 f.: 90 III 3, 427a29-b2: 37 f., 88 III 3, 427b3: 90 III 3, 427b8 – 26: 18 f. III 3, 427b9: 18 III 3, 427b10: 19 III 3, 427b15 f.: 165 A 80 III 3, 427b27 f.: 19, 190 III 3, 428a1 f.: 91 III 3, 428a13 ff.: 173 III 3, 428a20 f.: 166 III 3, 428b2 f.: 21, 94, 107, 126, 169, 179 III 3, 428b12 ff.: 90 f. III 3, 428b18 – 25: 83, 150 f., 174 A 112 III 3, 428b28 ff.: 94 III 3, 429a1 f.: 90 III 3, 429a17 f.: 20 III 4, 429a23: 18, 35 III 4, 429b9: 61 A 14 III 4, 429b10 – 22: 146 A 29 III 4, 430a3 f.: 59 A 8 III 5, 430a22: 186 III 6, 430a26 ff.: 20 III 6, 430a26-b6: 18, 35, 154 f. III 6, 430b5 f.: 163 III 6, 430b26 – 30: 20, 35 f., 151 III 7, 431a16 f.: 19, 188 III 7, 431b2: 188, 191 III 7, 431b10 – 19: 188 III 8, 431b20 – 432a3: 58 f.
232
Index locorum
III 8, 432a3 – 9: 3, 184 – 192 III 8, 432a9 f.: 95 III 8, 432a10 – 14: 155 III 12 – 13: 39, 43 III 12, 434a29 f.: 62 III 12, 434b22 – 27: 156 III 12, 434b27 – 435a10: 81 A 78 De sensu et sensibilibus 436b1 – 8: 70 436b10 – 437a3: 156 – 159 437a1 – 17: 156 A 55, 164 A 77, 194 437a2 f.: 7, 23, 26 437a3 – 9: 48 437a8: 128 437a11 – 17: 194 440a29 f.: 94 442a12 – 29: 70 A 46 443b18 ff.: 56 445b10 f.: 128 A 70 De memoria et reminiscentia 449b30 – 450a9: 165, 188 – 190 450a10 f.: 129 A 71 450a30-b11: 72 450b20 – 27: 187 451a14 – 17: 125, 161 A 68, 198 451b10 – 22: 152 De somno 455a16: 122 455a19 ff.: 122 455a34: 122 De insomniis 458b10 – 13: 166, 170 458b29: 94, 107, 179 458b31 ff.: 96, 172 459a7 f.: 10 459a17 f.: 95 459b9 – 23: 94 460b1 – 13: 95 f. 460b14 ff.: 107 460b16 ff.: 176 460b18 f.: 94 460b19 f.: 107 460b20 ff.: 177
460b20 ff.: 106 461a30-b1: 91 A 115, 123, 175 f. 461b3 ff.: 178 461b4 f.: 106 461b7 – 11: 97 462a3: 107 462a5 – 8: 98 462a6 ff.: 107 De partibus animalium I 1, 639a1 – 5: 211 I 1, 639b9 ff.: 203, 214 I 5, 644b22 – 645a4: 216 I 5, 645b2 f.: 203, 215 De generatione animalium 731a32 ff.: 21 Problemata physica III 9 – 10: 95 A 28 III 10, 872b4: 96 A 131, 99 III 30, 875b9 f.: 96 A 131, 99 XXX 14, 957a28 ff.: 95 A 28 XXXV 10: 177 Metaphysica I 1, 980a21 – 27: 47, 50 I 1, 981a10: 201 A 51 I 1, 980a26 f.: 23 I 1, 981a28 f.: 200 f., 203 I 1, 981b28 f.: 47 I 2, 982a24 f.: 37 I 2, 982b12 – 21: 55 I 3, 983a25 f.: 23 II 1, 993b7 – 11: 30 II 1, 993b24 ff.: 29 A 51 II 3, 995a12 – 17: 212 IV 4, 1006a5 – 9: 103, 211 IV 5, 1009a38-b12: 100 IV 5, 1009b2 – 9: 84 IV 5, 1009b10 f.: 103 IV 5, 1009b14 f.: 90 IV 5, 1010b3 – 9: 103 IV 5, 1010b4 ff.: 94 IV 5, 1010b10 f.: 103 IV 5, 1010b14 – 17: 105 IV 5, 1010b15 ff.: 108
Index locorum
IV 5, 1010b18 f.: 104 IV 5, 1010b21 – 24: 81 A 77, 104 IV 5, 1010b33 – 1011a2: 80 IV 6, 1011a5 f.: 103 IV 6, 1011a8 – 13: 103, 212 IV 6, 1011a11: 108 IV 6, 1011a31 f.: 104 IV 6, 1011a33 f.: 106 V 6, 1015b16 – 23: 139, 141 V 15, 1021a33 ff.: 79 V 29, 1024b21 – 24: 93 V 29, 1024b23 f.: 54 A 144 VI 2, 1027a2: 140 VII 3, 1029b9 f.: 30 A 56, 206 VII 4, 1030a21 ff.: 137 VII 6, 1031b6 f.: 20 VII 6, 1031b24 f.: 60 A 11 VII 17, 1041a10 f.: 214 f. IX 10, 1051b13 ff.: 166 IX 10, 1051b17 – 32: 151 XII 9, 1074b34 ff.: 61 A 14, 124 XII 9, 1075a1 – 5: 59 A 8 Ethica Nicomachea I 1, 1094b23 – 27: 212 I 2, 1095b6 f.: 216 I 7, 1098a33 f.: 213, 216 I 7, 1098b4: 34 III 4, 1111b33: 19 III 6, 1113a29 – 33: 104 A 153 III 13, 1117b29 f.: 48 A 126 III 13, 1118a10 – 13: 162 III 13, 1118a16 – 20: 48, 56 III 13, 1118a18 – 21: 160 III 13, 1118a20 f.: 153 A 49 VI 2, 1139a10 f.: 71 VI 2, 1139a26 f.: 19 VI 2, 1139b12: 39 VI 3, 1139b21 f.: 21 VI 3, 1139b33 ff.: 210 VI 6, 1141a3 f.: 39 VII 1, 1145b2 – 7: 217 VII 1, 1145b3: 41 A 102 IX 9, 1170a29-b1: 122 f. Ars rhetorica I 1, 1355a14 – 17: 39 A 94 I 2, 1357b1 – 25: 49
Protreptikos B 51: 23 B 76: 21 B 65: 54 B 71 – 77: 49 – 55 B 101: 54 B 102: 54 f. B 104: 94 A 126 Platon Phaidon 73d: 163 A 72 Theaitet 151e: 109 152a: 110 152b2 – 4: 110 152b2 – 8: 84 152c5 – 6: 110 154a2: 111 154a3 – 8: 84, 100 156d3 – 157a2: 81 A 77, 111 157e1 – 158d9: 101 f. 158a-b: 112 158b8-c2: 84, 111 158d: 112 158e6: 112 160d5-e2: 110 161c2 – 163a6: 111 161d-e: 114 170c2 – 171c9: 111 179c3 – 4: 114 181c1 – 182c10: 111 182d1 – 7: 111 184b-186e: 114 f. 184d7 – 185a3: 121 184e8 – 185a2. 115 f. 185a8 – 9: 116 185c4-e2: 116 186a2 – 3: 116 186b2 – 4: 120 A 39 186b6 – 9: 117 f. 186b11-c1: 118 186c3: 119 186d2 – 3: 121 208e8: 94
233
234 Sophistes 262c1-d6: 113 A 13 264a4-b4: 119 Politeia VII 523a9-b4: 113 A 11 VII 523b6: 94
Index locorum
VII 523b3 – 5: 113 A 11 VII 523b-524b: 113 VII 523d4 – 5: 113 VII 524b3 – 5: 113 X 602c10 – 11: 107 X 602d3: 94 X 602c-603a: 114
Index nominum Audi, R. 6 Austin, J. L. 85 – 88, 93 Ayer, A. J. 84, 86
Ebert, T. 21, 112, 122, 132, 135, 137, 172, 180, 206 Evans, G. 135, 170, 174 Everson, S. 68, 139 f.
Barnes, J. 1, 3, 8 f., 22, 33 f., 36, 141, 182 f., 192, 194 Beare, J. I. 128, 131 Beckermann, A. 57, 63 Block, I. 104, 145 Bolton, R. 73 f., 77, 89, 147 Brentano, F. v. 57 f. Broadie, S. 78, 128 Burnyeat, M. F. 9, 11, 21 f., 26 f., 29, 40 f., 46, 63 – 70, 85, 88, 109 – 112, 114 – 116, 119 f., 210 Busche, H. 132, 164 Bywater, I. 50, 83, 128, 143, 145, 150
Frede, D. 91, 94, 125, 140 Frede, M. 9, 11, 44 f., 57, 112, 118, 120, 182 f., 192, 196 Freeland, C. 140
Cashdollar, S. 142, 147 – 149, 152, 167 Caston, V. 63, 67 f., 70 – 76, 78, 89 – 93, 96, 98, 124, 189 Charles, D. 77, 194 Child, W. 98 Cleary, J. J. 185 Cooper, J. M. 114, 117 f., 120 Corcilius, K. 91, 125, 158, 187, 189 Cornford, F. M. 114, 117, 206
Hçffe, O.
39, 142, 212
Jaeger, W. Judson, L.
50, 52 141
Dancy, J. 37 Davidson, D. 219 De Haas, F. A. J. 132, 180 Demokrit 100 Descartes, R. 7, 102 Detel, W. 6 f., 11, 22, 25, 28 f., 34, 36, 38, 42 – 44, 76, 194, 197 f., 203, 209, 211
Gaukroger, S. 104, 147 Gerson, L. P. 6, 18, 29 f., 45 f., 59, 62, 141, 170, 175, 204 f., 211 Geyser, J. 137, 145, 173 Graeser, A. 24, 128, 130 f., 142, 144, 152, 162 Gregoric. P. 106, 122 f., 132, 134 f., 147 f., 167, 183, 192, 200 Gunther, Y. H. 57
Kahn, C. H. 78, 117, 144 – 146, 158, 168 f., 186, 197 Kambartel, F. 2, 185 Kant, I. 25, 119 Kern, A. 6, 31, 39, 44 King, R. A. H. 125, 161 f., 202 Koch, A. F. 37 f., 106 Kosman, L. A. 8, 26, 32, 34, 42, 82, 124, 183, 209, 214 Kullmann, W. 28, 215 Kutschera, F. v. 2 Lee, H. D. P. 35 Lee, M.-K. 84, 101, 103, 110 f. Lesher, J. H. 1, 36, 42, 183
236
Index nominum
Liske, M.-Th. 183, 186 f., 206 Lloyd, G. E. R. 169 Locke, J. 3, 185 Lorenz, H. 125, 161, 163 McDowell, J. 38, 77, 86, 99, 169 Modrak, D. K. W. 1, 3, 128, 131, 146 f., 197 Nussbaum, M. C. 9, 11, 41 f., 69, 78, 136, 207, 219 Oehler, K. 20 f., 36 f., 77, 82, 124, 151 Owen, G. E. L. 41, 214, 216 f. Owens, J. 27, 59 f., 66 f., 72, 131, 139 Patzig, G. 142 Perler, D. 66, 107 Philoponus 105, 127, 130, 145 f., 162, 171 Protagoras 100, 102, 110 – 112, 114 Putnam, H. 62, 69, 76, 78, 89, 99 Rapp, C. 7 f., 34 f., 68, 78, 94, 97 f., 183, 214 Reid, T. 60 Ricken, F. 119 Rorty, R. 37 Ryle, G. 83, 85
Schantz, R. 84 f. Schneeweiß, G. 51 f., 157 Sellars, W. 1 f., 132, 165 Simplicius 130, 162 Snowdon, P. 82, 99 Sophonias 130, 145 Sorabji, R. 67 – 69, 121, 140, 147 f., 153, 155, 161 Strawson, P. 82 Taylor, C. C. W. 39, 197 Themistius 130, 144 Thomas von Aquin 28, 59, 66 f., 74, 159, 169, 186, 207 Tugendhat, E. 28, 37, 131, 135, 138, 142, 183, 207 Van der Eijk 95, 106 f., 172, 175 – 179 Vasiliou, I. 39, 89 Wedin, M. 19, 90 f., 125, 139, 190 Weidemann, H. 18 Welsch, W. 26, 38, 56, 74, 89, 123, 131 f., 135, 144, 147, 162 Wieland, W. 24, 34, 42, 77, 197, 206, 213 Wiesner, J. 129 Wirmer, D. 159 Wolterstorff, N. P. 2
Index rerum Akzidentien – notwendige (per se) 27 f., 207 f. Annahme (hypolÞpsis) 18, 126, 166 f., 174, 183, 200 argument from illusion 83 – 88 – und Aristoteles 100 – 107 Assoziation 128, 152, 155 – 164 Begriff 18, 20 f., 44, 136, 165, 182 f., 185, 192 – 194, 197, 220 – demonstrativer 77 A 64 – diskriminatorischer 192 f., 201 – rudimentre 153, 156, 159 f. – Substanz-/Sortalbegriff 137 A 2, 183, 192 Bekannter(es) fr uns/an sich 24, 30 – 32, 204 – 212, 219 Beweis (apodeixis) 4, 22, 26 f., 29 – 33, 36, 40, 42, 103, 202, 207 f., 209 A 76, 211 f. – des Warum und des Daß 30 f., 209, 214 Bewußtsein 82 A 79, 115, 123 f., 134 f., 169 Bildung (paideia) 103, 108, 210 – 212 Denken – im generischen Sinn 18 – 23, 35, 58, 165 – 167, 174 f., 199, 209, 218 f. doxa s. Meinung Empirismus 1 – 6, 9, 35 f., 38, 138, 218 f. – Urteilsempirismus 2, 36, 180 f., 209 f. – Begriffsempirismus 2, 184 – 187 endoxa 39, 41 f., 217, 219 epistÞmÞ s. Wissen aus Beweis
Epistemologie 10 A 30, 15 A 34, 19 A 7, 40 – 47, 60, 174 f., 218 – 221 Erfahrung (empeiria) 182, 195 – 204, 208, 214 Fallibilitt 37 f., 43 Fundamentalismus, epistemologischer 36 – 38, 218 – 221 Gedchtnis (mnÞmÞ) 125, 161 A 68, 162, 182, 187, 198 f., 201 f. Gegenstandsbereiche 23, 206 – 209 Gemeinsinn 105 A 157, 122 f., 132 A 78 Genauigkeit (akribeia) 22 A 18, 25, 212 Gewißheit 29, 36, 39 f. gnsis 5, 18, 20 – 26, 53 Homo-Mensura-Satz hypolÞpsis s. Annahme
101, 110
Induktion (epaggÞ) 3 f., 24, 33 – 35, 38 f., 210, 213, 218 Intentionalitt 57 f., 61 A 14, 62, 77 f., 89 f. Intuitionismus (epistemologischer) 8 f., 20, 35 – 38, 42 Kausalmodell der Wahrnehmung 77 – 79, 82, 88, 109, 126, 131, 134 f., 137, 144, 163 krinein s. Unterscheiden Kohrentismus 219 f. Literalismus 67 – 71 Lust-/Unlustempfindung
158, 161
238
Index rerum
Meinung (doxa) 19, 166 f., 175 f., 219 – Wahrnehmungsmeinung s. Wahrnehmung – und Wissen 45 f., 204 – 206, 210 nous – als Vermçgen 8, 18, 20, 145 f., 154 f., 163 – 170, 178 – 180, 186 f., 209 – als kognitiver Zustand 8, 20, 33 – 35, 40, 218 paideia s. Bildung phainomena 41 A 102, 207 A 71, 214 – 217, 219 phantasia 90 f., 94 – 97, 125, 154 f., 161 f., 185, 187 – 189, 198 – und Denken 19, 165, 188 – 192 Prdikation 141 – 143 Realismus – direkter 60 – 62, 89, 98 f., 145 – interner 41 f. – metaphysischer 38 – Universalienrealismus 18 A 2, 165 A 79 Rechtfertigung (epistemische) 10 A 30, 36 f., 40 – 46, 204 f., 210, 218 Reprsentationalismus 60 A 12, 78 f., 84, 88 – kausale Theorie der Reprsentation 89 – 92 Schließen/Inferenz 145 f., 170 f. Seele 146, 164 A 74, 168 Sinnestuschungen 78, 82 f., 93 – 98 Skepsis/skeptische Fragen 38, 43, 82, 84, 100, 102 f., 108 f., 212 Spiritualismus 64 – 67, 69 f., 135 Staunen 55 Tatsachen 4 A 13, 215 f. Traum 95 A 129, 97 f., 101 f., 107, 112, 175 f.
Tugend – dianoetische
10 A 30, 19 A 7, 39
Unentscheidbarkeit 84, 100, 102 f., 106, 111 Unterscheiden (krinein) 18, 20 f., 122, 132, 136, 220 Ursachen 139 – 141 Wahrheit 10 A 30, 19 A 7, 37 – 39, 53 f., 151 A 44 Wahrnehmbares (aisthÞta) – eigentmlich (idia) 36, 39, 70 A 46, 78 A 71, 104, 127 f., 133 – gemeinsam (koina) 105 f., 116 A 21, 117 A 27, 121 f., 127 f., 129 A 71, 131 – 133 – akzidentell 129 – 131, 137 – 155, 174 A 112 Wahrnehmung – assoziative 129 f., 161 f. – und Denken 124, 126, 165 – 168, 209, 219 – als diskriminatorisches Vermçgen 20 f., 122, 132 f., 135 f., 220 f. – Fallibilitt 83, 88, 150 f., 174 A 112 – Funktion 155 – 158 – Gehalt 57, 78 f., 109 – 136, 137 – 155, 158, 163, 166 f. – Typ des Erkennens 20 f., 23 – 26, 58 – 61, 124, 126, 135, 136, 220 – berzeugungsunabhngigkeit 21, 125 f. – berprfung 106 – 108, 175 – 181 – Wahrnehmungsmeinung 164 – 175, 180 f., 199, 218 – Wahrnehmungsvorgang 63 – 71 – Weltzugang 123 f., 136, 220 – Zuverlssigkeit 39, 82, 104, 108 Weisheit 47, 49, 55 A 147 Wissen – aus Beweis/demonstratives (epistÞmÞ) 19, 26 – 39, 40, 203 – des Daß 193, 197, 200, 203, 214, 219
Index rerum
– – – –
empirisches 6 A 16 Natur 40 f., 45 f., 206 A 71 Problem des Wissens 39 sprachliches 193 f.
239
– Standardmodell/Standardanalyse 27 A 44, 40, 45 f. – Vorwissen 5, 22, 26, 194, 199