ErfahI~uRg Im Au/trag des Dozen ten kollegiums der AugustanaHochschule herausgegeben von Horst Dietrich Preuß
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ErfahI~uRg Im Au/trag des Dozen ten kollegiums der AugustanaHochschule herausgegeben von Horst Dietrich Preuß
GlaubeTheologie Beiträge zu Bedeutung und Ort religiöser Erfahrung
Calwer Verlag Stuttgart
Erfahrung - Glaube - Theologie
Herrn Oberkirchenrat Dr. Siegfried Wolf zum I!. Mai 1983
Erfahrung - Glaube -Theologie Beiträge zu Bedeutung und Ort religiöser Erfahrung im Auftrag des Dozentenkollegiums der Augustana-Hochschule herausgegeben von Horst Dietrich Preuß
Calwer Verlag Stuttgart
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Erfahrung-Glaube-Theologie : Beitr. zu Bedeutung und Ort religiöser Erfahrung im Auftr. d. Dozentenkollegiums d. Augustana-Hochsch. hrsg. von Horst Dietrich Preuß. Stuttgart: Calwer Verlag, 1983. ISB~ 3-7668-0721-8 ~E:
Preuß, Horst Dietrich [Hrsg.]
Die Bildtafeln zeigen Werke des Wiener Malers Arnulf Rainer (Seite 112/113)
ISB~
3-7668-0721-8
© 1983 by Calwer Verlag Stuttgart Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten Abdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags Fotokopieren nicht gestattet Satz und Druck: Ernst Leyh Stuttgart
Inhalt
Vorwort
7
1. Erfahrung - Element der Überlieferung
JUTTA
HAUSMANN
Reflexion und Erfahrung als Kategorien zum Verständnis biblischer Texte ........................
11
FRIEDRICH WILHELM KANTZENBACH
Politische Schulderfahrung der Kirche Bemerkungen zu einer unabgeschlossenen Diskussion
24
HORST DIETRICH PREUSS
Erfahrungen im betenden Umgang mit Psalmen
43
AUGUST STROBEL
Geist-Erfahrung und Wortverkündigung im Kontext von Apg 2 Gedanken zu einem Thema lukanischer Theologie ..........
65
H. Erfahrung - Herausforderung im Heute
KARL FOITZIK
Soziales Lernen und religiöse Erfahrung Zusammenhänge und Konsequenzen ......................
87
KLAUS RASCHZOK
Erfahrungen mit dem Christusbild Die Kruzifikationen und Christusköpfe des Wiener Malers Arnulf Rainer ........................
106 5
RICHARD RIESS
Die verborgene Dimension Zur religiösen Erfahrung in unserer Zeit
124
ELISABETH SCHREIBER
Emotionale Lernziele und die Kategorie der Erfahrung im Religionsunterricht .................................
143
HERWIG WAGNER
Okumenische Sprachschwierigkeiten im Gefolge einer neuen Erfahrungstheologie Am Beispiel Südafrikas und Lateinamerikas ...............
155
Anschriften der Autoren ................................
173
6
Vorwort Als im Jahr 1958 innerhalb des Lexikons »Die Religion in Geschichte und Gegenwart« (3. Auflage) der Artikel »Erfahrung« erschien, umfaßte er dort eine Druckseite. Kürzlich erschien innerhalb des Bandes X der neuen »Theologischen Realenzyklopädie« nun ebenfalls der Artikel »Erfahrung« mit jetzt 59 Druckseiten. An diesem äußeren Phänomen läßt sich gut verdeutlichen, welche Verschiebungen in Gebrauch und Wertung von Erfahrung im Bereich der Theologie erfolgt sind. Man darf wieder von Erfahrung reden im Zusammenhang mit Glaube und Theologie, und man tut es relativ häufig. Was aber ist unter Erfahrung zu verstehen? Wie verhält sie sich zum Glauben, wie beide zur Theologie? Welche Rolle spielen aktive und passive religiöse Erfahrung bei der Entstehung, Bewahrung und Bewährung des Glaubens? Wie steht es um die Verfügbarkeit und die Unverfügbarkeit religiöser Erfahrung, und woran entsteht sie? Wie läßt sie sich vermitteln? Wie verhalten sich Schrift und Erfahrung zueinander, besonders dann, wenn man daran festhalten möchte, daß es sich im Bereich des christlichen Glaubens primär um Erfahrung von Sinn und Befreiung handeln soll? Diese Auflistung von Fragen und Problemen ließe sich unschwer erweitern. Die in dem vorliegenden Sammelband vereinten Beiträge von Professoren und Assistenten der Augustana-Hochschule (aus deren Theologischer Hochschule wie aus ihrem Fachhochschulstudiengang) versuchen auf unterschiedlichen Gebieten konkretisierende Weiterführungen des heutigen Fragens nach Bedeutung und Gehalt von Erfahrung zu geben und möchten dazu verhelfen, den Ort und die Art religiöser Erfahrung innerhalb von Glaube, Theolog-ie und Kirche genauer zu bestimmen. Allen Kolleginnen und Kollegen, die an diesem Sammelband bereitwillig mitgewirkt haben, sei herzlich gedankt. Der Dank gilt auch dem Landeskirchenrat der Ev.-Luth. Kirche in Bayern für namhafte Druckkostenzuschüsse. Ein besonderer Dank ergeht schließlich an den Verleger, der auch diesen Band der in loser Folge erscheinenden »Studien der AugustanaHochschule« wieder freundlich übernommen und betreut hat. Die Augustana-Hochschule widmet diesen Band ihrem langjährigen Referenten im Landeskirchenamt München, Herrn Oberkirchenrat Dr. Siegfried Wolf, zu seinem 60. Geburtstag mit herzlichem Dank und guten Wünschen. N euendettelsau, im November 1982
Horst Dietrich Preuß
7
1. Erfahrung - Element der überlieferung
]UTTA HAUSMANN
Reflexion und Erfahrung als Kategorien zum Verständnis biblischer Texte
Ein direkter, unmittelbarer Zugang zu biblischen Texten ist dem heutigen Leser des Alten und Neuen Testaments oft nicht mehr möglich. Die biblische Sprache mit ihrem Bilderreichtum wird uns immer fremder, unsere heutige Wirklichkeit läßt sich immer weniger den biblischen Texten zuordnen. Von daher wird die Aufgabe des Theologen zunehmend dringlicher, die Verbindung zwischen den Bibeltexten und den Lebensvollzügen der Menschen damals wie heute aufzuzeigen. Hilfreich dabei scheint m. E. zu sein, die Kategorien Erfahrung und Reflexion für ein angemessenes Lesen biblischer Texte heranzuziehen. Mit I. U. Dalferth wird Erfahrung verstanden »als Relation zwischen Erfahrungssubjekt (Ich) und Erfahrungsobjekt (Sachverhalt) «1. Die Relation ergibt sich aus der Interpretation von Wahrnehmungen bzw. Widerfahrnissen, durch die diese erst zu Erfahrungen werden, indem man sie in einen größeren Bezugsrahmen einordnet2 • Hingegen wird Reflexion im Zusammenhang mit biblischen Texten verstanden als »das Bemühen, sich selbst und den anderen über seine Erfahrung, sein Reden und sein Handeln als einer, der sich von Gott angeredet weiß, Klarheit zu verschaffen und Rechenschaft zu geben «3. Daß die bei den Größen keine Gegensätze sind, wird deutlich in der Definition des Begriffs Erfahrung, da in dem die Erfahrung konstituierenden Element der Interpretation bereits Reflexion mitgesetzt ist. In der Bibel haben wir nun Zeugnisse menschlicher Erfahrungen von und mit Gott vor uns. Wenn wir heute diesen Schrift gewordenen Erfahrungen begegnen, so geschieht das mit dem Interesse, den bezeugten Erfahrungen selbst so nahe wie möglich zu kommen und analoge Erfah1 LU. Dalferth, Religiöse Rede von Gott. München 1981, S. 454. 2 Vgl LU. Dalferth, aaO, S. 455ff. Das Moment der Interpretation ist auch von H.-G. Leder aufgenommen, wenn er religiöse Erfahrung im Gegenüber zum empirischen Erfahrungsbegriff als »Ermöglichung und Reflexion bestimmten subjektiven Erlebens im religiösen Sektor menschlichen Lebensvollzuges« definiert. H.-G. Leder, Aspekte des Problems der Glaubenserfahrung bei Thomas Müntzer (und Martin Luther), in: W. Imig (Hrsg.), Theologie und Erfahrung. Greifswald 1979, S. 29-79, dort S. 31. 3 I.U. Dalferth, aaO, S. 382.
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rungen zu machen. Um dies zu erreichen, ist es notwendig, zunächst den Weg von der Erfahrung zum Text allgemein nachzuvollziehen, um diesen Weg dann am konkreten Text in umgekehrter Richtung gehen zu können.
Von der Erfahrung zum Text
Voraussetzung für die Entstehung eines biblischen Textes ist die Erfahrung Gottes durch einen Einzelnen oder durch eine Gruppe von Menschen4• Diese Erfahrung erscheint dem Betreffenden so wichtig, daß sie mitgeteilt werden muß, und ihre Vermittlung gcc;chieht daraufhin via Sprache. Daraus ergibt sich eine Reihe von Aspekten. a) Durch das Verbalisieren wird die Erfahrung kommunikabel und damit zu einer interpersonalen Größe. Sie betrifft nicht mehr nur das Erfahrungssubjekt, sondern der Gesprächspartner wird in den Interpretationsvorgang hineingenommen. Er erhält die Möglichkeit zu Rückfragen, Bestätigung, Korrektur, denn Mitteilung zielt auf Stellungnahme. b) Das heißt aber auch, daß durch die Sprachwerdung die zunächst subjektive Größe Erfahrung ein Stück weit ihrer Subjektivität entkleidet wird und sich der Verobjektivierung preisgibt, indem sie sich der Stellungnahme ausliefert5 • c) Die Vermittlung einer Erfahrung enthält eine Einladung an den Gesprächspartner, eigene Erfahrungen darin wiederzufinden, d. h. ein Interpretationsangebot für eigene Erfahrungen. Ebenso findet sich auch das Angebot, die bezeugte Erfahrung nachzuvollziehen, sie zur eigenen werden zu lassen, ähnliche Erfahrungen in ähnlicher Situation zu machen. d) Die Verbalisierung von Erfahrung impliziert deren Wertung wie Deutung. Durch die Mitteilung wird die Erfahrung in einen größeren Zusammenhang eingeordnet, eine isolierte Mitteilung ist selten möglich. In der Bibel geschieht dies u.a. durch die Erstellung von Geschichtsentwürfen (DtrG, ChrG/Lk - Apg). Die Form der Mitteilung wiederum setzt Akzente im Blick auf die Einzelheiten der Erfahrung durch ihre jeweilige sprachliche Gestaltung. Sprachliche Gestaltwerdung einer Erfahrung muß für viele der biblischen Texte zunächst auf mündlicher Ebene gedacht werden. D.h. a~er, daß 4 Im Blick. auf die Gruppe muß aber doch gefragt werden, inwieweit gemein-
same.Erfahrung mögli,ch ist ohne jeweils subjektiv gefärbte Interpretation der einzelnen Gruppenglieder. 5 Gegen LU. Dalfenh, aaO, S. 444. Auch im Zeugnis von der Erfahrung ist diese selbst greifbar, zumindest da, wo Analogie zu eigener Erfahrung vorliegt.
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der subjektive Charakter der Erfahrung hier weitgehend erhalten bleibt. Mittels Gestik, Mimik und Tonfall macht der Sprechende während des Sprechaktes deutlich, daß es sich zunächst um eine Erfahrung seiner Person handelt, von der er betroffen ist6 • Gleichzeitig verstärken Gestik, Mimik und Tonfall Wertung und Deutung innerhalb der Aussage. Dadurch wie durch Möglichkeit zur Rückfrage wird dem Hörer ein weitgehend eindeutiges Verstehen des Zeugnisses der Erfahrung ermöglicht. Gerade die stark personorientierte Art der Vermittlung erleichtert dem Hörer das Sich-Einlassen auf die Erfahrung. Direkte, durch das Gesamtverhalten des Sprechers unterstrichene Kußerungen von Emotionen provozieren entsprechende Gefühle beim Gesprächspartner und damit die Voraussetzung für das Entdecken von Analogerfahrungen. Dem kontrastiert die Verschriftung des vorerst mündlich überlieferten Zeugnisses einer Erfahrung. Durch die Schriftwerdung ist eine stärkere Distanz zur Erfahrung selbst gegeben7 • Während in mündlicher Rede eine größere Spontaneität die Verbalisierung bestimmt, geschieht die Verschriftung durch ein hohes Maß an Reflexion über Inhalt, Form, Stil und Sprache des Textes sowie seine Intention, da eine spätere Korrektur meist ausgeschlossen ist8 • Das Erfahren der persönlichen Betroffenheit des Autors ist dadurch nur indirekt möglich und von der Gestalt und dem Gehalt des jeweiligen Textes abhängig9 • Daraus ergibt sich dann auch die unterschiedliche Schwierigkeit im Umgang mit den einzelnen biblischen Texten. Verschriftung von Erfahrung geschieht aus der Erkenntnis, daß die geschehene Erfahrung aus der Subjektivität herausgenommen werden kann. Sie wird verstanden als eine Erfahrung, die nicht einmalig, sondern typisch ist, die allgemein gültigen Charakter hat, eine Erfahrung, die nicht typisch ist für das berichtende Erfahrungssubjekt, sondern typisch für das Erfahrungsobjekt. Das heißt: Biblische Autoren schreiben ihre Gotteserfahrung nieder, um damit zu zeigen, wie Menschen Gott erfahren 6 In schriftlichen Texten kann eine Wiedergabe durch die phonemische Gestaltung nur andeutungsweise erfolgen. 7 Zur Notwendigkeit einer Distanzierung für die Verschriftung von Erfahrung vgl auch P. Ricoeur: »Temoignage et interpretation du temoignage contiennent deja l'element de distanciation qui rend possible l'tkriture.« P. Ricoeur, Hermeneutique philosophique et hermeneutique biblique, in: F. Bovon/G. Rouiller (Hrsg.), Exegesis. Neuchhel-Paris 1975, S. 216-228, dort S. 221. 8 Korrekturen an biblischen Texten durch den jeweiligen Autor selbst sind bis jetzt nur wenig nachgewiesen. Da, wo sie erfolgen, geschieht es aufgrund später veränderter Situationen, die eine Aktualisierung des Textes erfordern, nicht aber aufgrund eventuell aufgetretener Mißverständnisse. Vgl dazu W. Zimmerli, Das Phänomen der »Fortschreibung« im Buche Ezechiel, in: J.A. Emerton (Hrsg.), Prophecy, FS G. Fohrer. Berlin 1980, S. 174-191. 9 Daß der Autor seine persönliche Betroffenheit nicht völlig ausschalten kann, zeigt deutlich B. Casper, Sprache und Theologie. Freiburg 1975, S.182.
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können. Biblische Texte bieten also Interpretationsmuster für die Erfahrungen des Lesers mit Gott wie auch das Angebot, sich auf die aufgezeigten Gotteserfahrungen einzulassen, sich für ähnliche Erfahrungen offen zu halten und durch die Lektüre an der Erfahrung teilzuhaben10 • Diese Absicht biblischer Texte wird durch die Kanonisierung bestätigt, da mit der Kanonwerdung eine Entschränkung von zeitlicher, örtlicher und persönlicher Bindung der dokumentierten Erfahrungen gegeben ist. Unter der Voraussetzung, daß Sprachwerdung notgedrungen Reflexion impliziert, ergeben die vorausgehenden Ausführungen, daß den biblischen Texten ein hohes Maß an Reflexion eigen ist. Der Reflexionsgrad der einzelnen biblischen Texte ist jedoch nicht gleich. Ein Teil der Texte ist der eigentlichen Erfahrung weitaus näher als andere und ermöglicht so dem Leser leichter eine analoge Erschließungssituation. Dazu gehören vor allem die erzählenden Texte, die den Leser in das Geschehen mit hineinnehmen. Bereits der wohl älteste Text des Alten Testaments ist ein Beispiel für Verschriftung von Erfahrung, die noch sehr direkt -ohne großen Reflexionsaufwand geschehen ist. Das Mirjamlied Ex 15,21 stimmt das Lob einer Tat Jahwes an. Dies geschieht in direkter Sprache. Es fehlen Adjektive wie Abstrakta. Die Aussage geschieht in Form eines einzigen Satzes, dessen Teile asyndetisch stehen, also keine irgendwie geartete bewußt gestaltete Zuordnung erkennen lassen. Es wird nicht direkt ein parallelismus membrorum erkennbar, wenn man nicht noch unbedingt einen synthetischen par. membr. konstruieren will. Auch die Alliterationen wie die a-Laute am Silbenende als Ausdruck. des Staunens und der Freude weisen auf eine unmittelbare Antwort auf eine erfahrene Tat J ahwes hin. Es wird auch der Aufruf zum Singen nicht lange begründet, sondern wie bei den Psalmen wird unmittelbar nach dem ki der Inhalt des Lobes genannt. Die Aussage des Textes ist sehr kurz gehalten, vermutlich, weil den .Angesprochenen das Geschehen, das dem Lob zugrunde liegt, allen vertraut ist. Anders ist es offenbar bei der Prosafassung Ex 14 und bei dem nicht ganz so alten Moselied Ex 15, die eine ausführliche Erzählung des Geschehens enthalten, es also als nicht direkt erlebt bzw. bekannt voraussetzen können. Das Mirjamlied ist also ein Lob J ahwes aus der Freude heraus über ein eben erfahrenes Handeln J ahwes. Dieses wurde erfahren als ein rettendes, helfendes, befreiendes Eingreifen. Bei aller Unmittelbarkeit des Textes wird es dem heutigen Leser dennoch schwer, an der Erfahrung ebenso unmittelbar teilzuhaben, da ihm der nähere Kontext fehlt, um in das Lob mit einstimmen zu können. Er wird zwar zum Staunen eingeladen, 10 Teilhabe an biblischer Erfahrung wird auch durch performatorische Rede ermöglicht, vgl u.a. Jes 43,1.
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muß aber den Grund für das Staunen erst noch erfragen. Die Stellung des Mirjamliedes innerhalb des Buches Exodus zeigt aber auch, daß der unmittelbare Zugang bereits zur Zeit der Entstehung des Pentateuchs nicht mehr gegeben war und demzufolge der ältere Text seinen Platz erst nach dem jüngeren erhielt, um eben den Zugang zu ermöglichen. So ist dem jetzigen Leser eine Vermittlung der Erfahrung, die hinter Ex 15,21 steht, auch nur über einen größeren Reflexionsprozeß möglich, indem er den Text in den größeren Zusammenhang des Exodusgeschehens einordnet und von daher versteht. Auch Jer 20,14-18 zeigen eine große Nähe zur eigentlichen Erfahrung. Der Prophet äußert Lebensunmut, er geht sogar bis zur Verfluchung des Tages seiner Geburt. »J eremia konfrontiert in dieser Aussage gegenwärtige Erlebnisse mit der Existenz seiner Person.«l1 Es wird allerdings nicht deutlich, durch welche konkreten Ereignisse diese Unlust am Leben hervorgerufen wird12 . Doch gerade durch diese Offenheit wird es dem Leser erleichtert, eine Entsprechung der Erfahrung zu erkennen und die Worte nachzuvollziehen. Die Sprache des Textes zeigt deutlich die Erregung des Propheten. Starke Worte werden gebraucht, die auf eine direkte, nicht durch Reflexion gebrochene Umsetzung der Empfindung und Erfahrung schließen lassen13 . Unterstrichen wird dieser Eindruck durch die vorherrschende Verwendung kurzer Sätze (V 14.15.18), durch den Gebrauch gefühlsbetonender Nomina, durch das Fehlen von Abstrakta. Für den Leser des Textes bedeutet dies eine nur kurze, unbedeutende, im Unterbewußtsein ablaufende Phase der Reflexion. Als Kontrast bietet sich der Text 1 Kön 17,17 - 24 an, obwohl er eine Reihe erzählerischer Elemente enthält14. Eine von A. Schmitt15 durchgeführte ausführliche Formkritik zeigt deutlich die ganz bewußte, gezielte Gestaltung des Textes. Schon di~ syntaktisch-stilistische Analyse erweist eine »wertende, beschreibende und präzisierende Tendenz«16, hervorgerufen durch eine Reihe von Abstrakta, wertenden Adjektiva und Zustandsverben sowie die Präzisierung durch Apposition (V17a), Relativsätze (V 19b. 20b) und Temporalsatz (V 17b). Auf eine durchdachte Gestaltung weisen auch »mehrfach Verklammerung und Bezüge durch 11 N. Ittmann, Die Konfessionen Jeremias. Neukirchen-Vluyn 1981, S. 147. 12 Deswegen zählt N. Ittmann diesen Text auch nicht mehr zu den Konfessionen J eremias; aaO, S. 26. 13 W. Rudolph, Jeremia, HAT 12. Tübingen 1947, S. 115, konstatiert einen Temperamentsausbruch. 14 Diese treten dann aber doch zugunsten des Dialogs und damit der Reflexion in den Hintergrund. 15 A. Schmitt, Die Totenerweckung in 1 Kön XVII 17-24, VT 27, 1977, S.454-474. 16 A. Schmitt, aaO, S. 459.
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Wiederholungen und Wiederaufnahme gleicher Wortstämme«17. Die Untersuchung der Struktur des Textes ergibt nach Eröffnung und Einführung (V 17) einen symmetrischen Aufbau des Textes. Es sind Korrespondenzen der Verse 18 + 24, 19 + 23 und 20/21 + 22 festzustel1en 18 . Aufgrund der stilistischen Analyse19 wird jedoch deutlich, daß dieser symmetrische Aufbau nicht auf das Mittelstück 20/21 + 22 hinzielt, sondern daß der ganze Text eine Klimax enthält mit dem Ziel in V 24, zumal mit V 22 der positiv orientierte Teil des Textes beginnt20 . Die Struktur des vorliegenden Textes ist keine singuläre im Alten Testament. Zu vergleichen sind Ex 14,1-31; Ex 15,22-25; Ex 17,3-6; Num 11,4-13.15. 18-24a.31-35; Num 21,4-9, die jeweils im Zusammenhang mit der Person des Mose stehen21 . Dadurch wird Elia vom Autor des Textes 1 Kön 17,17-24 mit Mose parallelisiert, als zweiter Mose dargestel1t. Die Gattung des Textes ist mit A. Schmitt folgendermaßen zu bestimmen: »Aufgrund der in der Einheit 1 Kön xvii, 17-24 festzustellenden Komprimierung, Konstruktionstendenz, Dominanz der Reden und Theülogisierung liegt hier die Gattung einer konstruierten Erzählung vor.«22 Der hohe Anteil an Reflexion bei der Gestaltung dieses Textes ist mehr als offensichtlich und wird bei der Bestimmung der Intention von A. Schmitt auch deutlich formuliert: »Die theologische Reflexion kreist um den >Gottesmann< Elia, der in Parallele zu Mose gesetzt wird.«23 1 Kön 17,17-24 ist zunächst ein sehr spröder Text, dem die zugrunde liegende Erfahrung nur mühsam abzuringen ist. Gerade wenn man dem zustimmt, daß eine theologische Reflexion vorliegt, die den Text von 2 Kön 4,8-37 aufnimmt und das dort Erzählte auf Elia überträgt, ist offensichtlich, daß nicht die Erfahrung einer Totenerweckung das auslösende Moment für die Erzählung ist, wie man doch zunächst vermuten würde. Die Zuspitzung auf V 24 läßt annehmen, daß die Begegnung mit dem Propheten Elia, die Erfahrung seines Auftretens und Wirkens (und sein Umstrittensein?) den Hintergrund des Textes bilden.
17 A. Schmitt, aaO, S. 460. 18 A. Schmitt, aaO, S. 460f. 19 Wie in V 19 finden sich in V 22 und 23 je drei Narrative. Dieses enge Aufeinander deutet ein weiteres Fortschreiten des Geschehens an, ein Vorantreiben bzw. Beschleunigen; so A. Schmitt, aaO, S. 457f. 20 Die Zuspitzung auf den letzten Vers mit seinem Ausspruch findet Parallelen in 2 Kön 2,1b-15 bzw. in der Karmelgeschichte mit 1 Kön 18,39, selbst wenn man V 40 dazunehmen muß. Vgl auch A. Schmitt, aaO, S.463 und die dort genannten Texte 2 Kön 5,15 und 9,13. 21 Vgl A. Schmitt, aaO, S.466-468. 22 A. Schmitt, aaO, S.473. 23 A. Schmitt, aaO, S.474.
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Der Autor sieht sich offenbar genongt, die Würde und Legitimation des Propheten nicht nur zu diskutieren (V 18), sondern zu proklamieren (V 24). Er macht deutlich, daß von diesem Elia rechte Weisung im N amen Gottes, Rede und Handeln in Vollmacht zu erwarten ist, daß Gott in und durch ihn wie in und durch Mose handelt. Der Leser soll an der Erkenntnis teilhaben, daß hier ein Mann ist, von dem in legitimer Weise Anspruch und Zuspruch Gottes zu erwarten ist. Gerade dieser Text 1 Kön 17,17-24 zeigt, daß Bibellese nur mittels Reflexion zu einer angemessenen Lektüre werden kann. Um die Erfahrung des Autors nachvollziehen zu können, muß der Weg vom Text über die Reflexion zurückgegangen werden, um der Erfahrung des Autors möglichst nahezukommen und sie zu einer eigenen werden lassen zu können. Erschwert wird der Weg bei diesem Text dadurch, daß seine Intention nur im Kontext der übrigen Elia-Geschichten zu erkennen ist. Das heißt also für den Leser, daß er weitere Te~te über', Elia, heranziehen muß, wenn nicht der Titel Gottesmann eine leere Größe bleiben soll und so die Begegnung mit dem Text auf der Ebene der Erkenntnis stehen bleibt und die persönliche Betroffenheit sich nicht realisiert, auf die hin biblische Texte ja gelesen werden.
Vom Text zu neuer Erfahrung und neuer Textwerdung
Die Intention biblischer Schriftsteller, mit ihren Texten Erfahrungen zu vermitteln sowie Erfahrungen zu ermöglichen, wird nicht nur an der Verschriftung ihrer Texte deutlich, sondern auch aus ihrer Kanonisierung. Aber auch schon innerhalb der biblischen Texte wird die Intention hin zu neuer Erfahrung sichtbar. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, daß die an biblischen Texten gewonnene Erfahrung innerhalb der Bibel wiederum nur verschriftet greifbar wird. Daß Textbegegnung jedoch nicht nur zur Interpretation oder Gewinnung eigener Erfahrung v:erhilft, sondern daß die eigene Erfahrung dann auch zur Korrektur bzw. Weiterführung von Texten führt, wird an biblischen Zeugnissen sichtbar. Einige Beispiele sollen dies im folgenden verdeutlichen. Korrektur wie auch Weiterführung zeigen Mi 2,12f gegenüber den vorhergehenden Versen. In einer Reihe vorausgehender wie folgender Gerichtsworte findet sich in der genannten Texteinheit ohne jede überleitung ein Heilswort. Damit fallen die bei den Verse inhaltlich völlig aus dem gesamten Kontext heraus, und der Gedanke an einen späteren Zusatz liegt nahe. Eindeutig ist eine wohl exilische Entstehung des Textes aber erst aufgrund des verwendeten Vokabulars festzustellen, das eine 17
große Nähe zur Terminologie Deuterojesajas aufweist 24 • Einen weiteren Hinweis finden wir in den aufgenommenen Motiven des Hirten wie des (neuen) Exodus, die ebenfalls typisch für Deuterojesaja bzw. die Exilszeit überhaupt sind (vgl. auch Ez 34; Jer 23). Die Mi 2,12f vorausgehende Gerichtsrede wurde durch die Erfahrung des Exils bestätigt. Das heißt aber auch, daß die Worte des Propheten Micha der Exilsgemeinde Hilfe zur Deutung ihrer Situation ermöglicht haben. Der exilische Autor bezeugt durch die unmittelbare Anfügung seines Textes die Annahme des Interpretationsangebotes, zeigt aber zugleich, daß er darin nicht die einzigen verbindlichen Worte für die Exilsgemeinde sieht, daß also die die Aussage des Gerichtswortes aufnehmende Erfahrung des Exils als Gericht J ahwes nicht die letztgültige Erfahrung Israels ist. Vielmehr ergibt sich aus der Erfüllung des Gerichtswortes nun Hoffnung auf eine ebensolche Erfüllung der Heilszusage. Die Heilsverheißung wird dem Autor möglich, weil er damit auch auf frühere Texte zurückgreifen kann. Die ihm bekannten Erzählungen vom Auszug aus Ägypten lassen Analogerfahrungen erhoffen und ermöglichen so die Rede vom neuen Exodus, diesmal aus dem Exi1 25 • Reflexion verschrifteter Erfahrung führt also nicht nur zu neuer, ähnlicher Erfahrung, sondern setzt auch 'Hoffnung auf eine solche frei, wo sie selbst z.Zt. der Reflexion des Lesens noch nicht realisierbar ist. Bei dem vorliegenden Text Mi 2,12f ist die Reflexion vorgegebener Texte deutlich zu erkennen. Zwar wird die Terminologie Deuterojesajas sowie sein Bildmaterial übernommen, dies geschieht jedoch in eigenständiger Verarbeitung. So gebraucht J es 40,11 ebenfalls das Bild des Hirten für J ahwe, tendiert damit aber nicht auf die Sammlung der Zerstreuten wie Mi 2,12f, sondern auf die Fürsorge J ahwes für sein Volk. Auch die Häufung des parallelismus membrorum bzw. ihm nachempfundener Bildungen in den beiden Versen unterstreichen den Eindruck einer durchreflektierten Gestaltung unter Aufnahme vorgegebenen Materials. Ein weiteres Beispiel für die Reflexion und Aktualisierung vorgegebener Texte und Inhalte findet sich in dem Gebet Neh 9. Der mit 9,5b einsetzende26 und mit 9,37 endende Text greift auf eine Reihe von Geschichts-
24 Näheres dazu bei N. Mendecki, Die Sammlung und der neue Exodus in Mich 2,12-13, Kairos NF 23,1981, S.96-99. 25 Die Weiterführung biblischer Texte, die Möglichkeit der Erschließung neuer Erfahrung aus der Mitteilung gemachter Erfahrung »muß deshalb so sein, weil kein geschichtliches Geschehen den unbedingten und umfassenden Sinn so ausschöpft, daß er sich selbst nicht noch weiter erschließen könnte.« B. Casper, aaO, S. 170f. 26 Manche Exegeten lassen das Gebet erst mit 9,6 beginnen, vgl die Kommentare z.St. 9,5b entspricht als Beginn jedoch eher den ähnlichen Texten Ps 105; 106.
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ereignissen zurück und bietet eine Rückschau auf das Handeln J ahwes in der Geschichte seines Volkes. Eingesetzt wird mit einem Blick auf die Schöpfung. In der schematischen Darstellung erinnert Neh 9,6 an den Schöpfungsbericht von P, weicht dann aber sprachlich 27 wie inhaltlich 28 doch wieder davon ab. Die Verwendung des Jahwenamens gegenüber Gen 1,1-2,4a zeigt das Interesse des Beters an der Einheit von Schöpfergott und Geschichtsgott29 , d.h. an der engen Verbindung zwischen Schöpfung und Geschichte, und zwar in dem Sinn, daß die Schöpfung als Voraussetzung und Raum verstanden wird, in dem sich geschichtliches Handeln ereignet. Neh 9,20a wird von der Gabe des guten Geistes Jahwes während der Zeit der Wüstenwanderung gesprochen. Diese Aussage ist in dem Zusammenhang einzigartig und dient der Absicht des Verfassers, J ahwe von einem möglichen Schuldvorwurf im Blick auf die Negativsituation des Volkes zu befreien. Dem Volk wird dadurch die alleinige Schuld für sein schlechtes Ergehen zugesprochen. Neh 9,11 greift auf das Motiv des Sch.ilfmeerwunders zurück. Es fällt auf, daß die in Ex 14 so dominante Figur des Mose völlig ausgeblendet ist30 • Das Interesse wird deutlich, Jahwe als alleinigen Urheber rettenden Geschehens darzustellen. Ebenso spielt Mose auch für die Zeit der Wüstenwanderung nach Neh 9 keinerlei Rolle. Nur 9,14 wird er in der Funktion des Gesetzesmittlers genannt. Dies wie die. positive Terminologie im Blick auf das Gesetz zeigen die Bedeutsamkeit des Gesetzes für den Verfasser des Textes. Er zeichnet das Gesetz als ein hilfreiches Angebot J ahwes an sein Volk, das jedoch als solches nicht wahrgenommen wurde. Wie Mose in der Exodus- und Wüstenwanderungstradition ausgeblendet wird, so bleibt auch die für die Landnahme zentrale Figur des J osua ungenannt. Die Landnahme wird vielmehr als Landgabe J ahwes interpretiert und fällt somit in den Bereich des Heilshandelns J ahwes an Israel. Auch die Darstellung der Richter- und Königszeit ist interessant für die Aufnahme vorgegebener Texte durch den Verfasser des Gebetes 31 • Es fällt auf, daß kein einziger Eigenname genannt wird, nur die Propheten
27 Während P den term. techno br' gebraucht, spricht Neh von 'sh, vgl Gen 2,4b. 28 sb'm ist Neh 9,6 nur auf hsmjm bezogen, während der Begriff Gen 2,1 auch die Erde umfaßt. 29 Dazu G. Quell, Der atliche Gottesname, ThWNT IU, 5.1056-1080, bes. 5.1060. 30 Vgl auch Ex 15,1-19; Ex 15,21. 31 Hier wie im Bereich des Gesetzesterminologie wird die dtr orientierte Herkunft des Verfassers besonders deutlich.
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und Retter (= große (?) Richter) werden aus der Masse des Volkes herausgehoben, aber wiederum nur als Gesamtheit. Das Gebet ist offenbar interessiert am Verhalten des Gesamtvolkes gegenüber J ahwe. Das wird unterstrichen durch die fehlende Notiz von der Reichsteilung. »Nordund Südreich werden in Neh 9,5ff nicht unterschieden. Der leitende Gesichtspunkt ist der des vorexilischen Israels als Einheit.«32 Der Autor will mit diesem Text offensichtlich zweierlei erreichen. Einmal verdeutlicht er seinem Volk, daß der gegenwärtige schlechte Zustand (V 32ff) Folge der Mißachtung des positiv gemeinten Gesetzes Jahwes ist (V 33ff). Dies muß aber nicht endgültig sein33 , da Jahwes Handeln die ganze Geschichte hindurch ein auf Heil zielendes war und daher Hoffnung auf erneutes Heil möglich ist. Zum andern zeigt die Gestaltung des Textes als Gebet, daß der Verfasser Jahwe an seine Heilstaten erinnern will, um ihn zu weiterem heilvollen Tun zu bewegen. Bei der Durchsicht des Textes wird deutlich, daß der Verfasser die vorgegebenen Texte und Inhalte bewußt selektiv aufgenommen und sie seiner Intention entsprechend gestaltet hat. Auswahl wie Ausführung der unterschiedlichen Traditionen und Motive lassen ein großes Maß an Reflexion erkennen. Auf der einen Seite wird eine Reflexion der vorgegebenen Texte, ihrer Gestaltung und Zielsetzung vollzogen und an der abweichenden eigenen Gestaltung sichtbar. Diese zeigt auf der anderen Seite zugleich aber auch die Reflexion im Blick auf Inhalt, Form und Ziel des eigenen Textes. Für den Autor von Neh 9 waren die vorgegebenen Texte offensichtlich Interpretationshilfe für die Situation seiner Zeit. V 32ff zeigen klar, daß seine Gegenwart analog zur Richter- und Königszeit gesehen wird und daß das Gebet selbst die Funktion des Schreiens zu Jahwe in jener Zeit (vgl V 27.28) übernimmt. Ähnlich analog wird dann aus den geschilderten heilvollen Taten Jahwes aus der Reflexion heraus Hoffnung auf erneutes rettendes Handeln J ahwes möglich. Der Redaktor, der das Gebet in das Nehemiabuch eingefügt hat, kann sich anscheinend ebenso mit den verbalisierten Erfahrungen und Hoffnungen identifizieren. Ersichtlich wird dies besonders durch den nahtlosen übergang zum Text des Gebetes selbst, der so gelungen ist, daß die eindeutige Abgrenzung des Gebets nur schwer möglich ist. Daß das bisher Erörterte nicht nur für alttestamentliche Texte, sondern auch für neutestamentliche gilt, soll an einem weiteren Beispiel gezeigt
32 O.H. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten. NeukirchenVluyn 1967, 5.62, Anm. 5. 33 Hier zeigt sich eine Mi 2,12f analoge Glaubensstruktur, die für die alttestamentliche Theologie insgesamt wichtig ist.
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werden. Mk 1,3 par./Joh 1,23 lassen ganz klar erkennen, welcher Text ihnen zugrunde liegt. Das Wort aus dem die Berufung des Propheten Deuterojesaja schildernden Text Jes 40,3 wird in Zusammenhang gebracht mit Johannes dem Täufer34 • Es wird also eine Analogie zwischen den beiden Prophetengestalten gesehen. So wie Deuterojesaja in der Zeit des Exils der Verkünder des anbrechenden Heils ist, so wird J ohannes ähnlich erfahren und gedeutet als der Verkünder des in J esus anbrechenden Heils. Deutlich wird aber auch, wie sehr die neutestamentliche Situation und Erfahrung die Aufnahme des alttestamentlichen Textes bestimmt und ihn nicht einfach unreflektiert übernehmen läßt. Die Zäsur innerhalb des Textes wird deutlich eine andere, die Lokalangabe »Wüste« wird im Neuen Testament syntaktisch anders zugeordnet. Während J es 40,3 die Wüste der Ort ist, an dem der Weg für den neuen Exodus in Babyion nach Jerusalem geschaffen werden soll, wird sie im Neuen Testament zum Ort der Verkündigung des Johannes. Das Neue Testament hat kein Interesse mehr am konkret zu bahnenden Weg, sondern der Aufruf zur Wegbereitung wird spiritualisiert, als Metapher für die Einstellung wie das Verhalten der Mens.chen gegenüber dem kommenden J esus gebraucht. Es ist zu sehen, daß die Reflexion des vorgegebenen Textes zu einer Neuformulierung führt, die nicht unbedingt auf den ersten Blick als eine solche erkennbar ist. Die besondere Absicht des neutestamentlichen Textes gegenüber Jes 40,3 wird demzufolge letztlich erst deutlich auf dem Hintergrund des alttestamentlichen mit der bewußt anders gesetzten Akzentuierung.
Fazit Aufgezeigt wurde bisher, in welcher Weise Reflexion und Erfahrung für die Entstehung biblischer Texte maßgebend sind. Es wurde deutlich, daß die den Texten zugrunde liegende Erfahrung nur selten spontan, den Schritt der Reflexion so weit als möglich auslassend verschriftet wurde. Vielmehr kommt der Reflexion für die Verschriftung wie für die Aufnahme bereits verschrifteter Erfahrung eine große Rolle zu. Letzteres vor allem kann für die Lektüre biblischer Texte weiterhelfen. Denn für den Bibelleser bedeutet dies, daß er sich auf das jeweilige Reflexionsniveau des biblischen Autors einlassen und dessen Argumentationsgang,
34 Daß das hier gezeigte Phänomen auch ein innerneutestamentliches und somit ein biblisches ist, ließe sich mehrf3.lch aufzeigen. Vgl nur die Rezeption des Mk-Evangeliums durch Mt und Lk.
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dessen Schritte und Weise der Reflexion nachvollziehen muß. Tut er dies nicht, wird er nur Teilbereichen der bezeugten Erfahrung nahekommen oder einer Erfahrung, die dem speziellen Text nicht zugrunde liegt, sondern aus der Kenntnis anderer Texte heraus diesem unterschoben wird. Das heißt nun aber nicht, daß die mehr oder weniger unreflektiert erschlossene Erfahrung theologisch illegitim sein muß, nur weil sie gerade nicht dem vorliegenden Text zugrunde liegt. Sie kann trotzdem eine vollgültige Erfahrung sein, die nur an anderer Stelle ihren schriftlichen Niederschlag gefunden hat. Dennoch ist es um der Intention der biblischen Autoren willen wichtig und der Vielfalt des biblischen Zeugnisses angemessen, mit Hilfe der Reflexion dem Aussagewillen des speziellen Textes nahezukommen. Dies geschieht nicht nur aus Gründen der wissenschaftlichen Redlichkeit, sondern hat durchaus auch seelsorgerliche Implikationen. So läßt sich gerade am Text 1 Kön 17,17-24 zeigen, wie notwendig der Schritt der Reflexion gerade auch für den Nichttheologen ist. Stimmt man dem oben geäußerten Gedanken zu, daß unreflektiert diesem Text möglicherweise die Erfahrung einer Totenerwekkung zugrunde gelegt würde, so ergäben sich daraus im Blick auf Interpretationsmuster für eigene Erfahrung wie im Blick auf Analogerfahrungen für den Leser große Schwierigkeiten. Eigene Erfahrungen dieser Art hat er nicht aufzuweisen, der Text kann ihm also nicht als Interpretationsmuster dienen. Er würde ihn eher verführen, beim Tod eines geliebten Menschen auf Analogerfahrung zu hoffen, und ihn damit unfähig machen, der realen Situation sich zu stellen und sich neu zu orientieren. Wird hingegen der Text reflektiert gelesen und damit der oben schon genannte Erfahrungshorizont erhoben, wird also dem zugestimmt, daß Elia ein Gottesmann ist, der in göttlicher Vollmacht handelt und redet, so kann aus seinem Anspruch und Zuspruch Wegweisung für das eigene Dasein in positiver Form erfahren werden. Angemessene Lektüre biblischer Texte vollzieht demzufolge einen Weg, der dem Weg von der Erfahrung zum Text gegenläufig ist: vom Text über die Reflexion zur Erfahrung. Der Bibelleser muß fragen nach der Gestalt des Textes, nach den Absichten, die gerade hinter der jeweiligen Form sichtbar werden. 'Während der Autor sich um das Wie des Textes bemüht, um seine Inhalte bestmöglich weiterzugeben, hat sich der Leser um das Wie des Textes zu mühen, um den darin vermittelten Inhalten so nahe wie möglich zu kommen, denn gemeinsam ist dem Autor wie dem Leser zunächst einmal nur der vorliegende Text. Erst der Nachvollzug der Reflexion des Autors ermöglicht eine Erschließung der Erfuhrung, so daß es dann auch zu einer gemeinsamen, durch Analogie bestimmten Erfahrung kommen kann. Festzuhalten ist allerdings, daß sachgemäße Reflexion biblischer Texte Analogerfahrungen zwar erschließen und ermöglichen kann und will, die persönliche Betroffenheit durch einen Text, 22
d.h. die Realisierung der im Text geäußerten Erfahrung für den Leser, jedoch nicht garantiert. Hier hat dann die Rede vom 'Heiligen Geist ihren Ort35 . Aufgezeigt wurde oben auch die Bedeutung der eigenen Situation und der eigenen bisherigen Erfahrung des Lesers für das Verstehen und N achvollziehen biblischer Texte. Deutlich zu sehen war dies u.a. an Mi 2,12f in Verbindung mit den vorangehenden Versen. Die beiden Texten gemeinsam zugrunde liegende Erfahrung ist das Erleben Gottes als des Strafenden. Während dies bei dem Autor von Mi 2,lff zu einem Gericht androhenden Wort wird, führt die Erfahrung des vollzogenen Gerichts den Autor von Mi 2,12f zur Bestätigung der Erfüllung der vorausgehenden Androhung und zur positiven Weiterführung des Textes. Das Erfahrungsobjekt »strafender Gott bei Fehlverhalten seines Volkes« ist zwar dasselbe, doch durch ein anderes Erfahrungssubjekt mit den ihm eigenen sonstigen Erfahrungsbezügen wird die Relation zwis.chen Erfahrungsobjekt und Erfahrungssubjekt eine andere und damit die Erfahrung selber eine nicht-identische, da sie einer anderen Situation zugeordnet ist. Das bedingt dann auch wieder eine subjektiv gefärbte Aufnahme und Reflexion (vgl auch Neh 9,6; Jes 40,3 und seine Aufnahme im Neuen Testament)36. Es wird deutlich, daß sowohl Erfahrung als auch Reflexion nicht als losgelöste Kategorien für das Verstehen biblischer Texte herangezogen werden können. Vielmehr zeigt es sich, daß beide Größen in Relation zueinander stehen und deshalb ein Gegeneinander-Ausspielen nicht möglich ist. Erschließung von schriftlich bezeugter Erfahrung ist nur durch das Reflektieren des jeweiligen Textes möglich. Gleichzeitig wirkt aber auch die bisherige Erfahrung auf die Reflexion des Textes mit seiner bezeugten Erfahrung zurück. Reflexion und Erfahrung bedingen einander also wechselseitig. Für den Umgang mit biblischen Texten bedeutet das aber, daß derjenige, der bei der Lektüre neue und dem Text analoge Erfahrungen machen möchte, sich offen hält für eine dem Text entsprechende Reflexion unter Berücksichtigung der Wechselwirkung seiner eigenen Erfahrung auf eben diese seine Reflexion37 . 35 Vgl dazu H. Schlier, Gotteswort und Menschenwort, in: Th. Michels/A. Paus (Hrsg.), Sprache und Sprachverständnis in religiöser Rede. Salzburg/München 1973, S. 61-84 und P. Trummer, »Verstehst du auch, was du liest?« (Apg 8,30), Kairos NF 22,1980, S.101-113. 36 Innerhalb der exegetischen Literatur läßt sich das besonders gut bei o. Kaiser, Das Buch des Propheten Jesaja. Kapitel 1-12, ATD 17. Göttingen 5. Aufl. 1981, gegenüber den früheren Auflagen zeigen. 37 Zur Thematik insgesamt vgl auch G. Ebeling, Dogmatik und Exegese, ZThK 77,1980, S.269-286, sowie - Ebelings Aufsatz weiterführend P. Stuhlmacher, Exegese und Erfahrung, in: E. Jüngel, J. Wallmann, W. Werbeck. (Hrsg.), Verifikationen, FS G. Ebeling. Tübingen 1982, S. 67-89; außerdem jetzt TRE Bd. 10 s.v. »Erfahrung« die Beiträge von J. Track. und E. Herms (dort S. 89ff).
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FRIEDRICH WILHELM KANTZENBACH
Politische Schulderfahrung der Kirche Bemerkungen zu einer unabgeschlossenen Diskussion'
I
Aufstieg und Niedergang des Nationalsozialismus haben eine heftige, langanhaltende Diskussion über die Schuldfrage ausgelöst. Dabei reichen die Blickpunkte, Fragestellungen und Betroffenheiten vom emotionalen Bereich bis zu differenzierten historischen und politischen Fragestellungen. Ende März 1945 schrieb ein am 2. April 1945 gefallener Student namens Walter Menzel stellvertretend für das Empfinden vieler angesichts der Katastrophe: »Wir dürfen nie vergessen, daß das, was über uns hereingebrochen ist und noch hereinbrechen wird, im ganzen verdient ist. Und erst, wenn wir unsere Schuld abgebüßt haben und wenn Frieden für uns wieder mehr ist als Ruhe und Faulheit, dann wird dieser Opfergang sein Ende nehmen.«1 Die Geschichtswissenschaft, besonders die methodisch neu begründete Disziplin »Zeitgeschichte«, hat mit der Aufarbeitung der Kriegsschuldfrage, schon hinsichtlich des ersten Weltkrieges und erst recht im Blick auf die ))deutsche Katastrophe«, in der Nachfolge Friedrich Meineckes 2 noch erheblich zu tun. Auf die bei der Diskussion zwischen den Historikern entstandenen kontroversen Standpunkte ist hier nicht einzugehen. Die Diskussion hat auch bereits ihre Auswirkungen auf die Bestandsaufnahme der Entwicklung nach 1945 gezeitigt3 • Auch kaum noch zu überschauende Beiträge von Publizisten (Reinhold Schneider!), Theologen und Kirchenhistorikern liegen vor, um mit dem ))Schuldproblem« der Kirche bzw. der Christen nicht nur geschichtsphilosophisch oder geschichtstheologisch ))fertigzuwerden«, sondern dessen geschichtliche Voraussetzungen in Fehlentwicklungen während der Jahrzehnte vor dem
1 Erich Kuby, Das Ende des Schreckens. Dokumente des Untergangs Januar bis Mai 1945, München 1961, S.87. 2 Die deutsche Katastrophe, 1 + 21946. 3 Heinrich August Winkler (Hrsg.), Politische Weichenstellungen im Nachkriegsdeutschland 1945 - 1953. Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 5, 1979.
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Aufkommen des Nationalsozialismus aufzuarbeiten4 • Auf kirchlicher Seite fehlen nicht die etwas apologetisch anmutenden Versuche, »den großen Abfall«, »das apokalyptische Wetterleuchten« geschichtstheologisch zu deuten, doch finden sich auch, in ökumenischer Sicht und in breiterer europäischer Orientierung, weniger kurzatmige Versuche, die »Zeitwende« zu analysieren, so von dem Schweizer Theologen und Okumeniker Adolf Keller5 • So ist es auch kein Zufall, daß die eindrucksvollsten Forschungsergebnisse zum Problem der »Schuld« der Christen und der Kirche während der Zeit des Nationalsozialismus im Kontext von Kirchenkampf und Okumene vorgelegt wurden6 • 4 Zu den geschichtsphilosophischen und theologischen Versuchen vgl besonders das Buch des Theologen Hans Jürgen Baden, Der Sinn der Geschichte. Hamburg 1958; für die Verknüpfung von historischer, politischer und juristischer Fragestellung vgl »Mißlichkeiten und Grenzen für die Bewältigung historischer und politischer Schuld in Strafprozessen«, mit Beiträgen von Erwin Schüle, Otto Kranzbühler, Johannes Hirschmann, Hans Buchheim, Karl S. Bader, Albert Mödl, Studien und Berichte der Katholischen Akademie in Bayern, Heft 19. Würzburg 1962, herausgegeben von Karl Forster. - Das in den kirchlichen Archiven liegende Material an Schuldbekenntnissen von Pfarrern der verschiedensten politischen und kirchlichen Prägung wurde bisher noch kaum beachtet. Ferner fehlt eine theologische Beurteilung der sog. Entnazifizierung. Dazu die im Gegensatz zu Wilhelm Hoegner stehende kritische Sicht von Josef Müller, Bis zur letzten Konsequenz, 1975. Historisch weiterführend Fritz Ernst, Die Deutschen und ihre jüngste Geschichte. Stuttgart 1963. Der der Bekennenden Kirche beigetretene Frankfurter Pfarrer und Kirchenrat D. Johannes Kübel (Erinnerungen, hrsg. von Martha Frommer, 1973, S. 139f), der als gebürtiger Bayer 1938 seine Ruhestandsjahre in Nürnberg verlebte, schrieb am 4. Juni 1945 in sein Tagebuch: »Gegen die' ehemaligen Nazis sind die Amerikaner stur und unerbittlich. Jeder Beamter, der vor dem 1. April 1933 der Partei angehört hat, wird ohne Entschädigung von seinem Amt entfernt ... Der Landeskirchenrat kommt nun in die seltsame Lage, daß er genau so, wie er bisher Bekenntnispfarrer gegen die an der Partei orientierte Regierung hat schützen müssen, jetzt Pfarrer, die vor dem Stichtag der Partei beigetreten waren, gegen die Amerikaner verteidigen muß.« Knappe, brauchbare überblicke zu der Frage der öffentlichen Verantwortung der Christen von 1933-1945 und seit 1945 legten Wolfgang Schweitzer (»Fragen christlicher Verantwortung«, hrsg. von Hermann Kunst und Gerhard Heilfurth, Berlin 1954, S. 149-168) und Rudolf Freudenberger (»Staat und Kirche in der Bundes republik Deutschland seit 1945«, in: Dieter Gutekunst und Dieter Jacob, »In Verantwortung 1881-1981«, Verband der Vereine Deutscher Studenten, 1981, S. 163-170, Lit.!) vor. Für die katholische Kirche die Streitschrift Carl Amerys: Die Kapitulation oder Deutscher Katholizismus heute, Nachwort von Heinrich Böll. Reinbek 1963, und die sich daran heftende lebhafte Diskussion. Noch nicht aufgenommen ist die Frage, warum um 1947 die Konversionswelle zum Katholizismus auf dem Höhepunkt war und welche politischen Motive sie in sich schloß. Vgl die Beobachtungen der Schriftstellerin Irmgard Keun bei Hermann Kesten, Deutsche Literatur im Exil, Briefe europäischer Autoren 1933-1949. Fischer TB 1973, S.257f.
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II
Der Kirchenhistoriker kann sicherlich nicht von den Zeugnissen persönlicher Betroffenheit und dezidierten theologischen und kirchenpolitischen Engagements absehen. 1945 beobachtete der selber von den Nazis ins Gefängnis geschickte Hanns Lilje, daß niemand Schuld anerkennen wollte. Das demütigende Schauspiel, »das unsere Nation mit Schmach bedeckt hat«, habe eingesetzt. Niemand habe sich zu seinen politischen überzeugungen bekennen wollen, alle seien »kirchentreu« gewesen, man habe von »Gestapo« oder Konzentrationslagern nicht gewußt7 • Gewiß waren in der Zeit des Nationalsozialismus manche »Weckrufe an das deutsche Gewissen«8 erschienen; der Kampf der bekennenden Kirche hatte einige Höhepunkte gehabt, auch politisch einigemal deutlich Flagge gesetzt. Trotzdem waren auch in elementaren Fragen, zu denen ein deutliches Bekenntnis hätte abgelegt werden müssen, Zwiespältigkeiten und Versagen genug zu beklagen gewesen9 •
5 Zeitwende, Zürich 1946. 6 V gl das gleichbetitelte Buch von Armin Boyens, das sich auf die Zeit von 1939-1945 bezieht: Darstellung und Dokumentation unter besonderer Berücksichtigung der Quellen des ökumenischen Rates der Kirchen. München 1973. Für die Nachkriegszeit notiere ich aus der Fülle der Literatur: Kar! Gerhard Steck, Schuld und Schuldbekenntnis. Evangelische Theologie, 6. J g. 1946/47, S.368-388; Wolfgang Lück, Das Ende der Nachkriegszeit. Eine Untersuchung zur Funktion des Begriffs der Säkularisierung in der »Kirchentheorie« Westdeutschlands 1945-1965. Europäische Hochschulschriften, Reihe XXIII, Bd. 63, H. Lang Bern, P. Lang Frankfurt/M., 1976; Ernst Feil (Hrsg.), Verspieltes Erbe? Dietrich Bonhoeffer und der deutsche Nachkriegsprotestantismus. Internationales Bonhoeffer Forum IBF Nr. 2 München 1979; Armin Boyens, Martin Greschat, Rudolf v. Thadden, P. Pombeni, Kirchen in der Nachkriegszeit. Vier geschichtliche Beiträge. Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 8, Göttingen 1979. 7 Hanns Lilje, Im finstern Tal. Rechenschaft einer Haft. Hamburg 1963, S. 154ff. 8 So der Untertitel des Buches von Kar! Kindt, Geisteskampf um Christus. Berlin 1938; der erste Beitrag ist »Unsere Not. Von der Bußnot der Kirche« überschrieben und hat nur zwischen den Zeilen unmittelbare politische Aktualität. 9 Wolfgang Gerlach, Zwiespältig in der »Judenfrage«. Bonhoeffers Mut und die Furcht der Kirchenkämpfer. Lutherische Monatshefte 8, 1979, S. 463ff. Gerlach zeigt, daß Martin Niemöllers Haltung gegenüber dem Judentum von Vorbehalten bestimmt war, daß Karl Barth sogar Bonhoeffers Sicht der Lage im Blick auf den Arierparagraphen als zu dramatisch beurteilt habe. Auf die reiche Literatur zur» Judenfrage« in der Zeit des Nationalsozialismus und während des Kirchenkampfes können wir ebensowenig eingehen wie auf die Frage, ob der Kirchenkampf als teilweise politische Widerstandsbewegung verstanden werden kann. Dazu besonders Ernst Wolf,
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Die politische Schuld der Christen und Kirchen ist vor allem von Theologen und Kirchenhistorikern in der DDR betont worden; so in den auf die Entwicklung im deutschen Protestantismus während der Novemberrevolution und in der Weimarer Republik zurückgreifenden lehrreichen und materialgesättigten Arbeiten Walter Bredendieks 10 • Natürlich sind Theologie und selbst Kirchengeschichte als Wissenschaft in der BRD nicht gegen Verzeichnungen der Schuldfrage in ihrer historischen Dimension gefeit, hat diese Dimension doch eine besondere Beziehung zur Frage der gewollten oder bekämpften Kontinuität. Martin Niemöller und Kar! Barth einerseits, Otto Dibelius und Hans Asmussen andererseits waren die geistigen Väter des Stuttgarter Schuldbekenntnisses von 1945. Dibelius berichtet 1965, er sei gebeten worden, »ein kurzes Wort zu entwerfen, das das Schuldbekenntnis der Deutschen zum Ausdruck bringe. Was ich vorlas, fand Zustimmung«. Nur Niemöller wünschte, das deutsche Verschulden noch klarer und konkreter zum Ausdruck zu bringen. Von ihm stammen die Worte, die noch eingefügt wurden: »daß durch uns Deutsche unendliches Leid über die Völker und Länder gebracht worden sei«l1. Die Rezeption des Stuttgarter Schuldbekenntnisses wurde nur teil weise in dem Sinn vorgenommen, daß von dem Bekenntnis politischer Schuld die Rede gewesen war und daraus
Kirche im Widerstand? Protestantische Opposition in der Klammer der Zweireichelehre. München 1965; dort weitere Literatur. Die Ergebnisse seines Buches »Barmen. Kirche zwischen Versuchung und Gnade«, 1957, kurz zusammenfassend s. Ernst Wolf, »Barmen«. Zwis,chen Vergangenheit und Gegenwart, Wandlungen der Beurteilung. Dt. Pfarrerblatt 64. Jg., Nr. 10, 1964, S.253ff. 10 Walter Bredendiek, Zwischen Revolution und Restauration, Hefte aus Burgscheidungen 171, 1969; ferner Walter Feurich., Evangelische Selbstprüfung heute. 30 Jahre nach Barmen, in Horst Symanowski/Walter Feurich, Buße oder Selbstrechtfertigung der Kirche? Hamburg (Evang. Zeitstimmen 21), 1965, S.18-42; die Verbindungslinien zwischen Nationalsozialismus und Nationalprotestantismus werden hier zu grob ausgezogen; vgl Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Nationalprotestantismus und Nationalsozialismus. Tatsachen, Beobachtungen, Fragen. Schriften des Vereins für Schlesw.-Holstein. KG. 11. Reihe 26.127. Bd. 1970/71, S.84-144; differenzierter argumentierte der in Jena lehrende Kirchenhistoriker Eberhard Pältz, Aspekte einer Geschichte des deutschen Protestantismus (1847 bis 1947) im Lichte des Darmstädter Wortes, Standpunkt, Evangelische Monatsschrift, Beilage zu H. 8, 1977, So4-14, mit weiterer Literatur. Speziell zur Thematik »Evangel. Kirche und Kriegsschuldfrage nach 1918« vgl Gerhard Besier, Krieg - Frieden - Abrüstung. Göttingen 1982, bes. S.325ff. 11 Ein in seiner summarischen Form sehr problematisches Urteil; denn zweifellos kommt Niemöller die entscheidende Bedeutung für den Text als ganzem zu, und der angeblich von Niemöller eingefügte Satz dürfte eher von Hans Asmussen angeregt worden sein. Zu Dibelius vgl Otto Dibelius, So habe
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auch für den politischen Weg der Christenheit nach 1945 Konsequenzen politischer Art gezogen werden müßten. Helmut Gollwitzer sah Schuld und Vergebung ohnehin in ihrer politischen Relevanz; dafür könnte man sich vor allem auf das Alte Testament berufen12 •
III Welche politische Komponente hat ein Bekenntnis der Schuld? Diese Frage stellt sich aktuell angesichts des Stuttgarter Schuldbekenntnisses von 1945 und der sich daran anknüpfenden, oft erbitterten und verbitterten Diskussion. War das Bekenntnis nur eine binnenbezogene christliche, wenn auch christlich-ökumenische erste Bereinigung zwischen den deutschen Christen und den Kirchen der Dkumene, die nach Stuttgart Vertreter gesandt hatten? Für die Beantwortung dieser simpel gestellten Frage möchten wir drei Wege beschreiten. Zunächst soll der politische Akzent, wie Karl Barth ihn dem Kirchenkampf zwischen 1933-1945 verlieh bzw. verleihen wollte, in Erinnerung gerufen werden. Sodann sollen einige mit Karl Barths Voten nach 1945 sachlich sich treffende Stimmen berücksichtigt werden, vor allem die von Martin Niemöller. Schließlich soll nach dem Weg der in sich keineswegs einheitlichen lutherischen Theologie bei der Beurteilung der Schuldfrage geforscht werden, wobei zu diesem dritten Fragenkreis bisher unbekannte oder kaum beachtete Quellen berücksichtigt werden. Karl Gerhard Steck sagt in seinem »Rückblick und Ausblick« zum Reprint der 'Hefte 1-77 der »Theologische Existenz heute«, die von Karl Barth und Eduard Thurneysen in den Jahren 1933-1941 herausgegeben wurde 13 , daß Barth nicht der politischen oder kirchenpolitischen Enthaltsamkeit das Wort reden wollte, und erinnert an den besonderen Reiz der ersten Hefte der Reihe, der in Barths Vorworten zur jeweiligen Lage ich's erlebt. Selbstzeugnisse. Berlin 1980, S.241-249; zum wahrscheinlicheren historismen Sachverhalt - Textgeschichte des Stuttgarter Schuldbekenntnisses - vgl Hartmut Ludwig, Karl Barths Dienst der Versöhnung. Zur Geschichte des Stuttgarter Schuldbekenntnisses, in: Heinz Brunotte (Hrsg.), Zur Geschichte des Kirchenkampfes. Gesammelte Aufsätze 11. Göttingen 1971, S. 265-326, bes. 291ff, 30off. Armin Boyens, Das Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 19. Oktober 1945. Entstehung und Bedeutung, Vierteljahreshefl: für Zeitgeschichte 19, 1971, S.374-397. 12 Helmut Gollwitzer, Schuld und Vergebung, in: Forderungen der Freiheit. Aufsätze und Reden zur politischen Ethik. München 1964, S.351ff. 13 Bisher liegen die Hefte 1-31 vor, ehr. Kaiser Verlag, München 1980.
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- mit Recht - zu sehen sei. Hans Asmussen, der als Lutheraner neben Barth am meisten Beiträge zu der Reihe geliefert hat, die auf viele mehr wirkten als die Schriften Iwands oder Bonhoeffers, hat von der Distanzierung gegenüber Barths Unterscheidung von Gesetz und Evangelium im Sinne einer Vorordnung des Evangeliums gegenüber dem Gesetz nach 1945 in der Interpretation des Stuttgarter Schuldbekenntnisses die politischen Folgerungen Barths bekämpft; Steck vermutet14, »daß eher politische Auffassungen als theologische Voraussetzungen für die Trennung maßgebend waren«. Von Asmussen nimmt Steck an, er hätte sich zunächst auch beim Nationalsozialismus unterstellen können, denn Ansatz und Folgen der europäischen Aufklärung seien stets für Asmussen »negativ besetzt« gewesen. »Das Faktum Kirche und die Hauptinhalte ihrer Botschaft und überlieferung haben ihn daran gehindert und zur Arbeitsgemeinschaft mit Barth geführt.« Dieser vermutungsweise geäußerten Diagnose ist kaum etwas hinzuzufügen, wenn man Asmussens Außerungen nach Stuttgart 1945 liest. Daß Barth als Schweizer Demokrat, aus differenziert zu beurteilenden Gründen sogar als ein Theologe, der Mitglied der Sozialdemokraten war, in Deutschland unter lutherischen Theologen, auch unter führenden Theologen der »Bekennenden Kirche«, Gegner hatte, ist kein Geheimnis. Insofern gab es schon 1935 einen »Fall Barth«15. Trotz seiner Vertreibung und gerade wegen seines Aufenthaltes in der heimischen Schweiz hat Barth von Basel aus die Bekennende Kirche ständig begleitet, gefördert, auch kritisiert, so daß zwischen der Bekennenden Kirche, der Okumene und ihm als Mittelsmann (neben ihm wäre besonders Dietrich Bonhoeffer zu nennen) selbst während der Kriegszeit die Verbindung nie abriß. In seinen Briefen trat Barth nicht nur für die Notwendigkeit ein, Widerstand gegen das Hitler-Deutschland zu leisten, sondern er machte sich 1942 und sicherlich schon früher Gedanken über die wirkliche Aufgabe der Kirche und ihrer Diener im Krieg und nach dem Krieg 16 . Dabei mußte zunehmend die Schuldfrage in das Zentrum der theologisch-ökumenischen Studienarbeit rücken. 1945 setzte Barth die Versöhnungsdienste in Briefen und Vorträgen konsequent fort. Dabei hielt er sich nicht mit Analysen der deutschen Vergangenheit auf, sondern legte den Nachdruck auf den Neuanfang, die Chance der Tat, die Erkenntnis der eigenen Verantwortlichkeit und der gemeinsamen Ver14 aaO, S.XXV. 15 Vgl Hans Prolingheuer, Der Fall Karl Barth 1934-1935. Chronographie einer Vertreibung. Neukirchen 1977; die Klagen gegen Barths angebliche Attacken gegen die Deutschen hefteten sich an Barths Vortrag »Zur Genesung des deutschen Wesens«, November 1945, und führten 1958 zu scharfen Vorwürfen Friedrich Baumgärteis, vgl Prolingheuer, S.209. 16 Genaue Schilderung bei Hartmut Ludwig, aaO, S.267-281.
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antwortung für die Gegenwart. Natürlich betonte er, daß die Kirche an der Entwicklung »der letzten 15 Jahre ihr gemessen Teil Schuld trägt«17. Barth wollte, wie er in einem Interview im September 1945 sagte, die Deutschen dazu bringen, »die Schuld in der Deutschen Konzeption zu erkennen«, die den Nationalsozialismus und seine Unmenschlichkeit möglich gemacht habe. »Er wollte die deutsche Schuld, auch die Schuld der Kirche, zweifellos als >politische Schuld< verstanden wissen« (Hartmut Ludwig)18. Die Ursache der Schuld sah er in einer dualistischen Auffassung der sogenannten zwei Reiche, die man im lutherischen Sprachgebrauch der dreißiger Jahre zu undifferenziert mit den zwei Regimenten in eines' setzte19 . Was man als Zweireichelehre lutherischerseits vertrat, konnte man auch in ungeklärter Weise als Lehre der rechten Unterscheidung von Gesetz und Evangelium bezeichnen. Insofern war das verzeihlich, als die Beziehung der Lehre von Gesetz und Evangelium zur richtig verstandenen Zweireichelehre, die mit der Zweiregimentenlehre nicht identisch ist, damals theologisch noch nicht diskutiert wurde, wenn man sie überhaupt in ihrer Problematik schon erfaßte20 •
IV
Es muß dahingestellt bleiben, ob Hans Asmussen wegen einer hochkirchlich anmutenden oder wenigstens spezifisch amtstheologischen Auffas17 So die Formulierung Martin Niemöllers in einer Bruderratssitzung in Frankfurt/Mo am 21. August 1945; am 22. August sprach Kar! Barth nach verspäteter Ankunft über die »Politische Verantwortung der Kirche«. Dazu und zur Treysaer Kirchenkonferenz in der Sicht Barths und Niemöllers Ludwig, aaO, S.288ff. 18 aaO, S.299. 19 Vgl zu diesem umstrittenen Thema außer den 1979/80 ersclUenenen Beiträgen von Ulrich Duchrow, Trutz Rendtorff, Heinz-Eduard Tödt zur thoologiegeschichtlichen Erläuterung der Unterschiede in der Terminologie »Reich« bzw. »Regiment« meine Abhandlung »Ethik des Politischen - Erbe und Auftrag. Der Ansatz der politischen Ethik und Sozialethik im Konflikt zwischen >Ordnungs theologie< und Parole >Königsherrschaft Jesu Christi<<<, Una Saneta, Zeitschrift für ökumenische Theologie, 1969, S.79101; zu meinem Bedauern blieb dieser Beitrag unberücksichtigt in den einschlägigen Beiträgen von Holsten Fagerberg, Gerhard Müller und HeinzEduard Tödt bei Niels Hasselmann (Hrsg.), Gottes Wirken in seiner Welt. Zur Diskussion um die Zweireichelehre Hamburg 1980, 2 Bde., bes. Bd. H, S.64ff, 72ff, 86ff, 142ff. 20 Wilfried Joest, Das Verhältnis der Unterscheidung der beiden Regimente zu der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, in: Dank an Paul Althaus. Eine Festgabe. Gütersloh 1958, S.79-97.
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sung vom Priestertum und vom priesterlichen Vergeben zu einer anderen Auslegung von der Schuldbezeugung in Stuttgart kam, die dann sekundär weiter theologisch begründet wurde. Insofern scheint bei Asmussen ein wichtiges Anliegen mit im Spiel gewesen zu sein, als er Bekenntnis der Schuld und Zuspruch der Vergebung als den Beginn eines Neuansatzes verstand, der nicht ständig durch Hinweise auf die politische Schuld der Deutschen problematisiert werden sollte. Andererseits ging es um den mit der Schulderklärung eröffneten Weg, um den Lernprozeß, die vergebene Schuld als eben nicht nur individuelle oder christliche Schuld zu begreifen, sondern zugleich als politische Schuld verstehen zu lernen. Aus solchem Lernprozeß wären dann auch bestimmte politische Folgerungen in der Kirchenpolitik und der Politik der Nachkriegszeit zu ziehen gewesen. Zugegebenermaßen machten es die Besatzungsmächte den Deutschen oft nicht gerade leicht, ihre politische Schuld anzuerkennen. Wiederholten sie nicht viele Fehler, die den Deutschen zum Verhängnis geworden waren?21 Auf kirchlicher Seite wurde alsbald in entschiedenen, vielleicht sogar zum Radikalismus neigenden Kreisen der Bekennenden Kirche die Frage aufgeworfen: »Restauration oder Neuanfang in der evangelischen Kirche?«22 Das Thema der zunehmenden Restauration der Kirchen ist häufig behandelt worden, besonders von Ernst Wolf und Paul Schempp. In Beschränkung auf unser Thema gilt es nach dem Schuldverständnis im Anschluß an die Stuttgarter Schulderklärung zu fragen. Martin Niemöller äußerte sich 1946 über »Die Erneuerung unserer Kirche«23. Da Erneuerung im Widerspruch zur Restauration steht, Niemöller aber für die Erneuerung der Kirche, ausgehend von Apk 3,14-22,
21 Vgl dazu die Schilderung des europäis1ch und aufklärerisch-liberal eingestellten Schriftstellers Otto Flake in seiner Autobiographie »Es wird Abend«. Fischer TB 1980, S.522ff. 22 V gl das gleichnamige Büchlein von Hermann Diem, Stuttgart 1946, dem es um den Ertrag des Kirchenkampfes und der in ihm gewonnenen Einsichten für die Neuordnung der Kirche geht. Diem verwirft die Flucht in die unsichthare Kirche, die Auslieferung der Kirche an das moderne Kirchenrecht, die Entmündigung der Gemeinden und rügt einen falschen Offentlichkeitsanspruch. Keineswegs für eine »Winkel-Kirche«, will er den z.T. sehr beachtenswerten Entwurf einer Ordnung für die Evangelische Landeskirche Württemberg vorlegen, mit deren Kirchenleitung, auch mit Landesbischof Wurm, er mit seinen nächsten Freunden, besonders mit Paul Schempp, in scharfer Auseinandersetzung gestanden hatte und nom stand. Er stützte sich (S.9) nicht zuletzt auf Karl Barth. Vgl auch Hermann Diem, Ja oder Nein. 50 Jahre Theologie in Kirche und Staat. Stuttgart/Berlin 1974, S.45ff, 145ff; hier derselbe Tenor: »Restauration oder Neuanfang?« Martin Widmann, Zum Gedenken an Paul Schempp, Ev. Theologie 4, 1982, S.366381. 23 Neubau-Verlag Adolf Groß, München.
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spricht, ist sein Verständnis von der »sogenannten« Schuldfrage24 aufschlußreich. Vom Ansatz einer Erneuerung aus, die der Kirche dadurch geschenkt wurde, daß sie Jesus Christus bezeugte, was Niemöller unter Aufnahme von Sätzen der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 ausführt, versteht er die Schuldfrage als eine durchaus -aktuelle, die Christen umtreibende Frage. Eine Kollektivschuld gebe es nicht und könne es nicht geben, ebensowenig wie ein Kollektivgewissen; »es gibt aber eine Kollektivhaftung«. Dann beschreibt Niemöller, wie er im Herbst 1945 an Dachau vorbeikam, wo er seiner Frau das ehemalige KZ-Lager und seine Zelle zeigte. Hatte er vorher, noch nach dem Krieg, bei der Schuldfrage auf Hitler, die SS usw. gezeigt, so machte ihm die Zahl der Opfer in den Jahren seit 1933, wo er noch nicht im KZ saß, deutlich, daß er sich nicht hinter anderen verstecken könne. »Da fragte mich Gott ... : Adam, Mensch, wo bist du gewesen von 1933 bis 1945«? Und die Tatsache, daß er von 1937 bis 1945 »Konzentrationär« war, erschien ihm als ein unbrauchbares Alibi. Niemöller spricht von der »Solidarität der Schuld«; er sagt es im Hinblick auf die Kirche. Dagegen hebt er im Hinblick auf das Volk die Gemeinsamkeit des Leidens hervor und läßt keinen Zweifel, daß eine angebliche Belastung des deutschen Volkes durch die Schulderklärung nicht beabsichtigt war und sei, weil Christen das Schuldbekenntnis abgelegt hätten. Von diesem Schuldbekenntnis habe man gewußt, »daß unser Schuldbekenntnis hätte mißbraucht werden können«. Bezeugen und Annahme der Schulderklärung waren nach Niemöllers Darlegung kirchlichökumenische Geschehnisse, Frucht der Gnade des himmlischen Vaters zur Erneuerung seiner Kirche. Schon im Dezember sprach Niemöller die Befürchtung aus, das Schuldbekenntnis könne das gleiche Schicksal wie Barmen haben, »weil wir und unsere Kirchen ja eine verständliclie Scheu davor haben, politisch verstanden und entsprechend belangt zu werden«25. Das Bemühen, ein geistlich-kirchliches Verständnis des Stuttgarter Schuldbekenntnisses zu erwecken, ist Niemöller uneingeschränkt zu glauben. Karl Barth wandte sich in drei Gedankenschritten, die miteinander zusammenhängen, an Deutschland und Europa. Am 2. November 1945 hielt er, auf Einladung des württembergischen Ministeriums des Innern im Württ. Staatstheater Stuttgart den Vortrag, der als »Ein Wort an die Deutschen« im 11.-20.Tsd. im November 1946 erschien 26 . Aus der
24 aaO,6. 25 Martin Niemöller, Das Christusbekenntnis der Kirche vor der Welt. Bielefeld 1945, 5.15. 26 Franz Mittelbach Verlag, Stuttgart.
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Schweiz kommend, versteht sich Barth nicht nur für seine Person als eine Art »Taube des Noah«, aber er würde sich wahrscheinlich nicht getraut haben, die Offenheit für die Deutschen im Namen vieler guter Schweizer auszusprechen, »wenn ich mich nicht als Glied der christlichen Kirche dazu genötigt wüßte«27. Sicherlich spricht Barth nicht nur seelsorgerlic:h; er versucht, den Weg in den Abgrund, »zu dieser fatalen Wendung« knapp anzudeuten. Bei den Sätzen über den göttlichen Richter, der sich bei den Deutschen »als ihr eigener Richter« erwiesen hat, macht er die bemerkenswerte Feststellung (unter Voraussetzung des Stuttgarter Schuldbekenntnisses): »Es ist wohl wahr, daß dem bösen Kreislauf von Schuld und Vergel tung und neuer Schuld einmal ein Ziel gesetzt werden müßte; es ist aber an dem, der Vergeltung erleidet, dies zu bedenken und also wohl zuzusehen, daß er nicht Gedanken in sich bewege, die auf eine einstige Wiedervergeltung hinauslaufen und also jenen Kreislauf aufs neue in Bewegung setzen müssen.«28 In »Die evangelische Kirche in Deutschland nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches«29 geht Barth stärker auf den Verlauf der deutschen Geschichte, den Weg des Nationalsozialismus ein. Er anerkennt geleisteten Widerstand, dem Sichtbarkeit und Wirksamkeit zu geben kaum im Bereich des Menschenmöglichen lag. Er erinnert an Barmen, die Höhepunkte des Kirchenkampfes und dessen Glanzpunkte, auch an die positiven Auswirkungen, daß Christen und Nichtchristen sich achten lernten. Das schwerste Hindernis der protestantischen Widerstandsbewegung seien die »autorität-legitimistischen, Instinkte und Tendenzen einer bischöf-konsistorialen Kirchlichkeit und politisch nun eben doch die Gesinnung der Deutschnationalen«30. Sicher wäre diese Diagnose heute vorsichtiger zu stellen, doch für unseren Zusammenhang ist von Bedeutung, daß Barth von der deutschen Verantwortlichkeit nicht ohne überlegung zu einer indirekten oder direkten Mitschuld anderer Völker reden will. Nur die theologisch leichtfertige Erklärung aller Fehler und aller Schuld durch »Dämonen« wehrt er ab, gewiß mit guten Gründen, weil vereinfachte geschichtstheologische Erklärungen des großen Abfalls schon damals mit dieser These aufwarteten. Die verstehende Teilnahme möchte Barth zum Ausdruck bringen, freilich auch Empfehlungen für den Weg, der kirchlicherseits jetzt eingeschlagen werden sollte. Am Schluß der Schrift ist die Stuttgarter Erklärung vom 18. Oktober 1945 abgedruckt. Die dritte der genannten Schriften von 1946 31 ist ebenfalls aus Vorträgen hervorgegangen, die sich mit der Beurteilung der geschichtlichen Entwick27 28 29 30 31
aaO, 5.7. 5.20. Wipkinger Tagung 1945, erschienen Stuttgart 1946. aaO, 5.19. Die christliche Verkündigung im heutigen Europa. München 1946.
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lung Deutschlands befassen, wobei die geistige Entwicklung seit Meister Eckhart und Luther als Kontrast zu dem angesprochen wird, was unwiderruflich geschehen ist und was nicht wiedergutgemacht werden könne. Rußland bedeute für ein zwischen die Mühlsteine geratenes Europa nicht nur Kommunismus und Zarismus in anderem Gewand. Der Losung »Untergang des Abendlandes« sucht Barth Aufgaben christlicher Verkündigung gegenüberzustellen. Diesen Vortrag Karl Barths kommentierte, obwohl er nicht hatte anwesend sein können, Helmut Thielicke in einem »Exkurs über Karl Barths Vortrag in Tübingen« am 8. November 1945. Eine Vervielfältigung liegt mir vor. Aus ihr zitiere ich nur diese Passage: »Wollte Gott, daß es anders wäre, denn wir möchten ja die Schuldfrage ins Reine bringen. Aber wir bekommen es ja doch täglich in der schmerzlichsten Weise ad oculus demonstriert, daß wir es nicht mit Gott, sondern mit menschlichen, mit allzu menschlichen Richtern zu tun haben. Und hier bäumt sich alles, was ich an Männlichkeit habe, in mir auf, vor diesen fremden und allzu gierigen Ohren zu sagen, wie ich über mich denke. Als eine noachitische Friedenstaube aus dem Ausland (als welche sich Barth ja wohl bezeichnet hat und offenbar in einer sehr schönen, wahren und freundschaftlichen Art bezeichnet hat) genügt es nicht, wenn sich ein gütiger Erzieher über unsere Grenzen wagt, um seinem geliebten, aber mißratenen Zögling ein Wort der Wegweisung und Aufmunterung zu sagen, sondern wir warten statt dessen auf eine Taube, die ein Brieflein mit einer einzigen Zeile im Schnabel hätte: daß auch die Andern an ihre Brust zu schlagen beginnen. Das wäre die einzige ehrenhafte und für uns alle tragbare Möglichkeit, um das Bekenntnis >Gott sei mir Sünder gnädig< nicht nur im stillen Kämmerlein und vor Gott, sondern auch von den Dächern und vor der Welt zu sprechen. Wir tragen eine schwere Schuld - jawohl - aber indem wir sie tragen, wissen wir zugleich, daß wir allzumal Sünder sind, und nur der wird erwarten können, daß wir mit ihm von unserer Schuld reden, der statt Pharisäer zu sein, sich mit in die allgemeine Solidarität der Vergebungsbedürftigkeit einschließt. Pharisäismus ist immer dadurch charakterisiert, daß der Mund, der eigene Mund unaufhörlich spricht und daß der Mund des anderen hoffnungslos versiegelt wird. Ein Tropfen Schuldbekenntnis von der anderen Seite ist uns lieber als ein Ozean Sympathie. Nur dieser eine Tropfen wir warten auf ihn wie Verdurstende - könnte uns die Möglichkeit geben, jenes befreiende Wort zu sprechen, in Ehren zu sprechen.« Karl Barths Stimme, die 1952 noch einmal forderte »Politische Entscheidung in der Einheit des Glaubens«32, traf auf ein sehr pointiertes Gegenvotum bei Hans Asmussen und auf vermittelnde Antworten auf 32 Theologische Existenz heute, Neue Folge 34. München 1952.
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seine Thesen bei Helmut Thielicke, auch Theodor Haug. Als Gegner christokratischer Ethik traten zahlreiche Lutheraner auf, unter denen am wirksamsten Walter Künneth 33 und - abwägender - Erwin Wilkens 34 gewesen sein dürften; Thielickes »Die Evangelische Kirche und die Politik«, 1953 35 , sei als Versuch zur Vermittlung der politisch-ethischen Konzeptionen nicht vergessen.
v Hier kann es nur um Asmussens Haupteinwände gehen sowie um eine Charakteristik der Thesen Martin Haugs, der Nachfolger von Landesbischof Theophil Wurm wurde. Für Asmussen kommen drei Außerungen in Betracht: die Broschüre »Ein Wort der Kirche«36, die sich ausdrücklich zur Schulderklärung in Stuttgart bekennt, weil sie der Aufgabe der Versöhnung in Deutschland diene (Asmussen geht auf die Entnazifizierungsmethode und die Besatzungsmachtproblematik erstaunlich kühn ein!), sodann der Vortrag »Zur Lage 1947 «, den Asmussen in Schwäbisch Gmünd am 4. Mai 1947 gehalten hat. Der Abrundung wegen sei noch auf das erst 1960 erschienene Büchlein »Der Christ in der politischen Verantwortung«37 hingewiesen. Im Vortrag »Zur Lage 1947« sieht Asmussen Deutschland als eine Art neues Missionsland und versteht die Verkündigung als eine »gesamtdeutsche Aufgabe«. Als lutherischer Christ und Kirchenmann beansprucht Asmussen Gehör für seine Auffassung von Gesetz und Evangelium. Die Verteidigung ist gegen Karl Barth gerichtet, der zwar nicht bei Namen genannt wird, von dem es heißt: »Seit dem Zusammenbruch im Jahr 1945 werden die lutherischen Kirchen Deutschlands häufig angegriffen, weil sie angeblich dem demokratischen Staate Schwierigkeiten machen und ihm feindlich gesonnen sind. Ein anderer - diesmal reformierter-TheologieProfessor verbreitete im Inland und im Ausland die Ansicht, Luthers Lehre, hauptsächlich seine Lehre von Gesetz und Evangelium, sei schuldig am Aufkommen des Nationalsozialismus.« Das Gespräch höre auf, wenn eine Konfession politisch unmöglich gemacht würde. Trotz des Einsatzes 33 Die öffentliche Verantwortung der Christen. Berlin 1952. 34 Theologie und Politik. Berlin 1962. 35 Ethi&ch-politischer Traktat über einige Zeitfragen. Stuttgart 1953; dazu die Ethiken Thielickes und Künneths, s. meinen Anm. 19 genannten Aufsatz. 36 Schriftenreihe zum Neubau, Heft 2, Stuttgart 1946. 37 Verlag Rombach, Freiburg, Schriftenreihe »Politik«, hrsg. von Arnold Bergstraesser.
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für die Stuttgarter Erklärung zeichnet sich bei Asmussen ein ganz anderes Interesse ab als bei Barth, gegen den er hier polemisiert. Es bedürfe der brüderlichen Verständigung zwischen den verschiedenen Konfessionen für den Weg zur Einheit der Kirche. Asmussen ist bekanntlich diesen Weg bis an die Grenze der Selbstaufgabe des »Lutherischen«, dieses verstanden als das »Reformatorische«, gegangen. An einer Aufarbeitung der politischen Strukturprobleme seit der Französischen Revolution zeigt er sich 1947 (noch nichtl) interessiert, aber es ist deutlich, daß die Vermutung Karl Gerhard Stecks zutreffen dürfte, daß es letztlich unvereinbare politische Standpunkte waren - Asmussen ging es um »die natürlichen und geschichtlichen Gliederungen«, politisch und kirchlich -, die Barth und Asmussen unter besonderer Betonung des Gegensatzes in der Auffassung von Gesetz und Evangelium, der nicht zu leugnen ist, aus einanderbrachte. Der Gegensatz mußte sich in der Entfaltung der Bedeutung der Stuttgarter Schulderklärung zeigen, die Asmussen ebenso wie Niemöller in den Gemeinden bekannt machte. Durch den Abdruck des einen Vortrags von Asmussen sah Niemöller schon 1946 die Stellungnahmen Asmussens als bedenkliche Abschwächung der von ihm vertretenen Intention. Aus Haugs wohl zweimal zugleich38 gedruckter, weit in die Geschichte zurückgreifenden Schrift »Die politische Verantwortung der Kirche« sei nur der eine Satz hervorgehoben: »In all dem geht es um Buße auf dem der Kirche eigenen Gebiet. Nun sind wir Christen aber als Glieder unseres Volkes heute vor die Schuldfrage im politischen Sinne gestellt.« Mit dem Zitieren des Textes weicht Haug aber den Fragen angesichts eines öffentlichen Schuldbekenntnisses, des Bekenntnisses der politischen Schuld also, aus. Ihm geht es um eine vorsichtige seelsorgerlich-schonende Vermittlung des biblischen Verständnisses von Schuld und Buße und er versteht »Buße und Schuldbekenntnis nie (als) Selbstzweck ... , sondern Durchgangspunkt zur Freiheit«. Diese vermittelnde Lösung ist keine. Aus Enttäuschung über die Wirkungslosigkeit bzw. Mißinterpretation der Stuttgarter Schulderklärung kam es beim Bruderrat der Bekennenden Kirche zum sog. Darmstädter Wort des Bruderrates (1947). Seine Entstehungsgeschichte39 scheint weit besser geklärt zu sein als seine reale Wirkungs geschichte, von der erst das dreißigjährige Jubiläum etwas ahnen ließ oder auch nur zu behaupten schien. Dieses Darmstädter Wort ist in hohem Maße von einigen theologischen und kirchlichen Gruppen in der DDR vereinnahmt worden.
38 Evangelischer Verlag Hamburg, Ev. Zeitstimmen 11; Verlag Evangelischer Weg, Stuttgart. 39 Hartrnut Ludwig, Die Entstehung des Darmstädter Wortes, in: Standpunkt. Evang. Monatsschrift, Beilage zu Heft, 1977, 15-20.
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VI Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde von prominenten Predigern nicht selten apologetisch gepredigt, z.B. von Landesbischof Wurm schon am 29. April 1945, also noch vor dem »offiziellen« Ende am 8. Mai 1945, in Großheppach über Micha 6,8; freilich sind die Verdienste, die sich Wurm mit seinen Protesten gegen die »Euthanasie« erwarb - er spricht die Judenverfolgung und Vernichtung von Leben an - keinesfalls zu leugnen. Es überwogen die Analysen des geistig-geistlichen Niedergangs Deutschlands und seelsorgerlicher Trost. Hanns Lilje hielt am 3. Juni 1945, kurz nach seiner Befreiung aus dem Gestapo-Gefängnis, in Nürnberg einen Vortrag40 . Darin begegnet gleich nach der Feststellung, wir dürften nicht in Gedankenlosigkeit weiterleben, der Satz: »Deutschland muß mit seiner politischen Vergangenheit in Ordnung kommen. Die Kanzel ist nicht der Ort, politische Entscheidungen zu erörtern. Wir haben das, sooft es uns auch fälschlich nachgesagt wird, in den hinter uns liegenden Jahren nicht getan und werden uns durch den Satan nicht verführen lassen, das jetzt zu tun.«41 Man ahnt, wie bei Lilje die Entwicklung beurteilt werden wird, da er vom Willen Gottes und der Realität der zehn Gebote in seinem Rückblick - es bleibt im wesentlichen dabei ausgeht. Häufig wird in der vorliegenden Literatur zum Kirchenkampf und zur Zeitgeschichte der Eindruck erweckt, als ob »Lutheraner« zum Nationalsozialismus nur geschwiegen hätten. Zu den Beispielen, die das Gegenteil beweisen, fügen wir, gestützt auf einige bisher unbekannte Predigten, einige weitere. Walther von Loewenich erwähnt42 als denjenigen, der bei loyalem Verhalten den Nazismus wohl am klarsten durchschaute und in dieser Beziehung selbst Hermann Strathmann überlegen war, Hermann Sasse in Erlangen. Von diesem haben sich für die Zeit von 1933 - 194443 keine im vordergründigen Sinne politischen Urteile über den Nationalsozialismus feststellen lassen. Von Hermann Strathmanns mutigen Predigten berichtet Walther von Loewenich. Seine Beurteilung entspricht mit gewissen Einschränkungen früher vorgelegten Forschungen zu Strathmanns Haltung in der Zeit des Nationalsozialismus 44 . Der Aufbau des Gottesdienstes mit der Predigt, unmittelbar nach der Kapitulation, ist mir durch Nachschrift bekannt geworden. 40 Abgedruckt: Luther, Zeitschrift der Luther-Gesellschaft 1978, Heft 2, 5.61-71. 41 aaO, 5.63. 42 Erlebte Theologie. Begegnungen, Erfahrungen, Erwägungen. München 1979, 5.133. 43 Zeugnisse. Erlanger Predigten und Vorträge vor Gemeinden. Erlangen 1979.
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In der Predigt heißt es: »Das Volk hat sich selbst dieses System gewählt! Viele haben dabei gewiß im guten Glauben gehandelt. Sie waren bestochen durch die idealen Parolen wie zum Beispiel die: >Gemeinnutz geht vor Eigennutz<, gegen die freilich niemand dreister gesündigt hat als die sogenannten Führer des Systems. Viele, besonders in der akademischen Jugend, folgten den Parolen aus reinem Idealismus. Und wirklich ist ja auch manches Gute geschaffen worden. Aber hinter dem idealen Schleier der schönen Worte waren für den, der genauer hinsah, von Anfang an die Züge des gottwidrigen Geistes sehr wohl erkennbar. Auch hat es an klaren Warnern keineswegs gefehlt. Aber sie wurden nicht beachtet, sondern schroff zurückgewiesen, wie König Ahab den Elia zurückwies: >Bist du der, der Israel verwirrt?< So müssen wir nun miteinander das Gericht tragen. Und die Missetat der Väter wird heimgesucht werden an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied (2. Mose 20,5). . Jetzt wird nun wohl auch dem blödesten Auge der ganze furchtbare Ernst eines solchen Drohwortes wie Jeremia 17,5 klar werden! Eines Wortes, das doch keineswegs nur ein alttestamentliches Wort ist. Denn im Galaterbrief steht das Wort: >Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten. Was der Mensch säet, das wird er ernten.< Und im Hebräerbrief lesen wir: >Auch unser Gott ist ein verzehrendes Feuer.< Das alles bedeutet keine Rechtfertigung des mancherlei Unrechts, das nun auch wieder an uns geschehen wird. Gott vollzieht seine Gerichte immer durch sündige Menschen. Deshalb sind es doch seine Gerichte. Aber neben dieses Wort müssen wir nun doch sogleich das andere stellen, das wir bei Hesekiel 33,11 gelesen haben. Immer verbindet die prophetische Predigt mit dem Gerichtswort die Gnadenbotschafl:. Das gilt auch heute. Wir heben in aller Kürze dreierlei hervor: Dieser Segen liegt schon in der Offenbarung seiner heiligen Majestät in ihrer Wirklichkeit. Indem Gott seine Gottheit offenbart, zerschlägt er den menschlichen Dünkel, der uns ins Verderben gestürzt hat, den menschlichen Größenwahn, die Götzen, die wir uns errichtet haben. Damit führt er unsere Existenz auf den Boden der Wahrheit und Wirklichheit zurück, auf dem allein sie bestehen kann. Und das ist Gnade. Der 44 Friedrich Wilhelm Kantzenbach, »Theologische Blätter«. Kampf, Krisis und Ende einer theologischen Zeitschrift im Dritten Reich, bei Heinz Brunotte (Hrsg), Zur Geschichte des Kirchenkampfes. Gesammelte Aufsätze, Ir. Göttingen 1971, S.79-1 04; die Texte verdanke ich dem verstorbenen Kirchenrat Dr: Adolf Burkert, der sie mir mit allen seinen Handakten zum Kirchenkampf schenkte. Der größte Teil dieser Akten ist inzwischen an das Landeskirchliche Archiv Nürnberg übergegangen. Pfarrer Karl Steinbauer hat drei seiner seit 1933 zur Schuldfrage gehaltenen Predigten veröffentlicht: Vom Gehorsam des Glaubens. Mosepredigten, Theologische Existenz heute, Neue Folge 2. München 1946. 1939 kam Steinbauer ins KZ Sachsenhausen.
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menschliche Titanismus muß vernichtet werden, damit Gottes Gnade sich entfalten kann. Das ist ein Grundgesetz des Reiches Gottes. So dann aber, zweitens, wird uns hierdurch die Möglichkeit der Buße gegeben. Jedes Gericht ist Bußpredigt. Jede Bußpredigt ist aber zugleich Gnadenpredigt. Denn >so wir unsere Sünden bekennen, ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Untugend< (1. Joh. 1,9). Gewiß nicht in dem Sinne, die unsere Schuld herauf~ beschworen hat. Wohl aber in dem Sinne, daß die Buße den Weg der inneren Lösung von der Sünde, also die Möglichkeit der inneren Genesung zeigt. Die Hand des Arztes, der mit schmerzendem Schnitt die Eiterbeule öffnet, deren Gift den ganzen Körper zu verseuchen droht, ist zugleich die heilende Hand, die den Seelenschaden heilen will. Und das ist das Wichtigste.« Eine Analyse in Form eines Vortrags gibt Strathmann noch in einem am 7. Oktober 1945 in Nürnberg gehaltenen, ebenfalls unveröffentlichten Vortrag, der im 5. Teil den Versuch unternimmt, die evangelische Botschaft von der Buße auszurichten. Daraus dürfen einige Sätze wiedergegeben werden, die belegen, daß Strathmann sich über die politische Dimension der Schuld und des Evangeliums Gedanken gemacht hat: »Nun endlich können wir zu unserer Themafrage zurückkehren: Das Evangelium für unsere Zeit: Was hat uns, uns Deutschen, das Evangelium in dieser unserer Lage zu sagen? Evangelium heißt frohe Botschaft, und es bewährt sich als solche auch in dieser unserer schweren Zeit. Denn es sagt uns, daß, ob auch die Grundlagen und Formen unseres bisherigen Lebens in der Zeit zerbrochen sind und nicht wiederkehren werden, unser Leben deshalb doch noch nicht sinnlos geworden ist. Denn wir dürfen glauben an den Vater der Barmherzigkeit; wir dürfen hoffen auf sein ewiges Reich, wir dürfen leben im Stromkreis der Liebe Christi. Freilich gibt es kein Evangelium ohne Bußpredigt! Tut Buße, so begann der Täufer. Tut Buße, so fuhr J esus fort, und er zeigte in seiner Bergpredigt an den einzelnen Lebensgebieten, was das heißt. Tut Buße, rief Petrus am Pfingstfest den Scharen seiner Hörer zu. Mit unverminderter Stärke zieht sich dieser Ton durch das ganze Neue Testament hin.· Er bleibt mit aller Verkündigung des Evangeliums unlöslich verbunden. Aber nicht nur so im allgemeinen. Vielmehr muß je nach den Verhältnissen am konkreten Leben gezeigt werden, inwiefern solche Buße nötig ist. Das Evangelium verlangt die immer neue Durchleuchtung unseres ganzen Lebens mit dem Feuerschein des göttlichen Wortes. Kein Lebensgebiet ist ausgenommen, auch nicht das politische. Der Täufer hat Herodes nicht geschont, mußte seine Treue freilich mit dem Tode büßen. Jesus bezeichnete Herodes als einen Fuchs, schlau und blutdürstig. Den Pilatus machte er aufhorchen, indem er ihm schwieg. So dürfen wir heute nicht davor zurückschrecken, das Naziturn unter die kritische Beleuchtung des 39
göttlichen Wortes zu stellen, ob auch einige Toren dann von Vermischung von Religion und Politik reden mögen. Wir können und dürfen nicht darauf verzichten, die Erscheinungen und Auswirkungen der Gottlosigkeit gerade auf einern so wichtigen Lebensgebiet wie dem politischen aufzuzeigen und den Bußruf darauf anzuwenden. Aber so sehr es kein Evangelium ohne Bußruf gibt, sein eigentlicher Inhalt ist Trost, Rettung, Hoffnung, Stärkung, nämlich für alle die, welche dem Bußruf zugänglich sind. Nicht freilich in dem Sinne, als werde das Vernichtungsgericht, das über uns als Staat ergangen ist, rückgängig gemacht werden. Wohl aber in dem Sinne, wie wir vorher sagten, daß unser Leben deshalb doch nicht sinnlos geworden ist. Einmal darum, weil das Evangelium uns Gott zeigt als den Vater der Barmherzigkeit. Es zeigt uns die Möglichkeit eines Lebens in Gottes Nähe auf der Basis der Vergebung.« Nach Herrnann Strathmann konnte es auch Hans Preuß, der 1933 die Parallele »Luther und Hitler« gezogen hatte45 , nicht unterlassen, nunmehr »Luther an die Deutschen von 1946« sich wenden zu lassen, mit der Verheißung, »eine Erneuerung seiner Botschaft vierhundert Jahre nach seinem Tode zumeist mit seinen eigenen Worten gestaltet und auf die Gegenwart angewendet«46. Der Gefahr der Historisierung der Katastrophe erlagen viele, in Ansätzen auch H. Thielicke mit seinem Rückgriff auf das Versailler Diktat, Th. Haug, W. Künneth, z. T. auch H. Lilje. Im Detail kann dies hier nicht ausgeführt und begründet werden. Als Max Lackmann, ein in Barths Reihe »Theologische Existenz heute« zugelassener lutherischer Theologe, aus dem KZ Dachau entlassen war und in München am 17. Juni 1945 in der Erlöserkirche in Schwabing predigte - er ging dann für kurze Zeit als theologischer Lehrer nach Neuendettelsau-, sagte er zur Frage der Schuld nach einer nachschriftlich mir vorliegenden Predigt: »Aber wenn wir dann wirklich hinter allen Dingen die Herrschaft und die Hand des Herrn Christus sehen, dann werden wir nicht mit vielen Leuten sagen können: >wenn erst mal der Schutt weggeräumt ist, wenn erst mal die Schuldigen alle ausgemerzt sind; wenn erst mal die oder die Partei oder Doktrin hochgekommen sein wird - dann ... < Nein, wir werden nur eins tun: uns fröhlich an dem Herrn Christus und dem Heiligen Geist sättigen, der in seiner Gemeinde gegenwärtig ist in Wort und Sakrament. Das heißt: Seine Tischgäste sein, Ihn, den lebendigen
45 Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung Nr. 42, 66. Jg. 1933, Sp. 970ff. 46 Neubau-Verlag 1946; daneben schrieb Preuß auch über »Luther und die Demokratie« !
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Gottmenschen, in uns aufnehmen als Speise für Leib und Seele, aber auch den Brotkorb und den Suppentopf und den Kleiderschrank uns von ihm füllen lassen. Und das wird er dann auch tun. Meine Lieben, Schuld kann nicht weggeredet, unsere Sünde nicht weggedacht, unsere Schwachheit nicht weggelehrt, unser Brotmangel nicht weggezaubert werden. Neues Leben aus Gott muß in uns wohnen, neue Gemeinschaft mit Gott muß in uns beginnen, die unsere Seele formt, unseren Verstand erleuchtet, unseren Willen Gott übergibt, unsere Kräfte ganz auf Ihn hinordnet, uns Gott wieder wert und Ihn zu unserem besten und wahren Vater und Freunde macht. Und das ist nun eben auch unsere ganz persönliche Sache >ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen<, nicht nippen, nicht gedanken- und herzlos >auch zur Kirche gehen<. Wenn mein Bub daheim einen schönen Apfel geschenkt bekommt, dann packt er zu und beißt rein! So gierig und fröhlich gilt es schöpfen, sich erquicken aus der Verkündigung des heiligen Predigtamtes, aus der Heiligen Taufe an uns und unseren Kindern, aus der Heiligen Absolution der Beichte, an der Gabe Seines wahren Leibes und Blutes, daß wir genährte und satte Kinder Gottes, ganz von Gott gereinigte und geheiligte Christen werden, die dann ganz gewiß sind - wie immer sie schwach und arm und hilflos sein mögen - >Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht!< Das ist Lob Gottes heute: Christum begehren wie das tägliche Brot, den Heiligen Geist verlangen wie den täglichen Trank und dann seiner geistlichen und leiblichen Hilfe gewisser sein als mir mein Leben, meine Hand vor Augen, der heutige Tag ist! Das ist Lob Gottes! Und ich muß euch schon sagen: wenn wir Geistliche der Evangelischen Kirche des heutigen Deutschland aus Dachau etwas mitbringen, aus dem Dachau des planmäßigen, langsamen oder schnellen Martertodes an Seele und Leib, aus dem Dachau der Hoffnungslosigkeit und Verachtung aller Menschenwürde - dann bringen wir ihr dieses Lob Gottes mit: Christum essen und trinken, Sein Wort verkosten macht satt und gesund - auch wenn Leib \,lnd Seele zu verschmachten scheinen! Wen Er hat und wer Ihn hat, der ist unangreifbar für Menschenhand, den speisen immer noch die Raben des Elia auf wunderbare Weise mitten in der Wüste, den umlagern Gottes heilige Engel mit ihren Fittichen, daß man ihr Rauschen hört - >nehmen sie ihm auch den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib - sie haben kein Gewinn, das Reich muß ihm doch bleiben<. Sie haben uns viel genommen draußen in Dachau: Gesundheit, Nervenkraft, Lebensfreude, Lebensjahre, Gemeinschaft mit Frau und Kindern und Gemeinde - aber Er hat uns nicht Waisen lassen.« Bei allem Respekt vor dem Leiden und der Einstellung Max Lackmanns muß geurteilt werden, daß er sich auf dem Weg befindet, der einmündet in die enge Gesinnungsgemeinschaft mit Hans Asmussen, die er viele Jahre lang tätig und kämpferisch unter Beweis stellte. 41
Am Ende unseres Weges durch die Schulddiskussion und einige dazu mitgeteilte Texte soll kein endgültiges Urteil stehen. Freundschaften sind in einigen Fällen zu »Feindschaften« umgeschlagen. Buße und Schuld gehören zu den empfindlichsten Begriffen und Wirklichkeiten von Theologie und christlicher und christlich-politischer Existenz. Nicht in den abstrakten Deduktionen politischer Ethik, sondern veranschaulicht an den Voten der ersten Nachkriegsjahre, z.T. an Predigten, wollten wir einen Beitrag zu einem vieldiskutierten Problem geben.
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HORST DIETRICH PREUSS
Erfahrungen im betenden Umgang mit Psalmen
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Die wissenschaftliche Auslegung alttestamentlicher Psalmen vor, für und mit Studenten in Vorlesungen oder Seminaren gehört zum festen Lehrprogramm wohl eines jeden Alttestamentlers. Irgendwann taucht während dieser Beschäftigung bei ihm und/oder seinen Hörern (hoffentlich!) aber auch die Frage nach den Psalmen als Gebeten auf, will sagen die Frage nach möglichem oder problematischem Gebrauch der Psalmen als Gebete des Christen oder der christlichen Gemeinde. Psalmen sind doch religiöse Texte, die Gebete waren und oft - im christlichen wie jüdischen1, ja selbst im islamischen Bereich - noch sind. Gehört es zur Exegese dieser Psalmen nicht auch hinzu, sie wieder als Gebete zu erschließen, zu ihrem Gebrauch neu hinzuführen, nicht aber nur zur Erkenntnis ihrer Formen und Inhalte? Ist es - umgekehrt gefragt - aber möglich, Gebete und das heißt doch Texte persönlichster Gottesbeziehung anders als eben durch betenden Vollzug zu erschließen? Kann man den nachbetenden Zugang zu alttestamentlichen Psalmen durch wissenschaftliche Arbeit eröffnen und damit sozusagen über den Kopf das Herz auftun oder ansprechen2 ?
1 Im jüdischen Gebetbuch finden sich bemerkenswerterweise nur 74 der 150 alttestamentlichen Psalmen. Gebetbuch ist auch hier nich.t nur der Psalter, und der Psalter ist nicht das alleinige Gebetbuch. 2 Nicht verhandelt kann und soll werden: Die alttestamentlichen Psalmen in der christlichen Liturgie- und Frömmigkeitsgeschichte; Psalmen als Predigttexte; Probleme der Liturgik im Blick auf das Psalmengebet; heutige systematisch-theologi~che Fragen um Gott und Gebet; die Fragen um die Dichtung »neuer« Psalmen im 19. und besonders im 20. Jh. - Zu diesen Fragenkreisen vgl man: N. Müller, Die liturgische Vergegenwärtigung der Psalmen. München 1961; G. Jüngst, Deutschsprachige Psalterien nach dem 2. Vatikanischen Konzil, WuP 69, 1980, S. 550-554; H.-M. Barth, Wohin - woher mein Ruf? Zur Theologie des Bittgebets. München 1981; P.K. Kurz, Niemand knetet uns wieder. Psalmen und Lyrik im 20. Jahrhundert, ThQ 157, 1977, H. 1, S. 43-68; ders. (Hrsg.), Psalmen vom Expressionismus bis zur Gegenwart. Freiburg/Basel/Wien 1978. - Unter den neueren Versuchen von Psalmenrransformation scheinen mir besonders die von G. Schille (Berlin/
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Da gibt es Psalmen und Psalmworte, die uns direkt ansprechen. »Singet dem Herrn ein neues Lied« (Ps 98,1) - »Schaffe in mir Gott ein reines Herz ... « (Ps 51,12) - »Der Herr ist mein Hirte« (Ps 23,1) - »Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden« (Ps 90,12) - »Herr, wie lange willst du mich so ganz vergessen« (Ps 13,1) - »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Ps 22,2) - »Herzlich lieb habe ich dich, Herr, meine Stärke« (Ps 18,2) - »Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses« (Ps 26,8) - »Herr Gott, du bist unsere Zuflucht für und für ... « (Ps 90,1). Viele weitere Worte wären zu nennen, an denen sich erkennen und verdeutlichen ließe, daß man sie leicht nachsprechen kann und mag, weil sozusagen das eigene Herz sofort mitschwingt. Dann aber gibt es auch die andere Erfahrung des Abstandes, das Empfinden des Problematischen, wobei es nicht so sehr und nicht nur der historische Abstand zu einer uns auch fremden Sprachwelt ist, sondern das Abstandsgefühl im Blick auf die hier begegnende Frömmigkeit. Der Psalm, der von Gott als dem Hirten spricht, nennt zugleich die Feinde, vor deren Angesicht Gott einen Tisch für den Frommen bereitet (Ps 23,5). Und dann findet man Texte, die etwa so lauten: »Gib ihnen nach ihrem Tun und nach ihren bösen Taten ... , vergilt ihnen, wie sie es verdienen« (Ps 28,4) - »Seine Kinder sollen Waise werden und sein Weib eine Witwe« (Ps 109,9) - »Tochter Babel, ... wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert« (Ps 137,8f) - »Gott, zerbrich ihnen die Zähne im MauL.« (Ps 58,7) und anderes mehr. Was überwiegt bei näherer Betrachtung der Psalmen: das Verbundenheits- oder das Abstandsgefühl? Wie ist zu differenzieren? Bieten die Psalmen dem christlichen Leser und Beter nicht mehr Probleme als Hilfen? Bei genauerem Zusehen wurde immer deutlicher, daß' es mehr um das Erfassen der Psalmen als ganze und insgesamt um das Erschließen ihrer Grundstrukturen überhaupt gehen muß, da das (an sich mögliche) Meditieren einzelner Psalmverse - etwa als Texte der Tageslosung - sehr oft dann doch zur ;Heranziehung des ganzen Psalms nötigt, daß - anders gesagt - eine isolierte Aussage, die als Lehrsatz mißverstehbar ist, in den Ich-Du-Bezug des Gebetes eines Menschen zu Gott hereingeholt und hineingestellt werden mußte, wodurch z.B. auch deutlich werden kann, daß der alttestamentliche Psalmbeter nicht immer nur in Notsituationen zu Gott rief. E. Vellmer hat diese hier aufbrechenden Probleme anhand von Gesprächen mit Kranken in einem Krankenhaus aufgezeigt, die dort DDR 1977) geglückt zu sein, weniger dagegen die von H.u.K. Bannach (Stuttgart 1980); verwiesen sei noch auf die Versuche von U. Seidel-D. Ziels (Gladbeck und Essen 1973) und von E. Gerstenberger, K. ]utzler, H.]. Boecker (Zürich/Einsiedeln/Köln 1972) sowie auf die von E. Cardenal und H. Vogel (1937).
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herausgelöste Psalmverse als Schriftworte an der Wand ihres Krankenzimmers vor sich hatten3 • Die folgende Skizze versucht den Weg zu zeigen, den ihr Verfasser einerseits selbst gegangen ist, den er andererseits auch Studenten und Pfarrer zu führen versucht, wenn er mit ihnen Psalmen erarbeitet. Da jedes Gebet, auch das ganz spontane, Reflexion enthält, da die Psalmen des Alten (wie auch des Neuen) Testaments theologische Arbeit in und an sich erkennen lassen, sollte es möglich sein, auch den betenden Zugang zu ihnen durch theologische Arbeit zu ermöglichen, Erfahrungen gerade auch an und mit überlieferten Texten zu machen 4 • Auch die Psalmen sind keine geistliche Schnellgaststätte, sondern sie verlangen ein gründliches Sich-Vertiefen in ihre Sprache, in ihre Strukturen. Dann aber vermögen sie das eigene Beten neu zu bereichern. Luther schrieb 1535 für Meister Peter, den Balbier, seine »Einfältige Weise zu beten« und bekannte darin, daß er sein Psälterlein nähme, wenn er unlustig zu beten sei 5 • Im folgenden geht es um die Frage, ob solches auch heute noch und wieder möglich sei. Eigene Erfahrungen im betenden Umgang mit Psalmen, die mehrfach schon mündlich weiterzugeben versucht wurden, sollen mitgeteilt werden, und dies auch, um zu zeigen, daß und wie Schriftauslegung in wissenschaftlicher Methodik und persönlicher Betroffenheit zugleich geschieht6 • 3 Vgl dazu E. Vellmer, Psalmen in einem Krankenhaus, in: FS E. Würthwein. Göttingen 1979, S. 156-168. 4 Als gute Einführung in die wissenschaftliche Arbeit an den Psalmen kann dienen: H. Seidel, Auf den Spuren der Beter. BerliniDDR 1980; daneben seien genannt: C. Westermann, Lob und Klage in den Psalmen. Göttingen 1977; J. Becker, Wege der Psalmenexegese (SBS 78). Stuttgart 1975 (dort auch S. 126ff zum Psalmenbeten, mit Lit.); L. Krinetzki, Israels Gebet im Alten Testament. Aschaffenburg 1965. - Zur Alternative von Tradition, Text und Erfahrung: G. Ebeling, Wort und Glaube, Bd. 3. Tübingen 1975, s. 1. 5 WA 38, S. 358-375. - Vgl auch Luthers berühmte Vorreden zum Psalter: WA DB 1 Oll, S. 94-96+99-105; 101lI, S. 155-157 und auch in E. Mülhaupt (Hrsg.), D. Martin Luthers Psalmen-Auslegung, 1. Bd. Göttingen 1959, S. 1-6. 6 Die Literatur zum Problem des kirchlichen Betens alttestamentlicher Psalmen ist relativ zahlreich. Aus ihr seien genannt: Aus den Psalmen leben. Das gemeinsame Gebet von Kirche und Synagoge neu ers1chlossen. Freiburg/Basel/ Wien 1979; J. Boeckh, Vom Psalmensingen und -beten, Quatember 45, 1981, S. 97-102; J.P. Boendermaker, Das Alte Testament im christlichen Gottesdienst, JMLB 25, 1978, S. 10-22; D. Bonhoeffer, Das Gebetbuch der Kirche, in: Ges. Schr. IV. München 21965, S. 544-569 und öfter auch als Einzeldruck; J. Fichtner, Ist das Beten aller Psalmen der christlichen Gemeinde möglich und hilfreich? WuD NF 3, 1952, S. 38-60 (= ders., Gottes Weisheit. Stuttgart 1965, S. 67-87); N. Füglister, Das Psalmgebet. München 1965; K. Heinen, Die Psalmen - Gebete für Christen? BiLi 51, 1978, S. 232-235; H.-W.
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II
Die Formgeschichte und Formkritik hat den Reichtum und die Vielfalt der Psalmen erschlossen, indem sie die Vielfalt der Psalmengattungen hat erkennen helfen7 • Psalm ist nicht gleich Psalm, Gebet nicht gleich Gebet. Von diesem Reichtum der Psalmen, der auch unser Gebetsleben bereichern kann, sei zuerst die Rede, d.h. es sei zuerst bewußt vom Positiven gesprochen, weil dies trotz aller (in Teil IV zu nennenden) Probleme nach meiner Erfahrung beim Versuch des christlichen Psalmenbetens doch überwiegt. Da finden sich zunächst als innerhalb des Psalters häufigste Gattung die Klagepsalmen des einzelnen (nachfolgend = KE; hebr. tefilla). Von den ihr zuzuordnenden etwa 50 Psalmen sind die Psalmen 14, 22, 102 und 142 für diese Gattung besonders typisch. Es gibt Klagen mit und ohne erhörte Bitte, mit und ohne Bekenntnis der Zuversicht. Auch der alttestamentliche Fromme erfuhr offensichtlich Gott nicht Jüngling, kh bin Gott - keiner sonst. Würzburg 1975 (S. 115ff.: Hinführung zum Psalter); H. Lamparter, Der Psalter als Gebetshilfe, PBl100, 1960, H. 1, S. 13-20; ders., Das Christuszeugnis in den Psalmen, in: FS A. Köbede. Darmstadt 1978, S. 22-29; ders., Das Psalmengebet in der Christengemeinde. Stuttgart 1965 (Calwer Hefte 75); R. Landau, » ... der hoch in der Höhe thront - der tief in die Tiefe sieht.« Einige Aspekte zur Bedeutung des Psalters für die Praxis der Kirche, in: FS C. Westermann. Göttingen und Neukirchen-Vluyn 1980, S. 334-354; C.S. Lewis, Das Gespräch mit Gott. Gedanken zu den Psalmen. ZürichJEinsiedeln/Köln 1978; M. Möller, Gebet und Kerygma in den Psalmen. In: Theol. Vers. IH. Berlin/DDR 1971, S. 11-29; Hedwig-Teresa von Peinen (Hrsg.), »Zeig mir den Weg, den ich gehen soll.« Psalmen - Gebetbuch der großen ökumene. Regensburg 1981; H. Piontek, Umgang mit Psalmen, ZW 45, 1972, H. 3, S. 200-207; ].M. Nielen, Die christliche Deutung und Bedeutung der Psalmen, BuL 8, 1967, S. 3-8; ]. Schreiner, Das Alte Testament als Schule des rechten Betens, in: ders., Aspekte heutiger Exegese. Würzburg 1968, S. 140-167; M. Veit, Die Psalmen und wir, EvErz 32, 1980, S. 467-482; Th.P. Wahl, Praying Israel's Psalms Responsibly as Christi ans : An Exercise in Hermeneutic, Worship 54, 1980, S. 386-396; E. Walter, Wegweisung zum Psalmenbeten, BuL 2, 1961, S. 277-291; C. Westermann, Anthropologische und theologische Aspekte des Gebets in den Psalmen, L] 23, 1973, S. 83-96 (= in: P.A.H. Neumann (Hrsg.), Zur neueren Psalmenforschung. Darmstadt 1976, S. 452-468); Wie Psalmen heute beten? Biki ]g. 1980, Heft 2; D. Zeller, Gott nennen an einem Beispiel aus dem Psalter, in: B. Caspar (Hrsg.), Gott nennen. Freiburg/München 1981, S. 13-34. - Nach Abschluß des Manuskripts erschien: G. Braulik, Psalmen beten in Freude und Leid. Wien/Freiburg/Basel 1982. 7 Trotz ihrer zuweilen zu starken Formalisierung sind hierfür die Arbeiten von C. Westermann in ihrer Weiterführung derer von H. Gunkel besonders wichtig. Was H.-]. Kraus in der 5. Aufl. seines Kommentars zu den Psalmen (BK XV, 1-3) an neuen Vorschlägen bringt, ist nur terminologisch neu, nicht aber sachlich weiterführend.
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stets und aufgrund eines Gebetsautomatismus. In die Gruppe der KE gehören die sog. sieben kirchlichen Bußpsalmen (Ps 6; 32; 38,; 51; 102; 130; 143), zu ihr gehören ferner einige Unschuldspsalmen (Ps 7; 15; 17; 26) bzw. Gebete unschuldig Angeklagter (Ps 7; 35; 69), und vielleicht gab es auch besondere Krankheitspsalmen (Ps 22?; 38; 88; 102). Wie der gottesdienstliche Vorgang solch eines Klagegebetes aussah, kann man aus Jes 38 oder 1 Sam 1 erkennen. Daß manche der genannten Klagepsalmen ihren »Sitz im Leben« nicht im offiziellen Kultus hatten, sondern eher in eine mehr familiäre gottesdienstliche Handlung gehörten, ist wahrscheinlich. Ausgerechnet also die Klage ist die im Alten Testament häufigste Gebetsgattung8, und man kann dazu noch auf das Buch Hiob oder auf die mehrfach belegten Volksklage- oder Volksbittage innerhalb des alten Israel verweisen. Bei uns hingegen ist die Klage eine weithin verschwundene Form des Gebetes, da sich bei uns meist »nur« Bitte und Dank finden. Wir »klagen« wohl vor Gericht, klagen etwas dem Nachbarn, einem Freund oder auch einer Behörde - aber Gott?! In den Psalmen hingegen überwiegt die Klage, und die Bitte ist (in ihnen allgemein wie in den KE) hingegen oft sehr knapp gehalten. Von diesem Textbefund wie von der menschlichen Situation her dürfte es nun gelten, daß die Klage als legitime und befreiende Form menschlichen Betens neu zu entdecken ist. Natürlich muß man nicht klagen, und auch nicht jeder Psalm paßt zu jedem Tag, aber man darf klagen. Wir dürfen unsere Nöte herausschreien, dürfen in der Klage (wie die KE es auch tun) dann auch argumentieren und reflektierend beten. Unsere Sprache hin zu Gott muß keine gezähmte sein, schon gar nicht eine stets liturgisch gezähmte, innerhalb derer man so oft das Gefühl hat, in diesen Gebeten gar nicht vorzukommen. Jede Weltnot wird dem Glaubenden letztlich auch zur Gottesnot, und auch der Angst darf ich Worte geben. Wer nicht mehr klagt, leidet vielleicht noch nicht genug oder traut Gott nichts mehr zu, trennt Weltlauf und Gott so weit auseinander, daß letztlich von Gott für diese Welt nichts mehr erwartet werden kann. Aber auch über das Ausbleiben der durch Christus erhofften Hilfe können und dürfen wir klagen. Wir klagen dann vielleicht etwas anders, als die Frommen des alten Israel es taten, aber die Klage ist uns nicht verboten, versagt oder als Möglichkeit entnommen. Im Alten Testament wird Gottes Wirken in dieser Welt geglaubt, Heil auch irdisch erhofft und erfahren. Das Leben insgesamt wird als Gna8 Dazu: C. Westermann, Struktur und Geschichte der Klage im Alten T estament, ZAW 66, 1954, S. 44-80 (= ders., TB 24, 1964, S. 26ff); ders., Ruf aus der Tiefe, Gone 12, 1976, S. 575-581; M. Limbek, Die Klage - eine verschwundene Gebetsgattung, ThQ 157, 1977 (H. 1), S. 3-16; D.]. Simundson, Faith under Fire. Minneapolis 1980, 44ff - Vgl auch M. Veit (s. Anm. 6) und jetzt O. Fuchs, Die Klage als Gebet. München 1982.
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dengabe erfahren, was doch wohl auch christlich ist. Von daher wird Klage gerechtfertigt, wenn Leid erfahren wird. Sicher bringt das Neue Testament durch das Zeugnis vom Kreuz Christi einen wesentlichen neuen Aspekt in die theologische Wertung des Leides gegenüber dem Alten Testament zur Sprache. Aber auch Jesus hat niemals dazu aufgerufen, das Leid nur als gottgewollte Heimsuchung zu ertragen. Gottvertrauen und Glaube sind sicher kein Allheilmittel gegen das Leid in der Welt und im Leben, aber sie sind es vielleicht in diesem Leid. Und die Klage, in der ausgesprochen wird, was Not bereitet, erleichtert schon das Ertragen. Wo diese Klage zum (erlaubten!) Herausschreien wird, tut sie dies vielleicht noch mehr. Das Leid wird damit vor Gott als sozusagen letzter Instanz ausgesprochen, herausgeschrien sogar, ohne theologisch domestiziert (H. W. Jüngling) werden zu müssen. Die Kngste und Qualen des Altwerdens, des Krankseins, der Vereinsamung verbinden über Jahrtausende hin, und alttestamentliche Psalmen können es sein, die dem so Leidenden die Sprache ihrer Klage leihen können (»Meine Kraft ist verfallen« Ps 31,11; »Die Schmach macht mich krank« Ps 69,21; »Es ist nichts gesundes an meinem Leib« Ps 38,4+8; »Ich klage wie ein einsamer Vogel auf dem Dach« Ps 102,8; »Ich bin jung gewesen und alt geworden« Ps 37,25 usw.). Aus dem Gesagten wird bereits deutlich, daß die verschiedenen »Gattungen« der Psalmen und Gebete nicht nur literarische Größen sind, sondern mögliche und -unterschiedliche Frömmigkeitstypen und Frömmigkeitshaltungen9 • Elementare Strukturen lassen sich hier aufdecken, und Strukturen sind keineswegs nur etwas Formales, sondern ein Ineinander und Miteinander von Form und Inhalt, wie Texte und Sprache überhaupt 1o . Damit werden hier in den Grundstrukturen dieser Texte Grundstrukturen der Frömmigkeit und des Gottesverhältnisses deutlich (v gl weiter unter III). Und wenn in den KE z.B. die Gebete mit erhörter Bitte neben denen ohne diese stehen, dann signalisiert dieses Nebeneinander, daß gerade diese Offenheit um des Beters wie um Gottes willen bleiben muß. Wenn dann im alttestamentlichen Psalter neben den Klagen des einzelnen auch noch die des Volkes, die der Gemeinde stehen (Hauptbeispiele: Ps 74; 79; 80,; ferner die meist exilischen Psalmen 44; 60; 83; 85; 89), deren gottesdienlicher Vorgang etwa aus J oel 1 + 2, aus J er 14 oder 1 Kön 21 bzw. aus Ri 20 + 21 erschlossen werden kann und zu dem öffentlich auf-
9 Dies hat C. Westermann immer wieder betont. 10 Zur sprachlichen Erschließung der Psalmen vgl G. Kittel, Die Sprache der Psalmen. Göttingen 1973; I. Baldermann, Neuer Umgang mit Psalmen, EvErz 32, 1980, S. 460-467; ders., Die Bibel- Buch des Lernens. 'Göttingen 1980.
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gerufen wurde, so ist damit auch der Gemeinde die Möglichkeit zur Klage eröffnet. Es ist falsch und theologisch unverantwortlich, wenn gesagt werden soll, daß ein wirklich in die Gemeinde eingebetteter Frommer nicht klagt, sondern von eben dieser Gemeinde und dem dort erfahrenen Heilswirken Gottes getragen und gehalten wird. Für den Dankpsalm (hebr. toda) des einzelnenl l ist Ps 30 typisch, neben dem vor allem Ps 9;18;40A und 116 zu vergleichen sind. Ob es auch ein Danklied des Volkes gegeben hat (Ps 124?129; was sind Ex 15,21 und Ri 5 ?), ist umstritten. Aber die späteren Geschichtspsalmen (Ps 78; 105; 106) gehören letztlich auch noch dazu. Daß der Dank auch in der Welt des alten Israel offensichtlich nichts Selbstverständliches war, erweist neben dieser geringen Zahl der Danklieder wohl auch die oft begegnende Selbstaufforderung des Beters an sich selbst sowie sein Appell an die anderen Glieder der Gemeinde, in diesen Dank doch mit einzustimmen. Mit der bezeugenden Darstellung der Rettung, die zu diesen Dankliedern meist gehört, wird der erfahrene Grund zum Danken aufgezeigt, und der Ausdruck der Freude darüber ist ebenfalls klar zu erkennen. Neben den Klagepsalmen steht nun aber der Hymnus (hebr. tehilla) als zweithäufigste Gattung der alttestamentlichen Psalmen. Ps 113 ist ein typisches Beispiel für diese Gattung, zu der dann noch z.B. Ps 8; 19A; 29; 33; 100; 103; 104; 134-136 und 150 gehören. Hier wird selten direkt hin zu Gott gerühmt (vgl etwa Ps 89, 10-17), aber auch das Rühmen Gottes vor der Welt zielt indirekt auf Gott. Eine der Gattungskonstituenten des ~Hymnus, die sich auch in Hymnen der Umwelt des alten Israel findet, ist der sog. hymnische Partizipialstil (v gl etwa Ps 103,3-5), während die sog. imperativischen Hymnen - wie etwa Ps 100; 117; 136; 148; 150 - sich bisher in dieser Form nur innerhalb des Alten Testaments nachweisen lassen. Themen des Hymnus sind Gottes Schöpfung (Ps 8; 19A; 29; 104; 139; 148), sein Wirken in der Geschichte seines Volkes (Ps 78,; 105; 106; 135; 136), seine erfahrene oder erhoffte Königsherrschaft über die Welt (Ps 47; 93; 96; 99), seine Gegenwart im Tempel und in der Gottesstadt, auf dem Gottesberg Zion (Ps 46; 48; 76; 84; 87). Hier begegnet also Gebet als Lob und Lob als Gebet. Im Lob geht der Blick des Beters in die Weite. Das Lob hebt und führt über das eigene Ich und seine Welt hinaus. Auch zum Lob muß oft eine Selbstaufforderung oder die Aufforderung an andere ergehen, aber, wie die Zahl der überlieferten Hymnen zeigt, war der Gebetshymnus im alten Israel viel verbreiteter als bei uns. Lob erfolgte aus Hoffnung heraus. Lob war durch Vertrauen und Geborgenheitsgefühl möglich, wobei dieses keines11 An dieser Gattungsbezeichnung ist mit F. Crüsemann gegen C. Westermann (»berichtendes Lob«) unbedingt festzuhalten.
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wegs ein leichtfertiger Optimismus war. Lob schafft weiteren Blick und größeren Atem, und es verhindert auch das bei zu einseitiger Beschränkung auf das eigene Ich schnell mögliche Vergessen Gottes, indem es den Beter bewußt in einen weiteren Bezugsrahmen stellt und Gott nicht nur zum Bezug sobjekt des Individuums einengt. Da wird die Herrlichkeit der Schöpfung und des Schöpfers, durch die der Beter selbst betroffen und begeistert ist und in die er andere hereinlocken und darin halten will, besungen. Lob geschieht aus dem Grundgefühl der Freude heraus, und es ergeht als Freude hin zu Gott. Auch hier wird meist das Warum dieses Lobes und dieser Freude genannt (vgl Teil III). Es ist das Lob von unten nach oben und in die Weite, nicht das für uns so negativ besetzte »Loben« von oben herab, mit dem etwa ein Lehrer einen Schüler »loben« kann. Lob ist mehr als ein individuelles »Ich freue mich«, und im Lob fließen Anschauung und Besinnung zur Anbetung zusammen. Wahrscheinlich ist der Hymnus, ist das Lob die älteste Gebetsgattung des alten vorderen Orients überhaupt, und auch innerhalb des Alten Testaments sind die ältesten Psalmen Hymnen (vgl etwa Ps 19A; 29). Dann war also das Lob, nicht aber die Bitte oder der Dank die älteste und ursprünglichste Form des Gottesverhältnisses der Frommen. Für das Alte Testament gehören Leben und Loben eng zusammen. Tote loben Jahwe nicht (Ps 6,6; 88,11-13 u.ö.), und wenn Auferstehung erhofft wird, zielt sie auch darauf, daß das Lob Jahwes wieder erschallt (Jes 26,19). Weil das Leben und die Welt, weil das Leben in der Welt insgesamt als Geschenk und Gnade erfahren wird, geschieht Lob und kann Lob erschallen. Lob und Klage als häufigste Gebetsgattung innerhalb der alttestamentlichen Psalmen - zugleich aber beide auch als bei uns kaum noch geübte Arten des Betens! Lob steht neben Klage, denn Lob wird erst zusammen mit Leid und Klage und angesichts von Leid und Klage glaubwürdig. Ist unser Beten »weltfremd« geworden, daß es beides kaum noch kennt? Ist unser Beten »gottfremd« geworden, daß es beides kaum noch übt? Einige weitere Psalmengattungen seien nur noch kurz erwähnt. Da singen die Wallfahrtspsalmen (Ps 120-134) von der Not des Weges zu Gott, von der Freude auf den Ort seiner Gegenwart, vom Warten auf das Erreichen des Zieles, vom Dank für geschenkte und erfahrene Gottesgemeinschaft, von der Kraft des empfangenen Segens. Da lassen die Zionspsalmen (Ps 46,; 48; 76; 84; 87) etwas erkennen vom Erlebnis der Gemeinde und des Gottesdienstes, vom Gotteshaus als erfahrener Gabe und Hilfe. Da rühmen die Geschichtspsalmen Jahwe wegen seiner Taten (Ps 78; 105; 106; vgl Neh 9 und Dan 9), und es geschieht Stärkung des Vertrauens aus im Wort vergegenwärtigter Geschichte. Nicht nur das Seelenheil des einzelnen ist hier das beherrschende Thema, sondern der Weg des Volkes, das Geschick der Gemeinde. Und die Schöpfungspsalmen 50
(Ps 8; 19A; 29; 104) beziehen hymnisch und damit auch theologisch Gott, Welt und Mensch eng aufeinander, so daß das Erfahren der Welt als Schöpfung und das Reden im Gebet als Lob sich gegenseitig ermöglichen und erschließen, wobei deutlich der sündige Mensch als Hauptstörfaktor der Schöpfung im Blick ist (Ps 104,35 I). In allem wird das Diesseits festgehalten und der Beter von Gott her und Gott vom Beter her an dieses verwiesen (v gl Ps 37). Damit wird einer falschen übergeistigkeit und einer zu frühen Flucht ins Jenseits gewehrt. Es wird auch beim Gebet deutlich, was Bonhoeffer über die theologische Bedeutung des Alten Testaments insgesamt schrieb: .»Nur wenn man das Leben und die Erde so liebt, daß mit ihr alles verloren und zu Ende zu sein scheint, darf man an die Auferstehung der Toten und eine neue Welt glauben ... Wer zu schnell und zu direkt neutestamentlich sein und empfinden will, ist m.E. kein Christ.« Derselbe Bonhoeffer war es auch, der sicher nicht zufällig ebenfalls schreiben konnte: »Den Psalter lese ich wie seit Jahren täglich, es gibt kein Buch, das ich so kenne und liebe wie dieses ... «12 So etwa kann die Begegnung mit dem Reichtum der Psalmen auf das eigene Beten der Psalmen wie das eigene Beten überhaupt befruchtend wirken. So etwa kann auch der durch wissenschaftliche Arbeit an den Psalmen, durch Formgeschichte und Gattungsforschung erschlossene Reichtum der Psalmen in das Glaubensleben positiv hineinwirken. Historischkritische Arbeit an der Bibel ist in sich und als solche bereits theologische Arbeit, und Wissenschaft und Glaube haben sehr wohl etwas miteinander zu tun.
III
Schaut man noch etwas genauer auf die Hauptkonstituenten dieser aufgezeigten Psalmengattungen, so kann noch mehr deutlich werden nicht nur vom Reichtum des Psalmenbetens, sondern auch von seiner inneren Ermöglichung und von seinem Vollzug. In den Gattungskonstituenten läßt sich nämlich manches erkennen von den Grundstrukturen der hier begegnenden Frömmigkeit, von ihren Grundlagen und den sie tragenden Kräften und damit von dem Unter- und Ermöglichungsgrund ihres und vielleicht dann auch unseres Betens. Wie kommt es zum Beten? Was geschieht in ihm, was gehört dazu und ist für dieses Beten konstitutiv? Wodurch wird Beten möglich, und wie drückt es sich aus? Unter diesen Fragen soll nun auf den Aufbau und das Gefüge einiger Psalmen genauer geschaut werden, d.h. auf ihre Grund12 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung (Hrsg. E. Bethge). Neuausgabe München 1970, S. 175f+52.
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strukturen, ihre Konstituenten. Im Unterschied zu Teil I mit seinem stärkeren überblickscharakter ist jetzt Einschränkung notwendig, folglich ein Blick nur noch auf einige Gattungen und Texte, die als Modelle stehen sollen und können, und zwar Klage und Lob, die - wie sich herausstellte - innerhalb der alttestamentlichen Psalmen und des alttestamentlichen Betens die wichtigsten Gattungen und das eigentlich polare Paar der Gebetsäußerungen sind - nicht etwa Bitte und Dank. Klage und Bitte sind vielleicht sogar, wie ein Blick auf sumerische Psalmen nahelegt, aus der Hymnik erst herausgewachsen. Klage und Lob aber sind es auch, die unserem heutigen Beten weithin abhanden gekommen sind. Zum alttestamentlichen Klagegebet sind die Psalmen 6; 13 und 22 als Muster heranzuziehen. Innerhalb dieser Klagegebete gibt es zunächst »private« wie »kultische« Gebete, die sich schon innerhalb des Alten Testaments gegenseitig befruchten. Neben dem offiziellen Kult gab es wohl auch einen mehr privaten, etwa in der Primärgruppe der Familie1s . Es gab geprägte Formulare, wie auch freie individuellere Gestaltung. Wir heute haben bei den Psalmen das Ineinander von erstem Gebrauch (= »Dichtung«? I), erstem Aufschreiben (als Entschränkung) und weiterem Gebrauch dadurch und danach mit Anreicherungen und Veränderungen. Es gibt folglich schon eine Auslegung der Psalmen innerhalb des Alten Testaments, ein Weiterarbeiten an ihnen, ein Weiterschreiben in und durch weiteren Gebrauch in veränderter Situation o.ä., was sich in unseren Gesangbüchern analog zeigen läßt. Individuelles wird kollektiviert oder anders bezogen und neu historisiert. Eschatologische oder apokalyptische Bearbeitungen finden statt. Psalmen werden kombiniert oder ausgebaut und anderes mehr 14 • Schaut man auf die Hauptelemente der Klagepsalmen 15, so legt sich ein vergleichender Blick auf Ps 13 und Ps 22 zur Erhebung der Hauptelemente und ihrer Eigenarten nahe. Die Anrede an Jahwe (13,2; 22,2) ist nur zuweilen hymnisch ausgestaltet (4,2; 5,3 u.ö.). Sie verzichtet auf ein einstimmendes, schmeichelndes, ja magisches Umwerben der Gottheit, sondern man weiß, zu wem man redet. Die Gottesunmittelbarkeit des Beters ist Ausgangsfaktum (vgl unser »durch Jesus Christus, unsern Herrn«), 13 Vgl K. Seybold, Das Gebet des Kranken im Alten Testament. Stuttgartl Berlin/Köln/Mainz 1973 (BWANT 99); E.S. Gerstenberger, Der bittende Mensch. Neukirchen 1980 (WMANT 51). 14 Dazu z.B. J. Becker, Israel deutet seine Psalmen. Stuttgart 1966 (SBS 18); W. Beyerlin, Werden und Wesen des 107. Psalms. BerlinlNew York 1979 (BZA W 153); K. Seybold, Die Wallfahrtspsalmen. Neukirchen 1978 (bthst 3). 15 Das Folgende lehnt sich vor allem an die Strukturuntersuchungen von C. Westermann an (vgl Anm. 4).
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der Zugang steht offen. Jahwe hat nicht viele Namen, sondern nur einen, und unter diesem ist er anrufbar. Es wird nicht zu einem Gott gebetet, den man nicht recht kennt (v gl wieder das »Vater unser« J esu und der Christen). Gott hat seinen Namen kundgetan, ist anrufbar geworden, will Gemeinschaft mit den Menschen, will wirksam sein und erkannt werden und hat sich in Verbindung zu Geschichtserfahrungen gesetzt (vgl Ex 3). Das Gebet ist folglich Antwort (vgl Ex 15,21; Dtn 26,5-9; Gen 32,10-13 u.ö.). Trotzdem dürfen auch alttestamentliche Gebete etwas Drängendes an sich haben. Man fragt, warum Jahwe schläft, oder wie lange er den Beter vergessen will und noch auf irgend etwas wartet (Ps 44,22; 13,1; 6,3f). Wer betet, lernt Gott kennen. Wer beten will, muß aber wohl schon etwas von Gott wissen oder ahnen bzw. es sich vermitteln lassen durch Gebete anderer. Der Anrede folgt die Klage, und diese als dreifach gerichtete Feind-Klage, Ich-Klage und Du-Klage (Ps 13,2f; 22,2f.7-9.13-19). Der »Feind« ersch,eint dabei meist in typischen Bildern. Da die Feinde des Beters auch die Feinde J ahwes sind, können Schilderungen aus dem Bereich der Chaosmächte für sie entlehnt werden. In den Schilderungen der Feinde16, die J ahwe zum Eingreifen bewegen sollen, werden eigene Angste und Projektionen deutlich, von denen man sich befreit sehen möchte und daher auf deren vermeintliche oder wirkliche Urheber abhebt. Der Beter muß also nicht glaubensstark sein. Er darf Angste und Schwächen haben und auch diese im Gebet vor Gott bringen. Gerade wer arm, elend und schwach ist, ist bevorzugter Anwärter auf göttliche Hilfe, und auch derjenige, der sich als »gerecht« bekennt, will eben dies unterstreichen. Was die eigene Existenz angsthaft gefährdet, findet hier seinen Ausdruck. Man konnte sich in Israel ja seiner »Feinde« z.B. nicht durch Magie entledigen. Auch war jedem Beter eine starke Gruppenbindung eigen, die sich ebenfalls in den kumulierten Feindaussagen zeigt. Schließlich war und wurde mit allem der Beter auch »Typ«, besonders dann, wenn ein Psalm niedergeschrieben und damit zu überindividuellem Gebrauch entschränkt wurde. Hier verdichteten sich dann (z.B. in den übergreifenden, sich wiederholenden Bildern) Erfahrungen von Generationen, von denen andere wiederum zehren konnten und zehrten. Der Beter steht in der Gemeinde und zieht andere mit in sie hinein. Der Hang zum Typischen wird noch dadurch verstärkt, daß der Beter als Ganzheit klagt, nicht aber nur bestimmte Teile oder Aspekte von ihm. Man kann heutige Menschen, die Not mit dem Beten haben, nur einladen, sich trotz aller Fremdheit mancher Bilder auf diese Texte, in denen sozusagen ein überindividuelles Groß-Ich redet und sich immer erneut wiedergefunden hat, auch ein16 Vgl dazu vor allem: (SBM 7).
o.
Keel, Feinde und Gottesleugner. Stuttgart 1969
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mal einzulassen, um zu schauen, ob eigene Erfahrungen nicht auch hier Worte ihres Ausdrucks oder Hilfen zu ihrer Bewältigung finden. Begegnet der Beter uns als Typ, dann zeigt er sich auch als Zeuge, als Zeuge der Taten Gottes an ihm vor der Gemeinde, der analoge Erfahrungen vermitteln will und kann. Hier liegt dann auch die (beschränkte!) Ansatzmöglichkeit der Predigt von Psalmen, die letztlich nur in den Psalm hineinführen und zu seinem Nachvollzug anleiten und ermuntern, nicht aber eine Predigt »über« den Psalm sein kann. Nach Anrede und Klage ist das Bekenntnis der Zuversicht, die Gewißheit der Erhörung die dritte Konstituente der Klagepsalmen des einzelnen (Ps 13,6a; 22,4.5-6.10f). Aus ihr sind vielleicht die Vertrauenspsalmen (wie etwa Ps 23) herausgewachsen, und in ihr ist z.B. auch der Ort einer Herrlichkeitsschilderung Jahwes (Ps 5,5-7,; 86,5-10). Ein gegenteiliges Bekenntnis der Schuld findet sich nur selten in den Psalmen (Ps 51 + 130 vor allem), häufiger schon ein (uns nicht immer leicht zugängliches) Bekenntnis der Unschuld (Ps 7,4-6; 17,3-5; 26 u.ö.; H. Vogel tilgt z.B. in seiner Nachdichtung von Ps 26 alle Unschuldsbeteuerungen), über dessen wahrscheinlich kultischen Ermöglichungsgrund (vgl Ps 15 + 24) hier nicht zu handeln ist. Daß nicht wenige Klagepsalmen dann einen eigentümlichen Umschwung von der Klage zum Lob und Dank zeigen (vgl etwa Ps 6; 13; 22 u.ö.), hat seinen Grund wohl doch nicht allein darin, daß das Gebet eine Veränderung beim Beter bewirkt, daß der Beter sich sozusagen neu auf J ahwes Zusage und Hilfe besinnt, sondern eher im Akt der Zusage eines priesterlichen Heilsorakels (Ps 22,22; Klgl 3,57)17. Im Zusammenhang mit dem Bekenntnis der Zuversicht sind kurz die Rolle und der Inhalt der Hoffnungsaussagen in den Psalmen zu bedenken iB • Das »ich hoffe auf dich, ich harre, ich warte« usw: begegnet häufig in den Psalmen, und wenn der Beter dann noch fortfährt (»ich hoffe, warte usw.«) »weil ... «, dann kann der heutige Leser und Ausleger gewiß sein, daß dann das eigentlich Entscheidende kommt und dann genannt wird, was diese Hoffnung ermöglicht und zum Harren befreit. Lex orandi ist auch hier schon lex credendi, und so hofft man auf Jahwe wegen seines Namens, seiner Verheißungen, seiner früheren Taten. Man harrt auf ihn, weil man ihn als Burg, Fels, Schild kennt, weil man seiner früheren Taten gedenkt oder er selber dieser gedenken soll, und dieses Gedenken schafft Hoffnung, denn es wird ein Weitergehen der heilvol17 Vgl zum Problem: H.D. Preuß, Deuterojesaja. Eine Einführung in seine Botschaft. Neukirchen 1976, S. 71f (mit Lit.). 18 Dazu besonders: C. Westermann, Das Hoffen im Alten Testament, in: TB 24, München 1964, S. 219-265; W. Zimmerli, Der Mensch und seine Hoffnung im Alten Testament. Göttingen 1968, S. 7ff.33ff; H.D. Preuß, Jahweglaube und Zukunftserwartung. StuttgartfBerlinfKöln/Mainz 1968, S. 102ff.
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len Geschichte erhofft, weil und wo man seinen Gott eben so heilvoll kennengelernt hat. Auch hier ist das neutestamentlich-christliche »durch Jesus Christus, unseren Herrn« alttestamentlich eindeutig positiv vorbereitet. Zum Bekenntnis der Zuversicht gehören die Motive der Gebetserhörung, die der Beter proleptisch auf Hoffnung hin anspricht. J ahwe ist der Gott der Väter, und da sie auf ihn hofften, half er ihnen und wird so wiederum helfen (Ps 22,5f). Er ist doch der Hirte Israels, ist »mein Gott«. Man erinnert ihn und sich an frühere Gottesdienste (Ps 42/43) und an das, was Jahwe seinem Volk verheißen hat (Ps 106,4). So erfährt der einzelne Beter Hoffnung in und aus der Verbundenheit mit der Gemeinde. Er ist in das Unterwegs seines Volkes als Gemeinde hineingenommen, ist gottgebunden und gemeindeverbunden. Glaube begegnet hier als Hoffnung und Hoffnung als Glaube, denn Glaube heißt alttestamentlich wesentlich etwas von Gott erwarten, wenn auch nicht immer gleich auf eine schnelle Wende. Alttestamentliche Hoffnung hat oft einen langen Atem (»ich schreie täglich ... «; »wie lange ... « u.ä.). Der Beter . braucht aber dafür auch die Einbettung in die Gemeinde und ihre »Glaubenstradi tionen« Es ist die Gebetssprache, die innerhalb des Alten Testaments hauptsächlich den »Sitz im Leben« des Redens von Hoffen und Hoffnung abgibt, und diese Aussagen erfolgen dabei (folgerichtig) auch meist in der ersten Person. Damit begegnen wir hier in besonderer Weise der sog. »religiösen« Sprache, die ihre eigene Logik und ihre besondere Situation hat 19 • Bekennen, Danken, Loben und Klagen sind etwas anderes als Sachaussagen allgemeiner Art. Gebet ist Glaube in actu und geschieht folglich innerhalb der persönlichen Ich-Du-Beziehung. Religiöse Sprache führt die persönliche Welt in das allgemeine Weltbild ein und bringt Verstehensaussagen von Welt. Sie spricht in und aus der Situation persönlicher Betroffenheit; sie ist evokativ und transzendiert. Sie zeigt (und zwar z.B. gerade mit ihrer Bildersprache), daß die positiv-wissenschaftliche Sprache allein nicht die adäquate Erfassung von Wirklichkeit bietet. Gott »übersteigt« nämlich alles so Erschließbare und ist doch damit verbunden. Er ist nur in solchen Erschließungssituationen »gegeben«, und hier wird der Mensch sich seines Ichs bewußt, das auch alles Beobachtbare übersteigt. Glaube begegnet in den Psalmen als Akt, als Sprachhandlung, als Sprachäußerung in eminent »religiöser Situation« und diese zugleich konstituierend, und diese Sprache ist Handlung, ist Vollzug von Gottesgemeinschaft. Diese Texte vermitteln keine »Lehre«, sie interpretieren nicht nur die Welt, sondern verändern sie und das betende Ich. Im Ich-DuVerhältnis des Gebetes zu Gott wird der Weg beschritten weg von 19 W.A.de Pater, Theologische Sprachlogik. München 1971; umfassender und kritischer: I.u. Dalferth, Religiöse Rede von Gott. München 1981.
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den Vorstellungen über Gott zu einem lebendigen Gottesverhältnis 20 • Auch dies können alttestamentliche Psalmen christlichen Betern verdeutlichen. Wenn in den alttestamentlichen Psalmen schließlich der Beter auch als »Typ« begegnet, folgt daraus auch, daß diese Psalmen schon von ihrem Selbstverständnis und früheren Gebrauch her nicht als genau und wörtlich nachzuvollziehende Gebetsvorlage, sondern als Gebetshilfe anzusehen und zu verwenden sind, die sozusagen »offen« für eigenes Auffüllen, eigenes Konkretisieren sind. Jeder soll und darf sich in den Psalmen unterbringen (was z.B. auch Rilke vermerkte), so daß es wieder aller Heiligen Büchlein (Luther) ist und werden kann. Jeder soll und darf sein Leben vor Gott zur Sprache bringen, und jedes Gebet darf und soll ein persönliches sein. Mag sein, daß wir bei manchen Psalmen eng an ihrem Wortlaut bleiben wollen und auch können, aber oft werden sie in ihrer typischen Ausdrucksweise, in ihrer unterschiedlich füllbaren Bildersprache und in ihren Grundstrukturen mehr eine Artikulationshilfe, eine Sehhilfe 21 sein, gerade in der heutigen Sprachlosigkeit unseres Glaubens, wo wir oft nicht wissen, was und wie wir beten sollen (Röm 8,26). Wir können hier mit den Erfahrungen anderer und aus ihnen eigene Erfahrungen machen oder diese bereichern und ausrichten angesichts der eigenen Erfahrung von Welt in der Begegnung mit der Gebetssprache der Bibel, und es ist hier - wie z.B. auch bei der Predigtarbeit an Bibeltexten besonders die Formkritik und Formgeschichte mit ihren Fragen nach der Texteigenart, nach seiner Kommunikationssituation und seinen Konstituenten, die sich als hilfreich erweist22 • Der Psalter lebt also von der Bewegung Gottes hin zum Menschen und zeigt sowie vollzieht die Bewegung des Menschen hin zu Gott23 , denn Gott will Gemeinschaft, will Antwort. Die Psalmen sollen, wollen und können zu ähnlichen Glaubenserfahrungen anleiten und diese vermitteln, ja einüben helfen. Als letzte Gattungskonstituente der Klagepsalmen ist die Bitte zu nennen (v gl 13,4; 22,12+20-22), in welcher Gott um das Hören und Retten gebeten wird. Da ja das Gottesverhältnis des Beters insgesamt auf dem Spiel steht, ist sie wesentlicher Bestandteil der Klage, so daß oft z.B. ein »laß mich nicht zu schanden werden« als Bitte erscheint. Man weiß sehr wohl darum, daß irdische Nöte auch irdische Verursacher haben 20 Vgl Vellmer (Anm. 3), S. 166. 21 So mit Landau (Anm. 6), S. 344; vgl zu den »Grundstrukturen« und »Grundsituationen« auch Dalferth (Anm. 19), S. 365ff. 22 Das Gegenvotum von Baldermann (EvErz 32, 1980, S. 461), wonach die hist.-krit. Exegese nicht das Neulesen der Psalmen lehren kann, ist mir unverständlich. 23 Vgl Landau (Anm. 6), S. 338+343.
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können, aber Gott wird nicht als Konkurrent irdischer Kausalitäten gesehen oder umgekehrt. In der Bitte, die alles positive Widerfahrnis letztlich als Geschenk ansieht und auch darin der Klage eng verbunden ist, wie auch in der Erfüllungshoffnung überläßt der Beter sich ganz Gott - nicht aber nur sein Anliegen, seine Sache, so daß diese Bitte an Gott dann auch qualitätsmäßig mehr und etwas anderes ist als eine Bitte an Menschen. Die Motive der Bitte, die zuweilen genannt werden (Ps 13,5; 22,12b), und das ebenfalls nicht immer sich findende Lobgelübde (13,6c; 22,23) zeigen nochmals auf je ihre Weise, daß und wie der Beter sich ganz der Welt Gottes mit Klage und Bitte zuordnet. Der Beter klagt dort, wo sich sein Glaube sozusagen festfährt (Theodizeeproblematik), wo er loben möchte, aber klagen muß, und diese Spannung wird bewußt und betont dann auch ins Spiel gebracht. Dies also sind die wichtigsten Konstituenten der Klage. Ihre Ausführung ist in den Einzeltexten oft unterschiedlich und kann es auch sein. Einige Elemente daraus wurden hier etwas vertiefend auf die Frage nach dem dadurch ermöglichten oder befruchteten eigenen Gebet betrachtet, und es wurde deutlich, daß hier theologische Arbeit, daß Exegese vonnöten ist, daß sie aber gleichzeitig auch hilfreich wirken kann 24 • Auch zum Danklied (vgl Ps 30 und 66,13-20 als Muster)25 gehören neben der Ankündigung mit Selbstaufforderung (30,2a; 66,13-15. 16a+b) und einer einleitenden (begründenden) Zusammenfassung (30,2b; 66,16b+17) vor allem der erzählende Rückblick auf die erlittene Not (30,7~; vgl V 3f; 66,18a?) und der Bericht über die erfahrene Rettung (30,9 + 12; 66,16f.19), woran sich oft ein erneutes (!) Lobgelübde anschließt (30,13 a+b; 66,20a), das dann zur Gemeinde, nicht aber nur zu Jahwe hin gesprochen wird. Das Lob kann nicht schweigen, sondern es soll und will sich fortsetzen. Damit zeigen die Dankpsalmen manche Strukturnähe zu den Klagepsalmen. Dankpsalmen sind auf die Klage bezogen und ergänzen sie, und der dankende Beter begegnet wiederum klar auch als Zeuge dessen, was Gott getan hat. So ist das Preisen Jahwes letztlich das Ziel des Dankens, nicht nur die Mitteilung persönlicher Erlebnisse. Die
24 Hingewiesen sei noch auf zwei Arbeiten, die für unsere Fragestellung hilfreich sind: P. Schüngel, Schule des Betens. Die Klage- und Dankpsalmen. Stuttgart 1974 (Stuttgarter Kleiner Kommentar, AT 22/II); H. Haag, Gott und Mensch in den Psalmen. Zürich/Einsiedeln/Köln 1972, wo besonders instruktiv die Ausführungen darüber sind, was dem atl. Frommen alles zur Brücke zu Gott wurde und werden konnte. 25 Gegen C. Westermann ist an der Gattung »Danklied« mit F. Crüsemann (Studien zur Formgeschichte von Hymnus und Danklied in Israel. Neukirchen 1969) unbedingt festzuhalten; zur Sache vgl auch Lewis (Anm. 6), S. 108ff.
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Psalmen haben hier deutlich auch ein kerygmatisches Element26 , wo Erfahrung Gottes und Antwort darauf zur neuen Anrede werden. Die eigene Erfahrung und das eigene Bekenntnis werden ausgeweitet, um ähnliches an andere zu vermitteln. Die Dankgemeinschaft soll zur Erfahrungsgemeinschaft werden, zur Gemeinschaft der zu Gott hin ausgesprochenen Freude, die durch das Lob noch gemehrt wird. Das Element der Freude ist ja auch andernorts ein wichtiges Element alttestamentlicher Anthropologie, altisraelitischer Lebenseinstellung. Wie im Hymnus wird auch schon im Dank der Blick des Beters ausgeweitet - hinein in die Welt, in die Menschheitsprobleme, in die Erfahrungen anderer, in die ich mich selbst einbringen kann und die mich bereichern, indem sie mich z.B. erkennen lassen, daß und wie dieser majestätische Gott doch der Welt, seinem Volk und jedem einzelnen Menschen nahe ist und sein will (Ps 8 I). Psalmen sind schließlich Poesie. Sie sind Gedichte, sind religiöse Lyrik, die ich somit auch als solche »behandeln«, als solche erschließen muß27, wozu nicht nur das Betrachten der besonderen Syntax, des eigenen Tempusgebrauchs usw. gehören. Dichtung ist nicht nur poetische Einkleidung eines Inhalts, sondern ein Miteinander von Form und Inhalt, von Gehalt und Gestalt. Jede Textsorte bietet auch eine bestimmte Verstehensstruktur von Welt. Wovon ist die Rede, und wie ist davon die Rede, und wodurch ist davon so die Rede, wie der Text es tut? Der parallelismus membrorum z.B. nötigt durch die in ihm vorausgesetzte Weltschau und Sprachwertung, nach der nichts nur durch eine einzige Aussage wirklich äquivalent ausgesagt werden kann, zum Reichtum der Bilder. Daneben sind Metrum und Rhythmus, Lautung und Strophenbau u.a.m. wesentlich. Lyrik ist Ausdruck, ist gegenwartsgerichtete, verdichtete Sprache. Sie ist weniger empfänger- als senderorientiert und bietet besprochene, weniger aber erzählte Welt, und auch die erzählte Welt wird nicht nur »erzählt«, sondern eben zu Gott hin besprochen, zur Gemeinde hin ausgedrückt und findet sich somit als engagierte Sprache, als bevollmächtigte Rede, ja als wirkendes und wirken wollendes Wort. Bild und Metapher sind hier notwendige Elemente, die sich nicht nur an den Verstand richten. Aber gerade dadurch sind sie für den heutigen Beter so schwierig wie notwendig. Die Gebetssprache der Psalmen ist insgesamt Selbst-Mitteilung, die auf Identifikation zielt und Evokation (als Erwecken und Hervorrufen) bewirken will. Der Exeget hat die wichtige Aufgabe, die Psalmen auch in dieser Weise zu erschließen. Er kann und wird entdecken, daß die Psalmen zur Belebung und Anreicherung, ja zur Neuerweckung des Gebetslebens auch heute eine Hilfe geben können. Wenn die alttesta26 Dazu insgesamt M. Mölle'r (Anm. 6). 27 Vgl dazu z.B. Füglister (Anm. 6), S. 58ff und Baldermann (Anm. 10).
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mentlichen Psalmen in viel breiterer Weise, als wir es tun, das Leben insgesamt als gottgesetzt und gottdurchwaltet sehen und wenn dadurch auch ihr Gebet in seinen Inhalten viel alltäglicher sein kann und breiter bezogen ist, kann auch dies eine Hilfe gegen zu soteriologische Engführung mancher christlichen Gebete werden. .
IV Daß beim betenden Umgang des Christen mit alttestamentlichen Psalmen auch Probleme aufbrechen 28 , darf weder übersehen noch· verschwiegen werden. Auf einige der in diesem Zusammenhang begegnenden Fragen sei daher noch kurz eingegangen. a) Die Psalmen sind und' bleiben zunächst alttestamentliche Psalmen. Sie bleiben daher fast sämtlich dem Diesseits verhaftet und machen vor der Todesgrenze Halt (vgl etwa Ps 6; 88,; auch Ps 16 und 49 oder 73 kennen keine Auferstehungshoffnung oder ähnliche&; anders vielleicht nur im apokalyptischen Zusatz Ps 22,28ff). Sie reden ferner unbefangen von der eigenen Gerechtigkeit und Unschuld (etwa Ps 26 und 69), und dies ist wohl kaum immer nur im Blick auf konkrete Einzelanschuldigungen gemefnt. Sie lassen zuweilen ein Weltbild erkennen, das nicht mehr das unsere ist (etwa Ps 74 und 135). Sie sind für heutige Beter oft auch zu lang, bleiben stark ichbezogen, da z.B. die Fürbitte in ihnen fast völlig fehlt, und sie erreichen, wenn man nicht auf ihre Grundstrukturen achtet, sondern zu stark an Einzelaussagen klebt, nicht immer wirklich den Bezug zu heutigen Fragen und Nöten des Menschen. Vieles Konkrete, was wir heute Gott sagen wollen, liegt in den alttestamentlichen Psalmen nicht gleich und nicht zugänglich an deren Oberfläche, aber ein tieferes Eindringen ist auch hier lohnend. b) In diesem Zusammenhang werden dann vor allem immer die Fluchpsalmen/Rachepsalmen genannt (Ps 58; 59; 69; 70; lQ9,; 137; aber auch 18,38ff; 52; 54; 55,; 82; 94; 120), wo der christliche Beter (nur er?) im Blick auf Mt 5,43f und Röm 12,19-21 (v gl aber Apk 6,10) Schwierigkeiten empfindet und wo der revidierte Luthertext oft sogar die im hebräischen Urtext vielfach noch krasseren Ausdrücke schon mildert. Natürlich muß man diese Psalmen zunächst einmal inneralttestamentlich werten 29 • Da wird Gott um »Rache« gebeten, weil der Beter sonst nicht mehr glaul;>t zu seinem Recht zu kommen, und so sind diese Psalmen letzt28 Dazu insgesamt N. Müller (Anm. 6), S. l11ff mit älterer Lit. 29 Dazu (neben manchen in Anm. 6 genannten Arbeiten, etwa die von J. Fichtner oder Lewis, S. 31ff) besonders: N. Füglister, Gott der Rache? in: Th.
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lich ein Schrei nach Gerechtigkeit in der Welt und nach dem lebendigen Gott (vgl Jes 3S,Sf). Sie sind Zeugnisse furchtbarer Anfechtung, da sich oft keinerlei Tür aufzutun scheint. Die eigene Existenz ist bedroht, und die Nöte des eigenen Herzens sind es auch, die in Aggressionen hier zur Sprache kommen. Das Gebet zu Gott um Rache bedeutet in der Regel den Verzicht auf eigene Rache, und es ist wahrscheinlich auch besser, die eigenen Rachegefühle hinauszuschreien und auszusagen, als selbst Rache mit der Tat zu üben. Die Frage ist nur, ob durch das Aussprechen wirklich eine Katharsis erfolgt, oder ob nicht weiterhin oder verstärkt ein Racheklima erzeugt wird. Sicher werden hier Recht wie Unrecht ernst genommen, aber es werden zugleich auch die Gefahren deutlich, die unser aller Beten ständig bedrohen. Kann man Rachepsalmen laut und gemeinsam (mit wem?) beten? So wird an den Rachepsalmen deutlich, daß auch der Glaubende, daß auch der Beter ein Sünder ist und bleibt und Glaube stets bedrohter Glaube ist. Hier betet der Mensch, der auf Christus angewiesen ist3°, dessen Leben auch ein ständiger Glaubenskampf bleibt. Aber man sollte angesichts dieser Fluchpsalmen nicht deren Problematik zu stark ausweiten oder betonen, und dies nicht nur, weil die Wertung von Aggression unter uns umstritten ist, wir innerhalb anderer gesellschaftlicher Normen leben und eine rein private Schadensahndung heute als Unrecht gilt, sondern z.B. auch deswegen, weil es innerhalb des Psalters viel mehr andere Psalmen gibt, die uns zugänglicher sind und uns bereichern. Es sind ja auch nicht nur die Fluchpsalmen uns fremd, sondern auch die Königspsalmen (Ps 2; 72; 110 u.a.m.) fügen sich z.B. kaum in das christliche Gebet von heute ein. Um dichtungen oder gar Umakzentuierungen helfen hier nicht31 • Das Ernstnehmen des Befremdlichen und das Hinterfragen und Bestimmen seines theologischen und psychologischen Ortes sind hilfreicher. e) Aus dem bisher Gesagten folgt, daß das Beten aller alttestamentlichen Psalmen weder anzuraten noch hilfreich, weder möglich noch heilsam ist32 • Es muß ausgewählt werden, es müssen gegebenenfalls Kürzungen erfolgen. Das Ja und Nein zum Alten Testament insgesamt, wie es sich im Zeugnis des N euen Testaments widerspiegelt, ist auch auf die Psalmen anzuwenden. Damit wird nichts Neues gesagt, wohl aber auch diese Ent-
Sartory (Hrsg.), Entdeckungen im Alten Testament. Göttingen 1970, S. 117133; W. Dietrich, Rache. Erwägungen zu einem alttestamentlichen Thema, EvTh 36, 1976, S. 450-472; vgl auch B. Ströle, BiKi 1980, S. 42ff. 30 Anders D. Bonhoeffer (Anm. 6): Ich darf so beten, weil Gottes Rache Christus getroffen hat. 31 Vgl etwa H. Vogel zu Ps 137: »Wehe, Babel, du verstörte Tochter gnadenloser Rache, die auf deinen Kopf sich kehrte( !), denn Gott steht zu seiner Sache.« 32 Vgl Fichtner (Anm. 6), S. 87; ferner N. Müller (Anm. 6), S. 100ff.
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scheidung als eine verdeutlicht, in der sich theologische Arbeit als notwendig erweist. Schon das jüdische Gebetbuch verwendet nicht alle Psalmen als heutige Gebete3 3 • Reformierte Psalterien wählten und wählen aus. Die römisch-katholische Kirche hat seit der Reform des Stundengebe,ts von 1970 auch für das Psalmenbeten das Pensumdenken abgeschafft, hat die Psalmen 58\; 83 und 109 z.B. ganz gestrichen, in Ps 137 die Verse 7-9 ausgelassen. Der in der Evangelischen Michaelsbruderschaft verwendete Psalter (bzw. das Ev. Tageszeitenbuch) wählt ebenfalls aus und kürzt. In gleicher Weise verfährt das neue Evangelische Pastorale (Gütersloh 1981). Psalmen sind als Gebetshilfe gut brauchbar, aber auch sie sind sozusagen »in Christus« zu gebrauchen, was m.E. öfter und eher das Fortlassen eines ganzen Psalms bedeuten sollte als den Versuch, den Psalm sozusagen durch Amputationen, die seine Grundstrukturen verändern, zum Krüppel zu machen34 • Unsere »normalen« Gebete sind in vielem oft sicher auch »alttestamentlich«, und sie dürfen es auch in vielem sein, und umgekehrt gibt es auch einige formelhafte und erstarrte alttestamentliche Psalmen. Wer aber betet, kann und darf, ja er soll auch damit rechnen, daß sich beim Beten das Herz wandelt. Im Gebet rede ich zu Gott, daher zuweilen auch gegen mich selbst. So gibt es zwischen den Grundstrukturen und Grundanliegen des christlichen Glaubens, Betens und Gottesdienstes und denen der Psalmen nicht vor allem nur Gegensätze, sondern übereinstimmungen und Weiterführungen. Diese erschließen sich der theologischen Exegese wie dem betenden Gebrauch, der Reflexion wie der Erfahrung, die nie unreflektiert bleiben kann. d) Oft wird aufgrund der aufgezeigten Probleme eine Um dichtung oder Neudichtung von Psalmen versucht, bei der diese Psalmen dann zuweilen etwas mehr »verchristlicht« oder besser durch Christen nachbetbar gemacht werden. Da soll sogar Christus der wahre Beter der Psalmen sein bzw. in den Psalmen sprechen (so z.T. Luther; dann D. Bonhoeffer und auch H. Vogel), was letztlich nichts anderes als eine dogmatische Konstruktion ist, die noch dazu gar nichts für den konkreten Psalmengebrauch austrägt. Oder es ist zu schnell und undifferenziert vom Christuszeugnis der Psalmen die Rede, was bei genauerem Zusehen ein unverbindliches, in ungutem Sinne erbauliches Gerede werden kann 35 • Wenn ferner die Allegorie nicht mehr möglich ist36 , ergibt sich, daß man alle summarischen 33 Vgl Anm. 134 über das Sonderproblem des Herausnehmens isolierbarer Einzelaussagen oder des meditativen Gebrauchs von Einzelversen (Tageslosung!) usw. kann hier nicht ausführlicher gehandelt werden; vgl noch Anm. 5. 35 Vgl so leider bei Lamparter, in: FS Köberle (s. Anm. 6). 36 Danach sind z.B. die Kinder Babyions aus Ps 137 die bösen Begierden, die an den Fels Christus zu schlagen sind; so seit Augustin. Vgl bei Heinen (Anm. 6), S. 231.
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Wertungen und Stellungnahmen vermeiden sollte, da diese nichts austragen. Wird das sog. Christliche in den Psalmen zu schnell (!) gesucht, überhört man möglicherweise das Proprium des Psalms. Der Gott und Vater Jesu Christi ist als Gott des alten Israel und des Alten Testaments vielmehr einen Weg mit seinen Menschen und seiner Welt gegangen und mitgegangen, der ein Weg auch der Glaubenserkenntnis war. Wer aber genauer nachfragt und theologisch nicht zu flach ansetzt, wird bald erkennen, daß letztlich auch »schon« im Alten Testament das Psalmengebet als Gebet zum »Vater« im »Geist« und durch den »Sohn« (d.h. durch Gottes sich zuwendende Gnade) erfolgt, so daß die relecture chretienne37 oder auch die Um dichtung mancher Psalmen für das christliche Gesangbuch hier ihren berechtigten Ansatz hat38. Psalmengebrauch muß überlegender Gebrauch sein. Bei gänzlich kirchen- und bibelfremden Menschen wird man vielleicht als Hinführung zu den Psalmen eher vorsichtige Anreicherungen oder Neudichtungen verwenden. Die neuen Versuche eigener Psalmenlyrik jedoch (von G. Benn über K. Marti bis G. Trakl u.a.)39 sind durchweg nicht betbar, sondern man kann bei ihnen vielleicht Meditationsanregungen empfangen, aber dies wird nur dem »Gebildeten«, nicht dem Normalmenschen möglich sein. e) Für den Gebrauch der Psalmen in uns~ren Gottesdiensten40 sollte gelten, daß man sie nur dann singen bzw. liturgisch verwenden sollte, wenn man sie auch sonst betet. Wechselgesang ist außerdem noch schwieriger als gemeinsames Singen des ganzen Psalms, und gut gesprochen ist ferner besser als schlecht gesungen. Es dürften nicht nur einige Christen von heute sein, denen der Zugang zu den Psalmen dadurch verschlossen bleibt, daß sie diese, ohne jemals eine einführende oder interpretierende Hilfe erfahren zu haben, nur als Introiten erleben4 1, bei denen man sich dann zuweilen noch einbildet, daß durch eine angehängte trinitarische Doxologie der alttestamentliche Psalm ~ozusagen »getauft« und damit auch in seinen fremdesten Aussagen betbar wird. Es gilt, das Beten der Psalmen wieder zu lehren, nicht nur »über« sie gegebenenfalls zu predigen42 • Psalmen müssen gebetet werden, zugleich aber für das Beten erschlossen werden. Dann kommt man in den Gottesdienst hinein mit seinen Alltags-
37 Dazu Becker (Anm. 4), S. 133. 38 Vgl die Lit.-Angaben in Anm. 2. 39 Dazu den Sammelband und den Aufsatz von P.K. Kurz (Anm. 2) Baldermann, EvErz 1980, S. 465. 40 Dazu Landau (Anm. 6), S. 346ff. 41 Auch diese Introiten bieten meist Psalmen in Auswahl, m.E. oft blematische. 42 Dazu als hilfreiche Beispiele: G. Ebeling, Psalmenmeditationen. 1968; Psalmenpredigt. Klage und Lob der Gemeinde. Stuttgart Heckel (Hrsg.), Befreit zur Freude. München 1981.
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und auch
eine proTübingen 1975; G.
erfahrungen und geht neu in diese von dorther zurück, wobei die Psalmen, wenn man sie erschließt und vielleicht sogar wieder lieb und wert macht, als regenerierendes Bad43 für das eigene Beten fungieren können. Denn es kommt in den Psalmen nicht nur anderes, sondern oft auch weit mehr betend zur Sprache, als dies oft in unseren Gebeten der Fall ist. Psalmen können unser Beten bereichern. Auch dies gilt es zu vermitteln, wenn man Psalmen auslegt. Sie sind Gedichte in religiöser Sprache, die es als solche zu entdecken und zu erschließen gilt44 • Nur Aufdröseln ihrer »Inhalte« ist zu wenig und geht an Entscheidendem vorbei. f) Aber Beten erschließt sich dann auch nicht nur durch Auslegung der Texte, durch Erschließung ihrer Sprach gewalt und Gottesbeziehung, sondern eben durch Beten, durch nachvollziehenden Gebrauch, d.h. zusammengefaßt durch angeleitetes Beten. Man lasse Lieblingspsalmen aussuchen, führe in diese besonders ein und dann von ihnen her weiter. Mehrfaches und auch lautes Lesen sind wichtig, da die Sprache hierbei bildend und erziehend wirken kann (vgl auch Eph 5,18f; Kol 3,16). Man lese mit Anstreichungen und lese die so markierten und ausgesuchten Texte immer wieder, um sich so in die Gemeinschaft der Beter hineinholen zu lassen. Vertiefend sollten sich dann die Fragen nach der Psalmengattung und ihren Konstituenten sowie die nach den Bildern und ihrem Aussagegehalt einstellen. Das Gefüge des Psalms gilt es zu entdecken, um sich auch in dieses hineinehmen zu lassen. Der Beter von heute wird durch den Beter von damals angeleitet. Das Hören auf die Psalmen hilft neu zu eigenem Beten. überlieferte Erfahrung fordert eigene heraus und ermöglicht sie. Grundstrukturen des Betens, Urdaten von Frömmigkeit werden neu vermittelt. Lebensprobleme können dann zur Anrede werden im personalen Gegenüber von Gott und Mensch, in Lob und Klage, Bitte und Dank, Hoffnung und Anfechtung. Das auszulegende, mir als Gegenüber begegnende geschriebene Psalmwort wird als lebens bestimmend und in die eigene Glaubenssprache des Gebetes lebendig eingehend erfahren. Wissenschaftlich-kritische Arbeit und Reflexion ermöglichen neue religiöse Erfahrung, und Glaube wird durch Umgang mit Tradition, mit Texten der Vergangenheit neu vermittelt und gestärkt. Die Psalmen zeigen, daß und wie Gott Gebet aus Glauben ermöglicht, nicht etwa aber nur befiehlt. Sie zeigen das Beten als ein Leben mit Gott, das sich folglich nicht nur auf ein Bitten beschränken kann und will. Und gerade das Gebet ist es, wo die Christen Weltverantwortung wahrnehmen und dieser ihr Dienst unauswechselbar ist. Daß dieses Entdecken und Aufdecken von Grundstrukturen glaubender Existenz in Ausdruck, Anrede und
43 So nach Becker (Anm. 4), 5. 133. 44 M.E. eignet sich die neue Einheitsübersetzung hierfür besonders gut.
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Zeugnis auch ein wichtiger und hilfreicher Ansatz der christlichen Hermeneutik des Alten Testaments überhaupt sein kann, sei abschließend nur noch kurz betont. Es ausführlicher darzustellen wird hoffentlich an anderer Stelle Gelegenheit sein.
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AUGUST STROBEL
Geist-Erfahrung und Wortverkündigung im Kontext von Apg 2 Gedanken zu einem Thema lukanischer Theologie
Was es um Geist-Erfahrung und Wortverkündigung ist, hat kein Zeuge des Neuen Testaments gründlicher reflektiert als Lukas, der dritte Evangelist, der hellenistische Christuszeuge, der Missionar unter den Evangelisten. Es ist genugsam bekannt, daß seine Schriften, das Lukas-Evangelium und die Apostelgeschichte, das Thema des Geistes Gottes für das Christuswirken und die Mission der Urgemeinde in besonderer Weise berücksichtigen und gewiß auch sehr typisch zur Geltung bringen 1• Man muß sich diesen Sachverhalt vergegenwärtigen, weil es sonst nicht möglich wäre, jene Konsequenzen zu ziehen, die das Fazit unserer überlegungen sein wollen. Welche? Da die Rede vom Heiligen Geist einesteils in der theologischen Reflexion streng logisch-formal aufgearbeitet und andernteils in der kirchlichen Praxis im allgemeinen liturgisch-steril gehandhabt wird, stehen wir entweder in der Gefahr eines rein formalistischen Redens oder wir gleiten ab zu einem primitiven charismatisch-ekstatischen Mißbrauch dessen, was vom Neuen Testament her gesehen als erfüllte Geistverheißung und als alles tragende Wahrheit des Christenlebens zugesagt ist. Das Zeugnis des Lukas, der wie kaum ein anderer (vergleichbar wäre höchstens noch Paulus!) das Thema des heiligen Geistes herausgehoben und in seinen praktischen Konsequenzen berücksichtigt hat, kann bei äußerlichem Zusehen sogar selbst erste Ursache von Mißdeutungen und Mißverständnissen sein, weshalb im folgenden eine tiefere Betrachtung versucht werden soll. Vgl allgemein zur Sache H. von Baer, Der Heilige Geist in den Lukasschriften, BzWANT 3.F.3.H., 1926, S. 205ff (Nachdr.: G. Braumann, Das LukasEvangelium, WdF 280 (1974), S. 1-6); E. Schweizer, Art. pneuma, in: ThWb VI, S. 401-413; E. Lohse, Lukas als Theologe der Heilsgeschichte, EvTh 14, (1954), S. 256ff (Nachdr.: G. Braumann, Das Lukas-Evangelium S. 64ff (bes. S. 84ff); H.L. Dumwright, Jr., The Holy Spirit in the Book of Acts, Southwestern Journal of Theology 17 (1974), S. 3-17; K. Stalder, Der Heilige Geist in der lk. Ekklesiologie, in: Una Saneta 30 (1975), S. 287-293; G. Schneider, Das Evangelium nach Lk Kp. 1-10, OTk 3,1 (1977), S. lllf (Exk.: Der h1. Geist): » Es zeichnen sich drei Aussagereihen ab: der Geist und Jesus - Geist und Jüngerschaft bzw. Kirche - Geist und Heilsgeschichte.« W. Schmithals, Das Evangelium nach Lk, ZB NT 3,1,1980, S. 239, spricht vom »Evangelisten des Heiligen Geistes«.
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I
Wir wenden uns vorweg dem Zeugnis des Evangeliums zu. Was liegt vor Augen? Die exegetische Forschung hat es - kurz gesagt - für das Thema »Geist« (griech. pneuma) auf den Nenner einer Neubewertung und eines Neuverständnisses gebracht2• Stärker als die Evangelisten Mk und Mt hat Lukas dem Faktum des Geistes Gottes in seiner Darstellung Rechnung getragen. Lk gebraucht außerdem den entscheidenden Begriff des Geistes (griech. pneuma) wesentlich häufiger als diese und er verwendet ihn typischer und profilierter3 • Einesteils spricht sich darin, was man gewiß richtig erkannt hat, ein griechisch-kleinasiatischer Einschlag aus, also ein gewisses einwirkendes Umweltdenken, wobei man vor allem eine animistische Struktur des Geistesbegriffes zu erkennen meint. Wie der griechische Mensch neigt nämlich der Evangelist dazu, den Geist als göttliche Kraft (dynamis) und vielleicht sogar als göttliche Substanz zu denken. Andererseits weiß Lk der Christuszeuge, sehr wohl darum, daß der Geist als Specificum christlicher Existenz und als Grundphänomen der Kirche letztlich ausschließlich in eigener Weise im Christusgeschehen gründet. Anscheinend hat Lk christlicherseits ins theologische Bewußtsein erhoben, oder zu erheben versucht, was es um den Geist Gottes in Wahrheit ist. Auf diese ureigenste Sehweise des Evangelisten wollen wir im folgenden achten, zumal er offenbar in seiner besonderen Situation lernen mußte und erkennen sollte, daß das Pneuma, von dem das Evangelium Jesu Christi spricht, keine anthropologische, sondern eine christologische und vor allem eine ekklesiologische Größe ist. So darf der Evangelist Lukas in starkem Maße als ein Beispiel dafür gelten, wie christlicher Glaube seinen Weg suchen muß zwischen Mißdeutung und ureigenster Wahrheit. Ich schicke vorweg, daß Lk als Zeuge Jesu die ihm aufgetragene theologische Aufgabe mit Erfolg bewältigt hat. Wenigstens einige Sachverhalte seien kurz benannt. Der Evangelist denkt zunächst nach der Weise des hellenistischen Menschen die Pneumawirklichkeit allgemeiner als der Israelite und Jude, um hierin gleichsam vom pantheistischen Zug der Zeit berührt zu sein4• Man war längst der Meinung, daß sich die Welt des Göttlichen unmittelbar im Leben des Men2 E. Schweizer, ThWb VI S. 4olf. 3 Vgl die Wendung »Heiliger Geist«: Lk 13mal, Apg 42mal. 4 Vgl hierzu bes. P. Schäfer, Die Vorstellung vom Heiligen Geist in der rabbinischen Literatur, StANT 28 (1972), S. 135ff. Die Vorstellung des Heiligen Geistes verbindet sich im Judentum sehr eng mit der Prophetie und dem Heiligtum. Die überzeugung einer besonderen Erwählung durch Gott, vor allem auch in der Endzeit, ist leitend. Vgl auch E. Sjöberg, ThWb VI, S. 385ff (» Verselbständigung des Geistes«). In der griechischen Welt wird das Pneuma allgemein als göttliches Prinzip und lebens schaffende Kraft gewertet.
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schen bekundet und daß sie eine normale Möglichkeit menschlicher Erfahrung ist. Wenn W el t und Leben von göttlichen Kräften durchsetzt seien, könne sich wohl auch der göttliche Geist spontan aus dem Menschen heraus zu Wort melden. Einprägsam schildert bei solchen Voraussetzungen schon die Geburtsgeschichte des dritten Evangelisten eine Reihe von Menschen, die im Geiste Gottes sprechen. In hellenistischer Manier sind hier sogen. gottbegeisterte Menschen geschildert (1,41: Elisabeth; 1,46f: Maria; 1,67: Zacharias), die geisterfüllt die künftige Bedeutung der Heilsgestalten in Worte fassen. Insgeheim sind dIe Texte ein Beweis für die frühe Einbindung des umweltlichen Pneumagedankens in das personale Geistverständnis der Christusgemeinde. Von entsprechender Voraussetzung her mag vermerkt sein, daß Simeon in der Kraft des Geistes in den Tempel kam (2,27). Vom Geist hatte er Weisung empfangen, er werde nicht sterben, bevor er den Gesalbten gesehen habe (2,26). Eine geisterfüllte Gestalt ist ebenso die Prophetin Hanna (2,36ff). Weitaus stärker als die Geburtsgeschichte des Mt läßt demnach die Vorgeschichte des LkEvangeliums die Geburt der »göttlichen« Kinder Johannes und Jesus in einer wunderbaren Welt von Geist-Führung und Geist-Erfahrung stattfinden, die wie von selbst das fromme Gemüt anrührt und überzeugt. Offenbar hat Lk als hellenistischer Christ sehr bewußt das Wissen um die allgemeine göttliche Pneumawirklichkeit in die Christuswahrheit einbezogen. Von Voraussetzungen her, die im griechischen Umweltdenken liegen, ist die theologische und anthropologische Komponente des Geistbegriffs in erstaunlicher Selbstverständlichkeit aufgenommen, wohl weil er als Christ griechischer Herkunft stärker als andere um Inspiration und Gottbegeisterung, Poesie und Mantik als Weisen pneumatischer Erfahrung gewußt hat. Der Mensch des hellenistischen Zeitalters bewertete das göttliche Pneuma als die erste Ursache und als die reinste Quelle jeglicher Form ekstatischer Äußerung, so wie es vielfach in der Literatur der Zeit zu Wort kommt: Die Seele, etwa der Pythia, ist ein organon theou (Plutarch, Pyth.Or.21), das wie eine Flöte vom Flötenspieler »geblasen wird« (Athenagoras, Suppl. 9) oder die der Zither gleich vom Pneuma wie von einem Griffel (Plektron) zum Erklingen gebracht wird5 • Obschon dieser Sachverhalt für den Evangelisten einigermaßen deutlich ist, so bezeichnet er doch nur eine Seite seines Geistverständnisses. Wichtiger ist, daß sich Lk als Christ über die dynamistisch-animistische Denkweise hinausführen ließ und offensichtlich auch über sie hinausgewachsen ist. Er weiß, daß alle Vorstellungen vom Geist sich an Christus und seiner Gestalt zu messen haben6 • Was es in christlicher Sicht um Geisterfah5 H. Kleinknecht, in: ThWb VI, S. 345,35ff. 6 Vgl H. Schürmann, Das Lukasevangelium 1. Teil, Herders ThK NT III, 1, 1969, S. 222: »Der Geistgedanke ist für Lk ein theologisches Mittel, eine Christologie zu versuchen« (zu 4,14).
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rung ist, entscheidet sich ganz und gar an der von Christus in die Welt gebrachten Wahrheit. In der gebotenen Kürze möchten wir dies aufzeigen. Eigentlicher Träger des Geistes Gottes ist im Lk-Evangelium ohne Zweifel Jesus als der Heilsbringer. Die Menschen der Geburtsgeschichte sind auf ihn ausgerichtet. Die Taufgeschichte läßt keinen Zweifel (3,22), daß der Heilige Geist sich in »leiblicher Gestalt« wie eine Taube auf Christus herabsenkt. Jesus ist hier in besonderer Weise als Träger und Mittler des Geistes Gottes gesehen, nicht nur als sein Objekt. Er ist es vor allem als der Verkünder des Wortes, womit Lk alles vorchristliche Denken auf eine neue christologische Reflexionsebene hebt. Was es um den. Geist Gottes ist, der später auch der Gemeinde gegeben wird, entscheidet sich demnach an Christus und empfängt von seiner Person Gestalt und Norm7 • Alle folgende Darstellung des Wirkens J esu ist von daher zu verstehen. Im Vollbesitz des Geistes, was ausdrücklich vermerkt wird, verließ Jesus den Ort der Taufe am Jordan, um vom Geist in die Wüste geführt zu werden, wo er sich als Sohn Gottes in den Versuchungen bewährt hat (4,lff). In der »Kraft des Geistes« (4,16) begibt er sich in der Folge nach Galiläa, um dort zu predigen. Schon in Nazareth bestätigt sich die Verheißung des Propheten J esa ja (J es 60, lf): »Der Geist des Herrn ist auf mir, darum daß er mich gesalbt hat.« Die Konsequenzen für die Elenden und Armen dieser Welt sind weitreichend, zumal Jesus das »angenehme Jahr des Herrn« proklamiert (4,18)8. Als Geistträger verkündet er den Armen und Geschlagenen der Welt das frohe Wort einer neuen Freiheit. Des öfteren findet Ausdruck, daß alles Reden und Wirken J esu sachgemäß nur vom Hintergrund seines einmaligen Geistbesitzes verstanden wird. Die Stunde der Rückkehr der 70 Jünger wird beispielsweise ausdrücklich dahingehend herausgehoben, daß J esus, vom Heiligen Geist getrieben, Gott für das abgrundtiefe Geheimnis seiner Sendung gedankt hat (10,21): »Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, daß du dies vor den Weisen und Verständigen verborgen, aber den Unmündigen geoffenbart hast.« Darin klingt an, daß nur der Geist Christi die Tiefen des göttlichen Geheimnisses erschließt, daß aber dieses Geheimnis zugleich einzig und allein mit der Sendung und dem Geschick des Sohnes gesetzt ist. In solcher Weise autorisiert darf auch J esus seinen Jüngern und Nachfolgern die Zusage geben, daß - wann immer sie ihn bitten 7 G. Schneider, Das Evangelium nach Luk~s, OTK 3,1,1977, S. 112: »Der Heilige Geist ist Existenzgrund Jesu, und das Herabkommen des Geistes bei der Taufe manifestiert den dauernden Geistbesitz des »Sohnes Gottes« (3,22). 8 W. Ehester (Hrsg.), Jesus in Nazareth, BZNW 41, 1972 (passim). G. Schneider, Das Evangelium nach Lukas, S. 112: »Die Geistsalbung (vgl Apg 10,38) ist der -Grund seiner Sendung und seiner Botschaft.«
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der himmlische Vater seinen Geist schenken wird (11,13). Die Verheißung ist ferner den Zeugen J esu als eine bedingungslose gegeben für die Stunde der Bewährung vor den Machthabern (12,12). In steiler theologischer Zuspitzung des Gedankens hat Lk damit das Logion Jesu verbunden, wonach dem nicht vergeben wird, der den Heiligen Geist lästert, d.i. der sich apostatisch verhält (12,10). Man ersieht daraus, daß er die Vorstellung der Lästerung des Geistes von dem kritischen Grenzfall der Verleugnung Jesu durch den Nachfolger vor Gericht verstanden hat. Auch aus diesen Stellen spricht die überzeugung der besonderen, ja der ausschließlichen Identität Jesu mit dem Geist Gottes. Die Christozentrierung des Pneuma-Gedankens ist unübersehbar. Sie steht noch dadurch außer Zweifel, daß Jesus, der Geistträger Gottes, der aufgrund seines Leidens, Sterbens und Auferstehens Erhöhte, den Geistempfang für seine Jünger und Gemeinde verbürgt. Der Auferstandene verheißt in der Darstellung des Lk (anders bekanntlich bei Joh und Mt) den Jüngern, die in Jerusalem bleiben sollen, daß sie angetan werden mit der »Kraft aus der Höhe« (24,49). Der lebendige Christus kündigt mit solcher Ansage seine künftige Präsenz in der Gabe und in der Kraft des Geistes an, der ihr Zeugnis für die Welt begleitet. Es ist die Verheißung einer unwiderstehlichen Gegenwart, die das Zeugnis im überwältigenden Siegeszug bis an die Enden der Erde bringt (Apg 1,7f). Damit läßt sich ein erstes Fazit ziehen. Wir entnehmen dem dritten Evangelium, daß die darin herausragende Vorstellung des Geistes Gottes, obschon dem griechischen Umweltdenken in seiner sogen. dynamistischen Struktur verwandt, doch zutiefst der Christuswahrheit kritisch integriert wurde. Jesus erscheint hier am wenigsten als ein Charismatiker, Pneumatiker oder Mantiker wie viele andere seiner Zeit, sondern als der personhafte Inbegriff und Garant des einen Geistes des lebendigen Gottes. Lk wußte demnach um die singuläre Einheit von Geist und Wort Christi. Wie die Menschen seiner Zeit rechnet er zwar mit mancherlei Wirkungen und Manifestationen des Geistes, rechnet er auch mit dem Wechselspiel von Geist und Kraft, so daß diese Begriffe sogar austauschbar gebraucht werden. Indessen reicht sein theologisches Zeugnis doch erheblich über diese allgemeine Erfahrung hinaus, um sie vor allem auch kritisch zu begrenzen. Was Geist Gottes in Wahrheit ist, normiert sich ausschließlich an der Christusgestalt und an dem Christus geheimnis. Mag auch Lk jener Zeuge sein, der das Thema des Geistes von seiner besonderen Umweltprägung scheinbar am meisten anthropologisch strukturiert hat, so ist er doch zugleich der Evangelist, der einprägsam zu erkennen gibt, wie einem einseitigen ekstatisch-pneumatischen Mißbrauch entgegenzutreten ist, nämlich christozentrisch. Die Gestalt und die Sendung J esu bestimmen, was es um das Geschenk und die Erfahrung des Geistes beim Christen ist. 69
II Wir bedenken nun, was für die Gemeinde Jesu im Kraftfeld des Christusgeistes gilt. Wir wenden uns zu diesem Zweck dem Zeugnis der Apg zu, das sich in Kp 2 in besonderer Weise verdichtet. Mag auch der Inhalt im allgemeinen bekannt sein, einige exegetische Merkmale des Textes müssen in Erinnerung gebracht werden9 • Wir gehen davon aus, daß mit 2,1-13 ein geschlossener Text vorliegt, also eine abgerundete Einheit, die auch als solche zu interpretieren ist10 • Lk, der im Evangelium die künftige Verheißung des Geistes ganz an den Erhöhten gebunden hat, stand hier vor der Aufgabe, das Kommen des Geistes, also die Erfüllung des Wortes des Auferstandenen (Lk 24,49), so anschaulich und einprägsam wie nur möglich zu schildern. Nicht irgend etwas stand schließlich an, um berichtet und in Worte gefaßt zu werden, sondern die Wahrheit der gegenwärtigen Kraft des erhöhten Christus in der Gemeindel l . Aus der Anschaulichkeit der Pfingstgeschichte ersehen wir, wie elementar sich der Evangelist, der gewiß kein Augenzeuge damaligen Erlebens war, selbst in der Erfahrung des Geistes Gottes wußte. Ohne viel Nachweise möchte ich davon ausgehen, daß dem Evangelisten bedeutsame und verläßliche Traditionen zum sogen. Pfingstgeschehen vorlagen, mögen Details auch im dunkeln liegen 12. Wir haben aber bei 9 Zur Literatur vgl E. Lohse, Die Bedeutung des Pfingstberichtes im Rahmen des lukanischen Geschichtswerkes, EvTh 13 (1953), S. 422-436; 1. Broer, Der Geist und die Gemeinde. Zur Auslegung der lukanischen Pfingstgeschichte (Apg 2,1-13), Bibel und Leben 13 (1973), S. 261-283; J. Kremer, Pfingstbericht und Pfingstgeschehen, StBSt 63/64 (1973) (mit Lit.); G. Schneider Die Apostelgeschichte, Herders ThK NT V,1, 1980, S. 239-283 (u.a.Lit.), S. 256-260 (»Pfingsten und der heilige Geist«); A. Weiser, Die Apostelgeschichte Kp. 1-12, aTK 5,1,1981, S. 75-97; J. Roloff, Die Apostelgeschichte, NTD 5, 1981, S. 37-64. 10 Zur Sache vgl Kl. Haacker, Das Pfingstwunder als exegetisches Problem, in: Verborum Veritas. FS f. G. Stählin zum 70. Geb., 1970, S. 125-131; zuletzt J. Roloff, aaO, S. 38: »Wahrscheinlicher ist, daß Lukas eine überlieferung benutzt hat, die bereits einen längeren Entwicklungsprozeß hinter sich hatte.« Anders: J. Kremer, Pfingstbericht, S. 125f,259ff (vermutet Quellenabhängigkeit) ; M. Dömer, Das Heil Gottes. Studien zur Theologie des luk. Doppelwerkes, BBB 51, 1978, S. 139-159 (scheidet Tradition und Redaktion); ähnlich G. Schneider, Die Apostelgeschichte, S. 244f. 11 Vgl H. Streichele, Geist und Amt als kirchenbildende Elemente in der Apg, in: J. Hainz (Hrsg.), Kirche im Werden. München/Paderborn/Wien 1976, S. 185f 188ff. 12 A. Weiser, aaO, S. 87: »Ausgangspunkt des Berichtes ist die gläubige überzeugung der Urchristenheit, daß ihr vom auferstandenen und erhöhten Herrn die Gabe des Heiligen Geistes zuteil geworden ist. Auf ihn führte man Leben, Leitung und Wachstum der Kirche zurück. Das Zustandekommen dieser überzeugung setzt Geschehnisse voraus, in denen den Urchristen die Gegenwart des Heiligen Geistes bewußt wurde.«
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alledem danach zu fragen, wie er selbst das überkommene Zeugnis mit eigentümlichen Akzenten versehen hat. Schließlich beschrieb er nicht irgendein Ereignis der Urgeschichte der Kirche, sondern deren Geburtsstunde. Mit der Geburtsstunde aber war das Wesen der Sache darzustelIm13 • Schon der ziemlich einheitliche Sprachgebrauch von Apg 2,1-13 macht deutlich, daß hier in der Tat nicht Quellen zusammengefügt sind, sondern daß der Text als Einheit und Ganzes den Evangelisten zum Urheber hat, der natürlich niemals frei oder gar dichterisch gearbeitet hat, sondern erstmals Gehörtes und Bezeugtes niederschrieb. In keiner Weise bleibt zweifelhaft, daß wir dem Text nicht gerecht werden, hören wir ihn nur nach seinem historischen Interesse ab, sondern nur dann, wenn wir in ihm auch eine »gezielte theologische Aussage« erkennen14 • Sie hat die überzeugung der Urchristenheit zum Ausgangspunkt, »daß ihr vom auferstandenen und erhöhten Herrn die Gabe des Heiligen Geistes zuteil geworden ist«. Das ist über alle Zweifel erfahrbar. Eine solche überzeugung setzt Geschehnisse voraus, »in denen den Urchristen die Gegenwart des Heiligen Geistes bewußt wurde«. Auf derlei Traditionen konnte Lk unschwer zurückgreifen, wenn freilich die literarische Schwierigkeit darin bestand, sie konzentriert, anschaulich und einprägsam zu bündeln. Nur ein eindrucksvolles Bild konnte genügen, die Wahrheit abzusichern, von woher die Kirche kam und worin sie bestand15 • Das Zeugnis vom Geiste Gottes verträgt keine Halbheiten. Darum wußte Lk aus eigener Erfahrung16 • Ein Rahmenvers mit genauer Zeitangabe, doch nur mit andeutungsweisen Orts- und Personenvermerken, ist V 1. Er lautet hochgestimmt und zeugnishaft, sofern er besagt, daß am 50. Tag nach Ostern, also zum jüdischen Wochenfest 17 , »alle am gleichen Ort beisammen waren«, nämlieh wie in Vorahnung eines großen Geschehens. In lukanischem Redestil 18 heißt es, daß sich der Tag der Pentekoste »erfüllte«, worin ebenfalls an-
13 G. Schneider, Das Evangelium nach Lukas, S. 112: »In der Zeit der Kirche wird durch den Geist das Werk J esu fortgeführt, und zwar sowohl in der verfaßten und missionierenden Kirche als auch in spontanen Impulsen, die auf das von Gott verfügte Ziel hinlenken.« 14 A. Weiser, Die Pfingstpredigt des Lukas, in: Bibel und Leben 14, 1973, S. lff. 15 Vgl bes. auch 1. Howard Marshall, The Significance of Pentecost, in: Scottish Journal of Theology 30 (1977), S. 347ff, bes. 365ff. 16 In diesem Sinne bemerkt J. Roloff, Die Apostelgeschichte, S. 38: »Er (Lk) hat das ihm zur Verfügung stehende Traditionsmaterial - das allerdings in letzter Instanz auf einen geschichtlichen Vorgang zurückzugehen scheint - so bearbeitet und gestaltet, daß eine Erzählung entstand, die eine Reihe von Aspekten der Geisterfahrung der jungen Christenheit aufnahm und dem Leser eine Reihe von theologischen Assoziationen aufdrängt.« 17 Zum kalendarischen Problem vgl G. Kretschmar, Himmelfahrt und Pfingsten, ZKG 66 (1954/55), S. 209-253. 18 Vgl auch A. Weiser, Die Apostelgeschichte, S. 78f.
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klingt, daß damit Größeres und Tieferes zur Vollendung kam als nur eine terminliche Koinzidenz. Sym-plerousthai ist ein zutiefst heilsgeschichtlich angereichertes Thema-Wort. Ein archaisch-biblisch klingendes und »es geschah« (kai egeneto) V 2 leitet hin zur Beschreibung des einmaligen Gottesgeschehens der Ausgießung des Geistes. Wir werden später über das Sch~ma dieser Manifestation noch zu handeln haben. Hier se. nur bemerkt, daß die Beschreibung ganz und gar die Sprachgewalt des dritten Evangelisten verrät und einen hohen kerygmatischen Sinn h2t. Ein doppeltes »wie« - »gleichwie« (hösper-hösei) zeigt an, wie inadiquat letztlich die irdischen Gewalten Sturm und Feuer dem vergleich1:ar sind, was damals über die Schar der J esusjünger hereinbrach. In zweifacher Weise meldet sich noch einmal das Themawort der Fülle an, wenn es heißt, daß der Schall das ganze Haus »erfüllte« und daß alle mit aem heiligen Geist »erfüllt« wurden. Offenbar ist Lk insgeheim von der überzeugung bestimmt, daß Gottes Geist Zeit, Raum und Herzen erfiillt, gewiß nicht allgemein und vage, sondern hin auf die Christuswahrheit. In unverkennbar lukanischer Ausdrucksweise heißt es V 4 zum Abschluß des Sinnabschnitts, daß alle Jünger mit »anderen« (gemeint ist: mit richtirdischen) Zungen zu reden begannen, gleichwie der Geist sie feierlichhochgestimmt, doch nicht: ekstatisch-wirr, sprechen ließ (apophthengesthai). Daß es bei dem Pfingstgeist der Kirche nicht um eine ideale Größe oder um eine dogmatische Formel geht, sondern um Wirkun~ und Erschütterung, kurzum: zutiefst um Betroffenheit und Existenzerfahrung, ist klargestellt. Dennoch bleiben hier Fragen. Der folgende Sinnabschnitt V 5-13. gewiß der Hauptteil des Pfingstberichtes, blickt auf die Reaktion der Zuhörer, wodurch allein ganz deutlich wird, was es um die Kraft des Geistes ist. Stark akzentuiert, ja in bewußt hyperbolischer Ausdrucksweise steht zur Kennzeichnung der Situation vorweg, daß in Jerusalem Juden wohnten, »fromme Männer aus einem jeden Volk unter dem Himmel«. Man muß sich vergegenwärtigen, was diese hochgestimmte Wendung eigentlich bewirken will. Daß damals schon der Pfingstgeist über glaubende Herzen die ganze Welt zu erobern begann? Daß glaubende Menschen die tragenden Säulen ihrer Völker sind und sein sollten? Daß um ihretwillen allein die Welt eine Zukunft hat hin auf die Vollendung durch den Geist Gottes? Daß Israel und die heraufziehende Kirche eine heilsgeschichtliche Schicksalsgemeinschaft bilden19 ? Wir wissen, daß derlei 19 Vgl A.P. O'Hagan, O.F.M., The First Christi an Pentecost, in: Studii Biblici Franciscani Liber Annuus 23, 1973, S. SOff.66: »The first preaching of Peter was to Jews in Jerusalem for the feast, Jews from the diaspora and their proselytes; this is authentically interpreted by Luke as a sign and true beginning of a new, universal promulgation of the Risen Christ to all the nations of the world.«
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überzeugungen in der Tat im damaligen Israel virulent waren. Lk vermerkt weiter, daß sie alle zusammenliefen und in ihrer Sprache das Wort der apostolischen Proklamation hörten. Von seiner Sicht der Dinge her lenkt der Evangelist konsequent hin zum Hörwunder. Gewiß nicht, weil er zwei gesonderte überlieferungen verarbeiten mußte, sondern weil nach seiner Vorstellung das Sprachwunder das Hörwunder einschließt. Wo Gottes Stimme ergeht, wird zugleich das Gehör der Menschen wunderbar geöffnet. Der Evangelist hat als homo religiosus seiner Zeit zutiefst ein Gespür dafür, daß - wo immer Gottes Stimme in dieser Welt laut wird, hier von der Zionsmitte aus - wir Menschen einem letzten Geheimnis gegenüberstehen, das in heiliger Scheu im Grunde nur mit den Kategorien des Wunderbaren angemessen beschrieben werden kann. Die Reaktion dieser frommen Vertreter des Welt judentums wird geschildert, wie es einem Theophaniebericht angemessen ist, als Entsetzen und Verwunderung und endlich als Frage, die zugleich die elementare Anfrage der Zeitgenossen der lukanischen Situation selbst ist: »Wie kann das Wort aus Galiläa gehört und verstanden werden von der Welt?« Sehr überlegt, wohl um insgeheim den kerygmatischen Aktualismus der Frage zuzuspitzen, hat der Evangelist diesen ersten Zuhörern der Christus botschaft eine Liste der Völkernamen 20 in den Mund gelegt: »Wie hören wir denn ein jeder die Sprache, darin wir geboren sind? Parther und Meder und Elamiter usw., usw.« Allem Anschein nach geht es bei solcher Darstellung keineswegs um eine streng exakte Berichterstattung, sondern um die Beschreibung eines mit und seit Pfingsten gültigen Geschehens. Der Evangelist intendiert einen geschichtlichen Eindruck und somit auch bewußt eine gegenwärtige Entscheidung, die jeder Leser fällen muß. Tatsächlich reagieren diese Vertreter eines frommen Welt judentums wie die Repräsentanten eines künftigen Weltchristentums: »Wir hören sie mit unseren Zungen die Großtaten Gottes reden.« Bemerkenswert aktuell ist endlich auch die Einmündung der Darstellung in die kerygmatische Entscheidungsfrage: »Was soll dies?« Im abstoßenden Kontrast hierzu steht die Formulierung des Widerspruchs der »anderen«: »Sie sind voll süßen Weins.« 20 Hierzu vgl J. Kremer, P:6.ngstbericht, S. 145-158 (für alle Details); E. Güting, Der geographische Horizont der sogen. Völkerliste des Lk (Acta 2,9-11), ZNW 66 (1975), S. 149-169 (Aufreihung der Namen im Sinne der zentrifugalen Missionskraft des Evangeliums!); E. Gräßer, Acta-Forschung seit 1960, ThR 42 (1977), S. 11ff (verneint mit Güting die Annahme einer von Lk verarbeiteten Quelle!); W. Stenger, Beobachtungen zur sogen. Völkerliste des P:6.ngstwunders (Apg 2,7-11), Kairos 21 (1977), S. 206-214 (Lk lehne sich an eine Liste der jüdischen Diaspora an und habe vielleicht »Parther, Meder und Elamiter« sowie »Juden und Proselyten« hinzugefügt); A. Weiser, Die Apostelgeschichte, S. 86 (betont das »Fremdsprachenwunder«) ; J. Roloff, Die Apostelgeschichte, S. 45 (die Liste leuchte den »Horizont der jüdischen Welt« aus).
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Der Pfingstbericht des Lk hat demnach zutiefst eine situationsgemäße zeugnishafte Ausrichtung. Indem am Schluß des Berichtes das hochgestimmte Eingangsthema der Erfüllung der Pfingstverheißung Christi in fast peinlicher Weise durch Spötter persifliert ist, denen sogar das letzte Wort zugestanden wird, zeigt der Evangelist an, daß auch das Pfingstwunder nicht abseits der Torheit des Kreuzes existiert. Dieses Pfingstwunder war demnach kein Pfingstspektakel und ebensowenig ein Pfingstmirakel. Es ist vielmehr zu sehen und zu begreifen als die Manifestation des erhöhten Gekreuzigten, der der Lebendige ist und im Zeichen des Kreuzes den hohen Sinn der Menschen bricht, sofern sie sich seinem Wort versperren 21 • Wer das Zeugnis tiefer zu bedenken gewillt ist, nimmt vor allem wahr, daß hier nicht mühsam Vergangen es rekonstruiert ist, sondern daß in einem großen Wurf aus der Erfahrung von Pfingsten noch in der Gegenwart des Evangelisten der Eindruck eines unwiderstehlichen Geschehens die Darstellung bestimmt22 • Das Pfingstereignis stellt sich mitnichten einseitig als ein Sachverhalt der Historie dar, sondern als ein Faktum immer wieder erlebter Geschichte. Man muß nur sehen, daß die Welt nicht an der Christusfrage vorbeikommt, und man darf auch darauf hinweisen, daß Christus im Grunde längst die Welt gehört. Lk, der einzelne Vertreter der Völker sprechen läßt, hat nicht etwa aus übertreibung, sondern berechtigterweise aus Erfahrung zur Sprache gebracht, was gilt. Zu seiner Zeit waren die hier erwähnten Länder bereits Zentren christlichen Glaubens geworden: die Gebiete des Zweistromlandes, die Landschaften Kleinasiens, die Provinzen Nordafrikas, die Hauptstadt des Reiches, Rom selbst, aber auch die Inseln des Meeres, vorweg Kreta, und die Siedlungsinseln der arabischen Halbinsel. Gemeinde Jesu im Kraftfeld des Geistes wird gesehen auf Weltkirche hin, trägt ökumenische Züge. Somit darf es keine Mission gegeneinander geben, sondern Mission aus der Einheit der gemeinsamen Wort- und Geisterfahrung heraus. Die theologisch außerordentlich reflektierte Grundstruktur des Textes tritt noch dadurch deutlicher hervor, daß die Schilderung der Geistmanifestation in den Versen 2-4 einem überlieferungsschema entspricht, das für die theologische Orientierung der ältesten Gemeinde grundlegende Bedeutung gehabt haben muß. Ich meine den alttestamentlichen Text von der Offenbarung Gottes vor dem Volk des Auszugs am Sinai in der durch die lebendige überlieferung des Frühjudentums aufgefüllten Gestalt (Ex 21 Man kann M. Dömer, Das Heil Gottes, S. 159, zustimmen. Lk wollte mit dieser Darstellung in proleptischer Weise »die weltweite Ausbreitung der christlichen Botschaft« zu erkennen geben. Man wird allerdings nicht unbeachtet lassen, daß diese zu seiner Zeit bereits im Grunde vollzogen war. 22 Vgl A.v. Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, 41924 (Nachdr.: o.J.) S. 621ff 689ff.
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19,16ff)23. Wir müssen annehmen, daß diese im Frühjudentum inzwischen haggadisch stark geprägte Tradition das Denken der Urgemeinde, die sich in neuer und letzter Offenbarungssituation wußte, nicht unberührt gelassen hat. Auch die lukanische überlieferung Apg 2,2-4 zeigt sich unverkennbar von diesem übergreifenden Interpretationsschema her getragen. Darin klingt nach, daß sich die älteste Gemeinde vor ein Offenbarungsgeschehen gestellt sah, dessen theologische Bedeutung nur im typologischen Seitenblick auf die Sinaitheophanie zu begrifflicher Klarheit gebracht werden konnte. Mit dem Pfingstgeschehen verband sich nicht nur die Tatsache der Geburtsstunde der Kirche, sondern mehr noch die theologische Grundüberzeugung einer endzeitlich-eschatologischen Erfüllung des Handeins Gottes mit seiner Gemeinde überhaupt. Wer mit dem Evangelium umgeht, handelt immer hin auf das Letzte. Man wird auch berücksichtigen, daß aller Wahrscheinlichkeit nach die Texte Ex 19ff zu den Hauptlesungen des Wochenfestes gehörten24 . In welcher Weise das damalige Judentum das Offenbarungsgeschehen am Sinai im Blick auf die Gabe des Gesetzes deutete, entnehmen wir am besten dem Zeugnis Philos von Alexandrien, der ein Zeitgenosse J esu war. Wir können uns dabei auf die wesentlichen Details seiner Interpretation beschränken, die sich De Decalogo 32ff und 44ff findet. Bei der Gesetzesoffenbarung am Sinai sprach demnach Gott nicht etwa mit Mund und Zunge, sondern so, daß er wunderbar schaffend zu Wort kam. Er habe befohlen, daß ein unsichtbarer Schall sich in der Luft bildet, wunderbarer als alle Instrumente der Welt, ausgestattet mit vollkommenen Harmonien, wie eine vernunftbegabte Seele voll Klarheit und Deutlichkeit sprechend. Wörtlich führt Philo aus 25 : »Diese Seele, der Luft Gestalt gebend und sie weithin spannend und zur feuerroten Flamme wandelnd (pros pyr phlogoeides metabalousa), ließ wie ein Lufthauch der durch die Trompete gestoßen wird, eine Stimme mit so artikulierten Lauten ertönen, daß die ganz entfernt Stehenden in gleicher Weise wie die Nächsten sie zu hören glaubten.« Daraus geht hervor, daß Philo wie 23 A. Weiser, Die Apostelgeschichte, S. 84f; J. Kremer, Was geschah an Pfingsten? Zur Historizität des Apg 2,1-13 berichteten Pfingstereignisses, in: Wort und Wahrheit 3 (1973), S. 195-207, bes. S. 201ff; bes. A.P. O'Hagan, O.F.M., The First Christian Pentecost, S. 52ff; ferner: R.Le Deaut, Pentec8te et tradition juive, in: Assemblees du Seigneur 51 (1963), S. 22-38; B. Noack., The Day of Pentecost in Jubilee, Qumran, and Acts, in: ASTI 1, 1962, S. 73-95. Das Argument G. Schneiders (Die Apostelgeschichte, S. 246), die jüdische Sinai-Haggada »als möglicher religions geschichtlicher Hintergrund« von Apg 2 sei »erst in den Jahren nach 70 n.Chr. entstanden«, geht gründlich fehl. 24 Vgl hierzu A. Strobel, Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem, SupplNT 2, 1961, S. 286ff 296ff. 25 ed. Cohn IV S. 278f.
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an ein Sprachwunder gedacht hat. Er mußte wohl beide wunderbaren Gesichtspunkte ins Auge fassen, weil dort, wo nach jüdischem Denken Gottes Wort in einmaliger Offenbarung laut wird, das Wunder der Gottesstimme auch notwendigerweise das Wunder des menschlichen Hörens ermöglicht. Philo drückt dies offen aus: »Das körperliche Gehörvermögen, das von Natur langsamer ist, bleibt ruhig, bis es von der Luft berührt und in Bewegung gesetzt ist; das Ohr des Geistes (= Sinnes) aber, der von Gott erfüllt ist, eilt mit äußerster Geschwindigkeit der Rede sogar voraus« (35). Frage man, weshalb Gott, da doch Tausende versammelt waren, sein Wort nicht an die vielen, sondern an die einzelnen gerichtet habe (s. das »Du sollst« der Gebote), so müsse darauf erwidert werden, »daß jeder einzelne, sofern er nach dem Gesetz lebt und Gott gehorsam ist, ein ganzes zahlreiches Volk, ja noch mehr, alle Völker, und - wenn man noch weiter gehen darf - sogar die ganze Welt aufwiegt« (37). Aus Ex 19,16ff gehe hervor, daß am Sinai alles voller Wunder gewesen sei. Im einzelnen werden nun typischerweise (Apg 2!) diese Erscheinungen genannt: das Getöse von Donnerschlägen, größer als es ein Ohr auszuhalten vermag, das Aufflammen von Blitzen, der gewaltige Schall einer unsichtbaren Posaune, die Erscheinung einer niederschwebenden Wolke, und endlich ein dahinflutendes himmlisches Feuer, »denn wo die Allmacht Gott~s nahte, durfte kein Teil und Element der Welt stillstehen«. Besprengt und gereinigt, dazu mit gewaschenen weißen Kleidern angetan, habe sich das Volk zur feierlichen Versammlung (ekklesia) gerüstet und so die Offenbarung erwartet. Diese sei schließlich in der Weise geschehen, daß eine Stimme mitten aus dem vom Himmel her kommenden Feuer ertönte, die alle mit ehrfurchtsvollem Schrecken erfüllte. Sodann habe sich die Flamme zu sprachlichen Lauten gewandelt (tes phlogos eis dialekton arthroumenos), die den Hörenden vertraut waren, wobei das Gesprochene so deutlich klang, »daß man es eher zu sehen als zu hören glaubte« (46). Zur Bekräftigung solcher Sicht der Dinge, die offenbar einer sehr geprägten jüdischen überlieferung gerecht wird, verweist Philo auf Ex 20,18, wo es heißt: »Alles Volk sah die Stimme.« Die Stimme Gottes sei nämlich in Wahrheit zu sehen, weil es stets Taten (erga) sind, die Gott redet, nicht Worte. Die enge überlieferungsgeschichtliche Verflechtung der lukanischen Darstellung der Ausgießung des Pfingstgeistes mit der bei Philo vorgenommenen Interpretation der Gesetzesoffenbarung am Sinai bedarf keines besonderen Nachweises 26 • Das Bild der sich in Feuerflammen artikulie-
26 A. Weiser, Die Apostelgeschichte, S. 84, bezweifelt, ob der lukanische Bericht von dieser ausgeprägten Tradition »direkt« abhängig sei, betont aber die Vertrautheit des Evangeliums mit diesen» Vorstellungen« und mit diesem »Denkhintergrund«.
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renden Gottesstimme, die sich sichtbar bis in Taten hinein verleiblicht, verkoppelt mit der überzeugung eines die Erscheinung begleitenden mächtigen Schalls, bestimmt beide überlieferungen im Kern. Die Jüngergemeinde jenes ersten Pfingsttages stand allem Anschein nach, wie Lk richtig im Sinne einer älteren überlieferung erkannt hat, unter dem Eindruck der Erfüllung einer Offenbarungs dimension, die man adäquat nur im typologischen Gegenüber zur Sinaitheophanie deuten und verstehen konnte. Wenn Gott im Sohn das letzte Wort gesprochen hatte, dann schrieb er es damals zur Geburtsstunde der Kirche mit dem Griffel seines Geistes unauslöschbar in die Herzen und in die Geschichte ein. Gemeinde Jesu im Kraftfeld des Geistes Gottes macht deutlich, was es um Kirche ist, die offen bleibt für das Wort jener Erstoffenbarung, unter dem sich der Sinn und die Taten der Menschen letztgültig scheiden. Ohne Zweifel zielt die Darstellung in Apg 2 nicht etwa auf die Bedeutsamkeit übersinnlicher Phänomene, auch nicht auf die exakt-historische Schilderung eines Geistmirakels. Da die Phänomene einem theologischen Schema entsprechen, worum Lk wußte, und da sie von einem falschen Realismus ausdrücklich durch ein inadäquates »Wie« abgegrenzt sind, lenkt Lk vielmehr das Augenmerk des Lesers hin auf den Sinn und die Bedeutsamkeit des Geistempfangs für die Christusgemeinde überhaupt, an allem Ort und zu jeder Zeit27 • Man wird hier nicht umhin kommen, auf die innere Spannung zu achten, in der sich ein massiver kerygmatischer Wille anmeldet. Alle waren sie, wie es heißt, an einem Ort beisammen: die Jünger und letztlich auch die Vertreter der künftigen Weltkirche. Alles konzentriert sich auf den Zeitpunkt des Pfingsttages, in dem der Gekreuzigte gegenwärtig und deshalb die Offenbarung am Sinai in neuer Weise überhöht wird. Das neue Gottesvolk der Endzeit erlebt seine Gründungsstunde. Dabei teilt sich der Geist Gottes zwar einem jeden mit, aber er zielt doch hierin eben auf die Gesamtkirche. Nicht mehr allein Mose ist der Betroffene und Empfangende, sondern letztlich alle. Sie waren unterschiedslos in ein Geschehen hineingenommen, bei dem nun ein jeder - Apostel oder Hörer - klar und feierlich bezeugen kann, ja im Grunde muß, was es um die Großtaten Gottes sei. Es ist vor allem deutlich, daß Lk mit Apg 2 weitaus mehr gibt als eine Ätiologie etwa der frühchristlichen Praxis des Zungenredens. Er liefert unverkennbar den Beweis für die unauflösliche Zusammengehörigkeit von Geist und Wort. Wo immer das Evangelium J esu verkündigt wird, ist es begleitet von der Macht des Geistes Gottes. Diese Verbindung ist so 27 K.L. Schmidt, Die Pfingsterzählung und das Pfingstereignis, Arb. z. Religionsgesch. d. Urchristentums 1. Bd. H. 2, 1919, S. 7f, der den Nachweis führen wollte, daß Lk »eine glossolalische Erscheinung« geschildert hat, verfehlt den kerygmatischen Tenor.
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tief gedacht, daß sie nach Lk zu einem Handeln zwingt, das den Geschenkcharakter der Erfahrung über alle möglichen Mißverständnisse hinaus sicherstellt.
III Wir beachten endlich, daß der Darstellung des Pfingstgeschehens die wohl umfangreichste Rede der Apg beigegeben ist (2,14-36). Heißt es in 2,4, daß der Geist den Jüngern gab, »feierlich zu reden« (apophthengestai), wobei keineswegs etwa die ekstatische Rede im Blick steht28 , so wird nun vermerkt, daß Petrus feierlich seine Stimme erhob und sich den Versammelten in eindeutiger Rede stellte (V 14). Die Gemeinde, die im Kraftfeld des Geistes J esu handelt, weiß sich in schlichtester Einfachheit an sein Wort gewiesen. Sie vertritt dieses Wort und läßt seinen Trost und seinen Anspruch laut werden 29 • Nach der Darstellung des Lk bringt der Pfingstgeist nicht etwa Unverständliches zu Gehör, sondern das Wesentliche und das ein für allemal Grundlegende in klarster Wortgestalt. Das Wesentliche und das Grundlegende sind dabei erkennbar an den Großtaten und keineswegs an unseren Zielvorstellungen über die Kirche oder über nötige Verbesserungen an der Welt. In drei sich steigernden Ansätzen mit je charakteristischen Anreden (V14: andres Ioudaioi; V 22: andres Israelitai; V 29: andres adelphoi hält die Rede des Petrus letztendlich nichts anderes vor als die Christuswahrheit und diese freilich in einer unverkennbar eschatologischen Analyse30 • Die Gemeinde J esu im Kraftfeld des heiligen Geistes ist Endzeitgemeinde. Es wird in einer Ausführlichkeit ohnegleichen bewiesen mit dem Schriftwort 28 So richtig betont bei G. Schneider, Die Apostelgeschichte, S. 250, Anm. 60. 29 Treffend M.B. Dudley, The Speeches in Acts. Evangelical Quarterly 50 (1978), S. 147ff: »There are in essence, both a statement of an experience and a call to faith.« Zur lukanischen Struktur vgl E. Schweizer, Concerning the Speeches of the Acts, in: L.E. Keck und J.L. Martyn, Studies in LukeActs. London 1968, S. 208ff. Vgl ferner: R.F. Zehnie, Peter's Pentecost Discourse. Tradition and Lucan Reinterpretation in Peter's Speeches of Acts 2 and 3. Nashville N.Y. 1971. 30 J. Roloff, Die Apostelgeschichte, S. 51: »Der Rede liegt ein klarer Aufbau zugrunde.« Hierzu vergleiche ferner J. Kremer, Pfingstbericht, S. 167ff; G. Schneider, Die Apostelgeschichte, S. 260-279 (mit Lit.); A. Weiser, Die Apostelgeschichte, S. 88-97 (betont die Parallelität von Lk 3,21f, 4,16ff und Apg 2,lff, wobei Antrittspredigt Jesu und Pfingstbericht überdies einer »Krisis-Funktion« unterstellt sind).
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Joel 3,1-5 (LXX). Der Geist, der uranfänglich die Kirche bestimmt, jagt nicht fromme Schauder über den Rücken, sondern hat eindeutig kritische Funktion für die Gegenwart hin auf jeden Tag, der der große und der epiphane ist. Jede Stunde des Tages - und sei es wie hier die »dritte« - hat zu tun mit der Wahrheit der »letzten Tage«. Lk hat so den theologischen Voraussetzungen der Pfingstgeschichte für seine Zeit entsprochen. Seine Zeit wußte darum, daß das Geschehen der Sinai-Offenbarung, das erster Inhalt der Wortverkündigung dieses Festes war, durchsichtig ist für das letzte Offenbarungsgeschehen (s. Hebr 12). Die Ausführlichkeit des Schriftzitates Joel3,1-5 (LXX) will beachtet sein. Sie zielt darauf, ausführlich die verschiedenen Lebensalter und ständischen Gruppen zu benennen, denen die Verheißung des Geistes gilt. Wer immer wir sind, wir haben in der Gemeinde Jesu unseren Glauben nicht vererbt bekommen, sondern haben ihn letztlich in eigener Verantwortung und Betroffenheit selbst zu vollziehen und selbst zu verwirklichen. Kirchliche Predigt wird auf das evangelistische Wort nicht verzichten dürfen, weil Glaube an Christus zwar gewiß als Geschenk gelebt werden darf, aber ohne Zweifel auch ganz und gar auf unsere Selbstverantwortung zielt. Die Kirche kann um so weniger das evangelistische Zeugnis vernachlässigen, wenn sie die Kindertaufe - in Verbindung mit der Konfirmation eine gewiß legitime Handlung! - praktiziert31 . Der zweite Sinnabschnitt (V 22-28) entfaltet die Bedeutung der Gestalt J esu, der - wie wir hören - durch die Hände der Gottlosen ans Kreuz geheftet und durch Gott aus den Schmerzen des Todes befreit wurde, weil er darin nicht festzuhalten war. Schriftzitat Ps 16 macht in aller Breite deutlich, daß der Heilige Gottes die Verwesung nicht sehen konnte. Hier ist erneut aufgenommen, was anderwärts im Evangelium ausführlich über J esus erhärtet ist. Die Gemeinde des Geistes ist Christusgemeinde, weil Gott in zwei Großtaten gehandelt hat, im Kreuz und in der Auferstehung. Das ebenfalls ungewöhnlich ausführliche Zitat Ps 16,8-11 (LXX: 15, 8-11) will unverkennbar zugleich Zeugnis des Lk sein über die eigene Glaubenserfahrung. Mit den Worten der Väter, hier durch David, läßt der Evangelist eine persönliche Betroffenheit laut werden. Es ist eine solche, die über David und Petrus einstimmt in die Freimütigkeit des Christusglaubens, der die eigene Erfahrung nicht verschweigt, sondern weitergibt: »Du tatest mir kund die Wege des Lebens; du wirst mich erfüllen mit Wonne vor deinem Angesicht.«32 31 Hierzu vgl A. Strobel, Säuglings- und Kindertaufe in der ältesten Kirche, in: O. Pereis, Begründung und Gebrauch der heiligen Taufe. Berlin/Hamburg 1963, S. 7ff, 56. 32 Vgl hierzu auch A. Weiser, Die Apostelgeschichte, S. 93 (nach Lohfink) : »Wo immer ... in den Reden die Zeugenformel auftaucht, spricht zunächst ... nicht Petrus oder Paulus, sondern der Theologe Lukas.«
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Ein dritter Sinn abschnitt (V 29-35) beleuchtet die gegenwärtige Situation unter dem erhöhten Kyrios, der nach dem Wort der alttestamentlichen Verheißung auf dem Thron zur Rechten Gottes sitzt. Als solcher empfing er die Verheißung des Heiligen Geistes und goß er sie auch aus auf seine Zeugen: »Seht und hört!« Gemeinde Jesu im Kraftfeld des Geistes untersteht demnach dem Kriterium des Erhöhten, der nichts anderes will als auf seiten der Menschen das Umdenken und die Annahme des rettenden Wortes. Auch am Ende dieses Sinnabschnitts steht ein Schriftzitat, sc. Ps 110,1. Wir finden diesen Text vielfach im Neuen Testament, denn er gehört zu den bedeutendsten Zeugnissen der Schrift, die in Anbetracht des Christusgeschehens stimulierend auf die Urgemeinde gewirkt haben. Dieser Text setzt die Tat Gottes gegen die Tat der Menschen, die in der Kreuzigung und Ablehnung Jesu besteht33 • ImAnschluß daran wird bündig zum Erkennen der wahren, nämlich der göttlichen Bedeutung J esu aufgefordert. Damit klingt an, daß zu unserem Zeugnis unerläßlich die theologische Reflexion gehört, weil dadurch persönliche Erfahrung (s. V 33b) aufgearbeitet und somit auch theologisch mitteilbar wird. Die theologische. Reflexion bezeichnet einen Zugewinn an Vollmacht, wie es auch V 36 vorhält: »Mit aller Sicherheit also erkenne das ganze Haus Israel: Gott hat diesen J esus zum Herrn und Messias gemacht, ihn, den ihr gekreuzigt habt.« In massiver Eindringlichkeit steigern sich die Anreden im Predigtverlauf: »Männer Juden«, »Männer Israeliten«, »Männer Brüder«. Der Geist Gottes ruft uns, wie wir sind. Aber er ruft uns zugleich in eine Form der Gemeinschaft, die neue Kirche und Bruderschaft zusammendenkt. Man sollte ferner sehen, daß das Zeugnis von Apg 2 eine klare kerygmatische Zielsetzung hat hin auf eine Atiologie des urchristlichen Taufhandeins und nicht hin auf eine Atiologie etwa des Zungenredens, also auf eine absonderliche Form prophetischer Rede. Dieses theologische Anliegen des Lk leitet sich von dem Grundwissen ab um die unauflösliche Verschränkung von Annahme des Wortes und Empfang des Geistes. Mit dem Vollzug der Taufe wird der Geschenkcharakter des Geschehens für den Betroffenen sichergestellt und wird dieser sichtbar der Gemeinde Jesu eingegliedert. Es ist bezeichnend, daß Lk allenthalben mit Nachdruck die Zuordnung von Geistempfang und Taufe betreibt34 • In einer Zeit 33 Vgl hierzu David M. Hay, Glory at the Right Hand. SBL MS 18, 1973, bes. S. 70ff. 34 G. Schneider, Die Apostelgeschichte, S. 277, betont zutreffend: »Der heilige Geist ist als dorea, >Geschenk< verstanden. Die wenigen Fälle, in denen die Geistgabe nicht mit der Taufe empfangen wird, sind >begründete Ausnahmen<<< (so Haenchen). Vgl ferner G. Harder, Taufe, Wasser, Geist, in: O. Pereis, Begründung, S. 7off. 72. 76. Verfehlt argumentiert z.B. I.A. Marshall, The Significance, S. 367.
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vielfäl tiger Ansprüche ordnet er überdies Wort- und Sakramentsgeschehen einander zu. Apg 2,37-41 beschreiben abschließend die Reaktion der Predigthörer des Pfingsttages, die von dem Gesagten im Herzen (d.i. der Sitz des Verstandes) getroffen sind und nun in der Tat so reagieren, wie es Gottes Geist und Wort wollen: »Männer, Brüder, was sollen wir tun?« Die Antwort des Petrus umschließt in kompendiarischer Weise die urchristliche Lehre vom Heiligen Geist: »Tut Buße! Ein jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen J esu Christi zur Vergebung eurer Sünden, und ihr sollt die Gabe des Heiligen Geistes empfangen. Denn euch gilt die Verheißung und euren Kindern 35 und allen in der Ferne, die der Herr unser Gott herbeirufen wird.« Die abschließende Mahnung besagt: »Lasset euch retten aus diesem verkehrten Geschlecht!« Lk handelt nicht etwa von einer Geisttaufe, sondern verbindet für die Betroffenen auffallenderweise mit der Wassertaufe unauflöslich die Zusage des Geistes. Sofern sich der Mensch, angerührt vom Anspruch Gottes, auf den Namen Christi beruft, befindet er sich in einem Raum der Zusage, der Verheißung, der Führung und des Geschenkes. Diese Wahrheit gilt allen, den Nahen und Fernen, die Gott, der Herr, durch sein Wort erreichen möchte. Die Mahnung, sich retten zu lassen, nimmt auf, was als Zusage des göttlichen Wortes besteht (Joel 3,5 in Apg 2,21): »Und ein jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden.« Demnach ist das Ziel Gottes, der mit seinem Wort und Geist auf uns zukommt, die Schaffung und Durchformung einer Gemeinde, die ihrem Herrn und seinem Plan immer wieder und immer mehr entspricht36 • Das Zeugnis des Lk ist von einer klaren inneren Linie durchzogen. Am Anfang des Evangeliums steht die Gestalt Jesu, die schlechthin verkörpert, was es um den Geist Gottes ist. Am Anfang der Apg steht das Zeugnis von der Gemeinde, die von J esus herkommt, sich an ihn bindet und von ihm geführt wird. Der Endzeitgestalt Jesu entspricht die Endzeitgestalt der Gemeinde, die ihren Weg zwar in der Welt geht, aber doch - als Werk des Geistes Jesu - nicht von der Welt ist.
35 Gegen G. Schneider, Die Apostelgeschichte, S. 278, Anm. 137, möchten wir bezweifeln, ob mit der Wendung »und euren Kindern« »der lukanischen Geschichtsschreibung entsprechend« »an künftige Generationen« gedacht ist. Hier dominiert vielmehr das »räumliche« Denken (s. auch »in der Feme«). W. Bauernfeind, Kommentar und Studien zur Apostelgeschichte, WUNT 22, 1980, S, 54 (zSt), gibt zu denken, daß der Gedanke »an fernere Zukunft« in unserem Text »nur bei ganz zwingender Veranlassung angenommen wer:den« darf. 36 Vgl zur Sache bes. H. Streichele, Geist und Amt als kirchenbildende Elemente in der Apostelgeschichte, in: L. Hainz, Kirche im Werden. München/ Paderborn/Wien 1976, S. 185-203.
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IV Ergebnis: 1. Apg 2 steht im Rahmen eines gesamtneutestamentlichen Konsensus, der sich dahingehend bestimmen läßt, daß niemals wir den Geist haben, sondern daß der Geist Gottes uns hat. Das will sagen: er steht nicht zu unserer Verfügung, sehr wohl aber kann er über uns verfügen. Wir können ihn nur walten lassen oder verspielen. Wir können ihn indessen nicht manipulieren. Ursprung und Kraft dieses Geistes bestimmen sich von der Christuswahrheit, in der Gott in besonderer Weise deutlich gemacht hat, was es um seine Zuwendung zum Menschen ist. Welche Zeugen wir auch immer befragen - die Synoptiker, J ohannes, Paulus, den Hebräerbrief -, alle wissen, daß der Heilige Geist, der letztendlich das Handeln der Kirche bestimmt, der Geist Gottes ist, und zwar als der Geist J esu Christi, der der Gekreuzigte und Auferstandene ist. Obschon dieser Geist ganz und gar an uns wirken möchte und zu wirken vermag, ist er doch in keiner Weise der Geist des Menschen37 • 2. Alles Reden über den Geist kann sehr leicht zur Leerformel werden, wenn wir als Gemeinde J esu nicht mehr wissen und leben, daß es in unserer Wirklichkeit jene andere gibt, die sich von der Offenbarung Gottes im Kreuz Jesu her bestimmt. Sie lenkt unsere Einsicht und unsere Aufmerksamkeit auf die Verlorenheit des Menschen, der des Rufes zur Umkehr ebenso bedarf wie des Zuspruchs der Vergebung. Die alte Kirche, die das Bekenntnis zum Heiligen Geist im Rahmen einer durchdachten, scheinbar sogar ausgeklügelten Trinitätslehre zum Ausdruck. gebracht hat, wußte darum, daß rechtes Verstehen und Bezeugen im Grunde nur in einem Raum der Anbetung und des Gottesdienstes geschehen kann. Schon Apg 2 stellt sicher, daß Vergewisserung und Verstehen, Gemeindegründung und Gemeindeaufbau anders nicht möglich sind. 3. Die massive Verkettung von Christologie und Pneumatologie kann nur mit dem Risiko gefährlicher Folgen gelock.ert oder gar gelöst werden. Das will sagen: man kann nicht vom Geist Gottes sprechen, ohne ihn mit der Gestalt J esu in eins zu sehen und in eins zu setzen. Wir sollen auch nicht mehr darüber glauben, als wir über Christus vertreten können. 37 Vgl ferner die wertvollen Gedanken bei H. Küng, Christ sein. München 1974, (TB) S. 571-576.
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Sofern der Begriff des Geistes fraglos einer der am meisten durch Vorverständnisse und Mißverständnisse belasteten Begriffe des christlichen Glaubens ist, zumal ihn noch jede Religion und Weltanschauung für sich beansprucht hat, wird das rechte christliche Verstehen nur dann gewahrt, wenn wir die Christuswahrheit schärfstens im Blick behalten. Sie bemißt sich nicht nach den Deutungen der Gegenwart, sondern nach dem Zeugnis des Neuen Testaments. Was einst der griechisch-hellenistische Mensch über den »Geist« (griech. pneuma) sagte, kann uns Christen nicht bes'timmen. Soweit im Neuen Testament sprachliche Anklänge und inhaltliche Beziehungen zum Umweltdenken vorliegen, sind sie kritisch nach dem Wesentlichen zu befragen, über das schon im Zeugnis der Urgemeinde keine Zweifel bestehen. Bezeichnenderweise gibt es den Begriff des »Heiligen Geistes«, der die theologische Zuordnung zur Christuswahrheit sicherstellt, in der Umweltliteratur nicht. Das weist uns darauf hin, daß wir Christen unter allen Umständen eine Botschaft eigener Art verwalten, worauf im evangelistischen wie im kirchlichen Raum gleicherweise geachtet werden muß. 4. Das Zeugnis von Apg 2 zielt in keiner Weise auf die etwaige Bedeutsamkeit sogen. übersinnlicher Phänomene, auch nicht auf die historische Beschreibung eines Geistmirakels, sondern auf die theologische Relevanz des Geistes in der Christusgemeinde, wobei die Gegenwartsbedeutung für die Kirche eingeschärft wird. Lukas liefert vor allem den Beweis für die Zusammengehörigkeit von Geist Gottes und Zeugnis der Gemeinde. Sie soll mit der Wassertaufe für den einzelnen zu einem Akt persönlicher Vergewisserung werden. Die Unterscheidung von Geist- und Wassertaufe ist unzulässig, weil das lukanische Zeugnis allenthalben auf die Identität von Geistempfang und Wassertaufe dringt. Das Zeugnis des Neuen Testaments weist den Heiligen Geist stellenweise mit Nachdruck als eine personale Größe aus. Was uns denkerisch einige Schwierigkeiten bereitet, stellt sich einfacher dar, als wir oft meinen. Der theologische Sachverhalt, der sich dahinter verbirgt, tritt vor allem bei Paulus einprägsam hervor, weil in seinem Zeugnis Christus und der Geist als austauschbare Größen fungieren. Was der Geist ist und was der Geist schafft, ist immer so viel, wie dieser Christus ist und was er bewirkt. Offensichtlich war die Geisterfahrung, in der sich die urchristliche Gemeinde wußte, weder eine empfundene ideelle Vorstellung noch ein eigenes psychisches Fluidum, sondern die reale Erfahrnis der Gegenwart und der Nähe Christi im Wort, in der Taufe und im Abendmahl, aber auch im Gebet und in der Gemeinschaft der Brüder. So hat auch nac..~ der Darstellung des Lk der Pfingstgeist nicht etwa Psychisch-Ungewöhnliches oder Abstrakt-Unverständliches bewirkt, sondern erlebbare alltägliche 83
Erfahrung hin auf Christus und die durch ihn verbürgte Gemeinschaft38 • 5. Alles Wirken des Geistes zielt nach neutestamentlichem Zeugnis auf die Durchformung und Verlebendigung der Gemeinde, die ihrem Herrn im Sinne seines Wortes entsprechen soll. Christus thront nicht einfach über dieser Welt, wie es sich ein schlichtes Vorstellungsvermögen zurechtlegen mag, sondern er will in dieser W el t seine ewige Herrschaft heraufführen. Solange es darin eine Gemeinde gibt, die mit seinem Geist rechnet, d.i. mit seiner Gegenwart, gibt es ein Christentum, das planvoll, zielgerichtet und mit Hingabe in der Welt und für die Welt arbeitet. In diesem Sinne hält Lk die Aufgabe der Missionierung vor. Entsprechend hebt Paulus (1 Kor 12) ab auf die Pluralität der Dienste und Aufgaben in der Gemeinde in dem einen Geist. Er will nicht der Zersplitterung in gegensätzliche Standpunkte Vorschub leisten, sondern er will die Konzentrierung der Kräfte hin auf den Bau des Reiches, soweit Gott den Menschen dazu berufen hat. Wo immer im Neuen Testament vom Geist die Rede ist, sind in diesem Sinne ganz elementare Verhaltensweisen herausgehoben. Die Verkündigung steht als missionarischer Auftrag und Aufgabe in jedem Fall vornean. 6. Die kirchliche Wortvermittlung (in Predigt und Sakramentsverwaltung, Unterricht und Seelsorge) bedarf demnach der evangelistischen Verkündigung. Zugleich bedarf aber die evangelistische Verkündigung der kirchlich-gemeindlichen Integration (als Begleitung und Zurüstung des einzelnen Christen). Auszugehen ist davon, a) daß vorgängige Erfahrungen (damals: die prophetische Verkündigung Israels; heute z.B. Kindertaufe) bewußt gemacht werden, b) daß der Mensch diese Erfahrungen verantwortlich bejaht und c) daß er sie in neuer Weise in der Gemeinde Jesu lebt. Das will sagen, daß dem einzelnen Christen die persönliche Glaubensentscheidung unter allen Umständen zugemutet werden muß. Jeder Schritt hat in der vorerwähnten Reihe a) bis c) sein je eigenes Gewicht, weil der geistliche Zusammenhang von geschenkweiser Zueignung und persönlicher Glaubensentscheidung unbestreitbar ist. Aus dieser Einsicht darf aber freilich kein theologisch-heilsgeschichtliches Schema gemacht werden. Die evangelistische Verkündigung hat nämlich zu bedenken, daß Gott an dem getauften Menschen immer schon im voraus als der Gnädige gehandelt hat. Andererseits hat kirchliche Wortvermittlung zur Kenntnis zu nehmen, daß von einem vorgängigen Handeln Gottes am Menschen nicht gesprochen werden kann, ohne daß dieser sein Christsein im Sinne einer bewußten Glaubensentscheidung versteht und lebt. 38 Zur Sache vgl R. Banks, Paul's Idea of Community. Exeter 1980, bes. S. 102ff (»Charisma and Order«).
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11. Erfahrung - Herausforderung im Heute
KARL
F OITZIK
Soziales Lernen und religiöse Erfahrung Zusammenhänge und Konsequenzen
In seinem Aufsatz »Religiöse Erziehung unter Ideologieverdacht«l faßt H.-B. Kaufmann die Vorwürfe gegen religiöse Erziehung so zusammen: Religiöse Erziehung sei repressiv, indoktrinierend, affirmativ und realitätsfremd2, d.h. sie zwinge die heranwachsende Generation dazu, sich »an bestehende Verhältnisse anzupassen« und die »eigenen Bedürfnisse und Interessen«, die eigenen Einsichten und Vorstellungen zurückzustellen3 • Sie habe den Bezug zu den »soziokulturellen und geschichtlichen Bedingungen« verloren und führe deshalb »zu einem falschen Bewußtsein, das sich gegenüber der veränderten Realität abschirmt«4. Kaufmann stellt dagegen die Behauptung, »daß Religionspädagogik und kirchliche Erziehung aufgrund der befreienden und -freisetzenden Kraft des christlichen Glaubens die Möglichkeit haben, Selbsterfahrung und Welterfahrung zu eröffnen« und gegen einengende Interpretationen, politische und pädagogische Ideologien offenzuhalten 5• Dieser Spur möchte ich in diesem Aufsatz nachgehen 6 • Dabei gilt es zu berücksichtigen, daß sich seit 1971 in Religionspädagogik und kirchlicher Erziehung viel geändert hat. Die Betonung der »Vorfelder des Glaubens«7, der themen- und problemorientierte Religionsunterricht, kombinierte Text- und Themenpläne für den KindergottesdienstS sind nur drei Stichworte für die Bemühung um verstärkten Realitätsbezug. Dennoch gibt es unzählige Erzieherinnen, die noch darunter leiden, daß die
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H.B. Kaufmann, Religiöse Erziehung unter Ideologieverdacht, in: G. Stachel/W. Esser, Was ist Religionspädagogik? Zürich/EinsiedelnlKöln, 1971, S. 90-114. H.B. Kaufmann, aaO, S. 10sf. H.B. Kaufmann, aaO, S. 9S H.B. Kaufmann, aaO, S. 96. H.B. Kaufmann, aaO, S. 106. Die hier vorgetragenen überlegungen wurden in kürzerer Fassung beim Festakt zum 7Sjährigen Bestehen der Fachakademie für Sozialpädagogik des Evang.-Luth. Diakoniewerkes Neuendettelsau am 17. November 1981 vorgetragen. R. Goldmann, Vorfelder des Glaubens. Neukirchen 1972; vgl dazu auch B. Buschbeck!W.-E. F ailing, Religiöse Elementarerziehung. Gütersloh 21978, S. 100ff. Vgl Gesamtverband für Kindergottesdienst in der EKD. Kombinierter TextThemen-Plan für den Kindergottesdienst 1979-81. Hannover o.J.
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christliche Erziehung im Kindergarten von Träger- und Elternseite nach wie vor an der Zahl der erzählten biblischen Geschichten gemessen wird; dennoch sind viele"Mitarbeiter in der Kinderarbeit frustriert, weil sie durch Auflagen zu repressiver religiöser Erziehung genötigt werden. D. Stoller kommt in seiner empirischen Untersuchung der kirchlichen Erziehung in Kindergärten zu der Erkenntnis, daß häufig zwei Welten diese Erziehung prägen, ohne daß über den Zusammenhang jenes frommen Sonderbereichs, der die eine Welt darstellt, und der übrigen Erziehung überhaupt nachgedacht würde 9• Kann die biblische Geschichte in das Leben im Kindergarten integriert werden? Hat die Andacht zu Beginn oder am Ende der Kinderstunde einen Bezug zum übrigen Geschehen? Oder sind beide doch weithin nur auffordernd, indoktrinierend und realitätsfremd? Mit Kaufmann bin ich davon überzeugt, daß die genannten Vorwürfe im Blick auf die konkrete Praxis religiöser Erziehung in Familien, Kindergärten und in der Kinderarbeit oft zu Recht erhoben werden. A. Exeler hat in Auseinandersetzung mit T. Mosers »Gottesvergiftung« hierfür zahlreiche Beispiele dargestellt10 • Mit Exeler und Kaufmann möchte ich verdeutlichen, daß es sich dabei wirklich um Fehlformen handelt und die Grundtendenz christlicher Erziehung damit in keiner Weise charakterisiert ist. In einem ersten Teil möchte ich nach den religiösen Elementen im sozialen Lernen fragen, im kürzeren zweiten Teil - gleichsam zur überprüfung der erzielten Ergebnisse - nach den sozialen Bezügen religiöser Erfahrung.
1. Soziales Lernen impliziert immer auch religiöses Lernen, und religiöses Lernen vollzieht sich zunächst als soziales Lernen.
1.1 Soziales Lernen ist religiöses Lernen. Der Begriff »soziales Lernen« ist trotz und sicher auch aufgrund der umfangreich vorliegenden einschlägigen Literatur unscharfl l . Ich bezeichne 9 D. StoUer, Anspruch und Wirklichkeit kirchlicher Erziehung. Analyse und Folgerungen für die Kindergartenarbeit. München 1980, S. 142. 10 A. Exeler, Fehlformen religiöser Erziehung und Sozialisation, in: Christlich-pädagogische Blätter 92 (1979) H.2, S. 76-88. 11 Vgl hierzu vor allem H. Hielscher, Zum Begriff des »sozialen Lernens«, in: Westermanns Pädagogische Beiträge 27 (1975), H. 5, S. 239-243; L. Schwäbism/M. Siems, Anleitung zum sozialen Lernen für Paare, Gruppen und Erzieher. Hamburg 1974, bes. S. 26ff.
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mit »sozialem Lernen« all jene Vorgänge und Inhalte, die dazu beitragen, daß der Mensch ein Verhältnis gewinnt zu seinen Mitmenschen, zu seiner Umwelt und damit zu sich selbst12 . Dies ist ein äußerst komplizierter und prinzipiell unabgeschlossener Prozeß. Ich kann niemals behaupten, eine endgültige, unveränderliche Position im Verhältnis zu meinen Mitmenschen und meiner Umwelt oder ein letztgültiges Bild von mir selbst erreicht zu haben. Immer neue Einflüsse und Situationen nötigen mich zu einem steten, lebenslangen Weiterlernen. Da dieser komplizierte und prinzipiell unabgeschlossene Prozeß des sozialen Lernens immer auch religiöse Bezüge hat, ist auch das religiöse Lernen prinzipiell unabgeschlossen. Die drei Aspekte des sozialen Lernens, das Verhältnis zum Mitmenschen, zur Umwelt und damit zu sich selbst, können nicht wertneutral beschrieben werden. Auch wenn Eltern oder Erzieher bewußt auf religiöse Erziehung verzichten möchten, können sie nicht wertfrei erziehen. Dies gilt nicht nur deshalb, weil die Kinder auch außerhalb der Familie und der Kindergruppe »sehr vielen unterschiedlichen, ja gegensätzlichen >religiösen< Einflüssen ausgesetzt« sind, »durch die Sinndeutung, Normenvermittlung und Transzendierung geschieht«13, sondern grundsätzlich deshalb, weil Sozial-, Selbst- und Welterfahrung immer religiös im weiteren Sinn bestimmt sind, indem sie Sinn und Zukunft zu deuten und zu erschließen versuchen. In diesem Zusammenhang sei nur auf die Ausführungen E. Eriksons über die Bedeutung von »Urvertrauen« und »Mißtrauen«l4, auf die von R. Spitz untersuchten Einflüsse des sozialen Lernens auf die Ausprägung des Selbstkonzepts 15 und auf den durch veränderte Welt erfahrung verursachten Sinnverlust, wie ihn der Wiener Psychoanalytiker V. E. Frankl beschrieben hat 16 , hingewiesen. Antworten auf die Frage, was ich dem andern und was der andere mir bedeutet, wer ich bin, wozu ich lebe und worin Sinn und Ziel meines Lebens bestehen, sind religiöse Antworten. Sie werden unvermeidbar im sozialen Lernen vermittelt. Deshalb kann festgestellt werden, daß soziales Lernen immer zugleich religiöses Lernen ist. »Kein Mensch, auch nicht der einfachste Mensch, kann ohne Weltdeutung, sei sie noch so primitiv und pauschal, 12 Vgl H. Roths Unterscheidung von Sach-, Sozial und Selbstkompetenz, in: Pädagogische Anthropologie, Band II. Hannover 1971, S. 456ff; dazu auch M. Mörschner, Sozial erziehung in Elternhaus und Kindergarten, in: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik 86 (1978) H. 6, S. 389-399. 13 D. Stoller, aaO, (Anm. 9), S. 60. 14 E. Erikson, Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart 21965, bes. S. 241ff. 15 R. Spitz, Hospitalismus in: G. BittneriE. Schmid-Cords (Hrsg.), Erziehung in früher Kindheit. München 1968; E. Schmalohr, Mutterentbehrung in der Frühsozialisation, Bonn-Bad Godesberg 1972. 16 V.E. Frankl, Der Mensch auf der Suche nach Sinn. Freiburg 51976.
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geistig leben. Wo ihm nicht die Religion zu einer solchen Deutung verhilft, greift er zu Visionen, die diese ersetzen sollen. Wo kein Glaube aufscheint, ist es ein Aberglaube. Wer nicht christlich glaubt, der lebt aus einem philosophischen oder weltanschaulichen Glauben.«17 Der Zusammenhang von sozialem und religiösem Lernen wird noch deutlicher, wenn wir erkennen, daß religiöses Lernen sich vorwiegend und zunächst sogar ausschließlich als soziales Lernen vollzieht.
1.2 Religiöses Lernen vollzieht sich zunächst als soziales Lernen.
Oerter führt in seiner Entwicklungspsychologie aus, daß bei der Entstehung religiöser überzeugungen grundsätzlich zwei Bereiche auseinanderzuhalten sind und viel mißlingt, wenn dies nicht geschieht. »Der eine Bereich bezieht sich auf den Anteil der religiösen Haltung, der als von der Umgebung übernommene Einstellung und Gewohnheit ... am besten durch soziales Lernen erklärt werden kann.« Der andere Bereich entspringt der dem Menschen möglichen Reflexion über die Fragen nach dem Woher, Wozu und Wohin. »In der menschlichen Entwicklung sind beide Anteile der religiösen Haltung miteinander verquickt, jedoch lassen sich Schwerpunkte beobachten. Bis etwa zum Alter von zehn bis zwölf Jahren steht die übernahme der religiösen Gewohnheiten und überzeugungen der sozialen Umgebung ... im Vordergrund. In den Jahren zwischen zehn und zwanzig scheint sich der Jugendliche nicht sehr intensiv mit religiösen Problemen zu beschäftigen.«18 Das heißt, daß religiöse überzeugungen nicht anders gelernt werden wie alle übrigen Haltungen: Sie werden in einer geprägten Umwelt nachgeahmt und erst später selbst verantwortet. »Die Handlung ist der Ursprung der Haltung.«19 Lernpsychologisch kann dies so zusammengefaßt werden: Auch christliche Haltungen und überzeugungen setzen sich aus drei Komponenten zusammen, einer kognitiven, einer affektiven und einer Handlungskomponente. Diese drei Komponenten werden vom Kind in einer festliegenden Abfolge erworben, zuerst die Handlungskomponente, meist unter stark affektiver Beteiligung, und erst viel später die kog nitive 20 • 17 H. Roth, Pädagogische Anthropologie, Band I. Hannover 1971, S. 141; zum Zusammenhang von religiöser, christlicher und kirchlicher Erziehung vgl auch D. Stoller, aaO, (Anm. 9), S. 59ff. 18 R. Oerter, Moderne Entwicklungspsychologie. Donauwörth 14 1974, S. 287f. 19 H.- J. Fraas, Religiöse Erziehung und Sozialisation im Kindesalter. Göttingen 31978, S. 125. 20 R. Oerter, aaO, S. 236.
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Vergegenwärtigen wir uns dies am Beispiel der Gebetserziehung : Das Kind übernimmt von der Mutter sehr früh eine bestimmte Gebetshaltung. Dabei imitiert das Kind nicht nur die Gebärden der Mutter, es ist emotional beteiligt, fühlt sich wie die Mutter geborgen oder wie sie letztlich gleichgültig. Die kognitive Reflexion dessen, was durch Imitation übernommen wurde, folgt erst viel später, nämlich dann, werm das Kind anfängt zu fragen. »Wenn dich ... dein Sohn fragen wird, dann sollst du ihm sagen ... « - doch bis dahin hat das Kind Anteil am Vollzug des Glaubens 21 . Im Vorschul alter steht eindeutig das Lernen durch Nachahmung im Vordergrund, also ein »Lernen am Modell«, letztlich ein soziales Lernen. Erst bei »Zunahme der persönlichen Autonomie«22, in dem Augenblick beispielsweise, in dem das Kind beginnt, eigene Vorbilder zu wählen 23 , tritt die Reflexion und damit die Identifikation mehr und mehr neben die Imitation. »Denn auf die Phase unreflektierter, überwiegend passiver übernahme religiöser N ormen, Werte und Symbole pflegt in aller Regel eine Phase aktiven Problematisierens zu folgen, in der sich erst entscheidet, ob die Sozialisation religiöser Vorstellung und Einstellung gelingt oder nicht.«24 »Imitation ist die Nachahmung des äußeren Verhaltens, Identifikation ist aber nicht nur die Nachahmung des Verhaltens, sondern auch das Sichgleichsetzen mit den bewußten und unbewußten Motiven des anderen.«25 Zunächst also lernt das Kind vorwiegend durch Imitation, erst dann durch bewußte Reflexion und Identifikation. Ich betone dabei das Wort »vor21 Dtn 6,20f u.ö.; zur Gebetserziehung vgl W. Neidhart, Psychologische Aspekte der Gebetserziehung, in: F.W. BargheerlI. Röbbelen (Hrsg.), Gebet und Gebetserziehung. Heidelberg 1975, S. 75ff; B. Buschbeck/W.-E. Failing, aaO, (Anm. 7), S. 53f. 22 R. Oerter, aaO, S. 274. 23 R. Oerter, aaO, S. 276. 24 R. Preul, Sozialisation und religiöse Entwicklung, in: EvErz 25 (1973), S. 190; Preul hält diese Aufgabe aus drei Gründen für wichtig: Zum einen folgt in der Entwicklungspsychologie grundsätzlich auf die heteronome Phase eine autonome. Dies gilt besonders hinsichtlich des Wertbewußtseins. Zum zweiten ist eine reflektierende Aufnahme des Vorausgegangenen nötig, da in der Regel durch die Gesellschaft beim Jugendlichen Werte verstärkt werden, die nicht den religiösen Werten entsprechen (z.B. Prestige- und Konsumdenken, aber nicht Kooperationsbereitschaft und soziales Engagement). Schließlich ist Christsein ein bewußter Akt. Latentes Christsein ist defizitär. 25 W.J. Schraml, Einführung in die moderne Entwicklungspsychologie für Pädagogen und Sozialpädagogen. Stuttgart 31975, S. 117; vgl dazu auch G. Stachel, Religiöse und ethische Erziehung im Sozialisationsvorgang, in: KatBI 102 (1977), H. 4, S. 285-297; H. Hetzer, Sozialisation im Kleinkindalter, in: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik, 1973, 57ff; H.-J. Fraas, aaO, (Anm. 19), S. 165; E. Feifel, Konturen religiöser Erziehung im Zeitalter religiöser Desozialisation, in: KatBI 103 (1978), H. 1, S. 20-37.
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wiegend«, da sich zeigt, daß partiell auch das vorschulpflichtige Kind bereits zur Identifikation befähigt ist2 6 • Es ist auch keineswegs so, daß die Vorbildorientierung aufhört, sobald bewußte Identifikation einsetzt. »Mit wechselndem Gewicht von der Kindheit über das Jugendalter bis hin zu den verschiedenen Lebensphasen im Erwachsenenalter spielen Vorbilder als Identifizierungsobjekte während des ganzen Lebens eine Rolle, zumindest in dem Sinne, daß sie einen Menschen in dem bestärken und ermutigen, was er sich selbst als Aufgabe gestellt hat und richtig findet. «27 Die auf emotionaler Grundlage durch Imitation gelernten und durch bewußte übernahme internalisierten Haltungen werden in der Regel nur dann überdauern, wenn eine Gruppe sie mitträgt, in der solche Einstellungen praktiziert werden. Dies ist zunächst in der Regel die Familie, später eine Gruppe Gleichaltriger oder Gleichgesinnter2B . Wir können eine erste grundlegende Konsequenz ziehen : Wenn religiöses Lernen in der frühen Kindheit vorrangig soziales Lernen ist, dann sind dabei weniger Texte, viel mehr aber Menschen gefragt. Ein »Lernen am Modell« setzt Partner voraus, die es dem Kind ermöglichen, in einer emotional positiven Atmosphäre entsprechende Handlungen zu erleben, um Haltungen verinnerlichen zu können. »Die entscheidende Ebene religiöser Erziehung ist nicht die Belehrung, sondern das Miteinander-Leben. Die Belehrung wird nur in dem Maße wirksam, wie sie interpretiert, kommentiert und weiterführt, was in der Teilhabe am religiösen Leben bereits aufgenommen wurde.«29 In der alten Kirche war dies bewußt. Die Katechumenen nahmen viele Monate am Gemeindeleben teil, ehe sie zu dem verhältnismäßig kurzen Glaubensunterricht zugelassen wurden. Es gibt »keine Religiosität ohne diese zwischenmenschliche Vermittlung«30, »denn erst, wenn ein Kind einen einigermaßen großen Erfahrungsbereich hat, auf den es zurückgreifen kann, kann es diese Erfahrungen deuten und zu einem theologischen Weltverständnis in Beziehung setzen«31. Um Vorbildorientierung und Vorbildübernahme, um Imitation und Identifikation, um ein Miteinander-Leben im Geiste Jesu von Nazareth32 geht es in der christlichen Früherziehung. Der Begriff christliche und religiöse Früh-}}erziehung« ist relativ neu. Die Zeit, in der vorschulpflichtige Kinder noch nicht religiös }}erzogen« werden mußten, liegt nicht weit zurück. Sie wuchsen in einer Umwelt 26 27 28 29 30 31 32
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R. Oerter, aaO, S. 275. E. Feifel, aaO, (Anm. 25), S. 29. E. Feifel, aaO, S. 28; G. Stachel aaO, (Anm. 25), S. 289. E. Feifel, aaO, S. 33. H.-]. Fraas, aaO, (Anm. 19), S. 107. R. Goldmann, aaO, (Anm. 7), S. 36. D. StoUer, aaO, (Anm. 9), S. 61; H.]. Fraas, aaO, S. 68, nennt dies eine »Erziehung im Wirkungsbereich des Christentums«.
auf, in der christliche Wertmaßstäbe in unserem Bereich für fast alle Menschen weithin selbstverständlich waren. 33 Eine »Erziehung« im Sinne eines planvollen und bewußten Geschehens war kaum nötig. Die Kinder haben christliche Haltungen durch Imitation übernommen. Unsere Umwelt hat ihre einheitliche Prägekraft verloren. Wir können uns nicht mehr darauf verlassen, daß heute Kinder christliche überzeugungen in ihren Familien, eingewurzelt in homogene Gemeinden, schlicht imitierend übernehmen. Eine religiöse Prägung geschieht auch heute auf alle Fälle34 • Soll aber das religiöse Lernen von der biblischen Botschaft geprägt sein, dann muß heute auch der Anteil des sozialen Lernens am religiösen Lernen bewußt geplant und verantwortet werden. Dies hat seine Vorteile. Imitation führt zur Anpassung. Erziehung enthält immer auch ein kritisches Moment, die Möglichkeit zum Non-Konformismus. Sie ist »bewußt frei und kritisch« und eröffnet ein Stück Erneuerung der Kirche35 •
1.3 Konsequenzen für eine sinnvolle christliche Früherziehung
Aus der Einsicht, daß soziales und religiöses Lernen zusammengehören und auch das soziale Lernen zunehmend geplant werden muß, möchte ich sech·s Konsequenzen ziehen. Sie können im Rahmen dieses Aufsatzes jeweils nur kurz angedeutet werden. 1.3.1 Der Vorrang der Familie Die Sozialisation kirchlich-religiöser Werte, Normen und Symbole erfolgt auch heute noch in erster Linie in Primär- und Intimgruppen, also gewöhnlich in der Familie, und dort im wesentlichen imKindes- und Jugendalter. Spätere Korrekturen an den in der Kindheit erworbenen religiösen Werten, an Einstellungs- und Verhaltensformen, sind äußerst schwer und in der Regel geringfügig36 • Die Familie bietet fast immer dem Kind das eindeutig beste Lernklima und vermittelt für alle Fälle Haltungen und überzeugungen mit religiöser Dimension. K. Frör hat recht, wenn er die
33 Vgl E. Ahlbrecht-Meditz, Kleine Christen - Fragen religiöser Früherziehung, in: Neue Sammlung 20 (1980), H. 6, S. 584-590. 34 D. Stoodt, Religion in religionspsychologischer und soziologischer Betrachtung, in: Der evang. Religionslehrer an der Berufsschule 18 (1970), H. 3, S. 87: »Religion ist etwas, das man nicht wählt, an das man sich vielmehr gewöhnt.« 35 G. Stachel, aaO, (Anm. 25), S. 292; auch L. Zinke, Thema: Religiöse Sozialisation, in: KatBI 102 (1977), S. 283. Zinke macht allerdings darauf aufmerksam, daß diese optimistische Perspektive nur dann stimmt, wenn eine .umfassende Lernbereitschaft vorausgesetzt werden darf. 36 R. Preul, aaO, (Anm. 24), S. 84f.
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Kirche ermahnt, nicht zu vergessen, »daß man das Evangelium in der Kinderstube besser verkündigen kann als in der Schulstube«, denn »das beste Einfallstor in das Herz des Kindes ist nicht der Unterricht, der besonders zu diesem Zweck gehalten wird, sondern die beste Gelegenheit hierzu haben Vater und Mutter mitten in dem täglichen Zusammenleben mit dem Kinde«37. Da der Traditionsabbruch bereits für die Eltern gilt, haben sieheute mit dieser Aufgabe ihre Probleme. Sie möchten nichts falsch machen und verweigern sich deshalb ganz. Sie erkennen dabei nicht, daß sie trotz der vermeintlichen Verweigerung religiös erziehen. Dies gilt es ihnen zu verdeutlichen und gleichzeitig Hilfen für eine bewußte christliche Erziehung anzubieten. Die erschreckenden Defizite im Blick auf christliche Erziehung fordern die Kirche zu verstärkter Elternarbeit heraus. Eine Kirche, die aus guten Gründen Säuglinge tauft, ist hier in Pflicht genommen. Taufseminare, Gesprächskreise mit Eltern der Kinder, die in den letzten Jahren getauft wurden, Kindergartenelternarbeit und Elternseminare zu Beginn der Schulzeit der Kinder sind nur einige mögliche Ansatzpunkte38 • Der Vorrang der Elternarbeit in der kirchlichen Gemeindearbeit beruht darauf, daß den Eltern durch sie nicht nur Hilfe für eine sinnvolle christliche Erziehung ihrer Kinder zuteil wird, die Eltern vielmehr über die Auseinandersetzung mit den Fragen der Kinder auch zur Klärung eigener Glaubensfragen kommen. Sie fragen, wie sie sachgemäß mit ihren Kindern von Gott reden sollen. Tatsächlich geht es ihnen aber auch darum, selbst mit überlieferten, aber problematisch gewordenen Gottesvorstellungen fertig zu werden39 • Das reflektierte Miteinander von zwei Generationen erlaubt nicht nur eine sinnvolle Weitergabe der Tradition an die jeweils jüngere Generation. Die Eltern können sehr wohl auch vom Kind lernen. Sie werden von ihm in Frage gestellt, können »Kindsein als Modell des Menschseins« begreifen40 • 1.3.2 Der kirchliche Kindergarten Wo die Familie heute für die christliche Erziehung aus welchen Gründen auch immer ausfällt, kommt am ehesten noch der Kindergarten für eine kompensatorische christliche Früherziehung in Frage. Kinder, die mit oft recht diffusen religiösen familiären Prägungen in den Kindergarten kom37 K. Frör, Recht und Auftrag christlicher Erziehung, in: Bekennende Kirche, Reihe 5, H. 44. München 1936, S. 12; vgl auch Luther, WA 19,77. 38 Vgl dazu M. Mörschner, Sozialerziehung in Elternhaus und Kindergarten, in: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik 86 (1978), H. 6, S. 389-399. 39 Vgl E. Ahlbrecht-Meditz, aaO, (Anm. 33); dieselbe auch: Tobias - Ansichten meines Sohnes. Stuttgart 1979. 40 H.B. Kaufmann, Kindsein als Modell des Menschseins, in: D. Stollberg/R. Riess (Hrsg.), Das Wort, das weiterwirkt. München 1981.
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men, können hier nicht durch Belehrung überzeugt werden, sondern allein dadurch, daß sie befähigt werden, die Erzieherin in einer emotional positiven Atmosphäre als alternatives Lernmodell anzunehmen und auf diese Weise Haltungen und überzeugungen kennenzulernen und allmählich imitierend zu übernehmen. Dabei gilt es darauf zu achten, daß Kinder in eine doppelte Abhängigkeit geraten können. Was zu Hause verstärkt wird, gilt im Kindergarten nicht, was im Kindergarten erfahren wird, ist zu Hause verboten. Es ist deshalb »eine enge Zusammenarbeit mit den Eltern nicht nur wünschenswert, sondern unbedingt notwendig, wenn bei den Kindern keine unlösbaren Konflikte und psychische Schäden entstehen sollen. Denn auf wechselnde Erziehungsstile reagieren Kinder mit Angst, Resignation oder Aggression, weil sie für ähnliche oder gleiche Handlungen mal gelobt oder mal bestraft werden.«41 1.3.3 Eine kinderfreundliche Gemeinde
Die Kirche wäre gut beraten, würde sie finanziell und personell die Arbeitsfelder fördern, in denen Kindern soziales und religiöses Lernen möglich ist. Ich denke dabei nicht allein an die Kindergärten, sondern vor allem auch an die Kinder- und Jugendarbeit in den Gemeinden. Es ist schlechterdings unverständlich, weshalb die Kirche häufig einseitig auf den schulischen Religionsunterricht setzt, der soziales Lernen nur bedingt ermöglichen kann 42 . Wir haben bereits festgestellt, daß Einstellungsänderungen nur dort überdauern, wo solche veränderten Einstellungen von einer Gruppe mitgetragen werden können. »Ohne Familie, Pfarrgemeinde und Gruppen Gleichaltriger erreicht der Religionsunterricht nicht sein Ziel.«43 Konkret könnte dies bedeuten, daß der Kindergottesdienst aus dem Schatten des Hauptgottesdienstes gerückt wird. Kinder sollen weder den Eindruck gewinnen, daß ihr Gottesdienst ein Anhängsel an den Hauptgottesdienst ist, noch sollen sie sich benachteiligt fühlen, weil er gleichsam »nebenbei« stattfindet. Vor allem aber ist der Kindergottesdienst von allen pädagogischen Nachstellungen zu befreien. Im Blick auf die unterschiedlichen Konzeptionen für Kindergottesdienste betont K. H. Bieritz mit guten Gründen: »Was sterben muß, sind sicher jene Konzeptionen, die den Kindergottesdienst - und sei es auch nur unter dem Vorzeichen einer >Einübung in die Liturgie< - auf bestimmte Zwecke festlegen, ihn in
41 M. Mörschner, aaO, (Anm. 28), S. 391. 42 Vgl G. Beck, Soziales Lernen, in: b:e, 11 (1978), H. 7, S. 61-65; sie verdeutlicht, daß in einem gewissen Rahmen auch innerhalb der Schule soziales Lernen möglich ist. Die Vorteile der freien Kinderarbeit sind aber nicht zu bezweifeln. 43 G. Stachel, aaO, (Anm. 25), S. 289.
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ein starres Schema pressen und den Kindern (ausgerechnet den Kindern!) jeden Spielraum nehmen.«44 Es könnte weiter bedeuten, daß der Kindergruppenarbeit und der offenen Kinderarbeit in der Gemeinde der Stellenwert zukommt, der dieser wichtigen Arbeit gebührt. Kinderarbeit darf nicht länger nur ein Anhängsel der Jugendarbeit sein. M. Sippel träumt den »Traum von einer kindergerechten Kirche«45, in der man von den Kindern zu lernen bereit ist46 , in der deutlich wird, daß echtes Menschsein gemäß der Botschaft von J esus Christus von Kindern abgeschaut werden kann, in der Kinder nicht länger als »Noch-nicht-Erwachsene« behandelt werden, in der ihnen Raum, Zeit und Zuneigung gewährt wird, in der sie mit Geduld rechnen können 47 . 1.3.4 Mitarbeiter in der Kinderarbeit Als »Lernmodelle« tragen Mitarbeiter in der kirchlichen Kinderarbeit eine große Verantwortung. Ihr Handeln wird imitiert, ihre Haltung internalisiert. Die Kinder übertragen einen Teil des Vertrauens, das sie bisher auf die Eltern setzten, auf die neuen Bezugspersonen. Hier dokumentiert sich ein wichtiger Schritt in der Entwicklung des Kindes. In seiner unbedingten Abhängigkeit von der Mutter erlebt es diese überhöht wie eine Gottheit. Die auf sie gerichteten überhöhten Erwartungen muß die Mutter früher oder später enttäuschen. Dies verstärkt beim Kind die Neigung, die erlebte Abhängigkeit zu transzendieren und sich ein erweitertes Bezugsfeld zu eröffnen. Es ist dankbar für neue Bezugspersonen, überträgt auf sie einen Teil der enttäuschten Erwartungen. Der kirchliche Mitarbeiter im Kindergarten und in der Kindergruppenarbeit bietet sich als Lernmodell an und steht mit seiner ganzen Biographie dafür eIn. Es ist wichtig, daß der Mitarbeiter nicht nur die darin liegenden Chancen erkennt, sondern auch die damit verbundenen Gefahren sieht. Die größte Gefahr besteht darin, daß die Abhängigkeit des Kindes ausgenutzt
44 K.H. Bieritz, Kinder im Gottesdienst, in: Die Christenlehre 1975, 184ff; jetzt auch in: D. Reiher (Hrsg.), Gottesdienst mit Familien. Berlin 1980, S. 38ff. 45 M. Sippel, Traum von einer kindergerechten Kirche, in: das baugerüst 32 (1981) H. 4, 254f; vgl auch Comenius-Institut, Kirche für Kinder, Band 7 der Reihe »Kindergottesdienst heute«, Münster 1975. 46 V gl Anm. 40. 47 Vgl D. Reiher, Die Verantwortung der Gemeinde für ihre Kinder, in: Die Christenlehre 1973, H. 10, S. 306-309; jetzt auch in: ders. (Hrsg.), Gottesdienst mit Familien. Berlin 1980, S. 23-28. Reihers erste These behauptet, daß jede Gemeindegruppe von Gemeindekindergruppen lernen könne. Vgl S. 23.
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wird 48 . Da Kinder zunächst unreflektiert imitieren und dadurch neue Haltungen verinnerlichen, sind sie leicht manipulierbar. Der Vorwurf der Indoktrination liegt hier immer nahe. Er ist dann unangebracht, wenn das Lernmodell auf jeden Absolutheitsanspruch verzichtet. Gerade von einer religiösen Erziehung, »die zur Mündigkeit und Ichfindung des Kindes vorbereitend beitragen will«, muß diese Gefahr »sehr ernst genommen werden«49. Missionarischer Eifer führt in die Enge und verbaut Entwicklungen. Umgekehrt wird die Realität verkannt, wo jedes ModellLernen mit dem Verdikt der Manipulation belegt wird. Jede frühkindliche Sozialisation vollzieht sich auf der Basis des identifikatorischen Lernens. Es kommt entscheidend auf die geeigneten Modelle an, auf solche, die orientieren und nicht fixieren, die über sich hinausweisen und nicht an sich binden. Dazu gehört auch das Eingeständnis von Grenzen, Schwächen und Schuld. Mag das Kind durch solche Eingeständnisse zunächst enttäuscht sein, da es das Vollkommene sucht, so wird jedoch gerade durch diese Erfahrungen seine Entwicklung gefördert und erneut ein Transzendieren auch dieser Abhängigkeit vorbereitet. Angesichts der großen Verantwortung, die Mitarbeiter in der kirchlichen Kinderarbeit übernehmen, kann deren Ausbildung nicht gut genug sein. Dies gilt für die ehrenamtlichen Mitarbeiter in der Gruppenarbeit, für die Erzieherinnen im Kindergarten und für die Verantwortlichen in der gemeindlichen Kinderarbeit. Wenn der evangelische Kindergarten als »Kinderstube« der Kirchengemeinde bezeichnet werden kann 50 , dann wird die Kirche auch bei knapp werdenden Finanzmitteln aus der Ausbildung der benötigten Erzieherinnen nicht aussteigen dürfen. Freilich haben kirchliche Fachakademien für Sozialpädagogik nur dann eine wirkliche Existenzberechtigung, wenn sie ihrer besonderen Aufgabe au~ nachkommen und für die christliche Früherziehung umfassend qualifizieren. Es stimmt nachdenklich, daß die religionspädagogische Ausbildung weitgehend defizitär beschrieben wird51 und ausgebildete Kindergärtnerinnen ihre religionspädagogische Befähigung als unzureichend einschätzen. Es darf nicht beruhigen, daß die Absolventen kirchlicher Ausbildungsstätten ihre theologisch-religionspädagogische Ausbildung beträchtlich besser beurteilen als Absolventinnen staatlicher Fachakademien. Sind dort nur 5,3% der Absolventinnen mit 48 H.- J. Fraas, aaO, (Anm. 19), S. 236. Er weist darauf hin, daß diese Gefahr bei kirchlichen Mitarbeitern besonders groß ist. Bei ihnen sei häufig ein ungeheuerer »Absolutheitsanspruch« anzutreffen. 49 B. Buschbeck!W.-E. Failing, aaO, (Anm. 7), S. 137. 50 G. Richter, Der evangelische Kindergarten - Erwartungen und Chancen aus der Sicht eines Gemeindepfarrers, in: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik 80 (1972), S. 100-105. 51 B. Buschbeck./W.-E. Failing, aaO, (Anm 7), S. 185ff.
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der religionspädagogischen Zurüstung zufrieden, so bei den kirchlichen Fachakademien immerhin 40% .• Doch auch die 40 % sind bei weitem noch nicht die Hälfte der Absolventinnen52 • Eine Ausbildung, die für die verantwortungsvolle Aufgabe christlicher Früherziehung qualifizieren soll, kann sich nicht damit begnügen, didaktische Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln. Soll aber im Rahmen der Ausbildung durch theologische Information und Diskussion auch dazu befähigt werden, die je eigene Glaubensposition zu reflektieren und zu klären, um sich verantwortbar als Lernmodell zur Verfügung stellen zu können, dann reicht die für die theologisch-religionspädagogische Ausbildung an Fachakademien vorgesehene Wochenstundenzahl nicht aus 53 • Die Kindergottesdienste, die Gruppen und die offene Kinderarbeit in der Gemeinde sind ohne ehrenamtliche Mitarbeiter nicht vorstellbar. Es ist deutlich geworden, daß diese Arbeit so wichtig und auch gefährlich ist, daß nicht länger Konfirmanden unvorbereitet damit betraut werden dürfen. Die Zahl der jugendlichen Mitarbeiter im Alter von 14 bis 17 Jahren wächst. Werden sie nach ihrer Motivation befragt, so spielt der Wunsch, mit Kindern arbeiten und eine Gruppe leiten zu wollen, eine hervorragende Rolle; außerdem möchten die Jugendlichen in Auseinandersetzungen mit den Fragen der Kinder selbst zu einer persönlichen Klärung offener Fragen finden 54 • Weder mit der aus dem erstgenannten . Motivationsbündel herauswachsenden Gefahr eines Absolutheitsanspruchs, noch mit der aus dem zweiten resultierenden Unsicherheit werden die jugendlichen Mitarbeiter allein fertig. Sie benötigen Zurüstung und regelmäßige Begleitung durch ausgebildete Fachkräfte. Die auf Fachhochschulen ausgebildeten Religions- und Gemeindepädagogen sollten für diese wichtige Aufgabe verstärkt eingesetzt werden. Ein solcher Einsatz in einer Gemeinde erscheint auch neben dem Einsatz im Religionsunterricht in der Schule möglich und sinnvoll. Ansonsten ist denkbar, daß einer Religions- oder Gemeindepädagogin die Anleitung und Begleitung der Mitarbeiter in der Kinderarbeit mehrerer Gemeinden übertragen wird. Noch viel zu selten werden die Möglichkeiten ausgeschöpft, Eltern der Kinder verantwortlich an der Kinderarbeit und auch an der Begleitung jugendlicher Mitarbeiter in der Kinderarbeit zu beteiligen.
52 D. Stoller, aaO, S. 143. 53 D. Stoller, aaO, S. 159f. 54 Comenius Institut, Kindergottesdienst empirisch, Band 3 der Reihe »Kindergottesdienst heute«. Münster 1973, S. 47ff.
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1.3.5 Biblische Geschichten als Identifikationsangebot
Die Bedeutung der biblischen Geschichten für die frühchristliche Erziehung wird bewußt erst jetzt aufgegriffen. Ich habe bisher vorsichtig von einer »Erziehung im Geiste Jesu von Nazareth« oder »im Wirkungsbereich des Christentums« gesprochen. Diese Erziehung kommt nicht ohne Sprache aus. Das Kind muß von Jesus hören55 . Dabei geht es jedoch nicht um Belehrung, sondern nach wie vor um das Angebot von Identifikatiohsmöglichkeiten. H. v. Hentig schreibt im Vorwort zu dem Aufsatz von E. Ahlbrecht-Meditz: >>>Aus Geschichten lernen< ist nicht nur ein geglückter Buchtitel, es ist zugleich eine uralte Figur, der wir für kurze Zeit untreu geworden sind, und wie so oft in der Untreue: in ihr ist uns der Wert der alten Liebe bewußt geworden. Dabei lösen Geschichten die abstrakte Theorie nicht ab, sie machen sie erst brauchbar: sie veranschaulichen das Gemeinte und zeigen deutlich, was in der verallgemeinerten Merkmals- und Korrelations-Wahrheit nicht enthalten sein konnte.«56 Nochmals: Das vorschulpflichtige Kind lernt durch Imitation und Identifikation. Damit eine ungute Fixierung vermieden wird, ist es vorteilhaft, wenn das Kind mehrere Bezugspersonen hat. Kirchliche Mitarbeiter in der Kinderarbeit sind Lernmodelle neben den nahen Angehörigen des Kindes. Sie versuchen, geeignete Situationen aufzugreifen oder zu schaffen, um das Kind in die christliche Tradition einzuführen, ihm christliche Orientierungs- und Deutehilfe anzubieten. Dies versuchen sie mit ihrem gesamten persönlichen Verhalten, wissend, daß die christliche Botschaft mehr durch Beziehung als durch Erziehung vermittelt wetden kann. Sie versuchen es auch durch die Gestaltung bestimmter Feste, durch den Gebrauch bestimmter Symbole und Rituale »oder durch Identifizierung mit biblischen Gestalten «57. So wie sich Eltern und Mitarbeiter als Lernmodelle anbieten, so auch die Gestalten der Bibel. Sie wollen die Kinder nicht belehren. Sie ermöglichen ihnen - und uns - Identifikation und damit die übernahme neuer Verhaltens- und Deutemuster. Als zusätzliche Modelle entlasten sie den Mitarbeiter. Es hängt nicht mehr alles von ihm ab. Die auf ihn gesetzten und durch ihn enttäuschten Erwartungen können auf die biblischen Gestalten, letztlich auf Jesus selbst übertragen werden. Mit unserem Verhalten können wir nur Gegenwart darstellen, Vergangenheit und Zukunft ~leiben stumm. Die erzählend vorgestellten biblischen Gestalten vermitteln, woher wir unsere Hoffnung haben und worauf unsere Hoffnung 55 Vgl E. Gossmann/U. Schreuer, Soziales Lernen und religiöse Erfahrung im evangelischen Kindergarten. Vom Modellversuch zur neuen Praxis. Comenius-Institut Münster 1979, S. 96. 56 Vgl Anm. 33, S. 584. 57 Vgl D. StoUer, aaO, S. 165.
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zielt. Sie erweitern »unsere oft enggeführten Verhaltensmuster, durchbrechen unsere Gewohnheiten und zeigen neue Handlungsmöglichkeiten auf«58. Dabei kommt es nicht auf die Menge der erzählten biblischen Geschichten an. Ich kann das Kind nicht wöchentlich mit neuen Lernmodellen konfrontieren. Wichtig ist die Auswahl weniger Gestalten, die auf »Ursprungssituationen biblischen Glaubens«59, auf denKern der biblischen Botschaft verweisen und positive affektive Bindungen ermöglichen 60 . Biblische Geschichten, die das Kind überfordern und seine Bedürfnisse frustrieren, fördern eine Ernüchterungstendenz 61 und führen letztlich dazu, daß die Geschichten bald keinen Informationswert mehr besitzen 62 . Kognitive überfütterung führt zum »Informationstod«63. Fraas rät zu Erzählungen, »die Geborgenheitsgefühle vermitteln, indem sie Gottes Fürsorge an Gestalten des Alten Testaments (Jona, Erzväter, vor allem Josef) und Jesu Haltung zu den Armen, Ausgestoßenen und Einsamen aufzeigen« und zu solchen, die Nachahmung in einfacher Weise ermöglichen, wie zum Beispiel das Gleichnis vom barmherzigen Samariter64. »Biblische Geschichten sind von der Frage her auszuwählen, ob sie Kindern >Evangelium< (frohe Botschaft) vermitteln.«65 Eine geschickte Auswahl soll nicht eine heile Welt vorgaukeln. Die biblischen Gestalten sind für das Kind so wenig vollkommen wie die zeitgenössischen Lernmodelle. Wichtig ist, daß die so leicht verletzbare kindliche Psyche bei der Auswahl und Darbietung der Texte berücksichtigt wird. An die von A. Exeler aufgezeigten »Fehlformen religiöser Erziehung« sei nochmals erinnert66 . 1.3.6 Feste und Feiern im Rahmen der Elementarerziehung
Die Bedeutung der Feste und Feiern für die frühkindliche Erziehung ist in den letzten Jahren wiederholt unterstrichen worden 67 . Dabei stehen die 58 W. Kettler, Von Gott und von Jesus im Kindergarten reden. München 1979, S. 10. 59 Chr. Goldmann, Ursprungssituationen biblischen Glaubens. Göttingen 1970. 60 H.-J. Fraas, aaO, (Anm. 19), S. 198. 61 H.-J. Fraas, aaO, S. 144 . 62 H.-J. Fraas, aaO, S. 184. 63 H.-J. Fraas, aaO, S. 244. 64 ebd. 65 B. Buschbeck/W.E. Failing, aaO, (Anm. 7), S. 153; vgl auch F.W. Bargheer, Kriterien zur Bewertung von Arbeitshilfen für das Erzählen biblischer Geschichten, in: Comenius-Institut (Hrsg.), Bildungsplanung und Erziehungsauftrag im Elementarbereich. Der Beitrag der evang. Kirche. Münster 1974, 316f. 66 Vgl Anm. 10; dazu auch A. Exeler, Religiöse Erziehung und Sozialisation im Spiegel zeitgenössischer Autobiographien - Simone de Beauvoir, in: KatBI 193 (1978), H. 11, S. 867-873. 67 H.-J. Fraas, aaO, S. 134-140; B. Buschbeck/W.-E. Failing, S. 158ff.
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spontanen Feste neben den regelmäßig wiederkehrenden. W. Longardt plant den Kindergottesdienst als vielgestaltiges Feiern der Kinder »vor dem Altar«68. Das Kinderabendmahl ist in zahlreichen Gemeinden eingeführt. Die regelmäßige Feier des Geburtstags und des Tauftags ermöglicht in Familie, Kindergarten und Kindergruppe christliche Bezüge. Von besonderer Bedeutung für die religiöse Erziehung des Kindes sind die Feste des Kirchenjahres. Bleiben sie von einer Gettoisierung verschont69 , so bieten sie zahlreiche Ansatzpunkte für bewußte christliche Erziehung. Die oben angesprochene Gefahr der kognitiven überfütterung läßt allerdings davor warnen, die Festperikopen den Kindern zu früh zu erzählen. »Es ist religionspädagogisch kaum wünschenswert, daß Kinder mit der Passionsgeschichte, den Osterberichten, den Himmelfahrts- und Pfingsterzählungen vertraut gemacht werden. Diese Texte sind in ihrer Aussageform viel zu vielschichtig, um sinnvoll (in der Elementarerziehung, d.Vf.) verarbeitet zu werden. Der Abnutzungseffekt verhindert überdies eine originale Begegnung mit diesen Inhalten zu einem späteren und geeigneteren Zeitpunkt«70. Dennoch hat D. Stoller bei seiner Erhebung festgestellt, daß die Passionsgeschichte in 66% der evangelischen Kindergärten, die Ostergeschichte in 8600 /0 und die Pfingstgeschichte in 50% der Kindergärten erzählt wird71 • Ein Verzicht auf die ausführliche Erzählung der Festperikopen bedingt nicht den Verzicht auf das Feiern. Es ist möglich, die Feste des Kirchenjahres mit den Kindern so zu begehen, daß sie »auf dem Weg des Mitvollzugs von Handlungen unter affektiv-archetypischem Einfluß sehr früh Haltungen« übernehmen, »noch lange bevor die kognitive Verarbeitung des Symbolgehaltes möglich wird«72. Ich fasse diesen ersten Teil zusammen: »Religiöse Erziehung beginnt nicht erst dort, wo biblische Geschichten erzählt werden oder wo gebetet wird, sondern sie beginnt mit den Anfängen von Erziehung überhaupt.«73 Von »christlicher Erziehung« können wir sprechen, wenn bei dieser Erziehung Jesus Christus bekannt und vertraut wird, wenn diese Erzie-
68 W. Longardt, Aufgaben und Ziele des Kindergottesdienstes, in: Comenius Institut (Hrsg.) Aufgaben und Ziele des Kindergottesdienstes, Band 1 der Reihe »Kindergottesdienst heute«. Münster 1972, S. 10. 69 B. Buschbeck./W.-E. Failing, aaO, S. 32. 70 B. Buschbeck./W.-E. Failing, aaO, S. 160; ähnlich argumentiert H.- J. Fraas, aaO, S. 139: »Die Pfingstgeschichte ist unkindmäßig und unanschaulich, solange man nicht auf den >Geburtstag der Kirche< rekurrieren will; die Passion dem Kind ausführlich nahezubringen, verbietet sich von selbst, und das Osterereignis setzt die Kenntnis des Todes überhaupt und der Kreuzigung ]esu voraus.« 71 D. StoUer, aaO, S. 184. 72 H.-]. Fraas, aaO, S. 139. 73 H.-]. 'Fraas, aaO, (Anm. 19), S. 67.
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hung »im Wirkungsbereich des Christentums«74 geschieht und davon bis in die säkularen Konsequenzen hinein geprägt ist76 . Die soziale Komponente dieses Prozesses bezeichne ich ungern als» Vorfeld des Glaubens«76. Auch die Bezeichnung» Vorfeldkatechese« gefällt mir nicht. Das soziale Lernen im beschriebenen Sinn geschieht eben nicht im Vorfeld der Bibel, »wobei das Wort Vorfeld eine Art Kindergarten-Diminutiv im Gegensatz zum ernstzunehmenden Religionsunterricht in der Schule bezeichnet. Richtig verstanden öffnet aber diese Arbeit Fenster, durch die helles Tageslicht auf die biblischen Geschichten fällt, so daß die alten Texte für die heutigen Kinder lebendiger und beziehungsreicher dastehen«77. Natürlich gehört zum religiösen Lernen auch die Reflexion der unter affektiver Betroffenheit übernommenen 'Handlungsweisen und Werthaltungen. Doch was soll reflektiert werden, wenn nichts übernommen ist? Es geht bei der christlichen Erziehung nicht um ein zusätzliches Sonderwissen78 , sondern »um eine bestimmte Weise des Umgangs mit Menschen, mit der Welt und mit sich selbst, um Wertorientierung und Sinndeutung«79, es geht im sozialen Lernen um religiöses, um christliches Lernen.
2. Soziale Bezüge religiöser Erfahrung
In diesem kurzen zweiten Teil will ich die gewonnenen Einsichten überprüfen, indem ich die Fragestellung umkehre und nach den sozialen Bezügen religiöser Erfahrung frage. Einem Glauben ohne Erfahrung geht die Luft aus. Dies gilt nicht nur für die frühkindliche Erziehung. Lehraussagen, deren Inhalt nicht im Alltag als richtig und bedeutsam erfahren werden kann, sind leer. Sie vermitteln keine Erfahrungen und zwingen in ein frommes Gett0 80 . Es ist klar, »daß die Wahrheit des Glaubens mit keiner Einzelerfahrung zur Deckung zu bringen ist, daß sie aber andererseits auf diesen pragmatischen Bereich angewiesen ist und darin gültig und verbindlich wird«81. 74 H.- J. Fraas, aaO, S. 68. 75 D. StoIler, aaO, (Anm. 9), S. 60f. 76 Vgl Anm. 7. 77 J. Quadflieg, Zugänge zur Bibel im Elementarbereich, in: KatBl 106 (1981), H. 10, S. 817. 78 H.- J. Fraas, aaO, S. 67. 79 D. StaIler, aaO, S. 53. 80 Vgl K. Faitzik, Spiegelbilder. Begegnungen mit Gestalten des Alten Testaments. München 1980, S. 130. 81 D. StaIler, aaO, S. 51.
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An einem Beispiel sei dies verdeutlicht. Im Herbst 1981 wurde vom Fernsehen die 13teilige Sendereihe »Warum Christen glauben« ausgestrahl t 82 . In Gesprächskreisen, die ich zu dieser Sendereihe im Rahmen der kirchlichen Erwachsenenbildung leitete, wurde häufig betont, die Teilnehmer empfänden die theologischen Bezüge als »an den Haaren herbeigezogen«. In den in den Filmen dargestellten Lebenssituationen gehe es doch gar nicht um Themen wie »Glaube«, »Offenbarung«, »Auferstehung« oder »Heiliger Geist«. Ich kann diesen Eindruck verstehen und finde dennoch gerade diese oft überraschenden Bezüge als an- und aufregend. Der Aufbau der einzelnen Sendungen fasziniert mich: In jedem Film wird eine Alltagssituation dargestellt, die anschließend im »Teeküchengespräch« von den beteiligten Personen interpretiert wird. Jeder legt dabei sein eigenes Deutemuster an, Dr. Scholz zum Beispiel das des menschlichen Vermögens, Schwester Agnes das des christlichen Glaubens. Mochte es zunächst so scheinen, als sollten die dargestellten Situationen bestimmte Glaubensaussagen illustrieren, so wird in diesen Gesprächen deutlich, daß vielmehr der Alltag durch die einzelnen Glaubensaussagen reflektiert und gedeutet wird. Das ist ein schwieriges und oft auch zweideutiges Unterfangen, nur so aber sind religiöse Erfahrungen möglich. Erfahrungen haben mit dem täglichen Leben zu tun83 . Leben und Erleben ist nicht identisch mit Erfahrung. »Erfahrung setzt zwar Erleben voraus. Das bloße Zur-KenntnisNehmen ohne zugrundeliegendes Erlebnis ist keine Erfahrung. Ein Erlebnis gehabt zu haben und es im Gedächtnis behalten, ist aber ebenfalls noch nicht Erfahrung ... Erfahrung entsteht dann, wenn es gelingt, ein Erlebnis, von dem man betroffen war, erstmals als ein Ereignis zu objektivieren und ihm zweitens eine allgemeine Bedeutung, die auch für zukünftige Situationen gilt, zuzuweisen. In diesem zweistufigen Prozeß darf aber die subjektive Betroffenheit und der konkrete Ereignis-Charakter nicht verlorengehen.«84 Unschwer ist das zweistufige Lernmodell aus dem ersten Teil wiederzuerkennen. Erfahrungen sind gedeutete Erlebnisse, christliche Erfahrungen sind durch christliche Botschaft gedeutete Erlebnisse oder eröffnete Erlebnismöglichkeiten. Wenn unsere Zeit arm zu sein scheint an religiösen Erfahrungen, so nicht, weil die entsprechenden Erlebnisse fehlten, son82 ZDF und Regionalprogramme vom 17. September bis 14. Dezember 1981; vgl dazu das Begleitmaterial im Medienverbund, erschienen im Spee-Verlag Trier unter dem gleichen Titel (Begleitbuch, Predigtskizzen, Theologisches Sachbuch, Zirkelleitermaterial, alle 1981). 83 Das Professorengespräch am Ende jeder Sendung war wohl zu Recht für die meisten Zuschauer eine einzige Enttäuschung, offenbarte es doch, wie weit entfernt Theologie vom täglichen Leben sein kann. 84 H.P. Bahrdt, Pädagogisches Manifest, in: Neue Sammlung 20 (1980), H. 6, S. 579.
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dern weil wir verlernt haben, diese aus Glauben zu deuten. Die Situationen, in denen wir Liebe und Vertrauen, Schuld und Vergebung erleben, sind nicht seltener geworden. Sie christlich zu interpretieren überlassen wir bestimmten Gruppen; für die anderen scheint eine solche Interpretation tabuisiert zu sein. Wenn sie es dann doch versuchen, so wirkt es oft »an den Haaren herbeigezogen«. Der Glaube aber ist angewiesen auf Erfahrungen, auf das soziale Erlebnis und die verbale Deutung. »Warum Christen glauben«, können andere nur dann verstehen, wenn wir ihnen nicht nur Texte und theologische Lehrformeln vermitteln, sondern ihnen zugleich nachvollziehbar machen, wie wir mit diesen Texten und theologischen Erkenntnissen unser Leben deuten und daraus Erfahrungen gewinnen, die den Alltag erschließen und Zukunft eröffnen. Wo die Diskontinuität von Erfahrung und biblischer Offenbarung betont wird, besteht die Gefahr, daß »Evangelium und christlicher Glaube doketisch werden. Sie haben dann mit dem wirklichen Menschen und dessen Wirklichkeit nur noch peripher und von ferne zu tun.«85 Die biblische Botschaft zielt auf Leben. Sie erschließt unsere Lebenswirklichkeit und weist über sie hinaus auf eine umfassende, noch nicht vorhandene Wirklichkeit. Ich habe mich eingangs gegen den Vorwurf gewehrt, daß christliche Erziehung realitätsfremd und repressiv· sei. Sie ist es so lange, wie sie sich auf Sonderbereiche beschränkt, den Zusammenhang von sozialem und religiösem Lernen, von Glaube und Erfahrung übersieht und Glaube als etwas dem Leben als Garnierung Zugeordnetes, aber als das Leben nicht Durchdringendes versteht. In der christlichen Erziehung und Verkündigung kann es nicht vorrangig darum gehen, Traditionen zu lehren, sondern darum, »Glaubenserfahrungen vorzubereiten und zu vermitteln«86. Dies ist nicht durch Belehrung, sondern vorwiegend durch das gemeinsame Leben und Erleben und die »gemeinsam interpretierte Praxis«87 möglich. Nicht nur für Kinder, auch für Erwachsene wirkt ein Glaube verhängnisvoll, der ganze Wirklichkeitsbereiche nicht zu integrieren weiß, ein Glaube, »der neben der Welt und dem Leben hergelebt wird, wenn nicht sogar dauernd gegen die Realität angeglaubt werden muß; eine verzweifelte Situation, in der dem Glauben die Luft ausgeht.«88 »Werden nämlich Glaube und Wirklichkeit nicht aufeinander bezogen, 85 W.H. Ritter, Offenbarung und Erfahrung. Reflexionen zum Glaubensverständnis, in: WuPKG 69 (1980), H. 12, S. 563. 86 E. Feifel, aaO, (Anm. 25), S. 24. 87 ]. Track, Schrift, Bekenntnis und Erfahrung, in: ders. (Hrsg.), Lebendiger Umgang mit Schrift und Bekenntnis. Stuttgart 1980, S. 39. 88 A. Exeler, Religiöse Erziehung und Sozialisation im Spiegel zeitgenössischer Autobiographien - Simone de Beauvoir, in: KatBl 103 (1978), H. 11, S. 868f.
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dann verkommt der Glaube zur Illusion, die Theologie pervertiert zur Ideologie und die Wirklichkeit wird als unveränderliche Größe verstanden.«89 Das Ergebnis liegt auf der Hand: Menschen zweifeln am Glauben und verzweifeln an der Wirklichkeit.
89 ehr. Bäumler, Zum Verhältnis von Theologie und empirischer Sozialforschung, in: ehr. Bäumler/G. Birk u.a., Methoden der empirischen Sozialforschung in der praktischen Theologie. München/Mainz 1976, S. 241.
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KLAUS RASCHZOK
Erfahrungen mit dem Christusbild. Die Kruzifikationen und Christusköpfe des Wiener Malers Arnulf Rainer
Christusbild und religiöse Erfahrung Künstler wie Lovis Corinth, Max Beckmann, Alfred Kubin, Georges Rouault, Alexej ]awlenski, ]oseph Beuys, Alfred Hrdlicka oder Walter Pichler haben sich auch in unserem ] ahrhundert mit dem Bild Christi auseinandergesetztl. Im Zusammenhang mit ihnen ist der 1930 in Baden bei Wien geborene Arnulf Rainer zu nennen, für den das Thema »Kreuz und Christusbild« innerhalb seines Gesamtwerkes eine wichtige Rolle spielt. Diese neuen Christusbilder sind fast alle außerhalb eines kirchlichen Kontextes und unabhängig von kirchlichen Aufträgen entstanden. Sie stellen persönliche Zeugnisse und Anfragen der Künstler dar, die nicht mehr in die kirchliche Verkündigung eingebunden sind. »Alle diese Bildwerke erheben nicht den Anspruch, eine spezifische Bildnerei für sakrale Räume zu sein«, schreibt Arnulf Rainer 1980. »Sie stammen aus sehr persönlichen Wurzeln. Anlaß war eine subjektive Betroffenheit, sowohl über Person, Ereignis als auch Idee des Kreuzes.«2 Obwohl außerhalb von Verkündigung und Kirche, stellen diese neuen Christusbilder dennoch, wie Günter Rombold formuliert, einen »Niederschlag religiöser, zu einem Teil auch spezifisch christlicher Erfahrungen«3 dar, an denen die Theologie nicht vorübergehen kann und darf. Einen theologischen Dialog hat der Marburger evangelische Theologe Horst Schwebel in seiner Habilitationsschrift »Das Christusbild in der bildenden Kunst der Gegenwart«4 versucht. Er ordnet diese Bilder im Korre1 Zum Christusbild im 20. Jahrhundert vgl Peter BaumlGünter Romhold (Hrsg.), Christusbild im 20. Jahrhundert. Linz 1981 (Ausstellungskatalog mit zahlreichen Abbildungen und Texten). 2 Arnulf Rainer, Kreuz und Nacht: ders., Kruzifikationen 1951 - 1980. 27.2.12.4.1981. Hauptkirche St. Jacobi. Kirchlicher Kunstdienst Hamburg (Ausstellungskatalog). Frankfurt 1980, S. 5. 3 Günter Rombold, Christusbild und Gottesbild im 20.Jahrhundert: Peter BaumlGünter Rombold, Christusbild, aaO, S. 31. 4 Horst Schwebei, Das Christusbild in der bildenden Kunst der Gegenwart. Textband (Bild und Raum 1). Gießen 1980.
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lationsmodell Paul Tillichs 'der Explikation der Frage, nicht der Antwort zu. »Verkündigung und Glauben werden angesichts der Christuskunst der Gegenwart mit der Wirklichkeit konfrontiert, in der sie zu stehen und zu wirken haben.«5 Horst Schwebel setzt sich auch damit auseinander, ob die außerhalb eines kirchlichen bzw. christlichen Kontextes entstandenen Bilder Christi überhaupt eine Erfahrung des Christus ermöglichen, oder ob diese nicht an Wortverkündigung und Glaubensvollzug gebunden sei. Eine sich in den Bildern wiederspiegelnde Erfahrung des »Christus extra muros ecclesiae« - um mit Walter J. Hollenweger zu sprechen6 - ist nach Schwebel unter der Einschränkung möglich, daß sie als partikulare Erfahrung ohne letztgültigen Anspruch verstanden wird, da im »Bereich konkreter Erfahrung. .. nicht der >totus Christus< ... , sondern nur jeweils ein Aspekt gemäß der Subjektivität«7 erfahren wird. Die Christusbilder unserer Zeit können so in der ihnen eigenen Sprache zeigen, wie Christus außerhalb des kirchlichen und theologisch-dogmatischen Kontextes erlebt und erfahren wird. Der vorliegende Beitrag versucht dies am Beispiel des Wiener Malers Arnulf Rainer - einer der bedeutendsten bildenden Künstler der Gegenwart in Osterreich - zu zeigen. Horst Schwebel selbst ist in seiner Untersuchung nicht näher auf Arnulf Rainer eingegangen. Für Arnulf Rainers künstlerische Beschäftigung mit Kreuz und Gesicht Christi ist in Weiterführung von Horst Schwebel eine zusätzliche Einschränkung vorzunehmen. Bei Rainer muß zunächst einmal von Erfahrungen mit dem »Christusbild«, nicht von Erfahrungen mit der Person Christi gesprochen werden. Mit dieser Formulierung wird Schwebels Differenzierung, daß in den Christusbildern unserer Zeit zwar eine Erfahrung des Christus, nicht aber des »Deus in Christo pro me«8 vorliegt, umschrieben. Eine solche Einschränkung auf das »Christusbild« ist hilfreich, da sie voreilige theologische Kritik an Rainers Christus(bild)erfahrungen verhindert und den Künstler so als Gesprächspartner ernst nimmt. Zum andern wird diese Einschränkung auch der Betonung des formalen Aspektes in den Kreuz- und Christusbildern Rainers gerecht.
5 ebd, S. 141. 6 Walter J. Hollenweger, Erfahrungen der Leibhaftigkeit. Interkulturelle Theologie 1. Münchßn 1979. 7 H. Schwebei, aaO, S. 139. 8 ebd, S. 132.
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Zum Gesamtwerk Arnulf Rainers
Arnulf Rainer bietet sich für unsere Fragestellung an, weil er eine neue Form der Malerei finden will, »die heutigen Grunderfahrungen entspricht, eine· Malerei, in die gegenwärtige Lebenspraxis Eingang findet«. 9 Das künstlerische Werk dieses Wiener Malers ist von einer eigenwilligen Sprache geprägt. Das Bild ist für Arnulf Rainer nie eine Frage der Anordnung von Motiven, Formen oder Farben, sondern stellt einen »permanenten Arbeitsprozeß«lo dar. So hat Rainer keinen Formenbesitz und kein Repertoire, das er jederzeit aktivieren könnte, sondern nur Themen: das Gesicht, die überdeckung, die Körperbewegung und die Selbstreproduktion. Auch das Kreuz - zunächst als Form, dann aber auch als das Gesicht Christi - gehört zu diesem Vorrat an Themen, die sich zu einer einzigen und umfassenden Bildidee zusammenfügen, »die sich nur einkreisen und in Annäherungswerten bestimmen läßt«l1. Nach einer Phase phantastisch-surrealistischer Arbeiten zwischen 1947 und 1950 beginnt Arnulf Rainer mit »Atomisationen«12, setzt sich in den »Proportionscollagen« mit dem Stichwort Farbe auseinander, findet in seinen großformatigen »übermalungen« zu einer eigenwilligen, alles Weitere charakterisierenden Handschrift und beschäftigt sich ab der Mitte der sechziger Jahre intensiv mit dem eigenen Gesicht und seinem Körper. Ende der siebziger Jahre tritt die Auseinandersetzung mit dem Antlitz des Todes in den» Totenmasken« und» Totengesichtern « hinzu. Sein künstlerisches Werk, das sich von wenigen Ausnahmen abgesehen immer auf die Fläche beschränkt, reicht von der Zeichnung über die Tafelmalerei bis zur Druckgrafik. Mit der Fotografie entdeckt Rainer ein weiteres wichtiges Medium, mit dessen Hilfe er mimische und grafische Aussagen in einer Bildebene verbinden kann. Bei allen diesen verschiedenen Versuchen wird die letztgültige Form immer erst im Arbeits- oder Malprozeß gefunden, so daß das Kunstwerk »weder eingelöste Form, noch einfach Lebensspur, sondern Ausdruck des Strebens und des Scheiterns zugleich«13 ist. Für Arnulf Rainer sind Serien, Reihen und Zyklen charakteristisch. Große Hauptwerke gibt es nicht - eine Entsprechung zu den gegenwärti9 Dieter Honisch, »Malerei, um die Malerei zu verlassen«: Arnulf Rainer, Ausstellungskatalog Nationalgalerie Berlin. Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz. 20. 11. 1980 - 1. 2. 1981. Berlin 1980, S. 8. 10 ebd, S. 9. 11 ebd, S. 12. 12 Zu den einzelnen Werkgruppen vgl die Abbildungen und Einführungstexte im Ausstellungskatalog Arnulf Rainer, Berlin 1980/81, aaO. 13 D. Honisch, Malerei, aaO, S. 10.
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gen so großen Erwartungen an ein Bild, die eine einzelne Arbeit nicht mehr erfüllen kann. Die künstlerische Arbeit Rainers wird durch intensive literarische Beschäftigung begleitet. Vor allem in den fünfziger Jahren hat er sich ausführlich mit fernöstlicher und vor allem christlicher Mystik auseinandergesetzt. Die Beschäftigung mit Johannes Tauler, Johannes vom Kreuz oder Katharina von Siena wurde angeregt durch die Freundschaft mit Monsignore Otto Mauer, dem Wiener Do"mprediger, der in der Nähe von St.Stephan eine kleine Kunstgalerie betrieb und zum wichtigen Förderer des jungen Arnulf Rainer wurde. Durch zahlreiche Ausstellungen hat Rainer in der internationalen Kunstszene Anerkennung gefunden. Mehrere Retrospektiven 1971 in Hamburg, 1977 in Bern und München sowie 1980/81 in Berlin, Baden-Baden, Bonn und Wien versuchten, erste Zusammenschauen seines Werkes zu skizzieren. 1978 stellte Rainer auf der Biennale in Venedig aus; auf der Kasseler Documenta war er 1974, 1978 und 1982 vertreten. Der Erfolg Arnulf Rainers, der neben den Ausstellungen eine Reihe von Büchern, Mappenwerken, Filmen und Video-Tapes veröffentlicht hat, liegt wohl sicherlich auch mit daran, daß sich in seinem Gesamtwerk mit aller Schärfe »das Problem des Individuums in der gegenwärtigen Gesellschaft, seine Bindungslosigkeit, seine Ohnmacht und Verzweiflung«14 artikuliert. Für die Arbeiten zum Thema Kreuz und Christusbild, die Rainer seit 1951 beschäftigen, hat er den Sammelbegriff »Kruzifikationen« geprägt. Dieser Begriff rückt sicherlich bewußt den mehr formalen Aspekt in den Vordergrund. Arnulf Rainer setzt sich zunächst einmal mit der Form des Kreuzes auseinander und findet erst später zum Gesicht Christi. Als »Kruzifikation« wird so zunächst einmal formal das Aufeinandertreffen einer Vertikalen auf eine Horizontale verstanden. Dieses Geschehen bleibt offen für eine nähere Interpretation. Dazu hat Günter Rombold einen wichtigen Hinweis geliefert, indem er darauf drängte, bei der Interpretation der Kruzifikationen Rainers die verschiedenen semiotischen Ebenen voneinander zu unterscheiden 15 • Die Beschäftigung Rainers mit dem Thema Kreuz und Christusbild ist nicht auf eine bestimmte Phase seines Werkes beschränkt, wie das zum Beispiel bei Karl Schmidt-Rottluff in ganz ausgeprägter Weise der Fall gewesen ist. Rainers Beschäftigung mit dem Kreuz partizipiert an den
14 Armin Zweite, Notizen zu Arnulf Rainers frühen Arbeiten: Arnulf Rainer, Retrospektive 1950--1977. 7. 10. -13. 11. 1977. Katalog 5/1977, Kestner-GeseIlschaft Hannover, 0.0. u.J., S. 19. 15 G. Rombold, Arnulf Rainers Kruzifikationen: Peter Baum/Günter Rombold, Christusbild, aaO, S. 46f unterscheidet die formale (syntaktische), expressive und semantische Ebene.
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unterschiedlichsten Werkgruppen, so daß sich in den Kruzifikationen die einzelnen Tendenzen des Gesamtwerkes spiegeln 16 .
Erfahrung der Identität: Atomisationen Erstmals begegnen die Kruzifikationen innerhalb der »Zentralformationen«, einer Werkgruppe, die 1951/52 entsteht. Es handelt sich um etwa 50 Arbeiten auf Papier und Karton, die alle von den Momenten der Linie und der Schnelligkeit im Sinne der Aktionsmalerei bestimmt sind. Die Linien sind aggressiv auf die Zeichenunterlage aufgetragen und scheinen die Fläche zu zerstören, zu zerschneiden oder sich zentral festzuschreiben 17 . Unter diesen »Zentralformationen« befinden sich Blätter wie die 1951 in Mischtechnik auf Offsetkarton entstandene »Zentrale Kruzifikation«18, ein Liniengebündel in schwarz, blau, rot und gelbgrün, das eine Kreuzform erahnen läßt. Rainer entfaltet hier das Thema Kreuz in seiner elementarsten Form als ein menschliches Ursymbol. ·GÜnter Rombold spricht davon, daß die zentralen Kruzifikationen »an die frühesten Zeichnungen von Kindern, den Urknäuel und das Urkreuz« erinnern. »Das Kind drückt sich in diesen Gestaltungen aus, es meint damit sich selbst.«19 In ähnlicher Weise - so versucht Rombold, die zentralen Kruzifikationen zu deuten - beschäftigt sich Rainer hier über das Symbol Kreuz mit seiner eigenen Identität.
Erfahrung der Unverfügbarkeit: übermalungen und Zumalungen Eine weitere Stufe in der Beschäftigung mit dem Kreuz zeichnet sich in den» übermalungen« ab. Ab 1954 entstehen Bilder, deren Bildfläche mit Farbe so zugedeckt wird, daß nur ein schmaler Randbereich oder eine 16 A. Rainer, Elf Antworten auf elf Fragen (1971): ders., Hirndrang. Selbstkommentare und andere Texte zu Werk und Person mit 118 Bildbeigaben, hrsg. von Otto Breicha. Salzburg 1980, S. 155: »Ich selbst habe immer wieder Phasen, in denen ich religiöse Bilder, etwa große schwarze Kreuze, male.« 17 D. Honisch, Einführungstext Ausstellungskatalog Berlin 1980/81, S. 16. 18 A. Rainer, Zentrale Kruzifikationen, 1951, Mischtechnik/Offsetkarton 65 X 100 cm; ders., Kruzifikationen 1951-1980, S. 25 (Abb.). 19 G. Rombold, Kruzifikationen, aaO, S. 47.
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Ecke freibleiben. Der Kontrast zwischen dem dominierenden Schwarz und der immer weiter zurückgedrängten, eingeschnürten Helligkeitszone bestimmt den dramatischen Eindruck dieser Arbeiten. »Es sind meist monochrome Bilder, die sich aus einer Binnen- oder Mittelform entwickeln. Diese wird in einer oft mehrere Jahre umfassenden Malaktion vergrößert und dem Bildformat angepaßt, so lange, bis der übermalte Grund ... als eine das Bild charakterisierende und die Form definierende Restform übrigbleibt. «20 Die übermalungen stellen die wichtigste, umfassendste und zeitlich längste Serie Rainers dar. Sie sind im Wesentlichen 1964 abgeschlossen, werden aber zum Teil noch bis heute fortgeführt. Rainer übermalt in dieser Phase Blumen, Landschaften, Wolken, Köpfe oder den Ozean - und dann auch Kreuze. 1956/57 setzt er etwa 15 Kreuze verschiedener Größe aus Hartfaserplatten zusamme~; eigentlich handelt es sich um große Holztafeln in Kreuzform. Diese großen Kreuzflächen werden meist mit schwarzer, aber auch mit blutroter Farbe übermalt. Das 1956/57 entstandene »Kreuz rot/gelb«21 besteht aus einer rot übermalten Holzplatte in Kreuzform. Die Strukturierung der übermalung durch den Pinselstrich läßt noch etwas von einem unter der übermalung befindlichen Kruzifixus ahnen. Nur auf der rechten Seite sind noch gelbe Spuren des übermalten Untergrundes zu sehen. Kennzeichnend für die übermalungen ist der keinesfalls glatte und unberührte Zustand der übermalung. Die Flächen erscheinen malträtiert. »Ihnen wird Malerei eher zugefügt, als daß sie in ihr erscheint. «22 Die Kreuze, die Rainer in dieser Phase beschäftigen, entstehen aus den verschiedensten Materialien, aus Holz, auf Leinwand; er bemalt plastische Grabkreuze, zeichnet und überzeichnet Kreuzformen auf Papier, schafft Druckplatten aus Metall mit Kreuzdarstellungen und zerkratzt diese dann bis zur Unkenntlichkeit, und er überarbeitet auch Reprofotos eigener großformatiger Holzkreuze zum zweitenmal. Das »Kreuz 1957«23, ebenfalls aus montierten Hartfaserplatten, zeigt einen in tiefem Schwarz übermalten ockergelben Untergrund - so, als sollte nur der Körper des Gekreuzigten mit schwarzer Farbe zugedeckt werden. Die herabtropfende tiefschwarze Farbe ist angetrocknet und ebenso wie die Aktion des Pinselstriches dokumentiert. Einige dieser 20 D. Honisch, Einführungstext, aaO, S. 46. 21 A. Rainer, Kreuz rot/gelb 1956/57, öl auf Holz, 194 X 160 cm: ders., Ausstellungskatalog Berlin 1980/81, Nr. 97, S. 59 (Abb.). 22 D. Honisch, Malerei, aaO, S. 10. 23 A. Rainer, Kreuz 1957, öl auf Hartfaserplatte, montiert, 167X50 cm: P. Baum/G. Rombold, Christusbild, aaO, Nr. 93, S. 135 (Abb.). 24 A. Rainer, Stufenkreuz, 1968, öl/Holz, 198,5 X 144 cm: ders., Kruzifikationen 1951-1980, S. 9 (Abb.).
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Holzkreuze aus den fünfziger Jahren - soweit sie sich noch in seinem Besitz befanden - hat Rainer später weiterbearbeitet, so das »Stufenkreuz, 1968«24, eine 'Holztafel in Form eines abgestuften, sich nach unten verjüngenden Kreuzes. Dieses Kreuz zeigte ursprünglich noch mehr helle Fläche, wurde jedoch 1968 stärker überarbeitet und zugemalt. Daran wird deutlich, daß sich Arnulf Rainer nie mit dem künstlerisch Erreichten zufriedengibt, sondern sein Werk immer neu vorantreibt. Wie besessen versucht er ständig, an einem Werk zu arbeiten. Dabei handelt es sich nicht um eine ästhetische, sondern um eine emotionale Unsicherheit, die ihn zu diesem permanenten Arbeitsprozeß führt 25 . Schematische Reste eines Christuskopfes vermeint man in der Struktur der Zumalung des Kreuzes »Zugedeckter Christus, 1968«26 zu erkennen, und im » übermalten Grabkreuz, 1969«27 ist der plastische Korpus des Kruzifixus unter der übermalung erhalten. Es handelt sich um ein unten angespitztes hölzernes Grabkreuz mit gußeisernem Korpus, zum Einstecken in die frische Graberde bestimmt. Rainer hat den unteren Teil des Längsbalkens natur belassen; auf ihm rinnt rote und schwarze Farbe herab. Die obere Hälfte des Kreuzes einschließlich des blutroten Korpus ist schwarz bemalt. Nur Kopf und Bauchgegend treten rot unter der schwarzen übermalung hervor. Beim »Weinkruzifixus 1957/58«28 handelt es sich um eine Arbeit auf Leinwand in Stoffarbe. Gebogen und gekrümmt zeichnet sich auf dem Leinwanduntergrund ein Kreuz in Schwarz vor blutrotem Hintergrund ab. Schwarze Farbe tropft herab. Wie ein Mantel breitet sich der blutrote, ebenfalls herabrinnende Grund über das schwarze Kreuz. Ein Beispiel für Kruzifikationen auf kleinerem Format stellt die »Kreuzigung, 1955/57, Mischtechnik/Offsetpapier«29 dar. Mit dicken Strichen ist ein nur zu ahnendes, aus den hervorblickenden Querbalken zu erschließendes Kreuz zu sehen, das mit dicken hastigen Strichen in phallus ähnlicher Form überzeichnet ist. Die Form der überzeichnung weist auf die erotische Komponente hin, die religionsgeschichtlich ebenfalls zur Form des Kreuzes in Beziehung steht. Auch in der Druckgrafik begegnet das Kreuz
25 D. Honisch, Malerei, aaO, S. 9. 26 A. Rainer, Zugedeckter Christus, 1968, öl/Holz, 200 X 125 cm: ders., Kruzifikationen 1951 - 1980, S. 15 (Abb.). 27 A. Rainer, übermaltes Grabkreuz/Korpus, 1969, ölfGußeisen/Holz, 126,5 X 39 cm: Wieland Schmied, Zeichen des Glaubens - Geist der Avantgarde. Religiöse Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1980, S. 181 (Abb.). 28 A. Rainer, Weinkruzifix 1957/78, Stoffarbe, ölfarbe, Baumwolle, Leinwand, 168,5 X 103 cm: P. Baum/G. Rombold, Christusbild, aaO, S. 25 (Abb.). 29 A. Rainer, Kreuzigung, 1955/57, Mischtechnik Offsetpapier, 47 X 42 cm: ebd, S. 37 (Abb.).
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Tafel Ir
im Zusammenhang einer überzeichnung. Am »Melker Kreuz 1967/68«30 wird zugleich die Veränderung in der Art der übermalung/überzeichnung deutlich, die sich ab etwa 1961 abzeichnet. Das Verhüllen einer Bildsituation durch die Malerei oder die Zeichnung gibt einem mehr lockeren überdecken Raum, das sein Darunterliegendes voraussetzt31 . Das »Melker Kreuz« ist eine Kaltnadelarbeit auf Kupfer im Format 298 X 199mm, ein lateinisches Kreuz, auf dem sich der Schatten eines weiteren schwarzen Kreuzes abzeichnet. An den Rändern dieses schwarzen Kreuzes sind deutlich Kratzspuren sichtbar - in der Druckgrafik tritt ein Zerkratzen der Druckplatte an die Stelle der überzeichnung. Das »Melker Kreuz« ist die einzige Kruzifikation Rainers, die sich in liturgischem Gebrauch befindet. Die versilberte Originalplatte der Radierung wird im Stift Melk in Oberösterreich als Altarkreuz verwendet. Die Kreuzübermalungen Rainers haben unterschiedliche Interpretationsversuche ausgelöst. So haben die bei den katholischen Theologen Otto Mauer und Louis Chardon O.P. Anfang der sechziger Jahre versucht, sie im Sinne der christlichen Mystik zu interpretieren, indem sie die übermalungen als Beschäftigung mit dem Absoluten deuten. Otto Mauer sieht in den übermalungen einen »Versuch, aus der Erregtheit der ziellos ins Dasein verlorenen Seele in den Bereich des Einen und Notwendigen vorzustoßen, das am Grunde aller Ereignisse. .. liegt«32. Für ihn nehmen die Bilder den Charakter meditativer Ikonen an und er deutet Rainers Arbeiten als Versuche, »dem Absoluten auf dem Weg der Askese, der Abscheidung und Abtötung, aber auch auf dem Wege der Konzentration, der Beschauung, näher zu kommen«33. In den übermalungen hängt sich nach O'tto Mauer über das Begreifliche der Vorhang des Unbegreiflichen. Das Kreuzesgeschehen, das historisch begreiflich und darstellbar ist, wird unbegreiflich in seiner eigentlichen Konsequenz für die Gegenwart. So schafft Rainer »Vorhänge, die sich allmählich aus hunderten von Strichund Pinsellagen bilden, schwarze und farbige Vorhänge, die das überdekken, was unaussagbar ist ... Er strebt der Gewißheit zu, daß die Vorhänge, hinter denen wir unsere Hoffnung verbergen, nicht Nichts bedecken, sondern das Eigentliche, das zu jeder Zeit noch aussteht.«34 Auch
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A. Rainer, Melker Kreuz 1967/68, Kaltnadelarbeit auf Kupfer, 298 X 199 mm: Otto Breicha, Arnulf Rainer. überdeckungen. Mit einem Werkkatalog sämtlicher Radierungen, Lithographien und Siebdrucke 1950-1971. Wien 1972, Nr. R 76, S. 82 (Abb.). Otto Breicha, Durchstrich, Anstrich, Zustrich. übermalungen und Verdekkungen (1971): A. Rainer, Hirndrang, aaO, S. 61f. Otto Mauer, Pilger zum Absoluten. Rainers übermalungen und Monochromien (1960): ebd, S. 58. ebd, S. 58. ders., Rainer schafft Vorgänge (1961): ebd, S. 58.
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Louis Chardon versucht, herauszustellen, daß durch die Zumalung der Kreuze der Gekreuzigte in seiner wirklichen und eigentlichen Bedeutung viel klarer geschaut werden könne. Die Finsternis, die die Seele umgibt, »läßt sie das ewige Licht viel klarer schauen als die Erleuchtungen, die ihr genommen wurden «35. Diese Deutung forderte den Spott der Kunstkritiker heraus. So setzt sich Jürgen Morschel 1960 mit Otto Mauer und Louis Chardon auseinander und geht von der These aus, daß religiöse Terminologie für den Bereich des Ästhetischen ungeeignet sei - auch wenn die übermalungen zu religiösenInterpretationen verlockten -, »und diese möglichkeiten nutzen denn die avantgardistischen patres und interpretieren mit aller unpräzisheit und unklarheit ... «36 Morschel stellt fest, daß auf den übermalungen Rainers nichts als eine schwarze Fläche zu sehen sei, diese aber suggerieren wollten, darunter sei ein Mensch, der Ozean, das Kreuz Christi oder ein Kopf. »das alles steht nicht als diskutierbare form, sondern mystifiziert von der schwarzen fläche als unantastbares ding - gegen das sich nichts sagen läßt, das sich nur anrufen läßt - hinter der fläche«37. Man müsse Rainer glauben, »daß hinter seinen schwarzen flächen: menschen, was~er, christus ist«38. Wenige Jahre nach Mauer und Chardon hat der Kunsthistoriker Werner Hofmann eine Interpretation der übermalungen in post-christlichen Kategorien versucht. Wenn im Zusammenhang der übermalungen von »Askese« gesprochen werden könne, dann nur in dem Sinne, »als Rainer auf die divertierenden, kulinarischen Möglichkeiten der Malerei verzichtet«39. An die Stelle des Ausgelöschten - Hofmann spricht nicht wie Otto Mauer von einem Verbergen - setzte Rainer den »manischen, immer wieder neu anhebenden Malakt, der ununterbrochen Bild für Bild malt und übermalt. Hinter diesen Ikonen der leeren Fülle steht das Wunschbild des überbildes, das alle Malerei in sich zusammenfaßt, das sie endlich zu sich selbst gelangen, zum All-Einen vordringen läßt. Daraus folgt ... , daß in diesem Anspruch die Theologisierung der Malerei vorgetragen wird.«40 In einem über zehn Jahre später veröffentlichten Beitrag versucht Hofmann dann, die übermalungen Rainers in Analogie zum Kreuzestod' Christi zu sehen. Rainer hat selbst einmal seine übermalungen als »Abtötungsübungen« bezeichnet; durch die übermalung geschieht Abtötung 35 Louis Chardon O.P., Kreuz und Nacht, zitiert nach: Zweite, aaO, S. 15. 36 ]ürgen Morschei, Kreuz und Nacht. Zu den übermalungen von Amulf Rainer: Diskus. Frankfurter Studentenzeitung 10/1960, Heft 6, S. 9. 37 ebd, S. 9. 38 ebd, S. 9. 39 Werner Hofmann, Durch Absage ermächtigt (1968): Arnulf Rainer, Hirndrang, aaO, S. 76. 40 ebd, S. 76.
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eines Bildinhaltes. Indem nun Rainer sein Werk fortwährend tötet, so Hofmann, »hält er sein Werk am Leben,' ritualisiert Rainer die Kunstübung zum Opfertod, der Leben verheißt, setzt er für das christliche Thema des Erlösertodes ein anschaubares Gleichnis«41. Der Linzer katholische Theologe Günter Rombold, der bewußt eine Auseinandersetzung mit Hofmann umgeht, sieht in den übermalungen ähnlich wie Mauer und Chardon einen Ausdruck mystischer Erfahrungen: Das letzte Geheimnis entzieht sich dem Zugriff. Dies gelte sowohl für das Geheimnis des Ich, wie auch für das Geheimnis des Absoluten, da beide in Bezug zueinander stünden 42 . So kann Rombold von einer »Verweiskraft« der Kreuzesübermalungen Rainers »auf die letzte Wirklichkeit und ihr undurchdringliches Geheimnis«43 sprechen, die ungleich stärker sei als die der vielen deutlichen und doch nichtssagenden Kruzifixe, die uns umgeben. Rombold sieht zwischen der streng geometrischen Figur der Kreuzesübermalungen und der rinnenden Farbe eine starke Spannung, bei der »Assoziationen an das am Kreuz vergossene Blut«44 geweckt werden. »Es ist auch so, daß hinter vielen übermalungen dann das Kreuz nicht mehr sichtbar ist«, sagt Arnulf Rainer 1981. »Ich habe gesehen, daß ich nicht zu Rande komme mit einer sehr figürlichen, realistischen Kreuzesdarstellung und habe das Kreuz als Bild sozusagen von vorn hineingenommen und da hineingearbeitet.«45 Zwei Jahrzehnte zuvor hat sich Rainer noch wesentlich emphatischer zu dieser Werk gruppe geäußert. In seinem Text »Kontemplative Malerei« versuchte er, die Entstehung eines Bildes mit dem Vorgang der Kontemplation zu vergleichen. »Ist christliche Kunst Anbetung, dann wäre die traditionelle figurative Malerei >betrachtendes Gebet< (Johannes vom Kreuz), welche zwar eine unumgängliche, aber untere Gebetsstufe ... ist ... Kontemplation meint still werden, und der Malerei fällt es zu, die Imagination permanent auszulöschen, damit Sein unschaubares, unvorstellbares Bild IN UNS aufleuchtet.«46 Damals wollte Rainer in der Malerei eine der Annahme der Agonie im Sinne der Passion Christi vergleichbare Situation schaffen, die auf der Ebene der Imagination eine Reinigung der Vorstellungswelt bedeutet. 41 W. Hofmann, Jenseits des Schönheitlichen. Einführung im Katalog zur Rainer-Präsentation anläßlich der Biennale in Venedig 1978: A. Rainer, Hirndrang, aaO, S. 126. 42 G. Rombold, Kruzifikationen, aaO, S. 47; ders., » ••• meine eigene Verwandlung und Auflösung«. Arnulf Rainer Arbeiten zu den Themen Kreuz und Tod: Kunst und Kirche 41/1978, S. 167-170. 43 ders., Kruzifikationen, S. 47. 44 ders., Verwandlung, S. 167. 45 A. Rainer über seine Kru~ifikationen: Kunst und Kirche 44/1981, S. 29. 46 A. Rainer, Kontemplative Malerei: Panderma. Revue de la fin de l'homme 3/1960, o.S.
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Arnulf Rainers übermalungen und Zumalungen spiegeln so die Erfahrung der Unverfügbarkeit des Bildes des Gekreuzigten und stellen einen Protest gegenüber Konsumverhalten dar. Die übermalungen, die als negative Reaktionen auf das überangebot an optischen Reizen in unserer Industriegesellschaft verstanden werden können47 , werden dort, wo sie sich mit der Form des Kreuzes beschäftigen, zu einem Protest gegen das überangebot an Bildern des gekreuzigten Christus, gegen schöne Kruzifixe und gegen die Verharmlosung des Kreuzes Christi.
Erfahrung der Identifikation: Körpersprache In enger Nähe zu den Kreuzübermalungen steht eine Reihe von Zeichnungen auf Millimeterpapier aus dem Jahre 1967, die sich mit dem Gesicht Christi beschäftigen. Diese Zeichnungen können als eine Brücke von den übermalungen zu den »Face Farces« und der »Körpersprache«, wie auch zu den »Kruzifikationen und Christusköpfen « verstanden werden, weil sie die rein formale Ebene des Kreuzes nun auch im Bild eindeutig verlassen und hinüberführen zum Gesicht Christi48 . Das Blatt» Jesus Christus, 1967«49 - wie die anderen auf Millimeterpapier, um den Gegensatz zur Struktur der Zeichnung hervorzuheben - zeigt unter einer hastigen überstreichung mit Olkreide Gesicht, Dornenkrone, schulterlanges Haar, Bart und Kreuzzeichen auf der Stirn eines traditionellen Christusantlitzes. Ein Jahr später dann, 1968, beginnt Arnulf Rainer sich fast ausschließlich mit Fotodokumentationen seines eigenen Gesichtes (die sog. »Face Farces«), später dann auch seines Körpers (»Körpersprache«) zu beschäftigen. Er dokumentiert im Foto Nerven- und Muskelspannung und korrigiert und koloriert diese dann auf der meist im Format 50 X 60 cm gehaltenen fotografischen Vergrößerung mit Farbstift und Olkreide. Bis 1975 entstehen insgesamt etwa 250 solcher Arbeiten. »In den Jahren 1968 und 1969 begann ich, nachts fast jede Woche auf den Wiener Westbahnhof zu gehen. Dort steht eine Fotoautomatenkabine, die nicht nur Paßbilder, sondern auch Postkartenporträts auswirft. Untertags störten mich immer wieder die Leute, die vor der Kabine ungeduldig warteten«50, beschreibt Rainer seine ersten Schritte mit dem 47 A. Zweite, aaO, S. 17. 48 A. Rainer, Kruzifikationen 1951-1980, S. 51 (Abb.). 49 A. Rainer, Jesus Christus, 1967, Olkreide/Klebestreifen/Mmpapier, 42 X 30 cm: ebd, S. 50 (Abb.). 50 Wolfgang Hartmann, »Face Farces« von Arnulf Rainer. Zu einem Aspekt künstlerischer Selbstdarstellung in der Gegenwart: Rainer-Retrospektive 1950-1977, aaO, S. 22.
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Medium Fotografie. Später arbeitete er mit einem eigenen Fotografen. Drei Phasen führen ihn zu solchen Selbstreproduktionen seines Gesichts oder seines Körpers: Zunächst entsteht die eigentliche Fotoaufnahme. Darauf folgt die Auswahl aus »Hunderten von Momenten«, wie Rainer sagt, und schließlich, oft Wochen danach, eine abermalige Selektion und Korrektur durch das überzeichnen mit dem Pinsel oder mit ölkreide. Diese überzeichnungen des eigenen Gesichtes und Körpers - die Posen oft durch die Beschäftigung mit psychopathologischem Material angeregt51 - sind »Akzentuierung und Ordnung« der »durch die Grimasse aufgedeckten Grundstrukturen des Unterbewußten, also Manifestationen von seelischen Zuständen, die der rationalen Kontrolle nicht unterworfen sind. In der Körpersprache nimmt für Rainer die psychische Struktur des Menschen Gestalt an. «52 Arnulf Rainer spricht von präverbalen Verhaltenselementen und frühkindlichen Kommunikationsformen, die er auf dem Weg über die Bilder entdecke. »So betreibe ich Kunst als anthropologische Erforschung, denn der Mensch ist nur ein ... Klumpen Keime, Möglichkeiten, von denen er nur wenig ahnt, die meisten apriori ablehnt.«53 Zu diesen von Rainer entdeckten Möglichkeiten gehört auch die körpersprachlich vollzogene Identifikation mit dem Gekreuzigten. Auch in diesen von der Aktion geprägten Bereich hat Rainer das Thema Kreuz integriert. Zwei Bildtypen stehen dabei im Vordergrund: zum einen Rainer selbst in der Pose des Gekreuzigten, zum anderen das Einbeschreiben der Kreuzform in seinen Körper bzw. das Einbeschreiben seines Körpers in die Kreuzform. Die nachträgliche überarbeitung des Fotos versucht, die erstarrte Situation zu aktualisieren. »Obwohl das Foto in seiner Ausdruckshaltung vorproduziert ist, scheint Rainer in seiner Gebärdensprache auf die malerische Aktion zu reagieren, so als träfen ihn seine Pinselhiebe oder die Attacken seines Bleistiftes unmittelbar selbst.«54 Auf der »Selbstkruzifikation, 1973«55 (Tafel I) ist Arnulf Rainer nackt mit nach oben ausgebreiteten Armen, geöffneten Handflächen und geneigtem Kopf in der Pose des Gekreuzigten zu sehen. Die durch seinen Körper gebildete Vertikale und die Horizontale der Arme sind T-förmig
51 Vgl dazu Ernst Schagerl, Aneignung und Verarbeitung psychopathologischen Materials bei Arnulf Rainer. Hausarbeit Hochschule für Angewandte Kunst in Wien, Wien 1979 (masch.). 52 W. Hartmann, aaO, S. 35. 53 A. Rainer, Ein Klumpen Keime (1972): ders., Hirndrang, aaO, S. 101. 54 D. Honisch, Einführungstext, aaO, S. 130. 55 A. Rainer, Selbstkruzifikation, 1973, Olkreide/Foto, 60X50 cm: ders., Kruzifikationen 1951-1980, S. 53 (Abb.).
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mit ölkreide nachgezeichnet; eine Zick-Zack-Linie durchkreuzt den Körper. Der graue Fotogrund auf dem Blatt »Im Kreuz, 1973«56 ist wie ein blockförmiges Kreuz geschnitten. In dieses Kreuz ist Rainers Körper aus der Vogelperspektive fotografiert - einbeschrieben. über das Gesicht zieht sich das Hemd hinunter ein dicker ölkreidestrich, unter dem nur das linke Auge hervorblickt, und in Höhe der Schultern verläuft ein dünner, elegant geschwungener Querstrich. Auf dem Blatt »Verkehrtes Kreuz (Schwert), 1975«57 sind Kopf und Schultern Rainers zu sehen. Die Augen sind geschlossen, als würden sie Schmerz und Verwundung hinnehmen. Ein auf dem Kopf stehendes, in das Bild eingezeichnetes Kreuz spaltet das Gesicht der Länge nach; der Querbalken verläuft durch den Mund. In ähnlicher Weise wird eine Kreuzform auf den Körper Rainers auf dem Blatt »Brustkreuz, 1974«58 gezeichnet. Das Kreuz, selbst wiederum mit Strichen überzeichnet, ist auf die nackte Brust Rainers aufgetragen. Auch für diesen WerkbereiCh hat Werner Hofmann eine Interpretation versucht, die sich post-christlicher Kategorien bedient. Wiederum in Analogie zu einer christlichen Theologie der Kreuzesnachfolge spricht er davon, daß die formalen Eingriffe der überzeichnung die Bilddokumente »in dem Maße intensivieren, mit Leben und Energie aufladen, in dem sie es verletzen«59. Hofmann geht hier sogar so weit, von einem stellvertretenden Leiden des Künstlers für den ahnungslosen Kunstfreund zu sprechen. »Wenn Rainer uns ... als tragischer Clown entgegentritt, stellt er sich ... nicht gleich einem ästhetischen Exponat zur Schau. Er exponiert sich vielmehr im Sinne von >sich aussetzen<. Er ist die Wunde, die er heilen möchte, doch zugleich leidet er stellvertretend für den ahnungslos >glücklichen Kunstfreund<.«60 Das Christusbild stelle für Rainer hier eine der »Grundfiguren« des Menschlichen dar, die neben die antiken Figuren Apollon und Marsyas getreten sei und die Häßlichkeit als ein Merkmal des Kreatürlichen herausgestellt und zugleich überwunden habe61 . Wenn Arnulf Rainer sich in den »Face Farces« und der »Körpersprache« selbst als Gekreuzigter erlebt oder unter der Last des Kreuzes zu leiden scheint, so liegt hier eine Identifikation des Künstlers mit Christus vor.
56 A. Rainer, Im Kreuz, 1973, Olkreide Foto, 61 X 50 cm: ebd, S. 52 (Abb.). 57 A. Rainer, Verkehrtes Kreuz (Schwert), 1975, Mischtechnik/Foto, 59X42,3 cm: ebd, S. 52 (Abb.). 58 A. Rainer, Brustkreuz, 1974, Olkreide/Foto, 61 X48 cm: ebd, S. 53 (Abb.). 59 W. Hofmann, Jenseits, aao, S. 130. 60 ebd, S. 131. 61 ders., Einführung zur Ausstellung »Amulf Rainer: Kruzifikationen 19511980«, Hamburg, Hauptkirche St. Jacobi (masch. vervielf.), S. 3.
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Diese Ich-Christus-Identifikation - um mit Horst Schwebel zu sprechen 62 - muß jedoch nicht apriori zu den von Hofmann gezogenen Konsequenzen führen, sondern kann ein in der Kunstgeschichte von Dürer über Rembrandt bis Herbert Falken praktizierter Weg sein, den Gekreuzigten durch Identifikation zu erleben. Identifikation mit dem Gekreuzigten -muß nicht zugleich An-die-Stelle-des-Gekreuzigten-setzen bedeuten. Somit liegen hier im Bild Erfahrungen des Künstlers mit dem Gekreuzigten vor, die sich über die Körpersprache artikulieren 63 . Schmerz und Verwundung werden dabei zugleich als Eröffnung neuer und fruchtbarer Perspektiven erlebt 64•
Erfahrung der Aneignung: Christusköpfe Die letzte zu behandelnde Werkgruppe bilden die »Christusköpfe und Kruzifikationen«, die Arnulf Rainer 1979/80 beschäftigt haben. Es handelt sich um die überzeichnungen fotografischer Reproduktionen historischer Kruzifixe, die entweder nur das Gesicht Christi oder aber den ganzen Kruzifixus zeigen. Es ist die einzige Werkgruppe Rainers, die sich ausschließlich mit dem Christusbild beschäftigt. Sie steht in enger Beziehung zu vorausgehenden Serien wie den »Totenmasken«65 oder der überzeichnung historischer Vorlagen wie zum Beispiel Arbeiten Rembrandts. Auch bei den »Totenmasken« bildeten fotografische Reproduktionen plastischer Vorlagen das Ausgangsmaterial ; Rainer beschäftigte sich auf seiner Suche nach den letzten Spuren menschlicher Körperlichkeit mit den Gipsabgüssen verstorbener historischer Persönlichkeiten. Wie bei den Totenmasken, so sind auch bei den Christusköpfen die Linien der überzeichnung und überarbeitung schwerfälliger und schwerer geworden. Die malerische Aktion ist stärker als in den früheren Fotoserien unmittelbar mit dem Gegenstand verbunden und aus ihm heraus entwickelt. Sie scheint den Ausdruckswerten der Gesichter angeglichen und nicht mehr wie früher auferlegt66 . Beim »Christuskopf 1979«67 ist die rechte Hälfte des historischen Vorbildes zugemalt. Die Augen des Christusgesichtes sind gebrochen und schwarz 62 63 64 65 66 67
H. Schwebei, aaO, S. 23 u.ö. Vgl. dazu die »Ponraitstudien« von Herbert Falken. W. Hofmann, Jenseits, aaO, S. 128. A. Rainer, Totenmasken, München 1978. D. Honisch, Einführungstext, aaO, S. 170. A. Rainer, Christuskopf 1979, Tusche/Repro/Aluplatte, 30X25 cm: ders., Kruzifikationen 1951-1980, S. 58 (Abb.).
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umrahmt, die Pupille ist stechend eingetragen. Schwarze Linien umrahmen das Gesicht, und der Blick wirkt durch die übermalung nicht mehr vertraut, sondern fremd; er erschreckt den Betrachter. Auf dem Blatt »Christuskopf 1980«68 ist der Kopf des ursprünglichen hoheitsvollen romanischen Kruzifixus schwarz hinterfaßt und erscheint die linke Gesichtshälfte dunkel vor hellem Hintergrund. Wie eine schwarze Maske dagegen ist der »Christuskopf 1979/80«69 übermalt und überzeichnet. Augen und Nase sind hell ausgespart, und ein schwarzer dichter Linienkranz umgibt den Kopf, dessen Augen durch die übermalung starr hervortreten. Das »Dunkelblaue Kreuz 1980«70 (Tafel Ir) ist eine auf eine Aluminiumplatte aufgetragene fotografische Reproduktion eines gotischen Kruzifixus, der dick dunkelblau zugemalt ist. Nur der geneigte Kopf des sterbenden Christus ist noch zu erkennen, und die Farbe läuft wie Blut in mehreren Schichten von dem zugemalten Körper herab. In ganz ähnlicher Weise vollzieht sich auf der »Kruzifikation, 1979«71 ein Farbrausch an einem romanischen Kruzifixus. Nur Kopf und Korpus, nicht aber die Arme sind unter der hellblauen, gelben und roten Zu deckung sichtbar. Die »Kruzifikation, 1979«72 zeigt mit Farbe nachgefahrene Umrisse eines Kruzifixus, die vor allem den Kopf herausheben. Die Linien um die ausgebreiteten ans Kreuz genagelten Arme sind tänzerisch gezogen und erinnern fast an Flügelschwingen. Düsterer ist die Stimmung auf dem Blatt »Kreuz Christus Baum 1980«73. Ein Liniengeflecht deckt den räumlich dahinter befindlichen, am Kreuz hängenden Christus zu. Er hängt dort wie unbeachtet. Auch auf dem Blatt »Nebelchristus«74 tritt der Gekreuzigte zurück. Er ist überzeichnet und schimmert nur noch schematisch durch, wie vor einer Wand, die das Kreuz verhüllt und nur noch Spuren erkennen läßt. In dieser letzten Werkgruppe laufen zum Thema Kreuz die Linien des Gesamtwerkes Rainers zusammen. Hier hat die Beschäftigung mit dem 68 A. Rainer, Christuskopf 1980, farbige Tusme/Reproduktion, 20,5 X 15,5 cm: ebd, S. 63 (Abb.). 69 A. Rainer, Christuskopf 1979/80, ölkreide/Tusche auf Papier: ders., Christusköpfe+Kruzifikationen, Graz 1980, Abb. Nr. 9. 70 A. Rainer, Dunkelblaues Kreuz, 1980, öl/FotolAlu, 72,5 X 50 cm: ders., Kruzifikationen 1951-1980, S. 57 (Abb.). 71 A. Rainer, Kruzifikation, 1979, öl/Repro/Aluplatte, 30X25 cm: ebd, S. 70 (Abb.). 72 A. Rainer, Kruzifikationen, 1979, öl/Repro/Aluplatte, 30X25 cm: ebd, S. 76 (Abb.). 73 A. Rainer, Kreuz Christus Baum 1980, ölkreide/Tusche auf Papier: ders., Christusköpfe, aaO, Abb. N r. 11. 74 A. Rainer, Nebelchristus 1980, ölkreide auf Papier: ebd, Abb. Nr. 17.
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Thema Kreuz ähnlich wie es sich bereits bei den Zeichnungen des Christusgesichtes auf Millimeterpapier andeutete, den Bereich des eher NichtGegenständlichen, des rein formalen, der Kreuzung von Vertikale und Horizontale verlassen und Gestalt angenommen. Es ist nicht mehr der eigene Körper oder das eigene Gesicht Rainers, es sind nicht mehr fremde Totenmasken, sondern Darstellungen Christi aus der Tradition, mit denen sich Arnulf Rainer hier auseinandersetzt. Obwohl oder gerade durch die malerische Korrektur der Fotos erhält das Gesicht Christi neu Konturen. Dieser Vorgang auf der Ebene des Bildes findet seine umgekehrte Entsprechung im Bereich des Verbalen. In dem Augenblick, wo das Bild Deutlichkeit zeigt, zieht Arnulf Rainer sich in seinen Interpretationen zurück. »Eines spezifischen Kommentars über diese Bildthematik will ich mich aber enthalten«, formuliert er 1980 im Vorwort zu einer Publikation von 17 Christusköpfen und Kruzifikationen im Originalformat. Er will vor allem religiöse Deutungen seiner Kruzifikationen, wie er ausdrücklich betont, unterlaufen. »Ich war mir über vieles im Unklaren, stehe selbst in Nacht, Finsternis und Nebel ... Persönliche, subjektive, psychologische, analytische Theoreme sind dem Thema wenig angemessen. Eine starke persönliche Faszination von >Kreuz und Nacht< gibt mir die Kraft zur Werksetzung, ich möchte alle Aspekte dieser Bilder erst langsam mit mir selbst ausmachen.«75 Arnulf Rainers Christusköpfe und Kruzifikationen sind aus einem »Willen zum Dialog« 76 heraus entstanden. Wenn für Rainer schon bei seinen »Face Farces« und der »Körpersprache«, wie er 1973 formuliert, die überzeichnung der Fotografie »eine Akzentuierung, eine Wiederdynamisierung des erstarrten Moments«77 bedeutete, so stellen seine Beschäftigungen mit den historischen Kruzifixen und Christusgesichtern Erfahrungen einer neuen Aneignung solcher historischen Christusbilder dar. Die übermalung versucht, den Blick auf das Wesentliche zu lenken, neue Aspekte über vertraute Sehgewohnheiten hinweg herauszuarbeiten, Verlorengegangenes wieder sichtbar zu machen. Rainer Volp hat herausgearbeitet, daß sich der Betrachter des Gekreuzigten vielzusehr an idealisierte Bilder gewöhnt habe, die die Aufgabe des Andachtsbildes nicht mehr erfüllen könnten, nämlich die Idolisierung eigener Vorstellungen durch den Bezug auf den Gekreuzigten zu überwinden. Gewohnheiten würden den unbefangenen Bezug zum Gemeinten
75 ebd, o.S. 76 A. Rainer, Ausstellungskatalog Berlin, S. 118: Das, was Rainer hier über seine Messerschmidt-Uberzeichnungen sagt, kann auch für die Christusköpfe gelten. 77 A. Rainer, Spuren (1973): ders., Hirndrang, aaO, S. 117.
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überdecken. ] edes Bild, das jemand von Christus gestalte, wolle höchst individuelle Bezüge herstellen - dies aber werde von den meisten gewohnten Bildern verhindert. »Die Massierung von Reproduktionen des Gekreuzigten als Kunstgegenstand läßt viele Menschen diesen Bezug nur noch höchst verfremdet, d.h. stereotypisiert ahnen.«78 Die überarbeitungen historischer Kruzifixe durch Arnulf Rainer würden dieser Tendenz entgegenwirken. 50 konzentriert sich Arnulf Rainer nach Volp auch deshalb auf die zentrale christliche Aussage des Gekreuzigten, weil sie »eine Herausforderung darstellt, sich nicht des Gegenstandes, den er malt, zu bemächtigen« 79. Dieser überblick über die einzelnen Werk gruppen Arnulf Rainers und das Thema Kreuz und Christusbild hat gezeigt, daß diese Bilder nicht am Rande stehen, sondern eine zentrale Aussage Arnulf Rainers bilden. Dabei hat die Frage, ob sich Arnulf Rainer selbst als Christ versteht, keine Rolle gespielt80 , da es bei dieser Untersuchung vor allem um die im Bild, also auf der ästhetischen Ebene zu beobachtenden Erfahrungsphänomene gegangen ist. Dabei ist auch deutlich geworden, daß die Bedeutung des Kreuzes für Arnulf Rainer eine vielschichtige ist und sich nicht ausschließlich auf das Kreuz Christi beschränkt, wohl aber wichtige Bezüge vorhanden sind. In diesem Punkt ist Arnulf Rainer mit ]oseph Beuys zu vergleichen, in dessen Gesamtwerk auch das Kreuz und die Gestalt Christi immer wieder erscheinen 81 . Aufgabe dieses Beitrags war, das kunsthistorische Material für einen theologischen Dialog mit den Christusbilderfahrungen des Künstlers Arnulf Rainer aufzuarbeiten und Entwicklungen deutlich zu machen. 50 stellen die Erfahrungen Rainers mit dem Christusbild für die theologische Arbeit einen Blick über den eigenen Horizont hinaus dar, der kritische Anstöße und Anregungen vermitteln kann. In einem Beitrag über die Erfahrungen von Künstlern mit der Kirche hat Rainer 5chmidt seine Erwartungen an die zeitgenössische Kunst formuliert, die mir auch für
78 Rainer Volp, Christusbilder von Arnulf Rainer: Kunst und Kirche 44/1981, S.27. 79 ebd, S. 27. 80 V gl Kurt Lüthi, Das Ende des Christusbildes in der modernen Malerei. Ein Beitrag zum Gespräch mit der bildnerischen Kunst: Zeitschrift für Evangelische Ethik 10/1966, S. 271, Anm. 50: »Die persönliche Confessio eines Künstlers garantiert in keiner Weise die Echtheit, Güte und Qualität des Kunstwerkes. Ausschlaggebend soll nur das künstlerische Können sein. Es ist durchaus damit zu rechnen, daß Künstler, die sich verbal gegen den Glauben aussprechen, in ihrer Kunst Werke schaffen, die dem Glauben dienen können.« 81 Vgl zu Beuys: Klaus Raschzok, Bilder der Erniedrigung. Tendenzen 1m Christusbild der Gegenwart: Kirche und Kunst 59/1981, S. 29-39.
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die Beschäftigung der Theologie mit den neuen Christusbildern wichtig erscheinen: »Ich erwarte von der bildenden Kunst nicht in meinen (Vor)Urteilen bestätigt, auch nicht unbedingt erfreut, aber zum Nachsinnen bewegt zu werden. Wo solche Bewegtheit zustande kommt, wird man auf dem Weg der Kunst und der Begegnung mit ihr - ganz unabhängig davon, was da an >Christlichem< ist oder nicht - dem Geheimnis des Lebens auf der Spur sein.«82
82 Rainer Schmidt, Dem Geheimnis des Lebens auf der Spur. Einer Umfrage unter Künstlern nachdenkend: Kontext Kirche. Ausstellungskatalog Darmstadt 1981, S. 57. Die Vorlagen für die beiden Bildtafeln (S. 112/113) wurden freundlicherweise vom Atelier Arnulf Rainer, Wien, zur Verfügung gestellt.
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RICHARD RIESS
Die verborgene Dimension Zur religiösen Erfahrung in unserer Zeit
.. Als Levi Jizchak von seiner Fahrt zu Rabbi Schmelke von Nikolsburg, die er gegen den Willen seines Schwiegervaters unternommen hatte, zu diesem heimkehrte, herrschte er ihn an: >Nun, was hast du schon bei ihm gelernt?< >Ich habe erlernt<, antwortete Levi Jizchak, >daß es einen Schöpfer der Welt gibt.< Der Alte rief einen Diener herbei und fragte den: >Ist dir bekannt, daß es einen Schöpfer der Welt gibt?<> Ja<, sagte der Diener. >Freilich<, rief Levi Jizchak, >alle sagen es, aber erlernten sie es auch«l
1. Religion - Widerstreit und Wiederentdeckung Religion, Glaube, Theologie - so kann man aus dieser Geschichte schließen - sollen er-fahren und er-lernt werden. Es genügt nicht, die Wahrheit des Glaubens nur zu kennen. Sie müssen auch den Weg von außen nach innen gegangen sein. Nun läßt sich nicht leugnen, daß gerade unser Zeitalter mit seinen pädagogischen und therapeutischen Zielsetzungen eines »learning'by do,ing« (J ohn Dewey); 'und eines» livinglearning« (Ruth Cohn) sich für diese Einsicht neu öffnet. Wir sind somit Zeugen einer Wende, die sich in vielen Bereichen der Pädagogik und der kirchlichen Praxis anbahnt. Die religiöse Sozialisation in Familie, Kirche und Schule ist von dieser Wende nicht unberührt geblieben. Das alles ist nicht selbstverständlich. Denn gerade am Verständnis von Religion und Religiosität haben sich die Geister bislang geschieden. Wir haben in unserer Generation noch Anteil an einer konfliktreichen Geschichte, die bekanntlich bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Hatte Religion beispielsweise zu Zeiten eines Johann Gottfried Herder (»Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen«, 1798), eines Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (»Reden über die Religion, an die Gebildeten unter ihren Verächtern«, 1799) oder eines Georg Wilhelm Friedrich Hegel (»Phänomenologie des Geistes«, 1807) noch die Bedeutung eines universalen Entwurfs, so verlor sie mit KarI Barth und dem Aufkommen der Dialektischen Theologie ihren Charakter
1 Martin Buher, Die Erzählungen der Chassidim. Zürich 1949, S. 331.
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als fundamentale Dimension im Dasein des Menschen und in der Geschichte der Menschheit. Mehr noch. Religion wird nunmehr - nach dem. Ende der Liberalen Theologie - sogar als ein Werk verstanden, mit dem der gottlose Mensch Gott vorzugreifen sucht. »Religion - so Karl Barth in Band I/2 seiner Kirchlichen Dogmatik - ist Unglaube, Religion ist eine Angelegenheit, man muß geradezu sagen: die Angelegenheit des gottlosen Menschen.«2 Der Mensch sucht sich in Gestalt der Religion ein Machwerk zu erstellen und sich mit seiner Hilfe der Macht Gottes zu entziehen: »Religion von der Offenbarung her gesehen wird sichtbar als das Unternehmen des Menschen, dem, was Gott in seiner Offenbarung tun will und tut, vorzugreifen, an die Stelle des göttlichen Werkes ein menschliches Gemächte zu schieben, will sagen: an die Stelle der göttlichen Wirklichkeit, die sich 'uns in der Offenbarung darbietet und darstellt, ein Bild von Gott, das der Mensch sich eigensinnig und eigenmächtig entworfen hat.«3 Barths Beurteilung der Religion als eines »menschlichen Gemächtes« ist gewiß auch Ausdruck jener Erschütterung, die schon während des Ersten Weltkriegs und danach das Abendland erfaßt hat. Die Vorstellung von der religiösen Autonomie des Menschen und die politisch-theologische Verknüpfung von Thron und Altar waren im Grauen des Krieges untergegangen. So wird diese Bewertung der Religion zu einem exemplarischen Ausdruck von Barths Theologie der Krise, so werden Begriffe wie »Abstand«, »Diastase« oder »unendlich qualitativer Unterschied zwischen Gott und Mensch« zu Schlüsselwörtern einer bedeutenden Theologie. Demgegenüber erfährt das Thema »Religion« in der Theologie von Paul Tillich eine gänzlich andere Beurteilung. Tillich folgt nicht dem dualistischen Muster der Diastase. Er geht vom Modell der Korrelation aus, demzufolge Religion und Offenbarung aufeinander bezogen sind wie Frage und Antwort. Daß der Mensch sich sein Heil schließlich mit Hilfe der Religion schaffen könnte oder möchte - dieses Problem stellt sich so für Paul Tillich nicht. Eine der grundlegenden Aussagen der Theologie von Tillich lautet ja gerade: Der Mensch kann niemals Antwort sein. Er ist bestenfalls die Frage, die er mehr oder weniger explizit stellt. Zugleich aber bezieht sich jede echte Antwort auf eine Frage, wie auch die Offenbarung Gottes auf die existentielle und religiöse Frage des Menschen antwortet - und eben nicht in erhabener Manier an der Situation des Menschen vorbeigeht. »Offenbarung ist eine Antwort, die nur dann verstanden werden kann, wenn zuvor eine Frage gestellt wurde. Antworten ohne vorausgehende Fragen sind sinnlos. Daher muß der Offenbarung das Fragen nach der Offenbarung vorangehen, aber dieses Fragen ist nicht möglich ohne irgendeine Kenntnis des Gegenstandes, nach dem gefragt 2 Kar! Barth, Kirchliche Dogmatik I/2. Zürich 61975, S. 327. 3 ebd., S. 329.
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wird. Das heißt: Das Fragen nach der Offenbarung setzt Offenbarung voraus und umgekehrt, sie sind voneinander abhängig. Der Anfang der Religionsgeschichte ist eine Frage, die eine Anwort enthält, und eine Antwort, die eine Frage enthält. Der Mensch in der Geschichte ist niemals ohne Offenbarung, 'und er ist niemals ohne die Frage der Offenbarung. Das letztere bedeutet, daß sich der Mensch niemals rühmen kann, daß sein Bild von Gott dem wirklichen Gott entspricht, aber das erstere bedeutet, daß der Mensch niemals von Gott verlassen und von ihm getrennt ist.«4 Gottes Offenbarung geht nicht an der Situation des Menschen vorbei Situation als eine Chiffre verstanden, die in umfassender Weise die Wirklichkeit des Menschen charakterisiert. In welcher Situation, in welchem geistes geschichtlichen, gesellschaftlichen und globalen Rahmen findet sich nun der heutig,e Mensch vor? Welche Maßstäbe, Werte und Ziele bestimmen seine Wirklichkeit?
H. Rationalität - Lehensprinzip und Leitbild unserer Welt
Man kann in unserer Zeit mit guten Gründen der Auffassung sein, mit der sogenannten Zweiten Aufklärung sei alles andere als das Goldene Zeitalter ausgebrochen. Im Gegenteil. Das apokalyptische Gefühl, wie es heutzutage allenthalben vorherrscht, wird eher noch den Eindruck verstärken, daß im Grunde schon die Erste Aufklärung gescheitert und an der Misere der Moderne schuld ist: Auf dem Gebiet der Wissenschaft hat sie uns ein horrendes Arsenal hochentwickelter Waffen beschert, auf dem Gebiet der Wirtschaft eine wachsende Kluft zwischen den Industrienationen und den Entwicklungsländern entstehen lassen, auf dem Gebiet moralischer Wertsetzung zu einer Reduktion ethischer Normen auf einseitige Prinzipien wie Rationalität, Funktionalität und Rentabilität geführt. Sind wir nach alledem so weit zu sagen: Das Schlüsselwort Kants von der Aufklärung als »Auszug des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«5 habe sich als der Sündenfall der Neuzeit herausgestellt? Wir sollten uns bei solchen Vorwürfen freilich hüten, einem gängigen kulturkritischen und romantischen Klischee zu erliegen und allzu schnell
4 Paul Tillich, Ges.W. VIII, S. 56. Vgl. auch Ges.W.V, 140ff X, 213ff. u.v.a. Syst. Theol. r. Stuttgart 1956. 5 Immanuel Kant, Werke in 6 Bänden, hrs:g. v. Wilhelm Weischedel. Wiesbaden/Frankfurt 1966, Band VI, S. 53.
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in die Klage über den Verfall der Neuzeit und den Niedergang der Kultur einzustimmen. Wie allen wesentliChen Vorgängen im Leben und in der Geschichte des Menschen ist auch dem Prozeß der Aufklärung ein wichtiges Kennzeichen eigen: ihre Ambivalenz. »Die Industriegesellschaften - urteilt earl Friedrich von Weizsäcker in einem Aufsatz über die Ambivalenz des Fortschritts - gehen in ihre Zukunft mit erschüttertem Selbstvertrauen und gewachsener Kritik aus der eigenen Mitte. Während der äußere Fortschritt, etwa in der Form des Wirtschaftswachstums, weiterhin erstrebt wird, ... wächst die Empfindung, ja die überzeugung, daß die entscheidenden Fragen damit überhaupt nicht berührt sind ... Wer (aber) ohne Wissen der Ambivalenz handelt, wird die Erfahrung der Ambivalenz machen, und ein großer Teil des Unglücks unter den Menschen entspringt daraus, daß sie diese Erfahrung nicht auf sich beziehen, sondern die Gründe der Ambivalenz nach außen projizieren, an meinem Mißerfolg sind dann stets die anderen sch:uld... Wir Menschen leben nicht einfach passiv getrieben in unserer eigenen Geschichte. Wir übernehmen Verantwortung für unser Schicksal, wir beurteilen es danach, was sein soll, wir denken moralisch. Die fundamentale Ambivalenz ist darum die Ambivalenz der Moral.«6 Im Sinne der fundamentalen Ambivalenz gilt es denn auch festzuhalten: Wir sind Erben der Aufklärung, einer überzeitlichen Denkbewegung, an deren vorläufigem Ende nicht zuletzt auch Errungenschaften wie die parlamentarische Demokratie, der soziale Rechtsstaat, die Formulierung der Menschenrechte und die Entwicklung einer Weltgesellschaft stehen. Sofern wir diese Seite der Ambivalenz nicht aus den Augen verlieren, können wir auch ihre andere Seite kritisch in Augenschein nehmen, auf die uns Kulturkritiker wie Ortega y Gasset, Arnold Gehlen oder Romano Guardini zu Recht aufmerksam machen: Daß die Aufklärung schlechterdings unser Schicksal geworden ist. Sie hat das Verhältnis des neuzeitlichen Menschen zur Geschichte, zur Natur, zu den Grundwerten und nicht zuletzt zu sich selbst in ungeahntem Ausmaß verändert. Tatsächlich hat die Reduktion privater und öffentlicher Tugenden auf das Prinzip der Rationalität die Fülle des Menschseins eingeengt und das Menschenbild vom »homo faber« entstehen lassen, an dem Wirtschaft und Wissenschaft trotz aller Alarmzeichen und Warnrufe weiterhin Maß nehmen. Mit ihren Teufelskreisen und ihren Zwängen zu mehr Produktion, Konsum und Perfektion hat die vom Menschen gebrauchte und mißbrauchte Technik etwas Totalitäres gewonnen und vieles von der Mannigfaltigkeit in unserer Welt verkümmern lassen. Der »technologische Mensch« (Viktor
6 earl Friedrich von Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie. München 1977, S. 63. 81.90.
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Ferkiss 7 ) entpuppt sich am Ende als der »eindimensionale Mensch« (Herbert Marcuse7), dem die Vielfalt und Vieldimensionalität des Lebens abhanden kommt, der mit Erlebnissen nichts anzufangen weiß und sie lieber in lauter Erklärungen auflöst - und das alles, ohne es z'u merken. In seinem Roman »Homo faber« läßt Max Frisch seine Hauptfigur bezeichnenderweise sagen: »Ich glaube nicht an Fügung und Schicksal, als Techniker bin ich gewohnt, mit den Formeln der Wahrscheinlichkeit zu rechnen. Wieso Fügung? ... Indem wir von Wahrscheinlichkeit sprechen, ist ja das Unwahrscheinliche immer schon inbegriffen und zwar als Grenzfall des Möglichen, und wenn es einmal eintritt, das Unwahrscheinliche, so besteht für unsereinen keinerlei Gr'und zur Verwunderung, zur Erschütterung, zur Mystifikation ... Ich habe mich schon oft gefragt, was die Leute eigentlich meinen, wenn sie von Erlebnis reden. Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Ich sehe alles, wovon sie reden, sehr genau, ich bin ja nicht blind. Ich sehe den Mqnd über der Wüste von Tamaulipas - klarer als je, mag sein, aber eine errechenbare Masse, die um unseren Planeten kreist, eine Sache der Gravitation, interessant, aber wieso ein Erlebnis? ... Ich sehe auch keine versteinerten Engel, es tut mir leid, auch keine Dämonen, ich sehe, was ich sehe: die üblichen Formen der Erosion, dazu meinen langen Schatten auf dem Sand, aber keine Gespenster. Wozu weibisch werden? Ich sehe auch keine Sintflut, sondern Sand, vom Mond beschienen, vom Wind gewellt wie Wasser, was mich nicht überrascht, ich finde es nicht fantastisch, sondern erklärlich. Ich weiß nicht, wie verdammte Seelen aussehen, vielleicht wie schwarze Agaven in der nächtlichen Wüste ... Ich kann mir keinen Unsinn einbilden, bloß um etwas zu erleben.« Später jedoch geht ihm unter dem Einfluß von Alkohol und unter Schrecken auf und er schreit heraus: »In eurer Gesellschaft könnte man sterben, man könnte sterben, ohne daß ihr es merkt, von Freundschaft keine Spur, sterben könnte man in eurer Gesellschaft! Und wozu wir überhaupt miteinander reden, schrie ich, wozu denn (ich hörte mich selber schreien), wozu diese ganze Gesellschaft, wenn einer sterben könnte, ohne daß ihr es merkt ... «8 Gewiß - an ein solches Ende muß der aufklärerische Prozeß nicht kommen. Man kann sich seine Entwicklung auch anders denken, als eine Art Entmythologisierung etwa, die der jüdisch-christliche Glaube - einer Deutung C. F. v. Weizsäckers zufolge - d,ieser Welt gegenüber vollzogen hat und vollziehen darf. Trotz ihrer Risiken und ihrer tragischen Rand-
7 Viktor Ferkiss, Der technologische Mensch. Mythos und Wirklichkeit des technologischen Zeitalters. Hamburg 1970. - Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied/Berlin 1970. 8 Max Frisch, Homo faber. Ein Bericht. Frankfurt 1965, S. 25. 28f. 8lf.
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erscheinungen bleibt hier die Rationalität »unter Gott«. Sie hat ihren Platz im Gesamtzusammenhang der Schöpfung. Wissenschaft und Glaube müssen sich aus dieser Sicht nicht widersprechen 9 • Der Wissenschaftler gebraucht seine Vernunft vielmehr in Verantwortung vor Gott und den Menschen. Was immer er auf makro- oder mikrokosmischem Gebiet erforschen mag - er folgt in jedem Fall sozusagen den Spuren Gottes in einem kosmischen Ganzen. Er arbeitet unter der forschungsleitenden Voraussetzung, daß Gott das Gegenüber dieser Schöpfung ist und bleibt. Von diesem Forschungsansatz hebt sich freilich in krasser Weise das heute vorherrschende Wissenschaftsverständnis ab. Die Weiterentwicklung vieler Wissenschaftsbereiche ist eher von der berühmten, vermeintlich wertfreien Aufforderung des Hugo Grotius bestimmt worden, man solle ein Staatswesen so gestalten, als ob es Gott nicht gäbe (»etsi deus non daretur«). Dieses Motiv hat schließlich eine streng rational orientierte Methodik ge'fördert, derzufolge der forschende Mensch als Subjekt der zu erforschenden Natur als Objekt gegenübertritt und derzufolge der organische Gesamtzusammenhang alles Geschaffenen zerrissen wird. Man mag sich fragen, ob diese Subjekt-Objekt-Spaltung, wie sie im philosophischen System von Descartes folgenschwer formuliert ist, nicht auch andere schicksalhaften SpaltUngen mitbedingt: die Isolierung des Intellekts von der ganzen Persönlichkeit oder die vermeintlich fortschrittlich~ Unterscheidung von Erklären und Verstehen. Mehr noch. Man mag sich sogar fragen, ob nicht der radikale Rationalismus überhaupt auf einer fatalen Fehlentscheidung beruht: Daß man das Wissenschaftsverständnis der Neuzeit von einer Negation (»etsi deus non daretur«) ableitet und man sich so eine freie, d. h. ideologiefreie Forschung im Sinne eines »Offenen Systems« verbaut. Das Opfer, das man damit der vermeintlichen Objektivität oder der Autonomie des rationalistischen Ansatzes z'u bringen bereit ist, besteht am Ende in der Isolierung spezieller und speziellster Forschungsaspekte und - nicht zuletzt - des Forschers selbst. Wird Gott als Gegenüber meiner Verantwortlichkeit abgesetzt, so treten sehr schnell andere Größen und »Götzen« an seine Stelle. Aus dem Autonomiebedürfnis des Menschen wachsen die Absolutheits- und Allmachtsansprüche der Vernunft, aus der - hart gesprochen - »Hure Vernunft« (M. Luther) wird unter der Hand sehr leicht eine »Herrin Vernunft«, die die ihr gesetzten Grenzen gerne verleugnet. Selbst ein so kritischer Geist wie Sigmund Freud hat der Versuchung nicht widerstehen können, aus dem Geschöpf Vernunft einen »Gott Logos«, zu machen und mit dieser Verabsolutierung die Grenzen der Schöpfung zu überschreiten. »Unser Gott Logos - so 9 Vgl zu diesem Ansatz die Arbeit von Hoimar von Ditfurth, Wir sind nicht von dieser Welt. Naturwissenschaft, Religion und die Zukunft des Menschen. Hamburg 1981.
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setzt sich Freud bekanntlich in der Abhandlung >Die Zukunft einer Illusion< mit seinem potentiellen Gesprächspartner auseinander - wird von diesen Wünschen verwirklichen, was die Natur außer uns gestattet, aber sehr allmählich, erst in unabsehbarer Zukunft und für neue Menschenkinder. Eine Entschädigung für uns, die wir schwer am Leben leiden, verspricht er nicht. Auf dem Wege zu diesem fernen Ziel müssen Ihre religiösen Lehren fallen gelassen werden. .. Sie wissen, warum. Auf die Dauer kann der Vernunft und der Erfahrung nichts widerstehen ... Die vom Druck der religiösen Lehren befreite Erziehung wird vielleicht nicht viel am psychologischen Wesen des Menschen ändern, unser Gott Logos ist vielleicht nicht sehr allmächtig, kann nur einen kleinen Teil von dem erfüllen, was seine Vorgänger versprochen haben. Wenn wir es einsehen müssen, werden wir es in Ergebung hinnehmen. Das Interesse an Welt 'und Leben werden wir darum nicht verlieren, denn wir haben an einer Stelle einen Anhalt, der Ihnen fehlt. Wir glauben daran, daß es der wissenschaftlichen Arbeit möglich ist, etwas über die Realität der Welt zu erfahren, wonach wir unsere Macht steigern und wonach wir unser Leben einrichten können. Wenn dieser Glaube eine Illusion ist, dann sind wir in derselben Lage wie Sie, aber die Wissenschaft hat uns durch zahlreiche und bedeutsame Erfolge den Beweis erbracht, daß sie keine Illusion ist.«lO Solche Spitzensätze des späten Freud stehen beispielhaft für die lange Tradition der Religionskritik, die sich allein schon im deutschen Sprachraum in vielen Facetten darstellt und darstellen ließe. Sie gleichen - ob n'un bei Feuerbach, Marx oder Freud - einem religiösen Bekenntnis gegenüber der Rationalität des Menschen und der noch ausstehenden' Menschheitsgeschichte. Den Generationen freilich nach Feuerbach, Marx und Freud, die auf dem Gebiet der Wissenschaft an die Grenzen des Machbaren und auf dem Gebiet der Wirtschaft an die Grenzen des Wachstums stoßen, geht mittlerweile auf, daß das Verständnis und das Vorgehen der modernen Wissenschaften genausowenig vom Menschen abzulösen und absolutzusetzen sind wie seine religiösen VorsteUungen. Die Illusion einer Zukunft, der wir heute zu erliegen drohen, besteht meines Erachtens darin zu meinen, daß die Vernunft in weit stärkerem Maße aus der Verantwortung des Menschen entlassen sei, als es seine religiösen Vorstellungen und Erfahrungen jemals waren.
10 Sigmund Freud, Ges.W. XIV. Frankfurt 41968, S. 378f.
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IH. Religiosität - verborgen unter den Realitäten unserer Welt
Jede Zeit ist - dem Wort des Historikers Leopold Ranke z'ufolge - unmittelbar zu Gott. Jede Zeit ist zugleich an ihren Zeichen zu erkennen. Ohne Zweifel gehört die Rationalität mit ihren Rahmenerscheinungen wie Emanzipation, Religionskritik und Wissenschaftsgläubigkeit zur Signatur unseres Säkulums. In der Einsamkeit seiner Zelle hat Dietrich Bonhoeffer sogar eine Zeit heraufziehen gesehen, in der diese Rahmenerscheinungen unter den Realitäten unserer Welt sogar überhandnehmen und das Säkulum seine wahre Säkularität zeigen wird: ein Leben ohne Religion. »Was mich unablässig bewegt - so Bonhoeffer in seinen Briefen aus der Haft -, ist die Frage, was das Christentum oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist. Die Zeit, in der man alles den Menschen durch Worte - seien es theologische oder fromme Worte - sagen könnte, ist vorüber, ebenso die Zeit der Innerlichkeit und des Gewissens, und das heißt eben die Zeit der Religion überhaupt. Wir gehen einer völlig, religionslosen Zeit entgegen. Die Menschen können einfach, so wie sie nun einmal sind, nicht mehr religiös sein ... «11 Die Aufbrüche der - vorwiegend kirchlich geprägten - Frömmigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg und die Wiederentdeckung einer - vielfach a'ußerkirchlichen - Religiosität in jüngster Zeit haben der Analyse Bonhoeffers bis auf weiteres nicht recht gegeben. Im Gegenteil. Man kann viele Phänomene anführen, in denen Religion als verborgene Dimension präsent ist: - das Erleben einer neuen Spiritualität und Spontaneität auf Kirchenund auf Katholikentagen, in Taize und anderswo, die Erneuerung von Meditation und Mystik, - das Entstehen vieler Religionen in Ost und West, - die neue Empfindsamkeit für ästhetische, persönliche und soziale Prozesse, - die Esoterik von glück- und heilversprechenden Strömungen (Astrologie, Drogenszene, »wilde« Psychotherapie), die Entscheid'ung für alternative Lebensformen oder - die Entdeckung der religiösen Dimension im politischen und sozialen Engagement, bei Bürgerinitiativen oder in der Friedensbewegung 12 • Welche Erklärung man auch immer für derlei Prozesse finden mag eines ist deutlich: Wir sind mit der religiösen Erfahrung in unserer Zeit keineswegs am Ende und wir gehen in absehbarer Zukunft auch nicht 11 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hrsg. v. Eberhard Bethge. München 91959, S. 178. 12 Siehe dazu Harvey Cox, Licht aus Asien. Stuttgart 1978.-Hubertus Halbfas, Religion. Stuttgart 1976, S. 215ff u.v.a.
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einem religionslosen Zeitalter entgegen - was nicht ausschließt, daß die Auswanderung aus der Kirche anhält. »Wir taugen nicht zu Ungläubigen - so zitiert Walter J. 'Hollenweger in diesem Zusammenhang ein Wort von Ernst Lange - Man braucht eine wahrhaft religiöse Inbrunst, um den Atheismus oder ein religionsloses Christentum, wenn es so etwas geben sollte, durchzuhalten.« Und er fügt hinzu: »Trotz der Ausräumung der Mythen aus der christlichen Theologie, der Verweisung des Heiligen Geistes in die Rumpelkammer der Abstraktionen, der Verharmlosung des Teufels, dem Lächerlichmachen der Engel durch die öffentlichen Sachwalter der Religion, ist die Religion nicht gestorben. Aber sie ist aus der Kirche ausgewandert, denn >der Mensch ist unheilbar religiös<<< (Berdjajew).1 3 Mit der folgenden Skizze möchte ich mich nun drei allgemeinen Grundformen religiöser Erfahrung zuwenden - Grunderfahrungen von Religiosität, die unter den Realitäten unserer Welt verborgen sind und doch durch den harten Realismus heutiger Realitäten noch hindurchschimmern.
1. Das Licht des Wortes
Aus meiner Sicht gehört der schöpferische Umgang mit dem Wort, vor allem in der Dichtung, zur Dimension des Religiösen. Denn mit der Frage nach dem, was ist, und nach dem, was bleibt, mit der Benennung dessen also, was über den Tag hinausreicht, rückt sie in die Nähe des Glaubens. Nicht selten erscheint sie sogar als Kleid des Glaubens. Marie Luise Kaschnitz hat ihr - meines Wissens - letztes Manuskript bezeichnenderweise unter das Motto gestellt: »Rettung durch die Phantasie«. In ihm wird spürbar, wie sich heute »das Reich der Dichtung« mit dem »Reich des Realismus« auseinandersetzt. Um einen Ausschnitt daraus zu zitieren: »In den letzten Jahren schafft sich eine neue Nüchternheit Raum, eine harte Aufrichtigkeit, die in das Reich der Phantasie kaum noch vorstoßen will. Kleine, sachliche Feststellungen, Schilderung von Wesensarten, Handkes belanglose und doch wichtige Erfahrungen. In solcher Kargheit tauchen dann, rätselhafterweise, die Namen alter Dichter und Maler noch einmal auf, so als gälte es, mit ihnen eine poetischere Zeit zu beschwören. Im großen ganzen wird aber nicht nur auf das Romantische, sondern auf alles Wegweisende durchaus verzichtet. Es gibt nur Signale und Notizen, Vorgefundenes, in den Zeitungen, Reklametexten, Bildberichten Gefundenes und nur wenig Verändertes taucht auf und erweist sich als durchaus nicht langweilig, durchaus nicht ohne Magie. 13 Walter J. Hollenweger, Wie aus Grenzen Brücken werden. Ein theologisches Lesebuch. München 1980, S. 164.
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In der Zukunft ist alles möglich, jede Entwicklung vorstellbar. Die Lust am Rühmen kann wiederkehren, so wie die Gottsuche wiederkehren kann. Es kann eine völlig neue lyrische Sprache entstehen, eine, die den Entdeckungen der Naturwissenschaft endlich wirklich Rechnung trägt oder eine andere, die die Züge der Industrielandschaft unverwechselbar zum Ausdruck bringt. Nur eines kann, meiner Ansicht nach, nicht eintreten: Die vielstimmige Sprache der Lyrik kann nicht für immer zum Schweigen kommen ... Ich würde sagen, daß nicht nur das Gedicht, sondern die ganze sogenannte >schöne Literatur< die Sprache des Lebens bereichert und auch, daß sie ihm die Wände einreißt, die ihn in seiner Alltagswelt einschließen, in einer Gefangenschaft, die ihn auf eine dumpfe Weise traurig macht ... Denn in der Natur des Menschen ist, wir sahen es, die Rettung durch die Phantasie vorgesehen. Es gehört zu seinem unveränderten Vermögen, Mythen und Religionen zu bilden oder diesen letzten kleinen Freiheitsraum, das Gedicht. In völlig technisierten Epochen kann er noch ein Ohr haben für Stimmen, die nicht von technischen Daten und nicht vom Soll und Haben sprechen. Er kann, von aller Rücksichtnahme auf traditionelle Stile befreit, neue Formen bilden und überraschendes zutage treten lassen. Es wird dann immer sein, wie wenn Wolken aufreißen, ein freierer Atem wird ihm gegönnt werden und ein weiterer Blick.«14 Es wird dann immer sein, wie wenn Wolken aufreißen, ein freierer Atem wird ihm gegönnt werden und ein weiterer Blick ... Nicht ohne Grund haben sich die menschlichsten Äußerungen des Menschen, der Glaube und die Klage, immer wieder in die Gestalt eines Gedichtes, eines Psalmes, eines Chorals oder einer Litanei gehüllt. Das Wort, dem sich der Glaube verdankt, ist der verdichteten Wirklichkeit des Mythos mehr verwandt als dem geradlinigen Wirklichkeitsbegriff des Logos. Unsere Welt bedarf des Mythos, der Phantasie und des schöpferischen Wortes. Unsere Welt braucht das Gedicht, weil sie die Freiheit braucht. Nicht ohne Grund sind die Dichter, die Liebhaber des Wortes, für Diktaturen besonders gefährlich - wenn sie und weil sie von einer unauslöschlichen Hoffnung, einer Vision, einem Glauben erfüllt sind. Die schöpferische Kraft zur Gestaltung und Veränderung hat die Dichtung freilich mit allen Künsten gemein. Wie der Lyrik, so geht es auch der bildenden Kunst, dem Schauspiel und der Musik darum, Leben aus dem Nichts zu schaffen und Licht in die Finsternis der Einsamkeit und des Schweigens zu bringen 15 • Selbst die frühen Geschichten der Kindheit
14 Marie Luise Kaschnitz, in: Süddeutsche Zeitung, 19.(20. 10. 1974, S. 164. 15 Zum Thema »Religion und Kunst« s. Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Band XV, hrsg. v. Gion Condrau, Zürich 1979. - Gerhard Marcel Martin, Kunst-Stücke. Zum Dialog zwischen Kunst und Glaube. München 1981.
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wie beispielsweise die Märchen mit ihren Grunderfahrungen von Abschied und Heimkehr, Kampf und Frieden, Ausweglosigkeit und Erlösung vermitteln eine Ahnung davon, daß im Leben und Sterben des Menschen mehr geschieht, als was vor Augen ist 16 • Die Sprache eines Gedichtes, eines Kunstwerkes oder einer Geschichte steht für die Gestaltung von Leben aus dem Nichts und angesichts des Todes. Die schöpferische Sprache wird - so gesehen - zu einem Gradmesser von Hoffnung und Freiheit. »Es wird - mit M.L. Kaschnitz gesprochen - dann immer sein, wie wenn Wolken aufreißen.« Zugleich aber - das- wäre die andere Seite der fundamentalen Ambivalenz - ist jeder Mensch anfällig für den Mißbrauch der Sprache: in Werbung, Propaganda und Magie. Weil Sprechen mit Sichöffnen, Hören und Empfangen zu tun hat, sind beide, der Sprechende und der Angesprochene, auf Vertrauen angewiesen. Der eine und der andere geraten an eine Grenze, nämlich die Entscheidung, sich einzulassen oder nicht. Jeder gerät an jene Schwelle, wo er die Erfahrung macht: Das Wort, das Leben schafft, will geschenkt und empfangen werden - wie das Leben selbst.
2. Die Spuren von Transzendenz in der alltäglichen Welt
Es gibt - das wollte ich darlegen - eine religiöse Dimension des Wortes, das Licht in die Dunkelheiten des Menschen bringt. Ich frage mich nun freilich auch, ob mit dieser Ansicht nicht eine Asthetisierung des Wortes betrieben wird, die allzu leicht vom Boden der Wirklichkeit abhebt. Beschränkt sich die Sensibilität für das schöpferische Wort dann nicht doch auf eine Bildungselite? Das kann wohl, das muß aber nicht zwangsläufig so sein. Daß ein Wort einen Menschen bis in die Tiefe seines Lebens trifft, hängt zum Glück von mehr ab als von Bildung oder dem Gebrauch der Wörter. Die Bedeutung des Märchens (nicht nur) für die Kindheit des Menschen, aber auch die Begegnung mit einem Won in verschiedensten Lebenssituationen - beim Abschied oder bei einem Krankenbesuch, bei der Trauung oder an einem Grab - weisen uns daraufhin, daß das lebendige Wort durch alle Wörter zum Menschen kommt. Das Ergriffenwerden übersteigt letzten Endes das Begreifenkönnen. Was für eine tiefgreifende Erfahrung kann es doch sein, wenn ein Mensch von einem anderen Men-
16 Die Bedeutung der Märchen für die religiöse Entwicklung; des Menschen rückt zunehmend ins Blickfeld. Vgl dazu beispielsweise Jürgen J anning, Gott im Märchen. Kassel 1982. - Hermann-Josef Perrar, Mit Märchen dem Leben zuhören. Anleitung zur Arbeit mit Märchen im Religionsunterricht. Düsseldorf 1979. - Oskar Randak, Das Märchen. Ein Spiegelbild der Grunderfahrungen und der religiösen Dimension des Menschen. Düsseldorf 1980.
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schen das scheinbar einfache und doch schwere Wort hört: Ich liebe dich. Es gibt eine religiöse Dimension des Wortes. Es gibt darüberhinaus auch eine religiöse Dimension in den Vorgängen der all täglichen Welt, dem ungeübten Auge verborgen und doch aufzufinden. Karl ] aspers hat in dem Zusammenhang von »Chiffren der Transzendenz« gesprochen, die sich in den Grundsituationen und den Grenzfällen des Lebens äußern: dem Kampf und dem Leiden, dem Sterben und dem Zufall, dem Erleben von Schuld und der Frage nach dem Bösen in der Welt - kurzum Erfahrungen, die alle innerweltlichen Erklärungsversuche übersteigen, »transzendieren«. »Transzendenz« - so ]aspers - »ist uns gegenwärtig, wo die Welt nicht mehr als das aus sich selbst Bestehende, als das an sich Seiende, das Ewige, sondern als ein übergang erfahren wird.«17 Ähnlich wie der Philosoph Karl ]aspers hat sich auch der Soziologe Peter L. Berger darum bemüht, Spuren der Transzendenz in der alltäglichen Welt auszumachen und ihre Tragweite für das Menschsein des Menschen aufzuzeigen. Er nennt fünf Gebärden, Gesten oder Grundzüge - Zeichen der Transzendenz, die sich in der Wirklichkeit des Alltags vorfinden und doch zugleich über sie hinausweisen: den Hang zur Ordnung, das Spiel, die Hoffnung, die Verdammnis und den Humor. Auf den ersten Blick etwas fremdartig anmutend und doch anschaulich ist beispielsweise das Argument der Ordnung. »Man denke nur - schreibt P. L. Berger - an die wohl fundamentalste aller Ordnung stiftenden Gesten - die der ihr Kind beruhigenden Mutter. Das Kind erwacht - vielleicht aus schweren Träumen - und findet sich allein, von nächtlicher Dunkelheit umgeben, namenloser Angst ausgeliefert. Die vertrauten Umrisse der Wirklichkeit sind verwischt, ja unsichtbar. Chaos will hereinbrechen. Das Kind schreit nach der Mutter. In einem solchen Augenblick ist der Ruf nach der Mutter, ohne übertreibung, der Ruf nach der Hohenpriesterin der Ordnung. Die Mutter - und vielleicht nur sie - hat die Macht, das Chaos zu bannen und die Welt in ihrer Wohlgestalt wiederherzustellen. Genau das tut die Mutter. Sie nimmt das Kind in den Arm und wiegt es in der zeitlosen Gebärde der >magna mater<, die unsere Madonna geworden ist. Sie zündet ein Licht an, und warmer, Sicherheit verheißender Schein umgibt sie und ihr Kind. Sie spricht zu ihrem Kind, sie singt ihm ein Schlummerlied. Und der Grundtenor ist auf der ganzen Welt immer und immer derselbe: >Hab' keine Angst<, >alles ist in Ordnung<, >alles ist wieder gut<. Das Kind schluchzt vielleicht noch ein paarmal auf und gibt sich allmählich zufrieden. Sein Vertrauen zur Wirklichkeit ist zurück gewonnen, und in diesem Vertrauen kann es wieder einschlafen... Die Rolle, die Eltern ihrem Kind gegenüber einnehmen, ist die von Repräsentanten nicht nur irgend17 Karl Jaspers, Chiffren der Transzendenz. München 1972, S. 42.
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einer Gesellschaftsordnung, sondern von Ordnung als solcher, jener Grundordnung (oder Regel) der Welt (oder des Universums), daß unser Vertrauen einen Sinn hat (oder sinnhaft ist). Diese Rolle ist es, die Eltern zu Hohenpriestern macht. Die Mutter in unserer Szene spielt die Rolle, einerlei ob sie ihrer gewahr ist (wahrscheinlich ist sie es nicht), ohne daß sie weiß, daß und was sie repräsentiert. >Alles ist in Ordnung<, >alles ist wieder gut< - das ist die Grundformel mütterlichen, elterlichen Trostes. Nicht nur diese eine Angst, dieser eine Schmerz - nein, alles ist in Ordnung. Man kann die Formel, ohne sie in irgendeiner Weise anzutasten, in eine kosmische Aussage übersetzen: >Vertraue dem Sein.< ... Anders ausgedrückt: Im Mittelpunkt der Menschwerdung, im innersten Kern der Humanitas steckt ein Erlebnis des Vertrauens in die Wirklichkeit der Ordnung beziehungsweise die Ordnung der Wirklichkeit.«18 Selbst durch die Grundsituation des Alltags - darin möchte ich dem Ansatz P. L. Bergers folgen - schimmern Anzeichen der Transzendenz. Selbst durch Grundbegriffe, denen auf den ersten Augenschein hin nichts Metaphysisches anhaftet, wird eine Aura frei, die sich in bloße Begrifflichkeit nicht fassen läßt. Atem - fällt mir ein - und Blüte, Fest, Glück, Heilung, Kind, Leib, Menschlichkeit, Nacht, Schicksal, Traum, Verlassensein, Wunder, Zeit. Mehr noch. Das Beispiel mit der Ordnung von P. L. Berger macht uns darauf aufmerksam, daß sich in den Grunderfahrungen des Menschen vielfach Vorgänge des Transzendierens widerspiegeln, übergänge sozusagen von einem Raum zum anderen und von einer Zeit zur anderen. Die beruhigende und wiegende Mutter vollzieht - genau betrachtet - eine Symbolhandlung. Mit diesem Verhalten geschieht wie bei allen Symbolhandlungen eine Versöhnung von Grundkonflikten und von Gegensätzen: aus Angst wird Vertrauen, aus Einsamkeit wird Gemeinsamkeit. Symbole und Symbolhandlungen vermitteln übergänge, allerdings auf verborgene und verschlüsselte Weise. Solche übergänge geschehen häufig in unserer Welt: von Freude zu Trauer, von Nacht zum Tag, von Wachen zum Träumen, von Nüchternheit zum Rausch, von SdlUld zu Vergebung, vom Innen zum Außen, vom Ich zum Du, vom Leben zum Sterben und vom Sterben zum Leben. Mit diesen Beispielen mag uns deutlich werden, wie sehr unser Leben in dieser Welt ständig in Bewegung begriffen ist. Offenbar gehört der übergang, das Transzendieren, die Kategorie des »Zwischen« (Martin Buber) zur Grundstruktur menschlichen Lebens. Wir dürfen vermuten, daß auch die Religiosität des Menschen - vielfach unter den Erfahrungen des Alltags verborgen - immer wieder im übergang begriffen ist: vom Verborgenen ins Offenbare, von der Vermutung in die Hoffnung. Die Bereitschaft zu Offenheit - das wiederum ist die andere Seite der 18 Peter L. Berger, Auf den Spuren der Engel. Frankfurt 1970, S. 82f.
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fundamentalen Ambivalenz-wird freilich oftmals ausgenutzt: Sekten, die die Sehnsucht nach dem »verlorenen Paradies«, nach Glückseligkeit und Heil, schüren, ziehen viele Menschen in ihren Bann. Ganze Industrien und internationale Organisationen vertreiben Rauschmittel, mit deren Hilfe die vielfach harte Realität unserer Zeit zurückgelassen werden soll. Wie Pilze schießen selbsternannte »Psychotherapeuten« aus dem Boden und benutzen die weltweite Sehnsucht nach Erfüllung, Selbstgewißheit und Frieden. Weil das ekstatische Moment als ein wesentliches Element zum Leben des Menschen gehört, gerät jeder Mensch immer wieder an eine Grenze, an der die Entscheidung fällt: den Mut zum übergang zu finden oder nicht. Er gerät an jene Schwelle, wo er die urmenschliche Erfahrung macht: Die entscheidenden Lebensprozesse vollziehen sich immer wieder als ein übergang, als ein Transzendieren des Augenblicks und als ein Transzendieren des Augenscheins - so wie das Leben selbst ein offener Prozeß und ein ständiges Werden ist.
3. Die Suche nach Sinn »Das Menschengeschlecht - so der tschechoslowakische Philosoph Milan Machovec - hat bewundernswerte Erfolge errungen. Das Weltall steht ihm offen. Doch was ist aus dem Einzelnen geworden, aus dem menschlichen Individuum? Er kommt auf die Welt, entwickelt seinen Verstand, wächst heran, arbeitet, erlebt seine Freuden, erträgt seine Leiden und verläßt die Welt wieder ... Es nimmt nicht wunder, daß der Mensch sich angesichts dieses Lebens häufig bewußt die Frage stellt: Welchen Sinn hat dies alles? Weshalb leben wir? ... Solche Gedanken stellen sich ein. Seit Menschengedenken drängen sie sich auf nicht zu allen Zeiten in derselben Form, doch im Kern immer gleich. Aber nicht jedem - viele Menschen leben, ohne über solche Probleme nachzudenken. Die meisten tun dies nur ausnahmsweise. Allerdings gibt es Augenblicke, in denen fast jeder Mensch solche Fragen stellt: gewöhnlich bei familiären oder gesellschaftlichen Schicksalsschlägen, beim Tode eines teuren Menschen, beim Ausbruch eines Krieges oder bei lebenswichtigen Veränderungen. In solchen Situationen gelangt auch der einfache Mensch - herausgerissen aus den Banden überkommener Traditionen - zur Frage nach dem Sinn des Lebens ... «19 Die Frage nach dem Sinn des Lebens wird in der Tat zu einer Frage des überlebens. Nicht nur zu Zeiten, wo wir »aus den Banden überkommener Traditionen herausgerissen« werden. Offensichtlich kann kein Mensch seine Tage, Wochen und Jahre verbringen, ohne sie auf j
19 Milan Machovec, Vom Sinn des menschlichen Lebens. Freiburg 1971, S. 17.19.
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irgendeine Weise zu einem Ganzen zusammenzufügen. Denn ohne eine übergeordnete Deutung, ohne ein Sinnganzes, müßten sie Bruchstücke bleiben, Fragmente, die im Fluß des Lebens dahintreiben. Spätestens aber mit dem Tod eines Menschen wird die Frage nach dem Ganzen seines Lebens gestellt. Die Frage nach dem Sinn des Lebens bleibt freilich nicht auf eine extreme Situation wie das Sterben oder andere Grenzerfahrungen wie das Altern, Krankwerden oder Trauern beschränkt. Sie ist auch für die Anfänge und die Alltage des Lebens unentbehrlich. Rene Spitz hat das mit seinen Untersuchungen an Säuglingen, Viktor E. Frankl mit seinen Erfahrungen im Konzentrationslager aufgezeigt20 . Wo nur noch Sinnlosigkeit zu spüren ist, siecht und stirbt der Mensch dahin. Das Suchen und Finden von Sinn aber läßt nicht selten sogar jene »Physiologie der Hoffnungslosigkeit« (Alexander Mitscherlich21 ) überstehen, die in der Stumpfsinnigkeit mancher Angst, mancher Schuld und manchen Leidens zum Ausdruck kommt. Jeder Mensch ist deshalb von Kind auf danach aus, seine Angst, seine Schuld und sein Leiden in einer Art »Lebensplan« (Charlotte Bühler) oder einer Art »Lebensskript« (Eric Berne) mehr oder weniger bewußt unterzubringen. Sören Kierkegaard sah hinter diesem Motiv ein lebenswichtiges Konzept: »Es gilt eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit ist für mich, die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will.«22 Eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit ist für mich ... Max Horkheimer zum Beispiel hat in den »Notizen und Dämmerung«, seinen tagebuchartigen Aufzeichnungen, einen Abschnitt mit »Nach Auschwitz« überschrieben, in dem er die Wahrheit seines Lebens nach Auschwitz formuliert: »Wir jüdischen Intellektuellen, die dem Martertod unter Hitler entronnen sind, haben nur eine einzige Aufgabe, daran mitzuwirken, daß das Entsetzliche nicht wiederkehrt und nicht vergessen wird die Einheit mit denen, die unter unsagbaren Qualen gestorben sind. Unser Denken, unsere Arbeit gehört ihnen. Der Zufall, daß wir entkommen sind, soll die Einheit mit ihnen nicht fraglich, sondern gewisser machen. Was immer wir erfahren, hat unter, dem Aspekt des Grauens zu stehen, das uns wie ihnen gegolten hat. Ihr Tod ist die Wahrheit unseres Lebens, ihre Verzweiflung und ihre Sehnsucht auszudrücken sind wir da.«23
20 Rene Spitz, Vom Säugling zum Kleinkind. Stuttgart lf)67. - Viktor E. Frankl, Man's search for meaning. New York 1963. 21 Alexander Mitscherlich, Krankheit als Konflikt. Studien zur psychosomatischen Medizin, Band 2. Frankfurt 1969, S. 59. 22 Sören Kierkegaard, zitiert nach: Charlotte Bühler, Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem. Leipzig 1933, S. 107. 23 Max Horkheimer, Notizen 195'0 bis 1969 und Dämmerung. Notizen in Deutschland. Frankfurt 1974, S. 213.
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Eine Wahrheit, der sich ein Leben aufschließt, verleiht diesem Leben einen Sinn. überraschenderweise stammt nun die etymologische Bedeutung des Wortes »Sinn« nicht von dem lateinischen »sensus«, sondern von dem althochdeutschen »sinnan«. Es meint ursprünglich" »reisen, streben, gehen« - eine Bewegung jedenfalls, die noch in Begriffen wie »senden, Richtungssinn, Gegensinn« wiedergegeben wird. Manche der vielen Bedeutungen, die das Grimmsche Wörterbuch der deutschen Sprache verzeichnet, spiegeln auch die innere Bewegung des Wortes wieder: »eines Sinnes« zum Beispiel, »etwas im Sinn haben« oder »bei Besinnung sein«24. Die Suche nach Sinn wird jedoch von einer doppelten Dynamik bestimmt: einer Dynamik in Richtung von mehr Ganzheit, Integration, Erfüllung und einer Dynamik in Richtung von mehr öffnung, Aufbruch, Erweiterung. Sie ist - grob gesehen - nach innen und nach außen gerichtet. Darin gleichen sich die Suche nach Sinn und das Streben nach Selbstverwirklichung: Sich-treu-bleiben und Sich-Wandeln, Bei-sich-Sein und Aus-sichHerausgehen ergänzen sich. Hinter allem aber steht die uralte Frage: »Ich komm', weiß nit woher, Ich bin und weiß nit wer, Ich leb', weiß nit wie lang Ich sterb und weiß nit wann, Ich fahr', weiß nit wohin, Mich wundert's, daß ich fröhlich bin.«25 Ich fahr', weiß nit wohin ... Auch für den heutigen Menschen hat das Motiv des Fahrens, der Erfahrung, der Reise den Rang eines Mythos behalten, ja vielleicht in neuer Form bekommen: der Reise in fremde Länder, ins Innere der Kindheit und der Seele 26 . Auch wir sind Erben einer alten Sehnsucht: Daß die »Pilgrimschaft« auf dieser Erde zu einem Ziel führen möge. Hermann Hesse läßt an einer Stelle eine seiner Hauptfiguren, Hermine, zum Steppenwolf sagen: »Die Frommen haben doch am meisten davon gewußt. Sie haben darum die Heiligen aufgestellt und das, was sie >die Gemeinschaft der Heiligen< heißen. Die Heiligen, das sind die echten Menschen, die jüngeren Brüder des Heilands. Zu ihnen unterwegs sind wir unser Leben lang, mit jeder guten Tat, mit jedem tapferen 24 S. dazu ausführlich Helmut Gollwitzer, Krummes Holz-Aufrechter Gang. Zur Frage nach dem Sinn des Lebens. München 1971, S. 46f. 25 Hans Thoma, zitiert nach: Hubertus Halbfas, Das Menschenhaus. Zürich 1973, S. 66. 26 Vgl dazu Dorothee SöHe, Die Hinreise. Zur religiösen Erfahrung, Texte und überlegungen. Stuttgart 1975. - Peter Rosei, Von Hier nach Dort. Salzburg 1978. - Robert M. Pirsig, Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten. Frankfurt 1978.
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Gedanken, mit jeder Liebe. Die Gemeinschaft der Heiligen, die wurde in früheren Zeiten von Malern dargestellt in einem goldenen Himmel, strahlend, schön und friedevoll - sie ist nichts anderes als das, was ich vorher die >Ewigkeit< genannt habe. Es ist das Reich jenseits der Zeit und des Scheins. Dorthin gehören wir, dort ist unsere Heimat, dorthin strebt unser Herz, Steppenwolf, und darum sehnen wir uns nach dem Tod. Dort findest du deinen Goethe wieder und deinen Novalis und den Mozart, und ich meine Heiligen, den Christoffer, den Philipp von Neri und alle. Es gibt viele Heilige, die zuerst arge Sünder waren, auch die Sünde kann ein Weg zur Heiligkeit sein, die Sünde und das Laster ... Ach, Harry, wir müssen durch so viel Dreck und Unsinn tappen, um nach Hause zu kommen! Und wir haben niemand, der uns führt, unser einziger Führer ist das Heimweh.«27 Heilige, Heimat, Heimweh 28 - mit diesen Stichwörtern bringt Hermann Hesse eine Sehnsucht zur Sprache, die gerade die junge (und nicht nur die junge) Generation heute erfaßt: die Sehnsucht nach Sinnfindung, Selbstverwirklichung und Spiritualität, in der alles (nicht unbedingt kirchliche oder kirchenkonforme) Empfinden und Denken, Glauben und Hoffen aufgehoben sind. In vielen seiner Arbeiten hat Hesse einer doppelten Grunderfahrung Ausdruck verliehen: Ich kann in aller Sinnlosigkeit und Absurdität meinem Leben einen Sinn geben- aufbruchsbereit, bewußtwerdend, suchend. Ich kann dies letzten Endes aber nur, wenn ich Sinn empfange - annehmend, barmherzig, schweigend. Es wird dann indessen nicht so sein, daß ich den Sinn meines Lebens jeweils deutlich spüren und demonstrativ sichtbar machen könnte. Was sich als Sinn je und dann zeigen wird, wird keinerlei Sicherheit bieten. Wohl aber wird es die Ahnung von Heimat, Angenommensein und Liebe wachhalten. Die Suche nach Sinn und die Sehnsucht nach Heimat werden - dies wiederum als die andere Seite der fundamentalen Ambivalenz - heute auf vielfältige und verführerische Weise in Anspruch genommen: durch das Warenangebot der Wirtschaft, die mit wachsender Produktion und in Gestalt kommerzialisierter Werte den Hunger nach Sinn in unserer Welt zu stillen sucht, oder durch das Aufgebot von Ideologien, die mit der Plausibilität ihrer Dogmen und in Gestalt eines revolutionären Pathos die Sehnsucht nach Sinn erfüllung und Zukunft benutzen. Weil jeder Mensch sich immer wieder als unfertig erlebt und stets auf dem Weg, gerät er je und dann an eine Grenze und vor die Entscheidung: sein Herz an etwas Endliches zu binden oder das Heimweh in sich zu hören, von dem Hesse
27 Hermann Hesse, Die Romane und die großen Erzählungen, Band V, Der Steppenwolf. Frankfurt 1977. 28 Zum Thema »Heimat« und seiner Bedeutung s. auch Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Band 3. Frankfurt 1959, S. 1622ff.
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spricht. Er gerät an jene Schwelle, wo er die urmenschliche Erfahrung macht: Den Sinn für dieses mein Leben spüre ich allein tief in mir, und dies doch nur, wenn immer wieder auf wundersame Art eine Erleuchtung, Berührung und Inspiration von einem Anderen in mir geschehen - so wie mein ganzes Leben seinen Atem letztlich von einem Anderen bekommt.
IV. Zusammenfassung Religion ist weithin eine verborgene Dimension in unserer Welt. Sie wird es um so mehr sein, je mehr die Wissenschaftsgläubigkeit und das säkulare Lebensgefühl, die Religionskritik und die Verdrossenheit gegenüber der Institution Kirche anwachsen. Dennoch gibt es eine Reihe von Gründen, mit gutem Gewissen zu behaupten: Religion und Religiosität werden auch in absehbarer Zukunft nicht aussterben. Die Ausdrucksfähigkeit und die Ausdrucksformen der Religiosität werden sich bei einer anhaltenden Auswanderung aus der Kirche wohl verändern. Man kann aber gleichwohl von Konstanten der Anthropologie sprechen, die sich in der Kommunikation mit sich und mit dem Anderen widerspiegeln: Das Licht des Wortes, die Spuren von Transzendenz in unserer Welt und die Suche nach Sinn sind Argumente dafür. Nun ließe sich mit diesen Argumenten auch ein trinitätstheologischer Ansatz anschaulich machen: Das schöpferische Wort, das aus dem Nichts und im Angesicht des Todes Leben schafft, das Transzendieren von Grenzen sowie die Suche nach Sinn und die Ahnung von Heimat, Angenommensein und Liebe weisen - bei weiterer Betrachtung - auf das christliche Glaubensbekenntnis hin, demzufölge Gott mit seinem Wort Leben schafft, in seinem Sohn die Grenzen zum Menschen überschreitet und durch seinen Heiligen Geist neues Leben, Gemeinschaft und Zukunft schenkt. Es soll jedoch genügen, mit dem Thema »verborgene Dimension« eine Art »Theologie im Vorhof« (Fridolin Stier 29 ) anzudeuten. Eines sei aber nochmals betont: Religiöse Erfahrungen sind vieldeutig, verschieden auslegbar und - aufgrund ihrer Ambivalenz - auch ausnutzbar. Zum theologischen Verständnis von Religion und Religiosität gehört deshalb auch das Gespräch mit dem christlichen Glauben. Der christliche Glaube aber sollte sich nicht scheuen, dieses Gespräch in neuer Weise aufzunehmen. Denn er ist im Grunde ja selbst Religion - eine »getaufte« und gedeutete Religion. Wäre er es nicht, so würden ihm in der Tat die Tiefe und die 29 Fridolin Stier, Vielleicht ist irgendwo Tag. Aufzeichnungen. Freiburg/Heidelberg 1981.
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Universalität des Erlebens und der religiösen Erfahrung fehlen, von denen Paul Tillich immer wieder spricht: »Religiös sein bedeutet, leidenschaftlich nach dem Sinn unseres Lebens zu fragen und für Antworten offen zu sein, auch wenn sie uns tief erschüttern ... Die Wiederbelebung der Religion kann sich zu einer schöpferischen Kraft auswirken, wenn sie uns zur Suche nach der verlorenen Dimension der Tiefe treibt.«30
30 Paul Tillich, Die verlorene Dimension. Stuttgart 31969, S. 9. 49f.
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ELISABETH SCHREIBER
Emotionale Lernziele und die Kategorie der Erfahrung im Religionsunterricht
Mit dem Beginn der curricularen Diskussion innerhalb der Religionspädagogik kam es auch zur übernahme des didaktischen Terminus eines emotionalen Lernziels. Es besteht durchaus Konsens über die Notwendigkeit emotionaler Lernziele im Rahmen des Religionsunterrichts; jedoch darf dieser Konsens nicht darüber hinwegtäuschen, daß die religionspädagogische Fachdidaktik vor derselben Schwierigkeit steht wie alle anderen Fachdidaktiken, wenn es darum geht, verbindliche emotionale Lernziele auf der Feinzielebene zu formulieren, Fragen der Durchführbarkeit und der Operationalisierbarkeit zu diskutieren. Es wird dabei sogleich deutlich, daß dies nur geschehen kann, wenn gleichzeitig versucht wird, das jeweilige Verständnis von Religionsunterricht mitzubedenken. Das gilt analog für die Kategorie der Erfahrung. Je mehr befürwortet wird, daß Kindern und Jugendlichen Erfahrungsmäglichkeiten angeboten werden, desto schwieriger wird es, dies eingehend vorzuplanen, und desto evidenter werden Grundsatzfragen des Religionsunterrichts tangiert. Es ergibt sich die Frage, ob mit Hilfe von präzise vorgeklärten emotionalen Lernzielen eine Anbahnung von Erfahrungsmäglichkeiten in der Praxis des Religionsunterrichts erfolgen kann. Dazu muß zunächst nach dem zugrundeliegenden Verständnis von Religionsunterricht gefragt werden. In einem zweiten Schritt ist die Problematik der emotionalen Lernziele darzustellen; ferner ist ein Versuch, die Kategorie der Erfahrung näher zu bestimmen, notwendig. Erst dann kann die Frage im Blick auf die Praxis, mit evtl. Beispielen, noch einmal gestellt und vermutlich ansatzweise beantwortet werden 1 • 1. Religionsunterricht wird im Folgenden nach dem von K. E. Nipkow u. a. beschriebenen Konvergenzmodell verstanden, der von Kirche und Es wird darauf verzichtet, das Thema nur im Blick. auf eine Altersstufe zu bedenken. Es ist nur scheinbar leichter, in einer Grundschulklasse die »Zumutung zu überstehen, die das Kind dem Erwachsenen macht« (nach H. v. Hentig), und seine Anforderungen im Blick. auf emotionale Lernziele und Erfahrungen sind für den Lehrer ebenso schwer zu erfüllen - wenn er es ernst nimmt - wie bei Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Das Abstraktionsniveau der Gesprächsbeiträge ist in diesem Fall irrelevant.
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Schule gemeinsam verantwortet werden muß2. Er gehört zu den pädagogischen Aufgaben der Kirche, für die theologische Gründe vorrangig sind. Im Rahmen dieses Unterrichts geht es um »lebensbegleitende, erfahrungsnahe Identitätshilfe, christliche Verantwortungs ethik im Z.eichen der Rechtfertigungsbotschaft«. Damit wird schon angedeutet, daß Lebenshilfe und Seelsorge im weiteren Sinn zum Inhalt dieses Unterrichts gehören. übertragen auf die Lernzieldimensionen heißt das, daß cognitive, emotionale oder affektive und psychomotorische Lernziele die Unterrichtsplanung bestimmen müssen. Die Einbindung als ordentliches Lehrfach in die staatliche Schule ist juristisch zu sehen; die gemeinsame Verantwortung der Ziele erfolgt in dem Erziehungsgeschehen. Die schulpädagogische Diskussion der letzten Jahre, die von dem Schlagwort »Erziehungsnotstand« gekennzeichnet war, zeigt deutlich die Wiederbetonung des Erzieherischen; in der Formulierung der dafür aufgestellten Global- bzw. Richtziele wird zum einen deutlich, welche Schwierigkeiten entstehen hinsichtlich Erziehungsziel und Menschenbild in unserer pluralen Gesellschaft, und zum anderen, wie ungeklärt manche Termini sind bzw. wie offen sie in ihrer inhaltlichen Deutung bleiben 3 • So wie der allgemeine Erziehungsauftrag der Schule die bei jedem Kind anders erfolgte frühkindliche Sozialisation nur umrißhaft erfassen bzw. hier anknüpfen kann, so ist natürlich für den Religionsunterricht die religiöse Sozialisation, ihr Verlauf und ihre prägenden Erfahrungen zwar ein Faktum (auch wenn sie von den Eltern »nicht« geleistet worden ist), aber eben auch im Blick auf eine gemeinsame Ausgangsbasis für eine ganze Klasse nur sehr allgemein erfaßbar. Die religiöse Ansprechbarkeit eines Kindes, eines Jugendlichen wird von so vielen Imponderabilien bestimmt, die nur bruchstückhaft erkenbar sind, wenn überhaupt. Die emotionale Befindlichkeit spielt aber bei dem Sozialisationsprozeß und dem Enkulturationsprozeß eine eminente Rolle 4• Der Religionspädagoge, der seine Tätigkeit im Rahmen des oben skizzierten Theorie-Modells in der Schule versteht, hat die Möglichkeit, nach den zwei didaktischen Grundtypen, die heute unterschieden werden, nämlich bibelorientiert und themen-problemorientiert, an Hand der gül2 K. E. Nipkow, Grundfragen der Religionspädagogik, Band 2. Gütersloh 1975. V gl. dazu ferner auch die einschlägigen Veröffentlichungen von H. Angermeyer, H. B. Kaufmann u. a. 3 Es würde zu weit führen, diese Aussage näher zu belegen; es muß hierbei unterschieden werden zwischen den amtlichen Formulierungen in den einzelnen Bundesländern, die kontinuierlich Lehrpläne und Richtlinien usw. erstellen, und dem Stand der wissenschaftlichen Diskussion. 4 Vgl dazu E. Weber, »Emotionalität und Erziehung« in: Rolf Oerter/Erich Weber (Hrsg.), »Der Aspekt des Emotionalen in Unterricht und Erziehung«. Donauwörth 21975, S. 69ff.
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tigen Lehrpläne vorzugehen. Im Gegensatz zu den Konzeptionen früherer Jahrzehnte wird heute sehr zurückhaltend über den Religionslehrer formuliert 5 , aber seine tatsächliche Verantwortung ist noch gewachsen. Er muß sich nicht nur über seinen theologischen Auftrag klar sein; seine didaktischen Kompetenzen sind innerhalb der curricularen Rahmenpläne erheblich größer; die Vielfalt des Medienangebots und der Methoden fordern ihn in einem Maß, das früher nicht vorstellbar war 6 • 2. Emotionale Lernziele im Bereich der Schule und somit auch des Religionsunterrichts sind schon in der Reformpädagogik - die Zeit, von der die heutige Schulpädagogik im Grunde immer noch dabei ist, die dort entwickelten Grundsätze zu verwirklichen - formuliert worden7 • Wie weit sie durchdacht wurden, mag hier dahingestellt bleiben. Durch die - zumindest theoretisch - präzise Trennung der Lernziele nach den schon genannten Dimensionen innerhalb der Curriculumsentwicklung wurden sie in Lehrplänen und Modellen deutlicher akzentuiert, jedoch die damit verbundene Problematik ebenso präzisiert. Wenn nach F. Mager, S.B. Robinsohn u. a. 8 das entscheidende Kriterium für ein Lernziel dessen Operationalisierbarkeit ist, diese aber bei einem emotionalen Lernziel nicht analog zum cognitiven Lernziel durchgeführt werden kann, so muß schon hier eine psychologische Grundentscheidung als weiterführender Schritt in der Curriculumsentwicklung beachtet werden9 • Mit der öffnung zum nicht operationalisierbaren Lernziel ergeben sich zwei Probleme: einmal die Frage nach einer brauchbaren Taxonomie, deren verbale Formulierungen für den Praktiker 'Zur Verfügung stehen, und zum anderen die Frage, ob in der Praxis emotionale Lernziele ohne Verbindung zum Cognitiven formuliert und intendiert werden können 10 •
5 So ist z. B. die einzige Aussage über den Lehrer im Globalziel der' bayerischen ev. Lehrpläne die, daß »der Lehrer auch ein Fragender ist« (München 1972). 6 Damit wird notwendigerweise der heutigen religionspädagogischen Situation Rechnung getragen. 7 Es kann hier nur auf die klassischen Unterrichtsprinzipien und das Stichwort »Erlebnispädagogik« hingewiesen werden. 8 V gl dazu vor allem S. B. Robinsohn, Bildungsreform als Revision des Curriculum. Berlin 51975. 9 Auf die unterschiedlichen lern- bzw. entwicklungspsychologischen Prämissen in der Curriculums diskussion kann nicht näher eingegangen werden. 10 Das wird z. B. auch deutlich in den Versuchen, in Modellen zum RU sog. »intentionale« Lernziele aufzustellen in Ergänzung zu den drei allgemein akzeptierten Lernzieldimensionen.
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Einen ersten Versuch einer Taxonomie leistete K. Westphalenl l . Er schränkt jedoch sehr ein, indem er schreibt, der Bereich des Affektiven entziehe sich der Planbarkeit, sei dann aber wieder begrenzt überprüfbar. Zwei Lernzielbeschreibungen gibt K. Westphalen an: »Bereitschaft, Werte anzuerkennen und Freude bzw. Interesse an bestimmten Lerngegenständen« zu zeigen. Das reicht nicht aus für die Unterrichtspraxis, wenngleich schon dieses einfache Beispiel zeigt, daß auch eine umfangreiche Taxonomie keine Kriterien für die Entscheidung hinsichtlich der Vollständigkeit von Lernzielbeschreibungen leisten kann. J. Schofnegger und H. Zöpfl versuchen, die affektive Taxonomie nach Krathwohl/BloomfMasia für die Unterrichtsplanung praktikabel zu machen12 . Die fünf Kategorien - Aufnehmen, Reagieren, Werten, Wertordnung, Bestimmtsein durch--Werte- - habe~eine Zunahme der Internalisierung, Zunahme des Stärkegrades und der affektiven Tiefe gemeinsam. Schofnegger und Zöpfl weisen darauf hin, »... daß wir das affektive Kategoriensystem lediglich als >Systemkatalog< beim Suchen, Auffinden und Aufstellen von Erziehungszielen betrachten wollen.«13 L. Mauermann umschreibt diese Stufen ähnlich, aber schon präziser: sich eines Phänomens bewußt sein und fähig, es wahrzunehmen - bereit sein, auf das Phänomen aufmerksam zu werden - reagieren mit gefühlsmäßiger Anteilnahme gegenüber dem Phänomen - werten - Verhalten und Gefühle in Begriffe fassen, organisieren und strukturieren - höchster Grad der Internalisierung (die Werthierarchie ist zur Weltanschauung geworden)14. Diese Formulierungen zeigen bereits Beziehungen auf zu den sonst verwendeten Verben, wenn es darum geht, affektive Ziele zu nennen. L. Mauermann nennt auch die Gründe für die kaum mögliche Operationalisierbarkeit affektiver Ziele: sie lassen sich nicht kurzfristig erreichen, es fehlen geeignete Meßoperationen für das veränderte Schülerverhalten, es könne der Verdacht der Indoktrination aufkommen, die Originalität der Schüler könne (bei Meßvorgängen) eingeengt werden und die enge Verbindung von cognitiven und affektiven Lernzielen dürfe nicht übersehen werden 15 . Mit Recht weist deshalb R. Oerter darauf hin, daß positive Emotionen cognitive Prozesse fördern, die diese Emotionen unterstützen und umgekehrt 16 . Es kann jedoch in diesem Zusammenhang nicht 11 Vgl K. Westphalen, Praxisnahe Curriculumsentwicklung. Donauwörth 1973, S. 47f. 12 J. Schofnegger, H. Zöpfl, Affektive Ziele. München 1978. 13 aaO, S. 38. 14 L. Mauermann, Emotionale Lernziele in der Unterrichtsplanung in R. Oerter/E. Weber (Hrsg.), Der Aspekt des Emotionalen in Unterricht und Erziehung, S. 296ff. 15 aaO, S. 309ff. 16 R. Oerter, Was sind Emotionen? Sozialwissenschaftl. Erklärungsversuche und Befunde, aaO, S. 21.
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weiter auf die Problematik menschlichen emotionalen Lernens eingegangen werden, das nach R. Oerter »in der Hauptsache darin besteht, daß bestimmte Situationen bestimmte emotionale Erregung wecken« 17. Die entwicklungspsychologischen Fakten können hier ebenfalls nicht weiter dargestellt werden. Abschließend kann gesagt werden, daß sowohl SchofneggerJZöpfl als auch Mauermann die affektiven Lernziele als Erziehungsziele, d. h. dem Gesamt des schulischen Geschehens zugeordnet, darstellen, als auch Unterrich:tsverlaufsskizzen vorschlagen, die mit affektiven Zielen geplant werden18 . In dieser Doppelfunktion müssen affektive Ziele auch im Blick auf den Religionsunterricht gesehen werden. Es liegt auf der Hand, daß diese Trennung nur stärker theoretisch erfolgen kann; Beziehungsebene und Sachebene können im Blick auf den Unterricht sich nicht gegenseitig negieren in ihren Intentionen. 2.1 Es ist nun zu fragen, auf welche Weise der Religionspädagoge - unabhängig von seiner jeweiligen theologisch-pädagogischen Vorbildung sich die nötige Klarheit verschaffen kann hinsichtlich der emotionalen Lernziele, die im Unterricht, der ein Interaktionsprozeß - besser noch ein Kommunikationsprozeß - sein soll, trotz aller Schwierigkeiten anzustreben sind. Einen verpflichtenden Katalog, der erfüllt werden müßte, gibt es in diesem Sinne nicht. Der Religionslehrer muß im Rahmen der Schulziele seine Position als Erzieher profilieren. Es bleibt primär ihm überlassen, wie er mit seinen Emotionen im Unterricht umgeht, welche emotionale Atmosphäre er schaffen will, und welche langfristigen (s.o.) Ziele er im Unterrichtsprozeß verwirklichen möchte. Es ist selbstverständlich, daß diese Fragen für ihn nicht nur eine pädagogische, sondern auch eine theologische Dimension haben. H. v. Hentig spricht von einer schlechten Erziehung, wenn sie nicht aus Freude an dem, was das Kind jetzt ist oder sein kann, geschieht. So sind für ihn zwei Voraussetzungen eines g,uten Lehrers: »Er muß Kinder lieben, und er muß überzeugt sein, daß das, was er lehrt, wichtig ist. Es muß ihm zumindest selbst wichtig geworden sein.«19 2.2 Emotionale Lernziele werden in Religionslehrplänen und Unterrichtsmodellen auch expressis verbis jeweils Lerninhalten zugeordnet. Verwirrend und fragwürdig ist oft das Vokabular, das hierbei verwendet wird; das ist jedoch nach den o. g. Schwierigkeiten verständlich. Auch hier ist der Religionspädagoge in seinem praktischen Tun und der damit verbunde17 aaO, S. 60. 18 J. Schofnegger u. H. Zöpfl bringen ein Beispiel zum RU, S. 105ff. 19 H. Y. HentigJEngelbert Schinzler, Schule soll nicht nur Lernanstalt sein, in: Radius, 27. Jg., S. 47. Dieses Interview erschien zuerst in: Allgemeiner Schulanzeiger. Magazin für Lehren und Lernen. H. 3J1981, S. 100-106.
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nen Reflexion noch um einiges mehr gefordert, als wenn er sich nur mit cognitiven Lernzielen begnügen würde. In Unterrichtsstunden, die dem situativen Typ zuzuordnen sind, werden jeweils - oftmals latent, aber dafür um so deutlicher - emotionale Lernziele zumindest für den Lehrer in den Blick kommen; situativer Unterricht nimmt seinen Ausgang von der Betroffenheit eines oder mehrerer Schüler, aber auch des Lehrers, und verläuft von daher in den seltensten Fällen nur im cognitiven Bereich. Eine Zuordnung zu Lerninhalten kann dann erfolgen, wenn sich der Schüler emotional ansprechen läßt durch Betroffenheit, Identifikationsmöglichkeit, verbale und nonverbale Kreativität, Kommunikations- und Kooperationsmöglichkeiten. Entsprechend der curricularen Interdependence sind damit die Methoden und Medien zur Aneignung dieser Lerninhalte weitgehend fixiert. Dies soll an einigen Beispielen im letzten Abschnitt erläutert werden. So viel kann aber schon gesagt· werden: die Einbeziehung und Umsetzung von emotionalen Lernzielen im Unterrichtsprozeß wie auch deren Zuordnung zu bestimmten Lerninhalten versucht den Schüler ganzheitlich zu erfassen, ihn im - engen - Rahmen der Schule immer wieder zu Erlebnissen zu führen, wenn in auch noch so kurzen Phasen. Die Deutung dieser Erlebnisse kann für ihn Erfahrungswert bekommen, d. h. emotionale Lernziele intendieren und antizipieren bereits Erfahrungen. 3. Es fällt auf, daß emotionale Lernziele in Lehrplänen und Unterrichtsmodellen zum Religionsunterricht mit dem Verb »erfahren« formuliert werden 20 • Das zeigt zum einen, daß die jeweiligen Verfasser wohl wissen, wie wichtig die Kategorie der Erfahrung im Religionsunterricht ist; gleichzeitig ist man jedoch in vielen Fällen genötigt zu fragen, ob dieses Lernziel erreichbar sei bzw. von welchem Verständnis der Kategorie Erfahrung ausgegangen wurde; ob dabei nicht in einer unzulässigen Weise vereinfacht wurde 21 •
3.1 Th. Eggers geht in einer Studie dem Thema »Religionsunterricht und Erfahrung« im Blick auf Theorie und Praxis des Religionsunterrichts in der Primarstufe nach 22 • Dabei bezieht Eggers sich auf Befunde in der Praxis der letzten Jahre; er sieht bei der Analyse von Schulbüchern für 20 So z. B. im Curricularen Lehrplan für den Evang. Religionsunterricht an der Grundschule in Bayern. München 1972, S. 128, S. 144, S. 148. Mit dem Verb »erfahren« wird jeweils der personale Bezug zum Schüler hergestellt. 21 Die damit verbundenen Fragen hat H. Angermeyer sehr detailliert aufgezeigt: Die Kategorie der Erfahrung und der Religionsunterricht in: »Verstehen und Verantworten«. Stuttgart 1976, S. 141ff. 22 Th. Eggers, Religionsunterricht und Erfahrung. Zur Theorie und Praxis des Religionsunterricht in der Primarstufe. München 1978.
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den katholischen Religionsunterricht für die Primarstufe eine »zunehmende Wendung« von ausnahmslos biblisch-dogmatischen Inhalten des Religionsunterrichts hin zu » ••• einer immer stärker sich auswachsenden Ergänzung dieser Inhalte durch sogenannte problem- bzw. situationsbzw. erfahrungs orientierte Inhalte«23 und schließt daraus, daß der Begriff der Erfahrung zwar ein Schlüsselbegriff für die Religionspädagogik geworden ist, aber weitgehend ungeklärt und daher mehr den Charakter eines »postulativen Schlagwortes« behalten habe. Die Gründe dafür sind nicht nur innerhalb einer Neuorientierung der religionspädagogischen Fachdidaktik zu suchen, sondern hängen nach Eggers mit einer Vielzahl von Faktoren und Determinanten zusammen, die im Rahmen von gesellschaftlichen Zusammenhängen24 und innerhalb erziehungswissenschaftlichen Argumentationsversuchen 25 aufzeigbar sind, wobei hier die Differenzen zwischen den drei Theorietypen innerhalb der Erziehungswissenschaft26 mitgesehen werden müssen. Auch innerhalb der Didaktik weist Eggers die Verwendung der Kategorie Erfahrung nach und kommt zu dem Ergebnis, daß es hier um folgendes Verständnis gehe: »einerseits als Erfahrung des/der einzelnen mit der verhandelten Sache, andererseits als Erfahrung des/der einzelnen mit sich selbst, schließlich als Erfahrung des einzelnen mit den anderen einzelnen im sozial-kommunikativen Gefüge von Unterricht«27. Weiterhin untersucht Th. Eggers den Beitrag der anthropologisch gewendeten Theologie28 zum Verständnis des Erfahrungsbegriffs und zeigt dabei auf, daß mit der Aufnahme desselben auch seine »Frag-würdigkeit« in den Blick. kommt, d. h. seine Reduktion muß mitgesehen werden 29 . Zur weiteren Begriffserklärung zieht Eggers zunächst die sehr unterschiedliche Verwendung von >erfahren< und >Erfahrung< in der Alltagssprache heran und weist dabei auf die Mehrdimensionalität hin. Im Gegensatz zu den vorhergegangenen Ausführungen schreibt Th. Eggers folgendes: »Es mag überraschen, .daß in den Redeweisen der Alltagsprache der Begriff >Erfahrung, erfahren< nicht im Sinne 23 24 25 26
aaO, S. 9. aaO, S. 96ff. aaO, S. 1;01ff. aaO, S. 104. Eggers bringt dazu S. 109 eine Skizze, die das grundlegende Erfahrungsverständnis der Theorietypen der Erziehungswissenschaft verdeutlicht. 27 aaO, S. 115. Dazu ergänzend ist nom anzumerken, daß in profanen Lehrplänen - hier für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen - ein »nahezu synonymer Wortgebrauch von >erfahren< und >lernen< deutlich wird« (S. 119). 28 aaO, S. 120ff. 29 aaO, S. 131 Abb. 70 zeigt sehr deutlich die Stufen der Reduktion von »Erfahrung als Prozeß des Subjekts im Gang des Erkennens und Summe der Erkenntnis im Subjekt >bis< Erfahrung, diszipliniert als Methode (Experiment«.
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des Experiments als methodisch disziplinierte Erfahrung bzw. als Ergebnis derselben verstanden wird.«30 In Darstellungen zum Erfahrungsbegriff in ausgewählter wissenschaftlicher Literatur 31 untersucht Th. Eggers daraufhin, wie weit das vorwissenschaftliche Erfahrungsverständnis dabei bestätigt wird. Dies ist weitgehend der Fall und auch im Blick auf die einzelnen Strukturelemente der anthropologischen Kategorie der Erfahrung herrscht eine »relative umfassende übereinstimmung«32. Freilich wird auch in dieser knappen Darstellung deutlich, daß z. B. bei dem Verständnis von W. Brezinka oder O. F. Bollnow Akzentverschiebungen einzubeziehen sind. Auch E. Feifel, dessen Darstellung im Handbuch der Religionspädagogik33 sehr oft übernommen wird, sei hier speziell erwähnt, er begründet das religionspädagogische Interesse an der Kategorie der Erfahrung auch mit Impulsen, die aus der Psychologie aufgenommen werden. Th. Eggers schließt seine überlegungen mit einer Skizze zum Erfahrungsprozeß und den Erfahrungsdimensionen ab 34 • 3.2 Welche Konsequenzen können nun für den Religionsunterricht gezogen werden? Th. Eggers zeigt an Hand einer Skizze35 Erfahrung als die umfassende Kategorie für den Religionsunterricht, so daß er in einer ersten These sagen kann: »Der Religionsunterricht ist für den Schüler Erfahrungsfeld.« Er versteht ihn wesentlich als einen »Erziehungsprozeß unter den Bedingungen von Unterricht«; er ist determiniert durch den Erfahrungshorizont seiner Schüler und Lehrer. Für Lehrer und Schüler gilt, daß Erfahrung nicht voraussetzungslos, aber auch nicht abschließbar ist. Dem trägt der Religionslehrer Rechnung dadurch, daß er dem Unterrichtsprinzip der Individualisierung so weit wie möglich Raum gibt und seine Rolle stärker als Gesprächspartner der Kinder sieht. »Erfahrungsorientierter Religionsunterricht gewinnt seine Inhalte '" aus den Erfahrungsfeldern seiner Schüler, in denen Sinnerfahrung in der Potenz der Gotteserfahrung möglich ist und durchscheint«36 - von daher betont Th. Eggers die Bedeutung der Traditionen des Alten und Neuen Testamentes und verlangt Einübung in die Narrativität. These 8 bis 10 bringen die Forderung nach vielfältigen Arbeitsweisen, auch und gerade im nonverbalen Bereich und betonen die Notwendigkeit handlungsorientierter Methoden. 30 31 32 33
aaO, S. 135. aaO, S. 136ff. aaO, S. 142. Vgl E. Feifel, Die Bedeutung der Erfahrung für religiöse Bildung und Erziehung, Handbuch der Religionspädagogik, Bd. 1. Gütersloh 1973, S. 86ff. 34 Th. Eggers, Religionsunterricht und Erfahrung, S. 144. 35 aaO, S. 160ff. 36 aaO, S. 163.
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Nun ist es keineswegs so, daß diese Gedankengänge nicht auch von anderen Religionspädagogen mitvollzogen werden könnten bzw. ihre postulative Formulierung nicht primär Zustimmung erhalten würde. Mit der erneuten Durchdenkung des bibelorientierten Religionsunterrichts wurde sehr deutlich z. B. von H. Angermeyer, W. Neidhart, D. Steinwede u. a. die Mehrdimensionalität der Narratio entfaltet37 . Der Terminus »Erfahrungshorizont des Schülers« ist vom themenorientierten Religionsunterricht her aus der Diskussion nicht wegzudenken 38, auch der Lehrer und sein spezifischer Erfahrungshorizont gehören mit dazu. Weshalb bleiben dann trotzdem Fragen offen? Für den Pädagogen kommt hier ein Gedanke auf, der von F. Copei »der fruchtbare Moment« im Bildungsprozeß genannt wurde. Zur Kategorie der Erfahrung hat das E. Gruber in ähnlicher Weise formuliert: »Man kann zu Erfahrungen beitragen, aber ein letztes, unverfügbares Moment bleibt.«39 Dieses »unverfügbare Moment«, der »fruchtbare Moment« kann bei aller Reflexion und praktischen Vorbereitung des Religionslehrers für den Schüler nicht erzwungen werden. Die weiteren Bedenken ergeben sich im Blick auf die Schule als den Ort des Religionsunterrichts. Konzeptionelle A:ussagen zum Religionsunterricht müssen wohl auf der einen Seite stärker postulieren, stringent durchdacht werden - wenn sie in ihrer Durchführbarkeit aber an der Schulwirklichkeit im Ganzen scheitern, sind sie für die Praxis nicht hilfreich, sondern bewirken Frustration. Schließlich - und das hängt eng damit zusammen - muß berücksichtigt werden, daß es sich im Blick auf die Unterrichtspraxis und die Vorschläge dafür immer um Erfahrungen im positiven Sinn gehandelt hat, die grundsätzlich unabschließbar sind. E. Feifel 40 weist mit Recht· darauf hin, daß die sinnliche Schmerz erfahrung zunächst eine passiv erlittene ist, daß Erfahrung als Lernprozeß mit der Sprachfähigkeit des Menschen zusammengesehen werden muß und Erfahrung »konkret und damit singulär und individuell« ist. Wie soll der Religionslehrer denn einer ganzen Klasse gerecht werden in der ihm zur Verfügung stehenden Unterrichts zeit, mit wenig oder gering vorhanden~m Erfahrungspotential der Schüler aus einer kaum erfolgten religiösen Sozialisation? Diese Hinweise sollen im Blick auf die Kategorie der Erfahrung genügen. 37 Vgl H. Angermeyer, aaO; Erzählbuch zur Bibel, hrsg. W.Neidhart und Hans Eggenherger, Zürich 1975; D. Steinwede, Zu erzählen deine Herrlichkeit. Göttingen 1972 u. a. 38 Vgl H. Angermeyer, Der thematisch-problemorientierte Religionsunterricht. Gütersloh 1973. 39 E. Gruber, Freiheit als Erfahrungswirklichkeit, in: Alles ist erlaubt, überlegungen zur Freiheit des Christen. München 1972, S. 17. 40 E. Feifel, Handbuch der Religionspädagogik, Bd. 1. Gütersloh 1973, S. 89, S.88.
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4. In den vorhergehenden Abschnitten ist deutlich geworden, daß beide Begriffe, nämlich »emotionale Lernziele« und »Kategorie der Erfahrung«, die Aufgabe des Religionslehrers in der Schule nicht erleichtern, sondern ihn noch mehr fordern, vor allem auch in seiner Rolle als Erzieher. Er muß »etwas« riskieren und er muß sich selbst, als Person, riskieren immer mit der Möglichkeit vor Augen, daß der hohe Einsatz, den emotionale Lernziele ihm abverlangen, umsonst gewesen ist bzw. es ihm auch nicht gelungen ist, den Schülern Erfahrungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen und diese ihre eigenen, nicht von ihm intendierten oder gar keine Erfahrungen machen. Andererseits, wenn es ihm gelingt, ansatzweise in beiden Kategorien im Unterricht voranzukommen, seine theoretischen Vorüberlegungen von den Kindern mitverwirklicht werden, dann sind diese Stunden Höhepunkte der personalen menschlichen Begegnung und gegenseitigen Annahme, die mit zum Schönsten im Schulalltag gehören. Der Religionslehrer hat im Vergleich zu allen anderen Fachlehrern noch am ehesten die Möglichkeit, den Kindern und sich verantwortete Freiräume zu schaffen; sein Engagement dafür muß jedoch in reichlichem Maße vorhanden sein41 • 4.1 Emotionale Lernziele müssen in Verbindung gesehen werden mit dem emotionalen Lernen überhaupt. L. Mauermann bringt in dem schon erwähnten Aufsa'tz 42 eine Aufzählung der sozialpsychologischen Techniken, mit deren Hilfe der Lehrer zu präziseren Kenntnissen über Interessen, Werthaltungen und Einstellungen der Klasse kommen kann. Dazu zählen der Fragebogen, das Interview, das Polaritätsprofil und verschiedene projektive Techniken (z. B. Bildinterpretation u. a.). Entscheidend ist, daß die hierbei zustandekommenden Ergebnisse »offen« sind, für den Lehrer nicht planbar. Bei diesen Techniken der überprüfung ist das Problem der präzisen Lernzielformulierung nicht so gravierend. Die Ausgangssituation ist anders, wenn eine Zielformulierung unter erzieherischem Aspekt erfolgt, wie z. B. bereit sein zur Kommunikation mit den Gruppennachbarn, Wert darauf legen, mit dem Banknachbarn zu kooperieren. Das ganze persönliche Verhalten von Lehrer und Schüler untereinander, das - vgl. R. Oerter - die Lernatmosphäre bildet, hängt vom Verhalten des Lehrers ab. An ihm orientieren sich die Schüler oft bis in die Orientie41 Vom Thema her wurden die überlegungen im Blick auf den Religionsunterricht formuliert; Kirchliche Kinderarbeit in der Gemeinde ist nicht angesprochen worden. 42 Vgl 1. Mauermann, aaO, S. 327ff. Wichtig ist noch der Hinweis, den 1. Mauermann S. 331f gibt, daß der Akzent bei der affektiven Taxonomie weniger auf dem mehrdeutig beschreibbaren Schülerverhalten liegt als darauf, daß der Lehrer für emotionale Vorgänge im Unterrichtsverlauf sensibilisiert wird.
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rungsstufe hinein, und auch in höheren Klassen respondieren die Schüler in gewisser Weise - vorausgesetzt, ihre Schulmüdigkeit u. a. läßt das zu. Je gelöster und fröhlicher die Atmosphäre, desto überraschender entfalten sich Phantasie, Imaginationskraft und Gesprächsbereitschaft der Kinder. Es gelingt, sie »zum Sta'unen« zu bringen43 ; vom Staunen zum Fragen ist kein weiter Schritt, und der Lehrer kann mit den Kindern zusammen fragen und hören. Das ergibt dann - freilich nicht in zeitlich überzogener Länge - die jeden Praktiker so erstaunenden Gespräche, in denen vor allem Kinder der Jahrgänge 3 bis 6 biblische Geschichten, aber auch andere Erzählungen in einer Mehrdimensionalität erfassen, wie es vielen Erwachsenen nicht mehr möglich ist. Voraussetzung, dies zu erkennen, ist die Berücksichtigung der Eigenart der kindlichen Sprache, die ganz dem konkreten Realismus verhaftet ist44 • Kinder sprechen nicht über ihre existentielle Betroffenheit, sie bringen sie zum Ausdruck. 4.2 Damit kann noch einmal verwiesen werden auf das schon oben Gesagte: daß emotionale Lernziele Erfahrung intendieren; m. a. W. Kinder und aufgeschlossene Jugendliche geben sich einer positiven Emotion hin, diese wird im gemeinsamen Nachdenken gedeutet und Erfahrung geschieht zumindest aspekthaft und ansatzweise. Diese Einschränkung entspricht wohl insgesamt dem Schulbereich, der eben wesentlich engere Grenzen hat als der Sozialraum der Familie. Als Beispiel für Erfahrung in der Kreativität sei hier G. Martinis Studie »Malen als Erfahrung« genannt45 • Martini zeigt an Hand von Erfahrungen mit Schülern und . Studierenden, wie vermittels Malen emotionale Lernziele im Bereich des Sozialverhaltens (S. 17), aber auch im Verhältnis des Schülers zu sich erreicht werden können und damit der Weg freigemacht wird zur Erfahrung von Ermutigung, Ergriffensein. Schließlich ist die Tatsache, daß Lehrer und Schüler sich auf gemeinsame
43 Vgl dazu K. Tilmann, Staunen und Erfahren als Wege zu Gott. Zürich/ Köln 21973. 44 Existentielle Betroffenheit verbirgt sich auch hinter der Frage eines Menschen - ein Kind zeigt dadurch an, daß es spürt, hier geht etwas über seinen Verstehenshorizont hinaus - die Frage hält den Dialog in Gang. Kinder im V orschul- und Grundschulalter assoziieren stark und erfassen Emotionen und Erfahrungen in Verbalsätzen; wissen oft auch schon sehr genau, daß ein scheinbar unbeteiligtes Verhalten z. B. bei dem Tod eines Haustieres für sie Schutzfunktion hat. Für diese Tatsachen gibt es zahlreiche Belege in der religionspädagogischen Literatur, die jeder Praktiker bestätigen kann. 45 G. Martini, Malen als Erfahrung. StuttgartjMünchen 1977. Im letzten Kapitel seiner Studie (5. 139ff.) schreibt Martini über die Funktion des MaIens im Religionsunterricht und nennt »Aktivität, Rettung des Individuellen und Integration aller Fähigkeiten.« Das ließe sich auch für andere Kreativformen im RU, z. B. Rollenspiel usw. darstellen.
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Erfahrungen des Miteinanderumgehens, der gegenseItIgen Achtung und des Verständnisses einlassen, ein unausgesprochener Hinweis darauf, daß eine Atmosphäre des Vertrauens herrscht. Diese muß wiederum in Zusammenhang gesehen werden mit dem Urvertrauen, das den Zugang zur religiösen Erfahrung, zum Offensein für das Gespräch über den Glauben wesentlich mitbedingt. Ein Religionsunterricht, der das Kind ganzheitlich ansprechen möchte, kann auf meditative Elemente im Unterrichtsverlauf nicht verzichten. Wieder hängt es zunächst entscheidend vom Lehrer und seiner Haltung dazu ab, wie weit es ihm selbst gelingt, meditative Ansätze im Zusammenhang seiner Aufgabe zu internalisieren, meditieren im Sinne einer Glaubenshilfe zu verstehen (E. Gruber). Auch hier muß ein Zweifaches bedacht werden: der Religionslehrer riskiert - auch in dazu geeignet erscheinenden Situationen - wesentlich mehr, als wenn er (cognitive) Sachinformationen weitergibt, aber er kann ebenso auch erleben, daß im Unterricht _ein Kommunikationsprozeß erwächst, in welchem Lehrer und Schüler eine Sache betreiben, er zwar die Verantwortung trägt, aber das Nehmen und Geben beidseitig geschieht in der personalen Zuwendung, in der nonverbalen und verbalen Interaktion. H. v. Hentig sagt in dem schon oben erwähnten Interview46 , »es dürfe kein junger Mensch heute die Schule verlassen, ohne nicht einen einsamen Menschen getröstet, einem Schwachen geholfen, ein Kleinkind länger als eine Minute auf dem Arm gehabt zu haben«. Wo anders als im Religionsunterricht, der die biblische Botschaft in vielfältiger Form weiterzugeben versucht, sollten nicht gerade diese Erfahrungen ins Blickfeld geraten?
46 H. v. Hentig in dem schon zitierten Interview. Er zitiert hier Urie Bronfenbrenner, der seinen amerikanischen Landsleuten vorgeschlagen habe, ein »curriculum for caring« einzurichten, in dem Lehrer zu Vermittlern von Erfahrungen werden sollen.
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HERWIG WAGNER
Okumenische Sprachschwierigkeiten 1m Gefolge einer neuen Erfahrungstheologie Am Beispiel Südafrikas und Lateinamerikas
Erfahrung war schon immer ein Lieblingswort der Mission. Das hängt mit dem Herkommen des Großteils der Missionare aus Pietismus und Erweckung zusammen; sie ließen es sich nicht nehmen, von neuen Erfahrungen und Dimensionen des Glaubens zu reden, wenn sie sprachliche und kulturelle Grenzen überschritten und beobachten konnten, wie christliche Gemeinden in neuer kultureller Umgebung heimisch wurden. Solche »Erfahrungstheologie« hatte nur lose Zusammenhänge mit Schleiermacher und der Erlanger Schule. Deshalb machte auch die Bannung des Erfahrungsbegriffs in der Dialektischen Theologie nur geringen Eindruck auf die missionstheologische Diskussion.· Mit großer Erwartung schaute man auf die selbständig werdenden Kirchen in übersee, wie und wo sich christlicher Glaube auf anderem kulturellen Hintergrund eigenständig reflektiert aussprechen würde. Die Ungeduld solcher Erwartungen war so groß, daß man bereit war, auch nach christlichen Häresien Ausschau zu halten, wenn sie nur »einheimisch« wären, sozusagen als Schritte zu einer eigenen, bodenständigen Theologie in .den Kirchen Asiens und Afrikas. Doch die Erwartung erfüllte sich nicht in der Weise. Während man angestrengt in einer Richtung Ausschau hielt, entwickelte sich sozusagen im Rücken eine eigenständige Theologie, allerdings ganz anderer Art, als man sie erwartet hatte. In Südafrika war es die »Schwarze Theologie«, in Lateinamerika die» Theologie der Befreiung«. Beide entstanden erst in den sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre dieses Jahrhunderts. Gerade letztere übt heute großen Einfluß aus auf die ökumenische Diskussion und trägt nicht wenig bei zu den beträchtlichen theologischen Sprach- und V erständigungsschwierigkei ten auf Weltebene. An bei den Richtungen läßt sich aufweisen, daß es sich im Grunde um Erfahrungstheologie handelt, wenn auch »Erfahrung« neuen Stils. Die Tatsache, daß die Befreiungstheologie Lateinamerikas ihren Anfang in der römischkatholischen Theologie nahm, die Schwarze Theologie sowohl in den USA wie in Südafrika hingegen in Kirchen reformatorischer Tradition beheimatet ist, zeigt, daß es sich hier in der Tat um Weh-Probleme der Theologie und nicht um konfessionelle Sonderentwicklungen handelt. Wenn hier von »ökumenischen« Sprachschwierigkeiten die Rede ist, so ist
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damit die Weltkirche gemeint und nicht nur die im ökumenischen Rat zusammengeschlossenen Kirchen. Es ist zu hoffen, daß das dreiseitige Gespräch zwischen Rom, Genf und dem evangelikalen Flügel des Protestantismus in Zukunft helfen wird, eine drohende Inkommunikation der Christen untereinander abzubauen.
Der »anthropologische Ansatz« der Schwarzen TheologieManas Buthelezi
Wenn man in der klassischen missionstheologischen Diskussion von Erfahrung und neuen Erfahrungen sprach, so war sie auf die Feststellung oder auch die Erwartung von neuen Ausdrucksweisen christlichen Glaubens in fremd-kultureller Umwelt bezogen. Die notwendigerweise unterschiedliche Prägung christlicher Kirchen, je nachdem, ob auf abendländischem oder indischem Geisteserbe gewachsen, war Missionaren wie auch den ersten Gestalten einer einheimischen Theologie nicht entgangen. In diesem Sinne konnte noch die Dritte Weltmissionskonferenz von T ambaram/Madras (1938) die Indigenisierungsdebatte auf die Formel bringen: »Wo die Saat Frucht bringt, trägt die Ernte nicht nur die Merkmale der Saat, sondern auch des Bodens an sich; was in jenem Naturvorgang sich ereignet, ist in der geistigen Welt nicht weniger zutreffend und wahr.«l Hier ist das kulturelle Erbe (= geistige Welt) als die grundlegende Erfahrung gesehen, die in das individuelle wie das gemeinsame christliche Leben einer Kirche eingebracht wird und dort, ganz naturalistisch verstanden, das Endresultat bestimmt. Erst die übernächste Weltmissionskonferenz in Willingen (1952) nahm hier eine Korrektur vor und schob einer allzu einfachen Wachstumstheologie einen Riegel vor, wenn sie formulierte, daß die Kirche »nicht im Boden verwurzelt«, sondern vielmehr »auf die jeweilige Umwelt bezogen sein muß«2. Diese vorsichtige Korrektur hat der südafrikanische Theologe Manas Buthelezi3 im Auge, wenn er für ein Verständnis der Schwarzen Theologie scharf unterscheidet zwischen einem »ethnographischen« und dem 1 Tambaram Series, Vol. 11. London 1939, S. 294. 2 Norman Goodall (Ed.), Missions under the Cross. London 1953, S. 196. 3 Jetzt lutherischer Bischof von Johannesburg. Geboren 1'935 im jetzigen KwaZulu/Südafrika; Studium der Theologie in Südafrika und in den USA; dort Promotion zum Dr. theol. 1972 Gastprofessor in Heidelberg, 1975 in Washington (USA). Ausführlich über ihn in: I. Tödt (Hrsg.), Theologie im Konfliktfeld Südafrika. Dialog mit Manas Buthelezi. Stuttgart/München 1976.
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von ihm favorisierten »anthropologischen« Ansatzpunkt. »Der Unterschied liegt im wesentlichen darin, ob Ausgangspunkt unserer theologischen Methode eine Rekonstruktion der afrikanischen Vergangenheit nach ethnographischen Gesichtspunkten oder ein Dialog mit der gegenwärtigen anthropologischen Realität in Südafrika sein sollte.«4 Man mag mit Buthelezi darüber streiten, ob die Termini ethnographisch/anthropologisch glücklich gewählt sind; um Erfahrung und in diesem Sinne um anthropologische Vorgaben handelt es sich beidemal. Aber Buthelezi verwirft, 'und das mit einsichtigen Gründen, den Rekurs auf die afrikanische Vergangenheit und bezieht sich um so stärker auf die »gegenwärtige anthropologische Realität in Südafrika«. »Das Schwarzsein ist eine an-thropologische Tatsache, die meine Existenz ganz und gar Tag für Tag einschließt: sie bestimmt, wo ich wohne, mit wem ich zusammenkommen und mein tägliches Leben praktisch teilen kann. Das Leben liegt ja tagtäglich vor mir in der Begrenzung und in dem Spielraum der Möglichkeiten der schwarzen Situation. Das Wort Gottes redet mich an, wo ich tatsächlich bin: im Schwarzsein.«5 Dieses Schwarzsein ist für Buthelezi der Ausgangspunkt der Schwarzen Theologie. Solange diese Situation bleibt, »wird jede echte Begegnung mit dem Wort Gottes notwendigerweise ~on der Erfahrung meiner Lebenswirklichkeit gefärbt sein. Aus demselben Gr'und wird jede hermeneutische Anwendung der Botschaft des Wortes Gottes auf mich, sofern sie Gewicht haben soll, den Kontext meiner Lebenssituation- in Rechnung stellen müssen.«6 Was man seinerzeit in Willingen noch vorsichtig mit der Umweltbezogenheit der Kirche . ausgedrückt hat, formuliert Buthelezi nun im Hinblick auf die Schwarze Theologie so: daß »ihre Genialität darin liegt, daß sie dem Faktum Rechnung trägt, daß theologische Aufrichtigkeit die Besonderheit der Situation des Schwarzen nicht außer acht lassen darf« (ebd.). Der Unterschied zur Erfahrungstheologie der europäischen Theologiegeschichte wird in diesem Zitat ebenso deutlich wie der feinere Unterschied z'ur »einheimischen« afrikanischen Theologie 7 : Erfahrung wird bei Buthelezi gleichgesetzt mit der vorgegebenen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation. Diese »gegenwärtigen Realitäten in Südafrika« können für eine relevante Theologie und Verkündigung in Südafrika nicht außer Betracht ble}ben. Damit rückt allerdings der kon4 In: B. Moore (Hrsg.), Schwarze Theologie in Afrika. Dokumente einer Bewegung. Göttingen 1973, S. 43. 5' In: I. Tödt (s. Anm. 3), S. 13I. 6 In: B. Moore, S. 47. 7 Vgl. dazu jetzt John S. Pohee, Grundlinien einer afrikanischen Theologie. Göttingen 1981, S. 32: Das Ziel afrikanischer Theologie besteht in dem Versuch, mit den Mitteln von afrikanischen Vorstellungen und afrikanischem Ethos das Evangelium in den afrikanischen Kontext einzubringen.
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krete, der leidende, in Südafrika an den Rand des politischen Geschehens gestellte Mensch auch in der Theologie weit nach vorn. Es ist das Besondere der Erfahrung, daß sie nicht gedacht, sondern nur gemacht werden kann. Fremde Erfahrungen sind kaum, und wenn, dann niemals authentisch nachvollziehbar. Buthelezi formuliert hier in aller Schärfe: »Das Grundproblem einheimischer Theologie in Afrika ist eigentlich nicht, welchen Inhalt solche Theologie haben -müsse (ethnographischer Ansatz), sondern wer sie macht, ... der afrikanische Mensch selbst (anthropologischer Ansatz).«8 Kein hörbereiter Leser wird sich diesem Plädoyer für eine echt »schwarze« Theologie entziehen können, auch wenn nur die allerwenigsten die speziellen Voraussetzungen authentisch kennen, von denen Buthelezi ausgeht. Mehr als ein aufrichtiges Zur-Kenntnis-Nehmen ist eigentlich gar nicht möglich. Und hier beginnen die Sprach- und Verstehensschwierigkeiten. Ist solche »anthropologische«, also von spezifischen Situationen der Christen aus entworfene Theologie eigentlich noch kommunikabel ? Buthelezi selbst würde das bejahen; namhafte andere Vertreter der Schwarzen Theologie verneinen es, verneinen selbst den Dialog mit dem, was sie» Weiße Theologie« nennen. Hier beginnt die erwähnte InkomIpunikation9 •
Schwarze Ausschließlichkeit - James H. Cone James H. Cone vom Union Theological Seminary in New York gilt als der Erzvater der Schwarzen Theologie. Nachweislich ist erst durch seine Vermittlung die theologische Bewegung, die sich zunächst an die aggressive Black-Power-Bewegung in Nordamerika angeschlossen hatte, über schwarze Stipendiaten aus den USA nach Südafrika gekommen. Und dort fand sie an den politischen Apartheitsstrukturen der Südafrikanischen Republik mehr als reichliche Nahrung zu einem selbständigen Gedeihen. Es ist hier nicht der Ort, um im einzelnen auf die nicht unerheblichen Unterschiede zwischen der nordamerikanischen und der südafrikanischen Schwarzen Theologie einzugehen. Hier wie dort aber beruft man sich auf 8 In: 1. Ti;>dt, S. 129. 9 So der Titel des Themenhefts 2/1979 der Zeitschrift ,.Risk« des ökumenischen Rates (Genf). We are approaching the end of dialogue, a time of noncommunication, of silence (10). Zitat des Europa-Sekretäts der World Student Christian Federation, M. Opucensky, als Reaktion auf das in jenem Heft dokumentierte Symposion on Black Theology and Latin American Theology of Liberation.
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die leidvolle Erfahrung = Unterdrückungssituation Schwarzer in einer von Weißen beherrschten Gesellschaft als Ausgangspunkt ihrer Theologie. Darin haben sie den gleichen Erfahrungshintergrund. Was bei Buthelezi in vornehmer und zurückhaltender Art gesagt ist und zur Frage verleitet, ob solche Theologie noch ökumenisch kommunikabel ist, wird bei Cone in der Manier zündend heißer Agitationsrede schlichtweg verneint. Man weiß nicht, ob man seinen Augen trauen darf, wenn man liest, »daß authentische theologische Rede nur aus einer 'unterdrückten Gemeinschaft kommt«10; vielleicht hat hier heiliger Zorn die Feder geführt. Präziser auf Schwarze Theologie gemünzt, aber immer noch in erschreckender Ausschließlichkeit heißt es in anderem Zusammenhang: »Die Schwarze Theologie kennt keine Autorität, die verpflichtender wäre als das Erleben der Unterdrückung. Sie allein muß die letztgültige Autorität in Glaubensdingen sein.«l1 Diesen Satz freilich wird man als theologisch ernstgemeint nehmen müssen. Er wird in dem Kapitel ))Gott ist schwarz« mit Nachdruck ausgeführt: ))Die Schwarze Theologie muß jedweden Gottesbegriff ablehnen, wenn er nicht auf schwarze Selbstbestimmung abhebt, etwa, wenn Gott als ein Gott aller Menschen dargestellt wird. Entweder läßt sich Gott mit den Unterdrückten identifizieren, bis zu dem Punkt, daß ihre Erfahrung seine eigene wird, oder aber er ist ein rassistischer Gott.«12 Nicht alles, was unter dem Namen Schwarze Theologie geht, hat sich zu solcher schwarzer Ausschließlichkeit versteift. Es spricht für die Reife der südafrikanischen Theologen, daß sie wohl das Anliegen der schwarzen Identifikation Gottes aufnehmen konnten, dabei aber doch meistenteils die schneidend~ Schärfe ihres Erzvaters in den USA vermieden haben. Der Erfahrungshintergrund von gesellschaftlicher Unterdrückung und politische Entrechtung freilich ist hier wie dort ähnlich und gilt als Kontext christlicher Verkündigung und auch theologischer Reflexion. ))Schwarze Theologie muß die Erfahrung der Schwarzen ernstnehmen, wenn anders sie für Schwarze relevant sein will ... Dieses existentielle Leiden muß die Grundlage der Schwarzen Theologie sein. .. Alle Rede über Gott muß aus der Erfahrung des Schwarzen heraus geboren sein und
10 In: B. Moore S. 73. Zwei Sätze weiter: Alle andere Rede ist bestenfalls irrelevant und schlechtestenfalls blasphemisch. 11 James H. Cone, Schwarze Theologie. Eine christliche Interpretation der Black-Power-Bewegung. München 1971, S. 132. 12 Ders., Liberation. A Black Theology of Liberation. Philadelphia/New York 1970, S. 120f. Diese Black Theology ist leider nicht in deutscher übersetzung zugänglich. Sie stellt eine mehr systematische Ausarbeitung dessen dar, was als flammende Agitationsschrift ein Jahr später als »Schwarze Theologie« ins Deutsche übersetzt wurde.
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das heißt aus seinem Leiden, seiner Erniedrigung.«13 Nur in diesem Erfahrungskontext ist es verständlich, wenn theologisch formulierte Sätze gar nicht als solche gemeint sind, sondern eigentlich kerygmatisch. »Schwarze Theologie ist die Weise, wie Schwarze, unterdrückte Schwarze, von Gott reden« (ebd.). So und nur so wird die Rede :vom »Schwarzen Christus« und »God is black«, metaphernhaft formuliert, verständlich, ja nachvollziehbar. Vielleicht ist es für das Verstehen hilfreich, wenn man sich die Sprachund Ausdrucksweisen vergegenwärtigt, in denen Afrikaner sich eben anders als Europäer artikulieren. Es geht nicht nur, wie etwa bei Cone, um überhitzte Emotionalität. Die"Metapher, die Chiffre, die nur angedeutete Voraussetzung einer Formulierung macht afrikanische Rede plastisch, eindrucksvoll, aber auch pointiert; oder im Gegenteil manchmal auch bewußt offen und weniger bestimmt, als es die Formulierung nahelegt. Sofern es ökumenische Theologie mit dem Dialog über die Kontinente hinweg zu tun hat, muß sie sich auf neue Sprachformen und muß sich jeder daran Beteiligte auch auf komplizierte Kommunikationsformen des jeweils anderen einlassen. Nicht zu Unrecht spricht man heute von neuen ökumenischen Lernprozessen.
»Doing theology« - Desmond M. B. Tutu Man kann fragen, ob Desmond Tutu14 , früherer anglikanischer Bischof von Lesotho, heute Generalsekretär des Südafrikanischen Kirchenrates (SACC), zu den typischen Vertretern der Schwarzen Theologie gehört. Sicher aber steht er voll und ganz in dem hier aufgezeigten Strom einer durch die Situation und Erfahrung geprägten Theologie. Als Kirchenmann an herausragender Stelle Südafrikas ist er immer wieder aufs neue gefordert, stellvertretend für die Christen seines Landes, besonders für die Christen schwarzer Hautfarbe, vor den Regierenden für Gerechtigkeit einzustehen und im Namen der Kirche die Stimme der sonst Ungehörten zur Geltung zu bringen. Seine Appelle an den Prime Minister 13 Simon Maimela, in: Theo Sundermeier (Hrsg.), Christus - der schwarze Befreier. Aufsätze zum Schwarzen Bewußtsein und zur Schwarzen Theologie in Südafrika. Erlangen 31981, S. 111. 14 Geboren 1931 in West-Transvaal. Studium der Theologie in Südafrika. Lic. theoI. Vor seiner Bischofsweihe Afrika-Direktor des Theological Education Fund des öRK. In deutsch erschienen sind seine Interpretationen biblischer Texte zur Schwarzen Theologie unter dem Titel »Versöhnung ist unteilbar«. Wuppertal 1977.
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Südafrikas 15 mit der Bitte um Gehör, um Verständigung, um friedenstiftende Innenpolitik sind bewegende Zeugnisse kirchlichen Eintretens für eine sonst nicht repräsentierte öffentlichkeit. Bei Tutu zeigt sich die unverzichtbare Wechselbeziehung von theologischer Reflexion und kirchlichem Handeln in besonderer Weise. Es dürfte auch bei einem gründlichen Durchgang durch seine kirchlichen Verlautbarungen und theologischen Arbeiten schwer sein zu entscheiden, was bei ihm zuerst da war: theologische Erkenntnis oder verantwortetes Handeln. Gerade in dieser unaufgebbaren Doppelbeziehung von Handeln und Reflexion ist Tutu zu einem konsequenten Vertreter dessen geworden, was hier als die neue Erfahrungstheologie aufzuweisen versucht wird. Sein Stichwort ist »Doing theology«, was um des spezifischen Wortklanges willen hier unübersetzt bleiben soll. Analysiert man es genauer, so beinhaltet diese Formel dreierlei: Einmal ist es ein bewußtes Abrücken von der Abstraktion. »Tun« kann man immer nur Konkretes. Abstraktion dagegen ist Sache des Denkens. Wenn Tutu von »doing theology« spricht, meint er damit »spezielle Theologie«, die »in Bezug steht zur Lebenssituation einer bestimmten christlichen Gemeinschaft an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit«. Ja, er scheut sich nicht, sie »Gelegenheitstheologie« zu nenne~, wobei er sich dann aber sehr konkret auf die Anlässe bezieht, die zur Abfassung der meisten neutestamentlichen Schriften (und »ihrer Theologie«) geführt haben. Ganz allgemein fordert er daher, daß »Theologien das Argernis ihrer Situationsbezogenheit akzeptieren und erkennen (müssen), daß dies der notwendige Preis dafür ist, die betreffende Situation relevant anzusprechen«16. Zum andern bedeutet die Formel »doing theology« eine existentielle Nähe zur Person dessen, der Theologie treibt. Als Bischof und schon vorher war Tutu mit theologischer Ausbildung befaßt. Vielleicht auch in Erinnerung an seinen eigenen theologischen Werdegang bemerkt er kritisch: »Die eigene Lebenserfahrung des Studenten wird nicht als authentisches Rohmaterial für die Theologie anerkannt.« Den auch in Südafrika üblichen Lehrbetrieb nennt er wenig respektierlich »Zitaten-Theologie« und fährt fort: »Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß sich eine ständig wachsende Kluft auftut zwischen dem, was in der Vorlesung geschieht und dem Geschehen >draußen<, wo das echte Material für Theologie gefunden werden kann ... Sie mögen ein gutes S~aatsexamen in Theologie abgelegt haben, aber wenn es darauf ankommt, sind sie nicht ausgerüstet, Theologie zu >tun<<< (1M). Aus diesen Klagen (die vielleicht von manchen Kollegen in kirchenleiten-
15 aaO,S. 59. Auch in epd-Dok 28a/1976. Ferner epd-Dok 50/80 und 41a/81. 16 Alle Zitate aaO, S. 20-24 ..
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den Amtern quer durch alle Kontinente geteilt werden) folgt für Tutu noch ein drittes Moment, das er nun ganz besonders für die Schwarze Theologie in Anspruch nimmt: »Unser wissenschaftliches Vorgehen müß Raum schaffen für Subjektivität, für Engagement, für die intuitive Erfassung einer Sache, die für die veräußerlichte Objektivität des NichtEngagierten kaum greifbar ist« (19). Und an diesem Punkt scheint der sonst so um Verständnis bemühte und auf den Dialog ausgerichtete südafrikanische Bischof die Brücken zu den Brüdern abbrechen zu wollen. Er meint es konkret von sich und den anderen Vertretern der Schwarzen Theologie: » Wir bitten weder um Erlaubnis für 'unser Tun, noch bitten wir darum, akzeptiert zu werden. Ob der Westen oder sonst jemand Schwarze Theologie akzeptiert oder zurückweist, hat keinerlei Konsequenzen und ist weitg,ehend belanglos. Schwarze Theologie ist eine viel zu ernste Sache, als daß sie auf die Zustimmung anderer warten könnte« (19f). Wie ist dieser Umschlag von Verständigungsbereitschaft in eine fast anmaßende Distanzhaltung zu begreifen? Es wäre sicherlich falsch, nach solchen abrupten Formulierungen die persönliche Haltung eines Mannes wie Bischof Tutu einzustufen. Aber es ergeben sich in der Tat Sprachschwierigkeiten, wenn man so engagiert für das Recht der eigenen speziellen Erfahrungstheologie eintritt, wie es hier zum Ausdruck kommt. In dem Augenblick, wo »doing theology« das ganze Engagement eines Menschen fordert, werden anscheinend auch theologische Formulierungen relativiert. Die bew'ußt in Kauf genommene, ja forcierte Einseitigkeit von Aussagen, die trotzdem das Gegenteil nicht eo ipso ausschließt, ist ebenfalls eine neue Sprachform, auf die sich traditionelle europäische Theologie erst noch einstellen muß. Das Sprachschema von Behauptung/Widerlegung wird offenbar dem Handlungsfeld von Engagement und Versöhnung nicht gerecht.
Das Postulat der Orthopraxie in der lateinamerikanischen Theologie Was in D. Tutus Formel »doing theology« auf dem Hintergrund seiner speziellen oder Gelegenheitstheologie in maßvoller Sprache zu Wort kam, brach sich im lateinamerikanischen Kontext in revolutionärer Weise Bahn. Der Kampf eines P. Camillo Torres in Kolumbien oder des bolivianischen Arztes Che Guevara wurde weltweit als Fanal engagierter Christen gegen eine ungerechte Gesellschaftsordnung verstanden und vor allem von der Jugend begeistert gefeiert. Doch gehen lateinamerikanische Theologen in ihrer Begründung viel tiefer als das, was zunächst im Gewand der Revolution als eine für gerecht gehaltene Sache erscheint.
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In ihrer theolügischen Traditiün setzte die kathülische Kirche in bewährter Weise bei der Lehre vün Gütt ein, behandelte dann das in Christus gewirkte und durch die Kirche vermittelte Heil für den Menschen und entwickelte daraus die kirchliche Süziallehre, die es jeweils auf die Einzelsituatiün anzuwenden galt. Diese traditiünelle Reihenfülge wird in der lateinamerikanischen Theülügie bewußt durchbrüchen. Befreiungstheülügie ist »eine neue Art Theülügie zu treiben. Theülügie als kritische Reflexiün auf die histürische Praxis ... versucht sich als ein Müment in dem Prüzeß zu verstehen, mittels dessen die Welt verändert wird.«17 Hier werden also. nicht Fülgerungen aus der Lehre auf das Leben und Handeln »angewandt«, sündern man denkt grundsätzlich vüm Ort des befreienden Handelns her. Es fallen also. Theürie und Praxis zusammen. Ja, L. Büff kann sagen: »Theülügie als thematische Erarbeitung ist ein zweiter Akt, insüfern sie Reflexiün auf und für die Praxis ist, damit diese echter und befreiender werden kann.«18 Er nennt dieses den »dialektischen Kreislauf zwischen Praxis und Reflexiün« (59); gemeinhin im Unterschied zur eurüpäischen Methüde auch als Orthopraxie bzw. Praxeülügie bezeichnet. Hinter diesem Püstulat ist zu sehen, was in dem Begriffspaar Praxis/Reflexiün mit Praxis gemeint ist. Frieling bemerkt dazu, daß eurüpäischnürdamerikanische Theolügen dafür lieber Erfahrung sagen19. Offensichtlich geht es dabei um die Geschichte bzw. um besündere geschichtliche Ereignisse, die zum grundlegenden theülügischen Ort werden, wo. das Vülk Güttes sich selbst als handelndes erfährt. Es sind das nach L. Büff »die wahren Befreiungsprüzesse«, ganz gleich, üb deren Träger Bezug auf christlichen Glauben' nehmen üder nicht. »Die Praxis in sich selbst, insüfern sie wirklich befreiende Praxis ist, trägt eine christliche und heilsbezogene Dichte in sich ... So. kann christlicher Glaube einen evangeliums- und heilsbezügenen Inhalt in allen Unternehmungen und Bewegungen benennen, die erfülgreich befreien.«20 Mit diesen Prämissen einer Theülügie der Geschichte als möglicher Heilsgeschichte ergibt sich die Stringenz des hier angedeuteten Theürie-PraxisVerhältnisses und der daraus abgeleiteten Fürderung der Orthüpraxie bzw. Praxeülügie. Es ~ntspricht der Hermeneutik sülcher geschichtlicher Erfahrungstheolügie, wenn man dann künsequenterweise fürdert, daß 17 Gustavo Gutierrez, Theologie der Befreiung. München 1973, S. 21. 18 in: Kar! Rahner (Hrsg.), Befreiende Theologie. Der Beitrag Lateinamerikas zur Theologie der Gegenwart. Stuttgart 1977, S. 53. 19 Reinhard Frieling, Zwischen Befreiung und neuer Zivilisation. Praxis und Theologie in Lateinamerika, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 29 (1978), S. 52 unter Hinweis auf J.B. Metz, E. Schillebeeckx und J. Moltmann. 20 Leonardo Boff, in: K. Rahner, aaO, S. 54.
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Theologie mit der Analyse der Wirklichkeit z'u beginnen habe und sich »auf der Straße vollende«. In diesem Sinne war Camillo Torres konsequenter Theologe.
Theologie des: Volkes Lateinamerikanische Volks religiosität ist bunter und vielgestaltiger als anderswo. Gemeint sind hier nicht die vielfachen synkretistischen Gemeinschaften, wie Umbanda und Macumba in Brasilien 21, sondern was man in Europa mit Volks frömmigkeit oder Vulgär-Katholizismus zu bezeichnen pflegt. Was in Lateinamerika wie anderswo in einer elitären Schicht bisher nur mit vorgehaltener Hand erwähnt, und wenn, dann vor allem kritisch, aufklärerisch und erzieherisch behandelt wurde, erfährt dort in jüngster Sicht eine positive Aufwertung 22 • Es ist vor allem die von der lateinamerikanischen katholischen Bischofskonferenz (CELAM) getragene Evangelisationskampagne, die im »Volk«, d. h. bei den kleinen Leuten, bei den Armen und Marginalisierten, die Bewegung des Volkes Gottes bzw. seine Gefangenschaft in der Unterdrückung wahrnehmen möchte. Abseits der großen Literatur über die lateinamerikanische Theologie, aber sicherlich im Zusammenhang mit der politischen und gesellschaftlichen Großwetterlage Lateinamerikas entwickelte sich ein Strom eigenständiger Frömmigkeit und Aktion, der ganz in dem oben beschriebenen PraxisReflexion-Aktions-Rahmen als Parallelentwicklung zu der erstgenannten lateinamerikanischen Theologie gelten darf. Bis vor kurzem war dieser Strom außerhalb des Landes kaum bekannt. Eine übersetzung ausgewählter, meist anonymer Texte solcher »theologischen Kleinliterat'ur« aus Brasilien hat nunmehr auch in Deutschland einen Zugang zur» Theologie des Volkes« ermöglicht23 • Frieling nennt in seinem Bericht mehrere Motive, die zur neuen Wertschätzung der Volksreligiosität in Lateinamerika geführt haben, wie die Krise der westlichen Zivilisation oder die für die Masse der armen Landbevölkerung verheerenden Folgen des forcierten kapitalistischen Aufbaus der Landwirtschaft und das daraus entstehende politische Bewußtsein im Volk selbst, und nicht zuletzt das Erwachen des katholischen Episkopats für die pastoralen Nöte in ihren eigenen Diözesen. Doch »die 21 Diese bleiben in der Theologie der Befreiung so gut wie ganz außer Betracht. 22 Bericht von R. Frieling in: Materialdienst (5. Anm. 19) 1978, S. 61ff. 23 Die Glut kommt von unten. Texte einer Theologie aus der eigenen Erde (Brasilien), hrsg. von Hermann Brandt. Neukirchen-Vluyn 1981.
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Glut kommt von unten«; der gewaltige Aufbruch elementarer christlicher Frömmigkeit und Aktion, besonders innerhalb der katholischen Kirche, kommt aus tieferen Schichten. Die Bewegung der sog. Basisgemeinden vollzieht sich "in einem seltsamen Niemandsland zwischen lautstarkem Protest gegen die bisherige Praxis der katholischen Kirche (mit deutlich marxistischen Untertönen), aktiver Unterstützung solcher Aufbrüche durch mutige Priester und Nonnen, und dann sogar offizieller Anerkennung bzw. Förderung durch die katholischen Bischöfe. In diesen Aufbruch wurde auch die durch das Zweite Vatikanische Konzil eingeleitete Erneuerungsbewegung der Kirche aufgenommen. Die wichtigsten Erkenntnisse faßt ein (ohne Autorenangabe erschienenes) Schriftstück in folgenden vier Punkten zusammen: 1. Die Kirche hängt nicht allein von den Padres ab. Auch das Volk gehört dazu und muß mitmachen. 2. Die Kirche ist nicht nur für die Verteilung der Sakramente da. Es muß an jedem Ort eine Gemeinde entstehen. 3. Wir haben eine Aufgabe nicht nur im Blick a:uf die Ewigkeit, sondern auch im Blick auf die Situation des Volkes. 4. Gott spricht nicht nur durch die Bibel, sondern auch durch die Ereignisse im Leben des Volkes und der Kirche 24 • Es ist deutlich, daß hier keineswegs ein »kleines Konzilskompendium« versucht wurde, auch kein theologischer Entwurf aus einem Guß vorliegt. Um so eindrücklicher ist das Echo des Konzils, was nämlich in der Situation Lateinamerikas als wesentlich für die Erneuerung der Kirche angesehen wird und an welchen Stellen es zu besagtem Aufbruch kommt. Dabei soll es nicht wundern, daß das sozialethische Moment (Punkt 3) ebenso betont wird wie die geschichtliche Erfahrung (Punkt 4). Noch deutlicher wird dieses Erfahrungsmoment in einem späteren Abschnitt, wo es lapidar (als Bericht von einer Diözesanversammlung) heißt: »Wenn jemand wissen will, was Kirche ist, so ist unsere Versammlung eine gute Antwort gewesen: die Kirche ist eine Versammlung von Leuten aus dem Volk, von armen Leuten; sie ist so organisiert, wie es dem Volk entspricht; sie nimmt an den Problemen des Volkes teil; was sie will, ist die Evangelisierung und Befreiung des Volkes« (134). Oder noch kürzer: »Unsere Erfahrung bestätigt uns, daß das auserwählte Volk heute das Volk der Armen ist« (143). Begründet wird dieser Basissatz mit dem Leben Jesu, mit den Erfahrungen in der eigenen Gemeinde, nämlich mit Gottes guter Nachricht g,erade für die Armen (Lk 4,18; 7, 22): »Das war für uns eine gute Nachricht. Das ist bei uns geschehen, und wir möchten, daß es bei allen geschieht.«
24 aaO, S. 109 (verkürzte Wiedergabe).
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Theologie der Armen
Die neuentdeckte Theologie des Volkes ist der eigentliche Sitz im Leben für die seit der -Weltmissionskonferenz von Melbourne (1980) in der ökumenischen Diskussion griffige» Theologie der Armen«. Die Gleichung »Volk« und »Arme« ist in Lateinamerika völlig einsichtig. Eine andere Frage ist es, wie weit in der ökumenischen Theologie der Armen die ursprüngliche Basiserfahrung »Wir sind Gottes Volk« theologisch oder u. U. auch ideologisch überhöht worden ist. Eine solche überhöhung (oder Vertiefung, je nachdem) ist weniger in den genannten Basistexten, eher in ausgeführten theologischen Entwürfen aus Lateinamerika zu suchen. Der Weg scheint über die Christologie zu laufen. Der brasilianische Franziskaner Leonardo Boff25 legte als erster 1972 eine »kritische Christologie« vor. »Alles, was menschlich ist am Menschen, erscheint in ihm (J esus): Zorn und Haß, Güte und Härte, Freundschaft, Trauer und Versuchung. Nur daß sich in ihm das Menschliche in seiner 'ursprünglichen Frische offenbart. In genialer Selbständigkeit sagt und tut er das Vernünftige ... In seiner authentischen, unverstellten Menschlichkeit besteht die Einzigartigkeit J esu.«26 Diese J esulogie ist zwar nicht neu und auch nicht typisch lateinamerikanisch. Doch ist hier der Weg gezeigt, den man dann im Namen der Armen auch umgekehrt in Anspruch nehmen kann. So Böff: »In ihrer wirtschaftlichen Einschränkung markieren die Armen den Ort einer Theophanie und Christophanie. Sie bieten dem Menschen die Möglichkeit einer Heilsbegegnung.«27 Oder F. Torres in sozial-revolutionärer Sprache: »Selig sind die Proletarier, die Armen, Arbeiter und Campesinos - und die, die sich mit ihnen solidarisieren -, denn sie können in der Geschichte Mittelamerikas das Projekt Gottes für die Menschen gegenwärtig machen«, wobei das sozio-historische Projekt Gottes »nichts anderes (ist) als die Fähigkeit der Menschen, Jesus von Nazareth zu verstehen und ihm nachzufolgen und in der Nachfolge die eigenen Aufgaben in den gegenwärtig-geschichtlichen Bedingungen wahrzunehmen. «28 Der Weg von der »Theologie des Volkes« zu einer »heilsgeschichtlichen Rolle der Armen« ist hier vorg.ezeichnet. Die Erfahrungsberichte der La.teinamerikaner auf der Weltmissionskonferenz in Melbourne haben ihren 25 1972 in Brasilien und Portugal erschienen; span. übersetzung 1973 (Buenos Aires). Ausführliche Rezension von Hermann Brandt, in: NZsyTh 15 (1973), 229ff. 26 Nach Brandt, aaO, S. 242f. 27 In: Rahner, aaO, S. 58. 28 Francisco Tones, Herausforderung für eine revolutionäre Praxis in Latein4 amerika, zitiert bei: R. Frieling, aaO, S. 56.
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Eindruck nicht verfehlt. Von daher ist auch der theologische Sprachgebrauch von den Armen aufgenommen worden, als seien sie »bereits in Mission«, wenn sie ihre eigene Situation verbessern. »Die Kirchen werden auch bereit sein müssen, auf die Armen zu hören, so daß sie das Evangelium von den Armen hören können.«29 Der deutsche Konferenzbericht dokumentiert eindrucksvoll, wie gerade hier in den Verhandlungen und Gesprächen der Konferenz ökumenische Sprach- und Verstehensschwierigkeiten nur mit Mühe und mit typischen Konferenzformulierungen bewältigt bzw. übergangen werden konnten 3o .
Re-Leitura der Bibel
Die sog. materialistische Lektüre der Bibel ist keine Besonderheit Lateinamerikas 31 . Aber gerade die Erfahrung von Abhängigkeit und Unterdrückung in der politischen Situation Lateinamerikas ließ eine neue, eine sozio-politische Lesung (die Re-Leitura) der Bibel entstehen. »Es ist nötig, das Evangelium vom Gesichtspunkt des Unterdrückten wieder neu zu lesen, denn a'us dieser Perspektive ist es ja auch gelebt und geschrieben worden.«32 Wo diese neue Bibellektüre reflektiert wurde, konnte sie allerdings sehr schnell in das Gefälle einer ausgesprochen sozialistischen Theologie geraten; so wenn das Evangelium als »Bericht von einer Praxis radikaler Subversivität« entdeckt wird33 . Näher an die Wirklichkeit einer solchen Re-Leitura führt H. Brandts genannte Sammlung lateinamerikanischen Kleinschrifttums, wo etwa die Speisungsgeschichte (Mk 6) »neu gelesen« wird unter der überschrift: »Daß es ohne Teilung der Güter weder Liebe gibt noch wahre Religion« (95). Während die Jünger meinen, mit Geld das Problem lösen zu können (V 36), beauftragt J esus die Apostel, »eine Lösung im Volk selbst zu suchen« (V 38). »Das wahre Wunder (ist) die Teilung der Güter.« Vorher nämlich »gab es kein Teilen, denn jeder wollte im System des privaten 29 Melbourne Sektion I, 20a. In: Dein Reich komme. Weltmissionskonferenz in Melboume 1980, hrsg. von M. Lehmann-Habeck. Frankfurt 1980, S. 134. 30 Vgl auch das sog. Positionspapier des Evang. Missionswerkes (Hamburg) »Zur Frage '~ach dem Missio~sverständnis heute«, Teil 4: Das Evangelium für die Armen, wo ausdrücklich eine »heilsgeschichtliche Rolle der Armen« abgelehnt wird. Erschienen in: epd-Dok 50/80, S. 46ff und in: EMW-Info (Hamburg) 21. 31 Vgl Michel Clevenot, So kennen wir die Bibel nicht. Anleitung zu einer materialistischen Lektüre biblischer Texte. München 1978. 32 Die Glut kommt von unten, S. 92. 33 Bericht von R. Frieling, aaO, S. 57.
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Eigentums bleiben« (ebd.). Man sollte genau zusehen: Hier geht es um mehr als um eine Neuauflage rationalistischer Exegese. »Wer liebt und glaubt, der kann wirklich >Wunder tun<, d. h. der verändert Situationen ohne Hoffnung von Grund auf. Der überfluß an Gütern und die Sättigung kommt vom überfluß des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Ohne sie gibt es keine Wunder« (96). So kann dieses Neu-Lesen der Bibel gerade im Kontext katholischer Basisgemeinde ohne weiteres zu einer eucharistischen A'uslegung weiterschreiten: die Brotvermehrung »bedeutet Fülle des Lebens und mitgeteilte Gegenwart; mitgeteilt wird nicht nur, was man hat, sondern auch, was man ist« (97). Als wollten die Autoren gewissen simplen Identifikationen zuvorkommen, schließt der Abschnitt mit der Warnung,: »Schließlich - der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Vorsicht mit einem bestimmten Materialismus, der ebenso blind ist wie der Idealismus!« (ebd.). Freilich, es geht nicht immer so gemäßigt zu. Das Wortspiel »insurreis;äo - resurreis;äo« (Aufstand - Auferstehung) führt in seiner Auslegung des Auferstehungszeugnisses mitten hinein in die politisch explosive Situation Lateinamerikas. »Es ist ganz klar: es gibt keine Auferstehung ohne den Auferstandenen, d.h. ohne daß sich das Volk erhebt, um die alte Welt und die alte Gesellschaft zu verändern, um so zu einer Gesellschaft des Teilens zu kommen.«34 Wer nur von Bedeutung, Relevanz oder Anwendung der Bibel auf das Leben, das gelebte Leben der kleinen Leute spricht, hat die Stoß richtung dieser Re-Ieitura zu kurz gefaßt. Es gibt kein »neutrales« Erfassen der Bibel, keine Botschaft »an sich«. Die Situation, der eigene Standpunkt, die »Ideologie, die man hat« (92), bestimmen die Lektüre der Bibel von vornherein. Von dieser Erfahrungsbasis aus ergibt sich ein konsequenter hermeneutischer Zirkel: »Dadurch, daß wir entdecken: das Evangelium ist im Leben, entdecken wir: unser Leben ist im Evangelium.« »Das Alte Testament ist von einem unterdrückten Volk geschrieben worden. Das Neue Testament ist von dem Leben Jes'u, eines Armen aus Nazareth, und vom Leben der Apostel, die auch alle arme Leute waren, geschrieben. Wir, die Armen von heute, schreiben mit unserem Leben das Neueste Testament. «35 Was in der Praxis zu einem ungemein fruchtbaren Lesen des Evangeliums werden kann, zugegebenermaßen manchmal auch zu einer gewaltsamen Handhabung biblischer Texte, lautet in die Sprache der Hermeneutik übersetz! bei F. Vanderhoff: »Lesen heißt, das Original ne'u schreiben oder neu schaffen.«36 Es bedarf eines längeren Weges der Re-interpretation, um diesen verwirrenden Satz wieder in den Kontext einer christ-
34 Die Glut kommt von unten, S. 102. 35 Zitat aus Basisgemeinden, aaO, S. 143. 36 Zitiert bei R. Frieling, aaO, S. 56.
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lichen Gemeindepraxis zu stellen, von wo er ausgegangen sein mag, wo Hören und Tun, Impuls und Erfahrung, Glaube und Nachfolge eine glaubwürdige Einheit bilden.
Die Aufgabe einer ökumenischen Theologie Dem Sprachgebrauch von ökumene eignet nach wie vor eine gewisse euphorische Aufbruchstimm'ung. Daran haben auch die Ernüchterungen im Blick auf den ökumenischen Rat der Kirchen und die Stagnation im Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche nicht viel geändert. Dn-ökumenisch zu sein bezeichnet für den einzelnen wie für eine christliche Kirche insgesamt einen Mangel, ein Verharren in vorgestrigen Beziehungen; ein Vorwurf, dem sich keiner gerne aussetzt. Doch Euphorien gleichen Feiertagsstimmungen; die Bewährung hat im Alltag zu erfolgen. Zu diesem Alltag gehört auch die theologische Arbeit. Wie aber soll eine »ökumenische Theologie« beschaffen sein? Sie wird nicht in einem großen und genialen Entwurf entstehen. Noch weniger ist sie als eine Art Genetiv-Theologie zu bestimmen, als Theologie der ökumene oder so ähnlich. Der ökumenische Alltag kann in der Theologie nur so Gestalt gewinnen, 'daß je länger je mehr sich jegliches theologisches Arbeiten des weltweiten, also ökumenischen Charakters des Volkes Gottes entsinnt. Das würde bedeuten, daß eigenes theologisches Nachdenken jeweils im Wissen um und im Hören auf die Erkenntnisse 'und Erfahrungen, die Zeugnisse und die Leiden der anderen Glieder desselben Volkes Gottes geschieht. Es ist ein ermutigendes Zeichen, daß die Theologie des älteren Teils der Christenheit sich zunehmend dieser Erkenntnis öffnet37 • Das freilich ist kein einfacher Prozeß. Damit setzt sich jeder dem Nachfragen und der Kritik des anderen aus. Scheinbar Selbstverständliches oder für grundlegend Gehaltenes kann so unter Beschuß geraten. Auf Grund ihrer neuen Erfahrung,en nahmen schon die frühen Missionare und erst recht die ersten theologisch reflektierenden Christen in Asien und Afrika die überkommenen theologischen Sätze keineswegs einfach ungefragt hin. Neue Erfahrungen eröffnen auch neue Dimensionen des Glaubens und reißen weitere Horizonte auf. Die Möglichkeit eines überbor37 Vgl dazu den Eröffnungsvortrag von Lukas Vischer auf dem Kongreß der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 1979 in Göttingen »Europäische Theologie - weltweit herausgefordert«, in: Europäische Theologie. Versuche einer Ortsbestimmung, hrsg. von Trutz Rendtorff. Gütersloh 1980, 13ff.
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denden Pluralismus, wo christliche Theologie zu zerfließen droht in je eigengestalteten afrikanischen, asiatischen, chinesischen, ozeanischen, lateinamerikanischen usw. Entwürfen, ist nur dort eine wirkliche Gefahr, wo man sich in vorgestriger Weise isoliert und damit die eigenen Erfahrungsweisen Gottes für die einzig möglichen und legitimen hält. Hier lebt christliche ökumene von der Weite der Misslo Dei, die im überschreiten der eigenen Grenzen sich immer wieder von der Verheißung des Auferstandenen eingeholt weiß, der »bis an die Grenzen der Erde« mit seinem Volk mitgeht, ja seine Jünger dorthin sendet in seinem Namen. Was zunächst nach Relativietung der eigene~ Erfahrung aussieht, ist in Wirklichkeit die größere Erfahrung des Volkes Gottes, das immer noch auf dem Wege ist und somit seiner Entschränkung und ökumenischen Fülle erst noch entgegengeht. So und nur so entsteht Theologie im ökumenischen Kontext38 • ökumenische Theologie ist somit als ein fortwährender Prozeß des Hörens, Aufnehmens und gegenseitigen Austauschens zu begreifen; selbstverständlich auch der Kritik und - das sei eigens hinzugefügt - dies in gegenseitiger Kritikbereitschaft. Die hier aufgezeigten ökumenischen Sprach- und Verstehensschwierigkeiten sind davon ein Teil. So wäre ökumenische Theologie eigentlich der ökumenische Lernprozeß gegenseitigen Hörens und Aufnehmens. Wie wenig geruhsam dieser Prozeß ausgetragen wird, davon sind die ökumenischen Konferenzen auf der einen Seite und die in Antithesen zur »alten«, zur »weißen« Christenheit entstehenden theologischen Programme auf der anderen Seite beredte Zeugen. Geschichtlich schuldhafte Verflechtungen tragen dazu ebenso bei wie die Unmittelbarkeit der jeweiligen Erfahrungen in den revolutionären Prozessen der Gegenwart. Mit Recht fragen besorgte Beobachter, ob sich denn im Gefolge einer solchen neuen (= politischen) Erfahrungstheologie in der ökumene das Gleiche wiederholen muß, nur mit christlichen Vorzeichen, was auf politischer Weltbühne unter dem Stichwort des West-Ost- oder noch mehr des Nord-Süd-Konflikts sich abspielt. Die Parallele ist nicht willkürlich gesucht; manches kann in der Tat so mißverstanden werden. Hier tnuß sich die ökumenische Theologie als Rede vom versöhnenden Handeln Gottes weltweit bewähren. Das ist die vordringliche ökumenische Aufgabe der Weltchristenheit. Ihre Voraussetzungen sind anderer Art als die wirtschaftlicher oder politischer Weltgremien oder Gipfeltreffen. An ihre theologischen Vorgaben als ökumenischen Konsens muß sich die Weltchristenheit immer wieder erinnern lassen:
38 Lukas Vischer (Hrsg.), Theologie im Entsteht:n. Beiträge zum ökumenischen Gespräch im Spannungs feld kirchlicher Situationen. München 1976. Darin besonders der Beitrag von Gerhard Sauter, Wie kann Theologie aus Erfahrungen entstehen? S. 99ff.
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- daß sie einen gemeinsam vorgegebenen Bezugspunkt hat. Sie ist das Volk Gottes in der Welt, und als solches läßt es sich - bei allen hermeneutischen Schwierigkeiten - von Gott immer wieder neu ansprechen. Die Bibelarbeiten auf den großen christlichen Weltkonferenzen sind ein ermutigendes Zeichen für solche Gemeinsamkeit unter dem Wort, bei aller Verschiedenheit der Erfahrungen; - daß sie in ihrer theologischen Arbeit nicht nur auf je verschiedene menschliche Erfahrung,en bezogen ist. Jede Erfahrungstheologie benötigt eine besonders ausgeprägte Pneumatologie. Die apostolische Mahnung »Prüfet die Geister« (1 Joh 4, 1) hat ihren Sitz im Leben in der Auseinandersetzung mit einer bestimmten prophetischen (Erfahrungs-) Theologie. ökumenische Theologie bedarf dringend des pneumatischkritischen Elements im gegenseitigen Sich-befragen-Las~en; - daß sie wie jeder einzelne Christ weiß um die Sünde aller und die Vergebung für alle um Christi willen. Und das auch in Bezug auf Kirchen und theologische Traditionen und Entwürfe. Was die Reformatoren als das Kernstück des Evangeliums erkannt, und was nachfolgende Generationen in vielfältiger Weise für das Leben des einzelnen Christen ausgelegt haben, wird für eine ökumenische Theologie, die neue Erfahrungen mit Gott in der Geschichte reflektiert und zusammenbringt, nicht minder fruchtbar sein. Hier liegen die Aufgaben und auch die Chan.cen für das Volk Gottes in der ganzen Welt, daß es wie in der Pfingstgeschichte Sprachbarrieren überwindet und zu einem gemeinsamen Zeugnis an die Welt kommt.
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Anschriften der Autoren
Hochschulassistentin Pfarrerin Jutta Hausmann, Finkenstraße 6 a, 8806 Neuendettelsau Professor Dr. Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Scheidterstraße 5 C, 6601 Saarbrücken-Scheidt (früher Neuendettelsau) Professor Dr. Horst Dietrich Preuß, Finkenstraße 3, 8806 Neuendettelsau Professor Dr. August Strobel, Föhrenstraße 15, 8806 Neuendettelsau Professor a. FHS Dipl. Päd. Karl Foitzik, Kreuzlach 20 a, 8806 Neuendettelsau Hochschulassistent Pfarrer Klaus Raschzok, Finkenstraße 4, 8806 Neuendettelsau Professor Dr. Richard Riess, Finkenstraße 1, 8806 Neuendettelsau Professor a. FHS Elisabeth Schreiber, M. A., Meisenweg 16, 8806 Neuendettelsau Professor Dr. Herwig Wagner, Finkenstraße 5, 8806 Neuendettelsau
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Als Studien der Augustana-Hochschule Neuendettelsau sind bisher folgende Bände erschienen: August Strobel (Hg.)
Der Tod - ungelöstes Rätsel oder überwundener Feind? Eine Ringvorlesung der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. Beiträge von: Wilhelm Andersen, Helmut Angermeyer, Eduard Ellwein, Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Horst Dietrich Preuß, Hans Schwarz, August Strobel, Herwig Wagner. 1974, 176 Seiten Friedrich Wilhelm Kantzenbach (Hg.)
Verstehen und Verantworten Hermeneutische Beiträge aus den theologischen Disziplinen. Beiträge von: Wilhelm Andersen, Helmut Angermeyer, Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Horst Dietrich Preuß, August Strobel, Herwig Wagner. 1976, 192 Seiten Joachim Track ('Hg.)
Lebendiger Umgang mit Schrift und Bekenntnis Theologische Beiträge zur Beziehung von Schrift und Bekenntnis und zu ihrer Bedeutung für das Leben der Kirche. Beiträge von: Helmut Angermeyer, Georg-Hermann Dellbrügge, Gerhard Hausmann, Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Klaus Kasch, Horst Dietrich Preuß, August Strobel, Joachim Track. 1980, 216 Seiten
Calwer Verlag Stuttgart