Michael Kauppert Erfahrung und Erzählung
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Michael Kauppert Erfahrung und Erzählung
Wissen, Kommunikation und Gesellschaft. Schriften zur Wissenssoziologie Herausgegeben von Hans-Georg Soeffner Ronald Hitzler Hubert Knoblauch Jo Reichertz
Wissenssoziologinnen und Wissenssoziologen haben sich schon immer mit der Beziehung zwischen Gesellschaft(en), dem in diesen verwendeten Wissen, seiner Verteilung und der Kommunikation (über) dieses Wissen(s) befasst. Damit ist auch die kommunikative Konstruktion von wissenschaftlichem Wissen Gegenstand wissenssoziologischer Reflexion. Das Projekt der Wissenssoziologie besteht in der Abklärung des Wissens durch exemplarische Re- und Dekonstruktionen gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktionen. Die daraus resultierende Programmatik fungiert als Rahmen-Idee der Reihe. In dieser sollen die verschiedenen Strömungen wissenssoziologischer Reflexion zu Wort kommen: Konzeptionelle Überlegungen stehen neben exemplarischen Fallstudien und historische Rekonstruktionen stehen neben zeitdiagnostischen Analysen.
Michael Kauppert
Erfahrung und Erzählung Zur Topologie des Wissens Mit einem Vorwort von Hans-Joachim Giegel
Meinen Eltern
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16838-8
Vorwort
Schon ein Blick in das Inhaltsverzeichnis dieser Arbeit macht deutlich, dass hier in einem weit gezogenen Bogen auf die Grundlagen einer Soziologie als Erfahrungswissenschaft reflektiert wird. Wenn es um die grundlagentheoretischen Überlegungen zur Konstitution von Erfahrung und deren Reproduktion in Erzählungen geht (Kap. II und III), stützt sich der Autor auf die wegweisenden Analysen von Husserl, Hegel, Heidegger und Mead. Bei der wiederum grundlagentheoretischen Reflexion auf die basalen Strukturen der Lebenswelt bzw. des Erfahrungsraums (Kap. IV, V und VI) knüpft er an Husserl, Schütz, Habermas und Lévi-Strauss an. Mit diesem hoch komplexen, in seiner Logik bestechenden Argumentationszusammenhang ist der Anspruch des Autors aber noch nicht befriedigt. Sein Ziel ist es, nicht nur theoretisch das Verhältnis von Erfahrung und Erzählung zu bestimmen, sondern auch methodologisch zu klären, wie durch eine methodisch stringente Analyse von Erzählungen, insbesondere autobiographischen Erzählungen, ein Zugang zu Erfahrungen und Erfahrungsräumen gewonnen werden kann. Plausibel wird diese Zielsetzung durch eine kritische Sichtung der maßstäblichen Ansätze der Biographieforschung (Schütze, Rosenthal, Oevermann). Schließlich demonstriert er an einem Beispiel aus der eigenen empirischen Forschung, wie produktiv ein von ihm entwickeltes Auswertungsverfahren, das der Methodologie der strukturalen Analyse nach dem Muster der Mytheninterpretation von Lévi-Strauss folgt, bei der Analyse autobiographischer Erzählungen eingesetzt werden kann. Bei einer Arbeit mit einem so weit gespannten Anspruch muss der Leser naturgemäß erhebliche Anstrengungen unternehmen, um in der Komplexität des Argumentationsgangs sich nicht zu verlieren. Darum soll hier das Vorwort nicht dazu genutzt werden, mit eher äußerlichen Reflexionen, etwa einer Standortbestimmung des Autors, dem Leser die Überzeugung zu vermitteln, dass sich die ihm abverlangte Anstrengung lohnt. Stattdessen sollen durch einen gewissermaßen von der Seite kommenden Blick die wichtigen Schaltstellen des Argumentationsgangs beleuchtet werden, die das Ganze gliedern. Ausgangspunkt für die Kapitel II und III ist das der Biographieforschung zugrunde liegende Verhältnis von Lebenspraxis und den in ihr aufgebauten Erfahrungszusammenhängen einerseits und der einem Interviewee abverlangten
II
Vorwort
Erzählung seiner Lebensgeschichte andererseits. In dem Bemühen, „den Primat der Theorie vor der Methode zurückzuerobern“ (S. 91), stellt der Autor die Frage, „auf welche Weise der interne Zusammenhang von Erfahrung und Erzählung aus der Lebensalltäglichkeit eines Menschen selbst erwächst“ (S. 92). Die eingehenden Erörterungen, die auf diese Frage folgen, gewinnen ihre Überzeugungskraft daraus, dass sie Erfahrung und Erzählung nicht als „monolithische Blöcke“ (ebd.) behandeln, sondern hier verschiedene Differenzierungslinien verfolgen, die die hohe Komplexität des behandelten Verhältnisses freilegen. Zunächst einmal wird differenziert zwischen zwei grundsätzlich unterschiedenen Wegen der Erfahrungsbildung. Der erste Weg bestimmt sich durch die Enttäuschung von Erwartungen. Genauer sind drei Formen der Enttäuschung zu unterscheiden: Divergenz von faktischem zu erwartetem Erleben, Inadäquatheit eines bestimmten (durch Übergang zu einem höherstufigen zu ersetzenden) Modus von Erkenntnis und fehlende Authentizität der Lebenspraxis (Divergenz von Man-Selbst und Eigentlichkeit). Ganz anders gestaltet sich der Prozess der Selbsterfahrung, wenn man von Dialogsituationen ausgeht, in denen (von Alter und Ego) Fragen an die Identität einer Person gestellt werden. Auch hier sind weitere Differenzierungen zu beachten. Der Autor weist drei ganz unterschiedliche Fragestellungen als fundamental für die Herstellung der Selbstbeziehung nach und entwickelt daraus drei unterschiedliche Modi des Selbstverhältnisses (das autobiographische Selbstverhältnis, das autonome Selbstverhältnis, das authentische Selbstverhältnis). Das Bemühen um Differenzierung setzt sich bei der Skizzierung der Erzählformen fort, die jeweils auf einen der zuvor entwickelten Erfahrungsmodi reagieren. Bei Enttäuschungen von Erwartungen kann sich ein Ich in unterschiedlicher Weise narrativ auf den Prozess der Erfahrungsbildung beziehen: in Form von Erlebnisberichten, von Bildungsgeschichten und von Konversionserzählungen. Ebenso lassen sich im Hinblick auf Dialogsituationen drei Formen des narrativen Rückbezugs auf das eigene Ich unterscheiden: Familiengeschichte, narrative Selbstbilder und das innere Zwiegespräch (aus einem Befremden über sich selbst heraus). Wichtige Fragen einer Theorie der Erfahrungsbildung sind in den bisher behandelten Kapiteln ausgespart. Dazu zählt insbesondere die Frage, wie Erfahrungen davor geschützt sind, bloß als unzusammenhängende, voneinander isolierte Partikel in Erscheinung zu treten, wie sie sich vielmehr in einem übergreifenden Sinnzusammenhang zusammenschließen können. Und darüber hinaus die Frage, wie Erfahrungszusammenhänge sich so konstituieren können, dass sie sozial kommunizierbar sind. Verschiedene grundlagentheoretische Reflexionen des Faches rekurrieren in diesem Zusammenhang auf das Konzept der „Lebenswelt“. Es ist daher konsequent, wenn der Autor in den nachfolgenden Kapiteln seine Erörterung der Erfahrungsbildung auf dieses Konzept bzw. auf das
Vorwort
III
Konzept des Erfahrungsraums ausdehnt. Der Erfahrungsaufbau eines Akteurs wird jetzt aus der Perspektive einer Soziologie des Wissens betrachtet, die den „Fokus nicht mehr auf das Selbstverhältnis eines Sprechers, sondern auf dessen Weltverhältnis“ (S. 167) legt. Ausgangspunkt dieser Überlegungen sind die Lebenswelttheorien von Husserl, Schütz und Habermas. In der kritischen Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen entwickelt der Autor ein eigenes Konzept der Lebenswelt oder in seiner Sprache: des Erfahrungsraums. Das geschieht in mehreren Schritten: 1.
2.
3.
Während die drei genannten Autoren mit ihrer jeweiligen Konzeption darauf zielen, invariante Strukturen der Lebenswelt aufzuzeigen, die nicht durch Erfahrungen konstituiert werden, sondern umgekehrt Bedingungen für die Möglichkeit von Erfahrung darstellen, sieht Kauppert hier eine unhintergehbare „Zirkularität“ (S. 183) und konzipiert entsprechend die Strukturen der Lebenswelt nicht als fixierte Werte, sondern als Korrelat innerweltlicher Ereignisse, Handlungen und Erlebnisse. Damit wird die Lebenswelt als „Erlebenswelt empirischer Subjekte“ (S. 186) ausgewiesen. Wenn also auf diese Weise einerseits dem Lebensweltsubjekt „das empirische Leben wieder zurückerstattet“ (S. 190) wird, muss andererseits vermieden werden, dass die Lebenswelt sich empirisch „in milliardenfacher Vielfalt“ (S. 189) auflöst. Der Autor versucht deshalb, eine „mittlere Position zwischen der Lebenswelttheorie und der Lebensweltempirie“ (ebda.) aufzuzeigen. Die relative Festigkeit der Strukturen der Lebenswelt expliziert er mit Verweis auf jene Operationen, denen schon bei Schütz (neben der Operation der Identifizierung) eine zentrale Bedeutung zugewiesen worden war: Kompartimentalisierung und Typisieren. Die Sicherheit, dass der Wissensvorrat als Ganzes in Geltung bleibt, beruht insbesondere darauf, dass ein Typus in einem horizontalen Verbund mit anderen Typiken steht und damit ein Erfahrungssubjekt „in jeder einzelnen Situation sein gesamtes Weltwissen“ (S. 208) ins Spiel bringen kann. Mit der Verweisung der Typen aufeinander werden Räume verknüpft, „indem man sie voneinander trennt“ (S. 209).
In einem letzten Ausgriff verknüpft der Autor nun alle vorangegangenen Überlegungen mit drei Aussagen, durch die ein bruchloser Zusammenhang zwischen seinem Theorieprogramm und der am Ende präsentierten (einer von ihm selbst entwickelten Methodologie folgenden) empirischen Analyse hergestellt wird. Zunächst stellt er eine Beziehung zwischen Erfahrungsraum und Erzählung her: Die Erzählung (einer Lebensgeschichte) kann „als ein funktionales Reproduktionsmodell des Erfahrungsraums verstanden werden“ (S. 226). Die Begrün-
IV
Vorwort
dung für diese These wird aus dem dargestellten Zusammenhang von Erfahrungsbildung und Erzählung entwickelt. Damit reklamiert Kauppert im Gegenzug zu einer skeptischen Einschätzung von Habermas „die Möglichkeit einer Selbstbeobachtung der Lebenswelt durch Alltagsnarrative“ (S. 181). Die zweite Aussage lautet: „Zwar stimmt es, dass die Erzählung einer zeitlichen Ordnung folgt, aber sie bezieht sich dabei nicht auf die irreversible Zeit des Erlebens, sondern auf den Raum der Erfahrung“ (S. 237). Daraus ergibt sich schließlich drittens eine methodologische Konsequenz. Wenn die Struktur des Erfahrungsraums sich in der Form eines räumlichen Beziehungsgeflechts derjenigen Dimensionen herausbildet, die in lebenspraktischen Erfahrungen immer wieder bestätigt wurden, dann muss die Erzählung „topologisch analysiert werden (S. 238). Die Methodologie einer solchen Analyse muss nicht neu erfunden werden. Man muss nur, wie der Autor, eine genaue Kenntnis des Werks von Lévi-Strauss besitzen, um ein äußerst wirkungsvolles Analyseinstrumentarium, das außerhalb der Soziologie entwickelt worden ist, für die soziologische Forschung fruchtbar zu machen. „Das methodische Vorbild dafür ist die strukturale Analyse. Ihr Paradigma findet sie in der Interpretation von Mythen“ (S. 243). Schon diese wenigen Andeutungen machen klar, dass der Autor mit seiner Arbeit nicht weniger intendiert, als mit einem eigenen ambitionierten Theorieaufbau die grundlagentheoretischen Ansätze des Faches herauszufordern. Dabei grenzt er sich nicht nur kritisch von ihnen ab, sondern zeigt auch bisweilen überraschende Zusammenhänge auf, so z. B. zwischen dem phänomenologischen Ansatz der Lebensweltanalyse und der Methodologie der strukturalen Analyse nach dem Muster von Lévi-Strauss. Dass hier auch Anregungen des Strukturalismus von Giddens und Bourdieu hineinspielen, ist unverkennbar. Die Arbeit verdient, mit größter Aufmerksamkeit und Anstrengung gelesen zu werden. Sie besitzt den Charakter eines Werkes, das eine spürbare Unruhe in das Fach hineinzutragen vermag, weil es die tradierten grundlagentheoretischen Reflexionen nicht nur in einer beeindruckenden Breite aufnimmt, sondern ihnen in die Tiefe folgt, ihre Wege präzise nachzeichnet, dabei Unebenheiten und Sackgassen aufdeckt, um dann neue Ausgänge zu erschließen.
Berlin, den 24. August 2009 Hans-Joachim Giegel
Inhalt
Einleitung ......................................................................................................... 11
Erster Teil Zum methodischen Ort des Verhältnisses von Erfahrung und Erzählung Kapitel I
Die Biographieforschung ........................................................... 17
1. Präfigurationen ...................................................................................... 18 2. Konfigurationen .................................................................................... 32 2.1 Probleme mit der Homologie ....................................................... 32 2.2 Ein dualistisches Dilemma ........................................................... 41 2.3 Der Konflikt der Interpretationen ................................................. 54 3. Rekonfigurationen ................................................................................. 71 3.1. Orthodoxien .................................................................................. 71 3.2. Leben oder Erzählung? ................................................................. 78 4. Resümee ................................................................................................ 87
Zweiter Teil Die Konstitution narrativer Selbstverhältnisse Kapitel II
Subjektivierungen ...................................................................... 91
1. Die Differenz von Erwartung und Erfüllung .......................................... 93 2. Enttäuschungsvarianten .......................................................................... 98 2.1 Durchstreichung ........................................................................... 99 2.2 Entfremdung ............................................................................... 101 2.3 Angst .......................................................................................... 103 3. Umdeutungen von Enttäuschungen ..................................................... 107 3.1 Erfahrungen sammeln ................................................................. 108 3.2 Erfahrungen machen ................................................................... 109
6
Inhalt
3.3 Erfahrungen suchen .................................................................... 111 4. Darstellungen von Enttäuschungen ..................................................... 114 4.1 Erlebnisberichte .......................................................................... 114 4.2 Bildungsgeschichten ................................................................... 117 4.3 Konversionserzählungen ............................................................ 120 5. Resümee .............................................................................................. 122 Kapitel III
Objektivierungen ..................................................................... 125
1. Die Differenz von Ego und Alter ........................................................ 126 2. Drei Fragekonstellationen ................................................................... 131 2.1 Woher komme ich? ..................................................................... 133 2.2 Wer bist du? ................................................................................ 136 2.3 Wer bin ich? ............................................................................... 140 3. Selbstbeziehungen ............................................................................... 142 3.1 Das autobiographische Selbstverhältnis ..................................... 143 3.2 Das autonome Selbstverhältnis ................................................... 145 3.3 Das authentische Selbstverhältnis .............................................. 146 4. Selbstzeugnisse ................................................................................... 150 4.1 Die Familiengeschichte .............................................................. 151 4.2 Narrative Selbstbilder ................................................................. 152 4.3 Das innere Zwiegespräch ........................................................... 154 5. Resümee .............................................................................................. 158 Im Rückblick: Die soziologische Biographieforschung ................................. 163
Dritter Teil Die Narrativierung des Weltverhältnisses Kapitel IV 1. 2. 3. 4. 5.
Die Lebenswelt ........................................................................ 167
Die Laientheorie der Lebenswelt ........................................................ 168 Die Lebensweltphilosophie bei Edmund Husserl ............................... 170 Die Lebensweltsoziologie bei Alfred Schütz ...................................... 175 Die Lebenswelttheorie bei Jürgen Habermas ...................................... 178 Resümee .............................................................................................. 186
Inhalt
7
Kapitel V
Der Erfahrungsraum ................................................................ 189
1. Das Integral subjektiver Erfahrungen ................................................. 190 2. Die Konstitution von Erfahrung .......................................................... 197 3. Die Organisation von Vertrautheit ...................................................... 202 3.1 Kompartimentalisierung ............................................................. 204 3.2 Soziale Verteilung ...................................................................... 205 3.3 Sprache ....................................................................................... 206 4. Resümee .............................................................................................. 209
Vierter Teil Zur Topologie des Wissens Kapitel VI
Wie erschließt sich der Erfahrungsraum? ................................ 213
1. Die natürliche Verzeitlichung der Erfahrung ...................................... 214 2. Die methodische Verräumlichung der Erzählung ............................... 224 2.1 Dechronologisierung .................................................................. 226 2.2 Methodologische Prinzipien ....................................................... 229 2.3 Symbolische Operatoren ............................................................ 232 2.4 Struktur ....................................................................................... 234 3. Die Repräsentation der Erfahrung in der Erzählung ........................... 235
Kapitel VII
Empirie .................................................................................... 245
1. Symbolische Operatoren ..................................................................... 246 1.1 Das Haus .................................................................................... 246 1.2 Die Hand .................................................................................... 262 2. Die Struktur des Erfahrungsraums ...................................................... 269 2.1 Methodische Aufbereitungen ..................................................... 269 2.1.1 Segmentierung ................................................................. 270 2.1.2 Paraphrasierung ............................................................... 270 2.1.3 Paradigmatische Gruppen ............................................... 272 2.1.4 Das Tableau der Erfahrung ............................................. 279 2.2 Die Strukturhypothese ................................................................ 282 2.2.1 Erste Teilbeziehung ......................................................... 282 2.2.2 Zweite Teilbeziehung ...................................................... 283
8
Inhalt
Zusammenfassung und Ausblick ................................................................ 285 1. Zusammenfassung ............................................................................... 285 2. Ausblick .............................................................................................. 293
Danksagung ................................................................................................... 295 Anhang: Segmentierung und Paraphrasierung .............................................................. 297 Literaturverzeichnis ........................................................................................ 311
Verzeichnis der Abbildungen, Tabellen und Übersichten
Abbildungen Abbildung 1: Methodische Einklammerungen in Literatur und Autobiographie ....................................................................... 43 Abbildung 2: Einklammerung der Zeit des Erlebens in der Autobiographie ....................................................................... 44 Abbildung 3: Die Erzählkorrelation für die biographische Datenanalyse ........................................................................... 44 Abbildung 4: Die Korrelation von Erzählen und Erleben bei Rosenthal ................................................................................ 49 Abbildung 5: Zusammenhang von Erfahrungsraum und Erfahrungsgeschichte ............................................................ 217 Abbildung 6: Von der euklidischen Geometrie zum topologischen Raum ..................................................................................... 241 Abbildung 7: Die geometrische Ermittlung der geographischen Mitte ...................................................................................... 253 Abbildung 8: Inverse Beziehungen des sozialen Raums im geographischen Schema ........................................................ 256 Abbildung 9: Übersetzungsdimensionen des symbolischen Operators Haus ..................................................................... 261 Abbildung 10: Übersetzungsdimensionen des symbolischen Operators Hand ..................................................................... 268 Abbildung 11: Tableau des Erfahrungsraums ............................................... 280
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Abbildungen, Tabellen, Übersichten
Tabellen Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8:
Probleme mit dem sozialen Status .............................................. 274 Betonung des sozialen Status ..................................................... 274 Probleme mit einer personalen Kompetenz ................................ 275 Betonung einer personalen Kompetenz ...................................... 275 Probleme mit dem sozialen Raum .............................................. 276 Betonung des sozialen Raums .................................................... 277 Probleme mit Verwandtschaft .................................................... 278 Betonung der Verwandtschaft .................................................... 278
Übersichten Übersicht 1: Inverse Generationsbeziehungen ............................................. 251 Übersicht 2: Interpretationen der Relation von Vater und Sohn .................. 259 Übersicht 3: Liste der Narrateme ................................................................. 271
Einleitung „Komm in den totgesagten Park und schau“ Stefan George
Dass es in der geographischen Ferne und kulturellen Fremde etwas zu entdecken gibt, an dem sich das Selbstverständnis derer schärfen und abarbeiten kann, die es in die „weite Welt“ zieht, gehört zu einer Volksweisheit. Sie lässt sich auch zu den verborgenen Gründungsmotiven der Ethnologie zählen. Denn zwar professionalisiert sich das Sehnsuchtsmotiv eines Reisenden, wenn er sich das Gewand der Wissenschaft umlegt, doch der in Aussicht stehende Ertrag scheint sich von seinen Privatinteressen nicht zu unterscheiden: Was die Menschen seien, so Rousseau (1989, S. 120), könne jeder in seiner unmittelbaren Nachbarschaft erfahren, was aber der Mensch ist, erführe man nur in der Ferne. Unter allen Unbekannten aber, die in der Fremde auf einen Forscher warteten, war er selbst die größte. Die Wilden warfen ihm das zivilisatorische Bild zurück, das er sich von ihnen zu machen versuchte. Weil sich die Fremden und der Fremdling nur ganz allmählich miteinander verständigen und gegenseitig durchdringen konnten, blieb dem Ethnologen nichts anderes übrig, als sich zumindest hypothetisch an sie zu assimilieren. Verlängert man den Forschungsaufenthalt eines Ethnologen bei den von ihm Beforschten hypothetisch ins Unbestimmte und stellt sich vor, dass sich das Forschungsinteresse im Laufe der Zeit mehr und mehr abschleift und im Gegenzug aus dem Ethnologen sukzessive einen Einheimischen macht, dann hätte man die Ausgangssituation eines Phänomenologen gewonnen. Anders als ein Ethnologe ist ein Phänomenologe nicht von weit her gereist, aber er gehört gleichwohl zu der Art von Leuten, die sich in der „Heimwelt“ (Därmann 2005, S. 434f.) noch über das wundern können, was sonst niemanden mehr zu kümmern scheint. Aus Sicht eines Phänomenologen ist Fremdheit nicht nur mit geographischer Ferne und kultureller Differenz gegeben, sie befindet sich bereits „mitten unter uns“. Fremd sind die Dinge nicht nur in der allerersten Begegnung, sie werden es auch in dem Maße, wie sie sich danach von selbst verstehen. So muss ein Phänomenologe gar nicht erst in die Ferne schweifen, um Fremden und Fremdem zu begegnen, sondern die Welt beginnt für ihn bereits am heimischen Herd unvertraut zu werden: Man muss nur richtig hinsehen. Wo andere nur gleichgültig die Schultern zucken, führt die veränderte Einstellung des Phänomenologen dazu, die Welt wieder wie zum ersten Mal zu sehen.
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Einleitung
Fremdheit wartet auf ihn in allernächster Nähe und sie gibt sich das Kleid und die Anmutung eines Selbstverständlichen. Damit methodisch zu brechen nannte Husserl (1954, S. 138) die epochƝ. Wie Rousseau den Ethnologen in die Ferne schickte, so zerschnitt auch Husserl die Verbindung, die ein Phänomenologe mit den Gewissheiten des alltäglichen Welterlebens hatte – mit dem Unterschied, dass die Reise des Phänomenologen in das Innere des ‚common sense‘ führte. Wie Rousseau dem Reisenden die Einsicht in eine anthropologische Universalie in Aussicht stellte, so verhieß auch die epochƝ eine Invariante – die „formal allgemeinsten Strukturen der Lebenswelt“ (ebd., S. 145). Zwischen Ethnologie und Phänomenologie besteht demnach ein symmetrisches Verhältnis: Die einen suchen das Fremde in der Ferne, die anderen in der Heimat. Die einen begegnen ihrer eigenen Kultur in der Wildheit des Wilden, die anderen erleben sich als zivilisatorische Fremde in den selbstverständlichen Gewissheiten ihres Alltags.1 Unter diesen Vorzeichen verwundert es allerdings, dass Phänomenologie und Ethnologie vergleichsweise schwer ins Gespräch kamen. Lucien LévyBruhl musste beispielsweise Aron Gurwitsch gegenüber eingestehen, dass er den Mitteilungen Husserls, mit dem er in schriftlicher Korrespondenz stand, nicht mehr folgen konnte: „Expliquez-moi, je n’en comprends rien“ (zitiert nach Blumenberg 2001, S. 43). Aber auch das umgekehrte Verhältnis von Ethnologie und Phänomenologie lässt sich beobachten: „Also etwa Claude Lévi-Strauss, den finde ich einen interessanten Soziologen, obwohl er sich nie so genannt hätte“ (Waldenfels 2001, S. 427; kursiv i. O.). Die gegenseitige Distanz konnte weder in der Anlage noch in der Durchführung der Forschungspraxis begründet sein. Die Suche nach den invarianten Strukturen von Kultur und Lebenswelt hätte im Gegenteil Ethnologen und Phänomenologen viel näher zusammenrücken lassen müssen. Die Differenz liegt indessen im Grundbegrifflichen: Für die einen, namentlich Lévi-Strauss, ist „Sinn“ der Effekt einer kombinatorischen Algebra. Die anderen, namentlich Husserl, setzen die Sinnhaftigkeit der Welt voraus. Zwischen diesen beiden Welten ist die vorliegende Arbeit angesiedelt. Ihr innerer Ausgangspunkt ist die Frage nach den elementaren Strukturen der Weltvertrautheit eines Erfahrungssubjekts. Inhaltlich nimmt sie damit die Lebensweltproblematik der Phänomenologie auf, methodisch orientiert sie sich an der strukturalen Analyse von Claude Lévi-Strauss. Während die Lebenswelt-
1
Clifford Geertz (1993, S. 107) sieht im Werk von Ruth Benedict die Forderung begründet, auf Nordamerikaner und Europäer so zu blicken, wie diese als Ethnologen auf andere blicken würden. Das Ergebnis dieser inversen Ethnologie sei es, dass das Eigene fremd und das Fremde vertraut werde. Nicht mit epistemologischen, sondern mit eher moralischen Kategorien begründet Bruno Latour (1993, S. 101) die gleiche Forderung: „Western ethnologists cannot limit themselves to the periphery; otherwise, still asymmetrical, they would show boldness toward others, timidity toward themselves“.
Einleitung
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phänomenologie die Strukturen der Lebenswelt (Schütz) stets theoretisch beschrieben hat, ist es Lévi-Strauss gewesen, der auf anderem Gebiet, insbesondere in der Mythenanalyse, praktisch gezeigt hat, wie Strukturen am empirischen Material zu analysieren sind. In dieser Arbeit verknüpfe ich beide Seiten miteinander. Denn mit der Frage nach den elementaren Strukturen der Weltvertrautheit eines Erfahrungssubjekts lässt sich die Lebensweltproblematik der Phänomenologie reformulieren. Mich interessiert die Lebenswelt insofern, wie sie der Inbegriff einer elementaren Weltvertrautheit eines Erfahrungssubjekts ist. Und mich interessieren die Strukturen der Lebenswelt insofern, wie sie der Inbegriff für die Organisation dieser Vertrautheit sind. Die vorliegende Arbeit gilt der Frage, unter welchen theoretischen Vorannahmen, methodologischen Grundsätzen und methodischen Mitteln die Organisation von Weltvertrautheit empirisch zu analysieren ist. Dieser Versuch geht mit einem Optimismus einher, den man nicht teilen muss. Denn eine derart diffuse Angelegenheit wie „subjektive Weltvertrautheit“ auf empirischem Weg zu analysieren, gleicht dem Versuch eines Kindes, Seifenblasen einzufangen. Um aus diesem gleichermaßen anmutigen wie vergeblichen Kinderspiel einen soziologischen Ernst zu machen, der sich seine Wette auf Erfolg nicht durch die Schwierigkeiten ausreden lässt, die auf ihn bei diesem Unternehmen unweigerlich warten, empfiehlt es sich, an den Prämissen zu arbeiten. „Weltvertrautheit“ kann daher nicht länger mehr als Korrelat intentional verfassten Sinns verstanden werden, wie es die phänomenologische Tradition sieht, sondern ist als ein Effekt der internen Organisation des „Wissensvorrates“ eines Erfahrungssubjekts anzusehen. Mit anderen Worten: „Weltvertrautheit“ muss struktural analysiert werden. Bis ich zur Begründung dieser These komme, sind jedoch einige Vorklärungen zu unternehmen. In methodischer Hinsicht rückt zunächst das Verhältnis von Erfahrung und Erzählung in den Mittelpunkt. Denn wenn man sich einen Zugang zur Weltvertrautheit eines Erfahrungssubjekts ebnen möchte, dann bietet es sich an, diese empirisch dort abzugreifen, wo diese von den Erfahrungssubjekten „natürlich“ dargeboten wird: in einer Erzählung. In der Soziologie ist es aber nicht die Lebensweltphänomenologie, sondern die Biographieforschung, die sich für den Zusammenhang von der Erfahrung eines Biographiesubjekts und der von ihm erzählten Lebensgeschichte interessiert. Im ersten Teil dieser Arbeit wende ich mich den methodischen Fragen und Problemen in der soziologischen Biographieforschung in der Absicht zu, die dort gängigen Verfahren der Gegenstandserschließung auf die Frage hin zu prüfen, inwiefern diese für die methodischen Zwecke einer transformierten Lebenswelttheorie zu gebrauchen sind (Kapitel I). Im zweiten Teil der Arbeit stelle ich umgekehrt die Frage, wie der Zusammenhang von Erfahrung und Erzählung aus einer alltäglichen Perspektive zu
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Einleitung
verstehen ist. Es wird dort der Vermutung nachgegangen, dass es noch vor der methodischen Zurichtung von Erfahrung und Erzählung zu einander gegenüberstehenden Blöcken, interne Differenzierungen gibt, die im menschlichen Welterleben auf selbstverständliche Weise zum Zuge kommen. Nicht nur die Erfahrungsquellen lassen sich unterscheiden, auch ihre narrativen Darbietungen haben unterschiedliche Funktionen – sei es, weil durch sie Erzähler subjektiviert werden (Kapitel II), sei es, weil sie zu deren Verobjektivierung führen (Kapitel III). Dieser Teil dient in systematischer Hinsicht als Hintergrundfolie für den darauf folgenden. Im Mittelpunkt des dritten Teils steht die Frage, wie die Lebensweltproblematik zu empirisieren ist. Das erfordert zum einen die Rückvergewisserung der Thematik bei den Gründervätern (Kapitel IV), vor allem aber stellt sich hier die Frage, wie sich zur Weltvertrautheit eines Erfahrungssubjekts aus theoretischer Sicht überhaupt ein angemessenes Verhältnis gewinnen lässt. Ich schlage dort vor, das Konzept des Erfahrungsraums als Erbe der Problemstellungen der Lebenswelttheorie zu verstehen (Kapitel V). Der vierte Teil ist wieder methodologischen Fragen gewidmet. Zum einen entwickle ich dort ein Modell, mit dem man den internen Zusammenhang von Erfahrungsraum und Erfahrungsgeschichte verstehen kann (Kapitel VI). Zum anderen stelle ich Grundprinzipien für die topologische Analyse des subjektiven Raums von Erfahrung vor und wende sie an einem Fallbeispiel an (Kapitel VII). Mit dieser Arbeit verfolge ich insgesamt die Intuition, dass es zwischen dem starken Anspruch des Lebenswelttheorems auf universelle Gültigkeit einerseits und historisch-konkreten Lebenswelten andererseits einen dritten Weg geben kann. Denn begreift man die Lebenswelt als einen Raum, der zwischen den Räumen subjektiver Erfahrung liegt und dessen Eigenart darin besteht, mannigfache Verbindungen und Trennungen zwischen den einzelnen Räumen subjektiver Erfahrung herzustellen, dann lässt sich zumindest verständlich machen, auf welchen anderen Grundlagen die klassische Lebenswelttheorie heute noch zu beerben ist: Die Lebenswelt wäre weder universal, noch partikular, sondern ein Zwischenraum der Erfahrung.
Erster Teil Zum methodischen Ort des Verhältnisses von Erfahrung und Erzählung
„Life's but a walking shadow, a poor player that struts and frets his hour upon the stage and then is heard no more: it is a tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing.” Shakespeare, Macbeth
Kapitel I
Die Biographieforschung „Im Zusammensetzen selbst liegt die Energie der Rede; sonst nichts.“ Herder, Erstes kritisches Wäldchen
Die folgenden Überlegungen gelten der soziologischen Behandlungsart von Biographien. Ich möchte einzelne Methoden der biographischen Analyse nur insoweit darstellen, wie sich dadurch aufzeigen lässt, welches die teils expliziten, größtenteils jedoch impliziten Annahmen sind, mittels derer sich diese Verfahren ihrem Untersuchungsgegenstand zu nähern suchen. Erst wenn es gelingt, auch in der Heterogenität methodischer Gegenstandserschließungen durchgängige Prinzipien ausfindig zu machen, durch welche ein Forschungsfeld maßgeblich organisiert wird, kann man von einer Einheitlichkeit wenn nicht des Untersuchungsgegenstandes, so aber doch des Zugangs zu ihm ausgehen. Das Feld der soziologischen Biographieforschung bliebe jedenfalls unverstanden, wenn versucht würde, es vom Gegenstand her zu bestimmen. Man braucht sich nur einige der hier ansässigen Fragen hinsichtlich des Untersuchungsobjektes zu vergegenwärtigen, um die Illusion eines einzigen Gegenstandes der Biographieforschung aufzulösen: Ist es der gesellschaftliche Anteil an objektiven Ereignissen im Lebensverlauf? Sind es diese Ereignisse selbst oder ist es die kognitiv erinnerte Geschichte daran? Handelt es sich bei Autobiographien um gegenwärtige Deutungsmuster vergangener Erfahrungen oder sind dies pragmatische Erzählungen eines sozial eingebetteten Selbst? Trotz der Heterogenität denkbarer Gegenstände einer soziologischen Biographieforschung besteht, wie ich in diesem Kapitel zeigen werde, eine relative Homogenität hinsichtlich der in diesem Feld praktisch befolgten Prinzipien der Gegenstandserschließung. Bei der soziologischen Biographieforschung handelt es sich um ein Forschungsfeld, in dem unterschiedliche Forscher auf einen gemeinsam geteilten Fundus an Hintergrundüberzeugungen zurückgreifen. Die methodologische doxa innerhalb des biographischen Feldes führt zu einer Vorwegnahme dessen, was und wie etwas für die soziologische Forschung als Gegenstand vor Augen stehen kann. Indem „Biographie“ forschungspraktisch standardisiert wird, ohne dass dazu einzelne Forscher eine Absprache treffen müssten, werden alternative Behandlungsarten desselben Gegenstandes ausgeschlossen. Ich werde im Weiteren die methodologische Hintergrundeinigkeit der soziologischen Biographieforschung in drei Schritten herausarbeiten. Zunächst werde ich die Präfigurationen (1. Abschnitt) des Forschungsfeldes vornehmlich
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I. Biographieforschung
entlang seiner Beziehungen beschreiben, durch die es sich einerseits von vergleichbaren Forschungsanstrengungen abgrenzt (Lebensverlaufsforschung, Geschichtswissenschaft), mit denen es andererseits aber auf methodischer Ebene in Berührung kommt (Triangulation, Erhebungstechniken). Im zweiten Schritt diskutiere ich dann drei Methodologien, durch die das Feld der soziologischen Biographieforschung im engeren Sinne konfiguriert wird (2. Abschnitt). Mit Ricœur (1973) gehe ich davon aus, dass sich deren Validität nur über eine Reflexion ihrer Grenzen bestimmen lässt. Über die Reichweite einzelner Methoden lassen sich dann die immanenten Selbstbeschränkungen des Feldes der soziologischen Biographieforschung insgesamt aufweisen. Da sich ein Forschungsfeld maßgeblich über Methoden und Methodologien definiert, verhält sich dessen Kern koextensiv zu den Grenzen, die durch einzelne Verfahren der Gegenstandserschließung aufgespannt werden. Es obliegt also nicht so sehr einzelnen Forschern, durch die Erfindung von Methoden darüber zu entscheiden, was als Biographie für die Soziologie relevant ist, sondern vielmehr organisiert und normiert das Feld selbst mögliche Ausprägungen und Varianten einzelner Methodologien. Für Biographieforscher macht sich diese Selbstorganisation des Feldes als forschungspraktische Gewissheit geltend, als eine intuitive, von einer Community von Forschern weitgehend geteilte Überzeugung, was Biographie ist, inwiefern sie soziologisch überhaupt relevant ist und wie ihr dementsprechend methodisch beizukommen ist. Der Zweck der folgenden Darstellung besteht nicht nur darin, die methodische Präfiguration des Gegenstandes „Biographie“ vor Augen zu führen, sondern auch die Ein- wie Ausschlüsse möglicher Gegenstände durch die biographische Methodologie anzudeuten. Erst wenn klar geworden ist, worin die Grenzen eines Forschungsfeldes faktisch bestehen und wie sie aufrechterhalten werden, lässt sich überhaupt an alternative Zugänge denken. Der dritte Schritt besteht dann demzufolge darin, die theoretische und methodologische Rekonfiguration des Feldes vorzubereiten (3. Abschnitt). 1.
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Die soziologische Biographieforschung konstituiert sich zunächst durch den Ausschluss einer Betrachtungsweise, die nicht die Biographie sondern den Lebenslauf zum Thema macht (Hahn 1988). Die Lebensverlaufsforschung schematisiert ihren Gegenstand als ein Muster sequentieller Ereignisse in der Ordnung einer objektiven Zeit und fragt dabei nach den Formen und den Veränderungen in der gesellschaftlichen Regulierung von Lebenswegen (Kohli 1985; Mayer 2002). Der Lebensverlauf gilt in dieser Perspektive zwar als ein Resultat von subjektiven Entscheidungen, gleichwohl werden diese als derart abhängig von
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sozialstrukturellen Merkmalen, Alterskohorten und historischen Ereignissen angesehen, dass sich der Lebensverlauf als eine faktorisierbare Gesellschaftsgröße darstellen lässt. Entsprechend wird nicht der einzelne Lebensverlauf, sondern eine statistische Aggregatform untersucht, die als solche in Beziehung zu makrosoziologischen Größen gesetzt wird. Die Biographieforschung unterscheidet sich hiervon dadurch, dass sie sich zunächst für einen Biographieträger in seiner Singularität interessiert.2 Dieser entsteht aus einem Ereignis (Geburt) und kollabiert in einem Ereignis (Tod). Die dazwischen liegenden Lebensereignisse werden in der Biographieforschung nicht als Abfolge beobachtet, sondern in ihrer inneren Verzahnung. Und das heißt: In ihrer Motiviertheit. Eine solchermaßen ausgerichtete Beobachtung von Lebensverläufen beinhaltet demzufolge genau das, was die Lebensverlaufsforschung durch ihre Konzentration auf objektive Daten ausschließt: die subjektive Sinndimension der Biographieträger. Die inverse Beziehung von Lebensverlauf und Biographie legt nahe, dass der Einschluss von Sinn zugleich den Ausschluss von Objektivität bedeutet – und umgekehrt. Entsprechend lässt sich zwischen den beiden Forschungsrichtungen ein methodologisches Patt ausmachen: Auf der einen Seite befinden sich Verfahren, die das subjektive Sinnverstehen der Biographieträger erfassen und auf der anderen jene, die einen objektiven Erklärungsanspruch von Lebensverläufen verfolgen. In Zeiten wissenschaftlicher Ruhelage stellt dies eine sich selbst genügende Unterscheidung mit praktischer Wirkung dar: Es lässt sich hüben wie drüben in Forschungsprojekten einrichten. Gelegentlich wird das Verhältnis zwischen Biographie- und Lebensverlaufsforschung als komplementär angesehen. Mit der Ansicht, dass sich objektive Ereignisdaten und subjektive Sinnmuster ergänzen müss(t)en (Blossfeld/Huinink 2001, S. 24; Mayer 2002, S. 53), wird zunehmend die Forderung nach einer Triangulation von Methoden verknüpft. Mit dieser eher technischen Diskussionslinie, die als Fortschritt gegenüber den „paradigm wars“ vergangener Tage beobachtet wird (Flick 2004, S. 67), geht allerdings eine grundlegende Selbstabschließung des Feldes gegenüber alternativen Gegenstandsauffassungen einher. „Triangulation“ fungiert als eine Maxime für ein Vorgehen, das sich einzig von einer adäquaten Erfassung und Beschreibung von Phänomenen leiten lassen will und sich daher nicht (mehr) an den etablierten Grenzziehungen zwischen quantitativen und qualitativen Methoden orientieren kann. Was nach einem späten Widerhall des phänomenologischen Mahnrufs klingt, endlich zu den Sachen selbst vorzudringen, führt allerdings mehr zur Eintrübung der Sicht auf Phänomene, als zu deren Aufklärung. Wie sich bereits
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„Zunächst“, weil sie in der Folge dazu neigt, auf ihre Weise zu aggregieren, nämlich mehrere Biographien zu Real- oder Idealtypen zusammenzufassen.
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am geometrischen Vorbild der Triangulation und dessen praktischer Anwendung in der Landvermessung studieren lässt, muss ein konstanter Basisabstand zwischen zwei Perspektiven eingehalten werden, damit von unterschiedlichen Beobachtungsstandorten aus ein gemeinsamer Gegenstand überhaupt angepeilt werden kann. Wer per Methodentriangulation hofft, einen Untersuchungsgegenstand adäquater bestimmen zu können, als das ohne wechselseitigen Methodenimport möglich wäre, verringert nicht den Abstand zwischen den Perspektiven der Lebensverlaufsforschung und der Biographieforschung, sondern lässt ihn erstens unangetastet und geht zweitens davon aus, dass auch die jeweils andere Seite den selben Kirchturm sieht. Das Problem des Beobachterabstandes lässt sich hier nicht auf das Phänomen der Parallaxe reduzieren, sondern betrifft qua Methode grundlegende Probleme unterschiedlicher Gegenstandskonstitutionen. In der Sozialforschung wurde der Einfluss des Methodenarsenals auf den Untersuchungsgegenstand unter dem Stichwort der „Reaktivität von Methoden“ diskutiert (Webb 1966). Die theoretischen Fluchtlinien dieser Diskussion konvergieren jedoch nicht in einem von der Beobachterperspektive als unabhängig angenommenen Gegenstand, sondern verhalten sich inkommensurabel zueinander. So entwirft beispielsweise die in der Lebensverlaufsforschung praktizierte Sequenzmusteranalyse den Lebenslauf als eine Abfolge von Ereignissen, denen sozialwissenschaftliche Prädikate wie „Ausbildung“ oder „Beruf“ zuerkannt werden können (Erzberger/Prein 1997; Abbot/Tsay 2000). Dergestalt aber wird der Lebenslauf als die Frage nach der Lebensserialität eines Zustandsträgers bearbeitet. In der Biographieforschung hingegen wird das Problem des Lebenszusammenhangs eines Biographiesubjekts untersucht. Nur auf den ersten Blick handelt es sich hier um einen vernachlässigenswerten Unterschied. An der Behandlung des für beide Forschungsansätze wichtigen Problems der Zeit lässt sich ihre fundamentale Differenzlinie erkennen. Auf der einen Seite, der Lebensverlaufsforschung, wird Zeit als unabhängige Variable benutzt, um Veränderungen eines Zustands in der Zeit zu beobachten. Auf der anderen Seite, der Biographieforschung, interessiert jedoch nicht Zeit als vermeintlich objektive Größe, sondern mit Erlebnissen und Erfahrungen steht die subjektive Wahrnehmung der Lebenszeit auf dem Prüfstand. Genau genommen geht es in der Biographieforschung, wie die nachfolgende Diskussion noch ausführlicher zeigen wird, um die Verknüpfung von Erlebnissen, die eine zeitliche Qualität besitzen. „Zeit“ wird hier auf einen subjektiven Prozess zurückgeführt. Zeiterfahrung wird zum Korrelat operativer Verknüpfungsleistungen (Bewusstseinsakte, Handlungen), vermöge derer jene Eigenzeit entsteht, die ein biographisches Subjekt als die seinige erfährt. Zeiterleben geschieht hier also nicht in der Zeit, sondern durch die Zeit. Bei den Lebensverlaufsforschern hingegen ist Zeit eine
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überindividuelle Ordnungs- und Koordinationsgröße von Ereignissen und Handlungen. Die Methoden beider Forschungsperspektiven zu triangulieren setzt eine zumindest angestrebte Konvergenz von verräumlichter und verzeitlichter Zeit voraus. Ein Blick auf den Stand der reichhaltigen zeittheoretischen Diskussion (vgl. Husserl 1966; Kosselleck 1979; Augustinus 1987; Heidegger 1993; McTaggart 1993; Sandbothe 1998) lässt allerdings erhebliche Zweifel an der Durchführbarkeit eines solchen Projekts aufkommen. Die hier in Bezug auf das Zeitproblem nur grob skizzierte Frontstellung von Lebensverlaufs- und Biographieforschung erlaubt keine Konvergenz der Forschungsansätze, sondern läuft auf eine Divergenz der Perspektiven hinaus. Von dem einen, allen Ansätzen gemeinsamen Gegenstand in Lebensverlaufsund Biographieforschung kann daher keineswegs gesprochen werden. Die unterstellte Einheit des Gegenstandes wird erst durch eine extramethodische, d.h. lebensweltliche Hintergrundontologie gestiftet, an der dann eine pragmatische Forschungseinstellung einsetzt. Ohne eine solche Gewissheit wandelt sich jedoch das Untersuchungsobjekt in diesem Feld, je nachdem, ob man einen eher „objektiven“ (gesellschaftsbezogenen) oder eher „subjektiven“ (akteurszentrierten) Blick auf den Lebenslauf wirft. Nicht also über den Gegenstand, sondern nur über wechselseitige Methodenanleihen sind zwei heterogene Forschungsansätze in Beziehung zueinander zu setzen. Triangulation bildet dabei das Stichwort für eine methodische Operation, bei der Lebensverlaufs- und Biographieforschung zusammengenäht werden sollen. Es handelt sich hier freilich eher um ein Flickwerk, als um eine organische Verschmelzung. Denn die eigenen wie auch die fremden Vorentscheidungen hinsichtlich der Konstitution des Untersuchungsobjekts bleiben bei dieser methodischen Operation gerade ausgenommen. Wer auf Methodentriangulation setzt, immunisiert sich selbst gegenüber Alternativen, die in diesem Forschungsfeld durchaus angelegt sind. Es kommt daher nicht so sehr darauf an, Methoden zu triangulieren, als die für einen Untersuchungsgegenstand maßgeblichen Unterscheidungen zu hinterfragen, die in diese Methoden eingebaut sind.3 Während sich anhand der Unterscheidung von Biographie und Lebenslauf innerhalb der Soziologie zwei heterogene Forschungsgegenstände konstituieren, ist im Inneren der Biographieforschung die Differenz von Biographie und Autobiographie das maßgebliche Selektionskriterium für die Forschungspraxis. Man muss sich hier zunächst vor Augen führen, dass der Ausdruck „Biographie“ ein Terminus ist, der in einem engeren Sinn die Beschreibung eines Lebenslaufes meint, in einem erweiterten Sinne aber auch den Lebenslauf selbst mitbezeichnet. In diesem Begriffsschicksal spiegelt sich das der Geschichte wider (Kosel-
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Vgl. zur Kritik an Triangulation auch Silvermann 2006.
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leck 1979, S. 130ff.). Denn hier wie dort wird mit nur einem Terminus Reflexion und Geschehen bezeichnet. Die Form der Biographie (Nassehi 1994) kann daher als Einheit der Differenz von Beobachtung und Referenz beschrieben werden. Als Beobachtungsschema ist „Biographie“ nun aber weder eine der Soziologie eigene Form der Darstellung eines Lebenslaufs, noch benutzt sie diese Form überhaupt für eine Lebensbeschreibung. Darin unterscheidet sie sich signifikant von der Geschichtswissenschaft und der Literatur, die mittels einer Biographie das reale oder fiktive Leben einer Figur beschreiben. Bei der soziologischen Biographieforschung handelt es sich dagegen um eine Technik der Beobachtung zweiter Ordnung. Sie setzt nicht auf Biographie, sondern auf Autobiographie. Das Beobachtungsschema wird hier vom wissenschaftlichen Beobachter in den Gegenstand der Untersuchung selbst verlegt, weswegen er sich im Weiteren weitgehend auf die Beobachtung der Effekte dieser Verschiebungsoperation beschränken kann. Nicht über die Differenz von Erzähler und Protagonist, wie in der Biographie, sondern durch die Identität beider Erzählinstanzen, über Autobiographie also, versucht die soziologische Biographieforschung die historische Lebenswirklichkeit eines Akteurs zu erschließen. Der Terminus „Biographie“ hat in der soziologischen Biographieforschung deswegen einen stets eingeschränkten Sinn. Er meint hier die von Selbsterlebensbeschreibungen der Akteure abhängige Lebenswirklichkeit und wird im Sinne eines Referenzmodells verwendet. Die soziologische Erforschung von Biographie interessiert sich für das von Akteuren selbst erlebte Leben. Allerdings ist die Unterscheidung von Biographie und Autobiographie und die damit verbundene hetero- bzw. homodiegetische Differenz von Erzählperspektiven (Genette 1994) noch zu unbestimmt, um nicht auch noch für die Autobiographie zwei verschiedene Interpretationsmöglichkeiten zuzulassen. Während sich die Güte einer Biographie einzig an der Ähnlichkeit zwischen der von einem Biographen erzählten Geschichte und der von einem Protagonisten wirklich erlebten Geschichte bemisst (Lejeune 1994), hängt die Qualität einer Autobiographie dagegen nur dann von Kriterien der Ähnlichkeit4 ab, wenn sie als ein Sonderfall der Biographie betrachtet wird. Denn nur unter der Voraussetzung, dass es sich auch bei der Autobiographie um ein Schema der Darstellung objektiver Sachverhalte handelt, kann mit ihr ein historischer Anspruch verbunden werden. Allerdings erfüllen Biographie und Autobiographie die historische Intentionalität auf unterschiedliche Weise. Der Historiker wird eine Biographie stets durch Rückgriff auf Quellen absichern. Der Soziologe hingegen überlässt die „objektiven Daten“ weitgehend der Selbstauskunft eines autobiographischen
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Exaktheit und Vollständigkeit (im Sinne der Übereinstimmung von einzelnen Ereignissen) oder aber der Treue (im Sinne der Gestaltähnlichkeit).
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Erzählers. Und während ein Historiker zur Darstellung des Lebenszusammenhanges seines Protagonisten auf die eigene Urteilskraft zurückgreifen muss, überlässt es die soziologische Biographieforschung einem Ich-Erzähler, die Synthetisierung der eigenen Biographie vorzunehmen. Historiker und Soziologen sind dabei komplementären Schwierigkeiten ausgesetzt. Das Problem des Historikers besteht darin: Welches Maß an Urteilskraft verträgt eine Biographie, um aus der durch Quellen bezeugten Chronologie der Ereignisse eine historische Lebensgeschichte erzählen zu können? Nach dem berühmten Wort Rankes, besteht die Aufgabe des Historikers gerade darin, nicht einfach nur zu zeigen, dass sich etwas in einer Vergangenheit zugetragen hat, sondern „wie es gewesen“ ist. Aber gerade zur Darstellung dieses „Wie“ muss ein Historiker sich auf die eigene Urteilskraft verlassen. Da diese nicht aus den Quellen abzuleiten ist, gerät die Biographie jederzeit in Gefahr, über ein annehmbares Maß der lebendigen Darstellung einer Lebensgeschichte hinauszuschießen. Bei einer Autobiographie besteht dasselbe Problem, jedoch verändert sich hier die Zurechnungsadresse. Die narrative Synthesis der Lebensgeschichte überlässt der Soziologe einem Ich-Erzähler. Damit steht dieser nicht nur für die historische Referenz der Lebensgeschichte ein, sondern auch für deren Qualität in der Verknüpfung von Ereignissen. So wie die historische Urteilskraft des Historikers in eine Biographie einfließt, die er über eine historische Figur schreibt, so artikuliert sich auch die Urteilskraft eines Ich-Erzählers in der Darstellung der eigenen Biographie. Eine Autobiographie verspricht daher nicht nur einen privilegierten Zugang eines Ich-Erzählers zu seinen eigenen Erlebnissen und Erfahrungen (Habermas 1995), sie ist darüber hinaus auch eine unübertragbare Reflexionsform der eigenen Lebensgeschichte. Aber genau darin öffnet sich auch das Einfallstor für eine skeptische Interpretation der Autobiographie. Denn wenn man diese der Biographie nicht einfach subordiniert, sondern als einen Gegensatz zu ihr konzipiert, wird der Geltungsanspruch auf Darstellung einer erlebten Vergangenheit obsolet. In der skeptischen Sicht der Autobiographie erzählt zwar ein Betroffener nach wie vor eine Geschichte, aber diese Geschichte ist nicht – oder jedenfalls nicht notwendigerweise – deckungsgleich mit der von ihm tatsächlich erlebten Geschichte. Die Autobiographie ist hier keine Lebensgeschichte, sondern eine Erzählung, die ein Erzähler für sein gelebtes Leben hält. Die eigene Vergangenheit wird hier weniger gefunden als erfunden (Thomä 1998). Ein historischer Geltungsanspruch wird der Autobiographie dann untergeschoben, wenn die Differenz von Biographie und Autobiographie nur als eine Unterscheidung von Erzählinstanzen betrachtet wird. Die Güte einer Autobiographie besteht in der skeptischen Sicht jedoch nicht in der Ähnlichkeit mit dem erlebten Leben, sondern in einer stets gegenwärtigen, und das heißt: perspektivischen Vergegenwärtigung der Vergangenheit eines
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Erzählers. Nicht Wahrheit, sondern Wahrhaftigkeit, nicht die historische Referenz, sondern die authentische Artikulation der Lebensgeschichte macht hier die Qualität der Autobiographie aus. Vergessen, Auslassen, Überspringen, Verschweigen, Lügen, Uminterpretieren, die Reaktion auf soziale Erwünschtheit – das alles sind wahrscheinliche Modi eines Erzählers in einer Autobiographie. Die historische Treffsicherheit entpuppt sich in der skeptischen Sicht somit als ein Grenzfall der Autobiographie. Die Beschreibung des eigenen Erlebens enthält nicht notwendigerweise ein höheres Maß an Erfahrungssättigung und kann auch keine sichere Auskunft über die historische Urteilskraft eines IchErzählers geben, sondern stellt in erster Linie die gegenwärtige Behandlung der Erlebnisvergangenheit eines Ich-Erzählers dar. Tatsächlich beschreitet die soziologische Biographieforschung jedoch einen Mittelweg zwischen den skizzierten Auffassungen der Autobiographie. Weder geht sie naiv vor und glaubt unbesehen der Darstellung eines IchErzählers, noch vertritt sie die Meinung, die Autobiographie sei derjenige Nutzen, den ein Ich-Erzähler aus seiner eigenen Vergangenheit in der Erzählgegenwart für eine antizipierte Zukunft zu ziehen versucht. Stattdessen besteht das Anliegen der soziologischen Biographieforschung darin, eine gegenwärtige Erzählperspektive mit der Rekapitulation vergangener Erfahrungen methodologisch zu verbinden. Das heißt freilich nicht, dass stets beide Dimensionen gleichermaßen zur Geltung kommen bzw. methodisch gleich gewichtet werden. Es kann sogar sein, dass die Rekonstruktionsmethodologie von sich aus gegenüber einer Unterscheidung von Erzählgegenwart und Erfahrungsvergangenheit blind ist und dennoch zum Repertoire der soziologischen Biographieforschung gehört (vgl. Abschnitt 2.3). Ihrem methodischen Anspruch nach oszilliert die soziologische Biographieforschung stets zwischen Erfahrung und Erzählung, sei es, indem sie dieses Verhältnis als eines im Inneren ihres Untersuchungsgegenstandes liegendes konzipiert, oder sei es, dass sie es in ihre eigene Interpretationstechnik hineinverlegt. Die Einzelkritik biographischer Methoden, wie ich sie im Folgenden vornehme, versteht sich letztlich nur als Passage für die Beschreibung von Merkmalen des Feldes einer soziologischen Biographieforschung. Anstatt eine Definition dessen zu geben, was die soziologische Biographieforschung ist oder gar zu sein hat, möchte ich mich im Weiteren auf die praktische Selbstbeschreibung des Forschungsfeldes beziehen: auf die Methoden. Wie jedes Forschungsfeld wird auch die soziologische Biographieforschung nicht so sehr durch Theorieleistungen abgesteckt, die auf die eine oder andere Weise die Relevanz der Lebensbeschreibungen von Akteuren für die Ordnungsformen des Sozialen (Interaktion, Gruppe, Organisation, Gesellschaft) systematisch darlegen, sondern insbesondere durch Methoden, die diese Relevanz in ihrer methodischen Praxis
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schon voraussetzen und über die Aussparung theoretischer Reflexion das biographische Forschungsfeld faktisch konstituieren. Der Ökonomie der Forschungspraxis, nicht dem Vergessen des einzelnen Forschers, ist es geschuldet, dass bereits die Anwendung biographischer Methoden den Zweck ihres Einsatzes weitgehend vergessen machen lässt. Warum man eigentlich biographische Methoden für eine genuin soziologische Fragestellung entwirft oder benutzt, liegt außerhalb der Notwendigkeit methodologischer Begründungsverpflichtungen. Die soziologische Rechtfertigung biographischer Methoden hat daher zumeist nur in Vorschaltkapiteln methodologischer Darstellungen einen Platz. Diese geben keine Auskunft über die tatsächliche Organisation eines Forschungsfeldes. Will man jedoch die Praxis der soziologischen Biographieforschung verstehen, so ist es angeraten, sie in erster Linie als ein wissenschaftliches Feld zu beschreiben, das einerseits durch die Etablierung eines Methodenkanons die Bandbreite möglicher Gegenstandserschließungen normiert, andererseits die Relevanz dieser Bandbreite schlichtweg aus dem bloßen Faktum ihrer empirischen Erforschung ableitet. Auf diese Weise konstituiert sich das Feld der soziologischen Biographieforschung zirkulär. Bereits der Einsatz der Methode bezeugt deren Relevanz. Wenn die Ergebnisse der Biographieforschung an soziologische Theoreme wie Individualisierung, Generation, Gender, Migration usf. angeschlossen werden, handelt es sich aus Sicht der Forschungspraxis um sekundäre Rationalisierungen. Die Methodologien der soziologischen Biographieforschung sind von den ursprünglichen Fragestellungen, denen sie ihre Entwicklung verdanken, längst unabhängig geworden. Sie führen ein selbstgenügsames Eigenleben. Obzwar nun einzelne biographische Methoden mit einer theoretischen Sparsamkeitsregel operieren, sind sie nicht völlig konzeptionslos. Auch hinter biographischen Methoden stehen „Theorien“. Es wäre jedoch verfehlt, hier ein kohärentes Aussagesystem über einen wohldefinierten Gegenstandsbereich zu erwarten. Bei „Theorien“ biographischer Methoden handelt es sich zunächst um kaum explizierbare Vorannahmen einzelner Forscher über die Verfassung ihres Gegenstandes, die sich in ihrer Summe wiederum zur doxa des Feldes einer soziologischen Biographieforschung verfestigt. Wenn ich im Weiteren einzelne biographische Methoden darstelle, dann verfolge ich damit zwei Ziele. Erstens möchte ich zeigen, „wie jede Methode eine ganz bestimmte Theorie widerspiegelt“ (Ricœur 1973, S. 25). Und zweitens möchte ich im Durchgang durch einzelne Methodologien darlegen, wie sich peu à peu ein gemeinsam geteilter Überzeugungshintergrund von Forschern in der soziologischen Biographieforschung herausschält. Es handelt sich hierbei um ein Überzeugungssystem, das sowohl die Relevanz von Fragestellungen und die Bewertung von Sachverhalten
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steuert, als auch Annahmen über die Reliabilität von Erhebungstechniken und die Validität von Auswertungsstrategien enthält. Hält man sich dabei strikt an das, was sich einer Beobachtung der soziologischen Biographieforschungspraxis zunächst darbietet, wird man sich als erstes konkrete Verfahren der Datenerhebung ansehen müssen. Bei einer Datenerhebung handelt es sich freilich um alles andere als eine vorurteilsfreie Sichtung und Sammlung dessen, was als Phänomen schlichtweg gegeben scheint, sondern bereits um die praktische Umsetzung eines theoretischen Vorentwurfs des möglichen Gegenstandsbereiches, durch den zugleich die grundlegenden Weichen für den gesamten Rekonstruktionsprozess gestellt werden. So kann man beispielsweise die Grenze zwischen der soziologischen Biographieforschung und einer psychologischen Gesprächsforschung daran erkennen, dass beide Disziplinen mit ihrem verwendeten Instrumentarium der Datenerhebung ein jeweils anderes Erkenntnisinteresse verbinden. Wo es vor allem um die Rekonstruktion narrativer Identität geht (Straub 1996; Kraus 2000; Lucius-Hoene/Deppermann 2002), wird die Situation der Datenerhebung vornehmlich als ein narrativer Dialog zwischen Erzähler und Forscher angesehen. Geht es hingegen, wie in der soziologischen Biographieforschung üblich, um die Rekonstruktion der Erfahrungsaufschichtung eines Biographieträgers, kommt das narrative Interview zum Einsatz, das auf die Motivierung einer autobiographischen Stegreiferzählung angelegt ist. Im Prozess der Interpretation eines narrativen Dialogs ist die Erlebnisvergangenheit eines Sprechers nicht als solche, sondern nur als eine Art Steinbruch relevant, aus dem ein Sprecher unter der maßgeblichen Beteiligung und Anteilnahme des Forschers die Bausteine für eine dialogische Identität herausschlägt. Der narrative Dialog ist hier nur Ort und Vehikel für eine situative Identität, die im Prozess einer Interaktion hergestellt wird. In der soziologischen Biographieforschung werden aus diesem Ausgangsbefund drei unterschiedliche Konsequenzen gezogen. Erstens wird daraus die Forderung abgeleitet, den Fokus der Biographieforschung auf den Prozess des „doing biography“ zu richten (Dausien/Kelle 2005, S. 208). Nicht die Erfahrungsvergangenheit als solche, sondern die Techniken der gegenwärtigen Konstruktion der Lebensgeschichte müssen demnach im Mittelpunkt der biographischen Forschung stehen. Zweitens wird angenommen, dass dem Biographieforscher keineswegs fertige Lebensgeschichten zu Gehör gebracht werden, über die die Befragten auch ohne den Prozess der Datenerhebung bereits verfügen, sondern dass umgekehrt der Biographieforscher den Gegenstand seiner Untersuchung durch die Mittel seiner Forschung erst erzeugt. Insbesondere das narrative Interview (s.u.) gerät hier in den Verdacht, ein methodischer Generator von Biographien zu sein (Völter 2006, 274ff.). Mit diesen beiden Punkten wird drittens ein grundlegender Zweifel an
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der Möglichkeit einer Biographieforschung verknüpft. Denn wenn sich die autobiographische Darstellung eines Ich-Erzählers vornehmlich von der Qualität der Interaktion leiten lässt, so das skeptische Argument, könne die Referenz einer Biographie nicht mehr in der Vergangenheit eines Erzählers liegen, sondern müsse vielmehr dem Interaktionssystem selbst zugerechnet werden. Biographieforschung müsste einer kontingenten Darstellung des Lebenslaufs Rechnung tragen, statt sie methodisch zu verhindern (Nassehi/Saake 2002). Führt man diesen Gedanken zu Ende, ginge Biographieforschung allerdings in Konversationsanalyse auf. Nimmt man die Selbstpräsentation der Erlebnisvergangenheit eines Erzählers hingegen beim Wort, hieße das, dass sich der Forscher zu einem Komplizen einer „biographischen Illusion“ (Bourdieu 1990) machte, die der Sprecher von sich selbst hegt. Diese Einwände sind energisch zurückgewiesen worden (Niethammer 1990). Mir geht es hier allerdings weder darum, die Berechtigung der kritischen Einwände gegenüber der Möglichkeit einer soziologischen Biographieforschung zu prüfen, noch die Gültigkeit ihrer Zurückweisung zu untersuchen. Wichtig ist an dieser Stelle nur, dass sich hier deutlich abzeichnet, was zum Kernbestand der Grundannahmen in der soziologischen Biographieforschung gehört. Denn die Kritik zielt auf die Möglichkeit der soziologischen Biographieforschung, eine historische Wissenschaft zu sein. Denn es ist eine historische Größe, die Zeit des geschichtlichen Erlebens, die aus dem Untersuchungsbereich auch einer soziologischen Biographieforschung offenbar nur um den Preis ihrer Selbstaufgabe herausgekürzt werden kann. Eigentümlicherweise findet aber in der soziologischen Biographieforschung mit der objektiven Hermeneutik von Ulrich Oevermann (Abschnitt 2.3) auch eine Methodologie Anwendung, die auf die Rekonstruktion einer im engeren Sinne historischen Qualität der autobiographischen Erfahrung verzichtet. Die spezifische Differenz von Biographieforschung und Konversationsanalyse kann daher nicht allein in der Unterscheidung von Überlieferung (einer Geschichte) und Konstruktion (einer narrativen Identität) gesehen werden. Diese scheinbar unversöhnlichen Gegensätze teilen mehr miteinander, als auf den ersten Blick ersichtlich wird. Beides sind Varianten innerhalb eines sprachlichen Repräsentationsmodells von Erfahrung. Oevermann (1979a) kündigt dieses Modell allerdings auf und setzt an dessen Stelle ein pragmatisches Modell der Bildung von Erfahrung. Dadurch glaubt er, die Alternative zwischen einem Produktions- und einem Überlieferungsmodell von Erfahrung umgehen zu können. Denn weder entsteht Erfahrung hier durch eine Erzählung (skeptische Position), noch wird sie durch eine Erzählung überliefert (realistische Position). Erfahrung ist dagegen ein Bildungsprozess, der Oevermann zufolge von Moment zu Moment im Entscheidungsverhalten eines Akteurs eine Bewährungsprobe zu durchlaufen hat. Der Ort für diese Bewährung ist die Praxis des Sprechhandelns. Im Sinne
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des Repräsentationsmodells kann Erfahrung nur wahr oder falsch sein. Im pragmatischen Modell jedoch unterliegt die Erfahrung dem Kriterium der Nützlichkeit: Erfahrung kann hier nicht falsch werden, sondern nur zur Bewältigung einer Situation unangemessen sein. Die Unterscheidung von Erzählgegenwart und Erfahrungsvergangenheit, mit der die „klassische“ Biographieforschung im Sinne von Fritz Schütze und Gabriele Rosenthal arbeitet, wird bei Oevermann obsolet. An dessen Stelle tritt bei ihm die Beobachtung der Vollzugsform der Lebenspraxis selbst. Seiner Auffassung nach besitzt jede beobachtbare Interaktion eine exemplarische Qualität, an der der Prozess der Erfahrungsbildung für einen Forscher nicht nur situativ greifbar wird, sondern vielmehr als Reproduktion einer zeitindifferenten Fallstruktur eines Sprechers angesehen werden muss. Es ist diese Zeitindifferenz (nicht: Zeitlosigkeit), die die Methodologie der objektiven Hermeneutik für die soziologische Biographieforschung vor allem deswegen interessant macht, weil die Interaktion nicht mehr nur als eine, wenn auch unsichere Quelle der Rekapitulation von Vergangenheit aufgefasst wird, sondern an ihr etwas studiert werden kann, was sich prinzipiell nicht auf diese beschränken lässt. Die Erfahrungsvergangenheit eines Akteurs wird bei Oevermann nicht über die Rekapitulation der Erfahrung eines Ich-Erzählers zugänglich, sondern durch eine methodische Extrapolation der Struktur einer Erfahrungsbildung, wie sie sich dem Forscher in einer protokollierten Interaktion darbietet. Zu der beobachteten Fallstruktur tritt bei Oevermann eine methodische Projektion hinzu. Denn die These einer grundlegenden Struktur des Entscheidungsverhaltens eines Akteurs lässt sich nur dann plausibel machen, wenn sie durch die zusätzliche Annahme begleitet wird, dass diese Erfahrungsstruktur – mögliche Transformationen mit eingerechnet – bereits vor dem protokollierten Wirklichkeitsausschnitt wirksam gewesen ist und auch danach noch gelten wird. „Erfahrung“ wird hier nicht durch einen autobiographischen Sprecher repräsentiert, sondern entspringt hier einer falliblen Strukturhypothese eines Forschers. Durch die methodische Extrapolation der Erfahrungsstruktur in die Vergangenheit findet die objektive Hermeneutik den Anschluss an eine soziologische Biographieforschung, zu deren Kern das Bemühen um den Nachweis der Historizität von Erfahrung gehört. Für die Methodologien in der soziologischen Biographieforschung, die, wie diejenigen von Fritz Schütze (Abschnitt 2.1) und Gabriele Rosenthal (Abschnitt 2.2), ein Repräsentationsmodell zugrunde legen, ist die Selbstpräsentation eines Erzählers zwar ein relevantes Datum, gleichwohl gilt sie hier nur als ein (notwendiger) Durchgang für das eigentliche Ziel der Rekonstruktion: die Zeit des historischen Erlebens. Die Datenanalyse konzentriert sich deswegen darauf, den Zusammenhang von Darstellung und Dargestelltem, protokollierter Erzählung und besprochener Lebenswirklichkeit zu rekonstruieren. Als Technik
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der Datenerhebung steht hier im Mittelpunkt das narrative Interview. Bei der von Fritz Schütze (1983; 1987) maßgeblich entwickelten Interviewtechnik handelt es sich um ein im Prinzip schon aus der psychoanalytischen Behandlungspraxis bekanntes Verfahren, in dem ein als Biographieträger (nicht: als Klient) aufgefasster Interviewpartner zu einer Erzählung motiviert wird, die dessen eigenen Lebensverlauf zum Gegenstand hat und vom Erzähler ex tempore entwickelt werden muss. Wenn dem Interviewten vom Interviewer die anfängliche Hürde der Erzählmotivierung genommen ist und eine autobiographische Stegreiferzählung in Gang kommt, die den Kern des narrativen Interviews bildet, sieht die Technik des narrativen Interviews vor, dass sich der Interviewer in das größtmögliche Schweigen zurückzieht, das unter alltäglichen Interaktionsbedingungen noch akzeptabel ist. Er verfährt dabei nach Art eines Psychoanalytikers, der ebenfalls verstummt, wenn er seinen Klienten davon hat überzeugen können, sich einzig auf dessen eigenen Erinnerungsassoziationen zu konzentrieren und ihnen in der Behandlungssituation einen freien und zugleich verbalen Lauf zu lassen. Der Unterschied zwischen der Organisation des Gesprächs im narrativen Interview und der Organisation der freien Assoziation in der Psychoanalyse ist der, dass der Forscher den Alltag simulieren muss, den der Therapeut suspendieren kann. Im narrativen Interview hat die Überführung der anfänglichen dialogischen Gesprächssituation in einen Erzählmonolog des Interviewee einen ähnlichen Sinn wie in der Psychoanalyse. Der autobiographische Erzähler soll von einer interaktiven, gleichsam horizontalen Konstitution von Erzählrelevanzen entbunden werden und sich anstelle dessen bei seiner Erzählung nur vom Strom eigener Erinnerungen lenken lassen. Die eigene Erinnerung, so die Annahme, drängt sich dabei in dem Maße auf, wie die Dialogverpflichtungen des Befragten in den Hintergrund treten. Die in dieser Phase des narrativen Interviews ins größtmögliche Schweigen zurückgenommene Position des Interviewers verlangt nur die Ausstrahlung gelegentlicher Zuhörsignale. Kommt die Erzählung des Interviewee dagegen ins Stocken oder versiegt sie ganz, besteht für den Interviewer Anlass dafür, den Erzählfluss des autobiographischen Erzählers durch geeignete Nachfragen wieder zu stimulieren. Diese Nachfragen sollen den Befragten aus den zuvor von ihm selbst eingeschlagenen Bahnen seiner Selbstpräsentation jedoch nicht herausführen, sondern dienen lediglich dazu, den Interviewee zur Explikation des bereits Geschilderten zu bewegen. Aufs Ganze hin besehen lässt sich sagen, dass die Technik des narrativen Interviews triadisch strukturiert ist. Aus Sicht des Forschers besteht sie in der dialogischen Stimulierung eines Erzählmonologs, der daran anschließenden Vermeidung eines Dialogs sowie der fakultativen Reanimierung des Erzählmonologs. Beim narrativen Interview handelt es sich mithin um eine Interaktion, die ihre interaktive Qualität dadurch invisibilisiert, dass sie ihr Produkt nicht als
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einen Dialog auffasst, sondern als einen Erzählmonolog. Von daher wird verständlich, warum inmitten der narrativen Triade dem Schweigen des Interviewers eine überragende Bedeutung zuerkannt wird. Nur wenn der Forscher schweigt, wenn die Anwesenheit des Anderen sich also in den Modus einer Alsob-Abwesenheit transferiert hat, ist es möglich, dass die autobiographische Stegreiferzählung Erfahrungen referiert, die nicht auf das Forscherinteresse reagieren, sondern die der Erzähler aus sich selbst heraus schöpft. Der Anfangsstimulus sowie die fakultative Reanimierung des Erzählmonologs müssen dagegen die Definition der Erzählsituation berücksichtigen. Die zu stimulierende, kontemplative Erzählhaltung verlangt, dass der Interviewee die Situation nicht mit den Maßstäben alltagspraktischer Anforderungen an eine Interaktion misst, sie aber auch nicht mit einer außeralltäglichen Bekenntnissituation verwechselt. Im Anfangsstimulus muss er deswegen vom Interviewer in eine insulare Erzählsituation gebracht und bei drohendem Erzählabbruch wieder dorthin zurückversetzt werden. Zugleich muss der Interviewer es aber auch vermeiden, dass der Befragte die Situation als eine Situation des Bekenntnisses (Hahn 1982) auslegt, sondern als legitime und produktive Bedingung für die Darstellungsform seiner eigenen Geschichte anerkennt. Entgegen des ersten Anscheins sind die Anforderungen an die narrative Interviewführung also höchst anspruchsvoll: Ein Interviewer muss schweigen können, ohne dabei zu verstummen. Sind jedoch erst einmal die beiden größten methodologischen Gefahren für das narrative Interview umschifft, die interaktive Bedeutungskonstitution und die Selbstinterpretation des Erzählers als „Geständnistier“ (Foucault 1977, S. 77), wird von autobiographischen Erzählungen allgemein angenommen, dass sich erzählerische Freiheit und Erinnerungskapazitäten wechselseitig so aneinander steigern lassen, dass sie an Authentizität und Ertrag allen anderen wissenschaftlichen Methoden der Erinnerungsrekapitulation überlegen seien. Damit gerät die autobiographische Stegreiferzählung de facto in einen Gegensatz zur „oral history“, die sich methodisch als ein „mixtum compositum von Stimulierungen unterschiedlicher Gedächtnisleistungen“ eines Befragten versteht (Niethammer 2003, S. 36). Auf der Grundlage von – allerdings vage bleibenden – Annahmen zur Gedächtnisorganisation, leitet die oral history gänzlich andere Verhaltensinstruktionen für den Interviewer ab, als es für das narrative Interview gilt. Während der Interviewer Schütze zufolge im wesentlichen dabei zusehen soll, wie sein Interaktionspartner in die Tiefe der eigenen Vergangenheit hinabsteigt (ein wesentlich kontemplatives Unterfangen, bei dem ein Gegenüber eher stört), besteht die Aufgabe in der Oral History-Tradition darin, dem Interviewee dabei zu helfen, die ganze Breite seiner Erinnerungsassoziationen auszuschöpfen (ein wesentlich interaktives Unternehmen, für das ein Gegenüber produktiv sein muss). Um bei seinem Interviewpartner das „Wechseln der Erinne-
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rungsspur“ herbeizuführen, darf sich ein Interviewer in der Oral HistoryTradition daher keinesfalls ins Schweigen zurückziehen, sondern es bedarf vielmehr direkter „Gesprächseingriffe des Interviewers“ (ebd., S. 35). Bereits in den technischen Regeln der Interviewführung sind somit Auffassungen über die Konstitution von Relevanz und Bedeutung in einer autobiographischen Erzählsituation enthalten. Doch noch ehe ein narratives Interview überhaupt geführt wird, liegt dem, wie ich meine, bereits ein Theorem über das Verhältnis von Erzählung und Gegenstand zugrunde. Wenn ein Erzähler die thematischen Relevanzen und die darstellerischen Mittel seiner autobiographischen Stegreiferzählung selbst festlegen kann, ja sogar festlegen muss, dann wird dies vom Forscher als eine Aufgabe angesehen, die den Befragten auf der Ebene der Sprache vor ein Problem stellt, das ihm bereits aus seiner Lebenspraxis als bekannt unterstellt wird. Sowohl auf der operativen Ebene seines Lebenslaufs, wie auch auf der Ebene seiner narrativen Selbstbeobachtung besteht für einen Akteur das Problem darin, Handlungen und Ereignisse so miteinander zu verknüpfen, dass daraus ein Netz von Beziehungen entsteht, in dem sowohl ein Handelnder die Welt als bedeutsam erfahren, wie auch ein Erzähler sich selbst wieder finden können muss. Von einer Autobiographie zu sprechen meint daher, dass sich ein Akteur in ein Geschehen verstrickt hat, das von ihm selbst noch als seine Geschichte überblickt werden kann. Damit sich für einen autobiographischen Erzähler ein narrativer Zusammenhang überhaupt herstellen lässt, muss er sein operativ geknüpftes Erfahrungsgewebe so auftrennen, dass einerseits die Hauptstränge und die Nebenfäden seines Erfahrungsprozesses sichtbar werden, diese sich aber andererseits noch zur Einheit einer Lebensgeschichte neu zusammenschürzen lassen. Als Mittel zur Reduktion biographischer Komplexität dient dabei die narrative Temporalisierung des Lebenslaufs, die insbesondere durch Zeitverben gewonnen wird. Die Versprachlichung der Erfahrung stellt hierbei sowohl die soziale Vorbedingung als auch die kritische Grenze dessen dar, was als Biographie noch kommuniziert werden kann. Erfahrungspartikel wie Bilder, Gerüche und Geräusche, die nicht in das auf Handlung abgestellte Vokabular einer Narration hineinpassen, bleiben für die autobiographische Erfahrungsrekapitulation schwere bis unverdauliche Reste. Obgleich hier das sprachfixierte Vorgehen der autobiographischen Narration offenkundig wird, vermeidet es die soziologische Biographieforschung, in Radikalisierungen zu verfallen. „Biographie“ gilt nicht als Effekt der Sprache oder als das Ergebnis einer sozialen Konstruktion. Stattdessen wird angenommen, dass sich auch die sprachliche Kommunikation, obschon selektiv verfahrend, nicht von der Erfahrung lossagen kann, sondern mit ihr auf eine bestimmte Weise korrespondiert. Da es sowohl im Handlungsgeschehen, als auch in der Geschichtserzählung um die Herstellung eines zu-
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I. Biographieforschung
nächst als sinnhaft erlebbaren, dann aber auch narrativ mitteilbaren Ablaufs geht, besteht das Bewegungsgesetz der Autobiographie darin, einen sinnhaften Zusammenhang von Handlungen und Ereignissen auf der operativen Ebene her-, wie auf der narrativen Ebene darzustellen. Indem hier die temporale Verknüpfung von Erlebnissen sowohl als die Form gegenwärtigen Erzählens als auch als die Form vergangenen Erlebens angesehen wird, impliziert die autobiographische Stegreiferzählung einen methodologischen Zusammenhang zwischen Darstellung und Dargestelltem. Es ist die zeitliche Qualität der Erfahrungsbildung auf die die ebenfalls temporal verfasste, narrative Erfahrungsrekapitulation antwortet. Das Entsprechungsverhältnis beider liegt dabei nicht im Inhalt, sondern in der Form der Verknüpfung. Als Instrument der Datenerhebung in der soziologischen Biographieforschung lebt das narrative Interview von der Annahme, dass der Zusammenhang von Handlungsgeschehen und Geschichtserzählung durch eine Kopplung zwischen der Zeit der Erzählung und der Zeit der Erfahrung auf Strukturebene garantiert wird. Von dieser Annahme zehrt nicht nur der Erfinder dieser Erhebungstechnik, Fritz Schütze, sondern auch noch die Rekonstruktionsmethodologie von Gabriele Rosenthal. Erst in der objektiven Hermeneutik von Ulrich Oevermann wird dieser Zusammenhang irrelevant, indem durch den Rekurs auf ein pragmatisches Modell der Unterschied zwischen Erzählung und Erfahrung eingeebnet wird. Da es die objektive Hermeneutik mit Prozessen der Erfahrungsbildung – nicht der Erfahrungsdarstellung – zu tun hat, greift sie nicht auf die Transkription von narrativen Interviews zurück, sondern auf Interaktionsprotokolle. 2.
Konfigurationen
In diesem Abschnitt geht es um drei spezifische Konfigurationen des Feldes der soziologischen Biographieforschung. Ich werde nacheinander die methodologischen Hintergrundannahmen von Fritz Schütze (2.1), Gabriele Rosenthal (2.2) und Ulrich Oevermann (2.3) diskutieren. Damit sollen die Bemerkungen aus dem ersten Abschnitt einerseits „geerdet“ werden, andererseits bildet die Diskussion der einzelnen Methodologien eine unvermeidliche Zwischenstation auf dem Weg zu möglichen Rekonfigurationen des Forschungsfeldes (Abschnitt 3).
2.1
Probleme mit der Homologie
In der soziologischen Biographieforschung ist die „Parallelaktion“ von Erfahrungsbildung und Erfahrungsrekapitulation nirgendwo deutlicher formuliert
I. 2 Konfigurationen
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worden als bei Fritz Schütze (1984). Ihm zufolge wird „der lebensgeschichtliche Erfahrungsstrom in erster Linie ‚analog‘ durch Homologien des aktuellen Erzählstroms mit dem Strom der ehemaligen Erfahrung im Lebensablauf wiedergegeben“ (ebd., S. 78).5 Kritik an dieser These ist Schütze nicht erspart geblieben (Bude 1985). Er wurde freilich auch mit dem, einigermaßen merkwürdigen Argument verteidigt, dass er überhaupt gar keine Homologiethese vertreten habe (vgl. Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997, S. 148; Riemann 1987, S. 154f.). Offenkundig irritiert die Annahme einer Homologie von Erfahrung und Erzählung nicht nur die Kritiker, sondern auch die Befürworter des Schütze’schen Programms so sehr, dass sie diese These kurzerhand ausblenden. Wie dem auch sei, Kritiker und Antikritiker der Homologie von Erfahrung und Erzählung haben übersehen, dass Schützes Begründung der Homologiethese aus einer Überziehung des Anspruchs resultiert, der mit dem Postulat einer Homologie üblicherweise verbunden ist. Die Problematik bei Schütze liegt daher nicht in der Annahme einer Homologie von Erfahrung und Erzählung an sich, sondern in der spezifischen Wendung, die Schütze diesem Verhältnis gibt. Ich möchte zunächst die Voraussetzungen diskutieren, die Schütze zur Annahme einer Entsprechung von Erzählung und Erfahrung führen, ehe ich dann auf die Folgen dieser These für die autobiographische Stegreiferzählung zu sprechen komme. Schützes These einer Homologie von Erfahrung und Erzählung meint mehr als nur eine semantische Entsprechung von Erfahrungsgehalt und Darstellungsinhalt. Eine erzählte Geschichte steht für Schütze nicht nur über das, was sie bedeutet, in Beziehung zur Erfahrungsebene des Erzählers, sondern von Anfang an durch ein gemeinsames Substrat: das Bewusstsein. Schützes „kognitive Figuren autobiographischen Stegreiferzählens“ (1984, S. 84ff.) müssen daher als eine bewusstseinstheoretisch fundierte Grammatik der autobiographischen Rede verstanden werden. Ausgangspunkt dafür ist die empirische Beobachtung Schützes, dass nicht nur institutionalisierte Darstellungen des Lebenslaufs, sondern auch Ad-hoc-Erzählungen der je eigenen Lebensgeschichte eine „systematische Geregeltheit und Ordnung“ (ebd., S. 79) aufweisen. In autobiographischen Stegreiferzählungen lassen sich für Schütze insbesondere vier Dimensionen beobachten: Die Einführung von Biographie- und Ereignisträger (1.), die Verkettung der Handlungen dieser Akteure zu einem Ereigniszusammenhang (2.), die Darstellung der Umstände, unter denen diese Ereignisketten jeweils ablaufen (3.), sowie die Gesamtgestalt einer Lebensgeschichte, auf die die Ereigniszusammenhänge schließlich hinauslaufen (4.). Kraft der kognitiven
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Im Weiteren wird auf eine Differenzierung zwischen Analogie und Homologie verzichtet, weil dies eine Differenz ist, die – im informationstheoretischen Sinne – bei Schütze keinen Unterschied macht. In der Biologie ist dagegen schon seit Owen (1848) der Unterschied zwischen Homologie und Analogie definiert.
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I. Biographieforschung
Figuren organisiert ein Erzähler die „Flut des retrospektiven Erinnerungsstroms“ (ebd., S. 80) intuitiv so, dass in seiner Erinnerungsmasse eine biographische Form erkennbar wird. Autobiographische Stegreiferzählungen bedürfen daher „dringend“ (ebd.) eines Schematismus, der auf den ersten Blick den Anschein erweckt, als ob Schütze der Erzählung einen erkenntnisformierenden Charakter zuspreche: „Die kognitiven Figuren des Stegreiferzählens sind die elementarsten Orientierungs- und Darstellungsraster für das, was in der Welt an Ereignissen und entsprechenden Erfahrungen aus der Sicht persönlichen Erlebens der Fall sein kann“ (ebd.). Tatsächlich aber korrigiert Schütze diesen Eindruck durch die Auffassung, „dass derartige kognitive Gestalten auch im aktuellen Erleben von Handlungs- und Erleidensabläufen orientierungswirksam sind“ (ebd., S. 83). Eben weil es sich um kognitive Figuren handelt, kann Schütze deren Rasterfunktion zugleich als Wegmarken der Lebenspraxis und als Instrumente für die sprachliche Darstellung der Erfahrung konzipieren. Indem Schütze die sprachliche Artikulation über kognitive Figuren an die vorsprachliche Erfahrung bindet, geht er von deren Identität aus. Es ist derselbe Schematismus, der auf der Handlungsebene die Erfahrung konstituiert und auf der Ebene der Sprache zur Darstellung eben dieser Erfahrung benutzt wird. Bei kognitiven Figuren handelt es sich also um einen Schematismus für zwei verschiedene Modi der Welterschließung. Schütze kann deswegen der Auffassung sein, dass die narrativ benutzten „Darstellungsprinzipien zugleich kognitive Ordnungsprinzipien der je aktuellen autobiographischen Orientierung und der faktischen Organisation des Lebensablaufs“ (ebd., S. 83; Hervorhebung M.K.) sind. Ich möchte im Folgenden zeigen, inwiefern diese Identitätsannahme nur um den Preis einer faktischen Naturalisierung des heimlichen Vorbilds kognitiver Figuren zu haben ist – der Erzählung. Paradoxerweise führt diese Einsicht nicht etwa dazu, dass Schützes Begründung der Homologiethese untermauert, sondern vielmehr unterminiert wird. Die von Schütze genannten und dem Bewusstsein zugeschriebenen Figuren des Stegreiferzählens lassen sich unschwer als sprachanaloge Mechanismen identifizieren. Aus grammatikalischer Sicht handelt es sich bei der kognitiven Figur des Biographie- und Ereignisträgers um das Subjekt einer Erzählrede. Narratologisch betrachtet, ist dies der Protagonist einer Geschichte. Auch Schützes dritte kognitive Figur, die Darstellung der Umstände eines Handlungsablaufs, gehört zum Spezifikum einer narrativen Tätigkeit (Ricœur 1988). Hingegen zielen die zweite und die vierte Figur ins Innere des Erzählens. Es handelt sich hier sowohl um das Problem der Herstellung eines narrativen Zusammenhangs, als auch der Produktion eines Abschlusses der Erzählung. Die Parallelen zwischen den Reflexionen über diese Kernleistung narrativer Synthesis und der Leistung kognitiver Funktionen sind nicht zu übersehen. Das „allgemeinste
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Merkmal […] erzählender Sätze“ wurde darin gesehen, „dass sie sich auf mindestens zwei zeitlich voneinander getrennte Ereignisse beziehen“ (Danto 1980, S. 232). Die Aufgabe der Erzählung besteht darin, zwischen diesen Ereignissen eine Verbindung herzustellen. Die Verknüpfung von Ereignissen gehört daher zur zentralen Leistung einer narrativen Erklärung. Bei Schütze begegnet man demselben Gedanken: „Jeder Erzählsatz beinhaltet die Zustandsänderung des Biographie- oder anderer Ereignisträger über eine zeitliche Schwelle hinweg“ (1984, S. 88). Die Narration, so lässt sich daraus folgern, macht aus der Diskontinuität der Ereignisse die Kontinuität einer Geschichte. Damit überhaupt ein Hörer der autobiographischen Erzählung folgen kann, darf es der autobiographische Erzähler nicht dabei belassen, biographische Ereignisse in ihrem Nacheinander bloß aufzuzählen. Er muss sie vielmehr so schildern, dass verständlich wird, wie diese Ereignisse miteinander zusammenhängen. Gerade dadurch unterscheidet sich die autobiographische Erzählung von der bloßen Angabe objektiver Daten. Um einen Zusammenhang von Ereignissen herzustellen, operiert eine Erzählung mit beständigen Vor- und Rückgriffen, die mit der Ordnung der Ereignisse in ihrer objektiven Abfolge eigentlich unverträglich sind. In diesem „Durcheinander der Ereignisse“ beweist die Erzählung nicht nur ihre Autonomie gegenüber einem objektiven Ereignisablauf, sondern gerade durch die prinzipielle Refiguration (Ricœur 1988) der Ereignisse stellt die Erzählung erst einen verstehbaren Sinn her. Die Geschichte ist deswegen jene Gesamtgestalt, die den Ablauf der Ereignisse nicht nur (vorläufig) abschließt, sondern einer Erlebnisreihe von diesem Ende her überhaupt erst einen Sinn verleiht. Ereignisse werden nur als Material für eine grundlegende Reorganisation der Ereignisreihe benutzt, so dass dessen Ereignisse auf einen Abschlusssinn hin angeordnet erscheinen. Eine Reihe von „Und-dann“-Ereignissen transformiert sich in einer Geschichte und durch sie zu einem übergreifenden Sinn. Die „Moral“ einer Geschichte hängt damit von der narrativen Syntax ab. Bei Schütze ist die Produktion des übergeordneten Sinns keine innere Angelegenheit der Rede, sondern das Ergebnis einer Inanspruchnahme kognitiver Figuren durch einen Erzähler. Und da Schütze davon ausgeht, dass diese Figuren bereits auf der Ebene der Erfahrungskonstitution wirksam sind, muss die Analyse einer autobiographischen Erzählung vor allem ein Interesse daran entwickeln, wie ein Erzähler die geschilderten Ereignisse miteinander verknüpft. Denn daran, wie ein Erzähler narrative Verbindungslinien zwischen Ereignissen und Erlebnissen zieht, lässt sich Schütze zufolge für die Biographieforschung nichts Geringeres erschließen, als die „Erfahrungshaltung, die der Biographieträger den Ereignisabläufen gegenüber einnimmt“ (Schütze 1984, S. 92). Erfahrung kann deswegen für Schütze in einer Erzählung nicht in der Weise wiedergegeben werden, wie eine Erzählung Erlebnisse referiert. Die autobiographische
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I. Biographieforschung
Erfahrung lässt sich nur anhand der narrativen Organisation der Erlebnisse erschließen. Weil hier Erfahrung ein Korrelat der narrativen Syntax ist, wendet sich die Analyse autobiographischer Erzählungen den „übergreifenden Prozessabläufen“ (ebd., S. 92) zu, die für Schütze dafür verantwortlich sind, dass sich einzelne Lebensereignisse zu Lebensprozessen verstetigen und schließlich zur Einheit einer Lebensgeschichte zusammenschürzen lassen. Die sprachliche Artikulation der Erfahrung besteht dabei in der Integration von vier Aggregatsstufen. Auf der atomaren Ebene der Erzählung besteht das Problem für einen Erzähler darin, Lebensereignisse in Erzählsätze zu überführen. Das Ergebnis dieser Operation wird zum Ausgangszustand für einen darauf folgenden zweiten Schritt. Hier müssen die durch Erzählsätze dargestellten Lebensereignisse über Prozessstrukturen zur übergeordneten Einheit einer Lebensphase verknüpft werden. Die „systematischen elementaren Aggregatszustände der Verknüpfungen von Ereigniserfahrungen“ (ebd., S. 93) finden in einem dritten Schritt in Erzähllinien ihre Fortsetzung. Hier hat es ein Erzähler damit zu tun, Prozessstrukturen zu relationieren. Für Schütze führen Erzähllinien die einzelnen Lebensphasen des Erzählers zu einem übergreifenden Lebensabschnitt zusammen. „Eine Erzähllinie ist als eine thematisch spezifische Verknüpfung von Prozessstrukturen des Lebensablaufs anzusehen. Der zentrale Gesichtspunkt bezieht sich auf die Zuordnung der für die Lebensgeschichte relevanten Prozessstrukturen zueinander“ (ebd., S. 105). Die vierte Stufe der narrativen Synthesis integriert schließlich die verschiedenen Lebensabschnitte zur „Gesamtgestalt der Lebensgeschichte“ (ebd., S. 102ff.). Die Lebensgeschichte ist bei Schütze nicht nur die höchste Aggregatform einer Erzählung, sondern zugleich eine eigenständige kognitive Figur. Sie bezieht sich auf alle Lebensabschnitte eines autobiographischen Erzählers und macht sich in autobiographischen Erzählungen durch Äußerungen bemerkbar, die ein Erzähler seiner Darstellung vorausschickt. Sie setzt sich in Zwischenbilanzierungen von Ablaufphasen fort und führt schließlich zu einem Abschlusssinn der Erzählung, d.h. „eine bewertende Stellungnahme zu den wichtigsten Ergebnissen der Lebensgeschichte“ (1984, S. 103). Die sprachliche Artikulation der Erfahrung besteht somit in einer Integration von Erzählsätzen, Prozessstrukturen, Erzähllinien und der Gesamtgestalt der Lebensgeschichte. Schütze stützt sich dabei auf eine durchgängige Analogie. So nämlich wie Erzählsätze Ereignisse verknüpfen, so verbinden auch Prozessstrukturen Erzählsätze miteinander. Und Erzähllinien synthetisieren Prozessstrukturen wiederum so, wie die Lebensgeschichte Erzähllinien organisiert. Dieser organische Zusammenhang einer Lebensgeschichte wird für Schütze freilich nur dadurch möglich, dass ein Erzähler die Leistungskraft kognitiver Figuren in Anspruch nimmt. Bei der Erzählung handelt es sich daher nur um die sprachliche Übersetzung bewusstseinsförmiger Vorgaben. Das Vorbild, nach
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dem Schütze die Funktion der kognitiven Figuren modelliert, ist jedoch die Erzählung. Es sind die Erzählfunktionen, deren synthetische Kraft Schütze auf das Bewusstsein überträgt. Durch die Entnarrativierung der Erzählfunktionen aber wird eine genuin sprachliche Funktion naturalisiert. Schütze scheint diese Konsequenz durchaus gesehen zu haben. Er versucht sie mit einer salvatorischen Klausel zu umgehen: „Kognitive Figuren gehen auf allgemeine Ordnungsprinzipien der Erfahrungsaufschichtung des Biographieträgers zurück“ (ebd., S. 80). Wenn kognitive Figuren derart von der Erfahrungsebene abhängen, dann verträgt sich diese Auffassung allerdings nicht mit derjenigen, derzufolge sie in diesem Prozess orientierungswirksam sind. Um auch als Wegmarken für die Erfahrungsbildung dienen zu können, müssen kognitive Figuren vielmehr unabhängig von der Erfahrungsbildung sein. Und unabhängig sind sie nur dann, wenn sie „von Haus aus“ vorhanden sind. Vorsprachliche Erfahrungsbildung und sprachliche Erfahrungsrekapitulation setzen daher bei Schütze eine natürliche Verankerung kognitiver Figuren im Bewusstsein voraus. So erklärt es sich, dass die Gesamtgestalt der Lebensgeschichte bei Schütze nicht das letzte Wort in der Erfahrungsrekapitulation haben kann, eben weil sie als eine kognitive Figur kein sprachliches Element ist, sondern ein Schematismus des Bewusstseins, der über die rein sprachliche Darstellung hinausgreift. Der Erzähler befindet sich zum Zeitpunkt der Narration selbst in einer noch nicht abgeschlossenen und daher über die Erzählung hinausweisenden Lebensphase. „Ob die Lebensgeschichte eher heiter-unterhaltsame oder eher tragische Momente aufweist“ (ebd., S. 103), hängt ab von der aktuellen Lebenssituation des Erzählers, für die wiederum kognitive Figuren als Leitfaden des Selbstverständnisses dienen. So mag es in einer Erzählsituation zwar noch gelingen, die „Moral der Lebensgeschichte“ (ebd., S. 103) durch Reflexion abzusichern, die Klangfarbe der Erzählung aber, um mit Hayden White (1994) zu sprechen, ihre „Metahistorie“, entzieht sich hingegen in dieser Situation dem Erzähler ganz. Denn wie eine Lebensgeschichte erzählt wird, ergibt sich nicht aus den dargestellten Ereignissen selbst, sondern hängt vielmehr von der Art der Ereignisverknüpfung durch einen Erzähler ab.6 Indem er dabei auf seinen eigenen Erfahrungshaushalt zurückgreift, wird die vorsprachliche Erfahrungshaltung von Schütze zum eigentlich übergreifenden Moment einer sprachlichen Erfahrungsrekapitulation aufgewertet. Die Erfahrungshaltung betrifft vor allem die Zurechnung der Urheberschaft von Kontinuität und Diskontinuität, von Ordnung und Unordnung im Lebensablauf des autobiographischen Erzählers (Wohlrab-Saar 2002, S. 11). Die narrative Selbstbeschreibung des eigenen biographischen Trajekts kann dabei zwi-
6
Man hat sogar die Ansicht vertreten, dass das Was vom Wie der Rede nicht zu trennen sei. Vgl. Geertz ( 1993).
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schen den Extremen einer Distanzierung von oder einer Identifikation mit der eigenen Lebensgeschichte oszillieren. Je nachdem, ob ein Erzähler sich dabei als Subjekt oder Objekt dieser Geschichte präsentiert, wird der Verlauf der eigenen Lebensgeschichte als eine ansteigende oder abfallende Linie, als Erfolgsoder als Verfallsgeschehen, als dramaturgische Kehre oder komödiantische Oszillation des Lebenslaufs präsentiert. Die Erfahrungshaltung eines Erzählers muss bei der Analyse einer autobiographischen Stegreiferzählung von Schütze theoretisch vorausgesetzt werden. Methodologisch betrachtet ist sie das Korrelat der narrativen Syntax, methodisch erschließt sie sich über die Rekonstruktion der narrativen Ereignisverknüpfung. So einleuchtend diese Zuordnung zunächst sein mag, in Hinsicht auf die Rechtfertigung der These einer Homologie von Erzählung und Erfahrung bleibt dies jedoch unbefriedigend. Denn die Homologiethese lässt sich nur dann aufrechterhalten, wenn die Prinzipien der Erfahrungsbildung auf vorsprachlicher Ebene nicht mit den Prinzipien zusammenfallen, derer sich die autobiographische Erzählung für die Erfahrungsdarstellung bedient. Aber genau das ist bei Schütze der Fall. Zwar ist Schütze der Auffassung, dass Erfahrung und Erzählung zwei verschiedene Modi der Welterschließung sind, gleichwohl sucht er deren Ähnlichkeit durch ein gemeinsames Verfahren der Verknüpfung von Elementen zu rechtfertigen. Beide Ebenen scheinen für Schütze nur deswegen homolog sein zu können, weil sie auf denselben Schematismus – kognitive Figuren – zurückgreifen. Schütze entlehnt die für die autobiographische Stegreiferzählung überaus wichtigen Modi der Ereignisverknüpfung allerdings ausgerechnet der Dimension, die er dadurch zu fundieren glaubt: der Erzählung. Die Folgen dieser Übertragung bilden für Schütze den Ausgangspunkt für die Formulierung einer bewusstseinstheoretisch fundierten Grammatik der Stegreiferzählung. Ist erst einmal der sprachliche Ursprung kognitiver Figuren verwischt, kann die Ereignis- und Erfahrungsverknüpfung als genuine Leistung des Bewusstseins postuliert werden. Und wenn erst einmal die narrativen Kernfunktionen zu kognitiven Figuren naturalisiert worden sind, erscheint es so, als ob es das Bewusstsein ist, das auch die Mechanismen für die sprachliche Darstellung der Erfahrung bereitstellt. Es sieht schließlich daher so aus, als ob sich bereits die Konstitution von Erfahrung über die Inanspruchnahme von kognitiven Figuren verstehen lassen könnte. Tatsächlich jedoch sind Schützes kognitive Figuren der „Ereignis-und Erfahrungsverknüpfung“, als auch die „Gesamtgestalt der Lebensgeschichte“ nicht mehr als Abziehbilder von Erzählfunktionen. Anstelle der behaupteten Homologie von Erfahrung und Erzählung konzipiert Schütze de facto eine Überlappung beider Dimensionen: Eine Erfahrung kommt genauso zustande wie eine Erzählung, nämlich durch kognitive Figuren. Eine Homologie zwischen zwei Entitäten besteht aber nicht erst dann, wenn diese Entitäten über ein
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gemeinsames Substrat verfügen. Vielmehr besteht eine Entsprechung zwischen zwei verschiedenen Entitäten bereits dann, wenn eine Ähnlichkeit von Verhältnissen einander unähnlicher Entitäten beobachtet werden kann. „Eine Analogie“, sagt Kant (1989, §58), bedeute „eine vollkommne Ähnlichkeit zweier Verhältnisse zwischen ganz unähnlichen Dingen“. Auf die Beziehung von Erfahrung und Erzählung angewendet, bedeutet dies, dass beide Dimensionen nicht erst dann einander entsprechen, wenn sie über einen gemeinsam geteilten Formenvorrat verfügen, sondern wenn auf operativer Ebene Verhältnisse entdeckt werden, die sich als ein Verhältnis entsprechen.7 Diese weniger starke Fassung des Homologiekonzepts ist bei Schütze selbst angelegt, gleichwohl hält ihn seine implizite Bewusstseinsontologie davon ab, nach einer alternativen Begründung für die Entsprechung von Erfahrung und Erzählung zu suchen. Um zu bemerken, dass im Erfahrungsstrom eine Relation existiert, die einer Relation im Erzählstrom entspricht, muss man sich zunächst vor Augen führen, welche weitreichenden Implikationen bei Schütze in der Unterscheidung von „Ereignisabläufen“ und „Erfahrungshaltung“ enthalten sind. Die Vorbedingung einer Erfahrungshaltung ist, dass bei einem Akteur „Ereignisabläufe“ noch präsent sind. Damit aber aus einer erinnerten Erlebnisreihe auch eine Erfahrungshaltung hervorgehen kann, bedarf es für Schütze offensichtlich eines Standpunktes, der dem Akteur die Möglichkeit einer Stellungnahme gegenüber einer abgelaufenen Reihe seiner Erlebnisse eröffnet. Ich erinnere dazu an Schützes Bemerkung über die Bedeutung der erzählten Lebensereignisse. Diese entspringt einer „Erfahrungshaltung, die der Biographieträger den Ereignisabläufen gegenüber einnimmt“ (ebd., S. 92). Die Erfahrungshaltung kann deswegen nicht die Summe einer Erlebnisreihe sein, weil Erfahrungshaltung und Erlebnisreihe dann zusammenfielen und demnach jene gegenüber dieser nicht mehr selbstständig wäre. Damit die Erfahrungshaltung aber eine reflektierende Stellungnahme zu einer Erlebnisreihe sein kann, muss sich die Erfahrungshaltung nicht nur von ihrem Reflexionsobjekt, der Erlebnisreihe, unterscheiden, sie muss ihr gegenüber auch autonom sein. Der Anspruch auf Selbstständigkeit der Erfahrung führt bei Schütze daher dazu, faktisch zwischen Erlebnis und Erfahrung zu unterscheiden. Denn eine Erfahrung kann bei Schütze weder ein singuläres Erlebnis sein, da für ihn stets nur mindestens zwei Erlebnisse erfahrungsrelevant sein können (ansonsten gäbe es nichts zu verknüpfen), noch kann Erfahrung bei Schütze mit einer Erlebnisreihe zusammenfallen, denn dann wäre die Erfahrungshaltung entweder nicht von den Erlebnisabläufen unterscheidbar (und könnte ihr gegenüber nicht autonom sein) oder aber der Sinn dessen, was mit Erfahrung bei Schütze gemeint ist, würde sich verdoppeln. Einmal wäre Erfah-
7
In diesem Fall handelt es sich um eine Proportionalanalogie. Vgl. Hesse (1966, S. 64).
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rung dann gleichbedeutend mit einer Reihe von Erlebnissen, ein anderes Mal hingegen wäre Erfahrung als ein von der Erlebnisreihe unterschiedenes Resultat einer reflektierenden Stellungnahme zu verstehen. Erfahrung müsste also den Spagat leisten zwischen einer reflexionslosen Summe von Erlebnissen einerseits und einem Reflexionsresultat der Erlebnisse andererseits. Diese Verdopplung des Erfahrungsbegriffes ließe sich aber für Schütze nur dann rechtfertigen, wenn Erfahrung auf operativer Ebene gleichbedeutend mit der Summe von Erlebnissen wäre, auf sprachlicher Ebene hingegen einer reflektierenden Stellungnahme entspräche, also einer Erzählung. Doch wie bereits gezeigt, setzt Schütze für die narrative Darstellung eine Erfahrungshaltung voraus. So bleibt also nur der Schluss übrig, dass „Erfahrung“ bei Schütze ein vornarratives, reflektierendes Selbstverhältnis meint. So wie eine Lebensgeschichte auf sprachlicher Ebene nicht einfach vorliegt, sondern erst erzählt werden muss, so liegt auch Erfahrung für ein Bewusstsein nicht einfach vor, sondern muss erst zustande gebracht werden. Dies geschieht bei Schütze offenbar durch eine besondere Einstellung, eine Haltung, durch die eine Erlebnisreihe einerseits abgeschlossen wird, andererseits dabei aber auch so umorganisiert wird, dass ein Resultat – Erfahrung – entsteht, das sich von der Erlebnisreihe signifikant unterscheidet. Und was bei Schütze für die vorsprachliche Erfahrungsbildung gilt, trifft auch für die sprachliche Artikulation zu. Lebensgeschichte und Lebenserfahrung werden durch ein Verhältnis der Reorganisation ihrer jeweiligen Elemente produziert. Auf der Ebene des Lebensvollzugs verhalten sich Erlebnisse zum reflektierenden Urteil, der Erfahrungshaltung, so wie sich Ereignisse auf der Ebene ihrer sprachlichen Darstellung zur narrativen Synthesis, der Erzählung, verhalten. Erfahrungshaltung und Lebensgeschichte sind also gleichermaßen Produkte synthetisierender Akte. Die Homologie von Lebenserfahrung und Lebensgeschichte lässt sich somit auf folgende Weise notieren8: Erlebnisse : Haltung :: Ereignisse : Erzählung Diese bei Schütze selbst angelegte Auffassung der Homologie von vorsprachlicher Erfahrungsbildung und narrativer Erfahrungsrekapitulation hat eine weit reichende Konsequenz. Denn wenn es richtig ist, dass die Elemente eines Bewusstseins Erlebnisse sind, deren Organisation für Schütze die Erfahrungshaltung ausmacht, andererseits die Erzählung aber nicht aus Erlebnissen, sondern aus narrativen Ereignissen besteht, deren Organisation wiederum die Geschichte darstellt, dann operieren Bewusstsein und Sprache nicht nur auf der Ebene ihrer
8
Lies: Erlebnisse verhalten sich zur Haltung wie Ereignisse zur Erzählung (vgl. Kapitel VI und VII).
I. 2 Konfigurationen
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Elemente, sondern ebenso auf der Ebene der Elementorganisation überschneidungsfrei. Bewusstsein und Sprache können nur deswegen analoge Strukturen der Verknüpfung von Elementen entfalten, weil sie voneinander getrennt sind – und getrennt bleiben. Das Postulat einer Homologie von Erfahrung und Erzählung bedarf daher keiner substantiellen Vermittlung von Handlung und Sprache durch ein Bewusstsein. Anstelle des Materialitätskontinuums des Bewusstseins setzt die reformulierte Homologiethese die Geschlossenheit von Bewusstsein und Sprache voraus. Weder kann das Bewusstsein die Sprache instruieren, noch kann die Sprache das Bewusstsein dirigieren. Erst in ihrer Differenz bleiben Bewusstsein und Sprache, was sie sind: ein geschlossenes System (Luhmann 1995a). Die Verschiedenheit von Sprache und Bewusstsein ist geradezu die Voraussetzung dafür, dass sie auf der Strukturebene einander entsprechen können. Die Homologie von Strukturen ist aber etwas anderes als deren Identität. Die Strukturhomologie meint hier eine gleichartige Beziehung zwischen formlosem Stoff (Erlebnisse, Ereignisse) und stoffloser Form (Erfahrung, Erzählung) zweier verschiedener Modi der Welterschließung. Aus ihr lässt sich nicht ableiten, dass die Struktur der erzählten Lebensgeschichte mit der Struktur der Erfahrungshaltung identisch ist. Die These einer Homologie von Erfahrung und Erzählung ist daher verträglich mit der Möglichkeit, dass ein Autobiograph eine Geschichte erzählt, die seine Erfahrungshaltung vollkommen verkennt. Erst durch die Reformulierung der Schütze’schen Homologiethese kann 'diese Möglichkeit überhaupt mitbedacht werden, für deren systematischen Ausschluss Schütze zu Recht kritisiert wurde. Allerdings ist es nicht Fritz Schütze, der die Differenz von erzählter und erlebter Zeit näher beleuchtet, sondern insbesondere Gabriele Rosenthal.
2.2
Ein dualistisches Dilemma
Die von Gabriele Rosenthal (zusammen mit Wolfram Fischer-Rosenthal 1997) vorgeschlagene Methode zur „Narrationsanalyse biographischer Selbstrepräsentationen“ steht sowohl in Kontinuität als auch in Diskontinuität zur Methodologie von Fritz Schütze. Eine gewichtige Rolle spielt nach wie vor das narrative Interview als Erhebungsinstrument lebensgeschichtlicher Erfahrung. Die Methodologie der Interviewanalyse entlehnen Fischer-Rosenthal/Rosenthal jedoch weniger bei Schütze, sondern vielmehr bei einer phänomenologisch interpretierten Gestalttheorie (Gurwitsch 1966) einerseits, bei der objektiven Hermeneutik (Oevermann) andererseits. Der Grund für dieses Splitting der Methoden liegt in einer dualistischen Biographiekonzeption, in deren Folge die Unterscheidung von erlebter und erzählter Lebensgeschichte von Rosenthal in die soziologische
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I. Biographieforschung
Biographieforschung eingeführt wird (Rosenthal 1995). Durch Einführung zweier Zeitdimensionen wird von Rosenthal ausgeschlossen, was für Schütze noch möglich schien: Erzählung und Erfahrung sind nicht mehr durch ein prästabilisiertes Band, kognitive Figuren, miteinander verkoppelt, sondern erzählte und erlebte Zeit bleiben bei Rosenthal durch einen unüberwindbaren Zeitenabstand voneinander getrennt. Damit wird nicht mehr eine Homologie (im Schütze’schen Sinne), sondern die Differenz von erlebter und erzählter Zeit vorausgesetzt. Die gegenwärtige Darstellung vergangener Erlebnisse, so Rosenthals Ausgangsthese, lässt sich von anderen Relevanzen leiten, als jenen, die in der Vergangenheit die Bedeutung von Erlebnissen konstituierten. Gegenwärtige (erzählte) und vergangene (erlebte) Bedeutung fallen somit auseinander. Das zentrale Anliegen von Rosenthal besteht daher darin, aus der Differenz von erzählter und erlebter Zeit die spezifische Weise der Zuwendung eines autobiographischen Erzählers zur Vergangenheit abzuleiten. Allerdings wirft auch die Durchführung dieses Programms einige Schwierigkeiten auf, die ich im Folgenden diskutieren möchte. Denn obzwar sich die Unterscheidung einer erlebten von einer erzählten Zeit programmatisch auf die Differenz zwischen einer historischen und einer dargestellten Zeit bezieht, kommt es in der methodologischen Umsetzung dieses Programms bei Rosenthal zu einer eigentümlichen Verschiebung beider Zeitschichten. In Folge dieser Umwidmung droht die erzählte Zeit mit der erlebten Zeit zusammenzufallen, so dass ihre Unterscheidbarkeit von Rosenthal nur durch einen „methodischen Sprung“ gerettet werden kann. Ich möchte dieses Problem zunächst verdeutlichen, indem ich die Analyse autobiographischer Erzählungen mit der Untersuchung literarischer Erzählungen konfrontiere. Über diesen Umweg lässt sich nicht nur der systematische Stellenwert der von Rosenthal benutzten Methoden genauer lokalisieren, sondern es wird dadurch auch deutlicher, welche Schwierigkeiten mit einer solchen dualistischen Biographiekonzeption insgesamt verbunden sind. Fiktionale Erzählungen sind zwar durch den systematischen Verzicht auf einen außertextuellen Referenten gekennzeichnet, trotzdem hat auch die literarische Werkanalyse immer wieder betont, dass diese zumindest eine hypothetische Referenz habe. So hat etwa Günther Müller (1968) vorgeschlagen, für die Analyse einer fiktiven Zeiterfahrung in literarischen Werken die Erzählzeit von der erzählten Zeit zu unterscheiden. Die Erzählzeit ist eine verobjektivierte (i.e. eine verräumlichte) Zeit des Erzählens, die sich in Zeilen und Seiten bemisst. Die erzählte Zeit hingegen ist eine datierte Zeit, die in kalendarischen Einheiten gezählt wird und wiederum durch Auslassungen aus einer Zeit hervorgeht, die selbst nicht erzählt wird (Ricœur 1989, Bd.II, S. 137). Aus dem Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit, so Müllers These, ließe sich die Zeiterfahrung eines fiktiven Erzählers ableiten. Ausführliche Schilderungen eines Ereignisses
I. 2 Konfigurationen
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würden beispielsweise auf intensive Erlebnisse hindeuten, wohingegen hinter erzählerischen Auslassungen z.B. Unbedeutsames, Vergessenes, aber auch Verschwiegenes stehen könne. In der referentiellen Gattung der Autobiographie entspricht nun der fiktiven Zeiterfahrung eine wirkliche Zeiterfahrung: die erlebte Zeit. Entgegen des von Rosenthal erweckten Anscheins wird daher auch in der Untersuchung einer autobiographischen Stegreiferzählung eine dreistellige Unterscheidung benutzt. Da sich aber mit dem Einzug eines außersprachlichen Referenten in der Biographieforschung epistemologische und methodologische Fragen schlagartig in den Vordergrund schieben, führt dies zu einer folgenreichen Ausblendung der Erzählzeit9 (vgl. Abb. 1). In Folge dessen erscheint nur noch unklar, inwiefern die erzählte Zeit mit der erlebten Zeit eines autobiographischen Erzählers übereinstimmt (Wahrheitsproblem) bzw. ob die erlebte Zeit eines Erzählers für Dritte überhaupt erreichbar ist (methodisches Problem).
Abbildung 1:
Methodische Einklammerungen in Literatur und Autobiographie
Literatur
Erzählzeit
erzählte Zeit
fiktive Zeiterfahrung
Autobiographie
[Erzählzeit]
erzählte Zeit
erlebte Zeit
Für die Zwecke einer soziologischen Biographieforschung ist auch eine dreistellige Unterscheidung zu unterkomplex. Da sich Rosenthal an der Überlieferung vergangener Erlebnisse orientierten (Rosenthal 2006, S. 2), schiebt sich die Erinnerung zwischen die erzählte Zeit und die Zeit des historischen Erlebens. Die erzählte Zeit ist aber nicht einfach deckungsgleich mit der erlebten Zeit, sondern gilt als Vergegenwärtigung der erlebten Zeit, d.h. die erzählte Zeit stellt die erinnerte Zeit dar. Die erlebte Zeit zerfällt daher in zwei Zeiten. Einerseits ist sie die in einer Erzählung präsentierte, aktuell erinnerte Zeit, andererseits jedoch bezieht sich die erzählte Zeit über die erinnerte Zeit auf das historische Erleben selbst (vgl. Abb. 2).
9
Unter Erzählzeit in Bezug auf die Autobiographie verstehe ich nicht nur die enge Fassung der zählbaren Zeit, sondern sie gilt hier auch als Index einer sozialen Erzählsituation.
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I. Biographieforschung
Abbildung 2:
Einklammerung der Zeit des Erlebens in der Autobiographie
[Erzählzeit] erzählte Zeit
erinnerte Zeit [Zeit des Erlebens]
Wenn man sich nun aber strikt an das hält, was für die biographische Analyse gegeben ist, erweist sich die von einem Erzähler erinnerte Zeit als dem Datenmaterial äußerlich. Denn nicht auf das, was im Bewusstsein des Erzählers abläuft, sondern nur auf dessen Verlautbarung kann sich die empirische Analyse beziehen. Eine Methodologie des Sinnverstehens unterstellt zuviel, wenn sie die Darstellung von Erinnerung mit der dargestellten Erinnerung selbst gleichsetzt. Die Erinnerung mag zwar für den Erzähler präsent sein, sie bleibt aber für einen Beobachter im Bewusstsein des Erzählers eingeschlossen. Sie ist nur vermittels sprachlicher Zeichen zugänglich – im Falle der soziologischen Biographieforschung als Aufzeichnung und Transkription einer autobiographischen Erzählung. Die erzählte Zeit ist daher nur durch eine methodologische Entscheidung, nicht aber qua Phänomen deckungsgleich mit der erinnerten Zeit. Nur kraft dieser Entscheidung kann die erzählte Zeit mit der erinnerten Zeit gleichgesetzt werden. Die Beschränkung auf das Datenmaterial führt dazu, Erinnerungen aus der soziologischen Biographieforschung auszuschließen. Sie hat es mit Sprache, nicht mit Bewusstsein zu tun. An die Stelle der erinnerten Zeit rückt daher die erzählte Zeit als die methodisch einzig zugängliche Zeit (vgl. Abb. 3). Wer sich für die historische Zeit des Erlebens interessiert, kann daher an deren Stelle nicht einfach die erinnerte Zeit einsetzen, sondern muss sich letztlich an die erzählte Zeit halten.
Abbildung 3: Erzählzeit
Die Erzählkorrelation für die biographische Datenanalyse erzählte Zeit
[erinnerte Zeit] [Zeit des Erlebens]
Damit rückt für die biographische Analyse die Korrelation von Erzählzeit und erzählter Zeit in den Mittelpunkt. Die erzählte Zeit ist eben darum, weil sie erzählte Zeit ist, keine Zeit, die sich von selbst erzählt. Sie muss selbst noch präsentiert werden. Auf theoretischem Wege überspringt Rosenthal die Erzählzeit, weil sie entweder bei der erzählten Zeit stehen bleibt oder aber über die Erzählzeit hinausgeht. In methodologischer Hinsicht wird die Erzählzeit wiede-
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rum von Rosenthal dadurch abgeblendet, dass sich die verwendeten Verfahren der Gegenstandserschließung entweder auf die erzählte Zeit oder aber auf die sogenannte erlebte Zeit konzentrieren. Dadurch aber fällt Rosenthal (2006, S. 11 ff.) auf methodologischer Ebene in genau jenen Dualismus zurück, der für sie das theoretische Ausgangsproblem dargestellt hat. Dualistische Vertreter in der Erzählforschung unterscheiden zunächst eine Subjekt- von einer Objektseite, um dann einer der beiden Seiten ihr Misstrauen auszusprechen. Die eine Seite sieht im Erzähler eine beständige Fehlerquelle in der Darstellung seiner vergangenen Erlebnisse, glaubt aber daran, das Ausmaß an subjektiven Verzerrungen wie Gedächtnislücken und Situationsorientierungen beim Erzählen methodisch bereinigen zu können. Dieser qua Methode optimistischen Fraktion, steht eine qua Theorie skeptische Opposition gegenüber. In den Augen der letzteren kann eine Erzählung nicht darstellen, wie etwas in der Vergangenheit erlebt wurde, sondern nur, wie diese Erlebnisse im Lichte gegenwärtigen Erzählens erscheinen. Was als vergangenes Erlebnis deklariert werde, sei deswegen stets Resultat gegenwärtiger Deutungs- und Wahrnehmungsmuster, die im Erzählakt nicht zu hintergehen seien. Während die einen also alles Subjektive einklammern, um dahinter das deutungsunabhängige Objekt eines vergangenen Erlebniszusammenhanges zu finden, halten die anderen die Deutungsunabhängigkeit des Objekts selbst wiederum für eine Erfindung. Hinter dem Streit um die Deutungs(un)abhängigkeit des Gegenstandes steht nichts Geringeres als die Frage nach der Realität biographischer Erzählungen. Denn wenn es richtig ist, dass das Insignium der Wirklichkeit eines Objektes dessen Beharrlichkeit in der Zeit ist (Kant 1998, B274), legt die Auseinandersetzung um den Anteil der Deutung an der Biographie den altbekannten Streit zwischen ontologischem Realismus und skeptischem Idealismus neu auf. Dabei wird allerdings übersehen, dass der Streit der biographietheoretischen Fakultäten von einem Konsens getragen wird: Die Unterscheidung von Subjekt und Objekt ist hier nur zeitlich transponiert in die Differenz von Erzählgegenwart und Erlebnisvergangenheit. Obwohl dem Dualismus, wie Rosenthal (2006, S. 18) feststellt, nicht zu entkommen sei, gelte es wenigstens zu vermeiden, in die skizzierten Einseitigkeiten zurückzufallen. Weder dürfe die erlebte Lebensgeschichte „als ein sich konstant darbietendes Objekt verstanden werden, das je nach Perspektive und Stimmung vom Autobiographen unterschiedlich erinnert und präsentiert wird, noch als ein durch Zuwendung beliebig konstruierbares Objekt“ (ebd., S. 20). Wie bei Schütze wird ein biographietheoretischer Standpunkt gesucht, der weder einen platten Realismus vertritt, noch in einen dogmatischen Konstruktivismus verfällt, aber zugleich auch die Ausflucht in eine Naturalisierung vermeidet.
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In dieser Situation verheißt die phänomenologische Reinterpretation der Gestalttheorie für Rosenthal einen Ausweg. Mit der Phänomenologie wählt sie einen Ausgangspunkt, der eine realistische Ereignisontologie zu Gunsten einer Rekonstruktion sinnhafter Bewusstseinserlebnisse aufgibt. Rosenthals (ebd., S. 21) methodische Maxime besteht deswegen darin, Seinsfragen als Sinnprobleme zu behandeln: „Ereignisse sind nicht wahrnehmbar, wie sie sind, sondern nur im Wie ihrer Darbietung.“ Mit der Reduktion von Sein auf Sinn geht die Ausklammerung der historischen Zeit aus dem Untersuchungsbereich einer soziologischen Biographieforschung einher. Letztmögliche Referenz kann nun nicht mehr sein, wie es wirklich gewesen ist, sondern nur noch die von einem biographischen Subjekt in einer Erzählgegenwart wahrgenommene Zeit. Diese phänomenologische Bedeutung der erlebten Zeit leitet den ersten Teil der Überlegungen von Rosenthal. Zwar geht sie dadurch von einem subjektiven Erlebensstandpunkt aus, gleichwohl hält sie es für nötig zu betonen, dass dieser nicht Überhand nehmen dürfe. Denn obzwar die phänomenologische Zeit keine erlebensfreie „Zeit an sich“ mehr sein kann, soll sie andererseits auch nicht mit einer ultrasubjektiven Erzählperspektive zusammenfallen. Gerade aber diesen Zug zur Ultrasubjektivität sieht Rosenthal in der Phänomenologie Husserls angelegt, weswegen sie auf Gurwitsch zurückgreift, um einen gemäßigten Standpunkt der Subjektivität zu gewinnen. Bei der Aufklärung des Anteils, den ein Bewusstsein an der Sinnhaftigkeit seiner eigenen Erlebnisse hatte, ging die Phänomenologie Husserls (1950b) von einer Intentionalitätsstruktur aus. Einesteils war ein Bewusstsein stets gerichtet auf einen, freilich nur bewusstseinsimmanent gegebenen Wahrnehmungsgegenstand, dessen sinnhafte Qualität Husserl das „Noema“ nannte. Andernteils hatte die Intentionalität eine selbstreferentielle Seite, einen Wahrnehmungsakt, durch den dieses Noema erst gegeben war, die Noesis. Als was ein Wahrnehmungsgegenstand für ein Bewusstsein erschien, dessen Sinn also, sah Husserl als eine Funktion der Noesis an. Husserl verstand sie als die grundlegende Subjektkompetenz einer (aktivischen) Auffassung eines (passiv) rezipierten Empfindungsstoffes. Von dieser radikal egologischen Konzeption bei Husserl rückt Rosenthal ab, wenn sie eine Spielart der Phänomenologie präferiert, „die zwar die Noesis als Leistung des Biographen nicht ausklammert, aber auch das Noema als Vorbedingung des Leistens zu seinem Recht kommen lässt“ (1995, S. 41). Innerhalb der subjektiven Wahrnehmung sollte damit dem selbstbezüglichen Anteil (Noesis) an der Wahrnehmung eine Grenze gesetzt werden. Diese Absicht sieht Rosenthal in der „Phänomenologie der Thematik“ von Gurwitsch (1966) eingelöst. Durch Rückgriff auf Gurwitsch sollte herausgestellt werden, dass der Sinn eines Wahrgenommenen nicht nur Resultat einer rein subjektiven Leistung war, sondern auch, dass „das Noema bereits eine Strukturiertheit vor-
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gibt“ (Rosenthal 1995, S. 42; Hervorhebung M.K). Der Sinn eines Gegenstandes durfte daher nicht mehr nur abhängen von einer subjektiven Auffassungsgabe, einer spontaneistischen Beseelung, sondern auch von einer dem Wahrnehmungsobjekt stets auferlegten Wahrnehmungsstruktur. Damit ersetzt Rosenthal eine Konstitutionstheorie des Erlebnisses, bei der der Sinn des Noema eine Funktion der Noesis ist, durch eine Wechselwirkungsthese, bei der keine der beiden Seiten das Primat inne hat. Es ist daher festzuhalten, dass sich die „Gurwitsch-Korrektur“ an Husserl erstens in der Immanenz des subjektiven Erlebens bewegt und zweitens vornehmlich einer Seite innerhalb des Wahrnehmungserlebnisses gilt, nämlich der Analyse des Wahrnehmungsgegenstandes. Gurwitschs Auffassung nach bestimmt sich der Sinn des Wahrnehmungsnoema aus dem Zusammenspiel von Thema und Feld. Das Wahrnehmungsthema, die momentane Aufmerksamkeit des Bewusstseins, blieb stets abhängig von einem es übergreifenden Zusammenhang, einem Wahrnehmungsfeld als dem Gesamt des assoziativ zum Thema gehörenden Inhalts. In dieser wahrnehmungspsychologischen Kontexttheorie der Bedeutung hat ein thematisches Erlebnis nur noch einen funktionalen Wert: Er bestimmt sich in Bezug auf das übergeordnete Feld (Frame) der Wahrnehmung. So verändert sich beispielsweise der Sinn einer Butter, wenn diese aus dem heimischen Kühlschrank genommen und in ein Kunstmuseum hineingestellt wird: Aus dem Nahrungsmittel wird dann ein ästhetisches Reflexionsobjekt. Die ontologische Konstanz eines Objekts ist dabei vereinbar mit dessen Flexibilität im sinnhaften Erleben. Nun ist aber das Thema einer Wahrnehmung keineswegs nur das willfährige Objekt eines Wahrnehmungsfeldes. Ein Thema kann auch zur Reorganisation des Feldes führen. Wenn eine Butter ranzig wird, nötigt diese Wahrnehmung dazu, das thematische Feld „Nahrungsmittel“ auszuwechseln und es etwa durch das thematische Feld „alltagsprakische Überforderungen“ zu ersetzen. Innerhalb dessen ist die Butter dann kein ästhetisches Reflexionsobjekt mehr, sondern ein Zeugnis der Vergesslichkeit. Mit der Unterscheidung von Feld und Thema variiert Gurwitsch eine Überlegung, die Husserl (1950a, S. 84) zuvor als Präsenz-Appräsenz-Struktur des Wahrnehmungshorizontes beschrieben hatte, die aber auch in der Gestalttheorie (Köhler 1968) als Unterscheidung von Figur und Hintergrund anzutreffen ist. In allen drei Fällen besteht das Denkmotiv darin, dass sich der Sinn bzw. die Gestalt eines Wahrnehmungsobjektes nur aus einer wechselseitigen Beziehung vom Ganzen und dessen Teilen ergeben kann. Dagegen meint Rosenthals These der Widerständigkeit des Wahrnehmungsnoemas gegenüber der Wahrnehmungsnoesis eine zweite Art von Wechselwirkung, nunmehr nicht nur auf einer Seite der Wahrnehmung, dem Noema, sondern zwischen den beiden Polen des Wahrnehmungserlebnisses, zwischen Noema und Noesis. Für dieses Verhältnis
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behauptet Rosenthal eine mehrstufige Interdependenz: „Die erzählte Lebensgeschichte konstituiert sich wechselseitig aus dem sich dem Bewusstsein in der Erlebenssituation Darbietendem (Wahrnehmungsnoema) und dem Akt der Wahrnehmung (Noesis), aus dem aus dem Gedächtnis vorstellig werdenden und gestalthaft sedimentierten Erlebnissen (Erinnerungsnoemata) und dem Akt der Zuwendung in der Gegenwart des Erzählens“ (1995, S. 20; Hervorhebung M.K.). Aber wodurch wird es einem Erzähler überhaupt möglich, eine Geschichte zu erzählen, die Erinnerungen präsentiert, welche in die Erlebnisvergangenheit des Erzählers zurückreichen? Die Wechselwirkungsthese ist auf die Konstitution von Sinn bezogen. Dagegen geht es im Erzählen einer Lebensgeschichte um die Kontinuität von Sinn. Von der erlebten zur erzählten Geschichte ist es eine Wegstrecke, die ein autobiographischer Erzähler erst vorwärts (im Lebenslauf) und dann rückwärts (in der Lebensgeschichte) durchlaufen muss. Dieser Weg kann nicht mit Hilfe eines Stufenmodells begriffen werden, weil die Erzählgegenwart in diesem Modell nur in die Erlebnisvergangenheit zurückspringen könnte. Die soziologische Biographieforschung hätte es dann aber nicht mit einer Lebensgeschichte, sondern nur mit der Vergegenwärtigung einzelner Lebensausschnitte zu tun. Aus der Diskontinuität eines Stufenmodells muss daher die Kontinuität eines Überlieferungsgeschehens werden. Und das geht nur dadurch, dass die Erzählung als das letzte Glied einer miteinander verzahnten Erfahrungskette begriffen wird: Aus dem erlebten Ereignis wird bei Rosenthal ein erinnertes Erlebnis und daraus wiederum eine erzählte Erinnerung (ebd., S. 70ff.). Man stößt somit auf zwei grundlegende Annahmen Rosenthals. Zum einen wird deutlich, welches die Relata sind, die im Zusammenhang einer autobiographischen Erzählung relevant sind. Es sind Erzählung und Erinnerung, die in Wechselwirkung miteinander stehen. Zum anderen wird deutlich, dass die erzählte Zeit nicht nur in Wechselwirkung mit der erinnerten Zeit steht, sondern von Rosenthal auch als eine mit der Erinnerung verzahnte Zeit, nämlich als erzählte Erinnerung konzipiert wird. Ich möchte zunächst die Probleme herausstellen, die sich aus Rosenthals Identifikation der erzählten Zeit mit der Erinnerung für die Frage nach der Erzählzeit ergeben. Im Anschluss daran werde ich die Implikationen von Rosenthals These der Wechselwirkung von Erzählung und Erinnerung diskutieren. Rosenthals Auffassung, dass die erzählte Zeit gleichbedeutend mit einer erzählten Erinnerung sei, ist aus zwei Gründen problematisch. Zum einen handelt es sich hier um einen Kategorienfehler. Denn wie im Erleben eines Bewusstseins jeder Wahrnehmungsakt sein Wahrgenommenes hat, so hat auf der Ebene der Sprache jede Erzählung nicht ein Wahrgenommenes, sondern ein Erzähltes. Rosenthal kündigt diese Korrelation auf, indem sie aus dem „Akt der Zuwen-
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dung in der Gegenwart des Erzählens“ (ebd., S. 20) faktisch eine sprachliche Erzählnoesis macht, der sie ein bewusstseinsförmiges Erinnerungsnoema gegenüberstellt. Bei diesem Kategorienfehler handelt es sich jedoch um einen von Rosenthal in Kauf genommenen. Sie verfolgt damit offenkundig die Absicht, die erzählte Zeit als eine zweite Wahrnehmungsebene betrachten zu können. Die erzählte Zeit gilt ihr nur als sprachliche Artikulation des inneren Erlebens, sie ist eine reine Reduplikation dessen, was im Bewusstsein des Erzählers vorher schon präsent gewesen ist.10 Aber nicht nur, dass hier die Sprache am Leitfaden der inneren Wahrnehmung gedacht wird, ist problematisch, die erzählte Zeit ist zugleich auch das Äußerste, was sich mit phänomenologischen Mitteln an Sprachlichkeit in diesem Zusammenhang überhaupt erfassen lässt. Denn nur scheinbar behält die erzählte Erinnerung das letzte Wort im Konstitutionsprozess einer autobiographischen Stegreiferzählung. Auch noch die Art der Zuwendung der Erzählung auf die Erinnerung – der Sprache auf die Wahrnehmung – ist eingebettet in einen vorsprachlichen Erzählkontext, durch den die Gestalt einer Erzählung bedingt ist. Rosenthal hat dies durchaus bemerkt. Denn es gibt eine von ihr selbst thematisierte vierte Stufe, mit der eine autobiographische Erzählung die Sprache überschreitet und zum originären Wahrnehmungsmedium zurückkehrt. Rosenthal beschreibt diese Stufe in Anlehnung an Fischer (1978, S. 322) als ein „biographisches Gesamtkonzept“. Es handelt sich hierbei um eine Art implizite Selbstauffassung, über die ein Erzähler intuitiv verfügt und die deswegen die Rückwendung des Erzählers auf seine Vergangenheit anleitet und eo ipso auch die Art seiner Erzählung. Rosenthal (1995, S. 86) ergänzt die Figur des biographischen Gesamtkonzepts noch um weitere Faktoren, durch die die Erzählung relativiert wird. Es handelt sich hierbei um die „in der Interaktion mit der sozialen Welt lebensgeschichtlich konstituierenden Bezugrahmen, sowie die in der Gegenwart des Erinnerns verfolgten Interessen und Stimmungen.“ Die Erzählzeit fällt also bei Rosenthal zwischen der erzählten Erinnerung und der perspektivierten Erzählung (Konzept, Interessen, Stimmungen) durch (vgl. Abb. 4).
Abbildung 4:
Die Korrelation von Erzählen und Erleben bei Rosenthal
[Erzählperspektive] erzählte Erinnerung
erinnertes Erlebnis [erinnertes Ereignis]
10
Die Rede wäre offenbartes Erleben, vgl. Derridas (2003) Kritik an Husserl.
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Rosenthals theoretische Bemerkung, derzufolge die erzählte Zeit das Korrelat der perspektivierten Erzählung ist, bleibt bei ihr methodisch folgenlos. Und sie muss es auch bleiben. Denn selbst wenn man der Konzeption von Rosenthal beipflichtet, so wäre damit ein Geltungsanspruch verbunden, der mit phänomenologischen Mitteln gar nicht eingelöst werden kann. Wenn die erzählte Erinnerung tatsächlich, wie Rosenthal annimmt, als das Korrelat einer Erzählperspektive begriffen werden muss, bestünde die Aufgabe der biographischen Rekonstruktionsarbeit darin, das Verhältnis von Erzählperspektive und erzählter Erinnerung zu analysieren. Doch wie will man mit den Mitteln einer Phänomenologie der Erzählwahrnehmung vorsprachliche Elemente wie ein „biographisches Gesamtkonzept“ bzw. „Interessen und Stimmungen“ aus dem transkribierten Sprachmaterial erschließen? Der phänomenologische Ausgangspunkt führt Rosenthal daher in eine methodische Verlegenheit, die sie in der Folge dazu bringt, sich nur einer Seite des phänomenologischen Korrelats von Erzählperspektive und erzählter Erinnerung zuzuwenden. Mit der thematischen Analyse der erzählten Erinnerung untersucht Rosenthal in Anschluss an Gurwitsch nur eine Seite der Korrelation von Wahrnehmungsinhalt und Wahrnehmungsakt. Die unterschiedlichen Bedeutungen, die die gedankenexperimentelle Variation des Assoziationsrahmens für eine untersuchte Sequenz aus der erzählten Zeit hat, sind eine noematische, keine noetische Analyse. Da aber dadurch die Erzählperspektive außer Acht bleibt, handelt es sich hierbei nur um eine halbierte Analyse der „Erzählwahrnehmung“. Weder behandelt Rosenthal das Verhältnis von Erzählperspektive und erzählter Erinnerung methodisch als eines der Wechselwirkung, noch kann sie dies theoretisch so sehen. Die These einer Wechselwirkung von Noesis und Noema, die Rosenthal anfänglich aufstellt, wird durch die Einführung einer Erzählperspektive von ihr selbst unterlaufen. Denn wenn, wie Rosenthal annimmt, die erzählte Erinnerung abhängig ist von einer Erzählperspektive, dann wird die Art der Zuwendung auf die Erinnerung qua Erzählung durch die implizite Selbstwahrnehmung des Erzählers konstituiert. Was und wie etwas erzählt (und in der Folge: erinnert) wird, hängt dann ab von einer „Erzählnoesis“. Damit verwandelt sich aber Rosenthals These einer Wechselwirkung von Noesis und Noema zu einer Konstitutionsthese. Rosenthal fällt also hinter die anfängliche Gurwitsch-Korrektur an Husserl zurück. Allerdings hat sie ein Argument parat (1995, S. 93), mit dem sie diesem Einwand begegnen könnte. Rosenthal gibt zu bedenken, dass sich ein Erzähler im Vollzug seiner Erzählung durch narrative Zugzwänge selbst in eine „freigesetzte Erinnerungsdynamik“ (Schütze 1987, S. 69) hineinmanövriere, in dessen Folge er von seiner eigenen Vergangenheit überrascht werde. Dies sei immer dann der Fall, wenn sich ihm in seiner Erinnerung etwas darböte, das mit seiner initialen Erzählmotivierung nicht in
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Einklang gebracht werden könne. In einem solchen Fall handele es sich um eine „dramatische Reorganisation des Erinnerungsnoemas“ (Rosenthal 1995, S. 93), die einen Rückkoppelungseffekt auch auf die Art habe, wie sich der Erzähler im Weiteren auf seine Vergangenheit beziehen werde. Die Erzählung sei dann nicht nur eine von Anfang an perspektivierte Erzählung, sondern bliebe von der Erinnerung irritierbar. Das theoretische Postulat einer Wechselwirkung von Erinnerungsnoema und Erzählnoesis wird bei Rosenthal dann jedoch mit einer empirischen Gewissheit gleichgesetzt: „Lassen wir uns auf einen Erinnerungsprozess ein, können wir eben mit unserer Vergangenheit nicht machen, was wir wollen; wir können keine Geschichten erfinden.“ (ebd.). Man sollte jedoch die selbstbezügliche und gegenwartsbasierte Vergegenwärtigung der eigenen Geschichte nicht gleich zu einer absichtsvollen Konstruktion – einer Erfindung – des Erzählers überhöhen. Wenigstens zwei Gründe sprechen dagegen. 1.
2.
Wenn es richtig ist, dass der Konstitutionsprozess einer autobiographischen Erzählung nicht mit einer erzählten Erinnerung, sondern einer perspektivierten Erzählung abschließt, dann bildet der narrative Akt der Zuwendung auf die Erinnerung wiederum nur das Noema für eine „Erzählnoesis“. Anders als die Wechselwirkungsthese von Rosenthal nahelegt, können nun aber auch die Zugzwänge der Erzählung keine Erinnerungsdynamik mehr freisetzen, sondern sind nicht mehr (aber auch nicht weniger) als die sprachimmanenten Bedingungen, denen sich die vorsprachliche Wahrnehmung der Vergangenheit anzupassen hat, wenn sie diese Wahrnehmung artikulieren möchte. Lassen wir uns auf einen Erzählvorgang ein, so ließe sich sagen, können wir nicht mehr erinnerte Erlebnisse in ihrer ganzen Reichhaltigkeit reproduzieren (Bilder, Gerüche, Gefühle, Klänge), sondern wären aufgrund sprachimmanenter Beschränkungen nur imstande, solche Erlebnisse zu reproduzieren, die durch das Nadelöhr der Sprache hindurchgehen. Nicht von der eigenen Erinnerung, sondern nur von Syntax und Semantik könnte sich dann ein Erzähler noch irritieren lassen. Was wir in der Folge als unser Leben erzählen, wäre nichts weiter als das Ergebnis sozialen Sinns. Auch eine erzählte Lebensgeschichte ist eine, wenn auch unwillkürliche Biographie. Sie ist eine Beschreibung, die eben darum auf die Institution der Sprache zurückgreifen muss. Die Biographie hat sich als kommunikative Gattung zu bewähren und soziale Erwartungen zu berücksichtigen. Eine autobiographische Erzählung ist daher keine bloße Verlautbarung unwillkürlicher Erinnerungen. Die Vergegenwärtigung einer Erinnerung braucht aber auch noch aus einem anderen Grund nicht gleich auf eine Erfindung hinauszulaufen. Denn mit einigem Recht lässt sich „Erinnerung“ als die operative Grundbedingung eines jeden Wahrnehmungsbewusstseins ausweisen. In diese Rich-
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tung jedenfalls laufen Husserls (1966) Analysen des subjektiven Zeitbewusstseins, sowie Luhmanns Grundlegung der Zeit autopoietischer Systeme (Nassehi 1993, S. 186). Husserl zufolge tauchen Erinnerungen (i.e. Retentionen) an vergangene Erlebnisse nicht in die Vergangenheit ab, sondern bleiben stets Erlebnisse einer Erinnerungsgegenwart. Die Erinnerung stellt daher nicht dar, wie etwas war, sondern sie bleibt gegenwärtige Wahrnehmung einer bereits abgelaufenen Wahrnehmung. Wenn wir uns an etwas erinnern, so erstrecken wir uns in der Zeit gerade dadurch, dass wir Vergangenes im Wortsinn aufs Neue erleben: Es wird anders erlebt – und zwar nach Maßgabe stets gegenwärtiger Perspektiven. Denn wenn eine autobiographische Erzählung die aktuelle Erzählung einer gegenwärtigen Wahrnehmung der Vergangenheit ist, dann lässt sich der Erzählakt von seinem Erinnerungsnoema aus nicht mehr irritieren. Eine Erinnerungsrekapitulation wäre demnach keine willkürliche, sondern eine unwillkürliche Vergangenheitskonstruktion. Rosenthals ursprüngliche These einer Wechselwirkung von aktiver Zuwendung und passiver Rezeptivität in der Wahrnehmung und Erzählung einer Erlebnisvergangenheit wird von ihr weder methodisch konsequent befolgt, noch ist diese These bei ihr theoretisch kohärent. Die Probleme, in die sich Rosenthal zusehends verstrickt und von ihrem eigentlichen Ziel abzubringen drohen, können als Folgeerscheinungen ihres phänomenologischen Ausgangspunktes einerseits und ihres Erkenntnisinteresses andererseits gesehen werden. Phänomenologisch betrachtet, korreliert die erlebte Zeit mit der Zeit einer ereignishaften Wahrnehmung. Die erlebte Zeit ist stets aktualitätsbasiert. Sie ist damit geradezu das Gegenstück der Zeit, die Rosenthal intendiert: die Zeit des historischen Erlebens. Da Rosenthal die erzählte Zeit als sprachliche Wahrnehmung vorsprachlicher Wahrnehmungen (Erinnerung) von vergangenen Wahrnehmungen (Erlebnisse) konzipiert, fällt die erlebte Zeit mit der erzählten Zeit zusammen. Damit droht ausgerechnet Rosenthals phänomenologischer Ausgangspunkt, das Ziel ihrer Analyse zu vereiteln. Denn um die Zuwendung eines autobiographischen Erzählers zu seiner Erlebnisvergangenheit zu rekonstruieren (Rosenthal 1995, S. 225), muss die erlebte Zeit einen anderen Status erhalten als nur gegenwärtiges Sinnerleben zu sein. Die phänomenologische Einklammerung der Referenz muss von Rosenthal daher wieder rückgängig gemacht werden, damit die erlebte Zeit die Bedeutung und Tragweite einer Zeit des historischen Erlebens erhalten kann. Indem Rosenthal mit dem phänomenologischen Ausgangspunkt insgesamt bricht, erklärt sie die objektive Hermeneutik zum methodischen Statthalter der Zeit des historischen Erlebens. Sie greift auf die objektive Hermeneutik von Ulrich Oevermann (Abschnitt 2.3) zurück, weil diese einerseits einen Interpreta-
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tionsstandpunkt jenseits der Selbstdeutungen des Erzählers verspricht, andererseits aber auch in Aussicht stellt, die Ergebnisse der Interpretation auf die Individualität der Erlebnisvergangenheit eines autobiographischen Erzählers zurückrechnen zu können. Das methodische Vorgehen von Rosenthal beginnt nicht von ungefähr mit der Auslegung von Geburtsdaten, Familienereignissen, Wohnortwechseln etc., also mit der Analyse von „kaum an die Interpretation des Biographen gebundenen Daten“ (Rosenthal 1995, S. 152). Da diese „objektiven Daten“ zudem durch ein methodisches Außer-acht-Lassen des Vorwissens interpretiert werden, das Interpreten über die erzählte Lebensgeschichte unter Umständen gewonnen haben, wird die methodisch eingeübte Enthaltsamkeit des wissenschaftlichen Interpreten gegenüber Deutungsbeständen des Erzählers zur Unabhängigkeit der historischen Erlebens- von einer narrativen Darstellungsebene umgedeutet. Die Zeit des historischen Erlebens wird aus den Erfahrungstypiken sozialer Generationslagerungen durch den Interpreten abgeleitet. Mit der objektiven Hermeneutik kündigt Rosenthal daher die phänomenologische Maxime auf, in der „Welt“ nichts weiter als das Korrelat einer individuellen Erlebnis- und Darstellungsgegenwart zu sehen. Die objektive Hermeneutik verspricht dagegen, anhand objektiver Daten die Erlebnisvergangenheit eines Erzählers rekonstruieren zu können. Ich möchte hier unberücksichtigt lassen, ob und wie diese soziale Erfahrungsytpik durch einen Interpreten einem Erzähler überhaupt unterstellt werden kann. An dieser Stelle interessiert mich nur, dass diese Zurechnung einer objektiven Bedeutung als vergangene Erfahrung bereits die Unabhängigkeit von den Schilderungen eines Erzählers voraussetzt. Die Erlebnisvergangenheit eines Erzählers wird zu einer Funktion der Darstellungsunabhängigkeit umgedeutet. Erst durch diese methodologische Entscheidung lässt sich überhaupt eine gegenwärtige Erfahrungsrekapitulation mit einer vergangenen Erfahrung kontrastieren (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997, S. 155). Es handelt sich dabei um ein differentielles Prinzip, das durchaus der oben erwähnten Intuition von Günter Müller entspricht. Denn über die Differenz von erzählter und erlebter Zeit lassen sich ebenso Mutmaßungen über eine „Vergangenheitsbewältigung“ eines Erzählers anstellen, wie die Unterscheidung von Erzählzeit und erzählter Zeit in einer fiktiven Erzählung Rückschlüsse über die dadurch transportierte „Zeiterfahrung“ zulässt. Bei der Rekonstruktion der Vergangenheitsbewältigung eines Erzählers oszilliert Rosenthal somit zwischen erzählter und erlebter Zeit. Die Phänomenologie wird von ihr dabei zur Aufklärung der erzählten Zeit herangezogen. Da Rosenthal jedoch das Korrelat der erzählten Zeit, die Erzählzeit, nicht berücksichtigt, führt dieses methodische Überspringen dazu, eine Korrelation anzunehmen, die die Wahrnehmungs- bzw. Erzählgegenwart (und das Datenmaterial) sprengt: einerseits die erzählte Zeit und andererseits eine die Wahrneh-
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mung übersteigende Zeit, die Zeit des historischen Erlebens selbst. Rosenthal gibt sich nicht damit zufrieden, dass die erzählte Zeit phänomenlogisch gesehen schon eine erlebte Zeit ist, sondern beansprucht, mit der erlebten Zeit die Zeit des historischen Erlebens selbst aufzuklären. Die Untersuchung der Wechselwirkung von Erzählnoesis und Erinnerungsnoema hat sich bei Rosenthal gewandelt in die Aufklärung des Zusammenhangs von gegenwärtigem und historischem Erleben. Mit dieser Verschiebung des Forschungsinteresses geht nicht nur die Verabschiedung der Phänomenologie einher. Indem die objektive Hermeneutik von Rosenthal zum methodischen Statthalter der historischen Zeit des Erlebens erklärt wird, hält auch wieder ein theoretischer Dualismus Einzug in die Biographieforschung – ein Dualismus, den Rosenthal, wenn nicht abgeschafft, so aber doch abgemildert sehen wollte. Dieser Dualismus erweist sich als das exemplum crucis der soziologischen Biographieforschung à la Rosenthal. Denn einerseits soll die erlebte Zeit abhängig sein von den je aktuellen Deutungsakten des Erzählers, sie soll erzählte Zeit sein. Andererseits jedoch ist sie als Zeit des historischen Erlebens unabhängig davon. Ohne die Voraussetzung einer historischen Erlebenszeit lässt sich zwar keine „genetische Biographieanalyse“ (Rosenthal 1995, S. 226) betreiben, gleichwohl ist ungewiss, wie man unter phänomenologischen Vorzeichen an dieser Voraussetzung überhaupt festhalten kann.
2.3
Der Konflikt der Interpretationen
Die von Ulrich Oevermann (1979a; 1980; 1981; 1996a; 1997) in die Sozialwissenschaft eingeführte Interpretationstechnik der „objektiven Hermeneutik“ ist ein Unternehmen, das seine Ambitionen auf den im Titel mitgeführten Geltungsanspruch aus der postulierten Einheit von Methodologie und Gegenstandstheorie ableitet. Die objektive Hermeneutik will mehr sein als nur eine methodisch geläuterte Auslegungskunst. Sie ist nichts Geringeres als ein Programm zur Einebnung der Differenz von Gegenstand und Interpretation. In Folge dessen verschwindet hier auch die Unterscheidung von erzählter und erlebter Zeit, von narrativer Darstellung und Erfahrung. Ich möchte im Weiteren zeigen, wie bei Oevermann der Gegenstand der Auslegung, die Lebenspraxis, mit den methodischen Regeln ihrer Auslegung so verknüpft wird, dass keine systematische Differenz mehr zwischen Subjekt- und Objektseite zu bestehen scheint – eine Differenz, deren methodische Berücksichtigung bei Rosenthal immerhin noch in ein Dilemma geführt hat. Die objektive Hermeneutik befolgt die für die hermeneutische Tradition insgesamt verbindlich gewordene Maxime, dass es bei der Entzifferung von Sinn
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nicht auf einen von einem Urheber gemeinten, sondern vielmehr auf den von einem Rezipienten verstandenen Sinn ankommt. Das eigentlich Neue an dieser Interpretationstechnik ist jedoch der Anspruch, Handlungen und Aussagen in ihrer „objektiven“ Bedeutung zu verstehen. Um diesen Anspruch einzulösen, darf die Bedeutung einer Aussage bzw. eines Textes nicht einfach nur von einer subjektiven Sinngebung seitens eines Sprechers oder eines Autors abgelöst und anstelle dessen auf den Verstehensakt eines Gegenübers bzw. eines Lesers gegründet werden. In diesem Falle ersetzte nur eine Subjektivität die andere: An die Stelle der Autorität des subjektiv gemeinten Sinns träte diejenige des subjektiv verstandenen Sinns. Erst wenn auch gezeigt werden kann, wie die Substitution von Intention durch Rezeption über den bloßen Abtausch von SubjektivitätsÄquivalenten hinausgeht und sich der Mehrwert eines für eine Gemeinschaft von Interpreten „so und nicht anders Verstehbaren“ erwirtschaften lässt, ließe sich sagen, dass es sich dabei um eine intersubjektiv gültige und eine in diesem Sinne „objektive Hermeneutik“ handelt. Oevermanns Strategie, die Produktion von Sinn einer sozialen Konvention zu überantworten, läuft darauf hinaus, zwei alternative Theorien der Konstitution von Bedeutung auszuschalten. Zum einen die intentionale Theorie. Ihr zufolge versteht man einen Satz dann, wenn man die Absichten seines Urhebers kennt (Grice 1993a; Grice 1993b). Zum anderen aber auch die wahrheitssemantische Theorie der Bedeutung. Ihr zufolge versteht man einen Satz dann, wenn man weiß, unter welchen Bedingungen er wahr ist (Davidson 1984). In der ersten Fassung wird Sinn an die subjektiven Intentionen eines Sprechers assimiliert, in der zweiten Variante an objektive Weltzustände. Für Oevermann konnte das den Sinn einer Äußerung jedoch nicht determinieren. Zwar hatte ein Sprecher Absichten und zwar verwiesen seine Aussagen auch auf die objektive Welt, doch eine „objektive“ Bedeutung konnte eine Äußerung für ihn nur durch eine soziale Gemeinschaft kompetenter Interpreten erhalten. Man muss sich dabei vor Augen führen, dass hier Oevermann der seit Wittgenstein (2001) üblichen Verquickung von Sprachspiel und Lebensform folgt. Der Sinn eines Satzes wird in der pragmatischen Theorie der Bedeutung erst dann verstanden, wenn von einem Interpreten beurteilt werden kann, inwiefern dessen Hervorbringung in einem sozialen Kontext angemessen gewesen ist. Das hat den Vorteil, dass ein Interpret nicht wissen muss, wie ein Satz subjektiv gemeint ist und worauf er sich objektiv bezieht, er muss nur die performative Verwendung einer Proposition kennen. Das setzt eine entsprechende Kompetenz beim Interpreten voraus: Er muss die Lebensform des Urhebers prinzipiell teilen, muss also in einer Sprachgemeinschaft hinreichend sozialisiert sein, um zu verstehen, wie in ihr bestimmte Äußerungen in bestimmten Kontexten verstanden werden. Die Konsequenz dessen ist freilich, dass der Sinn eines Satzes an eine Handlung und
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über die Handlung an eine Gemeinschaft von Sprechhandelnden assimiliert wird (Habermas 1989, S. 105ff.). Auf diese Weise rücken Regeln der Angemessenheit von Äußerungen in den Vordergrund. Im Anschluss an Searle (1995) führt dies Oevermann zunächst zu einer Unterscheidung von regulativen und generativen Bestandteilen im Regelbegriff. Wie Normen das Verhalten von Akteuren nur unter der Voraussetzung regulieren können, dass sie zugleich Urteile über deren Angemessenheit transportieren, so gewinnen auch phonologische, syntaktische und semantische Regeln ihre Verbindlichkeit für Sprechakte dadurch, dass in ihnen Urteile über die situative Passung von Sprechhandlungen eingebaut sind. Damit diese als ein wohlgeordneter Zug innerhalb eines möglichen Verhaltensrepertoires der sozialen Welt angesehen werden können, bildet die soziale Definition angemessenen Sprechhandelns die notwendige Bedingung dafür, dass Normen eine regulierende Funktion für das konkrete Sprechhandeln eines Akteurs übernehmen können. Die Hervorbringung der Urteile über die Wohlgeformtheit einer Verhaltensform erkennt Oevermann mit Searle als Aufgabe einer sozialen Konvention zu: Ein Element X erhält erst durch einen Kontext C die Bedeutung von Y. Insofern ein Kontext gleichzusetzen ist mit einer Situation, in der eine Konvention bereits gilt, können von einem Akteur nur die Effekte einer Konvention erlebt werden. Ein X zeigt sich für einen Akteur unmittelbar als ein Y. Die Regel der Bedeutungskonstitution transzendiert hingegen die Teilnehmerperspektive. So wie also ein in der sozialen Welt vollständig akklimatisierter Teilnehmer in seiner Handlungspraxis über ein zur Selbstverständlichkeit gewordenes Sensorium für die an ihn gestellten normativen Erwartungen nur deswegen verfügen kann, weil damit ein Wissen um die Definition angemessenen Verhaltens einhergeht, so besitzt er in seiner Eigenschaft als Sprecher bereits ein intuitives Wissen, das ihn sinnvolle von nicht-sinnvollen Sprechhandlungen in spezifischen Situationen voneinander unterscheiden lässt. Zu diesem praktischen Wissen über die soziale Bedeutung von Äußerungen gesellt sich Oevermann zufolge auch das Können eines Akteurs, den sozial geregelten Sinn nicht nur zu rezipieren, sondern diesen auch selbst hervorzubringen. Im Anschluss an Chomsky sieht Oevermann (1973, S. 18ff.) den Akteur mit einer in sich differenzierten Basiskompetenz ausgestattet. Diese besteht aus moralischen, logischen und sprachlichen Kompetenzen der wiederum sozial geregelten Produktion von Sprechhandlungen. Während Oevermann also mit Searle davon ausgeht, dass der sinnhafte Zusammenhang der Welt durch soziale Konventionen definiert wird, greift er auf Chomsky zurück, um verständlich zu machen, wie dieser Sinnzusammenhang durch individuelle Kompetenzen – und zwar auch angesichts neuer Situationen – reproduziert werden kann. Während das Wissen um die Angemessenheit von Sprechhandlungen von einem Akteur qua Soziali-
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sation erworben wird, bringt er die Fähigkeit zur Hervorbringung passförmiger Sprechhandlungen von Haus aus mit. Auf die Beurteilung und die Hervorbringung der Wohlgeordnetheit von Sprechhandlungen kann sich Oevermann zufolge auch ein wissenschaftlicher Interpret von Texten stützen. Eine Garantie für die Hervorbringung und Beurteilung angemessener Sprechhandlungen ist damit freilich nicht ausgestellt. Denn sowohl als Teilnehmer, als auch als Interpret der sozialen Welt muss sich ein Akteur erst einmal als kompetent erweisen. Über welches Regelwissen ein Akteur tatsächlich verfügt, ist weder für ihn selbst, noch für einen Beobachter evident, sondern kann erst durch dessen Anwendung beurteilt werden. Weil somit Kompetenz nur qua Performanz zu haben ist, andererseits aber Kompetenz dabei schon vorausgesetzt wird, führt das Kompetenztheorem Oevermann zur Neuauflage des hermeneutischen Zirkels. Ein Interpret muss mit dem Wissen um sozialen Sinn schon in Anspruch nehmen, was sich qua Interpretation erst herausstellen soll. Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Gültigkeit des Schlusses von der Regelanwendung zum Regelwissen, von der Performanz zur Kompetenz, jederzeit unsicher ist. Denn genauso wie die soziale Welt nicht nur aus wohlgeordnetem, sondern auch aus unverständlichem Handeln und Sprechen besteht, so können auch die Urteile eines wissenschaftlichen Interpreten über die Angemessenheit von Sprechhandlungen eingetrübt sein. Falsche bzw. unvollständige Explikationen der basalen Wissensbestände von Akteuren wären die Folge. Sie würden dann nicht zur objektiven Bedeutung eines Interpretandum hin-, sondern nur von ihr wegführen. Ein Interpret muss daher von Anfang an auf Intersubjektivität im Interpretationsprozess achten (Sutter 1994). Nur dadurch, dass sich eine Gemeinschaft der Interpreten auf einen gemeinsam geteilten Wissensbestand in der Beurteilung einer Sprechhandlung verständigt, kann sichergestellt werden, dass es sich bei der Rekonstruktion generativer Regeln tatsächlich auch um soziale Regeln der Bedeutungskonstitution handelt und nicht um deren subjektive Verzerrungen. Die objektive Hermeneutik ist daher eine Interpretationstechnik, die an sich selbst demonstriert, was zu ihrer Ausgangsthese gehört: Die Bedeutung eines Interpretandum kann nicht durch die einsame Arbeit eines Theoretikers deduziert werden, weil sie stets über eine soziale Konvention generiert wird. Es bedarf daher einer Interpretationsgemeinschaft, die sich über situationsspezifisch geltende Konventionen verständigt und darüber zur Beurteilung der situativen Angemessenheit von Sprechhandlungen gelangt. Interpreten zapfen dabei ein tiefergelegtes Wissen über die Regeln sozialer Bedeutung an, über das sie als kompetente Alltagsteilnehmer verfügen. Da sich diese Wissensbestände gegenüber einer theoretischen Explikation sperren, steht am Ende der Auslegung kein formales Regelwerk, sondern die soziale Übereinkunft darüber, welchen praktischen Regeln ein Akteur in seinen Sprechhandlungen tatsächlich
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gefolgt ist. Die Gewissheit über die „objektive Bedeutung“ eines Interpretandums erhält man also erstens nur dadurch, dass Sozialität im Interpretationsprozess nicht aus-, sondern methodisch eingeschlossen wird. Und zweitens handelt es sich hierbei um keine theoretische, sondern eine praktische Gewissheit. Neben den Prinzipien des sequentiellen Vorgehens, der Wörtlichkeit und der Extensivität in der Auslegung (Wernet 2000) stellt das Intersubjektivitätsgebot ein (häufig vergessenes) externes Kriterium für den Auslegungsprozess dar. Als forschungspraktische Maximen reichen sie freilich nicht aus, um den durch eine soziale Regel konstituierten Sinn von Sprechhandlungen erfassen zu können. Das Hauptaugenmerk der objektiven Hermeneutik liegt deswegen darauf, diejenigen Voraussetzungen abzuklären, durch die eine Verkettung der Interpretanda ihre objektive Bedeutung erhält. Oevermann hat dazu eine Methode entwickelt, die in sechs Schritten auf die Formulierung einer sogenannten „Fallstruktur“ zuläuft. Zunächst hat ein Interpret eine textuelle epochƝ durchzuführen (1), eine Ausblendung der realen Situation, innerhalb derer eine Textsequenz eingebettet ist. Mit der Entkernung des Interpretandum aus seiner kontextuellen Ummantelung wird qua Gedankenexperiment eine freie Variation derjenigen alternativen Rahmungen möglich (2), innerhalb derer die zur Interpretation anstehende Sequenz sinnvoll eingebettet sein kann. Forschungspraktisch bedeutet dies, verschiedene Geschichten zu erzählen, in denen das Interpretandum als wohlgeformte Äußerung bzw. Handlung vorkommen kann. Um die unterschiedlichen Bedeutungen, die das Interpretandum in den verschiedenen Kontexten annehmen kann, zu rekapitulieren (3), besteht die Aufgabe für den Interpreten darin, möglichst verschiedene Lesarten eines Interpretandum zu entwickeln. Umgekehrt heißt dies, dass nur solche Kontexte von Interesse sind, die tatsächlich zu differierenden Bedeutungen eines Interpretandum führen. Die Kontrastierung der nur imaginierten Kontexte mit dem tatsächlich gegebenen Kontext des Textes selbst (4), führt schließlich zu einem Vergleich der vom Interpreten hypothetisch formulierten mit den von einem Sprecher tatsächlich verwendeten Bedeutungsregeln. Das Resultat dieses Vergleichs besteht in einer Engführung der weiterhin in Betracht kommenden bedeutungsgenerierenden Kontexte. Die Lesarten des Interpretandum werden schließlich als Ausgangshypothese zur Beurteilung einer nächsten Sequenz herangezogen (5). Die rekursive Anwendung der Schritte (1)-(5) auf sich selbst führt schließlich zur sukzessiven Formulierbarkeit einer Fallstruktur (6), d.h. derjenigen generativen Regel, die ein Akteur in seinen Sprechhandlungen durchweg befolgt. In dieser Anlage ist die objektive Hermeneutik noch ein Interpretationsverfahren, das auf keinen bestimmten Gegenstand zugeschnitten ist. Es kann gleichermaßen auf die Auslegung von Filmen, Bildern, Texten und soziale Interak-
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tionen angewendet werden. Für die soziologische Biographieforschung wird die objektive Hermeneutik erst durch eine spezifische Kombination von Methodologie und Gegenstandstheorie relevant. Aus dieser Vereinigung wird der Anspruch abgeleitet, dass die Interpretation ihrem Gegenstand kein fremdes Verfahren auferlegt, sondern sich für die Zwecke der Rekonstruktion derselben Mechanismen bedient, wie sie auch in der Selbstkonstituierung des Untersuchungsgegenstandes einer objektiven Hermeneutik gegeben sind. Der Gegenstand der Auslegung ist hier die Lebenspraxis. Von Oevermann (1996b, S. 33) wird sie als Einheit von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung beschrieben. Im und für den Vollzug seiner Lebenspraxis muss ein Akteur stets zwischen unterschiedlichen Handlungsalternativen entscheiden und dafür auch eine Begründung parat halten. Oevermann unterscheidet hierbei echte Entscheidungssituationen von unechten. „Authentische Entscheidungssituationen sind solche, in denen sowohl objektiv als auch für das betroffene Subjekt selbst bewährte, d.h. rationale Richtig-Falsch-Berechnungen nicht mehr greifen, aufgrund des Entscheidungszwanges aber gleichwohl mit Anspruch auf Begründbarkeit entschieden werden muss“ (1996a, S. 19). Wenn ein Entscheidungsakt ohne Begründung auskommen muss, weil für einen Akteur zur Beurteilung seiner Handlungsoptionen keine eingespielten Kriterien zur Verfügung stehen, in Krisen der Lebenspraxis, kann die Begründung einer Entscheidung nur nachgeschoben werden. Aber auch hier muss am Anspruch auf Begründbarkeit festgehalten werden: „Nur wird das erst nachträglich feststellbar sein nach einer Strecke der Bewährung, die die unbegründbare, aber voller Hoffnung entwickelte Krisenlösung zurückgelegt hat“ (1996b, S. 34). In unechten Entscheidungssituationen hingegen sind die Kriterien der Handlungswahl entweder zur Routine eines Akteurs geworden oder werden ihm gesellschaftlich „durch normativ vor-eingerichtete, als rational geltende Entscheidungsmuster“ (ebd.) abgenommen. Ein Akteur braucht in unechten Entscheidungssituationen nicht eigens über die Gründe seines Handelns zu räsonieren, sondern kann sich bei seiner Handlungswahl auf inkorporierte Schematismen verlassen. Auch hier lässt sich eine Begründung für das Entscheidungsverhalten erst im Nachhinein liefern, nun allerdings nicht, weil es dafür im Vorhinein keine verlässlichen Gründe gegeben hätte, sondern weil es sich hierbei um eine sedimentierte Rationalität handelt, die erst ex post, etwa auf Nachfrage, expliziert zu werden braucht. Zwischen Oevermanns Methodologie des Sinnverstehens und seiner Konzeption der Lebenspraxis gibt es nun eine Reihe systematischer Entsprechungen, durch die der innere Zusammenhang von Interpretation und Gegenstand gewahrt bleiben soll. Es handelt sich hierbei um eine von Akteur und Interpret geteilte Kompetenz der Hervorbringung und Beurteilung angemessener Sprech-
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handlungen (1). Weiterhin sind die Lebenspraxis und deren Interpretation durch den Begriff und das Konzept der Fallstruktur miteinander verklammert (2). Schließlich verkoppelt Oevermann den Kontext einer Äußerung mit dem Interpretationskontext durch die Auffassung, dass es sich bei Transkriptionen autobiographischer Stegreiferzählungen um Protokolle der Ausdrucksgestalt einer Lebenspraxis handelt (3). (ad 1)
Das Kompetenztheorem als Entsprechung von Interpretation und Gegenstand
Die Ermittlung der Fallstruktur, die sich in einer autobiographischen Stegreiferzählung artikuliert, verlangt von einem Interpreten zunächst, die Urheberschaft des autobiographischen Erzählers an dessen Sprechhandlungen auszuklammern und anstelle dessen imaginären Figuren zu übertragen (Schritt 1 in der Rekonstruktionsmethodologie). Ein Interpret agiert hier wie ein Erzähler, der eine Sprechhandlung unterschiedlichen Protagonisten in den Mund legt, um daraufhin in der Rolle eines Lesers zu beurteilen, welche Effekte dadurch produziert werden. Diese Wirkungen betreffen einerseits die intuitive Zuschreibung eines bestimmten Charakters an einen Protagonisten, andererseits aber die latenten Erwartungen des Lesers hinsichtlich des möglichen Fortgangs weiterer Sprechhandlungen. Die objektive Hermeneutik verlangt daher von einem Interpreten zugleich Erzähler und Leser einer Geschichte zu sein. Als Erzähler ist er verantwortlich dafür, dass seine Protagonisten Sprechhandlungen hervorbringen (Schritt 2), wohingegen er als Leser die Angemessenheit dieser Sprechhandlungen beurteilt (Schritt 3). Das Kompetenztheorem Oevermanns verteilt sich aber nicht nur im Interpretationsprozess auf zwei Instanzen, auch im Vollzug der Lebenspraxis selbst – auf der Seite des Gegenstands also – lässt sich eine ähnliche Rollendifferenzierung feststellen. Anders als in der Theorie rationaler Wahlhandlung (Esser 1999), konzipiert Oevermann den Entscheidungsprozess eines Akteurs nicht als Nutzenkalkül, sondern als einen impliziten Lesevorgang. Man muss sich dazu vor Augen halten, dass Oevermann zufolge die Lebenspraxis ein Dauerproblem hat. Sie reproduziert und transformiert sich über Entscheidungen. Wenn sich ein Akteur nicht gegen, sondern für den Vollzug seiner Lebenspraxis entscheidet, steht er laut Oevermann unter einem permanenten Entscheidungszwang.11 Dabei hat er stets nur einen eingeschränkten Entschei-
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Die Permanenz des Entscheidungszwangs lässt sich weder existenzialhermeneutisch noch phänomenologisch rechtfertigen. Die Zeitlichkeit des Daseins verfehlt Heidegger zufolge gerade der, der das Dasein von Zeitstelle zu Zeitstelle hüpfen sieht (Heidegger 1993). Andererseits sind aber auch eingespielte Routinen ein Argument, das phänomenologisch gegen Entscheidung als Dauerproblem geltend gemacht werden kann. Der Entscheidungszwang scheint
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dungsspielraum. Durchweg unterliegt er „situativ geltenden bzw. eingeklinkten materiellen und normativen Restriktionen“ (1997, S. 6). Da er sich im Vollzug seiner Lebenspraxis stets für Handeln entscheidet, die Bedeutung dieses Handelns aber aus dem sozialen Kontext der Realsituationen erwächst, entscheidet sich ein Akteur nicht einfach nur zwischen Handlungen, sondern uno acto zwischen ihren sozialen Bedeutungen. Es ist der sozial geregelte Sinn des Handelns, der für den Vollzug der Lebenspraxis deswegen entscheidend ist, weil sich ein Akteur in der Hervorbringung von Sprechhandlungen auf die eine oder andere Weise zur sozialen Dimension von Aussagen und Handlungen verhält und sich dieses Verhältnis für einen Akteur faktisch als ein Prozess der Interpretation darstellt. Die Handlungsoptionen eines Akteurs erscheinen für einen Akteur als zu interpretierende Bedeutungsalternativen. Dabei verhält sich ein Akteur zu den sozialen Regeln angemessener Sprechhandlungen erst dann, wenn er sie versteht. Und er versteht sich selbst, indem er soziale Regeln affirmiert, abwandelt oder negiert. Wegen der immensen Bedeutung des Regelbegriffs bei Oevermann erscheint es angebracht, zwischen Leistung und Funktion einer generativen Regel zu unterscheiden. Die Leistung einer generativen Regel liegt in der sozialen Konstitution von Bedeutung, ihre Funktion hingegen besteht darin, für einen Akteur einen Optionenraum wohlgeformter Handlungsanschlüsse (1996a, S. 8) zu produzieren. Die sinnhafte Anschlussfähigkeit von (Entscheidungs-) Operationen bildet das Bezugsproblem der Lebenspraxis, auf das regulative Regeln durch den Entwurf eines Handlungsspielraums reagieren, wohingegen generative Regeln den sozialen Sinn dieses Spielraums konstituieren. Mit Wernet (2000, S. 15) lässt sich daher sagen: „Welche Möglichkeiten [für den Akteur] vorliegen und welche Folgen welche Möglichkeiten zeitigen, darüber hat die Welt der sozialen Regeln schon vorgängig befunden.“ Während die Rational-Choice-Theorie den Nutzen einer Handlung aus der Stärke der subjektiven Präferenz hervorgehen lässt, die ein Akteur für die von ihm subjektiv erwarteten Konsequenzen von Handlungsoptionen hat, resultiert der Wert von Handlungsalternativen bei Oevermann aus einer unterschwellig mitlaufenden Interpretation ihrer sozialen Bedeutung. Ein Akteur muss die sozial gegebenen Bedeutungsmöglichkeiten verstehen, um als Urheber einer individuellen Handlungswahl fungieren zu können. Der Entscheidungszwang der Lebenspraxis besteht für einen Akteur deswegen wesentlich in einer Notwendigkeit der Interpretation sozialen Sinns. Welche Handlung dann faktisch von einem Akteur selegiert wird (Schritt 4), hängt von den Dispositionen ab, „die auf der Seite des konkreten Handlungssubjekts […] dafür verantwortlich sind, welche der durch Regeln [...]
bei Oevermann daher vor allem methodologisch begründet zu sein. Nur unter der Voraussetzung eines ständigen Entscheidungsverhaltens lässt sich daraus d i e methodische Maxime der objektiven Hermeneutik ableiten: sequentielle Analyse.
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eröffneten Möglichkeiten tatsächlich gewählt worden sind“ (1996a, S. 8). Die Dispositionen der Lebenspraxis liegen also nicht, wie man meinen könnte, für einen Beobachter im Dunkeln, sondern lassen sich für Oevermann im Lichte der sozialen Welt verstehen. Der Interpretationsprozess der objektiven Hermeneutik endet schließlich damit, dass ein Interpret seine hypothetisch generierten Bedeutungsregeln des Handelns mit den von einem Akteur faktisch benutzten Selektionsregeln des Handelns kontrastiert. Der Widerstand, den das Sprechhandeln eines faktischen Erzählers dabei den Hypothesen eines Interpreten entgegensetzt, garantiert den Realitätskontakt der objektiven Hermeneutik. Wie gezeigt, wird ein Akteur nicht nur im Interpretationsprozess, sondern auch im Handlungsvollzug der Lebenspraxis selbst als Leser (von sozialen Bedeutungen) und als Autor (von individuellen Handlungen) beansprucht. Mit dem Kompetenztheorem verknüpft Oevermann die Gegenstands- mit der Interpretationsebene. Als Interpret einer autobiographischen Stegreiferzählung entwirft ein Akteur zunächst hypothetische Sprechhandlungen, um sie dann in ihren sozialen Bedeutungen zu entschlüsseln. Als Akteur der Lebenspraxis ermöglicht ihm hingegen der Besitz dieser Bedeutungen, dass er sich überhaupt zu bestimmten Handlungen entschließen kann. Zwischen Interpretation und Lebenspraxis besteht daher ein reziprokes Verhältnis der Autor-Leser-Kompetenz. (ad 2)
Fallstruktur als Entsprechung von Interpretation und Gegenstand
Bei einer Fallstruktur handelt es sich um das Ziel der objektiven Hermeneutik, die von einem Interpreten nur rekonstruierte, von einem Akteur aber tatsächlich benutzte Selektionsregel einer Entscheidungspraxis. Da es sich hierbei um eine praktische Regel handelt, ist diese Struktur für einen Interpreten nicht (ohne weiteres) formalisierbar. Fallstrukturen werden in der Interpretationspraxis der objektiven Hermeneutik daher weniger beschrieben, als umschrieben: Sie nehmen faktisch die Gestalt einer short story an, einer Umschreibung der Regel nach Art einer verdichteten Miniaturerzählung. Insofern mit „Fallstruktur“ die Regeln des Handelns und Sprechens gemeint sind, deren Bedeutungsschicht diesseits subjektiver Intentionen liegt, verwendet Oevermann synonym zum Begriff der Fallstruktur auch den Ausdruck „latente Sinnstruktur“ (1976, S. 283). Damit soll bezeichnet werden, dass die Entscheidungspraxis eines Akteurs stets einen Sinn auf einer ihm vorbewussten Ebene hat. Weil diese Schicht durch eine soziale Regel erzeugt wird, die sich nur qua Interpretation durch Dritte rekonstruieren lässt – also in Situationen der Handlungsentlastetheit und Handlungsunbetroffenheit – hat die latente Sinnstruktur zugleich einen Wert jenseits der subjektiven Intentionen eines Akteurs. Mit anderen Worten: Sie hat eine „objektive Bedeutung“. In der Fallstruktur verschränkt sich somit der vor-
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bewusste, aber subjektive Sinn von Handlungen auf der Gegenstandsseite mit dessen objektiver, d.h. sozialer Bedeutung. Obzwar mit dem Konzept der Lebenspraxis von Oevermann nahe gelegt wird, dass deren „unit acts“ aus Handlungen bestehen, erweist sich dies bei näherem Hinsehen als eine simplifizierende Annahme. Die soziologische Referenzgröße ist für Oevermann (1996a, S. 8) nicht Handeln, sondern Interaktion: „Nicht setzen sich Interaktionen aus Einzelhandlungen zusammen, sondern Einzelhandlungen stellen Abstraktionen von Interaktionen dar.“ Dieses Axiom verlangt von Oevermann, Auskunft darüber zu geben, welche Instanz nicht nur auf individueller, sondern vor allem auf interaktioneller Ebene die objektive Bedeutung von Sprechhandlungen produziert. Während das Problem der Hervorbringung einer latenten Sinnstruktur für einen individuellen Handlungsvollzug dazu führt, „zwingend einen Begriff vom Unbewussten“ (1976, S. 369) anzunehmen, bleibt bei Oevermann allerdings offen, wie der „Verfolg einer strikt strukturtheoretischen Perspektive“ (ebd., S. 368) letztlich die Produktion latenten Sinns auf der Ebene einer Interaktion erklärt. Einerseits könnte es ein sozial Unbewusstes sein. In diese Richtung weist zumindest Oevermanns Bemerkung, derzufolge auch auf der Ebene eines Interaktionssystems eine zumindest metaphorische Funktionsweise des Unbewussten angenommen werden kann: „Das Interaktionssystem ‚verdrängt‘ die in ihm ständig reproduzierte dominante Struktur“ (ebd., S. 367). Doch diese Annahme ist aus folgendem Grund problematisch. Wenn es richtig ist, dass die Bausteine der sozialen Welt nicht Handlungen, sondern Interaktionen sind, und wenn es weiterhin richtig ist, dass unter der Voraussetzung individueller Sprechhandlungskompetenz es nur einer minimalen unbewussten Motivierung der Akteure bedarf, „damit ein Interaktionstext generiert wird, der die volle Wahrheit eines Beziehungssystems auf der Ebene der latenten Sinnstruktur zum Ausdruck bringt“ (ebd., S. 370), dann bleibt allerdings unklar, wie die Wahrheit der Interaktion dadurch zum Ausdruck kommen soll, dass einzelne Beteiligte ihre latente Sinnstruktur produzieren. Wäre dies der Fall, müsste Oevermann nicht Interaktion, sondern Handlung als soziologischen Letzt- bzw. Erstbegriff annehmen. Hält man hingegen an dem Interaktionsaxiom fest, ließe sich die latente Sinnstruktur einer Interaktion auch ohne die Annahme eines Unbewussten erklären. „Latent“ wäre der Sinn einer Interaktion dann deshalb, weil er sich auf einer den Teilnehmern übergeordneten Ebene konstituiert. Latenz hieße in dieser Perspektive nichts anderes als Intransparenz des Sinns, den die Teilnehmer an einer Interaktion genau dadurch produzieren, dass sie sich auf die überindividuelle Sozialitätsform „Interaktion“ einlassen. Den an einer Interaktion beteiligten Akteuren bliebe der Sinn ihres Handelns also nicht etwa deswegen verborgen, weil sie es sind, die aus sich heraus permanent einen latenten Sinn produzieren würden, der dann von
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einer Interaktion nur noch gesteigert werden könnte, sondern dieser Sinn bliebe für die Teilnehmer an einer Interaktion intransparent, weil er von ihnen nicht in der gleichen Weise überblickt werden kann, wie das einem daran selbst unbeteiligten Beobachter möglich ist. Wenn man sich auf Interaktion erst einmal einlässt, verstrickt man sich unweigerlich darin. Die objektive Bedeutung bzw. den latenten Sinn einer Interaktion aufzudecken, wäre demnach nicht gleichbedeutend mit der Entlarvung eines sozial Unbewussten, sondern vielmehr die Folge eines interaktionellen Disengagements. Latenz wäre demnach ein Beobachterbegriff (Luhmann 1997). Die Fallstruktur einer Lebenspraxis ergibt sich in dieser Perspektive also schlichtweg daraus, dass ein Interpret zu den protokollierten Interaktionen auf Distanz geht – um allerdings das Ergebnis dieser methodischen Abstandnahme vom Interaktionskontext wiederum als latente Sinnstruktur des Gegenstandes auszuweisen. In der objektiven Hermeneutik wird dies eigentümlicherweise aber nicht, wie man meinen könnte, einem Interaktionssystem, sondern stattdessen einem einzelnen Akteur zugerechnet. Ich möchte hier die Schwierigkeiten beiseite lassen, die sich aus dieser Attribution einer qua Interaktion gewonnenen Fallstruktur an ein Individuum ergeben, und anstelle dessen eine methodologische Implikation betrachten, die die Funktion des Protokollbegriffs in der objektiven Hermeneutik betrifft. (ad 3)
Entsprechung von Interpretationskontext und Äußerungskontext durch das Protokoll
In der von Oevermann ausdrücklich als „Semiosis“ bezeichneten Konstitution von Sinn (1997, S. 13) ist der Textbegriff für die intelligible, das Protokoll hingegen für die materielle Seite der Lebenspraxis (1979, S. 369) reserviert. Die Ausdrucksgestalt einer Lebenspraxis ist demnach die Einheit von protokollierbarer Materialität und interpretierbarer Bedeutung des menschlichen Welterlebens. Demnach gilt: 1.
2.
Die Welt lässt sich als Text (Garz/Kraimer 1994) verstehen, insofern mit „Text“ ein allgemeines Modell der Interpretation gemeint ist (Ricœur 1978). Da aber auch dieses allgemeine Modell an ein materielles Substrat gebunden bleibt, bedarf es „in welchem Medium auch immer protokollierter Handlungen“ (Oevermann 1979, S. 369).
Im Folgenden möchte ich zeigen, inwiefern a.
der Protokollbegriff bei Oevermann nicht nur die materiale Seite der Lebenspraxis beinhaltet, sondern vor allem eine referentielle Funktion zuer-
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einfangen. Denn durch indexikalische Ausdrücke wie Personal- und Demonstrativpronomen, sowie Zeitadverbien und andere kontextuelle Markierungen, verweisen Transkriptionen nicht nur auf eine Wirklichkeit jenseits des Dokuments, die Lebenspraxis, sie können zugleich auch die Besonderheit des protokollierten Sprechhandelns anzeigen. Doch der Spezifik einer Interaktionssituation wird in der Transkriptionspraxis der objektiven Hermeneutik kaum Rechnung getragen. Anders als etwa in der ethnomethodologischen Konversationsanalyse üblich (Bergmann 1981), werden Betonungen, Pausen, zeitliche Überlappungen von Äußerungen und andere Situationsindizes nicht notiert. Auf visuelle Aufzeichnungen von Interaktionen verzichtet die objektive Hermeneutik völlig. Und das ist nicht zufällig so. Derartige Informationen würden für deren Auslegungspraxis kaum einen Unterschied machen. Der Verzicht darauf lässt sich mit der unterschiedlichen Auffassung über die Konstitution sozialen Sinns erklären. Denn während die Ethnomethodologie mit möglichst vollständigen Aufzeichnungen und mikroskopischen Notationen von Gesprächssituationen die interaktive Herstellung von Bedeutung einfangen will, geht Oevermann davon aus, dass Akteure die Bedeutung ihres Sprechhandelns nicht situativ aushandeln, sondern dafür situationsübergreifende Regeln, d.h. soziale Konventionen in Anspruch nehmen. Handelte es sich tatsächlich um eine protokollierte Äußerung, wie Oevermann es nahe legt, so müsste im Dokument der Bezug zum Äußerungskontext für einen Leser einerseits durch Rahmenelemente wie Ortund Zeitangaben sowie Hinweise auf die Sprechernamen hergestellt werden, andererseits aber auch dadurch, dass Interaktionssignale („hm“) und ähnliche Situationsmarkierer akribisch mittranskribiert werden. Da der Leser eines Protokolls einen referentiellen Pakt (in Anlehnung an Lejeune 1984) mit dem Urheber des Protokolls eingeht, kann und muss der Leser sich darauf verlassen, dass die transkribierten Sprechhandlungen den angegebenen Sprechern zugehören. In der objektiven Hermeneutik wird dieser implizite Vertrag zwischen Protokollant und Leser sogar noch ausgeweitet. Er erstreckt sich auf eine reale Äußerungssituation ungeachtet der Tatsache, dass hier die Markierungen dieses Äußerungskontextes weitestgehend wegfallen. Mit diesem Verzicht aber entschließt sich Oevermann zu einer insgeheimen Umwidmung des Dokumentenstatus. Als Mitschrift kommt dem Protokoll jetzt nur noch die Funktion zu, die Bezugnahme auf einen Äußerungskontext vertraglich zu garantieren, obwohl nur wenig bis keine Markierungen im Protokoll diesen Schluss zulassen. Der Begriff des Protokolls ist hier nur die formale Anzeige einer referentiellen Äußerungssituation, ohne dies jedoch methodisch einzulösen. Für die Zwecke der objektiven Hermeneutik ist dies nicht nötig, weil der fixierte Diskurs nicht in seiner Bewahrung einer ursprünglichen Äußerungssituation relevant ist, sondern als ein textuelles Modell des hermeneutischen Sinnverstehens. Als solches ver-
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spricht es, die objektive Bedeutung einer Aussage gerade durch die Unabhängigkeit vom gegebenen Äußerungskontext erschließen zu können. Über den Protokollbegriff versucht Oevermann also nur, die Referenz eines qua Text ermöglichten Auslegungsprozesses abzusichern. Denn über den Begriff des Textes allein scheint es für ihn kein Zurück mehr von der Interpretation zur Wirklichkeit zu geben.12 bb) Die interpretatorische Produktion des Äußerungskontextes Wenn es einerseits richtig ist, dass sich die Bedeutung einer Äußerung durch ihren Kontext ergibt, andererseits Oevermann sich aber weder für das OrigoSystem der Redeinstanzen interessiert, noch für die Leistungen der Interaktionsteilnehmer, bedarf es eines methodischen Ersatzmittels, durch das sich ein Äußerungszusammenhang künstlich herstellen lässt. Diese Technik ist die Erzählung. Anders als bei Schütze und Rosenthal, bei denen die Erzählung ein Mittel der Datenerhebung ist, wird diese Erzählung bei Oevermann zu einem strategischen Mittel der Datenanalyse. Der objektive Sinn eines Interpretandum kann keineswegs rein „gedankenexperimentell“ eruiert werden (Wernet 2000). Interpreten sehen sich vielmehr dazu genötigt, einander Geschichten zu erzählen. Denn nur dadurch, dass ein Interpret in der objektiven Hermeneutik zum Erzähler wird, kann in einer Gemeinschaft der Interpreten darüber befunden werden, ob und gegebenenfalls in welchen Kontexten ein Interpretandum das Kriterium der Annehmbarkeit erfüllt. Die Erzählung dient Oevermann als das Mittel zur Variation verschiedener Kontexte eines zu analysierenden Sprechhandelns. Der Forscher agiert hier als Urheber einer Erzählung und Leser einer Geschichte. Durch das Geschichtenerzählen produziert ein Interpret den Kontext, innerhalb dessen eine Aussage ihren Sinn erhält. Der Erzähler-Interpret muss deswegen eine Welt entwerfen, die alle Eigenschaften der sozialen Welt besitzt, damit die Vorstellung nicht abwegig erscheint, dass in ihr auch reale Personen tatsächlich auch handeln könnten. Ein soziologischer Interpret hat sich deshalb sowohl in die Rolle eines Literaten, als auch eines Historikers zu versetzen. Er muss Geschichten erzählen, die zwischen realer und fiktionaler Welt angesiedelt sind. Mit anderen Worten: Ein Interpret muss hypothetische Welten konstruieren. In diesen Welten agieren Figuren, die zwar nicht real sind, gleichwohl aber real
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Zur Skepsis gegenüber der Repräsentationsidee einer Transkription von Gesprochenem vgl. Christian Stetter (1997, S. 125ff.). Da Geschriebenes für einen Leser verständlich sein muss ohne nähere Kenntnis der Situation, ist eine „Transkription“ mehr als nur ein alternatives Aufzeichnungsmediun des Gesprochenen. Statt eine bloße Verschriftung zu sein, so lässt sich daraus folgern, bedeutet eine Transkription stets eine interpretierende Umschrift des Gehörten.
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sein könnten. Es sind dies die Protagonisten der Geschichte eines Erzählers. In der Auslegungspraxis der objektiven Hermeneutik sind Protagonisten nicht Redeinstanzen aus eigener Kraft, sondern vom Erzähler vollkommen abhängige Figuren. Sie haben in der vom Interpreten entworfenen hypothetischen Welt keine eigene, sondern nur eine verliehene Sprachkompetenz. Protagonisten handeln nicht unter wirklichen Umständen, sondern nur in vom Erzähler konstruierten Erzählkulissen. Schließlich sind die Protagonisten der von einem Interpreten erzählten Geschichte allesamt Figuren, die mit dem Interpreten nicht identisch sind. Dieser für die objektive Hermeneutik symptomatischen Erzählsituation ist es geschuldet, dass die Erzählperspektive bei der Auslegung eines Interpretandum einigermaßen undeutlich bleibt. Die hypothetische Welt der Rekonstruktion oszilliert zwischen einer historischen Biographie und einem biographischen Roman. Einerseits tritt der Interpret hier in der Art eines Zeugen auf. Er berichtet von einem kontrafaktischen Geschehen, in das er selbst nicht involviert ist, sondern das er vermeintlich nur beobachtet hat. Diese historisierende Darstellerrolle verlangt vom Interpreten die Wahl einer Erzählperspektive, die innerhalb der Erzählung die eigene Äußerungssituation unkenntlich macht. „Der Historiker wird niemals weder ich noch du, noch hier noch jetzt sagen, weil er sich niemals des formalen Apparats des Diskurses bedient, der zunächst in der Personenbeziehung ich : du besteht. Man stellt also im strikt befolgten historischen Bericht nur Formen der ‚dritten Person‘ fest“ (Benveniste 1974, S. 266, Hervorhebungen i. O.). Aus dieser unpersönlichen Erzähleinstellung erscheint es daher so, als ob sich die Ereignisse selbst aussagten (ebd., S. 269). Die objektive Hermeneutik imitiert aber noch auf andere Weise die Einstellung des Historikers. Denn sowohl beim Verfassen der Biographie einer realen Person, als auch bei derjenigen im Als-ob-Modus der objektiven Hermeneutik sind Autor (Interpret) und Erzähler einer Geschichte identisch. Dagegen ist im biographischen Roman der Autor nicht mit dem Erzähler zu verwechseln. Mit dem biographischen Roman hat die objektive Hermeneutik wiederum gemeinsam, dass auf eine außertextuelle Referenz im Leben einer wirklichen Person verzichtet wird. Für die Zwecke der Auslegung eines Interpretandum reicht es aus, wenn ein Interpret dem Hörer bzw. Leser eine glaubwürdige Geschichte einer typisierten Person erzählt. Ich möchte daher festhalten, dass die epochƝ der faktischen Äußerungssituation, mit der der Prozess der Auslegung in der objektiven Hermeneutik methodisch eröffnet wird, den Interpreten in eine für die objektive Hermeneutik unvermeidliche Erzählsituation (Stanzel 1985, S. 68ff.) hineinmanövriert. Ist eine Äußerung erst einmal ihres ursprünglichen Äußerungskontextes beraubt, schrumpft sie auf das Maß eines kontextbedürftigen Zitats zusammen. Der Sinn einer Aussage korreliert im Weiteren mit einem erzählerischen Akt, der in einer
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Rekonfiguration des ursprünglichen Äußerungszusammenhangs besteht. Auch als Erzähler kann sich ein Interpret auf ein Vermögen verlassen, das ihn befähigt, eine Reihe von Äußerungen so zu produzieren, dass sie auf der Ebene der Aussage eine für einen Leser annehmbare Geschichte ergeben. Welche Bedeutung Aussagen indes in einer Geschichte haben, obliegt nicht der Beurteilung eines Erzählers, sondern derjenigen eines Lesers. Indem ein Interpret erzählt, etabliert er daher nur einen Diskurs, vermöge dessen erst geprüft werden kann, ob eine Aussage – und wenn ja: in welchem Sinne sie – annehmbar ist. Ein Interpret muss daher nicht nur in die Rolle eines Erzählers, sondern ebenfalls in die eines Lesers schlüpfen. Denn erst als Leser beurteilt ein Interpret, welche konkrete Bedeutung ein Interpretandum in einer erzählten Geschichte hat. Zeitlich gesehen, fallen in der objektiven Hermeneutik die Schritte zwei und drei der Methode (s.o. zunächst mit dem Prozess des Erzählens, dann aber mit einem Lesevorgang zusammen. Systematisch betrachtet, tritt ein Interpret in der objektiven Hermeneutik daher sowohl als Autor einer Erzählung, als auch als Leser einer Geschichte auf. cc) Hierarchische vs. alternative Bedeutung Die Methodologie einer „objektiven“ Hermeneutik beinhaltet ein Axiom, gemäß dessen bereits der Gegenstand ihrer Untersuchung – die Lebenspraxis – so operiert, wie auch deren Interpret verfährt. Ohne diese Annahme wäre sie nur eine alternative Hermeneutik, die ihre Interpretamente zwar nicht nach Maßgabe subjektiver Intentionen, objektiver Weltzustände, Origo-Systemen oder Interaktionshandeln analysierte, aber immerhin noch interessante Deutungsangebote unterbreiten könnte. Durch die starke Annahme einer strukturellen Identität von Lebenspraxis und Interpretation beschwört Oevermann allerdings einen Konflikt der Interpretationen (Ricœur 1973) herauf. Denn vor diesem Hintergrund ist es nicht mehr verständlich, wie es neben dem konventionalistischen Sinnverstehen à la Oevermann noch andere Interpretationen geben könnte. Aus der Warte eines symbolischen Interaktionismus (Blumer 1973), der Ethnomethodologie (Garfinkel 1984) und der Sozialphänomenologie (Schütz 2004) – um nur einige zu nennen – erscheint dies als eine ungerechtfertige Ausweitung eines Anspruchs, der genau in dem Moment bestritten werden kann, wo Oevermann die Hermeneutik zu einer objektiven Hermeneutik erklärt. Denn dann wird das Ergebnis einer Interpretation, die Fallstruktur, nicht nur als ein nicht mehr bezweifelbarer Sinn ausgewiesen, sondern zugleich auch als ein Sinn, der von der untersuchten Lebenspraxis tatsächlich in Anspruch genommen wird. Die Objektivität der Bedeutung eines Sprechhandelns meint daher stets einen im Gegenstand selbst schon enthaltenen Sinn. Und das führt zu einem eliminatorischen
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Wettbewerb um die „Angemessenheit“ von Bedeutungstheorien. Aus Sicht Oevermanns erscheint unvorstellbar, dass sich Akteure den Sinn ihrer Äußerungen, wie die Interaktionisten glauben, in einer Äußerungssituation wechselseitig signalisieren. Er müsste dann nämlich einkalkulieren, dass sich die Bedeutung einer Äußerung unter Rekurs auf ein Origo-System ergibt. Vor allem aber müsste er diesen theoretischen Zugeständnissen methodische Taten folgen lassen und die Äußerungssituation akribischer einfangen, als es bei ihm geschieht. Eine solche Korrektur der methodischen Ausrichtung führte letztlich jedoch zur Selbstaufhebung des Programms einer objektiven Hermeneutik. Diese kann weder theoretisch, noch methodologisch eine Koexistenz mit anderen Paradigmen dulden. Die theoretische Unvereinbarkeit mit anderen Sozialtheorien liegt in Oevermanns Auffassung begründet, dass die Lebenspraxis selbst in der Rolle eines Interpreten von überindividuellen Regeln agiert, die den eigenen wie auch fremden Sprechhandlungen zugrunde liegen. Diese sozialen Regeln greifen für Oevermann über spezifische Äußerungssituationen stets hinaus. Dadurch lassen sich aber der Sinn eines Origo-Systems einerseits und die qua Erzähllektüre erschlossene, überindividuelle Bedeutung eines Sprechhandelns andererseits, nicht mehr miteinander vereinbaren. Aus Sicht der Interaktionisten greift ein Sprecher auf andere Regeln der Bedeutungskonstitution zurück als bei Oevermann. Die methodische Unvereinbarkeit besteht darin, dass die Schilderung eines Kontextes in der objektiven Hermeneutik zum integralen Bestandteil des Geschichtenerzählens selbst gehört: Bei einem Text ist er immanentes Produkt der Geschichte. Hingegen wird der Äußerungskontext im Transkript einer Erzählinteraktion durch Rahmenverweisungen und Situationsmarkierer kopräsent gehalten. Interaktionen lassen sich hier nur durch die mikroskopische Rekonstruktion der Redeumstände verstehen, die Bedeutung von Aussagen in der objektiven Hermeneutik hingegen nur in Bezug auf die von einem Erzähler selbst entworfene Geschichte. Interaktionskontext und Erzählkontext bleiben somit einander inkongruente Perspektiven. Die methodische Kontrastierung der von einem Interpreten hypothetisch entworfenen mit den von einem Akteur faktisch verwendeten Selektionsregeln des Sprechhandelns erweist sich daher als Konfrontation zweier verschiedener Konstitutionsebenen: Hier die qua Geschichte gewonnenen Bedeutungsmöglichkeiten einer Aussage, dort der qua Äußerungskontext gegebene Sinn des Sprechhandelns. Wie Rosenthal so steht nun auch die objektive Hermeneutik von Ulrich Oevermann vor einem Dilemma. Einerseits wird ein überaus starker Anspruch vertreten: Die von ihm vorgeschlagene Methodologie ist eine objektive Hermeneutik, und zwar in dem Doppelsinne des Unbezweifelbaren eines in einem sozialen Prozess gewonnenen Auslegungsresultats und der Wirklichkeitsgeltung dieses Resultats für die untersuchte Lebenspraxis. Oevermann kann daher keine
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alternativen Sinnkonstituenten für die protokollierten Interaktionssequenzen dulden. Die objektive Bedeutung eines Interpretandum ist kein nur methodisch gewonnener Sinn neben anderen Möglichkeiten der Sinnrekonstruktion, sondern eine Bedeutung ohne Alternative. Dieser Geltungsanspruch lässt sich nur dann aufrechterhalten, wenn Oevermann auf die Rekonstruktion der Spezifik einer Äußerungssituation verzichtet, ohne dieser jedoch gänzlich den Rücken zu kehren. Dem Protokollbegriff kommt es bei Oevermann deswegen zu, den Bezug zu einer Äußerungssituation wenigstens formal zu wahren, zugleich aber auch eine grundlegende Umwidmung dieser Situation einzuleiten. Denn es sind nicht mehr Origo-Systeme, subjektive Intentionen oder wechselseitige Ko-Konstruktionen von Sprechern, die in der objektiven Hermeneutik den Sinn einer Äußerungssituation definieren, sondern das Geschichtenerzählen. Der Text als grundlegendes Modell des Sinnverstehens erlaubt es Oevermann, das Spezifische an einer Situation so zu behandeln, dass es sich einerseits von einem situationsübergreifenden Regelmodell des Handelns her verstehen lässt, andererseits dabei aber nicht als eine freischwebende Konstruktion erscheint. Aus Sicht konkurrierender Auslegungsverfahren jedoch handelt es sich hierbei um die methodische Unterschiebung einer qua Geschichtenerzählen gewonnenen Fallstruktur unter das alltägliche Sprechhandeln. Objektiv ist die Hermeneutik also nur, insofern sie die Spezifik von Äußerungssituationen gerade nicht berücksichtigt. Stellte sie hingegen die Besonderheit der Äußerungssituation methodisch in Rechnung, könnte sie ihren Geltungsanspruch nicht mehr aufrechterhalten. Dann könnte Oevermann die Welt nur wie einen Text, nicht mehr als einen Text verstehen. 3. 3.1
Rekonfigurationen Orthodoxien
Die Diskussion der in der soziologischen Biographieforschung eingesetzten Verfahren der Gegenstandserschließung verfolgte einerseits den Zweck, auf einige Probleme in biographisch orientierten Methodologien aufmerksam zu machen. Andererseits hatte ich einleitend in Aussicht gestellt, diese Einzelkritik nur als Passage zu nutzen, um dadurch die elementaren Prinzipien des Feldes einer soziologischen Biographieforschung herauszustellen. Bevor ich nun darauf zu sprechen komme, möchte ich die wesentlichen Ergebnisse der vorangegangenen Abschnitte kurz rekapitulieren. Bei der Diskussion der Methodologie von Fritz Schütze stellte sich heraus, dass hier die These einer Homologie von Erfahrung und Erzählung mit einem
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fälschlichen Anspruch belastet wird. Wenn sich beide Dimensionen tatsächlich entsprächen, wie Schütze annimmt, dann bedarf es keines gemeinsam geteilten Formenvorrates. Da das Bewusstsein bei Schütze als Vermittler von Erzählung und Erfahrung fungiert, garantieren kognitive Figuren hier nicht nur eine Homologie von Strukturen, sondern sogar deren Identität. Von einer Strukturhomologie lässt sich hingegen nur bzw. schon dann sprechen, wenn es sich dabei um eine „Äquivalenz von signifikanten Kontrasten“ (Lévi-Strauss 1973a, S. 112) handelt. Schütze benötigt deswegen die Verankerung von kognitiven Figuren im Bewusstsein gerade nicht als Garanten einer Entsprechung. Die Schütze’sche Methodologie steuert daher in ein Dilemma hinein. Mit dem Bewusstsein ist keine Homologie von Erzählung und Erfahrung zu haben, ohne das Bewusstsein jedoch blieben Erzählung und Erfahrung Entitäten ohne materiales Substrat. Auch die Diskussion der Methodologie von Rosenthal hat zu einem Dilemma geführt. Hier ergibt es sich nicht in Folge eines überzogenen Anspruchs, sondern offenbart auf methodologischer Ebene einen Widerstreit, der in Rosenthals dualistischer Konzeption autobiographischer Erzählungen angelegt ist. Einerseits verlangt nämlich der phänomenologische Ausgangspunkt Rosenthals, dass die erlebte Zeit stets abhängig bleiben muss von den je aktuellen Deutungsakten eines Erzählers. Andererseits führt jedoch das Erkenntnisinteresse Rosenthals – aus der Differenz von erzählter und erlebter Zeit den Modus der Vergangenheitsbewältigung zu erschließen – dazu, dass sie mit der historischen Zeit des Erlebens eine Zeit annimmt, die unabhängig von der Darstellung eines Erzählers ist. Den Zugang zur Zeit des historischen Erlebens gewinnt Rosenthal durch einen methodischen Sprung, indem sie die von der Darstellung eines Erzählers als unabhängig erachteten objektiven Daten interpretiert. Dadurch wird aber die dabei zur Anwendung kommende Interpretationstechnik, die objektive Hermeneutik, von Rosenthal zum methodischen Statthalter der historischen Zeit erhoben. Eine Lösung dieses Konflikts scheint nicht in Sicht. Denn unter phänomenologischen Vorzeichen lässt sich an der Annahme einer historischen Zeit des Erlebens nicht festhalten. Und andersherum schließt die objektive Hermeneutik eine Phänomenologie des Erlebens aus. Dass beides zusammengehen soll, erwies sich als Folge des ursprünglichen Erkenntnisinteresses von Rosenthal. Wie beides zusammengehen soll, bleibt allerdings rätselhaft. Schließlich habe ich gezeigt, inwiefern sich Oevermanns Methodologie der objektiven Hermeneutik unweigerlich in einen Konflikt zwischen zwei verschiedenen Interpretationslinien einer Äußerungssituation verstrickt. Denn wenn sich der Sinn von Aussagen, wie beispielsweise die Ethnomethodologie zeigt, nur durch den Bezug auf ihren Äußerungskontext ergibt, dann lässt sich dieser Sinn gerade nicht durch das narrative Substitut einer Äußerung, die Erzählung, restituieren. Das jedoch ist genau der Weg, den Oevermann einschlägt. Der in
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der Auslegungspraxis der objektiven Hermeneutik über eine Geschichte ermittelte Sinn von Aussagen verdankt sich dem von einem Interpreten selbst produzierten, internen Äußerungszusammenhang einer Erzählung. Der interne Äußerungskontext der Erzählung darf aber nicht mit der protokollierten Äußerungsszene einer Interaktion verwechselt werden. Wird der narrative Sinn einer Aussage dennoch vom Interpreten als die objektive Bedeutung einer Interaktionssequenz ausgewiesen, handelt es sich hierbei bereits um eine methodische Unterschiebung der Erzählung des Interpreten unter die protokollierten Sprechhandlungen. Damit die objektive Hermeneutik ihrem eigenen Anspruch überhaupt gerecht werden kann, die latente Sinnstruktur einer Interaktion aufzudecken, muss sie das Interaktionsprotokoll bereits im Vorhinein zu einem Text umdeuten. Im Verlauf seiner Methode kommt Oevermann aber nicht, wie von ihm angenommen, zur protokollierten Interaktion zurück, sondern bleibt in einem Textuniversum gefangen. Auch hier steuert also die Interpretation in ein Dilemma hinein. Die Analyse einer Äußerungssituation ist mit der Methode der objektiven Hermeneutik nur dann verträglich, wenn sie sich den Äußerungszusammenhang als einen Text einverleibt. Aber genau dann handelt es sich nicht mehr um Interaktionsanalyse im engeren Sinne des Wortes. Nun sind hier allerdings nicht so sehr die Widersprüche von Interesse, in die sich die einzelnen Methodologien der soziologischen Biographieforschung verstricken, sondern die darin enthaltenen Überzeugungen, die im Hintergrund der einzelnen Methodologien die Erschließung des Gegenstandes steuern. Zunächst sieht es so aus, als ob dieses Feld kombinatorische Möglichkeiten zweier Unterscheidungen durchspielt, die im Zusammenhang der Erforschung einer (Auto-)Biographie von Relevanz sind. Wie gezeigt, geht es in diesem Feld auf die eine oder andere Weise um die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen einer gegenwärtigen Erzählung und einer vergangenen Erfahrung. Mithin sind zwei Unterscheidungen im Spiel: diejenige von Gegenwart und Vergangenheit und die von Erzählung und Erfahrung. Die diskutierten Methodologien relationieren diese Differenzen aber auf verschiedene Weise. Bei Fritz Schütze wird die Differenz von Vergangenheit und Gegenwart schlichtweg vorausgesetzt. Trotz – oder vielleicht auch gerade wegen – dieser Differenz besteht die Annahme Schützes darin, dass Erzählung und Erfahrung einander entsprechen. Die These einer Homologie ist hier das Mittel, um den Unterschied von Erzählgegenwart und Erfahrungsvergangenheit methodologisch zu minimieren. Eine genau entgegengesetzte Position nimmt in dieser Frage der methodischen Position Gabriele Rosenthal ein. Hier wird der Unterschied zwischen einer vergangenen Erfahrung und ihrer gegenwärtigen Darstellung nicht schlicht vorausgesetzt, sondern vielmehr so ernst genommen, dass sich aus dieser Differenz ein theoretischer Dualismus ergibt, der auf methodologischer Ebene einen Split der
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Methoden induziert. Phänomenologie und objektive Hermeneutik überbrücken nicht den Graben, der zwischen einer gegenwärtigen Darstellung und einer vergangenen Erfahrung liegt, sondern befestigen ihn. Die objektive Hermeneutik Oevermanns schließlich ist eine Methodologie, die den für die (Auto-)Biographieforschung relevanten Unterschied von Vergangenheit und Gegenwart gar nicht kennt. Weil Oevermann für die Differenz von Erzählgegenwart und Erfahrungsvergangenheit kein methodologisches Sensorium ausgebildet hat, sondern stattdessen Interaktionen analysiert (denen allenfalls sekundär eine narrative Qualität zuerkannt werden kann), führt dies zu einer Nivellierung des Unterschieds von Erzählung und Erfahrung. Definitionsgemäß handelt es sich bei Interaktionsprotokollen, die Oevermann zur Grundlage seiner Analyse macht, nicht um Erzählungen, die Erfahrungen referieren, sondern nur um Mitschriften von Erfahrungsbildungsprozessen. Protokolle von Interaktionen sind damit per se in einer einzigen Zeitdimension situiert, der Zeit der Sprechhandlungen. Gerade weil somit die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft in der Methodologie Oevermanns eine Unterscheidung ist, die keinen Unterschied macht, wird auch die daran angeschlossene Differenz von Erzählung und Erfahrung obsolet – freilich nur, um im Interpretationsprozess selbst zum unverzichtbaren Handwerkszeug des Interpreten zu werden. Im Feld der soziologischen Biographieforschung lassen sich damit drei Varianten von Gegenstandserschließungen ausmachen. Die erste etabliert trotz der Differenz von Vergangenheit und Gegenwart eine Homologie von Erfahrung und Erzählung (Schütze). Die zweite führt gerade wegen dieser Differenz in einen methodologischen Dualismus von Phänomenologie und objektiver Hermeneutik (Rosenthal). Die dritte schließlich kommt ohne diese Differenz aus, weil die Unterscheidung von Erzählung und Erfahrung von ihr im Begriff der Interaktion eingeschmolzen wird (Oevermann). Widerstände gegen die Zeit, Ergebenheit in die Zeit, die Abstinenz von der Zeit – die soziologische Biographieforschung ist offenbar ein Feld, das den Umgang mit der Zeit methodisch kultivieren muss. Wenn es sich dabei auch um ein Feld handelt, das nicht nur kombinatorische Varianten der Gegenstandserschließung über Zeitverhältnisse realisiert, sondern darüber hinaus auch von einer methodenübergreifenden doxa organisiert wird, müssten sich gemeinsam geteilte Annahmen identifizieren lassen, die quer zu den bisher diskutierten Problemen stehen. In der Tat lassen sich hier wenigstens zwei Prinzipien auffinden, die zu den methodologischen Grundgewissheiten in der soziologischen Biographieforschung zählen. Sie betreffen erstens die grundlegende Annahme der biographischen Interpreten, dass Akteure sowohl bei der Bildung, als auch der Darstellung ihrer Erfahrung identische Mechanismen der Bedeutungskonstitution verwenden. Zweitens sind die Me-
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thodologien von Schütze, Rosenthal und Oevermann auf die eine oder andere Weise davon überzeugt, dass es bei Darstellung bzw. Bildung von Erfahrung um die Verknüpfung von einzelnen narrativen Ereignissen bzw. erfahrungsmäßigen Erlebnissen geht. Im Weiteren werde ich diese beiden Annahmen in den einzelnen Methodologien durchdeklinieren. Zunächst also zum ersten Punkt, dem Axiom einer Konstitution von Bedeutung, díe auf Erfahrung und Erzählung übergreift. Mit dem Konzept kognitiver Figuren verbindet Schütze die Auffassung, dass Erfahrungsbildung und Erfahrungsdarstellung auf dieselbe Weise zustande kommen. Wie ein Akteur sich in seiner Lebenspraxis an kognitiven Figuren orientiert und darüber eine Erfahrungshaltung ausprägt, so orientiert er sich auch in der narrativen Darstellung seiner Erfahrung an dieser bereits ausgebildeten Erfahrungshaltung und wiederholt auf diese Weise auf der sprachlichen Ebene den Einsatz kognitiver Figuren auf vorsprachlicher Ebene. Vermöge des Bewusstseins operieren sprachliche Präsentations- und erfahrungsmäßige Konstitutionsebene auf eine (wie Schütze glaubt) einander entsprechende Weise, tatsächlich jedoch handelt es sich hierbei um eine Strukturidentität. Narrative Darstellung und Erfahrungsbildung greifen stets auf ein gemeinsames Arsenal kognitiver Schematismen zurück. Kognitive Figuren trotzen hier gewissermaßen einer zeitlichen Differenz, die unweigerlich zwischen beiden Prozessen besteht. Umgekehrt geht Rosenthal gerade von der Differenz der Relevanzen in Vergangenheit und Gegenwart aus. Die Bedeutung einstiger Erfahrung unterscheidet sich ihrer Meinung nach von dem Sinn, den sie in einer Erzählgegenwart für einen Autobiographen hat. Gleichwohl ist das von Rosenthal dabei zugrunde gelegte System der Bedeutungskonstitution eines, das in Vergangenheit und Gegenwart identisch bleibt. Denn es ist hier wie dort die Unterscheidung von Thema und Feld, die Rosenthals Meinung nach die Bedeutung einer Erlebnis- bzw. Darstellungssequenz konstituiert. Der Unterschied der Relevanzsysteme kommt aber nicht über diese wahrnehmungspsychologische Bedeutungstheorie ins Spiel, sondern über eine Wahrnehmungsperspektive, die Noesis. Denn wenn es einen Unterschied von vergangener und gegenwärtiger Wahrnehmung gibt, dann kann dieser Unterschied nicht über die Differenz von Thema und Feld zustande kommen, sondern durch die Unterscheidung von vergangener und gegenwärtiger Wahrnehmungsnoesis. Was ein Erlebnis in der Vergangenheit für einen Wahrnehmenden bedeutet, hängt vom thematischen Feld einer Wahrnehmung in der Vergangenheit ab, die Bedeutung der geschilderten Ereignisse in einer Erzählgegenwart wiederum wird vom thematischen Feld der Erzählperspektive bestimmt. Obwohl von Oevermann die Unterscheidung von Erzählgegenwart und Erfahrungsvergangenheit eingeebnet wird, entzieht sich die objektive Hermeneutik dadurch nicht der grundlegenden Annahme einer Identität der bedeu-
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tungsgenerierenden Mechanismen bei Erfahrungsbildung einerseits und Erfahrungsdarstellung andererseits. Anders als im sprachlichen Repräsentationsansatz bei Schütze und Rosenthal, wo es der autobiographische Erzähler selbst ist, der in seiner Darstellung des Erfahrungszusammenhanges denselben Mechanismus in Anspruch nimmt, den er bei der – früheren – Konstitution von Erfahrung in Anschlag gebracht hatte, handelt es sich im interpretationspragmatischen Modell Oevermanns um zwei verschiedene Instanzen, die immer noch denselben bedeutungsgenerierenden Mechanismus benutzen: das Subjekt der Sprechhandlungen in der protokollierten Interaktion einerseits und der diese Sprechhandlungen auslegende Forscher andererseits. Die vom Interpreten zugrunde gelegte Bedeutungstheorie bleibt also stets identisch, gleichviel, ob es sich hierbei um kognitive Figuren handelt (die am Leitfaden der Erzählung gedacht werden), eine wahrnehmungspsychologische Assoziationstheorie von Feld und Thema (an deren Leitfaden die Erzählung gedacht wird) oder eine soziale Regel (an deren Leitfaden Erzählung und Erfahrung gedacht werden). Die zweite Überzeugung, über die sich das Feld der soziologischen Biographieforschung reproduziert, betrifft den spezifischen Operationsmodus in der Erzählgegenwart als auch in der Erfahrungsvergangenheit eines Akteurs. Gemeinsam ist allen Methodologien, dass es sich hierbei um die Verknüpfung von Elementen handelt und handeln muss. Sie differieren hingegen in der konkreten Ausbuchstabierung dessen, wodurch narrative Ereignisse bzw. erfahrungsmäßige Erlebnisse jeweils miteinander verknüpft werden, und wie jene Instanz der Verknüpfung – der Operator – anzusprechen ist. Bei Schütze obliegt es dem Schematismus von kognitiven Figuren, Elemente in die Ordnung einer Erfahrung bzw. Erzählung zu bringen. Diese Ordnung unterscheidet sich signifikant von der Erlebnisreihe bzw. einer chronologischen Abfolge. Die Selektion und Organisation der Narration, mithin die Darstellung der Erfahrung, wird laut Schütze von der Erfahrungshaltung gesteuert. Auf der Ebene der Erfahrungsbildung hingegen verhält sich ein Akteur zu sich selbst über eine intuitive, gleichwohl reflektierende Stellungnahme gegenüber seiner abgelaufenen Erlebnisreihe, durch die die Erfahrungshaltung überhaupt erst produziert wird. In beiden Fällen kommt es hier zu einer grundlegenden Reorganisation und Verknüpfung von Elementen, ohne die bei Schütze weder von Erfahrung, noch von Erzählung gesprochen werden kann. In der Methodologie Gabriele Rosenthals steuert das thematische Feld eine Kette von assoziativ verbundenen Wahrnehmungen eines Akteurs. Was ein Erlebnis für einen Akteur bedeutet, hängt sowohl in der Erlebnisvergangenheit als auch in der Darstellungsgegenwart von einer übergreifenden Wahrnehmungsstruktur ab, durch die die einzelnen Erlebnisse eines Akteurs auf eine bedeutungsträchtige Weise mit-
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einander verknüpft werden. Das Feld ist hier der Kontext, in dem nicht nur ein Wahrnehmungsnoema seinen Sinn erhält, sondern in dem eine ganze Reihe von Erlebnissen assoziativ verbunden wird. Umgekehrt nötigt ein nicht anschlussfähiges Thema zur Reorganisation einer Assoziationskette, also eines Feldes. Die Diskussion der Methodologie hat überdies ergeben, dass Rosenthals Konzentration auf die noematische Seite der Wahrnehmung die Instanz der Wahrnehmungs- bzw. Erzählnoesis ausblendet. Die Wahrnehmungs- bzw. Erzählperspektive ist es aber letztlich, die in der Darstellungsgegenwart und der Erlebnisvergangenheit die Assoziationskette thematischer Erlebnisse dirigiert. Am deutlichsten ist die grundlegende Annahme einer biographischen Notwendigkeit der Verknüpfung von Elementen bei Oevermann. Die objektive Hermeneutik geht davon aus, dass sich ein Akteur in seiner Lebenspraxis von Augenblick zu Augenblick entscheiden muss. Weder kann er sich an einer Entscheidung vorbeimogeln, noch kann er die Folgen seiner Entscheidung anderen übertragen. Auf diese Weise verstrickt sich der Lebensvollzug eines Akteurs bei Oevermann in das grundlegende Problem, diskontinuierliche Entscheidungssituationen in die kontinuierliche Form einer Lebenswirklichkeit zu überführen. Technisch gesprochen handelt es sich hierbei um die Frage, wie der Umschlag von Selektion in Kombination modelliert werden kann. Damit die Entscheidungssituation nicht Situation bleibt, sondern Lebenspraxis werden kann, bedarf es einer das Entscheidungsverhalten übergreifenden Form. Methodologisch gesehen, ist dies bei Oevermann die Fallstruktur. Sie ist die Regel, die nicht nur eine einzelne, sondern den Zusammenhang aller in Betracht kommenden Entscheidungssituationen eines Akteurs aus Sicht des Interpreten ausdrückt. Deren Motivierung jedoch sieht Oevermann in den individuellen Dispositionen eines Akteurs angelegt. Obzwar es sich dabei um die Disposition eines einzelnen Subjekts handelt, sind sie dennoch keine individuellen. Denn wenn sowohl der Sinn der für einen Akteur zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, als auch der Sinn, den eine konkrete Handlungswahl für einen Akteur haben kann, sozial reguliert ist, muss auch die Verknüpfung von Entscheidungen, durch die das subjektive Leben Realität gewinnt, einen sozialen Sinn haben. Die Lebenspraxis vollzieht sich daher auch noch in der Abweichung von den an sie gestellten Verhaltenserwartungen durch Orientierung an regulativen Regeln. Mit anderen Worten: Auch Anomalien werden sozial definiert. Es sind daher soziale Regeln, die bei Oevermann den Sinn nicht nur von einzelnen Entscheidungen, sondern auch der Verkettung von Entscheidungen konstituieren. Bei Schütze werden also mittels kognitiver Figuren einzelne Erlebnisse bzw. Ereignisse zu einer übergreifenden Erfahrungshaltung bzw. einer Lebensgeschichte verknüpft. Bei Rosenthal ist es das Wahrnehmungsfeld, das einzelne Erlebnisse in den übergeordneten Zusammenhang einer Erzählung bringt. Und bei Oevermann ist es
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die sozial definierbare Fallstruktur, die aus lose gekoppelten Entscheidungen die innere Einheit einer Lebenspraxis macht. Erfahrungshaltung, Erzählperspektive und Disposition des Akteurs sind dabei die Instanzen die in den jeweiligen Methodologien als Operator für die Elementverknüpfung angenommen werden.
3.2
Leben oder Erzählung?
Nach dem bisher rekonstruierten Stand der Dinge handelt es sich bei der soziologischen Biographieforschung in erster Linie um eine rein methodische Veranstaltungsreihe. Die Identität des Forschungsfeldes speist sich offenkundig nicht aus der Unterstellung eines gemeinsamen Gegenstandes, sondern aus einer Reihe geteilter Hintergrundannahmen bezüglich des methodischen Vorgehens. Aber ist das nicht eine allzu dürftige Gemeinsamkeit? Lässt sich aus der vorwiegend methodologischen Identität der soziologischen Biographieforschung überhaupt eine spezifische Differenz zu anderen Forschungsfeldern ableiten? Der Umstand, dass die Konstitution von Bedeutung keinen Unterschied zwischen der Ebene der sprachlichen Darstellung von Erfahrung und der handlungsförmigen Konstitution von Erfahrung macht, lässt sich zumindest nicht auf die Biographieforschung begrenzen. Und schließlich ist auch die zweite herausgestellte Gemeinsamkeit in diesem Forschungsfeld, die Hochwertschätzung der Synthesis von Erlebnissen, Ereignissen und Handlungssequenzen kein Alleinstellungsmerkmal „des Biographischen“. Wenn es andererseits aber richtig ist, dass „Biographie“ ein Effekt des methodischen Zugangs zu ihr ist, gerät dann dieses Forschungsfeld nicht in Gefahr, sich selbst mit einer Reihe anderer Unternehmen zu verwechseln bzw. verwechselt zu werden – etwa der Geschichtswissenschaft, der Literatur, der Psychotherapie? Oder ist es vielleicht gerade diese Durchlässigkeit ihrer Grenzen, die das Charakteristische der soziologischen Biographieforschung ist? Inwiefern handelt es sich dann aber noch um eine genuin soziologische Biographieforschung? An dieser Stelle scheint es mir angebracht, in eine theoretische Zwischenbetrachtung einzutreten, um nicht nur die methodologische Standardisierung des Biographischen, sondern auch deren theoretisches Fundament offen zu legen. Der Grundbegriff der Biographieforschung ist der bios. Im Unterschied zur zoë wurde von den Griechen damit kein organisches, sondern das soziale Leben eines Menschen bezeichnet. Der griechische bios schloss die Naturseite des Menschen kategorial aus. Als zoon politikon bzw. zoon logon echon schien die spezifische Differenz des Menschen gegenüber anderen Lebewesen für jemanden wie Aristoteles (Pol. I 2, 1253a3) hinreichend geklärt zu sein. Doch auch für die weitere Ausarbeitung des bios hielt sich Aristoteles an das Vorbild einer
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taxonomischen Vermessung der Natur. Denn nunmehr stellte sich ihm die Frage, wodurch sich der bios von anderen Lebensformen in der sozialen Welt unterschied. Aristoteles zog dafür das Kriterium der Freiheit heran. Mit dieser philosophischen Färbung des Lebensproblems gehen zwei konzeptionelle Entscheidungen in den antiken Begriff des bios ein. Einesteils setzte die aristotelische Unterscheidung von bios politikos und bios theoretikos voraus, dass materielle Not und äußerer Zwang im Lebensvollzug keine Rolle mehr für jene spielen durften, die über einen bios verfügten. Da Sklaven keinen bios hatten, konnten sie demnach auch über keine Biographie verfügen. Andernteils, und komplementär dazu, reichte diese negative Bestimmung (noch) nicht aus. Ökonomische und politische Autonomie waren für Aristoteles nur die Eingangsbedingungen für einen bios, dessen zugrunde gelegtes Freiheitskonzept noch radikalisiert werden musste. Denn frei war Aristoteles zufolge ein Lebensvollzug nur dann, wenn er sich nicht dem Diktat des Nützlichen, dem Reich der Zwecke und dem Verfolgen äußerer Ziele verschrieb, sondern wenn er an sich selbst etwas Unbedingtes, d.h. in praktischer Hinsicht etwas Unnützliches hatte. Schon am bloßen Vollzug des bios selbst sollten seine sozialen Träger Geschmack und Erfüllung finden. Das führte Aristoteles dazu, die vita activa (vgl. Arendt 1960) des Politikers gegenüber der vita contemplativa des Theoretikers abzuwerten. Denn anders als das politische Handeln, das immerhin auf die Organisation von Herrschaft, mithin auf Ziele und Zwecke ausgerichtet war, die der polis galten, sah Aristoteles die theoria frei von jeder Notwendigkeit eines irdischen (Denk-) Resultates. Wer Theorie betrieb, verschrieb sich ihr um eines höchsten Gutes willen: Indem der Theoretiker das Denken (be)dachte, schien er dem Göttlichen am nächsten zu kommen. In der Theorie wurde der Theoretiker in Gedanken aufgelöst – und zwar in den höchstmöglichen. Die griechische theoria war demnach mehr Besinnung als Argumentation, der Theoretiker war mehr Zuschauer des sozialen Lebens als ein darin Handelnder. Diese Höchstrelevanz der theoria bezeugt, inwiefern Aristoteles theoria und praxis zusammendachte. Im Unterschied zur poiesis des Handwerkers hatte die praxis des Theoretikers ihren Rechtsgrund nicht in der Herstellung von (Gedanken-)Produkten, sondern genügte sich selbst im Vollzug interesseloser Wahrnehmungen, Gedanken, Erlebnissen und Überlegungen. Aus heutiger Sicht besteht kaum Zweifel daran, dass es sich bei dieser Hochwertschätzung des bios theoretikos um die idealisierte Selbstbeschreibung eines antiken Philosophen handelt. Ein Insistieren auf Theorie in diesem Sinne steht im Verdacht, Nutzlosigkeit ostentativ zur Schau zu stellen. Und das ist, wie man von Bourdieu (1982) weiß, die unbewusste Distinktionsleistung der sozialen Oberschicht. Das „Leben“, das die soziologische Biographieforschung heute untersucht, hat mit dieser antiken Auffassung scheinbar nur noch gemein, dass es sich bei
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der „Biographie“ eines Menschen um eine Lebensart und Lebensform handelt, die sich von seinem organischen Leben signifikant unterscheidet. Nach wie vor geht es im bios der Biographieforschung nicht um die Selbstreproduktion des „nackten Lebens“ (Agamben 2002), sondern um den Lebensvollzug eines sozial situierten Menschen. Doch es ist nun nicht mehr die antike Freiheit von Notwendigkeiten, sondern die Notwendigkeit der Freiheit, die den modernen bios kennzeichnet. Der Kreis der Adressaten, an den die Erwartung, aber eben auch die Zumutung gerichtet ist, das Leben nicht einfach nur hinzunehmen, sondern selbst aktiv zu führen, wächst in der Moderne ins Unermessliche. Während der bios in der Antike nicht ohne die Exklusion der Vielen durch die Wenigen zu denken ist, stellt „einen bios haben“ in der Moderne nun nicht mehr das Privileg weniger, sondern die Pflicht aller dar. Und während in der Antike der bios noch zwei Modi des Lebensvollzugs auszeichnete – das praktische Leben war dasjenige des Politikers in der Polis, das theoretische Leben war das geistige Leben des Philosophen – ist es in der Moderne vor allem die Ökonomie in der sich der bios verwirklicht. Das Leben ist hier wesentlich Berufsleben. Schule und Ausbildung bereiten darauf vor, während das Alter weitgehend als ein Leben nach dem Beruf angesehen wird. So wird die Biographie in der Moderne wesentlich zur Berufsbiographie. Das Korrelat des modernen Aktivierungsdiskurses ist die vita activa: Niemand kommt mehr daran vorbei, sich nach Maßgabe eigener Überzeugungen zu seinem bevorstehenden Lebensvollzug zu verhalten – wenn er denn Berufswahl, berufliche Laufbahn, Berufswechsel und dergleichen mit einbegreift. Was ein Mensch (als Kind) einmal werden will, was er (als Erwachsener) ist, und wer er (als Rentner) einmal war, ist eine Frage, die in der Moderne vor allem über den Beruf beantwortet wird (Kohli 1985). Dieses elementare Selbstverhältnis zum bevorstehenden Lebensvollzug einerseits und dessen gesellschaftliche Einbettung andererseits ist gemeint, wenn man, ohne dabei freilich den Zeitindex mit zu sehen, von der „biographischen Arbeit“ des Menschen spricht und sie zum Kernbestand der Aufklärung der soziologischen Biographieforschung zählt. Damit geht man stillschweigend davon aus, dass sich „Leben“ nicht einfach ereignet (organischer Sinn), sondern dass es vollzogen werden muss und dass dieser Vollzug eines Urhebers bedarf, eines Subjekts, das hierfür auf gesellschaftliche und historische Umstände und Ressourcen angewiesen ist, deren Ausmaß und Einfluss auf die individuelle Lebensführung das professionelle Interesse des Soziologen und des Historikers gleichermaßen wecken. Beide Professionen setzen voraus, dass es zwar ein Subjekt des Lebensvollzugs gibt, dass es dabei aber Rahmenbedingungen ausgesetzt ist, die es sich einerseits selbst nicht gesetzt hat, denen es andererseits aber auch nicht einfach nur als willfähriges Produkt unterliegt. Die Biographieforschung schließt sowohl eine natürliche, wie eine gesellschaftliche Determination des Subjekts aus. Ein
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Mensch ist weder ein von seinem organischen Leben bloß Geführter, noch ist er ein Effekt eines soziohistorischen Diskurses. Er vollzieht sein Leben zwar unter Umständen, die er nicht selbst gemacht hat, aber er ist es, der es letztlich selbst vollziehen muss. Ich möchte diesen elementaren Selbstbezug im Lebensvollzug eines Menschen mit Bohler (1994, S. 11) als die „Quelle der Biographizität des subjektiven Lebens“ bezeichnen. In seiner Lebenspraxis kommt ein Mensch nicht umhin, sich zu sich – und das heißt – zu dem ihm bevorstehenden Lebensvollzug zu verhalten. Das geschieht auf der ersten Ebene mit der ganzen Sicherheit einer alltäglichen Verhaltensroutine, eines unbewussten Habitus, eines vortheoretischen Bewusstseins. Auf der zweiten Ebene, der reflexiven, kommen dann mehr oder minder überlegte Stellungnahmen gegenüber der ersten Ebene ins Spiel. Harry Frankfurt (1995) hat in diesem Zusammenhang von Volitionen zweiter Ordnung gesprochen und damit die Bewertungen derjenigen Begierden, Wünsche und Bedürfnisse gemeint, die den praktischen Selbstbezug eines Menschen auf erster Ebene ausmachen. Diese Stellungnahmen gegenüber situativen Bedürfnissen sind wiederum von einer impliziten oder expliziten „Idee“ eines Menschen von sich selbst angeleitet, die seinen übergreifenden Lebenszusammenhang betreffen. Hier kommen Vorstellungen von einem guten, glücklichen, erfüllten oder gelingenden Leben eines Menschen ins Spiel. Auf ähnliche Weise lässt sich nun auch die Autobiographie verstehen. Wie das voluntative Selbstverhältnis (Tugendhat 1979) ist die narrative Identifikation eines Erzählers mit seinem Leben, die Autobiographie, ebenfalls ein Modus des Verhaltens zu sich selbst. Dieses Verhalten ist allerdings kein praktisch-evaluatives, sondern ein theoretisch-integrierendes Selbstverhältnis. Ein Subjekt bestätigt sich in seinem sprachlichen Verhalten zu seinem abgelaufenen Leben erstens – und zwar spontan und unweigerlich – darin, dass es Urheber seiner Akte ist und nicht einfach nur Vollzugsinstanz anonymer Kräfte. Denn indem es sich sprachlich zu seiner Vergangenheit verhält, bezieht es sich uno acto auch auf den ihm noch bevorstehenden Lebensvollzug, der diesen Rückblick auf irgendeine Weise motiviert haben muss (vgl. Kapitel II). Der Blick zurück ist daher, was immer er zutage fördert, Beleg für diese zukunftsbezogene Aktqualität des Subjekts, die nun zweitens in einer Autobiographie über einzelne Akte hinaus auf die Einheit eines ganzen Lebenszusammenhangs übertragen wird. In einer Autobiographie geht es einem Menschen auf semantischer Ebene darum, nicht nur im „hier und jetzt“ der Erzählrede, sondern „schon damals“ und demzufolge „die ganze Zeit“ zumindest der Co-Autor seines Lebens und nicht einfach nur der Vollstrecker eines anonymen Lebens, der Spielball blinder Kräfte der Geschichte oder Agent gesellschaftlicher Verhältnisse gewesen zu sein.
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Im praktischen Selbstbezug eines Subjekts lässt sich nun auch der theoretische Konvergenzpunkt der Methodologien der soziologischen Biographieforschung sehen. Bei Schütze ist die Biographizität des subjektiven Lebens gleichbedeutend mit der impliziten Stellungnahme eines Akteurs zu seinen abgelaufenen Erlebnissen, die ihn zu einer spezifischen Haltung ihnen gegenüber führen. Bei Rosenthal stehen Erlebnisse nie nur einfach für sich, sondern sie sind vom Subjekt des Erlebens auf bestimmte Weise miteinander assoziiert. Und bei Oevermann besteht „Biographizität“ in der Annahme, dass sich die Lebenspraxis nur dann über strukturierte Entscheidungen vollziehen kann, wenn es in der Lebenspraxis ein Zentrum dafür gibt, das die Strukturierungsleistung verantwortet. Wie man sich entscheidet, wodurch man seine Erlebnisse rahmt und welche Haltung man ihnen gegenüber annimmt – in der soziologischen Biographieforschung ist der bios gleichbedeutend mit einem Selbstbezug, der über einzelne Handlungen, Erlebnisse und Ereignisse hinausgeht. Schon ehe der Lebensvollzug narrativ repräsentiert wird und werden kann, so wird hier offenkundig angenommen, verhält sich eine Instanz der Selbstbestimmung zu sich selbst. Davon unterscheiden muss man nun allerdings, wie die soziologische Biographieforschung diese Struktur des Selbstverhältnisses erfasst. Es ist nicht – jedenfalls nicht von vornherein – klar, ob sich der bios in der Biographieforschung primär auf das bereits abgelaufene oder noch bevorstehende Leben eines Akteurs bezieht. Spricht ein Biographieträger über seinen abgelaufenen Lebenszusammenhang (Schütze, Rosenthal) oder ist er in den Prozess seiner Erfahrungsbildung verstrickt (Oevermann)? Es macht einen gravierenden Unterschied, ob sich ein Akteur zu seinem bevorstehenden Lebensvollzug praktisch verhält oder ob er seine abgelaufene Lebensspanne narrativ darstellt. Es ist dies ein Unterschied, der die An- bzw. Abwesenheit einer sprachlich artikulierten Reflexion betrifft. Die theoretische Lebenseinstellung ist nicht ohne Bewusstheit denkbar, die praktische kommt dagegen weitgehend ohne eine solche aus. Beide Einstellungen dem eigenen Leben gegenüber sind zwar gleichberechtigte Möglichkeiten eines Selbstverhältnisses, doch aus beiden resultiert, wie ich im Folgenden zeigen möchte, ein jeweils anderer biotischer Sinn. Wenn sich ein Subjekt in der theoretischen Lebenseinstellung qua Reflexion selbst zum Objekt wird, erhält der bios, um mit Heidegger (1993) zu sprechen, den Seinssinn der Vorhandenheit. Die von einem Ich-Erzähler reflektierte Lebensspanne ist hier zwar bereits abgelaufen, gleichwohl werden darauf dieselben Schematismen angewendet, die der Ich-Erzähler auch bei der vorsprachlichen Wahrnehmung seiner Umwelt in einer Erlebnisgegenwart benutzt. Die abgelaufene Lebensspanne wird dergestalt zu einer Summe von Ereignissen, und diese werden wiederum wie Dinge behandelt. Diese Schematisierung des Lebens am Leitfaden der Dinghaftigkeit ist Voraussetzung dafür, dass sich über
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Lebensereignisse sprechen lässt wie über Gegenstände. Das artikulierte Selbstverhältnis eines Ich-Erzählers stützt sich damit wesentlich auf eine konstatierende Tätigkeit – mit den möglichen Nebenfolgen eines Zweifels daran, ob narrative Aussagen und Lebensereignisse übereinstimmen. Gleichwohl erschöpft sich das retrograde Selbstverhältnis eines Ich-Erzählers nicht in Konstativa. Denn wie ich im vorigen Kapitel gezeigt habe, versucht die soziologische Biographieforschung die Erfahrungshaltung (Schütze) bzw. das thematische Feld der erinnerten Erlebnisse (Rosenthal) nicht über einzelne Aussagen zu erschließen, sondern über die Rekonstruktion eines übergreifenden Zusammenhanges. Anders als einzelne Lebensereignisse kann der Lebenszusammenhang, der seit Dilthey gleichbedeutend mit einer Lebensgeschichte ist (Ricœur 1987), nicht selbst wiederum in der Welt vorkommen; er ist vielmehr eine genuine Leistung des Erzählers. Nicht also durch einzelne Zeichen und ihre Referenten, nicht durch singuläre Wahrnehmungen und ihre Realitätskorrelate, sondern durch eine sprachliche (Syntax) bzw. wahrnehmungsförmige (Frame) Synthesis versucht Schütze eine Korrespondenz und Rosenthal eine Differenz von Erzählgegenwart und Erlebnisvergangenheit zu rekonstruieren. Damit machen beide einen wichtigen Schritt von der Ebene reiner Feststellungen, dem Paradigma theoretischer Einstellung, hin zur performativen Praxis des autobiographischen Stegreiferzählens. Denn wie einzelne Aussagen miteinander verknüpft werden, hängt nicht mehr ab von vergangenen Lebensereignissen, sondern von dem Verhältnis, das ein Ich-Erzähler ihnen gegenüber in seiner Erzählgegenwart einnimmt. Und das wiederum heißt: Nicht nur zum bevorstehenden, sondern auch zum abgelaufenen Lebensvollzug muss ein Akteur sich praktisch verhalten, will er seine Vergangenheit (bzw. Zukunft) nicht sich selbst überlassen. Das bleibt sie jedoch solange, wie sie unartikuliert ist. Auch von seiner Vergangenheit wird ein Erzähler daher stetig genötigt, sich in irgendeiner Weise zu ihr ins sprachliche Benehmen zu setzen. Insofern können Aussagen über die abgelaufene Lebensspanne als Derivate eines Verhaltens zur Vergangenheit aufgefasst werden. Doch so sehr dieser Schritt ein wesentlicher Fortschritt ist gegenüber einer Vorstellung der Vergangenheit, in der Erlebnisse und Ereignisse einfach herumliegen und auf ihr sprachliches Aufgesammelt-Werden warten, so sehr fallen Schütze und Rosenthal sogleich wieder in die Idee der sprachlichen Repräsentation des Erfahrungszusammenhanges zurück. Denn was für einzelne Aussagen gerade nicht gelten soll, dass sie nämlich sprachlich repräsentiert werden, trifft nun bei Schütze und Rosenthal wieder für den übergreifenden Zusammenhang von Aussagen zu: Entweder soll die gegenwärtige Erfahrungshaltung identisch sein mit einer vergangenen (Schütze) oder die gegenwärtige Relevanzstruktur des Erlebens wird auf einen signifikanten Unterschied gegenüber einer vergangenen Strukturierung des Erlebnisfeldes beobachtet (Rosenthal). Mit anderen
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I. Biographieforschung
Worten: Die Repräsentationsidee wird bei beiden von der Ebene der Ereignisse auf die Ebene der Struktur transponiert. Wie nun aber Erfahrung diesseits ihrer Repräsentation zustande kommt, darüber gibt es bei Schütze und Rosenthal unterschiedliche Vorstellungen. Bei Schütze ist es eine reflektierende Stellungnahme gegenüber Erlebnissen, bei Rosenthal die assoziative Rahmung von Erlebnissen. Anders stellt sich nun das Lebensproblem in der praktischen Lebenseinstellung dar. Hier gibt es keinen bios, der in der Vergangenheit liegt, das Leben steht einem vielmehr noch bevor. Während sich die jeweils abgelaufene Lebensspanne nur konstatieren lässt, ist „die bevorstehende Existenz hingegen von solcher Art, dass ich sie zu sein habe, ich muss sie auf die eine oder andere Weise vollziehen“, wie Tugendhat (1979, S. 177) den Existenzbegriff von Heidegger erläutert. In der praktischen Einstellung macht sich der bios daher als die (meist) unaufdringliche Unumgänglichkeit eines zu bewältigenden Lebensvollzuges geltend. Heidegger zufolge wird das eigene Leben nicht erst im reflektierenden Rückblick zum Thema, sondern der Bezug zum eigenen Leben besteht bereits dann, wenn sich ein Mensch zu seinem jeweils noch bevorstehenden Lebensvollzug verhält. Und dieser Selbstbezug ist kein fakultativer, sondern ein notwendiger. Im praktischen Lebensbezug sind Bewusstsein und Sprache daher weder die alleinigen, noch sind sie die ersten Vermittlungsinstanzen des menschlichen Selbstverstehens. Ein Selbstverhältnis kommt nicht erst durch eine (sprachliche) Reflexion und Antizipation von Handlungen zustande. Anders als in der Phänomenologie ist das Bewusstsein in der lebensphilosophischen Konzeption des Selbstbezugs nur Interim und Passage. Es tritt nur auf bei Störungen des Handlungsvollzuges und dient zur Neujustierung von Erwartungen, ehe ein Akteur wieder in einen präkognitiven und pränarrativen Zustand zurücksinkt, den als Routine zu beschreiben freilich das wesentliche Moment der existenziell verstandenen Lebenspraxis übersieht. Denn dieser geht es in letzter Instanz um nichts weiter als um sich selbst, d.h. darum, Praxis zu sein und zu bleiben. Alles, was diese Praxis hemmt und einengt – und dazu zählt in der Lebensphilosophie das Bewusstsein –, ist dem Lebensvollzug als solchem nicht dienlich. Bewusstsein wird in der lebensphilosophischen Sicht nicht mehr als eine Episode mit funktionalem Wert aufgefasst: Es ist Reparatur- und Korrekturinstanz und verflüchtigt sich nach getaner Arbeit wieder. Die Lebenspraxis ist daher zunächst durch nichts weiter gekennzeichnet als durch ein unmittelbares Weltverhältnis.13 Wenn aber darin erstens auch ein Selbstverstehen der Lebenspraxis möglich sein soll und zweitens dies gemäß der lebensphilosophischen Konzeption ohne
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Intentionalität (Husserl 1950b), Lebensbezug (Dilthey 1981) und Sein-bei (Heidegger 1993) sind alles Konzepte des Absorbiertseins von der Welt.
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die Einschaltung des Bewusstseins funktionieren soll, dann liegt es nahe, nicht dem Bewusstsein, sondern dem Handeln selbst eine Verstehenseigenschaft zuzuschreiben. Dazu müsste sich allerdings zeigen lassen, inwiefern sich der Verstehensbegriff sinnvoll auf einen Handlungsvollzug anwenden lässt. Heidegger tut dies durch Rückgriff auf den Sprachgebrauch. Wenn wir beispielsweise sagen „Ich verstehe mich darauf, gut zu kochen“, wird der Verstehensbegriff synonym zu einem Können verwendet. Verstehen bedeutet in Heideggers Auslegung demnach nicht nur eine Interpretation, sondern beinhaltet auch eine Handlungskompetenz. Beides, Kompetenz und Selbstinterpretation, wird von Heidegger im Begriff des Verstehens also zusammengebracht. Ein Akteur versteht sich darauf, zu handeln und er versteht sich, indem er handelt. Dieser Begriff des Verstehens erlaubt es Heidegger, in Handlungsvollzügen uno acto ein unmittelbares Selbstverhältnis14 zu erblicken. In der praktischen Lebenseinstellung verstehe ich mich demnach auch ohne ein reflektierendes Bewusstsein meiner selbst, schlichtweg dadurch, dass ich handle. Erst danach kann ich mich – und man mich – aus meinen Handlungen heraus verstehen. Genau hier, aber auch erst hier, setzen (auto-)biographische Erzählungen an. Die „Selbstbiographie“ von welcher Dilthey (1981, S. 246) noch meinte, dass sie „die höchste und am meisten instruktive Form [ist], in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt“, ist also weder die erste, noch die einzige Weise, durch die die Intimität eines Selbstbezuges hergestellt wird. In einer, mit Heidegger erweiterten lebensphilosophischen Perspektive muss man – mit Blick auf die Rekonstruktionsmethodologien Schützes und Rosenthals – daher sagen, dass beide zum Ausgangspunkt ihrer Analyse nicht den Kern, sondern ein Derivat der Lebenspraxis wählen: das reflektierende Bewusstsein. Oevermann schlägt hier einen anderen Weg ein. Indem er sich für die Äußerungssituationen von Aussagen interessiert, konzentriert er sich auf die Umstände, durch die und in denen ein Interims-Bewusstsein auftritt. Man kann nun dieser Strategie eine gute und eine schlechte Seite abgewinnen. Positiv gesprochen: Indem Oevermann Bewusstseinskorrelate einklammert und anstelle dessen die Reflexion als einen pragmatischen Akt unter anderen Akten der Lebenspraxis betont, gerät deren ungeheure Dynamik in den Blick. Denn auch noch in der narrativen Selbstvergewisserung eines Ich-Erzählers verhält dieser sich nicht nur zu seiner Erlebnisvergangenheit als solcher, sondern auch zu seinem bevorstehenden Lebensvollzug. Erzählen ist daher ein Modus der Lebenspraxis, kein theoretisch-konstativer Akt eines reflektierenden Bewusstseins. Die Reflexion ist bei Oevermann deswegen nicht mehr der Sou-
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Im Unterschied zu einem reflektierten Selbstverhältnis, das durch Ja/Nein-Stellungnahmen gegenüber möglichen Handlungsvollzügen gekennzeichnet ist (Tugendhat 1979).
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I. Biographieforschung
verän der Erfahrungsrekapitulation, sondern nur noch eine Teilhandlung unter anderen Handlungen, vermittels derer sich die Lebenspraxis vollzieht. Indem sich Oevermann aber methodisch ganz auf den pragmatischen Aspekt von Sprechhandlungen konzentriert, führt dies zu einer Dominanz des Vollzugsaspekts der Lebenspraxis. Und genau dies ist die negative Kehrseite in der Rekonstruktionsmethodologie Oevermanns: Sie ersetzt den Primat der Reflexion durch den Primat des Handelns. Narrative Reflexionen sind hier nicht nur Störungen der Handlungspraxis, wie in der lebensphilosophischen Sicht, sondern sie werden bei Oevermann vor allem deswegen unter dem Handlungsaspekt subsumiert, weil sich ihm zufolge die Lebenspraxis permanent vor die Aufgabe gestellt sieht, Entscheidungen zu treffen. Die Lebenspraxis muss sich reproduzieren oder transformieren. Doch dies heißt nichts anderes, als dass sich ein Akteur stets zu seinem bevorstehenden Lebensvollzug zu verhalten hat. Und das tut er eben auch dann, wenn er erzählt. Die Erzählung ist ein rückwärts gerichtetes Verhalten in einer Handlungsgegenwart. Indem Sprechhandlungen Handlungen bleiben, versagt sich Oevermann jedoch, dem Phänomen des Erzählens in der Lebenspraxis konzeptionell auf den Grund zu gehen. Narrative Reflexionen werden stattdessen in der objektiven Hermeneutik kurzerhand zu Sprechhandlungen nivelliert. Folgt ein Interpret also Oevermann, kann es ihm nicht um die Vergangenheit eines Ich-Erzählers gehen, sondern nur um die Weise eines gegenwärtigen Selbstbezugs. Erfahrung wird hier nicht mehr zugänglich – wie noch bei Schütze und Rosenthal – durch die methodische Inszenierung einer sprachlichen Rekapitulation der Erlebnisvergangenheit eines Ich-Erzählers, sondern Erfahrung ist nun methodisch gleichgesetzt mit einem Interpretationsresultat durch einen Beobachter: der so genannten Fallstruktur eines Akteurs. Und diese ist wiederum nichts weiter als der regelgeleitete Bezug eines Akteurs zur Zukünftigkeit seiner Lebenspraxis. Kurz, Erfahrung ist bei Oevermann die von einem Beobachter rekonstruierte Selektionsregel des Entscheidens. Für die im nächsten Kapitel anstehende Entwicklung eines systematischen Zusammenhangs von Erfahrung und Erzählung bleibt festzuhalten, dass die objektive Hermeneutik die Frage nach dem Interims-Bewusstsein in eine methodische Frage umgemünzt hat. Da Oevermann erstens einen Interpreten (nicht: den Befragten) dazu anhält, Geschichten zu erzählen, in denen ein zuvor protokolliertes Sprechhandeln vorkommen kann, und da zweitens auch die autobiographische Erzählung von Oevermann als eine Sprechhandlung begriffen wird, stellt die objektive Hermeneutik de facto eine Auslegungspraxis derjenigen Umstände dar, die ein interimistisches Selbstbewusstsein hervorrufen (würden). Doch diese Umstände betreffen eben nicht die lebenspraktischen Bedingungen des Erzählens, sondern bleiben die Umstände eines jeden einzelnen Falles. Zwar ist es richtig, dass sich die äußeren Situationen einer Erzählung, die
I. 4 Resümee
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inneren Zustände eines Erzählers und die sozialen Konstellationen einer Erzählung für den Interpreten einer protokollierten Sequenz nicht von selbst darbieten, sondern von ihm erst noch methodisch erschlossen werden müssen. Doch bei dem Ergebnis dieser Rekonstruktion handelt es sich immer um die Generalisierungen und Typisierungen innerweltlicher Kontexte. Methodisch gewonnene Rahmungen eines Interpretandum unterscheiden sich jedoch signifikant von den strukturellen Bedingungen, unter denen sich ein Akteur in seiner Lebenspraxis insgesamt zu einer Erzählung veranlasst sieht. Eine Theorie, die – wie im Folgenden – die Voraussetzungen einer Erzählung im Alltag und deren systematischen Zusammenhang mit dem jeweils zugrunde liegenden Begriff von Erfahrung entwickeln will, kann sich daher nicht darauf beschränken, die Bedingungen einer Erzählung von jedem einzelnen Fall her zu rekonstruieren. Träfe das zu, würde man eine fallweise begriffene Erfahrung mit dem Begriff der Erfahrung insgesamt verwechseln. 4.
Resümee
Im Voranstehenden habe ich den Zusammenhang von Erfahrung und Erzählung dort untersucht, wo ihm in der Soziologie die größte Aufmerksamkeit zuerkannt wird: in der Biographieforschung. Wie jede Forschung, die in empirischer Absicht betrieben wird, definiert sich auch dieses Feld vor allem über Methoden. Die wissens- und wissenschaftssoziologische Ausgangsthese dabei war, dass das Feld der soziologischen Biographieforschung von impliziten Hintergrundannahmen der einzelnen Forscher organisiert wird, ohne dass ihnen diese bewusst wären. Dieser übergeordnete „bias“ des Feldes lässt sich erschließen, indem man die Methodologien untersucht, durch die wiederum die Untersuchungsgegenstände der Biographieforschung maßgeblich konstituiert werden. Die Diskussion dreier methodischer Bezugssysteme, die in der soziologischen Biographieforschung in Deutschland besonders prominent sind – Schütze, Rosenthal, Oevermann – hat zweierlei ergeben. Zum einen wurden interne Probleme in den einzelnen Methodologien nachgewiesen, die vor allem den Zusammenhang von Erzählung und Erfahrung betreffen: Ein überzogener Anspruch in der These einer Homologie (Schütze), ein dualistisches Dilemma zwischen erzählter und erlebter Zeit (Rosenthal) und ein Konflikt zwischen dem narrativen Interpretationskontext einerseits und dem Interaktionsmechanismus einer Äußerungssituation andererseits (Oevermann). Zum anderen konnten im Durchgang durch die einzelnen Ausgangspositionen in der soziologischen Biographieforschung zwei zentrale methodologische Annahmen aufgedeckt werden, die für alle drei Forscher gelten. Erstens wird angenommen, dass sich sowohl die Bildung als auch
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I. Biographieforschung
die Darstellung von Erfahrung identischer Mechanismen der Bedeutungskonstitution bedienen. Zweitens geht man übergreifend davon aus, dass die elementare Operation bei der Konstitution von narrativen Ereignissen einerseits und der Erfahrungsebene andererseits, diejenige der Verknüpfung ist. Das zentrale Paradigma in der soziologischen Biographieforschung besteht demnach darin, dass die Unterscheidung zwischen Erfahrung und Erzählung wenigstens in einer Hinsicht keinen Unterschied macht, also redundant ist. Nur aufgrund dieser impliziten Hintergrundannahme scheint es überhaupt möglich zu sein, in der soziologischen Biographieforschung die Erzählung als ein methodisches Mittel zur Rekonstruktion subjektiver Erfahrung einzusetzen. Neben dieser methodologischen Konvergenz gibt es jedoch auch eine theoretische. Alle drei Forscher gehen implizit davon aus, dass es sich bei „Erfahrung“ um ein Selbstverhältnis handelt, das sich in der Erzählung versprachlicht. Sie unterscheiden sich dabei allerdings in der Frage, ob sich der bios in der Biographieforschung primär auf ein bereits abgelaufenes oder noch bevorstehendes Leben eines Akteurs bezieht. Wenn ein Biographieträger über seinen abgelaufenen Lebenszusammenhang spricht, handelt es sich um eine narrative Repräsentation vergangener Erlebnisse (Schütze, Rosenthal), die zugleich Ausdruck einer theoretischen Stellungnahme des Biographieträgers sich selbst gegenüber ist. Wenn er hingegen in den Prozess seiner Erfahrungsbildung unmittelbar verstrickt ist (Oevermann), dann handelt es sich um eine praktische Einstellung dem bevorstehenden Leben gegenüber. Im ersten Fall steht die Frage nach der Repräsentation des Lebenslaufs durch eine Erzählung im Vordergrund, im zweiten Fall geht es um die Untersuchung der Selbstpräsentation des Biographieträgers in handlungspraktischen Situationen.
Zweiter Teil Die Konstitution narrativer Selbstverhältnisse
„Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler.“ Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften
Kapitel II
Subjektivierungen „In der Sprache berühren sich Erwartung und Erfüllung.“ Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen
Das vorangegangene Kapitel verfolgte nicht nur den Zweck, die methodologische doxa der soziologischen Biographieforschung freizulegen, sondern es hatte auch eine vorbereitende Funktion. Es sollte der Boden dafür bereitet werden, den Primat der Theorie vor der Methode zurückzuerobern. Als Ansatzpunkt dafür dient im Weiteren die Konvergenzthese aus dem sechsten Abschnitt des letzten Kapitels. Ihr zufolge wird der bios in der soziologischen Biographieforschung als ein menschliches Selbstverhältnis verstanden, das zwei Formen annehmen kann. In der ersten Variante ist das Leben ein abgelaufenes Leben – der bios liegt hier hinter dem Biographieträger (Schütze, Rosenthal). Eine solche Vorstellung läuft auf ein Repräsentationsverhältnis hinaus. Entsprechend wird versucht, einen Biographieträger methodisch zur Versprachlichung seines vergangenen Lebenslaufs zu animieren. Und es ist gerade dieser methodisch herbeigeführte sprachliche Selbstbezug eines Menschen, der als Grundlage für die Biographieanalyse dient. In der zweiten Variante des in der Biographieforschung vorausgesetzten menschlichen Selbstverhältnisses steht das Leben einem Biographieträger noch bevor (Oevermann). Nicht dessen sprachliche Repräsentation, sondern die handlungspraktische Bewältigung von Sprech-Situationen steht daher im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Entsprechend läuft die Methode der objektiven Hermeneutik darauf hinaus, nicht die Repräsentation des Lebenslaufs, sondern die Selbstpräsentation des Biographieträgers zu untersuchen. Daraus folgt wiederum, dass die intersubjektive Beurteilung eines Sprechhandelns eine methodisch zentrale Rolle einnimmt. Ich möchte in diesem und in dem darauf folgenden Kapitel (III) untersuchen, wie beide Varianten des menschlichen Selbstbezugs sich von der Alltagspraxis her verstehen lassen. Die Rückeroberung des Primats der Theorie vor der Methode lässt sich nur in dem Maße rechtfertigen, in dem sie versucht, die Teilnehmerperspektive auf die soziale Welt noch diesseits ihrer methodischen Zurichtung in ein theoretisches Modell mit aufzunehmen. Denn gerade weil in der soziologischen Biographieforschung die Frage nach der Lebenserfahrung eines Erzählers bzw. der Lebensführung eines Sprechhandelnden im Mittelpunkt steht, stellt sich das Problem, wie das Leben überhaupt zu einem praktischen und narrativ relevanten Phänomen in der Alltagswelt eines Menschen werden
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II. Subjektivierungen
kann. Bestand das Ziel des ersten Kapitels vor allem darin aufzuzeigen, inwiefern die soziologische Biographieforschung zunächst ganz von methodischen Fragen eingenommen ist, so gilt es nun umgekehrt, den Weltumgang eines Menschen so zu konzeptionalisieren, dass verständlich werden kann, auf welche Weise der interne Zusammenhang von Erfahrung und Erzählung aus der Lebensalltäglichkeit eines Menschen selbst erwächst. Nicht länger mehr soll die Erfahrung methodisch überformt sein, sondern sie soll zum theoretischen Begriff eines in der Lebenspraxis verankerten Phänomens werden. Nicht länger mehr soll die Autonomie einer Selbsterzählung methodologisch wegdefiniert werden können, sondern sie soll ihre interne Motivierung aus der Lebenspraxis selbst preisgeben. Und nicht länger mehr soll stillschweigend vorausgesetzt werden können, dass Erfahrung und Erzählung monolithische Blöcke seien, sondern vielmehr soll der Vermutung nachgegangen werden, dass wir es in der Alltagspraxis mit verschiedenen Erfahrungsbegriffen und Erzählkonfigurationen zu tun haben. Denn die lebensweltlichen Phänomene sprengen eine solche homogenisierende Redeweise von der Erfahrung und der Erzählung. Blickt man auf den alltäglichen Sprachgebrauch, dann begegnen etwa folgende Varianten des Erfahrungsbegriffes: Für bestimmte Aufgaben (z.B. Beruf) wird jemand mit großer Erfahrung gesucht. Man sagt hier Erfahrung – und meint ein Wissen. In anderen Fällen teilt jemand mit, dass er dieses oder jenes erfahren habe – und meint damit nicht nur Neuigkeiten, sondern auch die unausgesprochenen Umstände, unter denen man eine Information übermittelt bekommen hat. Und in wiederum anderen Fällen heißt es, jemand habe eine Erfahrung gemacht – und man beschreibt damit doch kein Wissen, sondern einen Lernprozess. Wissen, Umstände, Lernen – der alltägliche Gebrauch des Erfahrungsbegriffs ist mehrdeutig. Schon mit Blick auf den Sprachgebrauch ist es deswegen angeraten, den Erfahrungsbegriff intern zu differenzieren. Und trifft nicht ähnliches für die Erzählung zu? Vernimmt man im Alltag nicht auch dramatische oder anekdotische Erzählungen? Stößt man nicht auf Erzählungen in epischer Breite und rhapsodischer Kürze? Aber wann und warum erzählt man einmal knapp und bündig, ein anderes Mal wieder lang und breit? Und in welchem Zusammenhang stehen diese Erzählungen mit Erfahrungen? In diesem und im nächsten Kapitel werden solche Fragen als Ausgangspunkt dafür genommen, den Zusammenhang von Erfahrung und Erzählung aus einer Alltagsperspektive zu modellieren, ohne dabei den systematischen Zusammenhang zu den impliziten theoretischen Vorannahmen der soziologischen Biographieforschung zu verlieren. Im nächsten Kapitel (III) werde ich ein Problem untersuchen, das sich zur Methodologie von Schütze und Rosenthal analog verhält. Die Frage wird dann sein: Unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Folgen entstehen im Alltag selbst narrative Formen von Selbstverhält-
II. 1 Differenz von Erwartung und Erfüllung
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nissen, die man in gewisser Weise als „theoretische“ verstehen kann? Die folgenden Überlegungen gelten dagegen zunächst einem Bezugsproblem, an das auch die Oevermann’sche Methodologie implizit anknüpft. Die Frage lautet daher: Unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Folgen lässt sich im Alltag ein narratives Selbstverhältnis eines Menschen nicht theoretisch, sondern praktisch verstehen? Zur Beantwortung dieser Frage gehe ich im Weiteren in vier Schritten vor. Zunächst werde ich nach dem Grundmodus der Genese alltagspraktischer Erfahrung fragen (1. Abschnitt). Danach sollen drei Varianten davon vorgestellt werden (2. Abschnitt). Im darauf folgenden Schritt diskutiere ich drei signifikante Weisen des alltagspraktischen Umgangs mit Erfahrung (3. Abschnitt), ehe ich schließlich den internen Zusammenhang von lebenspraktischer Erfahrung und alltäglicher Erzählung aufzeigen werde (4. Abschnitt). 1.
Die Differenz von Erwartung und Erfüllung
Kaum eine andere Theorie scheint geeigneter, die Genese von Erfahrung aus einer subjektiven Perspektive zu beschreiben, als die Phänomenologie. In der Einstellung des „Geradehin-Lebens“, durch die Husserl (1954, S. 146) die alltägliche Lebenspraxis gekennzeichnet sieht, ist ein Mensch in seine aktuell wahrgenommene Umwelt regelrecht „verschossen“. Ein Bewusstsein geht in seinen Welterlebnissen auf, weshalb die natürliche Welteinstellung keine auf sich zurückgebeugte Haltung eines Reflexionssubjekts ist. Ein Mensch ist hier vielmehr von seiner Umwelt absorbiert. Husserl hat für die Welteingenommenheit des Bewusstseins dessen interne Verfassung verantwortlich gemacht. Die zumindest denkbare Leere des Bewusstseins wird Husserl zufolge durch eine spezifische Spannung, die Intentionalität, vermieden, durch die das Bewusstsein sich zunächst nicht mit sich selbst zu beschäftigen braucht. Bewusstsein, so argumentiert Husserl in Anschluss an Brentano (1982), ist stets Bewusstsein von etwas. Doch die Eingespanntheit des Bewusstseins in sein Umwelterleben hat nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Dimension. Es ist nicht nur auf aktuelle Wahrnehmungsgegenstände verwiesen, sondern auch auf die Reproduktion seiner selbst angewiesen. Bewusstsein ist nicht, zumindest nicht in den Augen eines Phänomenologen, Zustand und Episode in der Welt, sondern hat die Eigenschaft, sofern es einmal da war, sich zu einem „stream of consciousness“ (James 1992) zu verstetigen. Husserl konnte damit an eine lange Tradition von Reflexionen über die zeitliche Verfasstheit des Bewusstseins anknüpfen. Die Erstrecktheit des Bewusstseins ist zuerst von Augustinus (1987) entdeckt und näher beschrieben worden. Seine Ausgangsfrage war die Frage nach
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II. Subjektivierungen
der Möglichkeit des Empfindens von Dauer. Damit gab er der objektivistischen Zeittheorie von Aristoteles (Physik, 219b1) eine subjektive Wendung. Für diesen war Zeit noch das Maß einer Bewegung. Sie sollte sich nach der durchlaufenen Strecke eines Objektes bemessen, einer Strecke, die im Vergleich zum bewegten Objekt konstant bleiben musste, um als geeichtes Maß der zu messenden Bewegung gelten zu können. Damit wurde Ausdehnung – die Erstrecktheit der Strecke – zur elementaren Voraussetzung von Zeitberechnung. Auch Augustinus hält sich noch an diese Vorgabe einer verräumlichten Zeit. Doch im Unterschied zu Aristoteles fand sich für ihn in der objektiven Welt nichts, was einem strengen Extensionskriterium standhielt. Es war nichts Erstrecktes zu finden, das nicht selbst wiederum in Bewegung war. Veränderung war das generelle Kennzeichen der äußeren Natur: Alles war hier Wandel, Periodizität und Bewegung. Was als Maßstab objektiver Zeitrechnung diente – der Wechsel von Tag und Nacht, der Umlauf des Mondes, die Bewegung der Gestirne – schien in Bezug auf kleinere Bewegungen zwar selbst unbewegt zu sein, in Wirklichkeit jedoch war für Augustinus nichts in der äußeren Welt dem Werden und Vergehen der Natur entzogen. Alle herkömmlichen Maßstäbe der Zeitmessung waren selbst bewegte Größen, die zur Zeitmessung nur deswegen taugten, weil sich an ihnen noch kleinere und noch flüchtigere Bewegungen zu bemessen hatten. Da Zeitmessung aber einerseits möglich war, andererseits sich Dauer für Augustinus nicht aus der äußeren Natur ableiten ließ, konnte die Erklärung des Zeitempfindens – wozu für ihn Zeitmessung zählte – nur im Inneren des Menschen liegen. Augustinus sah Zeit als Funktion eines ultrasubjektiven Vermögens an: Sie entsprang der Seele bzw. dem menschlichen Geist. Nicht die äußere Welt erfüllte das Extensionskriterium, sondern nur das Innenleben. Die Seele war Augustinus zufolge in sich selbst ausgedehnt, sie war eine „zerspannte“ Seele (distentio animi). Vermöge seiner inneren Lebendigkeit standen einem Menschen Gegenstände nicht nur als Ereignisse vor Augen, sondern einhergehend damit erwartete ein Mensch in jedem Augenblick seines Welterlebens zugleich Künftiges wie Vergangenes (Herrmann 1992). Indem die Seele uno acto zukünftige Ereignisse erwartete, gegenwärtige Ereignisse wahrnahm und vergangene Ereignisse festhielt, war sie es, die sich selbst ihre eigene Ausdehnung verschaffte und dadurch Dauer empfinden konnte. Augustinus hatte damit als erster eine operative Theorie der Zeit formuliert (Nassehi 1993). Zeit, namentlich das Erleben von größerer oder kürzerer Dauer, bestand nicht an sich, sondern wurde nach Maßgabe subjektiver Leistungen selbst produziert. Denn auch wenn sich Wahrnehmungen, Erwartungen und Erinnerungen veränderten, stets trat an die Stelle des vormals Erwarteten eine neue Erwartung, unentwegt wurde die ursprüngliche Wahrnehmung von der früheren Erwartung abgelöst und immer wurde die einstige Erinnerung einer
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vormaligen Wahrnehmung noch weiter ins Dunkel der Vergangenheit zurückgedrängt. So war es also die Seele, die im Inneren des Menschen für Augustinus jenen Maßstab ausbildete, der in der äußeren Welt nur aus pragmatischen Gründen gefunden werden konnte. Folgte man Augustinus, fand die objektive Zeitmessung ihren Rechtsgrund und ihre Ermöglichungsbedingung erst im subjektiven Zeiterleben. Nur weil die Seele kein auf einen Punkt zusammengezogener Zustand war, sondern eine allen inhaltlichen Veränderungen widerstehende Instanz der Ausdehnung, konnten Empfindungen von größerer oder kürzerer Dauer zustande kommen. Lässt sich die nach außen gerichtete Intention als ein gespanntes Weltverhältnis beschreiben, so war der menschliche Geist dafür verantwortlich, dass sich das Zeiterleben im Inneren „zerspannte“. Husserl (1966) hat diese verschränkte Beziehung von Weltwahrnehmung und Zeiterleben als ein orthogonales Verhältnis beschrieben: Einer längs stehenden Intentionalität (Zeit) steht eine quer ausgerichtete Intentionalität (Raum) entgegen. Durch Erwartung und Erinnerung dehnt sich die Seele in beide Richtungen der Zeit zugleich aus. Genau genommen war Zeiterleben für Augustinus die Folge, nicht die Ursache von Ausdehnung. Nur weil ein Mensch etwas festhalten und antizipieren konnte, stellte sich darin für ihn das Erleben von Zukunft und die Wahrnehmung von Vergangenheit ein. Die Seele war die gleichsam fixierte Laufbahn der Ereignisse, auf der diese ihre Abdrücke hinterlassen konnte. Und die Seele ließ sich eben darum von den Ereignissen beeindrucken, weil sie sich nur durch diese permanente Weltplastizität den Eindruck ihrer eigenen Lebendigkeit verschaffen konnte. In der Augustinischen Konzeption des Zeiterlebens erscheint es so, als könnte sich die Seele ihrer eigenen Existenz nur dadurch versichern, dass sie selbst zu einem Medium wird, in das die Welt ihre Formen einprägt. So sehr die menschliche Seele bei Augustinus von einer Zustandsgröße über Erwartungen und Erinnerungen hinausgeht, so sehr verlangt diese Konzeption ihr dabei auch einen folgenreichen Tribut ab. Denn zwar garantieren Erwartungen und Erinnerungen die fortströmende Lebendigkeit der Seele, andererseits potenziert gerade dies die Anfälligkeit im menschlichen Welterleben. Die Welt geschieht der menschlichen Seele nicht nur von Augenblick zu Augenblick – das Glück von Nietzsches Herde (1994, S. 7f.) –, sondern wirkt in der Erinnerung noch nach und bildet sich in der Erwartung bereits vor. Subjektives Zeitempfinden steigert damit sowohl die Weltoffenheit als auch die Weltanfälligkeit des Erlebens. An diese Grundvoraussetzung subjektiver Konstitution von Zeit einerseits und potenzierter Irritierbarkeit durch die Welt andererseits knüpfen auch Husserls (1966) Betrachtungen über das innere Zeiterleben des Bewusstseins an. Das Bewusstsein (nicht mehr die Seele) reproduzierte sich auf der Grundlage seiner Gegenwartsaktualität von Moment zu Moment selbst. Anders als bei
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II. Subjektivierungen
Augustinus genügten für Husserl dabei jedoch nicht die bloße Erinnerung und die reine Erwartung. Denn erstens konnte sich der Eindruck der eigenen Dauer für ein Bewusstsein auch dann noch einstellen, wenn es nichts mehr erinnern konnte und so gut wie nichts mehr zu erwarten hatte, wenn also „Welt“ im weitestgehenden Sinne abgeschottet blieb. Denn auch in Fällen vollkommener Demenz und Apathie reproduzierte sich der Bewusstseinsstrom. Er schien sich nicht abhängig zu machen von konkreten Erwartungen und Erinnerungen. Das menschliche Bewusstsein musste demzufolge von Instanzen regiert werden, die von den Erwartungen und Erinnerungen seines Trägers gänzlich unabhängig waren. Es musste im Bewusstsein etwas geben, was noch tiefer als Erwartungen und Erinnerungen verankert war. Husserl führte diese Überlegung dazu, mit „Protentionen“ (Vorgriffe) und „Retentionen“ (Rückgriffe) zwei Bewusstseinsinstanzen anzunehmen, die über einen engeren Sinn von Bewusstsein (Qualia) hinausgehen und stattdessen als dessen Voraussetzungen angesehen werden müssen. Protentionen und Retentionen hatten für Husserl keine eigene Erlebensqualität, sondern garantierten die Dauer des menschlichen Welterlebens. Vermittels ihrer erwartete und erinnerte ein Mensch stets mehr, als ihm in seiner Wahrnehmungsgegenwart bewusst war. Denn nur so ist für Husserl zu erklären, dass das Bewusstsein mit dem Ausbleiben einer Erwartung nicht zusammenbrach oder mit dem Vergessen vergangener Erlebnisse nicht kollabierte. Husserl beschreibt Protentionen und Retentionen als „passive Synthesen“ (1966) des Bewussteins, als der Verfügung eines Menschen vollkommen entzogene Operationen. Ihnen erkannte er die Funktion zu, überhaupt etwas und zugleich mehr zu erwarten und zu erinnern als einem Subjekt jemals selbst bewusst werden konnte. Die Erstreckung eines Bewusstseins zwischen Zukunft und Vergangenheit blieb damit unabhängig von den inhaltlichen Ausfüllungen der im Vergleich zu den elementaren Rück- und Vorgriffen von Husserl nur als sekundär angesehenen Erwartungen und Erinnerungen. Mit der Annahme eines Bewusstseins, das von seinen Inhalten unabhängig agierte, erklärte Husserl freilich nicht nur, warum das Bewusstsein auch dann noch in ein Welterleben eingespannt blieb, wenn seinem Träger Hören und Sehen vergangen war. In der maximalen Ausweitung des phänomenalen Erlebens durch Retention und Protention lässt sich auch die Präferenz einer Wissenschaft ablesen, die nach möglichst weitreichenden und umfassenden Bewusstseinszuständen verlangte. Denn eines stand wie ein Warnschild vor dem Unternehmen einer Phänomenologie: Die Grenzen des Bewusstseins waren zugleich die Grenzen des eigenen Forschungsprogramms. Doch man muss nicht soweit gehen, die Ausweitung des Phänomenbereichs Husserl als strategisches Kalkül anzulasten, um auf Probleme einer phänomenologischen Wissenschaft zu stoßen. Bereits im Inneren seiner Untersu-
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chungen über die Konstitution des subjektiven Zeiterlebens wartete eine Schwierigkeit, die Husserl stets ausblendete. Zwar erstreckte sich das Bewusstsein von Moment zu Moment in die Zukunft und Vergangenheit hinein, doch wie das Bewusstsein zu seinen Erlebnissen kam, war von diesem selbst nicht mehr zu beeinflussen. Das von Husserl selbst vorhergesehene Gegenstück zu den autonomen Rück- und Vorgriffen des Bewusstseins, die Urimpression, verankerte das Erleben in der Welt. Das Bewusstsein war auf Empfindungsdaten angewiesen, die es sich nicht selbst beschaffen konnte. Die Urimpression war dem Bewusstsein ein „fremd Gewordenes“. So sehr die Selbstreproduktion des Bewusstseinsstroms also eine autonome Spannung in Richtung zukünftigen und vergangenen Erlebens in Gang setzte, so sehr blieb das Bewusstsein dabei auf die Welt angewiesen. Damit legte Husserls Philosophie des inneren Zeitbewusstsein nicht nur die rekursive Ordnung des Bewusstseinsstromes offen, sondern sie zeigte auch, dass dieses Bewusstsein von Moment zu Moment für seine Erlebnisse auf eine Welt angewiesen war, die ihm die Erlebnisqualitäten erst zur Verfügung stellen musste. So gesehen hat die Formel, mit der Blumenberg (2001, S. 49) die Ausgangslage der Phänomenologie des inneren Zeiterlebens und der äußeren Weltwahrnehmung beschreibt, einen durchaus dramatischen Unterton: „Es liegt im Wesen des Bewusstseins seinen Intentionen Erfüllung zu verschaffen“. Das Bewusstsein konnte seinen Wahrnehmungsgegenstand jeweils nur intendieren, nur erwarten, nur erinnern – aber es produzierte ihn nicht. Es musste sich daher auf Enttäuschungen von Erwartungen einstellen. Die Welt war eben nicht (mehr) ein paradiesischer Erlebnispark, in dem „eine genaue Entsprechung zwischen der Weckung von Erwartungen und der Herbeiführung von deren Erfüllungen“ (ebd.) bestand. Doch gerade in der Enttäuschung darüber, dass sich etwas als anders herausstellte, als es vermeint wurde, offenbarte sich der jedem Bewusstseinsstrom innewohnende Ausgriff auf Zukünftiges. „Als Phänomen zeigt sich die Protention nur in ihrem Misslingen: der Vorgriff als enttäuschter“ (Blumenberg 2002, S. 213). Die Erwartung eines Bewusstseins war gleichbedeutend mit dessen Anspannung auf Kommendes, die ihrerseits wiederum die Voraussetzung für die Selbstkontinuierung des Bewusstseins war. Nur durch die Protention (und ihr rückwärts gerichtetes Korrelat der Retention) schien es für Husserl garantiert werden zu können, dass das Bewusstsein nicht reine Episode blieb, sondern sich zu einem Bewusstseinsstrom verstetigen konnte. Weil dem so war, musste sich das Bewusstsein auf Enttäuschungen gefasst machen. Sie waren der Preis, den es für die eigene Dauer zu zahlen hatte. Wenn es daher richtig sein soll, dass das Bewusstsein des Menschen ein jederzeit enttäuschbares ist, dann konnte Husserl mit der Annahme passiver Bewusstseinssynthesen erklären, wie das Bewusstsein auch noch als enttäuschbares bestehen konnte. Bei einer Enttäuschung von
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II. Subjektivierungen
Erwartungen (die nur sekundäre Protentionen sind) brach es nicht zusammen, sondern registrierte die jeweilige Überraschung als „dennoch Möglich: Es war im Bündel der Protention, und deshalb kann es anstatt eines anderen Vorgezogenen akzeptiert werden“ (ebd.). Die Protention war immer auf mehr gefasst als das, was tatsächlich zur leibhaftigen Anschauung gelangte. Das Bewusstsein konnte demnach zwar überrascht, aber nicht erschüttert werden. Diese Selbstimmunisierung gegenüber Enttäuschungen stand im Dienste der Selbstkontinuierung des Bewusstseins. Es ist diese Einsicht Husserls, die generalisiert werden kann als die Frage nach den Techniken der Selbstbehauptung eines Bewusstseins bzw. einer Lebenspraxis angesichts ihrer jederzeitigen Enttäuschbarkeit. Denn auch wenn Husserl mit der Unterscheidung von Protention und Erwartung erklären konnte, warum das Bewusstsein durch eine Enttäuschung nicht zusammenbricht, wurde es dabei unweigerlich mit seiner eigenen Zeitlichkeit (nicht nur Zeitabhängigkeit) konfrontiert. Wenn sich Typisierungen eines Wahrnehmungsgegenstandes als haltlos erwiesen, eine Hoffnung sich als trügerisch herausstellte, Versprechen rückgängig gemacht werden mussten, Wünsche als nicht realisierbar erschienen, dann machte ein Bewusstsein Bekanntschaft mit den operativen Grundlagen seines Welterlebens. Durch eine Überraschung wurde die Kontinuität des Bewusstseins in das Bewusstsein der Diskontinuität, die Zeitlichkeit des Erlebens in das Erlebnis der eigenen Zeitlichkeit transformiert. Genau in diesem Phänomen, dass ein Bewusstsein durch eine Enttäuschung seiner Erwartung auf seine eigenen operativen Grundlagen zurückgestoßen wird, sehe ich die eine Urszene für die Konstitution von Erfahrung. In einem systematischeren Sinne als dies von Gehlen (1940, S. 149) gemeint war, lässt sich sagen: „Spannung auf die Zukunft ist Natur des Bewusstseins und Voraussetzung seiner Erfahrungsbereitschaft“. Nur wegen dieser Anspannung war Überraschung, und nur wegen Überraschung war wiederum Erfahrung möglich. In den folgenden drei Abschnitten (2.-4.) möchte ich den internen Zusammenhang von Zeiterfahrung und Erzählung diskutieren. Dabei wird sich eine korrelative Beziehung zwischen den Modi von Erwartungsenttäuschungen (2.12.3), den damit jeweils verbundenen Erfahrungsbegriffen (3.1.-3.3) und dem daran wiederum anknüpfenden Erzählverhalten (4.1-4.3) ergeben. 2.
Enttäuschungsvarianten
Zunächst sollen drei verschiedene und unterschiedlich radikale Möglichkeiten eines Selbstverhältnisses aufgezeigt werden, die jeweils aus einer Störung des Zukunftsbezugs resultieren. In allen drei Varianten geht es um die Registrierung
II. 2 Enttäuschungsvarianten
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einer Enttäuschung. Ich abstrahiere zu diesem Zweck weitgehend von den unterschiedlichen theoretischen Axiomen der referierten Autoren und beschränke mich vor allem auf die Frage, welche Art von Reflexivität durch die Störung des elementaren Selbstbezugs jeweils in Gang gesetzt wird.
2.1
Durchstreichung
Im Rahmen einer genetischen Phänomenologie hatte Husserl (1985) zeigen können, dass sich eine Negation in der natürlichen Einstellung als Enttäuschung von Erwartungsintentionen bemerkbar macht. Befinden zu müssen, dass etwas nicht so ist, wie es antizipiert wurde, ist demnach die Erlebensbasis eines sprachlichen Urteils der Form „x ist nicht p“. Husserl nannte das Erleben einer Negation die „Durchstreichung“ einer Erwartung. Durch unerfüllte Intentionen wurde die Kontinuität im bisherigen Welterleben eines Wahrnehmungssubjekts unterbrochen und die Einstimmigkeit seiner Welterfahrung auf den Prüfstand gestellt. Erwartungsenttäuschungen provozieren eine prinzipielle Unsicherheit: Man kann nicht wissen, ob der Grund der Enttäuschung im antizipierten Gegenstand oder in einem selbst zu suchen ist. Hatte sich der Gegenstand gedreht oder stand man selbst zur Welt schief? Diese Unsicherheit ließ sich theoretisch ins Prinzipielle steigern. Denn zur Disposition stand bei einer Erwartungsenttäuschung jedes Mal die Frage, ob die Welt und deren Wahrnehmung, das Objekt und das Subjekt der Erkenntnis überhaupt noch ein angemessenes Verhältnis zueinander haben. Husserl wählte bei der Beantwortung dieser Frage einen Mittelweg: Sowohl der prinzipielle Weltzweifel als auch eine radikale Selbstskepsis bleiben bei einer Erwartungsenttäuschung ausgenommen. Husserls Programm lief auf eine Einhegung des Zweifels hinaus. Wenn sich etwas „als nicht so, sondern anders“ (1985, S. 95) erwies, hemmten Enttäuschungen den ungehinderten Ablauf des Welterlebens. Dieses Phänomen der Unterbrechung und Einengung des Erlebensablaufs beschrieb Husserl als „Widerstreit“ (ebd.) zwischen vorangegangenen Erwartungen einerseits und neuen Wahrnehmungsgegebenheiten andererseits. Die Evidenz des Wahrnehmungsgegenstandes warf die vormalige Erwartung „gleichsam aus dem Sattel“ (ebd.). Die von einem Bewusstsein praktizierte Lösung dieser an sich bedrohlichen Situation im Welterleben bestand für Husserl nun darin, dass der Widerstreit von Antizipation und Erfüllung einer Wahrnehmung zu einer rückwirkenden Korrektur des Erlebnisweges führte, von dem das Wahrnehmungs-Ich gerade ausgenommen blieb. Wenn sich beispielsweise die Rückseite einer Kugel nicht so, wie die zunächst wahrgenommene Vorderseite als rot, sondern als grün, nicht genauso rund, sondern als eingedellt erwies, dann eben darum, weil sie für die Wahrnehmung
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II. Subjektivierungen
eines Erkenntnissubjekts zunächst aus perspektivischen Gründen verborgen war. Man konnte schlichtweg aus dieser oder jener Position heraus nur die Vorderseite sehen, wiewohl die Antizipation von deren Rückseite sich aus einer Erwartung speiste, die wiederum aus vergangenen Wahrnehmungen roter Kugeln entstanden war. Erst durch die Veränderung der Wahrnehmungsperspektive war es überhaupt möglich, dass sich die Antizipation der Rückseite als falsch herausstellte. Indem Husserl zeigte, dass ein Erkenntnissubjekt dazu tendierte, seine Enttäuschungen als Resultat seines bisherigen Wahrnehmungsfeldes und Erlebnisweges zu begreifen, gelang es ihm, Durchstreichung als Funktion der Positionalität des Erkenntnissubjekts durchsichtig zu machen (vgl. Blumenberg 2001, S. 50). Bedeutung war damit anhängig vom Erlebnisweg und dem Standort der Weltwahrnehmung. Negationen im Welterleben hatten somit zwar Berichtigungen des Erlebens zur Folge, aber diese führten nicht zu radikalen Revolutionen der Denkungsart, sondern sie konnten vergleichsweise unauffällig ins Welterleben integriert werden: Man musste nur einen Schritt weiter- oder zurückgehen. Durchstreichungen wurden in der Wahrnehmung kurz registriert und kurzerhand in den Wissensbestand übernommen. Enttäuschungen von Erwartungen führten über kurzzeitige Irritationen der Typisierungen des Welterlebens nicht hinaus. Der Wissensvorrat von der Welt (Schütz 2003, S. 147, vgl. Kapitel IV) wurde darin zwar reorganisiert, aber nicht über den Haufen geworfen. Wenn es sich schon nicht vermeiden ließ, ohne rudimentäre Erwartungen an die Zukunft auszukommen, dann musste sich ein Erwartungsträger gegenüber möglichen Enttäuschungen nicht nur gefasst machen, sondern zugleich auch immunisieren. Diese Selbstimmunisierung gehörte zum Alltagsgeschäft des Bewusstseins. Die neuen Sinnesgehalte im aktuellen Erleben bleiben nicht auf die Wahrnehmungsgegenwart beschränkt, sondern sie führen nach Ansicht Husserls auch zu einer „rückwirkenden Durchstreichung“ (1985, S. 96). In der Erinnerung seien dann zwei Reihen präsent gewesen: Eine erste, die ursprüngliche Antizipation des Gegenstandes, die sich als nichtig herausstellte, und eine zweite, die diese überlagerte, nachdem sie sich als falsch erwiesen hatte. Ex post waren somit Erfolg und Misserfolg der Wahrnehmung präsent. Und beide ließen sich auf den Standort des Betrachters zurückführen. Auf dem Wege der Standortrelativität gelang es dem Erkenntnissubjekt, sich vor einem prinzipiellen Selbstzweifel zu bewahren: „Das Ich erfährt sich als Erlebnispol in seiner Resistenz gegen die Enttäuschung einer Erwartung: durch den Kunstgriff der Korrektur seines Erlebnisweges anstelle der entmutigten Identitätspreisgabe seiner selbst“ (Blumenberg 2001, S. 50). Wenn also die intentionale Verfassung des Bewusstseins eine Spannung auf die Zukunft bedeutete, die nicht nur Voraussetzung jeder menschlichen Erfahrung war, sondern zugleich auch Quelle für ihre Durchstrei-
II. 2 Enttäuschungsvarianten
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chung, dann folgte aus einer Erwartung jederzeit „eine Beunruhigung und Belastung, die ohne Aussicht auf endgültige Überwindung doch des ständigen Abbaus, der Reduktion, der Entschärfung bedarf“ (Blumenberg 2002, S. 149). Husserls Antwort bestand darin, die alltäglichen Leistungen des Bewusstseins herauszustreichen, durch die es eine Indifferenz gegenüber allzu großer Enttäuschung herstellte. Den eigenen Standpunkt konnte und musste man in einer für das Ich vergleichsweise harmlosen Weise ständig korrigieren. Andererseits jedoch wurde auch die Objektseite vor radikaler Skepsis bewahrt. Denn die Weltgewissheit wurde bei der Nicht-Erfüllung einer Erwartung nicht in Frage gestellt. Eine Enttäuschung führte nur zu einer „partiellen Durchstreichung“, weil jede Negation einer Antizipation sich „auf dem Boden einer sich dabei durchhaltenden Glaubensgewissheit“ (Husserl 1985, S. 98) abspielte. Die grundlegende Annahme einer Welt, die unabhängig von jeder Wahrnehmung existierte, setzte hier allen wandelbaren Erwartungen ein unwandelbares Bestandsstück entgegen: Die „Generalthesis der natürlichen Einstellung“ (Husserl 1954) war lebenspraktisch nicht zu enttäuschen, sie ließ sich allenfalls durch ein methodisches Dekret (epochƝ) einklammern.
2.2
Entfremdung
Im Vergleich zu Husserl hatte Hegel einen ganz anders gelagerten Begriff von Enttäuschung: Entfremdung. Dieser schrieb er eine Doppelfunktion zu. Entfremdung war sowohl Bestandteil der Diagnose als auch Mittel zur Selbsttherapie des Bewusstseins. Was dazwischen lag, beschrieb Hegel als Prozess der Erfahrung. Hegel hat diesen Prozess in seiner Vorrede zur Phänomenologie des Geistes (1988, S. 38f.) folgendermaßen beschrieben: „Und die Erfahrung wird eben diese Bewegung genannt, worin das Unmittelbare, das Unerfahrene, d.h. das Abstrakte, es sei des sinnlichen Seins oder des nur gedachten Einfachen, sich entfremdet und dann aus dieser Entfremdung zu sich zurückkehrt und hiermit erst in seiner Wirklichkeit und Wahrheit dargestellt wie auch Eigentum des Bewusstseins ist.“
Erfahrung ist bei Hegel gleichbedeutend mit einem Prozess, der sich nicht von selbst einstellt, sondern an eine notwendige Bedingung geknüpft ist: Erfahrung wird initiiert durch „Entfremdung“, und diese ist bei Hegel der theoriestellenadäquate Terminus für Enttäuschung. Solange ein Bewusstsein störungsfrei operierte, solange die Welt ihm und es sich selbst gegenüber nicht auffällig wurde, solange galt es Hegel als ein noch unenttäuschtes und damit unerfahrenes. Bei Hegel wird der Prozess der Erfahrung in einem ersten Schritt dadurch eingeleitet, dass ein Bewusstsein sich von seinen Auffassungen trennt, die es
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II. Subjektivierungen
(zunächst) über die Welt und (später) über sich selbst hegt. Dies tut es jedoch nicht aus freien Stücken. Vormeinungen und Vorurteile müssen dem Bewusstsein genommen werden, jedenfalls müssen sie ihm irgendwie abhanden kommen – etwa dadurch, dass sie sich im Lebensvollzug als untauglich erweisen. Erfahrung stellt sich bei Hegel also erst über die Disqualifikation von einzelnen Wahrnehmungen, die Durchstreichung einzelner Wissensbestände und die Nichtigkeit einzelner Selbstüberzeugungen ein. Um aber wirklich von einer Erfahrung im Sinne Hegels sprechen zu können, müssen noch zwei weitere Schritte vollzogen werden. An die Stelle des enttäuschten Wissens muss im zweiten Schritt ein neues, der veränderten Lage Rechnung tragendes Wissen treten. Erfahrung ist demnach diejenige Leistung eines Bewusstseins, durch die es einer Negation von Wissen – mithin einer Enttäuschung – etwas prinzipiell Positives abgewinnt. Erst in dem Maße, in dem die alten Vorurteile durch ein grundlegend neues Wissen ersetzt werden, kann man mit Hegel daher von Erfahrung sprechen. Doch von welcher Art ist dieses Wissen? An die Stelle des alten Wissens kann Hegel zufolge nicht einfach ein neues Wissen gleichen Typs treten, etwa, wenn ein fälschlich wahrgenommenes „Rot“ durch ein korrekteres „Grün“ ersetzt wird. Stattdessen führt Hegel zufolge die Durchstreichung des Wissens, das ein Erkenntnissubjekt von der Welt vermeintlich hat, zu einem epistemologischen Rück(be)zug auf den Träger des Wissens selbst. Wenn die Dinge nicht so waren, wie sie vermeint wurden, waren sie es vermutlich deshalb nicht, weil ein Wahrnehmungssubjekt sie fälschlicherweise so gesehen und erwartet hatte. Erfahrung heißt demnach, dass ein Wahrnehmungsträger seinen Blick am Gegenstand neu ausrichtet und sogar ausrichten muss, während dieser selbst im Gegenzug dafür jedoch unverändert bleibt. Doch auch ein solcher Erfahrungsbegriff, der nicht nur das Objekt, sondern auch das Subjekt des Erkennens einbezieht, wäre Hegel zufolge noch unvollständig. In dem Maße nämlich, in dem ein Subjekt erkennt, dass die Fehlwahrnehmung eines Gegenstandes von ihm abhängig ist, in dem Maße drängt sich unwillkürlich auch die Frage auf, ob die prinzipielle Perspektive, unter der es einen einzelnen Gegenstand als diesen oder jenen wahrnimmt oder erkennt, nicht ebenso sehr zur Disposition steht. Mit anderen Worten: Bei Hegel führt Enttäuschung in einem dritten Schritt dazu, die grundlegenden Wahrnehmungsschemata, Deutungsmuster und Hintergrundsvorstellungen eines Erkenntnissubjekts auszuwechseln. In der Phänomenologie des Geistes zeigt Hegel, wie auf diese Weise ein Meinungsträger, der im Hier und Jetzt operiert und nur auf Dieses oder Jenes aus ist, seine lokalisierten Ausgangsbedingungen sinnlicher Gewissheiten übersteigt und zu einem auf Allgemeinheiten ausgerichtetes Wahrnehmungssubjekt wird, das sich seinerseits zu einem an Gesetzmäßigkeiten orientierten Verstandesmenschen heranbildet – bis
II. 2 Enttäuschungsvarianten
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schließlich das Paradigma des Bewusstseins gänzlich zur Disposition steht und gegen ein anderes, das Selbstbewusstsein, ausgewechselt werden muss. In der Konsequenz dieses Begriffs von Erfahrung liegt, dass sie keinen statischen Zustand bezeichnet, sondern nur mit der Vorstellung eines dynamischen Lernprozesses vereinbar ist. Erfahrung gleicht hier einem Weg, der weder Holzwege noch große Umwege kennt. Der Erfahrungsprozess bei Hegel gleicht der Kletterroute eines Bergsteigers, der nahe der „Direttissima“ dem Gipfel des Wissens zügig (Dialektik) entgegenstrebt. Weniger bildlich gesprochen: Phänomenologie besteht bei Hegel in einer gleichermaßen systematischen wie prozeduralen Explikation derjenigen Wissensbestände, die bereits in den primitivsten Wissensformen enthalten sind, gleichwohl aber erst nach und nach durch die phänomenologische Methode zum Vorschein gelangen. Schon die denkbar einfachste Bewusstseinsgestalt sieht Hegel als eine – freilich extreme – Schwundstufe der höchsten Wissensformation an. In ihr ist weit mehr enthalten als zunächst offensichtlich ist. Insofern sich diese von Hegel als „sinnliche Gewissheit“ titulierte Bewusstseinsgestalt notwendigerweise in einen Erfahrungsprozess verstrickt, transformiert sie sich unweigerlich auch zu einer höherstufigen Wissensformation, von der aus sie nicht mehr nur auf das im Einzelnen jeweils Unzureichende ihres vormaligen Weltwissens zurückblickt. In der Retrospektive nahm sie dabei vor allem den Erkenntnisrahmen ihrer einzelnen Fehlwahrnehmungen wahr. Erfahrung führt demnach bei Hegel zur systematischen Dezentrierung von Bewusstseinsformationen und -qualitäten. In dem Maße jedoch, in dem auch das noch erkannt wird, bemerkt ein Bewusstsein, dass es nicht nur einem Erfahrungsprozess als Objekt ausgeliefert war, sondern vielmehr, dass es sich den Zuwachs an Wissen über seinen eigenen Erkenntnisrahmen selbst verdankt. Damit hatte es eine Stufe innerhalb des Erfahrungsprozesses erreicht, die sich von seinen ersten Zuständen der Weltgewissheit signifikant unterscheidet. Erwartungsenttäuschungen sind Entfremdungszustände und müssen gerade deshalb gesucht werden, um alle Entfremdung aufzuheben.
2.3
Angst
Bei Heidegger (1993) spielt der Begriff der Enttäuschung keine begrifflichsystematische Rolle. Aber auch hier lässt sich wenigstens der Sache nach ein durchaus vergleichbarer Terminus zu Durchstreichung und Entfremdung finden: Angst. Bei ihr handelt es sich allerdings bereits um eine große Krise im Lebensvollzug, die ihr Pendant in den kleinen Krisen des Alltags besitzt, auf die ich zunächst zu sprechen kommen möchte.
104
II. Subjektivierungen
Heidegger konzipierte das menschliche Weltverhältnis am Leitfaden des Handelns, genauer gesagt: am Paradigma des Handwerkers, der mit allerlei Zeug alltäglich hantierte und gerade darin in seinen praktischen Weltbezügen aufging. Ein solcher Weltumgang kam weitgehend ohne ein reflektierendes Bewusstsein aus. Es blieb auf Situationen beschränkt, in denen der praktische Handlungsvollzug unterbrochen wurde. Zu Störungen des Handelns kam es durch die Untauglichkeit, das Fehlen und das Im-Weg-liegen von Werk-Zeug. Was bis dato einfach und umkompliziert gebraucht wurde, als Zeug schlichtweg zuhanden war, bekam nun einen anderen „Seins“-Sinn: es war für das Bewusstsein nun einfach nur noch vorhanden, weil es im Handlungsvollzug fehlte, ihn störte oder diesen blockierte. Die Augen-Hand-Koordination, die bis dato unauffällig funktionierte, war in solchen Situationen unterbrochen. Anders als das Zeug lagen die Dinge nun außerhalb der Hand. Sie waren jetzt reine Augendinge. Mit ihnen konnte man nicht mehr umgehen, sie waren im Wortsinne unhandlich: Man konnte sie nur noch suchen, bewerten, betrachten. Aus dieser handlungspraktischen Defizienz entsprang für Heidegger das theoretische Bewusstsein. Anders als für Husserl, bei dem sich der Welthorizont, den ein Wahrnehmungsbewusstsein hatte, koextensiv zu den wahrgenommenen Gegenständen verhielt, erschloss sich die Welt bei Heidegger zunächst über Bewandtniszusammenhänge von Handlungen. Das reflektierende Bewusstsein hatte bei Heidegger daher einen pragmatischen Ursprung und eine pragmatische Funktion: Es entstand bei Pannen im Handlungsvollzug und währte daher auch nur solange, bis diese Störungen behoben waren. Danach sank das Bewusstsein auf ein Aktivitätsniveau herab, das gerade noch dazu geeignet war, die Leistungen von Auge und Hand miteinander zu synchronisieren. Heidegger nannte eine solche automatische Koordination zwischen Gesichtsfeld und Reichweite der menschlichen Hand die praktische Umsicht (phronesis). Nur wenn diese enttäuscht wurde, wenn also Handlungsketten unterbrochen waren und somit aus zuvor selbstverständlich zuhandenem Zeug unselbstverständlich gegebene Dinge wurden, trat ein reflektierendes Bewusstsein auf den Plan. Heidegger wollte damit zeigen, dass das menschliche Dasein zunächst in praktische Bewandtniszusammenhänge eingebettet war, ehe es sich bei Handlungsunterbrechungen von ihnen qua Bewusstsein distanzierte. Dieses pragmatische Motiv verband sich bei Heidegger nun allerdings mit einem existenzialistischen (Habermas 1998, 158ff.). Denn die erste und letzte Bewandtnis im Weltumgang lag für ihn im menschlichen Dasein selbst begründet. Es war ja ein Mensch, der handelte und als Handelnder in der Welt aufging. Gemäß der pragmatischen Grundlegung des menschlichen Weltverhältnisses konnte ein Mensch der Welt nicht wie ein Subjekt dem Objekt gegenüberstehen. Welt war qua Handlung integraler Bestandteil des menschlichen Daseins. Wie
II. 2 Enttäuschungsvarianten
105
diese Welt sich jeweils für einen Menschen erschloss, hing für Heidegger allerdings nicht nur von dessen praktischen Lebensbezug ab, sondern ebenso sehr von zwei anderen Faktoren: Einesteils von grundlegenden Stimmungen, andernteils durch implizit mitlaufende Zukunftsentwürfe. Für Heidegger eröffneten Befindlichkeiten die prinzipielle Geworfenheit (Faktizität) des menschlichen Daseins: Es fand sich durch sie in der Welt vor und mit ihnen in der Welt ab. Man war heiter oder betrübt, es ging langweilig oder spannend zu. Entwürfe hingegen bildeten den Kern dessen, was Heidegger „Existenz“ nannte. Als Existierender verhielt sich ein Mensch stets zu seinem bevorstehenden Lebensvollzug. Man konnte nicht ohne Voraussicht, Umsicht und Absichten leben. Faktizität, Existenz und der praktische Lebensbezug (den Heidegger aus noch zu erläuternden Gründen „Verfallenheit“ nannte) bildeten zusammen das, was er als die Sorgestruktur des menschlichen Daseins beschrieb. Diese sollte sich nicht durch die Reflexion des Bewusstseins, sondern durch eine besondere Stimmung, durch einen grundlegenden Affekt dem menschlichen Dasein selbst erschließen: die Angst. Heidegger unterschied die Angst von der Furcht. Während in dieser sich ein intentionales Objekt zeigte, wovor man sich fürchtete, blieb es bei jener zunächst unbestimmt, was es war, das einen ängstigte. In der Furcht fürchtete sich das menschliche Dasein vor etwas Innerweltlichem, vor konkreten Objekten. Im Affekt der Angst hingegen wurde das Innerweltliche für den Menschen insgesamt irrelevant. Die Angst ließ damit nicht mehr den Ausweg des Bewusstseins zu, Störungen zu reparieren oder die Dinge abstrakt-theoretisch interessant zu finden. Das Innerweltliche kam einem Menschen in der Angst vielmehr gänzlich abhanden. Es verlor für ihn jene Bedeutsamkeit, von der er im praktischen Handlungsvollzug sonst gänzlich absorbiert blieb. In der Angst war das menschliche Dasein auf sich selbst zurückgeworfen, es zog sich in ihr von der Welt zurück. Dieser Rückzug von den Belangen und Zielen, die ein Mensch in der Welt hatte, lässt sich als existenzielle Enttäuschung beschreiben: Die gegenständliche Umwelt als auch die soziale Mitwelt, von denen das menschliche Dasein im (für)sorgenden Umgang bis dato absorbiert war, konnten nun dem sich ängstigenden Dasein nichts mehr bieten, woran es seine Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche noch hätte heften können. Auch das Bewusstsein half nun nicht mehr, diese Situation zu überstehen. In der Angst war die Welt dem Menschen ganz und gar unheimlich. Sie hob den alltäglichen Lebensbezug des menschlichen Daseins auf, sie strich jede konkrete Intentionalität durch. In diesem Zustand erschloss sich laut Heidegger dem menschlichen Dasein die eigene Sorgestruktur: Das Dasein ängstigte sich nicht vor etwas bestimmtem, wie in der Furcht, sondern um sich selbst. Es ängstigte sich darum, noch weiter „da“ zu sein, d.h. sich die Welt nach der Maßgabe eigener Möglichkeiten selbst zu er-
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II. Subjektivierungen
schließen. Die Angst war deshalb eine ausgezeichnete Sorge, weil sich ein Mensch in ihr um nichts geringeres als sich selbst sorgte. Sie war demnach „keine beliebige und zufällige ‚schwache‘ Stimmung des Einzelnen, sondern, als Grundbefindlichkeit des Daseins, die Erschlossenheit davon, dass das Dasein als geworfenes Sein zu seinem Ende existiert“ (Heidegger 1993, S. 251). Mit der sperrigen Formel eines „Seins zum Tode“ bezeichnete Heidegger die zeitliche Grundierung des menschlichen Selbstverhältnisses, das auch noch in alltäglich-praktischen Bewandtniszusammenhängen hindurchschimmerte. Der menschliche Lebensvollzug war für Heidegger auf seiner elementarsten Ebene dadurch gekennzeichnet, dass es einem Menschen in all seinem Tun und Lassen prinzipiell um sich selbst ging – „sich selbst“, weil nur er selbst es sein konnte, der sein eigenes Leben vollzog. Die Unvertretbarkeit dieses Selbstbezugs führte unweigerlich zur Frage danach, wie ein Mensch im Maßstab seines endlichen Lebens existieren wollte. Nicht partikuläre Belange und Ziele, die ein Mensch im Leben hätte erreichen können, standen hier zur Disposition, sondern eine grundsätzliche Haltung zu seinem Leben im Ganzen. Doch dieser übergeordnete Einheitsgesichtspunkt, der von Aristoteles noch als das Problem des guten Lebens thematisiert wurde (Tugendhat 2006, S. 88), geriet nach Ansicht Heideggers während des alltäglichen Lebensvollzugs unentwegt aus dem Blick. Ein Mensch verstand sich hier zunächst und zumeist eben doch aus partikularen Belangen und Zielen. Vom alltäglichen Leben ging für Heidegger daher ein starker Sog der Selbstvergessenheit aus. Alltäglich war ein Mensch kein Selbst im emphatischen Sinne, sondern ein Jedermann. Das menschliche Dasein zerstreute sich für Heidegger im Alltag, weil es sich hier nicht auf die spezifische Ganzheit seines Lebens zu beziehen brauchte, die eigene Endlichkeit, sondern sich im Gegenteil davon abkehrte. Im Alltag war ein Mensch kein eigentliches Selbst, sondern ein uneigentliches, ein Man-Selbst. Hier nivellierte sich das Dasein, weil man im Alltag einfach nur mitzumachen brauchte: Man tat und wollte das, was alle taten und wollten. Während die Lebensphilosophie die alltägliche Lebenswelt noch deshalb auszeichnete, weil sie „dem Lebensvollzug selbst günstige Form aller Gegebenheit war“ (Blumenberg 2002, S. 146), war für Heidegger der Alltag nur eine Welt des Verfalls an partikulare Zwecke: Man ging in ihm in geschäftigen Besorgungen und sozialer Fürsorge auf. Die Befindlichkeit der Angst offenbarte nach Heideggers Interpretation dem menschlichen Dasein dagegen, dass es im Alltag die übergeordnete Perspektive auf sein Leben im Ganzen ausblenden konnte und damit die Frage vergaß, worum es ihm in diesem Leben eigentlich ging. Dagegen war die Angst vor dem Tod das phänomenale Zeugnis dafür, dass es dem menschlichen Dasein in der Welt letztlich nur um sich selbst gehen konnte. Angst war also nicht nur vom Alltag her zu verstehen: Sie war das prin-
II. 3 Umdeutungen von Enttäuschungen
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cipium individuationis der Existenz. Sie überfiel den Menschen mit einer Wucht, die ihn aus seiner Zerstreutheit zurückholte und auf eine Einheitsperspektive des eigenen Lebensvollzuges hin versammelte: den Tod. Der Angstzustand hatte bei Heidegger deswegen eine analytische und eine kathartische Funktion. Er machte den Menschen zum einen mit der Sorgestruktur seines Daseins vertraut. Die alltäglichen Besorgungen und fürsorglichen Verhältnisse erwiesen sich in der Angst mit einem Schlag als Modi einer Sorge um sich. Durch sie war ein Mensch darauf aus, als ein „Da“ (Heideggers Alternative zu Bewusstsein) in der Welt zu sein – und zu bleiben. Die Sorge bildete bei Heidegger somit das existenzialistische Gegenstück zu einem biologischen oder psychologischen Lebenstrieb. Sie war es, die alle Handlungen eines Menschen dadurch motivierte, dass sie einen Horizont ausbildete, aus dem und in dem sich das menschliche Dasein selbst verstehen konnte. Der äußerste Horizont des menschlichen Lebens aber war der Tod. Wenn sich ein Mensch von ihm her verstand, begriff er sich Heidegger zufolge auf eine ihm angemessene Weise. Die Angst vor dem Tod katapultierte ihn zum anderen aus den Verstrickungen des Alltags heraus. Sie hatte bei Heidegger deswegen eine kathartische Funktion: Wenn ein Mensch sich um sein Leben ängstigte, wusste er genau deshalb wie von selbst, worum es ihm in der Welt eigentlich ging – um sich selbst.15 3.
Umdeutungen von Enttäuschungen
Mit den drei Modi der Erfahrungskonstitution hängen jeweils drei Begriffe von Erfahrung zusammen. Bei allen dreien geht es um einen Akt der Umdeutung des ihnen eigentümlichen Erfahrungsursprungs. Enttäuschungen sind wesentlich passiv: sie widerfahren einem, stoßen einem zu, geschehen einem. Doch im lebenspraktischen Umgang mit ihnen kommt es zu einer Umdeutung dieses Ursprungs. Aus dem passiven Geschehen wird ein aktives Herbeiführen von Erfahrung gemacht: Man sammelt Erfahrungen, man macht sie, man sucht sie. Werden Erfahrungen daher über Enttäuschungen konstituiert, besteht der nächste Akt des Erfahrungsprozesses darin, diese Enttäuschungen in den Lebensvollzug sinnvoll zu integrieren.
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Vgl. dazu die existentiell entschärfte basale Selbstreferenz sozialer Systeme (Luhmann 1996a, S. 600).
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3.1
II. Subjektivierungen
Erfahrungen sammeln
Von allen denkbaren Korrekturen, die ein alltägliches Bewusstsein Husserl zufolge an seinen Wahrnehmungserlebnissen durchführen musste, blieben die Realitätsunterstellung des Wahrnehmungsgegenstandes einerseits und die IchGewissheit des Bewusstseins andererseits ausgenommen. So konnte sich das Bewusstsein über einen Gegenstand nur hinsichtlich seiner Akzidenzien irren, nicht aber in Bezug auf seine Substanz. Da die Realität des Gegenstandes allen Enttäuschungen zum Trotz einem Bewusstsein grundsätzlich garantiert blieb, ließen sich Korrekturen an seinen Eigenschaften vergleichsweise leicht durchführen. Erwies sich die Rückseite eines Wahrnehmungsgegenstandes nicht als das ursprünglich vermeinte „Rot“ und „Rund“, konnte die Enttäuschung darüber vergleichsweise unaufwendig kompensiert werden: „Mit der Einsetzung von „grün und eingebeult“ stimmt alles wieder“ (Husserl 1985, S. 98). Durchstreichung und Umkehrung des ursprünglich intendierten Sinns vollzogen sich daher „letztlich auf dem Boden des universalen Weltglaubens“ (ebd.). So wie nur Innerweltliches, nicht aber die Welt selbst negiert werden konnte, so war umgekehrt bei Husserl auch eine prinzipielle Selbstkorrektur des Bewusstseins ausgeschlossen. Mit sich selbst und durch sich selbst konnte das Bewusstsein in der Welt keine Erfahrungen machen. Es bedurfte schon eines prinzipiellen Bruches mit der natürlichen Einstellung, einer „durchbrechenden Wandlung“ (Husserl 1954, S. 147), einer methodisch herbeigeführten „totalen Änderung“ (ebd., S. 151) und weitgehenden Enthaltung gegenüber dem alltäglichen Vollzugssinn des Bewusstseins, ehe dieses für sich selbst durchsichtig werden konnte. Ohne eine methodisch herbeigeführte, d.h. auf Entschluss gegründete epochƝ jedoch, als alltägliches Bewusstsein also, korrigierte es seinen Erlebnisweg, verhielt sich anders zum Objekt, entdeckte neue Eigenschaften und übernahm diese Erkenntnis in seinen Wissensbestand. Für Husserl konnte das Bewusstsein zwar ein Bewusstsein voller Enttäuschungen sein, aber eines war es sicher nicht: das enttäuschte Bewusstsein seiner selbst. Stattdessen machte es sich von vornherein auf Enttäuschungen seiner Erwartungen gefasst. Die Funktion der Protention bestand gerade darin, den Bewusstseinsstrom auch bei Überraschungen und Enttäuschungen am Laufen zu halten. Dank der protentionalen Verfasstheit des Bewusstseins wurde nicht nur ein ganzes Bündel von Erlebnissen erwartet, sondern es wurde immer überhaupt etwas erwartet. Überraschungen waren darin inbegriffen. Man kann sagen, dass das Husserl’sche Bewusstsein auch noch Enttäuschungen von Erwartungen miterwartete. Es gehörte somit zu seiner Routine, enttäuscht zu werden. Das entspricht in gewisser Weise einem pragmatischen Trial-and-Error-Prozess auf der Ebene des Bewusstseins: Man sammelte Erfahrungen, wiewohl sie einem durch neue Erleb-
II. 3 Umdeutungen von Enttäuschungen
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nisgegebenheiten auferlegt wurden. Das Bewusstsein strich seine Erwartungen selbst durch, korrigierte seinen Erlebnisweg und antizipierte von dort aus neu und auf besserer Grundlage andere Objektgegebenheiten. Es sammelte dabei Erfahrungen in dem Maße, wie es seine Intentionen korrigieren musste. Dadurch konnte es sich mit immer besserem Wissen anreichern, ohne dass es freilich einen Zustand enttäuschungsloser Objektgewissheit hätte geben können. Der Prozess der Erfahrungskonstitution verlief als Reorganisation des Wissensvorrates und der Neu-Justierung von Typisierungen ab. Und es war das Bewusstsein, das sich diesen Prozess des Erfahrung-Sammelns selbst zurechnete. Das alles verlief vergleichsweise geräuschlos ab. Die reflektive Unaufmerksamkeit demgegenüber und die lebensweltliche Indifferenz gegenüber Enttäuschungen erwies sich als die Grundverfassung des alltäglichen Bewusstseins. Selbstkorrekturen werden hier nur insofern und insoweit vorgenommen, wie diese zur Wiederherstellung von Einstimmigkeit in der Weltwahrnehmung und zur Bestätigung der Weltgewissheit eines Wahrnehmungssubjekts dienen. Dessen „natürliche Einstellung“ blieb damit nicht ohne Bewusstsein, sondern das Bewusstsein hatte in der Gewohnheit sogar seine stärkste, weil unauffälligste Präsenz. Fraglose Gewissheiten und Hintergrundüberzeugungen konnten demnach nicht als Zeugnisse für die Abwesenheit von Bewusstsein im Alltag in Anspruch genommen werden, sondern müssen vielmehr noch als dessen raffinierteste Leistungen angesehen werden. Das phänomenologische Bewusstsein war ein Dauerbewusstsein, wiewohl es eines war, das sich im Alltag in alle möglichen Richtungen routinisierte. Solange es ein alltägliches Bewusstsein gab, war es daher eines, das Erfahrungen sammelte, um sich einesteils an typischem und typisierbarem Weltwissen zu bereichern, andernteils aber auch, um sich vor prinzipiellen Welt- und Selbstzweifel zu bewahren. Indem es Erfahrungen sammelte und nicht erlitt, konnte es trotz Enttäuschungen in einer ihm eigentümlichen Ruhelage verharren: Es konnte Zukünftiges getrost erwarten und Vergangenes beruhigt festhalten, ohne an sich selbst zu (ver)zweifeln.
3.2
Erfahrungen machen
Erfahrungen „zu machen“ konnte für das unmittelbare Weltbewusstsein in der Hegel’schen Phänomenologie zunächst nichts weiter sein als ein bloßer Euphemismus. Denn wenn es „Erfahrungen machte“ verging ihm regelmäßig Hören und Sehen: Meinungen wurden ausgewechselt, Wahrnehmungen umgestoßen, Verstandesaussagen stießen an ihre Grenzen. Erfahrung geschah dem Bewusstsein somit eher, als dass es für sich hätte in Anspruch nehmen können, diese als Resultat einer planmäßigen Aktion produziert zu haben, wie es die aktivische
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II. Subjektivierungen
Redeweise von „Erfahrung machen“ nahe legt. Hegels Vorschlag bestand deswegen darin, dieses Überwältigtwerden des Bewusstseins umzudeuten. Hieß Enttäuschung a priori ungewollte Passivität, erwies sie sich a posteriori als Mittel zu einem höheren Zweck. Denn vom Resultat her gesehen konnte das Bewusstsein, Hegel zufolge, begreifen, dass es auch noch im Erleiden der Erfahrung das vormals unerkannte Subjekt dieser Erfahrung war. Rückblickend lag es für das Bewusstsein demnach nahe, sich als das eigentliche Agens des Erfahrungsprozesses zu begreifen. Hegel selbst führte diese Einsicht dazu, dass dem Bewusstsein auf diesem Weg eine überragende Erkenntnis erwachsen musste: „Erfahrungen“ konnte es nur mit sich und durch sich selbst machen. Das Bewusstsein wandelte es sich dabei zum Bewusstsein seiner selbst, dem Selbstbewusstsein, vom Selbstbewusstsein transformierte es sich zum gesellschaftlich verkörperten Geist und von dieser Stufe aus unternahm es einen letzten Schritt hin zu einem absoluten Wissen, der Philosophie. Wie groß die Zumutung Hegels für seine Leser in dieser Entwicklungslogik des Bewusstseins auch sein mochte, wenn man diese Theorieanlage erst einmal akzeptiert, und sei es auch nur probehalber, dann wird deutlich, dass Qualität und Funktion von Hegels Erfahrungsbegriff nicht und niemals die Sache phänomenaler Anschauung (im Sinne Husserls) sein konnte. In der Hegelschen Phänomenologie des Geistes werden Wissensbestände nicht bloß durchgestrichen und ersetzt, sondern die „Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins“, wie der ursprünglich von Hegel vorgesehene Titel der Phänomenologie lautete, beschreibt eine akkumulierte Geschichte von Wissen und Erkenntnis. Der Begriff der Erfahrung ist hier von vornherein ein kognitiver und auf Selbsttransparenz hin angelegter Begriff. Erfahrung heißt bei Hegel ein Fortschreiten in der Selbsterkenntnis des Geistes. Dieser Prozess ist weder unendlich fortsetzbar, noch muss er aus Hegels Sicht schlichtweg abgebrochen werden. Ihm zufolge kommt er vielmehr aus sich selbst heraus an ein Ende. Dieses Ende ist freilich mehr grandiose Vollendung als praktisches Ziel, mehr furioses Finale als pragmatischer Abbruch. Nicht das sokratische Wissen um das eigene NichtWissen wartete hier als das vermeintlich letzte Wort einer auf Enttäuschung gefassten Lebenspraxis, sondern ein prinzipiell von allen Täuschungen freier Zustand eines epistemischen Subjekts. Mit dem „absoluten Wissen“ hatte Hegel ein philosophisches Paradies beschrieben, in dem jede Erfahrung vollendet wurde, weil es hier nichts und niemanden mehr gab, der sich noch täuschen hätte können, und weil es auch gar nichts mehr gab, was man noch hätte erwarten können. Das kosmologische Subjekt war im Besitz des absoluten Wissens. Die Phänomenologie des Geistes kennt ein Ende deswegen nur als Vollendung, weil auf das Bewusstsein im absoluten Wissen die Aufhebung jeder seiner Enttäuschungen wartete. Das Ende der Phänomenologie war gleichbedeutend mit
II. 3 Umdeutungen von Enttäuschungen
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der Verheißung einer umfassenden Ent-fremdung. Mit diesem Terminus war sowohl eine pathologische Diagnose als auch die Vorwegnahme ihrer Aufhebung bezeichnet. Anders gesagt: Das absolute Wissen bedeutete „als Lebenswirkung gedacht, Überraschungsfreiheit im Weltumgang“ (Blumenberg 2001, S. 24). Während Husserl davon ausging, dass das Selbst gegenüber radikalem Zweifel immunisiert war und auch noch die Welt in einer universalen Glaubensgewissheit vor der Skepsis bewahrt blieb, gehörte Selbst- und Weltverlust bei Hegel zum methodischen Programm. Der „sich vollbringende Skeptizismus“ (Hegel 1988, S. 61) führte vor, inwiefern Erfahrung als Gang durch Enttäuschungen zu beschreiben war, an deren Ende kein Zweifel mehr übrig blieb, sondern unerschütterliche Gewissheit stand. Wenn man Hegel folgt, macht man Erfahrung im aktivischen Sinn deshalb, weil es sich bei Erfahrung um eine Doppelbewegung handelt: Kann ein Bewusstsein während des Erfahrungsprozesses nicht anders, als sich als hilfloses Objekt zu verstehen, dem Erfahrung zustößt und geschieht, sieht es vom Resultat her betrachtet genau umgekehrt aus. Es begreift sich nun in dem Maße als Subjekt der Erfahrung, in dem es ihm gelingt, den zurückgelegten Prozess als seine eigene Tat und Bewegung umzudeuten.
3.3
Erfahrungen suchen
Auch bei Heidegger lässt sich eine Verkehrung der Erfahrung vom Passivischen ins Aktivische feststellen. In den kleinen Krisen des Handlungsvollzugs oblag diese Aufgabe zunächst dem Bewusstsein. Es tauchte als Reparaturinstanz in einem übergreifenden Handlungsprozess auf. Anlässlich von Störungen, Brüchen und Krisen des Lebensablaufs wurde das Bewusstsein als Instrument zur Situationsbehebung benutzt. „Eine Hemmung der Lebensbewegung, Störung des Handlungskontextes bedarf zu ihrer Bewältigung eines unorthodoxen Mittels zur Rückgewinnung der Lebendigkeit“ (Blumenberg 2002, S. 146). Sobald das Bewusstsein diesen Zweck erfüllt hatte, sobald also fehlende Dinge gefunden wurden, kaputte Dinge weggeräumt und ein neuer Ort für im Wege liegende Dinge erspäht worden war, hatte es seine Funktion erfüllt. Andernteils wollte es sich selbst nicht nur als ein dem Lebensprozess dienliches Instrument begreifen. Aus der Sicht des theoretisierenden Bewusstseins hatte es nicht nur die Ursache von Störungen, sondern das Eigenwesen von Dingen selbst erkannt. Erkenntnis wurde vom Bewusstsein demnach als eine aktive Leistung gedeutet, wiewohl diese nach Ansicht Heideggers nichts weiter war als ein Derivat praktischer Handlungsunterbrechungen. In der letzteren Hinsicht konnte sich das Bewusstsein nach Behebung einer Störung wieder auf die Minimalfunktion einer prakti-
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II. Subjektivierungen
schen Umsicht beschränken. Es sank dann wieder auf eine dem Handlungsvollzug dienliche Betriebstemperatur und Geschäftstätigkeit herab – bis es erneut Dinge im theoretischen Modus betrachtete und darüber seine praktische Herkunft und Einbettung vergaß. Mehr noch aber als die Umdeutung der Handlungshemmung zur theoretischen Erkenntnis stehen bei Heidegger die Konsequenzen des Sich-Ängstigens im Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Denn die Angst beschlich oder überfiel das menschliche Dasein nicht nur, der Angstzustand war zugleich jene tiefgreifende Handlungsblockade im Lebensvollzug, der Heidegger eine positive Einsicht abgewann. Wenn es darum ging, wie das Dasein sich zu sich selbst entschließen konnte, dann gelang dies Heidegger zufolge nur dadurch, dass es die Angst nicht vermied, sondern im Gegenteil: zur Angst bereit war. Angst sollte ein Mensch nicht nur erleiden, sondern regelrecht aufsuchen. Sie war jene ausgezeichnete Qualität von Erfahrung, die das Dasein aus seinen Verstrickungen in die Betriebsamkeit der Welt herausriss und zu einem authentischen Selbstsein hinführte. „Eigentlich“ – und das heißt: authentisch – war ein Dasein für Heidegger erst dann, wenn es wusste, worum es ihm selbst ging. Dazu musste es einen Punkt erreicht haben, von dem aus eine Verwechslung mit dem ManSelbst unmöglich war. Zur Einsicht in dieses Selbst bedurfte es mit der Angst daher einer denkbar starken Quelle. Erst wenn sich ein Mensch um sich selbst ängstigte, in der Sterbensangst, erschloss sich ihm wie von selbst, worum es ihm in der Welt ging. Schon vor seinem Tode konnte das Dasein für Heidegger also ganz sein, insofern Ganzheit für ihn nicht Vollständigkeit meinte, sondern als Gegenbegriff zu der Zerstreutheit in der Alltagswelt fungierte. Heidegger nutzte das Phänomen der Angst, um darüber ein existenzielles Ethos zu entwickeln, das aus einer tiefen Handlungskrise eine neue Handlungsmotivation ableitete. Denn nur die Angst offenbarte, was ohnehin der Fall war, aber gleichwohl im Alltag ständig verdrängt wurde: Das Dasein war ein „Sein zum Tode“, d.h. ein Verhältnis zu seinem ihm noch bevorstehenden Lebensvollzug. Und als solcher war der Tod die äußerste und sicherste Möglichkeit, die dem Dasein bevorstand. Wenn sich ein Mensch zu dieser Möglichkeit ausdrücklich verhielt, verhielt er sich im existenziell-reflexiven Sinne zu sich selbst. Ein Mensch konnte nun sicher sein, dass er selbst es war, der diese oder jene Entscheidungen aus sich selbst heraus traf und darin nicht nur eine Dublette von Kultur und Gesellschaft war. Für Heidegger war das menschliche Dasein dazu bestimmt, sich angesichts seines unbestimmten, aber gewissen Endes selbst zu bestimmen. Das Dasein hatte daher zur Angst und zur Angst affinen Zuständen bereit zu sein, es sollte sich über diese Stimmungen auf seine Möglichkeiten hin entwerfen, die ihm schon vor seinem physischen Ableben einen authentischen Handlungsvollzug
II. 3 Umdeutungen von Enttäuschungen
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erlaubten.16 Ein Mensch erlitt demnach nicht nur Erfahrungen, die ihn aus allen Weltbezügen herausrissen, er war geradezu dazu angehalten, Erfahrungen aktiv aufzusuchen, die sich weder unauffällig in einen Wissensbestand inkorporieren ließen (Husserl), noch dazu angetan waren, Erschütterungen im Lebenslauf abzustellen (Hegel). Vergleicht man nun alle drei Erfahrungsbegriffe miteinander, lassen sie sich als Modi des Umgangs mit Enttäuschungen beschreiben, durch die ein Objekt der Erfahrung zu einem Subjekt der Erfahrung wird: Bei Husserl geht es um eine konservative Entschärfung von Enttäuschungen. Welt- und Selbstzweifel bleiben davon ausgenommen. Erwartungsenttäuschungen gehören deshalb hier zum Standardrepertoire der Lebenspraxis. Der Integrationsprozess von Überraschungen geschieht permanent und so unmerklich, dass es aus der Teilnehmerperspektive im Alltag so aussieht, als ob man Erfahrungen bloß aufzusammeln brauchte, um in noch größerer Routine und einer noch enttäuschungsresistenteren Gewohnheit weitermachen zu können. Der Erfahrungsprozess ist für Husserl daher nie abgeschlossen. Er besteht im unmerklichen Einbau von Enttäuschungen im Dienste der Lebensalltäglichkeit. Bei Hegel verhält es sich umgekehrt. Enttäuschungen sollen gerade zur radikalen Ernüchterung des Selbst- und Weltglaubens führen, aber sie stehen bei ihm in einem methodischen Dienst: Sie sollen systematisch abgebaut werden. Denn das Wissen, das sich am Ende dieses Prozesses in Hegels Augen notwendig einstellt, soll umso enttäuschungsfreier sein, je vielfältiger und gründlicher die Enttäuschungen sind, die einem Erkenntnissubjekt dabei zustoßen. Bei Heidegger geht es wiederum darum, dass sich ein Mensch Enttäuschungen systematisch aussetzt. Dieser soll zur Angst bereit sein – und zwar auch dann, wenn er sich in gegenteiligen Stimmungen (wie z.B. der Heiterkeit) befindet, die dazu führen, die Einsicht in die Sorgestruktur zu verdecken. Heidegger zufolge hat das Dasein den Lebensvollzug als Möglichkeitsspielraum zu verstehen und als eigenen zu verantworten. Und genau das setzt für ihn den Entschluss voraus, sich nicht nur ängstigen zu können, sondern auch ängstigen zu wollen. Zur Angst bereit zu sein, war das existenzielle Analogon zum Memento-Mori-Appell an das Alltagsbewusstein. Die Bereitschaft zu Enttäuschungen der Art, die das Potential hatten, Welt und Selbstgewissheiten zu pulverisieren, bleibt demnach die regulative Idee für einen existenziell angemessenen Lebensvollzug. Enttäuschungen sollen hier gerade aus dem Alltag herausreißen, in den sie bei Husserl noch integriert bleiben, wiewohl sie es für Heidegger
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Im Heidegger’schen Entwurfscharakter des Daseins macht sich die existenzphilosophische Grundüberzeugung geltend, dass die Substanz dem menschlichen Dasein nicht zugrunde liegt, sondern in den Vollzügen des Subjekts selbst steckt. Das Wesen steht demnach nicht fest, sondern bevor.
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II. Subjektivierungen
andererseits auch vermeiden sollen, nur zu einer kognitiven Selbsttransparenz eines Erkenntnissubjekts zu führen, wie das bei Hegel der Fall ist. Erfahrungen zu suchen, heißt bei Heidegger vielmehr, so enttäuscht zu werden, dass daraus nachhaltige Effekte für den praktischen Lebenswandel eines Menschen entspringen: Man ist hinterher ein Anderer. 4.
Darstellungen von Enttäuschungen
Im Folgenden werde ich auf typische Erzählsituationen eingehen, in denen eine bestimmte Erfahrungsgenealogie narrativ repräsentiert wird. Ich schließe mich dabei terminologisch einem Vorschlag des Erzähltheoretikers Franz K. Stanzel (1985) an, wiewohl ich den Begriff der Erzählsituation anders benutze. Situationen von Erfahrungsdarstellungen, wie ich sie nachfolgend skizzieren werde – Erlebnisberichte, Bildungsgeschichten und Konversionserzählungen –, beziehen sich in erster Linie auf in sich geschlossene Sinngebiete der sozialen Welt, zu deren Merkmalen nicht nur Typen von Enttäuschung (Durchstreichung, Entfremdung, Angst) sowie Typen der Umdeutung eines passiven Widerfahrens zu einer aktiven Erfahrung gehört (Erfahrung sammeln, Erfahrung machen, Erfahrung suchen), sondern mit ihnen ist auch ein jeweils typischer Narrationsstil verbunden.
4.1
Erlebnisberichte
Der Erlebnisbericht ist der Narrationsstil des Alltags. So wie Durchstreichungen von Erwartungen und deren Umdeutung zu einem Akt des Sammelns von Erfahrungen zum Alltagsleben gehören, so sind auch deren Schilderungen ein integraler Bestandteil alltäglichen Erlebens. Bei Erlebnisberichten geht es um die narrative Darstellung der subjektiven Reorganisation des Wissensvorrates. Erlebnisberichte können überall und jederzeit vorkommen. Sie beschränken sich dabei auf die Mitteilung von Erlebnissituationen, in denen die ursprüngliche Intention eines Erwartungsträgers nicht zur Erfüllung gelangt ist. Erlebnisberichte haben ihren Inhalt und Zweck darin, die Korrektur dieser Erwartung zu beschreiben und einem sozialen Adressaten auf eine Weise mitzuteilen, durch die diese Korrektur als gewöhnlich und unspektakulär erscheint. Erlebnisberichte beginnen in der Regel mit einer pragmatischen Datierung des Erwartungshorizontes („Neulich, als…“) und leiten dann zur näheren Beschreibung des Erlebnisrahmens über. Dies ist die offensichtliche Aufgabe des Erzählers. Der Erzähler ist jene Stimme bzw. die narrative Instanz, die zwischen den darzustel-
II. 4 Darstellungen von Enttäuschungen
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lenden Erlebnissen und einem Zuhörer in Erscheinung tritt. Die spezifische Aufgabe für einen Redner bei der Anfertigung eines Erlebnisberichtes liegt freilich darin, so zu einem Zuhörer zu sprechen, dass dieser an den inneren Bewusstseinszuständen der Figur selbst Anteil nehmen kann, die der Redner selbst ist. Nach dem Eröffnungsteil muss sich die Erzählstimme in einem Erlebnisbericht daher in den Hintergrund zurückziehen und dem Protagonisten Platz machen. Der Prozess der Selbstthematisierung im Erlebnisbericht besteht mithin darin, dass hier zwei analytisch zu unterscheidende Instanzen beteiligt sind: Der Erzähler und der Protagonist. Ohne die Erzählstimme gäbe es keinen Erlebnisbericht, und ohne den Protagonisten würde für einen Zuhörer kein Geschehen sichtbar werden. Weil es sich bei diesem Geschehen jedoch um einen Erlebnisbericht handelt, muss sich der Erzähler auf den Kunstkniff verlegen, seine Erzählleistung zu minimieren. Ein Bericht ist daher die nicht-offensichtliche Leistung eines Erzählers. Da er vorwiegend zur Information des Zuhörers dient, sollte dieser klar, knapp und sachlich sein. Andererseits handelt es sich dabei um einen Erlebnisbericht, also um die Beschreibung mentaler Zustände und deren Transformation. Die Beschreibung eines subjektiven Inneren, so nüchtern sie sein will, kommt dabei nicht ohne bewegende Momente aus. Denn Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühle sind dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht dieselben bleiben: Sie kommen und gehen. Die Kunst der Erzählstimme besteht daher nicht etwa darin, die Bewegung der Beschreibungsobjekte abzustellen und diese bloß aufzulisten, sondern vielmehr sie so zu schildern, dass für einen Zuhörer der Eindruck entsteht, ihm werden diese Erlebnisse und deren innere Bewegung direkt zugänglich. Im Erlebnisbericht lässt der Erzähler den Zuhörer unmittelbar in das Bewusstsein der Figur, die er selbst ist, hineinsehen: Er ist hier der Protagonist seiner eigenen Erzählung. Der Kern des Erlebnisberichtes besteht daher in der unkommentierten Wiedergabe und bloßen Widerspiegelung des Bewusstseinsstromes des Protagonisten. Der Erzähler beschränkt sich in einem Erlebnisbericht daher auf die Rolle eines „Reflektors“ (Stanzel 1985) von Gedanken, Wahrnehmungen, Gefühlen, aber eben auch von Erinnerungen und Erwartungen. Während im Außenverhältnis der Erzählung der Zuhörer keinen Unterschied zwischen Erzähler und Protagonist wahrnimmt, verhält es sich im Binnenverhältnis der Erzählung anders. Hier weiß der Erzähler zu Beginn der Erzählung schon mehr als deren Protagonist. Er weiß schon, um beim eingeführten Beispiel zu bleiben, dass die Rückseite der Kugel nicht rund, sondern eingedellt, nicht rot, sondern grün ist. Der Protagonist hingegen muss erst durch den Erzähler auf diesen Stand des Wissens gebracht werden. Diese Asymmetrie in den Wissensbeständen der Erzählinstanzen liegt in der jedem Erlebnisbericht zugrunde liegenden Genealogie von Erfahrung begründet. Denn noch ehe erzählt
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II. Subjektivierungen
wird, sind nach Ansicht Husserls in der Erinnerung dessen, der eine solche Erfahrung gesammelt hat, bereits zwei Erlebnisse präsent: Eine alte Antizipation des Gegenstandes der Rückseite der Kugel als rund und rot und eine neue, die nach der Enttäuschung dieser anfänglichen Intention zur immerhin aktuellsten, wenngleich nur noch als Erinnerung verfügbaren Erlebnisgegebenheit gekommen ist. Auf der Ebene der Sprache verteilen sich nun diese unterschiedlichen Wissensbestände auf die Instanzen von Erzähler und Protagonist: Der Erzähler repräsentiert das aktuell gültige Wissen, der Protagonist muss für die Zwecke eines Erlebnisberichts erst noch in dessen Besitz gelangen. Es liegt dabei am Erzähler – und nur an ihm – die Erwartungen eines Protagonisten so zu schildern und eine Erlebniskonfiguration so zu beschreiben, dass für einen Hörer nicht nur der Eindruck entsteht, er habe das Privileg, einen unmittelbaren Anteil an den inneren Erlebnissen des Protagonisten zu haben, der Erzähler muss dem Zuhörer auch verdeutlichen können, wie die anfängliche Erwartung des Protagonisten sukzessive enttäuscht wird und wie dieser in den Besitz dieses neuen Wissens kommt. Als Reflektor von Gedanken geht der Erzähler also einerseits in der Rolle des Protagonisten auf, er muss aber andererseits auch von dessen Erlebnissen so berichten, dass dem Zuhörer die Enttäuschung und Korrektur seiner Erwartung hinreichend deutlich wird. Neben den anfänglichen Einleitungs- und Rahmungshinweisen muss der Erzähler die Erlebnisse deswegen kommentieren, evaluieren und gegebenenfalls erläuternde Hinweise bei Nachfragen des Zuhörers geben – alles Vorgänge, bei denen sich die Erzählstimme wiederum in den Vordergrund schiebt. Im narrativen Verhältnis von Erzähler und Protagonist ist somit gleichzeitig möglich, wozu ein Bewusstsein im vorsprachlichen Erleben nur nacheinander gelangen kann: Der Protagonist erleidet, der Erzähler führt vor. Der Erzähler besitzt die Kraft der Erzählung, weil er die wissende Instanz ist. Der Protagonist hingegen ist vom Erzähler abhängig. Er muss die Enttäuschungen hinnehmen, weil er etwas noch nicht weiß. In einem Erlebnisbericht muss dem Protagonisten stets noch geschehen, was der Erzähler schon weiß. Das, was die Erzählstimme weiß, verdankt sie vorangegangener Enttäuschung. In gewisser Weise kann also der Erzähler als das Produkt einer Enttäuschung und deren Umdeutung betrachtet werden: Er weiß nach einer Enttäuschung, wie die Dinge wirklich aussehen. Die Schilderung dieser neuen Erlebnisgegebenheiten hält daher nur solange an, bis auch der Protagonist im Besitz dieser Kenntnisse ist. Wenn das der Fall ist, ist die Erzählsituation des Erlebnisberichts im Alltag zu Ende gegangen. Die anfängliche Differenz von Protagonist und Erzähler ist nun wieder eingeebnet, der Prozess der Umdeutung vollendet. Erlebnisberichte sind somit Erzählsituationen, in denen beschrieben wird, wie ein Bewusstsein Erfahrungen gesammelt hat. Als typische Erzählsituation
II. 4 Darstellungen von Enttäuschungen
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des Alltags vollenden sie die Umdeutung einer Enttäuschung und passen sie so unauffällig in die Alltagswelt ein, ohne diese zu übersteigen. Bei Erlebnisberichten geht es um die Darstellung der Reorganisation eines Wissensvorrates, der für den Weltumgang eines Alltagssubjekts angemessen(er) erscheint. Ihr Umfang beschränkt sich daher in der Regel auf Einzelereignisse im Welterleben. Ihre Funktion ist die Wiederherstellung der Einstimmigkeit der Welterfahrung des Erzählers. Demzufolge ist der soziale Adressatenkreis von Erlebnisberichten zugeschnitten auf einen ganz bestimmten Typus von Zuhörern. Es sind Mitmenschen in ihrer Rolle als Alltagsteilnehmer. Erlebnisberichte nutzen daher eine Jedermann-Perspektive. Zwar stellen sie die kurzzeitige Außer-KraftSetzung dieser Perspektive dar, aber nur zu dem Zweck ihrer Neujustierung. Einstimmigkeit der Welterfahrung heißt demnach sozial gesehen: die Fähigkeit, Zustimmung bei Zuhörern zu erzeugen. Denn diese müssen die Generalisierbarkeit der ihnen mitgeteilten Erfahrung zumindest im Prinzip bestätigen können. Erlebnisberichte können demnach nicht von einer Welt handeln, die der Adressat der Erzählung kulturell nicht teilt und können sich nicht auf Sonderwelten beziehen, die er nicht teilen kann oder teilen will: Von Drogenerlebnissen kann nur dosiert berichtet werden.
4.2
Bildungsgeschichten
Die Bildungsgeschichte ist jene Art der Selbstthematisierung, die auf die Entwicklung eines Selbstbewusstseins mit den Mitteln der Sprache abzielt. Sie ist demnach der narrative Stil, der in Phasen des Lebenslaufs gewählt wird, in denen diese Selbsttransparenz verloren gegangen ist oder zumindest droht, verloren zu gehen. Sie bestimmt sich damit weder von der Lebensalltäglichkeit her, wie der Erlebnisbericht, noch ist sie durch die ausdrückliche Abkehr davon motiviert, wie die Konversionserzählung (vgl. nächster Abschnitt). Es handelt sich demzufolge um Erzählsituationen, in denen die Selbstthematisierung auf der Suche nach dem durchlaufenden Faden des eigenen Lebensweges und dessen Einmündung in die Erzählgegenwart ausgerichtet ist. Das kann zum Beispiel beim Verlust einer Lebenspartnerschaft der Fall sein, bei einem Wohnortwechsel oder bei einer Krankheit. Alle diese Zustände haben ein latentes oder manifestes Krisen-Potential. Ein Biographieträger wird hier von seinem bisherigen Lebensweg entwöhnt: Man weiß nicht mehr so recht, wer man ist, wohin man gehört und wie es mit einem weitergeht. Angesichts solcher Ungewissheiten ist die personale Identität in diesen Lebenssituationen brüchig geworden. Sie verlangt daher mehr oder weniger deutliche Bilanzierungen des Lebensweges, ausdrückliche Sicherungen von Erfahrungssedimenten und manifeste Rekapitu-
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II. Subjektivierungen
lationen von Wissensbeständen. Welche Erfahrungen man dabei nicht nur als Objekt von Enttäuschungen passiv erlitten, sondern selbst aktiv gemacht hat, ist die Aufgabe der Erzählung einer Bildungsgeschichte. Wer man in einer krisenhaften Handlungsgegenwart ist, ergibt sich aus dem rückblickenden Prozess selbst erlebter Enttäuschungen und ihrer Bewältigungen. Schon bei Hegel war Bildung ein Prozess, der Entfremdung zur Voraussetzung und die Aufhebung dieses Zustandes zum Ziel hatte. Im Geistkapitel der Phänomenologie hat er diesem Zusammenhang einen ausführlichen Abschnitt gewidmet (Hegel 1988, S. 359ff.). Berühmter sind jedoch jene Passagen geworden, in denen Hegel diesen Prozess personalisiert hat (ebd., S. 155ff.). Zum Bewusstsein seiner selbst konnte ein Knecht nach Hegels Auffassung nur durch abhängige Arbeit gelangen. In dem Maße, wie er dabei mit Materie umging und ihr Gestalt verlieh, schuf der Knecht nicht nur Gegenstände für seinen Herrn, er formte sich dabei uno acto auch selbst. Hegel nannte diesen Prozess der Selbsterkenntnis durch Selbstvergegenständlichung im Arbeitsprozess „Bildung“ (1988, S. 153). Einesteils blieb Bildung damit an ein materiales Substrat gekoppelt, andererseits war damit etwas Immaterielles verknüpft: Subjektivität. Der Arbeiter konnte sich in den Produkten seiner Arbeit wiedererkennen und war damit dem Herrn gegenüber im Vorteil. Denn dieser konsumierte nur und produzierte nichts, hatte also nichts Bleibendes in der Hand und vor Augen, worauf sich sein Selbstbewusstsein hätte stützen können. War Entfremdung also die Voraussetzung des Bildungsprozesses, so wurde Entäußerung bei Hegel zum Stichwort einer notwendigen Durchgangsstation für die Herausbildung von Subjektivität. In Bildungsgeschichten geschieht nun etwas Vergleichbares: Sie werden zum Vehikel einer Selbsttransparenz durch Selbstverobjektivierung. Entfremdung ist hier nur die Voraussetzung der Erzählsituation, Selbstentäußerung aber ist ihr Mittel. Ein Erzähler nimmt in der Bildungsgeschichte die Gestalt des Protagonisten an, ein Vorgang, durch den wiederum eine teleologische Bewegung in Gang gesetzt wird, an deren Ende ein narrativ gewonnenes Selbstzeugnis steht. Bei Bildungsgeschichten handelt es sich um einen Spezialfall von Erzählungen, in denen eine Figur vorkommt, der Protagonist, die mit einem IchErzähler identisch ist und die in der Einstellung und Erwartung eines allwissenden Erzählers auf den durch den Protagonisten verkörperten Lebensweg zurückblickt. Diese Erwartung muss allerdings vor der Perspektive der eigenen Erzählung halt machen. Im Akt des Erzählens ist der Erzähler sich selbst gegenüber blind. Wer er ist, muss sich demzufolge allein aus der Erzählung selbst ergeben. Daher kann der Erzähler sein auktoriales Wissen nur in Bezug auf den Protagonisten ausspielen: Nur ihm gegenüber steht er außerhalb der Geschichte. Der Erzähler weiß all das, wovon der Protagonist nichts weiß: Er kann die Umstände
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von Interaktionsbeziehungen benennen, externe Handlungsrestriktionen angeben und von den inneren Erlebnissen der beteiligten Menschen berichten. Die Bildungsgeschichte spannt so eine Welt auf, in der eine Figur vorkommt, die der Erzähler selbst ist. In dieser Geschichte ist der Protagonist die Dublette des Erzählers. An ihm und erst durch ihn kann der Erzähler für sich selbst sichtbar werden. Was der Protagonist tut und erleidet, tut und erleidet zugleich der Erzähler. Die Bildungsgeschichte des eigenen Selbst hat demnach einen Offenbarungscharakter: Sie zeigt eine Welt (die Geschichte) und sie zeigt jemanden (den Protagonisten) in ihr. Sichtbarkeit wird damit zur elementaren Voraussetzung narrativer Selbsttransparenz. Bildungsgeschichten haben demnach eine sozialontologische Funktion. Sie entwerfen eine Welt und Figuren, die in dieser Welt vorkommen. Doch der Protagonist bliebe nur die Figur, in die der Erzähler sich narrativ entäußert, die Geschichte wäre nur die Welt, in die sich der Erzähler selbst entwirft, wenn beides nicht miteinander systematisch verknüpft werden würde. Der Kern einer Bildungsgeschichte besteht daher im Plot. Es sind die Handlungen des Protagonisten, um derentwillen eine Geschichte erzählt wird. Nur durch Handlungen kommen Anfang, Bewegung und Ende der Geschichte zustande. Während also die Geschichte eine Welt zeigt und der Protagonist eine Person, macht der Plot Handlungen offenbar. Der Plot stellt die instrumentelle Bearbeitung der Welt, die Verarbeitung subjektiver Erlebnisse und den Kampf um soziale Anerkennung (Honneth 1992) dar. Geschichte und Protagonist, Welt und Person sind nur per Handlungsnachweis für einen Zuhörer zugänglich. Durch den Plot überschreitet der Protagonist jene äußeren Widerstände, inneren Niederschläge und sozialen Hindernisse, derer er sich in der Welt – d.h. in der erzählten Geschichte – gegenüber sieht. Ein Erzähler muss daher in einem erweiterten Sinne etwas zeigen: Er muss in einer Bildungsgeschichte darlegen, wie die Handlungen des Protagonisten – angesichts seiner vielfältigen inneren Mängel, den zahlreichen sozialen und objektiven Widerständen – miteinander zusammenhängen. Indem er zeigt, wie er als Protagonist diese Widerfahrnisse, Hürden und Hindernisse überwindet, gibt der Erzähler Auskunft über sich selbst. Selbsttransparenz stellt der Erzähler nicht nur dadurch her, dass er die Bühne und die Schauspieler präpariert, sondern sie darin auch agieren lässt. Indem der Erzähler zeigt, wie die Handlungen des Protagonisten motiviert sind, wie sie auseinander hervorgehen und worin sie einmünden, wird die Entwicklung einer Figur vorgeführt, die er selbst ist. Der Protagonist bleibt eine Funktion des Zusammenhangs von Handlungen, die sich wiederum auf die Erzählstimme zurückführen lassen. Der Erzähler bedient sich dabei eines teleologischen Verfahrens. Die Bildungsgeschichte ist – aristotelisch gesprochen – eine Zweckursache: Handlungen werden allesamt vom Ende her und auf dieses hin erzählt. Was in ihr noch nicht da ist – die Moral, die Evidenz, der
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Zweck der Geschichte – soll ihren Anfang verursachen, wiewohl sich das „Ende der Geschichte“ doch erst aus diesem Anfang und durch den Verlauf der Geschichte selbst ergeben kann. Obgleich die Erzählsituation der Bildungsgeschichte also eine ist, die durch die Selbstverunsicherung eines Ich-Erzählers motiviert ist, weiß dieser auf der anderen Seite immer schon mehr, als jenem in einer Erzählsituation der Bildungsgeschichte zugänglich ist. Denn eine Bildungsgeschichte lässt sich vom Erzähler gar nicht anders darstellen als eine Geschichte, die auf das Hier und Jetzt der gegenwärtigen Erzählsituation zuläuft. Damit sind aber schon die Spannungsbögen und Verlaufskurven der Geschichte vorgezeichnet. Der Zweck der Geschichte richtet so ihren Anfang zu: In ihr ist der Keim zu einer Entwicklung angelegt, die der Protagonist nehmen wird. Das Ende der Geschichte zeugt daher von einem Bildungsprozess, den der Ich-Erzähler nicht einfach nur durchlaufen hat, sondern den er sich in dieser Laufbahn zugleich selbst erkämpft, selbst erstritten und selbst abgerungen hat. In dem Maße, wie das über eine Bildungsgeschichte deutlich wird, trägt sie zur Selbstsichtbarkeit und Selbstsicherheit in Situationen lebenspraktischer Krisen und biographischer Übergänge bei. Bildungsgeschichten sind daher in der Regel Erfolgsgeschichten. Sie dienen der Selbsterhellung und Selbstbehauptung eines Ich-Erzählers. Der soziale Adressatenkreis von Bildungsgeschichten beschränkt sich demzufolge auf Personen, die den Ich-Erzähler kaum oder gar nicht kennen: Es ist der neue Lebenspartner, der neue Kollege, der neue Nachbar und – im Falle der Schrift – der unbekannte Leser. Sie sind es, die die Gelungenheit des Zusammenhanges beurteilen, der ihnen in einer Bildungsgeschichte mitgeteilt wird. Ein Ich-Erzähler macht sich durch den Zusammenhang der Geschichte auf eine Weise sichtbar, die für seine persönliche Entwicklung steht.
4.3
Konversionserzählungen
Konversionserzählungen sind Darstellungen von Wendepunkten im Lebenslauf. Es handelt sich bei ihnen um dramatische Erzählungen, durch die die grundsätzliche Abkehr von einem bis dato gültigen Lebensentwurf und die Absage an vormals fraglose Hintergrundgewissheiten im alltäglichen Erleben eines IchErzählers kommuniziert wird. Anders als bei Erlebnisberichten geht es bei ihnen also nicht um die unauffällige Integration neuer Wissensbestände in den Wissensvorrat eines Alltagssubjekts, sondern um eine für den Lebensvollzug eines Biographiesubjekts nachhaltig wirksam gewordene Neuorientierung im Lebenslauf. Demzufolge unterscheiden Konversionserzählungen zwischen zwei Zeithorizonten: die Phase vor der „Kehre“ und den Zeitraum danach (Ulmer 1988). Den Mittelpunkt nimmt eine szenisch-dramatische Darstellungsweise ein. Der
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Erzähler präpariert zunächst durch Vorbemerkungen und Hinweise den für das Verständnis der Kehre notwendigen Kontext. Er schildert abstrakte Ausgangsüberzeugungen, Beispiele von Lebenssituationen, in denen sie sich geltend gemacht haben, sowie Traditionsbestände, die er unbesehen übernommen hat. Obwohl er mit dem Protagonisten seiner Erzählung einerseits identisch ist, gehört es in dieser ersten Phase der Darstellung zur Erzählstrategie von Konversionserzählungen, den Protagonisten auf Distanz zu halten. Denn mit diesem hat der Ich-Erzähler nach seiner Selbstüberzeugung in der Erzählsituation der Konversionserzählung nur oberflächlich noch etwas zu tun. Zwar wird die Ich-Form der narrativen Selbstpräsentation durchaus noch gewählt, doch sowohl vom Tonfall als auch durch Metakommentare macht der Erzähler zugleich deutlich, dass er mit dieser Person in der Zwischenzeit mehr oder minder nur noch den Namen gemeinsam hat („Damals glaubte ich noch…“). Die Schilderung der auf die Konversion hinführenden Ereignisse orientiert sich dabei am Vorbild des antiken Dramas. Es handelt sich um die Schürzung eines Knotens, der sich im Vollzug der eigenen Lebenspraxis zunächst unbemerkt ergeben hat; die darauf folgende Darstellung gilt der Auflösung dieses Knotens. Die eigentliche Peripetie verzichtet weitgehend auf die Erzählfunktion. Anders jedoch als beim Erlebnisbericht, fungiert der Erzähler hier nicht als Reflektor von Wahrnehmungen und Gefühlen, sondern er gibt sich als ein Dramatiker. Er imitiert das Geschehen durch direkte Rede und spitzt die Erzählsituation gerade dadurch zu, dass er sie als Wiedergabe der Handlungsszenerie selbst ausgibt. Die Aufmerksamkeit des Zuhörers wird durch diese Mittel vom Erzähler abgelenkt und auf das Geschehen selbst gerichtet. Der Zuhörer erlebt es gewissermaßen noch einmal nach und wird so nicht nur kognitiv, sondern auch affektuell in die Konversionserzählung hineingezogen. Nach dem Umschlag der Ereignisse in eine postkonventionelle Phase erscheint das Leben des früheren Protagonisten rückblickend wie das eines anderen. Es ist nun ein unbehauster Kokon, die leere Wohnstätte eines Protagonisten, den es so nicht mehr gibt. Bei Konversionserzählungen geht es daher letztlich um die narrative Schwierigkeit, dass ein Erzähler zwei Protagonisten in Szene setzen muss: Einen früheren Widergänger seiner selbst, von dem der Erzähler heute weiß, dass er nichts anderes war als ein Man-Selbst. Aus Sicht des Erzählers handelt es sich dabei um einen Untoten, den er für die Zwecke der Bekehrungserzählung noch einmal auferstehen lässt. Der zweite Protagonist ist dagegen der eigentliche Repräsentant des Erzählers in der Geschichte. Bei ihm handelt es sich um dessen authentisches Selbst. Anders als bei Erlebnisberichten führen Konversionserzählungen daher nicht dazu, die Differenz von Erzähler und Protagonist am Ende einzuebnen, sondern die nachhaltige Unterscheidung zweier Protagonisten vor Augen zu führen. Der soziale Adressatenkreis von Konversionserzählungen ist exklusiv. Ein Ich-Erzähler lässt sein
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authentisches Selbst nur einem Personenkreis durchblicken, mit dem er vertraut ist oder zumindest vertraut sein will. Bei Konversionserzählungen handelt es sich um Erzählungen in Intimbeziehungen, in der Familie und bei Freunden. Im Grenzfall werden sie missionarisch eingesetzt, als Berichte von Erweckungserlebnissen. In einem solchen Fall „familialisieren“ Konversionserzählungen ihre Zuhörer. Sie behandeln sie so, als ob sie zum Kreis jener Personen gehören, denen gegenüber ein Zeugnis von Echtheit und Einzigartigkeit der Person angebracht sei. Das ist zum Beispiel in religiösen Gruppen der Fall, deren Sozialidee auf der Vorstellung einer universalen Mitbrüderschaft beruht. Um einen den Niederungen und Irrungen der Welt enthobenen Kern eines Menschen zu erkennen, braucht man Erzählungen, die davon handeln, wie ein Ich-Erzähler von seinen bisherigen Überzeugungen glaubhaft und dauerhaft Abstand genommen hat. Kurz: Konversionserzählungen brauchen einen Saulus und erzeugen einen Paulus. 5.
Resümee
Ausgehend von einer Rekapitulation der phänomenologischen Reflexion über die Konstitution des inneren Zeitbewusstseins wurde Erfahrung in den vorangegangenen Abschnitten als die Differenz von Erwartung und Erfüllung definiert. Diese Differenz kann einen negativen oder einen positiven Wert haben, je nachdem, ob der Erwartungsträger von einem Ereignis negativ betroffen oder positiv überrascht wird. Ich schlage vor, für diese Diskontinuität des menschlichen Zeiterlebens den Begriff der „Widerfahrnis“ zu benutzen. Dadurch lässt sich auch der etymologische Anschluss an das Wort „Erfahrung“ bewahren. Eine Widerfahrnis kann im Umfang und in der Intensität variieren, je nachdem, ob sie als ein alltägliches Erleben (Durchstreichung) wahrgenommen wird, für bestimmte Passagen im Lebensverlauf (Entfremdung) reserviert bleibt, oder das Eingebettetsein eines Menschen in die soziale Welt grundsätzlich in Frage stellt (Angst). In Folge einer Widerfahrnis bemerkt ein Mensch überhaupt erst, auf welchen temporalen Grundlagen sein subjektives Erleben beruht und wie prekär demnach die Konstitutionsbedingungen seines Alltags, seines Lebenslaufs und seiner Zugehörigkeit zur sozialen Welt sind. Wenn durch eine Enttäuschung17 die eigene Zukunftsperspektive in Frage gestellt wird, kommt ein Mensch in der Folge nicht daran vorbei, sich auf eine bestimmte Weise zu sich selbst zu verhalten. Die Funktion einer Widerfahrnis ist demnach eine doppelte: Einesteils
17
„Enttäuschung“ wie zuvor auch „Widerfahrnis“ werden im deskriptiven, nicht im normativen Sinne verstanden: als Differenz von Erwartung und Erfüllung.
II. 5 Resümee
123
führt sie die basale Selbstbezüglichkeit des menschlichen Erlebens vor, indem sie dieses unterbricht, andernteils versetzt sie einen Menschen aber gerade dadurch in ein reflektiertes Selbstverhältnis. Denn um wieder alltagstauglich zu werden, damit das Leben wieder seinen Lauf nimmt und die soziale Welt im Ganzen zum Gegenstand fortwährender Sorge wird, sieht sich ein Mensch zur Umdeutung einer Widerfahrnis genötigt. Gewohnheiten müssen wiederhergestellt, Verlässlichkeiten garantiert und Zugehörigkeiten restabilisiert werden. Kurz, es müssen Erwartungssicherheiten entwickelt werden, ohne die die menschliche Lebenspraxis kollabieren würde. In terminologischer (nicht: inhaltlicher) Anlehnung an Levinas (2003, S. 49) lässt sich deswegen von einer narrativen Rückeroberung von Subjektivität sprechen. Dabei lassen sich drei Formen von Subjektivität unterscheiden. Handelt es sich bei einem Widerfahrnis um eine Erschütterung von Vertrautheit mit der Welt, dann steht jenes Alltagssubjekt auf dem Spiel, dass diese Erschütterung durch einen Erlebnisbericht vergleichsweise unauffällig reparieren kann. Das Erzähler-Ich ist hier ein durchschnittliches Ich, ein Man-Selbst, dem es um die Kontinuität von Gewohnheit und Gewissheit seiner Modi der Weltvertrautheit geht. Der Erlebnisbericht stellt demnach die Korrektur von enttäuschten Erwartungen dar, die nur vorläufig, nämlich bis zu ihrer erneuten Enttäuschung, in Kraft gesetzt sind. Bildungsgeschichten dagegen haben einen sozialontologischen Charakter. Sie stellen die Entwicklungsgeschichte eines Individuums dar, das einerseits einem beständigen Veränderungsprozess unterliegt, unentwegt also ein Anderer zu werden scheint, das aber andererseits in diesem Werden doch stets dasselbe bleibt. Insofern bedeutet der scheinbare Abbruch von Vertrautheit mit Welt- und Selbstgewissheiten kein Ende des Subjekts, sondern nur die qua Bildungsgeschichte formierte und transportierte Erkenntnis einer personalen Identität und Kontinuität des Protagonisten. Geht es hingegen um die prinzipielle Suspendierung und dauerhafte Überwindung bislang unbenommener Traditionsbestände und Gewohnheiten der Lebenspraxis, wie das in der Konversionserzählung der Fall ist, dann ist das Erzähler-Ich ein außeralltägliches und damit authentisches Selbst. Konversionserzählungen handeln demnach von der entschlossenen Abkehr von Welt- und Selbstvertrautheit. Bei diesen Formen von Selbsterzählungen handelt es sich nicht nur um bloße Darstellungen von Widerfahrnissen, sondern um ihre instantane Umarbeitung und Umdeutung zu einem aktivischen Erfahrungsprozess. Mit Kierkegaard (2000) kann man diesen Prozess als existenzielle Wiederholung beschreiben. Die latente oder manifeste Krise des Erlebens wird gerade insofern (aber auch nur insoweit) behoben, wie es einem Ich-Erzähler gelingt, sich selbst wieder aus seiner Versunkenheit in die erlebte Enttäuschung narrativ zurückzuholen und die latente oder manifeste Krise seiner Lebenspraxis mit sprachlichen Mitteln zu
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II. Subjektivierungen
kurieren. Die Erinnerung an vergangene Erlebnisse und deren sprachlichen Aufbereitung steht daher von vornherein im Dienste zukünftiger Erwartungen und der Funktionsfähigkeit der Lebenspraxis im Ganzen. Erinnern heißt hier Vorwärtserinnern. An die Erzählung stellt diese Funktionsbestimmung des Gedächtnisses bestimmte Anforderungen: Ein Ich-Erzähler kann hier kein distanziertes Verhältnis einnehmen zu sich selbst. Er muss vielmehr zu seinen Erlebnissen mit narrativen Mitteln eine mimetische Beziehung eingehen. Bei Schilderungen von Widerfahrnissen handelt es sich nicht zufällig meist um Ausschnittsgrößen des Lebens: um die eindringliche Darstellung einzelner Ereignisse, um die anschauliche Vermittlung von Handlungsketten, um die Darlegung konkreter Umstände und Situationen innerhalb der Lebenswelt. Es gehört demnach zu den raffiniertesten Leistungen des menschlichen Bewusstseins – und ist darin Ausdruck seiner ganz besonderen Hygiene –, dass es sich in dem Maße aufs Sprechen verlegt, wie die Nachahmung von Widerfahrnissen zu seiner Selbsttherapie beiträgt. Um es aus der Warte eines Ich-Erzählers zu sagen: Die geschilderten Erlebnisse und Erlebniskorrekturen werden hierdurch zu Erfahrungen, die ich gesammelt habe, der dargestellte Bildungsprozess ist einer, den ich durchschritten habe und es sind meine Konversionen, die ich durchlebt habe. Eine Widerfahrnis individuiert, insofern sie einen Menschen dazu nötigt, aus seiner relativen Unaufmerksamkeit sich selbst gegenüber herauszutreten und sich zu sich selbst zu verhalten; sie versprachlicht, indem der retrospektive Standpunkt zugleich ihre narrative Nachahmung wie deren Korrektur erlaubt; und sie vergemeinschaftet, indem sie einen personalen Adressaten der Erzählrede auswählt. Der Zuhörer ist hier das personifizierte Mittel zum Zweck der narrativen Rückeroberung von Subjektivität. Die Geschichten, die ihm erzählt werden, sind auf die eine oder andere Weise allesamt Geschichten über das Lernen. Man kann erzählen, was nicht (mehr) der Fall ist. Widerfahrnisse entgehen der soziologischen Biographieforschung größtenteils. Das ist freilich nicht einfach ein Versäumnis eines mangelnden methodischen Sensoriums, sondern unter den diskutierten Vorzeichen kaum anders denkbar: Man wird nicht darauf warten wollen, dass jemand von sich aus über seine Lebensenttäuschungen erzählen will. Demzufolge können Widerfahrnisse von der Biographieforschung nur zufällig erfasst werden. Ihr durchweg gebrauchter Begriff von Erfahrung und ihr Verständnis von Erzählung müssen demnach andere sein.
Kapitel III
Objektivierungen „Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält.“ Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode
Im vorangegangenen Kapitel habe ich die These vertreten, dass eine Erfahrung mit sich selbst im strengen Sinne nur derjenige macht, der eine mehr oder minder große Enttäuschung zu bewältigen hat. Im Folgenden soll ein zweiter Modus der Selbstbeziehung in den Blick gerückt werden, mit der ein eigener Begriff von Erfahrung verbunden ist. Dadurch rückt nun die Grundlage für ein Problem in den Vordergrund, das auch in der soziologischen Biographieforschung in der Methodologie von Schütze und Rosenthal virulent ist. Die Frage lautet nun: Unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Folgen entstehen im Alltag selbst narrative Formen von Selbstverhältnissen, die man als „theoretische“ bezeichnen kann? Wenn sich das praktische Narrativ im Alltag dadurch auszeichnet, dass sich hier ein Mensch deswegen zu sich verhält, weil seine Intentionen nicht erfüllt wurden, dann ist damit auch gesagt, dass das theoretische Narrativ des Alltags auf eine andere Weise zustande kommen muss. Die Frage lautet daher: Unter welchen Bedingungen verhält sich ein Mensch auch dann zu sich, wenn es nicht Enttäuschungen sind, die ihn dazu veranlassen? Diese Anlässe sind soziale, namentlich die Begegnung mit anderen Menschen. Man muss der Andersheit eines Menschen nicht gleich jene aufgeladene Bedeutung zuerkennen, wie das ihm Rahmen einer Philosophie der Alterität getan wird (Waldenfels 1997). Folgte man dieser, dürfte der Andere nicht einfach nur in seiner vom jeweils Eigenen abweichenden Fremdheit, Unbekanntheit und Gefährlichkeit verstanden werden, sondern müsste hinsichtlich seiner radikalen Andersheit verstanden werden (Levinas 2003). Soziologen haben demgegenüber schon genug damit zu tun, die ganz gewöhnliche Andersheit des Fremden zu analysieren (vgl. Schütz 1972; Simmel 1992b; Alois Hahn 1994, Nassehi 1995). Ich verstehe im Folgenden daher unter „Alter“ nur ein sozial bestimmbares Gegenüber eines Ego. Eine solche Verschiebung des Ausgangspunktes hat Konsequenzen für das Selbstverständnis derjenigen, die in Ego-Alter-Konstellationen aufeinander treffen. Wer man ist, offenbart sich nun nicht mehr in einer zunächst nur im Inneren ausgetragenen Robinsonade von Überraschungen, Krisen und Störungen im alltäglichen Welterleben. Wer jemand ist, ergibt sich nun auch im Angesicht eines Anderen, d.h. in einer sozialen Konstellation. Es ist demnach nicht nur die zeitliche Differenz von Erwartung und Erfüllung, son-
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III. Objektivierungen
dern auch die soziale Differenz von Ego und Alter, die bei der Konstitution eines Selbstverhältnisses zugrunde gelegt werden kann. Damit verändert sich auch der Sinn dessen, was noch als „Erfahrung“ im Weiteren verstanden werden kann. Brüche und Diskontinuitäten ergeben sich in der sozialen Dimension nicht, wie im subjektiven Leben, durch Enttäuschungen von Erwartungen, sondern durch Fragen.18 Immer dann, wenn man sich wechselseitig noch nicht oder nicht mehr gut genug kennt, wenn man einander unbekannt und unvertraut ist, kommt ein Erfahrungsbegriff ins Spiel, der nicht mehr derjenige der Widerfahrnis und der damit korrespondierenden Darstellung eines Lernprozesses ist. Um die Aufklärung dieses andersartigen Verständnisses von Erfahrung und dessen internen Zusammenhang mit einer Erzählung geht es in diesem Kapitel. Wie im zweiten Kapitel, so gehe ich auch hier wieder in vier Schritten vor. Zunächst werden die sozialtheoretischen Voraussetzungen des Erfahrungsbegriffes (1.) untersucht. Danach werde ich die Implikationen diskutieren, die sich aus verschiedenen Ego-Alter-Konstellationen für diejenigen Frageformen ergeben (2.), in Folge derer ein Mensch sich dazu veranlasst sieht, sich auf eine bestimmte Weise zu sich selbst zu verhalten (3.). Welches narrative Korrelat mit diesen Selbstbeziehungen verbunden ist, diskutiere ich im darauf folgenden Abschnitt (4.). 1.
Die Differenz von Ego und Alter
In der Konzeptionalisierung personaler Selbstverhältnisse greife ich aus zwei Gründen auf Mead (1973, S. 177ff) zurück. Erstens lässt sich mit Mead die Ausbildung einer personalen Identität von Anfang an als ein sozialer Prozess verstehen (Joas 1989, S. 91ff.). Und zweitens lässt sich mit Mead die menschliche Selbstbeziehung nicht als epistemisches Wissen eines Bewusstseins begreifen, sondern als Folge eines kommunikativen Verhaltens. Zu einem Bewusstsein seiner selbst gelangt eine Person demnach nicht durch eine Reflexion, es wächst ihr vielmehr dadurch zu, „dass sie sich zu anderen verhält und das Sichverhalten der anderen zu ihr mitvollzieht“ (Tugendhat 1979, S. 249). Es ist die innere Repräsentation und Antizipation der Einstellung und Reaktion eines Anderen auf die eigenen Verhaltensweisen, nicht aber eine isolierte Selbstbeziehung, durch die sich ein Subjekt selbst zum Objekt wird – und damit die Bedingung eines theoretischen Selbstverhältnisses erfüllt. Für Mead (1973, S. 184) ist dieses Verhältnis von Ego über Alter die Bedingung dafür, dass eine Person eine personale Identität ausbilden kann. Freilich unterscheidet sich das Selbstverhält-
18
Zur Funktionsgeschichte von Frage und Antwort vgl. Jauß (1997, S. 377ff.).
III. 1 Differenz von Ego und Alter
127
nis danach, in welcher Weise Alter für Ego erscheint. Als Leitfaden der Analyse von Ego-Alter-Konstellationen soll demnach Meads Unterscheidung von signifikanten und generalisierten Anderen dienen. Mead hat als signifikante Andere jenen Kreis von Personen beschrieben, die bei der Entwicklung der Ich-Identität zunächst die maßgeblichen Interaktionspartner darstellen. Aus der Perspektive eines Kindes sind das die Mitglieder seiner Nuklearfamilie, insbesondere Vater und Mutter, im Weiteren jedoch auch der erweiterte Kreis von Verwandten, schließlich die Gruppe von nahen Freunden und entfernten Bekannten. Man kann deshalb zwischen signifikanten Anderen ersten, zweiten und dritten Grades unterscheiden (Hildenbrand 2007, S. 212), muss dann allerdings im Auge behalten, dass die Rede von signifikanten Anderen bereits auf eine höherstufige Form von Interaktionsbeziehungen verweist. Zwei konzeptionelle Schritte gehen dem bei Mead voraus. Erstens eine durch Gesten vermittelte Interaktion, bei dem die Interaktionspartner aufeinander durch Lautsignale einwirken, auf die sie wechselseitig bloß reagieren; zweitens eine symbolisch vermittelte Interaktion, bei der sich die Beteiligten nun zwar untereinander verhalten, indem sie ihr Ausdrucksverhalten wechselseitig interpretieren, dabei allerdings noch nicht zu einer gemeinsam geteilten Bedeutung finden (Tugendhat 1979, S. 255). Da die hinreichende Ähnlichkeit einer Bedeutung jedoch die Bedingung dafür ist, dass Interaktionspartner tatsächlich miteinander ins Gespräch kommen können, weil nur hierdurch sie sich zueinander als Absender und Adressaten von Geltungsansprüchen verhalten, bedarf es auf der dritten Stufe von Interaktionsbeziehungen einer übergreifenden Bedeutungskonvention. Erst dann, wenn eine Äußerung für Ego dieselbe Bedeutung hat wie für Alter, lassen sich von beiden Parteien nicht nur Gesten hervorbringen, sondern lässt sich zugleich damit auch eine Erwartung bezüglich der Bedeutung verbinden, die die eigene Geste für die jeweils andere Seite haben wird (Habermas 1995 II, S. 26). Eine solche Situation ist dann gegeben, wenn Ego auf die eigene Äußerung so reagiert, wie Alter es tut. Damit es sich nun aber auch tatsächlich um eine soziale Interaktion handelt, dürfen nicht nur Gesten interpretiert, sondern müssen auch Handlungen koordiniert werden. Die Beteiligten müssen daher vorwegnehmen können, in welcher Einstellung sie sich zueinander verhalten sollen. Die Verschränkung beider Erwartungstypen – sprachliche Bedeutung und normatives Verhalten – in einer Interaktionsbeziehung, führt Mead zur Rollentheorie. Deren sozialbehavioristische Grundlagen sind hier insofern einer Bewährungsprobe ausgesetzt, als Mead zeigen muss, wie sich individuelle Rollenkompetenzen aus sozialen Interaktionen aufbauen. Die Rollentheorie hat insbesondere über zweierlei Auskunft zu geben: Erstens muss sie zeigen, wie sich in ihr durch soziale Interaktion ein menschlicher Organismus selbst affiziert. Die Frage lautet daher, wie sich ein Rollenträger unter
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III. Objektivierungen
der Prämisse zu sich verhalten kann, dass bereits die antizipierte Reaktion eines Gegenübers zum Reiz für eine eigene Reaktion wird. Daraus ergibt sich für Mead aber eine weitergehende Beweislast. Er muss zweitens auch zeigen können, wie das als rollenförmig beschreibbare Selbstverhältnis eines Menschen einerseits nicht in einer reinen Rollenidentität aufgeht, andererseits aber auch nicht als bloße Abstandnahme davon begriffen werden kann. Die Frage lautet hier also, wie die personale Identität eines Menschen mit seiner sozialen Funktion als Rollenträger versöhnt wird. ad 1) Nach Ansicht Meads (1973, S. 193) sind Rollenspiele (Play) „die einfachste Art und Weise, wie man sich selbst ein Anderer sein kann.“ Ein Kind imitiert dabei diejenigen Verhaltensweisen, die ihm von signifikanten Anderen vertraut sind. Indem es beispielsweise im Puppenspiel die Einstellungen von Vater oder Mutter ihm selbst gegenüber nachahmt, nimmt es in sich selbst eine Haltung zu sich ein, auf die es zugleich in seiner Rolle als Kind reagieren muss. Allerdings handelt es sich auf dieser Stufe noch nicht um soziale Rollen im engeren Sinne. Denn das Kind ahmt hier nur die kontextgebundenen Verhaltensmuster derjenigen Personen nach, die ihm aus seiner sozialen Bezugsgruppe bekannt sind (Habermas 1995, S. 58). Erst auf der zweiten Stufe des Spiels, bei Wettkampfspielen (Game), erweitert sich das zu berücksichtigende Repertoire von Verhaltensmustern so weit, dass deren Integration das Kind zwangsläufig zur Annahme überpersönlicher Normen führt. In Wettkampfspielen wird explizit, was im Rollenspiel des Kindes nur unterschwellig präsent ist. Für die Beteiligten lässt sich hier nicht mehr übersehen, dass zum Aufbau einer Rollenkompetenz notwendigerweise die Antizipation von und die Reaktion auf Verhaltenserwartungen gehört. Als Teilnehmer an einem spielerisch ausgetragenen Kampf muss sich das Kind den Regeln des Spiels – und das heißt, den normativen Erwartungen seiner Mitspieler – beugen, wenn es denn mit ihnen gegen andere die Wette auf Erfolg gewinnen will, die bei jedem Vergleichskampf zwischen den Kontrahenten implizit abgeschlossen wird. Bei einem Fußballspiel etwa muss ein Kind lernen, nicht nur mehrere, sondern zum Teil auch heterogene Verhaltensdispositionen und Verhaltenserwartungen auf einmal zu organisieren: diejenige des Trainers, die seiner Mitspieler und schließlich auch diejenigen seiner Gegenspieler (von den zuschauenden Eltern einmal abgesehen). Im Wettkampfspiel hat ein Kind daher gleich ein ganzes Bündel von Erwartungen zu schultern, die nichtsdestotrotz keine äußerliche Belastung darstellen dürfen, sondern eine geschmeidige Berücksichtigung im Verhalten verlangen. Kurz, das Kind muss nun lernen, die unterschiedlichsten Erwartungen in sich selbst zu antizipieren und darauf simultan zu reagieren. Ein Wettkampfspiel verlangt ihm daher einen
III. 1 Differenz von Ego und Alter
129
ungleich höheren Grad an Abstraktion und Integration von Verhaltenserwartungen ab, als dies beim einfachen Rollenspiel der Fall ist. Nach diesem grundlegenden Muster der spielerischen Übernahme immer komplexer werdender Verhaltensmuster lernt das Kind nach Ansicht Meads, das Verhalten signifikanter Anderer von den Verhaltenserwartungen zu unterscheiden, die nicht mehr nur von diversen Einzelnen, sondern von einer sozialen Gruppe repräsentiert werden. „So ist zum Beispiel bei einer gesellschaftlichen Gruppe wie einer Spielmannschaft eben dieses Team der verallgemeinerte Andere, insoweit es – als organisierender Prozess oder gesellschaftliche Tätigkeit – in die Erfahrung jedes einzelnen Mitglieds eintritt“ (Mead 1973, S. 196f.). In dem Maße, in dem die Zurechnung der Urheberschaft von Verhaltenserwartungen anonymisiert wird, geht die Kraft anderer Personen, die das Verhalten von Ego stimulieren, auf soziale Rollen über. Gleichzeitig lernt das Kind, sich dabei nicht nur mit den Augen signifikanter Anderer zu begreifen, sondern auch durch einen generalisierten Anderen. Es richtet seine Handlungen nicht mehr daran aus, was dieser oder jener Andere von ihm erwartet, sondern an seinem verinnerlichten Wissen davon, was man von ihm erwartet. ad 2) Eine personale Identität („Self“) dachte sich Mead deswegen am Leitfaden einer sozialen Rolle. Einerseits internalisierte ein Kind die Verhaltenserwartungen, die zu einer sozialen Rolle geronnen waren, andererseits musste es sich zu den in einer Rolle repräsentierten Erwartungen auf irgendeine Weise verhalten. Die personale Identität wurde von Mead daher handlungspraktisch begriffen. Im reflexiven Teil der personalen Identität, im Mich („Me“), konnte sich das Subjekt nur dadurch selbst zum Objekt werden, wenn es darin die Erwartungen signifikanter bzw. generalisierter Anderer an sein eigenes Verhalten mitreflektierte. Da eine soziale Rolle gleichbedeutend mit einer Matrix konventioneller Verhaltensweisen war, lernte sich ein Subjekt im Mich ausschließlich in seiner sozialen Dimension kennen; hier war es demzufolge nichts weiter als ein potentieller Urheber konventioneller Handlungen. Im zweiten Moment der IchIdentität, dem Ich („I“), gab sich das Subjekt hingegen für sich selbst und andere als Urheber persönlicher Stellungnahmen gegenüber sozialen Verhaltenserwartungen zu erkennen, die es an sich gestellt sah (Tugendhat 1979, S. 256). Für Mead war das stellungnehmende Ich diejenige Quelle von Spontaneität, durch die soziale Konventionen von einer Person qua Handlung interpretiert wurden. Inwiefern eine Person dabei die vermeintlich oder tatsächlich an sie gestellten Verhaltenserwartungen von signifikanten Bezugspersonen oder generalisierten Anderen erfüllte, modifizierte oder ignorierte, konnte also nur dann beurteilt werden, wenn dafür deren konkrete Verhaltensreaktionen herangezogen wurden.
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III. Objektivierungen
Resultierte das Mich noch aus Erwartungserwartungen, so war andererseits die Erkenntnis des Ich nur ex post factum möglich. Nur in der Retrospektive eröffnete sich daher ein Zugang zur Individualität der Person. Das Ich war die Antwort (Response) auf eine im Mich repräsentierte Konvention (Challenge); aus der Synthese beider speiste sich Mead zufolge die Ich-Identität, das Selbst („Self“). Das Sich-zueinander-Verhalten von Ego und Alter, so wie es Mead konzipiert, weist eine überraschende Parallele zu einer Zeitlichkeitsstruktur auf, wie sie auf ganz anderer Grundlage – nicht derjenigen der Handlung, sondern des Bewusstseins – bereits von Augustinus und Husserl aufgezeigt worden ist. 19 Denn auch für Mead ergibt sich die Ich-Identität nur in der Doppelstruktur von Erwartung und Erinnerung: Ego und Alter waren andauernd damit beschäftigt, die jeweils andere Perspektive zu antizipieren und eigene wie fremde Handlungsvollzüge zu rekonstruieren. Dieses Verhalten setzte bei beiden Interaktionspartnern bereits die Fähigkeit zur Erwartung und zur Erinnerung eigenen wie fremden Verhaltens voraus. Handlungserwartungen und Handlungsrekonstruktionen folgten bei Mead zwar nicht mehr den Selbsterhaltungsimperativen eines auf Kontinuität angelegten Bewusstseinsstroms, sondern wurden von Mead letztlich als Anpassung an die (soziale) Umwelt verstanden. Doch auch noch aus sozialbehavioristischer Sicht schien es eine Minimalbedingung für Adaptation zu sein, dass sich die miteinander agierenden Handlungssubjekte perspektivisch in Zukunft und Vergangenheit zugleich hinein erstreckten. Beide Parteien mussten dazu fähig sein, die an sie gerichteten sozialen Erwartungen vorwegzunehmen, aber auch dazu bereit sein, die eigenen Verhaltensreaktionen für eine Beurteilung (durch sich selbst oder andere) festzuhalten. Zeitlichkeit und Sozialität arbeiteten bei Mead daher Hand in Hand. Die Interaktionsteilnehmer blieben ständig damit beschäftigt, ihre Handlungen wechselseitig zu antizipieren und zu rekonstruieren. Da die personale Identität sich aus diesem fortwährenden Interaktionsprozess speiste, war es Mead zufolge unmöglich, von einem der Zeit enthobenen Selbst auszugehen. Eine personale Identität musste sich in Interaktionen bewähren und konnte nur durch Interaktionen verändert werden. Wenn es daher richtig ist, dass Intersubjektivität bei Mead nur durch eine Verschmelzung der Zeithorizonte von Interaktionsteilnehmern zustande kommen kann, dann ergibt sich daraus eine bemerkenswerte Schlussfolgerung. Denn da eine Ich-Identität die eigene Dauer impliziert und diese bei Mead nur dadurch zustande kommen kann, dass Interaktionspartner wechselseitig ihre Erwartungen beobachten (1), um daran ihre möglichen Verhaltensreaktionen (zu-
19
Vgl. Joas (1989, S. 188), der allerdings diesen Punkt nur kurz streift und sich dabei nicht auf Augustinus und Husserl, sondern auf Heidegger bezieht.
III. 2 Drei Fragekonstellationen
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stimmend oder ablehnend) zu orientieren (2), dann bleibt die nur im Nachhinein des Handelns mögliche Vergegenwärtigung von Verhaltensreaktionen an neuerliche Erwartungen gebunden (3), weil auch noch deren Rekonstruktion (4) ein faktisches Handeln ist (5), das nicht ohne Erwartungserwartungen auskommt – und deshalb wieder zum strukturellen Ausgangspunkt der Interaktion zurückführt (6=1). Die Verwirklichung einer personalen Identität gelang daher nicht durch die Abstandnahme von sozialen Beziehungen, sondern nur durch die Einbindung darin. Ein Subjekt bedurfte eines anderen Subjekts, weil das Erleben eigener Dauer nicht isoliert gelingen konnte, sondern an die Anwesenheit eines Anderen gekoppelt war. Aus den Mead’schen Analysen lässt sich deswegen ableiten, dass die Zeitlichkeit jedes Einzelnen sozial fundiert ist. Sie ergab sich nicht aus einer isolierten Innenwelt, sondern aus intersubjektivem Verhalten. Für die Zwecke der folgenden Betrachtung ist diese Schlussfolgerung insofern bemerkenswert, als nicht nur der Aufbau einer personalen Identität für Mead eine soziale Zeit impliziert, sondern auch dessen Rekonstruktion. Denn wer jemand ist, das lässt sich letztlich nur über die Explikation seiner Zeitlichkeitsstruktur verstehen. Dies verweist auf eine Biographie, die wiederum nur in der Form einer Erzählung angemessen zu erschließen ist, bei der Ego Alter antwortet. 2.
Drei Fragekonstellationen
Es scheint evident zu sein, dass eine Autobiographie eine Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ ist (Miething 1989, S. 150). Und doch erscheint dieser Zuschnitt des Themas aus verschiedenen Gründen als zu eng. Denn nur vermeintlich wird eine Autobiographie dadurch generiert, dass Fragesteller und Antwortender identisch sind.20 Viel häufiger kommt es im Alltagsleben vor, dass beide Instanzen auf unterschiedliche Personen verteilt sind. Wenn zum Beispiel zwei Personen einander vollkommen fremd sind, dann lautet die Frage, die Alter an Ego adressiert: „Wer bist du?“. Ego muss sich in der Folge zu dieser Frage verhalten. Aber noch aus einem weiteren Grund kann die Identität von Fragesteller und Antwortendem für eine Autobiographie keineswegs als unproblematisch vorausgesetzt werden. Denn die Autobiographie muss sich mit einem für sie konstitutiven Mangel an Gewissheit arrangieren. Die eigene Lebensgeschichte zu erzählen, bedeutet für einen Ich-Erzähler, dass er darin ein Kapitel zu integrieren hat, an das er selbst keine oder nur sehr undeutliche Erinnerungen haben
20
Hahn (1987, S. 12) hingegen sieht vor allem soziale Institutionen wie Beichte, Psychoanalyse und Tagebuch als „Biographiegeneratoren“ an.
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III. Objektivierungen
kann: die Geburt und die ersten Monate seines Lebens. Schon diese Erinnerungslücken im autobiographischen Gedächtnis zeigen einen für die eigene Lebensgeschichte eigentümlichen Selbstentzug an. Der Anfang des eigenen Lebens ist dadurch gekennzeichnet, dass man hier nicht nur währenddessen, sondern auch später noch für sich selbst ein Unbekannter bleibt. Vom Lebensende gilt dies ohnehin. Den Nekrolog auf sich hat noch niemand selbst gehalten. Von Anfang und Ende eines Lebens wissen demnach nur die Anderen. Was man von seinem eigenen Lebensanfang später „noch“ weiß, muss man demnach aus anderen Quellen erfahren und unauffällig in den eigenen Erfahrungshaushalt integriert haben. Das Phänomen ausbleibender Erinnerung an die frühkindliche Phase kann man mit Maurice Halbwachs (1985, S. 125ff.) sozial deuten. Das autobiographische Gedächtnis hat insofern soziale Bedingungen, als es von einem Relevanzrahmen abhängt, der nicht durch Hirnphysiologie, sondern durch Interaktionsbeziehungen vermittelt wird. Erst dann, wenn Erwachsene nicht nur zu einem Kind sprechen, sondern mit ihm, wenn es also die Sprache seiner Eltern erworben hat, dann ist es in soziale Kontexte derart eingebettet, dass seine Denk- und Gedächtnisrahmen imstande sind, die Erinnerungen an sich selbst sozial zu lokalisieren und auf diese Weise aufzubewahren. „Wer bin ich?“ ist also noch aus einem zweiten Grund keine Frage, die automatisch eine Autobiographie generiert. Es ist vielmehr auch eine Frage, deren Antwort man sich von Anderen geben lassen können muss. Ego wird deswegen Andere konsultieren, ohne deswegen gleich zum Psychiater gehen zu müssen. Es gehört vielmehr zum gewöhnlichen Sozialisationsprozess dazu, dass ein Kind irgendwann einmal anfängt, sich zu fragen: „Woher komme ich?“ Die Frage nach der eigenen Herkunft ist die erste Frage im Identitätshaushalt eines Menschen. Ein Kind wird sich diese Frage kaum selbst beantworten können, sondern zweckmäßigerweise seine Eltern fragen. Schon diese kurze Skizze mag genügen, um deutlich zu machen, dass das autobiographische Gedächtnis sozial konstituiert ist. Vor diesem Hintergrund scheint der Umstand, dass die autobiographische Frage von derselben Person beantwortet wird, die sie sich stellt, ein Grenzfall des alltäglichen Erlebens zu sein. Das heißt nicht, dass die Frage „Wer bin ich?“ im alltäglichen Leben nicht vorkommt, sondern nur, dass sie hier nicht als Ausgangsmodell für die Konzeption eines Selbstverhältnisses taugt. Ich möchte nun die drei Varianten des autobiographischen Frage-Antwort-Verhältnisses diskutieren, die sich ergeben, wenn es sich bei Alter aus der Sicht von Ego um einen signifikanten Anderen oder um einen generalisierten Anderen handelt.
III. 2 Drei Fragekonstellationen
2.1
133
Woher komme ich?
Mead zufolge ist der erste Schritt in der Entwicklung einer personalen Identität der, dass ein Kind sich selbst in Beziehungen zu signifikanten Anderen verstehen lernt. Wer es ist, begreift ein Kind daher zunächst in Kontakt und Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern und Geschwistern. Die sukzessive Erweiterung der Interaktionspartner weist nun eine Eigentümlichkeit auf: Personen, mit denen ein Kind über den engeren Kreis der eigenen Nuklearfamilie hinaus interagiert, werden ihm von den eigenen Eltern zwar nicht durchgehend, aber doch sehr häufig als Verwandte vorgestellt, und zwar interessanterweise auch dann, wenn ein Kind zu diesen Personen nach Maßstäben von Deszendenz- und Allianzregeln in gar keinem Verwandtschaftsverhältnis steht. Die Funktionalität des elterlichen Verhaltens scheint darin zu liegen, dass ein Kind auf diese Weise lernt, auch über den engeren Kreis seiner Familie soziale Beziehungen zu Dritten aufzunehmen, die ihm einerseits vollkommen unbekannt sind, deren Gesten es aber andererseits so interpretieren kann, als ob diese Dritten signifikante Andere ersten oder zweiten Grades wären. So ist es beispielsweise kein Metzger, sondern ein „Onkel“, der dem Kind in der Fleischerei ein Stück Wurst anbietet; keine Schaffnerin, der das Kind die Fahrkarte zeigen darf, sondern eine „Tante“; kein Babysitter, sondern eine „Oma“, die es vom Kindergarten abholt. Aus der Perspektive eines Kleinkindes besteht die soziale Welt aus lauter „Onkels“ und „Tanten“, „Omas“ und „Opas“. Auf diese Weise nimmt es Dritten gegenüber ein Verhältnis ein, das sich aus den Vorgaben heiratsförmiger Allianzen und den damit implizierten Rollenerwartungen ableiten lässt. Unter den Vorzeichen einer fingierten Verwandtschaft braucht sich ein Kind zu Dritten nur so zu verhalten, wie es sich im vertrauten Familien- und Verwandtschaftskreis zu verhalten gelernt hat. Umgekehrt stiftet diese kontrafaktische Unterstellung einer Verwandtschaftsbeziehung aber auch bei Dritten gegenüber ihnen unbekannten Kindern eine Erwartungssicherheit, dank derer sie sich an den vertrauten Rollenmustern ihres eigenen Verwandtschaftssystems orientieren können. Als klassifikatorischer wie auch als tatsächlicher Opa ist das Verhaltensrepertoire eben nicht mehr diffus, sondern hierzulande mit Erwartungen an generöses Verhalten, Nachsichtigkeit und Sympathie verbunden. Die ersten sozialen Rollen, die ein Kind kennen und auf andere übertragen lernt, sind also Verwandtschaftsrollen. Und so verwundert es nicht, dass für ein Kind die Struktur dieser Welt aus einem Netzwerk von Verwandtschaftsbeziehungen besteht: Nahezu jeder ist in dieser Welt mit jedem verwandt. Doch in dem Maße, wie das Kind sukzessive aus diesem „naturwüchsigen“ Kreis sozialer Beziehungen heraustritt und nicht mehr nur Verwandte in der sozialen Welt, sondern darin nun auch enge Freunde und entfernte Bekannte hat, wird das über
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III. Objektivierungen
die Eltern vermittelte kindliche Verwandtschaftskonzept der Gesellschaft brüchig. Ein Kind unterhält nun Beziehungen zu Personen, deren soziale Qualität nicht mehr – auch nicht rein hypothetisch – auf Verwandtschaft zurückzuführen ist. Alter und Ego sind sich nun nicht mehr wechselseitig potentieller Onkel und Neffe, sondern Freund, Spielkamerad und Mitschüler. Durch signifikante Andere dritten Grades lernt ein Kind jetzt einerseits, neue Rollen einzunehmen, andererseits kann dieser Schritt nicht ohne Rückwirkung auf das kindliche Selbstverständnis bleiben. Denn mit diesem neuen Typus von Sozialbeziehungen lernt das Kind auch zu begreifen, dass es signifikante Andere gibt, die gerade deswegen Andere sind, weil sie nicht an die eigene Abstammungslinie assimiliert werden können. Aus der Perspektive des Kindes erschließt sich die Differenz von Verwandtschaftssystemen und gesellschaftlicher Gemeinschaft also erst über signifikante Andere dritten Grades. Auf diesem Wege lernt das Kind auch, dass sich sein bis dato gültiges Selbstverständnis einem Typus von Sozialbeziehungen verdankt, den es bisher offenbar nur provisorisch übernommen hatte. Mir scheint nun, dass diese Binnendifferenzierung von signifikanten Anderen (vom ersten und zweiten Grad zum dritten Grad) die strukturelle Voraussetzung dafür ist, dass ein Kind anfängt, einen Sinn für die eigene Genealogie zu entwickeln. Man kann auch sagen: Wenn das Kind lernt, zwischen nahen und fernen, vertrauten und unvertrauten Anderen zu unterscheiden, dann begegnen, durchdringen und überschneiden sich hier zwei soziale Kreise (Simmel 1992a). Daraus folgt zum einen, dass sich im Äußeren der Interaktionsbeziehungen das Verhaltensrepertoire des Kindes weiter ausdifferenziert, zum anderen jedoch wird im Inneren des kindlichen Erlebens die Frage nach der eigenen Herkunft relevant. Was für ein Kind bis dato „von Haus aus“ als schlichte Gewissheit gegeben war, dass es nämlich signifikanten Anderen ersten und zweiten Grades zugehörte, reicht nun nicht mehr aus. Denn in dem Umfang, wie ein Kind peu à peu auch anderen sozialen Gruppen (z. B. Vereinen) zugehört, kommt es nicht umhin anzunehmen, dass es in Bezug auf seine eigene Familie stärkere Quellen als nur die einer bloßen Mitgliedschaft geben muss. Zugehörigkeit erweist sich in dieser Perspektive als ein rein soziales Kriterium, auf das allein sich die personale Identität eines Kindes nicht mehr stützen kann. Das Kind stellt sich jetzt eine tiefergehende Frage, nämlich diejenige nach seiner Angehörigkeit (Seel 1993, S. 248f.). Sie bezeichnet die genealogisch verbürgte Zugehörigkeit eines Menschen zu einer sozialen Gruppe, also einer Familie, wohingegen „Ansässigkeit“ die analoge Verwurzelung im sozialen Raum, also Heimat, ist. Angehörigkeit wird demnach durch vorsoziale Kriterien gestiftet. Es ist die biologische Abstammung, die das Augenmerk des Kindes auf seine Verwandtschaftsverhältnisse lenkt. Es lernt dabei, die eigenen Interaktionen mit signifikanten Anderen ersten und zweiten Grades kognitiv in dem Maße zu übersteigen, wie diese
III. 2 Drei Fragekonstellationen
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Interaktionsverhältnisse nicht mehr als unthematischer Horizont schlicht gegeben sind, sondern nun als Quellen biographischer Selbstvergewisserung relevant werden. Über deren Zustandekommen kann freilich kein Stammbaum Aufschluss geben, sondern nur eine Erzählung. Die Frage „Wem gehöre ich an?“ kommt daher einem Appell an signifikante Andere ersten und zweiten Grades gleich, dem Kind eine Familiengeschichte zu erzählen, die es als die eigene übernehmen kann. Mit „Familiengeschichte“ meine ich die narrative Verflüssigung von sozialen Positionen innerhalb eines Verwandtschaftssystems, durch die ein Kind für sich einen hinreichenden Aufschluss über die eigene Abstammungslinie erhält. Das Interesse an den Umständen der eigenen Herkunft zeigt sich beispielsweise dann, wenn ein Kind die eigenen Eltern danach fragt, wie diese sich kennen gelernt haben. Aus der Perspektive eines Beobachters kommt dies der faktischen Aufforderung des Kindes an die Eltern gleich, ihm die Vorgeschichte und den selbst nicht erinnerungsfähigen Auftakt seines eigenen Daseins zu erzählen. Im Unterschied zum Kind sind sie in diesem Verhältnis die Wissenden: Sie kennen die Umstände, die zur Geburt ihres Kindes geführt haben. Insofern ist die Eltern-Kind-Beziehung asymmetrisch. Sie müssen sich zur Frage ihres Kindes freilich so verhalten, dass dessen Frage im Doppelsinne befriedigt wird: Sie nehmen vorweg, mit welchem Antwortverhalten nicht nur das Erkenntnisinteresse ihres Kindes gestillt, sondern zugleich auch ihr eigenes befriedigt wäre. Sie prüfen dazu die Frage ihres Kindes nach dessen Angehörigkeit anhand von Kriterien, die sie an eine sie selbst zufriedenstellende Antwort anlegen würden. Der mit genealogischen Fragen jederzeit verbundene Regress in die Tiefe der Vergangenheit wird also nur solange verfolgt, wie die Eltern einerseits selbst ihre eigenen Angehörigkeitsbeziehungen kennen, und für wie relevant sie diese andererseits für das eigene Kind halten. Bei einer Familiengeschichte handelt es sich nicht um einen Stammbaum, der möglichst weit in die Vergangenheit zurückreicht und bei dem die Angaben der Verzweigungen in den Verwandtschaftsbeziehungen möglichst vollständig zu sein haben. Ein Stammbaum ist letztlich nur ein historisches Datum, von dem man zwar noch Kenntnis haben kann, zu dem ein Kind jedoch kaum eine innere Beziehung wird aufbauen können – es sei denn, sie wird bei ihm über einzelne Belegerzählungen (Schütze 1983) hervorgerufen. Und genau darum geht es in einer Familiengeschichte. Ihre Funktion besteht darin, dem eigenen Kind einen Eindruck von einem noch immer lebendigen Generationenzusammenhang zu vermitteln. Dies kann eine Familiengeschichte nur leisten, wenn die Eltern aus dem Tableau ihres eigenen Verwandtschaftsystems nur diejenigen Figuren auswählen, die ein – negatives oder positives – Identifikationspotential für das Kind bieten. Es muss sich nicht nur von seinen Vorfahren als biologisch abhängig begreifen, sondern sich vielmehr mit ihnen auch emotional verbunden fühlen oder Aver-
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III. Objektivierungen
sionen gegen sie haben. Erst dann können Interaktionen, die sich auf „Verwandtschaft“ berufen, eigene Dignität für und Macht über ihre Teilnehmer gewinnen. Auf Familienfeiern zeigt sich nicht nur, wer wohin gehört, dort werden auch „alte Kamellen“ jedes Mal aufs Neue „aufgewärmt“. Eine Verwandtschaft besteht deswegen mehr aus Geschichten als aus Stammbäumen. Die Vergegenwärtigung der Angehörigkeit dient dabei nicht der Historie, sondern dem eigenen Leben (Nietzsche 1994). Man vergewissert sich hier, wer dazu gehört und wer nicht. In der modernen Gesellschaft beschränkt sich die Familiengeschichte auf drei bis vier Generationen – also gerade auf diejenige Spanne, in der sich ihre jeweilige Vertreter nicht nur einfach hätten begegnen können, sondern vor allem: in der sie sich als Erzähler begegnen könnten. Ein darüber hinausreichender Bedarf an Familiengeschichte ist in der Gesellschaft der Gegenwart vergleichsweise selten. Der feudale Adel der vormodernen Gesellschaft besaß eine solche Geschichte noch deswegen, weil die eigene Exzellenz über den Stammbaum kommuniziert werden konnte. In den westlichen Gegenwartsgesellschaften sind es vor allem Familienbetriebe und bäuerliche Erbhöfe, die noch über die Abstammungslinie ein bestimmtes Ethos tradieren, dessen Verbindlichkeit sich auf die Kenntnis einer Ahnenreihe beruft, die die jeweils jüngste Generation fortzusetzen aufgerufen ist. Doch in dem Maße, in dem in der Moderne die Vergangenheit keine Erwartungssicherheit mehr für zukünftiges Verhalten ausstellen kann (Koselleck 1979; vgl. Kapitel V), wird es zunehmend unwichtiger, zu wissen, woher jemand kommt. Nicht askriptive, sondern deskriptive Merkmale sind jetzt für die soziale Position eines Individuums relevant. Unter den Prämissen eines Wirtschaftssystems, das biographische Flexibilität fordert, kann es sogar ein Hindernis sein, zu sehr auf Vergangenheit zu pochen (Sennett 2000). Die über eine Familiengeschichte vermittelte Kenntnis der eigenen Angehörigkeit reicht im biographischen Standardfall westlicher Gesellschaften daher bis zu den (Ur)Großeltern zurück. Eine Familiengeschichte ist daher nicht nur eine Frage des individuellen Gedächtnisses eines Erzählers, sondern ihre Reichweite und ihre Relevanzen werden auch durch die Struktur einer Gesellschaft festgelegt. In jedem Fall ist das Wissen um die eigene Angehörigkeit gleichbedeutend mit der Kenntnis einer Ahnenreihe.
2.2
Wer bist du?
In der zweiten Variante eines autobiographischen Ego-Alter-Verhältnisses sind Ego und Alter füreinander Fremde. Sie verhalten sich gegenüber dem jeweils Anderen weder als signifikante Andere ersten oder zweiten Grades, gehören
III. 2 Drei Fragekonstellationen
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also weder der gleichen Kernfamilie an, noch sind sie Mitglieder eines sie übergreifenden Verwandtschaftssystems. Als einander Fremde können sie aber auch nicht signifikante Andere dritten Grades sein, dürfen daher weder miteinander eng befreundet noch entfernt bekannt sein. Andererseits sind Ego und Alter auch keine generalisierten Anderen, sondern füreinander wechselseitig wahrnehmbare Organismen. Am Fremden versagt also das Schema abnehmender Bekanntheit. Er ist leiblich-konkret, andererseits unbekannt. Wenn Ego und Alter zum ersten Mal in ihrem Leben aufeinander treffen, dann bringt sie das nicht nur in eine Situation sozialer Unterbestimmtheit. Die Frage, wer der jeweils andere ist – „Wer bist du?“ –, ist daher eine Frage, die vor allem in einer Situation sozialer Unbestimmtheit auftritt. Ego und Alter sind hier füreinander vollkommen intransparent. Beide müssen sich zunächst ganz auf die Wahrnehmungen ihrer Körper verlassen. Lässt man nun eine Lösung dieser sozialen Unbestimmtheitsrelation beiseite, die gerade der sozialen Diffusität dieser Situation eine positive Qualität mit dem Argument abgewinnen würde, dass beide Parteien hier auf die Alterität des jeweils Anderen nicht nur rein sprachlichsozial, sondern in erster Linie moralisch-affektuell reagieren müssen (Waldenfels 1991; 1997), dann besteht die grundsätzliche Problematik in dieser Situation darin, dass Ego und Alter sich gerade dann, wenn sie sich zueinander als Mitmenschen (Löwith 1962) verhalten wollen, sozial bestimmen können lassen müssen. Sozial gesehen müssen Ego und Alter wechselseitig weniger als ihre Alterität verkörpern, sie sollen füreinander aber zugleich mehr als nur Artgenossen sein. In dieser Situation wechselseitiger Intransparenz von Ego und Alter liegt es nahe, die Fremdheit des Einen für den Anderen durch Anwendung einer Spielart der Frage „Wer bist du?“ abzumildern. Mehr noch: Man muss die Frage als solche gar nicht erst stellen. Die Unbestimmtheit der Situation verlangt, dass beide sich hinreichend füreinander zu erkennen geben. Ego und Alter appellieren hier aneinander, sich für den jeweils anderen selbst zu bestimmen. Ego wird sich daher so verhalten, wie er glaubt, dass Alter es von ihm selbst erwartet. Dazu bedarf es einer sozialen Konvention. Hierzulande geschieht dies durch die wechselseitige Bekanntgabe von Eigennamen. Ego und Alter teilen freilich mehr als nur ihren Namen mit. Sie bestätigen sich zugleich auch darin, dass sie eine gemeinsam geteilte Eigenschaft haben, um derentwillen sie nun als Mitmenschen interagieren: Sie sind Personen. Das heißt in erster Linie, dass sie nicht etwas sind, sondern jemand. Und als ein Jemand appellieren sie mit der Bekanntgabe ihres Namens an den Anderen, dass dieser sie nicht wie eine Sache behandeln möge, sondern als jemanden, der zur selben Art gehört, also über Eigenschaften verfügt, die sich von denen seines Gegenübers prinzipiell nicht unterscheiden. Soziologisch gesehen ist es daher nicht das „Antlitz“ des Anderen, das dazu zwingt, ihm gegenüber als Mitmensch
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III. Objektivierungen
„Verantwortung“ zu übernehmen (Levinas 2003), sondern dessen Eigenname. Er ist es, der aus einem nackten Körper einen Träger von individuellen Ansprüchen und einen Adressaten sozialer Erwartungen macht. Ist das Gegenüber durch den Personennamen als Mitglied der Gesellschaft erst einmal anerkannt, bedeutet die Nennung seines Eigennamen im zweiten Schritt, ihn nicht nur als irgendjemanden zur Kenntnis zu nehmen, sondern als eine unverwechselbare Person. Das ist zunächst einmal nur in einem schwachen Sinne gemeint. Personennamen machen aus Körpern nicht nur gesellschaftliche Wesen, sie fungieren in der Gesellschaft uno acto auch als ein soziales Differential. Gibt Ego seinen Namen Alter bekannt, willigt er implizit ein, sich in allen weiteren Situationen von Alter anhand seines Namens identifizieren und eben dadurch von allen anderen unterscheiden zu lassen. Entsprechendes gilt umgekehrt auch für Alter. Die soziale Differenzierung qua Namen setzt freilich voraus, dass beide überhaupt einen Namen haben, durch den sie von anderen einerseits identifiziert werden können, mit dem sie sich selbst andererseits aber auch schon deswegen identifizieren müssen, um reagieren zu können, wenn sie jemand beim Namen ruft. Auf früheren Entwicklungsstufen mussten deshalb beide bereits gelernt haben, auf eine bestimmte Lautgebärde signifikanter Anderer zu reagieren, von der sie seinerzeit noch nicht wissen konnten, dass es sich dabei um ihren Namen handelte. Im zweiten Schritt erst konnten sie bemerken, dass dies eine Geste war, die an keine bestimmte Situation, an keinen besonderen Anderen und an keine besondere Verhaltensaufforderung gebunden blieb, sondern vielmehr ein Symbol, durch das sie von anderen zu einem sozialen Adressaten von Verhaltenserwartungen bestimmt wurden. Eine besondere Lautgebärde wurde von ihnen jetzt als Symbol interpretiert, durch das sie sich als Träger von Erwartungen verstanden, die andere an sie stellen konnten. Und es bedurfte schließlich auch der Einsicht, dass der eigene Name ein Symbol war, auf den sie nicht nur kontext- und personenunspezifisch reagierten, sondern sie sich mit ihm dabei unversehens auch in einem stärkeren Sinne identifiziert hatten. Der Name war nun nicht mehr nur Inbegriff ihrer Unverwechselbarkeit für andere, sondern er war für sie das Synonym ihrer Einzigartigkeit. Erst dann also, wenn der Name zum Eigennamen geworden war, konnten sich Ego und Alter wechselseitig unterstellen, dass der jeweils andere gerade deswegen auf seinen Namen hörte, weil es sein Name war. Der Eigenname war nun mehr als nur ein Signal, mehr als nur ein Symbol: Er war jetzt ein signifikantes Symbol. Denn erst im Eigennamen begriff Ego die eigene Individualität aus der Perspektive Alters. Zugleich konnte er dabei unterstellen, dass es Alter mit dessen Eigenname ebenso erging. Beide hatten einen Eigennamen gemeinsam, durch den sie sich als Individuen verstanden. In der wechselseitigen Bekanntgabe dieses Namens konnten sie sich daher sowohl ihrer sozialen, wie auch ihrer personalen Identität gewiss sein.
III. 2 Drei Fragekonstellationen
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Der Eigenname ist hier also Schnittpunkt zweier Kreise: Auf sozialer (horizontaler) Ebene diversifiziert er Personen; auf psychischer (vertikaler) Ebene ist er das Kürzel für eine Differenzierung des Erlebens. Aus der Makroperspektive der Gesellschaft ist eine Person diese und keine andere. Wenn sich Ego und Alter über ihre Namen bekannt machen, machen sie deutlich, dass und wie sie durch andere von anderen unterschieden werden können. Es wird allerdings oft übersprungen, dass die soziale Identität in erster Linie eine numerische Identität ist. Wenn Personen erst einmal als Mitglieder einer Gesellschaft anerkannt sind, heißt dies, dass man sie wieder erkennen können muss. Als Person sind sie Träger von Rechten und Pflichten. Sie müssen daher als Adressat und Absender von Kommunikationen anerkannt sein. Und das setzt voraus, dass man weiß, wer da spricht und zu wem man da spricht. Der Eigenname ist dafür ein hinreichendes soziales Kriterium. Erst in Zweifelsfällen zieht man den Personalausweis zu Rate. Und wenn auch das nicht hilft, fragt man Dritte, die die personale Identität des Unbekannten bezeugen können. Das verweist darauf, dass es in letzter Instanz nicht der Eigenname ist, der die soziale Identität einer Person verbürgt, sondern Interaktionsbeziehungen (Habermas 1995, S. 42ff.). Der Eigenname individualisiert das Gegenüber also nicht einfach deswegen, weil er eine Bezeichnung für einen Körper ist, auf den man jenseits davon nur noch stumm zeigen könnte. Mit dem Eigennamen kommt eine gesellschaftliche Klassifikation nur an ein Ende (Lévi-Strauss 1973a, S. 249f.). In der anderen Richtung dieser Klassifikation steht der Eigenname für die Eingebettetheit in ein Netz sozialer Beziehungen. Er gibt die jederzeit explizierbare Zugehörigkeit des Gegenübers zu einer Familie und die damit zusammenhängenden Verwandtschaftsbeziehungen bekannt. Wer sagt, wie er heißt, sagt nicht nur, worauf er hört, sondern auch, zu wem er gehört. Der Eigenname bezeichnet daher nicht nur ein physisches Einzelding (Strawson 1993), sondern gibt auch eine soziale Zurechnungsadresse bekannt. Wenn jemand seinen Namen mitteilt, zeigt er damit prinzipiell an, dass er über eine explizierbare Familiengeschichte verfügt. Es kommt dabei nicht darauf an, dass diese Geschichte in einer solchen Situation tatsächlich erzählt wird, sondern dass sie erzählbar wäre. Nach diesem Muster potentieller narrativer Auflösung lassen sich nun alle weiteren Standardprädikate verstehen, mit denen Ego und Alter sich füreinander in Situationen wechselseitiger Unbestimmheit zu erkennen geben. Staatsbürgerschaft, Beruf, Alter21 – dies alles sind geläufige Modi sozialer Bestimmbarkeit,
21
Das biologische Geschlecht (sex) scheint davon interessanterweise ausgenommen zu sein. Man muss es nicht eigens bekannt geben, man sieht es. Wenn auch das noch Probleme bereitet, hat man sich so zu geben (gender), dass das Geschlecht nicht eigens thematisiert zu werden braucht. Kommunikative Unbestimmtheit bedarf offenkundig einer hinreichenden Sicherheit in der Wahrnehmung.
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III. Objektivierungen
andererseits sind sie aber auch nur Vorläufer von sozialer Vertrautheit, die über Erzählungen hergestellt wird. Denn um jemanden wirklich zu kennen, bedarf es mehr als nur Informationen über ihn. Es bedarf der substanziellen Anreicherung der Formen und Formalitäten, durch die sich Alter und Ego zunächst füreinander zu erkennen gegeben haben. Beide wissen, wenn sie hinreichend sozialisiert sind, dass konventionelle Prädikate nur Abkürzungen und soziale Stellvertreter für das personale Selbst des jeweils anderen sind. Hinter Kategorien wie Name, Alter, Beruf und Nationalität stehen erzählbare Lebensgeschichten. Mit anderen Worten: Ego und Alter können bereits durch die Bekanntgabe ihres Eigennamens einander unterstellen, dass sie ein „narratable self“ (Cavarero 2000, S. 34) haben, also bereits über eine personale Identität verfügen, die für den jeweils anderen zwar noch verschlossen ist, die aber über eine Selbsterzählung zumindest erschlossen werden könnte.
2.3
Wer bin ich?
Auch wenn Ego gegenüber unbekannten Personen mit seinem Eigennamen eine Standardantwort auf die Frage „Wer bist du?“ bereit hält und auf Nachfrage jederzeit eine Geschichte seiner selbst erzählen könnte, dispensiert ihn das nicht von einer noch viel weitergehenden Frage. Denn anlässlich seiner Begegnung mit einem Fremden bleibt es nicht aus, dass sich Ego auf die eine oder andere Weise selbst fremd wird. Das geschieht häufig sogar dann, wenn Ego Alter gegenüber einiges von sich zu sagen hat, wenn er also von sich als Rollenträger zu erzählen weiß. Einerseits sind Rollenangebote und deren Übernahme nicht nur für Ego, sondern auch für Alter sinnstiftend. Insofern lässt sich Ego für Alter am leichtesten dann verstehen, wenn ihm dieser – neben seinen Namen – darlegt, welchen standardisierten Erwartungen er nachgekommen ist und welche gesellschaftlichen Funktionen er übernommen hat. Ein solches Antwortverhalten Egos käme allerdings der mündlichen Wiedergabe objektiver Daten gleich. Ego müsste sich darauf beschränken, seinen Beruf, seine familiären Verhältnisse, seine Freizeitvorlieben mitzuteilen, sich also auf konventionelle Prädikate sozialer Identität konzentrieren. Andererseits jedoch sind Rollen nur gesellschaftliche Sinnangebote. Ego (wie Alter) können sich auf ihre je eigene Weise dazu verhalten. Eine Rolle ist kein eisernes Gehäuse der Hörigkeit (Weber 1979), sondern lässt es zu, ja fordert es in der Gegenwartsgesellschaft sogar (Krappmann 1993), dass ihr Träger ein gewisses Maß an Distanz im äußeren Verhalten zu ihr einnimmt. Insofern scheint Egos Antwort jetzt also wenigstens darin bestehen zu können, seine individuellen Stellungnahmen gegenüber den gesellschaftlichen Erwartungen zu kommunizieren.
III. 2 Drei Fragekonstellationen
141
Doch geht Ego in einem solchen Antwortverhalten auf? Bei einem Bewerbungsgespräch beispielsweise, wird sich Ego während seiner Antworten selbst zusehen. Hier tritt er im Inneren zu sich auf Distanz, und zwar noch während er Alters Fragen beantwortet. Für Ego taucht in solchen Situationen unabweisbar in ihm selbst die Frage auf, inwiefern das, was er in einer solchen Situation von sich sagt, ihn tatsächlich auch selbst ausmacht. Und um wieviel mehr muss der Andere bei Ego einen Prozess der Selbsterforschung in Gang setzen, wenn er sich nicht unter bestimmten Kategorien subsumieren lässt, sondern sich ihnen völlig zu entziehen scheint? Man muss nicht an fremde Völker denken, sondern braucht sich nur an die Submilieus der Großstädte zu halten: Queers stellen nicht nur die eigene, sondern auch die Identität aller anderen schon auf der Ebene der Wahrnehmung grundsätzlich in Frage. Die Fremdheit des Anderen scheint geradezu eine Voraussetzung für eine Selbstbesinnung Egos zu sein. Ethnologie (Därmann 2005) und Gender-Studies (Butler 1991) untersuchen als Grenzfälle, was im Prinzip jeder beliebige Fremde hervorrufen kann. Für ihn und vor allem vor ihm muss sich Ego exponieren. Das reißt ihn unwillkürlich aus seinen vertrauten sozialen Bezügen heraus. Nun ist er nicht mehr der signifikante Andere für signifikante Andere, sondern sieht sich als Fremder einem Fremden ausgesetzt. Im Angesicht des Anderen spiegelt sich ihm eine Frage wider, die ihm von Alter gar nicht eigens gestellt zu werden braucht. Wer er „eigentlich“ ist, ist eine Frage, die er in dem Moment in sich selbst bemerkt, wenn sie ihm von einem Anderen auf eine Weise gestellt wird, die sich gar nicht für Egos individuellen Kern, sondern nur für bestimmte Aspekte von ihm interessiert. Dennoch wird sich Ego in solchen Situationen fast unweigerlich selbst fremd. Es genügt daher ein Moment sozialen Befremdens, um zu sehen, dass die für die Autobiographie vermeintlich konstitutive Ausgangsfrage „Wer bin ich?“ nichts weiter als eine Internalisierung eines fremden Augenblicks ist. „Wer bin ich?“ ist das Derivat der Frage „Wer bist du?“. Was zunächst nur im Außenverhältnis passiert, wird jetzt ganz in das Innere von Ego hineinverlagert. Alter wird nun zum alter Ego. Mit Mead gesprochen (1973, S. 232) erweist sich die Frage nach der eigenen Ich-Identität als „nichts anderes als das Hereinnehmen dieses externen Prozesses in das Verhalten des Einzelnen.“ Eine solche Ableitung der Identitätsfrage aus Intersubjektivitätsverhältnissen hat mindestens zwei Implikationen. Erstens wird für Ego die Identitätsfrage unabweisbar, wenn er auf einen Fremden trifft und diese Frage nicht mehr delegieren kann. Als Kind noch, wo er mit dieser Frage durch den Kontakt mit signifikanten Anderen dritten Grades – Freunden und Bekannten – konfrontiert wurde, konnte Ego die Frage nach der eigenen Herkunft an die eigenen Eltern weiterreichen. Auf der Stufe des Ego-Alter-Verhältnisses jedoch, auf der ihm ein Fremder jetzt begegnet, kann Ego der Identitätsfrage nicht mehr ausweichen.
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III. Objektivierungen
In seinem Antwortverhalten ist Ego jetzt unvertretbar. Zweitens bekommt die Alterität des Fremden in solchen Situationen eine besondere Funktion. Der Fremde instituiert den generalisierten Anderen in Egos Binnenverhältnis. Und das in zwei analytisch trennbaren Schritten. Zum einen ruft die Alterität des Anderen in Ego selbst eine Alterität hervor, mit der er nun sich selbst konfrontiert. Das Selbst wird hier zu einem Anderen (Ricœur 1996). Aus diesem inneren Selbstbefremden, das die Befremdung auf interaktiver Ebene widerspiegelt, resultiert zum anderen die Frage „Wer bin ich?“. Mit der Internalisierung der Identitätsfrage entwickelt Ego daher ein Verhältnis zu sich, das darauf angelegt ist, das eigene Verhalten von einem übergeordneten Gesichtspunkt aus zu betrachten. Der Fremde ist also weder der generalisierte Andere, noch repräsentiert er ihn – und schon gar nicht ist er ein signifikanter Anderer. Eine Begegnung mit ihm im Außenverhältnis impliziert vielmehr einen Prozess des inneren Sich-zu-sich-selbst-Verhaltens von Ego. 3.
Selbstbeziehungen
Fragen derart, wie sie bisher diskutiert wurden, versetzen denjenigen, den sie betreffen, nicht nur in ein Verhältnis zu sich selbst, sie tun dies auch unter der – mehr oder minder strengen – Observanz eines fremden Blickes. Das durch Alter bei Ego ausgelöste Selbstverhältnis steht von vornherein im Dienste einer Antwort, die Ego von Alter abverlangt wird. Doch die Rede von Antwort ist hier doppeldeutig. Sie bewegt sich gleichzeitig auf zwei Ebenen: auf der des Verhaltens und auf der des Inhalts. Wer Ego ist, lässt sich für Alter daher daran erkennen, wie er antwortet und was er antwortet. Ego-Alter-Konstellationen schließen stets eine performative und eine propositionale Ebene mit ein. In diesem Abschnitt möchte ich zunächst auf die performative Seite eingehen, die sich vor allem bei Ego ergibt, wenn er mit einer der zuvor diskutierten Fragen (Abschnitte 2.1 - 2.3) konfrontiert wird. Die Ego-Alter-Konstellation ist dadurch gekennzeichnet, dass Alter bei Ego eine bestimmte Reaktion auf seine Frage hervorrufen möchte. Alter möchte, dass sich Ego auf irgendeine Weise ihm gegenüber zu erkennen gibt. Diese Absicht hat allerdings nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn er Ego gegenüber auf geeignete Weise (Prosodie, Mimik, Gestik) zu erkennen gibt, dass seine Frage von ihm nicht nur als reine Frage gemeint ist, sondern zugleich auch als Bitte, als Aufforderung oder als Appell. Nur durch eine illokutionäre Zweitcodierung seiner Frage kann es Alter überhaupt gelingen, bei Ego eine praktische Einstellung sich selbst gegenüber hervorzurufen, in der dieser sich selbst zum Objekt wird und die insofern „theoretisch“ genannt werden kann. Eine Frage hat zwar
III. 3 Selbstbeziehungen
143
eine perlokutionäre Wirkung, doch sie alleine bewegt Ego noch nicht zu einem Antwortverhalten, das über die Bekanntgabe von Informationen hinausgeht. Für ein Erkenntnisinteresse der Art, wie es Alter hat, geht es vor allem darum, zu wissen, indem man das praktische Verhalten des anderen beobachtet. Aus dieser Erwartungshaltung wäre es nicht nur unbefriedigend, sondern auch unzureichend, auf Fragen nur solche Antworten zu erhalten, die sich auf den Eigennamen, die Eigenschaften und objektiven Daten einer Person beziehen. Würde Alter an Ego eine Frage adressieren, die nichts weiter als eine Frage wäre, müsste er sich jedenfalls darauf gefasst machen, dass Ego darauf zwar antwortet, aber sich nicht in einem anspruchsvolleren Sinne zu sich selbst verhält. Alters Frage könnte von Ego in diesem Fall auf eine Weise beantwortet werden, die in erster Linie dessen verfügbare Wissensbestände abruft. Auf die Frage des Kindes „Woher komme ich?“ könnten also die Eltern beispielsweise antworten: „Von da und da her“. Auf die Frage „Wer bist du?“ könnte jemand antworten: „Der so und so“. Und auf die Frage „Wer bin ich?“ würde derjenige, der sich das fragt, womöglich antworten: „Natürlich der so und so“ – oder eben: „Ich weiß es nicht“. Mit anderen Worten, von Ego entstünde kein Bild im geistigen Auge Alters, sondern er besäße nur Informationen über ihn. Erst also, wenn Ego nicht nur auf eine Frage antwortet, sondern auch einer Bitte entspricht bzw. auch einer Aufforderung nachkommt oder auch auf einen Appell reagiert, versetzt ihn dies in eine Situation, in der er Alters spezifisches Erkenntnisinteresse überhaupt befriedigen kann. Denn nun entfaltet sich Ego vor Alters Augen, d.h. er verhält sich auf eine für sein Gegenüber mitvollziehbare Weise zu sich selbst. Alter muss also solche Stimuli auswählen, die ihm diesen Mitvollzug ermöglichen. Fragen nach der personalen Identität üben daher einen zwanglosen Zwang aus: Sie haben die äußere Form des Zwanglosen, aber sie besitzen zugleich die innere Kraft eines Zwanges. Eben darum bugsieren sie Ego auf eine von ihm kaum bemerkte Weise in ein praktisches Selbstverhältnis hinein. Im Folgenden diskutiere ich die drei Arten des Selbstverhältnisses, die sich aus den bereits beschriebenen Ego-Alter-Konstellationen ergeben – allerdings nur aus der Sicht von Ego (3.1-3.3). Erst im darauf folgenden Abschnitt (4.) komme ich auf die narrative Komponente dieser Selbstbeziehung zu sprechen, durch die Ego sich Alter gegenüber auf eine nachvollziehbare Weise zu erkennen gibt.
3.1
Das autobiographische Selbstverhältnis
Die Frage nach der Angehörigkeit ist die kleinste Münze im großen Haushalt der Identitätsfrage. Wenn man die von Mead aufgezeigte Struktur der wechsel-
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III. Objektivierungen
seitigen Selbstaffektion von Interaktionspartnern berücksichtigt, lässt sich eine Erzählsituation, in der die Frage „Woher komme ich?“ gestellt wird, folgendermaßen beschreiben. Auf der Ebene des Verhaltens adressiert das Kind mit der Frage „Woher komme ich“? eine Bitte an die eigenen Eltern, ihm eine befriedigende Antwort darauf zu geben. Gleichzeitig versucht das Kind, in sich selbst darauf so zu reagieren, wie es aus seiner Sicht die eigenen Eltern voraussichtlich tun werden. Da das Kind aber nur antizipieren kann, dass seine Eltern antworten werden, nicht aber, was sie antworten, läuft das Antwortverhalten, das es in sich selbst stimuliert, auf inhaltlicher Ebene ins Leere. Auf zwei Wegen nur ist jetzt eine Responsivität noch möglich: Entweder, das Kind bestätigt sich darin, dass es eine Frage, auf die es selbst keine Antwort weiß, eben darum an Andere gerichtet hat. Es handelt sich dabei um eine innere Selbstlegitimation der Fragemotivation als solcher. Oder aber, das Kind beginnt nun die eigene Ausgangsfrage selbst wiederum zu hinterfragen. Es geht bei dieser Art des Antwortverhaltens nicht darum, die Fragestellung als solche zu destruieren, sondern vielmehr darum, in Erfahrung zu bringen, wodurch die ursprüngliche Frage motiviert gewesen ist. In diesem Fall besteht die innere Antwort des Kindes in einer zweiten Frage. Sie lautet: „Wer bin ich, der ich dich frage, woher ich komme?“ Es kommt bei dieser reflexiven Wende im Bewusstsein des Kindes nicht darauf an, dass es mit dieser Frage erst recht keine Aussicht auf eine inhaltliche Antwort haben kann. Wichtig ist, dass sich erst mit dieser an signifikante Andere gerichteten und reflexiv gewendeten Frage nach der eigenen Herkunft ein biographisches Selbst konstituiert. Indem es seine Beziehung zu signifikanten Anderen reflektiert, bemerkt das Kind, dass die Frage nach der eigenen Herkunft nicht nur der Vergewisserung einer für es selbst interessanten Geschichte dient, sondern eine Frage an bedeutsame Andere ist, die dadurch ausgezeichnet sind, dass deren Antwort von ihm selbst als integraler Bestandteil seiner personalen Identität übernommen werden muss. Es weiß nun von sich, dass es eine eigene Geschichte hat. Aus dieser Reflexion des Kindes auf eine soziale Beziehung, die nicht neben anderen sozialen Beziehungen besteht, sondern vor allen andern, erwächst dem Kind eine Antwort, die formal so beschrieben werden kann: „Ich bin jemand, zu dessen Selbstverständnis die Kenntnis seiner Herkunft gehört, zu der du als signifikanter Anderer wesentlich beiträgst.“ Ohne diese Reflexivität zweiter Stufe bliebe die an die eigenen Eltern adressierte Frage letztlich nur reine Neugier. Die Liebesgeschichte der eigenen Eltern, aber auch diejenige der Großeltern und alle sich daraus ergebenden sozialen Bindungen, Entwicklungen und Auflösungen könnten von Ego nicht als die Vorgeschichte des eigenen Selbst begriffen werden, sondern wären das mehr oder weniger interessante
III. 3 Selbstbeziehungen
145
Leben Anderer.22 Vor allem aber gelänge auch nicht der folgenreiche Schritt vom biographischen zum autobiographischen Selbst. Das Kind könnte die Antwort seiner Eltern und Großeltern, Tanten und Onkels, älteren Geschwister und Vettern nicht als Teil der eigenen Lebensgeschichte begreifen, d.h. unauffällig in Besitz nehmen. Doch erst wenn das geschieht, erst wenn ein Mensch gewissermaßen vergessen hat, dass zu seiner Geschichte etwas gehört, das er nicht samt und sonders aus eigenem Erleben geschöpft hat, sondern aus dem Mund Anderer hat vernehmen müssen, lässt sich von einer Autobiographie sprechen. Anamnese und Amnesie sind für sie gleichermaßen konstitutiv. Seine Angehörigkeit muss sich ein Kind von signifikanten Anderen erst aneignen, bevor es sie wiederum anderen mitteilen kann. Wenn es also eine Voraussetzung für eine Autobiographie ist, dass man eine Biographie hat, und dies wiederum bedeutet, über die eigene Angehörigkeit und die eigenen Angehörigen Bescheid zu wissen, dann ergibt sich dieses Wissen aus einer interaktiv vermittelten Übernahme durch signifikante Andere ersten und zweiten Grades.
3.2
Das autonome Selbstverhältnis
In Situationen, in denen es nicht mit der wechselseitigen Bekanntgabe von Eigennamen getan ist, bedarf es einer Explikation des bisherigen Rollenverhaltens der Beteiligten. Wenn Ego von Alter mit der Frage „Wer bist du?“ konfrontiert wird, kommt das der Aufforderung gleich, sich selbst mit den Augen von Alter zu betrachten. Ego antwortet daher nicht direkt auf die Frage von Alter, sondern indirekt, indem er sich vorstellt, welche Erwartung Alter an sein Antwortverhalten vermutlich hegt. Das setzt ein rudimentäres Bild von Alter bei Ego voraus. Ego muss in irgendeiner Weise die soziale Rolle von Alter und die damit verbundene Erwartungshaltung antizipieren können, damit er sich nicht unmittelbar zur Frage, sondern zu der damit verbundenen Verhaltenserwartung von Alter positionieren kann. Ego fragt sich also selbst, wer Alter ist und das heißt: wie er dazu kommt, dass dieser ihm in der aktuellen Situation eine solche Frage stellt. Nur dann, wenn Ego sich selbst darauf eine Antwort geben kann, ist er auch imstande, Alters Ausgangsfrage zu beantworten. Im gleichen Atemzug antizipiert er nicht nur mögliche Anschlussreaktionen von Alter (z.B. dessen Nachfragen), sondern Ego reflektiert nun auch noch sein tatsächliches Antwortverhalten mit. Er bezieht sich dabei nun nicht mehr einfach nur auf Alter, sondern
22
Diese entwicklungspsychologisch gänzlich unbestimmte Rede von der Entwicklung eines autobiographischen Selbst hat hier nur den Sinn, die Genese eines autobiographischen Bewusstseins strukturell durchsichtig werden zu lassen.
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III. Objektivierungen
auf die Beziehung, die zwischen ihm und Alter besteht. Die Frage, die er sich dabei selbst stellt, ist: „Wer bist du, der du diese Frage von Alter auf diese Weise beantwortest?“ Erst also, wenn sich Ego nicht nur zu Alter verhält, sondern auf die Beziehung zwischen Ego und Alter reflektiert, verhält sich Ego zu sich selbst. Die Antwort, die er formal gesehen darauf geben kann, lautet darum: „Ich verstehe mich als jemand, der dir als soundso aufgefasstem Anderen soundso antwortet und auf diese Beobachtung nun wiederum soundso reagieren kann.“ Mit anderen Worten, ein autonomes Selbstverhältnis ergibt sich in dieser Konstellation des Frage-Antwort-Verhältnisses als eine Stellungnahme gegenüber einer sozialen Beziehung, in die Ego involviert ist. Man kann also zwei Selbstverhältnisse unterscheiden. Das erste ist die basale Selbstbezüglichkeit (vgl. Luhmann 1996, S. 600ff.). Auf dieser Ebene verhält sich ein Mensch zu sich, indem er sich zu einem anderen Menschen verhält. Auf der zweiten Ebene, derjenigen der Autonomie, verhält er sich dann zu sich, wenn er zugleich die soziale Beziehung beobachtet und bewertet, in die er auf erster Ebene selbst verstrickt ist. Weil ein Selbstverhältnis also erst aus einem internen Kommentar intersubjektiver Beziehungen resultiert, kann Ego nicht in den sozialen Rollen aufgehen, die er übernommen hat. Es bleibt stets ein Rest, der im Verhalten nicht aufgeht. Damit ist der Unterschied zwischen sozialer und personaler Identität angezeigt. Denn von einer Person im starken Sinne lässt sich dann – und nur dann – sprechen, wenn Ego nicht nur zu Erwartungen an sein eigenes Verhalten, sondern auch zu diesem Verhalten selbst auf eine innere Distanz geht. Als Person ist Ego jetzt Reflexions- und Evaluationsinstanz praktischer Intersubjektivität.
3.3
Das authentische Selbstverhältnis
Im Anschluss an Mead lässt sich argumentieren, dass die innere Selbstbeziehung eines Menschen die intersubjektiven Verhältnisse abbildet, in denen er lebt (Tugendhat 1979, S. 245). In Folge dessen kann Selbsterforschung keine Introspektion eines einsamen Seelenlebens mehr sein, das sich von der sozialen Umwelt auf Abstand hält oder sich zu ihr wenigstens auf Abstand bringen ließe. Im Gegenteil: Nach Ansicht Meads scheinen auch noch mentale Zustände und seelische Ereignisse vollkommen durchsozialisiert zu sein. Margret Archer (2003, S. 78ff.) hat Mead deshalb vorgeworfen, er „übersozialisiere“ die menschliche Ich-Identität derart, dass es keinen inneren Selbstbezug eines Menschen mehr geben könne, der nicht zugleich bereits eine Stimme der Gesellschaft in ihm selbst wäre. Eine personale Reflexivität im strengen Sinne sei deswegen ausge-
III. 3 Selbstbeziehungen
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schlossen. Insbesondere drei Einwände werden von ihr Mead gegenüber erhoben (ebd., S. 90ff.): 1.
2.
3.
Da Mead der Auffassung sei, dass die Spontaneitätsquelle des Handelns, das „I“, stets erst im Nachhinein des Handelns erfahrbar sei, nehme das „I“ immer schon die Gestalt des „Me“ an. Ego könne sich demnach ausschließlich anhand von sozialen Erwartungen verstehen. Was er in sich als innere Stimme vernehme, sei nichts weiter als der generalisierte Andere. Damit entzöge Mead der eigenen Bedingung an eine Ich-Identität den Boden. Ein Subjekt könne sich nämlich gerade nicht zum Objekt werden, weil das „I“ keine selbstständige Instanz sei, sondern nur als „I im Me“ vorkomme. Da das „I“ eine spontane Quelle des individuellen Handelns sei, entfalle die Möglichkeit, zukünftige Handlungsmöglichkeiten abzuwägen. Eine Person könne Mead zufolge nicht vorwegnehmen, wie sie sich zukünftig verhalten werde. Da die Rekonstruktion der Vergangenheit für Mead stets von gegenwärtigen Perspektiven abhänge, sei das vergangene Verhalten der Person instabil. Damit entfalle auch noch die Möglichkeit, die Vergangenheit zu bewerten.
Archer haben diese Gründe dazu geführt, Meads Konzeption des inneren MitSich-Redens als ungeeignet für einen Prozess der reflexiven Deliberation zu erachten. Mit Mead sei die private (solitude) Erwägung von Gründen des eigenen Handelns in der Gesellschaft nicht zu denken. Ich halte diese Schlussfolgerung für vermeidbar, da sie sich durch eine Korrektur eines grundlegenden Axioms bei Mead selbst umgehen lässt. Zunächst möchte ich darlegen, inwieweit ich Archers Argument folgen kann. Ich habe gezeigt, dass es der Fremde ist, der in Egos Bewusstsein den generalisierten Anderen insofern instantiiert, als sich hierdurch die externe Frage „Wer bist du?“ in die interne Frage „Wer bin ich?“ transformiert. Damit ist also auch noch die scheinbar intimste Frage sozial imprägniert. Soweit ist also Archers Einwand berechtigt, demzufolge die innere Reflexivität bei Mead nichts weiter als eine Widerspiegelung sozialer Verhältnisse ist. Und auch noch im nächsten Schritt ist ihr zuzustimmen, dass die Antwort kaum anders wird ausfallen können, als dass sie dabei entweder auf soziale Konventionen zurückgreift oder aber unweigerlich in eine tiefe Ratlosigkeit gerät, da das „I“ Mead zufolge ja nichts weiter als ein Zerrbild gegenwartsbasierter Perspektiven ist. Allerdings gibt es meines Erachtens einen Weg, der die Konsequenzen vermeidet, die Archer aus Meads Konzeption eines inneren Dialogs zieht. Man muss sich dafür zweierlei in Erinnerung rufen. Erstens ist wichtig, dass das Subjekt anlässlich einer inneren Selbsterforschung bei Mead keine theoretische, sondern eine prak-
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III. Objektivierungen
tische Einstellung zu sich selbst einnimmt. Das menschliche Denken wird von Mead zwar als impliziter Dialog mit sich selbst konzeptualisiert, nach Ansicht Tugendhats (1979, S. 259) geht er dabei allerdings von der „unhaltbaren Vorstellung eines reflexiven Verhältnisses aus, indem das Subjekt sich selbst zum Objekt wird.“ Dieser Irrtum Meads sei aber insofern leicht zu korrigieren, als nur die Begründung, nicht jedoch die These, die Tugendhat für richtig hält, auszuwechseln wäre. Das innere Mit-sich-reden müsse demzufolge nicht als theoretisches Wissen („ich weiß, dass p“), sondern vielmehr als praktische Stellungnahme zum bevorstehenden bzw. abgelaufenen Handeln verstanden werden. Zweitens möchte ich in Erinnerung rufen, dass sich mit der Transformation der Fragestellung „Wer bist du?“ zu „Wer bin ich?“ auch die illokutionäre Zweitcodierung der Frage verändert. War es im Außenverhältnis noch eine Aufforderung, die Alter mit der Frage „Wer bist du?“ an Ego verknüpfte, ist es im Innenverhältnis nun keine Forderung mehr, sondern ein Appell. Aber woran appelliert Ego in sich selbst? Wenn Ego sich selbst die Frage stellt, wer er sei, dann versteht er sie nicht wie die Inschrift des Orakel-Tempels in Delphi – gnothi seauton – die dazu auffordert, sich selbst zu erkennen. In zwei Hinsichten unterscheidet sich die Aufforderung „Erkenne dich selbst!“ von der Frage „Wer bin ich?“. Erstens handelt es sich nicht mehr um den theoretischen Modus der Selbstbeziehung, sondern um einen praktischen. Zweitens ist mit der Frage „Wer bin ich?“ keine Aufforderung zur Selbsterkenntnis verbunden, sondern ein Appell. Dieser ist unverbindlicher als eine Forderung. Er lässt demjenigen, an den appelliert wird, mehr Freiheitsgrade in seinem Antwortverhalten als eine Aufforderung, die imperativische Züge hat. So kann Ego nicht nur die Antwort auf die Frage, sondern die Frage als solche abweisen, transformieren oder hinterfragen, wenn sie von ihm als unangemessen empfunden wird. Und genau das scheint mir bei der inneren Identitätsfrage der Fall zu sein. Ego kann nun die Frage hinterfragen. Eine solche Strategie mündet in eine Frage zweiter Ordnung: „Wer bin ich, der ich mir diese Frage überhaupt stelle?“ Diese reflexive Wende nimmt der Identitäts-Frage den theoretischen Beigeschmack. Sie verschiebt sich dadurch in die praktische Dimension. Denn würde Ego die Identitätsfrage nun immer noch theoretisch verstehen, bestünde die Antwort in einer bloßen Tautologie („Ich bin jemand, der sich die Frage stellt, wer ich bin“). Durch die reflexive Wende der Identitätsfrage nimmt diese faktisch die Gestalt einer anderen Frage an. Sie lautet nun: „Warum stelle ich mir überhaupt die Frage, wer ich bin?“ Diese grundsätzliche Umstellung der Ausgangsfrage führt Ego nun nicht mehr dazu, eine Antwort auf die Identitätsfrage zu suchen – er kommt daher keiner Aufforderung mehr nach – sondern vielmehr will er nun erforschen, wodurch die Ausgangsfrage in ihm selbst motiviert ist. Da sich auch das letztlich nicht ganz
III. 3 Selbstbeziehungen
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aufklären lässt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als diese Frage wenigstens mutmaßlich zu beantworten. Ego wird dann zu dem Schluss kommen, die Quelle dieser Frage in einem mehr oder minder großen Handlungsproblem zu sehen. Denn wenn man erstens davon ausgehen kann, dass die Frage „Wer bin ich?“ ein Indiz dafür ist, dass Ego sich zumindest ungewiss darüber ist, wer er ist, und wenn man zweitens mit Mead der Ansicht ist, dass Ego sich ganz aus Interaktionsbeziehungen heraus versteht, ist die Identitätsfrage der Indikator dafür, dass die sozialen Beziehungen, in die Ego eingebettet ist, in irgendeiner Hinsicht problematisch sind. Kurz: Identitätsungewissheiten sind mehr oder minder große Krisen in intersubjektiven Beziehungen. Mit der Frage „Wer bin ich?“ appelliert Ego an sich selbst, seine sozialen Beziehungen im Ganzen auf den Prüfstand zu stellen. Er fragt sich nun, ob und inwieweit er sich tatsächlich als der verstehen will, der er in seinen zahlreichen sozialen Rollen ist. Das Problem, das aus diesem inneren Prozess der Deliberation resultiert, hat Tugendhat (1979, S. 269) auf folgende Weise beschrieben: „Indem ich eine Rolle übernehme, verstehe ich mich als der und der, und indem ich in der Mannigfaltigkeit von Rollen einen bestimmten Charakter ausbilde, geht es in noch eminenteren Sinn darum, wer ich sein will, wie ich mich verstehe.“ Mit der Frage „Wer bin ich?“ verhält sich Ego also nicht nur zu dieser oder jenen sozialen Beziehung, sondern zu ihnen im Ganzen. Sie kommt einem Appell gleich, sich zu fragen, ob und inwieweit er der Schnittpunkt aller dieser einzelnen Rollenerwartungen und Rollenübernahmen sein will. Es handelt sich um ein Selbstverhältnis, in dem Authentizität die maßgebliche Rolle spielt. Im Ergebnis heißt dies, dass man mit Mead sehr wohl den Prozess des inneren Abwägens einer Person konzipieren kann. Dazu darf freilich kein theoretisches Selbstverhältnis zu Grunde gelegt werden, sondern ein praktisches. Durch diese Umstellung verschwindet Archers „I im Me“-Problem. Im praktischen Selbstverhältnis wird sich ein Subjekt nicht mehr selbst zum Objekt (bei Mead: ein soziales Subjekt zum sozialen Objekt), sondern dieses Subjekt verhält sich zu zukünftigen wie abgelaufenen Prozessen des Handelns. Ego ist nichts weiter als dieser perspektivische Bezug zu seinen Handlungen. Damit kann Archers globale Kritik an Mead zurückgewiesen werden. Korrigiert man Meads eigene Prämisse, werden durch die Umstellung auf praktisches Handeln in der Folge auch die beiden anderen Einwände von Archer obsolet. Damit lässt sich das deliberative Moment im inneren Mit-sich-selbst-Reden bei Mead retten. In der praktischen Dimension reicht ein durchsozialisiertes Subjekt aus, damit es die sozialen Beziehungen, denen es seine Ich-Identität auf der einen Seite verdankt, auf der anderen Seite in einem inneren Prozess des Erwägens kritisch hinterfragen kann.
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4.
III. Objektivierungen
Selbstzeugnisse
Aus der Perspektive Alters wäre es nun allerdings unbefriedigend, nur das Verhalten von Ego mitzuvollziehen. Alters Frage war ursprünglich dadurch motiviert, das verstehen zu wollen, was Ego ihm inhaltlich auf seine Frage antwortet. Die Verhaltensebene ist daher kein Selbstzweck. Sie wird von Alter nur insofern stimuliert, wie sie ihm ermöglicht, sich auch auf semantischer Ebene von Egos Individualität zu vergewissern. Das führt sowohl Ego als auch Alter dazu, ein Selbstverhältnis nicht nur in actu, sondern zugleich als historische Individualität aufzufassen. Gerade weil Ego nicht in den Momenten und in den Modi der praktischen Selbstbeziehung aufgeht, sondern vielmehr ein geschichtliches Wesen ist, muss sich diese Geschichtlichkeit vor Alters geistigem Auge intersubjektiv ausbreiten können. Ego kann nun nicht mehr nur auf theoretische Weise mitteilen, wer er ist, er muss es erzählen. Während auf der performativen Ebene der Erzählung Alter daher einerseits in die Lage versetzt wird, Egos Äußerungen mitzuvollziehen, geht es auf der semantischen Ebene nun darum, dessen Aussagen nachzuvollziehen. Alter versteht Ego also erst dann in einem anspruchsvollen Sinne, wenn sich die performative und pragmatische Ebene miteinander verschränken. Ego verhält sich gerade dann zu sich, wenn er einem anderen von sich erzählt. Aber auch Alter verhält sich hier zu sich, indem er die Rede des Anderen als Hörer vernimmt und darauf wiederum in sich selbst reagiert, etwa durch Nachfragen. Auf diese Weise verhalten sich Ego und Alter so zueinander, dass das Selbstverhältnis des einen die Mitteilung für den anderen ist. Alter sieht Ego nun nicht mehr nur als Körperding vor sich stehen, sondern in ihm erwächst nun allmählich eine Vorstellung davon, wer Ego ist. Und umgekehrt eröffnet sich für Ego angesichts seiner Erzählung sukzessive, wer er ist. Die Erzählung ist also jener interaktive Prozess, indem sich jemand für jemand anderen selbst verobjektiviert. Im Folgenden beschränke ich mich auf die Schilderung dreier Formen narrativer Selbstzeugnisse, die es Alter ermöglichen, Egos Selbstbeziehung nicht nur auf der Verhaltensebene mitzuvollziehen, sondern zugleich auch auf der inhaltlichen Ebene nachzuvollziehen. Ich greife dabei auf André Jolles’ (1958) Theorie sprachlicher Darstellungen von Lebensvorgängen und Sachverhalten zurück. Jolles hat eine Morphologie der „einfachen Formen“ entwickelt, derer sich ein Erzähler instinktiv bedient, wenn er sich mit einem bestimmten Erzählproblem konfrontiert sieht. Die Gestalt der Erzählform hängt nach Jolles dabei von der Art der „Geistesbeschäftigung“ ab, mit der es ein Erzähler in einer bestimmten Erzählsituation zu tun hat. Bei „einfachen Formen“ handelt es sich um in der Sprache selbst verankerte Schematismen, die von Sprechern automatisch benutzt werden, wenn sie mit bestimmten Problemen der Schilderung von Le-
III. 4 Selbstzeugnisse
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bensvorgängen und Sachverhalten konfrontiert sind. Solche Formen sind überindividuelle Formen. Ein Sprecher kann sie zwar individuell abwandeln, nicht aber beliebig modulieren. Als „einfach“ lassen sich diese Formen also deshalb beschreiben, weil sie einesteils elementar sind, d.h. selbst nicht noch einmal hintergangen werden können, andernteils aber auch, weil man sich ihrer sehr leicht bedienen kann. Entlang der Elementargrammatik der „einfachen Formen“ des Erzählens will ich im Folgenden vor allem darlegen, wie das Bezugsproblem der Ego-Alter-Konstellation, die Fremdheit und Unbekanntheit des Gegenübers, narrativ gelöst wird. Denn wenn es die Frage ist, die das Interaktionsverhältnis begründet, dann muss es die Antwort sein, die es beschließt. „Woher komme ich?“, „Wer bist du?“ und „Wer bin ich?“ sind Fragen, die nicht nur ein Antwortverhalten verlangen, sondern zugleich ein Kriterium an die Qualität des Antwortinhalts anlegen: Die Antwort muss die Frage so in sich aufnehmen, dass diese darin aufgeht, sich verflüssigt und schließlich verschwindet. Jolles (1958, S. 102ff.) hatte diese Funktion noch dem Mythos zuerkannt. Dieser sei eine einfache Form des Wahrsagens, eine archaische Form der Kausalität, welche Fragen beantwortet, die aufs Ganze des Kosmos abzielen. Ein Mythos gibt die Antwort auf eine Frage, indem er vom Ursprung der Dinge erzählt, so dass das Bedürfnis des Weiterfragens durch die genealogische Antwort gestillt und befriedigt wird. Ich möchte im Folgenden die Qualität der Antwort, die Jolles am Ursprungsmythos aufgezeigt hat, generalisieren: Egos Antwort hat die Fragemotivation Alters auf absehbare Zeit zu befriedigen. Das dem Ursprungsmythos innewohnende genealogische Moment trifft dabei nur für eine der oben diskutierten Fragen zu: der Frage nach Egos Herkunft. Gleichwohl zielen auch die beiden anderen Fragen – „Wer bist du?“ und „Wer bin ich?“ – darauf ab, eine Antwort zu erheischen, die alles weitere Fragen überflüssig macht. Die im Weiteren zu diskutierenden narrativen Formen verstehe ich also als Antworten auf Fragen, durch die diese still gestellt werden können, ohne dass sie dadurch ein für alle Mal verschwinden würden.
4.1
Die Familiengeschichte
Die Familiengeschichte ist jene Antwort, die Eltern ihrem Kind gegenüber auf dessen Frage nach seiner Angehörigkeit geben. Sie wird daraufhin zum konstitutiven Bestandteil des autobiographischen Selbstverhältnisses eines Kindes. Jolles (ebd., S. 62ff.) verwendet anstelle des Terminus „Geschichte“ den der Saga. Sie erschließt die Historie vor allem unter dem Aspekt der Familie. Die Familie ist hier nicht einfach ein Aspekt unter vielen in der Geschichte, sondern vielmehr der narrative Leitfaden, entlang dessen eine Geschichte überhaupt
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III. Objektivierungen
erzählt wird. Familiensagen geben „im Grunde nicht die Geschichte einer Familie [wieder], sondern zeigen, wie Geschichte nur als Familiengeschehen existiert, wie Familie Geschichte macht“ (ebd., S. 72). Die Familiensaga ist also jene einfache Form, die Familie und Verwandtschaft nicht nur als Selektionskriterien dafür benutzt, welche Figuren in welchen Beziehungen in einer erzählbaren Geschichte vorkommen können, sie inszeniert diese Figuren zugleich als Urheber der Geschichte schlechthin. Die Beziehungen der Figuren untereinander ergeben sich vor allem dadurch, dass ihr Abstammungsverhältnis in den Vordergrund gestellt wird. Die Familiensaga entfaltet daher einen Assoziationsraum von Geschlecht und Generation. Erweitert man nun den von Jolles in den Mittelpunkt gerückten Aspekt der Blutsverwandtschaft noch um die bestehenden Heiratsbeziehungen, dann lässt sich sehen, wie in einer Familiensaga die Geschichtlichkeit der Welt einzig und allein durch Rückriff auf ein Vokabular von Verwandtschaftsbeziehungen aufgebaut wird. Alles ist hier eine Frage von Ehe, Abstammung und Blutsverwandtschaft. Wenn Ego also Alter darum bittet, ihm die Frage nach seiner Angehörigkeit zu beantworten, wird Alter in der Regel auf eine mehr oder minder ausgebaute Familiengeschichte (der Terminus, den ich anstelle der Familiensaga bevorzuge) zurückgreifen. Indem Alter für Ego ein signifikanter Anderer ist, überträgt sich dessen Bedeutsamkeit auf die von ihm erzählte Geschichte. Sie ist nun nicht mehr nur irgendeine Erzählung irgendeines Anderen, sondern gewinnt ihre Relevanz gerade dadurch, dass derjenige, der sie erzählt, die Autorität des Stammbaumes in seinem Rücken hat. Die Familiengeschichte erhebt also nicht nur dadurch, dass sie die Tradition auf ihrer Seite hat, sondern insbesondere durch den Rückgriff auf einen vorsozialen Tatbestand – das Blut – einen nur schwer auszuschlagenden Anspruch auf Anerkennung. Ego muss diese Geschichte zwar nicht als die seinige übernehmen, aber auch noch diese Weigerung könnte von einem Dritten nur als das Ableugnen, nicht jedoch als Zeugnis der Irrelevanz der Geschichte für Ego verstanden werden. So zieht die Familiengeschichte den Hörer in einen seltsamen Bann: Je faszinierter er ihr lauscht, desto intensiver gehört er ihr an und desto mehr wird er sich als jemand verstehen, der dem erzählten Geschehen selbst angehört. Eine Familiengeschichte ist dann eine befriedigende Geschichte, wenn sie vom Hörer als die seine übernommen werden kann.
4.2
Narrative Selbstbilder
Wenn Ego zum Adressaten einer Frage von Alter wird, die er nicht nur oder nicht mehr mit der Bekanntgabe seines Eigennamens beantworten kann, dann sieht er sich dazu aufgefordert, die abstrakten Prädikate seiner Person zu ver-
III. 4 Selbstzeugnisse
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flüssigen und von sich zu erzählen. Was Ego in solchen Situationen von sich erzählt, hängt dabei vom Kontext ab. Wenn dieser institutionalisiert ist, etwa in der Beichte, vor Gericht, in einer Psychotherapie oder auch einem Bewerbungsgespräch, sieht sich Ego mit Erwartungen konfrontiert, die eine bestimmte Relevanzstruktur haben. Im Fokus der Selbsterzählung steht hier nicht der Charakter eines Menschen, sondern es werden nur bestimmte Aspekte von ihm bedeutsam. Egos Erzählung ist hier einem Rollenregime unterworfen. Nicht er, sondern die Erwartungen eines generalisierten Anderen führen jetzt die Regie in seinen Selbstthematisierungen. Im Beichtstuhl ist er ein Mensch, der von sich als ein um Vergebung Bittender erzählt. Vor Gericht ist er als Zeuge oder Angeklagter geladen. In der Psychotherapie erzählt er von sich, weil er gegebenenfalls verhaltensauffällig oder depressiv geworden ist. Im Bewerbungsgespräch thematisiert er sich selbst als jemand, der bestimmte Kompetenzen hat. Und selbst noch im Liebeswerben unterliegt Ego einer Rollenvorgabe: Er tritt hier paradoxerweise in der Rolle desjenigen auf, der von sich durchblicken lässt, dass er die Tatsache des Rollenverhaltens außer Kraft gesetzt hat. Ego kann also so viele Geschichten seiner selbst erzählen, wie er die Erwartungen Anderer an sich vorwegnimmt. Das hat dazu geführt, den Begriff der narrativen Identität als fluides und flexibles Medium sozialer Selbstdarstellungen einzuführen (Kraus 2000). Die Grundüberzeugung solcher Konzepte ist es, dass die Identität einer Person sich koextensiv zu der Geschichte verhält, die von ihr erzählt werden kann (Ricœur 1996, S. 141ff). Da aber weder eine einzelne Person von sich selbst, noch ein Dritter über diese Person nur eine einzige Geschichte erzählen kann, führte dies zur Annahme, das moderne Selbst verflüchtige sich in multiple narrative Identitäten. Derartige Thesen stellen freilich einzig auf die sozialen Folgen des Geschichtenerzählens ab und lassen dabei die Tiefenstruktur der Erzählung außer Acht. Doch gerade die wird von der sozialen Rollendisparität des Erzählers gar nicht berührt. Im Anschluss an Paul Ricœurs (1988) weit ausgreifende Analysen über Zeit und Erzählung lässt sich sagen, dass jede Lebensgeschichte insofern eine fiktive Geschichte oder historische Fiktion ist, als sich hier notwendigerweise der historiographische Stil der Biographie mit dem romanhaften Stil der Autobiographie überkreuzt. Auch die referentielle Gattung der Biographie bedarf eines Minimums an Einbildungskraft, um aus der Vielzahl einzelner Ereignisse, den Zusammenhang und die Einheit einer Geschichte zu machen. Und umgekehrt gibt es keine fiktionale Darstellung, die nicht so tun würde, als ob sie tatsächlich stattgefunden hätte, indem sie die Ereignisse im Prinzip so erzählt, wie dies auch Historiker für ein wirkliches Geschehen tun. Gerade im letzten Punkt ähneln sich Ricœur und Jolles. Letzterem zufolge sehen sich Erzähler in der referentiellen Gattung des Geschichtenerzählens gezwungen, die Tatsächlichkeit des narrativ von ihnen dargestellten Lebens für andere
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III. Objektivierungen
zu bezeugen.23 Erzähler sind für Jolles nicht per se glaubwürdig. Sie werden es erst dann, wenn es ihnen gelingt, ein Geschehen so darzustellen, dass es einem Hörer plastisch vor Augen tritt. Erzähler müssen daher einzelne Figuren aus der Schar möglicher Menschen herausheben, sie müssen deren besondere Eigenschaften und Motive betonen, sie müssen bestimmte Handlungen und Interaktionen hervorheben und sie müssen die konkreten Umstände schildern, unter denen sie handeln. Mit anderen Worten, Erzähler müssen der Geschichte eine unverwechselbare Gestalt geben. Damit zeigt sich auf narrativer Ebene eine phänomenologische Grundüberzeugung: Wie sich die Welt nie und nirgends als Ganzes zeigt, sondern nur exemplarisch, so kann es auch keine abstrakte Geschichte geben. Konkretion ist daher das oberste Gesetz der Narration. Jolles (1958, S. 215) hat die Konkretisierung als Funktion einer weiteren einfachen Form des Erzählens gesehen, der sogenannten Memorabile: „Indem das Tatsächliche konkret wird, wird es glaubwürdig“. Diese Einsicht ist in der soziolinguistischen Theorie der Erzählung als einer von drei internen Zugzwängen des Erzählens beschrieben worden (Schütze/Kallmeyer 1977). Bei Stegreiferzählungen im Alltag verstrickt sich ein Erzähler nolens volens in den inneren Sog des Erzählvorgangs, der ihn erstens dazu nötigt, die Relevanz (soziale Rolle) seiner Erzählung zu markieren, zweitens von ihm abverlangt, Ereignisse detailliert zu schildern (das Exemplarische) und drittens ihn dazu nötigt, die Erzählung zu Ende zu führen, d.h. in eine Gesamtgestalt zu überführen. Im Rahmen eines narrativen Selbstzeugnisses kann die Gesamtgestalt einer Selbsterzählung nur dasjenige Bild sein, das Alter von Ego gewinnt. Eine Figur ist daher nicht einfach nur koextensiv mit der Geschichte, die von ihr erzählt wird. Die narrative Identität ist zugleich eine imaginäre Identität: Sie ist jenes Bild, das im Kopf eines Zuhörers entsteht, wenn er die Selbstbeschreibungen eines Ich-Erzählers vernimmt. Bei Erzählungen kommt es daher nicht so sehr darauf an, ob sie zutreffen, sondern ob sie den Hörer zufrieden stellen. Und er ist dann zufrieden, wenn vor seinen Augen ein Bild des Ich-Erzählers entsteht.
4.3
Das innere Zwiegespräch
Die Identitäts-Frage „Wer bist du?“ erwächst in Ego, wenn eine seiner sozialen Beziehungen derart problematisch geworden ist, dass sie auf Egos Selbst- und Weltverhältnis im Ganzen ausgreift. Das Problem für Ego ist allerdings, dass er nicht weiß, welche seiner Beziehungen dies ist. In der Folge dessen werden von
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Als Vorbedingung glaubwürdiger Augenzeugenschaft sieht Geertz (1993) infolgedessen mit Blick auf die posthum veröffentlichten Tagebücher Malinowskis die Ausbildung einer glaubwürdigen Ich-Identität.
III. 4 Selbstzeugnisse
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ihm alle intersubjektiven Beziehungen, an denen er selbst teilhat, einer Revision unterzogen. In dieser inneren Selbsterforschung tritt sich Ego nun als ein alter Ego entgegen. Indem er sich fragt, wer er ist, befragt er sowohl seine aktuelle Lebenssituation als auch ihre historische Tiefendimension. Ego hält sich dabei nicht nur vor Augen, welche Motivationsquellen er anzapfen kann, um diese oder jene Rolle im gesellschaftlichen Leben zu spielen, sondern auch, wie es dazu gekommen ist, dass er nun in ein Befremden über sich selbst eingetreten ist. Die Frage „Wer bin ich?“ zeigt ihm an, dass er nun nicht mehr in den Perspektiven der Anderen aufgeht, sondern vor sich selbst so steht wie vor einem rätselhaften Fremden. In dieser Situation der Selbstanonymität besteht die Aufgabe für Ego darin, mit den Erwartungen anderer (generell: mit seinen sozialen Rollen) so ins Reine zu kommen, dass er den eigenen Charakter einesteils zwar als Schnitt- und Kreuzungspunkt intersubjektiven Verhaltens verstehen kann, andernteils darin aber so souverän bleibt, dass sein Selbstverständnis darin nicht aufzugehen braucht. Sozialen Beziehungen kann Ego nicht generell entsagen, weil diese es sind, über die sein Selbstverständnis generiert wird. Nicht Intersubjektivität schlechthin, sondern nur bestimmte soziale Beziehungen können seine Identitätsungewissheit hervorgerufen haben. Es liegt daher einerseits nahe, dass Ego diese für ihn so problematischen Beziehungen zu identifizieren sucht. Andererseits aber zeigt sich seine Souveränität in einer solchen Situation nicht nur darin, bestimmte soziale Beziehungen als abträglich für seine Identitätsgewissheit zu definieren, sondern für sein Selbstbild nur solche Beziehungen aus dem Spektrum seiner Intersubjektivitätsverhältnisse für relevant zu erklären, die seiner Identifikation zuträglich sind. Egos Strategie besteht in dieser zweiten Variante seines Verhaltens darin, nicht den Mangel in sozialen Beziehungen festzustellen, sondern deren Fülle. Mit anderen Worten, Egos Alternative ist, sich entweder einem Wahrheitsprogramm zu unterziehen oder den Weg der Legendenbildung zu gehen.24 In der historischen Einstellung des Wahrheitsprogramms (Foucault) wird er darauf achten, wann und wo etwas Bestimmtes mit ihm geschehen ist, das ihn dazu geführt hat, sich die Frage „Wer bin ich?“ überhaupt zu stellen. In dieser Art der vergewissernden Selbsterforschung ist Egos Rückwendung auf das eigene Leben zunächst von vorbehaltloser Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber geleitet (Wahrhaftigkeit) und dann von einer impliziten Überzeugung davon, was die Maßstäbe dieser Rückbesinnung anbelangt. Die Objektivität des Lebens und der Geschichte (Wahrheitsüberzeugung) wird von Ego als Kontinuum historischer Ereignisse, als Wechsel innerer Zustände und als Nacheinander sozialer
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Damit gehe ich einen anderen Weg als Margaret Archer (2003, S. 99), die das innere Mit-sichselbst-Reden als turn-taking einer Konversation modelliert.
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III. Objektivierungen
Beziehungen aufgefasst. Auf diese Weise wird Ego seine Vergangenheit und Gegenwart nach Hinweisen auf seine Identitätsunsicherheit absuchen. Im Wahrheitsprogramm erstellt Ego also Selbstdiagnosen, die sich allerdings nicht selbst genügen, sondern im Dienste einer Selbsttherapie stehen. Egos Überzeugung ist, dass die Befunde, die seine innere Selbsterforschung zu Tage fördern werden, nur die Vorbedingungen einer Schubumkehr seines Lebens sind. Im Wahrheitsverhältnis zu sich vertritt Ego die Auffassung, dass er sich ändern wird, wenn er seine sozialen Beziehungen verändert. Und deswegen gilt es zunächst, der für seine Identitätsungewissheiten verantwortlichen Beziehungen habhaft zu werden. Nun gibt es aber noch eine zweite Möglichkeit einer Einstellung, wie man auf sich selbst zurücksehen kann, die jedoch nicht das Telos einer inneren Bekehrung des Selbst in sich trägt. Ich meine ein Selbstverhältnis, in dem das Selbst sakralisiert wird. Das Paradigma hierfür sind Heiligenlegenden. Für Jolles (1958, S. 46ff.) ist die Legende eine einfache Form des Erzählens, deren Funktion es ist, das Leben einer Person so zu beschreiben, dass sich ein Zuhörer mit ihr nicht nur identifizieren kann, sondern sie sogar nachahmen möchte. So wie man im wirklichen Leben gelegentlich den Impuls in sich verspürt, dem Leben eines außergewöhnlichen Menschen nachzufolgen, so gilt es für Ego im sakralen Selbstverhältnis seine Vita so zu erzählen, dass sie für ihn als Hörer seiner eigenen Geschichte nachahmenswert erscheint.25 Dazu muss Ego den Geschichtsbegriff des Historikers zwar nicht beiseite lassen, gleichwohl aber seinen Selbstblick nun vor allem auf die positiven Aspekte seiner Interaktionsbeziehungen lenken. „Nicht der Zusammenhang des menschlichen Lebens ist ihr [der Vita, M.K.] wichtig, nur die Augenblicke sind es, in denen das Gute sich vergegenständlicht“ (ebd., S. 40). Nicht durch Diagnose des Unwürdigen und dessen Absonderung, sondern durch Imitation des Vorbildhaften in der eigenen Lebensgeschichte lässt sich in dieser Sicht der Dinge die Identitätsungewissheit Egos beheben. Ego wird daher jene Sozialbeziehungen in den Mittelpunkt seiner Selbstbetrachtung rücken, mit denen er sich in hohem Maße identifiziert. Würde sich dagegen seine Vita in ihrer Darstellung auf das gesamte Spektrum seiner alltäglichen Interaktionsbeziehungen konzentrieren, bliebe von diesem kaum etwas Außergewöhnliches und Nachahmenswertes mehr übrig. Für Jolles zeigt sich hier die „Tyrannei der Historie“ (ebd., S. 64), weil deren Wahrheitsprogramm aus der vorbildlichen Legende das nur noch Legendäre mache. Auf ähnliche Weise hatte schon Hegel (1988, S. 437) den historisierenden Blick auf
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Was sich einigermaßen anachronistisch anhört, ist immer noch Bestandteil der Gegenwartsgesellschaft. Deren Helden sind zwar nicht mehr Heilige, sondern insbesondere Sportler und Popmusiker, nichtsdestotrotz kommt kaum jemand in seinem Leben an der Vorstellung vorbei, auch einmal so sein zu wollen wie dieser oder jener.
III. 4 Selbstzeugnisse
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Menschen kritisiert und ihn als Ergebnis der sozialen Position des Beobachters beschrieben: „Es gibt keinen Helden für den Kammerdiener; nicht aber weil jener nicht ein Held, sondern weil dieser – der Kammerdiener ist, mit welchem jener nicht als Held, sondern als essender, trinkender, sich kleidender, überhaupt in der Einzelnheit des Bedürfnisses und der Vorstellung zu thun hat.“ Der Kammerdiener sieht nicht, worin ihm der Held voraus ist, sondern nur, was er mit diesem gemein hat. Man darf hinzufügen, dass auch der Held den Kammerdiener nur in den Bedürfnissen wahrnimmt, die er mit diesem gemeinsam hat. Dass sein Kammerdiener wenigstens ein stiller Held wäre, ist eine Überlegung, die die Vorstellungskraft des Helden übersteigt. Um weniger prosaisch zu sprechen: Unter „Wahrheitsprogramm“ und „Legendenbildung“ verstehe ich zwei alternative Modi des Selbstverhältnisses, die Ego sich selbst gegenüber einnehmen kann. Und auch „Kammerdiener“ und „Held“ sind nur Veranschaulichungen für die jeweilige Perspektive, die Ego auf sich selbst einnimmt. Beide Antworten auf die Identitätsfrage sind nicht aufeinander zu reduzieren. Im Wahrheitsverhältnis zu sich erscheint das Selbst aus der Perspektive eines mit seinem alter Ego vertrauten Kammerdieners. Aus dessen Sicht gibt es keine einzige Selbstbeziehung – mit Mead argumentiert: keine einzige soziale Interaktion – die nicht Ausdruck einer Trivialität wäre und daher kaum Anhaltspunkte für eine Re-Identifizierung Egos in einer Situation der Identitätsungewissheit bietet. Eine solche Haltung hat jedoch unliebsame Konsequenzen für Egos Selbstbild. Denn die ursprüngliche Annahme, seine Identitätsungewissheiten resultierten aus bestimmbaren Intersubjektivitätsverhältnissen, scheint nun nicht länger haltbar zu sein. Denn aus der Sicht des Kammerdieners gibt es keine einzige soziale Beziehung, in der nicht zugleich der Held korrumpiert ist oder aus niederen Motiven handelt oder seinen Idealen untreu wird etc.. Aus der Sicht des Helden jedoch verhält es sich genau andersherum. Er sieht nur das von sich, was ihn vom Kammerdiener geradewegs unterscheidet: Er ist der Außergewöhnliche, der Kulturheroe, der Durchblicker. Vom Alltag aus betrachtet – und das heißt: vom Kammerdiener aus gesehen – kann ein Held nur verkannt werden. Für den Helden kommt es daher darauf an, sich selbst nur in solchen sozialen Beziehungen und Umständen zu sehen, wo er ganz Held ist. Also zum Beispiel nicht im Beruf, sondern in der Familie, nicht im Leben, sondern in der Kunst, nicht in der Wissenschaft, sondern im religiösen Virtuosentum etc.. Wenn Ego erst einmal die Identitätsfrage zugewachsen ist, führt ihn das offenkundig in eine Entzweiung. Es sieht so aus, als ob sein inneres Zwiegespräch zwischen dem Wahrheitsverhältnis zu sich – in dem sich Ego als alltägliches alter Ego betrachtet – und der Legendenbildung – in der sich Ego als außeralltägliches Ego wahrnimmt –oszilliert. Tatsächlich ist das nur ein vermeintlicher
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III. Objektivierungen
Widerstreit. Denn da die Identitätsfrage praktisch motiviert ist, muss sie auch praktisch beantwortet werden. Das bedeutet, dass alle Optionen des Selbstverhältnisses, aus denen sich keine Motivation für zukünftige Interaktionsbeziehungen gewinnen lässt, irrelevant werden. Ego können nur solche Einsichten und Überzeugungen von sich weiterhelfen, die ihn nicht nur interaktionsfähig halten, sondern auch vor der alsbaldigen Rückkehr der Identitätsfrage bewahren. Nicht der Wahrheitsbezug zu sich, sondern die Legendenbildung ist daher die Selbstbeziehung, die sich in Situationen der Identitätsungewissheit für Ego aufdrängt. Denn durch die Selbstsakralisierung bewahrt sich Ego davor, sein „wahres“, „eigentliches“ und „innerstes“ Kern-Selbst (oder wie dessen Umschreibungen auch immer lauten mögen) in allen möglichen Interaktionen realisiert sehen zu wollen, stattdessen findet es sich nur in dafür ausgezeichneten sozialen Beziehungen wieder. Durch die Legendenbildung seiner selbst kann es Ego vermeiden, zu all jenen sozialen Beziehungen und Interaktionspartnern auf Abstand gehen zu müssen, die der Verwirklichung seines Kern-Selbst im Wege stehen. Die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ führt also nicht automatisch in eine innere Enklave gegenüber allen sozialen Beziehungen, sondern nur zur Hervorhebung bestimmter sozialer Beziehungen. Für die Gesamtproblematik der Identitätsfrage heißt dies, dass die Ausgangsfrage, in der die Identitätsungewissheit sich Ego aufdrängt („Wer bin ich?“), nicht nur einer praktischen Behandlung zugeführt wird („Warum stelle ich mir diese Frage?“), sondern dass diese Operationalisierung letztlich ethisch motiviert ist. Hinter „Wer bin ich?“ steht „Wer will ich sein?“. Denn nur diese Frage betrifft zugleich die Wahrnehmung als auch das Handeln Egos. Indem er bestimmte Aspekte an sich hervorhebt und andere beiseite lässt („So bin ich eigentlich nicht“) idealisiert er nicht nur sich und seine sozialen Beziehungen, er verfügt zugleich auch über ein implizites Selbstbild, an dem er sich ausrichtet. Wenn sich Ego daher die Frage stellt, wer er ist, fragt er nach dem Vorbildcharakter einer Idee von sich, die von einer derartigen Qualität sein muss, dass Ego gar nicht anders können will, als ihr nachzufolgen. Mit anderen Worten: Ego macht sich zu seiner eigenen Legende. Die Legende ist jenes intime Zwiegespräch, in dem er, wenn sich ihm die Identitätsfrage stellt, den profanen vom sakralen Teil seiner selbst unterscheidet. 5.
Resümee
In diesem Kapitel wurden die sozialtheoretischen Voraussetzungen und Folgen diskutiert, die jene Fragestellungen betreffen, die für die personale Identität eines Sprechers relevant sind. Wie im menschlichen Zeiterleben die Enttäuschung von Erwartungen ein reflektiertes Selbstverhältnis desjenigen hervorruft,
III. 5 Resümee
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der sich getäuscht hat, so versetzen Identitäts-Fragen ihrerseits denjenigen, den sie betreffen, in ein ausdrückliches Verhältnis zu sich selbst. Da jedoch im sozial initiierten Selbstverhältnis ein Mensch mit den Augen eines Anderen auf sich blickt, führt diese innere Perspektivenübernahme zu einem Akt der Selbstdistanzierung. Anders als im mimetischen Selbstverhältnis ist in dieser Art der Rückwendung keine narrative Umdeutung von Enttäuschungen zu Erfahrungen möglich. Wer er ist, das sagt ein Ich-Erzähler hier zwar selbst, aber er blickt dabei auf sich durch die Augen signifikanter Anderer und mit den Erwartungen generalisierter Anderer. Und selbst in der intimen Selbsterforschung, die sich an die Frage „Wer bin ich?“ anschließt, ist eine Identifikation des Ich-Erzählers mit sich selbst nur insofern möglich, wie man sich selbst ein anderer wird: „Je est un autre“, wie die berühmte Formel Rimbauds dazu lautet. Doch welcher „Begriff“ von Erfahrung lässt sich für diese innere Selbstdistanzierung überhaupt in Anschlag bringen? Dazu muss man dieses eigentümliche Selbstverhältnis unter zwei Aspekten betrachten. Es ist erstens als ein Verhalten zu betrachten, da mit bestimmten Fragen jeweils ein spezifischer Selbstbezug zusammenhängt. Es ist zweitens aber auch ein sprachlicher Ausdruck, weil dieses Verhalten uno acto die narrative Antwort auf die Frage eines Anderen ist. Es ist drittens eine Objektivierung, insofern als sich ein Ich-Erzähler hier selbst zum Objekt wird. Unter den Prämissen einer sozialpragmatischen Theorie lässt sich ein angemessenes Verständnis von Erfahrung demnach nur dann gewinnen, wenn man sich nicht nur vor Augen führt, wie für einen Ich-Erzähler beide Weisen des Selbstbezugs miteinander zusammenhängen, sondern ebenso sehr, wie das für denjenigen zutrifft, der die Erzählung motiviert hat: den Zuhörer. Indem sich Ego zur eigenen Erlebnisvergangenheit verhält, teilt er Alter auf der Ebene seines bloßen Verhaltens mit, dass er eine bestimmte Perspektive zu sich selbst eingenommen hat. Alter ist im Gegenzug dazu angehalten, Egos Perspektive auf dessen Vergangenheit mitzuvollziehen. Anders als Ego sieht Alter aber auch, dass es sich bei Egos Zuwendung zur Vergangenheit um eine Perspektive handelt. Für Ego dagegen bleibt die eigene Perspektivität transzendent. Wenn er sich zu seiner Vergangenheit verhält, ist ihm daher nicht der Bezug zu seinem Verhalten gegeben, sondern nur der Bezug zu den Objekten in dieser Perspektive. Ego hat sich gewissermaßen in seiner Perspektive eingerichtet und bemerkt daher gar nicht, dass die Geschichte, die er von sich erzählt, für Alter erst einmal als eine Perspektive erscheinen muss, die Ego auf der Ebene seines Verhaltens sich selbst gegenüber einnimmt. Für Ego hingegen fallen die Erzählperspektive, die inhaltliche Darstellung der Vergangenheit und die Selbstidentifikation mit der Geschichte in einem Akt zusammen. Für Alter versperrt die grundsätzliche Perspektivität der Erzählung einen umstandslosen Nachvoll-
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III. Objektivierungen
zug dessen, was die Geschichte auf semantischer Ebene bedeutet. Alter muss sich zunächst vor Augen führen, dass sich Ego und wie sich Ego in seiner Erzählung auf sich selbst zurückbezieht. Mit dieser Schwierigkeit wird er vor allem am Anfang einer Erzählung konfrontiert. Während Ego sogleich nicht nur seine Sicht der Dinge, sondern diese Dinge selbst darlegen kann, muss sich Alter auf Egos Sichtweise erst einmal einstellen. Erst dann, wenn das Problem des perspektivischen Mitvollzugs für ihn überwunden ist, wenn Alter also Ego nun so zu sehen glaubt, wie dieser sich selbst sieht, kann er dessen Selbstverhältnis auf der Ebene des eigenen Verhaltens tatsächlich mitvollziehen. Und erst ab diesem Moment eröffnet sich für Alter die Möglichkeit, die Geschichte Egos auch rein inhaltlich nachzuvollziehen. Denn der Nachvollzug geschieht umso leichter und unauffälliger, je weniger Mühe Alter damit hat, Egos Perspektive zu übernehmen. Die Perspektivenübernahme gelingt freilich nicht ein für alle Mal, wie Alter an den unentwegt auftauchenden Irritationen seines Verstehens leicht bemerken kann. Er muss deshalb in seinem Verhalten dafür Sorge tragen, dass er bei der Geschichte, die ihm von Ego erzählt wird, „noch mitkommt“. Alter wird Ego mit Nachfragen konfrontieren, ihn auffordern, Zusammenhänge zu schildern und Ereignisse zu explizieren, damit er Egos Geschichte weiter „folgen kann“. Während für Ego auch noch der Sinn der kryptischsten seiner Reden unmittelbar evident ist, weil er sich in allen seinen Äußerungen selbst intuitiv versteht, ist diese Möglichkeit für Alter nicht gegeben. Erst wenn dieser Egos Selbstverhältnis mitvollzieht, lässt sich für ihn auch dessen Geschichte nachvollziehen. Die Erzählung ist daher ein intersubjektives Geschehen, bei dem Alter nicht nur ein passiver Zuhörer ist, sondern in den Prozess der Selbsterlebensbeschreibung von Ego auf der Ebene des Handelns und auf der Ebene des Verstehens aktiv mit hineingezogen wird. Der Begriff der Erfahrung, der für die Beschreibung derartiger Ego-Alter-Konstellationen in Frage kommt, muss diesem doppelseitigen Prozesscharakter des Geschehens Rechnung tragen. Er muss sowohl den Mitvollzug des Verhaltens (die Einstellung auf den Ausdruck), als auch den Nachvollzug des Inhalts (die Einstellung auf die Aussagen) einbeziehen können. Eine Geschichte mitzuvollziehen beschreibt demnach die performative Seite des Zuhörens: Jemand ist als Hörer beim Vorgang des Erzählens dabei und folgt der erzählten Handlungskette. Eine Geschichte nachzuvollziehen meint dagegen die semantische Seite des Verstehens: Ein Zuhörer muss nicht nur die Ereignisabläufe registrieren können, sondern auch die interne Motiviertheit der erzählten Ereignisse erfassen. Doch dieser wechselseitigen Bedingtheit von performativem Mit- und semantischem Nachvollzug ist eine innere Grenze gezogen: Dieser Prozess muss aus kognitiven Gründen ein Ende haben. Aus Sicht des Hörers werden Geschichten schnell langweilig, der Faden geht verloren, man ertappt sich bei Unaufmerksamkeit. Die Einstellung auf Ausdruck und
III. 5 Resümee
161
Aussage aufrechtzuerhalten ist ein mühsames Unterfangen, dazu muss man nicht erst selbst narrative Interviews durchgeführt haben, das kennt man auch aus der Alltagswelt zur Genüge. Weil man weder mühe-, noch endlos zuhören kann, ist es nur „natürlich“, dass eine Geschichte ein Ende haben muss. In Anbetracht dessen schlage ich vor, Erfahrung im einfachsten Sinne dieses Wortes zu verstehen, der sich im übrigen auch mit dem griechischen Wort empeiria deckt, nämlich einerseits als ein Durchfahren (etwa einer Landschaft), andererseits aber auch als ein Ankommen. „Und wie die Vorsilbe »er« allgemein ein Durchhalten bis zum erreichten Ende bedeutet […] so heißt »erfahren« zunächst im ganz konkreten Sinn: an das Ziel des Fahrens gelangen“ (Bollnow 1994, S. 95, zit. nach Achim Hahn 1994). Wenn man daher Erfahrung nicht mehr am Paradigma des Lernens, als Widerfahren und Widerfahrnis, sondern am Leitfaden der Reise begreift, als Hindurchfahren, dann lässt sich sagen, dass durch die soziale Differenz von Ego und Alter – im eigentlichen: durch die Frage – ein Begriff von Erfahrung ins Spiel kommt, durch den sich sowohl derjenige, der erzählt, als auch derjenige, der zuhört, in die Erlebnisvergangenheit des Ich-Erzählers perspektivisch hineinerstreckt. Wenn Ego von sich erzählt, muss er seine Erlebnisvergangenheit vor Alter so rekonstruieren, dass es diesem möglich wird, ihm mit- und nachvollziehend zu folgen. Welche Perspektive Ego auch immer wählen mag, immer ist sie, wie man am anschaulichsten in der Malerei studieren kann, eine spezifische Art des „Hinein- und Hindurchschauens“ (lat. perspicere) in einen Raum, durch die das Auge des Betrachters unauffällig gelenkt und geführt wird. Welche Perspektive Ego also auch immer wählt, stets nimmt er Alters Blick dabei mit auf die Reise in den Raum seiner Vergangenheit. Erfahrung heißt demnach: durch einen Raum hindurchfahren. Diese Auffassung von Erfahrung, die weniger ein Begriff als ein Bild ist, hat Konsequenzen für die Erzählung. Zwar wiederholt ein Ich-Erzähler auch hier seine Erlebnisvergangenheit, aber dieses Mal holt er sie nicht mit narrativen Mitteln zurück, wie im mimetischen Selbstverhältnis. Seine narrative Selbstidentifikation steht nicht im Dienste einer Rückeroberung von Subjektivität, sondern ist im Gegenteil darauf angelegt, sie vor den Augen eines Anderen und für die Augen eines Anderen zu entfalten. Es handelt sich daher um ein diegetisches Selbstverhältnis: Ein Ich-Erzähler geht in Distanz zu sich gerade deshalb, weil die Erzählung nicht ihm selbst, sondern einem anderen (oder sich selbst als einem anderen) gilt. Er ahmt nicht nach, sondern beschreibt, er zeigt nicht, sondern stellt dar.26 Im diegetischen Selbstverhältnis ist ein Ich-Erzähler im nichtpejorativen Sinne ein Selbstdarsteller: Er muss sich zeigen, und in dem Maße, in
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Zur Unterscheidung von Mimesis und Diegesis, die auf Platon zurückgeht und der in der Erzählliteratur die Differenz von showing und telling entspricht, vgl. Gaudreault (1989).
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III. Objektivierungen
dem ihm das gelingt, sieht er sich selbst mit den Augen eines Anderen. Nicht die szenische Darstellung von Widerfahrnissen, sondern nur die narrative Entwicklung des eigenen Charakters kann daher der Zweck einer Selbsterlebensbeschreibung sein. Die Erzählung zieht auseinander, was zu einem Charakter, einer Identität, einem impliziten Selbstverhältnis im Laufe der Zeit geworden ist. Für Ricœur (1996, S. 152) gleicht der Charakter einem Herzen im Zustand seiner Kontraktion, wohingegen es durch die Narration repulsiert. Die sedimentierten Erfahrungen des Ich-Erzählers werden hier gerade deswegen mit einem Zeitindex versehen, um anschaulich zu machen, was in der Interaktionsgegenwart von Ego und Alter nicht zu fassen ist: Man weiß nicht, woher man kommt; man weiß nicht, wer der andere ist; man weiß nicht, wer man selbst ist. Eine Erzählung ist deswegen darauf ausgelegt, dass ein plastischer „Eindruck“ entsteht, der über die Interaktionsgegenwart hinausreicht. Hat das mimetische Selbstverhältnis im Wesentlichen eine therapeutische Funktion, so kommt der Selbsterlebensbeschreibung eine diagnostische Aufgabe zu. Sie folgt der Logik eines Willens zum – annehmbaren – Wissen, nicht einer narrativen Inszenierung des Selbst. Ein Ich-Erzähler wiederholt sich in diesem Narrativ auf eine andere Weise: Er muss rekapitulieren, was einmal war, nun jedoch nicht mehr ist, gerade auch weil er in gewisser Weise nichts anderes ist als diese Geschichte, die er von sich selbst erzählt. Den internen Zusammenhang von Geschichte und personaler Identität hat Wilhelm Schapp (1985, S. 103) treffend so formuliert: „Die Geschichte steht für den Mann“. Ein Ich-Erzähler misst daher der Darstellung seiner Erlebnisse und Handlungen, seiner Motive und Absichten, sowie den sozialen Umständen und historischen Ereignissen einen sozialen Erkenntniswert zu: Man gibt sich durch sie zu erkennen und lernt sich auf diese Weise zugleich selbst kennen. Die Selbsterlebensbeschreibung kann daher als ein sozial initiierter Überlieferungszusammenhang eigenen Erlebens und Handelns betrachtet werden. Ein Ich-Erzähler wird durch die Frage eines Anderen dabei erstens individuiert: Er ist es, dessen Herkunft, soziale oder personale Identität in Frage gestellt ist. Zweitens verobjektiviert er sich aber selbst, indem er dem Fragenden eine Antwort gibt. Und drittens verdankt er dieser Frage und der daraus resultierenden Antwort zuallererst eine ausdrückliche Kenntnis seiner selbst. Die Geschichten, die als Antwort auf eine Frage erzählt werden, sind auf die eine oder andere Weise allesamt Geschichten über einen zurückgelegten Weg. Und die Welt, durch die dieser Weg führt, ist die Lebenswelt.
III. 5 Resümee
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Im Rückblick: Die soziologische Biographieforschung Vor dem Hintergrund des im zweiten und dritten Kapitel Gesagten, lässt sich die Eigenart der Autobiographie nun näher bestimmen. Die Autobiographie ist Lebensgeschichte und Erzählrede zugleich. Durch sie verhält sich ein Mensch gleichzeitig zu seinem abgelaufenen und zu seinem bevorstehenden Lebensvollzug. Obwohl sie damit einerseits Ausdruck eines reflektierten Selbstverhältnisses ist, ist die Autobiographie andererseits aber nur ein Moment davon. Denn die Narrativierung des Selbst ist gleichursprünglich mit der Subjektivierung bzw. Objektivierung eines Menschen. Die Autobiographie stellt den Bezug zum Leben eines Ich-Erzählers auf zwei verschiedene Weisen her: Zum einen als Lebenserschreibung, insofern im mimetischen Selbstverhältnis die Erzählung durch die narrative Wiederholung einer Enttäuschung der Wiederherstellung einer Erwartungssicherheit dient. Zum anderen als Lebensbeschreibung, insofern im diegetischen Selbstverhältnis die Erzählung als Antwort auf die Frage eines Anderen dient und der Ich-Erzähler demzufolge in Distanz zu sich selbst treten muss. Ein solches Verständnis hat Konsequenzen für die soziologische Auffassung von Autobiographien. Die soziologische Biographieforschung hat sich zwischen zwei in der Forschungspraxis zwar eng miteinander zusammenhängenden, analytisch jedoch wohl unterscheidbaren Alternativen eingerichtet. Das eine Extrem stellt die (sozial)psychologische Identitätsforschung dar, in der die Autobiographie Aufschluss über das personale Selbstverhältnis eines Ich-Erzählers geben soll. Mit anderen Worten: Dieser Strang der Forschung interessiert sich für die Lebenserschreibungen von Akteuren. Das andere Extrem ist die (sozial)historische Erforschung von Erfahrungsaufschichtungen eines Ich-Erzählers. Mit wiederum anderen Worten: Diese Forschungsrichtung benutzt die Lebenbeschreibungen von Akteuren. In der Praxis implizieren sich beide Seiten. Die Explikation eines Charakters verlangt seine narrative Entfaltung und damit eine historische Perspektive. Umgekehrt sammelt die historische Forschung nicht nur Tatbestände von Erfahrungen eines Zeitzeugen auf, sondern informiert sich nolens volens auch über dessen personales Selbstverhältnis. Das genuin Soziologische an der Biographieforschung ergibt sich aber erst aus der Position eines Dritten. Ein Soziologe nutzt sowohl das historisierende wie auch das psychologisierende Moment der Autobiographie aus, um daraus Schlüsse über die gemeinsam geteilten Erfahrungen von Generationseinheiten (Mannheim 1964), die generationsübergreifende Trägheit von Mentalitäten (Alheit 2005) oder die generativen Faktoren milieuspezifischer Habitusformationen (Herzberg 2004) zu ziehen. Erst als Erforschung einer überindividuellen Größe kommt die soziologische Biographieforschung damit zu sich. Das geschieht freilich nur dann, wenn sie sich methodisch nicht auf auto-
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III. Objektivierungen
biographische Stegreiferzählungen verlässt, sondern darüber hinaus noch andere Informationen heranzieht: Historische Ereignisse, objektive Lebensverlaufsdaten der Biographieträger, Milieubeschreibungen usf.. Erst aus einem Datenmix gewinnt das Soziologische an der Biographieforschung also an Kontur. In dem Maße jedoch, wie diese externen Daten zur Analyse herangezogen werden, sinkt der autobiographische Anteil an der Datenerhebung automatisch ab. Er ist jetzt nur noch ein Teil des Forschungsprozesses, der sich nicht mehr nur für Einzelne, sondern für sie als Repräsentanten einer übergreifenden Generationslagerung, eines Milieus oder eines mentalen Raums interessiert. Im Folgenden soll – auf freilich veränderter Grundlage – an dieses überindividuelle Erkenntnisinteresse der soziologischen Biographieforschung angeknüpft werden.
Dritter Teil Die Narrativierung des Weltverhältnisses
„Die Geschichte des Selbstverständlichen ist die dunkelste Geschichte.“ Roberto Calasso, Die neunundvierzig Stufen
Kapitel IV
Die Lebenswelt „Worüber man keine Theorie aufstellen kann, das soll man erzählen.“ Umberto Eco
In den Varianten des Zusammenhanges von Erzählung und Erfahrung, die in den beiden vorangegangenen Kapiteln diskutiert wurden, stand im Vordergrund, wie die Versprachlichung eines Selbstverhältnisses motiviert ist. Dabei stellten sich zwei Quellen heraus. In der zeitlichen Dimension werden Erzählungen durch die Differenz von Erwartung und Erfüllung generiert (Kapitel II). In der sozialen Dimension werden Erzählungen durch die Differenz von Ego und Alter und die sich daraus ergebenden Konstellationen von Fragen motiviert (Kapitel III). Eine solche Untersuchung gerät freilich in die Gefahr, das Erkenntnisziel einer Soziologie des Wissens aus den Augen zu verlieren. Denn dieser kann es zwar recht sein zu wissen, wie Erzählungen zustande kommen – zumal dann, wenn sie annimmt, dass eine interne Beziehung von Erzählung und Erfahrungswissen besteht. Doch unter der Hand droht diese Untersuchung in eine Persönlichkeitspsychologie bzw. Sozialisationstheorie abzugleiten. Denn wenn es insbesondere Enttäuschungen und Fragen sind, die Erzählungen generieren, dann sind das entweder Anzeichen für die kleinen oder großen Krisen im Alltag von Ich-Erzählern oder praktische Anforderungen in der Sozialisation von Alltagsteilnehmern. Einer Soziologie des Wissens hingegen geht es um die Aufklärung der Struktur des „Wissensvorrats“, den ein Ich-Erzähler von der Welt hat. Demnach können die beiden vorangegangenen Kapitel nur Vorarbeiten sein, die die Motivierung und die Folgen einer Erzählung für einen Ich-Erzähler offen legen. Sie müssen nun ergänzt werden um eine Perspektive, die ihren Fokus nicht mehr auf das Selbstverhältnis eines Sprechers legt, sondern auf dessen Weltverhältnis. In diesem Kapitel werde ich zunächst zeigen, wie der Erzählung dieser Weltbezug insbesondere von Habermas zuerkannt wird, der die Erzählung als eine Laientheorie der Lebenswelt bezeichnet hat (1.). In den beiden darauffolgenden Abschnitten werde ich die Lebensweltphänomenologie bei Edmund Husserl (2.) und die Lebensweltsoziologie bei Alfred Schütz (3.) diskutieren, um daran aufzuzeigen, welche Problemstellungen die Lebenswelttheorie von Habermas (4.) beerbt. Erst im Durchgang durch diese Positionen kann eingeschätzt werden, auf welche Weise die Erzählung für ein Unternehmen in Frage kommt, dass sich der Erschließung der Strukturen des (inter-)subjektiven Erfahrungsraums verschrieben hat (Kapitel V und Kapitel VI).
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1.
IV. Lebenswelt
Die Laientheorie der Lebenswelt
In seiner Theorie des kommunikativen Handelns hat Jürgen Habermas (1995 II, S. 205ff.) darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Modi grundlegend voneinander unterscheiden, durch die die Lebenswelt einerseits einem Erlebenden bzw. Handelnden, andererseits einem Erzähler gegeben ist. Da sowohl der philosophische (Husserl) als auch der soziologische (Schütz) Begriff der Lebenswelt aus der Teilnehmerperspektive entwickelt worden sei, entziehe sich die Lebenswelt einem Handelnden wie ein Horizont dem Beobachter. Und in der Tat: Aus einer egologischen Perspektive ist die Lebenswelt unanschaulich und ungreifbar und kann demnach kein Gegenstand des Erlebens und kein Ziel des Handelns sein. Vielmehr macht sie sich im Fluss seiner Erlebnisse und im Vollzug seiner Handlungen auf eine für einen Alltagsteilnehmer undurchschaubare Weise als das Problem der Relevanz (Schütz 1982) situativ bemerkbar. Die Konsequenz dieser Vorstellung ist, dass die Lebenswelt stets auf eine Ausschnittsgröße ihrer selbst zusammenschrumpft. Sie erlangt ihre Bedeutsamkeit für einen Teilnehmer nur in dessen Hier und Jetzt des Erlebens und Handelns. Gegenüber diesem Teilnehmerkonzept der Lebenswelt besitzt die Erzählung bei Habermas zwei entscheidende Vorteile: Erstens ist sie ein sprachliches Phänomen, das in der Alltagswelt selbst vorkommt. Ein Erzähler bewegt sich nun nicht mehr nur in Situationen, sondern geht mit dem Inhalt seiner Erzählrede über einzelne Situationen hinaus. Er spricht jetzt über die Welt, in der er selbst handelt. Er ist dadurch mehr als nur ein einfacher Teilnehmer dieser Welt: er ist ein an ihr teilnehmender Beobachter. Er kann sich dabei zweitens auf ein intuitives Vorverständnis dessen verlassen, was „als Gesamtheit der Sachverhalte in wahren Geschichten wiedergegeben werden kann“ (Habermas 1995 II, S. 206) und bedient sich mit Hilfe der Erzählung eines „Laienkonzepts der Lebenswelt, das sich auf die Gesamtheit soziokultureller Tatsachen bezieht“ (ebd., S. 207). Mit dem Übergang von der Teilnehmer- zur Erzählerperspektive verschiebt sich auch der epistemologische Status der Lebenswelt. Aus dem selbst nicht thematisierbaren Relevanzbereich subjektiven Erlebens wird nun das implizite Wissen des Erzählers darüber, was und wie etwas überhaupt in der Welt vorkommen kann, in der er selbst als Teilnehmer verstrickt ist. Der Erzähler übernimmt dabei eine Perspektive auf die Welt, die ihn „»grammatisch« nötigt, der Beschreibung ein Alltagskonzept von Lebenswelt als kognitives Bezugssystem zugrunde zu legen“ (ebd., S. 207). Aus der sonst nur exemplarisch gegebenen Welt der Phänomene wird in der Einstellung des Erzählens eine summarisch darzustellende Welt des Handelns. Habermas zufolge besitzt allerdings auch noch „dieser intuitiv verfügbare Begriff einer soziokulturellen Lebenswelt“ (ebd.) das große Manko, sich nur auf
IV. 1 Laientheorie der Lebenswelt
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die Identität und den Zusammenhang von Personen, Handlungen und Ereignissen in der Lebenswelt zu beziehen. Indem sich Erzählungen notwendigerweise auf die Darstellung von Innerweltlichem beschränken müssten, entgehen alltagsweltlichen Erzählern höherstufige Prozesse der Reproduktion und Transformation einer Lebenswelt im Ganzen: „Narrative Darstellungen […] können die Strukturen einer Lebenswelt nicht in ähnlicher Weise wie das, was sich in ihr abspielt, zum Thema machen“ (ebd., S. 208). Das Laienkonzept der Lebenswelt müsse daher „für theoretische Zwecke erst zugerichtet werden, und zwar so, dass es Aussagen über die Reproduktion oder Selbsterhaltung kommunikativ strukturierter Lebenswelten ermöglicht“ (ebd.). Für Habermas kommt die Erzählung damit nicht über den Status eines innerweltlichen Koreferats hinaus. Während es einer narrativen Laienschar versagt bleibt, die Lebenswelt im Ganzen zu erfassen, scheint diese Einschränkung für einen soziologischen Beobachter nicht zu gelten. Ich halte die Strategie, die Erzählung soziologisch zu interpretieren und ihre Beschränkung auf Innerweltliches aufzuheben, ohne ihr dabei – wie Habermas – prinzipiell den Rücken zu kehren, für einen vielversprechenden Versuch, die Strukturen der Lebenswelt nicht einfach nur theoretisch zu deduzieren, sondern empirisch zu erschließen. Denn aus dem Umstand, dass Erzählungen Innerweltliches referieren, geht nicht notwendigerweise hervor, dass sich durch sie überhaupt kein Zugang zur Lebenswelt im Ganzen eröffnen ließe. Wenn man eine solche Intuition (mehr ist sie zunächst nicht) für richtig hält, müssen zunächst zwei Fragen beantwortet werden: Erstens muss klar werden, was die Rede von einer „Lebenswelt im Ganzen“ konzeptionell überhaupt bedeuten kann. Und zweitens bedarf es einer methodischen Idee davon, wie deren strukturelle Komponenten sich ausgerechnet über eine Erzählung erschließen lassen sollen. Ich werde im Folgenden daher zunächst die Grundzüge der Lebensweltphänomenologie bei Husserl und Schütz diskutieren, ehe ich mich der Frage zuwende, auf welche Weise und mit welchem Resultat wiederum Habermas glaubt, die Strukturen der Lebenswelt gültig erfasst zu haben. Mit dem Durchgang durch diese einzelnen Positionen soll verdeutlicht werden, dass aus der Lebenswelttheorie heute zwar keine Problemlösungen mehr, immerhin aber noch Problemdefinitionen abgeleitet werden können, die für eine konzeptionelle Transformation des Lebenswelttheorems instruktiv sind.27
27
Zu Folgendem vgl. auch Kauppert (2008a).
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2.
IV. Lebenswelt
Die Lebensweltphilosophie bei Edmund Husserl
„Lebenswelt“ ist ein Begriff, mit dem Husserl (1954) das Begründungsverhältnis von objektiver Wissenschaft und subjektiv konstituiertem Sinn korrigieren wollte. Dieses Unternehmen sah sich einer doppelten Schwierigkeit ausgesetzt. Einerseits musste Husserl darlegen, worin das Fundament auch noch der objektiven Wissenschaften bestehen konnte. Andererseits durfte er dabei nicht mit den Mitteln des von ihm kritisierten physikalischen Objektivismus vorgehen, konnte also dessen Exaktheitsidealisierungen der Welt nicht zur Grundlage einer Kartographie der bisherigen terra incognita aller Wissenschaften machen. Mit dem Begriff der Lebenswelt wählte Husserl daher einen Ausdruck, der schon auf sprachlicher Ebene diese Problemstellung mitreflektierte. Er besteht aus „zwei Allerweltswörtern, […] die ihre nichtssagende Allgemeinheit im überraschenden Verbund verbergen“ (Blumenberg 2001, S. 11). Der Synergieeffekt der Begriffskomposition lag darin, dass sie für Husserls Zwecke einesteils vage genug blieb, andernteils aber hinreichend suggestiv war. »Leben« ebenso wie »Welt« schien jedermann irgendwie bekannt zu sein, obgleich kaum jemand hätte explizieren können, was das Leben zum Leben machte und worin die Weltlichkeit der Welt eigentlich bestand. Durch ihre Synthese im Begriff der Lebenswelt steigerte Husserl diese partialen Gewissheiten, aber auch Verlegenheiten zu einem Realismus, der intuitive Bekanntheit mit unmittelbarer Anschauungsfülle vereinte und sich dabei zugleich prädikativ verschlossen hielt. Seitdem ist der Terminus „Lebenswelt“ der Titel schlechthin für Art und Umfang dessen geworden, was sich von selbst versteht. Auch Husserl durfte bei Strafe ihrer Verfehlung keine Beschreibungen der Lebenswelt anfertigen, die über die schemenhafte Skizze einer Sphäre des „Allerbekanntesten, das in allem menschlichen Leben immer schon Selbstverständliche“ (Husserl 1954, S. 126) hinausging. Die Lebenswelt sollte ja Inbegriff einer theorie- und sprachlosen Weltzugewandtheit sein, in der sich die Welt für ein Subjekt (noch) von selbst versteht, die mithin keiner Auslegung bedurfte, weil das, was erschien und das, worum es ging, im Welterleben eines Subjekts evident war. In der Beschreibung der Lebenswelt war »Vagheit« deswegen zunächst keine Verlegenheit, sondern das phänomenologische Mittel der Wahl. Die Lebenswelt konnte und sollte ja nirgends zum bloßen Gegenstand der Beobachtung werden, denn dann liefe sie Gefahr, zur zweiten Natur eines egologischen Welterlebens verdinglicht zu werden. Anstelle dessen fiel die Lebenswelt für Husserl mit der Struktur der Weltvertrautheit insgesamt zusammen. Die Lebenswelt ließ sich für ihn nur von ihrer Funktion her verstehen, stetige Ressource und unausschöpfbares Reservoir elementarer Prozesse der Sinnbildung im Welterleben eines Erkenntnissubjektes zu sein. Zur Erläuterung dieser Funktion wählte Husserl eine absolute Raumme-
IV. 2 Lebenswelttheorie bei Edmund Husserl
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tapher. Die Lebenswelt – das war der Boden aller Weltgewissheiten und der Horizont aller Weltinterpretationen (Husserl 1954, S. 145). Als Erstgegebenes war die Lebenswelt das Fundament und als Letztorientierendes blieb sie der Horizont des Erlebens. Gerade durch ihre Unüberbietbarkeit gewann die Lebensweltmetapher an enormer Attraktivität: Sie wurde das zur Ersatzontologie geronnene Versprechen eines ursprünglichen Welterlebens. Diesseits des Einflusses der vorurteilsgeladenen Wissenschaft wartete auf den Phänomenologen eine Sphäre reiner Evidenzen. Mit der Lebenswelt wollte und konnte Husserl nichts prinzipiell Neues entdecken, sondern nur das wiederfinden, was jedermann längst bekannt war. Die Lebenswelt – das war die vertraute Erde und der gewohnte Himmel des Erlebens. Sie ist seitdem zum kulturellen Heimspiel des Phänomenologen geworden. Denn als „Heimwelt“ (Därmann 2005, S. 434f.) der Lebensalltäglichkeit ließ sich die Lebenswelt als Komplementärstück zu jener Welt verstehen, die Ethnologen in der geographischen Ferne und kulturellen Fremde suchten. Mit Husserl konnte man annehmen, dass Fremdheit nicht erst mit dem kulturellen Abstand wuchs, sondern auch eine Funktion von Nähe war. Nicht erst bei den Primitiven, sondern mitten in der modernen Welt wartete für die Phänomenologie eine noch unerforschte Welt der Lebensalltäglichkeit, deren Vertrautheit zwar nicht für einen Teilnehmer, wohl aber für einen Beobachter dieser Welt ein denkbar großes Rätsel war. Schon der Grundbegriff jener wissenschaftlichen Anstrengung, mit der Vertrautheit dechiffriert werden sollte, transportierte die methodische Anweisung, Vorurteile im großen Stile abzubauen. »Phänomene« waren das, was sich einem Beobachter von selbst zeigen sollte (vgl. Heidegger 1993, S. 28), wenn er sich vom Methodenideal und Rationalitätsbegriff der neuzeitlichen Wissenschaften lossagte und stattdessen auf den subjektiven Ursprung des Welterlebens zurückging. Husserls Kritik an den Wissenschaften wies eine interessante Parallele zur Ethnologie auf. Das Objektivitätsideal der Naturwissenschaften verstellte die Erkenntnis der subjektiven Quellen des Welterlebens auf eben dieselbe Art, wie die technischen Errungenschaften der abendländischen Zivilisation in den Augen eines Ethnologen die Qualitäten der primitiven Gesellschaft vergessen machen ließen. Phänomenologie und Ethnologie hatten mehr gemeinsam, als insbesondere Husserl wahrnehmen wollte (vgl. Därmann 2005, S. 445f.). Doch worin auch immer die Entfremdung von der natürlichen Lebens(um)welt für einen abendländisch-wissenschaftlichen Beobachter letztlich bestand, fremd konnte ihm diese Welt nicht deswegen sein, weil sie einfach und ursprünglich war. Es war aber genau diese Vermutung, die nicht nur den Ethnologen in die Ferne lockte, sondern auch dem Phänomenologen zuhause eine analoge Entdeckung versprach. Die Idee einer prälogischen und prämoralischen Welt verriet mehr über die Entdecker (Lévy-Bruhl 1927) als die Entdeckten. Und auch Hus-
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IV. Lebenswelt
serls Vorstellung, bei Lebenswelt müsse es sich um Ursprungsevidenzen und Anschauungsfülle handeln, zeigte mehr über ihn selbst als über die Lebenswelt. Denn wohin man auch blickte, weder die subjektive noch die primitive Welt waren minder komplexe und weniger abstrakte Welten als jene, denen sie vermeintlich gegenüber standen. Beide Weltkonzeptionen bezeugten daher ein grundlegendes Vorurteil von Wissenschaftlern. Sie waren die raffinierte „Überdeutung ihres Objekts als einer reinen Ungedeutetheit“ (Blumenberg 2001, S. 57). Die vermeintliche Unberührtheit der Lebenswelt von höherstufigen kulturellen Leistungen war demnach nicht, wie Husserl hoffte, der radikale Abbau der Kultur, sondern ihr wirkmächtigster Ausdruck. Davon konnte auch das moralische Gründungsmotiv von Ethnologie und Phänomenologie nicht ganz unberührt bleiben. Denn beide Forschungsrichtungen waren in erster Linie nicht vom Drang nach Erkenntnis angetrieben, sondern vom Überdruss am Zustand eigener Kultur und eigener Wissenschaft. Man sollte sich in diesem Zusammenhang daher nicht nur ins Gedächtnis rufen, dass der kanonische Text zur Lebensweltphänomenologie eine Antwort auf die „Krisis der europäischen Wissenschaft“ ist. Aus vergleichbaren Gründen hatte auch Lévi-Strauss (1992c) in Rousseau den Ahnherren der wissenschaftlichen Ethnologie gesehen. Husserls raffinierte Aufklärung über den Ursprung der Maßstäbe wissenschaftlicher Rationalität wurde freilich rasch mit Kritik und Kriterien konfrontiert, die nicht von den kritisierten Naturwissenschaften (wer las hier schon Phänomenologie?), sondern aus der eigenen philosophischen Fakultät stammten. Husserls Explikation der Anfangsgründe des Objektivitätsideals stand auf methodischem Kriegsfuß mit dem Verfahren der Historiker. Wie es von Euklid zu Galilei kam, interessierte Husserl nicht nach den Maßstäben einer datierbaren Geschichte, sondern einzig hinsichtlich einer inneren Historie von Sinnsedimentierungen (Ströker 1987, S. 186ff.). Was daher für Historiker zunächst nichts weiter sein konnte als pure Spekulation, war eine nach philosophischen Maßstäben bereits erwiesene Intentionalhistorie. Die Durchsicht auf „Ursprünge“ hing offenkundig von den Standards wissenschaftlicher Forschung ab. Vergebens glaubte Husserl daher, dass bereits die philosophische Einsicht in die Gründe des Schwundes an Lebensbedeutsamkeit der neuzeitlichen Wissenschaften etwas zum Positiven in der Kultur insgesamt bewirken könne. Denn Sinnzuwachs mochte das entscheidende Kriterium für Alltagspraxis und Philosophie sein, in der Wissenschaft zählte jedoch schon zu Husserls Zeiten nur der Aufbau methodisch kontrollierbarer Objektivität. Eine philosophische Durchsicht auf die vorwissenschaftlichen Gründe des Objektivitätsideals der neuzeitlichen Wissenschaften hätte also nur dann eine Chance gehabt, den Wissenschaftsbetrieb nachhaltig zu irritieren, wenn Husserl selbst schon Standards dieser Forschung eingehalten hätte. Seine Methode einer eidetischen Variation stand jedoch im
IV. 2 Lebenswelttheorie bei Edmund Husserl
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Verdacht, aus reiner Introspektion unzulässige Verallgemeinerungen vorzunehmen. Aber auch innerhalb des Anspruchsniveaus einer phänomenologischen Philosophie selbst tat sich ein Graben auf. Eine ursprüngliche und einfache Welt war zwar vorstellbar, zur sinnhaften Anschauung war sie jedoch nicht zu bringen. So kam es, dass Husserl die Verfassung der Lebenswelt nur mit Mitteln vor Augen führen konnte, die er zuvor programmatisch verworfen hatte. Als Ausgangspunkt und Bewährungsprobe jeder phänomenologischen Reflexion sollte ihm ja nichts anderes gelten als der für ein Erkenntnissubjekt anschaulich gegebene Sinn. Doch als basale Vertrautheitszone und Sphäre fragloser Gewissheiten war der Lebenswelt eines gerade nicht möglich: für ein Subjekt zu erscheinen. So wie nach antiker Weisheit die Natur es liebte, sich zu verbergen, so versteckte sich auch die Lebenswelt. Sie verblieb in einer absoluten Unauffälligkeit. Die Lebenswelt litt aus Sicht eines Phänomenologen geradezu unter einem „Phänomendefekt“ (Blumenberg 2001, S. 25). Sie konnte daher nicht selbst erlebt, sondern nur über das Verfahren der eidetischen Variation erschlossen werden. Das geschah introspektiv. Husserl setzte bei den konkreten Erlebnissen eines Wahrnehmungssubjekts an – also bei sich –, um mittels des gedankenexperimentellen Verfahrens der Variation sinnhaft erlebter Gegenstände das im Wechsel seiner Erscheinungen unabänderliche Wesen (eidos) des Wahrnehmungsgegenstandes zu bestimmen. Der unveränderliche Kern der Wahrnehmung war für Husserl also nur ideell gegeben und demnach in keiner konkreten Anschauung selbst aufzufinden. Indem er diese methodische Wesensschau nicht nur auf einzelne Elemente der menschlichen Wahrnehmung bezog, sondern auch auf deren Beziehungen untereinander anwendete, konnte Husserl schließlich auch auf die „formal allgemeinsten Strukturen der Lebenswelt“ (Husserl 1954, S. 145) stoßen. Sie bestanden in nichts weiter als der Korrelation von Ding- und Weltbewusstsein: Dinge standen stets im Horizont einer Welt, wie umgekehrt der Horizont keiner sein konnte, ohne Gegenstände in ihm. Die Korrelation von Ding und Welt war dabei eine, von der Husserl meinte, sie als Invariante einer jeden menschlichen Wahrnehmung unterstellen zu können: Selbst die „Neger am Kongo“ und die „chinesischen Bauern“ (Hussserl 1954, S. 141) mussten die Welt wenigstens formal so erleben, wie Husserl sie beschrieb. Damit überschritt er nicht nur geographische Grenzen, er unterlief auch das von ihm selbst gesetzte Gebot, in „Welt“ nichts weiter als das Korrelat sinnhafter Erlebnisse zu erblicken. Wie das „Ding an sich“ unter den Kantischen Prämissen nur als ein reines Gedankending vorstellbar war, so bekam auch das Selbstverständliche der Lebenswelt von Husserl unversehens den Status eines Noumenon zugewiesen: Gemessen an den Ansprüchen einer Phänomenologie, erwies sich die Struktur der Lebenswelt als ein Gedankending. Ausgerechnet im
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IV. Lebenswelt
Lebensweltkonzept zeigt sich damit ein Ausmaß an Abstraktion und ein Anteil an philosophischer Einbildungskraft, die Husserls Fundierungsabsichten durchkreuzten. Er unterlag hier durchaus seinen eigenen philosophischen Ambitionen. Denn gegen die „Natur“ der Naturwissenschaften konnte die „Lebenswelt“ des Phänomenologen nur dann bestehen, wenn es Husserl gelang, zwei Dinge zu zeigen. Erstens musste sich auch mit dem Lebensweltkonzept ein Anspruch auf Universalität erheben lassen. Wie die Natur, so konnte und durfte auch die Lebenswelt nur eine Lebenswelt für alle sein. Zweitens hatte Husserl aber auch den Beweis dafür anzutreten, dass die Schematisierung der Welt am Leitfaden der Mathematik und Physik nicht die Qualität einer ersten Philosophie haben konnte, sondern nur ein Derivat lebensweltlicher Einstellungen war. Die Gigantomachie zwischen „Natur“ und „Lebenswelt“ nötigte ihn daher dazu, letztere als kulturinvariantes und unwandelbares Fundament jeden Welterlebens auszuweisen. Doch das war eben noch kein transzendentalphilosophisches, sondern „nur“ ein universalistisches Argument. Als Philosoph reichte ihm das nicht. Die Lebenswelttheorie diente ihm nur als Passage für eine Reflexion über die Grundlage der universalen Struktur lebensweltlicher Wahrnehmung. Erst auf dieser Ebene kam die transzendentale Subjektivität ins Spiel.28 Es braucht hier nicht weiter zu interessieren, wie sich Husserl die Verfassung dieser Art von Subjektivität selbst vorstellte. Es reicht aus, sich ihrer Funktion für das Programm einer philosophischen Phänomenologie zu vergewissern, damit man sich vorstellen kann, welche Art von empirischer Wissenschaft sich in der Gegenwart für derartige Spekulationen noch interessieren kann. Denn als Urquelle und Urgrund (Husserl 1954, S. 170ff.) der universalen Struktur der menschlichen Wahrnehmung kann die transzendentale Subjektivität durchaus als philosophischer Vorläufer (und disziplinäre Variante) zeitgenössischer Versuche angesehen werden, das Rätsel des Bewusstseins über dessen physiologische Grundlagen zu lösen. Betrachtet man das Lebensweltkonzept von dieser intellektuellen Frontstellung her, ist es nicht weiter überraschend, dass am Ende aus der Lebenswelt genau das ausgetrieben wurde, was Husserl zur Einführung dieses Konzepts anfänglich bewegt hatte: Anschauungsfülle, Evidenzerlebnisse und Ursprungskonkretionen. Seit Husserl schlägt sich die Lebensweltphänomenologie daher mit einem Dualismus herum. In der Formulierung Waldenfels’ (1979, S. 129) heißt das Grundproblem: „Sofern die Lebenswelt konkret-geschichtlich ist, ist
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Insofern hatte die Lebensweltphänomenologie bei Husserl drei Funktionen (Waldenfels 1985). Erstens war Lebenswelt ein Inbegriff vorwissenschaftlicher Erfahrung und insofern ihr alltagsweltliches Fundament. Zweitens war sie darin für jedermann universal. Und drittens sollte sie Husserl als Übergang zu Reflexionen über die Verfassung der transzendentalen Subjektivität dienen.
IV. 3 Lebenswelttheorie bei Alfred Schütz
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sie kein universales Fundament, und insofern sie ein solches ist, ist sie nicht konkret-geschichtlich“. 3.
Die Lebensweltsoziologie bei Alfred Schütz
Die Einführung des Lebensweltkonzeptes in die Soziologie durch Alfred Schütz konnte an eine Motivationslage anknüpfen, die derjenigen Husserls durchaus entsprach. Denn auch Wissenschaften wie die Soziologie unterlagen einem schon in der Krisis-Schrift dargelegten Fehlschluss. Sie tendierten dazu, nur dasjenige für soziale Wirklichkeit zu halten, was erfolgreich durch das Nadelöhr des eigenen Methodenkanons hatte hindurchschlüpfen können. Dieses Verdikt betraf in der Soziologie keineswegs nur die kontrollierte Datenerhebung und statistisch fundierte Datenanalyse, sondern auch Theorien, die meinten, von den sinnhaften Erlebnissen der Individuen, und damit der Grundlage des sinnhaften Erlebens insgesamt abstrahieren zu können (paradigmatisch: Parsons). Gegenüber einer Soziologie wiederum, die in der Tradition Max Webers (1972) ausdrücklich darum bemüht war, die individuelle Perspektive zu berücksichtigen, indem sie Motive verstehen und Handlungen erklären wollte, monierte Schütz, dass dort das sinnhafte Erleben und Handeln zwar vorausgesetzt werde, aber hinsichtlich seiner Konstitutionsbedingungen weitgehend undurchsichtig sei. Um aber frei schwebende Konstruktionen von Motiven und ins Leere gehende Erklärungen von Handlungen zu vermeiden, wurde der Soziologie von Schütz eine Untersuchung der „Strukturen der Lebenswelt“ vorgeschaltet, die in der Redaktion von Thomas Luckmann erhalten geblieben und seitdem verschiedentlich neu aufgelegt worden ist. Schütz ging es vor allem darum, wie sich die Welt aus der Perspektive eines in ihr Lebenden zunächst und zumeist präsentierte. Unter diesen phänomenologischen Voraussetzungen erwies sich ihm der Alltag als „Urtypus unserer Realitätserfahrung“ (Schütz/Luckmann 2003, S. 57), einer Realität, die erneut nicht ontologisch begriffen werden sollte, sondern als ein „geschlossenes Sinngebiet“ (ebd., S. 55), neben dem es zwar noch andere Sinngebiete gab, die sich aber vom Alltag aus allesamt als Modifikationen der Alltagsrealität, d.h. als Sonderwelten begreifen ließen. Der Alltag galt Schütz als jener Wirklichkeitsbereich, in den jedermann „unausweichlich, in regelmäßiger Wiederkehr“ (ebd., S. 29) als Teilnehmer verstrickt war. Man konnte diese Welt nicht einfach und keinesfalls auf Dauer ignorieren. Wie jedes Sinngebiet, so war auch der Alltag „ausgestattet mit einem besonderen Erlebens- und Erkenntnisstil“ (ebd., S. 55), der den Entwurf und die Durchführung von Handlungen anleitete. Das zielte auf Routine ab. Der Alltag definierte sich geradezu als die eingespielte Welt der
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IV. Lebenswelt
schlichten Gewissheiten und fraglosen Gültigkeiten. Die Einstimmigkeit der Alltagserfahrung beruhte auf einer fundamentalen Sicherheit gegenüber Enttäuschungen. Die Überraschungen, die das Alltagsleben stets aufs Neue bereithielt, ließen keine radikalen Weltzweifel und prinzipielle Sinnfragen aufkommen, sondern sie führten allenfalls zur Neujustierungen von Erwartungen. Der Alltag war und blieb damit derjenige Sinnbereich, der durch eine unerschütterliche Weltgewissheit ausgezeichnet war. Die „Lebenswelt des Alltags“ war dabei keineswegs kongruent mit Lebenswelt im Allgemeinen. Unter dem Stichwort „Abkehr vom Alltag“ (ebd., S. 614ff) analysierte Schütz auch die Grenzüberschreitungen des Alltags zu anderen Sinngebieten hin. Der Alltag erwies sich hier als ein Sinnbezirk unter anderen in der Lebenswelt. Es war jederzeit möglich ihm, etwa durch Schlaf und im Tagtraum, den Rücken zu kehren. Dies führte aber nicht aus der Lebenswelt hinaus, sondern wiederum zu anderen Sinngebieten in der Lebenswelt. Erst wenn die Typiken des Alltags angesichts „großer Transzendenzen“ (ebd., S. 628) wie der Sterbensangst versagten, musste das Sinngebiet „Alltag“ suspendiert werden. So sehr die Lebenswelttheorie von Schütz der Zeitlichkeit des Erlebens damit näher stand als das bei Husserl der Fall war, so sehr ist aber auch hier der Tod das denkbar größte Zeichen für unerfülltes Erleben und die absolute Leere des Bewusstseins geblieben. Wenn der Tod darin auch Erzfeind einer Wissenschaft von den Phänomenen sein musste, wenigstens ex negativo vermochte er es, den Gegenstand einer Phänomenologie zu definieren. Er war jene Grenze, die sich sowohl von den Grenzen innerhalb des Alltags wie auch von denjenigen zwischen Alltag und anderen Sinngebieten radikal unterschied (ebd., S. 626). Der Tod bezeichnete diesseits der Lebenswelt deren Jenseits und wurde damit zum praktischen Grenzbegriff des Sinns. Er gab der Verunmöglichung jeden Sinns noch einen Sinn dadurch, dass er eine Sphäre bezeichnete, in der nichts weiter mehr gewusst, nichts weiter mehr erfahren und nichts weiter mehr erlebt werden konnte. Wie der Schlaf die relative Grenze für das alltägliche Bewusstsein war, so stellte der Tod die absolute Grenze der Lebenswelt dar. Erst durch den Tod konnte die Lebenswelt zum Inbegriff des Erlebnismöglichen werden, er selbst blieb ihr Gegenbegriff. In der Ausarbeitung der subjektiven Strukturen der Lebenswelt erwies sich die Zeitlichkeit des Erlebens damit als die Konstitutionsbedingung für die Phänomenalität der Welt. Denn ein schlichtes Faktum wurde bei Schütz stets vorausgesetzt, aber selbst nicht durchsichtig gemacht: Nur wer lebte, konnte die Welt auch erleben. Mit dem Alltagssubjekt hatte Schütz zwar eine JedermannPerspektive gewählt, doch wie bei Husserl, floss auch in den Adern dieses Subjekts kein wirkliches Blut. Allerdings vermied es Schütz, die Strukturen der Lebenswelt soweit auszudünnen, dass dabei nur ein Korrelationsapriori der
IV. 3 Lebenswelttheorie bei Alfred Schütz
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Wahrnehmung übrig blieb. Die Strukturen, die für Schütz insbesondere der alltäglichen Lebenswelt ihr Gepräge gaben, waren sehr viel reichhaltiger angelegt – so reichhaltig, dass sich darin (nicht nur) soziologische Leser problemlos wieder erkennen konnten. Es blieb nicht aus, dass sich eine Phänomenologie, in deren Mittelpunkt jetzt die menschlichen Erlebensgewohnheiten und Handlungsroutinen standen, den Vorwurf einer „Trivialanthropologie“ (Luhmann 1986, S. 176) einhandelte. Aber genau dadurch wurde sie sehr viel interessanter, als es ihr philosophischer Vorläufer bis dato für die Soziologie noch gewesen war. Freilich verzichtete Schütz in seiner Version der Lebensweltsoziologie auf eine methodische Wesensschau. Was zunächst so aussieht, als könne man diesem Abschied vom Prinzipiellen nur zustimmen, erweist sich allerdings als interne Last der Lebensweltsoziologie selbst. Setzte Husserl noch auf eine eidetische Variation, schleppte Schütz eine Leerstelle mit sich: Er hatte es versäumt, eine eigene Methode zu entwickeln. Zwar konnte und musste auch er sich zunächst an der Welt eigener Erfahrung orientieren, aber wie er methodisch zu den Strukturen der Lebenswelt kam, mit denen er theoretisch einen derart weitreichenden Anspruch verband, das musste Schütz prinzipiell offen lassen. Aus Sicht der Erfahrungswissenschaften macht es für die Beurteilung der klassischen Lebensweltphänomenologie daher letztlich keinen Unterschied, ob das (implizite) Universalismus-Argument von Husserl oder von Schütz vorgetragen wird. Denn weder vertraut man heute noch auf die Methode einer Wesensschau, noch wird man jene Multiplikation von Strukturen goutieren wollen, die, wie bei Schütz, zwar aus eigener Erfahrung gewonnen werden, methodisch aber unkontrolliert bleiben. Die „Strukturen der Lebenswelt“ sind daher eher für das Theoriearchiv relevant, als für die empirische Forschung. Indem Husserl und Schütz die egologische Weltwahrnehmung als ein invariantes Arsenal von Erlebnisformen, eine universale Quelle von Wahrnehmungsschematismen und ein konstantes Reservoir an Handlungstypen ansehen, machen beide aus prinzipiell empiriefähigen Subjektkonstellationen empirieunbedürftige Strukturen der Erfahrung. So ergibt sich folgendes Bild der Lebensweltphänomenologie. Während Husserl die Lebenswelt zum Fundament des gesamten Welterlebens erhebt, wird sie bei Schütz als dessen alltägliches Zentrum gedacht (1). Husserl wie Schütz dient die Lebenswelt dabei als methodenkritischer Gegenbegriff: Husserl brachte sein Lebensweltkonzept in Stellung zur Natur der objektiven Wissenschaften. Schütz hingegen suchte mit der Lebenswelt das unkritische Methodenideal der Sozial- und Gesellschaftswissenschaften zu korrigieren (2). Weder Husserl noch Schütz beschrieben mit dem Lebensweltkonzept einen empirischen Erfahrungszusammenhang, sondern sie wollten dafür vielmehr dessen Bedingungen und Formen aufweisen (3).
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4.
IV. Lebenswelt
Die Lebenswelttheorie bei Jürgen Habermas
Bezieht man nun diese Ergebnisse auf den Gebrauch, den Habermas vom Lebensweltkonzept macht, so muss man zunächst zwischen zwei Ebenen unterscheiden: der programmatischen Ebene und derjenigen der Durchführung. Auf der programmatischen Ebene ersetzt Habermas einerseits die bewusstseinstheoretischen Prämissen der klassischen Lebensweltphänomenologie durch eine intersubjektive Sprachpragmatik, andererseits macht er die traditionelle Verengung des Lebensweltbegriffs auf Kultur rückgängig. Die Lebenswelt reproduziert sich demzufolge nicht mehr, wie noch bei Husserl und Schütz, über das Bewusstsein29, sondern durch das intersubjektiv geteilte Medium der Sprache. Im Anschluss an Mead sieht Habermas in interaktiven Sprechhandlungen gleich drei Funktionen eingebaut, die dort uno acto realisiert werden: den auf einen kulturellen Wissensvorrat zurückgreifenden semantischen Aspekt der Verständigung zwischen Interaktionspartnern; die mit deren sozialräumlichen Handlungskoordinierungen einhergehende Regelung ihrer Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppen; schließlich der Effekt des Aufbaus und der Behauptung einer personalen Identität im Sozialisationsprozess. Aus dieser Grammatik des insgesamt an Einverständnis orientierten kommunikativen Handelns leitet Habermas unmittelbar die Strukturen der Lebenswelt ab – Kultur, Gesellschaft, Person – die sich im alltäglich-interaktiven Sprechhandeln symbolisch reproduzieren. Insofern jedoch Habermas den symbolischen Strukturen der Lebenswelt mit dem Zweckhandeln der Individuen zusätzlich noch ein materielles Substrat unterlegt, besteht die Einheit der Lebenswelt für ihn offensichtlich aus kommunikativem und zweckrationalem Handeln. Diese Beobachtung führt mich nun zur Ebene der Durchführung der Habermas’schen Lebensweltanalyse, in der er sich interessanterweise den drei Dimensionen annähert, in denen die Lebensweltphänomenologie der Gründerväter angesiedelt ist. In der ersten Dimension des konzeptionellen Zugriffs auf die Lebenswelt changiert diese bei Habermas zwischen drei Verwendungsweisen. Als Einheit von symbolischer und materieller Reproduktion ist sie erstens das Fundament jeder gesellschaftlichen Reproduktion. Auch wenn die Binnenstruktur der Lebenswelt für Habermas durchaus einen Zeitindex hat, besteht dieser letztlich nur in der Entfaltung eines schon in der archaischen Welt angelegten rationalen Kerns. Ist nun zweitens aber mit „Lebenswelt“ bei Habermas die engere Sphäre des kommunikativen Handelns selbst gemeint, fungiert diese als das eigentliche Zentrum der Gesellschaft, das von zweckrationalen Systemen gleichermaßen
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Für die Variante einer pragmatischen Lebenswelttheorie im Ausgang von Schütz vgl. Srubar 1988.
IV. 4 Lebenswelttheorie bei Jürgen Habermas
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umgeben und entkoppelt ist. In der Moderne sind es für Habermas insbesondere Wirtschaft und Politik, die als Handlungssysteme ihren eigenen Reproduktionsimperativen gehorchen. Aus diesem Umstand leitet sich schließlich noch ein dritter Sinn von „Lebenswelt“ bei Habermas ab. Denn weil es nicht einfach bei der Loslösung und Verselbstständigung des instrumentellen vom kommunikativen Handeln bleibt, sondern vielmehr die Zweckimperative auf das Zentrum der Lebenswelt zurückwirken, führt dies nach Ansicht Habermas’ zu deren „Kolonialisierung“. Das ursprünglich dort vorherrschende, an Einverständnis orientierte kommunikative Handeln wird durch fremde Medien, insbesondere Macht und Geld, auf eine Weise unterlaufen, die freilich nur für solche Beobachter zu registrieren ist, für die nicht das Geld die Welt regiert, sondern konsensuelle Entscheidungen. Aus Sicht von Habermas ist das eigentliche Zentrum der Lebenswelt deshalb in seinem Bestand akut gefährdet. Als eine im Schwinden begriffene Welt bedarf es nicht nur ihrer Fürsprecher, es braucht vor allem Zonen und Arenen, die von keinen falschen Zweckimperativen unterlaufen werden. Mit dieser internen Konsequenz der Kolonalisierungsthese wird der Lebenswelt bei Habermas faktisch der Rang eines gesellschaftlichen Reservats zugesprochen. Dieser Umstand führt nun unmittelbar zur zweiten Dimension des Lebensweltvergleichs. Hier wird das Lebensweltkonzept von Habermas gesellschaftskritisch gewendet. Während bei Husserl und Schütz die Lebenswelt als ein Konzept diente, mit dem beide ein ihrer Ansicht nach falsch verstandenes Methodenideal der Natur- und Sozialwissenschaften kritisieren konnten, bietet Habermas das Zentrum-Konzept der Lebenswelt auf, um daran zu verdeutlichen, dass die nur noch ihren eigenen Imperativen gehorchenden Handlungssysteme eine latente Bedrohung für den symbolischen Kern der Lebenswelt darstellen (Entkoppelung von System und Lebenswelt), wohingegen er mit dem Reservat-Konzept der Lebenswelt die manifeste Bedrohung der Lebenswelt (Kolonialisierung) kritisieren kann. Die dritte Vergleichsdimension betrifft schließlich die Frage, welche Art von Geltungsanspruch mit dem Lebensweltkonzept transportiert wird. In dieser Hinsicht ergibt sich zwischen Habermas einerseits und Husserl bzw. Schütz eine Komplementarität. Letztere beschreiben die Strukturen der Lebenswelt als universale Strukturen. Wenn empirische Subjekte in der sozialen Welt etwas erleben und wenn sie darin handeln, dann tun sie das auf eine Weise, die sie kognitiv dazu nötigt, die von Husserl und Schütz beschriebenen Invarianten zu reproduzieren. Bei Habermas hingegen ist es nicht das Bewusstsein, sondern die Sprache, die die in kommunikativer Einstellung Handelnden intern dazu nötigt, die „Reproduktionsfunktionen verständigungsorientierten Handelns“ (1995 II, S. 217) in Anspruch zu nehmen. Doch auch hier handelt es sich um eine invariante Funktionslogik, die deswegen universal verbreitet ist.
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IV. Lebenswelt
Vor diesem Hintergrund erscheint nun insgesamt fraglich zu sein, weshalb Habermas überhaupt auf die Erzählerperspektive zu sprechen kommt. Denn wenn sich für ihn die – symbolischen – Strukturen der Lebenswelt aus einer systematischen Kombination formaler Sprachpragmatik und Mead’scher Intersubjektivitätstheorie direkt ableiten lassen, dann scheint der Rekurs auf die Erzählung auf den ersten Blick ein überflüssiger Appendix in der Theorie des kommunikativen Handelns zu sein. Umso wichtiger ist es, sich der genauen internen Gründe zu vergewissern, die Habermas dazu gebracht haben, unmittelbar vor seiner Analyse der Lebensweltstrukturen auf die Erzählung zu sprechen zu kommen. In diesem Zusammenhang notiert er: „Bereits der Erzähler wird durch die Form narrativer Darstellung grammatisch dazu angehalten, an der Identität der handelnden Personen wie auch an der Integrität ihres Lebenszusammenhanges ein Interesse zu nehmen“ (ebd., S. 207). Die Erzählung dient bei Habermas offenkundig als ein Modell dafür, wie auf der Ebene einer erzählten Geschichte personale Identitäten in sozialen Ordnungen über die Zeit hinweg reproduziert werden. Aber dieses semantische Modell einer integrierten Welt hat für ihn den Nachteil, dass es die Reproduktionsbedingungen dieser Welt nicht unmittelbar selbst mit angeben kann: „Wenn wir Geschichten erzählen, können wir nicht umhin, indirekt auch zu sagen, wie es den Subjekten, die in sie verwickelt sind, ‚ergeht‘, und welches Schicksal die Kollektive, denen sie angehören, ‚erfahren‘. Gleichwohl können wir die Beschädigung einer persönlichen Identität oder die Gefährdung sozialer Integration in Erzählungen nur indirekt sichtbar machen“ (ebd., S. 207f.). Habermas scheint anzunehmen, dass Erzähler das Leben und Leiden von Personen und Kollektiven auf semantischer Ebene zwar narrativ darstellen, nicht jedoch auf seine strukturellen Bedingungen kausal zurückführen können. Dieser Einwand scheint wiederum folgendermaßen motiviert zu sein: Gerade weil die Erzählung für Habermas „eine spezialisierte Form der konstativen Rede“ (ebd., S. 206) ist, orientiert sie sich an spezifischen Funktionen der Darstellung von Innerweltlichem. Habermas stimmt hierin mit den von Arthur C. Danto (1980) herausgestellten Funktionen einer Geschichtsschreibung überein: Eine Erzählrede beschreibe, vernetze und sequentialisiere Handlungen, indem sie diese aus einer Teilnehmerperspektive hervorgehen lasse. Dadurch aber wird die Erzählung strukturkonservativ: Erzähler konfrontieren ihre Figuren in einer Erzählung mit der Welt so, wie sie ihnen auch außerhalb der Erzählung erscheint, nämlich aus der Perspektive der Bewältigung einzelner Situationen. Damit scheint die Erzählung für Habermas aus zwei Gründen relevant zu sein. Sie ist erstens deswegen ein Laienkonzept der Lebenswelt, weil sie in dieser alltäglich vorkommt. Etwas zu erzählen ist eine Kompetenz, die jedermann gegeben ist. Zweitens ist sie auch deshalb ein Laienkonzept, weil Alltags-
IV. 4 Lebenswelttheorie bei Jürgen Habermas
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erzähler über eine bestimmte kognitive Logik der Darstellung von Sachverhalten, Handlungen und Ereignissen verfügen. Auf semantischer Ebene fällt die Erzählung für Habermas aber wieder genau in jene Teilnehmerperspektive zurück, die es für ihn zu überwinden galt. Denn eine Theorie, die sich vorgenommen hat, die Reproduktionsbedingungen einer Lebenswelt im Ganzen zu formulieren, kann sich nicht damit begnügen, nur Geschichten aus dieser Welt zu registrieren. Sie muss die Lebenswelt in der Einstellung eines wissenschaftlichen Beobachters auch von außen beschreiben können – ein Anliegen, das Habermas mit den Grundüberzeugungen der Lebensweltphänomenologie bei Husserl und Schütz brechen lässt. Da jedoch eine Erzählung nicht nur über eine semantische, sondern auch über eine pragmatische Dimension verfügt, ist es keineswegs klar, warum die Möglichkeit einer Selbstbeobachtung der Lebenswelt durch Alltagsnarrative von Habermas so abschätzig beurteilt wird. Seinen Vorbehalt gegenüber der spezifischen Erzählleistung begründet er vor allem damit, dass es sich bei den Reproduktionsvorgängen der Lebenswelt um höherstufige Prozesse handele. Sieht man sich an, wie Habermas diese vermeintlich übergeordneten Prozesse konzeptualisiert, stößt man auf die Reproduktionsfunktionen verständigungsorientierten Handelns. Diese aber sind nur eine spezifische Version eines Sprechhandelns: eine kommunikativ gewendete Sprachpragmatik. Es kann demnach nicht davon die Rede sein, dass sich die Lebenswelt im Ganzen über höherstufige Prozesse reproduziert, die nur einem professionellen Beobachter zugänglich sind. Allenfalls lässt sich behaupten, dass es sich hierbei um eine – im Vergleich zur Erzählrede – komplementäre Dimension handelt. Handelte es sich tatsächlich um höherstufige Prozesse, stünde kommunikatives Handeln auf der hierarchischen Stufenleiter des Sprechhandelns auf der obersten Sprosse – und wer würde so etwas behaupten? Im Vergleich zu einer erzählten Geschichte liegen die Reproduktionsfunktionen kommunikativen Handelns nicht auf einer höheren Ebene, sondern nur jenseits einer narrativen Semantik. In Anbetracht der pragmatischen Funktionen einer Erzählrede handelt es sich beim kommunikativen Handeln daher nur um eine alternative Sprachpragmatik. Nicht also weil es sich um höherstufige Prozesse handelt, können Alltagserzählungen keine direkte Mitteilung über die Deformationen personaler Identitäten und kollektiver Schicksale machen. Sie erscheinen vielmehr deshalb untauglich zu sein, weil eine kritische Theorie der Gesellschaft sich zum Ziel gesetzt hat, die Reproduktionsstörungen der Lebenswelt in der Dimension kommunikativer Sprechakte direkt – und das heißt: von außen – zu identifizieren. Nicht über narrativen Feststellungen teilnehmender Beobachter, sondern durch die Beobachtungen eines seine Teilnahme an der Lebenswelt nur fingierenden Wissenschaftlers sollen sich die Strukturen der Lebenswelt für Habermas ableiten las-
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IV. Lebenswelt
sen. Man kann bezweifeln, ob ein solches Unternehmen überhaupt gelingen kann. Eine Erzählung verweist nicht von sich aus auf höherstufige Reproduktionsprozesse, sondern nur auf eine ihr eigene Korrelation von Semantik und Pragmatik: derjenigen von Geschichte und Narration. Es kann offen bleiben, durch welche Elemente die Lebenswelt sich letztlich reproduziert. Mir kommt es im Weiteren nur auf die Gemeinsamkeiten von pragmatischer Erzählrede und kommunikativem Handeln an. Auf den ersten Blick sieht man nur Differenzen, denn die Beschreibung von Ereignissen durch einen Erzähler ist etwas anderes als die von Habermas favorisierte Verständigung von Interaktionspartnern: Erzähler stellen nur dar, wohingegen kommunikativ Handelnde auch kritisieren können. Die narrative Vernetzung von Handlungen ist darüber hinaus auch etwas anderes als die Koordination von Handlungen über intersubjektiv anerkannte Geltungsansprüche: Erzähler müssen Handlungen miteinander verknüpfen,30 wohingegen kommunikativ Handelnde auch „Nein-Sager“ sein können und nicht mit jedermann kooperieren müssen. Und schließlich ist die narrative Sequentialisierung von Handlungen in einer erzählten Geschichte, durch die eine Person ihre narrative Identität erhält, ebenfalls etwas anderes als die Internalisierung von Normen und Werten, die in sprachförmigen Interaktionen auch vermittelt wird. Betrachtet man nun aber, worauf diese Funktionen des kommunikativen und narrativen Handelns bezogen sind, dann lassen sich drei Gemeinsamkeiten feststellen: Ihre Funktionalität, das daraus resultierende Problem der Zirkularität und ihre Mehrdimensionalität. Dem verständigungsorientierten Handeln kommen gleich mehrere Funktionen zu: der auf einen kulturellen Wissensvorrat zurückgreifende semantische Aspekt der Verständigung zwischen Interaktionspartnern (kulturelle Reproduktion); die mit deren sozialräumlicher Handlungskoordinierung einhergehende Regelung ihrer Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppen (soziale Integration); schließlich der Effekt des Aufbaus und der Behauptung einer personalen Identität im Sozialisationsprozess. Wenn sich Sprecher in der Einstellung eines kommunikativ Handelnden befinden, dann orientieren sie sich in ihrem Sprechhandeln automatisch an den Reproduktionsfunktionen verständigungsorientierten Handelns, deren Werte für Habermas wiederum selbst eine invariante Ordnung beschreiben. Ähnlich scheint es sich nun mit der Erzählung zu verhalten. Wenn Erzähler eine Geschichte erzählen, dann werden sie nach Habermas Ansicht grammatikalisch dazu genötigt, sich an spezifischen Erzählfunktionen zu orientieren: Sie beschreiben Sachverhalte und Ereignisse, die in der Welt der
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Die Synthesis der Handlungen (Mimesis II) ist der Kern der narrativen Tätigkeit bei Ricœur (1988).
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Geschichte vorkommen und geben Zuhörern dadurch die möglichen Umstände und Bedingungen des Handelns von Figuren zu verstehen; sie sequentialisieren deren Handlungen so, dass sie Zuhörern die psychologische Identität ihrer Protagonisten preisgeben; sie vernetzen schließlich deren Handlung zu Interaktionen auf eine Weise, die den Zuhörern Aufschluss über die soziale Integrität der Protagonisten gibt. Zweitens teilen sich Erzählungen mit kommunikativem Handeln ihre grundsätzliche Zirkularität. Sehen wir uns zunächst das Verhältnis von Lebenswelt und Kommunikation an. Habermas zufolge reproduziert das kommunikative Handeln uno acto die Strukturen der Lebenswelt in ihren drei Dimensionen. Doch handelt es sich hierbei um einen soziologischen (Funktion für) oder um einen mathematischen (Funktion von) Funktionalismus? Trägt, um es durchzudeklinieren, eine verständigungsorientierte Kommunikation zur Reproduktion (und gegebenenfalls Transformation) der Kultur bei oder ist nicht seinerseits der Katalog der Themen, worüber in der kommunikativen Einstellung überhaupt gesprochen werden kann, wiederum abhängig vom Stand und Zuschnitt kultureller Selbstverständlichkeiten? Und weiter: Etabliert sich die Zugehörigkeit von Akteuren zu sozialen Gruppen über die Koordinierung verschiedener Handlungen oder ist die Notwendigkeit zu deren Abstimmung nicht umgekehrt das Erfordernis der vorgängigen Verteilung von Akteuren auf verschiedene Milieus, Schichten oder Klassenlagen? Und schließlich: Führt Sozialisation zur Ausbildung einer Persönlichkeit oder gibt diese nicht den Rahmen für jene vor? Diese Fragen lassen sich kaum entscheiden. Man wird daher forschungspragmatisch zu einem „sowohl, als auch“ tendieren. Nichtsdestotrotz zeigt sich daran ein methodologisches Problem: Habermas‘ Ansicht, derzufolge kommunikatives Handeln die Struktur der Lebenswelt reproduziert, hat zirkuläre Implikationen. Wie in der kommunikativen, so gibt es nun aber auch in der narrativen Einstellung bestimmte Erzählfunktionen: die narrativ objektivierten Handlungsumstände und Erlebensbedingungen von Figuren; die narrativ hergestellte personale Identität von Protagonisten im Zeitverlauf; schließlich deren Einbettung in soziale Interaktionen und die damit zusammenhängende gesellschaftliche Integrität. Doch auch hier lässt sich wieder die Frage nach der Interpretation des Funktionsbegriffs stellen: Ist die Struktur der Geschichte von den Erzählfunktionen abhängig oder verhält es sich umgekehrt, setzt also die Erzählung die Struktur der Geschichte in Gang? Somit teilen sich kommunikatives Handeln und das Erzählen einer Geschichte ein gemeinsames Problem – die Unentscheidbarkeit einer Frage: Sind sie auf vorgegebene Werte – Strukturen – bezogen oder sind diese Strukturen das Ergebnis des kommunikativen Handelns bzw. des Erzählens? Man wird kaum umhin können, hier von einer Wechselwirkung zu sprechen. Doch diese Verlegenheit, die Ursache von der Wirkung nicht unterschei-
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den zu können, lässt sich methodisch entschärfen. Zwar mag es sich hier auf formaler Ebene um Zirkularitäten handeln. Inhaltlisch betrachtet lässt sich jedoch sagen, dass die Struktur der Lebenswelt und die Struktur einer Geschichte mit dem kommunikativen Handeln bzw. dem Erzählen korrelieren. Das hat insofern Vorteile für die Betrachtung der hier besonders interessierenden Erzählfunktionen, wie diese nun weder einem konstruktivistischen Einwand (Geschichte ist abhängig von der Erzählung), noch einem deterministischen (Erzählung ist abhängig von der erlebten Geschichte) unterliegen. Die Struktur einer Geschichte ist weder beliebig, noch invariant. Eher muss man von einer gewissen Plastizität eines Erzählers gegenüber Erzählsituationen, von adaptiven Fähigkeiten des Erzählens an situative Umstände ausgehen. Die daraus resultierende Variabilität trägt beidem Rechnung: Sie schließt weder Invarianzen (über dann allerdings anzugebende Transformationsbeziehungen), noch Variation aus. Und das heißt, dass man die Struktur einer Geschichte als Korrelat einer Erzählung rekonstruieren kann, ohne sie als Beobachter einem Erzähler von außen aufzuerlegen oder sie als bloß situationales Ergebnis des Sprechhandelns zu begreifen. Zwischen kommunikativem Handeln und Erzählhandlungen gibt es nun noch eine dritte Gemeinsamkeit: ihre Mehrdimensionalität. Erzählrede und kommunikatives Handeln können nicht nur mit einer Funktion, sondern müssen mit mindestens drei Funktionen beschrieben werden. Daraus ergibt sich, dass beide Typen des Sprechhandelns in drei Dimensionen gleichzeitig angesiedelt sind. Die mit den pragmatischen Funktionen korrespondierende „Struktur“ muss daher ebenfalls mehrdimensional angelegt sein. Für den Fall des kommunikativen Handelns gilt dies auf besondere Weise. Denn anders als ein Erzähler, der mit den Umständen und Bedingungen einer Handlung, der Identität einer Figur und deren Integrität im Handlungszusammenhang nur drei unterschiedliche Aspekte in einer Geschichte zusammenschmelzen lässt, bewegt sich ein Mensch in der kommunikativen Einstellung gleich in drei Welten auf einmal: in der kulturellen Welt überlieferter Wissensbestände, der sozialen Welt von Handlungen und der psychischen Welt der Identitätsentwicklung. Habermas greift hier auf die phänomenologische Grundüberzeugung Husserls (1954) zurück, derzufolge sich menschliches Erleben nicht in einem leeren und homogenen Raum abspielt, sondern diese Vorstellung vielmehr eine neuzeitliche Idee ist, die dem subjektiven Erleben als eine vermeintlich erste Größe nur untergeschoben wurde. Der objektive Raum ist für einen Phänomenologen demzufolge nichts anderes als eine methodisch zugerichtete Vorstellung, ein Derivat noch ursprünglicherer Sinnkonkretionen. Für die Phänomenologie gibt es demnach keine Räume im objektiven Verständnis, sondern nur „Sinnbezirke“ (Gurwitsch). Nicht durch die Bewegungen ihres Körpers erleben Subjekte hier den Raum, sondern
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die Welt wird durch Modifikationen subjektiver Einstellungen erlebt. Während es insbesondere für Schütz jedoch noch ausgemacht war, dass in der Lebenswelt nur jeweils eine Welt den Vorrang haben konnte – der Alltag –, von der aus sich ein Subjekt dann in relative „Sonderwelten“ begeben konnte (z.B. Wissenschaft), ist die Lebenswelt bei Habermas eine Welt simultaner Dimensionen. Erst dann nämlich, wenn die mit den einzelnen Welten verknüpften Geltungsansprüche problematisch werden, wenn also Wissensbestände mit einem Mal kritisiert werden, Handlungen plötzlich als illegitim erscheinen und psychisches Erleben sich gesellschaftlich beeinträchtigt fühlt, kann sich eine dieser Welten in den Vordergrund des kritischen Diskurses schieben. Von der symbolischen Struktur der Lebenswelt zu reden, heißt bei Habermas deswegen nicht einfach nur, die invarianten Wertbeziehungen kommunikativen Handelns zu bezeichnen. „Struktur“ steht bei ihm zum einen gleichbedeutend für die Bezeichnung der internen Differenzierung der Lebenswelt. Zum anderen stellt er sich deren interne Beziehung als eine der Simultaneität vor. Aus dieser theoriestrategischen Entscheidung leitet er die Forderung nach einer holistischen Analyse der Lebenswelt ab: Man soll zugleich Wissenssoziologie (Kultur), Institutionentheorie (Gesellschaft) und Sozialpsychologie (Identität) betreiben. Die Habermas’sche Vorstellung spielt zwar einer kritischen Theorie der Gesellschaft in die Hände, aber nützt es auch einer angemessenen Konzeption der Lebenswelt? An die Konzeption der Lebenswelt bei Habermas kann man anschließen, wenn man verschiedene Unzulänglichkeiten ausbessert. Sein Fehler liegt zunächst darin, dass er glaubt, er selbst müsse „ein Bezugssystem für Beschreibungen und Erklärungen entwickeln, die eine Lebenswelt im Ganzen, und nicht nur Begebenheiten betreffen, die sich in ihr zutragen“ (1995 II, S. 207). Da er zum anderen aber dieses System mit invarianten Werten ausstattet, an denen sich die Reproduktionsfunktionen kommunikativen Handelns seiner Ansicht nach orientieren würden, bürdet Habermas sich nicht nur in empirischer Hinsicht eine uneinlösbare Beweislast auf. Denn warum gerade diese Werte von ihm als strukturelle Komponenten der Lebenswelt ausgewiesen werden, das kann er nicht einmal im Rahmen seines eigenen Argumentationsganges begründen. Wenn man nun darüber hinaus zusätzlich bezweifelt, dass die symbolischen Strukturen der Lebenswelt von Habermas ein für alle Mal entdeckt worden sind, und die Gegenthese formuliert, dass die Lebenswelt eine geschichtliche nicht nur in Bezug auf das ist, was sich in ihr abspielt, sondern dass sich im Zeitverlauf auch die Lebenswelt im Ganzen auf eine Weise transformiert, die keiner besonderen Rationalisierungslogik folgt, dann muss man ein Modell der Lebenswelt entwickeln, deren Strukturbegriff nur das Korrelat von innerweltlichen Ereignissen, Handlungen und Erlebnissen ist, nicht jedoch deren von vornherein fixierten Werte beschreibt. Wenn es also eine empirische Frage ist, wel-
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IV. Lebenswelt
ches die Strukturen der Lebenswelt sind, dann kann es sich bei der Lebenswelt nur noch um eine Welt handeln, die in sich in verschiedene Dimensionen differenziert ist und deren Werte variabel sind. Und das heißt wiederum: Die Lebenswelt muss als Erlebenswelt empirischer Subjekte begriffen werden. 5.
Resümee
Die in den vorangegangenen Abschnitten verhandelten Theoretiker der Lebenswelt haben angenommen, dass es sich bei deren Strukturen um Invarianten mit universaler Reichweite handelt. Die Lebenswelt ist hier wahlweise Inbegriff einer universalen Struktur der Wahrnehmung (Husserl), des alltäglichen Erlebens und Handelns (Schütz) oder des Handelns in kommunikativer Einstellung (Habermas). Alle drei Lebensweltkonzepte wurden in kritischer Absicht eingeführt, einesteils, um damit den Methodenkanon in den Natur- und Sozialwissenschaften auf die seit der Neuzeit vergessenen Quellen subjektiven Erlebens und Handelns zurückzuführen (Husserl, Schütz), andernteils, um in gesellschaftskritischer Absicht der verselbstständigten Sphäre instrumentellen Handelns eine an Einverständnis orientierte Welt kommunikativen Handelns gegenüberzustellen (Habermas). Während die Lebensweltphänomenologie und -soziologie aus der Teilnehmerperspektive entwickelt ist, dezentriert Habermas den egologischen Ausgangspunkt des Welterlebens durch die intersubjektive Sprachpragmatik. Als Zwischenschritt seiner Argumentation dient ihm die Erzählung. Sie gilt Habermas als eine Laientheorie der Lebenswelt, durch die Erzähler sich im Alltag wechselseitig mitteilen, welche Ereignisse sich in der Welt zugetragen haben. Dabei versprachlichen und sozialisieren sie nicht nur ihr Welterleben, sie zapfen bei ihrer Erzählrede auch ein kognitives Bezugssystem an, von dem Habermas allerdings annimmt, dass es für die Zwecke einer Gesellschaftstheorie noch eigens zugerichtet werden müsse. Entgegen seiner Ansicht, die Erzählung könne höherstufige Prozesse der Lebenswelt nicht erfassen, sondern nur Innerweltliches referieren, konnte gezeigt werden, dass es sich bei den vermeintlich höherstufigen Prozessen um die korrelative Einheit von Erzählrede und erzählter Geschichte bzw. von Pragmatik und Semantik handelt. Im Anschluss daran sollte plausibel gemacht werden, dass die von Habermas herausgearbeiteten Strukturen der Lebenswelt – Kultur, Gesellschaft, Person – mit eben solchem Recht als abhängige Funktionswerte verständigungsorientierten Handelns betrachtet werden können. Wenn man nun einen empirischen Standpunkt einnimmt, wird die Grundannahme aller drei Lebenswelttheoretiker unglaubwürdig, derzufolge es sich bei den Strukturen der Lebenswelt um ex cathedra deduzierbare Invarianten mit universaler Reichweite handelt. Um aber die Strukturen
IV. 5 Resümee
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der Lebenswelt empirisch erschließen zu können, erscheint es vielversprechender zu sein, auf einen Spezialfall von Erzählungen zu setzen. Ich meine den bereits diskutierten Fall autobiographischer Stegreiferzählungen, bei dem ein Ich-Erzähler eigenes wie fremdes Erleben und Handeln in einer Welt beobachtet, der er selbst zugehört. Die autobiographische Stegreiferzählung scheint vor diesem Hintergrund nicht mehr nur zeitlich (Kapitel II) oder sozial (Kapitel III), sondern vor allem auch sachlich motiviert zu sein. In einer Erzählung nimmt ein Ich-Erzähler nicht nur auf sich selbst oder auf Andere Bezug, sondern insbesondere auf die Welt, der er selbst mit anderen angehört. Diese Welt ist die intersubjektiv geteilte Lebenswelt. Die Hypothese ist demnach, dass die Laientheorie der Lebenswelt nicht nur dazu dient, eine Brücke innerhalb einer kritischen Gesellschaftstheorie zu schlagen, sondern vielmehr ein Kandidat sein kann für einen methodisch aussichtsreichen Weg zur empirischen Erschließung der Strukturen der Lebenswelt.
Kapitel V
Der Erfahrungsraum „I’m always crashing in the same car“ David Bowie
In den folgenden Kapiteln soll gezeigt werden, wie sich zwischen den universalen Strukturen der Lebenswelt einerseits und ihrer konkreten Geschichtlichkeit andererseits vermitteln lässt. Es bleibt nicht aus, eine mittlere Position zwischen der Lebenswelttheorie und der Lebensweltempirie einzunehmen. Weder kann es eine Lebenswelt für alle Menschen geben, noch haben deswegen gleich alle Menschen ihre eigene Lebenswelt, wie es die empiristische Auffassung der Lebenswelt besagt: „In ihren konkreten Ausformungen existiert sie in milliardenfacher Vielfalt als einzig wirkliche Welt jeder einzelnen Person, jedes ‚Egos‘“ (Hitzler/Eberle 2000, S. 110). So bedarf es also gleich zweier Korrekturen. Einerseits kann die Lebenswelt nicht länger mehr Inbegriff einer universalen Struktur der Wahrnehmung (Husserl), des alltäglichen Erlebens und Handelns (Schütz) oder des Handelns in kommunikativer Einstellung (Habermas) sein. Andererseits zerfällt die Lebenswelt damit aber auch nicht notwendigerweise in verschiedene Sinnwelten (Hitzler 1988), kleine soziale Lebenswelten (Hitzler/Honer 1984) oder Milieus (Grathoff 1989), denen dann nur noch mit lebensweltlichen Ethnographien (Honer 1993) empirisch beizukommen wäre. Gleichwohl verdeutlicht die Lebensweltempirie, was der Ausgangspunkt jeder Lebensweltanalyse sein muss: Das Erleben eines empirischen Subjekts der Erfahrung. Um die veränderten Ausgangsbedingungen begrifflich zu kennzeichnen, spreche ich im Weiteren nicht mehr von „Lebenswelt“, sondern von Erfahrungsraum. Nicht nur in begrifflicher, sondern auch in konzeptioneller Hinsicht transformiert dieser Terminus diejenigen Problemstellungen, die die Lebenswelttheorie der Lebensweltempirie hinterlassen hat. Es wird, soviel sei vorweggenommen, gerade der Strukturbegriff sein, durch den die unabgegoltenen Ansprüche der Lebenswelttheorie mit den Kriterien der Lebensweltempirie versöhnt werden sollen (Kapitel VI). Wenn man also die Lebensweltanalyse theoretisch und empirisch durch das Konzept des Erfahrungsraums beerben will, müssen drei Fragen geklärt werden: 1. 2.
Wie lässt sich der Erfahrungsraum als empirisches Integral subjektiver Erfahrung verstehen? Auf welche Weise bildet sich Erfahrung im alltäglichen Welterleben noch vor dessen narrativer Repräsentation?
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V. Erfahrungsraum
3.
Wodurch ist ein Erfahrungssubjekt mit dem Raum seiner Erfahrung vertraut?
1.
Das Integral subjektiver Erfahrungen
Ehe von „Erfahrung“ in einem begrifflich anspruchsvolleren Sinne gesprochen werden kann, ist zunächst eine Rechnung zu begleichen, die die Lebenswelttheorie beim Subjekt der Erfahrung noch offen hat. Denn dieses gilt von Husserl bis Habermas zwar als das Subjekt der Erfahrung – als ein empirisches Subjekt jedoch ist das Lebensweltsubjekt eigentümlich unerfahren. Zwar hatte die Lebensweltphänomenologie versucht, die Formen der Erfahrung aus der empirischen Welt abzuleiten, aber sie konnte dies nur um den Preis eines Bruchs mit dem empirischen Erleben. Das Subjekt der Erfahrung diente viel eher den theoretischen Interessen seiner Urheber, als dass die konkreten Erfahrungen eines empirischen Subjekts zum Urheber einer angemessenen Lebenswelttheorie geworden wären. Das Subjekt der Erfahrung war nichts weiter als der empirielose Fluchtpunkt der Lebensweltphilosophie, der Urgrund der Lebensweltsoziologie und die Reklamationsinstanz auch noch einer kritischen Gesellschaftstheorie. Wenn man jedoch an die Lebenswelttheorie heute noch anknüpfen will, muss zunächst dem transzendentalphilosophischen Subjekt, dem protosoziologischen Alltagssubjekt und auch noch dem an Verständigung orientierten Subjekt das empirische Leben wieder zurückerstattet werden, das ihm von Husserl, Schütz und auch von Habermas genommen wurde. Das primordiale, submundane und kommunikative Subjekt der Lebenswelttheoretiker kann in der Folge gar nicht anders, als wieder in die Welt der Erfahrung einzutreten. Und das in einem schlichten Sinne. Die Lebenswelt ist, was immer sie sonst ist, die subjektive Welt des Erlebens. Insofern dieses Subjekt nun aber als ein endliches Wesen behandelt werden soll, erhält auch die Lebenswelt einen Zeitindex: Sie beginnt mit dem Erleben eines Erfahrungssubjekts und endet auch damit. Damit bekommen auch die räumlichen Metaphern, mit denen Husserl die Lebenswelt noch beschrieben hat, eine temporale Wendung. Die Lebenswelt ist jetzt nicht mehr der Boden und der Horizont des Welterlebens, sondern das zeitlich verstandene „Woher“ und „Wohin“ aller Sinnbildung (Waldenfels 1985, S. 17). Weil ein Mensch die Welt zwischen einem Anfang und einem Ende erfährt, handelt es sich bei seinem Erfahrungsraum um einen Zeitraum subjektiver Erfahrung. Karl Mannheim (1980) hat den Erfahrungsraum nicht in der zeitlichen, sondern in der sozialen Dimension angesiedelt. Das Konzept des Erfahrungs-
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raums dient ihm als Antwort auf die Frage, wie es ein Wissen innerhalb einer Gesellschaft geben kann, das erstens ein gemeinsam geteiltes Wissen sozialer Gruppen und Generationen ist, das aber zweitens nicht ein propositionales Wissen ist, sondern auf der Ebene fundamentaler Überzeugungen, Einstellungen und Gewissheiten angesiedelt war. Aus sozialtheoretischer Sicht konstituierte sich ein Erfahrungsraum für Mannheim in Interaktionssituationen durch eine wechselseitige Einstellung der Teilnehmer auf das Erleben und den Ausdruck ihres Gegenübers: Ego und Alter erlebten einander zunächst als füreinander fremd, wiewohl sie, wenn sie miteinander hinlänglich vertraut waren, fortan die Welt gemeinsam erlebten, ohne diese Gemeinsamkeit des Erlebens und sich Ausdrückens noch eigens mitzuerleben. Das soziale Erleben trat hinter dem Welterleben zurück. „Nunmehr handelt es sich also nicht mehr nur darum, dass der einzelne Mensch mit dem Gegenüber eine spezifische Konjunktivität besitzt, sondern dass sich bereits zwei Menschen mit »dritten« (sowohl Dingen als Menschen) einen konjunktivgültigen Erfahrungsraum schaffen können.“ (1980, S. 214)
Was in dieser Gemeinschaft des Welterlebens erfahren wurde, konnte zwar keinen Anspruch auf eine für alle gültige Erkenntnis erheben, aber „dennoch ist auch das so Erfahrene, das nicht auf Begriffe gebrachte, jener Fond, der unser Weltbild ausmacht“ (ebd., S. 207). Während Mannheim den Erfahrungsraum als einen sozialen Raum zueinander in Erfahrungsgemeinschaft stehender Mitglieder einer Gesellschaft versteht – eine These die impliziert, dass es nicht nur konjunktives, sondern auch disjunktives Erkennen gibt – gebraucht Reinhart Koselleck (1979) den Begriff des Erfahrungsraums als „metahistorische Kategorie“ in historisch-diagnostischer Absicht. Ich werde zunächst auf die zeittheoretischen Implikationen des Erfahrungsbegriffes eingehen. Kosellecks theoretische These ist, dass die spezifische Qualität menschlichen Zeiterlebens eine Funktion der Relation von Erwartung und Erfahrung ist. Wie beide Instanzen im menschlichen Zeitbewusstsein aufeinander bezogen sind, ist nicht anthropologisch fixiert, sondern hängt seiner Ansicht nach von einem historischen Zeitverlauf ab. Auf diese Weise versucht Koselleck, die invarianten Bedingungen des menschlichen Zeiterlebens mit den wandelbaren Formen eines historischen Bewusstseins in Einklang zu bringen. Dass man etwas erwartet und über Erfahrungen verfügt und dass Erfahrungen von Erwartungen signifikant verschieden sind, das ist ein anthropologisches Axiom. Was man erwartet und über welche Erfahrungen man verfügt, das ist demgegenüber eine empirische Frage. Wie man jedoch Erwartungen und Erfahrungen in einer
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historischen Situation aufeinander bezieht, das gibt Koselleck zufolge Auskunft über die Signatur eines Zeitalters. Auf anthropologischer Ebene ist nach Ansicht Kosellecks die Vergangenheit in der Erfahrung ebenso gegenwärtig wie die Zukunft in der Erwartung. Gleichwohl sei im menschlichen Erleben die Vergangenheit anders gegeben als die Zukunft. Denn im Unterschied zu Erwartungen, die stets noch ausstehende Ereignisse vergegenwärtigen, seien die Ereignisse, die in der Erfahrung gegenwärtig sind, bereits vollständig. Sie sind schon gemacht und gesammelt (ohne dass Koselleck jedoch die Konnotation dieser Ausdrücke im Sinne gehabt hätte, die sie in Kapitel II erhalten haben). Weil sich Erwartungen und Erfahrungen wie Teile zu Ganzem, Unvollständiges zu Vollständigem, Unendliches zu Endlichem verhalten, veranlasst ihn dies, den Horizontbegriff für Erwartungen zu reservieren, den Erfahrungsbegriff hingegen mit demjenigen des Raums zu assoziieren: „Dass die aus der Vergangenheit herrührende Erfahrung räumlich sei, ist zu sagen sinnvoll, weil sie sich zu einer Ganzheit bündelt, in der viele Schichten früherer Zeiten zugleich präsent sind, ohne über deren Vorher oder Nachher Auskunft zu geben. Es gibt keine chronologisch messbare – wohl aber nach ihrem Anlass datierbare – Erfahrung, weil sie sich jederzeit aus allem zusammensetzt, was aus der Erinnerung des eigenen und aus dem Wissen um anderes Leben abrufbar ist. Chronologisch macht alle Erfahrung Sprünge über die Zeiten hinweg, sie ist keine Kontinuitätstifterin im Sinne additiver Aufbereitung der Vergangenheit.“ (Koselleck 1979, S. 356)
Der Erfahrungsraum ist demnach nicht einfach nur der Raum gesammelter, sondern auch auf eine spezifische Weise versammelter Erfahrungen: Er ist ein synchroner Raum. Was in ihm vorkommt, bemisst sich nicht nach Zeitverläufen, sondern nach Anlässen. Das verweist darauf, dass Erfahrungen nicht zu bilanzieren sind, sondern allenfalls zu datieren. Wenn es also richtig ist, dass im Erfahrungsraum alles gleichzeitig vorkommt, dieser andererseits aber nur in seiner Gesamtheit gegenwärtig sein kann, dann lässt dies nur einen Schluss für die Art seiner Präsenz zu: Er ist im menschlichen Erleben und Handeln als ein virtueller Raum ko-präsent. Das heißt allerdings nicht, dass Erfahrungen sich nicht verändern könnten. Im Gegenteil. Ständig werden sie (durch Enttäuschung) entwertet oder sie werden (durch veränderte Erwartungen) in einem anderen Licht gesehen. Gleichwohl konstatiert Koselleck: „Als einmal gemachte“ sind Erfahrungen „immer dieselben“ (ebd., S. 358). Was nun die historische These anbelangt, so nimmt Koselleck (ebd., S. 369) an, dass
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„sich in der Neuzeit die Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung zunehmend vergrößert, genauer, dass sich die Neuzeit erst als Neuzeit begreifen ließ, seitdem sich die gespannten Erwartungen immer mehr von allen zuvor gemachten Erfahrungen entfernt haben.“
Die Neuzeit ist mithin jene Zeit, in der aus vergangenen Erfahrungen keine Erwartungen mehr für die Zukunft abgeleitet werden können. Hier herrscht die Erwartung vor, auf Tradition und Offenbarung als Orientierungsquellen des Handelns und Begründens insgesamt zu verzichten. Alles hat sich in der modernen Zeit vor den eigenen Gedanken zu rechtfertigen. Ex negativo wird deutlich, dass der Erfahrungsraum von Koselleck als Ensemble nicht nur erinnerungsfähiger Ereignisse, sondern auch nachahmenswerter Handlungen gesehen wird. Indem Erfahrungsraum und Erwartungshorizont auseinander fallen, verlieren historische Tradition und religiöse Offenbarung ihre Verbindlichkeit für das an Zukunft orientierte Handeln. Es kommt hier freilich nicht auf die historische These an. Bemerkenswert ist vielmehr, dass Koselleck die Moderne als Zwischenraum konstituiert sieht. Sie ist jene Epoche31, die sich von der Zukunft nicht nur Anderes, sondern auch Besseres verspricht, als sie in der Vergangenheit erfahren hat: Erfahrungen sind nun nicht mehr gültig, andererseits haben sich die überschießenden Erwartungen an eine neue Zeit noch nicht bestätigt. Sieht Mannheim den konjunktiven Erfahrungsraum als denjenigen sozialen Raum an, der zwischen in Erkenntnisgemeinschaft befindlichen Interaktionspartnern gemeinsam geteilte Weltbilder und Hintergrundüberzeugungen entstehen lässt, versteht ihn Koselleck als jenen besonderen Zeit-Raum, in dem die Erfahrung eines Einzelnen oder eines Kollektivs einerseits virtuell enthalten ist, der andererseits mit dem Erwartungshorizont aber auch auf sein konzeptuelles Pendant verweist. Durch deren beider Beziehung konstituiert sich die spezifische Erfahrung der Geschichte. Individuelle wie kollektive Zeiterfahrung ist demnach die Funktion einer besonderen Relation zwischen Erwartung und Erfahrung, deren Auseinanderdriften für Koselleck die Neuzeit konstituiert hat. Ist der mit Weltbildern identische Erfahrungsraum bei Mannheim vor allem aus der Perspektive von Teilnehmern gewonnen, untermauert Koselleck seine historische These vor allem mit Dokumenten, deren Verfasser es gewohnt sind, ihre Zeit auf den Begriff zu bringen: Philosophen. Während Weltbilder eher unmerklich in alltäglichen Interaktionen entstehen, setzen hingegen Zeitdiagnosen
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Insofern macht die Koselleck'sche Beschreibung der sogenannten Sattelzeit jene historische Umkehrung des Epochenbegriffs mit, die Blumenberg (1988, S. 531ff.) festgestellt hat: Eine Epoche wird nun als der Abstand von datierbaren Zeitpunkten aufgefasst, nicht mehr als diese Einschnitte selbst – ein Verständnis des Begriffs, das etwa noch dem Husserl'schen Gebrauch der epochƝ zugrundeliegt: Einhalt (gegenüber der Prozessualität) und Enthaltung (gegenüber dem Urteil).
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(gleichviel, von wem sie unternommen werden) ein handlungsentlastetes Beobachten und Deuten voraus. Wenn nun, wie ich vorschlage, der Erfahrungsraum deswegen das empirische Integral subjektiver Erfahrung ist, weil dessen Grenzen mit denjenigen des menschlichen Erlebens zusammenfallen, so ist er ein Zwischenraum, der sich auf zwei Weisen darstellen lässt. In der Beobachterperspektive ist der Erfahrungsraum der soziale Raum, in dem etwas geschieht. Da er zwischen Anfang und Ende der Erlebnismöglichkeiten eines Erfahrungssubjekts liegt, ist dieser Raum mit einem Zeitindex versehen, er ist der Zeit-Raum des Lebenslaufs. Mit dem Erfahrungsraum ist die von einem Beobachter datierbare Zeitspanne zwischen Geburt und Tod eines Erfahrungssubjekts gemeint und die prinzipielle Datierbarkeit all dessen, was sich in diesem Zwischenraum zugetragen hat. Die Logik des Lebenslaufs ist diejenige der Abfolge: ein Lebensereignis reiht sich hier an das nächste. Der Lebenslauf bekommt damit unversehens eine ihm eigene Bewegung zugeschrieben, er ist metrisierbarer Lebensablauf bzw. Lebensverlauf. Die äußeren Grenzen des Erfahrungsraums sind mit dem initialen Ereignis der Geburt und dem finalen Ereignis des Todes identisch. Auch sie sind datierbar. Ohne diesen sozialen Akt der kalendarischen Begrenzung des Erfahrungsraumes würde wiederum das, was sich in diesem Zeitraum zuträgt „in nichts zerfließen“ (Lévi-Strauss 1973a, S. 298). In der Alltagspraxis sind es biographisch relevante Fragen (Kapitel III) durch die diese Auffassung des Erfahrungsraums reproduziert wird. Sie versetzen denjenigen, den sie betreffen, in ein reflektiertes Verhältnis zum Raum seiner Erfahrung, indem sie ihm als Antwort abverlangen, von sich zu erzählen. Das heißt nicht nur, dass die narrativ vorgetragene Selbstbeobachtung eines Erzählers sozial konditioniert ist, sondern auch, dass dessen grundsätzliche Perspektive auf sich selbst (durch die Übernahme eines kognitiven Schemas) sozialen Bedingungen unterliegt. Was auch immer jemand von sich erzählen wird, er wird sich dabei an eine Minimalontologie des Sozialen halten müssen: Er wird zunächst den eigenen Erfahrungsraum in einen sozialen Raum integrieren, in dem sein Leben neben anderen verläuft. Er wird daher den eigenen Lebenslauf einerseits als Abfolge datierbarer Ereignisse auffassen, eine Eigenschaft, die es ihm andererseits aber auch erlaubt, seinen Lebenslauf als eine seine Einzelereignisse übergreifende Zeitspanne des Erlebens darzustellen. In diesem Fall assimiliert ein Erzähler das eigene Erleben an die sozialen Räume, in denen es stattgefunden hat: Schule, Ausbildung, Studium, Beruf – das alles sind soziale Räume, zu denen sich die eigene Lebensgeschichte auch rein tabellarisch verhalten kann. Freilich fußt die soziale Grammatik des Selbstverstehens auf einer Selbstbeziehung, in der die eigene Erinnerung nicht nur die Voraussetzung dafür ist,
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dass sich ein Ich-Erzähler perspektivisch in die eigene Vergangenheit erstrecken kann, sondern „Erinnerung“ ist vielmehr gleichbedeutend mit dieser Bewegung selbst. Denn anders als das Gedächtnis, das Erlebnisse selektiv festhält und reorganisiert, besteht der Vorgang des „Sich-Erinnerns“ in dem Prozess des – um in den Metaphern des Raums zu sprechen – Zurückgehens, Durchlaufens und des Hindurchfahrens. Wer sich erinnert, durchfährt den Raum seiner Erfahrung mit der Maßgabe, hierin nicht nur zurückzugehen, sondern auch wiederzukommen. Die Erinnerung ist daher sowohl eine retrograde, als auch eine anterograde Bewegung: In rückwärts gewandter Richtung rekapituliert sie das, was einmal war, – aber jetzt nicht mehr ist. Und in vorwärts gewandter Richtung rekapituliert sie, wie aus dem, was zwar nicht mehr ist, dennoch das wurde, was immer noch ist. Es ist durchaus bemerkenswert, dass von beiden Bewegungsrichtungen auf narrativer Ebene nur die anterograde Richtung mitvollzogen wird. Die narrative Rekapitulation32 geht mit der Zeit, nicht gegen sie. Auch narrative Darstellungen von biographischen Trajekten des Abstiegs und des Niedergangs verlaufen in einer irreversiblen Zeit. Während die sozial induzierte Beobachterperspektive den subjektiven Raum der Erfahrung stets als eine datierbare Lebensspanne in sozialen Räumen begreift, macht dieser sich aus der Teilnehmerperspektive auf eine andere Weise bemerkbar. Denn der Erfahrungsraum ist hier koextensiv zu den Grenzen des je eigenen Erlebens und wird daher durch das menschliche Zeitbewusstsein aufgespannt. Der Sache nach ist dieser Begriff allerdings ein irreführender Ausdruck. Denn über ein Bewusstsein von Zeit und damit über tatsächliche Erfahrung kann das Subjekt der Erfahrung erst verfügen, wenn es sich perspektivisch in die Zukunft und in die Vergangenheit hinein erstreckt (Kapitel II). Indem ein Mensch also Erlebnisse erwartet und erinnert (im Sinne des Festhaltens), bildet er in sich selbst einen „Weltinnenraum“ (Rilke) aus. Dieser Raum ist der Zwischenraum der Erfahrung. Anders als im Raum objektiver Erfahrung besteht die interne Bewegung subjektiver Erfahrung nicht in einer Abfolge von Ereignissen, sondern in einem Ineinandergreifen von Erwartungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen. Denn auch noch das neuzeitliche Fortschrittsbewusstsein, demzufolge Erwartungen und Erfahrung nicht mehr aufeinander zu beziehen sind, ist nur die spezifisch-historische Qualität eines Zeitbewusstseins, das sich als solches nicht der Geschichte, sondern anthropologischen Grundlagen verdankt. Die Grenzen des subjektiven Erfahrungsraums werden daher einerseits durch die – variable – Reichweite des Gedächtnisses, andererseits aber auch durch die – ebenfalls variable – Antizipation von Handlungen und Ereignissen definiert.
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Ein zur biologischen Rekapitulation der embryonalen Entwicklung analoger Prozess, vgl. Mayr (2003).
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Was darin vorkommt, sind noch nicht von sich aus Erfahrungen, sondern erst einmal nur Wahrnehmungen. Es muss noch etwas hinzukommen, ehe von Erfahrung gesprochen werden kann. Bisher wurde erst jene Variante subjektiver Erfahrung diskutiert, die als Widerfahrnis durch die Enttäuschung von Erwartungen entsteht. Betrachtet man aber die Voraussetzungen dieser Art von Erfahrungsbildung, dann ist zu bemerken, dass Enttäuschbarkeit nicht allein durch den jederzeit unsicheren Charakter von Erwartungen hervorgerufen wird, sondern dass diese Erwartungen ihrerseits auf Erfahrungen beruhen, von denen sie sich ableiten lassen. Erwartungen sind auf Erfahrungen gegründet, auch wenn sie nicht vollständig darin aufgehen (Koselleck 1979, S. 356). Von daher läge es also nahe, jede Konstitution von Erfahrung als Resultat von Enttäuschungen zu begreifen. Erfahrungen würden demnach solange in Geltung sein, bis sie widerrufen werden. Eine solche Ansicht führte jedoch nicht nur in einen schlechten Zirkel hinein, sondern sie entspricht auch nicht der Wirklichkeit. Die Negation einer Erwartung ist nicht der einzige Weg zur Herausbildung von Erfahrung. Es gehört vielmehr zu einer ihrer grundlegenden Eigenschaften, dass sich Erfahrung ebenso unmerklich herausbilden kann und daher auch ohne die Prozesse des Durchstreichens, der Entfremdung oder gar der Angst auskommt. Ein solcher phänomenaler Tatbestand verlangt demnach eine andere Auffassung von Erfahrung, als die der Widerfahrnis. Ehe ich darauf im nächsten Abschnitt zu sprechen komme, soll jedoch noch eine weitere wichtige Eigenschaft des subjektiven Erfahrungsraums festgehalten werden. Da sich nämlich dessen Reichweite in den Grenzen von Gedächtnis und Einbildungskraft bewegt, besteht die interne Konsequenz darin, dass Erfahrungen hier nur in einem Aktualitätshorizont vorkommen können. Und das in beide Richtungen. Zwar können – nach den Maßstäben einer sozialhistorischen Zeit – die von einem Menschen erinnerten „Erfahrungen“ längst vergangen sein, für das subjektive Erleben ist das allerdings solange nicht der Fall, wie diese Erlebnisse auf irgendeine Weise noch vergegenwärtigt werden können. Umgekehrt verhält es sich mit der subjektiven Einbildungskraft. Das utopische Bewusstsein, science fiction, religiöse Heilserwartungen, klimatische Zukunftsszenarien, astronomische Hochrechnungen der Sternenbahnen – alles das sind Modi, die Zukunft zur Gegenwart zu machen, indem man sich in sie perspektivisch hineinerstreckt. Aber auch hier handelt es sich wiederum nicht um Akte, die an sich selbst schon zeitlich zu nennen wären. Vielmehr sind es die Operationen des Bewusstseins oder des Handelns selbst, durch die Grenzen gesteckt werden und der Erfahrungsraum auf diese Weise ein Fassungsvermögen bekommt, ohne das er „in nichts zerfließen“ würde. Die Welt zu erfahren, heißt demnach, die eigene
V. 2 Konstitution von Erfahrung
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Dauer zu erleben; und das ist nur möglich, weil sich ein Subjekt in sich selbst durch spezifische Eigenleistungen begrenzt. Teilnehmer- und Beobachterperspektive des Erfahrungsraums verhalten sich demnach komplementär zueinander: Indem ein Beobachter die Grenzen des Erfahrungsraums durch pragmatische Datierungen absteckt, schneidet er ihn wie mit einer Schere zurecht; hingegen fällt diese Begrenzung in der Teilnehmerperspektive in die Zuständigkeit des Erfahrungssubjekts selbst. In Folge dessen wird der Erfahrungsraum an seinen Rändern unscharf – er ist jetzt nicht mehr Kante, sondern Horizont. In beiden Fällen hat „Zeit“ demnach die Funktion, die Ausdehnung des Erfahrungsraums einerseits zu begrenzen, ihn andererseits aber auch als das Fassungsvermögen für Erfahrung zu konstituieren. Der subjektive Erfahrungsraum ist demnach dadurch charakterisiert, dass er 1. 2. 3. 4.
das empirische Integral subjektiver Erfahrungen ist, dessen Grenzen von dynamischen Erwartungen und Erinnerungen abgesteckt werden und dadurch den Raum der Erfahrung unterschiedlich weit ausdehnen, wobei die Erfahrungen in diesem Raum gleichzeitig präsent sind.
In diesem Zuschnitt ist der subjektive Erfahrungsraum allerdings nur durch seine äußeren Parameter beschrieben. Dass er Erfahrungen in sich beinhaltet und behält, besagt noch nicht, welcher Art diese Erfahrungen sind, die in ihm vorkommen. Das soll nun im nächsten Schritt geklärt werden. 2.
Die Konstitution von Erfahrung
Gemessen an den eigenen Ansprüchen einer Wissenschaft von den Ursprungsevidenzen des Welterlebens ist es einigermaßen überraschend, dass diese es bisher versäumt hat, einen Begriff von Erfahrung auszubilden, der dem Verständnis von „Empirie“ der positiven Wissenschaften nicht nur einen Katalog von Missverständnissen vorhält. Für Husserl und Schütz ist Empirie durchweg negativ definiert. Das hat damit zu tun, dass beide diejenige Auffassung von Erfahrung korrigieren und auf ihren tatsächlichen Ursprung in der (alltäglichen) Lebenswelt zurückführen wollen, derzufolge es sich dabei in erster Linie um „Empirie“ handele, also um eine methodisch kontrollierte Gewinnung von Da-
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V. Erfahrungsraum
ten, etwa durch das naturwissenschaftliche Experiment und die sozialwissenschaftliche Befragung.33 In der Phänomenologie wird „Erfahrung“ daher vor allem in zwei Weisen gebraucht: kritisch, etwa als Gegenbegriff zum Urteil (Husserl 1985), oder unkritisch, zum Beispiel als Synonym zu Wahrnehmung, Anschauung und Erleben. Tatsächlich aber gibt es ein Verständnis von Erfahrung, mit dem sich sowohl kritisch-phänomenologische als auch soziologisch-empirische Ansprüche gleichermaßen befriedigen lassen. Dieses Verständnis bildet ironischerweise den Ansatzpunkt der exakten Wissenschaft. Denn schon auf deren eigenem Feld lässt sich ein Vorverständnis dessen aufzeigen, was Erfahrung in einem phänomenologisch anschlussfähigen Sinne heißen kann. Es lässt sich zu Teilen aus dem Sprachgebrauch, zu anderen Teilen aber aus einer traditionell-wissenschaftlichen Reflexion heraus ableiten. Der Erfahrungsbegriff meint zunächst eine elementare Ortsbewegung (Achim Hahn 1994, S. 95). Er bezeichnet ein Fahren, genauer gesagt: durch einen Raum ›hindurchfahren‹ (Kapitel III). In einem phänomenologischen Sinne ist Erfahrungsbildung also durchaus an Leiblichkeit gebunden, wiewohl diese nur eine Voraussetzung, nicht jedoch den Inbegriff von Erfahrung selbst darstellt. Wenn man nun diese Vorstellung von Erfahrung entschleunigt, d.h. eine Gangart zurückschaltet und die Bewegung durch den Raum auf das Gehen mit zwei Füßen bezieht, dann ist es die eigene Körperbewegung, durch die bestimmte Orte zum einen miteinander verknüpft, zum anderen aber genau dadurch voneinander getrennt werden. Der Raum wird im Gehen und durch die Bewegung nolens volens geteilt: Man geht (oder fährt) hierhin und nicht dorthin, lässt jenes „links“ liegen und wendet sich diesem „dort“ zu. Auf vergleichbare Weise hat Michel de Certeau (1988) beschrieben, wie sich der soziale Raum einer Stadt als eine Funktion des Durch-sie-Hindurchgehens ergibt: Einheimische kennen die Schleichwege, Touristen die Buslinien. Räumlichkeit ist demnach der Effekt einer Bewegung, durch die Orte miteinander verbunden werden. So konnte Certeau zeigen, wie der soziale Raum einer Stadt durch die Relationierung von Orten entsteht, die wiederum durch die Eigenbewegungen ihrer Bewohner bzw. Besucher miteinander verknüpft werden – oder eben ausgespart bleiben. Es gibt bekanntlich Touristen, die eine ihnen fremde Stadt nicht als Objekt von Sehenswürdigkeiten erschließen wollen, sondern sie wie ein Einheimischer zu „erfahren“ suchen. Das führt dann unter Umständen dazu, dass man mit einem Mal in einem volkstümlichen Gasthaus sitzt, allerdings die Speisekarte nicht lesen und mit der Kellnerin in keiner geläufigen Weltsprache kommunizieren
33
Erst im Zuge der Ausdifferenzierung einer sich als „qualitativ“ beschreibenden Sozialforschung wird es wieder möglich, mehr als nur einen theoretisch-negativen Bezug zu objektivierenden Wissenschaften herzustellen.
V. 2 Konstitution von Erfahrung
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kann, und schließlich auch die Speisen, die man bestellt hat, nicht essen will, weil das, was man serviert bekommt, mit den eigenen Vorstellungen und Ansprüchen an das Essen nicht kompatibel ist. Soziale Räume sind demnach keineswegs beliebig begehbar. Ähnliches wie über die durch den Leib vermittelte Durchfahrung des Raumes lässt sich nun für die Erfahrung im kognitiven Sinne sagen. So wie sich der soziale Raum nämlich aus der Verknüpfung von Orten ergibt, so stellt sich auch die kognitive Erfahrung eines Menschen aus der Verknüpfung von Wahrnehmungserlebnissen her. Denn „Erfahrung“ besagt ja zunächst nichts weiter als eine Kenntnis, die einem unterwegs, etwa auf einer Reise, zugewachsen ist. Damit wird deutlich, welche elementare Bedingung die Konstitution einer Erfahrung hat: Sie braucht und verbraucht Zeit, um sich herauszubilden. Zugleich impliziert dieses Verständnis von Erfahrung aber noch zwei weitere wichtige Eigenschaften des Erfahrungsbegriffes. Denn erstens ist Erfahrung das, was von dieser Durchfahrt behalten wurde. Um erfahren zu sein, muss jemand also über Gedächtnis und Erinnerung verfügen.34 Doch was kann hier erinnert werden? Die Fahrt zerfällt einerseits in eine Reihe von Zuständen: Es handelt sich hier um eine Vielzahl von Erlebnissen und eine Unzahl von Handlungen. Andererseits aber hat sich die Erfahrung nicht erst am Ende der Reise, sondern bereits „unterwegs“ unwillkürlich selbst gebildet: Jemand bemerkt hier zwischen seinen Erlebnissen und Handlungen etwas Gleichartiges. Um von „Erfahrung“ sprechen zu können, müssen sich deswegen zweitens auch verschiedene Erlebnisse und Handlungen in mindestens einer Hinsicht untereinander als ähnlich erwiesen haben. Darum zu wissen und diese Erlebnisse von anderen Erlebnissen wiederum unterscheiden zu können, macht nun aber den traditionellen aristotelischen Begriff von Erfahrung aus (Achim Hahn 1994, S. 139). Für Aristoteles war die empeiria ein Vorbegriff (wissenschaftlichen) Wissens. Er siedelte sie zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Erinnerung an. Die „Fähigkeit einer empeiria“ ging für ihn aus den „vielen Erinnerungen an ein und dieselbe Sache“ (Met. 980b 28ff.) hervor. Das ist allerdings alles andere als eine klare Formulierung. Es gibt hier zwei Alternativen, die empeiria zu interpretieren. Beide Male steht die Frage im Mittelpunkt, wie die Einheit der Erfahrung denn eigentlich zu verstehen ist. Denn offenkundig ist die empeiria gerade nicht deckungsgleich mit den vielen Erinnerungen an ein und dieselbe Sache, sondern setzt diese bereits voraus. Es kommt daher darauf an, wie diese Fähigkeit (dynamis) zur Erfahrung eingeschätzt wird.
34
Als klassischen Ort der Differenzierung von Gedächtnis und Erinnerung vgl. Aristoteles (2004).
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Interpretiert man sie erstens als eine individuelle Urteilskraft, dann ist dies bereits eine Antwort auf die Frage danach, wie sich Erfahrung alltagspraktisch ergibt. Zwei Varianten der Genese von Erfahrung sind denkbar. Erfahrung kann
sich auf der Grundlage entsprechender Fallkenntnisse durch ein Vermögen des Urteilens über Sachverhalte ergeben; auf der Basis der Einübung einer bestimmten Handlungspraxis durch ein Schema des Entscheidens über zur Verfügung stehende Handlungsalternativen entstehen.
Das Surplus der Empeiria ist mal ein eher theoretisches, mal ein eher praktisch zu nennendes Wissen. Freilich blieb das alltägliche Erfahrungswissen für Aristoteles auf Gegenwärtiges (zeitlich) und Besonderes (sachlich) beschränkt. Erfahrung war immer nur als aktuelle da und wurde nicht in vorgängiger Allgemeinheit gewusst (Gadamer 1990). Aus Erfahrung geschöpftes Wissen konnte außerdem keine Warum-, sondern nur Was-Fragen beantworten (Hager 1972, S. 453). Mit Erfahrungswissen konnte man demnach nur sagen, was der besondere Fall war (aber nicht warum) oder was gerade jetzt getan werden musste (aber nicht warum). Aus diesem Grund war die empeiria für Aristoteles noch nicht Wissenschaft, wohl aber der entscheidende Schritt zu ihr hin. Das Erfahrungswissen ist ein implizites Wissen, es generalisiert noch nicht, ist aber die Voraussetzung für eine methodisch kontrollierte Induktion. Aber das Besondere im Erfahrungswissen hat eben auch nicht mehr den Status eines bloß Einzelnen, sondern ist bereits eine erste Verallgemeinerung, insofern es in der Erfahrung ja um „das Bleiben wichtiger Wahrnehmungen“ (Gadamer 1990, S. 357) geht. Freilich werden nicht einzelne Wahrnehmungen fixiert, sondern es ist die zwischen ihnen festgestellte Ähnlichkeit, die dem Wahrnehmungsfluss durch die Erfahrung entzogen wird. Das ist eine genuin kognitive Leistung. Aber dadurch verselbstständigt das Erfahrungswissen sich nicht, weil es sowohl in seiner theoretischen als auch in seiner praktischen Variante eine intime Beziehung zur vertrauten Alltagswelt unterhält. Fallkenntnisse und Handlungspraxis sind nicht nur die alltäglichen Voraussetzungen für Erfahrung, sondern sie stellen wiederum auch die Bewährungsproben für das Erfahrungswissen dar. Mit anderen Worten: Erfahrung ist eine kognitive Konstruktion, wiewohl sie einen rezeptiven Input benötigt und von diesem auch korrigiert werden kann: Erfahrung ist bewährungs- aber nicht begründungspflichtig. Demnach gilt nur derjenige als erfahren, der sein Erfahrungswissen – in der theoretischen Einstellung – in Form von Beispielen (Kambartel 1972, S. 610) anwenden oder – in der praktischen Einstellung – an seinen Handlungen demonstrieren kann. In Ausschreibungen von Stellen wird das gelegentlich ausdrücklich gefordert: Wer eine „erfahrene Persönlichkeit“ in einem Unternehmen sucht, braucht jemanden, der sein Wis-
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sen in acto zeigen und daher Probleme erfolgreich lösen kann. Und auch akademisches Lehrpersonal sollte Geschichten parat haben, um abstrakte Theorien nicht nur zu veranschaulichen, sondern sie einer intersubjektiv geteilten Erfahrung als Bewährungsprobe zu überantworten. Versteht man demnach zweitens das Erfahrungswissen nicht mehr von seiner Genese, sondern von seiner Bewährung in der Alltagspraxis her, dann ist die Einheit der Erfahrung koextensiv zu ihrer Bestätigung: „Alle Erfahrung ist ja nur in Geltung, solange sie sich bestätigt. Insofern beruht ihre Dignität auf ihrer prinzipiellen Wiederholbarkeit. Das bedeutet aber, dass Erfahrung ihrem eigenen Wesen nach ihre Geschichte in sich aufhebt und in sich auslöscht. Schon für die Erfahrung des täglichen Lebens gilt das, und erst recht für jede wissenschaftliche Veranstaltung derselben.“ (Gadamer 1990, S. 352f.)
Die spezifische Operation, durch die die empeiria zustande kommt – sprachliches Urteil und praktisches Schema – ist jetzt also zurückgebunden an ihre Wiederholbarkeit. Erfahrungswissen wird zwar unbemerkt und eher zufällig an besonderen Gegenständen und unter besonderen Umständen gewonnen, aber es gehört zur Eigenart der Erfahrung, dass sie darüber einen Schritt hinausgeht und unversehens zur transsituativen Einheit und Allgemeinheit vorstößt. Durch diesen internen Zug zur wissenschafltichen Einstellung und induktiven Generalisierung wird das Erfahrungswissen erst widerlegbar. Nichtsdestotrotz erweist es sich als hartnäckig. Es bildete sich zwar im alltäglichen Weltumgang en passant heraus, aber dadurch war es kein gering zu schätzendes Ereignis mit kurzer Halbwertszeit. Im Gegenteil. Wer erfahren ist, für den gibt es solange nichts Neues, wie er nicht dazu genötigt wird, sein Wahrnehmungs- und Handlungsschema zugunsten eines anderen auszuwechseln. Damit kommt dann wiederum jener Sinn von Erfahrung ins Spiel, der oben als Widerfahrnis (Kapitel II) beschrieben wurde. Ein Erfahrungswissen ist solange gültig, wie die sich darauf ableitenden Erwartungen nicht enttäuscht – wissenschaftstheoretisch gesprochen: falsifiziert – werden. Aber auch hier gilt das, was zuvor über die Eigenart des mimetischen Selbstverhältnisses insgesamt gesagt wurde: Man wird, auch als Wissenschaftler, dazu neigen, an seinem Wissensbestand festzuhalten, d.h. Techniken zu finden und zu erfinden, um ihn zu reparieren und zu konservieren, anstelle diesen freimütig dem Verfall preiszugeben. Erfahrungen entstehen demnach 1. 2. 3. 4.
aus Wiederholungen erinnerungsfähiger Erlebnisse, wobei sie die Erwartung künftiger Erlebnisse orientieren, die, für den Fall, dass diese bestätigt werden, neuen Erlebnissen keinen Informationswert zuweisen, wohingegen
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V. Erfahrungsraum
5.
die Enttäuschung von Erwartungen zur Transformation von Erfahrung führt.
3.
Die Organisation von Vertrautheit
Alfred Schütz hat „Weltvertrautheit“ als den internen Zusammenhang von Wissensvorrat, Relevanz und Typik (2003, S. 313ff.) beschrieben. Vertraut35 konnte die Welt für einen Menschen auf zweierlei Weise sein. Zum einen konnte er identische Personen, Situationen und Ereignisse wieder erkennen. Diese Art der Vertrautheit mit der Welt sah Schütz als eine Funktion des Gedächtnisses an: Man erkannte, indem man sich erinnerte. Wenn allerdings Wahrnehmungen sich nicht als identisch erwiesen, sondern nur als zueinander ähnlich, dann griff Ego zum anderen auf die in seinem Wissensvorrat angelegte Typik zurück. Unter Typik verstand Schütz (ebd., S. 78) eine „einheitliche Bestimmungsrelation“ von Merkmalen eines Wahrnehmungsschematismus, der Alltagsteilnehmern zur Erkennung und Bewältigung von Handlungssituationen dienen sollte. Das Beispiel, das Schütz dafür gab, war die Wahrnehmung eines Hundes: Bisher kannte Ego diesen nur als einen der vierfüßig war, mit dem Schwanz wedelte und bellte – bis dieser plötzlich zubiss. Der Typus „Hund“ wurde von Ego jetzt um ein zusätzliches Merkmal bereichert. Ein Hund konnte jetzt nicht nur ein ungefährlicher Weggefährte, sondern auch eine gefährliche Begegnung sein – der Obertypus erhielt damit einen Untertypus. Typisierbares Wissen über die Welt ergibt sich also, indem sich bestimmte Elemente so unter die Vorherrschaft eines Typus bringen lassen, wie ein Gegenstand unter einen Begriff, ein Fall unter ein Gesetz oder ein Element in eine Klasse. Dieser begriffs-, gesetzes- oder klassenlogischen Art und Weise, den Sinn eines Sachverhalts, einer Eigenschaft, einer Person oder eines Ereignisses zu bestimmen, wollte Schütz in der ihm eigenen Typentheorie handlungspraktisch verstanden wissen. Als Alltagsteilnehmer war man eben kein Philosoph, Richter oder Mathematiker sondern – Pragmatiker. Man beschränkte sich auf die nötigsten und nützlichsten Informationen. Wer je einmal von einem Hund gebissen wurde, wird sich bei seiner nächsten Begegnung mit einem für ihn unbekannten Tier daher nicht aus taxonomischen, sondern aus prudentiellen Gründen fragen, ob die erwogene Bissigkeit dieses neuen Hundes eine Frage seiner Größe, seiner Rasse oder einer früheren Misshandlung sein konnte.
35
Zur Unterscheidung von Vertrauen und Vertrautheit vgl. Luhmann 2001.
V. 3 Organisation von Vertrautheit
203
An diesem Beispiel lässt sich zweierlei erkennen. Erstens ist Vertrautheit für Schütz eine Funktion des Identifizierens und Typisierens. Die alltagsweltliche Vertrautheit eines Menschen bestimmt sich für ihn nach Art und Umfang des erinnerungsfähigen Wissens, das für die kognitive Auslegung und handlungspraktische Bewältigung einer Situation relevant ist. Schütz nimmt an, dass der subjektive Wissensvorrat in jeder einzelnen Situation einem Erfahrungssubjekt zur Verfügung steht, wiewohl dieser dabei nicht aktuell, sondern nur virtuell in Geltung ist. „Der Wissensvorrat bewährt sich praktisch in seiner Gesamtheit“ (ebd., S. 237; kursiv i.O.). Damit hat Schütz aber nicht die Lösung, sondern nur das grundsätzliche Problem innerhalb einer lebensweltlichen Wissensökonomie benannt. Denn wenn sich die Elemente des Wissensvorrats seiner Ansicht nach nur auf Situationen beziehen, stellt sich die Frage, wie ein Wissen intern organisiert sein muss, das nur in Auseinandersetzung mit Situationen erworben und zur Bewältigung von Situationen eingesetzt werden kann. Mit anderen Worten: Wie sieht der intra- und transsituative Zusammenhang des Wissens von der Lebenswelt im Ganzen aus, durch das sich zugleich die Vertrautheit mit der Welt für das menschliche Erleben und Handeln konstituiert? Schütz hat sich diese Frage selbst nicht vorgelegt. Denn die Aussage, dass ein Wissensvorrat sich in jeder einzelnen Situation bewähren können muss, hat er nur mit Blick auf ein mögliches Scheitern in der Auslegung und Bewältigung von Situationen getroffen: Einzelne Typiken konnten sich als inadäquat herausstellen, aber niemals konnte in der natürlichen Welteinstellung „der ‚Verdacht‘ einer grundsätzlichen Unzulänglichkeit des lebensweltlichen Wissensvorrats“ (ebda.) aufkommen. Die Beziehungen der Elemente im Wissensvorrat wurden von Schütz daher nur unter den Gesichtspunkten ihrer möglichen Kollision oder wechselseitigen Irrelevanz diskutiert. Während im Falle eines Konflikts zwischen verschiedenen Interpretationen ein und derselben Situation seiner Ansicht nach der vorteilhafteste Typus der Situationsauslegung und -bewältigung bevorzugt wird, schien es in dem Fall, in dem Typiken füreinander vollkommen irrelevant waren, nicht nur möglich, sondern sogar gewiss zu sein, „dass Wissenselemente, die sich auf verschiedene Wirklichkeitsbereiche beziehen, miteinander in keiner Sinnrelation stehen“ (ebd., S. 219). Und so steht man bei Schütz vor der Frage, wie einerseits der subjektive Wissensvorrat in jeder einzelnen Situation in seiner Gesamtheit gegeben sein kann, wie es andererseits aber möglich ist, bestimmte Teile daraus zu entnehmen, ohne dass dadurch der Gesamtzusammenhang des Wissens verloren gehen kann. Aus Sicht eines Teilnehmers kann die Welt seines Erlebens nur nach Maßgabe eines subjektiven Wissensvorrats vertraut sein, der jederzeit als Ganzes in Geltung sein muss, damit die Einstimmigkeit der subjektiven Welterfahrung garantiert bleibt.
204
V. Erfahrungsraum
Bei Schütz lassen sich drei implizite Lösungen finden: Die Kompartimentalisierung des Wissensvorrats, die gesellschaftliche Verteilung subjektiven Wissens und die sprachliche Form des Wissens.
3.1
Kompartimentalisierung
Die durch den Wissensvorrat organisierte Weltvertrautheit muss zwei Funktionen erfüllen. Sie muss erstens die Verbindung zwischen einzelnen Situationen in der Welt des Alltags herstellen. Und sie muss zweitens die Beziehungen zwischen alltäglicher Welt und ihren kleinen, mittleren und großen Transzendenzen (ebd., S. 598ff.) mit einbegreifen. In Hinblick darauf stellt sich das Problem des Gesamtzusammenhangs des Wissensvorrats einesteils noch dringlicher, andernteils gibt Schütz (ebd., S. 219) aber auch einen Fingerzeig darauf, wie er sich die Binnenorganisation des Wissens vorstellt: „Die Erlebnis- bzw. Erkenntnisstile, auf denen die Erfahrungen beruhen, weichen voneinander radikal ab. Die Erfahrungen werden im Wissensvorrat mit dem entsprechenden ‚Vorzeichen‘ sedimentiert und sind folglich in Sinnstrukturen eingebettet, die sich […] nicht überschneiden.“
Als Teilnehmer der Lebenswelt weiß man also, dass der eigene Wissensvorrat von vornherein in verschiedene Partitionen zerlegt ist. Die Organisation des Alltagswissens gleicht einem Computer, in dem unterschiedliche Laufwerke (Sinnbezirke), Verzeichnisse und Ordner (Erlebnis- und Erkenntnisstile) bereits angelegt sind. Unter dieser Voraussetzung lässt es sich erklären, warum die Welt für das subjektive Erleben nicht mit einem Schlag unvertraut werden kann, nur weil sich eine (oder mehrere) Situationsdefinition(en) nicht bewähren oder ein Wissen, das „hier“ zwar gültig, „dort“ aber nicht relevant ist. Der Gesamtzusammenhang des Wissens kann nicht verloren gehen, weil es sich hierbei gewissermaßen nur um einzelne Wissens-Dateien handelt, die an ein übergeordnetes Verzeichnis rückgebunden sind und daher gelöscht, ersetzt, umgruppiert oder umbenannt werden können, ohne dass diese Vorgänge tatsächlich Rückwirkungen auf die Verzeichnisstruktur selbst haben. In dieser voreingestellten Kompartimentalisierung des Wissensvorrats lässt sich demnach die Antwort auf die Frage geben, wie der Gesamtzusammenhang des Wissens sich bei Schütz denken lässt. Nicht obwohl, sondern weil man weiß, dass das Eine (z.B. die Wissenschaft) mit dem Anderen (z.B. dem Alltag) nichts zu tun hat, lässt sich die Verbindung zwischen radikal verschiedenen Erlebens- und Erkenntnisstilen insofern herstellen, wie man deren interne Beziehung immerhin noch als Trennung begreifen kann.
V. 3 Organisation von Vertrautheit
205
Die Organisation des subjektiven Wissensvorrats erweist sich daher als paradox: Man stellt Beziehungen zwischen Welten her, indem man sie unterscheidet. Differenzen innerhalb des Wissensvorrats sind demnach keine Abgründe des Sinns, die ein Subjekt im Welterleben überspringen müsste, sondern ermöglichen geradezu über alle Sonder- und Partialwelten hinweg die Einstimmigkeit der Welterfahrung.
3.2
Soziale Verteilung
Nicht nur, aber auch, für den Alltagsteilnehmer war der subjektive Wissensvorrat, den man von der Welt hatte, gesellschaftlich bedingt. Nur durch die theoretische Konstruktion einer empirischen Urszene hatte Schütz (ebd., S. 356) behaupten können, dass das Wissen von der Welt einmal subjektiven Ursprungs gewesen sein musste. Für das Erleben eines Subjekts konnte dies nichts weiter als eine theoretische Unterstellung sein. Zwei weitere Quellen, die Schütz nannte, waren demgegenüber wahrscheinlicher: Sozialisation und Sprache. Der gesellschaftliche Wissensvorrat verteilte sich keineswegs gleichmäßig. Nirgendwo ließ er sich in Gänze als subjektiver Besitz ausweisen (ebd., S. 419ff). Es gab Sozialstruktureffekte, Schichten und Milieus, die das verhinderten. Die sozial ungleiche Distribution von Wissen war allerdings nicht nur ein empirisches Faktum, sondern die Wissensökonomie sozialer Trägerschichten war von einer Art magnetischer Abstoßung („Distinktion“) regiert, derzufolge jede Aneignung von Wissen durch eine neue Trägerschicht bei den vormaligen Besitzern des Wissens zu dessen Entwertung führen musste (Bourdieu 1982). So war es für Schütz nur folgerichtig, das Totalitätsproblem der Lebenswelt nicht als das Problem einer verdeckten Operation des Bewusstseins zu diskutieren, sondern als Frage danach, ob und wie sich im sinnhaften Erleben eines Alltagsteilnehmers die Lebenswelt im Ganzen überhaupt zeigen konnte. Aus dessen Perspektive schien es zwar nicht unbedingt nötig, aber zumindest möglich zu sein, die Lebenswelt im Ganzen zu erfassen. Denn die „relative Undurchsichtigkeit der Lebenswelt“ (ebd., S. 228ff.) konnte von Alltagsteilnehmern unter Hinweis auf deren eigenen kognitiven Beschränktheiten zumindest erklärt werden. Auch wenn man selbst nur Weltausschnitte zu Gesicht bekam, bestand die alltägliche Überzeugung dennoch darin, die Welt wenigstens im Prinzip für durchschaubar zu halten. Infolgedessen lag es nahe, die Idee einer Gesamtschau der Welt von einer ideellen Kooperation darauf spezialisierter Beobachter umgesetzt wissen zu wollen. Aus der Perspektive von Schütz mussten solche Vorstellungen freilich nicht deswegen als ein Phantasma erscheinen, weil das Zustandekommen eines runden Tisches von Weltexperten empirisch
206
V. Erfahrungsraum
unwahrscheinlich war, sondern weil sie bereits als regulative Ideen ein Selbstbetrug waren. Der vermeintlich nur unvollständige, jederzeit komplettierbare Wissensvorrat eines Einzelnen – und aller Einzelnen – war nur der subjektive Widerschein einer „grundsätzlichen Undurchschaubarkeit“ (ebd., S. 235ff.) der Lebenswelt. Per Definition konnte sie sich ihren Bewohnern gegenüber gar nicht anders als in Ausschnitten zeigen. Die Lebenswelt war eben nicht die objektivierbare Welt der Wissenschaft, sondern jene Partialperspektive, die in keiner Gesamtschau aufging. Wenn man aber einzelne Perspektiven nicht einfach zusammen addieren konnte, dann konnte die Ganzheit der Lebenswelt nicht in deren Summe bestehen, sondern sie musste bereits als exemplarische vollkommen sein. Und in der Tat war die Begrenztheit der Situation das Insignium der Lebenswelt schlechthin. Dahinter freilich stand wiederum die egologische Zentralperspektive der Phänomenologie, die es für Schütz prinzipiell ausschloss, dass es Sinnrelationen zwischen getrennten Handlungssituationen und Sonderwelten des Erlebens im Erleben selbst geben konnte.
3.3
Sprache
Wie bereits das Computer-Modell der Organisation von Wissen zeigt, kann es sich beim Wissensvorrat um keinen Vorrat im eigentlichen Sinne des Wortes handeln. Aber auch als Verteilungsfunktion sozialer Gruppen lässt es sich nicht angemessen beschreiben, denn auch hier standen Cluster, Anhäufungen und Mengen im Vordergrund. Welche Form die Organisation des Wissensvorrats annimmt, lässt sich am ehesten aus denjenigen Bemerkungen entnehmen, die Schütz über die sprachliche Form des Wissens macht. Sie legen es nahe, die Organisation der lebensweltlichen Wissensökonomie als System von Relationen zu begreifen, das dem Wissensträger gegenüber relativ autonom war. Nach Ansicht von Schütz war Wissen „in einen Typenzusammenhang eingebettet, der noch viel stärker als der einzelne Typ, von der subjektiven unmittelbaren Erfahrung abgelöst ist“ (ebd., S. 319). Die Sprache enthielt also nicht nur „die sich als bewährt bestätigten Ergebnisse der Typenkonstitution und Typenabwandlung. Jeder Typ findet durch sprachliche Objektivierung einen ‚Stellenwert‘ in der semantischen Gliederung der Sprache.“ Wissenstypen standen demnach in Wechselwirkung zueinander: „Die Veränderung des ‚Stellenwerts‘, die einem Typ widerfährt, hat Folgen für den ‚Stellenwert‘ der anderen Typen innerhalb des Systems“ (ebd., S. 282). Wissen bestand aus „Matritzen“ (ebd., S. 283) eines insgesamt auf Sparsamkeit angelegten Weltumgangs. Sowohl die Träger des gesellschaftlichen Wissens, als auch der Ort seiner vornehmlichen Anwen-
V. 3 Organisation von Vertrautheit
207
dung und Tradierung, die Sprache, erweisen sich daher als in sich differenzierte Einheiten, bei der jede Änderung (der sozialen Trägerschaft oder ihrer Wissensformationen) eine Veränderung des Gesamtzusammenhanges bewirken konnte – und je nach Stärke auch bewirken musste. Mit der Abhängigkeit der Typen von der Gliederung der Sprache verfügt Schütz demnach über ein implizites Modell dafür, wie das Subjekt der Erfahrung nicht nur mit typischen Situationen in der Lebenswelt vertraut sein konnte, sondern wie es in jeder einzelnen Situation mit der Welt im Ganzen vertraut blieb. Die Organisation des Wissensvorrates kann nicht nur positiv, d.h. von bestimmten sozialen Schichten oder bestimmten Wissenstypen her verstanden werden, sondern auch negativ, d.h. von ihrer differenten Stellung innerhalb einer sozialen oder sprachlichen Ordnung. Auf diese Weise jedenfalls lässt sich erklären, inwiefern die Erlebnis- und Handlungsfähigkeit eines Subjekts von einem Wissensvorrat abhängt, in dem bestimmte Typiken abgelegt werden, durch die ein Mensch Situationen wahrnehmen, interpretieren und gestalten kann, ohne dabei den intra- und transsituativen Zusammenhang des Wissens zu verlieren. Denn wenn sich Gegenstände, Ereignisse und Personen im Alltag ohne größere Umschweife auf typische Weise identifizieren lassen, dann kann man von ihnen doch nur deshalb etwas wissen, weil man zugleich weiß, was diese nicht sind. Dieses Negativ-Prinzip in der Auslegung von Situationen besagt, dass der Wert eines Typus im Erlebenshaushalt eines Erfahrungssubjekts sich nicht nur in Bezug auf die auszulegende Situation ergibt, sondern auch in Bezug auf alle anderen Typen seines Wissensvorrats (vgl. Kapitel VI). Und was für die Einheit des Typus gilt, trifft auch auf seine Elemente zu. Auch sie waren negativ definiert. Um noch einmal auf das Hunde-Beispiel zurückzukommen: Ein vermeintlicher oder tatsächlich bissiger Hund konnte sich nicht nur gegen alle anderen Typen von Hunden der Wahrnehmung eines Alltagsteilnehmers darbieten – dem kläffenden, aber ungefährlichen Schosshund, dem großen, aber gutmütigen Hirtenhund, dem angeketteten, aber gefährlich aussehenden Hofhund. In seiner abstraktesten Einheit, als Hund, war dieser eo ipso nicht: Pferd, Katze, Maus, usf.. Gleiches gilt von seinen Eigenschaften: Der in einer Situation wahrgenommene Hund ist nicht das einzige bissige Tier in der Welt, nicht das einzige Tier mit kurzem oder langen Fell, nicht das einzige Tier, dass die Zähne zeigt. Sowohl auf der Aggregatebene der einheitlichen Bestimmungsrelation, als auch auf der Ebene seiner Elemente ist der Typus also nur die wahrnehmbare und vorstellbare Seite eines virtuellen Wissenssystems. Auch wenn die Lebenswelt nur exemplarisch gegeben ist – das Wissen von ihr ist nicht nur exemplarisch. Mit einer Situation vertraut zu sein, setzt für das Erfahrungssubjekt prinzipiell voraus, mit allen anderen ebenfalls bereits vertraut zu sein. In jeder einzelnen Situation muss demnach der gesamte Wissensvorrat
208
V. Erfahrungsraum
eines Subjekts in Geltung sein. Und das kann er wiederum nur dann, wenn er eine relationale Struktur besitzt, wenn ein Subjekt demnach weiß, dass die Situation, die es gerade bewältigen muss und der Erlebens- und Erkenntnisstil des Sinnbezirks, in dem es sich gerade befindet, sich von anderen Situationen und anderen Welten unterscheidet. Bei Schütz ist ein Typus daher nicht nur auf die Bestimmung einer Situation bezogen, sondern steht auch in einem horizontalen Verbund mit anderen Typiken. Wenn demnach die Funktion der Typik bei Schütz darin besteht, eine Situation zu definieren, dann ist dies nur möglich dadurch, dass dieser Typus selbst wiederum nur durch andere Typiken definierbar wurde. Und das wiederum heißt: Ein Erfahrungssubjekt wendet in jeder einzelnen Situation sein gesamtes Weltwissen an. Das mag für gewöhnlich nicht weiter auffallen, doch wenn ein Verhalten „nicht hierher“ gehört, eine Handlung als „unpassend“ empfunden wird, ein Beitrag „nichts zur Sache“ tut, dann zeigen sich gerade in den Maßregelungen von Äußerungen die Negativabzüge einer insgesamt auf Relevanz – und damit auf Differenz – eingestellten Wissensökonomie des Welterlebens. Das lässt nur einen Schluss zu: Vertrautheit mit der Lebenswelt im Ganzen kann nur zwischen Situationen und zwischen Wissenstypen liegen. Vertrautheit ist demnach eine Relation, keine Region des Wissens. Dieses Wissen kann vom Subjekt der Erfahrung deswegen auch nicht expliziert, sondern nur exekutiert werden. Es handelt sich um kein implizites, prinzipiell explizierbares Wissen, sondern um ein stummes Wissen (Sperber 1975, S. 7), das sich einer Artikulation deswegen entzieht, weil es keinen intentionalen Gegenstand hat, sondern in einer Organisation der Vertrautheit mit einer Lebenswelt im Ganzen besteht. Vertrautheit ist demnach ein Effekt der Binnenorganisation des Wissens, über das ein Erfahrungssubjekt verfügt. Eine solche Einsicht in die interne Organisationsform des subjektiven Wissensvorrats verlangt ein revidiertes Konzept von Struktur. Unter Strukturen der Lebenswelt kann nicht länger mehr die Gemengelage verstanden werden, die sie bei Schütz darstellen. Denn bei ihm fungiert der Strukturbegriff einerseits als Ersatzbegriff für die räumlichen, sozialen und zeitlichen Bedingungen des alltäglichen Erlebens (2003, S. 2071ff.), andererseits benutzt Schütz ihn aber auch, um die invarianten Formen dieses Erlebens selbst zu beschreiben. Damit lässt sich folgender Zusammenhang festhalten: Die alltägliche Lebenswelt ist koextensiv mit Vertrautheit und demnach in jeder einzelnen Situation des subjektiven Welterlebens als eine prinzipiell vertraute gegeben. Die Produktion und Reproduktion von Vertrautheit dachte sich Schütz als eine Funktion des Wissensvorrats, namentlich der Typik. Demzufolge musste in jeder einzelnen Situation der Gesamtzusammenhang des Wissensvorrates in Geltung sein. Eine solche Aktualität des Wissensvorrats aber lässt sich kaum anders denken, als dass das kognitive System eines Erfahrungssubjekts in erster
V. 4 Resümee
209
Linie durch die Organisation der Typen und nicht durch diese Typen selbst gekennzeichnet ist. Demzufolge kann die Struktur der Lebenswelt weder als Anhäufung, noch als Kompartimentalisierung von Typen verstanden werden, sondern nur als deren wechselseitige Interdependenz. Und das heißt: Die Vertrautheit mit der alltäglichen Lebenswelt wird nicht von einzelnen Typen garantiert und auch nicht durch deren Summe, sondern ergibt sich vielmehr als ein Effekt des Systems von Beziehungen zwischen Typen. Wenn nun aber der Wissensvorrat differentiell organisiert ist, dann kann die Lebenswelt im Ganzen nur dadurch vertraut werden, dass das Erfahrungssubjekt zwischen Situationen, zwischen Welten und demzufolge zwischen kognitiven Typen wechselt, ohne deswegen den Zusammenhang der Erfahrung zu verlieren, weil gerade erst diese Durch- und Übergänge ihren Zusammenhang bilden. Man verknüpft Räume, indem man sie voneinander trennt. Wenn demnach die Struktur der Lebenswelt gleichbedeutend mit den Strukturen der Vertrautheit des Welterlebens ist, dann kann die Lebenswelt für das Subjekt der Erfahrung nur als ein eigentümlicher Zwischenraum vertraut werden: Sie ist Ritze, Nische, Fuge, Falte, Spalte und Abgrund des subjektiven Erlebens. Insofern lässt sich folgender Zusammenhang feststellen: 1. 2. 3.
Die Lebenswelt ist koextensiv mit Vertrautheit, weswegen sich Vertrautheit als ein stummes Wissen, durch eine Ordnung differentieller Abstände ergibt.
4.
Resümee
Der Erfahrungsraum ist ein kognitives System. Er wird von subjektiven Erinnerungen und Erwartungen ermöglicht und begrenzt. Die Elemente dieses Systems sind Erfahrungen, die durch Wiederholungen konstituiert werden. Wenn zwischen einzelnen Wahrnehmungen etwas Gleichartiges bemerkt wird, werden sie uno acto von anderen Wahrnehmungen unterschieden. Entsprechendes gilt für die praktische Einstellung: Indem sich Handlungen wiederholen, können sie einerseits schematisiert, andererseits von anderen Handlungen unterschieden werden. Im Erfahrungsraum ist daher ein spezifisches Wissen präsent: das Erfahrungswissen. Es ist das elementarste Wissen, das ein Mensch haben kann. Da die Bildung von Erfahrung einem Prozess des Vertrautwerdens mit der Welt gleichkommt, sind Erfahrung und Vertrautheit füreinander Wechselbegriffe. Die Vertrautheit mit der Welt reicht für einen Menschen soweit wie sein Erfahrungswissen. Damit die Erlebenswelt so werden kann, wie sie die Lebenswelt-
210
V. Erfahrungsraum
theorie immer beschrieben hat – als fraglos gewiss, selbstverständlich gegeben, evident für jedermann – kann daher im subjektiven Erfahrungsraum nur solches Wissen vorhanden sein, das durch Repetition und Iteration von Wahrnehmungen und Handlungen zustande gekommen ist und sich auf eben dieselbe Weise bewährt. Man weiß aus Wiederholung, und wiederholt, um zu wissen. Damit ist der Erfahrungsbegriff an eine spezifische Art der Wiederholung gekoppelt. Es handelt sich hier um einen Sinn von Wiederholung, der sich von den beiden bisher diskutierten Begriffen von Wiederholung unterscheidet. Als Auslöser für eine Wiederholung im Sinne des Zurückholens wurde zunächst die Enttäuschung einer Erwartung identifiziert (Kapitel II). Eine Widerfahrnis zieht fast unweigerlich eine narrative Wiederholung und Korrektur einer grundlegenden Enttäuschung nach sich, die wiederum im Dienste des Zurückholens einer abhanden gekommenen Subjektivität steht. Hingegen ist die Frage eines Anderen als Auslöser für eine Form der Wiederholung identifiziert worden (Kapitel III), bei der ein Ich-Erzähler seine Erlebnisvergangenheit rekapituliert. Der mit der Rekapitulation korrespondierende Begriff von Erfahrung ist derjenige des (Durch-einen-Raum-)Hindurchfahrens. In beiden Varianten gilt die Wiederholung mittel- oder unmittelbar einem reflektierten Selbstverhältnis: Entweder repariert ein Ich-Erzähler die Enttäuschung einer Erwartung gerade dadurch, dass er vergangene Widerfahrnisse mit narrativen Mitteln nachahmt und damit aufzulösen sucht. Oder aber jemand nimmt zu sich ein narratives Verhältnis deshalb ein, weil seine Erzählung zugleich die Antwort auf die Frage eines Anderen ist. Durch Repetition und Iteration kommt nun ein dritter Begriff von Wiederholung ins Spiel. Er ist auf das mit dem Selbstverhältnis korrespondierende Weltverhältnis des Erfahrungssubjekts bezogen. Im Erfahrungsraum ist demnach präsent, wie die Welt dem Subjekt der Erfahrung nach Maßgabe einer ihm eigentümlichen Bewegung vertraut geworden ist. Diese Bewegung ist der Lebenslauf. Und das damit zusammenhängende Weltwissen betrifft die elementaren Strukturen der Weltvertrautheit. Der Erfahrungsraum ist koextensiv mit der Weltvertrautheit eines Erfahrungssubjekts. Er ist nicht nach einzelnen Regionen des Wissens organisiert, sondern nach Relationen. Auch in der hier vertretenen empirischen Auffassung der Lebenswelt muss man demnach unterscheiden zwischen einem Wissen von der Welt, insofern diese Gegenstand von Erfahrung ist (Was?) und der Struktur der Weltvertrautheit im Ganzen (Wie?).
Vierter Teil Zur Topologie des Wissens
„Wirkliche Realität ist immer unrealistisch.“ Franz Kafka, nach Aufzeichnungen von Gustav Janouch
Kapitel VI
Wie erschließt sich der Erfahrungsraum? „Zum Raum wird hier die Zeit“ Richard Wagner, Parsifal
Im fünften Abschnitt des ersten Kapitels habe ich unter dem Stichwort „Orthodoxien“ zwei elementare Hintergrundannahmen der soziologischen Biographieforschung diskutiert. Demzufolge gehen sowohl Fritz Schütze, als auch Gabriele Rosenthal und Ulrich Oevermann davon aus, dass a. b.
sich die Bildung und die Darstellung von Erfahrungen identischer Mechanismen der Bedeutungskonstitution bedienen. die elementare Operation diejenige der Verknüpfung von Ereignissen bzw. Erlebnissen ist.
Beide Annahmen konfigurieren in methodologischer Hinsicht den Gravitationskern im Feld der soziologischen Biographieforschung. Wenn man sich allerdings für einen Zusammenhang von Erfahrung und Erzählung interessiert, der nicht auf die Untersuchung von Biographien hinausläuft, sondern auf die Analyse des Erfahrungsraums, dann muss die Transformation des Erkenntnisinteresses von einer Transformation der methodologischen Grundannahmen begleitet werden. Zu einer Rekonfiguration der soziologischen Biographieforschung kommt es erst in dem Moment, in dem die aus der Lebensweltphilosophie und -soziologie abgeleitete Theorie des Erfahrungsraums nicht mehr nur reine Theorie bleibt, sondern sich auch methodisch so weit anreichern kann, dass sie imstande ist, traditionelle biographietheoretische Fragestellungen in sich aufzunehmen, umzugestalten und einer anderen empirischen Bearbeitung zuzuführen. Insofern stehen die folgenden Überlegungen sowohl im Kontrast zu den Hintergrundannahmen in der soziologischen Biographieforschung, als auch im Gegensatz zu den nur ex cathedra formulierten Varianten der Lebenswelttheorien. Der Raum der Erfahrung lässt sich nicht theoretisch deduzieren, sondern nur empirisch erschließen – vorausgesetzt, man verfügt über eine geeignete Methodologie. Deren Grundlinien sollen in diesem Kapitel entwickelt werden. Die Grundannahme dabei ist die räumliche Organisation der menschlichen Erfahrung (Kapitel V), wohingegen davon ausgegangen wird, dass die Erzählung einer zeitlichen Ordnung folgt. Der äußeren Form nach ist dabei dem Urteil von Paul Ricœur (1987, S. 45) über den inneren Zusammenhang von Zeiterfahrung und Erzählung zuzustimmen: „Ich halte die Zeitlichkeit für eine Struktur
214
VI. Wie erschließt sich der Erfahrungsraum?
der Existenz – wir können auch Lebensform sagen –, die sich in der Narrativität versprachlicht.“ Doch kommt hier alles darauf an, was man unter „Zeiterfahrung“ tatsächlich versteht. Wenn nämlich die Zeit der Erzählung die Zeit der Erfahrung wiederholt, wie Ricœur (ebd., S. 66) glaubt, dann wird die Räumlichkeit der Erfahrung übersprungen. In den folgenden Abschnitten werde ich zunächst darlegen, welche methodologischen Konsequenzen aus dem Umstand resultieren, dass es sich bei der erzählten Geschichte eines Ich-Erzählers um die Verzeitlichung seiner Erfahrung handelt (1.). Danach werde ich die umgekehrte Richtung einschlagen und untersuchen, wie sich über eine methodische Verräumlichung der Erzählung ein Zugang zu den Strukturen des subjektiven Erfahrungsraums gewinnen lässt (2.). Im dritten Abschnitt werde ich dann zeigen, welche besondere Form von Repräsentation der Erfahrung in der Erzählung damit verbunden ist (3.). 1.
Die natürliche Verzeitlichung der Erfahrung
Die Überlegungen zur Konstitution subjektiver Erfahrungen (Kapitel V) haben ergeben, dass Erfahrung eine kognitive Leistung ist, die Ähnlichkeiten zwischen Ereignissen und Handlungen feststellt. Über Erfahrungen und deren internen Zusammenhang konstituiert sich Weltvertrautheit. Wer sie analysieren will, muss sich deshalb an den subjektiven Raum der Erfahrung halten, der sich nach Maßgabe eines Lebenslaufs herausgebildet hat und wiederum nur über eine autobiographische Erzählung zu erschließen ist. Wenn sich nun allerdings ein Mensch in der Einstellung eines Erzählers zu seinem bis dato abgelaufenen Leben verhält, dann scheint die von ihm vorgetragene Geschichte auf den ersten Blick nur eine Abfolge von einzelnen Handlungen und Ereignissen zu sein. Unklar ist, inwiefern eine autobiographische Erzählung tatsächlich auf Erfahrungen referiert, wie sich die narrativ geschilderten Ereignisse und Handlungen als Wiederholungen verstehen lassen und wie über die Erzählung ein Zugang zu den Strukturen des Erfahrungsraums sich überhaupt eröffnen lässt. Mehr noch: Alle drei Grundannahmen lassen sich bezweifeln. a.
Der interaktionistische Einwand: Eine Erzählung bezieht sich überhaupt nicht auf die Erfahrung eines IchErzählers, sondern auf die Erwartungen seines Gegenübers. Gegen diesen Einwand sprechen zwei Argumente: Erstens wird der Erzähler im narrativen Interview in eine insulare Erzählhaltung hineinmanövriert (methodisches Argument). Zweitens ist eine Erzählung im diegetischen Selbstverhältnis (Kapitel III) gerade dadurch definiert, dass sie durch ein
VI. 1 Natürliche Verzeitlichung der Erfahrung
215
Gegenüber initiiert wird (theoretisches Argument). Infolgedessen wird Erfahrung im Sinne des Hindurchfahrens relevant und auf narrativer Ebene rekapituliert. Sozialität kann somit kein Einwand gegenüber der Referenzfunktion von Erzählung auf Erfahrung sein, sondern gehört vielmehr konstitutionslogisch zu deren Artikulation dazu. b.
Der narratologische Einwand: Eine Erzählung referiert zwar Erfahrungen, aber sie schildert sie offenkundig nicht als Wiederholungen, sondern als eine Geschichte. Gegen diese Vorstellung spricht die Konsequenz des Einwands. Denn „Erfahrung“ ist hier koextensiv zur Gesamterzählung. Dadurch wird die Erfahrung eines Ich-Erzählers jedoch an die von ihm erzählte Geschichte assimiliert und verliert jede Eigenständigkeit gegenüber der narrativen Ebene. Dieser Preis ist zu hoch.
c.
Der Einwand der Lebenswelttheorie Schwerer als diese beiden Einwände wiegt jedoch die von Habermas vorgetragene Skepsis gegenüber dem Versuch, über die Erzählung die Strukturen des Erfahrungsraums zu erschließen. Dieser Einwand beruft sich auf die internen Beschränkungen der Erzählrede selbst. Fasst man dessen Bemerkungen in ein systematisches Argumentationsgerüst, dann ist die Erzählung 1) ein sprachliches Phänomen, das 2) in der Alltagswelt selbst vorkommt, durch das 3) die Teilnehmer der sozialen Welt zu teilnehmenden Beobachtern werden, indem sie 4) Vorkommnisse aus dieser Welt zum Thema deshalb machen können, weil sich 5) in ihrer Erzählrede die Zugzwänge einer funktionalen Erzählgrammatik geltend machen, 6) welche die Darstellung eines Sachverhalts so regelt, dass 7) in der semantischen Dimension der erzählten Geschichte 8) Figuren, Handlungen und Ereignisse aus der Perspektive der Bewältigung von Situationen entwickelt werden.
216
VI. Wie erschließt sich der Erfahrungsraum?
Mit einer solchen Sicht auf die Erzählung begründet Habermas, warum diese nur Geschichten aus der Lebenswelt referieren kann. Hätte er damit Recht, blieben Erzählungen von sich aus auf Innerweltliches beschränkt und es wäre demzufolge nicht möglich, die Strukturen einer Lebenswelt im Ganzen durchsichtig zu machen. Wie ich im Folgenden zeigen werde, ist es vor dem Hintergrund eines anderen Erzählkonzepts und mit einem angemessenen methodischen Verfahren sehr wohl möglich, die Strukturen des Erfahrungsraums – welcher der konzeptionelle Erbe der Lebenswelt ist – zu erschließen. Bevor ich dazu komme, müssen jedoch einige Abgrenzungen zu konkurrierenden Unternehmungen vorgenommen werden. Weil es sich im Weiteren um die Analyse von zunächst mündlich vorgetragenen Erzählungen handelt, wird man all jene narratologischen Konzepte nicht mehr zu Rate ziehen können, die zum Ausgangspunkt ihrer Reflexionen Erzählungen machen, die diese – wie die Literaturwissenschaft – als Kunstprodukte analysieren, auf sie als Mittel der Geschichtsschreibung – also metahistorisch (Danto 1980; White 1994) – reflektieren oder sie zum Gegenstand des philosophischen Interesses erheben, um daran die wechselseitige Abhängigkeit von fiktionaler und referentieller Weltbeschreibung aufzuzeigen (Ricœur 1988). Allen diesen Ansätzen ist gemein, dass sie dem Paradigma der Schrift und nicht der mündlichen Sprache folgen. Es macht jedoch einen Unterschied, ob Erzählungen von vornherein schriftlich fixiert werden, oder ob es sich dabei um transkribierte Stegreiferzählungen handelt. Andererseits gilt es auch, das andere Extrem zu vermeiden, nämlich die mündliche Erzählung allein wegen ihrer äußeren Umstände – insbesondere ihrer Eingebettetheit in eine soziale Interaktion – entweder der kommunikativen Selbstbezüglichkeit eines sozialen Systems zuzuschlagen (Nassehi/Saake 2002) oder in einer ethnomethodologischen Konversationsanalyse (Bergmann 1981) aufgehen zu lassen. Und schließlich sollen auch jene Versuche außen vor bleiben, die die Stegreiferzählung zwar als ein methodisches Mittel einsetzen, sie aber nicht als Zugang zu einem subjektiven Erfahrungsraum, sondern zur Lebensgeschichte eines Biographieträgers begreifen (Kapitel II). Wenn eine Erzählung auf keine dieser Weisen verstanden werden soll, wie dann? Ich schlage ein operatorisches Modell vor, dass in vier aufeinander folgenden Schritten den internen Zusammenhang von Erfahrung und Erzählung verständlich machen soll. Im Vordergrund stehen hier die Verbindungen zwischen den einzelnen Momenten des Modells. Die ersten beiden Schritte gehen von der Erfahrung eines Biographieträgers (links) in Richtung auf dessen narrative Repräsentation zu. Die Schritte drei und vier gehen diesen Weg wieder zurück, so dass sich am Ende ein Kreis schließen wird (vgl. Abb. 5).
VI. 1 Natürliche Verzeitlichung der Erfahrung
Abbildung 5:
217
Zusammenhang von Erfahrungsraum und Erfahrungsgeschichte Erfahrungsraum Dimensionen des Erzählbaren
definiert
selektiert
Erfahrung
Elemente
teilt mit
konfiguriert Geschichte Erfahrungsgeschichte
Der erste Schritt besteht darin, dass der Erfahrungsprozess definiert, in welchen Dimensionen die Welt für einen Ich-Erzähler im Verlaufe und im Maßstab seines Lebens vertraut geworden ist. Dieser Schritt ist bereits im vorangegangenen Kapitel ausführlich beschrieben worden, weswegen ich mich hier kurz fassen kann: Weltvertrautheit ist das subjektive Kondensat und Korrelat eines Lebenslaufes. Sie entsteht durch ein über Wiederholungen konstituiertes Wissen – das Erfahrungswissen. In der Konsequenz dessen liegt, dass Erfahrungsbildung und Weltvertrautheit nicht nur Wechselbegriffe füreinander sind, sondern dass es sich hierbei um eine kognitive Leistung handelt, die die Dimensionen des überhaupt Erzählbaren definiert. Das ist die elementare Ausgangsbedingung eines jeden Erzählens von sich. Im zweiten Schritt geht es um eine Selektion. Ein Erfahrungsträger muss aus seinen bereits konstituierten Erfahrungsdimensionen Elemente auswählen, ehe diese von ihm überhaupt narrativiert werden können. Schon hier sieht man also, dass das, was auf der einen Seite ein Element aus dem subjektiven Erfahrungsraum ist, auf der anderen Seite ein Element der Geschichte ist. Doch die operatorischen Prozesse unterscheiden sich. Eine Selektion ist etwas ganz anderes als eine Konfiguration, auf die ich weiter unten eingehen werde. Auf dieser
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VI. Wie erschließt sich der Erfahrungsraum?
Stufe ist ein Element aus dem Erfahrungsraum demnach das Resultat zweier Operationen: Definition und Selektion. Ein Erfahrungselement repräsentiert eine bestimmte Dimension im Raum der Erfahrung eines Ich-Erzählers. Eine solche Auffassung des Verhältnisses von Teil und Ganzem lässt sich in den unterschiedlichsten Bereichen finden: In der Psychoanalyse etwa wird eine einzelne Traumsequenz nicht als ein singuläres Element verstanden, sondern als eine Sequenz innerhalb einer verborgenen Assoziationskette (Freud 1999, S. 285ff.); in der Linguistik (Saussure 2001, S. 147) wird die Ordnung eines Satzes nicht nur als eine Ordnung des Aufeinanderfolgens von Wörtern (Syntagma) beschrieben, sondern auch als eine Beziehung ihrer Substituierbarkeit (Assoziation bzw. Paradigma); in der Rhetorik hat eine Synekdoche einen Bezug zu einem Unausgesprochenen (z.B. pars pro toto). In allen Fällen geht es um eine übergeordnete Beziehung: Ein Element unterhält eine Relation zu einem ihm zugehörigen, aber nicht offensichtlichen Ganzen. Dieses kann nicht nur mehr oder minder verborgen sein, es kann auch unterschiedlich abstrakt sein. Der Abstraktionsgrad eines Erfahrungselements lässt sich vielleicht am besten an dem Problem verdeutlichen, wie im Alltag Handlungen beschrieben werden (Ricœur 1996, S. 188ff). In alltäglichen Beschreibungen wird man darauf verzichten, die physiologischen Prozesse einer einzelnen Handlung zu schildern, man wird auch die motorischen Bewegungen außen vor lassen, die zu ihrer Durchführung nötig sind. Selbst einzelne Handlungsvollzüge erscheinen als Referenzgröße für die Beschreibung viel zu unterkomplex. Es macht in der Regel keinen Sinn zu sagen, dass man den Schlüssel aus der Hosentasche zog, ihn in die Tür steckte, die Tür aufmachte, sich auf den Sitz setzte, den Schlüssel ins Zündschloss steckte und ihn dann umdrehte – man ist einfach mit dem Auto gefahren. Man wählt also eine integrative Beschreibungsebene, die viele einzelne Momente in sich enthält. Handlungen wiederum lassen sich ohne weiteres zu Praktiken aggregieren: Man spielt Fußball, man geht in die Oper. Es scheint daher, dass es weder eine untere, noch eine obere Grenze für die Abstraktion in der Beschreibung von Handlungen gibt. Da eine Erzählung zu erheblichen Teilen auf Handlungen und Praktiken referiert, heißt dies, dass es sich bei den selektierten Elementen weder um einzelne Handlungsvollzüge (z.B. „Ich ging“), noch um anschauliche Größen handeln muss. Man kann (und soll oft genug) auch schlicht nur erzählen, „von wann bis wann“ man zur Schule usf. gegangen ist. Im Zusammenhang einer Erzählung ist dies eine denkbar große Abstraktion, wiewohl man einen solchen Satz noch als einen narrativen Satz wird ansehen müssen. In der Erzählforschung wird hier von „durativen bzw. iterativen“ (Genette 1994, S. 81) Erzählsequenzen gesprochen: Man fasst in einem Satz zusammen, worum es während einer bestimmten Zeit ging. Im zweiten Schritt des
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Zusammenhanges von Erfahrung und Erzählung kommt es damit einzig auf die Selektion eines Erfahrungselementes an, das unterschiedlich abstrakt sein kann. Die folgenden beiden Etappen gehen auf narrativem Weg wieder zum Ausgangspunkt zurück. Der dritte Schritt besteht in der Konfiguration der selektierten Elemente zur Einheit einer Geschichte. Ihm voraus gehen demnach die Definition der Erfahrungsdimensionen und die Selektion der Erfahrungselemente. In der Erzählforschung ist es strittig, was es heißt, eine Geschichte zu erzählen. Es ist sogar keineswegs selbstverständlich, dass eine Erzählung notwendigerweise die Erzählung einer Geschichte ist: Man kann auch erzählen, ohne im engeren Sinne eine Geschichte zu erzählen. Dietrich Weber (1998, S. 11ff.) unterscheidet deswegen vier Erzählmodelle. Die ersten beiden Modelle sind Modelle des traditionellen Geschichten-Erzählens. Sie folgen dem Pyramiden-Aufbau des klassischen Dramas: Sie haben entweder fünf (Exposition, Komplizierung, Höhepunkt, Auflösung, Ende) oder drei (Anfang, Mitte, Ende) Phasen. Eine derartige Auffassung des Erzählens verlangt eine interne Ablauforganisation. Wer sie befolgt, erzählt automatisch eine Geschichte. Solche Kriterien gehen natürlich weit daran vorbei, wie im Alltag erzählt wird. Erst recht trifft das nicht auf Lebensgeschichten zu. Die Pyramiden-Modelle der Erzählung sind empirisch daher wenig brauchbar. Das dritte von Weber diskutierte Modell basiert auf weniger starken Voraussetzungen und ist daher für die Beschreibung von alltäglichen Stegreiferzählungen sehr viel passender. Anders als die beiden ersten verlangt dieses Modell nur einen Unterschied in der Zeitfolge. Es muss eine Ausgangslage und eine Situationsveränderung geben. Die Erzählung überwindet mithin eine temporale Grenze (Labov/Waletzky 1973). Es handelt sich bei ihr um ein „Und-dann“-Erzählen. In ihrer entwickelten Form kommt eine derartige Erzählung den intuitiven Erwartungen an ein Geschichtenerzählen sehr nahe. In ihrer Minimalform entspricht sie diesen Vorstellungen jedoch weniger. Und wenn für die Minimalform einer „Und-dann“-Erzählung ein Satz wie „Der König starb, und dann starb die Königin“ (Weber 1998, S. 16) ein Beispiel ist, dann ist diese Art von Erzählung sogar noch schwächer als die von Danto (1980) beschriebene Struktur einer narrativen Erklärung. Diese besteht darin, einen Ausgangszustand mit einem Endzustand zu verbinden, indem sie zeigt, wie es vom einen zum anderen kommt. Eine „Und-dann“-Erzählung ist daher weder eine Geschichte im engsten oder engeren Sinn (wie die ersten beiden Modelle), noch gibt sie notwendigerweise eine befriedigende narrative Erklärung. Eine solche lieferte sie erst dann, wenn ein Erzähler die interne Motivierung der Ereignisse darstellen würde, indem er beispielsweise sagt: Weil der König starb, ist auch die Königin gestorben. Zwar bleibt auch in diesem Satz der nähere Grund des Todes der Königin im Unklaren, doch offensichtlich steht
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deren Tod mit dem Tod ihres Gatten in einem inneren Zusammenhang. Einen solchen Anspruch auf eine narrative Minimalerklärung stellt auch die Konfigurationsthese von Ricœur (1988, S. 104ff.). Sie bezieht sich auf eine spezifisch narrative Operation (Mimesis II), die aus der Abfolge von Ereignissen einen motivierten Zusammenhang von Ereignissen macht. In einer „Und-dann“Erzählung bedarf es hingegen nur einer Ausgangslage und einer Veränderungsangabe, ohne dass die Ereignisse als intern motiviert erscheinen müssen. Bereits in ihrer Minimalform ist das „Und-dann“-Erzählen diejenige Weise, auf die Erzähler alltäglich erzählen. Sie bedienen sich allerdings noch einer weiteren Form, die Weber als ein viertes Erzählmodell diskutiert. Dieses Modell verzichtet auf das Kriterium der zeitlichen Aufeinanderfolge. Im „Und-und“-Erzählen besteht der Vorgang der Erzählrede aus „einer Serie von eingliedrigen, punktuellen (je auf eine Proposition zurückgehenden) Darstellungsmomenten“ (Weber 1998, S. 17). Die Einführung dieses Erzählmodells trägt der verbreiteten Tatsache Rechnung, dass es auch Erzählungen gibt, die keine Zeitfolge beachten, denen jedoch der Charakter des Erzählens nicht abzusprechen ist. Während die ersten drei Modelle auf die dynamische Darstellung von Handlungen, Vorgängen, Ereignisfolgen und Geschehensabläufen bezogen sind, stehen in „Undund“-Erzählungen insbesondere statische Situationen, Zustände und Umstände im Vordergrund. Anstelle von Zeitfolgen geht es hier um die Darstellung von Zeitpunkten. Wenn ein Erzähler Elemente aus den Dimensionen seines Erfahrungsraums selektiert hat und sie zu einer Geschichte konfiguriert, sind damit im Weiteren sowohl „Und-dann“-Erzählungen als auch „Und-und“-Erzählungen gemeint. Indem der Begriff der Geschichte auf diese Weise auch auf Geschichten im weitesten Sinne und das Erzählen von Zuständen erweitert wird, soll damit zwei empirisch begründeten Eindrücken Rechnung getragen werden: Erstens trifft das, was Weber (1998, S. 20f.) in Bezug auf das schwache Erzählen des „Undund“-Modells sagt, auf sehr viele autobiographische Stegreiferzählungen zu: „Schwaches Erzählen ist locker, mosaikhaft, offen.“ Zweitens bezeichnet das „Und-und“-Erzählen nach Ansicht Webers das Genre der Porträterzählung. In einer solchen Erzählung geht es in erster Linie darum herauszufinden, wie ein Ich-Erzähler typischerweise lebte. Die Porträterzählung unterscheidet sich insofern von der traditionellen Geschichtenerzählung, in der ein Erzähler darüber Auskunft geben soll, was einmal in seinem Leben an Charakteristischem geschehen ist. Durch diese Binnendifferenzierung der Erzählung ist die typische Ambivalenz des Erkenntnisinteresses in der soziologischen Biographieforschung getroffen. Man will hier wissen, wer ein Ich-Erzähler ist (Porträt) und man will zugleich wissen, was in seinem Leben passiert ist (Geschichte). Schon aus biographietheoretischen Gründen ist es daher angemessen, unter Konfigura-
VI. 1 Natürliche Verzeitlichung der Erfahrung
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tion sowohl „Und-dann“- als auch „Und-und“-Erzählungen zu verstehen. Die Einheit einer Geschichte ist demnach kein narrativ generierter Endzustand (im Sinne des ersten und zweiten Modells), sondern reicht nur soweit, wie ein Erzähler in den Modi „Und-dann“ bzw. „Und-und“ von sich erzählt. Der vierte Schritt besteht darin, dass ein Erzähler seine Geschichte einem Hörer mitteilt. Damit kommt die soziale Dimension ins Spiel. Man kann keine Geschichte erzählen, ohne eine Minimalkonfiguration auf sprachlicher Ebene durchzuführen („Und-dann“ bzw. „Und-und“), nicht ohne dabei zugleich Elemente aus dem Erfahrungsraum ausgewählt zu haben und ebenso nicht, ohne überhaupt erfahren zu sein, also über kognitive Leistungen zu verfügen. An dieser Stelle werden die im zweiten und dritten Kapitel diskutierten Motivierungen einer Erzählung relevant. Entweder wird erzählt, weil einem Ich-Erzähler etwas widerfahren ist, infolgedessen er sich von sich aus an einen Zuhörer wendet, oder aber die Erzählung ist eine Antwort auf die Frage eines Anderen. In jedem Fall ist die Mitteilung einer Geschichte ein sozialer Tatbestand. Im Kontext sozialwissenschaftlicher Untersuchungen ist die soziale Situation zunächst eine artifizielle. Derjenige, der fragt, ist ein Wissenschaftler (zumindest jemand, der namens der Wissenschaft fragt) und derjenige, der antwortet, ist ein Alltagsteilnehmer, dem sich – wenn er nicht kraft einer bestimmten sozialen Position bzw. sozialen Funktion interviewt wird – unweigerlich die Frage aufdrängen muss, von welchem Interesse er für die Wissenschaft überhaupt sein kann, zumal dann, wenn er sich im Weiteren zu einer autobiographischen Stegreiferzählung aufgefordert sieht. Eine solche Situation sozialer Un(ter)bestimmtheit verlangt nach Strukturbildung. Der Wissenschaftler muss daher dem Interviewee mindestens zwei Relevanzgesichtspunkte verdeutlichen. Er muss ihm zum einen hinreichend plausibel machen, welchem Erkenntnisinteresse eine solche Erzählaufforderung insgesamt dient (Forschungskontext), und er muss zum anderen auch durchblicken lassen, dass die Stegreiferzählung tatsächlich ein seriöses Mittel einer wissenschaftlichen Datenerhebung ist. Im Zuge der Verwissenschaftlichung der Lebenswelt lässt sich letzteres nicht ohne weiteres mehr voraussetzen. Wenn diese beiden Relevanzfestlegungen vom Interviewee erst einmal akzeptiert worden sind, dann sieht dieser sich in eine Erzählsituation hineinversetzt, die ihm aus seiner eigenen Lebenspraxis in der Regel unbekannt sein wird. Anders als standardisierte Verfahren zu Konsumverhalten, politischer Einstellung und Persönlichkeitstests, mit der der Interviewee wenigstens dem Prinzip nach aus seiner Alltagswelt (Telefonumfragen, Zeitung etc.) vertraut ist, gibt es für ihn hier kein alltäglich bekanntes Vorbild einer Erzählsituation, die ihm typischerweise das Erzählen seiner Lebensgeschichte abverlangt. Dieser Mangel an Vorbildern führt nicht selten zur Krise der Erzählbereitschaft eines Interviewee, noch ehe er seine Erzählung überhaupt
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VI. Wie erschließt sich der Erfahrungsraum?
begonnen hat. Jedenfalls lässt sich in der Eröffnung des Gesprächs eine interessante Phase wechselseitiger Situationsdefinitionen zwischen Interviewer und Interviewee beobachten. Dabei wird gelegentlich auch der Zumutungscharakter einer aufs Ganze des Lebens abzielenden Erzählaufforderung vom Interviewee selbst ironisiert, wie das folgende empirische Beispiel belegt: Soll ich mit der äh versuchten Erinnerung an meinen Geburtsvorgang (lacht kurz) beginnen?
Andererseits rücken auch die besonderen Umstände der Erzählung in den Mittelpunkt. (räuspert sich) Soll ich meinen Namen auch sagen? (I: Nee, das is nich wichtig.)
An dieser Passage lässt sich zeigen, dass der Interviewee zu Beginn eher in Richtung des mitlaufenden Tonbandes spricht als zu seinem Gegenüber. Dieses Phänomen kann man in fast allen narrativen Interviews beobachten. Allerdings ist es bisher nicht zureichend ausgedeutet worden. Ich will eine mögliche Interpretationslinie hier skizzieren: Das Tonband sprengt die vermeintlich dyadische Beziehung zwischen Interviewer und Interviewee und macht daraus de facto eine Triade. Die elektroakustische Aufzeichnung drängt sich in den Vordergrund, weil sie Platzhalter für einen unbekannten Dritten ist. Der Interviewee antizipiert mit dem Tonbandgerät eine Art Erkenntnis-Archiv, das nach dem Gespräch von „der Wissenschaft“ ausgewertet wird (in diesem Fall antizipiert der Sprecher eine Art erkennungsdienstliche Behandlung seiner Äußerungen). Solange daher das Tonband im Vordergrund steht, spricht der Interviewee nicht nur zu seinem konkreten Gegenüber, sondern auch zu einem generalisierten Anderen. Auf diese Weise verdoppelt sich die Verobjektivierung seiner selbst: Nicht nur diesem, ihm völlig Fremden, gleichwohl konkreten Gesprächspartner gegenüber, erzählt ein Ich-Erzähler von sich, sondern er spricht hier zum anonymen Publikum der Wissenschaftlergemeinde insgesamt. Es lässt sich kaum entscheiden, ob (und vor allem: ab wann) das Tonband in einer solchen Erzählsituation überhaupt je vergessen wird. Jedenfalls ist der Wissenschaftler darum bemüht, es vergessen zu machen, um eine möglichst natürliche Gesprächssituation herzustellen. Die Frage ist nur, ob das überhaupt notwendig ist. Denn schon praktisch gesehen macht sich der Umstand, dass das Gespräch kein natürliches ist, sondern ein Instrument zur wissenschaftlichen Datengenerierung, immer wieder von selbst bemerkbar: Die Kassette muss gewechselt werden, die Batterien sind leer, Umweltgeräusche sind zu laut, Dritte treten unvermittelt hinzu, Anrufe treffen ein (wobei in der Regel das Tonband ausgeschaltet wird). Auch die Phasen vor und nach dem Einschalten des Tonbandes unterscheiden sich von der eigentlichen Gesprächssituation: Man gibt daran zu erkennen, dass die auf-
VI. 1 Natürliche Verzeitlichung der Erfahrung
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gezeichnete Gesprächsdauer eine von diesen Phasen signifikant verschiedene Erzählsituation ist. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass eine autobiographische Stegreiferzählung zwar ad hoc präsentiert wird, dass es aber bestimmter sozialer Umstände zu ihrer „Hervorlockung“ bedarf – und dazu gehört eben auch deren Künstlichkeit. Das wiederum ist kein Einwand gegen narrative Interviews, sondern umgekehrt: Artifizialität lässt sich deshalb zu den Bedingungen ihrer Möglichkeit zählen, weil die Aufzeichnung des Gesprächs die Selbstdistanzierung des Sprechers steigert. Und das ist die Voraussetzung für die Objektivität der Selbsterkenntnis. Es gehört zu den nicht nur in der soziologischen Biographieforschung vorhandenen Missverständnissen, dass eine Erzählung der Erfahrung eines Biographieträgers dann am nächsten kommt, wenn sie einer gleichermaßen spontanen wie kontemplativen Selbstbesinnung ähnelt, in der der Erzähler nur das Medium seiner Erinnerung ist. Eine solche Voraussetzung ist allenfalls bei der Mitteilung einer Widerfahrnis gegeben. Die narrative Rekapitulation von Erfahrung ist jedoch weder die sprachliche Verarbeitung einer Enttäuschung, noch die Mitteilung einer mémoire involontaire. Die „Katze Erinnerung“ (Johnson) kommt und geht, wann sie will, dagegen gleicht die Lebensgeschichte einem intellektualistisch abgerichteten Spürhund. Aber auch das ist kein Gegenargument zur Möglichkeit und Treffsicherheit einer Erfahrungsrekapitulation, sondern nur der Hinweis darauf, dass deren Referenz ein kognitives Bezugssystem bildet. Hält man sich nun noch einmal die Abbildung 5 vor Augen, dann lässt sich der Zusammenhang von Erfahrungsraum und Erfahrungsgeschichte folgendermaßen zusammenfassen: Der Erfahrungsprozess definiert, in welchen Dimensionen die Welt für einen Ich-Erzähler im Verlaufe seines Lebens vertraut geworden ist. Das bedeutet, dass die Erfahrungsbildung die Dimensionen des überhaupt Erzählbaren begrenzt. Die von vornherein eingeschränkten Dimensionen des Erzählbaren bilden das Reservoir für die Auswahl konkreter Elemente, also von Ereignissen im Lebensverlauf, die einen Stellvertretercharakter für die Erfahrungsdimension haben. Diese Elemente müssen aber wiederum erst zu einer spezifischen Ordnung konfiguriert werden („Und-dann“ bzw. „Und-und“), um schließlich mitgeteilt werden zu können. Bevor eine Geschichte durch einen Hörer verstanden werden kann, müssen innerhalb des Bezugssystems der Narration also bereits eine Reihe von Operationen vollzogen worden sein: die Begrenzung des Erzählbaren durch den Erfahrungsprozess, die Selektion symptomatischer Elemente aus dem damit korrelierenden Erfahrungsraum, die Konfiguration dieser Elemente zur Einheit einer Geschichte und schließlich deren Mitteilung an den Adressaten der Erzählung. Die ersten beiden Schritte sind kognitiver Art: Der Prozess der Erfahrungsbildung definiert die Dimensionen des Erzählbaren, das Erfahrungswissen selektiert anlässlich einer Erzählauffor-
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VI. Wie erschließt sich der Erfahrungsraum?
derung aus den Erfahrungsdimensionen symptomatische Elemente. Die Erfahrungsgeschichte hingegen ist sprachlich-sozialer Natur. Auf dieser Ebene werden die Elemente zur Einheit einer Geschichte (im schwachen Sinne) konfiguriert und dem Adressaten in einer spezifischen Erzählsituation mitgeteilt. Wenn es nun richtig ist, dass ein Ich-Erzähler in seiner Lebensgeschichte durch die Schilderung datierbarer Ereignisse, die Beschreibung punktueller Situationen, die Wiedergabe von Praktiken und die Darstellungen von Handlungen uno acto die Dimensionen seiner Weltvertrautheit mitteilt, geht an den Soziologen die methodische Anweisung, das kognitive Bezugssystem der Erzählung zu untersuchen. Denn darüber lassen sich die Dimensionen des Erfahrungsraums eines Ich-Erzählers erschließen. Die narrativen Ereignisse einer Lebensgeschichte werden methodisch dementsprechend als Bruchstücke des Erfahrungsraums begriffen. Im diegetischen Selbstverhältnis wird der Erzähler symptomatische Elemente aus seinen Erfahrungsdimensionen vortragen, wobei verschiedene Elemente auf gleiche Erfahrungsdimensionen verweisen können. Die Erfahrungsdimensionen sind sehr viel geringer als die Erfahrungselemente. Von dieser Intuition macht (nicht nur) die quantitative Lebensverlaufsforschung regen Gebrauch. Das Leben wird hier auf vergleichsweise wenige Bereiche reduziert: Schule, Ausbildung, Beruf (sachliche Dimension) bzw. Kindheit, Jugend, Erwachsensein, Alter (zeitliche Dimension). Wenn man sich aber eines solchen kategorialen Vorwissens enthält, ist es keineswegs offensichtlich, für welche Erfahrungsdimension ein narratives Ereignis eine „Belegerzählung“ (Schütze 1983) ist. Es kommt daher darauf an, diese Dimensionen auf geeignete Weise zu erschließen. Dabei hilft ein grundlegender Analogieschluss: Im Maßstab der Gesamtbiographie verhalten sich die Erfahrungsdimensionen zu ihren symptomatischen Elementen, wie einzelne Wahrnehmungen im Alltag zur Erfahrung. Hier wie dort geht es darum, dass ein als hinreichend ähnlich definierbares Element die bisherige Erfahrung bestätigt, d.h. sie wiederholt, oder sich als unähnlich zu ihr erweist, d.h. ihr widerspricht. Einerseits enthalten die Dimensionen des Erfahrungsraums (z.B. A; B) zueinander ähnliche Elemente (a, a’, a’’; b, b’, b’’), andererseits verhalten sie sich sowohl auf der Ebene ihrer Elemente (a/b) als auch als Erfahrungsdimensionen im Ganzen zueinander als unähnlich (A/B). 2.
Die methodische Verräumlichung der Erzählung
Wenn es richtig ist, dass der Erfahrungsraum ein Raum mit mehreren Dimensionen ist, dann stellt sich die Frage, wie sich diese aufeinander beziehen. Denn erst dann, wenn geklärt ist, wie der subjektive Erfahrungsraum in der Gegenwart
VI. 2 Methodische Verräumlichung der Erzählung
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der Erzählrede als Ganzes (und nicht nur in einer seiner Dimensionen) präsent sein kann, lassen sich sowohl Aussagen über den Erfahrungsraum eines IchErzählers machen, als auch das Problem des internen Zusammenhanges zwischen den Erfahrungsdimensionen lösen. Dieses Problem ist seit der Diskussion der Struktur des Wissensvorrats bei Schütz virulent. Es kann deshalb nicht nur darum gehen, die Dimensionalitäten eines subjektiven Erfahrungsraumes zu erfassen, sondern ebenso muss geklärt werden, welche Struktur dieser hat. Soll ein subjektiver Erfahrungsraum, wie hier angenommen wird, über eine Erzählung methodisch erschlossen werden, dann besteht die Ausgangshypothese darin, dass ein Ich-Erzähler in seiner Lebensgeschichte beide Momente des Erfahrungsraumes auf einmal reproduziert. Doch wie? In einer mündlichen Erzählsituation ist es die Erzählpragmatik, die auf eine Struktur verweist, die ihr weder äußerlich ist, noch als höherstufig bezeichnet werden kann, sondern vielmehr als Korrelat der Erzählfunktionen (Kapitel IV) verstanden werden muss. Indem ein Erzähler auf pragmatischer Ebene bestimmte Operationen durchführt (Identifikation der Protagonisten, Sequentialisierung von Handlungen, Vernetzung von Interaktionen), produziert und reproduziert er auf semantischer Ebene die Struktur einer Geschichte: Die Identität der narrativen Figuren, die Begleitumstände ihres Handelns und die Kontinuität ihrer Entwicklung. Begreift man jedoch die Funktionswerte der Erzählrede nicht narratologisch, sondern interpretiert sie soziologisch, nämlich als Erfahrungswerte eines Ich-Erzählers, dann ist die Struktur der erzählten Geschichte gleichbedeutend mit der Struktur der Erfahrung. Die Werte der Erfahrung eines IchErzählers sind demzufolge abhängig von dessen Erzählsätzen. Das allerdings ist nur eine spiegelbildliche Formulierung der Auffassung, wie ich sie im vorangegangenen Abschnitt vertreten habe: dass nämlich jede Erzählung symptomatische Elemente aus dem Erfahrungsraum des Ich-Erzählers selektiert. In der Dimension der Gleichzeitigkeit gehört es zu den Eigenschaften von Reproduktionsfunktionen, dass sie offen lassen, was jeweils Ursache und Wirkung, Zweck und Mittel sind. So bleibt beispielsweise auch bei Habermas unklar, ob die strukturellen Komponenten der Lebenswelt – Kultur, Gesellschaft und Person – die Wirkung oder doch die Ursache verständigungsorientierten Handelns darstellen. Der pragmatische Aspekt betont hier eher den Effekt (weshalb ich die Struktur der Lebenswelt als die vom verständigungsorientierten Handeln abhängigen Funktionswerte bezeichnet habe), der gesellschaftstheoretische Aspekt eher die Voraussetzung der strukturellen Komponenten. Ebenso verhält es sich mit den beschriebenen Erzählfunktionen. Auch hier ist nicht klar, ob beispielsweise die Identität von Figuren eine Voraussetzung der Erzählung oder aber ihr Ergebnis ist. Und so zeigt sich ein grundsätzliches zirkuläres Verhältnis von Erfahrung und Erzählung: Einerseits treten Erfahrungen als „Effekt“ der Erzäh-
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VI. Wie erschließt sich der Erfahrungsraum?
lung auf (ohne dabei konstruiert zu sein), andererseits die Erzählung als „Resultat“ von Erfahrung auf (ohne dabei nur wiederzugeben). Aus diesem Grund kann die Erzählung als ein funktionales Reproduktionsmodell des Erfahrungsraums verstanden werden. Das Verhältnis von Erfahrung und Erzählung lässt sich dabei in zwei Richtungen verstehen: Die erste, die Richtung von Erfahrung zu Erzählung, beschreibt die Position eines Ich-Erzählers. Die von ihm zu erzählende Geschichte verlangt ihm eine Selektion von Elementen aus seinem kognitiv definierten Erfahrungsraum ab. Die zweite Richtung, diejenige von Erzählung zu Erfahrung, betrifft das Erkenntnisinteresse eines wissenschaftlichen Beobachters. Dieser muss über die erzählte Geschichte die Erfahrungswerte eines Ich-Erzählers erschließen. Da diese Situation für die Forschung die maßgebliche ist, kommt der Auffassung, dass es sich bei narrativen Sätzen um Erfahrungswerte eines Ich-Erzählers handelt, eine entscheidende methodologische Bedeutung zu. Denn nur so lässt sich überhaupt verstehen, wie ein Ich-Erzähler bei seiner Erfahrungsgeschichte nicht nur symptomatische Elemente aus seinem Erfahrungsraum selektiert, sondern wie diese Erfahrungselemente miteinander zusammenhängen. Am Beispiel der Konzeptionalisierung des subjektiven Wissensvorrats durch Alfred Schütz wurde bereits gezeigt (Kapitel V), dass die interne Organisation des Erfahrungsraumes sich des Musters „Verbinden durch Trennen“ bedient. Um sich aber vor Augen zu führen, wie ein solches Muster überhaupt funktionieren kann, muss man die strukturalistische Theorietradition konsultieren.
2.1
Dechronologisierung
Für Saussure (2001) ist das sprachliche Zeichen in zwei Dimensionen gleichzeitig eingelassen. Auf vertikaler Ebene gewinnt es seine Einheit aus der Artikulation. Ein gesprochenes oder geschriebenes Wort trennt und verbindet automatisch Vorstellungsinhalt (Signifikat) und Lautbild (Signifikant). Da diese Verknüpfung nicht von Zuständen der Welt determiniert ist, sondern von sozialen Konventionen, spricht Saussure von der Arbitrarität des Zeichens: es ist – der Sache nach – unmotiviert, warum gerade dieser Signifikant für dieses Signifikat verwendet wird. Auf horizontaler Ebene steht das sprachliche Zeichen in einem Verbund mit anderen Zeichen (Stetter 2002, S. 32). Insofern es nicht isoliert ist, sondern in einem Gesamtzusammenhang mit anderen Zeichen steht, spricht Saussure vom Zeichen als Term eines Systems. Die Beziehungen der Terme untereinander haben wiederum eine spezifische Qualität, aus dem sich der Wert eines Zeichens ergibt. Dieser Wert ist negativ bestimmt: Der Sinn eines Wortes definiert sich Saussure zufolge in Differenz zu allen anderen Wörtern, und zwar
VI. 2 Methodische Verräumlichung der Erzählung
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sowohl auf der Ebene des Signifikats, als auch auf derjenigen des Signifikanten. Beide bilden je für sich eine Reihe von Oppositionsbeziehungen. Der Sinn eines gesprochenen oder geschriebenen Wortes ergibt sich aus zwei Aspekten: Er ist einerseits die von einem Laut oder Graphem hervorgerufene Vorstellung eines Hörers oder Lesers, andererseits erhält er diesen Wert erst aus den Verhältnissen koexistierender Zeichen. „Nicht dass eines anders ist als das andere, ist wesentlich, sondern dass es neben allen anderen und ihnen gegenüber steht. Und der ganze Mechanismus der Sprache […] beruht auf Gegenüberstellungen dieser Art“ (Saussure 2001, S. 145). An diese allgemeinen Vorarbeiten von Saussure knüpfen zunächst Trubetzkoy (1989) und später Jakobson (1992) in der Prager Schule des Strukturalismus an. Ihr Untersuchungsgegenstand ist die Phonologie. Im Unterschied zur Phonetik, der es um die Aufklärung der physikalischen Eigenschaften der sprachlichen Lautbildung geht, interessiert sich die Phonologie für den funktionalen Wert des Lauts in der Konstitution von Sinn. Phoneme sind zwar an sich selbst sinnlos, sie differenzieren jedoch durch die Stellung, die sie zueinander einnehmen – namentlich durch Opposition – die Bedeutung von Morphemen (die kleinsten Sinnpartikel der Sprache). Bei der Untersuchung konkreter Sprachlautgebilde kommt der Identifikation von phonologischen Oppositionen deswegen eine überragende Rolle zu. In phonologischer Opposition stehen zwei Elemente immer dann, wenn ihr Austausch an gleicher Stelle zu einer Äußerung mit anderer Bedeutung führt. Im Deutschen ist das zum Beispiel der Fall bei /m/ein und /d/ein. Zwar sind auch die Phoneme wiederum aus einem Bündel distinktiver Merkmale (stimmhaft, labial, frikativ etc.) zusammengesetzt, aber auch diese Merkmale verhalten sich wieder nach dem Prinzip der Opposition zueinander. Claude Lévi-Strauss hat dieses Prinzip insbesondere seinen Mythenanalysen zugrunde gelegt (Lévi-Strauss 1971b, 1972, 1973b, 1975). „Die elementaren Einheiten des mythischen Diskurses bestehen gewiss aus Wörtern und Sätzen, welche – in diesem besonderen Gebrauch und ohne die Analogie zu überziehen – jedoch eher in der Kategorie der Phoneme aufzufassen sind: als bedeutungslose Einheiten, die in einem System entgegengesetzt sind, wo sie Bedeutung gerade aufgrund dieser Opposition generieren“ (Lévi-Strauss 1992a, S.145, Übers. M.K.). Für Lévi-Strauss bilden Mythen eine Metasprache. Sie benutzen Einheiten aus der mündlichen Rede – Wörter und Sätze –, die dort zwar schon eine Bedeutung haben (semantisch, pragmatisch, intentional), die aber als Einheiten innerhalb eines mythischen Diskurses von diesem ersten Sinn gereinigt werden und anstelle dessen einen operativen Wert erhalten. Die Elemente des Mythos – Lévi-Strauss nennt sie Mytheme – sind deswegen ambivalent. Während sie auf der Ebene der normalen Sprache etwas bedeuten, haben sie auf der Metaebene
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VI. Wie erschließt sich der Erfahrungsraum?
des Mythos keine Bedeutung, sondern eine Funktion. Sie dienen hier dazu, Bedeutungen zu differenzieren. Aus diesem Verhältnis von Sprache und Mythos leitet Lévi-Strauss eine methodologische Maxime ab: Mytheme sollen wie (nicht: als) linguistische Phoneme behandelt werden. Ein Mythologe, der LéviStrauss zu folgen bereit ist, fragt demnach nicht danach, was die Mythen bedeuten, sondern wie sie funktionieren. Auf diese Weise konzentriert sich die Mythenanalyse darauf, symbolische Werte zu identifizieren, die einen Unterschied in der Bedeutung mythischer Sequenzen machen. Und da sich der operative Wert eines mythischen Symbols nur aus seiner Gegensatzbeziehung ergibt, gilt es, die mit einem Mythem korrelierenden Gegensätze zu identifizieren. An diese methodologische Auffassung des Mythos lässt sich für die Zwecke der Untersuchung eines subjektiven Erfahrungsraums anschließen. Das bedeutet nicht, dass der Erfahrungsraum eines Biographieträgers als ein Mythos aufgefasst wird (epistemologischer Sinn), sondern nur, dass er wie ein Mythos untersucht wird (methodologischer Sinn). Man muss hier jeden pejorativen Sinn des Mythischen außen vor lassen (Legende, Dichtung, Fabel). Der Ertrag für die Analyse des Erfahrungsraums ist folgender: Wenn es richtig ist, dass ein IchErzähler in seiner Lebensgeschichte seine Erfahrungswerte darstellt, dann müssen diese in ihrer oppositionellen Beziehung zueinander analysiert werden. Im Rahmen der Rekapitulation der Erfahrung eines Biographieträgers lässt sich der Erfahrungsraum weder als Wissensvorrat begreifen, der von einem Alltagssubjekt zur Bewältigung von Handlungssituationen angezapft werden kann, noch nimmt der Erfahrungsraum die zeitliche Struktur der erzählten Lebensgesichte an. Zwar bildet sich die Erfahrung eines Biographieträgers zeitlich, durch dessen Lebenslauf, aber die damit korrelierende Struktur der Weltvertrautheit ergibt sich nicht durch eine Bildungsgeschichte (Kapitel II), sondern schält sich durch die räumliche Stellung von Erfahrungswerten heraus. Der Erfahrungsraum wird zwar durch eine Geschichte erschlossen, er fällt aber nicht mit ihr zusammen, sondern beschreibt die Organisationsform der Erfahrung eines Biographieträgers. Während sich der Sinn einer Erfahrungsgeschichte entweder durch narrative Erklärungen („indem“, „weil“, „dadurch“ usf.) oder durch narrative Verknüpfungen („Und-dann“ bzw. „Und-und“) ergibt, erhält ein Element der Erfahrung seinen Wert durch einen Kontrast. Die Geschichte eines Biographieträgers zu verstehen heißt demnach ihren Zusammenhang herstellen zu können – entweder als Abfolge bzw. Aufzählung oder als Motivierung von Handlungen (dies durch jenes). Diesem vorwiegend diachronischen Sinn der Erfahrungsgeschichte steht die diakritische Verfassung des Erfahrungsraums eines Biographieträgers gegenüber. Hier folgen die Erfahrungswerte der Logik: dies gegen jenes (Mainberger 1988). Das heißt jedoch nicht, dass im Erfahrungsraum eines mit dem anderen nichts zu tun hat. Auch hier gibt es einen „Zusammenhang“ zwi-
VI. 2 Methodische Verräumlichung der Erzählung
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schen Elementen, aber dieser besteht eben nicht in deren Verzahnung und Verkettung, sondern in deren Korrelation und Opposition. Daraus lässt sich nun die allgemeine Schlussfolgerung ziehen, dass der Wert eines sprachlichen Zeichens (Saussure), eines Phonems (Trubetzkoy, Jakobson) und eines Mythems (Lévi-Strauss) jeweils abhängt vom Gefüge des Systems, innerhalb dessen er ein Stellen-Wert ist. Wenn man dies nun überträgt auf die narrativ vorgetragenen Partikel aus dem Raum subjektiver Erfahrung, so lässt sich sagen, dass eine Erfahrung ihren Sinn erst gewinnt, indem sie in Kontrast zu anderen Erfahrungen steht. Eine diakritische Betrachtungsweise der Erzählung führt somit zu deren Dechronologisierung, die „die logische Aufhebung der Zeit“ impliziert (Ricœur 1987, S. 68). Mit anderen Worten: die Erzählung wird verräumlicht. Erst durch diesen Schritt wird es möglich, über die erzählte Zeit einen Zugang zum Erfahrungsraum in repräsentativer Absicht zu gewinnen. Um es zu wiederholen: Der Erfahrungsraum wird hier nicht als ein Mythos aufgefasst, sondern es wird hier nur die Ansicht vertreten, dass er wie ein Mythos zu analysieren ist. Eine vergleichbare methodologische Maxime hat Durkheim der Soziologie ins Stammbuch geschrieben: Soziale Tatsachen seien wie Dinge zu untersuchen (Durkheim 1984). Und das heißt nicht, dass sie in ontologischer Hinsicht Dinge sind, noch dass sie epistemologisch als Dinge aufgefasst werden sollen, sondern sie müssen als Bestandteile einer emergenten Sphäre des Sozialen („Realität sui generis“) so untersucht werden, wie beispielsweise Physiker die materielle Welt studieren. Vergleichbares gilt nun auch für den subjektiven Erfahrungsraum. Man kann ihn nicht mit den Methoden der soziologischen Biographieforschung erschließen, da diese seine Qualität als Raum der Erfahrung überspringen. In der Perspektive einer rekonstruktiv verfahrenden Methodologie heißt dies, die erzählte Geschichte nicht nur semantisch oder pragmatisch zu begreifen, sondern vor allem syntaktisch. Es wird hier also methodisch unterstellt, dass ein Ich-Erzähler mit semantischen Mitteln eine ganze Reihe syntaktischer Operationen durchführt.
2.2
Methodologische Prinzipien
Für eine Analyse, die sich insbesondere für Gegensatzbeziehungen interessiert, lässt sich nun ein seit Saussure für den Strukturalismus insgesamt verbindlicher Grundsatz formulieren: Ein Element erhält seinen Wert, insofern es mindestens einem anderen Element entgegensteht.
230
VI. Wie erschließt sich der Erfahrungsraum?
Lévi-Strauss ist es gewesen, der diesen Grundsatz in seiner strukturalen Analyse auf folgende Weise ausbuchstabiert hat (Sperber 1975, S. 81ff.): Ein Gegensatz ist wiederum dreifach definiert: a.
durch seine Form, vorwiegend durch eine Symmetrie durch eine Inversion durch einen Chiasmus durch eine Homologie
b.
durch seinen Bereich Ein Gegensatz bestimmt sich durch den „Code“, wie Semiotiker sagen, in dem er artikuliert wird.36 Damit können die unterschiedlichsten Dimensionen menschlicher Welterfahrung gemeint sein: Kulinarik, Mode, Astronomie, Zoologie, Botanik, Physiologie, Verwandtschaft, Ökonomie, Politik, Rhetorik, Sexualität usf.. Zum Beispiel kann im kulinarischen Bereich die alltägliche Nahrungsaufnahme mit beliebig großen Mengen von Fleisch assoziiert werden, die rituelle Aufnahme von Speisen hingegen mit kleinen Mengen von Vegetarischem verbunden sein. In einem solchen Fall handelt es sich um einen im kulinarischen Code formulierten Gegensatz von rituellem „Maßhalten“ und alltäglicher „Maßlosigkeit“.37
c.
durch seine Gegensatzwerte Ein besonderes Element kann in mehreren Gegensätzen gleichzeitig vorkommen: Ein Auto kann beispielsweise einem Haus entgegenstehen, wenn beides Statussymbole sind. Es kann aber auch mit einem Fahrrad als Fortbewegungsmittel kontrastieren.
36
37
Lévi-Strauss benutzt den Begriff des Codes, was häufig übersehen wird, in einem Sinne, den Semiotiker eigentlich dem Begriff des Systems vorbehalten. In der Semiotik bezeichnet ein Code die – mehr oder minder – angebbare Zuordnungsregel von Paaren (Signifikant/Signifikat oder Botschaft/Interpretation) und muss daher terminologisch vom Begriff des Systems unterschieden werden, durch den der Artikulationsbereich und die Struktur von Zeichen definiert wird (vgl. Eco, 1977, S. 85). In diesem System-Sinne wird von Lévi-Strauss (1971, S. 259) der Begriff des Codes benutzt, der für ihn „das System der Funktionen“ bestimmter Merkmale innerhalb einer Dimension der Erfahrung darstellt. Um die Komplexität nur anzudeuten: Tatsächlich handelt es sich hier bereits um eine manifeste Kopplung zweier Codes, denn der Gegensatz von „maßlos“ und „maßvoll“ wird nicht nur in der kulinarischen, sondern auch in der periodischen Dimension der Tages-, Wochen- und Jahreszeiten (Alltag vs. Ritus) formuliert, die wiederum mehrere latente Zusatzcodierungen hat: Ökonomie (Karfreitag wird nicht gearbeitet), Astronomie (der Feiertag bestimmt sich nach dem Umlauf der Gestirne), Religion (man geht in die Kirche) usf..
VI. 2 Methodische Verräumlichung der Erzählung
231
Ein Gegensatz kann wiederum unterschiedliche Werte annehmen: Einerseits kann ein Gegensatz zwischen Elementen mehrere Werte haben: So kann der Gegensatz von Maßhalten und Maßlosigkeit im kulinarischen Bereich in einer anderen Dimension, z.B. der physiologischen, der Zurückhaltung von Körpersekreten (z.B. Schweiß) auf der einen und deren Aussonderung auf der anderen Seite entsprechen. In einem solchen Fall hat man es mit einer Homologie zu tun. Sie ist eine besondere Art von Gegensatz, denn sie verbindet zwei voneinander unterschiedene Bereiche der Erfahrung, indem sie aufzeigt, dass beide Dimensionen sich in ihren internen Relationen entsprechen.38 Ob dem tatsächlich so ist, hängt vom ethnographischen Kontext selbst ab. Andererseits können vegetarische und tierische Nahrungsaufnahme im kulinarischen Code nicht nur als der Gegensatz von Maßhalten und Maßlosigkeit aufgefasst werden, sondern zugleich als Kontrast zwischen moralisch verantwortlichem und unverantwortlichem Konsumverhalten (wenn Tierhaltung die Begründung ist) oder als Zeugnis eines ausgeprägten bzw. unausgeprägten Körperbewusstseins (wenn Gesundheit eine Rolle spielt). Auf einem wiederum anderen Gebiet, dem des politisch-administrativen Handelns, ist die Opposition von Verantwortung versus Unverantwortlichkeit nicht auf die Nahrungsaufnahme bezogen, sondern betrifft beispielsweise die Unbestechlichkeit bzw. Korruptionsanfälligkeit in der Amtsführung einer Person, wohingegen in der Familie Verantwortung beispielsweise dadurch definiert wird, ob die Kinder rechtzeitig vom Kindergarten abgeholt werden. Schon aus diesen Beispielen wird verständlich, warum Lévi-Strauss (1992b, S. 82) folgende Maxime für die Mythenanalyse ausgegeben hat: „Ein Mythos darf niemals nur auf einer einzigen Ebene interpretiert werden. Es gibt keine privilegierte Erklärung, denn jeder Mythos besteht in einem In-Beziehung-Setzen verschiedener Erklärungsebenen.“ Ein Mythos erklärt nicht durch Reduktion, sondern durch Veranschaulichung der von ihm verhandelten Grundprobleme: „Jeder Mythos stellt ein Problem und behandelt es, indem er zeigt, dass es anderen Problemen analog ist; oder der Mythos behandelt mehrere Probleme gleichzeitig, indem er zeigt, dass sie untereinander analog sind“ (Lévi-Strauss 1987, S. 275). Indem Beziehungen nicht reduziert, sondern erweitert werden, führt dies
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Im ersten Kapitel wurde bereits die Homologiethese in Bezug auf die Rekonstruktionsmethodologie von Fritz Schütze diskutiert. Sie bezieht sich auf die Verbindung von und den Gegensatz zwischen zwei unterschiedlichen Bereichen: der Erfahrung einerseits und der Erzählung andererseits bzw. zwischen Kognition und Sprache.
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VI. Wie erschließt sich der Erfahrungsraum?
zu einer Steigerung von Komplexität: „Ein besonderer Gegensatz kommt also in mehreren Matrizen vor, deren Schnittpunkt er in gewisser Weise bildet“ (Sperber 1975, S. 85).
2.3
Symbolische Operatoren
Vor diesem Hintergrund kann nun die Frage beantwortet werden, wie die Dimensionen der Erfahrung einerseits nebeneinander bestehen, andererseits intern miteinander zusammenhängen können. Denn wenn man den Mythos als den paradigmatischen Fall symbolischen Denkens versteht, ihn aber nicht daraufhin untersucht, was er bedeutet, sondern wie er funktioniert, dann rückt die Frage in den Vordergrund, wie die mythische Rede organisiert ist. Diese Organisationsweise folgt dem oben aufgezeigten Musters des „Verbindens durch Trennen“. Das ist bereits im Begriff des Symbols enthalten: „Das Symbolon war ursprünglich Darstellung oder Beweis einer Einheit, vor allem: des durch Gastfreundschaft erworbenen Status, mit Hilfe von Trennstücken, die zusammenpassen. Also Repräsentation eines Zusammenhangs durch Getrenntes“ (Luhmann 1993, S. 67). Bezieht man dieses Muster nun auf die Genese und Darstellung von Erfahrung, so lässt sich mit guten Gründen sagen, dass ein Erfahrungsträger nicht nur über eine ganze Reihe von Erfahrungswerten verfügt, die er im Verlaufe seines Lebens „angesammelt“ hat, sondern dass sich darunter auch einige befinden, die einen herausgehobenen Status inne haben. Sie haben sich seinem Gedächtnis deshalb tief eingeprägt, weil es sich um besonders dramatische, besonders häufige oder besonders relevante Erfahrungen handelt. Bei symbolischen Erfahrungsoperatoren handelt es sich demnach um besonders prägnante Werte von Erfahrungen, die dazu geeignet sind, Beziehungen im subjektiven Raum der Erfahrung eines Ich-Erzählers herzustellen. Ihre Funktion als Übersetzer und In-Beziehung-Setzer von Erfahrungsdimensionen üben symbolische Operatoren vor allem deswegen aus, weil sie nicht nur ein Mittel sind zur Bezeichnung eines Sachverhalts (der in autobiographischen Erzählungen in der Vergangenheit liegt), sondern zugleich als ein Mittel zur Organisation dieser Erfahrung fungieren. Eine solche Auffassung des Symbols steht der exegetischen wie kryptologischen Tradition der Symbolik diametral entgegen. Dan Sperber (1975, S. 104) notiert deshalb: „Trotz einigen gegenteiligen Behauptungen ist die Symbolik kein Mittel zu kodieren, sondern ein Mittel, sie zu organisieren.“ Entsprechend heißt es bei Marcel Hénaff (1998, S. 137): „Symbolism is first an operating system, an instrument of organizing.“ Infolgedessen kann es daher nicht mehr darum gehen „die symbolischen Phänomene anhand des Kontextes zu interpretieren, sondern ganz im Gegenteil
VI. 2 Methodische Verräumlichung der Erzählung
233
darum, den Kontext anhand der symbolischen Phänomene zu interpretieren“ (Sperber 1975, S. 105). Es gehört zu den Grundeigenschaften von symbolischen Operatoren, dass sie sich zugleich auf der sinnlich wahrnehmbaren (bzw. imaginativ-vorstellbaren) und einer intelligiblen Ebene bewegen: „Symbolism performs an intelligible operation directly on perceptible elements“ (Hénaff 1998, S. 122). Das heißt, dass das In-Beziehung-Setzen von Erfahrungswerten und -dimensionen mittels Symmetrien, Umkehrungen, Überkreuzungen und Homologien keine abstrakte Operation ist, sondern Vorgänge darstellt, die mittels der Wahrnehmung, der Vorstellung oder der sprachlichen Bezeichnung konkreter Objekte vollzogen werden. Symbolische Operatoren gehorchen daher einer Logik sinnlicher Qualitäten. Und das ist auch der Grund dafür, warum sie sich sowohl von der Ebene der artikulierten Sprache, als auch vom bewussten Diskurs unterscheiden. Denn nur auf diese Weise lässt sich erklären, warum der Zeichenbenutzer zwischen unterschiedlichen Dimensionen Verbindungen intuitiv herstellen kann, ohne dass dies ihm zu Bewusstsein käme und ohne dass er dies artikulieren könnte. Der Erzählung kommt hier die Aufgabe zu, die symbolischen Werte in eine Ordnung der Zeit zu übersetzen und sie funktionieren zu lassen. „The narration that summons them, arranges them, makes them act […] has the function of defining an order in time” (ebd., S. 123). Für die Zwecke der hier angestrebten Analyse heißt dies, dass ein Ich-Erzähler über symbolische Erfahrungsoperatoren verfügt, mittels derer er auf narrativer Ebene mehrere – teils manifeste, teils latente – Dimensionen gleichzeitig miteinander verknüpft (Kapitel VII). Symbolische Operatoren dienen der Herstellung einer Ordnung.39 Wenn Erfahrungswerte sowohl Objekte der Bezeichnung sind, als auch Mittel zur Organisation des Erfahrungsraums, muss man unterscheiden, ob man ihrer Bezeichnungs- oder ihrer Organisationsfunktion folgt. In der ersten Hinsicht sind Erfahrungswerte insofern sinnvoll, weil sie hier als Referenzobjekte sprachlicher Bezeichnungen dienen. Das trägt einer wahrheitssemantischen Theorie der Bedeutung Rechnung, derzufolge man diese Bezeichnungen nur verstehen kann, wenn man weiß, unter welchen Bedingungen die erzählte Geschichte wahr ist. Der Weltbezug des Erfahrungswertes stellt hier die Voraussetzung seines Verstehens dar. Wer die Erzählung des Ich-Erzählers verstehen will, muss sie mit seinem „enzyklopädischen Wissen“ (Sperber 1975, S. 132) über empirische Weltzustände abgleichen. Als operatorisches Mittel hingegen
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„Eine Symbolik ist ein Dispositiv sinnlich wahrnehmbarer Elemente, das differentielle Werte aufweist und nicht dazu bestimmt ist, etwas zu bezeichnen, sondern es zu verwirklichen; das betrifft ein algebraisches System ebenso wie ein Heilungsritual, einen Maskentanz ebenso wie Höflichkeitsformen. Ihre Ordnung ist die des Werts, nicht der Bezeichnung; der Operation, nicht der Darstellung“ (Hénaff 2009, S. 206, Fußnote 56).
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VI Wie erschließt sich der Erfahrungsraum?
dient ein Symbol nicht der Bezeichnung, sondern der Verknüpfung – mit der besonderen Eigenschaft, dass diese Verknüpfung einer Logik des „Verbindens durch Trennen“ gehorcht. In dieser Hinsicht ist ein symbolischer Operator kein intentionaler Gegenstand des Erlebens und Handelns, weswegen sich darauf keine der gängigen Bedeutungstheorien anwenden lässt. Symbolische Operatoren der Erfahrung stellen Beziehungen zwischen wiederholt wahrgenommenen Gegenständen, zyklischen Ereignissen und routinierten Handlungen her, die diesseits des bewussten Erlebens und Artikulierens liegen. Solche Relationen können dem Subjekt der Erfahrung intentional nicht verfügbar sein, so dass es sich dabei um ein stummes Wissen handelt, das sein Träger nicht explizieren, sondern nur anwenden kann (Sperber 1975). Auf der symbolischen Ebene ist es schon deshalb nicht mehr möglich, eine Theorie der Bedeutung anzuwenden, weil Symbole – entgegen der weit verbreiteten Annahme – in erster Linie nichts symbolisieren, also bedeuten, sondern organisieren, also einen Kontext erschließen. Bei den symbolischen Operationen geht es daher weder um die Konventionalität von Sprechhandeln, noch um die Absichten von Sprechern, sondern um eine Struktur.
2.4
Struktur
Anders als ein Formalismus, der vom Inhalt seiner Analyse gänzlich abstrahiert, geht die von Lévi-Strauss benutzte Methode der strukturalen Analyse davon aus, dass die Struktur nicht jenseits des Inhalts, sondern in der Organisation des empirischen Materials selbst aufzufinden ist. Freilich lässt sich der Strukturbegriff weder umgangssprachlich noch wissenschaftlich auf eine solche enge Vorstellung von vornherein beschränken. Zum Beispiel erhält „Struktur“ einen architektonischen Sinn, wenn damit die tragfähige Anordnung von Teilen bezeichnet wird (Statik). „Struktur“ hat einen biologischen Sinn, wenn die lebendige Wechselwirkung von Körperteilen gemeint ist (Organismus). „Struktur“ kann aber auch eine rhetorische Bedeutung haben, wenn etwa vom argumentativen Aufbau einer Rede bzw. eines Textes die Rede ist (Gliederung). So unterschiedlich diese Begriffsverwendungen aber auch sein mögen, es besteht hier ein gemeinsamer Bedeutungskern. Der Strukturbegriff wird benutzt, um eine bestimmte Ordnung von Elementen zu bezeichnen. Er beinhaltet die Unterscheidung von Teil und Ganzem bzw. Element und System. Der Strukturbegriff wird allerdings auch dazu gebraucht, um auf eine invariante Form innerhalb der Ordnung eines Systems aufmerksam zu machen. In diesen Fällen zielt der Strukturbegriff auf die Differenz von Relation und Regel. Man braucht eine Reihe von Elementen und deren Relationen, um eine Struktur identifizieren zu
VI. 3 Repräsentation der Erfahrung in der Erzählung
235
können. Beide Konnotationen des Strukturbegriffs werden von Lévi-Strauss in der strukturalen Analyse zusammengeführt. Wenn sich eine Interdependenz von Elementen beobachten lässt, handelt es sich um Elemente eines alle einzelnen Teile übergreifenden Systems. Nur von der übergeordneten Systemebene aus aber lässt sich auch die Regel angeben, die die Beziehungen der Elemente untereinander betrifft. Der Strukturbegriff von Lévi-Strauss führt die Interdependenz der Elemente eines Systems mit der Regulierung ihrer Beziehungen zusammen. Es lässt sich also genau dann von einer Struktur sprechen, wenn sich die Regelung von Beziehungen zwischen Elementen als unabhängig von der Zeit und den konkreten Elementen eines Systems erweist. Der Gegenstand der strukturalen Analyse besteht deswegen im Nachweis des identischen Arrangements der (auswechselbaren) Teile eines Systems. Das Aufzeigen einer Ordnung ist für sich genommen demnach noch keine Struktur, da es in der strukturalen Analyse um die Identifikation von „notwendigen Beziehungen“ (Oppitz 1993) geht: um Symmetrien, Umkehrungen, Überkreuzbeziehungen, Homologien. 3.
Die Repräsentation der Erfahrung in der Erzählung
Wenn man davon ausgeht, dass ein Ich-Erzähler aus dem Raum seiner Erfahrung Elemente selektiert und diese als narrative Ereignisse präsentiert, dann verzeitlicht sich der Raum der Erfahrung bereits durch die Tatsache, dass die symptomatischen Elemente der Erfahrung nun einer Ordnung der Erzählung gehorchen. Was im Erfahrungsraum gleichzeitig präsent ist, wird jetzt in eine Logik der Abfolge („Und-dann“ bzw. „Und-und“) gebracht. Dies ist die Ordnung der Erzählrede. Sie besteht insbesondere aus Datierungen – entweder kalendarischer oder pragmatischer Art („damals, als“) – die auf die erlebten Ereignisse eines Ich-Erzählers verweisen, die wiederum an bestimmten Orten stattgefunden haben. Es bleibt nicht aus, dass der Erzähler einer Geschichte, deren Protagonist er ist, sich in einer anderen Reihenfolge bewegt, als das „seinerzeit“ der Fall gewesen ist. Anstatt zum Beispiel die „korrekte“ Reihe A, B, C einzuhalten, bewegt er sich in der Reihe zurück, also: C, B, A. Die Erzählung nutzt hier die Reversibilität der Zeit auf narrativer Ebene aus, die in der (früheren) Handlungsgegenwart nicht gegeben war. Die erzählte Geschichte kann auch Etappen auslassen (anstelle A, B, C, D in der Ereigniszeit z.B. A, C, D in der Zeit der Geschichte). Ein Erzähler kann vorauseilen und zurückkommen (C, D, A, B), er kann seine Schilderung raffen (A, D) oder ausdehnen (A, A’, A’’). Narrative Darstellung ist offenkundig den Lebensereignissen gegenüber autonom. Schon aus dem Grund zweier verschiedener Zeitordnungen – die eine irreversibel, die andere reversibel – kann eine Erzählung die Erfahrung nicht
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VI Wie erschließt sich der Erfahrungsraum?
repräsentieren. Aber nicht nur der Ich-Erzähler selbst bringt durch seine Stegreiferzählung die Ordnung seines Lebens durcheinander. Auch der Interpret gehört dazu. Denn im Unterschied zum Ich-Erzähler, den diese Unordnung seiner erzählten Geschichte keineswegs zu stören scheint, wird der Interpret einer transkribierten Stegreiferzählung mit einer Vielzahl von Schwierigkeiten konfrontiert: Er kann den Sprüngen der erzählten Geschichte nicht immer folgen, weiß demzufolge oft nicht, „wo“ sich der Erzähler gerade befindet. Er muss die syntaktische Ordnung der Erzählsätze im Akt des Lesens stillschweigend korrigieren, damit die Erzählrede überhaupt verstehbar wird. Er muss eine Reihe nichtidentifizierbarer Eigennamen als Platzhalter behandeln usf.. Als Leser eines transkribierten Interviews, der der Forscher zunächst ist, sieht er sich meist dazu genötigt, eine eigene Sinnordnung in das Interview hineinzulegen, die von dessen Eigenzeit verschieden ist. Aus Sicht eines Beobachters handelt es sich bei einer erzählten Lebensgeschichte weder um eine wohlgeformte Erzählung, noch um eine klare Angabe objektiver Lebensereignisse. Der Leseakt selbst ist demnach keine passive Rezeption dessen, was im verschriftlichten Interview offensichtlich schon steht. Es kommt bereits hier zu einer Reihe konstruktiver Leistungen. Diese reichen von stillschweigenden Berichtigungen des Ausdrucks und der Syntax, bis hin zu Mutmaßungen darüber, was mit einer Phrase gemeint ist. Das alles bewegt sich noch diesseits dessen, was durch offizielle Methodenarbeit gedeckt wäre. Die Erzählung eines Ich-Erzählers hat demnach zwei Rezipienten: Den unmittelbaren Zuhörer in der Situation des narrativen Interviews selbst und den Leser in der Situation der Interpretation des transkribierten Interviews. Der erste kann direkt nachfragen, der zweite kann zunächst nur mutmaßen. Auf der ersten, unmittelbaren und elementaren Ebene des Leseaktes wird der Forscher das Textmaterial deswegen rekonfigurieren, weil es nur dadurch in einzelnen Phrasen und in Bezug auf die gesamte Erzählung einen unmittelbaren Sinn erhält. Um die Lebensgeschichte wenigstens überblicksartig zu verstehen, muss der Wissenschaftler das erzählte Leben des Analysanden in eine Reihe bringen, die mit der sozialhistorischen Zeit vereinbar ist, der der Beobachter selbst angehört. Erst durch die Rückkoppelung an diese Zeit und der damit verbundenen Chronologie der Ereignisse, vermag der Forscher die Transkription seines Interviews zu durchdringen. An diesem unscheinbaren Vorgang zeigt sich zweierlei: Erstens besteht nicht nur eine unweigerliche Autonomie der Erzählung gegenüber der Erfahrung des Ich-Erzählers, sondern auch eine Eigenständigkeit der interpretatorischen Ebene gegenüber der Erzählung. Gemessen an den intuitiven Erwartungen eines Interpreten nämlich, ist die Weise, auf die ein Ich-Erzähler seine Lebensgeschichte erzählt, zunächst einmal in Unordnung. Und weil damit für den Inter-
VI. 3 Repräsentation der Erfahrung in der Erzählung
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preten das Verstehen der verschrifteten Geschichte erschwert wird, wird sie – zweitens – von ihm auf eine elementare Weise rekonfiguriert. Auf diese Weise erwächst allmählich eine Ordnung heran, die es dem wissenschaftlichen Beobachter ermöglicht, die Geschichte zu verstehen. Der Anspruch auf Verständlichkeit beinhaltet in solchen Situationen die Einordnung der erzählten Geschichte in die historische Zeit und deren Chronologie. Das geschieht ganz unabhängig von den professionellen Maximen, die besagen, dass an das vorliegende Material keine darüber hinausgehenden Erwartungen zu richten sind, sondern dass alles aus dem Material selbst zu entwickeln ist. Wenn diese Beobachtung richtig ist, dann ist das ein forschungspraktisches Beispiel dafür, dass es eine spiegelbildliche Beziehung zwischen Erzähler und Interpret gibt: Während für einen Erzähler die erzählte Geschichte selbstverständlich „in Ordnung“ ist, befindet sie sich für den Interpreten auf elementare Weise in Unordung. Und daraus resultieren dann bestimmte Maßnahmen, die erzählte Geschichte zumindest wieder stimmig zu machen. Das ist sie für den Beobachter letztlich dann, wenn sie sich in eine sozialhistorische Zeit einreihen lässt. Denn erst über diesen Schritt sind sowohl der Ablauf der Geschehnisse als auch deren Umstände intersubjektiv verstehbar. Und so kommt denn keine Interpretation damit aus, sich nur an das zu halten, was als Material gegeben ist. Vielmehr reiht der Interpret eine verzerrte Zeitgestalt in eine historische Zeit ein. Und in dem Maße, wie sich die erzählte Geschichte hier einreihen lässt, kann sie als wohlgeformt gelten. Ich erwähne dies alles, um einen vergleichbaren Schritt der Rekonfiguration verständlicher zu machen. Er erfolgt nicht in der Zeit, sondern im Raum, nicht intuitiv, sondern methodisch angeleitet. So sehr es alltagspraktisch auch verständlich sein mag, dass die erzählte Zeit in die historische Zeit zurückgenommen wird, so problematisch wird dieser Schritt, wenn man bedenkt, was weiter oben (insbesondere Kapitel V) über den Erfahrungsraum gesagt wurde. Zwar stimmt es, dass die Erzählung einer zeitlichen Ordnung folgt, aber sie bezieht sich dabei nicht auf die irreversible Zeit des Erlebens, sondern auf den Raum der Erfahrung. Man hat es also nicht mit einer Beziehung zwischen zwei Zeiten, der erlebten und der erzählten Zeit (Kapitel I) zu tun, sondern mit einem Zeit-Raum-Verhältnis zwischen Erfahrungsgeschichte einerseits und Erfahrungsraum andererseits. Da aber eine zeitliche Ordnung zu einer räumlichen einerseits nicht ohne weiteres in Beziehung gesetzt werden kann, es andererseits auch vermieden werden soll, den Erfahrungsraum zeitlich zu verstehen, bleibt nur ein Schritt übrig: Man muss die Erfahrungsgeschichte verräumlichen. Denn nur unter dieser Voraussetzung lässt sie sich mit dem Erfahrungsraum in Beziehung setzen. Infolgedessen kann das Verhältnis beider Ebenen nicht länger mehr als das Problem der Synchronisation verschiedener Zeitschichten (erzählte Zeit
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VI Wie erschließt sich der Erfahrungsraum?
und erlebte Zeit) diskutiert werden, sondern es muss vielmehr die Frage nach einer angemessenen Repräsentation des Erfahrungsraums durch die Erfahrungsgeschichte beantwortet werden. Wenn es eine Korrespondenz zwischen beiden Ebenen geben soll, muss insbesondere ein Eindruck ausgeschaltet werden: dass es sich bei der Erzählung um die Aufzählung („Und-dann“ bzw. „Und-und“) von verschiedenartigen Ereignissen handelt. Die Annahme ist vielmehr, dass es sich bei den von einem Ich-Erzähler geschilderten Ereignissen um Erfahrungspartikel aus den übergeordneten Dimensionen seines Erfahrungsraums handelt. Und dessen Struktur wiederum ist nicht nach Art des Wissensvorrats eines Alltagssubjekts zu verstehen, sondern sie beschreibt die Organisationsform der Erfahrung eines Biographieträgers. Die Struktur des Erfahrungsraums bildet sich nicht durch einen zeitlichen Zusammenhang, sondern schält sich durch die topologische Stellung derjenigen Dimensionen heraus, die im Maßstab einer Lebensspanne von einem konkreten Individuum wiederholt durchlaufen wurden. Wenn dies richtig ist, muss sich das auf der Ebene der Erfahrungsgeschichte zeigen lassen können. Mit anderen Worten: Auch die Erzählung muss topologisch analysiert werden. „Unter topologischen Gesichtspunkten [wird] danach gefragt, was gleich bleibt, wenn ein Betrachter meint, etwas habe sich verändert“ (Günzel 2007, S. 21, kursiv i.O.). Während es bei der Topographie vor allem um Fragen der technischen und kulturellen Repräsentation von geographischen Räumen durch Karten geht, abstrahiert die Topologie vom materiellen Substrat des Raumes und beschränkt sich auf die Angabe der Verbindung zwischen Punkten. Eine topologische Karte ist eine Übersicht über Lagebeziehungen und nimmt keinerlei Rücksicht auf Metrisierung. Man kennt das zum Beispiel aus den schematischen Plänen der U-Bahn-Linien, die keinen Anspruch erheben, den geographischen Raum zu repräsentieren, wie dies topographische Karten tun. Die Topologie ist demgegenüber „die Lehre von den qualitativen Gesetzen der Ortsverhältnisse“ (Heuser 2007, S. 191). „Dies bedeutet, dass die Strecken zwischen den Punkten einer Relation jede mögliche Form annehmen können, nur ihre spezifische Verbundenheit bleibt bestehen“ (Günzel 2007, S. 22f). Durch ein solches Minimalkriterium wird die Raumvorstellung enorm dynamisiert. Der Raum hat jetzt keine festen Eigenschaften mehr und kann demnach „auch gekrümmt, gedehnt oder gestaucht sein. Wesentlich ist für die jeweilige Topologie, dass es zu keiner Unterbrechung der Verbindung zwischen den strukturierenden Punkten kommt“ (ebd., S. 23). In der strukturalen Analyse von Lévi-Strauss wird das, was gleich bleibt, wenn ein Beobachter meint, es habe sich etwas verändert, als Transformation beschrieben. Das scheint zunächst kontraintuitiv zu sein, insofern dieser Terminus gerade in Theorien sozialen Wandels für Sonderformen von Veränderungen
VI. 3 Repräsentation der Erfahrung in der Erzählung
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reserviert ist, die damit den qualitativen Wandel (Schmidt-Wellenburg 2005, S. 16) sozialer Erscheinungsformen im Allgemeinen bezeichnen, insbesondere aber den Spezialfall gesellschaftlichen Wandels, dessen „Woher“ und „Wohin“ von vornherein bekannt zu sein scheint, wie etwa für den gesellschaftlichen System-„Umbruch“ im Jahre 1989 (Merkel 1999; Hofmann & Wolf 2001; Holtmann & Wiesenthal 2009). Ein Oberflächenwandel jedoch, bei dem alles nur so aussieht, als ob sich substantiell etwas verändert habe, wird im sozialwissenschaftlichen Diskurs über Transformation mit diesem Terminus gerade nicht verbunden. Doch genau das ist die Pointe bei Lévi-Strauss. Denn auch „Veränderung“ wird bei ihm nicht im Rahmen der Diachronie, sondern innerhalb der Synchronie konzeptionalisiert. Wer demnach „Struktur“ sage, müsse unbedingt „Transformation“ mitdenken, wie Lévi-Strauss (1989, S. 165) zu bedenken gibt: „Nun ist allerdings der Begriff der Transformation mit der strukturalen Analyse aufs engste verknüpft, ja, sämtliche Irrtümer, alle missbräuchlichen Verwendungen, die es mit oder an dem Begriff der Struktur gegeben hat, rühren daher, nicht begriffen zu haben, dass es unmöglich ist, die Struktur getrennt vom Begriff der Transformation vorzustellen. Damit man von Struktur sprechen kann, müssen zwischen Elementen und den Verhältnissen mehrerer Gesamtkomplexe invariante Beziehungen in Erscheinung treten, und zwar so, dass man mittels einer Transformation vom einen zum anderen Komplex übergehen kann.“
Diese Bemerkung hat zwei weitreichende Konsequenzen: Erstens stellt die Angabe einer Transformationsbeziehung den empirischen Testfall für die Annahme einer Struktur dar. Denn eine Invarianz lässt sich Lévi-Strauss zufolge nur dann behaupten, wenn es gelingt, von einem Komplex (Element, Menge) zum anderen überzugehen. Man könnte deswegen auch sagen, dass die strukturale Analyse, insofern sie im Kern eine Analyse von Transformationen ist, ein eminent großes Interesses an Übersetzungsverhältnissen (Renn 2006) nehmen muss, wäre dieser Titel nicht bereits für ganz anders gelagerte Probleme beansprucht worden. Mathematisch gesehen, und darauf kommt es hier noch mehr an, handelt es sich dabei um Abbildungsverhältnisse (s.u.). Zweitens führt diese Annäherung des Struktur- an den Transformationsbegriff aber auch dazu, dass Lévi-Strauss aus der traditionellen Substanzfrage ein Methodenproblem gemacht hat. Denn mit einem Mal wird es wichtig, die Operationen anzugeben, durch die eine Struktur etabliert wird. Sie ist nicht einfach mehr nur jenes Wesen, das im Wechsel der Erscheinungen sich selbst gleich bleibt, jenes Beharrliche also, den äußerer Wandel nichts weiter angeht, sondern eine Struktur ist gekennzeichnet durch eine operatorische Funktion: Übergänge nach Regeln möglich zu machen. Invariant ist Ricàur zufolge daher nur die „Organisation eines kombinatorischen Systems“ (1996, S. 146). Man muss hier die Tätigkeit mitbedenken, die im Ausdruck „Organisation“ mitschwingt: Das zu Organisierende bedarf eines Organisierenden, eines Organ(on), mithin eines Werkzeugs.
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VI Wie erschließt sich der Erfahrungsraum?
„Organisation“ ist daher alles andere als ein Begriff, den Ruhe auszeichnet. Trotz dieser immanenten Bewegtheit, oder vielleicht gerade deswegen, ist der Strukturbegriff „zum stärksten überhaupt anwendbaren Identitätskriterium“ (ebd.) geworden. Man kann beispielsweise alle Teile eines Motors auswechseln, solange die Anordnung seiner Einzelteile (Motor, Kühlung, Pumpe etc.) sich nicht verändert – mit anderen Worten: wenn die Verbindung zwischen seinen Elementen nicht gekappt ist –, hat sich nichts „Substanzielles“ verändert. Seine Struktur bleibt dieselbe. In der Konsequenz des Lévi-Strauss’schen Ansatzes liegt, dass eine Struktur nun nicht mehr einem zu analysierenden Komplex zugrunde oder vorausliegt, wie im traditionellen Substanzdenken, sondern gleichbedeutend ist mit den Transformationen zwischen einzelnen Elementen oder verschiedenen Gruppen. Mit „Transformationen“ sind wiederum jene intelligiblen Beziehungen im Medium sinnlicher Wahrnehmung gemeint, die oben beschrieben wurden: Symmetrie, Umkehrung, Chiasmus und Homologie. Die strukturale Analyse erweitert auf diese Weise zum einen den Bereich dessen, was gleich bleibt: Es sind verschiedene Relationen der Opposition, die nunmehr invariant sind. Zum anderen verändert sich mit dem operatorischen Verständnis der Struktur auch die Auffassung des Raumes, wie Gilles Deleuze (1992, S. 15) darlegt: „Es handelt sich nicht um einen Platz in einer realen Ausdehnung, noch um Orte in imaginären Bereichen, sondern um Plätze und Orte in einem eigentlich strukturellen, das heißt, topologischen Raum. Was struktural ist, ist der Raum, aber ein unausgedehnter, prä-extensiver Raum, reines spatium, das sich nach und nach als Ordnung der Nachbarschaft herausgebildet hat und in dem der Begriff der Nachbarschaft zunächst einen ordinalen Sinn hat und nicht eine Bedeutung in der Ausdehnung.“
Wenn man autobiographische Erzählungen nun mit den Mitteln analysiert, die im vorangegangenen Abschnitt vorgestellt worden sind, dann verräumlicht man nicht nur automatisch die Lebensgeschichte eines Ich-Erzählers, sondern damit verfolgt man auch eine epistemologische These. Denn entgegen des äußeren Anscheins – und gemäß obiger Definition – tastet eine topologische Abbildung das Struktur-Kriterium nicht an: Verbindungen zwischen Punkten, d.h. Relationen, bleiben bestehen. Diese Eigenschaft lässt sich erkenntnistheoretisch ausnutzen. Die folgende Abbildung 6 zeigt ein Spektrum möglicher Abbildungen, bei dem sich das abgebildete Objekt nach Maßgabe der Transformation des Bezugssystems verändert:
VI. 3 Repräsentation der Erfahrung in der Erzählung
Abbildung 6:
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Vonn der euklidischen Geometrie zum topologischen Raum m
Quelle: Heuser 2007, S. 198
Bei der kongruenteen Abbildung verändert sich nur die Lage des Objeekts im Raum, nicht dessenn Größe. Dieser Raum hat einen festen Maßstab, inn nerhalb dessen ein Objekt siich nach Maßgabe einer genauen Regel verschiebt. Beei einer Beziehung der Ähnnlichkeit verändert sich nicht nur die Lage eines O Objekts, sondern auch desseen Größe. Das Ausmaß dieser Veränderung, bei deem die Form gleich bleibt, ist eine Funktion der Veränderung im räumlichen BezugsB system selbst: Das Netzwerk wird entweder vergrößert oder verkleineert. Bei einer affinen Abbilldung verändern sich die Winkel des Objektes, Parrallelen
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VI Wie erschließt sich der Erfahrungsraum?
bleiben aber erhalten. Das wiederum ist der Effekt einer entsprechenden Transformation des räumlichen Bezugssystems. Die projektive Abbildung verändert auch noch die Parallellage zwischen Objekten. „Invariant bleiben hier noch die geraden Linien und Schnittpunkte. Es bleibt gewissermaßen ein Netzwerk des Raums mit geraden Linien erhalten, auch wenn die Größen, Abstände und Winkel dieses Netzes nicht mehr bestimmbar sind (Heuser 2007, S. 198). Dieser Rest an Metrisierbarkeit wird im topologischen Raum endgültig aufgegeben. Der topologische Raum ist ein qualitativer Raum. In einer topologischen Abbildung kann ein Objekt demnach beliebig deformiert werden, solange dabei berücksichtigt wird, dass die Ausgangsverbindung zwischen Punkten nicht durchtrennt wird. Aus dieser Veranschaulichung lassen sich zwei allgemeine Schlüsse ziehen: Erstens hängt das, was als Veränderung an einem Objekt wahrgenommen wird, vom jeweiligen theoretischen Bezugssystem des Beobachters ab. Zweitens transformiert sich nicht alles auf einmal, sondern es bleiben gegenüber der Ausgangssituation einige Invarianzen bestehen. So betrifft zum Beispiel die kongruente Abbildung nicht die Größe des Objekts, die Ähnlichkeitsbeziehung lässt dessen Form unangetastet, die affine Abbildung hält die Parallelstellung von Ausgangs- und Endzustand des Objekts invariabel, die projektive Abbildung geht davon aus, dass es zumindest noch Geraden und Schnittpunkte innerhalb des Bezugssystems gibt, und die topologische Transformation findet ihre Invarianz in der Verbindung zwischen Elementen. Es gibt nun mehrere Möglichkeiten, wie Lévi-Strauss den Transformationsbegriff gebraucht (Kauppert 2008e). Im Zusammenhang mit den hier angestellten Überlegungen zur Topologie interessiert vor allem die geometrische Interpretation von Transformation, die Lévi-Strauss (1975) im Finale seiner Mythologica unter Bezugnahme auf das Werk des Biomathematikers D’Arcy Wentworth Thompson (2006, S. 377ff.) nahe legt. Veränderungen an Organismen, insbesondere hinsichtlich Wachstum und Form, lassen sich Thompson zufolge als Deformationen verstehen, wie sie in Folge von physischen Kräften entstehen, die auf Körper einwirken. Thompson (2006, S. 387ff.) ist der Ansicht, dass die von ihm entwickelte Methode der „kartesianischen Transformation“ es erlaube, Deformationen an Größe und Gestalt von Organismen zu analysieren. Die von ihm verwendete Koordinatenmethode bewegt sich freilich noch ganz im Rahmen des euklidischen Systems und kann daher keine topologischen Verhältnisse beschreiben. Mehr noch: Sie beschränkt sich von vornherein auf Organismen, die derselben zoologischen Klasse angehören. Mit anderen Worten: Ehe die Koordinatenmethode zum Einsatz kommt, ist über die Verwandtschaft zwischen „Komplexen“ schon qua Klassifikationssystem vorentschieden. Überraschende Übergänge zwischen heterogenen Komplexen aufzu-
VI. 3 Repräsentation der Erfahrung in der Erzählung
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zeigen, wie es das gemeinsame Anliegen von Topologie und strukturaler Analyse ist, ist Thompsons (ebd., S. 384) Sache ausdrücklich nicht: „heterogena comparari non possunt“. Das Kriterium für Invarianz im topologischen Raum – die ungekappte Verbindung zwischen Punkten – bedarf nun seinerseits einer Reinterpretation, um zu zeigen, dass eine Struktur zwar durch – deformierte – Graphen veranschaulicht werden kann, Visualisierbarkeit jedoch nicht zu ihrem Definitionskriterium gehört. Unverzichtbar hingegen sind Operationsregeln, mittels derer es einem Beobachter gelingt, von einem zum anderen Merkmalskomplex einer zu analysierenden Entität (Ereignisse, Zustände, Dinge, Eigenschaften, Handlungen etc.) überzugehen. Die gesuchten Operationsregeln setzen sich einerseits aus geometrischen Operationen zusammen – Symmetrie (-x), Umkehrung (1/x) –, andererseits greift Lévi-Strauss auch auf ein rhetorisches Verfahren zurück (Chiasmus). Über den Status der Homologie hingegen lässt sich streiten. Man kann sie biologisch interpretieren (und das heißt morphologisch: nach Anordnung und Lage der Teile eines Organismus); sie lässt sich aber wiederum geometrisch, als Proportionalanalogie, verstehen (wie es hier getan wird). Entscheidend ist, dass durch diese Operationen jeweils ein unausgedehnter Raum definiert wird, der durch Invarianzen gekennzeichnet ist – der Erfahrungsraum. In Bezug auf die hier verfolgte Absicht, den subjektiven Raum der Erfahrung über die Erfahrungsgeschichte zu erschließen, lassen sich daher drei miteinander verschränkte Thesen ableiten: 1.
2.
3.
Die methodologische Maxime besteht darin, die Erfahrungsgeschichte wie einen Gummiraum zu begreifen: Sie staucht, dehnt und krümmt in der Zeitdimension den Erfahrungsraum in alle möglichen Richtungen, ohne dabei die internen Beziehungen zwischen Elementen zu zerstören. Die methodische Aufgabe besteht darin, aus der zeitlich deformierten Erfahrungsgeschichte eine Struktur abzuleiten, die sich auf die invariante Beziehung von Elementen und Dimensionen der erzählten Geschichte bezieht. Das methodische Vorbild dafür ist die strukturale Analyse. Ihr Paradigma findet sie in der Interpretation von Mythen. Die epistemologische These besteht darin, dass die methodisch gewonnene Struktur der Erfahrungsgeschichte den Anspruch darauf erhebt, den subjektiven Raum der Erfahrung zu repräsentieren. Das Verhältnis von Erfahrungsraum und Erfahrungsgeschichte ist demnach ein topologisches.
Kapitel VII
Empirie „Wer Magie erzeugen will, der muss exakt wie ein Mathematiker und kryptisch wie ein Kabbalist sein.“ Wolfgang Sandner über ein Dirigat von Pierre Boulez, FAZ v. 13. Oktober 2007
Ich wende mich im Folgenden der Untersuchung eines empirischen Falls zu, von dem es zunächst so aussieht, als ob das Material deshalb keine andere als biographietheoretische Analyse zulässt, weil es sich dabei um die Transkription eines narrativen Interviews handelt, das vor dem Hintergrund eines entsprechenden Erkenntnisinteresses in einem empirischen Forschungsprojekt durchgeführt worden ist. Doch die Erhebungstechnik determiniert nicht die Auswertungsstrategie. Vielmehr hängt es von der Frage ab, die man an ein gegebenes Material stellt, welche Art von Ergebnissen man daraus zutage fördern kann – vorausgesetzt, man hat ein theoretisches Bezugssystem, mit dem man diese Ergebnisse interpretieren kann. Positiv formuliert: Ich halte die von Schütze vorgeschlagene Methode, eine autobiographische Stegreiferzählung hervorzulocken auch dann noch für das geeignete Mittel, den subjektiven Raum der Erfahrung zu erschließen, wenn die Interpretation der Erzählung einer anderen Methodologie folgt als sie in der soziologischen Biographieforschung bisher üblich war. Im Weiteren gehe ich in zwei Schritten vor. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels analysiere ich die qua Erfahrung generierten symbolischen Operatoren im Erfahrungsraum eines Ich-Erzählers. Dadurch soll die Art und Reichweite aufgezeigt werden, mit der sich eine Vielzahl seiner Erfahrungspartikel ineinander übersetzen lassen. Im zweiten Abschnitt rekonstruiere ich die erschlossenen Dimensionen des subjektiven Erfahrungsraums, ehe ich eine Hypothese über die Struktur dieses Erfahrungsraums im Ganzen formuliere.
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1. 1.1
VII. Empirie
Symbolische Operatoren Das Haus
Der erste Grundsatz der strukturalen Analyse, demzufolge ein narratives Element seinen symbolischen Wert nur durch ein anderes Element erhält, zu dem es in Gegensatz steht, wird im Rahmen einer Autobiographie „naturwüchsig“ eingelöst. Ein Ich-Erzähler sieht sich gezwungen, den biologischen Ausgangsgegensatz von Mann und Frau in den sozialen Gegensatz von Vater und Mutter zu übersetzen. Auf der narrativen Ebene entwickeln sich deswegen Zugzwänge, die einen Ich-Erzähler dazu nötigen, die Ereignisse so darzustellen, dass sie für einen Zuhörer (oder späteren Leser) als durch einander motiviert erscheinen (Ricœur 1988). Er wird seine Lebensgeschichte erzählen. Auf der symbolischen Ebene jedoch wird ein schier endloses Spiel von Gegensätzen eröffnet. In der der nachstehenden Interview-Sequenz gibt ein Ich-Erzähler, Kurt Ziehe40, darüber Auskunft, wie sich dessen Eltern kennen gelernt haben: 1. [ Zeilen 126-134] „Mein Vater is Flüchtling. (I: hm) Der kommt aus Schlesien. (I: hm) Is in irgendwo verletzt worden, hier in der Hand. Is dann nach N.-Stadt ins Krankenhaus gekommen. (I: hm) Naja und die sind ham sich wohl auch mal die Gegend angeguckt. Und äh da sind se dann in M.Stadt äh mal ner Party oder ne Fete, was da war. Ja, und dann äh ham se dann en Kind gekriegt und denn musste ja nun irgendwohin ne. Dann sind die erstmal in das Bauernhaus meiner Oma und Opa (I: hm) eingezogen. Ham da so ne anderthalb Zimmerwohnung oder was weiß ich gehabt. Und bis das nebenan frei war das Haus. (I: hm) Und da sind wir denn da rüber gezogen. (I: hm) War ooch en kleines Haus, also nix besondres. (I: hm) Also da da wohnte früher mal, nehmen wir mal an, en Knecht oder irgend so was oder wofür se das gebaut ham.“
Diese Passage lässt sich sowohl narrativ, als auch symbolisch verstehen. In der ersten Variante handelt es sich um die Alltagsversion einer narrativen Erklärung: Weil der Vater aus (historisch angebbaren Gründen) seiner Heimat vertrieben wurde, weil er wegen einer Verletzung an der Hand in einem Krankenhaus der Region behandelt werden musste und weil schließlich seine Verletzung einen Ausflug in die weitere Umgebung zuließ (und er wiederum dazu motiviert war), konnte der Vater dessen spätere Ehefrau bei einer Feier überhaupt kennen lernen. Es handelt sich hier um eine Erzählung, die zu verstehen gibt, durch welche interne Verkettung von Umständen und Ereignissen in der Zeit die Bekanntschaft der Eltern zustande kommen konnte. Ziehe erzählt zunächst ganz
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Der Name ist anonymisiert. Das empirische Material entlehne ich dem Teilprojekt C4 „Politische Kultur und Bürgerschaftliches Engagement“ im SFB 580 „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch“ an den Universitäten Jena und Halle.
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aus der Perspektive des Vaters. Dass die Mutter aus der Region stammt, bleibt daher zunächst verborgen. Dieser Umstand wird erst dadurch offenbar, dass ein Kind geboren und demnach die Frage nach einer Bleibe für die Familie virulent wird. Der Ich-Erzähler bedient sich hier einer narrativen Ellipse: Die Erzählung lässt aus, was zwischen der ersten Begegnung seiner Eltern und der Geburt des Kindes geschehen ist. Daher kommt das Kind in der Erzählung unvermittelt vor. Ziehe erzählt nur soviel, wie aus seiner Sicht nötig erscheint, um nicht nur die Anbahnung, sondern auch die Folgen des Kennenlernens zwischen seinen Eltern zu verstehen. Die Mutter kommt also nicht nur deswegen ins Spiel, weil sie es ist, die ein Kind gebiert – Ziehes älteren Bruder –, sondern vor allem, weil die Eltern des Ich-Erzählers auf dem Anwesen der Eltern mütterlicherseits eine Unterkunft finden. Der zitierten Erzählsequenz wohnt eine Kraft der Erklärung inne, durch die ihr Zusammenhang für einen Zuhörer selbst dann noch ersichtlich wird, wenn sich die Erzählrede auf eine minimalistische „Und-dann“ bzw. „Und-undErzählung“ beschränkt. Denn obwohl Ziehe darauf verzichtet, die interne Motivierung und Verkettung der erzählten Ereignisse und Handlungen zu explizieren – etwa durch kausale oder modale Konjunktionen („weil“, „indem“, „dadurch, dass“, „und so kam es“) – ist seine Erzählung doch so gestrickt, dass ein Hörer (bzw. Leser) die Verbindungen zwischen den einzelnen Erzählsequenzen kognitiv selbst herzustellen in der Lage ist. Auch die historischen Voraussetzungen (Schlesien) und die sozialen Implikationen (Bauernhaus) der erzählten Geschichte werden von Ziehe nicht erläutert. Er verlässt sich hier ganz darauf, dass sie von seinem Zuhörer selbstverständlich verstanden werden. Man weiß um die Gründe der Flucht, und man weiß, was es heißt, in einem Bauernhaus zu wohnen: Die Familie der Mutter wird sich zu den länger Ansässigen im Ort zählen lassen können. Die „grammatikalischen“ Zugzwänge des Erzählens nötigen Ziehe dazu, die erzählten Ereignisse in eine Ordnung der expliziten Aufeinanderfolge zu bringen und den Nachvollzug (Kapitel III) ihrer Motiviertheit den kognitiven Leistungen des Zuhörers selbst zu überlassen. Schon dieser Umstand verweist darauf, dass diesseits der narrativen Ebene eine Ordnung in Geltung sein muss, die zum Verstehen der Erzählrede notwendig ist. Ein Hörer versteht die Erzählung auch dann noch als Erklärung, wenn auf den ersten Blick nichts erklärt wird. Und ein Hörer teilt mit dem Erzähler ein Hintergrundwissen, von dem in der Erzählung keine Rede ist. Aber noch auf eine zweite Weise partizipiert die Ordnung der Erzählung an der Ordnung der Erfahrung. Die Erzählung erweist sich als narrative Entfaltung, d.h. Deformation, der Strukturen des Erfahrungsraums. Dessen Ordnung ist keine der Aufeinanderfolge und Motiviertheit, son-
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dern eine von Opposition und Transformation (Kapitel VI). Die Rekonstruktion dieser Ordnung soll nun im Mittelpunkt der folgenden Analysen stehen. Der Vater ist ein aus Schlesien stammender Flüchtling, die Mutter ist auf einem Bauernhof aufgewachsen. Nimmt man einesteils ein minimales historisches Kontextwissen, andernteils Kontextinformationen hinzu (beide heiraten 1952), so lässt sich sagen, dass der Vater ein Vertriebener, die Mutter hingegen eine Sesshafte ist (Hildenbrand et al. 1992). Der Gegensatz von Vater und Mutter wird von Ziehe demnach in einen zweiten Gegensatz übersetzt, bei dem der Verlust der Heimat (des Vaters) dem unverbrüchlichen Besitz (der Mutter) entgegensteht. Die daraus entstehende Homologie Vater : Mutter :: Flüchtling : Sesshafte ist keine narrative Erklärung, sondern eine unwillkürliche Assoziation der Erfahrung. Kurt Ziehe erklärt die Beziehung zwischen seinem Vater und seiner Mutter, indem er deren Verhältnis aus der Dimension der Verwandtschaftsverhältnisse in einen anderen Bereich, denjenigen des sozialen Raumes, transponiert und hierin wiederum einen Gegensatz findet, der ihrer Opposition im Bereich der Verwandtschaft entspricht. Das Verhältnis von Vater und Mutter wird demnach nicht auf einen anderen Gegensatz zurückgeführt, sondern mittels eines anderen Gegensatzes veranschaulicht. In diesem schlichten Beispiel werden demnach bereits die drei wesentlichen Grundsätze einer strukturalen Erklärung angewendet (Kapitel VI). Denn der Wert des von Ziehe benutzten Gegensatzes wird erstens durch seinen Bereich (Verwandtschaft), zweitens durch seine hierin aufeinander bezogenen Elemente (Vater und Mutter) und drittens durch damit wiederum assoziierte Gegensätze (Flüchtling vs. Sesshafte) in einem anderen Bereich (sozialer Raum) definiert. Auch die Funktion der Erzählung kann hier nun materialgesättigt belegt werden. Weil das im Erfahrungsraum des Ich-Erzählers angelegte Erfahrungswissen einer räumlichen Anordnung gehorcht, muss es auf narrativer Ebene, die eine Ordnung der Zeit ist, in die Logik der Aufeinanderfolge und des Durch-einander-Motiviertseins von Ereignissen überführt werden. In der zitierten Erzählpassage wird nun im Bereich der Verwandtschaft noch ein zweiter Gegensatz eingeführt. Ziehes Eltern kommen im „Bauernhaus“ bei den Großeltern mütterlicherseits unter, zunächst in einer sehr engen Einliegerwohnung, dann in einem mutmaßlichen Knechthaus, das ebenfalls klein ist. Ohne es zu sagen, erläutert Ziehe das Verhältnis zwischen seinen Eltern und seinen Großeltern damit als eines zwischen Knecht und Bauern. Diese implizite Assoziation muss keineswegs der tatsächlichen sozialen wie psychologischen Realität in der Vergangenheit entsprechen. In der Tat kann es so gewesen sein, dass es seinerzeit schlichtweg keine andere Alternative gab, als die, dass die
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Eltern der Mutter die junge Familie bei sich auf zunächst sehr beengtem Wohnraum aufnehmen mussten, um dann, als die Verhältnisse im anliegenden Knechthaus es zuließen, eine gewisse, gleichwohl nur sehr bescheidene räumliche Auflockerung der Wohnverhältnisse herbeizuführen. Eltern und Großeltern könnten mithin auch ein sehr herzliches Verhältnis untereinander gepflegt haben; und es muss auch nicht tatsächlich ein Knechthaus gewesen sein, denn Ziehe kann nicht mit Sicherheit sagen, ob darin überhaupt je Knechte (oder Mägde) gewohnt haben. Was freilich hier zählt, ist, dass Ziehe diese Verbindung selbst herstellt. Sie ist ein Datum des Materials und verweist auch dann, wenn sie keiner sozialpsychologischen Realität je entsprochen hat, auf die klassifikatorische Ordnung der Erfahrung bei Ziehe selbst. Auch wenn es also unwahrscheinlich ist, dass dessen Eltern tatsächlich Knechte auf dem Hof seiner Großeltern waren, scheinen es die objektiven Wohn- und Lebensumstände für das Erfahrungsurteil des Ich-Erzählers nahe zu legen, das Verhältnis der Elternund Großelterngeneration am Beispiel des Verhältnisses von Knecht und Bauer zu veranschaulichen. Die Beziehung zwischen Großeltern und Eltern lässt sich für Ziehe offenbar am ehesten als jene enge soziale (Hierarchie) wie räumliche (Unterkunft) Symbiose von Herr und Knecht vorstellen, die in traditionalen Großfamilien vorherrschte. Zur ihr gehörte nicht nur jener Personenkreis, der miteinander durch Abstammung oder Heirat verwandt war, sondern auch das Gesinde, mit dem gemeinsam die Landwirtschaft bestellt wurde. Verglichen mit der ersten Beziehung, bestehen die Elemente des Gegensatzes auf der einen Seite in Paaren (Eltern und Großeltern), andererseits werden sie an einzelnen Termini erläutert (Knecht und Bauer). Somit gilt folgende Homologie: Eltern : Großeltern :: Knecht : Bauer Die Verwandtschaftsbeziehungen werden von Ziehe also einerseits in Termini von Grund und Boden, andererseits nach dem Muster von Herr und Knecht thematisiert. Maßgebend für die internen Beziehungen der Familienmitglieder scheint demnach der Gegensatz von Besitz und Nicht-Besitz zu sein, der im Code von Grund (Haus) und Boden (Landwirtschaft) definiert wird. 2. [ 137-148] Z.: Mein Opa war Maurermeister, (I: hm) bekannter Maurermeister. Und äh der den kenn ich überhaupt nich mehr. Also der ähm hatte dann nebenbei so ne ne kleine Landwirtschaft (I: hm) die Gebäude sind schon ziemlich groß gewesen ne. Aber na gut, damals hat man als Bauer hat man en bisschen größer gebaut. (I: hm) Also ’s war kein großer Bauer, ’s war en Mittelbauer, sag ich mal. (I: hm) ’s gab da größere in M-Dorf. (I: hm hm) Ja. I: Und is das noch irgendwie äh hat das noch irgendwie sich fortgesetzt, dass das ham Sie da noch irgendwie neben, also Ihre Eltern (Z: nein) ham noch nebengewerblich was gemacht?
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Z: Also bei uns bei uns mein Vater war mein Vater war nie handwerklich geschickt. (I: hm) Und meine Mutter hat en Garten früher gehabt. Und äh der Hof selber, der is auch äh, sagen mer mal, durch die Größe, durch die fehlende Größe is der existiert der eigentlich nich mehr. Da sind nur noch die das Gehöft is da, (I: hm) also der Bauernhof. (I: hm) Und die Felder sind alle weg.
Ich lasse an dieser Stelle den Umstand uninterpretiert, dass der Vater mütterlicherseits ein „bekannter Maurermeister“ gewesen ist. Anstelle dessen konzentriere ich mich auf die hier relevante Frage nach der Größe der Landwirtschaft. Denn obwohl „die Gebäude ziemlich groß gewesen“ seien, handelte es sich insgesamt um nur eine „kleine Landwirtschaft“. Schon der Nebenerwerbsstatus von Ziehes Großvater legt den Schluss nahe, dass an das eingangs von ihm erwähnte Bauernhaus kein größerer Umschwung geknüpft ist; vollends deutlich wird der Mangel an Grund und Boden (und damit an bestellbaren Feldern) in der Begründung, die Ziehe für die spätere Aufgabe des landwirtschaftlichen Nebenwerbs angibt: Es habe sich um einen Bauernhof mit „fehlender Größe“ gehandelt. Demnach verhält sich die Größe der Gebäude auf dem großelterlichen Anwesen umgekehrt zu derjenigen der dazugehörigen Felder. Schreitet man nun in die übernächste Generation, also zu Ziehe selbst, so ergibt sich eine auffällige Parallele. Über sich selbst erzählt er: 3. [ 26-31] Äh dann hab ich 1986 geheiratet. Dann hatten wir äh wollten wir uns en Haus kaufen. Und äh ich wohne in M.Dorf, meine Frau kommt aus H.dorf und in G.-Stadt äh hab ich arbeite ich ja. Und genau in der Mitte war dann dieses Dorf B., da hab ich mir en Haus gekauft, ham wir uns en Haus gekauft. Und wir merkten aber schon recht bald, dass wir einfach äh zu groß das Haus, äh nee das Grundstück war zu groß und das Haus war zu klein. (I: hm) Also tausend Quadratmeter zu viel.
Nun ist es also Ziehe selbst, der ein zu kleines Haus bewohnt, dessen Grundstück sich im Verhältnis dazu als zu groß herausstellt. Damit kehrt sich das Verhältnis von Haus und Umschwung im intergenerationalen Verhältnis um (vgl. Übersicht 1):
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Übersicht 1: Inverse Generationsbeziehungen Gebäude
Grundstück
(Groß)Eltern
(zu) groß
zu klein
Ziehe
zu klein
zu groß
Es handelt sich hier um eine Wiederholung von Erfahrung, die noch als Gegensatz zur Ausgangsopposition in der (Groß-)Elterngeneration diese bestätigt, indem sie sie umkehrt. Die Disproportionalität des Verhältnisses von Haus und Umschwung hält sich auch in der neu gegründeten Familie durch. Bemerkenswert ist nun auch die unmittelbar darauf folgende Passage aus dem Interview: 4. [ 32-34] Ich wollte auch nich denn, sag ich mal so, sein Knecht meines eigenen Herrn. Und da hab ich gesagt, dann ziehn wir jetzt hier nach G.-Stadt Und seit 1990 wohnen wir hier G.-Stadt in diesem Reihenhaus. Uns gefällts ganz gut.
Umgangssprachlich ist die Formel „Knecht meines eigenen Herrn“ zwar missraten, dennoch legt sie zwei Schlüsse nahe. Erstens verlangt das Grundstück Ziehe offenbar mehr Hege und Pflege ab, als er beim Kauf des Hauses selbst zunächst hatte antizipieren können. Denn dass er selbst, und nicht seine Frau, die ausschlaggebende Kraft beim Hauskauf gewesen ist, das offenbart die sprachliche Nachbesserung aus der 3. Interview-Sequenz („hab ich mir ein Haus, äh, haben wir uns ein Haus gekauft“). Zweitens sieht Ziehe das unfreiwillige Resultat seiner Fehlentscheidung in der Verknechtung seiner selbst durch sich selbst. Erneut interessieren hier nicht die psychischen Implikationen dieser Auskunft, sondern die interne Beziehung dieser Phrase Ziehes zu jener Charakterisierung aus der 1. Interview-Sequenz. Denn jetzt wird ein weiterer intergenerationaler Kontrast – bei der Identität des Problems – deutlich: Während die Herr-KnechtPositionen in der Beziehung zwischen Eltern und Großeltern noch verteilt waren, vereinigt Ziehe nun in sich selbst beide Seiten dieses Verhältnisses. Und während seine Eltern die klassifikatorischen Knechte seiner Großeltern gewesen sind, so sieht sich Ziehe nun de facto als sein eigener Knecht an. Das Missverhältnis zwischen Gebäude(n) und Grundstück reproduziert sich demnach nicht nur im Code der Generationen, sondern zugleich in der sozial-räumlichen Dimension. Das Generationenverhältnis ist insofern doppelt codiert: Im sozialen Raum ist es das asymmetrische Verhältnis von Herr und Knecht, im physischen
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Raum ist es die asymmetrische Relation von Haus und Grundstück. Und in der Abfolge der Zeit, d.h. zwischen den Generationen, besteht zwischen der gedoppelten Codierung ein inverses Verhältnis. Bemerkenswert ist nun freilich, dass sich die soziale wie physische Disproportionalität auch dann einstellt, wenn Ziehe in geographischer Hinsicht auf Symmetrie bedacht ist: Der neue Wohnort der Familie habe „genau in der Mitte“ (vgl. 3. Interview-Sequenz) gelegen. Aber in der Mitte wovon? Sieht man sich die geographische Lage der von Ziehe genannten Orte auf einer Landkarte an, so stellt man zwar eine auffällige geometrische Beziehung fest (vgl. Abb. 7), aber es ist keine, durch die die von Ziehe selbst nahe gelegte Hypothese, der neue Wohnort der Familie (B.-Dorf, ca. 1.000 Einwohner) sei eine räumliche Mitte, gerechtfertigt werden könnte. Vielmehr beschreibt dieser Ort nur einen Eckpunkt eines gleichschenkligen Dreiecks, dessen Basis einerseits durch B.Dorf, andererseits durch den alten Heimatort von Ziehes Frau (H.-Dorf, seit 1963 eingemeindet in G.-Stadt, ca. 130.000 Einwohner) gebildet wird. Die Spitze dieses Dreiecks wiederum stellt der Herkunftsort von Ziehe (M.-Stadt, ca. 5.000 Einwohner) dar, wohingegen dessen Arbeitsort – G.-Stadt – zwischen seinem neuen Wohnort und dem alten Heimatort seiner Frau liegt. Wenn aber B.-Dorf damit in keiner Weise eine Mitte im Sinne eines Zentrums sein kann, dann stellt sich die Frage nach einer alternativen Deutung dieser Rede, jedenfalls dann, wenn man sie nicht als bloßes Versehen abtun, sondern – wie es zu den Grundsätzen der strukturalen Analyse gehört – als streng (wenn auch unbewusst) motiviert auffassen will. Eine Lösung ergibt sich, wenn man die Blickrichtung ändert, also nicht in der Nord-Süd-Ausrichtung sieht – die zugleich jene der Hypotenuse ist – sondern das Dreieck (um 114 Grad) dreht und in südwestlicher Richtung sieht. In dieser Perspektive bildet B.-Dorf nicht nur die Spitze des Dreiecks, sondern zugleich dessen Höhe. Wenn man von dort aus das Lot senkrecht fällt, trifft es auf die von H.-Dorf und M.-Stadt definierte Kathete und schneidet diese in zwei Hälften. Diese Mitte ist keine exakte, sondern eine optische Mitte. Man kann zu diesem Schluss kommen, wenn man nicht in der Einstellung eines Geometers, sondern aus der „Pi mal Daumen“-Perspektive des Alltags hinsieht. Lässt man die Alltagsgeometrie demnach als Interpretation zu, dann erklärt sich zumindest der geographische Sinn von Ziehes Rede. Denn andernfalls bliebe es offen, wodurch Ziehe motiviert wird, im Zusammenhang mit dem neuen Wohnort der Familie überhaupt von einer Mitte zu sprechen. In der geometrischen Interpretation der Geographie wird zumindest deutlich, inwiefern dieser Ort eine Mitte sein kann: B.-Dorf definiert die Hälfte zwischen den beiden Herkunftsorten von Ziehe und dessen Frau.
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Abbildung 7:
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Die geometrische Ermittlung der geographischen Mitte
Andererseits bleibt diese Mitte nur eine ungefähre Mitte. Wie kommt Ziehe also dazu, so urteilssicher über die „genaue Mitte“ des neuen Wohnortes zu sprechen? Da die geometrische Interpretation seiner Rede nur eine optische, nicht aber eine exakte Mitte verständlich machen kann, liegt der Schluss nahe, dass Ziehe in dem Zitat seine alltägliche Urteilskraft schlichtweg überschätzt hat. Wenn er demnach „genau“ sagt, heißt das eigentlich: „ungefähr genau“. Ein solcher Schluss ist jedoch ein interpretatorischer Offenbarungseid. Er bedient sich des Musters „Das bedeutet in Wirklichkeit nur dies“ (Wittgenstein 1968, S. 41). Wenn man nicht auf dieses Hilfskonstrukt zurückgreifen will, bleibt also nach wie vor die Frage virulent, warum Ziehe den Wohnort seiner eigenen Familie als genaue Mitte bezeichnet. Um eine Antwort darauf zu erhalten, muss man aus dem geographischen Raum in den sozialen Raum zurückkehren, nun allerdings nicht zur Herkunftsfamilie Ziehes, sondern zu derjenigen seiner Frau. Hier zeigt sich ein signifikanter Kontrast zu den Eltern und Großeltern von Ziehe: 5. [ 349-350] Und die hatten auch en ganz großen Landwirt- die ham heut noch ne große Landwirtschaft.
Die Eltern seiner Frau haben das, was den eigenen Eltern in ausreichender Größe gefehlt hat: Grund und Boden. Wenn es zutrifft, dass sich die Größe der betriebenen Landwirtschaft nach der Hektarzahl der bestellten Felder und der Anzahl der gehaltenen Tiere bemisst, dann handelt es sich bei den Eltern der
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VII. Empirie
Frau um Großbauern – jedenfalls im Vergleich zum Status, den Ziehe seinem Großvater väterlicherseits zuerkennt (2. Interview-Sequenz). Und wenn es weiterhin richtig ist, dass bereits ein „Mittelbauer“ ein vergleichsweise großes Bauernhaus bewohnen konnte, dann muss das erst recht für einen Großbauern zutreffen. Aus diesen Überlegungen lässt sich der Schluss ziehen, dass Ziehe eine Frau heiratet, die als Tochter eines Großbauern in einem ausgewogenen Verhältnis von Gehöft und Umschwung aufgewachsen ist, während er selbst aus einer mittlerweile aufgegebenen Nebenerwerbslandwirtschaft entstammt, welcher insbesondere die Disproportionalität von Bauernhaus und zugehörigem Grund und Boden zusetzte. Die „genaue Mitte“, von der Ziehe redet, lässt sich nun als die im geographischen Code formulierte Vermittlung des sozialräumlichen Gegensatzes zwischen der Familie seiner Frau und seiner eigenen verstehen. Die Heirat von Ziehe stellt eine Verbindung her zwischen funktionierender Großlandwirtschaft und eingestellter Nebenerwerbslandwirtschaft, zwischen einem ausgewogenen und einem unausgewogenen Verhältnis von Haus und Boden, und zwischen einem klassifikatorischen Knecht auf der einen und einem tatsächlichen Herrn auf der anderen Seite. Eine solche Allianz von Gegensätzen, wie sie durch die Heirat zustande kommt, bedarf einer Austarierung. Und diese Mitte ist der neue Wohnort der Familie in B.-Dorf. Er ist deswegen die „genaue Mitte“, weil er optisch dazu hinreicht, um die imaginäre Mitte zwischen beiden Herkunftsfamilien darstellen zu können. Die imaginäre Mitte verspricht, dass in ihr die Gegensätze zwischen Ziehe und seiner Frau einander angenähert werden können (vgl. Lévi-Strauss 1992, S. 187f.). Doch das misslingt. Die Familie zieht in ein Reihenhaus nach G.-Stadt. Hier wird das rein räumliche Verhältnis von Wohnhaus und Umschwung ins rechte Verhältnis zueinander gerückt. Durch diese neu erlangte Proportionalität im sozialen Raum wird einerseits die patrilaterale Disproportionalität von Haus und Grundstück negiert, andererseits wird die Harmonie des matrilateralen Besitzes an Grund und Boden reproduziert – allerdings im kleinen Stil und ohne jeden Anflug des Bäuerlichen. 6. [ 21-26] Bin nämlich jetzt (is man ja ?) Stadtinspektor und jetzt bin ich Stadtamtmann und bin dort im bei der Stadt G. im Personal- und Organisationsamt zuständig für die Angestellten. (I: hm) Also nich äh nich so die Bezüge eingeben, sondern einfach, wenn’s so Probleme gibt, sag ich mal. (I: hm) Einstellung oder welche Vergütungsgruppe oder wenn einer mal Mist gebaut hat oder Abmahnung oder Kündigung und so was, (I: hm) das äh muss ich da bearbeiten.
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7. [ 34-39] Meine Frau is berufstätig, halbtags an der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie. Das sagt Ihnen das was? Also so ne Fortbildung für I: Also von der Idee her schon. Ich kenn’s natürlich jetzt nich hier für G.-Stadt speziell. Z: Fortbildung für Erwachsene. (I: hm) Und die arbeitet da also praktisch auch im Rathaus. Wir fahren morgens zusammen rein mit’m Auto. Und ich komm dann abends meistens zu Fuß nach Hause.
Während das Reihenhaus der soziale Ort der Familie ist, durch dessen spezifische Konfiguration von Wohnraum und Grundstück die ungleichen materiellen Herkunftsbedingungen der Ehepartner nivelliert werden, ist das Rathaus der von Ziehe und seiner Frau gemeinsam geteilte Ort des Berufs, dessen operatorische Funktion in der Umkehrung der klassifikatorischen Ungleichheit zwischen den Geschlechtern besteht. Die Unterscheidung zwischen patrilinearer und matrilinearer Seite – aufgegebene Nebenerwerbslandwirtschaft und Knechtsstatus einerseits (Ziehe), funktionierende Großlandwirtschaft und soziales Großbauerntum andererseits (Ehefrau) – wird durch das Rathaus nicht einfach eingeschmolzen, sondern ins Gegenteil verkehrt. Wie seine Frau arbeitet Ziehe in der Verwaltung, aber anders als sie (Teilzeit), tut er dies ganztags (entspricht der im Beruf vollzogenen Umkehrung der Nebenerwerbslandwirtschaft); und ebenfalls anders als sie – über deren Beruf man nichts genaues erfährt – verkörpert Ziehe die Disziplinargewalt über das Personal (die Umkehrung des Großbauern). Ist das Rathaus der symbolische Operator, der das Geschlechterverhältnis von Ziehe und seiner Frau umkehrt, produziert es in der hierarchischen Dimension zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten für Ziehe ein Problem. Denn einerseits gilt: 8. [ 54-59] Und bei den Bezügerechnern, die sind äh also so unzufrieden, sag ich einfach mal. Weil die sehen, die können ja bei uns praktisch ins Gehalt reingucken, was wir verdienen. (I: hm) Und wenn die ihrs vergleichen, dann sehn se natürlich, das sind (I: hm) Tausende weniger oder (I: hm) Und denn sagen se denn äh gibt’s denn so auch so: das soll unser Vorbild sein, der hängt doch sowieso nur rum. Und dafür kriegt er soviel Geld.
Andererseits aber trifft das Umgekehrte auch für Ziehe selbst zu: 9. [61-66] Und ähm obwohl dieses auch diese ganzen neuen Reformen, die’s da gibt und hätten mal vor fünf oder sechs Jahren en frischer Wind in neuen Rathaus, so hieß das. Ham sich alle, gut also ich hab mich daran beteiligt. Und äh nach drei, vier Jahren is es auch praktisch eingeschlafen und war is nichts bei rausgekommen ne. Äh da ham wir tüchtig, die andern auch jetzt, die Abteilungsleiter, wir ham uns da mal wirklich sehr toll angestrengt. Und äh was is dabei rausgekommen? Null.
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VII. Empirie
Während also die Mitarbeiter von Ziehe glauben, er bekäme für seine geringe Leistung zuviel an materieller Anerkennung, verhält es sich in Bezug auf dessen Vorgesetzte genau andersherum. Hier glaubt Ziehe, dass seine herausragenden Leistungen ohne effektive Wirkung auf die internen Organisationsprozesse der Verwaltung geblieben seien. In Bezug auf die berufliche Anerkennung ist das Rathaus also das, was das Wohnhaus in Bezug auf die familiäre Lokalität ist. Beide Male kommt es zu Disproportionalitäten. Auch hier wiederholt sich die Erfahrung von Ziehe, nun jedoch, indem sie in einem anderen Register vollzogen wird. Der Umzug nach G.-Stadt ist demnach durch drei Transformationen gekennzeichnet: 1. 2. 3.
Das Reihenhaus führt zur Annullierung des Haus-Umschwung-Problems (Familie). Das Rathaus kehrt die Beziehung von Ziehe und dessen Frau um (Geschlecht). Das Rathaus reproduziert die Struktur zu den früheren Wohnhäusern (Beruf).
Nachstehend (vgl. Abb. 8) sind die erste und die dritte Transformation illustriert:
Abbildung 8:
Inverse Beziehungen des sozialen Raums im geographischen Schema B.-Dorf
zu wenig Leistung
zu viel an Anerkennung
zu kleines Haus
zu großes Grundstück
Rathaus
G.-Stadt zu wenig an Anerkennung zu viel an Leistung
zu kleines Grundstück
zu großes Haus
M.-Stadt
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Ich fasse zusammen: Der Wert des narrativen Elements „Vater“ wurde von Ziehe zunächst durch seinen Gegensatz zur „Mutter“ bestimmt, indem diese Beziehung im Verwandtschaftscode thematisiert wurde (Heirat). Die Großeltern mütterlicherseits kommen durch die Geburt des älteren Bruders von Ziehe ins Spiel, wodurch das Set der Verwandtschaftsbeziehungen erweitert, andererseits aber von Ziehe in die Dimension des sozialen Raums versetzt wird: Zum einen in Termini und als Gegensatz von Wohnhaus und Umschwung, zum anderen als Ausdruck und Beziehung von Herr und Knecht. Diese beiden Gegensätze innerhalb des sozialen Raums werden in dem Moment in einen dritten Code überführt, die Geographie, als Ziehe mit seiner eigenen Heirat einen neuen Gegensatz einführt, denjenigen zwischen sich selbst und seiner Frau. Im geographischen Code wird in der Folge eine Vermittlung der schon in der Eltern- bzw. Großelterngeneration geknüpften sozialräumlichen Gegensätze angestrebt. Als das scheitert, werden – wieder im geographischen Bereich (Umzug) – die sozialräumlichen Gegensätze transformiert: Erstens werden der Gegensatz von Haus und Umschwung durch das neue Wohnhaus der Familie, ein Reihenhaus, einander angenähert. Zweitens kehrt sich aber durch einen zweiten Ort, das Rathaus, das symbolische Verhältnis von Herr und Knecht zwischen Ziehe und seiner Frau um. Drittens ist es das Rathaus als Arbeitsort Ziehes, in dem sich für ihn ein soziales Problem stellt, das in einem anderen Code – dem des Berufs – die chiastische Beziehung von Wohnhaus und Grundstück in den Termini der sozialen Anerkennung erneut stellt. Mit anderen Worten: Stellt sich im Übergang von M.-Stadt zu B.-Dorf das Wohnproblem (in umgekehrter Weise) erneut, verschwindet dieses Problem zwar in G.-Stadt, an dessen Stelle jedoch tritt ein Problem im Beruf auf. Während in den ersten zwei Stationen im geographischen Code ein Problem mit der Sesshaftigkeit artikuliert wird, transformiert sich dieses Problem in der dritten Station in ein Problem sozialer Anerkennung. Der Beruf und die durch ihn vermittelbare soziale Anerkennung ist nun auch der Bereich, durch den ein weiterer Gegensatz definiert wird. Denn während Ziehes Vater bisher im Verwandtschaftscode (in Beziehung zu dessen Ehefrau und deren Familie) thematisiert wurde, erhält er nun seinen Wert in Opposition zum Ich-Erzähler selbst. 10. [86-87] Mein Vater war Postfacharbeiter. (I: hm) Also das is äh so BAT neun, also das war wirklich sehr sehr wenig Geld.
So wie die Mitarbeiter von Ziehe glauben, dieser verdiene zu viel Geld, ist Ziehe der Ansicht, dass sein Vater zu wenig Geld verdient habe. Auch hier handelt es sich um eine Korrelations- und Oppositionsbeziehung, durch die sich eine
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VII. Empirie
Iteration von Erfahrung zeigt: Sie bestätigt sich, indem sie sich in ihr Gegenteil verkehrt. Es bleibt dabei offen, ob sich diese Disproportionalität an dessen sozial zugerechneter Arbeitsleistung bemisst (wie bei Ziehe); ob das Einkommen des Vaters deswegen als zu gering erscheint, weil es sich an den Ansprüchen der von ihm zu versorgenden Familie messen lassen muss(te); oder ob diese Einschätzung das vergleichende Urteil eines Experten in Besoldungsfragen ist. Über das Geld lässt sich die berufliche Problemlage, der sich Ziehe selbst ausgesetzt sieht, in die Dimension eines bekannten Problems seiner Herkunftsfamilie rückübersetzen. 11. [97-103] Und äh Beruf mein Berufswunsch, also war eigentlich äh ich wollte zur äh Bank gehen, war eigentlich auch schon alles klar und hatte auch schon ne Einstellungszusage. Und äh dann war aber so, mein Vater war äh Ratsherr (I: hm) im Dorf M. (I: hm) Und da ham se nun zum ersten Mal seit zehn oder fünfzehn Jahren wieder en Auszubildenden eingestellt. Und mein Vater hat sich das wohl in die Augen gesetzt oder ins Gehirn gesetzt, dass ich das nun werden sollte. Na ja, und dann hab ich mich da auch beworben.
Über den Vater werden von Ziehe zwei Seiten miteinander in Verbindung gebracht. Zum einen erzählt Ziehe von einer intendierten Umkehrung des VaterSohn-Verhältnisses: Die zum Greifen nahe Banklehre hätte ihn qua Beruf in den Umgang mit Geld gebracht, das sein Vater als Einkommen nicht hatte. Anstelle nur „sehr wenig Geld“ zu verdienen, hätte Ziehe zumindest sehr viel Geld verwaltet. Doch diese imaginierte Umkehrung stellt sich nicht ein: 12. [103-105] Und na ja dann er war damals also auch in der SPD, und die hatte die Mehrheit da. Und da konnten und der war auch äh stellvertretender Bürgermeister.
Es ist nun wiederum das Rathaus, das es erlaubt, zwischen dem zunächst nur in der Verwandtschaftsdimension thematisierbaren Gegensatz von Vater und Sohn eine Reihe von Entsprechungen herzustellen (vgl. Übersicht 2): So wird er implizit auch als ein Gegensatz von Orten im Code der Geographie formuliert. Ebenso übersetzt das Rathaus den Gegensatz von Vater und Sohn in denjenigen von Politik und Verwaltung (im Code gesellschaftlicher Wertsphären). Desweiteren ist das Rathaus insofern ein symbolischer Operator, als die Beziehung zwischen Vater und Sohn als Opposition von Ehrenamt und Beruf thematisiert wird. Schließlich ist das Rathaus auch der Ort, wo der eine kein Geld bekommt (Vater), der andere aber sein Geld verdient (Sohn).
VII. 1 Symbolische Operatoren
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Übersicht 2: Interpretationen der Relation von Vater und Sohn Interpretandum Vater : Sohn
Interpretans
Code
::
M.-Stadt : G.-Stadt
Geographie
::
Politik : Verwaltung
Gesellschaft
::
Ehrenamt : Beruf
Rolle
::
Nicht-Geld : Geld
Ökonomie
Zwei Dinge sind hier bemerkenswert. Erstens sorgt das Rathaus für die Konvertibilität der Codes (Bourdieu 1983) und für die damit verbundene wechselseitige Interpretierbarkeit des Ausgangsgegensatzes zwischen Vater und Sohn. Ohne das Rathaus ließe sich zwar noch die geographische Interpretation des Verwandtschaftsverhältnisses aufrechterhalten, nicht aber deren Äquivalenz in allen anderen Dimensionen. Denn der Vater arbeitet nicht in der Politik, sondern als Briefträger. Er hat demnach einen Beruf und verdient (wenn auch wenig) damit sein Geld. Zweitens ermöglicht das Rathaus es nicht nur, das Vater-SohnVerhältnis in einer Reihe miteinander äquivalenter Varianten zu interpretieren, sondern umgekehrt, über das Rathaus rückt auch die Verwandtschaftsbeziehung von Ziehe zu seinem Vater erst in den Blick. In dem Maße nämlich, in dem es bei Ziehe einerseits um strittige Geldfragen (gegenüber den Mitarbeitern) geht, andererseits aber um Vorenthaltung der Anerkennung seiner extraverdienstvollen Leistungen (gegenüber Vorgesetzten) lassen sich diese Relationen auch entlang der Beziehung zum eigenen Vater veranschaulichen. Die Beziehung zu seinen Mitarbeiten lässt sich demnach auf Geldfragen reduzieren, und die zu seinen Vorgesetzten auf ein nicht honoriertes Ehrenamt – und das ist es, was die Assoziation mit dem Vater nahe legt. Freilich gibt es noch eine direktere Verknüpfung: 13. [435-442] Da is im Rathaus is auch die CDU-Geschäftsstelle und die SPD-Geschäftsstelle, FDP und sind ja alle da drinne. Und da (räuspert sich) hat die CDU auch äh stellt man ja manchmal so Leute ein für irgendwas. Ich weiß jetzt nich was. Äh und denn wird immer denn ham die nun keine Ahnung, wie man das nun richtig ausrechnet nach BAT, was für Steuern, was für Sozialversicherung. Und dann kommt diese Frau Müller, die is die Assistentin da von der CDU, und sagt, Herr Ziehe, können Sie mal ausrechnen. Sag ich, na geben Sie her. Und dann rechnen wir’s schnell aus. Und denn irgendwann kam se mal an und sagte, hier, wir suchen Schöffen, wollen Sie sich denn nich auch mal eintragen? Da sag ich, (räuspert sich) ach ja, das is ja ganz interessant. Das mach ich mal.
260
VII. Empirie
Während der Vater stellvertretender SPD-Bürgermeister in M.-Stadt war, wird der Sohn in G.-Stadt von der CDU zum Schöffen nominiert. Ist der Vater kraft politischem Ehrenamt gelegentlich im Rathaus tätig, ist es der politische Gegner, durch den Ziehe sich von seinem Arbeitsplatz im Rathaus zu gelegentlichen Gerichtsverhandlungen absentieren kann. Erneut ist also das Rathaus Ziel- und Ausgangsort, diesmal für ein Ehrenamt. Vater : Sohn :: SPD : CDU Vater : Sohn :: Bürgermeister : Schöffe Die Einsicht in die Funktion der Übersetzung zwischen verschiedenen Erfahrungsdimensionen (Codes), die am Beispiel des Rathauses gewonnen wurde, kann in einem weiteren Schritt generalisiert werden (vgl. Abb. 9). Denn bezieht man nicht nur das Rathaus, sondern auch das Wohnhaus (und darüber die Wohnverhältnisse) mit ein, so erweist sich das „Haus“ nicht nur als Ort und Funktion der Übersetzung des spezifischen Verhältnisses von Vater und Sohn, sondern als ein symbolischer Operator, durch den Ziehe weite Bereiche seines Erfahrungsraumes instantan miteinander verknüpfen kann.
VII. 1 Symbolische Operatoren
Abbildung 9:
261
Übersetzungsdimensionen des symbolischen Operators Haus
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Es handelt sich hierbei um eine praktische Lösung eines Problems, dessen theoretische Version die Frage nach der übergreifenden Einheit des Erfahrungsraumes in allen seinen einzelnen Erfahrungssedimenten betrifft (vgl. Kapitel V und VI). Das „Haus“ ist hier nicht nur das variantenreiche Objekt verschiedener Bezeichnungen, sondern vor allem ein Instrument des In-Beziehung-Setzens. Denn das Haus organisiert den Erfahrungsraum von Ziehe, indem es als symbolischer Operator zwischen verschiedenen Erfahrungsdimensionen funktioniert, die hier – das Weitere bereits vorwegnehmend (vgl. Abb. 11) – bereits angedeutet sind. Eine solche Funktion könnte das Haus nicht einnehmen, wäre sein Auftauchen und sein Gebrauch nur den internen grammatikalischen Zwängen der Erzählrede oder den äußeren Anforderungen einer sozialen Situation geschuldet. Vielmehr muss angenommen werden, dass das Haus ein Kristallisationspunkt der Erfahrung selbst ist, der sich eben deshalb für Ziehe auch als Operator auf der (semantischen) Ebene der erzählten Geschichte anbietet. Zieht man nun die bislang noch uninterpretiert gelassene Äußerung Ziehes aus der zweiten Interview-Sequenz heran, derzufolge dessen Großvater ein „bekannter Maurermeister“ gewesen sei, so wird deutlich, dass Ziehes Vater
262
VII. Empirie
selbst zu den bekannten Persönlichkeiten in M.-Stadt zu zählen war. Gleichwohl ist es „bezeichnend“, dass der Großvater über seinen Beruf als Maurer im Ort bekannt gewesen sein soll, während der Vater über das politische Ehrenamt Reputation erwirtschaftet haben soll. Damit ist ein weiterer Gegensatz verknüpft, den es nun zu untersuchen gilt.
1.2
Die Hand
Der eingangs erwähnte Gegensatz von Vater und Mutter lässt sich nicht nur in Termini des sozialen Raums interpretieren. Denn die Begegnung der Eltern wird durch einen unscheinbaren Aspekt motiviert, der im Verlaufe der Erzählung von Ziehe mehrfach aufgegriffen und variiert wird. Vergegenwärtigt man sich anhand der Art der Verletzung des Vaters die spezifische Ausgangsbedingung dafür, dass Ziehes Eltern sich kennen lernen konnten 14.[Z. 126-127] Is in irgendwo verletzt worden, hier in der Hand
und hält sich zugleich vor Augen, wie der Ich-Erzähler seinen Vater charakterisiert 15. [Z. 145] Also bei uns bei uns mein Vater war mein Vater war nie handwerklich geschickt.
dann wird die anfängliche Unmotiviertheit der Verletzung zu einer impliziten Hypothese darüber, dass die negative Konnotation der Hand des Vaters ein für Ziehe erfahrungsgesättigtes Symbol darstellt. Dem methodischen Grundsatz zufolge, dass sich der Wert eines Erfahrungsdatums nur durch ein anderes Element, sowie den Bereich seiner Artikulation und darüber assoziierte Gegensätze definiert, stellt sich nun zunächst die Frage nach den Korrelations- und Oppositionsbeziehungen des handwerklichen Unvermögens des Vaters. Im Interview stellt Ziehe auf syntagmatischer Ebene eine Beziehung folgender Art her: 16. [145-146] Und meine Mutter hat en Garten früher gehabt.
Ziehe assoziiert also die Mutter – im Unterschied zum Vater – mit der Handarbeit. Und genau an dieser Stelle kommt nun die schon in der zweiten InterviewSequenz erwähnte Beschreibung des Großvaters mütterlicherseits ins Spiel.
VII. 1 Symbolische Operatoren
263
Denn nicht als Privatier ist dieser ein bekannter Mensch in M.-Stadt gewesen, sondern als Maurermeister. Setzt man einmal voraus, dass es sich bei dieser Reputation um eine positive handelt, dann wird der Muttervater über ein hinreichendes handwerkliches Geschick verfügt haben, zumal ihm dies auch in seiner Nebentätigkeit als Landwirt von Vorteil gewesen sein dürfte. Das Verhältnis von Ziehes Vater zu dessen Mutter ist demnach nicht nur von Ortlosigkeit und Heimatbezug gekennzeichnet, von unbekannter Herkunft und bekannter Familie, sondern auch durch die tatsächliche wie klassifikatorisch ungleiche Verteilung handwerklicher Kompetenzen. Demnach gilt: Vater : Mutter :: Ungeschickt : Geschickt Das Verhältnis von Vater und Mutter wird von Ziehe daher nicht nur im sozialen Raum, in Bezug auf die Relation von Herr und Knecht, Wohnhaus und Grundstück und aller daran anschließender Transformationen von Erfahrungen veranschaulicht, sondern ebenso sehr mit dem Bereich personaler Kompetenzen verknüpft – samt dessen Implikationen: 17. [163-166] Tja, mein Vater hart aber herzlich. (I lacht kurz) Der war also manchmal sehr jähzornig, konnt sehr jähzornig werden. Kann mir verschiedene Sachen dran denken, aber andrerseits, sag ich immer heute, er is schon tot. Äh heute hab ich noch, sag ich immer, ihn in guter Erinnerung. (I: hm) Also da is jetzt äh nichts mehr hängen geblieben oder so was. Aber er konnte manchmal schon.
Ziehe evoziert hier Vorstellungen über das potentielle Verhaltensrepertoire eines Cholerikers. Noch in absentia ist hier die Hand präsent als eine, die dem Vater das ein oder andere Mal „ausgerutscht ist“ – gleichviel, ob sie nun ihn persönlich getroffen haben mag, oder nicht. Denn wie anders könnte die Absolution motiviert sein, die Ziehe seinem Vater rückwirkend erteilt? In jedem Fall ist „Jähzorn“ die Bezeichnung eines Menschen, der sich schlagartig nicht mehr unter Kontrolle hat und demzufolge für sich selbst und andere unberechenbar wird. Welche Art von Ausdrucksmittel in den unvermittelten Zornesausbrüchen auch gewählt wird, stets desavouiert es die Souveränität und Selbstbeherrschung desjenigen, der entgleist. Ganz anders schildert Ziehe seine Mutter: 18. [168-174] Meine Mutter, die is war eigentlich immer die bestimmende Person, wenn’s um den Haushalt ging und um das Geld, um die Geldfragen auch und äh wie’s weitergeht. Und nich dass mein Vater das nich konnte oder auch nich gemacht hat, aber so im Endeffekt wurde mehr auf meine Mutter gehört. Also also dann mein Vater hat zwar auch gesagt, mein Vater hat gesagt, nee, mach ich nich. Und dann konnte sie zwar auch nichts mehr sagen. (I: hm) Aber irgendwann
264
VII. Empirie
hat sie’s denn doch mal hingekriegt oder (I: hm) oder hat’s auch nich hingekriegt. Also das kann man (I: hm) muss man auch so sehn. Aber meistens war so meine Mutter so.
Die Mutter belässt es dem Vater gegenüber (und vermutlich auch nach außen) bei dem Anschein paternalistischer Autorität und handelt im Hintergrund. Im Vergleich zum cholerischen Vater wird sie von Ziehe als besonnen geschildert. Sie hat das, was dem Vater fehlt: eine praktische Klugheit. Ziehes Vater ist demnach nicht nur im wörtlichen, sondern auch im übertragenen Sinn des Wortes ungeschickt. Er hat sich selbst nicht im Griff und bemerkt offenkundig auch nicht, dass die Mutter die graue Eminenz der Familie ist. Dadurch jedoch, dass Ziehes Vater Ratsherr und stellvertretender Bürgermeister in M.-Stadt ist, wird der interne Gegensatz in dessen Heiratsfamilie in einen externen Gegensatz zwischen Verwandtschaft und öffentlichem Raum transponiert. Ziehes Vater ist hier Repräsentant der Stadt und einer Partei und besitzt auf diese Weise eine Autorität, die er in der Familie qua Herkunft (mangels Grundbesitzes), qua handwerklichem Ungeschick und cholerischem Aufbrausen nur dem äußeren Anschein nach hat. Zu Ansehen kommt er in M.-Stadt nicht durch den Beruf, wie sein Schwiegervater, und schon gar nicht als Briefträger, sondern nur durch das Rathaus. Und in diesem sitzt er nicht qua handwerklichem Geschick und cholerischem Auftreten, sondern wegen eines Wählermandats und durch Nominierung einer Partei. Das setzt einerseits ein Mindestmaß an Organsiationsbereitschaft voraus, vor allem aber ein Können, das von ganz anderer Natur ist, als dasjenige, das von seinem Schwiegervater und seiner Ehefrau verkörpert wird: öffentliche Rhetorik. Ex negativo definiert also die Hand mit der Sprache ihren Gegensatz. Vater : Mutter :: Sprache : Hand Vater : Mutter :: Öffentlicher Raum : Haushalt Interessant ist nun, wie sich diese Kompetenzen in der nächsten Generation zwischen Ziehe und seiner Ehefrau verteilen. 19. [369-371] Und ansonsten können wir uns hier nich so äh äh – na klar, man sagt, Guten Tag und äh wie geht’s und ham Sie das schon gehört und da was machen Sie denn da. Und äh man tauscht sich schon aus. Und meine Frau wesentlich mehr noch. 20. [371-374] Also da muss ich auch sagen, so’n bisschen, sag ich mal so, so’n bisschen mundfaul bin ich auch, sag ich mal. Also ich geh nich gleich so auf jemanden zu und beschnacke den also wie so’n, (I: hm) äh wie einer, der mehr aus sich herausgehen könnte
VII. 1 Symbolische Operatoren
265
Ziehe bezeichnet sich selbst als mundfaul, wohingegen seine Frau den kommunikativen Part übernimmt. In Bezug auf den eigenen Vater dreht sich also erneut das Verhältnis um. Als jemand, der in der Personalabteilung des Rathauses arbeitet und in diesem nicht – wie noch der Vater – als politischer Vertreter sitzt, zumal als stellvertretender Bürgermeister, ist Ziehe zwar auch auf die Sprache und rhetorische Mittel angewiesen, aber diese stehen nicht im Dienste offizieller Ansprachen, von Mehrheitsentscheidungen und Parteiverlautbarungen, sondern fügen sich in neuralgische Einzelfallbearbeitungen, die auf Diskretion und Takt angewiesen sind: 21. [21-26] Bin nämlich jetzt (is man ja ?) Stadtinspektor und jetzt bin ich Stadtamtmann und bin dort im bei der Stadt G. im Personal- und Organisationsamt zuständig für die Angestellten. (I: hm) Also nich äh nich so die Bezüge eingeben, sondern einfach, wenn’s so Probleme gibt, sag ich mal. (I: hm) Einstellung oder welche Vergütungsgruppe oder wenn einer mal Mist gebaut hat oder Abmahnung oder Kündigung und so was, (I: hm) das äh muss ich da bearbeiten.
Auch das öffentliche Ehrenamt, das Ziehe gewählt hat, ist eines, das weitgehend stillschweigende Teilnahme (an Gerichtsverhandlungen) und Hinterzimmergespräche (zur Urteilsfindung) befördert: 22. [543-549] I: Was tun Sie denn jetzt genau jetzt in beispielsweise in der Verhandlungssituation? Z: In der Verhandlungssituation dabei. Ich stell da keine Fragen. (I: hm) Weil das is mir eigentlich geläufig, was da äh was da gesagt wird. Und ich brauche da keine Nachfragen zu. I: Hm. Also ’s gibt nicht so Momente, wo Sie irgendwie wo Ihnen was unklar wird oder wo Sie dann vielleicht auch – Z: Nee, da wird, also wenn was unklar is, dann sagt er Moment mal, sagt der Richter. Das müssen mer mal noch mal genau aufdröseln. (I: hm) Ja, und da is nix für mich. (I: hm) [..]
Während Ziehe in dieser Hinsicht einen Gegensatz zum Vater darstellt, zeigt sich in anderer Hinsicht wiederum eine Parallele zwischen beiden: 23. [66-72] Also lassen wir jetzt einfach auch mal die Zügel fallen. (I: hm) Und das wird natürlich bei den Mitarbeitern bemerkt. (I: hm) Und denn gibt’s natürlich die Probleme. Machen das als versuchen das mit Mitarbeitergesprächen durchzuführen. Aber es, sag ich einfach mal so, das Problem im öffentlichen Dienst is ja der unmittelbare Zwang, also dass man das durchsetzen kann. Entweder das machste jetzt oder besserst dich oder gehst nach Hause. Das gibt’s ja bei uns nun nich ja. (I: hm) Und äh vor Hintergrund wird das auch gar anerkannt und nich eingesehn. Und ja so müssen wir eben versuchen, die Sache weiter über weiterzuschaukeln ne. (I: hm, ja)
Wie der Vater dem Anschein nach zuhause das Sagen hat, tatsächlich jedoch die Mutter entscheidet, so hat Ziehe seinen Mitarbeitern gegenüber nur de jure,
266
VII. Empirie
nicht aber de facto eine Sanktionsgewalt. Beide repräsentieren die familiäre bzw. berufliche Autorität, haben die Sache jedoch nicht in der Hand: Ziehe hat an seinem Arbeitsort die Zügel aus der Hand gegeben, die sein Vater zuhause nie in der Hand hatte. Wie der eine nur vermeintlich den Haushalt kontrolliert, hat der andere beruflich nur vermeintlich die Dinge im Griff. Vater : Mutter :: Ziehe : Mitarbeitern Auf einem unscheinbaren Gebiet bringt sich Ziehe wiederum in einen Gegensatz zum Vater: 24. [380-399] Mit also mit meinem Arbeitskollegen und meinem Cousin. Und denn mit ner mit dem Freund meiner Frau und davon noch zwei andre, da spiel ich auch noch Doppelkopf. Da spielen wir, da machen um Geld spielen wir da. Und da machen wir einmal pro Saison so ne Wochenendreise von (I: hm) und machen lassen da mal so’n bisschen (I: hm) die Sau raus. I: Was sind das so für Ziele, so ne Wochenendreise? Z: F.-Dorf. I: Kenn ich F.-Dorf? Sagt mir nichts. Z: Äh sagt mir auch brauchen Sie auch nich zu wissen. Das is so’n Feriendorf. Und da wird das ganze Wochenende nonstop in allen Gassen äh Musik (I: hm) und ganzen äh Doppelkopfrunden, (I: hm) Kegler, Keglerrunden und so weiter. Also da wird dann abgeschwoft und abgetanzt (I: hm) und na ja. Wir stehn da, also ich würde da lieber nich so gern hinfahrn. Ich würde lieber en bisschen was andres machen. Aber die fahrn nun hin, und (I: hm) ich will hab ja auch mit einI: Is das dann so ne Männerrunde oder? Z: Nur Männer. (I: hm) Nur Männer. Also Frauen, unsere eigenen Frauen sind da en bisschen fehl am Platz. I: Hm. Aha. (beide lachen kurz) Warum? Z: Ja, weil Sie gesagt ham aha. I: Nein, ich mein, warum sind die fehl am Platz? Z: Ja, da wollte man sich eigentlich en bisschen mit andern Frauen unterhalten. I: Hm. [.] Na ja. Gut.
Der unberechenbare Charakter des Vaters kontrastiert mit der kontrolliert gehaltenen Ekstase von Ziehe selbst. Nur einmal pro Saison lässt er „die Sau raus“. Und das beinhaltet, dass die eigenen Frauen nicht nur faktisch abwesend sind, sondern ausdrücklich ausgeschlossen bleiben müssen, um den Kartbrüdern den unbestimmt gelassenen Kontakt zu anderen Frauen zu ermöglichen. Damit lässt sich folgende Transformation feststellen: Während in der Elterngeneration die Hand noch als Werkzeug, nämlich als matrilateral konnotiertes Handwerk seine Korrelations- und Oppositionsbeziehung im „Mundwerk“ des Vaters findet, nivelliert sich auch hier dieser Ausgangskontrast in der darauf folgenden Generation. Ziehe selbst ist privat „mundfaul“ und beruflich wie ehrenamtlich eher schweigsam. Andererseits ist er dabei ohne wirkliche Hand-
VII. 1 Symbolische Operatoren
267
lungsvollmacht. Ist das Handeln beim Großvater noch in Bezug auf Grund und Boden definiert, bestimmt es sich bei Ziehe in dreifachem Sinne spielerisch: 1.
2.
3.
Im theatralischen Sinne dieses Wortes spielt er seinen Mitarbeitern gegenüber nur noch den Vorgesetzten, ist es aber tatsächlich nicht mehr: Er hat die Zügel längst aus der Hand gegeben (Schauspiel). Wo er die Hand zur Unterhaltung seiner selbst einsetzt, im Kartenspiel, da scheint Ziehe noch die Kontrolle über das Geschehen zu besitzen. Denn durch das Kartenspiel bestimmt er über den familiären Ausnahmezustand: Der Rest der Familie, insbesondere die eigene Ehefrau, bleibt hier außen vor (Unterhaltungsspiel). In Bezug auf die Familie definiert sich bei Ziehe die Hand über das Wettkampfspiel, das mit der Blutsverwandtschaft zwischen Brüdern in Kontrast steht: 25. [174-178] Mein Bruder, der och der war mein Bruder. Der hatte seinen Freundeskreis, ich hatte seine Freundeskreis meinen Freundeskreis. Und äh da ham wir eigentlich wir ham zu Hause in einem Wohn- man kann sagen brüderlich, aber nich brüderlich herzlich und nich brüderlich mies, einfach so, (I: hm) wie zwei Brüder zusammen sind. Wir ham Handball zusammen gespielt.
Wie das Haus, so ist also auch die Hand ein symbolischer Operator, durch den im Erfahrungsraum von Ziehe verschiedene Dimensionen miteinander in Beziehung gesetzt werden können (vgl. Abb. 10).
268
VII. Empirie
Abbildung 10: Übersetzungsdimensionen des symbolischen Operators Hand
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Über das Haus einerseits und die Hand andererseits, lassen sich bei Ziehe zwar nicht alle, aber doch weite Gebiete des Erfahrungsraumes erschließen. Eine solche Aussage bliebe freilich solange leer, wie man nicht konkret zeigen könnte, inwiefern sich in Folge eines für einen individuellen Erfahrungsraum konstitutiven Ausgangsgegensatzes eine ungeheuere Erfahrungsdynamik entfaltet, die keiner abstrakten Gesetzmäßigkeit folgt, sondern eine „Logik sinnlicher Qualitäten“ (Lévi-Strauss 1971b) benutzt. Im Vorstehenden ist der Gegensatz von Ziehes Eltern deswegen gewählt worden, weil es zu den Eigentümlichkeiten einer erzählten Lebensgeschichte gehört, mit der Geschichte der Familie (Kapitel III) zu beginnen – eine Geschichte, an die kein autobiographischer Erzähler de facto eine eigene Erinnerung haben kann, obwohl er nicht umhin kommt, sie als eigene Erfahrung – mit all ihren Folgen – zu übernehmen. Wie bei Ursprungsmythen handelt es sich daher auch bei Autobiographien um Erzählungen eines Ursprungs, der die originäre Erfahrung des Erzählers systematisch übersteigt.41 Im vorliegenden Fall ist Ziehes Vater derjenige, der ohne Grund und Boden
41
Zur Parallele von Autobiographie und Mythos vgl. Kauppert 2008c.
VII. 2 Struktur des Erfahrungsraums
269
(also ohne Haus) ist. Und dieser ist es auch, dessen initiale Verletzung an der Hand den Status eines negativen Werkzeugs markiert. Umgekehrt versammelt die mütterliche Seite in sich das, was der väterlichen fehlt. Die Muttereltern besitzen ein Bauernhaus und sie stehen für das Handwerk, dem der Vater in der Folge nur das politische „Mundwerk“ entgegensetzen kann, demgegenüber (und in Relation zu seiner Frau) wiederum Ziehe selbst sich als „mundfaul“ ausnimmt. Über Haus und Hand lassen sich demnach nicht nur so unterschiedliche Bereiche wie das Geschlecht, die Familie, der Beruf, die Freizeit, die Herkunft und das Ehrenamt aller Protagonisten einer Erzählung miteinander verbinden, es lässt sich auch verfolgen, wie sich die Beziehungen zwischen den Generationen dabei gestalten. 2.
Die Struktur des Erfahrungsraums
Aus zwei Gründen ist die bisherige Analyse noch unzureichend. Erstens sind mit Haus und Hand zwar die symbolischen Operatoren, nicht jedoch die Dimensionen des Erfahrungsraums von Kurt Ziehe analysiert worden. Symbolische Operatoren verbinden und trennen zwar Erfahrungen, sie legen aber nicht offen, um welche übergeordneten Dimensionen es sich dabei handelt. Zweitens ist bisher nur ein vorläufiges Urteil darüber möglich, wie weit Haus und Hand den Erfahrungsraum tatsächlich erschließen. Da es aber das Ziel einer Topologie des Erfahrungsraums ist, dessen Struktur im Ganzen zu erfassen, muss sichergestellt werden, dass die relevanten Erfahrungsdimensionen sowohl hinreichend erfasst, als auch begründet werden. Ich werde daher zunächst das Interviewmaterial in drei Schritten aufbereiten und auf dieser Grundlage dann die Struktur des Erfahrungsraums angeben.
2.1
Methodische Aufbereitungen
Ich orientiere mich im Weiteren an einem Verfahren, das Lévi-Strauss (1971a, S. 226ff.) in seinem Aufsatz über die „Struktur der Mythen“ vorgeschlagen hat, passe allerdings das methodische Verfahren an die hier intendierte Erschließung des Erfahrungsraumes an. Das betrifft insbesondere die ersten beiden Schritte (vgl. Anhang).
270
VII. Empirie
2.1.1 Segmentierung Der erste Schritt besteht darin, dass das transkribierte Interview nach denjenigen narrativen Segmenten unterteilt wird, die sich auf die Ereignisse beziehen, die für die Lebensgeschichte des Ich-Erzählers konstitutiv sind. Die Entscheidung über die Abgrenzung der Segmente untereinander bemisst sich nach der Unterscheidbarkeit der Einzelereignisse voneinander.
2.1.2 Paraphrasierung Wie bei einem offenen Interpretationsverfahren folgt im zweiten Schritt eine Paraphrasierung der narrativen Segmente. Dabei lässt sich die im vorangegangenen Kapitel (VI) referierte Eigenschaft einer Erzählung ausnutzen, derzufolge sich jede Erzählung auf einen Bericht reduzieren lässt. Bei Lévi-Strauss (1971a, S. 231) heißt es analog dazu: „Die Substanz des Mythos liegt weder im Stil noch in der Erzählweise oder in der Syntax, sondern in der Geschichte, die darin erzählt wird.“ Diese Reduktion ist eine interpretatorische. Sie greift im unterschiedlichen Ausmaß auf kulturelles Hintergrundwissen, Kontextinformationen oder historisches Wissen zurück. In jedem Fall muss sie sich vor einer hypothetischen oder tatsächlichen Gemeinschaft von Interpreten rechtfertigen lassen. Die Reduktion wird – unabhängig vom Umfang des narrativen Segments – soweit vorangetrieben, dass jeweils ein Segment durch einen Satz repräsentiert wird. Diese Sätze werden ihrer Reihenfolge nach nummeriert und bilden auf diese Weise eine syntagmatische Kette (Saussure 2001). So bleibt die jederzeitige Wiedererzählung der Geschichte möglich: Ein Erzähler könnte auf eine ihm prinzipiell frei gestellte Weise eine Geschichte in der vorgeschriebenen Reihenfolge erzählen und dabei die jeweils vorgegebenen narrativen Elemente verwenden. Für den hier untersuchten Fall von Kurt Ziehe sieht die Kette der Sätze, die ich in Anlehnung an die Herkunft dieses Verfahrens aus der linguistischen Analyse von Phonemen bzw. der Analyse von Mythen Narrateme nennen möchte, folgendermaßen aus (vgl. Übersicht 3):
VII. 2 Struktur des Erfahrungsraums
271
Übersicht 3: Liste der Narrateme 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39.
[Ist Amtmann im Personalamt der Stadt] [Kauft mit Ehefrau Haus und Grundstück auf dem Land] [Ist sein eigener Knecht auf dem zu großen Grundstück] [Zieht in ein Reihenhaus in einer Mittelstadt] [Ehefrau arbeitet im Rathaus in einer Fortbildungsakademie] [Töchtern ist die höhere Schulbildung vorgezeichnet] [Hat mit Mutterbruder eine Jagdpacht] [Geht ins Spaßbad] [Wirkt bei eigener Hausrenovierung mit] [Solidarität unter Kollegen verschwindet] [Mitarbeiter glauben, er verdiene zuviel Geld] [Vorgesetzte honorieren sein Engagement nicht] [Gibt die Zügel den Mitarbeitern gegenüber aus der Hand] [Vater verdient als Briefträger zuwenig Geld] [Vater heiratet in Mutterfamilie auf dem Land ein] [Älterer Bruder muss vom Gymnasium abgehen] [Vater verwehrt ihm den Zugang zum Gymnasium] [Vater dirigiert seinen Berufswunsch um] [Vater ist stellvertretender Bürgermeister (SPD)] [Steigt in den gehobenen Dienst auf] [Großstadt-WG ermöglicht Nachtleben] [Heimatort auf dem Land ist ohne Nachtleben] [Vater ist Flüchtling] [Vater ist an der Hand verletzt, als er die Mutter kennenlernt] [Eltern lernen sich auf einer Feier kennen] [Eltern ziehen bei Muttereltern ein] [Eltern ziehen ins ehemalige Knechtshaus] [Muttervater ist bekannter Maurermeister und (Nebenerwerbs-)Landwirt] [Muttereltern haben großes Gehöft mit kleiner Landwirtschaft] [Vater ist handwerklich unbegabt] [Mutter pflegt den Garten] [Felder werden verkauft, Gehöft verfällt] [Mutterbruder übernimmt das Gehöft und renovierte es] [Landwirtschaft im Elterndorf wird von Aussiedlern betrieben] [Vater wird handgreiflich] [Mutter ist graue Eminenz im Haushalt] [Verhält sich indifferent zum eigenen Bruder, mit dem er Handball spielt] [Geburt der 18 Jahre jüngeren Schwester wird von Brüdern bejubelt] [Schwester absolviert Gymnasium und studiert Sozialarbeit]
272
VII. Empirie
40. 41. 42. 43. 44. 45. 46. 47. 48. 49. 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56.
[Mutter verweigert Sohn die Rückkehr ins Elternhaus] [Klassenlehrer verneint sein Entwicklungspotential] [Hilft auf dem Bauernhof eines Schulkameraden] [Ist Mitglied in der Waldjugend] [Spielt Karten im Gartenhaus] [Ist Dienstbote seiner Vorgesetzten] [Wird vom Vorgesetzten zum Lernen ermuntert] [Hat beruflich mit Sozialhilfeempfängern zu tun] [Eigene Wohnung in Mittelstadt ermöglicht Amüsement] [Erhält durch Stadtwohnung Zulauf von Freunden vom Land] [Lernt Ehefrau in der Disco kennen] [Eltern der Ehefrau haben große Landwirtschaft] [Heiratet und hat zwei Töchter] [Hat distanziertes Verhältnis zu Reihenhaus-Nachbarn in Mittelstadt] [Ehefrau kommuniziert mit den Nachbarn] [Ist mundfaul] [Fährt mit Kartbrüdern auf Amüsierwochenenden, bei dem eigene Frauen ausgeschlossen sind] 57. [Wird von der CDU als Schöffe nominiert] 58. [Wehrdienst ist unvereinbar mit Stadtwohnung]
2.1.3 Paradigmatische Gruppen Im daran anschließenden Schritt geht es darum, die lineare Ordnung der Narrateme aufzubrechen und daraus verschiedene Gruppen zu bilden, deren Elemente als hinreichend ähnlich zueinander aufgefasst werden können. In diesem „Stadium der Untersuchung wird man mit Annäherungswerten, Versuchen und Irrtümern arbeiten, indem man sich an die Prinzipien hält, die der Strukturanalyse aller Formen als Grundlage dient: Sparsamkeit in der Erklärung; Einheitlichkeit der Lösung; Möglichkeit, das Ganze vom Fragment her aufzubauen und die späteren Entwicklungen aus den augenblicklichen Gegebenheiten abzuleiten“ (Lévi-Strauss 1971a, S. 231f.). Um die internen Cluster von Ähnlichkeiten herauszufinden, muss die diachrone Ordnung der narrativen Abfolge (das Syntagma) durch die synchrone Ordnung des Paradigmas ersetzt werden. Ein Paradigma gehorcht der Logik der Substitution. Sie ist nicht mit dem in der qualitativen Sozialforschung vielfach kritisierten (und fast schon stigmatisierten) Verfahren der „Subsumtionslogik“ zu verwechseln (Oevermann 1996). Denn um welches Paradigma es sich dabei jeweils handelt, wird in diesem Schritt dem Interview-
VII. 2 Struktur des Erfahrungsraums
273
material nicht von außen angetragen, sondern soll gerade vom Material her erschlossen werden. Man weiß daher noch nicht, um welche Paradigmen es sich handelt, geht allerdings mit der Einstellung an das Material, dass es hier Paradigmen überhaupt zu entdecken gibt. Um eine Subsumtion handelte es sich nur dann, wenn man von vornherein an das Interviewmaterial sozialwissenschaftliche „Items“ (Familie, Freizeit, Beruf etc.) oder anderweitig ausgedachte Merkmalskomplexe anlegen würde. Denn dann bliebe dem Material keine andere Chance mehr, als nur noch ein Ensemble von Ausprägungen herhalten zu müssen, nur als eine unter sozialwissenschaftliche Kategorien zu rubrifizierende Menge von Aussagen zu gelten oder nicht mehr zu sein als ein exemplarischer Fall eines auf Typenbildung zugerichteten Erkenntnisinteresses. Stattdessen gleicht die induktive Erschließung gemeinsam geteilter Aspekte von Narratemen dem Zusammenfügen eines zersplitterten Puzzles. Die Dimensionen der Erfahrung ergeben sich methodisch, indem man Narrateme zu Gruppen fügt. Denn wenn es erstens richtig ist, dass es sich bei Erfahrungsbildung um Wiederholungen im Sinne der Repetition und Iteration handelt (Kapitel V) und es zweitens auch zutrifft, dass es sich bei den codierten Narratemen um selektive Elemente handelt, die von einem Ich-Erzähler aus den kraft seiner Erfahrung konstituierten Dimensionen des Erzählbaren (Kapitel VI) entlehnt werden, dann ist die Dimensionalität der Erfahrung aufgezeigt, wenn sich die wechselseitige Substituierbarkeit der Elemente zeigen lässt. Linguistisch gesehen handelt es sich bei diesem Schritt um eine Kommutationsprobe: Was untereinander austauschbar ist, gehört zu einer gemeinsamen semantischen Gruppe. Der soziologischen Sache nach geht es darum, aus den von einem Ich-Erzähler qua Erfahrung gewonnenen Verallgemeinerungen, die sich in dessen Erzählung als einzelne Ereignisse und Handlungen niederschlagen, selbst wiederum zu einer übergreifenden Dimension der Erfahrung zu gelangen. Dieser Schritt ist wiederum die Vorbedingung dafür, dass die Strukturprinzipien des gesamten Erfahrungsraumes eines Ich-Erzählers erfasst werden können. Im Folgenden werde ich acht solcher Gruppen von Narratemen vorstellen. An der jeweils genannten Ordnungsziffer lässt sich der Ort in der syntagmatischen Reihe der Erzählung feststellen.
274
VII. Empirie
Tabelle 1: Probleme mit dem sozialen Status Narratem 10. Solidarität unter Kollegen verschwindet 11. Mitarbeiter glauben, er verdiene zu viel Geld 12. Vorgesetzte honorieren sein Engagement nicht 14. Vater verdient als Briefträger zu wenig Geld 17. Vater verwehrt ihm den Zugang zum Gymnasium 18. Vater dirigiert seinen Berufswunsch um 41. Klassenlehrer verneint sein Entwicklungspotential 45. Ist Dienstbote seiner Vorgesetzten 47. Hat beruflich mit Sozialhilfeempfängern zu tun
In der ersten Gruppe (vgl. Tab. 1) geht es auf unterschiedliche Weise um mangelnde soziale Anerkennung und das damit verbundene Problem des sozialen Status: Die Narrateme betreffen die fehlende Gemeinschaft unter Kollegen, die mangelnde Loyalität von Mitarbeitern, das vergebliche berufliche Engagement von Ziehe, den geringen materiellen Status seines Vaters, dessen ausbleibendes Zutrauen und das Misstrauen des Lehrers, Probleme mit der Autonomie der Berufswahl, ein geringer Status in der Diensthierarchie und die Konfrontation mit Menschen, die einen niedrigen gesellschaftlichen Status inne haben.
Tabelle 2: Betonung des sozialen Status Narratem 1.
Ist Amtmann im Personalamt der Stadt
5.
Ehefrau arbeitet im Rathaus in einer Fortbildungsakademie
19. Vater ist stellvertretender Bürgermeister (SPD) 20. Steigt in den gehobenen Dienst auf 28. Muttervater ist bekannter Maurermeister und (Nebenerwerbs-) Landwirt 46. Wird vom Vorgesetzten zum Lernen ermuntert 57. Wird von der CDU als Schöffe nominiert
VII. 2 Struktur des Erfahrungsraums
275
In der zweiten Gruppe (vgl. Tab. 2) geht es um einen Gegensatz zur ersten Gruppe: um die positive Betonung eines sozialen Status und der hierin immanenten sozialen Anerkennung. Ausgedrückt wird dies durch den öffentlichen Dienst, die Vorgesetztenfunktion, den Ort oder die Art der Berufstätigkeit, die Ermunterung zur Karriere (Laufbahn) oder den Vorschlag zu einem öffentlichen Ehrenamt.
Tabelle 3: Probleme mit einer personalen Kompetenz Narratem 13. Gibt die Zügel den Mitarbeitern gegenüber aus der Hand 16. Älterer Bruder muss vom Gymnasium abgehen 24. Vater ist an der Hand verletzt, als er die Mutter kennenlernt 30. Vater ist handwerklich unbegabt 35. Vater wird handgreiflich 55. Ist mundfaul
Im dritten Cluster (vgl. Tab. 3) sind Narrateme zusammengefasst, die auf die eine oder andere Weise eine Schwierigkeit mit einer personalen Kompetenz artikulieren. Sie betreffen die berufliche Professionalität, die kognitive Leistungsfähigkeit, eine physische Beeinträchtigung, ein praktisches Können und eine psychische bzw. eine Interaktionsschwäche.
Tabelle 4: Betonung einer personalen Kompetenz Narratem 6.
Töchtern ist die höhere Schulbildung vorgezeichnet
31. Mutter pflegt den Garten 33. Mutterbruder übernimmt das Gehöft und renoviert es 36. Mutter ist graue Eminenz im Haushalt 39. Schwester absolviert Gymnasium und studiert Sozialarbeit 54. Ehefrau kommuniziert mit den Nachbarn
276
VII. Empirie
Die vierte Erfahrungsdimension (vgl. Tab. 4) steht zur dritten im Kontrast. In ihr sind positive Betonungen einer personalen Kompetenz vermerkt: kognitive Leistungsfähigkeit, praktisches Können, Autorität und Charakterstärke, sowie Interaktionsqualitäten.
Tabelle 5: Probleme mit dem sozialen Raum Narratem 3.
Ist sein eigener Knecht auf dem zu großen Grundstück
22. Heimatort auf dem Land ist ohne Nachtleben 23. Vater ist Flüchtling 32. Felder werden verkauft, Gehöft verfällt 34. Landwirtschaft im Eltern-Dorf wird von Aussiedlern betrieben 53. Hat distanziertes Verhältnis zu Reihenhaus-Nachbarn in Mittelstadt 58. Wehrdienst ist unvereinbar mit Stadtwohnung
Die fünfte Erfahrungsdimension (vgl. Tab. 5) besteht in negativ konnotierten Bezugnahmen auf den sozialen Raum. Hierunter fallen die disproportionale Konfiguration von Haus und Grundstück, die Ödnis eines Ortes, der Entzug des Lebensraums, die Enttraditionalisierung des Dorfes, die Versachlichung von Nachbarschaftsverhältnissen und Konflikte zwischen Wohnsitz und gesellschaftlicher Verpflichtung.
VII. 2 Struktur des Erfahrungsraums
277
Tabelle 6: Betonung des sozialen Raums Narratem 2.
Kauft mit Ehefrau Haus und Grundstück auf dem Land
4.
Zieht in ein Reihenhaus in einer Mittelstadt
8.
Geht ins Spaßbad
9.
Wirkt bei eigener Hausrenovierung mit
15. Vater heiratet in Mutterfamilie auf dem Land ein 21. Großstadt-WG ermöglicht Nachtleben 26. Eltern ziehen bei Muttereltern ein 27. Eltern ziehen ins ehemalige Knechthaus 29. Muttereltern haben großes Gehöft mit kleiner Landwirtschaft 42. Hilft auf dem Bauernhof eines Schulkameraden 43. Ist Mitglied in der Waldjugend 44. Spielt Karten im Gartenhaus 48. Eigene Wohnung in Mittelstadt ermöglicht Amüsement 49. Erhält durch Stadtwohnung Zulauf von Freunden vom Land 51. Eltern der Ehefrau haben große Landwirtschaft
In der sechsten Gruppe (vgl. Tab. 6) geht es um den Wohn-, Lebens- und Wirtschaftsraum als eine positiv nutzbare Ressource. Die Narrateme beziehen sich auf den Haus- und Grundstückserwerb, auf die Vorteile des Ortes für das Freizeiterleben und den Freundeskreis; es geht um die materielle Reproduktion des Wohnsitzes, um Ansässigkeit und Sesshaft-Werden, um positiv konnotierte Freizeitorte, die Kopplung von Wohnung und Vergnügen sowie die Landwirtschaft als Lebenserwerb.
278
VII. Empirie
Tabelle 7: Probleme mit Verwandtschaft Narratem 37. Verhält sich indifferent zum Bruder, mit dem er Handball spielt 40. Mutter verweigert Sohn die Rückkehr ins Elternhaus 56. Fährt mit Kartbrüdern auf Amüsierwochenenden, bei denen eigene Frauen ausgeschlossen sind
Die siebte Gruppe (vgl. Tab. 7) besteht aus Narratemen, die Verwandtschaftsbeziehungen problematisieren, sei es als eine Versachlichung und Neutralisierung von Konsanginuität, sei es als Schwierigkeit in einem Deszendenzverhältnis, oder sei es schließlich als Ausklammerung von Allianzbeziehungen.
Tabelle 8: Betonung der Verwandtschaft Narratem 7.
Hat mit Mutterbruder eine Jagdpacht
25. Eltern lernen sich auf einer Feier kennen 38. Geburt der 18 Jahre jüngeren Schwester wird von Brüdern bejubelt 50. Lernt Ehefrau in Disco kennen 52. Heiratet und hat zwei Töchter
Das achte und letzte Paradigma (vgl. Tab. 8) steht wiederum in Kontrast zum vorangegangenen. Hier geht es um die positiv konnotierte Anbahnung und Konstitution von Verwandtschaftsbeziehungen, aber auch um die feiertagsartige Geburt einer Tochter.
VII. 2 Struktur des Erfahrungsraums
279
2.1.4 Das Tableau der Erfahrung Nachdem nun die einzelnen Dimensionen der Erfahrung rekonstruiert worden sind, müssen diese noch in eine interne Ordnung gebracht werden. Sie ergibt sich aus einer Logik von Kontrasten. Dieser Grundsatz der strukturalen Analyse ist bereits bei der Konstituierung der jeweiligen Gruppen angewendet worden. Hier stehen nun ganze „Beziehungsbündel“ zueinander in Kontrast: Auf diesem Niveau der Analyse, das in seiner Aggregatform der dritte Schritt zur Formulierung der Struktur des Erfahrungsraums von Kurt Ziehe ist, steht eine negative Konnotierung einer Gruppe einer positiven Bedeutung entgegen. So wird von Ziehe an unterschiedlichen Beispielen exemplifiziert, dass er – aber nicht nur er – Probleme mit dem sozialen Status hat(te), wohingegen es auch eine Reihe von Belegerzählungen dafür gibt, in denen der soziale Status als insgesamt positiv ausgewiesen ist (Gruppen 1 und 2). Auf eben dieselbe Weise verhält es sich mit den anderen Dimensionen: Beispiele, die die Probleme einer personalen Kompetenz (Gruppe 3) ausdrücken, stehen den positiv bewerteten oder bewertbaren Kompetenzen des Protagonisten entgegen (Gruppe 4); Probleme mit dem sozialen Raum, namentlich mit einem Ort bzw. einer Lokalität (Gruppe 5), stehen im Gegensatz zu positiv bewerteten Erfahrungen mit der Lokalität (Gruppe 6); schließlich stellt Ziehe auch verschiedene Schwierigkeiten in Verwandtschaftsbeziehungen dar (Gruppe 7), denen wiederum die Gründung und Erweiterung einer Familie gegenüber stehen (Gruppe 8). Stets also befindet sich eine positiv konnotierte Dimension der Erfahrung in Opposition zu einer negativ konnotierten Dimension der Erfahrung. Demzufolge gilt also: Probleme mit sozialem Status Probleme mit einer personalen Kompetenz Probleme mit dem sozialen Raum Probleme mit Verwandtschaft
: : : :
Betonung des sozialen Status Betonung einer personalen Kompetenz Betonung des sozialen Raums Betonung von Verwandtschaft
Die Elemente einer Erfahrungsdimension, so wie sie in einer Lebensgeschichte dargestellt werden, können „in weiten Zwischenräumen erscheinen, wenn man sich auf einen diachronischen Standpunkt stellt“ (Lévi-Strauss 1971a, S. 232). Würde man den „Mythos [hier: die Geschichte, M.K.] erzählen, nähmen wir auf diese Anordnung in Spalten keine Rücksicht und läsen die Zeilen von links nach rechts und von oben nach unten. Aber sobald es darum geht, den Mythos [resp. Geschichte] zu verstehen, verliert eine Hälfte der diachronischen Reihenfolge (von oben nach unten) ihren funktionellen Wert und die ‚Lektüre‘ erfolgt von links nach rechts, eine Spalte nach der anderen, wobei jede Spalte als Ganzes behandelt wird.“ (ebd., S. 235).
280
VII. Empirie
Abbildung 11: Tableau des Erfahrungsraums
PROBLEME MIT SOZIALEM STATUS
BETONUNG DES SOZIALEN STATUS
PROBLEME MIT EINER PERSONALEN KOMPETENZ
BETONUNG EINER PERSONALEN KOMPETENZ
Ist Amtmann im Personalamt der Stadt
Ehefrau arbeitet im Rathaus in einer Fortbildungsakademie
Töchtern ist die höhere Schulbildung vorgezeichnet
Solidaritat unter Kollegen verschwindet Mitarbeiter glauben, er verdiene zuviel Geld Vorgesetzte honorieren sein Engagement nicht
Gibt die Zügel den Mitarbeitern gegenüber aus der Hand
Vater verdient als Briefträger zuwenig Geld Älterer Bruder muss vom Gymnasium abgehen Vater verwehrt ihm den Zugang zum Gymnasium Vater dirigiert s. Berufswunsch um
Vater ist stellvertr. Bürgermeister(SPD) Steigt in den gehobenen Dienst auf
Vater ist an der Hand verletzt, als er die Mutter kennenlernt
Muttervater ist bekannter Maurermeister und (Nebenerwerbs-)Landwirt Vater ist handwerklich unbegabt
Mutterbruder übernimmt das Gehöft und renoviert es
Mutter ist graue Eminenz im Haushalt Schwester absolviert Gymnasium und studiert Sozialarbeit
Klassenlehrer verneint sein Entwicklungspotential
Ist Dienstbote seiner Vorgesetzten
Wird vom Vorgesetzten zum Lernen ermuntert
gern zu tun
Ehefrau kommuniziert mit den Nachbarn Ist mundfaul
Wird von der CDU als Schöffe nominiert
VII. 2 Struktur des Erfahrungsraums
PROBLEME MIT DEM SOZIALEN RAUM
BETONUNG DES SOZIALEN RAUMS
281
PROBLEME MIT VERWANDTSCHAFT
BETONUNG DER VERWANDTSCHAFT
Kauft mit Ehefrau Haus und Grundstück auf dem Land Ist sein eigener Knecht auf dem zu großen Grundstück
Zieht in ein Reihenhaus in einer Mittelstadt Hat mit Mutterbruder eine Jagdpacht Geht ins Spaßbad Wirkt bei eigen. Hausrenovierung mit
Vater heiratet in Mutterfamilie auf dem Land ein
Großstadt-WG ermöglicht Nachtleben Heimatort auf d.Land ohne Nachtleben Vater ist Flüchtling Eltern lernen sich auf einer Feier kennen Eltern ziehen bei Muttereltern ein Eltern ziehen ins ehem. Knechthaus Muttereltern haben großes Gehöft mit kleiner Landwirtschaft Felder werden verkauft, Gehöft verfällt Landwirtschaft im Elterndorf wird von Aussiedlern betrieben Verhält sich indifferent zum eigenen Bruder, mit dem er Handball spielt
Geburt der 18 Jahre jüngeren Schwester wird von Brüdern bejubelt
Mutter verweigert Sohn die Rückkehr ins Elternhaus Hilft auf dem Bauernhof eines Schulkameraden Ist Mitglied in der Waldjugend Spielt Karten im Gartenhaus
Eigene Wohnung in Mittelstadt ermöglicht Amüsement Erhält durch Stadtwohnung Zulauf von Freunden vom Land
Lernt Ehefrau in der Disco kennen
Eltern der Ehefrau haben große Landwirtschaft
Heiratet und hat zwei Töchter
Hat distanziertes Verhältnis zu Reihenhaus-Nachbarn in Mittelstadt
Fährt mit Kartbrüdern auf Amüsierwochenenden, bei denen eigene Frauen ausgeschlossen sind Wehrdienst ist unvereinbar mit Stadtwohnung
282
VII. Empirie
Kombiniert man das zeitliche mit dem räumlichen Bezugssystem, so lässt sich der Erfahrungsraum nach dem Vorbild einer musikalischen Orchesterpartitur darstellen. Sie erlaubt es, sowohl die von ihr dargestellte „Lebensmelodie“ (diachronisch) zu verfolgen, als auch, die darin befolgte „Erfahrungsharmonie“ (synchronisch) zu verstehen (vgl. Abb. 11). Man muss sich dabei zweierlei vor Augen halten: Erstens, dass der strukturale Raum ein unausgedehnter, topologischer Raum ist (Kapitel VI). Das Tableau der Erfahrung dient hier nur als ein Zwischenschritt zur Formulierung der Struktur des Erfahrungsraums. Zu Anschauungszwecken – gewissermaßen in didaktischer Hinsicht – lässt sich daran aber zumindest verstehen, inwiefern Erfahrungsraum und Erfahrungsgeschichte ineinander übersetzbar sind. Zweitens muss man in der Abbildung 11 berücksichtigen, dass die einzelnen Narrateme nicht eindeutig einer Spalte zugehören, sondern mehrfach codiert sein können. Dieses Manko wird durch das Konzept der symbolischen Operatoren ausgeglichen. Denn bei „Hand“ und „Haus“ zeigt sich sowohl die Überdeterminiertheit eines Narratems (gleichzeitige Zugehörigkeit zu mehreren Spalten) besonders deutlich, als auch die spezifische Funktion der Symbolik: Das instantane In-Beziehung-Setzen verschiedener Dimensionen der Erfahrung.
2.2
Die Strukturhypothese
Man hat es daher genau genommen mit vier Dimensionen zu tun, die eine negative oder positive Modalität annehmen können: Sozialer Status (Fragen der Anerkennung), personale Kompetenz (Fragen des Könnens), sozialer Raum (Fragen der Sozialgeographie) und Verwandtschaft (Fragen von Allianz, Deszendenz und Konsanginuität). Diese vier Dimensionen lassen sich nun in zwei Teilbeziehungen untergliedern.
2.2.1 Erste Teilbeziehung Die von Ziehe an verschiedenen Beispielen artikulierten Probleme, die die Protagonisten mit dem sozialen Status haben, verhalten sich zu den Exempeln, in denen ihr Status positiv erwähnt wird, auf eben dieselbe Weise wie sich die Beispiele, in denen Ziehe Schwierigkeiten mit einer personal attribuierbaren Kompetenz thematisiert, zu den Schilderungen von positiven Belegen personaler Kompetenzen verhalten. In konventioneller Schreibweise ausgedrückt, lautet die Beziehung folgendermaßen:
VII. 2 Struktur des Erfahrungsraums
283
Probleme mit sozialem Status : Betonung des sozialen Status :: Probleme mit einer personalen Kompetenz : Betonung einer personalen Kompetenz
Es geht um die Korrespondenz gesellschaftlicher Anerkennung mit individueller Kompetenz. In die Gebrauchssprache einer Lebensweisheit umformuliert hieße dies in etwa: Nur wer etwas kann, d.h. handwerkliche Fähigkeiten besitzt, Bildungstitel besitzt etc., der wird in der Gesellschaft etwas.
2.2.2
Zweite Teilbeziehung
Die von Ziehe an verschiedenen Beispielen artikulierten Probleme, die die Protagonisten mit dem sozialen Raum haben, verhalten sich zu den Exempeln, in denen der soziale Raum positiv erwähnt wird, auf eben dieselbe Weise wie sich die Beispiele, in denen Ziehe Schwierigkeiten in Verwandtschaftsbeziehungen thematisiert, auf die Schilderungen von als positiv empfundener Verwandtschaft beziehen. Demnach gilt: Probleme mit sozialem Raum
: Betonung des sozialen Raums :: Probleme mit Verwandtschaft : Betonung der Verwandtschaft Der in Bezug auf Grund und Boden verstandene soziale Raum wird von Ziehe demnach in Relation zur Verwandtschaft gesetzt. Erneut als Lebensweisheit formuliert: Schwierigkeiten mit der Sesshaftigkeit ziehen Probleme in sozialen Beziehungen nach sich (beispielsweise durch häufigen Umzug und dergleichen). Und umgekehrt: Das Eingehen von sozialen Beziehungen, insbesondere Verwandtschaftsbeziehungen, erfordert raumzeitliche Ansässigkeit. Oder noch kürzer: Wer heiratet, lässt sich nieder und zieht zusammen. Damit lässt sich die Struktur des Erfahrungsraums als Homologie angeben42: Sozialer Status (Anerkennung) verhält sich zu personaler Kompetenz (Können) wie der soziale Raum (Grund und Boden) zu Verwandtschaft (Angehörigkeit).
42
Ich benutze für die Erfahrungsdimensionen griechische Ausdrücke, um sie zu verfremden und dem Selbstverständlichen dadurch den Status eines Besonderen zurückzuerstatten. Unschärfen der Begrifflichkeiten in die antike wie auch in die moderne Richtung nehme ich dabei billigend in Kauf.
284
VII. Empirie
In einer Formel ausgedrückt: pólis : technƝ :: oikos : koinonia Die Trivialität dessen, was Kurt Ziehe erfahren hat, ist alles andere als banal. Denn gerade um die Aufklärung von Trivialtität – die zur Selbstverständlichkeit geronnenen Gewissheiten eines Erfahrungssubjektes – geht es hier. Die elementaren Strukturen der Weltvertrautheit beschreiben nicht nur die Art und den Umfang des Erfahrungsraums, er selbst korreliert wiederum mit kulturellen Regeln (den Maximen), die so tief in Ziehe eingebrannt sind, dass sie ihm nur als ein selbst stummes Wissen zur Verfügung stehen. Sie gelten für ihn mit fragloser Gewissheit. Anders als gängige Lebensweltanalysen, hat das hier vorgestellte Verfahren den Vorteil, dieses Erfahrungssediment auf klare und unterscheidbare Begriffe zu bringen. Als Resultat einer Einzelfallanalyse muss es sich als Hypothese bewähren. Man prüft sie am besten dadurch, dass man Zweitinterviews heranzieht – was hier allerdings nicht mehr geleistet werden kann. Denn obwohl die strukturale Analyse von Erfahrungsräumen an Einzelfällen ansetzen muss – und für sie überprüfbar bleibt –, besteht ihr Erkenntnisinteresse in erster Linie nicht an einer Kasuistik, sondern an überindividuellen Erfahrungsräumen. In dieser Hinsicht ist die Struktur eines subjektiven Erfahrungsraums keine Hypothese, sondern nur ein Erfahrungskonglomerat unter vielen anderen. Und als solches steht es unweigerlich in Beziehung zu anderen Erfahrungsräumen. Diese Verhältnisse auf der Ebene der Gruppe wiederum aufzuklären, muss das eigentliche Ziel einer Topologie des Wissens sein, die sich – wie eine recht verstandene soziologische Biographieforschung (vgl. Kapitel I) – für mehr als nur für Einzelfälle interessiert, ohne diese jedoch als bloße Exemplare eines Typus aufzufassen.43 Die daraus resultierende „Empirie“, die freilich nur im Rahmen eines größeren Forschungsprojektes durchgeführt werden kann, erhebt den Anspruch darauf, ihre zur Gewohnheit gewordene Absonderung von der Theorie aufzugeben und zu zeigen, dass der teils – von Theoretikern – insinuierte, teils selbst – von Empirikern – gehegte Verdacht, eine solche Arbeit bestehe zwar in einem emsigen, letztlich aber doch relativ begriffsarmen Tun, nicht nur ungerechtfertigt ist, sondern dass es gerade die Kärrnerarbeit empirischer Forschung ist, die jenen Glanz der Wahrheit zu entdecken vermag, der – sehr zum Schaden traditioneller Theorie – immer noch hinter der angestrengten Arbeit an den Begriffen vermutet wird.
43
„Gruppe“ hier verstanden im mathematischen Sinn: als Homo-, Iso- und Automorphismengruppe (Basieux 2000, S. 106ff.).
Zusammenfassung und Ausblick „Was müssen das für Bäume sein, wo die großen Elefanten spazieren gehen, ohne sich zu stoßen? Links sind Bäume, rechts sind Bäume und dazwischen Zwischenräume, wo die großen Elefanten spazieren gehen, ohne sich zu stoßen.“ Kinderlied
1.
Zusammenfassung
Im ersten Kapitel habe ich gezeigt, dass sich die soziologische Biographieforschung für den Zusammenhang von Erfahrung und Erzählung vor allem in methodischer Hinsicht interessiert: Deren interne Beziehung wird entweder als Homologie interpretiert (Schütze), als Differenz von erzählter und erlebter Zeit (Rosenthal) oder als die Übereinstimmung der Bedeutung, die aus der erzählten Geschichte eines Interpreten entspringt einerseits mit der Bedeutung der praktisch verfolgten Handlungsregel eines Erfahrungsträgers andererseits (Oevermann). Die Diskussion dieser Vorannahmen über den Zusammenhang von Erfahrung und Erzählung hat zum einen die internen Schwierigkeiten der einzelnen Methodologien aufgezeigt, zum anderen aber auch gemeinsam geteilte Hintergrundannahmen innerhalb des Feldes der soziologischen Biographieforschung zu Tage gefördert: erstens die Überzeugung, dass sich die Mechanismen, die eine Bedeutung generieren, auf der Ebene der Erfahrung und der Erzählung nicht unterscheiden; zweitens die Annahme, dass es sich hierbei um die elementare Regel der Verknüpfung von Erlebnissen und Handlungen einerseits, sowie von narrativen Ereignissen andererseits handelt. Neben dieser methodologischen Konvergenz im Feld der soziologischen Biographieforschung gibt es auch eine theoretische. Sie besteht in der impliziten Voraussetzung, dass es sich bei „Erfahrung“ um ein menschliches Selbstverhältnis handelt, das sich in der Erzählung versprachlicht. Dabei unterscheidet sich die Biographieforschung, je nachdem, ob sie den bios primär auf ein bereits abgelaufenes (Schütze, Rosenthal) oder noch bevorstehendes Leben (Oevermann) eines Akteurs bezieht. An die Differenzierung innerhalb der theoretischen Konvergenzthese knüpfen das zweite und dritte Kapitel des zweiten Teils der Arbeit an. Das übergreifende Anliegen war es hier, den Beitrag von Erfahrung und Erzählung für die Konstitution eines reflektierten Selbstverhältnisses aus einer alltäglichen Teilnehmerperspektive auf die soziale Welt zu entwickeln.
286
Zusammenfassung und Ausblick
Im zweiten Kapitel wurde die Konstitution von Erfahrung und deren Zusammenhang mit einer Erzählung vor allem unter zeitlichen Gesichtspunkten untersucht. Der Ausgangspunkt war das menschliche Zeitbewusstseins und dessen Intentionalitätsstruktur. Im Anschluss an die Phänomenologie des subjektiven Zeiterlebens (Augustinus und Husserl) wurde argumentiert, dass sich Erfahrung konstituiert, wenn eine gehegte Erwartung nicht erfüllt wird. Ich habe vorgeschlagen, das Erleben einer Enttäuschung terminologisch als Widerfahrnis zu begreifen. Eine Widerfahrnis kann im Umfang und in der Intensität variieren, je nachdem, ob sie als ein alltägliches Erleben (Durchstreichung) wahrgenommen wird, für bestimmte Passagen im Lebensverlauf (Entfremdung) reserviert bleibt, oder das Eingebettetsein eines Menschen in die soziale Welt grundsätzlich in Frage stellt (Angst). Widerfahrnisse setzen einen Menschen nicht nur in ein reflektiertes Verhältnis zu sich selbst, sondern sie führen auch zur Versprachlichung seines Selbstverhältnisses. Da enttäuschte Gewohnheiten wiederhergestellt, Verlässlichkeiten garantiert bleiben und Zugehörigkeiten restabilisiert werden müssen, dient die Erzählung eines Widerfahrnisses zwar zur Wiederherstellung von Erwartungssicherheit, tatsächlich geht es bei diesem Vorgang aber um mehr: die Rückeroberung verletzter und jederzeit verletzbarer Subjektivität. Die Erzählung hat deswegen hier eine mehr oder weniger deutliche existentielle Dimension. Ein Subjekt holt sich aus seiner „Prekarität“ im Welterleben zurück: Es hat bemerkt, dass es der Welt gegenüber prinzipiell anfällig ist. Und es bemerkt darin auch, dass es in dieser Welt prinzipiell hinfällig ist. Aus diesem Grund liegt es nahe, eine Widerfahrnis umzudeuten. Ein Mensch sammelt seine Erfahrungen selbst (wiewohl sie ihm zugestoßen sind), er hat seine Erfahrungen selbst gemacht (wiewohl sie ihm geschehen sind) und er ist es selbst, der Erfahrungen sogar sucht, die in der Lage sind, ihn aus seiner gewohnten Weltvertrautheit gänzlich herauszureißen. Je nachdem, welcher Typus von Subjektivität durch eine Widerfahrnis demnach auf dem Spiel steht, lassen sich drei Formen narrativer Selbstversicherungen unterscheiden: Der Erlebnisbericht (Alltagssubjekt), die Bildungsgeschichte (personale Identität) und die Konversionserzählung (authentisches Selbst). Auf narrativer Ebene verhält sich somit ein Mensch auf eine nachahmende Weise zu den Widerfahrnissen, die ihm geschehen sind, weswegen man von einem mimetischen Selbstverhältnis sprechen kann. Die erzählte Geschichte hat daher im Wesentlichen Ereignischarakter. Auf diese Weise ist es die Enttäuschung einer Erwartung, die zu drei zusammenhängenden Schritten im Prozess der Subjektivierung führt: Ein Widerfahrnis führt zur Individuierung, insofern derjenige, der enttäuscht wird, die jederzeit prekäre Temporalität seines Zeiterlebens bemerkt; sie führt zur Versprachlichung der Enttäuschung, weil die Zeitlichkeit des Welterlebens darüber restabilisiert werden kann; sie führt zur sozialen Vergemeinschaftung,
Zusammenfassung
287
da die Erzählung einer Widerfahrnis einen Adressaten benötigt. Eine Erzählung dient hier zur Selbsttherapie von Subjektivität. Das dritte Kapitel untersucht die Generierung einer Erzählung und die damit verbundene Darbietung von Erfahrung vor allem unter sozialen Aspekten. Ein erzählrelevantes Verhältnis zwischen Ego und Alter entsteht durch eine Frage. Sie versetzt den, der von sich erzählt, in ein reflektiertes Verhältnis zu sich selbst. Im Anschluss an die sozialbehavioristische Position von Mead wurde argumentiert, dass sich ein Ich-Erzähler dabei insofern selbst verobjektiviert, als er in seiner Erzählung mit den Augen und den Erwartungen Anderer auf sich selbst sieht. Das narrative Selbstverhältnis wird hier dadurch motiviert, dass Egos Erzählung zugleich eine Antwort auf die Frage eines Anderen ist, die diesem etwas Signifikantes über ihn mitteilt. Im Anschluss an diese Ausgangsüberlegung wurden drei Komplexe von Fragekonstellationen untersucht und in Verbindung mit typischen Erzählsituationen gebracht. Die Frage „Woher komme ich?“ ist assoziiert mit dem Erzählen einer Familiengeschichte; die Frage „Wer bist du?“ ist intern verkoppelt mit narrativen Selbstbildern, die ein Ich-Erzähler von sich nach Maßgabe einer sozialen Situation entwirft; die Frage „Wer bin ich?“ führt zu einem inneren Zwiegespräch. Anders als im mimetischen Selbstverhältnis ist die zu erzählende Geschichte darauf angelegt, sie vor den Augen eines Anderen und für die Augen eines Anderen zu entfalten. Es handelt sich daher um ein diegetisches Selbstverhältnis: Ein Ich-Erzähler geht in Distanz zu sich gerade deshalb, weil die Erzählung nicht ihm selbst, sondern einem anderen (oder sich selbst als einem anderen) gilt. Er ahmt nicht nach, sondern beschreibt, er zeigt nicht, sondern stellt dar. Ein Ich-Erzähler wiederholt sich in diesem Narrativ auf eine andere Weise: Er muss rekapitulieren, was einmal war, nun jedoch nicht mehr ist, gerade auch weil er in gewisser Weise nichts anderes als diese Geschichte ist, die er von sich selbst erzählt. Aus diesem Grund wurde vorgeschlagen, „Erfahrung“ nicht am Paradigma des Lernens – als Widerfahren und Widerfahrnis – sondern am Leitfaden der Reise zu begreifen: als (Durcheinen-Raum-)Hindurchfahren. Ein Ich-Erzähler wird dabei durch die Frage eines Anderen erstens individuiert: Er ist es, dessen Herkunft, soziale oder personale Identität in Frage steht. Zweitens verobjektiviert er sich aber selbst, indem er dem Fragenden eine Antwort gibt. Er erklärt ihm, wie er wurde, was er ist. Und drittens verdankt er dieser Frage und der daraus resultierenden Antwort zuallererst eine ausdrückliche Kenntnis seiner selbst. Die Geschichten, die als Antwort auf eine Frage erzählt werden, sind auf die eine oder andere Weise allesamt Geschichten über einen zurückgelegten Weg. Im dritten Teil der Arbeit verschiebt sich der Fokus der Arbeit von einer Untersuchung der zeitlichen und sozialen Dimensionen narrativer Selbstverhältnisse zu Überlegungen die die Frage betreffen, inwiefern Erfahrung und Erzäh-
288
Zusammenfassung und Ausblick
lung im menschlichen Weltverhältnis impliziert sind. Das übergreifende Anliegen des vierten und fünften Kapitels war es, die Art und die Reichweite einer Erzählung bei der Erschließung der weltbezogenen Erfahrung eines Erzählers auszuloten. Im vierten Kapitel wurde zunächst ein Vorschlag von Jürgen Habermas aufgenommen, demzufolge die Erzählung als eine „Laientheorie der Lebenswelt“ begriffen werden kann. Alltagserzähler würden, wenn sie Ereignisse oder Sachverhalte darstellen wollen, die in der Welt ihres Erlebens und Handelns vorkommen oder sich in ihr zugetragen haben, automatisch ein kognitives Bezugssystem in Anspruch nehmen. Dabei seien die erzählten Geschichten jedoch auf die Darstellung von Innerweltlichem beschränkt. Für eine soziologische Theorie, die sich für die Strukturen der Lebenswelt interessiert, kann die alltagspraktische Erzählung daher nicht mehr als ein empirisches Sprungbrett zu theoretischen Reflexionen sein. Diese Reflexionen führen zu Universalien: Für Husserl besteht die Struktur der Lebenswelt in einer apriorischen Korrelation der menschlichen Wahrnehmungsweise. Für Alfred Schütz stellt die alltägliche Lebenswelt einerseits die Bedingung egologischen Sinnverstehens dar, andererseits aber gibt sie dem menschlichen Weltverstehen auch invariante Formen des Verstehens an die Hand. Bei Habermas schließlich läuft es darauf hinaus, mit Kultur (Wissen), Gesellschaft (Institutionen) und Persönlichkeit (Sozialisation) drei gleichermaßen invariante wie universal verbreitete Dimensionen kommunikativer Verständigung zu identifizieren. Auf diese Weise stellt sich in der Lebenswelttheorie eine Dualität von Innerweltlichem und der Weltlichkeit der Welt als solcher ein. Die Lebenswelt ist einerseits ein Ensemble bezeichnungsfähiger Erlebnisse, Handlungen und Dinge – also geschichtlich-konkret. Andererseits entzieht sie sich aber der Bezeichnung, weil sie deren Voraussetzung und Form und demnach gleichermaßen universal und abstrakt ist. Entgegen der von Habermas vertretenen Auffassung, dass die Erzählung keine höherstufigen Strukturen der Lebenswelt erfassen könne, wurde gezeigt, dass es sich bei den vermeintlich höherstufigen Prozessen der Lebenswelt um die korrelative Einheit von Erzählrede und erzählter Geschichte handelt. Auf diese Weise wurde die Erzählung als ein aussichtsreicher Kandidat für die empirische Erschließung der Strukturen der Lebenswelt unter der Voraussetzung rehabilitiert, dass auf die extraempirischen und universalen Annahmen der Lebenswelttheorie verzichtet wird. Auf diese Weise transformiert sich die universale Lebenswelt zur empirischen Erlebenswelt eines Erfahrungsträgers. Im fünften Kapitel wurde deshalb die Ansicht vertreten, dass das Konzept eines Erfahrungsraums die Ansprüche der Lebenswelttheorie beerben kann, ohne dabei in eine empiristische Auffassung verschiedener Lebensweltsoziologien abzugleiten. Der Erfahrungsraum wurde als ein kognitives System vorge-
Zusammenfassung
289
stellt. Es beinhaltet, wie die Welt einem Erfahrungsträger nach Maßgabe seines Lebenslaufs vertraut ist. Dabei ist der Erfahrungsbegriff an eine spezifische Art der Wiederholung gekoppelt. Es handelt sich hier um einen Sinn von Wiederholung, der sich von den beiden bis dato diskutierten Begriffen von Wiederholung (Kapitel II und III) signifikant unterscheidet. Im subjektiven Erfahrungsraum kann nur solches Wissen vorhanden sein, das durch Repetition und Iteration von Wahrnehmungen und Handlungen zustande gekommen ist und sich auf eben dieselbe Weise in der Welt bewährt. Dieses Wissen ist nicht auf das Selbstverhältnis bezogen, sondern auf das mit dem Selbstverhältnis jeweils korrespondierende Weltverhältnis des Erfahrungssubjekts. Es betrifft die elementaren Strukturen der Weltvertrautheit. Auch in einer empirischen Auffassung muss man demnach unterscheiden zwischen einem Wissen von der Welt, in dem diese Gegenstand von Erfahrung ist (Was?), und der Struktur der Weltvertrautheit im Ganzen (Wie?). Eine kritische Diskussion der Vorstellungen, die Alfred Schütz über die Organisation des Wissensvorrats hegt, konnte aufzeigen, dass der subjektive Wissensvorrat nicht nach einzelnen Regionen des Wissens organisiert sein kann. Nur unter einer holistischen Voraussetzung kann angenommen werden, dass ein Subjekt sein Wissen nicht nur in Situationen erwirbt und in Situationen anwendet, sondern dass dieses Wissen als Ganzes in jeder einzelnen Situation im Erfahrungsraum präsent ist. Die Vertrautheit mit der alltäglichen Lebenswelt kann deshalb nicht von einzelnen Typen und auch nicht durch deren Summe garantiert werden, sondern ergibt sich vielmehr als ein Effekt des Systems von Beziehungen zwischen kognitiven Erfahrungswerten. Wenn ein Erfahrungssubjekt zwischen einzelnen Situationen wechseln kann, ohne deswegen den Zusammenhang der Erfahrung zu verlieren, dann muss man den Schluss daraus ziehen, dass es die Durch- und Übergänge von Situationen des Erlebens und Handelns sind, die ihren Zusammenhang konstituieren. Der Erfahrungsraum und das in ihm enthaltene Weltwissen ist paradox organisiert: Ein Erfahrungssubjekt verknüpft Situationen, weil es sie voneinander trennt. Im vierten Teil der Arbeit ging es darum, die theoretische Herleitung einer Konzeption des Erfahrungsraums in eine Methodologie zu überführen, die in der Lage ist, die empirische Forschung instruktiv anzuleiten. Das Erkenntnisinteresse galt der Organisation der Weltvertrautheit eines Ich-Erzählers. Im sechsten Kapitel ging es zunächst um zwei gegenläufige Bewegungen: Um die Verzeitlichung des Erfahrungsraums durch eine Erzählung einerseits und die Verräumlichung der Erzählung andererseits. Die erste Richtung stellte sich als eine vergleichsweise natürliche heraus: Das Erfahrungswissen, das im Raum der Erfahrung auf eine gleichzeitige Weise präsent ist, wird durch seine Versprachlichung automatisch in eine Ordnung der Ungleichzeitigkeit übersetzt. In die entgegengesetzte Richtung gelangt man jedoch nicht von selbst. Die Ver-
290
Zusammenfassung und Ausblick
räumlichung der Erzählung muss daher methodisch herbeigeführt werden. Schließt man beide Bewegungen zusammen, erhält man ein zirkuläres Verhältnis von Erfahrungsraum und Erfahrungsgeschichte. Der Erfahrungsprozess definiert die Dimensionen des Erzählbaren, aus denen symptomatische Elemente selektiert werden. Diese wiederum werden zur Einheit einer Geschichte konfiguriert und daraufhin dem Adressaten der Erzählung mitgeteilt. Da aber auf diese Weise nur deutlich wurde, dass narrative Ereignisse zugleich Symptome eines Erfahrungsraumes sind, nicht aber, um welche Dimensionen es sich hierbei handelt und wie diese wiederum miteinander in Beziehung stehen, bedurfte es noch einiger methodischer Zurichtungen der Erzählung, von denen die Dechronologisierung die Voraussetzung, die Oppositionsbeziehungen zwischen Elementen die allgemeine methodologische Grundlage und symbolische Operatoren die Mittel waren, um Verbindungen zwischen zum Teil weit entlegenen und weniger offensichtlichen Dimensionen der Erzählung eines Ich-Erzählers herzustellen und so eine Struktur herauszudestillieren. Unter diesen Vorraussetzungen konnten abschließend drei Thesen formuliert werden. Die methodologische Maxime besagt, dass die Erfahrungsgeschichte wie ein Gummiraum zu begreifen sei: Sie staucht, dehnt und krümmt in der Zeitdimension den Erfahrungsraum in alle möglichen Richtungen, ohne dabei die internen Beziehungen zwischen den Elementen zu zerstören. Die daraus abgeleitete methodische Aufgabe besteht darin, aus der zeitlich deformierten Erfahrungsgeschichte eine Struktur zu gewinnen, die sich auf die invariante Beziehung von Elementen und Dimensionen der erzählten Geschichte bezieht. Als methodisches Vorbild wurde die strukturale Analyse, als Paradigma die Interpretation von Mythen vorgeschlagen. Die epistemologische These besteht schließlich darin, die methodisch gewonnene Struktur der Erfahrungsgeschichte als Repräsentation des subjektiven Raums der Erfahrung zu verstehen. Befolgt man alle drei Thesen, so fasst man das Verhältnis von Erfahrungsraum und Erfahrungsgeschichte als eine topologische Abbildung auf. Im siebten Kapitel ging es um die exemplarische Demonstration der Methodologie des Erfahrungsraums an einem konkreten Fall. Dazu wurde zunächst gezeigt, wie sich durch zwei symbolische Operatoren – Haus und Hand – weite Teile des Erfahrungsraums eines Ich-Erzählers erschließen lassen. Um die Struktur des damit korrespondierenden Erfahrungsraums zu erfassen, musste im Anschluss daran die Erzählung methodisch aufbereitet werden. Das betraf die aufeinanderfolgenden Schritte der Segmentierung des Interviews, ihre Paraphrasierung, ihre Zusammenstellung in paradigmatische Gruppen und im Entwurf eines Erfahrungstableaus des Ich-Erzählers. Daraus ließ sich eine Hypothese über die Struktur seines Erfahrungsraums formulieren, es wurde aber auch auf die prinzipielle Unvollständigkeit der Analyse hingewiesen. Das Erkenntnis-
Zusammenfassung
291
interesse einer Topologie des Wissens, so wurde argumentiert, besteht nicht in einer Kasuistik, sondern sie hat es mit der Untersuchung überindividueller Erfahrungsräume zu tun. In dieser Hinsicht konnte die Struktur des analysierten subjektiven Erfahrungsraumes keine Hypothese sein, die sich bewähren musste, sondern diese Struktur stand in einer noch unaufgeklärten Beziehung zu anderen Erfahrungsräumen. Und insofern findet eine Topologie des Wissens ihr eigentliches Untersuchungsobjekt erst auf der Ebene der Gruppe. Die vorliegende Arbeit auf diese Weise zusammenzufassen, heißt nichts anderes, als einen Weg auf seinen wichtigsten Stationen zu rekapitulieren. Und das heißt: zu wiederholen. Mithin: den Raum dieser Arbeit erneut zu durchfahren, also am Ende der Lektüre die Einstellung und die Perspektive zu übernehmen, die der Verfasser dem Leser nahe legt, indem er ihm sagt, wie aus seiner Sicht die einzelnen Kapitel durch einander motiviert sind. Damit macht sich der Leser unwillkürlich die diegetische Einstellung des Erzählens zu eigen, die im zweiten Kapitel beschrieben worden ist. Doch es gibt noch eine andere Art der Zusammenfassung als die narrative Erklärung. Im ersten Teil der Arbeit ging es zunächst um die Hintergrundannahmen, wie in der soziologischen Biographieforschung der Zusammenhang von Erfahrung und Erzählung methodologisch aufgefasst wird. Zwei methodologische Axiome sind hier in Geltung: 1. 2.
Sowohl die Bildung als auch die Darstellung von Erfahrung bedienen sich identischer Mechanismen der Bedeutungskonstitution. Die elementare Operation dabei ist die Verknüpfung von Ereignissen bzw. Erlebnissen.
Im vierten Teil wurde dagegen gezeigt, dass 1. 2.
die Ordnung der Erfahrung räumlich ist und einer diakritischen Logik angehört. die Ordnung der Erzählung zeitlich ist und einer diachronen Logik gehorcht.
Daraus resultierte einerseits der Vorschlag, die Erzählung eines Ich-Erzählers methodisch zu verräumlichen, um sie mit dem Raum seiner Erfahrung überhaupt in Beziehung setzen zu können. Die Topologie des Wissens eines Erfahrungsträgers steht daher in Opposition zur Analyse der Erfahrung eines Biographieträgers. Andererseits hat der Schluss des ersten Teils ergeben, dass die untersuchten Methodologien auch theoretisch konvergieren. In der soziologischen Biographieforschung geht man davon aus, dass es sich bei „Erfahrung“ um ein mensch-
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Zusammenfassung und Ausblick
liches Selbstverhältnis handelt, das sich in der Erzählung versprachlicht. Diese Einsicht des ersten Teils motivierte die Ausarbeitung des zweiten Teils. Aber nicht nur von ihrer räumlichen Nähe stehen sie zueinander in Kontakt. Denn während es auf der Seite der Biographieforschung um die impliziten Annahmen über das – theoretische oder praktische – Selbstverhältnis eines Ich-Erzählers geht, wird im zweiten Teil eine explizite Ausarbeitung beider Modi des narrativen Selbst unternommen. Innerhalb des zweiten Teils gibt es einen „kleinen“ Gegensatz, denn hier stehen sich der zeitliche und der soziale Aspekt der Konstitution eines narrativen Selbstverhältnisses entgegen und in der Folge weitere Differenzierungen: Die Zeit vs. der Andere (Dimension der Erfahrung), Enttäuschung vs. Frage (Konstitution von Erfahrung), Widerfahren vs. Hindurchfahren (Begriff der Erfahrung), Zurückholen vs. Rekapitulieren (Modus der narrativen Wiederholung), mimetische vs. diegetische Einstellung (Modus des Selbstverhältnisses). Der dritte Teil steht insofern in einem Verhältnis der Opposition zum zweiten Teil, als er nicht die Konstitution des narrativen Selbstverhältnisses untersucht, sondern das menschliche Weltverhältnis unter dem Vorzeichen seiner Narrativierbarkeit. Während im zweiten Teil die Versprachlichung des Selbstverhältnisses in einer Wiederholung bestand (das Zurückholen einer verletzten Subjektivität bzw. die Rekapitulation vergangener Ereignisse), konstituierte sich im dritten Teil die Erfahrung qua wiederholter Wahrnehmungen und Handlungen. In der Binnenorganisation des dritten Teils wiederum stehen die Strukturen der Lebenswelt der Organisation des subjektiven Erfahrungsraums einerseits so entgegen wie ein empirieloser Universalismus dem empirischen Korrelat eines Lebenslaufs, andererseits wie eine invariante Form einem relationalen Gefüge. So wie der erste Teil der Arbeit mit methodologischen Überlegungen begonnen hatte und der Übergang vom ersten zum zweiten Teil durch die Theorie motiviert wurde, so verschiebt sich nun wieder der Akzent von der Theorie zur Methodologie, denn durch diese ist der Übergang vom dritten zum vierten Teil der Arbeit motiviert. Während es im dritten Teil um die theoretische Modellierung des subjektiven Weltverhältnisses ging, geht es im vierten Teil um die topologische Bestimmbarkeit und Bestimmung empirischer Erfahrung. Er differenziert sich demnach intern in eine methodologische (Kapitel VI) und eine empirische Seite (Kapitel VII). Und als vierter Teil steht er – wie aufgezeigt – wieder dem ersten Teil entgegen. Die Arbeit ist mithin so strukturiert, wie es die mit ihr verfolgte Analysemethode nahe legt.
Ausblick
2.
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Ausblick
Wie die Biographie, so ist auch der Erfahrungsraum stets das Kondensat und die Kristallisation einer subjektiven Weltvertrautheit, die aber gerade, weil sie nicht in ein subjektives Erleben eingeschlossen ist, sondern als Struktur subjektiver Erfahrung jede Regionalisierung eines intentional verfassten Wissens übersteigt, mit anderen Strukturen subjektiver Weltvertrautheit in Beziehung zu setzen ist. Eine solche Auffassung ist wiederum nur die methodologische Version einer materialen Aussage über die Grundverfassung der menschlichen Weltbeziehung. Denn da das Welterleben jedes Einzelnen von vornherein ein intersubjektiv geteiltes Leben ist, lässt es sich kaum anders denken, als dass der subjektive Erfahrungsraum nur die Einzelrepräsentation eines Raumes sein kann, der nicht in Partialperspektiven aufgeht. Die Untersuchung der Strukturen eines subjektiven Raums der Erfahrung, dem diese Arbeit ausschließlich galt, ist daher nur der Auftakt und die Passage zur Analyse eines überindividuellen Raums der Erfahrung. Denn für die strukturale Analyse „liegt der reale Gegenstand, auf den sich die Analyse bezieht, auf der Ebene der Gruppe“ (Lévi-Strauss 1972, S. 63). Und da diese Gruppe „durch sich selbst einen Code konstituiert, der von höherer Potenz ist, als jeder einzelne all derer die sie verwendet, um vielfältige Botschaften zu chiffrieren“ (ebd., S. 45) findet das theoretische Programm, das in dieser Arbeit skizziert worden ist, seine naturgemäße Fortsetzung in der „Empirie“. Nur durch Heranziehen einer sehr viel größeren Menge von autobiographischen Stegreiferzählungen ließe sich für den überindividuellen Erfahrungsraum ein „Intercode“ (ebd., S. 45) herausfinden, der für die wechselseitige Konvertibilität subjektiver Erfahrungsräume verantwortlich ist. Denn der überindividuelle Raum der Erfahrung ist dadurch gekennzeichnet, dass er zwischen allen einzelnen Repräsentationen und Perspektiven besteht, diese ineinander übersetzt und voneinander trennt. Man wird daher kaum umhin können, den überindividuellen Erfahrungsraum als einen Zwischenraum der Erfahrung zu bezeichnen. Denn nur dann wird man dem Kernproblem des Raums gerecht: „Das Problem des Raumes ist der Zwischenraum“ (Bexte 2007, S. 221). Am überindividuellen Erfahrungsraum lässt sich darlegen, wie das, was im Raum vermeintlich einfach nur vorkommt, tatsächlich eine Funktion des Trennens und Verbindens von Elementen ist. Weltvertrautheit, so wurde im fünften Kapitel argumentiert, ergibt sich dadurch, dass ein Erfahrungssubjekt zwischen Situationen, zwischen Welten und demzufolge zwischen kognitiven Typen hin und herwechselt, ohne die Einstimmigkeit seiner Welterfahrung zu verlieren, weil gerade erst diese Passagen den Zusammenhang von Erfahrung bilden. Der überindividuelle Raum der Erfahrung ist aus diesen Gründen ein Raum zwischen allen anderen Orten, weil er nichts weiter ist als die operatorische Funktion des Verbindens und
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Trennens. Und doch partizipiert auch noch der Zwischenraum an der Räumlichkeit aller anderen Orte: Das Tal ist ein Einschnitt in den Bergen, aber auch deren Verbindung. Umgekehrt ragen die Berge aus den Tälern heraus und doch verknüpfen sie diese. Auf diese Weise lässt sich auch der überindividuelle Erfahrungsraum verstehen. Er ist der Zwischenraum subjektiver Erfahrung, indem er subjektive Erfahrungen voneinander trennt und miteinander verbindet. Er übersteigt damit die Struktur subjektiver Erfahrung, indem er sie mit anderen Strukturen subjektiver Erfahrung gerade dadurch in Beziehung setzt, dass er sie neu verbindet. Ein solcher Raum kann kein Raum intentional verfasster und erfassbarer Erfahrung mehr sein. Michel Serres (1980, S. 36) hat diesen Raum „Kultur“ genannt: „Aufgabe der Kultur ist es, Räume zu trennen und neu zu verbinden.“ Wenn man das kritische Motiv von Foucault abzieht, lässt sich mit ihm Kultur als eine Heterotopologie (Foucault 1992, S. 40) verstehen: Als ein unausgedehnter Raum der Relationierung von Relationen. So wie es zu einem der zahlreichen „Lebensweltmissverständnisse“ (Blumenberg 2001) gehört, mit ihr Ansprüche auf Nähe, Anschauungsfülle und Ursprungskonkretionen zu verbinden, so unterliegt in dieser Sicht auch die Kultur einem Missverständnis. Es stimmt zwar, dass die Kultur ein selbstgesponnenes Gewebe ist, in das der Mensch sich verstrickt hat (Max Weber), aber es ist dadurch eben noch kein Gewebe, das als solches für den Menschen mehr bedeuten könnte, als eine Art kollektiver Heimeligkeit. Kultur ist zwar das größte Netz von Beziehungen zwischen subjektiven Räumen der Erfahrung, das man sich auf Erden denken kann, aber diese Beziehungen besagen hier in etwa soviel, wie ein Sternenhimmel nächtens einem phänomenologisch eingestellten und eingestimmten Beobachter etwas zu bedeuten imstande ist: „Wenn eine Lebenswelt, dann als Netz von Lebenswelten“ (Waldenfels 2001, S. 433, kursiv i.O.). Der strukturalistische Beobachter wird darauf verweisen, dass es am Sternenhimmel keinen Unterschied macht, ob das Sternenlicht eine größere oder kürzere Entfernung zurückgelegt hat: man sieht dennoch alle Sterne auf einmal. Nur über die Lichtstärke lassen sich für den nächtlichen Beobachter Rückschlüsse auf die Dauer und die Entfernung ziehen, die das Licht mutmaßlich unterwegs gewesen ist. Man kann aber nicht einmal entscheiden, ob die Quelle des Lichts, das man gerade sieht, überhaupt noch existiert. Wenn daher ein Betrachter den Sternenhimmel sieht, offenbart sich ihm in seiner Erlebnisgegenwart die kosmische Vergangenheit. Es ist dieser erhabene Anblick der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, der ihn stets aufs Neue dazu führt, intuitive Beziehungen im Raum seines ihm erscheinenden Wissens herzustellen – die Sternenbilder. Wenn man den bestirnten Himmel über sich sieht, hat man das strukturalistische Gesetz bereits in sich.
Danksagung
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die geringfügig überarbeitete Fassung eines Manuskripts, das im Herbst 2007 von der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Dissertation angenommen wurde. Für Hinweise, Anregungen und Kommentare, sowie für die Lektüre einzelner Kapitel und Hilfestellungen bei technischen Problemen bin ich besonders dankbar: Michael Beetz, Anne Dünger, Michael Friedrich, Jarno Müller, Jörn Lamla, Jörg Oberthür, Ina Ortlepp, Axel Saalheiser, Ralph Schrader und Torsten Winkler. Norbert Krause hat sich um die Korrektur des gesamten Manuskriptes verdient gemacht, Caroline Jansky und Franziska Mucha haben die Druckfahnen gelesen. Michael Corsten, Hartmut Rosa und insbesondere Hans-Joachim Giegel danke ich dafür, mir eine jener Nischen am Rande wissenschaftlicher Betriebsamkeit eingeräumt zu haben, in denen ein wildes Denken heute noch gedeihen kann. Bei den Herausgebern bedanke ich mich für die freundliche Aufnahme des Buches in die Reihe zur Wissenssoziologie.Ohne meine Frau hätte ich diese Arbeit nicht beendet.
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Segmentierung und Paraphrasierung
Zeilen 21-26 Bin nämlich jetzt (is man ja ?) Stadtinspektor und jetzt bin ich Stadtamtmann und bin dort im bei der Stadt G. im Personal- und Organisationsamt zuständig für die Angestellten. (I: hm) Also nich äh nich so die Bezüge eingeben, sondern einfach, wenn’s so Probleme gibt, sag ich mal. (I: hm) Einstellung oder welche Vergütungsgruppe oder wenn einer mal Mist gebaut hat oder Abmahnung oder Kündigung und so was, (I: hm) das äh muss ich da bearbeiten. 1.
[IST AMTMANN IM PERSONALAMT DER STADT]
Zeilen 26-30 Äh dann hab ich 1986 geheiratet. Dann hatten wir äh wollten wir uns en Haus kaufen. Und äh ich wohne in M., meine Frau kommt aus H.dorf und in G. äh hab ich arbeite ich ja. Und genau in der Mitte war dann dieses Dorf B. da hab ich mir en Haus gekauft, ham wir uns en Haus gekauft. 2.
[KAUFT MIT EHEFRAU HAUS UND GRUNDSTÜCK AUF DEM LAND]
Zeilen 30-32 Und wir merkten aber schon reicht bald, dass wir einfach äh zu groß das Haus, äh nee das Grundstück war zu groß und das Haus war zu klein. (I: hm) Also tausend Quadratmeter zu viel. Ich wollte auch nich denn, sag ich mal so, sein Knecht meines eigenen Herrn. 3.
[IST SEIN EIGENER KNECHT AUF DEM ZU GROSSEN GRUNDSTÜCK]
Zeilen 32-34 Und seit 1990 wohnen wir hier G. in diesem Reihenhaus. Uns gefällts ganz gut. 4.
[ZIEHT IN EIN REIHENHAUS IN EINER MITTELSTADT]
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Zeilen 34-39 Meine Frau is berufstätig, halbtags an der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie. Das sagt Ihnen das was? Also so ne Fortbildung für – I: Also von der Idee her schon. Ich kenn’s natürlich jetzt nich hier für G. speziell. Z: Fortbildung für Erwachsene. (I: hm) Und die arbeitet da also praktisch auch im Rathaus. Wir fahren morgens zusammen rein mit’m Auto. Und ich komm dann abends meistens zu Fuß nach Hause. 5.
[EHEFRAU ARBEITET IM RATHAUS IN EINER FORTBILDUNGSAKADEMIE]
Zeile 39-40 Meine beiden Kinder, die Älteste, die is jetzt äh in ner neunten Klasse am Gymnasium. Und meine Tochter is jetzt letzte Jahr Orientierungsstufe. 6.
[TÖCHTERN IST DIE HÖHERE SCHULBILDUNG VORGEZEICHNET]
Zeile 40-43 Hobbys? Hab ich eigentlich intensiv geh ich zur Jagd. (I:hm) Hier praktisch hundert Meter weiter is (I: hm) äh G.-Feld. (I: hm) Und äh da geh ich mit meinem Onkel zusammen jagen. Ham wir uns das gepachtet. 7.
[HAT MIT MUTTERBRUDER EINE JAGDPACHT]
Zeile 43 Ansonsten schwimmen tue ich viel. Also hier im im Spaßbad bei uns, so heißt das. 8.
[GEHT INS SPASSBAD]
Zeilen 43-45 Und ansonsten muss ich hier zu Hause eben noch mal, jetzt letzte Woche ham wir jetzt tapeziert oder so. (I: hm) Ansonsten kriegt man seine Zeit auch so. 9.
[WIRKT BEI EIGENER HAUSRENOVIERUNG MIT]
Segmentierung und Paraphrasierung
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Zeilen 52-54 Arbeit äh hat mir früher mehr Spaß gemacht, muss ich ehrlich sagen. Vor dem Hintergrund, dass äh wir vorher ehm na ja ne verschworene Gemeinschaft waren auch unter den äh Abteilungsleitern. Das is heute schon gar nich mehr der Fall. 10. [SOLIDARITÄT UNTER KOLLEGEN VERSCHWINDET]
Zeilen 54-59 Und bei den Bezügerechnern, die sind äh also so unzufrieden, sag ich einfach mal. Weil die sehen, die können ja bei uns praktisch ins Gehalt reingucken, was wir verdienen. (I: hm) Und wenn die ihrs vergleichen, dann sehn se natürlich, das sind (I: hm) Tausende weniger oder (I: hm) Und denn sagen se denn äh gibt’s denn so auch so: das soll unser Vorbild sein, der hängt doch sowieso nur rum. Und dafür kriegt er soviel Geld. 11. [MITARBEITER GLAUBEN, ER VERDIENE ZUVIEL GELD]
Zeilen 61-66 Und ähm obwohl dieses auch diese ganzen neuen Reformen, die’s da gibt und hätten mal vor fünf oder sechs Jahren en frischer Wind in neuen Rathaus, so hieß das. Ham sich alle, gut also ich hab mich daran beteiligt. Und äh nach drei, vier Jahren is es auch praktisch eingeschlafen und war is nichts bei rausgekommen ne. Äh da ham wir tüchtig, die andern auch jetzt, die Abteilungsleiter, wir ham uns da mal wirklich sehr toll angestrengt. Und äh was is dabei rausgekommen? Null. 12. [VORGESETZTE HONORIEREN SEIN ENGAGEMENT NICHT]
Zeilen 66-72 Also lassen wir jetzt einfach auch mal die Zügel fallen. (I: hm) Und das wird natürlich bei den Mitarbeitern bemerkt. (I: hm) Und denn gibt’s natürlich die Probleme. Machen das als versuchen das mit Mitarbeitergesprächen durchzuführen. Aber es, sag ich einfach mal so, das Problem im öffentlichen Dienst is ja der unmittelbare Zwang, also dass man das durchsetzen kann. Entweder das machste jetzt oder besserst dich oder gehst nach Hause. Das gibt’s ja bei uns nun nich ja. (I: hm) Und äh vor Hintergrund wird das auch gar anerkannt und nich eingesehn. Und ja so müssen wir eben versuchen, die Sache weiter über weiterzuschaukeln ne. (I: hm, ja) 13. [GIBT DIE ZÜGEL DEN MITARBEITERN GEGENÜBER AUS DER HAND]
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Zeilen 86-87 Wie war’s in M. (räuspert sich) Mein Vater war Postfacharbeiter. (I: hm) Also das is äh so BAT neun, also das war wirklich sehr sehr wenig Geld. (I: hm hm) 14. [VATER VERDIENT ALS BRIEFTRÄGER ZUWENIG GELD] Zeilen 87-90 Und äh das gute war, dass er praktisch um das Haus meine Mutter heiratete. Und die hatte en Bauernhof. Und daneben wohn- war en Haus. So dass sie praktisch da reinziehen konnten. Anders hätten sie das wahrscheinlich damals nie (I: hm) äh finanziert. 15. [VATER HEIRATET IN MUTTERFAMILIE AUF DEM LAND EIN]
Zeilen 93-96 Dann bin ich Volksschule, Orientierungsstufe. Damals kann ich noch sagen war dieses Kurzschuljahr. (I: hm) Und dann bin ich, da entstand der Entschluss oder entstand die Frage Schulform. Mein Bruder hat natürlich denn der war zum Gymnasium. Und der hat’s nich gepackt. 16. [ÄLTERER BRUDER MUSS VOM GYMNASIUM ABGEHEN]
Zeilen 96-97 Und da mein Vater war en bisschen konservativ und sagte dann, das schaffst du auch nich. Du bist genauso faul. Dann bin ich also zur Realschule gekommen. 17. [VATER VERWEHRT IHM DEN ZUGANG ZUM GYMNASIUM]
Zeilen 97-103 Und äh Beruf mein Berufswunsch, also war eigentlich äh ich wollte zur äh Bank gehen, war eigentlich auch schon alles klar und hatte auch schon ne Einstellungszusage. Und äh dann war aber so, mein Vater war äh Ratsherr (I: hm) bei der Stadt M.. (I: hm) Und da ham se nun zum ersten Mal seit zehn oder fünfzehn Jahren wieder en Auszubildenden eingestellt. Und mein Vater hat sich das wohl in die Augen gesetzt oder ins Gehirn gesetzt, dass ich das nun werden sollte. Na ja, und dann hab ich mich da auch beworben. 18. [VATER DIRIGIERT SEINEN BERUFSWUNSCH UM]
Segmentierung und Paraphrasierung
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Zeilen 103-106 Und na ja dann er war damals also auch in der SPD, und die hatte die Mehrheit da. Und da konnten und der war auch äh stellvertretender Bürgermeister. (I: hm) Und von daher konnten se schlecht nein sagen. (I: hm) Also ich na ja bin ich da hingekommen. 19. [VATER IST STELLVERTRETENDER BÜRGERMEISTER (SPD)]
Zeilen 108-111 Und dann hab ich also praktisch im Abschlusslehrgang von der von der Verwaltungslehre erstmals von gehört, dass es auch noch en gehobenen Dienst gibt. Und da hab ich mich bei der Stadt M., bei der Stadt G. beworben. Und das hat auch gut geklappt. 20. [STEIGT IN DEN GEHOBENEN DIENST AUF]
Zeilen 111-117 Na, da musste man auch wieder die dreieinhalb Jahre äh die drei Jahre Vorbereitungsdienst machen. Davon war man ein Jahr in Hannover zu jeweils zu nem halbjährigen Lehrgang. Das war interessant. War auch so’n bisschen konnte man denn hat man sich so’n Zimmer genommen mit vier andern ne Wohnung, hatte jeder en Zimmer. Und dann wohnte man en halbes Jahr zusammen. Und das war eigentlich ne schöne Zeit. (I: hm) Hat man auch so’n bisschen erlebt und man konnte abends Großstadt Hannover, das war natürlich so’n bisschen besser 21. [GROßSTADT-WG ERMÖGLICHT NACHTLEBEN]
Zeilen 120-123 Ja, Stadt M., äh Stadt M. ob’s en ländliches Gebiet is, also ja das is en na ja, das is schon so lange her jetzt. Aber is wie gesagt, en kleines, man kann nur sagen ne kleine Gemeinde. Also is fetemäßig is das gar nichts. 22. [HEIMATORT AUF DEM LAND IST OHNE NACHTLEBEN]
Zeile 126 Mein Vater is Flüchtling. (I: hm) Der kommt aus Schlesien. 23. [VATER IST FLÜCHTLING]
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Zeilen 126-129 Is in irgendwo verletzt worden, hier in der Hand. Is dann nach N. ins Krankenhaus gekommen. (I: hm) Nja und die sind ham sich wohl auch mal die Gegend angeguckt. Und äh da sind se dann in M. äh mal ner Party oder ne Fete, was da war. 24. [VATER IST AN DER HAND VERLETZT, ALS ER DIE MUTTER KENNEN LERNT]
Zeilen 124-129 I: Hm. Na, weil Sie jetzt auch sagten, dass Ihre Mutter selber aus ner Bauernfamilie kommt. (Z: hm) Die ham dann und und Sie sind dann auch das Anwesen sozusagen – Z: Mein Vater is Flüchtling. (I: hm) Der kommt aus Schlesien. (I: hm) Is in irgendwo verletzt worden, hier in der Hand. Is dann nach N. ins Krankenhaus gekommen. (I: hm) Nja und die sind ham sich wohl auch mal die Gegend angeguckt. Und äh da sind se dann in M. äh mal ner Party oder ne Fete, was da war. 25. [ELTERN LERNEN SICH AUF EINER FEIER KENNEN]
Zeilen 129-131 Ja, und dann äh ham se dann en Kind gekriegt und denn musste ja nun irgendwohin ne. Dann sind die erstmal in das Bauernhaus meiner Oma und Opa (I: hm) eingezogen. Ham da so ne anderthalb Zimmerwohnung oder was weiß ich gehabt. 26. [ELTERN ZIEHEN BEI MUTTERELTERN EIN]
Zeilen 131-134 Und bis das nebenan frei war das Haus. (I: hm) Und da sind wir denn da rüber gezogen. (I: hm) War ooch en kleines Haus, also nix besondres. (I: hm) Also da da wohnte früher mal, nehmen wir mal an, en Knecht oder irgend so was oder wofür se das gebaut ham. 27. [ELTERN ZIEHEN INS EHEMALIGE KNECHTHAUS]
Zeilen 137-139 Das war früher früher war das äh mein Opa war Maurermeister, (I: hm) bekannter Maurermeister. Und äh der den kenn ich überhaupt nich mehr. Also der ähm hatte dann nebenbei so ne ne kleine Landwirtschaft 28. [MUTTERVATER IST BEKANNTER MAURERMEISTER UND (NEBENERWERBS)LANDWIRT]
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Zeilen 139-142 mit so’m na gut, die Gebäude sind schon ziemlich groß gewesen ne. Aber na gut, damals hat man als Bauer hat man en bisschen größer gebaut. (I: hm) Also ’s war kein großer Bauer, ’s war en Mittelbauer, sag ich mal. (I: hm) ’s gab da größere in M.. (I: hm hm) Ja. 29. [MUTTERELRTERN HABEN GROSSES GEHÖFT MIT KLEINER LANDWIRTSCHAFT]
Zeile 145 bei uns bei uns mein Vater war mein Vater war nie handwerklich geschickt 30. [VATER IST HANDWERKLICH UNBEGABT]
Zeilen 145-146 Und meine Mutter hat en Garten früher gehabt. 31. [MUTTER PFLEGT DEN GARTEN]
Zeilen 146-152 Und äh der Hof selber, der is auch äh, sagen mer mal, durch die Größe, durch die fehlende Größe is der existiert der eigentlich nich mehr. Da sind nur noch die das Gehöft is da, (I: hm) also der Bauernhof. (I: hm) Und die Felder sind alle weg. Also das – I: Sind die ham sie denn verkauft worden oder? Z: Ham verkauft ja irgend so. Denn der Bauernhof, der zerfiel denn auch nun mittlerweile, weil nix dran gemacht wurde. 32. [FELDER WERDEN VERKAUFT, GEHÖFT VERFÄLLT]
Zeilen 152-156 Und dann mussten die ja nun auch was was machen, also mein Onkel dann praktisch, (I: hm) der da jetzt noch wohnt mit (I: hm) seiner Frau. I: Das heißt, das is dann auch die der Bruder der Mutter gewesen, der sozusagen dann den Hof übernommen hat? (Z: hm) Ah ja. Und Sie sind sozusagen nur (Z: ein Haus weiter) ein Haus weiter. 33. [MUTTERBRUDER ÜBERNIMMT DAS GEHÖFT UND RENOVIERT ES]
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Zeilen 157-160 I: Und der Bruder selber is auch nich in der Landwirtschaft tätig? Z: Der war der war ursprünglich Landwirtschaft. Aber äh (I: hm) das is zu klein ne. (I: hm) Also man muss heute schon en bisschen Fläche ham. Und (I: hm) das is praktisch mitten in der Innenstadt von M. da dieses äh dieses Haus. Und äh das geht im Grunde gibt’s, glaub ich, noch drei oder vier Bauern. Und die sind alle äh Aussiedler. (I: hm) Also da spielt sich nichts mehr ab. 34. [LANDWIRTSCHAFT IM ELTERNDORF WIRD VON AUSSIEDLERN BETRIEBEN]
Zeilen 163-166 Tja, mein Vater hart aber herzlich. (I lacht kurz) Der war also manchmal sehr jähzornig, konnt sehr jähzornig werden. Kann mir verschiedene Sachen dran denken, aber andrerseits, sag ich immer heute, er is schon tot. Äh heute hab ich noch, sag ich immer, ihn in guter Erinnerung. (I: hm) Also da is jetzt äh nichts mehr hängen geblieben oder so was. Aber er konnte manchmal schon, 35. [VATER WIRD HANDGREIFLICH]
Zeilen 168-174 Meine Mutter, die is war eigentlich immer die bestimmende Person, wenn’s um den Haushalt ging und um das Geld, um die Geldfragen auch und äh wie’s weitergeht. Und nich dass mein Vater das nich konnte oder auch nich gemacht hat, aber so im Endeffekt wurde mehr auf meine Mutter gehört. Also also dann mein Vater hat zwar auch gesagt, mein Vater hat gesagt, nee, mach ich nich. Und dann konnte sie zwar auch nichts mehr sagen. (I: hm) Aber irgendwann hat sie’s denn doch mal hingekriegt oder (I: hm) oder hat’s auch nich hingekriegt. Also das kann man (I: hm) muss man auch so sehn. Aber meistens war so meine Mutter so. 36. [MUTTER IST GRAUE EMINENZ IM HAUSHALT]
Zeilen 174-179 Mein Bruder, der och der war mein Bruder. Der hatte seinen Freundeskreis, ich hatte seine Freundeskreis meinen Freundeskreis. Und äh da ham wir eigentlich wir ham zu Hause in einem Wohnman kann sagen brüderlich, aber nich brüderlich herzlich und nich brüderlich mies, einfach so, (I: hm) wie zwei Brüder zusammen sind. Wir ham Handball zusammen gespielt. Und äh kann ich eigentlich nix zu sagen. Wir verstehn uns heute ganz gut. 37. [VERHÄLT SICH INDIFFERENT ZUM BRUDER, MIT DEM ER HANDBALL SPIELT]
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Zeilen 179-183 Und meine Schwester, die is äh (zögert kurz) die is achtzehn Jahre jünger. (I: ah) Und äh das war natürlich noch, das weiß ich noch wie heute als sie geboren is. Da ham wir auf’m Sofa gesessen und denn ham wir Trampolin auf’m Sofa gespielt. Da ham wir uns so gefreut. Weils auch en Mädchen war, weil ja nun das Mädchen kommen sollte.(I: hm) 38. [GEBURT DER 18 JAHRE JÜNGEREN SCHWESTER WIRD VON BRÜDERN BEJUBELT]
Zeilen 183-184 Gut, die ähm die hat’s als einzigstes geschafft, Gymnasium zu machen. (I: hm) Und die is hat Sozialarbeiterin is hat hat die eingeschlagen. 39. [SCHWESTER ABSOLVIERT GYMNASIUM UND STUDIERT SOZIALARBEIT]
Zeilen 191-198 Äh mein Vater is ja nun gestorben. Und jetzt gings ja nun dadrum, mein Bruder äh lebte nicht in dem Haus meiner Eltern mit. Äh und der war früher, der is geschieden, lebt mit ner neuen Frau zusammen, aber in ner eigenen Wohnung. Und die die Frau lebt aber auch nich bei mein Bruder mit in der Wohnung. Die hat auch ne eigene Wohnung. Und jetzt war das eben so gesagt, dass äh denn mein Vater is ja gestorben, dann könnte der doch mit ins Haus ziehen. Und das will meine Mutter nich, weil dann äh die Hektik, also sie sagt, sie will das nich. Sie will denn also es wird so passieren, wenn meine Mutter mal angenommen sie sollte sterben, dann zieht von mein bekommt mein Bruder das Haus. Das is schon (I: hm) testamentarisch erledigt. 40. [MUTTER VERWEIGERT SOHN DIE RÜCKKEHR INS ELTERNHAUS]
Zeilen 205-212 Und dann hatten wir wieder einen Herr M.. Das war denn der Klassenlehrer bis zur zehnten Klasse. Der war auch so ungefähr wie mein Vater. So schätz ich den ein. Und die konnten sich auch, die ham sich auch verstanden. Und der äh ja der war auch so. Der hat uns unterrichtet in Mathematik, Chemie, Physik und Biologie, also diese mathematischen Fächer. Da war ich nich so gut drauf. Also immer nur so Vieren. Und ähm ja der also da sollt ich dann besser werden. Und das hat nich hingehauen und na jedenfalls: also Ziehe, aus dir wird nichts. (lacht kurz) Hat er denn gesagt. Und so also der war ich finde, war ganz nett. 41. [KLASSENLEHRER VERNEINT SEIN ENTWICKLUNGSPOTENTIAL]
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Zeilen 216-219 Schulkameraden hatten wir eigentlich der eine war Bauer im Oberdorf, Bauernsohn. Interessierte mich damals so’n bisschen Natur und heute ja immer noch. Wollte so’n bisschen draußen sein. Ähm da war ich viel bei dem auf’m Hof, wenn Heuernte oder Strohernte oder irgendwas draußen gemacht ham oder da sind wir denn viel da gewesen. 42. [HILFT AUF DEM BAUERNHOF EINES SCHULKAMERADEN]
Zeilen 219-229 Und dann hatt’ ich noch früher war ich noch in der Waldjugend. Das war so’n ’s hieß Waldjugend ja. Dann machte man so einmal pro Woche Treffen. Und denn ging man raus und bastelte man so Riesendrachen. Also die sind zum Teil drei Meter groß und dann zog man den hoch. Und man machte eben immer was äh in ner Natur. Und der Sohn vom Förster, das war unser Leiter. Da ham äh sind wir denn immer in Wald und ham Birken angestrichen so mit mit Petroleum einmal rundrum, dass die abfaulten, dass die kaputt gingen. (I: hm) Weil die dann störten in diesem Nadelwald. Und das ham wir gemacht. Und dafür ham wir immer Geld gekriegt. Und davon ham wir unsre Großfahrten gemacht. Schweden, Irland, Tirol sind wir also dann mit Eisenbahn runter und Affen, ich weiß nich, ob se das kennen, so’n so’n Kriegstornister los, (I: hm) hinten so ne Rolle drauf und Zelt drauf. Und dann sind wir los. Das hat Spaß gemacht. 43. [IST MITGLIED IN DER WALDJUGEND]
Zeilen 256-267 Und ich muss sagen, also mit Mädchen war damals bei uns noch nich so viel los, muss man eh dazu sagen. Da sind wir denn also ham uns auch lieber denn mal bei dem einen Freund oben hingesetzt und en Kasten Bier genommen zwischen sechzehn bis neunzehn. Ham lieber denn getrunken als denn abends auf die Piste zu gehen ne. (I: hm) Also das I: Wie kam das? War das -? Z: Das war einfach so, das weiß ich nich. Und wir warn entweder warn wir noch nich soweit oder oder das Bier hat uns besser geschmeckt. Also jedenfalls wir ham denn zusammen gesessen und ham Karten gespielt. Weil ich weiß noch, Silvester ham wir immer zusammen gesessen und ham da in so’m Gartenhäuschen und ham uns da, was weiß ich, ham da Silvester drin gefeiert. Also auch alles relativ spät, also mit zwanzig, vorher hat da von uns eigentlich keiner en Freund gehabt in meinem Alter bei M., (I: hm) Freundin. 44. [SPIELT KARTEN IM GARTENHAUS]
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Zeilen 268-271 Als ich die Lehre begonnen habe, da hab ich praktisch, da warn die alten Leute noch da, also die die Verwaltungsleute, die da – also Junge warn schon lange nich mehr da. Und da war ich der Jüngste da und musste praktisch auch, wie das wirklich so war damals, also hier es Gehacktes holen ne. (I: hm) Aber los. (I: hm) Und ham wir dann auch gemacht. 45. [IST DIENSTBOTE SEINER VORGESETZTEN]
Zeilen 271-276 Und also Lehrzeit [.] hat denn der ??? war damals sehr interessiert, dass ich auch immer ordentlich lern- lernte. Er hat mir Bücher gegeben. Und das ging ja auch eigentlich alles so ganz gut denn. Man muss ja en bisschen Notenschnitt ham, (I: hm) um denn weiterzumachen. (I: hm) Und das war denn bei mir auch gegeben. Und dann bin ich dann N. ge- nach äh nach G. gekommen. 46. [WIRD VOM VORGESETZTEN ZUM LERNEN ERMUNTERT]
Zeilen 281-285 Und dann gings natürlich en kam ich als erstes Amt ins Sozialamt rein. Das weiß ich noch wie heute. Ich denke, was is denn hier los. Was is denn hier los. Also so was hab ich im Grunde noch nie gesehn ne. Diese ganzen vielen Leute, Sozialempfänger und da ham se mich gleich in so’n Bezirk reingesteckt, wo also wo man ziemlich harte Leute dann sieht. Und ich denke, oh Gott oh Gott oh Gott, was is denn hier. 47. [HAT BERUFLICH MIT SOZIALHILFEMPFÄNGERN ZU TUN]
Zeilen 298-313 Als ich dann ja dann war natürlich auch war natürlich dann auch äh ja das war dann das war auch wie ich nach G. gekommen bin, das war eigentlich auch so’n bisschen, eigentlich wollt ich lieber noch nach M. fahrn und jeden Tag hierher fahrn. Aber am 14. Oktober hatt’ ich Geburtstag. Und da hab ich gefeiert und bin am nächsten Morgen gefahrn. Und da hat ich immer noch zuviel Promille drin ne. (I: hm) Na ja, dann hab ich das anders gelöst (?). Ab 1.1.78 wohn ich dann ja hier in G. ne. (I: hm) Und da hatt’ ich mir dann also äh ne eigene Wohnung genommen. 48. [EIGENE WOHNUNG IN MITTELSTADT ERMÖGLICHT AMÜSEMENT]
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Zeilen 307-313 Und ähm ja und dann hatt’ ich die Wohnung und G.. Und dann kam natürlich die ganzen M. Freunde von der Schule (I: hm) Freitag Wochenende (I: hm) hatten se ja, wussten se ja, wo se hingehn konnten ne. (I: hm) Und da ham wir eben mal na ja ach hier en bisschen rumgemacht. Aber wenn irgendwas war, denn ja dann bin ich auch relativ noch früh hierher gekommen. Das war denn aber auch so, nach sechs, sieben Jahren is das aber auch wieder eingeschlafen. Dann hatten die ihre Freundinnen und verheiratet oder so, dann war die Sache auch erledigt. 49. [ERHÄLT DURCH STADTWOHNUNG ZULAUF VON FREUNDEN VOM LAND]
Zeilen 343-349 I.: Äh wie kam es denn genau, dass Sie Ihre Frau kennengelernt ham? Z: Ach, das war auch nur so auch in ner Kneipe abend, also in dieser Diskothek da. Dann warn da zwei Mädchen. Und dann eben ne, die eine sieht ganz hübsch aus, forderst sie mal zum Tanzen auf. Ja, dann ham wir getanzt. Und dann ham wir was getrunken ne. Und wo kommst du denn her. Ja aus ???hausen. Ja, wo is denn das. Ja, das is noch mal so dreißig Kilometer von hier entfernt. Ja, da können wir uns ja mal. Na ja, wartest erst mal ab. Und na ja, dann ham viermal ham wir uns noch getroffen, dann hab ich se mal besucht. 50. [LERNT EHEFRAU IN DER DISCO KENNEN]
Zeilen 349-353 Und die hatten auch en ganz großen Landwirt- die ham heut noch ne große Landwirtschaft. Und na ja, dann ham wir uns dann besucht. Und dann mein Auto kam in die Gasse rein. Und innerhalb von einer Minute saß sie dann schon bei mir mit im Auto drin, weil se, was weiß ich, weil se das wohl nich sehen sollten die Eltern. 51. [ELTERN DER EHEFRAU HABEN GROSSE LANDWIRTSCHAFT]
Zeilen 353-359 Jedenfalls und das dauerte dann noch so ja anderthalb Jahre. Und dann warn wir auch verheiratet. I: Hm. Das war dann so wann ungefähr? (Z: 86) 86. Hm. Und da is auch Ihre Tochter dann oder nee Moment (Z: nee) Ich weiß jetzt gar nich mehr. Sie ham zwei Töchter oder? Z: Zwei Töchter. Wann hab ich denn nun geheiratet. Fünfund- 86, 85 hab ich geheiratet. 2.5.85 Und am 30.1.86 is das (I: hm) is die älteste Tochter (I: hm) geboren worden. Und 23.3.90 die zweite. (I: hm hm) Ja, das war das, wie ich meine Frau kennengelernt habe. [.] Weiß ich im Augenblick nich mehr. 52. [HEIRATET UND HAT ZWEI TÖCHTER]
Segmentierung und Paraphrasierung
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Zeilen 362-368 Ich muss sagen, also äh zu den Nachbarn is es eher, sagen mer mal so, distanziert. Muss man wirklich so sagen. Nebenan wir wohnen ja in Reihenhäuser. Nebenan, das sind wir sind jetzt also die erste Gen- die zweite Generation, die einzieht. (I: hm) Links und rechts sind ganz alte Leute. (I: hm) Da sind äh das is die Tochter von dem Erstbezug eingezogen mit ihrem Mann. Und weiß ich nich, also da kommen wir auch ich dazu. Und da vorne wohnen auch noch ganz alte Leute. (I: hm) Also jetzt is es im Augenblick äh die beiden da drüben, da sind jetzt neue Leute eingezogen. (I: hm) Und der eine is auch noch en Arbeitskollege von mir. Mit dem treff ich mich öfter da mal. 53. [HAT DISTANZIERTES VERHÄLTNIS ZU REIHENHAUS-NACHBARN IN MITTELSTADT]
Zeilen 369-371 Und ansonsten können wir uns hier nich so äh äh – na klar, man sagt, Guten Tag und äh wie geht’s und ham Sie das schon gehört und da was machen Sie denn da. Und äh man tauscht sich schon aus. Und meine Frau wesentlich mehr noch. 54. [EHEFRAU KOMMUNIZIERT MIT DEN NACHBARN]
Zeilen 371-373 Also da muss ich auch sagen, so’n bisschen, sag ich mal so, so’n bisschen mundfaul bin ich auch, sag ich mal. Also ich geh nich gleich so auf jemanden zu und beschnacke den also wie so’n, (I: hm) äh wie einer, der mehr aus sicher herausgehen könnte 55. [IST MUNDFAUL]
Zeilen 376-383 wie gesagt, äh meine Arbeitskollegen und der mein Cousin, wir spielen noch regelmäßig Karten. Und denn spiel ich, ach so, Karten spielen tue ich auch noch in äh – 1977 war denn diese, da war mer dieses letzte Jahr auf’m Lehrgang in H. Und da ham wir denn also Doppelkopf angefangen mit vier Mann. Und äh das spielen wir heut noch. (I: hm) Und dann einmal pro Monat spielen wir noch. Die sind also mittlerweile auch alle nich mehr bei der Stadt äh G.-Stadt. Ich bin der letzte, der von denen dabei bei der Stadt G.-Stadt geblieben is. Und dann spiel ich ja noch, wie gesagt, mit den andern Doppelkopfrunde. Nee, mit denen spiel ich Rommé. Mit also mit meinem Arbeitskollegen und meinem Cousin. Und denn mit ner mit dem Freund meiner Frau und davon noch zwei andre, da spiel ich auch noch Doppelkopf. Da spielen wir, da machen um Geld spielen wir da. Und da machen wir einmal pro Saison so ne Wochenendreise von (I: hm) und machen lassen da mal so’n bisschen (I: hm) die Sau raus. I: Was sind das so für Ziele, so ne Wochenendreise? Z: F.-Dorf. I: Kenn ich F.-Dorf? Sagt mir nichts. Z: Äh sagt mir auch brauchen Sie auch nich zu wissen. Das is so’n Feriendorf. Und da wird das ganze Wochenende nonstop in allen Gassen äh Musik (I: hm) und ganzen äh Doppelkopfrunden, (I:
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hm) Kegler, Keglerrunden und so weiter. Also da wird dann abgeschwoft und abgetanzt (I: hm) und na ja. Wir stehn da, also ich würde da lieber nich so gern hinfahrn. Ich würde lieber en bisschen was andres machen. Aber die fahrn nun hin, und (I: hm) ich will hab ja auch mit einI: Is das dann so ne Männerrunde oder? Z: Nur Männer. (I: hm) Nur Männer. Also Frauen, unsere eigenen Frauen sind da en bisschen fehl am Platz. I: Hm. Aha. (beide lachen kurz) Warum? Z: Ja, weil Sie gesagt ham aha. I: Nein, ich mein, warum sind die fehl am Platz? Z: Ja, da wollte man sich eigentlich en bisschen mit andern Frauen unterhalten. I: Hm. [.] Na ja. 56. [FÄHRT MIT KARTBRÜDERN AUF AMÜSIERWOCHENENDEN, BEI DENEN EIGENE FRAUEN AUSGESCHLOSSEN SIND]
Zeilen 438-445 Und dann kommt diese Frau Müller, die is die Assistentin da von der CDU, und sagt, Herr Ziehe, können Sie mal ausrechnen. Sag ich, na geben Sie her. Und dann rechnen wir’s schnell aus. Und denn irgendwann kam se mal an und sagte, hier, wir suchen Schöffen, wollen Sie sich denn nich auch mal eintragen? Da sag ich, (räuspert sich) ach ja, das is ja ganz interessant. Das mach ich mal. Was muss ich denn machen? Ja, ab und zu werden Se denn mal geladen. Gut. Unterschrieben und irgendwann da nach ner Zeit hab ich denn ähm Nachricht bekommen, dass ich Kinder- und Jugendschöffe war. 57. [WIRD VON DER CDU ALS SCHÖFFE NOMINIERT]
Zeilen 497-502 Das war äh das war (zögert kurz) musst ich ja kurzfristig nach G. gezogen, bin ich nach G. gezogen. (I:hm) Hab denn die Wohnung genommen. (I: hm) Auf einmal hab ich festgestellt, ich muss ja auch noch zur Bundeswehr. (I: hm) Ja, und da hatt’ ich alles schon gekauft, die Möbel und so und die Wohnung genommen. Und da hab gesagt, nur ganz schnell verpflichten, damit ich denn nich mehr los muss. Und das is der wahre Hintergrund. Ich wäre sonst auch zur Bundeswehr gegangen. 58. [WEHRDIENST IST UNVEREINBAR MIT STADTWOHNUNG]
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