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EMPIRE, die mächtige und geheimnisvolle Verbrecher-Organisation, manipuliert mit Zeit und Geschichte. Der Grund ist Hannibal Fortune, Spezialagent von TERRA. Durch raffinierte Praktiken und Eingriffe in die Geschichte versucht EMPIRE zu erreichen, daß Rom den zweiten Punischen Krieg verliert – mit all seinen Folgen. Die Gangster wissen genau, daß Hannibal Fortune eingreifen muß, um dies zu verhindern. Und EMPIRE setzt alles daran, Hannibal Fortune endgültig auszuschalten. Die Falle, die sie ihm stellen, schnappt zu. Fortune ist in der Zeit gefangen, und das kann tödliche Folgen haben: denn kein Mensch kann zweimal in derselben Zeit existieren.
Ferner liegen vor in der Reihe der Ullstein Bücher: Science-Fiction-Stories 1 (2760) Science-Fiction-Stories 2 (2773) Science-Fiction-Stories 3 (2782) Science-Fiction-Stories 4 (2791) Science-Fiction-Stories 5 (2804) Science-Fiction-Stories 6 (2818) Science-Fiction-Stories 7 (2833) Science-Fiction-Stories 8 (2845) Science-Fiction-Stories 9 (2853) Science-Fiction-Romane: Jeff Sutton: Die tausend Augen des Krado 1 (2812) Samuel R. Delaney: Sklaven der Flamme (2828) Cyril Judd: Die Rebellion des Schützen Cade (2839) Eric Frank Russell: Planet der Verbannten (2849)
Larry Maddock
Gefangener in Raum und Zeit Science-Fiction-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
Ullstein Buch Nr. 2857 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien
Titel der amerikanischen Originalausgabe: THE TIME TRAP GAMBIT Übersetzt von Ingrid Rothmann
Umschlagillustration: John Schoenherr Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten © 1969 by Ace Publishing Corp. Übersetzung © 1971 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1972 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-02857-8
1 Die jettschwarzen Augen Pohl Tausigs, des rundlichen Einsatzleiters der Abteilung für Rekonstruktion und Sicherung der Zeitbalance, blickten über ein ebenso schwarzes Bartgestrüpp hinweg seinen gutaussehenden jungen Besucher an. »Der Fall ist auf Sie zugeschnitten, Fortune«, tönte Tausig mit einer Stimme, die an einen Tempelgong erinnerte. »Wieder auf der Erde?« fragte der Sonderagent und ließ seine schlanke Gestalt in einen Sessel fallen. »Die Nordküste Afrikas«, sagte Tausig. »Unser dort ständig stationiertes Team meldet, daß ein Eroberungskrieg eine falsche Wendung nehmen will. Die rechtmäßigen Sieger treiben mit Windeseile auf eine Niederlage zu.« »Das klingt aber nicht so, als hätte EMPIRE seine Hand dabei im Spiel«, wandte Hannibal Fortune ein. »Wer sind die kriegführenden Parteien?« »Rom und Karthago.« Der Agent stieß einen leisen Pfiff aus. »Jetzt verstehe ich, warum Sie glauben, daß der Fall auf mich zugeschnitten ist. Für ein Zusammentreffen mit meinem Namensvetter habe ich mir immer schon einen Vorwand gewünscht.« »General Hannibal ist bis jetzt noch nicht aufgetre-
ten«, sagte Tausig. »Der Bericht stammt aus dem Jahr 2775.« Fortune rechnete im Geist schnell das Jahr in Erdzeit um und nickte. Seit er seine Arbeit über die Punischen Kriege verfaßt hatte, waren mehr als sechzig Jahre verstrichen. Einige Einzelheiten waren ihm dabei schleierhaft geblieben. »Moment; also noch Scipio und Syphax gegen Hasdrubal. Habe ich recht?« Der beleibte und bärtige Mann schüttelte den Kopf. »Irrtum. Hasdrubal und Syphax gegen Scipio.« Der Agent zog die Stirn kraus. »Soviel kann ich nicht vergessen haben, Pohl.« Tausig lächelte. »Ihr Gedächtnis ist tadellos. In acht Tagen wird Wi'in zur Einführung zur Verfügung stehen. Bis dahin müssen Sie einsatzbereit sein.« Er schloß die vor ihm liegende Akte und schob sie beiseite. Der riesige künstliche Planet im Mittelpunkt der Galaxis stellte den wohl ehrgeizigsten Versuch dar, den Status quo der galaktischen Geschichte zu bewahren. Jeder einzelne seiner zehntausend Bewohner war sich darüber im klaren, daß nicht nur die Zukunft, sondern die gegenwärtige Existenz davon abhing, die Vergangenheit so zu bewahren, wie sie sich zugetragen hatte. Auch jeder der zehntausend anderen Agenten – je-
ner ständig einsatzbereiten Agenten von TERRA, die entlang der Zeitlinie der Planeten der Galaktischen Föderation stationiert waren – wußte, daß die Welt plötzlich zu bestehen aufhören könnte, wenn es nicht gelänge, wichtige Abweichungen eines bekannten Geschichtsverlaufes rechtzeitig festzustellen. Daher war es die Pflicht Vangos und seines symbiotischen Partners Arrik gewesen, die im alten Karthago auf dem Planeten 38 im Jahre 203 stationiert waren, Meldung zu erstatten, daß es Scipio nicht gelungen war, die benachbarte, viel ältere Stadt Utica zu dem Zeitpunkt zu erobern, den die Geschichte verzeichnete. Da Hannibal Fortune der einzige Sonderagent von TERRA war, der sich bei seiner akademischen Ausbildung der Geschichte des Planeten Erde gewidmet hatte, kannte er die grausame und wirkungsvolle Art, wie Publius Cornelius Scipio die Städte Utica und Karthago in die Knie gezwungen hatte. Die genaue Truppenstärke der beteiligten kriegführenden Parteien war ihm entfallen, doch wußte Hannibal noch, daß Scipios Legionäre und die barbarischen Krieger des Syphax den Verteidigungstruppen Uticas, einschließlich der Armee Karthagos unter General Hasdrubal, zahlenmäßig erdrückend überlegen waren. Es hatte nur wenige Wochen gedauert, bis Utica gefallen war, wobei die Truppen Hasdrubals zerschlagen wurden.
Scipio und Syphax waren gegen Karthago gezogen und hatten dann die ein Jahr dauernde Belagerung Karthagos begonnen, die die Vorherrschaft Karthagos in der Antike gebrochen und Roms Aufstieg gesichert hatte. Hannibal, der von Norden her Roms Heimatfront bedrängte, war es nicht möglich gewesen, rechtzeitig zur Rettung der Stadt heimzukehren. Nach Vangos Bericht zu schließen, hatte jedoch König Syphax die Seiten gewechselt, Utica war nicht gefallen, und weitere Verzögerungen konnten bewirken, daß Scipio – und Rom selbst – anstelle Karthagos ausgelöscht wurde. Die möglichen Folgen einer solchen Geschichtsabweichung durfte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Entlang einer gegebenen Zeitlinie gab es nur wenige Ereignisse, die bedeutsam genug waren, um die Grundlagen der Basiszeit zu erschüttern – die Vernichtung einer Zivilisation war ein solches Ereignis. Die Geschichte verlangte, daß Rom Karthago dem Erdboden gleichmachte. Alles, was den Ausgang dieses Konfliktes bedrohte, gefährdete gleichzeitig den Bestand der Galaktischen Föderation. Vangos und Arriks Stationierung in Karthago hatte denselben Grund wie die Errichtung des wabenförmigen Hauptquartiers der TERRA-Zentrale: Um die Unternehmungen eines verbrecherischen Genies namens Gregor Malik zu vereiteln, der sich zum Tyrannen des Planeten Borius aufgeschwungen hatte, ge-
rade als Rimaud Rudnl und Linz Lipnig die erste funktionierende Zeitmaschine konstruierten – im Jahre 2552 irdischer Zeitrechnung. Die zu diesem Zeitpunkt 68 Jahre alte Galaktische Föderation hatte die Erfindung sofort mit Acht und Bann belegt, weil sie eine ernste Bedrohung der vielen tausend Zeitlinien darstellte, auf denen die Realität der Basiszeit beruhte. Rudnl, den dieses Vorgehen gegen sein Lebenswerk verstimmt hatte, lieferte die Erfindung Gregor Malik aus. Da Malik die Erfindung als ein Mittel zur Unterwerfung des ganzen erforschten Universums erkannte, war er überglücklich, den Gönner Rudnls spielen zu können. Im Jahre 72 galaktischer Zeitrechnung hatte sich die Galaktische Föderation sodann gezwungen gesehen, die Organisation TERRA zu gründen und sie mit der gleichen Erfindung auszurüsten, die sie sechs Jahre vorher für verboten erklärt hatte. In den folgenden fünfzehn Jahren hatte TERRA einen erbarmungslosen Krieg geführt, um die Bestrebungen EMPIRES, sich in die Zeitlinien der siebenundvierzig Mitglieder der Föderation einzumischen, aufzudecken und zu vereiteln. Obwohl sich Malik selbst nach außen hin von EMPIRE distanziert hatte, unterstützten seine Anhänger EMPIRE weiterhin in seinen Bemühungen, die Geschichte der Planeten durcheinanderzubringen. Die Doppelaufgabe – erstens, herauszufinden, auf
welche Art EMPIRE aus dem Zweiten Punischen Krieg Nutzen zu ziehen suchte und zweitens, wieder alles ins rechte Lot zu bringen – ruhte ausschließlich auf den Schultern eines einzigen: auf den Schultern Hannibal Fortunes und seines symbiotischen Partners Webley.
2 Der drahtige, weißbärtige Experte für Kampftechnik begrüßte Fortune lächelnd. »Ich habe gehört, man hat Sie dazu ausersehen, sich mit einem meiner Lieblingsfeldzüge zu befassen«, bemerkte er. »Hätte ich mir doch gleich denken können, daß der Punische Krieg Ihr Steckenpferd ist, d'Kaamp«, erwiderte Fortune. »Wissen Sie bereits, auf welcher Seite Sie mitmachen werden?« »Diese Entscheidung muß ich verschieben, bis ich die gegenwärtige Situation überblicken kann. Sie bereiten mich daher am besten auf beide Möglichkeiten vor.« »Beide?« konterte der Ausbilder. »Es sind fünf verschiedene Armeen beteiligt. Scipios Truppen, römische Soldaten herkömmlicher Art; Hasdrubals Armee, die ebenso herkömmlich karthagisch ist; Hannibals Armee, der mit Karthagern, Galliern und Numidiern auszog, aber während der jahrelangen Feldzüge rund um Rom eine beträchtliche Anzahl von Italikern um sich geschart hat; die Barbaren unter Syphax, aus allen Stämmen Nordafrikas stammend, eine stattliche Anzahl numidischer Reiter miteingeschlossen; und – bis zu einem gewissen Grade wenigstens – Masinis-
sas numidische Reiter. Wie ich mich erinnere, sind Sie ein erfahrener Reiter.« »Es geht«, gab Fortune bescheiden zurück. »Dann lassen Sie sich eines gesagt sein: Numidier reiten ohne Geschirr – kein Sattel, kein Zaumzeug, Zügel oder dergleichen.« »Wenn ich diese Rolle übernehmen müßte, würde mein Partner das Pferd in der Gewalt haben. Ich glaube kaum, daß sich in dieser Hinsicht Schwierigkeiten ergeben werden.« »Gut. Sollen wir Sie also zunächst als römischen Legionär ausbilden? Auf der Bank hier sehen Sie zwei Schwerter. Das erste ist das typische römische Kurzschwert für den Kampfgebrauch. Daneben ein Trainingsschwert mit doppelt so schwerer Klinge. Die Legionäre trainieren mindestens eine Stunde täglich damit, um den Arm zu stählen. Werfen Sie sich in Ihr Kampfgewand. Ich werde Ihnen zeigen, wie sich ein gut trainierter Legionär im Kampf verhält!« Der weißbärtige Ausbilder lächelte und wartete, bis sich Hannibal umgezogen hatte. »Zielen Sie auf mein Gesicht – Los! Los!« sagte er dann. Grinsend schnellte Fortune vor und versetzte dem Gegner einen Durchzieher von unten. Mit dieser Finte wollte er ihn aus der Schilddeckung locken. Der Rhythmus dieses Schwertspieles nach römischer Art glich einem Tanz: eins, zwei, drei, vier – und dann
wieder Ausgangsposition für Hieb und Stoß. Er hatte die schwere Klinge bereits zurückgezogen und das Gewicht bei ›drei‹ nach vorn verlagert, als er merkte, daß d'Kaamp den Schild noch immer hochhielt, ihn immer höher hob und dabei eine leichte Rechtswendung machte. Er versetzte Fortune unter dessen erhobener Waffe einen Stoß, wobei er dessen Schwert mit seinem Schild noch mehr in die Höhe zwang. Jetzt war Fortunes rechte Seite zur Gänze ungedeckt, und d'Kaamps Klinge stieß von unten her zu. Wumm. Fortune versuchte eine Seitwärtsdrehung, doch der dadurch bedingte Schwung wirkte sich nachteilig aus. Der Ausbilder erwischte ihn mit der Schwertspitze an den Rippen. »Sie sind tot«, sagte d'Kaamp. »Ich weiß«, mußte der Agent kläglich zugeben. »Die präzise Kampfweise der römischen Armee ist ihre größte Stärke, läßt aber wenig Raum für Flexibilität – die höchsten Spitzen ausgenommen. Ein römischer Fußsoldat ist allem gewachsen – nur keinem unkonventionellen Gegner.« »Ich will's mir merken.« »Merken allein genügt nicht, wenn Sie am Leben bleiben wollen«, meinte d'Kaamp berichtigend. »Am klügsten ist es, wenn Sie sich aus Kampfsituationen überhaupt heraushalten. Wenn Sie sich aber auf einen
Schwertkampf einlassen müssen, denken Sie daran, daß die Römer die einzigen sind, bei denen Sie sich auf eine bestimmte Kampftaktik einstellen können. Die anderen sind ein kunterbunt zusammengewürfelter Haufen. Doch auch unter denen gibt es erstaunlich talentierte Krieger. Morgen werden wir uns mit der Philosophie der Kriegsführung jenes Mannes befassen, den Sie wahrscheinlich werden manipulieren müssen.« »Publius Cornelius Scipio –« »S-k-i-p-i-o«, gab der Ältere mit einem Kopfnicken zurück. »Wenn Sie Latein sprechen wollen, müssen Sie es zumindest korrekt aussprechen.« Von den verschiedenen Lebensformen, die Schulter an Thorax in den vierzehn Abteilungen arbeiteten, die von TERRA unterhalten wurden, war keine so ungewöhnlich wie die Spezies der Webleys und Ronels. Zu welchem Zeitpunkt im Ablauf des Kalenders der Entwicklung ihre Vorfahren das Denken gelernt hatten, war ein Geheimnis, doch hatte jenes Ereignis die anpassungsfähigsten Lebewesen hervorgebracht, die man bis jetzt in der Galaxis entdeckt hatte. Es war die einzige Lebensform, deren tägliche Betätigung darin bestand, Wunschdenken in die Tat umzusetzen. Nicht genug damit, daß diese merkwürdige Gattung (die sich selbst Torg nannte, was ganz einfach Volk hieß) nach Belieben die Gestalt wechseln konnte; sie
war darüber hinaus telepathisch begabt. Einer der nahen Verwandten der Torgs – evolutionär gesehen – besaß weder deren extreme Plastizität, noch die Fähigkeit des Gedankenlesens. Das waren Beschränkungen, die auf die Entwicklung eines ziemlich starren Nervensystems zurückzuführen waren, während die Torgs ihre völlig unspezifizierten Zellen beibehalten hatten. Das Fehlen eines Nervensystems herkömmlicher Art bewirkte einen Bewußtseinszustand, wie er bei keiner anderen Gattung zu finden war. Viele Biologen der Galaktischen Föderation hielten das auch für die Ursache der gestaltverändernden und telepathischen Fähigkeiten der Torgs. Vor langer Zeit hatten die Torgs ihre bewußtseinsdurchdringenden Talente in die Gewalt bekommen, für ihre eigenen Fähigkeiten Normen entwickelt und sich auf gewisse Regeln telepathischen Verhaltens geeinigt, um den Grad geistiger Vertrautheit zwischen einzelnen Torgs zu regeln. Meist war es so, daß ein Torg sich in einer symbiotischen Partnerschaft mit einem Angehörigen einer anderen Gattung weitaus wohler fühlte – so wie Webley mit Hannibal Fortune und Ronel mit Luise Little – als in einer Beziehung mit einem Bruder-Torg. Erstaunlicherweise hatten diese zwei Symbioten – ganz uncharakteristisch – aneinander Gefallen gefunden, eine Parallele zu der Beziehung ihrer menschlichen Partner. Was zwischen Fortune und Luise vor-
gefallen war, hatte Webley nicht sonderlich gekümmert, denn der intelligente Symbiot wußte aus Erfahrung, daß es müßig war, Fortunes komplizierte Denkvorgänge verstehen zu wollen. Am klügsten war es, Hannibals Begeisterung für weibliche menschliche Wesen einfach amüsant zu finden und nicht laut darüber zu lachen. Fortune und das Mädchen hatten ihren Jahresurlaub redlich verdient, und da Luise ihren Symbioten Ronel mitgebracht hatte, war für Webley die Zeit wie im Flug vergangen. Doch jetzt war der Urlaub vorbei, und Webley fing an, sich den Kopf über Fortunes Reaktion auf die bevorstehende Trennung von Luise zu zerbrechen. In seiner üblichen Lage auf den Schultern seines Partners spürte er Fortunes inneren Aufruhr, als dieser sich mit Luise zum Essen traf. Der Symbiot merkte sogar einen Anflug von Wehmut, der dem Mann, mit dem er in den vergangenen sechzig Jahren gemeinsam Aufträge ausgeführt hatte, sonst völlig fremd war. Das bedurfte der Beobachtung, entschied Webley. Sollte es ärger werden, dann blieb ihm keine andere Wahl, als es Pohl Tausig zu melden. »... hatte ich endlich die Möglichkeit, dich für eine Beförderung zur Sonderagentin vorzuschlagen«, sagte Fortune eben. »Ich bin noch immer nicht sicher, ob ich das schaffen würde«, erwiderte Luise.
»Ich schon. Und Pohl wird mir recht geben. Er möchte sich mit dir unterhalten.« »Wann?« Sie zupfte nervös an einer Strähne ihres goldblonden Haares. »Sehr bald, glaube ich. Er wird dich verständigen.« »Du hast mir noch immer nicht gesagt, wohin du gehst«, erinnerte sie ihn. »Karthago, 203 nach Christus. Zweiter Punischer Krieg.« »Damals, als das römische Kaiserreich noch jung war«, sagte sie. »Das römische Imperium kam erst ein Jahrhundert später. Im Jahre 203 war Rom noch Republik«, sagte er. »Was mich daran so fasziniert, ist die Möglichkeit, meinem Namensvetter zu begegnen – Hannibal von Karthago.« Luise lächelte. »Jener Hannibal, der mit Elefanten über die Alpen gezogen ist. Dem bin ich nie begegnet. Ich ziehe einen anderen Hannibal vor. Wann brichst du auf?« Fortunes Gesicht wurde ernst. »In acht Tagen«, sagte er leise. »Uns bleibt nicht viel Zeit.« »Das Jetzt ist das einzige, was uns bleibt«, gab sie zurück. »Das sollte genügen.« »Menschen«, sagte Webley verächtlich zu sich selbst.
3 »Wenn man einmal weiß, woran er glaubt«, betonte d'Kaamp zum vielleicht fünfzigsten Mal, seitdem Fortune sich mit ihm getroffen hatte, »hat man auch den Weg gefunden, ihn in die Gewalt zu bekommen. Scipio ist kein typischer Römer. Geistig steht er in der Avantgarde. Er verachtet die alten Götter und Traditionen, obwohl ihn seine gesellschaftliche Stellung dazu zwingt, die im Volke beliebte Abgötterei mitzumachen.« »Dann ist es vielleicht besser, ich komme nicht als Abgesandter der Götter zu ihm«, sagte Fortune. »Genau. In der Öffentlichkeit nimmt er Jupiter als seinen göttlichen Schutzpatron in Anspruch – Jupiter Optimus Maximus.« »Der beste und größte.« Der Weißbart nickte nachdrücklich. »Alles, was wir über ihn wissen, spiegelt das gewaltige Bestreben wider, der Beste und Größte zu sein. Weil seine Familie, die gens Cornelii, die mächtigste Adelsfamilie ist, legt er an sich selbst einen sehr strengen Maßstab an. Seine eigene Meinung über sich und seine Bestrebungen bestimmen sein Verhalten als Mensch und Heerführer.« »Sie haben öffentliche Abgötterei erwähnt«, warf Fortune ein.
»Ja. Der Kult der Magna Mater ist Ihnen doch ein Begriff?« »Cybele, die Göttin des Kornes?« »Scipios Kampagne für das Amt des Konsuls steht teilweise mit der Magna Mater in Zusammenhang«, berichtete d'Kaamp. »Hannibal stand vor den Toren der Stadt, die Bevölkerung war in Panik geraten. Also beschloß der Senat eine religiöse Schaustellung, um die Ängste des Volkes einzuschläfern. Der König von Pergamon wurde veranlaßt, den schwarzen Stein, der die große Mutter Roms sein soll, per Schiff herbeizuschaffen. Als der Stein eintraf, wurde er von Scipio – so berichtet die Überlieferung – und einer Schar tugendhafter verheirateter Frauen mit einer eindrucksvollen Zeremonie empfangen. Ich kann mir vorstellen, daß Scipio sich im Nachhinein vor Lachen ausgeschüttet hat, besonders, als der Senat entdeckte, daß selbstentmannte Priester der Göttin dienen mußten. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Scipio abergläubischen Unsinn nicht glaubt, doch respektiert er aus politischer Klugheit die Götter in der Öffentlichkeit.« »So wie die meisten irdischen Politiker«, bemerkte Fortune mit einem Lächeln. »Natürlich hat er deswegen auch an den Megalesien festgehalten.« »Megalesien?«
»Das Fest der großen Göttin«, erklärte der andere. »Da Hannibal nach der Ankunft des schwarzen Steines nicht angegriffen hatte, waren die einfachen Soldaten davon überzeugt, daß die Magna Mater sie gerettet hätte. Zum Dank feiert man seither jedes Jahr im April die Megalesien. Und da Scipio bei der ganzen Angelegenheit die Hand im Spiel hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als mitzufeiern. Würden Sie mir einen Gefallen tun, wenn sich die Gelegenheit ergibt?« fragte d'Kaamp unvermittelt. »Scipio ist eine der wichtigsten Figuren in meiner Privatgalerie militärischer Genies – ein reines Hobby, das sich von Zeit zu Zeit als nützlich erweist. Ich möchte eine Tonbandaufzeichnung seiner Entscheidungen während dieses Abschnitts seines Feldzuges haben. Ich werde Ihnen einen Miniaturrekorder mitgeben, falls Sie glauben, es könnte sich die Möglichkeit ...« »Ich werde tun, was in meinen Kräften steht«, versprach Fortune. Hannibal Fortune stand im Kontrollraum vor dem Eingang zur Bibliothek. Webley kauerte zunächst auf der linken Schulter seines Partners. Dann ließ er sich Beine wachsen und sprang zu Boden, wo er sich fest zusammenrollte, während der Computer feststellte, daß es sich wirklich um Hannibal Fortune und keinen Betrüger mit Fortunes Identitätskarte handelte. Die Maschi-
ne verlangte eine Stimmprobe, der Agent sprach die verlangten Worte: »Hannibal Fortune, Sonderagent, Abteilung für Rekonstruktion und Sicherung der Zeitbalance.« Ein grünes Licht leuchtete auf, und die Tür ließ sich öffnen. Webley sprang wieder hinauf und legte sich auf die Schulter seines Partners. Den von Bortan III stammenden amphibischen Eingeborenen war es ein leichtes, sich in interplanetarisches Verbrechertum hineinzudenken. TERRA hatte drei der abgefeimtesten von ihnen ausgewählt und ihnen die Entwicklung und Verfeinerung der Sicherheitsvorkehrungen an der Historischen Abteilung der Bibliothek übertragen. Gregor Maliks Hang zu Raubzügen hatte oft genug in den Ablauf von Ereignissen der Vergangenheit störend eingegriffen. Wenn es EMPIRE gelänge, sich den genauen Geschichtsverlauf eines der Mitgliedsplaneten der Föderation zu verschaffen, könnte es durch seine Manipulationen zu Kettenreaktionen kommen, die eine völlige Auflösung der Föderation zur Folge haben würden. Die Sicherheitsvorkehrungen der Bortaner waren – obwohl manchmal recht lästig – immerhin ein beruhigendes Anzeichen dafür, daß TERRA seine Agenten hoch einschätzte. Die Herkunft Hannibal Fortunes und seiner Kollegen hatte man absichtlich in Dunkel gehüllt, damit der Feind die Vergangenheit der Agenten nicht manipulieren und sie umdrehen konnte.
Historische Tatsachen. Fortune lachte. Er hatte schon längst erfahren müssen, daß es so etwas wie historische Tatsachen gar nicht gab. Man konnte sich höchstens an Vermutungen halten, die durch Wahrscheinlichkeitsfaktoren zusätzlich Gewicht erhielten. Bis zur Entwicklung der Zeitfähre, die es erlaubte, in der Zeit zu reisen und Beobachtungen von Ereignissen anzustellen, war Geschichte das einzige Gebiet der Wissenschaft gewesen, in dem es keine Primärquellen gab. Dem tatsächlichen Geschehen am nächsten kamen unmittelbar nach dem Ereignis aufgezeichnete Augenzeugenberichte – doch schon diese waren subjektiv verfälscht, angereichert mit dem, was der jeweilige Berichterstatter hatte sehen wollen, zurechtgestutzt nach seiner Philosophie, von den Tabus seiner Kultur vorzensuriert, verzerrt durch den Seitenblick auf die gewünschte Publikumswirkung, beschnitten durch Unterschlagung von Tatsachen, die dem Zeugen unbedeutend schienen. Jene Kulturen, die überhaupt keine schriftliche Überlieferung kannten – es gab davon in der Galaxis über zweihundert –, bildeten für spätere Gelehrte eine besondere Quelle der Frustration. Es handelte sich dabei meist um Kulturen, die für Begriffe wie Zeit oder die Aufeinanderfolge von Ereignissen keine Bezeichnung hatten. Einige, die die Schrift kannten, konnten nur bis drei zählen. Nerd, thort, ostu im hochptahrianischen
Dialekt auf Planet 26 hieß übersetzt: eins, zwei, mehr als zwei. Präzise Wiedergaben geschichtlicher Vorgänge bei den Ptahrianern begann immer mit den Worten Ostu roveen. Das war die wörtliche Übersetzung des ›Es war einmal‹ der Erdenmenschen. Ausländer staunten über den hohen Stand der Zivilisation, den Ptahr erlangt hatte, ohne je das Bedürfnis verspürt zu haben, weiter als bis drei zu zählen. Auf Besuch weilende Anthropologenteams ignorierten bald die ehrliche Antwort »Das war immer schon so« auf Fragen über verschiedene Sitten. Denn diese Antwort konnte sich mit demselben Wahrheitsgehalt auf eine jahrhundertealte Tradition, wie auf einen erst vorgestern entstandenen Brauch beziehen. Sogar Zivilisationen, die sonst alle wichtigen Ereignisse mit übertriebener Detailtreue überlieferten, stolperten über ihre eigene Zeitrechnung und setzten sich zu ihrem Bestreben nach Genauigkeit in Widerspruch, indem sie die unwichtigsten Informationen aufzeichneten und Wichtiges ausließen. Fortune hatte erfahren müssen, daß der Großteil der Historiker aller Kulturen entweder vorsätzliche Lügner waren, von naivem Wunschdenken beseelt, oder fanatische Anhänger der philosophischen Erklärung, wie und warum sich alles zugetragen hatte. »Planet achtunddreißig«, sagte Fortune. »2800 bis 2750.«
Die Bibliothekarin sah ihn mit nachdenklichem Lächeln an. »Und eine Kabine mit allem«, ergänzte der Agent. »Der Katalog ist an der linken Wand« – sie sah in einem Verzeichnis nach – »und Kabine B ist frei.« Luise Littles kurzgeschnittenes goldenes Haar und die helle Haut brachten Tausig außer Fassung. Als er sie zum letztenmal gesehen hatte, war sie dunkelhäutig und rabenschwarz gewesen. Es wunderte ihn nicht, daß Hannibal Fortune sich für sie interessierte. Was Tausig besonders erstaunte, war die Tatsache, daß der bei Frauen flatterhafte Agent länger als die üblichen paar Wochen an ihr interessiert gewesen war. Irgendwie schien das nicht zu seiner Art zu passen. Er wartete, bis sie sich gesetzt hatte. »Fortune hat Sie mir als Agentin für Spezialaufträge empfohlen.« »Während unserer gemeinsam verbrachten Zeit hat er mir viel beigebracht«, erwiderte das Mädchen. »Beruflich.« Der Operationsleiter gestattete sich ein bei ihm selten zu beobachtendes Lächeln. »Das habe ich eigentlich nicht erwartet, damals, als Sie beide gemeinsam losgezogen sind. Es wundert mich ein wenig, daß Sie längere Zeit so gut miteinander ausgekommen sind.« Luise zuckte die Achseln. »Wir mußten schließlich die Zeit totschlagen. Ich habe ihn sehr charmant ge-
funden. Es schmeichelt mir, daß er mich für eine Beförderung empfohlen hat.« »Sie scheinen ihn sehr beeindruckt zu haben. Jetzt lautet meine Frage: wie steht es mit Ihren Gefühlen ihm gegenüber?« Tausig behielt sie genau im Auge, während sie nach den passenden Worten suchte. Schließlich sagte sie: »Der Urlaub ist zu Ende.« Er nickte. »Vernünftig, daß Sie es so sehen. Jetzt kommen wir zu meinem Problem. Ich habe etwas für Sie. Möchten Sie es als Sonderagentin versuchen?« »Meine Wünsche sind unwichtig«, gab sie zurück. »Ich erwarte, daß Sie mich dort einsetzen, wo ich der Organisation am meisten nützen kann.« Der schwarzbärtige Einsatzleiter zog die Stirn kraus und überdachte ihre Antwort. Ja, entschied er. Daß sie die Interessen der Organisation über ihre eigenen Wünsche stellte, war nicht nur sehr lobenswert, sondern befriedigte im übrigen ihren Ehrgeiz, den Auftrag zu bekommen, der sie in die Zeit der Shang-Dynastie versetzen würde. Pohl Tausig hatte sich zu einem Entschluß durchgerungen. »Luise, ich weiß Ihre Hingabe an die Ziele und Interessen unserer Organisation sehr zu schätzen. Leute wie Sie können wir nie genug haben. Ich bezweifle, ob es auch nur eine Abteilung in der Organisation gibt, die nicht absolut wichtig ist. Der richtige Einsatz meiner Leute,
die Gewähr zu haben, daß sie Aufgaben zugeteilt bekommen, die ihren Fähigkeiten am besten entsprechen, bereitet mir ständiges Kopfzerbrechen. Leute mit jenen besonderen Eigenschaften zu finden, die einen erfolgreichen Sonderagenten ausmachen, ist vielleicht der schwierigste Teil meiner Arbeit. Ob Beobachter mit festem Standort oder Sonderagent – sie alle stehen in unserer vordersten Verteidigungslinie.« »Dessen bin ich mir bewußt«, erwiderte Luise. »Verzeihen Sie, wenn ich unfreundlich war, doch ich kann mir keine Fehler leisten. Ich habe Ihre Arbeit sorgfältig begutachtet und bereue nicht, daß ich Sie Ihren Wünschen gemäß eingeteilt habe. Ich glaube nicht, daß ich diese Entscheidung bereuen werde.« Ihre Miene drückte Erleichterung aus, als sie tief ausatmete. »Danke.« Tausig lächelte. »Hoffentlich verläuft Ihr Auftrag ruhig und ohne Zwischenfälle.« »Das hoffe ich auch. Sollte etwas passieren, werde ich es sofort melden.« Tausig nickte. »Miss Little, ich erwarte von Ihnen die übliche Höchstleistung.« Irgend jemand hatte gesagt, Geschichte sei der flüchtige Niederschlag davon, wie Ereignisse der Vergangenheit sich nach Meinung der Historiker zugetragen haben.
Oder: Geschichte wird schriftlich niedergelegt, wenn Annalenschreiber sich als Analytiker versuchen. Das war mit der Grund für einen der ärgerlichsten Aspekte der Rekonstruktionseinsätze: die ihnen innewohnende Ungewißheit, ob die Mission überhaupt notwendig war. Die »offenkundige Abweichung«, die von einem in jener Epoche ansässigen Agenten beobachtet und gemeldet wurde, konnte sich zwar als Abweichung erweisen, allerdings nicht vom tatsächlichen Geschichtsverlauf, sondern von einem voller Vorurteilen steckenden oder völlig verdrehten Bericht über diese Geschehnisse, den ein vermutlich sehr gewissenhafter Historiker verbrochen hatte. Die Erfahrung hatte Fortune gelehrt, daß über die meisten der auf dem Planeten 38 der Galaktischen Föderation geführten Kriege abgrundtief verzerrt berichtet worden war. Da der Haß bei einem Konflikt zwischen Mensch und Mensch fast unentbehrlich ist, neigen die Sieger sehr oft dazu, die besten Berichte der Verlierer über die tatsächlichen Ereignisse zu vernichten, zum Beispiel im Karthago des Jahres 146 vor Christus, als die Stadt dem Erdboden gleichgemacht wurde. Der beste Bericht, den Fortune und Webley entschlüsseln sollten, stammte von einem griechischen Historiker namens Polybius und war mehr als fünfzig Jahre nach den Ereignissen aufge-
zeichnet worden. Polybius war der römischen Armee, die Karthago zerstört hatte, als eine Art Kriegsberichterstatter zugeteilt. Seine Quellen waren größtenteils Erinnerungen der Familie des Scipio Africanus – zweifellos im Interesse der Heldenverehrung schon reichlich verzerrt. Daher war es sehr gut möglich, daß die Abweichung, die der Agent von TERRA im Jahre 203 bemerkte, nur einen Fehler der Geschichtsschreibung anzeigte und kein Abweichen von den tatsächlichen Geschehnissen. Doch TERRA durfte ein solches Risiko nicht eingehen. Fortune mußte von der Annahme ausgehen, daß die Unstimmigkeit durch Eingriffe von außen verursacht worden war. Vermutlich durch eine Aktion von EMPIRE, trotz der Tatsache, daß das Haupt dieser Organisation, Gregor Malik, mit Gewißheit tot war oder zumindest hoffnungslos verloren im Irrgarten der Zeit. Und daß ein solches Eingreifen schließlich die zeitliche Grundlage der Basiszeit-Wirklichkeit gefährdete, wenn man ihr nicht Einhalt gebot und die Zeitlinie wieder ins Lot brachte. Der Auftrag wurde noch dadurch beträchtlich erschwert, daß man die entsprechende Zeitlinie nicht im Detail untersuchen konnte, um zu sehen, wie weit die Abweichung zurückreichte. Auch konnte man nicht in die Zeit vor der Abweichung zurückgehen und sie verhindern. Die Regeln der zeitlichen Sicher-
heit verlangten, daß man jeden Wiederherstellungsversuch nicht eher beginnen durfte, bevor ein Abweichungsbericht eingelangt war. Während Fortune das Landkartenbild im Projektor langsam vor sich abrollen ließ, überlegte er, daß das von einem Computer überprüfte Band die wohl bestmögliche Information über das Gebiet vermittelte. Wie die meisten Landkarten war auch diese sicher ausgezeichnet. Aber eine Landkarte ist noch lange nicht das Gebiet selbst, wie Fortune aus eigener Erfahrung wußte. Befriedigt darüber, daß er sämtliche Hilfsmittel, die er möglicherweise brauchen würde, hatte herbeischaffen lassen, gab Fortune das Projektionsgerät zurück und begab sich in Kabine B. Er stülpte sich den Induktionshelm über, setzte sich bequem in dem zur Verhütung von Ermüdungserscheinungen konstruierten Sessel zurecht und drückte den Schaltknopf. Die vielfach modulierten Energiesonden des zerebralen Playback-Aggregates drangen in sein Gehirn ... Obwohl er bereits fortgeschrittene Kenntnisse im Griechischen besaß, hatte er auch ein GriechischSprachband, zusammen mit Latein, Phönizisch, Ligurisch, Hebräisch, Aramäisch, einer Auswahl semitischer Dialekte und – um das Maß voll zu machen – Etruskisch einlegen lassen. Die auf Höchstgeschwin-
digkeit laufenden Cerebralkreise fügten seinem Arsenal an auf der Erde gesprochenen Sprachen fast ein Dutzend neuer hinzu, und das in weniger als einem Zehntel einer galaktischen Standard-Zeiteinheit.* Noch vor seiner Tätigkeit für TERRA war Fortune bereits mit den Feldzügen Hannibals vertraut gewesen. Der ungehemmte Patriotismus eines Titus Livius hatte diesen veranlaßt, Hannibal als Vollblutschurken hinzustellen, wobei der Schwung von Livius' Erzählkunst und die tönende Rhetorik, der er sich bediente, aus den Punischen Kriegen ein ruhmreiches Epos formten. Polybius, der früher geschrieben hatte und dem die Manie des Livius fehlte, jedes Ereignis zur Verbildlichung eines moralischen Grundsatzes zu verwenden, war aufrichtiger. Doch waren es die drei Jahrhunderte später verfaßten Zeilen aus den Satiren Juvenals, welche Fortunes Interesse am karthagischen General geweckt hatten: »Vorwärts, du Besessener, quere die schrecklichen Alpen, auf daß du das Vergnügen der Schüler werdest.« Ganz sicher hatten es sich die alten Chronisten * Ein Tag in der TERRA-Kontrollzentrale (gleich 10 Einheiten G. F. Standardzeit) entspricht genau 25.116 Erdstunden oder 1507 Minuten. Daher entspricht eine Standard-Zeiteinheit 150,7 Minuten (2 Stunden, 30 Minuten, 42 Sekunden); und 0.1 StandardZeiteinheit entspricht 15 Minuten, 4.2 Sekunden. Für grobe Berechnungen möge der Leser eine Standard-Zeiteinheit mit 21/2 Stunden berechnen.
nicht träumen lassen, daß die Übersetzungen ihrer Werke weiterleben und einen Schüler erfreuen würden – sechsundzwanzig Jahrhunderte später und über dreihundert Quadrillionen Kilometer entfernt. Und daß derselbe Schüler, zum Manne gereift und in Kämpfen gestählt, die spektakulärer waren, als es sich der hochverehrte Livius vorstellen konnte, Zeit und Raum überwinden würde, um Augenzeuge jener Ereignisse zu werden, von denen Livius nur gehört hatte. Jetzt las Hannibal Fortune zum erstenmal Livius im Original und Polybius in Griechisch. Aus dem Französischen, Deutschen und Italienischen eignete er sich eine Reihe kritischer Kommentare an, die zu studieren einen Gelehrten herkömmlicher Art Jahre gekostet hätten. Doch auch mit Hilfe des Cerebralfeldes war es nicht einfach, in all dem einen Sinn zu erkennen, da die Mehrheit der erreichbaren Quellen durch Meinungen und Vorurteile der Schreiber entstellt waren und zusätzlich verwässert durch die verschiedenen Arten von »Objektivität«, die zur Zeit der Abfassung jeweils in Mode waren. Hannibal Fortune nahm dies alles in sich auf, speicherte alle Daten, vom Trivialen bis zum fraglos Wichtigen, um geistig alles aus dem Handgelenk zu beherrschen. Das Sortieren mußte warten, bis er am Bestimmungsort angelangt war. Zum Großteil war es
dieses besondere Talent, alle Daten zu berücksichtigen und damit zu achtundneunzig Prozent richtige Entscheidungen zu treffen, das ihn zu einem der wenigen Agenten gemacht hatte, die korrigierend in den Geschichtsablauf eingreifen durften. Am Nachmittag war er fertig – in doppeltem Sinne. Einige Minuten saß er bewegungslos da und starrte blind die Wand von Kabine B an. Auf seinen Schultern kräuselte sich leise Webleys formloses Protoplasma, als der Symbiot eine Sonde in das Bewußtsein seines Partners einführte und die erwarteten Reaktionen vorfand. Mit seiner in vielen Jahren erworbenen Geschicklichkeit begann Webley mit seiner Beruhigungstherapie. Nach einer Stunde fühlte sich Fortune wieder so gut, daß er sich auf die Suche nach Luise Little machte. »Was hat er dir gegeben?« »Er schickt mich nach China«, sagte Luise geduldig. In Fortunes Wange spielte ein Muskel. »Du wirst also vier Jahre wegbleiben.« »Nein, mein Schatz«, berichtigte sie ihn. »Ich werde in wenig mehr als sechzehn Tagen wieder da sein. Hast du Angst, ich könnte dich in der Zwischenzeit vergessen?« »Soweit es das Hier betrifft, bist du in sechzehn Ta-
gen wieder da. Doch dort verbringst du vier Jahre. Da kann viel passieren ...« Luise brachte ihn mit einem Kuß zum Schweigen und flüsterte dann: »Das einzige, was wir mit vollem Recht voraussagen können, ist die Tatsache, daß ich vier Jahre älter sein werde, wenn du mich wiedersiehst. Vielleicht fürchtest du, ich werde dann zu alt sein, um für dich noch anziehend zu wirken«, spöttelte sie. »Keine Angst, Liebling, mein Volk altert fast ebenso langsam wie deines.« »Uns das anzutun, ist unfair von Tausig«, erklärte Fortune. »Ich werde versuchen, ob ich ihn davon abbringen kann.« »Das wirst du nicht tun«, sagte sie rasch. »Wir werden ja sehen, was passiert, wenn ich zurückkomme. Ja?« Zögernd gab ihr Fortune recht. »Ich liebe dich«, fügte er überflüssigerweise hinzu. Sie küßte ihn noch einmal, diesmal flüchtiger. »Ich muß mich beeilen, sonst komme ich zur Operation zu spät. Essen wir morgen abend zusammen?« »Operation?« fragte Fortune stirnrunzelnd. »Kosmetische Umwandlung«, erklärte sie lebhaft. »Nach irdischen Maßstäben. Ich wirke zu nordisch, um als Orientalin zu gelten. Sieh mich nicht so an – man wird mir sicher nichts Drastisches antun. Hauptsächlich wird das Gesicht verändert.«
»Mir gefällt dein Gesicht.« Luise lachte. »Als wir uns kennenlernten, habe ich auch anders ausgesehen. Erinnerst du dich? Im Inneren bleibe ich dieselbe.« »Du sagst: Hauptsächlich das Gesicht. Was sonst noch?« Sie zuckte vielsagend die Achseln. »Machen wir uns nichts vor. Man wird da und dort kleine Änderungen vornehmen müssen. Schließlich bin ich wirklich nicht wie eine typische Chinesin gebaut.« Fortunes Blick machte kurz Inventur. »Na schön«, murmelte er und nahm damit das Vorhaben zur Kenntnis, ohne es zu billigen. »Wann wirst du fertig sein?« »Um acht Uhr siebenundvierzig. Doch werde ich um diese Zeit noch nicht gesellschaftsfähig sein.« »Das ist mir egal«, sagte er und ließ seine Lippen über ihr weiches goldenes Haar gleiten. »Geh jetzt.« Das Gesicht unter dem Verband, den die chirurgischen Techniker von TERRA über ihr Werk gesprüht hatten, war das einer Fremden. Luise schlief unter der Einwirkung eines starken Beruhigungsmittels. Fortune stand neben ihrem Bett und unterdrückte den Impuls, sie in die Arme zu nehmen. Mitleid, Sorge und Zorn bildeten einen dicken Klumpen Traurigkeit in seiner Brust, obwohl er sich mit aller Gewalt ins Ge-
dächtnis rief, daß Luise kein schmerzgeplagtes Opfer sadistischer Grausamkeit war. Ihm war, als hätte ihm die willkürliche und gefühllose Besessenheit eines Mannes, den er bisher geachtet hatte, plötzlich etwas unbeschreiblich Kostbares geraubt. Wahrscheinlich hatte er von Anbeginn theoretisch gewußt, daß es nicht allein ihr Wesen war, das er liebte. Lächeln, Gesten, Hautbeschaffenheit, das Krausziehen der Nase beim Lachen, der Geschmack ihres Mundes und die festen Formen ihres Körpers, das alles war ebenso wichtig, das waren wesentliche Bestandteile jener Luise, die er liebte. Doch war davon viel verändert worden. In wenigen Tagen würde Luise mit veränderten Zügen aus ihrem sterilen Kokon auskriechen, mit einem neu geformten Körper. Sogar Hautfarbe und Hautbeschaffenheit waren auf biochemischem Wege verändert worden, um sie dem Somatotyp der Shang-Dynastie anzugleichen. Er fragte sich, wieviel von ihrer Persönlichkeit bei der unblutigen Operation auf dem Operationstisch geblieben war. Leise verließ er den Raum und ging durch den kurzen Gang zum Laufband. Eine Stunde lang fuhr er ziellos durch die Gänge, bis er schließlich vor der Tür zu den eigenen Räumen angelangt war. Er wußte, der morgige Tag würde ihm beim Vorbereitungstraining wieder viel abverlangen. Er konnte nicht einschlafen.
Fast die Hälfte seiner eingeplanten Schlaf zeit lag er wach. Erst am folgenden Abend bot sich ihm Gelegenheit, Luise wieder zu besuchen. Ihre Gesichtsbandagen waren noch nicht entfernt worden, der geschwollene Mund machte ein Gespräch unmöglich, doch war sie bei Bewußtsein und schien sich über sein Kommen und Händchenhalten zu freuen. Fortunes intensives Training ging weiter. Er zwang sich zur Konzentration auf die bevorstehende Aufgabe. Endlich war d'Kaamp befriedigt. Sein Schüler hatte ausgezeichnete Chancen, alle voraussehbaren Kampfsituationen zu überleben. Der Cheftechniker der Waffenabteilung hatte Fortunes Ausrüstung vervollständigt. Jetzt blieben nur noch drei Tage, bis der lippenlose Mutant Wi'in zur psychologischen Einfühlung bereit sein würde. Der Stundenplan, den Tausig für Fortune ausgearbeitet hatte, ließ ihm nur wenig Raum für persönliche Angelegenheiten. Daher versäumte Fortune die Entschleierung der neuen Luise. Die Vorbereitung auf ihren bevorstehenden Einsatz war ein viel kürzerer Prozeß als das, was Fortune über sich ergehen lassen mußte. Ihre Abreise war einen Tag vor seinem Einsatz geplant. Überschneidungen in ihren Stundenplänen verhinderten ein Zusammentreffen bis zum Abend vor Lui-
ses Aufbruch. Auf sein Klopfen sprang ihre Zimmertür gleich auf. Hannibal machte ein gleichgültiges Gesicht, als er die fremde Frau, die mitten im Zimmer stand, aufmerksam ansah. Obwohl er ein verändertes Aussehen erwartet hatte, war die Verwandlung doch ein Schock für ihn. Der erste Begriff, der sich ihm aufdrängte, war ›verstümmelt‹. »Luise?« Sie lachte und kam ihm entgegen. »Hannibal, Liebster, du siehst ja ganz krank aus.« Wenigstens die Stimme war unverändert geblieben, doch der Körper, der sich in seine Arme schmiegte, war ihm völlig fremd. Sogar ihre Lippen hatte man neu geformt. Es war, als ob man eine Fremde küßte. »Ist es wirklich so schlimm?« fragte sie. »Ich wünschte, ich könnte mich daran gewöhnen, aber du reist ja schon morgen ab.« Am folgenden Tag trafen sie sich wieder, wenn auch nur kurz. Fortune hatte seinen gedrängten Stundenplan umgeworfen, um für ein paar kurze Augenblicke des Abschiednehmens Zeit zu haben. »Komm zurück zu mir«, flüsterte er und nahm sie in die Arme. »In sechzehn Tagen«, versprach sie. »Eine lange Zeit«, flüsterte er und streifte mit den
Lippen ihr Ohr. In beredtem Schweigen hielten sie sich eng umfangen. Schmerzhaft waren sie sich des Abgrundes an subjektiver Zeit bewußt, der sie bald trennen sollte. Der Augenblick verlangte nach großen Worten, doch war keiner von beiden dazu imstande. »Gib gut acht«, sagte er und ließ sie los. »Du auch.« Ihre Blicke hafteten an seinem Gesicht, als wollte sie sich seine Züge ins Gedächtnis eingraben. Dann wandte sie sich wortlos ab, betrat das Laufband und ließ sich den langen gewundenen Gang entlang zur Abflughalle bringen. Fortune sah ihr nach, bis sie seinen Blicken entschwand. Er spürte kaum, daß sein Symbiot ihm einen Sprechfühler ins Ohr steckte. »Jetzt wären ein oder zwei Gläschen Xanthe angebracht«, sagte Webley. Einverstanden, meinte Fortune in Gedanken. Dir geht's wegen Ronel ebenso, wie? »Ich habe mich an ihre Gegenwart gewöhnt«, sagte der Torg. »Mit der Zeit werde ich mich auch an ihre Abwesenheit gewöhnen.« Wi'in wußte über die Lage Karthagos Bescheid. Das entdeckte Fortune kurz nachdem sie die Schachpartie begonnen hatten. Aus dem ganz uncharakteristischen Zögern, mit dem sein Greifarm nach einem Bauer tastete, war zu schließen, daß dem Mutanten Vangos
Bericht gar nicht gefiel. »Es besteht eine kleine Möglichkeit«, dachte er laut, »daß diese Abweichung unwichtig ist.« »Das ist eine Chance von eins zu zwanzigtausend«, wandte Fortune ein und sah zu, wie der Lippenlose den Bauern auf dem Brett vorschob. »Und vielleicht ist es gar nicht das Werk von EMPIRE.« »Vielleicht«, pflichtete Fortune ihm bei. »Aber auch nicht sehr wahrscheinlich. Wenn wir wüßten, wer nach Maliks Tod die Organisation übernommen hat, wäre alles viel leichter.« »Ja«, murmelte Wi'in. »Sie sind am Zug!« Fortune schlug den Bauer mit einem Läufer. Das Zusammentreffen der beiden beim Schachspiel war eine Reaktion auf den Bericht aus Karthago, doch TERRA wollte kein Risiko eingehen. Eine Stunde mit dem psychologisch versierten Wi'in konnte Erfolg oder Mißerfolg bedeuten, denn der Lippenlose konnte sich so völlig mit Hannibal Fortune identifizieren, daß er während des Einsatzes die Funktion eines lebenden Analogons zu den Denkprozessen des Agenten übernehmen konnte. Wie wird Fortune auf einen gegebenen Reiz reagieren? Da brauchte man bloß Wi'in zu fragen. Außer ihm gab es nur noch zwei seiner Art in der gesamten Galaxis. Es handelte sich um nicht geplante
Mutationen, Produkte mißglückter Experimente auf dem Gebiete der Vererbungstechnik. In einer primitiveren Umgebung hätten sie nicht überleben dürfen, denn ihr einziges Talent war die Gabe für psychologische Mimikry. Als Abarten von besonderer Rarität hatten Wi'in und die zwei anderen die höchste Werteinstufung bei TERRA – Doppel-A – erhalten. Man stelle sich das Gehirn als organischen Computer vor, der eifrig alle Daten, deren er habhaft wird, verarbeitet, sie sichtet, bewertet, mit bereits erhaltenen Informationen vergleicht und diejenigen zurückweist, die seinen vorprogrammierten Wertmaßstäben nicht entsprechen. Doch sind alle Daten im Moment ihres Entstehens »wahr«. Wenn der Bewertung des Computers nun ein falsches Konzept zugrundeliegt, kann die Art und Weise, in der die nachfolgenden Daten verarbeitet werden, gefährlich beeinflußt werden. Kurz gesagt: Wi'ins Funktion bestand darin, den gesamten geistigen Zuschnitt des Agenten in sich aufzunehmen, samt allen winzigen Irrationalitäten, die der Psychologischen Abteilung entgangen waren. Er konnte zwar nicht erkennen, welche Abweichungen von der absoluten Genauigkeit latent vorhanden waren, doch konnte man sich darauf verlassen, daß er bei der Lösung von Problemen genauso richtig oder falsch entschied wie Hannibal Fortune.
»Remis«, verkündete der Mutant und wies mit einem Greifarm auf das Schachbrett. Wie immer war die Partie unentschieden geblieben. Wie immer hatte sie genau eine Stunde gedauert. Hannibal Fortune war für das Jahr 203 vor Christus gerüstet.
4 Das Jahr 203 jedoch war für Hannibal Fortunes Auftritt ganz und gar nicht gerüstet. Die sieben Meter lange Zeitfähre sprang nur wenige Minuten nach örtlicher Zeitrechnung, nachdem Vango die Abweichung an TERRA gemeldet hatte, aus der anderen Zeitdimension. Die fruchtbare Landzunge, auf der ein Jahrhundert zuvor die alten Phönizier Karthago angelegt hatten, war am südlichen Horizont schwach zu erkennen. Direkt unter der Zeitfähre lag das unglaublich blaue Mittelmeer, mit Sizilien im Norden und der Spitze des italienischen Stiefels dahinter. Fortune schaltete die Fähre auf Beobachtungsphase. Damit war er von außen unsichtbar. Er näherte sich der neunzig Meter hohen Erhebung aus rotem Sandstein, die zwischen der von einer Mauer umgebenen Stadt und dem offenen Meer lag. Auf den höheren Hängen lagen die Spuren des Winters wie vergessenes Spielzeug. Der Frühling hatte – mit klassischem Mangel an Originalität – freudig den Zyklus wieder von neuem begonnen. Webley, der die Spannung seines Partners spürte, ließ ein Augenpaar entstehen und blickte durch die Sichtkanzel der Fähre hinaus. Fortune beschrieb eine Linkskurve und brachte damit die Mauer ins Blick-
feld, die Karthago vor Angriffen vom Meer her schützen sollte. Eine Kette niedrigerer Erhebungen erstreckte sich nach Westen und Süden und schützte das nördliche Drittel der Stadt. Dieser Hügelzug endete in einer imposanten Erhebung, auf der massive Bauten standen, die sich drohend über der Stadt erhoben. »Die Byrsa«, murmelte Fortune und wies hinunter. »Wo das Geld gehortet wird?« Der Agent lächelte. »Ganz recht. Dort sind Schatzhaus und Münze, doch die größte Attraktion soll der Tempel in der Mitte sein, der dem großen Gott Eshmum geweiht ist.« »Kühne Bauherren«, bemerkte der Symbiot. »Eine schöne Stadt«, mußte Fortune zugeben, »wenn man das von einer Stadt überhaupt sagen kann.« Jetzt waren sie genau östlich der Stadt. Im Rücken hatten sie die Vormittagssonne, deren Strahlen von den Dächern und den weißen und rosa Marmorwänden der größeren Bauten reflektiert wurden. Auf der ihnen zugekehrten Seite des Hügels, auf dem die Byrsa stand, standen dichtgedrängt Hunderte von Holzhäusern, manche fünf Stockwerke hoch, deren vorspringende Balkone die Sicht auf die drei engen, vom Marktplatz zu den Festungsbauten führenden Straßen verdeckten. Vom Studium der Cerebralbänder
wußte er, daß in diesen mehrstöckigen Wohnhäusern Zehntausende von Karthagern lebten. Der Markt war ein Gewirr gewundener orientalischer Straßen, mit Tausenden von Läden. Näher zum Meer hin lagen die Geschäftslokale der Schiffahrtsunternehmungen, dann kam das Forum, ein riesiger, kollonadengeschmückter Platz, umgeben von Verwaltungsgebäuden mit Marmorfassaden, reichverzierte Büros von Handelsfirmen, Gerichtsgebäude und Dutzende von Tempeln, mit griechischen Skulpturen überreich ausgestattet. Hier waren die Straßen ein riesiges Mosaik aus schwarzen, rosa und grünem Stein, glattgescheuert von den Sandalen der Viertelmillion Einwohner dieser Großstadt. Vom Forum nach Süden verlief eine breite Prachtstraße von mehr als siebenhundert Meter Länge. Sie endete auf einer kleinen befestigten Insel in der Mitte eines vollkommen runden, künstlichen Hafens, dem ersten der zwei landumschlossenen Hafenbecken, die den kommerziellen und militärischen Bedürfnissen der Stadt dienten. Im Kriegshafen lagen zweihundert Kriegsschiffe phönizischen Stils; fast ebenso viele Handelsschiffe lagen im angrenzenden rechteckigen Handelshafen vor Anker. Fortune ging mit seiner unsichtbaren Fähre tiefer und glitt über den Hafendamm hinweg. Er wollte die karthagische Flotte näher besehen. Verglichen mit
den überdimensionalen schwimmenden Festungen späterer Erdengenerationen, schienen diese punischen Kriegsschiffe winzig. Tatsächlich waren nur wenige viel größer als die Zeitfähre selbst. Als Antriebskraft dienten Ruderer. Fortune hätte sie gern im Einsatz beobachtet. Wenn die Decks von Kriegern wimmelten, schwankten die Schiffe wie Korken. Jenseits des Hafens lagen in mehreren Reihen die Kasernenbauten, die Paradeplätze und Kommandoposten. Dieses Gelände reichte bis an die hohe dreifache Mauer heran, die drei Seiten der vier Quadratkilometer großen Stadt umgab. Er wußte, daß unter einem Teil der Mauer Stallungen für dreihundert Elefanten angelegt waren, während zu ebener Erde Unterkünfte für sechstausend Pferde vorhanden waren. Die Befestigungsanlage selbst bestand aus drei Reihen steiler Keile, eine hinter der anderen. Jede der Keile war dreizehn Meter hoch und oben zwei Meter breit. Die äußere Mauer war mit einer Vielzahl von Wachtürmen gespickt, die sechs Meter hoch über der Mauerkrone aufragten. Reste dieser viereinhalb Kilometer langen, dreifachen Mauer würden noch nach zwei Jahrtausenden erhalten sein. Fortune war noch immer nicht in die Phase des objektiven »Jetzt« eingetreten. Er steuerte die Fähre auf Nordkurs und machte eine Schwenkung, um einen genaueren Blick auf den Tempel des Eshmum werfen
zu können. Dann flog er weiter, fast zwei Kilometer hinter die Byrsa, zu jenem Stadtteil, wo Vango und Arrik Quartier genommen hatten. Er war froh, daß die karthagischen Architekten die von Mauern umgebenen Innenhöfe ohne Dach geplant hatten. Geschickt landete er die Zeitfähre auf Vangos Rasen. »Bist du bereit, Web?« fragte er. »Bin ich«, erwiderte der Symbiot. »Möchtest du dich nicht endlich ins Kostüm werfen?« »Sofort, wenn du gefälligst von meinem Rücken herunterspringen würdest«, gab der Agent zurück. Fortunes Haar war bis auf eine modische, neugriechische Stirnlocke kurz geschnitten. Pigmentpillen hatten seiner Haut zu Sonnenbräune verholfen, während andere Chemikalien die Augenfarbe von Schiefergrau in Braun verwandelt hatten. Die Nase hatte man in Ruhe gelassen, weil sie ohnehin vielseitige Vorzüge aufwies. Sie war gerade genug, um griechische Ahnen vermuten zu lassen, genügend groß, um als phönizisch oder römisch zu gelten und ausreichend hakenförmig, um auch einen Anspruch auf hebräische Blutlinien zu rechtfertigen. Aus einem Vorratsschrank holte Fortune die Gewandung eines typischen Karthagers der Oberklasse und fing an, sich umzuziehen. Über eine weiche beigefarbene Tunika aus feingesponnener Baumwolle warf er geschickt eine voluminöse purpurrote Toga. Die fünf
Meter lange Toga war in einem Stück aus purpurgetöntem Garn gewebt. Die Techniker von TERRA hatten garantiert, daß nicht einmal ein Wollhändler die Nachahmung merken würde – es sei denn, er versuchte das Material zu durchschneiden. Beide Ärmel der Tunika und der untere Rand der Toga waren mit Gold- und Silberornamenten gesäumt. Als nächstes hängte sich Fortune ein faustgroßes Amulett an einer Bronzekette um den Hals. Das silberne Amulett zeigte im Halbrelief das Bild Baal-Molochs, des heiligen Christophorus der vorchristlichen Welt. Leichte Sandalen in griechischem Stil, Gold- und Silberringe an drei Fingern und dem Daumen der rechten Hand vervollständigten die Kostümierung. »Reizend siehst du aus«, murmelte Webley, während Fortune seine Erscheinung im Spiegel überprüfte. »Gehört nicht auch ein Bart dazu?« »Nur Geduld«, antwortete der Agent und packte den Bart aus. Augenblicke später klebte er an Ort und Stelle. Der die Oberlippe freilassende Bart war durch eine mikrodünne hautverwandte Schicht molekular mit der Haut verbunden. Nur wenn die Bindesubstanz entfernt wurde, konnte man auch den Bart abmachen. »Besser?« fragte er. »Perfekt«, lobte der Torg und nahm seine jochähnliche Lieblingsstellung unter der Tunika seines Partners wieder ein.
Fortune stellte die Instrumente der Zeitfähre auf den Eintritt ins objektive »Jetzt« ein. Dann betätigte er den Mechanismus der Ausstiegsluke. Mit einem leisen Pfeifton, der den Druckausgleich anzeigte, vermischte sich die sterile Luft in der Fähre mit der duftenden Frühlingsluft des antiken Karthago. Fortune stand im offenen Einstieg und sog tief die Luft ein. Er genoß den eigentümlichen Geruch des Grüns der Erde. »Shalom!« rief er laut. Dabei war er sich völlig bewußt, daß der bereits uralte Gruß unverändert bis in seine eigene Zeit überleben würde. Aus einem Hauseingang spähte vorsichtig der ebenholzschwarze Kopf eines Hausburschen. Als er ihn bemerkte, lachte Fortune und redete ihn auf punisch an: »Keine Angst, ich bin ein Freund deines Herrn. Sag ihm, Hannibal Fortune ist hier, mit der Antwort auf seine Botschaft.« Der Kopf verschwand. Fortune sprang hinunter und zog das Silberamulett aus den Falten seiner Toga. Auf seinen Fingerdruck hin öffnete es sich und enthüllte den Fernsteuer-Phasensprungmechanismus der Zeitfähre. Als der Agent eine der zwei unbeschrifteten Wählscheiben drehte, schwang die Luke der Fähre leise zu. Langsam löste er das Amulett von der Bronzekette, drehte an der zweiten Wählscheibe und legte das Ding ins Gras zu seinen Füßen. Dieses unscheinbar aussehende Gerät war einer der raffi-
niertesten Türöffner, die man je konstruiert hatte. Obwohl er phantastisch einfach zu bedienen war, konnte einen die unvorsichtige Handhabung das Leben kosten. Er berührte den Aktivierungsknopf und zog vorsichtig die Hand weg. In weniger als einer Sekunde waren sowohl das Amulett, als auch die Zeitfähre verschwunden. Dabei wurde ein kleiner Donnerschlag hörbar, der von der geäderten Marmorfassade von Vangos Innenhof widerhallte. Fünf Sekunden darauf wurde das Amulett wieder sichtbar, wobei es einige Grashalme zu Pulver verbrannte. Die Fähre war im Winkel von neunzig Grad von der Zeitlinie des objektiven »Jetzt« versteckt. Fortune hängte das Amulett an die Kette unter seiner Toga. Der ähnlich wie Hannibal gekleidete, aber mit weitaus auffälligeren Ringen bestückte Vango trat aus dem Eingang. Einen Augenblick lang sah er seinen Besucher mißtrauisch an, grinste dann breit und kam ihm mit zum Willkommensgruß ausgestreckter Hand über den Rasen entgegen. Fortune hatte ganz vergessen, wie groß der Mann war. »Hannibal, du Teufelskerl!« rief der Agent aus. »Ich dachte, du hättest einen eigenen Zuständigkeitsbereich!« »Das ist schon lange her«, entgegnete Fortune.
»Bloß siebzehn Jahre. Nach der hier geltenden Zeitrechnung jedenfalls. Wann bist du denn Sonderagent geworden?« »Vor etwa vierzig Jahren.« »Was ist seit unserer letzten Begegnung passiert?« »Ich bin gekommen, um herauszufinden, was hier passiert ist.« »Natürlich. Komm herein, dann kann ich dir das Informationsmaterial geben.« Vango schüttelte den Kopf. »Übrigens – nichts für ungut«, sagte er, als sie durch einen Bogengang schritten. Fortune sah ihn kühl an. »Weswegen?« Der andere zuckte die Achseln. »Na ja, wir beide haben uns doch damals um diesen Zeitabschnitt beworben.« »Seither habe ich ein sehr interessantes Leben geführt«, erwiderte Fortune trocken und ermahnte sich selbst, seine Abneigung gegen diesen Menschen wenigstens für die Dauer seiner Mission zu unterdrükken. Der Protoplasmafühler in seinem Ohr gab ihm recht. »Schieß los! Nach deinem Bericht zu schließen, hat Syphax seine Truppen mit Hasdrubal vereinigt. Wie konnte es dazu kommen?« »Ich weiß nicht. Im Augenblick scheinen die zwei den Scipio und seine Legionäre an einem Ort einige Meilen östlich von Utica eingeschlossen zu haben.« Der Agent zog unter dem Tisch eine Landkarte her-
vor und entrollte sie. »Da liegt Utica – und da ist Scipio. Erst vor einer Woche habe ich von dieser Entwicklung Wind bekommen. Sobald ich mich von der Echtheit der Information überzeugt hatte – du würdest es nicht glauben, was für wilde Gerüchte hier im Umlauf sind – habe ich TERRA verständigt. Das war heute am frühen Morgen. Ihr reagiert aber schnell.« »Das haben wir gelernt.« Fortune studierte die Karte. »Die Belagerung von Utica hätte doch in achtzehn Tagen beendet sein sollen. Dieser Zeitpunkt liegt jetzt fast zwei Monate zurück. Warum hast du die Abweichung nicht schon früher gemeldet?« »Hannibal«, sagte Vango, »du weißt doch, wie es hier mit den Kommunikationsmitteln bestellt ist.« »Aus diesem Grunde hast du ja einen Partner, der dir helfen soll, den Vorgängen unmittelbar auf der Spur zu bleiben.« »Das stimmt«, gab Vango zu. »Arrik und ich waren in letzter Zeit sehr beschäftigt. Wir haben einige der interessantesten Bücher in der Bibliothek kopiert. Es hat schließlich keinen Sinn, daß wertvolles Material verlorengeht. Das meiste wird von den Barbaren vernichtet werden, wenn Rom Karthago zerstört.« »Das wird in den nächsten 95 Jahren nicht der Fall sein – wenn überhaupt.« »Was soll das heißen?« »Falls es Scipio nicht gelingt, Utica einzunehmen,
wird die Situation brenzlig für ihn, sobald Hannibal aus Italien zurückkehrt.« »Ich verstehe. Ziemlich rätselhaft, diese Entwicklung.« Web, wo ist Arrik? Der Sprachfühler des Symbioten pulsierte in Fortunes Ohr. Unter der Toga seines Partners – wo sonst? Der Große hat Angst vor dir. Warum? Weiß nicht. Mehr konnte ich nicht erfahren. Arrik schirmt ihn ab. Fortunes aus einem einzigen stummen Wort bestehende Antwort brachte ihm ein lautloses Kichern des Torg ein. Laut fragte der Agent: »Wieviel Soldaten hat Syphax?« »An die vierzigtausend, glaube ich. Vielleicht fünfzig.« »Und Hasdrubal?« Vango nagte nachdenklich an der Unterlippe. Offenbar glaubte er dabei bei Hannibal den Eindruck erwecken zu können, genau informiert zu sein. Fortune aber war es klar, daß der Mann nur Zeit gewinnen wollte, während Arrik ihm die Informationen eingab. »Dreißigtausend Mann Fußvolk und etwa dreitausend Berittene.« »Keine Elefanten?« Wieder eine Pause, während ihm souffliert wurde.
»Arrik sagt, daß Hasdrubal mit Elefanten nicht viel Glück hatte.« »Arrik sagt das?« »Ich selbst habe nicht oft Gelegenheit, mich unter das Militär zu mischen«, erklärte der Agent. Die entschuldigende Miene wirkte auf Vangos eckigem Gesicht fast grotesk. Fortune lächelte säuerlich. »Na schön. Auf Seiten Karthagos haben wir also siebzig- bis achtzigtausend Fußsoldaten und mindestens dreitausend Mann Reiterei.« »Dreizehntausend«, korrigierte Vango ihn, »wenn man die Truppen von Syphax mitzählt.« »Und Scipio?« »Das weiß ich nicht. Vielleicht zwanzigtausend Mann, alles in allem, wahrscheinlich aber weniger.« »Was ist mit Masinissa?« Vango sah ihn verständnislos an. »Der zweite Verbündete Scipios – der heißblütige junge numidische Fürst. Ein Neffe des Syphax, glaube ich.« Der Agent stand einen Augenblick stumm da. »Arrik sagt, vor etwa einem Jahr hätte es Gerüchte gegeben, die besagten, daß Masinissa in einem Gefecht mit einer Abteilung von Syphax' Truppen getötet worden sei.« Fortune sah den ihn überragenden Vango scharf
an. »Und du hast es nicht gemeldet?« Vango hob die Schultern in einer beredten Geste, die Ratlosigkeit ausdrücken sollte. »Gerüchte, lauter Gerüchte«, klagte er. »In einer Stadt wie Karthago hört man alle möglichen Gerüchte. Warum bist du ...?« Seine Stimme verebbte nervös. »Vango«, sagte Fortune, »dieser junge Fürst soll eine Schlüsselrolle bei der Zerstörung Karthagos spielen. Meine Lizenz zum persönlichen Eingreifen läßt mir zwar einen ziemlich großen Spielraum, doch bin ich nicht ermächtigt, Tote zum Leben zu erwecken.« »Was wirst du tun?« »Ich habe keine andere Wahl«, antwortete Hannibal. »Ich muß einen Abstecher in die vergangenen zwei, drei Jahre machen und feststellen, was dir alles entgangen ist.« Der Größere zuckte wie unter einem Schlag zusammen. Dann fragte er übereifrig: »Kann ich dir helfen?« »Erstens könnte dein Koch uns etwas Eßbares machen. Während des Essens kannst du mir detailliert berichten, was du gemacht hast, seit du hier bist.« Vango warf seinem Besucher einen Blick zu und sah dann rasch wieder weg. »Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll.« »Ich schon«, versicherte ihm Fortune.
Der gedrungene, massige Körper von Bahrs Tolunem keuchte unter der Anstrengung, die stickige Luft dieses verfluchten Planeten atmen zu müssen, doch im Augenblick dachte Bahrs nicht an sein Unbehagen. Seine Sichtkegel konzentrierten sich begierig auf das bunte Band, das sich langsam aus dem Monitor zwischen seinen Primärmanipulatoren schlängelte. Wäre sein fleckiges Gesicht dafür geschaffen gewesen, dann hätte Bahrs Tolunem jetzt triumphierend gelächelt. Statt dessen kräuselten sich die biegsamen, orangefarbigen Gefäße seitlich an seinem Kopf und stellten sich auf. Er zog seinen schleimig-glänzenden Fuß unter sich und rückte vor, um die ermutigende Nachricht besser lesen zu können. Wenn alles gut ging, würde er in einigen Tagen wieder an Bord des Mutterschiffes sein. Seine Gesichtsumrandung pulsierte vor glühender Erregung, als er nach seinem Sprechgerät langte und es an den vertikalen Schlitz in der unteren Gesichtshälfte hielt. »Der Jäger ist angekommen«, flüsterte er. Vom Eingang zum Innenhof aus beobachtete Vango Hannibal Fortune, der das Silberamulett vom Hals nahm und es vor sich auf den Boden legte. Er sah es verschwinden und zuckte fünf Sekunden später bei dem lauten Knall zusammen, als die zylinderförmige Zeitfähre wieder auftauchte.
»Ich habe hier einen ziemlichen Schlamassel angerichtet, nicht wahr?« sagte er verbittert zu seinem Symbioten. Die dünne Protoplasmaranke, die aus seinem rechten Ohr kam und sich längs seines Nackens bis unter die Tunika erstreckte, murmelte beruhigend: »Das ist schließlich kein Weltuntergang.« »Bis jetzt nicht, Arrik.« Etwa dreißig Schritte entfernt schwang sich Fortune durch die offene Luke in die Fähre. Erst als er sie hinter sich geschlossen hatte, brach er das verärgerte Schweigen. »Webley, was hältst du davon?« Der Torg rollte sich zusammen, ließ seine Beine sprießen und hüpfte hinunter. »Es ist nicht seine Schuld«, sagte er. »Er ist nicht mehr als ein Sammler von Nachrichten.« »Das ist Luise auch«, entgegnete Fortune barsch. »Aber sie erfüllte ihren Auftrag besser.« Webley nahm die Gestalt eines pelzigen Vierfüßlers an, ließ einen herrlich buschigen Schweif wachsen und begann im Schiff hin und her zu gehen. »Ja, weil sie das Sammeln von Daten als Hauptaufgabe ihres Jobs ansieht. Für Vango ist das eher Nebensache; er interessiert sich mehr für die Bücher.« Fortune brachte mit einigen Schaltgriffen die Fähre wieder in die Beobachtungsphase, bevor er vom Boden abhob. »Hoffentlich brauchen wir seine Hilfe nicht. Ich wäre nur höchst ungern auf ihn angewie-
sen. Wie lange brauchst du, um dich in der Stadt genau umzusehen?« Während des Sprechens stieg die Fähre sechshundert Meter in die Höhe. Das trägheitsfreie Kraftfeld bewirkte, daß im Schiff von der Bewegung nichts zu bemerken war. »Und nach Spuren von EMPIRE zu suchen?« »Natürlich.« »Etwa drei Stunden.« »Schön. In drei Stunden treffen wir uns« – Fortune sah hinaus und suchte die unter ihm liegende Landschaft nach einem Treffpunkt ab, »– auf diesem Hügel da drüben.« »Waidmannsheil«, sagte Webley, lief zur Luke und nahm die Gestalt eines großen Vogels an. Nachdem der Symbiot davongeflogen war, dirigierte Fortune das Schiff zu dem Hügel, zog einige Runden und wandte sich dann westwärts. Eine Außenmauer lag quer zur schmalsten Stelle der Meerenge und ließ die Halbinsel, auf der Karthago lag, wie ein fünfseitiges Gebilde erscheinen: die Mauer im Westen, das Mittelmeer an den zwei Seiten im Norden, das eigentliche Karthago nahm den Südosten ein und der See von Tunis lag spiegelglatt im Südwesten. Jenseits dieser äußeren Mauer erstreckte sich eine große Sandebene, durch die sich der Fluß Bagradas zum Meer schlängelte. Einige Kilometer westlich vom Fluß sah Fortune die Hügel, auf denen
die Stadt Utica sich hartnäckig Scipios gutgeplanter, aber fruchtloser Belagerung widersetzte. »Östlich von Utica«, hatte Vango gesagt. Ja, da war es. Ein kleines Vorgebirge, wo Scipio sein Winterlager aufgeschlagen hatte. Er rechnete offenbar mit einem feuchten Frühjahr, da er sich die trockenste und am leichtesten zu verteidigende Stelle ausgesucht und sie zur Garnison gemacht hatte. Mit unerschütterlichem Glauben an ihre Bestimmung, bauten römische Pioniere für die Ewigkeit. Sie hatten das Lager so befestigt, daß es einer ständigen Niederlassung glich, doch mußte man trotz des felsigen Untergrundes mit Schlamm rechnen. Nach drei flüchtigen Runden über Scipios Garnison – unleugbar römisch, mit den genau parallelen Straßen, ordentlichen Barackenreihen und massigen Verwaltungsgebäuden – begann Fortune die Suche nach der Armee des Königs Syphax und des karthagischen Generals Hasdrubal. In der Regel schlagen Armeen ihre Lager immer in der Nähe von Frischwasser auf. Die Armee von Syphax und Hasdrubal bildeten keine Ausnahme. Fortune folgte dem Flußlauf knapp dreißig Kilometer, bevor er auf zwei getrennte, aber nicht mehr als zwei Kilometer auseinander liegende Lager stieß. Das kleinere der beiden (wenn man davon ausging, daß Vango mit seinen Angaben über die Truppen-
stärke recht hatte) mußte Hasdrubal gehören. Im Gegensatz zur strengen lateinischen Geradheit des römischen Lagers, wirkte das karthagische Lager unordentlich und schlampig. Hier war Schlamm mehr als bloß eine Unannehmlichkeit. Auf Zweigen und Ästen ruhende hölzerne Gehwege überspannten riesige Schlammpfützen. Hunderte kleiner Zelte und Hütten bildeten die Unterkünfte von Hasdrubals Truppen, während die Offiziere in wackligen Holzbaracken untergebracht waren, die aussahen, als würden sie höchstens den Winter überdauern. Nach römischen Begriffen waren sie äußerst reparaturbedürftig. Zwei Kilometer flußaufwärts lag eine größere, noch unordentlichere Ansammlung vielfarbiger Zelte, einiger kurzlebiger Holzhütten und ausgedehnter, holzumzäunter Viehpferche. Das Gebiet um den Fluß trug kilometerweit die Spuren der Nahrungssuche von Menschen und Pferden. Sogar für Fortunes nicht eben kritischen Blick spiegelte das unleugbar orientalische Lager einen Mangel an Organisation wider, den der Frühjahrsschlamm nur noch verschlimmerte. Eine Mauer aus allem Möglichen umgab das herrliche Chaos. Ungefähr in der Mitte von all dem erhob sich ein riesiges grellgestreiftes Zelt, mit unzähligen flatternden Wimpeln geschmückt. Das war das Hauptquartier des greisen numidischen Königs. Fortunes Miene verdüsterte sich, als er an Vangos Versagen
dachte, indem er den Treuebruch des alten Herrn nicht eher entdeckt hatte. Alter und enge Nachbarschaft der beiden Lager bewiesen, daß das Bündnis zwischen Syphax und Hasdrubal schon früher, als »erst vor einer Woche« zustandegekommen sein mußte. Zum hundertsten Male fragte Hannibal sich, welchen möglichen Gewinn EMPIRE aus diesem Schachzug ziehen wollte, und zum hundertsten Male mahnte er sich, daß die Aufdeckung des Wie der logische erste Schritt zur Aufdeckung des Warum war. Er ließ die Fähre minutenlang unsichtbar über dem numidischen Lager schweben, während er sich nach einem Punkt umsah, um seine Nachforschungen zu beginnen. Aber wenn man sich im Kreis bewegt, kann man überall anfangen. Vango war keine Hilfe. Seine Unterredung mit dem Agenten hatte darüber keinen Zweifel gelassen. Daß er Webley zur telepathischen Erforschung der Stadt ausgeschickt hatte, war zugegebenermaßen ein Schuß ins Dunkle gewesen. Fortune erwartete sich davon keine positiven Ergebnisse. Und unter sich konnte er nichts sehen, das den erfreulichen Stempel »Spur« getragen hätte. Ungeduldig bewegte er einen Hebel um ein paar Grad. Die Welt draußen wechselte die Farbe, als hätte man zwischen Außenwelt und Fähre einen roten Filter gelegt. Ein sanfter Wind, den er vorher nicht bemerkt hatte, machte sich bemerkbar, während die
Schatten der Menschen zusehends länger wurden. Die Sonne ging am westlichen Horizont unter und saugte die Dämmerung in sich auf, bis die sternenhelle Nacht obsiegte und die Glut von tausend kleinen Lagerfeuern unten aufleuchtete. Als die Nacht immer jünger wurde, leckten die Flammen nur mehr schwach an den Kohlen, und Fortune bewegte den Hebel weiter. Der Sternenhimmel drehte sich. Jetzt sah er, wie rußige Töpfe über den Feuern hingen und die Soldaten ihre Teller und Schüsseln hineinleerten. Eine Woche flog so im Rückwärtsgang an ihm vorüber. Fortune betätigte wieder den Sprungschalter. Die durchsichtige Kanzel der Fähre lag jetzt im Dunst; dann wurde sie wieder klar. Das numidische Lager bedeckte jetzt eine Schneedecke, die sich durch den Zeit-Sprung-Effekt rosa verfärbte. Noch ein Sprung, und der Schnee wurde tiefer. Der nächste Sprung fegte den Schnee weg und enthüllte windgefegten, gefrorenen Boden. Fortune drückte den Hebel ganz nieder. Die Zelte wurden jetzt abgebrochen, die Truppen lösten das Lager auf. In der folgenden halben Stunde beobachtete Fortune zwei Scharmützel mit den Römern, sah die phantastischen numidischen Reiter im Kampf, genauso aufregend wie d'Kaamp alles beschrieben hatte, und wurde Zeuge der Ankunft der disziplinlosen Armee.
An Hand kleiner Ausschnitte konnte Fortune die Spur aller drei Armeen, nämlich der Armee des Syphax, Hasdrubal und Scipio auf dem Feld verfolgen und sich ein Bild von ihrer Kampfweise machen. Er bedauerte, daß die Beobachtungsphase auf visuelle Eindrücke beschränkt war – ähnlich wie ein Stummfilm. Trotzdem war das Zusehen höchst lehrreich. Er verfolgte die Truppen des Syphax zurück bis ins Hauptquartier in Cirta, einige hundert Kilometer westlich der großen Ebene, wo die meisten Truppenbewegungen stattfanden. Obwohl aus Steinbauten und nicht aus Zelten bestehend, schien Cirta ebenso willkürlich angelegt, wie das numidische Winterlager. Die Armee selbst lagerte auf zwei Seiten der kleinen Stadt und umschloß einen auffallenden, ins Auge springenden Gebäudekomplex, bei dem es sich um den Palast des Syphax handeln mußte. Fortune lächelte. Prachtliebe schien ein Grundzug des verehrungswürdigen Herrschers zu sein. Jeder zur damaligen Zeit auf der Erde bekannte Luxus war zu sehen – und zusätzlich etwas, das einem Harem verdächtig ähnlich sah. Der König mochte zwar alt sein, fand aber offenbar immer noch Gefallen an seinen Mädchen. Um den Palast besser beobachten zu können, ging Fortune tiefer und verharrte nachdenklich im Schwebezustand neben dem halben Dutzend flittergeschmückter junger Damen im mauerbewehrten Pa-
lastgarten. Die Mädchen entsprachen, ebenso wie der Palast, dem Geschmack der damaligen Zeit, überlegte er. Webley hatte in der äußersten nordöstlichen Ecke der Stadt begonnen, wo der Wasservorrat in riesigen Zisternen gespeichert wurde. Langsam hatte er das Gebiet entlang des Hafens abgeflogen. Am Ende der Hafenmauer, etwa drei Kilometer in südwestlicher Richtung, wandte er sich unvermittelt nach rechts und folgte der dreifachen Mauer, die Karthago vor Angriffen von der Landseite her schützte. Die äußere, aus Steinquadern und Mörtel bestehende Mauer, war fast zwei Meter dick und dreizehn Meter hoch. In einem Abstand von drei Metern dahinter eine zweite Mauer, die der ersten glich, und drei Meter dahinter die dritte. Die dreifache Mauer verlief in gerader Linie fast zwei Kilometer parallel zum See von Tunis und bog dann im rechten Winkel ab. Webley folgte ihr und bemerkte, daß die Fundamente hier massiver waren und hohl wirkten. Seine Sonde spürte unter den Mauern Elefanten auf, aber sonst keine fremde Lebensformen. Er folgte der Mauer weitere drei Kilometer in nordöstlicher Richtung, bis sie eine leichte Biegung um die Byrsa machte. Nach einer Stunde hatte er im Flug zwei Kreise um die Stadt gezogen, den
zweiten enger als den ersten, und hatte eine dritte Umkreisung begonnen. Menschen, Packtiere, Elefanten – aber keine fremden Lebewesen. Geduldig flog er weiter. Verärgert manövrierte Fortune die Fähre in die vergangenen sechs Monate zurück. Hie und da legte er eine Pause ein und ging in die Beobachtungsphase, ohne etwas von Wert aufzuspüren. Eben wollte er die Suche entlang dieser Linie aufgeben, als ein zufälliger Sprung ihm eine Szene voller Pomp und Gepränge enthüllte, Gelage und Reiterspiele der Elite der Syphax'schen Kavallerie. Höhepunkt war ein feierliches Ritual, das ihm zunächst rätselhaft erschien, bis er erkannte, daß es sich um eine Hochzeitszeremonie handelte. Die Braut war ein hübsches, dunkelhäutiges Ding – wahrscheinlich noch unter zwanzig –, der Bräutigam hingegen der betagte Kriegsherr selbst. Fortune grinste und ging in Beobachtungsphase. Und wunderte sich. Ganz klar, hier handelte es sich nicht um die schlichte Verbindung zweier Wüstenstämme. Dazu wirkten die Gäste zu formell. Zwischen den malerischen Kostümen der Stammesangehörigen sah man hie und da Purpurtogen der karthagischen Oberschicht. War die Braut etwa selbst eine Tochter Karthagos?
Hannibal konnte sich an keine Erwähnung einer Staatshochzeit in den Annalen des Polybius oder Livius erinnern. Dennoch war dieses Ereignis viel zu ungewöhnlich, um unerwähnt zu bleiben. Syphax war schließlich ein Achtziger, nach irdischen Maßstäben uralt. War es möglich, daß ihm eine jugendliche Verführerin den Kopf verdreht hatte? Fortune versuchte seinen Blick ganz auf das königliche Paar zu konzentrieren. Das zerfurchte und sonnenverbrannte Gesicht des bärtigen Gnoms wurde durch einen glücklichen Ausdruck verschönt. Und das Mädchen hatte etwas beunruhigend Vertrautes an sich ... Im Geiste überflog Fortune die Liste bekannter EMPIRE-Gesichter und kam zu keinem Ergebnis. Er wußte ja, wie seine Organisation das Gesicht Luise Littles verändert hatte. Daher durfte man vernünftigerweise annehmen, daß EMPIRE vergleichbare Techniken in der kosmetischen Chirurgie entwickelt hatte. Vielleicht war es wieder ein vergebliches Unterfangen, doch wenn er eine Überprüfung unterließ, machte er sich derselben Nachlässigkeit schuldig wie Vango. Er sprang einige Tage in die Vergangenheit und beobachtete die unter ihm vorbeihuschende Zeit. Endlich hatte er den Zeitpunkt der Ankunft der Braut gefunden. In der rotgefärbten Welt der Rückschau sah alles aus wie ein feierlicher Abschied. Menschen
und Pferde gingen rückwärts und löschten wie durch Zauberei die eigenen Spuren aus. Fortune hielt die Fähre eine Weile direkt über ihnen an, flog dann voraus und folgte ihrer Spur in die Wüste, bis er eine Oase erreicht hatte, wo die Spuren plötzlich verschwanden. Hm. Hatte die kleine Karawane hier die Nacht verbracht, während der Wüstenwind die Spuren von gestern ausgelöscht hatte? Wenn es der Fall war, dann hatte der Wind auch alle Spuren der Lagerfeuer und der Abfälle getilgt, welche Menschenansammlungen unweigerlich hinterlassen. Vorsichtig hielt er auf einen etwa hundert Meter entfernten Hügel zu und lehnte sich zurück, um zu beobachten, was sich zugetragen hatte. Bevor die Morgensonne viel tiefer gesunken war, fegte die Antwort über einen Dünenkamm. Es war ein schnittiger Intra-System-Luxus-Gleiter, dessen pyrokeramische Außenschicht elegant glänzte. Als der Gleiter in der Oase aufsetzte, wurde eine kleine Staubwolke aufgewirbelt, die sich rasch wieder legte. Im nächsten Augenblick galoppierte die Karawane sich rückwärts bewegend heran. Eine Rampe klappte herunter, und die fünf Pferde samt ihren Reitern trabten in das Raumschiff, und die Hufspuren verschwanden. Die Rampe klappte wieder zu und das schlanke Raumschiff hob ab, diesmal ohne Staubwolke.
»Möchte wissen, wer sie ist«, murmelte Hannibal Fortune und nickte befriedigt. Er ging aus der Beobachtungsphase in Kongruenz zur Realzeit über. Gehorsam kehrte der Intra-System-Gleiter zurück, öffnete die Luke, und die Karawane trottete die metallische Rampe herunter. Als Pferde und Reiter weg waren, schwang die Rampe zu und das Raumschiff hob in einer Staubwolke ab. Fortune folgte ihm. Solange er in der Sekundär- oder Beobachtungsphase blieb und der objektiven Realität um einige Grade entrückt war, war sein Fahrzeug für menschliche Augen und elektronische Sensoren unsichtbar. Deswegen konnte das Raumschiff von EMPIRE ihn nicht sehen. Ohne Verdacht zu erwecken, führte es ihn direkt zum Versteck der Feinde. Fortune grinste. Wieder einmal hatten seine Gegner in einer Höhle Schutz gesucht. Diesmal lag die Höhle in Zweidrittelhöhe einer glatten Felswand, die sich gut sechzig Meter aus dem Wasser erhob – sieben Kilometer nördlich von Karthago. Unzugänglich ... außer für ein Raumschiff. Mit weitaus optimistischeren Gefühlen kehrte Fortune zu der Hochzeit zurück. Nach einer weiteren Stunde entdeckte Fortune mittels einiger Zeitsprünge einen Spion beim Hochzeitsfest des zittrigen Monarchen. Wenigstens schien der Mann in diese Kategorie zu passen. Wenn nötig,
konnte man die Bezeichnung immer noch ändern. Der Spion wohnte der Hochzeit als alter, offensichtlich von Arthritis verkrüppelter Mann bei. Schmerzgebeugt humpelte er von der Festtafel weg und bewegte sich heimlich auf die untergehende Sonne zu. Kaum war er außer Sichtweite, wurde sein Gang erstaunlich elastisch. Nach einem weiteren halben Kilometer in der Wüste gesellte sich ein Pferd zu ihm. Der Mann streifte seine Lumpen ab, wickelte sie zu einem Bündel zusammen und sprang behende auf den ungesattelten Rücken seines Reittieres. Er galoppierte nach Norden, dann nach Nordosten. Hocherfreut folgte ihm Fortune in der Luft. Dem geheimnisvollen Reiter auf Sichtweite zu folgen, war trotz fortschreitenden Sonnenuntergangs kein Problem. Später versuchte es Fortune mit einem Zeitsprung und verlor ihn prompt aus den Augen. Der Rote-Filter-Effekt ließ die Nacht noch schwärzer erscheinen. Gereizt machte sich der Agent mit dem Gedanken vertraut, eine längere Fahrt unternehmen zu müssen. Er glich die Geschwindigkeit seines Transporters den etwa dreißig Stundenkilometern des unbekannten Reiters an. Nach vier entmutigend ereignislosen Stunden erreichten sie Hippo Regius, ein kleines Fischerdorf an der Mittelmeerküste. Als er Webley angewiesen hatte, sich in drei Stunden mit ihm zu treffen, hatte er nicht daran gedacht,
daß er zur Entdeckung der Abweichung vielleicht eine Woche brauchen würde. Er sah auf den Zeitmesser und merkte jetzt, warum er nicht nur müde, sondern auch hungrig war. Seit dem letzten Essen waren zehn Stunden vergangen. Es reizte ihn, den Reiter zu beobachten, bis dieser sich mit jemanden traf, doch das konnte noch lange dauern. Jahrzehnte des Trainings hatten ihn gelehrt, daß er satt und ausgeschlafen besser arbeiten konnte. Zu den praktischen Seiten der Benützung der Zeitfähre gehörte es, daß man eine beliebige Zeitlinie jederzeit verlassen, irgendwo hingehen und sich ausruhen konnte, so lange man wollte, und sich dann einen Sekundenbruchteil später wieder in die Ereignisse einschalten konnte. Diese Annäherungsweise hatte ihm schon manchen Sieg verschafft. Er konnte einen Monat oder ein Jahr »weg« sein und doch das vereinbarte Rendezvous mit Webley »in drei Stunden« einhalten. Gähnend gab Fortune eine Ortsangabe in den Computer ein, las die Koordinaten ab und nahm entsprechende Schaltungen vor. Die zwei Uhren über dem Armaturenbrett setzten ihre synchronisierte Bewegung ein paar Sekunden lang fort. Dann erklang ein Glockenton, die Sichtkanzel trübte sich, die linke Uhr blieb stehen. Drei Sekunden später wurde die Kanzel wieder klar, die Uhr schlug leise an, und die Uhrzeiger bewegten sich weiter.
Physisch schwebte er immer noch über dem Fischerdorf. Zeitlich befand er sich auf der Zeitlinie um ein ganzes Jahrhundert versetzt. Er entnahm seinen Vorräten eine Proviantpackung, drückte auf den Heizknopf, wartete die erforderlichen zehn Sekunden ab und öffnete dann den Plastikbehälter. Er lächelte, als er sah, wie seine Vorgesetzten bei TERRA das Mahl für seinen Feinschmeckergaumen zusammengestellt hatten. Die nächste halbe Stunde verbrachte er damit, das Essen richtig zu genießen. Nachher drückte er die Reste in die Abfallröhre, machte sich den Schlafplatz zurecht und kroch hinein. Die Automatik würde ihn nach ausgiebiger Ruhe wecken. Ganz benommen dachte er noch daran, wie hübsch es doch wäre, wenn Luise ihm hie und da Gesellschaft leisten könnte. Und wie mies es war, daß sie nicht hier sein durfte. Webley vergrößerte seine Flugmuskeln, um die Anstrengung herabzusetzen. Zwei Stunden telepathischen Suchens hatten ihm nichts außer einem Muskelkater in seinen Protoplasmaschultern eingebracht. Auf den – grob gerechnet – fünf Quadratkilometern von Karthago lebte fast eine Viertelmillion Menschen zusammengedrängt – mindestens hunderttausend lebten in den Vororten im Westen, wo sie entweder eigene kleine Parzellen oder die Plantagen und Güter
des Adels bearbeiteten. Er konnte keine Spur eines unbekannten Lebewesens entdecken. Für seinen Erkundungsflug blieb ihm nur mehr eine knappe Stunde, dann mußte er eilig nach Norden zum Treffpunkt auf dem Sandsteinfelsen, der über dem Meer aufragte. Webley unterdrückte seine Ungeduld und setzte zu einer neuerlichen Runde über der Stadt an. Er durchflog den Schatten der Byrsa, langsam, damit ihm kein Anzeichen eines außerirdischen Wesens entgehen konnte, das sich innerhalb der zahlreichen Häuser verbergen mochte. Durch ausreichenden Schlaf erquickt, nahm Fortune die Jagd wieder auf. Er sah den Reiter im Gespräch mit einem römischen Offizier und folgte dem Römer zu der kleinen Flotte, die vor der Küste ankerte. Gleich darauf legte die Flotte ab und nahm Kurs auf Sizilien. Fortune machte einen Zeitsprung, um die Vorgänge zu beschleunigen, und beobachtete gleich darauf die Ankunft der Flotte im Hafen von Lilybaeum, an der westlichen Spitze von Sizilien, wo eine Truppe von Legionären bereits wartete. Das also war die Armee, die Scipio für die Invasion Afrikas im kommenden Frühjahr vorbereitete. Jetzt spürte Fortune endlich, daß er auf der richtigen Spur war. Die Neuigkeiten von der Heirat des Syphax mit einer at-
traktiven jungen Karthagerin würden die Pläne des römischen Feldherrn sicherlich beeinflussen. Ja, dort war Scipio selbst. Er wirkte auch in Zivil imposant, während er die Docks entlangging. Fortune lenkte die unsichtbare Fähre so nahe wie möglich an die Römer heran. Er sah ihre Lippenbewegungen und erkannte, daß sie Latein sprachen, eine der Sprachen, die er mit Hilfe des Cerebralfeldapparates bei TERRA gelernt hatte. Er mußte jedoch die Entdekkung machen, daß ihm ohne Ton seine Sprachkenntnisse überhaupt nichts nützten. Er konnte zwar Latein sprechen, hatte aber noch nie jemanden sprechen gesehen. Unter solchen Umständen war ein Ablesen von den Lippen unmöglich. Bedauernd mußte er eingestehen, daß die Erlernung einer Sprache nach der Cerebralfeldmethode einige Nachteile hatte. Die Regeln der Zeitreise, die er durch die aufwendige Methode des Versuchern und Irrens erlernt hatte, hielten ihn davon ab, sich in das objektive »Jetzt« zu versetzen, um zu hören, was vor sich ging. Die kleinste Einmischung zum jetzigen Zeitpunkt konnte sich später zu einer erstrangigen Katastrophe auswachsen. Licht war die einzige Energieform, die eine außerhalb einer Phase befindliche Fähre durchdringen konnte, und Licht – davon war er überzeugt – war das einzige, was die Techniker von TERRA brauchen würden. Sie würden mit Leichtigkeit ein Abhörmikrophon mit
einem Laser-Kommunikationsgerät verbinden, das er dann während der Phase des Zeitstillstandes irgendwo versteckt anbringen konnte – vielleicht sogar in Scipios Kleidung, wenn das Ding genügend klein war –, um die Gespräche der Römer abzuhören. Ein solches Gerät hatte er nicht bei sich, und in diesem Stadium zu TERRA zurückzukehren, kam nicht in Frage. Fortune hatte aber etwas fast ebenso Praktisches. »Na schön«, sagte er mit leisem Lachen zu sich. Er fand es nach kurzem Suchen. Zufrieden lächelnd hielt er d'Kaamps Miniatur-Rekorder in der Hand. Kaum größer als eine Erbse, war es für römische Augen kaum bemerkbar. Fortune wußte, daß die molekularen Modulationsspeicher zwei Erdenjahre lang aufnahmefähig waren. »Meine Herren«, sagte er leise, »wenn Sie mir bloß den Gefallen täten, einige Millisekunden stillzuhalten ...« Die besten Zeittheoretiker der Föderation hatten behauptet, daß – jedenfalls theoretisch – eine Annäherung während des Zeitstillstandes unmöglich wäre. Unverzagt hatten die Techniker von TERRA jedoch einen Weg ausfindig gemacht, es doch zu ermöglichen. Fortune gab erst gar nicht vor, zu verstehen, wie das funktionierte, doch war er im Umgang damit sehr versiert. Er legte eine Atemmaske an, suchte sich die nötige Ausrüstung zusammen und drückte auf einen Knopf.
Draußen erstarrte jede Bewegung. Die Wogen schienen sich in Blei zu verwandeln. Sogar die Wellenspritzer schienen in der Luft hängenzubleiben. Scipio, einer der fähigsten Militärs jener Zeit, erstarrte mit offenem Mund. Der ihm eben Bericht erstattende Offizier – Laelius, wie sich Fortune von der Cerebralfeldsitzung her erinnerte – nahm mitten in der Bewegung Starrheit an. Fortune öffnete die Ausstiegluke und trat hinaus in die zeiterstarrte Welt. Sie war zwar nicht wirklich bewegungslos. Wenn er lange genug hingesehen hätte, hätte er Bewegung bemerken können. Je nachdem, welchen Bezugspunkt man einnahm, hatten entweder die Römer ihre Geschwindigkeit enorm verlangsamt oder Hannibal Fortune bewegte sich mit Supergeschwindigkeit. Von Fortune aus gesehen, blieben ihm in dieser Spanne zeitlicher Diskrepanz bloß einige Minuten zur Erfüllung seiner Aufgabe, während für Scipio und Laelius alles in Sekundenbruchteilen vorüber war – viel zu rasch, um es bewußt registrieren zu können. Da Fortune den Mini-Rekorder in einigen Tagen wieder entfernen wollte, entschied er sich dagegen, es in einem der Zähne des Feldherrn unterzubringen, und wählte statt dessen die gesäumte Kante des Halsausschnittes von Scipios Tunika. Das Bewegen durch die verlangsamten Luftmoleküle war wie das
Waten im Schlamm. Das weiche Material von Scipios Tunika war so schwer zu bearbeiten wie Stahl. Fortune mußte den Saum aufbrechen, nachdem er die Fäden durchschnitten hatte. Als der Rekorder endlich an Ort und Stelle war, genügte ein wenig Klebstoff, um die schadhafte Stelle zu verdecken. Fortune vertraute fest darauf, daß Scipio die Veränderung nicht merken werde. Er watete durch die schwere Atmosphäre zurück und schloß die Luke der Fähre hinter sich. Dann drückte er den Knopf, der die Welt wieder in Bewegung setzte. Die ganze Aktion hatte weniger als eine fünfzigstel Sekunde in Anspruch genommen. Er hätte gern gewußt, was Luise von d'Kaamps Miniaturspion gehalten hätte. Natürlich konnte man das Gerät nicht mit einer Cerebralfeldanlage vergleichen. Es fehlten die acht zusätzlichen Kanäle, die nötig waren, um vollsensiorelles Dokumentenmaterial zu erhalten. Es war nur für den Gehörsinn geschaffen und eignete sich daher vor allem als Abhörgerät bei Spionageeinsätzen und für ähnliche Unternehmungen. Wenn man aber bedachte, wie häufig Luise mit Geräten dieser Art zu tun hatte, dann hatte er das Gefühl, daß das Ding ihrer Leidenschaft fürs Technische entgegengekommen wäre. Außerdem hätte er gern gewußt, was sie jetzt, in diesem Augenblick, wohl machte?
Die Fragestellung war vielschichtig, da »jetzt« jeder Punkt, den er zu besuchen wünschte, sein konnte. Er runzelte die Stirn. Ein außerplanmäßiger Abstecher in die Zeit der Shang-Dynastie gehörte ganz entschieden nicht zu seinem Auftrag. Andererseits kannte er keine Regel, die Derartiges verbot. Warum auch nicht? Luise war mehr als tausend Jahre entfernt an einer Stelle des Planeten, der auch nicht im Entferntesten mit den Punischen Kriegen in Zusammenhang stand. Also brachte er damit die Zeitsicherheit nicht in Gefahr. Vielleicht würde ein Wiedersehen mit ihr ihn davon abhalten, dauernd an sie zu denken. Eine einzige, geringfügige Schwierigkeit gab es dabei: ohne Karte mußte er aus dem Gedächtnis Luises zeitlichen Aufenthaltsort ausarbeiten und dann Glück mit Logik paaren, um ihre geographische Lage herauszubekommen. Luises Aufenthalt in der Shang-Dynastie dauerte vier Jahre, von 4054 bis 4050 nach TERRAZeitrechnung. Er entschied sich für die Mitte des Jahres 4053. Luise würde um diese Zeit bereits ein Jahr Arbeit hinter sich haben und sich über ein bekanntes Gesicht freuen.
5 Am Beginn war das Chaos. Erde und Himmel waren wie das Weiß und Gelb eines Eies. In dieses Chaos hineingeboren wurde P'anku, der aus hellen und klaren Elementen den Himmel formte und die Erde aus dunklen, unreinen Elementen. Der Himmel wuchs jeden Tag zehn Fuß höher, die Erde wurde zehn Fuß dicker, während P'anku selbst zehn Fuß größer wurde. Er lebte genau achtzehntausend Jahre. Mittlerweile waren der Himmel sehr hoch, die Erde sehr dick und P'anku ziemlich groß geworden. Aus seinen Tränen entstanden der mächtige Hoang-ho und Yangtse. Nach seinem Tod zerfiel P'ankus Leib und bildete die fünf Heiligen Berge. Die Augen flogen himmelwärts und wurden zu Sonne und Mond, das Fett rann die Hügel hinunter und füllte die Meere, die Haare bildeten den Pflanzenwuchs der Erde. Vierhunderttausend wunderbare Jahre verstrichen, und mächtige Männer schritten über die Erde. Schließlich herrschte der Gelbe Kaiser Huang-ti über die ganze Welt, von den Gebirgsquellen des Gelben Flusses bis zu dessen Mündung ins Gelbe Meer. Im Jahre 2697 gründete Huang-ti die Erste Dynastie. Seine schöne Kaiserin, die Dame von Si-ling,
führte die Seidenraupe ein samt Webstuhl und Spule, so daß ihr Volk die Kunst der Seidenraupenzucht und Weberei pflegen konnte. Elfhundert Jahre später erbaute Kaiser Chung-ting einige Meilen südlich des träge dahinfließenden, schlammführenden Hoang-ho die Stadt Ao und machte sie zur Hauptstadt der Shang-Dynastie. Die Stadt stand seit achtzig Jahren in Blüte, als Luise Little kam. Die Daten, die sie sich im Laufe der Cerebralfeldsitzungen angeeignet hatte, waren bemerkenswert genau gewesen, wenn man die Begrenztheit der Möglichkeiten in Betracht zieht, mit der man sie gesammelt hatte. Da der Hauptstrom der Erdgeschichte sich um das Mittelmeer konzentriert hatte, dann auf Nordeuropa übergriff und schließlich auf beide Amerikas, befanden sich die ständigen Beobachtungsstationen von TERRA in diesen Gebieten. Den frühesten Posten hatte man 1800 vor Christus in Ägypten stationiert. Um 1550 war das Hauptquartier auf die Insel Kreta verlegt worden. Nach der Zerstörung der minoischen Kultur kam es nach Griechenland, eine zweite ständige Niederlassung wurde in Phönizien errichtet, um die Handels- und Schiffbauzentren von Tyrus und Sidon im Auge behalten zu können, ebenso wie die aufstrebende hebräische Kultur zur Zeit des Höhepunktes von König Salamons Regierung. In den fol-
genden zwei Dutzend Jahrhunderten gab es zeitweise sogar fünf ständige Posten gleichzeitig an verschiedenen Punkten der Erde, doch Luise wußte, daß es in China keinen mehr geben würde bis zu den Tagen Dschingis Khans im dreizehnten Jahrhundert nach Christus, etwa sechsundzwanzig Jahrhunderte nach ihrer Mission an den Ufern des Hoang-ho. Statt einen komplett eingerichteten Beobachtungsposten zu übernehmen, den das Team, dessen Auftrag nun beendet war, vorbereitet hatte, mußten Luise und Ronel mit einem Minimum an Ausrüstung und keiner von langer Hand vorbereiteten Tarnung anfangen. Das Erkundungsteam hatte Computer und Sendeaggregate für die außerirdische Nachrichtenübermittlung sechs Kilometer außerhalb der Stadt Ao vergraben. In ihrem Handgepäck führte Luise den Steuermechanismus des vergrabenen Senders mit, der Strahlenbündel von vier Megawatt durch die Galaxis schicken konnte. Mit etwas Glück würde sie den Sender nie brauchen. Viel wichtiger waren die zwei tragbaren Cerebralfeldgeräte und der Stoß leerer Bänder, auf denen sie eine Fülle von vollsensoriellem Material für die Historische Abteilung von TERRA zu sammeln hoffte. In ihren Schädel einoperiert waren Hunderte winziger Cerebralfeldsensoren, die auf das Aufnahmegerät übertrugen, was sie sah, hörte, roch oder auf andere
Weise aufnahm. Die Bänder waren vorläufig zusammen mit den anderen technischen Hilfsmitteln vergraben. Sobald sich Luise in der Gesellschaft etabliert hatte, konnte ihr gestaltenwechselnder Partner Ronel die Sachen unauffällig in ihre Räume schaffen. Für den Anfang hatte sie nur einen kleinen, reich dekorierten Koffer mit sich. Ein Köfferchen, wie ihn eine Schönheit der chinesischen Oberschicht im Jahre 1841 vor Christus mit sich führen würde. Der Erfolg ihrer Mission hing davon ab, daß sie gesellschaftliche Spielregeln der Shang-Dynastie kennenlernte und dann diese Regeln zu ihrem eigenen Vorteil anwandte. TERRA hatte Sitten und Bräuche nur in groben Umrissen feststellen können. Obwohl die Chinesen bereits eine Schrift entwickelt hatten, sollte es weitere tausend Jahre dauern, ehe der berühmte Philosoph Konfuzius die ersten Hinweise auf die Traditionen und Wertmaßstäbe der ShangZeit geben würde. Der Meinung der späteren chinesischen Historiker war ebensowenig zu trauen wie den Vermutungen der Historiker anderer Kulturen. Als sie entdeckte, daß sie sich, um ihre Arbeit wirksam ausführen zu können, nach den Regeln des Shang-Spieles einem einflußreichen männlichen Mitglied der herrschenden Klasse anschließen mußte, besprach sie dieses Problem ausführlich mit Ronel. Der Symbiot schnüffelte die ganze folgende Woche in
verschiedenen Verkleidungen in den Häusern der einflußreichsten Familien der Stadt herum. Mit Hilfe seiner telepathischen Fähigkeiten war es relativ einfach, einige in Frage kommende Kandidaten zu finden und dann ihre Ansichten, Vorlieben, Gelüste und Temperamente gründlich auszukundschaften, so daß Luise entscheiden konnte, welcher ihr am meisten nützen würde. Nach sorgfältiger Abwägung aller Faktoren traf sie ihre Wahl und entwarf einen Aktionsplan. So kam es, daß Cheng-Te-kun, der älteste Sohn des Besitzers der südlich der Stadt gelegenen Bronzefabrik, eines Tages zur Verfolgung eines exotisch gefiederten Vogels aufbrach und statt dessen zu seinem Erstaunen und Entzücken einer lieblichen Prinzessin aus einer fernen Dynastie begegnete. Sie erzählte ihm, daß ihre Karawane von Banditen überfallen und ihre Begleiter getötet oder entführt worden seien. Das zu Tode erschrockene Mädchen hatte sich mit ihrem Lieblingsäffchen und einem kleinen, kunstvoll verzierten Lackkoffer, der ein paar persönliche Habseligkeiten enthielt, retten können. Der junge Cheng wußte von den von Zeit zu Zeit stattfindenden Überfällen der wilden Tataren, die die Hügel im Norden unsicher machte. Das vornehme und völlig hilflose Mädchen nahm ihn völlig gefangen. Sie war nicht nur jung und schön, sie schien auch so viele seiner Vor-
lieben und Meinungen zu teilen, daß viele Stunden verstrichen, ehe ihm wieder einfiel, daß der bunte Vogel, der ihn zufällig zu ihrem Versteck geführt hatte, verschwunden war. Für einen jungen Edelmann wie Chung Te-kun hieß das edle Wild »Finderlohn«. Die vornehme Abkunft des Mädchens erhöhte nur ihren Wert. Der Eigentumsbegriff wurde damals auf Menschen in gleichem Maße wie auf Sachen angewendet. Daher wurde Luise Little das unbestrittene Eigentum Chen-Tekuns, eine Trophäe, mit der er machen konnte, wie ihm beliebte. Hannibal Fortune mußte feststellen, daß China eine Riesenfläche einnahm. Seine Suche wurde noch komplizierter, da er nicht sicher war, an welchem der vielen Flüsse die Shang-Dynastie sich niedergelassen hatte. Er verbrachte einen Tag damit, den Yangtse der ganzen Länge nach zu erforschen, bis ihm eine Bemerkung Luises über das Chinesische Zentralmassiv einfiel. An jedem Fluß, der ihm in die Quere kam, fand er kleine Ansiedlungen. Dabei war Fortune sich bewußt, daß das Überfliegen eines Dorfes nicht der geeignetste Weg ist, jemanden ausfindig zu machen, besonders wenn der gewisse Jemand sein Aussehen dem der Eingeborenen angeglichen hatte. Doch Luise hatte eine Besonderheit, die sie von je-
dem anderen Individuum in China unterschied: wie alle Agenten mit festem Standort, hatte sie in ihrem Kopf Hunderte von Miniatursendern, die auf die Frequenz eines vollsensorischen Cerebralfeldaufnahmegerätes abgestimmt waren. Die Zeitfähre enthielt Instrumente, die dazu dienten, diese feinen Ausstrahlungen aufzufangen. Fortune ließ also die Gebirgsquellen des Yangtse hinter sich und wandte sich nach Nordosten. Er überflog schneebedeckte Gipfel und entdeckte dahinter eine breite alluviale Ebene, die sich Hunderte von Kilometer weit erstreckte. Dann noch mehr Flüsse und Dörfer. Aber nichts, was auch nur entfernt an eine Stadt erinnerte. Noch bevor sie die Kommandozentrale von TERRA verlassen hatte, wußte Luise, daß die Shang-Dynastie für die politische Geschichte des Planeten Erde von keinerlei Bedeutung war. Auch im Hinblick auf die kulturelle Entwicklung war diese Epoche bedeutungslos, weil die sogenannte Dynamische Geschichtstheorie es gegenstandslos erscheinen ließ, welches besondere Individuum in einer bestimmten Periode etwas geschaffen hatte. Fortschritte der Zivilisation pflegten meist dann einzutreten, wenn die Kultur dafür reif war, nie früher und nur selten später. Ein Erfinder, der »seiner Zeit fünfzig Jahre voraus
war«, wurde unweigerlich durch das Fehlen ihn unterstützender Technik, mit der er seine Ideen in die Praxis umsetzen konnte, behindert – oder er wurde als Verrückter ausgelacht. Vom technischen Standpunkt gab es eine auf sehr schwachen Füßen stehende Entschuldigung für Luises Mission: sie sollte herausfinden, wie die Bronzemanufaktur der Shang-Epoche sich hatte entwickeln können, ohne Spuren eines Zwischenstadiums zu hinterlassen. Vor der Shang-Dynastie, die im Jahre 1766 vor Christus von König Tien-yi gegründet worden war, hatte es in China keine Bronze gegeben. Während der Shang-Epoche hatten raffinierte Bronzegegenstände die proto-chinesische neolithische Töpferkunst ersetzt und die Töpferformen in Metall wiederholt und oft entscheidend verbessert. Alle anderen Bronzekulturen hatten sich allmählich entwikkelt, doch hier hatte es einen plötzlichen und für zahllose Generationen von Archäologen rätselhaften plötzlichen Durchbruch gegeben. Als Eigentum Cheng-Te-kuns ergab sich für Luise die ideale Gelegenheit zu erfahren, wie es dazu gekommen war. Unsichtbar schwebte Fortune über der alten Stadt Ao. Diese frühchinesische Metropole nahm höchstens ein Drittel der Fläche Karthagos ein. Sie bildete ein nahe-
zu vollkommenes Quadrat von eineinhalb Kilometer Seitenlänge, und war von einer hohen Mauer umgeben, die etwa zwei Meter dick war. Obwohl die Straßen mit der gleichen geometrischen Präzision angelegt waren, die Fortune schon an dem römischen Lager aufgefallen war, wirkte die Stadtanlage doch nicht nur streng funktionell, so als hätten die Chinesen der Frühepoche schon einen Schimmer von der in der Schlichtheit verborgenen Schönheit gehabt, die die Künstler der Zen-Kultur in einem späteren Zeitalter entdecken sollten. Die auffallendste Formation war eine Ansammlung hellgelber Dächer in der Stadtmitte. Gelb war die kaiserliche Farbe, fiel Fortune ein. Die übrigen Gebäude hatten meist graue Dächer, die größeren blaue und grüne. Irgendwo in dieser Stadt war Luise Little, soviel hatten ihm die Detektoren seiner Fähre verraten. Es dauerte nur wenige Minuten, dann hatte er das Gebäude geortet, aus dem die Cerebralfeldstrahlen kamen. Er verharrte in der Beobachtungsphase und ging mit der Fähre näher heran. Ihr Vorgehen hatte sich als wirksam erwiesen, überlegte Luise, obwohl sie zugeben mußte, daß es nicht ganz problemlos verlaufen war. Trotz der Beschränkungen, die die Gesellschaft der Shang-Zeit ihr ihres Geschlechtes wegen auferlegte und der untergeord-
neten Rollen, die sie in ihren Beziehungen zu Cheng spielen mußte, hatte man ihr ein Gefolge von Sklaven gestattet und ihr fast völlige Freiheit gelassen, zu kommen und zu gehen, wann es ihr beliebte. Einen besseren Beschützer hätte sie sich gar nicht wünschen können. Er war nicht nur liebevoll, sondern hätte auch verständnisvoll sein können, wenn es die Kultur, der er angehörte, zugelassen hätte. Die verräterische Strahlung drang aus einem der sieben kleinen Gebäude, die U-förmig um ein größeres angelegt waren. Nach der noblen Bauart zu schließen, gehörten alle acht Häuser zusammen. Hatte Luise in einem einzigen Jahr einen gewaltigen wirtschaftlichen Fortschritt machen können, um sich einen solchen Herrensitz leisten zu können? Er dachte an ihre Tüchtigkeit und entschied, daß es durchaus möglich war. Doch gebot ihm die primitivste Vorsicht eine sehr behutsame Annäherung. Fortune wußte nur zu gut, wie nützlich in dieser Situation Webleys telepathische Kräfte gewesen wären. Da er ohne Hilfe des Torgs auskommen mußte, ging er über dem Gebäude nieder und benutzte den Trick des Zeitüberspringens, um die nötigen Informationen zu sammeln. Das Experiment zeitigte keinen Erfolg. Obwohl es in der rotgefilterten Welt beträchtliche Bewegung gab, ergab das alles keinen Sinn. Am Ende des mit
erhöhter Geschwindigkeit vor ihm abrollenden Tages wußte Fortune kaum mehr als zu Beginn. Und als sich jetzt mit Windeseile die Dämmerung herabsenkte, brachte sie dräuende Gewitterwolken mit sich, die mit gewaltigen Blitzen näherkamen. Das Gewitter hüllte die kleine Stadt in heulende Dunkelheit und schüttete das Wasser tonnenweise auf die gelben, blauen, grünen und grauen Dächer. Der Knall der sichtbare Gestalt annehmenden Zeitfähre verlor sich in den gewaltigen Donnerschlägen. Total durchnäßt fand Hannibal Fortune endlich Schutz unter dem breiten Dachvorsprung über jenem Fenster, aus dem er Luises Cerebralstrahlen empfangen hatte. Der leichte Fensterrahmen ließ sich mühelos öffnen. Aus der Dunkelheit drang eine Stimme in der Einheitssprache: »Komm herein und mach das Fenster zu. Hoffentlich hat dich niemand gesehen.« »Luise?« Das Mädchen lachte. »Wen hast du denn erwartet? Etwa Gregor Malik?« Sie hob eine Lampe, um ihn besser sehen zu können. Durchnäßt und bärtig stand er in seiner unzerstörbaren Tunika zitternd da. Er mußte niesen. Aus seinen griechischen Stirnlocken tropfte Regenwasser und lief ihm über die Nase.
»Wenigstens siehst du jetzt nicht mehr aus wie ein berufsmäßiger Held«, sagte sie mit unterdrücktem Lachen. »Wo hast du denn Webley gelassen?« »In Karthago.« »Ach?« »Er weiß gar nicht, daß ich weg bin. Ich wollte dich sehen.« »Das hättest du nicht tun sollen.« Plötzlich war sie ganz ernst. Es klang sogar verzweifelt, als sie sagte: »Wenn dich jemand sieht, könnte alles zunichte gemacht werden, was ich erreicht habe ...« »Kein Mensch hat mich gesehen«, beruhigte er sie. »Schließlich bin ich in diesem Spiel kein Neuling.« »Du benimmst dich aber wie einer.« »Das soll eine Begrüßung sein?« »Was hast du denn erwartet? Möchtest du, daß ich dir das Haar streichle und dich lobe, weil du ein artiger Junge bist?« Zu seinen Füßen bildete sich eine Lache. Hannibal starrte Luise unverwandt an. Das Gefühl der Fremdheit, das ihn berührt hatte, als er ihr neues Gesicht gesehen hatte, kehrte wieder und wurde durch ihre augenblickliche feindselige Haltung noch verstärkt. »Bei dir ist also alles vorbei?« »Es tut mir leid«, sagte sie. »Das war grausam von mir. Ich habe ganz vergessen, wie schwer die ersten Wochen für mich waren. Ich habe dich geliebt.«
»Du hast mich geliebt«, wiederholte er und gab ihr Gelegenheit, ihre Bemerkung zu korrigieren. Luise nickte. »Ich kann es mir jetzt nicht mehr leisten«, sagte sie nachdrücklich. »Und du auch nicht.« Sie spürte sein Unbehagen und bemühte sich um einen freundlichen Tonfall. »Ich habe die guten und die schlechten Gefühle kennengelernt.« »Ich habe dich vermißt«, sagte Fortune. Er bemühte sich, nach außen gleichgültig zu wirken. »Auch ich habe dich vermißt«, versicherte sie ihm geduldig. »Anfangs jedenfalls. Aber ich habe es überstanden.« »Danke.« Eine peinliche Pause. »Luise, ich begehre dich immer noch.« »Ich weiß. Wirklich – es ist vorbei. Alles aus. Versuch nicht, es wieder zurückzuholen. Es ist nicht gut, wenn du mit Gewalt versuchst, alles wieder aufleben zu lassen.« »Wer hat dir das gesagt?« Sie lächelte. »Wir wußten von Anfang an, daß Menschen wie wir es sich nicht leisten können, sich zu verlieben. Ich weiß, wie du dich fühlst, Hannibal, aber ich kann dir nicht helfen.« »Das glaube ich nicht.« »Vielleicht nicht«, sagte sie achselzuckend. »Das
ändert doch nichts. Du bist hier und dürftest eigentlich nicht hier sein.« »Ist es das, was dich bekümmert?« »Das reicht doch, oder? Ich habe schließlich hier eine Aufgabe zu erfüllen. Ich glaube, daß ich ein Recht habe, mir Sorgen zu machen, wenn meine Arbeit bedroht ist.« Fortune lachte hart auf. »Wenn es deine Mission wirklich gefährdet, wäre ich natürlich nicht gekommen.« »Das glaube ich nicht.« Er streckte seine Arme nach ihr aus. Sie wandte sich ab. »Möchtest du immer noch, daß ich gehe?« »Ja.« »Luise!« »Ich möchte, daß du gehst«, sagte sie. »Geh zurück, wohin du gehörst, und laß mich in Ruhe.« »Na gut«, sagte er langsam. »Wenn du es so willst.« »Ja, ich will es«, versicherte sie. »Gib acht, daß man dich nicht sieht. Diese Kultur geht mit Fremden, die sich mit Frauen anderer Männer einlassen, nicht eben zimperlich um.« Sie schirmte die Lampe ab. Wortlos starrte Hannibal Fortune hinaus in die Dunkelheit. Draußen umfingen ihn wieder Gewitter und Sturm.
6 Im Innern der Zeitfähre riß er sich die durchnäßte Toga vom Leib und schleuderte sie in den hintersten Winkel. Die Tunika war relativ trocken geblieben, sein Bart aber war total durchweicht. Er verfluchte die übertriebene Sorge der Techniker, die das molekulare Bindemittel des Bartes entwickelt hatten. Draußen wütete noch immer der Sturm, erschütterte die Dunkelheit mit Blitzen und peitschte die Stadt Ao mit wütenden Winden. Die Gewalt des Sturms schien wie ein Echo von Hannibals Stimmung. Wütend ging er daran, die Fähre wieder in die Unsichtbarkeitsphase zu entrücken. Daß ihn die Frau nicht mehr liebt, bei der er Nummer eins zu sein glaubte, ist für jeden Mann eine üble Erfahrung, besonders wenn er ihr in seinem Leben den ersten Platz eingeräumt hat. Diese Erfahrung gleicht einer Drohung, die vom Organismus als überraschender feindlicher Angriff gewertet wird und den Einsatz der Selbstverteidigungsreflexe zur Folge hat, die unweigerlich starke Rachegelüste mit sich bringen. Hannibal Fortune jedoch war weder in der Stimmung, philosophische Erwägungen über das Ende einer persönlichen Bindung anzustellen, noch war er in der Lage, einen wirksamen Gegenangriff zu starten.
Wütend starrte Hannibal hinaus in den Sturm und beobachtete das Regenwasser am durchsichtigen Teil der Kanzel. Nach einigen Minuten wurde ihm klar, daß das an seiner Außenseite herunterrinnende Wasser die Umrisse der Fähre deutlich nachzeichnete, obwohl die Fähre selbst unsichtbar war. Er hob ab und fluchte wortgewaltig, als der Seitenwind ihm stark zu schaffen machte. Eine Weile war seine Aufmerksamkeit darauf konzentriert, das Schiff wieder in die Gewalt zu bekommen. Endlich waren die Wolken unter ihm, und er konnte die Geschwindigkeit steigern. Mit dem Mondlicht kam auch die Einsamkeit. Außerdem war ihm kalt. Es war ihm bis jetzt gar nicht aufgefallen, wie kalt, doch jetzt verschränkte er die Arme vor der Brust und schauderte. Dann fiel ihm die Kiste voll Xanthe ein, die er für Webley mit an Bord genommen hatte. Das würde ihn erwärmen. »Viel verläßlicher als Menschen«, sagte er laut vor sich hin. Seine Hände zitterten noch immer, als er die Fähre in eine stationäre Umlaufbahn brachte, 1500 Kilometer über dem Sturm, der alles verdunkelte, was unter ihm lag. Lange Zeit starrte er auf die Zeiger und Schalter am Instrumentenbrett und vergaß, sie abzulesen. Dann zwang er sich zur Konzentration und stellte befriedigt fest, daß er alles ordnungsgemäß
ausgeführt hatte. Wie betäubt ging er an den Schrank und holte sich eine Flasche jener bernsteinfarbenen Flüssigkeit, die das Lieblingsgetränk seines Partners war, und öffnete sie. Auf der Zunge war der Geschmack zugleich milde und tröstend. Einen Augenblick später, als das Zeug bereits ins Blut übergegangen war, überkam ihn ein Schuldgefühl. Das Trinken kam ihm jetzt wie eine feige Flucht vor einem Problem vor, dem gegenüberzutreten er nicht wagte. Doch es wärmte ihn, und das war die Hauptsache. Oder etwa nicht? Nachdem er sich zu dieser Ansicht durchgerungen hatte, führte er die Flasche wieder an die Lippen und gönnte sich einen langen Schluck. Die Verachtung von vorhin wollte nicht weichen. Na schön. Analysieren. Erforschen. Austreiben. Vom Xanthe gestärkt, wurde ihm klar, daß ein Großteil seiner emotionellen Reaktion eigentlich Verachtung war, weil er sich als so menschlich verwundbar erwiesen hatte. Gleichzeitig war er ehrlich schokkiert, als er sah, wie vielen falschen Ideen er angehangen hatte. Jahrzehntelanges Training als verstandesmäßig ausgerichteter Mensch hatten ihn vorhin davon abgehalten, Luise physisch anzugreifen oder ihre Mission zu sabotieren, doch es bewahrte ihn nicht vor dem Verlangen, irgend etwas zu zertrümmern.
Auch als er Fäuste und Kiefer in kochendem Zorn zusammenpreßte, erkannte er seine Wut als kindisch. Diese Erkenntnis verstärkte jedoch nur den Ekel vor sich selbst. Das einzig Gute an der vergangenen Episode war die Tatsache, daß Webley nicht Zeuge seiner Demütigung geworden war. Zu behaupten, daß Luises veränderte Haltung ihn geärgert hatte, hieße einen gefährlichen Körperschaden mit einer bloßen Unbequemlichkeit vergleichen. Einige Stunden später weckte ihn das Schrillen des Weckers. Vom ausreichenden Schlaf erfrischt, der sein physisches System wieder in Ordnung gebracht hatte, sah er sich kläglich in der Kabine um und entdeckte die Spuren seines Xanthe-Rausches. Obwohl er dankbar vermerkte, daß das Zeug keinen Kater nach sich zog, betrachtete er doch die Notwendigkeit, das Durcheinander zu beseitigen, mit einer Anwandlung von Abscheu. Die unzerstörbare Purpurtoga war noch immer eine feuchte Stoffmasse. In den Ecken der Kabine waren feuchte Pfützen. Methodisch machte er sich an die Aufräumungsarbeiten und bereitete sich dann ein Frühstück. Während des Essens legte er sich das Problem erneut vor. Sein Zorn war verglüht. Trotz des kühleren Lichtes, in dem er jetzt alles sah, gelangte er immer wieder zu denselben falschen Antworten. Er konnte nicht dahinter kommen, war-
um die Antworten falsch waren. Der Mangel an Daten war eine ebenso vernünftige Begründung wie jede andere. Resolut schob er das Problem für spätere Behandlung von sich. Einer der Vorteile, die eine Zeitfähre bietet, ist die Flexibilität, mit der man ein Problem zugunsten eines anderen fallenlassen kann. Er war von seinem offiziellen Ziel abgewichen, weil er Luise besucht hatte. Genauso leicht konnte er das Problem Luise fallenlassen und zu seiner ursprünglichen Mission zurückkehren. Inzwischen würden die noch fehlenden Daten hoffentlich auftauchen. Jetzt mußten noch einige Teile von Vangos Geschichte untermauert werden. Daher stellte Fortune die Zeitkoordinaten auf das Jahr 203 vor Christus ein und kehrte – einer vagen Ahnung folgend – in die afrikanische Küstentadt Hippo Regius zurück. Er brauchte nur wenige Minuten, bis er den anonymen Reiter wieder ausfindig gemacht hatte, der Laelius die Neuigkeit von der überraschenden Heirat des Syphax überbracht hatte. Diese Ahnung ersparte ihm einige Tage Zeitfahrt und führte ihn zu dem rebellischen numidischen Fürsten Masinissa. Von dort war es mit der Zeitfähre nur eine kurze Strecke zu dem Hinterhalt, der das Gerücht vom Tod Masinissas verursacht hatte. Tatsächlich war der gerissene Numidier nur knapp dem
Mordanschlag entronnen, hatte jedoch die Nachricht von seinem Tod ungehindert zirkulieren lassen. Hannibal Fortune, der jetzt, was seine Mission betraf, ein viel besseres Gefühl hatte, nahm Kurs auf Karthago, und machte einen Zeitsprung zum Tag seiner Ankunft. So kam er noch zu seinem Rendezvous mit Webley zurecht. Unterwegs fragte er sich, wieviel von Vangos Bericht bloß aus unbestätigten Gerüchten bestand. Fortune brachte für Unfähigkeit ebensowenig Verständnis auf wie für offenen Verrat. Was noch beunruhigender war: Vangos Versagen zeigte eine Schwäche an, die sich vielleicht durch die ganze Kommandokette bis zu Pohl Tausig hinauf ziehen konnte. Fortune bezweifelte sehr, ob diese grobe Unfähigkeit für jede Organisation von der Größe von TERRA charakteristisch war – die Dynamik der Wechselwirkung zwischen den einzelnen Gruppen war ja bis zu einem Punkt systematisiert, an dem Stümperei eigentlich ausgeschaltet werden konnte. Bei zehntausend Agenten mit Dauerauftrag durfte es keinen Raum für Pannen geben. Wi'in und seinesgleichen bildeten eine gute Versicherung gegen eine durch die Dummheit eines Sonderagenten verursachte Panne, doch gab es von der Sorte Wi'ins bloß drei, und es bestand keine Möglichkeit, die Zahl zu erhöhen, also mußte das Problem eventueller Unfähigkeit der ortsfesten Agenten anders gelöst werden. Im Geiste entwarf
Fortune bereits einen kritischen Bericht, den er der Zentrale von TERRA vorlegen wollte. Vor ihm erhob sich der Steilabfall. Sieben Kilometer dahinter lag Karthago. Die Zwillingsuhren am Instrumentenbrett zeigten an, daß die drei Stunden um waren. Webley war jetzt eine Katze mit sicherem Schritt und glatten Ohren. Als das Zeitgefährt in die objektive Wirklichkeit eintrat, schlenderte der Symbiot herbei und sprang dann behende durch die Einstiegsluke. »Wir haben uns nicht gerade den geeignetsten Treffpunkt ausgesucht«, bemerkte er. »EMPIRE ist direkt unter unseren Füßen.« Fortune war eben dabei, das Schiff wieder verschwinden zu lassen. »Das habe ich selbst entdeckt«, gab er zurück. »Etwas in der Stadt gefunden?« »Nichts. Falls EMPIRE ein zweites Hauptquartier hat, ist es jedenfalls nicht in Karthago.« »In Cirta scheint eine kleine Außenstelle zu sein«, sagte Fortune und beschrieb in allen Einzelheiten die seltsame Ankunft der jugendlichen Braut des Königs Syphax und das darauffolgende dramatische Ereignis in der Festung des alten Monarchen. »Du warst also nicht untätig«, bemerkte Webley. »Und wo warst du außerdem?«
Fortune berichtete von dem Kurier, der ihn zufällig zu Scipio selbst geführt hatte, und erzählte auch, wie es ihm gelungen war, d'Kaamps kleines Aufnahmegerät in der Kleidung des römischen Feldherrn zu verstecken. »Damit können wir unsere Lücken füllen«, meinte der Torg. »Web, eine große Lücke habe ich bereits gefüllt. Erinnerst du dich an Vangos Bericht von Masinissas Ermordung?« »Der Neffe des alten Königs?« »Genau der. Sein Onkel hat ihm offenbar einen Hinterhalt gelegt, doch ist die Sache nicht planmäßig verlaufen. Der Junge ist davongekommen. Das bedeutet, daß er wahrscheinlich bei der Zerstörung Karthagos mitmachen wird. Wenn aber sein Onkel glaubt, er wäre tot, erleichtert das die Sache. Die Situation ist zwar immer noch ernst, aber nicht hoffnungslos. Ich denke, wir wissen jetzt genug und können uns auf unsere Freunde von EMPIRE konzentrieren. Was meinst du?« »Du bist schließlich der Stratege«, erinnerte ihn Webley. »Möchtest du, daß ich in die Höhle hineinkrieche und mich umsehe?« »Während ich hier oben warte? Sei nicht albern. Wenn wir sie überraschen, können wir das ganze Nest ausheben.«
»Voran, o mächtiger Retter der Welt!« Fortune grinste. Er war glücklich, daß er wieder in Gesellschaft seines fünfzehn Pfund schweren Partners war. Von dem leicht unebenen Plateau sechzig Meter über dem Meer fiel der Hügel steil ab, zwar nicht als nackter Fels, wie Fortune geglaubt hatte, aber auch nicht als Spazierweg für behäbige Bürger. Die untere Hälfte war zum Großteil zerklüftet. Der Eingang zu der Höhle EMPIRES lag im Schatten eines Überhanges versteckt. Da Fortune gesehen hatte, wie ein Gleiter in dem Loch verschwunden war, wußte er, es würde auch die sieben Meter lange Zeitfähre durchlassen. Was einen im Inneren erwartete, war von außen nicht erkennbar. Sie mußten hinein. Er hielt den Transporter durch Abweichung vom objektiven »Jetzt« in der Unsichtbarkeitsphase und steuerte ihn langsam unter den Überhang, wobei er aufmerksam nach der geringsten Bewegung im Höhleneingang Ausschau hielt. Webley hatte seinen gewohnten Platz zwischen den Schultern seines Partners eingenommen und einen schlanken Protoplasmafühler in Fortunes linkes Ohr gesteckt. »Mindestens sechs«, berichtete der Torg. »Verschiedene Typen. Alle weiter hinten.« »Strecke deine Fühler aus«, sagte Fortune und lenkte das Raumschiff langsam näher.
Hinter dem gutgetarnten Eingang lag die mit rotem Licht erleuchtete Höhle – mindestens dreißig Meter hoch und achtzig bis neunzig Meter tief. Die Decke war mit Stalaktiten bewehrt. Vorsichtig ging Fortune mit der Fähre tiefer, bis er einen Steilabfall entdeckte, der hinunter in eine größere Höhle führen mußte. »Dort unten sind sie«, bestätigte der Symbiot. Fortune manövrierte das Gefährt äußerst vorsichtig, um ein Anstreifen an den Felswänden während des langsamen Abstieges zu verhindern. Die Haupthöhle erwies sich fast als Duplikat der Eingangshöhle, doch war sie doppelt so lang und hoch. Die rückwärtige Hälfte wurde von einer spiegelglatten Wasserfläche eingenommen. Der Gleiter, den er vorhin gesehen hatte, stand an einer Seite, während an den übrigen Wänden entlang verschiedene rätselhafte Ausrüstungsgegenstände aufgestellt waren, von denen zwei ein Ding stützten, das wie eine primitive Radarantenne aussah. Er wollte eben eine Drehung machen, um besser hinsehen zu können, als die Stille durch ein so lautes und intensives Geräusch durchbrochen wurde, daß er es mit seiner Haut zu fühlen glaubte. Es war so durchdringend, daß es in seinen Knochen summte. Im gleichen Augenblick wurde die Zeitfähre aus dem Beobachtungsstadium gerissen, ins objektive »Jetzt« versetzt und für alle in der Höhle sichtbar. Als Fortu-
ne nach dem Instrumentenbrett langen wollte, schwang die Ausstiegsluke hinter ihm auf, der hereindringende Laut änderte die Tonhöhe, widerhallte in seinen Nerven und ließ seine Muskeln erzittern. Webley! Auch als sein ganzes Bewußtsein aufschrie, wußte er, daß der Torg nicht mehr da war. Wie gelähmt starrte Hannibal Fortune durch die durchsichtige Kanzel hinaus, während das Schiff die langsame Drehung um die eigene Achse fortsetzte. Fortunes Bewußtsein sank langsam auf Null.
7 Die Erkenntnis, daß er noch lebte, war für ihn kein Trost. Er fragte sich, wie es möglich war, daß jemand sich beim Erwachen wundert, daß er noch lebt. Er konnte sich nicht erinnern, daß er während einer seiner siebzehn früheren Missionen als Sonderagent jemals besonders erstaunt gewesen war, wenn er aus Todesgefahr entronnen war. Bis jetzt hatte ihn seine Erfahrung gelehrt, daß es aus jeder Falle einen Ausweg gab, wenn man sich nur genügend anstrengte. Gefangenschaft gehört zu den Risiken, die man bei einem Auftrag auf sich nimmt. Daraus folgt, daß man die Fähigkeit entwickeln muß, immer einen Ausweg zu finden. Dabei kam Fortune gar nicht der Gedanke, um wieviel nützlicher es gewesen wäre, zu lernen, wie man einer Falle von vorneherein entgeht. Diesmal unterschied sich seine Lage jedoch deutlich von jeder vorhergehenden. Früher hatte man ihn an Mauern gekettet, in Zellen gesperrt und auf verschiedenste Weise festgehalten. Experten verschiedener Planeten hatten ihn bearbeitet. Doch dies war das erste Mal, daß er nicht genau wußte, wie man ihn festhielt und in welchem Gefängnis er steckte. Er konnte Arme und Beine weder sehen noch fühlen. Eine Kopfbewegung war ganz unmöglich. Allein die
Bewegung eines Augenlids bedeutete eine ungeheure Anstrengung. Einen halben Meter vor ihm war eine konkave Wand aus einem weichen Plastik- oder Metallmaterial, in der Mitte eine viereckige Öffnung. Dahinter sah er einen schmalen Gang mit einer Tür am Ende. Im Gegensatz zum visuellen Eindruck stand das beharrliche Gefühl, daß »unten« hinter seinem Kopf war. Verwirrt schob er etwas Speichel in den vorderen Teil des Mundes und weiter auf die Unterlippe. Er floß zurück. Gut so. Das bedeutet, daß jene Tür am Ende eines Schachtes war, an dessen unterem Ende er selbst sich befand. Wieder versuchte er Arme und Beine zu lokalisieren – erfolglos. Doch er lebte. Und er atmete, wie er verspätet feststellte. Das war ermutigend. Er versuchte den Atem anzuhalten. Das bedeutete eine große Anstrengung, doch es klappte. Er spürte zwar kein Zusammenziehen und Ausdehnen der Brust, doch konnte er die Atmung bewerkstelligen. Also lag der Gedanke nahe, daß er noch alle Körperteile hatte. Das Empfinden würde mit der Zeit vielleicht zurückkehren. Bis dahin konnte er nur versuchen, seine mißliche Lage möglichst genau zu analysieren. Ärgerlich war, daß man ihn so früh erwischt hatte. Wäre er in dieser Branche ein Neuling gewesen, wäre es halb so schlimm gewesen. Doch da er einer der
neun Agenten war, die von der Kontrollzentrale von TERRA mit einer Lizenz zum persönlichen Eingreifen ausgestattet worden waren, war es einigermaßen beunruhigend, während einer Mission auf die Nase zu fallen. Einem Hannibal Fortune hatte das nicht zu passieren. Kleinere Versagen, das ja – Webley hatte in den gemeinsamen sechzig Jahren davon genügend mitbekommen, aber – Webley? Fortune sah die Wand und den Gang dahinter genau an. Web? wiederholte er. In Sichtweite war nichts, was einer der Formen, die Webley gern wählte, ähnlich sah. Er zwang sich, daraus nicht den Schluß zu ziehen, daß sein Partner vernichtet worden war. Diesen Fehler hatte er in der Vergangenheit zu oft begangen. Der Symbiot war immer wieder im letzten Moment aufgetaucht und hatte über die Dummheit voreiliger Schlüsse gelacht. Nein, Webley steckte sicherlich irgendwo in der Nähe. Fortune war sicher, daß sein gestaltenwechselnder Kumpan den Anschlag der Bösewichter überlebt hatte und bereits seine, Fortunes, Rettung plante. Wenn das, was ihn in der Zeitfähre gelähmt hatte, eine Art Energiestrahl gewesen war – Fortune war diesbezüglich ziemlich sicher –, dann hatte dieselbe nicht tödliche Energie auch Webley getroffen. Wahrscheinlich hatte der Symbiot nicht
einmal seine Geschwindigkeit verringert. Außer sofortiger Zerstäubung gab es nichts, was ein Wesen aufhalten konnte, dessen Reaktion auf physische Verletzungen sich auf Zusammenschrumpfen, Reparieren und Laufen beschränkte. Höchstwahrscheinlich war Webley schon längst weg gewesen, ehe die Angreifer seine Anwesenheit überhaupt bemerkt hatten. Mit etwas Glück hatte er sich in einen dunklen Winkel des Raumschiffes verkriechen können und war vielleicht jetzt schon in der TERRA-Kontrollzentrale und holte Verstärkung. Hannibal Fortune entschied, daß Besorgnis um Webley reine Zeitverschwendung war. Er wandte also seine Aufmerksamkeit seiner eigenen Lage zu. Bis das Protoplasma den instinktiven Befehl befolgt und genügend inneren Aufbau geleistet hatte, damit Webley wieder das Bewußtsein erlangte, waren sowohl Hannibal Fortune als auch die Fähre weg. Von Schmerzen gepeinigt, konzentrierte der Symbiot seine Energien in eine Bewußtseinssonde und untersuchte seine Umgebung nach etwaigen Spuren des Partners. Da er nichts fand, verkroch er sich in den Schatten hinter einem massiven Stalagmiten und führte den Wiederherstellungsprozeß zu Ende. Befriedigt, daß seine Verletzung ganz geringfügig war, schlängelte er einen flexiblen Augenstengel um einen Stalagmiten und sah sich in der Höhle um.
Im rötlichen Licht sah er, daß einige Ausrüstungsgegenstände noch da waren. Der Gleiter aber war weg. Die zwei parabolischen Antennen waren noch immer auf ein Gebiet genau unter dem Höhleneingang eingestellt. Webley hatte keine Möglichkeit herauszufinden, ob sie abgestellt oder in Betrieb waren. Vorsichtig bewegte sich Webley, der wie eine Kreuzung zwischen Ranke und Tausendfüßler aussah, die Wand hinauf. Er ließ je nach Bedarf Beine oder Fühler sprossen und führte zwischen den Stalaktiten fast einen Slalom auf. Knapp unter der Höhlendecke fand er eine kleine Öffnung, durch die Luft ausströmte. Er floß hinein, einen langen, gewundenen natürlichen Kamin entlang, bis er schließlich ans Tageslicht gelangte. Es dauerte einige Minuten, bis er seine fünfzehn Pfund unter Aufbietung aller Kräfte durch die Öffnung hinaus auf die trockene Oberfläche gezerrt hatte. Sobald er das geschafft hatte, ließ er ein Paar Protoplasmaflügel und Federn wachsen und erhob sich in die Lüfte. Jetzt war er sich auch über die Richtung im klaren und flog eilig zum Wohnsitz von Vango und Arrik. Das Haus der Agenten war verlassen. Er entschied sehr vernünftig, daß er Fortune mehr nützen könnte, wenn er auf voller Energiestufe arbeitete. Also legte Webley seine Vogelgestalt zugunsten der Affengestalt ab. Die Entdeckung von Arriks Pri-
vatbeständen an Xanthe nahm nur einige Minuten in Anspruch. Webley goß sich großzügig ein Glas der goldenen Flüssigkeit ein und setzte sich hin, um die Heimkehr des Agententeams zu erwarten. »Hannibal Fortune.« Das war ein Keuchen, ein rauhes Flüstern, das seinen Schädel durchdrang. Fortune öffnete die Augen. In der offenen Tür am Ende des Korridors respektive Schachtes war ein orangegesäumter purpurfarbiger Klumpen von halber Manneshöhe zu sehen. Um welche Gattung es sich handeln mochte – Fortune war ihr nie zuvor begegnet. Ganz automatisch registrierte er das fuchsrote und blaue Gesprenkel unter der durchsichtigen Haut. Viel mehr interessierte ihn jedoch der Umstand, daß es auf dem »Boden« des Korridors stand, der eigentlich über ihm hätte sein sollen, wie ihm sein Gleichgewichtssinn verriet. Vier der längeren Fransen gestikulierten. Unter dem aufgeblähten Körper des Lebewesens glänzte eine grüne Zunge, ähnlich dem Muskelfluß einer Schnecke. »Daß mir Ihr Gesicht bekannt vorkommt, könnte ich nicht behaupten«, sagte der Agent. »Natürlich ist es durchaus möglich, daß ich jetzt gar nicht Ihr Gesicht vor mir habe.« Der Ausdruck des Aufgeblähten blieb unverändert,
obgleich die oberen Gefäße mitten in einer Kräuselbewegung zögerten. »Ich bin Bahrs Tolunem«, sagte es in Einheitssprache. Fortune lächelte. »Das Gefühl habe ich auch. Würden Sie die Güte haben, mir mitzuteilen, was Sie mit mir angestellt haben?« Ohne zu antworten, bewegte sich das Lebewesen langsam vorwärts. Anscheinend hoffte es durch das viereckige Fenster mehr zu sehen. Obwohl Fortunes Gesichtsmuskeln schmerzten, behielt er sein unverbindliches Lächeln bei. Schließlich drehte sich der Klumpen um und entfernte sich gewichtig. »Trotz Ihrer Schönheit«, murmelte der Agent, »kann man Sie nicht zu den Konversationsgenies der Welt zählen.« Bahrs Tolunem, der eine Schleimspur hinter sich ließ, kroch langsam durch die offene Tür und schloß sie hinter sich. Benommen schloß Fortune die Augen und versuchte aus der Begegnung ein paar nützliche Daten zu gewinnen. Er schlief dabei ein. Bevor er anfing, das Problem in Worte zu kleiden, hatte Webley die Ironie überhaupt nicht gemerkt, die darin lag, von Vango und Arrik, die Hannibal Fortune heute, am selben Tag, so schroff behandelt hatte, Hilfe zu erbitten, um Fortune aus einer Situation her-
auszupauken, die dieser in erster Linie sich selbst zuzuschreiben hatte. Schadenfroh wies Vango auf den darin liegenden Witz hin. Webley unterdrückte das Verlangen, den Sarkasmus Vangos noch zu übertrumpfen, und entschloß sich statt dessen, die Ursache der Feindseligkeit zwischen Fortune und Vango zu erforschen. Sofort bekamen die zwei Symbioten die Plumpheit des auf Sprache beruhenden Gedankenaustausches zu spüren. Vango neigte zu sehr dazu, Einzelheiten, die seiner Dienstbeurteilung schaden konnten, zu seinen Gunsten zu wenden. Die Folge davon war, daß Arrik seinen Partner zu schützen versuchte – eine für Webley verständliche Einstellung. Wenn ein Torg eine Symbiose mit einer anderen Kreatur eingeht, ist seine Meinung über den Partner notwendigerweise eine günstige. »Ich verlange Gedankenaustausch«, sagte Webley. Arrik, der zwischen den Schultern Vangos hing, reagierte mit abwehrenden Wellen. Schlagfertig steckte Webley einen telepathischen Fühler in die Risse des Gedankenschildes des anderen, erklärte flink seine Gründe und fügte hinzu, daß auch er den Vorschlag ekelhaft fände, aber keinen anderen Ausweg sähe. Zögernd gab Arrik nach und ließ sich zu Boden fallen. Das Wesen eines Torgs besteht teilweise darin, ver-
trauten Kontakt mit Angehörigen der eigenen Gattung tunlichst zu vermeiden. Zwischen Organismen, die auf Geschlechtlichkeit basieren, hätte eine so antisoziale Einstellung keine Chancen gehabt. In der Entwicklungsgeschichte der Torgs war das einer der Hauptgründe für die Entwicklung starker Individuen gewesen. Die zwei Symbioten ließen Vango allein und zogen sich in einen anderen Raum zurück. Dort begannen sie das komplizierte Ritual des Kennenlernens. Der stechende Schmerz, der mit der Wiederkehr des Bewußtseins verbunden war, riß Hannibal Fortune aus dem Schlaf. Jeder Muskel schmerzte, jedes Gelenk wehrte sich, doch konnte er jetzt wenigstens sicher sein, daß er noch an einem Stück war. Sein Mund war trocken, die Augenlider schienen wie mit einer Kruste überzogen. Durch das viereckige Fenster »vor ihm« war noch immer der Korridor oder Schacht sichtbar, doch wurde sein Verdacht, nach »oben« zu blicken, durch den Zug der Schwerkraft an seinem Körper noch verstärkt. Er lag ganz einfach auf dem Rücken und sah schräg über sich in einen Spiegel. Er versuchte Arme und Beine abzuwinkeln. Sie verweigerten die Mitarbeit. Die Tür ging auf, und Gregor Malik betrat behende den Gang.
Fortune blinzelte. Wenigstens sah er wie Gregor Malik aus: dasselbe häßliche grüne Gesicht, dieselben spinnenartigen Fortsätze, die in ledrigen dreifingrigen Greifern endeten – aber Gregor Malik war doch tot! Berichtigung. Angeblich tot. Angeblich verloren im gewundenen Labyrinth der Zeit, ein Opfer der Regel der Doppelinanspruchnahme. Sein Genius des Bösen war aus jeder bekannten Zeitlinie ausgelöscht. »Wir treffen uns also wieder«, sagte der Tyrann des Planeten Bonus. Fortune zuckte zusammen. »Die Begrüßung hätte ruhig origineller ausfallen können«, sagte er und lächelte. »Nein, doch nicht. Sonst wären Sie nicht Gregor Malik. Meinen Glückwunsch zum Überleben, Greg. Wie haben Sie das bloß geschafft?« »Mit dem, was Sie wahrscheinlich Glück nennen würden, mein lieber Fortune – obwohl mein Kollege Rimaud Rudnl daran viel Verdienst hat. Er hat einen Weg gefunden, meine Notsignale zu lokalisieren. Technisch gesehen hinken wir eurer Organisation längst nicht so stark nach, wie ihr es gern glauben möchtet.« »Das freut mich für Sie«, antwortete der Agent. »Ich gehe wohl recht in der Annahme, daß für mich keine Aussicht besteht zu entkommen.« »Ganz recht.«
»Dann sind Sie wohl so gut und klären mich über ein unwichtiges Detail auf, das mich seit längerem beschäftigt.« Das Kichern des Tyrannen klang wie das Rascheln trockenen Laubes im Wind. »Sie möchten wissen, warum EMPIRE sich in den Krieg zwischen Rom und Karthago eingeschaltet hat?« »Genau. Worin besteht der Vorteil?« »Vorteil?« »Was hoffen Sie zu gewinnen, wenn Karthago gewinnt?« »Überhaupt nichts. Mit Ihrem Eingreifen in diesen kuriosen Konflikt ist bereits der Zweck erfüllt. Das Ganze hatte doch nur den Zweck, Sie, mein lieber Hannibal, in mein Netz zu verwickeln. Ich bin sicher, Sie werden mir beipflichten, wenn ich sage, daß es eine sehr klug aufgebaute Falle war.« »Diabolisch«, mußte Fortune zugeben. »Ich fühle mich geschmeichelt, daß Sie mich für so wichtig halten und sich dieser Mühe unterzogen haben. Es wäre schade gewesen, wenn man einen anderen Sonderagenten in diesen Fall eingeschaltet hätte.« »Ihre Eitelkeit hätte das niemals zugelassen. Sie haben für uns seit jeher ein Ärgernis dargestellt, aber der letzte Fall war der Gipfel.« »Tut mir leid, wenn ich Sie beleidigt habe, Greg. Können wir uns darüber nicht aussprechen?«
Das spinnenähnliche Gesicht sah ihn kalt an. »Bevor Sie sterben, werde ich mein Spiel mit Ihnen treiben. Dabei werde ich nicht nur meine Rache stillen, sondern Ihnen jedes Stückchen nützlicher Information herausziehen.« »Wieder mit Solupsin?« fragte Fortune. »Nein«, sagte Malik tonlos. »Sie können mir wichtige Mitteilungen machen. Es gibt andere Foltern, bei denen Sie viel länger am Leben bleiben.« »Wie großzügig.« »Ihre Zeitfähre haben wir. Man hat mir berichtet, daß sie ein Geheimnis nach dem anderen preisgibt.« Webley zog seine Pseudofüße ein und sog den Protoplasmapelz in sich ein, bis er formlos war wie ein runder Laib Brot. Dann ließ er einen senkrechten Schaft sprießen, der rasch bis zu einer Höhe von drei Meter emporwuchs und in einen Wirbel juwelenbesetzter Zweige explodierte, die wie eine bunte Fontäne auf und nieder fluteten. Arrik antwortete mit einem Strauß wächsener Blütenblätter und der unausgesprochenen Entschuldigung, daß er außer Übung war. Webley entspannte sich und wurde zu einem Gewirr sorgfältig facettierter Kristalle, von denen jeder einzelne einen pulsierenden phosphoreszierenden Kern hatte. Obwohl das eine außerordentlich schwierige Form
war, erreichte er sie mit solcher Leichtigkeit, daß es als Geste der Verachtung aufzufassen war. Arrik drückte sich zu einer flachen runden Scheibe zusammen, verfärbte sich tiefrot und schickte von seinem Mittelpunkt kräuselnde Wellen aus. Plötzlich verwandelten sich die Wellen in immer größer werdende Vierecke und dann in Blumen in allen Regenbogenfarben. Er endete als matter schwarzer Samt, auf dem verschiedene Arten von Pilzen wuchsen. Webley ließ seine Kristalle trüb werden und verschmolz sie zu einer Träne, die er lässig auf dem spitzen Ende balancierte und rotieren ließ. Verschiedenfarbige Fühler wuchsen heraus, fielen zu Boden, bildeten eine Bienenkorbform, den die Träne umhüllte, dann zerschmolz und eine grinsende Eidechse mit irisierenden Schuppen enthüllte. Arrik mußte seine Niederlage zugeben und verwandelte sich zurück in einen Affen. Höflich nahm Webley dieselbe Gestalt an. »Und jetzt der Austausch«, sagte er laut. Arrik nickte. »Jetzt der Austausch.« Pohl Tausig nahm mit nachdenklichem Stirnrunzeln zur Kenntnis, was der Computer ausspuckte. Den vermuteten Abweichungen entlang der siebenundvierzig planetarischen Zeitlinien auf der Spur zu bleiben, war eine schwere Aufgabe. Die Abstimmung al-
ler Daten verlangte nach Teamwork in höchster Form. Ein Konflikt zwischen Mitgliedern desselben Teams war das letzte, was der rundliche Einsatzleiter brauchen konnte. Eigentlich hätte er das voraussehen sollen. Dabei hatte er alle Möglichkeiten durchdacht. Kopfschüttelnd drückte Tausig den Kommunikator und ließ sich gewisse Dokumente schleunigst bringen. Er hatte geschlafen, ohne Ruhe zu finden. Wie lange, das wußte er nicht. Wieder war der Spinnenartige in seiner Zelle. »Ich bin sicher, Sie haben eine geruhsame Nacht verbracht, mein lieber Fortune.« Eine Kopfwendung bedeutete Qual. Sogar sein Gesicht schmerzte von der Muskelanstrengung, doch Hannibal Fortunes Lächeln war so spöttisch wie immer. »Mir geht's fabelhaft.« »Ich bin überglücklich, das zu hören«, erwiderte der Grüne aalglatt. »Ich brauche Sie in gutem Zustand, damit Sie den Zeitvertreib würdigen können, den ich mir für Sie ausgedacht habe. Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß diese kleinen Spielereien Sie mit der Zeit töten können – aber bis dahin haben wir noch Zeit.« »Das haben Sie mir bereits mitgeteilt.« »Seit unserem letzten Zusammentreffen habe ich die Gattung, der Sie angehören, gründlich studiert
und dabei besonders das Nervensystem berücksichtigt. Meine – äh – Genossen und ich haben interessante Ideen entwickelt, wie man Angehörigen Ihrer Gattung Schmerz zufügen kann. Bis jetzt sind wir von Hypothesen ausgegangen. Es war also sehr günstig, daß Sie sich uns ausgeliefert haben, damit wir unsere Theorien in die Praxis umsetzen können.« Eventuelle Zweifel, die Fortune an der Echtheit Gregor Maliks gehegt hatte, schwanden. So teuflisch konnte nur der echte Tyrann des Planeten Borius sein. Daß dieser keine leeren Drohungen ausstieß, das wußte Fortune von früher. Er konnte jedoch nicht zulassen, daß nur ein Anflug von Furcht in seiner Miene sichtbar wurde. »Sie wollen also versuchen, mir die Würmer mit allen Mitteln aus der Nase zu ziehen.« »So könnte man es auch formulieren.« »Gregor, ich glaube kaum, daß Ihnen das glücken wird.« Falls der Spinnenähnliche Fortunes Bemerkung als witzig auffaßte, ließ er es sich nicht anmerken. »Wir haben keine andere Wahl und müssen es versuchen. Sie sollten es eigentlich faszinierend finden – schließlich spielen wir mit Ihrem Nervensystem.« »Natürlich«, pflichtete Fortune ihm freundlich bei. »Sagen Sie, Greg, erwarten Sie eigentlich, daß ich mich bei der Aussicht auf Foltern vor Angst ducke?«
»Ducken Sie sich, wenn Sie wollen. Meinetwegen können Sie auch ab und zu schreien, aber das wird nicht nötig sein. Unsere Ausrüstung ist sehr raffiniert. Ihre Nervenreaktionen werden während des ganzen Experimentes überwacht. Kurz gesagt, mein lieber Fortune, es wird Ihnen nichts nützen, wenn Sie Bewußtlosigkeit vortäuschen.« »Sehr klug«, meinte der Agent. »Ja, das glaube ich auch«, sagte Malik. »Sind Sie überhaupt an Psychologie interessiert?« »Es genügt mir, daß ich einen kranken Geist erkenne, wenn mir einer begegnet. Den Ihren habe ich sofort erkannt.« »Vielleicht macht es Ihnen Spaß zu hören, daß die Experimente gleichzeitig meinen Studien über Stolz und Eitelkeit beim männlichen Menschen dienen. Darüber sollten Sie nachdenken. Wir sehen uns erst bei Beginn der Experimente wieder.« Der Tyrann ging an die Tür. »Und wann wird das sein?« »Mein lieber Fortune«, kicherte Malik, »Sie erwarten doch nicht im Ernst, daß ich Ihnen das sage? Dann wäre die Spannung doch gleich Null.« Zu den Kulturwerten, die einem Torg schon sehr früh eingepflanzt werden, gehört die Unantastbarkeit der Privatmeinung eines Individuums. Man bringt dem
jungen Torg bei, mit seiner eigenen Meinung zurückzuhalten und nur Tatsachen zu übermitteln, wenn er mit einem anderen Torg Informationen auszutauschen gezwungen ist. Daher durchfluteten Webley und Arrik das Bewußtsein des anderen, und sie teilten ihre Erfahrungen, aber nicht ihre Meinungen über Hannibal Fortune und Vango. Auch mit diesen Sicherheitsvorkehrungen war ein Mitteilungsvorgang ein fast traumatisches Erlebnis. Am Ende wußte Webley alles, was Arrik über Vango wußte, und Arrik wußte alles über Fortune. Zitternd trennten sie sich. Jeder schien sich in sich selbst zurückzuziehen und die Neuigkeiten zu ordnen, zu verdauen und zu verarbeiten. Lange verharrten sie auf diese Weise. Er war hungrig und konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt gegessen hatte. Er konnte sich nicht einmal erinnern, geschlafen zu haben. Sein Körper schmerzte. Bewegung bedeutete Anstrengung, seine Bewegungen schienen merkwürdig langsam und traumhaft. Schwäche infolge von Nahrungsmangel? Oder nur träge von den ihm eingeflößten Drogen? Seine Umgebung hatte sich in einen unregelmäßig geformten Raum verwandelt, der zwölf verschiedene Oberflächenformen aufwies, von denen sich nicht zwei in Form, Farbe oder Beschaffenheit ähnelten. Der Boden hatte fünf ungleiche Seiten. Einige der
Wand- und Deckenflächen glühten und änderten ständig die Lichtintensität. Er bewegte sich schmerzgepeinigt im Raum hin und her und untersuchte ihn. Dann setzte er sich erschöpft mitten auf den Boden und beobachtete die Lichter. Die Fläche unter ihm war rauh wie grobes Sandpapier. Die Luft war frostig und roch nach einem Gemisch von abgestandenem Schweiß und verwesendem Fleisch. Er atmete tief ein, um seine Nase daran zu gewöhnen. Nach einigen Minuten wurde der Gestank schwächer. Als er das nächste Mal erwachte, war der Raum ungemütlich heiß. Es roch nach Fisch. Die Leuchtröhren flackerten. Unter der Schweißschicht auf seiner Haut starrten ihn häßliche Abschürfungen an. Sein Kopf schmerzte vor Hunger oder aus anderen Gründen. Außer durch Beobachtung der eigenen Körperfunktionen bestand keine Möglichkeit, die Zeit festzustellen. Er untersuchte sich sorgfältig und fand eine kleine Abschürfung am linken Knöchel, die er bearbeitete, bis sie blutete. Sollte ihn wieder Bewußtlosigkeit überfallen, dann konnte er ihre Dauer berechnen, indem er den Heilungsgrad feststellte. Vielleicht war das ein nutzloses Datum, doch es war wenigstens ein Beginn. Hunger und Durst, das wußte er, waren weniger verläßliche Anzeichen, da sie in ihrer Intensität subjektiven Schwankungen unterworfen waren.
... weit subjektiver in ihrem Wahn. ... subjunktivisch in ihrem Wahn. ... in ihrem Kram. Warm, tief einatmen, widerstandslos. Schlafe, weich und warm, subjektiver als deine Neigung. Soll der Hunger weniger verläßlich sein ... atme tief den subjunktivischen Wahn ein. Pohl Tausig? Ein rundlicher Bürokrat, der zu blind ist, echte Fähigkeiten zu schätzen, auch wenn er in der Lage wäre, sie zu erkennen. Ja wir neun, denn die anderen zählen nur drei. Ich bin du, sprach der Lippenlose, doch nur eine Weile, denn wenn du nicht mehr bist, werde ich ein anderer sein ... Obwohl er die Augen geöffnet hatte, sah er nichts, das einen Sinn ergab. Vor ihm schwankten zwei schattenhafte Figuren, die nicht stillhalten wollten. Ganz dunkel spürte er, daß ihn nur der Hypnoseblock beherrschte. Als Antwort auf direkte Fragen würde er sinnloses Gestammel von sich geben – doch war er ebenso sicher, daß es nicht funktionieren würde. Der einzige, mit dem ich rechnen kann, bin ich selbst. Einszweidreivierfünfsex. Tschuldigung, Jungs. Eine der Figuren redete und äußerte zwölf Silben. Zwölf Silben weigerten sich hartnäckig, einen Sinn zu ergeben, weil er sich mehr als drei Silben auf einmal
nicht merken konnte. Bis der Fragende bei Silbe Nummer vier angelangt war, hatte Fortune Nummer eins bereits vergessen. »Weiche Wonne wilden Wogen«, antwortete er. Das andere schattenhafte Etwas unterbrach ihn mit einer scharfen Frage nach – wonach nur? »Wimmernde Weiden wirbeln wirksam«, fügte er prompt hinzu. Die dunstigen Umrisse hielten eine kurze Beratung ab und formulierten dann ihre Fragen anders. Fortune tat sein Bestes, um dem Gesagten zu folgen, doch es entglitt ihm abermals. »Wirre Wiesel winken wieder«, sagte er. Die Zeit verging. Schließlich quetschten sie ihm die aufregende Meldung heraus, daß sie »die Wünsche willig wirken« lassen sollten. Wieder eine Beratung, wieder eine Frage, wieder eine unsinnige Antwort. Undeutlich spürte Hannibal, daß das nicht die Antworten waren, die sie erwarteten. Sie schienen schwer enttäuscht, deswegen begegnete er ihnen mit einer eigenen Frage: »Wünscht Ihr wirklich wahre Werte?« Sofort merkte er, daß er damit nicht angekommen war, doch er wollte den Gedanken zu Ende denken. »Wagt ihr Wichte willig Witze?« Mehr wollte er in Anbetracht der Umstände nicht preisgeben.
8 Das Erbrechen brachte verstärkte Kopfschmerzen und einen bitteren Geschmack im Mund. Man hatte ihn entweder in eine andere Zelle geschafft, oder seine alte Zelle war zusammengeschrumpft, seit er sich darin zuletzt umgesehen hatte. Jetzt hatte er weniger Raum, dafür aber mehr und größere Wunden am Körper. Unter großen Schmerzen nahm Hannibal Fortune eine Untersuchung an sich vor. Es fehlte nichts – noch nicht. Nach der Empfindlichkeit seiner verschiedenen Verletzungen zu schließen, hätte es der Fall sein können. Hätte er die Gelegenheit dazu gehabt, so wäre er jede Wette eingegangen, daß einige Rippen gebrochen waren, da jeder Atemzug von Schmerzanfällen begleitet war. Sein karthagischer Bart juckte. Wahrscheinlich war unter dem falschen Bart sein eigenes Barthaar nachgewachsen. Doch war das, verglichen mit den anderen Schmerzen, bloß ein Unbehagen. Offenbar hatte man ihn gründlich in die Kur genommen, nachdem man ihm keine nützlichen Informationen hatte entlocken können. Erinnern konnte er sich jedoch an nichts. Dieses Fehlen jeglicher Erinnerung beunruhigte ihn, denn dadurch wurde die Anzahl der Daten, die er sich erarbeiten mußte, um fliehen zu können, emp-
findlich geschmälert. Da es natürlich sinnlos war, ihn während seiner Bewußtlosigkeit zu mißhandeln, hatte man ihm die Verletzungen in der Hoffnung beigebracht, damit seinen Widerstand brechen zu können. Also mußte er bei Bewußtsein gewesen sein, als es geschehen war. Oder aber Gregor Malik war kein kalter, berechnender Gegner mehr – eine Hypothese, an die Fortune einfach nicht glauben konnte. Ihm fiel die improvisierte »Uhr« an seinem linken Knöchel ein. Er tastete nach der Kruste – es konnten höchstens zwei Tage vergangen sein, seitdem er die Stelle aufgekratzt hatte. Die Bartstoppeln auf der Oberlippe bestätigten diese Schätzung. Sein Magen aber meldete ihm, daß viel mehr Zeit vergangen sein mußte. Noch ein paar Fasttage, und er würde für die Flucht wahrscheinlich zu schwach sein, auch wenn sich eine Gelegenheit böte. Unter großen Schmerzen untersuchte er sein Gefängnis mit den flackernden Lichtern und den sich scheinbar immer wieder verändernden Dimensionen. Obwohl das Material verschiedene Oberflächen aufwies, war es überall von sehr massiver Beschaffenheit, auch die durchsichtigen Steine. Alles so massiv, wie es Gefängnismauern eben sein müssen. Doch mit geeigneten Werkzeugen ... Wunschdenken hatte außer seinem Torg noch nie jemandem weitergeholfen.
Müde setzte er sich, um Kräfte zu sparen, wieder auf den Boden und konzentrierte seine Energien zu einem durchdringenden Hilferuf an seinen Partner. Vielleicht war das reine Zeitverschwendung, doch es kostete schließlich nichts. Nachdem er den lautlosen Schrei ausgestoßen hatte, lehnte er sich zurück und wartete. Er überdachte im Geiste wieder die einzelnen Elemente seiner Lage, arbeitete an ihrer Definition und suchte Kombinationen, die ihm vorher vielleicht entgangen waren. In einem anderen Teil des unterirdischen Komplexes kauerte Gregor Malik vor einem Beobachtungsschirm und konferierte mit seinem purpurgetönten Handlanger Bahrs Tolunem. Auf dem Schirm sah man Hannibal Fortune, der mit gekreuzten Beinen, offenbar entmutigt, völlig bewegungslos dasaß. Der Tyrann stellte einen Tonmonitor ein. Durch den Lautsprecher war der Atem des gefangenen Agenten zu hören. »Sieht aus, als wäre es ihm behaglich zumute«, bemerkte Tolunem. »Dann ändere schleunigst diesen Zustand!« Gehorsam streckte der Klumpen einen Greifarm aus und verstärkte die Hitzezufuhr zur Zelle. Malik machte eine kleine zustimmende Geste und fragte: »Wie lange wird es dauern, bis Rudnl bereit ist?« »Mit etwas Glück schon morgen«, zischte der Orangefarbige.
»Ausgezeichnet. Phase zwei beginnt also morgen nacht.« Gregor Malik genoß schadenfroh die Lage seines Gefangenen und blieb vor dem Bildschirm stehen, bis Hannibal Fortune, durch die erbarmungslose Hitze zermürbt, zusammenbrach. Als er wieder erwachte, hatte sich der Raum abermals verändert. Neue Verletzungen wetteiferten mit den alten und lieferten ihm den Beweis, daß man ihn neuerlich geschlagen hatte. Sogar seine Fingernägel waren durstig. Wie bei den letzten Malen hatte er auch jetzt keine Erinnerung an die Schläge und keine Ahnung, wie lange alles gedauert hatte. Vorsichtig begann er mit dem Prozeß, sich die Steifheit aus dem Körper zu vertreiben. »Mein lieber Fortune«, drang die Stimme Maliks durch einen versteckten Lautsprecher. »Das Leben wäre für Sie viel leichter, wenn Sie endlich die kindischen Fluchtversuche unterließen. Ich könnte für Ihre Beharrlichkeit Bewunderung aufbringen, hätte sie uns nicht gezwungen, Ihre Unterkunft in den vergangenen Wochen dreimal zu ändern.« Hannibal versuchte sich ein freches Grinsen abzuringen, ließ es aber bleiben, als seine Lippen rissen. Es kamen weitere Botschaften von Malik. Nach einer Weile füllte sich die Zelle mit einem feinen faul-
riechenden Nebel, und wieder überfiel ihn Bewußtlosigkeit. Stecknadeln aus Licht flackerten in der Dunkelheit und erhellten schattenhafte Andeutungen von Dingen und Menschen, während Stimmen an- und abschwollen und einander überlagerten. »Wenigstens«, sagte die Chinesin angeekelt, »siehst du nicht mehr wie ein berufsmäßiger Held aus.« Aus einer anderen Richtung polterte eine Stimme mit akademischen Untertönen: »Möchte wissen, ob Sie sie wohl ganz objektiv sehen.« »Nichts für ungut«, sagte Vango. »Hier herrscht eine Kultur«, fuhr Luise fort, »die mit Fremden, die sich an die Frauen anderer Männer heranmachen, nicht eben zimperlich umgeht.« »Unterlassen Sie diese kindischen Fluchtversuche«, sagte Gregor Malik. Von irgendwo am Rande seines linken Ohres tropfte sarkastisch-symbiotisches Flüstern: »Dein Mut setzt mich in Erstaunen.« »Sie ist doch nicht ihr Typ, Hannibal«, erklärte Pohl Tausig. Bevor er antworten konnte, fragte ihn das Chinesenmädchen: »Soll ich dir vielleicht das Haar streicheln, weil du ein braver Junge bist?« »Voran, o mächtiger Retter der Welt«, zischte Webley und löste sich in eine Rauchwolke auf. Der Nebel wurde unerträglich rot, als d'Kaamp treffend bemerkte: »Sie sind tot!«
Hunger, Kopfschmerzen, Verletzungen, das Unvermögen, an Fluchtversuche denken zu können, wurden nun abwechselnd von Kälte- und Fieberanfällen und Muskelkrämpfen ergänzt. All das ballte sich zu einer schweren Erschöpfung zusammen. Einem schwächeren Menschen wäre Bewußtlosigkeit ein willkommener Ausweg gewesen. Hannibal Fortune aber wehrte sich dagegen. Obwohl keine Anzeichen darauf hinwiesen, daß jemals Hilfe kommen würde, und obwohl Hannibal wußte, daß ein Hoffen auf Wunder reine Zeitverschwendung war, klammerte er sich an das einzige, dessen er sicher sein konnte: daß er immer noch existierte. Außerdem war er schon zu oft in der Klemme gewesen, um seine eigene Fähigkeit, doch noch einen Ausweg zu finden, völlig abzuschreiben. Er nahm sich seine Daten vor und entnahm ihnen vorsichtig einige Punkte. Erstens: er war zweifellos der Gefangene EMPIRES. Zweitens: Gregor Maliks persönlicher Haß trat schmerzhaft zutage. Drittens: Obwohl er sich an die Vorgänge nicht erinnern konnte, war er dem Chef von EMPIRE bis jetzt nicht von Nutzen gewesen, vorausgesetzt, daß sein Hypnoblock nicht nachgegeben hatte. Dieser Block zwang ihn, unter Druck gesetzt, auf alle direkten Fragen mit sinnlosem Geplapper zu antworten. Viertens: seine Gefährten, angefangen von Pohl Tausig und Webley,
waren entweder tot oder ahnten nichts von seiner Lage. Fünftens: Falls es ihm nicht gelang, die Kräfte Gregor Maliks außer Gefecht zu setzen, würden die Zeitlinien der Erde in Kürze eine tödliche Abweichung erleiden. Sechstens: Alle anderen Erwägungen waren relativ bedeutungslos, verglichen mit der Basis-Zeit-Wirklichkeit. Es war höchste Zeit, Gregor Malik die Initiative zu entreißen. Offenbar wollte niemand Fortune diese Aufgabe abnehmen. Gegen seine sämtlichen Schmerzen Schmerzblokkaden aufzubauen, hätte zuviel Anstrengung gekostet. Deswegen akzeptierte er die Schmerzen, statt sie zu bekämpfen, entspannte sich in ihnen, definierte sie immer wieder aufs neue, ließ sich von ihnen überfluten und ging in ihnen für einen quälenden Augenblick oder eine Ewigkeit auf. Es war also so, als hätte sich der Schmerz selbst, der vorhin noch eine undurchdringliche Schicht gewesen war, plötzlich geöffnet und ihn auf die andere Seite gezogen. Mit einem lautlosen Knall wurde der Schmerz abgestellt und erwiderte sein Willkommen mit einer Million kleiner, ekstatischer Schreie, als er sich in die Umarmung der Schmerzwelle gleiten ließ. Nach dem ersten quälenden Moment war es fast angenehm. Das war entschieden lehrreich – die Entdeckung, wie man der Schmerzen Herr wurde. Es war eine
Hingabe an die Wirklichkeit, eine Hingabe an das »was ist« und eine gleichzeitige Ablehnung dessen, »was sein sollte«, als nutzlos, als Lüge, als verführerische Phantasie, die in die reale Welt nicht hineinpaßt. Vielleicht niemals gepaßt hatte. Er entdeckte, daß der Trick darin bestand, in Harmonie mit dem Schmerz – und nicht im Gegensatz zu diesem – zu existieren. Lächelnd zwang er seine gequälten Muskeln, sich zu entspannen. Jetzt, da er sich eingestanden hatte, daß es vor der Qual kein Entrinnen gab, war es leichter. Der Vorgang war wie ein vorsichtiges Entlangtasten auf einem schmalen Grat in totaler Finsternis. Die Chancen stiegen, wenn man in Bewegung blieb. »Fortune«, flüsterte eine vertraute Stimme hinter ihm. Hannibal Fortune drehte sich um und erstarrte. Ihm gegenüber stand ein genaues Ebenbild Hannibal Fortunes – mit allen Verletzungen, Schrunden und Schwellungen. Herrlich, dachte Hannibal, ich habe Halluzinationen. »Uns bleiben weniger als vierzig Sekunden«, sagte der zweite Hannibal Fortune kurz. »Rasch durch diese Tür. Hör gut zu, ich kann es dir nicht zweimal sagen: Ich habe einen Weg gefunden, die Regel der Doppelinanspruchnahme zu umgehen. Die Fähre
wartet am Ende des Ganges. Stell bloß den Schalter ein. Du wirst das Kontinuum von der Seite im Zeitstillstand überwinden. Kannst du mir folgen?« Benommen nickte Fortune. »Könnte klappen«, murmelte er. »Es wird klappen«, versicherte ihm der andere Hannibal und trieb ihn in den Gang hinein. »Viel haben sie der Fähre nicht entnehmen können. Du mußt sie wegschaffen, bevor sie es sich noch einmal vornehmen. Ich werde inzwischen deinen Platz in der Zelle einnehmen. Ich weiß nicht, wie viele von uns da sein werden, wenn die Schwingungen abklingen, doch rechne ich damit, daß wenigstens einer mit Verstärkung wiederkommt.« Der Neuangekommene stieß die Tür auf und sprang in den Raum, in dem Fortune seine Zeitfähre inmitten verschiedener technischer Ausrüstungsgegenstände stehen sah. Der Raum war groß, die Decke wurde von der Höhle selbst gebildet, der Boden war aus synthetischem Material. »Beeil dich! Allein für die Luke brauchst du fünf Sekunden!« »Also seitlich? Wie funktioniert das?« »Wie sollte ich das wissen! Beweg dich!« Das war eine völlig vernünftige Antwort, überlegte Hannibal Fortune, während er auf die geöffnete Luke der Zeitfähre zulief. Er sah keinen Grund, seinen ei-
genen Überlegungen zu mißtrauen, nur weil er in seinem drogenbeeinflußten Zustand den Kern der Sache nicht ganz mitbekommen hatte. Offenbar wußte er, was er tat, und hatte es bereits erfolgreich getan, andernfalls er sich ja nicht gerettet hätte. Mit der Zeit merkt man schon, wem man trauen kann. Befriedigt streckte er die Hand nach dem Einsteiggriff aus – und wurde von einem sausenden Etwas, das von Kopf und Schultern abprallte und im Inneren der Zeitfähre landete, gewaltsam zurückgeschleudert. Fortune verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Boden. Jetzt schien alles gleichzeitig zu passieren. Die Luke schwang zu, der andere Hannibal Fortune wurde ebenfalls getroffen, bloß sprang das sausende Etwas von ihm nicht ab. Es gab ein reißendes, krachendes, wie Eierschalen knirschendes Geräusch, und der Kopf des zweiten Hannibal Fortune flog davon. Sekunden später wurde der Kunststoffkörper des Androiden in der Mitte gespalten und enthüllte ein Gewirr lamellenförmiger Kreise. Aus dem abgeschnittenen Hals drangen Spuren einer gelben Flüssigkeit. Der formlose Klumpen, der für die plötzliche Zerlegung seines Doubles verantwortlich zeichnete, bildete einen Sprechapparat. »Malik hat das alles geplant«, sagte der Symbiot. »Rudnl hat den Roboter gebaut. Die Instrumente der Fähre sind auf eine Verletzung der Doppelzeit eingestellt. Wir haben uns in
das Komplott eingeblendet und entdeckt, daß es die beste Gelegenheit bietet, sowohl dich als auch die Fähre zu retten ...« Die geraubte Zeitfähre machte einen Zeitsprung und verschwand. Der Torg zuckte zusammen und zischte: »Ich hatte gehofft, daß er die Instrumente rechtzeitig erreicht.« »Also kann man sich nicht seitlich durch die Doppelzeit schlängeln?« flüsterte der Agent. »Nein.« Fortunes tiefes Atemholen wurde in der plötzlichen Stille laut hörbar. Jetzt wurde ihm klar, wie nahe er daran gewesen war, sein eigener Henker zu werden. »Danke, Web«, sagte er leise. »Vango mag ja ein Idiot sein – aber Arrik hat sich bewährt.« »Irrtum«, antwortete der Symbiot und hüpfte auf den außer Gefecht gesetzten Androiden. »Ich bin Arrik. Webley war der andere. Ich soll dir helfen, hier herauszukommen. Was ist denn, du siehst ja –« Hannibal Fortune hatte das Gefühl, als hätte ihn eine Riesenfaust getroffen. Webleys Mission war also ein Himmelfahrtskommando gewesen! Der Freiheit so nahe zu kommen, auch wenn es sich zunächst um eine von Malik arrangierte Täuschung handelte und dann zu sehen, wie der Partner in einer sinnlosen Aktion vernichtet wird, hätte einen Gefühlsschock auch dann ausgelöst, wenn er in guter Verfassung gewesen
wäre. Plötzlich war der Spielablauf zu rasch geworden und der Einsatz zu hoch. In den letzten Tagen war er unglaublich gealtert. Er spürte, wie er die Herrschaft über sich verlor und nicht mehr imstande war, den sich ausbreitenden Wellen des Schmerzes zu widerstehen oder sich auch nur anzugleichen. Mit einem Warnruf sprang der Torg auf ihn zu.
9 Fortune, der nur halb bei Bewußtsein war, spürte nur ganz undeutlich, daß der fremde Symbiot sich an ihn klammerte, sich rasch über und um seinen Körper fließen ließ, sich vom Nacken abwärts um jeden Teil ergoß, zu einer zweiten Haut wurde, die sich warm anschmiegte, sich in jedem Haar festsetzte und in jeder Pore Halt fand. Arrik verteilte sein Protoplasma so gleichmäßig, daß die ursprünglichen fünfzehn Pfund zu verschwinden schienen. Fortune entspannte sich in Arriks merkwürdig tröstlicher und beruhigender Umarmung. Er wußte, es war nur eine Frage der Zeit, bis Gregor Malik und seine Mannschaft den unterirdischen Raum stürmen würden. Seine Grenzen zu erkennen und imstande zu sein, die Wahrscheinlichkeit von Erfolg und Versagen genau abzuwägen, war eine Fähigkeit, die jeder Agent von TERRA besitzen mußte. Hannibal Fortune hatte diese Grenzen erreicht und sah jetzt, von den erreichbaren Informationen ausgehend, seinen Untergang als Schlußpunkt des Abenteuers deutlich vor sich. Er zweifelte nicht daran, daß der Symbiot diese Information sofort aus seinem Bewußtsein aufgenommen hatte, doch er war zu müde, um einen Gedanken daran zu verschwenden. Wenn Arrik keinen Versuch zu
seiner eigenen Rettung unternahm, folgte daraus, daß es für beide keine Aussicht auf Flucht gab. Ungeachtet der Neugier über die eigene Todesart, hatte Hannibal Fortune zu wenig Energie übrig, um zuzusehen. Dankbar versank er in Bewußtlosigkeit – und wurde sofort von einem gräßlichen Schmerz wachgerissen, der aber nachließ. Arme und Beine wurden von einer Hülle aus symbiotischem Gewebe umgeben. Arriks fünfzehn Pfund hatten die Funktion eines knappanliegenden Panzers, der erstaunlich stark und muskulös war. Von den starken Bindegeweben symbiotischen Protoplasmas zusammengehalten, taumelte, kroch und schlingerte Fortune. Er konnte sich irgendwie auf den Beinen halten. Fortune war zu schwach, um zu fragen, was der andere im Schilde führte. Er gab sich damit zufrieden, geführt zu werden. Sie kamen zu einer normalen Tür. Arrik lehnte den Menschen gegen die Tür und ließ dann einen dünnen Protoplasmafilm um die Kanten und in den Sperrmechanismus der Tür fließen. Gleich darauf schwang die Tür auf, und der kombinierte Agent taumelte in den dahinterliegenden Gang. Fortune stöhnte vor Schmerzen, als ihm die Beine zurechtgesetzt wurden und das Gehen begann. Auf dem Weg zum Ende des Ganges erwachte er dreimal.
Später entdeckte er, daß sie sich in einem vertikalen Schacht befanden. Irgendwie hatte der Symbiot es fertiggebracht, Fortunes Hände und Füße auf das leiterähnliche Kabel zu legen, das von oben nach unten verlief. Undeutlich nahm Fortune wahr, daß sie sich auf der Flucht befanden. Einige Mikrosekunden wunderte er sich, wie sie das wohl anstellten. Doch genügend bei Bewußtsein zu bleiben, um das herauszufinden, war zu viel Anstrengung. Außerdem hatte er den Verdacht, daß es der Symbiot mit ihm leichter hatte, wenn er schlief. Als er wieder erwachte, entdeckte er, daß man mit ihm durch einen niedrigen Tunnel kroch, der sich sanft abwärts neigte. Am Ende schimmerte ein schwaches Licht. Diesmal bemühte er sich, wach zu bleiben, und nickte nur kurz ein. Arrik, kannst du mich hören? Ein Protoplasmafühler schlängelte sich in sein rechtes Ohr. Ja. Fühlst du dich besser? Ein wenig. Weißt du, wohin wir gehen? Hinaus, antwortete der Torg in einem Ton, der schmerzhaft an Webley erinnerte. Du wirst unter Wasser schwimmen müssen. Vergiß es. So lange kann ich den Atem nicht anhalten. Das hat Webley gewußt, als er diesen Plan ausheckte. Ich werde für dich den Atem anhalten. Jetzt waren sie nahe dem Ende des abfallenden
Tunnels. Vor ihnen lag ein unterirdischer See. Webley und ich haben den ganzen Berg ausgekundschaftet. Der einzige unbewachte Weg, der für dich in Frage kommt, ist unter Wasser. Es ist Ebbe, das wird uns weiterhelfen. Ich kann die benötigte Luft bis zum Auftauchen aufbringen. Du mußt bloß wach bleiben, damit du schwimmen kannst. Der See im Inneren der Höhle war, wie der Torg erklärte, mit dem Meer durch einen durch den Felsen verlaufenden Unterwassertunnel verbunden. Die Einzelheiten der Flucht waren im voraus ausgearbeitet worden. Der einzig schwache Punkt war die Tatsache, daß man den Plan vorher nicht hatte proben können. Auch war es mehr Hoffnung als realistische Einschätzung, daß sie glaubten, sowohl Mensch als auch Torg würden die Unterwasserflucht überleben. »Das Wasser ist ziemlich kalt«, warnte ihn Arrik, als sie am Ufer angelangt waren. »Dann wird es mich vielleicht wachhalten«, erwiderte Fortune. »Los!« »Beim ersten Mal mußt du so tief als möglich gehen. Dann werde ich dich leiten.« Fortune holte tief Luft, ließ sich ins Wasser gleiten und wappnete sich gegen den eisigen Angriff. Er stieß, ohne viel Wellen zu schlagen, ins Wasser und tauchte auf die Art eines geübten Schwimmers unter, der zunächst mit einem Armstoß das Doppelte seiner
eigenen Länge unter der Wasseroberfläche zurücklegt und dann mit dem ersten kräftigen Stoß tiefer geht. Statt jedoch in die düsteren Fluten hinabzustoßen, kamen Fortune und der lufttragende Symbiot sofort wieder an die Oberfläche. Trottel laß die Luft oben. Wir treiben sonst an der Oberfläche! »Du willst es also ohne Atem schaffen?« fragte der Torg. Web – vielmehr Arrik, warte ab, bis ich am Grund bin, dann schickst du einen Teil von dir hinauf, um Luft zu holen, ja? Arrik ließ Hunderte kleiner Öffnungen entstehen und flachte sich lautstark ab. Fortune, der sich das erste Mal seit Tagen besser fühlte, ließ sich säuberlich und leise ins Wasser gleiten. Diesmal hoffte er inständig, daß der Tauchversuch glückte. Arrik lenkte ihn an den Rand des Unterwassertunnels. Dort angekommen, hatte Fortune festen Halt unter den Füßen und gab Arrik rasche Instruktionen. Der Symbiot ließ fast die Hälfte seiner kittähnlichen Substanz zu einer langen Röhre wachsen, die bis zur Wasseroberfläche reichte und die Luft bis zum Schwimmer hinabsaugte. Fortune atmete aus und füllte dann seine Lungen mehrere Male, um das Blut mit Sauerstoff anzureichern. Wir nehmen zwei Lungenvoll mit uns, schlug der
Agent vor und kroch in die Tunnelmündung. Arrik vergrößerte die Röhre bruchstückweise, zog sie dann herunter und schuf auf Fortunes Rücken und Bauch, wo er am meisten Isolierschicht brauchte, eine Auflage. Jetzt zerrte bereits die Ebbe mit aller Kraft an ihnen. Weiter, sagte der Torg. Hannibal Fortune, der die improvisierteste Taucherausrüstung hatte, die je ein Taucher trug, kletterte in den Unterwassertunnel hinunter. Luft! befahl er. Er spürte seinen ausströmenden Atem als kitzelnde Luftblasen an Gesicht und Nacken. Der Torg bildete eine Luftröhre. Fortune atmete ein. Wie weit noch? Wir haben die Hälfte, sagte die Stimme in seinem Ohr. Jetzt wurde die Kälte trotz der Isolierschicht, die Arriks Protoplasma bildete, durchdringend. Die gequälten Muskeln wollten ihm den Dienst versagen. Verbissen kroch der Agent weiter, versuchte seine Lungen, die zerspringen wollten, und die Taubheit in Händen und Füßen zu ignorieren. Luft! befahl er abermals. Der Symbiot gehorchte augenblicklich. Sie bewegten sich jetzt schneller vorwärts, kamen tiefer und mit jedem Moment der Freiheit näher. Fortune konnte in der totalen Finsternis nichts sehen, doch der Torg bewegte Arme und Beine völlig gezielt, während die Gezeitenströmung sie weiterzog.
Luft! befahl er und atmete aus. Alles verbraucht, sagte Arrik. Diese zwei Worte drückten gleichzeitig sein Erstaunen darüber aus, daß Fortune sich verzählt hatte. Er wollte noch sagen: Nicht mehr sehr weit, doch er sparte sich die Mühe, als er spürte, wie der Agent bewußtlos wurde.
10 Primitive Zivilisationen in allen Teilen der Galaxis haben die Zeit poetisch als Strom dargestellt, als fließende Substanz, in der das Jetzt wie ein Blatt mitten in der Strömung treibt. Mag diese Auffassung auch sehr anschaulich sein, so bot sie keine Hilfe, als man einen Stand der Zeittechnologie erreicht hatte, der eine Bewegung entlang der Zeitlinien gestattete. Erst ein Team von Theoretikern vom Planeten Bortan II, das von unendlich unausgewogenen Energiesystemen ausging, hatte die nötigen mathematischen Voraussetzungen für die Reise in die Zeit schaffen können. Ein Ergebnis dessen war die Zeitfähre, wie auch die Organisationen von TERRA und EMPIRE, und um diese Zeitfähre hatte sich ein Netz von Schutzbestimmungen entwickelt. Weder Hannibal Fortune noch Webley begriffen die Theorie, die hinter all dem steckte, doch hatte man beide in der Handhabung der Zeitfähre unterwiesen. Jeder kannte die Regeln. Jeder wußte, daß er mit diesen Regeln zu tun hatte, seit er für TERRA arbeitete. Sie wußten, wie weit sie in jeder Richtung – sei es in räumlicher oder zeitlicher Hinsicht – gehen konnten. Auf Gregor Maliks Befehl hatte Rimaud Rudnl, der
die Regeln ebensogut kannte wie Fortune oder Webley, die Instrumente der Fähre so eingestellt, daß die Doppelzeitregel verletzt wurde. Dann hatte er das Instrumentenbrett mit einem durchsichtigen Schild unzugänglich gemacht. Beim Eintreten hatte Webley den Countdown ausgelöst, den dann niemand mehr aufhalten konnte. Es war dasselbe Schicksal, das TERRA früher einmal für Gregor Malik geplant hatte, doch diesmal war die Falle mit größerer Präzision angelegt worden. Den Regeln gemäß konnte nichts schiefgehen. Den Regeln gemäß war Webley tot. Als »Toter« fand er jedoch eine auffallend vertraute Umgebung vor. Als sich die Sichtkanzel klärte, fiel Sonnenlicht auf die erstaunlich solide Einrichtung der Zeitfähre. Sie schwebte knapp achthundert Meter über Karthago. Als Webley hinaussah, lag unter ihm das Gelände, das er einige Tage vorher so gewissenhaft abgesucht hatte. Dort war die Byrsa, drüben die Zwei künstlichen Hafenbecken, dort erstreckte sich das Forum, unten, fast verloren in der Ecke eines Wohnviertels, war das Haus von Vango und Arrik und in Vangos Garten stand die unverwechselbare Form der Zeitfähre! Er überprüfte Koordinaten und Phasenanzeiger. Das war doch unmöglich! Jede Skala zeigte eine klare Verletzung der Regel der Doppelinanspruchnahme.
Es war also etwas schiefgegangen. Ein mikroskopisch kleiner Fehler, irgendein Schalter tief im Inneren der Maschine, ein Kreis, der falsch geschlossen wurde, ein Staubkörnchen, das ein Mikrorelais behinderte. Das alles konnte sich in kürzester Zeit selbst korrigieren, der Schalter würde funktionieren, Strom würde den Kreis durchfluten ... Webley arbeitete wie verrückt, riß mit aller Gewalt die Verschlußplatte vom Instrumentenbrett und legte den Funktionsmonitor bloß. Hastig ging er die Anweisungen zur Feststellung von Störungen durch. Alles funktionierte perfekt. Aber die Primärphase – unmöglich. Vorsichtig berührte er den Schalter, der die Fähre auf eine Phase von neunzig Grad von der Zeitlinie abweichend einstellte, und drückte ihn um eine Stufe tiefer. Die Instrumente registrierten den Übergang in die Sekundärphase. Die unmittelbare Gefahr war damit gebannt. Webley stellte die Koordinaten auf die TERRAKontrollzentrale ein, überprüfte die Werte zweimal mit dem Bordcomputer und drückte schließlich auf den Aktivierungsknopf. Der Computer schien zu kichern, Lichter blinkten, leise ertönte ein Glockensignal, die Uhr zu seiner Linken verschwamm. Der Symbiot lehnte sich zurück und wartete. Er hatte es nicht eilig. Es lag in der Natur einer
Zeitreise, daß Katastrophen ausgeschlossen waren. Denn eine Verzögerung von einigen Tagen in einer Operationsphase verursachte nur ein Hinterherhinken von einigen Sekunden in einer anderen. Webley war hungrig. Er entdeckte einen Behälter Xanthe und öffnete ihn. Der Schrank enthielt einen Behälter Xanthe weniger als vorgesehen. Knapp vier Stunden später machte die Zeitfähre, knappe 12 Millionen Kilometer vom Mittelpunkt der Galaxis entfernt, wieder einen Zeitsprung. Webley war noch immer durcheinander, hatte sich jedoch zu der Ansicht durchgerungen, daß es besser wäre, die Berechnungen den Fachleuten zu überlassen, die zur Überprüfung technischer Abweichungen besser ausgerüstet waren. Mit ausgesuchter Sorgfalt nahm er die notwendigen Kurskorrekturen vor, die das Schiff in Sprechposition zur TERRA-Kontrollzentrale brachten. Dankbar gab er die Lenkung des Schiffes nun auf und wandte seine Aufmerksamkeit dem letzten Behälter Xanthe zu. Zu den Besonderheiten der Torgs gehörte ihre völlige Unempfindlichkeit gegen die berauschende Wirkung des Xanthe, welche die meisten Lebewesen während und nach dem Genuß dieses Getränkes zu spüren bekommen. Die Torgs hielten sich jedoch in dieser Hinsicht durchaus nicht für bedauernswert. Im Gegenteil. Die meisten hatten das Gefühl, daß viel-
mehr alle anderen zu bedauern seien. Denn jeder Torg konnte sich – ohne zu trinken, zu kauen, zu rauchen oder irgendwelche sonstigen Mittel zu sich zu nehmen – in jeden erwünschten psychedelischen Zustand hineindenken und ihn beibehalten, solange er wollte. Daher war Webley bei klarem Kopf, als er die TERRA-Kontrollzentrale erreichte. Er brachte das Schiff zur Überholstation und nahm dann den direkten Weg durch den hohlen Planeten zum Büro Pohl Tausigs. Der Einsatzleiter war nicht da. »Er ist in einer überraschend einberufenen Sitzung«, zirpte Tausigs Sekretär, ein stumpfflügeliger Kabobra. »Ich muß ihn sprechen«, wiederholte Webley. »Eine außerordentliche Sitzung darf nicht gestört werden.« »Außer in einem außerordentlichen Notfall«, ergänzte Webley. »Nicht einmal dann«, wurde ihm mitgeteilt. Wie so viele Insektoide, schätzte der Kabobra klar definierte Regelungen und ließ sich durch reine Logik nicht beirren. »Es handelt sich um eine dringende Sache.« »Alles ist dringend. Wenn Sie Namen, Teamnummer und Standort angeben, werde ich veranlassen,
daß er sich mit Ihnen in Verbindung setzt, sobald er frei ist«, rezitierte der Sekretär und fügte dann im Plauderton hinzu: »Eigentlich ungewöhnlich, daß ein Torg allein herkommt. Wo ist denn Ihr Partner?« »Das ist ja der dringende Fall.« »Wie merkwürdig«, rief der Kabobra aus. »Tatsächlich, – sehr ungewöhnlich! Ein echter Zufall – dieselbe Situation, deretwegen die außerordentliche Sitzung einberufen wurde. Sie werden es kaum glauben – die Kontrollzentrale hat die Spur eines Sonderteams in einem der Randsysteme verloren! Bemerkenswert, nicht wahr, daß diese Situation zweimal eintritt. Ich meine, es passiert nicht oft, daß wir jemanden falsch einsetzen, geschweige denn ein Sonderteam ...« Der Sekretär quasselte weiter, doch Webley hatte abgeschaltet und ließ eine, auf Pohl Tausigs spezielle Alpha-Modulation eingestellte telepathische Sonde den Verwaltungstrakt abtasten. Nach drei Sekunden hatte er den Einsatzchef aufgespürt. Webley hörte eine weitere halbe Minute zu, bevor er seine Hörfühler wieder abstellte. Der Kabobra redete immer noch. »Ich gehöre in die Sitzung«, sagte Webley. »Es ist von meinem Partner die Rede.« »Ach du heilige Supernova«, explodierte der Kabobra. »Warum haben Sie das nicht früher gesagt.« Im Konferenzzimmer waren ein Dutzend Wesen ver-
sammelt. Als Webley eintrat und sich vorstellte, äußerte Pohl Tausig nur mildes Staunen. Das ärgerte den Symbioten, der das Gefühl gehabt hatte, sein Eintreten müßte Schock und Entsetzen auslösen. »So rasch habe ich Sie nicht zurückerwartet«, polterte der Einsatzleiter. »Wo ist Fortune?« »In Karthago.« »In welchem Zustand?« fragte eine besorgte Sopranstimme. »Halbtot«, antwortete Webley, bevor er die Sprecherin als das neben Tausig sitzende Mädchen identifizierte. Geschieht ihm recht flog ihm der Gedanke eines Torgs von derselben Seite zu. Ronel? Nur Hannibal Fortune ist imstande, gleichzeitig zwei Aufträge zu vermasseln. Was ist geschehen? Ronel wollte nicht recht mit der Sprache heraus, während Webleys Sonde den Rand ihres Bewußtseins abtastete. Dann aber überschwemmte ihn Ronel mit Tatsachen und Sinneseindrücken. Sogar den Dialog zwischen Fortune und Luise während des außerplanmäßigen Ausfluges nach Ao gab sie wieder. Ich verstehe, meinte der in Gedanken versunkene Webley. Wer hat Schluß gemacht? Natürlich Luise.
Natürlich. »Ich habe Ihnen eine Frage gestellt«, sagte Tausig etwas gereizt. »Entschuldigung! Ich habe nachgedacht. Was wollen Sie wissen?« »Warum Sie hier sind.« Webley kicherte, als er im Geist seine Antwort einer Hörprobe unterzog. »Wie mein vermißter Partner sagen würde: sollte Linz Lipnig ihm diese Frage stellen, dann glücklicherweise nur, weil Ihre Theorie scheinbar ein Loch hat.« »Ich verstehe Sie nicht.« »Das kommt schon. Wollen Sie Wortspielereien hören, oder soll ich mit meinem Bericht beginnen?« Aus der Schar der Anwesenden drang ein geistiger Wutschrei als Reaktion auf die Frechheit des Torg, doch Tausig brachte den Protest zum Schweigen, ehe er noch ausgesprochen wurde. »Fahren Sie fort«, sagte der Einsatzleiter trocken. Durch Ronels Kurzfassung über die Vorgänge in der Sitzung gewarnt, berichtete Webley. Sie widmeten ihm volle Aufmerksamkeit, alle zwölf. Pohl Tausig spielte mit seinem Bart. Seine trügerisch-gütigen Augen kontrollierten die anderen, als Webley seinen Bericht begann. Linz Lipnig, der Miterfinder der Zeitfähre, saß bewegungslos da. Offenbar war ihm nicht klar, daß er sich in einer unglückli-
chen Lage befand. Luise und Ronel strahlten Zorn und Rechtschaffenheit aus, was Webley zwar für völlig unbegründet, aber für ihr gutes Recht hielt, falls sie so über diese Sache dachten. Purpurflosse, der stolze Waffentechniker, dessen Schöpfungen schon so manchen Einsatz retten halfen, folgte jedem Wort interessiert und mit großen Augen, im Gegensatz zu d'Kaamp, dem drahtigen, weißbärtigen Kampftrainer, der Langeweile heuchelte. In einer Ecke saß ein zylindrischer, kegelförmiger Chefpsychologe namens Alelis, der alles genau beobachtete, obwohl er zu dösen schien. Webley hegte den Verdacht, daß die ganze Sitzung nicht nötig gewesen wäre, wäre dieser Alelis seiner Aufgabe gründlich nachgekommen. Er wußte aber, wenn er etwas in dieser Richtung verlauten ließe, würde er bloß eine Standpauke über das Abschieben von Verantwortung zu hören bekommen. Also hielt er den Mund. Im Raum verteilt, saß noch ein Quartett kleinerer Lichter, von denen keines wichtig aussah. Eine rasche Bewußtseinskontrolle erbrachte, daß drei davon Sekretäre waren während der vierte der Bibliotheksleiter der Historischen Abteilung von TERRA war. Über das ganze Ende der Konferenzräumlichkeit ausgebreitet war der fühlerbewehrte Doppel-AEinfühlungsexperte Wi'in, der am aufmerksamsten zuhörte, denn an ihn würde sich die 93. außerordent-
liche Sitzung vielleicht um taktische Ratschläge wenden. Die Geschichte des Torg war kurz und bündig. Ab und zu wurde er unterbrochen, gewöhnlich durch eine sachliche Frage, die er ohne Umschweife beantwortete. Er berichtete von der Ankunft in Karthago und den ersten Versuchen, das Versteck von EMPIRE festzustellen, von der ersten Begegnung zwischen Fortune und Vango und von der Mißbilligung der laxen Dienstauffassung Vangos durch Fortune. Er erwähnte die Beobachtungsfahrt seines Partners in die Vergangenheit, bei der er die Ereignisse aufgespürt hatte, die zu der gemeldeten Abweichung geführt hatten, und von Fortunes Beobachtungen bei der Hochzeit des verehrungswürdigen Syphax mit einer unbekannten »Karthagerin«, die in einem Gleiter von EMPIRE im Hauptquartier des greisen Königs angekommen war. »Und wie hat Ihr Partner auf diese unprogrammgemäße Hochzeit reagiert?« fragte der Chefpsychologe. »Welche Gefühle hatte er diesbezüglich?« »Er war wütend.« »Das habe ich mir gedacht. Eine typisch irdische Haltung – die Weigerung eines Mannes, einem weiblichen Wesen die Befähigung zuzutrauen, wenn es sich seiner Meinung nach um eine Männersache handelt«, erklärte Alelis.
»Irrtum«, wandte Webley ein. »Er ist nicht dieser Meinung.« »Ich muß Webley recht geben«, polterte Tausig. »Fortune war wütend auf mich, weil ich Miss Little nicht befördert hatte.« »Er war sehr enttäuscht«, bekräftigte Luise. »Wir dürfen nicht vergessen, daß Individuen ihre Meinung ändern können«, sagte Alelis sanft. »Wir werden mit unseren Neurosen nicht geboren, wir entwickeln sie mit der Zeit und erhalten sie am Leben, solange sie für uns in irgendeiner Hinsicht von Nutzen sind. Diese Fixierung auf Agentin Little, die sie uns vorhin gemeldet hat, scheint zu dem Mann, wie wir ihn vor diesem Einsatz gekannt haben, gar nicht zu passen. Seine Reaktionen zeigen alle Merkmale paranoiden Größenwahns.« Pohl Tausigs Brauen hoben sich unmerklich. Der zylindrische Chefpsychologe beugte sich zum Einsatzleiter hinüber und führte seine Behauptung weiter aus: »Paranoid, weil er glaubt, daß seine Freunde ihn hintergehen, gegen ihn konspirieren oder absichtlich dumm vorgehen. Größenwahnsinnig deswegen, weil er zu glauben scheint, daß das unstatthaft ist.« »Ich halte Ihre Diagnose für voreilig«, sagte Tausig und wandte sich wieder Webley zu. »Fahren Sie mit Ihrem Bericht fort.«
Der Torg erzählte, wie Fortune den Gleiter bis zu den Felsen nordwestlich von Karthago verfolgt und im Inneren der Felsen das feindliche Hauptquartier entdeckt hatte. »Da wurden wir von einer Art Energiestrahl getroffen, und als ich das Bewußtsein wiedererlangte, waren sowohl Fortune als auch die Zeitfähre weg. Ich habe mich zu Vango und Arrik begeben und mit ihnen beraten.« Webley erzählte von der Suche, die er und der andere Symbiot um den Felsen am Meer vorgenommen hatten – eine mit den Augen und auch telepathisch durchgeführte Suche. Er berichtete von seinem Erstaunen am zweiten Tag, als er, statt seinen Partner zu finden, die geistige Grundmasse Gregor Maliks geortet hatte und gleichzeitig die Information, daß Fortune noch am Leben sei. Dann kam das Zusammentreffen mit dem abtrünnigen Erfinder Rimaud Rudnl (»Scheiße!« rief Linz Lipnig aus und erntete damit ein kleines Lächeln von d'Kaamp, der ihn diesen archaischen irdischen »Schlachtruf« gelehrt hatte, ohne ihm die wahre Bedeutung zu erklären). Merkwürdigerweise hatte Webley auch am nächsten Tag keinen telepathischen Kontakt mit Hannibal Fortune herstellen können. »Betäubung?« fragte Tausig. »Offenbar«, bestätigte Alelis. Die zwei Torgs waren in den Berg eingedrungen, hatten dabei die Leute von EMPIRE ständig beobachtet und sich allmählich den
teuflischen Plan des Tyrannen zurechtgereimt. Dann hatten sie versucht, einen Weg zu finden, dem gefangenen Sonderagenten zu helfen. Trotz Aufbietung aller Kräfte hatten sie keine Lücke in den Sicherheitsvorkehrungen von Fortunes Gefängniszelle finden können. Trotzdem blieben sie wachsam und bereit, jede sich bietende Möglichkeit zu ihren Gunsten auszunützen. Obwohl sie genau wußten, wo sich Fortune befand, betonte der Symbiot, gab es sehr lange keinen telepathischen Beweis seiner Gegenwart. Sie beobachteten seine Bewacher und entdeckten den scheinbar sinnlosen Plan, Fortune in Bewußtlosigkeit zu versetzen und ihn während dieser Perioden zu prügeln, damit er zu dem Schluß käme, er hätte sein Gedächtnis verloren. »Maliks Absicht war es«, erläuterte Webley, »Fortunes Widerstand durch Drogen und Umwelteinflüsse zu brechen und ihn zu überzeugen, daß sein Fall hoffnungslos wäre. Und ihn dann über TERRA auszuhorchen.« »Gegen diese Eventualität war er doch durch Hypnose gewappnet?« fragte Tausig überflüssigerweise. Alelis nickte. »Man hat ihn auf dummes Geplapper programmiert.« »Es hat nicht funktioniert«, sagte Webley. »Es muß funktioniert haben«, antwortete der Chefpsychologe.
Webley berichtete von dem Androiden – dem Duplikat Hannibal Fortunes – und der Lüge, die der Android Fortune aufgetischt hatte, über die Möglichkeit eines seitlichen Hineingleitens in die Doppelzeit. »Woher sonst«, fragte Webley den Chefpsychologen, »wäre ihm die einschlägige Terminologie bekannt gewesen?« Linz Lipnig schnaubte wütend. »Mein ehemaliger Partner ist schließlich nicht dumm.« »Da jetzt Sie statt Fortune hier sind«, sagte Tausig, »nehme ich an, daß es Ihnen gelungen ist, Gregor Maliks Plan zu sabotieren. Berichten Sie weiter.« Webley beschrieb die Anordnung der Räume und Gänge in Maliks unterirdischem Komplex, samt der Fluchtroute unter Wasser, und beschrieb die Bewegungen des echten und falschen Hannibal Fortune, beginnend von der unüberwindlichen Zelle bis zu dem weniger bewachten Raum, in welchem Rimaud Rudnl an der erbeuteten Zeitfähre gearbeitet hatte. »Die Instrumente waren eingestellt und mit einem Auslösungsmechanismus verbunden, der sie aktivieren sollte, sobald jemand durch die Luke eintrat. Es hätte für Fortune den sicheren Tod bedeutet.« »Ich glaubte, es würde mir glücken, die Anlage so weit außer Betrieb zu setzen, daß die Regel der Doppelinanspruchnahme nicht verletzt würde – wenn es mir nur gelänge, rechtzeitig an die Instrumente heranzukommen.«
»Wir sind alle froh, daß es Ihnen geglückt ist«, meinte Tausig. »Es ist nicht geglückt«, sagte der Symbiot. »Rudnl hatte das Schaltbrett mit einem durchsichtigen Schirm abgedeckt. Ich konnte die Instrumente sehen, aber nicht berühren. Als das Schiff in die vektorielle Übergangsphase eintrat, erwartete ich, daß es im Moment der doppelten Inanspruchnahme zerstört werden würde. Es war nicht der Fall. Ich weiß nicht, ob Fortune und Arrik die Flucht geglückt ist. Wenn ja, dann haben wir einen Vorteil: Malik glaubt, daß seine Falle funktioniert hat.« »Was heißt glaubt«, stichelte Tausig. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Gregor Malik das alles plant und dann nicht zur Stelle ist, wenn es passiert – oder sich wenigstens über einen Monitor einschaltet?« »Daran haben wir auch gedacht«, sagte Webley. »Ich habe die Übertragungsmedien unbrauchbar gemacht, sowohl den Fernseh- als auch den Hörkreis, und zwar Sekunden bevor der Android Fortune zur Fähre schaffte. Arrik hat den Androiden angegriffen, während ich Fortune wegstieß und die Fähre selbst übernahm.« Der Chefpsychologe protestierte: »Das ist mir unverständlich. Viel eher hätte ich vermutet, Sie hätten den Androiden erledigt und die Fähre Arrik überlassen. Schließlich ist Fortune Ihr symbiotischer Partner!« »Arrik hätte mit der Fähre nicht umgehen können«,
stieß Webley hervor und ließ seine Verachtung für den Chefpsychologen durchblicken. »Auf welches zeitliche Ziel war sie eingestellt?« fragte Linz Lipnig atemlos. Webley nannte die Koordinaten. Lipnig war überrascht. »Sind Sie ganz sicher?« fragte er. Der Symbiot bejahte. Der Blick des Erfinders schweifte nachdenklich umher. »Das kann nicht sein. Das deckt sich ja mit Ihrer Ankunftszeit, und wir wissen, daß Sie selbst die Regel der Doppelinanspruchnahme nicht verletzt haben, sonst wären Sie nicht hier und könnten Bericht erstatten. Stimmt's? Natürlich stimmt es, oder wir haben in unserer Definition der Doppelzeit einen schweren Fehler begangen.« »Lächerlich!« rief einer der Assistenten aus. »Ich weiß«, überlegte Lipnig. Sein Nicken drückte eher Faszination als Zustimmung aus. »Die Bortaneaner machen solche Fehler nicht. Aber irgendwo muß ein Fehler stecken. Ich frage mich, welche besonderen Umstände beteiligt waren, damit dieser – wie heißt er nur ... Webby ...?« »Webley.« »... dieser Webley die Verletzung der Regel der Doppelinanspruchnahme überlebt hat. Das eröffnet uns sehr interessante Gebiete, die der Überlegung wert sind und denen man sich unverzüglich zuwenden sollte. Zum Beispiel –«
Ungeduldig unterbrach Pohl Tausig den Erfinder. »Direktor Lipnig, ich bin sicher, daß das alles hochinteressant ist. Aber im Moment ist es nicht unser Anliegen. Wir müssen klar voraussehen, was Hannibal Fortune als nächstes tun wird.« Er wandte sich an den Zylindrischen und fragte: »Ist die Psycho-Sektion zum Test bereit?« Alelis schüttelte den konischen Kopf. »Wir brauchen noch weitere Einzelheiten, damit der Doppel-A seine Unterlagen auf den neuesten Stand bringen kann. Ich möchte Agentin Little einige Fragen stellen.« »Also los«, forderte ihn Tausig auf. »Ich bin im besonderen an Ihrer persönlichen Beziehung zu Fortune interessiert. Stimmt es, daß Sie längere Zeit miteinander verbracht haben?« Während der nächsten Minuten beschrieb Luise Little ihr Zusammensein, offen und in allen Einzelheiten. Sie hielt vor den Sitzungsteilnehmern mit nichts zurück. Während ihrer Aussage wurden Linz Lipnig und d'Kaamp ungeduldig, weil sie endlich zweckdienlichere Fakten erfahren wollten, wobei jeder seine eigenen Vorstellungen hatte, was zweckdienlich ist. Purpurflosse saß wie gebannt da, obwohl Webley überzeugt war, daß romantisch angehauchte menschliche Verwirklichungen für ihn ebensowenig Sinn hatten wie für einen Torg. Webley schloß daraus, daß
der Rüstungstechniker an allem interessiert war, was kompliziert wirkte. Plötzlich hörte Linz Lipnig etwas, was ihm wichtig schien. Er bat Luise, ein paar Sätze zu wiederholen. Sie berichtete, wie Fortune sie die Handhabung einer Zeitfähre gelehrt hatte und von seiner unerwarteten Wiederkehr während einer Zeitlücke, während der er in Time-Out nicht existiert hatte. Obwohl Webley diese Episode neu war, konnte er daran nichts Wichtiges entdecken, bis Lipnig aufgeregt fragte: »Schien er sich darüber im klaren zu sein, daß es eine andere Fähre war als die, mit der er aufgebrochen war?« Luise überlegte stirnrunzelnd. »Nein ... und wenn, dann hat er es sich nicht anmerken lassen. Jedenfalls habe ich nichts bemerkt. Ist das von Bedeutung? Er hat gesagt, es wäre wichtig, daß ich ihm gegenüber darüber nie eine Erwähnung mache.« Der Chefpsychologe schien geradezu emporzuwachsen, als er fragte: »Luise, sind Sie in Hannibal Fortune noch immer verliebt?« »Warum fragen Sie?« »Ich habe Ihre seelischen Regungen während des Sprechens überwacht. Immer, wenn Sie seinen Namen erwähnten, schienen Sie ziemlich aufgeregt.« »Sollte ich das nicht sein? Wenn uns seine Dummheit das Leben kosten kann?« Der Psychologe sank zusammen.
Trotz des Ärgerpotentiales, das einzelne Fragen enthielten, wurden alle beantwortet, denn jeder Teilnehmer der Sitzung wußte, daß seine Kollegen die qualifiziertesten Köpfe der Galaxis waren. Die Aussagen zogen sich in die Länge, da zuerst die eine, dann die andere Abteilung und dann wieder eine andere nach immer mehr Einzelheiten forschte. Wissenschaftliche Unterlagen wurden herbeigeschafft und studiert. Linz Lipnig entdeckte eine Teilantwort auf das technische Rätsel: Die Service- und Reparaturabteilung hatte es, für notwendig befunden, kurz nachdem Fortune seinen Auftrag begonnen hatte, die Zeitfähre auszuwechseln und das Original zurückzubeordern, um einen übersehenen Defekt in der Komponentenrotation zu beheben. Es hatte sich dabei um einen beinahe routinemäßigen Austausch gehandelt. Beinahe, weil sich ein Techniker gerühmt hatte, er könne Fähren austauschen, und das betreffende Team würde davon nichts merken. Wenn man die Lokalisiereinrichtung anvisierte (ein Stückchen EntropieSpurenmaterials), bereitete es keine großen Schwierigkeiten, den Transporter während der ersten Stunden des Auftrages zu lokalisieren. Während des Austausches hatten Fortune und Webley sich in Vangos Haus befunden. Damit war die Anomalie teilweise erklärt. Da es sich nicht um denselben Transporter handelte, hatte er auch nicht die Doppelzeit verletzt.
Aber Webley hatte sie verletzt. Lipnig sah ihn an, als wünschte er sich, daß der Symbiot gelogen hätte. Eine rasche Bewußtseinsprüfung zeigte, daß sich der Physiker auch wünschte, Webley sollte die Doppelzeit noch einmal verletzen, diesmal jedoch in Anwesenheit Lipnigs. Stunden nach ihrem Beginn war endlich ein Ende der außerordentlichen Sitzung in Sicht. Jeder der Experten war befriedigt. Jetzt war es Zeit, die nächste Frage jenem einzigen Lebewesen vorzulegen, dessen Antwort dem Gedankenschema des vermißten Agenten am nächsten kam. »Soll ich?« fragte der zylindrische Chefpsychologe Pohl Tausig. »Oder möchten Sie ihn selbst fragen?« Tausig wandte sich dem greifarmbewehrten Wi'in zu, der während der ganzen Sitzung kein Wort gesagt hatte. »Angenommen, Ihnen und Arrik wäre die Flucht aus der Höhle EMPIRES geglückt – was würden Sie als nächstes tun?« Der Lippenlose lachte verächtlich und konterte mit der Frage: »Wieso glauben Sie, daß einer von Ihnen für diese Frage qualifiziert ist? Ihre Einbildung, mein lieber Tausig, wird jeden Tag unerträglicher.« Die darauffolgende nachdenkliche Stille wurde einen Augenblick später von d'Kaamp gebrochen, der humorlos lächelte, als er sagte: »Ich glaube, wir stekken in echten Schwierigkeiten.«
Der Chefpsychologe sprach es aus: »Mir scheint, daß das Schicksal der Galaktischen Föderation in den Händen eines geistig ernsthaft gestörten Sonderagenten liegt.« »Na schön«, schnaubte Tausig. »Wir müssen ihn jedenfalls finden. Ohne Zeitfähre kann er ja nicht weit gekommen sein. Wenigstens wissen wir, in welchem Jahr er steckt.« »Wenn er überhaupt noch lebt«, murmelte Webley.
11 Als der Agent schließlich an die Oberfläche kam, baute sein symbiotischer Teil seelenruhig eine Blase auf, saugte Luft ein und pumpte sie in Fortunes leere Lungen. Der Agent blieb schlaff. Sein Herzschlag war unregelmäßig und kaum wahrnehmbar. Arrik führte ihm mehr Luft zu, drückte sie heraus und füllte wieder nach. Lange zeigte sich überhaupt keine Änderung, doch dann fing der Sonderagent von selbst zu atmen an. Arrik gönnte sich das den Torgs eigene Äquivalent eines erleichterten Seufzers und blies einen Schwimmkragen auf, der Fortunes Kopf über Wasser halten sollte. Dann ließ er ein Netz von Fäden ins Wasser hängen, mit dessen Hilfe er das Meerwasser nach einzelliger Nahrung durchsiebte. Er wünschte, seine eigenen Zellen hätten diese Nahrung so verarbeiten können, daß Hannibal Fortune sie als Nahrung hätte aufnehmen können. Einen solchen Vorgang gab es nicht, außer, Arrik hätte sich freiwillig amputiert und den bewußtlosen Agenten gezwungen, diesen Teil zu essen. Arriks Selbsterhaltungsreflexe schauderten davor zurück, so wie auch Fortune sich bei solchem Essen geschüttelt hätte. Arrik wußte nämlich auch ohne nachzudenken genau, wie Fortune auf die-
se Idee reagieren würde, da sein Einfühlungsvermögen seit dem Austausch ein Duplikat der Erfahrungen Webleys mit Fortune darstellte. Arrik konnte nicht anders, als Fortune mit Vango zu vergleichen. In den sechzehn Jahren als Vangos Partner hatte er nicht halb so viele Abenteuer erlebt wie in den letzten paar Tagen. Rückblickend fühlte sich Arrik betrogen. Nie hätte er es sich träumen lassen, daß es Männer wie Hannibal Fortune wirklich gab, und noch viel weniger, daß sich ihm je die Gelegenheit bieten würde, in Symbiose mit ihm zusammenzuarbeiten. Er war unglaublich stolz, daß sie es gemeinsam so weit geschafft hatten. Begierig erwartete er, daß sein neuer Partner erwachte und das Kommando übernahm. Wie jeder Torg war auch Arrik ein geübter Telepath. Als Fortune das Bewußtsein wiedererlangte, war Arrik daher über seine Gedanken völlig im Bilde und wußte, daß er psychisch und physisch erschöpft war. Er war sich auch bewußt, daß sein neuer Partner ihn, Arrik, für Webley hielt. Egal. Wenn Hannibal Fortune ihn für Webley halten wollte, dann würde er eben Webley sein. Was bedeutet schon ein Name? Besonders wenn man einen Austausch hinter sich hat. Und da Webley den Heldentod gefunden hatte,
würde ihm ja niemand Konkurrenz machen. Er hegte den Verdacht, daß Identität ebensosehr auf der Meinung anderer beruht, als auf der eigenen Vorstellung von sich. Und es war ganz klar, daß man als Webley mehr Abenteuer erleben konnte, als sie ein Arrik je gehabt hatte. Du heißt Hannibal Fortune und bist wahrscheinlich der am besten ausgebildete Geheimagent in der Geschichte der Geheimdienste. Du bist am Leben und wesentlich gescheiter als damals, bevor dir klar wurde, daß TERRA von Unfähigen und Verrätern durchsetzt war. Die Zeitlinie muß in Ordnung gebracht werden. Rom muß diesen Punischen Krieg gewinnen. Karthago muß zerstört werden. Und wenn du es allein machen mußt, wirst du es eben allein machen. Es ist deine Aufgabe, weil du tüchtig bist, und deine Pflicht, weil du bist, was du bist – beträchtlich intelligenter als deine Feinde, die von Gier und Rache geblendet sind, und intelligenter als deine sogenannten Freunde, die unfähig sind und nur im Weg stehen, wenn man sich auf sie verläßt, intelligenter als deine längst verflossene Liebe ... Die 93. außerordentliche Sitzung wurde unterbro-
chen, während ausgesuchte Fachleute an der Lösung des Problems, das Hannibal Fortune darstellte, arbeiteten. Die bürokratischen Verzögerungen türmten sich absichtlich und böswillig auf, wie es schien, bis schließlich als einzige, deren fachliche Objektivität unangetastet blieb, nämlich Pohl Tausig, Alelis, der Chefpsychologe und natürlich Wi'in, übrig blieben. Tausig verhandelte insgeheim mit jedem der anderen, mit Luise, Ronel, d'Kaamp und Purpurflosse, während sich Alelis hauptsächlich auf das Surrogat Hannibal Fortunes konzentrierte und mit dem lippenlosen Mutanten einen Test nach dem anderen machte, den psychologischen Zustand des abwesenden Agenten immer genauer beschrieb, eine Hypothese entwickelte, sie überprüfte und schrittweise einer festen Grundlage näherkam. Dann gab er seine Ergebnisse dem Zentralcomputer ein. Inzwischen durchstöberten Linz Lipnig und sein Expertenteam die Zeitfähre bis in den letzten Winkel, um festzustellen, was Rudnl und seine Experten damit angestellt hatten. Das alles brauchte seine Zeit – und Zeit war der Hauptfaktor. Er hatte das Ausrüstungsarsenal des Postens vergessen – die Auswahl an nicht todbringenden Kleinigkeiten, die seiner eigenen Ausrüstung glichen, deren Wirkung aber begrenzter war. Fortune grinste breit,
als er das Sammelsurium sah. »Das hast du von Vango geborgt?« »Natürlich«, antwortete der Symbiot, versuchte sich in einer überlegenen Pose und schaffte es nicht ganz. »Er weiß ohnehin nicht, wie man damit umgeht, also ist es an ihn glatt verschwendet.« Fortune lachte. »Ich muß dir recht geben. Sehen wir mal nach, was in dem kleinen Spielzeugkasten versteckt ist.« Es kamen verschiedene Chemikalien zum Vorschein, an die er sich von seinen Schulungskursen her erinnern konnte, mit Dosierungsvorschriften in einem Code, den er total vergessen hatte. Signalgeräte, eine Kollektion verschiedener Trickwaffen, angefangen von Rauchbomben und Lärmgeräten bis zu Tränengaswerfern, eine Notrufanlage, die den Hilferuf wochenlang ausstrahlen konnte, ehe der Energievorrat erschöpft war. Das alles hätte er freudig für eine Laserpistole hergegeben. Doch eine solche in dem Werkzeugkasten zu suchen, war Zeitverschwendung. Mit der Ausrüstung eines Beobachtungsagenten jemanden zu töten, war schwierig, selbst wenn einem dabei der Zufall zu Hilfe kam. Doch war es immerhin besser als gar nichts. Publius Cornelius Scipio wußte nicht recht, was er von dem sagenhaft alten Mann halten sollte, der aus
der Wüste gekommen war und wie ein Kanaaniter aussah, aber Latein so melodisch wie ein Grieche sprach. Er hatte das Gehaben eines Wahrsagers, doch der Schimmer in seinen Augen sagte einem, er wüßte, daß alles Unsinn sei, nur ein Vorwand, bis sie unter sich wären. Scipio fragte sich, wie er den Fremden wohl behandelt hätte, wenn er Verbündete nicht so bitter nötig gehabt hätte. Die Dinge hatten sich für den römischen Konsul nicht sehr günstig entwickelt. Nun war ja sein Leben trotz der hervorragenden Stellung seiner Familie ein ewiger Kampf gewesen. Teilweise lag die Schuld beim Senat, zum Teil beim alten Cato, der der Armee, die Scipio um sich geschart hatte, so viele Beschränkungen auferlegt hatte. Er hätte sich wesentlich besser gefühlt, wenn er gewußt hätte, das Volk stünde hinter ihm. Er hatte im Senat zu viele Feinde, die nur darauf warteten, ihn bei einem Fehler zu ertappen, damit man ihm auch noch die geringe Unterstützung, die er sich hatte sichern können, entziehen konnte. Doch die wahre Schuld an der mißlichen Lage trug der betagte numidische König Syphax. In erster Linie hätte Syphax sein Verbündeter sein sollen. Vorigen Sommer, als Scipio sich eben in Sizilien mit zwanzigtausend Mann Invasionstruppen einschiffen wollte, war von Syphax die Nachricht gekommen: »Unterlasse die Invasion Afrikas.«
Und das von einem sogenannten Verbündeten! Scipio hatte es sich nicht leisten können, den tatsächlichen Inhalt der Nachricht zu veröffentlichen. Die wenigen Männer in der gesetzgebenden Versammlung, die ihn unterstützten, hatten sich zu sehr auf die über fünfzigtausend Stammesangehörigen, die von Syphax befehligt wurden, verlassen. Die Narren zu Hause in Rom schmeichelten sich, daß ihre Furchtsamkeit bloß »vernünftige Vorsicht« wäre, doch für Scipio war es klar, daß es die Feigheit des Alters war. Sie hatten vergessen, was jeder junge Mann, der sich seine Sporen verdient hat, weiß, daß nämlich Schlachten nicht durch Vorsicht, sondern durch Wagemut gewonnen werden. Unglücklicherweise hielten die gebrechlichen Greise den Staatsschatz in Händen. Daher hatte Scipio vorgegeben, daß die Botschaft des Syphax ihn zur Eile dränge. Hätte er an Omen, Vorzeichen oder dergleichen geglaubt, wie er es oft vorgeben mußte, so wäre ihm die Botschaft des Syphax in der Tat ominös vorgekommen. Schließlich hatte er selbst fest mit den Wüstentruppen gerechnet. Scipios eigene Truppen zählten ganze zwanzigtausend Mann. Die bestinformierten Zahlenangaben über die feindliche Streitmacht (Hasdrubal Giscos karthagische Armee) sprachen von vierzig- bis sechzigtausend. Er war also, bevor er überhaupt losgesegelt war, hoffnungslos zwei oder
drei zu eins unterlegen. Dabei hatte sein Plan darin bestanden, Hannibal zu veranlassen, ihm nach Karthago zu folgen, mit Truppen und allem Gefolge. Manchmal fragte sich Scipio, wie viele seiner Leute wohl mit ihm gesegelt wären, hätten sie den wahren Inhalt von Syphax Botschaft gekannt. Auf jeden Fall hätte es sich auf die Moral der Truppen schlecht ausgewirkt. Publius Cornelius Scipio hatte nämlich intrigiert, geplant und Ränke geschmiedet, geheime Verhandlungen geführt und fünf Jahre lang komplizierte Spiele gespielt – das alles zur Vorbereitung einer Invasion Nordafrikas. Er war nicht gewillt, das Fehlen einer verbündeten Armee zum Anlaß zu nehmen, von den brillanten Feldzügen abzusehen, die seinen Namen in den Geschichtsbüchern verewigen würden. Als Befehlshaber der römischen Truppen auf Sizilien hatte er das Recht (dank eines politischen Kompromisses vom vorigen Jahr, kurz nachdem man ihn zum Konsul gewählt hatte), eine Invasion Afrikas zu beginnen, wenn es nach seinem militärischen Urteil ratsam schien. Der junge Feldherr trieb ein sehr kompliziertes Spiel. Der Erfolg hing von seiner Überredungskunst ab, sobald seine Armee sich auf afrikanischem Boden häuslich eingerichtet hatte. Auch das sah er als ein Informationsfaktum an, das man vor den Truppen lieber geheimhielt.
Ohne zu wissen, wie die Chancen standen, und begierig, sich als Teilnehmer eines erfolgreichen Feldzuges auszuzeichnen, waren die Truppen losgesegelt und nach einer geglückten Überfahrt in der Nähe Uticas, zwanzig Meilen von Karthago entfernt, an Land gegangen. Natürlich war es Scipios Absicht gewesen, Utica anzugreifen, die Stadt zu überrumpeln und so eine befestigte Basis zu gewinnen, die nur einen Tagesmarsch von der großen Mauer entfernt war, die die karthagische Halbinsel vom Festland trennte. Doch es war ganz anders gekommen. Utica war nicht gefallen. Utica bot jetzt, ein Jahr später, noch immer Widerstand. Er hatte versucht, bei Syphax durchzudringen, ihn umzustimmen, doch der alte Narr hatte nicht hören wollen. Die Spielregeln schrieben vor, daß Verhandlungen in so delikaten Angelegenheiten vom diplomatischen Korps geführt wurden. Die Gesandten beider Seiten hatten sich also auf neutralem Boden zur Unterredung getroffen. Zweifellos war diese Sitte einst als Weg entwickelt worden, seine friedlichen Absichten anzupreisen, ohne die Feindseligkeiten einstellen zu müssen. Scipio vertraute darauf, daß diese Praktik sich über Tausende von Jahren erhalten würde. Der Hauptvorteil lag nämlich darin, daß dadurch den kriegsführenden Parteien ab und zu eine
Atempause gegönnt wurde, um Verstärkung heranholen zu können. Bis an die Zähne bewaffnet – er befehligte eine Riesenarmee von Fußsoldaten plus einem beneidenswerten Kontingent Kavallerie – war Syphax trotz seiner Friedensbemühungen eindeutig kriegsbereit. Scipio war gewillt, darüber zu verhandeln und gleichzeitig die Gelegenheit für einen militärischen Sieg auszuspähen. Viel zu lange schon hatte Hasdrubal, der einzige wirkliche Feind, mit seiner Armee herumparadiert und zwar in einer Art, die man nur als überheblich bezeichnen konnte. Solange der alte Syphax an der Seite Karthagos kämpfen wollte, war Scipio gewillt, Hasdrubals Überheblichkeit berechtigt zu finden. Wahrscheinlich würde er aber überheblich bleiben, fürchtete der Römer. Denn Hasdrubal hatte einen Weg gefunden, den alten König über dessen Drüsen zu beherrschen – oder vielmehr – nach den Berichten zu schließen – beherrschte ihn Hasdrubals Tochter. Sophonisbe hieß das Frauenzimmer. Verführung älterer Semester war offenbar ihre Spezialität. Hätte Scipio gewußt, wie leicht Syphax durch ein hübsches Gesicht – oder was immer für Vorzüge die Lebenssäfte des alten Knaben in Wallung gebracht haben mochten – aus dem Gleichgewicht zu bringen war, hätte er in Rom eine raffinierte Verführerin aufgabeln
und sie als seine Schwester ausgeben können, damit Syphax ihm und nicht Hasdrubal verpflichtet wäre, dessen Tochter Sophonisbe angeblich war. Doch hätte ein solcher Schachzug die sogenannte moralische Integrität der zimperlichen alten Männer, die die Militärausgaben kontrollierten, verletzt und einen Skandal entfacht. Tugendhaft wäre ein solcher Trick natürlich nicht gewesen. Scipio hatte jedoch für Tugend wenig Bedarf. Sie stand ihm bloß im Weg. Er hegte aber großen Respekt für guten Stil. Widerwillig mußte er Hasdrubals Strategie bewundern – dem geilen alten Bock ein Mädchen zu geben, ob es nun wirklich seine Tochter war oder (wie er manchmal vermutete) nicht. Laut Masinissa war Sophonisbe nicht nur ein leckerer Happen, den, in seinem Zelt zu finden, jeder Mann, ob König oder gewöhnlich Sterblicher, glücklich machen würde. Außerdem hatte man sie von Griechen in Musik und anderen ausgesuchten Künsten unterrichten lassen, und es war ja allgemein bekannt, wie raffiniert die Griechen auf diesem Gebiet waren. Wollte man den frecheren Kritikern glauben, dann hielten die Griechen kein Talent für entwikkelnswert, wenn es nicht unmoralisch war. Auf jeden Fall gab Sophonisbe dem alten Narren genügend Grund, sein Bündnis mit Karthago aufrechtzuerhalten. Daher waren die zehntausend Numidier, mit de-
nen Scipio bei der Schlacht um Karthago gerechnet hatte, jetzt mit dem karthagischen General Hasdrubal Gisco verbündet, und beide Armeen lagerten an den Ufern des Bagradas, praktisch in Sichtweite seines eigenen, auf dem felsigen Vorgebirge liegenden Lagers, das er zu Ehren seiner Familie Castra Cornelia genannt hatte. Verständlich, daß Publius Cornelius Scipio verstimmt war. Auch Masinissa hatte sich als Enttäuschung erwiesen. Wenn er schon auf die Numidier des Syphax verzichten mußte, hatte Scipio sich doch Verstärkung seiner Reitertruppen durch ein paar tausend numidische Reiter von Masinissas Stamm erhofft. Der vertriebene junge Stammesfürst war aber nur mit schäbigen zweihundert Berittenen und einer entmutigenden Geschichte aufgekreuzt. Sein Onkel hätte ihn verfolgt und fast getötet. Da hätte er selbst das Gerücht verbreitet, daß er in einem Hinterhalt ums Leben gekommen wäre. Nur mit viel Glück hätte er mit seinen Zweihundert entkommen können. Doch es wären die tapfersten, versicherte der dunkle Wüstenfürst. Und das waren sie wirklich, mußte Scipio zugeben. Sogar sein Gegner auf Distanz, Hannibal selbst, hätte das zugeben müssen. Nur waren es so wenige. Welche Wirkung haben schon eine Handvoll Moskitos auf einen Elefanten?
Wie in Italien, so sind auch in Afrika die Wintermonate für Kriegführung nicht günstig. Deswegen mußten sich sowohl Römer als auch Karthager mit kleineren Scharmützeln begnügen. Die Belagerungslinien gegen Utica wurden gehalten, wenn auch nicht in voller Stärke. Und Masinissas zweihundert Berittene, wilde Wüstensöhne mit phantastischer Meinung über ihre eigene und die Stärke ihres Führers, wurden dazu eingesetzt, die feindlichen Lager zu stören und die berittenen karthagischen Freiwilligen in den Hinterhalt zu locken, damit Scipios etwas konventionellere römische Reiterei sie niedermachen und die Überlebenden zerstreuen konnte. Das ließ sich mit der Einnahme einer Stadt zwar nicht vergleichen, aber es war nichtsdestoweniger ein Sieg, und als solcher wurde es auch den Leuten nach Hause gemeldet. Scipio war es klar, daß man ihn, falls Niederlagen gemeldet wurden, wahrscheinlich zurückbeordern würde – so groß war die Macht der Feiglinge im römischen Senat geworden. Seitdem die Römer bei Utica gelandet waren, hatten die Karthager die Zeit genutzt und eine Kriegsflotte gebaut. Die ersten Schiffe waren im Herbst vom Stapel gelassen worden. Bis zu Scipios Ankunft hatte seit fünfzig Jahren niemand gewagt, eine Invasion Afrikas zu versuchen, und der karthagische Schiffsbau hatte sich auf Handelsschiffe konzentriert, damit
der Stadt Karthago die kommerzielle Herrschaft in der zivilisierten Welt erhalten bliebe. Jetzt bauten sie eine Kriegsflotte. Sie hatten den ganzen Winter Zeit, die Flotte zu vergrößern. Ein Angriff von See her hätte genügt, um Scipios Invasion in einen katastrophalen Fehlschlag zu verwandeln. Und jetzt war der rätselhafte alte Grieche, der sich Sebastian Necropoulis nannte, aus der Wüste gekommen.
12 Das Problem, mit dem sich Hannibal Fortune konfrontiert sah, war unglaublich einfach, wenn man es von einem Ende aus betrachtete, und unglaublich kompliziert vom anderen Ende her. Der andere Hannibal mußte nach Karthago gebracht werden. Wir wollen ihn lieber Hannibal Einauge nennen, um ihn von jenem anderen Hannibal, demjenigen, den Rimaud Rudnl gebaut und programmiert hatte, zu unterscheiden. Merkwürdig, überlegte Fortune, daß es niemand der Mühe wert gefunden hatte, zu erwähnen, welches Auge der berühmte Karthager in Italien verloren hatte, wie anzunehmen war, sehr zum Vergnügen künftiger Schreiber sogenannter historischer Romane, die »historische Genauigkeit« sehr schätzten. Jedenfalls hatte sein Namensvetter in Italien an die fünfzehn Jahre gewütet, für einen Touristen eine sehr lange Zeit, und hatte die römischen Feldherrn der Reihe nach zum Narren gemacht, viele unglaublich gewagte Dinge gedreht und wahrscheinlich einige gewagte unglaubliche. Er hatte seine gesamte Armee, über zwanzigtausend Mann, samt Ausrüstung in und aus streng bewachten Gebieten geschafft, als wären sie unsichtbar – oder die Römer blind –, und hatte die Römer an so vielen Stellen gepeinigt, daß
der Ruf »Hannibal steht vor den Toren« in allen Teilen der Halbinsel Furcht und Schrecken hervorrief. Hannibal Einauge mußte schleunigst heimkehren, um die Mauern von Karthago zu verteidigen. Hätte Syphax nicht seine Truppen mit denen Hasdrubals vereinigt und damit geholfen, Scipio auf dem felsigen Vorposten zu umzingeln, wäre Hannibal Einauge schon jetzt auf der Heimfahrt, weil Utica mit Gewißheit der römischen Belagerung sonst nicht standgehalten hätte. So jedenfalls berichteten die historischen Unterlagen in der TERRAKontrollzentrale. Nach Utica Karthago – und Hannibal kommt nach dem Zusammenbruch Karthagos und wird selbst geschlagen. Doch die Ereignisse schienen überhaupt nicht auf diese Entwicklung zusteuern zu wollen. Scipio schien unter den gegebenen Umständen sein Bestes getan zu haben, doch wenn der Feldzug nicht auf einen Sieg Scipios hingelenkt wurde, würde der ganze Kampf bloß eine Fußnote in den Büchern ernten. Es handelte sich nicht darum, daß eine Seite im Recht war und die andere nicht, obwohl beide Seiten dazu neigten, in diesen Bahnen zu denken. Jede Zivilisation glaubt gern, daß ausgerechnet sie einen Kampf ums Leben führt. Daher war es völlig natürlich, jeweils den anderen als bösen Kriegstreiber anzusehen, der vernichtet werden mußte. Keine Seite
bedachte dabei, daß in jedem Krieg die wirklichen Verlierer die Leute sind, die ihn nicht überleben, ganz gleich auf welcher Seite sie kämpfen. Hannibal Fortunes Problem war deshalb so kompliziert, weil sein Eingreifen in den Zwist völlig unbemerkt bleiben mußte, damit Gregor Malik nicht erfuhr, daß er noch lebte. Das war eine Aufgabe, die einen Fachmann verlangte. Vielleicht war es ein Glück, daß er inzwischen die neurotische Überzeugung in sich entwickelt hatte, der einzige Fachmann des Universums zu sein. Zumindest gab ihm dieser Glaube jene Zuversicht, die eine unerläßliche Voraussetzung für solche Husarenstücke darstellt. Die folgenden Ereignisse sind leichter zu verdauen, wenn man sich die Tatsache vor Augen hält, daß seine Motive immer die reinsten waren. Na ja, fast immer. Und außerdem sind die Beteiligten schon ewig lange tot. Einige waren überdies gar nicht nett. Und die übrigen waren nicht besser als sie sein sollten. So viel steht fest. Einfach und kompliziert. Das Problem bestand für Hannibal Fortune darin, daß er einen Weg finden mußte, das Kriegsglück zugunsten Scipios zu wenden und den historischen Schaden wiedergutzumachen, der aus dem willkürlichen Eingreifen von EMPIRE entstanden war. Und das alles, ohne EMPIRE einen Hinweis zu geben, daß er noch lebte. Deswegen muß-
te er auf die Benützung einer Zeitfähre verzichten. Die einzige Fähre in der Gegend gehörte EMPIRE. Sie zu klauen, kam nicht in Frage, weil Maliks Verdacht sich sofort gegen Fortune gerichtet hätte. Natürlich kann man einwenden, daß die Chancen für einen Diebstahl ohnehin sehr gering waren, da die Fähre von EMPIRE in einigen hundert Kilometer Höhe in einer Umlaufbahn schwebte, und Hannibal Fortune auf der Erde war und nicht einmal ein Pferd hatte. Solche Einwände können jedoch nur von denen vorgebracht werden, die vergessen haben, daß mindestens ein Gleiter in der EMPIRE-Höhle geparkt war und daß es mit einem Gleiter relativ einfach ist, eine in Orbit schwebende Fähre zu überfallen, und daß Typen wie Hannibal Fortune und Gregor Malik überhaupt kein Gewissen haben, wenn es gilt, sich gegenseitig den Fahrzeugpark zu klauen. Sehr oft glaubten sie »einer höheren Moral zu folgen«. Da es Hannibal Fortune nicht sonderlich behagte, auf drei Dimensionen beschränkt zu bleiben, hatte einer seiner ersten Gedanken Maliks in Orbit befindlicher Zeitfähre gegolten, die er sich aneignen wollte, wenn die Zeit dazu reif war. Vorher mußte er sich noch einigen anderen Dingen widmen. Da die Armeen von Syphax und Hasdrubal nur wenige Kilometer entfernt an den Ufern des Bagradas lagerten, brauchte Scipio Hilfe. Genauer gesagt, man mußte ihm einen Weg zeigen, beide Armeen in einem
kühnen Manöver zu vernichten, und zwar mit einer so gewagten Taktik, daß es ihn selbst nicht zuviel Verluste kosten sollte. Das war eine schwierige Aufgabe für einen einzigen unbewaffneten Sonderagenten und seinen symbiotischen Partner. Doch sie mußte durchgeführt werden. Scipios derzeitiger karthagischer Gegner Hasdrubal Gisco hatte gesagt, der römische Feldherr wäre wegen seiner bei einem persönlichen Gespräch entwickelten Qualitäten mehr zu bewundern als wegen seiner kriegerischen Heldentaten. Daher können wir annehmen, daß der Römer entweder glaubte, was Sebastian Necropoulis zu sagen hatte, oder die Art bewunderte, wie er es sagte. Was der schlaue Grieche gesagt hatte, hatte er nur zu Scipio gesagt – er hatte sich als Meisterspion vorgestellt, der einträgliche Beschäftigung suchte. Sein Motiv für dieses großzügige Angebot erklärte er damit, daß Hannibal Einauge ihn bei verschiedenen Gelegenheiten schwer beleidigt hatte und er in der Arbeit für Scipio die beste Art sähe, Rache zu üben. Außerdem wäre er davon überzeugt, daß der römische Feldherr siegen würde, und er sah nichts Übles darin, sich mit dem Sieger gut zu stellen. Vielleicht, so fügte er bescheiden hinzu, könnten seine Dienste mithelfen, einen höchstwahrscheinlichen Sieg in einen sicheren Sieg umzuwandeln.
Necropoulis war leutselig geheimnisvoll, was seine Informationsquellen betraf, und ebenso gut informiert über die Karriere und Ambitionen des Publius Cornelius Scipio – fast so, als hätte er bereits einen verstohlenen Blick in Scipios noch ungeschriebene Memoiren geworfen. Scipio zog daraus den raschen Schluß, daß Necropoulis nicht nur eine Menge über Truppenstärke und Lage der Armee von Syphax und Hasdrubal wußte, sondern auch über das römische Lager, mehr, als einem Römer lieb sein konnte. Sie feilschten, fochten mit Worten, wichen aus und handelten, und das alles mit dem überlegenen Vertrauen von Männern, die ihre eigenen Fähigkeiten kannten und respektierten. Schließlich gingen sie einen Handel ein, der dem beiderseitigen Verlangen entsprach, Karthago auf den Knien zu sehen und Hannibal Einauge in einer spektakulären Schlacht mit Scipios Legionären zu schlagen. »Der Sieg wird so überzeugend ausfallen, wenn ich das sagen darf«, bemerkte jener, der sich Sebastian Necropoulis nannte, »daß Ihr bei Eurer Rückkehr nach Rom zweifellos mit einem Triumphzug geehrt werdet.« Scipio kniff mißtrauisch die Augen zusammen. »Seid Ihr ein Wahrsager?« »Die Wahrheit«, lachte der Grieche, »kann man selten vorhersagen. Ich behaupte nur, daß ich ein außer-
ordentlich gut informierter Mensch bin, der sein Wissen verkauft. Hättet Ihr etwas dagegen, als Scipio Africanus in die Geschichte einzugehen?« So kam es, daß Hannibal Fortune, verkleidet als Sebastian Necropoulis, ein römischer Geheimagent wurde. Zunächst amüsierte den Römer die Kühnheit des Meisterspions. Dann fesselte ihn dessen Überblick über die Lage. Außerdem schmeichelte ihm, daß der Grieche sich die Mühe gemacht und alles über seine, Scipios, vergangenen Heldentaten in Erfahrung gebracht hatte. Scipios Haltung war die normale Reaktion eines auf das Erreichte stolzen Menschen einem unerwarteten Bewunderer gegenüber. Kurz gesagt, er fand Sebastian Necropoulis amüsant und als Gesprächspartner viel interessanter als seinen Leutnant Laelius, der für Scipios Geschmack zu konservativ war, oder den zu blutrünstigen Masinissa. Überdies wollte Necropoulis weder Lob noch öffentliche Anerkennung für seinen Beitrag zur römischen Kriegsführung, eine Haltung, die der ehrgeizige Konsul bei einem Verbündeten als hervorragend schätzte. Kurz gesagt, die beiden kamen miteinander sehr gut aus, diskutierten über Hastates, Triarii, Manipeln, fliegende Keile, die Aufstellung der Kavallerie, einzeln angeordnete T-Formationen und andere erlesene Lekkerbissen der damaligen Kriegsführung.
Wie Scipio war auch Necropoulis ein Bewunderer der Intelligenz an sich. Ihm waren die meisten genialen Lösungen militärischer Probleme bekannt, die die großen Feldherrn der damals bekannten Welt gefunden hatten. »Kein Mensch strebt nach Ruhm und großer Ehre«, sagte er zu dem Römer, »es sei denn, der Ruhm ist ihm zur Erreichung seiner Endziele nützlich. Eure Weisheit hat sich in der Wahl des Jupiter Optimus Maximus zum Schutzpatron manifestiert. Was ich tun kann, um den Namen Scipio zu erhöhen, wird sicher zum immerwährenden Ruhme Roms gereichen.« Scipio lächelte falsch. »Ein Bild der Unbesiegbarkeit, so wie jenes, das Hannibal in Rom genoß. Und wo wirst du beim Triumph des Scipio stehen?« »Ich werde Euch mit den Massen zujubeln. Mir genügt eine heimlich gewährte Pension, damit ich den Rest der mir noch gewährten Tage zufrieden leben kann.« Fortune bekam es mit der Angst zu tun, daß er zu dick aufgetragen haben könnte, und wechselte das Thema. »Wenn wir Euren Ruhm steigern, werden wir alles am leichtesten schaffen. Seid Ihr nicht auch der Meinung, daß es zur ehrenhaften Kriegsführung gehört, die eigenen Verluste auf ein Minimum zu beschränken?« Der Römer überlegte kurz. »Ja. Das ist eine ehrenhafte Art der Kriegsführung.«
»Gut!« rief Necropoulis aus. »Wenn uns das glückt, wird es Eurem Ruf unendlich gut tun.« Er zog in den Staub zu seinen Füßen eine wacklige Linie. »Das ist der Bagradas. Syphax und Hasdrubal sind dort, während wir hier sind. Ich schlage nun vor ...« Endlich bekam Pohl Tausig den Erfinder, der immer unterwegs war, auf den Bildschirm. »Was bedeutet diese Quarantäne von hundertsiebzig Tagen?« fragte er und hielt ein von Lipnig unterschriebenes Memorandum in die Höhe. »Als wir durch die Zeit-Vektor-Kreise zum Test Lichtsignale schickten, haben wir einen Spannungsfehler festgestellt, der uns einen Spielraum von plus oder minus hundertsiebzig Tagen läßt. Die Techniker von EMPIRE sind sehr ungeschickt vorgegangen, als sie die Instrumente auf Doppelinanspruchnahme einstellen wollten – sie haben so viele Schaltgruppen falsch geschlossen, daß wir den genauen Abflugtermin nicht genau feststellen können.« »Ach?« »Also können wir während der Quarantänezeit nicht einschreiten. Die Möglichkeit, unseren vermißten Sonderagenten während der Suche zu vernichten, ist zu groß ... es sei denn, Sie entscheiden anders.« Es entstand eine längere Pause, während der Tausig auf den Bildschirm starrte. Dann zupfte er an sei-
nem Bart und räusperte sich. »Hundertsiebzig Tage«, sagte er ruhig. »Ich möchte wissen, in wieviel Gefahren Fortune wohl in hundertsiebzig Tagen geraten kann.« »Derartige Fragen zu beantworten, fällt nicht in mein Ressort«, gab der Erfinder zurück und unterbrach abrupt den Kontakt. Tausig zuckte die Achseln und rief die Chefpsychologen an. »Ich möchte Wi'in eine Frage vorlegen«, sagte er zu Alelis. »Was wird Hannibal Fortune aller Wahrscheinlichkeit nach unternehmen, wenn er über einen Zeitraum von hundertsiebzig Tagen keinerlei Unterstützung von der TERRA-Kontrollzentrale erhält?« Du heißt Hannibal Fortune und bist wahrscheinlich der einzige Agent in der Geschichte der Geheimdienste, der es schaffen könnte. Scipio weiß zwar nicht recht, was er von dir halten soll, aber er kann es sich nicht leisten, dich zu ignorieren. Mit etwas Übung wird er es vielleicht lernen, selbst so zu denken – er ist einer der intelligentesten Erdenmenschen, mit denen du es bis jetzt zu tun hattest. Zu schade, daß er ein Gefangener seiner Zeit ist. Du hättest zu gern gesehen, was er in einem anderen Krieg mit höher entwickelter Technik und schnellerem Tempo gemacht hätte. Es ist zu vermuten, daß er auch unter diesen Umständen eine gute Figur abgegeben hätte.
Jetzt verstehst du auch, warum d'Kaamp ihn so bewundert. Härte und Präzision – diese Eigenschaften sind uns beiden eigen, dazu die ausschließliche Hingabe an die jeweilige Aufgabe, das Bestreben, sie zu bewältigen, das Spiel zu spielen, ohne all den sentimentalen Unsinn, dem die meisten gewöhnlichen Sterblichen zum Opfer fallen, eine Sache zu vollenden, zu wissen, wie viele Menschenleben es kosten wird und gewillt zu sein, die benötigte Zahl an Menschenleben zu opfern, um den Feind zurückzutreiben, den Hügel zu nehmen, das Angriffsziel zu erobern, die Oberhand zu gewinnen – verdammt seien die feigen Kritiker, die der Meinung sind, das Leben einiger Tausend Schachfiguren wiege den Siegesruhm nicht auf. Du lächelst, wenn du daran denkst, wie Scipio den Dichter Cato zitiert hat, was beweist, wie wenig Scipio die sogenannte moralische Rechtfertigung für den Krieg kümmert. Es war Quintus Ennius, der behauptet hat: »Ich garantiere auch, daß es Götter gibt, aber sie kümmern sich nicht darum, was die Menschen treiben. Ansonsten würde es den Guten gutgehen und den Schlechten schlecht – was äußerst selten vorkommt«, worauf du geantwortet hattest: »Die einzige moralische Rechtfertigung für einen Krieg ist der Triumphzug, den man dem Sieger bereitet«, und Scipio hatte falsch gelächelt, als er an den Triumph dachte, den man ihm vor zwei Jahren verweigert hat-
te, und du hoffst, daß später, wenn der Große nach der Heimkehr Hannibal Einaugs hochkommt, du die Möglichkeit hast, aus der Nähe zu beobachten, ob er Scipio als wirklich ebenbürtigen würdigen Gegner betrachtet, und du lächelst wieder, als dir klar wird, daß ein Mann alle Tugenden des Gehorsams, die er als Soldat gelernt hat, ablegen muß, wenn er ein großer Feldherr werden will, und es scheint unvorstellbar, daß jemand ein militärisches Establishment zu kritisieren wagt, das auch nur einen großen General in hundert Jahren hervorbringt. Und du stellst die rhetorische Frage um der lästigen Privatbürger willen, denen der Geist fehlt, das alles einzusehen. Wiegt die Ehre, in den Memoiren eines großen Generals erwähnt zu werden, nicht den Tod auf? Das Universum wird sich vielleicht nicht erinnern, warum man gekämpft hat, es wird aber nie vergessen, wie dramatisch man gestorben ist. Heute nacht werden zwanzig- oder dreißigtausend Barbaren dramatisch sterben, weil du Scipios Hand deine Hilfe leihen wirst. Das sind halb so viele, als es Angestellte von TERRA gibt, die du immer als relativ großes Unternehmen betrachtet hast. Es ist viel einfacher, wenn man von ihnen als einem Kollektiv spricht, das man als »Feind« bezeichnen kann, als sie sich als zwanzig- oder dreißigtausend menschliche Wesen anzusehen. Außerdem ist mit Sicherheit an-
zunehmen, daß keiner der heute nacht Getöteten es jemals zu etwas gebracht hätte. Masinissas kleine, aber fähige Schar numidischer Reiter ist angetreten und wartet begierig, das Gemetzel zu beginnen, ungeduldig wegen des Ablenkungsmanövers, das Scipio auf deinen Vorschlag hin heute unternommen hat – ein Scheinangriff auf Utica, der den Feind in falsche Sicherheit wiegen soll. Du hast die zwei Lager – das Lager Hasdrubals und das des Syphax – klug und sorgfältig ausgekundschaftet. Die sorgsam ausgewählte mörderische Vorhut ist bereits in der Dunkelheit aufgebrochen. Das ist kein Krieg, wie ihn Scipios römische Truppen gewöhnt sind. Einige der traditionsverbundenen Soldaten murren sogar, daß solche Heimlichkeit und Hinterlist unter der Würde eines Legionärs seien, doch die meisten begnügen sich damit, das Denken Scipio und Laelius zu überlassen. Die Nacht schreitet fort. Ganz still. Der Torg hat gemeldet, daß Syphax und Hasdrubal schlafen und keinen Verdacht geschöpft haben. Kein Mond. Eine dünne Wolkendecke verbirgt sogar den blassen Sternenschimmer. Vorn, am äußeren Ufer einer flachen Biegung des Bagradas liegen die zwei Lager. Das schwache Rot ihrer Lagerfeuer glüht in der Dunkelheit. Der Schlamm, vor zwei Monaten noch knöcheltief, ist getrocknet. Es ist Frühsommer. Insekten stö-
ren die Stille. Beide Lager strömen einen faulen Geruch aus, der jetzt allerdings längst nicht so arg ist wie tagsüber. Langsam und leise nehmen die Legionäre ihre Plätze ein und besetzen alle Ausgänge. Spezialtruppen machen sich langsam an die schwachen Mauern heran, um Durchgänge zu schaffen, wo keine waren. Im Lager schwatzen gelangweilte Wachen miteinander, um sich gegenseitig wachzuhalten. Von draußen dringen weder Stimmen noch Waffengeklirr herein, das die Römer verraten hätte. In günstiger Entfernung nehmen in aller Stille die ungesattelt reitenden Wüstensöhne Aufstellung und warten auf das Zeichen zum Angriff – dem dreimal wiederholten Schrei eines nordafrikanischen Nachtvogels. Die Stille sättigt die Nacht mit spröder Atemlosigkeit. Endlich gibt Scipio persönlich das Zeichen. Der Nachtvogel schreit, er schreit und schreit abermals. Flammen züngeln die Mauern empor, an den Zelten der Numidier, an den Schilfhütten der Karthager, die du vor zwei Monaten aus der Luft inspiziert hast. Alarmrufe ertönen – zu spät. Masinissas Reiter fallen über die nichtsahnenden Schläfer her, donnern durch die plötzlich vorhandenen Mauerdurchbrüche gleich Derwischen hoch zu Roß, flackernder Tod, der Zeltschnüre durchschlägt und die Panik der Opfer mit markerschütterndem Geschrei erhöht, während Le-
gionäre durch die Ausgänge hereinströmen. Als die furchtgetriebenen Flüchtigen vor den Flammen zurückweichen, treffen sie auf die römischen Schwerter. Unbewaffnet, halbbekleidet, mit verschlafenen Augen, sterben sie blutend, schreiend, brennend, taumelnd, fluchend, fallend (später wirst du entdecken, daß es Syphax irgendwie geschafft hat, mit seinen Unterführern zu entkommen), spritzend, eilend, keuchend, greifend, nicht fassen könnend, stöhnend, ächzend, kriechend, kämpfend, atmend, beißend. (Was das betrifft, haben es Hasdrubal und seine ranghöchsten Offiziere so gehalten). Rennend, blutend, schwankend, stinkend, röstend, schreiend. Männer, aus denen Flüssigkeiten sprudeln, schwarze Haut, die sich wirft, reißt, schält, sich krümmt von der Hitze, die Toten bewegen sich, wenn ihre Körper Blasen werfen und sich aufblähen und Gesichter verziehen, verstümmelte Glieder, keine Menschen mehr, sondern verkohlende Leichen, zu viele, um neununddreißigtausendzweihundertdreiundfünfzig von »ihnen« zu begraben. Von »uns« waren es bloß vierzehnhundert, doch niemand rechnet nach, weil das voraussetzen würde, daß alle vierzigtausendsechshundert Leben jemandem etwas bedeutet haben. Der Sieg ist dein, Publius Cornelius Scipio. Der Sieg ist dein, Laelius. Der Sieg ist dein, Hannibal Fortune.
Du hast sogar ein paar Pferde retten können. Die sind nämlich wirklich wichtig.
13 Aus militärischer Sicht war es eine erfolgreiche Schlacht, doch trotz des sehr günstigen und daher lohnenden Zahlenverhältnisses der Toten auf beiden Seiten, war der Vorfall an der Flußkrümmung des Bagradas nicht so entscheidend, wie er es hätte sein können, wenn die Befehlshaber einer oder beider Armeen, zusammen mit den Vierzigtausend erschlagen worden wären. Natürlich waren Tote nicht nur unter den Truppen zu beklagen, doch die anderen waren jene Arten von Frauen, die gewöhnlich den Armeen folgen. Also war es kein großer Verlust. Und der Vorfall hatte seinen Wert, weil er die Römer nur eine Handvoll Tote gekostet hatte, obwohl einige Idealisten jammerten, daß es kein ehrlicher Sieg war. Als er das hörte, schüttelte Fortune den Kopf und dachte bei sich, daß ein wenig Plato zwar bedauerlich ist, aber viel Plato verheerend sein kann. Natürlich kamen in den nächsten Tagen Gerüchte auf, das Syphax oder Hasdrubal oder beide erschlagen worden wären. Man schickte Suchtrupps aus. Sie suchten zwischen den verwesenden Leichen, die immer noch das Lagergebiet bedeckten und die Luft kilometerweit verpesteten – doch trotz der ausgesetzten Belohnungen hatte man keine Leichen gefunden, die
man überzeugend als Generäle hätte ausgeben können. Schließlich wurden andere Berichte bestätigt, nach denen sowohl der Karthager, als auch sein Verbündeter in die Wüste entkommen waren. Fortune sandte seine eigene Erkundungstruppe – ein fünfzehn Pfund schweres, gefiedertes Etwas – aus, und erhielt die Bestätigung bestätigt. Sophonisbe, die während jener Flammennacht bei Syphax gewesen sein soll, war jetzt mit ihm in Cirta, während ihr angeblicher Vater Hasdrubal nach Karthago geflohen war, offensichtlich um eine neue Armee auszuheben. Hasdrubal war mit etwa 2500 Mann entkommen, grob gerechnet war es ein Zwölftel jener Truppenstärke, mit der er begonnen hatte, der mitleiderweckende Rest einer einst stolzen Armee. Syphax war es erheblich besser gegangen, doch als er sah, daß es eigentlich gar nicht sein Krieg war und er trotzdem die Hälfte seiner Truppen verloren hatte, beschloß der alte König, Schluß zu machen, heimzukehren und seine ihm noch beschiedenen Tage in den tröstenden Armen der reizenden Sophonisbe zu genießen. Diese Lösung sei nicht ganz einfach, behauptete Syphax, doch sei es töricht, für eine hoffnungslose Sache zu sterben. Und was die Bösewichter betrifft (das heißt Opfer – in jedem Konflikt zwischen verschiedenen Kulturen
sind diese Bezeichnungen beliebig austauschbar), so hatte Masinissa seit dem folgenreichen Reiterhinterhalt, in den er im vergangenen Winter geraten war, ein kleines Rinnsal von Rekruten um sich geschart. Als nun die Nachricht kam, daß Syphax sich aus dem Konflikt zurückgezogen hatte, schwoll das Rinnsal zu einer Flut an – viele waren Deserteure aus dem Lager des Syphax, die das Leben mit dem Schwert in der Hand dem harten, tödlich langweiligen, eintönigen Leben eines nordafrikanischen Wüstenstämmlings vorzogen. »Den Beduinen kümmert es nicht, für wen er kämpft«, bemerkte Scipio trocken. »In dieser Hinsicht«, meinte Sebastian Necropoulis, »ist er wie der Grieche. Es ist egal, was jemand macht, wenn er es bloß gut macht.« Nach der Ankunft des tüchtigen Masinissa wandte Scipio seine Aufmerksamkeit wieder der Belagerung Uticas zu und warf kampferprobte Truppen in die Schlacht. Da Syphax sich zurückgezogen hatte, und Hasdrubal eine schmachvolle Niederlage erlitten hatte, brauchte Scipio nur Utica zu nehmen und konnte dann ungehindert auf die dreifach ummauerte Stadt marschieren. Doch wieder einmal kam es ein wenig anders. Erstens hatte Hasdrubal beim Ausheben von Freiwilligen zur Verteidigung von Karthago mehr Glück, als erlaubt. Und Hasdrubals Tochter besaß noch im-
mer mehr Einfluß auf ihren achtzigjährigen Gatten, als es einer Braut im Teenageralter eigentlich zusteht, selbst wenn sie in griechischen Liebeskünsten versiert ist. Der greise Monarch zog mit schätzungsweise dreißigtausend frischen Truppen nach Karthago zurück. Diese Meldung kam von Sebastian Necropoulis, der Scipios Lager nicht verlassen hatte und – typisch für ihn – sich weigerte, seine Informationsquelle preiszugeben. Eineinhalb Tage später kam die dem Sinn nach gleiche Meldung von reitenden Spähern, die auf Befehl Masinissas über das ganze Hinterland ausgeschwärmt waren. Der einzige Unterschied zwischen den zwei Meldungen bestand in der Einschätzung der Truppenstärke: die numidischen Späher gaben sie mit fünfunddreißigtausend an. Masinissa warf dem Griechen einen fragenden Blick zu. »Dreißigtausend«, beharrte Fortune respektive Necropoulis aalglatt. »Meine Information ist genauer.« »Wieso hast du nicht ausgekundschaftet, daß sich die Keltiberer Syphax anschließen werden?« wollte Masinissa wissen. »Keltiberer?« fragte Necropoulis unschuldig. »Eine große Streitmacht schwerer Infanterie.« Im linken Ohr von Fortune-Necropoulis zischte die Stimme Arriks/Webleys: »Also waren es Keltiberer! Ich habe an die viertausend gezählt!«
»Viertausend«, fügte der Meisterspion schüchtern hinzu. Masinissa sah beleidigt drein. »Viertausend«, bestätigte er. »Ich muß mich sehr wundern, Necropoulis«, spottete Scipio, »daß du vergessen hast, die Keltiberer zu erwähnen. Die keltiberische Infanterie hat nämlich einen eigenen, sehr wirksamen Kampfstil. Ganz nützlich, wenn man weiß, wen man vor sich hat.« Fortune wurde an die Art d'Kaamps erinnert, die verschiedenen Armeen zu analysieren. Scipio fuhr fort: »Hier handelt es sich um die Hartnäckigsten, jene, die sich nicht ergeben wollten, als wir Spanien eroberten. Mir schmeichelt, daß sie die weite Fahrt auf sich genommen haben, um es noch einmal gegen mich aufzunehmen. Sie werden bis zum letzten Atemzug kämpfen, jeder einzelne. Auf ihre Köpfe sind Preise ausgesetzt, also wird sich keiner ergeben. Ich sehe voraus, daß uns der Kampf teuer zu stehen kommen wird. Hm, Necropoulis?« »Möglich, wenn wir sie so weit bis Norden vorgehen lassen. Ich schlage vor, wir stellen uns ihnen auf der südlichen Ebene, wo Masinissas hervorragende Reiterei sie zu Hackfleisch machen kann.« »Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte der römische Heerführer. »Wir marschieren los, wenn die Dämmerung einbricht. So lange werden wir nämlich
brauchen, um die hervorragende Reiterei in Schwung zu bringen. Eines laßt euch gesagt sein: hoch zu Roß sind die Numidier großartig, aber am Boden –« Er schloß mit einer farbigen lateinischen Obszönität, die d'Kaamp sicher liebend gern in seine Sammlung aufgenommen hätte –, doch äußerte Scipio sie mit einem so kameradschaftlichen Ton, daß der Numidier wirklich nicht beleidigt sein konnte. Luise nannte ihren Namen und wurde gebeten, bitte doch einen Augenblick zu warten. Wenig später wurde sie in die Ordination des zylindrischen Chefpsychologen geführt. »Agentin Little!« Alelis strahlte und beugte sich leicht in der Mitte vor. »Setzen Sie sich. Machen Sie es sich bequem. Offensichtlich sind Sie der Schlüssel zu dem Rätsel. Sie sind die einzige Person, der Fortune trauen wird, auch wenn er das Gefühl hat, Sie hätten ihn betrogen – vorausgesetzt natürlich, meine Analyse von Wi'ins Reaktionen ist richtig. Ich werde Tausig bitten, Sie vorübergehend zur Sonderagentin zu ernennen.« »Sie sind total verrückt!« »Nein. Ich mache bloß ein paar Konzessionen an jemand, der vielleicht wirklich total verrückt ist.« Scipio trieb seine zwei Elite-Legionen fünf Tage lang zu erbarmungslosen Gewaltmärschen an, bis sie das
Mobilisierungszentrum des Feindes auf der Großen Ebene erreicht hatten. Dabei wurden sie von der gesamten Reiterei, der römischen wie der numidischen, begleitet. Wieder einmal war es so, daß das, was der schlichte Legionär nicht wußte, wahrscheinlich seine Kampfmoral geschwächt hätte, wenn er es gewußt hätte: die Tatsache nämlich, daß er zahlenmäßig im Verhältnis zwei zu eins unterlegen war. Doch das Überraschungsmoment, samt der brillant eingesetzten Kavallerie, sollte die karthagischen Flügel völlig vernichten. Damit war dann das feindliche Zentrum mit seinem Kern von Keltiberern verwundbar und einem trickreichen Umzingelungsmanöver durch Scipios Legionäre wehrlos ausgesetzt. Wie der Römer vorausgesagt hatte, versuchten die viertausend spanischen Verbündeten des Syphax nicht zu fliehen, sondern kämpften erbittert und offenbar entschlossen, zweierlei zu erreichen: mit dem Schwert in der Hand zu sterben und dabei soviel Römer als möglich mitzunehmen. Es war eine bei hellichtem Tage ausgetragene Schlacht. Beide Seiten starrten in Waffen – ein bizarrer, tödlicher Aufzug. Die ihm innewohnende Schönheit der Bewegung wurde durch Blut und Gemetzel ins Groteske verzerrt, übte aber nichtsdestoweniger eine gewisse Faszination aus.
Obwohl ihnen nichts geblieben war als ihre Ehre, um die sie jetzt kämpften und an die sie in echt heroischer Art fest glaubten, kämpften die Keltiberer heldenmütig gegen die gnadenlose römische Kriegsmaschine. Sie standen knöcheltief im Blut ihrer toten und sterbenden Kriegskameraden. Es wird berichtet, daß sie bis zum bitteren Ende heldenmütig kämpften. Vielleicht hatten einige sogar noch an den Sieg geglaubt. Jedoch nicht der greise Syphax oder sein Schwiegervater Hasdrubal Gisco. Die beiden sahen ganz klar, daß das Spiel sich nicht mehr zu ihren Gunsten wenden würde, also machten sie sich während eines der Höhepunkte der Schlacht verstohlen aus dem Staub. Masinissa merkte als erster, daß sein Onkel Syphax verschwunden war. Vermutlich, um den alten Knaben davon abzuhalten, wieder eine Armee auszuheben, machte sich Masinissa an die Verfolgung und ließ sich kaum Zeit, Scipio zu melden, warum er sich vom Kampfgeschehen entfernte.
14 Nach der Flucht des Syphax war, mit Ausnahme der Keltiberer, auf seiten der Karthager nicht mehr viel übrig außer unerfahrene, frisch ausgehobene Truppen, die bis aufs Sterben nichts konnten – was sie denn auch reichlich taten. Masinissa war erst seit wenigen Stunden weg, als Scipio den Laelius aus dem noch immer unten auf der Ebene wütenden Kampf abberief. »Folge dem Numidier«, wies er ihn an. »Ich brauche Syphax und seine Braut lebendig ... Masinissa ist imstande und schneidet ihnen die Kehle durch.« Masinissa und seine Reiter, fast tausend an der Zahl, durchstreiften in westlicher und südlicher Richtung jenes Gebiet, in dem viele von ihnen zum Manne herangewachsen waren. Laelius und seine Legionäre, lauter Ausländer, mußten den numidischen Reitern auf Sichtweite folgen. Wie bei den meisten Kriegen üblich, zog sich die Eroberung Karthagos in die Länge – sogar die Verfolgung des Syphax dauerte länger als erwartet. Größtenteils deswegen, weil sowohl der Gejagte, als auch die beiden Abteilungen Jäger so oft als möglich anhielten und praktisch jede Gelegenheit zum Plündern ausnützten. Das liegt in der Natur der Armeen: tatsächlich gehört es zu den ältesten und ehrenwertesten
Rechten der Soldaten, sich von dem zu ernähren, was das Land hergibt, das heißt vielmehr von dem, der sich vom Land nährt, nämlich vom Bauern. Syphax oblag noch immer die Führung. Mit knapp fünftausend Mann und Pferden flüchtete er sich auf das, wie vermutet, sichere Gebiet seines eigenen Landes. Masinissa war ihm knapp auf den Fersen. Seine tausend Reiter waren nicht imstande, es mit der ganzen sich zurückziehenden Armee aufzunehmen, obwohl diese aus Drückebergern bestand. Doch sind Drückeberger nicht unbedingt Feiglingen gleichzusetzen, und das wußte der Wüstenfürst. Laelius marschierte hinter Masinissa. Seine schwere Infanterie war bereit, sich auf jede Feindkonzentration zu stürzen, der sie begegnete. Und die Einwohner des Gebietes fragen sich natürlich, was sie angestellt hatten, um eine Plünderung durch drei Armeen innerhalb weniger Tage verdient zu haben. Wenn man fünfzehn Pfund wiegt, beinahe alles essen kann, sehr wenig Schlaf braucht, keine Beschränkungen der physischen Form und Funktion kennt und bis in die Fingerspitzen telepathisch ist, dann kann man mit Fug und Recht erwarten, ausgenützt zu werden. Besonders wenn man mit Hannibal Fortune ein Team bildet. Arrik fragte sich, wie Webley einen Auftrag
nach dem anderen geschafft hatte, ohne eine Art Supertorg zu werden. Arriks Zellen schmerzten von den vielen Flügen, die Fortune von ihm verlangte – ein Flug täglich, um Syphax, Masinissa und Laelius im Auge zu behalten. Und dann die große Runde Tunis, Karthago, Castra Cornelia und Utica, um Fortune über militärische Bewegungen an jedem dieser Orte auf dem laufenden zu halten. Dazu kam jeden zweiten Tag ein Flug nach Cirta, um sich zu vergewissern, ob Sophonisbe noch dort war. Auch bei Fluggeschwindigkeiten von wenig mehr als 150 Kilometern pro Stunde zog sich die in der Luft verbrachte Zeit beträchtlich in die Länge und ließ einem Zeit zum Denken und Fragen, ob das Zusammengehen mit Fortune wirklich eine so tolle Idee gewesen ist. Masinissa holte Syphax an jenem Tage ein, an dem Sebastian Necropoulis Scipio gemeldet hatte, daß eine Kriegsflotte von Karthago ausgelaufen war. Das einzig sinnvolle Ziel für einen karthagischen Angriff von See her waren Castra Cornelia und die römischen Belagerungslinien um Utica, das noch immer nicht kapituliert hatte. Scipio brach sofort mit einer kleinen Reiterabteilung in Richtung Utica auf und befahl seinen Fußtruppen, ihm so rasch wie möglich zu folgen. Fortune-Necropoulis bekam ein Pferd und machte sich bald darauf in Richtung Nordwesten auf den
Weg. Es war zwar ein gutes Pferd, aber dennoch kein geeigneter Ersatz für eine Zeitfähre. In seinen sechzig Jahren als Sonderagent hatte er sich an Bequemlichkeiten wie Klimaanlage und sanitäre Einrichtungen gewöhnt. Davon war bei einer Reise hoch zu Roß natürlich keine Rede. Die Tage verschwammen ineinander wie Fußspuren in einer Sanddüne. Den Dingen auf der Spur zu bleiben, war für Hannibal Fortune eine sehr ermüdende Sache. Jedesmal wenn der Torg sich auf ein wenig Ruhe freute, tauchte eine neue Aufgabe auf. Zum Beispiel der Kampf, in den sie verwickelt wurden, als sie Masinissa einholten. Als letzten verzweifelten Schachzug hatte der alte Syphax seinem Neffen wieder einen Hinterhalt gelegt, und Masinissa war blindlings mit einem Viertel seiner Reiterei hineingetappt. Sie waren nahe daran, sich der Übermacht von Syphax' Truppen zu ergeben, als Fortune und Arrik auftauchten. Das harte Training, das Fortune dem Torg auferlegt hatte, machte sich bei dieser Begegnung bezahlt. Arrik stürzte sich in das Kampfgetümmel und paßte sein Protoplasma den jeweiligen Gegebenheiten an, tauchte da und dort auf, blendete, würgte, schlug, zerschmetterte, zertrat, zerriß, während Fortune den ihm von d'Kaamp gegebenen Rat, sich wenn möglich aus dem Kampf herauszuhalten, befolgte und den Torg aus der Ferne leitete. Bevor
mehr als hundert seiner Wüstenreiter tödlich getroffen vom Pferd gestürzt waren, wurde Syphax selbst verwundet und gefangengenommen. Binnen weniger Minuten verwandelte sich der Hinterhalt in eine Niederlage, als unter den verwirrten Stammesangehörigen bekannt wurde, daß ihr Anführer gefangen war. Sie kannten nicht nur das Gelände, sondern wußten auch, wie man darin verschwinden konnte. Und da sie den Wert der Flucht erkannten, ergriffen sie sie denn auch. Als Laelius und seine leichtfüßigen Legionäre endlich auf Sichtweite herangekommen waren, war alles vorbei. Syphax war gefangen und unter doppelte Bewachung gestellt. Arrik war mit Anweisungen Fortunes vorausgeflogen, und Masinissa schwelgte im Siegestaumel. Er war ungeheuer beeindruckt von sich selbst, weil er endlich seinen verhaßten Onkel gefangengenommen hatte. »Baut einen Käfig!« rief er. »Wir stecken ihn in einen Käfig und schleppen ihn hinter uns her durchs ganze Königreich!« Syphax zuckte zusammen. Doch wäre er mit Masinissa ähnlich verfahren, hätte das Schicksal zu seinen Gunsten entschieden. Laelius war mit dem Käfig einverstanden, schlug aber vor, Syphax so schnell als möglich zu Scipio zu schaffen, damit dieser ihn im Triumph durch die
Straßen Roms führen könne. Fortune bemerkte spöttisch, daß sowohl Laelius als auch Masinissa den alten König nur mehr nach seinem Wert als Schaustück einschätzten. Beide waren befriedigt, als sie erfuhren, daß die Wunden des Alten bloß oberflächlich waren und er den Triumphzug erleben würde. Arrik spürte zusätzlich zu Sophonisbe noch eine zweite fremde Existenz in Cirta auf und stellte auf eigene Faust Nachforschungen an. Bei seiner ersten Tiefflugrunde über dem Palast des Syphax sah er den Gleiter, der innerhalb der Mauern des Haremsgartens geparkt war. Offenbar war er während der vergangenen Nacht gekommen. Fortune war noch immer mit Masinissa weit weg. Er würde den Rest des Tages und die halbe Nacht brauchen, um per Pferd hierher zu gelangen. Arrik sah, daß der Pilot des Gleiters allein war. Er überwältigte das Lebewesen und umhüllte dessen schuppenbedeckten Kopf mit Protoplasmaschlingen, die sich eng anlegten, Sicht, Geräusch- und Luftzufuhr abschnitten und jeden Widerstand sinnlos machten. Trotzdem wehrte sich der EMPIRE-Agent. Arrik hielt ihn fest, bis er merkte, daß er tot war. Sophonisbe hielt sich in einem anderen Teil des Palastes auf und merkte nicht, daß ihr Kollege außer Gefecht gesetzt war. Arrik beschloß, sie darüber im
unklaren zu lassen, und überließ es Fortune, sich mit ihr zu beschäftigen, wie er es für richtig hielt. Vorsichtig machte er sich mit dem Gleiter aus dem Staub. Die Steuerung der Sonderausfertigung eines Gleiters der Firma Intra-System hatte man ihm bei seiner Grundausbildung nicht beigebracht, doch die Techniker bei Intra-System hatten sich bemüht, auch den allerdümmsten Kunden gerecht zu werden, und hatten Sicherungen gegen jeden erdenklichen Fehler vorgesehen. Theoretisch war es unmöglich, daß auch der ungeübteste Außenweltler am Instrumentenbrett eines Intra-System-Erzeugnisses so viele Fehler machte, daß er sich oder das Gerät gefährdete. Arrik hatte Glück. Er irrte sich bloß viermal und hatte inzwischen bereits eine Höhe von zehn Kilometern erreicht. Diese Höhe gab ihm reichlich Gelegenheit, das Fliegen zu lernen. Nach einer halben Stunde war er halbwegs im Bilde und bereits völlig außer Sicht. Die 93. außerordentliche Sitzung von TERRA trat wieder zusammen, um die Empfehlungen der verschiedenen Abteilungsvorstände abzuwägen. Nach geringfügigen Einwänden wurden Luise Little, Ronel und Webley offiziell mit der Aufgabe betraut, Hannibal Fortune zu retten. Man wies sie an, mit äußerster
Vorsicht vorzugehen und sich so zu verhalten, daß der geistig labile Agent sich nicht brüskiert fühlte. Luise wurde Gelegenheit gegeben, sich den Inhalt des historischen Quellenmaterials anzueignen, das Fortune benützt hatte. Diese Mission war zwar dringlich, rief aber in der TERRA-Kontrollzentrale keine Eile hervor, weil man ja Lipnigs Quarantänezeit einhalten mußte. Hannibal Fortune wurde durch ein Aufblitzen am Spätnachmittagshimmel aufgeschreckt und sah sich um, ob Masinissa es auch bemerkt hatte. Der numidische Fürst hatte eben in eine andere Richtung gesehen. Die Knaben von EMPIRE mußten total verzweifelt sein, wenn sie sogar bei hellichtem Tag einen Gleiter zeigten. Er hatte auf den ersten Blick gesehen, was er da vor sich hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch andere seiner Gesellschaft das Ding sehen würden. Als ob der EMPIRE-Pilot seine Gedanken hätte lesen können, verschwand der Gleiter plötzlich hinter dem Horizont. Fortune wünschte sich, sein Partner möge auftauchen und die Insassen des Gleiters belauschen, doch war ja der Torg – wie er meinte – auf einem seiner üblichen Erkundungsflüge. Er hätte schon vor einer Stunde zurück sein sollen.
Es war daher für ihn eine große Erleichterung, als er das vertraute Erkennungszeichen von TERRA in Form von Perückenbaumblüten in kurzer Entfernung vor sich sah. Unauffällig änderte er die Richtung, um in Nähe des Baumes zu gelangen, und ehe Masinissa Zeit hatte, etwas Ungewöhnliches zu bemerken, war der Torg auch schon in den weiten Ärmel von Fortunes Gewand hinaufgeflossen. Vor einigen Minuten habe ich einen Gleiter gesehen, begann Fortune in Gedanken, doch der Sprechfühler des Symbioten steckte bereits in einem Ohr. »Ich habe ihn aus dem Palast in Cirta entführt«, erklärte der Torg und berichtete dann in aller Eile, was sich zugetragen hatte. Das ist zwar nicht ganz so, wie ich es geplant habe, erwiderte Fortune, aber wenn die anderen ihre Ausrüstung herumliegen lassen, dann können wir wohl nicht anders, als der Versuchung nachzugeben. Masinissa machte keinen Versuch, seine Freude zu verbergen, als Sebastian Necropoulis einige Augenblicke später über Magenkrämpfe und Übelkeit klagte. »Ich muß mich ausruhen. Ich werde Euch später einholen.« Die Abneigung des Numidiers war mit jedem Tag augenfälliger geworden. Offenbar hatte er das Gefühl, daß Necropoulis jedes Unbehagen, das ihn befallen mochte, verdiente. Fortune hatte den Eindruck, Masinissa sei heilfroh, ihn loszuwerden.
Scheinbar um dem Rest der Truppen aus dem Weg zu gehen, entfernte sich Fortune im rechten Winkel zur Marschrichtung und war bald außer Sicht. Dann machte er wieder kehrt und ritt, den Anweisungen des Torg folgend, in Richtung des Gleiters, der in einer Bodenspalte verborgen stand. Es war derselbe Gleiter, den er schon vor Syphax' Hochzeit gesehen hatte. Ein Wüstenfürst erringt und behält die Treue seiner Numidier nicht, wenn er milde ist. Er bleibt auch nicht lange am Leben, wenn er dumm ist. Sogar seine ärgsten Lästerer mußten zugeben, daß Masinissa weder das eine noch das andere war. Er war jung, energisch und wurde als hervorragender Reiter, als tapferer Krieger und fähiger Stratege angesehen. Diese Eigenschaften machten ihn in den Augen seiner Verbündeten genügend verdächtig, um ihn ständig zu beobachten, um dadurch sicherzugehen, daß sie seine Verbündeten blieben. Diese allgemeine Neigung zur Vorsicht und nicht nur das Verhalten Sebastian Necropoulis war es, das den Numidier zu der Vermutung veranlaßte, die plötzliche Übelkeit des Griechen sei nicht echt. Er folgte ihm in die Wildnis, um zu erkunden, auf welchen Verrat Necropoulis wohl sann. Der rätselhafte Grieche stand schon lange auf Masinissas Liste der beobachtungswürdigen Dinge. Viel-
leicht hatte die körperliche Ähnlichkeit der beiden etwas mit Masinissas Unbehagen zu tun: bis auf die Hautfarbe und ein paar geringfügige Einzelheiten des Gesichts hätten die beiden Brüder sein können, so groß war ihre Ähnlichkeit. Masinissa war sich physischer Einzelheiten vielleicht mehr bewußt als jeder andere. Er war stolz auf seinen Körper, den in Form zu halten er keine Mühe scheute. Er bewunderte natürlich jeden Körper, der ihn an seinen eigenen erinnerte. Obwohl er nicht sicher war, was er eigentlich erwartete, war er entschieden nicht auf den Anblick des merkwürdigen, schimmernden Gebildes vorbereitet, auf das der Grieche ohne merkliches Zögern zuging. Masinissa schüttelte den Kopf. Er hielt das Ding zunächst für ein Trugbild, doch es wurde nicht schwächer oder löste sich in Nichts auf, als er es aus einem anderen Blickwinkel betrachtete. Etwas Ähnliches hatte er noch nie gesehen. Fasziniert ritt er näher heran. Knapp vor dem glatten, schüsselförmigen Ding zügelte der Grieche sein Pferd. Masinissa war es zunächst nicht aufgefallen, daß etwas, das auf den ersten Blick wie ein Hund aussah, von Necropoulis auf das Ding übersprang. Nur haben Hunde keine langen affenartigen Arme oder die Fähigkeit, glatte, senkrechte Wände hinaufzuklettern. Der Nicht-Hund verschwand im Inneren des Dinges.
Hätte Masinissa in diesem Moment Kif geraucht, so hätte ihn das Gesehene nicht weiter erstaunt. Doch das war nicht der Fall. Ein rascher Blick in alle Richtungen bestätigten den normalen Zustand der Umgebung, bis auf das, was sich in der Bodenspalte zutrug. Ein Teil der großen Schüssel klappte langsam herunter und bildete einen großen Eingang. Der Nicht-Hund war im Innern verschwunden. Jetzt kam ein Nicht-Vogel heraus. Er flog zu Necropoulis, der noch immer hoch zu Roß war, und landete auf der Schulter des Griechen. Dann flog er senkrecht in die Höhe. Masinissa beobachtete ihn einen Augenblick und wandte dann wieder den Blick zur Bodenspalte. Der Grieche hatte sich umgedreht und schien ihn anzusehen. Da ertönte direkt über ihm ein lautes Geräusch, und bevor Masinissa reagieren konnte, war er in einem Netz gefangen, das ihn wie ein lebendes Wesen umgab. Als Reaktion auf den Kampf bäumte sich das Pferd des Numidiers verzweifelt auf, doch Masinissa konnte sich im Sattel halten. Das Pferd beruhigte sich. Als es zum Stehen kam, war der Kokon so dicht geworden, daß Masinissa nichts sehen und kaum atmen konnte. Er verspürte einen Stich in den Arm. Die Müdigkeit kam rasch und wurde vom Schlaf abgelöst.
15 Fortune brachte Masinissas Reittier vor den reichgeschmückten Palasttoren zum Stehen und sprang in gekonnt numidischer Manier vom Pferd. In seinem linken Ohr ertönte das Kichern eines Torgs. »Die sogenannte Sophonisbe erwartet dich drinnen.« Fortune grinste. Er hatte den Gleiter, mit Masinissa und einem toten EMPIRE-Lakai an Bord, knapp zwei Kilometer weit entfernt geparkt und sich der Stadt langsam genähert, um den Palastspähern ausreichend Zeit zu lassen, sein arrogantes Näherkommen zu melden. Er hatte sich Masinissas Kleidung und das Pferd angeeignet und Masinissas Gesicht gestohlen. Arrik hatte eine dünne Schicht seiner selbst auf Fortunes Körper und Gesicht so drapiert, daß damit das dunkle Gesicht des Wüstenprinzen, sein muskulöser Nacken und gewölbter Bizeps täuschend ähnlich nachgeahmt wurden. Er konnte sicher sein, daß die Späher ihn für Masinissa halten würden. Die Ähnlichkeit war fast perfekt. Um sie vollkommen zu machen, mußte er auch Masinissas Stimme, Wortschatz und Benehmen imitieren. Daher nahm er eine kraftstrotzende stolze Pose ein und ließ die Brustmuskeln spielen, um die zitternden Stadtbewohner zu beeindrucken, welche die Tore aus der Sicherheit ihrer
Hauseingänge im Auge behielten. Er sagte in Gedanken: Auf diesem Planeten gilt es als Unhöflichkeit, wenn man eine Dame warten läßt. Hat sie Verdacht geschöpft? Wie könnte sie? Sie hat Masinissa ja nie gesehen. Ein Diener erschien und geleitete den Sieger mit viel zeremoniellem Klimbim hinein. Sie kamen in einen reichausgestatteten Saal mit Hängelampen, Räucherpfannen, in denen Räucherwerk schwelte, Tapisserien an den Wänden und einem Durcheinander von Kissen, die überall zu liegen schienen. Durch eine Bogentür, die mit erlesenen Brokaten verhängt war, trat Sophonisbe. Sie trug ein Gewand, das ganz den Eindruck erweckte, die Braut des alten Königs betrachte die Pubertät als Krönung ihres Lebens. »Tantchen«, stieß Fortune bewundernd hervor. Sie sah ihn scharf an. Fortune lachte. »Wundert mich gar nicht, daß du mich nicht erkennst, Tante Sophie«, fuhr er auf numidisch fort. »Es ist lange her, seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben. Du bist etwas stärker geworden. Aber Onkel Sy hatte ja immer schon eine Schwäche für Mollige.« »Du mußt Masinissa sein«, sagte sie. »Dein dich liebender Neffe.« Seine Augen nahmen eine freche Bestandaufnahme vor. »Tantchen, ich habe einen langen, harten Ritt hinter mir. Warum lagern
wir uns nicht irgendwo hin und machen uns näher bekannt?« »Wenn du es wünschst«, sagte sie leise. »Darf ich mich nach meinem Gatten erkundigen?« Fortune nahm seinen Mantel ab und warf ihn in eine Ecke. »Störrischer alter Sohn eines Kameltreibers! Er wird dich nicht wieder behelligen.« »Du hast ihn getötet?« »Ich habe ihn in die Kur genommen, aber er wird's überleben. Wir haben ihn an meinen Freund Scipio geschickt. Der weiß sicher etwas mit ihm anzufangen.« Während der nun eintretenden Stille sahen die beiden einander an. Dann sagte Sophonisbe: »Was für Pläne hast du mit mir?« Hannibal Fortune zuckte beredt die Achseln: »Vielleicht überlasse ich das dir, Tantchen? Hast du geeignete Vorschläge?« Mit schüchternem Lächeln, wie es sich für die blutjunge Braut eines greisen Wüstenkönigs ziemt, kam sie näher und murmelte: »Wir könnten deinem Vorschlag folgen und uns – hm, näher bekanntmachen. Sicherlich wird uns etwas einfallen.« Sie wandte sich um und befahl den Dienern, sie allein zu lassen. Es war ein Vergnügen, sie zu beobachten – mit welcher Leichtigkeit sie sich der geänderten Lage anpaßte. Fortune war versucht, sie in dem Glauben zu
lassen, er sei der heißblütige Neffe des Königs Syphax. Es wäre für eine Weile vielleicht sogar amüsant, obwohl sie als EMPIRE-Agentin seine geschworene Feindin war. Wenn er seine Zeitfähre und die damit verbundene Bewegungsfreiheit gehabt hätte, hätte er sich die Zeit nehmen können, mit ihr ausgiebiger zu spielen, doch ohne sein Gefährt blieb für solche Eskapaden kein Raum. Der Gedanke daran, daß eine Verlängerung der Maskerade eine unfaire Ausnützung der Situation bedeutete, hatte nichts damit zu tun. Vielmehr störte ihn langsam die Maske aus lebendem Protoplasma. Arrik empfing Fortunes Anweisungen in Gedanken und gehorchte sofort. Er lief glatt vom Gesicht seines Partners ab. »Falls uns nichts einfallen sollte, wird Gregor Malik sicher eine Idee haben«, sagte der Agent von TERRA. Sophonisbe starrte ihn entsetzt an. »Wer sind Sie?« fragte sie. »Hannibal Fortune. Und Sie?« »Wenn er noch als Beobachter tätig wäre wie Sie, hätte er Cerebralsensoren im Kopf«, erklärte Tausig, »und Sie könnten ihn ohne Schwierigkeiten orten. Doch ein Sonderagent kann keine Einrichtungen brauchen, die auch die Instrumente von EMPIRE orten würden. Also hat man die Sensoren vor Jahren entfernt.«
»Wie praktisch«, sagte Luise. »In Karthago leben schließlich bloß eine Viertelmillion Menschen.« Tausig lächelte gütig. »Das ist einer der Gründe, warum Sie Webley mitnehmen. Mit Webley und Ronel sollte man ihn telepathisch orten können. Viel Glück!« Jene, die sich Sophonisbe nannte, war ebenso weit weg in der Galaxis geboren worden, wie Hannibal Fortune, und hatte ihre ruchlose Laufbahn im zartesten Alter begonnen. Es handelte sich hier um ihren ersten Einsatz als EMPIRE-Agentin. Sie war nicht sonderlich glücklich darüber, doch hatte sie so viel Verstand, der Gefangennahme keinen Widerstand entgegenzusetzen. Wie Fortune vermutet hatte, war sie nicht einmal bewaffnet. Arrik durchforschte das Gebiet mit einer telepathischen Sonde und konnte keine unmittelbare Bedrohung entdecken, außer ein paar Hofdamen im Wüstenstil, die Sophonisbe nur deswegen treu ergeben waren, weil sie glaubten, es würde von ihnen so erwartet. Da man den echten Masinissa später brauchen würde – vorausgesetzt, die Wiederherstellung der Zeitlinie verlief erfolgreich –, mußte man ihn irgendwo verstauen, wo er nicht im Wege war. Und den to-
ten Gleiter-Piloten mußte man loswerden, bevor er zu stinken anfing. »Komm«, sagte Fortune, »wir unternehmen einen Ausritt.« »Was Sie wollen«, sagte Sophonisbe kläglich. Als Vorsichtsmaßnahme band ihr Fortune die Hände hinter dem Rücken zusammen. Im Schutz der Dunkelheit flogen sie von Cirta aus nach Norden. Über dem Meer stieß Fortune den toten Piloten über Bord, wendete dann das gestohlene Raumschiff auf einen Ostkurs, der sie vierzig Meilen nördlich von Karthago führen würde. Sophonisbe sah ihm zu, sagte aber kein Wort. Der bewußtlose Masinissa schlief die ganze Zeit über friedlich. Sein Atem ging tief und regelmäßig. Sie näherten sich von See her, schnell, niedrig und ohne Lichter. Zu den Sitten, die die Karthager mit anderen semitischen Völkern teilten, gehörte auch ein komplexes System von Tabus, die Toten betreffend. Sie hatten viele Überlegungen und Mühen aufgewandt, um würdige Begräbnisstätten zu schaffen, wo Adelige und vielleicht einige hervorragende Bürger eine angemessene Ruhestätte finden sollten. In die nordseitigen Sandsteinwände zwischen Meer und Stadt waren Hunderte von Gängen gegraben, die zu zahllosen unterirdischen Räumen führten, zu Gewölben und Kammern, die Sar-
kophage enthielten, angefangen von schlichten Steinkisten bis zu reichverzierten juwelengeschmückten Särgen. In einen dieser Särge legte Fortune den schlafenden Prinzen, nachdem er die Gebeine des dort liegenden rechtmäßigen Eigentümers herausgenommen hatte. Sorgfältig befestigte er ein automatisches SprühHypnosemittel an Masinissas Arm und stellte es so ein, daß es zwanzig Tage lang täglich für Betäubung sorgte. »Bis dahin ist er verhungert«, protestierte Sophonisbe. »Er wird vielleicht ein paar Pfund verlieren, aber verhungern wird er nicht. Das Zeug verlangsamt sämtliche Lebensvorgänge.« »Werden Sie mit mir auch etwas Ähnliches machen?« »Ich bin noch nicht sicher, was ich mit Ihnen machen will.« Sie sah ihn nachdenklich an. »Lebendig kann ich Ihnen vielleicht mehr nützen als tot. Besonders wenn Sie mir die Fesseln abnehmen.« »Darüber werden wir uns unterhalten, wenn wir wieder im Palast sind.« In der TERRA-Kontrollzentrale war die Erforschung von Hannibal Fortunes möglichen Neurosen, wie sie stellvertretend an Wi'in festgestellt wurden, nach Meinung Alelis' so gründlich wie nur möglich erfolgt.
»Was aber, wenn er an eine andere Frau gerät?« fragte Luise. »Hundertsiebzig Tage sind für einen Mann wie ihn zum Alleinsein zulange.« »Eine andere Frau?« Der Chefpsychologe lachte. »Unmöglich! Im Moment sind Frauen für ihn kaum Menschen. Er sieht in ihnen etwas, das man benutzt und wegwirft. Er wird vielleicht versuchen, ihnen wehzutun, und dabei Sie symbolisch strafen.« Luise schüttelte den Kopf. »Dieser Hannibal Fortune gefällt mir gar nicht.« »Gefallen? Was soll das heißen? Wir brauchen ihn.« Die Truppen Masinissas, die während der Nacht Cirta erreicht und gehört hatten, daß ihr Führer bereits die Frau des Syphax gefangen hätte, amüsierten sich auf ihre Weise, indem sie die Wüstenstadt plünderten. Der einige Stunden später eintreffende Laelius war nicht so leicht zu befriedigen. Fortune und das Mädchen waren kaum zurück, als der Römer einlaßbegehrend an die Tore pochte. Eilig goß Arrik sich über Fortunes Gesicht, als die Palastwache öffnete. Laelius, der ein ziemlich sittenstrenger Römer war, kam sofort zu einem Schluß. »Masinissa, Ihr habt Euer Vergnügen gehabt«, sagte er. »Jetzt überlaßt die Frau mir.« »Sucht Euch doch selbst ein Mädchen«, antwortete der falsche Numidier.
»Als ehemalige Feindin Roms ist sie die Gefangene Roms.« »Damit bin ich nicht einverstanden. Ich habe Ansprüche an sie als meine Braut.« »Ihr könnt diese Frau nicht heiraten!« »Ich fürchte, das habe ich bereits getan. Sophie und ich sind seit Jahren heimlich verlobt.« »Ihr habt kein Recht, sie zu heiraten.« »Alter Freund, Ihr scheint ja schrecklich aufgebracht. Keine Angst! Im Palast sind noch zwei oder drei andere Mädchen. Trefft Eure Wahl.« »Scipio«, setzte der Römer hastig an. »Sucht ihm auch eine aus«, bot Fortune großzügig an. »Welche Vorlieben hat er?« »Meine Herren«, sagte Sophonisbe, »wenn Ihr weiter streiten wollt, gehe ich wieder ins Bett. Um diese Zeit ist nur das niedere Volk wach.« »Gute Idee, Sophie«, meinte Fortune. »Wir werden uns mit Laelius später unterhalten. Er hat einen langen, beschwerlichen Ritt hinter sich – glaubst du, wir könnten ihn im Gästezimmer unterbringen?« Fortune hatte gemerkt, daß Laelius zur Plage werden konnte. Der Römer war geradeheraus, treu, schwerfällig, phantasielos und hielt sich strikt an Vorschriften. Jene Art Mensch, der zum Verrat nicht imstande ist, weil er nicht fähig wäre, ihn durchzuführen. Jene Sorte Offizier, der seinen Leuten mit gu-
tem Beispiel vorangeht. Nach langem Hin und Her am nächsten Tag war Fortune einverstanden, Sophonisbe zurück nach Castra Cornelia zu bringen, wo Scipio entscheiden sollte, was mit ihr zu geschehen hatte. Es war ein Kompromiß, den der echte Masinissa auch gemacht hätte, das spürte Fortune. Während die Vorbereitungen für die Rettungsaktion Fortschritte machten, wußte Webley nicht recht, wohin mit sich. Ohne Partner im üblichen Sinn war sein Anteil an den Vorgängen notwendigerweise beschränkt. Die Antwort darauf – vervielfachte Symbiose – war schon oft erprobt worden und hatte sich immer als Fehlschlag erwiesen. Die wenigsten menschlichen Persönlichkeiten waren genügend stark, um zu gleicher Zeit mehr als eine symbiotische Verbindung zu unterhalten – und die Mehrzahl der Torg war nicht imstande, miteinander anders als unter höchst formellen und von komplizierten Ritualen begleiteten Umständen zusammenzuarbeiten. Für den typischen Torg ist Gleichberechtigung eine umstürzlerische Idee. Einem Torg fällt es leichter, den Angehörigen einer fremden Gattung als Überlegenen zu akzeptieren, als einen Bruder-Torg als Gleichberechtigten. Zwei Torgs in Symbiose mit demselben menschlichen Partner glichen zu stark den Händen des Menschen. Sie waren viel zu ähnlich, um eine Hilfe zu sein.
Webley jedoch war der Meinung, daß sie drei es schaffen würden. Luise hatte ihre Zweifel. Ronel war überraschenderweise einverstanden. Zuletzt einigten sie sich auf einen Kompromiß. Ronel wurde in die Mitte gestellt. Das war zwar ungewöhnlich, aber es klappte. Webley hoffte inständig, es würde ausreichend klappen. Arrik bemerkte, daß zwei menschliche Wesen, die sechs Tage und Nächte zusammen zu Pferd verbringen, einander recht gut kennenlernen. Wenn beide jedoch zufällig Berufsspione sind, läuft das Spiel wieder anders. Jeder setzt dem anderen Riesenportionen falscher Informationen vor, bis beide merken, daß sie angelogen werden. Dann wird ihnen klar, daß es wirklich nur ein Spiel ist. Laelius ließ jede Nacht einen Ring von Wachtposten um das Zelt der Neuvermählten Stellung beziehen, um Störenfriede abzuhalten. Es war derselbe Ring von Wachen, den er aufgestellt hätte, wenn er die beiden hätte an der Flucht hindern wollen. Die Wachen erfüllten denselben Zweck. »Das Hochzeitsritual der Erdenmenschen ist ein amüsanter Brauch, doch bin ich von seiner Nützlichkeit nicht überzeugt«, sagte Sophonisbe einmal. »Um Syphax in die Gewalt zu bekommen, hat es Ihnen genützt.« Sophonisbe lächelte. »Und Sie halten mir damit
Laelius vom Leibe, wenn Sie nicht auf der Heirat bestanden hätten, als er auftauchte –« »– hätte er Sie in Ketten vor Scipio gebracht«, beendete Fortune den Satz an ihrer Stelle. »Sie haben also keinen Grund zur Klage.« Sophonisbe lehnte sich an einen Kissenberg. »Das mindeste, was Sie tun könnten, ist, wie ein Ehemann zu handeln.« Nicht aus Prüderie, sondern aus Platzmangel erklären wir diskret, daß Fortunes Reaktion auf diese Herausforderung für den Ausgang unserer Geschichte unwesentlich ist. Höchstens daß es eine ganz andere Beziehung war, als er sie je mit der weiblichen Abart der Gattung Mensch, egal von welchem Planeten, gehabt hätte und daß sie sich als recht amüsant erwies. Wie das Leben selbst, war es eine Ablenkung auf dem Weg nach Castra Cornelia und füllte so sechs Tage aus. Die Beziehung heilte ihn nicht von seinen Wahnvorstellungen und brachte seine Mission nicht in Gefahr. Andererseits war sie auch nicht so geartet, daß sie nachteilige Auswirkungen gezeitigt hätte, weil sie weder für Sophonisbe noch für Hannibal Fortune besonders wichtig war. Der einzige, der die Beziehung für außergewöhnlich hielt, war Arrik, aber auch nur deswegen, weil er bei Vango dergleichen nie kennengelernt hatte. Es war nicht einmal besonders amüsant.
Als sie Castra Cornelia erreicht hatten, führte Scipio sie zu dem Mann im Käfig. Für den echten Masinissa wäre es ein süßer Moment gewesen. Aus diesem Grund stolzierte Fortune prahlerisch auf und ab, lächelte spöttisch über den alten Mann und zog Sophonisbe an sich. »Diese da trägt an allem die Schuld«, donnerte Syphax und zeigte mit einem zitternden Finger durch die Stäbe. »Sie hat mich getäuscht. Sie hat mich in schwere Irrtümer gestürzt. Sie hat mich meinen Freunden gegenüber blind gemacht und veranlaßt, daß ich mich von Rom abgewandt habe. Sie ist ein Fluch. Sie wird Masinissas Untergang sein, wie sie mein Untergang war!« Je nach ihrer politischen Einstellung und ihren Vorurteilen sollten Historiker noch Jahrhunderte später über diese Erklärung streiten. Einige behaupten, daß der alte König das alles gar nicht gesagt hätte, andere lassen den Wortlaut gelten, während sie die Gründe des Syphax für diese Bemerkung diskutieren. Einige spotten über die Vorstellung, daß ein betagter Wüstenkrieger sich so weit erniedrigte und einer Frau die Schuld an seinem Unglück gab. Einige behaupten sogar, daß Livius seine Phantasie beim Schreiben durchgegangen sei. Tatsächlich war der Grund für diese Äußerung ein sehr menschlicher, irdisch-männlicher: Syphax war eifersüchtig, gekränkt und wütend, als er sah, daß ein
Jüngerer seinen Platz eingenommen hatte. Indem er sich in einem Wutanfall erging, suchte er das Objekt seiner vormals enthusiastischen Aufmerksamkeit herunterzusetzen. Scipio jedoch nahm ihn ernst. Deswegen fand sich Hannibal Fortune, der symbiokosmetisch als Masinissa verkleidet war, inmitten eines sehr ernsten Gespräches mit dem römischen Befehlshaber. Es war jene Art Gespräch, die jede Generation mit der folgenden führt, um ihr den Unsinn, den sie für ewige Wahrheit hält, weiterzugeben. Scipio hätte mit Leichtigkeit hochtrabend sein können. Statt dessen entschied er sich für ein vertrauliches brüderliches Gehabe, das Fortune an einen Gebrauchtgleiterhändler vom Planeten Rhetagglius erinnerte. »Masinissa, ich nehme an, Ihr habt Euch in Spanien an mich gehalten, weil Ihr in mir gute Eigenschaften gesehen habt und mit mir Freundschaft schließen wolltet«, sagte der Römer. »Später in Afrika habt Ihr Euch und alle Eure Hoffnungen unter meinen Schutz gestellt.« Während der dramatischen Pause nickte Fortune, unterbrach Scipio jedoch nicht. »Von all diesen Tugenden macht mich keine Eurer Beachtung so würdig wie Mäßigung und Beherrschung der Leidenschaften«, fuhr Scipio fort. »Ihr wollt also, daß ich sie loswerde«, sagte Fortune-Masinissa.
»Ich kann Euch nicht zwingen, von ihr zu lassen«, sagte der Römer geschmeidig. »Das bleibt Eurem Ermessen überlassen.« Der falsche Numidier starrte ihn wütend an. Offenbar erfreute ihn die Aussicht gar nicht, daß man ihm seine Trophäe abspenstig machen wollte. »Wenn Ihr einmal König über das Massyle-Land seid ...« Scipio ließ diese Vorstellung wie eine Karotte vor ihm baumeln. Das war ein Trostpreis, der dem echten Masinissa behagt hätte. Mehr noch, er sollte einen römischen Sieg über Hannibal Einauge sichern helfen. »Wann?« fragte er scharf. »König Masinissa«, sagte der Römer langsam und kostete jedes Wort aus. »Wie bald?« beharrte Fortune. »Sophonisbe?« konterte Scipio. »Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen.« Scipio lächelte väterlich. »Morgen erwarte ich eine Antwort. Bis dahin amüsiert Euch.« Damit war die Unterhaltung ganz klar beendet. Fortune war heilfroh, als er wieder in der Abgeschiedenheit des numidischen Fürstenzeltes saß, wo er seine Protoplasmamaske ablegen konnte. Arrik ließ sich Beine und einen Kopf wachsen und kauerte sich auf das Ende eines Klappbettes, während Fortune das Kostüm des Necropoulis anlegte. Sorgfältig suchte er
aus dem gestohlenen Werkzeugkasten heraus, was er brauchte. Im Moment hatte er getan, was er tun konnte. Er hatte Scipios Krieg die historisch richtige Richtung gewiesen. Es war an der Zeit, daß er sich seinem eigenen Krieg gegen Gregor Malik widmete. Mit Syphax hatte Scipio eine Trophäe, die er dem Volk in Rom vorweisen konnte. Hannibal Fortune sah daher keinen Grund, warum auch er nicht ein Souvenir in die TERRA-Kontrollzentrale mitbringen sollte. Sophonisbe würde sich sehr nett ausnehmen. Als Sebastian Necropoulis begab er sich zu dem zweihundert Meter entfernten schwerbewachten Wohnzelt, das sie mit ihrem »Gatten« bewohnte. »Ich habe eine Botschaft für die Frau – von Masinissa«, sagte er zu den Wachen. Sie ließen ihn ein. »Ich bin neugierig«, meinte Fortune zu ihr. »Was hast du mit ihm gemacht?« »Was meinst du?« »Syphax. Er war doch früher ein gewitzigter Kämpfer. Vor einigen Jahren war er Feuer und Flamme, mit den Römern gemeinsame Sache zu machen.« Sophonisbe lachte. »Die Männer auf diesem Planeten sind herrlich einfach zu lenken – wenn man weiß, wo man sie packen muß.«
»Nach irdischem Maßstab ist Syphax ein alter Mann.« Sie hob die Brauen. »Er unterscheidet sich nicht von Männern anderer Jahrgänge. Alle mögen es, wenn man ihnen sagt, was für großartige Liebhaber sie sind.« »Jetzt habe ich keine Zeit mehr für dich«, sagte Fortune. »Nimm das da.« Sophonisbe sah die Kapsel in seiner Hand neugierig an. »Willst du mich vergiften?« »Ich werde dich abschalten, deinen Stoffwechsel herabsetzen und Tod simulieren.« »Wie beim echten Masinissa?« Er nickte. »Und du wirst mich später wieder einschalten?« »Das wird früher oder später jemand anders tun«, versprach er. »Na schön. Gib mir die Pille.« Sophonisbe schluckte die Quasi-Todespille, lagerte sich anmutig auf ein paar Kissen und war nach wenigen Minuten eine überzeugende Leiche. Hannibal Fortune sah sie an und seufzte, dann ging er aus dem Zelt. »Ding-dong«, sagte er leutselig zu den zwei Legionären, die vor dem Eingang Wache schoben, »die Hexe ist tot.« Als Sebastian Necropoulis eilte er zum numidischen Kommandozelt, wo Arrik sich eilig über sein Gesicht ergoß. Als Masinissa lief er zurück zum
Zelt seiner gefangenen Braut und war von der Todesnachricht gebührend erschüttert. Nach knapp einer Stunde erklärte er Scipio, was geschehen war: »Ich hatte ihr mein Wort gegeben, daß ich sie niemals lebend in die Hände der Römer fallen lassen würde, was immer auch geschehen würde. Ich habe ihr Gift schicken lassen – Necropoulis hat es ihr überbracht. Sie hat noch einen Brief diktiert, bevor sie das Gift getrunken hat.« Er zog eine zerknüllte Nachricht aus seinem Gürtel, glättete sie sorgfältig und las dann mit vor Rührung fast erstickter Stimme vor: »Ich nehme diese Morgengabe an. Sie ist mir nicht unwillkommen, wenn mein Gatte mir keinen anderen Dienst erweisen kann. Meldet ihm, daß ich glücklich gestorben wäre, hätte ich nicht so kurz vor meinem Tod die Ehe geschlossen.« Unterschrieben Sophonisbe. Scipio zeigte Verständnis und legte auch keinen Protest ein, als der falsche Masinissa darauf bestand, daß die sterbliche Hülle seiner Braut nicht verbrannt wurde, wie es sonst bei den Römern üblich war. »Es ist weder in Karthago noch in meinem Land Sitte, die Toten zu verbrennen. Das, mein Freund Scipio, ist römische Sitte. Ich war Euer Verbündeter, weil ich Euch gebraucht habe. Ich gebe zu, daß die Römer den Afrikanern in vielen Dingen überlegen sind, nicht aber im Respekt für die Toten.«
»Und was soll mit ihr geschehen?« »Sie stammt aus Karthago, wo es Sitte ist, die Toten zu begraben, wie bei allen Semiten. Also ist es nur recht und billig, daß sie in den Katakomben beigesetzt wird.« »Katakomben?« »Nördlich von Karthago. Ich kenne den Ort. Ich werde selbst für die Beerdigung sorgen und morgen zurückkehren.« »Ihr wollt also die Landmauer überqueren, nur um einem Bestattungsbrauch nachzukommen?« rief Scipio aus. »Man wird Euch töten!« Fortune schüttelte den Kopf. »Wir Afrikaner sind nicht wie die Römer. Unsere Achtung vor den Toten schließt die Trauernden mit ein. Niemand wird einen trauernden Gatten hindern, der seine tote Frau zu den Begräbnisstätten ihrer Familie bringt. Vielleicht wäre es ganz nützlich, wenn Ihr Euch auch mit unseren Sitten vertraut machtet, wie Ihr es bei den Griechen getan habt.« Scipio kniff die Augen zusammen. »Eines merkt Euch, Masinissa: ich bin imstande, jedes Land der Welt zu zerstören und trotzdem einen allen gemeinsamen Glauben zu ehren.« »Welchen?« »Die Ansicht, daß man gegen Ausländer unduldsam sein soll.«
Als Masinissa wandte Fortune sich wortlos ab, wie es sogar ein Wüstenfürst tun sollte, wenn er von einem Scipio im Wortgefecht geschlagen wird. Dann gab er Anweisungen. »Wickelt den Körper in feuchte Tücher und bindet ihn auf ein Pferd. Wir werden den größeren Teil des Tages in der Sonnenhitze reiten.« Die Legionäre erwarteten von Scipio Bestätigung der Befehle Masinissas. »Tut was er sagt«, sagte der Römer.
16 Der Zugang zu den Katakomben erwies sich hoch zu Roß schwieriger als vor einer Woche mit dem Gleiter. Obwohl Fortune bei Anbruch der Dämmerung aufgebrochen war, erreichte er erst am Spätnachmittag die Steingewölbe, in denen er Masinissa verstaut hatte. »Ein Haufen Arbeit, um eine romantische Legende zu inszenieren«, klagte Fortune, als er Sophonisbe auswickelte und sie hineinschleppte. »Und ich dachte, du tust das alles, damit TERRA eine gefangene feindliche Agentin verhören kann«, gab der Torg zurück. »Auch das«, stimmte Fortune zu. »Wenn wir diesen Einsatz geschafft haben, wird Tausig jemanden herschicken und sie holen lassen. Wenn wir es nicht schaffen, wird es keine Rolle mehr spielen.« Nachdem er den Hypo-Spray entfernt hatte, hob er Masinissa aus dem Sarg, und lehnte ihn an die Höhlenwand neben die »tote« Sophonisbe. »Jedenfalls werde ich damit den Historikern einen perfekten Zankapfel liefern.« Er sah auf das Mädchen nieder. »Einige werden sie schlecht nennen, andere werden sagen, daß sie edel war – beides aus irrigen Gründen. Hilf mir bitte beim Hineinheben.« Als Sophonisbe samt dem angeschlossenen Appa-
rat gut verstaut war, schickte Fortune Arrik nach Cirta, um den Gleiter zu holen, den sie im Garten des ExKönigs gelassen hatten. Nach wenigen Augenblicken war der Torg am mondhellen Himmel verschwunden. Den bewußtlosen Numidier lebendig zu machen, war eine kitzlige Angelegenheit, die Fortune länger als eine Stunde in Anspruch nahm. Dabei mußte er eine Anzahl von Hypo-Sprays und einen Monitor zur Überwachung der Lebensprozesse anwenden. Masinissa, der wieder die eigene Kleidung trug, erwachte und sah Sebastian Necropoulis über sich gebeugt. »Eure Kraft wird in einer Weile wiederkehren«, versicherte ihm der Grieche. »Jetzt ruht Euch aus und hört zu: Ihr habt keine andere Wahl.« Mit finsterem Blick versuchte Masinissa sich aufzusetzen, wurde aber sofort von Wellen der Benommenheit überflutet. »Ihr wart fast zehn Tage bewußtlos«, sagte Necropoulis. »Ihr und ich, wir sind die einzigen, die davon wissen, weil ich in der Zwischenzeit Eure Rolle gespielt habe. Ich habe für Euch sehr viel erreicht, König Masinissa, also schweigt und hört zu.« In kurzen, prägnanten Sätzen erzählte der Grieche alles, was Masinissa über die vergangenen zehn Tagen wissen mußte – die Heirat mit Sophonisbe, der Streit mit Laelius, die Anschuldigung des Syphax, das Ge-
spräch von Mann zu Mann mit Scipio, Sophonisbes Selbstmord und der Ritt zu den Katakomben, um sie hier zu bestatten. »Nach Eurer Rückkehr nach Castra Cornelia wird man Euch zum König von Massyleland ausrufen. Ich schlage vor, Ihr werdet über das, was ich Euch gesagt habe, nichts Gegenteiliges erwähnen.« Masinissa grinste ganz unerwartet. »Es würde mir ohnehin niemand glauben.« »Sehr scharfsinnig, mein König. Keine Angst. Ich bin ebenso begierig, Karthago zerstört zu sehen, wie Ihr.« Masinissa nickte. »Sonst hättest du mich sofort getötet. Hast du daran gedacht, mir etwas Eßbares mitzubringen?« Fortune plünderte die mitgeführten Vorräte. Während sie zusammen im Mondlicht speisten, zwar nicht als Freunde, aber doch von viel weniger gegenseitiger Abneigung erfüllt, als man hätte erwarten können, beantwortete Fortune Masinissas Fragen und lieferte ihm die nötigen Details. Er bedauerte, daß der Torg nicht dabei war. Er hätte überwachen können, was im Kopf Masinissas vor sich ging. Schließlich bestieg der Numidier sein Pferd für den langen Rückweg nach Castra Cornelia. »Necropoulis, kommst du nicht mit?« fragte er erstaunt, als der andere keine Anstalten machte, in den Sattel zu steigen.
Fortune schüttelte den Kopf. »Ihr nehmt beide Pferde. Ich habe ein anderes Fortbewegungsmittel.« Statt direkt nach Cirta zu fliegen, wie Fortune ihn angewiesen hatte, bog Arrik in einem großen Bogen ab, der ihn zurück nach Karthago und über das Haus führte, in dem er mit Vango sechzehn Jahre lang gelebt hatte. Er hatte seinen ehemaligen Partner seit Monaten nicht mehr gesehen. Rückblickend spürte er bei dem Gedanken an jene Jahre leise Wehmut. Das Tempo war gemächlicher gewesen, sogar langweilig, aber viel leichter als die ständige Aktivität, die er sich als Hannibal Fortunes Partner eingetauscht hatte. Das Beste an der Verbindung mit Vango war vielleicht der Umstand gewesen, daß man ihm nicht viel abverlangt hatte. Als er dem Haus immer näherkam, spürte Arrik so etwas wie Heimweh. Er streckte eine Sonde aus, die auf Vangos Alpha-Schwingungen eingestellt war. Offenbar war er nicht zu Hause. Auch gut, dachte sich Arrik. Und dann war er plötzlich doch da. Die ausgebrannten Mauern des Hauses berichteten die Geschichte eines überraschenden Überfalls, großer Hitze, einer Verwüstung, so gründlich, daß sie nicht zufällig sein konnte. Zentimeterdick war die Aschenschicht, in der Fußspuren von der Anwesenheit von Plünderern nach dem Brand kündeten. Arrik
suchte nach Anzeichen, daß Vango überlebt hatte. Er fand einen Teil von Vangos Schädel. Lange nach Mitternacht kam der Gleiter auf einem nahegelegenen Hügel zum Stehen. Verärgert wartete Fortune, bis die Einstiegrampe ausgefahren war. Auf der Rampe saß der Torg, der diesmal die Gestalt eines kleinen Hundes angenommen hatte. »Bin ich froh, daß du endlich da bist«, sagte Fortune unwirsch. »Ich dachte schon, ich wäre auf dem Friedhof angenagelt.« »Vango ist tot«, sagte der Symbiot leise. »Dachte ich mir's doch, daß du irgendwo in ein Schlamassel geraten bist. Es ist sonst nicht deine Art, mich so hängenzulassen.« »Ich bin nicht Webley.« »Sag, was du willst, aber jetzt nichts wie weg.« »Nein. Warte und hör zu. Vangos Haus ist zerstört. Unsere Bandaufnahmen und die Ausrüstung, alles. Vango ist tot. Daran trifft mich so viel Schuld, als hätte ich ihn eigenhändig getötet. Erzähl mir keinen Unsinn. Es stimmt. Malik hat dich für tot gehalten. Malik war der Meinung, Vango hätte den Gleiter gestohlen. Dafür brauche ich keinen Beweis. Ich weiß, daß es stimmt. Ich habe Vango schutzlos und allein zurückgelassen. Wäre ich geblieben, wo ich hingehöre, wäre das alles nicht passiert. Deswegen habe ich Schuld an seinem Tod. Un-
terbrich mich nicht. Ich habe ihn getötet, weil ich nicht da war und ihn warnen konnte. Ich habe geglaubt, die Arbeit mit dir wäre aufregender, aber ich bin nicht Webley. Ich schaffe es nicht mehr. Malik dachte, Vango hätte den Gleiter gestohlen und hat aus Rache das Haus zerstört. So muß es gewesen sein. Vango war ein sanfter Mensch, der niemals jemandem etwas zuleide getan hat. Ich habe ebenso Schuld wie Malik. Denk nicht an mich. Ich höre nicht zu. Ich sage nur, wie es ist und warum ich nicht mehr weiter kann. Mit dir jedenfalls nicht. Mit niemandem. Es tut mir leid, ich kann meine Meinung nicht ändern. Ich habe dir den Gleiter gebracht. Ich hoffe, du wirst den Auftrag erfolgreich beenden. Nein, du brauchst mich nicht mehr, Hannibal Fortune. Vango hätte mich gebraucht, und ihn habe ich im Stich gelassen. Die Arbeit mit dir war – lehrreich, aber mein Platz ist bei Vango. Ich mache jetzt Schluß.« Die kleine hundeähnliche Gestalt schien zusammenzuschrumpfen die Umrisse wurden unscharf. Dann sackte sie gegen die Rampe und glitt langsam hinunter. Dabei hinterließ sie eine glänzende Spur. Es war ein Klumpen grauen Protoplasmas, von dem Stücke abfielen, fünfzehn Pfund noch warmen Rohmaterials, das bereits die Hundegestalt und alles andere vergessen hatte. Hannibal Fortune ballte die Fäuste und starrte zur Rampe hinauf – er mußte hilflos zusehen.
»Du«, flüsterte er, »du hast dazu kein Recht.« Dann ging er, vorsichtig der Schleimspur ausweichend, die Rampe hinauf und betrat den Gleiter. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so müde gewesen zu sein. Es ist nicht fair. Es ist gar nicht fair. Und es ist alles so verwirrend – jeder gibt sich als ein anderer aus. Spiele innerhalb der Spiele. Alle Figuren, die Damen und Läufer und Springer und Türme erweisen sich als einfache Bauern in einer größeren Partie, und die Spieler selbst sind Marionetten, die mittels verborgener Fäden und Drähte in der Hand – wessen eigentlich? – gelenkt werden. Als du eigenhändig Scipio und Masinissa und Syphax manipuliert hast, die selbst das Leben Tausender abstoßender, gewöhnlicher, unwichtiger Haufen kontrolliert haben, die, deren einziger Zweck es war, für die Sache zu sterben, war alles in Ordnung. Du selbst warst allem meist einen Schritt entrückt, weil der tatsächliche Kampf nicht zwischen Rom und Karthago, sondern zwischen EMPIRE und TERRA stattfindet. Alles übrige ist bloß Spiegelfechterei. Und wenn man dann alles wieder ins Lot gebracht hat, bewegt jemand das Kaleidoskop weiter, und das Spiel wechselt. Sich anpassen. Das ist doch deine Spezialität! Erinnerst du dich? Auf diese Art hast du doch die Lizenz zum persönlichen
Eingreifen bekommen. Deswegen bist du einer der besten Geheimagenten in der Geschichte des Geheimdienstes. Wer sagt denn, daß alles unbedingt einen Sinn ergeben soll? Webley – tot. Heldentod, als ob das einen Unterschied ausmacht. Luise – über Luise nachzudenken hat keinen Sinn. Ein andermal vielleicht. Vango – er wäre ohnehin keine Hilfe gewesen. Arrik – ebenso tot wie Webley, aber auf sinn- und zwecklose Art. Statt sich eine neue Form zu wünschen, hatte er sich den Tod gewünscht. Er hatte kein Recht, sich zu töten, weil man noch Verwendung für ihn hatte. Malik – wahrscheinlich ist diese Spinne eben dabei, ein Netz zu weben, und du weißt nicht einmal, wo sie ist. Dir ist nichts geblieben außer einer Maschine, die wahrscheinlich ihrer Aufgabe gemäß funktionieren wird, vielleicht aber auch nicht. Darüber hinaus ist sie zu nichts imstande. Man kann von ihr keine Hilferufe aussenden, weil die einzigen Signale, die sie senden kann, auf dem Wege einer langsamen, umständlichen Art von Lichtgeschwindigkeit übermittelt werden würden und es 27 000 Jahre brauchte, bis sie jemanden erreichten, der Hilfe bringen könnte. Wenn sie sich nicht überhaupt auf halbem Weg im geräuscherfüllten interstellaren Raum verlieren würden.
Dein Kopf führt weiterhin seine Aufgaben aus, siebt Daten, stellt Hypothesen auf, prüft sie und läßt die Wirklichkeit durch einen Irrgarten, auf dem »was wäre wenn?« steht, laufen, und macht bis auf sechs Dezimalstellen richtige Voraussagen über jede mögliche Variante. Seit deiner Schulzeit hat dein Kopf auf diese Weise gearbeitet. Du könntest diese Art zu deuten nicht einmal abstellen, wenn du wolltest. Du kannst es niemandem erklären, niemandem lehren, du kannst es nur tun. Mit ausreichenden Daten bekommst du in achtundneunzig Prozent der Fälle richtige Antworten. Doch ohne entsprechende Datenzufuhr tappst du im dunkeln. Ein Augenpaar ist in der Doppelzeit verschwunden, damit du leben konntest, das zweite hat Selbstmord begangen. Und ohne ordentliche Ausrüstung bist du so gefährlich wie eine gefangene Fleischerfliege. Ein Luxus-Gleiter der Firma Intra-System ist keine TERRA-Zeitfähre. Also heckt dein Kopf billige Tricks aus. Wie nett. Dein kluger Kopf teilt dir mit, daß eine armlose, beinlose, blinde und taube Computer-Mißgeburt keine Chance hat, es zu schaffen. Langsam verstehst du Arriks Standpunkt. Du untersuchst den Gleiter noch einmal in der Hoffnung, du hättest vorhin etwas übersehen, das einen Ansatzpunkt geben könnte. Eine Waffe, ein Co-
debuch, eine Türklinke sozusagen, die auf Distanz das Mutterschiff öffnet, das vielleicht – vielleicht auch nicht – die Erde umkreist. Nichts. Du bist im Zweifel, ob die EMPIRE-Truppe, die Vangos Haus zerstört hat, zu Fuß oder beritten gekommen ist. Irgendwo muß noch ein zweiter Gleiter sein, ausgerüstet mit Granatwerfern, Hochleistungsschallkanonen und anderen erlesenen Nettigkeiten aus dem Arsenal von EMPIRE. Der Torg hatte den falschen Gleiter geklaut. Es war nicht sein Fehler. Damals war er das einzig Erreichbare gewesen. Also hat dein Gegner selbst den Schlachtkreuzer, und du bist mit einem Truppentransporter behaftet. Zugegeben, ein raffiniertes Stück, für Besichtigungstouren sehr geeignet, als Waffe aber unbrauchbar, es sei denn, man benützt es zum Rammen. Natürlich sind die Überbleibsel aus Vangos Werkzeugtasche noch da: eine Handvoll Rauchbomben, das Überschallstörgerät und drei Feuerwaffen mit kleiner Reichweite. Das Notsignalgerät ist in Sophonisbes Kalksteinsarg. Es ist so eingestellt, daß es irgendwann nächste Woche abläuft. Als du es dort deponiert hast, warst du noch der Meinung, daß jemand von deiner Seite vorbeikommen und sie in Gewahrsam nehmen würde. Das war lange, bevor du von der Zerstörung von Vangos Haus erfahren hattest, bei der auch der Kontrollmechanismus des vergrabenen Zeitgerätes dran glauben mußte. Der könn-
te noch funktionsfähig sein, wenn du wüßtest, wo er ist. Du berechnest deine Chancen. Mit etwas Glück kannst du drei Tage am Leben bleiben, wenn du den Gleiter nicht in ein fernes Land entführst und ihn irgendwo versenkst. Sollten Malik und seine Mannen sich noch in diesem Zeitabschnitt befinden – und du mußt so handeln, als ob das tatsächlich der Fall wäre –, würde dein erstes entscheidendes Unternehmen mit dem Gleiter dieselbe geballte Feuerkraft entfesseln, die man für Vango aufgewendet hat. Vielleicht hält Malik dich noch immer für tot. Verlassen kannst du dich nicht darauf. Vielleicht ist es so, wie Arrik glaubte: die Spinne ist der Meinung, Vango hätte den Gleiter entführt und irgendwo versteckt. In diesem Fall sucht Malik den Gleiter wahrscheinlich noch immer. Wenn nun der Torg noch am Leben wäre und Maliks Höhle am Meer durchforschen könnte. Vielleicht ist sie leer. Ohne Waffen kannst du nicht das Risiko eingehen und dich davon überzeugen. Ein Agent muß einfallsreich sein – das hat man dich gelehrt. Doch der echte Agent genießt die Unterstützung der gesamten Organisation. In den über sechs Dienstjahrzehnten war dir selten so klar, wie sehr du von der Organisation abhängst. Das hat zwei Seiten. Obwohl die Existenz der TERRA-Kontrollzentrale von
dir abhängt, siehst du jetzt, daß sich der Sinn deiner eigenen Existenz aus der TERRA-Zentrale herleitet. Und wo ist der Mensch, der ohne Lebenszweck existieren möchte? Das alles schmeckt so abgestanden. An einem Tag galaktischer Schachspieler und am nächsten zu einem gewöhnlichen menschlichen Wesen degradiert. Sich von einem Tag auf den anderen weiterzuschleppen, ist nicht mehr wichtig. Webley, Vango, Arrik, das sind die Glücklichen. Aber zu wissen, daß man alles verloren hat und dennoch leben muß, das ist die Krönung der Schmach. Männer, die in Schlachten kämpfen, kämpfen bis zum Tode, in der Hoffnung, daß ihre Kultur, ihre Freunde, ihre Lieben überleben, um den Krieg selbst zu gewinnen. Doch mit dem Fluch des sicheren Wissens beladen, daß der Fall hoffnungslos ist und daß einem sogar die Chance versagt bleibt, im Kampf zu sterben ... Jetzt ist Sieg oder Niederlage gleichgültig, eine Fortsetzung des Spieles zwecklos. Es ist bereits verloren. Eine Weile fragt man sich, wie lange es wohl dauern mag, bis die Zeitabweichung kritisch wird und jenen Punkt erreicht, an dem die neue Zeitlinie irreparabel wird. Wie lange es dauern wird, bis die neue Version der Erdgeschichte große Teile deiner ei-
genen Basis-Zeit-Wirklichkeit auslöschen wird – und dich dazu. Obwohl es nicht schwerfällt, sich ein Universum vorzustellen, in dem man selbst nicht mehr existiert, ist die Vorstellung eines Universums, in dem man niemals existiert hat, unmöglich – aber so wird es sein, das weißt du. An welchem Punkt deiner Zeitlinie wirst du aufhören zu existieren, fragst du dich? Wird es plötzlich sein, mitten in einem Gedanken, oder wirst du allmählich vergehen und dir deines Verlöschens bewußt sein? Das ist eine Frage, die du dir vorher noch nie ernsthaft vorgelegt hast, weil du nie wirklich geglaubt hast, du könntest verlieren. Aber jetzt glaubst du nicht nur, daß die Möglichkeit der Niederlage besteht, du weißt sogar, daß du verloren hast. Die Galaktische Föderation ist – wenigstens soviel du weißt – verloren, Billionen von Menschen werden ausgelöscht (oder langsam vergehen) zusammen mit Hannibal Fortune. Die TERRA-Kontrollzentrale wird nie bestanden haben, das bittersüße Zwischenspiel mit Luise wird nie stattfinden, die Kameradschaft mit Webley wird sich nicht entwickeln – weniger als ein Traum, weil es keinen Träumer geben wird. Sogar Gregor Malik und EMPIRE – auch sie werden untergehen, wenn der Krebs, der die Erdgeschichte zerstört, die Galaxis überwuchert.
17 Vierhundert Jahre Computertechnik, verbunden mit der Nutzbarmachung neuer Energiequellen, hatten die Raumschiffe zu Vergnügungsfahrzeugen gemacht. Der Durchschnittsbürger der Galaktischen Konföderation brauchte höchstens eine Stunde lang Unterweisung, um einen Gleiter nahezu überallhin steuern zu können. In erster Linie mußte man lernen, wie man dem Gleiter den Bestimmungsort eingab. Die Ausarbeitung der Details konnte man den Instrumenten überlassen. Die Firma Intra-System brüstete sich mit ihrem narrensicheren Lenksystem. Obwohl es der Antriebsanlage doch an den Qualitäten mangelte, die bei Sport-Gleiter-Rennen so bewundert wurden, mußte Fortune zugeben, daß es in seiner Klasse eine herrliche Maschine war. Alle Gleiter der EMPIRE-Flotte waren ohne die Formalitäten eines regulären Kaufes erworben worden, noch hatte man frühere Besitzer entschädigt. Die Diebe hatten dabei eine gute Wahl getroffen. Trotz seiner Beschränkungen war das Modell imstande, an einem Wochenende eineinhalb Millionen Kilometer zurückzulegen. Sehr zum Unterschied von den Pionierzeiten der Raumfahrt, als die Erdenmenschen zur Fahrt zum Mond und zurück sechs bis acht Tage brauchten, eine Entfernung, die halb so weit war.
Nicht ganz zwanzig Minuten, nachdem er die Katakomben von Karthago verlassen hatte, näherte sich Hannibal Fortune der im Orbit befindlichen Zeitfähre von EMPIRE. Zwischen der Zeitfähre von TERRA und derselben Version von EMPIRE bestanden zwei augenscheinliche Unterschiede. Zunächst die Größe. Obwohl man seit den ersten unbeholfenen Schöpfungen Lipnigs und Rudnls vermutlich schon verschiedene Verbesserungen vorgenommen hatte, waren die Fähren von EMPIRE grob geschätzt zehnmal größer als die von TERRA. Teilweise war dieser Größenunterschied auf das Bestreben von TERRA zurückzuführen, alles möglichst klein und beweglich zu gestalten, während EMPIRE Mannschaft und Ausrüstung großzügiger einplante. Zweitens waren die EMPIRE-Schiffe nicht für Flüge in der Atmosphäre bestimmt. Daher bestand auch kein Grund, der EMPIRE-Zeitfähre Stromlinienform zu geben. Die Zeitfähre, die vor Fortune auftauchte, war womöglich noch plumper als das Original. Wie ein Hai einen plumpen Wal beschnuppert, näherte sich Fortune langsam, mit verringerter Geschwindigkeit. Aus der Sprechfunkanlage ertönte eine bekannte heisere Stimme. »Exzellenz?« Die Aussprache war boreanisch, die Muttersprache Gregor Maliks.
Fortune lächelte verkrampft und suchte den Antwortschalter. Er ließ seine Stimme trocken und leise klingen. »Aufmachen«, zischte er. Wer immer in der Fähre Dienst machte, mußte der Meinung sein, daß Malik selbst im Gleiter saß. Fortune wollte diese Annahme nicht zerstören. »Exzellenz«, antwortete die Stimme, »ich muß Sie bitten, die Sichtluken zu öffnen, bevor ich den Gleiter einlassen kann.« Fortune konnte zwar hinaus-, der andere aber nicht hineinsehen. Da er die Maskerade noch beibehalten wollte, fluchte er grimmig auf boreanisch und sagte: »Ich habe hier eine Hemmung im Mechanismus. Mach gefälligst die Luke auf.« »Aber –« »Dalli, du Idiot! Aufmachen!« Während dieses Wortwechsels hatte die Steuerung des Gleiters mit dem Gegenstück im Mutterschiff eifrig Daten ausgetauscht. Ein Blinken am Armaturenbrett zeigte an, daß zwei Computer sich über das Andockmanöver geeinigt hatten und bereit waren, das Manöver zu beginnen. Fortune kicherte, als ihm einfiel, daß Malik einst betont hatte, einer Maschine wäre es egal, für welche Seite sie arbeitet. Jetzt trat Stille im Funkverkehr ein. Endlich gähnte die Ladeluke der Zeitfähre. Fortune lächelte und überließ es der Steuerung, den Gleiter hineinzulotsen.
Gleichzeitig schwang die Luke wieder zu. Die inneren Türen der Luftschleuse glänzten eisig im Scheinwerferstrahl des Gleiters, während in der Kammer der Luftdruck stieg. Dann schwangen auch diese Türen auf und gaben den Blick in einen Riesenraum mit Dockanlagen für ein halbes Dutzend Gleiter frei. Zwei Plätze waren schon besetzt. Vorsichtig lenkte Fortune den gestohlenen Gleiter tiefer ins Mutterschiff hinein. Bahrs Tolunem war erstaunt, aber voller Hoffnung. Er hoffte darauf, daß der Tyrann endlich von dem Fortschritt der Ereignisse auf der Erde befriedigt wäre und sie endlich die Rückfahrt antreten könnten. Selbst der Luxus der Schwerelosigkeit konnte ihn nicht die Annehmlichkeiten des Heimatplaneten vergessen lassen. Im Gegenteil. Das Fehlen der Schwerkraft aktivierte eine winzige Drüse an der Basis seines muskulösen, schneckenartigen Fußes und das dadurch hervorgerufene Sekret löste ein wildes Verlangen nach Drelben aus. Ein so intensives Verlangen, daß er sich schwer auf etwas anderes konzentrieren konnte. Sein letztes Drelben lag schon so lange zurück, daß er sich an das Gefühl kaum noch erinnern konnte. Wäre es nach ihm gegangen, so wären sie schon längst abgeflogen, doch hatte es Malik nicht genügt, seinen Erzfeind Fortune bloß zu vernichten. Der Tyrann wollte so lange bleiben, bis die gesamte
TERRA-Organisation ausgelöscht war. Persönlich war Tolunem der Meinung, daß Malik in seinem Haß zu weit ging, doch stand es ihm nicht zu, eine persönliche Meinung zu äußern. Die Bezahlung war gut – und außerdem hatte er ja erlebt, was mit Abtrünnigen geschehen war. Und doch. Sein Körper schrie nach dem Drelben mit einem fast körperlichen Schmerz. Wenn er gewußt hätte, daß er sich würde so lange enthalten müssen, hätte Bahrs Tolunem sich nie auf ein Leben als interstellarer Verbrecher eingelassen. Allein und in einem Raumschiff konnte man nicht drelben. Und schon gar nicht im freien Fall. Einmal hatte er es sich im Geiste ausgemalt. Wenn die Vorstellung nicht so lächerlich gewesen wäre, wäre sie obszön gewesen. Doch die Aussicht auf baldige Heimkehr, damit er endlich drelben konnte, war nicht der einzige Grund, warum er so hoffnungsfroh gestimmt war. Seine Verwunderung hatte einen konkreteren Grund. Es war gar nicht die Art Gregor Maliks, allein zu reisen, solange er jemanden hatte, den er als Chauffeur benutzen konnte. Wenn aber Malik nicht allein war, hätte in diesem Falle der Pilot des Fahrzeuges bei Tolunems Aufforderung sein Kommen gemeldet. Nicht nur, daß der Tyrann also allein reiste, auch die Sichtluken des Gleiters funktionierten nicht. Sein Wissen um die Intoleranz des Tyrannen gegen-
über auftretenden Schäden steigerte Tolunems Wachsamkeit, die durch das viele Nachdenken über das Drelben beeinträchtigt gewesen war, bewahrte ihn aber nicht vor einem schnellen Tod. Das Entern der im Orbit befindlichen Zeitfähre hatte Fortune nicht nur aus der gerade verlaufenden Zeit-Kontinuität befreit, sondern ihm auch zu drei, statt bloß einem Gleiter verholfen. Zwei davon waren mit schweren Schallwaffen bestückt. Für eine improvisierte Ein-Mann-Invasion nicht übel, überlegte er. Er bezweifelte, ob er es bei genauer vorheriger Planung hätte besser machen können. Nachdem er Tolunems Reste über Bord geworfen hatte, mußte er Scipio finden und den Fortgang des Krieges überwachen, doch im Moment wandte er seine Aufmerksamkeit seinen Neuerwerbungen zu. Anders als bei seiner eigenen Zeitfähre, waren die Instrumente des EMPIRE-Ungeheuers sehr einfach bezeichnet. Der Flug-Computer war eine einfache Standardausführung. Ein in Kreisumlaufbahn befindliches Raumschiff ist nicht wie ein Hügel, den man innehat, solange man ihn verteidigt, sondern eher wie ein Unterseeboot, das man nicht verteidigen muß, solange man es verborgen halten kann. Schritt Nummer eins verlangte daher, daß er es an einen anderen Parkplatz bringen mußte. Dadurch wurde eine neue Umlaufbahn nötig.
Malik hatte es – den normalen Gepflogenheiten EMPIRES folgend – über dem Erdäquator in einer Kreisumlaufbahn von vierundzwanzig Stunden, in einer Höhe von 33 420 Kilometern, 36 Grad südlich von Karthago geparkt. Fortune wählte einen schnelleren, flacheren elliptischen Kurs, mit ganz niedrigem Perigäum, so daß er durch die dünne obere Atmosphäre hart an die Geräuschlosigkeitszone herankam. Indem er dem Raumschiff am erdfernsten Punkt einen leichten seitlichen Energiestoß gab, bewirkte er, daß er im Einklang mit der Erdumdrehung blieb. Dabei konnte Nordafrika täglich sechzehnmal, jeweils zweieinhalb Minuten lang überflogen werden. Damit war die Frage des Wo erledigt. Die Frage des Wann entpuppte sich als viel komplizierter. Er wollte die neue Umlaufbahn nur einige Minuten täglich in Anspruch nehmen. Sollten Gregor Malik und Konsorten schon über das Wo stolpern, wollte er auch die Chancen, daß sie zur richtigen Zeit zur Stelle waren, möglichst gering halten. Das Zustandekommen eines solchen VersteckspielEffektes erforderte nur, daß man den Computer der Zeitfähre dahingehend programmierte, daß einzelne Teile von drei Umläufen – aus den sechzehn täglichen Umläufen beliebig herausgenommen – mit Unterbrechungen in der Real-Zeitphase verliefen und den Rest des Orbits in synchronisiertem Zeit-Überspringen zu-
rücklegten. Für einen an die irdische Zeitlinie gebundenen Beobachter wurden durch das willkürliche Auftauchen der Fähre so wenig Fakten ersichtlich, daß brauchbare Voraussagen über Umlaufzeit oder Auftauchen der Fähre praktisch ausgeschlossen waren. Dieses Orbit-Versteckspiel war ein stark verlangsamtes, makrokosmisches Gegenstück zum subatomaren Quantenverhalten. Die Anwendung war die Idee eines einfallsreichen jungen Assistenten Linz Lipnigs. Lipnig hatte die Sache verächtlich als unnötig abgetan, da die Zeitfähren von TERRA die weitaus wirksamere Einrichtung der Beobachtungsphase hätten, welche eine optische und elektronische Unsichtbarkeit bewirkten. Er hatte seinem Assistenten geraten, sich dringenderen Problemen zu widmen. Fortune jedoch, der eine Vorliebe für das Unmögliche, Unpraktische und Unnötige hatte, war davon gefesselt gewesen und hatte sich diese nutzlose Spielerei gemerkt. Er hatte sie sich sehr genau gemerkt. Bei der Anwendung entdeckte er natürlich, daß die Konstruktionslösung von TERRA hinsichtlich der Beobachtungsphase die bei weitem einfachste, beste und flexibelste war. Die neue Methode war, obwohl auf dem Papier wunderbar, in der Praxis sehr plump. Es tauchte dabei zum Beispiel das Problem der Landmarken als Orientierungshilfen auf. Wenn man in einer Höhe von neunzig Kilometern
mit fünfhundert Kilometern Geschwindigkeit unterwegs ist, hat man sehr wenig Zeit, nach Landmarken Ausschau zu halten, braucht sie aber dringend, um die optischen Radaranlagen als Auslöser für eine Umlaufswendung wirken lassen zu können. Die Zeitsprünge vermittelten Fortune den subjektiven Eindruck eines ununterbrochen vorhandenen Panoramas, das sich jeweils nach zweieinhalb Minuten wiederholte. Das einzige, was sich von einem zum anderen Mal änderte, waren Wolkenformationen und die Länge einiger Bergschatten. Eine militärische Situation war aus einer Höhe von neunzig Kilometern schon viel schwerer ersichtlich. Castra Cornelia schien verlassen. Fortune brauchte zwanzig Runden, um die römische Armee zu finden, und vier zusätzliche, bevor die Radaranlage funktionierte. Auch bei gröbster Rasterung der Bilder konnte er die Armee nur an Hand der starren Linearität ihres Lagers als römische identifizieren. Aus dieser Höhe mußten zu viele Fragen unbeantwortet bleiben, und alle Spekulationen blieben fruchtlos. Deswegen konzentrierte sich Fortune auf das Sammeln von Daten. Bis er sich eine brauchbare Karte des Gebiets angelegt hatte, waren unten inzwischen sechs Monate vergangen. Fortune verzeichnete alle Bewegungen der römischen Truppen.
Merkwürdigerweise entfernte sich Scipio ständig von Karthago und zog den Bagradas entlang zu dessen Quellflüssen im Südwesten. Schließlich entdeckte Fortune neunzig Kilometer südlich von Karthago eine zweite Armee, die sich ebenfalls westwärts bewegte, offenbar in Verfolgung des Scipio begriffen. Der Agent stellte seine Beobachtungssonde auf Vergrößerung ein und grinste, als er sah, daß Dutzende von Elefanten unterwegs waren. Das bedeutete, daß der Befehlshaber wahrscheinlich Hannibal Einauge selbst war. Also war der Große doch gekommen. Westlich von Scipios Armee entdeckte Fortune den Grund für dessen ständiges Vordringen ins Landesinnere: eine starke Reiterarmee war ostwärts in Bewegung. Masinissa? Schwer zu sagen. Nach weiteren zwei Tagen – für Fortune war weniger als eine Stunde vergangen – hatten die Wüstenreiter den Abstand zwischen sich und Scipio auf die Hälfte verringert. Klar, jetzt mußte er unbedingt hinunter und seinen Auftritt absolvieren. Er lenkte die EMPIRE-Zeitfähre in eine höhere Umlaufbahn, regulierte sie ein und flog mit dem Gleiter in die Atmosphäre hinunter. Wie im Vorjahr kam er weit draußen über dem Mittelmeer herunter. Er wollte sich seinem Ziel so nähern, daß ihn eventuell noch anwesende EMPIRE-Angehörige, die vielleicht Han-
nibal begleiteten, nicht sehen konnten. Es war eine der Gelegenheiten, bei denen er die Unsichtbarkeitsphase seiner eigenen Zeitfähre schmerzlich vermißte. Er parkte den Gleiter nahe dem römischnumidischen Lager und näherte sich zu Fuß, verkleidet als Sebastian Necropoulis, Scipios Spion. Einige römische Offiziere erkannten ihn. Zwei begleiteten ihn zum Zelt des Kommandanten. »Ich dachte, du wärest tot«, sagte Scipio lächelnd und umfing den Unterarm des Griechen mit der traditionellen römischen Freundschaftsgeste. »Wo hast du gesteckt?« »Würdet Ihr mir glauben, wenn ich sage, ich bin hoch am Himmel geflogen?« »Da ich dich kenne«, sagte der Römer lächelnd, »würde ich nie sagen, du lügst, ehe ich es nicht beweisen kann. Egal, jetzt bist du da. Kannst du mir über Hannibal etwas sagen, was ich nicht schon weiß?« »Nur, daß Ihr mich brauchen werdet, damit ich Euch helfe, seine Kriegselefanten außer Gefecht zu setzen.« Scipio nickte. »Setz dich. Gaius Claudius, schenk meinem teuren Freund Wein ein. Er kommt von weit her und hat Durst. Dann schicke nach Laelius. Also, Sebastian, was können wir gegen die Elefanten unternehmen?«
18 Der weißbärtige, für den Punischen Krieg begeisterte d'Kaamp, der Fortune das Mikrogerät verschafft hatte, welches jener in Scipios Tunika versteckte, hatte eine der besten je verfaßten Beschreibungen der Schlacht von Zama geliefert. Obwohl das Ergebnis sehr eigenwillig ist, muß man den Folgerungen Dr. d'Kaamps rechtgeben. Da sie ursprünglich während eines Seminars am TERRA-Kontrollinstitut vorgetragen wurde, ist die Abhandlung nicht so sachlich aufgebaut, wie das bei einer Abhandlung mit dem Titel »Strategische und taktische Entwicklung von Doppelsonderteams, mit besonderer Berücksichtigung der Technik historischer Verwirrungen« von A. E. d'Kaamp, FGFAS, zu erwarten wäre. Pohl Tausig behauptete, daß der Forscher einer Schrulle nachgab, als er den Titel verfaßte. Gutinformierte Quellen behaupten, daß Tausig insgeheim erfreut war, als der Archivar das Werk unter »Training – Abstraktes-44-38/AW, Unterabteilung 17«, einreihte. Dr. d'Kaamp wieder soll sich stolz in Positur geworfen haben, als er zufällig Zeuge wurde, wie ein bereits graduierter Assistent es unter »Was in Zama wirklich geschah«, einreihte. Mit Erlaubnis Dr. d'Kaamps und TERRA bringen wir hier Auszüge.
Leser, denen d'Kaamp kein Begriff ist, können das Ausmaß seines Vorurteiles ermessen, wenn sie den folgenden Auszug aus seiner vorhergehenden Abhandlung »Einige Folgen falscher Schlüsse im Hinblick auf militärische Mystik« in Betracht ziehen, die privat vom und für den Anomalie-Club veröffentlicht wurde: »Als ich ernsthaft mit dem Studium der militärischen Erdgeschichte begann, die später mein Spezialgebiet werden sollte, war ich entsetzt über die Gründe, die Erdenmenschen zum Kampf veranlaßten, und empört über die blutrünstigen Götter, die sie erdachten. Ich fühlte Mitleid mit ihnen und hielt das, was sie einander antaten, für verbrecherisch. Inzwischen habe ich sie gut kennengelernt und bin über ihre Dummheit nicht weiter erstaunt. Ich glaube, sie haben die Ärgsten ihrer Götter reichlich verdient. Was sie einander auch Übles antun, es ist noch gar nichts gegen das, was sie im Jenseits erwartet. Abgesehen vom Militarismus, findet der Erdenmensch die beste Gelegenheit, roher Dummheit zu frönen, in seinen Religionen. Ich bezweifle sehr, ob zumindest auf GF 38 das religiöse Establishment ohne das militärische – und umgekehrt – existieren könnte.« Polybius hatte dieselbe Ansicht zum Ausdruck gebracht, als er 2700 Jahre früher über den römischen
Aberglauben gesagt hatte, daß er den Zusammenhalt des römischen Staates herstelle. In seiner Bewertung praktischer römischer Politik hört man die Ansicht Scipios heraus: »Da die Menge immer wankelmütig ist, voller gesetzloser Begierden, unvernünftiger Leidenschaften und grausamer Wut, muß sie von unsichtbaren Schrecken und religiösen Schaustellungen im Zaum gehalten werden.« Vor diesem Hintergrund zeichnet d'Kaamp kühn die Ereignisse nach, die zu der tödlichen Begegnung führen sollten. Oft mit Sarkasmus, immer mit Nachdruck. Auszug aus den Tonbandaufnahmen. Beim Versuch, die Karthager in die offene Ebene hinauszulocken, um das Risiko einer Begegnung im Hügelland zu umgehen, hatte Scipio das Gebiet westlich von Karthago verwüstet und geplündert, die verschreckten Einwohner zu Sklaven gemacht, das Vieh geschlachtet, die Ernte verbrannt – alles in gewohnter Militärmanier von GF 38. Dabei sandte er täglich Kuriere zu Masinissa, die diesen drängen sollten, sich rasch den römischen Truppen mit den versprochenen zehntausend numidischen Reitern anzuschließen. Masinissa jedoch schwelgte in dem neuen Gefühl, König zu sein, und vergeudete seine Zeit mit Orgien, Zirkusspielen und ähnlichen Ausschweifungen.
Hannibal, der Italien verlassen und seine eigene Armee von vierundzwanzigtausend Mann nach Afrika gebracht hatte, um Scipio entgegenzutreten, hatte seine Truppen verdoppeln können, zum Teil durch Ligurer und Gallier aus der Armee seines verstorbenen Bruders Mago, dazu weitere zwölftausend frisch Rekrutierte aus Karthago. Damit hatte er insgesamt 48 000 Fußsoldaten und natürlich seine achtzig Kriegselefanten. Letztere waren für Scipio eine Überraschung und hätten sein Untergang werden können, hätte nicht Sonderagent Hannibal Fortune, der EMPIRE eine Zeitfähre gestohlen hatte und alles von oben beobachtete, auf ungewöhnliche Weise eingegriffen. Ohne Wissen Fortunes war ein zweites Team von TERRA an der Arbeit. Mit diesem war auch Webley, sein totgeglaubter symbiotischer Partner, unterwegs. Seit dem vergangenen Frühwinter hatten diese drei – nämlich die Agentin Luise Little und die Torgs Webley und Ronel – Fortune in und um die karthagische Halbinsel und inmitten der beteiligten Armeen gesucht, natürlich ohne Erfolg. Fortune hatte sich in der Umlaufbahn versteckt und wechselte die Zeitphase nur so, daß er dreimal täglich das Gebiet überfliegen konnte. Sie hatten statt dessen Gregor Malik und einige seiner Spießgesellen in einer befestigten Höhle aufgestöbert, aber keine Spur von Hannibal Fortune.
Der echte Hannibal, dessen Namen der Agent zu Beginn seiner Laufbahn angenommen hatte, hatte zusätzlich zu seinen 48 000 Mann Infanterie noch etwa sechstausend Berittene. Dazu sollten noch mehr stoßen, fanatische Kämpfer, die sich »Söhne des Syphax« nannten. Auf der einen Seite sehen wir also Hannibals 54 000 Mann, eine Mischung von Talenten, Temperamenten und Sprachen, auf der anderen Seite bloß 26 000 Römer. Vor einer Unterschätzung der römischen Legionen kann ich allerdings nur warnen. Man muß sie sich als ein auf Präzision gedrilltes Team vorstellen, dessen einziges Ziel es ist, den Feind zu dezimieren. Als ein typisch irdischer Haufen. Sie waren jedoch überaus abergläubisch. Ihre Führer machten sich die Leichtgläubigkeit des gemeinen Soldaten zu Nutzen. Damals war die Auswahl an Göttern sehr groß, so daß man für jede Extremsituation einen Gott parat hatte. Der Ruf der Erdenmenschen im Erfinden religiös begründeter Entschuldigungen für das gegenseitige Abschlachten ist unübertroffen. Ich erwähne diese Einstellung zur Religion nur, damit Sie besser verstehen, was in Zama geschehen ist, da jemand behaupten könnte, Fortunes Strategie hätte von der erstaunlichen Leichtgläubigkeit der Soldaten abgehangen. Ein entscheidendes Merkmal der Massenschlachten war deren hypnotischer, unwirklicher, fast halluzinatorischer Aspekt, den die Römer noch dadurch ver-
stärkten, indem sie a capella markerschütternde Molltöne anstimmten, die so präzise wie ihr Schuhwerk oder ihre Schwerttechnik waren. Die Karthager wendeten exotische Kräuter und primitive Drogen an. Der heilige Zorn des Gelegenheitsberserkers, der mit dem Schwert tauft, war nur zu leicht mit einem Gott in Menschengestalt zu verwechseln, der seine Truppen dem Sieg entgegenführt. Es fiel jedem Soldaten, auch einem Römer, leicht, Wunder zu sehen, und ebenso leicht, die heilige Vision eines anderen abzuwerten. Wenn man an einem Epos beteiligt ist und vermeiden will, daß man namentlich erwähnt wird, muß man versuchen, die Dinge so zu arrangieren, daß die denkwürdigen Heldentaten nur von denen gesehen werden, die immer beweisen wollen, daß Wunder nur in den Köpfen anderer stattfinden. Es handelte sich damals mehr als nur um einen Konflikt zweier Armeen. Es war der Kampf um die Vorherrschaft zwischen zwei blühenden Zivilisationen. Keine konnte mit der anderen auf der Grundlage von Freundschaft und Zusammenarbeit existieren. Um wirklich lebensfähig zu sein, brauchten die Nationen wilden Stolz, wie ein schmollendes Kind, das leicht beleidigt und sehr oft zornig ist, immer bereit, eine alte Rechnung zu begleichen. Sowohl Rom als auch Karthago hatten Ruhm erworben.
Jede Kultur, die Nationalismus entwickelt, tut es auf dieselbe Art, indem sie die Individuen in Gruppen zusammenfaßt, um andere Individuen oder kleinere, schwächere Gruppen zu zwingen, ihre Überlegenheit anzuerkennen. In solchen Kulturen sind Feindseligkeiten und Furcht die eigentlichen Voraussetzungen für eine Zusammenarbeit. »Wenn man sie nicht schlagen kann, muß man sich mit ihnen vereinigen«, ist ein praktischer Grundsatz, um auf einem Planeten voller habgieriger Menschen überleben zu können. Wenn man auf einen Aggressor trifft, von dem man glaubt, ihn nicht besiegen zu können, kann man mit ihm zusammen vielleicht einen dritten so einschüchtern, daß er Tribut leistet. Rom und Karthago war ein solches Vorgehen versagt, weil es damals keine dritte Supernation gab, die sie gemeinsam hätten angreifen können. Ägypten, Babylon, Kreta waren bereits Geschichte – während die Griechen gezeigt hatten, daß erwachsene Männer, die sich lieber mit geometrischen Lehrsätzen abgaben, als die Welt zu erobern, keine große Rolle spielen können. Für Menschen beschränkter Intelligenz ist Krieg die erregendste, anregendste und gefühlsträchtigste Aktivität, die erdacht wurde. Nichts kann so vielen so viele Entschuldigungen für eine solche Vielfalt von Tätigkeiten geben. Krieg ist eigentlich der ideale Allzweck-Zweck.
Von allen auf dem Planeten 38 ausgetragenen Kriegen hat dieser Konflikt zwischen Rom und Karthago mehr wissenschaftliche Kontroversen hervorgerufen, als jedes andere Ereignis in der Erdgeschichte, weil Hannibal Fortune sich nicht an die Regeln gehalten und offen in eine entscheidende Schlacht zwischen zwei irdischen Kulturen eingegriffen hat. Und es dabei hatte bewenden lassen. Einige Kritiker meinen zwar, wenn er seine Spuren so verwischt hätte, wie es einem Agenten geziemt, hätte auch der griechische Historiker Polybius nichts erwähnt von »Zeiten, da Fortuna den Plänen mutiger Männer entgegenhandelt«, noch hätte Hannibal von Karthago gesagt, er habe »aus Erfahrung gelernt, wie wankelmütig Fortuna ist«. Die TERRAKontrollzentrale meint, daß dieser Wortgebrauch rein zufällig ist. Mit Fortuna wäre die römische Glücksgöttin gemeint. Scipios Feststellung seinen Truppen gegenüber, daß »Fortuna uns den herrlichsten Preis bietet«, falle in dieselbe Kategorie, da ja Scipio den Agenten nur als Sebastian Necropoulis und nicht als ›Fortune‹ Hannibal kannte. Ich bitte Sie, daran zu denken, was ich über Religion gesagt habe. Einige von Ihnen werden sich vielleicht an einen sehr bekannten heiligen Mann namens Jesus erinnern, der zweihundert Jahre später in einer der benachbarten römischen Provinzen gewirkt hat.
Die vielen abergläubischen Kulte, die jene spätere Epoche kennzeichnen, fingen damals, als die Schlacht bei Zama stattfand, langsam an, zu einer Triebkraft zu werden. Die Schlacht hat ihren Namen nach einer kleinen Ansiedlung am Rande der Ebene erhalten, auf der sie ausgetragen wurde. Die irdischen Militärhistoriker sind sich heute noch nicht über die genaue Lage des Schlachtfeldes einig – eines der vielen Geheimnisse, die TERRA lieber ungelöst lassen möchte. Aus diesem Grunde hängen wir auch die Tatsache nicht an die große Glocke, daß derselbe Agent Scipio als Dolmetscher diente, als dieser sich mit Hannibal am Vorabend der Schlacht traf, um über erforderliche Maßnahmen und Bedingungen eines allfälligen Waffenstillstandes zu verhandeln. Am Ende dieser Konferenz waren beide Generäle wütend und fest entschlossen, den anderen am folgenden Morgen zu vernichten. Fortunes Eingreifen in das Geschehen begann tatsächlich einige Tage vor der Schlacht selbst. Masinissa war mit seinen Reitern noch nicht aus dem Westen zurückgekehrt, als Fortune Scipio davon überzeugte, daß diese Begegnung eine wagemutigere Annäherung verlange, als Rom sie jemals gegen Karthago versucht hatte. Er zeigte auf, daß der römische Senat für das langsame Aushungern eines Volkes – die Plünderungen im umliegenden Bauernland ließen
das befürchten – wohl kaum einen Triumphzug veranstalten würde. Doch hatten die herkömmlichen Taktiken bisher versagt oder höchstens begrenzten Erfolg gezeitigt. Utica war noch immer nicht gefallen, ein direkter Angriff auf die Stadt Karthago war selbstmörderisch, solange Hannibal noch seine Armee hatte, und die punische Flotte die Küste beherrschte. Erst kürzlich hatten sie sechzig von Scipios mit Nachschub beladenen Schiffe gekapert. Im Moment war Scipio dem scheinbar liederlichen, kunterbunt durcheinandergewürfelten Haufen ethnischer Gruppen, die der einäugige Krieger befehligte, zahlenmäßig unterlegen. Jetzt war der Augenblick gekommen, da Not erfinderisch macht. Von allen römischen Generalen war Scipio wahrscheinlich derjenige, der die herkömmlichen Taktiken am willigsten über Bord warf. Er hatte bereits in früheren kleineren Feldzügen neue Ideen erprobt. Deswegen begrüßte er auch Fortunes Vorschläge außerordentlich. Die zwei Männer waren sich einig, daß die Nachwelt das Verdienst an den taktischen Neuerungen Scipio allein zuschreiben würde. Die ernsteste Herausforderung stellten die Elefanten dar, behaupteten die Römer. Obwohl die römischen Truppen herrlich diszipliniert waren, fürchteten sie sich vor den großen Tieren. Bis jetzt hatte noch niemand gegen Elefanten ein wirksames Verteidi-
gungskonzept entwickeln können. Man stellte sich vor, in vorderster Kampflinie einer Kampfformation zu stehen, die nur mit Kurzschwert und Speer ausgerüstet ist, während die achtzig Elefanten sich donnernd nähern – und man keinen Platz zum Ausweichen hat! Fortune schlug vor, die Elefanten zuerst in Panik zu versetzen und hatte auch gleich ein geeignetes Mittel zur Hand: ein einfacher Trompetenstoß auf Tonband. Hierzu wollte er die Ausrüstung aus dem Gleiter verwenden. Ein erschrockener, nervöser Elefant ist zwar in seiner Furcht nicht weniger gefährlich, doch während er vorher ein lenkbares Werkzeug war, ist er dann nur ein unberechenbares ablenkbares Phänomen. Die beiden Männer hatten in knapp einer Stunde eine Methode gefunden, wie die Infanterie in Panik geratene Tiere vom Schlachtfeld vertreiben konnte. Scipio schickte nach seinen Zenturionen und legte ihnen den Vorgang detailliert dar. Ihr Militärgeist ließ sie ihre eigene Meinung unterdrücken. Sie versicherten ihrem Kommandanten, daß die Mannschaft das Manöver in wenigen Minuten meistern würde. Oder vielleicht in wenigen Stunden. Zu seiner Zeit war ein Gleiter auf allen siebenundvierzig Planeten der Galaktischen Konföderation ein
alltäglicher Anblick und für den Beobachter nicht weiter aufregend, auch wenn er unvermutet darauf stieß. Doch die Handvoll Römer, die sich da unten auf einem kleineren Hügel versammelt hatten, war sichtlich entsetzt. Das konnte Ronel sogar aus einer Höhe von eineinhalb Kilometern erkennen. Zusammen mit Webley und Luise hatten sie tagtäglich nach Spuren von Fortune gesucht. Ein Gleiter von EMPIRE war jedoch nicht das, was sie gesucht hatten, doch durfte man ihn nicht unbeobachtet lassen. Sie sah eine Weile zu, flog dann rasch zurück und gesellte sich wieder zu ihren zwei Gefährten. »Ich habe ihn gefunden«, verkündete sie. »Er ist allein und fliegt ein Galaktopower-Sportmodell.« Webley, der die Angaben in Sekundenschnelle erfaßt hatte, war Augenblicke später schon unterwegs, um sich selbst zu überzeugen. Die nächsten Stunden brachte er damit zu, seinen ehemaligen Partner aus der Entfernung abzutasten, ohne ihm aber einen Hinweis auf seine Anwesenheit zu geben. Zur Armee der Karthager zurückgekehrt, der sich Luise als Wahrsagerin angeschlossen hatte, welche die Zukunft aus Beobachtung des Fluges ihrer zwei Vögel voraussagen konnte, schlug er vor, Fortune auf sich allein gestellt in Ruhe zu lassen. »Einige seiner Kreise mögen zwar so verrückt geschaltet sein, wie Psych-Sec behauptet hat«, sagte Webley, »doch in diesem Falle
vertraue ich doch darauf, daß der Rest seines Kopfes sich etwas Vernünftiges ausdenkt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er vergessen hat, wie sehr seine gegenwärtigen Taten gegen die Regel verstoßen –. Was er macht, das macht er mit voller Absicht.« Ronel und Luise waren einverstanden. Da Fortunes Plan bereits angelaufen war, beschlossen die drei, sich für den Fall bereitzuhalten, daß er sie brauchen sollte, ihn aber ihre Anwesenheit nicht spüren zu lassen, falls dies nicht ein Wechsel der Situation unbedingt erforderlich machte. In einem solchen Falle würden sie sich dann so verhalten, daß es bei ihm weder Schrecken noch Verärgerung hervorrufen würde. Aus den Tonbandaufzeichnungen: Dank meiner eigenen bescheidenen Rolle bei den Vorfällen von Zama, bin ich im Besitz der Tonaufnahme eines Treffens zwischen Scipio, Masinissa, Laelius und unserem Hannibal Fortune, der die Rolle eines griechischen Spions namens Necropoulis spielte. Er hatte ihnen seinen mit Jagdausrüstung der Klasse Vier strotzenden Gleiter gezeigt – Hochleistungswaffen, die man zu Safaris in Großwildreservate mitnimmt. Aus verschiedenen Gründen waren sie sich einig, darüber den Mund zu halten. Da nur wenige unter Ihnen Latein sprechen, bringe ich die folgende Übersetzung in Einheitssprache vor:
Masinissa: Was aber, wenn die Karthager von diesem Wunder berichten? Necropoulis: Erwartet der mächtige Masinissa, daß es Überlebende geben wird? Laelius: Die gibt es immer. Scipio: Meine Leute kennen die Karthager als leichtgläubige, abergläubische Fremde. Beruhigt Euch. Wir Römer sind zu gebildet, um die punische Version irgendeines Gerüchtes zu glauben. Necropoulis: Scipio, daran müßt Ihr denken, wenn Ihr nächstes Mal bei den Feiern der Megalesien den Gottesdienst leitet. Scipio: Necropoulis, ich möchte, daß Ihr mit mir nach Rom kommt. Ich möchte Euch mit einem Dichter bekanntmachen. Necropoulis: Mit Quintus Ennius? Scipio: Ja, kennt Ihr ihn? Necropoulis: Nur dem Ruhm nach. Er war derjenige, der geschrieben hat: ›Ich versichere Euch, daß es Götter gibt, aber sie kümmern sich nicht um das Treiben der Menschen. Sonst würde es den Guten gut gehen und den Schlechten schlecht – was sehr selten vorkommt!‹ Masinissa: Wir werden ihn sehr bald zum Lügner stempeln. Necropoulis: Eines Tages, Masinissa, wenn Ihr so alt sein werdet wie Syphax, werden die Armeen
Roms wieder gegen Karthago marschieren. An der Spitze wird ein neuer Scipio stehen und die Numidier werden die Kavallerie bilden. Ihr müßt mir versprechen, daß Ihr, wenn Karthago fällt, wenn kein Stein mehr auf dem anderen bleibt, alle Bücher zusammentragt und sie in alle Winde zerstreut. Masinissa: Warum sollte ich das tun? Necropoulis: In wenigstens einem dieser Bücher wird die Wahrheit über Eure erste Nacht mit Sophonisbe stehen. Nach diesem Gespräch zu schließen, hätte Fortune mit jedem dieser Männer ein raffiniertes Spiel getrieben. Scipio strebte ehrgeizig nach Ruhm und persönlicher Macht und bemühte sich ängstlich um Anerkennung durch Gleichgestellte, von denen es sehr wenig gab, wie er mit Recht behaupten konnte. Auch wenn der Ruhm Scipio zufallen würde, so war er für Laelius nicht minder wichtig, der es sich im Widerschein dieses Ruhms gutgehen lassen wollte. Und was Masinissa betraf, so wurde er in der offiziellen Version seiner kurzen Ehe mit Sophonisbe als legendärer Liebhaber und romantische Gestalt dargestellt, die er in Wirklichkeit nie war. Wäre es bekannt geworden, daß die schöne Sophonisbe in ihrem Abschiedsbrief einen anderen gemeint hatte – und noch dazu einen schäbigen Griechen –, hätte Masinissas Ansehen bei seinen Stammesangehörigen sehr gelit-
ten. Auch wenn sich Necropoulis als Gott entpuppt hätte, wie zwei oder drei vermuteten, wäre die öffentliche Anerkennung seiner Hilfe eine riskante Sache gewesen, da kein Mensch wissen konnte, welcher Gott er war. Scipios Atheismus, der damals in den besseren Familien Roms in Mode war, verlangte, daß Necropoulis kein Gott war, doch ist es immer ein gesellschaftliches Plus, einen kultivierten Griechen zu kennen und vorführen zu können. Und was die Legionäre selbst betraf, von denen viele den Gleiter in Aktion sehen würden, so konnte sich Fortune auf den Ruf der Kriegsveteranen als Erzähler von Lügenmärchen verlassen, deren Lügen sich proportional mit dem genossenen Wein steigerten. Die drei Männer an der Führungsspitze sollten von ihm denken, was sie wollten. Ihrer Verschwiegenheit konnte er aus obengenannten Motiven sicher sein. Die zehntausend Reiter unter Masinissa waren fast gleichzeitig mit einer Handvoll von Spionen – aus der heranrückenden Armee Hannibals stammend – gekommen. Scipios Leute fingen drei Spione. Statt sie zu köpfen und die Köpfe nach Hause zu schicken, arrangierte Scipio auf Fortunes Vorschlag hin für die drei eine Besichtigungsfahrt durch das Lager und wies seine Offiziere an, ihnen alles zu zeigen, was sie sehen wollten, alle ihre Fragen ehrlich zu beantwor-
ten und sie dann unter den Schutz einer Ehrenwache zu Hannibal zurückzuschicken. Der Karthager berief eine Konferenz ein. Die provokante Geste des Römers hatte ihn beleidigt, aber er war des Krieges müde, den er geführt hatte, seit er vor sechzehn Jahren die Alpen überquert hatte und in Italien eingefallen war. Daher kam es, daß die zwei feindlichen Generale – jeder mit einem Dolmetscher, deren einer, wie schon gesagt, Hannibal Fortune war – sich auf offener Ebene trafen. Hannibal ging mit der Absicht in die Verhandlung, zu kapitulieren. Er brauchte dazu bloß einen würdigen Vorwand. Eine solche Wendung entsprach jedoch weder Scipios Ambitionen, noch Fortunes Bemühungen, die Zeitlinie zu reparieren. Beide waren enttäuscht. Mit der gezielten Beleidigung, Hannibals Spione wie königliche Besucher zu behandeln, hatten sie alles getan, um sicherzugehen, daß Hannibal-Einauge in Kampfstimmung war. Von Rechts wegen hätte den Karthager auch ein Vergleich der Truppenstärken ermutigen müssen. Statt dessen wollte er aufgeben. Vielleicht auch deswegen, weil er eine Vorahnung hatte, daß dies der einzige Weg war, sich einen unbesiegten Abgang zu verschaffen. Um ihn von diesem unedlen, schändlichen, beschämenden und feigen Tun abzuhalten, entstellte Fortune beim Übersetzen absichtlich Hannibals Friedensangebot und verfälschte es zu einem Sprungbrett für
Scipios schneidende Rhetorik. Die Geschichte verlangte einen totalen Sieg. Das bedeutete in der geheiligten dualistischen Auffassung der Erdenmenschen für Karthago die völlige Unterwerfung – ein Zustand, der nicht ausgehandelt werden kann, sondern in ehrenhaftem Kampf durch Vergießen ehrenhaften Blutes verdient werden muß. Auch der menschenfreundlichste Staatsmann der Welt scheut davor zurück, seine Niederlage auf dem Verhandlungswege festzulegen. Hannibal rückte mit Friedensbedingungen heraus. Scipio fand die Bedingungen unannehmbar. Beide zogen sich in ihre Lager zurück. Die Ehre gebot ihnen, in der Morgendämmerung des nächsten Tages den Kampf zu beginnen. Vor Sonnenaufgang bezogen die Armeen Stellung. Scipios sechsunddreißigtausend Mann wurden in einer raffinierten, völlig neuen Kampfformation, die Hannibal Fortune empfohlen hatte, aufgestellt. Am anderen Rand der Ebene wurde die Streitmacht Karthagos – soviel man im Halbdunkel der Dämmerung erkennen konnte – in zwei Armeen formiert, eine hinter der anderen. Davor ganz unerwartet eine Mauer aus Elefanten, um, wie es schien, als psychologisches Kampfmittel zu dienen und Scipios langsam sich nähernden Legionären Angst und Schrecken einzujagen. Hoch oben schwebte der TERRA-Agent in seinem
gestohlenen Gleiter und wartete auf den Beginn des Spektakels. Zunächst vorsichtig, dann mit ungeduldigen, beinahe begierigen Schritten überwanden die zwei Armeen den zwischen ihnen liegenden Abstand. Jetzt begannen die Elefanten ihren Angriff. Sie brachen langsam aus den Linien aus und donnerten den Römern entgegen. Das war das Stichwort für das erste Wunder ... Fortune tauchte mit dem Gleiter senkrecht nach unten und stoppte fünf Meter über dem Boden. Aus dem Gleiter drang ein Geräusch wie der vereinte Stoß aus tausend Trompeten. (Polybius hatte jedenfalls behauptet, daß es tausend Trompeten gewesen wären, und hat dabei die Tatsache verschwiegen, daß es in der römischen Armee keine tausend Trompeten gab). Wie vorausgesehen, wurden dadurch die Elefanten völlig aus der Fassung gebracht. Scipios Truppen aber wußten, was nun eintreten werde. Es war zugleich das Signal, die Formation zu wechseln. Zwischen den einzelnen Manipeln wurden säuberlich breite Durchlässe gemacht. Die meisten der erschrockenen Elefanten suchten sich vernünftigerweise den Weg des geringsten Widerstandes, trotteten durch die Durchlässe und verursachten nur geringen Schaden. Als sie endlich nicht mehr im unmittelbaren Kampfgebiet waren, kitzelte Fortune sie mit feineingestellten Schallwellen, um sie zu weiterer
Zerstreuung zu ermutigen. Er brachte dabei nur jenen Tieren ernste Verbrennungen bei, die sich nicht zerstreuen wollten. Der Rest der riesigen Biester suchte seitlich und hinten Schutz, zertrampelte dabei noch Hannibals Speerkämpfer und zerriß die Formation der an den Flanken eingesetzten Kavallerie. Die Römer schlossen die Reihen und kamen näher, bereit zum Kampf Mann gegen Mann. Methodisch zerstückelten sie Hannibals Front (feige Gallier und Ligurier, wie Livius berichtet), bis sie zusammenbrach und sich auflöste. Gleichzeitig jagte Scipios Reiterei (der linke Flügel unter Laelius, der rechte unter Masinissa) ihr karthagisches Gegenstück vom Schlachtfeld und außer Sicht. Hannibals zweite Armee, die noch frisch und mit scharfen Schwertern ausgerüstet war, trat nun in Aktion. Inzwischen war es Vormittag geworden. Scipios Infanterie wußte es nicht, aber er selbst sah es, daß Hannibal noch eine dritte Armee in Reserve hatte, die einige hundert Meter hinten wartete. Die Legionäre fuhren fort, auf ihren frischen Gegner einzuschlagen. Die Verluste waren auf beiden Seiten gleich hoch. Scipios Kavallerie war inzwischen außer Sicht und verfolgte vermutlich noch immer die karthagischen Reiter. Das vom vergossenen Blut glitschige Schlachtfeld war mit Toten und Sterbenden übersät, ehe Hannibals zweite Armee endlich Fersengeld gab.
Jetzt erst sahen die römischen Truppen Hannibals dritte Armee: seine Elitetruppen, vierundzwanzigtausend Veteranen aus dem italienischen Feldzug – für die erschöpften Römer mehr als ebenbürtige Gegner. Scipio, der von einer Anhöhe aus zusah, konnte noch immer keine Spur seiner Kavallerie entdecken. Offenbar hatten Masinissa und Laelius, vom Sieg berauscht, ihre Verfolgung zu sehr ausgedehnt. Hannibal-Einauge sah von seinem Hügel aus, daß das Feld auf seinen Angriffsbefehl wartete – doch sah er auch etwas anderes, das ihn ungemein in Erstaunen versetzte. Hinter den römischen Linien erhob sich eine phantastische silbrige Maschine, die himmelwärts flog, bis sie nur mehr ein kleiner Punkt war. Dann kam sie plötzlich wieder herunter. An diesem Punkt traten die zwei Symbioten Webley und Ronel in Aktion und beeinflußten die Schlacht von Zama entscheidend. Sie waren verständlicherweise neugierig, warum Fortune mit dem Gleiter das merkwürdige Manöver ausgeführt hatte, und sondierten sein Bewußtsein. Auf diese Art erfuhren sie, daß er bloß nach der vermißten Kavallerie Ausschau gehalten und diese entdeckt hatte. Obwohl sich Laelius und Masinissa bereits auf dem Rückweg befanden, würde es noch zehn bis fünfzehn Minuten bis zu ihrer Ankunft dauern. Scipio würde in Zeitnot geraten. Als Fortune zum römischen Generalstab flog, um diese
Nachricht zu übermitteln, flatterten die beiden Torgs zu Hannibal-Einauge und landeten auf seinen Schultern. Bevor er sein Erstaunen zum Ausdruck bringen konnte, hatten sie sein Bewußtsein mit einer gemeinsamen Energiesonde angepeilt. Es gelang ihnen, den karthagischen Feldherrn bewegungslos zu halten, bis Scipio Zeit hatte, seine römischen Toten vom Felde zu schaffen. Späteren Historikern war es überlassen, die verschiedenen Theorien zur Erklärung dieser fatalen Verzögerung von seiten Hannibals zu entwickeln. Einige sprachen von einem epileptischen Anfall, andere schrieben es der typischen punischen Dummheit zu, wenige führten es auf Feigheit zurück. Einige machten die Götter verantwortlich, und zumindest einer bestritt, daß es sich überhaupt so zugetragen habe. Hannibal selbst merkte nicht, daß die Verzögerung sich in die Länge zog. Er war der Meinung, er hätte kurz innegehalten, als er sich fragte, was aus den »Söhnen des Syphax« geworden war, von denen gemeldet wurde, sie wären unterwegs, um seine Kavallerie zu verstärken. Die Offiziere und Mannschaften, die bei ihm auf der Anhöhe standen, starrten offenen Mundes, buchstäblich verzaubert und durch ihren Aberglauben stumm gemacht, als sie Zeugen eines Wunders wurden: die zwei Vögel der Wahrsagerin hockten auf den Schultern des einäugigen Generals. Wenn er später
behauptete, er könne sich an diese Episode nicht erinnern, vergaßen sie den Vorfall aus Treue und Klugheit ebenfalls. Nach einigen Minuten sehr notwendiger Rast und kurzen, aufmunternden Worten ihres Kommandanten, gruppierten sich die Legionäre zu einer weiteren ungewöhnlichen Formation. Noch immer waren sie zahlenmäßig unterlegen. Der Feind rüstete sich bereits für die endgültige Begegnung. Eben, als die zwei Armeen aufeinanderstießen und zu kämpfen begannen, stürmte Scipios Kavallerie von zwei Seiten herbei. Zu spät schrie Hannibal-Einauge Befehle, mit denen er dieser neuen Bedrohung begegnen wollte, doch ohne Einsatz eigener Reiterei konnte er das Kriegsglück nicht mehr zu seinen Gunsten wenden. Das konnte selbst Hannibal Fortune erkennen. Fortune und der Gleiter blieben vom Schlachtfeld aus unsichtbar. Das bedeutete, daß er sich so nach dem Sonnenstand richten mußte, daß sein Schatten auf keiner der beiden Seiten des Schlachtfeldes Verdacht erwecken konnte. Dieser Effekt wäre mit einer TERRA-Zeitfähre viel einfacher zu erreichen gewesen. Bis jetzt hatte er Glück gehabt: von EMPIRE keine Spur, obwohl er den Gleiter in den letzten Tagen offen gezeigt hatte. Seit Tagesanbruch war ihm unbe-
haglich zumute. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, ob sich EMPIRE überhaupt noch rühren werde. Der Krieg verlangte ihm genug Konzentration ab. Trotzdem fühlte er sich vernachlässigt. Es gefiel Fortune gar nicht, daß er ignoriert wurde, während ihm alles so phantastisch glückte. Da flog etwas Dunkles an seinen Sichtluken vorüber. Fast flüssig, fast undurchsichtig, fast wie ein TERRA-Erkennungszeichen geformt. Es krümmte sich und bildete ein merkwürdig geformtes Vierspeichenrad. Webley? Der Name sprang ihm von den Lippen wie ein Lachs, der seiner edlen Pflicht nachkommt. Sofort versuchte er den Gedanken zu widerrufen, ihn zu verdecken, Sand darüber zu streuen, unschuldig dreinzusehen und zu tun, als hätte ihn ein anderer gedacht. Das Ding vor seinen Sichtluken zitterte in einem Anfall torgischer Heiterkeit. Eilig klappte Fortune den Einstieg des Kontrollraumes aus. Noch bevor ein Pfund Webley hereingeflogen war, hatte der Torg seinen Sprechapparat in Schwung und sagte: »Lang, lang ist's her! Mußte mich auf Befehl 'raushalten. Halte das Rumsitzen nicht aus, wenn etwas Großes im Gange ist.« »Web? Hoffentlich träume ich nicht! Du bist also statt mir in die Doppelzeit geraten – oder hat mich Arrik angelogen?«
»Es war keine Lüge. Lipnig hat gesagt, ich wäre immun. Alle Torg sind immun. Das hat bis jetzt niemand gewußt. Wir sind in dieser Hinsicht wie Luft oder Flüssigkeit. Was das Kontinuum betrifft, verhält sich Protoplasma wie freie Moleküle, bloß langsamer. Essen und Getränke waren doch auch immer dieselben, auch wenn du einen Zeitsprung gemacht hast, oder?« »Das ist ja phantastisch. Es eröffnete sich eine ganze Reihe von Möglichkeiten. Nur um –« »– einige zu erwähnen: spar dir das. Ruhig, Weltenretter, beruhige dich! Es ist bis jetzt nur einmal passiert. Niemand kennt die Grenzen bezüglich der Spanne des Zeit-Uberspringens, Masse, Partikelgröße. Dazu braucht man Freiwillige und diese Woche waren die Freiwilligen rar.« »Web, du bist noch viel gönnerhafter als sonst.« »Da solltest du erst die übrige Mannschaft hören! Übrigens – gehören die ›Söhne des Syphax‹ zu deinem Auftrag?« Fortune wartete, bis sich der Aufruhr in ihm gelegt hatte und daß etwas an der Oberfläche seines Bewußtseins auftauchen würde. Nichts tauchte auf. »Schätze nein, wer sind sie?« »Numidischer Reitklub, Patrioten, Karthago treu ergeben, wollen Syphax rächen. Dreitausend Mitglieder. Hannibal hat sie seit gestern gesucht, um eine
Rettungsaktion in letzter Minute zu starten. Sie werden wahrscheinlich nicht allzuweit weg sein ...« Fortune hob eine Braue. »Ach!« Webley plusterte wichtigtuerisch seinen Pelz auf. »Tausig hat mir zwei Helfer mitgegeben. Wir sollen Hannibal Steine in den Weg legen, seine Nachrichtenverbindungen versauen und dergleichen mehr.« Der Agent nickte. »Gib acht, daß er davonkommt. Es ist wichtig, daß er lebendig nach Karthago zurückkehrt.« »Natürlich«, sagte der Torg, der schon halb draußen war. »Wir treffen uns doch sicher nach dem Krieg, ja?« Am Nachmittag war der Kampf vorüber. Zwanzigtausend karthagische Tote lagen auf dem Schlachtfeld verstreut, weitere zwanzigtausend wurden gefangen, während fast fünfzehntausend Mann aus Hannibals Armee schmählich die Flucht ergriffen. Hannibal selbst gelang es, mit einer kleinen Abteilung zu entkommen. Wahrscheinlich wunderte er sich immer noch, was die dreitausend »Söhne des Syphax« wohl aufgehalten hatte. Niemand schien den Abflug des merkwürdigen untertassenförmigen Fahrzeuges, das sich in nordwestlicher Richtung entfernte, bemerkt zu haben, genausowenig die schlanke TERRA-Zeitfähre, die den
Gleiter verfolgte. Niemand hielt es für wichtig, den schrecklichen Buschbrand zu melden, der das Gestrüpp in einem Umkreis von sieben Kilometern erfaßt hatte, als sich die »Söhne des Syphax« näherten. Sie mußten einen zeitraubenden Umweg machen. Niemand sah, wie der zweite Galaktopower-Gleiter vom Himmel stieß. Sein dünner, oranger Lichtstrahl fiel auf die Instrumente des gestohlenen Gleiters, ließ sie hellrot aufleuchten und Funken sprühen, als er einen Hügel rammte.
19 Von dem Anprall wie betäubt lag Fortune, alle viere von sich streckend, eine Minute lang über der narrensicheren Steuerung, bevor ihm klar wurde, daß sein Überleben davon abhing, daß er den Gleiter schleunigst verließ. Durch die zerbrochenen Scheiben der Sichtluken sah er, wie sein Gegner auf einem Hügelzug, der die Gegend beherrschte, Stellung bezog. Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Instrumentenraumes, hatte die Klappe des Notausstieges in die Bordwand des Schiffes eine Lücke gerissen. Das Ausmaß des Schadens festzustellen war unmöglich. Außerdem hätte es ohnehin nur theoretischen Wert gehabt, da er den Gleiter ohne Reparaturen nicht wieder flottmachen konnte. Obwohl die Visiereinrichtung nicht funktionierte, schien die Ultraschallwaffe ansonsten intakt. Auf dem Weg zur ruinierten Ausstiegsluke ließ er sie mitgehen. Flammen züngelten am unteren Teil des Astrogators empor, als Fortune sich durch den gezackten Riß quetschte, benommen die glatte reibungsfreie Wölbung des Antriebsgehäuses entlangglitt und sich auf den Boden fallen ließ. Er lief, glitt und rollte sich hinter eine Felsformation. Im Innern des Gleiters ertönte eine mächtige Explosion. Die Ka-
bine, die er eben verlassen hatte, erglühte dunkelrot. Es bestand die winzige Chance, daß die Angreifer seinen Sprung in die Sicherheit nicht bemerkt hatten, doch war diese Möglichkeit zu klein, um darauf bauen zu können. Die Chancen waren mies. Er war am Ende angelangt. Seine Mission ebenfalls. Von jetzt an konnte EMPIRE zur Rettung Karthagos nicht mehr viel tun. Der römische Moloch besaß jetzt nach dem Sieg Scipios bei Zama zuviel Wucht. Karthago würde keine Blüte mehr erleben. Die Zeitlinie war wiederhergestellt, das Mittelmeer würde ein römischer See werden. Die Erdgeschichte stützte jetzt wieder ihre eigene Grundzeit-Realität. Wenn es auch keine Rolle spielte, ob Hannibal Fortune am Leben blieb oder unterging, so wollte er nicht auf das Vergnügen verzichten, einen oder mehrere seiner Gegner mitzunehmen. Er spähte hinter dem Felsen hervor, legte an und feuerte. Das Gras unter dem zweiten Gleiter loderte auf. Er war eben in Deckung gegangen, als die Luft unter der Wirkung der Überschallenergie knisterte und der Boden um den Felsen in Brand gesetzt wurde. Neben der Kanone des Gegners wirkte seine eigene Handfeuerwaffe wie eine Steinschleuder. Der Gedanke an David und Goliath bot ihm keinen Trost. Das Knistern hörte auf. Er hörte das Wimmern des Stators, als der Gleiter von dem Hügel abhob. Fortune machte sich auf einen Angriff aus anderer Richtung
gefaßt, als er den vertrauten leisen Knall hörte, der anzeigte, daß eine Fähre in die Sichtphase eintrat. Er sah sie knapp fünfzig Meter vor sich. Die Luke wurde bereits langsam geöffnet, der Einstieg wurde heruntergeklappt. Aus der Öffnung ragte eine Laserpistole von TERRA. Ein dünner violetter Lichtstrahl umspielte den Gleiter. Fortune konnte es nicht sehen, da der Felsen dazwischen war. Das Heulen des Gleiterstators erstarb, und das Gefährt stürzte lautstark zu Boden. Jetzt konnte er auch die Gestalt des Mädchens im Einstieg der TERRAZeitfähre erkennen. Sie brachte wieder die Waffe in Anschlag. Fortune riskierte einen raschen Blick über den Felsen hinweg. Der Gleiter war auf der Leitkante aufgekommen. Die Kanone funktionierte noch immer. Sie zielte auf den Boden und ließ den Sand verglasen. Der Laserstrahl umspielte die Energieanlage des Gleiters und bewirkte eine Reihe kleinerer Explosionen, während sich der Strahl nach den Hauptenergiezellen vortastete. Wie um zu beweisen, daß der Gleiter noch intakt war – falls noch mehr Beweis nötig war als das improvisierte Glasmachen – glitt die Einstiegrampe des Gleiters in einem merkwürdigen Winkel heraus. »Beeil dich, Hannibal!« rief das Mädchen. Im Schatten der Rampenöffnung entstand Bewe-
gung. Sorgfältig bestrich Fortune die Öffnung mit Schall-Todesstrahlen. Luise hielt die Laserpistole ruhig in Anschlag und durchschnitt methodisch das Gehäuse der Antriebsaggregate des Gleiters, die aus drei kugelförmigen Gebilden von Menschenkopfgröße bestanden. Die Trümmer des Gehäuses fielen in den lädierten Gleiter. Gleich darauf hielt die Rampe in ihrer Bewegung inne. Geschmolzenes Glas blubberte in seinem Sandschmelztiegel. Die Ausstiegsluke öffnete sich einen Spalt breit. Das todbringende Ende einer Schallpistole wurde herausgeschoben. Wahrscheinlich war es das Gegenstück zu dem Ding, das er in Händen hatte. Er hob seine Pistole, konnte aber sein Ziel nur ungefähr anvisieren, da die Zieleinrichtung unterbrochen war, und drückte ab. Er war vom Ziel nicht weit entfernt und bezweifelte, ob ein schnelleres Anvisieren überhaupt möglich gewesen wäre. Der Aufschlag von Überschallhitze machte sich an der Außenfläche des Gleiters als ein Fleck in der glatten Glasur bemerkbar. Er hob seine Waffe in die Höhe der Lukentür und der feindlichen Waffe und drückte auf den Abzug. Damit schweißte er die Lukentür zu, klebte gleichzeitig die feindliche Pistole an die Außenwand des Gleiters und versengte dabei auch den EMPIRE-Mann, der eben auf ihn angelegt hatte. Das alles geschah ruck-zuck,
so mühelos wie ein Niesanfall, obwohl während des Handlungsablaufes jedes einzelne Ereignis unendlich schien. Die Bordkanone spuckte noch zweimal. Dann drang aus dem Antriebsaggregat ein metallisches Krachen. Fortune war erleichtert, daß sie endlich die Antriebszellen getroffen hatte, bevor ihm seine Munition ausgegangen war. Hoffentlich blieben ihm ein paar Millisekunden, damit er es der Besatzung ordentlich zeigen konnte, denn Laserstrahlen kamen noch durch, wo Schallwellen bloß die Oberfläche erhitzten. Luise legte auf den Passagierraum an und durchlöcherte ihn. Im Geiste vergab Fortune ihr, daß sie ihn in China so lieblos hinausgeworfen hatte. Sollte sie je das Verlangen spüren, ihn bei einer seiner Missionen zu besuchen, würde er sie herzlich willkommen heißen, auch wenn sie Chinesin bleiben wollte. Wieder blitzte es an der Rampenöffnung auf. Fortune legte darauf an. Er grinste, als eine Strahlenpistole auf die Rampe polterte und über die Kante glitt. Es würde eine Weile – vielleicht fünfzehn bis zwanzig Sekunden dauern – ehe es aus dieser Richtung wieder zu einer Aktion käme. Fortune genügten fünf oder sechs Sekunden. Er wagte sich hinter dem Felsen hervor und sprang auf das Rettungsschiff zu, während Luise ihm mit
dem Laserfeuer Deckung gab. Die acht oder zehn Schritte schienen ihm wie hundert Schritte bergauf mit beschwerten Schuhen. Endlich stemmte er sich hinauf in die Fähre, zwängte sich an Luise vorbei und drückte im Vorübergehen auf den Türmechanismus. »Ich freue mich, daß du kommen konntest«, sagte er. Er überprüfte die Koordinaten und griff nach dem Zeitknopf, der ihn sicher in die Zeitdimension neunzig Grad verrückt vom Jetzt versetzen sollte. Die Tür glitt seufzend zu. Fortune machte eine Handbewegung, und die Zeitfähre erfüllte ihre Aufgabe. »Auf der Einladung stand zwar etwas von Erfrischungen, aber du ...« Er drehte sich um und starrte den verbrannten breiigen Klumpen an, der noch vor einem Moment Kopf und Schultern von Luise Little gewesen war. Die Laserpistole polterte zu Boden und glitschte durch die Kabine. Aus Tonbandaufzeichnungen: Die Geschichtsbücher berichten bloß, daß die »Söhne des Syphax« sechs Stunden zu spät kamen. Sie wurden von den Resttruppen Scipios buchstäblich zerstückelt. Karthago hatte aufgehört, als Weltmacht zu existieren. Die Karthager folgten Hannibals Rat und unterwarfen sich Rom.
Lange sitzt man da und starrt das Ding an, während einem der Atem ausgeht. Gewöhnliche Menschen haben einen Vorrat an vorprogrammierten »passenden« Antworten für grausame Situationen parat, Antworten, die gewöhnlich mit den sie auslösenden Situationen nicht viel zu tun haben. Auch du hast Antworten. Doch die der gewöhnlichen Menschen sind wahrscheinlich weitaus tröstlicher. Du benutzt jene Waffe, die Luise von Anfang an hätte benützen sollen, nämlich die auf dem Dach der Zeitfähre eingebaute Laserkanone. Man muß das Schiff als ganzes wenden, um die Kanone auf den flugunfähigen Gleiter richten zu können, was man aber in der Unsichtbarkeitsphase gefahrlos tun kann. Dann tritt man wieder in die Zeitdimension des objektiven Jetzt ein – nur so lange, als man braucht, um auf den roten Knopf zu drücken und das Aufflammen zu sehen, wenn der Gleiter sich auflöst. Die Genugtuung ist akzentuiert, aber enttäuschend kurz. Du zielst abermals, diesmal auf die Reste deines eigenen Gleiterwracks und pustest es aus der realen Welt, zusammen mit einer halben Tonne nordafrikanischer Wüste. Diese rituelle Vernichtungsweise verliert langsam an Reiz. Die Zerstörung des ersten Gleiters war doppelt so vergnüglich. Soviel über die passende Antwort.
Du entdeckst, daß es dir hilft, sie anzusehen. Gesicht und Haar sind natürlich weg. Es könnte jede Beliebige gewesen sein, wenn du nicht wüßtest, daß es Luise war. Luise lebt nicht mehr. Die rechte Körperhälfte ist verbrannt. Dort hat der Hitzestrahl direkt gewirkt. Alles übrige ist relativ normal. Egal. Luise ist nicht mehr. Auch die Teile, die noch wie Luise aussehen, sind nicht mehr Luise. Du beginnst bereits zu vergessen, wie sie ausgesehen hat. Vielleicht hast du es nie wirklich gewußt. Spielt das überhaupt eine Rolle? Aber du hast sie geliebt. Jedenfalls hat das vor dir liegende Ding einmal als Teil eines Wesens funktioniert, das du als Luise Little gekannt hast, und es funktioniert jetzt nicht mehr. Du erinnerst dich, daß du wütend auf jemanden warst, der sie in eine Chinesin verwandelt hatte. Auch über sie warst du wütend. Egal. Du hast sie geliebt. Das war wichtig. Du hast sie geliebt, und sie hat dich geliebt. Du siehst die Tote an. Sie weiß von nichts, weil sie keinen Anteil an einer funktionierenden Luise hat. Wäre sie noch am Leben gewesen, hättest du ihr alles erklären können. Vielleicht auch nicht. In Anbetracht der Umstände wäre vielleicht eine würdige Beerdigung gemäß der Sitte angebracht. Würdige Geräuschkulisse, ein wenig Dichtung, ein Grabstein. Ein
Begräbnis im Erdenstil wäre am passendsten, denn wenn du dich nicht auf irdische Art verliebt hättest, gäbe es jetzt keine Tote. Du kannst jetzt verstehen, warum manche Menschen besonders in den Kulturen des Planeten Erde Beerdigungen zu genießen scheinen. Da es auf die Erde paßt, wirst auch du die Beerdigung genießen. Jetzt erst wird dir klar, wie das alles eigentlich gekommen ist. Du hast Luise mit Eigenschaften ausgestattet, die nur in deiner Phantasie existiert haben, und warst dann wild, weil sie deinem Phantasiebild nicht entsprechen konnte. Du hast eine Vorstellung von Luise verzweifelt und wie wahnsinnig geliebt, die mit der echten Luise wenig Ähnlichkeit hatte. Als sie ernste Besorgnis äußerte, daß eure Einsätze gefahrvoll wären, hattest du bloß das Gefühl der Abweisung – und kehrst jetzt ganz elend zu deiner Mission zurück, weil DEINE Luise dich nie so lieblos behandelt hätte. Jetzt trifft dich die Ironie mit voller Wucht – dein Liebeswahn war der Grund dafür, daß du alles verkehrt gemacht hast – und jetzt wurde es nötig, daß Luise eingreifen mußte und dabei getötet wurde. Es sind zwar nur Gedankenschlüsse deinerseits, aber für ein Begräbnis reicht es. Du begräbst sie aber dann doch nicht, obwohl es sehr passend gewesen wäre. Und du nimmst sie nicht
mit nach Hause – es ist ja nichts übriggeblieben, das wert wäre, geborgen zu werden. Du trägst sie also auf den Hügel, besteigst dann wieder den Transporter und zielst mit dem großen Laser genau auf sie. Du hältst einen Augenblick inne, rufst dir die Worte ins Gedächtnis und sprichst sie ganz leise vor dich hin: »Erinnere dich und bedauere nichts. Was gewesen war, war schön – auch wenn es vergangen ist.« Dann drückst du den roten Knopf. Hannibal Fortune beobachtete die bunten Lichtstreifen, die schon längst die Sterne abgelöst hatten. Fast eineinhalb Stunden waren vergangen, seitdem er Webley und Ronel auf dem Schlachtfeld aufgelesen hatte. Zuerst hatte er befürchtet, daß Ronel nach Luises Tod dieselbe Art symbiotischer Witwenverbrennung begehen würde wie Arrik, doch hatte Webley es offenbar erfolgreich verhindern können. Die letzten zwanzig Minuten hatten die zwei Symbioten schweigend verbracht. Vermutlich verständigten sie sich auf anderer Ebene. Web würde für einige Zeit seine Pseudobeine anpressen. Die symbiotische Verschmelzung war ein intensiveres Ineinanderübergehen der Individuen als er und Luise es je erreicht hatten. Fortune wünschte, er hätte mehr über die seelische Struktur der Torg gewußt. Er kontrollierte die Koordinaten, las die Zwillings-
uhren ab und speiste eine Ortsangabe in den Computer. Sofort erhielt er die gewünschte Antwort. Er stellte die Instrumente auf den Übergang in die Sekundärphase ein und drückte den Zeitknopf. Die fadenähnlichen Lichtstreifen lösten sich in helle Pünktchen auf. Vor ihm dräute die tote Oberfläche des Planeten Sfarua, dessen allgegenwärtiger Ozean die vier nächstgelegenen Sterne widerspiegelte. Er lenkte die Zeitfähre auf die halbmondförmige Inselgruppe zu und verharrte im Schwebezustand über dem Gebiet, wo er Luise in der Technik der Zeitreise unterwiesen hatte. Es fiel ihm schwer, sich den genauen Ablauf der Ereignisse an jenem längst vergangenen Tag ins Gedächtnis zu rufen – so vieles war seither geschehen. Doch er erzwang die Erinnerung. Dann bewegte er wieder den Zeitschalter. Die Landschaft unter ihm verfärbte sich rötlich und schien jetzt belebter. Vor ihm tauchte die schimmernde Zeitfähre auf. Fortune ging näher. Er behielt dabei den Boden unter sich im Auge. Mit einer Hand bediente er den Zeithebel, bis er endlich die zwei Gestalten entdeckt hatte, die auf die wartende Zeitfähre zuliefen. Dann zog er den Hebel so weit zurück, bis die Szene draußen ein fast normales Bild bot. Das Paar unterhielt sich einige Minuten lang, dann zog der Mann ein Steueraggregat aus dem Gürtel, drückte den Aktivie-
rungsknopf, und die Luke der Zeitfähre schwang auf. Luise winkte ihm zu, als er hineinkletterte. »Das ist aber nicht die TERRA-Kontrollzentrale«, sagte Webley unvermittelt und durchbrach damit das Schweigen. »Nein«, sagte Fortune und streifte seine blutige Kleidung ab, die noch die Spuren des Kampfes trugen. »Und ich habe keine griechische Tunika getragen, als ich damals an Bord ging.« »Hast du noch alle Tassen im Schrank?« fragte der Symbiot, der sich nicht abwimmeln ließ. »Weißt du, was du jetzt tust?« »Genau.« Fortune öffnete sein Bewußtsein der erwarteten Bestätigungssonde und fügte in Gedankensprache hinzu: Verstehst du denn nicht? »Na schön. Aber mach gefälligst die Luke sauber, bevor du sie öffnest.« Draußen verschwand plötzlich die zweite Zeitfähre. Fortune nahm mit seiner Fähre jenen Platz ein, den die andere innegehabt hatte, versetzte sie in das objektive Jetzt. Er stand auf und verbrachte ein paar entsetzliche Sekunden damit, den Einstieg zu säubern. Den blutigen Lappen warf er weg. Dann öffnete er und sah hinaus. Das Mädchen schien eine völlig fremde Person zu sein. Fortune starrte sie an und las Erstaunen in ihren Augen.
»Hannibal!« rief sie. Verspätet zwang er sich zu einem Lächeln und sprang hinunter. »Wo warst du?« Ihre banale Frage klang besorgt. »Geheimauftrag«, sagte er mit breitem Grinsen. Das Mädchen war anders. Ihr Gesicht entsprach nicht dem geistigen Bild, das er in Karthago vor sich gesehen hatte. »Ich wollte dir ein Geschenk mitbringen«, sagte er mit gewollt neckischem Tonfall, »doch die Einheimischen waren bei weitem nicht so freundlich, wie ich erhofft hatte.« Noch während des Sprechens merkte er, daß sie ihm nicht glaubte, doch er konnte sie die Wahrheit nicht einmal ahnen lassen. Seine Rückkehr war eine Laune, der er nachgegeben hatte, der Höhepunkt vieler alberner Launen. Er mußte das alles so harmlos wie möglich hinstellen. Ganz harmlos, mahnte er sich, aber doch so überzeugend, daß sie mich ernst nimmt. Als wäre es ihm erst jetzt eingefallen, sagte er: »Liebling, dieser Besuch ist zufällig und ganz irregulär. Es könnte für mich gefährlich werden, wenn ich mich später einmal daran erinnere.« »Gut«, sagte Luise. Sie hatte sich seinem oberflächlichen Ton fast angepaßt. »Ich werde mich bemühen und es dir gegenüber nicht erwähnen.« Doch ihre Augen straften ihren Ton Lügen. Er fragte sich, ob es nur Einbildung war, daß ihre Augen
sagten: »Halt mich fest, und beweise mir, daß du wirklich bist.« Er versuchte den Klumpen in seinem Hals zu ignorieren und streckte die Arme nach ihr aus. Als sie sich in seine Arme warf, spürte er die Sinnlosigkeit, die sie wie sorgfältig gestapelte Leere umgab. »Ich liebe dich«, sagte er. Diese Worte lösten andere Worte aus. »Ich habe dich im Moment genau geliebt, wie ich es morgen getan habe. Zeit ist Ansichtssache. Dir ist doch klar, daß wir uns einander eigentlich nicht leisten können. Wir –« Er verbiß sich den Rest des Satzes. »Wir – was, Liebling?« fragte sie. Ihre Lippen schürzten sich flüchtig während der Frage. Er zog sie an sich und flüsterte: »Ich liebe dich, egal, wie du aussiehst.« Dann war sein Mund auf ihrem Mund, und ihr Körper drängte sich an ihn. Sie wollte noch eine Frage stellen, er aber schüttelte warnend den Kopf. »Frag mich nicht. Uns bleiben nur mehr wenige Minuten.« Sie verbarg ihr Gesicht an seinem Hals. Zeit! dachte er verbittert. Sie verrinnt, trotz unserer Technik ... Er war zufrieden, Luise einen Augenblick so zu halten, und genoß Millisekunden. Dann sagte er: »Du mußt so tun, als hätten diese Minuten nie existiert.« Während er diese Worte aussprach, war ihm die Situation auf unheimliche Weise vertraut.
»Ich verspreche es«, erwiderte sie und lächelte dann, als wäre ihr eine Wahrheit klar geworden. Er wußte, noch bevor sie es aussprach, was es war. »Es gibt nur ein Jetzt, nicht wahr? Solange wir leben, haben wir in Wirklichkeit nur ein Jetzt. Das müßte uns eigentlich genügen.« Da er Worten nicht mehr traute, zog er sie wieder an sich und versuchte, für alle Zeiten festzuhalten, wie sich ihre Lippen anfühlten, die Weichheit, Festigkeit ihres Körpers, die Lebendigkeit ihrer Hände, die sich gegen seine Schulterblätter preßten. Widerstrebend trennten sie sich. Beide sagten kein Wort. Fortune spürte, daß Luise intuitiv wußte, was los war. Plötzlich wandte er sich um und kletterte zurück in die offene Zeitfähre. Im Vorbeigehen betätigte er den Lukenmechanismus. Die Tür glitt zu. Fortune taumelte ans Instrumentenbrett, stellte eine Uhr ein und löste den Countdown aus. Die Doppeluhr zeigte an, daß sie immer noch innerhalb der Sicherheitsgrenzen waren. Leise ertönte der Glockenton. Die Kanzel umwölkte und klärte sich. »Was soll das alles?« fragte Webley gereizt. Fortune sah hinaus auf die Sternenstreifen und kontrollierte die Instrumente. Erst als er sicher war, daß sie auf normalem zeitüberspringendem und nichträumlichem Kurs waren, drehte er sich um und
sah die zwei Symbioten an, die im Hintergrund der Kabine kauerten. »Manchmal bringt man es nicht fertig, Adieu zu sagen«, sagte er. Ihre Stimme widerhallte leise in einem warmen, fernen Teil seines Bewußtseins: »Solange wir leben, haben wir in Wirklichkeit nur das Jetzt. Das sollte uns genügen.« Es würde schrecklich sein, die Worte nie wieder hören zu können. Vielleicht.
Nachwort des Verfassers Das eben Geschilderte ist ein auf Tatsachen beruhender Bericht über die merkwürdigen Umstände des Sieges von Publius Cornelius Scipio über Hannibal von Karthago in der Schlacht bei Zama. Sämtliche Tatsachen wurden sorgfältig mit den Archiven der TERRA-Kontrollzentrale verglichen. Jenen Lesern, die sich dafür interessieren, wie Generationen von Dichtern, Militärs und pedantischen Schreibern die Wahrheit verstümmelt haben, empfiehlt der Autor folgende Titel: A greater than Napoleon – Scipio Africanus, Captain B. H. Liddell Hart, Wm. Blackwood & Sons, Edinburgh & London, 1926. Hannibal, Enemy of Rome, Leonard Cottrell, Holt, Rinchart & Winston, New York, 1960. Hannibal: One man against Rome, Harold Lamb, Doubleday, New York, 1958. The History of Rome, Titus Livius, übersetzt von Spillan und Edmunds, G. Bell & Sons, Ltd., London, 1919. The History of Polybius, übersetzt von W. R. Paton, William Heinemann, London, 1922. Der ernsthafte Forscher soll jedoch bei der Lektüre der obengenannten Werke nicht Mark Twains Be-
merkung über die Punischen Kriege vergessen: »Die Arbeiten vieler Altertumsforscher haben das Thema bereits so gründlich verdunkelt, daß wir, wenn sie so weitermachen, wahrscheinlich überhaupt nichts mehr wissen werden.« In diesem Sinne mögen auch die hinter EMPIRE stehenden dunklen Mächte irregeführt werden.