Kristin Bulkow · Christer Petersen (Hrsg.) Skandale
Kristin Bulkow Christer Petersen (Hrsg.)
Skandale Strukturen und...
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Kristin Bulkow · Christer Petersen (Hrsg.) Skandale
Kristin Bulkow Christer Petersen (Hrsg.)
Skandale Strukturen und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17555-3
Skandal, medialisierter Skandal, Medienskandal
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Inhalt
Kristin Bulkow & Christer Petersen
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Skandalforschung: Eine methodologische Einführung
Geschichte und Politik des Skandals Frank Bösch
029
Kampf um Normen: Skandale in historischer Perspektive Annika Klein
049
Hermes, Erzberger, Zeigner: Korruptionsskandale in der Weimarer Republik Michael Holldorf
067
Von der Möglichkeit eines Neuanfangs: Der politische Skandal und Hannah Arendts Gesellschaftskritik Lars Koch
087
Sloterdijk-Debatte 2.0: ‚Skandalöse‘ Anthropologie im diskursiven Spannungsfeld von Biotechnologie, Ökonomie und Zukunftsangst Patrick Weber
Determinanten von Skandalisierung in der politischen Auslandsberichterstattung: Eine empirische Analyse
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Skandalforschung: Eine methodologische Einführung
Medienskandale und Skandalmedien Steffen Burkhardt
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Skandal, medialisierter Skandal, Medienskandal: Eine Typologie öffentlicher Empörung Franziska Oehmer
157
Skandale im Spiegel der Zeit: Eine quantitative Inhaltsanalyse der Skandalberichterstattung im Nachrichtenmagazin Der Spiegel Kristin Bulkow & Christer Petersen
177
Reich-Ranicki, Heidenreich und der Deutsche Fernsehpreis 2008: Quantitativ-qualitative Inhaltsanalyse eines Medienskandals Stefan Hauser
207
„Im Klub der Spritzensportler“ – Medienlinguistische Beobachtungen zur kontrastiven Analyse von Dopingskandalen Ingo Landwehr
Unfundiert, tendenziös und unnötig verletzend. GeenStijl – Das Medium ist der Skandal
227
Skandal, medialisierter Skandal, Medienskandal
7
Skandalkultur und die Kunst der Provokation Johann Holzner
249
Kunst und Spektakel: Skandale im Beziehungsraum zwischen Literatur und Macht Sascha Seiler
263
„Das Herz ist vor allem trügerisch“ – Inszenierung von sexuellem Missbrauch in J.T. Leroys Sarah und Andrew Jareckis Capturing the Friedmans Anke Steinborn
277
Frauenmord und Skandal viral – Young British Art. Ein Fallbeispiel Martin Gegner
God Save the Queen: Zur gesellschaftlichen Funktion von Popskandalen im Vereinigten Königreich
299
Skandalforschung: Eine methodologische Einführung
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Skandalforschung: Eine methodologische Einführung Kristin Bulkow & Christer Petersen
Wenn Jean Baudrillard in einem seiner frühen Essays über Watergate und damit über das Beispiel für einen modernen politischen Skandal gleichermaßen beiläufig wie selbstverständlich behauptet: „Watergate ist kein Skandal – das gilt es auf jeden Fall festzuhalten“ (1979: 28), dann liegt dem ein Skandalbegriff zugrunde, der mit der Öffentlichmachung einer Verfehlung auch impliziert, dass die Verfehlung als Abweichung von der Norm eine Ausnahme darstellen muss. Und genau darum, weil Watergate in Baudrillards Beschreibung des westlichen Kapitalismus und seiner Institutionen, der Wissenschaft, der Justiz, der Medien und eben der Politik, keine Ausnahme darstellt, dürfe Watergate nicht als Skandal gelten. Vielmehr sei es mit dem ‚Watergate-Skandal‘ bloß „gelungen, den Eindruck zu erwecken, dass es tatsächlich einen Skandal gegeben“ habe, um damit „der Gesellschaft wieder eine ordentliche Dosis politische Moral“ zu verabreichen (1979: 27), eine politische Moral, die es in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht mehr gibt und die es für Baudrillard nie gegeben hat: „Watergate war nur eine Falle, die das System seinen Gegnern gestellt hat – die Simulation eines Skandals“ (1979: 29). Diese Interdependenz von Skandal und Norm, die reziproke Konstruktion des einen im anderen, lässt den Skandal nicht allein für den Soziologen und Medienphilosophen Baudrillard zu einem Phänomen gesteigerten Interesses avancieren. Vielmehr scheint sich der Skandal als Untersuchungsobjekt keiner bestimmten Disziplin verorten zu lassen, da er in seiner komplexen kommunikativen Struktur die Aufmerksamkeit einer Vielzahl geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen weckt, unter anderem der Medien- und Kommunikationswissenschaft, der Historiographie, Politologie und Soziologie sowie der Literatur-, Kunst- und Kulturwissenschaft. So offenbart bereits ein erster Blick auf einige wenige Skandale der letzten Dekade: Skandale machen nicht nur Normverletzungen in großem Stil sichtbar und produzieren öffentliche Empörung über ein vermeintliches Fehlverhalten, sondern legen im Verstoß die Regeln und Dispositive der jeweiligen diskursiven und performativen Praxis – gerade auch für die wissenschaftliche Analyse – offen. Während beispielsweise in der Endphase der Bush-Administration Verletzungen des Kriegs- und Menschenrechts in Haditha, Abu Ghraib oder Guantanamo von den westlichen Medien skandalisiert wurden, empörte man sich in K. Bulkow, C. Petersen (Hrsg.), Skandale, DOI 10.1007/978-3-531-93264-4_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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denselben Medien kurz nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 noch vorzugsweise über Äußerungen, die nicht konform mit der Selbstinszenierung der USA als einem singulären Opfer gingen.1 So etwa über Karlheinz Stockhausens Statement, die Anschläge seien „das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat, […] das es überhaupt gibt für den Kosmos“ (2001: 91). Dabei zeigt das Beispiel auch, wie sich Skandale über ihren jeweiligen Diskurs hinaus ausweiten können. Ein künstlerisches Statement wird hier zu einem Politikum. Zugleich scheint das, was als skandalträchtig gilt, nicht nur stets historisch bedingt, sondern auch medial. Erst im Verstoß gegen ein jeweils gültiges Tabu und im Rahmen massenmedialer Verbreitung kann sich ein Skandal voll entfalten, heute überhaupt erst zu einem Skandal werden. Das gilt sowohl für politische, wirtschaftliche und kulturelle als auch für genuin mediale Skandale, Skandale in und über (Massen-)Medien, wie etwa Reich-Ranickis ‚Wutrede‘ über den vermeintlichen Verfall der Fernsehkultur anlässlich der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises 2008, Janet Jacksons ‚Nippelgate‘, die sich 2004 während der Liveübertragung des 38. Super Bowl buchstäblich enthüllte, oder die politischen Enthüllungen von Wikileaks und ihrem Gründer Julian Assange im Jahre 2010, der selbst zum Objekt einer Skandalkampagne um sein vorgeblich kriminelles Sexualverhalten wurde. Die Beispiele zeigen nicht zuletzt auch, dass in dem Moment, in dem ein Skandal der Öffentlichkeit präsentiert wird, er mediale Kampagnen und Gegenkampagnen auslöst, die um eine Vorherrschaft in der öffentlichen Meinung streiten, und je nachdem, wofür oder wogegen sie eintreten, gesellschaftliche Normen de- oder rekonstruieren, aus einer Position der Beobachtung zweiter Ordnung – ganz im Sinne Baudrillards – aber genau die moralische Differenz etablieren, die im Skandal gefährdet scheint, um im Zuge der öffentlichen Konsolidierung der moralischen Differenz diese auch schon wieder zu destabilisieren: Wenn die öffentliche Zurschaustellung von Janet Jacksons Brust samt Piercing die Sittenwächter auf den Plan rief, dann nur um den Preis der wiederholten (wie auch immer encodierten) Zurschaustellung dessen, was man gerade nicht in der Öffentlichkeit sehen wollte. Denn indem Janet Jackson sich so öffentlich entblößte,2 sollte eine Aufmerksamkeit provoziert werden, die ihr erst im Normbruch zuteil werden konnte, und zwar sowohl in der Empörung über die Zurschaustellung selbst als auch in der Entrüstung über die Empörung derer, die sich tatsächlich ernsthaft moralisch an der Entblößung stießen. Und auch die scheinbar gelassene, moralisch indifferente Haltung derer, die Janet Jacksons 1 2
Kritisiert wird diese Haltung ausführlich in Butler (2004). Um den Sachverhalt in der knappen Beschreibung etwas zu vereinfachen, schweigen wir uns auch hier über die Assistentenrolle aus, die Justin Timberlake als ‚inszeniert zufälliger‘ Verursacher der Entblößung innehatte.
Skandalforschung: Eine methodologische Einführung
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Selbstinszenierung zu durchschauen meinten, reproduzierte im vermeintlich distanzierten Diskurs über die Naivität der anderen die Normen der Empörten wie die Normen derer, die sich glaubten über die Empörten entrüsten zu müssen. Der Band will dieser Vielschichtigkeit von Skandalen, ihrer Strukturen und Strategien, ihrer Mechanismen und Ökonomien gerecht werden, indem sich seine Beiträge im Rahmen quantitativer und qualitativer Methoden einerseits sowie aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen andererseits dem Phänomen des ‚modernen Skandals‘ in drei Kapiteln nähern. Innerhalb jedes der – nicht unbedingt trennscharfen – thematischen Abschnitte sollen ausgehend von Skandaltheorien und Fallanalysen grundsätzliche Überlegungen zu den Konstituenten, Inhalten und Kommunikationsweisen von Skandalen im Feld der Politik, der Medien und der Kunst angestellt werden. DER FORSCHUNGSSTAND Während Baudrillard Watergate nur als ein prominentes Beispiel im Rahmen seines skeptizistischen Diskurses dient, soll ein Überblick über die Studien, die sich vorrangig und systematisch dem Phänomen des Skandals gewidmet haben, auch einen Überblick über den aktuellen Stand der Skandalforschung bieten, um damit nicht zuletzt den Ausgangspunkt für die in diesem Band versammelten Beiträge zu markieren. Konstituenten des Skandals Kaum eine Studie zur Skandalforschung kommt ohne den Hinweis auf das breite Alltagsverständnis des Skandalbegriffs und, daraus resultierend, der definitorischen Eingrenzungen desselben aus (z.B. Neu 2004; Bösch 2006; Pundt 2008). Der Skandalbegriff, der aus diesen theoretischen Bemühungen hervorgegangen ist, hat dabei in den letzten Jahrzehnten deutlich an Kontur gewonnen. So besteht inzwischen ein weitgehender, durchaus interdisziplinärer Konsens darüber, was einen Skandal ausmacht, welche Rollen die daran Beteiligten einnehmen und welche Phasen Skandale in der Regel durchlaufen. So findet Neckels (1989) Skandaltriade, welche die Akteure des Skandals umreißt, in der Skandalforschung breite Anwendung. Demnach sind an einem Skandal mindestens folgende Akteure beteiligt: „der Skandalierte (der einer Verfehlung von öffentlichem Interesse öffentlich bezichtigt wird), der Skandalierer (einer, der diese Verfehlung öffentlich denunziert), so wie ein, oder besser:
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mehrere Dritte, denen über das, was zum Skandal geworden ist, berichtet wird und die daraufhin eine wie auch immer geartete Reaktion zeigen“ (1989: 58f.). Schon diese Vorstellung der Akteure macht deutlich, dass es sich bei einem Skandal um einen dynamischen Prozess handelt. Jeder einzelne Akteur bzw. jede Akteursgruppe reagiert auf die Handlung der anderen. In stark vereinfachter Form lässt sich der Skandal somit wie folgt umreißen: Eine Handlung des Skandalierten führt zu einer Handlung des Skandalierers, Dritte reagieren wiederum auf diese beiden Handlungen. Der Ablauf eines tatsächlichen Skandals ist dennoch meist komplexer. Um diese dynamischen Prozesse systematisch zu untersuchen, hat sich die Unterteilung in mehrere Skandalphasen durchgesetzt (z.B. Thompson 2000; Kepplinger 2005; Burkhardt 2006). In Anlehnung an Luhmanns (1971: 18f.) Phasen einer Themenkarriere lassen sich beispielsweise Latenz-, Aufschwungs-, Etablierungs- und Abschwungsphase unterscheiden (Burkhardt 2006: 204). In der Latenzphase ist der eigentliche Inhalt des Skandals, die potentiell skandalöse Handlung, angesiedelt. Die Enthüllung dieser Tat fällt in die Aufschwungsphase. Hier erfolgt die Veröffentlichung der Handlung in den Medien. In der Etablierungsphase findet die Bewertung als Skandal statt, die aus der hervorgerufenen breiten öffentlichen Empörung über die Tat resultiert. Hier können sich auch die Konsequenzen für den Skandalierten ergeben, die auf die Abstellung des Missstandes zielen. Gleichzeitig setzt damit die Abschwungsphase des Skandals ein. Je nach Verlauf des Skandals ist auch eine mögliche Rehabilitationsphase im Anschluss an den eigentlichen Skandal denkbar. Trotz der definitorischen Fortschritte ist und bleibt der Skandal ein gesellschaftliches Phänomen, das in seinem Verlauf kaum zu prognostizieren ist. So können etwa potentielle Skandale, die augenfällig alle von der Forschung ausgemachten Kriterien eines ‚erfolgreichen‘ Skandals erfüllen, dennoch wirkungslos verpuffen. Eine Erklärung für diesen Umstand zeichnet sich ab, wenn man den Skandal als zweidimensionales Konstrukt betrachtet. Auf der ersten Ebene lässt sich dabei der Sachverhalt verorten, auf den Bezug genommen wird. Die zweite Ebene ist der Vorgang der Skandalisierung selbst, der als komplexes Kommunikationsverfahren begriffen werden muss (Pundt 2008: 211). Inhalt des Skandals Auf der ersten Ebene ist demnach der Inhalt des Skandals zu verorten. Darüber, was potentiell als skandalös erachtet werden kann, besteht in der Skandalforschung ein interdisziplinärer Konsens. Hierunter wird fast ausnahmslos eine Normüberschreitung gegen die in einer Gesellschaft vorherrschenden Wertesys-
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teme verstanden (Neckel 1989: 57). Diese Sichtweise ist der Soziologie entlehnt. Als ethische Imperative leiten Werte demnach das Handeln der Menschen, indem Werte vorgeben, was gesellschaftlich als wünschenswert gilt (Schäfers 2010: 37). Daraus lassen sich wiederum drei für den Skandal wesentliche Punkte ableiten: 1.
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3.
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Nur das Handeln von Menschen kann potentiell skandalös sein. Ein Skandal ist somit ein „menschliches Phänomen“ (Neu 2004: 4). Damit ist der Skandal immer auch an Individuen gebunden. Zwar können auch Handlungen von Institutionen oder Organisationen skandalisiert werden (Konken 2002: 23), dennoch werden auch hier die Normverstöße meist Individuen als persönlich zu verantwortende Handlungen zugeschrieben, was sich häufig in den personalen Konsequenzen äußert, die bei solchen Skandalen gezogen werden. Deshalb kommt Thompson (2000: 22) auch zu dem Schluss: „a scandal is a phenomenon where individuals’ reputations are at stake.“ Interdisziplinär anschlussfähig ist die Definition des potentiellen Skandals als Normüberschreitung gegen in einer Gesellschaft geltende Werte nicht zuletzt deshalb, weil Werte Handlungsorientierungen in ganz verschiedenen Bereichen bieten. So lassen sich z.B. moralische (Aufrichtigkeit, Treue), religiöse (Gottesfurcht, Nächstenliebe), politische (Freiheit, Gleichheit), ästhetische (Kunst, Schönheit) und materielle (Wohlstand) Werte unterscheiden (Raithel et al. 2009: 25). Dementsprechend breit ist auch das Feld, auf welchem potentiell skandalöse Normüberschreitungen erfolgen können. Sowohl der Analyse von politischen Skandalen (z.B. Kohlrausch 2005; Bösch 2009), von Literatur- und Kunstskandalen (z.B. Neuhaus 2007) als beispielweise auch von Sportskandalen (z.B. Böcking 2007) lässt sich dieses SkandalVerständnis zugrunde legen. Werthaltungen sind an bestimmte Gesellschaften gebunden. Das heißt zum einen, dass in verschiedenen Kulturen verschiedene Werte bedeutsam sein können (Trommsdorf 1999: 171). So wurden gerade nach dem 11. September 2001 unter dem Schlagwort ‚Clash of Civilisations‘ (Huntington 1993, 1998)3 häufig unterschiedliche Wertesysteme des christlichen und islamischen Kulturkreises diskutiert. Was als potenziell skandalös gilt, kann demnach einerseits von Kulturkreis zu Kulturkreis differieren. Andererseits kann es, beispielsweise durch Modernisierung, auch zu einem Wertewandel innerhalb einer Gesellschaft Zur Kritik an Samuel Huntingtons spätestens in ihrer Begründung haltlosen These vom (so die im Deutschen übliche Übersetzung) ‚Kampf der Kulturen‘ siehe ausführlich Sen (2006).
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Kristin Bulkow & Christer Petersen kommen (Inglehart 1989). Werthaltungen, die etwa im Mittelalter in Westeuropa handlungsleitend waren, müssen es in der heutigen Gesellschaft nicht mehr sein: „Was zu einer bestimmten Zeit unzulässig ist, führt zu einem anderen Zeitpunkt nicht zwangsläufig zum Skandal“ (Bösch 2006: 26).
Ob eine vermeintliche Normüberschreitung jedoch zum Skandal wird, entscheidet sich erst auf einer zweiten Ebene des Skandals, der Ebene der Kommunikationsverfahren der Skandalisierung. Skandalisierung als Kommunikationsverfahren Die vermeintliche Verfehlung ist demzufolge „nur der erste Schritt zum Skandal“ und seine „Enthüllung […] der notwendige zweite Schritt“ (Hondrich 2002: 15). Hier erst wird der vermeintliche Fehltritt öffentlich gemacht. Da das Herstellen von Öffentlichkeit in modernen Gesellschaften hauptsächlich über die Massenmedien erfolgt (Schicha 2000: 173), gilt: „Ohne Medien gäbe es Skandale allenfalls auf dem lokalen Niveau […]. Medien machen aus latenten Skandalen manifeste Skandale, und zwar durch ‚Enthüllungen‘“ (Preiser 1990:15f.; ähnlich auch bei Thompson 2000: 31). Streng genommen macht aber auch die mediale Enthüllung aus einer Normüberschreitung noch keinen Skandal. Vielmehr ist dafür „der dritte Schritt“ der Empörung oder „Entrüstung“ notwendig (Hondrich 2002: 15). Erst in diesem wird die potentiell skandalöse Handlung zum Skandal und öffentlich als ein empörender Verstoß gegen geltende Normen bewertet (Kamps 2007: 260). Im Zuge der Skandalisierung wird demnach moralische Sensibilität reproduziert (Luhmann 1996: 64) und das „Bewußtsein für Grenzen“ geschärft (Hondrich 2002: 60). In der funktionalistischen Skandaltheorie erscheinen Skandale deshalb auch als funktional für die Gesellschaft, weil im Zuge eines Skandales auf Missstände aufmerksam gemacht wird, Skandale zur Stärkung der sozialen Normen beitragen und in ihrer Konsequenz zur Abstellung von Missständen zwar nicht führen müssen, aber durchaus führen können. Erfolgt allerdings keine breite öffentliche Empörung oder verliert sie sich relativ schnell, ist die Skandalierung gescheitert (Kepplinger 2009: 179). Insofern ist „das eigentliche Treibgas, das den Skandal hochgehen lässt, […] die Empörung einer relevanten Öffentlichkeit“ (von Bredow 1992: 200).
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Da die Empörung demnach von zentraler Bedeutung für den Skandal ist, sind die Faktoren von besonderem Interesse, die den Grad der Empörung beeinflussen und somit zum ‚Gelingen‘ einer Skandalisierung beitragen. Wie ausgeführt, ist eine Handlung, die gegen das jeweils gültige Wertesystem einer Gesellschaft verstößt, die Basis eines jeden Skandals. Bestimmte Verstöße haben allerdings laut Neckel (1989: 58f.) und Thompson (2000: 15) größeres Skandalpotential als andere. Dazu zählen Normüberschreitungen im Zusammenhang mit Liebe/Sexualität, Finanzen und politischer Macht. Nach Laermann (1984: 1971) liegt dies darin begründet, dass „Geld, Macht und Sex […] nun mal jedem anschaulich“ sind. Damit wächst die Wahrscheinlichkeit, dass solche Vorgänge von den zunehmend publikumsorientierten Massenmedien (Sarcinelli 2009: 113) überhaupt aufgegriffen und so einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden. Die Veröffentlichungswahrscheinlichkeit ist auch dann als größer einzuschätzen, wenn es im Vorfeld bereits ähnliche Ereignisse gegeben hat. Zumindest dann, wenn diese Ereignisse den Charakter von Schlüsselereignissen haben (vgl. dazu Rauchenzauner 2008). Diese verändern die journalistischen Selektionskriterien. Ereignisse, die den Schlüsselereignissen ähneln, haben dadurch eine bessere Chance veröffentlicht zu werden (Esser et al 2002: 18). Aber nicht nur in welchem Bereich der Normverstoß erfolgt, ist für das Skandalpotenzial relevant, sondern auch wer die potentiell skandalöse Handlung begeht: Individuals who, by virtue of their positions or affiliations, espouse or represent certain values or beliefs (such as those advocated by a religious organizations or a political party) are especially vulnerable to scandal, since they run the risk that their private behavior may be shown to be inconsistent with the values or beliefs which they publicly espouse. (Thompson 1997: 40f.) Thompson macht deutlich, dass auch der öffentliche Status einer Person ausschlaggebend dafür ist, ob ein Normverstoß als Skandal bewertet wird. Wenn eine Person zudem durch ein ihr übertragenes Amt öffentlich für bestimmte Werte einsteht, gilt auch ein privates Zuwiderhandeln des Funktionsträgers als potentiell skandalös: Die moralische Fallhöhe, unentbehrlich für einen Skandal (Enzensberger 1991: 234), ist dann besonders groß. Nach Hitzler (1989: 334) besteht der Skandal darin, dass durch ihr potentiell skandalöses Handeln bestimmte Erwartungen an eine Person erschüttert werden. Dabei sind die Erwartungen an Personen auf jeweils spezifische Normbereiche bezogen. Dieselben Normverstöße können deshalb bei einigen Personen als skandalös bewertet werden, bei anderen dagegen nicht. Oder mit Williams (1998: 6): „No one is sur-
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prised by pop singers or filmstars who sleep around or experiment with drugs but, if a president or a pope engaged in such behavior, there would be a major sandal.“ Darüber hinaus steigern Status und Prominenz desjenigen, der gegen eine Norm verstößt, wiederum die Selektionswahrscheinlichkeit des Vorgangs durch die Massenmedien (Schulz 1997) und leisten somit einer breiten Empörung Vorschub. Umgekehrt gilt dies auch für denjenigen, der den Missstand anprangert. Auch hier ist der „Status des Absenders einer Kommunikation“ nicht nur allgemein (Luhmann 1971: 17), sondern auch für die Skandalisierung von Bedeutung. Dies gilt ebenfalls, wenn die Rolle des Skandalierers von den Medien selbst übernommen wird. Skandalisierungen durch Meinungsführermedien, wie etwa durch den Spiegel oder die Tagesschau (Bönisch 2006: 89), können andere Quantitäten und Qualitäten haben als Skandalisierungen durch weniger auflagenstarke oder angesehene Medien. Das liegt vor allem darin begründet, dass Themen, die in solchen ‚Leitmedien‘ aufgegriffen werden, häufig auch von anderen Medien berichtet werden (Scholz 2006: 45). Die Sichtbarkeit des potentiellen Skandals potenziert sich dadurch. Handelt es sich beim Skandalierer um ein Individuum, sollte auch ein Bezug zwischen dessen Status und dem Normbereich der skandalisierten Handlung vorhanden sein. Im oben ausgeführten Beispiel von Williams wäre es also wenig glaubwürdig, wenn ein für ausschweifende Exzesse bekannter Popsänger die Handlungen des Papstes kritisieren würde. In einem Skandal geht es deshalb immer auch um Glaubwürdigkeit (Kepplinger 2003: 54), zum einen um die Glaubwürdigkeit, mit der der Skandalierte bis dato Normen vertreten hat, diese wird schließlich durch das Fehlverhalten erschüttert; zum anderen um die Glaubwürdigkeit desjenigen, der den Missstand anprangert. Auch sie steht bei einer Skandalisierung auf dem Spiel. Denn: „Wer mit dem Finger auf andere zeigt, zeigt zugleich mit drei Fingern auf sich“ (Kamps 2007: 286). Sollte also dem Kritiker im Zuge der Skandalisierung seine Glaubwürdigkeit abhanden kommen, kann der ursprüngliche Skandal verpuffen oder durch ein Verschiebung des Skandals, bei dem der Kritiker nun selbst im Zentrum steht, abgelöst werden. Ob eine Skandalisierung erfolgreich verläuft, hängt deshalb auch von dem Verhalten und den Kommunikationsstrategien der Skandalakteure im Verlauf der Enthüllung ab (im Einzelnen dazu Donsbach & Gattwinkel 1998: 46). Luhmanns Hinweis: „Im Falle von Skandalen kann es ein weiterer Skandal werden, wie man sich zum Skandal äußert“ (1996: 61), gilt dabei für alle Akteure, die sich an der Skandalkommunikation beteiligen. Jede Handlung kann wiederum für sich skandalös sein. Im Besonderen gilt dies für die Handlungsoption des Skandalierten, den Sachverhalt zu bestreiten. Sollte es sich dabei um eine Lüge handeln und diese im weiteren Skandalverlauf aufgedeckt werden, verleiht dies dem Skandal oftmals eine weit größere Dynamik als der ursprüngli-
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che Normverstoß (Imhof 2000: 59f.). Lügen auf Seite des Skandalierers wiederum könnten einen neuen Skandal auslösen, hinter den selbst der Ausgangsskandal zurücktritt. Auch andere Akteure, die sich im Laufe eines Skandals äußern, wie etwa „Trittbrettfahrer“ (Kepplinger 2009: 185), können im Zuge der Skandalkommunikation, willentlich oder unwillentlich, in den Skandal verwickelt werden bzw. einen neuen Skandal auslösen und so Aufmerksamkeit vom ursprünglichen Skandal abziehen. Skandale als Forschungsgegenstand Der Abriss über die in der Skandalforschung weitgehend konsensfähigen Konstituenten, Inhalte und Kommunikationsverfahren des Skandals hat gezeigt, wie voraussetzungsvoll und fragil der Prozess der Skandalisierung ist. Dieser Komplexität des Skandals als sozialem Phänomen mag es geschuldet sein, dass eine Vielzahl der vorliegenden Forschungsliteratur sich mit dem Verlauf einzelner Skandale befasst (Beckmann 2006: 61). Zugleich aber machen die Bandbreite an denkbaren Akteursgruppen, Inhalten und Kommunikationen sowie deren vielfältige Interdependenzen untereinander den Skandal zu einem Gegenstand interdisziplinärer Forschung, deren Interesse weit über den Verlauf von Einzelfällen sowie den Untersuchungsbereich einzelner Disziplinen hinausreicht. So können potentiell skandalöse Handlungen in zahlreichen Bereichen des sozialen Lebens erfolgen. Dabei offenbart jeder Skandal Einblicke in die gesellschaftliche Wirklichkeit, die über die einzelne Normverletzung und den damit verbundenen Skandalisierungsvorgang hinausgehen. Skandale ermöglichen grundsätzlich Rückschlüsse auf die jeweiligen Normen und Werte einer Gesellschaft. Auch unterschiedliche Wertesysteme unterschiedlicher Kulturkreise einerseits und innerkultureller Binnen- und Subkulturen andererseits werden in ihnen sichtbar. Skandaldiskurse versetzen Gesellschaften aber auch in die Lage, Normen und Werte neu auszuhandeln, beispielsweise durch Enttabuisierung eines Themenkomplexes (Bösch 2003). Diese Grenzverschiebungen sind am Skandaldiskurs (Pundt 2008) oder gerade auch an der Abwesenheit eines solchen nachvollziehbar. So kann beispielswiese die Homosexualität eines Politikers im Gegensatz zu früheren Zeiten heute (zumindest in der BRD) nicht mehr als Auslöser eines Skandals funktionalisiert werden. Neben den oft zitierten Rückschlüssen auf die jeweiligen in einer Gesellschaft geltenden Werten und Normen werden im Skandal aber auch andere Strukturen und Mechanismen enthüllt. So sind Skandale in der Lage, über den einzelnen Missstand hinaus Systemprobleme zu offenbaren. Sich häufende Lebensmittelskandale deuten beispielsweise auf eine verfehlte Agrar- oder Ver-
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braucherschutzpolitik (Ehrke 2001: 276), sich wiederholende Dopingskandale können als Problem des Systems Spitzensport verstanden werden (Singler & Treutlein 2000: 16ff.) und eine Häufung politischer Skandale kann zum Hinterfragen der Gültigkeit und Angemessenheit einer ganzen Regierungsform führen (Kohlrausch 2005: 473). In modernen Gesellschaften, in denen Skandale hauptsächlich medial vermittelt werden, offenbaren Skandale auch Spezifika der medialen „Selbstbeobachtung“ der Gesellschaft (Luhmann 1996: 173). So werden Selektionskriterien für Medieninhalte an der Skandalkommunikation sichtbar, aber auch Veränderungen im Mediensystem selbst. Sich häufende Berichterstattung über Skandale wird dabei etwa als Indikator für eine zunehmende Boulevardisierung der Medien interpretiert (Esser 1999). Skandale erscheinen somit als ein komplexer Forschungsgegenstand, dessen Inhalte, Bedingungen, Prozesse und Konsequenzen inzwischen von den unterschiedlichsten Disziplinen untersucht werden. Sicherlich also stellt die Skandalforschung – wie es Ebbinghausen und Neckel (1989) noch Ende der 1980er feststellen – heute kein vernachlässigtes Forschungsgebiet mehr dar. So hat sich nicht nur eine Vielzahl von Studien aus den unterschiedlichsten Disziplinen diesem Forschungsfeld gewidmet, sondern die Skandalforschung ist immer mehr auch zu einer „interdisziplinäre[n] Schnittstelle“ (Bösch 2004: 503) zwischen den Disziplinen avanciert. Dennoch stehen die Ergebnisse der unterschiedlichen Forschungszweige vielfach immer noch relativ unverbunden nebeneinander, sind Werke, innerhalb derer sich dem Phänomen Skandal auf unterschiedlichem methodischen Wege und aus der Perspektive verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen genähert wird, nach wie vor selten. DER BAND Der vorliegende Band versucht dem komplexen Phänomen des Skandals auf den beiden zuvor skizzierten Ebenen, der Inhalte von Skandalen sowie der Kommunikationsverfahren im Zuge des Skandalisierungsprozesses, gerecht zu werden. So vereint er Beiträge, die sich mit Normüberschreitungen in ganz unterschiedlichen Bereichen beschäftigen, um so der breitgefächerten Inhaltsebene eine Entsprechung zu geben. Die einzelnen Aufsätze behandeln politische Skandale, Medienskandale und Sportskandale ebenso wie Skandale in der Literatur, im Feuilleton, in der Kunst und der Popkultur. Auch auf der zweiten Ebene, der Kommunikationsverfahren, soll die Gesamtschau der Beiträge ein möglichst vielschichtiges Bild zeichnen. Dazu bedienen sich die einzelnen Analysen unterschiedlicher methodischer Ansätze. Insbesondere die Strategien und Ziele sowie
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die diskursive Wirkungsmacht der Skandalkommunikation werden dabei durch qualitative Ansätze offenbart. Mittels quantitativer Verfahren werden Muster von Skandalverläufen, Akteursstrukturen sowie mediale Selektionskriterien im Skandalfall analysiert. Es kommen dabei sowohl Längsschnitt- als auch Querschnittdesigns zum Einsatz. Jedem der drei Kapitel des Bandes ist ein einleitender Artikel vorangestellt, der anhand theoretischer Überlegung in das Thema einführt, unter anderem indem paradigmatische Beispiele für Skandale in Politik, Medien und Kunst angesprochen werden. Ausgehend von Fallbeispielen versuchen die jeweils folgenden Artikel dann, Skandaldiskurse hinsichtlich der genannten Ebenen strukturell – und stets auch mit Blick auf eine Generalisierbarkeit der aus den exemplarischen Analysen gewonnenen Ergebnisse – zu erfassen. Geschichte und Politik des Skandals Das erste Kapitel behandelt den die Mediengesellschaft am stärksten prägenden Skandaltyp (Sabrow 2004: 7), den politischen Skandal. Dem Historiker Frank Bösch geht es in seinem einführenden Beitrag um eine systematische Typologisierung des politischen Skandals in diachroner Perspektive. Auf Basis eines historischen Ländervergleichs diskutiert er methodische Zugänge zur Analyse des Skandals. Parallelen und Diskontinuitäten politischer Skandale in der Weimarer Republik untersucht die Historikerin Annika Klein. Sie kann zeigen, dass Motive und Strukturen durchaus ähnlich sind, die Konsequenzen für die Skandalierten, Politiker der Weimarer Republik, jedoch stark differieren. In dem Beitrag des Politikwissenschaftlers Michael Holldorf werden Skandale im Lichte der politischen Ideengeschichte betrachtet. Vor dem Hintergrund gesellschaftskritischer Theorien Hannah Arendts und Theodor W. Adornos zeichnet Holldorf ein durchaus ambivalentes Bild: Der Skandal kann demnach einerseits als bloßes Konsumgut betrachtet werden, andererseits aber auch als Grundlage politischen-gesellschaftlichen Handels dienen. Der Kulturwissenschaftler Lars Koch hinterfragt in seinem Aufsatz die diskursiven Folgen der ‚SloterdijkDebatten‘ 1999 und 2009. Koch geht es ausdrücklich nicht darum, das aufmerksamkeitskalkulierende Handeln des populären Philosophen am Skandalverlauf zu rekonstruieren. Es soll vielmehr herausgearbeitet werden, inwieweit Sloterdijks Thesen einer neoliberalen Neuformierung gesellschaftlicher Grundüberzeugungen Vorschub leisten. Am Ende steht daher die Frage, ob nicht Sloterdijks Thesen – auch in ihrer medialen Reichweite – einer Skandalisierung bedürfen, die diese vor dem Hintergrund einer weitgehend leer laufenden Empörungsökonomie noch gar nicht in angemessener Weise erfahren haben. Der Kommuni-
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kationswissenschaftler Patrick Weber analysiert die in der Skandalforschung bisher kaum beachtete Skandalisierung in der politischen Auslandsberichterstattung. Dabei entwickelt er ein theoretisches Erklärungsmodell des Berichterstattungsmusters der Skandalisierung und unterzieht es mittels seines neu entwickelten Messinstrumentes einer ersten empirischen Prüfung. Medienskandale und Skandalmedien Gleichzeitig leitet der Beitrag thematisch zum zweiten Kapitel des Bandes über. Da Skandalisierungen in modernen Gesellschaften in und durch Massenmedien erfolgen, liegt das Augenmerk in diesem Abschnitt auf den Bedingungen und Prozessen massenmedialer Skandalisierung sowie auf der Skandalaffinität von Massenmedien. Der Medienwissenschaftler Steffen Burkhardt gibt in seinem einführenden Beitrag einen Überblick über die Interdependenzen von Medien, insbesondere Massenmedien, und Skandalen: Er differenziert die Skandalkontexte Skandal, medialisierter Skandal und Medienskandal voneinander, bevor er umfassend auf die Rollen des Skandalpersonals sowie die journalistischen und gesellschaftlichen Funktionen von Medienskandalen eingeht. Der Beitrag der Kommunikationswissenschaftlerin Franziska Oehmer untersucht mittels einer quantitativen Inhaltsanalyse als Skandale etikettierte Medienereignisse im Nachrichtenmagazin Spiegel. In einer diachron vergleichenden Untersuchung und aus dem theoretischen Kontext der Nachrichtenwerttheorie heraus werden als Skandale gekennzeichnete Ereignisse in der Zeit von 1950 bis 2008 analysiert und auf strukturelle Veränderungen im Zeitverlauf hin überprüft. Im Zuge dessen kann sie unter anderem empirisch belegen, dass es – entgegen einer oftmals postulierten Boulevardisierung der Medien – zumindest im untersuchten Medium zu keiner kontinuierlichen Zunahme der Skandalkommunikation kommt. Der Skandalisierung eines Mediums in den Medien widmet sich der Beitrag der Kommunikationswissenschaftlerin Kristin Bulkow und des Medienwissenschaftlers Christer Petersen. Am Fallbeispiel des durch Marcel Reich-Ranicki 2008 ausgelösten Fernsehpreisskandals zeichnen sie mittels einer quantitativ-qualitativen Inhaltsanalyse den Verlauf der Skandalisierung nach, benennen Wendepunkte und suchen nach den Gründen für das Scheitern einer Skandalisierung, die zunächst auf breite Resonanz stieß. In einer kontrastiven Analyse untersucht der Linguist Stefan Hauser Dopingskandale in der deutsch- und englischsprachigen Presse. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Journalismuskonzepte und gesellschaftlicher Gegebenheiten arbeitet er zunächst Gemeinsamkeiten und Unterschiede der sprachlichen Organisation von Dopingskandalen heraus und bietet dann verschiedene – teils konkurrierende – Erklärungsmodelle für die differie-
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rende sprachliche Realisation identischer Skandalinhalte an. Der Kulturwissenschaftler Ingo Landwehr stellt mit dem niederländischen Weblog GeenStijl ein Medium vor, das sich selbst als Skandal versteht. Am Beispiel der spezifischen Kommunikationspraxis des Weblogs zwischen Fremd- und Selbstskandalisierung gelingt es Landwehr die Funktionsweisen von Überzeichnung und Provokation als Skandalisierungsmechanismen einerseits und die Voraussetzungen und Effekte medialer Selbstreflexion andererseits theoretisch zu modellieren. Skandalkultur und die Kunst der Provokation Damit fungiert der Beitrag auch als Bindeglied zum letzten Kapitel des Bandes, in dem es nicht nur um Provokationen in Kunst und Kultur, sondern primär um die Kunst der Provokationen geht. Zwar können insbesondere Kunstskandale als „Geigerzähler des Provinzialismus“ (Glaser 1973: 133) in der Gesellschaft vorhandene Konfliktpotentiale virulent werden lassen (Neitzert 1990: 173; Neuhaus 2007: 46), so dass im Kunstskandal Kunst nicht nur ästhetisch, sondern auch politisch rezipiert wird (Resch 1994: 35). Darüber hinaus scheint eine Eigenart des Kunstskandals jedoch vor allem darin zu bestehen, dass spätestens seit der Frühen Moderne regelmäßige Skandale aus dem Kunst- und Kulturbetrieb nicht mehr wegzudenken sind. Offensichtlich braucht der Künstler vor dem Hintergrund eines avantgardistischen Innovationszwangs den Skandal, um das Provokative und jeweils Neue des eigenen Werkes öffentlichkeitswirksam zu inszenieren (Ladenthin 2007: 20; Larcati 2007: 111; Hieber & Moebius 2009: 8ff.). Dabei geht die Skandalisierung jedoch nicht nur von den Künstlern und ihren Werken selbst aus, sondern auch der feuilletonistische Kulturbetrieb scheint sich zusehends in der Skandalisierung der Werke und ihrer Autoren – publikumswirksam – zu gefallen (Moritz 2007: 59). Der Literaturwissenschaftler Johann Holzner umreißt in seinem einleitenden Artikel diesen Beziehungsraum zwischen der Macht der Kunst und der Kritik, in dem sich Kunstskandale verorten. Anhand von Beispielen zeigt er die Charakteristika dieses Skandaltypus auf, bevor er zwei repräsentative Fälle aus dem Literaturbetrieb der DDR und Österreichs eingehend untersucht. Der Literaturwissenschaftler Sascha Seiler illustriert anhand zweier Fallbeispiele, J.T. Leroys Roman Sarah und Andrew Jareckis Dokumentarfilm Capturing the Friedmanns, wie zwei Texte, die – scheinbar skandalträchtig genug – den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen thematisieren, letztlich aber nicht wegen ihres textimmanenten Provokationspotentials, sondern aufgrund der (vorsätzlichen) Irreführung ihrer Rezipienten zu Skandalen um die Autoren eskalieren. Die Kunstwissenschaftlerin Anke Steinborn skizziert an Beispielen aus der Young British Art die Besonderheiten des
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Kunstskandals in der Postmoderne. Insbesondere die strukturelle Öffnung des Kunstwerkes und die damit verbundene Einbeziehung der Rezipienten werden dabei als charakteristische Grenzverschiebungen und paradigmatische Räume postmodernistischen Provokationspotentials ausgemacht. Im abschließenden Beitrag des Soziologen Martin Gegner stehen Popskandale im Vereinigten Königreich im Mittelpunkt. Gemeinsames Merkmal dieser ist die Figur der Queen, die, wie es Gegner herauszuarbeiten gelingt, nicht allein als Ikone und passives Objekt skandalöser Provokationen von den Beatles über die Sex Pistols bis hin zu Lady Gaga fungiert. Elisabeth II. beeinflusst vielmehr durch ihre Interaktion mit der Popkultur die Skandaldynamik maßgeblich, indem sie eine nachhaltige Politik der Integration betreibt, gerade derer, die sich skandalträchtig an ihrem Status zu reiben versuchen. Gegners Beitrag spannt wiederum den Bogen zum politischen Skandal und damit zum ersten Kapitel des Bandes. Dessen Ziel ist es, in den Einzelbeiträgen die zahlreichen Facetten des Skandales sichtbar zu machen, die in ihrer Gesamtschau eine differenzierte interdisziplinäre Analyse des komplexen Phänomens Skandal ermöglichen sollen. Unser Dank gilt den Autoren sowie den Teilnehmern an einer diesem Band vorausgegangenen Tagung an der BTU Cottbus im Januar 2010. Beide, Autoren und Tagungsteilnehmer, haben diese neue Perspektive auf den Skandal durch ihre Beiträge und ihre Bereitschaft zur methoden- und fachübergreifenden Auseinandersetzung erst ermöglicht. Literatur Baudrillard, Jean (1978): Die Präzession der Simulakra. In: Ders.: Die Agonie des Realen. Berlin: Merve, S. 7-69. Beckmann, Susanne (2006): Der Skandal – ein komplexes Handlungsspiel im Bereich öffentlicher Moralisierungskommunikation. In: Girnth, Heiko/Spieß, Constanze (Hg.): Strategien politischer Kommunikation. Pragmatische Analysen. Berlin: Erich Schmidt, S. 61-78. Böcking, Tabea (2007): Sportskandale in der Presse. Thematisierungsmuster und ihre gesellschaftlichen Folgen. In: Publizistik 52/4, S. 502-523. Bönisch, Julia (2006): Meinungsführer oder Populärmedium? Das journalistische Profil von Spiegel Online. Berlin: LIT. Bösch, Frank (2009): Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880-1914. München: Oldenbourg. Bösch, Frank (2006): Politische Skandale in Deutschland und Großbritannien. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 53/7, S. 25-32.
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Skandal, medialisierter Skandal, Medienskandal
Geschichte und Politik des Skandals
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Kampf um Normen: Skandale in historischer Perspektive Frank Bösch
Skandale gelten als ein Charakteristikum der Gegenwart und werden vornehmlich gegenwartsbezogen analysiert. Sozial- und Kommunikationswissenschaftler betonten vielfach den starken Anstieg von Skandalen in jüngster Zeit und verbanden dies mit differenten Erklärungen. Diese reichen vom Vorwurf der Übertreibung und der Hysterie der linksstehenden Medien, die sich seit 1982 gegen die CDU-Regierung gerichtet hätten (so Kepplinger 2001: 12, 39, 119), bis hin zur funktionalen Annahme, die Zunahme der Skandale als Korrekturfunktion in einer lernenden liberalen Gesellschaft zu verstehen (Hondrich 2002: 67). In dieser erstaunlich normativen Debatte steht dabei das Bild des journalistischen Verschwörers, der seine Medienmacht missbrauche, der Vorstellung eines investigativen Journalismus gegenüber, der Verfehlungen der Mächtigen aufdecke. In beiden Fällen spielen Medien eine entscheidende Rolle, so dass oft von ‚Medienskandalen‘ gesprochen wird. Medien, so Steffen Burkhardt, prägen dabei den moralischen Diskurs, die Narration und die Politisierung (Burkhardt 2006: 381). Und erst die permanente Visualisierung des Politischen führte dazu, so John Thompson, dass Skandale sich als Kämpfe um Vertrauen etablierten (Thompson 2000: 252). Auch die Abnahme der politischen Unterschiede wird oft als Ursache angeführt, um die Häufung von Skandalen zu erklären, weil Politiker sich deshalb durch moralische Qualitäten profilieren müssten (Imhof 2000: 57; Bergmann & Pörksen 2009: 19). Andere Lesarten sehen Politiker als zunehmend korrupt und machtversessen an (von Arnim 2003). Danach erklärt ein zunehmender moralischer Verfall in der Politik die Zunahme von Skandalen. Es gibt vor allem zwei Möglichkeiten, die hier skizzierten Einschätzungen genauer zu prüfen und mehr über die Rolle von einzelnen Akteuren des Politikund Mediensystems oder die gesellschaftliche ‚Lernfähigkeit‘ und Normen zu erfahren. Erstens wären Skandale in unterschiedlichen Ländern oder Kulturen zu vergleichen. Erst dann würde deutlicher, ob tatsächlich die (linke) politische Ausrichtung von Journalisten, das Machtverständnis von Politikern, die politische Polarisierung und/oder der Medienmarkt für das Aufkommen und den Verlauf von Skandalen verantwortlich sind. Eine derartige systematisch vergleichende Perspektive wurde bislang jedoch selten gewählt. Vielmehr liegen bisK. Bulkow, C. Petersen (Hrsg.), Skandale, DOI 10.1007/978-3-531-93264-4_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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lang allenfalls sehr knappe Vergleiche vor, die thematische Besonderheiten von Skandalen festhalten. Als Differenz wurde etwa das Fehlen von Korruptionsskandalen in Großbritannien betont (King 1986), während für Deutschland das Ausbleiben von ‚Sex-Skandalen‘ vermerkt wurde und Skandale um Umweltfragen und die NS-Vergangenheit als Besonderheit gesehen wurden (Esser & Hartung 2004). Eine zweite Möglichkeit, um die eingangs zitierten Urteile zu prüfen, ist der historische Vergleich. Mit ihm lassen sich durch die Gegenüberstellung von Epochen typische Merkmale für das Aufkommen und den Verlauf von Skandalen ausmachen. Auch dieser Zugriff wurde in der Erforschung von Skandalen bislang weitgehend vernachlässigt oder auf recht zusammenhangslose Sammlungen von einzelnen Fällen beschränkt.1 Der vorliegende Beitrag vereint beide Ansätze, konzentriert sich aber vornehmlich auf eine systematische Typologisierung in diachroner Perspektive. Ziel des Artikels ist, methodisch Zugänge jenseits einer einzelnen historischen Fallanalyse aufzuzeigen und, im zweiten Teil, diese mit einzelnen historischen Befunden zu Skandalen in der Neuzeit zu verbinden. Dabei schließt der Artikel an eine umfangreiche quellenfundiertempirische Analyse zu britischen und deutschen Skandalen im ausgehenden 19. Jahrhundert an, die auf rund 30 vertieft untersuchten Fällen basiert, baut dies jedoch typologisch und zeitlich weit aus (vgl. Bösch 2009). WAS SIND SKANDALE? BEGRIFFLICHE ANNÄHERUNGEN IN HISTORISCHER PERSPEKTIVE Jede Untersuchung von Skandalen hängt stark von der begrifflichen Eingrenzung des Gegenstandes ab. Analysen von Skandalen gehen generell im hohen Maße von der Selbstbeschreibung und Verwendung des Begriffes aus. Denn ein gewisser Konsens besteht darin, dass Skandale nicht essentiell als Verfehlungen zu fassen sind, sondern über die Zuschreibung als Skandal durch viele Menschen. In der Geschichtswissenschaft gibt es derzeit generell die Tendenz, Gegenstände aus dem begrifflichen Gebrauch in der jeweiligen Zeit heraus zu verstehen, um nicht unser heutiges Verständnis verengt zu absolutieren. Das jeweilige begriffliche Verständnis der Zeitgenossen gilt dabei als Untersuchungsgegenstand und -ergebnis.2 Dies birgt freilich mehrfache Probleme, wenn man eine historische oder vergleichende Perspektive anstrebt. Erstens unterliegen Begriffe einem starken Bedeutungswandel oder entstehen überhaupt erst neu. Was im 15. Jahrhundert als ‚Skandal‘ bezeichnet wurde, ist different zu heutigen so bezeich1 2
Beispiele seit der Antike finden sich in Boltanski et al. (2007). Vgl. etwa zur Geschichte der Politik Landwehr (2003).
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neten Handlungen. Zweitens haben Begriffe oft bestimmte Konjunkturen. Selbst wenn sie nicht verschwinden, können Synonyme sie zeitweise verdrängen, die dann jeweils ähnliches meinen. In diesem Fall gilt das für Worte wie ‚Affäre‘, ‚Ärgernis‘ oder ‚Schande‘. Drittens können Schwierigkeiten beim interkulturellen Vergleich entstehen. Begriffe entwickeln sich selbst in benachbarten Ländern und Kulturen different. Noch schwieriger wird es, wenn man westliche Kulturen etwa mit asiatischen oder arabischen historisch vergleichen will. Die vielfältigen japanischen Begriffe für ‚Skandal‘, die zwischen ‚Unehre‘, ‚schmutziger Affäre‘, ‚Tumult‘ oder ‚übler Zwischenfall‘ changieren, zeigen die Schwierigkeit, den Gegenstand interkulturell allein über den Begriff selbst einzugrenzen. Trotz dieser Einwände spricht einiges dafür, eine historische Analyse von Skandalen mit einer Begriffsgeschichte zu verbinden und diese als Niederschlag sozialer Wandlungsprozesse zu verstehen (zum Ansatz vgl. Koselleck 1978). Ein begriffsgeschichtlicher Zugang kann für den europäischen Raum zunächst die Säkularisierung des Wortes ‚Skandal‘ in den letzten 1000 Jahren zeigen. Während das Wort ‚Skandal‘ im Mittelalter und der Frühen Neuzeit noch stark religiös aufgeladen war und schwere religiöse Frevel und Sünden umschrieb, bezog es sich seit dem 18. Jahrhundert aus seinem vormals kirchlich definierten Verständnis stärker weltlich auf moralische Verfehlungen, die die neu etablierte Öffentlichkeit betrafen. ‚Skandal‘ bekam in Deutschland Konnotationen wie Schande, öffentlicher Ehrverlust und „ärgernisz, schmachvolles aufsehen erregender vorgang“ (Deutsches Wörterbuch, Bd. 16 1905: 1306). In Großbritannien löste sich der Begriff bereits im 17. Jahrhundert zunehmend von seinem religiösen Bezug und verwies auf Missstände und Gerüchte, die die Reputation minderten. Vor allem das erfolgreiche Theaterstück School for Scandal (1777) machte den bereits deutlich früher etablierten Begriff populär und wies mit ironischem Unterton auf die Problematik des Skandalisierens (Sheridan 1777 [1948]). Im Sprachgebrauch des ausgehenden 19. Jahrhunderts bezeichnete der Begriff Skandal in beiden Ländern Missstände, die häufig als ‚Sensationen‘ empfunden oder angepriesen wurden – also als emotional ergreifende ungewöhnliche Neuigkeiten. Folglich war der Skandal bereits damals mit Medienlogiken und Nachrichtenwerten verbunden, die seit dem späten 17. Jahrhundert mit dem Medium Zeitung assoziiert wurden. Skandale waren damit äußerst negativ konnotiert. In zeitgenössischen Schriften über Skandale fehlte es nicht an drastischen Verurteilungen. Sie wurden etwa als ‚pest of society‘ beschrieben, da sie durch Übertreibungen Männern die Reputation raubten und sie ins Verderben stürzten. Generell bezog sich das Wort Skandal damit bereits um 1900 sowohl auf das Ereignis, das Anstoß erregte, und auf den Vorgang der Erregung selbst. Eine trennscharfe Verwendung des Begriffs ‚Skandal‘ bestand allerdings schon damals nicht. Insbesondere
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Zeitperiode
wurde er, wie auch heute üblich, oft synonym mit dem Begriff ‚Affäre‘ benutzt. Eine begriffliche Trennung von Skandal und Affäre lässt sich bei den historischen Fällen nicht ausmachen. Die Halsband-Affäre, Dreyfus-Affäre oder DailyTelegraph-Affäre wurden auch von den Zeitgenossen als Skandale bezeichnet.
1786-1795 1796-1805 1806-1815 1816-1825 1826-1835 1836-1845 1846-1855 1856-1865 1866-1875 1876-1885 1886-1895 1896-1905 1906-1915 1916-1925 1926-1935 1936-1945 1946-1955 1956-1965 1966-1975 1976-1985
151 94 86 362 487 633 956 1580 2154 2296 2578 2284 2177 2068 2088 1143 761 1399 2360 3442 0
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Häufigkeit Abb. 1: Häufigkeit des Begriffs ‚scandal‘ in der Times 1786 bis 1985 [eigene Auswertung im Times Digital Archive]
Eine wichtige Frage ist, wie häufig oder auch wie leichtfertig ein Begriff zu einer bestimmten Zeit benutzt wurde. Dass in einer Zeit vielfältig Skandale ausgemacht werden, kann schlichtweg damit zusammenhängen, dass ein Begriff gerade sehr geläufig ist, und sagt noch wenig über Veränderungen bei Normbrüchen. So lässt sich für unterschiedliche Quellen ausmachen, dass im späten 19. Jahrhundert das Wort Skandal sehr schnell für alle möglichen Zustände benutzt wurde, die Verärgerung auslösten. Ausrufe wie „Skandalöse Verhältnisse“ und „es ist ein Skandal“ wurden zu umgangssprachlichen Formulierungen. Die stark ansteigende Bedeutung des Begriffs Skandal lässt sich bereits quantitativ leicht mit Volltexterhebungen größerer Datenbestände belegen. So wurde in der Times
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– eine der weltweit wichtigsten Zeitungen des 19. Jahrhunderts – in dieser Zeit so häufig der Begriff Skandal benutzt wie nie zuvor und wie für lange Zeit danach. Erst seit Mitte der 1970er Jahre wurde diese Intensität wieder erreicht (Abb. 1). Offensichtlich gab es also keinen kontinuierlichen Anstieg der Thematisierung von Skandalen, sondern bestimmte Phasen, in denen sie bzw. der Begriff eine starke Rolle spielte. Gerade wenn man bedenkt, dass der Umfang der Zeitung im 20. Jahrhundert weiter wuchs (und damit eigentlich die Worthäufigkeit noch hätte ansteigen müssen), fällt umso deutlicher auf, dass die Thematisierung von Skandalen kein neuartiges Signum der Gegenwart ist. Ein ähnlicher Anstieg lässt sich auch bei Begriffen wie ‚corruption‘ ausmachen, die im Englischen im 19. Jahrhundert noch semantisch mit ‚scandal‘ verwandt waren. Für eine historische Analyse von Skandalen ist es jedoch aus den eingangs genannten Gründen nicht ausreichend, sich allein auf die Verwendung des Begriffs in unterschiedlichen Epochen zu stützen. Ergänzend muss vielmehr eine analytische Definition des Skandals hinzugezogen werden. Einerseits muss sie sicherstellen, dass nicht jede Handlung, die von jemanden als ‚Skandal‘ bezeichnet wird, als solcher analytisch gefasst wird. Zudem muss sie ermöglichen, auch jene Vorgänge als Skandale zu untersuchen, für die die Zeitgenossen unter Umständen andere Begriffe wählten. Um von einem Skandal im analytischen Sinne zu sprechen, sollten in Anlehnung und Ergänzung der bisherigen Literatur (Hondrich 2002: 40, 59) drei Bedingungen erfüllt sein: (1) Ein praktizierter oder angenommener Normbruch einer Person, einer Gruppe von Menschen oder Institution; (2) dessen Veröffentlichung; und (3) eine breite öffentliche Empörung über den zugeschriebenen Normbruch. Dementsprechend bildet etwa eine korrupte Handlung noch keinen Skandal, wenn sie nicht bekannt wird oder wenn ihre Veröffentlichung keine Empörung auslöst, weil sie mehrheitlich als eine akzeptable Praxis gilt. Folglich existiert kein Verhalten, das per se zu Skandalen führt. Was in einer Kultur oder Epoche als Normenüberschreitung erscheint, kann in der benachbarten Epoche oder Kultur wieder ganz anders bewertet werden. Ein Gesetzesbruch ist ebenfalls nicht unbedingt für das Aufkommen eines Skandals erforderlich. Vielmehr reichen oft bereits Überschreitungen von Normen, also von gesellschaftlichen Verhaltensanforderungen, deren Bruch mit sozialen Sanktionen bestraft werden kann. Diese wiederum sind historisch und kulturell stark wandelbar. Dabei muss sich die Enthüllung nicht unbedingt auf bereits vorhandene Normen beziehen. Vielmehr kann mit der Enthüllung die Norm erst eingefordert werden, wobei die öffentliche Reaktion dann über deren Geltung entscheidet. Ob an Skandalen ‚hochgestellte Personen oder Institutionen‘ beteiligt sein müssen, ist zu bezweifeln, auch wenn diese durch ihre Fallhöhe leichter eine hohe medi-
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ale Aufmerksamkeit erhalten. Präziser scheint mir die Beobachtung, dass Skandale sich vornehmlich auf Personen oder Institutionen beziehen, von denen durch ihre gesellschaftliche Stellung die Wahrung der verhandelten Normen erwartet wird. Während beispielsweise das exzessive Sexualleben eines bekannten Rockmusikers in der heutigen westlichen Kultur keine breite öffentliche Empörung auslöst, ist das bei einem unbekannten Pastor kraft der Anforderungen an sein Amt anders. Schließlich ist es für Skandale nicht notwendig, dass etwas vormals ‚Geheimes‘ plötzlich aufgedeckt wird. Vielmehr ist es charakteristisch für viele Skandale, dass sie bereits öffentlich zugängliche, aber nur wenigen bekannte Informationen verbreiten. Ebenso können die Veröffentlichung und der Normbruch zusammenfallen. Dies gilt insbesondere für Skandale im Bereich der Kultur. Die genannte Definition umfasst sowohl politische wie auch Kunst-Skandale. Letztere dürften sich vornehmlich durch ihre differente Intentionalität und Akteursstruktur auszeichnen, da Skandale mitunter selbst produziert werden. Ob dies gelingt und der Kunstskandal als Normverstoß eine breite Empörung auslöst, entscheidet auch hier die Öffentlichkeit. Zusammenfassend lässt sich daraus das Plädoyer ableiten, das Ausmachen von Skandalen zwar zunächst an dem Begriff zu orientieren und so dessen jeweilige semantische Kontexte zu analysieren, dies aber zugleich mit einem analytischen Verständnis von Skandalen zu verbinden und auch anders bezeichnete Handlungen mit einzubeziehen, wenn sie die skizzierten Merkmale der Definition erfüllen. SKANDALFORSCHUNG IN HISTORISCHER PERSPEKTIVE Da Skandale mit einer Verdichtung der Kommunikation einhergehen, bieten sie sich in vielfacher Weise als eine Sonde für historische Studien an. Generell sei daher dafür plädiert, Skandalen als herausgehobenen Ereignissen zwar einen eigenen Analysewert zuzusprechen, sie aber vor allem zur Erforschung übergeordneter Prozesse zu untersuchen. Skandale eröffnen den Zugang zu vielfältigen Forschungsfeldern. Besonders relevant und naheliegend erscheinen in Anlehnung an die angeführte Definition vier Forschungsbereiche, die jeweils die einzelnen Komponenten des Skandals in ihrer Historizität erfassen: den Wandel von Normen, von Medien, der Öffentlichkeiten und der Empörung.
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Skandale und Normenwandel Skandale erscheinen also erstens ein sehr guter Zugriff zu sein, um die Geschichte von Normen zu untersuchen. An Skandalen ist sowohl ihr historischer Wandel ablesbar als auch Konflikte und Aushandlungsprozesse um Normen. Welche Verhaltensregeln etwa für hetero- und homosexuelle Beziehung gelten, lässt sich ebenso gut an Skandalen aufzeigen wie an deren Ausbleiben nach entsprechenden Skandalisierungsversuchen. Skandale konturieren dabei auch ideale Verhaltenskodizes für einzelne soziale Gruppen wie etwa Politiker. Die Konstruktion solcher internalisierten Regeln hat seit der FoucaultRezeption der 1980er Jahre stärkere Aufmerksamkeit in den Kultur- und Geschichtswissenschaften gefunden. Obgleich Foucault Skandale selbst nicht thematisiert, haben sie jedoch sehr große Ähnlichkeit zu Mechanismen, die er etwa in Sexualität und Wahrheit beschrieb (Foucault 1983). So produzieren Skandale ein permanentes Bekenntnisverfahren, überführen Verhaltensweisen in Wissensordnungen und unterlaufen Macht ebenso, wie sie Machtstrukturen schaffen. Selbst wenn man Skandalen eine funktionale, gesellschaftsverändernde Kraft zuschreibt, sind im Hinblick auf den Normwandel Teleologien zu vermeiden. So lässt sich anhand der Skandale des 19./20. Jahrhunderts sicherlich keine zunehmende Liberalisierung der Normen ausmachen. Vielmehr kam es um 1900 und dann auch wieder in den 1950ern selbst im parlamentarischen Großbritannien zu Verengungen (Bösch 2009: 45). Gleiches zeigt sich auch für die USA, wo seit den 1970er Jahren die Spielräume für sexuelle Normbrüche bei Politikern und Prominenten zunehmend enger wurden und entsprechende ‚Sex-Skandale‘ nun erst wieder zunahmen. Umgekehrt stimmt sicherlich nicht die Annahme, die gegenwärtige Mediengesellschaft habe aus ihrer ‚Skandalsucht‘ heraus die Spielräume für Politiker immer weiter eingeschränkt. Das Ausbleiben von ‚Sex-Skandalen‘ zeigt vielmehr, wie sich die Spielräume für Politiker in der Bundesrepublik erweiterten, nachdem versuchte Skandalisierungen wegen Ehebruch, Scheidungen oder Homosexualität im letzten Jahrzehnt scheiterten. Gegner funktionaler Ansätze haben eingewandt, wenn Skandale zur Besserung der Gesellschaft beitragen würden, so müsste ihre Zahl viel stärker ansteigen, um alle Missstände zu erfassen (so Kepplinger 2009: 192). Dies ist jedoch kein Einwand dagegen, Skandale mit historischen Veränderungen von Normen zu verbinden. Zeigt sich, dass ein bestimmter Skandaltypus in einer Epoche immer wieder auftritt (etwa das ‚Fremdgehen‘ eines Politikers), so steht dies für die große Bedeutung und Verfestigung einer Norm. Das ‚Lernen‘ besteht darin, dass abweichendes Verhalten erneut sanktioniert wird und bei jedem Normverstoß nun die Angst besteht, ein Skandal könne auftreten, was Verschleierungsversuche verstärkt. Skandale sind insofern zwar nicht als eine moralische Besserungs-
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anstalt misszuverstehen, aber sie beeinflussen Verhaltensregeln, Deutungen und Handlungen. Dass deshalb jeder Normverstoß zu einem Skandal mutieren muss, lässt sich hieraus nicht ableiten. Die ‚Bestrafung per Skandal‘ hat vielmehr einen Stellvertretercharakter, der vielen unentdeckten Normbrechern das Fürchten lehren kann. Welche Form des Normverstoßes einen Skandal auslösen kann, veränderte sich stark. Bei Korruptionsskandalen führten etwa in einigen Jahrzehnten bereits kleinere Geschenke zu Skandalen (etwa vor 1914 oder in der Gegenwart), in anderen Phasen, wie in den 1950er Jahren, galten selbst sehr große Summen als akzeptabel, die von der Industrie an Parteien transferiert wurden. Dass etwa nach der Flick-Affäre in den 1980er Jahren eine Sensibilisierung eintrat, die schließlich sogar kleine indirekte Vorteile wie Bonus-Meilen zum Skandalon werden ließ, unterstreicht wie sehr Skandale Normen verengen und deren zunehmende öffentliche Überwachung fördern können. Skandale um Parteispenden wird es zwar weiterhin geben, aber eine ‚politische Landschaftspflege‘ im breiten Stil, wie sie von Flick und durch die „Staatsbürgerliche Vereinigung e.V.“ von bundesdeutschen Unternehmen betrieben wurde, ist auf absehbare Zeit nicht mehr vorstellbar. Skandale und Medienwandel Ein zweites historisches Forschungsfeld, das über Skandale gut erschlossen werden kann, ist die Geschichte der Medien. Skandale zeigen die Funktionslogiken von Medien, ermöglichen Blicke in ihr Innenleben und schaffen Quellen der medialen Selbstreflektion.3 Sie ermöglichen damit eine Mediengeschichte, die über deren technische und institutionelle Struktur hinausreicht und neben Medieninhalten journalistische Routinen erfassbar macht. Skandale, so könnte man es pointiert ausdrücken, ermöglichen eine Geschichte medialer Praktiken.4 So eröffnen sie einen akteursbezogenen Zugang zur Mediengeschichte, der gerade in Deutschland aufgrund der Quellenlage zumeist schwierig ist. Denn in Skandalen wird vielfach die Recherchetechnik der Publizisten reflektiert – sei es vor Gericht oder in der journalistischen Selbstlegitimierung im Zuge der Enthüllungen. Selbstverständlich sind Skandale journalistische Ausnahmesituationen. Aber gerade an ihnen lässt sich ablesen, in welchem Maße Journalisten Quellen eigenständig recherchierten und prüften oder wie redaktionelle Abläufe sich entwickelten. So unterschiedliche Skandale wie die Spiegel-Affäre und der Skandal um die ‚Hitler-Tagebücher‘ im Stern haben gemein, dass sie eine an3 4
Siehe weiterführend den Beitrag von Landwehr in diesem Band. Siehe ausführlich hierzu den Beitrag von Burkhardt in diesem Band.
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sonsten kaum mögliche Einsicht in Redaktionsroutinen und Kontaktformen zu Informanten bieten. Skandale zeigen vielfach die Grenzen einer journalistischen Professionalisierungsgeschichte auf. Im internationalen Vergleich trifft zwar sicherlich zu, dass vor allem die amerikanischen und britischen Journalisten seit dem 18. Jahrhundert skandalisierende Anklagen erhoben und seit den 1880er Jahren eigenständig recherchierten, um durch anschließende Enthüllungen Skandale anzustoßen. Aber zugleich zeigen verschiedene Skandale, dass ihre Redaktionen mitunter nur schlampig Quellen überprüften und Informationen unlauter zuspitzten. So versuchte die angesehene Times 1887 in einer Artikelserie den politischen Führer der Irish Parliamentary Party, Charles Stewart Parnell, mit angeblich von ihm verfassten Briefen zu skandalisieren, die seine Nähe zum irischen Terrorismus belegen sollten. Tatsächlich saß die Redaktion dabei schlechten Fälschungen auf, wie vor Gericht belegt werden konnte (Bösch 2009: 331-343). Besonders für Deutschland zeigt sich in dieser Zeit, dass viele Journalisten zunächst nur auf mündlichen Zeugenaussagen beruhende Gerüchte druckten, und erst im Zuge der dann oft gegen sie gerichteten Gerichtsprozesse fundierte Recherchen begannen. Skandale lassen sich zudem als Medienereignisse verstehen, die, wie andere Ereignisse auch, durch kommunikative Zuschreibungen konstruiert werden. Dabei sind an Skandalen grenzübergreifend Kommunikationsflüsse auszumachen, die ansonsten kaum greifbar sind. So werden in Skandalen die Arbeitsweisen von Auslandskorrespondenten sichtbar, über die historisch bislang recht wenig bekannt ist (vgl. jüngst: Geppert 2007; Gebhardt 2007), ebenso der regionale und transnationale Nachrichtenfluss, der bislang ebenfalls nur spärlich erforscht ist.5 Gerade für die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts bieten sich Skandale dabei auch an, um intermediale Bezüge zu analysieren, insbesondere zwischen der Presse und dem Fernsehen. Mit Blick auf intermediale Verflechtungen fällt auf, dass Skandale besonders häufig in den historischen Epochen auftraten, in denen neue Medien aufkamen und sich in Konkurrenz zu anderen positionierten. Das gilt für das Zeitalter des Drucks in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, des Zeitschriftenbooms im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, der Massenpresse im ausgehenden 19. Jahrhundert, der Etablierung des Fernsehens seit 1960 und schließlich dem Internetzeitalter. Insofern lässt sich anhand von Skandalen auch der Wandel des medialen Ensembles im Kontext von neuen Konkurrenzbedingungen ausmachen.
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Siehe hierzu aber den Beitrag von Weber in diesem Band.
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Die Skandalforschung kann dabei auch zu einer Geschichte der Medienethik beitragen. Da es bei Skandalen häufig zu Prozessen, Untersuchungen oder Recherchen kommt, müssen auch Journalisten ihr Vorgehen und ihr Selbstverständnis rechtfertigen. Darüber hinaus gaben Skandale zumeist Anlass für Selbst- und Fremdreflektionen über die Rolle der Medien, an der sich auch die Politik, Justiz oder Wissenschaftler beteiligten. Ihre sehr variablen Einschätzungen bieten exzellente Quellen, um die den Medien jeweils zugeschriebene Stellung und Freiheit auszumachen. Gleiches gilt für die Begründungen der juristischen Verurteilungen von Journalisten, denen im Kontext von Skandalen bis zum Ersten Weltkrieg häufig noch Gefängnisstrafen drohten. Skandale und der Wandel der Öffentlichkeit Skandale bieten sich drittens an, um die Geschichte der Öffentlichkeit zu untersuchen (vgl. auch Imhof 2000). Der vielschichtige Begriff der Öffentlichkeit lässt sich zunächst, ohne die Habermas’schen normativen Implikationen, als ein allgemein zugänglicher Kommunikationsraum fassen, der neben Medienöffentlichkeiten ebenso Versammlungsöffentlichkeiten (Parlamente, Gerichtssäle, Vereine, Vorträge etc.) und situative Öffentlichkeiten (Gespräche in Kneipen, auf Marktplätzen etc.) umfasst (Requate 1999). Die Pluralform ist hierbei angebracht, da jede dieser drei Öffentlichkeitsebenen wiederum in sich vielfältig segmentiert ist – in differente politische, soziale oder kulturelle Öffentlichkeiten. Anhand von Skandalen lässt sich nun ausmachen, in welcher Beziehung diese unterschiedlichen Ebenen der Öffentlichkeiten jeweils zueinander standen. In welchem Maße beeinflussten etwa Medien alltägliche Gespräche oder Parlamentsdebatten und umgekehrt? Eigene Recherchen zur Kommunikation in Kneipengesprächen im ausgehenden 19. Jahrhundert zeigten anhand von Skandalen, dass Medien in hohem Maße Gespräche anstießen, wobei die Skandalthemen dann auf die eigene Lebenswelt übertragen wurden (Bösch 2004). Ebenso verdeutlichen Skandale, in welchem Maße Mediendynamiken mit den physischen Reaktionen eines Publikums der Versammlungsöffentlichkeit verbunden sind. Die unmittelbaren Reaktionen in den Gerichtssälen oder Parlamenten sind bereits im 19. Jahrhundert entscheidende Bestandteile der medialen Narrative. Skandale sind zudem ein Gradmesser dafür, wie frei Öffentlichkeiten in unterschiedlichen historischen Epochen und Kulturen waren. Denn Skandale setzen ein gewisses Maß an Pluralismus, Meinungsfreiheit und Parteibildungen voraus. Auch aus diesem Grunde nahmen sie im späten 19. Jahrhundert international zu. Verharrt man lediglich auf der Medienebene, so sind Skandale in Diktaturen nicht möglich. Vielmehr dominieren in autoritären Herrschaftssystemen
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Schauprozesse und staatlich inszenierte Versuche, über von oben angestoßene Skandalisierungen Empörungen zugunsten des Regimes auszulösen. So initiierten die Nationalsozialisten zahlreiche Korruptionsprozesse gegen Eliten der Weimarer Republik (Bajohr 2004). Auffällig ist allerdings, dass die Skandalinszenierungen der Diktaturen anscheinend kaum breite Empörung auslösen konnten. Vielmehr wurden derartige Kampagnen meist nach einiger Zeit abgebrochen, da sie auch Mitleid mit den Angeprangerten auslösten (vgl. ebd. sowie die Beiträge in Sabrow 2004). Analysiert man hingegen Skandale im Rahmen einer Geschichte der Öffentlichkeit, lassen sich auch für die Diktaturen interessante Erkenntnisse ermitteln. Denn zumindest in der situativen Öffentlichkeit, also den Gesprächen in Kneipen oder Warteschlangen, konnten sich durchaus Empörungen über Normverstöße verbreiten. Wie etwa die Spitzel-Berichte der Gestapo und des SD im Nationalsozialismus oder Stasi-Berichte in der DDR andeuten, führten einige Repressionsformen der Systeme oder die Doppelmoral der Partei-Eliten durchaus auch zu punktuellem Unmut (Sabrow 2004). Für eine Geschichte der Öffentlichkeit bieten sich schließlich Skandale an, wenn man jeweils die Grenzen der Öffentlichkeit bzw. des Arkanen oder Privaten ausmachen will (zur abgrenzenden Begriffsgeschichte vgl. Hölscher 1979). Denn Skandale verhandelten zumeist, was jeweils als ‚geheim‘ oder ‚privat‘ gelten soll und was nicht. Skandale lassen sich auf den ersten Blick als ein ständiger Versuch fassen, die Grenzen der Öffentlichkeit zu erweitern. Tatsächlich führen sie jedoch auch zu gegenläufigen Bewegungen, etwa zum rechtlichen Schutz der Privatsphäre oder zu Gesetzen zum politischen Geheimnisverrat. Die so genannten Carolinen-Urteile zum Schutz der Privatsphäre im Jahr 2004 bieten ein jüngstes Beispiel dafür. Die Öffentlichkeit zehrt das Geheime also nicht auf, sondern markiert nur vorläufige Formen der Anerkennung, deren Begründungszwang sich stets ändern kann (Assmann & Assmann 1997: 16). Dabei zeigt sich im internationalen Vergleich, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen zum Schutz der Privatsphäre entscheidende Auswirkungen auf den Verlauf von Skandalen haben. In Großbritannien führte etwa die Öffentlichkeit von Scheidungsprozessen bereits im 19. Jahrhundert dazu, dass führende Politiker, hohe Adlige oder andere Prominente in den Mittelpunkt von ‚SexSkandalen‘ rückten und damit intimste Bereiche der Privatsphäre ausgebreitet wurden. In Deutschland verhalf vor dem Ersten Weltkrieg die konservative Justiz dazu, durch den weitgehenden Ausschluss der Öffentlichkeit ähnliches zu verhindern.
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Skandale und Emotionsgeschichte Eine vierte historische Analyseperspektive eröffnet die breite Empörung, die den Skandal erst konstituiert. Sie könnte einen Zugang zu einer Geschichte der Emotionen bieten. Da Emotionen nicht nur körperlich festgelegt sind, sondern auch kulturellen Prägungen unterliegen und damit historisch wandelbar sind, hat sich die Geschichtswissenschaft jüngst verstärkt diesem Thema angenommen (Frevert 2000). Skandale bieten sich für eine Emotionsgeschichte an, da sie Ereignisse sind, die offensichtlich mit sehr emotionalen Reaktionen einhergingen – sowohl beim Publikum als auch bei den unmittelbar Involvierten. Blickt man in die Briefe und Aufzeichnungen von Betroffenen, so findet sich häufig eine Verzweiflung, die bis zum Ersten Weltkrieg oft zur Emigration führte. Skandale lassen sich damit als ein Teil einer Geschichte der Ehre und Ehrverletzung fassen. Hieran lässt sich ausmachen, wie die Bedeutung von Ehre sich in unterschiedlichen Kulturen veränderte. Während der Kampf um die Ehre lange Skandalen ihre Dynamik gab, verlor dies seit den 1960ern zunehmend an Bedeutung. Auf Seiten des Publikums gingen Skandale mit vielfältigen emotional gefärbten Äußerungen und Handlungen einher: Spott und Gelächter, Wut und Hass, Angst und Trauer zählten dazu. Oft war dies eine karnevaleske Erhebung über die Mächtigen. Zu kulturellen Konstituierungen der Emotionen trugen auch Medien bei, wobei die Interaktion zwischen Medien und Emotionen in jüngster Zeit verstärkt die Aufmerksamkeit auch in den Medienwissenschaften fand (Brütsch et al. 2009; Bartsch et al. 2007; Bösch & Borutta 2006). Medien können dabei als Quellen für die Repräsentation von Emotionen, des Diskurses über sie und als jeweiliger Anstoß von Emotionen gesehen werden. Somit lässt sich festhalten, dass einzelne Elemente, die einen Skandal konstituieren, in ihrer Historizität breitere historische Zugänge eröffnen. Besonders interessant erscheinen dabei historische Untersuchungen, die die Interferenzen der Einzelelemente untersuchen. Wie korrespondierte etwa der Wandel von spezifischen Normen mit dem zeitgleichen Medienwandel, der das öffentliche Beobachtungssystem veränderte? Oder wie veränderten sich Emotionsregime durch neue Medien? Für alle genannten Bereiche können Skandale als Sonde dienen, um weiter reichende Forschungsfelder zu erschließen. Zugleich wäre zu untersuchen, welche formierende Kraft Skandale selbst in diesen Feldern haben.
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HISTORISCHE BEDINGUNGEN UND MERKMALE VON SKANDALEN Betrachtet man die Entwicklung von Skandalen in der Neuzeit, so zeigt sich, dass sie zu bestimmten Zeiten deutlich häufiger auftraten. Diese Häufung von Skandalen lässt sich einerseits, wie bereits angedeutet, mit Medienumbrüchen erklären. Darüber hinaus ließe sich von jeweiligen opportunity structures sprechen, also den exogen bedingten gesellschaftlichen Gelegenheitsstrukturen für Skandale. Dazu zählen etwa das politische System und die politische Kultur, der Grad der Pressefreiheit, die Struktur des Mediensystems und der Wertewandel. Welche externen Faktoren in den letzten beiden Jahrhunderten Skandale begünstigten, lässt sich ermitteln, wenn man die Jahrzehnte genauer vergleicht, in denen Skandale in den westlichen Ländern besonders häufig auftraten – also die Zeit um 1900, 1960, Mitte der 1980er und um 2000. Dabei lassen sich vor allem fünf gemeinsame Kontextbedingungen ausmachen. Erstens gingen Phasen mit erhöhten Skandalaufkommen, wie bereits erwähnt, mit Umbrüchen im Mediensystem einher: sei es durch die Expansion und Neuformierung alter Medien (wie der Massenpresse und Fotoillustrierten um 1900, der massenhaften Ausweitung des Boulevardjournalismus um 1960 und des dualen Rundfunks in den 1980er Jahren), sei es durch die Etablierung neuer Medien (wie des Films um 1900, des Fernsehens um 1960 und des Internets seit Ende der 1990er Jahre). Die jeweils neuen Medien und ihre spezifischen Inhalte wurden dabei häufig selbst zum Gegenstand von Skandalen, da ihnen gefährliche moralische Grenzüberschreitungen zugeschrieben wurden.6 Zweitens sind dies Phasen, in denen das journalistische Selbstverständnis sich verstärkt wandelte. Mit der Jahrhundertwende um 1900 können wir die erste Professionalisierung des Journalistenberufs ausmachen (Requate 1995), zu Beginn der sechziger Jahre etablierte sich der kritische Journalismus (von Hodenberg 2006) und um 2000 verfestigte sich ein kommerziell orientierter, dafür aber eher unpolitischer Journalismus (Meyen & Riesmeyer 2009). Dieser mediale Wandel ging drittens mit politischen Umbrüchen in dieser Zeit einher, die anscheinend Skandale förderten. Ende des 19. Jahrhunderts korrespondierte die Skandalwelle in den meisten westlichen Ländern mit der Demokratisierung und forcierten Parteibildung, insbesondere mit dem Aufstieg neuer oppositioneller Parteien wie den Sozialdemokraten. Um 1960 können wir in den meisten westlichen Ländern eine Liberalisierung und Pluralisierung der politischen Kultur ausmachen sowie den Aufbruch bestehender Milieus. Die 1980er stehen hingegen in vielen Ländern einerseits für eine konservative Wende, die das Konfliktpotential für Skandale erhöhte, andererseits für einen Umbruch der bisherigen Parteienlandschaft, wie es etwa der Aufstieg 6
Vgl. für das kommerzielle Fernsehen der 1990er Pundt (2008: 349).
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der GRÜNEN oder von nationalliberalen Parteien in den Nachbarländern belegt. Einiges deutet darauf hin, dass es im Zuge der Jahrtausendwende erneut zu einem Wandel der politischen Kultur kam, der durch die Krise der bisherigen Großparteien und eine neuartig große Wechselwählerschaft gekennzeichnet ist. Diese politischen Umbrüche in Zeiten von Skandalkonjunkturen gingen viertens mit grundsätzlichen Verschiebungen im kulturellen Wertgefüge einher. So gelten die Jahrzehnte um 1900 als Beginn der klassischen Moderne, in der insbesondere in den Großstädten neue Lebensweisen und Weltdeutungen die bisherigen Verhaltensregeln herausforderten. Ähnliches lässt sich für die Zeit ab 1960 postulieren, die als Phase einer fundamentalen Liberalisierung gesehen wurde (Herbert 2002), die offensichtlich ebenfalls Skandalisierungen förderte. Auch wenn für die Gegenwart die zugeschriebenen Werthaltungen noch stark differieren (‚Postmoderne‘, ‚Erlebnisgesellschaft‘ etc.), scheint sich in jedem Fall eine Pluralisierung abzuzeichnen, die ebenfalls das Aushandeln von Werten intensivierte. Gerade diese Koinzidenz des medialen, kulturellen und politischen Wandels dürfte in den benannten Phasen jeweils das Aufkommen von Skandalen begünstigt haben. Kaum Skandale finden wir dagegen in Phasen mit besonders starken außenpolitischen Konflikten wie den 1930er bis späten 1950er Jahren. Der Zweite Weltkrieg, aber auch der Kalte Krieg, dürften die Sehnsucht nach einer nationalen Einheit gestärkt und skandalisierende Vorwürfe und Empörungen abgebremst haben. Es ist auffällig, dass beispielsweise in den ganzen 1950er Jahren kein Bundesminister aus Adenauers Regierungen wegen eines Skandals zurücktreten musste. Der Skandal um die NS-Vergangenheit von Vertriebenenminister Theodor Oberländer markierte dann 1960 die anbrechende Skandalwelle und die neue Verletzbarkeit der Spitzenpolitiker. Der Rücktritt Franz Josef Strauß folgte im Zuge der Spiegel-Affäre kurz darauf. Genauere Erkenntnisse über das Bedingungsgefüge von Skandalen erhält man auch, wenn man Demokratien unterschiedlicher Epochen vergleicht. Eine fünfte opportunity structure für das Aufkommen von Skandalen scheint der Grad der Polarisierung in der politischen Kultur zu sein. Auffälligerweise gab es etwa in der Weimarer Republik im Vergleich zu heute wenige Skandale, aber dafür sehr viele Skandalisierungen. Dies erklärt sich auch aus der differenten politischen Kultur: Skandale bedürfen zwar des Pluralismus, eine sehr starke politische Polarisierung bremst hingegen ihre Entfaltung. In der Weimarer Republik standen sich die politischen Lager teilweise so polar gegenüber, dass Vorwürfe und Enthüllungen völlig überzogen formuliert wurden, was ihre Glaubwürdigkeit minderte. Zudem misstrauten sich die politischen Lager generell so sehr, dass wechselseitige Enthüllungen oft lediglich als politische Kampagnen wahrgenommen wurden, was sie letztlich auch waren (vgl. Nieden &
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Reichardt 2004).7 Wenn auch abgeschwächt galt ähnliches für das Jahrzehnt nach 1968, als Medien und Politik sich erneut polarisierten. Die zahllosen Skandalisierungen gegen Brandt und Strauß, inklusive publizierter Liebesaffären, verpufften hier in gewisser Weise an der Spaltung der Öffentlichkeit (Bösch 2003: 141). Umgekehrt förderte die dazu vergleichsweise konsensuale politische Kultur, die sich um 2000 ausmachen lässt, das Aufkommen von Skandalen. Da weite Teile der Bevölkerung weniger auf einzelne Lager festgelegt sind, sind sie auch eher bereit, sich über Lagergrenzen hinweg zu empören. So sorgte etwa die CDU-Spendenaffäre auch in Kreisen der Christdemokraten für Unmut, und der Missbrauch durch katholische Geistliche empörte auch Katholiken. Gerade diese weitreichende Empörung ermöglichte erst folgenreiche Skandale mit Rücktritten. Insofern lässt sich bilanzieren, dass für das Aufkommen von Skandalen ein gewisser Pluralismus von Nöten ist, eine starke Polarisierung der Gesellschaft hingegen hinderlich. Obgleich Medienumbrüche mit einer Zunahme von Skandalen einhergingen, waren es nicht die jeweils neuen Medien, die vornehmlich die Empörung anstießen. So wurden um 1900 zwar prominente Skandale wie die ‚DreyfusAffäre‘ oder der Skandal um den Hauptmann von Köpenick gleich verfilmt (Müller 2005: 219). Das neue Medium Film verbreitete jedoch, ebenso wie die nun gedruckten Fotos, eher die Empörung. Angestoßen wurden die Skandale aber durchweg vom ‚alten‘ Medium Zeitung, das nun ein neues Profil gewann. Ähnliches gilt für die Skandalwellen seit 1960. Fernsehen und Internet verstärkten eher die Dynamik von Skandalen, die weiterhin klassische Printmedien ins Rollen gebracht hatten. Ihr Auftreten führte jedoch zu neuen Konkurrenzsituationen, in denen sich Medien durch sensationelle Meldungen und eigenständige Recherchen zu profilieren suchten. Zugleich veränderten sie jeweils die Geschwindigkeit der Nachrichten, die Techniken der Darstellung und der journalistischen Arbeit, was auch den Wandel von journalistischen Ethiken bei Enthüllungen beeinflusst haben dürfte. Die jeweils neuen Medien übernahmen dabei mitunter Techniken und Darstellungsformen der beteiligten Printmedien; so etwa die investigative Recherche in TV-Nachrichtenmagazinen wie Panorama und in Internet-Blogs wie Wir in NRW bei den Skandalisierungen von Jürgen Rüttgers im Landtagswahlkampf 2010 oder Wikileaks zum Irak-Krieg. Beide Medien konnten durch neue Kommunikationsformen den Journalismus im Zuge von Skandalen verändern, etwa 7
Die Skandale und Kampagnen in der Weimarer Republik sind, bis auf wenige Ausnahmen (Barmat und Sklarek), bislang kaum erforscht. Vgl. hierzu jedoch den Beitrag von Klein in diesem Band sowie ein laufendes Projekt zum Barmat-Skandal von dem Münchner Historiker Martin Geyer.
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durch die audiovisuelle Wiederholung diskreditierender Aussagen und Handlungen und die erhöhte Geschwindigkeit der Live-Übertragung. Gerade bei Verbraucherskandalen, die Normbrüche in Behörden und Unternehmen aufzeigen, haben Fernsehmagazine sicher eine wichtige Bedeutung gewonnen. Dennoch stammen die zentralen Enthüllungen auch bei Skandalen der Gegenwart überwiegend aus der Welt der ‚alten‘ Printmedien. Selbst die im Fernsehen oft gesendeten Missstände gegenüber Verbrauchern werden nur selten zu Skandalen mit breiter Empörung, und dies zumeist nur durch die Selektion der Printmedien. Im Politikbereich hierarchisieren die Nachrichtensendungen wie die tagesschau dagegen eher Meldungen über Missstände, als dass sie diese selbst recherchieren. Die erstaunlicherweise anhaltende Schlüsselstellung der Printmedien ist erklärungsbedürftig. Hier scheint die Art ihrer Speicherfähigkeit ein entscheidendes Kriterium zu sein. Politiker, Journalisten, aber auch andere Eliten der Gesellschaft beginnen ihren Tag mit einer umfassenden Presseschau, die in der Politik Presseausschnittsammlungen komprimieren. Obgleich die Parteien und Journalisten auch den Rundfunk beobachten, ist die Presse damit die Beobachtungsinstanz, die durch das Zusammenspiel ihrer Stimmen die Öffentlichkeit verkörpert. Schon Ende des 19. Jahrhunderts waren es daher die Presseausschauen, die Politiker zu Reaktionen drängten (zahlreiche Beispiele in Bösch 2009). Vorwürfe in gedruckter Form scheinen sie dadurch wesentlich nachhaltiger zu treffen und sind besser überprüfbar. Zudem steht den Printmedien wesentlich mehr Platz zur Verfügung als den zumeist kurzen Nachrichtenbeiträgen. Der Internet-Journalismus kann dagegen bislang nicht mit den Printmedien konkurrieren, weil ihm bislang die finanziellen Ressourcen für eine personalaufwendige Recherche fehlen sowie die nötige Reputation und die Fähigkeit, ein Millionenpublikum zeitgleich auf einen Nachrichtenbeitrag zu fokussieren. Auffällig ist zudem, wie begrenzt die Zahl der Journalisten ist, die Skandale anstoßen. Bereits im späten 19. Jahrhundert trifft man auf wenige Journalisten, die einen Großteil der Skandale aufbringen, wie W.T. Stead in England oder Maximilian Harden im deutschen Kaiserreich. Ebenso begrenzt ist die Zahl der Medien, die die breite Empörung über Normverstöße auslösen – in der Bundesrepublik insbesondere der Spiegel, BILD und die Süddeutsche Zeitung. Erklären lässt sich dies mit der Ausstattung und dem Selbstverständnis der Blätter, aber auch mit der Tatsache, dass bekannten Akteuren häufiger Material zugespielt wird. Auch bei anderen Akteuren trifft man bei einer historischen Analyse häufiger auf ähnliche Namen, sei es bei den angeklagten Politikern, Anwälten oder internen Vermittlern (vgl. auch zum Folgenden jeweils Bösch 2009).
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Skandale werden oft als Herausforderung der Politiker durch die Medien gesehen, also als eine Art Machtkampf zwischen zwei getrennten Systemen. Tatsächlich zeichnet sich im historischen Längsschnitt ab, dass die Grenzen zwischen Medien und Politik meist fluider waren und sind. Dies gilt gerade für Länder wie Frankreich und Deutschland, wo der Journalismus überwiegend parteinah war (Requate 1995). Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden die Skandale deshalb vielfach von Journalisten angestoßen, die in enger Interaktion mit einzelnen Politikern und Parteien agierten. Mitunter kam es zu konzertierten Enthüllungen in Parlament und Presse. Politiker im Reichstag oder Unterhaus versorgten dabei die Presse mit Artikeln oder Material. Auch heute, im Zeitalter von hochgradig professionalisierten Journalisten und Politikern, die stärker in getrennten Systemen sozialisiert sind, ist bei Skandalen von engen Verbindungen auszugehen. Viele Skandale, die scheinbar unabhängig von Medien gestartet werden, beruhen auf zugespielten Quellen von gegnerischen Parteien. Umgekehrt dienen auch Journalisten als Informanten für die Politik. Die berühmten vertraulichen Hintergrundgespräche, wie sich gerade in der Bundesrepublik Deutschland etabliert haben, sind insofern als ein Informationssystem in beide Richtungen zu verstehen, da auch Politiker dabei ‚Tipps‘ erhalten. Welche Folgen Skandale haben, entscheiden dabei nicht allein die Vorwürfe und die vorherrschenden Normen, sondern auch das jeweilige Verhalten der Beteiligten. Auffällig ist in internationaler und historischer Perspektive, dass Skandale mit schweren personellen Folgen (wie Rücktritten) vor allem durch ‚sekundäre Skandale‘ erfolgen. Weniger der Normverstoß als die öffentliche Lüge über den Vorwurf wurde immer wieder zum eigentlichen Skandalon, das dann die Anschuldigungen selbst geradezu überdeckte. Insofern kristallisiert sich durch die Skandale heraus, dass Aufrichtigkeit und Vertrauen zu einer zentralen Anforderung an Politiker wurden (Thompson 2000: 245f.). FAZIT Der Beitrag diskutierte Zugänge, um jenseits der Einzelanalyse Skandale für die historische Forschung fruchtbar zu untersuchen. Ausgangspunkt für künftige Forschungsarbeiten sollte nicht allein die Verwendung des Begriffes ‚Skandal‘ sein, sondern eine analytische Definition, die Skandale als zugeschriebene Normverletzungen eingrenzt, deren Veröffentlichung eine breite Empörung auslöst. Entsprechend bieten sich Skandale an, um in künftigen historischen Studien aus diesen Komponenten Forschungsfelder neu zu erschließen – also etwa für
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eine Geschichte des Normenwandels, der Medien, der Öffentlichkeiten und der Emotionen. Deutlich wurde, dass eine historisch-vergleichende Betrachtung von Skandalen dazu verhelfen kann, gegenwartsbezogene Einschätzungen zu differenzieren und typologische Erkenntnisse über das Aufkommen, den Ablauf und die Folgen von Skandalen zu gewinnen. Als Erklärung für das verstärkte Aufkommen von Skandalen wurden fünf extern bedingte Gelegenheitsstrukturen (opportunity structures) ausgemacht: Begünstigt werden Skandale durch einen Medienwandel, durch Veränderungen im journalistischen Selbstverständnis, durch politische Umbrüche, einen beschleunigten Wertewandel und durch eine begrenzte politische Polarisierung. Entsprechend ist vor Teleologien zu warnen, die etwa allein aus der Expansion der Medien eine kontinuierliche Zunahme der Skandale ableiten. Ohnehin zeigte sich, dass die jeweils neuen Medien zunächst eher selbst zum Gegenstand von Skandalen wurden, als dass sie diese anstießen. Dieser Ansatz relativiert die Bedeutung von Akteuren. Gerade der internationale historische Vergleich zeigt, dass man ihr verstärktes Auftreten nicht mit einzelnen umstrittenen Politikern (wie Wilhelm II. oder Helmut Kohl) oder Journalisten (wie Maximilian Harden oder Rudolf Augstein) erklären kann. Vielmehr belegt das internationale Aufkommen von Skandalen ihre Verbindung zu übergreifenden strukturellen Wandlungsprozessen. Literatur Assmann, Aleida/Assmann, Jan (Hg.) (1997): Schleier und Schwelle, Bd. 1: Geheimnis und Öffentlichkeit. München: Fink. Bajohr, Frank (2004): Der folgenlose Skandal. Korruptionsaffären im Nationalsozialismus. In: Sabrow, Martin (Hg.): Skandal und Diktatur. Formen öffentlicher Empörung im NS-Staat und in der DDR. Göttingen: Wallstein, S. 59-77. Bartsch, Anne/Eder, Jens/Fahlenbrach, Kathrin (Hg.) (2007): Audiovisuelle Emotionen. Emotionsdarstellung und Emotionsvermittlung durch audiovisuelle Medien. Köln: Halem. Bergmann, Jens/Pörksen, Bernhard (2009): Skandal! Die Macht öffentlicher Empörung. Köln: Halem. Boltanski, Luc et al. (2007): Affaires, Scandales, Grande Causes. De Socrate à Pinochet. Paris: Éditions Stock. Bösch, Frank (2009): Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880-1914. München: Oldenbourg. Bösch, Frank/Borutta, Manuel (Hg.) (2006): Die Massen bewegen. Medien und Emotionen seit dem 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M.: Campus. Bösch, Frank (2004): Zeitungen im Alltagsgespräch. Mediennutzung, Medienwirkung und Kommunikation im Kaiserreich. In: Publizistik 49, S. 319-336.
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Hermes, Erzberger, Zeigner
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Hermes, Erzberger, Zeigner: Korruptionsskandale in der Weimarer Republik Annika Klein
Die Moselbauern erhielten billigen Zucker durch den Minister Hermes – der Herr Minister erhielt billige Weine – wer wagt es, einen Zusammenhang zu konstruieren? [...] Aber man denke, welche Kübel von Schmutz ausgeladen würden, wenn es sich um einen Sozialdemokraten handelte! Die schwerindustriell-reaktionäre Presse gäbe keinen Tag Ruhe – man weiß ja, wie sie [es] mit Erzberger seinerzeit gemacht haben, der nicht einmal Sozialdemokrat war – und man weiß es noch besser seit der Hetze gegen Zeigner. An dem Unschuldigsten bliebe bei solchem Feldzug etwas hängen! (Chemnitzer Volksstimme 7.4.1924) Hermes, Erzberger, Zeigner – diese Namen stehen für drei Korruptionsskandale, die sich in der Anfangszeit der Weimarer Republik, zwischen 1919 und 1924, abspielen. Im Zentrum der Skandale stehen der Reichsernährungs- und spätere Finanzminister Andreas Hermes (Zentrumspartei), der Reichsfinanzminister Matthias Erzberger (ebenfalls Zentrumspartei) sowie der sächsische Justizminister und spätere Ministerpräsident Erich Zeigner (SPD). Wie die Passage aus der Chemnitzer Volksstimme zeigt, werden die drei Fälle bereits in der zeitgenössischen Presse immer wieder zueinander in Beziehung gesetzt. Dies liegt nicht nur an ihrer zeitlichen Nähe, sondern auch daran, dass mit Hermes, Erzberger und Zeigner durchweg Angehörige der Regierungsparteien in die Fälle verwickelt sind. Obwohl die Skandalierung von Korruptionsvorwürfen auch in der Weimarer Republik nicht ausschließlich Mitglieder der Regierungsparteien betrifft, erweist sie sich für diese als besonders folgenreich. Als Vertreter des noch auf recht tönernen Füßen stehenden neuen Systems müssen sie besonders um die Legitimierung ihrer Herrschaft bemüht sein. Dies macht sie anfällig für alle Vorwürfe, die im Zusammenhang mit dem Missbrauch der ihnen anvertrauten Macht stehen. Aus Korruptionsfällen oder schon aus bloßen Korruptionsvorwürfen lassen sich vor diesem Hintergrund leicht Korruptionsskandale machen.
K. Bulkow, C. Petersen (Hrsg.), Skandale, DOI 10.1007/978-3-531-93264-4_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Den größten Anteil an der Skandalierung tragen dabei die Vertreter politischer Gruppierungen, die der Republik mehr oder weniger ablehnend gegenüberstehen. Korruptionsskandale werden für sie zu einem Mittel der Destabilisierung des Systems. Die zahlreichen Reibungspunkte zwischen den einzelnen Regierungsparteien und selbst innerhalb der Parteien machen die Skandalierung von Korruptionsvorwürfen aber auch für die Vertreter der Republik zu einem probaten Mittel der Politik. Angeheizt durch immer neue Artikel in der Weimarer Tagespresse weiten sich solche Skandale daher häufig zu einer Grundsatzdebatte zwischen Gegnern und Befürwortern des ‚System Weimar‘ und seiner unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten aus, bei der das eigentliche Korruptionsdelikt zunehmend in den Hintergrund tritt. Im Folgenden sollen zunächst die drei Fallgeschichten kurz dargestellt werden. Im Anschluss daran wird analysiert, welche Motive der jeweiligen Skandalierung der Korruptionsvorwürfe zugrunde liegen, welche Strategien dabei zum Einsatz kommen und welche Erfolge die Skandalierer zu verzeichnen haben. Hermes Auf dem Kasseler Parteitag der SPD im Oktober 1920 zählt die zukünftige Entwicklung der Landwirtschaft zu den Punkten, über die besonders hitzige Debatten geführt werden. Es geht dabei um die Frage, ob und inwieweit die kriegsbedingte Zwangswirtschaft durch ein privatwirtschaftliches oder stärker sozialistisch geprägtes Modell abgelöst werden soll, ein Punkt über den auch innerhalb der Fraktion Uneinigkeit herrscht (Barclay 1986: 451-467). Der preußische Ministerpräsident Otto Braun und der Abgeordnete Ernst Heilmann üben dabei scharfe Kritik an der Politik von Reichsernährungsminister Andreas Hermes, der sich für den verstärkten Abbau der Zwangswirtschaft zugunsten eines privatwirtschaftlichen Modells und der verstärkten Einfuhr landwirtschaftlicher Güter ausgesprochen hat (Verhandlungen des Reichtags 1920a: 127A-128A).1 Braun befürwortet dagegen eine verstärkte Subventionierung der Landwirtschaft und hält eine Kombination aus Privat- und Gemeinwirtschaft auf Grund der Profitorientierung der Privatwirtschaft für nicht realisierbar. Als Beispiel für die daraus entstehende Korrumpierung führt Braun die Bestechlichkeit eines nicht namentlich genannten Beamten im Reichsernährungsministerium an. Nachdem auch Ernst Heilmann die Politik Hermes’ scharf angegriffen hat, spricht die SPD dem Minister noch auf dem Parteitag das Misstrauen aus (Parteitag der SPD 1920: 145-148, 150-151, 173). 1
Alle in Klammern abgekürzten Nachweise werden im Literaturverzeichnis ausführlich angegeben.
Hermes, Erzberger, Zeigner
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Der Vorwärts greift die Vorwürfe Brauns noch am gleichen Tag, dem 15. Oktober 1920, auf und weitet sie in den folgenden Artikeln immer mehr aus. Im Dezember schreibt er bereits von „Dutzenden solcher Fälle“ (8.12.1920). Korruption und Unterschlagung hätten im Ministerium Hermes geradezu System gehabt, neben dem von Braun erwähnten bestechlichen Beamten Erich Augustin gebe es noch eine Reihe weiterer korrupter Beamten, deren Vergehen Hermes gedeckt habe. Hermes selbst habe rechtswidrig Gelder aus der Stickstoffkasse des Ministeriums zum eigenen Vorteil für Automobile und Büromobiliar verwendet und agiere außerdem als Interessenvertretung der rheinisch-katholischen Agrarier. Nur ihrer Protektion habe er sein Amt überhaupt erst zu verdanken. Neben dem Vorwärts gehen die Presseattacken gegen Hermes vor allem von der Freiheit, dem Organ der USPD, und der kommunistischen Rote Fahne aus. Die Vorwürfe gegen Hermes werden dabei immer wieder mit scharfer Kritik an seiner Ernährungspolitik verbunden. Das Zentrumsblatt Germania und der konservative Berliner Lokal-Anzeiger, aber auch die Vossische Zeitung als Stimme des liberalen Bürgertums werten das Verhalten Brauns und die Berichterstattung der sozialdemokratischen Presse dagegen als Skandalmache und „skrupellose Wahlagitation“ (Germania 20.10.1920). Nachdem die Angelegenheit in verschiedenen Reichstagsdebatten zur Ernährungspolitik zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Braun und Hermes führt, bei denen beide Seiten die ‚Hetze‘ durch die gegnerische Presse scharf verurteilen, setzt der Reichstag schließlich am 15. Dezember 1920 einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Klärung der Vorwürfe gegen den Minister ein. Obwohl dieser Ausschuss noch in den folgenden zwei Jahren mit seiner Aufgabe beschäftigt ist, nimmt die Thematisierung des Hermes-Falles in der Presse wie im Reichstag zunächst ein abruptes Ende. Der Grund ist dabei wiederum in der politischen Entwicklung zu suchen: In der Reichstagsitzung vom 15. Dezember war nicht nur der Untersuchungsausschuss gegen Hermes eingesetzt, sondern auch der Haushalt des Reichsernährungsministeriums beschlossen worden. Die von Hermes vertretene Landwirtschaftspolitik hatte sich dabei eindeutig durchgesetzt (Verhandlungen des Reichstags 1920b: 1666C1668A, 1920d: 705). Nachdem die Entscheidung in der Ernährungspolitik also zugunsten seiner Politik gefallen ist, und zwar ohne dass Hermes von seinem Posten hätte zurücktreten müssen, verliert das Schlagwort ‚Korruption im Reichsernährungsministerium‘ offensichtlich vorerst sein Skandalpotential. Im März 1922, wenige Tage nach der in Aussicht gestellten Ernennung Hermes’ zum Reichsfinanzminister, kommt es jedoch zu einer zweiten Pressekampagne gegen den Minister. Beginnend mit dem Artikel „Hermes als Empfänger von Liebesgaben?“ am 8. März 1922 veröffentlicht die Freiheit eine Serie von Artikeln, in denen sie Hermes erneut der Korruption beschuldigt. Er soll
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vom Winzerverband für Mosel, Saar und Ruwer durch billige Weinlieferungen zu Sonderkonzessionen bewegt worden sein. In den folgenden Artikeln werden nicht nur die bereits 1920 geäußerten Korruptions- und Unterschlagungsvorwürfe, sondern auch die Kritik an Hermes’ Ernährungspolitik wieder aufgegriffen und mit Prognosen über seine zukünftige Tätigkeit als Reichsfinanzminister verbunden. Auch diese Pressekampagne nimmt allerdings ein abruptes Ende, nachdem sie die Ernennung Hermes’ zum Finanzminister offenbar nicht verhindern kann. Die sich anschließenden Beleidigungsklagen Hermes’ gegen den Vorwärts (März bis Juni 1921) und die Freiheit (März bis November 1922) stoßen nur noch auf geringes Presseinteresse und enden für den Minister günstig. Mit dem Vorwärts einigt er sich auf einen Vergleich, nachdem der verantwortliche Redakteur alle Vorwürfe gegen Hermes zurückgezogen hatte. Der Prozess gegen die Freiheit endet mit der Verurteilung des verantwortlichen Redakteurs Richard Hensel zu einer Geldstrafe von 10.000 Mark wegen Beleidigung und übler Nachrede, obwohl das Gericht mildernd anerkennt, dass Hermes’ Beziehungen zu den Winzern in der Tat „nicht vereinbar mit der Peinlichkeit, mit der der Beamte seine Integrität wahren und selbst den Anschein vermeiden muß“ gewesen seien (Vossische Zeitung 4.11.1922). Am 15. November 1922 schließlich spricht der Ausschuss Hermes von allen Vorwürfen frei, sowohl seine Kenntnis der Bestechlichkeit des Beamten Augustin als auch seine eigene Bestechlichkeit und den Vorwurf der Veruntreuung von Geldern betreffend (Verhandlungen des Reichstags 1920e: 6014-6025). Erzberger Matthias Erzberger war 1918 Leiter der Waffenstillstandskommission und Mitunterzeichner des Versailler Vertrages. Im Juni 1919 wird er Reichsfinanzminister und beginnt mit der Planung einer umfassenden Finanzreform. Zeitgleich beschuldigt ihn der Staatssekretär a. D. Karl Helfferich (DNVP) des Landesverrates und der Korruption. Der sich anschließende Schlagabtausch zwischen Helfferich und Erzberger erweist sich für letzteren nicht zuletzt deshalb als besonders brisant, weil er Spiegelbild einer früheren Auseinandersetzung zwischen den beiden Gegnern ist: Als junger Abgeordneter hatte sich Erzberger in den Kolonialskandalen 1904 – ebenfalls auf dem Wege einer Pressekampagne – als Ankläger gegen Korruption und Unwahrheit hervorgetan und dabei auch Karl Helfferich scharf angegriffen (Leitzbach 1998: 297-306; Williamson 1971: 6267).
Hermes, Erzberger, Zeigner
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Die Auseinandersetzung zwischen Erzberger und Helfferich spielt sich zunächst vor allem in der Presse ab, da Helfferich kein Mitglied der Nationalversammlung ist und Erzberger somit nicht direkt konfrontieren kann. Helfferich veröffentlicht zwischen dem 1. und dem 23. Juni 1919 die Artikelserie „Fort mit Erzberger“ in der Kreuzzeitung, Erzberger bzw. seine Mitarbeiter antworten in der Deutschen Allgemeinen Zeitung. Nachdem Helfferich die Artikel beider Seiten, zusammen mit weiterem Material in der ebenfalls „Fort mit Erzberger“ betitelten Flugschrift zusammenfasst, verklagt ihn Erzberger im September 1919 wegen Beleidigung.2 In dem von Januar bis März 1920 stattfindenden Prozess werden eine Vielzahl einzelner Punkte behandelt, die zum Teil auf den bereits in der Presse bzw. der Flugschrift geäußerten Vorwürfen basieren, zum Teil aber auch von Helfferich während des Prozesses neu eingebracht werden. Hauptsächlich geht es jedoch um zwei Komplexe: den Vorwurf der „Vermischung politisch-parlamentarischer Tätigkeit mit eigenen Geldinteressen“3 sowie den der gewohnheitsmäßigen Unwahrhaftigkeit. Helfferich wirft Erzberger insbesondere vor, er sei auf Grund seiner Befürwortung eines Friedensschlusses und der Unterzeichnung des Versailler Vertrages ein „Reichsverderber“ (Helfferich 1920: 3, 66, 73, 74) und Landesverräter. Nachdem er zu Kriegsbeginn zunächst ein überzeugter Annexionist gewesen sei, habe Erzberger durch seine Friedensresolution im Juli 1917 maßgeblich zur Niederlage Deutschlands und der für das Reich so ungünstigen Art des Friedensschlusses beigetragen. Erzbergers Positionswechsel sei dabei durch seine privaten Geldinteressen und nicht durch seine Sorge um das Wohl des Staates begründet gewesen. In seiner Doppelfunktion als Reichstagsabgeordneter und Vorstandsmitglied der Thyssen A.G. habe er Thyssens Annexionswünsche im Reichstag vertreten, solange er ein Gehalt von diesem bezogen habe. Erst nach seinem Ausscheiden bei Thyssen habe er sich von dieser Position abgewandt. Auch in anderen Fällen habe er sich in seinen Entscheidungen durch seine Verbindungen zu verschiedenen Konzernen beeinflussen lassen, ein Verhalten, dass Helfferich als „politisch-parlamentarische Korruption“ bezeichnet (Erzberger-Prozeß 1920: 15). Die Verbindung von Korruptionsvorwürfen mit der Beschuldigung, Erzberger habe entscheidende Wendungen im deutschen Kriegserfolg und den Friedensverhandlungen zu verantworten, beschert dem Prozess ein großes Echo in der Presse und trägt gleichzeitig zu deren extremer Polarisierung bei. Gespalten in Anhänger der Republik und damit Befürworter von Erzbergers Friedensmaßnahmen versus Gegner der Republik und Anhänger Helfferichs wird der Ton der Prozessberichterstattung zunehmend schärfer. Am 26. Januar 1920, also noch während des Prozesses, verübt der Fähnrich Oltwig von Hirschfeld, nach eigener 2 3
Landesarchiv Berlin: Erzberger vs. Helfferich, A Rep. 358-01, Nr. 69, Bd. 1, 2-3. Landesarchiv Berlin: Erzberger vs. Helfferich, A Rep. 358-01, Nr. 69, Bd. 4, 1.
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Aussage beeinflusst durch die Berichterstattung des Berliner Lokal-Anzeigers, ein Revolverattentat auf den Minister, mit dem Ziel ihn (politisch) „unschädlich“ zu machen.4 Da Erzberger nur in die Schulter getroffen wird, kann der Prozess jedoch fortgesetzt werden, und der Minister nimmt schon nach kurzer Zeit wieder an den Verhandlungen teil. Am 12. März 1920 verurteilt das Gericht Karl Helfferich wegen „fortgesetzter übler Nachrede durch Verbreitung von Schriften in Tateinheit mit fortgesetzter wörtlicher Beleidigung“ zu einer Geldstrafe in Höhe von 300 Mark (Erzberger-Prozeß 1920: 995), einer im Vergleich zu anderen Beleidigungsprozessen recht niedrigen Summe.5 Trotzdem betrachtet das Gericht den Wahrheitsbeweis als „im Wesentlichen erbracht“, obwohl dies konkret nur für zehn der insgesamt 43 einzeln verhandelten Punkte zutrifft (Erzberger-Prozeß 1920: 1053-1055). Noch während des Prozesses war die Steuererklärung Erzbergers aus dem Charlottenburger Finanzamt verschwunden und am 22. Februar 1920 verbunden mit dem Vorwurf der Steuerhinterziehung in den rechtsstehenden Hamburger Nachrichten veröffentlicht worden. Erzberger legt daraufhin sein Amt als Finanzminister nieder und bittet um Einleitung des Verfahrens gegen sich selbst. Dieses Verfahren wird zwar am 30. Juni aus Mangel an Beweisen eingestellt (Verhandlungen des Reichstags 1920c: 2095D), die Untersuchungen über Erzbergers Steuererklärung ziehen sich aber noch bis August 1921 hin. Ein endgültiger Abschluss wird jedoch, ebenso wie die Versuche Erzbergers, in die Politik zurückzukehren, durch ein zweites, tödliches Attentat am 26. August verhindert. Es ist bis zu diesem Zeitpunkt nicht gelungen, Erzberger eine wissentliche Steuerhinterziehung nachzuweisen oder sein angeblich ins Ausland verschobenes Vermögen aufzufinden (Epstein 1959: 484-489). Obwohl diese Fälle nicht mehr in direktem Zusammenhang mit den ursprünglichen Vorwürfen gegen den Minister stehen, werden sie in der Presse – je nach politischem Standpunkt der Zeitungen – als eine Fortführung der ungerechten Hetze gegen Erzberger oder als ein weiteres Anzeichen der Korrumpiertheit Erzbergers bzw. des gesamten Regierungssystems betrachtet und tragen dazu bei, dass die Diskussion um Erzberger bis zu seiner Ermordung in der Öffentlichkeit lebendig bleibt.
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Landesarchiv Berlin: Oltwig v. Hirschfeld wegen Attentates auf Matthias Erzberger, A Rep. 35801, Nr. 2016. Siehe hierzu wiederum den oben geschilderten Prozess Hermes’ gegen die Freiheit.
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Zeigner Erich Zeigner, ab 1921 sächsischer Justizminister, führt als solcher die Praxis der Gnadengesuche, der Umwandlung von Gefängnis- in Geldstrafen, ein. Im März 1923 wird er sächsischer Ministerpräsident in einer aus SPD und KPD bestehenden Koalitionsregierung, bleibt dabei aber zunächst auch Leiter des Justizministeriums. Nachdem Zeigner schon in seiner Regierungserklärung das Verhältnis von Reichsregierung und Reichswehr scharf kritisiert, beginnen sich die Beziehungen zwischen der sächsischen und der Reichsregierung zunehmend zu verschlechtern. Im Herbst 1923 befürchtet die Reichsregierung außerdem einen Aufstand der von der KPD bewaffneten ‚Proletarischen Hundertschaften‘, also einen linken Putsch, in Sachsen. Die Situation eskaliert als Zeigner Anfang Oktober 1923 zwei KPD-Mitglieder in sein Kabinett aufnimmt und sich trotz mehrmaliger Aufforderung weigert, diese wieder zu entlassen. Mitte Oktober marschiert daraufhin zunächst die Reichswehr in Sachsen ein, am 29. Oktober wird Zeigner schließlich durch Reichspräsident Friedrich Ebert unter Anwendung der Reichsexekutive seines Amtes enthoben (Schmeitzner 1994: 104).6 Am 1. November 1923, also nur wenige Tage nach der Absetzung Zeigners, erstattet der deutschvölkische Rechtsanwalt Georg Melzer bei der Staatsanwaltschaft sowohl Anzeige gegen den Schmied Friedrich Möbius, der „aus der angeblichen oder wirklichen Vermittlung von Begnadigungen der sächs. Justizhoheit unterstehender Personen ein Gewerbe“ mache, als auch gegen einen „ungetreuen Beamten im sächsischen Justizministerium“.7 Zeigner wird dabei zunächst nicht namentlich genannt. Aus der Aussage Melzers ergibt sich jedoch, dass dieser bereits seit Anfang 1922 einen „Schlag“ gegen den Justizminister geplant hatte, nachdem er durch seine Klienten, für die er oft auch Gnadengesuche aufsetzte, von den Aktivitäten Möbius’ und Zeigners erfahren hatte. Als er Anfang 1923 mit der Verteidigung zweier Mitarbeiter der Leipziger Neuesten Nachrichten, die Zeigner in einem Artikel „Korruption und ähnliches“ vorgeworfen hatten, beauftragt wird, sieht Melzer die Gelegenheit zur Überführung des Justizministers gekommen. In Vorbereitung des Prozesses hatte er bereits mehrere Zeugen befragt und umfangreiche Ermittlungen angestellt. Nachdem Zeigner jedoch Anfang Oktober die Strafanträge gegen die beiden Mitarbeiter der Leipziger Neuesten Nachrichten zurückzieht, entschließt sich Melzer, selbst Anzeige zu erstatten. Zeigner wird daraufhin am 21. November verhaftet und ins Untersuchungsgefängnis Leipzig gebracht.8
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Vgl. auch Bundesarchiv Berlin: Akten betreffend Sachsen, Bd. 3, R 43 I/2309, 280. Hauptstaatsarchiv Dresden: Verfahren gegen Möbius/Dr. Zeigner, 11018, Nr. 1507, 1. Hauptstaatsarchiv Dresden: Verfahren gegen Möbius/Dr. Zeigner, 11018, Nr. 1507, 1-17.
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Der Prozess gegen Zeigner und Möbius beginnt am 14. März 1924. Er findet damit parallel zu dem Hochverratsprozess gegen Adolf Hitler und Erich Ludendorff in München statt. Vergleiche zwischen den beiden Prozessen drängen sich damit geradezu auf und generieren ein entsprechendes Presseinteresse, das weit über Sachsen hinausreicht. Zeigner wird vorgeworfen, er habe als Gegenleistung für die Bewilligung von Gnadengesuchen Bestechungen angenommen. Bei den Antragstellern dieser Gesuche handelt es sich um Händler und Handwerker, die wegen kleinerer Vergehen wie Wucher oder Hehlerei zu Gefängnisstrafen verurteilt worden sind. Da sie in der Regel Klein- und Familienbetriebe führen, ist die Umwandlung ihrer Gefängnis- in eine Geldstrafe für sie besonders erstrebenswert. Der Mitangeklagte Möbius soll die Verurteilten an Zeigner verwiesen und dafür einen Teil der späteren Bestechungssumme einbehalten haben. Bereits am 31. März 1924 wird Zeigner wegen der Annahme von Geld und Wertsachen als Gegenleistung für die Bewilligung der Gnadengesuche der Bestechenden zu drei Jahren Zuchthaus und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt, sein Mitangeklagter Möbius zu zweien. Auch im Fall Zeigner wird vor allem in der Presse, aber auch durch das mehrheitlich deutschnational besetzte Gericht die Bestechlichkeit des Justizministers stets in Verbindung mit Zeigners Politik als sächsischer Ministerpräsident gebracht. So enthält die Urteilsbegründung nicht nur ein Urteil über den Justizminister, sondern auch über seine Partei und das von ihr vertretene Regierungssystem: Als mildernden Umstand erkennt das Gericht an, Zeigner sei ein „Psychopath“, der nicht zuverlässig zwischen Recht und Unrecht unterscheiden könne. Er sei daher nicht auf Grund seiner persönlichen Eignung ins Amt gekommen, sondern nur durch die „politischen Verhältnisse“, in denen die Sozialdemokratie Ministerposten unbedingt mit Parteigenossen zu besetzen suche, unabhängig davon, ob diese ihrem Amt gewachsen seien.9 Zeigners Revisionsversuche bleiben vergeblich, erst im August 1925 wird er bedingt begnadigt und aus dem Gefängnis entlassen. Nach seiner Haftentlassung arbeitet Zeigner als Redakteur verschiedener sozialdemokratischer Zeitungen, bekleidet aber in der Weimarer Republik kein politisches Amt mehr (Schmeitzner 1994: 108).
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Hauptstaatsarchiv Dresden: Verfahren gegen Möbius/Dr. Zeigner, 11018, Nr. 1507, 155-156.
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Die Fälle Hermes, Erzberger und Zeigner als Skandale Obwohl es sich bei Hermes, Erzberger und Zeigner auf den ersten Blick um doch recht unterschiedliche Fälle zu handeln scheint, lässt ein Vergleich der Strategien und Motive der Skandalierung von Korruptionsvorwürfen gegen die Minister deutliche Parallelen erkennen. Als Basisdefinition des politischen Skandals soll im Folgenden die Enthüllung eines moralischen Regelverstoßes eines Politikers durch Mitglieder einer oppositionellen politischen Gruppierung, die in der Öffentlichkeit große Empörung auslöst, zugrunde gelegt werden. Diese Enthüllung geschieht mit dem Ziel, entweder die Niederlage des Beschuldigten zu erreichen, oder zumindest Schaden von sich selbst abzuwenden. Die Eckpfeiler des Skandals bildet somit die von Sighard Neckel als „Skandal-Triade“ bezeichnete Konstellation aus Skandaliertem, Skandalierer und dem Publikum, dem der Skandal berichtet wird (Neckel 1989: 58; Käsler 1991: 13; Hondrich 2002: 40). Diese Grundkonstellation ist in allen der hier geschilderten Fälle vorhanden, beginnend mit dem Regelverstoß: Die drei Minister haben nachweislich Zuwendungen von Personen angenommen, die zumindest ein gesteigertes – und dem Minister bekanntes – Interesse daran hatten, diesen zu beeinflussen. Die tatsächliche Beeinflussungsabsicht bzw. das Eingehen des Ministers auf diese Absicht wird später von den meisten Beteiligten abgestritten und ist daher vor Gericht nur schwer nachzuweisen. Trotzdem wird deutlich, dass es sich zwar möglicherweise nicht in allen Fällen um ein strafrechtliches, aber doch auf jeden Fall um ein moralisches Vergehen handelt, dessen Enthüllung wohl kaum im Interesse des Ministers lag. Im Fall von Matthias Erzberger gewinnt dieser Regelverstoß noch zusätzlich an Brisanz dadurch, dass er, der in den Kolonialskandalen 1904 die Rolle des Skandalierers, des Enthüllers von Korruption und Unwahrheit gespielt hatte, sich nun selbst in der Position des Skandalierten wiederfindet. Aber selbst im Fall Hermes, in dem das Gericht die Annahme der Weinlieferungen äußerst milde bewertet und nicht als Nachweis einer Bestechung oder auch nur einer Bestechungsabsicht erachtet, wird deutlich, dass auch von einem Politiker der Weimarer Republik eine Trennung von „Politik, Gott, Geld, Liebe“ (Hondrich 2002: 14) erwartet wird, unabhängig davon, welcher Partei er angehört. So heißt es in der Urteilsbegründung des Beleidigungsprozesses Hermes’ gegen die Freiheit: Rein objektiv betrachtet sind nämlich die Beziehungen des Nebenklägers zu den Winzern nicht vereinbar mit der Peinlichkeit, mit der der Beamte seine Integrität wahren und selbst den Anschein vermeiden muß. [...] Auf jeden Fall aber hätte der Minister seine Beziehungen zu
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Annika Klein dem Winzerverband abbrechen müssen, als er von den geringen Preisen Kenntnis erhielt, keinesfalls hätte er diese Beziehungen von neuem aufnehmen dürfen. (Vossische Zeitung 4.11.1922)
Auch die Skandalierer sind in allen drei Fällen recht klar auszumachen: Im Fall Erzberger ist es Karl Helfferich, der durch seine Artikelserien und spätere Flugschrift die Erzberger’schen Vergehen zunächst enthüllt und ihre Skandalierung dann sowohl in der Presse als auch vor Gericht durch immer neue Details vorantreibt. Im Fall Hermes geht ein erster Impuls von Otto Braun und dem Vorwärts aus, eine zweite Welle erfolgt durch die kommunistische Presse in Form der Freiheit und der Roten Fahne. Im Falle Zeigner schließlich sind es die Leipziger Neuesten Nachrichten und der deutschvölkische Rechtsanwalt Georg Melzer, die mehrere Ansätze zur Skandalierung der Korruptionsvorwürfe gegen Erich Zeigner unternehmen. Während der Skandal klar im politischen und zumindest in den Fällen Erzberger und Zeigner auch im persönlichen Interesse der Skandalierer liegt, streiten dennoch alle Skandalierergruppen entschieden ab, einen Skandal provoziert haben zu wollen. Stattdessen berufen sie sich auf ihre moralische Pflicht, die Wahrheit aufzudecken und damit das schädliche Verhalten des korrupten Politikers dauerhaft zu unterbinden (Neckel 1989: 61): [Karl Helfferich:] Nicht um Sensation zu machen, nicht um einen Skandal hervorzurufen, sondern durchdrungen von der Richtigkeit und Erweislichkeit meiner Anklage und erfüllt von der Überzeugung, dass unter allen Übeln und Krankheiten, die das deutsche Volk befallen haben, die Korruption das allerschlimmste ist; durchdrungen von der Überzeugung, daß dieses Übel mit Pech und Schwefel ausgebrannt werden muß, wo immer es sich findet, und daß es nur ausgebrannt werden kann, wenn Volk und Beamtenschaft nicht den leisesten Zweifel zu hegen brauchen, an den untadelig reinen Händen derer, die den Staat regieren. (Erzberger-Prozeß 1920: 15). Obwohl in allen drei Fällen die ursprünglichen Vorwürfe auf dem Wege eines Zeitungsartikels geäußert werden, bedarf es jedoch eines gesonderten Blicks auf die unterschiedlichen Strategien, derer sich die Skandalierer zur Diskreditierung des politischen Gegners bedienen: In den Fällen Erzberger und Hermes wird der Minister durch eine gezielte Pressekampagne solange provoziert, bis er selbst einen Beleidigungsprozess anstrengt. Dabei lassen die Skandalierer keinen Zweifel daran, dass es ihnen um die politische Unschädlichmachung des Skandalierten geht. Der Beschuldigte wird in Handlungszwang gesetzt, indem mehr
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oder weniger direkt impliziert wird, ein Ausbleiben einer Beleidigungsklage komme einem Schuldeingeständnis gleich. Im Fall Erzberger gibt Helfferich vor Gericht diese Strategie sogar unumwunden zu (Erzberger-Prozeß 1920: 24). Aber selbst wenn der so Provozierte schließlich eine Beleidigungsklage anstrengt, um sich von den Vorwürfen rein zu waschen, hat dies in einem Beleidigungsprozess der Weimarer Zeit häufig desaströse Konsequenzen: Im Rahmen des Prozesses ergibt sich für den Beklagten und die seine Seite vertretende Presse noch einmal die Gelegenheit, sämtliche Anschuldigungen ausführlich und öffentlich zu wiederholen. Hinzu kommt, dass während des Prozesses geäußerte Vorwürfe, selbst wenn sie sich im Verlaufe des Verfahrens als unwahr erweisen, nicht erneut Gegenstand einer Beleidigungsklage werden können, eine Regelung, die Siegfried Löwenstein in seinem Rechtsgutachten zum Erzberger-Prozess als einen „Freibrief“ für den Beleidiger bezeichnet (1921: 101-104). Auch aus einem gewonnenen Beleidigungsprozess folgt daher für den Betroffenen nicht zwangsläufig eine Rettung von Ruf und Karriere. Andreas Hermes stellt somit eher einen Ausnahmefall dar, sein Name wird zwar in der Linkspresse auch in späteren Jahren immer wieder mit Korruption in Verbindung gebracht, er lässt sich aber nicht zu weiteren Klagen provozieren, und seine Karriere trägt offenbar keinen größeren Schaden davon. Im Fall Zeigner kommt zunächst ebenfalls diese Strategie der Provokation zum Zuge: Die Leipziger Neuesten Nachrichten veröffentlichen einen Artikel, in dem Zeigner Bestechlichkeit vorgeworfen wird, dieser klagt, zieht seine Klage jedoch später zurück. Erst daraufhin erstattet der Rechtsanwalt Gustav Melzer Strafanzeige gegen Zeigner, so dass es hier nicht zu einem Beleidigungsprozess mit Zeigner als Kläger, sondern zu einem Strafprozess mit Zeigner als Angeklagtem kommt. Als Instrument der Diskreditierung politischer Gegner durch die Skandalierung von Korruptionsvorwürfen ist diese Methode des direkten Angriffs für den Beschuldigten potentiell von noch größerer Tragweite als der Beleidigungsprozess. Obwohl im Fall Zeigner höchst erfolgreich, scheitert sie aber in anderen Fällen häufig am Besitz ausreichenden Beweismaterials durch den Skandalierer bzw. an der Bereitschaft der Staatsanwaltschaft vor allem gegen rechtskonservative Beschuldigte Anklage zu erheben. Auslöser und Motive der Skandalierung In allen drei Fällen stellen jedoch die konkreten Korruptionsvorwürfe gegen den Minister nur einen Teilaspekt des Gesamtskandals dar. Schon der Zeitpunkt des Einsetzens der jeweiligen Pressekampagne ist nicht durch das Bekanntwerden der korrupten Handlungen des Ministers, sondern vielmehr durch dessen ‚Res-
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sortpolitik‘ bedingt: Erzberger hatte sich als Leiter der Waffenstillstandskommission schon mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages in konservativen Kreisen höchst unbeliebt gemacht. Im Sommer 1919 kommt es dann zwischen den langjährigen Gegnern Erzberger und Helfferich auf Grund der vom neu ernannten Finanzminister Erzberger geplanten weitreichenden Finanz- und Steuerreform erneut zum Eklat. Auch der Fall Hermes wird nicht durch das Bekanntwerden der Vorfälle im Reichsernährungsministerium ausgelöst. Entscheidend ist in diesem Fall vielmehr die von Hermes vertretene Landwirtschafts- und Ernährungspolitik, mit der er sich die heftige Kritik der SPD zugezogen hatte. Auf dem Kasseler Parteitag der SPD spricht sich Otto Braun gegen die von Hermes befürwortete Privatwirtschaft aus, die Bestechlichkeit des Hermes-Beamten Augustin führt er dabei als Beispiel für die aus einem solchen Modell unweigerlich resultierende Korruption an. Neben diesen aktuellen Entscheidungen in der Landwirtschaft spielt dabei aber sicherlich auch die im Februar 1921 anstehende Landtagswahl in Preußen eine Rolle für den Zeitpunkt der Skandalierung. Die in Aussicht gestellte Ernennung Hermes’ zum Finanzminister löst 1921 dann die zweite Skandalierungswelle, diesmal durch die kommunistische Presse, aus. Im Falle Erich Zeigners ist es seine Politik als sächsischer Justizminister, in der er nicht nur die Praxis der Gnadengesuche einführt, sondern auch auf eine gezielte (Sozial-)Demokratisierung der sächsischen Justiz hinarbeitet, die seinen politischen Gegnern einen ersten Impuls gibt. Der zweite Auslöser ist seine Kabinettsbildung als sächsischer Ministerpräsident, die der Angst vor einer ‚roten Revolution‘ in Sachsen Vorschub leistet und zu seiner Absetzung führt – ein Faktor der zumindest die schnelle Behandlung von Melzers Anzeige begünstigt. Dessen am 1. November bei der Staatsanwaltschaft eingehende Anzeige erhält den Vermerk „beschleunigt zu klären“.10 Zusätzliche Sprengkraft erhält dieser zweite Aspekt des Skandals eher zufällig dadurch, dass der Prozess gegen Zeigner im März 1924 parallel zum Münchener Hitler/Ludendorff-Prozess stattfindet. Der politische Kontext spielt auch für die Thematik der Skandale selbst eine wichtige, wenn nicht sogar dominante Rolle. Politischen Skandalen wird häufig eine eher systemstabilisierende Wirkung zugeschrieben: Sie können die im Skandal diskutierten Normen bestätigen und führen in der Regel nicht zu einer Infragestellung des gesamten Systems, da nach Hondrich auch oppositionelle Gruppen „ein weitergehendes Interesse an Vertrauen in Institutionen, von denen
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Hauptstaatsarchiv Dresden: Verfahren gegen Möbius/Dr. Zeigner, 11018, Nr. 1507, 1.
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sie selber ein Teil sind“ haben (Hondrich 2002: 34-35).11 Ein Charakteristikum der Weimarer Korruptionsskandale ist jedoch genau dieser Angriff nicht nur gegen den Skandalierten bzw. seine Partei, sondern gegen das gesamte politische System:12 Von Anfang an werden dabei sowohl in der Presseberichterstattung als auch in den Reichs- und Landtagsdebatten und im Gerichtssaal die konkreten Korruptionsvorwürfe mit weitreichender Kritik an politischen Entscheidungen zu einem Gesamtbild moralischer Korruption verbunden. Es ergibt sich so die Möglichkeit, mit der Person des Ministers gleichzeitig auch seine bisherige Politik zu diskreditieren und die zukünftige zum Scheitern zu bringen. Diese Strategie funktioniert besonders gut für Skandalierer, die aus den Reihen der Gegner des Versailler Vertrages und der ‚Novemberrepublik‘ kommen und deren Rhetorik daher auch auf dieses Publikum zugeschnitten ist. Die Fälle Erzberger und Zeigner sollen nicht nur für Empörung sorgen, weil die Minister Bestechungen angenommen und dies dann später (im Falle Erzbergers unter Eid) abgestritten haben, sondern vor allem weil impliziert wird, dass ihre Bestechlichkeit und ihre sonstigen Charakterschwächen sich entscheidend zum Nachteil Deutschlands ausgewirkt haben. Im Gegensatz zu Erzbergers Umschwung in der Annexions- und Friedensfrage haben die von Zeigner bewilligten Gnadengesuche zwar keine weitreichenden politischen Auswirkungen, da es sich bei den Antragstellern nicht um Personen mit politischem Einfluss handelt. Es wird jedoch immer wieder betont, welch fatalen Schaden Zeigner der sächsischen Justiz und dem Land Sachsen allgemein dadurch zugefügt habe, dass sich ausgerechnet der oberste Landesherr als korrupt erwiesen habe. Gleichzeitig wird immer wieder auf seine Annährung an die KPD, die erheblich zur Gefährdung der nationalen Stabilität beigetragen habe, Bezug genommen. Erzberger und Zeigner werden so als typische Repräsentanten eines Systems dargestellt, das den von ihm erhobenen moralischen Anspruch nicht einhalten kann, weil es seine Vertreter auf Grund ihrer politischen Verbindungen und nicht auf Grund ihrer persönlichen Eignung ins Amt gebracht hat. Der notorische Lügner Erzberger habe sich des in ihn gesetzten Vertrauens als unwürdig erwiesen und sei daher nicht befugt, weitreichende Entscheidungen über die Finanzen seiner Mitbürger zu treffen. Der „Psychopath“ Zeigner, der nicht zwischen Recht und Unrecht entscheiden könne, sei dagegen nicht nur ein Muster11
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Hondrich (2002: 36) merkt allerdings auch an, dass es keine Garantie für diese „unterbödige Rationalität“ des Skandals gebe und sich Skandale abhängig von ihrer Anzahl und ihrem Ausmaß durchaus negativ auswirken können. Dies trifft im Fall Hermes sogar auf die SPD zu, die hier nicht nur den Minister bzw. die Zentrumspartei, sondern die von diesen vertretene, stärker kapitalistisch orientierte Politik angreift. In der Regel ist die SPD als Regierungspartei allerdings eher Angegriffene als Angreiferin.
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beispiel für den sozialdemokratischen Nepotismus, sondern geradezu selbst Opfer dieses Systems. Aber auch wenn die Skandalierung sich in den Fällen Zeigner und Erzberger eher an das rechte Ende des politischen Spektrums richtet, wird die dabei proklamierte Dichotomie zwischen altem und neuem System vor allem im Fall Erzberger auch von den Kommunisten dahingehend instrumentalisiert, dass sich dieses neue System eben auch nicht als weniger korrupt erwiesen habe als das alte. Der Fall Hermes schließlich zeigt, dass die Verbindung von Korruptionsvorwürfen und Systemkritik auch aus der Gegenrichtung funktionieren kann, selbst wenn sie nicht die Schlagkraft der beiden anderen Fälle erreicht. Auch bei Hermes wird stets die Verbindung zwischen Korruptionsvorwürfen und schwerwiegenden politischen Fehlentscheidungen in der Ernährungspolitik hergestellt. Und auch er wird, hier von Seiten beider Flügel der Sozialdemokratie und der Kommunisten, als ein Politiker dargestellt, der seinen Aufstieg weit mehr seinen parteipolitischen Verbindungen als seinen Fähigkeiten zu verdanken habe. So spielt es für die Rhetorik der Skandalierung kaum eine Rolle, aus welcher politischen Richtung die Angriffe kommen, sie funktioniert bei den rechtskonservativen Angriffen auf Erzberger und Zeigner ebenso wie bei denen der Sozialdemokraten und Kommunisten im Falle Hermes. Beide Seiten bedienen sich dabei gern einer Metaphorik, in der der korrupte Politiker als Schädling oder Krankheitssymptom dargestellt wird: Helfferich stellt Erzberger als „Krebsschaden“ dar (Helfferich 1920: 16), der das Vaterland zugrunde richte, während Heilmann vom „Volksschädling“ (Parteitag der SPD 1920: 151) Hermes spricht, der das Leben des deutschen Volkes gefährde. Mit dem Fortschreiten des Skandals geraten die ursprünglichen Korruptionsvorwürfe dabei immer mehr in den Hintergrund, häufig wird sogar betont, es gehe ja gar nicht (mehr) um die persönlichen Verfehlungen des Ministers, seine Korrumpiertheit sei eben nur ein Symptom einer tiefgehenden Zerrüttung der parlamentarischen Demokratie und damit eines Versagens der Republik. So schreibt beispielsweise die Freiheit über Hermes: „Dieser Mann muß verschwinden, nicht wegen seiner persönlichen Verfehlungen, sondern als der Träger eines Systems, das den Wiederaufbau des Kapitalismus auf dem Rücken der Massen zu bewerkstelligen sucht“ (23.10. 1920). Auswirkungen der Skandalierung Obwohl die drei Fälle in Bezug auf Motive und Strategien der Skandalierung von Korruptionsvorwürfen deutliche Parallelen aufweisen, unterscheiden sie sich doch drastisch in Bezug auf die Konsequenzen für die Beschuldigten: Erzberger
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muss als Finanzminister zurücktreten und wird das Opfer zweier Attentate, von denen das erste eindeutig, das zweite, tödliche, zumindest indirekt durch die Presseagitation gegen ihn motiviert ist. Zeigner musste sein Amt als Ministerpräsident zwar schon vor dem Beginn des Strafprozesses niederlegen, der Korruptionsskandal und die gegen ihn verhängte Zuchthausstrafe beenden seine politische Karriere in der Weimarer Republik aber endgültig. In Bezug auf den Schaden an Amt und Person sind die Auswirkungen des Skandals auf Hermes dagegen als relativ gering einzustufen. Bedeutet dies, dass im Fall Hermes der dritte Eckpunkt der Skandal-Trias, die öffentliche Empörung, fehlt? Handelt es sich um einen Skandalierungsversuch, der zwar den Regeln des politischen Skandals folgt, letztendlich aber trotzdem scheitert? In der Tat erreichen die Skandalierer ihre Ziele im Fall Hermes letztendlich nicht. Es kommt nicht zu einem Disziplinar- oder gar Strafverfahren gegen ihn, der eingesetzte Untersuchungsausschuss gelangt – obwohl er die Annahme der Weinlieferungen bestätigt – zu einem für Hermes sehr günstigen Urteil. Und auch aus dem Prozess gegen die Freiheit geht er als klarer Sieger hervor. Im Unterschied zum Fall Erzberger ist die gegen ihn gerichtete Presseagitation außerdem offenbar nicht in der Lage, genügend Druck zu verursachen, um Hermes auch nur zu einer vorübergehenden Niederlegung seiner Ämter zu zwingen: Unterstützt von den bürgerlichen Parteien stehen seiner Ernennung zum Finanzminister weder der Fall Augustin noch die unmittelbar zuvor aufgebrachte Weinlieferungs-Affäre im Wege. Hermes stellt damit einen der wenigen Fälle dar, in denen ein durch Korruptionsvorwürfe zu einer Beleidigungsklage provozierter Politiker aus diesem Prozess im Wesentlichen unbeschadet hervorgeht. Aber auch wenn es nicht gelingt, die politische Karriere des Ministers zu beenden, zeigt der Verlauf des Hermes-Falles doch, dass Hermes die typischen Schritte eines Skandalopfers vollzieht: Er versucht zunächst, durch Stellungnahmen in der Presse und im Reichstag den Schaden einzudämmen, greift dann die Skandalierer, insbesondere Braun, selbst an und beruft sich schließlich auf die „institutionelle Bearbeitung“ des Skandals durch den parlamentarischen Untersuchungsausschuss und die Gerichte (Neckel 1989: 75). Die durch die Korruptionsvorwürfe ausgelöste Empörung generiert also zumindest so viel Druck, dass Hermes es sich nicht leisten kann, die Vorwürfe einfach zu ignorieren, sondern auf einen durch Reichstag und Gericht legitimierten Abschluss des Skandals hinarbeiten muss. Auf Grund ihrer zeitlichen Nähe und ähnlichen Grundstruktur werden die drei Fälle – wie im Anfangszitat gesehen – bereits in der Weimarer Presse immer wieder zueinander in Beziehung gesetzt. Dabei dienen sie den einen als Beweis für die von rechts- und linksextremen Gruppierungen betriebene ‚Hetze‘, bei der
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die Parteizugehörigkeit und die politischen Verbindungen des Beschuldigten in der Presse wie auch vor Gericht eine ungleich höhere Rolle spielten als Ausmaß und Wahrheitsgehalt der gegen ihn erhobenen Beschuldigungen. Die Gegner der Republik dagegen nutzen gerade Fälle wie Zeigner und Erzberger, um eine ‚Korruptionskontinuität‘ herzustellen und so den Beweis für die alles durchziehende und rettungslose Korrumpierung der parlamentarischen Demokratie als solcher zu erbringen. Beide Argumentationslinien tragen in Form emotionalisierter Schlagwörter wie der ‚politischen Justiz‘ und der ‚korrupten Republik‘ ihrerseits wieder ein hohes – und gern genutztes – Skandalierungspotential in sich. Literatur & Quellen Barclay, David E. (1986): The Insider as Outsider: Rudolf Wissell’s Critique of Social Democratic Economic Policies, 1919 to 1920. In: Feldmann, Gerald D./Holtferich, Carl-Ludwig/Ritter, Gerhard A./Witt, Peter-Christian (Hg.): Die Anpassung an die Inflation. Berlin, New York: de Gruyter 1986, S. 451-471. Chemnitzer Volksstimme vom 7.4.1924: Gegenstück zum Zeigner-Urteil (ohne Verfasserangabe). Epstein, Klaus (1959): Matthias Erzberger and the Dilemma of German Democracy. Princeton: Princeton University Press. Erzberger-Prozeß (1920): Der Erzberger-Prozeß. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen im Beleidigungsprozeß des Reichsfinanzministers Erzberger gegen den Staatsminiser a.D. Dr. Karl Helfferich. Berlin: Carl Schmalfeldt Verlag und Druckerei GmbH. Freiheit vom 8.3.1922: Hermes als Empfänger von Liebesgaben? (ohne Verfasserangabe). Freiheit vom 23.10.1920: Die Korruption als Regierungssystem (ohne Verfasserangabe). Germania vom 20.10.1920: Um Hermes (ohne Verfasserangabe). Helfferich, Karl (1920): Fort mit Erzberger. Berlin: Berliner Kommissionsbuchhandlung GmbH. Hondrich, Karl Otto (2002): Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Käsler, Dirk (1991): Der Skandal als Politisches Theater. In: Albers, Hans Peter/Castello Leonarda/Germis, Carsten/Käsler, Dirk/Kelting, Peter-Jakob/Klupp, Matthias/Redlin, Sabine/Rimek, Jochen/Schmidt, Franz-Josef/Smeddinck, Frank/ Steiner, Thomas (Hg.): Der politische Skandal. Zur symbolischen und dramaturgischen Qualität von Politik. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 9-68. Leitzbach, Christian (1998): Matthias Erzberger. Ein kritischer Beobachter des Wilhelminischen Reiches. 1895-1914. Frankfurt a.M.: Lang. Löwenstein, Siegfried (1921): Der Prozess Erzberger-Helfferich. Ein Rechtsgutachten. Ulm: Süddeutsche Verlags-Anstalt.
Hermes, Erzberger, Zeigner
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Von der Möglichkeit eines Neuanfangs: Der politische Skandal und Hannah Arendts Gesellschaftskritik Michael Holldorf
Nach eigener Auskunft hat Hannah Arendt in ihrer Jugend- und Studienzeit kein tiefgehendes Interesse für zeitgeschichtliche Ereignisse, Politik oder gar politische Theorie entwickelt (vgl. Arendt 1998: 29). Sie studiert in den 1920er Jahren Philosophie, griechische Philologie und protestantische Theologie, in ihrer Dissertation behandelt sie den Liebesbegriff bei Augustinus. Eine intensive Beschäftigung mit politischer Theorie beginnt Arendt erst nach der Konfrontation mit dem totalitären Regime der Nationalsozialisten, in deren Verbrechen sich für Arendt das Versagen jeder Tradition praktischer Philosophie offenbart hat. Die aus dieser Erfahrung formulierte politische Theorie, die in der Absicht, einen neuen Bezugsrahmen für menschliches Zusammenleben zu entwickeln, verfasst wurde, bildet den Hintergrund der folgenden Überlegungen zu dem Phänomen des politischen Skandals. Im Lichte dieser Theorie verbleiben lediglich zwei Bedeutungsvarianten des Skandals. Einerseits erscheint der politische Skandal als ein austauschbares und beliebiges Instrument der Unterhaltung, er wird nicht mehr als originäres Phänomen wahrgenommen, sondern zu einem bloßen Konsumgut degradiert. Andererseits kann der Skandal zu einem positiven Moment für die Bürger werden, indem er eine republikanisch-freiheitliche Lebensweise reanimiert. Um diese Bedeutungsvarianten des politischen Skandals herleiten und begründen zu können, werden in einem ersten Schritt Hannah Arendts politiktheoretische Grundannahmen skizziert, aus denen sie eine Kritik an der modernen Gesellschaft ableitet. Diese Kritik gilt es näher zu betrachten, um daran anknüpfend die vorgeschlagenen Varianten des politischen Skandals beleuchten zu können. Im Falle des Skandals als Konsumgut werden ergänzend die Überlegungen Adornos und Horkheimers zur Kulturindustrie herangezogen, da auf diese Art die Perspektive auf das Konsumgut Skandal erweitert und um einen entscheidenden Aspekt ergänzt werden kann.
K. Bulkow, C. Petersen (Hrsg.), Skandale, DOI 10.1007/978-3-531-93264-4_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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THEORETISCHE GRUNDANNAHMEN Angesichts des „Ruin[s] unserer Denkkategorien und Urteilsmaßstäbe“, der für Hannah Arendt in den Gräueltaten der Konzentrationslager „ans Licht gebracht worden ist“ (Arendt 1994: 122), verbleiben für sie aufgrund des Mangels an anschlussfähigen Denktraditionen nur noch die Menschen, ihre Beziehungen untereinander und ihre Erfahrungen als Bezugspunkt für eine politische Theorie. Der Mensch als Bezugspunkt geht bei Arendt allerdings nicht mit einer universell gültigen Idee des Menschen einher, da zum einen unter den vielfältigen Versuchen, ein Menschenbild zu entwerfen, keiner ein höheres Maß an Wahrheit für sich beanspruchen kann als andere; zum anderen verhindert die menschliche Pluralität – also die Gleichzeitigkeit von Gleichheit und Verschiedenheit – allgemeingültige Aussagen zu einer Idee des Menschen. In Ermangelung eines universellen Menschenbilds muss Arendt sich den Menschen auf anderem Wege nähern: „Was ich daher im folgenden vorschlage, ist eine Art Besinnung auf die Bedingungen, unter denen, soviel wir wissen, Menschen bisher gelebt haben, und diese Besinnung ist geleitet [...] von den Erfahrungen und den Sorgen der gegenwärtigen Situation“ (Arendt 2002: 13). Ihr Vorhaben ist vorgeblich „etwas sehr Einfaches, es geht mir um nichts mehr, als dem nachzudenken, was wir eigentlich tun, wenn wir tätig sind“ (Arendt 2002: 14). Dieses scheinbar einfache Vorhaben entfaltet Arendt in ihrem 1958 erstmals erschienenen Buch Vita activa oder Vom tätigen Leben, in dem sie mit Hilfe eines Rekurses auf verschiedene philosophische Theorien und deren Rekonstruktion ein anthropologisches Modell in Form einer Phänomenologie menschlicher Lebensbedingungen und menschlichen Tätigseins entwickelt. Die von Arendt ausgemachten Grundbedingungen einer jeden menschlichen Existenz sind die Lebendigkeit bzw. Leiblichkeit, die Weltlichkeit und die Pluralität. Wobei Lebendigkeit die basale Tatsache des Lebens selbst meint, die Weltlichkeit im Sinne einer Weltangewiesenheit menschlicher Existenz zu verstehen ist, der Mensch also einer von Menschen errichteten Welt bedarf, die ihn vor der Natur schützt, und Pluralität zunächst als die „Tatsache, daß nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern“, verstanden werden kann (Arendt 2002: 17). Diesen Grundbedingungen korrespondieren nach Arendt das Arbeiten, das Herstellen und das Handeln als menschliche Grundtätigkeiten. Die Grundtätigkeiten entsprechen den Grundbedingungen, indem sie die je spezifischen Anforderungen, welche die Grundbedingungen an menschliche Existenz herantragen, zu erfüllen suchen.
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Im Folgenden soll Hannah Arendts Charakterisierung der Grundbedingungen und der diesen korrespondierenden Grundtätigkeiten skizziert werden, um das Fundament zu legen, auf dem Arendts Kritik der Gesellschaft verständlich wird.1 Lebendigkeit und Arbeit Die erste von Hannah Arendt ausgemachte Grundbedingung menschlicher Existenz ist die basale Tatsache des Lebens selbst. Der Mensch ist lebendig, am Leben, woraus für jeden Menschen die Notwendigkeit entsteht, das eigene Überleben und das Fortbestehen seiner Gattung zu sichern. Die Lebendigkeit definiert somit die Rahmenbedingungen menschlicher Existenz in doppelter Hinsicht, indem sie sich zum einen hinsichtlich der menschlichen Gattung im Kreislauf von Leben und Tod manifestiert, zum anderen jedem Menschen die Aufrechterhaltung des Stoffwechselprozesses zum Zwecke des individuellen Überlebens abverlangt. Aus der Grundbedingung der Lebendigkeit bzw. Leiblichkeit entwickelt Arendt ein aus heutiger Sicht ungewöhnliches Arbeitsverständnis. Arbeit charakterisiert sie zunächst in Anlehnung an Marx als einen zyklischen Prozess zwischen Mensch und Natur, in dem der Mensch der Natur Ressourcen entnimmt, diese zum Zwecke der Nahrungsaufnahme aufbereitet, konsumiert und die Abfallprodukte wieder in die Natur ausscheidet. Im Gegensatz zu Marx spricht Arendt der Arbeit aber jede Form der Produktivität ab, da sich für Arendt das Arbeiten einzig auf die Notwendigkeit der Lebensaufrechterhaltung bezieht und sich in dieser auch erschöpft. Die dem Arbeiten in der Moderne zugeschriebene Produktivität spricht sie einzig der Tätigkeit des Herstellens zu, das als weltbildende und schaffende Tätigkeit auf die Grundbedingung der Weltangewiesenheit der Menschen reagiert. Arbeit ist ausschließlich Zerstörung von Natur zum Zwecke des Konsums. Weiterhin charakterisiert Arendt Lebendigkeit und auch Arbeit als rein private Angelegenheiten, da subjektive Gefühle und Empfindungen wie Lust und Schmerz sich nicht objektivieren lassen und somit immer Selbsterfahrungen bleiben. Jede menschliche Existenz, die sich vorrangig an Lebendigkeit und Arbeit orientiert, stellt nach Arendt eine verkürzte Existenz dar, die im Extremfall zu einer radikalen Weltlosigkeit führt, da eine solche Existenz der eigenen Privatheit verhaftet bleibt und es ihr an der Teilnahme an weltlichen, öffentlichen Dingen mangelt. Auch würde auf diese Weise ein Leben in Unfreiheit geführt, da 1
Das Herstellen und die Weltlichkeit werden im Abschnitt zur Lebendigkeit und Arbeit lediglich gestreift, da eine detaillierte Behandlung für die Intention dieses Textes nicht notwendig ist. Für eine nähere Auseinandersetzung siehe Arendt (2002: 161ff.) und dazu Gutschker (2002: 148ff.).
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die Tätigkeit des Arbeitens lediglich der Notwendigkeit des ‚Überleben-Müssens‘ entspricht, passiv auf sie reagiert und somit eine unfreie Tätigkeit ist. Dieses Arbeitsverständnis ist aus heutiger Sicht ungewöhnlich, da es zu eng gefasst zu sein scheint, um tatsächlich alle Facetten ‚modernen Arbeitens‘ fassen zu können. Allerdings kann Arendt aufgrund der ihr eigenen theoretischen Konsequenz2 moderne gesellschaftliche Zustände, in denen sich die heutige ausdifferenziertere Form des Arbeitens vollzieht, nicht anerkennen. Aus dieser theoretischen Konsequenz heraus konnten Arbeit und Konsum von ihr nur als ein sich immer wiederholender, privater und unproduktiver Prozess gedacht werden, der lediglich der Notwendigkeit des ‚Überleben-Müssens‘ entspricht, sich darin erschöpft und somit als unfrei gelten muss. Ein Leben in Freiheit ist für Arendt in der privaten Einsamkeit von Arbeit und Konsum nicht vorstellbar, sondern immer angewiesen auf die Anwesenheit anderer Menschen und das gemeinsame Handeln in dieser Pluralität. Pluralität und Dignität des Handelns Die Pluralität als Grundbedingung menschlicher Existenz ist zunächst als die Tatsache zu verstehen, dass der Mensch nicht allein auf der Welt ist, sondern unter der Anwesenheit anderer Menschen und gemeinsam mit ihnen lebt. Weiter ausdifferenziert meint Pluralität, wie gesagt, die Gleichzeitigkeit von Gleichheit und Verschiedenheit der Menschen. Gleichheit ist im Sinne einer Gleichartigkeit zu verstehen, die sowohl die zwischenmenschliche Kommunikation als auch ein generationenübergreifendes Verständnis ermöglicht. Arendt betont aber auch, dass es sich lediglich um eine Wesensgleichheit handelt und Menschen nicht die reproduzierten Abbilder eines Urtyps sind, so dass Pluralität neben der Gleichartigkeit auch Verschiedenheit als „das absolute Unterschiedensein jeder Person von jeder anderen, die ist, war oder sein wird“ bedeutet (Arendt 2002: 213). Dieses absolute Unterschiedensein eines jeden von jedem macht Kommunikation erst notwendig, da Menschen sich aufgrund ihrer Verschiedenheit über differente Meinungen, Überzeugungen und Lebenspläne austauschen und verständigen müssen. Ohne eine solche Verschiedenheit wäre Sprache in der komplexen Form, wie die Menschheit sie entwickelt hat, nicht notwendig, und eine rudimentäre Form der Verständigung würde ausreichen. Unter dieser Bedingung der Pluralität treffen Menschen aufeinander, begegnen sich und können der nach Arendt einzig freien Tätigkeit des Handelns nachgehen. Handeln – und zum Handeln gehört bei Hannah Arendt immer das 2
Die hier angesprochene theoretische Konsequenz wird im Abschnitt zu Hannah Arendts Gesellschaftskritik wieder aufgenommen.
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Sprechen – gilt als freie Tätigkeit, da die Menschen im Handeln ohne vermittelndes Material zueinander in Kontakt treten und vor allem, weil es als einzige Tätigkeit innerhalb der Tätigkeitentrias nicht auf eine Notwendigkeit reagiert. Handeln entspricht zwar der Grundbedingung der Pluralität, anstelle des Handelns ist aber auch ein bloß passives Sich-Verhalten denkbar. In einem Extremfall wäre auch eine diktatorische Unterdrückung der Pluralität möglich. Handeln entspricht also der Pluralität, ist aber kein notwendiger, sondern ein freier Umgang mit dieser Bedingung. Weiterhin fällt das Handeln einzig dem Menschen zu. Auch Tiere können im Arendtschen Sinne arbeiten und ihr Leben aufrechterhalten, demiurgische Götter sind zumindest im Mythos in der Lage, Dinge und Welten herzustellen, allein das Handeln ist ein menschliches Privileg, die eigentlich menschliche Tätigkeit. Aus diesen Gründen kommt dem Handeln innerhalb der Tätigkeitentrias von Arbeiten, Herstellen und Handeln ein anthropologischer Vorrang zu. Diese Vorzugswürdigkeit und hohe Wertschätzung des Handelns geht auf zwei von Arendt untersuchte Bedeutungsdimensionen des Handelns zurück. Handeln stammt vom griechischen praxis, das wiederum in das Anfangen (archein) und das Vollziehen (prattein) einer Handlung zerfällt. Während Arendt aus dem Aspekt des Anfangens eine existentialistische Bedeutung für das Handeln ableitet, kommt dem Vollzug – also dem gemeinsamen Ausführen der Handlung – eine Bedeutungsdimension zu, die sich auf die Erfahrung von Freiheit bezieht. Existentielle Bedeutung erfährt das Handeln, da sich die Menschen in der Pluralität des öffentlichen Raums offenbaren und auszeichnen, ihre Einzigartigkeit hervorkehren, sprechend und handelnd den anderen zeigen können, wer sie sind. Arendt spricht in diesem Zusammenhang von einer zweiten Geburt des Menschen, der aus der Dunkelheit der privaten Sicherheit in das Licht des öffentlichen Raums tritt und einen Neuanfang wagt: „Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden, und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür übernehmen“ (Arendt 2002: 215). In dieser Präsentation auf der Bühne der Öffentlichkeit liegt aber auch immer ein Wagnis, da der einzelne Mensch den anderen zwar zeigen kann, wer er ist, allerdings nicht beeinflussen kann, welches Bild er hinterlässt und somit immer die Möglichkeit besteht, einen unerwünschten Eindruck zu erwecken. Weiterhin liegt in jeder Initiative, in jedem Neuanfang unter der Bedingung der Pluralität, eine gewisse Kontingenz, da die Absicht, die mit der Initiative verfolgt wird, nicht notwendigerweise auch das Ergebnis gemeinsamen Handelns und Sprechens sein muss. Denn jegliche Diskussion im öffentlichen Raum wird immer von vielen geführt, ist nie berechenbar, sondern ergebnisoffen und für denjenigen, der die Initiative ergriffen
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hat, immer mit dem Risiko verbunden, in einem gänzlich anderen Ergebnis zu enden (vgl. Arendt 2002: 239f.). Der Lohn, dieses „Wagnis der Öffentlichkeit“ (Arendt 1998: 70) einzugehen, besteht nun darin, sich zu offenbaren und auszuzeichnen und so in einer Welt, der es an metaphysischen und transzendenten Sicherheiten mangelt, eine Spur zu hinterlassen, die das eigene Leben überdauert. Die Möglichkeit durch die eigene Tat und das eigene Wirken im öffentlichen Raum etwas zu hinterlassen, das den eigenen Tod überdauert, macht die existentielle Dimension des Handelns aus. Da aber jeder Neuanfang riskant und ungewissen Ausgangs ist, in ihm stets das Wagnis der Öffentlichkeit mitschwingt, liegt die eigentliche Vorzugswürdigkeit des Handelns im prattein, im gemeinsamen Vollzug der Handlung. In jeder gemeinsamen Handlung machen die teilnehmenden Menschen die Erfahrung von Freiheit; die Freiheit, die eigene Welt durch gemeinsames Sprechen und Handeln gestalten zu können. Die hier erfahrene Freiheit ist eine positive Freiheit zur Partizipation am politischen Zusammenleben und den Angelegenheiten der Gemeinschaft. Handeln und Sprechen verfolgen zwar immer ein Ziel, aber der eigentliche Sinn des Handelns besteht nicht im Erreichen des Ziels, sondern Handeln gilt als Selbstzweck, wird um des Handelns willen vollzogen und wertgeschätzt. Somit kann der einzelne über das Ziel, das hinter jedem Neuanfang steht, unter der Bedingung der Pluralität nicht verfügen, den Sinn des Handelns als die Erfahrung von Freiheit erfährt er aber in jeder Handlung. Zu jedem Zeitpunkt, an dem Menschen sprechend und handelnd die ihnen gemeinsame Welt gestalten, entsteht zwischen ihnen ein öffentlicher politischer Raum, in dem sich Freiheit manifestiert. Aus diesen theoretischen Grundannahmen leitet Hannah Arendt eine Kritik der modernen gesellschaftlichen Verhältnisse ab, vor deren Hintergrund dem politischen Skandal eine unerwartete Bedeutung zukommt. HANNAH ARENDTS GESELLSCHAFTSKRITIK Bevor sich Hannah Arendts Kritik der Gesellschaft gewidmet werden kann, bedarf es noch einiger Vorbemerkungen. Als der wesentliche Bezugspunkt für Arendts Gesellschaftskritik muss die praktische Philosophie des Aristoteles angesprochen werden,3 da in der aristotelischen Darstellung des attischen Gemein3
„Niemand hat in unseren Tagen die Idee der antiken Polis so entschieden ergriffen und hell leuchten gemacht wie Hannah Arendt“ schreibt Dolf Sternberger zu Arendts Idee der Politik und ihren
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wesens mit der Trennung von oikos und polis, also der Trennung des privaten Raums der Notwendigkeiten und des öffentlichen Raums der Freiheit, bereits wesentliche Aspekte arendtscher Theorie angelegt sind. Die aristotelische Beschreibung des Zusammenlebens der Bürger im antiken Athen umfasst auch eine politische Ordnung, in der die von Arendt präferierte Hierarchie der Tätigkeiten mit dem Handeln an der Spitze realisiert ist. Die freien Bürger Athens, die in der polis sprechend und handelnd ihre gemeinsame Welt gestalten, können als paradigmatisch für Arendts politische Theorie angesehen werden. An dieser Stelle ist allerdings anzumerken, dass dieses Leben in Freiheit und ohne die Last der alltäglichen Notwendigkeiten den Bürgern nur möglich war, indem sie diese Notwendigkeiten aus ihrem öffentlichen Lebensraum in die Privatheit des oikos externalisierten, in der Frauen und Sklaven alles Nötige besorgten, um das Leben der Bürger aufrechtzuerhalten. Die oikodespotischen Herrschaftsverhältnisse ermöglichen somit erst das Leben der freien und vor dem Gesetz gleichen Bürger in der polis. Es ist nahezu überflüssig zu betonen, dass es Arendt nicht um die Reanimation dieser Externalisierung auf einen Sklaven- und Frauenstand geht, sondern die ursprüngliche Hierarchie der menschlichen Tätigkeiten mit dem Handeln an der Spitze der Tätigkeitentrias einer Wiederbelebung bedarf. In Vita activa zeigt Arendt, dass diese Hierarchie der Tätigkeiten, die in der polis noch verwirklicht war, schon sehr früh zu verwischen beginnt. Der entscheidende Einschnitt vollzieht sich für Arendt allerdings erst mit der Etablierung gesellschaftlicher Verhältnisse. Gesellschaft ist für Arendt wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass das Ökonomische – also die Tätigkeiten des Haushalts (oikos) – zu der dominanten Kategorie menschlicher Existenz avanciert. Der öffentliche Raum, der vormals der Politik und dem gemeinsamen Handeln vorbehalten war, wird in Gesellschaft zunehmend von den privaten Tätigkeiten des Arbeitens bzw. Konsumierens durchsetzt. Die unfreie und niedrigste Tätigkeit des Menschen steigt zu der alles bestimmenden Tätigkeit auf. Arbeit marginalisiert und korrumpiert die anderen Tätigkeiten. Handeln und Sprechen werden somit von Arbeit und Konsum an den Rand gedrängt und in den Fällen, in denen man ihnen noch nachgeht, verfolgt man sie mit einer Arbeitsmentalität, so dass zwar noch hergestellt und gehandelt wird, allerdings zum Zwecke des Konsums. Arbeit wird unter diesen Bedingungen nicht mehr als eine Notwendigkeit, das eigene Leben aufrecht zu erhalten, verstanden, sondern als sinnstiftende und identitätsbildende Tätigkeit angesehen und somit zum Selbstzweck. Es geht nicht mehr um das ‚Überleben-Müssen‘, sondern um Selbstverwirklichung im Job, so dass in gesellschaftlichen Verhältnissen das unfreie Arbeiten als ursprünglich Bezug zur aristotelischen Philosophie in Die versunkene Stadt (1979). Weiterhin zu Arendt und Aristoteles Gutschker (2002).
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niedrigste Tätigkeit den höchsten Rang einnimmt und die höchste Wertschätzung erfährt. Wenn Hannah Arendt von ihrer eingangs schon erwähnten „Sorge um die Welt“4 spricht, bezieht sie sich wesentlich auf diese Hierarchieverschiebung innerhalb der Tätigkeiten. Die Menschen haben es nahezu völlig aufgegeben, der eigentlich menschlichen Tätigkeit des gemeinsamen Handelns und Sprechens nachzugehen und verlieren sich stattdessen in einem Zyklus von Arbeit und Konsum. Der Mensch ist auf dem Weg, zu einem Animal laborans zu werden, dem es als Exemplar der Gattung versagt bleibt, sich auszuzeichnen oder etwas Besonderes zu sein. Der Mensch als Sklave im antiken Athen und ebenso als Jobholder in der Moderne ist als Animal laborans aus der Welt, sprich aus dem Beziehungsgefüge handelnder Personen, verbannt. Indem es allein dem Prozess der Lebenserhaltung und -steigerung dient – im Wechsel zwischen mühseliger Erarbeitung und genussreicher Einverleibung –, ist es wesentlich auf die eigene Körperlichkeit und die ihr innewohnenden Bedürfnisse verwiesen. (Breier 2001: 33) Hat der Mensch erst gänzlich verlernt zu handeln und diese höchste menschliche Tätigkeit vollends ersetzt durch ein am eigenen ökonomischen Vorteil orientiertes Verhalten – reagiert er also nur noch auf ökonomische Notwendigkeiten anstatt einen eigenen Neuanfang in die Welt zu bringen –, wird die Arbeitsgesellschaft zu einer „Gesellschaft von Jobholders“, in der es den Anschein hat, als bestehe die einzige aktive, individuelle Entscheidung nur noch darin, sich selbst gleichsam loszulassen, seine Individualität aufzugeben bzw. die Empfindungen zu betäuben, welche noch die Mühe und Not des Lebens registrieren, um dann völlig ‚beruhigt‘ desto besser und reibungsloser ‚funktionieren‘ zu können. (Arendt 2002: 410f.) In einer Arbeits- und Konsumgesellschaft, die „von denen, die ihr zugehören, kaum mehr als ein automatisches Funktionieren“ verlangt (Arendt 2002: 410), verbleiben für den politischen Skandal zwei Erscheinungsvarianten, die im Folgenden behandelt werden.
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Eine detailliertere Behandlung dieses Aspekts findet sich bei Breier (2007: 29ff.).
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DER POLITISCHE SKANDAL AUS GESELLSCHAFTSKRITISCHER PERSPEKTIVE In sozialen Verhältnissen, in denen das Ökonomische das dominante Kriterium der menschlichen Existenz geworden ist, Arbeit und Konsum den öffentlichen Raum besetzt halten und die anderen Tätigkeiten eine korrumpierte Randexistenz fristen, ist der politische Skandal in zwei Varianten denkbar. Hat sich die Arbeitsmentalität endgültig über alle Lebensbereiche gelegt, bleibt für den politischen Skandal – wie für jedes Phänomen, das nicht direkt zum eigentlichen Arbeitsprozess gehört – zunächst nur die Rolle eines austauschbaren Konsumguts, das in der Gesellschaft von Jobholdern von diesen in gleicher Art verbraucht wird, wie andere Konsumgüter auch. Der politische Skandal als Konsumgut Bei einem nur arbeitenden Menschen, dessen einzige Tätigkeit darin besteht, den eigenen Lebensprozeß und den seiner Familie zu erhalten und zu steigern durch Erweiterung des Konsums und Hebung des Lebensstandards, schiebt sich das Vergnügen an die Lebensstellen, wo in dem biologisch bedingten Kreislauf der Arbeit – „dem Stoffwechsel des Menschen mit der Natur“ (Marx) – ein Hiatus entsteht. (Arendt 1958: 1124) Besteht das Leben des Menschen nur noch aus den zwei komplementären Ausprägungen der Lebensaufrechterhaltung, erleidet auch seine Wahrnehmung der Welt und ihrer Phänomene eine Bestimmung durch die Kategorien der Arbeit und des Konsums. Jedes Phänomen, das nicht unmittelbar dem Lebensbereich des Arbeitens zugeordnet ist, wird zu einem Objekt des Konsums, wobei diejenigen Konsumgüter, die man sich nicht direkt einverleiben kann, zum Zwecke der Unterhaltung und des Vergnügens verbraucht werden. „Sie dienen, wie man sagt, dazu, die Zeit zu vertreiben, das aber heißt, sie dienen dem Lebensprozess der Gesellschaft, von dem sie nicht anders verzehrt werden als andere Konsumgüter auch“ (Arendt 1958: 1123). Arendt verortet diese Güter in der gegenwärtigen Massenkultur, in der eine „Vergnügungsindustrie“ (Arendt 1958: 1124) sich darauf spezialisiert hat, diese Produkte der Unterhaltung in die Welt zu bringen. Wird der politische Skandal von der Vergnügungsindustrie massenkulturell aufbereitet, wird auch er zu einem Objekt des Konsums, das der Unterhaltung und dem Vergnügen dient. Arendt hält fest, dass die Vergnügungsindustrie unproblematisch ist, solange sie
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sich auf ihre eigenen Verbrauchsgüter beschränkt, sich also originär unterhaltsamen und vergnüglichen Dingen widmet. Nimmt sie sich aber anderer Dinge an, die ursprünglich zu einem anderen Zweck erschaffen wurden, wie beispielsweise der Kunst, verliert das Vergnügen seine Unschuld und es erhebt sich die große Gefahr, daß der Lebensprozeß der Gesellschaft, der wie alle Lebensprozesse prinzipiell unersättlich alles in den biologischen Kreislauf seines Stoffwechsels bezieht, was ihm nur überhaupt geboten wird, die Kulturgüter im wahrsten Sinne des Wortes zu verzehren beginnt. (Arendt 1958: 1124) Unter Bedingungen der Massenkultur, in der die Massen möglichst kurzweilig unterhalten werden wollen, kommt zeitgeschichtlichen Ereignissen analog zu Erzeugnissen der Kultur die Stellung eines möglichst vergnüglichen Konsumguts zu. Diese Degradierung aller Phänomene zu Objekten des Konsums wird am Beispiel des politischen Skandals besonders deutlich, da sich an ihm die Weltsicht des Animal laborans, die es in jeder Lebenssituation an den Tag legt, in besonderer Weise exemplifizieren lässt. Politische Skandale – ganz allgemein verstanden als ein als Normenverletzung wahrgenommenes Ereignis innerhalb einer Wertegemeinschaft, in das politische Akteure oder Gegenstände involviert sind – werden vom Animal laborans in der Massenkultur nicht als solche rezipiert, sondern als Konsumgut zu einem Mittel der Unterhaltung und des Zeitvertreibs. Das Skandalöse wird weder erkannt, noch findet eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Ereignis statt. Stattdessen lässt man sich von dem durch die Vergnügungsindustrie aufbereiteten Phänomen berieseln und vertreibt sich die von der Arbeit freie Zeit mit Empörung um der Empörung willen. Die Ursache des Skandals, die Hintergründe und mögliche Konsequenzen werden nicht reflektiert oder gar debattiert, sondern konsumiert wie eine beliebige Vorabendserie. Und ebenso wie diese sich schnell abnutzt, immer wenigstens scheinbar neue Erzählstränge einweben muss, um sich nicht zu verbrauchen und die Zuschauer vor den Fernsehern zu halten, muss auch der Skandal als Konsumgut abseits von der eigentlichen Normenverletzung mit weiteren Details ausstaffiert werden, um sich im schnelllebigen Konsumverhalten des zu unterhaltenden Animal laborans nicht allzu schnell zu verbrauchen. Konsumgüter in Form von Nahrung und Vergnügen sind „notwendig für den Lebensprozeß, für seine Erhaltung und Erholung“ und werden in diesem Prozess auch verbraucht, so dass eine Notwendigkeit besteht, sie „immer wieder von neuem produziert und dargeboten“ zu bekommen, „soll dieser Prozeß nicht überhaupt zum Stillstand kommen“ (Arendt 1958: 1124). In Massenkulturen bedarf es somit einer erhöhten Schlagzahl an skandalisierten Ereignissen, die
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dann sowohl vergnügt als auch empört konsumiert werden können. Die Beliebigkeit, die ohnehin ein wesentliches Merkmal des Skandals als Objekt des Konsums ist, nimmt aufgrund dieser erhöhten Schlagzahl an skandalisierten Phänomenen noch zu. Nicht zuletzt darum wird der Skandal von den Konsumenten nicht als originäres Phänomen wahrgenommen, mit dem sich auseinandergesetzt werden muss, das hinterfragt, gemeinsam diskutiert und analysiert werden will, um aus einer solchen öffentlichen Debatte mögliche Rückschlüsse für das gemeinsame Normengefüge abzuwägen; vielmehr verweilen die Jobholder der Massenkultur in der Sicherheit des Privaten, lassen sich von dem vergnüglichen Schauspiel berieseln und besiegeln somit ihren Rückzug aus der Öffentlichkeit, mit dem eine Absage an aktive politische Partizipation sowie an gemeinsames Handeln und Sprechen einhergeht. Der politische Skandal existiert nicht mehr als Skandal, sondern tritt unter Bedingungen der Massenkultur nur noch in Form eines austauschbaren Konsumguts in Erscheinung.5 Der politische Skandal in der Kulturindustrie Auch wenn sich erste Ansätze zu einer Theorie der Kulturindustrie bereits in den musiksoziologischen Schriften Adornos ausmachen lassen (vgl. Müller-Doohm 1996: 200), ist der Begriff „Kulturindustrie“ eng mit der Dialektik der Aufklärung verbunden, in der Adorno und Horkheimer den Topos erstmalig als ein globales und ausdifferenziertes System der Kulturvermittlung unter Bedingungen der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse einführen (vgl. Adorno 2003: 337). Unter dieses System lassen sich „sowohl die Medien der Massenkommunikation, Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk, Schallplatte, Film und Fernsehen als auch solche Institutionen der Kulturverbreitung wie das Theater, die Museen, Festivals, der Buchmarkt, aber auch diverse Sparten des Sports und andere Einrichtungen des Hobby- und Unterhaltungswesens“ fassen (Müller-Doohm 1996: 200). Die Güter der Kulturindustrie werden unabhängig von ihrem Gebrauchswert als Ware hergestellt und von vornherein für den Markt konzipiert und produziert. Während Kultur und Kunst im bürgerlich-liberalen Zeitalter noch ein durch „Kraft zur Negativität“ (Gebuhr 1998: 98) geprägtes kritisches Potential bargen, verschieben sich im Spätkapitalismus durch die auf den Markt gerichtete Produktion der Gehalt und die Qualität der Kulturgüter. Authentische Erscheinungen der Kultur finden sich nur noch in einem zurückgehenden avantgardistischen Bereich, der zunehmend von der Kulturindustrie verdrängt wird. Diese kulturin5
Siehe als exemplarische Belege dieser These die Beiträge von Bulkow & Petersen sowie von Gegner in diesem Band.
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dustriellen Waren büßen jede Authentizität ein, dienen lediglich als Tauschwert auf dem Markt und werden somit zu Produkten, die – „mehr oder minder planvoll hergestellt“ – „auf den Konsum der Massen zugeschnitten sind und in weitem Maß diesen Konsum von sich aus bestimmen“ (Adorno 2003: 337). Sie unterliegen wie alle Tauschwerte im Kapitalismus dem Primat des Profits. „Geistige Gebilde kulturindustriellen Stils sind nicht länger auch Waren, sie sind es durch und durch“ (Adorno 2003: 338). Diesen Kulturwaren kommt keine Originalität mehr zu, sie haben ihren Grund nicht mehr in sich selbst, sondern im Profit und aufgrund dieser ihnen eigenen kommerziellen Natur verflachen sie zu oberflächlichen, trivialen und konformistischen Produkten von kurzer Haltbarkeit. Unter diesen Bedingungen geht jedes kritische Potential verloren; es wurde „das geopfert, wodurch sich die Logik des Werks von der des gesellschaftlichen Systems unterschied“ (Adorno & Horkheimer 1981: 109). Die entscheidende Erweiterung der Perspektive auf das Konsumgut Skandal wird allerdings erst deutlich, wenn man die Kategorien des Amusements und der Manipulation innerhalb der Kulturindustrie näher in den Blick nimmt. Die Kulturindustrie reagiert zwar auf die Bedürfnisse und Vorlieben der Konsumenten, orientiert sich also an deren Nachfrage an Amusement, diese scheinbar harmlose Form ihrer Befriedigung ist aber zu kritisieren. Amusement erfüllt unter kulturindustriellen Bedingungen eine soziale Funktion, die sich aus der Dialektik von Arbeit und Freizeit herleiten lässt. „Freizeit ist an ihren Gegensatz gekettet. Dieser Gegensatz […] prägt ihr selbst wesentliche Züge ein“ (Adorno 2003: 645). Der die Freizeit prägende Gegensatz ist die Arbeit und „[u]nterstellt man einmal den Gedanken von Marx, in der bürgerlichen Gesellschaft sei die Arbeitskraft zur Ware geworden und deshalb Arbeit verdinglicht“ (Adorno 2003: 647) und nimmt gleichzeitig Freizeit als durch Arbeit geprägt an, so herrschen in der Freizeit die gleichen Regeln und Bedingungen, die auch den Arbeitsprozess dominieren. Freizeit dient der Erholung und der Reproduktion von Arbeitskraft, in ihr „setzen sich [demnach] die Formen des nach dem Profitsystem eingerichteten gesellschaftlichen Lebens fort“ (Adorno 2003: 647), so dass der Mensch in Freizeit und Arbeit auf seine Rolle als die Ware Arbeitskraft festgelegt ist. Das „reine Amusement, […] das entspannte sich Überlassen an bunte Assoziation und glücklichen Unsinn“ wird immer weiter zurückgedrängt durch das „gängige Amusement“ der Kulturindustrie (Adorno & Horkheimer 1981: 128). Gängiges Amusement wiederum „ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus. Es wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitsprozeß ausweichen will, um ihm von neuem gewachsen zu sein“ (Adorno & Horkheimer 1981: 123). Folglich ist die Bedürfnisstruktur, die durch gängiges Amusement bedient wird, durch Arbeit fremdbestimmt, wodurch Rückkopplungen dieser Form von Unterhaltung auf die Verhaltensmuster der Konsumenten entstehen:
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Zugleich aber hat die Mechanisierung solche Macht über den Freizeitler und sein Glück, sie bestimmt so gründlich die Fabrikation der Amüsierwaren, daß er nichts anderes mehr erfahren kann als die Nachbilder des Arbeitsvorgangs selbst. Der vorgebliche Inhalt ist bloß verblaßter Vordergrund; was sich einprägt, ist die automatisierte Abfolge genormter Verrichtungen. Dem Arbeitsvorgang in Fabrik und Büro ist auszuweichen nur in der Angleichung an ihn in der Muße. Daran krankt unheilbar alles Amusement. Das Vergnügen erstarrt zur Langeweile, weil es, um Vergnügen zu bleiben, nicht wieder Anstrengungen kosten soll und daher streng in den ausgefahrenen Assoziationsgleisen sich bewegt. Der Zuschauer soll keiner eigenen Gedanken bedürfen. (Adorno & Horkheimer 1981: 123) Die Erfüllung der Vorlieben und Interessen der Konsumenten durch die Kulturindustrie ist somit nur scheinbar eine harmlose, da die zu bedienenden Interessen von dem kapitalistischen System fremdbestimmt sind: Die Gewalt der Industriegesellschaft wirkt in den Menschen ein für allemal. Die Produkte der Kulturindustrie können darauf rechnen, selbst im Zustand der Zerstreuung alert konsumiert zu werden. Aber ein jegliches ist ein Modell der ökonomischen Riesenmaschinerie, die alle von Anfang an, bei der Arbeit und der ihr ähnlichen Erholung, in Atem hält. (Adorno & Horkheimer 1981: 114) Es handelt sich also nicht um eine schlichte Reaktion auf die Konsumentenbedürfnisse, sondern um eine aktive Manipulation eben dieser. „In der Tat ist es ein Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis, in dem die Einheit des Systems immer dichter zusammenschließt“ (Adorno & Horkheimer 1981: 109). Diese Form der Manipulation ist nicht im Sinne gezielter Steuerungsmaßnahmen einzelner Akteure zu verstehen, sondern als Konsequenz der gesellschaftlichen Struktur und der in ihr herrschenden Produktionsweise, die auch die Kultur infiziert. Dieser dem System innewohnende manipulative Charakter äußert sich zum einen darin, dass die Menschen auf ihre Konsumentenrolle reduziert werden, sich ihr Leben also nur noch in der Sphäre des Konsums abspielt. Diese Sphäre wird von den Individuen nicht selbstbestimmt gestaltet, sondern stellt die Fortsetzung der Bedingungen materieller Produktionsprozesse in der von Arbeit freien Zeit dar. Zum anderen ist Kulturindustrie trivial, sie produziert nur oberflächliche Güter ohne tatsächlichen Inhalt oder Substanz, so dass den Konsumenten nur Banalitäten und Nichtigkeiten serviert werden. Ihre Produkte sind auf Gewinn
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zielende Waren, die nicht originär den Lebenszusammenhängen der Menschen entsprungen sind. Aus diesem Grund sprechen Adorno und Horkheimer bewusst nicht von einer ‚Massenkultur‘, sondern ersetzen diesen Begriff durch den der ‚Kulturindustrie‘, um die Deutung auszuschließen, dass es sich bei diesen gesellschaftlichen Prozessen „um etwas wie spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur handele, um die gegenwärtige Gestalt von Volkskunst“ (Adorno 2003: 337). Kulturindustrie ist kein kultureller Ausdruck der Bevölkerung, sondern die Verdrängung originär kultureller Ausdrucksweisen durch gleichförmige, standardisierte und auf den Markt gerichtete Kulturwaren. Die Massen sind „nicht das Primäre, sondern ein Sekundäres, Einkalkuliertes; Anhängsel der Maschinerie. Der Kunde ist nicht, wie die Kulturindustrie glauben machen möchte, König, nicht ihr Subjekt, sondern ihr Objekt“ (Adorno 2003: 337). Aufgrund dieser doppelten Manipulation, die sich über die allgegenwärtige Präsenz kulturindustrieller Güter vollzieht, muss die Kulturindustrie als „Integration von oben“ verstanden werden (Adorno 2003: 337). Die permanente Berieselung bleibt nicht folgenlos. Standardisierte und immer gleiche Produkte führen gemeinsam mit den Arbeitsbedingungen und deren Fortsetzung in der Freizeit zu einer Verkümmerung menschlicher Phantasie: Die Verkümmerung der Vorstellungskraft und Spontaneität des Kulturkonsumenten heute braucht nicht auf psychologische Mechanismen erst reduziert werden. Die Produkte selber [...] lähmen ihrer objektiven Beschaffenheit nach jene Fähigkeiten. Sie sind so angelegt, daß ihre adäquate Auffassung zwar Promptheit, Beobachtungsgabe, Versiertheit erheischt, daß sie aber die denkende Aktivität des Betrachters geradezu verbietet, wenn er nicht die vorbeihuschenden Fakten versäumen will. (Horkheimer & Adorno 1981: 113f.) Die doppelte Manipulation der Kulturindustrie, die den Menschen auf seine Rolle als Konsumenten bzw. als Ware Arbeitskraft reduziert und ihn gleichzeitig mit oberflächlichen, standardisierten und inhaltsleeren Produkten umzingelt, entfaltet in den Konsumenten eine konformistische Wirkung. Die Wiederholung des Immergleichen bedeutet auch „Ausschluß des Neuen“ (Horkheimer & Adorno 1981: 120), so dass das banale Amusement tendenziell die Möglichkeit des Menschen blockiert, sich die Welt als eine Andere vorzustellen. Ein phantasievolles Vorstellen wird den Menschen durch eine Verstetigung ihrer Konsumentenrolle und durch die permanente Präsenz der trivialen Monotonie des Amusements genommen, wodurch jegliches kritische Potential in der Gesellschaft dauerhaft unterbunden wird. Die scheinbar harmlose Erfüllung des
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menschlichen Bedürfnisses nach Amusement wird in ihrer kulturindustriellen Variante zu einem systemstabilisierenden Instrument, das Konformität fördert, Kritik unterbindet und sich letztlich zu einem „Mittel von Herrschaft und Integration“ entwickelt (Adorno 2003: 653). Die Perspektive auf den politischen Skandal als Konsumgut wird unter kulturindustriellen Bedingungen somit um ein systemstabilisierendes Element ergänzt. Der politische Skandal, der in gegenwärtigen Gesellschaften massenmedial also kulturindustriell Verbreitung findet, ist weiterhin als Konsumgut charakterisiert, erhält aber zusätzlich eine gesellschaftliche Funktion. Als ein Objekt der Massenmedien wird die Aufbereitung und Präsentation des politischen Skandals auf den Konsum der Menschen zugeschnitten. Da diese Befriedigung des Bedürfnisses nach Amusement aber durch Arbeit fremdbestimmt, daher trivial, oberflächlich und für die Konsumenten in keinster Weise geistig fordernd ist, führt die kulturindustrielle Präsentation des politischen Skandals nicht zu einer Debatte um das Skandalöse,6 sondern dient einzig der Erholung für zukünftige Arbeit. Die inhaltsleere und kaum anspruchsvolle Form der Darbietung regt nicht zur Kritik an, sondern verstetigt die „Verkümmerung der Phantasie“, so dass nicht zu erwarten ist, dass ein politischer Skandal zu einer Auseinandersetzung über bestehende Normengefüge führt, sondern der Skandal als Ware der Kulturindustrie vielmehr konformistische Wirkung entfaltet und jedes Potential zur Negativität und Kritik im Vorhinein aus der Aufbereitung des Skandals getilgt wird. Hier ist zu betonen, dass die Präsentation des Skandals nicht aktiv manipuliert wird, um eben diese konformistische Wirkung zu erreichen, sondern systemische Zwänge der Profitmaximierung eine Form der Darbietung fordern, die langfristig die Kritikfähigkeit aus der Gesellschaft tilgt. Nicht nur, dass in der Kulturindustrie der politische Skandal nicht mehr als originäres Phänomen wahrgenommen wird, er wird aufgrund der systemischen Zwänge darüber hinaus in ein affirmatives Element sozialer Integration verkehrt. So entsteht unter kulturindustriellen Bedingungen die paradoxe Situation, dass der politische Skandal, der mit seiner Aufdeckung und Verbreitung in der Öffentlichkeit Kritik an den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen evozieren müsste, zu einem systemstabilisierenden, den status quo bejahenden und verfestigenden Element wird:7
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Siehe gerade hierzu nochmals die Analyseergebnisse von Bulkow & Petersen. Weiterhin erhöht die oberflächliche Rezeption politischer Phänomene die Anfälligkeit der Gesellschaft für populistische Agitatoren und Bewegungen. Denn der nicht-kritische Umgang mit Politik entfaltet nicht nur für den status quo eine stabilisierende Wirkung, sondern ist darüberhinaus weniger in der Lage, Populismus als solchen zu identifizieren und lässt sich leichter instrumentalisieren.
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Michael Holldorf Die Personalisierung von Sachfragen, die Vermischung von Information und Unterhaltung, eine episodische Aufbereitung und die Fragmentierung von Zusammenhängen schießen zu einem Syndrom zusammen, das die Entpolitisierung der öffentlichen Kommunikation fördert. Das ist der wahre Kern der Theorie der Kulturindustrie. (Habermas 1998: 46)
Dieser „wahre Kern“ der Kulturindustrie mit all seinen Konsequenzen tritt am Beispiel des politischen Skandals besonders deutlich zu Tage. Der politische Skandal als Katalysator Nimmt man aber an, dass die Menschen nicht völlig in ihrer Rolle als Animal laborans aufgehen und dass die Kulturindustrie das Kapillarsystem der Gesellschaft noch nicht allumfassend durchdrungen hat, die oben formulierten gesellschaftskritischen Überlegungen zwar beunruhigende Tendenzen darstellen, aber nicht für sich beanspruchen können, eine alleingültige Darstellung menschlicher Existenz zu sein – und diese Annahme ließe sich anhand verschiedener Ereignisse, Lebensformen und Ausdrucksweisen stützen –, so kann der politische Skandal auch eine positive Wirkung auf das Zusammenleben der Menschen haben. Die in die Privatheit zurückgezogene Existenz und der permanente Konsum von Waren des Amusements lassen sich auch dahingehend verstehen, dass die Bürger eines Staates den Verlust der gemeinsamen Freiheitserfahrung und der Möglichkeit einen Neuanfang in die Welt zu setzen zumindest unbewusst als Mangel wahrnehmen, den sie durch Unterhaltung und Konsum zu kompensieren suchen. Vor diesem Hintergrund könnte ein politischer Skandal insofern als Katalysator dienen, als er gemeinsames politisches Handeln und Sprechen anstoßen und so eine republikanisch-freiheitliche Lebensweise im Sinne Hannah Arendts reanimieren könnte. Um einen politischen Skandal könnte eine Debatte entstehen, die das bisher marginalisierte gemeinsame Handeln wiederbelebt. Die Normenverletzung wäre in diesem Fall so gravierend, dass sie nicht Empörung um des Amusements willen verursacht, sondern zu einer tatsächlichen Auseinandersetzung mit dem Skandal führt. Die Bürger würden öffentlich Position zu dem Ereignis beziehen und miteinander über die Normenverletzung und die Norm selbst diskutieren. Verschiedene Sichtweisen auf den Skandal könnten sich herauskristallisieren, so dass eine Gruppe möglicherweise den die Norm verletzenden Akteur verteidigt und die Norm selbst in Frage stellt, während andere die Norm verteidigen und für die in den Skandal involvierten Personen Sanktionen fordern. Aber auch bei
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einer einhelligen Beurteilung des politischen Skandals würde sich an die Debatte um den Skandal ein gemeinsames Handeln der Bürger anschließen, in welchem die Ergebnisse der Diskussion umgesetzt werden und das möglicherweise die Bedingungen des Zusammenlebens verändert. In diesem gemeinsamen Handeln würde darüber hinaus auch der bisher im Wesentlichen unbewusst erfahrene und durch Konsum zu kompensieren gesuchte Mangel ins Bewusstsein treten und als Defizit an politischer Partizipation identifiziert. Die wiederentdeckte Erfahrung von Freiheit im gemeinsamen politischen Wirken und die Identifikation des Mangels würden Maßnahmen nach sich ziehen, die einer erneuten Marginalisierung gemeinsamen Handelns und Sprechens vorbeugen. Denkbar sind verschiedene systemische und politische Reformen, die neue Formen bürgerlicher Beteiligung etablieren und die Möglichkeit, in einem öffentlichen Raum politisch aktiv zu werden, dauerhaft offen halten. Der politische Skandal löst in dieser Variante also einen Prozess aus, der sich mit der Normenverletzung des Skandals tatsächlich auseinandersetzt, sie als solche reflektiert und hinterfragt sowie zu gemeinsamen Handlungen motiviert. Am Ende des Prozesses steht die Erfahrung einer politischen Debattenkultur, in der sich auch das Defizit an politischem Tätigsein offenbart, so dass in letzter Konsequenz dieser Prozess in Reformen mündet, die politische Partizipation wieder in den Alltag der Bürger integrieren und verstetigen. In dieser Variante wäre der politische Skandal ein positives Moment für die Bürger, das sie aus der Lethargie ihrer Privatheit rüttelt und die Passivität der permanenten Berieselung durch die aktive Auseinandersetzung mit dem Skandalösen ersetzt. Die Form des katalytisch wirkenden politischen Skandals ist sowohl in einer kontrollierten als auch in einer unkontrollierten Variante denkbar. Als unkontrolliert kann im Normalfall die Wirkung eines politischen Skandals charakterisiert werden, in dem eine Normenverletzung an die Öffentlichkeit gelangt, die ursprünglich verschleiert werden sollte. Diese Normenverletzung löst Empörung in der Gesellschaft aus; innerhalb der Öffentlichkeit wird eine intensive Debatte um das Ereignis und das betroffene Normengefüge geführt, an deren Ende eine Beurteilung des Skandals und mögliche Konsequenzen stehen. Dabei ist es offen, ob die involvierten Akteure sanktioniert werden und/oder die betroffene Norm hinterfragt und reformuliert wird. In der kontrollierten Variante des politischen Skandals hingegen soll eben diese Reformulierung der Norm erreicht werden. Die Normenverletzung wird bewusst – im Sinne einer Provokation – begangen, um über deren Skandalisierung ein bestimmtes Thema in die öffentliche Diskussion einzubringen. Die Norm wird aktiv von den Akteuren zur Disposition gestellt, um einen Themenkomplex in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu heben oder mit der Absicht die Norm zu verändern.
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Unabhängig davon, ob ein politischer Skandal aktiv in der Öffentlichkeit platziert wird oder unkontrolliert ans Tageslicht gelangt, kann er aus der hier vertretenen Perspektive positiv bewertet werden, sobald eine Auseinandersetzung um den Skandal entsteht, die über bloße Empörung und Unterhaltung hinausgeht, da er in dieser Form zu einer aktiven Beteiligung an öffentlichen Belangen motiviert und die Wiederbelebung einer republikanisch-freiheitlichen Lebensform fördert. FAZIT Die Betrachtung des politischen Skandals vor dem Hintergrund gesellschaftskritischer Theorien hat ein ambivalentes Bild ergeben. Einerseits ist deutlich geworden, dass in Gesellschaften, die weitestgehend von der ökonomischen Kategorie der Arbeit dominiert sind, der Skandal ebenso zu einem Konsumgut degradiert wird wie andere Phänomene auch. In dieser Spielart wird die Normenverletzung zu einem Mittel der Unterhaltung, mit dem sich kaum auseinandergesetzt wird und das unter Hinzuziehung kulturindustrieller Überlegungen paradoxerweise zu einer affirmativen Einstellung gegenüber einem eigentlich zu kritisierenden status quo führt. Der Skandal ist dann eine Ware des Vergnügens und wird über den kulturindustriellen Umweg zu einem Instrument sozialer Integration. Andererseits konnte auch die Möglichkeit aufgezeigt werden, dass politische Skandale sich positiv auf das Zusammenleben der Menschen auswirken, da sie Impulse zu erneutem politischem Handeln und Sprechen geben können. Der politische Skandal befördert in dieser Variante eine politische Debatte, aus der gemeinsame politische Handlungen erwachsen. Diese wiederentdeckte Erfahrung von Freiheit im gemeinsamen Handeln könnte dann in eine Verstetigung politischer Partizipation münden, so dass der im Arendtschen Sinne „eigentlich menschlichen Tätigkeit“ des gemeinsamen Handelns der ihr zustehende Platz innerhalb menschlicher Existenz wieder eingeräumt wird. Aus gesellschaftskritischer Perspektive kann für politische Skandale somit festgehalten werden, dass sie in der gegenwärtigen Gesellschaft die Menschen auf ihre Konsumentenrolle festschreiben und systemstabilisierende Wirkung entfalten, ihnen aber gleichzeitig immer die Chance innewohnt, dem ewig gleichbleibenden Trott von Arbeit und Konsum zu entkommen, Anstöße zu gemeinsamen Handeln und Sprechen zu geben und auf diesem Weg letztlich zu einer republikanisch-freiheitlichen Existenz zurückzukehren.
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Sloterdijk-Debatte 2.0: ‚Skandalöse‘ Anthropologie im diskursiven Spannungsfeld von Biotechnologie, Ökonomie und Zukunftsangst Lars Koch
1999 und 2009: Zwei Jahreszahlen, zwei Debatten, zumindest zum Teil die gleichen Akteure. Während die hitzige Diskussion, die im Jahr vor der Jahrtausendwende einem von Peter Sloterdijk auf Schloss Elmau vorgetragenen Referat über Biotechnologie nachfolgte, mittlerweile unter dem Label ‚Sloterdijk-Debatte‘ einen festen Platz in der deutschen Skandalgeschichte gefunden hat, sind Relevanz und Konsequenzen der Debatte neueren Datums, die im Herbst 2009 ihren (vorläufigen) Höhepunkt erreichte und sich um Sloterdijks Einwürfe zur Frage sozialer Gerechtigkeit drehte, bislang nur schwer abzuschätzen. Jenseits einer naheliegenden Fokussierung auf die ‚Wirkungsästhetik‘ des Fernseh-Philosophen, die schnell auf eine kontinuierlich aufmerksamkeitskalkulierende Platzierungsstrategie rekurriert und – so etwa Hans Ulrich Gumbrecht in der Zeit (Gumbrecht 2009) – Sloterdijks skandalaffirmatives Medienhandeln als eigentliche Kontinuität beider Auseinandersetzungen auszumachen glaubt, soll im Folgenden die Frage gestellt werden, wie beide Debatten inhaltlich zusammenhängen. Einerseits ist klar, dass die Sloterdijk-Debatte 1999 nahezu alle Parameter eines Medienskandals in paradigmatischer Weise erfüllt. Es finden sich die für einen Skandal konstitutiven Handlungssequenzen – die vermeintliche Verfehlung in einer Rede Sloterdijks, Enthüllungsberichte in der Zeit und im Spiegel, im Anschluss daran eine breite Empörungsdebatte (vgl. Hondrich 2002: 15f.) –, die Akteursrollen waren mit Sloterdijk und Habermas in Anfangsaufstellung prominent besetzt (vgl. Luhmann 1983: 17), zudem wird in der Verortung der Auseinandersetzung auf den Bühnen des deutschen Feuilletons zugleich deutlich, dass Skandale heute immer massenmedial imprägnierte Skandale sind (vgl. Kepplinger & Ehmig 2004: 363). Bringt eine solche Nachzeichnung der Skandalarchitektonik Aufklärung über Aushandlungsdynamiken in einer hoch medialisierten Gesellschaft, so ist damit gleichwohl noch nicht ausreichend beantwortet, welche mittelfristige Reichweite Skandale eigentlich haben. Kulturwissenschaftliches Interesse an Kontroversen sollte daher nicht bei der „Ortung und Ordnung“ (Schmitt 1950: 17) von Skandalen stehen bleiben, sondern auch nach den nachhaltigen diskursiven Folgen fragen, die aus einer als Skandal K. Bulkow, C. Petersen (Hrsg.), Skandale, DOI 10.1007/978-3-531-93264-4_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Lars Koch
begriffenen Konfrontation folgen. Entscheidend ist, dass diskursive Neuformatierungen gesellschaftlich dominanter Grundüberzeugungen nicht alleine in der moralisierenden Sphäre der Medienöffentlichkeit stattfinden, sondern Ergebnis diskursiver Austauscheffekte sind, welche sich als Ergebnis der Interaktion von Meinung, Wissen und Narration realisieren. Die Produktion von Wissen – dass sollte bei aller verständlichen kommunikationswissenschaftlichen Begeisterung für Empirie und Kategorienkonstruktion nicht aus dem Blick geraten – ist ihrerseits wiederum Ergebnis historischer Transformationsprozesse, in die sich Deutungsmuster, Argumentationsfiguren und Narrativierungsstrategien einschreiben. Einen Skandal innerhalb seines diskursiven Ermöglichungszusammenhangs zu situieren heißt dementsprechend auch, ihn retrospektiv auf seine prospektiven Diskursanstöße und seine argumentativen Umschriften zu befragen. Einen historischen Skandal zum Sprechen zu bringen, bedeutet, seine Resonanzen zu rekonstruieren – und dies ebenso auf der Ebene handelnder Akteure wie auch auf der niederschwelligen Diskurs-Ebene mittlerer Latenzen. Diese allgemeinen Überlegungen auf ein konkretes Fallbeispiel herunterbrechend lautet die zu erörternde These dementsprechend, dass Sloterdijks Reflexion über Gentechnik (1999) und seine Argumentation zur Selbstmodifikationszumutung des Individuums der Gegenwart (2009) die Sichtweise des Menschen in ein bio- bzw. sozialtechnologisches Spannungsfeld einschreiben, das sich assoziativ über die gentechnischen Debatte im postgenomischen Zeitalter vermittelt und die Direktive einer neuen Selbsttechnologie im Sinne Foucaults als ein vertikales Leitbild des ‚guten Lebens‘ formuliert. Um dies zu zeigen, soll im Folgenden ein argumentativer Dreiklang durchgeführt werden: Nachdem es zunächst um Sloterdijks Sichtweise der molekulargenetischen Biotechnologie gehen wird, soll in einem zweiten Schritt die Frage erörtert werden, inwieweit der aktuelle Kenntnisstand der Molekulargenetik die um die Jahrtausendwende befürchtete Austreibung des sozialen Faktors aus unserem Menschenbild zurückgenommen und umweltadäquates Handeln im Umgang mit genetischen Dispositionen wieder ins Zentrum der Diskussion gestellt hat. Abschließend soll in einem dritten Schritt die These weiterverfolgt werden, dass die in Sloterdijks aktueller Publikation ausformulierte Denkfigur des ‚übenden Lebens‘ ein habituell gewendetes Korrelat zur Regierung genetischer Risiken darstellt und sich damit auf luzide Weise einer neoliberalen Gouvernementalität der Eigenverantwortung anverwandelt.
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Die Sloterdijk-Debatte Will man die Erregungsintensität richtig gewichten, die Sloterdijk 1999 mit seiner Rede über mögliche „Regeln für den Menschenpark“ auslöste, dann ist es notwendig, sich den diskursiven Ermöglichungszusammenhang in den Jahren vor dem Millennium kursorisch in Erinnerung zu rufen. Hatte der Zusammenbruch des Kommunismus in der kulturräsonierenden Öffentlichkeit Anfang der 1990er Jahre zunächst eine kollektive Hochstimmung ausgelöst, so verdüsterten sich die Zukunftsprognosen immer mehr, je näher das ‚magische‘ Jahr 2000 kam. Hierbei spielten politische Gründe – die Rückkehr des Krieges nach Osteuropa etwa – ebenso eine Rolle wie auch jene neuen technischen Möglichkeiten, die – man denke an die erste erfolgreiche gentechnologische Reproduktion eines Schafes mit Namen ‚Dolly‘ im Jahr 1997 – die anthropologische Ursprungsversicherung einer klaren Trennung von Natur und Kultur in Frage stellten. Insbesondere die popkulturell imprägnierte Figur des ‚Klons‘ wurde zu einem kulturellen Faszinosum, welches sich – in den Ausbuchstabierungen von Baudrillard und Houllebecq jeweils von einem öffentlichen Entrüstungssturm begleitet – aus dem Versprechen speiste, technikbasiert die postmoderne Überbietung von Differenz in einem neuen Gleichheitsformat überwinden zu können.1 Welche sozialpsychologischen Folgen ein solches Gedankenspiel haben kann, hatte Hans Blumenberg schon Jahre zuvor vorausschauend skizziert, als er mahnend feststellte: „Alle, die Umstände herbeiführen zu sollen meinen, die die Zusammenhänge der Urheberschaften von Menschen an Menschen verunsichern und verwirren, sollten sich vergegenwärtigen, was Ungewissheit hinsichtlich des Seinsgrundes in den Gemütern [...] zerstören kann“ (Blumenberg 1987: 203). Die Sloterdijk-Debatte war somit nicht nur Produkt einer selbstreferentiellen Mediendynamik, sondern artikulierte eine substanzielle Verunsicherung, die sich aus ganz verschiedenen Angst-Diskursen speiste und manchem zeitgenössischen Beobachter einen Vergleich mit dem Fin de siècle 1900 aufdrängte. Konkretisierte sich die kulturpsychologische Relevanz des anthropologischen Diskurses nach 1900 vor allem als notwendige Reaktion auf die Infragestellung des menschlichen Selbstbildes durch die Evolutionstheorie und die hierzu parallel laufende Krise der Repräsentation, so ist die Heftigkeit der Sloterdijk-Debatte in inhaltlicher Hinsicht ein Symptom dafür, dass die neuen molekulargenetischen Möglichkeitsversprechen eine diffuse Angst vor einem nicht genau zu benennenden Herkunftsverlust befördert haben. Dementsprechend ging es bei den 1
In gewisser Weise fungiert der Klon damit als das Phantasma eines Übermenschen der Unterkomplexität. So stellt Baudrillard die programmatische Frage: „Aren’t we actually sick of sex, of difference, of emancipation, of culture?“ (Baudrillard 2000: 15). Zur Faszination des Klons vgl. Caduff (2004).
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nahezu hysterischen Reaktionen auf die Rede Sloterdijks um weit mehr als dessen Äußerungen selbst. Die drei Kernbegriffe des zunächst nur unter der Hand verbreiteten und erst auf dem Höhepunkt der Debatte veröffentlichten Manuskripts – ‚Humanismus‘, ‚Gentechnik‘ und ‚Anthropologie‘ – markierten einen Imaginationsraum, den in den Debatten-Monaten eine ganze Reihe von Intellektuellen und Journalisten betraten, um in den wichtigen deutschsprachigen Feuilletons öffentlichkeitswirksam die Grundlagen einer post-metaphysischen Anthropologie auszuhandeln und dabei en passant zugleich die Vererbungsmasse der deutschen Nachkriegsphilosophie zu verteilen. Betrachtet man mit einigem Abstand den Ablauf der auf allen Seiten erhitzt geführten und mit Letztbegründungsbegriffen operierenden Auseinandersetzung, so wird eine eigentümliche Eskalationsdynamik deutlich, die so – oder so ähnlich – für viele Skandalgeschichten typisch ist, hier aber ob der Vielstimmigkeit ihrer um Deutungsmacht streitenden Sprecherrollen die „Chronik einer Inszenierung“ (Nennen 2003)2 in besonderer Weise vor große Probleme stellt. Unternimmt man trotzdem auf engem Raum den Versuch einer kursorischen Rekonstruktion, dann lassen sich zumindest drei Diskursebenen unterscheiden, die zwar in den verschiedenen Debattenbeiträgen immer wieder übereinander geblendet wurden und sich im argumentativen Austausch gegenseitig imprägnierten, gleichwohl aber ihrem Objekt- und Adressatenbezug nach zu differenzieren sind. Zunächst einmal hat Peter Sloterdijk im Juli 1999 bei einer auf Schloss Elmau stattfindenden Tagung mit dem Titel „Jenseits des Seins – Exodus from Being, Philosophie nach Heidegger“ eine Rede gehalten, die nicht bei allen Zuhörern auf Akzeptanz stieß und dementsprechend im Rahmen der bei solchen Veranstaltungen üblichen diskursiven Gepflogenheiten kommentiert bzw. kritisiert wurde. Im Fortgang entwickelte sich – initiiert durch die Leserbriefe einiger Augenzeugen, die von einem vermeintlichen Eklat zu berichten wussten – dann ab September sukzessive eine die anfängliche Irritation zum handfesten Skandal verdichtende Woge der Entrüstung, die sich energetisch im Modus des Hörensagens aus dem Nichtvorhandensein eines lektürefähigen Redemanuskript speiste und in dem Generalvorwurf subsumiert werden kann, Sloterdijk habe seiner Heidegger-Lektüre die Folie eines faschistischen Übermenschentums zugrunde gelegt, um hieraus die Legitimation für die biotechnologisch scheinbar möglich 2
In ebenso brillanter wie genauer Form ist eine solche Rekonstruktion Heinz-Ulrich Nennen gelungen. Seine Studie zeigt die Chancen und Risiken einer kulturwissenschaftlichen Skandalforschung. Einerseits gelingt es Nennen, die Agonalität und Theatralität des Skandals in seiner temporalen Abfolge nachzuzeichnen, andererseits macht er deutlich, dass Skandale nicht alleine als Medienphänomene zu werten sind, sondern immer noch – und zu allererst – auf ihre normative Irritationsfunktion befragt werden müssen.
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gewordene Selektion des Menschen ableiten zu können. Einen ersten Höhepunkt erreichte die Debatte mit mehreren Beiträgen in den Wochenblättern Die Zeit und Der Spiegel, in denen Sloterdijk von den Journalisten Thomas Assheuer und Reinhard Mohr der Vorwurf faschistischer Gesinnung gemacht wurde.3 Hierauf wiederum reagierte Sloterdijk mit dem Argument einer intentional gesteuerten Fehllektüre seiner Ausführungen und der Unterstellung einer gezielten Intrige, in deren Hintergrund Jürgen Habermas – als ehemaliger Lehrer Assheuers und eigentlicher Skandalierer – die Fäden ziehe, um die bröckelnde symbolische Macht der Kritischen Theorie zu konsolidieren, indem er Sloterdijk öffentlich diskreditieren lasse. Diese zweite Diskursebene, die in gewisser Weise der Sloterdijk-kritischen Skandalisierung durch die Eröffnung einer zweiten Front – einer Skandalisierung der Skandalisierung – zu begegnen suchte, gipfelte in der Ausstellung einer (vatermordenden) Sterbeurkunde an die Kritische Theorie in einem Beitrag Sloterdijks in der Zeit vom 9. September 1999.4 Eine dritte Diskursebene schloss sich direkt an diese Positionierungskämpfe an: Im Fortgang der Debatte wurde nun nicht mehr allein um den Inhalt von Sloterdijks Rede und dessen Bewertung gestritten, sondern immer auch um die Frage, welche Bedeutung Habermas und die Kritische Theorie im 21. Jahrhundert noch beanspruchen können. Diese interne Entwicklungsgeschichte der Sloterdijk-Debatte vor Augen hieße es, den Sloterdijk’schen Text in doppelter Hinsicht missdeuten, wollte man ihn alleine auf die Funktion eines Impulsgebers zu einer Debatte reduzieren, die lediglich aufmerksamkeitsstrategisch zu erklären wäre. Sloterdijk machte sich zwar durchaus resonanzkalkulierend (und die Resonanzen falsch einschätzend) zum Stichwortgeber einer Diskussion über die anthropologischen Konsequenzen der Biotechnologie, noch mehr wollte er diese aber auch in eine bestimmte inhaltliche Richtung lenken. Sloterdijk ist – dies wird in seinem Sphären-Werk ebenso deutlich wie in seinem aktuellen Buch über die Anthropotechnik des Übens – einer der letzten Vertreter einer langen und im deutschen Sprachraum profilierten kulturkritischen Tradition, die die Gegenwart als Schwund- und Verfallsstufe einer besseren Vergangenheit ansieht und seine Leser – die Rolle eines poetavates imitierend – zu einer fundamentalen Umkehr bzw. Neuausrichtung aufruft. Diese Denk- und Argumentationsfigur eines katastrophischen Nieder3
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Nennen hat seiner rund 600 Seiten starken Studie eine Bibliografie aller Debatten-Beiträge beigefügt, die auf über 200 einzelne Wortbeiträge kommt. Vgl. Nennen (2003: 619ff.). Sloterdijk versuchte aus der Verteidigungshaltung selbst in den Angriff überzugehen. Sein Argument zielte dabei auf einen Vergleich zwischen der Hypermoral der Kritischen Theorie und ihrer praktischen Suggestionspolitik ab und gipfelte in der These, dass die vermeintliche Verschwörung gegen ihn als Beleg für den Geltungsverlust der Frankfurter Theorie- und Kritikschmiede zu dekonstruieren sei, die ihre Thesen nicht mehr argumentativ, sondern nur noch emotional zu plausibilisieren verstünde.
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gangs markiert eine zentrale Scharnierstelle der breitgefächerten Sloterdijk’schen „Weltanschauungsliteratur“ (Thomé 2003), die im Falle der Regeln für den Menschenpark angesichts des dort vorgetragenen Auslese-Phantasmas zu großen Irritationen geführt hat, intrinsisch aber auch Sloterdijks Misstrauensbekundungen gegen den Sozialstaat motiviert. Sloterdijks Büchern ist ein ebenso aufmerksamkeitssichernder wie verkaufsfördernder Alarmismus eigen, der den Zustand der Welt immer wieder in den dunkelsten Farben malt und hieraus tiefe Spekulationen über die Natur des Menschen und die Logik der Kultur ableitet. In diesem Sinne stellt auch der Text über Regeln für den Menschenpark den Versuch dar, Philosophie als anthropologisch legitimierte Gegenwartsdeutung zu positionieren und der eigenen Person die normative Autorität eines Mahners in vordergründig selbstzufriedenen, aber untergründig unruhigen Zeiten zuzusprechen. Zu diesem Zwecke aktualisiert Sloterdijks Rede-Manuskript in raunendem Ton eine normative Herausforderung, die nach 1945 in der Philosophischen Anthropologie – bei Helmut Plessner etwa – schon lange nüchtern diskutiert wurde. Bei Peter Sloterdijk klingt die Problemanamnese dann wie folgt: Es ist die Signatur des technischen und anthropotechnischen Zeitalters, daß Menschen mehr und mehr auf die aktive oder subjektive Seite der Selektion geraten, auch ohne dass sie sich willentlich in die Rolle des Selektors gedrängt haben müssten. Man darf zudem feststellen: Es gibt ein Unbehagen in der Macht der Wahl, und es wird bald eine Option für Unschuld sein, wenn Menschen sich explizit weigern, die Selektionsmacht auszuüben, die sie faktisch errungen haben. Aber sobald in einem Feld Wissensmächte positiv entwickelt sind, machen Menschen eine schlechte Figur, wenn sie [...] eine höhere Gewalt, sei es den Gott oder den Zufall oder den Anderen, an ihrer Stelle handeln lassen wollen. Da bloße Weigerung oder Demission an ihrer Sterilität zu scheitern pflegen, wird es in Zukunft wohl darauf ankommen, das Spiel aktiv aufzugreifen und einen Codex der Anthropotechniken zu formulieren. (Sloterdijk 1999a: 44f.) Sloterdijks Rede gewann ihre Brisanz weniger aus der Diagnose, dass es notwendig sei, zu der sich rapide weiterentwickelnden Biotechnologie einen neuen normativen Standpunkt zu gewinnen. Weit problematischer war, dass sich Sloterdijk einerseits einer Sprache bediente, die ganz bewusst die provozierende Nähe zum Jargon der NS-Eugenik suchte,5 und er darüber hinaus immer wieder 5
Sloterdijks Text bearbeitet ein Feld der Assoziationen und der semantischen Verweise, das um die folgenden Begriffe kreist: ‚Erziehung‘, ‚Zucht‘, ‚Züchtung‘, ‚Pädagogik‘, ‚Politik‘, ‚Gestaltung‘, ‚Manipulation‘, ‚Förderung und Aussonderung‘, ‚Lesen und Auslesen‘, ‚Selektion und Lektion‘.
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auch semantische Leerstellen in seine Argumentation inkorporierte, die seinem Text insgesamt zu einer ambivalenten Aura verhalfen. Die Regeln für den Menschenpark sind von einer Dramaturgie der Eskalation bestimmt, die letztlich in der suggestiv gestellten Frage mündet, „ob eine künftige Anthropologie bis zu einer expliziten Merkmalsplanung“ (Sloterdijk 1999a: 46) vordringen werde oder nicht. Um einer Antwort näher zu kommen, rekonstruiert Sloterdijk zunächst zentrale Elemente einer Zivilisationsdynamik, wie er sie in seinem geschichtspessimistischen Buchprojekt Sphären entwickelt hatte. Dort formuliert er die Überlegung, dass körperliche, soziale und symbolische Nahverhältnisse die primäre Weise darstellen, in der der Mensch einen Zugang zur Welt findet. In-der-Welt-Sein bedeutet demzufolge In-Sphären-Sein. Diese Sphären – angefangen bei der Mutter-Kind-Symbiose – sind Schutzvorrichtungen, mit denen sich der Mensch in immunisierender Absicht umgibt: „Sphären sind immunsystemisch wirksame Raumschöpfungen für ekstatische Wesen, an denen das Außen arbeitet“ (Sloterdijk 1998: 28). Im Fortgang der Zivilisationsgeschichte sei nun zu beobachten, dass es zu einem sukzessiven Verlust von „Nähe-Beziehungen“ kommt. Der sukzessive Übergang von Gemeinschaft zu Gesellschaft bringe eine tendenzielle Überforderung des sich herausbildenden Individuums mit sich.6 Den Individualismus der Moderne begreift Sloterdijk als einen Einschnitt in das ursprüngliche „Mit-Sein“, infolgedessen es zu einer „Mikrosphärenkatastrophe“ komme, die auch durch den parallelen Aufbau von „Makrosphären“ – Ideologien, soziale Netze, Versicherungen – nicht befriedigend kompensiert werden könne (Sloterdijk 1999b: 143). Kumulativ mündet die schleichende Erosion evolutionär gewachsener Immunsysteme in eine anthropologische Verlustgeschichte, die sich in der Moderne als eine an ‚spätrömische Dekadenz‘ erinnernde Ausbreitung der hemmungslosen Massen und der gewalttätigen Geistlosigkeit manifestiert. Gehört damit Grausamkeit als Reaktion auf Sphärenverlust substanziell in die Signatur der Menschheitsgeschichte, so kann die höchste Form der Menschlichkeit für Sloterdijks Massenkulturkritik nur darin bestehen, „zur Entwicklung der eigenen Natur die zähmenden Medien zu wählen und auf die enthemmenden zu verzichten“ (Sloterdijk 1999a: 19). Hier setzt Sloterdijks eigentliches Argument der Regeln für den Menschpark ein, indem er den abendländischen Humanismus als die Geschichte einer versuchten „Entwilderung des Menschen“ (Sloterdijk 1999a: 17) liest:
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Auch hier wird die lange kulturkritische Traditionslinie in Sloterdijks Denken deutlich, die etwa bis zu Ferdinand Tönnies zurückreicht.
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Lars Koch Daß die Domestikation des Menschen das große Ungedachte ist, vor dem der Humanismus von der Antike bis in die Gegenwart die Augen abwandte – dies einzusehen genügt, um in tiefes Wasser zu geraten. […] Gewiß war das Lesen eine menschenbildende Großmacht – und sie ist es, in bescheideneren Dimensionen noch immer; das Auslesen jedoch – wie auch immer es sich vollzogen haben mag – war stets die Macht hinter der Macht im Spiel. (Sloterdijk 1999a: 43)
Um diesen Gedankengang einer Reduktion von Moralität auf Menschenzähmung zu verifizieren, beruft Sloterdijk sich auf Heidegger (2000), der in seinem Humanismusbrief aus dem Jahr 1947 im Nachbeben von Weltkriegs-Katastrophe und Holocaust das Scheitern der humanistischen Programmatik attestiert hatte (vgl. Mende 2003). Zunächst folgt Sloterdijk Heideggers Kritik, der Humanismus tendiere aufgrund seiner Seinsvergessenheit und der daraus resultierenden Konzeptualisierung des Menschen als animal rationale zu einer in sein Gegenteil umschlagenden Selbstermächtigung der Vernunft. Das sich anschließende Plädoyer für ein kontemplatives Hören auf „das Sagen des Seins“ (Heidegger 2000: 115), das den Menschen in die pastorale Rolle eines Hirten bringt, weist Sloterdijk allerdings zurück. Gleichwohl komme Heidegger das Verdienst zu, die Epochenfrage gestellt zu haben: „Was zähmt noch den Menschen, wenn der Humanismus als Schule der Menschenzähmung scheitert?“ (Sloterdijk 1999a: 32f.). Eine neue, Heideggers Epochenfrage aufgreifende Position, die neben den Begriff der Zähmung den der Züchtung stellt, findet Sloterdijk mittels seiner strategische Kooperationen herstellenden Verkündigungsprosa im Rekurs auf Nietzsche und Platon. Nietzsches Raubtier-Anthropologie zieht Sloterdijk heran, um auf andere Weise seine Grundannahme über die Gefährlichkeit der menschlichen Natur zu untermauern. Platon, der in seinem Dialog „Politikos“ einen „gefährlichen Sinn für gefährliche Themen“ (Sloterdijk 1999a: 49) an den Tag gelegt habe, wird angeführt, weil er laut Sloterdijk die notwendige Konvergenz von Wissen und Macht – Lesen und Auslesen – reflektiert und als eine biologische Effekte zeitigende Elitenbildung beschrieben habe. Ausgehend von Platons „königliche[r] Hirtenkunst“ (Sloterdijk 1999a: 54) begründet Sloterdijk sein Nachdenken über posthumanistische Menschenzüchtung als eine den „Perioden der gattungspolitischen Entscheidung“ (Sloterdijk 1999a: 47) gemäße Denkfigur. Da sich ein „evolutionäre[r] Horizont vor uns zu lichten beginnt“ (Sloterdijk 1999a: 47), sei zumindest als technische Möglichkeit zu erwägen, dass es zu einer „genetischen Reform der Gattungseigenschaften“, zu „optionale[r] Geburt und zur pränatalen Selektion“ (Sloterdijk 1999a: 46) kommen könnte. Damit stellt sich für Deutschlands mittlerweile prominentesten Philosophen die Frage: Wer soll
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möglicherweise notwendig werdende Regeln im Sinne eines Codex der Anthropotechniken aufstellen? Da im Sloterdijk’schen Kosmos gegenüber dem „Demos“ größte Vorbehalte herrschen, bleibt angesichts der drohenden „biokulturellen Drift“ die dezisionistische Entscheidung über die Nutzung biotechnologischer Ressourcen letztendlich den „Weisen“ (Sloterdijk 2000a: Kapitel 4), und das heißt im Klartext: einer kleinen intellektuellen Elite der Weisheitsliebhaber vorbehalten. Soweit sein sozialtechnologisches Top-Down-Modell. Schon in der ersten Skandal-Schrift angelegt, dann aber in den Folgejahren deutlicher modelliert, tritt neben diesem Blick von oben auf die Massen eine zweite Argumentationsfigur, die die notwendige Abkehr von den Verhältnissen gemäß einer Bottom-Up-Perspektive in die Individuen selbst verlegt. Sloterdijk geht es, dies macht seine selektive Lektüre von Nietzsche und Platon deutlich, in diesem Sinne nicht nur um Zähmung – sei es um die der destruktiven menschlichen Potenziale, sei es um die der Technik –, sondern zugleich um eine anthropotechnische Implementierung des Gedankens einer Vertikalorientierung, die den Subjekten den fortwährenden Auftrag einer Selbstvervollkommnung zuschreibt.7 Nach dem Orkan der Medienschelte, die 1999 über ihn hereinbrach, ist die Metapher des „Menschenparks“ in Sloterdijks aktuellem Buch diskurssensibel der des „Gartens“ gewichen. Auch hat er – in Reaktion auf die aktuellen Erkenntnisse der postgenomics – sein Gedankenspiel vom Bereich der ‚Zoe‘ ab und wieder dem ‚Bios‘ zugewendet. Hieraus resultiert der seinem neuen Buch den Titel gebende Imperativ: Du musst Dein Leben ändern. Wie gut Sloterdijk damit in die hegemonialen Diskurse des Zeitgeistes passt, ist im letzen Teil dieses Textes zu veranschaulichen. Zuvor jedoch soll die im Sloterdijk’schen Imperativ formulierte Aufforderung zu einer verantwortungsvollen Selbstregierung als ein Ideologem markiert werden, das auch innerhalb aktueller Debatten der postgenomics eine wichtige Rolle spielt. Vom Gen zum genetischen Risiko Die in den 1990er Jahren geführte Diskussion über Chancen und Risiken der Gentechnologie war stark geprägt von der Vorstellung, den genetischen Code als ‚Buch des Lebens‘ lesen zu können. Die vom Gen-Hype angestoßene Überzeugung, dass „Biologie und Metabiologie“ die „Zentralwissenschaften des kom7
Der Aufruf zur Ausschöpfung der eigenen Potenziale ist ein alter abendländischer Topos. Spannend wird es allerdings mit der Frage, wie denn diese Potenziale näher zu bestimmen seien. Qualitativ zu profilieren sind sie bei Sloterdijk vor allem in der Absetzbewegung zu dem, was er in seinem aktuellen Buch das „Basislager-Problem“ nennt.
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menden Jahrhunderts“ (Sloterdijk 2000b: 38) sein werden, findet in der breiten Öffentlichkeit auch heute noch große Zustimmung. Gleichwohl hat sich in den letzten Jahren das Nachdenken über die theoretische und praktische Konzeptualisierung genetischer Kausalketten in wichtigen Fragen verändert. Die noch vor wenigen Jahren enthusiastisch vorgetragene Utopie, nach einer vollständigen Entschlüsselung des menschlichen Gen-Codes die Emanzipation des Menschen von seiner biologischen Ausstattung bewerkstelligen zu können, gilt inzwischen als naiv. Dort, wo das klassische Paradigma der Genetik das Genom informationstheoretisch als ein ablesbares statisches Programm begriff, ist die Forschung nach der erfolgreichen Sequenzierung des menschlichen Genoms dazu übergegangen, organizistische Modelle zu favorisieren, die eindeutige Ursache-Wirkungsverhältnisse nach dem Muster ‚ein Gen – ein Protein, ein Protein – eine Funktion‘ negieren. Die Ergebnisse des Human Genom Projects haben konträr zu den eigenen Erwartungen belegt, dass die Proteinsynthese der menschlichen Zelle nicht von den Genen ‚gelenkt‘ wird, sondern nur innerhalb einer umfassenden „Regulationsdynamik“ der Zellfunktion zu verstehen ist (Keller 2001: 94). Die zunächst angenommene direkte Korrelation eines Gens zu einer bestimmten Eigenschaft ist nicht gegeben, die Ausbildung phänotypischer Merkmale ist vielmehr das Ergebnis eines hochkomplexen Prozesses von Wechselwirkungen und Rückkopplungen zwischen DNA, RSA, Protein und Zellplasma. Wie Thomas Lemke (2007) betont, wird als Reaktion auf den neuerlichen Komplexitätszugewinn der strategische Bezug auf Gene und genetische Regulationsmuster gleichwohl nicht aufgegeben, sondern nur anders justiert. Zum einen wird das hierarchische Kausalmodell des einzelnen verantwortlichen Gens durch ein Denken in Gen-Netzwerken ersetzt, zum anderen wird die Kategorie ‚Umwelt‘ als neue Variable in die Gleichung eingeschrieben. Heraus kommt im Ergebnis eine postgenomische Vorstellung vom Menschen, die ein komplexes Zusammenspiel aus genetischen Faktorenbündeln, Umwelteinflüssen und Verhaltensweisen am Werke sieht. In diesem Sinne betreiben die postgenomics eine Auflösung der Substanzialität von Molekülen in bloßen Wahrscheinlichkeiten möglicher Genexpression: „Das Genom ist heute kein festgeschriebenes faktisches ‚Programm‘ mehr, sondern nur mehr ein Hinweis auf die Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, die überdies durch äußere Umstände, sprich den jeweiligen ‚Lebensstil‘ beeinflusst werden können“ (Weiß 2009: 47f.). Im Ergebnis eröffnet sich im postgenomischen Zeitalter damit ein neues Handlungsfeld, in dem der Körper, verstanden als ein statistisches Risiko, zur zentralen Aufgabe für den Einzelnen wie für die Politik wird. Zunächst einmal setzen die molekulargenetischen Erkenntnisse eine Signifikationsdynamik in Gang, die ebenso immer neue Unsicherheiten produziert, mithin den augenscheinlich gesunden Körper in einen Angstraum potenzieller Krankheit verwan-
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delt, wie sie gleichzeitig das Versprechen auf Gefahrenabwehr, Therapie und Prävention artikuliert. Die alte Biomacht, die die statistisch erfasste Gesamtbevölkerung zum Gegenstand hatte und vom Normalitätsregulativ ausgehend Praktiken einer Disziplinartechnik entwarf, weicht zusehends neuartigen Formen biopolitischer Steuerung, die ‚Zoe‘ – fokussiert als probabilistische Berechnungen möglicher Genexpression – und ‚Bios‘ – verstanden als risikoadjustierte Verhaltensmaßregel – wieder zusammen denken. Bemerkenswert ist eine diskursive Tendenz weg von sozialtechnokratischer Verwaltung hin zu einem politischen Präventionsregime, das auf selbstregulatorische Maßnahmen abzielt. ‚Prävention‘ und ‚Lebensstil‘ sind demgemäß die Zauberworte eines neoliberalen Gesellschaftsverständnisses, das in Zeiten knapper finanzieller Ressourcen den Rückzug des Staates aus sozialen Handlungsfeldern betreibt und solidarische Sicherungssysteme zu Gunsten privater Aufgabenprofile abwickelt. In die gleiche Richtung zielt die zu beobachtende Neukonzeptualisierung von Krankheit: Galten viele Erkrankungen vor wenigen Jahren noch als ein genetisches Schicksal, dem man alleine medizinisch begegnen konnte, so bekommt der Einzelne im postgenomischen Zeitalter die Bürde zurück, seine etwaige Krankheitsbiografie selbst zu verantworten. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft im Zeitalter genetischer Präventivmedizin organisiert sich damit weniger um das von Sloterdijk 1999 noch prognostizierte Ausleseverfahren, als dass es sich vielmehr aus einem neuartigen Beziehungsgeflecht von Machtprozessen, Wissenspraktiken und Subjektivierungsformen speist, das in das Innenleben des Individuums eingreift. Macht übersetzt sich damit einmal mehr in die Frage nach einem ‚guten Leben‘, die im Namen von Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Wahlfreiheit durch den Appell beantwortet wird, den Körper als Humankapital zu begreifen und dementsprechend wertschöpfend mit ihm umzugehen. Blickt man in die USA, wo genetische Diagnoseverfahren schon sehr viel weiter verbreitet sind als in Deutschland, so erkennt man, dass die Aufforderung zu risiko-adäquatem Verhalten durch eine diskursive Kopplung an kommunitaristische Denkfiguren zusätzliches moralisches Gewicht erhält, und genau hier schließt sich mittelbar der Kreis zu Sloterdijks skandalträchtigem Angriff auf den Sozialstaat in der Debatte 2009. Leitbegriff dieser Anrechnung von individueller Gesundheitsverantwortung auf die Gesellschaft ist der Neologismus eines „biologicalcitizenship“ (Rose &Novas 2005). Angesiedelt in der Nachbarschaft zur Idee der Zivilgesellschaft, verbirgt sich hinter „biologischer Bürgerschaft“ (Lemke & Wehling 2009) die Forderung nach Selbstverantwortung im Gesundheits- und Reproduktionsverhalten. Aktive Bürgerschaft wird so zu einer neoliberalen Schlüsselstrategie, die die Notwendigkeit von Transferleistungen minimieren soll, indem sie auf der Grundlage eines Bündels performativer
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Gesundheitsdiskurse Gouvernementalität als Angst vor Krankheit, vor demografischen Problemen und vor steigenden Kosten organisiert. Während institutionelle und ökonomische Strukturen als unveränderlich, weil natürlich angesehen werden (Žižek 2009: 307ff.), präsentiert die postgenomische „Mikrophysik der Macht“ (Foucault 1976) das Ineinander von biologischer und sozialer Natur der Individuen als modulationsnotwendig und interventionsoffen: Du musst Dein Leben ändern! Sloterdijk, Anthropotechnik und das unternehmerische Selbst Die postgenomics propagieren eine Form genetischer Selbstregierung, die auf die Internalisierung von Verhaltenserwartungen abzielt. Während die Biomacht alten Typs von außen auf Individuen und Bevölkerung zugreift, schreibt sich das gegenwärtig anvisierte Management genetischer Risiken in die Adressaten selbst ein. Momentan betritt eine neue Form gouvernementaler Macht die Bühne, die mit Nikolas Rose zutreffend als „Ethopolitik“ beschrieben werden kann. Gemeint sind damit jene Formen, in denen das Ethos menschlicher Existenz – die Gefühle, die Moral oder Glaubensvorstellungen von Personen, Gruppen oder Institutionen – zum ‚Medium‘ geworden sind, innerhalb dessen die Selbstregierung des autonomen Individuums mit den Imperativen guten Regierens verbunden werden kann. (Rose zit. n. Lemke 2007: 129f.) Angetrieben vom Diktat des ‚Sich-in-Form-Bringens‘ forciert die Ethopolitik derzeit eine anthropologische Figur, die Ulrich Bröckling (2007) als das „unternehmerische Selbst“ bezeichnet hat. Diese Subjektivierungsform ist das Produkt „einer Reihe von Rationalitäten und Techniken des Regierens, […] die ohne Gesellschaft auskommen“ (Rose 2000: 73) und ein ganzes Ensemble von Selbsttechniken für das Bestehen in der kapitalistischen Gesellschaft bereitstellen. Oberster Lehrsatz des unternehmerischen Selbst ist die Maxime, dass Stillstand Rückschritt bedeutet und der Einzelne einer fortwährenden Aufforderung zur Selbstüberprüfung unterliegt. Während man – mit Deleuze gesprochen – in den Zeiten der alten Disziplinarmacht nie damit aufhören durfte, einen neuen Anfang zu machen, wird man, da man die zeitlichen Prozeduren des genetischen Risikos nicht genauer bestimmen kann, im postgenomischen Zeitalter nie damit fertig, sich Sorgen zu machen. In Sloterdijks Aufforderung, sein Leben zu ändern, firmiert die turbokapitalistische Dynamik permanenter Selbstoptimierung unter dem schönen Begriff der ‚Vertikalspannung‘. Wie gut dieser von einem
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Affekt gegen die Mittelmäßigkeit geleitete Appell zeitgeistig anschlussfähig ist, soll abschließend kurz dargestellt werden. Überblickt man die im Windschatten der seit 2008 anhaltenden ökonomischen Krise geführte Debatte über die Verfasstheit des Sozialen, so fällt auf, dass eine neue Bereitschaft für Leistungsbereitschaft und eine zunehmende Intoleranz gegenüber leistungsschwachen Mitgliedern der Gesellschaft zu beobachten ist (vgl. z.B. Bolz 2009). Sloterdijk stößt in die gleiche Richtung, wenn er die Gegenwart als das Produkt einer fulminanten „Kulturrevolution nach unten“ brandmarkt, die ihren „Schatten auf das 21. Jahrhundert vorauswirft“ (Sloterdijk 2009a: 28). Demgemäß positioniert er sich als Physiognomiker der Zeitläufe, der zu formulieren hat, „was aus der Krise unserer Zeit emaniert“ (Sloterdijk 2009b): Man muss das ganz ernst nehmen, weil jetzt zum ersten Mal so etwas wie eine apokalyptische Endspielsituation eingetreten ist. Wir haben immer geglaubt, die Apokalypse ist nur eine symbolische Struktur oder eine Schreibweise für Texte, mit denen Fanatiker sich selber aufputschen wollen. Wir bekommen aber inzwischen von unseren Freunden, den Meteorologen, von unseren Freunden, den Ozeanografen, von den Wirtschaftsstatistikern, von den Demografen aus allen möglichen Bereichen, in denen äußerst nüchterne Personen Forschung betreiben, wir bekommen von allen Fronten relativ gleichzeitig gleichlautende Hinweise darauf, dass im Augenblick die Krisenspannung an 20 Fronten gleichzeitig steigt. (Sloterdijk 2009c) Um dieser Krisenstimmung etwas entgegensetzen zu können, plädiert Sloterdijk in seinem aktuellen Buch für nichts weniger als eine anthropologische Neubegründung des Menschen, für die einmal mehr Nietzsche die Perspektive vorgibt. Ausgangspunkt der Argumentation ist die Rekonstruktion eines Erweckungserlebnisses, das der Autor bei der Lektüre von Rilkes Gedicht „Archaischer Torso Apollos“ gehabt zu haben vorgibt: Du musst dein Leben ändern! – so lautet der Imperativ der die Alternative von hypothetisch und kategorisch übersteigt. Es ist der absolute Imperativ – der metanoetische Befehl schlechthin. [...] Ich lebe zwar schon, aber etwas sagt mir mit unwidersprechlicher Autorität: Du lebst noch nicht richtig. [...] Änderst du daraufhin dein Leben wirklich, tust du nichts anderes, als was du selber mit deinem besten Willen willst, sobald du spürst, wie eine für dich gültige Vertikalspannung dein Leben aus den Angeln hebt. (Sloterdijk 2009a: 47)
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Um den „Sensitiven, die auf den Appell antworten“, einen Ausweg aus der Krise zu eröffnen, entwickelt Sloterdijk auf den nachfolgenden 500 Seiten den normativ-praktischen Grundriss einer allgemeinen „Disziplinik“8 der Lebensmeisterung, wohl wissend, dass es auch „die Stumpfen“ gibt, die sich nicht von seinem Evidenz-Netz einfangen lassen, sondern „einfach nur weitermachen wollen“ (Sloterdijk 2009b). Im Kern geht es der Sloterdijk’schen Ethopolitik darum, im Angesicht der Krise den „übende[n] Mensch[en]“ als ein neues Format der Anthropologie darzustellen. Ziel aller Übung soll es sein, sich mittels Askese, Athletik, Diätik, Artistik und anderen Techniken der Selbstvitalisierung so aufzurichten (vgl. Sloterdijk 2009a: 248f.), dass man fortwährend den status quo der eigenen Möglichkeiten übersteigt. Individuelle Vertikalspannung soll dazu beitragen, sich aus den Niederungen des „Basislagers“ (Sloterdijk 2009a: 278) zu erheben. Dort, wo im Menschenpark Züchtung als Denkmöglichkeit durchaus auch eine eugenische Komponente haben konnte, rüstet Du musst dein Leben ändern im Entwurf einer von biologistischen Implikationen entschlackten Phänomenologie des Übermenschen diskursiv ab. An die Stelle des links und rechts scheidenden Säbels tritt das mikroinvasive Skalpell. Strategien der sozialen Steuerung codiert Sloterdijk so, dass sie nunmehr als selbstbestimmtes Handeln im Angesicht der „auto-operativen Krümmung des modernen Subjekts“ erscheinen: „Moderne Verhältnisse zeichnen sich dadurch aus, dass die für sich selbst kompetenten Einzelnen in steigendem Maß die operative Kompetenz der anderen für ihre Einwirkungen auf sich selbst in Anspruch nehmen“ (Sloterdijk 2009a: 278). Während im sozialphilosophischen Diskurs „Identität als das Recht auf Faulheit“ (Sloterdijk 2009a: 296) verkauft werde, strebt das unternehmerische Selbst in Sloterdijks Version an, eine souveräne „Ufer-Subjektivität“ (Sloterdijk 2009a: 354) zu gewinnen, die Erholung, Bewusstheit und Aktivität optimal verzahnt und genetische Risiken präventiv bzw. auto-operativ bearbeitet. Dass Sloterdijks Denkgebäude dezidiert elitäre Züge trägt, wird auch an einer anderen Textstelle deutlich, an der sich der Autor kursorische Überlegungen zum aktuellen „Steuerstaat“ (Sloterdijk 2009a: 608) macht. Als „real existierender liberal-fiskalischer Semi-Sozialismus“ (Sloterdijk 2009a: 608) beschreitet dieser den „Weg zur Knechtschaft“9 und trägt dazu bei, ökonomische Vertikal8
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Das ‚13-köpfige Ungeheuer der Disziplinik‘ umfasst: „Akrobatik und Ästhetik“, „Athletik“, „Rhetorik“, „Therapeutik“, „Epistemik“, „allgemeine Berufe-Kunde“, „Technik-Kunde“, „Administrativik“, „Enzyklopädie der Meditationssysteme“, „Ritualistik“, „Sexualpraxiskunde“, „Gastronomik“ und schließlich eine „offene Liste kultivierungsfähiger Aktivitäten“; vgl. Sloterdijk (2009a: 248f.). In diesem Sinne bezieht sich Sloterdijk in einer Fußnote positiv auf Friedrich August von Hayeks Werk aus den 1940er Jahren mit dem Titel Der Weg zur Knechtschaft. Vgl. Sloterdijk (2009a: 608).
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spannung als eine „Ethik der Gabe“ (Sloterdijk 2009d) zu verunmöglichen. Ist die Wertung der sozialstaatlichen Umverteilung als „Semi-Sozialimus“ für sich genommen schon provokant, so hat eine weitere Zuspitzung in einem Beitrag für die FAZ zu einer erneuten Debatte rund um Sloterdijks Person geführt, die hier nur insofern Erwähnung finden soll, als sie den vorläufigen Schlusspunkt Sloterdijks medienpraktischer Mobilisierung der Affekte markiert. Sloterdijks These lautet, dass es angesichts einer die Leistungsträger der Gesellschaft malträtierenden „Enteignung per Einkommensteuer“ (Sloterdijk 2009e) gerechtfertigt sei, von einer „Kleptokratie des Staates“ (Sloterdijk 2009e) zu sprechen. Dieser steuerlichen Zwangspraxis gegenüber entwickelt der selbst an öffentlich-rechtlichen Gebührengeldern partizipierende Fernseh-Philosoph eine seltsame Idee steuerpolitischen Edelmuts, wonach es ihm „würdevoller und sozialpsychologisch produktiver“ erscheint, die Steuereinkünfte des Staates würden nicht durch „fiskalische Zwangsabgaben aufgebracht, sondern in freiwillige Zuwendung von aktiven Steuerbürgern an das Gemeinwesen umgewandelt“ (Sloterdijk 2009d). War es in der Debatte 1999 Jürgen Habermas, der sich Sloterdijk gegenüber als scharfer Kritiker positionierte, so war es mit Axel Honneth dieses Mal ein anderer Vertreter der Kritischen Theorie, der Sloterdijk die Publikation von „fatalen Tiefsinn“ (Honneth 2009) vorwarf und damit eine mittlere Aufgeregtheitsdynamik in Gang setzte, an deren Weiterführung mit Karl Heinz Bohrer, Hans Ulrich Gumbrecht (pro Sloterdijk), Christoph Menke (contra Sloterdijk) und Richard David Precht (metareflexiv) ein illustres ‚Philosophisches Quartett‘ beteiligt war, bevor Ulrich Beck dann mit seiner Bewertung des Sloterdijk’schen Gedankenexperiments als „im strengen Sinne reaktionär“ (Beck 2010: 67) einen vorläufigen Schlusspunkt setzte. Jenseits der Frage, inwieweit soziale Gerechtigkeit überhaupt fiskalisch realisiert werden kann (vgl. Kirchhof 2009), ist an der Sloterdijk-Debatte 2.0 vor allem das Argument von Christoph Menke von Interesse, wonach sich „soziale Mitgliedschaft [...] nur als gleiche Mitgliedschaft“ verwirkliche und Sloterdijks Elitarismus mithin eine prekäre Melange zwischen vertikalgespannten Lebensveränderern und trägheitsfixierten Überflüssigen präsentiere: „Indem er den Einzelnen zur permanenten kreativen Selbstmobilisierung verpflichtet“, produziere Sloterdijk, so Menke, „notwendig die Gegen- und Unterklasse der Immobilen, Nichtkreativen, Unfähigen, denen ihr Scheitern als Versagen vorgehalten werden kann“ (Menke 2009). Was ist dann, so muss man wohl weiterfragen, die Konsequenz eines solchen Versagens im Management von Risiken, seien diese im Einzelfall genetisch, ökonomisch oder sozial imprägniert? Und ebenso brisant: Auf welcher Legitimationsbasis etabliert sich die Instanz einer Ethopolitik, die über anthropotechnisches Versagen oder Gelingen des Einzelnen richtet?
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Der amerikanische Sozialpsychologe Kurt Lewin hat in den 1940er Jahren ein Modell zur Analyse von Veränderungsprozessen entwickelt, welches dazu beitragen kann, das eigentümliche Skandalpotenzial des öffentlichen, und mit einem öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag ausgestatteten Intellektuellen Peter Sloterdijk deutlicher herauszuarbeiten. Lewins Gedanken weiter gedacht, zeichnen sich Großprojekte diskursiver Umcodierung durch die Abfolge dreier Phasen aus: Auf die Phase der Auflockerung eines Diskurses (defreezing) folgt eine zweite Phase der eigentlichen inhaltlichen Neuausrichtung (moving). Abschließend wird die geleistete Diskursarbeit durch ein breites Ensemble an Rationalitäten, Regierungstechniken und Institutionen auf Dauer gestellt (refreezing, vgl. Lewin 1997). Vielleicht wäre es lohnenswert, in dieser Perspektive zu fragen, inwieweit das Sloterdijk’sche Anthropologie-Projekt eine symptomale Lektüre erlaubt. Gegenstand einer solchen Spurenlese könnte die Überlegung sein, ob sich in Sloterdijks Texten die subkutanen Unterströmungen einer um die Begriffe ‚Zoe‘ und ‚Bios‘ zirkulierenden Neuerfindung des Menschen ausmachen lassen, die sich nicht mehr wie noch in den 1990er Jahren in Expertendiskursen oder der Evokation technischer Möglichkeiten erschöpfen, sondern als integraler Bestandteil eines neoliberalen Dispositivs die konsensuelle Vorstellung von einem ‚guten Leben‘ in eine bestimmte Richtung weiter schreiben und damit ein Leitbild gesellschaftlich akzeptablen Verhaltens zementieren. Das hieße gleichwohl, Sloterdijks Medienhandeln im Sinne Foucaults die „Prävalenz eines strategischen Ziels“ (Foucault 2003: 393) zu unterstellen, die einer Skandalisierung wert wäre. Literatur Baudrillard, Jean (2000): The Vital Illusion. New York: Columbia University Press. Beck, Ulrich (2010): Schlemmen für die Dritte Welt. Peter Sloterdijks Gedankenexperiment ist im strengsten Sinne reaktionär. Eine Erwiderung. In: Cicero. Magazin für politische Kultur 1/2010, S. 67-69. Blumenberg, Hans (1987): Die Sorge geht über den Fluß. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bolz, Norbert (2009): Irgendetwas kann man immer werden. Norbert Bolz im Interview. In: Die Wirtschaftswoche 16/2009, S. 39-42. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Caduff, Corina (2004): Experiment Klon. In: Macho, Thomas/Wuschel, Anette (Hg.): Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur. Frankfurt a.M.: S. Fischer, S. 230-241. Foucault, Michel (2003): Das Spiel des Michel Foucault. In: Ders: Dits et Écrits. Schriften in vier Bänden, Bd. III 1976-1979. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 391-429.
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Determinanten von Skandalisierung in der politischen Auslandsberichterstattung: Eine empirische Analyse Patrick Weber
Auslandsberichterstattung steht in der Kritik. Waren es früher noch der „ungleiche Nachrichtenaustausch“ zwischen den im internationalen Nachrichtensystem dominierenden Ländern des kapitalistischen Westens und den sozialistischen Ländern Osteuropas sowie zwischen den industrialisierten Ländern der nördlichen Hemisphäre und den Entwicklungsländern der sog. Dritten Welt und die daraus vermeintlich resultierenden „fragmentarischen Weltbilder“, die Debatten und Forschung bestimmten (Meier 1984), wird die Diskussion heute unter veränderten Vorzeichen geführt. So habe der mit dem Ende des Kalten Krieges verbundene Wegfall der „funktionalen Distanz“ (Schenk 1987: 40) zwischen Ländern ehemals grundverschiedener politischer Systeme, die Verbesserung der technologischen Rahmenbedingungen von Auslandsberichterstattung sowie die Globalisierung der Nachrichtensysteme eben gerade nicht zu den erhofften umfassenderen und vollständigeren medialen Weltbildern geführt. So konstatiert etwa Berger (2009: 1): „Ausgerechnet diese historischen Umbrüche lösten aber in vielen westlichen Medien eine entgegengesetzte Reaktion aus. Die Berichterstattung über die neue Welt wurde nicht verstärkt, sondern ausgedünnt“. Gleichzeitig wird Auslandsberichterstattung in der globalisierten Gesellschaft eine zentrale soziale Funktion zugeschrieben: Prominente Globalisierungstheoretiker argumentieren, dass die Ausweitung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu immer mehr Staaten und Institutionen umfassenden Interaktionsnetzwerken nur auf der Basis des in den (Auslands-)Nachrichten repräsentierten gemeinsamen Wissens möglich ist (Giddens 1996: 100f.). Empirische Annäherungen an das Phänomen zeigen, dass Auslandsberichterstattung sowohl auf der Individualebene als auch im politischen Prozess bedeutende Wirkungen entfaltet, die man als Mechanismen solcher Integrationsprozesse verstehen kann. So kann das Ausmaß der Berichterstattung über ein Land die Salienz dieser Nation in der öffentlichen Wahrnehmung beeinflussen (Salwen & Matera 1992) sowie die Beurteilung ihrer Wichtigkeit in den internationalen Beziehungen (Wanta et al. 2004). Darüber hinaus stellt massenmediale (Auslands-)Berichterstattung für Politiker eine wichtige Informationsquelle über die öffentliche Meinung dar (Powlick 1995), auf die auch politisches Handeln K. Bulkow, C. Petersen (Hrsg.), Skandale, DOI 10.1007/978-3-531-93264-4_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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reagiert (Brettschneider 1996). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Auslandsberichterstattung als eine wichtige Determinante diplomatischer Beziehungen und Außenpolitik allgemein angesehen wird (Hafez 2002: 108ff.) und dass es für ein anderes Land durchaus bedeutsam ist, ob und wie es in der Auslandsberichterstattung Deutschlands präsent ist. Seine Relevanz spiegelt sich auch in der langen Tradition wider, die das Thema Auslandsberichterstattung in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung hat.1 Sie beschäftigt sich insbesondere mit zwei zentralen Fragen: 1)
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Struktur der Auslandsberichterstattung: hier interessieren bspw. Fragen nach dem Anteil der Auslandsberichterstattung in den Nachrichten, der unterschiedlichen Medienpräsenz/-resonanz einzelner Länder und eine Vielzahl von Inhaltseigenschaften. Meist haben diese Fragestellungen einen normativen Hintergrund und spiegeln die Sorgen über Ungleichheiten und Ungleichgewichte im internationalen Nachrichtenfluss, ‚verzerrte‘ Nationenimages und die potentiellen Folgen solcher Berichterstattungsmuster, was auch den Hintergrund der Debatte um eine „Neue Weltinformations- und Kommunikationsordnung“ bildet,2 deren Argumentation noch immer einen relevanten Referenzpunkt für die Forschung darstellt (siehe z.B. Madikiza & Bornman 2007). Die Frage nach der Erklärbarkeit dieser Berichterstattungsmuster. Insbesondere die Frage nach den Einflussfaktoren der medialen Präsenz eines Landes in einem anderen ist von anhaltendem Interesse (Wu 1998). Neueste Forschungsarbeiten erweitern diese Perspektive und versuchen neben der reinen Präsenz eines Landes in den Medien auch weitere Berichterstattungsmuster zu beschreiben und zu erklären: So zeigt Weber (2010), dass auch die Kontinuität der Berichterstattung über ein Land, deren thematische Vielfalt und die Variabilität der journalistischen Darstellungsweisen vorhergesagt werden können.
Der vorliegende Beitrag reiht sich in diese Entwicklung ein und hat zum Ziel, Skandalisierung als Berichterstattungsmuster messbar zu machen, eine Erklärung zum Ausmaß der Skandalisierung in der Auslandsberichterstattung zu entwickeln und einer ersten empirischen Prüfung zu unterziehen. Zum einen soll damit die Diskussion um die oft als problematisch empfundene Skandalorientierung der Auslandsberichterstattung auf empirische Beine gestellt, zum anderen darüber hinausgehend ein Erklärungsansatz für ein Be1 2
Einen Überblick bis einschließlich der 1980er Jahre bietet z.B. Alscheid-Schmidt (1991: 10-18). Siehe die von der International Commission for the Study of Communication Problems verfasste Studie (1980: 156ff.).
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richterstattungsmuster (welches nicht von vornherein als negativ zu bewerten ist) expliziert werden. Ein wesentliches Merkmal von Skandalberichterstattung ist die Aufdeckung von Verstößen gegen zentrale Werte und Normen. Durch dieses öffentliche Anprangern von Missständen wird ihr das Potential zugeschrieben, das Wertegefüge zu bekräftigen und damit einen wesentlichen gesellschaftlichen Integrationsbeitrag zu leisten (Neckel 1989, 1990; Gluckmann 1989). Vor diesem Hintergrund wird hier von der These ausgegangen, dass Skandalisierung ein Mechanismus medialer Aufmerksamkeitserzeugung ist, der das öffentliche Bewusstsein auf besonders relevante Auslandsthemen lenken kann. Eine Studie von Baum (2002) zeigt, dass man Skandalisierung dieses Potential empirisch begründet zuschreiben kann: Er zeigt, dass die Nutzung sog. Soft-News mit ihrer Fokussierung auf Gewalt, Skandale, Dramatisierung und Krisen die Aufmerksamkeit für und die Vertrautheit mit politischen Auslandsthemen insbesondere bei sonst uninteressierten Publika erhöht.3 Skandalisierung stellt danach also einen Mechanismus dar, der in der Lage ist, die ‚Hindernisse‘ im internationalen Nachrichtenfluss zu überwinden und andere Länder mit politischen Themen ins Bewusstsein des heimischen Publikums zu rücken. Sie bildet so eine wichtige Grundlage für politische Mobilisierung in diesem Politikfeld. Angesichts der daraus erwachsenden Relevanz geht es zunächst um die Frage: Wodurch zeichnet sich Skandalisierung als Berichterstattungsmuster aus? Skandale, Medienskandale & Skandalisierung Besonders zur Form des politischen Skandals gibt es eine Fülle an Literatur – eine konsentierte Definition sucht man, so das weit verbreitete Urteil (z.B. bei Böcking 2007: 503 oder Neu 2004: 3), aber vergeblich. Dieses Problem muss hier nicht gelöst werden. Auf Basis eines Einblicks in einige Systematisierungsversuche (der nicht den Anspruch einer vollständigen Übersicht erhebt) sollen hier lediglich einige Kernmerkmale von Skandalen identifiziert werden, die in einem zweiten Schritt, sofern geeignet, zur Entwicklung eines Messinstruments für Skandalisierung in der Berichterstattung genutzt werden, das mit diesem Beitrag zur Diskussion gestellt wird.
3
Andererseits muss auch darauf hingewiesen werden, dass der Skandalberichterstattung eine Reihe negativer Wirkungen zugeschrieben wird (z.B. Neckel 1990), worunter die Vermutung, Skandalisierung gehe längerfristig mit steigender Politikverdrossenheit einher (Friedrichsen 1996; Kepplinger 1996) auf die potentielle Janusköpfigkeit des Phänomens Skandalisierung verweist. Empirisch erweist sich diese Wirkungsbeziehung höchstens als schwach (Wolling 2001; Maier 2003). Für den Bereich der Auslandsberichterstattung liegen dazu bisher keine Befunde vor.
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Ausgangspunkt dafür ist die Definition von West, der unter einem Skandal „an event in which the public revelation of an alleged private breach of a law or a norm results in significant social disapproval or debate and, usually, reputational damage“ versteht (2006: 9). Ein Skandal ist demnach ein Ereignis, für das ein (auch mutmaßlicher) Normbruch konstituierend ist sowie dessen öffentliche Enthüllung. Skandale sind zudem gekennzeichnet durch zwei typische Reaktionen auf das Bekanntwerden des Normbruchs: soziale Missbilligung und die kontroverse Debatte über den Normbruch. Als typische Folge eines Skandals nennt West den Ansehensverlust. Thompson (2000:13f.) fügt den konstituierenden Merkmalen hinzu, dass die öffentliche Enthüllung trotz Verheimlichungsversuch des Normbrechers erfolgt. Hinsichtlich der skandaltypischen Reaktionen stellt er heraus, dass auch Unbeteiligte und vom Skandal nicht Betroffene ihre Missbilligung öffentlich äußern. Die Folgen sieht er ähnlich wie West im Reputationsverlust. Bösch (2006: 27)4 gelangt ähnlich wie Hondrich (2002: 15f.) auf Basis eines Vergleichs von Skandalen aus zwei Jahrhunderten zu drei Merkmalen, die einen Sachverhalt als Skandal auszeichnen. Als konstituierendes Element sieht auch er den Normbruch eines Akteurs, der für die Wahrung von Normen und Werten steht. Dieser Zusatz verweist (wie auch die von den anderen Autoren angesprochene Gefahr des Reputationsverlusts) darauf, dass Normverstöße von Statusakteuren im besonderen Maße Skandale provozieren. Weiterhin führt Bösch die Aufdeckung des Normbruchs als separates Kriterium an und nennt schließlich als skandaltypische Reaktion die breite öffentliche Empörung über den Normbruch. Zentrale Voraussetzung dafür, dass ein Normbruch zu einem Skandal werden kann, ist mithin dessen öffentliches Bekanntwerden. Selbiges sowie das Entstehen einer breiten öffentlichen Empörung ist heute ohne Massenmedien kaum vorstellbar: indem sie Normbrüche thematisieren, verschiedene Akteure mit bewertenden Aussagen ein Forum geben und selbst Stellung beziehen, bilden sie eine entscheidende Instanz in Skandalen. Im Zuge der Medialisierung der Gesellschaft spielen Medien eine immer aktivere Rolle in Skandalen, werden selbst zu aktiven Skandalierern, was sich nicht zuletzt an einer Zunahme der Skandalkommunikation ablesen lässt (Imhof 2006: 202). Dieser aktiven Rolle der Medien versucht u.a. Burkhardt (2006: 25f.)5 mit dem Begriff des ‚Medienskandals‘ gerecht zu werden: Während sich bei mediatisierten Skandalen die Rolle der Medien auf das bloße Publikmachen des Skandals beschränke, zeichneten sich Medienskandale durch eine narrative Inszenierung des Normbruchs aus, die spezifischen Produktionsmechanismen 4 5
Siehe hierzu auch den Beitrag von Bösch in diesem Band. Siehe hierzu auch den Beitrag von Burkhardt in diesem Band.
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des Mediensystems folgt.6 Für diese ‚narrative Inszenierung‘ wird im Folgenden der Begriff Skandalisierung verwendet und danach gefragt, wie der Begriff empirisch zu füllen ist. Nach Sanders bezeichnet Skandalisierung in der Berichterstattung „the apparent tendency for news content to focus on material exposing the foibles and misdemeanors of fellow citizens, especially the rich, famous, and powerful“ (Sanders 2008: 4482). Demnach ist die Berichterstattung umso stärker skandalisiert, je intensiver Normbrüche insbesondere von Statusakteuren thematisiert werden. Damit ist ein grundlegendes Berichterstattungsmerkmal für die Identifizierung von Skandalisierung benannt. Die vorstehende Diskussion zeigt, dass dies nur ein Minimalkriterium sein kann. Detaillierter rekonstruiert werden die Mechanismen der Skandalisierung in der Regel in Form von exemplarischen Analysen einzelner Skandale (z.B. Burkhardt 2006). Tabea Böcking (2007: 504f.) systematisiert die Erkenntnisse solcher Arbeiten und kommt zu zwei Klassen von Berichterstattungsmerkmalen. Unter die strukturellen Merkmale fallen neben Einfachheit und Ereignisorientierung insbesondere die inhaltliche und zeitliche Dynamik der Berichterstattung. Als wichtigstes inhaltliches Merkmal gilt die Negativität: „Ausdruck findet sie sowohl in den berichteten Ereignissen als auch in bewertenden Stellungnahmen der beteiligten Akteure und der Journalisten“ (2007: 505). Dies verweist auf ein zweites zentrales inhaltliches Merkmal, die verbale Kontroverse (Thematisierung, Deutungen und Gegendeutungen). Schließlich fällt die verstärkte Verwendung rhetorischer Stilmittel in diese Merkmalsklasse. Überdies weist Böcking (2007: 504f.) auf die starke Verschränkung struktureller und inhaltlicher Merkmale hin, die sich u.a. darin äußert, dass die aktuellen Inhalte der Berichterstattung stark von der aktuellen Phase innerhalb der Skandaldynamik abhängig sind. So wird nach Burkhardt (2006: 184f.) der Normbruch und die negative Bewertung primär in der sog. Durchbruchsphase thematisiert, während die Entstehung breiter öffentlicher Empörung (und ggf. ihrer Korrelate in der Berichterstattung wie bspw. Moralisierung und negative Reaktionen Dritter) primär in der Kulminationsphase liegt. Nach diesen zwei eher berichterstattungsintensiven Phasen (Böcking 2006: 505) ist die Abschwungphase durch weniger Berichterstattung charakterisiert sowie, da die Lösung des durch den Normbruch bedingten Konflikts in diese Phase fällt, durch geringere verbale Kontroverse. Das zu entwickelnde Messinstrument sollte demnach in der Lage sein, Skandalisierung in der Berichterstattung unabhängig vom Skandalstadium zumindest zu identifizieren und gleichzeitig so sensibel auf die Dynamik reagieren, 6
Siehe hierzu auch Thompson (2000: 31) sowie Lull & Hinerman (1997: 16).
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dass es dann hohe Skandalisierungswerte anzeigt, wenn die Rolle der Medien in der Skandaldynamik am bedeutendsten ist. Aus diesem Grund wird das Ausmaß der Skandalisierung auf Basis unterschiedlicher Berichterstattungsmerkmale erfasst, die die wesentlichen Skandal- und Skandalisierungselemente der bisherigen Diskussion abbilden.7 Das erste, in der Skandaldynamik relativ konstante Berichterstattungsmerkmal, ist die Thematisierung eines Normbruchs. Er bildet das konstituierende Element eines Skandals und muss, wie marginal auch immer, in der Berichterstattung referenziert werden. Bezüglich des Normbruchs wird hier die Ansicht von Maier (2003: 3) geteilt, dass es ausreicht, wenn eine Norm als verletzt wahrgenommen wird oder ein Sachverhalt als Normverletzung dargestellt wird – unabhängig davon, ob tatsächlich ein breiter gesellschaftlicher Konsens über diese Norm besteht. Die Diskussion hat gezeigt, dass (vermeintliche und/oder unterstellte) Normbrüche besonders dann Skandalpotential haben, wenn sie Statusakteuren zugeschrieben werden, weshalb der Status des Skandalierten als Kriterium zur abgestuften Erfassung des Normbruchs berücksichtigt wird. Als zweites Berichterstattungsmerkmal, dessen Vorkommen in der Skandalberichterstattung relativ unabhängig von der Skandalphase ist, dessen Intensität aber stärker mit den Phasen variieren dürfte, ist Negativität. Darunter wird die negative Bewertung des Normbruchs verstanden und durch das Skandalmerkmal der Missbilligung abgebildet. Man kann davon ausgehen, dass die Missbilligung am größten ist, wenn sich eine konsonant negative Bewertung des Normbruchs als Deutung durchgesetzt hat. Negativität soll deshalb abgestuft über die Konsonanz der (negativen) Bewertungen in einem Artikel erfasst werden. Mit der Thematisierung von Empörungsreaktionen wird schließlich ein weiteres zentrales Skandalmerkmal berücksichtigt, dessen Vorkommen sich hauptsächlich auf die Kulminationsphase von Skandalen konzentrieren dürfte. Darunter werden alle berichteten Reaktionen auf einen Normbruch von Akteuren verstanden, die als Ausdruck von Entrüstung, Auflehnung, Groll oder Protest gelten. Sowohl Thompson (2000) als auch Bösch (2006) und Burkhardt (2006) haben darauf hingewiesen,8 dass die Öffentlichkeit und gesellschaftliche Gemeinschaftlichkeit der Empörung Kennzeichen von Skandalen sind. Aus diesem Grund soll Empörung abgestuft über die in einem Artikel dargestellte Kollektivität von Empörungsreaktionen erfasst werden.
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Der Vollständigkeit wegen sei erwähnt, dass das Skandalkriterium der öffentlichen Enthüllung auf Grund des hiesigen Verständnisses von Skandalisierung nicht geeignet ist, da auf Grund der Publizität von Skandalberichterstattung jeglicher Beitrag dieses Kriterium erfüllt. Letztere auch in ihren Beiträgen zu diesem Band.
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Alle übrigen in der bisherigen Diskussion aufgeworfenen Kriterien werden für die Entwicklung des Messinstruments nicht berücksichtigt, weil sie sich entweder einer inhaltsanalytischen Erfassung entziehen (wie z.B. der Ansehensverlust des Skandalierten), zu stark von einzelnen Skandalphasen abhängig sind (z.B. Thematisierung von Verheimlichungsversuchen, verbale Kontroversen) oder ihr Bezug zur Intensität von Skandalisierung nicht ganz klar ist (z.B. Verwendung rhetorischer Stilmittel). Den weiteren Überlegungen liegt daher folgende Minimaldefinition von Skandalisierung zu Grunde: Unter Skandalisierung wird ein Bündel journalistischer Selektions- und Darstellungsentscheidungen verstanden, das sich in folgendem Berichterstattungsmuster ausdrückt: Thematisierung von Normbrüchen bei gleichzeitiger Thematisierung mindestens eines der Skandalmerkmale Negativität und Empörungsreaktionen. Wie ist nun – aufbauend auf diese Definition – das Ausmaß der Skandalisierung in der Berichterstattung über ein Land zu erklären? Skandalisierung der Auslandsberichterstattung – Ein Erklärungsansatz Als zentrale Hintergrundfaktoren zur Erklärung von Skandalisierung als Berichterstattungsmuster gelten nach Sanders (2008: 4483) die Kommerzialisierung der Medien und die Ideologie des investigativen Journalismus, da dieser die Aufmerksamkeit für potentielle Normbrüche von Machtakteuren erklärt und Skandale i.d.R. alle Zutaten einer ‚guten Geschichte‘ aufweisen, die in der Lage sind, Publikumsinteresse und damit Publika als zentrales von Medien produziertes Gut zu generieren.9 Auch die hier zu entwickelnde Erklärung für das Ausmaß von Skandalisierung in der Auslandsberichterstattung setzt am Punkt der kommerziell bedingten Orientierung journalistischer Inhalte an Publikumsinteressen an. Eine etablierte Theorie, die journalistische Selektionsentscheidungen an das Publikumsinteresse koppelt, ist die Nachrichtenwerttheorie, wie sie erstmals ausführlich von Galtung und Ruge (1965) formuliert wurde.10 Diese erklären die Auswahl bestimmter Ereignisse zur Publikation auf Basis der sog. Nachrichtenfaktoren. Dies sind Ereignismerkmale, von denen auf Grund allgemein- und wahrnehmungspsychologischer Mechanismen angenommen wird, dass sie die Selektivität im Nachrichtensystem und das Publikumsinteresse gleichermaßen lenken (1965: 68). Dass Nachrichtenfaktoren sowohl journalistische Publikationsentscheidungen als 9
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Für eine ausführliche Darstellung der historischen Entwicklung von Skandalen zu Medienskandalen und eine umfassendere Systematisierung von Einflussfaktoren siehe Burkhardt (2006: 60ff.). Zu Vorläufern und Theorieentwicklung siehe Eilders (1997) und Fretwurst (2008).
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auch Publikumsreaktionen beeinflussen, ist inzwischen gut bestätigt.11 Insbesondere folgende Faktoren haben sich nach Eilders (2006: 10f.) als erklärungskräftig für journalistische Selektion erwiesen: die Betroffenheitsreichweite eines Ereignisses, sein Kontroversitätsgrad und der mit ihm verbundene Schaden, die Beteiligung von Statusakteuren und prominenten Personen sowie die Zugehörigkeit eines Ereignisses zu einem etablierten Thema. Zusätzlich zählen die auf den Ereignisort bezogenen Nachrichtenfaktoren Nähe und Elitenationen zu den stabilen Selektionskriterien. Eilders (1997) konzeptualisiert Nachrichtenfaktoren als Relevanzindikatoren, wobei Relevanz definiert ist als „die Entsprechung eines Stimulus mit individuellen Interessen, wobei diese Interessen durch vorherige Erfahrungen oder bestimmtes Wissen bedingt oder aber von kurzfristig wirksamen Zielen bestimmt sein können“ (1997: 93f.). Ausgehend davon wird kollektive Relevanz „als Schnittmenge oder gemeinsamer Nenner der individuellen Relevanzen verstanden“ (1997: 94). Nachrichtenfaktoren sind, so Eilders (1997: 86-106), dazu geeignet, solche kollektiven Relevanzzuweisungen auf evolutionstheoretischer, allgemein-psychologischer und sozialisationstheoretischer Basis zu erklären: Evolutionstheoretisch sind Relevanzzuweisungen dadurch zu erklären, dass die bevorzugte Wahrnehmung bestimmter Umweltstimuli und entsprechende Reaktionen darauf zu einem Überlebensvorteil führen. Besonders Ereignisse, von denen man selbst betroffen oder gar bedroht ist, sollten somit hohe Relevanz haben. Auch bei der sozialisationstheoretischen Erklärung beruht die Relevanzzuweisung auf einer (potentiellen) Betroffenheit: Sind im Laufe der Sozialisation erworbene gemeinsame Werte und Normen betroffen, ist man als Gesellschaftsmitglied betroffen. Allgemeinpsychologische Informationsverarbeitungsmechanismen (im Sinne anthropologischer Konstanten) erklären die Relevanzzuweisung zu bekannten und vertrauten Reizen: Sie können inhaltlich leicht zu bestehendem Wissen in Beziehung gesetzt werden und machen dadurch Sinn. Vor dem Hintergrund der hier vertretenen These, dass Skandalisierung ein Mechanismus der Aufmerksamkeitsgenerierung für besonders relevante Auslandsereignisse ist, bildet die so spezifizierte Theorie die Grundlage für die Erklärung von Skandalisierung in der Berichterstattung über ein Land. Basisannahme der Erklärung ist, dass nicht nur Selektionsentscheidungen (publizieren vs. nicht publizieren), sondern auch Darstellungsentscheidungen durch Nachrichtenfaktoren erklärbar sind.12 Darauf aufbauend wird angenommen, dass 11 12
Siehe hierzu die Überblicke bei Eilders (1997) und Fretwurst (2008). Diese Annahme ist m.E. gerechtfertigt durch die Vielzahl inhaltsanalytischer Studien die nachweisen, dass die mediale Beachtung einer Meldung (i.d.R. ein Index aus Platzierung und Hervorhebung) durch die in ihr vorkommenden Nachrichtenfaktoren erklärbar ist (siehe Eilders 1997: 31ff.). Damit sind im Grunde Darstellungsentscheidungen erklärt. Erst die Befunde experimentel-
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Skandalisierung in der Auslandsberichterstattung umso wahrscheinlicher ist, je (kollektiv) relevanter ein Sachverhalt für das heimische Publikum auf Grund potentieller Betroffenheit ist. Betroffenheit indizieren nach Eilders (1997: 105) die Nachrichtenfaktoren Nähe und Status des Ereignislandes, Bezug zur Eigengruppe (deutsche Beteiligung an einem Ereignis), Einfluss der Akteure, Kontroverse, Überraschung, Betroffenheitsreichweite und Schaden. Annahme drei ist, dass Skandalisierung sowohl durch transsituativ stabile Faktoren als auch durch konkrete und wechselnde Ereignislagen beeinflusst wird. Als stabile Faktoren werden alle Faktoren bezeichnet, die unabhängig von bestimmten Ereignislagen die Wahrscheinlichkeit von Skandalisierung erhöhen, weil sie im Nachrichtensystem eine höhere Sensibilität für Normbrüche verursachen. Basierend auf der Nachrichtenwerttheorie lassen sich hier in erster Linie die Ländereigenschaften nennen, die eine stärkere Relevanzzuweisung begründen. Verschiedene Studien zeigen, dass es für statushohe und nahe Länder ein generalisiertes journalistisches Interesse gibt, was zu einer stärkeren Präsenz dieser Länder in der Auslandsberichterstattung führt (z.B. Hagen et al. 1998; Wu 2000; Scherer et al. 2006). Hier wird Ähnliches für Skandalisierung vermutet, woraus sich die ersten beiden Hypothesen ergeben: H1: Je höher der Status eines Landes, desto intensiver das Ausmaß der Skandalisierung in der Berichterstattung über dieses Land. H2: Je größer die Nähe eines Landes, desto intensiver das Ausmaß der Skandalisierung in der Berichterstattung über dieses Land. Als zweiter erklärungsrelevanter Faktor wird das Thema (im Sinne des berichteten Realitätsbereichs) berücksichtigt. Grundlage dafür bildet einerseits die Annahme, dass es bei einigen Realitätsbereichen wahrscheinlicher ist, dass Normbrüche thematisiert werden. Dies sollte z.B. beim Thema politische Kriminalität so sein, weil kriminelle Handlungen immer einen Normbruch implizieren und dieser Realitätsbereich somit durch Normverletzungen definiert ist. Ein anderes Beispiel sind Themen wie Kultur oder Politik. In diesen Realitätsbereichen geht es häufig um normgebende bzw. -verändernde Fragen (z.B. Gesetzgebung) oder normrelevante Diskurse (z.B. über provokative Kunst oder nationale Erinnerungs- und Gedenkkultur), so dass hier die Thematisierung von Normverletzungen wahrscheinlicher ist als in Bereichen, die nicht so stark im Normativen und ler Studien mit Journalisten zur Selektionsrelevanz von Nachrichtenfaktoren (1997: 53ff.) rechtfertigen aber die Verwendung des Beachtungsgrades als Indikator für journalistische Selektion. Über diese Indikatorfunktion hinaus wird dadurch zudem gezeigt, dass sich der Geltungsbereich der Theorie nicht nur auf Selektion beschränkt, sondern eben auch auf journalistische Darstellungsentscheidungen anwendbar ist.
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Symbolischen angesiedelt sind. Weiterhin wird davon ausgegangen, dass in Realitätsbereichen, von denen die einheimischen Bürger potentiell eher betroffen sind (z.B. die Außen- und internationale Politik des berichteten Landes), Skandalisierung wahrscheinlicher ist. Wie bereits bei den transsituativ stabilen Ländermerkmalen wird angenommen, dass Themen ein unterschiedliches ‚Skandalisierungspotential‘ haben – und zwar unabhängig von konkreten, aktuellen Ereignislagen. Ob dem so ist, soll durch Beantwortung folgender Forschungsfrage geklärt werden: FF1: Welche Rolle spielen Themen für das Ausmaß der Skandalisierung der Berichterstattung über ein Land? Wesentliche Eigenschaften der aktuellen Ereignislage lassen sich über Nachrichtenfaktoren abbilden. Unter der Annahme, dass insbesondere Ereignismerkmale, die potentielle Betroffenheit indizieren, Skandalisierung wahrscheinlicher machen, werden folgende Hypothesen formuliert: H3: Je intensiver die deutsche Beteiligung an Ereignissen der Berichterstattung über ein Land, desto intensiver das Ausmaß der Skandalisierung in der Berichterstattung über dieses Land. H4: Je größer der Einfluss der Akteure in der Berichterstattung über ein Land, desto intensiver das Ausmaß der Skandalisierung in der Berichterstattung über dieses Land. H5: Je größer die Kontroverse in der Berichterstattung über ein Land, desto intensiver das Ausmaß der Skandalisierung in der Berichterstattung über dieses Land. H6: Je größer die Überraschung in der Berichterstattung über ein Land, desto intensiver das Ausmaß der Skandalisierung in der Berichterstattung über dieses Land. H7: Je größer die Reichweite in der Berichterstattung über ein Land, desto intensiver das Ausmaß der Skandalisierung in der Berichterstattung über dieses Land. H8: Je größer der Schaden in der Berichterstattung über ein Land, desto intensiver das Ausmaß der Skandalisierung in der Berichterstattung über dieses Land. Explorativ soll zudem die Rolle weiterer Nachrichtenfaktoren berücksichtigt werden:
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FF2: Welche Rolle spielen die Nachrichtenfaktoren Prominenz, Nutzen und Etablierung in der Berichterstattung über ein Land für das Ausmaß der Skandalisierung in der Berichterstattung über ein Land? Anlage der empirischen Studie Den Forschungsfragen soll hier in einer exemplarischen Studie zur Osteuropaberichterstattung einer deutschen Tageszeitung nachgegangen werden, die auch eine erste Prüfung des entwickelten Erklärungsmodells darstellt. Es handelt sich dabei um eine partielle Sekundäranalyse einer Studie zu Nachrichtengeographie und Nachrichtenfluss (Weber 2008). ‚Partiell‘ deshalb, weil das Messinstrument für Skandalisierung für die hier berichtete Arbeit neu entwickelt und am Originalmaterial der Studie nachcodiert wurde. Auf Grund forschungsökonomischer Beschränkungen konnte dies nur für die Berichterstattung einer Tageszeitung der ursprünglichen Medienstichprobe erfolgen, den Münchner Merkur.13 Untersuchungsgrundlage bildet die Osteuropaberichterstattung des Jahres 2006. Durch einfache Zufallsauswahl wurden pro Quartal 13 Tage, insgesamt also 52 Zeitungsausgaben, zur Abbildung dieses Zeitraums ausgewählt. Darin wurden alle Artikel aus dem täglich erscheinenden redaktionell betreuten allgemeinen überregionalen Nachrichtenteil der Zeitung mit Osteuropabezug14 analysiert. Für jeden Artikel bzw. das darin berichtete Ereignis wurden folgende Merkmale codiert (die Zahlen in Klammern geben die Reliabilitätskoeffizienten15 an): Osteuropabezug (codiert wurden bis zu zwei Länder, über die im Artikel berichtet wird; Reliabilität 1 bzw. 0,98 für den zweiten Bezug), Thema (Codierung von insgesamt 30 Realitätsbereichen: 0,77), Einfluss (Macht des zentralen Akteurs: 0,91), Prominenz (Bekanntheitsgrad des zentralen Akteurs: 0,74), Kontroverse (Intensität der Auseinandersetzung: 0,77), Reichweite (Anzahl der betroffenen Personen: 0,72), Schaden (negative Folgen: 0,86), Nutzen (positive Folgen: 0,84), Überraschung (Erwartungswidrigkeit eines Ereignisses: 13
14
15
Aus Platzgründen werden im Folgenden nur die wichtigsten Punkte der Untersuchungsanalage vorgestellt – für eine ausführliche Diskussion wird auf die Publikation zur Primärstudie (Weber 2008) verwiesen. Durch Schauplatz oder zentrale Akteure hergestellte Bezüge zu: Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Estland, Lettland, Litauen, Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, Mazedonien, Rumänien, Serbien, Montenegro, Moldawien, Russland, Ukraine, Weißrussland. Intercoderreliabilität: Anteil übereinstimmender Codierungen zweier unabhängiger Codierer bei der Codierung identischen Materials im Pretest unter Berücksichtigung der Reihenfolge. Siehe Früh (2001: 179f.). Werte über 0,7 gelten als akzeptabel.
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0,95), Deutsche Beteiligung (Bezug zu Deutschland: 1), Etablierung von Themen (Beachtungszeitraum des zum Ereignis gehörenden Issues: 0,93). Neu für diese Analyse entwickelt wurde das Messinstrument für Skandalisierung. Mittels folgender Kategorien wurden die oben explizierten Dimensionen des Konstrukts erhoben (Reliabilitätswerte in Klammern).16 Mit der Variable Normbruch wurde auf einer Skala von 0-2 erfasst, ob im Artikel ein Normbruch thematisiert wurde und ob er einem Statusakteur zugeschrieben wurde oder nicht (0,94). Ein Normbruch wurde codiert, wenn ein im Artikel berichteter Sachverhalt explizit als Normverletzung bezeichnet wurde oder wenn auf Grund des Alltagswissens klar ist, dass er einen Normbruch darstellt (z.B. Menschrechtsverletzungen, Bruch demokratischer Regeln und Rechte, Straftaten bzw. alle illegalen Handlungen). Mit der Variable Negativität wurde auf einer Skala von 0-2 erfasst, ob der Normbruch negativ bewertet wird und ob diese Bewertung konsonant im gesamten Artikel vorhanden ist, wobei die Bewertung explizit durch den Journalisten oder indirekt durch zu Wort kommende andere Akteure erfolgen kann (0,94). Mit Empörung wurde auf einer Skala von 0-2 erfasst, ob im Artikel Empörung über den Normbruch zum Ausdruck kommt und ob sie ggf. als von einer größeren Akteursgruppe geteilt dargestellt wird (0,94). Jedem der in einem Artikel erfassten Osteuropabezüge wurden nachträglich der Status und die Nähe des berichteten Landes zugeordnet. Die Werte ergaben sich auf Grund einer Faktorenanalyse mehrerer Indikatoren für diese beiden Konstrukte, die für jedes der osteuropäischen Länder erfasst und einer statistischen Analyse unterzogen wurde (siehe ausführlich Weber 2008, 400ff.). Mittels Faktorenanalyse wurden drei voneinander unabhängige Dimensionen von Ländereigenschaften ermittelt:17 Der Status eines Landes ergibt sich u.a. auf Basis des Bruttoinlandsprodukts und des Verteidigungsetats des Landes. Die Ähnlichkeit eines Landes zu westlichen Demokratien ergibt sich u.a. auf Basis der Mitgliedschaft in internationalen Organisationen und dem Ausmaß der Pressefreiheit. Die räumliche Nähe ergibt sich auf Basis der räumlichen Entfernung und dem Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung in diesem Land. Ähnlichkeit und räumliche Nähe sind zwei unabhängige Dimensionen des übergeordneten Konstrukts Nähe.
16
17
Intracoderreliabilität nach Holsti (1969), die auf Basis der doppelten Codierung von 54 Artikeln im Abstand von zwei Wochen mit dem Programm von Jenderek (2006) errechnet wurde. Eine ausführliche Version des Messinstruments ist auf Anfrage vom Autor erhältlich. Es handelte sich um eine Hauptkomponentenanalyse mit Varimaxrotation. Extrahiert wurden drei orthogonale Dimensionen mit Eigenwerten größer 1, die zusammen mehr als 89% der Varianz erklären. KMO=0,762; min. MSA=0,6; Bartlett: Chi²=251,62; df=45; p<.000.
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Ergebnisse Deskriptive Befunde und Indices zum Ausmaß der Skandalisierung: Die Stichprobe besteht aus 116 Artikeln, in denen insgesamt 122 Bezüge zu den Ländern Osteuropas erfasst wurden. 39,7% der Artikel thematisieren einen Normbruch (MW=0,67; SA=0,88218), in der Mehrzahl durch einen Statusakteur (27,6% der Artikel). Über die Hälfte der Normbrüche (57,4%) erfährt keine Bewertung im Sinne Negativität (MW=0,79; SA=0,954). Lediglich 36,2% sind konsonant negativ bewertet, nur 6,4% erfuhren konfligierende Bewertungen und Deutungen. Beim ‚strengsten‘ Skandalisierungskriterium, der Empörung (MW =0,40; SA=0,742), zeigt sich ein ähnliches Bild: Zu nur 25,5% der Normbrüche werden Empörungsreaktionen thematisiert, wovon wiederum nur gut die Hälfte kollektiv geteilt sind.19 Zur Beantwortung der Forschungsfragen und Überprüfung der Hypothesen sollen die drei Variablen zu einem zusammenfassenden Skandalisierungsmaß integriert werden. Da mit dem Messinstrument ein Querschnitt der gesamten Berichterstattung und keine Verläufe einzelner Medienskandale erfasst wurden, ist dies auf Grund der bereits besprochenen Dynamik von Medienskandalen nicht ganz einfach. Zu entscheiden ist, ob wirklich alle drei Kriterien gemeinsam auftreten müssen, um von Skandalisierung zu sprechen. Die Gefahr bei einem nach dieser strengen Logik gebildeten Index ist, dass er nur Skandalisierung in bestimmten Phasen entdeckt (vor allem in der Kulminationsphase), während er weniger sensitiv auf Medienskandale in sehr frühen oder auch späten Phasen reagiert, in denen z.B. die öffentliche Empörung noch nicht so stark ausgeprägt ist oder nicht mehr thematisiert wird. Ein weniger restriktiv gebildeter Index würde dagegen zunächst grundsätzlich auf alle Normbrüche reagieren und damit weniger abhängig von den Skandalphasen sein. Allerdings besteht dabei die Gefahr, dass ein Artikel als skandalisiert identifiziert wird, auch wenn unklar ist, ob der zu Grunde liegende Normbruch die Kulminationsphase überhaupt erreicht bzw. jemals Empörungsreaktionen dazu berichtet werden. Zur pragmatischen Lösung des Problems werden hier zwei Skandalisierungsindices zur Diskussion gestellt: Zunächst ein wenig restriktiver Index zum Skandalisierungspotential eines Artikels, der die Dimensionen Normbruch, Negativität und Empörung additiv miteinander verbindet. Auf Grund der additiven Verknüpfung identifiziert er Skandalisierung unabhängig vom Vorliegen von Negativität und Empörung, erreicht mittlere Werte, wenn eines von beiden zu18 19
MW=Mittelwert; SA=Standardabweichung. Die Unterschiede in den Zellbesetzungen sind bei allen drei Variablen in eindimensionalen Chi²Tests signifikant.
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sätzlich vorliegt, und nimmt hohe Werte lediglich an, wenn alle drei Dimensionen sehr hoch ausgeprägt sind. Sein Wertebereich liegt zwischen null und sechs. Die deskriptive Analyse zeigt, dass er ausgeschöpft wird und 18,2% der Artikel Skandalisierungswerte über zwei erreichen (für die das Vorliegen mindestens aller drei Dimensionen in minimaler Ausprägung oder eines starken Normbruchs und mindestens Negativität oder Empörung notwendig ist). Das mittlere Skandalisierungspotential liegt bei 1,16 (SA=1,8). Zur zusätzlichen Bildung eines strengeren Index zur Skandalisierung wurden die drei Dimensionen multiplikativ miteinander verbunden. Dieser Index indiziert Skandalisierung nur, wenn alle drei Kriterien in mindestens minimaler Ausprägung gleichzeitig vorliegen, und erreicht hohe Werte nur, wenn ein Normbruch eines Statusakteurs berichtet wird, der konsonant negativ bewertet wird und zudem kollektive Empörungsreaktionen berichtet werden. Der Wertebereich liegt zwischen 0 und 8, im Mittel zeigt er eine Skandalisierung von 0,55 (SA=1,9). Auf diesem Index sind nur 9,5% der Artikel skandalisiert. Bivariate Zusammenhänge: Im Folgenden werden kurz die Ergebnisse dreier Analysen dargestellt, die jeweils den Zusammenhang der einzelnen Variablengruppen und Skandalisierung untersucht haben und einen ersten Eindruck vom Vorhandensein und von der Stärke der Zusammenhänge liefern sollen. In einer ersten Analyse war von Interesse, welche der durch die Nachrichtenfaktoren abgebildeten Eigenschaften der Ereignislage mit Skandalisierung zusammenhängen. Zur Quantifizierung der Stärke etwaiger Assoziationen zwischen Nachrichtenfaktoren und den Skandalisierungindices wurden Spearmans Rangkorrelationskoeffizienten (ȡ) auf Basis der codierten Artikel berechnet und auf Signifikanz geprüft (im Folgenden werden nur signifikante Zusammenhänge aufgeführt, p bezeichnet die Irrtumswahrscheinlichkeit). Am stärksten mit dem Skandalisierungspotential assoziiert ist der Nachrichtenfaktor Schaden (ȡ=,482; p<,0001). Je mehr negative Folgen ein berichtetes Ereignis also für ideelle oder gar existentielle Werte hat, desto höher sein Skandalisierungspotential in der Berichterstattung. Schwache Zusammenhänge ergeben sich zwischen dem Skandalisierungspotential und Kontroverse (ȡ=,335; p<,0001), Nutzen (ȡ=-,243; p<,009) und deutscher Beteiligung (ȡ=,239; p<,010). Ein sehr schwacher negativer Zusammenhang besteht darüber hinaus mit dem Nachrichtenfaktor Überraschung (ȡ=-,148; p<,048). Für die Einflüsse auf den strengeren Index für Skandalisierung ergeben sich teils abweichende Befunde: Als wichtigster Einflussfaktor auf dieser Ebene erweist sich die deutsche Beteiligung (ȡ=,329; p<,0001). Ereignisse mit Bezug zu
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einem osteuropäischen Land, an denen Deutsche als Handelnde oder Betroffene beteiligt sind oder die in Deutschland stattfinden, werden also eher in der Berichterstattung skandalisiert als solche, die keinen Bezug zur Eigengruppe der Deutschen aufweisen. Weiterhin ergeben sich schwache Zusammenhänge mit den Nachrichtenfaktoren Kontroverse (ȡ=,238; p<,010), Schaden (ȡ=,230; p<,013) und Prominenz (ȡ=,214; p<,021). Mit Bezug auf FF2 interessiert, ob es signifikante Zusammenhänge zwischen Realitätsbereich und dem Ausmaß der Skandalisierung gibt. Um dies zu prüfen, wurden mit Hilfe von Kruskal-Wallis-Tests ermittelt, ob sich die durch die Indices repräsentierten Skandalisierungswerte signifikant zwischen den einzelnen Themen unterscheiden. Weder für das Skandalisierungspotential noch für Skandalisierung war der Test signifikant. Deskriptiv zeigen sich aber in der Stichprobe Tendenzen, die die oben geführte Argumentation stützen: So ergeben sich für das Thema politische Gewalt und Kriminalität deutlich überdurchschnittliche Werte sowohl für das Skandalisierungspotential als auch für Skandalisierung, für die Themen Außenpolitik und Kultur überdurchschnittliche Skandalisierungswerte sowie für die Themen internationale Kulturpolitik und Kriminalität ein überdurchschnittliches Skandalisierungspotential. Zur Überprüfung des Einflusses der Eigenschaften des berichteten Landes auf das Ausmaß der Skandalisierung in der Berichterstattung zu diesem Land wurde zunächst ein Datensatz erstellt, in dem jeder der 122 Länderbezüge einen separaten Fall darstellt, und dieser Datensatz dann nach den 17 osteuropäischen Ländern aggregiert. Jedem Land konnten damit neben seinem Status, seiner Ähnlichkeit und seiner Nähe auch die beiden Werte der Skandalisierungsindices zugeordnet werden, durch die sich ihre Berichterstattung im Durchschnitt auszeichnet. Zur Quantifizierung der Stärke etwaiger Assoziationen zwischen den Ländereigenschaften und den mittleren Skandalisierungsindices wurden Pearsons Korrelationskoeffizienten (r) berechnet und auf Signifikanz geprüft. Für das Skandalisierungspotential der Berichterstattung zu einem Land zeigt sich ein mittlerer Zusammenhang mit seiner Ähnlichkeit (r=,530; p<,029), für das Ausmaß der Skandalisierung ein starker Zusammenhang mit seiner Nähe (r=,714; p<,001).
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Determinanten von Skandalisierung in der politischen Auslandsberichterstattung – Hypothesenprüfung in der multivariaten Analyse: Zur Prüfung der hier aufgestellten Hypothesen sind bivariate Analysen nur bedingt geeignet, da eventuell vorliegende Zusammenhänge zwischen den einzelnen unabhängigen Variablen keine Berücksichtigung finden und damit die Möglichkeit von Scheinzusammenhängen oder nicht entdeckten Assoziationen besteht. Aus diesem Grund erfolgt die Hypothesenprüfung in einer multivariaten Analyse, in der die Erklärungskraft jeder einzelnen Variable unter Kontrolle aller anderen ermittelt wird. Diese Analyse steht vor der Herausforderung, die Daten zweier verschiedener Analyseeinheiten integrieren zu müssen: zum einen das osteuropäische Land mit seinen stabilen Eigenschaften Status, Ähnlichkeit und Nähe, zum anderen die codierten Artikel mit ihren wechselnden Nachrichtenfaktoren und Themen. Gemeinsam berücksichtigen lassen sich diese Eigenschaften auf Ebene der 122 erfassten Länderbezüge: Ihnen können sowohl die Eigenschaften des berichteten Landes zugeordnet werden als auch die Merkmale der Berichterstattung in dem Artikel mit diesem Länderbezug. Auf dieser Grundlage wurden zur Prüfung der Hypothesen und Beantwortung der Forschungsfragen zwei Regressionsmodelle geschätzt, in die die Variablen der einzelnen Variablenkomplexe schrittweise integriert wurden. Im ersten Variablenblock wurde geprüft, welche der drei Ländereigenschaften einen eigenständigen Einfluss ausüben. Im zweiten Variablenblock wurden die Themen berücksichtigt, für die sich in der bivariaten Analyse zumindest in der Stichprobe ein Einfluss gezeigt hat.20 Im dritten Variablenblock wurden die Nachrichtenfaktoren mit eigenständigem Erklärungsbeitrag in die Modelle integriert. Folgende Tabelle zeigt die Ergebnisse im Überblick.
20
Die entsprechenden Themen gingen über dummy-codierte Variablen in die Analyse ein.
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Modell 1: Skandalisierungspotential
Ländereigenschaften
Thema
Nachrichtenfaktoren
(Konstante) Status geogr. Nähe Ähnlichkeit polit.Gewalt Außenpolitik Int. Kulturpolitik Kultur Kriminalität Dt. Beteiligung Einfluss Prominenz Kontroverse Überraschung Reichweite Nutzen Schaden Etablierung korr. R² Std.fehler F
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Modell 2: Skandalisierung
B ,295
ǻR²
p< ,189
B -,144
ǻR²
p< ,464
,224
,069
,011
,420
,143
,001
,651
,038
,116
,501
,033
,025
,516
,045
,021
,462 ,590
,032 ,055
,386 ,003
,449 -,637
,054 ,032
,004 ,017
1,041
,154
,001
,362 1,43 12,275 (p<.0001)
,232 1,62 10,008 (p<.0001)
[Blockweise multiple Regressionen, schrittweise (Kriterien: Wahrscheinlichkeit von F-Wert für Aufnahme ,050; Wahrscheinlichkeit von F-Wert für Ausschluss ,100). Leere Zellen = Variable nicht in Modell aufgenommen. Min. Toleranzwerte für Modell 1 0,77, für Modell 2 0,90]
Tab. 1: Ergebnisse der multiplen Regressionen
Für das Skandalisierungspotential der Berichterstattung zu einem Land erweist sich unter den Ländereigenschaften lediglich die geographische Nähe als signifikanter Prädiktor, der im Gesamtmodell als zweitwichtigster Erklärungsfaktor eine zentrale Rolle spielt. Aus dem Block der berücksichtigten Themen wird zunächst Kriminalität ins Modell aufgenommen. Berücksichtigt man im nächsten Schritt aber gleichzeitig zentrale Merkmale der Ereignislage, wird dieser Zusammenhang zwischen dem Thema Kriminalität und Skandalisierungspotential insignifikant. Es zeigt sich, dass sich dahinter der Einfluss des Nachrichtenfak-
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tors Schaden verbirgt, der im Modell den wichtigsten Erklärungsbeitrag leistet. Weiterhin zeigt die Analyse, dass mit dem Ausmaß deutscher Beteiligung und stärkerer Kontroverse das Skandalisierungspotential steigt, mit dem Ausmaß der Überraschung hingegen sinkt. Insgesamt ist das Modell in der Lage, immerhin mehr als 1/3 der Varianz des Skandalisierungspotentials in der Berichterstattung zu einem Land zu erklären.21 Geringere Erklärungskraft hat Modell 2, das knapp 1/4 der Varianz der Skandalisierung in der Berichterstattung zu einem Land erklärt. Als wichtigster Prädiktor erweist sich die geographische Nähe des berichteten Landes, die wiederum als einziges Ländermerkmal in das Modell eingeht. Unter den Themen ist es die Außenpolitik, die zunächst einen Erklärungsbeitrag leistet, der allerdings bei gleichzeitiger Berücksichtigung des Nachrichtenfaktors deutsche Beteiligung nicht mehr signifikant ist. Einzig der mit einem Ereignis verbundene Schaden leistet unter den Merkmalen der Ereignislage noch einen Erklärungsbeitrag, der noch über dem der deutschen Beteiligung liegt. Bezüglich der aufgestellten Hypothesen und Forschungsfragen fällt die Entscheidung wie folgt aus: H1 wird abgelehnt, da in keinem der Modelle ein Einfluss des Status eines Landes auf einen Skandalisierungsindex nachgewiesen wurde. Bezüglich H2 muss das Urteil auf Grund der Mehrdimensionalität des Konstrukts Nähe differenziert aussehen: Für die Dimensionen Ähnlichkeit wird die Hypothese abgelehnt, für die Dimension geographische Nähe wird sie angenommen, da die Nähe eines Landes zu Deutschland sowohl das Skandalisierungspotential als auch die Skandalisierung in der Berichterstattung zu diesem Land erhöht. Unter der Annahme, dass bei Berichterstattung über bestimmte Realitätsbereiche die Wahrscheinlichkeit von Skandalisierung größer ist, wurden zur Beantwortung von FF1 die Zusammenhänge zwischen Themen und den Skandalisierungsmaßen untersucht. Weder die bivariate noch die multivariate Analyse weisen darauf hin, dass es systematische Zusammenhänge zwischen Realitätsbereich und Skandalisierung gibt. Zeigen sich solche Assoziationen, sind sie durch bestimmte Ereignislagen bzw. Nachrichtenfaktoren vermittelt.
21
R2 gibt als Schätzung der Varianzaufklärung an, in welchem Ausmaß Unterschiede in der abhängigen Variable durch Unterschiede in den unabhängigen Variablen erklärbar sind. Für Modell 1 bedeutet das, dass circa 1/3 der Unterschiede im Skandalisierungspotential innerhalb der Länderbezüge auf Veränderungen in der Gruppe der unabhängigen Variablen (Ländereigenschaften, Thema, Nachrichtenfaktoren) zurückführbar sind. Fast 2/3 der Unterschiede im Skandalisierungspotential innerhalb der Länderbezüge sind also nicht auf Unterschiede in den Modellvariablen zurückführbar.
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Hinter den Hypothesen drei bis acht steht die Annahme, dass insbesondere Betroffenheit indizierende Ereignismerkmale Skandalisierung wahrscheinlicher machen. Eindeutig gestützt werden konnten H3 zum Einfluss der deutschen Beteiligung und H8 zum Einfluss des Nachrichtenfaktors Schaden. Je intensiver also die deutsche Beteiligung an berichteten Ereignissen zu einem Land und je intensiver der mit diesen Ereignissen verbundene Schaden, desto höher sowohl das Skandalisierungspotential als auch die Skandalisierung in der Berichterstattung zu diesem Land. Ebenso eindeutig fällt das Urteil zu H7 und H4 aus: Beide Hypothesen werden abgelehnt, da sich in der multivariaten Analyse weder Einflüsse der Reichweite noch der Einfluss der Akteure auf die Skandalisierungsindices fanden. Auch H6 zum Einfluss der Überraschung wird abgelehnt, da der Zusammenhang mit dem Skandalisierungspotential entgegen der vermuteten Richtung läuft und eine Assoziation mit Skandalisierung nicht nachweisbar ist. Kontroverse steht zwar hypothesenkonform in einer signifikant positiven Verbindung zum Skandalisierungspotential, da sich aber kein Zusammenhang mit Skandalisierung nachweisen lässt, wird H5 vorerst ebenfalls abgelehnt. Hinsichtlich FF2 zeigt die multivariate Analyse, dass die Nachrichtenfaktoren Prominenz, Nutzen und Etablierung in der Berichterstattung über ein Land nicht relevant sind für das Ausmaß der Skandalisierung. Fazit und Diskussion Insgesamt stützen die Befunde m.E. die hier vertretene These, dass Skandalisierung in der Auslandsberichterstattung umso wahrscheinlicher ist, je (kollektiv) relevanter ein Sachverhalt für das heimische Publikum auf Grund potentieller Betroffenheit ist. So gibt es offensichtlich für räumlich nahe Länder im Nachrichtensystem eine höhere Sensibilität für Normbrüche und eine stärkere Bereitschaft, sich in den öffentlichen Diskurs zu involvieren und zu empören. Treten dann noch Ereignisse ein, an denen Deutschland direkt beteiligt ist oder deren Folgen mit Schaden für ideelle, materielle oder existentielle Werte verbunden sind, wird Skandalisierung umso wahrscheinlicher. Damit fungiert Skandalisierung als Mechanismus der Aufmerksamkeitsgenerierung in der politischen Auslandsberichterstattung primär dann, wenn Gefahr und Schaden droht und ein direkter Bezug zur Eigengruppe vorhanden ist. Auslandsereignisse, die die Betroffenheit Deutscher oder Deutschlands nur mehr oder weniger wahrscheinlich machen, weil Machtakteure involviert oder sie von größerer Reichweite sind, reichen offensichtlich nicht aus um diesen Mechanismus anzusprechen – ebenso wenig wie Ereignisse, denen auf Grund anderer Faktoren potentielle Relevanz zukommt.
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Da es sich bei der vorliegenden Studie um eine exemplarische Analyse handelt, sind das getroffene Fazit und die vorgestellten Befunde spezifischen Beschränkungen unterworfen. Auf den angegebenen Sicherheitsniveaus erscheinen die Ergebnisse lediglich für die Osteuropaberichterstattung des Jahres 2006 des Münchner Merkur generalisierbar. Künftige Untersuchungen sollten das hier entwickelte Hypothesenset an einer umfangreicheren Stichprobe testen, die a) einen anderen Zeitraum umfasst, b) mehrere Medien berücksichtigt und c) die gesamte Auslandsberichterstattung analysiert. In Folgestudien sollte dann auch die Rolle der Nachrichtenfaktoren Überraschung und Kontroverse weiter aufgeklärt werden, für die hier (evtl. auf Grund der Besonderheiten der Stichprobe) keine hypothesenkonformen Ergebnisse gefunden wurden. Weiterhin lässt sich auch erst auf Basis einer breiteren Analyse die Erklärungskraft des Modells beurteilen. Die Ergebnisse der hiesigen Analyse deuten vorerst auf eine nur mäßige Erklärungsleistung. Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, weitere Determinanten von Skandalisierung in das Erklärungsmodell einzubetten und in der empirischen Analyse zu berücksichtigen. Die Grundlage dafür wurde mit dem vorliegenden Beitrag gelegt: Es wurde die Bedeutung des Berichterstattungsmusters Skandalisierung in der Auslandsberichterstattung für das heimische Publikum herausgearbeitet, auf Basis der Nachrichtenwerttheorie ein Erklärungsansatz inklusive spezifischer Hypothesen abgeleitet und auf Basis eines neu entwickelten Messinstruments der empirischen Prüfung zugänglich gemacht. Dieses wurde in einer exemplarischen Untersuchung erstmals angewendet und schließlich eine Auswertungsstrategie demonstriert, deren Ergebnisse dafür sprechen, dass eine erweiterte Replikation der Studie ein wissenschaftlich lohnendes Unterfangen ist, das neue Erkenntnisse zu diesem bislang kaum erforschten Phänomen der Auslandsberichterstattung verspricht. Literatur Alscheid-Schmidt, Petra (1991): Die Kritik am internationalen Informationsfluß. Beurteilung der politischen Diskussion anhand wissenschaftlicher Untersuchungsergebnisse. Frankfurt a.M. u.a.: Lang. Baum, Matthew A. (2002): Sex, Lies, and War: How Soft News Brings Foreign Policy to the Inattentive Public. In: American Political Science Review 96/1, S. 91-109. Berger, Roman (2009): Information für die Elite. Unterhaltung und Trash für die Massen. Online unter http://www.medienheft.ch/kritik/bibliothek/k09_BergerRoman_01.pdf, zuletzt aktualisiert am 26.2.2009, Abruf am 5.7.2010. Böcking, Tabea (2007): Sportskandale in der Presse. Thematisierungsmuster und ihre gesellschaftlichen Folgen. In: Publizistik 52/4, S. 502-532.
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Skandal, medialisierter Skandal, Medienskandal
Medienskandale und Skandalmedien
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Skandal, medialisierter Skandal, Medienskandal
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Skandal, medialisierter Skandal, Medienskandal: Eine Typologie öffentlicher Empörung Steffen Burkhardt
Das jahrtausendealte Konzept des Skandals hat sich auf seinem Weg in die Moderne zahlreichen Transformationsprozessen unterziehen müssen: gesellschaftlichen Auf- und Umbrüchen, dem Aufstieg und Niedergang von mächtigen Staaten, politischen Klassen und religiösen Gemeinschaften ebenso wie technischen Innovationen und neuen Formen von Öffentlichkeiten. Skandale und gesellschaftliche Umbrüche standen dabei seit jeher in einem engen Wechselverhältnis aus Wirkungen und Rückwirkungen. Sie sind dementsprechend ein wichtiger Untersuchungsgegenstand der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften geworden, dessen Potential seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts in der Forschung zunehmend genutzt wird und Anerkennung findet. Die Skandalforschung zeigt, dass sich das Prinzip des Skandals seit der ersten dokumentierten Verwendung des Begriffs im vierten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung im Kern nicht verändert hat: Skandalisierung lässt sich seit jeher als Kommunikationsprozess beschreiben, der durch einen postulierten Verstoß gegen den Leitcode des sozialen Referenzsystems öffentliche Empörung auslöst.1 Die vermeintlichen Verfehlungen haben häufig nicht den Anlass zum Skandal gebildet, sondern lediglich einen mitunter historisch relevanten Vorwand für die Ausgrenzung Einzelner und für die Abgrenzung von Vielen. Seit dem 15. Jahrhundert haben unterschiedliche mediale Öffentlichkeitsstrukturen die Ausdifferenzierung von drei Skandalkontexten ermöglicht, die im Folgenden als Skandal, medialisierter Skandal und Medienskandal bezeichnet werden. Die drei Termini stehen für eine spezifische Typologie öffentlicher Empörung, die in diesem Beitrag erklärt wird. Was ist Skandalforschung? Skandalforschung ist die systematisch-vergleichende Untersuchung von Skandalen als sozialen Ritualen zur Aktualisierung normativer Leitcodes in der Ge1
Vgl. zur älteren Forschung Lindblom (1921) und Stählin (1964 [1930]) sowie zur neueren Neckel (1986: 56), Käsler (1991: 69-85), Thompson (2000: 11-14) und Burkhardt (2006: 60-81).
K. Bulkow, C. Petersen (Hrsg.), Skandale, DOI 10.1007/978-3-531-93264-4_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Steffen Burkhardt
sellschaft, die durch Kommunikation einen wichtigen Beitrag zur kollektiven Differenz- und Identitätsbildung leisten. Sie analysiert die narrativen Strukturen, funktionalen Phasen und diskursiven Praktiken der Skandalisierung. Skandalforschung widmet sich insbesondere der zentralen Funktion von Skandalen, in Gemeinschaften und Gesellschaften Machtverhältnisse auszuhandeln. Sie ist daher immer auch die Erforschung von Diskursmacht und -ohnmacht. Eine besondere Bedeutung kommt in der Skandalforschung der Analyse der professionellen Aussagenproduktion im Mediensystem zu, das mit seiner öffentlichen Deutungshoheit seit dem 20. Jahrhundert der wichtigste Skandalproduzent ist. Massenmedien berichten nicht einfach über Skandale, die unabhängig von ihnen existierten. Sie produzieren sie, indem sie sozialen Zuständen, Ereignissen oder Entwicklungen ein spezifisches narratives Framing geben, das als Skandal etikettiert wird. Eine zeitgemäße Betrachtung des Verhältnisses von Skandal und Norm ist ohne die Berücksichtigung von medialen Aussagenentstehungsprozessen – insbesondere von Journalismus – nicht mehr denkbar. Skandale wurden seit jeher in christlich-theologischen Reflexionen und bereits im 20. Jahrhundert in zahlreichen Studien der sozial-, sprach-, kultur-, rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Forschung thematisiert,2 doch erst John B. Thompson (2000) reflektierte die konstitutive Bedeutung der Massenmedien für das Verhältnis von sozialen Normen und Skandalisierung in der modernen Gesellschaft in seinem Grundlagenwerk zum politischen Skandal. Skandale hat es zwar immer schon gegeben, so Thompsons Kernthese, aber sie haben sich weiterentwickelt: Ein Merkmal, das diese Evolution des Skandals kennzeichne, sei ihre zunehmende Kopplung an die mediale Kommunikation. Skandale seien nicht mehr (nur) ortsgebundene Ereignisse, die im Kontext der Faceto-face-Interaktion zwischen Individuen hervorbrechen, die sich untereinander gut als Familie, Freunde, Nachbarn oder Kollegen kennen würden, – auch wenn es solche ortsgebundenen Skandale weiterhin gebe und jeder von uns mit ihnen vertraut sei. Skandale seien in einer neuen Form aufgetreten, deren Bestandteile und Wirkungen sich von denen des ortsgebundenen Skandals unterschieden und deren mögliche Konsequenzen deutlich andere seien. Medienskandale,3 so Thompson, seien nicht einfach nur Skandale, die von den Massenmedien aufgegriffen und unabhängig von ihnen existierten: Auf unterschiedliche Weise konstituierten sie sich gewissermaßen erst durch die massenmedialen Kommunikati2
3
Für einen umfassenden Forschungsüberblick über Beiträge zur Skandalforschung vgl. Burkhardt (2006). Thompson (2000: 31f.) verwendet den Begriff des „mediated scandal“, dem er das Konzept des „local scandal“ gegenüberstellt. Er unterscheidet jedoch nicht zwischen „mediated scandal“ und „media scandal“. Um begriffliche Irritationen zu vermeiden, wird die Unterscheidung von Skandal, medialisiertem Skandal und Medienskandal eingeführt.
Skandal, medialisierter Skandal, Medienskandal
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onsformen. Sie seien demnach keine Skandale, die vom Mediensystem selektiert und thematisiert würden, sondern Konstrukte der massenmedialen Kommunikation, die sich von nicht-medialisierten Skandalen abgrenzen ließen. Thompsons Begrifflichkeiten sind nicht präzise. Wenn lokalisierte Skandale medialisiert (oder: mediatisiert) werden, z.B. indem eine amerikanische Tageszeitung wie die New York Times über Ereignisse wie 2010 über den Mixa-Skandal in Deutschland oder den Ma-Yaohai-Skandal in China berichtet, so hat nicht sie die Skandale produziert. Anders verhält es sich bei Skandalen, die als mediale Skandalgeschichten öffentliche Empörung provozieren, wie 2004 die Berichte über die Verbrechen in Abu Ghraib, 2005 die Debatte um die dänischen Mohammed-Karikaturen und 2006 die Berichte über die ‚Regensburger Rede‘ von Papst Benedikt XVI. Zur Präzisierung der Begrifflichkeiten können daher drei Medialisierungsgrade von ‚Skandalen‘ unterschieden werden: Skandal (ohne Medienberichterstattung), medialisierter Skandal (Skandal, über den berichtet wird) und Medienskandal (von den Medien produzierter Skandal)4. Diese Unterscheidung ist in Hinblick auf das Verhältnis von Skandalisierung und gesellschaftlichen Umbrüchen von zentraler Bedeutung (vgl. Tabelle 1). Skandal
Medialisierter Skandal
Medienskandal
Mediatisierungsgrad
Skandal ohne Medienberichterstattung
(Medien-)Skandal, über den berichtet wird
Von den Medien produzierter Skandal
Beispiel
Interner Skandal in einem Dorf, über den die Medien nicht berichten (z.B. der Pfarrer wird bei einer Affäre mit seiner Haushälterin erwischt)
Die New York Times berichtet über den MaYaohai-Skandal in China (ohne die Ereignisse zu skandalisieren)
„Regensburger Rede“ von Papst Benedikt, die von internationalen Medien aufgegriffen und als Skandal gewertet und erzählt wird
Verhandlung sozialer Norm
Innerhalb der Teilöffentlichkeit (hier z.B. unter den örtlichen Gemeindemitgliedern)
Innerhalb einer anderen (Teil-)Öffentlichkeit (hier z.B. in China)
Innerhalb der Medienöffentlichkeit und ihrer Teilöffentlichkeiten (hier z.B. unterschiedlichen nationalen Öffentlichkeiten)
Tab. 1: Skandal, Medialisierter Skandal, Medienskandal 4
Medienskandale müssen nicht zwangsweise das Mediensystem selbst betreffen – wie im Fall der Hitler-Tagbücher oder des Geiseldramas von Gladbeck (vgl. Burkhardt 2007, 2008b).
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Steffen Burkhardt
Skandal, medialisierter Skandal und Medienskandal Während bei Skandalen und medialisierten Skandalen soziale Normen innerhalb von Teilöffentlichkeiten ausgehandelt werden, erfolgt im Medienskandal der Diskurs über das Skandalisierte und die darin implizierte Aktualisierung von normativen Wertvorstellungen innerhalb der komplexen Medienöffentlichkeit und ihrer Teilöffentlichkeiten (vgl. Burkhardt 2006, 2008a). Medienskandale sind eine eigene Kategorie der Kommunikationspraxis, die ausgelöst durch ein spezifisches journalistisches Narrationsmuster im Zusammenspiel von Informations- und Unterhaltungsmedien die symbolischen Ordnungen von sozialen Systemen qualifizieren und aktualisieren. Beim Vergleich von Skandalen und Medienskandalen (vgl. Thompson 2000: 61; Burkhardt 2006: 146-157) zeigen sich signifikante Unterschiede hinsichtlich des Publikationsgrads, der Transgressionsmodi, des zeitlich-räumliche Framings der Skandalgeschichte, des durch sie aktualisierten Differenz- und Identitätsmanagements und der Präsenz der durch die Skandalisierung inszenierten Images (vgl. Tabelle 2). Skandale
Medienskandale
Publizität
Niedrige Publizität
Hohe Publizität
Öffentlichkeitsebene
Präsenzöffentlichkeit
Komplexe, mehrstufige (auch massenmediale) Öffentlichkeiten
Präsenz
Geringe Dauer
Dauerhafte Präsenz (v.a. im Internet und in Datenbanken)
Virulenz
Relativ geringe Streuwirkung
Sehr hohe Streuwirkung
Inszenierungshoheit
Relativ ausgewogene Sprecherpositionen für Skandalisierer und Skandalisierte
Sehr unausgewogene Sprecherpositionen für Skandalisierer (Inszenierungshoheit) und Skandalisierte (Inszenierungsverlust)
Aussagenentstehung
Nicht-professionell produzierte Aussagen der Alltagskommunikation
Professionell (nach Regeln) produzierte Aussagen des Mediensystems (Diskurshoheit) und nicht-professionell produzierte Aussagen der Alltagskommunikation (in unterschiedlichen Öffentlichkeiten)
Tab. 2: Merkmale von Skandalen und Medienskandalen
Skandal, medialisierter Skandal, Medienskandal
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Alle Unterschiede beim Vergleich von Skandalen und Medienskandalen resultieren aus den professionellen Produktionsmechanismen und den Kommunikationsspezifika des Mediensystems und des Journalismus als dessen Selbstbeschreibungs- und Selbstbeobachtungssystem sui generis: Die Distinktion zwischen sozial akzeptablen und inakzeptablen Verhaltensweisen hat in der komplexen Öffentlichkeit des Medienskandals im Gegensatz zur Distinktion in nichtmedialisierten Skandalen eine sehr hohe Streuwirkung. Denn der Journalismus als ihr zentraler Skandalisierer operiert mit vielen Kommunikationsinstrumenten und vielen technischen Dispositiven. Anders als nicht-mediale Skandale, die Produkte der Alltagskommunikation sind, werden Medienskandale in erster Linie professionell produziert und folgen damit dem standardisierten Berichterstattungsmuster des Journalismus. Die zentrale Narrationsstrategie des Medienskandals ist also ein professionelles Produkt und unterscheidet sich von den Erzählweisen der Alltagskommunikation. Natürlich findet auch in Medienskandalen Alltagskommunikation in massenmedialen (z.B. in den sozialen Netzwerken im Internet) und nicht-massenmedialen Öffentlichkeiten statt, die jedoch bislang (noch) einen nachrangigen, sprich nicht-signifikanten Einfluss auf die zentralen Narrationsstrategien von Medienskandalen haben.5 Die journalistische Konstruktion des Medienskandals garantiert, dass Skandale auch in ausdifferenzierten und hochkomplexen Sozialsystemen ihre für den Systemerhalt (aus Perspektive der das System dominierenden Koalitionen) relevanten Funktionen erfüllen können (vgl. Burkhardt 2000: 159-160). Publikum und Skandalpersonal In Skandalen gibt es drei unterschiedliche Personalgruppen: Journalisten, die in die skandalisierten Ereignisse involvierten Akteure und das Publikum (vgl. Abbildung 1). Journalistinnen und Journalisten fungieren in der medialen Erzählung ‚Skandal‘ als Erzähler und thematisieren sich als Erzähler auch selbst. Die Akteure werden von ihnen in der Erzählung als Helden oder Antihelden positioniert. Medienskandale werden für ein räumlich abwesendes Publikum produziert, das einen relativ heterogenen Informationsstand hat. Mit Ausnahme von gelegentlichen Live-Übertragungen erfährt es i.d.R. zeitversetzt von der Skandalisie5
Hier lässt sich derzeit eine Veränderung vor allem in nicht-demokratischen Ländern beobachten: Der Ma-Yaohai-Skandal (2010) in China ist der erste Medienskandal, dessen Verlauf signifikant durch die Laienkommunikation im Internet beeinflusst wird, auf die die chinesischen Staatsmedien reagieren müssen. Aber auch in westlichen Demokratien gewinnen Amateure an Einfluss: Die Medienskandale um sexuellen Missbrauch in der Kirche (2010) waren ebenfalls von der Laienkommunikation im Netz geprägt, die durch Verleumdung unter anderem zum Rücktritt des Augsburger Bischofs Mixa führte.
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Steffen Burkhardt
rung, wobei durch Berichte im Internet und vor allem Veröffentlichungen in sozialen Online-Netzwerken (z.B. auf Facebook-Walls) die zeitlichen Differenzen zunehmend marginalisiert werden. Die zentrale Narrationsstrategie wird daher in medialen Distinktionsprozessen6 grundsätzlich anders konstruiert als in nicht-medialen Skandalen, deren Publikum räumlich und zeitlich bei der Erzählung anwesend ist. Da die komplexe Öffentlichkeit des Medienskandals sich grundsätzlich von den einfachen bis mittleren Publika nicht-medialer Skandalisierung unterscheidet, zielen Medienskandale in ihrem sozialen Differenz- und Identitätsmanagement durch Bestimmung von Normen auf andere Aspekte: Medienskandale aktualisieren Differenz in Abgrenzung zu wenigen anderen Systemen (z.B. anderen Gesellschaften mit anderen Sitten).7 Die Identitätsbildung wird durch die Partizipation von relativ wenigen Aktanten erzielt. In der Regel sind die Akteure eines sozialen Systems nicht in der Medienöffentlichkeit sichtbar, sondern agieren außerhalb des Mediensystems. In der erzählerischen Rekonstruktion von Ereignissen, Handlungen oder Zuständen, die als Medienskandale auf der sozialen Bildfläche der Medienöffentlichkeit von Journalisten als Skandalisierern positioniert werden, vollzieht sich ein für das Verständnis des Medienskandals zentraler Transformationsprozess, indem die sozialen Akteure zu narrativem Personal umgedeutet werden: die Journalisten bzw. Skandalisierer werden zu den Erzählern des Medienskandals; Mitglieder des sozialen Systems werden als Helden, Antihelden oder anderen Figuren der Erzählung positioniert; und das Publikum in Form von ausgewählten Repräsentanten des Publikums (zumeist prominenten Vertretern des Systems Öffentlichkeit) wird zu Helfern des Helden oder Antihelden. Skandalproduzenten, Skandalrezipienten und Skandalobjekte sind also nicht mit dem Erzählpersonal identisch, stehen jedoch als Aktanten in einem komplexen Verhältnis aus Wirkungen und Rückwirkungen zwischen sozialem System und Diskurs über das soziale System. Im Skandal bildet der moralische Leitcode des sozialen Referenzsystems den ‚roten Faden‘ der Handlung: er bildet die Basis des Distinktionsprozesses.8 Daher eignen sich besonders die Aktanten im sozialen System, die besonders viel Moral kumulieren, zur Integration als Skandalisierte in den narrativen Diskurs. Die Mitglieder des Systems partizipieren aktiv aus differenten individuellen und psychischen, teils bewussten, teils unbewussten Gründen am Medienskandal. Ihre Positionen werden von Journalisten in den medialen Berichten 6
7
8
Wenn ich im Folgenden den Begriff „medial“ verwende, beziehe ich mich auf das Mediensystem im Besonderen und nicht auf Medien im Sinne von Sprache, Zeichen o. ä. im Allgemeinen. Entscheidend für diesen theoretischen Ansatz ist die Annahme einer Differenz von Systemen, die sich von ihrer Umwelt abgrenzen lassen. Vgl. etwa Luhmann (1987: 242-285) und auf diesen aufbauend Käßler (1991: 55-57), auf den ich mich hier vorrangig beziehe. Zur Funktion von Moral als Leitcode sozialer Systeme vgl. Schmidt (2003: 115-127).
Skandal, medialisierter Skandal, Medienskandal
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aufgegriffen und interpretiert. Damit wird das Publikum als Erzählfigur des Helfers des Helden oder Antihelden im Medienskandal positioniert. Die Rezipienten der medialen Narration werden so zu Produzenten im Diskurs. Dieser Transformationsprozess scheint nicht weiter ungewöhnlich, ist aber von zentraler Bedeutung für den Medienskandal: Durch ihn verlieren die Akteure ihre öffentliche Inszenierungshoheit, weil der Journalismus sie auf Basis von Beobachtungen – und auch normativen Vorstellungen – beschreibt. Durch das narrative Framing kann er dabei erheblichen Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung seines Erzählpersonals nehmen. Von der Dreyfus-Affäre (vgl. z.B. Kotowski & Schoeps 2005), als einem der ersten großen Medienskandale Ende des 19. Jahrhunderts, bis in die Gegenwart lassen sich die mitunter fatalen Folgen medialer Skandalisierung für die Betroffenen beobachten.
MEDIALE ERZÄHLUNG
Erzähler
Held oder Antiheld
Helfer
Journalisten
Aktanten
Publikum
SOZIALES SYSTEM
Abb. 1: Skandalpersonal
Funktionen von Skandalen und Medienskandalen Trotz der zahlreichen Unterschiede medialer und nicht-medialer Skandalisierung haben Skandal und Medienskandal dieselbe Funktion. Die Medien haben lediglich ein soziales Phänomen professionalisiert, dessen Funktionen sich in den vergangenen zwei Jahrtausenden insgesamt wenig verändert haben: die Idee des Skandalons. Medienskandale synthetisieren die ursprünglich profanen und reli-
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Steffen Burkhardt
giösen Bedeutungen dieses griechischen Begriffs, der bereits im 4. Jahrhundert vor Christus das Stellholz an einer Tierfalle bezeichnete, die bei dessen Berührung zuschnappte, darstellt (vgl. Lindblom 1921: 6). Die Synthese resultiert aus Transformationsprozessen von der profanen Urbedeutung über die Konnotationsverdichtung der Begriffe bei der Adaption anderer Sprachsysteme und die Verwendung der profanen Begriffe in der religiösen bzw. biblischen Sprachwelt. Sie folgt zwei zentralen Bedeutungslinien: Ein erster Konnotationsstrang führt von einer konkreten Grundbedeutung als Stellholz einer Tierfalle zu einer abstrakt-metaphorischen Verwendung der Begriffe pars pro toto als Falle und Assoziationen in die vorchristliche Unterhaltungskultur. Eine zweite Linie führt aus der profanen in die religiöse Sphäre als Sünde und von dort, vor allem im Lateinischen, zu einer säkularisierten Verwendung der Begriffe als Reiz zurück und auch in das Assoziationsgeflecht sexueller Begierde (vgl. Käßler 1991: 82; Burkhardt 2006: 60-81). Im Spannungsfeld unterschiedlicher profaner und religiöser Konnotationen wurde der Skandal im Laufe der Jahrtausende zum öffentlichen Ärgernis schlechthin, das als schädlich für das System erachtet wird. So fungiert das Skandalon als Stein des Anstoßes, Fels des Strauchelns, zur Bezeichnung von Verderblichem, Anstößigem, Schädlichem wie der Anbetung von Götzenbildern und Götzendienst oder wird in einem weiteren Sinne auch als Anlass zum Fall durch eigene Schuld und Verführung zur Sünde verwendet – kurzum: Das Skandalon bezeichnet Gesetzesübertretungen aller Art und die Ursprünge allen Unheils per se. Es wird zu einem leeren Signifikanten, zu einem vereinheitlichenden Zeichen für alles, was das System gefährdet. Das Skandalon wird zum Platzhalter für das der Ideologie der religiösen Gruppe im Weg Stehende. Es ist der Weg in die Verdammnis und bildet eine Art biblische ‚Achse des Bösen‘, die zu überschreiten mit göttlicher Bestrafung geahndet wird. Im Neuen Testament wird das im alttestamentarischen Skandalon implizierte Assoziationsnetz von Gesetzesübertretungen, Schande und Sünde, Schuld und Strafe als semantische Opposition zu Gerechtigkeit und Sittlichkeit zum Willen Gottes und zu einer Frage des Glaubens überhöht (vgl. Stählin 1930: 23). Es ist nicht mehr nur der Weg in die Verdammnis, sondern wird zur Gefährdung in der Erfüllung des göttlichen Willens und zur Gefährdung des Glaubens selbst. An der Beobachtung dieses Transformationsschubs lässt sich ein wichtiger Prozess im Spannungsfeld von Skandalisierung und sozialer Norm beobachten, demzufolge das Skandalisierte nicht nur einen individuellen Weg in die Verdammnis darstellt, sondern kollektive Züge entwickelt. Berücksichtigt man, in welch großem Maß die Religionszugehörigkeit in frühchristlicher Zeit gemeinschaftsstiftend und -ausgrenzend war, so kann man im Sinne Thompsons (2000: 12) das Skandalon auch als Testfall für die Gemeinschaftszugehörigkeit begreifen. Wer sich nicht verhält, wie es der gemeinschaftsstiftende Gott verlangt, wird
Skandal, medialisierter Skandal, Medienskandal
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zum Risiko für den Fortbestand der Gottesgemeinde, so dass Gott die Gemeinschaft bestrafen muss. Im religiösen Begriffsursprung wird die normative Funktion des Skandals deutlich. Er ist ein zentrales, historisch gewachsenes Konzept zur öffentlichen Aushandlung von Normen. In den fünf Jahrhunderten, die seit der Entstehung erster medialer Skandalisierungen in den Nachrichtendrucken des frühen 16. Jahrhunderts bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts vergangen sind, haben sich Medienskandale zu den publizistischen Brandbomben der Mediengesellschaft entwickelt, die mit moralischem Sprengsatz den Emotionshaushalt des sozialen Systems attackieren. Dazu mussten sich Skandale in den Medien unterschiedlichen Transformationsprozessen unterziehen und bedurften der Entwicklung moderner Gesellschaften: In Europa ist diese Entwicklung vor allem durch die drei sozialhistorisch bedeutsamen politischen Etappen des Absolutismus, der Aufklärung und der bürgerlichen Revolutionen ausgehend von Frankreich und seinem Scandale-Konzept und dem Erfolg der „chroniques scandaleuses“ geprägt (vgl. Renger 2000). Die bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts erscheinenden Nachrichtendrucke und Skandalchroniken weisen bereits skandalöse Inhalte auf. Ab 1789 beginnt die allmähliche Etablierung von Skandalen als Inhalte in den Medien des 19. Jahrhunderts, begünstigt durch die zunehmende Loslösung der Presse von den Parteien und der Ausweitung des Themengebiets Human Interest als Investigationsfeld. Auf diese Etablierungsphase der Skandale im Mediensystem erfolgt deren Adaption durch das Mediensystem, für die es die drei zentralen historischen Gründe der Kommerzialisierung und Ausdifferenzierung des Mediensystems, der Professionalisierung des investigativen Journalismus und die Etablierung neuer Informationstechnologien und damit verbundene Zunahme an medialer Prominenz gibt, die wiederum dem zentralen Imperativ der Visibilität folgt (vgl. Thompson 2000: 50-52; Burkhardt 2006: 82-111). Das Konzept der Enthüllung ist aus der Moderne nicht mehr wegzudenken: In der Sichtbarkeit des Skandalisierten liegt ein zentrales Moment des Medienskandals, das eine Art Gegenkonstrukt zum Impression Management bildet. In der Dekonstruktion der öffentlich als ‚Wahrheiten‘ konstruierten Bilder von politischen Herrschern durch deren öffentliche Skandalisierung als ‚Lüge‘ offenbart sich eine zentrale Funktion dieses Sinnerzeugungsmechanismus, die in einer Umkehr des öffentlichen Diskurses zu einem bestimmten Thema zum Ausdruck kommt: Die gedachte Differenz der Wahrheit als wahr und falsch bildet im Skandaldiskurs einen wichtigen Ausgangspunkt für die Narrativisierung. In ihrer Früh-, Aufschwung- und Etablierungsphase haben Medienskandale sich daher als aufmerksamkeitsgenerierende Sinnerzeugungsmechanismen zu mächtigen Instrumenten öffentlicher Moral entwickelt. Der Journalismus thematisiert in Skandalen nicht nur vermeintliche Normverstöße, sondern auch Innen- und Au-
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ßen-Differenzen durch mediale Gedächtnispolitik. Im Medienskandal werden Vertrauensbeziehungen zu Systemmitgliedern oder anderen Systemen aktualisiert. Je stärker das Vertrauen des Publikums in die skandalisierten Aktanten oder Aktantengruppen bzw. Systeme ist, desto mehr Raum nimmt der Medienskandal im öffentlichen Diskurs ein und desto stärker ist seine normative Relevanz. Das bedeutet für das kommerzielle Mediensystem, dass es den Skandalisierten zunächst Vertrauenskumulationen zuschreiben muss: Es muss im medialen Diskurs Fallhöhe inszeniert werden, um Interesse an der Skandalisierung zu erzeugen. Dabei spielen Konzepte des sozialen (und auch ökonomischen und kulturellen) Kapitals eine Rolle, die mit der Teilhabe an den sozialen Beziehungen gegenseitigen Kennens, Anerkennens, Vertrauens und Austauschens verbunden sind und die im Medienskandal öffentlich diskutiert werden. Egal ob Bundesliga-Skandal, Watergate oder Spiegel-Affäre: Vor allem die Aktualisierung des Vertrauens in die Politik (sprich: in die Herrschenden als Personal der politischen Macht) bildet in allen Medienskandalen ein Hauptthema, selbst wenn sich diese Aktualisierung auf die Frage beschränkt, wie die Politiker auf die Bestechung in der Bundesliga reagieren. Die Politisierbarkeit von Ereignissen, Zuständen oder Handlungen ist neben Nachrichtenfaktoren und egoistischen Motiven der Journalisten ein wichtiges Moment bei ihrer Selektion für die mediale Skandalisierung (vgl. Eilders 1997: 86-106; Kepplinger et al.: 169-178). Die Skandalisierung problematisiert dabei vor allem die publizitätsfreien Räume im Kern des Öffentlichen, mit denen der moderne Staat gegen das Gebot der umfassenden Transparenz verstößt und das spezifische Öffentlichkeitsverständnis verletzt, das sich mit seiner Forderung nach Vernunft und Tugend in direkter Opposition zur geheimen Kabinettspolitik der Anciens Régimes entwickelt hat, und durch deren Diskursivierungen im Medienskandal das soziale Kapital der jeweiligen Institutionen und des Staates neu verhandelt wird. In Medienskandalen entfaltet die Tabuisierung von Ereignissen, Situationen oder Prozessen im sozialen System ein Rückwirkungspotential, das sich auf eine kurze Formel bringen lässt: Je stärker ein Thema mit Tabus behaftet ist, desto größer ist der Reiz, sie zu enttabuisieren. Durch die Enttabuisierung werden moralische Diskurse ermöglicht, die moralisches Handeln unterbrechen und durch Reflexivierung eine Strukturbildung in Form bewussten Differenzmanagements erlauben. Der Journalismus hat damit die Option in Medienskandalen mittels Differenzmanagements die Binarität von gut/böse in verantwortlich/unverantwortlich umzudeuten.9 Medienskandale fungieren im Selbstbeobachtungssystem des Journalismus als eine Art selbstreflexive Suche 9
Zur Funktion der Binarität gut/böse vgl. Schmidt (2003: 115-127).
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nach blinden Flecken und identifizieren die Konfliktstellen im dominierenden Steuerungscode eines sozialen Systems. In kontingenter Weise visibilisieren sie die Invisibilität moralischer Ordnungsprinzipien und leisten Gegenwartsarbeit für das kollektive Gedächtnis. Sie sind Instrumente der symbolischen Macht, indem sie als identitätsstiftende Erzählungen die kontingenten Deutungskämpfe von Diskursen und Geschichten in sozialen Systemen selektieren, strukturieren und präsentieren. Der Journalismus leistet mit der Erzählung von Medienskandalen so einen zentralen Beitrag zur öffentlichen Konstruktion sozialer Autobiographien und zur Distinktion von sozial akzeptablen und sozial inakzeptablen Verhaltensmustern. Im Akt der skandalisierenden Diskursivierung von Situationen, Aktionen oder Prozessen, die im produzierenden System Journalismus erfolgt, werden Narrationen zur Distinktion sozialer Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem (Sub-)System konstruiert. Medienskandale sind damit immer distinguierende Erzählungen. Der Sinnerzeugungsmechanismus von Diskursen wird zum Distinktionsmechanismus, in dem sich das skandalisierende System in einem Urteilfindungsprozess in einer Relation zu dem oder den Skandalisierten setzt und damit implizit ein Werteverständnis artikuliert. Als Distinktionsprozess bedienen sich Medienskandale einer zentralen Narrationsstrategie, in der die Skandalisierung des Antihelden in funktionalen Phasen erfolgt. Funktionale Phasen der Distinktion Die Dynamik dieses Distinktionsprozesses folgt der geschlossenen Form des Dramas, die sich in fünf Phasen beobachten lässt. Die Phasenverläufe des Dramas sind im Medienskandal mit denen journalistischer Berichterstattungsverläufe identisch und lassen sich in einem funktionalen Phasenmodell als Skandaluhr zusammenfassen (vgl. Burkhardt 2006: 204). In chronologischer Reihenfolge zeigt die Skandaluhr die Phasen an, die im Medienskandal ablaufen: die Latenzphase mit Schlüsselereignissen, die Aufschwungphase, die Etablierungsphase mit Klimax, die Abschwungphase und die Rehabilitationsphase (vgl. Abb. 2).10 Das Modell der Skandaluhr visualisiert, dass Medienskandale mit einer Latenzphase beginnen, an deren Ende die Schlüsselereignisse stehen. Die Quantität an Berichten über den Skandalisierten ist im Vergleich zu der Zeit vor der Skan10
Steffen Kolb (2005) hat in seiner Dissertationsschrift Mediale Thematisierung in Zyklen ausführlich die empirische Relevanz der unterschiedlichen Phasenmodelle öffentlicher Thematisierung (z.B. Luhmanns 1970 formuliertes Konzept des Lebenszyklus) diskutiert. Kolbs interdisziplinäre Befunde bilden die Basis für die hier vorgeschlagene Modellierung (vgl. Burkhardt 2006: 178183).
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dalisierung sehr hoch. In der Latenzphase werden die Protagonisten des Medienskandals in der Öffentlichkeit bekannt gemacht bzw. ihre Bekanntheit aktualisiert und die Schlüsselereignisse in den öffentlichen Diskurs durch journalistische Berichterstattung eingespeist. Die sehr große Quantität der Berichterstattung setzt scheinbar schlagartig mit der Latenzphase ein und verbreitet sich virusartig schnell, so dass die Skandalinformationen für kurze Zeit eine starke Präsenz in der Medienöffentlichkeit erlangen.
Medienöffentlichkeit im emotionalen Ausnahmezustand
Skandalklimax (Entscheidung)
Entscheidungsfindung
4. Abschwungphase Qualifikation der Entscheidung
2. Aufschwungphase Kontextualisierung der Schlüsselereignisse 1. Latenzphase
5. Rehabilitationsphase
Emotionale Erregung
3. Etablierungsphase mit Klimax
Normalisierung der Situation
Einführung der Protagonisten und Schlüsselereignisse Start der Skandalisierung
Medienöffentlichkeit im emotionalen Normalzustand
Abb. 2: Die Skandaluhr (aus: Burkhardt 2006: 204)
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Der Journalismus kontextualisiert die Schlüsselereignisse und die Protagonisten der erzählten Handlung in der Aufschwungphase. Dazu werden Episoden und weitere thematische Aspekte durch journalistische Berichterstattung in den öffentlichen Diskurs überführt. Generell nimmt das Interesse am Medienskandal in der Aufschwungphase zu, wobei es wie im gesamten Skandal zu quantitativen Schwankungen in kleineren Zeiteinheiten kommt. Diese Schwankungen lassen sich mit den Produktionsabläufen des Journalismus erklären. Die Funktion der Etablierungsphase des Medienskandals ist die öffentliche Anhörung des Skandalisierten und der Repräsentanten der vom vermeintlichen Vergehen betroffenen Subsysteme des sozialen Systems. In dieser Qualifikationsphase wird das Verhalten des Skandalisierten am öffentlichen Moralkodex gemessen und bewertet. Die Etablierungsphase ist eine Entscheidungsfindungsphase. Ihre Funktion ist das Richten über die Schuld oder auch die Unschuld des Skandalisierten mit dem Ziel der Korrektur öffentlichen Fehlverhaltens. Am Ende der Etablierungsphase steht die Klimax des Medienskandals – sie beginnt sprichwörtlich um Fünf vor Zwölf. Auf dem Skandalhöhepunkt um zwölf Uhr auf der Skandaluhr erreichen auch die einzelnen Skandalepisoden in der journalistischen Berichterstattung und der emotionale Ausnahmezustand der Medienöffentlichkeit ihren Höhepunkt. Die Entscheidung fällt entweder gegen oder für den Antihelden aus: Der moralische Konflikt, der in dem Kampf zwischen Antiheld und Held thematisiert wird, kennt nur den Code aus gut und böse, Sieger und Verlierer. Bei erfolgreicher Skandalisierung wird der Antiheld symbolisch aus dem sozialen System durch Exklusion aus der Medienöffentlichkeit ausgeschlossen. Bei misslungener Ausgrenzung erfolgt auf der Skandalklimax keine symbolische Ausgrenzung. Diese Entscheidung wird in der Abschwungphase retrospektiv vom Journalismus qualifiziert – durch ein ähnliches, jedoch weniger aufwändiges öffentliches Anhörungsverfahren der betroffenen Subsysteme wie in den vorherigen Phasen. Die Abschwungphase fungiert als ein back up des Medienskandals: Rückblickend bietet sie die Möglichkeit einer erneuten sozialen Introspektion mit dem Ziel, die Regularität aller zuvor erfolgten Diskursabläufe zu überprüfen. Der Journalismus überprüft dabei auch seine eigene Funktionstüchtigkeit. In der Abschwungphase lässt sich dementsprechend eine Zunahme der Artikel des Medienjournalismus verzeichnen. Eine wesentliche Rolle bei der Qualifizierung der Entscheidung kommt der Reaktion des Skandalisierten auf seine öffentliche Bewertung zu. Erst nachdem sein Verhalten oder Handlungsspielräume, die sein Verhalten ermöglichten, aus Perspektive der Öffentlichkeit keine Gefahr mehr für das soziale System darstellen, ist der Weg für seine Rehabilitation geebnet.
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In der Rehabilitationsphase werden die Ereignisse des Medienskandals marginalisiert bzw. nicht länger thematisiert. Der emotionale Ausnahmezustand wird wieder in einen Normalzustand überführt. Die Rehabilitationsphase ist jedoch lediglich sekundärer Bestandteil des Medienskandals, denn sie nimmt eine Alleinstellung gegenüber den ersten Phasen ein, die durch eine relativ große Vielfalt an Thematisierungsstrategien gekennzeichnet sind. Der Konflikt, der in einem Medienskandal verhandelt wird, kann erst dann als gelöst betrachtet werden, wenn sich die Sanktionierung des Skandalisierten durch die Öffentlichkeit marginalisiert hat. Die abschließende Marginalisierung des Medienskandals und die Normalisierung des medialen Ausnahmezustands bilden die zentralen Funktionen der Rehabilitationsphase, in der der Skandalisierte wieder symbolisches Kapital kumulieren kann und Sanktionen gegen ihn aufgehoben werden. Je weniger das soziale System mit der Reaktion des Skandalisierten auf dem entscheidenden Höhepunkt des Medienskandals zufrieden gestellt wird, desto länger dauern die Marginalisierung der Sanktionen und die Rehabilitationsphase an. Im Vergleich zu den Topographien und Phasenverläufen anderer Themenund Erzählkomplexe der journalistischen Berichterstattung weist die mediale Skandalisierung in Zyklen eine große zeitliche Dynamik auf und bedient damit das Publikumsinteresse am Medienskandal. Nur durch ihre große journalistische Erzähldichte als Relation von viel Handlungsdynamik in kurzer Zeit können Medienskandale ihre wichtige Funktion als Frühwarnsystem effektiv im sozialen System entfalten. Eine zentrale Rolle kommt dabei den Nachrichtenagenturen zu: Sie ermöglichen die schnelle Verbreitung der Aktionen, Situationen und Prozesse, die der Skandalisierung zugrunde liegen, und tragen so zur Virulenz bei, die der Skandal für seine zeitliche Dynamik benötigt. Skandalisierung als erzählerisches Konstrukt Die narrativen Mechanismen des Medienskandals bedienen sich eines ‚Mainplots‘ und mehrerer ‚Subplots‘, in denen der Präferenzcode systematisiert wird. Der Journalismus als erzählendes System übersetzt ihn in eine Erzählung, die sich aus drei unterschiedlichen Themenpools bedient, um die Haupthandlung des Medienskandals erzählerisch zu konstruieren: Den ersten Themenpool bilden die von den skandalisierten Ereignissen und Personen betroffenen Subsysteme der Gesellschaft. Er hat die Funktion, alle aus den tangierten Subsystemen relevanten Informationen als Bausteine für die narrative Extrapolation zu evaluieren. Die publizierten Informationen aus diesem Themenpool sind eine wichtige Bewertungsgrundlage für den zweiten und dritten Themenpool. Den zweiten Themenpool bildet der selbstreferentielle Journalismus als Selbstbeobachtungs- und
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Selbstbeschreibungssystem der Gesellschaft.11 Er fungiert als zentrales Korrekturfeld, in dem sich die öffentliche Bewertung des Medienskandals in einem permanenten Prozess der Selbst- und Fremdbeobachtung einpendelt. Er liefert damit die Informationen zum Selbstverständnis des Medienskandals. Der dritte Themenpool rekrutiert sich aus dem gesellschaftlichen Entscheidungssystem Politik. Er bildet die Informationsgrundlage für die journalistische Berichterstattung zum Vergleich von öffentlicher Meinungsfindung und politischen Entscheidungen im Medienskandal. Der Journalismus sucht sich aus diesen drei Themenpools Informationen, die er zu zielgruppenadäquaten Episoden verarbeitet. Die Episoden eines Medienskandals nehmen mit ihrer Stellung zwischen der Ebene des Motivs und der Ebene der zentralen Narration die Funktion von Subplots ein. Medienskandale haben i.d.R. drei zentrale Handlungsstränge, die sich zu einer Haupterzählung zusammenfügen: eine berufliche, eine private und eine metaphysische Episode, die jeweils in sich geschlossene Handlungen bilden. Die beruflichen Episoden von Medienskandalen thematisieren sämtliche für die professionelle Funktion bzw. Dysfunktion des Skandalisierten im sozialen System relevanten Ereignisse, Zustände und Handlungen. In den beruflichen Episoden von Medienskandalen wird der Skandalisierte als professioneller Funktionsträger verhandelt. So beschäftigte sich zum Beispiel die berufliche Episode der Profumo-Affäre von 1963 mit der Frage, ob der englische Kriegsminister John Dennis Profumo durch seine Affäre mit Christine Keeler die öffentliche Sicherheit gefährdete, oder die berufliche Episode des deutschen Schiedsrichter-Skandals von 2005 mit den Folgen von Robert Hoyzers Betrug für die deutsche Bundesliga. Im beruflichen Themenstrang des Medienskandals gibt es mitunter blinde Flecken: Die Infragestellung der beruflichen Integrität des Skandalisierten aufgrund seiner privaten Lebensweise wird vom Journalismus häufig als selbstverständlich angenommen und nicht weiter hinterfragt. Moral wird so zur Distinktionsfolie für die professionelle Integrität des Skandalisierten. Die privaten Episoden von Medienskandalen sind für die Skandalanalyse ein besonders spannender, aber auch sehr komplexer Gegenstand, weil in ihnen der Habitus des Skandalisierten öffentlich inszeniert und verhandelt wird. Die Analyse der privaten Episode eines Medienskandals ist damit immer eine Lebenswelt-Analyse, in der die öffentlich konstruierte Lebenswelt des Skandalisierten mit den öffentlich anerkannten Lebenswelten des sozialen Systems verglichen werden müssen. Medienskandale beziehen viel Narrationspotential aus der Inszenierung einer Differenz zwischen sozialem und individuellem Habitus 11
Zum Verständnis des Journalismus als selbstreferenzielles Selbstbeobachtungs- und Selbstbeschreibungssystem vgl. Rühl (1980); Weischenberg (1995: 93-123; 1998: 37-61).
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und entfalten in dieser Differenzierung zivilisatorische Funktionen. In den meisten Medienskandalen wirkt sie subversiv und bedarf der gezielten Analyse. Die metaphysischen Episoden des Medienskandals sind durch eine finale Motivierung bestimmt. Die Handlung final motivierter Episoden findet vor dem transzendenten Sinnhorizont der Welt statt. Mit der metaphysischen Episode wird daher jener Teil eines Medienskandals bezeichnet, in dem die Schicksalshaftigkeit der Ereignisse zum Tragen kommt (vgl. Burkhardt 2006: 224-228). Der Handlungsverlauf in den metaphysischen Episoden von Medienskandalen ist von Beginn an in der erzählerischen Konstruktion festgelegt und scheinbar von höheren Mächten vorherbestimmt, selbst scheinbare Zufälle werden als Fügungen einer höheren Instanz inszeniert. In diesen drei zentralen Episoden, die in unterschiedlichen Medienskandalen unterschiedlich stark ausgeprägt sind, und in der zentralen Narrationsstrategie, zu der sie sich zusammenfügen, werden wie bei der Inszenierung eines Theaterstücks Aktanten nach einem festgelegten Besetzungsmuster inszeniert: Der Sender (destinator) als repräsentierende Systemeinheit oder Personifikation des moralischen Codes repräsentiert die Wertvorstellungen des sozialen Systems und ist legitimiert, sie zu interpretierten. Der Empfänger des Medienskandals ist die Rezipientenschaft der Übermittlung der Werte, Regeln und Normen. Der Held steht im Mittelpunkt der Realisierung der Wert- und Moralkonzepte, auf dessen Basis er den Antihelden entlarvt. Er hat spezifische Handlungsregeln zu befolgen, die vom Sender definiert sind. Häufig sind die Ziele des Subjekts weder mit den Werten des Senders identisch noch mit ihnen vereinbar. Das Objekt des Medienskandals steht für das Ziel, das der Held anstrebt: den Beweis der moralischen Transgression des Antihelden. Der Antiheld repräsentiert im Medienskandal die negativen Werte und damit eine Gefahr für das soziale System. Ihm wird der Code der Systemumwelt zugeschrieben. Der oder die Helfer unterstützen den Helden bei der Erreichung des Objekts oder den Antihelden bei der Sabotage dieses Ziels. Durch diese symbolische Binarisierung der Akteure bleiben die blinden Flecken der Moral verdeckt und der Medienskandal entfaltet seine soziale Funktion der Aktualisierung des Präferenzcodes. Repräsentation der Moral, Werte und sozialen Normen Die Aushandlung sozialer Normen im Skandal erfolgt durch eine spezifische Repräsentationsstrategie, die Sprecher aus den unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen integriert, mit denen der Skandalisierte assoziiert wird. Der Skandalisierte ist Akteur in unterschiedlichen sozialen Subsystemen, die alle im Medienskandal thematisiert werden. Jeder dieser Bereiche wird durch Reprä-
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sentations- und Moralisierungsmechanismen thematisiert, indem Sprecherpositionen für ihn eingesetzt werden. Mit Hilfe der Sprecherpositionen wird in Medienskandalen erklärt, welche Konsequenzen die Schlüsselereignisse für den Skandalisierten in dem jeweiligen Teilsystem der Gesellschaft haben. Dabei wird das Verhalten mit dem moralischen Code des jeweiligen Systems bzw. dessen Wertvorstellungen abgeglichen. So werden die Sprecherpositionen zu Repräsentanten einer spezifischen moralischen Sphäre. Der Journalismus achtet im Selektionsprozess daher darauf, die Sprecherpositionen heterogen zu besetzen, um ein möglichst differenziertes Bild zur moralischen Qualifizierung des Skandalisierten zu zeichnen. Er folgt dabei dem Bemühen um Objektivierung durch qualitative und quantitative Aussagenvielfalt zu dem Konfliktthema. In der Regel äußern sich in Medienskandalen die Sprecher der juristischen, politischen, religiösen, öffentlichen und privaten Moralsphäre. Jedes dieser sozialen Subsysteme hat im öffentlichen Diskurs des Medienskandals eine spezifische Funktion. Das soziale Subsystem der Religion mit seinen Institutionen wie den unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften und deren Gemeinden erfüllt die Kernfunktion, der Gesellschaft moralische Handlungsmuster zur Verfügung zu stellen. Damit übernehmen dieses System und seine Repräsentanten eine moralische Vorbildfunktion. Entsprechend hoch sind die gesellschaftlichen Erwartungen an die Einhaltung des moralischen Kodex, die an die Religion und ihre Vertreter herangetragen werden, und die Häufigkeit von Religionsskandalen in unserem Kulturkreis. Wo die Anspruchshaltung besonders hoch ist, kommt es einerseits häufig zu Enttäuschungen und Skandalisierungen des moralsetzenden Systems selbst. Andererseits sind die Repräsentanten der religiösen Moral gefragte Juroren im öffentlichen Deutungskampf des Medienskandals – insbesondere, wenn die Skandalisierungen Vertreter des Systems selbst betreffen. Ein weiteres Subsystem der Gesellschaft, dessen moralische Qualifizierung der Schlüsselereignisse in den Medienskandal integriert wird, ist die Öffentlichkeit. In der modernen Mediengesellschaft obliegt das moralische Urteil den Repräsentanten der Öffentlichkeit, also vor allem der Prominenz als Elite des Systems Öffentlichkeit (Peters 1993). Da die Öffentlichkeit des Medienskandals eine mediale Öffentlichkeit ist, äußern sich in ihm auch die für die Medienöffentlichkeit Verantwortlichen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Skandalisierte eines Medienskandals selbst als professionelles Mitglied des Mediensystems gilt. Bemerkenswerterweise werden an Prominente einerseits besondere moralische Anforderungen gestellt: Wer öffentlich sichtbar ist, sprich eine exponierte Position im sozialen System hat, muss sich konform mit den Regeln, Werten und Normen des System verhalten. Andererseits sind Prominente (z.B. Sport-Stars, Film-Stars, Star-Köche) als informell-öffentliche Reprä-
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sentanten anderer Subsysteme (Sport, Film, Gastronomie) Repräsentanten der Moral der Subsysteme, mit denen sie assoziiert werden. Die Moral der Prominenz ist damit eine pluralistische Moral, die im Gegensatz zur religiösen Moral die pluralistischen Moralvorstellungen der Gesellschaft repräsentiert. Dementsprechend häufig finden sich in Medienskandalen Sprecherpositionen mit Prominenten besetzt, die ihre Meinung zu den Schlüsselereignissen sagen, auf die der Medienskandal aufbaut. Dass Prominente als Helfer ihrer gefallenen Helden agitieren, ist jedoch keine Erfindung des 20. Jahrhunderts, auch wenn sie vom Skandalmanagement in großem Maße eingesetzt werden. Spätestens seit Émile Zolas (Fuchs & Fuchs 1994) offenem Brief „Jތaccuse“ in der Literaturzeitung LҲ Aurore vom 13. Januar 1898 zählen Prominente zum festen Helferpersonal des Medienskandals. In der Rekonstruktion der Repräsentation der öffentlichen Moral zeigt sich, dass die vor allem von Prominenten vorgetragenen Positionen wenige stichhaltige Aussagen in den Diskurs implementieren. Es scheint vielmehr so, als ob im Medienskandal die Anhörung der öffentlichen Moral die Funktionen eines Rituals hat: Dadurch, dass jeder Prominente alles Mögliche zu dem Skandal sagen darf, sind alle symbolisch in den Diskurs eingebunden. Am Höhepunkt des Skandals scheint die öffentliche Moral hinreichend erörtert worden zu sein, dass die Legion der Interpretierer des Medienskandals überdrüssig geworden ist. In der scheinbaren Willkür bei der Selektion von Prominenten als Sprecher öffentlicher Moral verbirgt sich die Funktion der Inszenierung öffentlicher Moral im Medienskandal: Sie folgt scheinbar Volkes Stimme. Im Gegensatz zur Repräsentation der öffentlichen Moral beschäftigt sich die Repräsentation der privaten Moral in Medienskandalen mit der Qualifizierung des privaten Umfelds des Skandalisierten. Dieser Thematisierungsmechanismus fungiert also nicht als die Veröffentlichung von beliebigen privaten Moralvorstellungen innerhalb des sozialen Systems, sondern als die moralische Kontextualisierung der skandalisierten Person. Die zentralen Fragen zur Repräsentation der privaten Moral im Medienskandal lauten dementsprechend: Wie bewertet das private Umfeld des Skandalisierten seine Moralvorstellungen? Ist das moralisch vermeintlich abnormale Verhalten des Skandalisierten ein Einzelfall? Oder ist sein Umfeld ebenfalls amoralisch kontaminiert? Durch die Besetzung von Sprecherrollen in der journalistischen Berichterstattung wird ein öffentliches Image als Sittengemälde der skandalisierten Privatperson konstruiert. Die Inszenierung des Privaten sind die letzten Waffen im Medienskandal, die dem Skandalisierten mitunter bleiben, um der Niederlage zu entkommen. So wie Helmut Kohl geschickt den Fokus in seinem Parteispendenskandal auf sein Ehrenwort gegenüber Freunden gelenkt hat, um von seinem unehrenhaften Verhalten abzulenken, lassen Skandalisierte häufig Freunde als Kronzeugen der moralischen Integrität auftreten.
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Die Repräsentation der rechtlichen Moralvorstellungen erfolgt in Medienskandalen nicht durch professionelle Rechtsauslegung, sondern durch so genannte Experten-Statements, die die Rechtsfindung für Laien übersetzen, kommentieren und interpretieren. Die Repräsentanten der rechtlichen Moral lassen in ihre mediengerechten Statements eigene Meinungen einfließen und so werden aus schnell erzählten juristischen Sachverhalten in der Berichterstattung komplexere Zusammenhänge extrapoliert, die einem Medienskandal zusätzliche Spannungsmomente verleihen. In nahezu allen Medienskandalen werden Rechtsexperten angehört, die eine Qualifizierung der Schlüsselereignisse geben. Häufig übernehmen die Anwälte der Skandalisierten dabei eine wichtige Sprecherposition im Skandal und versuchen durch ihre (mehr oder weniger erfolgreiche) Krisenkommunikation den weiteren Skandalverlauf für ihre Mandanten günstig zu beeinflussen. Die politische Dimension von Medienskandalen Ein weiteres in den Medienskandal involviertes Subsystem der Gesellschaft ist das komplexe Spannungsfeld der Politik, das als Entscheidungssystem der Gesellschaft die Aufgabe hat, die soziale Moral an das Rechtssystem zu übermitteln. Große Medienskandale zeichnen sich durch eine starke Repräsentation des politischen Systems in der Berichterstattung aus. Medienskandale wie Watergate, die im kollektiven Gedächtnis als Skandale schlechthin präsent sind, beschäftigen sich nahezu ausschließlich mit dem politischen System, während Skandale geringer Reichweite kaum explizite Bezüge zur Politik herstellen können (was nicht bedeutet, dass sie deswegen unpolitisch seien). Durch spezifische Politisierungsstrategien wird in Medienskandalen eine politische Relevanz der Ereignisse, Zustände oder Handlungen konstruiert, für die der Skandalisierte verantwortlich gemacht wird. Dieser Politisierungsmechanismus des Medienskandals setzt sich aus fünf verschiedenen Thematisierungsstrategien der journalistischen Berichterstattung zusammen: der Politisierung der Skandalereignisse, der Konstruktion politischer Relevanz, der Konstruktion politischen Handlungsbedarfs, der Problematisierung des politischen Systems und schließlich der Analyse politischer (Dys-)Funktionalität. Von Medienskandal zu Medienskandal sind diese fünf zentralen Politisierungsmechanismen unterschiedlich stark präsent. Sie bedienen sich ebenfalls der Repräsentanten des politischen Systems als Sprecher. Moralisierungs- und Politisierungsmechanismen greifen dabei eng ineinander, jedoch haben sie unterschiedliche Ziele: Während die Moralisierung in der journalistischen Berichterstattung die moralischen Werte und Standards im sozialen System auslotet, soll über die Politisierung des Medienskandals die
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Überprüfung und Aktualisierung der politischen Richtlinien des Systems erfolgen, die sich in der Gesetzgebung konkretisieren und damit den verbindlichen Handlungsrahmen für die gesellschaftlichen Aktanten bilden. Der Journalismus scannt im Medienskandal nicht nur moralisch bedenkliche Verhaltensmuster, die sich virusartig ausbreiten könnten, sondern setzt diese Abläufe auch in Bezug zum politischen Geschehen. Es werden also nicht nur die Folgen des Verhaltens des Skandalisierten für den jeweiligen Teilbereich beleuchtet, sondern auch die Konsequenzen für das politische System insgesamt thematisiert. Medienskandale leben von der Konstruktion politischer Relevanz. So wie Aristoteles für das Drama forderte, es möge am Kleinen das Große erklären, wird im Medienskandal an einem konkreten Fallbeispiel der politische Kosmos einer Gesellschaft diskutiert. Eine wichtige Strategie zur Verortung der Erzählung im politischen Milieu ist dabei die Konstruktion von politischer Relevanz. Sie ist die Basis für das öffentliche Interesse am Medienskandal. Auf die Konstruktion politischer Relevanz erfolgt in Medienskandalen in der Regel die Konstruktion von politischem Handlungsbedarf. Damit wird die Inszenierung des öffentlichen Interesses in der Berichterstattung weiter gesteigert. In Medienskandalen wird nicht nur das vermeintliche Fehlverhalten einzelner Individuen analysiert, sondern auch die Fehlentwicklungen im sozialen System selbst und vor allem in dessen politischen Apparat untersucht. Die Problematisierung des politischen Systems stützt sich dabei vor allem auf vermutete Versäumnisse bei der Einlösung des politischen Handlungsbedarfs. Die Problematisierung des politischen Systems in Medienskandalen muss nicht in jedem Fall zu Veränderungen bzw. zu politischem Handeln führen. In dem Mechanismus der Analyse politischer (Dys-)Funktionalität, die häufig Fährten aufnimmt, die ins Leere führen, liegt auch die relativ starke Präsenz von Verschwörungstheorien in der Berichterstattung von Medienskandalen begründet. Während das Ziel des Politisierungsmechanismus die Identifikation potentieller Funktionsstörungen des politischen Systems ist, in deren Folge ein Medienskandal überhaupt erst konstruiert werden konnte, verlieren sich manche Narrationsstränge (v.a. bei Verschwörungstheorien) im Diskurs. Der Journalismus erfüllt als Selbstbeobachtungs- und Selbstbeschreibungssystem der Gesellschaft mit den Politisierungsmechanismen vor allem eine Identifikationsfunktion von und Hinweisfunktion auf Konfliktpotential: Er identifiziert als Frühwarnsystem der Gesellschaft (vgl. Scholl & Weischenberg 1998: 29) mögliche politische Konfliktfelder und weist weite Teile des sozialen Systems durch seinen narrativen Vereinfachungsmechanismus auf sie hin.
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Die soziale Relevanz von Medienskandalen Durch Systematisierungsstrategien wird die Haupthandlung des Medienskandals auf einen Kampf zwischen Held und Antiheld zugespitzt und die Komplexität der Narration zielgruppengerecht vereinfacht. Die Systematisierung der Ereignisse, Handlungen und Zustände in der Gesellschaft, die einem Medienskandal zugrunde liegen, erfolgt durch die moralische Personifikation der Differenz gut und böse. Der Medienskandal ist gerade deswegen so erfolgreich, weil er durch die journalistische Systematisierung der Weltereignisse eine einfache Handlungsstruktur erzeugt, die wie Märchen oder Kindergeschichten, mit denen wir aufgewachsen sind, dem Muster von dem Guten und Bösen folgt. Soziale Systeme brauchen Medienskandale, weil die Mitglieder des sozialen Systems über die Skandalisierung in relativ einfachen Geschichten (v.a. in den populären Medien) für die gesellschaftliche Kommunikation zentrale Informationen erhalten. Medienskandale können daher als Elementargeschichten des sozialen Systems bezeichnet werden. Diese elementaren Narrationen dienen der Personifikation des sozialen Leitcodes, indem sie Komplexität der Narration auf eine Binarität von gut und böse zuspitzen. Die Systematisierungsstrategie schreibt das Böse dem Skandalisierten zu, indem sie ihn symbolisch mit der Systemumwelt und deren Code als Ersatzcode für den Nicht-Code des sozialen Systems attribuiert. Umgekehrt wird der Held des Medienskandals systemkonform durch die Zuschreibung des Leitcodes eines sozialen Systems inszeniert. Durch diese symbolischen Binarisierung der Aktanten bleiben die blinden Flecken der Moral verdeckt und der Medienskandal entfaltet seine soziale Funktion der Aktualisierung des Präferenzcodes. Medienskandale sind, funktional betrachtet, Märchen für Erwachsene. Damit ist nicht gemeint, dass Medienskandale erfunden sind, sondern intendiert, dass Medienskandale für die Mitglieder des sozialen Systems ähnlich wie Märchen moralische Geschichten darstellen, die einfach zu verstehen sind und den Leitcode aus Moral, Werten und Normen in der Gesellschaft aktualisieren. Ähnlich wie in Hausmärchen erfahren die Mitglieder sozialer Systeme was alles böse ist in Geschichten wie Watergate (Machtmissbrauch und Vertuschung), Barschel (Intrigen und Rufschädigung) oder Brent Spar (Umweltverschmutzung). Doch die Leistung von Medienskandalen auf diese sichtbare Erzählebene märchenhafter Moral zu reduzieren, würde das Ausblenden der verborgenen Mechanismen der Personifikation des Leitcodes bedeuten, die sehr viel subtiler als die ‚Achse des Bösen‘ funktioniert. Die Personalstruktur des Medienskandals arbeitet mit Helden und Antihelden, denen jeweils durch die Inszenierung eines spezifischen Habitus spezifische Eigenschaften und Verhaltensweisen zugeschrieben werden, die in Differenz zu einander gesetzt werden. Held und Antiheld stehen pars pro
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toto für gesellschaftliche Gruppen, die unterschiedliche Moralvorstellungen haben, bzw. denen unterschiedliche Moralvorstellungen im Diskurs zugeschrieben werden. Durch die Binarität der Stereotypisierung werden im Medienskandal konkurrierende Bezugssysteme für Bewertungssicherheiten verhandelt, die als moralische Normen verstanden werden können, wie z.B. christliche versus islamische Moralvorstellungen, liberale versus konservative Moralvorstellungen oder ökologische versus ökonomische Moralvorstellungen. Die moralische Etikettierung von Held (gut) und Antiheld (böse), die in Medienskandalen diskutiert wird, ist vor allem ein unbewusster moralischer Markendiskurs: Welches moralische Label wird in Medienskandalen wie Abu Ghraib medial am besten vermarktet: die Moral des Westens oder die des Ostens? Dieser Diskurs ist nur möglich, weil die Moral erstens anders als die Ethik alles behaupten kann und nichts beweisen muss und sich daher zweitens in Geschichten konkretisieren darf, deren geringer Komplexitätsgrad im Gegensatz zur Ethik entscheidende kausale Ketten zugunsten des emotionalen Effekts ausblendet. Die Moral teilt sich vor allem durch negative Emotionalität mit. Effektiv erzählte Medienskandale vermitteln Geschichten, die vor allem mit unseren Ängsten, Hass, Wut oder Zorn operieren. Durch die emotionalen Bilder des Medienskandals verknüpft mit einer kognitiv dekodierbaren Geschichte wird eine reflexive Bezugnahme der Aktanten in sozialen Beziehungen aufeinander geschaffen, die sich auch als Bewertung des Verhältnisses zwischen sozialem Alter und sozialem Ego aktualisiert. Der Medienskandal qualifiziert so die Differenz von sozialem Ego und sozialem Alter mit gut und böse. Er erinnert die Aktanten des sozialen Systems an diesen reflexiven Unterscheidungsmechanismus, den sie vor allem sozialisatorisch verinnerlicht haben, und führt ihnen in einem Fallbeispiel vor Augen, dass jeder damit rechnen muss, dass ihr gesamtes Handeln dieser sozial verbindlichen und konstitutiven Bewertungssystematik des Präferenzcodes unterworfen werden kann. Dieser permanent aktualisierte Zivilisationsprozess führt zur individuellen Entwicklung eines relativ systemkonformen Schamgefühls: Wer gegen den übernommenen Präferenzcode der Moral verstößt, schämt sich, selbst wenn er nicht beobachtet wird. Die Moral als Invisibilisierung der Kontingenz von Wertorientierungen funktioniert daher sehr unauffällig und effektiv. Wenn es jedoch, wie im Medienskandal, zu einem öffentlich konstruierten Bruch eines Systemmitglieds mit der Moral kommt und es ihm nicht gelingt, seine moralische Integrität zu beweisen, so wird von ihm erwartet, dass er sich öffentlich schämt. Noch wichtiger als öffentliche Entschuldigungsrituale ist dementsprechend die öffentliche Demonstration von Demut.
Skandal, medialisierter Skandal, Medienskandal
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Im Medienskandal wird der Code der Systemumwelt als Ersatz für den NichtCode des Systems dem Skandalisierten attribuiert. Einfacher formuliert: Dem Skandalisierten wird unterstellt, er verhalte sich nicht den Normen der Gesellschaft entsprechend und repräsentiere die Normen eines anderen Systems. So werden z.B. homosexuelle Handlungen in kommunistischen Ländern (z.B. Kuba) als Ausgeburten eines liberalen Kapitalismus oder des Westens skandalisiert und umgekehrt wurden z.B. in den USA Homosexuelle in Skandalen der McCarthy-Ära als Propagandisten einer kommunistischen Lebensweise diffamiert. Insbesondere, wenn gegen den Präferenzcode der Moral von Systemmitgliedern verstoßen wird, die mit großem symbolischem Kapital ausgestattet sind, bildet dieser Verstoß oder die Behauptung eines solchen Verstoßes eine Voraussetzung für die Skandalisierung des Aktanten. Im Gegensatz zur Ethik, die argumentiert, warum etwas gerechtfertigt oder ungerechtfertigt ist, behauptet die Moral, dass der Skandalisierte böse ist, und inszeniert ihn als symbolische Personifikation des Codes der Systemumwelt. Mehr noch als in der Zuschreibung des Nicht-Codes des sozialen Systems (bzw. dessen Ersatz) zeigt sich im Medienskandal der Imperativ, den moralisches Handeln beinhaltet, in der Zuschreibung des Präferenzcodes. Moralische Prinzipien sind die in einem sozialen System als selbstverständlich angenommenen Handlungsmuster, die ihre normative Gültigkeit aus ihrer Invisibilität heraus entfalten. Die moralischen Prinzipien, die in den skandalisierten Situationen, Prozessen oder Aktionen durch die Inszenierung eines Helden präsent sind, funktionieren im Handlungsvollzug daher wie blinde Flecken und können ihre Wirkung nur entfalten, weil ihre Rezipienten den Code bereits kennen und sie ihn lediglich aktualisieren. In den symbolischen Binarisierungen von ‚Held und Antiheld‘ sowie ‚gut und böse‘ zeigt sich eine zentrale Funktion des Medienskandals: die Aktualisierung des moralischen Präferenzcodes seines sozialen Bezugssystems. Der Medienskandal verhandelt soziale Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit. Die blinde Macht der Moral in diesem Distinktionsprozesses lässt sich jedoch auflösen: „Moralische Diskurse unterbrechen moralisches Handeln und erlauben durch Reflexivierung Strukturbildung in Form bewussten Differenzmanagements von gut und böse, nicht aber irgendwelche absoluten Begründungen“, erklärt Schmidt (2003: 126) und fordert, durch Differenzmanagement die Binarität von ‚gut und böse‘ in ‚verantwortlich und unverantwortlich‘ umzudeuten und die Begründung für die Wertungen öffentlich einzufordern. Vor allem die Selbstbeobachtungs- und Selbstbeschreibungsfunktion des Medienjournalismus kann diese Forderung einlösen und den moralischen Diskurs durch einen ethischen Diskurs ersetzen. Seine Deeskalationsstrategie besteht in der Thematisierung der blinden Flecken, die in Diskursen als Invisibilisierung der Kontingenz von Wertorientierungen wirken.
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Steffen Burkhardt
So kann das Mediensystem enthüllen, was zu enthüllen ist: Nicht der Skandal, medialisierte Skandal oder Medienskandal ist skandalös, sondern die blinden Flecken der Gesellschaft, die sie ermöglichen. Literatur Burkhardt, Steffen (2008a): Skandal und soziale Norm. In: Religion – Staat – Gesellschaft: Soziale Normen und Skandalisierung 9/1, S. 11-32. Burkhardt, Steffen (2008b): Das Geiseldrama von Gladbeck. Mediale Komplizenschaft als Echtzeitkrimi. In: Paul, Gerhard (Hg.): Das Jahrhundert der Bilder. 1949 bis heute. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 550-557. Burkhardt, Steffen (2007): Hitler-Tagebücher. In: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Skandale in Deutschland nach 1945. Bielefeld, Leipzig: Kerber Verlag, S. 128-135. Burkhardt, Steffen (2006): Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse. Köln: Halem. Eilders, Christiane (1997): Nachrichtenfaktoren und Rezeption. Eine empirische Analyse zur Auswahl und Verarbeitung politischer Information. Opladen: Westdeutscher Verlag. Fuchs, Eckhardt/Fuchs, Günther (1994): JҲAccuse. Zur Affäre Dreyfus. Mainz: Decaton. Käsler, Dirk (1991) (Hg.): Der politische Skandal. Zur symbolischen und dramaturgischen Qualität von Politik. Opladen: Westdeutscher Verlag. Kepplinger, Hans M./Ehmig, Simone C./Hartung, Uwe (2002): Alltägliche Skandale. Eine repräsentative Analyse regionaler Fälle. Konstanz: UVK. Kotowski, Elke-Vera/Schoeps, Julius H. (2005): JҲaccuse…! Ich klage an! Zur Affäre Dreyfus. Potsdam: Verlag für Berlin-Brandenburg. Lindblom, Johannes (1921): Skandalon. Eine lexikalisch-exegetische Untersuchung. Uppsala: Almqvist & Wiksell. Luhmann, Niklas (1987): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Neckel, Sighard (1989): Das Stellhölzchen der Macht. Zur Soziologie des politischen Skandals. In: Ebbinghauen, Rold/Neckel, Sieghard (Hg.): Anatomie des politischen Skandals. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 55-80. Peters, Birgit (1993): Prominenz in der Bundesrepublik. Bedingungen und Bedeutungen eines Phänomens. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Renger, Rudi (2000): Populärer Journalismus. Nachrichten zwischen Fakten und Fiktion. Innsbruck, Wien, München: Studien-Verlag. Rühl, Manfred (1980): Journalismus und Gesellschaft. Bestandsaufnahme und Theorieentwurf. Mainz: Hase & Köhler. Schmidt, Siegfried J. (2003): Geschichten & Diskurse. Abschied vom Konstruktivismus. Reinbek: Rowohlt. Scholl, Armin/Weischenberg, Siegfried (1998): Journalismus in der Gesellschaft. Theorie, Methodologie und Empirie. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Skandal, medialisierter Skandal, Medienskandal
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Stählin, Gustav (1930): Skandalon. Die Geschichte eines biblischen Begriffs. Gütersloh: Bertelsmann. Thompson, John B. (2000): Political Scandal. Power and Visibility in the Media Age. Cambridge: Polity. Weischenberg, Siegfried (1998): Journalistik. Theorie und Praxis aktueller Medienkommunikation, Band 1. Mediensysteme, Medienethik, Medieninstitutionen. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Weischenberg, Siegfried (1995): Journalistik. Theorie und Praxis aktueller Medienkommunikation, Band 2. Medientechnik, Medienfunktionen, Medienakteure. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Skandale im Spiegel der Zeit: Eine quantitative Inhaltsanalyse der Skandalberichterstattung im Nachrichtenmagazin Der Spiegel Franziska Oehmer
Konstituierende Charakteristika eines Skandals sind ein Normbruch eines Akteurs, dessen Aufdeckung und eine darüber einsetzende öffentliche Empörung (Bösch 2006: 27).1 In modernen Gesellschaften sind es vor allem die Massenmedien, denen es obliegt zu entscheiden, welche Verfehlungen und Verstöße als Skandal publik gemacht, bewertet und kritisiert werden. Sie fungieren hier als „a functional equivalent of the public. The public is outraged when the media is outraged“ (Esser & Hartung 2004). Skandale werden dabei von den Medien nicht nur aufgegriffen und berichtet, sondern anhand spezifischer medialer Produktionsbedingungen sowie Verarbeitungs- und Präsentationslogiken konstruiert (vgl. Kepplinger 2001: 125). Im Fokus der vorliegenden Studie steht die Identifikation dieser Präsentationsmaximen der Skandalberichterstattung im Nachrichtenmagazin Der Spiegel unter Berücksichtigung nachrichtenwerttheoretischer Annahmen. Dafür sollen nicht einzelne im Spiegel publizierte Skandale im Rahmen von Fallstudien, sondern alle mit dem Skandalbegriff im Wochenmagazin kontextualisierten Ereignisse zwischen Januar 1950 und Dezember 2008 einer Analyse unterzogen werden. Dabei gilt das Erkenntnisinteresse vor allem der Beantwortung nachfolgender forschungsleitender Fragen: Welche Ereignisse wurden als Skandal im Nachrichtenmagazin Der Spiegel konstruiert? Welchem Akteur wird in den Medien eine Normverletzung vorgeworfen? Wer bringt den Vorwurf hervor? Zudem soll der Frage nachgegangen werden, ob sich jeweils Veränderungen im Zeitverlauf erkennen lassen. Zunächst soll hierfür ein kursorischer Blick auf Forschungen zu Skandalen in den Medien gerichtet und um eine nachrichtenwerttheoretische Perspektive erweitert werden. Die Beantwortung der Fragestellungen erfolgt anhand einer diachronen quantitativen Inhaltsanalyse.
1
Vgl. hierzu auch den Beitrag von Bösch in diesem Band.
K. Bulkow, C. Petersen (Hrsg.), Skandale, DOI 10.1007/978-3-531-93264-4_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Franziska Oehmer
SKANDALE AUS DER PERSPEKTIVE DER NACHRICHTENWERTFORSCHUNG Die vorliegende Studie begreift publizierte Skandale nicht als einen „unabhängig von der journalistischen Berichterstattung existierende[n] Beobachtungsgegenstand, sondern als deren Produkt“ (Burkhardt 2006: 57), das nach journalistischen Verarbeitungs- und Selektionsroutinen erzeugt wird. Ziel dieser medialen Logik ist es, das journalistische Erzeugnis so ansprechend wie möglich zu gestalten, um so dessen Kauf- und Rezeptionswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Ein solcher Verarbeitungs- und Präsentationsmodus ist das Zuschreiben und Hervorheben bestimmter Eigenschaften des berichteten Ereignisses, etwa durch Verweise auf die besondere Negativität des Geschehens, auf die Prominenz der involvierten Akteure oder die kulturelle oder geographische Nähe zum Ereignisort.2 Diese Ereigniseigenschaften respektive Nachrichtenfaktoren werden entsprechend dieser finalen Betrachtungsweise nicht – wie in der klassischen kausalen Nachrichtenwertforschung3 – als genuine Eigenschaften des Ereignisses selbst, sondern als Merkmale der Meldung konzipiert:4 Die Anzahl der Nachrichtenfaktoren in einer Meldung über ein Ereignis kann demnach auch nicht allein als Anlass ihrer Publikationswahrscheinlichkeit betrachtet werden, sondern ist immer auch als Folge einer spezifischen Ereignisdefinition anzusehen (vgl. Kepplinger 2006: 22). Für Medienskandale folgt: Medien produzieren Skandale, indem sie sie auf systemspezifische Weise anprangern (vgl. Kepplinger & Ehmig 2004: 363). Daher „wird weder jeder Sündenfall zum Skandal oder zum politisch-publizistischen Konflikt noch beruht jeder Skandal oder jeder Konflikt um zugeschriebene Verfehlungen auf einem Sündenfall“ (Imhof 2002: 84). Dieser Sichtweise folgend, werden Skandale in den Medien als Produkte einer spezifisch journalistischen Interpretation eines Geschehens bzw. als Ergebnisse journalistischer Hypothesen von Wirklichkeit konzipiert (vgl. Schulz 1990), die in starkem Maße auf die negativen Merkmale einer Handlung eines Akteurs abzielt. Die Art der journalistischen Interpretationen ist dabei nicht medien- und zeitpersistent, d.h. sie können in Abhängigkeit von den jeweiligen Verarbeitungs- und Präsentationsmaximen sowie Werten und Normen (vgl. Imhof 2002: 85) je nach Medium oder Produktionszeitraum variieren. Zeit- und medienbedingte Differenzen lassen sich demzufolge mithilfe dieser Perspektive erklären und vergleichende synchrone und diachrone Forschungsansätze notwendig erscheinen. 2 3
4
Vgl. hierzu z.B. die Nachrichtenfaktorenkataloge in Galtung & Ruge (1965) oder Schulz (1990). Vgl. hierzu u.a. Östgaard (1965), Galtung & Ruge (1965), Sande (1971), Eilders (1997), Fretwurst (2008) sowie einführend auch den dritten Abschnitt des Beitrags von Weber in diesem Band. Vgl. hierzu Staab (1990) und Kepplinger (2006).
Skandale im Spiegel der Zeit
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FORSCHUNGSLEITENDE FRAGEN Forschungsinteresse der vorliegenden Untersuchung war es, die Ereignisse und Akteure zu identifizieren, die als bzw. in einem Skandal im Magazin Der Spiegel interpretiert respektive konstruiert wurden, und zu klären, welche weiteren Nachrichtenfaktoren (Personalisierung, geographische Nähe, Prominenz) zur Produktion des medialen Skandals verwandt worden sind. Hierfür wurden folgende Forschungsfragen formuliert: 1.1
Art des Skandals: Welcher Art ist der im Nachrichtenmagazin berichtete Skandal?
1.2
Personalisierung des Skandals: Wird im berichteten Skandalereignis überwiegend auf Einzel- oder Kollektivakteure rekurriert?
1.3
Änderungen im Zeitverlauf: Gibt es Veränderungen im Zeitverlauf?
2.1
System des Skandalierten: Welchem Akteur wird eine besonders negative Normverletzung vorgeworfen respektive welcher Akteur wird mit dem Begriff Skandal kontextualisiert? Welchem System ist der Skandalierte zugehörig?
2.2
Geographische Nähe des Skandalierten: Aus welchem Land stammt der Skandalierte?
2.3
Änderungen im Zeitverlauf: Sind Veränderungen in der journalistischen Zuschreibung des Skandalierten im Zeitverlauf erkennbar?
3.1
System des Skandalierers: Wer bringt den Vorwurf der Normverletzung hervor? Welchem System ist der Skandalierte zugehörig?
3.2
Veränderungen im Zeitverlauf: Sind Veränderungen in der journalistischen Zuschreibung des Skandalierers im Zeitverlauf erkennbar?
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Franziska Oehmer
METHODE UND DESIGN Die Forschungsfragen wurden anhand einer quantitativen Inhaltsanalyse des Nachrichtenmagazins Der Spiegel im Zeitraum vom 1. Januar 1950 bis zum 31. Dezember 2008 beantwortet. Diese Methode ermöglichte eine „systematische […], intersubjektiv nachvollziehbare […] Beschreibung inhaltlicher und formaler Merkmale“ (Früh 2007: 25) großer Textmengen. Die Nicht-Reaktivität respektive die Unveränderlichkeit des Untersuchungsmaterials erlaubte zudem auch die Analyse von in der Vergangenheit befindlichen Kommunikationsprozessen, ohne Einbußen in der Aussagekraft befürchten zu müssen (vgl. Brosius et al. 2009: 151-153). Die Wahl fiel auf das Medium Der Spiegel, da es sich dabei um ein meinungsbetontes Wochenmagazin (Wolf 2006) handelt und darin, so die Annahme, der journalistische Spielraum zur Zuschreibung des Skandalbegriffes größer ist als in tagesaktuellen und faktenbetonten Printmedien, in denen aus diesem Grund mit weniger Skandalzuschreibungen zu rechnen wäre. Zudem ermöglichte die umfangreiche und sämtliche Ausgaben umfassende Online-Datenbank des Spiegels eine Suchbegriff bezogene Recherche des relevanten Untersuchungsmaterials. Analysiert wurden alle Artikel, die im Titel/Untertitel und/oder Vorspann den Begriff Skandal enthielten, im genannten Zeitraum im Spiegel erschienen sind und einen konkreten Skandal thematisierten (Aufgriffskriterium). Artikel, in denen es z.B. bloß pauschal um die „Skandalautorin Elfriede Jelinek“ oder um eine „Auseinandersetzung mit dem Skandal aus journalistischer Perspektive“ ging, blieben daher unberücksichtigt. Einschränkend muss jedoch eingewandt werden, dass mit diesen Kriterien die Möglichkeit bestand, dass nicht alle in den Medien publizierten Skandalereignisse in die Analyse einbezogen wurden. So könnte beispielsweise ein Fehlverhalten nicht immer explizit und zumal auch nicht immer bereits im Titel und/oder im Vorspann als Skandal in den Medien bezeichnet worden sein. Zudem könnten statt ‚Skandal‘ auch Begriffe wie ‚Affäre‘ oder ‚Eklat‘ eine synonyme Verwendung gefunden haben. Neben der Forschungspragmatik, die eine einfache Suche des Materials sicherte, sprach für diese Kriterien jedoch, dass der Begriff Skandal als Signalwort fungiert, das zur Rezeption eines Artikels anregen und daher auch, so die Annahme, häufig bereits im Titel zur Charakterisierung eines Normverstoßes genutzt wurde.
Skandale im Spiegel der Zeit Methode Untersuchungsobjekt Untersuchungszeitraum Untersuchungseinheit Aufgriffskriterium
161 Quantitative Inhaltsanalyse Skandal-Berichterstattung des Nachrichtenmagazins Spiegel 1. Januar 1950 bis 31. Dezember 2008 Artikelebene Analysiert wurden alle Artikel, die x im Titel/Untertitel und/oder Lead den Begriff ‚Skandal‘ enthalten, x im Zeitraum von Januar 1950 bis Dezember 2008 im Wochenmagazin Spiegel erschienen sind, x einen konkreten Skandal thematisieren.
Tab. 1: Konzeption des Untersuchungsdesigns
Die Analyse erfolgte auf Artikelebene, für die jeweils die Art und der Personalisierungsgrad des berichteten Skandals, das System, das Land und die Prominenz für den (Haupt-)Akteur, dem ein Fehltritt vorgeworfen und das System des (Haupt-)Akteurs, der den Fehltritt publik machte, erhoben wurde. Wurden jeweils mehr als ein Skandalierer und/oder ein Skandalierter im Artikel dargestellt, so wurde der Akteur, dem der meiste Raum (gemessen an der Wortanzahl) beigemessen wurde, codiert. Waren alle Akteure in gleichem Maße vertreten, wurde der Erstgenannte codiert. Die Ausprägungen zu den Kategorien System und Art des Skandals wurden zum einen deduktiv aus bestehenden systemtheoretischen Publikationen (vgl. Luhmanns Funktionssysteme der Gesellschaft – Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Gesundheit, Massenmedien, Kunst, Religion – im Überblick bei Runkel & Burkart 2005) und kommunikationswissenschaftlichen Studien zur Skandalberichterstattung (Imhof 2002; Esser & Hartung 2004; Bösch 2006) sowie induktiv aus der Analyse von rund 10 Prozent des Materials im Rahmen eines Pretestes ermittelt. Neben dem System, in dem der Skandalierte agiert, wurden die Nachrichtenfaktoren Personalisierung, Prominenz und Nähe erhoben. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die analysierten Kategorien und deren jeweilige Ausprägungen. Zur Überprüfung der Qualität der inhaltlichen Kriterien wurde die Intracoder-Reliabilität (unter Berücksichtigung der Reihenfolge) ermittelt, die mit einem Wert von durchschnittlich 0,83 als zufriedenstellend zu werten ist.
162
Skandalart
Franziska Oehmer Kategorie System (Skandalart)
Personalisierung Skandalierter
System Nähe: Land/Region Prominenz
Skandalierer
System
Tab. 2: Kategorien der Inhaltsanalyse
Ausprägungen Politik/Verwaltung (Wahlbetrug-Skandal, Amtsmissbrauchsskandal, Diplomatischer Beziehungsskandal, Datenschutzskandal, Spendenskandal, Spionageskandal, Nazivergleich-Skandal, Sonstiges Politik) Wirtschaft (Lebensmittelskandal, Umweltskandal, Betrugsskandal, Bestechungsskandal, Sonstiges Wirtschaft) Kunst/Kultur (Theaterskandal, Kunstskandal, Opernskandal, Literaturskandal, Kunstfälschungsskandal, Filmskandal, Sonstiges Kunst/Kultur) Wissenschaft (Datenfälschungsskandal, Plagiatsskandal, Sonstiges Wissenschaft) Medizin (Behandlungsfehler-Skandal, Kostenskandal, Medikamenten-Zulassungsskandal, Sonstiges Medizin) Militär (Geheiminformationsskandal, Brutalitätsskandal, Fehlverhaltensskandal, Sonstiges Militär) Sport (Spielmanipulationsskandal, Dopingskandal, Sonstiges Sport) Medien (Fehlmeldungsskandal, Fälschungsskandal, Sonstiges Medien) Religion/Kirche (Reliquienskandal, Sonstiges Kirche) Justiz Polizei Systemunabhängig (persönlicher Skandal, Gewalt/Missbrauchsskandal) keine Personalisierung, mittlere Personalisierung, große Personalisierung Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Kunst/Kultur, Wissenschaft, Medizin, Militär, Sport, Medien, Religion/Kirche, Journalismus, systemunabhängig Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Polen, übriges Europa, USA, Kanada, Südamerika, Afrika, Asien unbekannte Persönlichkeit, nur im Ausland bekannte Persönlichkeit, auf regionaler Ebene bekannte Persönlichkeit, auf nationaler Ebene bekannte Persönlichkeit, auf internationaler Ebene bekannte Persönlichkeit s.o.
Skandale im Spiegel der Zeit
163
ERGEBNISSE Insgesamt entsprachen 285 Artikel den oben aufgeführten Kriterien und wurden einer Analyse unterzogen. Dabei konnte – entgegen den Annahmen, die eine zunehmende Skandalisierung der Öffentlichkeit (vgl. Donges & Imhof 2005: 167; Imhof 2008: 81) postulieren – zumindest in Bezug auf die Artikelanzahl im zeitlichen Verlauf keine kontinuierliche Steigerung beobachtet werden. Insgesamt lassen sich vielmehr drei Phasen unterschiedlicher Skandalberichterstattungsintensität ausmachen (Abb. 1): Zwischen Januar 1950 und Dezember 1965 lassen sich in der ersten Phase geringer Intensität nur wenige berichtete Skandale identifizieren. Erst ab 1976 mit der Verdopplung der Seitenzahlen des Magazins ist ein Anstieg der berichteten Skandalfälle in der Phase steigender Intensität bis 1988 zu verzeichnen. Abgesehen vom gewachsenen Magazinumfang ist auch anzunehmen, dass die Entwicklungen im Medienbereich wie eine zunehmende Kommerzialisierung und Boulevardisierung (Büttner & Donsbach 2005; Konsequenzen speziell für Skandalberichterstattung siehe Tumber & Waisbrod 2004) und die Einführung des Privatfernsehens Mitte der 80er Jahre den Anstieg der berichteten Skandale förderte. Denn diese Innovationen bedingten eine stärkere Marktorientierung und damit ein erhöhtes Bewusstsein für verkaufsfördernde und demzufolge auch negative respektive skandalisierende Berichterstattung. Einen starken Einbruch erlebt die Skandalberichterstattung in den Jahren 1989 und 1990. In diesen Jahren dominierte vor allem die Berichterstattung über das Ende des Ost-West-Konflikts, die offenbar Berichte über Verfehlungen verdrängte. Zu Beginn der 90er Jahre stieg die Anzahl der berichteten Skandale erneut an. Als ursächlich für die Quantitätssteigerung kann hier möglicherweise die Lancierung des Konkurrenzwochenmagazins Der Focus am 18. Januar 1993 und damit verbundene verstärkte Bemühungen zur Leserwerbung und -bindung betrachtet werden. Nachfolgend bis zum Jahr 2008 ist kein eindeutiger Trend zu beobachten. Die Zahl der berichteten Skandale oszilliert, sinkt jedoch nicht auf das Niveau der Phase geringerer Intensität. Insgesamt scheint das Ausmaß der Skandalberichterstattung im Spiegel sowohl von medienintern formalen (Magazinumfang) und organisationalen (Kommerzialisierung, Konkurrenz) Faktoren als auch von der medienexternen Ereignislage bestimmt zu sein.
164
Franziska Oehmer
Abb. 1: Artikelanzahl der skandalisierten Ereignisse im Zeitverlauf
Art des Skandals Über den gesamten Zeitraum dominieren vor allem Skandale des Wirtschafts(n=104, 36,8%) und Politiksystems (n=82, 28,4%), denen bereits mehr als die Hälfte aller berichteten Normverletzungen (Abb. 2) zugeordnet werden konnten. Diese Schwerpunktsetzung lässt sich zum einen aus der großen Bedeutung beider Systeme für die Gesellschaft allgemein und für ein Nachrichtenmagazin im Speziellen ableiten. Zum anderen – und mit der Relevanz der beiden Systeme eng verbundenen – kann die potenziell große Reichweite respektive Betroffenheit bei politischen oder wirtschaftlichen Fehlverhalten als erklärender Faktor herangezogen werden: Ein Umwelt- oder Lebensmittelskandal, verursacht durch Wirtschaftsunternehmen oder Fehlentschlüsse der Politik, bedeuten Negativfolgen für große Teile der Bevölkerung. Während etwa Doping- oder Literaturskandale in der Regel nur für einen begrenzten Personenkreis negative Konsequenzen nach sich ziehen. Den Verfehlungen aus dem Bereich Wirtschaft und Politik folgen Medizinskandale (n=21, 7,4%), Kunst- und Kulturskandale (n=19, 6,7%) sowie Sportskandale (n=15, 5,3%). Persönliche Skandale (n=15, 5,3%), unter die Normverletzungen im privaten Bereich wie beispielsweise Ehebruch oder Alkoholmissbrauch subsumiert wurden, sind vergleichsweise selten im politischen Wochenmagazin Der Spiegel anzutreffen.
Skandale im Spiegel der Zeit
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Betrachtet man die Verteilung der Skandalarten im Detail, so sind es vor allem Betrugsskandale (n=52, 18,2%) des Wirtschaftssystems und Amtsmissbrauchsverfehlungen (n=4, 14,7%) des politischen Bereichs, die berichtet wurden. Dem folgen Lebensmittelskandale (n=22, 7,7%; System Wirtschaft), Behandlungsfehlerskandale (n=16, 5,6%; System Medizin), persönliche Skandale (n=15, 5,3%; ohne Systembezug), Umweltskandale (n=13, 4,6%; System Wirtschaft), Bestechungsskandale (n=11, 3,9%; System Wirtschaft) und Lebensmittelskandale (n=22, 7,7%) des Wirtschaftssystems, die öffentlich gemacht wurden. Die anderen erfassten Skandalarten (siehe Kategorien Tab. 2) waren nur im einstelligen und daher im zu vernachlässigenden Ausmaß vertreten. 120 100 80
104 82
60 40 20 0
21
19
15
15
8
4
4
4
3
2
1
Abb. 2: Skandalarten
Ob es Unterschiede in den berichteten Skandalarten im Zeitverlauf gab, wurde ebenso überprüft. Die Ergebnisse zeigen (Abb. 3), dass in der Phase geringer Intensität aufgrund der dünnen Skandaldichte keine Dominanz bestimmter Skandalarten vorherrscht. Besonders große Bedeutung wurde erstmalig in den 70er Jahren – dem Beginn der Phase steigender Intensität – einem politischen Skandal beigemessen: der Bestechung in- und ausländischer Politiker durch den amerikanischen Flugzeughersteller Lockheed im gleichnamigen Skandal. Die insgesamt dominierenden wirtschaftlichen Skandalarten gewinnen erst Ende der 80er Jahre vor allem durch die Lebensmittelskandale (Weinskandal 1985, Skandal um hormonbehandeltes Fleisch 1988) an Relevanz. Aber auch Normbrüche des politi-
166
Franziska Oehmer
schen Systems wie die Barschelaffäre (1987) sowie die Luconaaffäre (ab 1977) beherrschten die Berichterstattung des Spiegels. In der Phase oszillierender Intensität treten erstmals Skandale des Systems Medizin (vor allem der Bluterskandal: die Verbreitung des HI Viruses über nicht ausreichend geprüfte Blutkonserven) sowie Gewalt- und Missbrauchsfälle (mit Fokus auf die Taten von Marc Dutroux) in relevanten Ausmaß in Erscheinung. Das Auftreten bestimmter Skandalarten ab einem bestimmten Zeitpunkt und das kumulative Erscheinen von Skandalen (Abb. 3), die zu einem System zählen, lässt die Annahme zu, dass jeweils Auslöser- bzw. Schlüsselnormbrüche in einem System die Publikationswahrscheinlichkeit ähnlicher Skandale in diesem System erhöht: So katalysierten Skandale um die Beimischung von Glykol in Wein die Berichterstattung über weitere Lebensmittelskandale in der Folgezeit. Ebenso ermöglichten Skandale um verseuchte Blutkonserven nachfolgend Veröffentlichungen über weitere Missstände im medizinischen System. politische Skandale
Wirtschaftsskandale
Kunst/Kulturskandale
Medizinskandale
persönliche Skandale
Sportskandale
Gewaltskandale 14 12 10 8 6 4 2 1950 1954 1958 1960 1964 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008
0
Abb. 3: Skandalarten im Zeitverlauf
Skandale im Spiegel der Zeit
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Neben der Art des Skandals wurde auch untersucht, inwiefern die berichteten Skandale personalisiert – also einem Individualakteur oder einem kollektiven Akteur zur Last gelegt wurden. Hierfür wurde zwischen keiner Personalisierung (nur Gruppenakteure werden genannt, keine Namensnennung von Personen), mittlerer Personalisierung (sowohl Kollektiv- als auch Individualakteure werden genannt) und großer Personalisierung (Fokus auf Individualakteure) unterschieden. Die Befunde zeigen, dass im Spiegel Fehltritte im gleichen Maße Organisationen und Einzelakteuren (mittlere Personalisierung; n=97) als auch Individuen allein angelastet wurden (große Personalisierung; n=97). Mit nur wenig Abstand folgen die Skandale, in denen nur ein Gruppenakteur als Skandalierter agiert. Im Zeitverlauf lässt sich dabei kein Trend zu einer verstärkten Personalisierung erkennen. Skandalierter Neben der Analyse der Skandalarten galt das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie auch den berichteten Charakteristika des Akteurs, dem ein Normbruch vorgeworfen wurde. Hierfür wurde in Anlehnung an die Differenzierung der Skandalarten auch erhoben, welchem System der Skandalierte zugeordnet werden konnte. Parallel zu den Skandalarten spiegelt sich auch bei den Systemen der Skandalierten der politisch-wirtschaftliche Fokus des Nachrichtenmagazins wider: Sind es doch auch hier vornehmlich die Systeme Politik (n=98, 32%) und Wirtschaft (n=78, 28%), denen die Skandalierten zugeordnet werden konnten. Gefolgt von Akteuren der Systeme Verwaltung (n=22, 8%), Kunst/Kultur (n=21, 8%) und Medizin (n=17, 6%), unter das auch Vertreter der Pharmaindustrie subsumiert wurden. Akteure des Adels oder der Unterhaltungsindustrie wurden hingegen kaum skandalisiert (Abb. 4).
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Franziska Oehmer
Sport 6%
Andere (<4%) 12% Politik 32%
Medizin 6%
Kunst/Kultur 8% Verwaltung 8%
Wirtschaft 28%
Abb. 4: System des Skandalierten
Die skandalisierten Akteure stammen überwiegend (n=170, 59,6%) aus Deutschland oder aus einem Deutschland geographisch (andere europäische Staaten n=37, 13%; Frankreich n= 19, 6,7%) oder kulturell nahen Staaten (USA n=35, 12.3%). Wie von der Nachrichtenwerttheorie postuliert finden auch hier Skandalierte aus fernen Staaten in Asien oder in Afrika selten Berücksichtigung in der Berichterstattung (Abb. 5). Die Dominanz Deutschlands sowie kulturell und/oder geographisch ähnlicher Staaten bleibt auch über den Zeitverlauf betrachtet konstant.
Skandale im Spiegel der Zeit
180 160 140 120 100 80 60 40 20 0
169
170
37
35
19
11
9
2
1
Abb. 5: Nachrichtenfaktor: Nähe des Skandalierten
Wenn der Skandalierte ein Einzelakteur war (dies war in 133 der 285 codierten Artikel der Fall), so wurde erhoben, ob es sich dabei um eine unbekannte oder eine auf regionaler, nationaler oder internationaler Ebene bekannte Persönlichkeit handelte. Dabei galt das Veröffentlichungsdatum als Referenzpunkt: Das heißt die Prominenzzuschreibung sollte mit dem Status zur Publikationszeit korrespondieren und daher ohne Berücksichtigung der weiteren Entwicklung einer Person erfolgen. So musste beispielsweise Gerhard Schröder in einem Artikel von 1995 im Rahmen seiner Funktion als Ministerpräsident des Landes Niedersachsen als regionale, drei Jahre später als Bundeskanzler als nationale Persönlichkeit codiert werden.
170
Franziska Oehmer 70 60 50 40 30 20 10 0
60 43
13
10
6
1
Abb. 6: Nachrichtenfaktor: Prominenz des Skandalierers
Überwiegend werden im Spiegel unbekannte (n=60, 45%) oder im Ausland bekannte Persönlichkeiten (n=43, 32%) skandalisiert. Mit Abstand folgen regionale, internationale oder nationale Prominente (Abb. 6). In diesem Fall scheint die von Galtung und Ruge im Rahmen der Nachrichtenwerttheorie formulierte Komplementaritätsthese zu greifen, welche eine besonders starke Ausprägung eines Nachrichtenfaktors bei Abstinenz eines anderen postuliert: Die besonders gravierende Negativität eines Skandalereignisses macht einen Einbezug von prominenten Persönlichkeiten nicht notwendig, denn „the less personal the news, the more negative will it have to be“ (Galtung & Ruge 1965: 83). Auch hier lassen sich im Zeitverlauf betrachtet keine klaren Tendenzen nachvollziehen. Skandalierer Wurde im Artikel explizit auf einen Akteur, der den Vorwurf hervorgebracht bzw. den Skandal enthüllt hatte, hingewiesen, so wurde das System codiert, in dem dieser Skandalierer agierte.
Skandale im Spiegel der Zeit
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In nur 40 Prozent der Fälle (n=108) findet sich in der Berichterstattung eine Nennung der Skandalierer, so dass davon ausgegangen werden kann, dass in diesen Fällen jeweils Der Spiegel selbst in der Rolle des Skandalierers fungierte. Die von einigen Autoren formulierte These (Kepplinger 1996; Esser & Hartung 2004; Donges & Imhof 2005: 167), die Medien würden in modernen Gesellschaften überwiegend Skandale enthüllen, scheint mit diesem Befund bestätigt zu werden. Zudem sind auch die explizit genannten Skandalierer in der Berichterstattung dem System Journalismus zuzuordnen (n= 37, 36%). In dieser Kategorie wurden vor allem Formulierungen wie „Journalisten des Spiegel entdeckten“ oder „wie Reporter der New York Times feststellten“ rubriziert. Am zweithäufigsten traten Vertreter des politischen Systems in der Rolle des Skandalierers in Erscheinung (n=18, 18%). Dabei warfen vor allem Parteien ihrem politischen Gegner Fehlverhalten und Normbrüche vor. 11 Prozent der genannten Skandalierer waren Angehörige des Verwaltungsapparates wie beispielsweise Steuerermittler oder Arbeitslosenagenturen.
Sport 4% Medizin 4%
Andere (<4%) 7%
Justiz 5%
Journalismus 36%
Kunst/Kultur 5%
Wirtschaft 10% Verwaltung 11%
Abb. 7: System des Skandalierers
Politik 18%
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Franziska Oehmer
Im Zeitverlauf betrachtet lassen sich keine klaren Entwicklungen verzeichnen. Jedoch ist auffallend, dass mit dem „vigor of investigative journalism“ (Tumber & Waisbrod 2004: 1143) in den 60er, 70er sowie 80er Jahren vor allem auf journalistische Skandalierer verwiesen wird, die hier zunehmend einer aktiven Rolle als watchdog durch das Recherchieren und Aufdecken von Normverstößen gerecht zu werden scheinen. DISKUSSION UND FAZIT Skandale sind in modernen Gesellschaften zunehmend an die massenmediale Kommunikation gebunden. Dabei werden Skandale nicht nur aufgegriffen und berichtet, sondern nach medien- und zeitspezifischen Selektions- und Präsentationsmaximen produziert. Zur Erklärung dieser Konstruktionslogiken wurde in der vorliegenden Studie auf die finale Nachrichtenwerttheorie rekurriert, die das Zuschreiben bestimmter Ereignismerkmale durch die Journalisten postuliert. Skandale in den Medien werden demzufolge als Produkt einer spezifisch journalistischen Interpretation eines Geschehens konzipiert, die in starkem Maße auf die negativen Merkmale einer Handlung eines Akteurs abzielt. Diesem Ansatz folgend, galt das Forschungsinteresse der Identifikation von Kriterien und Mustern der Skandalberichterstattung des Nachrichtenmagazins Der Spiegel von 1950 bis 2008, die im Rahmen einer quantitativen Inhaltsanalyse erfolgte. Die Befunde lassen sich thesenartig wie folgt zusammenfassen: 1) Skandalisierung: Die Anzahl der Artikel mit Skandalbezug im Nachrichtenmagazin Der Spiegel steigt zwischen 1950 und 2008 nicht kontinuierlich an und widerspricht damit Argumenten, die von einer generellen steigenden Skandalisierung der Berichterstattung ausgehen. Medieninterne Faktoren wie Steigerung der Seitenanzahl, zunehmende Konkurrenz oder die medienexterne Ereignislage scheinen hingegen das Ausmaß der Skandalberichterstattung mitzubestimmen. 2) Personalisierung: Im Zentrum der berichteten Skandale stehen in ähnlichem Maße sowohl Individualakteure (große Personalisierung), Individualakteure und Kollektivakteure (mittlere Personalisierung) sowie nur Kollektivakteure. Auch über den Zeitverlauf lässt sich dabei kein Trend zu einer zunehmenden Personalisierung erkennen. 3) System: Die berichteten Skandale lassen sich aufgrund ihrer gesellschaftlichen Bedeutung vor allem auch für ein Nachrichtenmagazin sowie der potenziell großen Reichweite der Fehltritte vor allem im politischen und wirtschaftlichen System verorten. Persönliche Skandale sind hingegen im Spiegel kaum vertreten.
Skandale im Spiegel der Zeit
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4) Skandalierer: Parallel zum System des Skandals ist die Mehrheit der skandalisierten Akteure dem Wirtschafts- und Politiksystem zuzuordnen. Akteure des Adels und der Unterhaltungsindustrie erscheinen nur in einem zu vernachlässigenden Ausmaß in der Berichterstattung. Skandalprotagonisten stammen aus Deutschland oder einem geographisch bzw. kulturell nahen Staat und sind mehrheitlich unbekannte oder nur im Ausland bekannte Persönlichkeiten. 5) Skandalierter: In weniger als der Hälfte der berichteten Skandale wurde explizit auf einen Akteur verwiesen, der den Vorwurf hervorbringt bzw. den Fehltritt öffentlich macht. Wenn man davon ausgeht, dass bei fehlender Nennung des Skandalierers das Medium selbst in dieser Rolle fungiert, so bestätigt dieser Befund die hohe Relevanz der Medien für das Veröffentlichen von Skandalen in modernen Gesellschaften. Zudem dominieren auch bei den explizit genannten Skandalproduzenten Akteure des Systems Journalismus, gefolgt von Skandalierern aus der Politik, die vor allem der rivalisierenden Partei Fehlverhalten unterstellen. Abschließend sei angemerkt, dass diese Befunde nur Gültigkeit für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel haben und sich nur eingeschränkt auf andere politische Wochenmagazine wie den Focus oder den Stern abstrahieren lassen. Das zu überprüfen und wiederkehrende Muster oder Unterschiede der Skandalberichterstattung im Vergleich mit anderen Medien sowohl im Boulevard als auch anderen Informationsformaten aufzuzeigen, wäre Aufgabe und Herausforderung nachfolgender Studien. Zumal gerade in Boulevardformaten im Vergleich zu Abonnementmedien aufgrund der starken Verkaufsorientierung mit intensiven Skandalisierungs- und Personalisierungstendenzen zu rechnen ist. Literatur Bösch, Frank (2006): Politische Skandale in Deutschland und Großbritannien. In: Aus Politik und Zeitgeschichte H. 7, S. 25-32. Brosius, Hans-Bernd/Haas, Alexander/Koschel, Friederike (52009): Methoden der empirischen Kommunikationsforschung. Eine Einführung. Wiesbaden: VS. Burkhardt, Steffen (2006): Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse. Köln: Halem. Büttner, Karin/Donsbach, Wolfgang (2005): Boulevardisierungstrend in deutschen Fernsehnachrichten. In: Publizistik 2005, S. 21-38. Donges, Patrick/Imhof, Kurt (22005): Öffentlichkeit im Wandel. In: Bonfadelli, Heinz/Jarren, Otfried/Siegert, Gabriele (Hg.): Einführung in die Publizistikwissenschaft. Bern: Haupt, S. 147-175. Eilders, Christiane (1997): Nachrichtenfaktoren und Rezeption. Eine empirische Analyse zur Auswahl und Verarbeitung politischer Information. Opladen: Westdeutscher Verlag.
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Franziska Oehmer
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[Text eingeben]
Reich-Ranicki, Heidenreich und der Deutsche Fernsehpreis 2008: Quantitativ-qualitative Inhaltsanalyse eines Medienskandals1 Kristin Bulkow & Christer Petersen
Bei der Gala zum Zehnten Deutschen Fernsehpreis am 11. Oktober 2008 wies der damals 88-jährige Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki den für sein Lebenswerk bestimmten „Ehrenpreis der Stifter“ – verliehen von ARD, ZDF, Sat.1 und RTL – zurück. Das Publikum konnte beobachten, wie Moderator Thomas Gottschalk nach einer Laudatio und einem Einspieler mit Archivmaterial vor allem aus dem Literarischen Quartett2 den Ehrenpreisträger zum Rednerpult führte. Dort angekommen schaute Reich-Ranicki auf seine Uhr, wischte sich mit einem Taschentuch über den Mund und begann: Meine Damen und Herren, ich habe in meinem Leben und in den 50 Jahren, die ich in Deutschland bin […], viele Literaturpreise bekommen, sehr viele, darunter auch die höchsten wie den Goethepreis, den Thomas-Mann-Preis und einige andere. Und ich habe immer gedankt für diese Preise, wie es sich gehört. Und bitte verzeihen Sie mir, wenn ich offen rede: Es hat mir nie Schwierigkeiten bereitet, für diese Preise zu danken. Heute bin ich in einer ganz schlimmen Situation. Ich muss auf den Preis, den ich erhalten habe, irgendwie reagieren. Der Intendant Schächter[3] sagte mir, bitte, bitte, bitte, nicht zu hart. Ja, bitte, in der Tat. Ich möchte niemanden kränken, niemanden beleidigen oder verletzen. Nein, das möchte ich nicht, aber ich möchte ganz offen sagen: Ich nehme den Preis nicht an. Ich hätte das, werden Sie denken und sagen, früher erklären sollen. Natürlich, aber ich habe nicht gewusst, was hier auf mich wartet, was ich hier erleben werde. Ich ge1
2
3
2011 erscheint eine Vorabfassung des Artikels in Petras & Sina (in Vorbereitung) unter dem Titel „‚Von mir aus schmeißt mich jetzt raus‘. Skizze einer qualitativ-quantitativen Inhaltsanalyse des Fernsehpreisskandals 2008“. Die vorliegende Textfassung arbeitet die „Skizze“ basierend auf demselben Datensatz aus. Die von Marcel Reich-Ranicki moderierte Literatursendung Das literarische Quartett lief in den Jahren von 1988 bis 2001 mit insgesamt 77 Sendungen im ZDF. Gemeint ist Markus Schächter, der Intendant des ZDF.
K. Bulkow, C. Petersen (Hrsg.), Skandale, DOI 10.1007/978-3-531-93264-4_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Kristin Bulkow & Christer Petersen höre nicht in diese Reihe der heute, vielleicht zu recht, Preisgekrönten. Wäre der Preis mit Geld verbunden, hätte ich das Geld zurückgegeben; aber er ist ja nicht mit Geld verbunden, ich kann nur dieses … diesen Gegenstand, der hier verschiedenen Leuten überreicht wurde, von mir werfen oder jemandem vor die Füße werfen. Ich kann das nicht annehmen.
Zur weiteren Begründung und Rechtfertigung seines Entschlusses fuhr ReichRanicki fort: Ich finde es schlimm, dass ich hier vier Stunden das erleben musste. Es gibt ja Abende, die man ganz schön erlebt. Nein … nicht, ich werde Ihnen jetzt nicht sagen, mit der Lektüre von Goethe oder Berthold Brecht. Nein, man kann im Arte-Programm manchmal sehr schöne, wichtige Sachen sehen. Ich habe früher häufig auch Wichtiges im 3satProgramm gesehen, aber das hat sich jetzt geändert. Meist kommen da schwache Sachen – aber nicht der Blödsinn, den wir hier zu sehen bekommen haben. Ich will nicht weiter darüber reden, es sind ja auch Kollegen von mir hier auf der Bühne gewesen, Stephan Aust, Markwort[4] und [hustet] Thomas Gottschalk.5 Schnitt. Letztgenannter tritt mit den Worten „Darf ich einen Rettungsversuch unternehmen“ an Reich-Ranicki heran, legt eine Hand auf Reich-Ranickis Schulter und schlägt dem Renitenten eine einstündige Sondersendung vor, in der beide ausgiebig diskutieren können, „worüber man im Fernsehen nicht mehr redet: über Bildung, über Lesen, über Erziehung“. Reich-Ranicki akzeptiert, „wenngleich skeptisch, ob da was draus wird, ob wir beide was erreichen“, und lässt es sich nicht nehmen, abschließend noch eine Anekdote über Herbert von Karajan und über dessen Duzfreund, den Cellisten Mstislaw Rostropowitsch, zu erzählen, um daraufhin Thomas Gottschalk mit einer Umarmung das Du anzubieten. Reich-Ranicki verlässt unter Standing Ovations die Bühne. Der Abend ist gerettet. Comedian Ralph Schmitz verteilt daraufhin mit einigen einstudierten Gags den Förderpreis für einen Nachwuchsschauspieler und eine Jungregisseurin. Es folgen noch drei Preise für die beste Schauspielerin in einer Hauptrolle sowie die beste Comedy-Sendung und den besten Fernsehfilm. Dann beendet Gottschalk die Gala mit den Worten: „Fernsehen bleibt spannend.“ Die Irritation, 4 5
Gemeint ist Helmut Markwort, der Chefredakteur des Focus. Zitiert nach der am 12.10.2008 im ZDF ausgestrahlten Aufzeichnung der Gala. Reich-Ranickis Rede ist bis auf eine unwesentliche Auslassung zu Beginn ungekürzt wiedergegeben.
Reich-Ranicki, Heidenreich und der Deutsche Fernsehpreis
179
die Reich-Ranickis Ansprache zwischenzeitlich verursacht hat, scheint vergessen. Aber noch bevor die Aufzeichnung der Gala am Abend des Folgetages im ZDF ausgestrahlt werden kann, hat die Presse das Thema bereits aufgegriffen. In den Tagen und Wochen nach der Gala erscheint eine Welle von Artikeln, die in Reich-Ranickis Klage über das Niveau des deutschen Fernsehens einstimmen. Daran beteiligt sich zuvorderst Elke Heidenreich, die Moderatorin der ZDF-Literatursendung Lesen!. Sie unterstützt Reich-Ranicki in seiner Kritik vehement, findet aber weder bei Reich-Ranicki noch bei ihrem Sender Verständnis für ihre harsche Kritik. Heidenreich wird schließlich am 23. Oktober 2008 entlassen,6 ihre Sendung im ZDF abgesetzt. – Der Eklat hatte sich zu einem Skandal ausgeweitet. STRUKTUR VON MEDIENSKANDALEN Die Welt scheint voller Skandale: Medien berichten von Spenden- und Steuerskandalen, von Sex- und Schiedsrichterskandalen, von skandalösen Büchern und Bildern oder wie hier von skandalträchtigen Auftritten und Äußerungen. Der geradezu inflationäre Gebrauch des Begriffs in den Massenmedien erklärt sich zunächst aus seinem breiten Alltagsverständnis (Bösch 2003: 125).7 Die begriffliche Unschärfe des Terminus ist dagegen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung häufig beklagt worden (Sabrow 2004: 7, Neu 2004: 3). Um sich einer Definition zu nähern, die den Gegenstand einer Analyse zugänglich macht, ist es daher sinnvoll, zunächst die Elemente eines Skandals zu benennen und so gleichsam die Skandalstruktur zu beschreiben. Angelehnt an Hondrich (2002: 15f.) lassen sich drei wesentliche Bestandteile eines Skandals identifizieren: eine (vermeintliche) Verfehlung, deren Enthüllung und die Empörung über diese Verfehlung, die von einem relevanten Teil der Öffentlichkeit geteilt wird. Die Art der Verfehlung ist dabei eng mit dem kollektiv geteilten Wertekanon einer Gesellschaft verknüpft (Weiß 2002: 297). Nicht jeder Fehltritt wird aber zu einem Skandal, sondern erst wenn der Fehltritt öffentlich bekannt und die Empörung darüber von einer breiten Öffentlichkeit getragen wird. Beides lässt sich in der Mediengesellschaft hauptsächlich durch die Darstellung in Massenmedien erreichen (Kepplinger & Ehmig 2004: 363). Skandale brauchen darüber hinaus Akteure, die sich innerhalb der Skandalstrukturen bewegen und agieren. Neckel (1989: 58) identifiziert drei zentrale Akteursrollen: den Skandalierten, dem ein Fehltritt vorgeworfen wird, den 6 7
An diesem Tag wurde die Entlassung Heidenreichs durch das ZDF bekannt gegeben. Vgl. zum Folgenden auch den Beitrag von Bösch in diesem Band.
180
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Skandalierer, der diese Verfehlung kritisiert und Dritte, denen diese Kritik als Skandal berichtet wird. Die Personen, welche die ersten beiden, die aktiven, Rollen einnehmen, sind für die Entstehung eines Skandals von größter Bedeutung: Beide müssten laut Luhmann (1983: 17) und Neu (2004: 4) einen besonderen Status aufweisen. So sei die „Subjektqualität“ des Skandalierers und des Skandalierten ebenso entscheidend wie die Art der Verfehlung dafür, ob diese als ein Skandal interpretiert wird. Daher sind laut Thompson (2000: 15f.) Menschen, die im Lichte der Öffentlichkeit stehen, besonders gefährdet, dass eine Normübertretung ihrerseits einen Skandal auslöst. Zugleich sind sie aber auch besonders befähigt als Skandalierer aufzutreten. Mit einer zunehmenden Medialisierung der Gesellschaft ist auch ein Strukturwandel des Skandals selbst einhergegangen (Bösch 2006: 25). Immer häufiger wird die Rolle des Skandalierers von dem Skandalmedium, der Plattform, in dem der Skandalierer in der Regel den Normverstoß öffentlich macht, selbst übernommen (Imhof 2006: 202). Öffentliche Skandale seien deshalb in der modernen Gesellschaft immer „Medienskandale“ (Burkhardt 2005: 173). Entscheidend für die Konsequenzen etwa, die sich dabei für den Skandalierten ergeben können, ist damit die Konsonanz der Berichterstattung: Solange nicht die Mehrzahl der Medien in einen negativen Tenor einstimmt, hat der Skandalierte nicht allzu viel zu befürchten, verpufft der Skandal (Maurer & Reinemann 2006: 142). Der Verlauf von Medienskandalen kann an den von Luhmann (1983: 18f.) identifizierten Phasen von Themenkarrieren nachvollzogen werden. Grob lassen sich demnach vier Phasen unterscheiden (Burkhardt 2006: 184f.). Einer Latenzphase folgen – in dieser Reihenfolge – eine Aufschwung-, Etablierungs- und Abschwungphase.8 Burkhardt (2006: 205) fügt dem Skandalverlauf noch eine abschließende Rehabilitationsphase an, in der der Skandalierte in Folge einer medialen Marginalisierung des Skandals „wieder symbolisches Kapital kulminieren kann“, welche im Rahmen des Phasenmodells „jedoch lediglich [ein] sekundärer Bestandteil des Medienskandals“ sei und gerade nicht mehr zum eigentlichen Medienskandal zählt. Die Normverletzung durch den Skandalierten ist in der Latenzphase angesiedelt. Die Verfehlung kann dabei aktuell sein oder bereits längere Zeit zurückliegen. In der Aufschwungphase macht der Skandalierer die Verfehlung öffentlich und kritisiert diese. Die Etablierungsphase bezeichnet den Zeitraum, in dem die Normübertretung eine breite Empörung in der Öffentlichkeit findet oder in Ermangelung öffentlicher Empörung gerade keinen Skandalstatus erlangt. Im ersten Fall wächst der Druck der öffentlichen Meinung auf den Skandalierten; im zweiten Fall liegt nach Bösch (2003: 127) ein „gescheiterte[r] Versuch[] der 8
Vgl. ausführlich hierzu auch den Beitrag von Burkhardt in diesem Band.
Reich-Ranicki, Heidenreich und der Deutsche Fernsehpreis
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‚Skandalisierung‘“ vor. Die Aufschwung- wie die Etablierungsphase sind demzufolge von besonders intensiver Berichterstattung gekennzeichnet (Böcking 2007: 505), während die Abschwungphase mit dem so genannten Deckeneffekt einsetzt: Wird ein Thema bereits als wichtig angesehen, kann auch verstärkte Medienberichterstattung ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr zu einer weiteren Bedeutungssteigerung beitragen (Kunczik & Zipfel 2001: 363). Auch eine Lösung des durch die Verfehlung verursachten Konflikts fällt in diese Skandalphase. Entweder ebbt der Skandal, in Folge sinkenden Medien- und Publikumsinteresses, einfach nach und nach ab, oder der Skandal zieht Konsequenzen in Form von ‚Lösungen‘ nach sich, etwa Entlassung oder Rücktritt des Skandalierten oder dessen soziale und juristische Sanktionierung (Thompson 2002: 72). Skandale sind demnach dynamische Prozesse, die in ihrem Verlauf eine ausgeprägte zeitliche Dimension aufweisen. Dabei entwickeln Skandale in ihren jeweiligen Phasen auch inhaltliche Dynamiken, die sich nicht allein in der Intensität der Berichterstattung, sondern „sowohl in thematischen als auch in personellen Verschiebungen“ äußern (Böcking 2007: 504). QUANTITATIVE ANALYSE Unter Berücksichtigung der genannten Merkmale sowie der zeitlichen und inhaltlichen Dynamiken von Skandalen wird im Folgenden die Berichterstattung über den „Skandal beim Fernsehpreis“9 untersucht. Die Analyse soll zeigen, inwiefern es sich bei den Geschehnissen um den Deutschen Fernsehpreis um einen Skandal handelt, welche Phasen er durchläuft und welche Funktionen die Skandalierer im Verlauf des Skandals übernehmen. Dies mündet schließlich in die Fragen, inwiefern die Ökonomie des Fernsehpreisskandals eine öffentliche kritische Debatte ausgelöst hat und inwieweit kritische Diskurse generell durch eine massenmediale Skandalisierung begünstigt werden. Als ursprüngliche Akteurstriade lässt sich zunächst Marcel Reich-Ranicki als Hauptskandalierer, das deutsche Fernsehen, vor allem das öffentlich-rechtliche, als Skandalierter und die Rezipienten der Medienberichterstattung als Skandalpublikum ausmachen. Die im Rahmen des Deutschen Fernsehpreises kritisierte Verfehlung (als Normverletzung) rekurriert scheinbar, da von ReichRanicki nicht explizit formuliert, auf die gesetzlich festgelegten Aufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks: „Sein Programm hat der Information, Bildung, Beratung und Unterhaltung zu dienen. Er hat Beiträge insbesondere zur Kultur 9
So titelte unter anderem die Augsburger Allgemeine am 13.10.2008.
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anzubieten. […] Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat bei Erfüllung seines Auftrags die Grundsätze der […] Ausgewogenheit der Angebote und Programme zu berücksichtigen.“10 Das hier zunächst angewandte Verfahren der quantitativen Inhaltsanalyse ermöglicht es, eine größere Anzahl medialer Botschaften ähnlichen Formats auf die darin auffindbaren Muster und Tendenzen hin zu untersuchen. Dabei geht es im Gegensatz zu den im Folgenden angewandten qualitativen Analysemethoden nicht um die individuelle Interpretation einzelner Botschaften, sondern um das Herausarbeiten von Mustern zahlreicher Botschaften, so dass allgemeine oder generalisierbare Aussagen über die Berichterstattung ermöglicht werden, auch wenn dies bedeutet, dass nicht jeder einzelnen Medienbotschaft gänzlich entsprochen werden kann. Die quantitative Medieninhaltsanalyse zielt also auf die Reduktion von Komplexität. Dies geschieht durch die Herausstellung zentraler Tendenzen der Medienberichterstattung (vgl. z.B. Rössler 2005: 16ff.). Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich vom 13. Oktober bis zum 30. November 2008. Der Beginn des Zeitraums orientiert sich an dem Auftritt Reich-Ranickis bei der Gala des Deutschen Fernsehpreises, der als Auslöser der Skandaldebatte gelten kann. Der Untersuchungszeitraum beginnt also am Tag nach der Ausstrahlung der Gala. Da anzunehmen ist, dass die weiteren Geschehnisse, wie etwa die Reaktion Elke Heidenreichs, die Sondersendung Aus aktuellem Anlass11 und die Entlassung Heidenreichs, dem Skandal zusätzliche Dynamik verliehen, schließt der Analysezeitraum noch den gesamten November mit ein. So soll sichergestellt werden, dass der Diskurs in seiner Entwicklung adäquat abgebildet ist. Aufgrund der ihnen zugeschriebenen Funktion der Hintergrundberichterstattung fiel die Wahl des zu untersuchenden Materials auf Printprodukte. Die überregionalen Tageszeitungen Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), Süddeutschen Zeitung (SZ), Frankfurter Rundschau (FR), tageszeitung (taz) und die Welt gingen dabei aufgrund ihrer Reichweite und ihrer traditionellen Verhaftung zu kulturellen Themen (in ihren Feuilletons) in die Analyse ein. Des Weiteren fiel die Entscheidung auf die Wochenperiodika Die Zeit, Spiegel und Focus, da wöchentlich erscheinende Medien Debatten meist großen Raum zur Verfügung stellen.
10 11
Zitiert nach dem Zehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag vom 19.12.2007, § 11 Absatz 2 und 3. Am 17.10.2008 diskutierten Gottschalk und Reich-Ranicki in einer 30-minütigen (nicht wie ursprünglich geplant 60-minütigen) Sendung des ZDFs noch einmal die Qualität des deutschen Fernsehens.
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Bewertungsdynamik: zeitliche und inhaltliche Dimension Insgesamt ließen sich 754 Bewertungen des Fernsehens codieren. Artikel gingen dann in die Analyse ein, wenn sie mindestens eine Bewertung des Fernsehens oder der Hauptprotagonisten Reich-Ranicki bzw. Heidenreich enthielten und im Kontext der Fernsehdebatte erschienen. Es ist erfasst, welche Aspekte des deutschen Fernsehens bzw. der Skandalierer eine Bewertung fanden und von wem diese Kritik stammte. Bezüglich des Fernsehens sind vier Bewertungsdimensionen eruiert, die an den Programmauftrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens angelehnt sind: Information, Unterhaltung, Kultur und Bildung. Außerdem wurde eine Kategorie für allgemeine Bewertungen und eine Kategorie für Aussagen über die Werbung hinzugefügt und bei den Kritikern je eine Kategorie für Reich-Ranicki12 und eine Kategorie für Heidenreich13 angelegt. Alle Urteile sind darüber hinaus nach Bewertungsrichtung (positiv vs. negativ) differenziert.
Abb. 1: Anzahl der Bewertungen nach Datum (N=754)
12
13
Unterkategorien: Reich-Ranicki als Person, Auftritt beim Fernsehpreis, seine Kritik, Umgang mit Reich-Ranicki, Umgang Reich-Ranickis mit Heidenreich, Sonstiges. Unterkategorien: Heidenreich als Person, ihre Kritik, Umgang mit Heidenreich, Umgang Heidenreichs mit dem ZDF, Sonstiges.
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Es zeigt sich, dass die Qualität des Fernsehens relativ schnell Thema der Berichterstattung wird (Abb. 1). Bereits zwei Tage nach der Ausstrahlung der Gala kann die Aufschwungphase als abgeschlossen gelten. Besonders intensiv wird die Thematik im Vorfeld und Nachgang der Sendung Aus aktuellem Anlass am 17. Oktober diskutiert. Nach diesem Höhepunkt klingt die Medienberichterstattung langsam wieder ab, wobei die Entlassung Heidenreichs dem Thema offensichtlich kurzfristig noch einmal Aufwind verleiht. Neben dieser quantitativen Dynamik und der zumindest teilweisen Validierung des Skandalphasenmodels nach Luhmann und Burkhardt erweisen sich aber auch inhaltliche Dynamiken der Skandaldebatte als relevant. So ist zu fragen, ob sich etwa die kritisierten Aspekte des Fernsehens im Zeitverlauf verändern und wann welche Akteure wie häufig zu Wort kommen. Aufgrund der geringen Fallzahl in den anderen Wochen soll sich dabei vor allem auf die ersten vier Wochen der Skandaldebatte sowie auf die Gesamtverteilung konzentriert werden. Bewertungsdimension
1.Woche (n=335)
2.Woche (n=206)
3.Woche (n=95)
4.Woche (n=45)
5.Woche (n=23)
6.Woche (n=29)
7.Woche (n=21)
Gesamt (N=754)
Allgemeine Bewertungen
66%
75%
46%
51%
65%
55%
51%
63%
Information
5%
4%
20%
14%
0%
0%
10%
7%
Unterhaltung
22%
15%
27%
31%
9%
39%
29%
21%
Kultur
7%
3%
5%
0%
26%
3%
5%
6%
Bildung
0%
2%
2%
2%
0%
3%
0%
2%
Werbung
1%
1%
0%
2%
0%
0%
5%
1%
Gesamt
100%
100%
100%
100%
100%
100%
100%
100%
Tab. 1: Bewertungsdimensionen der Fernsehkritik im Zeitverlauf
Insgesamt entfallen fast zwei Drittel aller Aussagen auf die Kategorie Allgemeine Bewertungen (vgl. Tab.1). Hier sind unspezifische Bewertungen wie etwa „Das Fernsehen/Programm ist schlecht/gut“ erfasst. In jeder Woche ist die Mehrzahl der jeweiligen Aussagen hier angesiedelt. Am insgesamt zweitstärksten ist mit etwa einem Fünftel aller Bewertungen die Kategorie Unterhaltung anzuführen. Inhaltlich wurde die Diskussion insgesamt also relativ einseitig geführt. Als auffällig erweisen sich jedoch die dritte und vierte Woche der Berichterstattung. Zwar ebbt die Anzahl der Gesamtbewertungen hier bereits langsam ab, dennoch verteilen sich diese, insbesondere in der dritten Woche gleichmäßiger über die Kategorien. Vor allem die Informationssendungen werden, im Gegensatz zu den vorhergehenden Wochen, stärker fokussiert und auch das Thema Unterhaltung findet größere Beachtung. Möglicherweise hat die Entlas-
Reich-Ranicki, Heidenreich und der Deutsche Fernsehpreis
185
sung Heidenreichs, die gegen Ende der zweiten Woche bekannt gegeben wurde, die zuvor relativ gefestigten Themenstrukturen aufgesprengt. Eine (noch) kursorische Lektüre von Reich-Ranickis eingangs zitierter ‚Wutrede‘14 bei der Fernsehpreisgala verrät, dass dessen Kritik zumindest implizit das öffentlich-rechtliche Fernsehen und dessen gesetzlichen Auftrag adressiert. Wie Abbildung 2 zeigt, folgt die Fernsehkritik dieser indirekten Vorgabe: Bewertungen über das Fernsehen beziehen sich zum großen Teil auf die öffentlich-rechtlichen Sender. Besonders die Kategorien Information und Kultur15 werden stark auf die Öffentlich-Rechtlichen bezogen. Lediglich im Bereich der Unterhaltung lässt sich auch das Privatfernsehen in ähnlichem Maße als Gegenstand der Diskussion erkennen. 100%
Fernsehen allgemein öffentlich-rechtliches Fernsehen Privatfernsehen
90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% Allgemeine Information Unterhaltung Bewertungen (n=52) (n=164) (n=482)
Kultur (n=42)
Bildung (n=9)
Werbung (n=5)
Abb. 2: Fernsehkritik nach Organisationsform
Zwar ist die inhaltliche Ausrichtung der Debatte relativ unscharf (Tab. 1), dasselbe gilt jedoch nicht für das Objekt der Skandalisierung. Wenn dieses benannt wird, steht das öffentlich-rechtliche Fernsehen im Mittelpunkt der Kritik. ReichRanicki, der in seiner Wutrede mit der expliziten Nennung von Arte und 3sat den 14
15
So wurde Reich-Ranickis Rede in der Folge von den Medien vielfach tituliert. Siehe etwa unter http://www.sueddeutsche.de/kultur/331/314231/text/, Abruf am 21.5.2010. Die Kategorie Bildung lässt sich hier aufgrund der geringen Fallzahl vernachlässigen.
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Fokus der Aufmerksamkeit auf die Öffentlich-Rechtlichen richtet, scheint somit den Skandalierten erfolgreich benannt zu haben. Betrachtet man die Zusammensetzung der Kritik am Fernsehen zudem nach deren Akteuren, zeigt sich, dass der Großteil der Fernsehbewertungen durch Journalisten, zumeist als Verfasser der Artikel, erfolgt (59% von N=754). Am zweithäufigsten (14% von N=754) bewertet Elke Heidenreich die Qualität des deutschen Fernsehens. Marcel Reich-Ranicki ist anhand der geringen Anzahl seiner Wortmeldungen (insgesamt 6% von N=754) kaum mehr als Hauptskandalierer zu identifizieren. Die konstant moderaten Werte Reich-Ranickis über die untersuchten Wochen hinweg lassen sich wohl darauf zurückführen, dass er als Skandalierer den Diskurs zwar anstößt, sich aber im weiteren Verlauf eher zurückhält. Dafür spricht vor allem, dass es sich bei den Bewertungen Reich-Ranickis um zitative und paraphrasierende Rückgriffe auf seine Rede bei der Gala handelt. In den ersten beiden Wochen wird der Diskurs fast ausschließlich von Journalisten und Elke Heidenreich bestritten. Insbesondere in der zweiten Woche äußert sich Heidenreich verstärkt (21% von n=206). Damit wechselt die Rolle des Hauptskandalierers zeitweise zu Heidenreich, auch wenn diese wieder vorrangig zitiert wird, anstatt sich jedes Mal selbst zu äußern. Während der dritten und vierten Woche, die Wochen nach Heidenreichs Rauswurf, sind schließlich beide Skandalierer kaum mehr mit Wortmeldungen vertreten. Genau dieser Zeitraum entspricht der oben skizzierten Veränderung in der Themenstruktur. Offensichtlich handelt es sich hier um einen Zeitraum innerhalb der Etablierungsphase, in dem sich der Diskurs auch für unbeteiligte bzw. teil-involvierte Akteure (beim Fernsehen oder Hörfunk Beschäftigte, Fernsehschauspieler etc.) öffnet. Diese beziehen zu der Problematik Stellung und bringen dabei neue Themenfacetten in den Diskurs ein, wie die spezifische Verteilung der Bewertungen in Tabelle 1 zeigt. Elke Heidenreich meldet sich erst in zeitlicher Nähe zur Bekanntgabe der Weiterführung ihrer Sendung Lesen! im Internet in der sechsten und siebten Woche noch einmal verstärkt zu Wort (10% von n=20 und 19% von n=29 in Woche 6 und 7) – zu einem Zeitpunkt als der Skandal aber insgesamt bereits ermüdet ist.
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Tenor der Berichterstattung Als wesentliche Bedingung für eine erfolgreiche Skandalisierung nennen Maurer und Reinemann (2006: 142) eine konsonant negative Berichterstattung. Über den gesamten Zeitraum betrachtet, entsprechen mehr als Dreiviertel aller Bewertungen negativen Aussagen über das Fernsehen (77% von N=754). Denkbar wäre aber, dass sich das negative Bild des Fernsehens hauptsächlich aus negativen Bewertungen einiger wenigen Zeitungen und Zeitschriften speist, während die anderen eine durchweg positive Bilanz aufweisen. Eine genauere Betrachtung der Bewertungen in den einzelnen Presseerzeugnissen zeigt jedoch, dass dies nicht zutrifft. Der vorherrschende Grundtenor der Fernsehkritik erweist sich unabhängig vom Medium als hauptsächlich negativ. Das positivste Bild zeichnet noch die FR, allerdings auch nur mit etwas mehr als einem Viertel positiver Beurteilungen (29% von n=133). Am negativsten wird das Fernsehen im Spiegel beurteilt. Nur 13% aller Bewertungen (n=30) sind hier positiv.16 100 90
positv negativ
80 70 60 50 40 30 20 10 0
Abb. 3: Bewertungen des Fernsehens im Zeitverlauf (N=754)
16
Die Bewertung der anderen Printmedien stellt sich folgendermaßen dar: SZ 24% positiv von n=154, FAZ 19% positiv von n=151, taz 23% positiv von n=121, Welt 17% positiv von n=91, Focus 24% positiv von n=42, Zeit 19% positiv von n=32.
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Abbildung 3 zeigt zudem, dass auch im Verlauf der Skandaldebatte zu keinem nennenswerten Zeitpunkt positive Bewertungen über die Negativkritik dominieren. Zwar gibt es zu jedem Zeitpunkt auch positive Bewertungen, diese spielen aber entweder aufgrund ihrer geringen Häufigkeit oder ihres geringen relationalen Anteils an der jeweiligen Kritik eine deutlich untergeordnete Rolle. Insgesamt zeigt sich also ein relativ einhelliges Urteil. Dennoch könnten einzelne Kategorien auch vorwiegend positiv beurteilt worden sein. Dies ist, wie Abbildung 4 zeigt, jedoch nicht der Fall. In allen Kategorien dominiert der negative Grundtenor. Die am häufigsten bewerteten Bereiche zeigen neben der allgemeinen Unzufriedenheit mit dem Fernsehen, den Sendern und dem Programm auch namentlich benannte Kritikpunkte auf. Insbesondere das Unterhaltungsangebot wird häufig thematisiert. Weder die Qualität noch die Inhalte der Unterhaltung können demnach überzeugen. 100% 80%
positiv negativ
60% 40% 20% 0%
Abb. 4: Haupt-Bewertungskategorien des Fernsehens (N=573)
Dabei bildet die Struktur der Kritikpunkte Reich-Ranickis Fernsehkritik relativ gut ab: Das Fernsehen, das Programm, einzelne Sender und das Unterhaltungsangebot werden allesamt bereits in Reich-Ranickis Wutrede angesprochen. Bei der Kritik an den Moderatoren sowie an der bemängelten Quotenorientierung des deutschen Fernsehens handelt es sich um thematische Aspekte, die Heidenreich in die Debatte eingebracht haben könnte. Zumindest spricht sie in ihren im An-
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schluss an die Gala veröffentlichten Artikeln die Fähigkeiten Gottschalks als Moderator an und bemängelt die Ausrichtung des Fernsehprogramms an der Quote.17 Demnach hat sie die Diskussion in ihrer Rolle als Skandaliererin vermutlich ebenfalls inhaltlich beeinflusst. Betrachtet man erneut die Bewertungen im Zeitverlauf (Abb. 3), so fällt das Verhältnis von positiven und negativen Bewertungen um den 28. Oktober herum auf, also im direkten Anschluss an die Bekanntgabe der Entlassung Elke Heidenreichs. Das Hoch an positiven Bewertungen könnte ein Indikator dafür sein, dass die Negativkritik der beiden Skandalierer nicht so breit geteilt wird, wie die Tendenz der Berichterstattung das bisher vermuten lässt. Es stellt sich also die Frage, wie die Skandalierer und die von ihnen hervorgebrachte Kritik selbst bewertet werden. Bewertung der Skandalierer Insgesamt wurden 524 Aussagen, die die Skandalierer Heidenreich und ReichRanicki zum Bewertungsobjekt haben, vercodiert (Abb. 5). Immerhin 70% dieser Aussagen fallen negativ aus. Reich-Ranicki wird dabei generell etwas häufiger (n=285) bewertet als Heidenreich (n=239). Auch wird er etwas seltener negativ (66% vs. 70%) bewertet. Die Bewertung differiert allerdings nach Medium, auch wenn die Grundtendenz negativ bleibt. Relativ ausgewogen werden Reich-Ranicki und Heidenreich in der FAZ bewertet, was daran liegen könnte, dass Heidenreich in dieser Zeitung ihre Kritiken veröffentlicht hat: Das lässt sich im Rahmen der anschließenden qualitativen Analyse eines FAZ-Artikels Heidenreichs vom 12. Oktober 2008 noch bestätigen, in dem nicht nur Heidenreich selbst, sondern vor allem Reich-Ranicki besonders gut ‚wegkommt‘. Mit 49% positiver Bewertungen (n=94) ist die FAZ gleichzeitig das Printprodukt, welches die Skandalierer am häufigsten positiv bewertet. Im Spiegel werden die Kritiker dagegen am häufigsten negativ (90% von n=20) bewertet.
17
Wir werden das im qualitativen Analyseteil an zwei FAZ-Artikeln Heidenreichs vom 12. und 19.10.2008 noch aufzeigen; vgl. Heidenreich (2008b, 2008a).
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FAZ (n=94) SZ (n=95) FR (n=78) taz (n=104) Welt (n=92) Spiegel (n=20) Focus (n=22) Zeit (n=19) 0%
20%
40% positiv
60%
80%
100%
negativ
Abb. 5: Bewertung der Skandalierer nach Medium (N=524)
Betrachtet man die Bewertungsdimensionen der Skandalierer (Abb. 6), so bleibt auch hier die allgemeine negative Tendenz bestehen. Darüber hinaus zeigt sich, dass weder Reich-Ranicki noch Heidenreich als Personen große Sympathie entgegenschlägt. Jeweils etwa 70% aller Beurteilungen der Kritiker als Person fallen negativ aus. Dabei wird Heidenreich geringfügig positiver (30% vs. 27%) beurteilt. Die größte Zustimmung findet noch Reich-Ranickis Auftritt bei der Gala zum Deutschen Fernsehpreis, dennoch sind auch hier mehr als die Hälfte aller Bewertungen (n=82) negativ. Die Inhalte der Kritik beider Protagonisten werden in etwa gleich bewertet. Jeweils weniger als die Hälfte aller Beurteilungen fallen in diesem Zusammenhang positiv aus.
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Reich-Ranicki als Person (n=101) Reich-Ranickis Auftritt Fernsehpreis (n=82) Reich-Ranickis Kritik (n=95) Reich-Ranicki Sonstiges (n=7) Heidenreich als Person (n=73) Heidenreichs Kritik (n=64) Umgang mit Heidenreich (n=54) Umgang Heidenreichs mit ZDF (n=35) Heidenreich Sonstiges (n=13)
0% positiv
20%
40%
60%
80%
100%
negativ
Abb. 6: Bewertungsdimensionen Skandalierer (N=524)
Dies verwundert insofern, als die Analyse der Fernsehkritik ergeben hat, dass die Bewertungen des Fernsehens tendenziell negativ ausfallen. Da genau das Inhalt der Kritik Reich-Ranickis und Heidenreichs ist, müsste ihre Kritik eigentlich mehr Zustimmung finden. Allerdings ist es so, dass fast jeder Artikel zum Thema noch einmal die Aussagen von Reich-Ranicki und/oder Heidenreich als Aufhänger zitiert. Diese Aussagen der Skandalierer gingen jeweils erneut in die Untersuchung ein, auch wenn sie tatsächlich von Reich-Ranicki bzw. Heidenreich nur einmal geäußert wurden. Es ist daher anzunehmen, dass diese immer wieder erneut in die Ergebnisse eingegangenen Bewertungen der Hauptprotagonisten die tatsächliche veröffentlichte Meinung über das Fernsehen verzerren. Aus diesem Grund erfolgt eine Gegenüberstellung der von den Skandalierern stammenden Bewertungen mit den Bewertungen aller anderen. So lassen sich zuletzt auch die Differenzen zwischen den publizierten Ansichten der Skandalierer und den Ansichten der anderen Aussagenurheber verdeutlichen.
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Allgemeine Bewertungen Skandalierer (n=135) Allgemeine Bewertungen Sonstige (n=347) Information Skandalierer (n=1) Information Sonstige (n=51) Unterhaltung Skandalierer (n=6) Unterhaltung Sonstige (n=158) Kultur Skandalierer (n=13) Kultur Sonstige (n=29) Bildung Sonstige (n=9) Werbung Sonstige (n=5)
0%
positiv
20%
40%
60%
80%
100%
negativ
Abb. 7: Fernsehbewertungen Skandalierer vs. sonstige Aussagenurheber (N=754)
Die Aufstellung in Abbildung 7 macht eines augenfällig: Die sonstigen Aussagenurheber bewerten generell weniger pauschal als die beiden Hauptprotagonisten. Dies betrifft zwei Dimensionen. Zum einen ist die Tendenz ihrer Urteile häufiger positiv, zum anderen erweist sich ihre Bewertung als differenzierter, das heißt, sie bewerten häufiger unterschiedliche Aspekte des Fernsehens, auch wenn der Grundtenor bei den sonstigen Aussagenträgern ebenfalls negativ ist. Man kann somit annehmen, dass die Pauschalität der Kritik Reich-Ranickis und Heidenreichs zumindest einen Grund dafür darstellt, dass die Kritik der Skandalierer vergleichsweise wenig Zustimmung findet (Abb. 6). Wie sich die Einschätzung der Skandalierer und ihrer Äußerungen im Verlauf des Skandals entwickeln, zeigen nochmals Abbildung 8 und 9. Zu Beginn der Skandaldebatte halten sich positive und negative Bewertungen ReichRanickis die Waage. Dies ist unter anderem wohl auf seinen Auftritt bei der Fernsehpreisgala zurückzuführen, der vergleichsweise viel Zustimmung findet (Abb. 6). Für eine erfolgreiche Skandalisierung kann dieser Auftakt als funktional gewertet werden, da, wie eingangs anhand der Überlegungen zur Subjektqualität ausgeführt, dem Status des Absenders eine entscheidende Bedeutung zukommt. Neben dem bloßen Bekanntheitsgrad, der bei Reich-Ranicki wohl kaum zu überschätzen ist, sollte eine zumindest nicht rein negative Beurteilung
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dieses Akteurs der Nachvollziehbarkeit seiner Kritik eher förderlich sein. Zumal Reich-Ranicki als Literaturkritiker von Berufswegen nicht nur prädestiniert, sondern auch kompetent erscheinen sollte, wenn es um Qualitätsurteile geht. 30 25
Reich-Ranicki positiv Reich-Ranicki negativ
20 15 10 5 0
Abb. 8: Bewertungen Reich-Ranickis im Zeitverlauf (N=285)
Die ausgewogene Bewertung Reich-Ranickis verliert sich allerdings relativ schnell. Insbesondere im Nachgang der Sendung Aus aktuellem Anlass, die am 17. Oktober vom ZDF ausgestrahlt wird, büßt Reich-Ranicki dramatisch an Sympathie ein. Auffällig ist auch das ausgeprägte Missverhältnis zwischen positiven und negativen Bewertungen nach Heidenreichs Entlassung am 23. Oktober. Vermutlich liegt das an seiner Reaktion auf die Entlassung, welche im Allgemeinen wenig Zustimmung findet (Abb. 6), die Reich-Ranicki aber als „naheliegend“ bezeichnet.18 Elke Heidenreich wird von Beginn an stets häufiger negativ als positiv bewertet, was gegen eine ‚starke Besetzung‘ Heidenreichs als Skandaliererin spricht. Besonders ausgeprägt sind die negativen Bewertungen um den Zeitpunkt ihrer Entlassung herum. Wie Abbildung 6 zeigt, könnte insbesondere Heidenreichs Umgang mit dem ZDF, der offensichtlich nicht gebilligt wird (fast 100% 18
Siehe ohne Verfasserangabe: „Heidenreich aus Anstalt entlassen. ZDF reagiert auf TV-Kritik“, in der taz vom 24.10.2008. Dazu im Folgenden aber noch ausführlicher.
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negative Beurteilungen), dafür eine Ursache sein. Allerdings erfolgen zu diesem Zeitpunkt auch vergleichsweise viele positive Bewertungen, etwa hinsichtlich ihrer Person und ihrer Fernsehkritik. Bezogen auf das zuvor Gesagte gilt hier, dass der Umgang mit Heidenreich skeptisch beurteilt wird, wenn auch in geringerem Maße als das Verhalten Heidenreichs gegenüber ihrem Haussender (Abb. 6). 35 30
Heidenreich positiv Heidenreich negativ
25 20 15 10 5 0
Abb. 9: Bewertungen Heidenreichs im Zeitverlauf (N=239)
Bei der Bewertung beider Skandalierer scheint der Zeitpunkt der Bekanntgabe der Entlassung Heidenreichs am 23. Oktober einen Wendepunkt darzustellen. Zum einen zeigt sich bei beiden, ausgeprägter allerdings bei Heidenreich, ein Hoch der negativen Bewertungen. Zum anderen erreichen beide Skandalierer danach keine nennenswerte Anzahl an positiven Bewertungen mehr, wobei allerdings auch im Allgemeinen nur noch deutlich weniger Bewertungen verzeichnet werden können. Somit deutet einiges darauf hin, dass die Entlassung Heidenreichs dem Teildiskurs um die Skandalierer ein Ende gesetzt hat. Und auch der Skandal insgesamt tritt, wie Abbildung 1 zeigt, nach einem letzten mittleren Peak am 3. November eine gute Woche später in seine Abschwungphase ein.
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QUALITATIVE ANALYSE Nachdem im Zuge der quantitativen Inhaltsanalyse eine Reihe von Ergebnissen zu den zeitlichen und inhaltlichen Dynamiken der Presse-Berichterstattung über den Fernsehpreisskandal herausgearbeitet werden konnten, sollen diese Ergebnisse nun anhand qualitativer Verfahren der Textanalyse validiert und ausformuliert werden.19 Dabei stehen vor allem zwei ‚Texte‘ im Zentrum der Betrachtung,20 Marcel Reich-Ranickis eingangs (fast vollständig) zitierte Rede während der Fernsehpreisgala sowie ein Artikel Elke Heidenreichs, den diese am 12. Oktober, also bereits einen Tag nach der Gala in der FAZ veröffentlicht. Diese Texte können einen tieferen Einblick in die Argumentation und Motivation der beiden Hauptskandalierer zu Beginn des Skandals bieten, wobei sich – wie die exemplarische Analyse einiger Folgeäußerungen Reich-Ranickis und Heidenreichs zeigen wird – die Kritik beider während des gesamten Skandalverlaufs kaum verändert. Anders als bei Verfahren der quantitativen Inhaltsanalyse, die bisher zur Anwendung gekommen sind, geht es im Rahmen der ergänzenden Herangehensweise darum, mittels individueller Analysen relevanter Texte und Textauszüge die bisher gewonnenen allgemeinen Aussagen über die Skandaldynamiken exemplarisch zu fundieren, vor allem aber weiterführend zu interpretieren. Zielte die quantitative Inhaltsanalyse in ihrer Herausstellung zentraler Tendenzen der Berichterstattung auf die Reduktion von Komplexität, so zielt die Textanalyse nun auf die Erhöhung von Komplexität, nämlich der Komplexität von Aussagen über die spezifische Struktur des Fernsehpreisskandals und über die allgemeine Funktion von Medienskandalen hinsichtlich ihres Kritikpotentials. Rhetorik des Skandals Betrachtet man Reich-Ranickis Rede ausgehend von ihrer Rhetorik,21 fällt vor allem eine wiederkehrende Figur auf. Der Redner konstruiert mehrfach paradigmatische Reihen. Dabei handelt es sich um die Aufzählung der Preise, die er bisher erhalten hat, nämlich sehr viele Literaturpreise „darunter auch die höchsten, wie den Goethepreis, den Thomas-Mann-Preis und einige andere.“ Eine 19
20
21
Wir beziehen uns dabei auf textanalytische Verfahren in einer literaturwissenschaftlichen Tradition, wie sie z.B. in Krah (2006) zusammengefasst werden. Wir gehen mit Titzmann (1993: 10) von einem erweiterten Textbegriff aus: „‚Text‘ nenne ich jede zeichenhafte und bedeutungstragende Äußerung [oder Botschaft], sei sie sprachlich oder nicht.“ Genau genommen kommt hier nur ein Teilbereich der Rhetorik zur Anwendung, der Bereich des ornatus, der aus den Formulierungsmöglichkeiten, den „Figuren“, im Einzelnen „Tropen“ und „Figuren im engeren Sinne“, besteht (Krah 2006: 104).
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zweite Reihe wird von Reich-Ranicki explizit angesprochen, wenn es als Begründung seiner Preisverweigerung heißt: „Ich gehöre nicht in diese Reihe der heute, vielleicht zu Recht, Preisgekrönten.“ Reich-Ranicki bringt diese Figur allerdings nicht selbst in den Diskurs ein, sondern greift sie nur (da es sich augenscheinlich um eine freie Rede handelt) spontan und vermutlich unbewusst auf. Bereits Thomas Gottschalk berichtet in der einführenden Laudatio anekdotenhaft davon, wie er sich anlässlich des 85. Geburtstags von Reich-Ranicki auf der „Rednerliste zwischen dem ehemaligen Bundespräsidenten, Richard von Weizsäcker, und dem Herausgeber der FAZ, Frank Schirrmacher“, wiedergefunden habe und kalauert, dass er sich seitdem erst als Akademiker bezeichnen würde.22 Es geht also um Reihen, solche, an denen man gerne partizipiert, weil man sich dadurch aufgewertet fühlt, aber vor allem um solche, an denen man keinesfalls partizipieren möchte: Reich-Ranicki will sich und seine Preise nicht in eine Reihe mit den Preisen und Preisträgern der Gala stellen, er will nicht mit denselben Merkmalen identifiziert werden, wie die anderen der Reihe. Aber was sind diese Merkmale für Reich-Ranicki? Das erfährt man nur implizit: Der Fernsehpreis ist gerade nicht das, was sowohl der Goethepreis als auch der ThomasMann-Preis sein sollen, nämlich ein höchster Preis. Deshalb muss Reich-Ranicki „diesen Gegenstand“ metonymisch für das, was er auszeichnen soll, nicht nur von sich „werfen“, sondern „jemandem vor die Füße werfen“ und damit von oben nach unten, wo der Preis vermeintlich hingehört. Der recht konventionellen Raummetaphorik folgend ist das implizite Argument für Reich-Ranickis Preisverweigerung also, dass er sich als Repräsentant einer literarischen Hochkultur nicht auf die niedere Ebene einer Trivialkultur hinab ziehen lassen will: Er „muss auf den Preis“, den man ihm verleihen will, „irgendwie reagieren“, „kann“ diesen aber „nicht annehmen“. Das mag zunächst noch nachvollziehbar erscheinen, wenn man bedenkt, dass unmittelbar zuvor ein Preis von Comedian Atze Schröder an die Macher von Deutschland sucht den Superstar überreicht wurde. Das wird jedoch im Verlauf von Reich-Ranickis Rede immer unklarer. Zunächst führt er das über Jahrzehnte im Literarischen Quartett kultivierte Ich-habe-mich-gelangweiltArgument an, und zwar, wie sein Blick auf die Uhr demonstriert, ziemlich genau „vier Stunden“. Dann wird nochmals differenziert. Offensichtlich gibt es noch etwas zwischen dem kulturellen Ganzoben von Goethe, Mann und (nun zusätzlich noch) Brecht und dem „Blödsinn“, der auf der Gala gezeigt und geehrt wurde, nämlich früher „sehr schöne, wichtige Sachen“, heutzutage aber zunehmend „schwache Sachen“ auf Arte und 3sat. 22
Thomas Gottschalk ist übrigens tatsächlich Akademiker, nämlich Grund- und Hauptschullehrer für Deutsch und Geschichte.
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So wie sich hier die strikte Opposition zwischen Hoch und Tief aufzulösen beginnt, es kann ja nicht alles im Fernsehen trivial gewesen sein, schließlich gab es dort mal das Literarische Quartett, so beendet Reich-Ranicki seine Rede auch, indem er eine neue Reihe aufmacht, bei der allerdings unklar bleibt, was hier eigentlich als Gemeinsamkeit gelten soll. Reich-Ranicki spricht von seinen „Kollegen“ den Journalisten Stefan Aust und Helmut Markwort und dem Moderator Thomas Gottschalk, und man fragt sich, was das verbindende Merkmal ist, außer dass sie wie Reich-Ranicki „hier auf der Bühne gewesen“ sind. Zu der Auflösung klar umrissener semantischer Bereiche und Oppositionen passt dann auch die abschließende Verbrüderung mit Gottschalk, die Reich-Ranicki wieder an das, was er zuvor von sich gewiesen zu haben schien, das große Publikum und vor allem die leichte Unterhaltung, bindet. Betrachtet man daneben den Artikel, den Elke Heidenreich (2008a) offensichtlich noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Gala geschrieben und am Morgen nach der Sendung in der FAZ veröffentlicht hat, dann vervollständigt sich das Bild der Skandalierer und ihrer öffentlichen Standpunkte. Heidenreich polarisiert einerseits, wenn sie etwa bezogen auf die Fortführung der Gala nach Reich-Ranickis Abgang schreibt: „Der Kritiker, der Spielverderber ist weg, nun ziehen wir unsere hirnlose Scheiße durch, bis zum Schluss.“ Anderseits personalisiert sie den Diskurs in einer deutlichen Identifikation mit Reich-Ranicki sowie einer ebenso strikten Ablehnung Gottschalks. Das Ganze zentriert sich um die Laudatio für Reich-Ranicki: Ich muss hier etwas einschieben. In einem unserer häufigen Telefonate erzählte mir Reich-Ranicki stolz von diesem Fernsehpreis für sein Lebenswerk und sagte, Gottschalk halte die Laudatio. Wir waren uns einig, dass der das nicht tun sollte, ich sollte es tun, nicht weil ich mich darum reiße, auf derartigen Veranstaltungen vorn zu stehen – es ist mir eher tief zuwider –, sondern weil ich näher dran bin, mit Reich-Ranicki mehr zu tun hatte und habe, eine Sendung mache, die in gewisser Weise die seine fortführt. Reich-Ranicki und Heidenreich kennen sich demnach nicht nur, sie ist sowohl persönlich als auch in ihrer Profession „näher dran“ an ihm als Gottschalk. Persönlich, wenn sie mit Reich-Ranicki mitleidet: „[I]n mein Herz schlich sich schon nach und nach der Verdacht: das hält der nicht durch. Ich sah den achtundachtzig Jahre alten Mann da vorn in der ersten Reihe sitzen, gebrechlich, aber geistig ja vollkommen klar, und ich dachte, was für eine Zumutung diese armselige, grottendumme Veranstaltung für ihn sein müsse.“ Professionell sieht Heidenreich sich bzw. ihre Sendung als „Nachfolgerin des Literarischen Quar-
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tetts“. So lässt sie es sich auch noch sechs Monate später gerne gefallen, wenn sie von Beckmann in der gleichnamigen Talkshow als „Literaturpäbstin“ und einzig legitime Erbin des „Literaturpabstes“ Reich-Ranicki bezeichnet wird.23 Der identifikatorischen Nähe, die Heidenreich zu Reich-Ranicki konstruiert, stellt sie eine strikte Ablehnung Gottschalks gegenüber, die ebenso persönlich ausfällt: „er ist nicht intelligent, er hat keinen Witz“, um dann auf ihren Haussender, das ZDF, loszugehen: „Man schämt sich, in so einem Sender überhaupt noch zu arbeiten.“ Heidenreich polemisiert, polarisiert und personifiziert den Diskurs und spitzt ihn auf eine Opposition zwischen Intelligenten und NichtIntelligenten zu, auf der Seite der ersteren sieht sie sich und Reich-Ranicki. Diese Seite steht für „Kultur und Bildung“, während der anderen Seite, Gottschalk und den „Programmdirektoren und Intendanten“, jedes (kulturelle) Niveau abgehen soll. Um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Fernsehen, das heißt mit dessen ökonomischen, rechtlichen und institutionellen Voraussetzungen sowie deren Auswirkungen auf die Programmgestaltung, geht es hier ebenso wie in Reich-Ranickis Rede nicht. Auch wird es darum weder in ReichRanickis noch in Heidenreichs Äußerungen jemals ausdrücklich gehen. Dynamik des Skandals Die Rhetorik der Initialäußerungen der beiden Skandalierer korreliert mit den quantitativen Ergebnissen dahingehend, dass – wie gesehen – insgesamt über 60% aller Aussagen allgemeine und undifferenzierte Aussagen über die mangelnde Qualität des Fernsehens darstellen (Tab. 1). Genau das gibt ReichRanicki vor und das unterstützt und verstärkt Heidenreich, die in den ersten Wochen die Rolle der Hauptskandaliererin an sich reißt. Auch der ausgesprochen negative Tenor der Fernsehbewertung, welchen die Skandalierer initiieren, scheint den Nerv zu treffen, da er von allen führenden Zeitungen aufgegriffen wird und im Verlauf des gesamten Skandals stabil bleibt (Abb. 3). Dabei scheint sich am Anfang der Skandalisierung der Bekanntheitsgrad Reich-Ranickis und mit Einschränkungen Heidenreichs sowie sicherlich auch Gottschalks, der stark in den Konflikt involviert ist, positiv auf die mediale Ausweitung der Negativkritik am Fernsehen auszuwirken. Zu Beginn der Skandals sind alle notwendigen Voraussetzungen gegeben: der Status Reich-Ranickis als ‚Literaturpapst‘ und ‚Chefkritiker‘, dazu passend die vermeintliche Normverletzung im Zusammenhang mit dem meritorischen Gut öffentlich-rechtlicher Rundfunk und das durchaus resultierende Medien- und Publikumsinteresse. 23
Dieses sowie das vorherige Zitat folgen der Talkshow Beckmann, Erstsendung am 21.4.2008 in der ARD.
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Allerdings zeigt die quantitative Analyse im Verlauf des Skandals einen ersten Wendepunkt im Nachgang der Sendung Aus aktuellem Anlass. Zwar erreicht die Kritik hier, was die Häufigkeit (Abb. 1) und was den deutlich negativen Anteil der Bewertungen angeht (Abb. 3), ihren Höhepunkt, zugleich ist jedoch zu beobachten, dass nun auch die Bewertungen Reich-Ranickis eine deutlich negative Tendenz aufweisen (Abb. 8). Was hier geschehen ist, scheint sich aus der Kritik Reich-Ranickis selbst zu erklären. Diese erscheint, wie deren inhaltliche Analyse zeigt, ebenso wie die Kritik Heidenreichs wenig differenziert und im Vergleich zu den Fernsehbewertungen aller anderen durchgehend tendenziöser und weniger Aspekte umfassend (Abb. 7). Zwar scheint die mangelnde Differenziertheit der Kritik für ReichRanickis Popularität und somit für seine Subjektqualität als Skandalierer unmittelbar nach der Fernsehpreisrede noch kein Problem darzustellen, wird aber in der Folge von Aus aktuellem Anlass zu einem solchen; was sich schlicht daraus erklärt, dass Reich-Ranickis Kritik nicht differenzierter wird. Auch im Rahmen des halbstündigen Interviews mit Thomas Gottschalk liefert Reich-Ranicki weder dezidierte Begründungen für seine Position noch formuliert er das Objekt seiner ‚Kritik‘ aus: Er verwechselt Comedian Atze Schröder fortwährend mit Helge Schneider24 und insistiert weiterhin, dass „ein großer Teil des Fernsehens […] scheußlich, abscheulich“ sei, ohne jedoch zu benennen, welcher. Neu ist eigentlich nur Reich-Ranickis wiederholte Forderung – wohl wieder an die Öffentlich-Rechtlichen, auch hier differenziert er an keiner Stelle – nach einem „Unterhaltungsprogramm […], das doch ein gewisses Niveau hat“, wofür ihm ausgerechnet Berthold Brecht der richtige Mann scheint: „Brecht, wenn man den hätte, der wäre der Richtige für’s Fernsehen.“25 Elke Heidenreich, die Reich-Ranicki am Morgen nach der Sendung wieder mit einem FAZ-Artikel zur Seite springt, erweist sich zwar als weniger gestrig und uninformiert als der pensionierte Literaturpabst, differenziert die Debatte aber ebenfalls nicht weiter aus. Sie spricht lieber über die ungünstige Sendezeit von Lesen! und pflegt ihre daraus resultierenden Animositäten mit der ZDFIntendanz und Gottschalk.26 Und wenn es dann doch einmal heißt: „Man sollte
24
25 26
Natürlich muss man beide nicht unbedingt unterscheiden können. Dass Reich-Ranicki es nicht kann, zeigt allerdings, dass er sich nicht auf die Sendung vorbereitet hat. Man sollte denjenigen schon kennen, über den man sich öffentlich ärgern will, vor allem dann, wenn Reich-Ranicki auf die Frage, ob er die gegenwärtige Comedy-Kultur vielleicht nicht mehr verstehe und daher dazu doch lieber schweigen sollte, selbstbewusst antwortet: „Nein, ich finde lustig, was mir gefällt. […] Ich habe noch keine Schwierigkeiten mit dem Material.“ Zitiert nach Aus aktuellem Anlass, Erstsendung am 18.10.2008 im ZDF. In der Talkshow Beckmann a.a.O. äußert sie sich dahingehend: „Ich habe gekämpft um einen besseren Termin, und das hatte auch mit Gottschalk zu tun. Und ich habe immer gesagt, macht
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[…] Quoten endlich mal kompetent hinterfragen“ (Heidenreich 2008b), bleibt sie genau das schuldig. Sie spricht das Problem der Quote bzw. des Quotendrucks zwar an und bringt es damit vermutlich27 in den Diskurs ein, weiß dazu inhaltlich aber nichts weiter zu sagen. Die quantitative Analyse zeigt zudem, dass Elke Heidenreich von Anfang an nicht nur weniger häufig, sondern auch weniger häufig positiv als ReichRanicki bewertet wird (Abb. 8, 9). Sie kann, was Popularität und Zustimmung angeht, offensichtlich nicht aus dem Schatten der Medienikone Reich-Ranicki heraustreten. Das heißt, es gelingt ihr nur einmal, nämlich in der Folge der Bekanntgabe ihrer Entlassung beim ZDF. Zu diesem Zeitpunkt erringt sie erstmals mehr Aufmerksamkeit als Reich-Ranicki, allerdings ebenso wie dieser hauptsächlich in Form von negativen Bewertungen. Hier zeigt sich ein zweiter Wendepunkt der Skandaldebatte. Beide Hauptskandalierer verlieren noch einmal deutlich an Sympathie. Heidenreich offensichtlich, weil ihr Rausschmiss nach ihren emotionalen Attacken gegen das ZDF gerechtfertigt scheint: „Man schämt sich, in so einem Sender überhaupt noch zu arbeiten. Von mir aus schmeißt mich jetzt raus“ (Heidenreich 2008a). Reich-Ranicki offensichtlich, weil er Heidenreich nach ihrem Rausschmiss in den Rücken fällt. Er zeigt nicht nur Verständnis für ihre Kündigung und nimmt Duzfreund Gottschalk gegen sie in Schutz, sondern wertet nun auch ihre Sendung ab: „Was wir im Literarischen Quartett gemacht haben, fand auf einem anderen intellektuellen Niveau statt als die Heidenreich-Sendung.“28 Darüber hinaus beschuldigt er sie der Intrige: „Reich-Ranicki […] kritisierte Heidenreich in Bunte: ‚Thomas als dumm hinzustellen ist eine Unverschämtheit. Elke hat sich miserabel benommen. Sie hat noch intrigiert. Sie wollte, dass man Thomas meine Laudatio wegnimmt, um sie selbst zu halten.‘“29 Dass beide Skandalierer danach keine nennenswerte Anzahl an positiven Bewertungen mehr haben und im Allgemeinen nur noch deutlich weniger Bewertungen verzeichnet werden können (Abb. 8, 9), verweist darauf, dass die Entlassung Heidenreichs zum einen dem Diskurs um die Skandalierer ein Ende gesetzt hat. Zum anderen tritt – nach einem letzten mittleren Peak am 3. Novem-
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Gottschalk mal eine Stunde oder eineinhalb später, der wird keine Zuschauer verlieren. Macht mal ތne Sendung wie Lesen! ތne Stunde früher. Die Leute sind müde, die können mir gar nicht folgen.“ Hinter dem ‚vermutlich‘ verbirgt sich die Einschränkung, dass wir natürlich nicht mit Gewissheit behaupten können, dass der Gesamtdiskurs den thematischen Impulsen Reich-Ranickis wie Heidenreichs folgt, dass also deren Kommentare ursächlich entsprechende Folgekommentare ausgelöst haben, da dies auch andere Urheber oder Ursachen haben könnte. Beispielsweise können sich bestimmte thematischen Aspekte einfach aus dem Thema selbst ergeben: Wenn man derzeit über das Fernsehen spricht, dann spricht man eben in der Regel auch über Quoten. Reich-Ranicki in einem Interview in der Dezemberausgabe von Cicero. Magazin für politische Kultur unter http://www.cicero.de/839.php?ausgabe=12/2008, Abruf am 28.4.2009. Nachzulesen in Bunte vom 20.10.2008 unter http://www.bunte.de/newsline/newsline-thomasgottschalk-will-nicht-zu-elke-heidenreich_aid_6950.html, Abruf am 30.4.2009.
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ber – bereits eine Woche später auch die Skandaldebatte insgesamt in ihre Abschwungphase ein (Abb. 1). Zwar zeigt die quantitative Analyse, dass sich in den Wochen nach der Entlassung Heidenreichs die Themenstruktur öffnet und den pauschalen Diskurs über das schlechte Fernsehen um neue Facetten ergänzt; es finden sich – wie Tabelle 1 zeigt – neben allgemeinen Bewertungen des Fernsehens und einigen Bewertungen der Unterhaltung (des einzigen von ReichRanicki zusätzlich in den Diskurs eingebrachten Aspekts) nun auch vermehrt Bewertungen des Aspekts Information. Allerdings kann sich augenscheinlich unabhängig von den Hauptskandalierern keine breite kritische Debatte mehr entwickeln, die sich nun differenziert mit der Aufgabe und Funktion des Fernsehens auseinandersetzt, sondern das Interesse am Gegenstand ebbt nach und nach ab. Hier scheint die Grenze des durch Reich-Ranicki und Heidenreich initiierten und getragenen Skandals erreicht. Ökonomie des Skandals Dass sich der Skandal nicht zu einer kritischen Debatte entwickelt konnte, scheint weniger an seinem Thema zu liegen. Die Anprangerung des vermeintlich schlechten Fernsehprogramms hat, wie die Dynamik des Skandals vermuten lässt, im Kern den öffentlichen Nerv getroffen. Jedoch wird deutlich, dass die Kritik von den Falschen auf die falsche Art und Weise vorgetragen wurde, so dass aufgrund der mangelnden Differenziertheit des Diskurses und mangelnden Qualifikation der Diskursführer die Debatte letztlich als Skandal verpufft ist. Betrachtet man dazu nochmals die Rhetorik beider Skandalierer, zeigt sich, dass es diesen von Anfang bis Ende um andere Dinge ging als eine fundierte Fernsehkritik. Zudem scheint vor allem Reich-Ranicki, wie die TV-Diskussion mit Gottschalk zeigt, gar nicht in der Lage, eine Debatte über das Thema zu führen, geschweige denn anzuführen. Er weiß offensichtlich nicht, über welches Fernsehprogramm er spricht. Kategorien wie „Quote“, „Zielgruppe“ und „Öffentlich-Rechtliche“ versus „Private“30 bringt ausschließlich Gottschalk in die Diskussion ein, während Reich-Ranicki kaum darauf eingeht oder bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit auf das Feld der Literatur ausweicht, ein Gebiet, auf dem er sich im Gegensatz zum Fernsehen auszukennen glaubt. Rhetorisch inszenieren beide Skandalierer sich selbst und einander dabei in einem stark personifizierenden Dreieck von Täter-, Opfer- und Heldenrollen. Zwar vergeht sich das Fernsehen, insbesondere das öffentlich-rechtliche, irgendwie an seinen Zuschauern, indem es diese irgendwie schlecht unterhält und damit 30
Zitiert nach Aus aktuellem Anlass a.a.O.
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irgendwie seinem Kultur- und Bildungsauftrag nicht nachkommt, aber der eigentliche Skandal vollzieht sich, den Skandalierern folgend, an den Skandalierern selbst. Heidenreich macht Reich-Ranicki zum Opfer der Gala-Veranstalter und zum Helden der Kultur. Mal wird er unter Heidenreichs (2008a) Feder zum „gebrechlich[en] alten Mann“, mal zum „Gott des Donners und des Zorns“. Täter sind die „Programmdirektoren und Intendanten“ und natürlich „Thomas Gottschalk“, Täter nicht nur an Reich-Ranicki, sondern auch an ihr und ihrer Sendung; während sie sich mit dem ‚Literaturpabst‘ sowohl in seiner Opfer- als auch in seiner Heldenrolle identifiziert. Reich-Ranicki selbst will sich dagegen weniger als Oper, denn als Kämpfer für die Hochkultur verstanden wissen und sieht zugleich Gottschalk und in der Folge auch sich selbst als Opfer einer intrigierenden Heidenreich. Diese wird sich später dann als Opfer einer Intrige Reich-Ranickis profilieren.31 Aber das gehört schon nicht mehr zum eigentlichen Skandal, sondern mit Burkhardt in eine sekundäre Rehabilitationsphase, in der Heidenreich genauso wie Reich-Ranicki bereits „wieder symbolisches Kapital kulminieren“ (2006: 205) – und durchaus auch monetäres: Marcel Reich-Ranicki posierte unter Anspielung auf seine Wutrede in einer Werbeanzeige der Deutschen Telekom. Elke Heidenreich wurde, wohl nicht zuletzt aufgrund ihres gesteigerten Bekanntheitsgrades, von der Verlagsgruppe und Bertelsmann-Tochter Random House als Herausgeberin von „Musik in Büchern – Edition Elke Heidenreich“ rekrutiert. Der auf großer Bühne inszenierte Fernsehpreisskandal dreht sich also vorrangig um die Skandalierer selbst. Ihre ‚Kritik‘ am Fernsehen erscheint bloß als Vehikel einer Medienpräsenz in eigener Sache. Und der Skandal bringt deshalb keine breite kritische Debatte hervor, weil sich genau in dem Moment, in dem sich der Diskurs zu differenzieren beginnt, seine Skandalierer aus dem Diskurs verabschieden und mit ihnen eine Öffentlichkeit, die vor allem Reich-Ranicki mittels seiner Popularität hervorgerufen hat. So zeigt der Fall Reich-Ranicki nicht zuletzt auch, dass die Subjektqualität eines Skandalierers nicht unbedingt dessen Qualifikation folgt. Vielmehr resultiert die ‚Qualität‘ der Skandalierer ebenso wie der Skandal selbst aus einer Ökonomie der Aufmerksamkeit: „Wer hinreichend bekannt ist, findet schon allein aufgrund des Grades seiner Bekanntheit Beachtung. […] Die Aufmerksamkeit, die die Großverdiener in Sachen Aufmerksamkeit einnehmen, gilt nicht ihrer erbrachten Leistung, sondern immer auch dem Faktum ihrer Bekanntheit selbst“ (Franck 2007: 114). Dabei ist, wie sich gezeigt hat, das symbolische Kapital der (durch den Skandal nochmals) gesteigerten Bekanntheit durchaus in Kapital im eigentlichen Sinne konvertibel. Es gilt mit Franck (2007: 120): 31
So unter anderem geschehen in der Talkshow Beckmann a.a.O. Dort spricht sie wiederholt von einem „Verrat“ Reich-Ranickis an ihr.
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Prestige, Reputation, Prominenz und Ruhm sind Formen genuinen Kapitals. Sie sind keineswegs nur, was der Soziologe Pierre Bourdieu als ‚symbolisches‘ Kapital bezeichnet. […] Der sich rentierende Bekanntheitsgrad der Person stellt […] ein Kapital in dem wörtlichen Sinne dar, dass er aus akkumulierter Beachtung besteht, die sich in der Form leistungsfrei bezogener Beachtung verzinst. Der Reichtum, um den es hier geht, verschafft nicht nur soziale Geltung. Er ist ein Reichtum, der aus demselben ‚Stoff‘ besteht, wie das Einkommen, das er abwirft. Dass der Eklat bei der Gala zum Zehnten Deutschen Fernsehpreis keine kritische Debatte auslösen konnte, heiß also nicht, dass er nicht als Skandal funktioniert hätte. Im Gegenteil, der Ökonomie des Skandals zufolge haben alle Beteiligten von der durch den Skandal verursachten öffentlichen Aufmerksamkeit profitiert, die Skandalierer genauso wie die Medien: Zeitungen wurden gelesen, Sendungen wurden geschaut und der Star in seinem medialen Marktwert erhöht. Alle wurden entlohnt und keiner hatte Verluste zu verzeichnen, nicht einmal das Fernsehen in seiner Reputation. Dafür wurde der Diskurs einfach zu unqualifiziert geführt, eben nur als Skandal und nicht als Debatte. Das heißt, jemand hat doch einen Verlust zu verzeichnen, nämlich der Teil der Publikums, der sich tatsächlich eine breite Debatte über die Aufgaben des öffentlich-rechtlichen Fernsehens im Rahmen seiner ökonomischen, institutionellen, rechtlichen Voraussetzungen und daraus resultierende Konsequenzen erhofft hatte. Aber das öffentliche Spektakel des Skandals folgt, wie diese Untersuchung gezeigt hat, nun einmal einer anderen Ökonomie als die kritische Debatte. Literatur Böcking, Tabea (2007): Sportskandale in der Presse. Thematisierungsmuster und ihre gesellschaftlichen Folgen. In: Publizistik 52/4, S. 502-523. Bösch, Frank (2006): Politische Skandale in Deutschland und Großbritannien. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 53/7, S. 25-32. Bösch, Frank (2003): Öffentliche Geheimnisse. Die verzögerte Renaissance des Medienskandals zwischen Staatsgründung und Ära Brandt. In: Weisbrod, Bernd (Hg.): Die Politik der Öffentlichkeit – die Öffentlichkeit der Politik. Politische Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik. Göttingen: Wallstein, S. 125-150.
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„Im Klub der Spritzensportler“ – Medienlinguistische Beobachtungen zur kontrastiven Analyse von Dopingskandalen Stefan Hauser
Dopingvergehen gehören in der Welt des mediatisierten Hochleistungssports zu den Skandalen par excellence. Die lange Liste der Dopingfälle im 20. Jahrhundert liest sich dann auch beinahe wie eine Geschichte des modernen Spitzensports unter umgekehrten Vorzeichen. Ein besonders tragischer Fall, der die Dopingproblematik auf dramatische Weise ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit brachte, war der Tod des Radrennfahrers Tom Simpson, der während der Tour de France 1967 an den Hängen des Mont Ventoux erschöpft vom Fahrrad sank und kurz darauf verstarb. Wie sich herausstellte, hatte er Amphetamine (zur Leistungssteigerung) und Alkohol (gegen die Schmerzen) zu sich genommen. Ein anderer spektakulärer Dopingskandal war die Festina-Affäre, die sich ebenfalls während der Tour de France abspielte. Kurz vor dem Tour-Start 1998 wurden bei einem Betreuer der Festina-Mannschaft große Mengen unerlaubter Substanzen gefunden, was zum Ausschluss zweier Mannschaften führte und den Rückzug fünf weiterer Mannschaften zur Folge hatte. Längere Zeit war unklar, ob die Tour abgebrochen werden musste, sie wurde schließlich von Marco Pantani gewonnen, der jedoch seinerseits im folgenden Jahr wegen eines erhöhten Hämatokritwertes vom Giro d’Italia ausgeschlossen wurde. Auch in den Folgejahren wurde der Radsport von verschiedenen Dopingskandalen erschüttert, in die zahlreiche Radsportgrößen wie etwa Jan Ullrich oder Floyd Landis verwickelt waren.1 Die Liste spektakulärer Dopingskandale ist nicht nur sehr lang, sondern umfasst Sportarten aus fast allen Bereichen des Spitzensports. Besonders wenn erfolgreiche und international bekannte Sportler bzw. Sportstars des Dopinggebrauchs überführt werden, nimmt die mediale Skandalisierung ein
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Dies hatte bei der Tour de France 2007 sogar die Konsequenz, dass die ARD und das ZDF ihre traditionsreiche und äußerst aufwändige Live-Berichterstattung während der Rundfahrt einstellten, als bekannt wurde, dass der T-Mobile-Fahrer Patrik Sinkewitz der Einnahme von Doping überführt worden war.
K. Bulkow, C. Petersen (Hrsg.), Skandale, DOI 10.1007/978-3-531-93264-4_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Ausmaß an, das weit über die eigentliche Sportberichterstattung hinausgeht und Anlass zu breiter öffentlicher Empörung gibt.2 Im Folgenden soll es zunächst darum gehen, verschiedene methodische Überlegungen zur kontrastiven Analyse von Medienskandalen zu thematisieren. Daran schließt ein empirischer Vergleich an, der Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der sprachlichen Organisation von Dopingskandalen in der englischund der deutschsprachigen Presse darstellt. Dies führt schließlich zur Frage, ob die empirischen Befunde auf grundlegende Unterschiede in der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Dopingproblematik zurückzuführen oder ob die Gründe dafür in unterschiedlichen journalistischen Konzepten zu suchen sind. Kontrastive Skandalanalyse – Methodologische Überlegungen Skandale können mit Imhof (2002: 73) als „Fenster zur sozialen Ordnung“ aufgefasst werden. Sie bieten die Chance, die Normen und moralischen Codes einer Zeit genauer zu analysieren, indem sie verdichtet zeigen, wie Deutungen über gesellschaftliche Verhaltensregeln entstanden (vgl. Bösch 2009: 3). Wenn im Folgenden für eine kontrastive Skandalanalyse plädiert wird, dann ist damit eine methodische Vorgehensweise gemeint, die darauf ausgerichtet ist, auf der Grundlage des Vergleichens ein zusätzliches Fenster zur sozialen Ordnung zu öffnen, um damit ein vertieftes Verständnis für bestimmte Skandalphänomene zu erlangen. Insbesondere macht die Methode der kontrastiven Skandalanalyse auf die Notwendigkeit aufmerksam, bei der Analyse von Medienskandalen zwischen journalistischen Normen und gesellschaftlichen Moralvorstellungen zu unterscheiden. Obwohl es nicht zu bestreiten ist, dass diese beiden Arten von Normen stark aufeinander bezogen sind, ist ihre analytische Trennung wesentlich, um nicht einer Gleichsetzung von Journalismuskultur und Gesellschaft zu verfallen. Die empirisch ausgerichtete kontrastive Skandalanalyse zeigt die Notwendigkeit – aber auch die Schwierigkeit – zwischen journalistischen und gesellschaftlichen Normen zu differenzieren.
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Zu den aufsehenerregenden Fällen in der Leichtathletik gehört der Dopingskandal um Ben Johnson, der 1988 an den Olympischen Spielen in Seoul mit 9,79 Sekunden einen neuen Weltrekord über 100m lief und kurze Zeit später der Einnahme von Stanozolol überführt wurde. Ein anderer spektakulärer Fall der jüngeren Olympiageschichte betrifft die fünffache Medaillengewinnerin Marion Jones. Der US-amerikanischen Sprinterin wurden ihre Medaillen aberkannt, nachdem sie 2007 gestanden hatte, anabole Steroide eingenommen zu haben.
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Die vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung hat in jüngster Zeit viel Beachtung gefunden (vgl. Thomaß 2007, Luginbühl & Hauser 2010).3 Dabei gewinnt das Konzept Journalismuskultur als heuristisches Denkwerkzeug zunehmend an Schärfe (vgl. Hepp 2005; Hanitzsch 2007; Hahn & Schröder 2008). Vergleichende Ansätze haben auch in der Skandalforschung ihre Attraktivität unter Beweis gestellt. So lässt sich etwa die historisch ausgerichtete Skandalforschung als eine Form der kontrastiv angelegten Skandalanalyse begreifen (vgl. Imhof 2002; Bisbort 2008; Bösch 2009). Indem Deutungs- und Aushandlungsprozesse über gesellschaftliche Verhaltensnormen in der öffentlichen Kommunikation zeitlich kontrastiert werden, bietet sich der historisch-vergleichenden Perspektive die Möglichkeit, die kognitiven und evaluativen Ordnungen einer Zeit genauer zu beobachten.4 Im Unterschied zur historischen Perspektive geht es im Folgenden um eine Form der kontrastiven Skandalanalyse, die nicht auf dem diachronen Vergleich verschiedener Zeiträume, sondern auf dem synchronen Vergleich verschiedener Journalismuskulturen und verschiedener Sprachräume beruht. Für die vergleichende Analyse von Dopingskandalen ist es von besonderem Interesse, ob im Kontext der Globalisierungstendenzen des Mediensports auch eine diskursive Uniformierung der Berichterstattung über Dopingfälle zu beobachten ist. Dabei steht zunächst die Frage im Vordergrund, wie der Dopingdiskurs sprachlich organisiert ist. Das Augenmerk wird hier auf das für den Skandal konstitutive Element des Normbruchs gerichtet. Von Interesse ist sowohl die sprachliche Form, die den Normbruch bezeichnet, als auch das Problem der Wertung. Inwiefern sich in den verschiedenen sprachlichen Formen auch unterschiedliche Denkkategorien und Begriffsordnungen manifestieren, wird schließlich zu den analytischen Herausforderungen gehören.
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Esser (2004: 152) charakterisiert die vergleichende Kommunikationsforschung folgendermaßen: „Vergleichende Kommunikationsforschung unterscheidet sich von nicht-vergleichender Kommunikationsforschung in drei Punkten: Es handelt sich um eine besondere Strategie zum Erkenntnisgewinn, die (a) grundsätzlich grenzüberschreitend vorgeht, sich (b) um eine system- und kulturübergreifende Reichweite ihrer Schlussfolgerungen bemüht, und die (c) Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten zwischen Untersuchungsobjekten mit den Kontextbedingungen der sie umgebenden Systeme bzw. Kulturen erklärt“. Siehe hierzu ausführlich den Beitrag von Bösch in diesem Band.
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Verglichen werden Dopingskandale in der überregionalen Presse in vier Ländern (Deutschland, Schweiz, England, Australien).5 Diese Vergleichskonstellation ist darin begründet, dass in vielen kulturwissenschaftlich angelegten Arbeiten im Bereich der kontrastiven Medienanalyse lediglich theoretisch aber zumeist nicht empirisch zwischen nationalen Räumen und Sprachräumen unterschieden wird.6 Indem hier die Skandalisierung in Pressetexten aus vier Ländern und zwei Sprachräumen untersucht wird, lässt sich präziser zwischen Merkmalen differenzieren, die eine nationale Verbreitung aufweisen, und solchen, die sich über Sprachräume erstrecken.7 Dopingskandale als Medienskandale Aus der Fülle der Skandalkonzeptionen sollen im Folgenden zwei herangezogen werden, und zwar einerseits um unterschiedliche theoretische Zugangsweisen zum Phänomenbereich Skandal zu diskutieren und andererseits um die hier zur Debatte stehenden Dopingskandale als Medienskandale einzugrenzen. Gemäß Bösch (2009: 9) sind drei Komponenten ausschlaggebend, um im analytischen Sinne von einem Skandal zu sprechen: „(1) Ein praktizierter oder angenommener Normbruch einer Person, einer Gruppe von Menschen oder Institution; (2) dessen Veröffentlichung; (3) und eine breite öffentliche Empörung über den zugeschriebenen Normbruch.“ Im Unterschied zu dieser eher allgemeinen Begriffsbestimmung, die drei konstitutive Komponenten unterscheidet, führt Pundt (2008: 212) fünf Charakteristika des Skandals an: (1) Normübertretung, (2) Geheimnis, (3) Diskreditierung, (4) Anklage und (5) Personalisierung. Beim Vergleich der beiden Skandalkonzeptionen zeigt sich, dass Pundts Definition 5
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Das Datenmaterial besteht aus Texten aus den Jahren 2004 bis 2010 und deckt das ganze journalistische Spektrum von der Boulevardzeitung bis zur Qualitätspresse ab. England: The Times, The Guardian, Daily Mirror, The Sun, Daily Express, Daily Mail. Australien: The Australian, The Age, Sydney Morning Herald, The Daily Telegraph. Deutschland: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Süddeutsche Zeitung (SZ), Die Welt, Bild, taz. Schweiz: Neue Zürcher Zeitung (NZZ), Tagesanzeiger, Basler Zeitung, Blick. In vielen kontrastiven Arbeiten kommt außerdem eine zusätzliche Schwierigkeit hinzu, die darin besteht, dass aus dem Vergleich von lediglich zwei Bezugsgrößen keine abschließende Beurteilung möglich ist, ob die festgestellten Charakteristika eine ausschließlich nationale oder übernationale bzw. transnationale Verbreitung aufweisen. Einschränkend gilt es jedoch festzuhalten, dass mit Hilfe des vorliegenden Datenmaterials keine abschließende Beurteilung bezüglich der Reichweite der untersuchten Phänomene möglich ist, da weder der deutsche noch der englische Sprachraum vollständig abgedeckt ist. Wenn im Folgenden von ‚deutschsprachigen‘ Zeitungen die Rede ist, dann sind damit die deutschen und die Schweizer Zeitungen des vorliegenden Korpus gemeint. Entsprechend werden mit ‚englischsprachigen‘ Zeitungen die britischen und australischen Zeitungen benannt.
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nicht präziser, sondern spezifischer ist. In Pundts Ansatz werden bestimmte Typen der Skandalisierung genauer charakterisiert, dafür werden andere von der Definition nicht erfasst. So gibt es in der Tat zahlreiche Skandale, die durch die Aufdeckung eines Geheimnisses oder eines „Ärgernisses“ (Imhof 2002) gekennzeichnet sind. Dopingskandale gehören ganz eindeutig in diese Kategorie. Die Enthüllung eines zunächst geheim gehaltenen Normverstoßes ist jedoch nicht eine Eigenschaft, die auf die Gesamtheit aller Skandale zutrifft. Dies ist etwa an Medienskandalen ersichtlich, die gerade darauf basieren, dass eine Normüberschreitung in der Öffentlichkeit vollzogen wird, ohne dass dabei von Seiten Dritter etwas Geheimes offenbart wird. Wenn man an die ‚Wutrede‘ ReichRanickis denkt,8 die er anlässlich des Fernsehpreises 2008 hielt, dann zeigt sich, dass in diesem Fall das Element der ungewollten Enthüllung eines Geheimnisses fehlt. Auch beim als ‚Nipplegate‘ bekannt gewordenen Zwischenfall anlässlich des Super Bowl 2004 wurde zwar etwas enthüllt, was nach Meinung einer breiten amerikanischen Öffentlichkeit hätte verdeckt bleiben sollen. Aber der Skandal ist auch in diesem Fall im Akt der öffentlichen Enthüllung bzw. Entblößung zu sehen und nicht im Umstand, dass ein Geheimnis gegen den Willen der betroffenen Person preisgegeben wurde. Die Aufdeckung und Veröffentlichung eines Geheimnisses durch einen medialen Skandalisierer ist demnach zwar kein konstitutives Element von Medienskandalen, es ist aber für viele Medienskandale – insbesondere auch für Dopingskandale – sehr wohl ein typisches Merkmal. Ebenso ist die von Pundt (2008) als Definitionskriterium angeführte Personalisierung ein Kennzeichen, das zwar für viele Skandale Geltung zu beanspruchen vermag. Aber es lassen sich auch Beispiele von Skandalen anführen, für die das Element der Personalisierung nicht maßgebend ist.9 Im Falle von Dopingvergehen ist die Personalisierung jedoch ein entscheidendes Mittel der Skandalisierung. Bette und Schimank (2002: 94) erwähnen in ihrer soziologischen Dopinganalyse verschiedene Standard-Plots, auf die im Rahmen von Dopingskandalen rekurriert wird und die sich dadurch auszeichnen, dass „sie mit einer oberflächlichen Plausibilität Doping in extremer Weise personalisieren“. Die Personalisierung erweist sich somit als eine für die Sportberichterstattung charakteristische narrative Strategie, die nicht nur der Heroisierung, sondern auch der Skandalisierung dient. Den Effekt, den die Personalisierung von Sportstars haben kann, lässt sich mit einer griffigen Formel Thompsons (1997: 51) 8 9
Siehe dazu ausführlich den Beitrag von Bulkow & Petersen in diesem Band. So gab es zwischen 2005 und 2007 in Deutschland mehrere Fleischskandale (von denen einzelne als ‚Gammelfleischskandale‘ bekannt wurden), die sich eher durch eine Skandalisierung eines Systems (nämlich gewisser Zweige der Lebensmittelverarbeitungsindustrie) als durch eine Skandalisierung einzelner Personen auszeichneten.
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zusammenfassen: „Those who live by the media are most likely to die by the media.“ Was die gesellschaftliche Funktion von (Medien-)Skandalen betrifft, gehen verschiedene kommunikationswissenschaftliche Ansätze implizit oder explizit von der These aus, dass mit Skandalen nicht nur eine Diskursivierung des gesellschaftlich akzeptierten ‚Normalfalls‘ einhergeht, sondern dass damit auch auf eine Wiederherstellung von Normalität hingearbeitet wird: Diskurstheoretisch lassen sich Skandale als effektive mediale Strategien zur Produktion von Normalität begreifen. Sie ermöglichen im heterogenen Feld der Massenmedien eine breite Verknüpfung und Anbindung der Kommunikation an vielfältige Ereignisse, die als personalisierte bad news ausgestellt werden können. Gleichzeitig ermöglicht der performative Akt der Skandalisierung durch seine unterschwellige Einforderung von Normalität, deren Existenz in der unterstellten Grenzverletzung auf dem Spiel steht, eine Zurückschreibung der Welt in den Bereich des Normalen. Skandale lassen sich somit als ein geradezu idealtypisches Beispiel für den evidenten Normalisierungsprozess der Massenmedien betrachten. (Pundt 2008: 220) Diese diskurstheoretisch fundierte Sichtweise, die man auch als strukturfunktional bezeichnen kann, basiert auf der Annahme, dass Skandalen hinsichtlich gesellschaftlicher Strukturen eine stabilisierende Wirkung zukommt: „Indem der Skandalruf einen Missstand propagiert, beansprucht er gleichzeitig die Geltung der Normen und Werte dieser Ordnung und fordert ihre Wiederherstellung“ (Imhof 2002: 73). Dieser Ansatz findet sich in unterschiedlicher Ausprägung in verschiedenen sozial- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten zu Medienskandalen.10 Daran zeigt sich der performative Charakter von Medienskandalen sehr deutlich: Skandale konstituieren sich selbst, indem sie ein Ereignis oder einen Sachverhalt zum Skandal erklären und weiterkommunizieren (vgl. Pundt 2008: 15). Ob jedoch mit Burkhardt (2006: 369) Medienskandale als „mediale Rituale der modernen Mediengesellschaft zur Aktualisierung von Moral“ interpretierbar sind, hängt vom zugrunde gelegten Ritualbegriff ab. Versteht man nämlich Medienskandale als prozesshafte und in den meisten Fällen auch ergebnisoffene 10
Ein weiteres Beispiel für diesen Ansatz ist in Bergmann & Pörksen (2009: 32) zu finden: „Die Grenzverletzung zeigt die Grenze auf, der Normbruch offenbart und reproduziert die Norm. Folgt man dieser These, dann unterminieren Skandale nicht die gesellschaftliche Ordnung, sondern legitimieren und stärken sie: Sie führen das Nichterlaubte vor und zeigen, was denen passiert, die sich nicht an die Regeln halten.“
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Ereignisse mit einer eigenen Dynamik, dann stellt sich die Frage, inwiefern der Begriff ‚Ritual‘ für den kontingenten Ereignistyp des Skandals tatsächlich geeignet ist. Dass der systematische Vergleich verschiedener Medienskandale gewisse rekurrente Strukturen und Verlaufsmuster offenlegt, ist nicht zu bestreiten. Dies lässt sich sowohl anhand von Dopingskandalen als auch anhand von anderen Medienskandalen nachweisen. Inwiefern diese wiederkehrenden Muster der Skandalisierung jedoch als Rituale zu konzeptualisieren sind, wäre noch zu präzisieren. Dopingskandale im deutsch-englischen Vergleich Aus dem Vergleich der englisch- und deutschsprachigen Presseberichterstattung geht hervor, dass in verschiedenen Bereichen des Dopingdiskurses dieselben sprachlichen Muster zum Zug kommen. Wo es um die Bezeichnung von Dopingbezogenen Sachverhalten und um die Benennung Doping-bezogener Handlungen geht, sind die Übereinstimmungen sehr ausgeprägt. Bei der Versprachlichung des Normverstoßes hingegen treten auffällige Unterschiede zutage, was sich besonders deutlich in der Metaphorik bemerkbar macht. Zu den äquivalenten Ausdrucksweisen im Bereich der Doping-bezogenen Sachverhalte gehören Begriffe wie „leistungssteigernde Mittel“, „verbotene Substanzen“ und „positive/negative A/B-Probe“.11 In der englischsprachigen Berichterstattung lauten die entsprechenden Begriffe „performance enhancing drugs“, „banned substances“ und „positive/negative A/B-sample“.12 Man kann hier also, um einen Begriff aus der Übersetzungswissenschaft zu verwenden, von ‚totaler Äquivalenz‘ sprechen. Auch in Bezug auf Doping-bezogene Handlungen fallen die Ähnlichkeiten sehr deutlich aus. So lautet eine sprachliche Formel, die in der Dopingberichterstattung standardmäßig verwendet wird, „positiv auf [X] getestet werden“. Die Leerstelle [X] wird entweder durch die Bezeichnung einer Dopingsubstanz oder einer Dopingpraxis ergänzt. Ein Sportler wird also z.B. positiv (bzw. negativ) auf „Epo“, „Steroide“ oder „Testosteron“ getestet. Geht es nicht um eine Substanz, sondern um eine bestimmte Praxis des Dopings, dann kann es bspw. hei-
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Alle Begriffe und Formulierungen, die auf den Textkorpus der untersuchten Zeitungen verweisen, sind als Zitate gekennzeichnet, auch dann, wenn sie nicht im Einzelnen nachgewiesen werden. Mit dem Fachausdruck ‚positive (bzw. negative) A/B-Probe‘ wird ein pharmakologischer Befund und damit auch ein juristisch relevanter Sachverhalt benannt: Ein negativer Dopingtest ist für den betroffenen Sportler ein positives Ergebnis, weil keine verbotenen Substanzen nachgewiesen werden konnten.
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ßen, ein Athlet sei positiv auf Blutdoping oder auf Gendoping getestet worden.13 Äquivalent zum Deutschen kommt dieses passivische Konstruktionsschema auch im Englischen mit großer Regelmäßigkeit vor, und zwar ebenfalls mit Ergänzung („to be tested positive for [X]“) als auch ohne Ergänzung („to be tested positive“).14 Wie diese Beispiele illustrieren, gibt es eine Reihe von zum Teil sehr deutlichen Ähnlichkeiten in der sprachlichen Organisation des Dopingdiskures. Was nun aber vor allem von Interesse ist, sind die Unterschiede. Vergleicht man die metaphorische Ausgestaltung des Dopingdiskurses in deutsch- und englischsprachigen Pressetexten, dann fällt auf, dass die Skandalisierung von Dopingvergehen in der deutschsprachigen Presse von metaphorischen Konzepten geprägt ist, die im englischsprachigen Kontext nicht zu finden sind. Für die vorliegende kontrastiv angelegte Fragestellung sind unterschiedliche metaphorische Ausgestaltungen von besonderem Interesse, weil damit diskurssemantische Grundfiguren zur Anwendung kommen, mit denen kollektiven Einstellungen Ausdruck verliehen wird. Grundsätzlich ist allerdings auch mit der Möglichkeit zu rechnen, dass gesellschaftlich geteilte Wertvorstellungen nicht bereits vorgängig vorhanden sind, sondern sich im Verlauf eines Diskurses erst etablieren. Die Verwendung bestimmter metaphorischer Konzepte kann also auch zur Ausbildung kollektiver Normen beitragen. Auf die bedeutende Rolle der Metaphorik ist in unterschiedlichen Kontexten hingewiesen worden. Während die kognitive Metapherntheorie die Metaphorik als elementaren, quasi unhintergehbaren sprachlich-kognitiven Prozess konzeptualisiert, mit dem kollektives Denken strukturiert wird (vgl. Lakoff & Johnson 1980), befassen sich kulturwissenschaftliche Positionen auf einer allgemeineren Ebene mit Metaphern als kulturell bedingte Verstehens- und Deutungsmuster (Assmann 1999). So versteht etwa Eco (1995: 1313) die Metaphorik als Teil der „encyclopedia of a given culture“. Dieser Ansatz ist auch für die folgenden Überlegungen von Interesse, und zwar insofern, als davon ausgegangen wird, dass sich in der Metaphorik des Dopingdiskurses verschiedene Begriffsordnungen und kulturell geprägte Denkkategorien spiegeln. Ein metaphorisches Konzept, das in der deutschsprachigen Presse regelmäßig zur Anwendung kommt, wenn es um die Skandalisierung von Dopingvergehen geht, ist die Sünder-Metapher. Die Bezeichnung Dopingsünder ist nicht 13
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Man findet diese Wendung allerdings auch ohne zu füllende Leerstelle (positiv getestet werden). Ohne Ergänzung kommt diese Formel in der Regel dann vor, wenn der Bezugsrahmen Doping bereits hergestellt ist. Allerdings ist im Englischen zusätzlich zur passivischen Verwendungsweise des Verbs auch die aktive Variante beobachtbar, die im Deutschen so nicht vorkommt: „to test positive for [X]“ und „to test positive“.
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nur in Zeitungen mit ganz unterschiedlichen journalistischen Ansprüchen omnipräsent, sondern findet sich auch in allen Textsorten, die für die Sportberichterstattung in Tageszeitungen typisch sind. Hinzu kommt, dass der Begriff Dopingsünder in allen Textteilen zu finden ist, also in Schlagzeilen, in Lead-Texten, im Textkörper, in Zwischentiteln, in Bildunterschriften: Dopingsünder Landis bei Phonak entlassen (FAZ 6.8.2006, Schlagzeile) London – Dopingsünder Floyd Landis hat am Dienstag schwere Vorwürfe gegen Radsport-Offizielle und Dopingtester erhoben. (Die Welt 8.8.2006, Textanfang) Jeder neu entlarvte Dopingsünder bestärkt nur die Grundüberzeugung, dass ‚alle‘ nachhelfen. (taz 7.7.2006, im Text) Ausgerechnet jetzt zeigt sich der Internationale Sportgerichtshof (CAS) mit Dopingsünder Tyler Hamilton gnädig. (Blick 28.6.2006, im Text) Und es gibt [...] vielversprechende Ansätze, wie man die Sünder von der Straße bekommen könnte. (FAZ 2.5.2007, im Text) Mit der Sünder-Metapher wird ein kulturell-symbolischer Bezugsrahmen aufgerufen, der den Regelverstoß auf eine spezifische Weise kontextualisiert. Dabei kann die Häufigkeit dieser Metapher als Hinweis dafür interpretiert werden, dass der „Sünder“ zur Kollektivsymbolik zu zählen ist. Mit dem Begriff „Kollektivsymbolik“ bezeichnen Warnke und Spitzmüller (2008: 41) bildhafte Elemente (Metaphern, Synekdochen, Visiotype), „die in bestimmten Diskursgemeinschaften sozialsymbolisch besetzt sind und sich somit gut als Kontextualisierungsmittel eignen.“ Diese Funktion erfüllt auch die Sünder-Metaphorik, und zwar indem sie in verschiedenen Kontexten, in denen es um die Benennung und Bewertung von regelwidrigem Verhalten geht, als sprachliche Reflexion gesellschaftlich geteilter Normvorstellungen dient, wie etwa auch im Fall von Verkehrssünder, Ökosünder, Steuersünder.15 In die religiöse Metaphorik passt sich
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Gelegentlich wird die Sünder-Metapher auch für ad-hoc-Bildungen verwendet. So wurde der französische Fußballer Thierry Henry im Tagesanzeiger vom 19.11.2009 als „Hands-Sünder“ bezeichnet, weil er sich im gegnerischen Strafraum den Ball regelwidrig mit der Hand vorlegte, was dank des daraus folgenden Tores die Weltmeisterschaftsqualifikation für die Franzosen und die Nicht-Qualifikation für die Iren bedeutete.
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nahtlos auch die „Doping-Beichte“ ein, wie die folgenden zwei Beispiele illustrieren: Hat Erik Zabel bei seiner Doping-Beichte gelogen? (Die Welt 20.3.2008, Schlagzeile) Telegene Beichte von ‚Big Mac‘ Der Baseballer Mark McGwire gibt Doping zu (NZZ 13.1.2010, Schlagzeile, Unterzeile) Wenn nicht ein einzelner Akteur, sondern ganze Bereiche des Hochleistungssports in den Verdacht des Dopinggebrauchs geraten, ist vielfach vom „Dopingsumpf“ die Rede. Dieser dient in der deutschsprachigen Presseberichterstattung als eine gängige Metapher, die sich in allen Typen von Tageszeitungen belegen lässt: Er [Jan Ullrich] muss helfen, den Doping-Sumpf trocken zu legen. (Bild 1.7.2006, im Text) Auch damals konnten sich Stars, die im Dopingsumpf steckten, ungebrochener Zuneigung der Massen sicher sein. (FAZ 28.6.2006, im Text) Seit gestern ist die schönste Tour de France seit Jahren wieder dort, wo sie vor etwas mehr als drei Wochen gewesen war: im Dopingsumpf. (Tagesanzeiger 28.7.2006, im Text) Die negativen Konnotationen, die den „Dopingsumpf“ kennzeichnen, verweisen auf eine spezifische Wahrnehmung der Dopingproblematik. Wer in einen Sumpf gerät, befindet sich in einer misslichen Lage, aus der ein Entkommen aus eigener Kraft unmöglich erscheint. Ob für diese Vorstellung kulturell tradierte Bilder und Schilderungen von Höllenlandschaften verantwortlich sind, wie Schnyder (2000) vermutet, oder ob dafür andere Bilder als Vorlage dienen (z.B. die Legende von Baron von Münchhausen, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht), ist hier zweitrangig. Entscheidend ist, dass es sich beim „Dopingsumpf“ um ein deutlich wertendes metaphorisches Konzept handelt, das im deutschsprachigen Dopingdiskurs zu den verbreiteten Denkfiguren gehört.
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Ebenfalls zum Inventar etablierter sprachlicher Bilder des deutschsprachigen Dopingdiskurses gehört die Seuchen-Metapher: Im Klub der Spritzen-Sportler Warum selbst drakonische Strafen die Doping-Seuche nicht ausmerzen können (SZ 21.8.2006, Schlagzeile, Unterzeile) Und deshalb wird der bezahlte Spitzensport noch lange Zeit brauchen, bis er sich wieder entseucht hat. (Blick 10.8.2006, im Text) Ebenso schlecht können erfahrungsgemäss die Sportorganisationen mit dieser Seuche umgehen. Ihre kämpferischen Töne, mit denen sie mit schöner Regelmässigkeit stets in Worst-Case-Szenarien wie diesen die restlose, staatlich unterstützte Ausrottung der Doping-Seuche predigen, bleiben oft genug Lippenbekenntnisse. (NZZ 31.7.2006, im Text) Mit dem Konzept der Seuche wird der regelwidrige Dopinggebrauch als pathologischer Sachverhalt kontextualisiert. Entsprechend häufig kommt die DopingSeuche in Kombination mit Verben wie ausrotten oder ausmerzen vor, was die negative Rahmung verdeutlicht, die mit diesem Metapherngebrauch verbunden ist. Die Doping-Seuche wird als Ausgangspunkt für verschiedene ad-hoc-Metaphern genutzt, die mit kaum überbietbarer Deutlichkeit zum Ausdruck bringen, dass der Dopingkonsum als schwerwiegender Normverstoß zu verstehen ist. So ist etwa vom „Kampf gegen das Geschwür der Leistungsmanipulation“ (NZZ 23.9.2004) die Rede. Oder es heißt, es sei ein Vorteil für die Tour de France, dass „die spanische Eiterbeule noch vor dem Start geplatzt ist“ (Tagesanzeiger 1.7.2006).16 Ein weiterer Bildspender, der in deutschsprachigen Pressetexten über Dopingvorfälle in verschiedenen Ausprägungen auftritt, ist die Jagd. Die Jagdmetaphorik wird verwendet, wenn es in der Berichterstattung um die Bekämpfung des Dopingmissbrauchs geht. Für die wertende Dimension, die die Jagd-Metapher prägt, ist wiederum das Element der Gefahr ausschlaggebend: „Dopingsünder“ befinden sich metaphorisch gesprochen auf der Flucht, denn sie werden von „Dopingjägern“ verfolgt, sie „gehen den Dopingjägern ins Netz“, sie „geraten ins Visier/Fadenkreuz der Dopingfahnder“ oder sie „tappen in die Doping-Falle“. In der Bildlogik der Jagd-Metapher entsprechen gedopte Sportler der Beute, die der ständigen Gefahr ausgesetzt ist, durch eine Unachtsamkeit mit dem metaphori16
Mit der spanischen Eiterbeule ist der Fuentes-Skandal gemeint. Eufemiano Fuentes, ein Gynäkologe und Teamarzt eines spanischen Radteams, wurde 2006 als Angelpunkt eines umfassenden Dopingnetzwerks entlarvt.
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schen Tod der Sportlerkarriere zu bezahlen. Bei der Jagd-Metaphorik handelt es sich also um ein weiteres Beispiel dafür, dass die Skandalisierung von Dopingfällen in den deutschsprachigen Tageszeitungen von einer Reihe stark wertender Metaphern geprägt ist. Beim Vergleich mit der englischsprachigen Berichterstattung über dieselben Dopingfälle zeigt sich ein ganz anderes Bild. Religiöse Metaphorik ist in englischen Pressetexten im Kontext von Dopingskandalen ebenso unüblich wie die Bezugnahme auf Seuchen und Sümpfe. Auch die Jagdmetaphorik sucht man in der englischsprachigen Dopingberichterstattung vergeblich. Für den dortigen Dopingdiskurs sind ganz andere sprachliche Muster charakteristisch. Athleten, die des Dopings überführt worden sind, werden in britischen und australischen Zeitungen als „cheats“ (bzw. als „doping cheats“ oder als „drug cheats“), also als Betrüger bezeichnet. Im englischsprachigen Kontext fehlt also eine dem deutschen „Dopingsünder“ vergleichbare Metapher: Cheats in the spotlight as athletes who play by the rules struggle in the dark (Sydney Morning Herald 16.7.2004, Schlagzeile) If cheats are to be exposed, law-abiding riders supported and the truth ascertained and protected, there is no better place to begin, surely, than Strasbourg, home to the European court of Human Rights. (The Daily Telegraph 1.7.2006, im Text) The never-ending chain of cheats (Daily Mail 28.7.2006, Überschrift über einer Liste von gedopten Sportlern) Als Alternative zum „cheat“ kommt gelegentlich die ebenfalls nicht-metaphorische Bezeichnung „doping offender“ vor. Für den hier zur Debatte stehenden Sachverhalt des Missachtens von Regeln und für den damit verbundenen Versuch, sich mit unerlaubten Mitteln einen Vorteil zu verschaffen, finden sich im englischsprachigen Material jedoch keine metaphorischen Modelle, die dem Deutschen entsprechen. Das Vergehen, das sich ein gedopter Athlet hat zuschulden kommen lassen, lautet in der englischsprachigen Presse to „fail a doping/drugs test“. Diese nichtmetaphorische Formulierung kommt in verschiedenen äquivalenten Varianten vor: „to fail a doping/dope/drug/drugs test“.17 Dass dieser Ausdruck zu den Standard-Formulierungen gehört, um den Normverstoß zu benennen, ist sowohl in
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Gelegentlich ist anstelle von „to fail a doping test“ auch von „violation of doping rules“ die Rede.
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der britischen als auch in der australischen Presse anhand unzähliger Beispiele belegbar: Banned: five lifters fail dope testing (The Australian 20.8.2004, Schlagzeile) DRUGS SCANDAL ROCKS CYCLING TOUR DE SHAME Winner Landis fails dope test (The Sun 28.07.2006, Oberzeile, Schlagzeile, Unterzeile) The statement came just a day after the sport’s governing body, the UCI, had let it be known that an unidentified rider had failed a drug test […]. (Daily Mail 28.7.2006, im Text) Landis fails drugs test Floyd Landis brought cycling’s already tarnished reputation to an alltime low yesterday when it was revealed that the Tour de France winner had failed a drugs test during the race. […] Another American rider, Tyler Hamilton, failed a blood doping test after winning Olympic gold in the individual time trial while contracted to Phonak. (Daily Express 28.7.2006, Schlagzeile, im Text) Wie aus dieser kurzen Gegenüberstellung der deutsch- und englischsprachigen Presseberichterstattung ersichtlich ist, sind im Rahmen der medialen Skandalisierung von Dopingverstößen die auffälligsten Unterschiede im Bereich der Metaphorik zu finden. Geht man mit Bösch (2009: 3) davon aus, dass Skandale die Chance bieten, „die Normen einer Zeit genauer zu analysieren“, dann stellt sich angesichts der hier feststellbaren Unterschiede die Frage, von wessen bzw. von welchen Normen eigentlich die Rede ist. Es geht mit anderen Worten um die Frage, ob bei der Analyse von Medienskandalen Normen zur Debatte stehen, die eine bestimmte Journalismuskultur betreffen (z.B. Strukturen des Mediensystems, journalistische Praktiken, journalistisches Selbstverständnis etc.) oder ob es um Normorientierungen und Wertvorstellungen geht, die in erster Linie die gesellschaftliche Ebene betreffen. Das bedeutet, dass die oben erwähnten, empirisch ausgewiesenen Unterschiede in der sprachlichen Darstellung von Dopingvergehen auf zwei Kategorien von Normen bezogen werden können. Führt man die Unterschiede auf unterschiedliche Journalismuskonzeptionen zurück, werden die beschriebenen Formen der Skandalisierung primär mit unterschiedlichen journa-
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listischen Wertorientierungen und mit unterschiedlichen journalistischen Praktiken erklärt. Wenn man hingegen die Gründe für die unterschiedlichen Verfahrensweisen der Inszenierung von Moral auf der Ebene gesellschaftlicher (und nicht journalistischer) Differenzen ansetzt, wird die Rolle der Sprache als Trägerin moralischer Codes und gesellschaftlich geteilter Denkmuster in den Vordergrund gerückt. Die beiden Positionen sollen im Folgenden kurz dargestellt werden. Journalistische Normen oder gesellschaftliche Normen? Esser (1998: 74ff.) verweist in seiner vergleichenden Studie über britischen und deutschen Journalismus auf das Vorhandensein und die Wirksamkeit eines unterschiedlichen Verständnisses von Objektivität in den beiden Journalismuskulturen. Im britischen Kontext sei das Prinzip der Fairness wie auch das Prinzip der Trennung von Nachricht und Meinung tief im Bewusstsein der journalistischen Akteure verankert. Wie Esser ausführt, sucht das Fairness-Prinzip nicht nach einem übergeordneten, allgemeinen Standpunkt, sondern ist um die geregelte Darstellung verschiedener partikularer Positionen bemüht, während das Prinzip der Trennung von Nachricht und Meinung besagt, dass Nachrichten meinungsfrei und ohne Bewertungen zu formulieren seien.18 Des Weiteren erwähnt Esser (1998) eine für den britischen Journalismus charakteristische und historisch begründete Ausrichtung an grundlegenden erkenntnistheoretischen Überzeugungen des Positivismus (Rationalität, Realismus, Empirismus), was einen Journalismus förderte, „der sich am Ideal der neutralen Vermittlung der Wahrheit orientierte“ (Esser 1998: 78). Demgegenüber orientiere sich der deutsche Journalismus stärker an aufklärerischen Idealen, was eindeutigere Stellungnahmen und pointiertere Wertungen ermöglicht – oder sogar erfordert. Der deutsche Journalismus habe „traditionell eher den Akzent auf engagiert vorgetragene Meinungen gelegt, der sich im Einzelfall nicht so sehr an der empirisch erkennbaren Welt, sondern an der dahinter liegenden Wirklichkeit orientiert“ (Esser 1998: 78). Bezieht man die unterschiedlichen Formen der Skandalisierung von Dopingvergehen auf die von Esser (1998) angeführten Journalismuskonzeptionen, dann eröffnet dies zunächst zwei verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. Die erste Möglichkeit besteht darin, die oben beschriebenen Unterschiede in der sprachlichen Ausgestaltung der Dopingberichterstattung darauf zurückführen, 18
Bei dieser journalistischen Normorientierung geht es nicht nur um eine inhaltliche Trennung von Nachricht und Meinung, sondern auch um eine personelle Trennung von Nachrichtenredaktion (news department) und Meinungsredaktion (editorial department).
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dass im britischen Journalismus ein Rollenbild des unparteiischen Beobachters und Informationsvermittlers präferiert wird. Zu dieser Sicht auf den britischen Journalismus würde die Einschätzung passen, wonach mit „to fail a dope test“ nicht die gleiche Wertung zum Ausdruck gebracht wird, wie dies in der deutschsprachigen Berichterstattung mit der Sünder-, Sumpf- und Seuchenmetaphorik der Fall ist. Denn wer bei einem Test durchfällt, hat zwar eine bestimmte Zielvorgabe nicht erreicht, aber das ist moralisch eigentlich nicht verwerflich. Einen Test nicht zu bestehen, hat eher mit einem Unvermögen zu tun als mit dem Erschleichen von Vorteilen. Der Normverstoß scheint weniger deutlich einer moralischen Wertung zu unterliegen, als dies in der deutschen Presse der Fall ist. Dass die ablehnende Haltung gegenüber Fehlverhalten und Regelwidrigkeit im englischen Kontext als weniger deutlich markiert erscheint, könnte auch beim „drug/doping cheat“ vermutet werden, ist „cheat“ doch als Betrüger und als Falschspieler in Deutsche übersetzbar. Aufgrund der unterschiedlichen sprachlichen Organisation des Dopingdiskurses könnte also der Eindruck entstehen, dass der Gebrauch von Dopingmitteln in der englischsprachigen Presse als weit weniger gravierend eingestuft wird als in der deutschsprachigen Berichterstattung. Eine zweite Interpretationsmöglichkeit besteht darin, die unterschiedlichen Skandalisierungsformen nicht mit verschiedenen journalistischen Kulturen zu erklären, sondern in einen Zusammenhang mit verschiedenen gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Deutungssystemen zu bringen. Für diesen Ansatz bietet es sich an, auf das Konzept von Sprache als kulturellem Gedächtnis zurückzugreifen. Der Begriff des kulturellen Gedächtnisses geht auf den des kollektiven Gedächtnisses (mémoire collective) zurück, der von Maurice Halbwachs in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde. Zentral für Halbwachs’ Ansatz ist, dass Gedächtnis nicht als ein individuelles, sondern als ein 19 soziales Phänomen verstanden wird. Indem Halbwachs Gedächtnis als ein maßgeblich durch den Prozess der Sozialisation bedingtes Phänomen begreift, betont er nicht nur die überindividuelle, sondern auch die sozial-historische Gebundenheit von Bewusstseinsinhalten. Während Halbwachs noch von einer ganz als ‚sozial‘ verstandenen Konzeption des kollektiven Gedächtnisses ausgeht, hat sich in jüngeren kulturwissenschaftlichen Zusammenhängen eine Gedächtniskonzeption etabliert, die als eine ‚kulturelle‘ gefasst wird (vgl. dazu Linke 2005). Dabei besteht kaum ein Zweifel daran, dass Sprache zu den wesentlichen Manifestationen des kulturellen Gedächtnisses zu zählen ist. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang, dass die Sprache nicht nur der Speicherung und Überlieferung, 19
Wie Fraas (2000: 37) betont, sind zwar „die physiologischen Voraussetzungen für Erinnern und Vergessen an das Individuum gebunden. Was jedoch erinnert oder vergessen wird und auf welche Weise das geschieht, ist vermittelt durch soziale Erfahrung.“
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sondern auch der Formung von kulturellen Gedächtnisinhalten dient.20 Versucht man die Verschiedenheit in der sprachlichen Darstellung von Dopingverstößen zu erklären, lässt sich der Standpunkt vertreten, die sprachlichen Differenzen seien als ein Indiz dafür zu werten, dass die gesellschaftliche Wahrnehmung der Doping-Problematik im Englischen eine grundlegend andere sei als im deutschen Sprach- und Kulturraum. Es gibt allerdings auch eine andere – quasi entgegengesetzte – Interpretationsmöglichkeit. Man kann nämlich auch von der Annahme ausgehen, dass die negative Einstellung gegenüber dem regelwidrigen Gebrauch von Doping in der englischsprachigen Presseberichterstattung ebenso deutlich ausfällt wie in der deutschsprachigen. Nimmt man dies an, dann ist der Unterschied nicht primär im Grad bzw. Ausmaß der Bewertung zu sehen, sondern zunächst in der sprachlichen Form des Bewertens. Geht man davon aus, dass Formulierungen wie „drug cheat“ oder „to fail a dope test“ eine nicht minder deutliche (und zwar negative) Wertung zum Ausdruck bringen wie „Sünder“, „Sümpfe“ und „Seuchen“, dann stellt sich die Frage nach den zugrunde liegenden kollektiven Einstellungen und Wertungsmustern auf eine ganz andere Weise. Die Frage wäre dann eher, wie es zu erklären ist, dass in der deutschen Berichterstattung so stark wertende metaphorische Konzepte verwendet werden, um etwas zu benennen und zu bewerten, was in der englischsprachigen Presse mit vergleichsweise nüchternen sprachlichen Mitteln dargestellt wird. Die Suche ist in diesem Fall von ganz anderen Grundannahmen geprägt und geht entsprechend in eine ganz andere Richtung. Berücksichtigt man nämlich den Umstand, dass das Konzept des fair play nicht nur im Sport, sondern in allen Bereichen der britischen und australischen Gesellschaft eine zentrale Rolle spielt (vgl. Eisenberg 1999; Esser 1998), dann lässt sich argumentieren, dass „to fail a dope/drugs test“ keine Bagatelle, sondern ein schwerwiegendes Fehlverhalten benennt. Wenn man zudem berücksichtigt, dass es für den Begriff „cheat“ (bzw. das Verb „to cheat“) keinen positiven Kontext gibt, dann kann dies als Hinweis darauf verstanden werden, dass die englische Presseberichterstattung bezüglich der Verurteilung des Dopings der deutschsprachigen Presse in nichts nachsteht. So betrachtet sind Dopingvergehen in der englischsprachigen Presse nicht weniger skandalös, obschon die sprachliche Form eine solche Interpretation nahelegen könnte.
20
Wenn hier auf den Begriff des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ referiert wird, dann geht es primär um „die Art und Weise der Thematisierung bestimmter Gegenstände und die damit verbundenen Haltungen“ (Warnke & Spitzmüller 2008: 40). Im Fokus stehen gesellschaftlich geteilte Normvorstellungen und kollektive Wert- und Deutungssysteme.
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Sphere of Consensus als integratives Erklärungsmodell Vergleicht man die vorgestellten Erklärungsmuster, dann zeigen sich zwei Gegensätze. Zum einen können unterschiedliche Einflussfaktoren für die Befunde geltend gemacht werden, zum anderen bieten die beiden Erklärungsmuster aber auch die Möglichkeit, die empirischen Befunde gänzlich verschieden – gewissermaßen komplementär zueinander – zu interpretieren. Es scheint sich also um zwei unvereinbare Positionen zu handeln. Mit dem von Hallin (1986) in die medienwissenschaftliche Diskussion eingeführten Konzept der Sphere of Consensus liegt allerdings ein Ansatz vor, der das Potential hat, die Differenzen der beiden Erklärungsmodelle zu überbrücken. Die für den angelsächsischen Journalismus als wirksam postulierte Sphere of Consensus charakterisiert Hallin folgendermaßen: [I]t encompasses those objects not regarded by the journalists and most of the society as controversial. Within this region journalists do not feel compelled either to present opposing views or to remain disinterested observers. On the contrary, the journalist’s role is to serve as an advocate or celebrant of consensus values. (1986, 116f.) Das Konzept der Sphere of Consensus besagt also, dass es Sachverhalte gibt, die aufgrund eines umfassenden gesellschaftlichen Konsenses vom Journalismus nicht mit den sonst üblichen Praktiken der Objektivität und Ausgeglichenheit behandelt werden. Damit geht die Beobachtung einher, dass in der Sphere of Consensus nicht nur häufiger, sondern auch deutlicher gewertet wird. Geht man von der Annahme aus, dass der regelwidrige und gegen die Grundsätze der Fairness und Chancengleichheit verstoßende Konsum von Dopingmitteln in krassem Widerspruch zu geltenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen steht, ist es plausibel für die Dopingberichterstattung in der englischsprachigen Presse die Wirksamkeit der Sphere of Consensus anzusetzen. Damit wäre eine Erklärung für die partiell aufgehobene Objektivitätsnorm und die damit einhergehenden Wertungen der englischsprachigen Dopingberichterstattung gegeben. Interpretiert man die Befunde vor dem Hintergrund der Sphere of Consensus, dann erscheint der Grad der öffentlichen Empörung in der englischsprachigen und in der deutschsprachigen Berichterstattung vergleichbar, unterschiedlich sind jedoch die journalistischen Voraussetzungen und die sprachlichen Formen, die dieser Empörung Ausdruck verleihen.
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Schlussbemerkung: Kontrastive Skandalanalyse als Fenster zu verschiedenen Ebenen sozialer Ordnung Untersucht man Dopingskandale aus kontrastiver Perspektive, zeigen sich markante Unterschiede in der sprachlichen Darstellung des Normverstoßes. Gerade in den Bereichen, in denen Wertungen besonders deutlich zum Ausdruck kommen, also etwa in der Metaphorik, sind auffallende Divergenzen zwischen der englischsprachigen und der deutschsprachigen Presse beobachtbar. Aus Sicht der kontrastiven Skandalanalyse ist die entscheidende Frage, worauf diese Unterschiede verweisen bzw. wie sie zu erklären sind. Wie die Analyse ergeben hat, sind die beobachtbaren Differenzen in der Darstellung von Dopingvergehen von den Verschiedenheiten journalistischer Kulturen wie auch von unterschiedlichen Sprachkulturen beeinflusst. Bei der kontrastiven Skandalanalyse handelt es sich also nicht nur um eine Vorgehensweise, die auf derartige Unterschiede aufmerksam macht, sondern auch um einen Ansatz, der „Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten zwischen Untersuchungsobjekten mit den Kontextbedingungen der sie umgebenden Systeme bzw. Kulturen erklärt“ (Esser 2004: 152). Abschließend lässt sich daher festhalten, dass die kontrastive Perspektive auf die Notwendigkeit aufmerksam macht, Medienskandale (als Formen öffentlicher Empörung) einerseits hinsichtlich journalistischer Normen und andererseits auch mit Blick auf gesellschaftliche Normen zu beurteilen. Die kontrastive Skandalanalyse ist somit sowohl in methodischer als auch in analytischer Hinsicht als ein Fenster zu verschiedenen Ebenen sozialer Ordnung zu verstehen. Literatur Assmann, Aleida (1999): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck. Bergmann, Jens/Pörksen, Bernhard (Hg.) (2009): Skandal! Die Macht öffentlicher Empörung. Köln: Halem. Bisbort, Alan (2008): Media Scandals. Westport, London: Greenwood Press. Bösch, Frank (2009): Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880-1914. München: Oldenbourg. Burkhardt, Steffen (2006): Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse. Köln: Halem. Busse, Dietrich (2008): Diskurslinguistik als Epistemologie – Das verstehensrelevante Wissen als Gegenstand linguistischer Forschung. In: Warnke, Ingo H./Spitzmüller, Jürgen (Hg.): Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur transtextuellen Ebene. Berlin, New York: de Gruyter, S. 57-87. Eisenberg, Christiane (1999): English Sports und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800-1939. Paderborn u.a.: Schöningh.
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Unfundiert, tendenziös und unnötig verletzend
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Unfundiert, tendenziös und unnötig verletzend. GeenStijl – Das Medium ist der Skandal Ingo Landwehr
‚Medienskandal‘ – ein heutzutage häufig benutzter Begriff. Die triviale Abfrage des Begriffs im Internet via Suchmaschine google zeitigt am 5. Mai 2010 ungefähr 39.900 Einträge. Zum Vergleich: Aus der Suche nach dem Begriff ‚Skandal‘ resultieren ungefähr 10.100.000 Einträge, ‚Missbrauchsskandal‘ liefert 1.190.000 Einträge, ‚Sexskandal‘ 164.000, ‚Kunstskandal‘ 10.700, ‚Wissenschaftsskandal ‘7.570, ‚Fernsehskandal‘ 3.600. Die Aussagekraft von derlei Abfragen ist allerdings überschaubar, unterliegen sie doch den Möglichkeiten, Bedingungen und Logiken von Suchmaschinen sowie der wechselhaften Konjunktur von im Internet publizierten Begriffen. Dennoch lässt sich eine aktuelle Präsenz des Begriffes, jedenfalls im Internet, attestieren. Eine Präsenz, die die Frage aufwirft, was der Begriff ‚Medienskandal‘ eigentlich bezeichnet. Das Suchergebnis liefert dazu nur spärlich Auskunft, zu divergent erscheint das, was auf verschiedenen Websites Medienskandal genannt wird. Mal sind es Korruptionsfälle beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen,1 mal sind es inszenierte, erfundene Geschichten in gedruckten Magazinen.2 Mal geht es um Agenturen, die im Auftrag der Medien Politiker bis in die Privatsphäre verfolgen,3 oder die unbedarfte Äußerung einer Sportmoderatorin wird als Medienskandal beschrieben.4 Zur näheren Untersuchung der Frage, was ein Medienskandal ist oder sein kann, sollen daher im Folgenden zwei aufschlussreiche wissenschaftliche Forschungsansätze hinsichtlich ihres Begriffes vom Medienskandal und den daraus resultierenden Folgerungen nebeneinander gestellt werden. Die Arbeit Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse von Steffen Burkhardt, publiziert 2006, veranschaulicht einen interdisziplinären Ansatz aus einer wissenssoziologischen Perspektive, der an dieser Stelle als ein Forschungsbeispiel aus dem Bereich der Publizistik- und Kommunikati1
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Siehe: http://www.focus.de/kultur/medien/medienskandal-wilfried-mohren-wegen-bestechlichkeitverurteilt_aid_440219.html, Abruf am 1.8.2010. Siehe: http://www.taz.de/1/leben/medien/artikel/1/die-butter-verriet-ihn/, Abruf am 1.8.2010. Siehe: http://www.n24.de/news/newsitem_5896486.html, Abruf am 1.8.2010. Siehe: http://www.derwesten.de/kultur/fernsehen/Fussball-Moderatorin-spricht-von-Reichsparteitag-id3106582.html, Abruf am 1.8.2010.
K. Bulkow, C. Petersen (Hrsg.), Skandale, DOI 10.1007/978-3-531-93264-4_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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onswissenschaften dienen kann. Im Vergleich dazu verfolgt Lorenz Engell in seinem Aufsatz Falle und Fälle. Kleine Philosophie des Fernsehskandals, publiziert 2005 im Sammelband TV-Skandale, eine sich davon unterscheidende, medienphilosophische Perspektive. Beide Arbeiten werden dahingehend beleuchtet, wie sie ihr Forschungsobjekt „Medienskandal“ verstehen, wie sie ihn beobachten und methodologisch operationalisieren.5 Daran anschließend soll geprüft werden, ob und wie die beiden Forschungsperspektiven auf ein konkretes Beispiel, das niederländische Weblog GeenStijl, anwendbar sind. Dieses Beispiel ist gezielt gewählt, da es sich nicht nur von den bei Burkhardt und Engell angeführten Beispielen markant unterscheidet, sondern weil in den Äußerungsformen des Weblogs ein affirmativer Umgang mit Medienskandalen behauptet wird. Das Weblog skandalisiert andere oder anderes, es proklamiert aber gleichzeitig auch, die mediale Bedingtheit dieser Skandalisierung offen zu legen. Es begreift und inszeniert sich sowohl als Produzent wie als Reflexion von Medienskandalen. Diese transparente oder zumindest Transparenz suggerierende Form der Skandalisierung interpretiert GeenStijl wiederum als Normbruch, als Skandal, als Medienskandal, indem es anderen Medien eine normalisierte, verdeckte oder verborgene Skandalisierung unterstellt. Das Weblog beobachtet und beschreibt folglich nicht allein externe Sachverhalte als Skandal, sondern auch und vielleicht vor allem: sich selbst. Ein sich selbst skandalisierendes Medium wirft aber die Frage auf, wie eine solche Konstellation wissenschaftlich, auf der Basis der genannten Arbeiten von Burkhardt und Engell, zu bewerten ist. Publizistische Brandsätze In seiner Untersuchung zu Medienskandalen liefert Steffen Burkhardt äußerst differenzierte Aussagen dazu, was sie sind und welche Funktionen sie besitzen. Der Titel der Arbeit, Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse, liefert bereits Hinweise auf die für Burkhard zentrale Kategorie der Moral sowie auf seine interdisziplinäre, u.a. mit Diskursanalyse, Erkenntnistheorie und Systemtheorie operierende Methodik. Für ihn sind Medienskandale „professionelle Distinktionsprozesse, die sich von nichtmedialen Skandalen grundsätzlich unterscheiden“ (Burkhard 2006: 146).6 Burkhardt bezieht sich hierbei auf John B. Thompsons Unterscheidung von mediated scandals und localized scandals, me5
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Das soll ganz grundsätzlich und auch auf diese Grundsätzlichkeit beschränkt geschehen, da wegen der unterscheidenden Prämissen keine direkte bzw. tiefere Vergleichbarkeit gegeben ist. Siehe hierzu auch den Beitrag von Burkhardt in diesem Band. In dem Beitrag werden die zentralen Thesen von Burkhardt (2006) nochmals zusammenfassend dargestellt.
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diatisierten und raumgebundenen Skandalen (Thompson 2000: 61-71). Mediatisierte Skandale unterscheiden sich demnach von raumgebundenen v.a. durch die Auflösung der raumzeitlichen Beschränkung einer face-to-face-Interaktion. Dadurch erreichen mediatisierte Skandale ein breiteres Publikum und erlangen eine dauerhaftere Präsenz.7 Mediatisierte Skandale seien allerdings nicht allein „Skandale, die von den Medien selektiert und thematisiert werden, sondern Konstrukte der medialen Kommunikation, die sich von nichtmediatisierten Skandalen unterscheiden“ (Burkhardt 2006: 35). Dies nicht zuletzt dadurch, dass nichtmediale Skandale in ihrer Aktualisierung auf die Bedingungen gesprochener Sprache beschränkt bleiben. Definitorisch unterscheidet Burkhardt Medienskandale aber noch einmal von mediatisierten Skandalen. Letztere seien lediglich Skandale, über die Medien zwar berichten, die aber, im Gegensatz zu Medienskandalen, keine spezifische Erzählstrategie verwenden, die „bei der Mediatisierung von Ereignissen einen Medienskandal konstruiert“ (2006: 26). Die Entwicklungsstufen dieser Erzählung beschreibt Burkhardt u.a. in einem kreisförmigen Phasenmodell, der von ihm entwickelten „Skandaluhr“ (2006: 204). Medienskandale haben sich laut Burkhardt „als Diskurse herausgebildet, die vom Journalismus konstruiert werden und in denen nichtöffentliche Aktionen, Prozesse oder Situationen veröffentlicht werden, die soziale Werte, Normen oder moralische Codes widerspiegeln“ (2006: 146). Deutlich wird hierbei die für Burkhardt maßgebliche Herkunft und Funktion von Medienskandalen: aus der Gesellschaft, für die Gesellschaft. Sie sind ein Konstrukt oder Produkt sozialer Systeme zur Selbstvergewisserung, -kontrolle und -erhaltung. Sie sind eine „diskursive Praxis in Sozialen Systemen“ (2006: 26), der eine wichtige Rolle zum sozialen Systemfortbestand zukommt. Zwar besäßen sie durchaus destruktive Effekte, besonders natürlich für die skandalisierten Personen, aber diese Effekte folgten der Logik bereichernder oder animierender Irritation im Sinne systemtheoretischer Autopoiesis. In Medienskandalen aktualisiere sich somit das Machtgefüge und das soziale Selbstverständnis, sie offenbarten „Deutungskämpfe innerhalb und zwischen Gesellschaften“ (2006: 19). Burkhardt schlägt deshalb vor, eine Theorie des Medienskandals als eine eigene „Kategorie der Kommunikationspraxis der vor allem journalistischen Diskursivierung von Aktionen, Situationen oder Prozessen im Sozialen System“ (2006: 35) zu begreifen.
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Dies entspricht einer auch von anderen Autoren praktizierten Unterscheidung von medialen und nichtmedialen Skandalen. Zum Beispiel: „Ohne Medien gäbe es Skandale allenfalls auf dem lokalen Niveau des Dorfrichters Adam. Medien machen aus latenten Skandalen manifeste Skandale und zwar durch Enthüllungen, durch öffentliche Diskussion und durch parteiliche Stellungnahmen“ (Preisler 1992: 15).
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Historisch haben sich Medienskandale nach Burkhardt als diskursive Formen sozialer Prozesse analog zu politischen und technischen Entwicklungen seit der Erfindung von Massenmedien (bei ihm synonym verstanden mit der Entwicklung des Buchdrucks) ausgeprägt, differenziert und professionalisiert bzw. institutionalisiert. Der Aspekt der Professionalisierung ist bei Burkhardt zentral zur Unterscheidung des eigenen von anderen Skandalbegriffen. Professionell bedeutet in diesem Kontext die vorsätzliche Entwicklung von Skandalen mit einer z.B. vordergründig politischen oder ökonomischen Absicht. Demzufolge verortet Burkhardt die Wiege, den „Produktionsort“ (2006: 19) von Medienskandalen im Journalismus. Die soziale Selbstbeobachtungs- und Selbstbeschreibungsinstanz Journalismus entwickele Medienskandale zum gesellschaftlich selbstreflexiven social scanning, zur „Identifikation von Konfliktstellen im dominierenden Steuerungscode“ (2006: 137). Reproduktion der Möglichkeit von Reproduktion Lorenz Engell untersucht in seiner Philosophie des Fernsehskandals, wie bereits der Titel verrät, nicht Medienskandale, sondern Fernsehskandale. Trotzdem erscheint es statthaft, seinen Aufsatz hier zum Vergleich heranzuziehen, da das Fernsehen ein wichtiges Massenmedium ist und Engells Forschungsansatz einer Perspektive folgt, mit der sich auch Skandale von oder in anderen Medien untersuchen ließen; dann freilich mit anderen Akzentuierungen und folglich z.T. mit anderen Resultaten. Die Spezifizierung auf Fernsehskandale begründet Engell damit, dass das Fernsehen aufgrund seiner Reichweite und der dem Fernsehen eigenen Instantaneität die derzeit „wirksamste Agentur in der Produktion von Skandalen“ sei (Engell 2005: 23). Außerdem geht es ihm bei der Analyse von Fernsehskandalen weniger um ihre soziale als vielmehr um ihre mediale und – hier als Besonderheit – um ihre televisuelle Dimension. Ähnlich wie Burkhardt betont Engell die sozialen und diskursiven Ursprünge und Effekte von Skandalen in der Neuzeit, denen das Ziel sozialer Reproduktion eingeschrieben sei. In der Moderne hätten sich diese Charakteristika auf Massengesellschaften ausgedehnt und mit Medientechniken verschränkt; Skandale wurden zu Massen- und Medienphänomen. Besonders im Fernsehen, das „Skandale in Serie“ produziere (2005: 18), verändere der Skandal aber gleichsam seinen Aggregatszustand und seinen Ort. Er wandele sich von einer sozialen Apparatur in eine „nachgerade philosophische, also eine, die sich selbst in Frage stellt“ (2005: 18). Die implizite Reproduktionsfunktion entspreche dabei nicht mehr biologischen oder sozialen Bedürfnissen, sondern fokussiere nun abstrakter die „Reproduktion der Reproduktionsmöglichkeit“ (2005: 18). Somit
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bemühe sich der Fernsehskandal um eine Absicherung von Möglichkeitsspielräumen, von Abweichungen und Unvorhergesehenem, in einer zunehmend von Determiniertheit und Funktionalisierung geprägten Moderne, die am Fernsehen selbst etwa in der Struktur des Programms nachvollziehbar sei. Das interdisziplinäre Forschungsinstrumentarium von Burkhardt und Engell, u.a. System- und Erkenntnistheorie, gleicht sich prinzipiell, sie nutzen es aber auf unterschiedliche Weise. Während bei Burkhardt der Aspekt sozialer Reproduktion Begründung und Resultat von Medienskandalen ist, dominiert bei Engell die für ihn in Fernsehskandalen beobachtbare Reflexion medialer Identität. Der medienphilosophische Aspekt von Fernsehskandalen zeige sich in verschiedenen Formen, prominent in der Störung. Störungen, z.B. der Übertragung oder des Programms, rufen laut Engell nicht nur Skandale hervor, sie besitzen überdies ein enthüllendes und reflexives Potenzial, da sie auf das dialektische und sich bedingende Verhältnis von Störung und Normalität verweisen: „Das dem Fernsehen Selbstverständliche und gerade in dieser Selbstverständlichkeit Unmerkliche und daher auch Unverstandene wird in der Störung aus der Selbstverständlichkeit herausgehoben“ (2005: 20). Die hier genannten Momente der Enthüllung und Beobachtung von Störungen lassen sich kurzschließen mit der bei Burkhardt attestierten Funktion des Journalismus, der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung und -beschreibung. Engell aber sieht hierin vor allem eine Selbstbeobachtung des Mediums, aus der sich ein medienreflexives Potenzial speist: „Das Fernsehen detektiert, verstärkt und produziert Skandale, weil es sich in den Skandalen selbst wiedererkennt“ (2005: 21). Die Rolle des Akteurs verschiebt sich bei Engell somit auf das Medium bzw. auf dessen Formen. Dies markiert einen wesentlichen Unterschied zu Burkhardts Ansatz. Zur näheren Erläuterung argumentiert Engell, ein wesentlicher Aspekt von Skandalen sei der ihnen innewohnende Verweis darauf, dass sie erst durch den Akt einer Veröffentlichung zu Skandalen werden. Skandale akzentuierten somit stets ihre mediale Gemachtheit. Es gehe mithin nicht allein um die inhaltliche Vermittlung von Normübertretungen, sondern auch und vielleicht vordringlich darum, dass und wie Skandale vermittelt werden: „Entscheidend ist [...] die Kommunikation der Tatsache, dass das Skandalöse kommuniziert wird. Der Skandal entsteht erst im Moment seiner Veröffentlichung. Erst dann weiss jeder, dass es alle wissen“ (2005: 22). Dieses Skandalwissen befördere eigentlich alle Skandale zu Medienkandalen, so Engell, da es die nach Luhmann für alle Massenmedien kennzeichnende Redundanzproduktion thematisiere (Luhmann 1996: 43ff.). „Der Skandal aber ist die einzige Form, in der die Redundanz des Medienwissens reflektiert wird, und zwar tendenziell in der basalen Form aller Reflexion, der Negation. Nicht das Geschehen als solches skandalisiert, sondern eben erst das Geschehen in seiner Öffentlichkeit oder durch seine Veröffentlichung“
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(Engell 2005: 22). Die Redundanz des Medienwissens, dem Wissen um das Wissen der anderen, erfahre somit im Skandal eine Reflexion und, da sie kommuniziert werde, eine Verdopplung. Gleiches gelte laut Engell für den Gegenpol der Redundanz, die Aufmerksamkeit. Skandale binden die Aufmerksamkeit der Rezipienten, sie machen sogar diese Aufmerksamkeit kenntlich. Dies zeige sich besonders in Form der Skandale kennzeichnenden Empörung, einem „Aufmerksamkeits- oder Beachtungsexzess“ (2005: 22). Aufmerksamkeit wachse in Skandalen in Form von Empörung über sich hinaus, als Aufmerksamkeit für Aufmerksamkeit, und mache so z.B. die Rezipienten auf ihre eigene Aufmerksamkeit aufmerksam. Lorenz Engell begreift Fernsehskandale als medienphilosophische Apparaturen oder Instrumente, als selbstreflexive Formen des Fernsehens. Er beschreibt verschiedenartige Störungen oder Abweichungen, die nicht nur direkt oder indirekt auf das Fernsehen verweisen, sondern die auch das Potenzial des Mediums offenbaren, sich selbst zu beobachten, zu bedenken oder zu erforschen: „[Das Fernsehen] konfrontiert sich und uns letztlich mit dem – wie immer abgefederten, vermittelten – Schrecknis seines Verschwindens, das zugleich ein Verschwinden der Welt wäre. Dieser Schock ist immer nur vorübergehend möglich, aber immer wieder notwendig“ (2005: 36).8 Die Störung versteht Engell also als eine Andeutung des Verschwindens, eines immer möglichen Endes des Fernsehens. Der aus einer Störung entspringende Fernsehskandal, z.B. der Sendeausfall während eines wichtigen Fußballspiels, verhandelt somit die Möglichkeit einer fernsehlosen Welt. Der Blick auf das eigene Verschwinden ermöglicht dem Fernsehen sein Potenzial quasi ex negativo zu beobachten. Hier ließe sich erneut anknüpfen an Burkhardts Betonung einer letztlich stabilisierenden Funktion von Skandalen, allerdings nicht allein in Bezug auf soziale Systeme, sondern bei Engell direkt bezogen auf das Medium, das Fernsehen.9 Das Fernsehen versichert sich seiner selbst, indem es sogar sein eigenes Verschwinden z.B. in Form einer Störung andeutet, überträgt und beobachtet. Während Burkhardt Medienskandale definitorisch auf ihre spezifischen Narrationsformen hin beschreibt, betont Engell diesbezüglich abstrakter das in medialen Normübertretungen zu vermutende Reflexionspotenzial von und für Medien.
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Inwieweit man Welt und medialisierte Welt gleichsetzten kann, wie Engell es hier ganz nebenbei tut, sei einmal dahingestellt und stattdessen exemplarisch auf einige weiterführende Überlegungen dazu anhand der Mediengeschichte des 11. Septembers bei Petersen (2008: 195ff.) verwiesen. Dieser Aspekt lässt sich weiter diskutieren oder relativieren anhand eines anderen Textes von Lorenz Engell, Die Gesellschaft des Fernsehens (Engell 2006). Darin diskutiert er die Möglichkeit, dass das Fernsehen ein eigenes Gesellschaftssystem sein könnte.
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Selbstskandalisierung Beide Autoren verweisen übereinstimmend auf den Konstruktionscharakter von Medienskandalen, auf eine Genese, die sich aus der Existenz von Medien erst ergibt. Der Aspekt medialer Bedingtheit von Skandalen ist heutzutage auch alltagsweltlich verbreitet und findet sich – mal mehr, mal weniger akzentuiert – in zahlreichen selbstreferenziellen Medienformen wieder. Die konstituierende Rolle von Medien bei der Entstehung und Entwicklung von Skandalen findet ihren Niederschlag beispielsweise in Formen, die als Selbstskandalisierung bezeichnet werden können. Selbstskandalisierung meint die selbstbezügliche Skandalisierung medialer Tätigkeiten oder Formen. Da eine derartige Skandalisierung gesellschaftlich-publizistischen Grundsätzen zuwider läuft,10 finden sie sich vornehmlich in medialen Grenzformen wie z.B. der Satire oder der Kunst. Darin finden sich u.a. überzeichnete Formen boulevardesker Skandalisierung, denen ein medienkritischer Subtext zu unterstellen ist. Diese Kritik bedient sich skandalisierender Elemente von Massenmedien und steigert sie bis an die Grenze der Kenntlichkeit.
Abb. 1-2 (von links): Wollt ihr das totale BILD? Klaus Staeck (1980) Killt. Klaus Staeck (1980) 10
Vgl. den Pressekodex des Deutschen Presserates: http://www.presserat.info/inhalt/der-pressekodex /pressekodex.html, Abruf am 1.8.2010.
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Die Inanspruchnahme und Fortschreibung der Formensprache von Boulevardmedien in der satirischen Kunst bezweckt zweifellos die ironische Diskreditierung des Boulevards. Sie kann als eine übertriebene Darstellung übertreibender Darstellung aus der Position eines Beobachters zweiter Ordnung gelesen werden. Daraus lässt sich unschwer die satirische Intention einer pointiert-kritischen Reflexion medialer Mechanismen erkennen, z.B. eine in absurder Übertreibung formulierte Kritik an den grellen Methoden der Boulevardpresse. Allerdings gilt hierbei im Blick zu behalten, dass diese Formen satirischer Skandalisierung zuvorderst dem satirischen Zweck unterliegen. Die Satire nutzt die Übertretung publizistischer Normen, z.B. die der Wahrhaftigkeit und der Ernsthaftigkeit, zur Fremdskandalisierung, zur Kritik an anderen. Sie spiegelt Skandalisierung, indem sie die z.B. bei der Boulevardpresse beobachteten Skandalisierungsformen in der satirischen Repräsentation eben jener fortführt. Eine dergestalt selbstreferenziell-satirische Skandalisierung könnte man, wenn man wollte, auch klassischen Skandalmedien wie z.B. der Boulevardpresse unterstellen. Man könnte argumentieren, dass ihre Darstellungsformen oft auch eine ironische oder sich-selbst-in-Frage-stellende Lesart erlauben. Die augenfällige, teils groteske Übertreibung wäre dann auch eine Form reflexiver Selbstbeobachtung oder gar -kritik.
Abb. 3: Bild (Titelblatt, Ausschnitt) vom 12.8.2003
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Das pointierte Spiel mit Ironie ist in solchen Medien durchaus präsent, ihrer genuinen Selbstbehauptung läuft eine daraus abgeleitete Selbsthintergehung aber zuwider: Ihre Eigenlogik basiert grundsätzlich auf publizistischen Grundsätzen, auf der Darstellung von Sachverhalten im Sinne einer Offenbarung gesellschaftlicher Zu- oder Missstände. Ironische Elemente in der Darstellung dienen hierbei als stilistisches Mittel, z.B. dem Amusement. Die gezielte und offen ausgestellte Übertreibung kann zudem als Vorwegnahme, Vereinnahmung und Entkräftigung einer satirischen Ridikülisierung verstanden werden. Dem Leser wird so eine reflexive Selbstbeobachtung der Zeitungsmacher suggeriert, die einer künstlerischen oder satirischen Kritik erhaben erscheint. Das Medium skandalisert sich hierbei aber nicht selbst, es nutzt die Anspielung auf die eigenen reißerischen Darstellungsformen lediglich zur Vergewisserung von Deutungshoheit. GeenStijl Mit dem Blick auf mediale Selbstskandalisierung lassen sich andere Medienformen aufspüren, die aus einem indifferenten Status heraus die Behauptung skandalöser Medialität konsequenter auf sich selbst beziehen und anwenden. Als ein Beispiel dafür soll hier das niederländische Weblog GeenStijl (dt.: Kein Stil) dienen. Ein langjähriger Mitarbeiter der niederländischen Boulevardzeitung De Telegraaf, Dominique Weesie, begann dieses Onlineprojekt im Jahr 2003 mit dem Anspruch, die Grenzen klassischer journalistischer Berichterstattung im Internet ganz bewusst zu übertreten.11 Der nicht unironische Selbstbeschreibungsclaim von GeenStijl stellt den stilisierten Bruch mit journalistischen Grundprinzipien offen aus: unfundiert, tendenziös und unnötig verletzend.12 Stilprägende Merkmale von GeenStijl waren und sind die von einer Redaktion verfassten, provokant formulierten und meist in skandalisierender, reißerischer Form gestalteten Artikel (pro Tag ca. 5-10), die in einem regelmäßigen Turnus auf der Internetseite geenstijl.nl publiziert und aktualisiert werden. Ebenso kennzeichnend sind die oft noch gesteigert provokanten Reaktionen der Leser (reaguurders) auf die Artikel in den zugehörigen User-Kommentaren. Die skandalisierende Publikationsform rief schon sehr früh eine beachtliche, oftmals empörte Resonanz in der niederländischen Medienöffentlichkeit hervor. Einerseits aufgrund der kontroversen Artikel und ihrer Inhalte, andererseits aufgrund 11
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„Het plan voor een weblog dat zou breken met journalistieke wetten, zoals scheiden van feiten en commentaar en toepassen van hoor- en wederhoor, ontvouwde hij aan vrienden tijdens een weekend vissen. De naam had hij al vastgelegd: GeenStijl“. (Benjamin & Keunen 2009) Im niederländischen Original: „Tendentieus, ongefundeerd en nodeloos kwetsend“. Quelle: www.geenstijl.nl, Abruf am 1.8.2010.
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der oft beleidigendenden oder rechtspopulistisch gefärbten Kommentare der Leser, der Community von GeenStijl (Reurings 2008). Ähnlich anderen Boulevardmedien skandalisieren die Artikel von GeenStijl als Normübertretung beschriebene, der Politik sowie der Pop- und vor allem der Internetkultur entstammende, als wahrhaftig und relevant begriffene Sachverhalte. Politische Fehltritte finden ebenso Erwähnung wie Sex-Affären v.a. niederländischer Prominenter oder auch z.B. Straftaten von Nichtprominenten.
Abb. 4-5 (von links): Logo von GeenStijl13 Logo von PowNed14
Die Form der Darstellung dieser Sachverhalte geht in den Artikeln von GeenStijl zumeist über die vom Boulevard bekannten Charakteristika wie Verkürzung, Übertreibung und Effekthascherei hinaus und nähert sich der Satire an. Es geht dabei scheinbar um eine dem Gegenstand der Vermittlung, dem eklatanten Normbruch entsprechende skandalöse mediale Form. Diese entspäche der oben beschriebenen, satirischen Pseudo-Selbstskandalisierung. GeenStijl formuliert aber implizit das Postulat, über die gesellschaftlich akzeptierte und legitimierte Funktion von Satire hinauszugehen, da diese letztlich systemkonform operiere und kein eigentlicher Normbruch sei (van Jole et al. 2005). Die Autoren des Weblogs suggerieren dagegen: GeenStijl ist ein, ist der Skandal. Eine mediale Normübertretung, die zwar mit boulevardesken und satirischen Elementen hantiert, die aber diese publizistische Unterscheidung in sich auflöst und dadurch 13
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Quelle: http://www.dutchcowboys.nl/images/upload/1123754741geenstijlsmiths.gif, Abruf am 1.8. 2010. Quelle: http://www.geenstijl.nl/archives/images/pownedlogoding.jpg, Abruf am 1.8.2010. Zu PowNed selbst im Folgenden noch ausführlich.
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Dissidenz und so Offenbarung verspricht. Selbstskandalisierung bedeutet hier nicht allein die subtile Kritik an Normen oder an den Normübertretungen anderer Medien durch Spiegelung oder Übertreibung von deren Tätigkeiten, sondern die Entwicklung einer Form, die gesellschaftlich-publizistische Normen überschreitet und herausfordert. Die bloße Selbstskandalisierung GeenStijls wäre allerdings kaum hinreichend für eine triftige Diskussion im Kontext von Medienskandalen. Denn Skandale kennzeichnet immer auch wesentlich Resonanz, Empörung. Jedoch findet die Selbstbehauptung des Weblogs, ein Skandal zu sein, in den Niederlanden ein vernehmbares Echo in Form von journalistischer Empörung (u.a. Maas 2008; Sitalsing 2008; De Foer 2009). Diese Resonanz hat auch landesspezifische Ursachen. Der Erfolg von GeenStijl im Sinne öffentlicher Wahrnehmung ist zweifelsohne dem aufgeheizten gesellschaftlichen Klima zu verdanken, das in den Niederlanden seit Ende der 1990er Jahre durch eine eigentümliche Form des Populismus gekennzeichnet ist (Lucardie 2007). Die auch in Deutschland bekannten Morde am Politiker Pim Fortuyn 2002 und am Künstler Theo van Gogh 2004 bildeten traurige Höhepunkte dieser innenpolitischen Kontroverse. Beide thematisierten auf äußerst provokante Weise die praktische Auslebung gesellschaftlicher Normen und Werte, besonders häufig den Begriff der Freiheit fokussierend. Auch die Rolle der Massenmedien erfuhr in diesem Zusammenhang in den Niederlanden eine kritische öffentliche Diskussion. Die entsprechenden Debatten wurden (und werden bis heute) oft auf die Frage nach dem zulässigen oder wünschenswerten Grad der Freiheit von Darstellung und Meinungsäußerung zugespitzt.15 Darf, kann oder muss man, wie es von Theo van Gogh bis zu seinem gewaltsamen Tod konsequent praktiziert, Muslime als geitenneukers (dt.: Ziegenficker) bezeichnen? Ist das intolerant, taktlos und ein Verstoß gegen gesellschaftliche Normen eines harmonischen Zusammenlebens in einer kulturell und religiös heterogenen Gemeinschaft? Ist das spitzfindige, subtile Ironie? Oder ist es schlicht legitime, freie Meinungsäußerung in einer sich selbst als liberal verstehenden Gesellschaft? GeenStijl sucht im Sinne von van Gogh die Provokation um der Provokation willen. Die publizierten Artikel skandalisieren oft innenund medienpolitische Diskussionen sowie deren Repräsentation in Massenmedien. Insbesondere die Tätigkeiten der öffentlich-rechtlichen Medien werden dabei häufig als eklatant unwahrhaftig deklariert. Ähnlich wie z.B. der Fernsehsender Fox News in den USA zielen die Äußerungen von GeenStijl mit polemischem Duktus auf andere, angeblich links-liberale Massenmedien ab, denen poli-
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Die wohl prominenteste Teilnehmerin an der Diskussion rund um die Freiheit der Meinungsäußerung war Königin Beatrix der Niederlande in ihrer traditionellen Weihnachtsansprache 2006. Siehe: http://nos.nl/artikel/59780-kersttoespraak-2006.html, Abruf am 1.8.2010.
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tisch gefärbte, politisch korrekte Berichterstattung unterstellt wird.16 Diesem proklamierten Verblendungszusammenhang17 stellt sich GeenStijl als offenbarende Alternative entgegen. Der versprochene Befreiungscharakter unterliegt allerdings problematischen, unübersehbaren Paradoxien. Grundsätzlich nämlich schlägt die Bezichtigung kulturindustrieller Verblendung auf GeenStijl zurück und diskreditiert die eigene Argumentation. Dies besonders eingedenk der zahlreichen Interdependenzen auf personeller wie auf struktureller Ebene, die das Weblog zu anderen Massenmedien unterhält. Erdacht und entwickelt vom ehemaligen Telegraaf-Journalisten Weesie ist das Weblog beispielsweise seit 2008 mehrheitlich im Eigentum der Telegraaf Media Group. Auch der Anspruch ganzheitlicher Meinungsfreiheit findet seine prägnante Einhegung in Form z.B. sichtbar gelöschter, weil offenbar justiziabler Artikel oder User-Kommentare. GeenStijl verschweigt diese und andere Widersprüche am eigenen, freiheitlichen und unabhängigen Anspruch jedoch nicht, sie werden sogar prominent dargelegt.18 Sie steigern noch zusätzlich das als skandalös behauptete Selbstverständnis. Vorrangig dieses Unterlaufen der eigenen Prämissen unterscheidet das Weblog von klassischer Satire.19 Der übertriebene Gestus von Rhetorik und Gestaltung befördert zwar die Möglichkeit einer satirischen Lesart, diese wird aber durch die offene Selbsthintergehung eines in der Satire vorherrschenden ernsthaften, kritischen Subtextes beraubt. GeenStijl ist somit weder reine Satire noch klassischer Boulevard. Das Weblog vereinnahmt beide publizistischen Genres und löst dadurch ihre Unterscheidung in sich auf. Diese Indifferenz ist in einer funktional ausdifferenzierten Publizistik die Normübertretung, der Skandal, als der sich GeenStijl beobachtet und inszeniert.
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Beispiele entsprechender Artikel bei GeenStijl: „NOS gaat nat met dierenterreurhoax“, Artikel vom 15.3.2009 unter: http://www.geenstijl.nl/mt/archieven/2009/03/nos_gaat_nat_met_superhoax. html, Abruf am 1.8.2010; „Journalisten (v) willen mediaboycot Wilders“, Artikel vom 18.3.2008 unter http://www.geenstijl.nl/mt/archieven/2008/03/het_zijn_weer_wilders_weken_op.html, Abruf am 1.8.2010, „Staatsjournal zuigt nu ook officieel“, Artikel vom 6.6.2007 unter http://www.Geen stijl.nl/mt/archieven/2007/06/klaarr_staatsjournaal_zuigt_nu.html, Abruf am 1.8.2010. Denn „[i]mmerwährend betrügt die Kulturindustrie ihre Konsumenten um das, was sie immerwährend verspricht“ (Horkheimer & Adorno 2006: 48); so könnte man im Sinne GeenStijls (gleichsam von links) argumentieren. Beispiel: Majesteit vs. GeenStijl: Haters gonna hate, Artikel vom 4.8.2010. http://www.geen stijl.nl/mt/archieven/2010/08/majesteit_vs_geenstijl_haters.html, Abruf am 4.8.2010. „Eine Satire, die zur Zeichnung einer Kriegsanleihe auffordert, ist keine. Die Satire beißt, lacht, pfeift und trommelt die große, bunte Landsknechtstrommel gegen alles, was stockt und träge ist“ (Tucholsky 1919). Im Vergleich dazu die Kooperation von GeenStijl mit dem Niederländischen Verteidigungsministerium: Siehe „Defensie vuistdiep in GeenStijl“ unter http://www.leugens.nl/ 2008/02/15/defensie-vuistdiep-in-geenstijl/, Abruf am 1.8.2010.
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PowNed Neben der Auflösung und Hintergehung von Unterscheidungen wie Boulevard und Satire ist für GeenStijl auch der technische Bedingungsrahmen medialer Vermittlung Anlass zur und Form von Selbstskandalisierung. Als Onlineplattform begreift sich das Weblog anderen Medien gegenüber als technisch überlegen. Klassischen Printmedien oder institutionell strukturierten Massenmedien wie dem Fernsehen werden von GeenStijl ihre im Vergleich zum Internet beschränkten technischen Möglichkeiten hinsichtlich Geschwindigkeit und Partizipation von Rezipienten vorgehalten und ridikülisiert. Um diese postulierten Defizite anderer Medien pointiert kenntlich zu machen, entwickelte das Weblog im Jahr 2009 eine Kampagne, die auf die parasitäre Ausbeutung des öffentlichrechtlichen Mediensystems der Niederlande abzielte.20 Im Gegensatz zu Deutschland besteht in den Niederlanden die Möglichkeit, sich als unabhängige Körperschaft um Sendeplätze und Gelder des öffentlichen Rundfunks zu bewerben.21 Dazu bedarf es zunächst mindestens 50.000 Unterstützern, die bereit sind, dafür 5,72 Euro zu entrichten. Eine aus Medienexperten und Politikern zusammengesetzte Kommission berät in einem fünfjährigen Turnus darüber, ob dem niederländischen Rundfunk durch neue Sender oder Formate eine gesellschaftlich relevante Facette hinzugefügt werden könnte. Dieses historisch gewachsene, dynamische öffentliche Mediensystem beruht auf dem Prinzip der Repräsentation verschiedener und sich verändernder sozialer Lebensanschauungen. Zurzeit finden sich im öffentlich-rechtlichen niederländischen Rundfunk sowohl religiöse (christliche, jüdische, buddhistische, hinduistische), ideologische (sozialistische, liberale, humanistische) und anderweitig zielgruppenspezifische (für Jugendliche, für Senioren) Programmanbieter, die entsprechend ihrer gesellschaftlichen Rolle Sendeplätze im Radio und Fernsehen bespielen. Dank einer umfangreichen Kampagne konnten von GeenStijl innerhalb weniger Monate unter den Usern knapp 60.000 Unterstützer für das Projekt gewonnen werden. Aus Gründen der Unabhängigkeit vom kommerziellen Mutterhaus Telegraaf Media Groep musste pro forma ein autonomer Rundfunksender gegründet werden, der den bezeichnenden, natürlich ironisch unterlegten Namen PowNed22 erhielt (Logo siehe Abb. 5). Das Akronym dient als Anspielung sowohl auf die Niederlande (NED) als auch auf den Internet- und Gamer-Soziolekt, 20
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„Wat we nou moeten met publieke televisie? Het antwoord daarop is simpel: GELD! Waarom GeenStijl een publieke omroep MOET beginnen“. Artikel vom 2.2.2009 unter http://www.geen stijl.nl/mt/archieven/2009/02/waarom_geenstijl_op_de_tv_moet.html, Abruf am 1.8.2010. Siehe http://www.rijksoverheid.nl/onderwerpen/media/documenten-en-publicaties/rapporten/2008/ 12/23/mediawet-2008.html, Abruf am 1.8.2010. Publieke Omroep Weldenkend Nederland En Dergelijke, frei übersetzt: Öffentlicher Rundfunk der vernünftigen Niederlande und dergleichen (Übersetzung des Autors).
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in dem der englische Terminus powned gemeinhin als triumphierender Ausdruck von Häme verwandt wird.23 Nach einigen Beratungen und Untersuchungen entsprach die Kommission rund um den niederländischen Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftsminister Ronald Plasterk (PvdA) schließlich dem Bewerbungsantrag von PowNed im November 2009. Der Minister verwies während einer Pressekonferenz darauf, dass PowNed einen interessanten, antiautoritären und widerspenstigen Beitrag für das niederländische Mediensystem leisten solle, der insbesondere die junge, internetaffine Generation anspreche und repräsentiere. GeenStijl/PowNed sei besonders deswegen innovativ und förderungswürdig, weil die Grenzen des Machbaren ohne politische Färbung erforscht werden könnten.24 Ab Herbst 2010 wird GeenStijl somit in Form von PowNed auch öffentlichrechtlich subventioniertes Radio und Fernsehen betreiben, zunächst für eine Probezeit von fünf Jahren. Der letztlich erfolgreichen, mehrmonatigen Kampagne rund um PowNed muss grundsätzlich ein satirischer Impetus unterstellt werden. Sie darf als auf Provokation angelegte Aktion des Weblogs GeenStijl gewertet werden, abzielend auf die Durchdringung und das Unterlaufen des niederländischen Mediensystems mit dessen eigenen Mitteln, nach dessen Regeln. Dementsprechend wurde PowNed in der Bewertung der übrigen Medien als Satire, als Witz oder als zeitgeistige Randerscheinung abgetan. Besorgte Journalisten verwiesen immerhin empört darauf, dass GeenStijl ein vermeintlich rechtspopulistischer Tummelplatz v.a. jugendlicher Sentimente im Internet sei, ein shock blog oder digitaler Pranger, dessen Ausweitung in das öffentliche Mediensystem wenig wünschenswert wäre.25 Überdies wurde von verschiedenen Medien der de facto kommerzielle Hintergrund des Weblogs angeführt, der die Unabhängigkeit des niederländischen Rundfunks unterlaufe. Kurzum: GeenStijl/PowNed sei ein eklatanter Normbruch, eine Grenzübertretung, ein Skandal.
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Vgl. http://www.urbandictionary.com/define.php?term=powned&defid=1069767, Abruf am 1.8. 2010. „PowNed en WNL in bestel Llink eruit“, Artikel vom 4.11.2009 unter http://www.volkskrant.nl /multimedia/article1311623.ece/PowNed_en_WNL_in_bestel_Llink_eruit, Abruf am 1.8.2010. Diese Einschätzung übernimmt inzwischen auch die deutsche Presse, beispielsweise die Süddeutsche Zeitung vom 11.6.2010: „Ihre ‚autochtonen‘ Altersgenossen bevorzugen zum Beispiel das der Boulevardzeitung gehörende Sammelblog Geenstijl.nl, das Kritikern als flott aufgemachtes Sprachrohr des niederländischen Rechtspopulismus gilt. Rechtsgewirkte User, die reaguurders, überschwemmen seit Jahren Blogs und Nachrichtenseiten zu nahezu jedem beliebigen Thema mit Kommentaren, die einen vermeintlichen Volkszorn auf den Islam und die Herrschenden artikulieren und den baldigen Triumph des Geert Wilders ankündigen“ (Hofmann 2010).
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Diese Bezichtigungen durch die Medien, denen GeenStijl ja seinerseits skandalöse Tätigkeiten unterstellt, entsprach zweifellos der vom Weblog avisierten Reaktion. GeenStijl erhielt die öffentliche Beglaubigung, eben nicht nur legitime Satire, sondern ein wahrhaftiger, ernsthafter und besorgniserregender Skandal zu sein. Neben dieser fremdreferenziellen Anerkennung diente PowNed aber auch einer scheinbaren Kompromittierung oder Hintergehung eigener Ansprüche, also einer Selbstskandalisierung. PowNed bedeutet schließlich die Transformation eines Unabhängigkeit proklamierenden Weblogs zu einem öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehsender. GeenStijl wird so evident Teil des Medienestablishments, das es mit Verve als skandalös diffamiert. Vorgeblich zwar parasitär, im Sinne einer Aushöhlung, letztlich aber doch auch, und zwar unverborgen, affirmativ. PowNed überwindet funktionale Unterscheidungen wie z.B. die des privaten und öffentlichen Rundfunks, indem es beide Aspekte vereinnahmt und aus der dadurch gestifteten Indifferenz sein eigenes mediales Potenzial definiert. Die Ununterscheidbarkeit fungiert hier als konstituierender, identitätsstiftender Normbruch in einer von Unterscheidungen gegliederten Medienwelt. Aber nicht allein die Differenz privater/öffentlicher Rundfunk wird hintergangen, auch die chronologisch und fortschreitend begriffene Gliederung der Mediengeschichte findet mit PowNed eine scheinbar paradoxe Wendung. Denn GeenStijl, eine Online-Plattform, die aufgrund ihres technischen Potenzials die Integration und Überwindung alter Medien behauptet, bewegt sich mit PowNed zurück zu diesen alten Medien, zu Radio und Fernsehen. Medienhistorisch widerspricht eine solche Entwicklung einer im Alltagsleben und auch in der Wissenschaft oft verabsolutierten Fortschrittsdynamik und einer daraus gewachsenen historischen Differenzierung von Medien. Dieser Normbruch kann als eine weitere Indifferenz provozierende Eigenschaft erachtet werden, die die Unterscheidung alte/neue Medien auf die Probe stellt. Skandalmedium? Grundsätzlich skandalisiert GeenStijl auf übliche Art und Weise, wie z.B. einschlägige Boulevardmedien dies auch tun. Politikern, Sportlern, Schauspielern oder anderen Prominenten und Würdenträgern werden angebliche Fehlleistungen vorgeworfen und dies in oft reißerischer Form publik gemacht. Daneben erfahren aber auch vermeintliche Normbrüche Nichtprominenter, zum Beispiel straffällig gewordener Migranten, eine ähnlich geartete Skandalisierung in den Artikeln von GeenStijl. Dies kann und muss vielleicht sogar als ideologisch gefärbte, tendenziöse, rechtspopulistische Intention festgehalten werden. Sie entspricht aber der vom Weblog offensiv proklamierten Übertretung von Grenzen, seien es
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die Grenzen so genannter politischer Korrektheit oder die des medialen Mainstreams. Denn auffällig widmet sich GeenStijl auch der Medienskandalisierung, der Skandalisierung anderer Massenmedien. Das Weblog verspricht, als skandalös beschriebene Tätigkeiten zu entbergen und somit die mediale Bedingtheit von Skandalen bloßzustellen. Im Sinne von Steffen Burkhardts Definitionen entspricht dies Medienskandalen:26 Skandale, die von Journalisten narrativ entwickelt werden, um politische oder ganz banal aufmerksamkeitssteigernde Effekte zu erzielen. Soziale Machtgefüge aktualisieren sich darin, Deutungskämpfe in und zwischen Gesellschaften offenbaren sich. Auch die von GeenStijl betriebene Skandalisierung von Medien bzw. von deren Tätigkeiten oder von dessen Personal entspricht dieser Prämisse. Medien verstanden als relevante Akteure, nämlich als Vermittler von Deutungskämpfen sozialer Gemeinschaften, obliegt bei Burkhardt u.a. die institutionelle Aufgabe gesellschaftlicher Selbstbeobachtung und -beschreibung. Wechselseitige Beobachtung oder Kritik von Medien an anderen Medien dient dann der Aushandlung und Weiterentwicklung gesellschaftlicher Standards, besitzt also eine gleichsam progressive wie stabilisierende Funktion. Allerdings beobachtet, beschreibt und begreift GeenStijl sich in seinen Skandalisierungen stets auch selbst als Skandal, als Teil und Effekt der Medien, die es skandalisiert. Diese paradoxe Konstellation stiftet Indifferenz. GeenStijl/PowNed unterläuft vorgeblich kanonisierte Medienunterscheidungen (z.B. Boulevard/Satire, privater/öffentlicher Rundfunk, alte/neue Medien) und stellt damit auch wissenschaftliche Unterscheidungen auf die Probe. An Lorenz Engells selbstreferenzielle und selbstreflexive Perspektive auf (Fernseh-)Skandale lässt sich dies zumindest annähern. Engell fokussiert bei Skandalen die mediale Zielstellung einer Reproduktion von Reproduktionsmöglichkeiten, die Gewährleistung von Abweichungen in einer zunehmend funktional differenzierten und determinierten Moderne. Die Selbstskandalisierung von GeenStijl kann vor diesem Hintergrund als eine Vermittlungsform betrachtet werden, die ihre gesellschaftliche Indienstnahme und ihr mediales Potenzial, kurzum: die Bedingungen ihrer Reproduktionsmöglichkeiten thematisiert und reflektiert. Aber nicht die Gesellschaft, sondern das Medium selbst ist dann Ausgangspunkt und Nutznießer dieses Prozesses. Es initiiert Störungen, Irritationen, Paradoxien, um sich als Medium in Frage zu stellen, um sich seiner Bedingungen und (Reproduktions-)Möglichkeiten zu versichern. Die Auflösung oder Unterminierung von tradierten Unterscheidungen fußt auf den Möglichkeiten, die ein Konvergenzmedium wie das Internet erlaubt und schafft. Allerdings ist der mediale Status des Internets heute eine vieldiskutierte 26
Zumal auch die von Burkhardt beschriebenen Narrationsphasen in den Skandalisierungen von GeenStijl nachzuvollziehen sind.
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Frage. Ist das Internet überhaupt ein Medium? Ist dann ein Weblog eine mediale Form, die dem Potenzial des Internets entspringt? Und ist dann ein Weblog das Medium für weitere konkretere Formen (z.B. für publizierte Posts)? Angelehnt an Lorenz Engells Untersuchung von Fernsehskandalen, die bei ihm die Frage nach medialer Identität und Reproduktionsmöglichkeiten stellen, kann man in der beschriebenen Selbstskandalisierung von GeenStijl eine ähnliche Funktion für Weblogs vermuten. GeenStijl behauptet implizit von sich selbst, als mediale Form, ein Skandal zu sein und hintergeht damit die übliche Unterscheidung von Medium und Skandal. Einerseits entsprechen die Inhalte und Auswirkungen der von GeenStijl publizierten Artikel einschlägigen Definitionen von Medienskandalen, wie sie z.B. bei Steffen Burkhardt genannt werden. Andererseits aber scheint ihnen evident das Bemühen eingeschrieben zu sein, genau diese auf tradierten oder vereinbarten Unterscheidungen gründenden Definitionskriterien zu unterlaufen, um so einen skandalösen Status des Mediums behaupten zu können. Dies gelingt allerdings nur auf Kosten von Paradoxien, denn die gleichzeitige Affirmation und Negation scheint widersinnig. Am auffälligsten ist dies vielleicht bei einer als zentral begriffenen Eigenschaft von Skandalen zu beobachten, ihrer prozessualen Vergänglichkeit (Burkhardt 2006: 178-205; Engell 2005: 36). Skandale kennzeichnet demnach eine begrenzte Temporalität, sie gehen vorbei. GeenStijl perspektiviert aber kein Ende seiner selbst, es ist auf Dauer angelegt. Zwar werden immer wieder neue, vergängliche Skandale entwickelt, das übergeordnet Skandalöse des Mediums aber ist prinzipiell endlos. Das ließe sich so auch z.B. für die Boulevardpresse behaupten, sie aber akzentuiert die eigene Skandalösität kaum, oder höchstens im Subtext. Endlose Skandalisierung findet aber wiederum Anschluss an Burkhardt, der im Modell seiner „Skandaluhr“ eine in verschiedene Phasen unterschiedene, kreisförmige Narrationsstruktur von Medienskandalen entwickelt, die prinzipiell ebenfalls kein Ende kennt, da einem vergangenen Skandal stets ein neuer folgt. Während also z.B. Boulevardmedien eine endlose Reihung immer neuer Skandale produzieren, skandalisiert GeenStijl genau diese endlose Tätigkeit, exemplifiziert an sich selbst. Trotz der geschilderten Paradoxien lässt sich in den Niederlanden eine nachhaltige Resonanz auf GeenStijl feststellen. Bemessen sowohl an der Zahl der laut eigenen Angaben täglich 230.000 Leser27 als auch im Hinblick auf die vom Weblog provozierten Reaktionen in anderen Medien und teilweise sogar im politischen Betrieb.28 Allerdings wird GeenStijl eher selten als echter Skandal
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http://www.geenstijl.nl/contact.html, Abruf am 1.8.2010. Beispielhaft dafür die Aussage des Sozialdemokraten Martijn van Dam auf der Podiumsdiskussion Gekozen door de media am 20.1.2009 im Nieuwspoort, Den Haag: „Nu heb je allerlei mensen van nieuwe media die over journalistieke principes en ethische codes zeggen: ‘dat interesseert ons
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wahrgenommen. Zumeist überwiegt die Einschätzung, das Weblog wäre eine vielleicht manchmal störende und irritierende, aber nicht zwingend zersetzende oder gar gemeingefährliche Erscheinungsform einer freiheitlichen, modernen Medienkultur. Diese indirekte Akzeptanz wiederum ist für GeenStijl oft genug Anlass zu hämisch geäußerter Kritik an den Akzeptierenden, da das Weblog seine eigenen Tätigkeiten schließlich als Skandal versteht und entsprechende Empörung einfordert. Mangels fremdreferenzieller Empörung empört sich GeenStil über diesen Mangel und damit letztlich über sich selbst. Die hier betriebene Selbstskandalisierung unterläuft so eine weitere Differenz der Skandalforschung, die zwischen Veröffentlichung und Empörung. Bei GeenStijl fallen beide Aspekte zusammen, jede Veröffentlichung ist immer schon Empörung. Auf die zu Beginn aufgeworfene Frage danach, was ein Medienskandal ist, liefert GeenStijl leider keine konkreten Antworten. Aus seinen indifferenten Formen, aus seiner Selbstbeobachtung und -beschreibung lässt sich aber entnehmen, dass es sich als skandalöses Medium, als Skandalmedium oder endloser Medienskandal versteht. Es vereinahmt kanonisierte Skandalisierungsformen, überzeichnet sie oft ironisch und verspricht so, ähnlich der Satire, eine pointierte Offenbarung medialer Skandalmechanismen. Überdies reflektiert GeensStijl dabei den Bedingungsrahmen seiner eigenen medialen Identität und seiner Reproduktionsmöglichkeiten. Das wesentliche Instrument dafür scheint die Befragung oder Auflösung von tradierten Unterscheidungen zu sein, auf denen definitorische Festschreibungen gemeinhin aufruhen. Dieser performative Normbruch, die Streuung von paradoxalen Indifferenzen, wird von GeenStijl als identitätsstiftend interpretiert und praktiziert. GeenStijl lanciert Skandale, es zeigt, wie Skandale lanciert werden, und es begreift sich in diesen Tätigkeiten selbst als Skandal. Diese Selbstskandalisierung speist sich aus der Setzung von Paradoxien und Indifferenzen, die nicht nur den als skandalös behaupteten Status legitimieren, sondern überdies mediendefinitorische Unterscheidungen unterlaufen. Vielleicht also ist GeenStijl ein Medienskandal, der die Frage aufwirft, was ein Medienskandal ist und ob ein Medium ein Skandal sein kann.
niks’. Dat maakt het een stuk riskanter, waardoor je als politicus binnen korte tijd snel kan vallen“ (zit. n. Boersma 2009).
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Skandal, medialisierter Skandal, Medienskandal
Skandalkultur und die Kunst der Provokation
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Kunst und Spektakel: Skandale im Beziehungsraum zwischen Literatur und Macht Johann Holzner
Kultur- und Kunstskandale sind in der Geschichte der Kultur von allem Anfang an anzutreffen, aber erst seit der Aufklärung alles andere als Ausnahmeerscheinungen, eher konstitutive Elemente des Kulturbetriebs, jedenfalls in Europa. Während bis ins 17. und frühe 18. Jahrhundert kodifizierte Regelungen und soziale ebenso wie künstlerische Normen als Orientierungsmarken allgemein akzeptiert wurden und eine Poetik wie das berühmte Buch von der Deutschen Poeterey (1624) des Schlesiers Martin Opitz nicht nur dessen Lieblingsvers, den von den Franzosen übernommenen Alexandriner, als Modevers des Jahrhunderts etablieren, sondern auch die zentralen Gattungen der barocken Gesellschaftsdichtung in festen Bahnen halten konnte, galt seit der Sturm-und-Drang-Zeit und gilt nach wie vor die Verletzung der jeweils geltenden Regeln, der Regelbruch im kulturellen Raum als Qualitätsmerkmal: In Goethes Prometheus-Hymne verweisen schon die freien Rhythmen auf den rebellischen Gestus eines Künstlers, dessen „heilig glühend Herz“ (1985: 229f.) sich keiner Konvention mehr anpasst und auch nicht länger davor zurückschrickt, den Göttern, auch den Fürstengöttern den Krieg zu erklären, um endlich den Menschen das Feuer und damit die Kultur zu bringen. Mit dieser Hymne einen Skandal zu provozieren, war indessen Goethes Absicht nicht. Und Friedrich Heinrich Jacobi druckte bekanntlich den Prometheus in seinem Spinoza-Büchlein (1785), ohne den Namen des Verfassers zu verraten, so in der Mitte des Buches eingeheftet, dass jeder, dem das Gedicht anstößig erscheinen mochte, es fast ohne weiteres entfernen konnte und also sich nicht lange darüber echauffieren musste: Der skandalträchtige Text, der im Beziehungsraum zwischen Literatur und Macht ersterer einen bis dahin unvorstellbaren Stellenwert verschaffen und damit die Politik des Absolutismus in die Schranken weisen wollte, erreichte in der Epoche der erst allmählich sich entfaltenden medialen Öffentlichkeit nur einen elitären Leserkreis; darunter allerdings die bedeutendsten Intellektuellen dieser Ära. Skandale müssen immer in diesem Beziehungsgeflecht gesehen werden: im Geflecht zwischen kultureller Produktion, politischer Macht und medialer Öffentlichkeit. Da alle drei Säulen dieses Geflechts sich immer wieder wandeln, K. Bulkow, C. Petersen (Hrsg.), Skandale, DOI 10.1007/978-3-531-93264-4_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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versagen einfache, von Einzelfällen abgeleitete Strategien, die versuchen, Kulturskandale zu beschreiben, fast zwangsläufig; übrigens ebenso wie einfache Strategien, einen Skandal als Marketinginstrument zu forcieren. Auch Grenzen, die zwischen überschaubaren Oppositionssystemen gezogen werden, um Zuordnungen zu erleichtern und Zugehörigkeiten zu schaffen, werden in der Praxis nicht selten verschoben oder überschritten. Eine dieser Grenzen darf allerdings keineswegs übersehen werden: Sie verläuft zwischen einer Gesellschaft, die Konventionen fördert, und einer Gesellschaft, die Sensationen fordert. Darüber später mehr. Am Beginn dieser Ausführungen sollten Begriffsklärungen stehen, vor allem die zentralen Begriffe erläutert werden. Aufmerksamkeit erreicht man im Kulturbetrieb am ehesten, indem man Konflikte oder Skandale anzettelt; beides wird nicht selten in eins gesetzt. In Anlehnung an Claudia Dürr und Tasos Zembylas wäre jedoch dafür zu plädieren, die Begriffe von einander abzuheben: Unter dem Begriff des Konflikts ließen sich Fälle versammeln, die sich entwickeln, weil explizit formulierte Vereinbarungen oder gesetzlich festgelegte Regelungen gebrochen werden. Mit dem Begriff des Skandals hingegen wäre jeder Fall zu bezeichnen, in dem ein Text oder eine Performance „nicht-kodifizierte Regeln (Konventionen, Moralvorstellungen, Identitätssymbole)“ (Dürr & Zembylas 2007: 75) verletzt – und deshalb von den Betroffenen, die sich den Regeln verpflichtet und durch deren Missachtung auch persönlich verletzt fühlen, als inakzeptabel betrachtet wird. Von öffentlichen Konflikten wäre demnach zu reden, wenn die Freiheit der Kunst mit anderen Grundrechten kollidiert, wenn beispielsweise in Romanen Persönlichkeitsrechte getroffen werden. Klaus Manns Mephisto, Thomas Bernhards Holzfällen, Maxim Billers Ezra, allesamt Bücher, die per Gerichtsbeschluss wenigstens zeitweilig beschlagnahmt worden sind, wären in diesem Zusammenhang als mehr oder weniger prominente Fälle zu nennen. I Eine Geschichte, in deren Verlauf nicht-kodifizierte Regeln verletzt wurden, eine Skandalgeschichte also, die Konventionen, Moralvorstellungen und Identitätssymbole gleichermaßen auf den Plan rief, ereignete sich im so genannten Heiligen Land Tirol gleich nach dem Krieg: Die Theresienkirche auf der Hungerburg oberhalb von Innsbruck, eine der beliebtesten Wallfahrtskirchen Tirols, 1931 bis 1932 erbaut, erhält 1935 ihren ersten Freskenschmuck. Ernst Nepo, in Österreich als Repräsentant der Neuen Sachlichkeit, weniger als Gesinnungsfreund der Klerikalen bekannt, gestaltet die so genannte Triumphbogen-Wand. Über Leben und Verhalten himmlischer Figu-
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ren offensichtlich nur dürftig in Kenntnis gesetzt, zeichnet Nepo die heilige Theresia vom Kinde Jesu und eine Reihe anderer Gestalten, allerdings so, dass sie nur durch eines aufeinander bezogen sind: Sie erheben die Rechte zum deutschen Gruß. – Nepo soll auch die Langhaus-Wände bemalen, die betreffenden Mauerflächen sind schon dafür vorbereitet; aber 1938, nach dem ‚Anschluss‘, übernimmt er höhere Aufgaben, nämlich die Landesleitung der Reichskammer der bildenden Künste, und gleichzeitig stellt er die Arbeit in der Theresienkirche ein. 1945 erklärt er öffentlich, er hätte volles Verständnis, wenn seine Fresken übertüncht werden sollten. Dazu kommt es indessen nicht. Stattdessen erhält, nach einem von Propst Josef Weingartner ausgeschriebenen Wettbewerb, ein damals noch weithin unbekannter Maler, nämlich Max Weiler, den Auftrag, das Kircheninnere weiter auszumalen. Weiler konzipiert einen Freskenzyklus über das Thema des Herz-Jesu-Bundesliedes. Kaum ist der erste Teil, Verehrung des Herzens Jesu, 1946 fertiggestellt, erhebt sich, wegen der eigenwilligen Formensprache und Farbigkeit des Bildes, das emphatisch Vorbilder aus der Tradition der ‚entarteten‘ Kunst zitiert, ein Sturm der Entrüstung. Nur mehr einige wenige Spitzenvertreter des kulturellen Lebens stehen hinter dem Künstler; Josef Weingartner noch immer, auch Max von Esterle, der sich aus Bezau in Briefen an Max Weiler zu Wort meldet: „Lieber Herr Kollege Weiler! Also der Krieg ist ausgebrochen […]. Ein ziemlich häufig vorkommender Fall, der beschämend u. gleichzeitig begreiflich ist, wenn etwas Neues, lang aufgespeichert, mit Macht um Geltung kämpft“ (zit n. Tepser 1985: 154). Von derartigen Reaktionen stärker beeindruckt als durch die Kritik, führt Weiler seine Arbeit fort. 1947 werden weitere Teile enthüllt, darunter das Fresko Lanzenstich. Es zeigt die GolgothaSzene, aber nicht am vertrauten, sondern an einem völlig fremd anmutenden Schauplatz, nämlich in Tirol, und es scheint darüber hinaus nur den einen Schluss zu insinuieren, dass man in diesem Land dem Opfertod am Kreuz in Wahrheit kalt und gleichgültig gegenübersteht. Der Sturm der Entrüstung schwillt zum Orkan. Dieser wird sogar in Rom wahrgenommen, und unter dem Vorwand, die Fresken entsprächen zu wenig den theologischen Ansprüchen, die auch in Tirol gelten müssten, kommt aus dem Vatikan die Verfügung, die Weiler-Fresken auf der Hungerburg zu verhängen. Proteste von angesehenen Künstlern (wie Clemens Holzmeister) verhallen ins Leere, unter Mithilfe von Paul Flora zieht Max Weiler endlich selbst weiße Stoffbahnen über seine Bilder.1 So bleiben diese rund zehn Jahre lang von weiterer Verunglimpfung verschont. Das Ende dieser Geschichte: Im Jahr 2010 zeigt das Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, anlässlich des 100. Geburtstags des Künstlers, eine große Ausstellung unter dem Titel Max Weiler – Das öffentliche Werk. Die ‚Skandal‘-Fres1
Vgl. dazu Weiler (1975: 18), Hye (1982), Amann (1993: 333-349), Kreuzer-Eccel (1993: 351-403, v.a. 358f.).
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ken der Theresienkirche sind längst als Meilensteine der österreichischen Kunst kanonisiert und als solche in die Kunstgeschichte eingegangen. Ein durchaus repräsentatives Beispiel. Was in einer Gesellschaft, die unmittelbar nach 1945 in Tirol die damals als allgemein gültig betrachteten Konventionen gefördert hat, in künstlerischer wie in politischer Hinsicht noch als Skandalon empfunden worden ist, wird von deren Enkeln mit ganz anderen Augen gesehen. Inzwischen wird Max Weiler hoch angerechnet, dass er die Formensprache der Moderne aufgenommen und weitergeführt und gleichzeitig ein sozialmoralisches Milieu an den Pranger gestellt hat, das die Kunst der Moderne (vom Katholizismus wie vom Nationalsozialismus stark geprägt) am liebsten für alle Zeiten abgeblockt oder ignoriert hätte. Dass Kulturskandale auf die Dauer Kanonisierungsprozesse nicht verhindern, sie hin und wieder sogar mächtig vorantreiben können, ist hinlänglich bekannt. Es sollte genügen, an Die Räuber oder an Die Blechtrommel zu erinnern; der Skandal, den diese Werke nach ihrem Erscheinen ausgelöst haben, konnte nicht bewirken, dass sie im Kulturbetrieb, im „Feld der Macht“ (Bourdieu 2001: 342) auch von den dort tonangebenden Instanzen verunglimpft und weiter geschlagen wurden, sie wurden im Gegenteil in den Rang der Klassiker erhoben. Umgekehrt garantiert keineswegs schon jeder Skandal erhöhte Aufmerksamkeit. Es hat sich zwar noch nicht in allen Verlagshäusern herumgesprochen. Aber es ist auch kein Geheimnis: „verkaufsfördernde Eklats gezielt zu planen“, ist kaum mehr möglich. Zum einen, weil es eine Flut von ungeheuerlichen Geschichten und unglaublich-aufregenden Lebensbeichten gibt: „Wohin das Auge blickt“, konstatiert Rainer Moritz, „lesen wir neuerdings von Frauen, die schreckliche Kindheiten am Amazonas verbrachten, mysteriöse Stammeskrieger ehelichten, gemeinste Krankheiten überwanden und mit wilden Tigern freundschaftliche Bande pflegten, oder von Männern, die Vulkanausbrüche überlebten, sich Insekten essend durch den Dschungel schlugen oder jahrelang als falsche Mediziner komplizierte Operationen an Universitätskliniken durchführten“ (2007: 61). Zum andern, weil die Tabuschwellen – seit 1968 – enorm gesunken sind. Das Schocktheater, mit dem Autoren wie Franz Xaver Kroetz und Martin Sperr, Wolfgang Bauer und Peter Turrini zunächst doch noch einen Skandal nach dem anderen gefeiert haben, stand in den 70er Jahren schon mitten im Abonnementprogramm des Wiener Volkstheaters; und als 1998 der Roman Sarah erschien, wurde als Autor des angeblich autobiographischen Berichts ein ehemaliger Babystricher namens J. Terminator Leroy als Wunderkind der Literatur gefeiert.2 Doch selbst ein Gebräu aus Pornographie und Blasphemie, gewürzt mit Klischees aus der Kiste des Antisemitismus, vermag inzwischen kaum 2
Siehe hierzu ausführlich den Beitrag von Seiler in diesem Band.
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mehr zu irritieren, es wird jedoch ab und an schon als Tabubuch zum Zwecke der Übertünchung allzu blasser ästhetischer Kompetenz des literarischen Werks sogleich erkannt und in den Korb der überflüssigen oder obsoleten Provokationen eingesperrt (in dem – zu Unrecht – auch Werke von Ezra Pound und Peter Handke gelandet sind). In der Epoche der Aufklärung war die Strategie, nicht nur die Mächtigen, sondern auch den „hegemonialen kulturellen Konsens“ (Dürr & Zembylas 2007: 78) zu attackieren, noch ein Erfolgsrezept. 1777 musste in Wien der unter Kaiserin Maria Theresia eingeführte Index der verbotenen Bücher von der Zensurhofkommission selbst auf den Index gesetzt werden; er hatte sich zu einem gesuchten Führer durch die kirchenfeindliche und erotische Literatur der Zeit entwickelt. Am Beginn des 21. Jahrhunderts (die medialen Strukturen haben sich im ausgehenden 20. Jahrhundert noch einmal deutlich gewandelt) ist das anders. ‚Staatskünstler‘ – in Österreich werden schon Elfriede Jelinek, Gerhard Roth und Peter Turrini dazu gerechnet, in Deutschland musste, unter anderen Vorzeichen, Christa Wolf sich mit ähnlichen, ähnlich unbegründeten Diffamierungen herumschlagen – werden, gerade weil sie sich gegen viele Widerstände am Ende durchgesetzt haben, als Privilegienritter gescholten und als Vorkämpfer der so genannten ‚Gesinnungsästhetik‘ diffamiert. In der „Gesellschaft des Spektakels“ (Guy Debord) wird mit atemberaubendem Tempo dekanonisiert und rekanonisiert, von einem Tag auf den anderen können Akteurinnen und Akteure des Kulturbetriebs auf Spitzenplätze vorstoßen, ohne im Bereich der kulturellen Produktion oder auch vor der politischen Macht besonders aufzufallen, wenn sie nur imstande sind, den Bedürfnissen der Medien, namentlich der Boulevardmedien, die Skandale brauchen, sei es in der Politik, sei es im Sport, gern auch im Feuilleton, zu entsprechen; wenn sie dazu nicht imstande oder auch bereit sind, können sie von einem Tag auf den anderen allerdings auch verschwinden. II Im Folgenden sollen kurz zwei Fälle besprochen werden, die sich vor 25 Jahren zugetragen und die damals die Aufmerksamkeit der kulturell und politisch interessierten Öffentlichkeit über Monate auf sich gezogen haben; inzwischen sind sie schon fast vergessen. Aber es sind Paradebeispiele für sehr unterschiedliche, in manchem geradezu einander entgegengesetzte Mechanismen öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung. – Es handelt sich um zwei Bücher, die beide 1984 erschienen sind; einerseits um den Roman Neue Herrlichkeit von Günter de Bruyn und andererseits um den Theatermacher von Thomas Bernhard, ein Stück, das im Rahmen der Salzburger Festspiele uraufgeführt wurde, allerdings nicht
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1984, wie ursprünglich geplant, sondern 1985 (Claus Peymann führte damals die Regie). Der Roman Neue Herrlichkeit – dessen Handlung alles andere als aufregend ist und in einem einzigen Satz zusammenzufassen wäre: Zum Schluss stirbt eine Alte, zwei Junge aber heiraten doch nicht – führt wiederum in die Landschaft der Märkischen Forschungen. – Viktor Kösling, der Geschichte studiert, zieht, dem Wunsch seiner Mutter entsprechend, für zehn Wochen in die „preußische Ödnis“ (168) – in das Erholungsheim Neue Herrlichkeit, um dort endlich einmal seine Dissertation abzuschließen. Das Thema der Arbeit („Die Außenpolitik der preußischen Regierung während der Französischen Revolution – unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses der Handwerker- und Bauernunruhen in den Provinzen“) interessiert ihn zwar nicht im mindesten, aber da er sich daran gewöhnt hat auszuführen, was andere, namentlich seine Eltern, von ihm erwarten, geht er einigermaßen entschlossen ans Werk, aus etlichen Büchern ein weiteres Buch zu produzieren. Dass er dann über das Titelblatt nicht hinauskommt, dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen fällt ihm das Bücherlesen beinah ebenso schwer wie das Denken. Gedanken, die er selbstständig denkt (und für sich Autologien nennt), sind immer nur Gedanken über ihn selbst (37f.). Zum andern wird er von seiner Arbeit dauernd abgelenkt, und er lässt sich gerne ablenken. Kurz nach seiner Ankunft im Heim setzt starker Schneefall ein, wenig später ist die Neue Herrlichkeit ganz von der Außenwelt abgeschnitten. Viktor sieht sich demnach gezwungen, bei den verschiedensten unaufschiebbaren Aktivitäten zu helfen und sich in die ‚große Familie‘ des Heims zu integrieren. Er tut es nicht ungern, zumal Thilde, das Stubenmädchen, seine Aufmerksamkeit mehr und mehr fesselt. Ohne die übrigen Bewohner und Gäste der Neuen Herrlichkeit ganz zu vernachlässigen, vorzugsweise kümmert er sich um die Frauen, spielt Viktor bald mit dem Gedanken, Thilde zu heiraten, wenngleich schier unüberwindbare Barrieren sein Vorhaben nicht gerade begünstigen. Thilde nämlich, das Arbeitermädchen, weist nicht nur erkleckliche Bildungsmängel auf, sie ist auch durch Familienbande belastet, die eine Karriere im auswärtigen diplomatischen Dienst, wie Viktor sie anstrebt, direkt verbieten; ihre Mutter ist in den Westen geflüchtet. Und ihre Großmutter, Tita, eigentlich Frau Lüderitz, die früher einmal im Heim das Regiment geführt hat, gilt als verrückt, weil sie bei jeder Gelegenheit aus der Neuen Herrlichkeit auszureißen versucht. Schließlich wird von Viktor und Thilde allein dieses Hindernis aus dem Weg geräumt. Tita landet in einem so genannten Pflegeheim, wo sie, wie erwartet, nur mehr sterben kann. Alle anderen Hürden aber erweisen sich als zu hoch. So ist Viktor am Ende denn auch nicht unglücklich, eher erleichtert, als ihn der politisch versierte Vater aus sämtlichen Schlingen befreit, indem er ihn zwingt, unverzüglich von der Neuen Herrlichkeit Abschied zu nehmen und im Ausland seinen Dienst anzutreten.
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Dass der Topos der eingeschneiten, also von der übrigen Welt isolierten Oase als Metapher zu verstehen ist, liegt auf der Hand. An diesem Schauplatz könnte auch ein Vicki Baum-Roman3 spielen. Die Neue Herrlichkeit ist jedoch alles andere als eine idyllische Insel. Und die Figuren sind alles andere als Helden: nicht allein Viktor, „der allzeit Verführbare“ (39), und sein Vater, der mächtige J. K., der als „Gallionsfigur“ (189) sich entpuppt, sowie die Mutter, Agnola, die von ihrem Mann längst geschieden ist, beruflich aber mit Familienplanungsvereinigungen zu tun hat; auch die, die weniger privilegiert oder in den letzten Reihen zu finden sind, wie Thilde, verschont der ironische Diskurs des Erzählers keineswegs: sie alle nämlich sind Meister der Anpassung, sie alle haben sich biedermeierlich eingerichtet. Vor allen anderen hat Viktor seine Lektion gelernt. Seit er, als Kind, erfahren hat, wie „Befehlsverweigerung“ (170) vergolten werden kann, behält er seine Knabenmorgenblütenträume wie seine Autologien für sich; „gewöhnt, der zu sein, der gewünscht wird“ (27), im privaten wie im öffentlichen Leben, kann er problemlos auch über seine Doktorarbeit schreiben, die er nicht geschrieben hat: mit „Sätzen, in denen von Erbe, Markstein, Kettenglied, von Reaktion und Tradition und Revolution die Rede ist, geht es flott voran“ (65). So ist er für die politische Laufbahn prädestiniert. Doch auch Thilde, die „die Gewohnheit hat, die Hand beim Denken an die Stirn zu legen“ (127), lässt die Hände meistens im Schoß. Bei aller Freundlichkeit, die der Erzähler dem naiven Mädchen gegenüber aufbringt, ist nicht zu übersehen, dass Viktor ihr kaum mehr bedeutet als die Chance, ihren wahren Leidenschaften nachzugehen: Backen, Reisen, Shopping; erreicht sie nicht, was sie sich wünscht, so akzeptiert sie das mit einer netten Redensart: „Hilft ja nichts!“ Die aber hat sie von der Großmutter (127). Tita, als Kind lange Zeit „keiner Erziehung ausgesetzt“ (49), schließlich trotzdem in den gegebenen engen Verhältnissen integriert und etabliert, bewahrt nur noch einen Abglanz besserer Tage, gebündelt in ihrem Lieblingslied (von dem ihr freilich nie mehr als zwei, drei Verse einfallen): „Es kann ja nicht immer so bleiben hier unter dem wechselnden Mond“. Vorstellungen solcher Art zeugen kaum von einem ausgeprägten Geschichtsbewusstsein, sie verraten vielmehr ein doch recht einfältiges Vertrauen auf den natürlichen Wandel aller Dinge, auch wenn Tita einmal die folgende Strophe in den Sinn kommt: „dadamdam dadamdam recht fest, wer weiß denn wie bald uns verstreuet das Schicksal nach Ost und nach West“ (76). Tita ist unberechenbar, aber alles andere als eine Gefahr für die erstarrte Umwelt. 3
Vicki Baum (1888-1960), eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen in der Weimarer Republik wie im amerikanischen Exil, ist vor allem durch den Roman Menschen im Hotel (1929) bekannt geworden.
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Dabei herrscht allerorten Frost. Außerhalb wie innerhalb der Grenzen der Neuen Herrlichkeit. Die ‚große Familie‘ spielt Theater; Beziehungen zwischen den einzelnen Rollen gibt es nicht. Die Akteure halten Referate oder schreiben einander Briefe, in rauen Mengen genießen sie Alkohol, aber miteinander zu reden haben sie verlernt. Die dreijährige Püppi, der jüngste Spross des Heims, lernt es schon gar nicht mehr: Schreien, hat sie beobachtet, reicht aus, die wichtigsten Interessen durchzusetzen. – Es scheint, als könnte nichts und niemand mehr die monströse Eisschicht brechen. Der Roman präsentiert keine Botschaften, aber anschauliche Beispiele – Beispiele für Verkehrsformen, Verkehrsformen zwischen privilegierten und diskriminierten Gesellschaftsschichten sowie Verkehrsformen zwischen Mann und Frau. Sie alle verweisen auf soziale Rahmenbedingungen, die keinen Anlass zur Hoffnung geben können. Nichts geht mehr. Der Theatermacher (Bernhard 1986: 67-191) ist auf den ersten Blick Zeugnis einer mitleidslosen Abrechnung mit allem und jedem, namentlich mit Österreich, vorgetragen allerdings von einem Menschenfeind, dessen Schimpftiraden ebendeshalb nicht ohne weiteres dem Autor, auf keinen Fall diesem allein zuzuschreiben sind. „Österreich / grotesk / minder-bemittelt / ist das richtige Wort / unzurechnungsfähig / ist der richtige Ausdruck“ (93). „Tatsächlich gibt es hier nichts“, konstatiert Bruscon, „außer Schweinemastanstalten / und Kirchen / und Nazis“ (76). „Ein durch und durch stumpfsinniger Staat / von durch und durch stumpfsinnigen Menschen / bevölkert“ (109). Der Groll Bruscons kennt keine Grenzen. „Je weiter wir donauabwärts kommen / desto unfreundlicher wird es / schwül und unfreundlich / um nicht sagen zu müssen menschenfeindlich“ (101). Ebenso wie gegen Österreich wendet er sich gegen die gesamte sozialistische Welt: „Jetzt präsentiert uns der sogenannte Sozialismus / die Rechnung / die Kassen sind leer / Europa ist kaputt“ (134), und ebenso wie über diese ‚keppelt‘ er auch über die kapitalistische: „Die ganze Welt / bis in die hintersten Winkel / ist einem durch absurde Gesetze vergällt“ (85). Einmal sind es die Behörden, die seinen Zorn erregen: „Mit Behörden ist nicht zu scherzen / eine Lächerlichkeit / weitet sich aus / zur Staatsaffaire“ (155), häufig sind es die Frauen: „Das Weib lockt den Mann / aus der schönsten Gegend / in das scheußlichste Loch“ (95). „Man sagt die Frauen seien / heute im Vormarsch / ja in die Katastrophe hinein“ (152). Zwar, „austauschbare Verdammungssätze“, wie man gemeint hat (Sorg 1991: 85), sind das nicht: „sie seien sozialistisch / sagen sie / und sind doch nur nationalsozialistisch / sie seien katholisch / sagen sie / und sind doch nur nationalsozialistisch“ (109); hinter solchen Sätzen verrät sich nicht selten ein rigoroser, im übrigen durchaus konservativer Standpunkt, der Anspruch und Praxis gegenüberstellt und erst von der Beobachtung der Brüche her die letztere denunziert. Aber ungenau sind diese Polemiken allemal, nicht anders als Bernhards
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Äußerungen in Glossen und Interviews. Nur – Der Theatermacher ist eine Komödie. Eine Komödie, in der nichts und niemand so mitleidslos verfolgt wird wie Bruscon selbst. Der Künstler, der auf seine Narrenkappe noch stolz ist und sie seine „Vorteilskappe“ (80) nennt: „Nehme ich die Kappe herunter / ist meine Komödie vernichtet / habe ich immer gedacht / und ich habe sie die ganzen neun Jahre / die ich an meiner Komödie geschrieben habe / eben an unserem Rad der Geschichte / aufbehalten“ (81). Von diesem „Rad der Geschichte“ erfährt man wenig; angeblich ist es „eine Menschheitskomödie“, jedenfalls treten Nero und Caesar darin auf, Hitler trifft mit Napoleon zusammen, Goethe erleidet einen Hustenanfall, Lady Churchill trägt rote, Metternichs Geliebte wiederum schwarze Schuhe – kurz, es ist wenig in Erfahrung zu bringen, aber genug, um zu durchschauen, dass dieser Künstler, der sich mit Shakespeare und Voltaire in eine Reihe stellt (83), bestenfalls ein triviales Stück in eklektizistischer Manier zusammengekleistert hat. Dass er hin und wieder argwöhnt, er sei Pirandello (113), und gelegentlich überzeugt ist, er sei Schopenhauer (169), passt ins Bild. Am Ende, es donnert, dämmert ihm selbst: „möglicherweise / bin ich größenwahnsinnig / wie mein Stück“ (189). – Wie als Dramatiker, so ist er als Schauspieler gescheitert. Der „Staatsschauspieler“, „der in Berlin den Faust / und in Zürich den Mephisto gespielt hat“ (75), wie er stolz erzählt, sein Gegenüber, der Wirt von Utzbach, kann das alles nicht überprüfen, dieser Staatsschauspieler tritt in Wahrheit auf Bühnenbrettern auf, die nicht die Welt bedeuten, sondern morsch sind, derart faul, dass er sich vergewissern muss, ob sie überhaupt noch tragen. Ein armer Teufel. Kinder und Narren reden bekanntlich die Wahrheit. Ab und zu trifft denn auch Bruscon den Nagel auf den Kopf. Nicht ungern redet er in Rätseln. „Mozart Schubert / widerwärtige Präpotenz / Glauben Sie mir / an diesem Volk ist nicht das geringste / mehr liebenswürdig“ (93). Es ist gut möglich, dass er Mozart und Schubert präpotent findet. Aber auch nicht unwahrscheinlich, dass er sich an Begriffen wie Mozart und Schubert festhält, um sich „in einer kalten, kunstfeindlichen Welt“ wenigstens die Schönheit und die Imaginationen der Klassik und Romantik zu bewahren (Höller 1993: 127). Sicher ist, dass sich Bruscon sehr häufig täuscht. „In dieser Feuchtigkeit / und wo hier alles vermodert ist / kann ja gar kein Brand ausbrechen“ (86), lässt er dem Feuerwehrhauptmann melden; tatsächlich aber brennt es am Ende im Dorf, und die von Bruscon inszenierte Vorstellung platzt wie alle seine Seifenblasen. Der selbstbewusste Fallensteller wird also mitleidslos als Dilettant entlarvt. Trostlos ist nicht nur der Schauplatz, an dem er aufkreuzt, nicht nur die Zeit, wie er sie sieht, trostlos ist ebenso alles, was er hinter seinen Masken zu verbergen trachtet. Bezeichnend, wie er sich in dem Moment verhält, in dem sein Sohn
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Ferruccio eine Maske aus der Maskenkiste nimmt, um sie probeweise einem Fremden vors Gesicht zu halten, nämlich dem Wirt. Bruscon reagiert äußerst „aufgebracht“: „Was machst du denn da / Die Maske sofort in die Kiste zurück / sofort in die Kiste zurück“ (116), gleichzeitig schlägt er, laut Regieanweisung, seiner Tochter Sarah „die Füße ins Gesicht“. „Sofort zurück die Maske in die Kiste / Was fällt dir ein / das ist ja ungeheuerlich“. Er gibt sich erfahren, aber er ist nur festgefahren. Die Frustration darüber schlägt immer wieder um in Aggressivität; und da er sonst niemanden treffen kann, quält er seine Frau und ihre Kinder. Der Dilettant ist auch ein Familientyrann, durch sein Verhalten richtet der dogmatisch alles verurteilende Misanthrop sich selbst, nicht anders als jener Molières. „Shakespeare / Goethe / Bruscon / das ist die Wahrheit“ (190), erkennt Bruscon am Schluss. Er hat das Erbe nicht aufgehoben oder kreativ weiterentwickelt, er hat stattdessen alle Möglichkeiten, die das Theater bietet, verspielt; „als ob ihn fröstelte“, fügt er hinzu: „Erfrierungsangst“. In der kalt gewordenen Welt ist dieser Theatermacher nicht imstande, das Eis zu brechen. Was bleibt, ist die Sehnsucht nach Wärme, nach mehr Menschlichkeit. In diesem Zusammenhang werden im Stück zwei Erwartungen thematisiert. Die erste, dass eine neue Politik neue Rahmenbedingungen schaffen und sichern sollte, wird schon von Bruscon in den Bereich der Illusion verwiesen. Die andere, dass eine Kunst, wie dieser Theatermacher sie verkörpert, Ansätze präsentieren könnte zur Überwindung der Erfrierungsangst, erweist sich ebenfalls als haltlos: Mitleidslos wird damit dem Publikum überantwortet, was es so gerne anderen Instanzen aufgebürdet hätte. Von daher erhält auch Bernhards Verfahren, immer wieder die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit aufzureißen, seine Berechtigung und seinen Sinn. Schon der erste Ausbruch, mit dem Bruscon seinen Monolog eröffnet, „Was hier / in dieser muffigen Atmosphäre“ (71), richtet sich gegen das Theater im Theater ebenso wie gegen das Theater, in dem die Zuschauer eben Platz genommen haben, in der Hoffnung oder Befürchtung, mit einer neuen, aber im Grunde doch längst bekannten Österreich-Beschimpfung des Übertreibungskünstlers Thomas Bernhard konfrontiert zu werden. In ähnlicher Weise werden diese Grenzen ein über das andere Mal überschritten. Einerseits, indem Stammtischweisheiten verbreitet werden: „In den berühmtesten Theatern von Deutschland / wird heute gesprochen / daß einer Sau graust“ (130). Andererseits, wenn reflektiert wird, was alles man an Stammtischen widerspruchslos hinnimmt: „Möglicherweise geht es / ohne Hitler / Nein / hier nicht / ohne Hitler geht es hier nicht“ (102). An dieser Stelle sind schließlich auch die zahllosen Anspielungen auf den Notlicht-Skandal anlässlich der Uraufführung von Der Ignorant und der Wahnsinnige zu nennen. Wie seinerzeit Thomas Bernhard selbst, verlangt jetzt auch Bruscon: „in meiner Komödie hat es / am
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Ende / vollkommen finster zu sein / auch das Notlicht muß gelöscht sein / vollkommen finster / absolut finster / ist es am Ende meiner Komödie / nicht absolut finster / ist mein Rad der Geschichte vernichtet“ (74f.). Am Ende der Komödie wird es freilich ganz und gar nicht finster, „es brennt“ (190); und nicht nur das Brusconsche Finsternis-Programm fällt in sich zusammen, sondern auch jenes, das sein Autor oft und oft verkündet hat, augenzwinkernd. Das Publikum darf lachen. Dann aber ist es selbst am Zug: die Welt so zu gestalten, dass der alte Theatermacher völlig ins Leere redet. III Die beiden Geschichten, die Günter de Bruyn und Thomas Bernhard schon kurz vor und dann nach dem Erscheinen der Bücher erlebt haben, weisen manche Parallele auf, sie haben gleichwohl nichts miteinander zu tun; die erste Geschichte spielt nämlich in einer Gesellschaft, die noch immer Konventionen fördert, die andere hingegen ist bereits in einer Gesellschaft angesiedelt, die Sensationen fordert. Die Neue Herrlichkeit hat in der DDR einem unumstößlichen Tabu, allen Vorschriften für die sozialistische Schreibweise das Fundament entzogen. Was ihr Autor betrieben hat, ist aus der Sicht des Neuen Deutschland augenscheinlich „nicht Ergründung, sondern Aburteilung“, die Darstellung einer Welt, die „zwar die unsere sein soll, doch bestenfalls die seine bleibt“ (12./13.10.1985), das konnte weder den für die Druckgenehmigung Verantwortlichen noch den Rezensenten verborgen bleiben. Klaus Höpcke sah sich in einem Dilemma; sah er doch in jedem Fall „Langzeitschäden“ voraus, für den Fall der Nicht-Auslieferung Langzeitschäden im internationalen Kulturbetrieb, für den Fall der Auslieferung „natürlich auch Langzeitschäden bei uns“ (zit. n. Wichner & Wiesner 1991: 147f.). – Der Roman, der 1983 eine erste Druckgenehmigung erhalten hatte und 1984 in der BRD erschienen war, durfte in der DDR zunächst nicht ausgeliefert werden. Erst 1985 wurde dem Mitteldeutschen Verlag erneut, diesmal endgültig, eine Druckgenehmigung erteilt – kurz nachdem dieser die bereits ausgedruckten 20.000 Bücher der Erstauflage makuliert hatte. Bernhards Theatermacher Bruscon, kein Sprachrohr des Autors, vielmehr ein Nachfolger des Hanswurst, bot (ganz anders als der Erzähler Günter de Bruyns) in Wahrheit keine Angriffsflächen, er rührte auch an kein Tabu. Aber die Medien konstruierten aus mehr oder weniger geschickt zusammengestellten Zitat-Montagen einen einzigen Rundumschlag des Autors gegen Österreich, eine Nestbeschmutzung, wie man sie noch nie erlebt hatte, und hochrangige Politiker wie die Minister Herbert Moritz und Franz Vranitzky (der spätere Bundeskanz-
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ler) verstärkten schließlich den Chor der Kritiker, die diese „seichte Parabel“ (Frankfurter Rundschau 19.8.1985), dieses „Behindertentheater“ (Die Welt 19.8.1985) mit Wendungen abstempelten, die Bernhard kaum schärfer hätte formulieren können. Sigrid Löffler (Profil 26.8.1985, Theater heute 1985, H. 10, 22f.) brachte damals alle Einwände auf den Punkt: der Übertreibungskünstler Bernhard habe endlich seine Maske fallen lassen, ein „kolossaler Theaterschwätzer“. – Der Text, auch seine Inszenierung, spielte keine Rolle mehr. Im Beziehungsraum zwischen Spiel und Macht hatten nur mehr die Medien das Wort. Sie brauchten, sie suchten, sie erzeugten den Skandal. Jede Gesellschaft blickt auf eine Tafel der Werte und hält Sanktionen bereit für den Fall, dass diese Werte missachtet oder bedroht werden. Von der Kunst, insbesondere von der Literatur, wird indessen seit dem Beginn der Moderne erwartet, dass sie, was auf der Tafel steht, ausleuchtet, ergänzt oder auch korrigiert. Unterm Vorzeichen der Diktatur sind die Positionen genau festgelegt. Die Tafel der Werte ist ausnahmslos zu respektieren. Kunst und Literatur, die gegen dieses Diktum verstoßen, werden zur Rechenschaft gezogen, drangsaliert, verfolgt. In der Demokratie ist die Toleranzspanne weiter, das Spektakel grundsätzlich nicht unerwünscht, der Spielraum für die Akteurinnen und Akteure also groß. Daraus ergibt sich, dass im Mittelpunkt des Kulturskandals in der Regel nicht nur das inkriminierte Werk steht, auch nicht immer die Tafel der Werte, sondern vor allem die Chance für alle Beteiligten, Profil und Prestige zu gewinnen. Literatur Amann, Gert (1993): Kunst in Tirol 1918-1945. In: Pelinka, Anton/Maislinger, Andreas (Hg.): Handbuch zur neueren Geschichte Tirols. Band 2: Zeitgeschichte, 2. Teil. Innsbruck: Universitätsverlag Wagner, S. 333-349. Bernhard, Thomas (1986): Der Theatermacher. In: Rach, Rudolf (Hg.): Theater. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 67-191. Bourdieu, Pierre (2001): Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Debord, Guy (1996 [1967]): Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Bitterman. De Bruyn, Günter (1984): Neue Herrlichkeit. Roman. Frankfurt a.M.: Fischer. Dürr, Claudia/Zembylas, Tasos (2007): Konfliktherde und Streithähne. Grenzzonen und Strategien im Literaturbetrieb. In: Neuhaus, Stefan/Holzner, Johann (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 75-88. Goethe, Johann Wolfgang (1985): Der junge Goethe 1757-1775, I. Hrsg. von Gerhard Sauder (= Münchner Ausgabe, Band I.I). München: Hanser, S. 229-231. Höller, Hans (1993): Thomas Bernhard. Reinbek: Rowohlt.
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Hye, Franz-Heinz (1982): Vom „Grauenstain“ zur Hungerburg. Geschichte des Stadtteiles Hoch-Innsbruck. Innsbruck: Interessengemeinschaft Hoch-Innsbruck. Jacobi, Friedrich Heinrich (1785): Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Breslau: Gottl. Löwe. Kreuzer-Eccel, Eva (1993): Bildende Kunst der Gegenwart in Tirol. In: Pelinka, Anton/Maislinger, Andreas (Hg.): Handbuch zur neueren Geschichte Tirols. Band 2: Zeitgeschichte, 2. Teil. Innsbruck: Universitätsverlag Wagner, S. 351-403. Moritz, Rainer (2007): Wer treibt die Sau durchs Dorf? Literaturskandale als Marketinginstrument. In: Neuhaus, Stefan/Holzner, Johann (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 54-62. Sorg, Bernhard (31991): Die Zeichen des Zerfalls. In: Text + Kritik H. 43: Thomas Bernhard, S. 75-87. Tepser, Sibylle (1985): Max von Esterle. Leben und Werk. Innsbruck: Diss. masch. Weiler, Max (1975): Max Weiler. Mit einer Einführung von Wilfried Skreiner. Salzburg: Residenz. Wichner, Ernst/Wiesner, Herbert (Hg.) (1991): Zensur in der DDR. Ausstellungsbuch. Geschichte, Praxis und ‚Ästhetik‘ der Behinderung von Literatur. Berlin: Literaturhaus.
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„Das Herz ist vor allem trügerisch“ – Inszenierung von sexuellem Missbrauch in J.T. Leroys Sarah und Andrew Jareckis Capturing the Friedmans Sascha Seiler
Literaturskandale sind in heutiger Zeit beileibe keine Seltenheit, auch wenn konstatiert werden muss, dass sich das einem literarischen Skandal innewohnende Schock-Potential in den letzten Jahrzehnten deutlich nivelliert hat. Es scheint gar wenn zwar kein unmögliches, so doch ein äußerst schwieriges Unterfangen zu sein, bewusst oder unbewusst einen solchen Skandal, zumal medial wirkungsvoll, zu provozieren. In dem von Stefan Neuhaus und Johann Holzner herausgegebenen, 2005 erschienenem und über 700 Seiten umfassenden Sammelband Literatur als Skandal: Fälle – Funktionen – Folgen werden die prominentesten Literaturskandale der neueren Geschichte analysiert, leider mit einem eindeutigen Schwerpunkt auf der deutschsprachigen Literatur, und dennoch von nahezu enzyklopädischer Form. Studiert man die dort aufgeführten Fälle, so kristallisiert sich recht bald eine Aufteilung in verschiedene Typen von Skandalen heraus: Da ist einmal die rein literarische Provokation, die gesellschaftliche oder, in einer was den sozialen Zündstoff angeht deutlich abgeschwächten Variante, literarische Normen verletzt oder gar Tabus bricht. Diese Art von Skandal ist von seiner Beschaffenheit her textimmanent, er wirkt zwar über den Text hinaus, doch sein Wesen ist, ob nun auf Form- oder Inhaltsebene, ein innerliterarisches. Eine zweite Variante wären die Skandale um den Paratext eines Werkes. Diese implizieren etwa Fälschungen oder erfundene Autorenpersönlichkeiten, im Extremfall auch kleinere oder größere verlegerische Betrügereien. Als dritte Variante ist noch der ‚Schlüsselroman‘ zu nennen, ein vorgeblich fiktives literarisches Werk also, das jedoch mehr oder weniger deutlich auf real existierende Personen verweist, die entsprechend deutlich oder weniger deutlich verschlüsselt sind. Manchmal reicht es, dem Protagonisten lediglich eine leichte Abwandlung des Namens gegenüber der real existierenden Person zu geben, manchmal sind aber selbst die Lebensläufe derselben so geschickt verschlüsselt, dass nur Insidern die Referenz auf eine reale Person auffallen wird. Ein solcher Skandal transzendiert meist das Medium Literatur, da die Betroffenen, haben sie sich erst einmal erkannt, aufgrund der Verletzung von Persönlichkeitsrechten ein K. Bulkow, C. Petersen (Hrsg.), Skandale, DOI 10.1007/978-3-531-93264-4_13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Verbot des Werks einklagen können, so geschehen im Fall von Klaus Manns 1936 im Exil erschienenen Roman Mephisto, der nach einer Klage der Nachkommen des nur leicht ‚verschlüsselt‘ dargestellte Gustaf Gründgens bis ins Jahr 1981 verboten blieb.1 Als weitere, medienwirksame Fälle seien noch Thomas Bernhards Holzfällen genannt, das im Jahr 1984 nach einer Klage des Komponisten Gerhard Lampersberg in Österreich mit Polizeieinsätzen aus den Buchläden entfernt wurde und den Autor dazu veranlasste, seinen Verleger Siegfried Unseld zu bitten, das Berhard’sche Gesamtwerk nicht mehr in Österreich zu verkaufen. Der jüngste Fall betrifft Maxim Billers Roman Esra, der, eher untypisch, nach Klage zweier nicht-öffentlicher Personen, der ehemaligen Lebensgefährtin des Autors und ihrer Mutter, verboten wurde; ein Verbot, das im Übrigen bis zum heutigen Tag anhält. Im Film ist das Potential zum Skandal jedoch etwas anders gelagert, da hier die Rezeptionsmöglichkeiten diversifizierter sind und aufgrund dessen differenzierter geurteilt werden muss. Ein Grund hierfür ist etwa die in den meisten Ländern ähnlich geltende Alterseinschränkung eines Films, die meist einer institutionellen Vorzensur gleicht, so dass ein Film von vorneherein nur ab einem bestimmten Alter freigegeben ist und sich der skandalöse Gehalt jenseits des ‚Verbotenen‘ – das in der Literatur wiederum als solches recht selten anzutreffen ist – in Grenzen hält. Ein Film kann zwar aufgrund seines pornografischen Inhalts für einen Skandal sorgen – so etwa Bernardo Bertoluccis The Last Tango in Paris aus dem Jahre 1972 – doch ist der Film von vorneherein als pornographisch etikettiert, in den USA gibt es hierfür etwa das X-rating, so scheidet die Möglichkeit eines Skandals im Großen und Ganzen aus. Doch auch hier gibt es Grenzfälle. Ein Beispiel hierfür wäre das jahrzehntelange Aufführungsverbot von Stanley Kubricks Film A Clockwork Orange in Großbritannien. Der Grund war denkbar einfach: Man – und dazu zählte auch der Regisseur selbst2 – hatte Sorge, Kubricks Film würde die angeblich stark gewaltaffine britische Jugend, die unverkennbar auch als Vorbild für die Figuren des Films gedient hat, zur verstärkten Nachahmung verleiten. Erst mit der Einführung des Mediums DVD konnte dieses Verbot in England nur noch schwer aufrecht gehalten werden, da es kein Problem mehr darstellte, an eine Importversion zu gelangen. Wenn bereits vom Thematisieren von ästhetisch oder inhaltlich Verbotenem als heutzutage letzten Weg einen literarischen oder filmischen Skandal zu provozieren gesprochen wurde, so auch deswegen, weil die beiden Beispiele, um die 1
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Der Rowohlt Verlag veröffentlichte das Buch trotz des bestehenden Verbots aus dem Jahre 1966. Grund hierfür mag gewesen sein, dass das Buch in der DDR vom Aufbau-Verlag bereits in mehreren Auflagen veröffentlicht war, und man bei Rowohlt aufgrund dessen keinen Sinn mehr sah, das Verbot in der BRD weiter zu befolgen. Siehe hierzu etwa Petersen (2001: 114).
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es im Folgenden gehen soll, eine auf verschiedene Art und Weise medialisierte Ästhetisierung von gesellschaftlichen Tabus betreiben, die sich aus Gründen rechtfertigt – besser gesagt: gezwungenermaßen rechtfertigen soll –, denen letztlich einer Irreführung des Rezipienten implizit ist. In beiden Fällen, in J.T. Leroys 2001 erschienem Roman Sarah als auch in Andrew Jareckis 2003 entstandenem Dokumentarfilm Capturing The Friedmanns, geht es um die Thematisierung sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen, der, wenn auch sowohl mit unterschiedlichen ästhetischen Mitteln als auch unter völlig verschiedenen Vorzeichen, vom Autor bzw. Regisseur manipulativ eingesetzt wird. I Bezogen auf die Rezeptionsgeschichte von Vladimir Nabokovs Roman Lolita schreibt Markus Gasser, einer der Ursachen für jenen endlosen Skandal, der mit dem Buch Lolita verbunden ist, sei, dass der Roman am letzten sexuellen Tabu rühre, dass der westlichen Welt geblieben sei, dem Kindesmissbrauch. Und trotzdem gelte der Roman „als über alle moralischen Entrüstungen erhabenes Meisterwerk“ (2007: 370). Zahlreiche Kritiker lehnten den Roman von seinem Erscheinen an ab, weil „Lolita […] aus der Nötigung einer Minderjährigen ein ästhetisches Erlebnis“ (2007: 371) mache. Die Befürworter des Romans wiederum sehen jedoch gerade in jenem ästhetischen Argument die zentrale Rechtfertigung, den Tabus brechenden Inhalt in seiner Brisanz zu entkräften und finden in der besonderen Ästhetik des Werks eine Rechtfertigung für etwas, was sie im wirklichen Leben mit ziemlicher Sicherheit ablehnen würden. Hieraus entsteht ein Dilemma, aus dem man als Rezipient nur schwer entkommen kann. Eben jenes Dilemma kann auf den ersten, oberflächlichen Blick auch an dem 1998 erschienenen Roman Sarah des amerikanischen ‚Schriftstellers‘ J.T. Leroy beobachtet werden. Die Tatsache jedoch, dass es sich im Falle von Sarah um eine ästhetisch überhöhte, weil phantasievolle, aber dennoch vorgeblich wahre autobiographische Aufzeichnung handelt, wurde in den Medien durch den ‚Autor‘, der zudem schnell Bewunderer vor allem aus der intellektuellen Abteilung der Popmusikszene fand, gleich mehrfach in den Mittelpunkt des Rezeptionsprozesses gestellt. Sarah wurde von dem damals ca. 20-jährigen ehemaligen Stricher3 Jeremiah Terminator Leroy geschrieben und ist, wie auch das 2002 erschienene Nachfolgewerk, die Kurzgeschichtensammlung The Heart is Deceitful Above All Things, eine vorgeblich autobiographische Erzählung über das Leben als so ge3
Zumindest wurde er vom Verlag und im Zuge von den Medien als solcher vermarktet.
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nannter Truck-Stop-Lizard. Unter einem solchen versteht man einen Babystricher, der sich auf Highway-Rastplätzen (im vorliegenden Fall West Virginias) Lastwagenfahrern anbietet. Der Lokalkolorit ist äußerst wichtig für die sich entfaltende Mythologie Leroys, denn „Leroys Appalachen sind ein Landstrich mit faulenden Kohlköpfen, Sumpfgas und religiösen Ikonen, voller Aberglauben und Mirakeln, eine Gegend, in der Pflanzen Menschen essen […], und die Menschen immer noch an die magische Kraft des Waschbär-Penisses glauben“ (Murphy 2001: 65). Jeremiah wurde von seiner jugendlichen Mutter Sarah, die selbst als Truck-StopProstituierte arbeitet, in diese Kreise eingeführt und aus finanziellen Gründen zum Anschaffen motiviert. Zur Zeit der Handlung ist Jeremiah zwölf Jahre alt und bietet sich den Truckern meist als Mädchen an, weil Sarah der Meinung ist, dass dies seine Gewinnchancen erhöht. Im Laufe der Handlung vollzieht sich seine Metamorphose zu einer Art ‚Königin‘ der Truck-Stop-Lizards, und er wird fortan von seinen Freiern wie eine solche hofiert. Die aus der Ich-Perspektive erzählte Geschichte verwandelt sich somit in ein Märchen, in dem Jeremiah sich eine Phantasiewelt konstruiert, in welcher er in seinem königlichen Gemach ausgestellt wird und Trucker von weither anreisen, um auch nur einen einzigen Blick auf das gottgleiche Wesen werfen zu können. Innerhalb der Diegese wird dem Leser das Phantastische dieser Welt zu keinem Zeitpunkt suggeriert, doch der schwelgerische, an Kitschromanen und Hollywood-Filmen geschulte Erzählton des Ich-Erzählers, gepaart mit der ernsten Thematik, suggeriert, dass die Realität selbstredend anders aussieht, und Jeremiahs extreme Form von Realitätsflucht letztlich nur als Verdrängungsversuch einer noch unerträglicheren, perversen Realität gedeutet werden muss, die man zwischen den Zeilen erkennen kann. Und doch ist das Besondere an Sarah gerade jene märchenhafte Negierung von der unerträglichen Wirklichkeit wie auch deren idealisierende Darstellung. Da der Roman aus der Ich-Perspektive Jeremiahs erzählt wird und der Leser nicht nur dessen subjektive, vermutlich aus Gründen des Selbstschutzes und damit einhergehend auch aus Selbstbetrug märchenhaft verschleierte Realitätswahrnehmung mitbekommt, sondern zudem paratextuell über die autobiographische Faktizität des Buches informiert wird, akzeptiert er die Ästhetisierung des Babystricher-Milieus als (autobiographischen) Versuch der schriftstellerischen Überwindung eines Traumas. Diese Deutung unterstrich der Autor J.T. Leroy in ersten Interviews zum Roman nachhaltig. „Einige Romane“, so Peter Murphy in der deutschen Ausgabe des Rolling Stone vom Dezember 2001, „hinterlassen das Gefühl, als würden sich beim Leser die Gene verändern: Der Fänger im Roggen war dafür ein Beispiel oder Fear and Loathing in Las Vegas. Sarah ist ein weiteres Buch von diesem Kaliber“
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(Murphy 2001: 64). Leroy wird hierbei eine „fast mühelos wirkende Fähigkeit“ attestiert „unvorstellbaren Schmerz in Romanform verarbeiten zu können“ (Murphy 2001: 65). Auf die Frage, ob er denn, wenn er über ein besonders schwieriges Erlebnis schreibe – gemeint sind die zahllosen sexuellen Misshandlungen –, das Gefühl habe, er habe es dadurch neutralisiert und erträglicher gemacht, antwortet Leroy: „Es hilft definitiv. Es ist eine Möglichkeit, die Wahrheit herauszubekommen oder zumindest herauszufinden, was in mir vorgeht“ (zit. n. Murphy 2001: 67). Einige Gedanken später fügt er der Antwort noch hinzu: „Nimm nur Suzanne Vega. Bei ihrem Song Luka kamen mir die Tränen; es war einer der ersten Songs über Kindesmisshandlung“ (zit. n. Murphy 2001: 68). Dass der Autor „Interviews von Angesicht zu Angesicht“ hasst, bei „Foto-Sessions […] bizarre Verkleidungen und Masken“ (Murphy 2001: 64) bevorzugt und es zudem vermeidet, „Lesungen seiner eigenen Werke zu veranstalten“ (Murphy 2001: 64), und stattdessen Freunde auf die Bühne schickt, macht die Journalisten zu diesem Zeitpunkt noch nicht misstrauisch. „Ich will einfach nicht, dass die Leute mir zu Füßen sitzen. In diesem Punkt bin ich ziemlich paranoid, ich kann’s nicht ab, wenn die Leute mich anstarren“ (zit. n. Murphy 2001: 64), so Leroy zur Begründung. Shirley Manson, Sängerin der Band Garbage, unternahm gar einen Versuch, die menschliche und schriftstellerische Sensibilität Leroys zu deuten: „Sein Leben stand ständig derartig auf der Kippe, dass er lernen musste, eine Person in einer Millisekunde einzuschätzen. Dass jemand solche schrecklichen Erfahrungen heil übersteht und den eisernen Willen besitzt, uns von seiner Existenz Kenntnis zu geben, das ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Wunder“ (zit. n. Murphy 2001: 64). Und die Songwriterin Suzanne Vega, die sich in ihrem größten Hit Luka bereits 1987 mit dem Thema eingehend und mit großem Ernst befasst hat, las Sarah noch in der Rohfassung, schrieb sogar einen Klappentext zu dem Buch und las regelmäßig aus ihm vor. Im Oktober 2005 enthüllte der Journalist Stephen Beachy im New York Magazine, dass die Person J.T. Leroy nicht existiert. Seine drei veröffentlichten Bücher – neben den beiden erwähnten erschien 2005 noch die Erzählung Harold’s End, und Leroy hatte in zahlreichen renommierten amerikanischen Literaturzeitschriften, so etwa in Dave Eggers’ McSweeney’s Quarterly Concern, wie auch für Zeitungen und Zeitschriften, so unter anderen die New York Times, die Londoner Times oder Interview, geschrieben – hatte eine gewisse Laura Albert verfasst, und als ‚Jeremiah‘ hatte sich deren Schwägerin Savannah Knoop der Öffentlichkeit präsentiert. Die Washington Post griff die Story auf und bezeichnete die Geschichte als „one oft the greatest literary hoaxes of our day“ (Segal 2005), nicht ohne einen Seitenhieb auf die New York Times, die ein Jahr zuvor dem vermeintlichen Autor einen langen Artikel gewidmet hatte.
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Diese revanchierte sich jedoch und erzählte im Januar 2006 die Geschichte des gesamten Betrugs, „one of the most bizarre literary mysteries in recent memory“ (St. John 2006) wie sie ihn bezeichnete, und brachte zugleich das Gerücht ins Spiel, dass Leroy sich zudem als HIV-positiv ausgegeben hatte; ein Gerücht mit einem scheinbar wahren Kern, war es doch eines der Argumente, die Leroy seinen frühen Unterstützern mündlich unterbreitet hatte, um zu begründen, warum er sie nicht persönlich treffen kann. Obwohl Laura Albert das Ganze als ‚Verhüllung‘ ihrer Persönlichkeit und nicht als Witz sah, anhand derer sie Dinge schreiben konnte, die ihr als Laura Albert nicht möglich gewesen wären, wurde sie 2007 wegen Betrugs rechtskräftig verurteilt. In seinem Enthüllungsartikel beschreibt Beachy, wie er auf ihn verstörende Ähnlichkeiten Sarahs zum Prosa-Werk von Leroys damals größtem öffentlichen Unterstützer, dem amerikanischen Schriftsteller Dennis Cooper, und vor allem zu dessen Romanfiguren, gestoßen sei. Dies führte ihn zum Verdacht, dass tatsächlich Dennis Cooper der Autor von Sarah gewesen sei. Doch nach eingängiger Recherche stößt Beachy auf die erfolglosen Rockmusiker Laura Albert und deren Mann Geofrey Knoop. Diese wollten sich offensichtlich, so Beachy, anfangs durch den Betrug Zugang zur Literatur- und später zur Rockmusikszene ergaunern, um die eigene Karriere voranzutreiben. Doch der große Erfolg ihrer erfundenen Geschichte um den schreibenden Ex-Stricher kam unerwartet und verlangte nach neuen Lösungen, den Betrug aufrecht zu erhalten. Wie Beachy Albert und Knoop auf die Schliche gekommen ist, liest sich in seinem Artikel ähnlich einem Agenten-Thriller (vgl. Beachy 2005: 2-10). Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch eine ganze Reihe prominenter Fürsprecher auf den falschen Literaten hereingefallen sind? Bereits 1994, also fünf Jahre vor dem Erscheinen von Sarah, hatte Laura Albert unter dem Namen J.T. Leroy zahlreiche amerikanische Schriftsteller, die im weitesten Sinne dem Underground oder bestimmten Spielarten der Pop-Literatur zuzurechnen sind – wie unter vielen anderen Dennis Cooper und Mary Karr – brieflich oder telefonisch kontaktiert, ihre (erfundene) Stricher-Geschichte geschildert und sich somit ein großes Netzwerk von glaubwürdigen, literarischen Unterstützern aufgebaut, deren Werke, auch dies war bewusst so gewählt, thematisch der Geschichte Leroys in gewisser Weise nahestanden. Interessanterweise lief der jahrelange Kontakt über Briefe, später über EMail, selten über Telefon ab, so dass niemals einer der Autoren Leroy zu Gesicht bekommen hatte; dies galt später genauso für seine Verleger und selbstredend auch für Journalisten. Die Geschichte, die Laura Albert aka Leroy sich zurechtgelegt hatte, und die jeder, vom prominenten Unterstützer bis hin zum Journalisten, erzählt bekam, besagte, dass ein Psychologe namens Dr. Terrence Owens
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J.T. Leroy im Alter von 13 Jahren von der Straße bzw. den Trucks Stops gerettet und ihm das Schreiben als Therapie gegen seine traumatischen sexuellen Erfahrungen empfohlen habe. Durch eine regelrechte Lawine an äußerst geschickt eingefädelten Kontakten zur Literaturszene – Albert profitierte vom Zusammenspiel von intellektuellen Medien und der Erwartungshaltung eines wachsenden potentiellen Publikums aufgrund des Exotismus ihrer Figur – brachte es der Schriftsteller J.T. Leroy im Alter von sechzehn Jahren bereits zu ersten Zeitschriften-Publikationen seiner Stories, und mit siebzehn erhielt er einen Buchvertrag für sein Erstlingswerk Sarah. Erst 2001, als die Geschichte vom reklusiven, öffentlichkeitsscheuen jugendlichen Schriftsteller aufzufliegen drohte, begann Leroy plötzlich, in der Öffentlichkeit aufzutauchen. Diese skurrilen Erscheinungen fanden jedoch stets in Verkleidung statt, und Gespräche mit Journalisten führte immer seine ihn stets begleitende Freundin ‚Emily‘, hinter der sich konsequenterweise Laura Albert verbarg, während ihre Schwägerin Savannah Knoop als Leroy posierte. Gerade deswegen wurde er auch niemals mit Medienvertretern allein gelassen, was angeblich aufgrund seiner Anfälligkeit für Drogen – es könne ja sein, dass ein Journalist dem ehemaligen Junkie etwas zusteckt, was diesen rückfällig werden lässt – auch unmöglich sei. Leroy aka Albert selbst verbreitete das Gerücht, Dennis Cooper oder der Regisseur Gus Van Sant würden unter seinem Namen schreiben, verneinte dies dann öffentlich und erklärte seine Behauptung mit der Begründung, dies sei der Abwehrmechanismus eines missbrauchten Kindes. Der Skandal um J.T. Leroy besteht weniger darin, dass jemand unter einem Pseudonym, gar einer angenommenen Identität, schreibt, sondern liegt in der Thematik seiner Werke begründet und der gerade aufgrund dieser Thematik besonders gut ‚funktionierenden‘ Steuerung des Rezipientenverhaltens. Ähnlich wie im Falle Binjamin Wilkomirskis und dem gefälschten und daher nicht autobiographischen KZ-Roman Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948 (1998) zielte die gesamte Vorbereitung der Publikation und ihre Vermarktung auf den Faktor der Authentizität hin; einer Authentizität, die sich im Kontext menschlichen Schmerzes und der Überwindung von Traumata sowie dem diese Authentizität stützenden Verweis auf die Autorschaft bezieht. Folgt man Lejeunnes Ausführungen des ‚autobiographischen Paktes‘, so dürfte mit Leroys Werk jedoch kein Bruch desselben vorliegen, ergo kein Skandal entstehen, da die geforderte Identität zwischen Autor, Erzähler und Protagonisten den Text nur über eine paratextuelle Ebene der medialen Inszenierung berührt (vgl. Lejeunnes 1994: 15f.). So gesehen muss man zwischen dem Begriff der Authentizität und dem der Autobiographie gerade in vorliegendem Fall eine deutliche Linie ziehen, da der Wunsch nach Authentizität vom Autor zwar genährt wird, jedoch nicht in Form
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des Lejeunne’schen autobiographischen Paktes, den Leroy nur medial, nicht aber auf der Ebene seiner Prosa, die als Fiktion gekennzeichnet ist, eingegangen ist. Leroys Verleger Ira Silverberg, der selbst zu den Genarrten gehörte, unterstreicht in einem Statement zur Enthüllung die Lejeunne’sche These eines (in diesem Fall) mit moralischen Erwartungen spielenden Bruchs mit diesem Pakt, wenn er sich Jahre später noch über den vermeintlichen literarischen Coup ärgert: To present yourself as a person who is dying of AIDS in a culture which has lost so many writers and voices of great meaning, to take advantage of that sympathy and empathy, is the most unfortunate part of all of this. A lot of people believed they were supporting not only a good and innovative and adventurous voice, but that we were supporting a person. (zit. n. St. John 2006) Zu unterstreichen ist hierbei, dass das Vorspielen von Authentizität den Tabubruch, eine Ästhetisierung von Kindemissbrauch, rechtfertigt, da es sich damit um den (oben erwähnten) Abwehrmechanismus eines Missbrauchten handelt – die Verarbeitung seiner vermeintlich fürchterlichen Erfahrungen in dem Versuch, dem Ganzen eine märchenhafte Hülle zu geben. Die fortlaufende und von langer Hand geplante Inszenierung dieses Paratextes rechtfertigt erst diese Ästhetisierung, fällt diese schützende Hülle weg, steht der nackte Text (geschrieben zudem von einer jungen Frau, die nicht das Geringste mit der beschriebenen Szenerie zu tun hat) als Tabubruch da. Die Debatte über eine durchaus vorhandene literarische Qualität wird dabei, soviel sei hierzu noch angemerkt, aber ebenso außer Acht gelassen, wie zu Zeiten, als man sich primär auf den Text als autobiographische Beichte konzentrierte. II Ganz anders liegt der Fall bei Andrew Jareckis 2007 entstandenem Film Capturing The Friedmans, jedoch ist auch hier Manipulation und Täuschung ein wesentliches Merkmal seiner Rezeptionsästhetik. Anders jedoch als die Täuschung im Falle J.T. Leroys hat man es bei Capturing The Friedmans mit einer in gewisser Weise ästhetisch legitimierten Manipulation des Zuschauers zu tun, da sie einen Teil des ästhetischen Gesamtwerks darstellt. Jarecki betrügt den Zuschauer ja letztlich nicht, indem er ihm Fakten vorenthält oder ihn bewusst mit falschen Informationen versorgt, sondern manipuliert ihn im Rahmen seiner narrativen, dokumentarischen Ästhetik. Und anders als im Fall der Schöpfung
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der J.T. Leroy-Figur verdankt Capturing The Friedmans seine Entstehung einem Zufall. Der junge Filmemacher Andrew Jarecki dreht gerade an einem Dokumentarfilm über New Yorker Partyclowns und lernt in diesem Zusammenhang David Friedman, einen der berühmtesten Vertreter dieses Berufsstands, kennen. Bei der näheren Recherche zu Friedmans Person stößt Jarecki auf einen fast vergessenen Kriminalfall aus den 80er Jahren: Davids Vater, der Schullehrer Arnold Friedman, und sein zu diesem Zeitpunkt noch minderjähriger Bruder Jesse wurden damals angeklagt, in Friedmans nachmittäglichem, bei ihm zuhause stattfindenden Computerkurs mehrere Jungen auf perverseste Weise sexuell missbraucht zu haben. Die durchschnittliche Middle-Class-Familie Friedman zerbricht nach und nach an den Anschuldigungen und dem sich stetig entwickelnden gegenseitigen Misstrauen, und schließlich landet Friedman trotz einer nicht einmal annähernd eindeutigen Beweislage im Gefängnis und begeht dort nach wenigen Monaten Selbstmord. Der besondere Clou für den Dokumentaristen Jarecki entwicklet sich allerdings aus der Tatsache, dass die Friedmans seinerzeit ihren Alltag auf Super-8 Filmen festgehalten haben. Das Ergebnis für den Zuschauer von Capturing The Friedmans ist, dass viele der teilweise äußerst intimen Auseinandersetzungen, die man im Film beobachten kann, als authentisches Archivmaterial erhalten sind. Jarecki fügt diesem lediglich Interviews mit diversen Familienmitgliedern, den involvierten Anwälten und einigen der betroffenen Schüler hinzu. Man könnte also meinen, man habe es aufgrund der Echtheit des Archivmaterials mit einem hohen Grad an Authentizität zu tun, jedoch gerät der Film gerade aufgrund des Umgangs mit diesem authentischen Material in höchstem Maße manipulativ. Genau aus diesem Grund übt Capturing The Friedmans eine erschreckende Wirkung auf den Rezipienten aus, da er, als ästhetisches Konstrukt, Authentizität vorgibt, aber diese Authentizität letztlich nur Teil eines manipulativen Dokumentarismus ist. Jarecki gelingt es nämlich, den Zuschauer stets in einem Schwebezustand zwischen Ablehnung und Mitleid zu halten, indem er ihn zwingt, mit fast jeder neuen dramaturgischen Entwicklung seine Meinung und seine Sympathien neu zu verteilen. Der Regisseur gibt dabei nur bruchstückhaft die ihm letztlich vollständig vorliegenden Informationen heraus und konstruiert so ein dokumentarisches, am Thriller-Genre orientiertes Puzzlespiel. Auf jede scheinbar eindeutige, Friedman überführende Aussage eines Schülers, Familienmitglieds oder Anwalts folgt ein ebenso scheinbar eindeutiges, ihn entlastendes Statement. Die New York Times bezeichnete den Film, auf die zahllosen unerwarteten Wendungen im Plot Bezug nehmend, als „wormhole narrative about a family’s decades-long tumble into shattering denial, lies and abuse“ (Mitchell 2003: 1). Jarecki beschließt sei-
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nen Film mit einem mehr oder weniger offenen Ende4 und entlässt einen verwirrten, orientierungslosen Zuschauer – genauso, wie es bei einem fiktiven Thriller der Fall wäre. Allerdings ist Capturing the Friedmans, wie bereits erwähnt, als Dokumentarfilm gekennzeichnet. In seinem New York Times-Artikel spricht Elvis Mitchell den Filmemacher jedoch vom Vorwurf der unnötigen Sensationslust oder gar des Betrugs des Publikums frei, vielmehr zeige dieser in Zwischentönen bereits sehr früh und durchaus bewusst, dass seinen Film-Bildern keineswegs zu trauen ist und dass die Wahrheit immer in der Perspektive derjenigen Person liegt, die dem Zuschauer gerade ihre Geschichte erzählt. Da der Regisseur zu keinem Zeitpunkt einen Anspruch auf die absolute Wahrheit erhebt, könne man konstatieren, dass er in seinem Werk lediglich die gesellschaftlichen Implikationen von Schuld und Unschuld hinterfragt, ohne diese Kategorien zwingend seinem Protagonisten zuzuschreiben. Die äußerst kontroverse Debatte, welche der Film aufgrund seiner manipulativen Struktur provozierte, ist sicherlich nicht zuletzt auch in der Wahl des Themas und der Art der Aufarbeitung desselben begründet, die bewusst den Versuch des Tabubruchs wagt. Dass der Film genau auf diese Wirkung hin zielt, beweist etwa das (britische) Filmplakat, das auch die DVD ziert. Dort wird in großen Lettern die Tagline abgedruckt: „And what do you think?“ – eine eher seltsam anmutende Frage, wenn man bedenkt, dass es sich um einen vorgeblich authentischen Film mit ausnahmslos ‚echten‘ Aufnahmen handelt, der das Geschehene dokumentieren will. Und genau dieses Spiel mit den Zuschauererwartungen wirft die Frage auf, ob der Dokumentarfilm als solcher sich tatsächlich einem reinen Dokumentarismus verschreibt, oder ob man ihn als ästhetisches Medium begreift, das gleichzeitig in der Lage ist, mit den Publikumserwartungen zu spielen. In anderen Worten: Geht auch hier der Regisseur mit dem Zuschauer einen Pakt ein und verspricht ihm eine ‚echte‘ Abbildung der Realität? Mitnichten, doch letztlich ist gerade ein Dokumentarfilm ein schwieriges Konstrukt, da viele Zuschauer Dokumentarismus mit Realitätsabbildung verwechseln werden – und genau mit diesen Erwartungen und Verwechslungen spielt Jarecki. Dass es für diese Art der manipulativen Dokumentation durchaus ein diskussionswilliges Publikum gibt, das sich dem kriminalistischen und damit ‚realistischen‘ Ratespiel um Schuld und Unschuld hingibt, zeigt beispielsweise das Diskussionsforum auf der Filmwebsite IMDB, in dem eine meist ernst gemeinte, von den Usern streng kontrollierte Auseinandersetzung mit Filmen und Fernsehserien stattfindet, die gleichzeitig oft ein heiteres Rätselraten um tatsächliche und 4
Die DVD Special-Edition führt das Spiel noch weiter, indem eine gesamte Bonus-Disc noch weitere entlastende wie belastende Interviews enthält, die nach der Kinoauswertung entstanden sind.
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suggerierte Bedeutungen darstellt. Im Falle von Capturing The Friedmans setzt sich die im Film initiierte (und auf der der DVD beigelegten Extras-DVD noch weiter forcierte und zeitgleich dokumentierte) Auseinandersetzung um die Frage nach Schuld in großem Rahmen fort. Forenmitglieder wiegen einzelne Sequenzen und Dialoge gegeneinander auf und sind von Täterschaft oder Opferrolle Friedmanns überzeugt. Der Höhepunkt wird erreicht, als sich ein vermeintlicher Augenzeuge, ein ehemaliger Teilnehmer der Computer-Klasse, meldet: Veganrus: So now I understand your basic argument. You say that the movie was a one-sided advocacy piece, and should not be a trusted, reliable source? Well, The Leadership Council is a one-sided advocacy group, and not in any way ‘primary sources’ for anything which happened or didn’t happen in Great Neck. It seems to most people that by interviewing people who were actually first-hand accounts to the story (as in the movie) you have a more reliable source than some issueoriented advocacy group propaganda website. But that’s just my opinion since I was there and I know that nobody was sexually abused during those computer classes. […] Of course the Geraldo show was ‘made up’ as was the guilty plea. I am saying as directly as possible that nobody was sexually abused in the computer classes, and those who believe children are victims (as we are now learning) of hypnosis and other inappropriate therapeutic techniques relating to ‘repressed memory.’5 Ob der User Veganrus nun die Wahrheit sagt oder nicht, ist sekundär; der Dialog nämlich führt nur das fort, was die Augenzeugen im Film an kontroversen Aussagen von sich geben. Ein Teil der regelmäßig im umstrittenen Computerkurs Friedmans anwesenden Jungen kann sich an nichts erinnern und beschwört, dass nichts Außergewöhnliches passiert sei. Ein Teil jedoch insistiert eindeutig auf der Schuld Friedmanns, und eines der mutmaßlichen Opfer erzählt sogar mehrmals von ausufernden, sadistischen Sexspielen, denen alle Jungen ausgesetzt waren. Spätestens bei den Ausführungen dieses potentiellen Opfers wird klar, dass es in Capturing The Friedmans nicht um die Frage eines gelegentlichen, aus der Situation entstandenen Missbrauchs geht, sondern um einen dauerhaften, in größtem Maße erniedrigenden sexuellen Missbrauch.
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Online unter www.imdb.com/title/tt0342172/board?p=2, Abruf am 27.5.2010.
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Dem Zuschauer wird zudem vorgeführt, wie David Friedmann, der spätere Partyclown, seinerzeit einen wütenden Monolog in die Kamera sprach und die Medien sowie die mutmaßlichen Opfer der Lüge bezichtigte: ein privates Dokument, das erst 25 später öffentlich gemacht wird. Als die Beschreibungen des sexuellen Missbrauchs im Laufe des Films immer abstruser und die Widersprüche, in die sich die potentiellen Opfer verstricken, immer größer werden, glaubt der Zuschauer zunehmend an die Unschuld Friedmanns – so lange, bis Jarecki sein letztes Ass aus dem Ärmel zieht und den finalen Plot Twist einsetzt: Friedmans Bruder meldet sich zu Wort und bekennt, als Kind jahrelang von diesem sexuell missbraucht worden zu sein. III Es ist sicherlich äußerst schwierig, im Fall der dargestellten Beispiele den ästhetischen Wert eines Kunstwerks abseits seines Paratextes zu bewerten, da in beiden Fällen gerade der Versuch des Bruchs mit einem gesellschaftlichen Tabu entweder als Täuschung oder als Manipulation des Rezipienten eingesetzt wird. Anders als bei Nabokovs Lolita etwa beruht der kritische und nicht zuletzt kommerzielle Erfolg der Werke auf der Prämisse, dass hier Authentizität verkauft werden soll. Die ständigen Plot Twists in Capturing The Friedmans wären bei einem fiktionalen Werk, das sich derselben Thematik widmet, wohl als grotesk und geschmacklos abgetan worden, obwohl eine Zeitlang in Internet-Foren das Gerücht kursierte, es handle sich bei dem Film um eine Mockumentary, also um einen Spielfilm, der nur die ästhetische Form einer Dokumentation wählt, was sich, bei aller Hoffnung der User auf solch spektakuläre Verschwörungstheorien und sicherlich nicht zuletzt auch beeinflusst von Enthüllungen wie die um J.T. Leroy, nicht erfüllt hat. Die Geschichte Leroys wiederum wäre wohl, hätte man sie von vornerein als fiktionalen Roman einer unbekannten Schriftstellerin namens Laura Albert deklariert, als Trivialisierung und Schönfärbung von sexuellem Missbrauch an Minderjährigen rezipiert worden. Doch genau in dem Moment, in dem das Verlangen des Publikums nach Authentizität befriedigt wird, ist der Tabubruch normativ letztlich nicht mehr existent. Somit verlagert sich das Skandalöse weg vom eigentlichen Thema und hin zu einer rein ästhetischen Gestaltung, der die Simulation einer nicht gegebenen Authentizität zugrunde liegt. Doch ist es überhaupt angebracht, in beiden Fällen von Skandalen zu sprechen? Wie gesehen geht Leroy keinen autobiographischen Pakt mit dem Leser ein, sondern wird medial als Image verkauft, was höchstens bedeutet, dass Laura Alberts Roman unter einem Pseudonym veröffentlicht wurde, ein üblicher, kei-
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neswegs moralisch verwerflicher Vorgang. Die mediale Inszenierung, die letztlich als entscheidendes Marketing-Instrument eingesetzt wurde, mischt sich lediglich in der Vorstellung des nach Authentizität dürstenden Rezipienten in die Diegese ein, nicht aber auf der Ebene des Textes selbst, der unverändert bleibt. Auch bei Capturing The Friedmans steht der Wunsch nach Authentizität einer Rezeption des Films als künstlerisches Artefakt im Wege, da der Film mit Affekten arbeitet und einen öffentlich fehlgeleiteten Begriff von Dokumentarismus impliziert, der keineswegs mit dem der Authentizität gleichzusetzen ist, um den Rezipienten zu manipulieren. Dem Dokumentarfilm stehen letztlich dieselben ästhetischen Mittel wie dem Spielfilm zur Verfügung, und Schnitt, Chronologie, kameraperspektive oder ein Drehbuch können den Wahrheitsgehalt, wenn nicht eliminieren, so zumindest subjektiv einfärben. So entsteht der Skandal in beiden Fällen letztlich nur aus dem Versuch einer objektivierenden Sichtweise auf Kunstwerke, die medial oder per definitionem Authentizität suggerieren, diese aber auf der diegetischen Ebene nicht einzulösen vorgeben. Der Skandal ist zwar in beiden Fällen durchaus intendiert, da mit einem Tabuthema gespielt wird, das Aufmerksamkeit bringt und gerade aufgrund der Erwartungen einer objektivierenden Sicht dieses Thema auch geschickt für den ästhetischen Zweck einsetzt. Vor allem aber steht das stete Bewusstsein über die mögliche Veränderung der Aussage des Kunstwerks aufgrund der wechselnden Perspektive des Betrachters im Mittelpunkt. Und diese Implikation erst ermöglicht den Skandal – nämlich dann, wenn es zur Enttarnung der Wirklichkeit kommt. Literatur & Quellen Beachy, Steven (2005): Who is the real J.T. Leroy? A search for identity of a great literary hustler, October 10, 2005. Online unter http://nymag.com/nymetro/news/ peole/features/14718 (S. 1-11), Abruf am 27.5.2010. Gasser, Markus (2007): Kindesmissbrauch und Plagiatsverdacht. Der doppelte Skandal um Vladimir Nabokovs „Lolita“. In: Neuhaus, Stefan/Holzner, Johann (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 368-377. Hainz, Martin A. (2007): „Kein Schrei kommt aus seiner Kehle, aber ein mächtiger, schwarzer Strahl schießt aus seinem Hals“. Zu Binjamin Wilkomirski. In: Neuhaus, Stefan/Holzner, Johann (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S. 613-624. Lejeunne, Philippe (1994): Der autobiographische Pakt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Leroy, J.T. (2005): Harold’s End. New York: Last Gasp. Leroy, JT (1999): Sarah. London: Bloomsbury. Leroy, JT (1999): The Heart is Deceitful Above All Things. London: Bloomsbury.
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Mitchell, Elvis (2003): Witness to a Family’s Slow-Motion Collapse (May 30, 2003). Online unter http://movies.nytimes.com/movie/review?res=9A00E0D91F31F933A 05756C0A9659C8B63 (S. 1-4), Abruf am 27.5.2010. Murphy, Peter (2001): Geliebtes Monster. In: Rolling Stone (D) 12/2001, S. 62-67. Neuhaus, Stefan/Holzner, Johann (2007): Literatur als Skandal. Vorwort der Herausgeber. In: Dies. (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Petersen, Christer (2001): Anthropologien der Gewalt. Stanley Kubricks Science-FictionReihe „Dr. Strangelove“, „2001“ und „A Clockwork Orange“. In: Krah, Hans: AllGemeinwissen. Kulturelle Kommunikation in populären Medien. Kiel: Ludwig, S. 92-116. Segal, David (2005): A Novelist’s Novelist. Is the Acclaimed J.T. LeRoy Just a Character Himself? In: New York Times vom 10.12.2005. Online unter http://www.washin tonpost.com/wpdyn/content/article/2005/10/12/AR2005101202422.html, Abruf am 12.10.2010. St. John, Warren (2006): The Unmasking of JT Leroy: In: Public, He’s a She, January 9, 2006. Online unter http://www.nytimes.com/2006/01/09/books/09book.html, Abruf am 27.5.2010.
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Frauenmord und Skandal viral – Young British Art. Ein Fallbeispiel Anke Steinborn
Spätsommer 1988 – eine von Studenten des Londoner Goldsmiths College organisierte Ausstellung versetzt nicht nur die Londoner Kunstszene in Aufruhr, sondern hinterlässt auch international nachhaltig Spuren. Freeze, so der Titel der Ausstellung, ist legendär, die präsentierte Kunst, die sich als Young British Art etablieren wird, spektakulär. Freeze steht für den eingefrorenen Moment, den Moment, der im Kunstwerk festgehalten ist, aber auch der des Erstarrens oder Schauderns des Betrachters.1 Freeze ist der Ausgangspunkt für eine neue (Skandal-)Kunst, eine Kunst, die sich gegen den Konservatismus der Thatcher Ära auflehnt und paradigmatisch wird für den Zeitgeist der 90er Jahre. Killerton Gardens im Juni 1993 – ein lebloser Frauenkörper, Leib und Beine von Erde und frischem Grün bedeckt, durchbricht das ländliche Sommer-Idyll der National Trust Anlage unweit der südenglischen Stadt Exeter. Besucher hatten sie entdeckt, die junge Tote mit den halblangen rotblonden Haaren. Es ist die vermisste Braut. „MISSING. Can you help?“2 – auf zahlreichen Steckbriefen an Bäumen und öffentlichen Plätzen der Umgebung wurden die Passanten um Hilfe gebeten, die junge Frau zu finden, deren Spur sich im vergangenen Jahr verlor. Nun liegt sie hier – den Kopf leicht zur Seite geneigt, Mund und Augen geschlossen, der Gesichtsausdruck friedlich. Sie ist schön und tot, die Missing Bride – ein Anblick, der die Besucher erschaudern lässt und die Öffentlichkeit in höchste Erregung versetzt. Eine genauere Betrachtung lässt am Gesehenen zweifeln. Denn tatsächlich handelt es sich bei der vermeintlichen Leiche lediglich um eine makellose Wachsnachbildung der gesuchten Person. Die Besucher sind empört. Wer konnte sich diesen grausamen Scherz erlauben? Eine Provokation, ein Skandal! Und das soll noch nicht alles gewesen sein. Unecht ist nicht nur die Leiche, die gesamte 1
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Der Titel der Ausstellung ist – dem Katalog zufolge – angelehnt an Bullet Hole, dem künstlerischen Beitrag von Mat Collishaw zur selben Ausstellung. Dabei handelt es sich um eine großformatige Farbfotografie, die ein Close Up eines menschlichen Kopfes mit Einschussloch zeigt. ‚Eingefroren‘ ist dort der Moment des Eindringens der Kugel sowie selbstreferentiell das Erstarren der Betrachter beim Anblick des Unfassbaren. Dokumentiert ist dieser Aufruf in einem Boulevardblatt, das Bestandteil der Installation The Incident Room (1993) von Abigail Lane ist (siehe Grunenberg 1997: 132).
K. Bulkow, C. Petersen (Hrsg.), Skandale, DOI 10.1007/978-3-531-93264-4_14, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Suche nach der vermissten jungen Frau ist Teil eines initiierten Spiels, in dem ahnungslose Passanten auf die Spur eines vermeintlichen Verbrechens geführt wurden. Makaber oder Kunst? In jedem Fall skandalös! Doppelt skandalös – zum einen aus Sicht der Besucher, weil sich nicht nur die Figur, sondern auch der Appell an die Hilfsbereitschaft der Passanten als inszeniert und nicht ‚menschlich‘ herausgestellt hat. Zum anderen fühlte sich auch das Killerton Management provoziert, weil es sich bei der jungen ‚Toten‘ um eine Nachbildung einer ihrer Schaufensterpuppen handelte, die eine Saison zuvor im Killerton House Brautmoden präsentierte und in der kommenden Saison Bestandteil einer Ausstellung zu Sportmode der 20er Jahre sein sollte: „The return of the manequin this year in such grizzly circumstances could have caused widespread dismay. ‚Its presence in the garden,‘ commented a spokesperson, ‚might have resulted in unnecessary shock or offense to innocent members of the public‘“ (Grunenberg 1997: 132). Abigail Lane, Goldsmiths Absolventin und Teilnehmerin der legendären Freeze Ausstellung, wird als ‚Täterin‘ entlarvt. Die damals 26-jährige, aus Südengland stammende Künstlerin ist – wie ihre ehemaligen Mitstudenten Damien Hirst, Gary Hume, Sarah Lucas, Fiona Rae, Jake Chapman, Dinos Chapman und andere – der Young British Art zuzuordnen. Und Young British Art ist, wie der Name schon sagt, jung, vor allem aber provokant und skandalös. Young British Art überschreitet Grenzen – ethische Grenzen und die zwischen Leben und Kunst. Normverletzungen werden hier zu bizarren Formen und Bildern verdichtet. Ein beliebtes Motiv sind hyperrealistische Darstellungen von Menschen, die aufgrund mehr oder weniger offensichtlicher Abnormitäten seltsam anmuten und den Betrachter zutiefst verstören.3 So auch die Missing Bride – der täuschende Wachskörper musste umgehend aus der offenen Gartenlandschaft entfernt und in den Galerie-Innenraum verlegt werden. Ausgehend von der schönen toten Braut konzipierte Lane die Installation The Incident Room (1993). Darin umgibt sie die in Erde gebettete und somit auf den natürlichen Außenraum verweisende Missing Bride mit unterschiedlich großen Fotolampen. Diese sind nach unten geneigt und scheinen das weibliche Opfer beharrlich an(zustarren). Sie sind die neugierigen Blicke der Anderen, der Überlebenden. Wie die drei Beobachter im Zentrum des Ölbildes Der bedrohte Mörder (1926) von René Magritte so können auch die aufrecht stehenden Fotolampen als die voyeuristische Konvention des forschenden starren Blickes ge3
Exemplarisch hierfür sind die Werke der Chapman Brüder, die in ihren Figuren Aspekte wie Genmanipulation und anatomische Veränderung aufgreifen. So tragen beispielsweise sehr realistisch wirkenden Kinder-Schaufensterpuppen Genitalien im Gesicht und ihre Körper verschmelzen wie in Zygotic Acceleration, Biogenetic, Desublimated Libidinal Model zu einem homogenen Ganzen.
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deutet werden. Im Kontext der kulturhistorischen Konnotationen des Männlichen mit Technizität und des Weiblichen mit Natur demonstrieren sowohl Magrittes Beobachter als auch die geneigten Lampen in The Incident Room Überlegenheit und Macht über den liegenden, nackten Körper, aber auch Trauer und Melancholie über die schöne tote Frau: Das Männliche als Prinzip des Geistigen erhebt sich hier wie die Technik als Produkt desselben über das körperlich konnotierte Weibliche, das tot wiederum auf den Verlust des begehrten Objekts verweist. In beiden Werken scheint der ‚Leichnam‘ auf den ersten Blick unversehrt. Während bei Lane allein die Einbettung in Erde auf ein Verbrechen verweist, ist es bei Magritte eine unscheinbare Blutspur, die aus dem Mund der Getöteten rinnt. Basierend auf ihrer Vorliebe für Kriminalgeschichten liegt das Interesse beider Künstler weniger darin, ein blutiges Spektakel von Vergewaltigung, Folter und Mord zu inszenieren, als vielmehr dem Betrachter subtile Hinweise zu offerieren. In einem Netz aus Spuren, indirekten Ahnungen und komplexen Zusammenhängen übersetzt Lane die analytische Detektivgeschichte in eine postmoderne Erzählform. Inspiriert von Polizei- und Pressepraktiken und kontextualisiert mit skandalträchtigen Diskursen der historischen Moderne4 überträgt sie in The Incident Room Spuren des Verbrechens in Formulierungen der zeitgenössischen Ästhetik und Skandalisierung. Öffentlichkeitswirksame Medienphänomene wie True-Crime-Stories und Reality TV spielen in diesem Zusammenhang ebenso eine Rolle wie die Medien der Massenkultur: For the first time, mass culture – advertising, newspapers, television, fashion – for [Young British Artists] was a vital and almost limitless source of imagery and flavour, there to be tapped and borrowed from liberally. The bridge between them was perpetually crossed in both directions, and hybrids were welcome. […] [Against this background] these 90ތs artists demonstrate a sensitivity and sophistication, a kind of shameless courage in facing up to the Big Three – life, death, and sex [...]. (Williams 1997: 19f.) Im Kontext der medialen Durchdringung des Alltags zielt Lane darauf ab, neben der Sensationslust des Betrachters vor allem dessen vorschnelles Einordnen und Bewerten von Tatbeständen, Medienbotschaften und Kunst aufzudecken. So auch bei der Missing Bride, die – nach der ‚Aufdeckung‘ (Entfernung der Erde) – eben nicht, wie es zunächst schien, ein vollständiger, zum Teil von Erde be4
Vor dem Hintergrund einer hohen Öffentlichkeitswirksamkeit greift Abigail Lane spektakuläre Themen der Vergangenheit auf, z.B. die schöne weibliche Leiche der Romantik und den Lustmord der Neuen Sachlichkeit, die seinerzeit bereits provozierten, indem sie nicht nur gesellschaftliche, sondern vor allem auch ästhetische Konventionen durchbrachen.
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deckter Wachskörper ist, sondern sich als Arrangement einzelner Fragmente im wahrsten Sinne des Wortes ‚entpuppt‘. Die Passanten/Rezipienten wurden von der Künstlerin doppelt getäuscht. In den Galerieraum überführt befindet sich einige Meter vom vermeintlichen Fußende der ‚Figur‘ entfernt, auf einem Holztisch liegend, ein aufgeschlagenes Boulevardblatt. Während es sich bei der linken Seite um eine authentische Kopie der Seite 6 des Exeter Regionalblattes Express & Echo vom 18. Juni 1993 handelt, enthält die rechte Seite einen von der Künstlerin selbst verfassten Artikel über ihre Aufsehen erregende Kunstaktion. „The bride, the body, the mystery and its maker“5 – in dritter Person in Form einer spektakulären Enthüllung geschrieben, fügt sich die Story sowohl inhaltlich als auch stilistisch kommensurabel in das Boulevardblatt ein. Es geht um den Skandal – der Suche, der Kunst, der Missing Bride und warum diese schlussendlich in den Galerieraum ‚verschwinden‘ musste. „Vanished“ (Verschwunden) und „Exposed“6 (Exponiert) so lauten auch die beiden im Artikel hervorgehobenen Sublines, die paradigmatisch sind für das Spannungsfeld des Verborgenen und offen Gezeigten. ‚Exposed‘ bedeutet auch ‚gefährdet‘ oder im fotografischen Sinne ‚belichtet‘. Wie die nackte tote Braut schutzlos dem Licht der Fotolampen ausgesetzt ist, so unterliegt auch das aufgeschlagene Boulevardblatt dem Schein einer von der Decke herab hängenden Leuchte. Ein vor dem Holztisch befindlicher leerer Stuhl verweist auf die Absenz des Subjektes und dessen Objektivation in der Pressepräsenz. Die öffentliche Schaulust wird somit doppelt thematisiert, zum einen am Objekt selbst, der Missing Bride, und zum anderen an der Skandalisierung des Geschehenen in der Sensationspresse. Im Kontext des künstlerisch provozierten Skandals der Missing Bride wird in The Incident Room der Skandal selbst als „Medienskandal“7 und Produkt einer auf Spektakel und Sensation ausgerichteten Presse und Öffentlichkeit reflektiert. Beide Präsentationsformen – die Missing Bride und das aufgeschlagene Boulevardblatt – sind künstlerische Medialisierungen des negativen Vergnügens (des Rezipienten) am alltäglichen Schrecken. Dieses als pleasing horror bezeichnete Phänomen wurde bereits in der Romantik von Edmund Burke in seiner Philosophischen Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen (1757) formuliert. Darin unterscheidet Burke das aus angenehmen Empfindungen resultierende Schöne, das den Körper entspannt, vom Erhabenen, das alle Fasern des Körpers anspannt, ihn erschaudern lässt. Als Quelle des Erhabenen bezeichnete Burke 5 6 7
Siehe die Abbildung des Artikels in Grunenberg (1997: 132). Ebenda. Siehe dazu ausführlich Burkhardts Definition des „Medienskandals“ in dessen Beitrag zu diesem Band.
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[a]lles, was auf irgendeine Weise geeignet ist, die Ideen von Schmerz und Gefahr zu erregen, das heißt alles, was irgendwie schrecklich ist oder mit schrecklichen Objekten in Beziehung steht oder in einer dem Schrecken ähnlichen Weise wirkt [...]; das heißt, es ist dasjenige, was die stärkste Bewegung hervorbringt, die zu fühlen das Gemüt fähig ist. (Burke 1980: 72) Da der Tod – so Burke weiter – eine noch stärkere Wirkung auf das menschliche Gemüt hat als der Schmerz, sind alle Dinge, die mit dem Tod zu tun haben, die eindrucksvollsten für den Menschen und damit dem Erhabenen zuzuordnen (vgl. 1980: 73). Mord, insbesondere der an jungen unschuldigen Frauen, gilt in diesem Zusammenhang als besonders grauenerregend und das öffentliche Gemüt aufs stärkste bewegend.8 In Anlehnung an den romantischen Topos der schönen weiblichen Leiche wird im Motiv der toten Braut das tradierte Harmoniemodell der Hochzeit respektive der schönen, tugendhaften Braut durchbrochen und das Schöne im Kontext des Verbrechens in den Bereich des Erhabenen transformiert bzw. mit dem Erhabenen in einer Figur zusammengeführt: In seinem berühmten und berüchtigten Aufsatz [The Philosophy of Composition] (1846) proklamiert der amerikanische Dichter Edgar Allan Poe einen der wichtigsten Grundsätze für eine ästhetische Darstellung des weiblichen Todes: „Der Tod einer schönen Frau ist […] ohne Zweifel das poetischste Thema der Welt.“ (Bronfen 1992: 376) Zu Beginn des 20. Jahrhunderts versucht Freud den überlieferten Topos der Frau als Todesfigur psychoanalytisch zu untermauern. Seiner Theorie zufolge seien der Frau – aus der Sicht des Mannes – drei Weiblichkeitsfigurationen inhärent – „die Mutter, die nach dem Vorbild der Mutter gewählte Geliebte [also die Braut] und Mutter Erde, die ihn [den Mann nach seinem Tod] wieder aufnehmen wird“ (Bronfen 1994: 95). Indem „das Lebensgeschenk der Mutter zugleich auch Gabe des Todes [und] die Umarmung der Geliebten [den] Verlust und [die] Auflösung des Selbst bezeichnet“ (1994: 101), schließt sich der Kreis zwischen dem weiblichen Schoß (Geburt und Sex, Sex und Geburt) und dem natürlichen Grab (Tod). Der Verlust der Mutter und die permanente Suche nach einem ‚Ersatz‘ lösen Gefühle von Trauer und Melancholie aus, die wiederum in der weiblichen Lei8
Die gequälte und zu Fall gebrachte schöne Unschuld wurde von den Romantikern als Gegenmodell zum rationalen Denken der Aufklärung formuliert, um mit der emotionalen Schilderung des grauenhaften und unvermeidbaren Schicksals auf den Moralverlust durch zunehmende ‚Automatisierung‘ hinzuweisen. Exemplarisch sei hier mit Justine ou les malheurs de la vertu und Les 120 Journées de sodome ou l’ecole du libertinage auf die Werke des Marquis de Sade verwiesen.
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che ihr Ventil finden. Nach Freud ist Melancholie „mißlungene Trauer; die Unfähigkeit, den Tod eines begehrten Objekts zu akzeptieren“ (1994: 97). Das heißt, im Tod einer schönen Frau erreicht die Melancholie ihren Höhepunkt. „Melancholie ist gekennzeichnet durch eine Verneinung des Verlusts, die auf die anfängliche Anerkennung dieses Verlusts folgt und dessen unaufhörliche Artikulation [z.B. in Form von Kunst] hervorruft“ (Brofen 1994: 97). So wie Poe in Ligeia (1838) der Melancholie erliegend die tote Braut beklagt, ist auch Lanes Missing Bride ein Objekt der misslungenen Trauer und darüber hinaus der öffentlichen Klage. In beiden Beispielen verschleiert die schöne weibliche Leiche den unvermeidbaren organischen Zerfall nach dem Tode. Über die Suggestion „von Ganzheit, Reinheit und Unberührtheit“ (Bronfen 1994: 93), die sich bei Poe in der Wiederauferstehung der ersten Frau (Ligeia) aus dem Totenbett der zweiten (Lady Rowena) und bei Abigail Lane in der makellosen Oberfläche des Wachskörpers zeigt, wird die weibliche Leiche in der Kunst der „Vergänglichkeit [der] materiellen Welt“ entzogen und mit der „Illusion von Ewigkeit“ verbunden (1994: 97). Indem die Erde in The Incident Room den Kunst-Körper in Form der Wachsfragmente zurücknimmt, wird der Tod, also das Ende der organischen zugunsten einer vergeistigten virtuellen Existenz visualisiert. Diese Sublimation findet ebenso im gewählten Material, dem hitzeempfindlichen Wachs, ihre Entsprechung. Die ehedem nur fragmentarisch existierende Missing Bride würde sich – auf Dauer dem heißen Licht der Fotolampen ausgeliefert – in eben diesem zersetzen, die Materialität in der Immaterialität verflüchtigen. Sowohl die Leiche als auch Darstellungen derselben sind als Verdopplung zu betrachten, da sie auf sich selbst und etwas Abwesendes verweisen. Der Leichnam als verlassene Hülle verweist auf die Seele, die zuvor noch in ihm lebte und die Todesdarstellung auf den Leichnam, den sie zeigt. Beide signalisieren die „Anwesenheit von Bedeutung an einem anderen Ort […], beide verbergen und […] offenbaren“. Aufgrund dieser Verbindung von „Doppelheit und einem Mangel an materieller Referenz“ inszenieren – nach Blanchot9 – „das Bild und die Leiche eine ‚Fremdheit‘“ (1994: 127). Fremd ist auch die Frau dem Manne. „Kulturell ist die Frau konstruiert als das Andere zum Manne und als unheimlicher Ort, an dem zwei gegensätzliche Werte in eins zusammenfallen“ (1994: 106f.). Das instabile Konzept der Frau basiert auf den Topoi der beiden ‚Kulturmütter‘, Eva und die heilige Jungfrau Maria. Während Eva Sünde und Täuschung zugeschrieben werden (vgl. 1994: 100f.), steht die Jungfrau Maria für Reinheit und Tugend. In The Incident Room greift Abigail Lane beide Zuschreibungen auf und führt sie in der Missing Bride zusammen. Auf das Irdische und Körperliche verweisend symbolisieren die von 9
Elisabeth Bronfen bezieht sich hier auf Blanchot (1981: 79).
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Erde bedeckten Wachsfragmente die Täuschung und das „dämonisierte Fleisch“ (1994: 103) Evas. Im Gegensatz dazu wird Maria im hellen Licht der Fotolampen als „körperlose[], nichtessentielle[] Muse“ versinnbildlicht (1994: 102). Mit der Deutung von Eva und Maria als Analogon zum Kunstwerk in materieller und vergeistigter Form wird der im Pygmalion-Mythos begründete ikonografische Topos vom männlichen Künstler und weiblich konnotierten Kunstwerk weiter differenziert.
Abb. 1-3 (von links): The Incident Room (Detail). Abigail Lane (1993) Stilleben im Atelier. Otto Dix (1924) Branded. Jenny Saville (1992)10
Eine Verdichtung dieses Motivs zeigt das Stilleben im Atelier (1924) von Otto Dix. Aus der im Vordergrund liegenden Puppe tritt – wie ein aufsteigender Geist – „das dem Wahnsinn verfallene lebendige Modell“ (Müller-Tamm 1999: 383) hervor. Der nach oben ausgestreckte Arm mit nach unten zur Puppe geneigter Hand erinnert an die Fotolampen in The Incident Room. In beiden Werken erhebt sich das Licht über der toten Materie, die überwunden und vergeistlicht wird. Die von Messerstichen gezeichnete Puppe liegt in der gleichen Position und mit identischer Armhaltung wie Lanes tote Braut. Die Staffelei im Vordergrund fragmentiert ihr Abbild in derselben Form wie die Wachsteile in The Incident Room vorliegen. So wie Lanes Missing Bride auffällige Parallelen zur Puppe in Dix ތStillleben aufweist, scheint eine andere Künstlerin der Young British Art vom weiblichen Modell im Hintergrund inspiriert worden zu sein. Jenny Saville erobert die Kunstszene mit korpulenten Frauenkörpern, die sie in Öl bildfüllend und aus der 10
Alle zitierten Kunstwerke sind im Literatur- und Quellenverzeichnis detailliert nachgewiesen.
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Froschperspektive betrachtet, auf riesige Leinwände malte. Das Großformat verbunden mit der Untersicht bewirkt, dass der Betrachter der Bilder von den massiven Körpern geradezu überwältigt wird. In ihrem Werk Branded (1992) versieht Saville den Frauenleib zudem mit Einschreibungen und führt auf diese Weise die beiden Weiblichkeitsfigurationen von Otto Dix – die gebrandete Puppe und das füllige Modell – in einem Motiv zusammen. Die Messerstiche, die Dix ތPuppe durchbrechen, stehen für die Zerstörung bzw. Erneuerung der Kunstform, ein zentrales Thema, das in den Fokus eines weiteren skandalträchtigen Diskurses der historischen Moderne rückte – die Lustmorddarstellungen der neu-sachlichen Kunst um 1920. Ausgehend von der Frau als das Andere zum Mann wird hier der ästhetische Topos des Frauenmörders und der fragmentierten weiblichen Leiche begründet. Von den Veristen (unter anderem Otto Dix und George Grosz) formuliert, diente die provokante, häufig groteske Darstellung dieses Motivs der Sichtbarmachung von Wirklichkeit (im Sinne von Wahrheit) sowohl in gesellschaftlicher als auch ästhetischer Hinsicht. Kunst sollte provozieren, die Doppelmoral des Bürgers entlarven und die ‚schöne‘ Fassade (auch die der Kunstform) überwinden. Die neu-sachlichen Umsetzungen waren gegenständlich, aber nicht realistisch. Ohne Berücksichtigung bisheriger visueller Erfahrungen wurden Dinge und Motive überspitzt herausgearbeitet und somit die „dargestellte Wirklichkeit […] ins Allegorische“ (Buderer 1994: 128) überhöht, um eine autonomisierte (Bild-)Welt hervorzubringen: Auf die Erfahrung des Außergewöhnlichen, das jenseits der Normalität Liegende und nicht mehr mit der positivistischen Logik Erklärbare richtet sich das bildnerische Interesse. Dabei geht es nicht allein um Krankheit und körperliche Deformation, nicht allein um Alter oder geistige Abnormalität. Die Ebene des alltäglichen Irrsinns […] ist die Sexualität.[11] [Damit] einher geht das spektakuläre Moment. Der Schock der bürgerlichen Gesellschaft, der sich in Protesten und Anzeigen gegen die Verbreitung von Pornografie und sittengefährdenden Darstellungen äußerte, wird […] zur Selbstdarstellung und Popularisierung von seiten der Künstlerschaft gezielt eingesetzt. (Buderer 1994: 163ff.)
11
Die Popularität des Themas zu jener Zeit ist nicht zuletzt auf die immer weiter verbreiteten psychologischen Schriften von Freud und die Erkenntnisse der Tiefenpsychologie von Jung zurückzuführen.
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Zudem erkannten die Künstler jener Zeit das Skandal-Potential, das dem Tötungsverbrechen inhärent ist. Neben den alltäglichen „Pressemeldungen über Kriminalität unter Prostituierten, Zuhältern, Schiebern und militanten Nationalisten“ waren es vor allem Berichte über „die spektakulären Frauen- und Massenmorde eines Jack the Ripper im London vor der Jahrhundertwende“ (1994: 167), die die Sensationslust der Menschen befriedigten. Auf diesen Beobachtungen basierend schufen die neu-sachlichen Künstler mit dem Lustmord ein Motiv, das durch die Zusammenführung von Sexualität und sadistischem Mord in verschiedenster Weise skandalträchtig war.
Abb. 4-5 (von links): John, der Frauenmörder. George Grosz (1918) Atelier-Fotografie. George Grosz (um 1920)
Am Beispiel des Ölbildes John, der Frauenmörder (1918) von George Grosz wird deutlich, dass das Motiv im zeitgenössischen Kontext betrachtet auf drei Interpretationsebenen jeweils ein Oppositionsmuster offeriert. Da ist zunächst der (männliche) Künstler, der in einer ersten autoreflexiven Interpretation die Figuration des Lustmörders annimmt, um die ‚schöne‘, von bürgerlichen Konventionen bestimmte, (weibliche) Kunstform in einem Akt der Zerstörung zu eliminieren. Ziel der Fragmentierung ist eine neue, von verhüllender Schönheit befreite, ‚wahre‘ (Kunst-)Form (vgl. Märten 1982: 42). In Anlehnung daran wird bei einer gesellschaftskritischen Betrachtung die Doppelmoral des Bürgers anhand der Kontextualisierung mit der (Außenseiter-)Figur der Dirne offen gelegt
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und so der Widerspruch von Glanz und Elend der 20er Jahre verdeutlicht. Psychoanalytisch (nach Freud) interpretiert stehen Mörder und Bürger für den kastrationsgeängstigten Mann, der sich vom Narzissmus der penislosen Frau bedroht sieht. Allen Interpretationen liegt der Dualismus des autonomen, Grenzen überschreitenden Männlichen und des allonomen12, im bürgerlichen System gefangenen Weiblichen zugrunde: Der Mann nimmt mit dem gleichen Recht Besitz von der Welt, das es ihm auch zugesteht, eine Frau zu nehmen: Sein Subjektstatus befähigt ihn dazu. Dies geschieht über die metaphorische Besetzung von Natur und Frauenkörper als das andere [das Fremde] und als Objekt des männlichen Begehrens. Das männliche Subjekt postuliert und erforscht das Unbekannte, um es schließlich unter seine Kontrolle zu bringen und auszulöschen. (Gunzenhäuser 1993: 98) Eine ebenfalls von George Grosz inszenierte Atelier-Fotografie (um 1920) zeigt den Künstler mit einem Messer bewaffnet, verborgen hinter einem großen Spiegel seinem weiblichen Opfer auflauernd. Dieses betrachtet sich, vor dem Spiegel stehend, selbstgefällig in einem kleinen Handspiegel. „Der Spiegel das sind die Blicke der Anderen, die vorweggenommenen Blicke der Anderen“ (Lenk 1976: 84). Der Spiegel verweist hier nicht nur auf den Narzissmus der Frau, sondern ist auch als metaphorischer Ausdruck für den erforschenden Blick vor dem Tötungsakt zu deuten. Im Gegensatz zu den Fotolampen in The Incident Room, die für das voyeuristische Starren danach stehen. Beim Lustmord erfolgt die Kontrolle des ‚Fremden‘ zunächst mit Blicken, dann mit dem Messer. Obwohl es sich bei der Atelier-Fotografie um die Darstellung einer prämortalen Situation handelt, wird die Fragmentierung/Unterwerfung des weiblichen Körpers durch den Spiegel und die Kleidung der Frau vorweggenommen. Sowohl das Spiegelbild als auch die am Rahmen befestigte Portraitfotografie bilden das Opfer nur teilweise ab und der dunkle Einteiler verdeckt den Körper so, dass Beine, Arme, Hals und Kopf als separierte Fragmente – wie die der Missing Bride – erscheinen. Jedoch verbleibt – im Unterschied zur Missing Bride – der Frauenkörper der Moderne trotz Fragmentierung in einem festen Gefüge, in dem das Motiv manifestiert und dauerhaft dokumentiert ist. Mit den Worten Abigail Lanes können die künstlerischen Grenzen des modernen Textes wie folgt zusammengefasst werden: „[W]hen individual words are strung together and set in print the confi12
Diese, aus dem Französischen abgeleitete Bezeichnung, ist auf Romano Guardini zurückzuführen. Im Gegensatz zu heteronom wird mit ‚allonom‘ (fremdgesetzlich) das dialektische Verhältnis des handelnden Subjekts, in diesem Fall des Bürgers und der Dirne als das Andere (Allos) konkretisiert.
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guration is saved. The individual words become the sum of the meaning, trapped in their relationship to each other, the constitutional components irrelevant in the face of what can be evoked“ (1997: 120). Auch wenn andere Beispiele der neu-sachlichen Lustmord-Darstellungen, z.B. Lustmörder (Otto Dix, 1922) oder Grosz ތDer kleine Frauenmörder (1918), den postmortalen Zustand wiedergeben, zeichnet sich immer wieder dasselbe Deutungsmuster ab. In eine schematische Übersicht gefasst (Abb. 6), fügt sich der ästhetische Text der verschiedenen Interpretationsebenen zu einer Art Wurzelbaum zusammen, ein unumstößliches duales System, in dem Zeichen mit feststehenden Bedeutungen konnotiert, die Bilder somit ‚unbeweglich‘ bleiben: „Der Baum ist bereits das Bild der Welt, oder vielmehr, die Wurzel ist das Bild des Welt-Baums. [...] Die binäre Logik ist die geistige Realität des Wurzel-Baumes“ (Deleuze & Guattari 2002: 14).
Abb. 6: Interpretationsebenen des neu-sachlichen Lustmordmotivs
Wie die Wurzel auf einen einzigen Punkt hin zuläuft, so ist auch der Frauenmord der Moderne ziel- bzw. ergebnisorientiert. Im Fokus des lustvollen Empfindens steht die Macht des Lustmörders über das zerstückelte Objekt: „Die Lust reinstalliert das Subjekt als gegebenes und die Abschließbarkeit seines Entstehungsprozesses“ (Robnik 1998: 268f.). Im lustvollen Akt der destruktiven Fragmentierung des Schönen erlangt der Künstler seine Autonomie zurück. Das Ende respektive Ergebnis dieses Prozesses ist im postmortalen Tatortbild dokumentiert. Darin wird die Macht über die Kunst-Form und somit der Subjektstatus des Künstlers manifestiert und besiegelt. Die Zielorientierung der Lust auf den Moment der Entladung findet ihre
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punktuelle Entsprechung in der ausschließlich am (ab)geschlossenen Objekt orientierten Kunst jener Zeit. Und auch der Skandal ist hier fest an das Objekt gebunden. Im neu-sachlichen Lustmordmotiv wird der romantische Topos der weiblichen Leiche mit den – erstmals massenmedial verbreiteten – Serienmorden Jack the Rippers kontextualisiert und so über die Massenwirksamkeit des Frauenmordes der geschändete, zerstückelte (Kunst-)Körper skandalisiert.
Abb. 7: Das Lustprinzip der Moderne vs. Genussstreben in der Postmoderne
Der postmoderne Skandal beginnt dort, wo der moderne Lustmord endet. Der Tötungsakt ist vollbracht. Die Leiche, Indiz des Vorgefallenen und Objekt des Sublimen, verkörpert den eingefrorenen Moment des (Er-)Starrens sowohl der Form als auch des Betrachters. Die Gesichtszüge der Missing Bride scheinen befreit und gelöst. Ungelöst hingegen bleibt der (Vor-)Fall an sich. Fragmente, Spuren, gestreute ‚Organe‘ zirkulieren im Raum und frei im Geiste des Betrachters. Im Gegensatz zum modernen (Kunst-)Körper ist der postmoderne befreit von Organismus, Signifikanzen und Subjektivierungen (vgl. Deleuze & Guattari 2002: 208f.). Indem sich Lane dem Wachskörper von vornherein fragmentarisch nähert, durchbricht sie das manifestierte Körper-System, den Organismus, und transferiert auf diese Weise den Topos der passiven weiblichen Leiche in eine neue ‚belebte Kunstform‘, eines organlosen Körpers: „Der organlose Körper ist kein toter Körper, sondern ein lebendiger Körper, der umso lebendiger ist und von Leben wimmelt, als er den Organismus und seine Organisation auffliegen läßt“ (2002: 48). Mit dem organlosen Körper formulieren Deleuze und Guattari ein Modell des postmodernen Textes. Dieser ist – im Gegensatz zum modernen Text – nicht orientiert am Ergebnis, sondern am Erlebnis. Anstelle der Manifestierung der Macht des Künstlers über das Objekt tritt der spannungsgeladene Prozess der Entschlüsselung von Spuren. Im Kontext der neuen Medialität des ausgehenden Jahrtausends ist der Corpus – wie der der Missing Bride – nicht mehr geschlossen und fixiert, sondern potenziell veränderbar und kann zwischen Realität und
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Fiktion immer wieder neu entworfen werden, auch und vor allem vom Rezipienten. Das „neue Fleisch“ bildet den Körper nicht ab, sondern bildet ihn. „Das Bild des neuen Fleisches fängt dort an, wo man nicht den Crash zeigt, sondern das was kommt, wenn er vorüber ist: das faszinierende Starren am Unfallort“ (Robnik 1998: 273). „Im Gegensatz zum alten Fleisch empfindet das neue keine Lust mehr; es genießt“ (1998: 268). Im genussvollen Prozess der Spurensuche oszilliert der Rezipient zwischen verschiedensten, immer neuen Positionen. Befindet er sich in der Moderne noch auf einer Ebene mit dem Voyeur, so nimmt er in der Postmoderne die Rolle des Ermittlers ein. Die Lust am Objekt weicht dem Genuss des Textes respektive des ästhetischen Spiels. Es geht nicht mehr um Reterritorialisierung des Künstlers bzw. der Kunst innerhalb eines Systems, sondern um Deterritorialisierungen der Kunst, des Künstlers und vor allem des Rezipienten. Systeme, Grenzen, Kategorien werden durchbrochen – der Rezipient ist gleichzeitig Künstler (die Vollendung des Werkes erfolgt im Geiste des Betrachters).13 Das Populäre erobert die Hochkultur (massenwirksame, skandalöse Themen beeinflussen maßgeblich die Ästhetik der Kunst). Und Kultur verschmilzt mit ökonomischen Interessen (Kunst wird kommerzialisiert und Werbung ästhetisiert). Deterritorialisierungen sind Grenzüberschreitungen, Grenzen überschreiten heißt, Konventionen bzw. Normen verletzen, und das provoziert. Das Wechselspiel von Deterritorialisierungen und Provokation wird zum Paradigma der ästhetischen Befreiung – nicht nur in der jungen britischen (Skandal-)Kunst, sondern auch in der Werbung. Nach einschneidenden politischen Veränderungen – Ende der konservativen Macht im angloamerikanischen Raum sowie Fall des Eisernen Vorhangs – und vor dem Hintergrund einer rasant expandierenden Informationstechnologie standen die 90er Jahre ganz im Zeichen des Aufbruchs. Die sich neu eröffnenden Möglichkeiten zogen auch Werber in den Sog der Superlative, ein Sog der Provokationen, die im unaufhaltsamen Fluss einen Skandal nach dem anderen ‚produzierten‘. Zum Beispiel der Fall Benetton. Die Herbst/Winter Kampagne 1993/94 zeigt fotografische Großaufnahmen nackter, sexuell konnotierter Körperregionen. Die makellose Oberfläche der durch Close ups fragmentierten Körper ist mit „H.I.V. positive“ ‚gebranded‘.14 Die Kampagne war ein Skandal – das Perso13 14
Vgl. Umberto Eco Das offene Kunstwerk (1977). Wie in Jenny Savilleތs Branded so ist auch in der Benetton-Kampagne die menschliche Haut von einer ‚Oberflächengestaltung‘ (im Gegensatz zu den in die Tiefe dringenden Messerstichen der Moderne) gezeichnet. Während es sich bei Saville jedoch um Einschreibungen in durchaus nicht makellose Körper/Haut handelt, sind die (Körper-)Oberflächen auf den Werbefotografien glatt und mit einem reproduzierbaren ebenso oberflächlichen ‚glatten‘ Stempel versehen.
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nen-Branding weckte nicht nur Assoziationen zur nationalsozialistischen Judenverfolgung und somit Diskriminierung und Mord, auch sah man das Schicksal HIV Infizierter zum Zwecke der Profitsteigerung ausgebeutet. Ästhetisch spiegelt die Kampagne die Zeichen der Zeit wider. Mit einem Motiv, das nichts mit Mode zu tun hat, durchbricht Oliviero Toscani konventionelle vor allem aber moralische Grenzen. Das Motiv wurde am 3.4.1994 vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main nach §1UWG als sittenwidrig erklärt. Ein Schlüsselargument dieser Entscheidung war der fehlende Zusammenhang zum beworbenen Produkt. Während das Motiv der abgestempelten Körper, dem vor dem historischen Hintergrund der nationalsozialistischen Massenmorde eine geschmackliche Grenzüberschreitung bereits inhärent ist, als Kunst zwar umstritten aber in gewisser Hinsicht akzeptiert worden wäre, gilt es im Kontext der Werbung (einmal mehr deterritorialisiert) in jeder Hinsicht als moralisch verwerflich. Der Fall Benetton zeigt, dass auch die Postmoderne an Grenzen stößt, auch wenn diese im nächsten Moment wieder überschritten werden. Provokationen erregen große Aufmerksamkeit und Empörung. Die daraus resultierenden Skandale greifen viral um sich und sind – wie Benetton zeigte – trotz oder gerade aufgrund der öffentlichen Diskussion in jedem Fall werbewirksam.15 „H.I.V. positive“ erregt, es verweist auf das unter der glatten (Körper-) Oberfläche pulsierende Blut und die damit verbundene Möglichkeit der viralen Infektion. Wie der AIDS bringende Virus ist auch das Blut auf den Abbildungen der Kampagne nicht sichtbar, die Gefahr nicht offensichtlich. HIV ist paradigmatisch für die 90er Jahre, ein Virus, der sich rasant und unkontrolliert verbreitet und den Organismus zerstört. Das Blut als Überträger des Virus vereint nicht nur die „drei großen Themen der Menschheit – Leben, Tod und Sex“ (Williams 1997: 13), sondern entspricht in seiner Materialität auch der postmodernen Ästhetik des Flüchtigen und stetigen Wandels. The Bride is missing – die Braut, Inbegriff für bleibende, verlässliche Werte, wie Reinheit, Unschuld, Beständigkeit, verkörpert das Gegenbild zum HI infizierten Blut. Die Braut, die eben nicht für wechselnde Sexualpartner, sondern für Eheschließung und anschließende Fortpflanzung steht, ist tot. Sie ist flüchtig, hat sich vom Organismus befreit und oszilliert zwischen flexiblen Positionen: Es gibt keine Identität, sondern nur Differenz, keine Kernpunkte des Denkens, sondern nur ein Netzwerk aufeinander bezogener Zeichen, eine unendliche Kette immer weiterverweisender Signifikanten. ‚Be15
Hinsichtlich der kommerziellen Auswirkungen der Benetton-Kampagne kann keine klare Aussage getroffen werden. Auch wenn Händler gegen den Konzern wegen Rufschädigung und einbrechender Verkaufszahlen klagten, gehen die tatsächlichen Folgen aus der Langzeitbeobachtung nicht deutlich hervor.
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deutung‘ ergibt sich nur aus dieser Beziehung und Differenz zwischen den Zeichen, sie ist damit prinzipiell entlang der gesamten Signifikantenkette verstreut und niemals in einem Zeichen vollständig gegeben. (Zapf 1991: 200) Das binäre (Wurzel-)System mit der dualen Unterteilung in den männlichen Täter und das weibliche Opfer ist hinfällig geworden. Das Grauen hat kein Gesicht mehr – es hinterlässt nur Spuren. Dementsprechend verzichtet Abigail Lane in einer späteren Installation Bloody Wallpaper (1995) gänzlich auf figurative Darstellungen und setzt stattdessen ihre Intention der Entschlüsselung als plakative Vernetzung von Blutspuren um. Ausgehend von einer aus einer Tatortfotografie entnommenen Spur entwickelt Lane ein serielles Blut-Muster. Darin wird das eigentlich flüchtige Blut ‚eingefroren‘ und in eine Wiederholungsstruktur gefasst. In Anlehnung an Drehli Robniks Ausführungen zum Serienkiller visualisieren Lanes Blutspuren nicht nur den wiederholten Tötungsakt (postmoderner Serienmord vs. Frauenmordmotiv in der Moderne), sondern auch das der Serialität inhärente „modulare[] Handlungsmuster – Töten, Flüchten, Verfolgen“ (Robnik 1998: 237) sowie die „Trieb-Logik des Immer-weiter-Machens und Immer-wieder-Kommens“ (1998: 240). Die Parallelen, die sich hier zwischen Lanes Kunst und der von Robnik konstatierten „Wiederauferstehungsmythologie, die das postklassische Hollywoodkino [speziell Splatter Movies] beseelt“ (1998: 240), abzeichnen, indizieren einmal mehr die fließende Assimilation von Kunst und Populärkultur.
Abb. 8-9 (von links): Bloody Wallpaper, Broken Heart. Abigail Lane (1995/96) Self. Marc Quinn (1991)
Aus ‚erstarrtem‘ Blut hat Marc Quinn, ein weiterer Künstler der Young British Art, die ‚Wiederauferstehung‘ (des Künstlers?) mittels Deterritorialisierung formuliert. Bei dem Werk Self (1991) handelt es sich um ein skulpturales Selbstportrait des Künstlers, das er aus seinem eigenen, gefrorenen Blut erstellte. Indem Quinn sein Blut nach außen tranferierte, um daraus sein Gesicht ‚wieder-
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auferstehen‘ zu lassen, wird nicht nur das Blut deterritorialisiert, sondern in gewisser Weise der Künstler selbst. In seinem erstarrten (Blut-)Antlitz – das stark an eine Totenmaske erinnert – hat Quinn den Moment der Erstarrung (des Blutes und des Betrachters) festgehalten. Dieser Zustand ist nicht – wie die Lustmorddarstellungen der Moderne – auf Dauer festzuhalten, sondern nur ‚solange das Blut gefriert‘ bzw. das unter der Skulptur befindliche Kühlsystem eingeschaltet ist. „The Blood Must Continue to Flow“ (Rosenthal 1997: 8). Im Prozesshaften liegt der Unterschied der Deterritorialisierungen zur Reterritorialisierung. Ob materielle Vergänglichkeit wie die Blut-Köpfe von Marc Quinn oder die Wiederholungsstruktur der Blutspuren bei Abigail Lane – das Flüchtige und Fließende des Blutes metaphorisiert die postmoderne Ästhetik des Werdens: [J]edes Werden sichert die Deterritorialisierung des einen und die Reterritorialisierung des anderen Terms, das eine und das andere Werden verbinden sich miteinander und wechseln sich in einem Kreislauf von Intensitäten ab, der die Deterritorialisierung immer weiter vorantreibt. (Deleuze & Guattari 2002: 20) Blut ist schwer fassbar, materiell und semantisch, bedeutet ebenso Leben wie Tod. Es steht für Grenzüberschreitung, überwindet den Körper, den Organismus, die Signifikanz und das provoziert, erregt Grauen und die Gemüter. Mit der Überführung des Blutes in ein serielles Tapetenmuster bringt Abigail Lane das Grauen des Mordes und das Unbehagen durch schwindende Grenzen (z.B. innen und außen, privat und öffentlich) ins häusliche Wohnzimmer. Wie die vom Fernsehen ausgestrahlten True Crime Stories so werden auch die zu Dekor banalisierten Blutspuren zu Oberflächen verdichtet, die den Alltag ‚verschönern‘, weil sie das unheimliche Vergnügen an Verbrechen und Enthüllungen implizieren. So auch der Skandal – und damit zurück nach Killerton Gardens, dem Ausgangspunkt dieser exemplarischen Betrachtung. Während in der Moderne die Skandalisierung eng an den (Kunst-)Körper gebunden war, geht die Normverletzung in der Postmoderne weit über den ästhetischen Gegenstand hinaus. Die Fokussierung der Form verschiebt sich auf die der Materialität und Performanz. Im Zuge der Öffnung des Kunstwerkes und der Prozessualisierung der Kunst wurde mit der Einbindung des Rezipienten auch der Kunstskandal ‚aktiver‘. Was genau diese ‚Aktivität‘ umfasst, macht Abigail Lane anhand ihrer Kunstaktion deutlich, vor allem, wenn man diese im Kontext der von Susan Sontag bereits 1961 formulierten Ausführungen zur damals recht neuen performativen ‚Kunstform‘ des Happenings betrachtet. Darin heißt es:
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Das Happening hat keine Handlung, wenngleich es eine Aktion oder vielmehr eine Kette von Aktionen und Vorgängen darstellt. Es meidet überdies das kontinuierliche rationale Gespräch, wenngleich Worte wie ‚Help!‘, ‚Voglio un bicchiere di aqua‘, ‚Love me‘, ‚Car‘, ‚One, two, three…‘ in ihm vorkommen können. (Sontag 1982: 309) „MISSING. Can you help?“ – im Aufruf von Lanes Suchaktion wird die für das Happening typische Verdichtung der Sprache mit dem Jargon der Sensationsmedien verbunden. Sprachlicher Stil und die gestreute Wiederholung der einzelnen, für sich stehenden Hilfe-Rufe erregen die Aufmerksamkeit der Passanten. Beim Versuch, das Gesehene einzuordnen, bilden die hinterlassenen ‚Spuren‘ eine Art Wahrnehmungskette, die wiederum eine Aktion bzw. Aktionskette des passierenden Rezipienten nach sich zieht. Kette ist in diesem Zusammenhang nicht – wie der Name vermuten lässt – als festes lineares Gefüge zu verstehen, sondern als flexibles ‚asymmetrisches Netz‘,16 das strukturell die ‚Öffnung des Kunstwerks‘ versinnbildlicht und somit paradigmatisch ist für die postmoderne Textualität.17 Neben der spezifischen ‚Sprachlichkeit‘ des Happenings betonte Sontag vor allem die Prägnanz der Materialität, die „ebenso in dem Gebrauch oder der Behandlung der Personen als Materialien statt als ‚Charaktere‘ zum Ausdruck“ kommt (Sontag 1982: 313). Dinge wie Menschen (Darsteller und Zuschauer) verbinden sich zu Collage-ähnlichen Gefügen, weshalb Happenings von Sontag auch „als lebende Bilder oder genauer als ‚lebende Kollagen‘ […] gekennzeichnet werden“ (1982: 314f.). Vor dem Hintergrund der durch Sensationsjournalismus geförderten, legitimierten und zelebrierten Skandalisierung von Verbrechen greift Lane das öffentliche ‚Vergnügen‘ daran auf und bringt die Rezipienten ganz in das Geschehen mit ein. Diese wähnen sich einem tatsächlichen Verbrechen auf der Spur, an dessen Enthüllung sie (wissentlich) aktiv partizipieren (wollen). Die Beteiligten ahnen nicht, dass es sich um eine Kunstaktion handelt, somit werden sie – im Unterschied zum ‚konventionellen‘ Happening – unwissentlich materialisiert. Die Täuschung bemerken sie erst bei näherer Betrachtung der Missing Bride, um dann in doppeltem Sinne enttäuscht zu sein. Zum einen, weil die Wachsfragmente nicht ihrer Erwartung entsprechen, die junge, schöne, aber tote Braut ge16
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Susan Sontag arbeitete das asymmetrische Netz „von Überraschungen ohne Klimax und Endpunkt“ als Spezifikum des Happenings heraus und differenzierte darüber die ‚neue‘ von den herkömmlichen Kunstformen; „an die Stelle der Logik der meisten Kunstgattungen [trete beim Happening] die Alogik des Traumes“ (1982: 312). Siehe hierzu ausführlich Petersen (2003: 166ff.), der unter anderem auch unter Bezugnahme auf Sontags Happening-Theorie sowie Deleuzes & Guattaris Rhizom-Modell neben „Intertextualität“ und „Selbstreflexivität“ vor allem „Immanenz“ und „Offenheit“ als genuine Signa einer postmodernen Textpraxis herausarbeitet.
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funden zu haben. Zum anderen wurden die Partizipanten in der Enttäuschung ‚belehrt‘, Wahrgenommenes nicht unreflektiert vorschnell einzuordnen. Dies betrifft sowohl die Meldungen der Boulevardpresse als auch alltägliche Beobachtungen bis hin zur Kunst. Abigail Lane konfrontiert die Beteiligten mit deren eigener Lust an bzw. Sucht nach Sensationen. Dieser Lust am schrecklichen Schicksal des Anderen ist immer auch das behagliche Gefühl implizit, selbst entkommen zu sein – sowohl dem Verbrechen als auch dem Skandal. Mit der Missing Bride wurden die Rezipienten/Partizipanten um eben dieses behagliche Gefühl betrogen. Es gab kein Verbrechen jedoch einen Skandal, in den sie selbst unwissentlich involviert waren. Skandale sind Resonanzprozesse. Sie bedingen Vermittlung/Veröffentlichung und Empörung. Provoziert und empört hat die Missing Bride vor allem aufgrund von Deterritorialisierungen. Als Opfer eines tatsächlichen Verbrechens wäre die tote Braut schrecklich, aber zum Ende des 20. Jahrhunderts nicht zwangsläufig skandalös gewesen, und als Wachsfigur in einem Galerieraum hätte sie durchaus Aufsehen erregt, aber keinen unheimlichen Schrecken verursacht. Der eigentliche Skandal liegt hier begründet in Täuschung und Überschreitung von Grenzen – zwischen Realität und Fiktion, Rezipient und Partizipant, Verbrechen und Vergnügen, Straße und Galerie, True Crime und Kunst, Kunst und Moral. In der Postmoderne ist es nicht das Blut, das provoziert und auch nicht, wie in der Romantik, die schöne oder in der Moderne die zerstückelte weibliche Leiche, sondern Deterritorialisierungen derselben im Grenzbereich des Ästhetischen und Alltäglichen. Es provoziert weniger was, sondern wie und wo es gezeigt, veröffentlicht und verbreitet wird. Sontags asymmetrischer Netz-Struktur des Happenings entsprechend formulierten Deleuze und Guattari analog zum ‚organlosen Körper‘ das Modell des Rhizoms. Im Gegensatz zur modernen in die Tiefe reichenden hierarchischen Wurzel ist das Rhizom eine oberflächliche, variable, ins Unendliche erweiterbare Vernetzung von ‚Spuren‘, die vom Rezipienten, Partizipanten oder auch User eingeordnet18 und kartografiert werden (müssen): Die Karte ist das Gegenteil einer Kopie, weil sie ganz und gar auf ein Experimentieren als Eingriff in die Wirklichkeit orientiert ist. Die Karte reproduziert kein in sich geschlossenes Unbewußtes, sie konstruiert es. [...] Die Karte ist offen, sie kann in all ihren Dimensionen verbunden, zerlegt und umgekehrt werden, sie kann ständig neue Veränderungen aufnehmen. (Deleuze & Guattari 2002: 23f.) 18
„Jedes Rhizom enthält Segmentierungslinien, die es stratifizieren, territorialisieren, organisieren, bezeichnen, zuordnen etc.; aber auch Deterritorialisierungslinien, die jederzeit eine Flucht ermöglichen“ (Deleuze & Guattari 2002: 19).
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„Dem rhizomatischen Text kann es also nicht mehr darum gehen, eine Kopie oder ein Modell der Welt anzufertigen, sondern sein Ziel ist ein Eingriff in die Wirklichkeit mittels seiner ‚Deterritorialisierung‘ gegenüber der Realität“ (Petersen 2003: 235). Im Gegensatz zum neu-sachlichen Frauenmordmotiv, das die gesellschaftliche und ästhetische ‚Wirklichkeit‘ widerspiegeln sollte, greift Lane mit ihrer Such-/Kunstaktion über Deterritorialisierungen auf verschiedensten Ebenen aktiv in die Wirklichkeit ein. Indem sich Such- und Kunstaktion vermischen, verwischen auch die Grenzen zwischen Alltag und Ästhetik, Kunst wahrnehmen und Kunst schaffen. Das Prozesshafte, das in Lanes ‚Happening‘ offensichtlich ist, wird in der Installation The Incident Room in die rhizomatische Struktur der ‚gestreuten’ Spuren übertragen. Spuren, die auf verschiedenste Aspekte verweisen, wie Sex und Verbrechen, Leben und Tod, Flüchtiges und Symbolisches, Virales und Erstarrtes. Aspekte, die wiederum allesamt eng an das Blut gebunden sind. Das heißt, sowohl der Struktur der Spuren als auch der Spurensuche ist die Materialiät des Blutes inhärent, wodurch das offensichtliche Zeigen eines blutigen Spektakels obsolet wird. Wie im austretenden Blut so wird auch im Rhizom über Deterritorialisierung Provokation und Viralität ästhetisch zusammengeführt. Während das Provokative kennzeichnend für die Ästhetik der 90er Jahre blieb, wurde das Virale19 paradigmatisch für die digitale Jetztzeit.20 So werden mit der Aktion Missing Bride Mechanismen des viralen Marketing antizipiert, eine Vermarktungsstrategie, bei der man die verkaufsfördernde Wirkung der Mundzu-Mund-Propaganda nutzt und übertragen auf die neuen (virtuellen) Kommunikationstechnologien gewinnbringend umsetzt. „Zieht Linien, setzt nie einen Punkt!“ – „Jeder Punkt eines Rhizoms kann (und muß) mit jedem anderen verbunden werden“ (Deleuze & Guattari 2002: 41, 16). Im Prozess der grenzenlosen Vernetzung verliert sich alles im Flüchtigen und der Obszönität21 – auch der Skandal. Massenmediale Strukturen dringen in den privaten Raum. Verlassene leere Stühle, wie in The Incident Room, verwei19
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Seit Beginn der 90er Jahre umschrieb Baudrillard in verschiedenen Texten das Wesen des fortgeschrittenen digitalen Zeitalters mit dem Begriff des Viralen. Hierbei ging er im Gegensatz zur Dekonstruktion von einer Verselbständigung der Prozesse und einer Destruktion der Systeme von innen heraus aus. Ausgehend vom Arpanet entwickelte sich das ‚Rhizom‘ des Internets, das wiederum neuere Kommunikationsplattformen der viralen Vernetzung wie Facebook und Twitter unter anderem ermöglicht. Obszönität bezieht sich hier sowohl auf die traditionelle Bedeutung als etwas Verstecktem, Unterdrücktem, Verbotenem oder Obskuren als auch auf die von Baudrillard konstatierte Auslegung, das alles transparent und im grellen, unerbittlichen Licht der Information und Kommunikation sofort ersichtlich sei (Baudrillard 1998: 131). In der mit Erde bedeckten und von den Fotolampen ausgeleuchteten Missing Bride führt Abigail Lane beide Begriffsdeutungen zusammen und verweist damit auf die Fragwürdigkeit des Offensichtlichen.
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sen auf eine Abwesenheit des Individuums sowie den Verlust von Privatsphäre und zwischenmenschlichen Werten. The Bride is missing, deterritorialisiert und verloren, zunächst in Killerton Gardens, dann in den Weiten der Virtualität. Aufnahmen und Dokumentationen sowohl der Missing Bride als auch von The Incident Room sind in publizierter Form kaum auffindbar. Waren im Jahre 2001 noch Fotografien der Werke im Internet abrufbar, hat sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch dort ihre Spur verloren. Literatur & Quellen Baudrillard, Jean (1998 [1983]): The Ecstasy of Communication. In: Foster, Hal (Hg.): The Anti-Aesthetic. Essays on Postmodern Culture. New York: The New Press, S. 126-134. Bauman, Zygmunt (2003): Flüchtige Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Blanchot, Maurice (1981): The Gaze of Orpheus and other literary essays. Barrytown: Station Hill Press. Bronfen, Elisabeth (1994): Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. München: Kunstmann. Bronfen, Elisabeth (Hg.) (1992): Die schöne Leiche. Weibliche Todesbilder in der Moderne. München: Goldmann. Buderer, Hans Jürgen (Hg.) (1994): Neue Sachlichkeit, Ausstellungskatalog. München: Prestel Burke, Edmund (1980 [1757]): Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen. Hamburg: Meiner. Dix, Otto (1924): Stilleben im Atelier [Abb. 2]. Aus: Müller-Tamm, Pia (Hg.) (1999): Puppen, Körper, Automaten – Phantasmen der Moderne, Ausstellungskatalog. Düsseldorf: Oktagon, S. 385. Deleuze, Gilles/Guattari, Felix (2002 [1980]): Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve. Grosz, George (um 1920): Atelierfotografie [Abb. 5]. Aus: Schuster, Peter-Klaus (Hg.) (1994): George Grosz: Berlin – New York, Ausstellungskatalog. Berlin: Ars Nicolai, S. 228. Grosz, George (1918): John, der Frauenmörder [Abb. 4]. Aus: Buderer, Hans Jürgen (Hg.) (1994): Neue Sachlichkeit, Ausstellungskatalog. München: Prestel, S. 20. Gunzenhäuser, Randi (1993): Horror at Home. Genre, Gender und Gothic Sublime. Essen: Blaue Eule. Lane, Abigail/Fryer, Paul (1997): Eyes, Dogs and Eternity. In: Goetz, Ingvild (Hg.): Art from the UK. München: Sammlung Goetz, S. 115-120. Lane, Abigail (1995/1996): Bloody Wallpaper, Broken Heart [Abb. 8]. Installation View, Rooseum Malmö. Online unter: http://www.rooseum.se/prevex/precol/extend 32/extend11.html. Abruf am 16.5.2001.
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Lane, Abigail (1993): The Incident Room, Detail: The Missing Bride [Abb. 1]. Aus: Grunenberg, Christoph (1997): Gothic Transmutations of Horror in Late Twentieth Century Art. Boston: MIT Press, S. 134. Lenk, Elisabeth (1976): Die sich selbst verdoppelnde Frau. In: Ästhetik und Kommunikation. Frauen, Kunst, Kulturgeschichte.7/25, S. 84-87. Märten, Lu (1982 [1918/19]): Kultur und Kunst im Arbeiteralltag. In: Formen für den Alltag. Schriften, Aufsätze, Vorträge. Dresden: VEB Verlag der Kunst. Müller-Tamm, Pia (Hg.) (1999): Puppen, Körper, Automaten – Phantasmen der Moderne, Ausstellungskatalog. Düsseldorf: Oktagon. Petersen, Christer (2003): Der postmoderne Text. Rekonstruktion einer zeitgenössischen Ästhetik am Beispiel von Thomas Pynchon, Peter Greenaway und Paul Wühr. Kiel: Ludwig. Quinn, Marc (1991): Self [Abb. 9]. Aus: Timms, Robert/Bradley, Alexandra/Hayward, Vicky (Hg.) (1999): Young British Art – The Saatchi Decade. London: Booth-Clibborn Editions, S. 89. Robnik, Drehli (1998): Der Körper ist OK. In: Felix, Jürgen (Hg.): Unter die Haut. Signaturen des Selbst im Kino der Körper. St Augustin: Itschert, Gardez!, S. 235-278. Rosenthal, Norman (1997): The Blood Must Continue to Flow. In: Adams, Brooks (Hg.): Sensation, Young British Artists from the Saatchi Collection. London: Royal Academy of Arts, S. 8-11. Saville, Jenny (1992): Branded [Abb. 3]. Aus: Timms, Robert/Bradley, Alexandra/Hay ward, Vicky (Hg.) (1999): Young British Art – The Saatchi Decade. London: BoothClibborn Editions, S. 129. Sontag, Susan (1982 [1966]): Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Frankfurt a.M.: Fischer. Williams, Gilda (1997): Pause … Rewind … Press Play. Reviewing British Art in the 1990s. In: Goetz, Ingvild (Hg.): Art from the UK. München: Sammlung Goetz, S. 721. Zapf, Hubert (1991): Kurze Geschichte der anglo-amerikanischen Literaturtheorie. München: Fink.
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God Save the Queen: Zur gesellschaftlichen Funktion von Popskandalen im Vereinigten Königreich Martin Gegner
Seit es Musik gibt, die als Pop bezeichnet wird,1 beziehen sich Künstler, vornehmlich britische, in als skandalös empfundener Weise auf Elizabeth II., Königin des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland. Von den Beatles über die Sex Pistols bis zu Lady Gaga, nahezu alle epochalen Popmusiker haben einen Skandal unter Bezug auf die Queen inszeniert. Diese war nicht nur passiver Bestandteil der Skandale; sie hat diese durch die Gewährung von Audienzen und das Verleihen von Orden mit initiiert. In diesem Beitrag werden diese skandalösen Vorgänge auf ihre Funktion für die gesellschaftliche Integration im post-kolonialen Königreich hin untersucht. Es wird die These vertreten, dass mit den (vermeintlichen) Skandalen nicht nur eine gesellschaftliche Anerkennung der Popkünstler, sondern auch eine Integration der vormaligen durch diese Künstler exemplarisch vertretenen Subkulturen in einen gesellschaftlichen Mainstream ermöglicht wird. Es werden Hypothesen zu den diesbezüglichen Strategien sowohl der Künstler als auch der Queen und ihrer höfischen Berater aufgestellt. Von den Beatles ... Die Beatles lösen innerhalb kürzester Zeit eine nie (auch nicht zu den besten Zeiten von Elvis Presley) da gewesene Hysterie unter (vor allen Dingen weiblichen) Jugendlichen aus. Von ihrer ersten Single Love me Do im Jahre 1962 bis zu ihrem dritten Album A Hard DayҲs Night, das ihnen die unbestrittene Aner1
Die Diskussion in den Kultur- und Musikwissenschaften, welche Musik ab wann als Pop bezeichnet werden kann, ist kontrovers. Für einige beginnt Pop mit den ‚populären‘ Melodien der Mozartopern, die schnell auch außerhalb der Konzertsäle bekannt (und nachgesungen oder gepfiffen) wurden (vgl. Wicke 1998). In diesem Artikel wird der dominierenden Interpretation aus dem Umfeld des Birminghamer Centres for Contemporary Cultural Studies gefolgt, welche Popmusik über ihre industrialisierte Produktions- und die (medialen) Distributionsformen sowie ihre massenhafte Rezeption definiert, und in der Folge dessen, vor allem bei Jugendlichen, eine wichtige Rolle in der (kollektiven) Identitätsbildung spielt (vgl. Willis 1974). In diesem Sinne kann von Popmusik seit Mitte der 1950er Jahre gesprochen werden.
K. Bulkow, C. Petersen (Hrsg.), Skandale, DOI 10.1007/978-3-531-93264-4_15, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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kennung als „beste Band der Welt“ (Bravo 1966: 6) beschert, vergehen kaum 18 Monate. Im Jahr 1965 haben die ‚Pilzköpfe‘ weltweit 200 Millionen Schallplatten verkauft, soviel wie niemand vor ihnen in so kurzer Zeit. Am 26. Oktober 1965 erhalten die Beatles aus der Hand von Queen Elizabeth II. im Buckingham Palace den Orden Member of the (Most Excellent) Order of the British Empire (MBE). Die Auszeichnung erfolgt, obwohl sich Mitglieder der Band am 3. November 1963 bei einem Konzert vor der Königinmutter und anderen Mitgliedern des Königshauses im Prince of Wales Theatre despektierlich gegenüber den Adligen gezeigt hatten: Vor dem Song Twist and Shout forderte John Lennon das ‚einfache‘ Publikum auf mitzuklatschen, „der Rest [solle] einfach mit den Juwelen klappern“ (zit. n. HNA SZ 2010). Die Bravo, in den 1960er Jahren das deutsche Zentralorgan für Jugendkultur, bezeichnet die Ernennung der Beatles als „Krönung ihrer Karriere“ (1966: 61), auch wenn es sich beim einfachen MBE lediglich um den niedrigsten von fünf Rängen des Ordens handelt (und sich die Beatles folglich nicht Sir oder Lord nennen durften). Von vielen Mitgliedern des britischen Establishments wurde die Ordensverleihung als Skandal empfunden, obwohl die Vergabe zu dieser Zeit bereits alles andere als restriktiv war. Im Jahr 1965 wurden über 600 Personen zum Mitglied des Ordens ernannt, vor allen Dingen Angehörige der Streitkräfte und jene Zivilisten, die sich hervorragende (wirtschaftliche und soziale) Verdienste für „God and the Empire“ (das Motto des Orden, vgl. Cambridge University 2010) erworben hatten. Ein Dutzend Ordensmitglieder, vor allen Dingen Militärs, gaben den Orden wegen der Ernennung der Beatles zurück. Sie wollten nicht die gleiche Auszeichnung tragen wie „vulgäre Einfaltspinsel, die [...] unverständlichen Unsinn in Mikrophone heulen“ (Paul Pearson und Hector Dupuis zit. n. Schmiedel 1983: 48). In einem nüchternen Statement führte Paul McCartney 1966 aus, warum die Beatles seiner Meinung nach von der Queen zu MBEs ernannt wurden: Wir haben bei der Queen keinen Antrag gestellt, Ritter des Ordens vom Britischen Empire zu werden. Von uns rotieren bislang an die 200 Millionen Schallplatten in der Welt. Welche Regierung würde sich nicht über so gute Devisenbringer und Steuerzahler freuen? Das war dem Hofe halt ein Ritterschlag wert. Schließlich leben auch Königinnen von Steuergeldern. Warum also der Entrüstungssturm? (McCartney 1966) In der Tat geht es ja bei dem Orden um ‚Verdienste für Königin und Vaterland‘. Neben den Devisen ist der Imagegewinn Großbritanniens, das nach den USA als zweites Mutterland des Pops gilt, nicht zu unterschätzen. Zwar steht dem Insel-
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staat die große ökonomische Krise der 1970er Jahre noch bevor. Doch schon in den 1960er Jahren ist absehbar, dass dem Vereinigte Königreich ein größerer industrieller Umbruch als den Ländern auf dem Kontinent bevorsteht. Zudem scheren immer mehr Kolonien aus dem Empire aus. Das vormalige Weltreich schrumpft praktisch auf die britischen Inseln zusammen, auch wenn die Queen formal das Staatsoberhaupt der meisten ehemaligen Kolonien bleibt. In dieser wirtschaftlich und politisch kritischen Situation bescheren die Beatles dem Land neben dem Finanzsektor2 eine zweite große Wachstumsbranche: die Popindustrie. Erst mit den Beatles wird Beatmusik zu einem gesellschaftlich akzeptierten Massenphänomen und deren Produktion zu einer wichtigen Industrie (vgl. Wicke 1993: 79; Faulstich 1985: 36ff.). Vorher waren Rock’n’Roll und Beat in Europa Randerscheinungen. Ihre Anhänger galten als Asoziale, Arbeitsverweigerer, ungewaschene Landhaarige und Kriminalitätsgefährdete, später dann per se auch als Drogenabhängige (vgl. Wicke 1987: 88ff.). Mit der Ordenstitelverleihung an die Beatles wurde der entscheidende Schritt getan, Beatmusik aus ihrer Schmuddelecke herauszuholen. Wer konnte nun noch etwas gegen den Beat sagen, wenn selbst die Königin von England die Beatles ehrte?3 Nicht unbeträchtlich sind allerdings die Irritationen darüber, wie die Beatles in der Folge mit den Auszeichnungen der Queen umgehen. Schon bei der Verleihung verwirren sie die Queen mit ‚frechen‘ Antworten auf deren Fragen (vgl. Moeers et al. 2000: 355). John Lennon behauptet später sogar, die Beatles hätten vor der Ordenszeremonie im Buckingham Palace Marihuana geraucht. Paul McCartney entgegnete allerdings, es habe sich um eine Tabakzigarette gehandelt. Im Jahr 1969 veröffentlichen die Beatles auf der Langspielplatte Abbey Road ein kurzes Lied mit dem Titel Her Majesty. Musikalisch ist das 25 Sekunden kurze Stück äußerst bieder, aber der Text liest sich wiederum leicht despektierlich, vor allem wenn Her Majesty mit der Queen gleichgesetzt wird:
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Die Finanzinstitute in der City of London investierten seit den 1950er Jahren in den so genannten Eurodollar-Markt und wurden durch die Liberalisierungspolitik der Regierung Margaret Thatchers in den 1970er Jahren zu hochriskanten – und profitablen – Geschäftspraktiken motiviert. Auf diese Weise wurde London in den 1980er Jahren zum weltweit größten Zentrum für hochspekulatives Investment-Banking, vor allen Dingen im so genannten Sekundärmarkt (vgl. Helleiner 1994: 8ff.), und ist in dieser Rolle heutzutage noch bedeutender als New York und Tokio. Die gesellschaftliche Durchsetzung des Beat im Jahre 1965 zeigt sich auch in der Tatsache, dass am 25. September des Jahres mit dem Beat-Club von Radio Bremen zum ersten Mal eine Fernsehsendung „nur für junge Freunde der Beat-Musik“ (Radio Bremen 1965) im deutsche Fernsehen ausgestrahlt werden durfte. Freilich noch mit entschuldigenden Worten des späteren Nachrichtensprechers Wilhelm Wieben in der Anmoderation: „Sie aber, meine Damen und Herren, die Sie Beat-Musik vielleicht nicht mögen, bitten wir um Verständnis“ (ebd.). Die Beatles traten allerdings nie im Beat-Club auf.
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Martin Gegner Her Majestyތs a pretty nice girl But she doesnތt have a lot to say Her Majestyތs a pretty nice girl But she changes from day to day I want to tell her that I love her a lot But I gotta get a bellyful of wine Her Majestyތs a pretty nice girl Someday Iތm going to make her mine, oh yeah Someday Iތm going to make her mine (McCartney 1969)
Auch wenn mit Her Majesty natürlich eine andere, ganz bürgerliche Liebhaberin von McCartney gemeint sein könnte, sind die Anspielungen auf die Queen deutlich. Dass das ‚Mädchen‘ nichts zu sagen habe, ließe sich vielleicht auch von eingefleischten Royalisten noch verkraften. Aber dass Paul sie nach reichlich Weingenuss begehrt und „sein“ machen willen, ist dann doch shocking. Die sexuelle Revolution beginnt gerade erst, und sexuelle Phantasien gegenüber der Queen sind im puritanischen Königreich geradezu unerhört. Die Krone der Queen-Blasphemie setzt sich aber John Lennon Ende desselben Jahres auf, als er seinen Orden zurückgibt. Er protestiert damit gegen die Beteiligung des Empires an den Kriegen in Vietnam und Biafra. Auch über diese Zurückweisung einer königlichen Anerkennung sind die höfischen Kreise not amused (vgl. Schmiedel 1983: 49). Während sich Paul McCartney mit zunehmendem Alter als königstreu erweist und auf keinem Thronjubiläumskonzert als aktiver Gratulant fehlt, bleibt John Lennon bis zu seinem gewaltsamen Tod 1980 ein Paria für das britische Establishment. Im Verhältnis zur Queen zeigen sich die von den Chronisten herausgestellten (vermeintlichen) Charaktere der beiden Frontmänner der Band: Hier der unangepasste, oppositionelle John Lennon, dort der konformistische, brave Paul McCartney. Zweifellos sind mit der Auszeichnung für die Beatles nicht sofort alle Beatmusiker und -fans gleichermaßen vom Establishment anerkannt. Wie zwischen Paul McCartney, dem guterzogen nice guy, und John Lennon, dem bad boy, wurde auch bei der Ehrung weiterer Popmusiker differenziert. Politische Statements und allzu radikale Ästhetik waren nach wie vor nicht erwünscht. Außerdem wird es 15 Jahre dauern bis mit Cliff Richard der nächste britische Popmusiker in den Orden aufgenommen wird (als Officer of the British Empire, OBE). In den 1960er Jahren war er mit braven, belanglosen Popsongs über Mädchen und Liebe ähnlich erfolgreich wie die Beatles, trug seine Haare
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nicht allzu lang und fiel vor allem nie durch Unbotmäßigkeiten gegenüber Königin und Vaterland auf. Umgekehrt waren auch nicht alle Versuche von Popbands, einen QueenSkandal zu produzieren, erfolgreich, wie das Beispiel der Rolling Stones, der Nummer zwei des britischen Beats, zeigt. Ihre psychedelische Platte Her Satanic Majestic Request aus dem Jahr 1967 hat außer dem Titel kein weiteres textliches oder ästhetisches Skandalpotenzial.4 Der Titel bezieht sich auf die (seinerzeit) in britischen Pässen obligate Inschrift „Her Britannic Majesty’s Secretary of State Requests and Requires“. Der beabsichtigte Skandal, der durch die Bezeichnung der Queen als satanic statt als britannic hervorgerufen werden sollte, hält sich in Grenzen. Im Jahr 1967, zwei Jahre nach der Ernennung der Beatles zu MBEs, sind noch nicht einmal die berüchtigten königstreuen Tabloids der Londoner Fleet-Street von so etwas zu beeindrucken, allenfalls Provinzblätter mokieren sich über den Plattentitel (vgl. Pekelis 1982: 79). Die Ordensverleihung an die Beatles markiert einen Wendepunkt der soziokulturellen Bedeutung des Pop. Auf der einen Seite steht die gesellschaftliche Anerkennung, auf der anderen Seite der verstärkte und ostentative Versuch von Beat- und Rockmusikern sowie ihren Fans, sich vom Establishment – und dafür steht im Vereinigten Königreich zuvorderst die Queen – abzugrenzen. Die Beatles wurden zum Beispiel von Anhängern der (literarischen) Beat-Bewegung heftig für die Ordensannahme kritisiert.5 Ihnen wurde Ausverkauf der BeatWerte und eine Anbiederung an das Establishment vorgeworfen (vgl. Kraushaar 1977). Dies war die andere Seite des Skandals: Nicht nur die Queen sah sich Kritik aus ihrem Umfeld ausgesetzt, sondern auch, und sogar vielmehr als erstere, die Beatles. Für viele Kritiker verabschiedeten sie sich mit dem MBE von der Jugendkultur, sie waren nun Erwachsen geworden (ebd.). In diesem Spannungsfeld von Anpassung an das Establishment und (radikaler) Opposition, welche sich in den Folgejahren politisch auf den Straßen der westlichen Welt ausbreitete,6 differenzierte sich auch die Beatmusik aus. Zunächst waren in einem Intermezzo um 1967/68 psychedelische, drogengeschwängerte Konzeptplatten angesagt. Alle führenden Beat-Bands, von den Beatles, über die Beach Boys, die Rolling Stones bis zu den Who produzierten 4
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Musikalisch wird die Platte zumeist als nicht gelungener Abklatsch des Beatles-Albums Stg. Pepper’s Lonely Heart’s Club Band gewertet. Sie ist das kommerziell bis dahin am wenigsten erfolgreichste Werk der Stones und stark durch ihre Drogenexperimente zu dieser Zeit geprägt. Ein künstlerischer Austausch von Beat-Musik und literarischer Beat-Generation fand kaum statt. Die Musik der Beatniks (Anhänger der Beat-Generation) war der Jazz, vor allem der Bebop. Die Musik der Beatles, spätestens seit 1965 nicht mehr Teil der musikalischen Subkultur ‚Beatmusik‘, sondern anerkannte Populärkultur, war für die Beatniks, die sich als Underground verstanden, oberflächlich und uninteressant. Interessanterweise in London aber deutlich weniger radikal als in Paris, Berlin und San Francisco.
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mindestens eine Langspielplatte in diesem Stil. In der Folge wurde der avantgardistische so genannte Art- oder Progressive Rock mit Künstlern wie Yes, King Crimson, Genesis (alle aus dem Vereinigten Königreich) eine wichtige musikalische Richtung der nächsten Jahre. Daneben gab es aber 1969 eine musikalische Bewegung, die auf brutalen, maximal reduzierten Hardrock setzte, und in der sich mit Bands wie den MC5 und den Stooges (beide aus Detroit) bereits die Vorboten des Punk zeigten. Zwischen diesen extremen Polen fand der Hardrock von Led Zeppelin und Deep Purple schließlich Anfang der 70er Jahre das größte Publikum. Im Vergleich zu all diesen musikalischen, zum Teil als Skandal empfundenen Innovationen in den späten 1960ern waren die Beatles mittlerweile brav. Selbst auf ihren letzten, künstlerisch besten Platten, die in dieser Zeit entstanden, traten sie weder musikalisch so ‚progressiv‘ wie die einen noch so ‚hart‘ und provokativ wie die anderen auf. Beat und die Beatles waren in der westlichen Wertegemeinschaft nun konsensfähig – Mainstream und Pop. Beides galt Rockmusikern und ihren Fans zu Beginn der 70er Jahre aber als Schimpfwort. Sie wollten Underground und Subkultur sein, alles nur nicht angepasst an eine populäre Ästhetik und eine kapitalistische Verwertungslogik. Die fortwährende Neukreation von musikalischen und ästhetischen Skandalen im künstlerischen Underground und ihre immer wiederkehrende Eingliederung in den Mainstream markiert eine dialektische Dynamik, die von den Beatles initiiert wurde. Diese Ausdifferenzierung setzt 1965 in dem Jahr ein, in dem die Queen die Beatles mit dem MBE auszeichnet. Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist London auch die Welthauptstadt des Pop.7 Kaum ein Trend der Popmusik nach den Beatles, der nicht in Londons Underground startete, um sich dann weltweit kommerziell durchzusetzen; kaum eine große Schallplattenfirma, die nicht ihren Hauptsitz in der britischen Hauptstadt hatte. So gesehen ist die Ernennung der Beatles durch die Queen eine weitsichtige und wirtschaftspolitisch wegweisende Entscheidung. In der Folge der Beatles sind bis zum heutigen Tag viele Pop- und Rockmusiker zum MBE und zum Teil auch in höhere Ränge des Ordens, wie dem Officer (OBE) oder Comander (CBE) of the British Empire, ernannt worden, mit Eric Clapton, Led-Zeppelin-Gitarrist Jimmy Page (OBE) und Elton John (CBE) seien nur einige genannt. Die Ordensverleihung an die Beatles, zunächst als beidseitiger Skandal wahrgenommen, markiert den Beginn einer gezielten Standortpolitik für die Popwelthauptstadt London. Diese bereits von Paul Mc7
Selbst stilbildende US-amerikanische Künstler wie Jimi Hendrix erreichten ihren internationalen Durchbruch von London aus. Ende der 1960er Jahre konnte allenfalls San Francisco als Popwelthauptstadt mit London konkurrieren. Nach Ende der Hippiezeit verlor es diesen Status, wohingegen London sich in der Folgzeit nachhaltig behauptete.
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Cartney in seinen Erläuterungen zur MBE-Ernennung antizipierte Erkenntnis stieß seinerzeit jedoch bei den meisten Mitgliedern des Ordens auf Entrüstung. Ihnen ging es um honour, nicht um materielle Werte. Sie fühlten sich und die Queen verhöhnt. Hier zeigt sich, dass die Queen wesentlich ‚moderner‘ dachte und im Sinne von Marx und Engels bürgerlicher handelte, als ihr adeliges Gefolge: Sie [8] hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in Tauschwert aufgelöst [...]. (Marx & Engels o.J. [1848]: 15) Der ursprüngliche Skandal der Ordensverleihung markiert den Beginn der (ideellen) staatlichen Förderung einer Wachstumsindustrie. Zudem gelingt es der Queen, durch die Verbindung zur Popmusik made in Britain an der kulturellen Hegemonie dieses Exportartikels Nummer eins zu partizipieren. Wer weiß, ob die Queen in den Kronkolonien Kanada und Australien noch heute so populär wäre, wenn sie sich nicht auf diese Umarmungsstrategie gegenüber den neuen kulturellen Eliten eingelassen hätte. Durch die Verbindung mit dem Pop behauptet die Queen für das verblichene britische Empire den Anspruch auf eine weltweite Dominanz – zumindest unter populär-kulturellen Aspekten. Sympathien aus königs- (und meistens sehr glamour-)losen Republiken sind ihr sicher. Die Queen steigert durch die Anerkennung des Pop ihre eigene Popularität und die des Empires. Der Union Jack wird zum Symbol für Popkultur made in Britain; Bands wie die Who schmücken ihre Gitarrenverstärker mit ihm und lassen sich sogar Bühnenkleider nach seinem Muster schneidern. In der Folge des ‚Beatles-Queen-Skandals‘ sind nicht nur die Beatles integriert in die westliche (populäre) Kultur. Auch die Queen ist fester Bestandteil des britischen Showbusiness geworden. Überdeutlich wird dies, als sich eine Hardrockgruppe 1973 einfach ‚Queen‘ nennt. Weder die allürenhaften, heute würde man sagen ‚queren‘ Auftritte des bisexuellen Leadsängers Freddie Mercury, noch die überladenen, ins Parodistische neigenden Arrangements der Band produzieren wirkliche Skandale. Sie bestätigen nur, dass das Label ‚Queen‘ ein mittlerweile anerkannter und geschätzter Bestandteil der Popkultur ist. Queen
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Tatsächlich ist im Manifest der Kommunistischen Partei nicht die Queen gemeint, sondern die Bourgeoisie. Das Zitat kennzeichnet den hier beschriebenen Vorgang dennoch vortrefflich, insofern als die Queen ihre Entscheidung in ‚bürgerlich berechnender‘ Weise begründet und sich über die starken Vorbehalte im Adelsstand hinwegsetzt.
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starteten als Glam-Rock-Band, und deshalb ist ihre Namenswahl konsequent.9 Was wäre glamouröser als die Queen? Seit 1974 wurde am Ende jedes Konzerts von Queen – außer in Irland10 – die britische Nationalhymne God Save the Queen vom Tonband eingespielt. Freddie Mercury erklärte die Präferenz für den Bandnamen neben dem Glamour mit der Beliebigkeit und Offenheit des Ausdrucks (vgl. Queen 1987). Solche wohldosierten, leichten Provokationen schaden weder dem Image der Queen, noch der gleichnamigen Popband. Im Gegenteil, sie fördern beides und markieren eine popkulturelle Symbiose, die auch 2010 noch erfolgreich ist (s.u.). Im Jahre 2002 spielte Brian May, Gitarrist von Queen, zum goldenen Thronjubiläum der Königin die derselben gewidmete britische Nationalhymne. Im Jahr 2005 wurde er von Elizabeth II. zum Commander of the British Empire (CBE) ernannt. ... über die Sex Pistols … Um einen richtigen Skandal mit der Queen zu produzieren, bedurfte es Mitte der 1970er Jahre stärkerer Geschütze. Dies verstanden die Sex Pistols. Die Band bestand seit 1975 und erfand in Zusammenarbeit mit dem Manager Malcom McLaren, der Designerin Vivienne Westwood und dem Grafiker Jamie Reid den Punk. Punk war eine musikalische und gesellschaftliche Bewegung, die durch Verwahrlosungsästhetik, brutale und einfache Musik und das Kokettieren mit einem diffusen Anarchismus in der saturierten Popwelt der 70er Jahre einen Skandal sondergleichen darstellte. Die Sex Pistols erreichten sehr schnell eine ungeheure Popularität unter Jugendlichen im wirtschaftskrisengeschüttelten Großbritannien des Jahres 1976. Wie die Beatles seinerzeit markierten die Sex Pistols einen kulturellen Bruch. Und wie bei den Beatles war auch bei den Sex Pistols ein Skandal mit der Queen nicht unerheblich für ihren Erfolg: Nachdem die Plattenfirma EMI den Sex-Pistols-Song Anarchy in the UK Ende 1976 veröffentlichte, nahm sie das Produkt Anfang 1977 wieder vom Markt und kündigte ihren Vertrag mit der Band. Daraufhin unterzeichneten die Sex Pistols bei A&M und nahmen einen Song namens God Save the Queen auf. Die Textautoren waren ganz offensichtlich auf einen Skandal aus: 9
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„Bezeichnend für die Glam-Rock-Ästhetik sind schrille, glitzernde und oft feminine Kostüme und Bühnendarstellungen, in der sich die Musiker zumeist ironisch-übertrieben in der Rolle des Stars darstellen“, heißt es etwa unter http://de.wikipedia.org/wiki/Glam_ Rock, Abruf am 26.4.2010. Dies zeigt, dass der Royalismus von Queen nicht so ernst gemeint und der Band auch nichts an wirklichen Skandalen, zumal politischen, gelegen war.
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307 God save the Queen Her fascist regime They made you a moron Potential H-bomb God save the Queen She ain’t no human being There’s no future In England’s dreaming [...] God save the Queen ’Cos those tourists are money And our figure head Is not what she seems Oh God save history God save your mad parade Oh Lord God have mercy All crimes are paid [...] God save the Queen We mean it man And there’s no future In England’s dreaming No future, no future, no future For you No future, no future, no future For me No future, no future, no future (Sex Pistols 1976)
Man muss nicht in eine detaillierte Textinterpretation einsteigen, um den Skandal zu verstehen. Die Queen als Oberhaupt eines faschistischen Regimes, das Staatsverbrechen begeht; die Queen als nicht-menschlicher Teil von verrückten Paraden, deren einziges Ziel es ist, Touristen (und somit Geld) in das Königreich zu spülen, dem wiederum keine Zukunft prophezeit wird. Und das alles im Jahr des 25-jährigen Thronjubiläums der Queen! Das war starker Tobak.
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A&M stampfte die schon gepressten Schallplatten wieder ein und löste ebenfalls seinen Vertrag mit den Sex Pistols. Als die Single schließlich bei Virgin erschien, stürmte sie binnen einer Woche an die Spitze der Billboard Charts. Zum ‚offiziellen‘ Geburtstag der Queen mietete sich die Band einen Dampfer der – wohl nicht zufällig – Queen Elizabeth hieß, und gab auf der Themse fahrend ein Konzert mit dem Lied God Save the Queen als Höhepunkt. Diese von Malcolm McLaren perfekt inszenierten Skandale verfehlten nicht ihre Wirkung. Die Sex Pistols waren nicht nur kommerziell äußerst erfolgreich. Die Schlusszeile von God Save the Queen „No future“ wurde zum Slogan einer neuen Jugendbewegung, die sich bis weit in die 1980er Jahre hinein weltweit ausbreitete und selbst heute noch ihre Anhänger findet. Für die Band war diese Popularität allerdings teuer erkauft. Sie erhielt in weiten Teilen Großbritanniens Auftrittsverbot, fanatische Royalisten lauerten den Bandmitgliedern auf, verprügelten und verletzten sie mit Messern und Rasierklingen. Die Sex Pistols flüchteten regelrecht in die USA, wo sie einige wenige tumultartige Konzerte gaben, zerstritten sich untereinander und mit ihrem Manager Malcolm McLaren und lösten sich bereits 1978 auf.11 Dieser Skandal war für alle Beteiligten zu groß, als dass sie davon unmittelbar profitieren konnten. In den 80er Jahren stritten sich Band und Manager, wem das Hauptverdienst an diesem Skandal zustand. Zweifellos hatte McLaren einen großen Anteil daran. Er verpflichte nicht nur den Grafiker Jamie Reid, ein Corporate Design im Punkstil für die Band zu schaffen, das auch Collagen mit Queenportraits beinhaltete (siehe Abb. 1); er verpasste der Band durch die Couture Vivienne Westwoods, die zerrissene T-Shirts mit schottischem Karomuster kombinierte, auch ein visuelles Alleinstellungsmerkmal, welches die Sex Pistols zu Beginn der Punkzeit unverwechselbar machte. Schon bald begannen Fans in der ganzen Welt diesen Stil zu übernehmen. Punk wurde populär. Zahllose Bands folgten, welche den an das musikalische Können anspruchslosen Musikstil, aber auch die No-Future-Attitüde kopierten. Zu Beginn der 80er Jahre war Punk auch in Deutschland mehr als eine jugendliche Subkultur, es war eine kulturelle Ausdrucksform, die, wenn auch in ihrer ‚Reinform‘ nie gesellschaftlich dominant, viele Bereiche des kulturellen Lebens, wie Mode, Musik, Malerei und Literatur, nachhaltig prägte (vgl. Archiv für Jugendkulturen 2008). Die Queen mit der Sicherheitsnadel in der Nase war bei der Markenbildung eine wichtige visuelle Ikone. Mit so wenig investierten materiellen Mitteln
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Seit 1996 geht die Band gelegentlich wieder auf Tournee. So spielte sie auch anlässlich des 50jährigen Thronjubiläums der Queen, allerdings nicht auf einer offiziellen Veranstaltung.
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wurde nie zuvor und niemals später ein ähnlicher popkultureller Siegeszug begründet.12
Skandal: Queen von Jamie Reid 1976 (Abb. 1)
Kein Skandal: Queen von Andy Warhol 1985 (Abb. 2)
Das Königshaus reagierte zunächst überhaupt nicht auf diesen Skandal. Die Sex Pistols schienen nicht integrierbar in das Popuniversum der Queen. Gerade das machte ihre, gemeint sind die Sex Pistols, große Attraktivität für die Subkultur aus. Obwohl es sich bei den Sex Pistols um ein gut durchdachtes und scharf kalkuliertes popkulturelles Produkt mit einer immens erfolgreichen PR handelte, galt die Band als ‚echt‘, als Subkultur (vgl. Marcus 1992: 42; Archiv der Jugenkulturen 2008: 13). Das frühe Auseinanderbrechen der Gruppe bestärkte den Status als nicht-integrierbar in den Mainstream. Interessanterweise stellte das Königshaus dennoch eine Verbindung zu den Sex Pistols her, wenn auch keine direkte und erst Jahre später. Vivianne Westwood, die sich 1983 ebenfalls von Malcom McLaren trennte, reüssierte in den 1980er, vor allem aber in den 1990er Jahren als erfolgreiche Modeschöpferin. 12
Hinter den großen kommerziellen Poperfolgen in den 1980er Jahren, Madonna und Michael Jackson, stand von Beginn an die Musikindustrie. Deren ästhetische und musikalische Strategien waren von verschiedenen Versatzstücken des Mainstream geprägt, jedoch nicht von Subkulturen.
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Sie hatte große Modeschauen nicht nur in London, sondern auch in Paris und Mailand. Zudem bekleidete sie Professuren für Modedesign in Wien und Berlin. Man kann also durchaus behaupten, dass der Punk über Vivienne Westwood mit ihren zunehmend von historischen Einflüssen, aber immer noch vom schottischen Karolook geprägten Kreationen in der Haute Couture, also im Establishment angekommen war. Dieses Beispiel deutet an, wie wandlungsfähig der Kapitalismus vor allen Dingen in Bezug auf die (pop-)kulturelle Produktion ist: Er macht sich auch die zunächst widerständigsten Phänomene zu eigen und integriert sie als gesellschaftliche Innovationen (vgl. Horkheimer & Adorno 2004 [1944]: 129ff.).13 Vivienne Westwood gilt heute als wichtigste Modeschöpferin Großbritanniens und als eine der wichtigsten lebenden Persönlichkeiten der Modewelt überhaupt (Vogue 2010). Im Jahr 1992 wird Westwood für ihre Verdienste um die britische Mode von der Queen zum OBE ernannt. Vierzehn Jahre später wird sie aus demselben Grund sogar als Dame Commander, dem weiblichen Pendant zum Lord, geadelt. Und das, obwohl sie 1992 bei der ersten Verleihung noch einen kleinen Skandal produzierte. Wie die internationale Presse gern immer wieder erwähnt (Spiegel 2006; Gala 2010), ging sie zur OBE-Verleihung ohne Unterwäsche. Dies wurde damals als mangelnder Respekt gegenüber der Queen ausgelegt. Vivienne Westwood selbst wollte nach eigenen Angaben damit gegen sexuelle Prüderie im Vereinigten Königreich demonstrieren (Gala 2010). Über derlei Zwischenfälle bei der Auszeichnung 2006 ist dagegen nichts bekannt. Die Dame verhält sich mittlerweile staatstragend konform. ... zu Lady Gaga In die Tradition von Modeskandalen anlässlich offizieller Empfänge bei der Queen reihte sich im Dezember 2009 auch Lady Gaga ein, die neue Pop-Ikone im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Ihr Name bezieht sich laut der USamerikanischen Sängerin, die eigentlich Stefani Joanne Angelina Germanotta heißt, auf den Song Radio Gaga der britischen Rockgruppe Queen, welche erstgenannte auch als Vorbilder bezeichnet.14 Wie ihr weiteres Vorbild Madonna, die häufig so genannte ‚Queen of Pop‘ der 1980er und 1990er Jahre, fällt Lady Gaga bisher weniger durch ihre musikalischen Leistungen auf,15 sondern durch 13 14 15
Siehe hierzu auch die Adorno-Exegese in Holldorfs Beitrag in diesem Band. Nachzulesen unter http://de.wikipedia.org/wiki/Lady_Gaga, Abruf am 2.5.2010. Auch wenn Lady Gaga eine gute Songschreiberin ist und passabel Klavier spielt, hat sie bisher lediglich 2008 ein Musikalbum veröffentlicht, dessen Songs in der Folge zweimal re-mixed und wiederveröffentlicht wurden.
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ihre ,schrillen‘, nicht selten höchst sexualisierten Outfits, die sie angeblich selbst entwirft. Sie reüssiert also eher als Modeperformerin denn als Musikerin und reagiert auf diese Weise geschickt auf die maßgeblichen Veränderungen, die das Popbusiness im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts durchlaufen hat.16 Erst kürzlich kürte sie das Time Magazine zur einer der 100 einflussreichsten Personen des Jahres 2010 und platzierte sie neben dem Fußballspieler Didier Drogba und dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton auf dem Titelblatt. Dieser Umstand wird in den Feuilletons, z.B. dem der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, als Lady Gagas ‚Krönung‘ zur neuen Queen of Pop gewertet (vgl. Rüthers 2010). Obwohl dem Königshaus die in Bezug auf ihre Kleidung provokativen Auftritte Lady Gagas bekannt waren, wurde sie am 7. Dezember 2009 in Blackpool, England, zur Royal Variety Performance eingeladen, einem Wohltätigkeitskonzert, das offiziell vom Königshaus veranstaltet wird.17 Lady Gaga trug zu diesem Anlass ein rotes Latexkleid mit Rüschenkrause und Keulenärmeln, welches laut britischer Presse (vgl. Smith 2009) an Queen Elizabeth I. erinnerte. Diese regierte England von 1558 bis 1603 und ließ ihre schottische Rivalin Maria Stuart köpfen. Auf dem Empfang nach dem Konzert wurde Lady Gaga der Queen vorgestellt. Die Künstlerin verhielt sich dabei vollkommen protokollgemäß: Sie signalisierte der Queen ihre Ehrehrbietung durch einen formvollendeten Hofknicks. Zudem hatte sie die elisabethanische Rüschenkrause abgelegt, also das Symbol für die ‚Königinmörderin‘ Queen Elizabeth I. Das Treffen mit der Queen wurde fotografisch mehrfach festgehalten und von der Yellow Press und dem Internet massenhaft kolportiert. In den Medien wurde zumeist vermerkt, die Queen sei über Lady Gaga „very amused“ gewesen. Lady Gaga bekannte ihrerseits, sie sei ein „großer Fan“ der Queen (top.de 2010). Lady Gagas Statement unterstützt zum einen die These, dass die Queen mittlerweile fester und wichtiger Bestandteil des Popgeschäfts ist. Zum anderen zeigt das ehrerbietige Verhalten der Pop-Ikone, dass es selbst bei vermeintlich ‚provokativen‘ Künstlern mittlerweile weniger um – wenn auch nur kurzfristige – Rebellion gegen Autoritäten und überkommene Institution geht als um – möglichst schnelle – gesellschaftliche Anerkennung. Der eigentliche Skandal bei diesem Treffen hätte weniger das sexuell konnotierte rote Latexkleid, sondern vielmehr die Anspielung auf Elizabeth I. sein können. Aber Lady Gaga gab kei16
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Gemeint ist die fallende Profitrate bei Musiktonträgern, welche die Künstler und ihre Manager zunehmend durch spektakuläre (und immens teure) Liveperformances zu kompensieren suchen. Das Marketing von Pop als Spektakel hat ein erhöhtes Investment in Outfit, Bühnenarchitektur und weiteres Beiwerk der Show zur Folge. Diese Auszeichnung hat Lady Gaga ihrem Vorbild Madonna voraus. Diese traf zwar im Jahr 2002 Queen Elizabeth anlässlich einer James-Bond-Filmpremiere, wurde von der Queen aber nie offiziell empfangen.
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nen Anlass zu der möglichen Interpretation, sie wolle mit der elisabethanischen Verkleidung symbolisch andere Königinnen – echte oder Pop-Königinnen – vom Thron stoßen. Zumindest ist die Yellow Press nicht auf diesen Gedanken gekommen. Dieses Event bestärkt die These, dass der Pop seinen Frieden mit der Queen gemacht hat und diese ihren mit ihm. Auch aus anderen Bereichen der Popkultur ist die Queen nicht mehr wegzudenken und der Bezug auf sie alles andere als ein Skandal. In Andy Warhols 1985 geschaffener Serie von Queen-Elizabeth-Prints ist nichts anzüglich oder skandalös (vgl. Abb. 2). Sie sind weder mit dem provokativen Potenzial von Jamie Reids Adaptionen des Queenbildnisses zu Zeiten der Sex Pistols (vgl. Abb. 1) zu vergleichen, noch mit einigen Portraits Warhols aus den 1960er und 1970er Jahren. Die Pop-Art-Prints von Mao und Lenin provozierten damals sowohl das konservative Establishment als auch die linke Protestbewegung. Letztere warf ihm den Ausverkauf ihrer Idole vor (vgl. Paul 2009; Kraushaar 1977). Denn Warhol produzierte Anfang der 1970er Jahre Hunderte von Portraits der kommunistischen Führer, deren Originaldrucke heute bei Auktionen Höchstpreise erzielen und deren Reprints massenhaft verkauft werden. Als potenzieller Skandal hatte – wie in der Popmusik auch in der Pop-Art – das Spiel mit der Ambivalenz der Queen mit dem Ende der 1960er Jahre ausgedient. Im Jahre 1985 muteten Warhols Queen-Portraits nur noch dekorativ an (vgl. Wilms 2009). Sie sind das visuelle Pendant zur zeitgenössischen Popmusik: Gefällig, harmlos, belanglos, gesellschaftlich integriert. Schlussfolgerungen Gesellschaftliche Strukturen werden vom Pop nicht in Frage gestellt, sondern reproduziert. Der Pop produziert keine Skandale mehr – nicht nur mit der Queen. Er ist Ausdrucksform von Anpassungs- und Aufstiegswilligen. Widerständische subkulturelle Phänomene sind kaum noch existent, und wenn es sie gibt, versuchen sie nicht, sich in provozierender Weise auf die Queen zu beziehen. Aus gutem Grund: Die Queen hat gezeigt, dass sie bisher noch jeden handfesten Skandal übersteht (auch die Skandale ihrer eigenen Verwandten) und die Provokateure schließlich in ihr System integriert. Es war nicht zuletzt die Politik des britischen Königshauses, das in jahrzehntelanger Praxis den rebellischen Stachel des Pop abgewetzt hat. Durch fortwährende Umarmung und höchst autoritäre Anerkennung seitens der britischen Königin ist der Pop Teil des Establishments. Die Queen hat nicht nur den geadelten oder empfangenen Künstlern große Dienste erwiesen, welche nach einem Treffen mit der Queen für sich in Anspruch nehmen konnten, ‚es ge-
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schafft‘ zu haben. Sie hat damit auch eine wichtige Rolle im demokratisch-kapitalistischen System erfüllt: Sie wirkt als Integrationsbeauftragte für die herausragenden Köpfe von potenziell devianten (post-)pubertären Subkulturen. Ihre Message lautet, dass man sich in der Jugend ruhig ein bisschen rebellisch gebärden darf, solange man zu gegebener Zeit sein Können für das Ansehen und die Wirtschaft des Vaterlandes einsetzt. Selten nur – z.B. im geschilderten Fall der Sex Pistols – zeigte die Queen sich nicht schnell als Herrin über den Verlauf des Verfahrens. Doch in diesem Fall waren auch die Verursacher des Skandals, die Sex Pistols, nicht in der Lage, den zunächst brillant inszenierten und kalkulierten Skandal, zu kontrollieren. Er lief binnen kurzer Zeit völlig aus dem Ruder: Die Morddrohungen gegen die Band etwa waren bitter ernst gemeint, so dass sie sich im kurzeitigen ‚Exil‘ in Sicherheit bringen musste. Diese ‚echten‘ Skandale sind im Pop nicht die Regel. Sie sorgen aber dafür, dass die Protagonisten solcher Skandale ihren Underground-Status – z.T. trotz späterer offensichtlicher Anpassung an die Systembedingungen – behalten. Denn natürlich waren die Autoren von God Save the Queen seit Veröffentlichung und millionenfachem Verkauf des Songs finanziell gut gestellt. Trotzdem galten sie auch nach ihrer Auflösung 1978 als ‚authentisch‘. Auch über John Lennon lässt sich behaupten, dass die Rückgabe des MBE sein Rebellenimage bis zu seinem Tod 1980 konserviert hat. Doch dies waren und sind die Ausnahmen. Die Queen-Skandale des Pop hatten und haben generell die Funktion der gesellschaftlichen Integration von (vermeintlichen) Subkulturen und ihrer herausragenden Protagonisten. Allein deshalb braucht das Vereinigte Königreich auch im 21. Jahrhundert die Queen. Denn ob die männlichen Thronfolger ähnlich wie Elizabeth II. die Rolle der glamourösen Übermutter des Pop ausfüllen können, darf bezweifelt werden. Literatur & Quellen Archiv für Jugendkulturen (Hg.) (2008): Keine Zukunft war gestern. Punk in Deutschland. Berlin: Eigenverlag. Bravo (1966): Das sind die Beatles. Ein Bravo-Bildband. München: Kindler & Schiermeyer. Cambridge University Heraldic and Genealogical Society (2010): Orders of Chivalry – The Most Excellent Order of the British Empire. Online unter http://www.societies. cam.ac.uk/cuhags/orderofc/brit_emp.htm, Abruf am 15.4.2010. Faulstich, Werner (1985): Rock als Way of Life. Tübinger Vorlesungen zur Rockgeschichte. Teil II, 1967-1971. Gelsenkirchen: Rockpaed.
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