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Christopher Irwin – DAS BESSERE DASEIN Gene Wolfe – WESTWIND Charles Sheffield – DAS SUPERDING Tom Purdom – DER UNLIEBSAME HELFER Spider Robinson – FRIST ABGELAUFEN Kevin O'Donnell jr. – DIE ACHILLESFERSE Lisa Tuttle – KASPAR HAUSER II Peter Ambrose – BÜCHSE DER PANDORA
In der Reihe der Ullstein Bücher: SCIENCE-FICTION-STORIES Band 1, 2, 11, 12, 53 bis 79
Science Fiction Ullstein Buch Nr. 31010 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Klaus Weidemann Umschlagillustration: Dell Copyright © 1977 by UPD Publishing Corporation Alle Rechte vorbehalten Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1980 Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh ISBN 3-548-31010-9
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Science-Fiction-Stories Hrsg. von Walter Spiegl. Frankfurt/M, Berlin, Wien: Ullstein. NE: Spiegl, Walter [Hrsg.] 80./ von Christopher Irwin ... [Aus d. Amerikan. übers. von Klaus Weidemann]. – 1980. (Ullstein-Bücher; Nr. 31010: Ullstein 2000) ISBN 3-548-31010-9 NE: Irwin, Christopher [Mitarb.]
Science-FictionStories 80 von Christopher Irwin Gene Wolfe Charles Sheffield Tom Purdom Spider Robinson Kevin O'Donnell Jr. Lisa Tuttle Peter Ambrose Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Das bessere Dasein Christopher Irwin ..............................................
6
Westwind Gene Wolfe .........................................................
59
Das Superding Charles Sheffield ................................................
73
Der unliebsame Helfer Tom Purdom ......................................................
95
Frist abgelaufen Spider Robinson ................................................. 107 Die Achillesferse Kevin O'Donnell Jr. ............................................ 116 Kaspar Hauser II. Lisa Tuttle ........................................................... 148 Büchse der Pandora Peter Ambrose .................................................... 179
Christopher Irwin DAS BESSERE DASEIN Die See leuchtete rostbraun unter dem kupferfarbenen Himmel. Liz stieg von der Motorjacht hinüber auf das weiße, hexagonale Gebilde, das die einzige Bootsanlegestelle der Unterwasserstadt auf der Meeresoberfläche war. Ganz in der Nähe plätscherten Wellen sanft gegen die Bojen, deren Radioantennen gen Himmel wiesen. Ein junger Mann nahm sich ihres Gepäcks an und geleitete sie zu der offenen Luke eines kleinen Unterseebootes, das in einem der kerbenartigen Einschnitte der Anlegestelle trieb. Er stellte sich nicht vor. »He! Ich bin Liz Devlin vom New World News Service. Ich glaube, Professor Eastlake erwartet mich?« »Gewiß«, sagte der Mann. »Und Sie sind –« »Entschuldigung. Ich heiße Don. Don Carus. Wie Sie sehen, bin ich es nicht gewohnt, fremde Leute kennenzulernen. Dort unten kennt jeder jeden.« In plötzlicher Verlegenheit stopfte er sein T-Shirt in die Jeans. »Gehen Sie niemals an Land?« fragte Liz. »Nur selten.« Sie stieg die Metallstufen zur Luke des U-Bootes hinauf. Als sie oben angelangt war, machte sie halt und blickte hinaus auf die leuchtende tropische See. »He«, rief sie, »sind das Tümmler da drüben?« Sie deutete nach Steuerbord.
»Ja«, sagte Don. »Tursiops truncatus – der Delphin mit der Säufernase.« »Weshalb schwimmen sie denn im Kreis?« »Sie schlafen. Diese Gruppe hier macht das immer. Zuerst halten sie nur ihr rechtes Auge offen, dann, nach ungefähr zehn Minuten, verändern sie ihre Lage und halten nur das linke offen. Sie schlafen immer nur mit jeweils einer Gehirnhälfte. So können sie ständig aufpassen.« »Im Ernst?« »Gewiß. Ich beobachte sie oft. In dieser Gegend gibt es eine Menge Tümmler. Sie sind fast schon eine Plage.« »Sind Sie Meeresbiologe?« fragte sie. »Programmierer«, erwiderte er. »Aber das Meer ist meine wahre Liebe.« »Wie viele seid ihr dort unten?« fragte Liz, während sie in die Kabine kletterte. »Etwa zweihundert«, entgegnete Don. Er bückte sich, um nicht mit dem Kopf gegen die Decke zu stoßen. »Aber es werden ein paar neue Kuppeln gebaut, um noch mehr Leute unterbringen zu können. Nehmen Sie Platz.« Die Konturensessel waren gegenüber einem gewölbten Glasfenster angeordnet, das den Blick auf den Ozean freigab. Hinter den Sitzen befanden sich vier weitere, offenbar für Passagiere gedacht. Don verstaute das Gepäck auf einem Chromgestell, das an einer Seitenwand befestigt war. »Wie lange können Sie bei uns bleiben?« fragte er. »Ein paar Wochen«, sagte sie. »Danach steht eine Reportage über den letzten Krieg in Südafrika auf dem Plan.«
»Sie kommen wohl ganz schön herum?« meinte Don. »Ich gebe mir Mühe.« Don betätigte einen Hebel auf der Kontrolltafel des U-Bootes. Am Zischen komprimierter Luft erkannte sie, daß die Luke sich eben geschlossen hatte. »Don«, sagte sie, »würden Sie mir noch eine Frage beantworten, bevor wir tauchen?« »Klar. Schießen Sie los.« »Was geht hier eigentlich vor? Weshalb sprach Eastlake von einer ›Angelegenheit von weltweiter Bedeutung‹? Ich dachte, dies wäre bloß eine archäologische Expedition.« »Ich darf Ihnen leider keine Einzelheiten mitteilen«, sagte er. »Über alles bin ich selbst nicht informiert. Aber was würden Sie sagen, wenn ich behauptete, daß diese Expedition Beweise dafür gefunden hat, daß es einmal Menschen gab – oder jedenfalls Wesen, die von ihrem Körperbau her nicht von uns zu unterscheiden waren – die vor mindestens sechzig Millionen Jahren gelebt haben. Also weitaus früher, als man bisher glaubte.« »Ich würde sagen, Sie sind verrückt.« »Genau das würden auch die Leute sagen, die dieses Projekt finanziert haben. Deshalb wollte Eastlake, daß Sie kommen.« Don schob das Steuerrad nach vorn, und das UBoot neigte sich mit dem Bug um fünfundvierzig Grad abwärts. In dem dunkelgrünen Wasser in den Tiefen unter ihnen sah Liz eine Gruppe strahlender Lichtpunkte. Sie hielt sich krampfhaft an den Sessellehnen fest, als sie tauchten und die leuchtende Was-
seroberfläche über sich ließen. »Man muß sich erst daran gewöhnen, daß man hier in drei statt in zwei Dimensionen lebt«, meinte Don, als er ihr Unbehagen bemerkte. »Aber nach einiger Zeit bekommt man ein Gefühl dafür.« »Welcher Druck herrscht unten?« »Das Zentrum wurde dreißig Meter unter dem Meeresspiegel abseits der Hauptinsel errichtet. Eigentlich wohnen wir auf einem UnterwasserBergabhang. Der Wasserdruck beträgt etwa vier Atmosphären, aber in den Kuppeln merkt man nichts davon. Dort herrschen normale Druckverhältnisse.« »Haben Sie nicht manchmal Angst, wenn Sie an all das Wasser über sich denken?« »Nein, ich liebe das Meer.« »Ich weiß nicht, ob ich hier leben könnte«, sagte sie. »Auf Dauer, meine ich. Ich glaube, es würde mich stören, für längere Zeit von der restlichen Welt abgeschnitten zu sein.« »Sehen Sie das Kabel dort?« fragte Don. Er zeigte auf einen langen Faden, der sich von einer der Kuppeln durch das Zwielicht des Wassers bis hinauf zur Oberfläche spannte. »Das ist unsere Verbindung zur restlichen Welt – oder dem, was davon übrig geblieben ist. Wir nennen es Nabelschnur. Es führt zu der diskusförmigen Antenne, die Sie neben der Anlegestelle gesehen haben. Über diese Antenne wird unser Rundfunknetz an das Satellitennachrichtenverbindungssystem angeschlossen.« »A, ja«, meinte Liz. »Offen gesagt habe ich manchmal Lust, es durchzuschneiden.« Die Lichtpunkte, die Liz von der Wasseroberfläche
aus gesehen hatte, waren jetzt zu gigantischen leuchtenden Pilzen angewachsen, die hoch über sie hinausragten. Im Innern der gläsernen Kuppeln konnte sie Leute umhergehen sehen; große Lichtkugeln in jeder Konstruktion sorgten für die nötige Beleuchtung. Gespenstisch aussehende Fischschwärme glitten, silbernen Wolken gleich, an der Ansiedlung aus gläsernen Blasen vorüber. Don steuerte das winzige U-Boot zu einer Einlaßöffnung an der Unterseite einer der Kuppeln. Türen schlossen sich hinter ihnen, und Luft strömte ein, als das Wasser durch Gitter im Fußboden abfloß. »Wir sind da«, verkündete Don. »Willkommen in Atlantis II.« »Unsere Zuschauer zu Hause möchten sicher gern wissen, was es mit Ihrem Fund nun eigentlich auf sich hat, Professor Eastlake. Würden Sie uns dazu ein paar Ausführungen machen?« Der grauhaarige Mann, der mitten unter den Diskussionsteilnehmern saß, beugte sich vor. In dem blauweißen Licht sah er sehr alt und gebrechlich aus. »Ich ziehe nur ungern Schlußfolgerungen«, sagte er langsam und mit dramatischem Unterton, »solange noch kein umfassendes Beweismaterial vorliegt. Es bedarf monate-, nein, jahrelanger sorgfältigster Studien und Auswertungen der Ergebnisse dieser Ausgrabung, bevor wir mit Bestimmtheit sagen können, welche Botschaft für die Menschheit diese Funde enthalten. Aber eines steht bereits fest: all unsere bisherigen Ansichten über die Vorgeschichte des Menschen werden revidiert werden müssen. Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, daß diese hominiden Überreste echt sind, und daß sie mindestens aus der spä-
ten Kreidezeit stammen – also ungefähr fünfundsechzig bis siebzig Millionen Jahre alt sind.« »Professor«, sagte einer der Diskutanten, »entschuldigen Sie die Unterbrechung, aber es hat ähnliche Fälle schon früher gegeben, die sich dann jeweils als Falschmeldung herausstellten. Wie beispielsweise die Sache mit dem sagenhaften Piltdownmenschen am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts.« »Beschuldigen Sie mich etwa, eine Falschmeldung zu verbreiten?« fragte Eastlake scharf. Der Fragesteller gab keine Antwort. Im Auditorium konnte man nervöses Geflüster vernehmen. Don und Liz standen im Hintergrund des großen Saals und verfolgten das Interview. Dicke Kabel, die die Fernsehkameras mit den Aufnahmegeräten verbanden, waren quer über den Fußboden vor ihnen verlegt worden. »Ich wollte nicht, daß Sie die Podiumsdiskussion versäumen«, sagte Don. »Ihr Zimmer zeige ich Ihnen später.« »Wer ist das auf dem Podium?« fragte Liz. »Zweifelhafte Medien«, erwiderte Don. »Der einzige Nachrichtendienst, dem Eastlake traut, ist The New World. Ihnen wird er mehr erzählen als diesen Aasgeiern. Aber alles wird er Ihnen nicht sagen, dafür garantiere ich.« »Und wieso nicht?« »Er sagt, er will verhindern, daß die Nachricht aufgebauscht wird. Aber offen gestanden glaube ich, er versucht nur, möglichst viel Publizität für sich aus dieser Sache herauszuschlagen.« »Ich hab was gegen Geheimnistuerei«, sagte Liz.
Einer der Diskussionsteilnehmer brach das betretene Schweigen. »Professor Eastlake«, fragte er, »Sie sagen, diese Überreste stammen aus der Kreidezeit. Angenommen sie sind echt, worauf Sie ja bestehen, in was für einer Welt lebten dann diese unsere fernen Vorfahren?« »Es war eine Welt«, erwiderte Eastlake steif, »die der unseren in vieler Hinsicht glich und sich doch in überraschender Weise von ihr unterschied. Zunächst einmal waren die Dinosaurier zu den Zeiten unserer ersten Humanoiden fast vollständig ausgestorben. Das Klima kühlte sich immer mehr ab. Die Flugreptilien des Jura hatten sich zu Lebewesen entwickelt, die unseren heutigen Vögeln stark ähnelten. Das Sumpfland, das den Dinosauriern als Nahrungsquelle gedient hatte, verschwand in zunehmendem Maße. Angiosperme hatten sich rapide über die gesamte Erde ausgebreitet. Die Landschaft muß der heutigen in vieler Hinsicht sehr ähnlich gewesen sein: in vielen Bodenschichten, die aus dieser Zeit datieren, sind Exemplare von Ahornbäumen, Birken und Pappeln gefunden worden. Es gab auch Vorläufer von Hasen, Schildkröten und Fröschen.« »Paul«, sagte ein Diskussionsteilnehmer zu einem anderen, »Geologie fällt in dein Metier. Warum machst du von hier aus nicht weiter?« »Mit Vergnügen, Frank«, erwiderte der andere. »Wie paßt die kontinentale Drift ins Bild, Professor?« »Wird das vom Fernsehen übertragen?« fragte Liz Don. »Vom überwiegenden Teil des weltweiten Satellitennetzes. Eastlake hatte noch nie soviel Publizität. Sehen Sie ihn an; er kostet es aus. Übrigens, spielen
Sie Schach?« »Was?« »Schach. Ob Sie Schach spielen?« »Nein.« »Backgammon vielleicht?« »Nein.« »Spielen Sie überhaupt ein Spiel?« »Schsch. Ich möchte die Diskussion verfolgen.« »Demnach sahen die Kontinente den heutigen sehr ähnlich?« fragte der Diskussionsteilnehmer. »Im Wesentlichen ja«, sagte Eastlake. »Gondwana war schon früher, während des Jura, in die heutigen Kontinente Südamerika und Afrika auseinander gebrochen. Es ist jedoch möglich, daß sie an ihren äußersten nördlichen Zipfeln noch miteinander verbunden waren. Des weiteren waren Nordamerika und Europa weitaus näher zusammen als heute. Meiner persönlichen Meinung nach haben sich die kanarischen Inseln, wo wir uns jetzt befinden, früher gebildet, als man bisher glaubte. Dank der Unterwasserausgrabungstechniken, wie sie in den letzten fünf Jahren von Schaffer und Roth entwickelt wurden, war es uns möglich, bisher unzugängliche Erdschichten zu erforschen. Die geologische Zeitbestimmung dieser Bergstrukturen hat ergeben, daß sie aus der späten Kreidezeit datieren. Die Aufteilung der Superkontinente in separate Teilstücke rief auf dem gesamten Planeten starke vulkanische Aktivität hervor. Wie aus unseren jüngsten Funden hervorgeht, sanken diese Gebirgszüge, die ihre Entstehung gleichfalls dieser vulkanischen Aktivität verdanken, im Laufe der Zeit immer mehr ab. Die kleine Landmasse, die die Heimat unserer ersten menschenähnlichen Wesen
darstellte, begann im Meer zu versinken.« »Was geschah dann, Professor?« fragte einer der Diskussionsteilnehmer. »Was wurde aus dieser Rasse angeblicher Menschen? Weshalb hat man nirgendwo sonst Hinweise auf ihre Existenz entdeckt?« »Dies, meine Herren«, sagte der alte Mann ernst, »ist das fehlende Teilchen in diesem Puzzlespiel. Wir können es nicht mit Bestimmtheit sagen.« »Könnte das Versinken des Landes zu ihrem Aussterben geführt haben?« »Wie zahlreich waren sie, Professor?« »Könnte es sein, daß sie auf dieses Gebiet beschränkt gewesen waren?« »Meine Herren, bitte immer nur eine Frage«, sagte Eastlake, die Hände in gespielter Verzweiflung schützend vor sich haltend. »Erstens, wir haben bisher nur ein Exemplar menschlicher Überreste gefunden – den Teil eines Kieferknochens. Wir haben keine Ahnung, wie zahlreich sie waren. Zweitens wissen wir noch nicht, ob diese Urmenschen aus derselben Evolutionslinie hervorgingen wie wir. Und schließlich, wir haben keine Ahnung, was mit ihnen geschah. Sie könnten bei Vulkanausbrüchen getötet worden sein, oder das Absinken des Landes könnte zur allmählichen Überflutung allen fruchtbaren Bodens und somit zur Zerstörung ihrer Ernährungsgrundlage geführt haben. Es ist noch zu früh, um dies sagen zu können. In diesem Moment befindet sich ein Team von Archäologen an der Ausgrabungsstätte, das nach weiteren Daten sucht. Wenn wir welche finden, werden Sie es erfahren. Seien Sie unbesorgt.« »Professor«, rief einer der Diskussionsteilnehmer,
als der alte Mann aufstand, um zu gehen. »Professor, damals, in den fünfziger Jahren, fand man in Fossilien, und ich meine sogar auch in Meteoriten, Überreste bestimmter Proteinmoleküle. Gehe ich richtig in der Annahme, daß Viren im Grunde Proteine sind?« »Ja.« »Besteht die Möglichkeit, daß einem Ihrer Fundstücke auch heute noch Überreste von Viren anhaften, die möglicherweise die gesamte Bevölkerung dieser frühen Menschen ausgerottet haben könnten?« Eastlake lächelte. »Falls Sie damit andeuten wollen, daß die Erde durch unsere Arbeit vielleicht ein zweites Mal von einer uralten Seuche heimgesucht werden könnte, lautet die Antwort nein.« »Ist das definitiv?« »Die Chancen dafür stehen eins zu einer Milliarde – nein, eins zu einer Billion. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen. Wie ich sehe, ist unsere halbe Stunde vorüber, und ich habe einige sehr dringliche Angelegenheiten zu erledigen.« »Hier ist Ihr Zimmer.« Don öffnete die Tür. Liz ging hinein und sah sich um. Es war überraschend geräumig; bevor sie hierher gekommen war, hatte sie sich die Wohnquartiere eng und bedrückend vorgestellt, etwa wie Kabinen in altmodischen Unterseebooten. »Eastlake wird in ein paar Stunden Zeit für Sie haben. Sind Sie hungrig?« »Danke, nein«, sagte sie. »Bis später dann.« Nachdem er gegangen war, setzte Liz sich auf die
Bettkante und holte den Fotoapparat aus ihrem Reisekoffer. Für sie stand fest, daß hier etwas Sonderbares vor sich ging, und Don versprach, eine gute Informationsquelle zu werden. Sie stellte den Apparat auf die richtige Belichtungszeit ein und machte eine Aufnahme. Das Zimmer wirkte steril. Die wenigen Einrichtungsgegenstände sahen aus, als wären sie in einem billigen Hotel erstanden worden: eine kleine Anrichte, eine Fernsehwand, ein Kodachrome-Hochglanzdruck einer Wiese voller roter Mohnblumen. Auf einmal wurde ihr klar, weshalb das Zimmer so kahl und leer war; alle Einrichtungsgegenstände waren mühsam Stück für Stück von der Oberfläche herunter geschafft worden. Die Wand am anderen Ende des Zimmers war hinter einem Vorhang verborgen. Als sie an der Kordel zog, die von einer Seite herabhing, stellte sie fest, daß sich dahinter ein Fenster befand – ein wandgroßes Fenster, das einen Ausblick auf den Berghang gewährte. Weiter unten am Hang konnte sie einige der anderen Kuppeln erkennen. Sie leuchteten grünlich-gelb in der dämmrig werdenden See. Die einzelnen Kuppeln waren mit Glaskorridoren miteinander verbunden, die wie Speichen eines Rades von der großen Hauptkuppel ausgingen. Als sie so dastand und die See betrachtete, spürte sie für einen kurzen Moment ein fast überwältigendes Friedensgefühl. Draußen war alles still, so unglaublich still. Die Schrecken der Kriege auf der Oberfläche schienen in diesem Augenblick so fern wie die andere Seite des Mondes. Hier fühlte sie sich geborgen. Und das war kein unangenehmes Gefühl.
In Eastlakes Arbeitszimmer sah es aus, als wäre dort eine Bombe hochgegangen; Lochkarten- und Bücherstapel, Schachteln mit peinlich genau etikettierten Artefakten nahmen jeden freien Raum in Anspruch. Liz setzte sich in einen Ledersessel neben dem großen Schreibtisch des Professors und machte ein paar Aufnahmen. Die Wand hinter dem Schreibtisch wurde von einem großen Kachelmosaik bedeckt. Sie mußte ein Weitwinkelobjektiv benutzen, um alles aufs Bildformat zu bekommen. »Dieses Mosaik dort ähnelt Bildern, wie ich sie von den Ruinen auf Kreta gesehen habe«, meinte sie. »Der Palast des Minos in Knossos«, sagte Don. »Es ist ihm nachgebildet. Eastlake gefiel das Delphinmotiv. Sind Sie gut bewandert in Archäologie?« Liz schüttelte den Kopf. »Nein, ich weiß nur, was ich im Fernsehen darüber sehe.« »Da haben Sie Glück. Es ist ohnehin alles nur Schwindel.« »Warum so zynisch?« fragte Liz. »Setzen Sie in das Projekt kein Vertrauen?« »Wenn es etwas gibt, das dieses Projekt erwiesen hat, dann die Tatsache, daß Archäologie ein Schwindel ist, ein Kartenhaus, das sich auf Mutmaßungen über ein paar alte Knochen und Tonscherben gründet. Wenn dann auf einmal ein Knochenstück entdeckt wird, das nicht mit diesen Mutmaßungen übereinstimmt, macht es PENG! All diese brillanten Theorien zerspringen in tausend Stücke, und wir müssen einsehen, daß wir uns die ganze Zeit über im Irrtum befanden.« »So ist Wissenschaft nun einmal«, sagte Liz. »Das
wissen Sie selbst.« »Alles, was ich dazu sagen kann ist, es widert mich an.« »Sie reden wie einer dieser Nichtstuer oben auf dem Festland«, erwiderte Liz heftig. »Na und? Tun Sie nicht so überlegen. Es hat etwas für sich.« »Aber natürlich«, rief Liz aus, »es sind alles prächtige Menschen – sie tun ja schließlich auch nichts weiter als immerzu herumhocken, Tri-D-Fernsehen schauen, auf Partys gehen und sich zu Tode saufen –« »Hört sich gut an, finde ich«, rief Don dazwischen. »Wenn Sie mich schon auf den Gedanken bringen, das ist genau, was uns hier fehlt – eine Party. Veranstalten wir doch einen Maskenball; jeder kommt als sein Lieblingsfisch.« »Wie können Sie nur so reden? Sie, einer der wenigen Menschen auf der Welt, die das Privileg genießen, an diesem Projekt mitarbeiten zu dürfen!« »Wenn ich ein Sträußchen Petersilie und eine Zitronenscheibe tragen würde, könnte ich als gekochter Schellfisch kommen –« »Sie tragen dazu bei, unseren Wissenshorizont zu erweitern.« »Ha! Heben Sie sich das für Ihre Reportage auf. Ich kaufe es Ihnen nicht ab.« Don ging zum Fenster hinüber. In dem grünlichen Licht wirkte sein Gesicht hohlwangig. »Alles, was wir hier treiben ist, neue Mutmaßungen anzustellen«, sagte er langsam. »Und die Zeit wird knapp, falls Sie das vergessen haben sollten.« »Aber –« »Sie müssen Liz Devlin sein«, ertönte eine Männer-
stimme hinter ihnen. Liz erkannte Professor Eastlake. Er trug einen makellosen weißen Kittel und eine rot-schwarz gestreifte Krawatte, und unter dem Arm hatte er einen Stoß Lochkarten. Don stand auf. »Liz«, sagte er, »darf ich Ihnen den Hohen Lama vorstellen? Professor Eastlake, Liz Devlin vom New World News Service. Liz Devlin, Professor Eastlake. Wenn Sie mich nun entschuldigen wollen, ich muß ein Programm ausarbeiten.« Er nickte dem Professor zu und ging. »Was ist mit ihm?« fragte Liz. »Schwer zu sagen«, meinte Eastlake kopfschüttelnd. »Er ist ein komischer Vogel.« »Warum behalten Sie ihn hier?« fragte sie. »Er muß doch eine ziemlich zersetzende Wirkung auf die allgemeine Moral ausüben.« »Wir haben keine Wahl«, erwiderte der Professor. Er setzte sich an seinen Schreibtisch. »Er ist ein Genie und unser bester Computerspezialist. Haben Sie von dem von aachenschen Gehirnlappen gehört?« »Ja«, sagte Liz, »der vergrößerte Kortex eines menschlichen Gehirns. Er hat ihn?« »Ja«, sagte Eastlake. »Ich bezweifle allerdings, daß diese Mutation für seine Intelligenz verantwortlich ist, aber sie mag der Grund für seine Labilität sein.« »Aber er ist ein Genie?« »O ja, das ist er«, meinte Eastlake resignierend, »und außerdem, als er anfing, die Programme für unser hiesiges Rechensystem auszuarbeiten, benutzte er eine Computersprache eigener Prägung. Weil er seine Arbeit zufriedenstellend erfüllt, und es sehr teuer wä-
re, seine Programme umzustellen, können wir ihn nicht feuern.« »Mir ist es egal, was er ist«, meinte Liz. »Ich kann ihn nicht leiden. Er ist mir zu zynisch.« »Nun«, sagte Eastlake, während er sein drahtiges weißes Haar glättete, »wir leben in einer zynischen Zeit. Weil wir gerade davon reden, was gibt's oben neues? Ich habe seit Wochen keine Zeit gefunden, mir die Nachrichten anzuschauen.« »Die Lage ist unverändert«, sagte Liz. Sie holte das Tonbandgerät aus ihrer Handtasche. »Alles ist wie immer. Vielleicht ein wenig schlimmer als sonst.« »Neue Krawalle?« »Es gibt immerzu welche. Sie werden in den Nachrichten kaum noch erwähnt. In Nordafrika ist wieder eine Hungersnot ausgebrochen. Die vielleicht schlimmste bisher.« »Ich sehe schon.« Er nickte ernst. »Etwas beunruhigt mich, Professor. Eine Menge fähiger Leute sind nicht länger willens, auf eine Lösung hinzuarbeiten.« »Sie können es ihnen nicht verübeln.« »Doch, das kann ich«, sagte Liz. »Es ist niemals zu spät, nach neuen Antworten zu suchen.« »Ja«, entgegnete Eastlake, »ja, da haben Sie wohl recht.« Sie fuhr fort: »Aber ich bin hier, um mit Ihnen über Ihr Projekt zu reden, Professor. Stört es Sie, wenn ich unsere Unterredung aufzeichne?« »Keineswegs, machen Sie nur.« Sie stellte den kleinen Apparat auf den Schreibtisch und schaltete ihn ein. »Professor Eastlake, worum handelt es sich bei dem
Fund, den Sie hier gemacht haben, und weshalb glauben Sie, daß er so wichtig ist?« »Lassen Sie mich«, begann der alte Mann, »den zweiten Teil Ihrer Frage zuerst beantworten. Weshalb ich ihn für wichtig halte? Ebenso gut könnten Sie mich fragen, weshalb ich Archäologie für wichtig halte. Ich will es Ihnen sagen. Archäologie ist der einzige Wissenschaftszweig, der sich mit dem Studium der Wechselbeziehungen des Menschen und seiner Umgebung, diesem Planeten, über sehr lange Zeiträume hinweg befaßt. Das Wissen um diese Dinge ist deshalb von Bedeutung, weil es uns verstehen hilft, was heute eigentlich mit uns geschieht und wohin wir treiben. Solche Erkenntnisse waren schon immer von großer Wichtigkeit, und ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, welche Bedeutung sie in den letzten Jahrzehnten erlangt haben. Nun, was unseren Fund angeht: er ist nichts geringeres als der schlüssige Beweis dafür, daß vor mehr als sechzig Millionen Jahren menschenartige Wesen auf der Erde lebten. Dies ist sechzigmal früher, als man bisher glaubte.« »Professor, wenn das zutrifft, stellt es unsere gesamte Abstammungslehre auf den Kopf. Unsere Subskribenten werden wissen wollen, warum diese Dinge erst jetzt ans Licht kommen.« »Ans Licht kommen«, erwiderte Eastlake, »ist die richtige Formulierung. Die Beweise, von denen ich spreche, haben das Tageslicht bis jetzt einfach noch nicht erblickt – im wahrsten Sinne des Wortes. Bevor wir Relikte oder menschliche Überreste untersuchen können, müssen wir sie erst finden. An Land können sie durch Zufall entdeckt werden, beispielsweise bei Erdarbeiten beim Straßenbau, oder sie können durch
die allmähliche Erosion eines Flusses zutage treten. Aber wir müssen sie erst finden. Und das ist keine leichte Aufgabe.« Er rieb sich beim Sprechen immerzu die Hände. Auf seinen Wangen spiegelte sich das Licht der Dekkenlampe in Gestalt halbmondförmiger Sicheln. Ein Brechungseffekt seiner starken Brillengläser. »Geologen vom hiesigen Zentrum stießen zufällig auf einige Artefakte –« »Artefakte?« unterbrach ihn Liz. »Sie meinen Werkzeuge oder Waffen? Ich wußte nicht –« »Ich werde das noch rechtzeitig erläutern, Miss Devlin. Bitte gedulden Sie sich ein wenig. Die Geologen fanden sie rein zufällig, als sie nach Mineralvorkommen suchten. Dank spezieller Techniken, die erst während der letzten zwanzig Jahre entwickelt wurden, war es uns dann möglich, die Fundstelle einer sorgfältigen und methodischen Ausgrabung zu unterziehen. Die Ausgrabungsarbeiten sind zur Zeit in vollem Gange. Mehrere Expertenteams arbeiten rund um die Uhr mit Miniunterseebooten und Unterwasseratemgeräten.« »Rund um die Uhr?« »Zeit ist kostbar.« »Aber ist es nicht merkwürdig, Professor, daß man bisher noch keine Spuren dieser frühen Menschen entdeckt hat? Ich meine, auf der ganzen Welt hat man doch Fossilien, die aus der Frühgeschichte der Erde stammen, gefunden.« »Das ist richtig«, sagte Eastlake, »aber glauben Sie ja nicht, die Fossilien, die wir hier gefunden haben, seien etwas Selbstverständliches. Bedenken Sie, über welche enorme Zeitspanne wir uns unterhalten –
sechzig Millionen Jahre! Es ist schon erstaunlich, daß sich etwas überhaupt so lange erhält – wenn man in Betracht zieht, welchen tektonischen Kräften, die ja beträchtliche Veränderungen hervorrufen, die Erde ausgesetzt ist. Und Sie müssen berücksichtigen, daß Fossilien nur unter bestimmten Bedingungen entstehen. Fast immer findet man sie in Gesteinsschichten, die sich aus Sumpfland oder der Schlacke, die sich auf dem Grund ehemaliger Binnengewässer abgesetzt hat, gebildet haben. Wenn es einst Wesen gab, die ausschließlich in einer felsigen Gebirgsgegend lebten, ist es sehr gut möglich, daß niemals ein fossiler Abdruck entstanden ist.« »Sie meinen, daß dies hier der Fall ist?« »Bis jetzt kann ich Ihnen nur Theorien anbieten. Eine andere Theorie besagt, daß diese frühen Humanoiden nur eine zahlenmäßig geringe Bevölkerung besaßen und auf ein kleines geographisches Gebiet beschränkt waren. Wenn dies der Fall ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit, daß man noch nach sechzig Millionen Jahren Spuren von ihnen findet, in der Tat sehr, sehr gering. Insbesondere, wenn sie ihre Toten einäscherten, was sie vermutlich getan haben.« »Sie haben recht. Daran dachte ich nicht.« »Der Boden könnte vielleicht Spuren von Kohlenstoff- und anderen organischen Verbindungen enthalten«, fügte er hinzu, »aber es wäre überaus schwierig, sie aufzufinden und ihre Herkunft richtig zu deuten.« »Aber sagen Sie mir eines, Professor: Haben wir uns aus diesen frühen Menschen entwickelt?« »O nein. Das ist höchst unwahrscheinlich. Sie lebten einfach zu früh.«
»Der neuzeitliche Mensch trat also erst vor etwa einer Million Jahren in Erscheinung. Ist das richtig?« »Den bisherigen Erkenntnissen zufolge ja«, entgegnete Eastlake vorsichtig. »Wie kam es dann, daß sich diese ersten Menschen zu so früher Zeit entwickeln konnten? Und warum dauerte es bis zur Entwicklung des neuzeitlichen Menschen so lange?« »Nun, wissen Sie, Zeit allein ist nicht ausschlaggebend für Evolution. Es gibt eine Vielzahl von Faktoren, die damit zusammenhängen und die man nur unvollkommen versteht. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: die Küchenschabe; dieses Insekt existiert praktisch schon seit den Anfängen des Lebens auf der Erde, und während all dieser Zeit hat es sich so gut wie nicht verändert.« »Sie sprachen von Artefakten, Professor. Worum handelt es sich dabei genau?« Eastlake dachte einen Augenblick nach, bevor er antwortete. Nur das leise Summen der Klimaanlage wurde von dem Bandgerät aufgenommen, während der alte Mann auf seinen Schreibtisch starrte. Schließlich blickte er sie an. »Ich habe dies bisher noch zu niemandem von draußen gesagt. Ich fühlte, daß die Zeit dazu noch nicht reif war. Aber ich vertraue darauf, daß Sie und Ihr Nachrichten-Service sorgsam damit umgehen werden. Der erste Fundgegenstand ähnelte einer Messerklinge. Er war mit Ablagerungen bedeckt und sah aus wie ein Klumpen fossiler Korallen. Das Protonenmagnetometer zeigte jedoch an, daß er metallhaltig war, und eine spätere Durchleuchtung mit Röntgenstrahlen enthüllte den Gegenstand, der sich
darin befand. Ich habe ihn hier.« Er zog eine Schublade auf und nahm ein kleines Stück Metall heraus. »Verblüffend«, meinte Liz, als er es ihr überreichte. »Es ist tatsächlich eine Messerklinge. Das bedeutet, daß diese frühen Menschen intelligent waren. Es ist unglaublich!« »Gehen Sie mit dem Begriff ›intelligent‹ vorsichtig um«, sagte Eastlake warnend. »Ich ließ Sie herkommen, weil Ihr Nachrichten-Service einen seriösen Ruf genießt. Ich möchte vermeiden, daß die Leute oben auf der Erdoberfläche ›Atlantis! Atlantis!‹ zu schreien anfangen. Meiner Meinung nach ist diese ganze Geschichte nichts weiter als ein Mythos, den Plato den Sagen irgendeines noch aus der Bronzezeit stammenden Volkes entnommen hat, die sich auf den amerikanischen Kontinent beziehen.« »Sagen Sie, Professor, aus was für einem Metall wurde dieses Messer hergestellt?« »Aus Stahl, Miss Devlin. Dieses Artefakt besteht aus sechzig Millionen Jahre altem Stahl.« Es war spät, und der Gemeinschaftsraum war bis auf Liz leer. Während alle anderen bis auf die Nachtschicht der Taucher schliefen, schritt sie unruhig im Raum auf und ab. Bei ihr wollte sich der Schlaf nicht einstellen. Was Don über Eastlake gesagt hatte, gab ihr zu denken, ebenso das kleinliche Gezänk zwischen den beiden. Und überhaupt schien hier irgendeine Spannung in der Luft zu liegen, ein undeutbares Angstgefühl, das auch die allgemeine Erregung über die sensationelle Entdeckung überschattete. Sie konnte fühlen,
daß etwas nicht stimmte. An der Wand flimmerte noch der Fernseher. Derjenige, der den Raum als letzter verlassen hatte, mußte vergessen haben, ihn abzuschalten. Eine Nachrichtensendung über die Geschehnisse auf der Erdoberfläche lief unbemerkt ab. Am frühen Morgen wurde Liz von dem Geräusch eiliger Schritte im Korridor geweckt. Müde und zerschlagen von viel zu wenig Schlaf rappelte sie sich auf, zog sich an, so rasch es ging, und ergriff ihren Fotoapparat. Im Korridor draußen erspähte sie Don. Er hatte Blue jeans an und sah aus, als hätte er sich seit Tagen nicht mehr rasiert. »He, was ist denn los?« rief sie ihm zu. »Das letzte Taucherteam hat eine Menge Artefakte mitgebracht«, sagte er. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Labor.« »Ich dachte, Sie hätten kein Interesse an ›ernsthafter‹ Arbeit«, sagte sie, während sie flott neben ihm herging. »Hauptsache, es unterbricht die Monotonie«, sagte er. »Selbst wenn es mit Arbeit verbunden ist. Im übrigen muß ich die statistischen Programme ausarbeiten.« Im Labor drängten sich Dutzende von Menschen, jeder eifrig mit einer anderen Aufgabe beschäftigt. Eastlake saß über ein Stereomikroskop gebeugt an einem langen Tisch. Ein Assistent hielt einen Gegenstand, der wie ein kleiner Felsbrocken aussah, gegen das rotierende Blatt einer Kreissäge. »Don«, rief ihm Eastlake zu, »es wird Zeit, daß Sie kommen. Wäre es zuviel verlangt, wenn Sie Ihre Arbeit erledigen würden? Wir brauchen ein paar stati-
stische Analysen.« »Sofort«, sagte Don. Er ging zur Computereingabe hinüber und begann mit der Programmierung. »Mr. Hsiung«, fragte Eastlake, »sind Sie mit dem Dünnschnitt schon so weit?« Der Mann an der Säge schüttelte den Kopf. »Es dauert noch ein paar Minuten.« Weil sie nicht im Weg herumstehen wollte, schritt Liz leise durch den Raum und machte ein paar Aufnahmen. Kurz darauf spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Es war Don. »Kaffee?« fragte er. »O ja. Gern.« Er reichte ihr eine gesprungene Porzellantasse. Der Kaffee darin sah gut aus und er schmeckte großartig. »Es ist echter«, meinte er. »Wo kriegen Sie ihn denn nur her?« fragte sie. Sie nahm noch einen Schluck. »Für die Regierung zu arbeiten hat seine Vorteile. Was halten Sie von dem Labor?« »Ich bin beeindruckt.« »Alles wird von Leuten bezahlt, die nicht die leiseste Ahnung haben, zu was es verwendet wird.« Er trank seinen Kaffee. An einer der Computerschalttafeln hinter ihm gingen abwechselnd rote und grüne Lämpchen an und aus. »Woran arbeitet er gerade?« fragte sie ihn. »An einer statistischen Analyse der Fundorte der letzten Artefakte«, erwiderte er. »Die Taucher haben die Koordinaten jedes einzelnen Fundortes mittels eines Drahtgitters ausgemessen und auf einer wasser-
festen Schrifttafel eingetragen. Diese Daten wurden vor kurzem auf Band chiffriert und in die Datenbänke eingespeist. Ich brauchte nur noch ein Programm in Gang setzen, mit dem bestimmt werden soll, ob die Verteilung der Fundorte rein zufällig ist oder nicht.« »Und was kann man daraus entnehmen?« »Dadurch können wir feststellen, ob die Fundobjekte aus demselben Zeitabschnitt stammen, oder ob sich der Ausgrabungsort innerhalb der Gesteinsschichten verlagert hat und dadurch Fremdstoffe hinzugetreten sind.« »Worum handelt es sich bei den Artefakten, die man fand, im einzelnen?« fragte Liz. »Um Ziegelsteine«, entgegnete er. »Sieht so aus, als gehörten sie zu einer Grundmauer.« Sie trieben in dem grünen Wasser über der Ausgrabungsstätte. Im gedämpften Licht, das von der Oberfläche herunter drang, beobachteten sie die Taucher, die in ihren schwarzen Anzügen wie Kaulquappen aussahen. »Es war wirklich nett, daß Sie mich hergebracht haben«, meinte Liz. Sie schaute aus dem Fenster des kleinen U-Bootes. »Keine Ursache«, sagte Don. »Was tun sie gerade?« »Sehen Sie die Maschine drüben rechts?« Er zeigte auf eine große Maschine, die dicht mit Schläuchen und Rohrleitungen besetzt war. Sie erzeugte im Sonar des U-Bootes ein klopfendes Geräusch, das sich wie das laufender Motoren oder Triebwerke anhörte. Liz betrachtete sie und nickte.
»Mit Maschinen wie diese werden Unterwasserausgrabungen, wie wir sie hier machen, überhaupt erst möglich. Im Prinzip ist sie eine Pumpe. Sie ist mit einem umfangreichen System von Rohrleitungen verbunden, die rund um den Graben, den die Taucher gerade ausheben, angeordnet sind. Ihre Aufgabe ist es, das bei der Arbeit aufgewirbelte staubgetrübte Wasser abzusaugen.« »Glauben Sie, daß sie noch auf weitere menschliche Überreste stoßen werden?« »Schon möglich. Wer weiß? Sechzig Millionen Jahre sind eine lange Zeit.« »Es ist schon seltsam«, meinte Liz. »Nun haben sie alle diese Gräben dort gezogen und nichts weiter gefunden als ein paar Ziegelsteine und ein Stück von einem Knochen.« Don zuckte die Achseln. »Da, sehen Sie mal. Da ist einer meiner Freunde.« »Wer –« Und dann sah Liz den Delphin Backbord. Er schoß über die Ausgrabungsstätte hinweg und vollführte über den Köpfen der Taucher spielerische Kreise. »Sie meinen den Tümmler?« fragte Liz. »Die Taucher haben ihn ›Diomedes‹ getauft. Man kann ihn an der kleinen Einkerbung in seiner Rückenflosse von den anderen unterscheiden. Sein wirklicher Name ist ›Ikikee‹.« »Was meinen Sie damit, ›sein wirklicher Name‹?« »So nennt er sich selbst«, sagte Don. »Vor kurzem versuchte ich, über Sonar zu ihm zu sprechen. Ich sagte andauernd ›Don‹, und er wiederholte immerzu die Laute ›Ikikee‹. Als ich dann schließlich ›Ikikee‹ über den Sonar sagte, antwortete er mit einem Laut,
der entfernt an ›Don‹ erinnerte. Also nahm ich an, daß ›Ikikee‹ sein Name war.« »Das ist doch lächerlich.« »Es sind kluge Tiere«, sagte er. »Sie sollten sie nicht unterschätzen.« »Die Navy hat ihre Experimente mit Delphinen schon vor Jahren aufgegeben«, sagte Liz. »Man kam zu dem Schluß, daß sie nicht intelligenter sind als Hunde.« »Wenn ein Mensch Intelligenz beurteilen soll, nimmt er als Maßstab sich selbst. Wenn ein Hund Intelligenz beurteilen soll, nimmt er als Maßstab ebenfalls sich selbst. Die Forscher der Marine fanden nur deshalb keine Intelligenz bei Delphinen, weil sie an der verkehrten Stelle suchten.« »Oh, natürlich«, meinte Liz sarkastisch. »Sie glauben mir wohl nicht?« »Das habe ich nicht gesagt.« »Wie Sie wissen, sind ihre Gehirne etwa ebenso groß wie unsere, und sie haben die gleichen komplizierten Nervenverbindungen, die wir als Voraussetzung für abstraktes Denken ansehen.« »Wenn sie so klug sind«, meinte Liz, »warum tun sie dann nichts anderes, als herumzuschwimmen und Fische zu fressen?« »Was sollten sie denn Ihrer Meinung nach tun?« Don lächelte. »Nun, eben etwas – etwas Kreatives.« »Sie haben kreative Spiele. Sie besitzen eine komplexe soziale Ordnung, und sie haben sehr viel Feingefühl für einander. Sehen Sie nur, wie Ikikee versucht, sich dem einen Taucher dort mitzuteilen.« Der Delphin stupste einen der Archäologen mit der
Schnauze an und nahm dann rasch Reißaus, gerade so als fordere er ihn auf, mit ihm zu spielen. »Beobachten Sie ihn«, sagte Don. »Sehen Sie, wie er zu kommunizieren versucht?« »Genau wie ein Hund mit einem Spielzeugknochen«, entgegnete Liz. »Sie haben einfach noch nicht lange genug mit ihnen zu tun gehabt. Warten Sie einmal ab, bis Sie eine Weile hier unten gewesen sind. Sie werden merken, wie ähnlich sie dem Menschen sind. So ähnlich, daß es fast schon beängstigend ist.« »Eastlake sagte mir schon, daß sie sich zuviel mit Ihren Lieblingen beschäftigen. Ich glaube, er hat recht.« »So, hat er das gesagt? Nun, Eastlake könnte Ihnen auch so einiges über Delphine erzählen, wenn er nur wollte.« »Was wollen Sie damit sagen?« fragte Liz scharf. »Nichts«, erwiderte Don. »Rücken Sie schon heraus damit. Warum haben Sie das gesagt?« »Ach, er hatte einige interessante Erlebnisse mit ihnen, das ist alles. Weil man hier ja praktisch unter Delphinen lebt, kommt man ganz zwangsläufig mit ihnen in Berührung. Eastlake mag einfach deshalb nicht darüber reden, weil er insgeheim fürchtet, sie könnten intelligenter sein als er selbst.« Liz lachte. »Wollen Sie eine Geschichte hören?« fragte Don. »Worüber?« »Über einen nahen Verwandten unseres Freundes dort – den Oranus orca.« »Orca?«
»Den Schwertwal.« »Erzählen Sie.« Don lehnte sich zurück und legte die Hände in den Nacken. Während er sprach, blickte er hinaus in die meilenweite See. »Bei den Indianern des Nordwestens kann man eine Menge Geschichten über Wale zu hören bekommen. Eine davon ist diese: Einst – vor nicht allzu langer Zeit – waren ein paar Indianer draußen auf See beim Fischen. Sie hatten sich nicht weit vom Ufer entfernt. Es wurde Abend, von der See her blies ein kalter Wind, und sie wurden langsam unruhig. Da sahen sie auf einmal ganz in ihrer Nähe einen Orca. Aus Langeweile oder was für Gründen auch immer paddelten sie auf den glänzenden, schwarzweißen Körper der Kreatur zu. Als sie bis auf dreißig Meter herangekommen waren warf einer der Indianer einen der Steine, mit denen sie ihre Netze beschweren, auf den Wal. Er traf den Orca an der Rückenflosse. Der Wal tauchte und hielt aufs Ufer zu. Ein wenig später sahen dieselben Indianer Rauch am Ufer aufsteigen. Ein Lagerfeuer. Das weckte ihre Neugier, und sie machten sich auf, um nachzuforschen. Dort sahen sie, nahe der Stelle, auf die der Orca zugeschwommen war, ein großes Kanu. Am Feuer saß ein Riese von einem Mann der sie aus wilden Augen heraus anfunkelte. ›Warum habt ihr Steine nach mir geworfen?‹ fragte der Mann. ›Ihr habt mein Kanu beschädigt. Geht in den Wald und holt Rinde, um es auszubessern.‹ Die Indianer taten, wie ihnen der Riese befahl, und als sie das Loch im Kanu geflickt hatten, hieß sie der Mann, ihre Augen zu verdecken, während er fort-
ging. Als jedoch ein paar Minuten vergangen waren, nahmen die Indianer die Hände von den Augen und sahen den Mann in seinem Kanu fortpaddeln. Als er die Brandung hinter sich gelassen hatte, sahen sie ihn auf einmal nicht mehr. An der Stelle, wo sie ihn zuletzt gesehen hatten, war nur noch ein großer Orca, der hinaus aufs Meer schwamm.« Während der nun folgenden Stille wurde das UBoot von einer schwachen Dünung sanft hin und her geschaukelt. »Eine hübsche Geschichte«, meinte Liz. »Und eine sehr geläufige«, ergänzte Don. »Ähnliche Beispiele findet man bei Völkern auf der ganzen Welt. Einige Stämme in Alaska schnitzen heute noch Figürchen, die einen im Bauch eines Wales befindlichen Menschen zeigen.« »Jonas«, meinte Liz nachdenklich. »Eine der ältesten Geschichten der Menschheit«, sagte Don. »Ihre Ursprünge verlieren sich im Steinzeitalter.« »Sehen Sie mal«, meinte sie plötzlich. »Einer der Taucher hat da etwas.« »Ein Schädel!« verkündete Eastlake triumphierend. »Jetzt haben wir endlich etwas, das man ernst nehmen wird.« Er ging zu seinem Schreibtisch hinüber und drückte auf einen Knopf der Wechselsprechanlage. »Sagen Sie Winters, er soll den Schädel in mein Büro bringen. Ich möchte Miss Devlin über den neuesten Stand unserer Suche informieren.« Liz holte das Bandgerät hervor und stellte es auf den Schreibtisch. »Endlich kann ich Ihren Lesern etwas bieten, das
des Zuhörens wert ist«, meinte er. »Es ist das, was heute nachmittag ausgegraben wurde, während Don und ich zusahen?« »Genau«, sagte Eastlake. »Man fand ihn in derselben Bodenschicht, in der man auch die anderen Artefakte gefunden hat. Unsere vorläufigen Tests bestätigen die geologische Datierung. Er ist ungefähr fünfundsechzig Millionen Jahre alt, plus/minus eintausend Jahre.« »Was sind das für Tests?« fragte Liz. »Wollen Sie wirklich die genauen Einzelheiten hören?« »Ja, aber bitte in einer für Laien verständlichen Sprache«, sagte Liz. »Unsere Subskribenten wollen immer alles genau wissen.« »Also gut«, begann der Professor, nachdem er sich gesetzt hatte. »Wir haben folgendes gemacht. Wir verwendeten mehrere Datierungsverfahren. Mit einem, der Fission-track-Methode, kann man das Alter von Substanzen wie etwa bestimmte Glassorten und kristalline Mineralien innerhalb eines Zeitraums zwischen zwanzig und einer Milliarde Jahren sehr genau bestimmen. Was dabei geschieht ist kurz gesagt folgendes: der Zerfall von Uran-238 hinterläßt im Laufe der Zeit mikroskopisch kleine Schadspuren in diesen Substanzen. Je mehr Spuren man findet, desto älter ist der Gegenstand. Eine Probe der fraglichen Substanz wird einer kontrollierten Menge thermischer Neutronen ausgesetzt. Die Anzahl von Spuren, die dadurch entstehen, dient uns als Vergleichswert, als Maßstab quasi für die Altersbestimmung anderer Proben, die ja unterschiedliche Mengen Uran enthalten. Die Proben, die wir mit diesem Verfahren untersucht haben,
stammten von einigen quarzhaltigen Gegenständen – bei denen es sich möglicherweise um Ornamente handelt – die man in der Nähe der Messerklingen gefunden hat.« »Haben Sie auch die C-14-Analyse angewendet?« »Nein, nein«, wehrte Eastlake ab. »Die Halbwertszeit von Kohlenstoff beträgt nur ungefähr 5568 Jahre. Bei Zeiträumen über sechzigtausend Jahren wird die Fehlerquote so groß, daß das Verfahren nutzlos ist. Auch die Kalium/Argonmethode ist eigentlich nur für Zeiträume bis zu drei Millionen Jahren anwendbar. Unser Projekt hat uns in dieser Hinsicht vor besondere Probleme gestellt. Selbstverständlich haben die Geologen auch die Bodenbeschaffenheit in der näheren Umgebung der Ausgrabungsstätte untersucht, und herkömmliche Altersbestimmungsverfahren, die auf einer vergleichenden Basis arbeiten, haben die Richtigkeit der absoluten Werte, die wir mittels der Fission-track-Methode erhalten haben, bestätigt. Des weiteren haben wir den Fluorgehalt des Schädels untersucht und dabei festgestellt, daß er mit dem des Kieferknochenstücks, das wir vorher gefunden hatten, nahezu übereinstimmt. Obgleich der Kieferknochen nicht zu diesem Schädel gehört, sind beide doch ungefähr gleich alt. Je länger Knochen der Einwirkung fluorionenhaltigen Grundwassers ausgesetzt sind, desto größer ist der Fluorgehalt des Fossils.« »Professor«, fragte Liz, »wie groß war das Gehirn dieser frühen Menschen?« »Die Schädelhöhle dieses Exemplars läßt darauf schließen – ah, da ist Winters mit dem Ding.« Ein junger Mann kam herein und ging auf den
Schreibtisch zu. Er trug einen Gegenstand, der wie ein großer brauner Stein aussah. »Guten Tag, Miss Devlin. Wie ich hörte, sind Sie von der Presse.« »Guten Tag«, entgegnete Liz. »Legen Sie den Schädel dort hin«, sagte Eastlake. Er deutete auf eine Stelle auf dem Schreibtisch, die er gerade freigeräumt hatte. »Die Schädelhöhle dieses Exemplars läßt darauf schließen, daß das Gehirn ungefähr fünfzehnhundert Gramm gewogen haben muß. Das durchschnittliche Gehirngewicht des neuzeitlichen Menschen liegt bei etwa vierzehnhundert Gramm.« »Heißt das, daß dieses Wesen intelligenter war als wir?« fragte Liz. »Nicht unbedingt. Sowohl die größten als auch die kleinsten menschlichen Gehirne, die je entdeckt worden sind, stammten von Schwachsinnigen.« »Er sieht wie der Schädel eines Menschen aus«, meinte Liz. »Ich glaube fest daran, daß er einmal einem Menschen gehört hat«, sagte Eastlake. Er nahm den Schädel in die Hände und betrachtete ihn nachdenklich. »Aber was geschah mit diesen Menschen?« fragte Liz. »Darauf kann ich noch keine Antwort geben«, erwiderte der alte Mann in belehrendem Tonfall. »Wir haben einfach noch nicht genug Beweise. Wenn Sie allerdings das Tonband abstellen –« Liz schaltete das Gerät aus. »Wenn Sie das Tonband abstellen«, fuhr er fort, »können Sie meine persönliche Meinung dazu hören.«
»Sehr gern«, sagte Liz. »Trotz der Ähnlichkeit glaube ich nicht, daß wir von diesen Wesen abstammen. Es war vermutlich nur eine Parallelentwicklung.« »Wie meinen Sie das?« »Wie es scheint, haben wir uns aus dem Australopithecus entwickelt, einer kleinen, entfernt menschenähnlichen Kreatur, die sich ihrerseits über die Zwischenstufe von vorzeitlichen Affen aus bestimmten Prosimieren entwickelt hat, und zwar zu einem Zeitpunkt, als diese etwa auf halbem Wege ihrer Entwicklung standen. Die ältesten Funde von Überresten erster Frühmenschen datierten bisher, bis zu unserer Entdeckung hier, aus einer Zeit von vor ungefähr drei Millionen Jahren. Nun traten aber die ersten Prosimieren vor sage und schreibe hundertsechsunddreißig Millionen Jahren in Erscheinung. Die Zeitspanne zwischen dem Punkt, von dem an die Prosimieren sich zu Affen entwickelten, und dem Punkt, an dem wir Menschen uns heute befinden, beträgt also in etwa vierzig Millionen Jahre. Wenn nun aus irgendwelchen Gründen eine Anzahl von bisher unbekannten Uraffen sich von den Prosimieren am Anfang ihrer Entwicklung abzweigten – was ja durchaus möglich ist –, dann hätte unser Frühmensch hier sage und schreibe sechzig Millionen Jahre Zeit gehabt, um sich zu dem zu entwickeln, was er war. Das sind zwanzig Millionen Jahre mehr, als uns zur Verfügung stand.« »Professor«, fragte Liz, »könnte es sein, daß sich die Erinnerung an diese frühe Menschenrasse in bestimmten Mythen erhalten hat?« »Sie spielen auf Atlantis an?«
»Darauf und auf vergleichbare – die Mythen vom Goldenen Zeitalter oder vom Garten Eden beispielsweise. Varianten davon findet man auf der ganzen Welt.« »Unwahrscheinlich. Die Zeitspanne ist einfach zu gewaltig.« »Aber wenn ein paar Angehörige dieser Rasse diese Katastrophe, die ihnen zugestoßen zu sein scheint, irgendwie überlebt hätten, könnte es doch sein, daß sie sich zu unserem neuzeitlichen Menschen entwikkelt haben. In diesem Fall könnten sich einige ihrer Rassenerinnerungen bei uns erhalten haben.« »Bisher hat niemand einen schlüssigen Beweis für die Existenz von Rassenerinnerung vorlegen können.« Liz nickte. »Wenn man tatsächlich so wilde Spekulationen anstellen will«, fuhr Eastlake fort, »muß man alle logisch in Betracht kommenden Möglichkeiten berücksichtigen – einschließlich der Möglichkeit, daß diese Wesen außerirdischen Ursprungs waren.« Nacht war über das Meer hereingebrochen. Die Untiefen des Riffs waren jetzt so schwarz wie die endlose Nacht des weiten, mit Schluchten durchzogenen Meeresgrundes weiter unten. Liz stand an einem gewölbten Sichtfenster in der Hauptkuppel und betrachtete das fremdartig aussehende Seegras, das im Schein der Unterwasserlampen sanft hin und her wogte. Plötzlich zerstörte ein Trompetenstoß hinter ihr die Stille. »Bei Gott, hassen Sie verregnete Tage nicht auch?« fragte Don. Er fingerte an den Klappen der Trompete.
»Was wir brauchen, ist Musik.« »Don«, sagte Liz in ruhigem Tonfall, »hat man Ihnen schon einmal gesagt, daß Sie Hilfe brauchen?« »Nein«, sagte Don betrunken, »nur Musik.« »Sie sollten vielleicht einmal Urlaub machen.« »Liz, soll ich Ihnen ein Geheimnis anvertrauen? Ich mag die Arbeit hier lieber als sonst einer dieser ... dieser Zombies, die hier in ihren weißen Kitteln herumlaufen. Ich habe verdammt viel Spaß daran, das sage ich Ihnen. Hick.« »Das glaube ich Ihnen nicht, Don«, sagte sie. »Die haben keinen Spaß daran. Ich schon.« »So?« »Pah, wer sind Sie überhaupt, daß Sie mir sagen wollen, was ich mag und was nicht? ALLE MANN INS SCHWIMMBECKEN!« »Don –« Er hielt die Trompete an die Lippen. BLA-A-A-A-A-A-T. Nur ein Techniker, ein junger Mann indianischer Abstammung, war noch im Labor. Alle anderen waren offenbar essen gegangen. Er stand neben einem großen Apparat, der wie eine riesige Magnetspule mit vielleicht einer Million Drahtwicklungen aussah. Auf der Werkbank stand ein Oszilloskop, auf dessen Bildschirm ein zitterndes Wellenmuster flimmerte. Liz näherte sich ihm leise von hinten. »Hallo«, sagte sie plötzlich. »Oh!« rief der junge Mann aus. »Haben Sie mich vielleicht erschreckt.« »Tut mir leid.« »Schon gut.« »Ich bin Liz Devlin. New World News.«
»Ja«, sagte der Mann, »ich habe Sie vorhin gesehen, als Sie Aufnahmen machten.« »Richtig. Sagen Sie – darf man fragen, was Sie gerade tun?« »Uff, wieso?« fragte er. »Nun ja, ich interessiere mich für alles, was hier unten vor sich geht. Aber ich kenne mich in wissenschaftlichen Dingen nicht aus. Können Sie mir sagen, welchem Zweck diese Maschine dient? Was ist das für ein Ding in dem Magneten dort, oder was es sonst auch sein mag?« »Ich bin mir unschlüssig, wieviel ich Ihnen sagen darf«, meinte der Techniker. »Oh, machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, beruhigte ihn Liz. »Professor Eastlake hat seine Zustimmung gegeben. Sie können sich bei ihm erkundigen, wenn Sie wollen.« »Schon gut, ich glaube Ihnen«, sagte er. »Wie ist übrigens Ihr Name? Ich brauche ihn für meinen Artikel.« »Govindrapali«, erwiderte er. »Wie schreibt man das?« Sie tat so, als schriebe sie ihn in ihr Notizbuch, als er buchstabierte. »Gut. Und was tut nun diese kompliziert aussehende Maschine im einzelnen?« fragte sie, sich so naiv wie möglich stellend. »Es ist doch sicher keine leichte Aufgabe, alle diese schrecklich komplizierten Apparate zu bedienen.« »Das ist ein Magnetometer«, erklärte er, auf das massive Instrument deutend. »Ich analysiere gerade einen Ziegelstein, den man bei der Ausgrabungsstätte fand.« »Ach ja«, meinte Liz. »Ich habe davon gehört.«
»Nun, wissen Sie, wenn man Ton brennt, entsteht in ihm was wir Remanenzmagnetismus nennen. Die Eisenteilchen des Tons werden beim Brennen vom Magnetfeld der Erde magnetisiert. Dieses Gerät mißt Inklination und Deklination der Teilchen des Artefakts.« »Und wozu ist das gut?« »Nun, wir verfügen über ein Verzeichnis der Inklinationen und Deklinationen des Magnetfeldes der Erde für die gesamte Oberfläche des Planeten sowie seiner Veränderungen im Laufe der Zeit. Diese Daten erhielten wir, indem wir Proben von Rumpfatomen mit eben dieser Maschine analysierten. Dadurch können wir exakt bestimmen, an welchem Ort der Erde ein bestimmtes Stück Ton gebrannt wurde.« »Und haben Sie herausgefunden, wo diese Ziegel gebrannt wurden?« »Hmm, ja«, meinte der Techniker. »Und das ist eine sehr merkwürdige Sache.« »Was meinen Sie damit?« »Wenn unseren Messungen kein Fehler zugrunde ließt, muß dieser Ziegelstein einmal dort hergestellt worden sein, wo sich heute der asiatische Kontinent befindet. Selbst wenn man die kontinentale Drift in Rechnung stellt, würde das bedeuten, daß dieser Ziegelstein weit entfernt von der Stelle, wo er gefunden wurde, hergestellt worden ist.« »Und dennoch ist er ebenso alt wie die anderen Artefakte?« »O ja.« Liz schaute ihn an. »Aber das hieße ja, daß dies nicht die einzige Stelle ist, wo diese frühen Menschen lebten.«
Der Techniker nickte nervös. »Ja, das hieße es wohl.« Professor Eastlake saß an seinem Schreibtisch. Der inzwischen zu einem wahren Berg angewachsene Stapel Lochkarten und Tätigkeitsberichte verdeckte ihn fast völlig. Mit der einen Hand hielt er das Telefon, in der anderen ein Geflügelsandwich. »Neue Knochen?« fragte er mit vollem Mund. »Gut. Erinnern Sie die Taucher noch einmal daran, daß sie jedes Stück etikettieren sollen. Ich will die genauen Koordinaten von jedem Fragment, jedem Keramiksplitter, jeder Schraube und Mutter, die sie ausgraben. Ja, richtig; wenn es zum Etikettieren zu klein ist, nehmen Sie die Kunststofffläschchen. Und sorgen Sie dafür, daß sie dieses Mal jedem Fund ein paar Bodenproben beifügen, für den Fall, daß das Salzwasser das datierbare Material herausgewaschen haben sollte.« Um sich auf die kommende Sitzung vorzubereiten, sah Liz noch einmal schnell den Stoß Notizkärtchen durch, der sich während der fünf Tage ihres Aufenthaltes im Zentrum angesammelt hatte. Eastlake setzte das Telefon ab und rieb sich die Augen. »Professor«, sagte sie, »Sie können in den letzten drei Tagen höchstens zehn Stunden Schlaf bekommen haben.« »Ist nicht zu ändern«, erwiderte er. »Was kann ich für Sie tun?« »Ich möchte wissen, ob sich etwas Neues ergeben hat.« »Nein«, sagte der alte Mann, »bisher noch nicht.«
»Aber ich hörte, daß die Ziegelsteine, die man unlängst gefunden hat, gar nicht in dieser Gegend hergestellt worden sind.« Eastlake schaute sie einen Moment lang überrascht an. »Ach das«, meinte er. »Eigentlich wollte ich es Sie erst später wissen lassen, wenn noch weitere Teilchen dieses Puzzlespiels zusammengetragen worden wären und wir genaueres gewußt hätten. Ich hasse es, voreilige Schlußfolgerungen zu ziehen.« »Das ist verständlich.« »Von wem wissen Sie das übrigens?« »Was denn?« »Das mit den Ziegeln.« »Ich weiß nicht, wie er heißt«, log Liz. »Nun, die Sache ist sehr einfach. Sie wurden halt irgendwo in der Gegend, die heute Asien heißt, gebrannt.« »Das bedeutet doch, daß es damals auch anderswo Menschen gab – vielleicht auf der ganzen Welt.« »Das wissen wir nicht«, sagte Eastlake vorsichtig. »Es könnte nur eine einzelne Kolonie gewesen sein. Auf alle Fälle sieht es ganz danach aus, als wäre unser erster Frühmensch – nennen wir ihn doch Homo archaeo – in der späten Kreidezeit ein bißchen in der Welt herumgekommen.« »Gehörten diese Ziegelsteine einmal zu dem Fundament eines Gebäudes?« »Wohl nicht gerade zu einem Fundament. Wahrscheinlich aber zu einem Gebäude.« »Professor, wenn diese Menschen die nötigen Fortbewegungsmittel besaßen, warum suchten sie sich dann nicht einfach neuen Lebensraum, anstatt in der
Katastrophe, die ihnen ja offenbar zugestoßen ist, unterzugehen und auszusterben?« »Das läßt sich jetzt noch nicht beurteilen«, erwiderte der Professor. »Möglicherweise gab es anderswo aus irgendwelchen Gründen keinen geeigneten Lebensraum, oder vielleicht hatten sie zu der Zeit, als eine Umsiedlung notwendig wurde, die technologischen Mittel, welche diese auch immer gewesen sein mögen, bereits wieder verloren. Sie müssen auch berücksichtigen: je komplexer eine Gesellschaft ist, desto schwieriger ist es, sie umzusiedeln. Menschen, die in Zelten oder Höhlen leben, fällt ein Nomadendasein leicht. Aber stellen Sie sich einmal vor, wie schwierig die Umsiedlung einer Großstadt von heute wäre. Um die Wahrheit zu sagen, wir werden vielleicht niemals erfahren, was wirklich mit ihnen geschah.« »Was haben Sie sonst noch herausgefunden?« »Wir wissen, daß dieses Gebiet zu der damaligen Zeit ein mildes Klima besaß. Die durchschnittliche Meerestemperatur lag bei einundzwanzig Grad.« »Professor, wie in Gottes Namen können Sie das wissen?« »Wiederum dank einer Methode, die damals in den sechziger Jahren vervollkommnet wurde – Sauerstoffisotopenanalyse. Sehen Sie, das Meerwasser enthält meßbare Mengen zweier Arten Sauerstoffisotope – O16 und O18. O18, als das schwerere, verflüchtigt sich natürlich nicht so rasch wie das O16, gleichgültig bei welcher Temperatur. Indem wir das Mengenverhältnis von O18 zu O16 in fossilen Muschelschalen messen, können wir die damalige Meerestemperatur bis auf wenige Grad genau bestimmen. Das Verfahren läßt sich einfacher erklären als durchführen, aber es ist
sehr zuverlässig.« Liz machte eifrig Notizen. »Des weiteren«, fuhr er fort, »wissen wir, daß dieses Gebiet dem heutigen ökologisch gesehen stark ähnelte. Wir hatten großes Glück, daß wir ein paar fossile Pollen fanden – es waren genug für eine grobe statistische Analyse. Wir wissen, daß annähernd ein Drittel der damaligen Landfläche mit verschiedenen Nadelbaumarten bewachsen war. Ungefähr ein weiteres Drittel war mit verschiedenartigen Getreidesorten bewachsen. Die meisten Überreste sind nicht zu identifizieren, aber bei zumindest einem könnte es sich um einen Vorläufer moderner Gerste gehandelt haben. Man kann wohl davon ausgehen, daß sie in beschränktem Ausmaß Ackerbau betrieben haben. Ihre Hauptnahrung scheint, den Knochenüberresten in ihren Kehrichthaufen zufolge, jedoch Fisch gewesen zu sein. Das letzte Drittel des Landes muß aus nacktem Felsgestein oder Laubwäldern bestanden haben.« »Und sie wußten, wie man Stahl herstellt.« »Ja«, sagte Eastlake, »und das bedeutet, daß sie irgendeine hochpotente Energiequelle besaßen.« »Kohle?« »Nein, dafür war es zu früh. Was es gewesen sein könnte, müssen wir erst noch herausfinden. Wir haben auch keine Bleilager entdeckt, was auf die damalige Verwendung von Uran hingedeutet hätte. Wir wissen es einfach nicht.« Liz stellte ihr Tablett auf einem Tisch ab, an dem bereits eine junge Frau in weißer Arbeitskleidung saß. Es war laut in der Caféteria; die Geräusche schienen von der gewölbten Decke wie von einem Hohlspiegel
reflektiert und in der Mitte des Raumes gebündelt zu werden. Das Resultat war ein Verstärkungseffekt, der leise Unterhaltungen im Hintergrund zu einem regelrechten Gebrüll anschwellen ließ. »Hallo«, sagte sie zu der Frau. »Stört es Sie, wenn ich mich zu Ihnen setze?« »Nein, durchaus nicht.« »Wie ich sehe, sind Sie Krankenschwester«, sagte Liz. Sie setzte sich neben sie. »Ja. Ich bin in der Klinik beschäftigt. Sie sind diese Reporterin, nicht wahr?« Liz nickte. »Liz Devlin.« »Ich heiße Anne Sloane.« Liz öffnete den Joghurtbecher, der ihre Mittagsmahlzeit darstellte, und begann darin zu rühren. »Er ist synthetisch«, sagte Anne. »Der Joghurt?« »Sie stellen alle Nahrungsmittel hier unten her. Aus Algen.« »Ach so.« »Aber er ist nicht übel.« »Anne, wie ist es, wenn man hier arbeitet?« fragte Liz ganz ungezwungen. »Behandelt man in der Klinik viele Fälle? Kommt es oft zu Unfällen?« »Nein«, erwiderte die Frau. Sie nippte an einem wie Limonade aussehenden Getränk. »Es kommt schon einmal vor, daß ein Taucher in die Dekompressionskammer muß. Die meisten sind Archäologen, wissen Sie. Einige besaßen nicht genügend Taucherfahrung, als sie am Projekt zu arbeiten begannen. Ab und zu bekommt einer von ihnen die Caissonkrankheit.« »Wie gefällt Ihnen das Leben hier unten?«
»Irgendwie gefällt es mir schon«, sagte sie. »Mein ganzes Leben möchte ich zwar nicht hier verbringen, aber für eine Weile ist es schon okay.« »Was gefällt Ihnen nicht daran?« »Och, schwer zu sagen.« Anne zuckte die Achseln. »Ich glaube, am meisten fehlt mir das Kino. Es gibt hier zwar Filmvorführungen, aber die meisten Filme sind ziemlich alt. Es ist ein bißchen wie in einem Sommerferienlager. Finden Sie nicht? Waren Sie als Kind einmal in so einem Lager?« »Aber Sie haben doch auch Fernsehprogramme«, meinte Liz. »Ja, schon. Aber ich gehe gern einmal aus. Sie verstehen doch, was ich meine? Eine andere Sache ist – eigentlich ist es gar nicht so wichtig –, aber die Leute hier unten sind ziemlich fad. Sie mögen keine Partys oder so was. Außer Don.« »Don Carus?« »Ja, der. Ich mag ihn.« Liz schaute sie an. »Es ist nichts Romantisches, verstehen Sie«, fügte Anne rasch hinzu. »Es macht einfach Spaß, mit ihm zusammen zu sein. Eigentlich ist er der einzige Mensch hier unten, mit dem ich mich einmal amüsieren kann.« »Tatsächlich?« »Ja, und ob. Die anderen ... die scheinen immer über etwas nachzudenken. Immer geht ihnen etwas im Kopf herum. Sie verstehen, was ich meine?« Liz nickte. »Don und Eastlake scheinen oft Streit miteinander zu haben«, meinte Liz beiläufig. Aufmerksam beobachtete sie Annes Reaktion. »Ja, das stimmt. Es ist einfach schrecklich«, sagte
Anne mit aufrichtiger Betroffenheit. »Manchmal machen wir uns alle große Sorgen deswegen.« »Don ist wohl sehr hitzig?« »Ich glaube, alle beide sind es. Und sie sind beide sehr gescheit.« »Ich verstehe.« »Ich habe großen Respekt vor Professor Eastlake«, fuhr Anne fort, »aber er ist ... er ist –« »Ein wenig verknöchert?« meinte Liz. »Ja.« Anne nickte. »Immerzu nennt er Don einen Nichtstuer.« »Und ist er das?« »Schon möglich«, erwiderte sie. »Aber andererseits ist er schließlich hier, nicht wahr? Das will schon etwas heißen. Und wissen Sie, sie sagen, man könne sowieso nicht mehr viel tun, um noch etwas zu retten. Tatsache. Ich schätze, ich bin selbst ein Nichtstuer. Ich will mich amüsieren, solange ich es noch kann.« »Bach lieben sie am meisten«, sagte Don. »Wohl deshalb, weil von allen Komponisten, die ich auf Band habe, seine Werke die kompliziertesten Klangstrukturen aufweisen.« Er nahm eine andere Kassette aus dem Regal und legte sie auf dem Abspielgerät ab. »Sie glauben also, es gefällt ihnen?« fragte Liz. »Vielleicht halten sie es auch nur für das Sonar irgendeines anderen Tieres.« »Das tun sie keineswegs«, sagte er, »daran besteht überhaupt kein Zweifel; und es gefällt ihnen. Tümmler sind die ausgelassensten Tiere auf dem gesamten Erdball. Betrachten Sie sie draußen. Sie kennen keine Sorgen.« Liz schaute aus dem gewölbten Fenster des Ge-
meinschaftsraums. Im flimmernden Licht des Wassers führte ein Schwarm Tümmler gerade ein ungestümes, spielerisches Ballett auf. Hin und wieder glitt einer von ihnen hinüber zu dem Unterwasserlautsprecher, der draußen vor dem Fenster montiert war, und verharrte dort für einige Augenblicke bewegungslos, als lausche er der Musik. »Eigentlich habe ich das Sonar nur aus Langeweile draußen angebracht«, meinte Don. »Ich wußte nicht, ob sich etwas daraus ergeben würde. Aber es war ein voller Erfolg. Dadurch habe ich nicht nur erfahren, daß Tümmler Musik mögen, ich stellte sogar fest, daß manche eine Vorliebe für bestimmte Komponisten zu haben scheinen.« Liz sah auf ihre Uhr. »Ich schaue besser mal wieder im Labor vorbei«, sagte sie. »Vielleicht hat sich etwas Neues ergeben.« »Bleiben Sie ruhig noch hier und entspannen Sie sich«, entgegnete Don. »Es läuft Ihnen schon nicht davon. Wissen Sie, von diesen Delphinen könnten Sie, was Entspannung angeht, so einiges lernen.« Liz lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Der Delphin draußen schien sie zu beobachten. »Wieviel können sie von der Musik eigentlich hören?« »Sie können Töne zwischen 75 Hz und 150 Khz hören, während wir Tonfrequenzen von 20 Hz bis etwa 20 Khz wahrnehmen können. Ihr Hörbereich reicht also um einiges über unseren hinaus. Das ist mit ein Grund, warum Versuche, sich mit ihnen zu verständigen, immer so enttäuschend verliefen.« »Sie glauben doch nicht, daß sie eine Sprache haben, oder?«
Don sah schweigend aus dem Fenster. Er lächelte matt. »Kann schon sein, daß sie keine Sprache haben«, sagte er schließlich. »Vielleicht brauchen sie keine.« »Wie meinen Sie das?« »Betrachten Sie es einmal so: würden wir eine Sprache brauchen, wenn wir gegenseitig unsere Gedanken lesen könnten?« Liz lachte laut auf. »Jetzt wollen Sie mir wohl auch noch weismachen, Tümmler seien Telepathen?« »Nein, aber ihr Sonar ist etwas Vergleichbares«, erwiderte Don ernsthaft. »Diese Geschöpfe leben in einer Welt von Geräuschen. Sie hören mit den Körpern, und sie können Schnalz- und Zirptöne von äußerst kurzer Dauer, irgendwo zwischen einer zehnund hundertmillionstel Sekunde, ausstoßen, und das bis zu sechshundertmal in der Sekunde. Dieses Sinnesorgan ist so hochentwickelt, daß sie damit Gegenstände mit minimalem Größenunterschied, beispielsweise Stahlkugeln von zweieinachtel und zweieinhalb Zoll Durchmesser, voneinander unterscheiden können. Das gleiche gilt auch für verschiedene Materialien; zum Beispiel können sie zwischen Kupfer- und Aluminiumtellern von genau gleicher Größe unterscheiden. Ihr Sonar ist sogar besser als jene medizinischen Schallmeßgeräte, die zur Lokalisierung von Tumoren oder Stockungen im Blutfluß im menschlichen Körper verwendet werden.« »Mit anderen Worten, sie wissen also beispielsweise, wenn einer von ihnen krank ist?« »Ganz gewiß«, sagte Don. »Und auch wenn wir krank sind. Menschliches Fleisch hat im Wesentlichen
dieselbe Dichte wie Meerwasser. Aber Lungen, Knochen und Blutgefäße reflektieren die Schallimpulse in unterschiedlicher Weise. Für Tümmler sehen wir im Wasser wahrscheinlich wie Röntgenbilder aus.« »Schön und gut, aber deshalb können sie einander noch lange kein abstraktes Gedankengut vermitteln.« »Sie können erkennen, wann jemand glücklich oder erregt ist, und zwar durch Veränderungen im Herzschlag- und Atemrhythmus des Betreffenden.« »Don, ich wiederhole: deshalb können sie sich noch lange nicht voll und umfassend untereinander verständigen.« »Vielleicht haben sie sich über solche Dinge hinausentwickelt«, meinte Don. »Ihr Leben ist ein einziges Spiel. Sie sind glücklich. Können wir von uns dasselbe behaupten?« Liz trommelte mit den Fingern nervös auf das Bandgerät auf ihrem Schoß. Mit einem Mal beunruhigten sie die Geschöpfe, die sich draußen beim Spiel vergnügten. Es war, als ginge plötzlich eine ungewisse, gegen sie gerichtete Drohung von ihnen aus. »Nein, das glaube ich einfach nicht«, sagte sie. »Was glauben Sie nicht?« »Ich bin nicht bereit zu glauben, daß diese Tümmler draußen fortgeschrittener sind als wir. Das ist doch absurd. Wenn sie wirklich intelligent wären, hätten sie Städte gebaut, besäßen sie ein Schrifttum, eine ganze Kultur.« »Sie reden wie ein typischer New Yorker«, sagte Don lachend. »Liz, wozu bräuchten sie Städte?« »Nun, äh –« »Sie haben keine Probleme mit Überbevölkerung, Umweltverschmutzung, Arbeitslosigkeit oder Ver-
brechen. Sie leben in völligem Einklang mit ihrer Umgebung. Städte wären für sie ein Rückschritt.« Liz sagte nichts. »Ach, was soll's«, sagte Don in einem seltsam veränderten Tonfall. »Wozu ereifere ich mich eigentlich so? Vielleicht haben Sie recht; schließlich sind es alles nur Worte. He, was meinen Sie, wollen wir ein Spiel wagen? Ich habe den Computer für ein Spiel zu dritt programmiert.« »Das geht nicht, Don«, sagte sie. »Ich habe eine Menge Arbeit vor mir.« »Ich auch, aber die kann warten. Kommen Sie schon. Nur ein Spiel.« Sie schwebten über eine Landschaft dahin, die mit ihren Korallenriffen, Seeanemonenblüten und Seesternen irgendwie fremdartig wirkte. Liz hatte das Gefühl zu fliegen, während der summende U-Bootmotor sie durch das Meer vorantrieb. Über der Ausgrabungsstätte unter ihnen schwammen Taucher, die in den gähnenden Schlünden der von ihnen gezogenen Gräben neue Proben sammelten. Ein paar Tümmler schwammen um sie herum, während sie arbeiteten. Immer wieder stürzten sie sich in den sprudelnden Strom silberner Luftblasen, der von den Sauerstofflaschen der Taucher aufstieg, gerade so als wollten sie sich von den Blasen am Unterleib kitzeln lassen. Einer von ihnen schwamm zum U-Boot hinauf, spähte einen Augenblick durch das Fenster und schnellte dann fort. »Immer kommt es einem so vor, als würden sie lachen«, meinte Liz. »Finden Sie nicht?« Eastlake steuerte das U-Boot über den letzten Gra-
ben hinweg und schwieg. Don saß in dem dritten Sessel, die Füße gegen die Instrumententafel gestützt, und beobachtete, wie der Tümmler zu seinen Artgenossen hinüberschwamm. »Professor«, sagte Liz, um das unbehagliche Schweigen zwischen den beiden Männern zu brechen, »in den zwei Wochen, die ich hier bin, habe ich eine Menge Dinge gesehen und gehört, die nicht leicht zu glauben sind. Ich denke, ich sollte Ihnen das einmal sagen, wenn ich Ihnen auch glaube, daß einige der anderen Nachrichten-Service Sie bereits einen Scharlatan nennen.« Eastlake zuckte die Achseln. »Professor«, fuhr sie fort, »ich würde gern alles tun, was in meiner Macht steht, um selbst die größten Skeptiker unter unseren Lesern von der Bedeutung Ihrer Entdeckung zu überzeugen. Aber offen gestanden kann ich das nicht, solange Sie mir etwas verschweigen.« »Was meinen Sie damit?« fragte Eastlake. »Damit meine ich, daß Sie nicht offen mit mir waren«, erwiderte sie kühl. Eastlake warf Don einen grimmigen Blick zu. »Was haben Sie ihr erzählt, Carus?« »Nichts«, entgegnete Don. »So wahr mir Gott helfe«, sagte der Professor drohend, »diesmal ist es mir ganz egal, wenn wir jeden einzelnen Arbeitsgang im Zentrum abändern müssen; dafür lasse ich Sie feuern!« »Don hat mir gar nichts erzählt«, sagte Liz. »Es war nur eine Vermutung, eine Ahnung von mir. Von Anfang an hatte ich das Gefühl, daß Sie beide etwas vor mir verbargen. Unaufhörlich stritten Sie miteinander,
Don ließ mehrmals durchblicken, daß Sie einiges vor den Medien verheimlichen wollten –« »Don ist ein verantwortungsloser Narr«, sagte Eastlake. Er blickte starr geradeaus. »Es kommt ihm nur darauf an, die Wahrheit aufzubauschen, um damit Unruhe zu stiften. Es ist nichts weiter als wieder eine seiner Faxen.« »Von Anfang an hat Sie meine Gegenwart verunsichert, Eastlake«, sagte Don höhnisch. »Was paßt Ihnen an mir eigentlich nicht – die Tatsache, daß mein Gehirn den van aachenschen Lappen hat und Ihres nicht? Die Tatsache, daß ich weiterentwickelt bin?« »Dafür gibt es bisher keine überzeugenden Beweise, Carus«, erwiderte der Professor bissig. »Es kann auch nur eine Mißbildung sein.« »Blödsinn.« »Sie sind ein Clown, Carus. Sie sind um keinen Deut besser als diese Nichtstuer auf dem Festland. Und das Schlimme daran ist, daß Sie hier unter ernsthaften und pflichtbewußten Menschen leben.« »Und was nützt es diesem Planeten, daß sie so verdammt gewissenhaft und pflichtbewußt sind? Sie können doch nicht einmal –« »Meine Herren!« rief Liz dazwischen. »Sie können sich weiterstreiten, wenn ich Sie verlassen habe. Was ich jetzt brauche, sind Antworten auf ein paar Fragen. Professor, warum haben Sie mich überhaupt kommen lassen, wenn Sie mir nicht die ganze Wahrheit sagen wollten? Vielleicht nur, damit ich ein vorteilhaftes Foto von Ihnen für die Zeitungen mache?« »Sie verschwenden Ihre Zeit, Liz.« »Still, Don.« »Nein«, sagte Eastlake, »das stimmt nicht.«
»Sagen Sie's ihr, Eastlake«, sagte Don ruhig. »Sagen Sie ihr, was mit dieser uralten Menschenrasse wirklich geschah.« »Carus, so wahr mir –« »Weiter, Professor. Wenn Sie's nicht tun, tue ich es. Die Menschheit wird die Neuigkeiten schon verkraften. Sie ist nämlich anpassungsfähiger, als Sie glauben. Sie haben dem Durchschnittsmenschen doch noch nie auch nur ein Körnchen Verstand zugetraut.« »Was für Neuigkeiten?« fragte Liz. »Was geschah denn mit ihnen?« »Diese Menschen«, sagte Don, »starben nicht einfach plötzlich aus. Es gab überhaupt keine Seuche oder ein plötzliches Versinken ihres Kontinents. Sie veränderten sich. Sie entwickelten sich weiter. Bedenken Sie, Liz: der moderne Mensch entwickelte sich aus kleinen struppigen Halbaffen, die wie übergroße Eichhörnchen aussahen, und das über einen Zeitraum von ungefähr dreißig Millionen Jahren. Diese voll ausentwickelten Menschen lebten vor sechzig Millionen Jahren. Wenn sie noch existierten, sähen sie heute höchst wahrscheinlich völlig anders aus als damals. Sie hätten sich weiterentwickelt.« »Wollen Sie damit sagen, daß sie noch immer hier sind?« fragte Liz. »Sie sind draußen«, sagte Don. »Sehen Sie sie – wie sie neben dem U-Boot herschwimmen?« »Tümmler?« fragte Liz atemlos. »Sie meinen –« »Don hat recht«, sagte der Professor. »Seit langem weiß man, daß sich Wale und Delphine aus einem Landsäugetier entwickelt haben, das aus irgendwelchen Gründen vor etwa fünfzig bis sechzig Millionen Jahren Zuflucht im Meer nahm. Bisher wußte nie-
mand genau, welches Säugetier dies war.« »Liz«, ergänzte Don, »wir haben Skelettüberreste gefunden, die Sie nicht gesehen haben – Überreste aus einem Zeitraum von vielen Jahrhunderten. Sie zeigen den Übergang vom Land- zum Meeressäugetier.« »Das habe ich doch gewußt! Ich wußte, daß Sie mir nicht alles gezeigt haben!« »Und das ist die wahre Geschichte von Jonas«, sagte Don. »Haben Sie sich jemals gefragt, weshalb ihre Gehirne dem unseren so sehr ähneln?« »Als ihr Kontinent versank«, sagte Liz langsam, »suchten sie Zuflucht im Wasser.« »Genau wie wir es heute tun«, sagte Don, »allerdings aus anderen Gründen.« »Und das ist das Beunruhigende an unserer Entdeckung«, sagte Eastlake. »Das sind die großen Neuigkeiten, die wir für die Menschheit haben.« Das U-Boot durchbrach die Wasseroberfläche. Durch den Schaum wurde ein gelber Himmel sichtbar. Eine Zeitlang trieben sie neben der hexagonalen Anlegestelle, während sich ihnen vom Festland her eine Motorjacht näherte. Sie fuhr sehr schnell. »Das dürfte mein Schiff sein«, meinte Liz benommen. »Seht nur, wie komisch der Himmel aussieht ... er ist so gelb –« »Liz«, sagte Eastlake ernst, »die Nachricht, daß wir nicht die ersten Menschen auf diesem Planeten waren, wird eine Menge Leute schockieren. Bringen Sie es ihnen schonend bei.« »Professor«, sagte Liz, »sagen Sie mir noch eines: wird dies auch mit uns geschehen?«
»Wahrscheinlich nicht. Freilich kann man es auch nicht ausschließen.« »Liz«, unterbrach Don, »es wäre gar nicht so schlimm. Für Eastlake ist die Vorstellung einer solchen Veränderung einfach unerträglich. Aber es ist Evolution; wenn wir wie sie werden, berichtigt die Natur nur einen Irrtum und bringt die Dinge wieder ins Lot.« Auf der Motorjacht schrie ihnen jemand etwas zu. Don öffnete die Luke, und sie kletterten aufs Dock. »Liz«, sagte der Mann atemlos. »Kommen Sie an Bord. Schnell. Wir müssen den Flughafen erreichen, bevor uns die Schockwelle trifft.« »Was?« fragte sie verdutzt. »Krieg! Wir waren so mit unserer Arbeit beschäftigt, daß ich –« »Kommen Sie, schnell. Tut mir leid für Sie beide, aber meine Anweisungen gestatten mir nur, Miss Devlin mitzunehmen.« »Wir können selbst für uns sorgen«, sagte Don. »Ich hole Ihr Gepäck, Liz.« »Kann es sein?« flüsterte Eastlake. »Nach all dieser Zeit –« »Der Himmel«, sagte Liz und schaute hinauf. »Deswegen sieht er so merkwürdig aus.« »Beeilung, Liz«, sagte der Mann. »Auf der Hauptinsel wartet ein Flugzeug auf uns.« Don kam mit ihrem Gepäck zurück und warf es über die Bordwand der Motorjacht, während Liz inzwischen die Leiter hinaufkletterte. »Don«, sagte Eastlake, »wir müssen wieder hinunter und den anderen helfen.« »Professor, Don!« rief Liz vom Schiff herüber. »Ich
werde wiederkommen. Ich will alles erfahren, was Sie noch herausfinden.« Don nickte und winkte ihr zu. Es war jenes Nicken, mit dem er gewöhnlich Eastlake bedachte, wenn er gar nicht zuhörte, was der alte Mann sagte. Die Luft war heiß und feucht. Vom fernen Festland stieg eine schwarze Rauchwolke in den Himmel. Liz sah zu, wie das kleine U-Boot im Wasser verschwand. Nahe des Rings aus Luftblasen, den es hinterließ, sprang plötzlich ein Tümmler verspielt in die Luft und klatschte mit dem Schwanz über die Wasseroberfläche der blutwarmen See.
Originaltitel: THEY WHO GO DOWN TO THE SEA. Aus GALAXY 3/77
Gene Wolfe WESTWIND »... euch allen, meine innig geliebten Landsleute. Und ganz besonders – wie immer – meinen Augen, Westwind.« Eine Wand des dunstigen, stinkenden Raums begann zu flackern, und das magische Portal, das den Ausblick auf einen unfaßbar schönen Garten eröffnet hatte, begann sich zu umnebeln und zu verändern. Marmorspringbrunnen wogten wie Gras im Wind, und Rosenbäume, deren blumige Äste Perlen- und Diamantenschnüre tragen, verwelkten zu alten, schlaff gewordenen Valentinsgrüßen. Der Sessel des Herrschers nahm eine Bronzefärbung an, dann ein Dunkelbraun, und der Herrscher selbst, väterlich und verschmitzt, weise und unergründlich, machte eine Kette von Veränderungen durch. Erst wurde er zu einem Bild, dann zu einem Poster und zuletzt zu einer Briefmarke. Die hinkende alte Frau, die das Lokal führte, schaltete die Wand ab, und mehrere Leute protestierten. »Ihr habt gehört, was er gesagt hat«, sagte sie zu ihnen. »Ihr kennt eure Pflicht. Weshalb müßt ihr euch immer anhören, wie irgend so ein Einfaltspinsel vom Wahrheitsministerium dasselbe noch einmal sagt, nur mit anderen Worten und ausführlicher, und dann seinen Senf dazu gibt?« Die Schreier hatten ihre Haltung zum Ausdruck gebracht und waren jetzt still. Die alte Frau schaute auf die Uhr hinter der kleinen Bar, hinter der sie bediente.
»Spiel in zwanzig Minuten«, sagte sie. »Dann kommen die Leute, ob es regnet oder nicht, und verlangen Drinks. Wenn ihr welche wollt, bestellt ihr sie besser jetzt.« Nur zwei wollten: ungeschlachte, gemein aussehende Männer, die einem unehrenhaften Gewerbe nachgehen mochten. Einige Leute diskutierten bereits das kommende Spiel. Ein paar andere unterhielten sich über die Ansprache, die sie eben gehört hatten, nicht über ihren Inhalt, der den meisten von ihnen nicht viel bedeutet haben konnte, sondern über den Herrscher und seinen Garten; dabei machten anekdotenhafte Geschichten über den Hofklatsch ungezählter Zeitalter, die wohl aus hundertster Hand stammen mochten, die Runde. Die Tür ging auf, und der Sturm kam herein, und mit ihm ein junger Mann. Er war groß und schmal. Er trug einen durchnäßten Regenmantel und einen alten Filzhut und darüber einen durchsichtigen Plastikregenschutz, dessen Gummiband den abgeschrägten Hutrand nach unten bog und das Ganze wie eine fest über seinen Kopf gestülpte Glocke aussehen ließ. Eine Gesichtshälfte des jungen Mannes war ein einziges blaues Mal. Die alte Frau fragte ihn, was er wolle. »Sie haben Zimmer«, sagte er. »Das ist richtig. Und auch sehr billige. Sie sollten das mit etwas verdecken.« »Wenn es Sie stört«, sagte er, »schauen Sie nicht.« »Sie meinen wohl, ich muß an Sie vermieten?« Sie schaute zu ihren Gästen hinüber: um sich ihrer Zustimmung zu vergewissern, falls der junge Mann mit dem entstellten Gesicht ihr die Bemerkungen übelnehmen sollte. »Wenn Sie sich beschweren, brauche
ich nur zu sagen, wir sind belegt. Dann können Sie zum nächsten Polizeirevier gehen – das sind zwanzig Blocks – und vielleicht lassen sie Sie da in einer Zelle übernachten.« »Ich möchte ein Zimmer und etwas zu essen. Was haben Sie?« »Schinkensandwichs«, sagte sie. Sie nannte einen Preis. »Ihr Zimmer –« Sie nannte einen weiteren. »In Ordnung«, sagte er. »Ich möchte zwei Sandwichs. Und Kaffee.« »Das Zimmer kostet nur die Hälfte, wenn Sie es sich mit jemandem teilen – wenn Sie wollen, kann ich es ausrufen und feststellen, ob sich jemand eins teilen will.« »Nein.« Sie trennte den Verschluß einer Kaffeedose auf. Der Deckel sprang auf, und der Inhalt begann zu dampfen. Sie reichte sie ihm und meinte: »Ich vermute, man will Sie woanders nicht haben, was? Bei diesem Gesicht.« Er wandte sich von ihr ab, schlürfte seinen Kaffee und sah sich im Raum um. Die Tür, durch die er eben eingetreten war (noch immer floß Wasser von seinem Mantel herab, und er hatte welches in den Schuhen, das bei jeder seiner Bewegungen schmatzende und gluckernde Geräusche machte), ging erneut auf, und ein blindes Mädchen kam herein. Er sah, daß sie blind war, bevor ihm sonst etwas an ihr auffiel. Sie trug eine Brille mit schwarzen Gläsern, die bei dieser undurchdringlichen, verregneten Nacht allein schon Anhaltspunkt genug gewesen wäre, und als sie eintrat, starrte sie (im wahrsten und schrecklichsten Sinn des Wortes) ins Leere.
Die alte Frau fragte: »Woher kommen denn Sie?« »Von der Endstation«, sagte das Mädchen. »Ich bin zu Fuß gegangen.« Sie hatte einen weißen Stock, den sie vor sich hin und her schwenkte, als sie auf die Stimme der alten Frau zuging. »Ich brauche eine Schlafgelegenheit«, sagte das Mädchen. Sie hatte eine klare und melodische Stimme, und der junge Mann kam zu der Überzeugung, daß sie, auch bevor der Sturm ihr das Gesicht abgespült hatte, kein Make-up getragen hatte. Er sagte: »Hier werden Sie nicht bleiben wollen. Ich rufe Ihnen ein Taxi.« »Doch, ich will hier bleiben«, sagte das Mädchen mit seiner klaren Stimme. »Irgendwo muß ich ja bleiben.« »Ich habe ein Rufgerät«, sagte der junge Mann. Er machte den Mantel auf, um es ihr zu zeigen – ein schwarzer Kasten mit Lautsprecher, Tasten und einem winzigen Bildschirm – dann erkannte er, daß er sich selber zum Narren gemacht hatte. Jemand lachte. »Sie fahren nicht.« Die alte Frau fragte: »Was fährt nicht?« »Die Taxis. Oder die Busse. An vielen Stellen der Stadt ist Hochwasser, und sie fallen aus. Ich habe ebenfalls ein Rufgerät –« das blinde Mädchen faßte an seine Taille – »und vor wenigen Minuten erst hat der Herrscher eine Ansprache gehalten. Ich hörte ihm zu, als ich die Straße entlang ging, und danach kam eine Nachrichtensendung. Aber ich wußte es ohnehin, denn ein Gentleman versuchte von der Endstation aus, ein Taxi für mich zu rufen, aber sie wollten nicht kommen.«
»Hier sollten Sie nicht bleiben«, sagte der junge Mann. Die alte Frau sagte: »Ich habe ein Zimmer für Sie, wenn Sie es haben möchten – das einzige, das noch frei ist.« »Ich nehme es«, sagte das Mädchen. »Sie haben's. Gedulden Sie sich einen Moment – ich muß diesem Kameraden hier ein paar Sandwichs zurecht machen.« Jemand beschimpfte die alte Frau und meinte, daß das Spiel gleich anfangen würde. »Erst in fünf Minuten.« Sie holte eine Scheibe gekochten Schinken unter der Theke hervor, legte sie zwischen zwei Brotscheiben und wiederholte den Vorgang. Der junge Mann sagte: »Die sehen genießbar aus. Nicht gerade umwerfend, aber genießbar. Möchten Sie vielleicht eins?« »Ich habe etwas Geld«, sagte das blinde Mädchen. »Ich kann selbst für mich bezahlen.« Und zu der alten Frau: »Ich möchte gern etwas Kaffee.« »Wie wäre es mit einem Sandwich?« »Ich bin zu müde, um zu essen.« Die Tür ging jetzt fast pausenlos auf und zu. Leute aus den umliegenden Wohnhäusern strömten trotz des Regens herbei, um sich das Spiel anzuschauen. Die alte Frau stellte die Wand an, und sie drängten sich dicht bei ihr zusammen, sahen dem Vorspann zu und bereiteten sich innerlich schon auf das kommende Spiel vor. Der entstellte junge Mann und das blinde Mädchen wurden beiseite gedrängt und fanden sich plötzlich nahe bei der Tür wieder. In dem Raum war es jetzt
bis auf die Geräusche aus der Wand sehr still geworden. Der junge Mann sagte: »Dies ist wirklich ein mieses Lokal – Sie sollten sich eigentlich nicht hier aufhalten.« »Und was machen Sie hier?« »Ich habe nicht viel Geld«, sagte er. »Es ist billig.« »Sie haben keine Arbeit?« »Ich wurde bei einem Unfall verletzt. Jetzt geht es mir wieder gut, aber man wollte mich nicht weiterbeschäftigen – sie meinten, ich würde die anderen erschrecken. Ich nehme an, sie haben recht.« »Zahlt die Versicherung nicht?« »Ich war nicht lange genug dort, um einen Anspruch zu erwerben.« »Ich verstehe«, sagte sie. Sie hob ihre Tasse vorsichtig mit beiden Händen. Er wollte ihr sagen, daß sie gleich überlaufen würde – sie hielt sie nicht ganz gerade –, aber er hatte nicht den Mut. Gerade als sie den Punkt erreichte, an dem sie überlaufen würde, berührte sie ihre Lippen. »Sie sagten, Sie hätten dem Herrscher zugehört, als Sie durch den Sturm gingen«, sagte er. »Das finde ich gut.« »Haben die hier auch zugehört?« fragte sie. »Ich weiß es nicht. Ich war nicht hier. Als ich hereinkam, war die Wand abgestellt.« »Jeder sollte ihm zuhören«, sagte sie. »Er tut sein Bestes für uns.« Der entstellte junge Mann nickte. »Aber die Leute wollen nicht mithelfen«, sagte sie. »Sie wollen selbst nichts beitragen. Betrachten Sie nur die steigende Kriminalität – jedermann klagt darüber,
aber die Leute begehen die Verbrechen ja selbst. Die Luft und das Wasser hält er für uns sauber –« »Aber jedesmal, wenn sie glauben, daß sie nicht erwischt werden, machen sie Feuer im Freien«, vervollständigte er den Satz, »und werfen Unrat in die Flüsse. Ihm verdanken die Bosse ein Leben in Luxus, aber sie mißachten die Normen, wo sie nur können. Er sollte sie unschädlich machen.« »Er liebt sie«, sagte das Mädchen schlicht. »Er liebt jedermann. Wenn man das so sagt, klingt es, als wolle man sagen, er liebe niemanden, aber das ist nicht wahr. Er liebt jedermann.« »Ja«, sagte der entstellte junge Mann nach kurzem Zögern, »aber am meisten liebt er Westwind. Jedermann zu lieben schließt nicht ein, jemanden nicht mehr als andere zu lieben. Heute abend nannte er Westwind ›meine Augen‹.« »Westwind beobachtet für ihn«, sagte das Mädchen leise, »und berichtet ihm. Glauben Sie, daß Westwind jemand sehr Bedeutendes ist?« »Er ist bedeutend«, sagte der junge Mann, »denn der Herrscher hört ihm zu – immerhin ist es für jeden anderen fast unmöglich, eine Audienz zu bekommen. Aber ich glaube, Sie meinen, ›ist er eine bedeutende Persönlichkeit‹? Ich glaube nicht – er ist vermutlich eine sehr unbedeutende Person, von der Sie nie gehört haben.« »Ich glaube, Sie haben recht«, sagte sie. Er aß gerade sein zweites Sandwich auf und nickte deshalb nur, dann wurde ihm klar, daß sie ihn ja nicht sehen konnte. Sie war hübsch, fand er, schlank, nicht zu groß, und sie trug keine Ringe. Sie benutzte keinen Nagellack, und ihre Hände sahen wie die ei-
nes Schulmädchens aus, zumindest in seinen Augen. Er erinnerte sich daran, wie er den Mädchen beim Volleyballspielen zugesehen hatte, als er noch zur Schule ging – wie er sich nach ihnen gesehnt hatte. Er sagte: »Sie hätten heute nacht in der Endstation bleiben sollen. Ich glaube nicht, daß Sie hier gut aufgehoben sind.« »Kann man die Zimmer abschließen?« »Ich weiß es nicht. Ich habe sie noch nicht gesehen.« »Wenn nicht, stelle ich einen Stuhl oder sonst etwas unter die Türklinke. Oder ich verrücke die Möbel. In der Endstation versuchte ich auf einer Bank zu schlafen – ich hatte wirklich nicht die Absicht, bei diesem Regen hierher zu kommen, glauben Sie mir. Aber jedesmal, wenn ich gerade eingeschlafen war, spürte ich eine Hand auf mir – einmal bekam ich sie zu fassen, aber der Mann riß sich wieder los. Ich bin nicht sehr kräftig.« »War sonst niemand da?« »Ein paar Männer, aber sie versuchten ebenfalls zu schlafen – natürlich war es einer von ihnen, und vielleicht machten sie auch gemeinsame Sache. Einer von ihnen sagte den andern, daß er jemanden umbringen würde, wenn sie mich nicht in Ruhe ließen – das war, als ich fortging. Ich befürchtete, daß er es ernst meinte – daß jemand getötet werden oder es zumindest zu einem Kampf kommen würde. Er war derjenige, der das Taxi für mich rufen wollte. Er sagte, er würde es bezahlen.« »Dann glaube ich nicht, daß er es war.« »Ich auch nicht.« Das Mädchen war einen Augenblick lang still, dann sagte es: »Ich hätte mir nicht so
viel daraus gemacht, wenn ich nicht so müde gewesen wäre.« »Ich verstehe.« »Würden Sie die Wirtin suchen und sie bitten, mir mein Zimmer zu zeigen?« »Vielleicht könnten wir morgen zusammen frühstücken.« Das blinde Mädchen lächelte. Es war das erste Mal, daß der entstellte junge Mann sie hatte lächeln sehen. »Das wär schön«, sagte sie. Er trat hinter die Theke und machte die alte Frau auf sich aufmerksam. »Ich unterbreche das Spiel nur ungern«, sagte er, »aber die junge Dame möchte auf ihr Zimmer.« »Mich interessiert das Spiel nicht«, sagte die alte Frau. »Ich sehe bloß zu, weil alle zusehen. Obie kann mich so lange vertreten.« »Sie kommt«, sagte der entstellte junge Mann zu dem blinden Mädchen. »Ich gehe mit Ihnen hinauf. Ich werde ebenfalls zu Bett gehen.« Die alte Frau winkte ihnen bereits, und sie folgten ihr eine schmale Treppe hinauf, auf der es widerwärtig stank. »Sie pinkeln hierhin«, sagte sie. »Am Ende des Gangs sind Toiletten, aber es kümmert sie nicht.« »Wie schrecklich«, sagte das Mädchen. »Das ist es auch. Aber auf diese Weise können sie jemandem eins auswischen – sie legen mich rein, weil sie wissen, wenn ich sie erwischen würde, würde ich sie hinauswerfen. Ich versuche es auch, aber zugleich tun sie mir leid – es ist schon eine Schande, wenn die einzigen Siege, die man noch hat, darin bestehen, sich die Spiele an der Wand anzuschauen und einer alten Frau ein Schnippchen zu schlagen, indem man ihre
Treppe schmutzig macht.« Sie blieb oben stehen, um Atem zu holen. »Sie bekommen zwei nebeneinander liegende Zimmer – es stört Sie doch nicht?« Das Mädchen sagte: »Nein«, und der entstellte junge Mann schüttelte den Kopf. »Das hatte ich auch nicht angenommen, und es sind sowieso die letzten, die ich habe.« Der entstellte junge Mann schaute den Korridor entlang. Tür grenzte an Tür, die meisten waren geschlossen. »Ich gebe Ihnen dasjenige, das dem Badezimmer am nächsten ist«, sagte die alte Frau gerade zu dem Mädchen. »Die Badezimmertür hat einen Riegel, seien Sie also beruhigt. Aber wenn Sie zu lange darin bleiben, wird jemand anfangen, dagegen zu trommeln.« »Ich passe schon auf«, sagte das Mädchen. »Gewiß. Hier ist Ihr Zimmer.« Die Zimmer hatten einmal zu viel größeren Räumen gehört. Jetzt wurden sie von grün angestrichenen Trennwänden unterteilt, die aus irgendeinem festen Pappmaterial zu bestehen schienen. Die alte Frau trat in das Zimmer des Mädchens und machte Licht. »Das Bett ist hier, die Anrichte dort«, sagte sie. »Der Waschständer ist in der Ecke, aber Sie müssen sich das Wasser aus dem Bad holen. Wanzen gibt's keine – wir desinfizieren zweimal im Jahr. Die Bettücher sind sauber.« Das Mädchen befühlte die Türkante. Als ihre Finger eine Sicherheitskette entdeckten, lächelte sie. »Da ist auch noch ein Riegel«, sagte der entstellte junge Mann. Die alte Frau sagte: »Ihr Zimmer ist nebenan.
Kommen Sie.« Sein Zimmer ähnelte stark dem des Mädchens, nur war die Papptrennwand (sie war über und über mit obszönen Wörtern und Zeichnungen beschmiert worden) auf der linken statt auf der rechten Seite. Er stellte fest, daß er jede Bewegung des Mädchens dahinter hörte. Deutlich vernahm er das leise Klopfgeräusch ihres Stockes, als sie sich der Positionen von Bett, Anrichte und Waschständer vergewisserte. Er verriegelte die Tür, zog den durchnäßten Mantel aus und hängte ihn an einen Haken, dann zog er Schuhe und Strümpfe aus. Die Vorstellung, mit seinen nassen Füßen über den dreckigen Fußboden zu gehen, behagte ihm wenig, aber die einzige Alternative wären die durchweichten Schuhe gewesen. Er setzte sich mit untergeschlagenen Beinen aufs Bett, hakte dann das Rufgerät vom Gürtel los und wählte 123-333-4477, die Nummer des Herrschers. »Hier ist Westwind«, flüsterte der entstellte junge Mann. Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht des Herrschers, eine winzige, aber perfekte Abbildung. Wie schon so oft zuvor, hatte der junge Mann auch diesmal wieder das Gefühl, daß diese winzige, leuchtende Gestalt seine wirkliche Größe war – er wußte, daß es nicht stimmte. »Hier ist Westwind. Ich habe eine Unterkunft für heute nacht. Andere Arbeit habe ich noch nicht gefunden, aber ich habe ein Mädchen kennengelernt, und ich glaube, sie mag mich.« »Das sind erregende Neuigkeiten«, sagte der Herrscher. Er lächelte. Der entstellte junge Mann lächelte ebenfalls, aber
nur mit seiner unversehrten Gesichtshälfte. »Es regnet hier sehr heftig«, sagte er. »Ich glaube, dieses Mädchen ist Ihnen sehr ergeben, Sir. Der Rest der Leute hier – nun, ich weiß es nicht. Sie hat mir von zwei Männern in der Endstation erzählt, der eine belästigte sie, und der andere wollte sie beschützen. Ich wollte Sie eigentlich bitten, ihn zu belohnen und den anderen zu bestrafen, aber ich fürchte, es war ein und derselbe – weil er sie kennenlernen wollte und eine Gelegenheit suchte.« »Es ist oft ein und derselbe«, sagte der Herrscher. Er hielt inne, als wäre er in Gedanken vertieft. »Es geht dir gut?« »Wenn ich morgen nichts finde, werde ich mir keine Unterkunft mehr leisten können, aber ja, heute nacht geht es mir gut.« »Du beklagst dich nicht, Westwind. Ich liebe das.« Die unversehrte Gesichtshälfte des entstellten jungen Mannes wurde rot. »Es ist auch leicht für mich«, sagte er. »Mein ganzes Leben lang wußte ich, daß ich Ihr Spion, Ihr Vertrauter bin – das ist, als wüßte man, wo ein Schatz verborgen ist. Oft tun mir die andern leid. Ich hoffe, Sie sind nicht zu streng mit ihnen.« »Ich möchte dir nicht offen helfen, außer ich muß«, sagte der Herrscher. »Aber ich werde Mittel und Wege finden, um dir indirekt zu helfen. Sei unbesorgt.« Er zwinkerte. »Ich weiß das, Sir.« »Verpfände nur das Rufgerät nicht.« Das Bild verschwand und ließ einen leeren Bildschirm zurück. Der junge Mann machte das Licht aus und zog sich weiter aus. Er legte alles ab bis auf die Shorts. Er war gerade dabei, sich aufs Bett zu legen,
als er nebenan einen dumpfen Schlag hörte. Das blinde Mädchen mußte, als es im Zimmer umhertastete, gegen die Papptrennwand gestoßen sein. Er wollte schon rufen: »Haben Sie sich verletzt?«, als er sah, daß sich eine der Platten, ein Ausschnitt von vielleicht ein mal einem Meter, aus ihrer Einfassung gelöst hatte. Er fing sie auf, als sie herunterfiel, und legte sie auf den Boden. Im Zimmer des Mädchens brannte noch das Licht, das die alte Frau angemacht hatte, und er sah, daß sie ihren Mantel aufgehängt hatte und gerade ihr Haar mit einem Papierhandtuch vom Waschständer zusammenband. Während er zusah, nahm sie die Brille mit den schwarzen Gläsern ab, legte sie auf die Kommode und rieb sich den Nasenrücken. Eines ihrer Augen erwies sich als vollkommen weiß, die Iris des anderen hatte die Blaufärbung von verwässerter Milch, und es drehte sich immerzu nach innen und nach außen. Ihr Gesicht war wunderschön. Während er zusah, knöpfte sie die Bluse auf und hängte auch sie auf. Dann hakte sie ihr Rufgerät vom Gürtel los, fuhr mit den Fingern einmal über die Tasten und drückte, ohne hinzusehen, eine Nummer. »Hier ist Westwind«, sagte sie. Er konnte die Stimme, die ihr antwortete, nicht hören, aber das kleine und leuchtende Gesicht auf dem Bildschirm war das des Herrschers. »Es geht mir gut«, sagte sie. »Erst dachte ich, daß ich heute nacht keine Bleibe finden würde, aber es gelang mir doch. Und ich habe jemanden kennengelernt.« So sachte, wie er nur konnte, schob der entstellte junge Mann die Platte wieder zurück an ihren Platz und legte sich wieder aufs Bett. Als er erneut das
Klappern ihres Stockes vernahm, pochte er gegen die Trennwand und rief: »Wir sehen uns beim Frühstück morgen. Vergessen Sie es nicht.« »Bestimmt nicht. Gute Nacht.« »Gute Nacht«, sagte er. In dem Zimmer unter ihnen versuchte die alte Frau gerade, mit der einen Hand ihr widerspenstiges Haar zu bändigen, während sie mit der andern eine Nummer wählte. »Hallo«, sagte sie, »hier ist Westwind. Ich habe Sie heute abend auf dem Wandschirm gesehen.«
Originaltitel: WESTWIND. Aus THE BEST FROM IF Band 2
Charles Sheffield DAS SUPERDING Venusstation Samstag, den 24., 1430 Sehr geehrter Professor Benson, Der Entwurf für Gerald Mattins Biographie für Ihr Buch »Das Leben großer Wissenschaftler« ist fertig. Ich schicke ihn Ihnen gesondert zu. Ich bedaure es, ihn Ihnen erst jetzt zusenden zu können, aber es war nicht leicht, seine fünfundzwanzig Lebensjahre auf zwanzig Seiten zu komprimieren. Ihrem anderen Wunsch nach neuen »Episoden aus seinem Leben« und »Wie war er als Mensch?« aus der Zeit, als ich mit Mattin zusammen gearbeitet habe, war nicht leicht nachzukommen. Wie man so sagt, kannte ich ihn so gut wie jeder andere. Jedermann weiß, daß er mir das Leben auf Kosten seines eigenen gerettet hat, das ist also nichts Neues. »Wie würden Sie den wirklichen Gerald Mattin beschreiben?« fragen Sie. Den wirklichen Gerald Mattin? Ich bezweifle, daß man das in Worte fassen kann. Und könnte man es doch, würden Sie diese seine »persönliche Note« wohl kaum ihren jungen Lesern offerieren wollen. Was also soll ich sagen? Ich glaube, es ist am besten, wenn ich Ihnen hier – und dies geschieht zum erstenmal – die ganze Geschichte meiner Beziehung zu Mattin erzähle. Seien Sie nicht überrascht, wenn Sie mit dem Bild, das man sich im allgemeinen von ihm macht, nicht allzu sehr übereinstimmt. Und machen Sie sich keine Sorgen wegen der Biographie, die
ich Ihnen für Ihr Buch schicke – sie hält sich selbstverständlich an die offizielle Version von Mattin als dem großen und edelmütigen Wissenschaftler. Schließlich brauche ich das Geld. Vor fünfundzwanzig Jahren, als alles anfing, hatte ich noch meine Büros in der K-Street. Mein Geschäftspartner hatte sein Büro vor kurzem wegen eines Reinfalls bei einem waghalsigen Spekulationsgeschäft mit Pharmazieaktien aufgegeben. Er war jetzt beim Venus-Terraformierungsprojekt, drei Jahre Zwangsarbeit. Ich war gerade dabei, mich durch seine Geschäftsunterlagen und Klientenlisten durchzuwühlen, als Mattin hereingeschneit kam. Ohne Voranmeldung, versteht sich. Er hätte nicht im Traum daran gedacht, vorher einen Termin zu vereinbaren. Er platzte herein ohne anzuklopfen, fragte »Henry Carver?« und ließ sich, als ich nickte, ohne Aufforderung in einem Sessel nieder. Ich betrachtete ihn ohne sonderliche Begeisterung – als potentieller Klient wirkte er nicht gerade vielversprechend. Er war ungefähr vierundzwanzig, dünn wie eine Bohnenstange, hatte strähniges schwarzes Haar und ein Gesicht voller Pusteln. Er paffte eine schwarze Zigarre, die ebenso dünn und heruntergekommen aussah wie er selber. »Ich bin Gerald Mattin. Ich biete Ihnen die Chance, fünfzig Millionen Credits zu machen, Carver«, sagte er. Nun, man kann nicht immer nach der äußeren Erscheinung urteilen, und Höflichkeit kostet nichts. »Mr. Mattin, Sie haben zweifellos das Talent, andere Menschen aufhorchen zu lassen«, begann ich gewandt. »Aber Sie sind mir gegenüber im Vorteil. Sie
kennen meinen Beruf, ich aber den Ihren nicht. Aus welcher Branche kommen Sie?« »Ich habe ein System, mit dem man Gegenstände ohne Zeitverlust von einem Punkt zum andern transferieren kann. Ohne Energieaufwand, unter den richtigen Bedingungen. Entfernung spielt keine Rolle.« Wenn ich wissenschaftlich nur ein klein wenig bewanderter gewesen wäre, hätte ich ihn spätestens zu diesem Zeitpunkt vor die Tür gesetzt. Ich stöberte in meinem Gedächtnis nach Kindheitserinnerungen. »Sie meinen – Teleportation?« »Quatsch. Dies ist kein ›Denk dich an einen andern Ort‹-Blödsinn. Ich rede von echter Wissenschaft, solider Physik und hochentwickelter Technik. Schon mal was von Ernst Mach oder Minkowski oder Weyl oder E.A. Milne gehört?« Von Milne hatte ich gehört. In dem Zusammenhang fiel mir Eeyore ein, und ich kam zu der Überzeugung, daß Mattin übergeschnappt sein müsse. Ich schüttelte den Kopf, und das schien ihn zu befriedigen. »Gut. Ich suche einen Geschäftspartner, der von Wissenschaft nicht viel und von allgemeiner Relativitätstheorie gar nichts versteht. Wenn Sie die falsche Antwort gegeben hätten, wäre ich schon zur Tür hinausgegangen. Die Leute, von denen ich Ihre Adresse habe, waren davon überzeugt, daß sie eine fünftklassige Physikausbildung genossen hätten.« Er grinste niederträchtig. »Außerdem haben Sie einen Ruf als cleverer Anwalt und als ein Mann mit guten Kontakten zu Geldgebern und einer ausgeprägten Vorliebe für Credits. Aber reden wir übers Geschäft, es sei denn, Sie haben Einwände –?«
Er war unverschämt und arrogant. Aber er hatte fünfzig Millionen Credits erwähnt, und so was passiert einem nicht alle Tage. Ich unterdrückte meinen Ärger. »Mr. Mattin, ich gehe wohl richtig in der Annahme, daß Sie nicht zu mir gekommen sind, um mir unbegründete Beleidigungen an den Kopf zu werfen. Sie haben also eine Methode, mit der Sie Gegenstände versetzen können – einen Materietransmitter, könnte man vielleicht sagen. Nun, wenn Sie wollen, daß ich als Ihr juristischer Vertreter in Sachen Patentierungsrechte und Finanzierung mit Hilfe bestimmter Transportunternehmen auftrete, gilt es, vorab einige Formalitäten zu klären. Erstens, als Honorar für meine Arbeit verlange ich die übliche zehnprozentige Gewinnbeteiligung plus Ausgaben für Patentrechte, Gebühren, Spesen und so weiter.« »Carver, Sie sind komplett verrückt.« Er stand unvermittelt auf und ging zu dem Blumentopf am Fenster hinüber, um seine Zigarre in meinen preisgekrönten Begonien auszudrücken. Im stillen erhöhte ich mein Honorar auf elf Prozent. »Erstens, Sie kriegen zwei Prozent und keine Erstattung der Unkosten. Wenn Ihnen das nicht paßt, lassen Sie's bleiben. Zweitens, Sie halten mich wohl für so blöd, daß ich mir diese Sache patentieren lasse oder irgendeinem großen Transportmulti Gelegenheit gebe, die Finger da reinzustecken? Die Sache würde sofort publik werden, und der Ofen wäre aus, noch bevor ich ›piep‹ sagen könnte. Die großen Bosse würden sich die Hände reiben und den Profit einstecken.« Er schien an Verfolgungswahn zu leiden. Ich ließ meine anfängliche Idee, ihn an General Transportati-
on zu verkaufen, fallen, und er fuhr fort. »Was glauben Sie wohl, weswegen ich Ihnen eine Beteiligung anbiete? Wegen Ihres schönen Lächelns oder Ihrer juristischen Vollmachten? Ich will es Ihnen sagen. Ich will, daß Sie diese Sache organisieren. Verkaufen Sie vierzig Prozent Anteile an eine Gruppe, die zur Zeit nicht im Transportgeschäft tätig ist, aber gern einsteigen würde, sofern sie einen fetten Brokken wittert. Das ist Ihr Job das Geld ranschaffen. Wenn Sie das nicht können, sagen Sie's gleich, und wir brauchen nicht gegenseitig unsere Zeit zu verschwenden.« Ich überlegte eine Weile. Mattin hatte sich wieder gesetzt, rutschte aber ungeduldig in seinem Sessel hin und her. Es konnte vielleicht klappen. Zuerst würden wir ein Arbeitsmodell brauchen – die Gruppe, die ich im Auge hatte, würde schlagkräftige Beweise verlangen, daß sie sich auf ein profitträchtiges Geschäft einließ. Und ich mußte vorher noch eine Menge mehr über diese Sache wissen. Die geschäftliche Seite der Angelegenheit würde ohnehin ich erledigen müssen. Mattin, soviel war inzwischen klar geworden, war dafür ungeeignet. Ich nickte langsam. »Wollen mal sehen. Wieviel Geld brauchen Sie für den Anfang?« »Eine Million Credits – vielleicht anderthalb.« »Um das Transportunternehmen zu gründen?« fragte ich. Er lachte. »Von wegen. Das reicht gerade für die notwendigen Versuche – danach brauchen wir dann das große Geld.« Er war irrsinnig, entschied ich. Eine Million Credits für einen Test. Er bemerkte wohl meinen Gesichts-
ausdruck, denn er wurde etwas umgänglicher. »Schauen Sie, Carver, ich muß Ihnen diese Sache ein wenig näher erklären. Es handelt sich um ein völlig neues Prinzip. Genau genommen braucht man für den Transfer nur dann keine Energie, wenn er in einem strikt Lorentzschen Raum/Zeitgefüge stattfindet. Wo Raumkrümmungen sind – Materie – braucht man Energie, selbst dann, wenn die verbindenden Transferierungspunkte sich in zeitgleichen Inertialsystemen befinden. Wo das nicht der Fall ist, sich die Transferierungspunkte aber auf einer Newtonschen Äquipotentialfläche befinden, braucht man weit mehr Energie – und der Energieverbrauch steigt ins Unermeßliche, wenn sich die verbindenden Transferierungspunkte nicht allesamt in einer perfekten symmetrischen Anordnung befinden.« Zu dieser Zeit und noch lange Zeit danach war diese Rede das reinste Kauderwelsch für mich. Mein Gedächtnis ist alles andere als perfekt, aber ich weiß genau, welche Worte Mattin gebraucht hatte – schon seit langem war es mir zur Gewohnheit geworden, alle Gespräche, die in meinem Büro geführt wurden, in voller Länge auf Band aufzuzeichnen. Das hat mir in der Vergangenheit mehr als einmal den Kopf gerettet. Ich schüttelte den Kopf. »Mr. Mattin, Sie sprechen in Rätseln. Drücken Sie sich doch bitte deutlicher aus.« Er herrschte mich an. »Deutlicher, Sie Kretin! Ich habe es doch nun schon wirklich einfach genug erklärt.« Er beherrschte sich und schluckte mehrmals. »Aber ich fasse es für Sie in noch einfachere Worte. Das endgültige Ziel ist, das Mattin-Ringsystem auf der gesamten Erdoberfläche zu etablieren. Aber dazu
ist enorm viel Energie und ein Haufen Geld nötig. Das können wir also vorläufig noch nicht angehen. Es ist auch nicht möglich, ein praktikables System draußen im Weltall zu errichten, weil die relativen Entfernungen zwischen den Eintrittspunkten sich laufend verändern. Was wir tun müssen ist, es im Weltraum zu testen, und zwar für den einfachst möglichen Fall – vier Eintrittspunkte in einer Tetraeder-Konfiguration. Trotzdem werden wir uns etwas einfallen lassen müssen, um die Entfernungen zwischen den Eintrittspunkten lange genug stabil zu halten, um den Transfer zu ermöglichen. Aber es läßt sich machen – ich habe es durchkalkuliert. Sobald wir das System dann im Weltall demonstriert haben, werden wir leicht die nötige finanzielle Unterstützung erhalten, um das große Betriebsnetz hier auf der Erde zu errichten.« So langsam bekam ich eine vage Vorstellung von dem, was er meinte. Aber etwas störte mich daran. Mattin hatte kein funktionstüchtiges Modell, also nichts, was wir den potentiellen Geldgebern vorweisen konnten. Eine Million Credits, noch bevor wir überhaupt etwas demonstrieren konnten. Und noch dazu im Weltraum – immer eine gute Methode, um die Kosten in die Höhe schnellen zu lassen. Ich fragte mich, ob ich wohl noch bei Sinnen war, daß ich Mattin überhaupt zuhörte. »Können Sie nicht ein kleines Arbeitsmodell bauen, hier, auf der Erde?« fragte ich. »Nur um das Prinzip zu veranschaulichen?« »Ausgeschlossen. Bei einem erdgebundenen System müssen alle Eintrittspunkte bezüglich des Mas-
semittelpunktes praktisch symmetrisch sein – wie ich schon sagte, sie müssen sich auf einer Äquipotentialfläche befinden und perfekt symmetrisch zueinander angeordnet sein.« Er schüttelte den Kopf. »Selbst das einfachste System mit vier Kettengliedern würde auf der Erde eine horrende Menge Energie verschlingen. Das ist ein physikalisches Grundgesetz – das System wäre ohne es gar nicht denkbar. Entweder der Test findet im All statt oder nirgendwo. Also, wie lange brauchen Sie, um die nötigen Mittel aufzubringen?« Ich schaute ihn traurig an und schüttelte dann wieder den Kopf. »Es ist so gut wie unmöglich. Ohne Patente, ohne Arbeitsmodelle, mit nichts als einer Idee werden wir niemals finanzielle Unterstützung erhalten.« Mattin starrte mich ausdruckslos an. »Pech für Sie, Carver«, sagte er. »Dann wird wohl nichts aus Ihren fünfzig Millionen Credits.« Ich will Ihnen gar nicht erst erzählen, wie ich das Geld zusammenbekam, Professor Benson. Mir wird heute noch schlecht, wenn ich nur daran denke. Können Sie sich vorstellen, wie man Millionen Credits auftreiben soll, wenn man nichts weiter vorzuweisen hat als eine abenteuerlich klingende Idee und einen Hauptakteur, der so sehr an Verfolgungswahn litt, daß er die Details seines Systems nur Leuten darlegen wollte, von denen er überzeugt war, daß sie nichts davon begriffen? Und keinerlei Arbeitsmodelle, technische Zeichnungen oder Patente. Ich tat es. Ich glaube nicht, daß ich es noch einmal tun würde, selbst wenn ich es könnte, aber damals tat ich es. Wie sich herausstellte, gibt es immer wieder
Menschen, die reich und geldgierig genug sind, daß sie sich von der Aussicht auf Milliardenprofite verlocken lassen, selbst wenn die Sache ein paar Haken hat. Aber andererseits waren meine Geldgeber auch keine Neulinge im Spekulationsgeschäft. Sie machten mir unmißverständlich klar, welches Schicksal mich erwarten würde, wenn das MattinRingsystem nicht hielt, was ich versprach. Aber innerhalb von zehn Wochen hatte ich die Papiere – soweit man sie so bezeichnen kann. Unsere Sponsoren hielten nicht allzu viel von schriftlichen Vereinbarungen. Ich rief Mattin an, und er kam ins Büro. Genau wie die Geldgeber mied auch er Videofongespräche aus Sicherheitsgründen. Als er hereinkam, war er so mürrisch und verdrossen wie gewöhnlich. Kühl und gelassen konzentrierte er sich dann auf die Vereinbarungen. Wie Sie sich vorstellen können, hatte ich mich über Mattin natürlich eingehend erkundigt. Niemand hatte bestritten, daß er ein Genie war – und ein Irrer. Den ersten Beweis dafür erhielt ich, als ich Zeuge wurde, wie er während einer einzigen Sitzung in meinem Büro all die verwickelten finanztechnischen Details unserer Vereinbarung gelassen in sich hineinschlang. Gleich anschließend stellte er mir einen Haufen Fragen über unsere Sponsoren. Er verdaute die neuen Informationen mit derselben Schnelligkeit und reichte mir dann ein eigenes Schriftstück. »Ich bin mir durchaus darüber im klaren, wie wertvoll ich für Ihre Freunde noch sein werde, wenn das System erst einmal funktioniert und ihnen die Methode bekannt ist«, sagte er. »Deshalb habe ich eine kleine Lebensversicherung abgeschlossen.«
Er hatte den richtigen Riecher. Sobald sich seine Erfindung als praktikabel erwiesen hatte, wäre er entbehrlich, was auch für mich galt. Das Schriftstück, das er mir gegeben hatte, war die Kopie eines Dokuments, das er bei der Zentralbank hinterlegt hatte. Sein Inhalt war ziemlich kurz. Falls Gerald Mattin vor Ablauf eines Zeitraums von fünf Jahren, gerechnet vom Datum der ersten erfolgreichen Demonstration der Mattin-Ringtransfersystems an, sterben sollte, würden alle Rechte an der Erfindung – meine, die von Mattin und die der Geldgeber – samt und sonders und für alle Zeiten an die Weltregierung übergehen. »Wieso meine fünf Prozent auch?« beklagte ich mich. »Sie wissen doch, daß Sie sich auf mich verlassen können.« (Ich vergaß zu erwähnen, daß ich meinen Anteil Prozent um Prozent gesteigert hatte, als die Sache ernst zu werden begann – und ich hatte mir jedes Bruchteil eines Prozents ehrlich verdient. Mattin war klug genug, um zu wissen, wann er ein bißchen zulegen mußte, um mich bei der Stange zu halten.) Mattin betrachtete mich so neugierig, als habe er ein seltenes Insekt vor sich. »Sicher«, sagte er, »weiß ich das.« Ich verfolgte das Thema nicht weiter, aber ich erzählte den Geldgebern auch nichts von dem Dokument. Möglich, daß sie Mattin nach der erfolgreichen Demonstration umbringen ließen; mich aber hätten sie ohne mit der Wimper zu zucken schon vorher umgebracht, wenn sie herausbekommen hätten, daß ich einen Handel mit ihnen abgeschlossen hatte, der sie auch bei Mattins zufälligem Tod um ihre Anteils-
rechte bringen würde. Diese feinen Herren begnügten sich nicht mit zeitweiligen Lösungen. Außerdem war ich mir sicher, sie davon überzeugen zu können, daß ihnen Mattin lebend mehr nützen würde. Jedenfalls hatten wir das Geld für die Versuche. Ich tätigte alle Käufe – die Rümpfe von vier alten Frachtern, die sich schon in einer Umlaufbahn befanden, vier Reaktoren und das Minimum an Ausrüstung. Mattin baute an einem geheimen Ort vier MattinRingtransfergeneratoren, einen für jedes Frachtschiff. Er berechnete für jedes exakte Umlaufbahnen und den genauen Zeitpunkt, an dem die vier Ringfelder aktiviert werden konnten, was ja nur möglich war, wenn sich die Rümpfe im freien Fall und genau an den Spitzen des Tetraeders befanden. Schließlich ersann er noch ein Testpaket für den eigentlichen Transfer. Es war so konzipiert, daß man die Kräfte, die während des Transfers auf es einwirkten, daran ablesen konnte. Theoretisch müßten sie gleich null sein, behauptete Mattin – Massenträgheit oder Beschleunigungsfaktoren spielten bei Ringtransferprozessen keine Rolle. All dies dauerte sechs lange Monate, aber wir wurden termingerecht fertig. Ich nahm zu, und meinen Magengeschwüren erging es nicht besser. Mattin wurde dünner als je zuvor, und er kaute ständig an den Fingernägeln. Wir heuerten drei Besatzungen für die Rümpfe an, den vierten wollte Mattin selbst steuern – den mit dem Experimentierpaket, das durch das Ringsystem geschleust werden sollte. Er gab den Besatzungen gerade so viel Instruktionen, daß sie praktisch nichts damit anfangen konnten – er befürchtete,
sie könnten sonst zuviel aufschnappen. Die MattinRingfelder würden alle über ein Computersignal von Mattins Schiff in der richtigen Mikrosekunde aktiviert werden. Schließlich kam der große Moment. Weil ich für den Weltraum noch nie etwas übrig hatte, zog ich es vor, das Geschehen über einen Videoschirm in meinem Büro in der K-Street zu verfolgen. Ich saß an meinem Schreibtisch und beobachtete die Digitalanzeige. Der Countdown lief. Die Spannung war unerträglich. Schließlich, nach einigen Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, kam die Stunde Null. Und verstrich. Nichts. Das Testpaket lag unbewegt in der Ringtransferzone. Ich wartete und zerschnitzelte Papiertaschentücher, während die Minuten sich dahinschleppten. Nichts. Als ich schließlich so weit war, daß ich vor Wut hätte laut aufschreien können, erschien Mattin auf dem Schirm. »Irgend etwas stimmt nicht«, sagte er. Das hätte ich ihm auch sagen können. Im Gegensatz zu mir schien er nicht im geringsten beunruhigt. »Der Fehler liegt bestimmt an der Phasenkontrolle. Sagen Sie den Geldgebern, daß wir zur Erde herunterkommen müssen, damit ich es mir ansehen kann.« Vielleicht war ich in manchen Dingen nicht so clever wie Mattin, aber in anderen war ich ihm dafür weit voraus. Ich hatte mich gehütet, unseren Sponsoren mitzuteilen, wann der Test stattfinden würde. Ich saß da und beglückwünschte mich zu meiner weisen Voraussicht. »Wann können Sie den nächsten Versuch starten?« fragte ich. Er zuckte die Achseln. »In einem Monat, vielleicht
in zwei – schwer zu sagen.« Damit begann die schlimmste Zeit meines Lebens. Sieben Fehlschläge, Professor Benson. Sieben! Es war einfach haarsträubend. Jeder Countdown in meinem Büro war für mich wie die Augenblicke vor einer Hinrichtung. Vom dritten Versuch an gelang der Transfer, aber die Testapparatur wurde entweder von innen nach außen gestülpt, zerschmolzen oder pulverisiert (Versuche drei, vier und fünf). Beim sechsten Versuch kam die Apparatur als heiles Stück durch – ein wenig verbeult zwar, aber nicht allzu schlimm. Unglücklicherweise hatten wir unseren Geldgebern versprochen, daß man mit dem MattinRingtransfersystem auch Menschen transportieren könne, und natürlich erwarteten sie, genau dies vorgeführt zu bekommen. Beim siebten Versuch schien Mattin mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Diesmal befand er sich in dem Frachtschiff, in dem die Testapparatur ankommen würde. Er trat an den Bildschirm und machte ein Siegeszeichen. »Die Apparatur ist gut durchgekommen. Alle Meßgeräte funktionieren noch. Aber ich muß trotzdem noch daran arbeiten.« »Wieso das? Ich denke, es funktioniert?« Ich konnte die Testapparatur auf dem Videoschirm sehen, offenbar war sie in gutem Zustand. Dann sah ich genauer hin. Direkt neben der Apparatur lagen ein großer grauer Pfannkuchen und ein Ding, das wie ein langer haariger Wurm aussah. »Was sind denn das für Dinger?« »Nun ja, ich sagte doch, daß ich noch ein bißchen daran arbeiten muß«, meinte Mattin ein wenig verle-
gen. »Ich glaube, mit der Phasengleichheit stimmt es noch nicht so ganz. Schauen Sie nur, was mit den Ratten geschehen ist, die wir diesmal mitgeschickt haben.« Ich betrachtete mir die haarigen Dinger noch einmal, dann riß es mich aus meinem Sessel, und ich mußte durch mein Büro zu dem einzigen in Reichweite befindlichen Behälter rennen, um mich zu übergeben. Unglücklicherweise war dies der Topf mit meinen preisgekrönten Begonien. »Weiter kein Problem«, meinte Mattin gutgelaunt. »In einer Woche sollten wir das hingekriegt haben.« Doch vorher sollte ein neues Problem auftauchen. Unser Geld wurde langsam knapp, und unseren Geldgebern riß langsam der Geduldsfaden. Ich wurde zu einer Konferenz zitiert, die hinter der Bühne des Opernhauses von Mexico City stattfinden sollte. Einer unserer Geldgeber war in dieser Branche tätig. Die Nachricht, die ich erhielt, war knapp, aber präzise. Es würde kein Geld mehr geben, aber dafür gewaltigen Ärger, wenn wir nicht augenblicklich einen Erfolg vorweisen konnten. Ich redete – um mein Leben. Ich schwor, daß wir fast so weit wären, daß wir nur noch ein paar Wochen brauchten und nur noch einen einzigen Test. Ich mußte geschlagene drei Stunden in den kalten, verlassenen Garderoberäumen warten. Schließlich wurde mir mitgeteilt: zwei Wochen Zeit und kein Geld mehr. Wir würden selbst welches auftreiben müssen. Ich wußte, was uns erwartete, wenn wir scheiterten. Ich erzählte Mattin von der unerfreulichen Nachricht, und wir erwogen unsere begrenzten Möglichkeiten.
»Wir brauchen folgendes«, sagte er. »Erstens einen neuen Frachter und Reaktor, weil bei einem der Mietvertrag abgelaufen ist und wir ihn nicht erneuern lassen können. Dafür brauchen wir Geld, denn den müssen wir haben. Andererseits brauchen wir eigentlich nicht auf allen Schiffsrümpfen Besatzungen. Sie tun ja sowieso nichts, weil der ganze Prozeß computergesteuert ist. Das könnten wir leicht allein arrangieren.« Ich bekam plötzlich ein komisches Gefühl im Magen. »Was soll das heißen, ›wir‹? Sie erwarten doch hoffentlich nicht, daß ich mit hinauf ins All gehe? Sie wissen doch, ich habe einen empfindlichen Magen.« »Hören Sie zu, Carver. Sind Sie fest davon überzeugt, daß dieser Versuch gelingen wird?« fragte er. »Ich bin es, aber wie steht es mit Ihnen?« Ich ließ mir das durch den Kopf gehen und verneinte dann. »Es wird garantiert schiefgehen, ich wette zehn zu eins.« »Gut. Wo wären Sie lieber, wenn es schiefgeht – hier, mit den Geldgebern im Nacken, oder dort oben, mit einer guten Chance, zur Mondbasis oder zum Venus-Terraformierungsprojekt zu entkommen?« Mattin war ein Ekel, aber an seinen Argumenten war nicht zu rütteln. Ich kratzte alles zusammen, was von unseren mageren Finanzen noch übrig war, und ging los, um mit den freundlichen Leuten von der Raumschiffgesellschaft zu feilschen. Wir bekamen ein Frachtschiff und einen Reaktor. Sie waren so billig, daß etwas mit ihnen nicht in Ordnung sein konnte. Aber ich hatte keine Wahl. Ich unterzeichnete einen kurzfristigen Mietvertrag und benachrichtigte Mattin. Er war bereit. Und ich hatte nun
keine Ausrede mehr. Wir starteten am nächsten Morgen. Die Frachterhülle mußte aus ihrer Parkbahn geholt und der Reaktor an Bord gebracht werden. Falls Sie noch nie im Weltall gewesen sein sollten, Professor Benson, nehmen Sie sich meinen Rat zu Herzen und lassen Sie es bleiben. Der freie Fall verursacht ständigen Brechreiz, es ist, als leide man an einer andauernden Seekrankheit. Nachdem wir uns samt Ausrüstung in der Frachterhülle eingerichtet hatten, gab es für mich nichts mehr zu tun. Also grübelte ich über meine allgemeine Misere und die unbekannten Gefahren des Weltraumflugs nach. Während ich damit beschäftigt war, besah sich Mattin stirnrunzelnd den gemieteten Reaktor. »Wieviel haben Sie für das Ding bezahlt?« fragte er. »Alles, was wir hatten.« »Hm, den Anzeigewerten nach zu urteilen, dürfte das Ding gleich in die Luft fliegen. Sobald wir den Ringtransfer durchgeführt haben, muß er abgestellt werden – er ist nicht sicher.« Das hatte mir noch gefehlt. »Und was ist, wenn er schon vorher verrückt spielt?« fragte ich. »Wir begeben uns in das abgeschirmte Abteil«, erwiderte Mattin. »Es ist zwar eigentlich zum Schutz gegen heftige Sonnenstürme gedacht, aber es wird auch mit einem hochgehenden Reaktor fertig.« Ich sah mir das abgeschirmte Abteil einmal an. Für einen bot es ausreichend Platz, aber zu zweit würde es verdammt eng werden. Am andern Ende des Schiffes waren die Gerätschaften für das Mattin-Ringfeld aufgestellt worden. Eine blaue Linie, die Mattin gezogen hatte, markierte
den Bereich, in dem das Feld seine Aktivität entfalten würde. Dort war auch die Testapparatur sorgfältig angebracht worden. Mattin fütterte den Computer mit den Daten für die letzten Bahnkorrekturen für die Schiffsrümpfe. Mir war inzwischen ein neuer Gedanke gekommen, der mich beunruhigte. Das MattinRingtransferfeld verschlang eine Menge Energie. Ich hatte so das Gefühl, als könnte das unserem angeschlagenen Reaktor den Rest geben. Eigentlich sollte ich die Anzeigeinstrumente im Auge behalten, aber ich hatte ja nicht die geringste Ahnung, was die einzelnen Werte bedeuteten. Es kam mir sowieso so vor, als wären viele von ihnen weit in den roten Zonen. Mattin wurde mit seiner Arbeit fertig und kam wieder zu mir herüber. »Wie hält er sich? Wir haben noch etwas weniger als anderthalb Minuten bis zum Transfer«, sagte er. Dann beugte er sich über die Anzeigeinstrumente des Reaktors. Er riß die Augen auf und wandte sich abrupt mir zu. »Ich dachte, Sie würden das Ding im Auge behalten. Er hat die Toleranzwerte weit überschritten. Er wird wahrscheinlich nicht einmal bis zum Transfer halten – er kann jede Sekunde explodieren.« Mattins Lagebeurteilung genügte mir völlig. Ohne auch nur einen zweiten Blick auf die Anzeigeinstrumente zu werfen, drehte ich mich um und begann meinen Flug zum abgeschirmten Abteil. Eins mußte man Mattin lassen, er war mir im Denken immer eine ganze Ecke voraus. Während ich kaum angefangen hatte, war er schon halb drüben, und mein Mangel an Erfahrung im freien Fall verlangsamte mich noch zusätzlich. Als ich herankam, hatte er sich schon in das Abteil gezwängt. Er drehte
sich um und lehnte sich mit dem Rücken gegen die hintere Wand. Als ich näherschwebte, zog er, anstatt mir Platz zu machen, damit ich hinein konnte, die Beine an und gab mir einen kräftigen Tritt gegen die Brust. Der Stoß warf mich zurück, und ich schwebte, mich überschlagend, den Weg, den ich gekommen war, wieder zurück. Vergebens suchte ich nach einem Halt. Eins der Dinge, die man nicht erfährt, wenn sie einen ins All schicken ist, wie langsam die Zeit vergehen kann. Ich schwebte durch den Schiffsrumpf auf die Mattin-Ringtransferzone zu, aber es geschah unglaublich langsam. Ich strampelte mit Armen und Beinen, schrie und brüllte, aber nichts von alledem hatte auch nur den geringsten Einfluß auf meine Bewegung. Als sich mein Körper so weit gedreht hatte, daß ich das abgeschirmte Abteil wieder sehen konnte, stellte ich fest, daß Mattin die Tür fest verschlossen hatte. Ich bezweifelte, daß er sie von sich aus noch einmal öffnen würde, um zu sehen, wie es mir erging. Er würde wohl erst abwarten, ob der Reaktor wirklich explodierte. Ich versuchte einen Blick auf die Countdown-Anzeige zu werfen, um festzustellen, wie lange es bis zum Transfer noch dauern würde, aber aus meinem Blickwinkel konnte ich sie nicht erkennen. Als ich schließlich gegen das Schott am andern Ende des Rumpfes prallte, hatte ich keine Ahnung, wieviel Zeit mir noch blieb. Subjektiv schien eine Ewigkeit vergangen zu sein. Tatsächlich hatte mein Flug wahrscheinlich höchstens eine Minute gedauert. Ich hielt mich am Schott fest und überdachte rasch meine Möglichkeiten. Wenn ich mich nicht beeilte, aus der
Transferzone herauszukommen, würde ich in ein paar Sekunden ein großer, rosa Pfannkuchen oder eine lange rosa Wurst sein. Oder, falls der Reaktor vorher hochging, würde ich gebraten werden. Oder – ein kühnes Unterfangen – ich brachte es irgendwie fertig, noch rechtzeitig zum abgeschirmten Abteil zu gelangen, die Tür zu öffnen und mich zu Mattin, diesem Schwein, hineinzuzwängen. Ich entschied mich für letzteres. Ich stieß mich mit den Beinen kräftig vom Schott ab und schwebte auf das andere Ende des Rumpfes zu. Ich war noch keine Sekunde unterwegs gewesen, als drei Dinge geschahen. Zuerst nahm alles in meiner Umgebung einen blaßrosa Farbton an. Dann erhielt ich einen gewaltigen Schlag auf den Kopf. Und schließlich krachte etwas mit aller Gewalt gegen meine Brust und Trommelfelle. Dann war ich weg und hatte ein bißchen Ruhe. Als ich wieder zu mir kam, hatte sich nicht viel gebessert. Kopf und Brust schmerzten noch immer, und die Augäpfel taten mir weh – ich hätte nicht gedacht, daß so was möglich ist. Aber immerhin schien ich in einem Bett zu liegen und weder in einen Pfannkuchen noch in eine Wurst verwandelt worden zu sein. Mit meinen Ohren stimmte etwas nicht, aber ich konnte leise Stimmen in meiner Nähe hören. »Ich glaube, er kommt zu sich. Holen Sie einen der Ärzte.« Ich zwang mich, meine schmerzenden Augen aufzumachen, und versuchte mich aufzurichten. »Nicht bewegen, Mr. Carver.« Ich drehte den Kopf, um zu sehen, wer der Sprecher an meinem Bett war. Ein Mann in der Uniform des Raumrettungsdienstes.
»Sie haben Glück, daß Sie noch am Leben sind. Irgendwie erlitten Sie eine explosionsartige Druckverminderung von zehn Kilopond pro Quadratzentimeter, und Sie hätten sich fast den Schädel an einer Stahlwand eingeschlagen. Es sah so aus, als wären Sie mit dem Kopf voran direkt dagegen gesprungen. Sie hatten Glück, daß das automatische Notsignal ausgelöst wurde und uns alarmierte. Bleiben Sie liegen und ruhen Sie sich aus.« Ich legte mich zurück und schloß die Augen. Unglaublich, das Mattin-Ringsystem hatte funktioniert. Ich mußte mitsamt der Wucht meines Sprungs in das andere Schiff übertragen worden und dort geradewegs gegen eine Wand geprallt sein. Warum hatte es dieser Schwachkopf Mattin versäumt, den Luftdruck in beiden Schiffen anzugleichen? Mattin, dieses feige, hartherzige Monstrum! Mich draußen zu lassen, während er sicher und geborgen im strahlengeschützten Abteil saß. Meine aufkommende Wut gab mir die Kraft, erneut die Augen zu öffnen und mich halb aufzurichten. »Wo ist Gerald Mattin?« fragte ich. Meine Stimme klang heiser und krächzend. »Er war in dem anderen Schiff.« Vergeblich sah ich mich in dem Raum nach ihm um. Ich hatte verdammt große Lust, ihm gründlich die Meinung zu sagen. Die drei Männer, die sich mit mir im Raum befanden, tauschten wortlos Blicke aus. Sie schienen irgendwie verlegen und gehemmt. Schließlich sprach der Mann vom Raumrettungsdienst. »Ich wünschte, wir hätten erfreulichere Nachrichten für Sie, Mr. Carver. Das Schiff, in dem sich Mr. Mattin befand, hatte einen defekten Reaktor. Mr.
Mattin begab sich in das abgeschirmte Abteil. Aus Gründen, die wir nicht kennen, war jedoch überhaupt keine Abschirmung vorhanden. Ihr Freund starb, als der Reaktor explodierte.« Ich sank auf das Kissen zurück und schloß erneut die Augen. Geschieht dem Bastard recht. Wenigstens wußte ich jetzt, warum die Frachterhülle, die wir gekauft hatten, so spottbillig gewesen war. Strahlenschutzmaterial ist teures Zeug, und kein Zweifel, irgend jemand hatte einen guten Preis dafür erzielt. Mattin war geröstet worden, und das hatte er zweifellos auch verdient. Bevor sich ein Ausdruck der Genugtuung auf mein Gesicht stehlen konnte, kam mir ein neuer Gedanke. Mattin war tot! Das Ringsystem mußte vor seinem Tod erfolgreich gearbeitet haben, oder ich wäre ebenfalls geröstet worden, als der Reaktor versagte. Und das bedeutete, daß das von ihm bei der Zentralbank hinterlegte Dokument in Kraft trat. Nun besaß die Regierung alle Rechte am Mattin-Ringsystem, und ich – und unsere Geldgeber – hatte das Nachsehen. An Mattin konnten sie ihre Wut nicht mehr auslassen, aber dafür war ich ja noch da. Und ich besaß keine zwei Credits mehr – für den letzten Versuch war mein gesamtes restliches Vermögen draufgegangen. Meine augenblicklichen Schmerzen und Qualen schienen mir mit einem Mal bedeutungslos im Vergleich zu denen, die mich in naher Zukunst erwarten würden. Ich überlegte, ob es nicht einen Weg für mich gab, zum Venus-Terraformierungsprojekt zu gelangen, ohne noch einmal zur Erde zurück zu müssen. Meine innere Qual mußte mir deutlich vom Gesicht
abzulesen gewesen sein. Als ich die Augen wieder aufmachte, bemerkte ich, daß der jungen Krankenschwester Tränen über die Wangen liefen. Der Arzt beugte sich über mich und legte mir tröstend die Hand auf den Arm. »Es ist hart, wenn man einen guten Freund und Kollegen verliert, Mr. Carver«, sagte er. »Aber Sie müssen jetzt stark sein. Denken Sie an Ihre eigene Zukunft.« Das tat ich. Jedermann war sich meiner starken Gemütsbewegung bewußt. In vielen Augen schimmerte es feucht. Aber, Professor Benson, unter allen Anwesenden im Raum, das kann ich Ihnen versichern, befand sich nicht einer, der auch nur annähernd so traurig gewesen wäre wie – Ihr Ihnen ergebener Henry Carver
Originaltitel: MARCONI, MATTIN, MAXWELL. Aus GALAXY 3/77
Tom Purdom DER UNLIEBSAME HELFER Harry Davenport wußte daß es Kontrolleure gab, seit der erste einem anonymen Zuchthäusler in einem Staatsgefängnis in Kalifornien zu Versuchszwecken in den Schädel eingepflanzt worden war. Auf mindestens der Hälfte aller Parties, bei denen er während der letzten zwei Jahre zugegen gewesen war, hatten die Leute über das Für und Wider von Kontrolleuren diskutiert, und er hatte sogar selbst eine Reihe von Argumenten beigesteuert, bevor ihm klar geworden war, daß es besser für ihn war, sich jedesmal, wenn das Thema angeschnitten wurde, eine stille Ecke zu suchen. Seine Frau und ihre Freundinnen waren einhellig der Auffassung, daß jeder Mann in den Vereinigten Staaten sich im Alter von einundzwanzig Jahren einer Reihe umfassender psychologischer Tests unterziehen und, falls erforderlich, einen Kontrolleur erhalten solle. Und jedesmal, wenn jemand mit dem Messer niedergestochen wurde oder irgendein Idiot es fertigbrachte, einen Politiker mit irgendeinem Wurfgeschoß tödlich zu verletzen, begannen sie einen Feldzug für ihr großes Projekt. Tatsächlich hatte er jedoch noch nie einen Kontrolleur zu Gesicht bekommen, und niemand hatte ihm je klarzumachen brauchen, daß zwischen einer greifbaren Realität und einem Gesprächsthema, über das man auf Parties diskutierte, ein gewaltiger Unterschied bestand. Sie hatten sich jetzt schon mindestens eine halbe Stunde über das verdammte Ding unter-
halten, trotzdem versteifte er sich immer noch jedesmal, wenn der Psychologe es aus dem Schubfach herausnahm und vor sich auf den Schreibtisch legte. »Sie können es in die Hand nehmen, wenn Sie wollen«, sagte Dr. Lazarro. »Manchmal kann es eine große Hilfe sein, wenn man so ein Ding erst einmal angefaßt und sich genauer betrachtet hat.« Wie durch einen Nebelschleier starrte Harry auf die kleine Plastikschachtel. Der schimmernde Gegenstand darin war ein wenig kleiner als die Murmeln, mit denen er als Kind gespielt hatte. Die drei hauchdünnen, mikronstarken Elektroden, die auf einer Seite herausragten, waren fast unsichtbar. »Man war darauf bedacht, ihm ein möglichst unaufdringliches Design zu geben«, sagte Dr. Lazarro. »Die meisten Leute, die sie bisher benutzt haben, behaupten, es nicht einmal zu merken, daß sie so ein Ding tragen. Es ist ein chirurgischer Eingriff nötig, um es unter die Haut einzupflanzen, aber danach muß es nur noch einmal jedes Vierteljahr gewartet werden. Und alle zwei Monate muß der Tank nachgefüllt werden. Eine Prozedur, die keine zehn Minuten dauert. Es arbeitet vollautomatisch und reagiert in der Regel so rasch, daß die Person, die es trägt, sich nicht einmal gewahr wird, daß sie im Begriff gewesen ist, die Beherrschung zu verlieren. Der Chirurg pflanzt es an einer Stelle ein, wo es die Droge an die Gehirnzellen abgeben kann, die am schnellsten ansprechen. Die Gehirnwellen, auf die das Gerät reagiert, besitzen einen einzigartigen Aufbau. Es kann in dem Sekundenbruchteil reagieren, in dem es diese charakteristischen Gehirnwellen auffängt, und so verhindern, daß sie überhaupt zur Ausgestaltung
kommen. Sie werden sich vielleicht bewußt, daß etwas geschah, das Sie normalerweise veranlaßt hätte, die Beherrschung zu verlieren, aber in der Regel spüren Sie nicht einmal einen Anstieg des Blutdrucks. Lange bevor der übrige Körper reagieren kann, haben die Gehirnwellen schon angefangen sich zu verändern.« Harry starrte auf die Schachtel ohne sie anzurühren. Sein Denkprozeß hatte schon vor einer halben Stunde ausgesetzt, aber die Vorstellung, diese Bastarde könnten ihn festschnallen und sein Nervensystem mit einer Droge vollpumpen, die seinen IQ um fünfzig Prozent reduzierte, verursachte ihm ein panikartiges Gefühl. Er war selbst Mathematiker, und nachdem Lazarro ihm das Ergebnis seiner Tests mitgeteilt hatte, hatte er die Situation augenblicklich erfaßt. Er arbeitete mit mathematischen Modellen, die selbst geringfügige Schwankungen in der nordamerikanischen Volkswirtschaft voraussagen konnten, und Lazarro arbeitete mit solchen, die die Handlungsweise einer beliebigen Person, die sich seinen Tests unterzog, voraussagen konnten. Menschen konnten Fehler machen, aber Lazarro hatte seine Arbeit zusammen mit drei anderen Psychologen überprüft, und niemand, der seines Fachgebiets unkundig war, konnte seine Resultate in Frage stellen. Wenn Lazarros Computer behauptete, daß Harry Davenport in naher Zukunft durchdrehen und jemanden umbringen würde, dann würde genau das geschehen, falls man ihn nicht daran hinderte. »Das erleichtert es einem natürlich nicht sehr«, sagte Lazarro. »Es ist trotzdem eine schreckliche Zumutung. Die meisten Leute fassen es als persönliche
Beleidigung auf, wenn man ihnen gegenüber so etwas erwähnt, und ich kann es ihnen nicht verübeln. Wir haben getan, was wir tun können, um das ganze Verfahren so harmlos wie nur möglich zu machen, aber es ist trotzdem ein gewaltiger Schock für jeden normalen Menschen. Die Selbstachtung leidet darunter. Wir leben in einer Kultur, wo eine derartige externe Kontrolle mit Schwäche oder Verlust der Freiheit gleichgesetzt wird, und niemand, der einem solchen Kulturkreis angehört, kann sich von heute auf morgen auf eine solche Veränderung einstellen.« Harry lehnte sich in seinem Sessel zurück und schlug die Beine übereinander. Er war ein Mann in den mittleren Jahren, der seit über fünfzehn Jahren eine leitende Position in seinem Beruf innehatte, und er war immer stolz darauf gewesen, daß es nur wenig gab, was ihn aus der Fassung bringen konnte. Seine Mitarbeiter hatten so ihre Eigenheiten, genau wie es bei jeder anderen Gruppe von Menschen, mit denen er jemals zusammengearbeitet hatte, der Fall gewesen war, aber in der Regel gelang es ihm, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten und impulsive Reaktionen, die eine Situation unnötig dramatisieren konnten, zu vermeiden. »Ich fürchte, es ist für mich immer noch äußerst schwer zu fassen. Dies ist das erste Mal in meinem Leben, daß mir so etwas passiert. Bisher habe ich nichts getan, was man auch nur als gewalttätig hätte ansehen können. Als Kind wollte ich mit meinem Vater nicht einmal mit zu Boxkämpfen.« Lazarro deutete auf den Computerausdruck auf dem Schreibtisch. Er war der älteste Psychologe der Klinik, aber er war etwa zehn Jahre jünger als sein
Patient, und mit der eleganten Kleidung und dem gepflegten Erscheinungsbild verkörperte er ganz den Typ des erfolgreichen jungen Mannes, der nach Feierabend aus dem Büro stürmt und den Abend in Gesellschaft der hübschesten Mädchen der Stadt verbringt. »Das ist einer der Hauptgründe, weshalb es immer ein Schock ist«, sagte Lazarro. »Ein Mensch mit einer solchen Persönlichkeitsstruktur kann jahrelang ein ganz normales Leben führen, ohne jemandem zu nahe zu kommen, aber dann kann es geschehen, daß er in einem einzigen Augenblick sein ganzes Leben ruiniert. Es hat sogar den Anschein, als bestünde zwischen diesem Charakterzug und einer Reihe von anderen, die die meisten von uns als wünschenswert ansehen, ein starker Zusammenhang. Die meisten Leute, die dieses Problem haben, scheinen ein ausgeprägtes soziales Verantwortungsgefühl zu besitzen und die Fähigkeit, überdurchschnittlich gut mit anderen Menschen zurecht zu kommen. Bisher war es uns nicht möglich, diejenigen Leute, die ein ganz normales Leben führen und dann ohne Vorankündigung gewalttätig werden, ausfindig zu machen. Dazu sind wir nun in der Lage, und die Ergebnisse sind in der Regel schockierend.« »Und das ist alles, was Sie tun können? Das ist die einzige Behandlungsmethode, die Sie anbieten können?« »Das ist die einzige Methode, zu der man anraten kann. Die einzige Alternative wäre eine grundlegende Umgestaltung Ihrer Persönlichkeit, aber dagegen würden Sie sich vermutlich noch hartnäckiger sträuben – und diese Methode steckt noch in den Kinder-
schuhen. Die Techniken für Persönlichkeitsumgestaltung sind so unentwickelt, daß Sie keine Gewähr dafür hätten, am Ende nicht als psychischer Krüppel dazustehen. Manche Menschen gehen plötzlich hoch, weil sie sehr starke Unlustgefühle unterdrücken, und wir können ihnen helfen, sich ihrer Frustrationen bewußt zu werden, und sie anleiten, richtig damit umzugehen. Aber bei einer kleinen Zahl von Menschen ist der psychische Defekt tief in ihrer Persönlichkeitsstruktur verwurzelt. Ich kann Ihnen weitere Auskünfte über Persönlichkeitsumgestaltung geben, wenn Sie es wünschen, aber ich kann Ihnen jetzt schon garantieren, daß Sie dies für die bessere Wahl halten werden.« Harrys Hände packten die Sessellehnen fester. Er beugte den Kopf vor und starrte das Ding auf dem Schreibtisch an, als dächte er im Beisein eines Untergebenen angestrengt über eine Entscheidung nach. »Sie erhalten von uns jede nur mögliche Unterstützung, wenn Sie Ihre Einwilligung geben«, sagte Lazarro. »Wir werden versuchen, es Ihnen so leicht wie möglich zu machen.« Er würde nicht verhindern können, daß Ellen erfuhr, was sie mit ihm gemacht hatten. Er würde vor seiner Frau und seinem Sohn stehen und dieses Ding im Schädel haben, und sie würden beide wissen, daß es da war. Früher oder später würden es alle ihre Bekannten erfahren. Daddy konnte nichts dafür, daß er dich schlug, Danny. Er hat eine Krankheit, die daran schuld ist, aber Mammi hat ihm gesagt, er soll zum Arzt gehen, und sie haben ihm eine kleine Maschine gegeben, die ihm irgendeine Arznei gibt,
wenn er anfängt, die Beherrschung zu verlieren. Manche Leute haben eben Gefühle, die sie nicht beherrschen können – vielleicht hast du sogar selbst welche –, aber wir leben in einer wundervollen Welt, in der die Menschen anfangen, sich selbst besser zu verstehen, und sie lernen, wie sie solche Dinge in den Griff bekommen können. Ich wußte schon immer, daß etwas mit ihm nicht stimmte. Erinnerst du dich, wie wütend er immer wurde, wenn wir über Kontrolleure sprachen? Diese ruhigen, gelassenen Typen sind sich doch alle gleich. Nach außen hin tun sie so, als könne nichts sie erschüttern, aber in ihrem Innern brodelt es wie in einem Vulkan. Du haßt ihn, Harry, und du haßt mich. Dein ganzes Leben lang hast du mit Computern geredet anstatt mit Menschen, und das ist jetzt das Ergebnis. Immer hast du deine Gefühle hinter dieser gottverdammten Maske versteckt, und jetzt ist die ganze gestaute Wut, mit der umzugehen du niemals gelernt hast, schließlich zum Ausbruch gekommen. Ich will dir nicht drohen, Harry, aber ich werde nicht zulassen, daß du weiterhin mit diesem armen Jungen zusammenlebst, wenn du keine fachmännische Hilfe erhältst. Du hättest nur ein bißchen fester zuschlagen brauchen, und du hättest ihm das Genick gebrochen, und der Schaden für seine psychische Entwicklung, den du damit angerichtet hast, ist wahrscheinlich ebenso schlimm. Es gibt kein Gericht in diesem Land, das dir nach allem, was geschehen ist, noch das Erziehungsrecht für dieses arme Kind zubilligen würde. »Was wir von Ihnen verlangen, Dr. Davenport, geschieht zu dem Zweck, sowohl andere als auch Sie selbst zu schützen. Das mindeste, was Sie von uns als Gegenleistung erwarten können ist, daß wir alle Mit-
tel, über die wir verfügen, einsetzen, um es Ihnen so leicht wie möglich zu machen.« »Dann können Sie mir helfen, den Schaden, den mein Selbstwertgefühl erleidet, in Grenzen zu halten?« »Was die Sache so abstoßend macht, liegt zum Teil an der Idee an sich. Dagegen kann man nichts machen, und es hat auch gar keinen Sinn, so zu tun, als könne man es doch. Aber: einige der Dinge, die die Angelegenheit so schmerzlich machen, können manchmal recht einfach bewältigt werden, wenn man sich nur ein wenig Mühe gibt. Viele Menschen haben beispielsweise Angst davor, wie ihre Familie reagieren wird. Manchmal kann dann eine Aussprache mit der Familie viele Bedenken aus dem Weg räumen.« Harrys Körper verkrampfte sich. Seine Hände umklammerten die Sessellehnen, als säße er am Steuer eines Wagens, der auf einen Abgrund zurast. »Ich weiß beispielsweise nicht, wie Sie zu Ihrem Sohn stehen, aber wir können ihm die Sachlage erklären. Das wird es leichter für Sie machen, und Ihr Sohn wird nicht in dem Glauben belassen, daß Sie ihn geschlagen haben, weil Sie ihn hassen und das wird ihn erkennen lassen, daß sein Vater noch immer ein Mann ist, den er respektieren kann. Es werden schwierige Probleme auftauchen, mit denen Sie selbst fertig werden müssen, aber wir stehen Ihnen mit fachmännischem Rat zur Seite. Wir können ihm spezielle Filme zeigen und Sitzungen mit Ihrer ganzen Familie abhalten. Sitzungen, die nach einem im voraus festgelegten Programm ablaufen und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die ganze Angelegenheit weitaus erträglicher machen werden.
Es könnte auch eine Hilfe sein, daß Ihre Frau ein wenig Erfahrung in Psychotherapie besitzt. Viele Leute denken darüber auch heute noch so, wie man am Anfang des Jahrhunderts über gewöhnliche Geisteskrankheiten dachte. Eine Frau mit der richtigen inneren Einstellung kann es sehr viel leichter machen, dem Rest der Welt entgegenzutreten und –« Harry ballte die Fäuste. Mit einem Ruck stand er auf, während Lazarro gespannt abwartete. Er sah hinüber zu dem gutangezogenen, selbstbewußten jungen Mann. Lazarros Hand glitt auf das Kontrollpult auf der rechten Seite der Schreibtischkonsole zu. Harry holte mit geballter Faust aus. Sein Gesicht war wutverzerrt. Wie ein geschleuderter Stein schoß seine Faust auf den Kopf des Psychologen zu. Lazarro drückte auf einen Knopf des Kontrollpults und stieß seinen Sessel mit den Füßen vom Schreibtisch ab. Eine weiße Gaswolke strömte aus einer in die Schreibtischkonsole eingebauten Düse. Frühlingsdüfte überwältigten Harry Davenports Nervensystem. Er atmete das Gas tief ein, und seine Muskulatur entspannte sich. Warme, angenehme Empfindungen breiteten sich in seinem Körper aus. Er nahm einen weiteren Atemzug. Er wußte, daß das Gas so konzipiert war, daß man nach jedem Atemzug mehr davon wollte, aber er war ebenso verwundbar wie jedes andere menschliche Wesen, das das Gas jemals eingeatmet hatte. Er ließ sich in den Sessel fallen. Die Wolke trieb auf ihn zu, und er atmete noch mehr Gas ein. Lazarro erhob sich gewandt aus dem Drehsessel. Er trat an den Schreibtisch und musterte seinen Patienten.
»Wie fühlen Sie sich, Dr. Davenport? Haben Sie Kopfschmerzen?« Harry starrte ihn durch den Dunst an. Die Wirkung des Beruhigungsmittels begann bereits abzuflauen. Seine Glieder fühlten sich noch warm und schwer an, aber er begann bereits wieder auf die Situation zu reagieren. Erneut ballte er die Fäuste. Er machte einen Versuch aufzustehen und ließ sich dann zurücksinken. »Sie haben mich bewußt provoziert«, sagte Harry. »Sie haben auf jeden gottverdammten Knopf gedrückt, den Sie nur erreichen konnten.« »Ich wußte nicht, daß Sie auf diese Weise reagieren würden. Ich habe versucht, die Dinge, die Sie vielleicht quälen, zum Vorschein zu bringen, aber ich wußte nicht, daß Sie so reagieren würden. Ich habe eine ziemlich klare Vorstellung davon, worum es sich bei diesen Problemen handelt, aber ich hätte sie Ihnen gegenüber nicht erwähnt, wenn ich gewußt hätte, daß Sie auf diese Weise reagieren.« »Sie wissen nicht, was es auslöst? Sie haben mein Innerstes auf Ihren gottverdammten Diagrammen komplett ausgebreitet vor sich liegen, und Sie wissen nicht, wann es dazu kommt?« »Ich hätte mir darüber im klaren sein sollen. Wir setzen Sie einem enormen Streß aus. Die halbe Bevölkerung dieser Stadt würde hochgehen, versetzte man sie in eine Lage wie die Ihrige. Ich habe die Reaktion, die ich erhalten würde, falsch eingeschätzt, aber ich habe nicht versucht, Sie zu einem Wutausbruch zu reizen. Es ist nun schon zum zweitenmal geschehen, Dr. Davenport, und beide Male hatten Sie Glück. Sie sitzen in einer Falle, und nur auf diese Weise können
wir Sie daraus befreien. Ich weiß, daß es unangenehm für Sie ist, aber wenn es die Beziehung zu Ihrer Frau ist, was Sie quält, warum geben Sie mir nicht wenigstens die Chance, mit Ihnen darüber zu reden? Heutzutage können wir Dinge tun, die die ganze Angelegenheit um hundert Prozent vereinfachen. Wir verbringen heute in der Regel mehr Zeit mit den Familien unserer Patienten als mit den Patienten selbst.« »Es gibt absolut nichts, was Sie mit dieser Frau anstellen könnten. Sie haben ja keine Ahnung, was für ein Mensch sie ist! Seit ihren Teenagerjahren nimmt sie an Selbsterfahrungsgruppen und ähnlichen Veranstaltungen teil, und das einzige, was sie ihr dort beigebracht haben ist, wie man am besten an jemandes wundem Punkt rührt!« »Wir können speziell auf sie abgestimmte Sitzungen mit ihr abhalten. Wir können sie in Gruppen einführen, die geeignet sind, auch den Schutzpanzer von Menschen zu durchbrechen, die es sich praktisch zur Lebensaufgabe gemacht haben, an Selbsterfahrungsgruppen teilzunehmen. Wir können ihr sogar eine umfassende Selbstanalyse offerieren. Eine von dem Kaliber, wie sie jeder Psychologe über sich ergehen lassen muß, um seine Lizenz für eine Praxis zu erhalten.« »Sie werden sie nicht dadurch ändern, daß Sie ihr helfen, sich selbst zu verstehen! Sie haben ja keine Ahnung, was für ein Mensch sie ist!« »Sie glauben, sie würde es Ihnen auch dann noch so schwer machen, wenn sie die Beweggründe für ihr eigenes Verhalten verstünde?« »Sie haben ja keine Ahnung mit was für einer Sorte Mensch Sie es zu tun haben! Damit würden Sie ihr
nur einen Gefallen tun! Sie würde jede gottverdammte Sekunde davon genießen!« Lazarro schaute auf die Schreibtischuhr. Es war halb drei, und er hatte den Rest des Nachmittags frei. Sie hatten die entscheidende Barriere, wie sie auf den Diagrammen des Computerausdrucks verzeichnet war, durchbrochen. Er hatte befürchtet, daß es den ganzen Tag beanspruchen würde, stattdessen hatte es weniger als fünfzig Minuten gedauert. Die nächsten Stunden würden die schlimmsten in Davenports Leben werden, aber der Ausgang des Nachmittags war so vorausberechenbar wie die Umlaufbahn eines Raumschiffes. Ein Mensch wie Davenport konnte sich auf alles einstellen, wenn er es nur erst einmal herausgebracht hatte und darüber zu reden anfing. »Sie glauben, sie wird es genießen, Dr. Davenport?« fragte Lazarro. »Sie glauben, sie möchte, daß Sie sich mit einer Sache wie dieser abfinden?«
Originaltitel: THE CHAINS OF FREEDOM. Aus GALAXY 5/77
Spider Robinson FRIST ABGELAUFEN Douglas Bent Junior sitzt in der Küche und wartet darauf, daß das Teewasser heiß wird. Es ist der 12. Mai, sein Geburtstag, und er will sich Immergrüntee machen. Douglas gestattet sich diesen Luxus, weil er weiß, daß er von niemandem außer ihm selbst ein Geschenk erhalten wird. Das Schicksal wollte es, daß er alle Freunde und Bekannte überlebt hat. Gutnachbarliche Beziehungen pflegt er zu niemandem; nicht etwa weil er keine, sondern weil er zu viele Nachbarn hat. Es ist gut möglich, daß seine kleine Farm die letzte in Nova Scotia ist. Von drei Seiten wird sie von riesigen ausgebeuteten Lehmgruben begrenzt, klaffende, konzentrische Löcher, die vor langer Zeit aus dem Boden ausgehöhlt worden sind. An der Peripherie der verbleibenden Seite befindet sich ein Appartementhochhaus, in dem es, einem Ameisenhaufen gleich, von Menschen nur so wimmelt. Douglas kann sie nicht als Individuen unterscheiden; manchmal bezweifelt er, daß ihm dieses Kunststück je gelingen wird. Douglas' Familie besaß hier einmal viele hundert Morgen Land, und eine Straße, die damals einfach Küstenstraße hieß, schlängelte sich durch ihr Besitztum; einstmals erstreckte sich das Land der Bents von der Fundybucht bis über den Gipfel des gewaltigen Nordberges hinaus, und es umschloß eine Sägemühle, rauschende Bäche, Wälder mit vielen Hunderttau-
sende Bäumen und viele Morgen fruchtbaren Weideund Ackerlands; die Bents waren einmal eine der angesehensten Familien zwischen Annapolis Royal und Bridgetown, und ihr Viehbestand war der Neid der gesamten Umgebung. Dann versiegten die Ölquellen, und die petrochemische Industrie brach zusammen. Natürlich blieb auch die Kunststoffindustrie nicht verschont. Lehm wurde plötzlich zu einem unentbehrlichen Ersatzrohstoff – und das Annapolis-Tal besteht zum größten Teil aus Lehmboden. Die Küstenstraße heißt jetzt Fundy Trail und ist eine sechsspurige Autobahn; das Besitztum der Bents ist auf vierzehn Morgen des unzugänglichsten Teils des Berges zusammengeschrumpft; wo einst die Sägemühle stand, sind jetzt Fabrikanlagen, die den Boden seines Lehms beraubt haben; das Weideland, die Bachläufe und das Ackerland sind regelrecht ausgeweidet und teilweise asphaltiert worden; alle Familienmitglieder der Bents bis auf Douglas Junior sind tot oder in die Städte abgewandert; und keiner, der heute hier im Tal lebt, hat jemals ein lebendes Rind gesehen. Das Geschäft mit dem Ackerland hat die Landwirtschaft kaputt gemacht, und synthetische Proteine ernähren heute die Welt (zumindest einen Teil). Douglas baut nur soviel an, um sich selbst ernähren zu können. Er sitzt jetzt da und wartet, daß das Wasser kocht. Zum unzähligsten Mal verwünscht er den mit Sonnenenergie gespeisten Herd, der den alten Familienofen verdrängt hat, als Brennholz nirgendwo mehr erhältlich war. Elektroherde brauchen zu lange zum Anheizen, und es ist überflüssig, sich um sie zu
kümmern. Sie verrichten ihre Aufgabe automatisch, unpersönlich und gleichgültig. Und sie machen ein Zimmer nicht warm. Douglas' knorrige Finger sortieren müßig das Immergrün, das er heute morgen gepflückt hat. Die Zuckerdose, die daneben steht, stößt er verächtlich beiseite. Solange er denken kann, hat Douglas Immergrüntee aus dem Saft frischen Ahornholzes gemacht, Tee, den man nicht nachzusüßen braucht. Aber diesen Frühling ist er mit Bohrer, Hammer, Zapfhahn und Kübel losgezogen zu seinem letzten Ahornbaum und mußte feststellen, daß er verdorrt war. Für den heutigen Geburtstagstee hat er sich Zucker mit Ahornaroma gekauft, aber er weiß, daß es nicht dasselbe wie früher sein wird. Und vielleicht findet er nächsten Frühling auch kein Immergrün mehr. Neuerdings bleiben auch viel zu viele seiner altvertrauten Freunde aus, die er sonst immer zu den verschiedenen Jahreszeiten sieht – das Rotwildmoos ist verschwunden, so, wie die Rehe und Hirsche, wohin zur Hölle auch immer, schon vor langem verschwunden sind. Auch die Krähen, die sonst den Komposthaufen durchwühlt haben, sind fort, selbst die Lupinen sieht er nur noch selten, und wenn, dann sind sie stumpf und glanzlos. Der Erdboden bringt kein Leben mehr hervor, vielleicht hat er erkannt, daß niemand mehr da ist, dem er damit dienen kann. Douglas ist sich bewußt, daß auch er nicht mehr derselbe ist. Der Frühling gibt ihm keine Kraft mehr, und von den Wänden seines Hauses tönt nur noch
seine eigene Stimme. Wenn eine Farm, die von Ödland umgeben ist, nicht weiterexistieren kann, wie soll es dann ein Mensch? Heute ist mein Geburtstag, denkt er, wie alt werde ich heute? Er kann sich nicht erinnern. Er schaut auf zu der gottverdammten elektrischen Uhr (die zweihundert Jahre alte Kuckucksuhr der Familie – die bestand aus Holz – hat den harten Winter von 94 nicht überlebt), liest das Datum vom Zifferblatt ab (für Kinkerlitzchen wie etwa papiererne Kalender wird kein Holz mehr vergeudet) und lehnt sich mit einem Brummen zurück. 2049, genau wie ich dachte, aber wann bin ich geboren? So vieles hat sich im Laufe von Douglas Leben verändert, vertraute Dinge, die unwandelbar schienen und nun für immer verloren sind. Die Danielsens im Osten starben kinderlos: heute ist ihr Land mit Pflanzen bedeckt, die Abwässer aufbereiten sollen. Im Westen haben die vorkriechenden Ausläufer von Annapolis Royal das Land geschluckt und Beton, Stahl und viel zu viele Menschen ausgeschieden, als die Stadt sich immer mehr aufblähte. Annapolis ist heute so vollgestopft wie New York City zu Lebzeiten seines Vaters. Wirtschaftliche Schwäche hat Douglas unerbittlich Schritt für Schritt zum Nordberg zurückgedrängt, und die Erlöse (er wimmert, wenn er an das Wort denkt), die er aus dem stückweisen Verkauf seines Landes (ganz wie er es in seiner Jugend auf diese Weise von seinen Vorbesitzern erworben hatte) gewonnen hat, sind von den steigenden Lebenshaltungskosten aufgezehrt worden. Hier, auf seinen letzten vierzehn Morgen, in dem zweigeschossigen Haus, das er eigenhändig und, bei Jesus, aus Holz ge-
baut hat, hat Douglas Bent Junior seinen letzten Standort aufgeschlagen. Er befragt seinen Körper, wie sein Vater es ihn gelehrt hat, und die Antwort, die er erhält, sagt ihm, daß ihm wenigstens noch zehn bis zwanzig Lebensjahre bleiben. Wie alt bin ich überhaupt, fragt er sich wieder, fünfundvierzig? Fünfzig? Oder älter? Er hat es einfach vergessen, denn die Jahre haben nicht mehr die Bedeutung, die sie einmal hatten. Es spielt kaum eine Rolle, er mag die Vitalität haben, um noch zwanzig Jahre zu leben, aber Geld hat er nur noch für fünf. Und nicht einmal so lange, wenn in Halifax die neuen Steuergesetze durchgepaukt werden, die alte Menschen für ihr Alter noch bestrafen. Das Wasser hat angefangen zu kochen. Douglas tut Immergrün und Zucker in den Steingutkrug, den seine Mutter einmal gemacht hat (damals, als man den Lehm noch im Garten hinter dem Haus mit der Schaufel ausgrub), nimmt den Kessel vom Herd und gießt das Wasser in den Krug. Schnuppernd prüft er das Aroma; zu seinem Entsetzen duftet der verfälschte Tee wie echter. Mit einem tiefen Seufzer geht er hinüber zum Schaukelstuhl am Küchenfenster, stellt den Krug auf der Fensterbank ab und setzt sich, um wieder einmal dem Sonnenuntergang zuzuschauen. Von hier aus kann Douglas die Bucht überblicken, vorausgesetzt der Wind bläst aus der richtigen Richtung, so daß ihm kein Qualm von den Industrieanlagen die Sicht versperrt. Aber selbst dann kann er das ferne Ufer von New Brunswick nicht mehr erkennen, denn die Luft ist dunstiger als damals, als er noch ein Kind war.
Die gottverdammte Uhr summt, und aus dem Krug steigt Dampf auf. Der Wind bläst von Norden her – die Nacht wird kalt werden, und es ist gut möglich, daß die Bucht morgen wieder einmal unter einem dichten Dunstschleier liegen wird. Auf diese Weise pflegt Nova Scotia seinen Frühling zu würzen. Douglas macht es nichts aus: Seine Sonnenenergieheizung ist überaus (schon fast zu) wirksam. Sein Blick schweift hinüber zum Autobahnzubringer; er führt bergab, macht eine Biegung nach links und verschwindet hinter den Birken, Erlen und Pinien, die ihn eine halbe Meile vom Haus entfernt säumen. Manchmal, wenn Douglas sich die Straße so betrachtet, kann er sich einreden, daß hinter der Kurve keine nackten Baugerüste und Betonappartementhäuser sind, sondern Ackerland, wogende Kornfelder und jene Welt, die er einst kannte. Felder und grasende Ziegen, Frühlingsmatsch, Traktoren und Scheunen, Ziegenkot, der wie ein Häufchen Schrotkugeln aussah ... In den letzten Tagen hat Douglas nicht viel nachgedacht. Es ist lange her, daß er daran Freude gefunden hat, und so ist ihm die Gewohnheit abhanden gekommen. Und es ist lange her, daß er jemanden hatte, dem er seine Gedanken mitteilen konnte, und so hat er die Lust dazu verloren. Und ebenso lange ist es her, daß er die Welt gut genug verstand, um über sie nachdenken zu können, und so ist ihm die Fähigkeit dazu abhanden gekommen. Douglas sitzt in seinem Schaukelstuhl, schaukelt hin und her und schlürft seinen Tee. Daß er etwas Flüssigkeit verschüttet, die ihm über den Bart läuft,
bemerkt er nicht. Wie alt bin ich? fragt er sich nun zum drittenmal, und diesmal bringt er genug Willenskraft auf, um den Versuch zu unternehmen, es festzustellen. Mit einer Anstrengung erhebt er sich aus dem Schaukelstuhl, geht mit müden, knorrigen Beinen hinüber ins Wohnzimmer, steigt die Stufen zum Dachstuhl hinauf und legt auf halbem Wege eine Verschnaufpause ein. Mein Vater war einundsechzig, erinnert er sich, als er sich schnaufend auf die Stufen niederläßt, als er zur Euthanasie seine Einwilligung gab. So alt kann ich noch nicht sein. Aber was hält mich eigentlich am Leben? Er weiß die Antwort nicht. Nachdem er auf dem Dachstuhl angekommen ist, verbringt Douglas eine Viertelstunde damit, die uralte Truhe aufzustöbern, in der die Dokumente der Familie Bent aufbewahrt werden. Es sind angenehme Minuten: Die vielen alten Gegenstände, die er beiseite schieben muß, um an die Truhe zu gelangen, wecken Erinnerungen in ihm, die ihn aufmuntern. Da die Töpferscheibe, mit der seine Mutter immer gearbeitet hat; dort die Schneide der Axt, mit der er sich einmal den rechten großen Zeh abgehackt hat; drüben in der Ecke der abgenutzte Wendehaken, der noch aus den längst vergangenen Tagen der Sägemühle stammt. Sie erinnern ihn an eine Kindheit, als das Leben noch einen Sinn hatte, und ein Lächeln stiehlt sich auf seine fahlen Lippen. Es bleibt dort nicht für lange. Die Truhe zu öffnen bereitet unerwartete Schwierigkeiten – sie ist verschlossen, und Douglas kann sich nicht entsinnen, wo er den Schlüssel hingelegt hat. Seit Jahren hat er ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Schließlich gibt er es auf, darüber nachzu-
grübeln. Er zerschmettert das alte Schloß mit dem Wendehaken und öffnet den Deckel mit Hilfe eines Hebels (die Bents haben es schon immer verstanden, die Hebelwirkung für ihre Zwecke auszunutzen, wenn sie alt wurden und die Kräfte nachließen). Der Deckel geht mit einem protestierenden Kreischen auf. Schmerzhaft überwältigt ihn die Vergangenheit. Oben auf dem Stapel liegt ein Hochzeitsbild seiner Eltern, Douglas senior und Sarah, dahinter Großvater Lester, und ganz im Hintergrund, bei einer großen Scheune, erkennt man grasendes Vieh. Unter dem Bild findet er eine Ansammlung Quittungen über bezahlte Getreiderechnungen. Er erinnert sich an die Zeiten, als Nahrungsmittel noch billig genug waren, um sie an Tiere zu verfüttern, und damals besaßen sie eine Menge Tiere, die gefüttert werden mußten. Als er weiter herumstöbert, stößt er auf stornierte Schecks, Versicherungspolicen, Steuerbescheide und auf ein verschnürtes Bündel Karten und Briefe. Douglas hält inne, als er den selbstgemachten Rosenkranz entdeckt, den er seiner Mutter zu ihrem fünfzehnten Hochzeitstag geschenkt hat, und er fragt sich, ob einer von ihnen damals wohl noch an Gott geglaubt hat. Wieder läßt ihn die Erinnerung im Stich. Schließlich stöbert er seine Geburtsurkunde auf. Stöhnend vor Schmerzen in Waden und Knien richtet er sich auf und bahnt sich einen Weg durch das Durcheinander auf dem Dachstuhl hinüber zum Westfenster, wo das Licht der untergehenden Sonne noch hell genug ist, um das verblichene Dokument lesen zu können. Er setzt sich auf das Gehäuse eines
Fernsehapparates, der schon damals, in seiner Jugendzeit, kaputt gewesen war. Er hält das Schriftstück dicht vor die Augen und betrachtet es argwöhnisch. »12. Mai 1989«, steht oben auf dem Blatt. Nanu, ich bin ja schon sechzig, sagt er sich verwundert. Sechzig; verdammt noch mal. An der Zahl ist etwas, das Douglas aufhorchen läßt. Sechzig zu sein hat eine bestimmte Bedeutung, aber sein müder alter Verstand kann sich nicht entsinnen, welche. Wieder betrachtet er die Geburtsurkunde argwöhnisch. Und unten auf der letzten Zeile steht es, steht, was er beinahe vergessen hatte, und er begreift, daß er sich geirrt hat – er wird heute doch noch ein Geburtstagsgeschenk erhalten. Denn auf der untersten Zeile seiner Geburtsurkunde steht schlicht und einfach: »Verfallsdatum: 12. Mai 2049.« Und zum erstenmal seit Jahren ertönt unten an der Haustür ein Klopfen.
Originaltitel: NO RENEWAL. Aus GALAXY 3/77
Kevin O'Donnell Jr. DIE ACHILLESFERSE Es gab das Hierdrinnen und das Dortdraußen. Das Hierdrinnen war warm und sicher – wohl ein wenig muffig und feucht, aber sicher. Das Dortdraußen ... er hatte sein halbes Leben dort verbracht. Er hätte es mit Leichtigkeit beschreiben können, aber er wollte die Augen nicht öffnen. Solange sie geschlossen blieben, war das Hierdrinnen vom Dortdraußen abgetrennt, und die Bilder – – Leutnant, reißen Sie sich zusammen, Sir – – die Bilder dort draußen warteten nur darauf, daß seine Wachsamkeit nachließ und seine Augen sich öffneten. Sobald dies geschähe, würden sie zurückkommen und ... und ein Bild war darunter, das ihn physisch und psychisch bis zur absoluten Bedeutungslosigkeit zusammenschrumpfen ließ. Beim letzten Mal hatte er sich mit aller Kraft dagegen gewehrt, aber ganz gleich mit welcher Standhaftigkeit er gesagt hatte, daß er Bedeutung hatte, und daß er es durch seine Tapferkeit bei Begegnungen mit dem Feind ein Dutzend Male unter Beweis gestellt hatte, hatte es ihn zu einem stecknadelkopfgroßen Lichtpunkt zusammengepreßt, der nur noch mit der Helligkeit eines fernen Sterns schimmerte. Wäre das Bild nicht verschwunden, es hätte dieses Licht schließlich völlig ausgelöscht, und er wäre nicht mehr. Aber das war noch nicht alles. Eins war dabei, das in ihm Ekel vor sich selbst erregte. Es gab ihm das Gefühl, schmutzig und immer schmutziger zu werden, bis er
sich schließlich wie das widerwärtigste Ding im ganzen Universum vorkam, das es fraglos verdiente, ausgetilgt zu werden ... und das eine, das ihn Schritt für Schritt in eine Ecke zurückdrängte, bis es seine Seele bloßgelegt hatte und Stücke davon abbrechen konnte und sie mit Zähnen zermalmte, die – – Leutnant, Sir, Sie müssen sich davon losreißen – – Er kann Sie nicht hören, Sergeant – »Das stimmt nicht«, wollte er sagen, aber die Vorsicht ließ ihn schweigen. Von innen nach außen gehende Geräuschimpulse würden die Verbindung zwischen dem Hierdrinnen und Dortdraußen ebenso u nweigerlich herstellen wie von außen hereindringende Lichtimpulse. Er konnte es sich nicht leisten, den Bildern eine Brücke zu bauen, über die sie ihn erreichen konnten, selbst wenn er deswegen den Stimmen keine Antwort geben konnte. Die Stimmen waren anders als die Bilder. Die Bilder waren ... böse. Sie hatten ihm weh getan, und ... er wimmerte, wenn eine plötzliche Erinnerung daran aufflammte. Die Stimmen jedoch schienen auf seiner Seite zu stehen. Sie waren böse auf die Bilder, wahrscheinlich wegen dem, was sie ihm angetan hatten. Mit fest geschlossenen Augen lauschte er ihrem fernen Gemurmel, um herauszufinden, ob sie sich noch immer über ihn unterhielten. Das taten sie, und so wandte er ihnen behutsam einen Teil seiner Aufmerksamkeit zu, bereit, sich jederzeit in die Sicherheit seines Dämmerzustandes zurückzuziehen, falls es sich als notwendig erweisen sollte. – Wieso denn? Es gibt eine Menge Arbeit und Reparaturen, und wenn wir ihn da so zusammengesackt in seinem Sessel sitzen lassen, geraten wir alle in Schwierigkeiten –
– Er ist in einem Schockzustand, Sergeant – Diese Stimme hatte einen sanfteren, geschmeidigeren, aber nichtsdestoweniger metallischen Klang – Gehirnerschütterung, Strahlenüberdosis, TP-Angriff – er ist ein kranker Mann – – Aber ich muß repariert werden! Ich kann uns nicht nach Hause bringen, bevor er die Reparaturen nicht gemacht hat. Und er muß sofort damit anfangen, weil meine Lebenserhaltungssysteme übel zugerichtet wurden – – Er ist nicht in der Verfassung dazu, Sergeant. Er muß sich erst erholen – – Wie lange wird das dauern, Doc? – – Wer weiß? – Sein Achselzucken war mehr ein metaphysisches denn eine tatsächliche Bewegung. – Ein, zwei Wochen, vielleicht länger. Ich hatte noch keine Gelegenheit, ihn gründlich zu untersuchen. Die erste Prognose kann ich erst morgen stellen – – Doc – in der Stimme klang Verzweiflung durch – eine Woche kann ich nicht warten. Der Konverter ist dahin. Die Tanks enthalten noch Luft für achtzig Stunden. Die Nahrung reicht noch zwei Wochen, das Wasser vielleicht ein wenig länger. Aber selbst wenn das nicht so wäre, der größte Teil meiner Reaktionsmasse ist dahin. Was zum Henker soll ich machen? – – Suchen Sie einen Planeten mit atembarer Luft. Dort kann er sich dann erholen. Und danach kann er Sie reparieren – – Na schön – Seine Stimme klang verdrießlich. – Wissen Sie, Doc, das gibt der Mission einen königlichen – Sie wissen schon was – – Ich weiß. Aber jetzt suchen Sie erst einmal den Planeten. Über die Mission können wir uns später
Gedanken machen – Genau genommen verstummten die Stimmen nicht, aber sie hörten auf, Worte hervorzubringen. Ein Summen im Hintergrund seines Bewußtseins erinnerte ihn daran, daß er nicht allein war. Es schien ihn zu drängen, sich zu entspannen, schien sagen zu wollen, daß man sein inneres Potential aktivieren könne, indem man anfing, Gedanken zu formulieren. Es kümmerte ihn nicht. Die Worte waren ohnehin wirr gewesen. Das Summen war angenehmer. Es tröstete, aber es verwirrte nicht. Er fühlte, wie sein Körper mit der linken Seite seiner äußeren Hülle in Berührung kam, und interpretierte die Empfindung als Bewegung. Er wurde irgendwohin gebracht. Es spielte keine Rolle. Wichtig war nur, daß er die Augen geschlossen hielt, damit die Bilder nicht zurückkehren konnten. Selbst die Finger, die seine äußere Hülle abschälten, spielten keine Rolle. Ebensowenig das plötzliche betäubende Wärmegefühl, das von einem subkutanen Spray herrührte. Von Bedeutung war nur die Watte, die die Lücke zwischen dem Hierdrinnen und dem Dortdraußen auszufüllen begann – warme, weiche, schützende Watte ... ... wohin wollte es? Er vergrub die Finger darin, um es festzuhalten, aber es löste sich auf, wurde substanzlos und verschwand. Mit wachsender Besorgnis suchte er nach einem solideren Versteck. Es schien keines zu geben. Jetzt, wo ihm der Verlust seiner Schutzhülle drohte, gab ihm auch das Summen in seinem Schädel keinen Halt mehr. Um zumindest ein wenig Schutz vor dem Licht zu haben, rollte er sich
fluchend in einer großen Staubflocke zusammen. – ... physisch wiederhergestellt und angepaßt, – sagte die Stimme. – Er kann die Luft atmen, das Wasser trinken, sich von den Tieren und Pflanzen ernähren – er wird gut zurechtkommen – – Waren all diese Maßnahmen wirklich notwendig, Doc? – – Meiner wohlüberlegten medizinischen Prognose zufolge, – entgegnete die erste Stimme ein wenig gereizt, – sind acht Wochen das Minimum für die psychische Genesung des Leutnants. Das Maximum ist unbestimmt. Weil wir ihn nicht mit seiner eigenen Nahrung versorgen und die hiesigen Nahrungsmittel auch nicht umwandeln können, sah ich keine andere Möglichkeit, als seine Biochemie diesem Planeten anzupassen. Und weil diese Notwendigkeit nun einmal bestand, wäre es doch dumm gewesen, nicht auch gleichzeitig seinen Körperbau anzupassen – – Genug mit dem Unsinn, Doc. Ich verstehe, worauf Sie hinaus wollen. Aber die Basis wird nicht sehr glücklich sein, wenn wir ihnen nicht denselben wohlproportionierten Krieger zurückbringen, den sie losgeschickt haben. Können Sie ihn wieder zurückverwandeln? – – Mit Leichtigkeit – – Wird er sich an alles erinnern, wenn er wiederhergestellt ist? – – Ich bin mir dessen nicht sicher. Sein Wissensschatz war so umfangreich, daß es gut möglich ist, daß einiges davon verloren gegangen ist. Eine neuerliche Ausbildung könnte sich als notwendig erweisen – – Mist. Dieses Kriegsschiff, Doc, ist immer noch ir-
gendwo dort oben und sucht uns. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es uns findet. Wenn es in Reichweite kommt, leuchte ich auf seinen Schirmen so hell wie eine Neonleuchtreklame. Sie müssen sich mit der Heilung des Leutnants verdammt beeilen – – Ich werde tun, was ich kann, Sergeant – ah, er ist bei Bewußtsein. Guten Morgen, Sir. Hatten Sie eine angenehme Nachtruhe? – Er zitterte, weniger wegen der Kälte als wegen der unerwünschten Zuwendung. Er wollte nicht, daß man ihm Aufmerksamkeit schenkte. Die Bilder könnten auf diese Weise erfahren, wo er sich aufhielt. Er preßte die Augenlider zusammen, und farbige Lichter tanzten auf seiner Netzhaut. – Es ist alles in bester Ordnung, Sir. Sie sind in Sicherheit. Sie können mit uns sprechen – Seine Zunge leckte über trockene Lippen. Die Luft roch merkwürdig. Sie war nicht rein, sie schien voller anderer ... er schnupperte und identifizierte den Geruch als den von Pflanzen und Tieren und ... sie schien voller Leben zu sein, das war der Unterschied. Leben und Sonnenlicht und frisches Wasser. Eine Flut von Geräuschen bestürmte seine Ohren: Wind rauschte, Pfoten trotteten über morastigen Boden, Zweige knackten, Vögel riefen. Seine Schultern sackten herab, als er erkannte, daß die Brücke gelegt worden war; die Bilder konnten sie jederzeit überqueren. Selbstbeherrschung war jetzt gleichbedeutend mit Selbstverteidigung. »Wa-Wasser«, krächzte er. – Draußen, Sir. Dort ist ein Fluß – – Doc, so können Sie ihn doch nicht hinausschikken, nicht in diesem Zustand – – Wir können das Wasser nicht für ihn herbeischaf-
fen, Sergeant. Wenn er sich erst einmal ein wenig erholt hat, kann er sich eine Art Pumpe ausdenken und sie an Ihre Lebenserhaltungssysteme anschließen, aber im Augenblick ... muß er sich selbst dazu aufraffen – – Aber es gibt wilde Tiere draußen, sie könnten ... – – Keine Sorge. Erst einmal schützen ihn Ihre Laser. Dann kann er auch noch einen Handlaser mitnehmen. Und außerdem ... sobald er ins Freie geht, werde ich ein TP-Feld errichten, dessen Wirksamkeit auf die nähere Umgebung beschränkt sein wird – – Wozu, zum Henker, soll das gut sein? – – Damit können wir die Nervenimpulse dieser »Tiere« empfangen. Wenn sich eines entschließt, den Leutnant anzugreifen, erfahren wir es im selben Moment. Bei soviel Vorwarnung wird er sicher sein – – Na gut, aber ... es gefällt mir nicht – – Uns bleibt keine Wahl, Sergeant. Außerdem muß er ohnehin hinaus, um sich Nahrung zu besorgen – – Meine Laser könnten in einer Minute so viele Tiere töten, daß er sich ein ganzes Jahr lang davon ernähren könnte – – Selbstverständlich. Aber können Sie es hierher holen und einlagern? – – Äh ... nein – Na also. Dann seien Sie eine Weile still und lenken Sie uns nicht ab. Leutnant, es ist an der Zeit, daß Sie die Augen aufmachen – Er schüttelte den Kopf und legte, um seinen Widerwillen zu unterstreichen, die Hände flach auf die Augen. »N-nein«, keuchte er, »bitte nicht das.« – Sie müssen, Sir. Kommen Sie, nehmen Sie die Hände herunter ... so ist es gut, Leutnant ... und jetzt
öffnen Sie die Augen ... es gibt wunderschöne Dinge zu sehen ... entspannen Sie die Lidmuskulatur, ja, so, und jetzt langsam öffnen ... ja, gut! – Das Licht stach wie eine Speerspitze in seine halb geöffneten Augen. »Oh!« Er ging in die Knie und schützte die Augen schnell wieder mit den Händen. »Es tut weh ... genug ... nicht mehr.« – Sie gewöhnen sich schnell daran, Sir, es wird nur eine Minute dauern. Der Sergeant wird das Licht dämpfen ... Sergeant? ... versuchen Sie es noch einmal, Leutnant, es wird nicht mehr weh tun ... ja, gut – Das Licht war jetzt gedämpft und stach nicht mehr. Er drehte den Kopf nach rechts, dann nach links, wiederholte das Ganze mehrmals, bis er sich davon überzeugt hatte, daß dieser Ort aus Metall und Glas nicht vom Feind infiltriert worden war. Er nahm eine Hockstellung ein und stützte sich mit dem Gesäß auf den Fersen ab. »Wa-Wasser«, verlangte er erneut. – Jawohl, Sir. Es ist draußen – Das Licht wurde heller, während sie sprach. – Gehen Sie zur Tür, Sir. Wenn Sie draußen sind, werde ich Ihnen den Weg weisen. Es ist nicht weit – – Doc! – – Was ist, Sergeant? – – Wie steht es mit Krankheitserregern? Auf primitiven Welten wie dieser ... – – Meinen Sie vielleicht, ich hätte das nicht berücksichtigt, als ich an ihm arbeitete? Er ist immun – – Oh – Es hörte sich wie ein widerwilliges Zugeständnis an. – Wollen Sie ihm nicht wenigstens ein paar Kleider geben? – – Wozu? Es ist warm draußen. Er braucht keine. Und er würde sie ohnehin dauernd schmutzig ma-
chen – er hätte die meiste Zeit damit zu tun, sie zu waschen – – Hm – Er war in der Luftschleuse. Eine vage Erinnerung verhinderte, daß er ungeduldig wurde, während er darauf wartete, daß die Türen beiseite glitten. Seine Zunge schien dicker geworden zu sein. Sie schien seine gesamte Mundhöhle auszufüllen und unangenehm gegen seine Kehle zu drücken. Dann glitt das äußere Schott zur Seite, und helles grünes Licht flutete herein, das ihn blinzeln ließ. In diesem Moment vernahm er eine hohe, sanfte Stimme in seinem Kopf. – Sir? – Gedämpft, aber trotzdem sehr laut. – Können Sie mich hören, Sir? – »Ja«, murmelte er. »Wasser?« – Immer geradeaus, Sir. Ungefähr zweihundert Schritte – Grashalme streiften seine Beine, als er über die Wiese ging. Eine Baumreihe weiter vorn markierte ein nahes Flußufer. Insekten tanzten um ihn herum, setzten sich auf seine Schultern, krochen über seine Brust. Er ignorierte sie alle bis auf die paar, die ihm in die Augen zu krabbeln versuchten. Dann vernahm er ein neues Geräusch, das er als das Plätschern von Wasser identifizierte. Er beschleunigte seinen Schritt, fing an zu laufen und rannte dann mit voller Kraft. Der Boden unter seinen Füßen fiel plötzlich steil ab, und er stürzte Hals über Kopf die Böschung hinunter. Sein Fall endete in warmem Wasser. Eine silberglänzende Gischt sprühte um ihn hoch, und er trank. – Er hätte sich dabei umbringen können, Doc – – Verdammt nochmal, Sergeant. Ich kann doch sei-
ne Bewegungen nicht kontrollieren! Ich kann nur mit ihm sprechen – – Nun, Sie hätten ... – – Seien Sie still, Sergeant – – Jawohl, Sir! – Er hob den Kopf, und das Wasser lief aus seinem Haar liebkosend über die Haut. Der Sonnenschein war erquickend, wenn er auch blinzeln mußte. Er kniete in dem weichen Flußbett und lauschte den Tieren, die ihn anstarrten. – Doc, die Zeit wird knapp. Nicht nur, daß dieses eine Kriegsschiff noch immer irgendwo dort oben ist, ein weiteres ist auf dem Weg hierher. Sie können über den Feind sagen, was Sie wollen, aber er ist verdammt hartnäckig. Wenn gleich zwei Schiffe suchen, wird es nicht mehr lange dauern, bis sie auf diesen Planeten stoßen. Wann, zum Henker, wird dieses Kind endlich in der Lage sein, mich zu reparieren? Schließlich ist es auch sein Leben, das auf dem Spiel steht – – Ist es wirklich so dringend, Sergeant? – – Allerdings. Uns bleibt höchstens noch ein Monat – – Nun ... – Sein Widerwille war unverkennbar. – Seine physische Wiederherstellung ist abgeschlossen, aber psychisch ... er hat noch keine ausreichenden Fortschritte gemacht, Sergeant – – Ausreichend für was? – – Um seine Pflichten wieder wahrnehmen zu können. Ich werde den Hypno-Ausbilder benutzen müssen, aber ... – er gab einen elektronischen Seufzer von sich – dadurch könnte seine Persönlichkeit noch weiter desorientiert werden –
– Wird er dadurch befähigt, mich zu reparieren? – – Ja. Das schon – – Dann machen Sie es, verdammt nochmal. Über seine Persönlichkeit können Sie sich später noch Gedanken machen – Ein weiterer Seufzer. – Also gut. – Mit erhöhter Lautstärke sendete er seine Botschaft über das TPFeld. – Leutnant? Kommen Sie hierher, Sir. Kommen Sie hierher, Leutnant – Er war versucht, den Ruf zu ignorieren, denn er mochte nicht zu dem Ort aus Stahl und Glas zurückkehren, jenem Ort, wo ihn die Bilder gequält hatten. Aber die Stimme drängte ihn hartnäckig, und er wußte, sie würde erst Ruhe geben, wenn er ihrer Aufforderung nachkam. Das Buschwerk raschelte, als er auf die Lichtung trat. Die storchenbeinigen Kreaturen, die er beobachtet hatte, flüchteten mit hohen und weiten Sprüngen in die entgegengesetzte Richtung; ihre blauen Schwänze winkten ein erschrockenes Lebewohl. Er wartete, bis die letzte verschwunden war; ein wenig trauerte er ihrer Anmut und Schönheit nach. Dann begann er zu laufen, denn die Stimme wurde immer drängender. Der ebene, schlüpfrige Boden des Wildpfades gab unter der Wucht seiner Schritte nach. Seine bloßen Beine, gebräunt in den Tagen, die er am sonnigen Ufer des Wasserlaufs verbracht hatte, holten weit und kraftvoll aus. Sie machten den Lauf zu einem wahren Vergnügen. Über Hindernisse sprang er höher als nötig, einfach um sich an seiner Kraft zu ergötzen. An die Tage davor erinnerte er sich nur undeutlich. Jedesmal, wenn er versuchte, sie zu fassen zu be-
kommen, teilte er sich in zwei Hälften, und jede kämpfte verbissen mit der andern. Auch sonst reichte seine Erinnerung nicht weit zurück; er mußte sich mit den wenigen Bruchstücken, die durch die elastische Barriere drangen, zufrieden geben. Er wußte, daß sein Körper einmal anders gewesen war – kleiner und nicht annähernd so kräftig. Jetzt war er schlank und langgliedrig; er konnte das Spiel der Muskeln unter seiner Haut verfolgen, Muskeln, die einmal fester und kompakter gewesen waren. Er mochte den neuen Körper mit seinen mächtigen Lungen, die so große Mengen der sauberen, frischen Luft fassen konnten, und mit den kräftigen Fingern, die einen Ast nach dem andern greifen konnten, an denen er höher und immer höher hinaufturnte, bis der Stamm sich unter seinem Gewicht neigte und er fast den Boden berühren konnte, wenn er sich weit vornüber beugte. Es war ein guter Körper, und besonders auch die Beine, die schnell, mühelos und unaufhörlich rennen konnten. Stundenlang konnte er den scheuen und schnellen Tieren der Steppe folgen ... oder vor den heimtückischen, blutrünstigen Raubtieren des Waldes davonlaufen. Vögel schrien aufgeregt ihren Protest, als er durch das hohe Gras der Lichtung rannte; sie ließen ihre Mahlzeiten im Stich und flohen in die Baumkronen, um ihn von dort aus aufmerksam zu beobachten. – Treten Sie ein, Leutnant – Er zitterte, als die glänzende Tür zurückwich. Er wagte sich vor in die kubusförmige Kammer mit dem kalten Licht, fühlte, wie sie über seine Haut scheuerte, als müsse auch er glatt poliert werden. Um den Ort aus Stahl und Glas be-
treten zu dürfen, mußte man beinahe selbst ein Bestandteil von ihm werden. – Vielen Dank, Sir ... Bitte, kommen Sie herein – Er verharrte an der Tür, unwillig weiterzugehen, denn der Raum wurde dominiert von den glänzenden schwarzen Konturen des Sessels, in dem er ... Die Luft war scharf und trocken und tot. Sie hüllte ihn ein, trocknete seine Zunge, seine Atemwege aus, kitzelte ihn in der Nase. »Was wollt ihr?« – Zu Ihrer Rechten, Sir – Eine glänzende Kunststoffwand glitt in die Höhe und enthüllte einen Alkoven; seine Augen verengten sich bei dem Anblick. Dumpfe Erinnerungen regten sich in ihm, aber sie waren nur trübe Lichter in einem sonst undurchdringlichen Dunkel. – Gehen Sie bitte dort hinein, Sir – »Ich will nicht.« – Es wird nicht weh tun, Sir, wirklich nicht – Er erhaschte Worte, die nicht für ihn bestimmt waren: – Verdammt noch mal, Doc, können Sie ihn nicht zwingen, hineinzugehen? – – Unmöglich, Sergeant. Er ist unser KO, haben Sie das vergessen? – – Gut, aber ... – – Ich kann mich nicht über meine Programmierung hinwegsetzen, Sergeant, und ich bezweifle, daß Sie sich über Ihre hinwegsetzen können. Egal, in welcher Verfassung er ist, er ist der Chef. Wir müssen ihm gut zureden – Die Stimme wandte sich wieder an ihn. – Gehen Sie bitte dort hinein, Sir, wir benötigen dringend Ihre Hilfe – »Wenn ich es tue, wirst du mich dann wieder hin-
aus lassen?« – Selbstverständlich, Sir – »Also gut.« Er trat in den Alkoven, zog dabei den Kopf ein, weil die Decke so niedrig war. Die Wand senkte sich und hüllte ihn in eine geräuschlose Nacht. Ein kalter Schauer überlief ihn. Der Raum war zu klein und zu glatt. Seine harten Wände und scharfen Kanten wirkten bedrohlich. Er mußte ... – Welches Programm haben Sie ausgewählt, Doc? – – Reparaturen bei Notfällen, aber ich habe erst einmal mit Handhabung von Werkzeugen angefangen – – Wie lange wird es dauern? – – Zwei Stunden und siebenunddreißig Minuten – – Und danach kann er mich reparieren? – Die Stimme bemühte sich, den brennenden Eifer der anderen nicht zu enttäuschen. – Ich hoffe es, Sergeant. Ich hoffe es wirklich – Er legte das Schweißgerät nieder. »Prüf das einmal durch, Sergeant.« – Jawohl, Sir. – Auf der Kontrolltafel leuchtete ein Lämpchen, und tief im Innern ertönte ein friedliches Summen. – Das war's schon, Sir. Hundertprozentig – »Sonst noch was?« – Nein, Sir, das war alles. – Der Computer klang so zufrieden wie ein Mann, der sich nach einer üppigen Mahlzeit behaglich zurücklehnt. – Es ist schön, daß Sie wieder bei uns sind, Sir – »Danke.« Er rollte den Schlauch auf und verstaute ihn zusammen mit den anderen Geräten im Werkzeugkasten. »Ich bin auch froh, daß ich endlich aus diesem Nebel heraus bin, in dem ich die ganze Zeit war.«
– Wir können jederzeit starten, Sir – »So?« Er entspannte sich und sonnte sich in dem wohligen Gefühl, eine schwierige Aufgabe zur Zufriedenheit erfüllt zu haben. Er fühlte sich erschöpft, und der jetzt überflüssige Drang zur Perfektion ließ immer mehr nach. »Fein, laßt mich raus, und ihr könnt weiter euren Pflichten nachgehen.« – Sir? – Es schien, als unterdrücke er seine Überraschung und zwinge sich, die Möglichkeit einer unerwarteten Funktionsstörung in Betracht zu ziehen. – Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie richtig verstanden habe, Sir – »Ich sagte, öffnet eure Tür, damit ich hinausgehen kann ... und dann macht, was ihr wollt.« Die Stimme begann zu stottern, und eine andere fiel mit verbindlichen Worten ein: – Haben Sie vor, draußen zu bleiben, Sir? – »Ja, sicher, Doc.« Ihre Überraschung verblüffte ihn; er meinte sich zu entsinnen, daß sie einmal feinfühliger und nicht so stumpfsinnig wie jetzt gewesen waren. Hatte er sich nicht klar und deutlich ausgedrückt? Sie hatten von ihm verlangt, daß er sie reparierte. Das hatte er trotz seines Widerwillens anstandslos getan. Jetzt war die Arbeit erledigt, und sie konnten starten. »Ihr habt doch wohl nicht geglaubt, ich würde mit euch gehen, oder?« – Offen gestanden, Sir, wir hatten damit gerechnet. Weshalb möchten Sie denn hier bleiben? – Verblüfft zeigte er auf die einengenden Wände und die niedrige Decke. »Ja, seht ihr denn nicht?« fragte er. Er dachte an die ausgedehnten Wälder draußen mit ihren Hügeln und Tälern und dem unbegrenzten Bewegungsraum, den sie boten.
– Wenn es Klaustrophobie sein sollte, Sir, der Hypno... – »Nein!« Er erschrak, als die blanken Wände von der Schärfe seiner Worte widerhallten. Er hatte nicht so schroff sein wollen; er hatte nur seine Abneigung gegen die Maschine zum Ausdruck bringen wollen, die dornige Samen in hilflosen Gehirnen keimen ließ. Er würde nicht zulassen, daß sie noch einmal seine Schädeldecke öffnete und an seinem innersten Wesen herumspielte. Sie hatte ihn bereits verändert, wenn auch, zum Glück, zu seinem Vorteil. Aber er würde ihr keine zweite Chance geben. Er mochte sich, so wie er war: frei, natürlich, aufrichtig. Die Maschinen wollten etwas anderes aus ihm machen, etwas, das mehr Ähnlichkeit mit ihnen selbst hatte. Um ihren Golem zu schaffen, war ihnen jedes Mittel recht, selbst wenn sie dabei seine Seele verstümmelten. In dieser Hinsicht waren sie um keinen Deut besser als der Feind. Menschen brauchen Bewegungsfreiheit und Abwechslung. Sie brauchen den Wind, der manchmal durch einen Kiefernwald weht und manchmal heftig über einen zugefrorenen See dahinfegt. Sie brauchen die Milliarden Geräusche des Lebens und die stets wechselnden Schattierungen der Natur. Und in einem Stahlball, der zwischen den Sternen dahinrollt, bekommen sie davon nichts. Die Maschinen wußten das, aber es kümmerte sie nicht. Unbarmherzig in ihrer Verneinung der eigenen Unabhängigkeit bestanden sie darauf, daß eine menschliche Hand über ihre metallenen Häute strich. Das Verlangen der Hand nach Freiheit bedeutete ihnen nichts. Unerwünschte Nebengeräusche, die be-
seitigt werden mußten. Stecke sie ein paar Mal in die Modulatoren, filtere die statischen Störungen heraus und richte sie, wohin immer du willst. Wenn das ein Herumpfuschen am menschlichen Geist beinhaltet, nun, dann eben ... Mit erschreckender Klarheit sah er seine Feinde sich in seinen Verbündeten widerspiegeln. Die einen wollten Sklaven und die andern Herren. Beide waren bereit, alles, was nicht in dieses Schema paßte, zu beschneiden. Beide hungerte es nach einem Teil des Menschen, dem Teil, der die zugedachte Rolle ausfüllen konnte; keiner von ihnen konnte den Menschen als Ganzes akzeptieren. »Laßt mich raus«, sagte er und hatte Angst, daß, bliebe er noch länger hier, sich sein Verhalten auf subtile Weise ändern könnte. »Laßt mich raus!« – Sir, – argumentierte eine Stimme, es interessierte ihn nicht mehr, welche es war, – der Feind ist unterwegs, und wenn er Sie entdeckt ... – »Laßt mich raus!« Er hämmerte gegen die Tür. Seine Lungen brannten von der Luft, die nicht für ihn, sondern für die Maschinen bestimmt war. Luft, die trocken, kalt und steril war. Sie hätten in einem Vakuum leben können, wären sie nicht solche Masochisten, daß sie nach einem Herrn verlangten. »Ich befehle euch, mich rauszulassen!« – Öffnen Sie die Tür, Sergeant – – Das wollte ich gerade, aber ... – – Sie können ebensowenig meutern wie ich; wenn Sie es versuchen, zerstören Sie sich nur selbst. – – Doc, wir müssen starten, denn sie sind auf dem Weg hierher, und wenn sie diese Seite des Planeten abtasten, werden sie uns sofort entdecken. Doc, allein
kann er hier nicht überleben, nicht ohne Ihr TP-Feld und alles andere – Wir beide wissen das, aber er weiß es nicht. Und er ist der KO. Also ... Moment. Könnten wir nicht Versteck mit ihnen spielen? – – Sie meinen, immer den Planeten zwischen ihnen und uns halten? Klar, kein Problem. – – Geben Sie dem Leutnant ein Funkgerät, mit dem er sich mit uns in Verbindung setzen kann. Wir werden nach dem Start noch so lange wie möglich in der Nähe bleiben. – Die Stimmen waren wie ein kalter Nebel am Rande seines Bewußtseins; er konnte sie nicht vertreiben, und von selbst wollten sie nicht gehen. Die Fäuste taten ihm weh, und seine Kehle war wund. »Bitte«, keuchte er, »bitte, macht die Tür auf.« – Wenn Sie dieses Funkgerät nehmen, Sir, – die Klappe eines Wandfachs sprang auf, und drinnen glitzerte das Funkgerät mit seinen fluoreszierenden Lichtern – werden wir die Tür öffnen. Benutzen Sie es, wenn Sie wollen, daß wir zurückkommen, um Sie abzuholen – Er zögerte. Es konnte eine Falle sein, ein ... trojanisches Pferd. Aus welchem Grund sollte ihn eine Maschine drängen, eine andere Maschine an sich zu nehmen, wenn diese ihn nicht den Forderungen der ersten noch gefügiger machte? Aber – er faßte sie probeweise an und zog dann die Finger schnell wieder zurück – schließlich konnte er sie einfach wegwerfen, wenn er erst einmal draußen war. »Gut.« Er nahm sie aus dem Fach und verbarg sie in der hohlen Hand. Sie fühlte sich so kalt und ruhig an wie ein Kieselstein.
Der Fußboden vibrierte, als die Türen zurückglitten. Argwöhnisch, ob sie nicht doch noch einen Versuch, ihn zurückzuhalten, unternehmen würden, betrat er die Luftschleuse. Sein Herz raste während der wenigen Sekunden, die er in der winzigen Kammer eingeschlossen war. Dann spürte er warmes Licht auf seinen Wangen, und seine Lungen atmeten wieder wirkliche Luft. Er sprang von der Rampe, fing an zu laufen, warf den Mikro-Transmitter weg, ignorierte das leise Abheben des Schiffes, rannte immer weiter ... endlich frei. Sein Regendach – krumme Äste, die mit schlanken Gerten zusammengebunden waren – war nicht dicht, bot aber bei heftigem Regenfall immerhin ein wenig Schutz. Das Feuer ging wieder aus. Er fluchte, suchte in den Schatten nach trockenem Holz, kehrte aber mit leeren Händen zurück. Mit einem erneuten Fluch ergab er sich in sein Schicksal und überließ sich der Dunkelheit. Jetzt, da das TP-Feld nicht mehr bestand, hatte der Wald für ihn ein neues Gesicht angenommen. Vorher hatte er alle Tiere hören und ihre Reaktion auf seinen Geruch im voraus abschätzen können. Die zwei, drei Male, als sich eines entschlossen hatte, ihn anzugreifen, hatte er genügend Zeit gehabt, Verteidigungsmaßnahmen zu treffen. Jetzt, ohne die Maschinen, die sein Wahrnehmungsvermögen geschärft und erweitert hatten, gab es nur die Geräusche der Nacht und die vom Wind herbeigetragenen Gerüche. Wenn ein Tier hungrig war, würde er es erst im letzten Augenblick erfahren. Sein Gesicht verzerrte sich zu einem maskenhaften
Grinsen, als er erkannte, daß er Angst hatte. Und in diesem Moment wurde ihm klar, daß er froh darüber war. Denn zum erstenmal seit Monaten galten seine Befürchtungen der Verletzung seines Körpers. Vielleicht starb er hier inmitten der faulenden Blätter und Zweige, aber er würde wenigstens mit intaktem Verstand sterben. Weder Zähne noch Klauen vermochten mehr, als diesen Verstand zum Erlöschen zu bringen. Alles andere war daneben unwichtig. Die letzte Glut knisterte; eine letzte Flammenzunge wurde ausgespien und erstarb. Er würde bis zum Morgen warten müssen. Er zog sich tiefer in seinen Zufluchtsort zurück, in der einen Hand einen Knüppel, in der anderen den Laser. Er ermahnte sich noch einmal, sparsam mit dem Laser umzugehen – die Ladung würde sich schnell erschöpfen. Seine Lider fielen zu; langsam und bedächtig versenkte er sich in jene nebelhafte Mischung aus Realität und Traum, die dem Einschlafen vorausgeht. Ein Teil von ihm blieb wachsam, bereit, beim ersten Knurren eines Raubtieres oder selbst beim ersten Scheuern von Fell über das regennasse Gras Alarm zu schlagen. – Doc, wir bekommen echte Schwierigkeiten. Sie sind auf dem Weg – – Also spielen wir Versteck mit ihnen, richtig? – – Falsch. Beide Schiffe kommen. Eins könnten wir leicht an der Nase herumführen, aber nicht beide auf einmal. Es würde keine Minute dauern, bis sie unsere Emissionen orteten. – – Was können wir tun? – – Wir könnten versuchen, nach Hause durchzubrechen ... –
– Und den Leutnant im Stich lassen? Kommt nicht in Frage. – – Ich habe befürchtet, daß Sie das sagen würden. Unsere zweite Möglichkeit ist, auf dem Mond dieses Planeten zu landen und uns abzuschalten. – – Aber wenn der Leutnant uns anrufen sollte ... – – Wir könnten einen Schwachstromempfänger in Betrieb lassen; ich habe bereits ein Programm vorbereitet, das uns wecken wird, wenn ein Signal des Leutnants eintrifft – – Nun, wenn Sie meinen ... – – Uns bleibt keine Wahl – – Also gut – Seine innere Unruhe war den ganzen Tag über stärker geworden; er konnte sich nicht länger vormachen, daß sie etwa von sich verändernden atmosphärischen Bedingungen oder der Sorge wegen der Raubtiere dieser Welt herrührte. Sie war zu stark, zu vertraut, zu ... ... nicht böse, genau genommen. Es war etwas anderes, etwas grundlegend Verschiedenes, etwas, das die menschliche Seele nicht akzeptieren konnte, ohne das sie aber fähig war, den genauen Ursprung ihres Widerwillens zu benennen. Die Propagandisten, die dieses Gefühl selbst niemals verspürt hatten, gebrauchten das Wort »böse« immerzu. Aber dadurch wurde die feine Unterscheidung, die sein Verstand zu machen versuchte, verwischt. Er saß auf einem sonnengewärmten Felsen und versuchte das Gefühl auszuloten. Er spürte Stärke, einen festen Vorsatz und einen scharfen Verstand dahinter. Aber – und das verstärkte sein Unbehagen –
alle waren anders, besaßen nur Berührungspunkte mit ihren menschlichen Äquivalenten. Zum Beispiel ihre Schiffe. Sie waren geschlossene Einheiten, besaßen keine erkennbaren Luken oder Luftschleusen, gerade so als seien sie um ihre Piloten herum gebaut worden. Ihre Panzerung machte sie für Laser nahezu unverwundbar, und dennoch behaupteten Experten, die mehrere Schiffswracks untersucht hatten, daß es zwischen Brücke und Maschinen keine Abschirmung gab. Und warum hatte man niemals eine Leiche, ja, nicht einmal einen leeren Raumanzug gefunden? Der ganze Krieg war eine Aufeinanderfolge solcher Rätsel gewesen. Der erste Kontakt war mit einer Laserbreitseite seitens des Feindes hergestellt worden und hatte mit der Evakuierung eines ganzen Sonnensystems geendet. Der Feind hatte keinerlei Forderungen oder Proteste angemeldet. Wie eine unbekannte Seuche hatte er die Menschheit befallen. Selbst nach neun Jahren ständiger Scharmützel war das einzige, was man von ihm wußte, daß er schnelle, fast unangreifbare und todbringende Schiffe baute. Wie die meisten Menschen reagierte auch er auf den Feind wie eine Bulldogge auf die Gegenwart eines Tigers: seine Nackenhaare sträubten sich, der Magen zog sich zusammen, sein Geist wurde überflutet von der Wahrnehmung ihrer Andersartigkeit. Ihre Nähe übte einen solchen Druck auf ihn aus, daß er ihn zwang aufzustehen. Er stand unsicher da, sein Körper warf einen schwarzen Schatten über das braune Gras des Hügelrückens. Sich zu verstecken würde nichts nützen. Der Feind suchte nicht nach seinem Körper – seine Ortungsin-
strumente waren zwar ausgezeichnet, aber zwischen all den anderen Säugetieren hier würden auch sie ihn nicht herauslesen können –, aber das brauchte er auch nicht. Ihr Geist war es, dessen Druck er nicht zu entgehen vermochte. Und er besaß keine Möglichkeit, den Planeten zu verlassen. Ah! Jetzt hatte es ihn bemerkt. Unbewußt mußte es seine Anwesenheit schon früher gespürt haben, aber jetzt war es sich dessen bewußt geworden. Er konnte verfolgen, wie seine Gedanken sich verlagerten, seine Aufmerksamkeit sich auf ihn richtete, nach ihm suchte, bis es ihn im Brennpunkt hatte. Er hatte das Gefühl, von einem monströsen Auge durch ein gigantisches Vergrößerungsglas angestarrt zu werden. Geh fort. Der Befehl kroch durch sein Gehirn wie ein Wurm durch den Erdboden, er hinterließ ein schleimiges Nachgefühl. Er starrte blinzelnd in das blendende Blau, das der Himmel war, als meinte er, das Schiff über sich erspähen zu können. Ich kann nicht, sagte er. Der Feind wußte, daß er die Wahrheit sprach, denn andernfalls hätten sich seine Laser schon in ihn gebohrt. Geht ihr doch. Wenn wir den Drang dazu verspüren, werden wir gehen. Er reagierte rasch, in der Hoffnung, er könne ihn vielleicht beeinflussen, bevor sein Stolz – war das das richtige Wort dafür? Wäre Reflexe nicht vielleicht angebrachter? – es ihm unmöglich machen würde. Dann wollen wir uns in der Zwischenzeit gegenseitig tolerieren. Tolerieren? Er spürte einen Funken Hoffnung. Wie oft hatte er
ihre taumelnden Schiffe schon auf seinen Bildschirmen gehabt, doch noch nie war er einem begegnet, der zu Verhandlungen bereit gewesen wäre. Jedesmal war augenblicklich erbittertes Feuer eröffnet worden, als würde der Feind von einer sofort aufflammenden automatischen Wut ergriffen. Wir wollen uns nicht gegenseitig weh tun, erläuterte er. Gewiß. Beende deine mentalen Prozesse. Das kann ich nicht. Gibt es keinen anderen Weg? Nein. Du trübst die Sicht. Du verwirrst unsere Definitionen. Haß begann in den Gedanken des anderen aufzuflammen. Du störst unsere Wahrnehmungen und verzerrst die Realität. Du mußt sterben. Er wußte jetzt, daß er mit Vernunft nichts erreichen würde. Es ging hier nicht um eine simple Xenophobie oder nationalistisches Gezänk um Einflußsphären. Das strittige Problem war Wahnsinn. Die beiden Rassen konnten nicht koexistieren und gleichzeitig ihre geistige Gesundheit bewahren. Es war, als würde man Eis und Wasserdampf vermengen und darauf hoffen, daß sie ihren Aggregatzustand beibehielten. Aber er wollte nicht kämpfen. Tod war eine Sache; man konnte ihm beinahe gleichmütig entgegentreten, denn eines Tages würde man ihm ohnehin ins Antlitz schauen müssen. Auflösung der Persönlichkeit dagegen war etwas anderes. Zu wissen, daß der eigene Körper als Behausung für ein gefoltertes und verstümmeltes Fragment der Seele weiterleben konnte, hieß, das äußerste Entsetzen vor Augen zu haben. Und es war so elendig qualvoll. Seine Hände bebten. Unfähig, sie unter Kontrolle zu halten, drückte er sie flach gegen die Oberschenkel. Eine Wolke schob sich zwischen ihn und die
Sonne; er zitterte, als wäre es ein Omen. Ihm wurde keine Wahl gelassen: der Feind würde angreifen. Seine einzigen Verteidigungsmittel lagen in ihm selbst. Er konnte zulassen, daß der Feind in seinem innersten Wesen wütete, oder er konnte dagegen ankämpfen. Wenn er nur stärker wäre. Wenn er nur in dem ersten Gefecht nicht so entscheidend geschlagen worden wäre. Also gut, sagte er langsam. Ich begreife, daß einer von uns sterben muß. Sei gewarnt, daß ich zu überleben gedenke. Die in seinen Worten mitklingende Herausforderung war mehr an ihn selbst als an den anderen gerichtet. In einem TP-Kampf waren Überzeugungen manchmal wichtiger als tatsächliche Handlungen. Man konnte sich an ihnen festklammern wie an einem Baumstamm in einer sturmgepeitschten See. Der Angriff, ein mäßiger, wie er erkannte, ging los, als der Feind seine Lichtempfindlichkeit gegen die seine austauschte. Die Farben wechselten. Violettöne verblaßten und wurden durch Rot ersetzt. Die zugrunde liegende Absicht war Desorientierung. Der Effekt war ein surrealistisches Schlachtfeld, das sich beharrlich weigerte, das Blut aufzusaugen, das man ihm feilbot. Er verwarf die Vision und zwang das Spektrum zurück in seinen normalen Sehbereich. Er spürte die Unruhe des Feindes. Als sein Blick über das gegenüberliegende Ufer wanderte, intensivierte er jeden Farbton. Der Feind konterte mit der Gestalt eines Menschen – er selbst, wie ihm geschickt suggeriert wurde. Die Gestalt stand stolz und aufrecht da. Obwohl ihn die Taktik verblüffte, fand er doch Gefallen an der un-
verkennbar heroischen Haltung. Dann schlichen sich Veränderungen ein. Das Bild wurde schärfer und enthüllte einen sternendurchsetzten Hintergrund. Tigeraugen spähten aus der undurchdringlichen Nacht. Die Gestalt wirkte kleiner; ihre Haltung mit einem Mal eher aufgeblasen. Grausames, höhnisches Gelächter erschallte am Firmament. Das Bild dehnte sich aus und ließ ihn proportional dazu schrumpfen. Aus dem Weltraum wehte ein eisiger Wind, ein Wind, der an seinen Gliedern zerrte und ihn in seiner Einsamkeit verhöhnte. Er sei allein, sagte der Wind zu ihm, denn seine Rasse wolle ihn nicht. Er habe etwas an sich, das sie abstieß, ein Talent, das ihn zum Paria mache. Sie hätten ihn ausgestoßen, flüsterte der Wind, ihn fortgeschickt, damit ihre Töchter vor ihm sicher seien und ihre Enkelkinder normal würden. Sie hätten ihn in der unendlichen Leere, in der das Universum schwamm, ausgesetzt und hofften darauf, daß er niemals den Weg zurück fände. Und er, toste der Wind mit bitterem Spott weiter, hatte geglaubt, man habe ihn geehrt. Er hatte geglaubt, er würde gebraucht. Tatsächlich hatte er sich, ebenso wie all die anderen verdammten Narren, die in ihren Chromkäfigen, so fern von ihren Artgenossen, durch den Weltraum kreuzten, schon als Held gesehen. Lüge, schrie der Wind, alles Lüge. Seine Schultern sanken schlaff herab, und sein Kopf kippte nach vorn; er sackte in sich zusammen. Der Wind sagte die Wahrheit. Er war ein Ausgestoßener, ein Aussätziger, ein ... ein ... Schmerzhafte Nadelstiche in seine Handflächen
rüttelten ihn auf. Er drückte fester zu, drückte, bis Blut aus den winzigen Wunden quoll. Es gab ihm etwas, woran er sich festhalten konnte, während er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Dann war er bereit. Du lügst! Das Bild in seinem Kopf schwankte, bekam Risse und zerfiel in tausend Bruchstücke. Das ist deine Lebensgeschichte, nicht meine. Ich werde geliebt. Um seine Gewißheit zu unterstreichen, schöpfte er kurz aus seiner Erinnerung; eine Szene nach seiner letzten Mission: eine Halle, vollgestopft mit Freunden und Verwandten, Reportern, eifrigen Gönnern ... er war beglückwünscht worden, hatte Hände geschüttelt, überall waren Mikrofone gewesen, hübsche junge Damen hatten sich um ihn gedrängt ... Ich werde geliebt, verstehst du? Fühlst du es? Du bist derjenige, der nicht geliebt wird! Er würde ihm zeigen, warum. Er würde es ihm beweisen. Sein Blick schweifte suchend über die Wasserlachen, in denen sich das Sonnenlicht spiegelte, folgte den unsteten Schatten. Dort, auf dem feuchten Erdboden am Wasser – – das Schiff des Feindes aus der Ferne. Szenenwechsel in den Kontrollraum, die Panzerung abschälen. Dann, abrupt, ein Bild des Pilotensessels – – wie er von Kot und Tausenden von Maden überflutet wird. Dieses plötzliche Nebeneinanderstellen von Szenen hätte den Feind erschüttern sollen, aber er schien stärker als erwartet. Er schlug zurück wie eine Peitsche; er mußte beiseite springen. Während er sich zurückzog, erinnerte er sich an die Abfolge des früheren Scharmützels, und als die gigantischen Zähne nach ihm schnappten –
– ließ er sie faul werden, bis sie zu Staub zerfielen. Das gab ihm Zeit für einen neuen Angriff: sein eigenes Volk (vage Schemen, mit einem Auslöser versehen, der den Gegner veranlassen würde, das Bild zu vervollständigen) trieb den Feind in sein Schiff, schweißte die letzte Platte zu und schickte ihn auf einen Kamikazeeinsatz. Ein Spiegel. Er selbst. Die Gesichtszüge schlaff und eingefallen, das Fleisch löst sich langsam auf, zerschmilzt, rinnt wie Wasser die Knochen hinunter, die – – allein in einem Durcheinander von Maschinen, während ein radioaktiv verseuchtes Schott unsichtbares Feuer speit – – die eigene Hand, die bis zur Unsichtbarkeit verblaßt – – ein übelriechendes, verschlossenes Grab – – das Nichts – – Haß – Die gewaltsame, leidenschaftliche Negierung seines Feindes erschütterte ihn. Dann – er war zu müde, zu unfähig. Seine Attacken blieben wirkungslos; seine Verteidigungskraft schwand rasch dahin – dann geh doch zu ihnen, verdammt nochmal, schließ dich ihnen an, umarme sie. Fast schon resigniert übermittelte er das Muster der Szene von vorhin, die Rückkehr von seiner letzten Mission. Die äußerlichen Details hielt er sehr vage, damit der Fremde seine eigenen Vorstellungen hineinprojizieren konnte. Er spürte, wie es einsickerte – – und fast augenblicklich riß es ihn von seinem steinernen Sitz hoch. Er spürte den Schock und das Entsetzen des Gegners. Verwundert schaute er auf und rieb sich den Hinterkopf. Der Feind schien vor
Abscheu zu zittern. Die untergehende Sonne warf Lichtbande über den Horizont, als könne sie so ihr Sinken hinauszögern. Pelzgefiederte Vögel flogen krächzend vorüber und schnappten gierig nach den Insektenwolken, die den Himmel trübten. Er starrte sie an, ohne zu sehen, während sein Verstand den Gegner sondierte. Und dann begriff er. Danach war es einfach. Er erinnerte sich an so viele Gemeinschaftserlebnisse ... die einzige Schwierigkeit war, sich für eines zu entscheiden. Er wählte sie einfach aufs Geratewohl, wie ein Bogenschütze, der auf gut Glück in seinen Köcher greift, und schoß sie eines nach dem andern ab: liebevolle Verwandte, leidenschaftliche Freundinnen, jubelnde Mannschaftskameraden ... Die Ausstrahlungen des Feindes zeugten von seiner Bedrängnis, aber das war nicht genug. Er sollte noch mehr bekommen. Er betrachtete seine Hände. Es waren starke, geschickte Hände. Er ließ sie kreisen, bewegte sie hin und her. Er machte Fäuste, Flügel und Klauen, multiplizierte sie mit tausend, dann mit einer Million. Alle Hände des Universums griffen nach dem Feind, bemühten sich, ihn zu berühren, brannten darauf, ihn zu streicheln. Ein Wald aus Fingern, alle – Als er das Bewußtsein wiedererlangte, war es still in seinem Geist. Der Feind war fort. Mit steifen Gliedern begann er Brennholz zu sammeln. Bald würde die Nacht über ihn hereinbrechen und mit ihr die anderen Raubtiere. Der Stapel Brennholz wuchs. Fledermäuse zirpten aufgeregt, als sie sich ein Festmahl aus den Insekten bereiteten, die er
aufgescheucht hatte. Eine Mischung aus Müdigkeit und innerer Unruhe schien jeden trockenen Zweig in einen Eisenstab zu verwandeln. Schließlich konnte er sich auf dem harten Untergrund niederlassen und sich von den prasselnden Flammen ein wenig aufwärmen lassen. Die Vorstellung, den Rest seines Lebens in dieser Zurückgezogenheit zu verbringen, hatte ihren Reiz verloren. Die Ladung des Lasers war fast erschöpft, was die Jagd erheblich erschweren würde. Und der Sommer war fast verstrichen, ging bereits in den Herbst über. Er taugte nicht für das Leben auf einem Planeten – er war ein Aufklärerpilot. Die lebenstrotzenden Wälder waren für andere bestimmt, für Menschen, die etwas Handfestes, etwas sinnlich Faßbares, eine greifbare Realität brauchten. Aber er brauchte das nicht. Er reiste durch die Unendlichkeit, und die Leere war sein Zuhause. Dort war er in seinem Element, und ohne das war er nichts. Wie jemand, der sich einen Stummfilm ansieht, versuchte er sich in seine Erinnerungen zu vertiefen und zu ergründen, warum er sein Schiff hatte verlassen wollen. Was er fand, war eindimensional, unverständlich: ein rennender Mann, der fortwährend einen Blick über die Schulter zurück warf, obgleich ihn gar nichts verfolgte. Das Bild ließ kein Mitgefühl aufkommen, ließ ihn nicht verstehen, was ihn gejagt hatte. Die beiden waren völlig verschiedene Menschen. Er meinte, sich der ungefähren Stelle zu entsinnen, wo er den Mikro-Transmitter zurückgelassen hatte. Morgen würde er ihn suchen.
– Willkommen an Bord, Leutnant – »Danke, Sergeant.« Er überblickte den kleinen Raum mit unverhüllter Freude. »Sind wir startbereit?« – Ich würde vorher noch gern eine rasche medizinische Untersuchung machen, Sir, – sagte der andere Computer. – Es müssen auch ein paar Veränderungen in Ihrer Physiologie vorgenommen werden, um Ihren ursprünglichen Zustand wiederherzustellen – »Gut.« Er ging zu dem hierfür richtigen Kämmerchen hinüber und wartete, daß die Wandverkleidung zurückglitt. »Es wird doch nicht lange dauern, oder?« – Nur einen Augenblick, Sir. – Die Tür schob sich mit einem Zischen hoch, und dahinter erschien einladend eine Lampe. – Gehen Sie bitte hinein, Sir – Das subkutane Spray stach ihn in den Arm wie ein liebevolles Insekt, und das Betäubungsmittel drang in seine Adern ein. Die Welt wurde in einen dichten Nebel gehüllt, aber am Rande seines Bewußtseins vernahm er noch die Stimmen. – Ihr Vabanquespiel hat sich ausgezahlt, Doc – – Genau, wie ich voraussagte, – erwiderte er ohne eine Spur von Selbstgefälligkeit. Sie sprachen noch weiter, aber er hörte nicht mehr zu. Die Drogen, die seinen Geist von seinem Körper abgesondert hatten, hatten noch etwas anderes freigesetzt, etwas, das sich langsam in den Vordergrund seines Bewußtseins schob. Es war eine vage Idee, die am vorangegangenen Abend in seinem Unterbewußtsein Wurzeln geschlagen hatte und nun in ihm zu erblühen begann. Die Erinnerung an Liebe hatte den Feind vom Schlachtfeld getrieben, nachdem Haß und Wut ver-
sagt hatten. Die anderen Aufklärerpiloten mußten über diesen wunden Punkt des Gegners informiert werden. Bei der ersten Gelegenheit mußte er die Basis benachrichtigen. Die Erkenntnis hatte jedoch noch eine andere Facette, eine, die von vielleicht größerer Bedeutung war als ihr Vernichtungspotential: Sie war ein Maßstab für die Andersartigkeit des Feindes, für die gewaltige Kluft, die zwischen ihm und der Menschheit lag. Und somit konnte man aus dieser Erkenntnis auch einiges über die grundlegende Einstellung des Menschen zum Leben ableiten. Wenn wir die Einsamkeit meiden, während sie vor dem Zusammensein fliehen, wenn wir Ansehen hochschätzen, während sie sich nach Bedeutungslosigkeit sehnen, wenn wir mit derselben Hartnäckigkeit am Leben festhalten, mit der sie den Tod suchen ... wenn unsere Liebe ihr Haß ist ... könnte, was für uns Krieg gewesen ist, für sie Spiel gewesen sein? Vielleicht, grübelte er, während die Medi-Maschine ihn bearbeitete, ihm Blut übertrug, ihn zurechtstutzte und umwandelte, haben wir sie von Anfang an mißverstanden. Was heißen würde, daß vielleicht sie uns mißverstanden haben. Was heißt ... mein Gott, glauben sie vielleicht, wir haben Spaß daran? Diese Frage würde er dem Fei – den Anderen bei der nächsten Begegnung stellen müssen.
Originaltitel: A MEETING OF MINDS. Aus GALAXY 6/77
Lisa Tuttle KASPAR HAUSER II. Freya war die erste, die den Fremden erblickte. Eines nachts, als sie an ihrem Fenster saß und davon träumte, einen Freund zu haben, tauchte er aus dem schwarzen Nirgendwo der west-texanischen Nacht auf. Er ging, als wate er durch tiefes Wasser oder als ziehe er schwere Gewichte an den Beinen hinterher. Sie war sich nicht sicher, ob diese Erscheinung, die da über das Gras watschelte, nicht vielleicht nur in ihrer Einbildung existierte, bis die Hunde aufmerksam wurden und zu kläffen und zu heulen anfingen. Eine Etage tiefer, in dem großen düsteren Wohnzimmer, saß Frank Hudspeth im Lichtkreis einer Schreibtischlampe und las Berichte über seltsame Erscheinungen und außerirdische Besucher. Das Gebell der Hunde – er hatte sie noch nie einen solchen Lärm machen hören – verursachte ihm ein Prickeln im Nacken. »Was ist denn mit den Hunden los, Frank?« fragte Edwina vom Türeingang her. Sie stand fast auf den Zehenspitzen – ein Tick von ihr, den sie immer dann bekam, wenn sie nervös war. Frank beugte sich vor und fischte seine bequemen, ausgetretenen Schuhe unter der Fußbank hervor. »Ich gehe mal raus und sehe nach«, meinte er. »Wahrscheinlich ist es nur ein Koyote.« »Meinst du nicht, du solltest lieber ein Gewehr mitnehmen?« Frank besaß mehrere Gewehre. Sie waren ihm zu-
sammen mit dem Haus und der Ranch von seinem Vater hinterlassen worden, aber er hatte sich nie mit ihnen anfreunden können. »Ach, nein, Schatz«, sagte er, als er aufstand und seinen Bauch einzog. Er schaute seine Frau zärtlich an. »Ich stelle die Hofbeleuchtung auf der Veranda an, bis ich sehe, was es ist. Die Hunde spinnen sowieso.« Frank schaltete die Hofbeleuchtung ein, ging hinaus auf die Veranda und schrie: »Mistviecher! Ihr seid jetzt still!« Er starrte unsicher auf den Mann, der über den Rasen taumelte. Ein Betrunkener von der Landstraße? Aber weshalb machten die Hunde dann so ein Theater? »Mister?« rief Frank unsicher. Die Hunde beruhigten sich endlich. Der Fremde taumelte weiter vorwärts. Dann stürzte er plötzlich hin und lag mit dem Gesicht nach unten flach auf dem Boden. Freya wandte sich vom Fenster ab, als sie sah, wie ihr Vater zu dem gestürzten Fremden hinüber lief. Sie hatte die Fäuste geballt, und ihre Fingernägel gruben tiefe Mondsicheln in ihre Handflächen. »Nein, ich kann nichts Ungewöhnliches an ihm feststellen«, sagte Dr. Kaye. Er seufzte und schob die Unterlippe vor. »Wahrscheinlich braucht er nur Schlaf.« »Aber etwas muß ihm doch fehlen, Doktor«, sagte Edwina, ein verständiges Lächeln auf den Lippen. »Schließlich ist er bewußtlos.« Dr. Kaye sah sie ohne sonderliches Mitgefühl an. »Richtig, Ma'am. Er riecht nicht nach Alkohol, also
scheint er nicht betrunken zu sein. Er hat keine Beulen am Kopf und scheint auch keinen Schock erlitten zu haben. Vielleicht ist er nur vor Kälte und Erschöpfung ohnmächtig geworden – seinem Aussehen nach zu urteilen, hat er ein ganz schönes Stück Weg hinter sich, und eine anständige Mahlzeit wäre für ihn wahrscheinlich etwas Neues. Es könnten auch Drogen sein, oder auch eine Kombination von verschiedenen Dingen – Drogen, Hunger, Erschöpfung. Wahrscheinlich ist er bloß irgendein Stromer aus Kalifornien, der mal in die Berge wollte oder einfach durch die Gegend fuhr, und dann den Wagen anhielt, weil ihm schlecht war. Und dann vergaß er, wo er sein Auto abgestellt hatte, und mußte zu Fuß weitergehen. Ihr Pech, daß er ausgerechnet auf Ihrem Hof zusammengeklappt ist.« »Wieso glauben Sie, daß er aus Kalifornien kommt, Doktor?« fragte Frank. »Schließlich hatte er keine Ausweispapiere bei sich.« »Kalifornien, New Mexico, Las Vegas.« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Wen kümmert das schon? Jedenfalls ist er nicht von hier, und offensichtlich ist er vollgepumpt mit Rauschgift ...« »Ich dachte, Sie wären sich dessen nicht sicher«, meinte Edwina. Der Arzt zuckte gereizt mit den Schultern, als hätte sich eine Fliege auf seinem Ohr niedergelassen. »Natürlich bin ich mir dessen nicht sicher. Dazu müßten wir erst Tests machen. Haben Sie den Sheriff verständigt?« Frank nickte. »Mittlerweile sollte er eigentlich schon hier sein«, erwiderte er und fragte sich im stillen, ob der Sheriff wirklich kommen würde. Er hatte
ungläubig geklungen am Telefon, und Frank erinnerte sich nur zu gut an eine unangenehme halbe Stunde, während der der Sheriff ihn über »dieses verrückte UFO-Buch, das Sie geschrieben haben«, ausgefragt hatte. Er hatte ihm das Eingeständnis zu entlokken versucht, daß das Ganze ein Witz oder eine Falschmeldung wäre, aber Frank hatte auf seinem Standpunkt beharrt, und seitdem sah ihn der Sheriff bei den seltenen Gelegenheiten, wo sie einander begegneten, immer so an, als halte er ihn für übergeschnappt. »Der Sheriff wird schon wissen, was zu tun ist«, meinte Dr. Kaye. Draußen begannen die Hunde zu bellen – diesmal war es ihr normales Kläffen. »Das muß der Sheriff sein«, meinte Edwina erleichtert. Frank betrachtete sie nachdenklich. Ob sie wohl die gleiche Erleichterung verspüren würde, wenn sie wüßte, daß der Sheriff sie in der Stadt »dieses überkandidelte Weibsbild« nannte? Frank näherte sich seiner Frau und legte schützend den Arm um sie. »Ich werde jetzt gehen«, sagte Dr. Kaye. »Wenn Sie mich entschuldigen wollen.« Der Sheriff stieg gerade aus seinem Wagen, als Dr. Kaye auf die Veranda trat. Frank und Edwina standen in der offenen Tür und sahen zu, wie die beiden Männer einander begrüßten und leise ein paar Worte wechselten. »Doc meint, ihr hättet hier so eine Art Hippie im Drogenrausch?« fragte Sheriff James, als er den Hut abnahm. Er trat ein und sah sich in der hohen Diele um. »Wo haben Sie ihn denn versteckt?« »Er ist oben im Gästezimmer«, sagte Edwina. »Und
wir wissen nicht, ob er Drogen genommen hat. Dr. Kaye meinte, er könne es nicht mit Bestimmtheit sagen.« »Ja, Ma'am. Das weiß ich«, erwiderte der Sheriff. Er folgte Edwina die Stufen hinauf. Der Sheriff war der Ansicht, daß der Fremde entweder ein rauschgiftsüchtiger Mexikaner oder irgendein verrückter Stromer aus einer dieser Kommunen in New Mexico war. Er bot ihnen an, den Fremden einzusperren, schließlich, meinte er, könne der Mann, der keinerlei Ausweispapiere besaß, ein illegaler Einwanderer sein. »Es gibt hier nirgendwo eine Grenze in der Nähe«, wandte Frank ein. Der Sheriff zuckte die Achseln. »Kann jedenfalls nicht schaden, ihn einzusperren. Morgen, wenn er wieder bei Sinnen ist und sich erklären kann, lasse ich ihn raus, und er kann seiner Wege gehen.« »Nein, danke«, sagte Frank. »Ich glaube kaum, daß wir ihm einen Gefallen erweisen, wenn wir ihn einsperren lassen.« »Vielleicht tun Sie sich damit einen Gefallen«, sagte Sheriff James. »Sie haben doch wohl nicht vor, diesen Burschen über nacht hier zu behalten?« »Er kann so lange hier bleiben, wie es nötig ist«, erwiderte Frank kalt. »Gibt es vielleicht keine Gastfreundschaft mehr?« »Typen wie der hier machen sie zu einem Risiko«, meinte der Sheriff. »Vielen Dank, daß Sie uns Ihre kostbare Zeit geopfert haben, Sheriff James«, sagte Frank. »Wir wissen es zu schätzen, daß Sie zu so später Stunde noch zu uns heraus gekommen sind.«
Der andere zuckte die Achseln und setzte seinen Hut auf. »Sie sollten sich vorsehen. Er könnte auch aus einer Nervenheilanstalt ausgebrochen sein. Zwar liegen uns keine entsprechenden Informationen vor, aber das will nichts heißen. Er könnte von weither kommen und sich eine Zeitlang versteckt gehalten haben. Ich will sehen, ob ich morgen etwas herausbringen kann – ich werde versuchen, Informationen aus Mexiko einzuholen, und lasse mir die neueste Liste mit Vermißtenanzeigen schicken. Machen Sie ein Foto von diesem Burschen, wenn er die Augen aufmacht, und bringen Sie es vorbei.« »Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee, bevor Sie gehen?« fragte Edwina. »Nein, danke, Ma'am.« Er nickte ihnen zu. »Rufen Sie mich morgen an, wenn er zu reden anfängt – oder wenn er nicht redet.« Freya kauerte vor ihrer Zimmertür und lauschte den Stimmen im Korridor. Als sie hörte, wie alle wieder hinuntergingen, schlich sie sich über den Korridor ins Gästezimmer. Dort saß sie lange neben dem Bett des Fremden und beobachtete die schwachen Bewegungen seiner Augen hinter den geschlossenen Lidern, und sie fragte sich, welche seltsamen Dinge diese Augen wohl gesehen haben mochten. Sie hatte so ein Gefühl, als ob sie es bald erfahren würde. Am Morgen war der Fremde bei Bewußtsein, aber entweder wollte oder konnte er nicht sprechen. Edwina fragte ihn auf Englisch, Spanisch, Französisch und Russisch, aber er reagierte nicht. Er starrte nur verständnislos aus seinen dunklen Augen, während Frank es mit einfacher und komplexerer Zeichenspra-
che versuchte. Freya, die in der Türöffnung stand und das Geschehen verfolgte, begann beim Anblick der Verrenkungen ihres Vaters zu kichern. Edwina drehte sich um. »Du bist ja immer noch hier. Du wirst wieder den Bus verpassen, wenn du dich nicht beeilst.« Ihrem Blick war deutlich zu entnehmen, daß sie der Ansicht war, Freya habe hier nichts zu suchen. Freya machte sich auf den Weg. Der Bus war gleich fällig, und wenn sie ihn noch erwischen wollte, würde sie den langen Weg bis zur Landstraße rennen müssen. »Ich frage mich nur, was er gerade denkt«, sagte Edwina. »Er könnte noch immer im Rauschzustand sein«, sagte Frank. »Vielleicht wird er heute nachmittag in der Lage sein zu sprechen.« »Es ist wirklich merkwürdig, daß er absolut nichts bei sich hatte, aus dem man auf seine Identität schließen könnte. Nicht einmal Etiketten in seinen Kleidern.« »Die Kleider sind alt«, sagte Frank. »Und er könnte seine Brieftasche im Auto gelassen haben.« »Falls er mit einem Auto kam.« »Vielleicht hat man ihn auch überfallen und ausgeraubt«, sagte Frank. »Er könnte einen Anhalter mitgenommen haben, der ihn dann mit der Pistole bedroht und mitten in der Wüste ausgesetzt hat.« »Er ist irgendwie mysteriös«, meinte Edwina. Sie betrachtete das Gesicht des Mannes, das durch den Kontrast mit dem weißen Kopfkissenbezug sehr dunkel wirkte. Er schaute sie ebenfalls an, mit dem leeren und verständnislosen Blick eines kleinen Kindes.
»Wahrscheinlich gibt es weit mehr mysteriöse Fremde, als man gemeinhin annimmt. Sie kommen von irgendwo her, und dann steckt man sie in irgendeine Schublade. Sie sind eben verrückt oder krank, kommen aus einem anderen Land oder haben das Gedächtnis verloren.« »Wir müssen nach Tatsachen suchen, Edwina«, sagte Frank. »Sonst können wir uns gleich ein Märchen ausdenken.« »Ach, Tatsachen«, sagte Edwina verächtlich. »Wissenschaftliche Evidenz. Das ist nicht alles im Leben. Wie steht es mit Gefühlen, Frank? Findest du nicht, daß man Dinge fühlen kann, die einem sonst verborgen bleiben?« Frank wandte den Blick von ihrem anklagenden Gesicht ab, ihm war äußerst unbehaglich zumute. »Ich sehe mich in der Gegend mal nach seinem Auto um«, sagte er. »Vielleicht hatte er nur ein paar Meilen von hier eine Panne, vielleicht ist ihm nur das Benzin ausgegangen.« »Ich bezweifle, daß er mit einem Auto kam«, sagte Edwina. Sie blickte wieder zu dem Fremden. »Aber du kannst es ja versuchen.« Frank verbrachte den größten Teil des Morgens auf der Suche in dem warmen, windigen Land. Zuerst holte er den Wagen aus der Garage und fuhr volle zehn Meilen in beide Richtungen der Landstraße, die sich von Osten nach Westen durch das flache, offene Terrain zog. Er fuhr langsam, suchte beide Seiten der Straße nach versteckten Gräben ab, die tief genug waren, um ein kleineres Auto zu verbergen. Er betrachtete angestrengt die staubige, trübselige Landschaft, bis ihm die Augen schmerzten.
Er fand nichts. Er stellte den Wagen wieder in der Garage ab und ging zu Fuß über sein Land – Land, dessen Eigentümer er zwar war, das er aber an einen Nachbarn verpachtet hatte, der noch zusätzlich Weide für sein Vieh brauchte. Frank wunderte sich, daß es auf diesem kargen Boden überhaupt genug zu Fressen fand. Er ging auf den Wassertümpel zu, und die jungen Ochsen mit ihren schwarzen Gesichtern wichen, als er näher kam, träge vor ihm zurück. Frank schleuderte einen Stein in das stille trübe Wasser und erinnerte sich, wie er als Junge darin gebadet hatte, damals, als er drei Sommer bei seinem Großvater verbracht hatte. Er dachte über Edwina und über den Fremden nach, und er fragte sich, welche Kraft einen Mann wohl dazu bewegen konnte, meilenweit zu Fuß über ausgedorrtes Ödland zu gehen. Als er das Haus wieder betrat, hörte er Edwina im Arbeitszimmer telefonieren. Er verharrte neben der Tür und horchte einen Augenblick, dann ging er befriedigt weiter. Der Anrufer war ein weiterer begeisterter »Missing Hours«-Interessent. »The Missing Hours« war Franks erstes Buch und handelte von Edwina. Der Titel bezog sich auf vier Stunden, die aus Edwinas Gedächtnis verschwunden gewesen waren, bis sie sich eines Tages unter Hypnose wieder an sie erinnerte. Sie gab eine verblüffende und detaillierte Schilderung von einer Begegnung mit außerirdischen Lebewesen in einem Raumschiff. Nach dem Erfolg von »The Missing Hours« hatte Frank noch weitere Bücher über die UFOErscheinungen geschrieben, aber das Material stammte ausschließlich aus zweiter Hand, zusam-
mengestellt aus Interviews und anderen Büchern. Sie hatten sich gut verkauft, aber es war »The Missing Hours«, das noch immer die neugierigen Briefschreiber, Anrufer und Besucher anzog. Es wurde Zeit, dachte Frank, daß er ein neues Thema für ein Buch fand. Dann hielt er betroffen inne: konnte der Fremde im Obergeschoß eine Ente sein? Er würde sehr sorgsam vorgehen müssen, entschied Frank. Er wußte, woran Edwina gern glauben wollte – woran sie bereits glaubte – und er wußte, daß es schwer sein würde, ihren Glauben mit seiner Suche nach der Wahrheit zu konfrontieren. Freya saß auf dem harten Boden des Schulhofs, den Rücken gegen den kalten Metallpfosten gelehnt, an dem der Tetherball aufgehängt war, und wartete, daß ihre Mutter sie abholte. Sie wußte, daß ihre Mutter böse auf sie sein und sie beschuldigen würde, den Bus absichtlich verpaßt zu haben. Und damit würde sie recht haben. Freya mochte nicht, daß ihre Mutter böse auf sie war, aber hätte sie es gewagt, sie hätte den Schulbus jeden Tag verpaßt. Freya hatte keine Freunde, und die tägliche Busfahrt nach Hause war jedesmal eine Tortur. Sie bedeutete Hänselei oder Ausgeschlossensein. Die anderen Kinder konnten sie nicht leiden. Sie erregte ihren Argwohn, weil sie anders war und auch keinen Versuch unternahm, sich beliebt zu machen. Aber wie konnte sie sich auch mit Kindern anfreunden, die sich über ihren in der Stadt aufgewachsenen Vater lustig machten, weil er verrückte Bücher
schrieb, anstatt Rinder zu züchten, und über ihre Mutter, weil sie sich mit Monstern aus dem Weltraum unterhalten hatte? Freya runzelte die Stirn und zog die Knie bis an die Brust. Wie konnte jemand, dessen Vorstellungskraft von einer Reise zu einem weit entfernten Ort gerade bis zu einem Wochendausflug zu den Wichita-Fällen reichte, es wagen, sich über ihre Mutter lustig zu machen, die wahrscheinlich einer der bedeutendsten Menschen auf diesem Planeten war? Ihre schöne, intelligente, berühmte Mutter. Es ist schlimm, keine Freunde zu haben und das einzige Mädchen in der sechsten Klasse zu sein, das noch von keinem Jungen gefragt worden war, ob es mit ihm ausgehen wolle, aber Freya war bereit, sich mit allem abzufinden, wenn es nur wirklich wichtig war. Wenn nur ihre Mutter es einmal merken und sich darum kümmern würde. Freya war acht Monate nach Edwina Hudspeths »fehlenden Stunden« geboren worden. Als ihr diese fehlenden Stunden fünf Jahre später wieder ins Gedächtnis zurückgerufen wurden, entging ihr natürlich nicht die Bedeutung des zeitlichen Zusammenhangs mit Freyas Geburtsdatum. Auf die Möglichkeit, daß Edwina während ihres Aufenhalts bei den Außerirdischen geschwängert worden sein könne, oder daß der einen Monat alte Fötus auf irgendeine Weise verändert worden sein könne, war in dem Buch hingewiesen worden, wenn die Hudspeths auch zugeben mußten, daß sich Freya in keiner Weise von anderen menschlichen Kindern zu unterscheiden schien. Ärzte, Wissenschaftler, Mystiker, Spinner und Skeptiker, alle von dem Buch der
Hudspeths angelockt, hatten die Ranch aufgesucht, um Freya zu inspizieren. Für kurze Zeit stand Freya im Mittelpunkt allgemeinen Interesses. Freya wurde auf alle möglichen Dinge hin getestet, aber alle Resultate liefen darauf hinaus, daß sie ein zwar gescheites, ansonsten aber ganz normales kleines Mädchen war. Freya wollte ihrer Mutter ja gern eine Freude machen, aber alle Hinweise, die sie von ihr erhielt, blieben ergebnislos. Wie sehr sie sich auch bemühte, sie konnte eben keine Gedanken lesen, die Zukunft voraussagen oder kleine Gegenstände durch den Raum schweben lassen. Und was sie konnte, war offenbar nicht außergewöhnlich genug, als daß sie ihre Mutter damit hätte erfreuen können. »Es ist vielleicht ein Indianer«, sagte Frank zum wiederholten Mal. Er und Edwina beobachteten den Fremden, der halb aufgerichtet im Bett saß und sie mit verwirrten braunen Augen anschaute. »Ich glaube kaum, daß es noch Indianer gibt, die kein Englisch oder wenigstens Spanisch sprechen«, sagte Edwina. »Und selbst wenn er aus einer abgelegenen Gegend irgendwo in Mexiko kommt – wie ist er hierher gekommen?« Freya, die still in der Türöffnung gestanden hatte, kam jetzt in das Zimmer herein, den Blick fest auf den Mann im Bett geheftet. Dieser wandte den Kopf, um sie anzuschauen. »Freya!« sagte Edwina scharf. »Ist schon gut, Mama«, sagte Freya. »Er ist mein Freund.« Als sie sprach, streckte der Fremde eine Hand aus. Sie tätschelte sie sanft. »Freya«, sagte Frank unsicher.
»Laß sie, Frank«, sagte Edwina. »Freya hat recht. Ich glaube, er mag sie.« Freya lächelte ihn an. Einen Augenblick später erwiderte der Fremde das Lächeln. Es wirkte ein wenig unheimlich. Später in der Nacht, als es im Haus still und dunkel geworden war, kehrte Freya ins Gästezimmer zurück, um mit dem Fremden zu sprechen. Sie stellte ihm Fragen über ihn selbst und über die Welt, von der er gekommen war. Sie beantwortete die Fragen selbst, denn der Fremde blieb still. Sie konnte sehen, wie seine Augen im Mondlicht, das durch die dünnen Vorhänge drang, schimmerten, und sie wußte, daß er wach war und zuhörte. »Wie ist es dort, wo du herkommst?« fragte Freya leise. »Kannst du dort Wunderdinge vollbringen? Du hast ein Auto, das fliegt, nicht wahr? Und du fährst damit auf Straßen, die wie Bänder aus Licht in der Luft hängen. Vögel fliegen direkt durch sie hindurch, aber dein Auto folgt der Lichtstraße und stürzt niemals ab. Du wohnst auch nicht in einem Haus wie diesem. Du wohnst in einem Haus mit Kristallwänden, in dem die Farben mit deinen Stimmungen wechseln. Du kannst durch sie hindurch sehen, wenn du willst. Und jeden Herbst gehst du hinaus und klatschst in die Hände, und das ganze Haus zerbröckelt – es vergeht wie brennende Blätter und wie Schnee. Und um dann ein neues zu bauen, brauchst du nur –« Die Tür ging auf, und Edwina stand dort, einen großen Zeichenblock und ein halbes Dutzend Filzstifte in den Händen, bereit, einen neuen Verständi-
gungsversuch mit dem Fremden zu unternehmen. »Was machst du denn hier?« fragte sie. »Weshalb bist du nicht in der Schule?« Freya ging verlegen ein Stück vom Bett zurück. »Es ist doch Sonntag, Mama.« »Egal, jedenfalls solltest du nicht hier sein und unseren Gast belästigen.« »Ich belästige ihn nicht«, sagte sie schnell. »Alph und ich haben uns nur unterhalten.« »Widersprich – hast du ihn eben Alph genannt?« Freya nickte langsam. »Wieso das?« »Das ist sein Name.« »Du meinst, du hast ihm diesen Namen einfach gegeben, als ob er eine Puppe wäre.« Ihre Stimme klang verächtlich. »Nein«, sagte Freya gekränkt. »Er hat es mir selber gesagt. Sein Name ist Alph.« »Freya, lügst du mich auch bestimmt nicht an?« Ihre Mutter sah sie so streng an, daß Freya jetzt einfach nicht mehr zurück konnte. »Nein«, sagte sie. Edwina legte Zeichenblock und -stifte auf dem Nachttisch ab und beugte sich über den Mann im Bett. »Alph«, sagte sie zu dem Fremden mit dem tief gebräunten Gesicht. »Alph?« Seine Lippen bewegten sich kaum merklich, als versuche er, ihre Worte nachzuahmen. Dann nickte er plötzlich. Edwina lachte. »Alph!« Sie schaute ihre Tochter an. »Kann er sprechen? Hat er mit dir gesprochen?«
Freya zuckte die Achseln und bewegte sich unbehaglich. Sie legte ein Bein um das andere und verlor dabei fast das Gleichgewicht. »Steh doch still, Freya! Was hat er gesagt? Wie hat er dir gesagt, daß er Alph heißt?« »Er hat es mir eben gesagt, das ist alles. Ich weiß nicht genau, was er gesagt hat.« »Freya«, sagte ihre Mutter in einem gefährlich freundlichen Tonfall. »Hast du dir das ausgedacht? Willst du mich auf den Arm nehmen?« Freya schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Baby mehr. Ich lüge nicht. Es ist die Wahrheit.« »Schon gut, Liebes. Ich glaube dir. Kannst du Alph dazu bringen, mit mir zu reden?« Freya blickte von dem Mann im Bett zu dem gespannten Gesicht ihrer Mutter. »Ich weiß nicht«, meinte sie. »Versuch es, Freya. Sag ihm, daß wir ihm nichts tun wollen – du weißt, daß das stimmt. Wir wollen ihm helfen. Sag ihm, daß er uns genauso vertrauen kann wie dir und daß er ruhig mit uns reden kann. Vielleicht fällt es ihm leichter, wenn er erst einmal mit mir, statt mit deinem Vater redet. Könnte er nicht einfach mal etwas sagen ...?« Gehorsam kauerte sich Freya neben dem Bett nieder. Sie faßte den Fremden bei der Hand. Sie sagte ihm, er könne ihrer Mutter vertrauen, er möge doch mit ihr sprechen und ihr von sich erzählen. Sie spürte die Erwartungshaltung ihrer Mutter wie ein schweres Gesicht auf ihr lasten, und wenn sie den Fremden zum Sprechen hätte bringen können, sie hätte es getan. Sie wußte, was ihre Mutter gern hören wollte. Aber der Fremde schaute sie nur an und wollte
durchaus nichts sagen. »Ich glaube, er ist verwirrt«, sagte Freya. »Vielleicht kann er auch nicht sprechen, wenn du im Zimmer bist. Ich weiß nicht genau, was es ist.« »Aber er redet doch mit dir«, sagte Edwina. »Na schön, dann erzählst du mir eben, was er sagt. Ich lasse euch beide jetzt allein.« Ihre letzten Worte klangen beiläufig. Edwina ging hinaus und schloß die Tür leise hinter sich. Freya wußte, daß ihre Mutter draußen vor der Tür wartete und horchte. Sie konnte beinahe ihre Atemzüge hören. Freya schaute Alph an. Er sagte nichts. In jener Nacht war es anders. Als es endlich still geworden war im Haus, und Freya wußte, daß ihre Eltern schliefen, ging sie leise durch den Korridor in Alphs Zimmer, und diesmal, das wußte sie, würde er mit ihr sprechen. Eingehüllt in das schummrige Halbdunkel im Zimmer, eingelullt von dem leisen Rhythmus ihrer eigenen Stimme versank Freya in eine Art Trancezustand. Sie vermochte nicht zu sagen, ob sie wirklich redete oder es nur träumte, und manchmal hörte sie ihre Stimme mit einem Ohr lauter als mit dem andern, so daß sie meinte, sie käme aus einer anderen Ecke des Zimmers. Vielleicht war sie selbst es, die gesprochen hatte, vielleicht Alph, vielleicht auch jemand ganz anderes. »Reist Alphs Volk oft zur Erde?« fragte Edwina. Freya nickte. Alph saß, still wie immer, in einem großen Lehnstuhl am Fenster. Obwohl sein Blick auf Freya ruhte, war es schwer zu sagen, was er eigent-
lich sah; was er wohl denken mochte, blieb rätselhaft. »War er in Schwierigkeiten, als er zu uns kam? War er vielleicht krank? Wieso konnte er sich nicht mit uns verständigen?« Edwina war gespannt, ihr Blick schnellte immerzu zwischen Freya und Alph hin und her. »Er war ein bißchen durcheinander – er war es nicht gewohnt, wie die Menschen hier denken. Es war ein solcher Wirrwarr, daß er einfach nicht mehr klar denken konnte. Er kam vom Weg ab und taumelte durch die Gegend, als wäre ihm schwindlig. Es war wie ein andauerndes lautes Rauschen, das er einfach nicht abstellen konnte. Aber jetzt geht es ihm besser. Er fängt an, uns zu verstehen.« »Aber wieso kann er mit dir reden, Freya?« Wieso will er nicht mit mir reden? fragte ihr stummer Blick. »Ich weiß es nicht. Er sagt, mein Verstand sei klarer –« »Bestimmt, weil du noch so jung bist«, meinte Edwina. »Dein Verstand ist noch nicht so vollgestopft mit all den Gefühlen, Zweifeln oder Kenntnissen eines Erwachsenen.« Sie beugte sich vor und faßte Freya bei den Händen. »Wie ist es, wenn er zu dir spricht, Freya?« Freya zuckte die Achseln. »Genau wie bei jedem anderen«, erwiderte sie. »Wie bei dir. Oder bei Daddy. Oder bei mir selber.« Edwina schaute Alph an. »Ich bin mir sicher, daß ich dich verstehen würde, wenn du mir etwas sagen würdest, Alph«, sagte sie. »Willst du es nicht einmal versuchen? Ich will dir doch nur helfen.« Alph blickte Freya an. Freya senkte den Blick. »Laß uns beide allein, Freya«, sagte Edwina. »Ich
habe Alph etwas zu sagen. Du gehst jetzt und machst deine Schularbeiten. Worauf wartest du noch? Und mach die Tür hinter dir zu. Ich möchte nicht gestört werden.« Edwina sah den Mann in dem Lehnstuhl an. Es war, als verlöre er einen Teil von sich selbst, als Freya ging, dachte sie. Er wirkte ängstlich, er blickte von Edwina zur Tür und wieder zurück. Verwirrung hatte sich wie ein Nebelschleier auf seine Gesichtszüge gelegt. Noch bevor sie zu sprechen anfing, wußte Edwina, daß es zwecklos sein würde. Er würde kein Wort von dem, was sie sagte, verstehen. »Du mußt mit ihr sprechen«, sagte Freya. Alph beobachtete sie so aufmerksam wie immer. Manchmal dachte Freya, sie sei der einzige Mensch auf der Welt, den Alph sehen und hören konnte. »Du mußt ihr die Geschichten erzählen, die sie hören will, die Dinge, über die wir zusammen gesprochen haben. Du mußt jetzt versuchen, mit ihr zu sprechen. Wenn du es nicht tust, wird sie dich fortschikken. Sie hat mir gesagt, daß sie das tun wird. Willst du, Alph? Sieh doch«, sagte sie, ihre Stimme hatte einen bittenden Tonfall angenommen. »Willst du nicht hier bei mir bleiben? Du brauchst doch nur mit ihr zu reden – du weißt, was du sagen mußt. Und wir werden berühmt werden, wenn du es tust – wir werden beide berühmt werden. Aber wenn du nicht sprichst, werden sie mir nicht mehr glauben und dich fortschicken. Willst du, Alph? Wirst du mit ihr sprechen und ihr alles über deinen Planeten und die anderen Dinge sagen?«
Alph schaute sie schweigend an, wie er es immer tat. Aber Freya wußte, daß er verstand. Sie hatte das sichere Gefühl, daß er jetzt anfangen würde zu sprechen. Er spreche deshalb nicht so gut, erklärte er Mrs. Hudspeth, weil auf seinem Planeten Worte kein Ausdrucksmittel seien. Sie sprächen dort von Verstand zu Verstand und von Herz zu Herz, aber auf dieser Welt ginge das nicht so gut, und er brauche einige Zeit, um sich darauf einzustellen. Der Ansturm so vieler gewalttätiger, kranker und gleichgültiger Gedanken habe ihm einen Schock versetzt und ihn krank werden lassen. Er sei den Hudspeths sehr dankbar, daß sie ihn so fürsorglich gepflegt hätten, sagte er. Und er sei sehr froh, daß er Freya kennen gelernt habe. Sie sei ein ganz besonderer Mensch. Sie, er und die kleine Freya, könnten von Herz zu Herz und von Verstand zu Verstand miteinander sprechen. Sie habe einen Verstand, der so scharf und klar sei wie ein reiner Kristall. »Er redete immerzu nur von Freya«, sagte Edwina. Sie ging im Arbeitszimmer auf und ab, ihr langes blaues Samtkleid schlenkerte um ihre Knöchel, die schlanken, weißen Hände hielt sie zusammengefaltet vor sich. Frank saß an dem großen Schreibtisch, sein Gesicht war im Schatten verborgen. Edwina schaute ihn nicht an. »Schließlich fragte ich ihn, ob Freyas Besonderheit sie von anderen Menschen abhebe – ob sie nicht vielleicht das Kind einer anderen Rasse sein könne. Ich
erzählte ihm von meiner – Begegnung – und er schien nicht überrascht. Als wüßte er es bereits. Aber er sagte, du wärest mit Sicherheit Freyas Vater. Er meinte, ihre Andersartigkeit, ihre Besonderheit könne von Einwirkungen während der Schwangerschaft herrühren – irgendwelche Einflüsse, die sie vielleicht von den Außerirdischen in sich aufgenommen haben könne. Oder«, Edwina blieb stehen und hielt die gefalteten Hände unters Kinn. »Er sagte, daß ich der Grund dafür sein könnte. Er sagte, Freya sei vielleicht deshalb etwas Besonderes, weil auch ich ein außergewöhnlicher Mensch bin.« Edwina verstummte schließlich und wartete darauf, daß Frank einen Kommentar dazu abgab oder Fragen stellte. Aber er schwieg, und sie begann sich unwohl zu fühlen. Sie konnte noch nicht einmal seinen Gesichtsausdruck erkennen, weil er halb im Schatten verborgen war. »Nun ja, wahrscheinlich hat es wenig Sinn, wenn wir uns jetzt über ihn unterhalten«, meinte Edwina schließlich bei dem Versuch so zu tun, als wäre an Franks Schweigen nichts Ungewöhnliches. »Du kannst ja selbst mit ihm reden. Ich habe ihn zwar nicht danach gefragt, aber er wird bestimmt mit dir reden – er wird sicherlich jede Frage beantworten, die du ihm stellst.« Sie deutete auf die Bücher und Manuskripte auf dem Schreibtisch. »Das ist doch genau, was du suchst – Informationen aus erster Hand, damit du endlich dein neues Buch anfangen kannst!« »Ich habe mich noch nicht entschieden, welches Thema mein neues Buch haben wird«, sagte er bedächtig. »Noch nicht entschieden? Na, das Thema deines
nächsten Buches wohnt eine Etage höher«, meinte Edwina scherzhaft. »Frank, was ist nur los mit dir? Eigentlich müßtest du doch ebenso begeistert sein wie ich – dies ist doch genau die Geschichte, auf die wir gewartet haben!« Frank beugte sich mit einem Seufzen vor. Die Schreibtischlampe warf einen gelben Lichtstreifen über sein Gesicht aber er hielt den Blick gesenkt. »Ich glaube nicht an die Sache mit Alph«, sagte er ruhig. »Ich kaufe ihm seine Geschichte nicht ab.« Edwina starrte ihn ungläubig an. »Wie kannst du das nur sagen? Wenn du ihm einmal zugehört hättest –« »Das habe ich. Ich kam gerade an der Zimmertür vorbei, als er dir seine Lebensgeschichte erzählte. Ich wäre fast herein gekommen aber ich –« er schüttelte den Kopf. »Hör dir doch seine Stimme an, Edwina. Achte auf die Art, wie er spricht. Er hat einen mexikanischen Akzent – er müht sich zwar damit ab, aber er ist unverkennbar. Wenn er nach Worten sucht, murmelt er erst die spanischen vor sich hin, während er sich an die entsprechenden englischen zu erinnern versucht.« Er sah in ihre anklagenden Augen. »Und hör dir doch seine Worte an, Edwina! Mein Gott, ein absurderes Konglomerat von Wunschdenken habe ich noch nie – er sagt genau das, was du hören willst, was du gern glauben möchtest. Universale Freundschaft, brüderliche Handschläge über die Galaxien hinweg und die billigsten Science Fiction-Phantasien über das Leben auf seiner utopischen, telepathischen Welt. Ich weiß nicht, warum er das macht, ob er ein Betrüger, ein Wahnsinniger ist, oder ob er selbst daran
glaubt, aber auf alle Fälle ist es ein Sack voll Lügen. Ich werde gewiß kein Buch über ihn schreiben – das wäre entweder gefühllos und gemein oder einfach verrückt.« »Ich glaube ihm, Frank«, sagte Edwina. »Ich glaube an ihn. Was denkst du deshalb von mir? Bin ich deshalb verrückt? Ich weiß, daß wir sorgfältig sein müssen, aber du stellst dich absichtlich dumm. Weshalb sollte uns irgendein Mexikaner so eine Geschichte auftischen? Was sollte er sich davon versprechen? Ich finde nicht, daß er einen mexikanischen Akzent hat – du hörst einfach, was du hören willst. Weil er für dich wie ein Mexikaner aussieht – das hast du von Anfang an gesagt –, bildest du dir ein, daß seine Versuche, Sätze in englischer Sprache zu bilden, sich wie die eines Mannes anhören, der es gewohnt ist, Spanisch zu sprechen. Woher willst du wissen, wie ein Mensch, der noch nie in seinem Leben eine Sprache gesprochen hat, sich anhören würde, wenn er anfinge, sich mit Englisch abzumühen? Ich verstehe nicht, wie man sich der Wahrheit so verschließen kann.« »Ich weiß nicht, Schatz«, sagte Frank. »Irgendwie habe ich ein komisches Gefühl bei ihm.« Um Edwina den Gefallen zu tun, machte Frank mehrere Interviews mit dem Fremden, die er auf Band aufnahm. Er stellte die Fragen so ernsthaft und eindringlich, als brauche er die Antworten, um die Öffentlichkeit zu überzeugen. Das Problem war, daß dieser Mann Alph nichts besaß, das seine Behauptungen hätte stützen können. Keinerlei Beweise – kein Raumschiff, keine fremdartigen Metalle oder Wundermaschinen. Außer seinen Märchengeschich-
ten hatte er nichts zu bieten, und Frank, der schon immer auf ein solches Ereignis gewartet hatte, konnte sie so nicht akzeptieren. Jetzt, wo Sommerferien waren, war Freya immer da. Sie war bei sämtlichen Interviews dabei, aber stets ruhig und unauffällig, sie schien Alphs Worte in sich aufzusaugen. Frank verbrachte viel Zeit mit dem Studium texanischer Geschichte. Er suchte nach einem Thema für sein nächstes Buch – etwas Biographisches oder Historisches, hatte er sich vorgenommen. Ein gut dokumentierter unanfechtbarer Tatsachenbericht. Freya hatte ein ungutes Gefühl. Lange würde dieses gemütliche Beisammensein nicht mehr andauern. Eines Tages ging sie mit Alph auf der Südweide spazieren, nahe der Viehtränke, in deren schmutzigem Wasser sie manchmal badeten. Noch bevor er sprach, wußte sie, daß etwas nicht stimmte. Etwas schien ihn schon seit einiger Zeit zu bedrücken – er hatte die einfachsten Dinge wieder vergessen, und langsam begann es auch ihrer Mutter aufzufallen. Auch ihr Vater mochte es gemerkt haben, aber wenn dem so war, schien es ihn jedenfalls nicht zu kümmern. Aber ihre Mutter hatte Alph mehrfach auf die Probe gestellt, und wenn er auf ihm schon einmal gestellte Fragen plötzlich eine anders lautende Antwort gab, fiel ihr das natürlich auf. Er hatte diese Unstimmigkeiten auf seine Sprachschwierigkeiten geschoben, aber dieser Vorwand würde ihm nicht immer als Ausrede dienen können. Sie gingen gerade über stoppeliges Gras, das vom Vieh bis zu den Wurzeln abgenagt worden war, als Alph sagte: »Seit einiger Zeit erinnere ich mich an
andere Dinge, Freya.« Sie betrachtete ihn von der Seite und verscheuchte gleichzeitig ein Insekt von ihrem Gesicht. »Ich meine nicht die Dinge, über die wir uns unterhalten haben – nicht die über meine Heimatwelt. Es sind andere Dinge. Es ist, als begänne ich, mich an ein anderes Leben zu erinnern. Oder an das Leben eines anderen.« Freya schaute hinauf in den mächtigen, blauen Himmel. »Das nennt man Träume, Alph«, sagte sie. »Auf deiner Welt kennt man keine Träume. Das ist es, was dich durcheinander bringt.« »Aber diese Erinnerungen kommen, wenn ich wach bin«, sagte er ernst. »Sie kommen mir einfach in den Sinn. Manchmal schaue ich mich um und weiß nicht, was ich hier eigentlich tue. Ich überlege, was in dem Krankenhaus geschehen ist, und ich frage mich, was meine Frau ...« Er brach ab und starrte zum fernen Horizont. Freya fühlte sich traurig und elend. Er erinnerte sich an ein anderes Leben und vergaß dieses. Bald würde er fortgehen. »Dann eben der Name deiner Frau, kannst du dich daran erinnern? Irgendwann, als du einmal zu Hause warst und sich deine Frau am Telefon mit ›Ja, hier Mrs. ...‹ meldete.« Frank beugte sich gespannt vor. Alph runzelte die Stirn. »Ich glaube –« Freya stieß die Tür auf. Verärgert schaute ihr Vater sich nach ihr um. »Stör uns jetzt nicht, Freya.« »Ich will nur zuhören. Ich werde auch nichts sagen.« Alph starrte zu Boden. Frank zuckte die Achseln.
»Na schön. Komm rein und verhalte dich still.« Er wandte sich wieder an Alph. »Weiter ... woran erinnerst du dich?« Nach einem kurzen Moment hob Alph den Kopf, sein Gesichtsausdruck veränderte sich. »Ich glaube, ich empfange vielleicht die Gedanken eines anderen. Mein Geist ist sehr empfindlich, einem Radioempfänger vergleichbar, und es bereitet mir immer noch große Schwierigkeiten, die Gedanken verschiedener Menschen voneinander zu trennen. Manchmal verwirrt es mich völlig – ich denke die Gedanken anderer Leute und merke es gar nicht.« Frank sah Alph an, als hätte dieser plötzlich eine tote Ratte aus seiner Hosentasche hervorgeholt. »Moment mal«, sagte er. »Das ist doch nicht alles, was –« »Vielleicht gibt es auch eine andere Erklärung dafür«, sagte Alph. »Aber ich bin mit der, die ich Ihnen gegeben habe, ganz zufrieden.« Er stand auf. »Ich hoffe, Sie werden mich jetzt entschuldigen – ich bin sehr müde.« Freya und Alph waren noch spät auf. Sie unterhielten sich in dem dunklen Gästezimmer. Freya war sehr betrübt. Alph verschwand mehr und mehr, und an seiner Stelle kam ein anderer Mensch zum Vorschein – ein Mann mit einer anderen Familie, einer anderen Vergangenheit und Zukunft, und sie war davon ausgeschlossen. Noch war er verwirrt von seinen widersprüchlichen Erinnerungen, von seinen zwei verschiedenen und dennoch vereinten Leben, aber Freya wußte. Sie wußte, daß er nicht mehr lange bleiben konnte.
»Machen wir doch einen Spaziergang«, meinte sie und stand auf. Alph erhob sich ebenfalls und schaute zu ihr hinab. Durch das Fenster schien der Vollmond. Freya drehte sich um, um ihn zu betrachten und um dem Fremden nicht mehr in die betrübten Augen sehen zu müssen. »Komm«, sagte sie leise. »Es ist Zeit für dich zu gehen.« »Meiner Meinung nach ist er wahrscheinlich nach Hause zurück gegangen«, sagte Frank. »Er fing an, sich wieder zu erinnern – an einen Krankenhausaufenthalt und an seine Frau, die in Juarez auf ihn wartet.« »Was muß eigentlich noch geschehen, um dich zu überzeugen?« rief Edwina erregt. »Jetzt, wo er verschwunden ist, kannst du alles mögliche von ihm behaupten, schließlich kann er dich ja nicht widerlegen.« »Das hat er auch nie versucht«, sagte Frank. Er sah ihren angespannten, unglücklichen Gesichtsausdruck. Er stand von seinem Frühstück auf, ging zu ihr hinüber und legte ihr versöhnlich den Arm um die Schulter. »Er ist eben ein Rätsel, Schatz. Er ging, wie er gekommen ist. Warum und wieso wissen wir nicht.« Edwina versuchte seinen Arm abzuschütteln. Freya kam plötzlich in die Küche. »Alph«, sagte sie zu ihr. »Ich weiß«, erwiderte Freya. »Er sagte mir gestern nacht, daß er gehen würde. Er sagte, er würde wiederkommen.« »Sagte er das? Wann? Schon bald?« »Ich weiß es nicht.«
»Warum ging er fort? Hat er das gesagt?« Edwina ging auf Freya zu, und Frank ließ sich seufzend wieder auf seinem Stuhl nieder. Freya schüttelte den Kopf. »Er meinte, es wäre etwas Dringendes. Er sagte, er müsse heimkehren, aber er würde uns nicht für immer verlassen.« »Dann wird er auch zurückkommen, daran glaube ich fest«, sagte Edwina. Frank betrachtete seinen kalt gewordenen Haferbrei. Der Appetit war ihm vergangen. Sein Stuhl machte ein kreischendes Geräusch auf dem Linoleumfußboden, als er aufstand. »Ich gehe ein bißchen ins Freie«, sagte er. Er brauchte jetzt einen Spaziergang; die körperliche Betätigung und die frische Luft würden ihm helfen, die melancholische Stimmung, die Edwina auf ihn übertragen hatte, abzuschütteln. Er blickte Freya an. »Hast du Lust, mit deinem alten Daddy spazieren zu gehen?« Sie schüttelte den Kopf, ohne ihn anzuschauen. »Na, komm schon.« Er dachte an die vielen Spaziergänge, die sie mit dem jetzt verschwundenen Alph unternommen hatte. »Es wird dir guttun, Freya. Wir gehen rüber zur Südweide und schauen uns Millers Kühe an und tun so, als gehörten sie uns. Wir könnten auch im Tümpel Fische fangen.« »Da gibt's keine Fische. Das hast du selbst gesagt.« Noch immer wollte sie ihn nicht anschauen. Sie vermißt Alph, dachte er, und es deprimierte ihn, daß ein Fremder sie gefühlsmäßig so stark beeinflussen konnte. »Wir könnten aber so tun als ob«, sagte er. »Weißt du nicht mehr, wie oft wir das gemacht haben?«
»Da war ich auch noch ein Baby«, meinte sie. Sie warf ihm einen Blick zu und wandte sich dann wieder ab. »Das ist was für Babys.« Also machte er sich schließlich allein auf den Weg. Er pfiff den Hunden, damit sie ihn begleiteten. Wenn er allein war, konnte er ohnehin besser nachdenken, und das war, was er jetzt brauchte. Bei der Viehtränke fand er den Fremden. Er trieb mit dem Gesicht nach unten in dem trüben Wasser. Edwina wollte, daß der Tümpel leergepumpt wurde. »Er ist doch tot«, sagte Frank verblüfft. Seine Hand ruhte noch auf dem Telefon, über das er eben den Sheriff verständigt hatte. »Er hat versucht, zu seinem Raumschiff zu gelangen«, sagte Edwina. »Es muß auf dem Grund des Tümpels sein.« Frank starrte sie an, als sähe er sie zum erstenmal. Er überlegte kurz, wo Freya war, ob sie vielleicht horchte und wie sie diese Geschichte wohl aufnehmen würde. Sie hatte sehr an dem Mann gehangen. Was sie brauchte, waren Freunde in ihrem Alter. »Frank, hörst du mir zu? Wir müssen jemanden aus der Stadt bestellen. Jemand, der die nötigen Gerätschaften hat. Das sollten wir gleich jetzt tun. Es hat keinen Zweck es hinauszuschieben.« »Das hat doch überhaupt keinen Sinn«, sagte Frank. »Auf dem Grund der Viehtränke gibt es kein Raumschiff – wenn ein so großer Gegenstand dort hineingefallen wäre, gäbe es überhaupt keine Tränke mehr.« »Wir wissen nicht, wie groß ein fremdes Raum-
schiff sein könnte. Möglicherweise ist es sehr klein – vielleicht nicht größer als ein Auto.« »Schatz, dieser Tümpel ist noch nicht einmal einen Meter tief. Mein Großvater hat das Loch selbst ausgehoben.« »Frank«, sagte Edwina mit gefährlicher Liebenswürdigkeit. »Du mußt das einmal logisch betrachten. Er sagte Freya, er kehre heim. Er hatte sein Raumschiff irgendwo versteckt. Er muß versucht haben, zu ihm zu gelangen. Etwas ging schief, und er ertrank. Was hätte er wohl sonst in der Viehtränke zu suchen? Das ist die einzig mögliche Erklärung.« Sie starrten auf den ebenen, schlammigen Grund des ausgepumpten Wassertümpels. Hie und da lagen bunte Steine, die Freya oder Frank einmal hineingeworfen hatten. »Rätselhaft, wieso der Bursche hier drin ertrinken konnte«, meinte einer der Männer aus der Stadt. Er spie aus. Er hatte aufhören wollen, als der Tümpel bis zur Hälfte geleert worden war – als offensichtlich geworden war, daß sich kein größerer Gegenstand darin befinden konnte. Aber Mrs. Hudspeth hatte darauf bestanden, daß sie ihn völlig leerpumpten. Sie hatte den Grund sehen wollen. »Kein Auto zu sehen«, meinte der andere Mann. Freya blickte starr geradeaus. Gestern, im schwachen Mondschein, war der Tümpel fast schwarz gewesen. Sie hatte an derselben Stelle wie jetzt gestanden, auf der hohen Böschung, und sie hatte ihm zugesehen. »Geh nur«, hatte sie leise gesagt, als er am Ufer ge-
zögert hatte. »Das Wasser kann dir nichts anhaben. Du hast doch einen Spezialanzug an, erinnerst du dich? Du wirst nicht einmal naß werden. Das Raumschiff ist auf dem Grund. Die Tür wird sich öffnen, sobald du mit Daumen und Zeigefinger dagegen drückst. Der Computer wird die Tür öffnen und dich hineinlassen. Es ist ganz einfach.« »Warum willst du, daß ich gehe?« fragte er, immer noch zögernd. »Weißt du nicht mehr, was du mir gesagt hast?« Ihre Stimme trug weit in der stillen Mondnacht. »Über das Raumschiff?« Sie nickte. »Ich kam damit hierher, weil – du hast mich gerufen ...« »Nein.« »Doch. Du ließest mich herkommen. Ich begriff nicht wie und warum – ich wußte nur, daß ich zu dir kommen mußte.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Hast du deine eigene Welt vergessen?« »Ich ... ich muß jetzt zurück.« Er schaute unsicher zu ihr auf, und sie nickte. »Ich ... ich muß nach Hause zu meinem Volk. Eines Tages komme ich zurück – sobald ich kann – aber jetzt muß ich zu meinem Raumschiff.« Er ging ins Wasser. »Auf Wiedersehn, Alph«, flüsterte sie. Die Tränen auf ihren Wangen trockneten langsam. »Freya.« Die Stimme ihrer Mutter holte sie in die Gegenwart zurück. »Er muß einen Fehler gemacht haben«, sagte Edwina. Sie legte den Arm um Freya. »Einen schrecklichen Fehler.« Sie entfernten sich
von der Unglücksstelle und überließen es Frank, mit den Männern aus der Stadt fertig zu werden. »Ich frage mich nur, ob er mit seiner Heimatwelt in Verbindung stand«, grübelte Edwina. »Wenn er sie benachrichtigt hatte, daß er auf dem Nachhauseweg war und nun nicht kommt, werden seine Freunde vielleicht hierher kommen, um nach ihm zu suchen.« Sie drückte Freya an sich. »Nun, wie auch immer, jedenfalls haben wir jetzt ein Thema für ein Buch.« Freya spürte, wie ihr wieder wärmer wurde. Sie hatte das sichere Gefühl, daß sie ihrer Mutter beim Schreiben dieses Buches helfen würde.
Originaltitel: KIN TO KASPAR HAUSER. Aus GALAXY 4/77
Peter Ambrose BÜCHSE DER PANDORA Nach der flammenden Wüstensonne war es im Innern seines Campers angenehm kühl und schummrig. Anthony zog sich hinauf zu seiner Schlafkoje im Führerhaus des kleinen Fahrzeugs und öffnete eine beschlagene Bierbüchse. Der Kühlschrank kühlte nicht richtig; er nahm einen Schluck von dem warmen Schaum und lauschte auf die Geräusche der Arbeiten, die draußen hinter den zugezogenen Vorhängen weiter vor sich gingen: Spitzhacken und Schaufeln, die gegen Stein und salzhaltigen Boden stießen, murmelnde Stimmen, die sich gelegentlich etwas zuriefen oder in Gelächter ausbrachen. Er war todmüde, und für einen Moment schloß er die Augen ... Beinah sofort begann er zu träumen. Der Traum war so realistisch, daß er sich vom Wachzustand nur in der völlig anderen Umgebung, in der Anthony sich plötzlich befand, unterschied. Ein Raumschiff – ein Sternenschiff, erläuterte der Traum – bremste auf einen Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit ab, als es ein schon bekanntes Sonnensystem durchquerte und sich einer blaugrünen Welt, dem dritten Planeten des Zentralgestirns, näherte. Das Flugdeck. Der Kapitän starrte auf einen Bildschirm, der den noch fernen Planeten mit seinen zerstreuten Wasserdampfwolken zeigte. Ein grauer, lebloser Himmelskörper drängte sich plötzlich dazwischen und lenkte seinen Blick von der größeren
Welt ab. Hinter dem Kapitän stand ein anderer Offizier, der sich von seinem Kommandanten nur darin unterschied, daß auf seinen Schultern kein kostbares Metall glitzerte. »Diese Welt ist nur ein Satellit, Sir. Wie Sie erkennen können, ist er außergewöhnlich groß – fast ein Schwesterplanet. Eine Konstellation, die in diesem System einzigartig ist.« Er hielt inne, um seinem Vorgesetzten Gelegenheit zu geben, einen Einwurf zu machen, falls dieser den Wunsch dazu verspüren sollte. »Fahren Sie fort, Leutnant.« »Jawohl, Sir. Berichte früherer Forschungssonden deuten auf reichhaltige Lebensformen hin. Im Vergleich dazu ist der nächste äußere Planet – der rote – eine Wüste. Aber das wissen Sie natürlich, Sir.« Der Kapitän fühlte sich plötzlich verwirrt. Einen Moment lang hatte es den Anschein gehabt, als hätte er es nicht gewußt, als hätte er alles, was er in den vergangenen Tagen über dieses System gelernt hatte, irgendwie wieder vergessen: die äußeren Riesenplaneten – einschließlich jener Welt mit der sonderbaren Ringformation; den Gürtel aus Felsbrocken; den vierten Planeten mit seinen armseligen, halbintelligenten Buschpflanzen, die innerhalb weniger Jahrtausende ausgestorben sein würden. Nein, das Wissen war da. Was für ein seltsamer Einfall! Der Kapitän schüttelte den Kopf und beschloß, es als zeitweilige Zerstreutheit anzusehen. Anthony wälzte sich unruhig hin und her, wachte aber nicht auf. Der Kapitän versuchte noch immer, das undefinierbare Unsicherheitsgefühl abzuschütteln, als sein
Erster Offizier in dem freien Sessel neben ihm Platz nahm. Der Leutnant wandte sich rasch dem Computer zu, als der Kapitän seine Aufmerksamkeit auf den XO richtete. Sein Stellvertreter wollte ihm ein kleines Leseband überreichen. »Bericht über Zerfallserscheinungen bei Regenerator Nummer zwei.« Der Kapitän nahm das Band nicht, sondern meinte nur: »Wie sieht's aus damit?« »Nicht gut«, erwiderte der XO, während er die Kassette in einen Einschub in der Kontrollkonsole gleiten ließ. Auf einem Bildschirm vor ihnen begannen holographische Diagramme aufzuleuchten. »Wie Sie sehen, gibt es drei Hauptbelastungspunkte; falls einer davon –« Der Kapitän war eine Weile still. Schließlich fragte er: »Empfehlungen?« Der XO zuckte die Achseln. »Eine Werft ansteuern. Je eher, desto besser.« Der Kapitän versuchte, das Gehörte zu verdauen, während er weiter auf den Monitor starrte, auf dem der Planet immer größer heranwuchs. Er konnte graue Wolkenfelder erkennen, die über weite Meere dahinzogen. Er wandte sich wieder an den XO: »Wir werden unsere Erkundungen hier auf ein Minimum beschränken und dann die nächste Basis ansteuern. Ist die Zentrale über unsere Situation in Kenntnis gesetzt worden?« »Ja, Sir. Sie dürften die Nachricht in drei bis vier Wochen erhalten. Darf ich fragen, wie lange wir voraussichtlich in diesem System bleiben werden?« Der Stimme des XO war deutliche Besorgnis anzumerken. Der Kapitän lächelte schwach. »Innerhalb von zwei
Monaten werden wir wieder auf dem Weg zu unserem eigenen Sektor sein.« Er hoffte, daß sein beruhigender Tonfall über seinen zweifelnden Blick auf die Regeneratordiagramme hinwegtäuschte. Offenbar doch, denn der XO nickte und verließ die Zentrale ohne weiteren Kommentar. Auf dem Bildschirm liefen die Strukturdiagramme ab, und der Kapitän schüttelte in stillem Ärger den Kopf. »Sie haben nach mir rufen lassen, Kapitän?« Er schaute auf. Der Schiffsarzt. Der Kapitän deutete auf den Schirm. »Wir haben Probleme.« Der Schiffsarzt blickte auf den Schirm. »Fällt nicht in mein Metier«, erklärte er knapp. »Was ist Ihr Problem?« »Schlaf.« »Schlaf?« »Scheine keinen finden zu können.« Der Arzt sah dem Kapitän in die Augen. »Wann hatten Sie Ihre letzte Ruheperiode?« Der Kapitän wandte sich wieder dem Kontrollbord zu. »Bevor wir in dieses System kamen.« »Ich habe jede Menge Medikamente, und mit jedem einzelnen werden Sie garantiert gut schlafen können«, meinte der Arzt. »Nein«, sagte der Kapitän kopfschüttelnd. »Ich will etwas, das mich wach hält, nichts, was mich müde macht. Ich bin wirklich müde, aber vorerst muß ich hier noch auf Posten bleiben.« »Das ist sehr unvernünftig.« »Doktor«, sagte der Kapitän mit gedämpfter Stimme, »die politische Lage zu Hause verschlimmert sich nach jeder Reise von Mal zu Mal. Das wissen Sie so
gut wie ich.« Der Arzt nickte. »Was Sie vermutlich nicht wissen – innerhalb eines Jahres wird es Krieg geben.« Der Kapitän wartete, bis der überraschte Ausdruck aus dem Gesicht des Arztes verschwand, und fuhr fort: »Wenn dieser Krieg beginnt, wird als erstes dieses Programm gestrichen. Es ist sehr gut möglich, daß dies meine – unsere – letzte Reise ist. Und ich habe nicht die Absicht, sie zu verschlafen.« »Ich verstehe, Kapitän – aber ruhen Sie sich wenigstens etwas aus.« »Jetzt nicht.« »Aber so kann es nicht weitergehen. Früher oder –« »Zwölf Stunden«, sagte der Kapitän mit entschiedenem Tonfall. »Mehr will ich nicht.« Der Schiffsarzt schwieg einen Moment und nickte dann widerwillig. »Also gut, zwölf Stunden und keine Sekunde mehr. Aber selbst das könnte schon zuviel sein. Gut möglich, daß Sie anschließend flachliegen.« Er wandte sich um. »Ich lasse es Ihnen von einem Mannschaftsmitglied bringen.« »Danke«, sagte der Kapitän. Er sah zu, wie der Arzt in einem Schiffskorridor verschwand, wandte sich dann wieder dem Bildschirm zu und starrte den näher kommenden Planeten an ... Anthony erwachte. Die Bierbüchse entglitt seinen Fingern, und die Flüssigkeit rann ihm über den Bauch und auf die Bettdecke. Fluchend sprang er aus der Schlafkoje, warf die Büchse in den Müllbehälter und wischte die gelbbraune Lache mit der hohlen Hand so gut es ging weg. Eine feuchte Stelle blieb zu-
rück. Er sah auf, als er jemanden die Tür öffnen hörte, und das grelle Licht der Wüstensonne Utahs in das Innere des Campers eindrang. Professor Morris Bickford zwängte seine massige Gestalt schnaufend in den Camper und zog die Tür hinter sich wieder zu. »O, hier sind Sie«, sagte er, »ich habe mich gewundert, wo Sie abgeblieben sind.« Anthony gestikulierte nervös. »Die Hitze machte mich wahnsinnig.« Bickford nahm einen Eisbrocken aus dem kleinen Kühlschrank und drückte ihn gegen seine schweißperlende Stirn. »Ich kann Ihnen versichern, daß Sie nicht der einzige sind«, sagte er trocken. »Ich glaube, daß wir hier bald zu einem Ende kommen werden und dieses gottverfluchte Land dann verlassen können. Ich bin nun seit siebenundzwanzig Jahren Paläontologe, und ich hasse die Wüste noch immer.« Anthony lächelte ohne großen Enthusiasmus. »Sie mißbilligen das, wie?« Das Eis begann zu schmelzen und ihm von der Stirn zu tropfen. Anthony sank hinter der winzigen Frühstücksecke zu Boden, zog die Baumwollvorhänge zurück und ließ sein Gesicht von der Sonne bestrahlen. »Kennen Sie sich mit Träumen aus?« Bickford zuckte die Achseln. »Ich habe manchmal welche, wenn Sie das meinen.« »Nein«, erwiderte Anthony kopfschüttelnd. »Traumdeutung. Analyse.« Bickford legte seine nassen Hände auf den Tisch. »Ist nicht meine Stärke, fürchte ich. Wieso?« »Ich hatte gerade einen verdammt merkwürdigen.« Der große Mann betrachtete die Wasserflecken, die
seine Hände auf dem Kunststoffbelag des Tisches zurückgelassen hatten. »So?« »Ich hatte noch nie einen so realistischen, einen so ... detaillierten Traum. Ich war in einem Raumschiff, und doch war nicht ich es. Ich war jemand anderes, jemand ... wie ich, aber ... anders. Alles war fremd für mich und doch irgendwie vertraut; ich hatte das Gefühl, alles was vor sich ging, vollkommen zu verstehen. Nichts war im geringsten Maße mysteriös oder beängstigend.« Anthony sah lächelnd vom Fußboden auf. »Was halten Sie davon?« »Ich glaube, Sie haben eine weitaus lebhaftere Phantasie als ich dachte. Entweder das, oder die Hitze hat Sie tatsächlich erwischt.« Anthony mußte insgeheim lachen, als Bickford fortfuhr. »Die Hitze hier beeinflußt die Menschen auf unterschiedliche Weise. Ich habe hier schon so manchen Dr. phil. zusammenbrechen sehen, einfach weil er es nicht mehr aushielt und etwas besseres zu tun haben wollte.« »Ist das die Norm?« Bickford lächelte. »Bei Ihnen glaube ich das nicht. Dafür bedeutet Ihnen Vorgeschichte zu viel.« Wieder trat ein Lächeln auf Anthonys Lippen. Bickford richtete sich auf. »Kommen Sie, Sie werden nicht dafür bezahlt, im Schatten herumzufaulenzen und vor sich hin zu träumen. Ich habe da etwas, das Sie sich ansehen sollen.« Anthony stand auf und folgte Bickford ins Freie. Das grelle Sonnenlicht ließ ihn die Augen zusammenkneifen. Sie verließen das Lager und gingen auf die Ausgrabungsstätte zu, wo eine Handvoll Leute auf allen vieren herumkroch und vorsichtig den
Staub von fossilen Abdrücken wischte. Er kam sich plötzlich wie ein Grabschänder vor, ein ihm bisher fremdes Gefühl, das ihn schaudern machte. Sie gingen durch die pulsierende Hitze, die ein eigenständiges Leben zu führen schien. Er verfolgte, wie die anderen steinerne Särge mit Hämmern und Pickeln zerschmetterten und die Toten von ihren Bahren zerrten. Sie standen auf einem Wüstenfriedhof und hatten sich bis zur Hüfte in den Sand eingegraben. Grabstätten. Die Behausungen der Toten. Wieder hörte Anthony ihr Lachen und schweres Atmen an dem stillen, verlassenen Ort. Unter einem Steinhaufen lugte ein Leguan hervor. Er glotzte dumm mit seinen von der Hitze stumpfen und glanzlosen Reptilaugen. Anthony folgte Bickford hinunter in die tiefer als das übrige Wüstengebiet gelegene Ausgrabungsebene. Vor ihnen saßen Dr. Shelly Thompson und Dr. Oliver Brenner. Sie tranken Bier und unterhielten sich leise. Sie schauten auf und lächelten. Anthony steckte die Hände in die Gesäßtaschen und fragte: »Nun?« »Sieh es dir selbst an«, sagte Shelly und deutete hinüber zu einer Felswand vor ihm. Anthony wurde sich gewahr, daß er auf einen etwa dreißig Zentimeter messenden, quadratischen Abschnitt einer glatten, silberartigen Substanz starrte, die in den Fels eingebettet war. Er trat vor und untersuchte das Metall sorgfältig. Es schien, als würde es sich hinter der freigelegten Stelle noch fortsetzen. »Es ist keine natürliche Gesteinsformation«, sagte Brenner, als lese er Anthonys Gedanken.
»Das muß es aber sein«, erwiderte er ein wenig lahm. Shelly blickte zu Bickford. »Was habe ich Ihnen gesagt?« Anthony schaute von Shelly zu Bickford, der ein Stück nähertrat. »Sehen Sie es sich gut an«, sagte der Professor. Anthony ging noch näher heran und studierte das Metall. Er streckte eine Hand aus, die ein wenig zitterte, und strich mit den Fingern darüber. Kühl und glatt. Er fühlte, wie sein Herz in der Brust hämmerte. Brenner stand plötzlich dicht neben ihm. »Nun?« Seine Stimme klang pfeifend. »Es ist offensichtlich künstlichen Ursprungs«, sagte Anthony widerstrebend. »Shelly«, meinte Bickford, »wie alt ist dieses Gestein in etwa?« »Ungefähr siebzig Millionen Jahre, also lange bevor es irgendeine Form von Metallurgie gegeben hat, wenn Sie das meinen«, erwiderte sie gelassen. Anthony schüttelte ungläubig den Kopf. »Unmöglich. Es sieht aus, als wäre es gestern erst hergestellt worden.« Shelly deutete auf eine Ansammlung freigelegter fossiler Knochen in der Nähe. »Überzeuge dich selbst: der, der genau vor dir liegt, stammt wahrscheinlich von einem Triceratops und der dort drüben von einem Ankylosaurier.« Ihre Stimme hatte einen schneidenden Unterton, und Anthony fragte sich, wie lange sie wohl noch mit ihm schlafen würde. Er betrachtete die Fossilien, dann das Metall und meinte schließlich: »Irgendwo ist hier eine Unstimmigkeit. Ich weiß zwar nicht, was für eine, aber es
kann nicht anders sein. Habt ihr schon etwas über dieses Ding herausgefunden?« Bickford wandte den Blick von dem silbernen Fleck ab. »Es ist ein kleines Stück von einem weitaus größeren Gegenstand.« »Und was könnte es sein?« »Das erfahren wir wohl erst, wenn wir es ausgegraben haben«, sagte Bickford. Anthony warf einen abschätzenden Blick auf die Gesteinswand. »Das dürfte eine mühsame Arbeit werden.« »Wo es notwendig ist, sprengen wir.« »Und zerstört damit wertvolle Fundstücke«, sagte Anthony. »Das glaube ich nicht«, sagte Bickford. »Wir haben sowieso noch viel zu graben, und das meiste werden wir vorher freilegen. Das sollte kein Hindernis sein.« Brenner nickte. »Ich hole die anderen.« Er drehte sich um und kletterte mühsam aus dem tiefer gelegenen Niveau heraus. Alle sechs Mitglieder der Expedition schufteten in der glühenden Nachmittagshitze. Schließlich, nach viel Schweiß, Arbeit mit Hammer und Pickel, vorsichtigem Beiseitewischen loserer Erdschichten, Einsammeln und Reinigen der Fundstücke, brach die Abenddämmerung herein, und sie verpackten ihren letzten Fundgegenstand in einem Gipsmantel. Bickford klatschte mit den Händen gegen seine Hosenbeine und verspritzte feuchte Gipsklumpen. »Ich schlage vor, den Rest erledigen wir morgen früh. Wir können wohl alle eine tüchtige Portion Schlaf vertragen.« Die Mitglieder der Gruppe nickten einmütig und
schleppten sich erschöpft zurück zu ihren Campern, Schlafsäcken und gefriergetrockneten Abendmahlzeiten. Nur Anthony blieb noch. Prüfend musterte er die jetzt größere, aber noch immer nicht zu identifizierende Metallfläche. Unvorstellbar, wie das Ding in dieses Felsgestein, das seit dem Zeitalter der Dinosaurier unangetastet hier geruht hatte, hinein geraten war. Er war sich nicht sicher, wie lange er so dagestanden hatte, aber die Nacht war vollends hereingebrochen, als er eine sanfte Berührung an seinem Ellbogen spürte. Er drehte sich um. »Warum warst du heute so garstig?« fragte er. Shelly zuckte die Achseln und lächelte. »Dieses Ding macht mir Angst.« Anthony hielt den Kopf schräg. »Es macht dir Angst?« Sie nickte. »So etwas ist einfach nicht möglich.« Sie massierte ihre bloßen Arme und schaute umher. »Ich habe das Gefühl, daß es mich anstarrt. Langsam fange ich an zu glauben, daß es ein Fehler war, daß ich überhaupt darauf gestoßen bin.« »Mir macht es auch Angst«, sagte er ernst. »Aber einen Fehler hat niemand gemacht. Es ist halt da. Wir können es nicht ändern.« Er deutete auf das schimmernde Metall. Shelly erwiderte sein Lächeln und sagte: »Ich wünschte wirklich, wir könnten es rückgängig machen.« Anthony half ihr aus der Ausgrabungsstätte heraus, und sie gingen zum Camper. Er legte ihr den Arm um die Taille. Bevor sie hineingingen, warf er einen letzten Blick zurück zum tiefer gelegenen Niveau. Er war erleichtert, als er feststellte, daß in dem
schwachen Licht nichts zu erkennen war. Er folgte Shelly ins Innere des Campers und schloß die Tür hinter ihnen. »Was ist los?« fragte sie eine für sie beide frustrierend gewesene Stunde später. Anthony zog den Vorhang des kleinen Fensters über seinem Kopf zurück und starrte hinauf zu den Sternen. Er schüttelte den Kopf und sagte mit einer Spur Heiterkeit: »Offenbar hat mich diese Sache doch mehr mitgenommen als ich dachte.« Sie schliefen. Wieder war das Schiff zwischen den Sternen. Wie eine Erinnerung hatte es sich in sein Gehirn eingeschlichen, als er eingeschlafen war. Und als er anfing zu träumen, war es da. Ein rotes Licht blitzte auf. Stach ihm in die Augen. Erschreckte ihn. »Kapitän!« Er – der Kapitän – wandte sich um. Das rote Licht in der Mitte der Kontrolltafel blinkte mit beängstigender Intensität. »Kompensieren!« »Keine Reaktion!« Besatzungsmitglieder stürmten durch die Zentrale. Er versuchte in ihre Gesichter zu blicken. Er sah Besorgnis und Angst. Der XO sagte gerade zu ihm: »Kapitän, unter diesen Bedingungen werden wir kaum eine weiche Landung machen können!« »Wir müssen es versuchen!« Zuversicht sprach aus seinen Worten. Der Stimme des XO war deutliche Angst anzumerken, als er erwiderte: »Selbst wenn es uns gelingt, ist der Regenerator im
Eimer. Wir werden den Planeten nicht mehr verlassen können!« Der Kapitän wandte sich um. »Wenn wir nicht schnell etwas unternehmen, brauchen wir uns darüber keine Gedanken mehr zu machen!« Der XO drehte sich um und verschwand aus seinem Blickfeld. Der Kapitän wandte sich wieder den Monitoren zu und betrachtete das Land unter ihnen. Braunes Wasser und stickige grüne Sümpfe. Tränen der Angst und Enttäuschung traten in seine Augen. Zwei Jahre. Zwei Jahre bereisten sie nun schon diesen abgelegenen Teil der Galaxis und alles nur, um auf einer unwirtlichen, primitiven Urwelt zu stranden? Er bemühte sich, seine Wut im Zaum zu halten. Der XO sprach zu ihm von einem Bildschirm: »Kapitän! Wir haben alles getan, was wir konnten. Es wäre ratsam, wenn Sie die Kurseinstellungen so rasch wie möglich vornehmen!« Der Kapitän schaute ein Besatzungsmitglied neben sich fragend an. »Zwei Minuten, Sir!« Der Kapitän wandte sich wieder dem Kontrollbord zu. Er griff nach der manuellen Kontrolle. Das Steuer sprach nur zögernd an. Aber wenigstens reagierte es überhaupt. Auf den Gesichtern der Männer um ihn herum lag ein nervöses, aber hoffnungsvolles Lächeln. Er schaute auf den Monitor und beobachtete, wie das Land unter ihnen vorüberrauschte. Er sah riesige Lebewesen durch das Blattwerk stampfen. »Dreißig Sekunden bis Bodenkontakt, Sir!« Der Kapitän versuchte, das Schiff zu stabilisieren, als es durch die Atmosphäre des fremden Planeten schlin-
gerte. Das Schiff mähte die Spitzen der hochragenden Vegetation ab, als es immer tiefer stürzte, und der Kapitän bemühte sich verzweifelt, es bis zu einer weiten, sumpfigen, relativ ebenen Fläche zu steuern. Kolossale Lebewesen flüchteten in wilder Panik vor dem Feuerschweif, den das Schiff hinter sich her zog. Dann hörten sie nur noch das kratzende Geräusch zerreißenden, berstenden Metalls. Monitore und Computerschirme erloschen. Er hörte jemand schreien und sah einen Mann über Deck schlittern. Der Narr hätte sich anschnallen sollen. Dann war es still. Sie waren unten. Und sie lebten. Der Kapitän warf einen prüfenden Blick auf den einen noch funktionierenden Monitor und sah rötlich qualmende Berge unter einem grauen Himmel. Das Land war grün bis zum Horizont. »Leutnant«, sagte er langsam in das drückende Schweigen, »können wir hier überleben?« »Die Meßdaten früherer Forschungssonden lassen auf günstige Bedingungen schließen, Sir. Die Atmosphäre ist ziemlich dünn und reichhaltig an Schadstoffen vulkanischen Ursprungs, aber sie wird uns am Leben erhalten, bis ein Rettungsversuch unternommen werden kann. Was Nahrungsmittel und Wasser angeht, bin ich mir nicht sicher, aber wir haben ja unsere eigenen Vorräte ...« »Mikroorganismen?« fragte der Kapitän. »Keine, mit denen die Standardimmunisierungsverfahren nicht fertigwerden können.« Ein anderer Mann beugte sich vor. »Sir, soll ich eine Nachricht an die Zentrale senden?«
Der Kapitän nickte. »Aber ich möchte, daß Sie sich alle darüber im klaren sind, daß wir allerhöchstens in fünf bis sechs Monaten mit einem Rettungsschiff rechnen können. Wir müssen uns also auf einen längeren Aufenthalt hier gefaßt machen.« Er machte sich auf den Weg zur Frachtluke, und die kleine Besatzung folgte ihm. Er betätigte den elektrischen Luftschleusenmechanismus, und das doppelwandige Schott schwang auf und ließ gelbes Sonnenlicht herein. Er trat hinaus. Die anderen waren noch immer hinter ihm. Die Luft hatte einen scharfen, irgendwie bitteren Geruch nach Ascheteilchen, aber sie war nicht giftig. Er stieg die kurze Leiter hinab und trat auf das schwammige Grün. Es gab schmatzende Geräusche von sich, als er versuchsweise mehrere behutsame Schritte vorwärts machte. Er drehte sich um und winkte den anderen zu. Ein breites Grinsen überzog sein Gesicht. Sie waren gerade dabei, die Leiter hinunter zu steigen, als sie das Brüllen eines Tieres hörten. Sie schauten sich um, griffen nervös nach ihren Waffen, konnten aber nichts erkennen. »Was war das?« fragte der XO. Er stand neben dem Kapitän, der erneut lächelte und sagte: »Wir sind offensichtlich nicht allein auf dieser Welt.« Sie marschierten weiter über das offene Terrain, blieben aber wegen des Brüllens der Tiere, von denen sie noch immer keines gesehen hatten, dicht beisammen. Der Leutnant war es schließlich, der das erste erblickte. Es bewegte sich mit gelegentlichen Sprüngen am Rande des Sumpfes entlang. Er stieß einen erregten Schrei aus, und die anderen schauten in die angezeigte Richtung, aber das Tier verschwand mit wil-
den Sprüngen in der Dunkelheit des Dschungels. Sie zuckten die Achseln und kehrten zum Schiff zurück, um sich auszuruhen. Der Kapitän war sich sicher, daß er den versäumten Schlaf nun doch noch würde nachholen können. Das kleine Raubtier war etwa hundert Meter weit in das Farnkraut und die Zykaden eingedrungen, die glitzernden Augen stets auf der Suche nach Beute, als seine Beine plötzlich nachgaben. Es stürzte auf den dunklen Humus des Waldbodens. Es bemühte sich verzweifelt aufzustehen und bemerkte dabei, daß auch die Vorderbeine gelähmt waren. Sein primitives Gehirn spürte kein Entsetzen, sondern nur ein dumpfes Schmerzgefühl, das stärker wurde, als Krämpfe den daniederliegenden Körper durchzuckten. Es röchelte mehrmals, und roter Speichel rann aus seinem Maul. Dann lag die Kreatur still, und das einzige Geräusch, das noch zu hören war, war das Surren der Fliegen. Noch als er erwachte, konnte Anthony die Fliegen hören. Sonnenlicht tastete sich durch die Vorhänge in den Camper. Er schaute umher und erkannte, daß das Surren von draußen kam. Shelly war schon fort. Er sprang aus der Schlafkoje. Während er Hosen und ein Arbeitshemd überzog, überdachte er den Traum. Die Genauigkeit, mit der er sich selbst an die kleinste Einzelheit erinnern konnte, verblüffte ihn erneut. Diese Träume waren anders als alle, die er je zuvor gehabt hatte, und das beunruhigte ihn sogar noch mehr als das sonderbare Metallgebilde an der Ausgrabungsstätte. Er stand einige Zeit reglos da und überlegte, ob diesen so überaus wirklichkeitsnahen Träumen nicht vielleicht größere Bedeutung zukam,
als er meinte. Er war noch immer am Überlegen, als er in die Stiefel schlüpfte, ins Freie trat und die Tür des Campers zuschlug. Die Sonne stand noch tief, und die erdrückende Hitze würde erst noch kommen. Er mußte blinzeln, als er hinüber zur Ausgrabungsstätte ging. Sein Atem bildete kleine Dampfwolken in der morgendlichen Kälte. Bickford und die anderen waren bereits da. Shelly ebenfalls; sie schaute Anthony mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck an. »Guten Morgen, Doktor. Gut geschlafen?« Bickford gab sich stets freundlich. Er hob einen Pickel auf. »Wieder dieser Traum«, sagte Anthony und langte nach einer Schaufel. »Derselbe?« Anthony schüttelte den Kopf. »Eine Art Fortsetzung.« Bickford ließ den Pickel mit einem Kling gegen das Gestein sausen, und Anthony machte sich schweigend an die Arbeit. Der Traum ging ihm jedoch nicht aus dem Kopf. Es wurde bereits warm, als Bickford schließlich den Pickel fallen ließ und sagte: »Also, so kommen wir nicht weiter. Wir können ebenso gut sprengen und sehen, was wir hier aufgestöbert haben.« Anthony nickte und half, die kleinen Sprengkapseln sorgfältig über ein Gebiet rund um das freigelegte Metall zu verteilen. Sie arbeiteten rasch, und schon bald winkte ihnen Bickford zu, sich in Sicherheit zu bringen. Sie kletterten aus dem tiefer gelegenen Niveau heraus. Sobald sie alle genügend Sicherheitsabstand hatten, ließ er
die Kapseln detonieren. Es hörte sich an, als würden Hunderte hohler Pappschachteln auf einmal zerpreßt, und sie sahen, wie eine Staubwolke von der Detonationsstelle aufstieg. Anthony schaute Bickford an und meinte: »Ist Ihnen schon einmal der Gedanke gekommen, daß Sie das, was Sie da sehen wollen, was immer es auch sein mag, mit der Sprengung gleich mit in die Luft blasen könnten?« »Gewiß«, erwiderte Bickford lächelnd und ging auf das tiefer gelegene Niveau zu. Anthony schüttelte den Kopf und schaute ihm nach. Über der Detonationsstelle lag noch ein dichter Staubschleier, aber Bickford konnte deutlich genug sehen. Und was er sah, ließ ihn hörbar nach Luft schnappen. Brenner stand hinter ihm. »Ich glaube es einfach nicht.« »Was ist es denn?« Bickford hatte Schwierigkeiten, die rechten Worte zu finden. »Nun ja, es ... es sieht aus wie eine Art ... Flugzeug.« Anthony starrte das »Flugzeug« an. Er erkannte es augenblicklich wieder. Anthony kämpfte mit sich. Er versuchte eine Erklärung, eine Rechtfertigung für sich selbst zu finden. Es mißlang ihm. Jedesmal stieß er gegen eine unsichtbare Mauer. Da war das Schiff, teilweise begraben von dem sich setzenden Schotter, den die Detonation erzeugt hatte, und es war das Schiff aus seinem Traum. Er wußte, wie es in den Fels, der damals Morast gewesen war, hineingeraten war. Er wußte es. Aber woher? Woher nur? Diese quälende Frage ließ ihn
nur noch schweigsamer werden. Brenners Stimme bebte. »Das Ding kann nicht echt sein, irgendein unwahrscheinlicher Zufall –« »Brenner«, sagte Shelly. »Du weißt ganz genau, daß es, was es auch sein mag, irgendwann während der späten Kreidezeit hierher gelangte.« »Das ist unmöglich. Damals gab es so etwas überhaupt nicht. Es gab niemanden, der es hätte bauen können.« Brenner ging ein paar Schritte vor. »Ich behaupte, daß dies hier in die Sparte Piltdownmensch fällt. Es gehört ganz offensichtlich zur Luftwaffe und –« Bickford meldete sich zu Wort und sagte: »Ihnen mag es offensichtlich erscheinen, Doktor, aber ich bin mir da nicht so sicher. Ich denke, als erstes sollten wir versuchen, es aufzubekommen. Wenn es bemannt gewesen ist, könnte es drinnen Aufzeichnungen geben –« Anthony sah zu, wie der Professor auf das Schiff zuging. Er sagte nichts. Er kämpfte noch immer mit sich. Sie brauchten nicht lange, um die große Frachtschleuse am freigelegten Unterteil des Schiffes zu finden. Bickford hielt inne und deutete auf die beschädigten und teilweise zerfetzten Steuerflächen des Metalls. »Seht euch das an«, sagte er. »Sie müssen eine Bruchlandung gemacht haben. Seht euch den Schaden an.« Die anderen kamen vor. Anthony betrachtete den Schaden. Genau wie im Traum. »Es ist bemerkenswert gut erhalten«, sagte jemand. »Wieso ist es eigentlich nicht zerdrückt worden?« fragte ein anderer. »Das werden wir noch früh genug herausfinden, hoffe ich«, sagte Bickford, der die Schleusentür abta-
stete. Seine Hände fanden einen Metallhebel, und er ergriff ihn. »Ah, da haben wir's ja.« Anthony rang mit sich. Sollte er dem Traum Glauben schenken, das Unmögliche für wahr halten? Plötzlich konnte er seine Bedenken nicht länger zurückhalten. Er trat vor und rief: »Professor Bickford!« Bickford zog an dem Hebel, und die Luke glitt auf. Mit einem dumpfen Schlag fiel sie zu Boden. Bickford sprang rasch aus dem Weg und schaute dann hinüber zu Anthony. »Was ist?« Die anderen eilten vorwärts, aber Anthony zögerte. Er schüttelte langsam den Kopf und sagte: »Nichts.« Bickford zuckte die Achseln und spähte, ebenso wie die andern, in das Dunkel jenseits der Luke. Anthony drehte sich um und verließ die Ausgrabungsstätte. Als er auf den Camper zuging, spürte er, wie seine Beine plötzlich steif wurden. Er fiel in den grobkörnigen Wüstensand. Er bemühte sich aufzustehen und merkte, daß er auch die Arme nicht mehr bewegen konnte, aber das erstaunte ihn wenig. In den letzten flüchtigen Augenblicken, bevor sein Bewußtsein erlosch, ging ihm mit schmerzhafter Deutlichkeit auf, was geschehen war und noch geschehen würde. Vielleicht wären sie, hätten sie nicht die Bruchlandung gemacht, vorsichtiger gewesen, vielleicht wäre ihnen ein so offensichtliches Versäumnis nicht unterlaufen: aber ihre Nachlässigkeit kam ihnen nicht zu Bewußtsein. Sie war für sie ebenso wenig sichtbar wie die harmlosen Bakterien und Mikroorganismen, die sie ausatmeten. Für die gigantischen Reptilien, die die klimatologische Umwälzung nicht mehr erleben sollten, waren
die Bakterien weniger harmlos. Sie besaßen keine Abwehrkräfte gegen die unsichtbaren außerirdischen Schädlinge in der Luft, und sogar die ersten Säugetiere – warme, stets hungrige Fellknäuel – brauchten viele Millionen Jahre, um die winzigen Mörder zu besiegen. Aber die Saurierarten wurden von der Seuche dezimiert – ausgelöscht –, nur eine Handvoll der widerstandsfähigeren Arten überlebte, Mahnmale an die Besucher wider Willen im prähistorischen Utah. Das war es, was Anthony nun in einer kristallklaren Vision verstand. Als das Bergungsschiff kam, brachte es nicht nur Rettung, sondern auch Nachricht von dem schrecklichen Krieg, der während ihrer Abwesenheit entbrannt war. Das gestrandete Schiff würde nicht geborgen werden, denn das Forschungsprogramm war zugunsten der Kriegsausgaben gestrichen worden. Die nutzlose Hülle wurde zurückgelassen – und routinemäßig versiegelt; aber in ihrem Innern ruhten, wie der Bodensatz in einer alten Weinflasche, noch viele, viele Bakterien, ihr Lebensprozeß in dem undurchlässigen Dunkel des Schiffsrumpfs fast auf null reduziert. Sie hatten an dem siebzig Millionen Jahre währenden Kampf der Evolution gegen ihre Artgenossen nicht teilgenommen, sie waren nicht assimiliert worden und nun harmlos für die zahlreichen Lebensformen jenseits der luftdichten Hülle; sie existierten in nahezu unveränderter Form weiter, stets auf der Schwelle zwischen Leben und Tod, mit einem Minimum an Aktivität. Unveränderlich, beharrlich, geduldig – Aber was Anthony nicht verstand, welche Bedeu-
tung hatten seine merkwürdigen Träume gehabt? Was hatte sie verursacht? Das Schiff war niemals abgeholt worden; keiner war jemals zur Erde zurückgekehrt. Hatte sie der Krieg letzten Endes allesamt vernichtet, oder war diese kleine Welt am Rande der Galaxis während des Tumults einfach vergessen worden? Hätte Anthony an spiritistische Dinge geglaubt, wäre ihm vielleicht der Gedanke gekommen, daß die Seele des Kapitäns zur Erde zurückgewandert sein könnte, um ihm geisterhafte Warnungen ins Ohr zu flüstern, während er schlief; oder vielleicht war, als die Besatzung den Planeten verließ, ein Teil ihrer Psyche hier zurückgeblieben. Es gab so viele Möglichkeiten und so wenige Antworten. Wie auch immer er dazu gekommen war, diesen Blick in die Vergangenheit werfen zu können, jetzt spielte es keine Rolle mehr, denn er hatte die Warnungen nicht beachtet. Er hatte nicht früh genug gehandelt. Seine letzten Fragen wurden von den Krämpfen erstickt, die seinen Körper erschütterten. Sein letzter bewußter Gedanke war die verwunderte Frage, wen er wohl um Verzeihung bitten solle. Er röchelte mehrmals, roter Speichel rann ihm aus dem Mundwinkel, dann lag er still. Nach siebzig Millionen Jahren war es nur sehr wenigen Bakterien gelungen, an dem Kümmerdasein, das sie so lange gefristet hatten, festzuhalten. Aber es waren genug übriggeblieben.
Originaltitel: CRASH SITE. Aus GALAXY 5/77