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Was zunächst wie Routinemeldungen vom Planeten Ulphi aussieht, verdichtet sich zu einem bösen Verdacht. Ein Wesen mit außerordentlichen telepathischen Fähigkeiten hat Einfluß gewonnen auf die Denkweise der Bewohner dieser konservativen Welt. Vergrößert wird die Gefahr noch dadurch, daß dieser Super-Geist Anzeichen von akuten psychischen Störungen erkennen läßt. Eine Katastrophe bahnt sich an. DIE ILLUSIONISTEN von James H. Schmitz Die Atomkatastrophe ist über die Erde hereingebrochen. Ein verzweifelter Versuch junger Wissenschaftler, das Übel an der Wurzel zu bekämpfen, bringt ein überraschendes Ergebnis ... WURZEL DES ÜBELS von Frederik Pohl Seit Jahrhunderten beherrscht die Festung SATANS die Nationen der Erde. Von 92 Kommandounternehmen mit internationaler Beteiligung, um die Festung zu zerstören, ist nicht ein Mann zurückgekehrt. SATAN, der Herr der Festung, scheint unsterblich zu sein ... SATANS TEMPEL von Daniel F. Galouye Alle Völker der Erde starren gespannt in den Himmel. Wird es gelingen, den Raumfahrer, dessen Schiff den Planeten umkreist, zu retten, bevor sein Sauerstoffvorrat zu Ende geht? HÖHLE DER NACHT von James E. Gunn
In der Reihe der Ullstein Bücher: SCIENCE-FICTION-STORIES Band 1 bis Band 59 SCIENCE-FICTION-STORIES 60 (Ullstein Buch 3250) Stories von Larry Niven, Clifford D. Simak, James H. Schmitz, David I. Masson, Jonathan Brand, R. A. Lafferty, Ron Goulart SCIENCE-FICTION-STORIES 61 (Ullstein Buch 3260) Stories von Vernor Vinge, Harlan Ellison, Christopher Anvil, Fritz Leiber und anderen
Ullstein Buch Nr. 3351 im Verlag Ullstein GmbH. Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen von Dolf Strasser und Lothar Heinecke Umschlagillustration: Schlück Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1977 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1977 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-03351-2
SCIENCE-FICTION-STORIES 62 (Ullstein Buch 3265) Erzählungen von Frank Herbert, Edgar Pangborn, Kris Neville, Roger Zelazny, Robert Silverberg und Philip Latham SCIENCE-FICTION-STORIES 63 (Ullstein Buch 3285) Phantastische und utopische Erzählungen von Ray Bradbury SCIENCE-FICTION-STORIES 64 (Ullstein Buch 3298) Erzählungen von Thomas M. Disch, Colin Free, Edward Maskin und Jack B. Lawson SCIENCE-FICTION-STORIES 65 (Ullstein Buch 3314) Erzählungen von Algis Budris, Brian W. Aldiss, Fritz Leiber und James H. Schmitz SCIENCE-FICTION-STORIES 66 (Ullstein Buch 3323) Erzählungen von H. Beam Piper, Henry Kuttner und Clifford D. Simak SCIENCE-FICTION-STORIES 67 (Ullstein Buch 3338) 3 Erzählungen von James H. Schmitz
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Science-fiction-stories hrsg. von Walter Spiegl, Frankfurt/M. Berlin. Wien: Ullstein. NE: Spiegl. Walter [Hrsg.] 68 Von James H. Schmitz ... – 1977. (Ullstein-Bücher; Nr. 3351: Ullstein 2000) ISBN 3-548-03351-2 NE: Schmitz, James H. [Mitarb.]
Science-FictionStories 68 von James H. Schmitz Frederik Pohl Daniel F. Galouye James E. Gunn
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Die Illusionisten James H. Schmitz ...............................................
6
Wurzel des Übels Frederik Pohl ......................................................
82
Satans Tempel Daniel F. Galouye .............................................. 101 Höhle der Nacht James E. Gunn .................................................... 144
James H. Schmitz DIE ILLUSIONISTEN Die drei bjantanischen Scout-Scheiben befanden sich in einer Flugstunde Entfernung von dem gelben Zwergstern Ulphi, als die nadelförmige Viper in den Bereich ihrer Detektoren kam. Die Viper flog in sehr großer Höhe, aber auf einem Kurs, der denjenigen der Scouts beinahe zu kreuzen versprach. Freilich kam es nicht ganz dazu, obwohl sich das arglose Schiff noch minutenlang näherte. Dann jedoch änderte es mit einer Abruptheit, die auf einen beträchtlichen Schock der Besatzung schließen ließ, seine Richtung und schoß mit hoher Geschwindigkeit davon. Die Scout-Scheiben schwenkten ohne Hast auf den neuen Kurs ein und nahmen die Verfolgung auf. Alles an dieser eleganten, bläulich schimmernden Yacht ließ vermuten, daß es sich um eine höchst lohnende Beute handelte. Wahrscheinlich war sie das Spielzeug eines Superreichen aus irgendeinem der großen Zivilisationszentren, auch wenn sie sich jetzt weitab von den viel befahrenen Weltraumstraßen befand. Traf dies zu, dann hatte sie sicher eine überdurchschnittlich qualifizierte Besatzung und war besser bewaffnet als ein normaler Frachter. In diesem Falle würde sie in der Lage sein, dem Angriff der Scouts vier oder höchstens fünf Minuten zu widerstehen – oder, wenn sie auf ihre energieverschlingende Höchstgeschwindigkeit ging, ihren Vorsprung vielleicht noch zwei oder drei Minuten länger zu halten.
Aber kein Bjanta hatte sich jemals impulsivüberstürzte Handlungsweise vorwerfen lassen müssen. Und immerhin war es möglich, daß sich diese Yacht als irgendeine Abart jener höllischen Zerstörungsmaschinen entpuppte, welche die galaktische Menschheit während der letzten Jahrtausende in immer größerer Perfektion zum Einsatz gegen Piraten, wie die Bjanta es waren, entwickelt hatte. Tatsächlich traf diese Beschreibung auf die Viper genau zu. Sie war ein weganisches Zonen-AgentenSchiff – eines der letzten fünfzig dieses Typs, die man gebaut hatte. Etwa einhundert Meter lang, war die Viper das absolut Tödlichste, was es im Weltraum gab – sogar, wenn man sie mit mehr als fünfmal so langen Schiffen verglich. »Sie bleiben in Formation und halten anscheinend mühelos mit«, berichtete das Elektronengehirn der Viper ihrer Pilotin. »Sollen wir noch ein wenig zulegen?« »Die fünfzehnprozentige Beschleunigung genügt«, erwiderte die Pilotin mit angenehmer Sopranstimme. Ihre Augen waren die einer Lannai-Humanoiden – groß, silbrig und mit quadratischen schwarzen Pupillen. Aufmerksam verfolgte die Pilotin jetzt auf dem Visorschirm des großen Steuerpultes, an dem sie saß, den Flug der Bjanta. »Wenn sie uns zu nahe kommen, können wir Ausweichmanöver machen. Aber nicht vergessen: Das sind empfindliche kleine Affen! Tun wir irgend etwas Ungewöhnliches, bevor wir in den Bereich unseres Kreuzers kommen, dann verscheuchen wir sie.« Einen Augenblick herrschte Stille. Dann ließ sich die Roboterstimme wieder vernehmen:
»Pagadan, die Scheibe im unteren Teil von Sektor Z 12 ist jetzt fast schon im Strahlerbereich. Zwei von ihnen könnten wir uns jetzt gleich vornehmen, und die dritte für den Test aufsparen.« »Das weiß ich, kleine Viper«, sagte Pagadan geduldig. »Aber unser ganzes Unternehmen basiert auf der Annahme, daß die Bjanta keine großen Fehler machen. In diesem Fall müßte die Mutterscheibe etwa drei Lichtjahre hinter uns sein, und der Kreuzer möchte zwei von diesen Scouts so weit verfolgen, bis sie ihm ihre Position verraten. Uns genügt dann die dritte Scheibe.« Die Viper wußte das schon. Aber sie war vor allem als Jagdmaschine entworfen und mußte manchmal von ihren Jagdinstinkten abgelenkt werden. Pagadan tat das ebenso automatisch, wie sie einen ähnlichen Impuls bei sich selbst gezügelt hätte. Tatsächlich gab es, seit sie an Bord war, keine genaue Grenzlinie zwischen ihren eigenen Gedanken und denen, die die Viper durchpulsten. Oft wäre es der Lannai nicht leicht gefallen, genau zu sagen, ob es ihr eigenes Gehirn war oder seine verschiedenen elektronischen Zusatzkomponenten im Schiff, die sich mit einem spezifischen Problem beschäftigten. Eben jetzt war es die Viper gewesen, welche die Kommunikatoren beobachtet hatte. »Der Agent in Ausbildung auf dem B-Schiff bei Ulphi möchte mit dir sprechen, Pagadan«, meldete die Roboterstimme. Die Hand mit den silberlackierten Nägeln drehte an einem Knopf auf dem Steuerpult. Aus einem Kommunikator zu ihrer Linken fragte eine tiefe Stimme ein wenig unruhig:
»Pag? Hören Sie mich? Hier ist Hallerock, Pag.« »Nur zu. Freund!« antwortete sie. »Ich hatte ein wenig abgeschaltet. Ist auf dem Planeten noch alles in Ordnung?« »Hier gibt es nichts Besonderes«, sagte Hallerock. »Aber es geht um Ihre Flottenoperation. Die sechs Zerstörer befinden sich hinter Ihnen in Abfangposition, und der Kreuzer müßte jeden Augenblick vor Ihnen in den Detektorenbereich kommen. Wollen Sie, daß die Verbindung mit diesen Einheiten weiter über das Beobachtungsschiff hier geht?« »Ja, lassen wir es dabei«, ordnete Pagadan an. »Die Bjanta sind jetzt so nahe, daß sie Signale der Flotte auffangen könnten. Aber von unserem Gespräch bekommen sie gar nichts mit. Irgend etwas Neues vom Departement?« »Die Leitstelle schickt uns gerade Informationen über Ulphi. Aber nichts von besonderer Wichtigkeit. Jedenfalls wollte man Ihr Spiel mit den Bjanta nicht unterbrechen. Ich habe gebeten, daß alles hierher zum B-Schiff geht. In Ordnung?« »Ja«, stimmte Pagadan zu. »Sie werden noch ein guter Zonen-Agent, mein Freund! Im Lauf der Zeit.« »Das bezweifle ich«, erwiderte Hallerock. »Der Job hat ja auch kaum noch Zukunft. Eben meldet sich der Kreuzer, Pag! Bis später dann ...« Pagadan schürzte nachdenklich die Lippen, als ein kaum hörbares Klicken andeutete, daß ihr Helfer die Verbindung unterbrochen hatte. Vier Monate lang war sie jetzt Zonen-Agentin für die WegaKonföderation – die erste Angehörige einer extraterrestischen Rasse, die im Departement für die Galaktischen Zonen, wo alles höchster Geheimhaltung un-
terworfen war, eine derartige Position einnahm. Hallerock, ein Terraner, befand sich in einem fortgeschrittenen Stadium seiner Ausbildung. Wie fortgeschritten er war, würde sie entscheiden müssen, und zwar in naher Zukunft. Ihre Überlegungen wurden unterbrochen, als plötzlich die Viper warnte: »Kreuzer voraus!« »Die linke Scheibe!« befahl Pagadan. »Schneide sie von den anderen ab, sobald die Formation eine Schwenkung macht. Und dann sieh zu, daß sie das letzte Quentchen Geschwindigkeit aus sich herausquetscht, bevor du näher herangehst. Möglicherweise kriegen wir nicht das, was wir wollen; aber das Laboratorium ist auch für die kleinste Information über diese Babys dankbar!« »Wir kriegen schon, was wir wollen.« Die Viper schnurrte es beinahe. Und gleich darauf: »Sie haben den Kreuzer geortet. Jetzt!« Auf dem Visorschirm wurde die fliehende Scheibe größer und größer. Während der ersten paar Minuten hatte sie ausgesehen wie ein kleiner Funken mit einem Kometenschweif, den sie als ein Dutzend verschiedenfarbiger Strahlen hinter sich herzog. Das war kein Abbild der Scheibe selbst, sondern die visuelle Darstellung jedes in großer Entfernung befindlichen, sich bewegenden Objekts, das die Detektoren erfaßten. Länge und Helligkeit der Strahlen verrieten dem Kundigen auf einen Blick die Entfernung des Objekts, seine Flugrichtung, relative und absolute Geschwindigkeit sowie andere interessante Dinge. Aber als die Viper sich anschickte, den Vorsprung, den man den Bjanta gelassen hatte, in dem präzise
kalkulierten Maße aufzuholen, der sie dazu bringen sollte, die letzten Geschwindigkeitsreserven aus ihrer Scheibe herauszuholen, begann sich der Umriß der wirklichen Form dieser Scheibe schattenartig um den Funken herum abzuzeichnen. Als sie schließlich noch etwa vierhundert Millionen Kilometer entfernt war, erschien die Scheibe in einer scheinbaren Entfernung von etwa zweihundert Metern auf dem Visorschirm, wobei der Funke in der Mitte des Bildes weiter seine Informationen ausschickte. Währenddessen gingen Pagadans Hände von einem Schalter zum andern und setzten nacheinander sämtliche Analyseapparate des Schiffes in Gang. »Wir kriegen nichts wirklich Neues, fürchte ich«, sagte sie schließlich. In Sichtweite der Bjanta hatte sie sich bis dahin noch nie befunden, aber das Departement für die Galaktischen Zonen besaß eine Menge Unterlagen über sie, und die hatte sie studiert. Die Informationen darin wiederholten sich weitgehend und gaben für einen entscheidenden Schlag gegen die Piraten keine ausreichende Grundlage ab. Die Bjanta stellten keine ernstliche Bedrohung der Zivilisation mehr dar; eine lästige, ja gefährliche Erscheinung waren sie allerdings in den Randzonen der Zivilisation geblieben. »Sie haben überhaupt keinen Versuch gemacht, ihren Kurs zu ändern?« fragte Pagadan. »Nicht, seit sie zum erstenmal aus ihrer Fluchtkurve ausbrachen«, antwortete die Viper. »Soll ich jetzt näher heran?« »Ja, warum nicht.« Pagadan starrte immer noch auf den Visorschirm. Die Scheibe war etwas zur Seite geneigt und schwankte leicht, den vertrauten Bewe-
gungsmustern der Bjanta-Schiffe folgend. Schwacher Strahlungsschimmer lief in regelmäßigen Intervallen um ihre etwa meterbreite Kante. Die Bjanta waren konservativ; die ältesten erhaltenen Bilddokumente aus den frühen Jahrhunderten des Ersten Reiches zeigten Raummaschinen, die sich in nichts von der Scheibe unterschieden, die jetzt vor der Viper herschoß. »Auf dem Kreuzer scheint man zu dem Ergebnis gekommen zu sein, daß seine und unsere Ortung des Mutterschiffs übereinstimmen«, fuhr sie fort. »Na, gib ihr mal einen Stoß – und sei bereit zum Sprung!« Es war ein wenig mehr als ein Stoß. Ein grünlicher, durchsichtiger Schein hüllte die Scheibe ein. Gleich darauf flammte dahinter regenbogenfarbene Helligkeit auf. Dann verschwand die Doppelbarriere der Scheibe wieder, und die Scheibe selbst geriet taumelnd aus ihrem Kurs und überschlug sich wieder und wieder wie eine flügellahme Fledermaus, wobei bei jeder Umdrehung der weißglühende Schnitt sichtbar wurde, den die Viper in ihre Außenhaut gebrannt hatte. Sekunden später brach ein Riß in der Scheibe auf. Dutzende winziger Duplikate der Scheibe wurden in den Raum geschleudert und schossen in alle Richtungen davon – Bjanta in ihrer Kombination aus Raumanzug und Rettungsboot. Der Riß in der Scheibe vergrößerte sich; blendende Helligkeit brach aus ihr hervor, und im nächsten Moment hatte sie sich nach der traditionellen Art der Bjanta-Schiffe, die sich einem stärkeren Feind gegenüber sehen, selbst zerstört.
So rasch das alles geschehen war, die Reaktion der Viper war kaum langsamer. Sie stoppte so nahe am Herd der Explosion, daß die entstehende Strahlung ihre eigenen Schutzbarrieren aktivierte. Und noch ehe sie stoppte, durchkämmten ihre elektronischen Fangarme den Raum um sie herum. Innerhalb der nächsten zwei Sekunden waren sämtliche flüchtenden Bjanta gefangen. Im Augenblick des Kontakts allerdings folgten sie sämtlich dem Scout-Schiff in den explosiven, praktisch spurlosen Selbstmord – bis auf zwei. Die Rettungsboote dieser beiden jedoch wurden durch eine Kombination von Traktor-Strahlen aufgerissen, mit der die Viper eigens im Hinblick auf diese besondere Aufgabe ausgerüstet war. Pagadan, die gespannt zusah, stieß einen unartikulierten Triumphschrei aus. »Du hast es geschafft, du hast es geschafft!« rief sie dann. »Seit fünfhundert Jahren die ersten, die man intakt bekommen hat!« »Sie sind nicht intakt«, korrigierte die Viper wesentlich ruhiger. »Aber ich habe alle Teile, glaube ich!« »Körperlich sind sie kaum verletzt«, freute sich Pagadan, die immer noch auf den Visorschirm starrte. »Die Rettungsanzüge sind nicht so wichtig. Vorsichtig jetzt! Die niedlichen Dinger! Wir müssen dem Laboratorium gleich melden, daß wir sie haben.« Sie ging nervös hin und her, während die flachen braunen, tatsächlich nicht allzusehr mitgenommenen Körper der beiden Bjanta durch eine der Schleusen des Schiffes hereingeholt und in einem Konservierungstank verbracht wurden, in dem sie ganz oben
schwammen, die zweiundzwanzig abgewinkelten Beine eng an ihre Unterseite angelegt. Die meisten der gebündelten Nervenverbindungen die die Verbindung zu ihren Raumkapseln hergestellt hatten, waren natürlich abgeschert worden. Aber die Viper hatte tatsächlich alles was wichtig war eingefangen. »Gut gemacht, Pag!« hörte sie Hallerocks Stimme aus dem Kommunikator, als sie hochbefriedigt in die Steuerkabine zurückkehrte. »Aber am Leben sind diese Bjanta wohl nicht mehr?« »Ist unter den Umständen ja wirklich nicht möglich«, erwiderte Pagadan bedauernd. »Aber ich darf trotzdem nicht klagen. Sie haben also mitgehört?« »Ja«, antwortete Hallerock. »Einen ganz schön durchdringenden Kriegsruf haben sie ja! Wollen Sie die Aufzeichnung von der Mutterscheibe sehen, die mir der Kreuzer zugefunkt hat? Auch da ging alles nach Plan.« »Ja, lassen Sie sehen!« sagte Pagadan und kauerte sich mit hochgezogenen Knien in ihren Sessel. »Dann hat der Kreuzer also die Mammi gefunden! Ich hatte noch nie so viel Spaß, seit ich bei den Terranern bin. Wie lief es?« »Ganz gut. Etwa fünfundvierzig Prozent der Scouts wurden sofort vernichtet, und es werden vermutlich über achtzig Prozent sein, ehe sich die letzten Überlebenden in Sicherheit bringen. Einer der Zerstörer und ein paar von den Kampfbooten des Kreuzers wurden leicht beschädigt – nichts Ernstliches.« Einen Augenblick später erschien die Aufzeichnung auf dem Kommunikatorschirm. Sie war sehr kurz – man sah vom Kreuzer aus, wie der Hornissen-
schwarm der Kampfboote auf die große, flache, schuppig aussehende Mutterscheibe losschoß, während zwei Zerstörer sie von den Seiten her anflogen. Und wenn man bedachte, daß die Mutterscheibe mehrere tausend gutbewaffnete Scouts enthielt, dann bot der Kampf ein eher enttäuschendes Schauspiel. Einen kurzen Augenblick lang erstrahlten die Schutzbarrieren der angreifenden Weganer-Schiffe in warnendem Weiß; dann sprühten die flüchtenden Scouts wie regenbogenfarbene Funken über den Schirm – und diejenigen, denen die Flucht mißlang, erstrahlten in blendendem Weiß. Als beide erloschen waren und die Jäger die Verfolgung aufgenommen hatten, erschien ein kristallen schimmerndes Ellipsoid von mehreren hundert Metern Durchmesser an der Stelle, wo die Scheibe im Raum geschwebt war. Das Brutzentrum der Bjanta! Es schien sich ein wenig auszudehnen. Im nächsten Moment war es zu einer kleinen Nova geworden. Pagadan blinzelte ein wenig und nickte zustimmend, als der Schirm dunkel wurde. »Saubere Arbeit! Erspart uns 'ne Menge Ärger. Wir haben den wirklichen Fang des Tages gemacht, Viper, altes Mädchen!« Sie verzog das Gesicht. »Trotz allem müssen wir uns immer noch mit Ulphi, diesem dummen kleinen Schlafwandler-Planeten, herumärgern und dem einen Kerl darauf, der nicht ... also jedenfalls nicht schlafwandelt. Und mit ein paar anderen ...« Abrupt richtete sie sich auf. »Wen hast du da gerade in deinem Kommunikator?« »Es ist der Robot-Tracker, den du auf die vom
Kulturdepartement nach Ulphi entsandte Agentin angesetzt hast«, meldete die Viper. »Wie es scheint, hat die Dame Schwierigkeiten mit der Bevölkerung dort bekommen. Soll der Agent auf dem B-Schiff das übernehmen?« »Moment mal!« Pagadans Hand ging blitzartig zu den Kommunikatorschaltern. »Nein, das möchte ich keinesfalls! Der Tracker ist in der Lage, sicherzustellen, daß ihr nichts passiert, bis ich an Ort und Stelle bin. Also schalte diese Verbindung zu mir – sofort!« Ein wenig später holte sie Hallerock an den Kommunikator des Beobachtungsschiffs. »... ich nehme Sie in ein paar Minuten bei mir an Bord. Das Zentrallabor möchte sofort Strukturdarstellungen unserer konservierten Bjanta – und die müssen Sie liefern, denn ich habe keine Zeit.« »Was ist los?« fragte ihr Helfer erstaunt. »Nichts Ernstliches«, sagte Pagadan beruhigend. »Aber die nächsten paar Stunden werde ich mich darum kümmern müssen. Es ist möglich, daß die vom Kulturdepartement auf Ulphi entsandte Expertin irgend etwas in die Nase bekommen hat, was auf diesem Planeten stinkt – jedenfalls versucht jemand im Augenblick, sie unter mentale Kontrolle zu bringen! Natürlich habe ich sie unter den Schutz eines Trackers gestellt, und deshalb ist sie nicht ernstlich in Gefahr. Aber sobald Sie an Bord sind, werde ich selbst mit dem Beiboot hinunterfliegen, um nach dem rechten zu sehen. Übrigens, wie lange wird es dauern, bis wir das Hospitalschiff benützen können?« Hallerock zögerte. »Das geht jederzeit, glaube ich. Vor vier Stunden noch habe ich dort ein Mitglied der Besatzung behandelt.«
»Ausgezeichnet«, sagte Pagadan befriedigt. »Ich habe da etwas vor – ob es klappt, weiß ich allerdings nicht. Aber dieser Angriff auf die Expertin des Kulturdepartements ermöglicht es uns vielleicht, die ganze Operation auf Ulphi innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden über die Bühne zu bringen!« Als es drei Wochen zuvor begonnen hatte, hatte es wie eine harmlose kleine Mission ausgesehen. Es war ihr fünfter Auftrag in vier Monaten, und nach dem die vorhergehenden alles andere als geruhsam gewesen waren, war Pagadan durchaus froh darüber. Drei oder vier Wochen lang wenig zu tun, hatte sie zufrieden gedacht, als sie das Landeboot bestieg, um sich Ulphi erst einmal anzusehen. Nach außen hin hatte sie den Planeten als Passagier eines weganischen Zerstörers betreten; das Landeboot war in einer Munitionskammer des Zerstörers verstaut worden, während die Viper in sicherer Entfernung eine Umlaufbahn einhielt. Das schimmernde Raumschiff sah ein wenig zu eindrucksvoll aus, um für Pelial, den Untersekretär der Galaktischen Zonen – in dieser Rolle trat Pagadan auf Ulphi auf – ein angemessenes Fahrzeug zu sein. Und da Ulphis gesamte Bevölkerung aus angeborener Weltraumfurcht den Planeten niemals verließ, genügte das Beiboot voll und ganz als Transportmittel, wobei es jedoch hauptsächlich als Quartier und Arbeitsplatz diente. Aber es würde ja gar nichts zu tun geben, abgesehen davon, daß sie die Sicherheit der neu auf dem Planeten angekommenen Weganer im Auge behalten und der Flotte bei der Vorbereitung des Empfangs der Bjanta helfen mußte, deren neunten Überfall auf
Ulphi man in etwa einem Monat erwartete. Freundlicherweise führten sie ihre Raubzüge mit solcher Regelmäßigkeit durch, daß man ihrer Ankunft geradezu mit Vergnügen entgegensah, – vorausgesetzt, man war stark genug, um mit Sicherheit die Oberhand über sie zu behalten. Auf Ulphi hatten sich die Bjanta ihre Beute an Leben und an dem, was die Zivilisation ihnen Nützliches bot, in Abständen von über drei Standardjahren geholt. Allzu großer Schaden war bis jetzt noch nicht angerichtet worden und es hatte acht solcher Überfälle bedurft, bis man sich auf Ulphi dazu entschloß, um Mitgliedschaft in der weitabgelegenen WegaKonföderation nachzusuchen und sich damit unter den Schutz dieses Bundes zu stellen. Pagadan brauchte sich also keine ernsten Sorgen zu machen. Und da man auch im Laboratorium glaubte, daß sie einen kleinen Urlaub verdient hatte, gewährte man ihr diese drei Wochen auf Ulphi. Die Berichte der Mitarbeiter anderer Regierungsstellen, die bereits hier gewesen waren, beschrieben den Planeten als ein glückliches Refugium der Humanität, das durch das Aufkommen allgemein verbreiteter Raumangst seit fast vierhundert Jahren von den verschiedenen Entwicklungstendenzen der Zivilisation abgeschnitten war. Auf diese Weise hatte sich Ulphi, von außen fast unbehelligt, nach und nach zu einem altmodischen kleinen Paradies entwickelt. So stand es in den Berichten! Pagadan hatte sich also unbeschwert auf den Weg gemacht, um dieses kleine Juwel erst einmal von oben her zu erkunden und die beste Urlaubsgegend herauszufinden.
Zwei Tage später kam sie entsetzt an Bord der Viper zurück. Der Telepathie-Transmitter, auf höchste Leistung gebracht, sandte ihre furchtbare Botschaft an das Hauptquartier der Galaktischen Zonen auf dem Planeten Jeltad – im achttausend Lichtjahre entfernten System der Wega. In der Zentrale auf Jeltad blieb ein Mann, der gerade zur Mittagspause ging, nervös hinter dem Schreibtisch eines Kollegen stehen. »Was ist der Pyramideneffekt?« fragte er. »Das solltest du doch wissen«, antwortete sein Freund. »Wenn nicht, laß dir die Erklärung in der nicht-öffentlichen Psycho-Bibliothek geben – unter diesem Stichwort. Ich kriege eben einen Aufschlußbericht herein.« Er sah sich um. »Wieso diese plötzliche Wißbegierde, Linky?« Linky deutete mit dem Daumen zu dem Transmitter auf seinem Schreibtisch. »Bei mir hat sich gerade die neue Lannai-Zonen-Agentin gemeldet. Sie ist völlig aus dem Häuschen und möchte mit allen möglichen Leuten sprechen – von irgendwelchen Sachbearbeitern bis hinauf zum Alten selbst! Unter anderem scheint es um den Pyramideneffekt zu gehen.« Der andere lachte. »Dann geht es um eine neue Mission. Ich hatte ein paarmal mit ihr Verbindung, als sie in Ausbildung war. Die flucht wie dreizehn Terraner, bis sie erst einmal in so einer Sache drin ist. Danach wird sie um so umgänglicher, je schwieriger ihre Arbeit ist. Kannst du noch etwas warten? Wenn ich diese Verbindung hier stabilisieren kann, schalte ich auf den Rekorder und gehe mit dir essen.« »Gut.« Linky zögerte ein wenig und begab sich
dann zu seinem Schreibtisch zurück. Noch außerhalb des Aufnahmebereichs des Transmitters blieb er stehen und lauschte. »... und warum wußte das niemand?« hörte er knackend und rauschend Pagadans Stimme. »Seit über einem Monat ist diese Agentin des Kulturdepartements jetzt auf Ulphi, und andere ebenso lang! Sie erhalten doch Ihre Berichte auch, oder? Wenn Sie nur zwei davon in Zusammenhang miteinander gebracht hätten, dann würden Sie doch erkannt haben, daß es hier einen Telepathen gibt, der glaubt, den Pyramideneffekt erfunden zu haben – das merkt man auf diesem windigen kleinen Planeten auf Schritt und Tritt! Und ich will ein C-Typ sein«, fügte sie bitter hinzu, »wenn es sich nicht um einen ganz ausgewachsenen Fall handelt – Unsterblichkeit und SivaPsychose eingeschlossen! Nein, ich will nicht, daß mir das Laboratorium seine eigenen Ergebnisse schickt! Ich bleibe auf der Telepathie-Verbindung, bis Sie meine Ergebnisse ausgewertet haben. Wo ist Snoops, dieser entsetzliche Kerl? Oder kann irgend jemand diesen blonden, zaundürren, konfusen Burschen suchen, mit dem ich vor ein paar Minuten sprach ...« Linky begab sich auf Zehenspitzen außer Hörweite. »Sie spricht jetzt mit der Leitstelle«, berichtete er seinem Freund. »Sehr freundlich ist sie noch nicht. Ich sehe mal eben in der Bücherei nach.« Der andere nickte, ohne aufzusehen. »Du könntest die Informationskabine des Chefs benützen. Er ist eben weggegangen.« »Pyramideneffekt«, lautete eine Minute später die Auskunft. »Vertraulich. Ergebnis des Gebrauchs einer
wachsenden Anzahl von organischen oder anderen Psychoimpuls-Multiplikatoren durch Telepathen der Kategorien Zwei bis Vier für die Übermittlung von Anweisungen, Zwängen, Illusionen etc. an größere Mengen von Zielpersonen. Charakteristisch für den Pyramideneffekt ist die Vermeidung exzessiver Erschöpfung des die Impulse aussendenden Geistes, die dadurch erreicht wird, daß die neutralen oder artverwandten Energien der Multiplikatoren selbst für die Übermittlung der Impulse von einer Stufe zur nächsten verwendet werden. Eine Verbreitung der Technik der Einrichtung der ersten und zweiten Multiplikator-Stufen ist unerwünscht. Im Elementarbereich kommt es nicht selten dazu, daß verschiedene Telepathen voneinander unabhängig solche Multiplikatoren entwickeln, doch ist ihre Verwendung in der ganzen Wega-Konföderation untersagt. Auch anderswo versuchen verantwortungsbewußte Regierungen, sie zu verhindern. Herstellung von Multiplikatoren der dritten und weiterer Stufen erfordert technische Möglichkeiten, die bei Telepathen bis hinauf zur Fünften Kategorie selten zu finden sind. Sie unterliegt der strikten Geheimhaltung und, den einschlägigen Bestimmungen entsprechend, strengsten Sanktionen. Detaillierte Informationen zur Methodologie des Pyramideneffekts sind unter dem Stichwort ›Technik: Pyramideneffekt‹ einzuholen ...« Die sanfte Stimme verstummte. »Hm-m-m!« sagte Linky. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß sich niemand in der Nähe befand, tippte er in die Maschine ein: »Technik: Pyramideneffekt«.
»Diese Information«, erklärte eine andere Stimme tonlos, »ist nur für Empfänger vom Zonen-Agenten an aufwärts zugänglich. Ihre Identifikation?« Stirnrunzelnd drückte Linky die Korrekturtaste, murmelte »Mist« und drückte ein paar andere Knöpfe. »Psycho-Impuls-Multiplikator«, ließ sich die sanfte Stimme wieder vernehmen. »Vertraulich. Jede Person, jedes organische Wesen, jede Energieform, die für die Übermittlung von telepathischen Impulsen an eine die quantitativen Möglichkeiten des Impulsgebers übersteigende Anzahl von Empfängern benützt wird. Siehe ›Pyramideneffekt‹ ...« Da war also nichts zu holen. Und worüber jammerte die Zonen-Agentin außerdem noch? Ach ja! »Siva-Psychose«, sagte die sanfte Stimme jetzt. »Symptom des Mittel- bis Endstadiums von Autokratie-Syndromen in Psychen des terranischen Typs ... siehe ›Massenmord: Gründe‹ ...« »Hast du gekriegt, was du wolltest?« Sein Freund war hinter ihn getreten. Linky stand auf. »Nein«, sagte er. »Aber gehen wir. Ist dein Abschlußbericht durchgekommen?« Sein Freund schüttelte den Kopf. »Den Jungen hat's erwischt. Mitsamt seinem Schiff. Eben sind die automatischen Todessignale hereingekommen. Dieses Bong-bong ... Bong-bong geht mir immer wieder auf die Nerven!« Er schob Linky in eine Liftkabine. »Die sollten sich mal ein anderes Signal einfallen lassen.« »Wie ich höre, hatten Sie Schwierigkeiten mit jemand vom Kulturdepartement«, erklärte Snoops freundlich
über den Transmitter. »Nur mit einer Agentin«, antwortete Pagadan und sah ihn unfreundlich an. Wahrscheinlich war er gar nicht so böse, wenn er auch wirklich so aussah. Außerdem war er jetzt eben nur sehr schwer zu finden gewesen. »Die ist schlimmer als ein Dutzend von den anderen, mit denen ich bisher zu tun hatte!« »DC-CFI 1227, wie?« Snoops nickte. »Da brauche ich nicht erst ein Dossier anzulegen. Das haben wir schon.« »Dann hat sie also auch schon früher Ärger gemacht?« »Na sicher! Schon oft. System-Direktorin Jasse – ganz tolle Puppe, was?« Snoops lachte leise. »Ich hab 'ne Menge dreidimensionale Aufnahmen von ihr.« »Das sieht Ihnen ähnlich«, sagte Pagadan säuerlich. »Für eine Bohnenstange sieht sie auch gar nicht so übel aus. Muß ja zwei Meter vierzig groß sein!« »Zwei Meter fünfundvierzig«, korrigierte sie Snoops. »Also, was ist nun dort mit ihr los, auf ... Ulphi?« »Sie mischt sich in anderer Leute Angelegenheiten ein, wie alle vom Kulturdepartement. Unter anderem in meine, obwohl sie das gar nicht weiß. Vor allem verwahre ich mich dagegen, daß sie von der Flotte ständig Informationen verlangt, die man dort gar nicht hat oder aus Sicherheitsgründen einfach nicht geben darf. Jedesmal, wenn sie ihn ansieht, behauptet einer der hiesigen Zerstörer-Kommandanten, fürchtet er, irgend etwas falsch zu machen, weil er Angst hat, daß sie ihn übers Knie legen und ihm den Hintern versohlen wird.« »Das würde sie nicht tun«, sagte Snoops ganz ernst.
»Jasse ist doch ein gutes Mädchen. Furchtbar gewissenhaft, das ist alles. Wollen Sie das Dossier jetzt gleich haben – vokal?« »Ja. Als erstes brauche ich die wichtigsten Hintergrunddaten, damit ich weiß, wie ich sie angehen muß. Ich würde es schon selbst aus ihr herausbekommen, aber sie hat einen ziemlich guten Gedankenschild, und ich kann nicht allzu viel Zeit mit dem Kulturdepartement verwenden.« Snoops nickte, räusperte sich, verdrehte die Augen nachdenklich nach oben, schloß sie dann und begann. »Alter um die fünfundzwanzig. Rasse: menschlich. Typ A – unerforschte Variante. Bürgerin der Konföderation. Heimatplanet Jeltad. Geburtsort unbekannt – Eltern ebenfalls; vermutlich Raumfahrer ...« »Einzelheiten darüber!« unterbrach ihn Pagadan. Er sei ja eben dabei, sagte Snoops mit geduldiger Miene. »Jasse wurde im Alter von etwa drei Jahren buchstäblich im Weltraum gefunden, und auch noch in einer ziemlich unwahrscheinlichen Gegend – hoch in den nördlichen Breiten. Ein weganischer Scout, der nach einer Schlacht die Wracks von vier daran beteiligten Schiffen inspizierte, fischte sie dort auf – bewußtlos und halb tot. Sie steckte in einem Raumanzug für einen sehr großen Erwachsenen – von der Größe, wie sie sie inzwischen selbst erreicht hat. Die Nachforschungen ergaben, daß ein erbitterter, wahrscheinlich sehr kurzer Kampf stattgefunden haben mußte, den sie als einzige überlebt hatte. Aufgefundene Überreste erlaubten den Schluß, daß eines der Schiffe von fünf oder sechs Angehörigen ihrer Rasse bemannt gewesen war. Die anderen drei Fahr-
zeuge waren von Lartesiern gesteuert worden, einer Piratensippe menschlicher Rasse, mit denen die weganischen Raumpatrouillen häufiger zu tun hatten, als ihnen lieb war.« Auch Pagadan waren sie wohl bekannt. »Ja, das ist der Stil dieser verrückten Affen! Mit denen ist nicht zu spaßen, und die Leute unseres kleinen Lieblings mußten ganz schön auf Draht sein, um es mit der dreifachen Übermacht aufnehmen zu können. Und wir wissen gar nichts über diese Rasse?« Er sei der Sache genau nachgegangen, aber ohne Erfolg, erwiderte Snoops achselzuckend. Und natürlich hatte sich auch Jasse selbst später um Aufklärung bemüht. Sie war in der Familie des Zweiten Piloten des Scout-Schiffes aufgewachsen. Diese Familie gehörte den Ernsten Traditionalisten an, und so war es ganz selbstverständlich, daß sie mit sechzehn in das Traditionalisten-College auf Jeltad eintrat, wo sie sich als exzellente Studentin und hervorragende Athletin auszeichnete. Zweimal siegte sie bei den Spielen des Wega-Systems. »In welchen Disziplinen?« fragte Pagadan neugierig. »Speer und irgendein Schwimmwettbewerb.« Snoops wußte nicht genau welcher. Zeitweise besuchte sie immer noch das College, ist jedoch mit neunzehn in das Kulturdepartement eingetreten. Auch das war nicht weiter erstaunlich, denn das Kulturdepartement war praktisch der politische Ableger der mächtigen Traditionalisten ... Erst drei Jahre später war sie zur Systemleiterin ernannt worden. »Etwa um diese Zeit«, schloß Snoops, »begannen
die Schwierigkeiten mit Jasse. Sie ist schlau genug, um zu merken, daß nicht alles, was die Verwaltung der Galaktischen Zonen unternimmt, mit unseren offiziellen Lebenszielen übereinstimmt.« Er lächelte amüsiert. »Sie scheint uns für eine Art Geheimpolizei zu halten ... Und Sie wissen ja, wie sehr die Traditionalisten so etwas mögen.« Pagadan nickte. »Ja, alles in aller Öffentlichkeit, so wollen sie es. Ist ja auch gut gemeint.« Nachdenklich hielt sie inne, den Blick der fremdartigen silbrigen Augen mit den schwarzen Pupillen auf Snoops geheftet. Oder sahen sie durch ihn hindurch? Er hörte sich unruhig fragen: »Sie wollen ihr doch nichts antun, Zonen-Agentin?« »Aber warum sollte ich denn der Systemleiterin Jasse etwas tun?« fragte Pagadan in einem übertriebenen Ton der Harmlosigkeit. »Sie ist doch ein gutes Mädchen, wie Sie selbst sagen. Und sieht so hübsch aus – trotz ihrer zwei Meter vierzig.« »Zwei Meter fünfundvierzig«, verbesserte Snoops sie mechanisch. Die Antwort hatte ihn nicht beruhigt. Der Assistent der Leitstelle betrat den Raum, in den sein Vorgesetzter ihn gebeten hatte, und traf den General beim intensiven Studium einer Karte an. Der Assistent warf einen Blick auf die Nummer der Karte und zuckte mitfühlend die Achseln. »Ich höre, daß sie mit Ihnen persönlich sprechen will«, bemerkte er. »Ist es so schlimm, wie sie glaubt?« »Colonel Deibos«, erwiderte der General, ohne den Kopf zu wenden, »ich bin froh, daß Sie hier sind. Ja,
es ist wirklich so schlimm!« Mit einer Kopfbewegung deutete er zur rechten oberen Ecke der Karte, wo eine größere Anzahl von Symbolen flackerte. »Das sind alles Informationen über den Planeten Ulphi, die wir jetzt eben von der Zonen-Agentin hereinbekommen. Die meisten anderen haben wir schon seit Wochen.« Einen Augenblick lang betrachteten die beiden Männer stumm die Karte. »Ja, nicht sehr schön«, gab der Colonel dann zu. »Aber wenn eine heraufziehende Krise nicht rechtzeitig angekündigt wird, werden alle hereinkommenden Informationen notwendigerweise als Routine-Angelegenheit behandelt, was häufig zu Verzögerungen führt. Aber die Agentin versteht das, da bin ich sicher.« »Gewiß«, stimmte der General zu. »Nur ist es so, daß wir – das heißt, meine Frau und ich – ihr, wenn sie sich hier im System befindet, bei gesellschaftlichen Anlässen ständig begegnen. Speziell meine Frau. Sie verstehen also: Ich möchte, daß unsere Analyse des Falls so perfekt ist wie möglich.« »Ich verstehe, Sir.« »Ich lese sie ihnen jetzt vor«, sagte der General. »Hören Sie ganz genau zu. Wenn Sie an irgendeinem Punkt Zweifel bezüglich meiner Interpretation haben, unterbrechen Sie mich bitte sofort.« Zusammen beugten sie sich über die Karte. »Das, was wir auf Ulphi vor uns haben«, begann der General, »geht offensichtlich auf einen unsterblich gewordenen Intellekt des menschlichen A-Typs – Unterkategorie Zwölf, telepathische Variante Zwei – zurück, wie er sich in einem Zeitraum von drei bis fünf Jahrhunderten in planetarischer oder Kleinsy-
stem-Isolation entwickelt hat.« Amüsiert stellte Colonel Deibos fest, daß der General sofort in einen dozierenden Vorlesungsstil verfallen war. Als einer der beiden Männer, die für die Psychomathematik der Leitstelle verantwortlich waren und zu dessen Aufgaben es auch gehörte, sie anderen verständlich zu machen, hatte er genügend Gelegenheit gehabt, sich derartige Manierismen anzugewöhnen. »In dieser Zeit«, fuhr er fort, »wurde das allgemeine Überwachungssystem natürlich fast vollständig automatisiert. Darüber hinaus ist aber auch eine nicht unbeträchtliche Aktivität des den Planeten beherrschenden Geistes zu verzeichnen. Das Aufkommen der Siva-Psychose in einer bestimmten Phase ist typisch für die vergangene Epoche – heimliche, in mystifizierende Riten eingekleidete Morde. Quantitativ haben sie noch keinen nennenswerten Einfluß auf die Bevölkerungszahl. Zu der offenen, unterschiedslosen Schlächterei vor dem plötzlichen und endgültigen Niedergang würde es wohl frühestens in einem Jahrhundert kommen. Von größter Wichtigkeit für die Identifizierung dieses Beherrschenden Geistes ist folgendes: In der geschichtlichen Periode, wo es zu den früheren Stadien der Herrschaftsübernahme durch diesen Geist kam, wurde das wissenschaftliche Potential Ulphis – damals praktisch auf galaktischem Niveau – achtunddreißig Jahre lang auf die Erforschung der verschiedenen Probleme persönlicher, organischer Unsterblichkeit konzentriert. Unter diesen Umständen hätte nur unglaubliches Pech verhindern können, daß die drei elementaren Bedingungen für die Perpetuie-
rung des Individuums, wie wir sie heute kennen, entdeckt und entsprechend in Beziehung zueinander gesetzt wurden. Festzustellen war allerdings, daß diese Forschungen innerhalb der folgenden zwei Jahre völlig aufgegeben und auch inzwischen nicht wieder aufgenommen wurden. Der in Frage stehende Zeitpunkt entspricht in etwa der verlautbarten Todeszeit des hervorragenden geistigen Führers dieser Epoche – einer auf Ulphi auch heute noch als Gestalt von geschichtlicher Größe geltenden Figur, die als Moyuscane, der Unsterbliche Illusionist, bekannt ist. Als Bestätigung kann gelten ...« Die Vorlesung dauerte etwa fünfzehn Minuten. »So, das wäre es dann wohl«, bemerkte der General schließlich. »Und die alten Weltraumforscher wunderten sich über die Häufigkeit, mit der so kleine verlorene Seitenlinien der Zivilisation plötzlich und ganz einfach verschwanden!« Er bemerkte, wie ihn der Colonel von der Seite her ansah. »Stimmen Sie mit meiner Interpretation überein Colonel?« »Voll und ganz, Sir.« Der General zögerte. »Die Bevölkerung von Ulphi ist noch nicht allzu sehr degeneriert«, stellte er fest. »Verschiedene Berichte sprechen von einem durchschnittlichen I.Q., der etwa elf Punkte unter dem des A-Typs liegt – relativ harmlos, wenn man an die verdummende Wirkung lebenslanger, sich auf alle Bereiche erstreckender Zwänge denkt. Eingeschränkte Mitgliedschaft steht ihnen immer
noch offen. Sie können sich selbst regieren und – mit etwas Hilfe – auch selbst verteidigen. Natürlich wird es vielleicht noch ein Jahrhundert dauern, bis sie sich wieder so weit entwickelt haben, daß sie uns von Nutzen sein können. Vorläufig bringt uns jedenfalls die Lage des Planeten gewisse strategische Vorteile.« Wieder machte er eine Pause. »Ich fürchte, Colonel«, sagte er dann, »daß ich am Thema vorbeirede. Die Tatsache bleibt bestehen, daß ein Fall dieser Art durch uns einfach nicht entschieden werden kann und darf. Daß es sich bei diesem Beherrschenden Geist um Moyuscane, den Unsterblichen, handelt, ist natürlich kaum zu bezweifeln. Bei allem, was darüber hinausgeht, können wir nur ganz allgemein gehaltene Empfehlungen verantworten. Aber ich bin ein alter Mann, Colonel, ein ängstlicher alter Mann, der Auseinandersetzungen jeder Art aus dem Wege geht. Und deshalb werde ich jetzt eine Stunde Urlaub machen. Würden Sie also freundlicherweise die ZonenAgentin über unsere Ergebnisse informieren? Soviel ich weiß, steht sie noch in telepathischer Verbindung mit uns und wartet darauf.« Unerwarteterweise nahm die Zonen-Agentin Pagadan seine Mitteilungen so gelassen entgegen, daß Colonel Deibos fast ein wenig beunruhigt war. »Also, wenn Sie nicht können, dann können Sie eben nicht«, sagte sie achselzuckend. »Eigentlich habe ich auch nichts anderes erwartet. Das Problem ist demnach, diesen Telepathen physisch zu identifizieren, ohne seinen Argwohn zu erregen. Und die Gefahr dabei ist, daß niemand weiß, wie man beispielsweise eine allgemeine Selbstmordwelle stoppt, falls er
darauf kommt, daß das für ihn eine sehr gute Art der Verteidigung ist.« »So etwa verhält es sich«, mußte der Colonel zugeben. »Es ist nicht schwer, einen Geist dieser Art zu aggressiven Reaktionen zu verleiten. Dadurch ist er relativ leicht zu orten, weshalb man sie auch meistens nicht allzu lange mit ihm herumplagen muß – außer eben auf einem so wenig entwickelten Planeten wie Ulphi. So wie sich die dortige Lage nun einmal darstellt – ein Beherrschender Geist hat die Macht an sich gerissen und alles unter seine Kontrolle gebracht – muß ein Agent ungemein vorsichtig handeln. Dieser spezielle Fall wird nun auch noch durch verschiedene, sehr störende Unsterblichkeitssyndrome erschwert.« Pagadan nickte. »Sie glauben also, daß die ganze Geschichte an das Interstellare Kriminaldepartement gehen sollte, wo man ganz behutsame Feindbeobachtungen und -analysen anstellen kann?« »So wird es meistens gehandhabt«, sagte der Colonel. »Natürlich geht es auf diese Weise nicht sehr schnell – ich kann mich an einen ziemlich ähnlichen Fall erinnern, zu dessen Lösung man immerhin dreißig Jahre brauchte. Aber sobald der beherrschende (Seist einmal physisch identifiziert worden ist, ohne sich dessen gewahr zu werden, ist man auch in der Lage, ihn zu vernichten.« »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß es notwendig ist, diesen traurigen kleinen Planeten noch weitere dreißig Jahre von Moyuscane beherrschen zu lassen«, sagte die Lannai langsam. »Ich nehme doch an, daß er sich mit unserer Gegenwart abfindet, bis wir den Überfällen der Bjanta ein Ende gemacht haben?«
»Das glaube ich auch. Aber trotzdem: Wenn Sie selbst herausfinden wollen, wo er steckt, dann haben Sie etwa acht Wochen zu tun. Wenn die Bjanta innerhalb dieser Zeit nicht kommen, wird er entweder annehmen, daß es ihre eigene Entscheidung war, oder daß sie von dritter Seite insgeheim fortgejagt worden sind. Und dann ist kaum vorstellbar, daß er den wahren Sachverhalt nicht erkennt. In beiden Fällen wird der Senat von Ulphi einfach seine Bewerbung um die Mitgliedschaft in der Konföderation zurückziehen. Wir sind unsererseits durch unsere Nichteinmischungsverträge so gebunden, daß wir unsere Leute wieder abziehen müssen, wenn das von Ulphi gewünscht wird.« »Der alte Junge hat an alles gedacht, wie?« sagte Pagadan. »Nun, wir werden sehen. Übrigens – in Ihrer Zusammenfassung ist auch von einem Bericht des Laboratoriums über die Raumangst die Rede, die Moyuscane den Bewohnern von Ulphi eingeredet hat. Haben Sie das im Detail bei sich – den Bericht des Laboratoriums, meine ich? Ich möchte das gern hören.« »Ja, das habe ich hier ...« Einen Augenblick später hörte Pagadan eine gedämpfte Altstimme: »Bei vierzehn Prozent der von dem Agenten gelieferten Neuralanalysen erstrecken sich Raumangstspuren bis in die subanalytischen Bereiche, wie es bei dieser Psychose normal ist. In allen anderen Fällen waren die Symptome der Psychose ohne weiteres als künstlich erzeugter Zwang zu erkennen. Unter Realitätsstreß ist ein solches zwanghaftes Gefühl stark genug, um in dem befallenen Organismus zum Tod aus Raumangst zu führen, spricht aber gewöhnlich auf die Standardbehandlung an.« »Gut«, nickt Pagadan. »Raumangst in vierzehn
Prozent der Fälle ist bei diesem Bevölkerungstyp in etwa normal, nicht wahr? Aber wie steht es mit Moyuscane selbst? Gibt es irgendwelche Anzeichen dafür, daß er selbst an dieser Psychose litt – daß er zu diesen vierzehn Prozent gehört?« »Ja!« erwiderte Colonel Deibos ein wenig überrascht. »Das war in dem Bericht nicht erwähnt, nicht wahr? Die historische Analyse zeigt ganz deutlich, daß alle seine illusionistischen Aktionen ausschließlich planetarischen Hintergrund hatten. Ganz und gar ungewöhnlich für einen Illusionisten, nicht mit allen denkbaren Weltraumeffekten herumzuspielen, wissen Sie. Aber Moyuscane hat das niemals getan ...« »Der Telepathie-Transmitter ist jetzt frei für ZonenAgentin 131.71«, murmelte der Koordinator der Wega-Konföderation in den Apparat. Allein in seinem Büro gewöhnlich, lehnte er sich in seinem Sessel zurück und entspannte sich, bis der Transmitter die Gedanken der Zonen-Agentin Pagadan erfaßt hatte und zu restrukturieren begann. Das überaus geräumige Dienstzimmer des Koordinators, eines der fünf oder sechs Nervenzentren der Konföderationsregierung, war mit einer Unmenge der verschiedenartigsten Geräte und Apparaturen ausgestattet. Der Koordinator selbst war einer der meistbeschäftigten Männer auf Jeltad, und jeder, der mit ihm zu tun hatte, wußte, daß man seine Zeit nur in Anspruch nehmen durfte, wenn man wirklich gute Gründe dafür besaß. Daß sich Pagadan ohne einen gewichtigen Grund bei ihm gemeldet haben könnte, kam ihm gar nicht in den Sinn. Die Lannai gehörte zu seiner inoffiziellen Gruppe
von Spezialagenten, denen e r besonders schwierige Aufträge anvertraute, wobei er in aller Regel damit rechnen konnte, daß der Agent überlebte und alsbald eine erfolgreiche Erledigung seines Auftrags meldete. Und wann immer einer dieser Agenten bei ihm vorsprach, galt es für ihn als ausgemacht, daß er auch guten Grund dazu hatte. Auf dem Visorschirm des Transmitters, der vorher in rauchigem Grün geschimmert hatte, erschien jetzt plötzlich das dreidimensionale Bild des Steuerraums der Viper, und der Koordinator ließ seinen Blick mit Wohlgefallen auf der schlanken Gestalt hinter dem massiven Steuerpult ruhen. Der menschlichen Rasse zugehörig oder nicht, Pagadan war eine Augenweide. »Also, was kann ich für Sie tun, Pagadan«, fragte er. »Ich brauche den Agenten in Ausbildung Hallerock«, antwortete die Lannai. »6972.41, viertes Jahr.« »Hm-m-m. Ja, den kenne ich.« Nachdenklich rieb sich der Koordinator das Kinn. »Ungewöhnlicher Bursche, nicht wahr?« »Und ob!« stimmte Pagadan enthusiastisch zu. »Wie schnell kann er hier sein?« »Selbst mit einem Rangerschiff«, erwiderte der Koordinator, »würde das zehn Tage dauern. Im nächsten Sternhaufen ist ein Agent, der in etwas unter vier Tagen bei Ihnen sein könnte.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich brauche unbedingt Hallerock. Vor ein paar Monaten habe ich ihn auf Jeltad kennengelernt«, fügte sie hinzu, als sei das eine Erklärung. »Wie stehen seine Chancen für eine Beförderung?« So eine Frage war absolut gegen die Regeln, aber der Koordinator verzog keine Miene. Er drückte auf
einen Knopf. »Das soll der Psycho-Tester beantworten.« »Bei sofortiger Zulassung«, ertönte eine tiefe, mechanische Stimme aus der Wand links von ihm, »beträgt die Wahrscheinlichkeit, daß er sämtliche Tests besteht, achtundneunzigkommasieben Prozent. Wegen einer herkunftbedingten, nicht ausreichenden emotionalen Anpassung an die weganische Zivilisation ist jedoch seine Beförderung auf unbestimmte Zeit verschoben worden.« »Das dachte ich mir«, nickte Pagadan. »Also, schikken Sie ihn mir bitte – mit einem Rangerschiff selbstverständlich. Vielleicht kann ich etwas für ihn tun. Das wär's, und danke für Ihre Mühe!« »Es war mir ein Vergnügen«, sagte der Koordinator. Und als er sah, daß ihre Hand zum Schaltknopf des Transmitters ging, fügte er hastig hinzu: »Wie ich höre, stehen Sie im Augenblick vor gewissen Problemen, für die auch die Leitstelle noch keine befriedigende Lösung gefunden hat.« Die Lannai hielt inne, die Hand am Schalter. »Dieser ulphische Illusionist?« fragte sie ein wenig verwundert. »Nun, ganz so schlimm ist es nicht. Aber wenn Ihnen an schneller Arbeit gelegen ist, stellen Sie bitte sicher, daß ich die Dinge, um die ich gebeten habe, schleunigst erhalte – das Hospitalschiff, das Kynoleen und die Spezialmedikamente, die ich benötige. Wenn das alles bald bei mir ist und Hallerock auch, dann haben Sie meinen Abschlußbericht in etwa drei Wochen.« Sie winkte ihm fröhlich zu und schaltete ab, und das Bild des Steuerraums der Viper verschwand vom Transmitterschirm.
Nachdenklich kaute der Koordinator auf seiner Oberlippe. »Psychotester«, sagte er dann. »was führt diese kleine Hexe denn im Schilde?« »Ich muß daran erinnern«, erwiderte die Stimme des Psycho-Testers, »daß Zonen-Agentin 131.71 zu den zweiunddreißig Personen gehört, die erkannt haben, was meine Hauptaufgabe hier ist, und die sich gegen meine Sondierungen zeitweise abschirmen. Darüber hinaus ist sie die erste, deren Abschirmung so undurchdringlich ist, daß ich keine befriedigende Antwort auf Ihre Frage geben kann. Wünschen Sie meine unverbindliche Vermutung?« »Nein!« knurrte der Koordinator. »Ja, das hatte ich ganz vergessen. Aber herumraten kann ich selbst.« Er fuhr sich mit der Hand durch das angegraute Haar. »Also – Hallerocks Problem ist ein herkunftsbedingter Mangel an Anpassung an unsere Zivilisation – so war das doch?« »Er gehört«, erinnerte ihn der Psycho-Tester. »zu den sehr stammesverbundenen und emotional stark ihrem Planeten verhafteten Mark Wieri VI.« Der Koordinator nickte. »Ja, jetzt erinnere ich mich. Zweiundzwanzigtausend Lichtjahre von hier. Sie waren dort fast seit den Ersten Stellaren Wanderungen isoliert und wurden erst vor etwa einem Dutzend Jahren wiederentdeckt. Ausgezeichnete Leute! Aber Hallerock war der einzige, den wir dazu überreden konnten, für uns zu arbeiten.« »Er scheint sich insofern völlig von den anderen zu unterscheiden, als er im weganischen Sinne galaxisoffen ist«, stimmte der Psycho-Tester zu. »Seine unterbewußte Bindung an seine eigene Art ist jedoch
weiter so stark, daß eine ständige Trennung von ihr nicht möglich erscheint. Nach außen hin zeigt sich dies nur in einem gewissen Mangel an Vertrauen in sich selbst und in diejenigen, mit denen er zusammenarbeitet. Aber diese Tendenz ist so stark, daß er aus Sicherheitsgründen nicht für den Zonendienst zugelassen werden kann.« »Achtundneunzigkommasieben Prozent!« sagte der Koordinator und fluchte leise. »Das heißt, daß er unter denen, die gegenwärtig in Ausbildung stehen, bei weitem der Beste ist. Und ich könnte ein paar von diesem Schlag so dringend gebrauchen! Psychische Behandlung nützt nichts?« »Dazu wäre absolute geistige Kontrolle über mehrere Wochen hin nötig.« Der Koordinator schüttelte den Kopf. »Das würde zwar seine persönlichen Schwierigkeiten beseitigen. Aber für uns wäre er nicht mehr von Nutzen.« Er überlegte kurz und entschied dann seufzend: »Ohnehin hat ihn Pagadan verlangt. Vielleicht verdirbt sie ihn noch vollkommen, aber jedenfalls ist sie eine ausgezeichnete Therapeutin. Wir sollten es auf einen Versuch ankommen lassen.« Und wie entschuldigend fügte er hinzu: »Würden wir Hallerock fragen, dann würde er zustimmen, da bin ich ganz sicher ...« Mit diesen Worten drückte er einen Schalter und sagte: »Bitte jetzt den Laboratoriumsbericht über die Verbreitung der Olleeka-Seuchen.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und wartete auf die Meldung des Laboratoriums. System-Direktorin Jasse vom Kulturdepartement
lauschte aufmerksam, bis ihr Rekorder »Ende des Berichts« gemeldet hatte. Dann starrte sie stirnrunzelnd auf den Apparat. Dieser Bericht würde der Zentrale gefallen! Er war eine aufschlußreiche, präzise Zusammenfassung der lange zurückliegenden Kolonialperiode Ulphis, über die bis dahin wenig bekannt gewesen war, und arbeitete den Unterschied zwischen dieser Zeit und der jetzigen ulphischen Zivilisation gut heraus. Er bestätigte die Auffassung des Kulturdepartements in Bezug auf den Stand, den eine isolierte Gruppe von Angehörigen der menschlichen Rasse des A-Typs erreichen konnte, und klang sehr plausibel, als sie ihn noch einmal abspielte. Aber irgendwie ließ er sie unbefriedigt. Irgendwie ließ Ulphi selbst sie unbefriedigt. Vielleicht brauchte sie Urlaub? Wie gewöhnlich, wenn sie mit einem neuen Fall beschäftigt war, hatte sie in den vergangenen zwei Wochen schlafverhindernde Mittel genommen. Aber in den sechs Jahren, die sie jetzt für das Kulturdepartement arbeitete, hatte sie noch nie das Bedürfnis nach Urlaub gehabt. Jasse unterdrückte ein Gähnen, schüttelte den Kopf, schaltete den Rekorder ab und trat vor den Spiegel. Fast schon Zeit für einen verabredeten Termin. Sich langsam vor dem großen Spiegel drehend, überprüfte sie ihre Uniform im Grün der Traditionalisten, das wie verschiedene Accessoires mit symbolischer Bedeutung vom Kulturdepartement übernommen worden war. Alles in Ordnung, einschließlich der verborgenen Gravmoc-Batterien in Gürtel und Stiefeln und dem elektronischen Gedankenschild-
Schalter in dem Armband an ihrem Handgelenk. Waffen brauchte sie keine zu überprüfen; Mitarbeiter des Kulturdepartements trugen grundsätzlich keine. Sie stülpte eine edelsteinbesetzte Mütze auf ihr schulterlanges, schimmerndes schwarzes Haar. Ihr Gesicht war das einer Fünfundzwanzigjährigen, trug aber immer noch Züge angestrengt-kindlichen Ernstes. Ein letzter prüfender Blick, dann verließ sie das Zimmer. Am Seeufer, einen Steinwurf vom Eingang der Mobilen Station des Kulturdepartements entfernt, warteten bereits ihre Gesprächspartner. Heute waren es sechs – Historiker in den langen silbergrauen Gewändern ihres Standes, die sich neben einem atemberaubend schnell aussehenden Fahrzeug mit ungemein rassiger Linienführung aufhielten. Jasse wußte freilich, daß das äußere Design das einzig Atemberaubende an einem ulphischen Flow-car war. Mehr als einen gemächlichen Schwebeflug vermochte er nicht zu leisten, so daß Jasse, als sie das erste Mal Passagier eines solchen Fahrzeugs gewesen war, sich versucht gefühlt hatte, anzuschieben. Natürlich durfte man – das rief sie sich beim Einsteigen bewußt ins Gedächtnis zurück – eine menschliche Zivilisation nicht einfach an den Leistungen einer anderen messen. Selbst wenn man einräumte, daß Ulphi mit den technischen Errungenschaften der Wega nicht annähernd mithalten konnte, ließ sich darüber streiten, ob dieser Planet nicht doch den besseren Teil erwählt hatte. Zweifelnd überlegte Jasse das Für und Wider der Frage, während das lange ulphische Begrüßungsritual mit seinen zahlreichen Respektsbezeugungen sei-
nen Lauf nahm. Endlich hatte man sich im Flow-car niedergelassen, und die Historiker kamen in ihrer blumigen Abart eines der zwölf menschlichen Basisdialekte zur Sache. Jasse trug ihren Teil zum Gespräch bei – gerade genug, um ihr Interesse zu zeigen. Ihre Aufmerksamkeit freilich galt der Stadt unter ihnen. Sie schwebten in etwa zweihundert Meter Höhe über der Küste dahin. Alle Gebäude waren niedrig genug, um einen weiten Ausblick zu ermöglichen: Alles zeichnete sich durch Symmetrie und perfekte Harmonie aus. Die knapp unter ihnen vorbeiziehenden, leuchtend weißen und pastellfarbenen Gebäude bildeten immer wieder andere Farb- und Linienmuster von stets aufs neue überraschender Schönheit. Und das war nur der direkt-visuelle Eindruck von der Kultur dieses Planeten. Unter sämtlichen sozialen Aspekten wies er dieselbe harmonische Ordnung auf – erreicht in gelassener, anscheinend müheloser Arbeit an jedem Detail. Jasse lächelte ihren Gesprächspartnern zu. Die bemerkenswerte Tatsache blieb trotz allem, daß dieses Planetenvolk nicht sonderlich intelligent war! Und selbst mit einigermaßen unterdurchschnittlicher Courage und Entschlossenheit hätte diese Bevölkerung die räuberische Mutterscheibe der Bjanta in die Flucht schlagen können, ohne um fremden Beistand bitten zu müssen! Sie brauchte wohl wirklich einen Urlaub, dachte Jasse jetzt, etwas verunsichert angesichts solcher unorthodoxer Überlegungen. Menschen vom A-Typ gerieten nun einmal nicht aus dem Gleis – und wenn es in noch so elegantem Bogen geschah – wenn nicht
Einwirkung von außen im Spiel war. Ihre Zweifel über Ulphi bedeuteten einfach, daß sie den Schlüssel des Geheimnisses noch nicht gefunden hatte! Vielleicht brauchte sie ein paar Wochen ReIndoktrinierung in Elementarem Traditionalismus. »Das Grab Moyuscanes des Unsterblichen – des letzten unserer Großen Illusionisten!« Jasse betrachtete das Grab mit respektvoller Miene. Im allgemeinen sagten ihr Gräber nicht sonderlich viel; aber dieses hier war zweifellos etwas ganz Besonderes. Sie und Requada-Attan, Historiker und Erb-Ehrenwache des Grabes, waren zusammen aus einer der Haupthallen des riesigen Gebäudekomplexes, welches das Historische Institut von Ulphis Zentralstadt beherbergte, in den kleinen Park mit der transparenten Überdachung gekommen. Ihre restlichen Begleiter hatten ihr gezeigt, was sie ihr zu zeigen hatten, und sich dann wieder zurückgezogen. Aber Requada-Attan, der wahrscheinlich nichts dagegen hatte, daß der informative Vortrag, den er seiner distinguierten Besucherin zu halten im Begriffe war, einer etwas größeren Zuhörerschaft zugänglich war, hatte das Parktor hinter ihnen offen stehen lassen. Eine größere Anzahl von Ulphianern war hereingekommen und hatte sich jetzt um sie geschart. »Ein angemessener Ruheplatz für den Unsterblichen!« erklärte Jasse ein wenig salbungsvoll. Die Ulphianer quittierten das mit beifälligem Gemurmel. Verständlicherweise stand sie mit ihrer hochragenden Gestalt und ihrer funktionalen weganischen Uniform im Mittelpunkt des Interesses dieser vielfarbig gewandeten, kleinwüchsigen Leute – wenige von ihnen
reichten ihr bis über Ellbogenhöhe. Ansonsten mußte das Grab Moyuscanes einem kulturell so sehr in sich selbst ruhenden Volk wie den Ulphianern als eines Besuchs durchaus würdig erscheinen. Es war ein durchscheinend weißes Monument vor einem eher konventionellen Hintergrund aus einem grünen Hain und plätschernden Springbrunnen und verband eindrucksvolle Größe und fließende Harmonie der Linien in einem Stil, der sich in den letzten vier Jahrhunderten auf diesem Planeten entwickelt hatte. »Bei den einfachen Leuten gibt es so manchen interessanten Aberglauben um dieses Grab«, trug Requada-Attan gerade vor. »Sie sagen, daß Moyuscanes Illusionen gelegentlich noch in diesem Park zu sehen sind. Vor allem bei Nacht.« Sein rundes, rosafarbenes Gesicht sah lächelnd zu ihr auf. Es war offenkundig, daß er, der Geschichtswissenschaftler, solchen Aberglauben nicht teilte. Illusionistische Vorführungen, dachte Jasse und nickte. Ein paar kleinere davon hatte sie selbst schon gesehen; aus den Unterlagen jedoch ging hervor, daß sie vor einigen Jahrhunderten auf Ulphi ein Ausmaß angenommen hatten, das heute keine größere Zivilisation mehr duldete. Die ulphischen Illusionisten waren Priester, Unterhalter und politische Führer gewesen. Ihre mentalen Symphonien – ein letzter monströser Höhepunkt alter Stammestänze und verschiedener Arten Körper und Geist mit sich reißenden Massenwahns – hatten das Denken und das Gefühlsleben dieser planetarischen Rasse entscheidend beeinflußt. Und Moyuscane der Unsterbliche war in der Reihe dieser Beherrschenden Geister der größte gewesen. Wie faszinierend es war, dachte sie, sich diese
menschliche Kraft vorzustellen, die ohne ein Wort oder eine Geste die Gefühle von Tausenden anderer menschlicher Wesen zu einem einzigen gewaltigen Strom vereinigen konnte, der, den Impulsen eines einzigen Willens gehorchend, in die von ihm gewünschten Kanäle floß. Faszinierend – aber auch ziemlich besorgniserregend! »Ich glaube ...« begann sie und verstummte. Wörter und Sätze, die vorher nicht Bestandteil ihres Denkens gewesen waren, kamen plötzlich in ihr hoch. Und jetzt fing sie an, sie – ohne es selbst zu wollen – zu äußern! »Aber das erklärt es!« sagte ihre Stimme in einem Ton angenehmer Überraschung. »Ich habe mir Gedanken über Sie gemacht, Requada-Attan – über Sie und Ihre geheimnisvolle, so schöne Welt! Aber warum erkenne ich erst jetzt, daß alles die Traumschöpfung eines Künstlers ist – daß einer eurer Großen Illusionisten noch lebt ...« Die letzten Worte schienen, eines nach dem anderen, in eine seltsam bleierne Stille zu fallen. Immer noch war Jasse ganz einfach völlig verblüfft. Dann nahm sie in der lastenden Stille um sie herum etwas wahr, und ihr Kopf fuhr herum. Es war der Ausdruck ihrer Gesichter, der sie gewarnt hatte. Schon einmal zuvor hatte sie diesen Ausdruck bei einer Menge gesehen, die unter mentalem Zwang handelte, und deshalb wußte sie sofort, was sie als nächstes tun mußte. Sie durfte jetzt nicht versuchen, zu ergründen, was geschehen war. Genauso wenig durfte sie mit ihnen argumentieren, sie bedrohen oder Zeit damit vergeuden, daß sie um Hil-
fe rief. Sie mußte nur weg von hier, und zwar schnell! Eine Menge konnte man die anwesenden Ulphianer eigentlich gar nicht nennen – insgesamt waren es kaum mehr als zwanzig Erwachsene. Daß es in diesen Menschen gegen sie gerichtete Impulse gab, war offenkundig; man merkte es an den Augen, die jetzt nur noch sie sahen, und an den synchronen Bewegungen, mit denen sie jetzt ganz ruhig auf die Stelle zukamen, wo sie stand. Und als Jasse sich mit ähnlich ruhiger Bewegung zu ihnen wandte, hielten sie inne wie auf ein unhörbares Kommando. Auch Requada-Attan stand unter diesem Einfluß! Er befand sich etwa vier Schritte entfernt zu ihrer Linken. Gerade vor Jasse, zwischen ihr und dem Tor, war die am zweitnächsten befindliche Gruppe: Zwei stämmige junge Männer mit rasierten Schädeln in den gelben Roben von Professionals aus der Athletenschule. Unmittelbar hinter ihnen stand ein weiterer silbergewandeter Historiker, den sie vorher nicht bemerkt hatte – ein älterer, sehr großer und schmaler Mann. Waffen waren nirgends zu sehen ... An den dreien, die vor ihr standen, mußte sie also vorbei! Jasse machte zwei schnelle Schritte auf sie zu. Und im gleichen Moment knirschte der Kies unter den Sandalen der Männer, als sie ihrerseits auf lasse zustürzten. Aber es war Requada-Attan, der sie – behende, wie sie es ihm bei seiner plumpen Gestalt nicht zugetraut hatte – als erster erreichte. In Blitzesschnelle hatte er sie am Arm gepackt, um sie zur Seite zu stoßen. Jasse riß sich mit einem Ruck los – an diesem Handgelenk hatte sie ihr Gedankenschild-Armband, darauf mußte
sie aufpassen! – und stieß den Erb-Wächter mit einer schnellen Bewegung um, so daß er vor die Füße der heranstürmenden Athleten stürzte. Im nächsten Augenblick schlug der dünne Historiker mit flatternden Gewändern einen Purzelbaum über die drei. Aber jetzt waren die anderen da, und Jasse befand sich inmitten einer keuchenden Gruppe, die von allen Seiten her nach ihr griff. Was ihr den ersten wirklichen Schock versetzte, war, daß die meisten von ihnen es auf ihr Gedankenschild-Armband abgesehen zu haben schienen! Denn das bedeutete, daß ein mentaler Angriff drohte ... Mentale Attacken und Massenzwänge auf dem Planeten Ulphi gab es also noch heute! Dieser Schock – die Erkenntnis, daß auf dieser so harmlos wirkenden Welt geheimnisvolle Kräfte gegen sie mobilisiert worden waren – hätte bei der Jasse umgebenden Gruppe zu Genickbrüchen und anderen schwerwiegenden Konsequenzen führen können. Aber sie widerstand der Versuchung, sich ihrer wohleingeübten Fähigkeiten zu bedienen, die sie noch niemals in die schreckliche Praxis umgesetzt hatte. Bis jetzt war die Lage ja noch gar nicht so schlimm – wenn sie nur kühlen Kopf behielt! Mit leichten Schlägen und Stößen bahnte sie sich einen Weg durch die sich wie irre gebärdenden kleinen Leute, wobei sie hauptsächlich darauf achtete, auf den Beinen zu bleiben und ihr linkes Handgelenk außerhalb der Reichweite der Ulphianer zu halten. Dann waren die gelbgewandeten Athleten wieder hochgekommen. Jasse schlug ihre beiden rasierten Schädel mit maßvoller Heftigkeit gegeneinander,
stieg vorsichtig über einen gestürzten, aber wie wild um sich schlagenden kleinen Jungen hinweg, hatte sich plötzlich freigemacht und stellte dem letzten der auf sie eindringenden Ulphianer noch schnell ein Bein, so daß er eine junge, dickliche Frau umwarf. Im Lauf der kurzen, praktisch unblutigen Auseinandersetzung war sie bis auf ein Dutzend Schritte an das Parktor herangekommen. Sie durchquerte es, schlug die hohe Bronzegittertür hinter sich zu, bemerkte, daß Requada-Attans Schlüssel noch immer im Schloß steckte, und hatte die Angreifer einen Augenblick später eingesperrt. Jetzt hatte sie eine Atempause, um sie sich näher anzusehen. Die meisten von ihnen mühten sich immer noch, wieder auf die Beine zu kommen. Mit einer Ausnahme starrten ihr alle mit seltsam kalten, ausdruckslosen Augen nach. Die Ausnahme war ein dunkelhäutiger, in eine weiße Robe gehüllter Mann in mittleren Jahren, der einen sorgfältig gepflegten braunen Kinnbart trug. Er stand etwas abseits von den anderen und beobachtete sie, und Jasse konnte sich nicht erinnern, ihn schon vorher gesehen zu haben. Ehe sie sich abwandte trafen sich für einen Moment ihre Augen. Aus seinem Blick sprach wache Intelligenz, vermischt mit etwas, das Furcht oder Zorn sein konnte. Zumindest, dachte sie, während sie durch einen der Korridore zu den Haupträumen des Instituts zurückging, aus denen sie hierher gekommen war, war sie nicht die einzige Person, die dieser Vorfall überrascht hatte. Aber darüber würde sie später noch nachdenken können. Das unmittelbare Problem war,
wie sie sich aus dieser Situation befreien konnte, und es wäre töricht gewesen, anzunehmen, daß sie das schon geschafft hatte. In den Gebäuden, auf die sie jetzt zuging, waren viele andere Ulphianer, und sie konnte nicht wissen, wie sie sich ihr gegenüber verhalten würden. Am Ende des Korridors trat sie vorsichtig in eine lange, sonnige, offenbar verlassene Halle. Die gegenüberliegende, von breiten Fenstern unterbrochene Wand bestand aus vertikal angeordneten Platten irgendeines blauen, marmorartigen Minerals. Durch die Fenster waren die Kronen federblättriger Bäume, und dahinter, in einiger Entfernung, die oberen Partien einiger Gebäude zu sehen. Links und rechts führte in jeweils etwa hundert Metern Entfernung ein hohes Portal aus der Halle hinaus. Beide Ausgänge wurden eben jetzt durch eine Ansammlung von Ulphianern in verschiedenfarbigen Roben blockiert. Bürger aller Typen und Klassen versammelten sich hier, um sie aufzuhalten. Selbst über diese Entfernung flößten ihre Gesichter Jasse ein unangenehmes Gefühl ein. Offenbar hatte man die Leute mobilisiert, um sie am Verlassen der Halle zu hindern bis ... Und dann legte sich etwas schwer über ihren Kopf – und zog sich zusammen! Ein mentaler Angriff! Jasses Hände fuhren in einer ungewollten krampfartigen Bewegung zu ihren Schläfen, obwohl sie wußte, daß es dort nichts für ihre Hände Greifbares gab. Es war in ihr, eine enorme Massierung von Druck auf eine Vielzahl von kritischen Stellen in ihrem Gehirn. In ihrer ersten panikartigen Reaktion
glaubte sie, einer überwältigenden, unwiderstehlichen Kraft ausgesetzt zu sein. Einen Augenblick später bemerkte sie, daß das Gefühl ganz erträglich war. Natürlich – sie hätte es wissen müssen. Da ihr Gedankenschild aktiviert war, mußte es eine Weile dauern, bis diese Art von Einwirkung effektiv werden konnte. Die momentane Gefährdung bestand nur darin, daß der Zeitraum, der ihr für ihre Flucht zur Verfügung stand, eingeschränkt wurde. Noch einmal sah sie zu den beiden Portalen hinüber und wußte sofort, daß sie sich nicht noch einmal durch solch ein Gewimmel von Körpern hindurchkämpfen würde. Das nächstgelegene Fenster war ein Dutzend Schritte entfernt. Hundert Meter tief fiel die Wand des Gebäudes schwindelnd auf einen großen, blau gepflasterten, von einer hohen Mauer umgebenen Hof ab. Auf der linken Seite führte in einiger Entfernung ein Tor auf die Straße hinaus. Durch die Straße selbst wälzte sich vielfarbig-dichter Verkehr, dessen Lärm nur noch gedämpft in diese Höhe heraufdrang. Durch den Hof gingen eben mehrere hell gekleidete Leute aber das machte nichts. Was zählte, war nur die etwa zwanzig Meter rechts von ihr am Fuße der Hauswand geparkte Reihe von Flow-cars. Sie regulierte die Gravmoc-Einheit an ihrem Gürtel. Als sie sich über die Brüstung schwang und sich von dem Gebäude abstieß, fühlte sie sich fast schwerelos. Achtzehn Sekunden später kam sie auf dem Pflaster auf, rollte sich zweimal seitüber und begann dann zu laufen. Und schon wurden Schreie laut. Zwei junge Frauen, die eben aus einem der Cars aussteigen wollten,
starrten Jasse mit weit aufgerissenem Munde an, als sie auf sie zulief. Aber weder die beiden Frauen noch irgend jemand sonst versuchte, ihren Start zu verhindern. Sie war schon im Anflug auf den Teil des Seeufers, der von einem der hier stationierten weganischen Zerstörer als Raumhafen benutzt wurde, als sie plötzlich daran erinnert wurde, daß die Zentralstadt für den Gebrauch in Notfällen Polizeischiffe hatte, die so schnell waren, daß sie um jeden Flow-car fliegen konnten. Und dann sah sie, daß lange silbrige, an Pfeile erinnernde Flugkörper direkt über dem Gebiet kreisten, auf das sie zusteuerte! Wenige Minuten später wurde ihr klar, daß sie den Raumhafen möglicherweise um mehrere Kilometer verfehlt hatte. Aus dieser geringen Höhe war er nicht zu erkennen, und der Flow-car weigerte sich, noch weiter zu steigen. Sie hatte dieses Ziel angesteuert, weil ihr gar keine andere Wahl blieb. Den augenblicklichen Standort der anderen weganischen Agenten, die gegenwärtig auf Ulphi stationiert waren, konnte sie nur über den Zerstörer selbst lokalisieren, oder über die Kommunikatoren in ihrem eigenen Arbeitsraum; aber ihre bewegliche Station befand sich auch auf dem Gelände des Raumhafens. Es waren genügend ähnliche Fahrzeuge in der Luft, daß Jasses Flow-car nicht auffiel, wenngleich der Verkehr über der Stadt insgesamt nicht allzu dicht war und hauptsächlich zwischen den wichtigsten Punkten verlief. Rechts von ihr wurde kurze Zeit ein zweites Polizeischiff sichtbar, das, ziemlich weit entfernt, flach über den Gebäuden dahinglitt und in dem leichten
Nebel, der über diesem Sektor hing, gerade noch als Silhouette zu erkennen war. Wenn die Ulphianer wußten, wo sie war, konnte jedes dieser beiden Schiffe sie innerhalb von Minuten aufbringen. Viel wahrscheinlicher war allerdings, beruhigte sich lasse selbst, daß niemand wußte, wo sie jetzt war. Die mentale Kraft, die immer noch auf ihren Gedankenschild eindrang, war ohne jede räumliche Ausrichtung, und ihre Flucht aus dem Historischen Institut mußte für diejenigen, die sie aus dem Verborgenen heraus angriffen, plötzlich und unerwartet gekommen sein. Trotz ihrer Größe unterschätzten Fremde Jasse oft wegen ihres schlanken Baus und ihrer ziemlich kindlich gebliebenen Züge, und in Situationen wie dieser konnte das überaus nützlich sein. Aber ... Jasse bemerkte einen kleinen Anflug von Panik und biß sich auf die Lippen. Denn sie brauchten nur – in einer Entfernung, die groß genug war, daß man sie auf dem Zerstörer nicht bemerkte – den Raumhafen abzuschirmen und auf lasse zu warten. Dann mußte sie selbst zu ihnen kommen – und zwar bald! Ihr Schild hielt den auf ihn eindringenden Kräften immer noch stand, doch zeigten sich allmählich schon Sekundäreffekte dieses unbarmherzigen Drucks – kaum merklich zunächst noch – ein Dutzend verschiedene, sich langsam in ihrem Gehirn ausbreitende Sinneseindrücke – brennende, kitzelnde, krampfartige, dumpf pulsierende Empfindungen. In den letzten Minuten hatten sich die ersten Anzeichen von Seh- und Hörstörungen bemerkbar gemacht. Das konnte lange so weitergehen, ohne daß es zu einer wirklich kritischen Beeinträchtigung
kam. Letzten Endes aber würden diese Störungen plötzlich in eine Art dunkle Verwirrung münden. Technisch gesehen konnte ihr Schild vielleicht noch funktionieren. Aber sie würde dann nicht mehr wissen, was sie tat, und ihr Handeln nicht mehr bewußt kontrollieren können. Ein seltsam schwebendes Gefühl überkam Jasse jetzt, während der Flow-car ruhig seinen Kurs auf das unbekannte Ziel hin verfolgte. Was sie zu tun hatte, war klar genug: Sie würde weiterfliegen, bis sie entdeckt wurde. Dann würde sie landen, um ihr Glück zu Fuß zu versuchen. Aber wer oder was hatte sie so unter Druck gesetzt? Was hatte der Unbekannte – oder waren es mehrere? – vor? Unbeweglich und etwas nach vorn gelehnt, um von außen nicht so leicht gesehen zu werden, saß sie am Steuer des Flow-cars und überdachte die möglichen Auswirkungen der seltsamen kleinen Ansprache, die sie vor Moyuscanes Grab gehalten hatte. Das waren nicht ihre eigenen Gedanken gewesen; und wären sie es gewesen, dann hätte sie sie nicht freiwillig geäußert. Also mußte sich, ungeachtet ihrer Schilde, schon vorher jemand an ihrem Geist zu schaffen gemacht haben! Gab es miteinander rivalisierende Gruppen auf Ulphi, und versuchte vielleicht eine davon, sich beim Kampf um die Herrschaft über diese planetarische Zivilisation ihrer und der Wega zu bedienen? Und wieder einmal war die System-Direktorin Jasse sehr über sich selbst überrascht – dieses Mal wegen ihrer verzweifelten Wut auf das Kulturdepartement, das sie unbewaffnet an einen solchen Ort geschickt hatte. Vertrauen in die angeborene Rechtschaffenheit von Menschen des A-Typs war gut. Doch ob es nun
diesen mysteriösen Beherrschenden Geist gab oder nicht – ein ganz gewöhnlicher altmodischer Strahler in ihrer Hand wäre ihr jetzt so willkommen gewesen! »O Sonnen und Planeten!« sagte Jasse laut vor sich hin. Es war eine alte, halbvergessene TraditionalistenAnrufung, die sie in ihrer Kindheit gelernt hatte. »Da könnte man wirklich vor Zorn ...« Und in diesem Moment legte sich ein Schatten, der durch keine Wolke verursacht war, lautlos über den Flow-car und blieb dort. Jasses Herz begann wie wild zu pochen. Verzweifelt versuchte sie, nach oben zu sehen, ohne das Steuer des Fahrzeuges loszulassen, als eine Stimme wenige Meter über ihr wie beiläufig bemerkte: »Sagen Sie ... Ich dachte mir doch, daß Sie das sind!« Jasse war in Sprachlosigkeit erstarrt. Es waren weganische Worte gewesen! Und das grüne, zehn Meter lange Gebilde aus nahtloser Raumlegierung, das da über ihr schwebte, war niemals auf Ulphi konstruiert und gebaut worden! Durch die geöffnete Schleuse des Fahrzeugs blickte sie ein keckes weibliches Gesicht mit riesigen Augen an – und plötzlich erinnerte sie sich daran, wie sie diesem Mitglied einer außermenschlichen Rasse zum letzten Mal in einer Raumuniform der Galaktischen Zonen begegnet war. Und wie höflich hatte sie damals versucht, die Antipathie und ihren Argwohn zu verbergen, die eine Traditionalistin befallen mußten, wenn sie sich mit einem solchen Mischlingsgeschöpf konfrontiert sah. Aber es drohte keine Gefahr!
Ihre Knie begannen vor Erleichterung zu zittern. Und Zonen-Agentin Pagadan, für die jeder Gedankenschild, auf den sie sich wirklich konzentrierte, wie dünnstes Spinnengewebe war – außer es stand ein Geist dahinter, der Nervenenergie ebenso wirksam kontrollieren konnte wie ihrer – Pagadan lächelte freundlich und war ganz stolz auf ihr Timing. »Sie erinnern sich also an mich?« lachte sie Jasse an. »Zu Ihren Diensten: Pelial von der Leitung der Galaktischen Zonen! Ich beobachtete gerade aus zehn Kilometern Höhe die Gegend und sah Sie da so gemächlich dahinschleichen. Was ist los, liebe Kollegin? Haben Sie dieses primitive Ding für eine Besichtigungstour gechartert, oder ist Ihr Pilot ausgefallen?« »Jein ...« begann Jasse, gleichzeitig nickend und den Kopf schüttelnd. Pagadans Augen wurden noch ein wenig größer. »Vergessen Sie's!« sagte sie ein wenig besorgt. »Aus der Nähe sehen Sie ja fast ein wenig mitgenommen aus, meine Gute! Was ist pass – Halt, warten Sie einen Moment, ich komme rüber und hol Sie an Bord. Vielleicht sollten Sie nach Hause ins Bett oder so etwas.« Ihr Kopf verschwand aus der Luke. Jasse holte tief Atem, strich sich eine Strähne schwarzen Haars aus der Stirn und befühlte dann einen tiefen Kratzer auf ihrem Handrücken. Ja, sie sah wirklich recht mitgenommen aus, bemerkte sie jetzt. Ihre grüne Uniform war zerrissen und hatte von dem Kalksteinpflaster, auf das sie hinuntergesprungen war, blaue Streifen. Und ihre edelsteinbesetzte Mütze war weg. Es dauerte eine kleine Weile, bis sie plötzlich bemerkte, daß der lastende Druck des mentalen Angriffs ebenfalls gewichen war!
Sie konnte es kaum fassen, als sie Pagadans behandschuhte Hand schon hinauf in das Raumboot hob. Und als sich die Schleuse des Fahrzeugs neben ihr schloß, machte sie noch eine weitere Entdeckung: Ihr Schild-Armband hatte sich gelöst und hing nur noch mit der Sicherheitskette an ihrem Handgelenk. Und der Schalter flackerte in warnendem Rot: »Offen«. »Ihr Gedankenschild?« Vorsichtig eine rosafarbene Flüssigkeit in eine Tasse träufelnd, wiederholte die Lannai-Agentin geistesabwesend Jasses schockierten Ausruf. »Wahrscheinlich haben Sie das Armband durchgetrennt, als Sie aus dem Flow-car stiegen. Kommt vor.« Sie bemerkte das warnend flackernde rote Licht. »Warum? Spielt es eine Rolle? Hat sich jemand an Sie heranmachen wollen?« »Jan vorhin«, flüsterte Jasse, und plötzlich gab es keinen Zweifel mehr, daß sie Angst hatte. Panik pochte in ihren Schläfen, und ein schwindelerregender Schimmer flimmerte vor ihren Augen. Und ein seltsames, immer intensiver werdendes Gefühl überfiel sie – als breite sich irgend etwas in ihrem Schädel aus ... ein wildes, erwartungsvolles Gefühl, daß irgend etwas geschehen würde. Sie bemerkte, wie die Lannai den gefüllten Becher ihr an die Lippen hielt. »Trinken Sie das!« befahl Pagadan mit kühler Stimme. »Was immer Ihnen zugestoßen sein mag, es ist gut für Sie. Und dann lehnen Sie sich einfach zurück und entspannen sich. Und nun wollen wir hören, was Sie wissen!« Das, was sie da geschluckt hatte, erkannte Jasse jetzt, war nicht rosafarben, wie sie
geglaubt hatte, sondern von tiefem Dunkelrot – fast schwarz. Es war eine unglaublich ruhige Farbe. Und der Trank hatte eine seltsam verlangsamende Wirkung auf alles! Zum Beispiel bemerkte man, daß von außen her Angstgedanken wie Pfeile auf einen losfuhren. Und wenn man vor ihnen zurückzuckte, dann wurden sie plötzlich immer langsamer, je mehr sie sich näherten, bis sie dann ganz zum Stillstand kamen und sich schließlich auflösten. Sie konnten einen nicht treffen. Es war geradezu komisch! Offenbar hatte sie deswegen eine Frage gestellt, denn die kleine Humanoide mit den riesigen Augen sagte: »Gefällt Ihnen das? Das ist Antischock! Ich dachte, Sie kennen das Zeug ... Bringt man euch denn im Kulturdepartement nichts bei?« Auch das war komisch! Natürlich bekam man im Kulturdepartement alles beigebracht, was man wissen mußte! Aber ... hatte es da nicht ... was war es gewesen, das sie ...? Jasse beschloß, diesen Punkt zu einem späteren Zeitpunkt gründlich unter die Lupe zu nehmen. Was sie jetzt hörte, schien eine in ruhigem Ton geführte Unterhaltung zu sein. Vielleicht nahm sie selbst daran teil, doch das war schwer zu sagen, denn eigentlich interessierte sie sich kaum mehr dafür, was um sie herum vorging. Und dann waren da diese beiden Gestalten, die Frau und der Mann, die sich ihr näherten bis zu jener Barriere in ihrer Vergangenheit. Und die versuchten, mit ihr zu sprechen, wie sie das immer taten, wenn Jasse sich bedrückt und verlassen fühlte. Aber jetzt fühlte sie sich nicht so, und deshalb
betrachtete sie die beiden von ihrer Seite der Barriere aus. Diese Barriere war dort, wo die Explosionen dröhnten und die grellen Lichter blitzten, die ihr Leid und Schrecken gebracht hatten und das plötzliche Vergessen, das keiner der Therapeuten des Kulturdepartements hatte lösen können. Undeutlich empfand sie, daß hinter diesen beiden Gestalten die Welt war, in die sie sich nach dem Willen der beiden begeben sollte – Kälte und Schnee im Licht der glitzernden Sterne, und Friede und Glück. Aber jetzt konnte sie keinen ernsthaften Versuch machen, dorthin zu gelangen, und die großen Gestalten schienen das schließlich einzusehen und verschwanden wieder. Oder – verlor sie sie nur aus dem Blick, als das tiefe Rubinrot um sie herum mehr und mehr zu schwerem, beruhigendem, samtigem Schwarz wurde ... »Wunderbar ...« murmelte lasse zufrieden, ehe sie einschlief. »Hallerock?« »Ja, Pag. Ich bin wieder auf dem Beobachtungsschiff. Ich höre.« »Bis jetzt geht alles nach Plan. Es gelang mir, Jasses Gedankenschilde zu öffnen, als ich sie an Bord nahm, und unser guter Freund Moyuscane war sofort da und wollte feststellen, ob wir wirklich etwas über ihn und seine Umtriebe wissen oder nicht. Dann bemerkte er mich, und seitdem verhält er sich ruhig und lauscht nur durch Jasse.« »Wieso scheut er sich denn vor Ihnen?« fragte Hallerock. »Vor ein paar Wochen versuchte er bei mir eine Fernsondierung. Ich klopfte ihm auf den Schnabel –
völlig natürliche Überraschungsaktion eines anderen Telepathen, verstehen Sie? Aber das mochte er jedenfalls nicht, zog sich gleich wieder zurück ...« »Wundert mich nicht«, sagte Hallerock nachdenklich. »Manchmal scheint es mir, als seien Sie sich über Ihre eigene Stärke im klaren. Hat Jasse irgend etwas Handfestes gegen ihn?« »Nein. Es ist ungefähr so, wie wir vermutet haben. Sie machte irgendeine unschuldige Bemerkung – was es genau war, hatte ich nicht die Zeit, festzustellen – und Moyuscane zog voreilig einen falschen Schluß.« »Wissen Sie, ich habe mich gefragt«, sagte Hallerock, »ob Sie sich nicht schon vorher ein wenig mit dem Kulturmädchen hätten beschäftigen können – damit sie im rechten Augenblick ein paar Ziegel fallen läßt.« »Also da hört sich doch so verschiedenes auf!« antwortete Pagadan freundlich. »Mitarbeiter der Konföderation gegen ihr Wissen und ihren Willen für solche Tricks zu gebrauchen, ist völlig wider die Vorschrift. Merken Sie sich das bitte! Es war ganz einfach ein glücklicher Zufall und wird uns eine oder zwei Wochen Zeit sparen, vor allem, nachdem Sie das Hospitalschiff und seine Besatzung zur Verfügung haben. Moyuscane hat jetzt in der Person von Jasse mitten unter uns einen Horchposten, und das ist alles, was er zu seiner Sicherheit braucht – glaubt er!« Hallerock brauchte einen Augenblick, um diese Neuigkeit zu verdauen. Dann kam sein telepathisches Signal wieder: »Wo sind Sie jetzt?« »Immer noch im Beiboot der Viper, im Raumhafen der Zentralstadt. Jasse steht unter Antischock und
schläft in der Koje hier.« »Oh«, sagte Hallerock, »dann fangen Sie also jetzt an?« »Wachen Sie auf, Bruder!« entgegnete Pagadan. »Angefangen habe ich schon vor zehn Minuten! Das letzte, was ich dem Mädchen gesagt habe, bevor sie völlig das Bewußtsein verlor, war, daß ein Hospitalschiff der weganischen Flotte im Anflug auf Ulphi ist – mit einem ganz neuen, supergeheimen Mittel gegen Raumangst. Es heißt Kynoleen – ein Geschenk der Konföderation an die betroffene Bevölkerung dieses Planeten.« »Also ... dann ist es wohl am besten, ich lande das H-Schiff in etwa einer Stunde auf dem Raumhafen?« »Ja, das wäre etwa der Zeitpunkt. Mit Hilfe des Kynoleens kann sich zeigen, daß der größte Teil der Bevölkerung hier von einer künstlich erzeugten Raumpsychose befallen ist, und Moyuscane muß es bei diesem Gedanken ja ziemlich mulmig werden. Aber er wird sehr bald versuchen, dafür zu sorgen, daß dieses Mittel in nächster Zukunft auf Ulphi nicht angewendet werden kann. Danach lassen wir ihn etwa drei Stunden in Ruhe. Anschließend werde ich Jasse aufwecken und sicherstellen, daß er uns durch sie belauscht. Und dann kommt der große Hammer. Sehen Sie also zu, daß ich die vorbereitete Meldung eine halbe Stunde vorher bekomme – jetzt in genau drei Stunden und dreißig Minuten! Und senden Sie sie kodiert, damit es authentisch aussieht.« »Gut«, sagte Hallerock skeptisch. »Aber wäre es nicht besser, wenn wir den ganzen Plan noch einmal durchgingen – nur um ganz sicher zu sein, daß nichts schieflaufen kann?«
»Das ist nicht nötig!« sagte die Lannai überrascht. »Wir haben Moyuscane aufs Gründlichste analysiert und die Faktoren, die den gewünschten Effekt erbringen werden, präzise berechnet. Das Ganze ist jetzt nur noch eine Frage des Timings. Sie lassen sich doch nicht von einem Telepathen Zweiter Ordnung erschüttern, oder? Hätte er nicht zufällig diesen Planeten unter Kontrolle, dann wäre dieser Fall gar nichts, womit sich G. Z. überhaupt befassen würde.« »Möglicherweise nicht«, lenkte Hallerock ein, »aber er hat ihn eben unter Kontrolle. Und zwar so, daß er alles zerstören kann, wenn er durchdreht. Deswegen meinte ich eben ...« »Agent in Ausbildung Hallerock«, erwiderte Pagadan ungeduldig, »ich liebe Sie wie einen Sohn oder so etwas, aber manchmal reden Sie daher wie ein Narr. Auch ein Telepath Zweiter Ordnung dreht nicht durch, außer man suggeriert ihm, daß er keinen Ausweg mehr hat. Wir müssen nur dafür sorgen, daß er diesen Ausweg nicht aus den Augen verliert, und ihm Zeit genug lassen, um ihn zu benützen, wenn wir unsere Hebel ansetzen –, aber nicht so viel Zeit, daß er sich wieder anders besinnt. Wenn es Sie beruhigt, können Sie ja in den nächsten acht Stunden Tracker auf alle ungeschützten Weganer ansetzen.« Hallerock lachte ein wenig gezwungen. »Das habe ich eben bereits getan«, gab er zu. Pagadan zuckte die Achseln. Dieser Pessimist! Von jetzt an würde er nur auf das Schlimmste gefaßt sein, obwohl dieser Job durchaus nichts Ungewöhnliches war, wie jeder wußte, der die Ausbildungsunterlagen studiert hatte. Und es war geradezu ein Vergnügen gewesen, zu verfolgen, mit welcher Raschheit und
Präzision er diese Operation ausgearbeitet hatte – trotz seiner düsteren Vorahnungen. Das einzige, was er nicht konnte: Die Verantwortung dafür zu übernehmen. Sie lächelte und setzte sich dann neben die Koje, in der Jasse lag. Als ihr Helfer sich zwei Stunden später wieder bei ihr meldete, machte er einen vergleichsweise optimistischen Eindruck. »Reaktion wie erwartet«, berichtete er lakonisch. »Allmählich glaube ich fast, daß Sie wissen, was Sie da tun.« »Hat Moyuscane die Raumtests mit dem Kynoleen gestoppt?« »Ja. Die ganze Geschichte blieb völlig geheim. Das H-Schiff befindet sich jetzt bei irgendeinem großen biochemischen Zentrum achthundert Kilometer von der Zentralstadt, und die Besatzung wurde sofort zu höchsten Beamten geführt. Man stellte die Frage, ob sich die Körperchemie der Ulphianer nicht so weit von der des A-Typs habe entfernen können, daß es angezeigt sei, eine Reihe von lokalen Experimenten mit dem Mittel einzuleiten, bevor es allgemein angewendet wird. Die Ärzte schlossen das nicht aus, und man bat sie – von Wissenschaftler zu Wissenschaftler – einstweilen Stillschweigen zu bewahren, um bei der Bevölkerung keine unnötige Aufregung zu verursachen. Wie erwartet, wollte man sich auch über die Dauer der Experimente nur sehr unbestimmt äußern.« »Alles ist sehr viel leichter«, sagte Pagadan erfreut. »wenn man einen Gegner hat, von dem man erwarten
kann, daß er denkt! Hat man den Leuten das Schiff gezeigt?« »Da treiben sich noch immer ein paar Dutzend Spezialisten herum. Unserem Personal sind sie vorgestellt worden ... Wir können mit ziemlicher Sicherheit annehmen«, fuhr Hallerock zögernd fort, »daß Moyuscane bemerkt hat, daß sie keine Psychoschilde haben. Das bedeutet natürlich, daß er die Kontrolle über das Schiff und seine Besatzung übernehmen kann, wann immer er will.« Er machte eine Pause. »Jetzt warten wir eben ab.« »Und lassen ihn ein wenig mit den richtigen Gedanken spielen«, fügte Pagadan hinzu. »Er müßte jetzt so beunruhigt sein daß sie ihm ganz von alleine kommen.« In der Zentralstadt war es Nacht geworden, als die Meldung, die sie erwartete, plötzlich aus dem Kommunikator kam. Pagadan entschlüsselte sie, zeigte Anzeichen ziemlicher Bestürzung, rüttelte Jasse wach und übermittelte Moyuscane über Jasse mit ein paar Dutzend angemessen erregten Sätzen den ihm zugedachten Schock. Danach vergingen einige bange Momente, bis sich ihre Patientin wieder halbwegs beruhigt hatte. »Sie wollte unbedingt aufstehen und etwas dagegen unternehmen!« berichtete Pagadan Hallerock und rieb sich ihr schmerzendes Handgelenk. »Aber schließlich gelang es mir, klarzustellen, daß die Aufklärung heimlicher Massenmorde auf einem fremden Planeten nicht Aufgabe des Kulturdepartements ist, daß aber einer unserer Zonen-Agenten morgen hier landen wird um den Fall zu übernehmen.«
»Und damit«, sagte Hallerock, »üben wir erst richtig Druck auf ihn aus!« »Gerade genug für unseren Zweck. Immer noch steht eine große Geheimorganisation im Verdacht, für diese seltsamen Mordrituale verantwortlich zu sein, und nicht nur ein kleiner Telepath, der seit ein paar Jahrhunderten den planetarischen Gott spielt.« Sie fuhr sich mit einem Taschentuch über die Stirn. »Bis man sich einmal daran gewöhnt hat, macht einen so was ganz schön nervös«, sagte sie dann. »Früher war ich manchmal genauso unruhig wie Sie jetzt. Aber eigentlich brauchen wir ja nur abzuwarten und zuzusehen, wie Moyuscane mit seinem kleinen Problem fertig wird. Die Lösung muß er ja sehen ...« Fast drei Stunden vergingen, während Pagadan, alias Pelial, die untergeordnete Mitarbeiterin des Amtes für die Galaktischen Zonen, ruhig ihre Akten bearbeitete und mehrere kodierte Meldungen empfing oder abschickte, die mit der bevorstehenden Ankunft ihres Vorgesetzten zu tun hatten – des hypothetischen Zonen-Agenten. Langsam, das mußte Pagadan sich jetzt eingestehen, wurde sie etwas besorgt, obwohl sie natürlich für alle Fälle Alternativmaßnahmen vorgesehen hatte. Dann erreichte sie Hallerocks fragender Gedanke. Für einen Moment stockte ihr Atem. »Verbindung hergestellt!« meldete sie sich bei ihm. »Was ist?« »Die führenden Biochemiker von Ulphi«, informierte sie Hallerock, »haben eben eine wissenschaftliche Leistung vollbracht, die man anderswo fast überall als bemerkenswert ansehen würde ...« »Sie Witzbold!« fauchte Pagadan. »Kommen Sie
zur Sache!« »... und zwar insofern, als es ihnen gelungen ist, alle zur Feststellung der völligen Harmlosigkeit des neuen Raumangstmittels Kynoleen für sämtliche Variationen der ulphischen Biochemie erforderlichen Tests und Analysen fertigzustellen. Sie räumen ein, daß sie sich bis zu einem gewissen Grade ...« »Hallerock«, unterbrach ihn Pagadan scharf, »noch ein unnötiges Detail, und Sie sind, sobald ich Ihrer habhaft werde, eine große, häßliche Leiche!« »So etwas paßt aber nun wirklich gar nicht zu Ihnen, Pag!« beklagte sich Hallerock. »Also, sie schickten fünfzig Freiwillige in das H-Schiff, um Kynoleen im Weltraum einem sofortigen Abschlußtest zu unterziehen – ganz Ulphi soll sich so bald wie möglich die Droge zunutze machen. Und niemand störte sich sehr daran, als unsere Ärzte daran erinnerten, daß unser Schiff nur für Tests an Einzelpersonen ausgerüstet ist!« Pagadan holte tief Atem. Einen Augenblick lang erfüllte sie ein warmes Gefühl der Selbstbewunderung. »Wann starten sie?« fragte sie mit unverhohlenem Triumph. »Sie starteten bereits vor zehn Minuten«, berichtete ihr Helfer ganz unschuldig. »Unmittelbar bevor ich mit Ihnen Verbindung aufnahm, entdeckte die Testperson daß man in zehn Minuten mit einem solchen Schiff wesentlich weiter fliegt, als irgendein Telepath Zweiter Ordnung seine Gedanken schicken kann. Daß er den Kontakt mit Ulphi verlor, schien ihm nicht sehr zu gefallen. Und dann ... wären meine Schilder nicht geschlossen gewesen, als Ihr Betäubungsstrahl ankam ...«
»Eine verführerische Vorstellung!« zischte Pagadan. »Eines Tages wird das schon noch passieren. Aber jetzt, mein Freund, müssen Sie sich Gedanken über das Schiff machen.« »Ich muß Ihnen ein Kompliment dafür machen«, gab sie eine Weile später zu, »wie Sie diese PT-Zellen installiert haben. Das nenne ich eine perfekte Übertragung! Die Hälfte der Zeit weiß ich selbst nicht, von welchem Teil des Schiffes aus ich der Show zusehe.« Sie saß jetzt neben der Koje, in der Jasse immer noch ruhig schlief, mit angezogenen Beinen in einem großen Sessel und schien fast ebenso entspannt zu sein wie ihr Gast. Den oberen Teil ihres Kopfes bedeckte etwas, was wie ein sehr großer und dickwangiger, oder offenbar leichter Helm aussah, der ihr bis zu den Augenbrauen reichte. Ihre Augen waren geschlossen. »Im Moment« – Hallerock zögerte – »benützen Sie, glaube ich, den ›Spion‹ in der linken oberen Ecke des Visors, in den Moyuscane schaut. Der Gedanke, so weit im Weltraum zu sein, gefällt ihm immer noch nicht so recht, wie?« »Nein, aber er hat seinen Ärger unter Kontrolle«, erwiderte Pagadan. »Im übrigen ist er für den Angriff auf Jasse verantwortlich der heute im Historischen Institut verübt worden ist. Sie hat ein ganz deutliches Gedächtnisbild von ihm. Es handelt sich also wirklich um Moyuscane.« »Sie meinen«, fragte Hallerock verblüfft. »Sie meinen, Sie waren sich gar nicht sicher?« »Nun – wirklich sicher kann man immer erst sein, wenn alles gelaufen ist«, gab Pagadan fröhlich zu-
rück. »Und selbst dann bleiben manchmal noch Zweifel.« Sie öffnete die Augen, änderte ihre Haltung ein wenig und lehnte sich dann wieder zurück. »Aber jetzt werden Sie bloß nicht ohnmächtig, Hallerock!« warnte sie ihn. »Sie müssen alles, was auf dem HSchiff passiert, genauestens für das Laboratorium festhalten!« Bis dahin war allerdings, wie Hallerock bemerkte, noch nicht sehr viel festzuhalten gewesen. Dafür, daß er nur als Versuchsperson eines wissenschaftlichen Tests an Bord gekommen war, gebärdet sich der dunkelhäutige, bärtige ulphische Freiwillige bemerkenswert aktiv. Aber niemand im Schiff schien das irgendwie ungewöhnlich zu finden. Wohin er sich in seinem weißen Hospitalanzug auch bewegte, die drei Ärzte, die das Experimentierteam des Schiffs bildeten folgten ihm auf dem Fuße. Gelegentlich unterbrachen sie ihn bei dem, was er gerade tat, und führten rasch irgendeine Untersuchung durch, die er dann gleichmütig über sich ergehen ließ. Aber er sprach weder mit ihnen noch mit den Schiffsoffizieren, denen er begegnete. Die Konzentration wiederum, mit der die Offiziere ihre Aufgaben versahen, hätte darauf schließen lassen können, daß es sich hier nicht um einen Routineflug handelte: sie schienen seine Gegenwart gar nicht zu bemerken. »Der Junge versteht sich auf Organisation«, mußte Pagadan einräumen. »Er beschäftigt eine ganze Anzahl von Experten und ist klug genug, sie in Ruhe zu lassen. Sie haben das Schiff jetzt auf dem neuen Kurs, nicht wahr? Können Sie ausmachen, wohin sie zu fliegen glauben?« Hallerock sagte es ihr.
»Eine Reise von dreiundachtzig Tagen!« meinte sie nachdenklich. »Sieht aus, als wollte er überhaupt nichts mehr mit uns zu tun haben! Irgend jemand an Bord muß wissen, was sich in diesem Gebiet befindet – oder hat sich Informationen darüber beschaffen können.« Sonst gab es bis zum Schluß kaum Nennenswertes zu vermelden. Mit einem nur knapp unter der Geschwindigkeit eines weganischen Zerstörers liegenden Tempo entfernte sich das H-Schiff von Ulphi. Wie ein überlasteter Manager, der anderes im Sinne hat, als sich wegen seiner unkonventionellen Kleidung Gedanken zu machen, wanderte der einsame Ulphianer im Schiff umher, außer von den drei Ärzten von niemandem beachtet. Aber schließlich – er war gerade im Steuerraum, wo er mißmutig einen Blick auf das sternenflimmernde Dunkel auf dem Visorschirm zwischen den beiden Piloten warf – begann Moyuscane zu sprechen. In diesem Augenblick wurde erst richtig klar, wie isoliert und allein er auf dem H-Schiff war. Wie ein Mann, der weiß, daß er sich in einem Traum voller Phantome keine Zurückhaltung aufzuerlegen braucht, verströmte der Ex-Herrscher von Ulphi wie in einem verzweifelten Aufschrei von Angst, Hoffnung und Frustration seine Befehle. Doch niemand hörte auf ihn. Über einen Stapel bisher unbenutzter Karten gebeugt, diskutierten die Piloten lebhaft mit dem Navigator und seinen beiden Assistenten. Die drei Ärzte hatten sich um die Couch versammelt, auf der Moyuscane jetzt saß, und tauschten mit der Gelassenheit von Männern, die den planmäßigen Ablauf eines Tests verfolgen, dessen positives Ergebnis bereits ge-
sichert erscheint, ihre Bemerkungen aus. So unversehens Moyuscanes Ausbruch begonnen hatte, so plötzlich war er zu Ende. Der Ulphianer fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und starrte schweigend auf den Boden. »Ich glaube«, sagte Pagadan, »Sie könnten jetzt die Zerstörer losschicken, Hallerock! Und ich hoffe, daß die Sache nun bald zu Ende ist. Ich habe hier noch einen Haufen anderer Dinge zu tun.« Auf dem H-Schiff gab es verschiedene Arten todbringender Vorrichtungen, die sie mit Hilfe der PTZellen auslösen konnte. Da sie jedoch alle eine gewisse Gefährdung der Schiffsbesatzung mit sich brachten, waren sie nur für den Notfall gedacht – falls Moyuscane seine Wut über die unvorteilhafte Wendung seines Geschicks an einem Mitglied des Schiffspersonals auszulassen versuchte. Pagadan nahm freilich nicht an, daß der ehemalige Herr von Ulphi seine noch verbliebene Kraft für so unprofitable Zwecke vergeuden würde. Jetzt war sie davon überzeugt, mit dieser Annahme recht zu behalten, und wartete – um einiges geduldiger als Hallerock – darauf, daß irgend etwas, was unter den obwaltenden Umständen sicherer als Gas oder Kugeln war, Moyuscanes Karriere beenden würde. Etwa zwanzig Minuten später traf es ihn – etwas berührte ihn und ging, unmerklich fast wie ein leichter elektrischer Schlag, durch ihn hindurch. Die Reaktion der beiden Beobachter erfolgte so gleichzeitig, daß nachher keiner von ihnen wußte, wer mit seinem Gedanken den Mechanismus ausge-
löst hatte, der das Schiff für kurze Zeit mit einer kalten, an der oberen Grenze der Wahrnehmungsfähigkeit dieser Besatzung liegenden Strahlung erfüllte. Die Besatzung ihrerseits reagierte auf dieses Signal, wenn auch weitaus weniger spontan. Ein paar Sekunden lang sahen die Leute sich zweifelnd um, als versuchten sie, sich an irgend etwas zu erinnern. Und dann ließen sie sich – wo immer sie waren und was sie auch gerade taten – in Kojen, auf Betten und Pritschen und auf den Boden nieder, streckten sich aus und schliefen ein. Einzig Moyuscane blieb aktiv. Nur seine Nervenzentren waren Tage zuvor nicht mit einem Katalysator getränkt worden, der dort in der Schwebe blieb, bis diese Strahlung ihn aktivierte. Innerhalb von Sekunden wurde jedoch die schockierende Erkenntnis in ihm ausgelöst, daß es in seiner Reichweite keinen einzigen Geist mehr gab, den er beherrschen konnte. Denn Kynoleen schützte nur innerhalb der durch die Dosis bestimmte Zeit vor der Raumangst, dann aber nicht mehr. Und welcher Art die entsetzlichen Schrecken auch waren, die sich eines Geistes bemächtigten, der mitten im Weltraum von dieser furchtbaren Psychose überfallen wurde – ihre Nebenwirkungen auf Körper und Gehirn waren vernichtend. Und so starb Moyuscane, der Unsterbliche, etwa vier Jahrhunderte nach seiner Machtergreifung eines raschen und schrecklichen Todes. Hallerock, der den Vorgang immer noch gewissenhaft beobachtete und für das Laboratorium der Galaktischen Zonen aufzeichnete, wurde fast übel. Pagadan schien es nichts auszumachen.
»Ich hätte ihm einen anderen Ausweg gelassen, wenn es gefahrlos möglich gewesen wäre«, kam ihr Gedanke zu Hallerock. »Und jetzt holen Sie bitte das Schiff zurück: die Zerstörer sollen es in Empfang nehmen. Wir sehen uns dann in Bälde ...« Fünf Stunden später näherte sich die Viper, dem Beobachtungsschiff, warf es wie nebenbei aus seiner Kreisbahn um Ulphi, holte es mit Traktor-Strahlen zu sich heran und koppelte es Schleuse an Schleuse an. »Vor fünfunddreißig Sekunden«, sagte Hallerock in kühlem Ton zu Pagadan, als sie in den Steuerraum des B-Schiffes kam, »spielten die Instrumente dieses verdammten Kastens verrückt! Haben Sie eine Ahnung, was die Ursache dafür sein könnte?« »Was ist denn das für eine Ausdrucksweise, mein Lieber?« rügte ihn Pagadan. Sie schob ihm ein kleines Paket über den Schreibtisch hinüber. »Zur sorgfältigen Begutachtung, sobald ich wieder fort bin. Aber Sie können es jetzt schon öffnen.« Die Hälfte des Inhalts bestand aus einem Transluzenz-Würfel von etwa fünfzehn Zentimetern Kantenlänge. Er enthielt das ganze Bild eines schlanken Mädchens mit schimmerndem, schwarzem Haar. Sie trug das kurze goldene Hemd einer Teilnehmerin an den planetarischen Spielen von Jeltad und hielt in einer Hand einen Speer. »Hm, nicht übel«, sagte Hallerock anerkennend. »Weganerin, wie? Und das andere sind Gleichungsplatten von ihr? Wer ist sie?« »Sie arbeitet für unser Kulturdepartement«, erklärte Pagadan. »Die Systemdirektorin!« rief Hallerock überrascht.
Er betrachtete noch einmal das Bild, – die Kopie eines von Snoops 3-D-Bildern – und sah dann neugierig die Lannai an. »Hatten Sie sie nicht eben noch in PsychoBehandlung?« »In gewisser Weise. Eigentlich war es mehr eine kleine Hypno-Information über das, was auf Ulphi vorgeht – einschließlich ihrer Rolle dabei. Als ich sie verließ, schlief sie in diesem Kinderwagen des Kulturdepartements, in dem sie hier kampiert.« »Wenn mich nicht alles täuscht«, bemerkte Hallerock nachdenklich. »unterliegen die letzten Vorgänge aus Ulphi der Geheimhaltung und sind nur Mitarbeitern von G. Z. zugänglich Von der Einwirkung eines parapsychischen Geistes von G. Z. war bei ihr wohl nichts festzustellen, oder?« »Kluger Junge! Jedenfalls ist sie ein Typ, den wir brauchen können. Ich werde sie jetzt wieder freisetzen. Aus ihren Gleichungsplatten ersehen Sie, wie Sie sie behandeln müssen, falls sie in emotionale Schwierigkeiten gerät. Sie bleiben sowieso noch vier Monate auf Ulphi stationiert und werden dieser Aufgabe Priorität einräumen.« »So? Noch vier Monate?« wiederholte Hallerock ungläubig. »Ich habe auf dem B-Schiff schon alles für meine Rückkehr nach Jeltad vorbereitet. Und Sie brauchen mich doch hier nicht mehr, oder?« »Ich? Nein.« Pagadan schien sich zu amüsieren. »Wer sich hier verabschieden wird, bin ich. Vor zwei Stunden erhielt ich Order von der Zentrale, mich schnellstmöglich dort zu melden, sobald wir Moyuscane zur Strecke gebracht haben.« »Wozu?« fragte Hallerock einigermaßen ratlos. »Hier ist die Agenten-Arbeit noch nicht beendet.«
Sie schüttelte den Kopf. »Warum, weiß ich auch noch nicht. Aber es muß mit den konservierten Bjanta zusammenhängen, die Sie dem Laboratorium schickten. Die Zentrale schien mir ganz aufgeregt.« Ihre silbrigen Augen funkelten jetzt vor unverhohlener Freude. »Es wird eine Fünf-Agenten-Mission sein. Hallerock! Jenseits der Galaktischen Grenze!« »Jenseits? Bjanta? Dann gibt es neue Erkenntnisse?« Hallerock war aufgesprungen. Pagadan fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und nickte. »Sieht so aus, nicht wahr? Neues schlüssiges Material, und wir haben es ihnen geliefert! Na, was machen Sie denn für ein Gesicht, bloß weil Sie nicht mitdürfen?« Hallerock schnitt eine Grimasse und lachte dann. »Nun, ich habe mir die ganze Zeit meine Gedanken über diese Bjanta gemacht. Jetzt übernehmen Sie das – und ich kann hier auf Ulphi versauern und für eine Neurotikerin vom Kultur-Departement den Arzt spielen!« »Wir haben alle klein angefangen«, sagte die Lannai. »Sehen Sie mich an – würden Sie es für möglich halten, daß ich noch vor ein paar Jahren nichts als die Hohe Königin von Lar-Sancaya war? Nicht«, fügte sie loyalerweise hinzu, »daß es irgendwo im ganzen Kosmos einen schöneren Planeten gäbe!« »Ulphi wohl mitgerechnet«, bemerkte Hallerock, der sich noch nicht mit seinem Schicksal abgefunden hatte. »Und wann kommt der neue Agent in diese traurige Gegend?« Pagadan rutschte von der Schreibtischkante herunter und sah ihn mitleidig an. »Sie Ärmster! Ist Ihnen nicht klar, daß Sie eben von mir eine Vorinfor-
mation für eine Mission bekommen haben? Haben Sie schon jemals gehört, daß man Aufträge dieser Art unterhalb der Zonen-Agenten-Ebene vergibt? Oder muß ich Ihnen ganz offiziell sagen, daß das eben Ihre letzte Woche als Agent in Ausbildung war?« Hallerock starrte sie an. Sein Mund öffnete sich, ging zu und dann wieder auf. »Augenblick m...« Mit einer Geste gebot sie ihm Schweigen. »Fassen Sie sich doch gütigst. Hier sind die letzten Instruktionen, die ich Ihnen zu geben habe. Ulphi wird als ein System der Klasse achtzehn in die Konföderation aufgenommen – als eine Vorpostengarnison. Ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, daß das einzige nicht Routinemäßige an dieser Prozedur die Elimination jeder feststellbaren Verbindung zwischen der jetzigen ulphischen Kultur und Moyuscanes Einfluß darauf ist – abgesehen von unserer eben beendeten Operation?« »Natürlich nicht«, erwiderte Hallerock heiser. »Aber hören Sie, Pag ...« »Ein beträchtliches Maß an Kleinarbeit ist natürlich dabei; deswegen hat Ihnen die Zentrale auch volle vier Monate für den Job zugebilligt. Wenn Sie hier fertig sind, erstatten Sie in Jeltad Bericht. An Ihrem Roboter arbeitet man bereits, doch wird man Sie selbst wegen der Basis-Impuls-Muster und so weiter brauchen. Und nach ein paar Monaten sind Sie für jede Dreckarbeit gerüstet, die sich die Zentrale ausdenken kann; wenn mich nicht alles täuscht, hat der Chef schon einiges für Sie in petto. Also ... dann alles Gute. Für mich wird es Zeit. Oder haben Sie noch irgendwelche Fragen?« Hallerock sah sie an; in seinem Gesicht bewegte
sich jetzt kein Muskel. Hätte sie der terranischen Rasse angehört, hätte ihr das nichts sagen können. Aber im Gegensatz zu den meisten anderen Männern, die Pagadan kannte, vergaß Hallerock nie, daß die Lannai einer anderen Art angehörte. Das war eines der Dinge, die ihr an ihm gefielen. »Nein, ich habe im Augenblick keine Fragen«, sagte er. »Aber wenn ich allein arbeiten muß, und sei es auch nur ein Job wie dieser, dann fühle ich mich irgendwie einsam und verlassen. Ich habe einfach nicht das Gefühl, als könnte ich die Verantwortung eines Zonen-Agenten übernehmen.« Eine ungeduldige Geste Pagadans ließ ihn verstummen. »Dieses Gefühl kommt schon noch«, versicherte sie ihm. Und dann war sie fort. Mit etwa halber Höchstgeschwindigkeit flog die Viper mit empfangsbereiten Rezeptoren heimwärts. Pagadan saß an ihrem Schaltpult und starrte nachdenklich auf den großen Visor-Schirm, während sie auf einen Anruf wartete, der jetzt jeden Augenblick kommen mußte. Sie war dabei durchaus ruhig. Auf die Minute genau hätte sie sagen können, wie lange es dauern würde, bis Hallerock sich von seinem leichten Schock erholen und zu den Dossier-Platten greifen würde, die auf seinem Schreibtisch lagen. Diese Platten enthielten einen kurzen Abschnitt von SystemDirektorin Jasses jüngster Verhaltensgeschichte mit den ihr zugrundeliegenden Motivationsmustern, verschlüsselt in dem telepathischen Code, der auf der
Grundlage jeder beliebigen aktiven Stunde eines individuellen Lebens eine Basis für seine Analyse lieferte. Sie hatte die Wichtigkeit dieses Auftrags hinreichend unterstrichen, um sicher sein zu können, daß er sich darum kümmern würde, bevor er sich anderen Dingen zuwandte. Und Hallerock arbeitete rasch. Er würde, um die Platten ein erstes Mal durchzugehen, nur drei oder vier Minuten brauchen. Aber dann würde er eine gute Minute dasitzen und stirnrunzelnd auf die Platten starren, einigermaßen verblüfft und dann auch ziemlich bekümmert. Der arme Hallerock! Jetzt konnte er nicht einmal eine einfache Charakteranalyse ohne Hilfe bewältigen! Grimmig würde er die Dossier-Platten umordnen, sie dann noch einmal aufeinanderschichten und dann wieder von vorn anfangen. Jede einzelne würde er jetzt sehr langsam und sorgfältig durchgehen, entschlossen, den Fehler zu finden, der da vorliegen mußte! Pagadan lächelte ein wenig. Fast auf die kalkulierte Sekunde genau erreichte sie sein suchender Gedanke. Als das Signal kam, drückte Pagadan auf den Schalter des Transmitters: »Ich höre Sie, Hallerock; allerhand Reichweite haben Sie! Was gibt es, mein Freund?« Nach einer kurzen Pause kam die Antwort: »Pag, was stimmt mit ihr nicht – mit der Dame vom Kultur-Departement, meine ich?« »Was mit ihr nicht stimmt?« erwiderte Pagadan in leicht überraschtem Ton. »Die Platten«, erklärte Hallerock. »Sie ist eine unentwickelte Parapsychotin – eine Telepathin Dritter
Ordnung zumindest. Aber sie steht auch unter einer Zwangsvorstellung. Sie glaubt, physisch irgendeine Art Monster zu sein! Was sie offenkundig nicht ist.« Sie ließ ihn einen Anflug von Unsicherheit spüren, der ihm signalisieren sollte, daß sie mit einer gewissen Ratlosigkeit überlegte. Immerhin gab es nichts, was mehr Umsicht erforderte als der Umgang mit einem völlig aus dem Gleis geratenen parapsychotischen Geist. »Ach, das!« sagte sie dann, plötzlich fühlbar erleichtert. »Das ist keine Täuschung, Hallerock – nur eine dieser typischen, unterschwelligen Übertreibungen. Wahrscheinlich habe ich dieses Moment ein wenig zu sehr betont. Nein, sie ist völlig in Ordnung – völlig in Ordnung, verstehen Sie? Aber sie ist eben keine Weganerin.« »Keine Weganerin? Aber warum sollte das ...« »Und natürlich hat diese physische Besonderheit sie immer ziemlich bekümmert!« unterbrach ihn Pagadan, als sei sie glücklich, auf diese Idee gekommen zu sein. »Sogar als Kind. Aber auf Grund ihrer traditionalistischen Erziehung konnte sie sich ein Bewußtsein der Isolation von anderen menschlichen Wesen nicht eingestehen. Ich hätte das wohl erwähnen sollen. Man hat sie im Weltraum aufgelesen; sie gehört zu irgendeiner nicht mehr identifizierten menschlichen Art, die eine Körpergröße von fast zweieinhalb Metern erreicht ...« In ihrer mobilen Station rieb sich System-Direktorin Jasse die Augen, schneuzte sich die Nase und steckte dann das Taschentuch mit entschlossener Bewegung wieder ein.
Nachdem sie aufgewacht war, hatte sie eine Stunde still vor sich hingeweint. Die Welt der Traditionalisten war so schön, so leicht verständlich gewesen, auch wenn sie sich dort nie völlig wohlgefühlt hatte. Gewiß – auch diese Welt hatte ihre Probleme, und dann gab es die geringeren, außermenschlichen Rassen, die man wegen ihrer Unvollkommenheit kühl bemitleiden und zu ihrem eigenen Wohle und dem aller anderen unter Kontrolle halten mußte. Aber daß Menschen vom A-Typ sich in eine so unglückliche Lage hatten bringen können wie hier auf Ulphi – das paßte einfach nicht in das Weltbild der Traditionalisten! So etwas übersahen sie geflissentlich. Auf diese Weise lebten sie glücklicher. Nun, sollten sie eben auf diese Weise glücklich werden! Sie war immer noch Jasse, das Kind des Weltraums, und Pagadan, die mit allen Wassern gewaschene kleine Humanoide, hatte nicht nur das mentale Kartenhaus zum Einsturz gebracht, in dem sie – Jasse – gewohnt hatte; Pagadan hatte sie darüber hinaus auf einige ihrer schlummernden Fähigkeiten aufmerksam gemacht, die sie nunmehr entwickeln konnte. Mit frischem, gesammelten Interesse begann sie, das, was sie neu an sich entdeckt hatte, noch einmal zu überdenken. Eigentlich gab es zwei Bereiche des Möglichen – die schweigende, kalte, schneeweiß verzauberte Welt ihrer Kinderträume erschien jetzt, da der Schleier über ihrer Erinnerung gefallen war, wieder klar und deutlich vor ihrem geistigen Auge. Die ferne Heimatwelt ihrer Rasse! Wenn sie wollte, konnte sie geradewegs dorthin zurückkehren – in die starke, warme, menschliche Gemeinschaft, die sie dort erwartete. Auch das wußte sie jetzt wieder.
Aber war das wirklich ihr Wunsch? Es gab noch eine andere Art von Gemeinschaft, hatte die Lannai ihr zu verstehen gegeben, und eine andere Art von Befriedigung jenseits eines selbstgenügsamen Lebens inmitten ihrer eigenen Artgenossen – und sei es auf der schönsten jener erstarrten Welten. Man war jetzt im Begriff, eine neue, zivilisierte Galaxie aufzubauen, und dabei konnte man ihre Mitarbeit brauchen. Sie hatte ein Bad genommen, eine frische Uniform angelegt und wartete jetzt darauf, daß ihr der WandButler in ihrem Arbeitsraum das Frühstück vorsetzte, als sich der automatische Melder vernehmen ließ: »Zonen-Agent Hallerock bittet um eine Unterredung.« Jasse fuhr unwillkürlich auf ihrem Stuhl herum, um nach der geschlossenen Tür zu sehen. Was hatte das zu bedeuten? Von denen wollte sie jetzt niemanden sehen. Sie beabsichtigte, ihre Entscheidung ganz unbeeinflußt zu treffen. Ein wenig ungehalten sagte sie: »Nun ... er soll bitte hereinkommen!« Sie legte den Schloßschalter um, und die Tür ihres Arbeitsraums öffnete sich. Einen Augenblick später sah sie, wie sich Hallerock draußen im Vorraum verbeugte. Sie machte Anstalten, sich zu erheben, setzte sich dann plötzlich wieder und schaute ihn noch einmal an. »Hallo, Jasse!« sagte Hallerock mit freundlicher, aber bemerkenswert selbstsicherer Stimme. Der Zonen-Agent Hallerock war zweifellos eine eindrucksvolle Erscheinung, um so mehr, als er jetzt
eine makellose Ausgehuniform in blau und weiß trug. Aber es war nicht so sehr der Umstand, daß er mit seinem dunklen Haar und den klaren, schwarzgrünen Augen ein bemerkenswert gut aussehender junger Mann war, der Jasses Blick an ihn fesselte. Das Entscheidende war: Man mußte ihn nicht erst zweimal ansehen, um zu wissen, daß er nicht von einem der bekannten zivilisierten Planeten kam. Jasse stand langsam auf, ging um den Schreibtisch herum und stand dann vor Hallerock. Ja, das war es vielleicht – die Welt, aus der er kam! Mark Wieri VI, ein Vorpostenplanet, der diese wenig einladende Bezeichnung so sehr verdiente, daß nur Terraner, die nicht mehr ganz bei Verstand waren, sich überhaupt dort hatten niederlassen können. Zwei von achtunddreißig Monaten des Jahres war der Äquatorgürtel dieses Planeten ein Inferno von pulsierenden Farben, ein blühender, wuchernder Regenbogen. Und dann bedeckte ihn Eis und hüllte ihn Dunkelheit ein und lautlose Kälte – wie den Rest dieser düsteren Welt. Im Mark-Wieri-System hatte sich das menschliche Leben der unbarmherzigen Natur angepaßt. In den über zweihundertachtzig Generationen seit den letzten Jahrhunderten der Ersten Stellaren Wanderung war das Leben dort so sehr eine Funktion seiner Umwelt geworden wie das Leben eines Fisches eine Funktion des Wassers. Und wer dort lebte, konnte sich nicht dazu verstehen, diese Welt zu verlassen – ebenso wenig wie ein Fisch seinen Teich. Hallerock stand jetzt vor ihr, und Jasse sah zu ihm auf. Denn bei all ihrer Größe überragte er sie noch um Haupteslänge.
Die Ausgehuniform bei einem dienstlichen Besuch war ein Hinweis, den sie zwar nicht übersah, aber ebensowenig brauchte. Das Eis seines Heimatplaneten war in Hallerocks Augen, aber auch die warme, menschliche Kraft, die es ihm erlaubt hatte, über die Kälte zu triumphieren und den Preis für den Triumph zu bezahlen. Dieser Nachkomme von Eroberern hatte begriffen, welch eine Zukunft diese Galaxie dem Menschen bot. Und deshalb hatte er sich einer Zivilisation angeschlossen, der dieselbe Erkenntnis zuteil geworden war wie ihm. Aber auch er hatte sich, wie Jasse, unter den Menschen seiner Umgebung wie ein Gigant fühlen müssen. Und wenn er es auch in seinen kontrollierten Gedanken nicht zugeben wollte: Jede Zelle seines Körpers wußte, daß er seines Volks verlustig gegangen war. Und Jasses Gedanken richteten sich forschend und fragend auf ihn, den Drachentöter der Galaktischen Zonen – und sie begann zu verstehen. Langsam entspannte sie sich. Sie gehörten zur gleichen Familie. Ihre Augen strahlten ihn an. »Hallo, Hallerock!« sagte Jasse. Und das warb wie Pagadan fand, der richtige Zeitpunkt, um die PT-Zelle aufzulösen, zu deren Installation in der Wand – direkt über der rechten oberen Ekke des Spiegels – sie über eine Stunde gebraucht hatte. Sicher hatten sich dieser beiden Riesenbabys jetzt überschwengliche Freudengefühle bemächtigt; aber alsbald würden sie sich auch ihrer guten Freundin
Pagadan erinnern. Und eines der ersten Dinge, woran der argwöhnische Hallerock denken würde, würde das mögliche Vorhandensein einer solchen Beobachtungszelle ein. Wie gut, daß diese winzigen Apparate keinerlei wahrnehmbare Spuren hinterließen! Sie nahm den PT-Helm ab und starrte dann mit unterdrücktem Gähnen auf den Visorschirm. »Das nenne ich eine wirklich gelungene Mission!« sagte sie mehr zu sich selbst. »Und alles ging glatt ... wenn man bedenkt, wie das anfing.« Sie überlegte einen Moment. Ihre silbrigen Augen schlossen sich und öffneten sich dann wieder. »Kein Wunder«, fuhr sie fort. »daß mich die Zentrale für einen Fünf-Agenten-Job ausgesucht hat – nach nur fünf Aufträgen! Wenn es darauf ankommt, geht nichts über ein Lannai-Gehirn.« Die hunderttausend freundlichen Lichtpunkte auf dem Visor-Schirm schienen ihr Beifall zu spenden. Pagadan lächelte ihnen zu. Gleich darauf schlossen sich ihre Augen wieder – und dieses Mal blieben sie zu. Ihr Kopf begann nach vorn zu sinken. Mit einem Ruck setzte sie sich auf. »He«, sagte sie unmutig, doch in schläfrigem Ton. »Was soll das?« »Schlafgas«, erwiderte die Stimme der Viper. »Wenn auf Jeltad ein neuer Auftrag wartet, heißt es unterwegs schlafen. Du brauchst deine Ruhe.« »Aber das ist eine ganze Woche!« protestierte Pagadan. Doch dann lag sie schon in ihrer SomnoKabine. Kissen wurden ihr unter den Kopf geschoben, und im ganzen Schiff gingen die Lichter aus. »Du Miststück!« murmelte sie. »Ich werde dir dei-
ne Reflexe ausbauen.« Es kam keine Antwort auf diese grimmige Drohung; Pagadan hätte sie freilich auch nicht gehört. Erst eine Woche später würde es ihr wieder erlaubt sein, sich ihrer Umgebung bewußt zu werden. Und jetzt durchlief ein dumpfes Dröhnen den gigantischen Leib der Viper. Gleichzeitig stieg im verdunkelten, verlassenen Steuerraum das bläuliche Lichtband der Geschwindigkeitsanzeige hoch. Plötzlich wuchs das Dröhnen zu einem Heulen an, wurde dann wieder leiser, dann unhörbar. Das Lichtband blieb knapp unter der mit »Notfall« bezeichneten Markierungslinie stehen. Ein weiterer Auftrag war ausgeführt. Die Viper trat ihren Rückweg an.
Originaltitel: THE ILLUSIONISTS Copyright © 1960 by James H. Schmitz Aus AGENT OF VEGA Übersetzt von Dolf Strasser
Frederik Pohl WURZEL DES ÜBELS Sicher wäre es uns irgendwie gelungen, Oak Ridge oder die Hanford Installations in die Luft zu jagen, wenn wir es nur versucht hätten. Ich bin überzeugt, wir hätten es geschafft, wenn wir uns darum bemüht hätten. Aber das hätte nicht genügt, bei weitem nicht. Der Feind war nicht mehr die Bombe, sondern die Formel selbst: e = mc2. Solange noch der Samen am Leben war, würde er eines Tages keimen und Früchte tragen können. Wir mußten den Samen zerstören, das Übel mit der Wurzel ausreißen. Marin kümmerte sich um das Kontrollgerät, während Lee ein paar Blöcke des Brennmaterials in den Reaktor schob. Ich hatte also Zeit, mich vor dem endgültigen Versuch doch ein wenig an Deck des Schiffes zu zerstreuen. Es war ein wunderschöner Tag. Der Winds der vom Meer herkam, drückte den radioaktiven Niederschlag auf das Festland zurück. Zu meiner Rechten lag die Küste von Staten Island – steil abfallende Klippen, von ein paar einsamen Bäumen gekrönt. Zu meiner Linken erhob sich die Stalagmitenwüste von New York. Selbst nach all den vielen Jahren zeigte sich dort noch kein bißchen Grün. Der Regen, der Staten Island schon lange von allen Isotopen reingewaschen hatte und jetzt einen neuen Pflanzenwuchs tränkte, zischte immer noch dampfend auf, wenn er auf Manhattan traf. Noch viele Jahrzehnte würden
wohl vergehen müssen, bis das erste Gras in seinen verlassenen Straßen wachsen würde. Einer der Holzarbeiter des großen Stapelplatzes auf Staten Island winkte über den halben Kilometer offenen Wassers herüber, und ich winkte zurück. Sie wünschten uns Glück, die Männer auf der Insel. Wir drei hatten den letzten Abend dort verbracht, und wir hatten lange und laut bis in die tiefe Nacht hinein mit ihnen diskutiert. Hoffentlich hatten wir Erfolg. Hoffentlich konnten wir die Uhr zurückstellen. Also tranken wir auf einen glücklichen Ausgang unseres Unternehmens, und wir wußten, jeder Mann, jede Frau und jedes Kind auf der ganzen Welt würde uns im Geist in diesem Augenblick zutrinken. Alle Einhundertfünfzigtausend, oder wieviel es waren, alle, die wie wir inmitten der Ruinen und der Tradition einstiger Größe aufgewachsen waren und wußten, was unser Erfolg für sie bedeuten würde. »Jom!« Lee rief mich. »Jom, wir sind fertig.« Ich eilte unter Deck. Lee wartete unten an der Tür auf mich, aber als er mich kommen sah, ging er ohne ein weiteres Wort zurück zu seinem Reaktor. Er wagte nicht, ihn allzu lange allein zu lassen. Seine Arbeit war in gewisser Hinsicht die wichtigste. Der Reaktor hatte manchmal Mucken, und die KMesonen, die unseren Versuch erst ermöglichten, waren das Produkt eines komplizierten und äußerst gefährlichen Kernverschmelzungsprozesses, der unter genauer Kontrolle gehalten werden mußte. Marin war schon dabei, die Koordinaten einzustellen. Ich trat hinter ihn und blickte über seine Schulter hinweg auf die wirbelnden Farben und For-
men auf dem Schirm. Es war noch nichts zu erkennen, noch nicht. »Jetzt habe ich die Zeit«, sagte Marin. »Aber die Ortsbestimmung ist schwierig.« Er schraubte an einem der Feineinsteller herum. »Ja, wenn wir in der Schweiz wären –« »Was für eine Schweiz meinst du?« fragte ich. Der alpine Schlackenhaufen, der sich an der Stelle erhob, wo sich einmal die Schweiz befunden hatte, würde noch für Jahrhunderte tabu sein müssen. Aufgeregt sagte er plötzlich: »Jetzt kommt es, Jom.« Er rastete die Meereshöhe von Lausanne ein, mit der anderen Hand fingerte er an den Kontrollen für Entfernung u n d Seitenverschiebung. Langsam gruppierten sich die wirbelnden Farben auf dem Schirm zu e rkennbaren Umrissen. Zuerst war alles noch sehr verschwommen; aber dann wurde das Bild immer klarer, und plötzlich blickten wir auf eine vorüberhuschende Gebirgskette herab. Wir flogen darüber hinweg auf eine Stadt zu, die am Horizont auftauchte. Marin betätigte einen Fußhebel, und ein erleuchteter Stadtplan von Lausanne erschien vor ihm an der Wand. Der Sehschirm schien über einen See hinwegzufliegen, denn durch ein Dickicht von Gebäuden. Unvermittelt kam er inmitten eines großen Theatersaales zur Ruhe. Marin rief: »Ich kann es nicht klarer hereinbekommen. Das Beobachtungsfeld –« »Das Feld ist in Ordnung, Marin.« »Aber es ist so dunkel.« Ich zwang mich, ein hysterisches Lachen zu unterdrücken. »Es ist dunkel, weil es Abend ist und kein Licht brennt. Du hast die Zeit noch nicht ganz genau
erwischt. Geh ein bißchen vor und dann wieder zurück.« Er grinste mich etwas verlegen an und drehte behutsam den vierten Einstellknopf hin und her. Der Schirm blieb noch einen Augenblick dunkel, dann flammten die Lampen im Saal auf. Winzige Gestalten betraten hinten den Raum, während der Vorhang vor der Bühne nach oben ging und sich verbeugende Schauspieler enthüllte. Offensichtlich tastete Marin die Zeit rückläufig ab. »Nicht zu weit«, warnte ich ihn. Er nickte und drehte den Knopf behutsam wieder nach vorn, dann wieder zurück. Wohl ein dutzendmal leuchtete der Schirm auf, aber immer war es ein Schauspiel oder eine Probe oder ein Konzert. Dann hielt Marin plötzlich den Atem an, und instinktiv drückte ich seine Schulter. Er rastete die Kontrollen ein, und einen Augenblick schauten wir schweigend auf das Bild, das sich uns auf dem Schirm zeigte. Marins Augen waren flinker als meine. »In der zweiten Reihe, der dritte – nein – der vierte von rechts«, sagte er mit belegter Stimme. »Ist er das?« Ich zählte nach. Ich brauchte das Foto, das wir aus einem alten Magazin herausgerissen und an die Wand geheftet hatten, nicht noch einmal zu Rate zu ziehen. Ja, er war es, ein junger, hagerer Mann in einer seltsam unbequemen Uniform mit einem runden steifen Hut. Seine Augen blickten grübelnd durch die Anwesenden hindurch in irgendwelche fernen Gedankenbereiche. Noch hatte er keine Pfeife, keine Geige, kein buschiges weißes Haar. Er würde sie niemals haben.
Fast eine halbe Stunde mußten wir warten, bis Lee endlich seinen Reaktor auf volle Ladung gebracht hatte. Marin blieb vor dem Schirm hocken, obwohl er die Kontrollen eingerastet hatte und es im Augenblick für ihn nichts mehr zu tun gab. Ich jedenfalls lief rastlos auf und ab, wie ein Mann mit fünf mutierten Generationen hinter sich, dessen Frau gerade ihr erstes Kind erwartet. Als ich wieder zu Marin trat, sagte er: »Jom, ich kann es nicht tun.« Lee arbeitete ungerührt weiter. Auch wenn er Marins Worte gehört haben sollte, so ließ er es sich doch nicht anmerken. Ich sagte ungehalten: »Sei kein Idiot!« Vielleicht war ich so ärgerlich, weil mir in meiner Haut ebenfalls nicht wohl war. Man hatte uns schließlich zu einer Anschauung erzogen, die das menschliche Leben als das kostbarste Gut auf der ganzen Erde ansah. Marin zitterte unbeherrscht. Ich verfluchte mich selbst, daß ich ihn gerade zu diesem Zeitpunkt so lange allein gelassen hatte, lange genug jedenfalls, daß er sich in seinen jetzigen Zustand hatte hineinsteigern können. »Wenn wir nur in der Zeit reisen könnten.« »Das Reisen in der Zeit ist unmöglich. Es ist völlig zwecklos, darüber nachzudenken.« »Aber wir können doch nicht einfach einen unschuldigen Menschen umbringen.« »Und warum nicht?« Er explodierte. »Das größte Genie der theoretischen Physik, das jemals gelebt hat. Ein harmloser, friedlicher Mann, der niemals jemandem ein Leid getan hat.«
So nachdrücklich, wie ich nur konnte, sagte ich: »Zwei Milliarden Tote. Marin. Drei Kontinente in Schutt und Asche und für lange Zeit unbewohnbar. Und jeder noch lebende Mensch mutiert. Wieviel Brüder und Schwestern hast du gehabt?« Er krümmte sich. »Keine, die noch am Leben sind«, gab er zu. »Aber Einstein selbst hat doch damit nichts zu tun gehabt. Die Bomben haben andere gebaut.« »Nachdem er ihnen gezeigt hatte, wie sie es anstellen müssen. Nein, Marin, die Welt wußte genau, was ihr bevorstand. Schau dir die Bücher an, die übriggeblieben sind. Lies doch nach, wieviel Warnungen darin stehen, Warnungen vor den Schrecken eines Atomkrieges und vor den Schrecken, die nach diesem Krieg kommen würden. Die Warner hatten recht – oder? Und trotzdem – als erst einmal die Theorie bekannt war, gab es keine Möglichkeit, zu verhindern, daß sie in die Praxis umgesetzt wurde. Es gab schon immer Kriege, Marin, und es wird vielleicht immer Kriege geben. Aber das läßt sich noch ertragen, wenn dabei nur ein unbedeutender Bruchteil der menschlichen Bevölkerung getötet wird. Doch wenn ganze Völker hinweggefegt und ausgelöscht werden, dann ist das schlimm, sehr schlimm.« Lee rief mir zu – so ruhig, als fände er sich immer noch im Labor der Universität: »Ich bin fertig, Jom.« Einen Augenblick lang sahen Marin und ich uns in die Augen. Ich sah auch den Widerwillen und den Ekel, der in den seinen stand. »Nun?« fragte ich mit kalter Stimme. Es mußte Marin sein, der die Kontrollen bediente. Er war derjenige, der das Gerät entworfen und entwik-
kelt hatte. Ich hätte zwar Lausanne auch finden können, aber es würde mir bestimmt nicht gelingen, die Kräfte des Zeitbinders so genau auf den winzigen Raum innerhalb eines menschlichen Gehirns bündeln zu können, wie es erforderlich war, um das tun zu können, was wir tun mußten. Wenn Zeitreisen möglich gewesen wäre – ja, Marin hatte recht –, dann hätten wir zu dem jungen Mann gehen können, wir hätten uns mit ihm auseinandersetzen und ihm gut zureden können und, wenn das nichts genützt hätte, ihn vielleicht sogar in die Zukunft entführen können. Aber eine Reise in der Zeit ist ein Widerspruch in sich selbst. Die große Materie hat ihren festen Platz in der Zeit und kann diesen Platz unter keinen Umständen verlassen. Aber die K-Mesonen, diese nur halbverstandenen Teilchen, die zwar einerseits Materie, andererseits aber wieder bloß reine Wellen sind, sie waren nicht an die Gesetze gebunden, von denen die gröbere Materie beherrscht wurde. Und obgleich wir selbst uns nicht in der Zeit bewegen konnten, war es doch möglich, ein Bündel dieser K-Mesonen zurück in die Vergangenheit zu schicken, das verbrennen und zerstören würde ... Marins Stimme klang belegt. »Also gut, Jom.« Ich hörte ihn an den Kontrollen hantieren, und ich hörte auch, wie der knisternde Mesonenstoß hervorzüngelte und sein Opfer fand. Aber ich sah nicht auf den Schirm. Mord fällt mir genauso schwer wie Marin, gleichgültig, ob es meine Pflicht verlangt oder nicht. Ich konnte es nicht ertragen, zusehen zu müssen, wie die winzige Gestalt auf dem Schirm emporgerissen wurde, nur um wieder zusammenzubre-
chen. Ich wollte nicht zusehen, wie der grübelnde Blick in ihren Augen der Starre des Todes wich. Es war übrigens auch gar nicht nötig, den Schirm im Auge zu behalten, um festzustellen, ob der Versuch geglückt war. Vor mir war ein Fenster, und durch das Fenster konnte ich sehen, was geschah. »Mein Gott!« schrie Lee auf. »Schaut euch die vielen Boote an.« Das war alles, was wir im Augenblick tun konnten, nur schauen. Was sich innerhalb eines KMesonenfeldes befindet, kann nicht heraus, genauso wenig, wie etwas herein kann. Aber die Welt um uns veränderte sich. Das zerstörte Manhattan erwachte zu neuem Leben. Der graue, uns vertraute Staubhimmel machte einem unvorstellbaren Blau Platz, mit weißen flockigen Wolken darin – einem Himmel, wie ich ihn in Büchern beschrieben gefunden, aber nie erwartet hatte, ihn einmal mit eigenen Augen sehen zu können. Und der Hafen, der weite, verschlackte Hafen von New York, wimmelte von Schiffen und Booten, großen und kleinen Motorschiffen aller Größen, Dampfern und Frachtkähnen. Und hinten, hinter den Narrows, konnte ich sogar undeutlich einen Riesenfrachter sehen, der fast so groß wie eine Stadt zu sein schien. Der Verwandlungsprozeß war abgeschlossen, und das K-Mesonenfeld brach zusammen. Marin, immer noch bleich und zitternd, flüsterte: »Jom, Jom, es ist eine völlig neue Welt.« Und das war es auch. Eine Welt, wie wir sie nie gekannt hatten, wo es Millionen, vielleicht Milliarden
von Menschenbrüdern gab, eine Welt, die nie durch die Hölle eines atomaren Krieges gegangen war. Wir stiegen an Deck. Eine gedrungene Barkasse bahnte sich ihren Weg durch das Gewimmel der Schiffe und Boote auf uns zu, und eine Stimme brüllte: »He, Sie da! Das Schiff mit den grünen Kennzeichen. Drehen Sie bei und zeigen Sie Ihre Registrierkarte und Ihre Ankererlaubnis.« Er meinte uns. Der Schreihals, dachte ich im stillen, würde einen schönen Schock bekommen, wenn er sehen würde, was für »Papiere« wir hatten. Würde er uns glauben? Würde irgend jemand in dieser Welt uns glauben? Sicher nicht. Aber sie würden uns glauben müssen, wenn sie erst einmal Gelegenheit gehabt hatten, sich auf unserem Arbeitsdeck umzuschauen. Die Wunder, die wir ihnen bringen konnten! Denn ohne Einstein würde es keine Atomphysik geben, keine Atommeiler, keine Kernverschmelzung, keine schweren Elemente mit Hunderten von Ordnungszahlen, die durch ihren Zerfall unsere Maschinen antrieben und die KMesonen freigaben. Ein schnelles kleines Boot überholte die Barkasse und legte neben uns an. Es war nur eine kleine zusammengeflickte Jolle mit einem Außenbordmotor, aber sie war schnell und wendig. Seltsamerweise lief der Motor fast lautlos. Dann sah ich, daß er von einer elektrischen Batterie gespeist wurde. Eine eifrige Stimme rief uns aus der Jolle an. »Zigaretten? Schokolade? Wo kommt ihr denn her?« Die drei Burschen, die in der Jolle saßen, waren alle kaum fünfzehn Jahre alt. Sie hatten jeder nur eine zerrissene Hose an, sonst waren sie nackt. Ungeduldig
lärmten sie herauf, ob wir nicht Tabak, Geld oder sonst irgend was hätten. Lee gab ihnen Antwort, und vielleicht hätte auch ich mich an der Unterhaltung beteiligt, aber Marin zog mich beiseite. »Jom, mir gefällt das alles nicht«, sagte er bedrückt. »Ich habe ein Gefühl, als ob ich ersticken würde.« Er atmete auch wirklich schwer, und ich wußte, was er damit sagen wollte. Etwas Beklemmendes und Verwirrendes ging von diesen vielen Menschen aus, von diesem unübersehbaren Schwarm von Schiffen, die mit der Dünung dümpelten, dem aufgeblähten Häusergewirr auf Manhattan und Staten Island. Auch ich hatte das Gefühl, als ob ich in jedem Augenblick unter einem Berg kriechender, zuckender Menschenleiber ersticken müßte. Trotzdem sagte ich Marin ein paar beruhigende Worte und ging zur Reling, um die Besatzung der Barkasse zu begrüßen, die inzwischen angelegt hatte. Es war eine Gelegenheit, wo ich mir ruhig ein paar hochtrabende Worte leisten konnte, dachte ich, und sagte zu dem Mann, der am Bug des Schiffes stand: »Willkommen auf unserm Schiff, Freund aus einer Welt des Friedens und des Überflusses.« Der Mann hatte schon ein Bein über die Reling der Barkasse geschwungen. Er hielt inne und starrte einen Augenblick verwundert zu mir herauf. Dann angelte er mit dem Fuß nach unserer Enterleiter. »Registrationspapiere!« sagte er. »Was für ein Kahn ist das überhaupt?« »Es ist ein Motorschiff, ein wissenschaftliches Forschungsschiff«, antwortete ich. »Wir kommen aus einer anderen Welt. Wir ...«
Er unterbrach mich ungeduldig. »Was für ein Motor? Elektrisch? Sie wollen mir doch nicht weismachen, Sie hätten den Atlantik mit einem elektrischen Antrieb überquert?« Ich schüttelte den Kopf. »Es ist natürlich ein Benzinmotor. Aber ...« »Benzin!« In den Augen des Mannes zeichnete sich plötzlich Interesse ab. Er hatte eine ziemlich abgetragene blaue Uniform an. Ich glaube nicht, daß er sich bewegtes aber in diesem Augenblick sah ich, daß er an seiner Hüfte einen Revolver baumeln hatte. »Zeigen Sie mal Ihre Papiere her! Los! Ein bißchen dalli!« »Wir haben keine.« Ich wurde langsam ärgerlich. »Wir kommen nicht aus Ihrer Zeit, das heißt, es ist zwar dieselbe Zeit, aber nicht dieselbe Wahrscheinlichkeitslinie. Verstehen Sie nicht? Wir –« Ein seltsamer Ausdruck stand in seinem Gesicht. Ich brach ab und überlegte eine Sekunde. Dann sagte ich: »Hören Sie, es tut mir leid, wenn ich Unsinn zu reden scheine. Aber glauben Sie mir, das hier ist eine Sache von äußerster Wichtigkeit, die ich Ihnen nicht so einfach erklären kann. Können Sie mich mit einem Physiker zusammenbringen?« »Mit wem?« »Mit einem Physiker, am besten einem Atomphysiker. Oder wenigstens überhaupt mit einem Wissenschaftler.« Er sah mich prüfend an. »Sie haben keine Ankererlaubnis – oder?« »Nein, natürlich nicht.« »Ich verstehe.« Er rieb sich das Kinn. »Warten Sie einen Moment«, sagte er dann und kletterte wieder auf sein Schiff zurück. Ich wandte mich schuldbe-
wußt nach meinen beiden Kameraden um. Ich machte mir nichts vor. Ich hatte unseren ersten Kontakt mit der Welt, die wir gezeugt hatten, gründlich vermasselt. Aber anscheinend waren sie nicht sehr kritisch eingestellt. Marin sah noch immer verängstigt aus. Lee ging wieder zur gegenüberliegenden Reling. Er holte ein paar Münzen aus seiner Tasche hervor und warf sie hinunter ins Wasser, und die Jungen aus der Jolle – ja, nicht nur die Jungen, sondern auch Erwachsene von einem halben Dutzend der kleinen Boote in der Nähe – tauchten danach. Sie zankten sich dabei nicht wenig herum. Der Mann in der blauen Uniform war in einer Minute wieder zurück. Er kam in Begleitung eines anderen Mannes, der eine braune Uniform trug, die aber genauso schäbig aussah. »Fall für die Bundespolizei, nicht für uns«, sagte der Blauuniformierte, als sie auf mich zukamen. »Besitz von Benzin, keine Papiere, behaupten, sie kommen aus dem Ausland.« Der Blauuniformierte fragte mit scharfer Stimme: »Wohin?« »New York City natürlich. Das ist eine New Yorker Polizeibarkasse und ...« »Und eine gemischte Hafenpatrouille, vergiß das nicht. Wir nehmen ihn mit nach Jersey City. Dieses Schiff ist nichts für eure lausigen Slumfamilien. Wir haben Wohnraum genauso nötig wie ihr.« »Und was ist mit dem Benzin?« schrie der Blaue. »New York hinkt bald sechzig Prozent hinter seiner Zuteilung her. Wir haben ein Recht auf jeden Tropfen, der in den Hafen kommt, bis wir die Differenzen
wieder eingeholt haben, und du kannst ...« Der Blauuniformierte zuckte plötzlich mit den Schultern. »Zu spät«, sagte er mit wieder völlig ruhiger Stimme. »Wir hätten uns sicher einigen können. Aber das ist jetzt gleichgültig. Dort kommt die Bundespolizei. Pech gehabt.« Die Bundespolizisten waren genauso schäbig gekleidet wie die beiden anderen, aber sie trugen verwegene Schirmmützen und nahmen uns weder nach New York noch nach Jersey City mit, sondern zu dem Riesenschiff, das gleich hinter den Narrows vor Anker lag. Es stellte sich heraus, daß es gleichzeitig als eine Art Fort und als Verwaltungssitz der Bundespolizei diente. Die Fahrt dorthin war nicht aufregend. Das Wasser allerdings hatte eine schlammige Farbe und stank entsetzlich, wenn es ab und zu über das Dollbord spritzte. Aber da wir nicht schnell fuhren, kam nicht viel über, und das war gut so. Dankbar wandte ich mich an den Polizeibeamten, der das Bootskommando befehligte. »Vielen Dank, daß Sie uns die beiden vom Hals geschafft haben. Die Kerle konnten einfach nicht begreifen, was ich ihnen sagen wollte. Wenn Sie mich mit einem Wissenschaftler zusammenbringen können, bin ich überzeugt, daß ich alles zufriedenstellend erklären kann. Sehen Sie, wir haben Untersuchungen über die Möglichkeiten eines Einbruchs in Nebenzeitlinien angestellt. Sehr wichtige Untersuchungen. Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, daß jeder augenblicklich lebende Mensch sein Leben uns zu verdanken hat. Verstehen Sie? Es ist also –« Er unterbrach mich: »Wieviel Benzin haben Sie?«
Es war eine offensichtliche Zeitverschwendung, sich mit diesem Burschen noch weiter abzugeben. Also schwieg ich den Rest der Fahrt. Die Polizisten hatten nicht zugelassen, daß Marin oder Lee auf unserem Schiff zurückbleiben durften. Ich verspürte eine leichte Nervosität, als ich mir ausmalte, was das Prisenkommando alles mit unserem Reaktor anstellen könnte, aber als ich meine Befürchtungen Lee gegenüber äußerte, beruhigte er mich. »Momentan ist nicht mal soviel Kraft drin, um einer Fliege etwas zu tun. Der Energiestoß hat alles aufgebraucht.« »Aber angenommen, sie laden den Reaktor wieder auf?« »Womit? Das Reservematerial lagert an einer ganz anderen Stelle. Sie werden gar nicht erkennen, daß das Zeug eine Art Treibstoff sein kann. Nein, mach dir keine Sorgen, Jom! Vielleicht werden sie ein bißchen an den Instrumenten herumspielen, jedenfalls aber kommt es zu keiner Atomexplosion. Reg dich nicht unnütz auf. Schau dich um und freu dich. Das ist sie, Jom, das ist die Welt, von der wir geträumt haben. Sie ist nicht länger mehr eine Atomruine. Sie ist frei, unbefleckt und unverdorben.« Ich warf ihm einen mißtrauischen Blick zu, aber er schien zu meinen, was er sagte. Weder in seinen Augen noch in seiner Stimme konnte ich eine Spur von Spott entdecken. Ich gab mir innerlich einen Ruck und sagte mir, daß er eigentlich recht hatte. Die Dinge entsprachen zwar nicht ganz meinen Erwartungen. Ich hatte nicht mit so vielen Menschen gerechnet – viel mehr, als in den Geschichtsbüchern erwähnt
waren – oder mit der offensichtlichen Rohstoffknappheit. Aber das New York dieser Welt zeigte wenigstens keine Strahlungswunden, und wenn Ziel Nummer Eins nicht bombardiert worden war, dann war sicher auch die restliche Welt verschont geblieben. Ich befolgte also Lees Rat. Ich zerbrach mir nicht langer mehr den Kopf, sondern harrte heiteren Gemüts der Dinge, die da kommen sollten. Bis sie endlich meinem Wunsch entsprachen und mich nach ärgerlichem Hin und Her mit einem Physiker zusammenbrachten, dessen Spezialfach Atomkernforschung war. »So!« zischte er, und seine Augen blitzten mich hinter seinen dicken Brillengläsern an. »Sie geben also zu, daß Sie Geheimmaterial an Bord Ihres Schiffes haben.« Die silbernen Rangabzeichen auf seinen Kragenspiegeln glitzerten und tanzten, während er ein paarmal aufgeregt schluckte. Ich sagte müde: »Ich sagte Ihnen schon, es ist nichts Geheimes an der Sache.« Er starrte mich einen Augenblick sprachlos an. »Nichts Geheimes an einem Atomreaktor?« begehrte er schließlich auf. Nur sprach er den Satz so aus, als ob er hinter jedes Wort einen Punkt setzen würde. »Nichts. Geheimes. an. einem. Atomreaktor?« »Natürlich nicht. Jedenfalls nicht, wo wir herkommen. Ich meine ...« »Genug!« schnitt er mir das Wort ab. »Ich sage nur zwei Namen. Der eine ist: V. S. Kretchwood. Und der andere ...« – er schaute mich durch seine Brille lauernd an – »ist Brasilien. Habe ich recht?«
»Womit?« fragte ich verständnislos. »Versuchen Sie nicht, mich zum Narren zu halten. Sie kommen aus Brasilien, und Ihr Reaktor beruht auf Kretchwoods Erstem Gesetz. Wollen Sie das etwa leugnen?« Ich schluckte meinen aufsteigenden Ärger hinunter und versuchte, ihm gut zuzureden. »Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie in Brasilien gewesen. Ich weiß, wo es liegt, ja. Es leben dort – vielmehr, es lebten dort – fast fünfzehntausend Menschen. Aber dieser Kretchwood, den Sie eben erwähnten, ist mir völlig unbekannt. Das Prinzip unseres Reaktors beruht auf der Einsteinschen Gleichung; aber ich weiß, daß wiederum Sie diesen Namen nicht kennen. Das ist der springende Punkt.« Und dann wiederholte ich noch einmal alles, was ich ihm schon vorher in allen Einzelheiten erzählt hatte. Er strich sich über die Stirn. »Fast beginne ich Ihnen zu glauben. Natürlich vollkommen unsinnig, aber –« »Nein, es ist kein Unsinn. Es ist die volle Wahrheit«, behauptete ich. »Ich kann es jederzeit beweisen. Schauen Sie sich auf unserem Arbeitsdeck um. Sie wissen zwar nicht, was Atomenergie ist, und deshalb werden Sie vieles unverständlich finden, aber –« »Oh, wir wissen es.« »– Materie und Energie sind – Was haben Sie gesagt?« »Wir wissen, was Atomenergie ist«, sagte er. »Das ist ja eben Kretchwoods Erstes Gesetz. E ist größer als en plus eo.« Er kritzelte es auf ein Blatt Papier »E > en + eo. Das heißt, die Gesamtenergie eines Atoms ist größer als die Energie seiner einzelnen Bestandteile,
was wiederum bedeutet, daß bei einer Transmutation Energie frei wird. V. S. Kretchwood. 1903 bis 1986, wenn ich mich recht erinnere.« Ich starrte ihn sprachlos an. Sie wußten, was Bindungsenergie war. Sie wußten, was Kernspaltung und Kernverschmelzung war. Sie wußten – »Aber Sie dürften es nicht wissen«, sagte ich endlich. »Ich meine, wir haben einen Mann getötet. Nein, entschuldigen Sie, ich bin ein wenig durcheinander. Sie behaupten also, daß Ihnen die militärischen und zivilen Anwendungsmöglichkeiten der Atomenergie bekannt sind?« »Auf diesem Schiff befindet sich ein ThoriumMeiler«, sagte er. »Uran 235?« »Wäre natürlich besser«, nickte er. »Wir arbeiten gerade an dem Problem der Isotopentrennung.« »Und Sie haben sicher auch vor, eine Bombe herzustellen?« »Wir nennen es Experiment Vierundvierzig.« Lee, Marin und ich sahen uns an. »Also wird es auch hier zu einem Atomkrieg kommen«, sagte ich tonlos. »Aber ist das nicht alles streng geheim?« »Natürlich«, sagte der ärgerliche kleine Mann. »Und Sie vertrauen uns?« »Da, wo Sie hingehen werden, macht es nichts aus, ob Sie es wissen oder nicht. Wir haben besondere – Reservate, wenn ich so sagen darf. Für Leute, die sich im unrechtmäßigen Besitz von derartigen Informationen befinden. Sie werden dort keine Gelegenheit haben, etwas von dem, was Sie soeben erfahren haben, auszuplaudern.« »Aber wieso ist das unrechtmäßig?« Ich spürte ein
komisches Kribbeln auf meiner Haut. »Sie sagten doch, daß Sie uns glauben.« Er lehnte sich vor und starrte mich an. Mit belegter, haßerfüllter Stimme sagte er: »Ich glaube, daß Sie daran schuld sind, daß die Welt nicht schon vor zweihundert Jahren einen Atomkrieg hatte. Und während Sie in dem Reservat schuften, denken Sie immer daran – ich hoffe, Sie werden dort verfaulen.« Wir haben einen Mann aus der Vergangenheit getötet. Und wir haben dadurch einhundertfünfzigtausend Menschen getötet, zusammen mit einem verseuchten Planeten. Für nichts. Das Leben in dem Reservationsgebiet läßt sich ertragen, obwohl es hier ein bißchen eng zugeht. Unseres – sie nennen es das Mojave Wiederbesiedlungsprojekt – ist das schlimmste von allen, weil es hier keinerlei natürliche Bodenschätze und Hilfsmittel gibt. Der Boden allerdings ist fruchtbar. Er wird mit den Abwässern von Greater Los Angeles gedüngt. Das Dumme ist nur, daß wir unser Trinkwasser ebenfalls aus dieser Jauche gewinnen müssen. Die Feststoffe setzen sich in Faulkammern ab, die Mineralien und Salze werden durch Ionen-Austausch neutralisiert. Aber Geruch und Geschmack bleiben. Aber wir würden nicht klagen, wenn es nur so bliebe. Wir würden nicht über das Wasser klagen oder über die Einengung unserer Bewegungsfreiheit oder über den überbevölkerten Zustand der Welt. Vierzehn Milliarden Menschen! Wir haben uns sagen lassen, daß vor ungefähr einem Jahrhundert eine große Kampagne geführt wur-
de, um eine Geburtenkontrolle einzuführen, damals, als erst fünf Milliarden Menschen die Erde bevölkerten. Obwohl man sich an den Fingern abzählen konnte, was passieren würde. Gewisse Schichten waren vernünftig genug, darauf zu reagieren. Die meisten Menschen aber kümmerten sich nicht darum. Das einzige Ergebnis dieser Anstrengungen war, daß die folgenden Generationen noch weniger empfänglich für Vernunftgründe waren. Aber, wie ich schon sagte, wir würden nicht klagen, wenn wir nicht am Horizont schon die geduckten Silhouetten der neuen Brutmeiler des Experiments Vierundvierzig sehen würden. Ich gebe uns ein Jahr, mehr nicht. Marin hat das Bett über mir. Ich schlafe nur wenig, und während der ganzen Nacht kann ich ihn hören, wie er sich unruhig in seinem Bett herumwirft und vor sich hinmurmelt. Und wenn ich genau hinhöre, kann ich die Worte verstehen. Er sagt immer das gleiche: »Armer Doktor Einstein!« sagte er. Dann schläft er wieder ein. Armer Doktor Einstein. Arme Welt!
Originaltitel: TARGET ONE Copyright © 1955 by Galaxy Publishing Corp. Übersetzt von Lothar Heinecke
Daniel F. Galouye SATANS TEMPEL Die Nacht zeigte ein düsteres Schwarz, das jedes Geräusch erstickte. Eine schwache warme Brise strich über den Sand der pockennarbigen Ebene, und weit entfernt, am östlichen Horizont, flackerte lautlos fahles Wetterleuchten. Undeutlich zeichnete es die Umrisse eines riesigen, von einer Kuppel gekrönten Bauwerks nach, das sich meilenweit über das öde Land erstreckte. Sekunden verstrichen. Dann brüllte der Himmel zornig auf, und die vier Männer, die in einem der unzähligen Krater kauerten, in die die Ebene aufgebrochen war, duckten sich noch tiefer in das schützende Dunkel. Art Grant hob vorsichtig den Kopf über die Wand des Kraters. Fast unmittelbar vor ihm wölbte sich ein gigantischer Erdwall gegen die schräg ansteigende Wand der meilenlangen Festung, zweifellos aufgeworfen durch das Nukleargeschoß einer früheren Generation. »Worauf warten wir denn noch. Captain?« flüsterte eine heisere Stimme in sein Ohr. Es war Stausmann, der Deutsche – in Oxford erzogen und jetzt genauso ausgestoßen wie die anderen drei Männer neben ihm. Art glitt in die Kraterhöhle zurück. »In etwa zehn bis fünfzehn Minuten, glaube ich, können wir gehen.« »Fünfzehn Minuten, verdammt!« Das war der Russe. Karneiev. »Ich sage, wir gehen jetzt. Dann sind wir
schneller fertig.« »Hat nicht mon capitaine das Kommando dieser Gruppe?« wies ihn Philip Latour, der Franzose, zurecht. Wieder rollte der Donner, diesmal noch näher. »Wenn wir warten, bis der Sturm seinen Höhepunkt erreicht hat«, erklärte Art geduldig. »besteht die Möglichkeit, daß die empfindlichen Detektorgeräte durch die elektrischen Entladungen gestört werden.« »Voilà!« rief der Franzose. »Jetzt weißt du den Grund, nicht wahr?« Aber Karneiev war noch nicht zufriedengestellt. »Und das Gewitter? Was ist, wenn es nicht in diese Richtung zieht?« Art zuckte mit den Schultern. »Dann gehen wir zurück und warten, bis der nächste kommt. Besser, jetzt ein paar Tage zu opfern als fünf Jahre Training.« Ein Blitz zuckte auf. Art zählte die Sekunden, bis der Donner folgte. Seiner Rechnung nach mußte das Gewitter in weniger als fünf Minuten direkt über ihnen sein. Das folgende Schweigen wurde nur durch das rhythmische Klack-Klack ihrer Geigerzähler gebrochen, die sie an den Handgelenken trugen. Art blickte auf das Leuchtzifferblatt seines Zählers – zwanzig Milliroentgen pro Stunde. Er kroch hinüber zu den zwei gewichtigen Metallkästen, mit denen sie den Krater teilten – jetzt schon mehr als eine Stunde lang. Die leuchtende Nadel zeigte jetzt in ihrer Nähe auf fünfundzwanzig.
»Immer noch die gleiche Strahlung?« wollte Stausmann wissen. »Unverändert.« »Dann haben wir also bis jetzt ungefähr zwanzig Milliroentgen abbekommen.« »Stimmt.« Art richtete sich auf. »Wir haben also noch etwa fünf Stunden Zeit, das Zeug ohne Gefahr für uns loszuwerden.« Auch der Franzose erhob sich und streckte seinen Körper. »Und, mes amis«, fragte er, »es ist doch abgemacht, daß ich, Latour, derjenige sein werde, der – wie sagt man – die kritische Masse zusammenmischt?« »Glaubst du?« Karneiev war aufgesprungen. »Es war ein russischer Mensch, der als erster die Atombombe mit der Hand auslöste. Und es wird ein russischer Mensch auch diesmal sein!« Nun war es auch um Stausmanns Fassung geschehen. »Nein!« schrie er. Erregt schlug er sich gegen die Brust. Dann sagte er mit etwas ruhigerer, bestimmter Stimme: »Ich habe mich für dieses Unternehmen freiwillig gemeldet, nur unter der Voraussetzung, daß ich es sein würde, der die Bombe auslöst.« Ein neuer Blitz beleuchtete Latours ärgerliches Gesicht. Er reckte sich vor dem Deutschen in die Höhe, die schmalen, knochigen Hände zu Fäusten geballt. »Latour wird es sein! Ich, Latour, werde –« »Ruhe, verdammt«, knurrte Arts Stimme. »All das können wir noch später entscheiden.« Aber er wußte genau, daß es später nichts mehr zu entscheiden gab. Er hatte das Kommando, und er würde ihnen einfach befehlen, zurückzugehen, nachdem sie ihm geholfen hatten, die schweren Bestand-
teile der Bombe an dem verletzbarsten Punkt der Festung unterzubringen. Beleidigt hockten sich die anderen drei wieder hin. Dann begann es zu regnen – ein heftiger, prasselnder Platzregen, der sie in wenigen Sekunden bis auf die Haut durchweichte. Das Wasser rann ihnen in Strömen von den Gesichtern und lief von Kinn und Ellbogen und von den Enden ihrer Pistolentaschen. Art packte den Griff einer der beiden Kisten. »Los, gehen wir!« Latour nahm den anderen Griff, und unter der Last der Kiste keuchten und stolperten sie die Kraterwand hinauf. Stausmann und Karneiev folgten ihnen mit der anderen Kiste. »SATANs Tempel!« keuchte Latour. »Zehn Millionen Tonnen Stahl und Beton für einen einzigen Mann. Wahrhaftig, er ist wirklich le diable.« Der Erdwall, der sich gegen das Gebäude lehnte, war ausgezeichnet für ihre Zwecke geeignet. Hätten sie bei seiner Errichtung etwas zu sagen gehabt, sie hätten es nicht besser machen können. Seine Krone, auf der sie jetzt standen, befand sich nur knapp einen Meter unterhalb der riesigen Mündung eines der unzähligen Raketengeschütze, die die Festung wie ein Stachelkranz umgaben. Art hatte ein Seil über das Rohr des Geschützes geworfen, die anderen kletterten hinauf und kauerten sich hin. Art knüpfte das Ende des Seils an eine der Bombenkisten, und die drei Männer zogen sie hinauf. Nachdem auf diese Weise auch die zweite Kiste hochgehievt worden war, kletterte Art ebenfalls hinauf. »Sacrebleu!« rief der Franzose. »Ob dieses ver-
dammte Wetter nicht auch SATAN in seinem Tempel zu schaffen macht?« Art lachte, während er ein Bein über das Rohrende schwang. »Ich glaube nicht, Latour, nicht durch Mauern, die ein paar hundert Meter dick sind. Aber wir werden sehen, ob nicht wir ihm zu schaffen machen können.« Er ließ sich auf die abschüssige Innenfläche des Rohres nieder. Latour glitt neben ihn, und dann mühten sich beide mit den schweren Kisten ab, die Karneiev und Stausmann herunterreichten. Langsam krochen die vier dann im Rohr hinunter. Die Geschützkuppel erzitterte. Ein gewaltiger Blitzschlag zuckte auf, und der Donner rollte in nächster Nähe, so daß selbst die Innenseite des Rohres noch purpurn erleuchtet wurde. Stausmann schrie: »Das war kein gewöhnlicher Blitz, Captain! SATAN muß ein Interzeptorgeschoß abgefeuert haben! Und das hat die Angreiferrakete gerade noch erwischt.« Art blickte auf seine Uhr. »Die haben natürlich nicht abwarten können. Das kann unseren ganzen Plan über den Haufen werfen.« Latour grinste spöttisch. »Ein feines Beispiel preußischer Zusammenarbeit, nicht wahr?« »Bekanntlich wurden die Pläne der Expedition durch die französische Untergrundbewegung weitergegeben«, korrigierte ihn Stausmann, »vergiß das nicht.« Art packte aufs neue seine Last und rutschte mühsam weiter, wobei er sich nach besten Kräften beeilte. Er zog den Franzosen hinter sich her. »Schnell, wir müssen hier heraus sein, bevor SATAN seine Gegen-
salven abfeuert.« Ohne weitere Vorsicht rutschten sie die abschüssige Röhre hinab. »Mon dieu«, keuchte der Franzose. »Dieses Geschütz, gehört es nicht zum Deutschlandsektor?« »Genau in der Mitte davon«, antwortete Stausmann. »Hauptbatterie für die Vergeltungsgeschosse gegen Europa. Wahrscheinlich wird der hier einer der ersten sein, der feuern wird. Habe ich recht, Captain?« Art antwortete nicht. Er starrte nach vorn, wo er ein schwaches Leuchten sah, das sich in den Zügen des Rohres tausendfach brach. »Ein Licht!« rief Karneiev. »Aber warum? Er braucht kein Licht. Er braucht kein Licht für äußere Verteidigung. Laden und Feuern – alles ist automatisch, nicht?« »Natürlich«, gab ihm Stausmann recht. »Selbst das Zusammensetzen der Geschosse ist automatisch.« Endlich hatten sie das Ende des Rohres erreicht und kletterten durch einen etwa meterbreiten Schlitz ins Freie, wobei sie sich an einem metallenen Förderband vorbeizwängen mußten, das eine unübersehbare Reihe schlanker Projektile trug. Art und Latour sprangen auf den Betonfußboden und ließen sich die beiden Kisten herunterreichen. Dann halfen sie ihren Kameraden herunter. Kaum hatten sie das Gebiet des Förderbandes verlassen, fing es an, sich langsam vorwärtszubewegen, und schon lag das erste Projektil im Rohr. »In ein paar Sekunden geht es los!« warnte Art aufgeregt. »Wir müssen uns vor den Rückstoßgasen in acht nehmen.«
Sie beschleunigten ihre Schritte und zerrten keuchend die schweren Kisten hinter sich her. Sie befanden sich jetzt in einem weiten Korridor, der offensichtlich parallel zur Außenmauer lief. Plötzlich erbebte der Beton um sie, und die Schockwelle der Explosion machte sie fast taub. »Jetzt schießt er zurück!« schrie Karneiev. Schwaden stinkenden Gases hüllten sie ein, und sie husteten gequält. Das Geschütz, durch das sie sich den Eingang in die Festung verschafft hatten, war jetzt durch eine Biegung des Korridors vor ihnen verborgen. Aber direkt vor ihnen verlief ein anderes Förderband mit Projektilen, und noch ein Stück weiter vorn ragte die Lafette eines weiteren Geschützes durch die Wand. Sie waren nur noch wenige Schritte davon entfernt, als die automatische Anlage auch dieses beschickte. Ein neuer Abschluß in ihrem Rücken erschütterte das Gebäude, und wieder wirbelten Schwaden heißer Gase durch den Korridor. Art stolperte und verlor den Griff der Kiste. Die Kiste schlug gegen sein Bein, zerfetzte die Hose und riß einen langen Hautfetzen von seiner Wade. Stausmann half ihm hoch. »Voilà!« rief Latour. »Da ist er. Der Gang, der ins Innere führt.« Er zeigte auf ein dunkles Loch, das zu ihrer Linken gähnte. So schnell sie konnten, rannten sie darauf zu und erreichten es gerade noch rechtzeitig, als das Geschütz direkt hinter ihnen aufbrüllte. Nach ein paar Metern blieb Art stehen, um seine Wunde zu untersuchen. Karneiev sah sie sich ebenfalls an. »Hat nichts zu
bedeuten«, meinte er. »Vielleicht. Aber ich glaube trotzdem, es ist besser, wenn ich sie wenigstens notdürftig verbinde. Ich kann dann besser gehen.« Art riß einen Stoffetzen von seiner Hose und wikkelte ihn um die blutende Wunde. »Diese Yankees, die können kein bißchen Schmerz aushalten, was«, spöttelte Karneiev sarkastisch. »Sie haben es bewiesen in Asien. Und in der Ukraine während des dritten Weltkriegs. Genosse Kapitän Starnoff, er sollte Anführer dieser Expedition sein«, murmelte er weiter. »Er hätte – – –« »Still!« warnte Stausmann. »SATAN kann uns vielleicht hören.« »Ganz recht, meine Herren.« Die Stimme schien direkt aus der Wand zu kommen. »Das ist – lassen Sie mich überlegen – Expedition Nummer dreiundneunzig. Die erste in mehr als zehn Jahren. Hoffen wir von ganzem Herzen, daß Ihr kurzer Besuch uns allen Freude und Vergnügen bereitet.« »Le diable!« Latour spähte ängstlich den Gang entlang. »Er hat uns schon entdeckt.« Stausmanns Stimme klang hoffnungslos. Versteckte Maschinen grollten, und plötzlich schob sich eine Betonwand vor den Korridoreingang, durch den sie gekommen waren. »Haben Sie denn nicht schon selbst daran gedacht, daß innerhalb des Tempels noch viel mehr Vorsichtsmaßregeln getroffen sein würden als außerhalb? Eigentlich hätten Sie das wissen müssen. Es ist Ihnen
doch bekannt, daß von den vorhergehenden zweiundneunzig Expeditionen kein einziger Mann mehr in die Außenwelt zurückgekehrt ist.« Art blickte nach oben. Er sah Lautsprecher, die in regelmäßigen Abständen an der Decke verteilt waren, Mikrophone, Scheinwerfer und glitzernde Linsen, die sicherlich die Objektive eines weitverzweigten Fernseh-Systems waren. »Ich heiße Sie nochmals herzlich willkommen, meine Herren – ein herzliches Willkommen von dem Supremen Autokraten der Assoziierten Nationen ... von SATAN, wie Sie mich zu nennen belieben. Ich hoffe aufrichtig, daß Ihnen Ihre kurze Expedition viel Freude bereitet.« Art wandte sich verzweifelt an seine Kameraden. »Ich dachte nicht, daß er uns so schnell entdecken würde. Jetzt besteht nicht mehr viel Hoffnung, daß wir unser Ziel noch erreichen können. Wenn einer umkehren will, hat er meine Erlaubnis.« »Und du, mon ami?« »Du kennst meine Antwort. Vor dreißig Jahren war mein Vater der Führer der Expedition Nummer fünfundachtzig.« Latour klopfte ihm auf die Schulter. »Dann, mon capitaine, werden wir jetzt gemeinsame Rache an le diable nehmen.« Art wandte sich Karneiev zu: »Und was ist mit dir?« »Wenn der Franzose geht und der Yankee geht, dann natürlich geht auch der Russe«, sagte er arrogant. »Stausmann?«
Der Deutsche lachte: »In Ermangelung der notwendigen Werkzeuge, um durch dieses Ding da durchbrechen zu können« – er deutete auf die Betonwand, die ihnen den Rückweg versperrte – »werdet ihr mich schon mitnehmen müssen, Captain.« Der in das Innere der Festung führende Korridor mündete in einen Quergang. Während sie sich aber noch diesem Gang näherten, glitt eine andere Betonwand herunter und schloß die linke Seite dieses Tunnels ab. Nachdem sie die schweren Kisten ein paar hundert Meter weitergeschleppt hatten, blieben sie stehen, und Art schob die Binde an seinem Fuß zurecht. Karneiev knurrte ärgerlich: »Auf diese Weise kommen wir nie ans Ziel, wenn sich der Yankee alle paar Schritte am Bein kratzen muß.« Arts Gesichtszüge wurden scharf. Kalt starrte er den Russen an. »Bekanntlich haben wir während des Trainings beschlossen, stündlich vier Ruheperioden einzulegen.« Der Russe trat näher. »Aber damals haben wir nicht gewußt, daß wir so schnell entdeckt ...« Ein Schrei des Franzosen unterbrach sie. Latour deutete auf den Boden, ein paar Meter weiter vorn. Dort lag, fast nicht von dem grauen Beton zu unterscheiden, ein menschliches Skelett. Noch weiter vorn lag noch eins und nicht weit entfernt davon drei weitere. »Mon dieu!« rief Latour. »Die Toten – sie sind alle hier!« Stausmann lachte trocken auf. »Sicherlich alles Franzosen.«
Latour kniff die Augen zusammen und sah ihn fragend an. »Möchtest du mir bitte sagen, wie du zu diesem Schluß kommst?« »Sie lassen sich am leichtesten erwischen.« Der Deutsche schien todernst. »Wenn hier irgendwo tote Deutsche herumliegen, dann sicher näher dem Mittelpunkt des Tempels.« Latour fluchte laut auf Französisch und stürzte sich auf den größeren Mann. Schnell trat Art dazwischen. »Spart euch das für später auf!« befahl er. Innerlich kochend vor Wut, gingen Stausmann und Latour zu den Kisten zurück. Art und der Russe folgten ihnen. »Das hier ist kein hohles Gebäude.« Karneievs Armbewegung umfaßte bei diesen Worten den ganzen Tempel. »Das ist ein massiver Betonklotz mit ein paar Gängen darin. Kein Wunder, bis jetzt war kein Angriff erfolgreich.« Stausmann hielt an und wartete auf Art. »Ich glaube, Captain, unser größter Fehler war der, daß wir überhaupt nicht an eine Notwendigkeit gedacht haben, dem Hauptquartier irgendwelche Nachrichten aus dem Tempel heraus übermitteln zu müssen, die vielleicht späteren Expeditionen zugute kommen könnten.« »Ich möchte wissen«, sagte Art nachdenklich, »wieviele der anderen zweiundneunzig Expeditionen hier an dieser Stelle den gleichen Gedanken hatten.« Stausmann zuckte mit den Schultern. »Da kannst du allerdings recht haben.« »Und wie lange noch«, fragte der Franzose. »wieviele Expeditionen noch, bis le diable von seinem
Thron gestürzt ist?« Art hob seine Seite der Kiste hoch. »Hoffen wir, daß unsere die letzte ist.« Latour schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ich kann nicht so optimistisch sein, monsieur le capitaine. Es sind jetzt schon dreihundert Jahre, seit ...« »Seit«, unterbrach ihn Stausmann. »die Franzosen es Jornal Sakoran, dem Unsterblichen, erlaubten, den Grundstein zu diesem Tempel zu legen.« »Ich glaube nicht, daß er unsterblich ist«, warf Karneiev ein. »Überhaupt, wir machen alles falsch. Wir machen geheime Zuwendungen – jedes Jahr und von jeder der nationalen Regionen der Assoziierten Nationen. Wir stellen die Expeditionen zusammen mit Leuten verschiedener Nationalitäten, damit keine Nation in Versuchung gerät, an Stelle von SATAN den Tempel zu übernehmen und dort weiterzumachen, wo SATAN aufgehört hat –« »Wir vertrauen uns gegenseitig, nicht wahr?« unterbrach ihn Stausmann sarkastisch. »Aber es ist alles verkehrt«, fuhr Karneiev fort. »Im letzten Jahr gaben die Ostasiaten fast eine Milliarde aus, Amerika fast sechshundert Millionen – alles nur, um Angriffe auf den Tempel zu finanzieren. In den letzten zehn Jahren haben wir fast tausend Mann in das Geheimkorps gesteckt. Und was hat es genützt?« »Halt dein Maul!« brüllte ihn Art an. Und dann im Flüsterton: »Kapierst du denn nicht, daß er alles hören kann, was wir hier sprechen?« »Ach, geh zum Teufel«, explodierte der Russe. »Er weiß es schon. Hat seine Spione überall. Dafür verwendet er die Tribute, um sein Spionagesystem zu unterhalten und seine Agenten zu bezahlen.«
Vorsichtig machten sie einen Umweg um mehrere Skelette, die mitten im Tunnel lagen. »Und ich meine, wir sollten das Spionagesystem angreifen«, beharrte der Russe. »Dann weiß Satan nicht, an welcher Nation er Rache nehmen soll.« Art schüttelte den Kopf. »Das wurde schon einmal versucht, und es hat ihm nichts ausgemacht. Er hat nur alle Regionen mit Geschossen eingedeckt, und zwar so lange, bis wir seine unterirdischen Nachrichtenverbindungen wiederhergestellt hatten. Das hat damals ein paar hundert Menschenleben gekostet.« Latour grinste höhnisch. »Ein paar hundert! Wenn es ein paar tausend gewesen wären, hätte ich auch noch nicht nachgegeben. Schließlich starben in der ersten Stunde des dritten Weltkrieges so an die dreihunderttausend, oder?« »Er hätte leicht drei Millionen umbringen können«, sagte Art. »Daß es nur ein paar hundert waren, war nur eine Drohung.« »Ich sehe, Sie haben den ersten Kontrollpunkt erreicht.« Art zuckte zusammen und ließ fast die Kiste fallen, als die Stimme von der Decke herunterdonnerte und, durch eine Unzahl von Lautsprechern verstärkt, durch die leeren Gänge hallte. »Wir werden dann unseren ersten Appell abhalten.« Das Echo der Stimme verklang, und tödliches Schweigen zog wieder in die Gänge ein. »Radioaktivität steigt!« schrie plötzlich Latour und starrte entsetzt auf seinen Armbandzähler. Art wurde sich plötzlich bewußt, daß auch sein
Zähler wie wild knatterte. Hastig prüfte er nach, ob sich vielleicht vorhin beim Fall der Kiste ihr Deckel gelöst hatte. Aber er saß noch fest darauf, und auch die andere Kiste war intakt. Der Zähler tickte jetzt so heftig, daß sein Handgelenk zu vibrieren begann. »Einhundert Roentgen!« keuchte Latour. Er hielt seine Hand der Wand entgegen. »Die Strahlung kommt von beiden Wänden und von der Decke!« Karneiev und Art begannen zu rennen. »Einhundertfünfzig!« brüllte Latour. Auch er und Stausmann rasten den Gang hinunter. Der Deutsche blickte kurz zurück. Hinten im Gang standen verloren die Bombenkisten, die sie vergessen hatten. »Die Bombe!« schrie er. »Zum Teufel mit ihr!« schrie Art. »Wir haben nur Sekunden, um aus dieser radioaktiven Hölle zu entkommen.« Die Nadel seines Zeigers stand bereits zur Hälfte im roten Bereich der Skala. Ein heiseres Lachen dröhnte durch den Gang. »Laufen Sie schneller, meine Herren!« drängte sie die Stimme im Lautsprecher. »Vielleicht sind Sie bald an Ihrem Ziel.« Art blickte sich im Laufen nach Stausmann um ... und blieb mit einem Ruck stehen. Stausmann war umgekehrt und mühte sich mit den Kisten ab. »Um Gottes willen, laß sie liegen!« rief er dem Deutschen zu. »Aber wir müssen sie doch haben!« rief Stausmann zurück.
Zögernd machte Art ein paar Schritte auf Karneiev und Latour zu, die weiter unten am Ende des Ganges standen. »Was nützt sie uns, wenn wir uns jetzt eine tödliche Dosis holen.« Dann drehte er sich um und rannte den zwei anderen nach, die inzwischen hinter einer Biegung des Ganges verschwunden waren. Anscheinend überzeugt, rannte ihm Stausmann mit halsbrecherischem Tempo nach, aber er stolperte und fiel und verlor dadurch noch ein paar weitere wertvolle Sekunden. Hinter der nächsten Biegung des Ganges lehnten der Franzose und der Russe schweratmend an der Wand. »Hier ist alles klar«, keuchte Latour, und Art gesellte sich zu ihnen, um auf Stausmann zu warten. Karneiev starrte auf seine Uhr, als endlich der Deutsche ebenfalls auftauchte. Ungefähr fünf Meter hinter ihnen glitt polternd eine Betonwand herab und versperrte den Weg zu dem radioaktiven Teil des Ganges. Arts Atem kam stoßweise. »Hast du auf die Zeit geachtet?« fragte er Karneiev. Der Russe nickte. »Ich schätze, Latour hat eine Dosis von etwa einhundertzwanzig abbekommen, ich ungefähr genauso viel.« »Das geht ja noch. Vielleicht müßt ihr euch in ein paar Stunden ein paarmal übergeben«, sagte Art nachdenklich. »Du hast ungefähr zweihundert, Captain.« Art grinste gezwungen. »Und was ist mit Stausmann?« Karneiev blickte den Captain zögernd an, während
dieser wiederum Stausmann anstarrte. »Ich habe selbst auf die Zeit geachtet«, sagte der Deutsche, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich habe ...« Die Lautsprecher an der Decke grollten »... über fünfhundert. Eine tödliche Dosis – vielleicht nicht sofort tödlich. Zuerst kommen der Brechreiz und Durst und Fieber und Delirium – das ziemlich bald. Und dann werden Sie sterben.« Stausmann ballte die Faust gegen das nächste Fernsehauge an der Decke. »Aber nicht, bevor ich dich nicht gefunden habe, du – SATAN!« drohte er. »Nicht, bevor ...« »Beruhige dich«, wollte ihn Art besänftigen. »Je mehr du dich jetzt verausgabst, desto schlimmer wird es nachher.« »Das ist mir egal!« rief der Deutsche und biß die Zähne zusammen. »Ich fürchte mich nicht vor dem Sterben. Eigentlich hätte es mich schon vor drei Jahren während des Trainings erwischen sollen. Sie mußten das Loch in meinem Schädel mit einer Silberplatte flicken.« Er riß sich aus Arts Griff los, der ihn beruhigend umschlungen hatte, und wollte durch den Gang vorwärtsstürzen. Aber Latour und Karneiev hielten ihn fest. »Laßt mich los!« schrie er. »Ich werde ihn schon in seinem Versteck aufstöbern! Ich werde ihn –« »Geduld, mon ami«, flüsterte ihm der Franzose zu. Es war das erste Mal, daß er zu dem Deutschen mon ami sagte. »Allein richtest du gar nichts aus.« Karneiev schüttelte finster den Kopf. »Vielleicht finden wir
SATAN gemeinsam, bevor –« Stausmann schien ruhiger zu werden. Vorsichtig lockerten sie ihren Griff. »Fühlst du dich jetzt besser?« fragte Art. Der Deutsche nickte und lächelte schwach. Nach einem Augenblick des Schweigens sagte Karneiev leise: »Tod dem SATAN!« Er starrte auf die Wand des Ganges, auf eine Stelle über dem ausgestreckten Arm eines Skeletts. Die Knochenfinger hielten noch immer den Felsbrocken fest, mit dem das Opfer Expedition 47 in den harten Beton gekratzt hatte. Weiter vorn stand noch eine weitere Botschaft: Tod dem Diktator Sakoran! Das mußte von einem Mitglied einer der ersten Expeditionen geschrieben worden sein – noch aus der Zeit, wo Sakoran noch nicht den aus den Anfangsbuchstaben seines selbstgegebenen Titels geformten Namen bekommen hatte: Supremer Autokrat der Assoziierten Nationen – SATAN. »Die Sonne, sie geht draußen gerade auf, n'est pas?« fragte Latour sehnsüchtig. Es waren inzwischen schon fast zwei Stunden vergangen, seit sie durch die Hölle des radioaktiven Korridors gerannt waren. Sie waren alle müde und zerschlagen und hatten Rast gemacht, damit besonders Stausmann sich etwas erholen konnte. Art schaute auf die Uhr und nickte. »Dann geht also in drei Stunden das – wie sagt man – Feuerwerk los.« Art schloß die Augen und wischte sich zitternd mit der Hand über das Gesicht. Die Auswirkungen der Gammastrahlung machten sich allmählich bemerk-
bar. Er fühlte, wie ein unwiderstehlicher Brechreiz in ihm emporstieg, und schluckte verzweifelt. »Der eigentliche Raketenangriff wird in drei Stunden und fünfzehn Minuten beginnen«, bestätigte er endlich Latours Frage. »Idioten!« brüllte Karneiev. »Die Mikrophone. Er hört zu!« »Er weiß es. Noch nach fast jeder Expedition wurde ganz routinemäßig ein Angriff unternommen, um herauszufinden, ob die Expedition erfolgreich war. Er wird also auch jetzt mit einem Angriff rechnen.« »Bah!« Der Russe spuckte das Wort förmlich aus. »Erfolg! Wir werden versagen. SATAN spielt mit uns.« Ein knirschendes Geräusch ertönte hinter ihnen, und sie wirbelten herum, während sie instinktiv ihre Waffen herausrissen. Aber es war nur eine neue Betontür, die den Gang an einer anderen Stelle verschloß. Sie standen auf, um weiterzugehen. Latour murmelte irgend etwas auf französisch und ging zurück, um den Deutschen zu stützen. Karneiev wandte sich an Art: »Was glaubst du, wie lange müssen wir noch gehen?« Art starrte bedrückt auf den Boden. »Wir haben noch nicht ein Fünftel des Weges bis zum Zentrum zurückgelegt.« Er sprach mit absichtlich leiser Stimme, damit ihn Stausmann nicht hörte. »Captain«, sagte der Russe plötzlich. »Wir gehen immer den Gängen nach. Dann versperrt er uns den Weg mit steinernen Türen. Wir können also nur dahin gehen, wo SATAN uns gehen lassen will. Warum brechen wir nicht die Tür ein, wenn Satan wieder
versucht, uns den Weg zu versperren? Vielleicht finden wir so den Weg zur Mitte schneller?« Art überdachte den Vorschlag, doch bevor er antworten konnte, würgte es ihn plötzlich, und er mußte sich abwenden. Nachdem er sich übergeben hatte, fühlte er sich schwach und zitterig wie ein alter Mann: Seine Kehle war wie ausgetrocknet, und er verfluchte sich selbst, weil er nicht darauf bestanden hatte, daß sie Wasser mitgenommen hatten. Stausmann hatte sie wieder eingeholt, und sie setzten ihren Weg fort. Das Gesicht des Deutschen war bleich und angespannt, und sein Gang war taumelnd. Art drehte sich um und stützte den Deutschen. Karneiev ging langsam voraus und murmelte auf russisch vor sich hin, während sie an einem Skelett nach dem andern vorbeikamen. »Pourquoi?« fragte der Franzose und blickte schaudernd auf die Opfer der anderen Expeditionen. »Warum? Warum läßt uns le diable noch immer weiter gehen? Warum tötet er uns nicht auf der Stelle?« Die anderen schwiegen. Latour blieb stehen, und die anderen hielten ebenfalls an. »Le diable – hätte er uns nicht in dem Strahlungsfeld einschließen können? Oder warum schließt er uns nicht in einem der Gänge ein und wartet, bis wir verhungert sind – so wie es den armen Burschen hier ergangen sein muß?« Karneiev runzelte die Stirn. »Ja, warum tat er das nicht?« »Abwechslung, meine Herren!« dröhnte die ver-
haßte Stimme aus den Lautsprechern. »Nicht allzu oft habe ich die Ehre, meine Untertanen aus nächster Nähe zu sehen. Deshalb möchte ich nicht so schnell auf dieses Vergnügen verzichten.« Stausmann schrie gellend auf und riß sich aus Arts und Latours Griff los. Er taumelte den Gang hinunter, bis er direkt unter einem der Lautsprecher stand. Dann lag plötzlich seine Waffe in der Hand, und er jagte Schuß auf Schuß in die Membrane. Der Lautsprecher verstummte, und Stausmann schaute sich schwankend um. Jetzt hörte man die Stimme nur noch als Echo von den anderen Lautsprechern her ertönen. »Schießen Sie nur! Schießen Sie doch! Mir können Sie nichts anhaben!« Immer noch wie in Trance wandte sich der Deutsche den anderen drei Männern zu. Sein Gesicht war gerötet, seine Augen halb geschlossen, und er zitterte vor Erregung. »Stausmann!« schrie Art. Der Deutsche schien auf seine Kameraden schießen zu wollen. Er hob den Revolver. Das höhnische Lachen des Autokraten schien ihn in seinem Entschluß zu bestärken. Der Deutsche feuerte einen Schuß ab, traf aber nichts, weil seine Hand wie Espenlaub zitterte. Latour sprang vorwärts, duckte sich und entriß ihm die Waffe, bevor Stausmann noch einen zweiten Schuß abgeben konnte. Ohnmächtig brach der Deutsche zusammen. Art fühlte, wie eine Woge von Übelkeit, verstärkt durch die psychische Anspannung des Zwischenfalls,
über ihm zusammenschlug. »Du verdammter Teufel!« brüllte Karneiev und schüttelte voll ohnmächtigen Zorns seine Faust gegen das Fernsehauge über ihm. Dann riß auch er seine Waffe heraus und zielte sorgfältig. Ein kurzer trockener Knall, und die Fernsehkamera zersprang. Latour rannte zu dem nächsten Fernsehauge und zerschoß auch dessen Objektiv, wobei er eine Anzahl französischer Flüche vor sich hinmurmelte. »Halt!« befahl Art, der sich wieder gefangen hatte. »Laßt diesen Blödsinn! Ihm kann es nur recht sein, wenn wir unsere Munition verschwenden.« Ein hohles Lachen ertönte aus den Lautsprechern. »Wollen wir jetzt weitergehen, meine Herren?« Art hatte sich wieder ganz erholt und half Latour dabei, Stausmann hochzuziehen. »Die Strahlung«, sagte der Franzose. »Ich wußte nicht, daß sie in so kurzer Zeit so viel Schaden anrichten kann.« »So schnell sollte es eigentlich auch nicht gehen«, stimmte ihm Art zu. »Aber vielleicht hat die Silberplatte in seinem Schädel etwas damit zu tun. Ein Absorptionseffekt, der –« Zu ihrer Linken ging plötzlich eine Betontür auf. »Kontrollpunkt, meine Herren«, kündigte der Supreme Autokrat an. Eine zweite Tür sprang vor ihnen aus der Wand. Der neue Weg, der sich jetzt vor ihnen geöffnet hatte, war eigentlich kein neuer Korridor, sondern eher ein großer, langer Raum, fünfzehn Meter breit und mindestens sechzig Meter lang. An seinem anderen Ende konnte man die Mündung eines anderen Tunnels se-
hen. Der Boden des Raumes war mit Skeletten übersät. »Sacrebleu!« rief der Franzose. »Hier liegt bestimmt das halbe Personal aller zweiundneunzig Expeditionen.« Karneiev deutete auf Stausmann. »Wenn wir weitergehen, sage ich, lassen wir den da zurück.« Art starrte den Russen wortlos an. »Er nützt uns doch nichts«, erklärte Karneiev mit unbewegtem Gesicht, »er hält uns nur auf.« Arts Gesicht ähnelte einer Maske. »Er kommt mit – und wenn Latour und ich ihn tragen müssen, nicht wahr, Latour?« »C'est correct!« Karneiev fluchte vor sich hin. »Dann geht Karneiev allein!« »Du bleibst bei der Expedition!« Der Russe zuckte mit den Schultern. »Na gut, ich bleibe, aber ...« »Sind Sie bereit, meine Herren?« unterbrach ihn die Stimme des Autokraten. Karneiev und Latour starrten abschätzend in den Raum mit den Skeletten. »Zuerst«, fuhr die Stimme fort, »lassen Sie mich diese Gelegenheit wahrnehmen, um Ihnen zu gratulieren, solange Sie mich noch alle hören können. Die Methode, die Sie benutzten, um in den Tempel einzudringen, ist wirklich neu. Ich hatte mich schon immer gefragt, wann endlich mal jemand an die Geschützrohre denken würde. Bis jetzt wurde jeder Versuch mit Hilfe der Luftschächte unternommen – oder gelegentlich auch durch die Ladeluken, die benutzt wurden, bevor der Tempel Vorräte für viertausend Jahre angesammelt hatte und autark wurde.«
Die Stimme des Autokraten zeigte keine Spur eines Akzentes, wie Art erstmalig bemerkte. Hatte er vielleicht in den Jahrhunderten seiner Herrschaft über die Nationen der Welt jegliche Bindung an eine einzige aufgegeben – selbst die seiner französischen Muttersprache? »Also kommen Sie, meine Herren«, verspottete sie der Autokrat. »Wir wollen nicht meine kostbare Zeit verschwenden. Bald werden die Raketen eintreffen, die feststellen sollen, ob Ihre Mission von Erfolg gekrönt war. Ich muß mich dann um die Vergeltungsmaßnahmen kümmern.« »Wir bleiben hier, le diable!« schrie der Franzose herausfordernd. Stausmanns Gestalt straffte sich. Er riß sich von Art los und stürzte vorwärts. Es geschah ihm nichts. Plötzlich merkte Art, daß sein Armbandzähler wieder aufgeregt zu ticken begann. »Strahlung!« rief er aus. »Nur ein kleines Mittel, das Sie zur Vernunft bringen soll, meine Herren. Ich hin davon überzeugt. Sie werden sich doch noch zum Nähertreten entschließen können.« Karneiev und Latour rannten los. Art folgte ihnen zögernd. Ein kurzer Blick zur Decke zeigte ihm, daß sich weder Fernsehaugen noch Lautsprecher oder Mikrophone in diesem Raum befanden. »Aber hier ist ja nichts drin!« rief der Franzose. Ihre Armbandzähler waren sofort wieder verstummt, nachdem sie den Gang verlassen hatten. »Psychologie. Vielleicht«, meinte Karneiev nicht
sehr überzeugt, »die Psychologie der Furcht.« »Wir wollen sehen, daß wir den nächsten Korridor erreichen, bevor er diese Tür auch noch schließt«, drängte Art die anderen. Im Laufen überholten sie Stausmann, der sich mühsam vorwärtsschleppte. Sie ergriffen ihn bei den Armen und rissen ihn mit sich. Plötzlich schien es Art, als leckte eine feurige Zunge über sein Handgelenk, wo er Uhr und Geigerzähler trug. Auch Karneiev brüllte heiser auf. Latour schrie vor Schmerz. Stausmann brach zusammen und blieb regungslos liegen. Hin und wieder zuckte er noch einmal, als ob ein Hochspannungsstrom durch seinen Körper gejagt würde. Art taumelte ebenfalls und fiel, aber er richtete sich sofort wieder auf und raste zum Ausgang. Sein Mund schmerzte, als wäre er mit feurigen Kohlen gefüllt. Gequält schrie er auf. Verzweifelt zerrte er an dem Riemen seines Geigerzählers und seiner Uhr. Endlich konnte er die Schnallen lösen und warf die Instrumente, deren Metall schon schwach glühte, weit von sich. Seine Schuhe begannen zu rauchen, und er schleuderte sie weg. Aus seiner Pistolentasche zuckten kleine Flämmchen auf. »Wir befinden uns in einem selektiven Induktionsfeld!« schrie er verzweifelt, während er mit fliegenden Händen die Schnallen seines Koppels löste und die jetzt schon weißglühende Waffe im hohen Bogen von sich schleuderte.
Der Russe und der Franzose hatten sich ebenfalls der Metallteile ihrer Ausrüstung entledigen können. Von der Hitze der Nägel flammten ihre Schuhe auf. Art hatte schon fast den Ausgang erreicht, als die bis zur Weißglut erhitzten Patronen in den Magazinen der Pistolen mit ohrenbetäubendem Krachen explodierten. Nach einigen weiteren Sekunden, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, hatte er endlich diese Folterkammer durchquert und den Gang erreicht. Latour und Karneiev lagen schon erschöpft am Boden und wanden sich unter den Qualen, die von ihrem Munde ausgingen, wo sich die Zahnfüllungen unter der Wirkung des Induktionsfeldes erhitzt hatten. Wie hypnotisiert sahen sie, wie sich hinter ihnen eine Tür lautlos schloß. »Stausmann?« fragte Latour. Art schüttelte bedauernd mit dem Kopf. »Die Platte in seinem Schädel?« fragte Karneiev zögernd. Art nickte. »Ja. Jetzt ist sie sicher nur noch geschmolzenes Metall.« Ein Lautsprecher über ihnen dröhnte. »Ich sehe, Sie sind nur noch zu dritt, meine Herren. Nun, wer wird wohl der nächste sein? Ich glaube, der Franzose scheint am wenigsten aushalten zu können.« Latour sprang auf, die Fäuste geballt. »Dich werde ich noch überleben, dich Schwein!« brüllte er, und sein Gesicht war von wildem Haß verzerrt. »Ruhig, Latour«, versuchte Art den wütenden Franzosen zu besänftigen. »Er amüsiert sich ja nur über uns.«
Latours Schultern sanken ein, dann blickte er Art niedergeschlagen an. »Aber was sollen wir jetzt tun, mon capitaine? Wir haben keine Waffen mehr. Wir haben nicht einmal mehr unsere Schuhe, um ihn damit zu zertrampeln, falls wir ihn überhaupt zu Gesicht bekommen.« »Was soll ich dir sagen?« antwortete ihm Art. »Ich weiß auch nicht mehr weiter.« Er schaute auf seine Handgelenke und untersuchte das rohe, mit Blasen bedeckte Fleisch, wo sich Geigerzähler und Uhr eingebrannt hatten. Seine Hose war versengt. Einige Stellen schwelten noch. Er schlug sie mit der Hand aus. Der Russe jammerte leise vor sich hin und blies kühlend auf seine schmerzenden Handgelenke. »Wieviel zahlen eigentlich die einzelnen Regionen an den Autokraten?« Art lehnte sich gegen die Wand und schloß die Augen. Der Schmerz seiner Wunden wurde jetzt allmählich wieder von den Nachwirkungen der intensiven Strahlungsdosis von vorhin übertönt, die in seinen inneren Organen wühlte. »Deine Region zahlt ungefähr eine Milliarde jährlich, meine etwas mehr«, sagte er endlich. »Und wofür, mes amis?« fragte der Franzose, bevor Karneiev darauf erwidern konnte. »Nur um die Taschen von le diable zu füllen, damit er seine Agenten und seine Gouverneure bezahlen kann.« Der Russe erhob sich und schüttelte seine verbrannten Gelenke, während er ruhelos auf und ab ging. »Ich sage, lassen wir dem Autokraten sein erpreßtes Geld«, sagte er bitter. »Die Welt soll tun, was er verlangt. Ich sage, lassen wir den Tempel in Ruhe.«
»Gebt dem Teufel, was des Teufels ist, was?« fragte Art. »Eh bien!« Mit einer hoffnungslosen Geste hob Latour die Arme. »Was eigentlich will er? Er herrscht über die ganze Welt, aber er versteckt sich in seinem Tempel, als existiere er nicht. Er sucht keine öffentliche Anerkennung, aber alle müssen seine Sklaven sein.« »Er will nur Macht, Latour.« Art entsann sich der Bilder, die er von dem untersetzten Diktator gesehen hatte, Bilder, die die grausamen Linien in seinem feisten Gesicht deutlich zeigten. »Ein Größenwahnsinniger, der es nicht duldet, daß es jemals wieder Soldaten geben wird, die vielleicht eines Tages gegen ihn marschieren werden, und der entschlossen ist, alle Waffen auszumerzen, die auf seinen Tempel gerichtet werden könnten.« »Und die Sklaverei, mon capitaine – wie lange muß sie noch dauern?« »Der Supreme Autokrat«, sagte Karneiev mit unbewegtem Gesicht, »hatte von den Wissenschaftlern das Geheimnis der Unsterblichkeit bereits erlangt, bevor er den Grundstein zu seinem Tempel legen ließ. Er wird immer leben.« »Es wird mindestens noch viertausend Jahre so weitergehen«, fügte Art hinzu. »denn für eine so lange Zeit hat er Vorräte und Munition.« »Noch länger«, berichtigte ihn Karneiev. »Er kann sich mehr verschaffen, wann immer er will.« Art stand auf und ging ein paar Schritte zur Seite, wo er sich gegen eine Wand lehnte und dem Drängen seines gequälten Magens nachgab.
Wieder wanderten sie durch einen der langen, gewundenen Korridore. Aber diesmal war die Krümmung stärker, und Art glaubte das als Anzeichen dafür nehmen zu können, daß sie sich dem Zentrum des Tempels näherten. Er ging dahin wie in einem Fiebertraum. Sein Gesicht brannte, und sein Puls trommelte ein schnelles Stakkato. Die Übelkeit war zwar abgeklungen, aber jetzt quälte ihn Durst, der fast ebenso schwer zu ertragen war. »Wasser!« schrie der Russe und machte ein paar taumelnde Schritte vorwärts. Verblüfft rannte ihm Art nach. Vor ihnen, mitten auf dem Gang, stand ein ganz gewöhnlicher Tisch, auf ihm ein riesiger Krug und ein paar Gläser. »Nicht, Karneiev!« warnte Art. »Trink nicht.« Der Russe kümmerte sich nicht um ihn. Er ergriff mit beiden Händen den Krug und hob ihn an den Mund. Er schlürfte, und das Wasser lief ihm rechts und links aus den Mundwinkeln heraus. Nachdem er sich sattgetrunken hatte, gab er den Krug an den Franzosen weiter. »Gut, gut«, rief er überschwenglich aus. »Aber es könnte –« Art sprach den Satz nicht zu Ende aus, sondern sah verlangend Latour beim Trinken zu. »Ach, zur Hölle damit!« Der Russe zuckte mit den Schultern. »Wenn es Gift ist, dann wenigstens gutes Gift.« Art zögerte jetzt auch nicht länger. Er nahm Latour den Krug ab und trank. Das Wasser war eiskalt und löschte das brennende Feuer in seiner Kehle.
»Nun, da wir uns erfrischt haben, meine Herren, wollen wir uns auf den nächsten Kontrollpunkt vorbereiten.« Die drei Männer zuckten zusammen und sahen sich lauernd um. »Sie sehen, daß sich rechts von Ihnen ein gerader Gang öffnet.« Art starrte ungläubig in den Tunnel, der vorher noch nicht dagewesen war. Aber er konnte nichts erkennen. Da der Tunnel unbeleuchtet war, war der Eingang nur eine gähnende Leere. »Einer von Ihnen wird diesen Gang betreten, die anderen beiden werden weitergehen. Es ist für meine Pläne unbedingt erforderlich, daß Sie sich hier trennen. Ich habe eine besondere Überraschung vorbereitet, aber nur für zwei Personen.« »Wir trennen uns nicht!« schrie der Russe in Richtung auf das nächste Mikrophon. »Ich glaube doch, daß Sie sich trennen werden, meine Herren. Wie Sie schon festgestellt haben werden, stehen mir Mittel zur Verfügung, um meinen Wünschen Nachdruck zu verleihen.« Art versuchte sich die möglichen Torturen vorzustellen, die diejenigen erwarten würden, die den Tunnel betraten. »Ich gehe weiter«, sagte er zu Latour. »Du und Karneiev, ihr müßt euch entscheiden, wer mitkommen will.« Sarkastisches Lachen ertönte ihnen aus dem Lautsprecher entgegen. »Ich fürchte, ich bin mißverstanden worden. Vor Ihnen liegt etwas sehr Interessantes, aber, wie ich schon sagte, nur für zwei meiner Gäste. Der dunkle Korridor dagegen bietet nur eins – den
sofortigen Tod.« Art lehnte sich gegen den Tisch und legte verzweifelt den Kopf auf die Arme. »Dann haben also die zwei, die weitergehen können, noch eine Chance.« – Nachdenklich blickte er auf die Lautsprecher. »Wenn ich das Problem objektiv und nüchtern betrachte«, sagte er dann, »so bin ich derjenige, der in der schlechtesten Verfassung ist und daher am wenigsten nützt.« Er ging auf den dunklen Korridor zu. Latour packte seinen Arm. »Non, mon capitaine!« Karneiev versuchte, den Franzosen zurückzuhalten. »Laß ihn gehen. Er ist krank, er kann uns nichts mehr nützen. Du und ich – wir werden gehen.« »Wir werden sowieso nicht bis zu SATAN gelangen.« Die Stimme des Franzosen hatte sich erhoben, wie um den Optimismus des Russen zu dämpfen. »Aber ich, Latour, werde mich jetzt nicht mehr seinen Weisungen fügen.« »Sie werden das tun, was ich sage.« Die Stimme des Autokraten schien den Franzosen zu verspotten. »Darf ich darauf hinweisen, daß in diesen Wänden selektive Induktionsspulen verborgen sind? Und darf ich darauf hinweisen, daß diese so abgestimmt sind, daß sie auch auf weichere Stoffe als Metall wirken?« »Du lügst!« schrie Latour. Er wandte sich an Art. »Ist es möglich, daß er den ganzen Tempel mit Drähten durchzogen hat? Er blufft, nicht wahr?« Art blickte den Franzosen lange an. Dann sagte er: »Geh mit Karneiev!« Er trat einen langen Schritt vor und hatte den dunklen Korridor betreten. Die steinerne Tür hinter ihm begann sich zu schließen. Aber Latour sprang ihm in der letzten Sekunde
nach. Unmittelbar darauf war die Tür zugefallen. »Du Narr«, sagte Art. »Jetzt wird er –« Und dann hörten sie Karneievs Schreie, die undeutlich durch das Mauerwerk hindurch zu ihnen drangen. Ein Brüllen, aus dem panische Angst und unerträglicher Schmerz klangen, dauerte fast eine ganze Minute an. Dann war es totenstill. »Ah«, flüsterte der Franzose mit heiserer Stimme. »Monsieur le diable wollte uns hereinlegen, n'est pas?« Seine Stimme wurde lauter. »Sagte er nicht, daß nur in diesem Korridor der sichere Tod auf uns warten würde? Und kaum hat sich die Tür geschlossen, da wird der andere Gang zur Todesfalle. Eh bien. Er wollte nur einen leben lassen und die anderen zwei töten.« »Sie haben es erraten, Franzose!« tönte die Stimme des Autokraten in der Finsternis. »Sie haben durch Ihr vorschnelles Handeln meine Pläne gestört. Aber das Endergebnis wird doch das gleiche sein.« Art fühlte nach der Schulter Latours und zog ihn näher heran. »Ohne Licht kann er uns mit seinen Fernsehaugen nicht verfolgen«, flüsterte er ihm ins Ohr. »Und wenn wir recht leise sind, nützen ihm auch die Mikrophone nichts.« »Dann gehen wir also weiter?« flüsterte der Franzose zurück. Art ging leise voraus. »Wenn nötig, auf Zehenspitzen.« »Aber –« fragte der andere mit unterdrückter Stimme, »kann er nicht überall einfach das Licht einschalten?« »In diesem Korridor sind anscheinend keine Scheinwerfer montiert. Ich habe jedenfalls nichts ge-
sehen, als ich eintrat.« Art tappte suchend an der Wand entlang. »Und die Türen?« schlug der Franzose vor. »Ist es nicht möglich, daß wir eine erreichen, bevor er daran denkt, sie zu schließen? Dann können wir weitergehen, ohne daß er weiß, wo wir sind. Dann hätte er uns aus den Augen verloren, n'est pas?« Die wenigen Minuten, die sie tastend den Korridor hinunterschlichen, kamen ihnen wie eine Ewigkeit vor. Sie hatten das Zeitgefühl völlig verloren, als sich plötzlich Latours Hand um Arts Schulter krampfte. »Die Türen – wir haben noch keine erreicht, mon capitaine?« Art überlegte, ob er es ihm sagen sollte, hielt es dann aber doch für besser, ihm die Wahrheit zu gestehen. »Wir sind schon an einer Menge vorbeigekommen, aber alle waren geschlossen.« Latour stöhnte auf. »Dann hat er die Vorbereitungen für uns schon getroffen. Es hat keinen Zweck, mon ami. Le diable treibt uns vor sich her – wie eine Herde Schafe.« »Latour!« »Ja?« »Dort vorn – ein Licht!« Sie blieben stehen. Ein schwacher Lichtschein, vielleicht dreißig Meter weiter vorn, zeigte das Ende des Korridors an. Aber die Quelle des Lichtes war nicht zu sehen. Der Franzose vergaß alle Vorsicht und fluchte laut: »Wie sagt man – eine Sackgasse. Jetzt werden wir hier verhungern.« »Nein, Latour. Sieh doch – der Korridor macht eine
Biegung nach rechts. Und von dort kommt auch das Licht.« Schweigend gingen sie weiter. An der Biegung angekommen, preßte sich Art an die Wand und schob sich zentimeterweise nach vorn. Vorsichtig spähte er um die Ecke. Er riß aber sofort den Kopf wieder zurück. »Latour!« Sein Flüstern war kaum hörbar. »Es ist der Autokrat! Direkt hinter der Biegung!« Der Franzose öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Arts Hand legte sich darüber. »Er steht im Korridor – keine zehn Meter weit weg – er wartet!« »Hat er dich gesehen?« »Nein!« »Sacrebleu! Was tut er?« »Nichts, er steht nur da.« »Eine Falle?« »Ich glaube nicht. Seine Hände waren leer. Keine Waffe zu sehen.« Art wagte noch einen Blick. Jornal Sakoran stand immer noch da, ohne sich zu bewegen. Seine Hände hingen locker herunter, und auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck der Ungeduld. »Le diable – ist er noch da?« Latour packte Arts Arm. Art nickte geistesabwesend. Zum Teufel, wenn er nur wüßte, wo hier der Haken war. Der ehemalige Diktator der französischen Nation, der schon vor Jahrhunderten die Macht über die ganze Welt an sich gerissen hatte, würde sich bestimmt nicht so einfach gefangennehmen lassen. Und daß er es nicht bemerkte, wenn ihm zwei Überlebende einer Expediti-
on so nahe gegenüberstanden, schien auch nicht glaubhafter. Und trotzdem ... Mit einer Schnelligkeit, die ihn völlig überraschte, sprang Latour plötzlich an ihm vorbei und rannte um die Biegung herum. Das geschah so schnell, daß Art für den ersten Augenblick wie erstarrt dastand. Dann sprang er dem Franzosen nach, aber der hatte inzwischen schon einen Vorsprung von mehr als drei Metern. Sakoran blickte auf und lächelte. Im letzten Moment bemerkte Art die Falle und versuchte verzweifelt, seinen Lauf zu bremsen. »Latour!« schrie er. »Nicht –« Aber es war schon zu spät. Elektrisches Feuer zuckte auf und hüllte Latours Körper in eine grelle, alles verzehrende Flamme ein. Irgend etwas zischte, und Latours verkohlter Leib fiel leblos zu Boden. Im gleichen Augenblick klirrte Glas, und das Bild des Autokraten verschwand. Art, dem der Schreck noch die Glieder lähmte, blieb vor dem Elektronenschirm stehen, der den Korridor versperrt hatte und aus dem das dreidimensionale Bild des SATANs projiziert worden war. Es war eine ausgeklügelte Todesfalle. Aber auch jetzt, wo der Schirm tot war und nicht mehr leuchtete, war der Korridor immer noch schwach erhellt. Das Licht kam von einer anderen Biegung im nächsten Gang. Immer noch unter dem Eindruck des eben erlebten grauenhaften Schauspiels kletterte Art durch die Überreste des Schirms, vorbei an der verkohlten Leiche seines Kameraden. Art wußte, daß die Unverletzbarkeit des Tempels
keine Legende war. SATAN war unbesiegbar. Er hatte Stausmann. Karneiev, Latour und alle die vielen anderen getötet, die jetzt als Skelette in den Korridoren lagen. Und er hatte sich bei dieser Arbeit nicht einmal anzustrengen brauchen. Aber das war ja eigentlich selbstverständlich. SATAN hatte Jahrhunderte Zeit gehabt, um die Werkzeuge seines Handwerks zu vervollkommnen. Niedergeschlagen ließ Art den Kopf hängen, während er langsam und vorsichtig weiterging. Er umrundete die nächste Biegung und blieb wie angewurzelt stehen. Unmittelbar vor ihm mündete der Gang in einen riesigen kreisrunden Raum, dessen Durchmesser mindestens hundert Meter betrug. Art stand vor dem inneren Tempel! Große glänzende Instrumente, Dutzende von Schaltbrettern, die übersät waren mit Schaltern, Skalen und Hebeln, Meßröhren und blinkenden Lämpchen, bedeckten jeden verfügbaren Raum der weiten Wände der Zentrale. Die riesige Deckenkuppel bestand aus Hunderten von Fernsehschirmen – hier war das Nervenzentrum des weltweiten Netzes, in dem der Autokrat den ganzen Erdglobus gefangenhielt. In der Mitte des Raumes stand eine kleinere Kuppel aus Blei, ungefähr fünfzehn Meter hoch. Eine Anzahl blinkender roter Lichter identifizierte sie als die Kraftanlage des Tempels – ein Atommeiler. Wenn man diesen Meiler so einstellte, daß er seinen Sicherheitskoeffizienten überschritt, dann würde er eine Bombe abgeben, die tausendfach stärker und verwüstender wäre als die, die Art und seine Kameraden mit sich geschleppt hatten.
Jedoch der Autokrat war nirgends zu sehen. War das vielleicht wieder nur ein neuer Kontrollpunkt? Unsicher machte Art ein paar Schritte vorwärts. Nein, es war keine Falle! Jetzt stand er unter den blitzenden Instrumenten und Kontrollen. Er befand sich an der einzigen verwundbaren Stelle der unbesiegbarsten Festung, die je erbaut worden war. Zwischen zwei großen Schaltschränken entdeckte er eine Tür, die halb offen stand. Vorsichtig spähte er hinein und sah ein Zimmer, das offensichtlich die Wohnung SATANs war – tiefe Klubsessel, Wandvorhänge, weiche Teppiche, das Fußende eines Bettes. Die Tür öffnete sich ganz, und der Supreme Autokrat trat aus seinem Versteck hervor, eine Pistole in der Hand. Art fluchte innerlich. Seine verdammte Neugierde. Warum war er nicht direkt zu dem Meiler gerannt und ... »Treten Sie ein!« sagte Sakoran. Er deutete mit seiner Waffe und trat zur Seite, als Art näherkam. Dann seufzte der Autokrat tief auf und lächelte. Aber es war kein höhnisches Lächeln, sondern ein Lächeln des Willkommens. »Haben Sie keine Angst«, sagte er. »Die Waffe wird auf mich gerichtet werden und nicht auf Sie. Aber ich fürchte, ich werde sie zumindest noch so lange brauchen, um Sie mir vom Leibe zu halten, bis ich fertig bin.« Ohne ein Wort herausbringen zu können, stolperte Art rückwärts, bis er fühlte, daß sich hinter ihm ein Stuhl befand. Dann ließ er sich einfach fallen. Der Autokrat, in einen langen grauen Hausmantel
gekleidet, lehnte sich gegen einen Tisch in der Mitte des geschmackvoll und kostspielig eingerichteten Raumes. »Eine Zeitlang dachte ich, der Franzose würde es schaffen«, sagte er langsam. »Es war viel Lobenswertes an seiner Begeisterung für Ihre Sache und überhaupt seiner Kameradschaftlichkeit den anderen gegenüber. Aber seine Loyalität schloß ihn letzten Endes doch aus. Es war offensichtlich, daß er der Welt sofort die Geheimnisse des Tempels bekanntgegeben hätte.« Art starrte immer noch Jornal Sakoran an, den unsterblichen Diktator, den Supremen Autokraten der Assoziierten Nationen. Irgend etwas stimmte hier nicht, selbst wenn er von den unglaublichen Vorfällen der letzten Minuten absah. Aber er wußte nichts was. »Jedoch«, fuhr Sakoran fort, »ich fand mich unfähig, eine unvoreingenommene Entscheidung zu treffen. So überließ ich dem Elektronenschirm die endgültige Auswahl. Der Franzose hat sich so selbst ausgeschieden.« »Ausgeschieden –?« wiederholte Art verständnislos. »Natürlich. Die Kontrollpunkte dienen einem Ausleseprozeß, durch den alle mit Ausnahme der Stärksten ausgeschieden werden, und letzten Endes bliebt nur der übrig, der am meisten befähigt ist, das Amt ...« Endlich wachte Art auf und sprang hoch. »Sie haben meinen Vater getötet!« »Ihren Vater?« Sakorans Hand umfaßte die Waffe fester, und Art sank wieder in den Sessel zurück. »Kam er mit einer der Expeditionen? Mit welcher?«
»Nummer fünfundachtzig.« Sakoran schüttelte den Kopf. »Das war vor meiner Zeit, fürchte ich. Und außerdem war das keine Ablöse-Expedition. Nein, ich habe Ihren Vater nicht getötet. Sehen Sie, ich war damals noch gar nicht SATAN.« »Sie waren noch gar nicht SATAN?« wiederholte Art und begriff kein einziges Wort. »Nein, ich wurde erst zwei Jahre später der Supreme Autokrat. Expedition siebenundachtzig.« Verblüfft richtete sich Art auf. Jetzt wußte er plötzlich, was hier nicht stimmte und warum er gleich von Anfang an dieses Gefühl der Unsicherheit gehabt hatte. Der Mann, der vor ihm stand, war groß und hager. Seine Augen waren blau, und sein Haar, jetzt ergraut, war sicherlich einmal blond gewesen. Jornal Sakoran dagegen, der französische Diktator, der die Festung des Tempels gebaut hatte, war klein und untersetzt gewesen und hatte krauses schwarzes Haar und stechende schwarze Augen gehabt. Sakoran war nicht unsterblich! Sakoran war tot! »Sehen Sie«, fuhr der Autokrat fort, »ich bin SATAN der Vierzehnte. Was jedoch die Kontrollpunkte und den Ausleseprozeß betrifft, das Endresultat war Ihre Wahl zu SATAN dem Fünfzehnten. Ich bin davon überzeugt, daß Sie einen sehr guten Autokraten abgeben werden.« Es dauerte fast eine Minute, bis Art seine Fassung wiedergewonnen hatte. »Ich verstehe nicht.« »Es ist auch nicht so einfach, es zu erklären«, sagte der Autokrat. »Lassen Sie mich damit beginnen, daß ich Ihnen sage, daß das Gemetzel in den Gängen, so sadistisch es Ihnen auch erscheinen mag, absolut
notwendig ist. Denken Sie daran, daß es immer nur einen SATAN geben darf. Selbst die geringste Meinungsverschiedenheit oder besondere Anteilnahme an dem Schicksal einer bestimmten Nation würde den Wert des Tempels zunichte machen können. Sehen Sie, nicht alle Expeditionen erlitten dasselbe Schicksal wie die Ihre – nur die, die eine Ablösung mit sich brachten, und von diesen war die Ihre die dreizehnte. Die übrigen achtzig Expeditionen wurden auf ganz humane Weise hingerichtet. Sie mußten natürlich getötet werden, um den Tempel zu schützen und um zu vermeiden, daß sie möglicherweise entkamen und der Welt den wahren Charakter des Tempels verrieten. Und –« »Aber warum – warum?« »Warum muß ein SATAN dem anderen folgen?« vervollständigte der Autokrat die Frage. »Ich will versuchen, Ihnen das zu erklären. Als Sakoran diesen Tempel erbaute, um so seine despotische Macht fester zu verankern, hatte die Erde gerade den dritten Weltkrieg hinter sich. Kein angenehmes Kapitel in der Geschichte der Menschheit, das können Sie mir glauben. Mehr als hundert Millionen Menschen waren diesem Krieg zum Opfer gefallen. Die Regierungen der ganzen Welt waren bankrott, und Hungersnöte und Armut dezimierte die Menschheit noch weiter. Dann kam das Mißtrauen zwischen den Völkern wieder auf, und, obwohl die bitterste Not herrschte und alle Menschen am Hungertuch nagten, stürzten sich die Nationen in einen neuen Rüstungswettlauf. In dem Jahr, in dem Sakoran in Frankreich die Macht an sich riß, gaben die Großmächte jährlich
mehr als achthundert Milliarden für den Unterhalt ihrer Armeen und die Waffenproduktion aus. Im Vergleich dazu bringen die Nationen der Welt heute nur etwa dreißig Milliarden jährlich auf – einmal für die Tribute an die vom Tempel aufgestellten Gouverneure und zum zweiten für Waffen, die den Angriffen auf den Tempel dienen. Es besteht ein ganz hübscher Unterschied zwischen achthundert Milliarden und nur dreißig Milliarden. Und dann besteht noch der riesige Unterschied zwischen den tausend Mann des Geheimkorps der Untergrundbewegung und den Millionen, die völlig unproduktiv in den Armeen der ganzen Welt dienen müßten, wenn kein Tempel vorhanden wäre, der diese Armeen und alle Waffen verbietet.« »Sie wollen damit also sagen, daß der Tempel nur den Krieg verhindern soll?« fragte Art ungläubig. Der Autokrat nickte. »Die Menschheit schuldet dem Despoten Jornal Sakoran ewigen Dank. Das größte Jahr in der menschlichen Geschichte war das Jahr, in dem er seine Macht über die ganze Erde ausdehnte, indem er lediglich einige wenige Fernraketen auf ein paar Schlüsselpositionen abfeuerte und dann die Unverwundbarkeit seines Tempels bewies, als die Gegenangriffe kamen.« »Aber Sakoran? Was ist aus ihm geworden?« »Die sechste Expedition war erfolgreich, wie Sie in den Aufzeichnungen des Tempels lesen können. Jedoch nur ein Mitglied der Gruppe überlebte. Es war ein Segen für die Menschheit, daß es ein Mann mit weit vorausschauender Intelligenz war. Nachdem er Sakoran getötet hatte, wurde er SATAN II und wehrte erfolgreich alle anderen Angriffe auf den
Tempel ab, bis er schließlich einsah, daß er für seine Aufgabe zu alt geworden war. Er ließ es also zu, daß ein einziges Mitglied der nächsten Expedition – es war Nummer siebzehn – seine Auslesetests überlebte. Anfangs hatte sich SATAN II gefragt, ob alle zukünftigen Kandidaten den gleichen Prinzipien anhängen würden wie er, ob sie also bereit waren, die Rolle des Supremen Autokraten weiterzuspielen und sich so zur Zielscheibe des Hasses der ganzen Welt zu machen. Aber alle folgenden Kommandowechsel haben gezeigt, daß kein qualifizierter Mann diese Aufgabe ablehnen kann, wenn er sich erst einmal seiner Verantwortung der Menschheit gegenüber bewußt geworden ist, denn dadurch, daß er den Haß aller Menschen auf sich lenkt, eint er sie, die sich sonst untereinander bekriegen würden.« Art schwieg eine lange Zeit. Schließlich blickte er den Autokraten forschend an. »Und wie lange soll das noch weitergehen?« »Die Nationen der Welt haben bereits gelernt, mit ihren Nachbarn zusammenzuleben. Aber noch ist es zu früh, das Geheimnis des Tempels preiszugeben. Vielleicht braucht es noch fünfhundert Jahre, vielleicht noch tausend, bis die Menschheit endlich gelernt hat, in Frieden zusammenzuleben. Das beste Anzeichen für den Erfolg unserer Sache wird die Zeit sein, in der die Welt aufhört, Expeditionen auszuschicken, um den Tempel zu zerstören. Wenn dieser Tag einmal gekommen ist, muß der Tempel eine andere Methode finden, um Nachfolger für SATAN zu finden. Aber das soll nicht Ihre Sorge sein.« Der Supreme Autokrat hob langsam die Pistole
und sah sie nachdenklich an. »Ich bin sehr froh, daß Sie gekommen sind«, sagte er müde. »Diese Jahre waren nicht leicht für mich – und sie waren sehr einsam. Ich habe Hunderte getötet. Und die ganze Zeit über habe ich nie gewußt, ob ich auch richtig handelte.« Er hob die Pistole und setzte sie an seine Schläfe. »Warten Sie!« schrie Art. »Und wenn ich nun gar nicht der Autokrat werden will?« »Sie haben keine Wahl. Alle Ausgänge sind versperrt. Und bis Sie gelernt haben, wie man sie öffnet, werden Sie sicher Ihre Ansicht geändert haben.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. »Nach ein oder zwei Jahren werden Sie sich mit der Bedienung aller Apparate und Vorrichtungen des Tempels vertraut gemacht haben. Und bis es soweit ist, wird jede Expedition automatisch beseitigt werden. Selbst der Abschuß der Abwehrraketen wird eine Zeitlang Ihrer Kontrolle entzogen sein und automatisch erfolgen.« »Aber wie ...« »Sie werden Ihre Instruktionen mit Hilfe von Tonbändern und Filmen erhalten.« Er starrte Art mit einem leeren Blick an. »Und jetzt, mein Sohn – ich bin ein müder alter Mann ...« Der Tempel erzitterte unmerklich, und Art glaubte ein fernes Grollen zu hören. »Das sind unsere Abwehrraketen«, sagte der Autokrat. »Sie müssen sofort Vergeltungsmaßnahmen ergreifen, wenn Sie sich Disziplin und Respekt bewahren wollen. Die Steuerorgane, die Sie dafür brauchen werden, befinden sich gleich hinter der Tür, das erste Brett rechts.«
Betäubt ging Art in die Zentrale zurück, stand vor dem Kontrollbrett. Ein Schirm darüber flackerte auf und zeigte das Wort: Zielgebiet. Einen kurzen Augenblick erlosch der Schirm, dann erschien eine Landkarte Südamerikas. Der größte Teil der Landkarte wurde undeutlich, und nur Argentinien war zu sehen. Vor ihm befanden sich unzählige Kontrollknöpfe, von denen jeder den Namen einer anderen Stadt trug. Er fand den mit der Aufschrift Buenos Aires, justierte den Feineinsteller und verfolgte das Resultat seiner Manipulationen auf der Karte. Ein kleines rotes Kreuz, das offensichtlich die Aufschlagstelle der Vergeltungsrakete bezeichnete, bewegte sich südwärts. Als er sicher war, ein Gebiet gefunden zu haben, wo das Geschoß nicht viel Schaden anrichten konnte, drückte er den Knopf nieder. Fast zur gleichen Zeit bellte die Pistole des Autokraten im Nebenzimmer. Art blickte auf und sah eine Stelle an der Wand, wo eine Liste der Männer hing, die SATAN gewesen waren. Die letzte Eintragung lautete: Arnold Stolman, SATAN XIV, 2968–2996. Er fühlte das schwache Vibrieren der Festung, als die Vergeltungsrakete abgefeuert wurde. Dann nahm er einen Stift, der neben dem Schaltbrett lag, und fügte auf der Liste hinzu: Art Grant, SATAN XV, 2996–
Originaltitel: SATAN'S SHRINE Copyright © 1954 by Galaxy Publications Corp. Übersetzt von Lothar Heinecke
James E. Gunn HÖHLE DER NACHT Das Wort stammte von einem Dichter, der sich unter der zynischen Maske eines Reporters verbarg. Sein Bericht erschien am ersten Tage jener vier unvergeßlichen Wochen, in denen die ganze Welt den Atem anhielt, um wie gebannt einem winzigen Punkt am Himmel nachzustarren, und wurde von vielen Zeitungen nachgedruckt. »Gegen acht, wenn die Sonne versunken ist und der Himmel sich dunkelt, dann schaut nach oben. Dort, wo vorher noch niemals ein Mensch war, ist jetzt euer Bruder. Er liegt gefangen in der Höhle der Nacht.« Eine gute Überschrift muß kurz, dramatisch und bildhaft sein. Die Höhle der Nacht. Der Ausdruck stimmte zwar nicht ganz, aber er erfüllte diese Bedingungen. Denn wenn überhaupt jemand sich in einer Höhle befand, dann war es der Rest der Menschheit. Unter unsäglichen Mühen war es einem Mann gelungen, diese Höhle zu verlassen. Doch als er zurückkehren wollte, fand er den Zugang versperrt. Das war am ersten Tage. Es folgten neunundzwanzig Tage qualvoller Ungewißheit und banger Zweifel. Die Höhle der Nacht. Ich wünschte, ich hätte dieses Wort geprägt. Es war das Etikett, das Symbol für alles, was sich nun ereignete. Es war das erste Wort, das einem in
die Augen sprang, wenn man die Zeitung aufschlug. Es war das erste Wort, das jeder gebrauchte, wenn er darüber sprach. Es schloß alles ein – die ausweglose Tragik des Ereignisses, die Angst, die Zweifel, die Hoffnung. Möglich, daß der Fall Floyd Collins hier hineinspielte. Die Zeitungen durchsuchten ihre alten Archive nach jener alten, fast vergessenen Tragödie und stellten Vergleiche an. Und dann fiel ihnen noch dieses kleine Mädchen ein – Kathrin Fiscal, ja, so hieß sie –, die in dem alten aufgelassenen Kanalisationsrohr festgeklemmt gewesen wart und noch einige andere Geschichten dieser Art. Ab und zu geschieht es, eine Reihe von Ereignissen, die in ihrem zufälligen Ablauf so dramatisch sind, daß die Menschen darüber ihren Haß und ihre Furcht, ihre Hemmungen und ihre Unzulänglichkeiten vergessen und plötzlich erkennen, daß sie im Grunde doch alle Brüder sind. Die wesentlichen Voraussetzungen eines solchen Ereignisses sind folgende: Ein Mensch muß sich in außergewöhnlicher Gefahr befinden. Die Gefahr muß von Dauer sein. Es muß Beweise dafür geben, daß er noch am Leben ist. Rettungsversuche müssen unternommen werden. Und es muß in allen Zeitungen stehen. Möglicherweise könnte man ein solches Ereignis künstlich konstruieren, aber sollte die Welt jemals den Betrug entdecken, sie würde ihn wohl nie verzeihen. Wie so viele andere habe auch ich versucht, herauszufinden, was eine zänkische, mißgünstige und seelisch verhärtete Gruppe von Eigenbrötlern und Egoisten – was sind wir Menschen anderes? – plötz-
lich das menschlichste und seltenste aller Gefühle – Mitgefühl – empfinden läßt. Und wie jene anderen bin auch ich zu keinem Ergebnis gekommen. Urplötzlich bedeutet ein völlig Fremder uns mehr als alle Bequemlichkeit, überschattet sein Unglück alle unsere eigenen kleinen Sorgen. In jedem wachen Augenblick beten wir: Halt aus, Floyd – Kopf hoch, Kathrin – halt aus, Stan! Wir begegnen uns auf der Straße – wir, die wir uns sonst nicht einmal zugenickt haben würden –, und wir fragen uns: Werden sie es schaffen? Ob Pessimist oder Optimist – wir hoffen es. Wir alle hoffen es. In gewissem Sinne lag dieser Fall hier anders. Der Betroffene hatte das Risiko gekannt und es akzeptiert. Er hatte es akzeptiert, weil es keinen anderen Weg gab, das, was getan werden mußte, zu tun. Und mit diesem Wissen war er in die Höhle der Nacht eingedrungen. Er hatte den größten Triumph gekostet, den je ein Mensch kannte. Doch das neidische Schicksal versperrte ihm nun den Weg zurück. Die Nachricht hiervon kam buchstäblich aus dem Nichts und überraschte eine nichtsahnende Welt. Der erste, der sie hörte, war wohl ein Amateurfunker in Davenport, Iowa. An einem stickig-heißen Junitag fing er das erste Notsignal auf. Der verstümmelte Hilferuf, so berichtete er später, schien allmählich anzuschwellen, eine gewisse äußerste Lautstärke zu erreichen, um dann wieder langsam abzuklingen. »... und Treibstofftanks leer ...pfänger defekt ... spreche im Klartext, damit mich jeder hören kann und ... keine Möglichkeit zur Rückkehr ...«
Ein unbedeutender Anfang. Die nächste Sendung wurde von der Funkabhörstelle eines Militärstützpunkts in Fairbanks, Alaska, empfangen. Das war am frühen Morgen. Eine halbe Stunde später hörte ein Arbeiter, der gerade von der Nachtschicht gekommen war, auf der Kurzwelle seines Radioapparates den dritten Hilferuf. Er rannte zum Telefon. An diesem Morgen erfuhr es die ganze Welt. Eine Welle der Erregung und Anteilnahme lief über unseren Globus. In einer Kreisbahn – eintausendsiebenhundert Kilometer über unseren Köpfen – befand sich ein Mensch, ein Offizier der Luftwaffe der Vereinigten Staaten – in einem Raumschiff ohne Treibstoff. Schon das Raumschiff für sich allein hätte genügt, die Aufmerksamkeit der gesamten Welt zu fesseln. Das Schiff war eine Großtat menschlichen Erfindergeistes – vielleicht gewichtiger und monumentaler als alles, was der Mensch jemals geschaffen hatte. Und diese Tat bedeutete nichts anderes als die endgültige Befreiung von der Tyrannei der Erde, dieser eifersüchtigen Mutter, die ihre Kinder unnachsichtig am Gängelband der Schwerkräfte führte. Der Mensch war endlich frei. Das Schiff war ein Symbol, daß ihm nichts völlig und auf die Dauer unmöglich ist, wenn er es nur hartnäckig genug und lange genug will. Wie alle Kreaturen der Erde war auch der Mensch zugleich Produkt und Sklave seiner Umgebung. Sein Triumph war es, daß er vom Sklaven zum Herrn wurde. Ungleich den spezialisierten Tieren verteilte er sich über die gesamte Oberfläche des Planeten –
von den Gletschern des Antarktischen Kontinents bis zum Eismeer des Nordens. Der Mensch erhob Anspruch auf die schwülen Dschungel des Äquators, er besiedelte die gemäßigten Zonen, er drang in die Eiswüsten der Pole vor. Er wurde ein Bewohner der Ebenen, der Täler, der Berge. Der Sumpf und die Wüste wurden gleichermaßen sein Zuhause. Und der Mensch formte seine Umgebung. Mit Hilfe seines Geistes und seiner geschickten Hände knetete und formte er die Welt, besiegte die Kälte und die Hitze, die Feuchtigkeit und die Trokkenheit, das Land, das Meer, die Luft. Jetzt hatte seine Wissenschaft die letzte Schranke durchbrochen. Er hatte sich befreit von jener Welt, die ihn geboren hatte. Aber wenn er auch jetzt die Nabelschnur endlich durchschnitten hatte, nie würde er sich völlig unabhängig von der Erde machen können. Immer und ewig würde er ein Kind der Erde bleiben. Der Vorstoß in den Weltraum war eine große, eine unvergleichliche Tat. Aber sie trug in sich ein Bekenntnis des Irrtums und der Sterblichkeit. Der Mensch hat in sich die Eigenschaften zur Größe, die niemals den Zwang der Umstände anerkennen werden, aber er trägt auch in sich den Keim der Fehlbarkeit. Stan war einer von uns. Sein Triumph war unser Triumph. Seine Gefahr war unsere Gefahr. Stanley L. McMillen III, Oberleutnant, Pilot, Raketenflieger, Mensch, Stan. Er war nur siebzehnhundert Kilometer von uns weg, aber diese Kilometer zeigten senkrecht in den Himmel. Wir lernten ihn so gut ken-
nen, als wäre er schon ewig unser engster Vertrauter und Freund gewesen. Mich persönlich erschütterte die Nachricht besonders. Ich kannte Stan. Auf dem College waren wir gute Freunde gewesen, und das Schicksal hatte uns auch später wieder zusammengebracht. Wir dienten beide bei der Luftwaffe. Während ich mich allerdings so schnell wie möglich wieder davongemacht hatte, war er geblieben. Gerüchtweise hatte ich später gehört, daß er Testpilot geworden war – Spezialist für Raketenflugzeuge. Ich hatte allerdings keine Ahnung gehabt, daß das Raketenprogramm schon so weit gediehen war. Nun, kein Mensch hat wohl eine Ahnung gehabt. Das Geheimnis wurde sorgfältiger gehütet als seinerzeit das Manhattan-Projekt, aus dem die Atombombe hervorging. Ich erinnere mich, wie ich Stans Bild in der Zeitung anstarrte. Es war kein besonders gutes Foto, aber es war Stan. Das glatte schwarze Haar, der schmale, flotte Schnurrbart, die abstehenden Clark GableOhren, sein unbekümmertes Lachen. Und ich fühlte fast körperlich seine unbändige Lebensfreude. Sie zeigte sich auf hunderterlei Arten. Er kannte eine Menge Mädchen, obwohl er dabei keineswegs wahllos verfuhr; er aß gut, trank kräftig, sammelte klassische Jazzmusik, interessierte sich aufrichtig für zeitgenössische Kunst und war ein guter, ja leidenschaftlicher Erzähler. Jetzt war er allein – und vielleicht schon bald würde er sterben müssen. Ich gelobte mir, daß ich helfen würde, ihn herunterzuholen.
Es waren Tage des wilden, überschäumenden Enthusiasmus. Hunderte überschwemmten das CocoaTestgelände der Luftwaffe, von dem aus Stans Schiff gestartet war, und boten ihre Hilfe an. Aber ich war kein Ingenieur. Ich war nicht einmal ein Arbeiter, ein Schweißer oder Nieter. Ich war höchstens ein armseliger Mechaniker des Wortes, ich war Journalist. Aber Worte zumindest konnte ich beitragen. Hastig schloß ich einen mündlichen Vertrag mit einer der lokalen Zeitungen und flog nach Washington. Lange Zeit bildete ich mir ein, daß die Artikel, die ich während der nächsten Tage schrieb, die folgenden Ereignisse mitbestimmen halfen, denn viele meiner Berichte wurden von anderen Blättern übernommen. Das bekannte Washington-Fiasko kam auf das Konto der Untersuchungskommission des Senats. Jeder, der nur im entferntesten mit dem Projekt zu tun gehabt hatte, wurde vorgeladen und sollte verhört werden, was als vorläufig einziges Resultat zur Folge hatte, daß alle leitenden Köpfe des Projekts fürs erste von ihrer lebenswichtigen Arbeit abgehalten wurden. Innerhalb eines Tages allerdings wurde der Kommission klar, daß sie sich hier wohl zu viel vorgenommen hatte. General Beauregard Finch, der Leiter des Forschungs- und Entwicklungsprogramms, war der harte Brocken, an dem sich die Kommission die Zähne ausbiß. Mit nüchternen und präzisen Worten beschrieb er die Entwicklung des Projektes, die theoretischen Forschungsarbeiten, die praktische Erprobung gewonnener Erkenntnisse, den Bau des Schiffes, das Training der Anwärter auf den Pilotensitz und die endgültige Wahl.
In Worten, die gerade wegen ihrer Kürze und Knappheit ungeheuer wirkten, beschrieb er den Start der riesigen Dreistufenrakete. Innerhalb von sechsundfünfzig Minuten hatte dann die Endstufe die errechnete Kreisbahnhöhe von eintausendsiebenhundert Kilometer erreicht. Geschwindigkeit und Kurs des Schiffes sollten hier eine letzte Korrektur erfahren. Aus diesem Grunde mußten die Triebwerke noch einmal fünfzehn Sekunden lang gezündet werden. In diesem Augenblick machte das Verhängnis einen dicken Strich durch die sorgfältig kalkulierten Pläne der Menschen. Bevor Stan die Automatik ausschalten konnte, waren die Düsen beinahe eine halbe Minute lang aufgeflammt. Der Treibstoff, den er später so dringend benötigen würden um das Schiff abzubremsen und wieder in den Anziehungsbereich der Erde gelangen zu lassen, war fast verbraucht. Seine Bemühungen, die zu große Geschwindigkeit wieder zu verringern, ergaben nur eine Annäherung an die ursprünglich vorgesehene Bahn. Das waren die nackten Tatsachen: Stan war da oben. Und er würde so lange oben bleiben, bis jemand kam und ihn herunterholte. Und hierfür gab es keine Möglichkeit. Die Kommission faßte das alte Geständnis der Schuld und Unfähigkeit auf, aber General Finch ließ sich nicht einschüchtern. Ein bemanntes Schiff war aufgestiegen, weil kein Elektronengehirn, kein noch so komplizierter Automat, die Vielzahl der Kombinationsmöglichkeiten für eventuell erforderliche Ent-
scheidungen und Handlungen speichern konnte, mit dem die Natur den Menschen ausgestattet hatte. Das menschliche Gehirn war noch immer das beste Allzweckgehirn. Es stimmte – man hatte nur ein Schiff gebaut. Aber dafür gab es einen guten Grund, einen sehr nüchternen Grund: Geld. Es war ein Vorstoß in unerschlossene und sündhaft teure Gebiete. Das Unternehmen verschlang ungeheure Geldsummen, verlangte nach der besten Intelligenz des Landes und forderte die harte, entsagungsvolle Arbeit Tausender von Männern. An diesem Nachmittag wurde General Finch der Abgott der Nation. Er sagte in kühnen Worten: »Mit den beschränkten Mitteln, die Sie uns zur Verfügung gestellt haben, haben wir erreicht, was wir uns vorgenommen hatten. Wir haben gezeigt, daß Raumfahrt möglich ist und daß eine Raumstation nicht im Bereich der Phantasie liegt. Wenn hier von Unfähigkeit gesprochen wird, wenn hier jemand eine Schuld an diesem tragischen Unglück trifft, dann nur jene, denen das Vertrauen in den Mut und die Fähigkeit ihrer Mitbürger fehlte, die sich von der Erde freikämpfen wollten zum größeren Ruhme der Nation. Senator, wem haben Sie damals Ihre Stimme gegeben?« Aber ich schreibe hier nicht die historische Geschichte jener Tage und Wochen. Ich werde auch in der Folge internationale Auswirkungen nur insoweit erwähnen, als sie zeigen, daß das Ereignis auf nationale Grenzen genauso wenig Rücksicht nahm wie Stans die Erde umkreisendes Schiff.
Die Bahn, die das Schiff beschrieb, stand fast senkrecht zum Äquator. Das Schiff flog nach Norden bis Nome und nach Süden bis zum Antarktischen Kontinent. Für jeden der riesigen Kreisbahnen brauchte es zwei Stunden. Wäre das Schiff mit optischen Instrumenten ausgerüstet gewesen, hätte Stan innerhalb von vierundzwanzig Stunden praktisch jeden Fleck der Erde beobachten können. Er hätte den Standort von Flotten feststellen können, Flugzeugträger, Truppenmanöver und andere militärische Operationen. In der Generalversammlung der Vereinten Nationen protestierte der russische Vertreter gegen diese illegale Verletzung der nationalen Grenzen seines Landes. Verklausuliert deutete er an, daß sein Land entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen würde, falls diese Verletzungen fortdauern würden. Die Weltmeinung schäumte daraufhin vor Unwillen und Entrüstung. Die UdSSR dementierte schnell. Das war kein militärischer Beobachter. Das war ein Mensch, der dem Tode ausgeliefert war, wenn ihn nicht bald Hilfe erreichte. Die ganze Welt erbot sich, zu helfen. Sogar die UdSSR gab bekannt, daß sie ein Rettungsschiff ausrüsten würde, da ihr Raketenprogramm ebenfalls abgeschlossen sei. Und das amerikanische Volk antwortete spontan mit mehr als einer Milliarde Dollar. Eine weitere Milliarde kam vom Kongreß. Tausende von Männern und Frauen meldeten sich freiwillig. Das Rennen begann. Würde die Rettungsexpedition das Schiff rechtzeitig erreichen? Die Welt hoffte und betete. Und sie lauschte täglich der Stimme eines Mannes, den sie aus den Fängen des Todes reißen wollte.
Das Problem stellte sich folgendermaßen dar: Der Flug war nur für einige wenige Tage geplant gewesen. Bei sorgfältiger Rationierung würden Nahrung und Wasser mehr als einen Monat reichen, aber der Sauerstoff – obwohl jegliche sauerstoffverbrauchende Tätigkeit auf das Notwendigste beschränkt werden würde – konnte auf allerhöchstens dreißig Tage gestreckt werden. Ich erinnere mich gut, wie ich die gewissenhaft und gründlich in allen Einzelheiten durchkalkulierten Aufstellungen in den Zeitungen gelesen und sie nach einem möglichen Rechenfehler durchsucht hatte. Aber ich fand keinen. Innerhalb weniger Stunden war die abgeworfene erste Stufe der Rakete im Atlantischen Ozean treibend aufgefunden worden. Sie wurde nach Cocoa zurückgeschleppt. Fast eine Woche verging, bis die zweite Stufe gefunden und auf das Prüfgelände zurückgebracht werden konnte. Beide Teile waren praktisch unbeschädigt – ihr Sturz war durch riesige Bandfallschirme gebremst worden. Sie konnten gereinigt, repariert und wieder verwendet werden. Das Hauptproblem war die dritte, die wichtigste Stufe – die Nase der Rakete. Eine neue und verbesserte mußte innerhalb eines Monats entworfen und gebaut werden. Weltraumwahnsinn wurde eine neue Spielart der Hysterie. Wir lasen Statistiken, studierten Diagramme, lernten unbedeutende Einzelheiten auswendig, ließen uns aufklären über die Risiken und Gefahren der Raumfahrt und wie man ihnen begegnen und sie überwinden wollte. Raumfahrt wurde ein Teil unse-
res Lebens. Wir verfolgten auf unseren Fernsehschirmen den langsamen Fortschritt des zweiten Schiffes, und schweigend und angespannt trieben wir den Bau mit unseren Wünschen und Gebeten voran. Das Leben der Welt wurde durch das um sie kreisende Schiff bestimmt. Die Arbeit des Tages wurde unterbrochen, wenn das Schiff über dem Horizont auftauchte, und die Leute eilten zu, den Fenstern oder auf die Straße, um vielleicht einen Blick auf das Schiff zu erhaschen – ein fernes Glitzern und Blinken in den Strahlen der Sonne. Das Schiff war so nah und doch wieder so unerreichbar. Und die Menschen lauschten der Stimme aus der Höhle der Nacht: »Ich schaue aus den zwei kleinen runden Fenstern meines Schiffes. Ich werde nicht müde, das zu tun. Zu meiner Rechten sehe ich einen schwarzen Samtvorhang mit einem starken Licht dahinter. In dem Vorhang sind winzige kleine Löcher, und das Licht scheint hindurch. Es ist kein fernes Flimmern, so wie wir es von den Sternen her kennen. Das Licht ist ruhig und stetig. Hier oben gibt es keine Luft. Das ist die Erklärung. Der Verstand kann es begreifen, und trotzdem legt er es falsch aus. Mein Sauerstoffvorrat hält besser als ich erwartete. Ich habe ausgerechnet, daß ich auf diese Weise noch siebenundzwanzig Tage aushalten kann. Ich sollte eigentlich noch mehr sparen und nicht so viel reden, aber wenn ich zu euch spreche, habe ich das Gefühl, daß ich noch immer mit der Erde verbunden bin, daß ich noch immer zu euch gehöre – auch wenn ich hier oben bin. Durch das linke Fenster sehe ich die Bucht von San
Francisco. Sie sieht aus wie ein tastender Arm des großen Pazifik. Die Stadt selbst gleicht einem Haufen Diamanten. Sie glitzert fröhlich zu mir herauf – ein alter Freund. Sie vermißt mich. Komm schnell nach Hause, sagt sie. Jetzt ist sie weg. Ich kann sie nicht mehr sehen. Hört ihr mich da unten? Manchmal zweifle ich daran. Ihr könnt mich jetzt nicht sehen. Ich bin im Erdschatten. Ihr müßt noch Stunden auf den Sonnenaufgang warten, ich werde ihn hier oben in ein paar Minuten erleben. Ihr seid sicher alle sehr beschäftigt. So wie ich euch kenne, macht ihr euch Sorgen über mich und arbeitet angestrengt, um mich herunterzuholen. Ihr wißt nicht, was das für ein Gefühl ist. Trotzdem hoffe ich, daß ihr es nie am eigenen Leibe erfahren müßt – so wundervoll es auch ist. Natürlich war es Pech, daß der Empfänger ausfiel. Aber auch wenn ich die Wahl zwischen Empfänger und Sender gehabt hätte, ich hätte mich für den Sender entschieden. Ich bin nur einer, aber ich habe Millionen, zu denen ich sprechen kann. Ich wünschte mir nur, ich könnte sicher sein, daß ihr mich auch wirklich hört. Allein das könnte mich vor dem Verrücktwerden retten.« Stan, wir hörten dich. Wir lasen und erfuhren alle Einzelheiten über dein Leben, deine Wahl zum Piloten des Schiffes, dein Training. Du warst unser Botschafter – von uns ausgewählt mit unserer größten Sorgfalt und unserer größten Geschicklichkeit. Von den tausend, die der ersten strengen Auslese entsprachen, nach Wissen, Intelligenz, körperlicher
und geistiger Verfassung und Alter, konnten sich nur fünf für den Weltraum qualifizieren. Du warst dabei. Sie durften nicht zu alt sein, zu jung, zu groß, zu dick. Medizinische und psychologische Tests siebten sie aus. Eine der Trainingshilfen – mein Gott, wie gut wir sie kennenlernten – imitiert die ungeheuren Beschleunigungskräfte beim Start einer Rakete. Eine andere trainiert die Männer, damit sie sich später in der Schwerelosigkeit des Raumes zurechtfinden und bewegen können. Eine dritte ahmt die beengten Verhältnisse einer Raumschiffkabine nach. Von den letzten fünf warst du der einzige, der die Tests bestand. Nein, Stan, wenn einer von uns bei klarem Verstande bleiben konnte – auch unter den schwierigsten Bedingungen –, dann warst du es. Tausende von Vorschlägen wurden gemacht, wie man Stan helfen könnte, fast alle davon völlig indiskutabel. Psychologen schlugen Selbsthypnosen vor, andere Yoga. Ein Mann sandte die detaillierte Skizze eines gigantischen Elektromagneten, der Stans Schiff zurück zur Erde ziehen sollte. General Finch hatte die einzige vernünftige Idee. Er skizzierte einen Plan, wie wir Stan wissen lassen konnten, daß wir ihn hörten. Seine Wahl fiel auf Kansas City. Er setzte die Zeit fest. »Mitternacht«, sagte er, »genau beim Glockenschlag. Keine Minute früher und keine Minute später. Um Mitternacht wird er genau über der Stadt sein.« Und um Mitternacht gingen in der Stadt die Lichter aus und wieder an und wieder aus und wieder an. Einige wenige bange Stunden vergingen, in denen wir uns zweifelnd fragten, ob der Mann da oben in
der Höhle der Nacht es auch gesehen hätte. Dann kam die Stimme, die, uns jetzt so vertraut war, als ob sie uns schon seit einer Ewigkeit begleitet hätte – im Wachen und im Träumen. Die Stimme war heiser vor Erregung: »Danke ... Danke, daß ihr mich gehört habt. Danke, Kansas City. Ich habe euch gesehen. Ich bin nicht allein. Jetzt weiß ich es. Ich werde es nie vergessen. Danke.« Und dann wieder das lange Schweigen, während das Schiff hinter den Horizont fiel. Wie oft haben wir es im Geist auf seiner Bahn begleitet. Wir fragten uns, ob es wohl jemals zur Ruhe kommen würde. Oder würde es wie der Mond für ewig ein ruheloser Trabant unserer Erde bleiben? Wir verrichteten unsere tägliche Arbeit wie Automaten, während wir zusahen, wie die dritte Stufe des neuen Schiffes allmählich Form annahm. Wir lieferten uns ein Wettrennen mit dem Tode, der versuchte, ein Schiff einzuholen, das mit fünfundzwanzigtausend Kilometer in der Stunde dahinraste. Wir sahen, wie das neue Schiff wuchs. Auf unseren Fernsehschirmen sahen wir der Konstruktion des zellenförmigen Treibstofftanks zu, dem Einbau der Motoren und der Montage des phantastischen Gewirrs der Pumpen, Schalter, Instrumente, Leitungen, Ventile und Röhren. Der Mannschaftsraum war jetzt geräumig genug, um fünf Personen statt einer aufzunehmen. Wir sahen, wie er Gestalt annahm – spartanisch schlicht inmitten einer großen Kompliziertheit, und uns war, als ob wir in wenigen Tagen selbst darin leben müßten.
Wir sahen, wie die stählerne Beplankung sich schützend um das leichtverletzliche Innere der Rakete legte. Die Flügel wurden montiert. Nachdem das Schiff seine Aufgabe erfüllt hatte, würden sie es bei seinem Rückflug zur Erde zu einem riesigen Metallgleiter machen. Die Mannschaft wurde uns gezeigt. Wir lernten sie durch und durch kennen, während wir sie beim Training beobachteten – wie sie gegen die künstliche Schwerkraft der Zentrifuge kämpften, ihre Raumanzüge testeten, sich mit dem Schiff vertraut machten. Dafür lebten wir. Nur dafür lebten wir. Und wir lauschten der Stimme, die zu uns kam aus der Höhle der Nacht: »Einundzwanzig Tage. Drei Wochen. Es scheint eine Ewigkeit zu sein. Ich fühle mich ziemlich schlapp, aber in der Enge eines Sarges kann man sich nicht gut in Form erhalten. Die Nahrungskonzentrate, die ich zu mir nehme, sind in Ordnung. Allerdings nicht auf die Dauer. Ich weiß nicht, was ich für ein Stück selbstgebackenen Apfelkuchen geben würde. Die Schwerelosigkeit hat mir zuerst ziemlich zu schaffen gemacht. Ich hatte ein Gefühl, als ob ich auf einer Kugel sitzen würde, die sich gleichzeitig nach allen Richtungen dreht. Ein paarmal habe ich mein Frühstück nachträglich opfern müssen, bis ich gelernt hatte, während des Essens stur auf einen Punkt zu starren. Solange man sich nicht umsieht, ist alles in Ordnung. Da unten liegt der Michigan See. Mein Gott, ist der heute blau. Blendet die Augen. Und da ist auch Milwaukee. Da unten muß es heute heiß sein. Hier oben ist es auch ein bißchen schwül, aber das ist kein W un-
der. Die Wasserabsorbierer sind bestimmt überlastet. Die Luft riecht komisch, aber das ist ja nicht weiter erstaunlich. Ich rieche sicher genauso komisch – nach einundzwanzig Tagen ohne Bad. Wie gut würde das jetzt tun. So viele Dinge habe ich bisher als selbstverständlich hingenommen, und jetzt wünsche ich sie mir plötzlich mehr als – Nein, darüber will ich nicht sprechen. Ich fühle mich gut. Ich weiß, ihr strengt euch an, um mich herunterzuholen. Und wenn ihr dabei vielleicht keinen Erfolg haben werdet, so grämt euch nicht. Mein Leben ist nicht vergeudet. Ich habe getan, was ich schon immer tun wollte. Ich würde es wieder tun. Zu dumm allerdings, daß wir nur das Geld für ein einziges Schiff hatten.« Und wieder: »Vor einer Stunde sah ich die Sonne über Rußland aufgehen. Von hier oben sieht es aus wie jedes andere Land – grün im Süden, weiter nach Norden eine Art Schlammfarbe und dann weiß, wo der Schnee der Arktis liegt. Hier oben fragt man sich, warum wir eigentlich so verschieden sind, warum wir uns so wenig verstehen, wo doch die Erde die gleiche ist. Wo wir doch alle Kinder der gleichen Mutter sind – der Erde. Wer sagt, daß wir verschieden sind? Ihr denkt vielleicht, ich bin verrückt. Vielleicht habt ihr recht. Es macht auch nichts aus, was ich sage, solange ich überhaupt etwas sage. Hat schon jemals ein anderer Mensch eine solche Zuhörerschaft gehabt?« Nein, Stan, noch nie. Die Stimme von oben fuhr fort: »Ich hoffe nur, die Meßinstrumente haben nichts
abbekommen. Ihr Rechenkünstler, ihr Reagenzglasjongleure! Findet ihr, was ihr sucht? Bekommt ihr Antwort auf eure vielen Fragen? Die kosmische Strahlung, die Dichte des Meteorstaubes, Wolkenbildungen, Windbewegungen? Hoffentlich funktionieren die automatischen Sender. Das ist viel wichtiger als meine Stimme.« Ich glaube nicht, Stan. Aber wir haben die Daten. Ein paar davon wurden bei der Konstruktion der neuen Schiffe schon verwendet. Ja, Schiffe – nicht Schiff, denn wir begnügen uns nicht mit einem. Neben dem Rettungsschiff besaßen wir jetzt zwei komplette Dreistufenraketen und ein knappes Dutzend Endstufen. Und wieder die Stimme: »Die Luft ist heute besonders schlecht. Ich kann nur noch mit Mühe atmen. Sie ist stickig und klebt in den Lungen. Aber er macht nichts. Ich wünschte, ihr hättet sehen können, was ich gesehen habe – die unendlichen Weiten des Universums, die glitzernde Pracht der Milchstraße, die sich um die Erde schmiegt wie der Schleier um eine Braut. Ihr würdet dann wissen, daß wir in diese Weiten gehören.« Wir wissen es, Stan. Jetzt wissen wir es. Du hast uns den Weg gezeigt. Heute kommt es mir vor, als ob damals die ganze Welt nichts anderes getan hatte, als Stans Stimme zu lauschen und den Bau des Schiffes zu verfolgen. Dann endlich wurde der Treibstoff in die Tanks gepumpt – Salpetersäure und Hydrazin. Vor einem Monat kannten wir noch nicht einmal ihre Namen, jetzt wußten wir – sie sind die eigentliche Substanz des Lebens.
Statistiker schätzten, daß an diesem Tage mehr als hundert Millionen Amerikaner vor ihren Fernsehempfängern saßen. Wie viele Menschen sonst noch auf der Welt, kann man nur erraten. Plötzlich wechselte das Bild und zeigte Stans Schiff, das über uns nach Süden floh. Die Kameraleute waren inzwischen Experten geworden in der Verfolgung ihres flüchtigen Objektes. Sie hatten es sofort im Sucher, das Bild war scharf, und wir konnten es sehen, bis es hinter dem Südhorizont verschwand. Das Schiff sah nicht anders aus als sonst. Aber die Stimme, die zu uns aus den Lautsprechern kam, hatte einen anderen Klang. Sie war heiser und manchmal nur undeutlich zu verstehen. Sie hustete oft und schnappte nach Luft. »Die Luft ist sehr schlecht. Beeilt euch! Ich halte es nicht mehr lange aus. Dumm von mir. Natürlich werdet ihr euch beeilen. Ich will nicht, daß mich jemand bedauert ... ich habe schnell gelebt ... dreißig Tage? Ich habe dreihundertsechzigmal die Sonne auf- und untergehen gesehen ... ich habe gesehen, was vor mir noch keiner erblickt hat. Ich war der erste. Das ist schon etwas. Dafür lohnt es sich ... zu sterben. Ich habe die Sterne gesehen, nackt und unverhüllt. Sie blicken kalt, aber ich weiß, sie spenden Wärme und Leben. Und sie haben Planetenfamilien wie unsere Sonne – einige wenigstens. Gott würde sie nicht nutzlos strahlen lassen. Sie können die neue Heimat zukünftiger Generationen werden. Oder, falls sie bewohnt sind, können wir mit ihren Bewohnern Handel treiben – Waren – Ideen ...
Aber – was noch mehr ist – ich habe die Erde gesehen. Ich habe sie gesehen wie keiner vor mir. Sie dreht sich unter mir – eine phantastische Kugel – die Meere wie blaues Glas in der Wolkengebirgen – und das Land grün und lebendig – und Sonne – oder aufgewühlt von Stürmen unter drohenden nachts die Städte der Welt, funkelnd wie Edelsteine. Ich habe die Erde gesehen. Meine Welt, wo ich gelebt und geliebt habe. Ich habe sie besser gekannt als jeder andere und sie mehr geliebt und ihre Kinder mehr geliebt ... es war schön. Lebt wohl! Ich habe ein größeres Grab, als der mächtigste Eroberer, den die Erde jemals trug ... Stört nicht ...« Wir weinten. Und wir schämten uns unserer Tränen nicht. Die Rettung war so nahe und doch so fern. Wir konnten nichts tun. Machtlos sahen wir zu, wie der Fahrstuhl die Mannschaft zu der Spitze der mächtigen Dreistufenrakete emportrug. Sie war so groß wie ein vierundzwanzigstöckiges Gebäude. Beeilt euch, drängten unsere Gedanken. Aber sie konnten sich nicht beeilen. Das Abfangen eines sich schnell bewegenden Zieles ist Präzisionsarbeit. Der Zeitpunkt des Starts war genauestens kalkuliert und dem Computer der Rakete eingespeist worden. Und das würde unbeeinflußt entscheiden. Ein letztes Mal wurde das Schiff überprüft. Die Zuschauer verließen die unmittelbare Umgebung des Startplatzes. Wir warteten. Das Schiff wartete. Es schien sich zu ducken. Jemand zählte laut die Sekunden vor einer atemlos lauschenden Welt: »Zehn – neun – acht ... fünf – vier – drei ... eins! Los!«
Das Schiff schien sich nicht zu rühren. Dann sahen wir, wie Feuerstrahlen aus den mehrere hundert Meter entfernten Öffnungen der Abgastunnel herausschossen. Einen Augenblick balancierte das Schiff unbeweglich auf einer kurzen Flammensäule. Die Säule streckte sich und wurde immer länger, das riesige Schiff wurde schneller und schneller und war schließlich nur noch ein winziger glänzender Punkt in der Weite des Himmels. Die Teleobjektive der Kameras fanden es, verloren es, fanden es wieder. Unmerklich neigte sich das Schiff und warf sich seewärts. Nach vierundachtzig Sekunden verloschen die Düsen, und unser Herzschlag setzte einen Augenblick lang aus. Dann sahen wir, daß die erste Stufe abgeworfen worden war. Das Schiff flog weiter, und erneut trug es einen feurigen Schweif. Ein ringförmiger Fallschirm erblühte aus der dritten Stufe und bremste deren Sturz. Die zweite Stufe fiel hundertvierundzwanzig Sekunden später. Die Endstufe mit ihrer menschlichen Fracht und der Rettungsausrüstung flog nun allein weiter. In einer Höhe von hundert Kilometern erlosch auch das Feuer ihrer Motoren. Mit Hilfe der ungeheuren Anfangsbeschleunigung würde sie jetzt den Hügel der Schwerkraft noch mehr als fünfzehnhundert Kilometer emporgleiten. Unsere Mägen krampfen sich zusammen, als endlich das Schiff hinter dem Sichtkreis der am weitesten entfernten Fernsehkamera verschwand. Um diese Zeit befand es sich schon über der andern Seite der Erde und raste dem sorgfältig errechneten Treffpunkt mit seinem Schwesterschiff entgegen.
Halt aus, Stan! Gib nicht auf! Sechsundfünfzig Minuten. So lange mußten wir warten. Sechsundfünfzig Minuten vom Start bis zum Erreichen der Kreisbahn. Danach würde noch einige Zeit vergehen, bis beide Schiffe ihre Ceschwindigkeit angeglichen hatten und ein Mann der Besatzung Stans Schiff erreichen konnte. Minuten würden verlorengehen, während der Retter sich an das Schiff anklammern und versuchen würde, hineinzugelangen. Wir warteten. Wir hofften. Sechsundfünfzig Minuten. Sie vergingen. Eine Stunde. Noch dreißig Minuten. Wir mußten uns immer wieder klar machen, daß es Aufgabe der Retter war, Stan herauszuholen, nicht aber, uns Berichte durchzugeben. Stunden konnten vergehen, bis wir etwas erfahren würden. Die Spannung wuchs ins Unerträgliche. Wir warteten – eine Nation – eine Welt. Es fehlten noch achtzehn Minuten an vollen zwei Stunden, als wir die Stimme von Kapitän Frank Pickrell hörten, der später der erste Kommandant der Raumstation werden sollte. »Ich habe gerade das Schiff betreten«, sagte er langsam. »Die Luftschleuse war offen.« Er machte eine Pause. Die Bedeutung seiner Worte ließ uns schwindeln, und wir lauschten stumm. »Leutnant McMillen ist tot. Er starb als Held. Er hatte ausgeharrt, bis es keine Hoffnung mehr gab, bis jeder Zeiger der Sauerstoffgeräte auf Null stand. Und dann – ja – die Schleuse stand offen, als ich ankam. Nach seinem eigenen Wunsch werden wir seinen Körper hier lassen. Dieses Schiff soll sein Grab sein,
damit alle Menschen es sehen können, wenn sie ihren Blick zu den Sternen erheben. Solange noch Menschen auf dieser Erde leben, wird es über ihnen kreisen zur ewigen Erinnerung daran, was Menschengeist erreicht hat und erreichen kann. Das war Leutnant McMillens Hoffnung. Was er tat, tat er nicht nur als Amerikaner, sondern als Mensch, als Sohn unser aller Mutter – der Erde. Er opferte sein Leben der ganzen Menschheit, und die ganze Menschheit kann stolz auf ihn sein. Von diesem Augenblick an soll dieses Schiff hier sein Grabmal sein, allen Generationen zukünftiger Raumfahrer heilig und unverletztlich. Dieses Schiff ist das Symbol, daß alle unsere Träume in Erfüllung gehen können, wenn auch manchmal der Preis hoch ist. Ich werde jetzt gehen. Meine Füße sollen die letzten sein, die dieses Schiff betreten haben. Mein Sauerstoff ist fast verbraucht. Leutnant McMillen sitzt in seinem Kontrollsessel, den Blick auf die Sterne gerichtet. Ich werde die Schleuse offen lassen, damit die kalten Arme des Weltraums ihn schützen und bewahren. Adieu. Stan! Schlaf gut!« Stan blieb nicht lange allein. Er war der erste, aber nicht der letzte, der ein Begräbnis im Raum und den Abschied eines Helden erhielt. Diese Geschichte hier ist – wie ich schon sagte – nicht die Geschichte der Eroberung des Weltraums. Jedes Kind kennt sie und kann die verschiedenen Raketentypen besser und schneller unterscheiden als ich. Die Geschichte der gemeinsamen Anstrengungen, die die Raumstation ermöglichten, wurde von anderen erzählt.
Wir haben schließlich den politischen Triumph erlebt, daß sie unter die Kontrolle der Vereinten Nationen gestellt wurde. Ihr Beitrag zu unserem täglichen Leben erhielt den Ehrenplatz des Selbstverständlichen. Sie ist zugleich Observatorium, Laboratorium und Wächter. Ungeahnte Entdeckungen wurden an diesem schwerelosen, luftlosen und wärmelosen Ort gemacht. Die Besatzung spürte den Geheimnissen der Entstehung des Wetters nach und lernte, es mit unglaublicher Genauigkeit vorauszusagen. Ungehemmt durch den Schleier der Atmosphäre können die Astronomen der Station die Sterne erforschen. Und die Station hat uns den Frieden geschenkt. Sie hat sich mehr als bezahlt gemacht. Keiner wird das bestreiten. Die Station und ihre kleineren Relaisstationen ermöglichten unser heutiges weltweites Fernseh- und Funknetz. Es gibt keinen Ort auf der Erde mehr, wo die Stimme der Freiheit nicht gehört werden kann. Wie würde die Welt jetzt aussehen, wenn es nicht so gekommen wäre? Und wir haben Abenteuer erlebt. Wir sitzen in unseren Sesseln und teilen die Erlebnisse unserer Pioniere. Mit der ersten Forschungsexpedition sind wir zu den toten Gipsmeeren des Mondes gereist. Noch dieses Jahr werden wir die Geheimnisse des Mars enträtseln. Heute hat die Welt eine gemeinsame Tradition, ein gemeinsames Ziel und ist – zum ersten Male in der menschlichen Geschichte – einig. Ich erwähne das nur, um es noch einmal hervorzuheben und es noch deutlicher zu machen. Kein Mensch wird leugnen können, daß die Eroberung des Weltraums eine Tat war, die der gesamten Mensch-
heit einen unschätzbaren Dienst erwiesen hat. Das alles wurde mir erst kürzlich wieder ins Gedächtnis zurückgerufen, und eine übermächtige Flut von Erinnerungen überschwemmte mich. Ich bummelte über den Times Square in New York, jenen Platz, wo jedes Gesicht, das man sieht, das eines Fremden ist, als ich plötzlich ungläubig stehen blieb. »Stan!« rief ich aus. Der Mann beachtete mich nicht. Er ging an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich drehte mich um und starrte ihm nach. Ich fing an zu laufen und erwischte ihn am Ärmel. »Stan«, sagte ich heiser und zog ihn zu mir. »bist du es wirklich?« Der Mann lächelte höflich. »Sie müssen mich verwechseln.« Mühelos löste er meine verkrampften Finger von seinem Arm und ging weiter. Erst jetzt bemerkte ich, daß er in Begleitung von zwei Männern war. Ich fühlte, wie sie mich musterten und sich mein Gesicht einprägten. Vermutlich bedeutete es gar nichts. Wir haben alle unsere Doppelgänger. Vielleicht war es wirklich nur eine Verwechslung. Aber ich rief mir die Vergangenheit ins Gedächtnis zurück und begann nachzudenken. Das Haupthindernis, das die Raketenleute zu überwinden hatten, lag auf der Erde. Es waren die ungeheuren Kosten eines solchen Projektes. Das zweite Problem war das Gewicht der zu transportierenden Nutzlast. Selbst ein mittelgroßer Mann ist übermäßig schwer, wenn es gilt, ihn mit einer Rakete hochzuschießen. Und Vorräte und Ausrüstung, die für sein Überleben unbedingt notwendig sind, fallen noch mehr ins Gewicht.
Wenn Stan lebend davongekommen war, warum hatten sie es uns nicht gesagt? Aber ich wußte, die Fragestellung war verkehrt. Wenn meine Überlegungen richtig waren, dann war Stan nie oben gewesen. Die wirkliche Nutzlast der Rakete hatte aus einer Dreißig-TageBandaufnahme und einem Sender bestanden. Wenn auch die enorme Leistung, eine bemannte Rakete zu starten, ihre Geldmittel überstieg, soviel wenigstens hatten sie fertiggebracht. Dann bekamen sie das Geld. Ich nehme an, daß die von der Rakete automatisch gesendeten Meßergebnisse eine große Hilfe gewesen waren. Trotzdem – was sie in jenen dreißig Tagen vollbracht hatten, grenzt an ein Wunder. Die Herstellung der Bandaufnahme muß Monate in Anspruch genommen haben. Aber der wichtigste Punkt des Unternehmens war absolute Verschwiegenheit. General Finch mußte Bescheid wissen und Kapitän – jetzt Oberst – Pickrell. Und noch ein paar andere – Techniker, Beamte – und Stan. Was konnten sie später mit ihm anfangen? Ihn verkleiden. Und ihn dann in der größten Stadt der Welt verstecken. Das würden sie bestimmt getan haben. Ich hatte ein unbeschreibliches Gefühl, als ich darüber nachdachte. Kein Mensch kann es leiden, wenn er für dumm verkauft wird. Ich auch nicht. Und das hier war ein Betrug, dem die ganze Menschheit aufgesessen war. Und trotzdem – er hatte uns die Planeten erschlossen. Viel leicht würde er uns bald zu den Sternen führen. Wie hätten sie es anders machen sollen? Ich rede mir vergeblich ein, daß ich mich geirrt ha-
ben müßte. Dieser Mythos ist inzwischen ein Teil von uns geworden. Wir erlebten ihn. Wir halfen bei seiner Entstehung. Einmal, so sage ich mir, wird ein Raumfahrer, dessen Verehrung größer ist als Gehorsam und ehrfürchtige Scheu, eine Wallfahrt zu Stans dahinrasendem Grabmal machen und nur ein leeres Gehäuse finden. Ich schaudere bei diesem Gedanken. Das hat uns zusammengebracht. In gewissem Sinne hält es uns noch immer zusammen. Nichts ist wichtiger als das. Aber vielleicht habe ich mich doch nicht geirrt. Das glatte schwarze Haar war jetzt kürzer geschnitten und an den Schläfen ergraut. Der Schnurrbart war weg. Und die Clark Gable-Ohren lagen flach am Kopf. Doch – soviel ich weiß – ist das eine einfache Operation. Aber ein Lächeln läßt sich schwer ändern. Und keiner, der diese dreißig Tage durchlebt hat wird je diese Stimme vergessen. Ich grüble über Stan nach. Was für ein Leben wird er jetzt führen? Und was ist mit diesen Dingen, die er so sehr liebte und die er jetzt nicht mehr genießen kann. Und ich erkenne, daß er vielleicht das größte Opfer gebracht hat. Manchmal, so denke ich, müßte er sich wünschen, wirklich in der Höhle der Nacht zu sein und in jenem eisigen Kontrollsessel zu sitzen – siebzehnhundert Kilometer über der Erde – und mit blicklosen Augen die Sterne anzustarren. Originaltitel: THE CAVE OF NIGHT Copyright © 1955 by Galaxy Publishing Corp. Übersetzt von Lothar Heinecke