So blitzschnell nahmen die Maschinen das Kurierschiff, daß niemand auch nur an Widerstand denken konnte; allerdings töt...
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So blitzschnell nahmen die Maschinen das Kurierschiff, daß niemand auch nur an Widerstand denken konnte; allerdings töteten sie zunächst keinen von der Besatzung. Sie rissen den Antrieb aus einem der Rettungsboote und trieben Holt, seine Leute und die ehemaligen Gefangenen in das Fahrzeug. »Das war kein Berserker auf dem Schirm, bestimmt nicht«, sagte der Zweite Offizier immer wieder zu Holt. »Ich weiß, daß es nicht so aussah«, antwortete Holt. »Wahrscheinlich legen sich die Berserker jetzt neue Formen zu und bauen neue Waffen. Nach Stone Place ist das nur logisch. Das einzig Seltsame daran ist, daß niemand es vorhergesehen hat.« Eine Luke flog auf. Zwei annähernd menschenförmige Maschinen kamen ins Boot und stiegen zwischen den neun zusammengedrängten Menschen hindurch, bis sie vor dem standen, den sie suchten. »Nein, er kann nicht sprechen!« schrie Lucinda. »Ihn dürfen Sie nicht nehmen!« Aber die Maschinen konnten oder wollten nicht auf sie hören. Sie rissen Janda hoch und führten ihn hinaus ... BERSERKER von Fred Saberhagen und sechs weitere Science-Fiction-Stories bekannter Autoren.
In der Reihe der Ullstein Bücher: SCIENCE-FICTION-STORIES Band 1 bis Band 53 SCIENCE-FICTION-STORIES 54 (Ullstein Buch 3187) Erzählungen von Brian W. Aldiss, Fred Saberhagen, Katherine McLean. Terry Carr, H. H. Hollis SCIENCE-FICTION-STORIES 55 (Ullstein Buch 3195) Erzählungen von Tom Purdon, Ben Bova und Myron, R. Lewis, Christopher Anvil, William F. Temple, Edward Jesby, C. C. McApp, Josef Nesvadba, John Brunner, Robert Lory SCIENCE-FICTION-STORIES 56 (Ullstein Buch 3202) Drei Erzählungen von Lewis Padgett SCIENCE-FICTION-STORIES 57 (Ullstein Buch 3212) Zwei Erzählungen von Henry Kuttner und Lewis Padgett SCIENCE-FICTION-STORIES 58 (Ullstein Buch 3222) Stories von John Brunner, Harlan Ellison, H. H. Hollis und Doris Piserchia SCIENCE-FICTION-STORIES 59 (Ullstein Buch 3235) Drei Erzählungen von H. Beam Piper SCIENCE-FICTION-STORIES 60 (Ullstein Buch 3250) Stories von Larry Niven, Clifford D. Simak, James H. Schmitz, David I. Masson, Jonathan Brand, R. A. Lafferty, Ron Goulart
Ullstein Buch Nr. 3260 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen von Dolf Strasser Umschlagillustration: ACE Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Alle Stories aus WORLD'S BEST SCIENCE FICTION: 1966 Copyright © 1966 by Donald A. Wollheim und Terry Carr Übersetzung © 1976 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1976 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-03260-5 ClP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Science-fiction-stories / hrsg. von Walter Spiegl. – Frankfurt/M., Berlin. Wien: Ullstein. NE: Spiegl, Walter [Hrsg.] 61. Von Vernor Vinge ... – 1976. (Ullstein-Bücher: Nr. 3260: Ullstein 2000) ISBN 3-548-03260-5 NE: Vinge. Vernor [Mitarb.]
Science-FictionStories 61 von Vernor Vinge Harlan Ellison Joseph Green Lin Carter Fred Saberhagen Christopher Anvil Fritz Leiber Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Apartheid Vernor Vinge ......................................................
6
»Bereue, Harlekin!« sagte der Tick-Tack-Mann Harlan Ellison .................................................... 36 Die Entscheider Joseph Green ......................................................
55
Ungesammelte Werke Lin Carter ............................................................
93
Berserker Fred Saberhagen ................................................ 110 Der gefangene Zauberer Christopher Anvil .............................................. 143 Gute neue Zeit Fritz Leiber ......................................................... 174
Vernor Vinge APARTHEID »... Aber er hat ein Licht gesehen. An der Küste. Verstehen Sie denn nicht, was das heißt?« Diego Ribera y Rodrigues beugte sich über den kleinen hölzernen Schreibtisch nach vorn, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Sein Widerpart saß im Schatten und mied den schwachen Schein der an der Decke hängenden Walöllampe. Nun, da in ihrer Auseinandersetzung eine kleine Pause eingetreten war, konnte Diego den Wind durch Masten und Takelage pfeifen hören. Das regelmäßige Überholen des Decks und das langsame Schwingen der baumelnden Lampe wurde ihm jetzt plötzlich schmerzvoll bewußt. Aber er starrte weiter auf sein Gegenüber und wartete auf eine Antwort. Endlich neigte Kapitän Manuel Delgado seinen Kopf aus dem Schatten. Er lächelte maliziös. Sein schmales Gesicht und der schwarze Schnurrbart gaben ihm das Aussehen dessen, was er war: Eines Mannes mit Macht – politischer, militärischer und persönlicher Macht und Gewalt. »Es bedeutet«, antwortete Delgado, »Menschen. Und weiter?« »Genau. Menschen. Auf der Palmer-Halbinsel. Der Antarktische Kontinent ist bewohnt. Die Vorstellung, Menschen in Europa vorzufinden, ist um kein Jota phantastischer ...« »Mire, Señor Professor. Die Bedeutung dessen, was Sie da sagen, ist mir einigermaßen klar.« Wieder verzog sich sein Mund zu diesem Lächeln. »Aber die Vi-
gilancia ...« Diego versuchte es noch einmal. »Wir müssen unter allen Umständen landen und diesem Licht nachgehen. Denken Sie doch an die wissenschaftliche Bedeutung der ganzen Sache ...« Doch da hatte der Anthropologe das Falsche gesagt. Delgados zynische Gleichgültigkeit schwand, und sein junges und doch von Erfahrung geprägtes Gesicht wurde hart. »Wissenschaftliche Bedeutung! Ihre schleimigen australischen Freunde könnten uns alles jemals erlangte Wissen zuteil werden lassen, wenn sie nur wollten. Statt dessen lassen sie ihre Sympathisanten« – sein Zeigefinger fuhr auf Ribera los – »in der ganzen Südwelt herumfahren und ›Forschungen‹ anstellen, die man schon vor zweihundert Jahren durchgeführt hat, aber zehnmal so gut. Nicht einmal für sich selbst verwenden die Schweine ihr Wissen.« Das war die stärkste Mißbilligung, die Delgado aussprechen konnte. Ribera verbiß sich mit Mühe eine scharfe Entgegnung, aber ein Fehler an diesem Abend war mehr als genug. Delgados Erbitterung gegenüber einer Nation, die klug (oder glücklich) genug gewesen war, ihre Bibliotheken nach den dem Nordwelt-Krieg folgenden Unruhen nicht zu verbrennen, konnte er verstehen, wenn er sie auch nicht teilte. Gut, die Australier besitzen das Wissen, dachte Ribera, aber sie sind auch klug genug, um einzusehen, daß die menschliche Gesellschaft grundlegender Veränderungen bedarf, ehe ihr dieses Wissen wieder zugänglich gemacht werden kann. Sonst kommt es zu einem Südwelt-Krieg, der das Ende der menschlichen Rasse bedeuten würde. Dies war ein Faktum, das zu akzeptieren Delgado und viele andere
sich weigerten. »Aber Señor Capitán, wir führen doch wirklich eigene Forschungen durch. Meeresströmungen und Bevölkerungsziffern ändern sich mit der Zeit. Unsere Daten unterscheiden sich oft wesentlich von den früher festgestellten. Dieses Licht, das Juarez heute gesehen hat, ist der eindeutigste Beweis dafür, daß sich die Dinge verändert haben.« Und für Diego Ribera war dies besonders wichtig. Ihm als Anthropologen blieb während der ganzen Seereise nichts anderes zu tun, als seekrank zu werden. Tausendmal hatte er sich gefragt, warum gerade er die Ökologen und Ozeanographen auf dieses Schiff geholt hatte. Jetzt wußte er es. Wenn er nur diesen verbohrten Seemann hätte überzeugen können ... Delgado wirkte jetzt wieder entspannter. »Überdies, Señor Professor, dürfen Sie nicht vergessen, daß Ihr ›Wissenschaftler‹ auf dieser Expedition wirklich überflüssig seid. Sie können von Glück reden, daß Sie überhaupt an Bord kamen.« Das stimmte. El Presidente Imperial war Wissenschaftlern der Melbourner Schule noch feindlicher gesinnt als Delgado. Ribera dachte nicht gern an die Stiefelleckerei und all die Schikanen, die er hatte auf sich nehmen müssen, um die Teilnahme seiner Leute an dieser Expedition sicherzustellen. Die Antwort des Anthropologen auf die letzten Worte des anderen begannen respektvoll, fast demütig. »Ja, ich weiß, daß Ihre Tätigkeit hier von größter Bedeutung ist.« Er verstummte. Zum Teufel damit, dachte er, plötzlich angewidert von seiner eigenen Beflissenheit. Dieser Narr hört weder auf logische Argumente noch auf Schmeicheleien. »Oh ja«, sagte Ribera mit verändertem Ton, »ich weiß, daß Ihre Tätigkeit hier von größter Be-
deutung ist. Irgendwo in Buenos Aires blickte der Chefastrologe des Presidente Imperial in seine Kristallkugel oder sonst was und sagte mit Grabesstimme zu Alfredo IV: ›Señor Presidente, die Sterne haben gesprochen. Alle Geheimnisse von Freude und Reichtum liegen auf der schwimmenden Insel Coney verborgen. Senden Sie Ihre Männer südwärts, damit sie sie suchen.‹ Und so treiben Sie, die Vigilancia NdP und die Hälfte aller geistig Defekten Südamerikas sich an der Küste von Antarktika herum und wollen Coney Island finden.« Ribera ging gleichzeitig der Atem und das satirische Feuer aus. Er wußte: Eben hatte sein lange in Zaum gehaltenes Temperament all seine Pläne zunichte gemacht – vielleicht sogar sein Leben in Gefahr gebracht. Delgados Miene war erstarrt. Sein flackernder Blick ging über Riberas Schulter hinweg zu einem Spiegel, der strategisch günstig über der Kabinentür angebracht war. Dann sah er wieder den Anthropologen an. »Wenn ich nicht ein so vernünftiger Mann wäre, wären Sie Hackfleisch, bevor noch der Tag graut.« Er lächelte, und es sah freundlich und aufrichtig aus. »Außerdem haben Sie recht. Diese Narren in Buenos Aires sind nicht einmal in der Lage, einen Stall voll Schweine in Ordnung zu halten, geschweige denn das Südamerikanische Empire. Alfredo I war ein Mann, ein Supermann. Bevor die Kriegsseuchen erloschen waren hatte er einen ganzen Kontinent unter seiner Faust vereinigt einen Kontinent, den niemand hatte vereinigen können, auch nicht mit Düsenflugzeugen und automatischen Waffen. Aber seine Erben, besonders der, der jetzt gerade dran ist, sind abergläubische Trottel ... Das ist offen gesagt der Grund,
warum ich nicht an der Küste landen kann. Wenn wir wieder in Buenos Aires sind, würde der ImperiumsAstrologe, dieser Jones y Urrutia, behaupten, ich hätte Ihren australischen Sympathisanten nachgegeben. Und El Presidente würde ihm glauben. Für mich würde das wahrscheinlich die Fahrkarte in die Nördliche Hemisphäre bedeuten.« Ribera schwieg einen Augenblick und versuchte, Delgados plötzliche Freundlichkeit zu verdauen. Schließlich meinte er: »Ich hätte gedacht, Sie mögen die Astrologen, uns Wissenschaftler haben Sie doch wahrhaftig dick genug.« »Sie benutzen Etiketten, Ribera. Ich halte gar nichts von Etiketten. Mich überzeugt nur der Erfolg; Scheitern verachte ich. Vielleicht hatte es einmal eine Zeit gegeben, wo Leute, die sich Astrologen nannten, Ergebnisse vorweisen konnten. Ich weiß es nicht. Und die Sache interessiert mich auch nicht, denn ich lebe in der Gegenwart. In unserer Zeit sind die Leute, die im Namen der Astrologie arbeiten, nicht in der Lage, etwas Vernünftiges anzubieten; sie sind Lügner und Betrüger. Aber bilden Sie sich nicht zu viel ein: Ihre eigenen Leute können verdammt wenig Greifbares auftischen. Und wenn sich bei den Astrologen jemals Erfolge einstellen sollten, dann werde ich mich ohne Zögern auf ihre Seite schlagen und Ihre wissenschaftliche Methode als Aberglauben anprangern – denn das und nichts anderes wäre sie gegenüber einer erfolgreicheren Methode.« Der Pragmatiker par excellence, dachte Ribera. Zumindest gibt es eine Art der Überredung, die wirken kann. »Ich verstehe, Señor Capitán. Und was den Erfolg anbelangt: Es gibt eine Möglichkeit, wie Sie ungestraft
landen können. Im Lauf der Jahrhunderte kann sich viel ereignen.« Und halb im Flüsterton fuhr er fort: »Was dermaleinst eine schwimmende Insel war, könnte am Grunde des Kontinents gestrandet sein. Wenn man die Astrologen von diesem Gedanken überzeugen könnte ...« Er ließ den Satz unvollendet. Delgado überlegte, aber nicht lange. »Tatsächlich! Das ist eine Idee. Und ich persönlich möchte wirklich wissen, welche Art von Kreatur diesen Eiskasten dem Rest der Südwelt vorzieht. Also gut, ich will's versuchen. Gehen Sie jetzt. Das Ganze muß aussehen, als sei es einzig und allein die Idee der Astrologen. Wenn ich mit ihnen spreche, gefährdet Ihr Beisein nur die Täuschung.« Ribera erhob sich von seinem Stuhl, aus dem Gleichgewicht gebracht durch das Rollen des Decks und seine abrupte Entlassung. Delgado war ohne Zweifel der ungewöhnlichste südamerikanische Offizier, dem Ribera jemals begegnet war. »Muchisimas gracias, Señor Capitán.« Er drehte sich um und ging schwankend zur Tür hinaus, vorbei an dem Sturmlicht beim Eingang, hinaus in die sturmdurchtoste Finsternis der kurzen antarktischen Nacht. Den Astrologen gefiel die Idee in der Tat. Um zwei Uhr dreißig morgens (unmittelbar nach Sonnenaufgang) änderte die Vigilancia, Nave del Presidente ihren Kurs und hielt auf den Abschnitt der Küste zu, wo das Licht gesichtet worden war. Knapp sechs Stunden nach Sonnenaufgang waren die Landungsboote im Wasser und unterwegs zur Küste. In seinem Eifer war Diego Ribera y Rodrigues in
das Boot, das als erstes zu Wasser gelassen werden sollte, geklettert, ohne zu bemerken, daß die Imperiums-Astrologen von ihrem bevorrechtigten Status Gebrauch gemacht hatten, um das Führungsschiff zu kommandieren. Es war ein klarer Tag, aber der Wind machte die See rauh und sprühte kaltes Salzwasser über die Männer im Boot. Das Schiffchen stieg und fiel, stieg und fiel mit einer Monotonie, die Ribera bald seekrank machen würde. »Ah, Sie nehmen also endlich Anteil an unseren Bemühungen«, unterbrach eine dünne Stimme seine Gedanken. Ribera wandte sich um und erkannte Juan Jones y Urrutia, Unterassistent des Chef-Astrologen des Presidente Imperial. Offenkundig glaubte der junge Fant tatsächlich an die Geschichten von Coney Island, sonst wäre er mit den anderen Hedonisten an Alfredos Hof in Buenos Aires geblieben. Neben dem Astrologen saß Capitán Delgado. Der gute Kapitän mußte ein wahres Meisterwerk der Überredungskunst vollbracht haben, denn Jones schien die Idee der Landung ganz und gar als seinen eigenen Einfall zu betrachten. Ribera mühte sich um ein Lächeln. »Ja doch, äh ...« Jones ließ nicht locker. »Sagen Sie: Hätten Sie, der Sie es nicht für möglich halten, den Hort der Wahrheit um Rat zu befragen, je angenommen, daß es hier Leben gibt?« Ribera stöhnte. Er bemerkte, wie Delgado lächelnd sein Unbehagen beobachtete. Wenn das Boot noch einmal so hoch stieg und dann abkippte, würde er schreien, dachte Ribera; es geschah, und er schrie nicht. »Darauf wären wir, glaube ich, nicht gekommen,
nein.« Ribera rutschte zur Seite weg und verwünschte sich, weil er so übereifrig im ersten Boot hatte sein müssen. Sein Auge schweifte über den Horizont, blickte irgendwohin, um dem leeren, selbstgefälligen Ausdruck auf Jones' Gesicht zu entgehen. Die Küste war grau, düster und mit Felsbrocken bedeckt. Wo sie nicht weißer Schaum waren, schienen die Brecher, die sich auf sie warfen, schwachgelb oder -rot zu sein – wahrscheinlich von den Algen im Wasser; die Ökologen würden das wissen. »Rauch voraus!« Dünn kam der Ruf vom zweiten Boot herüber. Blinzelnd starrte Ribera zur Küste hinüber. Da! Kaum noch als Rauch erkennbar, erhob sich etwas wie vom Winde verwehter Dunst von irgendwoher hinter den niedrigen Küstenhügeln. Und wenn es ein nicht erloschener Vulkan war? Der bedrückende Gedanke war ihm bis dahin noch nicht gekommen. Den Geologen würde das Spaß machen, für ihn selbst aber eine ziemliche Katastrophe bedeuten ... Jedenfalls, in ein paar Minuten würden sie mehr wissen. Capitán Delgado analysierte die Situation, rief den Ruderern ein paar kurze Kommandos zu, und das Boot bog im Neunzig-Grad-Winkel ab, um sich im Abstand von fünfhundert Metern parallel zur Küste und den Brechern zu bewegen. Die anderen Boote folgten dem Manöver. Alsbald ging die Küste in scharfem Knick nach innen, und man sah einen langen, schmalen Einlaß. Die Vigilancia mußte am Tag zuvor genau in der Fluchtlinie des Kanals gewesen sein, sonst hätte Juarez das Licht nicht sehen können. Die drei Boote fuhren in
den schmalen Kanal ein. Der Wind legte sich bald. Nur über die Kämme der Hügel, die den Kanal zu beiden Seiten säumten, konnte man ihn jetzt pfeifen hören. Die Wellen waren weit niedriger, und das eisige Wasser spritzte nicht mehr ins Boot, obwohl die Parkas der Männer schon salzüberkrustet waren. Vorher hatte das Wasser gelblich gewirkt; jetzt schien es orange, ja rot zu sein, vor allem weiter landeinwärts. Die leuchtende Farbe der Bakterien stand im scharfen Kontrast zur stumpfen Farbe der Hügel, auf denen keine Spur von Vegetation zu erkennen war. Statt Pflanzen bedeckten graue Felsblöcke verschiedener Größe die Landschaft. Nirgends war Schnee; er würde erst im Winter kommen – in fünf Monaten. Auf Ribera aber wirkte diese »Sommer«-Landschaft viel unwirtlicher als die düsterste Winterszene in Südamerika. Rotes Wasser, graue Hügel. Das einzige, was halbwegs normal zu sein schien, war der strahlend blaue Himmel und die Sonne, die lange Schatten in ein ertrunkenes Tal warf; eine Sonne, die ständig aussah, als wolle sie sogleich untergehen, obwohl sie gerade erst aufgegangen war. Riberas Blick wanderte weiter den Kanal hinauf. Er vergaß die Seekrankheit, das blutige Wasser, das tote Land. Er konnte sie sehen. Keinen unbestimmten Schimmer in der Nacht, sondern Menschen! Er konnte ihre Hütten sehen, die anscheinend aus Stein und Fellen gebaut und zum Teil in den Boden versenkt waren. Vor einem kleinen Dorf sah er Dinge liegen, die wie lederne Boote oder Kajaks wirkten, und daneben ein größeres, weißes Boot (was das wohl sein mochte?). Er konnte Menschen sehen! Nicht ihren Gesichtsausdruck oder die Art, wie sie
gekleidet waren, aber er konnte sie sehen, und das war genug für den Augenblick. Hier war etwas wirklich Neues – etwas, was die lange verstorbenen Gelehrten von Oxford, Cambridge und Los Angeles niemals gewußt hatten, niemals hatten wissen können. Hier war etwas, was der Menschheit zum ersten Male unter die Augen kam, und nicht zum zweiten, dritten oder vierten Mal! Was brachte diese Leute hierher? fragte sich Ribera. Aus den paar Büchern über Polar-Kulturen, die er in der Universität von Melbourne gelesen hatte, wußte er, daß Menschen im allgemeinen vor angreifenden fremden Völkern in die Polarregion zurückweichen. Welche Kräfte bestimmten diese Wanderung? Wer waren diese Leute? Auf dem ruhigen Wasser kamen die Boote rasch voran. Bald spürte Ribera, wie sie auf Grund liefen. Er und Delgado sprangen in das rote Wasser hinaus und halfen den Ruderern, das Boot an Land zu ziehen. Ribera wartete ungeduldig auf die zwei anderen Boote mit den Wissenschaftlern. In der Zwischenzeit galt seine ganze Aufmerksamkeit den Eingeborenen; er versuchte, jede Einzelheit ihres Lebens sofort in sich aufzunehmen. Keiner der Eingeborenen bewegte sich; keiner lief; keiner griff an. Sie blieben stehen, wo sie schon waren, als sie sie zum erstenmal sahen. Sie hatten keine Waffen und nahmen auch keine drohende Haltung ein, doch hatte Ribera das Gefühl, daß sie ihnen nicht freundlich gesinnt waren. Kein Lächeln, keine Geste des Willkommens. Sie schienen ein stolzes Volk zu sein. Die Erwachsenen waren groß, ihre Gesichter so gebräunt, beschmutzt und verwittert, daß der An-
thropologe bezüglich ihrer Rasse nur Vermutungen anstellen konnte. Die Stellung ihrer Lippen zeigte ihm an, daß die meisten von ihnen zahnlos waren. Die Kinder versteckten sich hinter den Beinen ihrer Mütter – die Frauen wirkten so alt, als wären sie ihre Großmütter. Wären sie Südamerikanerinnen gewesen, er hätte ihr durchschnittliches Alter auf sechzig oder siebzig geschätzt. Aber er wußte, daß sie nicht älter als zwanzig bis fünfundzwanzig sein konnten. Am Fettgewebe ihrer Gesichter glaubte Ribera, Anzeichen auf Kälteanpassung entdecken zu können; vielleicht waren sie Eskimos, obgleich es nicht denkbar war, daß diese Rasse von einem Pol zum anderen gewandert sein konnte, während der Nordwelt-Krieg wütete. Sowohl ihre Parkas als auch die Kajaks schienen aus Seehundhaut zu bestehen. Aber die Parkas paßten schlecht und waren viel sackartiger als die Eskimo-Kleidungsstücke, die er auf Bildern gesehen hatte. Und die Harpunen in ihren Händen waren weit weniger hoch entwickelt als die auf den Zeichnungen, die er in Erinnerung hatte. Wenn diese Leute zu der vermutlich ausgestorbenen Eskimo-Rasse gehörten, dann waren sie ein außerordentlich primitiver Zweig davon. Überdies waren sie viel zu behaart, um vollblütige Indianer oder Eskimos zu sein. Ohne besonders darauf zu achten, bemerkte er, wie die Astrologen das Dorf betrachteten und sich dann wieder etwas anderem zuwandten. Was sie suchten, war die Insel Coney, nicht ein paar stinkende Eingeborene. Ribera lächelte bitter; er fragte sich, wie Jones reagieren wurde, falls er erfuhr, daß Coney Island ein Amüsierpark gewesen war. Nach dem NordweltKrieg waren viele Legenden entstanden, und die über
Coney Island war eine der verrücktesten. Jones führte seine Männer auf einen der nahegelegenen Hügel, offensichtlich damit sie sich einen besseren Blick über die Gegend verschaffen konnten. Capitán Delgado kommandierte hastig zwölf Mannschaften zu ihrer Begleitung ab. Der gute Seemann war sich zweifellos darüber im klaren, in welcher Lage er sich befinden würde, wenn irgendeiner der Astrologen verlorenginge. Riberas Gedanken kreisten von neuem um dieses Rätsel: Woher stammten diese Leute? Wie waren sie hierhergelangt? Vielleicht war das der richtige Ausgangspunkt für seine Überlegungen: Menschen wachsen nicht einfach aus dem Boden. Die jämmerlichen Kajaks – es waren keine richtigen Kajaks; sie umschlossen nicht den Unterkörper des Benützers – konnten einen Menschen wohl keine zehn Kilometer über offenes Wasser bringen. Was war mit diesem großen weißen Boot weiter landeinwärts? Es schien viel solider gebaut zu sein als die Kajaks aus Fell und Knochen. Er schaute genauer hin – möglicherweise bestand es sogar aus Fiberglas, einem vor dem Krieg benützten Material. Vielleicht sollte er es sich doch noch genauer ansehen. Ein Ruf ertönte. Ribera wandte sich um. Das zweite Landungsboot mit dem größeren Teil der Wissenschaftler war auf den felsigen Grund gelaufen. Er rannte zu den Männern, die ihm entstiegen, teilte ihnen das Wesentliche seiner Beobachtungen mit. Dann bat er Enrique Cordona und Ari Juarez – beides Ökologen –, ihn zu einem Gespräch mit den Eingeborenen zu begleiten. Die drei Männer näherten sich der größten der Gruppen, die sie mit steinerner Miene
beobachtete. Einige Schritte vor den stumm verharrenden Männern blieben die Südamerikaner stehen. Ribera hob mit einer Gebärde des Friedens die Hände. »Meine Freunde, dürfen wir einen Blick auf euer schönes Boot dort drüben werfen? Wir werden es nicht berühren.« Es gab keine Antwort, obwohl Ribera glaubte, bei den Eingeborenen zunehmende Anspannung wahrnehmen zu können. Er versuchte es von neuem – stellte seine Frage auf Portugiesisch, dann auf Englisch. Cardona machte einen Anlauf in Zulunder, Juarez in gebrochenem Französisch. Noch immer regte sich nichts, doch schienen die Harpunen zu zittern, und Hände bewegten sich kaum wahrnehmbar auf Knochenmesser zu. »Dann zum Teufel mit ihnen«, knurrte Cardona schließlich. »Kommen Sie, Diego, schauen wir es uns an.« Der etwas cholerische Ökologe drehte sich auf dem Absatz um und ging auf das mysteriöse weiße Boot zu. Diesesmal war die feindliche Reaktion unübersehbar. Harpunen hoben sich, Messer wurden gezogen. »Warten Sie, Enrique«, sagte Ribera mit Nachdruck. Cardona blieb stehen. Wäre der Ökologe noch einen Schritt weiter gegangen, er wäre von Spießen durchbohrt worden – dessen war Ribera sicher. »Warten Sie«, fuhr Diego Ribera y Rodrigues fort. »Wir haben genügend Zeit. Außerdem wäre es absolut unvernünftig, die Sache zu überstürzen.« Er deutete auf die Waffen der Eingeborenen. Cardona schien sie erst jetzt zu bemerken. »Meinetwegen. Tun wir ihnen erst mal schön.« In den Harpunen schien er mehr eine Unannehmlichkeit denn eine Bedrohung zu sehen. Die drei Männer
schritten zum Rückzug. Ribera sah, daß Delgados Männer ihre Pistolen halb gezogen hatten. Die Expedition war gerade noch an einem Blutbad vorbeigekommen. Die Wissenschaftler würden sich mit einer oberflächlichen Inspektion des Dorfes begnügen müssen. In gewisser Weise war das angenehmer als eine direkte Untersuchung, denn der Boden um die Hütten herum war mit Schmutz und Abfällen bedeckt. In einem Jahrhundert würde sich Humus daraus gebildet haben. Etwa zehn Minuten später machten sich die männlichen Erwachsenen des Stammes wieder daran, ihre Kajaks auszubessern. Offenbar trafen sie Vorbereitungen für eine Seehundjagd; sie würden eine Expedition unternehmen müssen, denn in dem Gebiet um das Dorf herum gab es weder Seehunde noch Seevögel die an der Küste sonst noch fast überall zu finden waren. Wenn wir uns nur mit ihnen verständigen könnten, dachte Ribera. Die Eingeborenen selbst wußten wahrscheinlich (zumindest aus Legenden), woher sie stammten. Wie die Dinge jetzt lagen, mußte Ribera bei seinen Nachforschungen höchst indirekte Wege beschreiten. In Gedanken ging er die ihm bis jetzt bekannten Fakten durch: Die Eingeborenen waren von unbestimmter Rasse; sie waren behaart, und dennoch wiesen sie gewisse Merkmale der KaltwetterAnpassung auf wie die ausgestorbenen Eskimos. In jeder physischen Hinsicht waren die Eingeborenen primitiv. Ihre Ausrüstung und Technik war den ingeniösen Entwicklungen der Eskimos weit unterlegen. Und die Eingeborenen sprachen keine derzeit verbreitete Sprache. Und noch etwas: Das Feuer, das
in der Mitte des Dorfes brannte, war unpraktisch und diente wahrscheinlich nur religiösen Zwecken. Das waren die Fakten. Wer also waren dann diese Leute. Das ganze war dermaßen rätselhaft daß er für den Moment die irre Traumhaftigkeit der grauen Landschaft und die »untergehende« Mittagssonne vergaß. Eine halbe Stunde verging. Die Geologen äußerten sich begeistert über das, was sie sahen; für Ribera jedoch wurde die Situation immer bedrückender. Er wagte es nicht, sich den Dorfbewohnern oder dem weißen Boot zu nähern, wiewohl ihm beides überaus wichtig erschien. Vielleicht war es diese Ungeduld, die ihn besonders sensibel machte, denn er war der erste Wissenschaftler der über den scharfen Wind hinweg das Klappern rollender Steine und außerdem Stimmen vernahm. Er drehte sich um und sah Jones und die anderen überstürzt von einem nahen Hügel herunterkommen. Ein Fehltritt, und die ganze Gruppe wäre den Hang auf dem Gesäß heruntergerutscht. Die von ihnen losgetretenen Steine hüpften ihnen voraus. Als die Astrologen den Fuß des Hügels erreichten, hatten sie die zu ihrem Schutz abgeordneten Matrosen weit hinter sich gelassen und rannten immer noch weiter. »Möchte bloß wissen, was mit denen los ist«, bemerkte Ribera halb im Scherz zu dem neben ihm stehenden Juarez. Als er an Delgado vorbeihastete, rief Jones: »... vielleicht haben wir es gefunden, Capitán – etwas von Menschen Erschaffenes erhebt sich aus dem Meer.« Wild die Arme schwingend, wies er zu dem Hügel hinüber, den sie eben heruntergekommen waren. Die Astrologen drängten sich in ein Boot. Als er
sah, daß die Mystiker wirklich wegwollten, befahl Delgado fünfzehn Männern, mit ihnen im Boot zu fahren, während weitere fünfzehn sie in einem anderen Boot begleiteten. Ein paar Minuten später hatten sich die beiden Schiffe schon beträchtlich entfernt und bewegten sich rasch auf das offene Wasser zu. »Was zum Teufel war denn da los?« rief Ribera Capitán Delgado zu. »Ich weiß nicht mehr als Sie, Señor Professor. Sehen wir nach. Wenn wir einen kleinen Spaziergang unternehmen« – er machte eine Kopfbewegung zu dem Hügel hinüber – »können wir die ›Entdeckung‹ wahrscheinlich schon sehen, bevor Jones und die anderen sie mit dem Boot erreichen. Die Männer bleiben hier.« Delgado wandte sich den verbliebenen Mannschaften zu. »Wenn diese Leute an unser Boot heranwollen, demonstriert eure Feuerwaffen – an ihnen. Das gleiche gilt für die Herren Wissenschaftler. Es bleiben so viele Männer wie möglich hier, damit sichergestellt ist, daß wir dieses Boot nicht verlieren; bis zur Vigilancia ist es ein langer Weg. Gehen wir Ribera. Sie können ein paar von Ihren Leuten mitnehmen, wenn Sie wollen.« Zusammen mit Delgado und drei Schiffsoffizieren machten sich Ribera und Juarez auf. Der mit losen Steinen bedeckte Hang erlaubte keinen sicheren Tritt, und die Männer stiegen vorsichtig auf. Als sie den Bergrücken erreichten, packte sie der Wind und riß an ihren Parkas. Die Gegend, die sie jetzt sahen, war weniger hügelig. In der Ferne jedoch konnten sie die Berge erkennen, die das Rückgrat der Halbinsel bildeten. Delgado zeigte hinunter. »Wenn sie etwas im Meer
festgestellt haben, muß es in dieser Richtung sein. Den Rest der Küste haben wir auf dem Herweg gesehen.« Die sechs Männer gingen in der angegebenen Richtung. Der Gegenwind war sehr stark, und sie kamen nur langsam voran. Fünfzehn Minuten später erreichten sie die Küste. Hier war das Wasser von sauberem Blaugrün, und die Brecher, die sich gegen das felsige Ufer warfen, erinnerten fast an die Wasser des Pazifik an irgendeiner öden Küste der Provinz Chile. Riberas Blick ging über die Wellen hinweg. Zwei schwarze Objekte unterbrachen die silberne Linie des Horizonts. Ihre kompromißlose Eckigkeit wies sie als Werk von Menschenhand aus. Delgado holte ein Fernrohr aus seinem Parka. Ribera bemerkte überrascht, daß das Glas die Marke der besten optischen Instrumente trug, die es gab: USKriegsmarine. Auf gewissen Märkten hätte dieser Gegenstand nicht viel weniger als das ganze Schiff Vigilancia gebracht. Capitán Delgado setzte das Glas an die Augen und betrachtete die schwarzen Silhouetten im Meer. Dreißig Sekunden vergingen. »Madre del Présidente!« fluchte er leise, aber mit Gefühl. Er gab Ribera das Fernglas. »Sehen Sie mal, Señor Professor.« Der Anthropologe suchte den Horizont ab, fand die schwarzen Objekte. Obgleich das winterliche Meereseis Löcher in sie geschlagen hatte, so daß sie in dem seichten Wasser auf Grund lagen, waren sie deutlich als Schiffe zu erkennen – atom- oder dieselgetriebene Vorkriegsschiffe. Am Rande seines Gesichtsfelds bemerkte er zwei weiße Objekte, die im Wasser aufund niedergingen. Es waren die beiden Landeboote
der Vigilancia. Immer wieder verschwanden sie für Sekunden in einem Wellental. Sie näherten sich den beiden halb versunkenen Schiffen noch etwas mehr, entfernten sich dann aber wieder. Ribera konnte sich denken, was vorgefallen war: Jones hatte gesehen, daß sich die Wracks in keiner Weise von den vor Buenos Aires versunkenen Überresten der argentinischen Marine unterschieden. Wahrscheinlich war er jetzt ganz außer sich vor Enttäuschung. Ribera besah sich die Wracks genau. Eines war halb gekentert und hinter dem anderen versteckt. Sein Blick ging über den Bug des vorderen Schiffes. Es waren Buchstaben darauf, Buchstaben, die Eis und Wasser fast völlig von der Plastikhaut des Schiffes gelöscht hatten. »Mein Gott!« flüsterte Ribera. Er buchstabierte: S – Hen – k – V – woe – d. Auch ohne das andere Schiff genau zu sehen, wußte er, daß es einmal Nation geheißen hatte. Wortlos gab Ribera Juarez das Fernrohr. Das Rätsel war gelöst. Er wußte, was die Eingeborenen hierher getrieben hatte. »Wenn die Zulunder jemals davon erfahren ...« Riberas Stimme verstummte. »Ja«, antwortete Delgado. Er verstand, was er gesehen hatte, und schien zum ersten Male etwas bedrückt zu sein. »Nun, gehen wir zurück. Dieses Land ist nicht geeignet für ... Es ist nicht geeignet.« Die sechs Männer wandten sich um und machten sich auf den Rückweg. Obwohl die Schiffsoffiziere Gelegenheit gehabt hatten, durch das Fernglas zu schauen, schienen sie nicht genau zu begreifen, was sie gesehen hatten. Und den Astrologen war die Bedeutung ihrer Entdeckung auch nicht klar. Damit
blieben noch drei – Juarez, Ribera und Delgado, die das Geheimnis der Herkunft der Eingeborenen kannten. Wenn sich diese Kenntnis weiter verbreitete, würde eine Katastrophe die Folge sein, dessen war Ribera sicher. Der Wind kam jetzt von hinten, beschleunigte aber ihre Schritte nicht. Sie brauchten fast eine Viertelstunde, um den Bergrücken zu erreichen, von dem aus man das Dorf und das rote Wasser sah. Unten konnte Ribera die erwachsenen Eingeborenenmänner sehen, die dicht gedrängt beieinander standen. Keine drei Meter entfernt standen die Wissenschaftler und die Matrosen. Zwischen den beiden Gruppen war einer der Südamerikaner. Ribera kniff die Augen zusammen und sah, daß der Mann Enrique Cardona war. Der Ökologe machte Gesten heftigen Unwillens. »Oh nein!« Ribera sprintete den Hügel hinunter, gefolgt von Delgado und den anderen. Der Anthropologe rannte noch schneller als die Astrologen vor einer Stunde und fast zweimal so schnell, als er es für menschenmöglich gehalten hätte. Die durch seine Schritte losgelösten hüpfenden Steine waren langsam im Vergleich zu ihm. Selbst während er so den Abhang hinunterraste, hatte Ribera das Gefühl, über der Sache zu stehen, und analysierte nüchtern die Szene vor seinen Augen. Cardona schrie, als wolle er sich den Eingeborenen mittels höchster Lautstärke verständlich machen. Hinter ihm standen die Ökologen und Biologen und warteten ungeduldig darauf, das Dorf und das Boot der Eingeborenen in Augenschein nehmen zu können. Vor ihm stand ein hochgewachsener, verwitter-
ter Eingeborener, der schon vierzig Jahre alt sein mußte. Selbst auf diese Entfernung war die unterdrückte, heftige Wut der Eingeborenen spürbar. Der Parka dieses Mannes war der unpraktischste von allen, die Ribera bisher gesehen hatte; er war aus Seehundfell gefertigt, und Ribera hätte schwören können, daß es die grobe Nachahmung eines zweireihigen Anzugs war. Cardona rief, ja schrie fast: »Verdammt nochmal, warum können wir uns euer Boot nicht ansehen?« Ribera beschleunigte seinen Lauf noch einmal, soweit das überhaupt möglich war, und brüllte Cardona zu, den Mann nicht weiter zu provozieren. Es war zu spät. Gerade als der Anthropologe den Ort der Konfrontation erreichte, richtete sich der Eingeborene in dem seltsamen Parka zu voller Größe auf, zeigte auf sämtliche Südamerikaner und krächzte (soweit Riberas im Spanischen verhaftetes Gedächtnis es registrieren konnte), »... in di nam niutrantsfals mos yulisterf ...« Die schon halb erhobenen Harpunen sausten durch die Luft. Cardona ging auf der Stelle zu Boden, von dreien der Spieße durchbohrt. Mehrere andere Männer wurden getroffen und fielen. Die entstandene Verwirrung ausnützend, zogen die Eingeborenen ihre Messer und stürzten auf die Männer zu. Ein schmerzend-lauter Knall krachte in Riberas Ohr, als Delgado seine Pistole abfeuerte und den Anführer der Eingeborenen niederstreckte. Die Seeleute hatten sich von ihrem Schock erholt und begannen, auf die Angreifer zu schießen. Auch Ribera riß seine Pistole heraus und feuerte in den Haufen der Eingeborenen. Als die Magazine leer waren, blieben den Wissenschaftlern und
der Mannschaft nur noch die Messer. In den nächsten Sekunden herrschte totales Chaos. Bald waren die Messer noch dunkler gerötet als das Wasser der Bucht. Der Anthropologe stolperte über sich windende Körper. Die Luft war erfüllt von heiseren Schreien und Kampfeslärm. Die beiden Gruppen waren etwa gleich stark und metzelten sich gegenseitig in Stücke. Irgendwie nahm Ribera die in ihr Boot zurückkehrenden Astrologen wahr. Er sah, wie die Mannschaften ihre Musketen anlegten und auf eine günstige Schußgelegenheit lauerten. Wenn die kämpfenden Parteien sich nicht rasch voneinander trennten würde bald nicht einmal mehr ein Zehntel der Männer übrig sein. Ribera schrie dies zu Delgado hinüber. Wie durch ein Wunder hörte ihn dieser und stimmte ihm zu, ein Rückzug war das einzig Vernünftige. Die Südamerikaner rannten zu ihren Booten, verfolgt von den Eingeborenen. Scharfes Knallen kam über das Wasser herüber. Die Mannschaften in den anderen Booten nützten den Abstand zwischen Verfolgten und Verfolgern aus. Die Südamerikaner erreichten ihr Boot und begannen, es ins Wasser zu schieben. Ribera und ein paar andere stellten sich jetzt den Eingeborenen entgegen. Musketenfeuer hatte die meisten von ihnen zum Rückzug gezwungen, aber einige rannten immer noch mit gezogenem Messer aufs Ufer zu. Ribera schnappte sich einen kleinen Stein. Sich einer fast vergessenen Fertigkeit seiner »angenehmen« Kindheit erinnernd, holte er aus und warf den Stein wuchtig in flacher Bahn. Mit dumpfem Aufprall traf er einen der Eingeborenen genau zwischen den Augen. Der Mann
stürzte nach vorn, fiel aufs Gesicht und blieb liegen. Ribera drehte sich um und lief im seichten Wasser hinter dem Boot her, gefolgt vom Rest der Nachhut. Aus dem Boot streckten sich ihm Hände entgegen, um ihn an Bord zu ziehen. Noch ein paar Meter, und er würde in Sicherheit sein. Der Schlag warf ihn nach vorn. Noch im Fallen sah er mit dumpfem Entsetzen die purpurrote Harpune, die direkt unter der rechten Seitentasche aus seinem Parka ragte. Warum? Müssen wir immer und immer und immer wieder dieselben Fehler machen? Ribera blieb keine Zeit mehr, den etwas unbestimmten Gedanken weiter zu verfolgen. Dunkle Röte umfing ihn. Eine sanfte Brise, die den fröhlichen Lärm ferner Parties herbeitrug, wehte durch die breiten Fenster des Bungalows hinein in sein Inneres. Es war eine kühle Spätsommernacht. Die ersten milden Lüfte des Herbstes machten die Dunkelheit angenehm und einladend. Das Haus lag auf der niedrigen Böschung, welche die alte Küstenlinie von La Plata markierte; draußen fielen Wiesen und Hecken sanft zu der Ebene ab, in der die Stadt lag. Das schwache, zarte Licht der Öllampen dieser Stadt zeichnete die sich kreuzenden Straßen nach, i n denen Häuser nicht höher als ein, zwei Stockwerke waren. Weiter draußen endeten die Lichter der Stadt abrupt an der Küste. Aber auch jenseits dieser Grenzlinie waren da noch die sich bewegenden gelben Lichter von Booten und Schiffen. Ganz links umrandeten helle Feuer das Marinegelände, wo die Regierung an irgendeiner Geheimwaffe arbeitete, möglicherweise an einem dampfbetriebenen Kriegsschiff.
Es war eine friedvolle Szene, ein wunderschöner Abend; die Vorbereitungen waren fast beendet. Über seinen Schreibtisch verstreut lagen die zustimmenden und ermutigenden Antworten auf seine Vorschläge. Es war harte Arbeit gewesen, hatte ihm aber auch Spaß gemacht. Buenos Aires war die ideale Operationsbasis gewesen. Alfredo IV bereiste die westlichen Provinzen. Genauer gesagt, el Presidente Imperial und sein Hofstaat visitierten die Vergnügungsstätten in Santiago (wie wenn Alfredo nicht in Buenos Aires selbst schon für genügend einschlägige Etablissements gesorgt hätte). Die Imperiumswache und die Geheimpolizei begleiteten den Monarchen (Alfredo fürchtete nichts so sehr wie eine Hofintrige); somit war die Stimmung in Buenos Aires so gelockert wie schon seit Jahren nicht mehr. Ja, zwei Monate harter Arbeit. Viele wichtige Leute hatte er informieren müssen, und zwar vertraulich. Aber die Antworten waren fast durchwegs enthusiastisch gewesen, und es schien, daß diejenigen, die das Projekt vereiteln würden, keinen Wind davon bekommen hatten. Die simple Tatsache, daß so viele Menschen eingeweiht werden mußten, vergrößerte freilich die Gefahr einer Entdeckung. Dieses Risiko aber mußte in Kauf genommen werden. Und, dachte Diego Ribera, die Schlacht in der blutigen Bucht ist jetzt zwei Monate her. (Fast spontan hatten sie dem Ort diesen Namen gegeben). Er hoffte, daß der Eingeborenenstamm durch das Massaker nicht von dort vertrieben und vor allem nicht dem Hungertod ausgeliefert worden war. Wenn dieser Narr von Enrique Carduna nur seinen Mund gehalten hätte, hätten sich beide Seiten friedlich (wenn nicht gar in freund-
lichem Einvernehmen) trennen können, und einige gute Männer wären am Leben geblieben. Nachdenklich kratzte sich Ribera die Seite. Noch einen Zoll weiter, und er hätte es selbst nicht geschafft. Wenn diese Harpune nur ein wenig weiter oben getroffen hätte ... Zu seinem ursprünglichen Glück war noch die Geistesgegenwart eines anderen gekommen. Dieser andere hatte die dicke Schnur durchschnitten an der die Harpune hing, die Ribera getroffen hatte. Wäre das nicht geschehen, wäre die Schnur höchstwahrscheinlich zurückgezogen worden, und der Widerhaken der Harpune hätte sich in sein Fleisch verkrallt. Nicht weniger wunderbar war die Tatsache daß er trotz der unzureichenden ärztlichen Versorgung an Bord der Vigilancia seine Verletzung überlebt hatte. Körperlich waren ihm nur zwei saubere, kreisrunde Narben geblieben. Eine so wundersame Errettung konnte einen geradezu religiös werden lassen ... Und im kommenden Januar würde er sich mit der Geheimexpedition, deren Organisation er so energisch betrieben hatte wieder dorthin begeben. Neun Monate waren eine lange Wartezeit. Aber in diesem Herbst oder Winter konnte die Fahrt unmöglich durchgeführt werden. Außerdem brauchten sie Zeit, um sich entsprechend auszurüsten. Dumpfes Pochen an der Tür riß Diego aus seinen Gedanken. Er stand auf und ging zur Tür des Bungalows. (Dieses kleine Haus im vornehmsten Teil der Stadt war Beweis für die Unterstützung, die er bereits von einigen sehr bedeutenden Leuten erhalten hatte.) Ribera hatte keine Ahnung, wer der Besucher sein konnte, doch war er zuversichtlich, nur gute Nach-
richt zu erhalten. Er erreichte die Tür und öffnete sie. »Mkambwe Lunama!« Das schwarze Gesicht des Zulunders hob sich kaum vom Nachthimmel ab. Der Besucher war über zwei Meter groß und wog fast einhundert Kilo; er war das Bild eines Supermanns. Im Verkehr mit anderen Nationen ließ es sich die Zulunder-Regierung allerdings besonders angelegen sein, den Nimbus der Superrasse zu pflegen. Zwar blieb auf diese Weise sicher manches große Talent in der Versenkung, doch hielt sich in Südamerika hartnäckig der Mythos, daß ein Zulunder drei Krieger jeder beliebigen anderen Nationalität aufwog. Einen Augenblick war Ribera starr vor Schreck. Er kannte Lunama flüchtig als den »Exponenten der Wahrheit« – der Propaganda – der zulundischen Botschaft in Buenos Aires. Der »Exponent« hatte zahlreiche Versuche unternommen, sich bei der akademischen Gemeinschaft der Universidad de Buenos Aires anzubiedern. Wahrscheinlich hatten seine Bemühungen das Ziel, Sympathisanten zu werben für die Zeit, wo die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Südamerikanischen Empire und dem Zulundischen Reich zum offenen Konflikt ausweiten würden. In der wilden Hoffnung, daß dieser Besuch nur einem unglücklichen Zufall zuzuschreiben war, faßte Ribera sich wieder. Er versuchte ein entwaffnendes Lächeln und sagte: »Treten Sie ein, Mkambwe, wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen.« Der Zulunder lächelte, und seine weißen Zähne bildeten einen scharfen Kontrast zu seinem schwarzen Gesicht. Er trat ein. Sein Gewand war aus leuchtend roten, blauen und grünen Fasern gewebt und
hob sich merklich ab von den dunkleren Farben südamerikanischer Straßenanzüge. An der Hüfte trug er einen 20-mm-Mavimbelamake-Revolver. Die Zulunder hatten ihre eigenen Vorstellungen von diplomatischem Protokoll. Mkambwe durchmaß mit federndem Schritt den Raum und ließ sich auf einem Stuhl nieder. Ribera eilte zu seinem Schreibtisch und versuchte, die darauf liegenden Briefe unauffällig des Zulunders Blicken zu entziehen. Wenn sein Besucher auch nur einen davon sah und verstand, dann war das Spiel aus. Ribera gab sich gelöst. »Tut mir leid, daß ich Ihnen keinen Drink anbieten kann, Mkambwe, aber das Haus ist so trocken wie eine Wüste.« Wenn er aufstand, würde der Zulunder fast mit Sicherheit die Korrespondenz sehen. Sein Gedächtnis verzweifelt nach Erinnerungen durchstöbernd, plauderte Ribera jovial weiter. (»Wissen Sie noch, wie Ihre Jungs ihre Gesichter weiß anstrichen und zur Casa Rosada Nueva gingen und wie dann der Teufel los war mit den ...«) Lunama grinste. »Offen gestanden ist dies ein Geschäftsbesuch.« Der Zulunder sprach mit einem dandyhaften, pseudokastilianischen Akzent, den er zweifellos für aristokratisch hielt. »Oh«, antwortete Ribera. »Wie ich höre, waren Sie im Januar auf einer kleinen Expedition zur Palmer-Halbinsel.« »Ja«, erwiderte Ribera dumpf. Vielleicht gab es noch eine Chance; vielleicht wußte Lunama nicht die ganze Wahrheit. »Und es sollte geheim sein. Wenn el Presidente Imperial erführe, daß Ihre Regierung davon weiß ...«
»Kommen Sie, kommen Sie, Diego. Das ist doch nicht das Geheimnis, an das Sie denken. Ich weiß, daß Sie herausgekriegt haben, was auf der Hendrik Verwoerd und der Nation passiert ist.« »Oh«, antwortete Ribera wieder. »Wie kamen Sie darauf?« fragte er kleinlaut. »Sie haben mit vielen Leuten geredet, Diego«, lautete die vage Antwort. »Sicher haben Sie nicht erwartet, daß jeder Ihr Geheimnis bewahren würde. Und sicher haben Sie auch nicht erwartet daß Sie etwas von dieser Wichtigkeit vor uns geheimhalten könnten.« Er sah über den Anthropologen hinweg, und sein Ton veränderte sich. »Dreihundert Jahre lang lebten wir unter den Absätzen dieser weißen Teufel. Dann kam die Vergeltung im Norden und ...« Was für ein putziges Wort die Zulunder für den Nordwelt-Krieg verwenden. Es war ein Krieg gewesen, in dem alle Zerstörungsmittel benützt worden waren – atomare, biologische und chemische. Allein die Abfallstoffe der Opferung Chinas hatten Indien und Indonesien vernichtet. Mexiko und Mittelamerika waren mit den Vereinigten Staaten und Kanada verschwunden. Und Nordafrika mit Europa. Entfernte Ausläufer dieser atomaren und biologischen Hölle hatten die südliche Hemisphäre erreicht und sie fast vergiftet. Ein paar Megatonnen, ein paar Seuchenerreger mehr, und der Krieg hätte keinen Namen bekommen, denn niemand wäre geblieben, der seine Geschichte hätte schreiben können. Das war die »Vergeltung im Norden«, auf die Lunama so leichthin Bezug nahm. »... und die weißen Teufel standen nun nicht länger unter dem Schutz ihrer Freunde aus dem Norden.
Dann kam der sechzigtägige Kampf für die Freiheit.« Es gab schwarze Teufel und weiße Teufel in jenen sechzig Tagen – und weiße Heilige, tapfere Männer, die verzweifelt versuchten, den Völkermord abzuwenden. Aber zu lange waren die Jahre der Sklaverei, und die Heiligen unterlagen – nicht zum erstenmal. »Am Anfang der Erhebung kämpften wir mit Flinten und Messern gegen Maschinengewehre und Düsenjäger«, fuhr Lunama, allmählich sicher werdend, fort. »Wir starben zu Zehntausenden. Aber die Tage vergingen, und auch ihre Anzahl nahm ab. Am fünfzigsten Tage hatten wir die Maschinengewehre, und sie hatten die Flinten und Messer. Wir schlossen die letzten von ihnen in Kapa und Durb ein«, (er gebrauchte die Zulunder-Namen für Kapstadt und Durban) »und warfen sie dann ins Meer.« Im wahrsten Sinne des Wortes, fügte Ribera im stillen hinzu. Die letzten Überbleibsel des Weißen Afrika wurden buchstäblich von den Kais und sonnigen Küsten ins Meer geworfen. Den Zulundern war es gelungen, die Weißen auszurotten, und sie glaubten, auch ihre Kultur auf dem Kontinent verschwinden lassen zu können. Natürlich hatten sie sich getäuscht. Die Kolonisten hatten ein bleibendes Mal hinterlassen, das jedem Unvoreingenommenen erkennbar war: Just der Name Zulunder, der den jetzigen Afrikanern heilig war, stammte von einem verstümmelten englischen Wort her. »Am sechzigsten Tage konnten wir sagen, daß kein einziger Weißer mehr auf dem Kontinent lebte. Soweit wir wissen, entkam eine kleine Gruppe der Rache. Ein paar der höchsten Beamten, vielleicht sogar der Premierminister, flüchteten auf zwei Luxusschiffe, die SR Hendrik Verwoerd und die Nation. Sie flohen
Stunden vor dem entscheidenden Marsch auf Kapa.« Fünftausend verzweifelte Männer, Frauen und Kinder in zwei Luxusdampfer gepfercht. Die Schiffe hatten mit Höchstgeschwindigkeit den Südatlantik überquert und in Argentinien Zuflucht gesucht. Aber die argentinische Regierung hatte ihre eigenen Probleme. Zwei leichte argentinische Patrouillenboote beschädigten die Nation schwer, bevor ihre Insassen davon überzeugt waren, daß Südamerika ihnen keine Zuflucht bot. Die beiden Schiffe hatten nach Süden gewendet, möglicherweise in einem Versuch, die Tierra del Fuego zu umfahren und Australien zu erreichen. Das war das letzte, was man seit zweihundert Jahren von ihnen gehört hatte – bis zur Erforschung der PalmerHalbinsel durch die Vigilancia. Ribera wußte, daß ein Appell an sein Mitleid den Zulunder nicht davon abhalten würde, die ärmliche Kolonie zu zerstören. Er versuchte es anders. »Was Sie sagen, ist ja so wahr, Mkambwe. Aber bitte, bitte, vernichten Sie nicht diese Abkömmlinge Ihrer Feinde. Der Stamm auf der Palmer-Halbinsel ist die einzige Polarkultur, die auf der Erde noch existiert.« Noch während Ribera die Worte aussprach, wurde ihm klar, wie schwach das Argument war. Hätte er nur mit einem Anthropologen sprechen können, wie er selbst einer war. Der Zulunder schien überrascht und verdrängte mit sichtbarer Mühe die schreckliche Geschichte seines Kontinents aus seiner Vorstellung. »Sie vernichten? Mein lieber Mann, warum sollten wir denn das tun? Ich bin hierhergekommen, um zu fragen, ob wir einige Beobachter des Wahrheitsministeriums bei Ih-
rer Expedition mitschicken können. Damit die Sache voll und ganz ergründet werden kann, verstehen Sie. Ich glaube, daß Alfredo sich überzeugen läßt, wenn man die Bitte entsprechend formuliert. Sie vernichten?« Er wiederholte die Frage. »Seien Sie nicht albern! Sie sind der lebende Beweis der Vernichtung. Sie nennen ihr Stückchen Fels und Eis Nieutransvaal, nicht wahr?« Er lachte. »Und sie haben sogar einen Premierminister, einen zahnlosen Alten, der vor Südamerikanern seine Harpune schwingt.« Lunamas Informant war offenbar wirklich an Ort und Stelle gewesen. »Und sie sind noch primitiver als Eskimos. Kurz, es sind Wilde, die von Seehundfett leben.« Sein Ton war jetzt ohne ironische Jovialität. Aus seinen Augen blitzte uralter Haß, ein Haß, der Zulund zur Größe trieb und die Welt schließlich wieder in einen Krieg der Hemisphären stürzen konnte (wenn die australischen Sozialwissenschaftler nicht einige der so dringend ersehnten Antworten lieferten). Die Brise, die durch den Raum wehte, schien jetzt nicht mehr sanft und kühl. Sie war kalt, und der Wind kam aus der Leere des zum Megatod gewordenen Todes, der das entsetzliche Zeichen von Jahrhunderten menschlichen Elends war. »Mit Vergnügen werden wir sehen, wie sie sich ihrer Überlegenheit freuen.« Lunama beugte sich noch weiter nach vorn. »Endlich haben sie die Apartheid, die sie doch immer wollten. Und sie sollen darin verrotten ...« Originaltitel: APARTNESS
Harlan Ellison »BEREUE, HARLEKIN!« SAGTE DER TICK-TACK-MANN Es gibt immer Menschen, die fragen: Worum geht es eigentlich? Hier ist etwas für diejenigen, denen ständiges Fragen ein Bedürfnis ist, die präzise Beweise verlangen, die wissen wollen, wo der Hund begraben liegt: »Die meisten Menschen dienen dem Staat nur zum geringsten Teil als Menschen, sondern vielmehr als Maschinen – mit dem Körper. Sie sind die Armee und die Miliz, Polizei und Gefängniswärter etc. In den meisten Fällen spielen Urteilskraft oder moralisches Empfinden bei ihnen nicht die geringste Rolle. Vielmehr stellen sie sich selbst auf eine Stufe mit Holz und Erde und Stein; und möglicherweise lassen sich hölzerne Menschen verfertigen, die solche Zwecke ebensogut erfüllen. Sie verdienen nicht mehr Respekt als Strohpuppen oder Erdklumpen. Sie sind nicht mehr wert als Pferde und Hunde. Dennoch werden ihresgleichen zumeist als gute Bürger geschätzt. Andere – wie die meisten Gesetzgeber, Politiker, Rechtsgelehrten, Minister und Amtspersonen – dienen dem Staate hauptsächlich mit dem Kopf; und da sie nur selten in moralischen Kategorien denken, ist es ebenso wahrscheinlich, daß sie ungewollt dem Teufel dienen wie Gott. Ganz wenige – Helden, Patrioten, Märtyrer, Reformer und Männer – dienen dem Staat auch
mit ihrem Gewissen und leisten ihm deshalb notwendigerweise zumeist Widerstand; und gewöhnlich werden sie von ihm als Feinde behandelt.« Henry David Thoreau »Die Pflicht zum zivilen Ungehorsam« Das ist der Kern der Sache. Beginnen Sie jetzt in der Mitte und erfahren Sie später den Anfang. Das Ende kommt dann von selbst. Weil die Welt nun einmal genauso war, genauso, wie man sie hatte werden lassen, war seine Tätigkeit monatelang der alarmierten Aufmerksamkeit Derjenigen, Die Die Maschine Am Laufen Hielten, entgangen – derjenigen, die die allerbeste Butter über die Steuernocken und Antriebsfedern der Kultur schütteten. Erst als es offensichtlich geworden war, daß er auf irgendeine Art und Weise für das, was die Obrigkeit stets ein »emotional verwirrtes Segment der Bevölkerung« nannte, bekannt, ja berühmt, ja vielleicht sogar ein Held geworden war, überantworteten sie die Sache dem Tick-Tack-Mann und seiner Gesetzesmaschinerie. Da die Welt aber nun einmal so war und sie keine Möglichkeit hatten, vorherzusehen, daß er Ereignis werden würde, hatte man ihm zu diesem Zeitpunkt bereits zu sehr erlaubt, Wirklichkeit zu werden. Jetzt hatte er Form und Substanz. Er war eine Persönlichkeit geworden, etwas, was sie vor vielen Jahrzehnten aus dem System herausgefiltert hatten. Da war er also jetzt – eine ohne jeden Zweifel beeindruckende Persönlichkeit. Viele Angehörige der mittleren Schichten hielten das Ganze für widerwärtig. Vulgäre Zurschaustellung. Anarchisch. Beschämend. Andere, bei denen das Denken Ritua-
len, Spitzfindigkeiten und äußeren Formen aller Art unterworfen ist, lachten nur. Unten aber, tief unten, wo die Leute immer Heilige und Sünder, Brot und Spiele, Helden und Schurken brauchten, da hielt man ihn für einen Bolivar; einen Napoleon; einen Robin Hood; einen Dick Bong (Das As der Asse); einen Jesus; einen Jomo Kenyatta. Und oben, wo die leiseste Vibration Reiche, Mächtige und Würdenträger von ihren Sockeln zu stürzen drohte, wurde er als Gefahr angesehen; als Häretiker; als Rebell; als Schande; als Bedrohung. Bekannt war er überall; aber die wichtigen Reaktionen gab es hoch oben und weit unten. Ganz hoch oben, ganz tief unten. So wurde seine Akte, seine Zeit-Karte und seine Kardio-Scheibe dem Büro des Tick-Tack-Manns überstellt. Der Tick-Tack-Mann: Weit über einen Meter achtzig groß, oft schweigsam, ein leise schnurrender Mann, wenn es um Zeit ging. Selbst von der Hierarchie, die Furcht erregte, aber selten empfand, wurde er der Tick-Tack-Mann genannt. Aber niemand sagte das im Angesicht seiner Maske. Du nennst einen Mann nicht mit einem Namen, den er haßt, nicht, wenn dieser maskierte Mann in der Lage ist, die Minuten Stunden, Tage und Nächte, die Jahre deines Lebens zu widerrufen. Im Angesicht seiner Maske nannte man ihn den Meister der Zeit. »Das besagt, was er ist«, sagte der Tick-Tack-Mann mit ungespielter Sanftheit, »aber nicht, wer er ist. Die Zeit-Karte, die ich in meiner linken Hand halte, trägt einen Namen aber es ist der Name dessen was er ist,
der nicht besagt, wer er ist. Diese Kardio-Scheibe hier in meiner rechten Hand ist ebenfalls mit einem Namen versehen, aber nicht für Jemanden, sondern für Etwas. Bevor ich zum ordnungsgemäßen Widerruf schreiten kann, muß ich wissen, wer dieses Etwas ist.« Zu seinen Leuten – all den Listenführern, Schnüfflern und Spitzeln – sagte er: »Wer ist dieser Harlekin?« Es war kein leises Geschnurre – eher ein mißtönendes Gekrächze. Dennoch war es die längste Rede, die sie ihn je hatten halten hören – seine Leute, die Buchführer, die Schnüffler, auch die Spitzel, die ja gewöhnlich anderswo waren. Aber alle schwärmten jetzt aus, um es festzustellen ... Wer ist der Harlekin? Hoch über der dritten Ebene der Stadt kauerte er auf der summenden Aluminium-Plattform des Luftbootes und starrte auf die regelmäßigen Rechtecke der Häuserblöcke hinunter. Irgendwo in der Nähe konnte er das metronomisch-präzise Links-Rechts-Links der 2:47 UhrSchicht hören, die in ihren Segeltuchschuhen in die Tinkin-Kugellagerfabrik marschierte. Genau eine Minute später hörte er das gedämpftere Rechts-LinksRechts der 5:00 Uhr-Morgenschicht, die auf dem Nachhauseweg war. Ein boshaftes Grinsen ging über seine gebräunten Züge, und für einen Augenblick wurden seine Grübchen sichtbar. Dann kratzte er sich unter seinem kastanienbraunen Haar zuckte die Achseln unter sei-
nem bunten, langen Gewand, als wolle er sich für das Kommende rüsten, drückte den Steuerknüppel nach vorn und stemmte sich gegen den Wind, während das Luftboot nach unten ging. Er flog flach über einen Rollsteig, verringerte seine Höhe noch um ein, zwei Meter, um die Troddeln und Quasten der modisch gekleìdeten Damen zu streifen, steckte sich dann die Daumen in die großen Ohren, streckte die Zunge heraus, rollte die Augen und machte wugga-wuggawugga. Eine Fußgängerin stolperte und stürzte, wobei nach allen Seiten Pakete purzelten; eine andere machte sich naß. Eine weitere fiel in Ohnmacht, und der Rollsteig wurde automatisch von den Servitoren gestoppt, bis sie wiederbelebt werden konnte. Es war ein kleiner Zeitvertreib. Dann huschte er auf einer kleinen Brise davon. HieHo. Als er um das Gebäude des Büros für Zeitbewegungsstudien herumflog, sah er die Schicht, die eben auf den Rollsteig kam. Mit geübter, nicht im geringsten unterbrochener Bewegung traten die Leute seitlich auf den Langsamsteig, um dann (mit revueartiger Präzision, die an einen Busby-Berkeley-Film der vorsintflutlichen 1930er Jahre erinnerte) in Reih und Glied die anderen Steige zu überqueren, bis sie sich auf dem Expreß-Steig befanden. Wieder ließ ihn die Vorfreude boshaft grinsen; links fehlte ihm ein Backenzahn. Er kippte nach vorn und stieß auf sie hinunter. Gewandt sprang er auf dem Luftboot herum und löste die Verschlüsse der Streubehälter, die einen vorzeitigen Abwurf ihres Inhalts verhinderten. Als er die Verschlüsse löste, glitt das Luftboot über die Fabrikarbeiter hinweg, und
Kaubonbons im Werte von einhundertfünfzigtausend Dollar rieselten auf den Expreß-Steig hinab. Kaubonbons! Millionen, Milliarden davon, purpurn und gelb und grün, Lakritze, Rosine, Himbeer und Pfefferminz, rund mit glatter Kruste und innen zuckrig-süß, hagelten, prasselten, hüpften, sprangen auf Köpfe und Schultern und Helme und Schutzanzüge der Timkin-Arbeiter, fielen auf den Gehsteig, prallten wieder hoch, rollten unter ihre Sohlen, füllten den Himmel mit allen Farben der Freude, der Kindheit und der Ferien, und strömten hinunter in gleichmäßigem Regen, beinahe ein Wolkenbruch, ein Sturzbach von Farbe und Süße, der sich in sinnverwirrender Neuheit über eine Welt der Vernunft und metronomisch exakten Ordnung ergoß. Kaubonbons! Die Arbeiter schrien und lachten unter diesem prasselnden Segen und brachen aus der Reihe aus, und die Kaubonbons gerieten in den Mechanismus der Rollsteige. Und dann gab es ein gräßliches Knirschen, wie wenn eine Million Fingernägel über eine Viertelmillion Wandtafeln führe, gefolgt von Ächzen und Stottern. Dann stoppten die Rollsteige, und alle purzelten wild durcheinander, immer noch lachend und kleine Kaubonbons in kindischen Farben in den Mund stopfend. Es war herrlich, zum Totlachen, völlig verrückt. Aber ... Die Schicht verspätete sich um sieben Minuten. Der Generalplan verzögerte sich um sieben Minuten. Die Erreichung von Planziffern wurde durch nicht funktionierende Rollsteige um sieben Minuten verzögert. Er hatte den ersten Dominostein der Reihe ange-
stoßen, und hintereinander waren auch die anderen umgefallen. Sieben Minuten lang war das System gestört gewesen. Es war eine Kleinigkeit, fast nicht der Rede wert. Aber in einer Gesellschaft, wo Einheitlichkeit und Ordnung und Promptheit und uhrwerkartige Präzision und genaueste Beachtung der Zeit und Ehrfurcht vor den Göttern der vergehenden Zeit die treibende Kraft waren, war das eine Katastrophe größten Ausmaßes. So wurde er zum Tick-Tack-Mann befohlen. Es wurde über sämtliche Kanäle des Kommunikationsnetzes verbreitet. Er erhielt den Befehl, um 7:00 Uhr dort zu sein, auf die Sekunde genau. Und sie warteten und warteten. Aber er kam erst gegen 10:30 Uhr hin, wo er dann nur ein Liedchen über den Mondschein in Vermont (noch niemand hatte von diesem Ort gehört) sang und wieder verschwand. Aber alle hatten bereits seit sieben gewartet, und es brachte ihre Zeitplanung völlig durcheinander. Die Frage blieb also: Wer ist der Harlekin? Aber die ungefragte Frage (die wichtigere der beiden) war: Wie kamen wir in diese Lage, daß ein lachender, unverantwortlicher, hanswurstischer Scherzbold mit Kaubonbons im Werte von einhundertfünfzigtausend Dollar unser ganzes wirtschaftliches und kulturelles Leben aus den Angeln heben konnte? Ausgerechnet Kaubonbons! Das ist Wahnsinn! Woher hatte er das Geld, um für einhundertfünfzigtausend Dollar Kaubonbons zu kaufen? (Sie wußten, daß sie so viel gekostet haben mußten, denn sie hatten ein Team von Situations-Analysten von einer an-
deren Aufgabe abgezogen und zu diesem Rollsteig geschickt, wo sie die Bonbons zusammenkehren und zählen und zu Ergebnissen kommen mußten, was ihren Zeitplan durcheinanderbrachte und die ganze Abteilung um mindestens einen Tag zurückwarf.) Kaubonbons! Kau... bonbons? Eine Sekunde mal – eine Sekunde in Anrechnung auf die Planung gebracht – seit über einhundert Jahren hatte niemand mehr Kaubonbons hergestellt. Das ist eine weitere gute Frage. Höchstwahrscheinlich wird sie niemals zur Zufriedenheit beantwortet werden. Andererseits, von wievielen Fragen kann man das überhaupt sagen? Die Mitte kennen Sie jetzt. Hier ist der Anfang. Wie es beginnt: Ein Terminkalender. Jeden Tag ein neues Blatt. 9:00 – Post öffnen. 9:45 – Sitzung der Planungskommission. 10:30 – Statistikbesprechung mit 1. L.. 11:15 – Gebet um Regen. 12:00 – Lunch. Und so weiter. »Bedauere, Miss Grant, aber die Neuaufnahmen finden um 2:30 Uhr statt, und jetzt ist es fast fünf. Tut mir leid, daß Sie zu spät dran sind, aber so lauten die Bestimmungen. In einem Jahr können Sie sich wieder um Aufnahme in dieses College bewerben.« Und so weiter. »Ich konnte nicht warten, Fred. Ich hatte um 3:00 bei Pierre Cartain zu sein, und du sagtest, wir würden uns um 2:45 an der Bahnhofsuhr treffen, aber du warst nicht da, also mußte ich weiter. Du kommst immer zu spät, Fred. Wenn du dagewesen wärst, hätten wir die Sache zusammen machen können, unter diesen Umständen aber – also, ich hab den Auftrag allein übernommen ...« Und so weiter.
Liebe Mr. und Mrs. Atterley: und auf Grund seines ständigen Zuspätkommens müssen wir Ihren Sohn Gerold leider von der Schule suspendieren, bis durch verläßliche Maßnahmen sichergestellt werden kann, daß er rechtzeitig zum Unterricht erscheint. Er ist zwar ein ausgezeichneter Schüler mit sehr guten Noten; sein dauerndes Stören des Stundenplanes dieser Schule läßt es aber nicht angezeigt erscheinen, ihn in einem System zu belassen, wo alle anderen Kinder zu rechtzeitigem Eintreffen in der Lage zu sein scheinen. Und so weiter. STIMMABGABE NUR BEI ERSCHEINEN UM 8:45 UHR MÖGLICH. »Ganz gleich, ob das Drehbuch gut ist, ich brauche es am Donnerstag.« ABREISE NUR UM 14:00 UHR MÖGLICH. »Sie sind zu spät dran. Die Stelle ist vergeben. Bedauere.« WEGEN EINES ZEITVERLUSTES VON ZWANZIG MINUTEN IST EIN GEHALTSABZUG VORGENOMMEN WORDEN. »Mein Gott, wie spät es ist. Ich muß mich beeilen!« Und so weiter. Und so weiter. Und so weiter. Und so weiter weiter weiter weiter weiter tick tack tick tack tick tack, und eines Tages ist die Zeit nicht mehr für uns da, sondern wir für sie, und wir sind Sklaven des Zeitplans, Anbeter des genauen Sonnenstandes, gebunden an zahllose Vorschriften aller Art, weil das System nicht funktioniert, wenn der Plan nicht genau eingehalten wird. Bis ein Zuspätkommen nicht nur mehr eine unerfreuliche Kleinigkeit ist. Es wird eine Sünde. Dann ein Verbrechen.
MIT WIRKUNG VOM 15. JULI 2389 12:00 Uhr Mitternacht ordnet das Oberste Zeitnehmeramt an, daß alle Bürger ihre Zeit-Karten und Kardio-Scheiben zur Bearbeitung einreichen. In Übereinstimmung mit § 555-7-SGH-999, Zeitwiderruf, werden alle KardioScheiben mit dem Namen ihres Inhabers versehen und ... Man hatte eine Methode entwickelt, welche die Regelung der persönlichen Lebenszeit ermöglichte. Bei einer Verspätung von zehn Minuten verlor der Mensch zehn Minuten seines Lebens. Eine Stunde Verspätung brachte einen vergleichsweise noch größeren Abzug. War jemand häufig unpünktlich, dann konnte es ihm passieren, daß er eines Sonntag abends vom Obersten Zeitnehmer eine Mitteilung erhielt, seine Zeit sei zu Ende und er werde Montag mittag »abgeschaltet«. Bitte bringen Sie Ihre Angelegenheiten in Ordnung, Sir. Mit Hilfe dieser einfachen wissenschaftlichen Methode (unter Verwendung eines wissenschaftlichen Prozesses, der vom Amt des Tick-Tack-Manns auf das strengste geheimgehalten wurde), wurde das System aufrechterhalten. Es war das einzig Machbare. Außerdem war es patriotisch. Der Plan mußte eingehalten werden. Immerhin war ja Krieg! Allerdings – war nicht immer Krieg? »Das ist doch wirklich widerwärtig«, sagte der Harlekin, als ihm die hübsche Alice den Steckbrief zeigte. »Widerwärtig und höchst unwahrscheinlich. Schließlich leben wir ja nicht in der Zeit der Desperados. Ein Steckbrief!« »Übrigens«, bemerkte Alice, »sprichst du ein wenig
affektiert.« »Tut mir leid«, sagte der Harlekin bedrückt. »Braucht dir nicht leid zu tun. Dauernd sagst du ›tut mir leid‹. Du hast derartige Schuldgefühle, Everett, es ist wirklich sehr traurig.« »Tut mir leid«, wiederholte er und verzog dann die Lippen, so daß einen Augenblick lang seine Grübchen sichtbar wurden. Er hatte das alles nicht sagen wollen. »Ich muß wieder fort. Ich muß etwas tun.« Alice setzte ihren Kaffeebecher hart auf den Tisch. »Um Gottes willen, Everett, kannst du nicht eine einzige Nacht zu Hause bleiben! Mußt du immer in diesem schrecklichen Clownsanzug herumrennen und die Leute ärgern?« »Ich bin ...« Er verstummte und setzte sich schellenklingelnd die Narrenkappe auf. Er stand auf, spülte seinen Kaffeebecher aus und stellte ihn einen Moment in den Trockner. »Ich muß gehen.« Sie antwortete nicht. Die Faxbox schnurrte, und sie zog ein Blatt heraus, las es und schob es ihm dann zu. »Es ist über dich. Natürlich. Du bist einfach lächerlich.« Er las es schnell. Da stand, daß der Tick-Tack-Mann versuchte, seinen Aufenthaltsort festzustellen. Es war ihm gleich; er ging jetzt fort, um wieder zu spät zu kommen. Um einen dramatischen Abgang bemüht, blieb er an der Tür stehen und verkündete dröhnend: »Und du sprichst auch sehr affektiert!« Alice verdrehte die hübschen Augen zum Himmel. »Du bist lächerlich.« Der Harlekin stolzierte hinaus, schmetterte die Tür zu, die sanft und lautlos ins Schloß fiel. Ein leises Klopfen. Alice sprang auf und öffnete mit
angehaltenem Atem die Tür. Draußen stand er. »Ich bin gegen halb elf zurück, okay?« Sie verzog unwillig das Gesicht. »Warum sagst du mir das? Warum? Du weißt, daß du später kommen wirst! Du weißt es! Immer bist du so spät dran! Warum also erzählst du mir diesen Blödsinn?« Sie machte die Tür zu. Der Harlekin vor der Tür nickte. Sie hat recht. Sie hat immer recht. Ich werde zu spät kommen. Ich komme immer zu spät. Achselzuckend ging er fort, um wieder zu spät zu kommen. Er hatte die Feuerwerksraketen abgefeuert, die in den Himmel schrieben: »Ich werde um genau 20:00 Uhr der 115. jährlichen Anrufung der Internationalen Ärztegesellschaft beiwohnen. Ich hoffe auf zahlreiche Teilnahme.« Die Worte waren am Himmel aufgeflammt, und natürlich waren die Behörden da und lauerten auf ihn. Selbstverständlich nahm man an, daß er zu spät kommen würde. Er kam zwanzig Minuten zu früh, während man noch die Spinnennetze spannte, die ihn fangen sollten. Ein riesiges Horn blasend, erschreckte und entnervte er sie so, daß ihr eigenes klebriges Fangnetz zuging und sie selbst kreischend und um sich schlagend bis an die Decke des Amphitheaters hochgezogen wurden. Der Harlekin lachte und lachte und entschuldigte sich überschwenglich. Die Ärzte, in feierlichem Konklave versammelt, brüllten vor Lachen und nahmen die Entschuldigungen des Harlekins mit grotesk übertriebenen Gebärden und Verbeugungen entgegen, und alle, die dachten, der Har-
lekin sei eine lustige Einlage, hatten einen Riesenspaß, nur die Leute von der Behörde nicht, die vom Büro des Tick-Tack-Manns geschickt worden waren und nun in jetzt unpassender Weise wie ein Bündel Mehlsäcke an einem Hafenkran unter der Decke des Amphitheaters hingen. (In einem anderen Teil der selben Stadt, wo der Harlekin sein schlimmes Treiben geführt hatte, dessen Einzelheiten für uns hier nicht von Bedeutung sind außer als Illustration der Macht und Bedeutung des Tick-Tack-Mannes, erhielt ein Mann namens Marshall Delahanty vom Amt des Tick-Tack-Manns Bescheid, daß sein Leben »abgeschaltet« werde. Seine Frau bekam die Nachricht von dem grau gekleideten Beamten mit dem traditionellen gräßlichen Beileidsblick. Auch ohne das Schreiben zu öffnen, wußte sie, was es war. Jedermann erkannte es auf der Stelle in jenen Tagen. Mit stockendem Atem hielt sie es von sich weg, als sei es vergiftet, und betete, es möge nicht für sie sein. Laß es für Marsh sein, dachte sie brutal und realistisch, oder für eines der Kinder, aber nicht für mich, bitte, lieber Gott, nicht für mich. Und dann öffnete sie es, und es war für Marsh, und sie war gleichzeitig entsetzt und erleichtert. Der Nebenmann in der Kolonne hatte den Treffer abbekommen. »Marshall«, schrie sie, »Marshall! Abschaltung, Marshall! Ohmeingott, Marshall, wassollenwirtun, wassollenwirtun, Marshall, ohmeingottmarshall ...« Und in ihrem Heim war an diesem Abend das Geräusch von zerreißendem Papier und Angst zu hören, und der Gestank des Wahnsinns stieg den Rauchfang hinauf, und es gab nichts, absolut nichts, was sie tun konnten.
Aber Marshall Delahanty versuchte zu entkommen. Und am nächsten Morgen zur Abschaltzeit war er fünfhundert Kilometer entfernt mitten im Wald, und im Amt des Tick-Tack-Mannes löschte man seine Kardio-Scheibe, und Marshall Delahanty stürzte im Laufen vornüber, und sein Herz blieb stehen, und das Blut stockte auf dem Weg zum Gehirn, und er war einfach tot. Im Amt des Obersten Zeitnehmers ging auf der Karte seines Sektors ein Licht aus, während die Nachricht in die Fax-Reproduktion ging; Georgette Delahantys Name kam auf die Liste der Unterstützungsempfänger, bis sie wieder heiraten konnte. Ende der Fußnote, die keiner Ergänzung bedarf. Nur lachen sollte man nicht, denn genau das würde dem Harlekin widerfahren, fände der Tick-Tack-Mann je seinen wirklichen Namen heraus. Es ist wirklich nicht komisch.) Im Einkaufsstockwerk der Stadt wimmelte es von den Donnerstag-Farben der Kundschaft. Frauen in kanariengelben Umhängen und Männer in Pseudotiroler Trachten aus Leder und Loden, die sehr eng saßen, bis auf die Pumphosen. Als der Harlekin auf dem noch im Bau befindlichen Shopping Center erschien, sein Horn an den koboldhaft lachenden Lippen setzte, deutete und starrte alles hinauf. Er schimpfte hinunter. »Warum laßt ihr euch von ihnen herumkommandieren? Warum laßt ihr euch zwingen, herumzuwimmeln wie Ameisen oder Grillen? Laßt euch Zeit! Schlendert ein wenig herum! Freut euch des Sonnenscheins, freut euch des Windes, erlaubt dem Leben, euch in dem euch gemäßen Tempo zu tragen! Seid
nicht Sklaven der Zeit, denn das bedeutet nur langsamen Tod. Nieder mit dem Tick-Tack-Mann!« Wer ist der Narr? wollten die meisten wissen. Wer ist der Narr? O weh, ich bin zu spät dran, ich muß mich beeilen ... Und an die Bauarbeiter des Shopping Center erging der Befehl des Obersten Zeitnehmeramtes, den gefährlichen Verbrecher (bekannt als »Der Harlekin«) auf ihrem Dach sofort festzunehmen. Nein, sagten die Bauarbeiter, sie würden unwiederbringliche Zeit verlieren, aber der Tick-Tack-Mann zog an den richtigen Fäden, und sie erhielten Order, die Arbeit zu stoppen und diesen Idioten mit dem Horn auf dem Dach zu fangen. Ein gutes Dutzend kräftiger Arbeiter kletterte auf die Bauplattformen und fuhr mit Antigravitation zum Harlekin hinauf. Nach dem Debakel (in dem auf Grund der Behutsamkeit des Harlekins keiner ernstlich verletzt wurde) versuchten die Arbeiter, sich gemeinsam von neuem auf ihn zu stürzen. Aber es war zu spät. Er war verschwunden. Das Ganze hatte jedoch eine Menge Schaulustiger angezogen, und die Verkaufsplanung wurde um ganze Stunden zurückgeworfen. Somit geriet der Einkaufsrhythmus des Systems in Verzug, und Maßnahmen wurden getroffen, um ihn für den Rest des Tages zu beschleunigen, aber er nahm einmal ab, dann wieder zu, und es wurden zu viele Lorkiolen und bei weitem nicht genug Weggler verkauft, was bedeutete, daß das Popli-Verhältnis nicht stimmte, was es notwendig machte, kistenweise Schmetterfix an Geschäfte zu schicken, die gewöhnlich nur einmal die Woche ein wenig davon benötigten. Sendungen liefen falsch, Trans-Sendungen ver-
schwanden, und am Ende merkte es selbst die Luftboot-Industrie. »Kommt nicht wieder, bis ihr ihn habt!« sagte der Tick-Tack-Mann sehr ruhig, sehr bestimmt, und in sehr gefährlichem Ton. Sie arbeiteten mit Hunden. Sie arbeiteten mit Suchgeräten. Sie arbeiteten mit Kardio-Scheiben-Löschern. Sie arbeiteten mit Bestechung. Sie arbeiteten mit Einschüchterung. Sie arbeiteten mit Mißhandlung. Sie arbeiteten mit Spitzeln. Sie arbeiteten mit Polizei. Sie arbeiteten mit Lockmitteln. Sie arbeiteten mit Fingerabdrücken. Sie arbeiteten mit List. Sie arbeiteten mit Schläue. Sie arbeiteten mit Verrat. Sie arbeiteten mit Raoul Mitgong, was auch nicht viel half. Sie arbeiteten mit angewandter Physik. Sie arbeiteten mit der Technik der Kriminologie. Und sie fingen ihn auch. Sein Name war Everett C. Marm, und es war nichts Besonderes an ihm, außer daß er ein Mensch ohne Zeitgefühl war. »Bereue, Harlekin!« sagte der Tick-Tack-Mann. »Der Kuckuck soll Sie holen!« erwiderte der Harlekin höhnisch. »Sie haben insgesamt dreiundsechzig Jahre fünf Monate drei Wochen zwei Tage zwölf Stunden einundvierzig Minuten neunundfünfzig Sekunden null komma drei sechs eins eins eins Mikrosekunden Verspätung. Sie haben alles aufgebraucht, was Ihnen zusteht – und mehr. Ich werde Sie abschalten.« »Mich können Sie nicht einschüchtern. Ich bin lieber tot, als in einer blödsinnigen Welt mit einem Schreckgespenst wie Ihnen zu leben.«
»Es ist mein Job.« »Sie wollen nichts anderes. Sie sind ein Tyrann. Sie haben kein Recht, Menschen herumzukommandieren und sie zu töten, wenn sie zu spät kommen.« »Sie können sich nicht anpassen. Sie können sich nicht einfügen.« »Binden Sie mich los, und ich hau Ihnen die Faust aufs Maul.« »Sie sind ein Nonkonformist.« »Das war früher kein Verbrechen.« »Jetzt ist es eins. Sie müssen mit Ihrer Umwelt leben.« »Ich hasse sie. Es ist eine schreckliche Welt.« »Nicht alle denken so. Die meisten Menschen sind sehr für Ordnung.« »Ich nicht, die meisten Leute, die ich kenne, auch nicht.« »Das ist nicht wahr. Wie, glauben Sie denn, haben wir Sie gefangen?« »Interessiert mich nicht«, sagte der Harlekin. »Ein Mädchen namens Alice hat uns gesagt, wo Sie sind.« »Das ist eine Lüge.« »Es stimmt. Sie entnerven sie. Sie möchte an einen festen Platz gehören, möchte Gemeinschaft. Ich werde Sie abschalten.« »Dann tun Sie es schon und hören Sie auf, mit mir rumzustreiten.« »Ich werde Sie nicht abschalten.« »Sie sind ein Idiot!« »Bereuen Sie, Harlekin«, sagte der Tick-TackMann. »Hol Sie der Kuckuck.«
Man schickte ihn also nach Coventry. Und in Coventry wurde er überarbeitet. Es war genau wie das, was Winston Smith in »1984« passierte, und das war ein Buch, das keiner von ihnen kannte. Aber diese Technik ist wirklich recht alt, und man wendete sie bei Everett C. Marm an, und einige Zeit später erschien der Harlekin im Kommunikationsnetz, koboldhaft und mit Grübchen und hellen Augen und gar nicht gehirngewaschen und sagte, er habe sich geirrt und daß es eine gute, ja wirklich sehr gute Sache sei, Glied einer Gemeinschaft und pünktlich zu sein, und alle sahen ihn auf den riesigen Bildschirmen, die groß waren wie ein ganzer Häuserblock, und sie sagten zu sich selbst: Na, da sieht man's ja, er war eben doch nur ein Narr, und wenn das System mal so ist, dann machen wir's eben so, denn es hat keinen Sinn, gegen das Rathaus zu kämpfen, oder in diesem Fall gegen den Tick-Tack-Mann. Und Everett C. Marm wurde vernichtet, was angesichts dessen, was Thoreau bereits sagte, ein Verlust war. Aber man kann kein Omelett machen, ohne ein paar Eier zu zerbrechen, und in jeder Revolution sterben einige, die es nicht verdienen, aber so muß es sein, weil es nicht anders geht. Oder, um den Punkt klarzumachen: »Äh, entschuldigen Sie, Sir, ich, äh, weiß nicht, wie ich es, äh, ausdrücken soll, aber Sie waren drei Minuten zu spät dran. Der Zeitplan ist ein bißchen, äh, in Verzug.« Er grinste dümmlich. »Lächerlich!« murmelte der Tick-Tack-Mann hinter seiner Maske. »Lassen Sie Ihre Uhr überprüfen.«
Dann ging er in sein Büro und machte nur noch mrmee, mrmee, mrmee, mrmee.
Originaltitel: »REPENT, HARLEQUIN!« SAID THE TICKTOCKMAN
Joseph Green DIE ENTSCHEIDER 1 Langsam schwamm der Entscheider knapp unter der Oberfläche und lauschte dem Pulsschlag seines Volkes. Es war einige Zeit her, daß er zuletzt Nahrung zu sich genommen hatte, und seine Augen suchten, dem elementaren Bedürfnis gehorchend, nach Beute. Aber die Jagd behinderte nicht die geistigeren Funktionen, die den Gruppenteil seines Gehirns beschäftigten. Er schwamm nach oben, um Luft zu schöpfen, und warf, während sein Kopf über Wasser war, einen kurzen Blick auf den Versammlungsplatz der Menschen. Hundert Körperlängen entfernt standen die runden, grauen Gebäude wie übergroße Pilze am felsigen Ufer; durch den Schnee, den der Wind von den Bergen heruntertrieb, waren sie nur schemenhaft zu erkennen. Wieder untertauchend, bemerkte er links von sich etwas Dunkles, Glattes, und wandte sich dorthin. Der Fisch sah ihn und versuchte – zu spät – zu fliehen. Noch in Bewegung, kappte er ihm den Kopf ab, verschluckte ihn, packte dann den Körper mit seinen Netzfingern und verschlang ihn in zwei Bissen. Der Fliegende Fisch kommt, Entscheider, kam eine starke Projektion aus dem Süden. Es war die zusammengesetzte Stimme vieler Individuen, begleitet von dem klaren Bild eines kleinen geflügelten Schiffes. Er schwamm zur Oberfläche und blickte zum süd-
lichen Himmel. Das Schiff selbst war zu klein, um sichtbar zu sein, doch erlaubte ihm der Schein der flammenden Retro-Raketen, es zu orten. Dann sank es unter den Horizont, und die Flammen erloschen. Er bat alle Leute in seiner unmittelbaren Umgebung um Stärke, erhielt sie und projizierte. Sofort fand er das Schiff. Es bewegte sich jetzt schnell auf ihn zu. Ja, der Entscheider der Menschen war an Bord. »Wir sind auf Polarkreisbahn, Conscience Odegaard«, sagte der Pilot des Pendelschiffes zu seinem einzigen Passagier. »Die Bodenkontrolle meint, der Sturm wird nachlassen, bis wir eine Runde gemacht haben. Ich werde die Bodensichtplatte depolarisieren, so daß Sie einen Blick auf Sister werfen können, während wir warten.« Er drückte auf einen Knopf, und der Boden zwischen ihren Sitzen wurde milchig, dann transparent. Das grellgelbe Licht von Capella G flutete herein. Unter ihnen erstreckte sich tiefblaues Wasser endlos von Horizont zu Horizont. Der Pilot nahm noch ein paar letzte Einstellungen vor, lehnte sich dann zurück und sagte: »Atlantis ist auf der anderen Seite; in einer Minute fliegen wir darüber.« Allan Odegaard starrte mit müdem Desinteresse auf die Wasserfläche hinunter. Sie bewegten sich auf den Nordpol des Planeten zu, und bald kam der nordpolare Kontinent in Sicht. Er bemerkte ein schmales Eissims an einer niedrigen felsigen Küste. »Die Station ist darunter«, sagte der Pilot mit einer Handbewegung. Allans Blick folgte seinem Finger-
zeig, doch sah er nur die weißlichen Sturmwolken. Als sie weiter landeinwärts flogen, bemerkte er hohe Gebirge, deren gezackte Kämme einen riesigen Ring bildeten – das dominierende Kennzeichen des Kontinents. Eine in der Sonne glitzernde Eisschicht bedeckte den größten Teil des niedrigeren Geländes. Wie ein flacher Diamant in einer Tiffany-Fassung, dachte Allan. Dann waren sie wieder über dem Meer. »Das sind die ersten Gipfel von Atlantis«, sagte der Pilot und deutete wieder hinunter, und Allan sah drei kleine Inseln, die wie grüne Edelsteine aus dem blauen Wasser heraufschimmerten. Die zweite und dritte davon verlief in einer scharfen Kurve nach links. Dann wurde es wieder eintönig, bis sie den SüdpolarKontinent erreichten, wo die Gebirge noch höher zu sein schienen und die Eisschicht noch dünner. Aufatmend lehnte sich Allan zurück. Er wußte, daß er die gesamte Landmasse des Planeten gesehen hatte. Sister – oder Capella G Acht, wie er eigentlich hieß – war optisch viel weniger interessant als die meisten Planeten, und selbst die bemerkenswertesten fand er jetzt langweilig. Zu lange war er von zu Hause weg gewesen. Sobald dieser Auftrag einmal erledigt war, würde er auf einer Rückkehr zur Erde bestehen, selbst wenn es nur für einen Urlaub war. Ein Praktischer Philosoph konnte es sich nicht leisten, den Kontakt mit dem Volk zu verlieren, das er vertrat. Der Pilot war gut, das Aufsetzen kaum spürbar. Ein hochgewachsener, freundlich lächelnder Mann im Kälteanzug empfing Allan am Schiffsdock und half ihm dabei, seinen Helm abzunehmen. Die frische Luft war so eiskalt, daß er beim ersten Atemzug fast erstickte.
»Ich bin Stationsleiter Zip Murdock, Conscience Odegaard«, sagte der hünenhafte Mann in herzlichem Ton. »Und das ist Phyllis Roen, unsere Biologin.« Der kleine Mann an der Seite des großen Mannes sagte: »Ich fürchte, ich bin verantwortlich dafür, daß Sie hierherkommen mußten, Conscience Odegaard. Zip und die anderen sind der Ansicht, daß ein Problem überhaupt nicht existiert.« Murdock sah zur Ladeluke hinauf, wo der Pilot schon an dem kleinen Kran hantierte. »Fürs Abladen brauchen sie uns nicht. Gehen wir hinein. Dort können Sie sich's gemütlich machen, und dann wird Phyllis Sie über unser Problem informieren – wenn es eins gibt.« Die Sonne verschwand hinter einer hohen Bergflanke im Westen, und tiefe Schatten krochen über die Ebene. Zusammen gingen sie auf die zweihundert Meter entfernten, am Fuße eines Felsrücken gelegenen Schaumfab-Gebäude. Vom Kamm bis herunter zum Wasser war der Boden von Felsblöcken geräumt, die in zwei langen Wällen aufgeschichtet waren. Die der Küste zunächst gelegene Hälfte des geräumten Geländes diente als Landeplatz. Sie waren kaum ein paar Schritte gegangen, als hinter ihnen ein warnender Schrei ertönte. Allan fuhr herum und sah, daß sich die Szene plötzlich und dramatisch verändert hatte. Über die Felsböschung am Wasser und aus dem Wasser selbst kamen faustgroße Steine auf die Erdmenschen zugeflogen. Wild schreiend zog die Lade-Crew ihre Laserpistolen und suchte irgendwo Deckung. »Die Robben!« sagte Phyllis, und in ihrer Stimme war Angst. Murdock hatte bereits seine Laserpistole
gezogen, und ihr dunkelrotes Kristall blitzte im schwächer werdenden Licht. Angreifer waren nicht in Sicht, nur die Steine, die aus dem Nichts auf sie zuflogen. Murdock feuerte in sichtlicher Frustration auf ein paar Felsblöcke unweit von ihnen. Funken spritzten kurz aus dem getroffenen Stein, der zwar die Hitze absorbierte, nicht aber alles Licht. Auch die Waffen der Lade-Crew strahlten nun durch die Gegend. Das kleine Landefeld war ein Chaos von vielfarbigem Licht, huschenden Schatten und funkensprühendem Stein. Das Ganze schuf eine zwar flakkernde, aber doch ausreichende Beleuchtung. Allan bemerkte die erste Robbe, welche die schützenden Felsen verließ und auf das Wasser zueilte, einen verwundeten Kameraden mit sich zerrend. Sie waren klein, nicht halb so groß wie er, und ihre seltsam steifen Bewegungen wirkten ungeschickt, waren indessen erstaunlich schnell. Auch Murdock sah sie und legte seine Pistole an, aber der Strahl zischte durch die Luft, wo sie noch einen Augenblick vorher gewesen waren, ehe sie ins Wasser tauchten. Urplötzlich waren sie verschwunden. Jetzt war es wieder ruhig, und rasch kam die Dunkelheit über die schmale Küste. »Die kleinen Teufel werden allmählich frecher«, sagte Murdock und steckte die Pistole weg. »Das ist der erste bei Tageslicht unternommene Angriff auf dem Festland.« Allan bückte sich und hob einen der Steine auf, die eben zu ihnen herübergeflogen waren. Offenkundig war er vulkanischen Ursprungs und rundherum so behauen, daß seine scharfen Spitzen durch einen Raumanzug dringen konnten. Primitiv – aber tödlich.
»Wie konnten sie die denn so weit schleudern?« fragte er Phyllis, doch ehe sie antworten konnte, rief eine erregte Stimme: »Miss Roen! Miss Roen, ich habe eine gefunden, tot, hier zwischen den Felsen! Wollen Sie den Kadaver?« Allan sah, wie die kleine Frau sichtlich zögerte, bevor sie zurückrief: »Ja, bitte. Bringen Sie sie ins Labor.« »Ich sollte wohl einen Augenblick hierbleiben und mir den Schaden ansehen«, sagte Murdock und ging auf einen Mann zu, der auf dem Boden lag und sich den blutenden Arm hielt. »Wenn Sie einstweilen mit Phyllis gehen, Conscience Odegaard ...« Als sie sich den Gebäuden näherten, sah Allan zwei Posten auf Felsbuckeln stehen, wo sie das ganze Gelände beobachten konnten. Strahlendes Flutlicht erhellte die Umgebung der Gebäude. Offenkundig hatten sich diese Zivilisten auf Capella G Acht angewöhnt, ziemlich militärische Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Es gab keine Luftschleuse, aber das Stationspersonal hatte einen Vorraum gebaut, wo sie Raumanzug und Kälteanzug ablegten. Allan war froh, den schweren Anzug nun los zu sein. Als er sich umwandte, hatte auch Phyllis Roen sich ihrer Ausrüstung entledigt und wartete auf ihn. Die kleine Frau war offensichtlich eurasischer Herkunft. In ihrem tiefschwarzen Haar waren graue Strähnen, und ihre Gesichtszüge waren fein, ohne jedoch hübsch zu sein. Er schätzte ihr Alter auf etwa fünfunddreißig. Jedenfalls war er von ihr recht beeindruckt, und das war ein weiteres Anzeichen dafür,
daß er zu lange nicht mehr auf der Erde gewesen war. »Gefällt Ihnen, was Sie sehen, Conscience Odegaard?« fragte Phyllis, und obgleich sie lächelte, war eine Spur von Schärfe in ihrer Stimme. Er ertappte sich dabei, daß er sie angestarrt hatte. »Tut mir leid«, sagte er schnell. »Und bitte nennen Sie mich Allan.« Daß ›Conscience‹ eher ein populärer Name als ein wirklicher Titel war, und daß er es müde war, ihn zu hören, wollte er nicht sagen und verstummte. Ein Doktorat in Philosophie war seine höchste akademische Errungenschaft; zur Erlangung des Titels eines Praktischen Philosophen waren aber auch Diplome in Politik-Wissenschaft, Fremdpsychologie, Soziologie und Biologie erforderlich. Als ihr die einzigartige Verantwortung der Praktischen Philosophen bewußt geworden war, hatte die Öffentlichkeit sie alsbald Conscience – »Gewissen der Menschheit« – genannt. Der Name war ihnen geblieben. Der Mensch brauchte ein Gewissen in diesen Tagen. Die rasche Erforschung und Kolonisierung der Galaxie brachte ihn mit Dutzenden von völlig neuen und mit anscheinend unzähligen Abarten der schon bekannten Lebensformen in Kontakt. Immer wieder hatte man sich die Frage gestellt, ob die fremdartigen Geschöpfe in bewohnbaren Welten Tiere oder intelligente Wesen waren, und einige falsche Entscheidungen waren gefällt worden, bevor man das P. P.-Korps aufgestellt hatte. Die aufreibende akademische Routine schreckte alle ab bis auf die Mutigsten. Zur Stunde gab es weniger als ein Dutzend »Gewissen«, doch hatten sie das Problem einigermaßen unter Kontrolle
gebracht. Zumindest erklärten romantisch veranlagte Raumdienst-Kapitäne keine Planeten mehr für unkolonisierbar, weil die sie bewohnenden übergroßen Ameisen ungewöhnlich hochentwickelte Instinktverhaltensmuster aufwiesen. Dieses Mal war ihr Lächeln aufrichtiger. »Gut, Allan. Für Sie gilt das gleiche. Kommen Sie; ich führe Sie ein wenig herum. Nach dem Essen werden wir uns die tote Robbe ansehen.«
2 Der Körper des Entscheiders hatte sich lässig entspannt. Er war so nahe am Schlaf, wie dies seiner Art möglich war. Sein Geist indessen war immer noch wach. Während er automatisch zur dunklen Oberfläche hinaufschwamm, um Luft zu schöpfen, wandte er sich dem Problem seines menschlichen Widerparts zu, kam aber dann zu dem Schluß, daß es im Augenblick zu viele unbekannte Faktoren gab. Er war nicht in der Lage, seine Funktion auszuüben. Zu einer Schlußfolgerung kam er jedoch, und er übermittelte sie jenen Individuen, deren seinen Geist zusätzlich erweiterndes Bewußtsein es ihm ermöglichte, ein Entscheider zu sein. Der Schluß lautete, daß sein Volk im Augenblick keinen weiteren Angriff mehr unternehmen würde. Jetzt waren die Menschen am Zug. Beim Essen lernte Allan etwa die Hälfte der vierzig Wissenschaftler der Station kennen und stellte fest, daß eine fröhlich-optimistische Stimmung herrschte. Auf manchen kleinen Stationen auf absolut feindseli-
gen Welten hatte er mit ansehen müssen wie ständige Isolation die persönlichen Beziehungen immer weiter verschlechterte, bis die gesamte Mannschaft auch den Gedanken an Mord nicht mehr von sich wies. Phyllis nannte eine Menge Namen und Berufszweige, und er war überrascht, hier hauptsächlich Meteorologen, Geologen und Eisspezialisten anzutreffen. Sonst waren es meistens Chemiker, Biologen und die neuen »Umwelteinrichter.« Zip Murdock kam nicht zum Essen. Anscheinend hatten er und die Lade-Crew noch draußen zu tun. Der Donner der startenden Pendelrakete drang durch die Wände, als Phyllis Allan in das Labor führte. Die Robbe lag im Kühlraum, der entsprechend der Außenatmosphäre belüftet war. Phyllis besorgte leichte, doch warme Kleidung. Dann gingen sie hinein. Allan betrachtete das auf einem Tisch liegende Tier. Die glatte Haut wies am Nacken ein tiefes Loch auf. Erst beim Anblick des Kopfes hatte er den Eindruck, daß es tatsächlich eine Robbe war. Die Nase war schwarz und platt, der Schnurrbart lang. Unmittelbar über dem Maul erhob sich gewölbt die Stirn. Aber der Körper machte die Illusion zunichte. Der Unterleib teilte sich in zwei kurze Beine, deren jedes in einer großen, platten Pfote endete. Die oberen Glieder waren ebenfalls kurz, wiesen aber Gelenke auf und endeten in langen, knorpeligen Fingern mit einer Membran dazwischen. Allans geübte Hand ging über die Muskulatur eines Beins. Die großen Vorder- und Hintermuskeln waren gleichstark ausgebildet, was fürs Schwimmen sehr vorteilhaft, für eine Gehbewegung aber eher von
Nachteil war. Dennoch, zwei von ihnen hatte er tatsächlich laufen sehen, als sie sich nach jenem kurzen Angriff auf das Landefeld zum Wasser zurückgezogen hatten. Er fragte Phyllis, wie sie das machten. Sie lächelte, und auf ihrem kleinen Gesicht wirkte es wie koboldhaftes Grinsen. »Sie halten Sie zum Narren, Allan. Ihre Adaptationsfähigkeit ist ein wenig größer, als es den Anschein hat. Sehen Sie.« Sie hob eine der Pfoten vom Tisch hoch, hielt das Bein mit der anderen Hand und bewegte langsam die Pfote. Sie gab nach, bis sie senkrecht zum Körper stand, und er bemerkte, daß sie ein sehr flexibles Knochengelenk aufwies. Sie ließ das Bein fallen, rollte das Geschöpf auf die Seite und verdrehte die andere Pfote in entgegengesetzter Richtung. Auch sie ließ sich bis zur Senkrechten drehen. »Eine Pfote nach vorn, eine nach hinten. Eine sehr stabile Anordnung«, sagte Phyllis. »Auf dem Land bewegen sie sich so mit relativer Leichtigkeit, obwohl es uns schwerfällig vorkommt. Und wie sie mit diesen Armen Steine werfen, haben Sie ja gesehen.« »Nicht mit den Armen. Sehen Sie, was man bei diesen Burschen gefunden hat.« Allan ging zu einem anderen Tisch, nahm einen langen Streifen Haut, den sie nicht bemerkt hatte, und legte die Enden zusammen. In der Mitte bildete sich ein Beutel. »Eine Steinschleuder! Ausgerechnet.« Eine Nuance der Bewunderung war in Phyllis' Stimme. »Nun, das sollte Zip wirklich überzeugen, falls das noch nötig ist.« »Daß die Robben Intelligenz besitzen? Das bezweifle ich. Tiere haben schon immer Werkzeuge benutzt.«
»Ja, aber – früher hatten die so was nicht, wissen Sie. Sie leben fast nur im Wasser, und die einzigen Artefakte, die wir feststellen konnten, waren geschärfte Basaltspeere. Dies ist eine Waffe für das trokkene Land. Sie haben sie erfunden, um uns damit zu bekämpfen.« »Das ist interessant, aber noch kein Beweis. Dieser Kontinent war schon mehrmals trockenes Land, soviel ich weiß. Da wäre es durchaus möglich, daß diese Kreaturen schon in der Vergangenheit Schleudern benutzten und instinktiv die Kenntnis bewahrten.« »Als Erklärung ist das weit einleuchtender als Intelligenz«, sagte eine neue Stimme. Allan wandte sich um und sah Murdock, der von draußen in den Kühlraum kam. Der hochgewachsene Mann stieß sich den Schnee von den Schuhen und trat dann zu ihnen. »Hmmm, ganz schön fett. Den sollten wir morgen kochen, Cissy.« »Zip! Bei dem Gedanken daran, daß wir schon welche gegessen haben, wird mir immer noch übel!« »Und sie schmeckten ein wenig nach Fisch, aber nicht schlecht«, sagte Murdock fröhlich. »Tausendmal besser als unsere Konzentrate. Aber ich muß mich jetzt umziehen und essen. Lassen Sie sich nicht von dieser verrückten Frau beschwatzen, Conscience Odegaard.« »Ich ziehe keine voreiligen Schlüsse«, sagte Allan bedächtig. Murdock und die meisten der Wissenschaftler hier waren Angehörige einer Universität; die größeren Universitäten hatten sich mehr und mehr dem Gebiet der Kolonisationsforschung zugewandt und Privatgesellschaften fast verdrängt, weswegen die Regierung seit langem die betreffenden Kontrakte
überwachte. Diese Leute hatten starkes Interesse daran, daß er sich gegen die Robben entschied. Wenn intelligente Lebewesen als solche anerkannt wurden, wurde der Planet grundsätzlich seinen eingeborenen Eigentümern belassen. »Gut. Cissy ist in dieser Frage voreingenommen und macht auch gar kein Hehl daraus. Wir sehen uns dann später.« Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte sich Allan der Frau zu und fragte: »Ist sein Ton Ihnen gegenüber nicht ein wenig vertraulich, selbst in Anbetracht dessen, daß es sich hier um eine nichtmilitärische Organisation handelt?« Sie warf ihm einen kühlen Blick zu. »Vielleicht, aber nur deswegen, weil er sich vertraut fühlt. Wir haben einen Versuchsehevertrag geschlossen und haben die Vollheirat vor, sobald wir wieder auf der Erde sind.« »Ah, ich verstehe. Eigenartig; ich hätte nicht gedacht, daß Sie im Typ zusammenpassen.« Sie zuckte die Achseln. »Wer sagt denn, daß wir das tun? Vielleicht ist es auf beiden Seiten nur Sexualtrieb und die Neigung das zu nehmen, was sich gerade bietet. Jedenfalls leben wir zusammen und waren auch glücklich, bis wir begannen, uns über die Robben zu streiten. Sie habe ich gegen seinen Widerstand hierher geholt; das wird er mir lange nicht vergessen.« Allan wünschte, er hätte sich nicht in so persönliche Gefilde begeben. Es war anmaßend von ihm, und ihre Antwort hatte ihm seine eigene tiefe Einsamkeit bewußt gemacht und neue Bitterkeit in ihm aufkeimen lassen. Kay hatte sich, als er ihr eröffnet hatte,
daß er im Weltraum arbeiten wollte, alsbald von ihm scheiden lassen; eine »Witwentrauerzeit« hatte es für sie nicht gegeben; sie hatte sich wiederverheiratet, bevor er noch seine Studien beendet und die Erde verlassen hatte, und wenn er seine Kinder besuchte, nannte seine kleine Tochter schon einen anderen Mann Vater. Das Leben eines normalen Raumfahrers war hart genug, doch kehrte er zumindest alle zwei Jahre einmal auf die Erde zurück. Allan war seit acht Jahren nicht mehr zu Hause gewesen. Auf einem Planeten nach dem anderen hatte sich ein bestimmtes Problem ergeben, zu dessen Lösung es der Autorität eines P. P. bedurfte. Darüber hinaus brachte die immer weitere Kreise ziehende Exploration schneller neue Probleme, als die alten entschieden werden konnten. Wenn er nicht Widerstand leistete, würde er vielleicht für den Rest seiner Tage von Welt zu Welt hüpfen und nie zu einem eigenen Leben kommen. Allan entschied sich für raschen Rückzug. »Wenn Sie schon eine Sektion vorgenommen haben, möchte ich gerne Ihre Aufzeichnungen sehen«, sagte er und wandte sich zur Tür. »Diesen Burschen werde ich mir morgen selbst vornehmen.« »Natürlich«, sagte Phyllis, ebenso schnell wieder sachlich geworden wie er. »Ich habe schon mehrere Sektionen gemacht, und mir ist noch nie ein Körper untergekommen, der besser für Schwimmen und Gehen zugleich eingerichtet gewesen wäre. Das Gehirn jedoch ist – sehr merkwürdig. Sie müssen sich das selbst ansehen.« Sie begleitete ihn zu seinem Zimmer, verabschiedete sich mit dem Hinweis, daß sie sich später noch
in der Halle sehen würden. Sein Gepäck war bereits da. Eine Stunde später machte er sich rasiert, geduscht und in frischer Kleidung auf den Weg zur Halle. Die meisten Angehörigen des Personals, die gerade nicht Dienst hatten, waren da, auch Murdock. »Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir, Allan!« rief er ihm zu. »Teilen wir uns doch meinen Shaker.« Murdock trank Maquella, ein leicht berauschendes Getränk von Centaurus Vier, das keine Nachwirkungen hatte. Allan ließ sich ein Glas davon geben und setzte sich. »Wie gefällt denn unsere Operation bis jetzt?« fragte Murdock freundlich. »Ich weiß noch zu wenig darüber, um schon eine Vorstellung zu haben. Können Sie mir vielleicht in groben Zügen Ihre Pläne skizzieren? Daß Phyllis die einzige Biologin hier ist, wundert mich; auch ist es das erste Mal, daß mir ein Klassifizierungs-Team mit so vielen Glacialisten begegnet.« »Darüber könnte er den ganzen Abend reden«, sagte Phyllis, die auf der anderen Seite von Murdock saß. »Entscheidend ist, daß Sister der Erde so sehr ähnelt, daß wir Chemiker und Biologen kaum brauchen. Das einzige echte Problem ist, wie wir Atlantis heraufbringen sollen, und allgemein ist man der Anschauung, daß es mit einer leichten Veränderung des Wetters zu bewerkstelligen wäre.« »Ja, wir brauchen lediglich eine neue Eiszeit«, sagte Murdock mit leisem Lachen. »Aber vielleicht sollte ich Ihnen kurz das Wichtigste sagen. Die mittlere Temperatur auf Sister ist etwas höher, als sie für Menschen angenehm ist, und offenes Land existiert fast nicht. Zunächst sieht hier alles nicht sehr vielver-
sprechend aus. Doch dieser Planet hat eine sehr vorteilhafte Besonderheit. Alle drei Hauptlandmassen, die beiden Pole und Atlantis, zeichnen sich durch dasselbe Charakteristikum aus – einen großen Kreis vulkanischen Gebirges, der das niedrigere Binnenland umgibt. Atlantis ist der größte und niedrigste der drei Kontinente und befindet sich fast ganz unter Wasser. Wir schlagen vor, nicht etwa den Kontinent zu heben, sondern den Meeresspiegel zu senken. Das geht auf relativ einfache Weise. Trotz des hohen Feuchtigkeitsgehaltes der Luft ist Sister arm an Niederschlägen. Auf Grund der überaus kleinen Landfläche und der geringen Vulkantätigkeit ist die Atmosphäre außergewöhnlich sauber, es gibt also sehr wenig Staub, der die Kondensationskerne für Regentropfen liefert. Die Niederschläge hängen fast völlig von großen Kondensationskernen ab, aber auch die kommen wenig vor, da die Ozeane nur einen geringen Salzgehalt aufweisen und die Luft daher sehr wenig Chlornatrium enthält. Kurz, unser Vorschlag lautet, die Niederschlagsmengen zu erhöhen, indem wir den kleinsten der vier Monde dergestalt sprengen, daß er sich weitgehend in Staub auflöst. Mit Hilfe der Explosionen werden wir ihn auf niedrigere als Kreisbahngeschwindigkeit bringen und in der oberen Atmosphäre einen Staubregen erzeugen, der viele Jahre lang anhalten wird. Die Niederschläge werden Tausende von Prozent höher sein als jetzt. Über den beiden Polarregionen werden sie als Schnee herunterkommen, und seine schnelle Anhäufung auf den beiden umschlossenen Kontinenten wird die bereits existierenden Eisfelder anwachsen lassen, bis ein beträchtlicher Prozentsatz des Wasservorrates des Pla-
neten dort als Eis festliegt. Der Meeresspiegel wird sinken – wir schätzen etwas über hundert Meter –, und dadurch wird der ganze Gebirgsring und etwa die Hälfte des Inneren von Atlantis über dem Meeresspiegel liegen. Darüber hinaus werden die Temperaturen auf ein erträgliches Maß sinken. Und dann können Sie uns die Kolonisten schicken.« »Klingt fast zu einfach«, sagte Allan nachdenklich. »Natürlich waren das nur die groben Umrisse. An ein paar wichtigen Einzelheiten arbeiten wir noch, etwa an den großen Sonnenspiegeln über den Polen, die durch einen fortgesetzten Prozeß des Schmelzens und Wiedergefrierens den Schnee dort in Eis verwandeln sollen. Vier Spiegel sollen über den dann größten Seen des Kontinents errichtet werden, um sie trockenzulegen und gleichzeitig die Niederschläge zu vermehren. Wenn durch das Absinken des Wasserspiegels Flußläufe entstehen, werden wir diese zu regulieren haben. Und so gibt es noch ein paar tausend Details, von denen wir sicher an manche noch gar nicht denken. Dies wird der erste Versuch sein, einen ganzen Planeten mit Hilfe von Wetterbeeinflussung erdähnlich zu machen. Wenn es aber gelingt, wächst innerhalb eines Jahrhunderts Gras auf neun Zehnteln von Atlantis, und das ist eine Fläche von fast dreizehn Millionen Quadratkilometern. Die Bodenbearbeitung durch die Kolonisten wird für Nachschub an Staub sorgen, so daß die neue Niederschlagsrate dann aufrechterhalten bleibt.« »Es ist wirklich ein großes Unterfangen, doch glauben wir alle, daß es durchführbar ist«, sagte Phyllis ernst. »Wenn Sie diese riesigen Flächen mit den winzigen Landgebieten auf manchen der neuen Planeten
vergleichen, wo jeder Quadratmeter Boden behandelt und nachbehandelt werden muß, bevor Erdpflanzen darauf wachsen können – dann beginnen Sie vielleicht zu verstehen, welch großartige Chance sich uns hier eröffnet.« »Ja, wir haben mindestens zweitausend Proben aus den höhergelegenen Teilen von Atlantis entnommen«, sagte Murdock. »Sie zeigen, daß es in den letzten einhunderttausend Jahren dreimal auftauchte und wieder überflutet wurde, offenbar ein Ergebnis vulkanischer Tätigkeit, die ein zeitweises Anwachsen des Staubanfalls brachte. Jedesmal, wenn das Wasser zurückwich, entwickelte sich starkes pflanzliches Leben, und es gibt eine recht dicke Humusschicht, die wirtschaftliche Nutzung erlaubt. Sowohl Flora wie Fauna sind reich und vielfältig, und es gibt Tiere wie die Robben, die sowohl im Wasser wie auf dem Lande leben können. In zweihundert Jahren kann Sister vielleicht hundert Millionen Menschen ernähren.« »Aber Klimakontrolle ist immer noch keine exakte Wissenschaft, nicht einmal auf der Erde. Wissen Sie wirklich so genau, wie Ihr Staub und Ihre Spiegel die Vorgänge auf diesem Planeten beeinflussen werden?« »Nein, aber wir sind uns sicher genug, um das Unternehmen empfehlen zu können, sobald wir mit unserer jetzigen Aufgabe, das Fassungsvermögen der Pole für Eis festzustellen, fertig sind. Außerdem gibt es kein intelligentes Leben, dem wir Schaden zufügen könnten, falls es schiefgeht.« Phyllis warf Murdock einen zornigen Blick zu, ging aber nicht auf die Herausforderung ein. Die meisten anderen hatten inzwischen mit unterdrücktem Gähnen die Halle verlassen. Die kleine Eurasierin erhob
sich, sagte Allan gute Nacht und ging ebenfalls. »Ich biete Ihnen meine Mithilfe an, soweit es in meinen Kräften steht«, sagte Murdock und stand auf. »Lassen Sie mich nur wissen, was Sie brauchen.« »Danke. Ich werde wahrscheinlich darauf zurückkommen. Phyllis und ich werden morgen diese Robbe sezieren und sehen, was sich feststellen läßt.« Was sie dann an Erkenntnissen gewannen, hatte Phyllis schon fast alles gewußt. Nach vier Stunden intensiver Arbeit schob Allan seinen Stuhl vom Tisch zurück und schaltete den Rekorder ab, auf dem er seine Erkenntnisse fortlaufend festgehalten hatte. Die Robbe war im Grunde eine Abart ihrer entfernten Vettern auf der Erde. An ihrem Körper war nichts von ungewöhnlichem Interesse – bis auf das erstaunliche Gehirn. Die Schädelkapsel war niedrig und eng, das Hirn selbst kaum ein Viertel so groß wie das eines Menschen. Dennoch war es anders als alles, was er bisher gesehen hatte. Sie wuschen sich und gingen zu Tisch. Phyllis war eine brauchbare, wenn auch keine überragende Assistentin gewesen, und die Notizen, die sie sich über ihre kargen Beobachtungen der Verhaltensweise der Robbe gemacht hatte, waren keine Hilfe. Ihr Glaube an die Intelligenz dieser Geschöpfe gründete offenbar mehr auf weiblicher Intuition als auf nüchterner Beobachtung. »Wir haben, glaube ich, so viel gelernt, wie man von einem toten Exemplar eben lernen kann«, sagte er nach dem Essen. »Was wir brauchen, ist eine lebendige Robbe. Wie können wir eine kriegen?« »Eine schwierige Frage. Nach einem Angriff brin-
gen sie ihre Verwundeten weg, und sie im Wasser zu fangen, ist fast unmöglich. Ein paar von den Männern versuchten es, als wir sie ...« – sie verzog mit einem Ausdruck des Widerwillens den Mund – »noch aßen.« »Ich werde es heute abend mit Murdock besprechen«, sagte Allan. Ich müßte es sein! Seine Individualität behielt jetzt einmal die Oberhand, als der Entscheider es klar und deutlich in die Nacht hinaus projizierte. Es ist mein Risiko, deshalb sollte es auch mein Körper sein! ... Aber die leisen doch drängenden Stimmen der Individuen, die in das Artgedächtnis integriert waren, riefen Nein! Nein! Es darf nicht sein! Kein Risiko für den Entscheider. Kein Risiko. Kein Risiko ... Und er gab nach und verdrängte das Bedürfnis, sich selbst als Köder für die Falle der Menschen anzubieten. Doch wurde eine Entscheidung notwendig. Die Menschen hatten eine Arbeitsgruppe in die Nähe der Küste entsandt, wobei in der Hoffnung, die Robben zum Angriff verleiten zu können, die Arbeit nach Einbruch der Dunkelheit fortgesetzt werden sollte. In allen Felsnischen verbargen sich Männer mit Betäubungsgewehren, und an drei exponierten Punkten hatte man verborgene Scheinwerfer eingerichtet. Die Bewegungen der Robben mußten geplant werden, um sicherzustellen, daß die Menschen nur die eine von der Gruppe ausgewählte fingen. Außerdem mußte der Angriff echt aussehen, mußte wirken, als seien viele daran beteiligt, während in Wirklichkeit nur die kleinstmögliche Anzahl der Gefahr ausgesetzt wurde.
Das Wort »Taktik« kam ihm in den Sinn, und fast auf der Stelle meldete sich ein Antwort-Impuls. Einer der neuen Gedächtnisträger, die nur das menschliche Wissen enthielten ... Er analysierte das Wort und seine Nebenbedeutungen, schaltete sich auf drei andere Gedächtnisbank-Einheiten auf, um relevante Daten und mögliche Schlußfolgerungen zusätzlich in Betracht zu ziehen. Dann hatte er seinen Plan. Einer der Menschen war ein begeisterter Anhänger eines auf der Erde geübten Spieles, bei dem täuschende Körperbewegungen und mannschaftliche Bemühungen um die Beförderung eines »Ball« genannten Objektes in einen bestimmten Teil des abgesteckten Feldes eine Rolle spielten. Er formulierte die notwendigen Details und übermittelte sie sofort an ausgewählte Einheiten seines Volkes.
3 Allan drückte sich in eine Felsnische und beobachtete das Wasser. Die zwei größeren Monde wanderten langsam über den klaren Himmel, und die Küste war gut beleuchtet. Er wandte sich eine Sekunde ab, um seine Augen zu reiben, und als er wieder hinunter sah, wimmelte es an der Küste von gedrungenen Leibern. Fast war es, als hätte er ihnen, als er wegsah, das Signal zum Angriff gegeben. Aufrecht und steifbeinig, aber flink kamen die Robben aus dem Wasser gerannt. Von seinem Beobachterstand aus konnte Allan sehen, wie ihre Anführer die Schleudern zu schwingen begannen. Er zog seine Laserpistole und schickte einen grellroten Strahl
zum Himmel. Sofort gingen die Scheinwerfer an und strahlten hell auf den Streifen hinter den Felsen, wo die Robben sich versammelt hatten. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe ließen ihre Werkzeuge fallen und zogen ihre Betäubungspistolen; die in den Felsnischen verborgenen Männer sprangen auf und suchten nach Zielen. Der Angriff kam zum Stehen. Die Robben stürmten zum Meer zurück auf der Flucht vor der jetzt offenkundigen Falle. Allan sah, wie sie sich ins Wasser stürzten, und rieb sich die Augen. Er hätte schwören können, daß es viel mehr gewesen waren, als es jetzt den Anschein hatte. »Ich hab eine!« ertönte ein jubelnder Ruf; »ich auch!« ließ eine andere Stimme sich vernehmen. Plötzlich jedoch wurde Allans Aufmerksamkeit abgelenkt. Kaum fünf Meter entfernt tauchte urplötzlich eine Robbe auf und schwang ihre Schleuder, wobei sie ihn unverwandt ansah. Hastig zog er seine Betäubungspistole, schoß daneben, schalt sich selbst einen zerstreuten Professor, der in einen Vorlesungssaal gehörte, feuerte erneut und sah das kleine Wesen fallen. Krachend schlug das scharfkantige Geschoß vor seinen Füßen auf. Plötzlich gingen die Scheinwerfer aus. Wilde Schreie ertönten, als die Menschen, deren Augen sich erst an das Mondlicht gewöhnen mußten, plötzlich der Sicht beraubt waren. Allan tastete sich zu der betäubten Robbe und kauerte bei ihr nieder. Sie hatten mehrere davon gefangennehmen wollen, doch erinnerte er sich der Gewohnheit der Tiere, ihre Verwundeten mitzunehmen, und ging kein Risiko ein.
Bald hatte jemand die Stelle gefunden, wo das Stromkabel unterbrochen worden war, und die Scheinwerfer leuchteten wieder auf. Der Kampflärm war jetzt erstorben, und Allan stellte fest, daß keine Angreifer mehr in Sicht waren. »He! Meine Robbe ist weg!« rief der Mann, der als erster eine Gefangennahme gemeldet hatte, als könne er es kaum glauben. »Meine auch!« sagte eine weitere Stimme, und andere Männer begannen durch die Felsen zu klettern und nach Robben zu suchen, deren Fall sie sicher beobachtet zu haben glaubten. Als sich die Aufregung gelegt hatte, stellte Allan fest, daß sie nur einen Gefangenen hatten ... seinen. Die kleine Kreatur im Käfig zuckte mit den langen Barthaaren bewegte sich ein wenig und hob dann den Kopf. Die Lider öffneten sich, und Allan starrte in ein leicht vorstehendes Paar goldener Augen. Die dicken schwarzen Lippen öffneten sich, als die Robbe auf fast menschliche Weise gähnte und dabei die langen Schneidezähne eines Fleischfressers zeigte. Mit hörbarem Klacken der Zähne schloß sich das Maul dann wieder. »Aus der Nähe sieht es sogar intelligent aus«, sagte Phyllis leise, und der Gefangene wandte ihr die goldenen Augen zu. Sie und Allan waren allein im Kälteraum. Ich bin nicht intelligent im Sinne der Menschen, meldete sich eine kühle, klare Stimme in ihrer beider Gehirnen. Als Einzelwesen bin ich ein Tier und werde hauptsächlich von ererbten Instinkten geleitet. Aber ich gehöre zu einer geistig vereinten Rasse und die in meinem Gehirn
vereinten Anlagen stellen zusammen ein Intelligenzpotential dar. Die beiden Menschen wandten sich im gleichen Moment einander zu und sahen, daß auch der andere die Botschaft empfangen hatte. Kurz herrschte Stille, bis sie die ganze Tragweite des Gehörten erfaßt hatten; dann stieß Phyllis einen Freudenschrei aus. »Und ich hab's doch gesagt! Oh, dieser Dickkopf; ich hab's ihm gesagt, ich hab's ihm gesagt!« So ansteckend ihre Begeisterung war – Allan zwang sich zur Ruhe. Wachsende Erregung erfüllte ihn und beschleunigte seinen Atem – diese unerwarteten Entdeckungen waren es, die seine Arbeit erst lohnend machten –, aber jetzt war nicht die Zeit, Gefühlen nachzugeben. Etwas Merkwürdiges war an dieser geistigen Stimme. Man hatte den Eindruck, als spräche eine ganze Gruppe, wobei eine einzelne Stimme über die anderen zu dominieren schien. »Wie kann ich am besten in Kommunikation mit Ihnen eintreten?« fragte er laut. So wie jetzt. Ihre Gedanken sind unklar, wenn Sie sie nicht vokal artikulieren. »Dann möchte ich zuerst ...« – seine Gedanken arbeiteten fieberhaft, wobei sich manches, was sich während der letzten Stunden ereignet hatte, plötzlich zu einem zusammenhängenden Muster fügte – »... erst möchte ich wissen, warum Sie nur einen Scheinangriff auf die Arbeitsgruppe führten und sich absichtlich gefangennehmen ließen.« Weil wir direkte Kommunikation wünschen. Wir glauben, daß Sie darüber entscheiden werden, ob diese Menschen, die sich jetzt hier befinden, wieder gehen oder aber
bleiben und viele andere herbeiholen werden. »Das ist meine Aufgabe, ja. Doch inwiefern interessiert Sie meine Entscheidung?« Es folgte ein kurzes Schweigen. Allan spürte, wie Phyllis' Hand seinen Arm umklammerte, während er wartend in die ihn unverwandt anblickenden goldenen Augen starrte. Endlich projizierte das Wesen: Es wäre am besten, wenn Sie diese Einheit zu einem Treffpunkt begleiteten; ich bin nur ein Botschafter. Der Entscheider möchte Sie in Anwesenheit eines kompletten Gedächtnisses von Angesicht zu Angesicht treffen. Allan wandte sich Phyllis zu. Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr Ausdruck verriet, was sie fürchtete. Eine Falle? Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder der Robbe zu. Sie hatte ihr Maul geschlossen, so daß die dicken Lippen die scharfen Zähne verbargen. Zum erstenmal bemerkte er jetzt, wie die großen Augen, das nach unten gezogene Maul und der überstehende Schnurrbart der Robbe ein tragikomisches Aussehen gaben das an die traurigen Clowns eines alten Zirkus' erinnerte. »Ich gehe mit Ihnen«, sagte er laut. »Solange Sie hier sind, bin ich für Ihre Sicherheit verantwortlich!« sagte Murdock verärgert. »Ich lasse das einfach nicht zu!« »Sie können mich nicht daran hindern.« Allan bemühte sich seine Stimme zu dämpfen. Ungeachtet der aufgesetzten Freundlichkeit des Mannes hatte er Murdock von Anfang an nicht gemocht, und der Zeitpunkt seines unerwarteten Widerstandes war so schlecht gewählt, daß es sich nur um vorsätzliche Obstruktion handeln konnte. »Ich habe die Befugnis, das
Kommando über diese oder jede andere Zivilstation zu übernehmen und werde Sie ohne Federlesens aus Ihrer Position als Projektleiter entlassen, falls das notwendig wird.« Murdock sprang auf und baute sich drohend vor seinem kleineren Gegenüber auf. Sein Gesicht war feuerrot, und seine großen Hände ballten sich zu Fäusten. Allan ertappte sich bei dem Gedanken, ob Murdock sich tatsächlich nicht entblöden würde, auf ihn loszuschlagen. »Mich abzulösen ist vielleicht nicht so einfach, wie Sie denken!« bellte Murdock. Sie waren allein in seinem Privatbüro, und seine Stimme war ohrenbetäubend. »Seien Sie nicht kindisch. Das Personal der Station kennt die Autorität eines Praktischen Philosophen genau. Es wird keine Gefängnisstrafe riskieren, indem es Sie unterstützt.« »Sie tun aber mächtig stark, Sie Bürschchen.« »Bitte. Wollen Sie mir jetzt ohne weiteren Kommentar die nötige Ausrüstung bereitstellen?« Murdock stellte sie bereit. Eine Stunde nach Tagesanbruch schwammen Allan und die Robbe in etwa sechs Meter Tiefe in nordwestlicher Richtung durch das blaue Wasser. Die Standard-UnterwasserAusrüstung der Station bestand aus einem Raumanzug mit auf den Rücken montiertem Propeller und einem einfachen Geschwindigkeitsregler zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Die Höchstgeschwindigkeit betrug etwa fünfzehn Stundenkilometer, und den Kopf zwecks besserer Sicht ständig nach hinten gebeugt und die Arme ständig
fast nach vorn gestreckt halten zu müssen, fand Allan ermüdend. Um sie herum, wenn auch in respektvoller Entfernung, waren Kampfrobben mit Basaltspeeren. Phyllis hatte ihm versichert, sie habe gesehen, wie eine Gruppe dieser Robben mit diesen geschärften Steinen den größten Fisch dieser Gegend erlegt hatte. Noch eine lange, ermüdende Stunde verging, bis sein Begleiter projizierte: Halten Sie auf das Eis zu und gehen Sie etwas hinunter. Verlangsamen Sie Ihre Geschwindigkeit. Er gehorchte. Einen Augenblick später sah er vor der weißen Eiswand einen dunklen, schnell größer werdenden Schatten. Sich langsam darauf zubewegend, erkannte er, daß es ein Tunnel mit grob behauenen Wänden war. Die Robbe schwamm ihm voraus. Nach ein paar Metern wurde die Decke höher, und er schwamm aufwärts. Als er die Oberfläche erreichte, fand er sich in einer Szene von eigenartiger, doch bezaubernder Schönheit wieder. Es war eine geräumige Grotte in einem an der Küste festliegenden Eisberg. Der Berg hatte auf eigenartige Weise gekalbt, so daß eine große offene Höhlung entstanden war, deren Seiten dann wieder zusammengewachsen waren. Die Decke war dünn, und durch mehrere lange Sprünge drang Sonnenlicht ein. Die goldenen Strahlen trafen auf eine Eiswand, die sie in phantastischen Farbenspielen zurückwarf. Von einer Seite zur anderen reflektiert, erzeugten sie eine gleißende Helligkeit, die mehr verbarg, als sie enthüllte. Die massiven Wände waren sehr uneben und wiesen zahlreiche scharfe, hervorspringende Kanten
auf. Es war ein Märchenpalast aus Glas und Kristall, aus tausendfach gebrochenem Licht und sanften Schatten. Für Allan Odegaard war es das Schönste, was er jemals gesehen hatte: Am kleinen Ufer lagen etwa dreißig erwachsene Robben, die ihn aufmerksam mit ihren Blicken verfolgten. Als er aus dem Wasser watete, bemerkte Allan, daß sie einen Halbkreis bildeten. In ihrer Mitte war das Tier, das nur der Entscheider sein konnte.
4 Die beiden Entscheider sahen einander an; die goldenen Augen der Robbe blickten in die braunen Augen des Erdenmenschen. Allan schaute auf seinen Umwelt-Indikator und nahm seinen Helm ab. Es roch ein wenig nach Fisch, doch war die Luft frisch und kühl. Willkommen an diesem Versammlungsplatz, kam eine gebieterisch starke Projektion, und wieder war sie aus vielen einzelnen Sinneselementen zusammengesetzt, wenngleich die dominierende Persönlichkeit die des Entscheiders war. Wir haben Sie hierher gebracht, um den Beweis anzutreten, daß wir im Sinne Ihrer Vorstellungen von »Rasse« und »Intelligenz« eine intelligente Rasse sind. Wir wünschen, daß Sie die Besetzung dieses Planeten durch Erdenmenschen für ungesetzlich erklären, den Abzug der jetzigen Besetzer anordnen und keine neue Besetzung zulassen. »Ich stehe nicht an, zu erklären, daß Ihr als Rasse intelligent seid«, sagte Allan langsam. »Wenn aber diese geistige Fähigkeit durch Zusammenfassung einzelner Sinneselemente zustande kommt und Sie
als Individuen nur erheblich geringere Intelligenz aufweisen – dann handelt es sich hier um eine ganz besondere Lebensform, die weiteres Studium erforderlich macht. Im Augenblick würde ich gern wissen, warum Sie uns zum Verlassen des Planeten auffordern.« Wir wissen, was die anderen Erdenmenschen – diejenigen welche die Eigenheiten von Wind, Wasser und Eis verstehen – hier tun wollen. Seit dem Jahre, da unser Rassengedächtnis entstand, ist das Eis dreimal angewachsen, die See gesunken, das Gebiet, das Sie Atlantis nennen, zur Hälfte zu Land geworden, auf dem grüne Pflanzen wuchsen. Dreimal hat sich unser Volk in dieser Zeit auf das Land begeben, nur um zurück ins Meer getrieben zu werden, als das Eis wieder schmolz. Aus dem Wissen der Erdenmenschen haben wir abgeleitet was wir schon selbst vermuteten, nämlich, daß wir als Rasse keinerlei Fortschritt machen können, bis wir uns von der See als Umwelt befreit haben. In weiteren achttausend unserer Jahreszeiten wird das Eis wieder wachsen wie früher. Wir werden aufs feste Land gehen wie früher. Dieses Mal aber werden wir anwenden, was wir vom Geist der Besetzer übernommen und in unserem Gedächtnis bewahrt haben: Wir werden die Wissenschaft der Physik meistern, die notwendige Technologie entwickeln und lernen, das Klima zu kontrollieren wie Sie. Eine Überflutung des Landes wird es nicht mehr geben. Ruhig und gebieterisch formten sich die Worte und drangen langsam durch die Nervenbahnen seines Gehirns, und Allan mußte sich eingestehen, daß er dieses Volk für fähig hielt, seine Pläne auch auszuführen. »Sie haben also alles Wissen der Menschen hier
übernommen und es in Ihrem Rassengedächtnis gespeichert?« Bis auf Ihres. Aber auch das werden wir in ein paar Nächten haben. »Da Ihr meine Gedanken lesen könnt, wißt Ihr, daß ich eine sehr schwierige Entscheidung zu fällen habe. Es würde mir helfen, wenn ich wüßte, was Euer ›Rassengedächtnis‹ ist und wie es funktioniert. Daneben würde ich gerne wissen, was Eure Ziele sind, wenn Ihr Euch einmal auf festem Lande befindet, und außerdem, wie Ihr sie erreichen wollt.« Diese Fragen sind leicht beantwortet. Unser Gruppengedächtnis ist eine angesammelte Menge von Wissen, das dem Gedächtnis junger Individuen bei der Geburt eingeprägt wird – mindestens drei solcher Jungen erhalten ein Gedächtnis-Segment. Wir sind eine kurzlebige Rasse und sterben nach acht unserer Jahre eines natürlichen Todes. Sobald ein Individuum, das einen Teil des Gedächtnisses in sich trägt, den Tod nahen fühlt, überträgt es diesen Teil auf ein neugeborenes Kind. So wird das Wissen auf ewig von Generation zu Generation übertragen. Was unsere Ziele betrifft, so sind sie den Ihren ähnlich. Wir haben – es trat eine kurze Pause ein – wirtschaftlichen Wohlstand erreicht. Bei uns gibt es keinen der Konflikte zwischen Individuen, die Ihre Gesellschaft kennzeichnen. Aber das ist nicht genug. Wir streben an, das Leben des Individuums innerhalb der Rasse zu verbessern, wozu die Verlängerung der normalen Lebensspanne, die Ausschaltung von Feinden, die Vervollkommnung der medizinischen Wissenschaft – ein für uns neues Konzept – und die Entwicklung der Fähigkeit, Freude zu empfinden, gehört die unserem Leben bis jetzt noch fehlt. All dies können wir mit Hilfe des jetzt in unserem Gedächtnis gespei-
cherten Wissens erreichen, sobald dieses Land wieder bewohnbar ist. Und wieder haben die Erdenmenschen eine unschuldige Rasse korrumpiert, dachte Allan bitter. Wir können Ihre Gedanken lesen, wenn Sie so stark projizieren. Unter »Korruption« verstehen Sie ein erweitertes Wissen über die einem intelligenten Wesen offenstehenden Wahlmöglichkeiten und eine Tendenz dazu, diejenigen Möglichkeiten zu wählen, die den größtmöglichen Lustgewinn im Leben versprechen. Warum betrachten Sie das als Rückschritt? »Das, fürchte ich, wäre zu schwer zu erklären. Vielleicht verstehe ich es auch selbst nicht so recht«, sagte Allan grimmig. »Für den Augenblick muß es für Sie genügen, zu wissen, daß ich eine Entscheidung fällen muß, die für Ihre Zukunft von allergrößter Bedeutung ist. Ich gebe freimütig zu, daß sie mir überaus schwerfällt.« Da Sie uns selbst als intelligente Rasse einschätzen, sollte Ihnen die Wahl nicht schwerfallen. Wenn Sie bereit sind, wird eine andere Einheit Sie zu Ihrer Basis zurückbringen. Sobald Sie Ihre Entscheidung getroffen haben, sagen Sie sie laut, und wir werden sie hören. Vergessen Sie nicht: Wenn Sie sich zum Bleiben entschließen, werden wir Sie auf jede in unserer Macht stehende Art und Weise bekämpfen. Langsam setzte Allan seinen Helm wieder auf und ging auf das Wasser zu. Er fühlte sich wie ein Mann, der zuviel gegessen hat und nichts weiter wünscht, als sich irgendwo zu verkriechen, um unbelästigt verdauen zu können. Indes war seine Mahlzeit eine geistige gewesen, und vielleicht würde er sich lange Zeit in einer Art Dämmerzustand befinden, bevor er alles, was er erfahren hatte, zur Gänze verstand.
Der Rückweg verlief ereignislos, und am Mittag war er in Murdocks Büro. Nur Phyllis und der Stationsleiter waren anwesend. Allan erstattete einen kurzen Bericht und beobachtete den ungläubigen Ausdruck auf Murdocks Gesicht. Auch Phyllis wirkte ziemlich verblüfft. »Heißt das also, daß Sie definitiv entschieden haben, daß eine einzelne Robbe kein intelligentes Wesen ist?« fragte Murdock, als er sich wieder gefaßt hatte. »Ich habe noch keine Entscheidung getroffen. Diese Fähigkeit, die Geisteskapazität von Einzelnen zusammenzufassen, ist für uns neu. Sie muß erst erforscht werden.« »Daß ihre Gruppenintelligenz ein einzigartiges Phänomen ist, ist kein Grund, den einzelnen Mitgliedern der Gruppe Intelligenz abzusprechen«, erklärte Phyllis mit Nachdruck. »Ich werde vermutlich noch mit Ihnen darüber zu reden haben.« Murdocks Stimme war gewollt ausdruckslos. »In der Zwischenzeit könnten Sie ja mal essen gehen. Phyllis, hast du noch einen Moment Zeit?« Allan verstand, daß er verabschiedet war, und stand auf. Er war hungrig. Als er sich aber an den Tisch setzte, schienen ihm die Konzentrate seltsam geschmacklos zu sein. Immer noch mußte er an die erfrischende Kühle der Luft in der Grotte, an die Schönheit des im Sonnenlicht blitzenden Eises und an die eigenartige, uralte Weisheit denken, die er bei einer Gruppe Robben gefunden hatte. Wie seltsam, daß sie als Rasse die Ziele erreicht hatten, um die sich die besten Philosophen der Erde seit Jahrtausenden bemühten, und dann zu der Überzeugung gelangt wa-
ren, daß die Bedürfnisse des Einzelnen nicht weniger wichtig waren als die der Rasse. Immer noch gab es Sozialreformer auf der Erde, die den Menschen nur als »Gruppe« oder »Masse« vor Augen hatten. Nach dem Essen legte er Kälteausrüstung an und ging hinaus. Mit seiner Verantwortung ringend und ihre Notwendigkeit in Zweifel ziehend, schritt er den ganzen Nachmittag am Strand auf und ab. Als er in der Dämmerung zur Station zurückkehrte, hatten sich seine Überlegungen in Einzelgedanken aufgelöst. Lose Bruchstücke, Eindrücke und Erinnerungsfragmente schwebten durch seinen Sinn ... Wir haben wirtschaftlichen Wohlstand erreicht, aber das ist nicht genug ... Korruption ist ein erweitertes Wissen über die einem intelligenten Wesen offenstehenden Wahlmöglichkeiten und eine Tendenz dazu, diejenigen Möglichkeiten zu wählen, die den größtmöglichen Lustgewinn im Leben versprechen ... Wir werden Sie auf jede in unserer Macht stehende Art und Weise bekämpfen ... Die Erinnerung an das Blut aus dem Körper des Fisches, bevor die Robbe ihn, ohne zu kauen, verschlang, die traurigen Clownsgesichter, das unwiderstehliche Bedürfnis, in ihnen eine Art putziger Haustiere zu sehen ... Gedanken, Gefühle und Wünsche mit seinesgleichen zu teilen, ein Ganzes zu bilden, das größer wäre als die Summe seiner Bestandteile – wie würde das sein? Jetzt fühlte der Entscheider große Gedankenkraft in sich – einen Intellekt von gewaltiger Stärke. Als er in das Stationsgebäude trat, wurde gerade sein Name ausgerufen. Er folgte der Aufforderung, in Murdocks Büro zu kommen. »Setzen Sie sich, Allan.« Die aufgesetzte Freundlichkeit und die trügerische Herzlichkeit waren jetzt
verschwunden, als wüßte Murdock, daß sie jetzt nicht mehr sinnvoll waren. Seine Stimme war hart und unpersönlich. »Ich werde Ihnen jetzt einige Informationen über Sister geben, die sie in den normalen Berichten nicht finden. Alle, die im Besitz dieser Informationen sind, haben sich zu striktem Stillschweigen verpflichten müssen. Nicht, daß das etwa bei Ihnen nötig wäre.« »Danke«, sagte Allan steif. »Die Uranvorkommen der Erde sind, wie Sie wissen, fast gänzlich erschöpft. In ihrer Begeisterung über diese neue ›Sonnenlicht-Diffusionsmethode‹ zur Elektrizitätserzeugung und -übertragung hat die Öffentlichkeit Tausende anderer industrieller und medizinischer Anwendungsmöglichkeiten der Atomkraft ein wenig vergessen. Man glaubt, daß ein wirklich unbeschränktes Energiepotential, das überall und zu jeder Zeit verfügbar ist, alle Probleme lösen wird. In Wirklichkeit steigt der Uranbedarf Tag für Tag, nur wird es immer weniger in abbauwürdigen Mengen gefunden. Sister ist ein sehr reicher Planet. Die Proben, die wir Atlantis entnommen haben, weisen auf bedeutende Vorkommen von Uranid und Davidit sowie Pechblende, Carnotit und Tobernit hin. Das Davidit ist hauptsächlich in einem bestimmten Hochplateau konzentriert, das in fünf Jahren über Wasser sein wird. Ich wage zu prophezeien, daß wir innerhalb von zehn Jahren hier eine Raffinerie haben und Erz zur Erde schicken werden. Ich kann gar nicht genug betonen, wie wichtig das ist.« »Sehr interessant, Zip, aber ich sehe den direkten Zusammenhang nicht. Selbstverständlich ist Ihnen bewußt, daß wirtschaftliche Überlegungen auf die
Entscheidung eines P. P. keinerlei Einfluß haben.« »Ach, hören Sie auf! Dieses Geschwätz über das ›Gewissen der Menschheit‹ zieht bei mir nicht. Wenn die Nachricht von diesen Vorkommen gewissen Kreisen auf der Erde zu Ohren kommt werden sie innerhalb von Minuten für den Entzug Ihrer Vollmachten sorgen, sollten Sie irgendwelche Schwierigkeiten machen.« »Glauben Sie wirklich?« fragte Allan. Seine Stimme war leise, fast sanft. »Da bin ich ganz sicher. Idealismus hat seinen Wert. Echten Bedürfnissen jedoch darf er niemals im Wege stehen.« »Sollte Ihr plötzlicher Zweifel an der Autorität eines P. P. irgendwie im Zusammenhang stehen mit Tantiemen, die Ihre Universität verlieren würde, sollte ich gegen Sie entscheiden?« Mit hochrotem Gesicht sprang Murdock auf. »Können Sie nicht verstehen, daß ich an das Wohl der gesamten Menschheit denke?« »Vielleicht«, sagte Allan mit einem Seufzer der Resignation. »Auch für mich stehen die Bedürfnisse der gesamten Menschheit im Vordergrund, wenn auch in einer Art, die Sie möglicherweise nicht verstehen. Aber Ihre Information kommt ein wenig spät. Ich habe meine Entscheidung bereits getroffen. Morgen früh werde ich wieder Ihre Unterwasser-Ausrüstung brauchen.« Als er etwas später zurück in seinem eigenen Zimmer war, sprach er mit lauter Stimme: »Ihr sagtet, daß Ihr mich hören könnt. Wollt Ihr das bitte bestätigen.« Wie elektrische Spannung lag plötzlich ein Gefühl
der Gegenwärtigkeit in der Luft, als hätte jemand einen Telefonhörer aufgenommen und hielte ihn sich ans Ohr, ohne zu sprechen. Er wartete. Einen Augenblick später fragte die ruhige, vielfache Stimme: Was ist Ihr Wunsch? »Ich möchte noch einmal mit dem Entscheider sprechen, persönlich. Würden Sie bei Tageslicht jemanden schicken, der mich zum Versammlungsplatz bringt?« Erneut folgte kurze Stille, und er konnte beinahe die Bewegungen des Äthers spüren, die durch die jetzt stattfindende Beratung verursacht wurden. Dann sagte die Stimme: Es soll geschehen. Die wunderbar schöne Grotte schien unverändert bis auf die Tatsache, daß jetzt noch einige der speertragenden Krieger zusätzlich anwesend waren. Man traute ihm nicht, was darauf schließen ließ, daß ihre Fähigkeit, Gedanken zu lesen, beschränkt war. Er hatte keinen Verrat, keine List beabsichtigt. Aus dem Zentrum der Gedächtnisbank seiner Rasse blickte ihn der Entscheider mit goldenen Augen unverwandt an. Dieses Mal haben Sie uns hierher gerufen. Allan atmete in tiefen Zügen die kalte Luft und ging, während er sprach, mit großen Schritten den schmalen Uferstreifen auf und ab, ohne die Robben anzusehen. »Sie sagten, Sie hätten bis zu unserem Kommen keine Vorstellung von medizinischer Wissenschaft gehabt. Verstehen Sie die Bedeutung des Wortes ›spielen‹? Denn ich setzte jetzt Ihre Zukunft aufs Spiel, ohne auch nur im geringsten zu wissen, wie das Spiel enden wird. Erlauben Sie mir, Ihnen meine Gründe und meine Entscheidung mitzuteilen,
die ich im übrigen bereits zur Erde übermittelt habe.« Die ihm am nächsten befindlichen Wachen kamen noch näher heran, und ihre Speere hoben sich merklich. Er spürte, daß etwas Bedrohliches in der Luft lag, und fragte sich, ob es nicht ein Fehler von ihm war, persönlich hier zu erscheinen. Es wäre fast kurios, wenn er in diesem Eispalast stürbe, wo er doch so oft in weit größerer Gefahr geschwebt und lebend davongekommen war. »Lassen wir Sie in Ruhe, dann wird es achttausend Jahre dauern, bevor Robben wieder das Land betreten, doch wird das dann mit Sicherheit der Fall sein. Wenn wir Ihren Planeten besetzen und es zum Krieg kommt, werden Sie viele Erdenmenschen töten, bevor Sie zum Schluß überwältigt und selbst getötet werden. Doch geben Sie sich keinen Illusionen hin: Sie werden ausgerottet werden. Der Mensch ist ein durchtriebener, rücksichts- und erbarmungsloser Gegner, und wenn er sich vornimmt, Sie zu vernichten, dann schafft er das auch. Eure gekochten Körper werden ihm zur Speise dienen, auch wenn die Gehirne, die er zerschmettert, ein Rassengedächtnis bergen, das weiter in die Vergangenheit zurückreicht als sein eigenes. Aber ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß weitere tausend Generationen Ihrer Art den Launen des Meeres ausgeliefert sein sollen, dem sie nicht mehr als ihre tägliche Existenz abringen können. Auch will ich keinen Krieg zwischen uns. Meine Entscheidung lautet, zu melden, daß Sie unzweifelhaft eine intelligente Art sind ... Meine Empfehlung wird jedoch lauten, die auf Herstellung von erdähnlichen Verhältnissen abzielende Operation fortzuführen und
mit der Kolonisierung zu beginnen.« Durch die Robben ging eine Bewegung, während die ihm zunächst befindlichen Wächter ihre Speere hoben und weiter auf ihn zukamen, bereit, ihn damit zu durchbohren. Ein Blick auf die wartenden Krieger und dann zum Entscheider sagte ihm, daß sein Leben an seinen nächsten Worten hing. Er hatte keine Vorstellung gehabt, wie sie reagieren würden. Seine geringen Kenntnisse von Gemeingehirnen erlaubten ihm keine Schlüsse. Irgendwie hatte er jedoch nicht geglaubt, daß Sie auf der Stelle persönliche Rache üben würden. »Ich bin ein Erdenmensch«, sagte er langsam und deutlich. »Manchmal bin ich stolz auf meinesgleichen gewesen, manchmal habe ich mich ihrer geschämt. Aber das Risiko, das ich eingehe ist kalkulierbar auf Grund einer Kenntnis der menschlichen, Ihrer und anderer Rassen, die selbst Ihre so ungeheuer weit zurückreichende Erinnerung nicht aufwiegen kann. Wenn die Kolonisten meiner Empfehlung folgen – mit Ihnen zusammenarbeiten, Ihnen auf dem Land helfen und dafür von Ihnen im Meer Hilfe erfahren – dann sehe ich keinen Grund, warum die beiden Rassen nicht gemeinsamen Fortschritt erarbeiten sollten. Ungeachtet unserer Geschichte habe ich genug Zutrauen zum Menschen, um anzunehmen, daß er seinen Teil der Vereinbarung erfüllen wird. Werden auch Sie dieses Vertrauen aufbringen und Ihre Rasse zur Zusammenarbeit mit der meinen verpflichten?« Schweigend sah der Entscheider ihn an, und Allan spürte etwas wie wissendes Mitgefühl für einen Einzelnen, der den Weg seiner ganzen Rasse zu bestimmen hat. Die Stille hielt an. Die Wächter um ihn her-
um senkten ihre Speere nicht. Der Erdenmensch wartete auf das Wort, das über sein persönliches Schicksal bestimmen würde. Zu der Entscheidung, daß die beiden Rassen zusammenarbeiten konnten, war er durch Überlegung gekommen; zu der, sie den Robben persönlich mitzuteilen, durch einen plötzlichen Impuls. Ob Überlegung und Impuls richtig gewesen waren, würde er jetzt erfahren.
Originaltitel: THE DECISION MAKERS
Lin Carter UNGESAMMELTE WERKE Merkwürdig, daß Sie mich fragen, ob mir das Altwerden etwas ausmacht. Das Alter hat mich in letzter Zeit wirklich sehr stark beschäftigt. Sehen Sie, mein Junge, es hat mich so unmerklich langsam eingeholt, daß ich es kaum bemerkte. In letzter Zeit ist es nun eine gewisse Kurzatmigkeit, die mir mein Alter bewußt macht, und spürbares, unregelmäßiges Herzklopfen, wenn ich töricht – oder vergeßlich – genug bin, Treppen zu steigen oder mich weiter auf die Klippen am Ufer hinauszuwagen, als ich es für gewöhnlich tue. Das Alter ist ein eigenartiges Phänomen, wenn ich es so nennen darf (denn um meines inneren Friedens willen würde ich es lieber zu den unvorhersehbaren Wechselfällen statt zu den mit Bestimmtheit eintretenden Ereignissen des Lebens zählen). In meinem Fall beschränken sich die Symptome – abgesehen von gewissen kleineren physischen Widrigkeiten wie die, welche ich eben nannte – recht angenehmerweise auf einen Mangel an – wie soll ich es nennen? – Erregbarkeit vielleicht? Die brennenden Themen der Literatur, die mir in jüngeren Jahren so ungeheuer wichtig erschienen, können jetzt in mir kaum mehr als vages Mißfallen oder Vergnügen erwecken. Die Temperatur meines Nachmittagstees interessiert mich jetzt mehr als die Gegenwartsliteratur, und die Gesundheit meiner El-Martinique-Rosen berührt mich stärker als der Niedergang eleganter Umgangsformen ... Themen, an
denen ich einst mit derart eifernder Leidenschaft Anteil nahm, daß ich jetzt nur noch mit einer gewissen Verlegenheit daran denken kann. Einem Literaturkritiker (oder einem, wie ich meine ›Berufung‹ sehr gern nannte, Apostel der Literatur) verlangt das Leben doch selten heftige physische Aktivität oder emotionales Engagement ab. Deswegen werde ich auch eines möglichen Nachlassens meiner körperlichen Kräfte und Fähigkeiten kaum gewahr. Was das Leben selbst anbelangt ... wissen Sie, junger Mann, wenn ich auf meine Handvoll Jahre zurückblicke, finde ich es merkwürdig schwer, die Fäden meines persönlichen Lebens aus dem Gewebe meiner beruflichen Karriere zu lösen! Stört Sie das? Aber es ist wahr: Ich bin mir zum Beispiel nicht sicher, was in den letzten Jahren unangenehmer für mich war: Der Tod meiner dritten Frau oder die beklagenswerte Stupidität der illustren Mitglieder der Schwedischen Literaturakademie, die es nicht fertigbrachten, dem großen Ezra Pound vor seinem Tode den Nobelpreis zu verleihen (er sagte immer, er würde mich zumindest lange genug überleben, um einen grimmigen Epitaph für meinen Grabstein schreiben zu können; den letzten Band seiner Canzoni habe ich leider zu sehr verrissen). Und immer wieder stelle ich fest, daß ich rückblickend die Ereignisse meines Gefühlslebens mit denen meiner Karriere verknüpfe ... »Wann begegnete ich Per Lagerkvist?« frage ich mich zum Beispiel. »Ach ja, in jenem Sommer, als Barbara und ich die Villa auf Capri gemietet hatten!« oder: »Wo war ich denn nun eigentlich, als Roger geboren wurde?« – »Natürlich, ich korrigierte die Druckfahnen meines Filigran!«
(Kommt jungen Leuten so etwas unmenschlich vor? Nun, vielleicht ist es das. Wer war es – Bertrand Russell? – der einmal bemerkte, daß »Bücher ein verdammt unzureichender Ersatz für das Leben« sind. Ich fürchte, ich bin der lebende Beweis für diesen Satz ... Obwohl ich immer darauf erwiderte: »Ja, aber ein Leben ohne Bücher ist gottverdammt leer.«) Wie bitte? Ah – Sie lesen Filigran. Nun, das war eine nette Kleinigkeit, beschäftigte mich aber doch einen ganzen Sommer. Wirklich schön, zu sehen, daß junge Journalisten wie Sie von den Autoren, über die sie schreiben, tatsächlich auch etwas lesen! Mit Vergnügen stelle ich fest, daß die Jugend sich noch meiner erinnert. Mein größter Kummer ist, daß die Götter mich nicht dazu ausersahen, selbst literarische Werke zu schaffen, sondern für jene weniger bedeutende Zukunft bestimmten, die nur Kommentare über Gelesenes von sich gibt. Es schmeichelt mir deshalb, daß Sie den weiten Weg hierher nicht gescheut haben, um »Stoff« über einen alten Autor zu sammeln, der nur über andere Autoren schrieb. Und daß Ihre Zeitschrift (tut mir leid, daß ich sie nicht kenne, aber es gibt so wenige, so furchtbar wenige amerikanische Zeitschriften hier) sich überhaupt derart für einen alten Literaten interessiert, daß es Sie für ein Interview diese lange Reise machen läßt, überrascht mich. Ich hoffe, hoffe wirklich, daß Sie von mir keine Aussage über Mr. Kerouac und sein Werk wollen und mich nicht fragen, warum ich damals in Paris nicht an Mr. Graves' feierlichem Diner teilnahm ... Wie? Ob das mein größter Kummer ist? Nein, wahrscheinlich nicht. Mir fehlt das, sagen wir, Stehvermögen für schöpferische Arbeit. Ein erstrangiger
Schriftsteller braucht eine gewisse physische Ausdauer wie Tom Wolfe, der sechsundvierzig Stunden lang ununterbrochen auf seinem Kühlschrank in Langschrift schrieb, oder Hemingway, der zehn Stunden lang nur von Gin und schwarzem Kaffee leben konnte. Auf einer Schreibmaschine zu tippen, ist harte Arbeit, junger Mann, glauben Sie mir! Erdlöcher auszuheben ist vergleichsweise leicht – jedenfalls habe ich das gehört. Was ich am meisten bedauere? Ah, welch eine interessante Frage! Hauptsächlich, könnten Sie schreiben, daß ich Yeats niemals begegnet bin. Oder daß ich ungemein bedauere, daß ich diese ätzend sarkastische Kritik von Joyces Porträt des Künstlers als junger Mann, als es 1913 (oder um diese Zeit herum) in Fortsetzungen in The Egoist erschien. Aber nein, das hieße ja, Ihnen zu sagen, was Sie hören wollen, und außerdem sieht es so aus, als wollte ich selbst Ihnen diese Frage entlocken. Soll ich Ihnen etwas verraten, junger Fremdling? Nun gut. Am meisten bedauere ich, daß ich nicht mehr lange genug leben werde, um jenes erhabene Denkmal amerikanischer Belletristik, Willard Pactons Die Irrenden, lesen zu können. Etwa vierzig Jahre nach meinem Tod (wenn die hiesigen Ärzte mein jetziges Befinden zutreffend einschätzen) wird es erst gedruckt werden. Oder daß ich niemals den gnadenlosen Witz jener funkelnden Komödien genießen kann, die dem noch ungeborenen Juan Ramon Chiminez als den »argentinischen Shakespeare« unsterblich machen werden ... Oder jene berauschenden Sonette, die Adoratinos, die Claude de Montaubon in sechsundsiebzig Jahren veröffentlichen wird. Was sollte ein
alternder Kritiker sonst bedauern, als jene noch ungeschriebenen Meisterwerke der Zukunft, deren Schöpfer das Licht der Welt erst erblicken werden, nicht zu kennen? Können Sie mir das nachfühlen, junger Mann? Und Sie brauchen mich gar nicht so anzusehen ... Mein Geist ist intakt, wenn mein Körper auch etwas abgenutzt ist. Ich weiß, Sie könnten es niemals wagen, das, was ich Ihnen sagen werde, zu schreiben. Dennoch, keinem Menschen habe ich es je offenbart. Erlauben Sie also einem geschwätzigen und einsamen alten Mann, Ihnen hier, im Schatten dieser Sommerrosen, sein Herz auszuschütten ... Seinen Namen kannte ich nicht. All die Jahre ist er für mich immer nur eines gewesen: Der Gentleman in Grün. Er ist mir immer ein Rätsel geblieben. Manchmal frage ich mich, ob ich ihm wirklich begegnet bin oder ob seine hochgewachsene Gestalt einem Tagtraum entstammt. Vielleicht war er eine Ausgeburt meiner Phantasie, erträumt an einem lauen Herbstnachmittag über einem kühlen Glas guten Chateau Medoc ... Kennen Sie Paris? Ah, wenn Sie Paris überhaupt kennen, kennen Sie auch das Linke Ufer. Von der Place de l'Opéra führt eine schmale gepflasterte Seitenstraße zu der alten St. Stephans-Kirche hinauf. Vor siebzig Jahren gab es ein winziges, schmutziges Bistro in dieser holprigen Straße, die sich zick-zack und in Mäandern nach oben windet. Von Bernettes Glokkenturm dort mit seinen überkragenden Bogen und barocken, geschlechtslosen Engeln, auf deren im Wind wehenden, zu Bronze erstarrtem Haar Tauben
nisten, sprach einmal der ganze Kontinent. Unweit davon liegt die Dachstube, wo Nerval einst lebte, und bergab, in Richtung zur Oper, das Stuckgebäude, dessen Concierge, wenn man sie mit einem Geldschein fragt, Merkwürdiges über d'Auberville und die anderen zum Kreis der Paladine gehörenden Dichter berichten könnte, die sich an proustischverregneten Nachmittagen dort versammelten und Manifeste zur Wiederbelebung der Literatur entwarfen. Ich war noch kaum einen Monat in Paris. Der unerwartete Erfolg meines ersten (und einzigen) dünnen Versbändchens Mandragore war mir zu Kopfe gestiegen. Noch nicht ganz zwanzig, floh ich die bourgeoise, erstickende Atmosphäre Amerikas und hoffte, in der Lichterstadt jenes Elysium zu finden, in dessen reiner, anregender Atmosphäre ich perfekte Verse würde schreiben können und in dessen erlauchten Salons ich den mir gebührenden hervorragenden Platz einnehmen würde. Ah – wie herrlich war es doch, jung und ein Künstler zu sein und in Paris leben zu können in jenen trüben Tagen! Es war Walhalla und Dorado in einem, wo Heine starb und Proust vor sich hinträumte. In jeder Dachstube saß ein emsiger junger Degas, und ein paar dahingewelkte Rimbauds dekorierten noch die pittoreskeren Gassen und Gossen und kritzelten mit Pastellkreide »Dieu est mort!« an die Wände. Ich hatte einen kräftezehrenden Tag verbracht. Zwei Verleger hatte ich besucht, angstvoll und zitternd und ohne Ergebnis, und hatte mit einem bärtigen russischen Emigranten, der wie eine ungeschorene Ziege aussah und unerschütterlich daran glaubte,
daß die Zukunft der »modernen« Poesie in der Nachahmung Puschkins in vers libres liege, über Dichtung gesprochen. Auf dem Heimweg kehrte ich in ein kleines Bistro ein, um mir ein kühles Glas und ein warmes Brötchen zu genehmigen. Es war voll von Touristen, die nachmittags die Kathedrale besucht hatten, und so teilte ich einen Ecktisch mit einem älteren Herrn von gelehrter, ja professoraler Erscheinung. Er war schlank und grau an den Schläfen und trug, ärmlich aber sauber, einen alten, flaschengrünen Anzug mit spitzen Revers, wie sie in dieser Breite schon vor einer Generation aus der Mode gekommen waren, und halb verborgen unter einem ebenfalls grauen Spitzbart, einen losen foulard um den Hals. Wie immer, wenn zwei Fremde an einem Tisch sitzen, ignorierten wir einander bis auf heimliche Seitenblicke. Einen Pernod vor sich, an dem er nur ab und zu nippte, saß er zurückgelehnt da und beobachtete das Publikum. Wenn er zum Glas griff, sah ich seine Hände: Sie waren ölverschmiert und ließen darauf schließen, daß er Erfinder war, während sein langes Haar und seine vornehm verblichene Kleidung mehr einen Künstler in ihm vermuten ließen. Sein Gesicht war im Schatten, doch erinnerte mich das Profil mit dem vorstehenden Spitzbart und der patriarchalischen Raubvogelnase überaus an den Kardinal Giambatiste in der El GrecoSammlung des Louvre. Ich holte ein Exemplar meines Buches hervor (ich fürchte, ich trug stets eines bei mir, das ich in der Öffentlichkeit ostentativ aufzuschlagen und ganz gefesselt zu lesen pflegte) und begann, es durchzublättern. Der Garçon nahm meine Bestellung entgegen, und
mein Tischnachbar trank sein Glas aus. Irgendwie kamen wir ins Gespräch. Ich war sehr stolz auf mein (wie ich glaubte) sehr aristokratisches Französisch und nahm begierig die Gelegenheit wahr, mein sprachliches Können zu zeigen und keinen Zweifel daran zu lassen, daß ich die Amerikaner, die in Paris englisch sprachen, als bloße touristes geringschätzte. Er lockte mir meinen Beruf heraus und gab ganz beiläufig sehr bemerkenswerte literarische Kenntnisse zu erkennen, die mein Interesse erregten. Seines höflichen Protestes nicht achtend, ließ ich ihm einen zweiten Pernod bringen – ich selbst, den geborenen connoisseur spielend, trank Medoc – und lauschte ihm, als er sagte: »Wie Sie an meinen Händen sehen können, junger Herr, bin ich Techniker. Mechaniker, wenn Sie wollen. Ich habe das Glück, einige ohne große Anstrengung in meiner Jugend erworbene Patente zu besitzen, die mir ein ausreichendes Einkommen für ein Leben in Muße garantieren und die Möglichkeit geben, in Ruhe meine Experimente durchzuführen. Bis jetzt gibt es noch keinen Namen für meine Spezialität ... Für mein eigenes Amüsement habe ich sie Bibliochanik genannt. Als ich als junger Student in Prag war – sicher lange vor Ihrer Geburt, mein junger Freund – las ich sehr viel und, wie ich fürchte, wahllos. In einem der philosophischen Werke war ein Bild, oder eine Metapher, die den jungen Intellektuellen, der ich damals war so gefangennahm, daß sie die bestimmende Motivation für mein späteres Leben wurde. Vielleicht erinnern Sie sich: Es ist die Vorstellung, daß fünfzig Millionen sinnlos vor sich hinkritzelnde Affen (denn das war
lange bevor die Schreibmaschine erfunden wurde) schließlich auf den Buchstaben genau Montaignes Gesammelte Werke schreiben würden.« Ich nickte geistesabwesend – zu meiner Zeit hatte man in diesem Kontext »Shakespeares Werke« gesagt. Indes ließ ich ihn kommentarlos fortfahren, neugierig, wohin all dies führen sollte – wie Sie jetzt sicherlich auch. Er rückte sein Monokel zurecht, nippte an seinem Pernod und fuhr fort: »Ich war besessen von diesem Paradoxon. Das Verbum stimmt: es war, als hätte ein Dämon von mir Besitz ergriffen. Ich war fasziniert, ja regelrecht bezaubert von dieser Idee. Später, als ich an der Universität Mathematik und Symbolische Logik studierte, war ich ganz außer mir, als ich entdeckte, daß selbst eine so unglaublich anmutende Vorstellung durchaus im Bereich des Möglichen lag. Wie Sie wissen, ist die Anzahl der möglichen Buchstabenkombinationen innerhalb eines Alphabets durchaus begrenzt. So, wie es der Philosoph (war es St. Goudet?) im Auge hatte, würde die Sache natürlich fünfzigtausend Jahre dauern. Aber immerhin war es möglich. Und so wurde ich etwas, was man ExperimentalIngenieur nennen könnte. Ein sehr erfolgreicher übrigens, wenn ich so unbescheiden sein darf, die Wahrheit zu sagen. In den folgenden, sehr geschäftigen und ereignisreichen Jahren blieb ich weiter im dämonischen Banne dieser Besessenheit. Als ich dank meiner Erfindungen schließlich finanziell unabhängig war, begann ich, mit dem Gedanken zu spielen. Wiederum ist das Verbum sehr angemessen, denn ich spielte müßig mit der Idee, wenn es mir einmal langweilig war. Die meisten Erfinder meiner Jugendzeit
verwahrten irgendwo in ihrem Keller ein Perpetuum mobile oder einen phantastischen Hubschrauber von der Art, wie Leonardo da Vinci sie entworfen hat. Mein Hobby war die Schreibmaschine. Nach Jahren zielloser Bastelei kam ich schließlich auf etwas ganz Einzigartiges – und ein müßiges Hobby wurde zu einer mich ganz und gar ausfüllenden Beschäftigung. Mein Mechanismus unterschied sich nicht sehr von dem einer modernen Schreibmaschine, war aber weit perfekter als so ein ungefüger Apparat. Meine Buchstaben saßen nicht am Kopfende kleiner Hebel, sondern auf Rädern, die sich in x-beliebiger Weise drehten und ein Chaos zufälliger Buchstabenkombinationen schrieben. Natürlich hatte ich keine fünfzigtausend Jahre Zeit, und somit war die Beschleunigung des Schreibvorgangs das Hauptproblem. Viele Jahre, eigentlich meine ganze Jugendzeit, verbrachte ich mit diesen Experimenten. Hundert Modelle fertigte ich von meiner Erfindung, hundertmal verbesserte ich sie, und alsbald hatte sie einen großen Teil meines kargen Stipendiums verbraucht. Glücklicherweise konnte ich mehrere sehr vorteilhafte Änderungen der Linotype-Maschine und der Schreibmaschine selbst als Nebenprodukte meiner Forschungsarbeit patentieren lassen, was mir die Fortsetzung meiner Arbeit erlaubte. Im Verlaufe meiner Bemühungen, die Erzeugung der Buchstabenkombinationen zu beschleunigen, eliminierte ich ziemlich früh die eigentlichen Buchstaben und ersetzte sie durch ein Code-System von Punkten und Strichen. Als Nächstes erdachte ich ein phonetisches System, das aus Lauten an Stelle von Buchstaben bestand ... Ich will Sie nicht mit den vielen Jahren lang-
weilen, die ich brauchte, bis ich anfangen konnte. Aber schließlich war meine Maschine (ich nannte sie Biblioman, denn nur ein Bibliomane – ein Bücherbesessener – konnte sich unterfangen, alle Bücher der Welt zu schreiben) fertig. Sie arbeitete völlig nach den Gesetzen des Zufalls und ›schrieb‹ mit einer Geschwindigkeit, die von Hand nicht erzielbar war – Hunderte, ja Tausende Male schneller als die Schreibmaschine. Ich hatte ihr Tempo gesteigert, indem ich die Größe der Papierwalze und der Buchstabenräder verringert hatte ... ah, ich werde Sie nicht mit einer langen Erklärung langweilen. Kurz und gut: Ich hatte das mechanische Gegenstück der fünfzig Millionen Affen.« »Und kam ein Montaigne dabei heraus?« fragte ich, etwas beiläufig, wie ich fürchte, denn der Gentleman in Grün fixierte mich mit ernstem Blick. »Nein. Monatelang erzeugte Biblioman sinnloses Zeug – Millionen ›Wörter‹ pro Tag.« »Lasen Sie denn ...?« »Nein. Ich hatte mir einen Monitor gebaut, der die Bänder prüfte und so eingestellt war, daß er jede sinnvolle Kombination von Phonemen, die möglicherweise eine logische Aussage enthielt, registrierte. Nach vollen zwei Jahren, während Biblioman pausenlos gearbeitet hatte, stellte der Monitor eine derartige Kombination fest. Ich übertrug, was auf dem Band war, konnte aber keinerlei Sinn darin erkennen. Es war völlig unverständlich; dennoch war nicht zu übersehen, daß bestimmte ›Wörter‹ des Textes ständig wiederkehrten. Man kann nicht einen beträchtlichen Teil seines Lebens einer bestimmten Sache widmen und dann aufgeben. Ich beschloß, den Rat eines
alten Freundes von der Universität einzuholen, der genauso wie ich nun in Paris ansässig war. Er identifizierte den Text auf der Stelle – warum hatte ich nie daran gedacht, einen Linguisten zu konsultieren. ›Aber natürlich‹, sagte Markoy, als ich ihm meine Übertragung zeigte. ›Das ist eine Passage aus Enmerkar und der Herrscher von Aratta, dem alten babylonischen Epos. Sie ist im ursprünglichen Sumerisch abgefaßt. Sie müssen wissen, daß es von vielen als das älteste bekannte Literaturdenkmal angesehen wird.‹ Von diesem Augenblick an war ich im Paradies und erlebte Freuden, die nur dem zuteil werden, der den Traum seines Lebens wahr werden sieht. Im Laufe der folgenden Jahre kam Biblioman von der sumerischen über die babylonische und assyrische schließlich zur ägyptischen Literatur. Anschließend begann er mit Homer, und von da an war der weitere Fortgang unschwer vorherzusagen.« »Ist es denn möglich ... Sie meinen also ...?« Der Gentleman in Grün nickte mit feinem Lächeln. »Natürlich hatte sich niemand jemals die Mühe genommen, die logischen Folgerungen aus dem Fünfzig-Millionen-Affen-Paradoxon durchzuarbeiten. Es würde nicht mit Montaigne beginnen, sondern bei den ersten Anfängen der geschriebenen Literatur. Von da an würde es der Entwicklung der Literatur chronologisch folgen. Denn sehen Sie: Es gab ein lebendes Gegenstück der fünfzig Millionen Affen – die menschliche Rasse selbst.« Entgeistert starrte ich ihn an. Ich wußte nicht: War er verrückt oder wollte er mich nur mit einer amüsanten Geschichte unterhalten, in der er sich dann verlor. Er fuhr fort:
»Ich erlebte, wie meine Erfindung die ganze griechische Literatur reproduzierte (einschließlich, wie ich betonen möchte, der vierzehn verlorenen Komödien des Aristoteles, die mit der Alexander-Bibliothek untergingen, des lange verschollenen Marsyas von Homer und vieler nicht mehr bekannter Werke von Hesiod, Pindar, Sappho und anderen Dichtern). Im Winter war Biblioman bei den Römern angelangt. Oh, welch endlose Freude. Ich erlebte die Verwirklichung aller meiner Träume – die Erfüllung meiner Lebensarbeit!« Ich ließ die Gläser von neuem füllen, und während sich das Purpur des Abends und die langen grauen Schatten des Nachmittags mischten, sprach er weiter. »Die nächsten Jahre waren nicht mehr ganz so interessant. Mit der Literatur des Mittelalters, der Reformation und so weiter bis herüber zur Neuzeit wiederholte sich immer wieder der gleiche Triumph. Die moderneren Werke brauche ich Ihnen nicht aufzuzählen; viele davon kennen Sie sicher selbst.« Ich nickte und fragte mich im Stillen, ob Biblioman auch mein eigenes Vers-Bändchen geschrieben hatte. »Nun, da Biblioman verstummt ist«, sagte ich, auf seine phantastische Erzählung eingehend, »muß es doch Ihre Absicht sein, in den technischen Zeitschriften einen Bericht über Ihre Experimente zu veröffentlichen und so den wohlverdienten Ruhm zu ernten ...?« Seine Antwort war ganz anders, als ich erwartet hatte. »Verstummt?« sagte er mit einem zurechtweisenden Blick. »Aber keineswegs – das Experiment geht weiter.« »Aber wie soll es denn weitergehen nach Errei-
chung ...« »Die einzige Richtung ist – vorwärts«, sagte er kühl. Mein Gesichtsausdruck muß mein Erschrecken verraten haben, denn er beugte sich vor und klopfte mit dem Zeigefinger auf die marmorne Tischplatte. »Vorige Woche las ich die Werke, die das nächste Jahrhundert bereichern werden. Biblioman druckt die ungeschriebenen Werke der Zukunft.« »Aber ... das ist doch ... nicht ... möglich?« brachte ich schließlich heraus. Mit einer knappen Geste unterbrach er mein Gestammel. »Hören Sie zu, junger Mann. Ich habe Hervorbringungen des menschlichen Geistes gelesen, die lange, nachdem Sie und ich zu Staub geworden sind, die Welt in Staunen versetzen werden. Die Irrenden, diesen gigantischen Roman, vor dessen Vollendung Willard Paxton, der größte amerikanische Romancier ebenso sterben wird wie der große Cervantes vor der Vollendung seines Quixote, mit dem er verglichen werden wird. Ich habe die Arturiade von Gwyn Rhys Jones gelesen. Er ist Waliser und der größte epische Dichter seit Milton. Und ich kenne die DramenZyklen Von Bremens ... und die Welt der Traumbilder von Taliesin in der Hölle, wofür der englische König Charles IV Edward Quinsey Marlinson zum Ritter schlagen wird. Ich bin der einzige Mensch, der die subtile Musik des ersten Couplets von Tierneys satirischer Romanze Baghdad kennt ... ›Sindbad bin ich, befahre die See,/Befahre des Orients tiefblaues Meer‹ ... ja, mein lieber junger Dichter, der Sie nicht einmal glauben, daß das, was ich sage, wahr ist ... Zu dieser Stunde bringt Biblioman unermüdlich Gedichte und
Geschichten in Neo-Anglisch hervor, einer Sprache, die sich noch nicht aus dem heutigen Englisch entwickelt hat ... Ewig wird Biblioman weiterschreiben, unermüdlich wie ein Automat, und seine endlosen Papierbänder mit den Triumphen des dreißigsten, des vierzigsten und auch des fünfzigsten Jahrhunderts füllen ... ›bis zur letzten Silbe der verzeichneten Zeit‹ ...« So wie Sie, junger Mann, dürfte auch ich dreingeschaut haben, als der Gentleman in Grün diese Worte sagte. Mein törichtes Starren und meine idiotischen Kommentare müssen ihn irritiert haben und auch meine kaum verhohlene ironische Toleranz ihm gegenüber, der vielleicht doch nur ein Verrückter war und nicht ein Genie, das sich Eingang verschafft hat in die Schatzkammern der Zukunft. Wie? Oh, er sprang von seinem Platz auf und stürmte verärgert auf die Straße hinaus – und stieß mit einem Radfahrer zusammen. Seine feine Stirn schlug auf den Randstein, der sich rasch rötete ... Ah, warum sollte ich die Szene noch einmal heraufbeschwören! Hmm? Tot? Vielleicht – rasch hatte sich eine Menschenmenge versammelt, dann kamen die Gendarmes ... Ich war wie vor den Kopf geschlagen und zögerte – zögerte zum Unglück – dann war er verschwunden, von einer Ambulanz fortgebracht, und meine einzige Chance – dahin mit ihm. Sein Name, seine Adresse – nie habe ich sie erfahren. Ob er den Unfall überlebte oder nicht – ich werde es niemals wissen. Seither aber läßt er mich nicht mehr in Ruhe. War er vielleicht nur ein cleverer Schnorrer, der sich mit
einer fein gesponnenen Geschichte für ein Glas Pernod bedankte? War er vielleicht nur ein Kaffeehaushocker, der das Ohr des begüterten, leichtgläubigen Touristen suchte? War er verrückt – ein Betrüger – ein Träumer – ein exzentrischer Möchtegern-Erfinder, auf der Suche nach Geld für irgendein wahnwitziges Projekt, das niemals das Licht des Tages erblicken würde? Vielleicht ist die erste Annahme die wahrscheinlichste von allen. Sie als Journalist haben doch sicher schon viele erstaunliche Sachen gehört, wenn Sie jemandem ein Glas Schnaps spendierten? Ich erinnere mich noch an einen grauhaarigen Iren, dem ich einmal in New York bei McSorley's ein Bier kaufte. Er verriet mir daß er als Gegenleistung für ewige Jugend Asmodeus seine Seele verkauft habe ... Unglücklicherweise hatte er aber nicht daran gedacht, daß dies ewige Armut bedeutete, da ja kein noch so großes Vermögen einen Menschen erhalten kann, der niemals stirbt. Und der italienische Graf, dem ich an der Riviera begegnete – vor zwanzig Jahren, wenn ich nicht irre –, dem es mit der Behauptung, ein echter Werwolf zu sein, gelang, sich eine volle Woche von einem reichen Kunstsammler freihalten zu lassen ... Vor Eintritt des Vollmondes verließ er unseren gemeinsamen Gastgeber, was ich jetzt noch bedauere. Häufig macht es der Alkohol auch im gewöhnlichsten Menschen frei – das Unerwartete. Nein, nein, natürlich können Sie das nicht publizieren. Schreiben Sie nur, daß es mich traurig macht, daß Ezra Pound starb ohne den Nobelpreis erhalten zu haben ... oder daß ich bedauere Yeats niemals begegnet zu sein. Oder schreiben Sie, daß ich die Formlo-
sigkeit der heutigen Literatur beklage. Oder was Sie sonst wollen. Es spielt keine Rolle. ... Doch diese Namen sollten Sie nicht vergessen. Paxton. Chiminez. De Montaubon. Jones. Von Bremen. Sir Edward Marlinson. Tierney. Sie sind sehr jung – kaum älter als ich, als ich dem Gentleman in Grün begegnete. Vielleicht erleben Sie noch Die Irrenden ... Großer Gott, ich beneide Sie. Sie werden wissen, ob es Wahrheit war oder nicht ... Nein, nein, Sie müssen mir verzeihen, man weint so schnell, wenn man alt ist ... Ja, man hat einen schönen Blick auf den Fluß von hier. Sie sollten ihn im Juni sehen, wenn die Weiden vor den Felsen drüben ihre dünnen grünen Finger ins Wasser tauchen. An klaren Tagen sieht man tatsächlich ... Ah, das wird meine Haushälterin sein. Und für Sie wird es wohl Zeit, zum Bahnhof zu gehen. Ich danke Ihnen sehr für Ihr Kommen. Und ... bitte ... verzeihen Sie einem alten Mann seine Geschwätzigkeit. Hier gibt es so wenige Menschen, mit denen ich mich unterhalten kann. Ja, ja, gewiß. Schreiben Sie nur, daß ich Ezra Pounds Andenken hochhalte und bedauere, Yeats niemals begegnet zu sein. Ganz wie Sie wollen. Irgend etwas. Es spielt keine Rolle.
Originaltitel: UNCOLLECTED WORKS
Fred Saberhagen BERSERKER 1 Allein und unbeschäftigt im Augenblick, beschloß Felipe Nogara, sich das Ding anzusehen, das ihn über den Saum der Galaxis hinaus hierher gebracht hatte. Aus seiner luxuriösen Unterkunft stieg er hinauf in seine private Beobachtungsstation. Dort, unter einer Kuppel aus unsichtbarem Glas, schien er sich außerhalb der Hölle seines Flaggschiffes Nirvana zu befinden. »Unter« der Nirvana mit ihrer künstlichen Gravitation leuchtete hell die Scheibe der Galaxis. In einem ihrer Arme befanden sich sämtliche Sternsysteme, welche die Erdenmenschen jemals erforscht hatten. Aber wohin Nogara auch blickte, überall gab es helle Flecken und Lichtpunkte. Es waren andere Galaxien, die mit ihrer Fluchtgeschwindigkeit von zehntausenden von Kilometern pro Sekunde auf den optischen Horizont des Universums zurasten. Nogara war allerdings nicht hierhergekommen, um Galaxien zu betrachten; er war gekommen, um etwas Neues in Augenschein zu nehmen – ein Phänomen, dessen Menschen noch niemals aus solcher Nähe ansichtig geworden waren. Sichtbar wurde es für ihn durch die scheinbare Zusammenballung der Galaxien dahinter und durch die Wolken von Meteoritenstaub, die in es hineinstürzten. Der das Zentrum des Phänomens bildende Stern
war auf Grund seiner ungeheueren Schwerkraft für Menschen nicht wahrnehmbar. Seine Masse, die diejenige der Sonne milliardenfach übertraf, krümmte die Raumzeit so in sich selbst, daß ihm nicht ein einziges Lichtphoton sichtbarer Wellenlänge entkommen konnte. Trümmer und Staub des Weltraums wurden wirbelförmig in die Hypermasse hineingezogen. Der fallende Staub erzeugte so heftige statische Ladungen, daß Blitze ihn in leuchtende Gewitterwolken verwandelten, und das Flackern der riesigen Blitze verschob sich immer mehr hin zu Rot, bis es am Fuße dieses Gravitationsberges verschwand. Vermutlich konnte nicht einmal ein Neutrino dieser Sonne entkommen. Kein anderes Schiff würde sich wesentlich näher heranwagen als jetzt die Nirvana. Nogara war hierhergekommen, um selbst festzustellen, ob das erst vor kurzem entdeckte Phänomen in absehbarer Zeit bewohnte Planeten in Gefahr bringen konnte; normale Sonnen verschwanden wie Holzspäne in einem Wasserwirbel, wenn sie in den Anzugsbereich dieser Hypermasse gerieten. Allerdings hatte es den Anschein, als könnten noch tausend Jahre vergehen, ehe irgendwelche Planeten evakuiert werden mußten. Zuvor aber konnte sich die Hypermasse schon so weit mit Staub gesättigt haben, daß ihr Kern implodierte. Das würde bedeuten, daß der größte Teil ihrer Substanz in einer spektakulären, aber nicht sonderlich gefährlichen Art wieder ins Universum hinausgeschleudert werden würde. Nach Ablauf eines Jahrtausends würde das jedenfalls anderer Leute Problem sein. Im Augenblick freilich war es Nogaras Problem – denn wenn man von
jemandem sagte, daß er die Galaxis beherrschte, dann von ihm. Ein Kommunikatorsignal rief ihn in seine Räume zurück, und er stieg rasch hinunter, dankbar für einen Vorwand, sich dem eiskalten Anblick der Galaxien wieder entziehen zu können. Seine starke, behaarte Hand drückte auf eine Platte. »Was gibt's?« »Mein Gebieter, ein Kurierschiff ist angekommen. Aus dem Flamland-System. Man bringt ...« »Sprechen Sie ohne Umschweife. Man bringt die Leiche meines Bruders?« »Ja, mein Gebieter. Die Fähre mit dem Sarg nähert sich bereits der Nirvana.« »Ich werde den Kapitän des Kurierschiffes allein in der Großen Halle erwarten. Ich wünsche keine Zeremonie. Lassen Sie die Luftschleusen-Roboter, die Begleitmannschaft und die Außenseite des Sarges auf Infektionskeime untersuchen.« »Ja, mein Gebieter.« Die Erwähnung von Krankheit war etwas irreführend. Nicht die Flamland-Pest war es, deretwegen Nogaras Halbbruder Johann Karlsen in einem Sarge lag, obwohl das die offizielle Version war. Anzunehmen war vielmehr, daß die Ärzte den Helden von Stone Place eingefroren hatten – die letzte Möglichkeit, um seinen sonst nicht mehr rückgängig zu machenden Tod zu verhindern. Eine offizielle Lüge war notwendig, weil nicht einmal der Hohe Herrscher Nogara diesen Mann, der im Nebel von Stone Place die Wendung gebracht hatte, ohne weiteres aus dem Weg räumen konnte. Vor sieben Jahren waren in jener Schlacht die Berser-
ker-Maschinen geschlagen worden; hätte es sie nicht gegeben, wäre in den bekannten Bereichen der Galaxis intelligentes Leben vielleicht schon erloschen gewesen. Die Berserker – das waren riesige, für irgendeinen Konflikt zwischen jetzt längst verschwundenen Rassen gebaute Kriegsschiffe, die nunmehr die Feinde jeglichen Lebens waren. Noch immer lag man in bitterem Kampf mit ihnen; seit der Schlacht von Stone Place jedoch schien es, daß das Leben in der Galaxis fortdauern würde. Die Große Halle war der Ort, wo Nogara sich täglich mit den vierzig bis fünfzig Leuten, die als Hilfskräfte, Mannschaften oder Unterhalter mit ihm an Bord der Nirvana waren, zu vergnügter Geselligkeit traf. Jetzt, da er die Halle betrat, fand er sie leer bis auf einen Mann, der unbeweglich neben einem Sarg stand. Johann Karlsens Körper und das, was von seinem Leben übrig geblieben war, befand sich unter dem gläsernen Deckel der schweren Kiste, die ihre eigenen Kühl- und Wiederbelebungs-Systeme erzielt und nur mit einem – theoretisch unmöglich nachzumachenden – fiberoptischen Schlüssel zu öffnen war. Mit einer Geste gab Nogara dem Kapitän des Kurierschiffes zu erkennen, daß er diesen Schlüssel nun ausgehändigt zu bekommen wünschte. Der Kapitän trug den Schlüssel um seinen Hals gehängt, und es dauerte einen Augenblick, bis er die goldene Kette über den Kopf gezogen und Nogara den Schlüssel gegeben hatte. Ein weiterer Moment war vonnöten, bevor er daran dachte, daß er sich zu verbeugen hatte; er war ein Raumfahrer und kein Höfling. Nogara sah über diesen Mangel an Ehrer-
bietung hinweg. Seine Gouverneure und seine Admiräle waren es, die derartige Zeremonien wieder eingeführt hatten; ihm selbst war es völlig gleich, wie Untergeordnete gestikulierten und posierten, solange sie auf intelligente Weise seinem Willen gehorchten. Erst jetzt, mit dem Schlüssel in seiner Hand, schaute Nogara zu seinem eingefrorenen Halbbruder hinunter. Die Ärzte hatten Johanns kurzen Bart und sein Haar abrasiert. Seine Lippen waren marmorbleich, und seine wahrnehmungslosen offenen Augen zu Eis erstarrt. Dennoch – das Gesicht über den faltig drapierten gefrorenen Tüchern war unzweifelhaft Johanns Gesicht. Etwas war da, was nichts einfrieren konnte. »Lassen Sie mich eine Weile allein«, sagte Nogara. Er wandte sich um und blickte durch die breite Sichtluke hinaus – dorthin, wo die Hypermasse den Raum wie eine schlechte optische Linse verzerrte. Als er hörte, wie die Tür sich leise hinter dem Kapitän des Kurierschiffes schloß, drehte er sich wieder um – und stand der kurzen Gestalt Oliver Micals gegenüber, dem Manne, den er ausersehen hatte, Johann als Gouverneur von Flamland zu ersetzen. Mical mußte in dem Moment hereingekommen sein, als der Kapitän hinausging, was Nogara von symbolischer Bedeutung zu sein schien. Die Hände ohne Scheu auf den Sarg gelegt, hob Mical mit seinem gewohnten Ausdruck müden Amüsements die ergrauenden Brauen. Sein etwas dickliches Gesicht verzog sich zu einem überfreundlichen Lächeln. »Wie heißt es bei Browning?« sagte Mical mit einem nachdenklichen Blick auf Karlsen. »›Den langen, trüben Tag des Königs Arbeit getan‹ – und das jetzt
als Lohn dafür.« »Lassen Sie mich allein«, sagte Nogara. Mical war einer der wenigen, die außer den Ärzten von Flamland in den Plan eingeweiht waren. »Ich dachte, es würde sich gut machen, wenn ich komme, um Ihren Schmerz zu teilen«, sagte er. Ein Blick auf Nogara ließ ihn verstummen. Mit einer Verbeugung, die jetzt, da sie allein waren, leicht spöttisch wirken mußte, wandte er sich um und ging rasch hinaus. So, Johann. Hättest du dich gegen mich verschworen, ich hätte dich sofort töten lassen. Aber du warst nie ein Verschwörer. Du hast mir nur zu erfolgreich gedient; meine Freunde wie meine Feinde begannen dich zu sehr zu mögen. Da bist du also, mein Gewissen – zu Eis geworden. Nach dir werde ich kein Gewissen mehr haben. Früher oder später hätte dich der Ehrgeiz gepackt. Dies mußte also sein, sonst hätte ich dich töten müssen. Ich werde dich also jetzt aus dem Verkehr ziehen. Eines Tages wird sich dir vielleicht wieder die Chance des Lebens bieten. Seltsam, wenn ich denke, daß du eines Tages vielleicht ebenso nachdenklich an meinem Sarg stehen wirst wie ich jetzt an deinem. Sicherlich wirst du für das beten, was du für meine Seele hältst .... Ich kann das nicht für dich tun. Aber ich wünsche dir süße Träume. Träume gläubig von deinem Himmel, nicht von deiner Hölle. Nogara stellte sich ein Gehirn bei absoluter NullTemperatur vor. Seine Neuronen würden supraleitend sein und immer und immer wieder denselben Traum wiederholen. Aber das war Unsinn. »Ich kann die Macht nicht aufs Spiel setzen, Johann.« Diese Worte waren hörbar geflüstert. »Es mußte sein. Die Alternative war nur der Tod.« Er wandte sich wieder zum Fenster um.
2 »Ich nehme an, daß jetzt Dreiunddreißig den Körper Nogara bereits überbracht hat«, sagte der Zweite Offizier des Esteeler-Kuriers Vierunddreißig und warf einen Blick auf den Brücken-Chronometer. »Wenn man sich selbst zum Kaiser oder so was erklärt und in der ganzen Galaxis die Menschen sich halb zerreißen um alles für einen zu tun – das muß recht angenehm sein.« »So angenehm kann das auch wieder nicht sein, wenn einem jemand den Körper seines Bruders daherbringt«, sagte Kapitän Thurman Holt, ohne den Blick von seiner Astrogationskugel zu wenden. Der C-plus-Antrieb seines Schiffes legte rasend schnell immer mehr zeitwertigen Zwischenraum zwischen das Fahrzeug und das Flamland-System. Wenn Holt auch nicht sehr begeistert von seiner Mission war, freute er sich doch, von Flamland weg zu sein, wo Micals Politische Polizei dabei war, die Herrschaft an sich zu reißen. »Das frage ich mich«, sagte der Zweite mit leisem Lachen. »Was soll das heißen?« Er sah sich vorsichtig über beide Schultern um – eine Vorsichtsmaßnahme, die man sich auf Flamland rasch angewöhnte. »Haben Sie den schon gehört?« fragte er. »Nogara ist Gott – aber jeder zweite seiner Raumfahrer ist Atheist.« Holt lächelte schwach. »Er ist kein wahnwitziger Tyrann, das wissen Sie. Die Regierung von Esteel ist nicht die schlechteste in der Galaxis. Wenn man Aufruhr ersticken will, muß man die Glacéhandschuhe
ausziehen.« »Das hat Karlsen getan.« »Stimmt.« »Sicher«, sagte der Zweite mit einer Grimasse, »Nogara könnte weit schlimmer sein, wenn man die Sache nüchtern betrachtet. Er ist Politiker. Aber die Leute, mit denen er sich in den letzten Jahren umgeben hat, kann ich einfach nicht ausstehen. An Bord haben wir jetzt ein Beispiel für die Art und Weise, wie sie handeln. Wenn ich ehrlich sein soll: Jetzt, da Karlsen tot ist, wird mir ein wenig mulmig.« »Nun, wir werden sie bald sehen«, sagte Holt seufzend und reckte sich. »Ich werde mal nach den Gefangenen schauen. Die Brücke gehört Ihnen, Zweiter.« »Ich löse Sie ab, Sir. Tun Sie dem Mann einen Gefallen und töten Sie ihn, Thurman.« Als er eine Minute später durch den Spion in den kleinen Arrestraum des Kurierschiffes lugte, mußte Holt aus einem ehrlichen Gefühl des Mitleids heraus seinem männlichen Gefangenen den Tod wünschen. Es war ein Anführer der Aufständischen namens Janda. Seine Gefangennahme war Karlsens letzter Erfolg im Flamland gewesen und hatte das Ende des Aufstands bedeutet. Janda war ein hünenhafter Mann, ein tapferer Rebell und brutaler Bandit. Er hatte gegen Nogaras Esteeler-Reich gekämpft, bis keine Hoffnung mehr war, und sich dann schließlich Karlsen ergeben. »Mein Stolz gebietet mir, meinen Feind zu besiegen«, hatte Karlsen einmal in einem (wie er glaubte) privaten Brief geschrieben. »Meine Ehre verbietet mir, meinen Feind zu erniedrigen oder zu hassen.« Micals
Politische Polizei jedoch verhielt sich nach anderen Grundsätzen. Vielleicht war der Aufrührer immer noch von so hünenhafter Gestalt. Holt hatte ihn freilich nie aufrecht stehen sehen. Die Fesseln, die Hand- und Fußgelenke umschlossen, waren aus Kunststoff und sollten die Haut eines Menschen angeblich nicht aufschürfen. Jetzt aber dienten sie keinem vernünftigen Zweck, und Holt hätte sie ihm abgenommen, wenn er gekonnt hätte. Hätte ein Fremder das Mädchen Lucinda gesehen, das jetzt an Jandas Seite saß, um ihm sein Essen einzugeben, er hätte sie für seine Tochter gehalten. Sie war seine Schwester, fünf Jahre jünger als er. Außerdem war sie ein Mädchen von seltener Schönheit. Vielleicht war es nicht nur eine Anwandlung von Gnade, die Micals Polizei veranlaßt hatte, sie ungebrandmarkt und ohne Gehirnwäsche an Nogaras Hof zu senden. Es hieß, daß die Nachfrage nach gewissen Arten von Unterhaltung bei den Angehörigen des Hofes sehr stark sei und ihr Verschleiß an Unterhaltern sehr hoch. Bis jetzt hatte Holt Gerüchten dieser Art keinen Glauben geschenkt. Er öffnete die Tür des Arrestraumes – er ließ sie nur zugesperrt, um Janda daran zu hindern, irgendwie aus Versehen herauszugeraten und wie ein Kind einem Unfall zum Opfer zu fallen – und trat hinein. Als das Mädchen Lucinda an Bord seines Schiffes gekommen war, hatte ihr Blick ihren hilflosen Haß auf jeden Esteeler verraten. Seitdem hatte sich Holt ihr gegenüber so einfühlsam und zuvorkommend wie möglich verhalten. Und jetzt, da sie zu ihm auf-
blickte, war keine Feindseligkeit in ihrem Gesicht, sondern Hoffnung, die sie, wie es schien, mit jemand anderem teilen mußte. Sie sagte: »Vor ein paar Minuten hat er, glaube ich, meinen Namen gesagt.« »Oh?« Holt beugte sich zu Janda hinunter, konnte aber keine Veränderung feststellen. Der Blick des Aufrührers war immer noch glasig, und aus dem rechten Auge kam dann und wann eine Träne, die nichts mit irgendeiner Art Gefühlsbewegung zu tun zu haben schien. Jandas Unterkiefer hing ebenso schlaff wie zuvor herunter, und sein ganzer Körper war genauso in sich zusammengesunken wie immer. »Vielleicht ...« Holt sprach nicht zu Ende. »Was?« fragte sie fast begierig. Götter des Weltraums, er durfte sich niemals mit diesem Mädchen einlassen. Fast wünschte er, den Haß wieder in ihren Augen funkeln zu sehen. »Vielleicht«, sagte er leise, »wäre es besser für Ihren Bruder wenn er sich nicht mehr erholte. Sie wissen, wohin wir ihn bringen müssen.« Die Vorstellung hatte sich wie eisiger Frost auf Lucindas keimende Hoffnung gelegt. Schweigend starrte sie ihren Bruder an, als sähe sie etwas Neues. Aus Holts Handgelenk-Intercom kam ein Signal. »Hier ist der Kapitän«, sprach er hinein. »Sir, ein Schiff ist geortet worden. Es spricht uns an. Peilung fünf Uhr auf gleicher Ebene mit unserem Kurs. Klein und normal.« Die letzten drei Worte waren der gebräuchliche Zusatz, der besagte, daß es sich bei dem georteten Objekt nicht um ein Riesenschiff der Berserker handeln konnte. Die Berserker-Schiffe waren alle mehr
oder weniger gleich. Die Rebellen von Flamland hatten indessen keine Fernschiffe mehr. Holt hatte also keinen Grund zu besonderer Vorsicht. Er ging zur Brücke zurück und besah sich den kleinen Umriß auf dem Detektorschirm. Bekannt kam er ihm nicht vor, doch war das nicht überraschend; viele Planeten wurden von Werften umkreist, die ständig neue Schiffe bauten. Trotzdem, warum sollte ein fremdes Schiff sich im Weltraum an ihn wenden? Eine Seuche? »Nein, keine Seuche«, ließ sich durch das Geprassel der atmosphärischen Störungen eine Stimme aus dem Lautsprecher vernehmen, als er dem Fremdling die Frage gestellt hatte. Auch das Video-Signal des anderen Schiffes zitterte, so daß es schwer war, das Gesicht des Sprechers zu erkennen. »Bin bei meinem letzten Sprung in eine Staubwolke geraten, und meine Feldstärke schwankt. Können Sie ein paar Passagiere an Bord nehmen?« »Natürlich.« Daß ein Schiff bei einem C-plusSprung mit dem Gravitationsfeld einer größeren Staubwolke kollidierte, war selten, kam aber vor. Hier mußte auch die Erklärung für die schlechte Verständigung liegen. Noch gab es für Holt nichts Alarmierendes. Das andere Schiff sandte ein Beiboot herüber, das an der Luftschleuse des Kurierfahrzeugs andockte. Mit einem freundlichen Lächeln für die in Not geratenen Passagiere öffnete Holt die Schleuse. Im nächsten Augenblick waren er und das halbe Dutzend Männer seiner Besatzung von hereinströmenden, menschengroßen Maschinen überrannt – es war ein Enterkommando der Berserker, alt und kalt, gna-
denlos wie ein Alptraum. So blitzschnell nahmen die Maschinen das Kurierschiff, daß niemand auch nur an Widerstand denken konnte; allerdings töteten sie zunächst niemand von der Besatzung. Sie rissen den Antrieb aus einem der Rettungsboote und trieben Holt, seine Besatzung und die ehemaligen Gefangenen in das Fahrzeug. »Das war kein Berserker auf dem Schirm, bestimmt nicht«, sagte der Zweite Offizier immer wieder zu Holt. Eng in dem kleinen Raum zusammengedrängt, saßen die Menschen nebeneinander. Die Maschinen gaben ihnen Luft, Wasser und Nahrung und hatten begonnen, einen nach dem anderen zum Verhör herauszuholen. »Ich weiß, daß es nicht so aussah«, antwortete Holt. »Wahrscheinlich legen sich die Berserker jetzt neue Formen zu und bauen neue Waffen. Nach Stone Place ist das nur logisch. Das einzig Seltsame daran ist, daß niemand es vorhergesehen hat.« Eine Luke flog auf. Zwei annähernd menschenförmige Maschinen kamen ins Boot und stiegen zwischen den neun zusammengedrängten Menschen hindurch, bis sie vor dem standen, den sie wollten. »Nein, er kann nicht sprechen!« schrie Lucinda. »Ihn dürfen Sie nicht nehmen!« Aber die Maschinen konnten oder wollten nicht auf sie hören. Sie rissen Janda hoch und führten ihn hinaus. Das Mädchen kam nach, zerrte an ihnen, versuchte, ihnen ihre Absicht auszureden. Holt, der Angst hatte, die beiden könnten sich umdrehen und Lucinda töten, versuchte, sie zurückzuhalten, aber vergebens. Die beiden jedoch stießen sie nur zurück
mit ihren metallenen Händen, die ebenso unbarmherzig waren wie die Zeit. Dann waren sie mit Janda verschwunden, und die Luke war wieder zu. Mit leeren Augen starrte Lucinda sie an. Sie bewegte sich nicht, als Holt seinen Arm um sie legte.
3 Nach endlosem Warten sahen die Menschen die Luke sich wieder öffnen. Die Maschinen waren wieder da, aber ohne Janda. Sie waren gekommen, um Holt zu holen. Vibrationen gingen durch die Außenhaut des Kurierschiffs; offenbar waren die Maschinen dabei, sie wieder instandzusetzen. In einem kleinen, durch eine Schleuse vom Rest des Schiffes abgetrennten Raum hatte das Computer-Gehirn der Berserker elektronische Augen und Ohren und einen Lautsprecher für sich eingerichtet. Hierher wurde Holt zum Verhör gebracht. Aufgezeichnete menschliche Worte verwendend, unterzog der Berserker Holt einer ausführlichen Befragung. Fast jede Frage betraf Johann Karlsen. Daß die Berserker Karlsen als ihren Hauptfeind betrachteten, war bekannt. Für diesen hier allerdings schien Karlsen eine Art fixer Idee zu sein, und daß Karlsen wirklich tot war, mochte er einfach nicht glauben. »Ich habe Ihre Karten und Ihre Astrogationstafeln vorliegen«, erinnerte ihn der Berserker. »Ich weiß, daß Sie Kurs auf die Nirvana genommen hatten, wo sich der nichtfunktionierende Karlsen vermutlich befindet. Beschreiben Sie dieses Schiff Nirvana, über das
die Lebens-Einheit Nogara befiehlt.« Solange man ihm nur Fragen über einen Toten gestellt hatte, hatte Holt, der nicht bei einer unnötigen Lüge ertappt werden wollte, dem Berserker korrekte Antworten gegeben. Ein Flaggschiff allerdings war etwas anderes, und er zögerte jetzt. Freilich konnte er nur sehr wenig über die Nirvana sagen, selbst wenn er wollte. Und er und seine Mitgefangenen hatten keine Gelegenheit gehabt, einen Plan zur Irreführung des Berserkers abzusprechen. Zweifellos wurde jedes Wort, das sie im Rettungsboot sprachen, abgehört. »Ich habe die Nirvana noch nie gesehen«, antwortete er wahrheitsgetreu. »Logischerweise muß sie jedoch ein sehr starkes Schiff sein, wenn die höchsten Führer der Menschheit mit ihr fahren.« Dinge, die die Maschine mit Sicherheit selbst schlußfolgern würde, brauchte er ihr nicht zu verheimlichen. Plötzlich öffnete sich eine Tür, und Holt sah verblüfft, wie ein fremder Mann den Verhörraum betrat. Dann bemerkte er, daß es kein Mann war, sondern eine Schöpfung der Berserker. Vielleicht war sein Fleisch aus Kunststoff, vielleicht aus dem Produkt einer Gewebekultur. »Hallo! Sind Sie Captain Holt?« fragte die Gestalt. Eigentlich gab es nichts an ihm, was nicht stimmte. Freilich sieht auch ein noch so sorgfältig getarntes Schiff nichts ähnlicher als einem getarnten Schiff. Als Holt schwieg, fragte die Figur: »Stimmt etwas nicht?« Allein ihre Redeweise hätte sie einem intelligenten, aufmerksam zuhörenden Menschen verraten. »Sie sind kein Mensch«, entgegnete Holt. Die Figur setzte sich und sank in sich zusammen. Der Berserker erklärte: »Sie sehen, daß ich nicht in
der Lage bin, eine Nachbildung einer Lebens-Einheit anzufertigen, die bei direkter Gegenüberstellung echten Lebens-Einheiten nicht als solche erkennbar ist. Ich verlange also, daß Sie, eine echte LebensEinheit, mir helfen, Karlsens Tod sicherzustellen.« Holt sagte nichts. »Ich bin ein Spezialapparat«, sagte der Berserker, »und von den Berserkern nur für einen bestimmten Zweck gebaut: Mit absoluter Sicherheit Karlsens Tod herbeizuführen. Wenn Sie mir helfen, seinen Tod nachzuweisen, werde ich Sie und die anderen Lebens-Einheiten, die sich jetzt in meiner Gewalt befinden, freilassen. Verweigern Sie Ihre Hilfe, werden Sie alle die unangenehmsten Stimuli empfangen, bis Sie es sich anders überlegen.« Holt hielt es für ausgeschlossen, daß er sie jemals freilassen würde. Dennoch hatte er nichts zu verlieren, wenn er sprach, und konnte zumindest für sich und die anderen einen Tod ohne die unangenehmsten Stimuli herausholen. Berserker waren eher Killer als Sadisten, wenngleich sie im Laufe des langen Krieges Experten auf dem Gebiet des menschlichen Nervensystems geworden waren. »Welche Art Hilfe wollen Sie denn von mir?« fragte Holt. »Sobald ich mich in dieses Kurierschiff eingebaut habe, fahren wir weiter zur Nirvana, wo Sie Ihre Gefangenen abliefern werden. Ihre Befehle habe ich gelesen. Nach der Befragung durch die menschlichen Führer auf der Nirvana sollen die Gefangenen auf Esteel verbracht und dort festgesetzt werden. Ist das korrekt?« »Ja.«
Wieder öffnete sich die Tür, und Janda schlurfte gebückt und benommen herein. »Können Sie diesem Mann nicht ein weiteres Verhör ersparen?« fragte Holt den Berserker. »Er kann Ihnen nicht im geringsten helfen.« Die Antwort war Schweigen. Holt wartete unruhig. Schließlich bemerkte er, daß etwas an Janda sich verändert hatte. Aus seinem rechten Auge flossen jetzt keine Tränen mehr. Bei diesem Anblick fühlte Holt unerklärliches Entsetzen in sich aufsteigen, als ahnte sein Unterbewußtes bereits, was der Berserker als nächstes sagen würde. »Was in dieser Lebens-Einheit Knochen waren, ist jetzt Metall«, sagte der Berserker. »Durch seine Adern wird jetzt Konservierungsflüssigkeit gepumpt. In seinen Schädel habe ich einen Computer gesetzt, und in den Augen sind Kameras, die mir den Beweis für Karlsens Tod liefern sollen. Das Benehmen eines Menschen zu simulieren, der einer Gehirnwäsche unterzogen wurde, liegt im Bereich meiner Möglichkeiten.« »Ich hasse Sie nicht«, sagte Lucinda zu dem Berserker, als sie allein bei ihm zum Verhör war. »Sie sind ein Unfall wie ein Planetenbeben, wie eine Staubwolke, auf die ein Schiff knapp unter Lichtgeschwindigkeit trifft. Nogara und seine Leute sind es, die ich hasse. Wäre sein Bruder nicht tot, ich würde ihn mit diesen Händen töten und Ihnen seinen Körper bringen.« »Kurier-Kapitän? Hier spricht Gouverneur Mical im
Namen des Hohen Herrschers Nogara. Bringt eure beiden Gefangenen zur Nirvana herüber«, befahl er. »Sofort, Sir.« Nachdem sie mit C-plus-Fahrt in Sichtweite der Nirvana gekommen waren, hatte die MörderMaschine Holt und Lucinda aus dem Rettungsboot geholt. Dann hatte sie das Boot mit Holts Mannschaft an Bord zwischen den beiden Schiffen treiben lassen, als wären Menschen dabei, die Felder des Kuriers zu überprüfen. Die Männer im Rettungsboot sollten die Geiseln des Berserkers sein, und sein Schutzschild, falls er entdeckt wurde. Und zweifellos wollte er dem Versprechen ihrer künftigen Freilassung größere Glaubwürdigkeit verleihen, indem er sie jetzt im Rettungsboot ließ. Holt hatte nicht gewußt, wie er Lucinda die schlimme Nachricht vom Schicksal ihres Bruders beibringen sollte, hatte es dann aber doch irgendwie fertiggebracht. Sie hatte eine Minute geweint und war dann sehr ruhig geworden. Nun setzte der Berserker Holt und Lucinda in die Kristallkugel, die ihm für die Fahrt zur Nirvana als Fähre diente. Die Maschine, die früher Lucindas Bruder gewesen war, befand sich bereits an Bord und wartete zusammengesunken und mit gebrochenem Blick – genauso wie der Mann, der er in seinen letzten Lebenstagen gewesen war. Als sie diese Gestalt sah, hielt Lucinda inne. Dann sagte sie mit klarer Stimme: »Maschine, ich möchte Ihnen danken. Sie haben meinem Bruder einen Dienst erwiesen, dem kein Mensch ihm erweisen wollte. Ich selbst hätte einen Weg gefunden, ihn zu töten, bevor seine Feinde ihn weiter foltern konnten.«
4 Die Luftschleuse der Nirvana war stark gepanzert und mit automatischen Abwehranlagen ausgerüstet, die einen Angriff von Enter-Maschinen abgewehrt hätten. Raketen und Strahler der Nirvana hätten jede auch noch so schwer bewaffnete Attacke eines Kuriers, ja eines Dutzends von Kurierschiffen abgeschlagen. Der Berserker hatte alles in seine Überlegungen einbezogen. Ein Offizier hieß Holt an Bord willkommen. »Folgen Sie mir, Kapitän; wir warten schon alle.« »Alle?« Der Offizier hatte das wohlgenährte, zufriedene Aussehen, das einem Sicherheit und leichter Dienst verleihen. Seine Augen taxierten Lucinda. »In der Großen Halle ist eine Feier im Gange. Alles erwartet die Ankunft der Gefangenen.« In der Großen Halle dröhnte pulsierend Musik, und Tanzpaare wanden sich in Kostümen, die obszöner als Nacktheit waren. Bedienungsmaschinen säuberten einen Tisch, der fast ebenso lang war wie die Halle, von Überbleibseln des Festes. Auf einem thronartigen Sessel an der Mitte des Tisches saß der Hohe Herrscher Nogara, einen prächtigen Umhang über den Schultern. In dem kristallenen Kelch vor ihm funkelte heller Wein. Vierzig bis fünfzig Festgäste saßen links und rechts von ihm an dem langen Tisch – Männer und Frauen und einige, deren Geschlecht Holt nicht sogleich ausmachen konnte. Alle tranken und lachten; einige waren dabei, für den weiteren Fortgang des Festes Kostüme und Masken anzulegen.
Als Holt eintrat, wandten sich alle ihm zu, und einem Moment des Schweigens folgten Freudenrufe. In all den Augen, die sich jetzt seinen Gefangenen zuwandten, konnte Holt keine Spur von Mitleid erkennen. »Willkommen, Captain«, sagte Nogara in freundlichem Ton, als Holt sich endlich verbeugt hatte. »Was gibt es Neues aus Flamland?« »Nichts von Bedeutung, Sir.« Ein pausbäckiger Mann zur Rechten Nogaras beugte sich vor. »Sicher herrscht große Trauer über den verstorbenen Gouverneur?« »Natürlich, Sir.« Holt erkannte Mical. »Und große Erwartungen bezüglich des neuen.« Mit zynischem Lächeln lehnte sich Mical in seinen Sessel zurück. »Sicher kann die aufrührerische Bevölkerung meine Ankunft kaum erwarten. Konntest auch du mich kaum erwarten, Mädchen? Komm doch herüber zu mir, Mädchen, 'rum um den Tisch, hierher zu mir.« Als Lucinda langsam gehorchte, machte Mical eine Geste zu den Bedienungsmaschinen. »Roboter, einen Stuhl für diesen Mann – dort in der Mitte. Captain, Sie können zu Ihrem Schiff zurückkehren.« Felipe Nogara starrte unverwandt seinen alten Feind Janda an, der jetzt in Handschellen vor ihm stand; was er dabei dachte, war schwer zu sagen. Mit der Art, wie Mical Befehle erteilte, schien er jedoch einverstanden zu sein. »Sir«, sagte Holt zu Mical, »ich möchte die ... die Überreste Johann Karlsens sehen.« Nogara, der das gehört hatte, nickte. Eine Bedienungsmaschine zog einen schwarzen Vorhang beiseite und enthüllte einen Alkoven am Ende der Halle.
In der Nische ruhte vor einer großen Sichtluke der Sarg. Holt war nicht sehr überrascht. In Gegenwart der Toten zu feiern, war auf vielen Planeten üblich. Nach einer Verbeugung vor Nogara wandte er sich um, salutierte und ging auf den Alkoven zu. Hinter sich hörte er Jandas Handschellen klirren. Er hielt den Atem an. Durch den Saal ging ein Murmeln, das plötzlich erstarb. Auch die rhythmisch pulsierende Musik verstummte. Wahrscheinlich hatte Nogara Janda erlaubt, sich zu bewegen. Er wollte wohl wissen, was er nach der Gehirnwäsche tun würde. Holt war beim Sarg und beugte sich über ihn. Das erstarrte Gesicht darin sah er kaum, kaum auch den Umriß der Hypermasse jenseits der Sichtluke. Nur undeutlich nahm er das Flüstern und Kichern der Festgäste wahr. In seinem Sinn war nur ein einziges klares Bild: Die Gesichter seiner Mannschaft, die in den Klauen der Berserker hilflos gefangen war. Die in Jandas Fleisch gehüllte Maschine trat schlurfend neben ihn, und ihre glasigen Augen blickten hinunter in die zu Eis erstarrten Augen des Mannes im Sarg. Eine Fotografie der Retinamuster, verglichen mit älteren Aufnahmen, würde dem wartenden Berserker Aufschluß darüber geben, ob dieser Mann wirklich Karlsen war. Ein schwacher Ausruf der Angst ließ Holt zurück zu der langen Tafel blicken, wo Lucinda versuchte, sich aus Micals Armen zu winden. Mical und seine Freunde lachten. »Nein, Captain, ich bin kein Karlsen.« Mical, der Holts Reaktion bemerkt hatte, rief es zu ihm herüber. »Und Sie glauben doch nicht, daß mir das leid tut. Jo-
hanns Zukunftsaussichten sind nicht sehr günstig. Er ist jetzt sehr beengt in seinem Kasten, und nicht mehr länger kann er für den König des unendlichen Raumes sich halten!« »Shakespeare!« rief ein Schmeichler, Micals literarischer Bildung Beifall zollend. »Sir.« Holt ging einen Schritt auf ihn zu. »Darf ich ... darf ich jetzt die Gefangenen zu meinem Schiff zurückbringen?« Mical verstand ihn falsch. »Oho! Ich sehe, daß Sie die angenehmeren Dinge des Lebens zu schätzen wissen, Captain. Aber hoher Rang hat seine Privilegien, wie Sie wissen. Das Mädchen bleibt hier.« Holt hatte damit gerechnet, daß sie Lucinda behalten würden. Doch hier war sie besser aufgehoben als bei dem Berserker. »Sir, wenn dann ... wenn dann der Mann allein mit mir gehen darf. In einem Gefängnishospital auf Esteel kann er vielleicht genesen ...« »Captain.« Nogaras Stimme, so leise sie war, ließ alle anderen verstummen. »Fangen Sie nicht an, hier zu feilschen.« »Nein, Sir.« Mical schüttelte den Kopf. »Im Augenblick denke ich noch nicht an Gnade für meine Feinde, Captain. Ob es bald dazu kommt – nun, das kommt darauf an.« Wieder umfaßte sein Arm Lucinda. »Haß ist die wahre Würze der Liebe. Wußten Sie das, Captain?« Hilflos sah Holt Nogara an. Nogaras kalter Blick sagte: Ein Wort noch, Kurier, und Sie landen im Kerker. Ich warne nur einmal. Wenn Holt jetzt »Berserker« rief, würde das Ding in Jandas Gestalt vielleicht alle hier töten, bevor man
es daran hindern konnte. Er wußte, daß es auf ihn hörte und seine Bewegungen verfolgte. »Ich ... ich gehe dann also zum Schiff zurück«, stammelte er. Nogara sah anderswo hin, und auch sonst beachtete ihn niemand besonders. »Ich werde ... zurückkommen ... in ein paar Stunden vielleicht. Bestimmt, bevor ich mich auf den Weg nach Esteel mache.« Holts Stimme verstummte, als er sah, daß eine Gruppe von Festgästen Janda umstand. Sie hatten ihm die Fesseln von den tauben Gliedern genommen. Jetzt setzten sie ihm einen gehörnten Helm auf den Kopf, legten ihm einen Pelzumhang an und gaben ihm Schild und Speer. Es war die Ausrüstung eines alten nordischen Kriegers der Erde – wie er zuerst den gefürchteten Namen ›Berserker‹ prägte und trug. »Wie Sie feststellen können, Captain«, sagte Mical mit spöttischer Stimme, »fürchten wir bei unserem Maskenball nicht das Schicksal des Fürsten Prospero. Wir scheuen uns nicht, ein Abbild des Schreckens hierher zu holen, der draußen herrscht!« »Edgar Allen Poe!« rief der Schmeichler entzückt. Die Namen Prospero und Poe sagten Holt nichts, und Mical machte ein enttäuschtes Gesicht. »Verlassen Sie uns, Captain«, sagte Nogara und machte einen direkten Befehl daraus. »Gehen Sie, Captain Holt«, sagte Lucinda mit fester, klarer Stimme. »Wir alle wissen, daß Sie denjenigen helfen wollen, die hier in Gefahr sind. Lord Nogara! Wird man Captain Holt in irgendeiner Weise für das verantwortlich machen, was in seiner Abwesenheit hier geschehen wird?« In Nogaras klaren Augen zeigte sich eine Spur von
Verwirrung. Dann aber schüttelte er den Kopf und gewährte die erbetene Absolution. Und Holt konnte nichts anderes tun, als zum Berserker zurückzugehen und sich bei ihm für seine Mannschaft einzusetzen. Wenn der Berserker Geduld hatte, würde er vielleicht den gesuchten Beweis erhalten. Wenn nur die Festgäste dem Ding, das sie für Janda hielten, gnädig waren. Holt ging hinaus. Daran, daß Karlsen nur eingefroren war, hatte er in seiner Bedrückung gar nicht gedacht.
5 Lucinda stand neben Micals Stuhl, und er hatte seinen Arm um ihre Hüfte gelegt und flötete zu ihr empor: »Oh, wie du zitterst, Süße ... Daß ein so hübsches Mädchen wie du unter meiner Berührung zittert, bewegt mich – ja, bewegt mich tief. Nun, wir sind doch jetzt nicht mehr Feinde, oder? Wenn wir das immer noch sind, dann muß ich mit deinem Bruder sehr streng verfahren.« Sie hatte Holt Zeit gelassen, sich von der Nirvana zu entfernen. Jetzt schlug ihre Hand mit aller Kraft zu. Der Schlag drehte Micals Kopf halb herum und ließ sein sauber gekämmtes graues Haar hochfliegen. Einen Augenblick war es still in der Großen Halle. Dann erhob sich ein Sturm des Gelächters, der den Rest von Micals Gesicht ebenso rot werden ließ wie der Handabdruck auf seiner Wange. Ein Mann hinter Lucinda packte ihre Arme und hielt sie fest. Sie wehrte sich nicht, bis sie spürte, daß sein Griff nach-
ließ, und riß dann blitzschnell ein Messer vom Tisch. Wieder gab es lautes Gelächter, als Mical sich dukkend in Deckung ging und der Mann hinter Lucinda sie von neuem packte. Ein weiterer Mann kam ihm zu Hilfe, und lachend nahmen die beiden Lucinda das Messer weg und zwangen sie, sich auf einen Stuhl an Micals Seite zu setzen. Als der Gouverneur schließlich wieder das Wort ergriff, zitterte seine Stimme ein wenig, doch war sie leise und beinahe ruhig. »Bringt den Mann hierher«, befahl er. »Setzt ihn da drüben hin, mir genau gegenüber.« Während sein Befehl ausgeführt wurde, sagte Mical in beiläufigem Ton zu Lucinda: »Natürlich war es meine Absicht, Ihren Bruder behandeln zu lassen, damit er wieder genesen kann.« Er hielt inne, um die Wirkung seiner Worte zu beobachten. »Verlogenes Stück Dreck«, flüsterte sie lächelnd. Mical lächelte nur zurück. »Stellen wir die Fähigkeiten meiner Geisteslenkungs-Techniker auf die Probe«, sagte er. »Ich wette, daß keine Fesseln mehr nötig sein werden, um deinen Bruder auf diesem Stuhl zu halten, sobald ich dies hier getan habe.« Über den Tisch hinweg machte er eine seltsame Geste auf Jandas glasige Augen hin. »So. Trotz allem wird er alles registrieren, was mit ihm geschieht – mit jedem Nerv. Dessen darfst du ganz sicher sein.« Sie hatte damit gerechnet, daß etwas Derartiges geschehen würde. Jetzt aber war ihr, als sei sie von übler, stinkender Luft fast betäubt. Sie hatte Angst, in Ohnmacht zu fallen, und wünschte im gleichen Augenblick, es zu tun. »Unserem Gast gefällt sein Kostüm nicht.« Mical
sah den Tisch hinauf und hinunter. »Wer möchte ihn als erster unterhalten?« Beifall erklang, als eine kichernde, weibisch wirkende Gestalt sich erhob. »Jamy ist für seinen Einfallsreichtum bekannt«, bemerkte Mical in freundlichem Ton zu Lucinda. »Paß jetzt genau auf.« Auf Micals anderer Seite schien Felipe Nogara den Geschehnissen nunmehr gesteigerte Aufmerksamkeit zu widmen. Es sah aus, als könne er sich, wenngleich widerwillig, den Geschehnissen nicht entziehen. Wachsende Erwartung schien seinen Widerwillen zu verdrängen. Jamy näherte sich kichernd, ein kleines, mit Edelsteinen besetztes Messer in der Hand. »Nicht die Augen«, warnte Mical. »Es gibt Dinge, die er später noch sehen soll.« »Natürlich!« zwitscherte Jamy. Behutsam nahm er Janda den Helm mit den Hörnern ab und sagte: »Wir beginnen so – auf der einen Wange, mit ein bißchen Haut ...« Nur leicht berührte die Klinge den Kopf; dennoch war es zuviel für das tote Fleisch. Rot, und naß fiel die ganze leblose Maske von dem starren Antlitz, und Jandas stählerner Berserkerkopf grinste heraus. Lucinda sah gerade noch, wie ein stählerner Arm Jamy quer durch die Halle warf; dann ließen die Männer sie los und rannten um ihr Leben, und sie konnte unter dem Tisch in Deckung gehen. Ein irres Chaos brach aus, und im nächsten Augenblick hatte der Berserker krachend den Tisch umgeworfen. Hauptziel der Maschine war es gewesen, Beweise für
Karlsens Tod zu finden. Nun da sie sich entdeckt und bei der Durchführung ihres Vorhabens behindert sah, machte sie sich statt dessen daran, nach alter Berserkerart zu töten. Mit grotesken Bewegungen sprang sie durch die Halle und mähte mit sensenartig sausenden Armen alles um sich herum nieder; und wo eben noch heulende Panik gewesen war, lagen jetzt Klumpen blutiger Stille. Am Hauptportal behinderten die Flüchtenden sich gegenseitig und die mörderische Maschine wütete erbarmungslos unter ihnen. Dann drehte sie sich um und kehrte wieder in die Mitte der Halle zurück. Sie kam zu Lucinda, die immer noch an der Stelle kniete wo sie unter dem Tisch Zuflucht gesucht hatte. Und die Maschine zögerte, erkannte sie als eine Art Partner bei ihrer Hauptfunktion. Gleich darauf verfolgte sie schon ein anderes Ziel. Es war Nogara, der schwankend dastand und dessen rechter Arm gebrochen herabhing. Irgendwoher hatte er sich eine schwere Automatikwaffe geholt und feuerte jetzt mit der linken Hand während die Maschine auf der anderen Seite des umgestürzten Tisches auf ihn zustürmte. Die Salven trafen Nogaras Freunde und seine Möbel, streiften aber nur sein abrupt die Bewegungsrichtung veränderndes Ziel. Schließlich traf doch ein Schuß. Die Maschine war außer Gefecht gesetzt, hatte jedoch noch genügend Schwung, um Nogara von neuem zu Boden zu werfen. Plötzlich war es ruhig in der Großen Halle, die verwüstet war wie nach einer Bombenexplosion. Lucinda kam unsicher auf die Beine. Von allen Seiten war jetzt Kreischen und Stöhnen zu hören. Sie war
die einzige, die sich aufrecht hielt. Benommen kletterte sie über die zerschmetterte Mördermaschine. Die Fetzen aus Kleidung und Fleisch, die noch an ihrem Metallgestell hingen, berührten sie kaum. Vor ihrem geistigen Auge konnte sie jetzt das Gesicht ihres Bruders sehen, wie es einstmals gewesen war – stark und lächelnd. Es gab jetzt etwas, das wichtiger war als die Toten, wenn sie sich nur daran hätte erinnern können – natürlich: Die Geiseln des Berserkers, die guten, freundlichen Raumfahrer. Sie konnte versuchen, Karlsens Körper gegen sie einzutauschen. Die auf Notfälle wie verschütteten Wein programmierten Bedienungsmaschinen hetzten in panischer Verwirrung herum und behinderten Lucinda. Dennoch hatte sie den schweren Sarg bereits halb durch die Halle geschoben, als eine schwache Stimme sie innehalten ließ. Nogara hatte sich an dem umgestürzten Tisch in eine sitzende Position hochgezogen. Noch einmal krächzte er: »... lebt.« »Was?« »Johann lebt. Ist gesund. Sehen Sie? Es ist eine Kältebox.« »Aber wir alle haben dem Berserker gesagt, daß er tot sei«, rief sie, allmählich völlig entnervt. Zum ersten Male sah sie hinunter auf Karlsens Gesicht, und lange Sekunden vergingen, bevor sie die Augen wieder abwenden konnte. »Er hat Geiseln. Er will Karlsens Körper.« »Nein.« Nogara schüttelte den Kopf. »Jetzt verstehe ich endlich. Aber nein. Lebend kommt er mir nicht in die Hände der Berserker.« Auch sein verstümmelter Körper strahlte noch die brutale Kraft seiner Persön-
lichkeit aus. Zwar hatte er keine Waffe mehr; Lucinda wagte aber dennoch nicht, sich zu bewegen. Ihr Haß indessen wich. »Aber dort draußen sind sieben Männer«, protestierte sie. »Der Berserker ist wie ich.« Nogara biß vor Schmerz die Zähne zusammen. »Er läßt die Gefangenen nicht frei. Hier. Der Schlüssel ...« Er holte ihn aus seinem aufgerissenen Umhang. Wieder zog die kalte Heiterkeit des Gesichtes unter dem Sargdeckel Lucindas Blicke wie magisch an. Einem plötzlichen Impulse folgend, nahm sie dann plötzlich den Schlüssel. Nogara stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und fiel dann bewußtlos zur Seite. Das Schloß des Sarges wies mehrere Markierungen auf, und sie drehte den Schlüssel auf NOTWIEDERBELEBUNG. Um die Gestalt im Sarginneren herum flammten Lichter auf, und das Summen elektrischer Energie wurde hörbar. Jetzt reagierten die Automatik-Systeme des Schiffes auf die eingetretenen Unregelmäßigkeiten. Die Bedienungsmaschinen kamen mit Bahren herein, und Nogara war eines der ersten Opfer, die sie hinaustrugen. Vermutlich war irgendwo ein Medical-Roboter in Aktion. Hinter Nogaras Thronsessel erscholl eine laute Stimme. »Hier Verteidigungsleitstand. Ich bitte die Menschen um Befehle! Um welche Art Notfall handelt es sich?« »Keinen Kontakt mit dem Kurierschiff aufnehmen!« rief Lucinda zurück. »Achten Sie auf einen möglichen Angriff. Keinesfalls darf aber das Ret-
tungsboot getroffen werden!« Der Glasdeckel des Sarges war undurchsichtig geworden. Lucinda rannte zur Sichtluke, wobei sie über Micals Körper stolperte, ohne darauf zu achten. Wenn sie so weit seitlich wie möglich hinaussah, konnte sie im flackernden Licht der Hypermasse gerade noch den Berserker-Kurier sehen. Das Rettungsboot mit den Geiseln, ein kleiner blaßroter Punkt, schwebte noch davor. Wie lange würde der Berserker warten, ehe er die Geiseln tötete und floh? Als sie sich wieder umwandte, sah sie, daß der Sargdeckel offen war und der Mann im Sarg sich aufgesetzt hatte. Einen ganz kurzen Moment nur, einen Moment, den sie niemals vergessen würde, waren seine Augen wie die eines Kindes hilflos auf sie gerichtet. Dann aber begann sein Blick Kraft auszustrahlen, eine Kraft, die irgendwie ganz anders als die seines Bruders und vielleicht sogar größer war. Karlsen drehte sich um und betrachtete den Rest seiner Umgebung – die verwüstete Große Halle und den Saal. »Felipe«, flüsterte er wie in großem Schmerz, obwohl sein Halbbruder nicht zu sehen war. Lucinda ging auf ihn zu und begann, ihre Geschichte zu erzählen, von dem Tag an, da sie in einem flamländischen Gefängnis gehört hatte, Karlsen sei der Pest zum Opfer gefallen. Einmal unterbrach er sie. »Helfen Sie mir hier heraus; bringen Sie mir einen Raumanzug.« Sie nahm ihn am Arm, und er war hart und stark. Als er dann neben ihr stand, zeigte sich, daß er erstaunlich klein
war. »Weiter, was dann?« Hastig fuhr sie mit ihrer Erzählung fort, während Bedienungsmaschinen ihm einen Raumanzug anlegten. »Warum aber wurden Sie eingefroren?« fragte sie schließlich, plötzlich verwundert über seine Gesundheit und Stärke. Er ignorierte die Frage. »Kommen Sie mit zum Verteidigungsleitstand. Wir müssen die Männer draußen retten.« Sich in vertrautem Gelände bewegend, eilte er zum Nervenzentrum des Schiffes und ließ sich auf dem Gefechtsstuhl des Verteidigungsoffiziers nieder, der wahrscheinlich tot war. Die Konsole vor Karlsen wurde hell, und er befahl: »Eine Verbindung mit dem Kurier.« Alsbald ertönte eine monotone Stimme aus dem Kommunikator. Das Gesicht auf dem Bildschirm war schlecht beleuchtet; hätte es jemand ohne Vorwarnung betrachtet, er wäre nicht auf den Gedanken gekommen, daß es vielleicht nicht das Gesicht eines Menschen war. »Hier spricht der Hohe Kommandeur Karlsen an Bord der Nirvana.« Er nannte sich nicht Gouverneur oder Lord, sondern verwandte den Titel, den ihm der große Tag von Stone Place eingetragen hatte. »Ich komme hinüber auf den Kurier. Ich möchte mit Ihnen sprechen.« Das schattenhafte Gesicht auf dem Schirm bewegte sich kaum. »Ja, Sir.« Sofort brach Karlsen den Kontakt ab. »So sieht er seine Hoffnungen bestätigt. Jetzt brauche ich ein schnelles Boot. Die Roboter bringen sofort meinen Sarg an Bord. Ich stehe jetzt unter der Einwirkung
von Notbelebungsdrogen, und wenn ich am Leben bleibe, werde ich mich vielleicht für eine Weile wieder einfrieren müssen.« »Sie fahren doch nicht wirklich hinüber?« Er erhob sich von seinem Stuhl und hielt dann inne. »Ich kenne Berserker. Wenn die Jagd auf mich seine Hauptfunktion ist, wird er keinen Schuß und keine Sekunde Zeit auf ein paar Geiseln verwenden, solange ich in der Nähe bin.« »Das können Sie nicht tun«, hörte Lucinda sich sagen. »Sie bedeuten den Männern zu viel ...« »Ich habe nicht vor, Selbstmord zu begehen; einen Trick oder zwei habe ich noch in Reserve.« Mit plötzlich veränderter Stimme sagte er dann: »Felipe ist also nicht tot?« »Ich glaube nicht.« Karlsen schloß die Augen, während er kurz und lautlos seine Lippen bewegte. Dann nahm er mit einem Blick auf Lucinda Papier und einen Stift von der Konsole des Verteidigungsoffiziers. »Geben Sie dies Felipe«, sagte er, während er schrieb. »Er wird Sie und den Captain freilassen, wenn ich ihn darum bitte. Sie stellen für seine Macht keine Gefährdung dar. Ich allerdings ...«
6 Vom Sessel des Verteidigungsoffiziers aus sah Lucinda zu, wie Karlsens kristallenes Boot die Nirvana verließ und in einer weit gezogenen Kurve zu dem Kurierschiff hinüberflog, wo es in einiger Entfernung vom Rettungsboot zum Stillstand kam.
»Sie auf dem Kurier«, hörte Lucinda ihn sagen. »Sie können feststellen, daß wirklich ich mich in diesem Boot befinde, nicht wahr? Haben Sie ein klares Bild von mir? Können Sie meine Retina über den Schirm fotografieren?« Plötzlich schoß das Boot mit höchster Beschleunigung im Zick-Zack davon, während die Waffen des Berserkers die Stelle beschossen, wo er sich eben noch befunden hatte. Karlsen hatte recht gehabt. Der Berserker verwendete keine Sekunde und keinen einzigen Schuß auf das Rettungsboot, sondern machte sich unverzüglich davon, ihn selbst zu verfolgen. »Feuer auf den Kurier!« schrie Lucinda. »Vernichtet ihn!« Eine Raketensalve verließ die Nirvana, verfehlte aber ihr Ziel. Verfehlte vielleicht deshalb, weil sich das Kurierschiff bereits am Rande des Verzerrungsfeldes der Hypermasse befand. Karlsens Boot war nicht getroffen worden, konnte aber nicht entkommen. Wie ein glasiger Punkt verschwand es hinter einer Wand von Salven des Berserkers, kam dem wirbelndem Schlund der Hypermasse immer näher. »Verfolgt sie!« rief Lucinda und sah, wie die Sterne draußen vor ihr sich blau verfärbten. Fast im gleichen Moment jedoch widerrief der Automatik-Pilot der Nirvana ihren Befehl und meldete rasch die mathematische Gewißheit, daß jede weitere Beschleunigung in dieser Richtung für alle an Bord tödlich sein würde. Kein Zweifel – Karlsens Boot flog jetzt in die Hypermasse gepackt von einer übermächtigen Gravitation, die jeden Schiffsantrieb wirkungslos machte, und der Berserker stürzte blindlings hinter dem Boot
her. Er hatte nur eines im Sinn: Karlsens Vernichtung sicherzustellen. Die beiden Punkte verfärbten sich zunehmend rot und rasten in eine riesige Staubwolke, als sei es der Abendhimmel eines Planeten. Und dann verschlang sie die Rotverschiebung der Hypermasse, und das Universum sah sie nie wieder. Bald nachdem die Roboter die Männer im Rettungsboot sicher an Bord der Nirvana gebracht hatten, fand Holt Lucinda allein an der Sichtluke der Großen Halle. »Er hat sich geopfert, um Sie zu retten«, sagte sie. »Dabei hatte er Sie niemals von Angesicht gesehen.« »Ich weiß.« Nach einer Pause fuhr Holt fort: »Ich habe eben mit dem Herrscher Nogara gesprochen. Ich weiß nicht warum, aber er läßt Sie frei, und ich soll auch nicht verfolgt werden, weil ich den verdammten Berserker an Bord gebracht habe. Obwohl Nogara keinen von uns besonders zu lieben scheint ...« Sie hörte nicht zu, sah immer noch durch die Luke hinaus. »Ich möchte, daß Sie mir einmal alles erzählen, was Sie über ihn wissen«, sagte Holt und legte seinen Arm um Lucinda. Nur ein klein wenig irritiert machte sie eine kaum wahrnehmbare Bewegung. Holt war es, der seinen Arm von ihr nahm. »Ich verstehe«, sagte er nach einer Weile. Dann ging er zu seinen Männern.
Originaltitel: MASQUE OF THE RED SHIFT
Christopher Anvil DER GEFANGENE ZAUBERER Guard Captain Skeerig Klith sah auf, als Leutnant Ladigan Grul befriedigt lächelnd hereinkam. »Sir«, sagte Grul und hielt ein Bündel Papiere hoch, »Gefechtstruppen haben eben einen Außenweltler gebracht.« Wieder lächelte Grul, wobei er fast streichholzlange Hundezähne entblößte. Klith langte nach dem Bericht und stieß in der Aufregung seine Klauen durch die Papiere. »Zu schön, um wahr zu sein«, sagte er und glättete die Papiere auf seinem Schreibtisch. »Das feige Gewürm benützt immer seine magischen Kräfte, um zu entkommen.« »Der hier hat irgendwo einen Fehler gemacht. Und mit allem Respekt, Sir, es ist keine Magie. Wie es scheint, ist einfach ihre Wissenschaft fortgeschrittener als die unsere.« »Wenn sie so fortgeschritten ist, wo ist da der Unterschied?« »Sir«, widersprach Grul, »ganz gleich, wie fortgeschritten Wissenschaft ist, sie ist niemals Zauberei.« »Diese Außenweltler kamen vom Himmel herunter«, knurrte Klith. »Wenn sie etwas wollen, dann zeigen sie mit einem Stock darauf, und es erscheint. Wenn sie es loshaben wollen, strecken sie wieder den Stock aus, und es verschwindet. Wir haben gesehen, daß sie mit ihren Stimmen Maschinen stahlen. Ist das keine Zauberei?«
»Durch einen ganz natürlichen Prozeß wissenschaftlicher Entwicklung, Schritt für Schritt ...« »Vielleicht bekommen Zauberer ihre Kraft durch einen natürlichen Entwicklungsprozeß, Schritt für Schritt. Für mich macht das keinen Unterschied. Wenn man was nicht versteht, dann ist es Magie, oder?« »Sir, in diesem Falle wäre im Grunde genommen alles Magie.« »Genau«, sagte Klith, »und in diesem Falle gebrauchen sie, wie ich sagte, Magie. So. Wo ist der Gefangene?« Grul öffnete den Mund und schloß ihn dann wieder. Mit belegter Stimme sagte er: »Der Gefangene befindet sich im Zentralen Zellenblock, Neuer Teil, Sir.« »Hm-m-m.« Klith sah den Bericht durch. »Das Ungeziefer wurde am Fuße des Mount Daggeredge festgenommen. Sein Fahrzeug hatte offenbar einen Defekt, es wurde zur Untersuchung ins Technologische Bezirkslabor gebracht.« Klith sah auf. »Sicher wissen Sie, Grul, daß bei unserer Offensive zur Vernichtung des Hauptnestes dieser klauenlosen, feigen Außenweltler nicht alles ganz glatt läuft?« Gruls Ohren drehten sich ihm zu. »Nein, Sir. Ich weiß nur, daß unser Bombardement so schwer ist, daß es noch in einhundertzwanzig Sprung Entfernung zu hören ist.« »Unglücklicherweise bleibt der Krach der gleiche, ob man nun trifft oder nicht.« »Aber ihre Basis ist doch deutlich zu sehen.« »Und irgend etwas wie dickes, elastisches, unsichtbares Panzerglas ist zwischen unserer Artillerie und ihrer Basis.«
Grul schüttelte angewidert den Kopf. »Da ist immer irgend etwas.« »Dieser Gefangene könnte uns sehr nützlich sein.« »Sie meinen, wir könnten ihn über diese Barriere ausfragen?« »Genau. Wir können ihn über alle ihre Einrichtungen ausfragen. Vielleicht erfahren wir dann, warum sie eigentlich hier sind. Die Sache mit der GuroniukMine ist offensichtlich ein Vorwand.« Grul nickte. »Wer will denn das wertlose Zeug? Wenn man nur in die Nähe von Guroniuk kommt, wird man krank, und der Pelz fällt einem stückweise aus. Soll ich den Außenweltler jetzt heraufbringen?« »Spielen Sie eine Weile mit ihm Zango. Es wird ihn aufgeschlossener machen, und wenn ihn das Höhere Hauptquartier holen läßt, hat er keine Verletzungen.« Grinsend entblößte Grul seine langen Zähne. Zango wurde mit einem Dutzend Figuren auf jeder Seite gespielt. Alle Figuren bewegten sich in Sprüngen, und jeder Sprung war lang. Düster auf das Mobiliar starrend, saß Hedding in seiner Zelle. Die Pritsche war so kurz, daß er nur zusammengekrümmt darauf liegen konnte. Neben der Pritsche war ein zerkratzter Pfosten, der offensichtlich zum Schärfen von Klauen diente. In der Ecke stand eine Kiste mit Sand. In der hinteren Zellenwand befand sich ein fünfzehn Zentimeter großes, mit einer eisernen Tür verschlossenes rundes Loch. Wozu es diente, war Hedding nicht klar. Als Verpflegung hatte man ihm ein kleines Stück Fisch und etwas stark riechenden, Sznivtig genannten Käse gegeben. Außerdem hatte er einen Becher Wasser erhal-
ten. Hedding trank das Wasser, besah sich das Essen und vergrub es alsdann im Sand. Er legte sich auf die Pritsche, wobei er die Unterschenkel über den Rand hängen ließ, und bemerkte eine trübe kleine Glühbirne an der Decke. Die metallische Ablagerung an der Innenseite der Birne wies auf den Stand der Wissenschaft auf diesem Planeten hin. Irgendeine Möglichkeit mußte es geben ... In diesem Augenblick kam ein Geräusch von der Tür. Ein Geschöpf mit großen runden Pupillen und zitterndem Schnurrbart legte mit einem Gewehr auf ihn an. Am Lauf stak ein Bajonett, dessen Ende nach unten gekrümmt war wie eine Klaue. Obwohl man ihn »behandelt« hatte, konnte Hedding die schnarrende Stimme kaum verstehen: »Gegessen?« »Noch nicht. Ich hatte keinen Hunger.« »Sie hatten also Glück?« Hedding blinzelte in der Zelle umher. »Glück? Nicht daß ich wüßte.« Der Wärter sah verständnislos drein und zuckte die Achseln. »Bringen Sie Ihren Sznivtig und folgen Sie mir.« »Wohin?« »Zellenblock C. Die Klauen raus aus der Matte und ab.« Hedding folgte dem Wärter durch Hunderte von Metern düsterer Korridore und fand sich schließlich in genau derselben Art Zelle mit völlig gleicher Einrichtung wieder. Eine Viertelstunde später gab es wieder ein Geräusch an der Tür, und eine andere Stimme rief herein:
»Sie da drinnen! Folgen Sie mir!« Ein zehnminütiger Abstieg auf einer Wendeltreppe führte ihn wiederum in eine völlig identische Zelle. Zwanzig Minuten später gab es ein Geräusch an der Tür. »Gefangener! Achtung! Folgen Sie mir!« »Was zum Teufel ist denn jetzt wieder los?« »Ruhe! Sie haben keine Fragen zu stellen! Sie werden gehorchen!« Vor sich hinfluchend stapfte Hedding zwanzig Minuten lang durch trüb beleuchtete Korridore hinter dem Wächter her. Dann ging es rund herum, rund herum eine Wendeltreppe hinauf, dann über eine weitere Wendeltreppe, von neuem durch einen Korridor in eine andere Zelle, wo die Tür hinter ihm zuschlug. Fünfzehn Minuten später ließ sich eine andere, joviale Stimme vernehmen: »Gefangener. Ohren auf! Wir bringen Sie in eine andere Zelle. Nehmen Sie Ihren Sznivtig und folgen Sie mir!« Guard Captain Skeerig Klith schob die Meldung über den Schreibtisch zu Senior Leutnant Grul hinüber. Grul las laut: »Der Gefangene ist unter Anwendung wissenschaftlicher Methoden zu vernehmen. Abhakken von Gliedern, glühende Eisen, überstarke Schläge gegen den Kopf und ähnliche Verfahren, welche die Klarheit des Geistes beeinträchtigen, sind nicht anzuwenden. Bis zu meiner Ankunft ist nur eine vorläufige Befragung durchzuführen. Queel Snnorriz, Stabspsychologe.« »Dieser Clown«, sagte Klith. »Will offenbar diesem Außenweltler schön tun. Wissen Sie noch, wie der
Kretin damals diese besonders hartnäckigen Gefangenen zu bearbeiten hatte? Er wollte ›die verschütteten Erinnerungen zu Tage bringen, die ihr amoralisches und asoziales Verhalten erklären‹.« »Wer könnte das vergessen?« sagte Grul. »Die Gefangenen machten die Verwahranstalt zu einer Festung, hängten diesen Grasfresser Snnorriz an seinem Schwanz auf und drohten, die Wächter in Stücke zu schnipseln, wenn man ihnen nicht nachgab.« Klith nickte düster. »Und als dann die Eiserne Division kam und aufräumte, beklagte sich dieser Trottel noch, daß seine Therapie unterbrochen worden sei.« »Man hätte ihn damals versehentlich mit umlegen sollen.« Klith zuckte die Achseln. »Er ist eben der Vetter des Kaisers und außerdem ganz oben im Scholastischen Hierarchat.« »Ich sage ja immer wieder«, entgegnete Grul, »man muß sie alle an einer Stelle zusammentreiben und dann eine schöne, starke ...« »Schsch«, sagte Klith mit einem nervösen Blick in die Runde. »Was reden Sie denn da.« Er räusperte sich, ließ sich von seinem Sitz fallen und schärfte seine Klauen an dem dafür vorgesehenen Pfosten. »Unser augenblickliches Problem ist dieser Gefangene. Wie steht's denn mit dem?« Gruls Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. »Er war ganz geduldig während der ersten vier oder fünf ... äh ... Züge in diesem Spiel. Dann aber entwaffnete er einen Wächter, wurde von einem anderen langgelegt und ist jetzt ein wenig mitgenommen.« Klith nickte. »Abgesehen von diesem Kampf – den
er selbst angefangen hat – wird nichts von alledem irgendwelche Spuren hinterlassen. Lassen Sie ihn in den Keller des Alten Baus hinunterführen. Er soll sehen, wo wir ihn hinstecken können, wenn wir wollen. Ich werde ein wenig schlafen. Anschließend soll er zu mir heraufkommen.« Hedding befühlte die Beule an seinem Kopf, während er hinter einer dunklen Gestalt an Reihen von Zellen vorbei einen schwach widerhallenden Korridor entlangschritt. Er versuchte, sich zu erinnern, ob es ein freundlicher Wächter war. Er hatte so viele Wächter und so viele Zellen gesehen, daß er sie gar nicht mehr auseinanderhalten konnte. »Sagen Sie«, fragte er, »sind diese Zellen belegt?« Von irgendwo her kam ein Echo, dann ein anderes, schwächeres. »Was?« fragte der Wächter. Hedding wartete, bis die Echos verstummten, und wiederholte dann seine Frage. »Die meisten Zellen in diesem Block«, knurrte der Wächter, »sind leer. Obacht auf Ihren Kopf. Wir gehen weiter nach unten.« Rund herum, rund herum kletterten sie eine Wendeltreppe hinunter und tauchten so tief in die Dunkelheit ein, daß Hedding unter der Vorstellung zu leiden begann, die Wendeltreppe drehe sich unter seinen Füßen nach oben, und er bewege seine Beine nur, um auf derselben Stelle zu bleiben. Der Wächter hüstelte entschuldigend. »Hat keinen Sinn, wenn Sie hier unten Sznivtig auslegen. Die Viecher gehen gleich auf Sie los.« Hedding, der ganz benommen im Kreise lief, sagte
töricht: »Tatsächlich?« »So sicher wie der Tod«, sagte der Wächter. »Passen Sie auf, daß Sie nicht einschlafen. Packen Sie hin und wieder ein paar, brechen Sie ihnen den Hals und schmeißen Sie sie zwischen die anderen. Geben Sie ihnen was zu tun. Wenn es zu dick wird, klettern Sie an dem Pfosten hoch und verschnaufen Sie. Und nehmen Sie Ihren Schwanz hoch. Die Viecher können springen.« Ein wenig davon drang in Heddings Bewußtsein. Er wurde wach, bemerkte den braunen Rost und daß die vereinzelten Beleuchtungskörper jetzt anders aussahen. Hier unten gab es Gaslampen mit flackernden Flammen. Plötzlich war ein Trippeln zu hören; der Wächter bückte sich dann kam ein Quietschen, ein Knacken, ein dumpfer Aufschlag dann wieder rasendes Trippeln. »Nur noch ein paar Etagen«, sagte der Wächter. Die Luft war jetzt dumpf und feucht. Von den Stufen über ihm fielen kalte Tropfen herunter, und die Wände schimmerten von Nässe. »Vorsicht«, sagte der Wächter, »passen Sie auf die nächste Stufe auf.« Müde schleppte Hedding sich weiter. Von oben hörte er einen dumpfen Schlag. Hinter ihnen folgte ein anderer Wächter – nur für den Fall, daß Hedding irgend etwas versuchen sollte. Der Wächter vor ihm sagte: »In dieser Zellenreihe – wir nennen sie den Alten Bau – sind nur Gaslampen. Sehen Sie sich vor.« Mit einem klatschenden Schritt verließen sie die Treppe. Direkt vor ihnen wischte etwas Schwarzes, Haariges von der Größe einer Männerhand an einem
Faden nach oben. Gebückt führte der Wächter Hedding in eine Zelle, in der das Wasser am Boden stand. Im Wasser lag, mit orangenem Moder bedeckt, irgend etwas Totes. Aus dem Holz der Pritsche wuchs der Schwamm. Gegen eine Wand stand der Pfosten gelehnt. Da und dort glühten Augen aus der Dunkelheit. Ein feuchtkalter, wie Knoblauch riechender Lufthauch zog aus der Richtung herein, aus der sie gekommen waren, und ließ die Gasflammen flackern, so daß lange Schatten über die Mauern zuckten. Hedding sah sich ungläubig um. Der Wächter kratzte an einer Metallplatte am Türgitter und warf einen Blick auf ein Stück Papier. »Das ist die richtige Zelle. Aber das ist das schlimmste Loch, das ich jemals gesehen habe, seit Snnorriz das Zentralgefängnis übernahm.« Der zweite Wächter sagte draußen im Korridor: »Hinein mit ihm, und dann nichts wie weg.« »Schau dir diese Stobclers an, wie ihre Augen im Licht glitzern.« »Was glaubst du denn daß ich mir sonst anschaue?« »Wenn wir ihn hier lassen – was wird dann noch von ihm übrig sein, wenn wir wiederkommen?« »Das ist sein Problem, nicht unseres. Wir haben unsere Befehle: Überstellung in Zelle 6 T 42 e Alter Bau. Das ist Zelle 6 T 42 e Alter Bau. Befehl ist Befehl.« Der erste Wächter steckte stirnrunzelnd einen großen Schlüssel ins Schloß und drehte ihn quietschend herum. Hedding war jetzt vollkommen wach. Ein schneller Blick auf seine Begleiter zeigte ihn, daß er höchstens
hoffen konnte, einen der beiden zu überwältigen. Dem anderen gegenüber aber würde er dann im Nachteil sein, denn der war mit einem langen Messer ausgerüstet – einer Hedding wenig vertrauten Waffe. Behielt er die Oberhand, war er in einem Labyrinth von Gefängnis, wo ihn jeder sofort erkennen mußte. Ein Entkommen schien ausgeschlossen. Vielleicht aber konnte er es mit Worten versuchen. »Sicher«, sagte er, »soll ich später noch verhört werden.« Der zweite Wächter hatte sein Messer gezogen und sah sich nervös um. »Das ist nicht unser Problem.« »Nicht?« fragte Hedding. »Wenn sie mich verhören wollen, aber nicht können, wer ist dann dafür verantwortlich?« In das nachdenkliche Schweigen hinein hörte man das Kratzen vieler winziger Klauen. Wächter Nummer eins sah Nummer zwei an. »Was dann?« »Wir haben unsere Befehle.« »Ihn einzusperren, nicht, ihn hinzurichten.« »Tun wir es nicht, dann mißachten wir den Befehl, ihn einzusperren.« »Einer von Ihnen könnte hierbleiben«, sagte Hedding. »Der andere muß hinaufgehen und es ihnen sagen.« »Daß wir uns trennen, ist verboten. Sonst könnten Sie den einen von uns überwältigen, ihm sein Kurzschwert und seine Uniform abnehmen und flüchten.« »Ich bin ein Außenweltler. Ich könnte nie an den Wachen vorbeikommen.« »Und wenn Sie eine sechzehnbeinige Krabbe mit
Stielaugen wären. Das ist eben die Vorschrift, und gegen die Vorschrift ist nichts zu machen.« »In den Vorschriften muß doch etwas darüber stehen, daß man Gefangene nicht in unbewohnbare Zellen stecken darf. Vor allem aber, daß man sie nicht umbringen darf, wenn sie noch verhört werden sollen.« Der erste Wächter fluchte. Er schob Hedding in die Zelle, zog von innen die Tür zu und sagte zu seinem Kameraden: »Los, geh hinauf.« Sobald der zweite Mann weg war, knurrte der erste: »Ah, überall diese Stobclers! Ich muß ein paar davon erledigen, damit die anderen etwas zu tun haben.« Er zog sein langes Messer, hieb damit um sich und schrie dann plötzlich: »Da! Nichts wie weg! Da kommen Millionen!« Die glühenden Augen waren zwar fast noch ebenso weit entfernt wie zuvor, aber ihre Anzahl nahm ständig zu. Das Messer indessen lag jetzt in Heddings Zelle. Der Wächter schoß zur Tür hinaus und rannte davon. Dankbar hob Hedding das Messer auf und sah sich um. Naß übereinanderglitschend, kamen die Kreaturen jetzt auf ihn zu. Guard Captain Skeerig Klith preßte seine Hände flach auf den Tisch, um seine Krallen nicht in das Holz zu graben. »Ja«, knurrte er. »Der Gefangene hat etwa unsere Größe und ungefähr dieselbe Statur.« »Seine Finger sind länger und dünner, Gelehrter Herr«, fügte Senior Leutnant Grul hinzu, »und ohne
einziebare Krallen. Aber er scheint trotzdem große Handfertigkeit zu besitzen.« »Ich verstehe.« Die Hinterkeulen über die Kante hinausgestreckt, lag ihr Gast auf der Bank. Seine Vorderpfote hielt einen Rauch-Generator, der in einer langen silbernen Spitze steckte. Dieser RauchGenerator war ein schwarzer, etwa fingerlanger, wachsummantelter Zylinder. Die Außenseite war mit einem dekorativen Gewebe aus Gold und Silber verziert, das langsam abbrannte, während der Generator sich verzehrte, und dem entstehenden Geruch eine besondere Duftnote gab. Guard Captain Klith schob seine Bank vom Tisch zurück und sah zu den Fenstern hinüber. Sie waren offen, doch wehte nicht die leiseste Brise. Klith räusperte sich. »Wenn Sie Ihren Generator lieber draußen genießen wollen, Psychologe Snnorriz, können wir unser Gespräch gern später fortführen.« Snnorriz antwortete nicht gleich. Vielmehr führte er das Ende des Rauch-Generators an seine geschürzten Lippen. Ein Ausdruck erlesener Raffinesse erschien auf seinem Gesicht, als das andere Ende rot aufglühte und silberne und goldene Fäden in Wolken grauen Rauches aufgingen. Klith blickte sich ratlos um. Der Raum besaß einen Ventilatorschacht aus den Tagen, als er noch, wie die Zellen, mit Azetylendampf beleuchtet worden war, dessen Gase ins Freie geschafft werden mußten. Der Ventilator jedoch wurde von einer im Schacht brennenden Flamme in Bewegung gesetzt. Und diese Flamme mußte erst angezündet werden. Klith suchte unter dem Schreibtisch herum, bis seine Fußspitze
den Schaltknopf fand, mit dem die Ventilatorflamme zu entzünden war, vorausgesetzt, er funktionierte. Der Psychologe hatte inzwischen mit einem Ausdruck unsäglicher Weisheit dem Wachkapitän eine graugrüne Wolke ins Gesicht gehaucht. Klith trat energisch auf das Pedal. Jetzt mußte es ein leises Pop und dann ein schwaches Rauschen geben. Nichts geschah. Möglicherweise klemmte das Ventil, oder, schlimmer noch, vielleicht hatte es sich geöffnet, ohne daß der verschlissene Feuerstein an der Reibeplatte entlangfuhr. Noch einmal trat er auf den Knopf. Es gab einen Blitz. BANG! Der Raum erzitterte. Eine Wolke von Mörtel, Steinbrocken und Staub kam herunter, gefolgt von einem flammenden, doppelt faustgroßen Nest. Es war voller metallenem Zeug, alten Ringen und glänzenden Münzen, und ein kleiner purpurner Vogel flog schreiend zum nächsten Fenster hinaus. Ein außerordentlich günstiger Zufall wollte es, daß das brennende Nest mitsamt seinem Inhalt geradewegs auf dem Kopf des Psychologen landete. Während Snnorriz in den nächsten Minuten wie ein Verrückter im Raum herumsprang, war es Klith ein leichtes, den Rauchgenerator samt Spitze verschwinden zu lassen. Während er sich noch zu diesem Erfolg beglückwünschte, erschien ein Wachkorporal in der Tür, warf einen erstaunten Blick auf den quiekenden Snnorriz, wandte sich dann Klith zu und salutierte. »Sir, draußen im Vorzimmer sind ein paar Wachmänner. Angeblich wird dieser Hexer aus der Au-
ßenwelt drunten im Alten Bau von ganzen Armeen von Stobclers aufgefressen. Soll ich sie für diese Störung maßregeln?« Snnorriz sprang in die Luft und schrie: »Ihr Barbaren! Ihr prähistorischen Reptile! Der Gefangene kommt mir unbeschädigt herauf, oder mein Vetter, der Kaiser, wird davon hören!« Den linken Arm und beide Beine um die senkrechten Gitterstäbe gehakt, lag Hedding jetzt auf dem schweren Türrahmen quer über der Tür. Mit dem langen Messer in seiner Rechten hieb er nach unten und erledigte genug von dem Ungeziefer, um den Rest beschäftigt und bei Laune zu halten. Irgendwo draußen, das wußte er, würde die Expedition automatische Sucher auf ihn ansetzen. Ein winziger Sender in einer Körperhöhlung gab ein schwaches Signal, das früher oder später aufgenommen werden würde. Das Problem lag darin, daß sie, sobald sie ihn geortet hatten, erst einmal an ihn herankommen mußten. Wenn es ihm gelang, ins Freie zu kommen, würden seine Chancen, geortet und gerettet zu werden, viel größer sein. Warnende Rufe und metallisches Klirren vom Treppenhaus her verrieten ihm jetzt, daß eine größere Anzahl von Wächtern herunterkam. Da drang eine vertraute Stimme an sein Ohr. »Die letzten vier bleiben beim Eingang. Achtung dort vorn! An der sechsten Zelle des zehnten Seitengangs vorbei; tötet so viel von diesem Ungeziefer wie möglich und schmeißt es den Korridor hinunter! Bewegung!« Das Klirren, Platschen und Rasseln kam näher. Hedding spähte den Korridor entlang und sah die
Wächter im flackernden Schein der Gaslampen. Sein Fluchtbedürfnis wurde übermächtig, als er sah, wie einer der Wächter einen feisten Stobcler verschlang. »So«, rief die vertraute Stimme, »jetzt diesen Korridor lang!« Schlüssel klirrten, die Zellentür knirschte. »Wo in aller Welt ...« Hedding fiel auf den Boden. Seine verkrampften Muskeln versagten fast den Dienst, als er flüsterte: »Danke für das Messer«, und es zurückgab. Der Wächter sah sich kurz um. »Was für eine Falle«, murmelte er und schlug vor einem Loch, aus dem mehrere Paare Knopfaugen glühten, eine rostige Tür zu. »Brrr! Das kann einem wirklich den Appetit verderben. So viele auf einmal – da freut einen gar nichts mehr. Ihr draußen im Korridor! Zurück zur Treppe! Los!« Er führte Hedding am Arm aus der Zelle und schloß die Tür. »So, Jungs, den Gefangenen hätten wir jetzt, und vielleicht kommen wir ungerupft aus der Sache heraus. Vor allem jetzt keine Panik auf der Treppe, sonst bringe ich ihn allein zurück! Vorwärts!« »Was für ein Gas verwendet ihr in diesen Lampen?« fragte Hedding mit einem Blick nach oben. »Glühgas«, sagte der Wächter. »Es wird in Form von Gasgestein eingeflogen, und die Ingenieure werfen das Zeug in große Wassertanks. Wenn Gasgestein mit Wasser in Berührung kommt, entwickelt sich Glühgas. Früher wurde das ganze Gefängnis damit beleuchtet. Ihr da vorn! Seid ihr vielleicht dort angewachsen? Bewegung!« Die Prozession machte sich auf den Weg zum Obergeschoß.
Im Büro des Wachkapitäns ließ sich Queel Snnorriz wieder vernehmen. »Die Kaiserin selbst hat mir diese Platinnadel gegeben. Sie wird tief betrübt sein, wenn ich ohne sie wiederkomme. Natürlich kann ich ihr die Umstän...« »Als Sie aufsprangen, Gelehrter Herr«, sagte Leutnant Grul ganz ernsthaft, »war mir, als flögen der Rauch-Generator und die Nadel gleichzeitig zum Fenster hinaus.« Beglückt atmete Wachkapitän Klith jetzt wieder frische Luft, aber Snnorriz' ständige Drohungen mit dem Kaiserlichen Hof machten ihn allmählich ein wenig nervös. Der Psychologe räusperte sich. »Als Seine Kaiserliche Majestät neulich von den Ministern die Halbjährliche Effizienzliste entgegennahm, war ich im Thronsaal. Der Kaiser bezeichnete mit dem Daumen einige der Namen und sagte: ›Was halten Sie von diesen Burschen?‹ Ich antwortete ihm und sagte ...« Ein Wachkorporal trat ein, warf dem Psychologen einen seltsamen Blick zu und salutierte vor Klith. »Sir, dieser Außenweltler ist draußen.« »Der Kronprinz«, sagte Snnorriz, »liebte diese Nadel sehr ...« Klith, im Grunde ein Patriot, hatte sich noch nie so sehr wie ein Anarchist gefühlt. Zornig sprang er auf, ging zum Fenster und deutete hinunter. »Auf der Brüstung dort unten, einen Stock tiefer, liegt Ihre kostbare Nadel. Ich werde einen Wächter hinunterschicken, um ...« Klith blinzelte. Ein kleiner purpurner Fleck wischte plötzlich über die Silbernadel mit dem facettierten, blitzenden Kopf. Ein triumphierender Schrei ertönte; dann war auf der
Brüstung nichts mehr zu sehen. »Wo ist sie?« rief Snnorriz, der jetzt neben Klith stand. »Sie sagten ...« »Ein Vogel ist eben damit weggeflogen. Was kann ich da machen?« »Soll ich Ihnen vielleicht glauben ...« Im Hintergrund sprach Senior-Leutnant Grul auf den Korporal ein. »Holen Sie ihn. Schnell!« Klith und Snnorriz schrien einander jetzt an. »Meine Herren!« dröhnte der Korporal jetzt, als befände er sich in einem Freilichttheater. »Hier ist der FREMDE ZAUBERER, unter Bewachung!« Snnorriz und Klith fuhren wie elektrisiert herum. Hedding versuchte zu ergründen, was los war, als die Wächter ihn plötzlich weiterstießen. »Der FREMDE ZAUBERER«, donnerte eine Stimme, »unter Bewachung!« Hedding starrte eine hart und kalt wirkende Gestalt im Lederumhang an. Neben ihm stand ein überzüchteter Dandy in geschorenem schwarzen Samt mit weißen Spitzen, einem schlanken Dolch mit juwelenbesetztem Griff an der Seite, die Schnurrbartspitzen nach oben gedreht. Ein schwaches Rauchwölkchen kräuselte sich aus seinem Pelz direkt über dem rechten Ohr. Hedding sah sich in dem Raum mit den vielen Fenstern um blickte nach oben, als von der Decke ein schwaches Brummen kam, und wollte schon fast etwas sagen, als über ihren Köpfen etwas vorbeidröhnte. Für die Möglichkeit, zu einem der Fenster zu kommen, hätte er viel gegeben, aber an beiden Armen hielten ihn Wächter fest.
Die Gestalt mit dem harten Gesicht schaute zum Fenster. »Was ist das für ein Lärm?« Ein Wächter erschien in der Tür. »Meldung von der Himmelswache, Sir. Eine von den Flugmaschinen der Außenweltler kreist über uns.« Hedding beglückwünschte sich dazu, so schnell geortet worden zu sein. Aber der Apparat konnte nicht hier herein fliegen und ihn holen. Er mußte sich zeigen. Die Gestalt im Lederumhang sagte: »Die Wache soll Meldung machen, wenn die Maschine tieferkommt. Gentlemen, die Außenweltler suchen nach dem hier. Die Tatsache, daß sie lediglich über uns kreisen, beweist, daß sie nicht genau wissen, wo er ist. Und so soll es auch bleiben.« »Das sollte nicht allzu schwierig sein, Sir«, sagte eine andere in Leder gekleidete Gestalt mit anderen Abzeichen. »Der Bursche hat weder Geräte noch Ausrüstung oder Waffen. Er hat nicht einmal Krallen, Sir.« »Nicht vergessen – er ist ein Zauberer.« Dieses Mal war es die katzenähnliche Gestalt in Samt, die nach einem kurzen gönnerhaften Lachen das Wort ergriff. »Sie vom Militär können natürlich eine so inakkurate Terminologie gebrauchen, wenn das für Sie günstig ist. Wir vom Priesterlichen Hierarchat der Wissenschaftlichen Weisheit gebrauchen eine präzisere Sprache.« Die Abkühlung der Atmosphäre, die dieser kleinen Ansprache folgte, schien ihm zu entgehen. Er fuhr fort: »Alles, was diese Außenweltler haben, ist unser eigenes Wissen, nur etwas weiterentwickelt. Sie haben es lediglich ein wenig verfeinert. ›Zauberer.‹ So etwas wie einen ›Zauberer‹
gibt es nicht! Ich wette mit jedem von Ihnen, daß dieser so gewöhnlich aussehende Bursche hier sehr gut in eine unserer Niedrigen Gilden passen würde. Komm, Junge, zu welchem Großen Zweig des Stammbaumes gehörst du – Materie, Energie, Körper oder Geist? Sprich jetzt.« Hedding sagte sich, daß ein Bergbauingenieur der Materie näher war als den anderen drei Bereichen, und sagte gefügig: »Materie, Sir.« »Und worauf sind Sie da spezialisiert?« »Guroniuk-Bergbau.« »Ah«, sagte die Katzengestalt mit dem nachsichtigen Blick. »Aber was in aller Welt sollte man denn mit Guroniuk anfangen?« Hoch über ihnen gab es ein Dröhnen. Wenn es Hedding gelang, Aufmerksamkeit zu erregen, würde der Mann dort oben das Rettungsgerät herunterschicken. Das Gerät führte Essen, Wasser und Waffen mit sich und enthielt ein geräumiges Passagierabteil. Aber erst mußte er auf sich aufmerksam machen. Die in Leder gekleidete Katzengestalt mit dem harten Gesicht zog einen mit stählernen Zacken besetzten Riemen heraus. »Sie werden verhört, Gefangener. Die Frage war ›Was in aller Welt sollte man mit Guroniuk anfangen?‹« »Ersparen Sie mir«, sagte die Katzengestalt in Samt, »diese Rohheit. Ich habe die Absicht, die Sache auf meine eigene Art und Weise zu erledigen.« »Sie kommen nicht weit, wenn Sie Gefangene verhätscheln. Hin und wieder ein herzhafter Klaps, dann hören sie Ihnen beim nächstenmal viel besser zu.« »Unsinn. Auf diese Weise machen Sie sie doch nur
renitent. Meine Methode holt den inneren Widerstand ans Licht, so daß wir ihm psychologisch begegnen können.« Er blickte zu Hedding. »Welche Methode scheint Ihnen wissenschaftlicher zu sein?« »Ganz ohne Frage die Ihre.« Die Katzengestalt in Leder schnaubte verächtlich. Die Katzengestalt in Samt wandte sich Hedding zu, wobei ein brüderlich mitfühlendes Lächeln ihre Zähne sehr schön zur Geltung kommen ließ. »Kommen Sie mit mir, mein Junge. Betrachten Sie mich als Ihren Freund.« Zutiefst gelangweilt verbrachte Guard Captain Skeerig Klith die nächste Stunde. An seinem Schreibtisch arbeitend, konnte er mithören, wie Snnorriz nebenan den Gefangenen verhörte. Mit Verhören, wie Klith sie vornahm, hatte das nichts zu tun. An Stelle knapper Fragen und Antworten, begleitet von gelegentlichen Schreien des Gefangenen, gab es freundliches Lachen, endlose Konversation. Kurz, Snnorriz war viel umgänglicher mit dem Gefangenen als mit Klith. An einer Stelle, als Leutnant Grul gerade bei ihm war, kommentierte Klith eine Lachsalve aus dem anderen Zimmer: »Hören Sie sich das an. In Gesellschaft eines Fremden von der Außenwelt fühlt dieser Geck sich wohler als bei uns.« Grul nickte zustimmend und schaute durch die offene Tür. »Jetzt rauchen sie abwechselnd aus einem Chomizar.« Klith sah nach. Tatsächlich, da war der wassergefüllte Glasballon mit den zehn Meter langen Schläuchen, die sich überall durch den Raum schlängelten.
Der Psychologe rauchte gerade aus einem Mundstück, während der Außenweltler die handwerkliche Qualität eines anderen bewunderte. »Da kann einem ja schlecht davon werden«, knurrte Klith. »Immerhin, er bekommt ein paar Informationen.« »Ja«, sagte der Außenweltler gerade, »die Luft auf diesem Planeten ist der auf unserem durchaus ähnlich. Dort setzt sie sich grob gerechnet aus zwanzig Prozent Sauerstoff, siebzig Prozent Stickstoff und zwei Prozent Ammoniak zusammen. Der Rest besteht aus Kohlendioxyd, Wasserdampf und anderen Stoffen.« »Interessant«, sagte eine fremde Stimme. »Wir haben kein freies Ammoniak. Ich frage mich, warum ...« »Wer ist das?« fragte Grul blinzelnd. Klith spähte hinein und sah eine schlanke Gestalt mit gebleichtem Pelz und einem schlecht nachgeformten Ohr, die eine mit weißen Planeten Sternen und Kometen besetzte schwarze Robe und um den Hals eine silberne Kette trug, an der ein goldenes Destillierfläschchen baumelte. »Irgendein Chemiker«, brummte Klith. »Sieht aus, wie wenn er hoch im Hierarchat rangierte.« Der Außenweltler sagte gerade: »Sie kommt aus Vulkanspalten. Ich weiß nicht wie. Ich bin ja nur Ingenieur für Praktische Bergbauverfahren.« »Nichtsdestoweniger«, kam die Stimme des Chemikers, »kann Ihre Aussage interessant für uns sein. Wir zum Beispiel tragen Gewebeschädigungen davon, wenn wir mit einer Spur Ammoniak in Berührung kommen.« »Seltsam«, sagte der Außenweltler. »Auf diesem
Planeten führen wir ihn in Flaschen mit uns herum, aus denen wir dann und wann inhalieren. Das Fehlen von Ammoniak läßt unsere Schleimhäute trocken werden. Unglücklicherweise ging mir meine Flasche verloren, als ich gefangengenommen wurde.« Über ihnen dröhnte irgend etwas vorüber. »Dieses verdammte Ding«, sagte Klith. »Sir«, sagte eine Stimme von der äußeren Tür her, »die Himmelswache meldet, daß die Flugmaschine wieder über uns kreist.« »Das höre ich«, sagte Klith kurz. »... gern eine Flasche besorgen, die Sie bei sich tragen können«, ließ sich die Stimme des Chemikers wieder vernehmen. »Ich lasse sie sofort holen.« Mit einem Fluch sprang Klith von seiner Bank auf. »Hören Sie mal!« bellte er. »Dieser Außenweltler trägt hier keine Ammoniak-Flaschen herum! Wollen Sie, daß er uns alle damit blendet und dann abhaut? Bevor wir wüßten, was los ist, könnte er mit irgendeiner Zauberei diese Flugmaschine herunterholen!« Verärgert stand Snnorriz auf. »Einem Wissenschaftler würde so etwas niemals passieren, da bin ich sicher. Nun, da Sie es sagen ...« »Aber«, rief der Außenweltler mitleiderregend, »ich vertrockne ja! Ohne Ammoniak können wir nicht existieren!« »Wie schade«, schnarrte Klith. »Dies«, sagte Snnorriz mit peitschenden Bewegungen seines Schweifes, »ist unmenschlich, ein typischer Fall dieser Militärpsychologie, die ...« »Ach«, sagte Klith und fuhr seine Krallen aus, »tatsächlich?« Ein kolossaler Aufruhr entstand, in dessen Verlauf
man sich irgendwie darauf einigte, daß der Fremde bei Nacht eine Flasche Ammoniak an sein Lager bekommen könne, die er jedoch jeden Morgen der Wache zurückgeben mußte. Mit gesträubtem Pelz begab sich Klith zu seiner Bank zurück, sprang dann wieder auf und zerfetzte vor Wut einen Teil des Klauenschärfpfostens. Grul schlich diskret zur Tür hinaus. Vom anderen Ende des Raumes kam die Stimme des Fremdlings: »... kann verstehen, was Sie mit einem solchen Komißkopf durchmachen. Die sind alle so argwöhnisch. Andererseits muß ich sagen, daß Sie bemerkenswerte Weitsicht bewiesen haben, indem Sie die Priesterschaft und die Wissenschaftler in einem einzigen festgefügten Hierarchat ...« Klith ließ sich nach vorn fallen und schlug die Krallen in seinen Schreibtisch. Nunmehr aber geriet die Konversation auf irgendein obskures technisches Nebengeleis, und Klith begab sich angewidert wieder an seine Arbeit. Dann kam mit ernstem Blick Grul herein. »Sir, eben haben wir Nachricht vom Technischen Bezirkslabor erhalten. Sie begannen, die Flugmaschine des Außenweltlers auseinanderzunehmen ...« »Begannen? Und was dann?« »Das ganze Ding fiel zu einem Haufen schwarzen Staubes zusammen.« Klith spürte, wie sein Pelz sich von neuem sträubte. »Oh«, knurrte er sarkastisch, »die sind also keine Zauberer! Ihre Wissenschaft ist nur ein kleines Stück weiter fortgeschritten! Verdoppeln Sie die Wachen vor den Türen hier. Beordern Sie eine Kommandoeinheit zu uns und sehen Sie zu, daß sie stets in
Reichweite ist, wenn der Außenweltler sich hier befindet. Und wenn er unten im Bau ist, sollen sie einen Stock über ihm bleiben. Zwischen ihm und uns.« »Ja Sir. Aber wir haben ihn völlig entwaffnet, Sir.« »Wie entwaffnet man denn einen Zauberer? Er hat doch auch jetzt noch sein Wissen, oder? Tun Sie, was ich Ihnen sage!« »Ja, Sir.« Aus dem Nebenraum kam Snnorriz' stolze Stimme: »... das wurde in der Frühzeit unseres Hierarchats eingeführt. Die Gänge sind eingebaut, so daß die Stobclers Zugang zu jeder Zelle haben. Untereinander sind sie verbunden, so daß sie sehr schnell den Sznivtig wittern. Natürlich weiß der Gefangene nie, aus welchem Loch der nächste Stobcler kommt. So muß er ununterbrochen auf der Hut sein und hat keine Zeit, Unsinn zu machen.« »Ein ingeniöses System«, sagte der Außenweltler bewundernd. »Die ... äh ... Stobclers in unseren Gefängnissen werden ganz unsystematisch in die Zellen gelassen.« »Sehen Sie, in manchen Dingen sind wir Ihnen sogar voraus! Was halten Sie übrigens von unseren Stobclers? Munden sie Ihrem Gaumen?« Bemüht, nichts Negatives zu sagen, zögerte der Außenweltler einen Moment. »Zunächst schien uns der Geschmack ein ganz klein wenig ... äh ... eigen; mit reichlich ›Mondschärfe‹ gewürzt, jedoch ...« »Mondschärfe?« fragte Snnorriz erstaunt. »Vielleicht kennen wir das unter irgendeinem anderen Namen.« »Wie ist das zusammengesetzt?« fragte der Chemiker.
»Drei Atome Sauerstoff, ein Atom Stickstoff, dazu ein Silberatom. Ich hoffe, ich habe Ihre Elementbezeichnungen richtig benutzt.« »Doch, ja. Also ... Ah! Das, wovon Sie da reden, nennen wir Feuersäure. Sie sind also fast sicher ...« »Ich bin beinahe sicher ...« »Wir werden Ihnen welche besorgen ...« Als Klith plötzlich im Türrahmen erschien, rief Snnorriz: »Schon gut! Nur in seiner Zelle! Sie wollen doch nicht, daß er verhungert, oder?« Nach einem heftigen Wortwechsel mit Snnorriz nahm Klith dem Gefangenen sein Ehrenwort ab, daß er niemandem Ammoniak oder Feuersäure ins Gesicht schütten und die Flaschen am Morgen vor seine Zellentür stellen werde. Der Gefangene äußerte dann bedrückt, er habe noch eine Bitte. »Was denn jetzt noch?« fauchte Klith. »Meine ... äh ... Krallen ... sind für das Fangen von Stobcler nur schlecht geeignet ...« »Aber Sie fangen sie doch auch zu Hause ... Oder? Ich meine, Stobclers oder irgend etwas in dieser Art?« »Die Sache ist nur – eure hier sind so schnell! Im allgemeinen benützen wir künstliche Mittel ...« »Sie wollen ein Messer? Kommt nicht in Frage! Wir stecken Sie in den Alten Bau, wo sie dicker sind ...« Klith machte eine Geste, um Snnorriz am Sprechen zu hindern. »Nicht im untersten Stock, etwas höher.« Damit waren alle zufrieden. Vor sich hinfluchend, ging Klith ins Büro hinüber, wo Grul bereits auf ihn wartete. »Die Verstärkungen sind schon draußen, Sir. Auch der Kommandotrupp ist bereits unterwegs.« »Gut«, sagte Klith. »Hören Sie nur den beiden da
draußen zu! Die kriechen praktisch einander in die Taschen.« Aus dem Nebenraum drangen wieder liebenswürdige Stimmen. »Da Ihnen der Chomizar so gefällt«, sagte Snnorriz, »können Sie ihn mit auf die Zelle nehmen. Rauchen beruhigt, wenn man am Stobcler-Loch wartet. Wir Hierarchaten sind natürlich nicht auf eine so zeitraubende Art der Nahrungsbeschaffung angewiesen. Aber hin und wieder ist ein wenig Primitivität ganz gesund.« »Sie sind so entgegenkommend!« Aus der Stimme des Außenweltlers klang tiefe Dankbarkeit. »Gibt es irgend etwas, was ich für Sie tun kann?« »Aus rein ... äh ... wirtschaftlichen Gründen ...« schnurrte Snnorriz, »wären wir daran interessiert, von Ihnen ein paar Auskünfte über den ... äh ... flexiblen Kraftschirm zu erhalten, der Ihre Hauptbasis umgibt. Wenn Sie in der Lage wären ...« »Gern würde ich Ihnen sagen, was ich ...« Der Außenweltler hatte einen Hustenanfall. »Entschuldigen Sie. Es ist der Ammoniak-Mangel. Meine Gewebe leiden darunter. Wenn Sie vielleicht eine Liste mit Fragen vorbereiten könnten ... wenn ich ...« – wieder kam ein Hustenanfall – »... wenn ich ein wenig ausgeruht bin und einen wohlschmeckenden Stobcler mit viel Feuersäure ...« »Gewiß«, schnurrte Snnorriz, »ich verstehe. Morgen früh wird die Liste da sein.« Der Gefangene beteuerte erneut seine Dankbarkeit und wurde hinausgeführt. Seinen Schnurrbart zwirbelnd und in erhabener Pose erschien Snnorriz in Kliths Tür. »Psychologie, mein Junge. Man muß nur
ein echtes Gefühl der Dankbarkeit bei ihnen erzeugen.« »Hören Sie«, sagte Klith, Snnorriz ignorierend, und packte den Chemiker an seiner Robe. »Gibt es irgend etwas, was dieser Außenweltler aus einem Chomizar, einer Flasche Ammoniak und dieser Feuersäure, oder was immer das ist, machen kann?« »Gar nichts«, erwiderte der Wissenschaftler mit einem zurechtweisenden Blick auf Kliths Hand, die seinen Arm hielt. Klith und Grul waren plötzlich allein. »Na«, sagte Grul, »es scheint ja zu funktionieren.« Klith trat auf einen Knopf unter seinem Schreibtisch, um den Ventilator abzuschalten. »Wenn es nur nicht wieder so kommt wie damals, als Snnorriz das Zentralgefängnis übernahm.« Hedding war hoch erfreut, als Snnorriz selbst sich zu den Wachen gesellte und ihn zu der Zelle im Alten Bau begleitete. »Wie gefällt Ihnen die hier, Hedding, mein Junge?« »Könnte ich eine haben, die näher bei einer Lampe ist? Meine Nachtsicht ...« Direkt vor der Zellentür gingen zwei Lichtfächer von der Gaslampe aus. »Ja, danke. Vielen Dank.« Snnorriz strahlte und wartete dann besorgt, bis eine Schüssel mit Wasser, der Chomizar, eine größere Menge Feuersäure und eine große, gut verschlossene Flasche Ammoniak herbeigeschafft waren. Er öffnete den eisernen Deckel vor dem Stobcler-Loch und überwachte die Placierung des Sznivtig, um sicherzustellen, daß Hedding den Stobcler gut packen konnte.
Dann schüttelten sich Snnorriz und Hedding bewegt die Vorderpfoten. Hedding hüstelte ein paarmal, bis die Zellentür zuging, holte dann tief Atem und zog den Stöpsel aus der Ammoniakflasche. »Ah-h«, murmelte er. Snnorriz und die Wächter bekamen ein würgendes Gefühl im Halse und rannten davon. Hastig verschloß Hedding die Flasche wieder, sah sich um und betrachtete den Chomizar mit seinen langen Schläuchen. Dann nahm er die dunkelrote Flasche mit der »Feuersäure« und schraubte nachdenklich den Deckel auf. Klith erwachte nach unruhigem Schlaf, machte seine Gymnastik, wusch sich, bürstete sich, nahm sein Frühstück ein und ging dann zu seinem Büro. Er war noch kaum angekommen, als Grul erschien. »Was ist los?« sagte Klith. »Snnorriz' Liebling«, sagte Grul, »wurde dabei erwischt, wie er an der Lampe rechts neben seiner Zelle manipulierte. Er hatte einen kleinen Stöpsel, den er aus dem Chomizar-Verschluß gemacht hatte, hineingesteckt, während er an dem Reduzierungsventil herumschraubte.« »Stöpsel? Soll das heißen, daß er den aus dem Chomizar-Stopfen machte? Womit hat er ihn zurecht geschnitten?« »Er brach einen der gläsernen Henkel ab. Den benützte er.« Klith spürte ein Kribbeln in seinem Pelz. »Warum?« »Angeblich störte ihn das Licht.« »Holen Sie ihn herauf. Schnell.«
»Er ist schon unterwegs.« Klith holte seinen Riemen hervor. Hedding wurde hereingebracht. Ein paar gekrümmte Bajonette beschleunigten seinen Schritt. Über ihnen war immer noch das gleiche Dröhnen zu vernehmen. »Was«, knurrte Klith, »haben Sie da gemacht?« »Eine Art Zauber«, sagte der Außenweltler strahlend. »Und wenn die Füße von S z n i v t i gschnüffelnden Ratten in das weiße Pulver geraten, in das durch einen Chomizar-Schlauch Glühgas und Dämpfe von ammonischem Mondsilber geleitet werden, dann ...« Plötzlich ging eine Erschütterung durch das Gebäude. Ein Geräusch, als zertrete jemand ein ChomizarMundstück, war zu hören. Rasch füllten Ammoniakdämpfe den Raum. Hedding war bereits aus dem Fenster gesprungen, während die anderen noch nach Luft rangen. Wild gestikulierend winkte er nach oben. Die Suchmaschine kam herunter und verharrte schwebend in seiner Nähe. Hedding sprang hinein. »Wie«, sagte eine Stimme aus einem kleinen Lautsprecher, »haben Sie das gemacht? Das Haus ist wie eine Festung gebaut?« »Keine langen Reden. Steigen Sie. Er verschaffte mir die nötigen Substanzen und erzeugte Silber-Azetylit – aus Ammoniak-Silbernitrat, das ich mit Azetylen zusammenbrachte. Sie wissen, wie brisant das Zeug ist. Ich blies etwas Azetylengas in ein geschlossenes Röhrensystem, brachte das Azetylit hinein und dazu eine
Art von Köder, der Ratten anlockt. Glücklicherweise war ich schon weg, als die erste Ratte in das Azetylit geriet.« »Sie haben ihnen einen großen Sprung in die Wand gesprengt. Sehr erfreut werden die nicht darüber sein.« »Weiter, steigen Sie höher. Ich fürchte, Sie erfassen das ganze nicht recht. Azetylen ist prima für viele Zwecke. Hier aber füllt es ein Röhrensystem, das einen beträchtlichen Teil des ganzen Gebäudes durchzieht.« »Und?« »Die Explosion wird einige von den Röhren zum Bersten bringen.« »Ich verstehe immer noch nicht.« »Ein paar von diesen Gaslampen dürften weiterbrennen. Und Azetylen hat eine ganz besondere Eigenschaft. In einem Verhältnis zwischen drei und achtzig zu Hundert vermischt, ist es hochexplosiv.« Abrupt beschleunigte die Suchmaschine ihren Steigflug. Mühsam arbeitete sich Guard Captain Skeerig Klith aus einem Chaos von Balken, Steinen und Mörtel und starrte den benommen dastehenden Senior-Leutnant Ladigan Grul an. Der Rettungstrupp war gerade dabei, Gruls gebrochenen linken Vorderarm in eine Schlinge zu legen. Auch ein paar andere Gestalten waren zu sehen, über und über bandagiert und gepflastert, mit Flecken geschorenen Fells. Klith warf Grul unheildrohende Blicke zu. Grul bemerkte, daß Klith ihn anstarrte.
»Sir?« krächzte Grul. »Sehen Sie sich mal um«, knurrte Klith, »und dann sagen Sie es nochmal.« »Was soll ich noch einmal sagen, Sir?« »›Wie fortgeschritten sie auch sein mag, Wissenschaft ist keine Zauberei .‹« Grul öffnete den Mund. Aber die Worte brachte er nicht heraus.
Originaltitel: THE CAPTIVE DJINN
Fritz Leiber GUTE NEUE ZEIT »Man baut keine Slums mehr wie früher«, sagte Whitey Edwards zu mir und zog zum Beweis ein loses Ende der Flexo herunter. Sie wölbte sich wippend über unseren Kaffeetassen und ließ hinter sich die vielfarbigen Spaghetti der Versorgungsleitungen erkennen: Gas, Wasser, Synthomilch, Abwasser, TV, Med-Nebel, Musik, Robo-Gespräch, Robo-Saft, Tele, Vele, Gelec und so weiter. »Das mag sein«, antwortete ich und drückte den selbstklebenden Rand der blauen Kunststoffblende wieder an. Jetzt bedeckte sie wieder das schlaffe Geschlinge, das an regenbogenfarbenschimmernde Schafsgedärme erinnerte. »Aber Ma haben sie kräftig gebaut wie 'nen Ochsen, und sie wird auf dir 'rumtrampeln, wenn sie sieht, daß du ihre Küche in Trümmer legst. Was die Riesentausendfüßler machen, ist schlimm genug.« Eingeklemmt zwischen Kühlschrank und Ausguß flackerte der Jumbo-Fernsehapparat schwach und geisterhaft vor sich hin. An einem Swimming-pool, der groß genug war, um einen Raumkreuzer aufzunehmen, redeten Fünf-Job-Frauen und Acht-JobMänner über Gott und die Welt. Ihr Geplapper war unverständlich, ihre überaus leichte Bekleidung jedoch ein gewisses Gegenmittel gegen die Langeweile der Sendung. Whitey Edwards sah sich nicht diese Vorstadtgöt-
tinnen an, sondern blinzelte mit entzündeten Augen in die Montagssonne, die wie unheildrohend über den staubgrauen Häusern zwischen Beatsville und dem hübschen, wenn auch gebrechlich wirkenden Familienschlößchen der Henleys aufging. Der gefleckte, spuckende, siedende Erdenstern schoß seine bösen Strahlen unter den großen Jalousien vor den Fenstern und unserer Tür hindurch. »Früher«, sagte der grauhaarige alte Bursche kopfschüttelnd, »früher baute man solide Slums aus Stahlträgern und Eisenbeton und dicken Rohren aus Eisen und Blei, und da hat man sich's zweimal überlegt, bevor man so etwas wieder abriß. Aber jetzt ...« Er seufzte bekümmert. Whitey war vor Jahrzehnten Bau- und Abbrucharbeiter gewesen – vor meiner Geburt und ehe die Roboter das übernommen hatten. Die TV-Kamera nahm eine dralle Kleine in BoleroJäckchen und Lendenschurz ins Visier. Der Ton wurde für einen Augenblick klar – »... mein Mann und ich waren so begeistert von diesem Swimming-pool, daß wir schließlich selbst in dieses Geschäft einstiegen ...« hauchte sie glücklich und beinahe atemlos – und schwand dann wieder. Ich wollte gerade anfangen, Whitey von meinen eigenen Sorgen zu erzählen. Weil ich Roboter- und menschlichen Psychiatern und möglicherweise auch Riesentausendfüßlern Konkurrenz gemacht hatte, hatte ich am vergangenen Donnerstag meinen Job als Straßenlächler verloren. Genau in diesem Moment sprang mein Bruder Dick aus der Bettenkammer und warf sich eilends Kleidungsstücke über die bleichhäutige Nacktheit. Ich rief ihm zu: »Hast du Angst, daß 'ne Kundin
mit ihren eigenen Fingerchen was in deine metallenen Banditen hinein steckt, wenn du eine Minute zu spät kommst?« Dick hüpfte mit verbissener Miene um ein widerspenstiges Hosenbein herum. »Keine Sorge, Dicky«, fuhr ich fort. »Alle Frauen, die ich unerlaubterweise psychologisch behandelte, hielten es mit Maschinen wie mit dem Sex: Sie wollen, daß es ein Mann für sie tut.« Früher gestattete einem die Gesellschaft, etwas mit Verkaufs- und anderen Münzautomaten wie Waschmaschinen zu verdienen. Heute aber muß man sich dafür auch noch einen speziellen Angestellten halten – Maschinen haben ihr eigenes Temperament, und das freie Unternehmertum ist beinahe so heilig wie Geld. Außerdem gibt es sowieso viel zu wenig Arbeit, die man mehr als zwei- oder dreimal machen kann. Dick brummte irgend etwas zu mir herüber und riß die Tür auf, fertig für einen Blitzstart. Draußen aber stand ein winziger Mann, der beinahe aussah wie ein Käfer. Seine Faust hatte Grübchen und war noch zum Anklopfen erhoben. Er trug eine Brille mit verstellbaren Linsen; silbern blitzende Antennen ragten zitternd aus seinem grauen Hut hervor; an der Vorderseite trug er eine Art flachen schwarzen Bauchpanzer. Er beäugte das Durcheinander auf unserem Boden, musterte uns dann, als seien wir ihm ein wenig widerwärtig, rührte sich aber nicht. Während Dick angesichts dieser merkwürdig anmutenden Erscheinung innehielt, kam Ma aus den Bettenkammern gestürzt, rot im Gesicht und sonst überall schwarz. Sie packte Dick am Ellenbogen und schrie: »Halt! Keiner meiner Söhne fordert mit leerem
Magen das einundzwanzigste Jahrhundert in die Schranken.« Sie steckte ihm einen Orangenschnitz wie einen Boxermundschutz zwischen die Zähne, drückte ihm dann blitzschnell ein Sandwich in die eine und eine Tasse in die andere Hand und hatte sie im nächsten Moment schon vollgeschenkt. Niemand kann leugnen, daß Ma hinter ihren vier Söhnen steht wie ein Manager hinter einem Quartett von Box-Champions, unserer Fähigkeiten bewußt und entschlossen, ihnen in Form von Sieben- oder Acht-Job-Karrieren Anerkennung zu verschaffen. Allerdings war Dick im Augenblick der einzige von uns, der einen Job hatte, abgesehen von Tom, der mit Frau und zwei Kindern anderswo lebt. Aber Widrigkeiten und Rückschläge haben Ma noch niemals entmutigt. Sie hat weniger das Geld im Auge als den Ruhm des Hauses Henley, das der ganzen verdammten Welt trotzig gegenübersteht. Von zarten Sohnesgefühlen beseelt, betrachtete ich sie, während Whitey ihr verstohlen zuwinkte. Er ist ein alter Bewunderer, den sie duldet, seit Pa ihre überlegene Nuklearkraft anerkannte und starb. Dick biß das Orangenfleisch aus der Schale, die er mit der Zunge beiseiteschob, und schrie, daß der Kaffee seine Hand verbrannte und welches Unheil er erst in seinem Hals anrichten würde. Ma riß den Kühlschrank auf gegen den Widerstand der großen Feder, die ich außen angebracht hatte, um die Tür zuzuhalten, als das Schloß brach. Sie schnappte sich einen Eiswürfel und warf ihn in Dicks Tasse. Die Kühlschranktür schlug zu, und die Feder ratterte wie eine Klapperschlange, die eben zustoßen will – was sie aber nicht tat.
Dann stürzte Dick seinen Kaffee hinunter, während Ma, die ihn am Arm hielt, in sein Ohr kreischte, daß er sich während der Mittagspause einen zweiten Job suchen und nicht Mädchen nachlaufen sollte. Als er seinen Kaffee ausgetrunken hatte, stopfte sie ihm ein Sandwich in den Mund und ließ ihn gehen. Der Käfermensch trat zur Seite. Dick machte einen derartigen Satz ins Freie, daß er sich sämtliche Knochen im Leib gebrochen hätte, wenn wir noch im zwanzigsten Stock gelebt hätten und nicht in der Erdgeschoßwohnung, die man uns statt dessen angedreht hatte. Der Fernseher blinzelte, und dann sah man – presto – eine Kolonne von Acht-Job-Männern (das Zeichen auf ihrer linken Schulter wies sie als solche aus), stramm an der vergoldeten Plastikstatue eines ZwölfJobbers vorbeimarschieren. In der Bildmitte machte jeder Augen links, rief mir irgend etwas Unhörbares, aber Optimistisches zu und bleckte dabei die blendend weißen Zähne. Mit einem zufriedenen Seufzer ließ ich mich nieder, um einen Moment auszuruhen – zumindest bis die Tausendfüßler wieder daherkamen – aber da streckte der Käfermann seinen Kopf herein und säuselte höflich Ma an. »Guten Morgen. Mrs. Henley, ich bin Ihr Bezirks-Medikal-Statistiker und möchte Ihren Blutdruck messen und Ihr Inneres und so weiter für die Nachwelt aufnehmen, wie wir es vor einer Woche vereinbart haben.« Ma wandte sich langsam um und schaute ihn an wie ein Stier den Matador oder einen Erdnußverkäufer, der durch die Arena latscht. Ihr ohnehin schon rotes Gesicht wurde purpurn, und langsam griff sie
nach der Glaskugel mit dem sprudelnd heißen Kaffee und hob sie langsam hoch. Nichtsahnend glotzte der Käfermann auf die tödliche Kugel mit ihrem siedenden schwarzen Inhalt, als wäre das ganze ein astrophysisches Experiment. Whitey wollte aufspringen, aber ich stieß ihn auf seinen Stuhl zurück und sagte: »Du nicht. Und wenn du ein noch so alter Freund der Familie bist.« Laut wie eine Polizeisirene brüllte ich dann Ma zu: »Halt, du mörderische alte Schachtel!« Sie fuhr sofort herum, genau, wie ich es erwartet hatte. Ich machte eine herausfordernde Geste, und sie stürmte auf mich los wie ein Kampfstier, drohend den Kaffeeballon schwingend. Diese Waffe hätte selbst einen Manolete erbleichen lassen. Aber ich ließ sie mit einem Sidestep ins Leere laufen, und als sie vorbeistürmte, küßte ich sie auf den Halsansatz, dort, wo die Klinge des Matadors eindringt. Dann faßte ich sie um die dicke Taille, und im nächsten Augenblick waren sie und Whitey und ich so glücklich wie blecherne Vögel, die durch einen funkelnden Sternhaufen flattern, und sie goß uns allen Kaffee ein. Aber der Käfermann, der gar nicht ahnte, in welcher tödlichen Gefahr er geschwebt hatte, machte einen weiteren Schritt in die Küche herein und rief: »Mrs. Henley, es ist unbedingt nötig, daß Sie sich der medizinischen Inspektion unterziehen. Sie verzerren die Bezirksgesundheitsstatistik, und wenn man sich der Erhebung entzieht, drohen drastische Strafen. Sie brauchen sich auch nicht auszuziehen; halten Sie nur einen Augenblick still ...« Ich schob den Kaffeeballon zur Seite und streichelte Ma, während ich sie festhielt, so daß sie nicht wieder
ganz so puterrot wurde, als sie ihn anschrie: »Sie schmutziger Gesundheitsspion! Glauben Sie, Sie können mich anglotzen und dreckige Bilder von mir machen, wenn ich nicht mal anständigen Humanmedikalservice bekomme, falls ich wirklich mal krank werde? Vier Söhne habe ich, alle Supermänner – Meaghan hier, der phänomenale Seelendoktor, und Harry, der noch im Bett ist, der bedeutendste Dichter der Welt, und Dick, die Ausnahmepersönlichkeit, den Sie gerade auf dem Weg zur Arbeit sahen und über den ich Ihnen nichts weiter zu sagen brauche, und Tom, der einfach ein Wunder ist – und die dreckige Welt schenkt ihnen so wenig Beachtung, daß ich, wenn ich in die Klinik muß, nur von Robot-Doktoren behandelt werde und einen Arzt aus Fleisch und Blut nicht mal zu sehen bekomme!« Worüber sie sich auch ausläßt, Ma vergißt nie, Reklame für ihre Jungs zu machen. Der Käfermann wich da ein wenig zurück, aber nicht weit, und piepste besänftigend: »Mrs. Henley, an Robo-Med ist nichts Vulgäres oder Minderwärtiges. Der Minister für Geistige Gesundheit selbst zieht es vor ...« Er machte wieder einen Schritt nach vorn. »Der alte Schwindler!« dröhnte Ma, sich in meinem Griff windend und purpurrot anlaufend. »Seine Helfershelfer sind es, die meinen genialen Sohn Harry in die Klauen der Irrenärzte treiben.« »Aber Mrs. Henley«, fuhr der kleine Bursche mit verzweifeltem Mut fort, »ich sehe doch mit eigenen Augen, daß Sie gesundheitlich nicht ganz auf der Höhe sind. Eine sofortige Med-Überprüfung ...« Jetzt mußte ich handeln. Ich schubste Ma in Whiteys Arme, baute mich vor dem Käfermann auf und
ließ meinen Zeigefinger wie eine Florettspitze zwischen seinen Knopfaugen vibrieren. »Langsam, Freund!« rief ich. »Oder Sie werden gefeuert, weil Sie Diagnosen stellen, obwohl Sie nur Daten einholen dürfen. Genau das haben die lizenzierten Psycher mit mir gemacht, weil ich meine Straßenlächlerei mit ein paar weisen und tiefgründigen Worten garniert habe.« Just in diesem Augenblick begann ein gespenstisches Trippeln, das rasch lauter wurde. Es schien von allen Seiten zu kommen. »Was ist das?« fragte der kleine Bursche erstaunt. »Die Riesentausendfüßler«, sagte ich. Bleich und ängstlich starrte er durch seine ZoomBrille zu den dunklen Stellen unter Ausguß und Tisch und Licht zurück. Genau in diesem Augenblick sprang – vielleicht durch unsere Bewegungen – die große Feder aus der Kühlschranktür und sauste ganz nahe an seinen Füßen vorbei über den Boden – eine halbmeterlange Spirale aus grauem Draht. Er machte einen Satz zum Türstock hinauf, um sich daran hochzuhieven und vor dem giftigen Untier seiner Einbildung in Sicherheit zu bringen. Aber er kam nicht hinauf, sondern plumpste zu Boden und haute dann ab, als wäre Fu Man Chu mit seiner ganzen Menagerie hinter ihm her. Aus purem Mitleid sauste ich ihm nach und holte ihn draußen ein. »Nur keine Panik«, sagte ich und drehte ihm den Kopf sanft zu der Mauer hinüber, deren zerfranste Oberkante sich jetzt nur noch in einer Höhe von etwa vier bis sechs Stockwerken befand gegenüber dreißig vor einer Woche. Droben auf der Kante krochen zwei große, vielbeinige, raupenartige Dinger herum, bissen
große Brocken aus ihr heraus und streuten die verdauten Dinger aus ihrem Hinterende wie zementene Cornflakes herunter. »Das sind die Riesentausendfüßler«, erklärte ich. »Abbruchroboter, nichts weiter.« Ich dachte gerade daran, was für ein schauriges Gedicht Harry vielleicht daraus machen würde – glitzernde kosmische Kriechtiere, die den grauen Rand der Unendlichkeit benagen und vom Ende des Universums aus sich auf uns zufressen – als ein schwererer Brocken, dessen Verdauung der feine Magen einer der beiden Apparaturen offenbar verweigert hatte, knapp einen Meter von uns entfernt wie ein Meteor heruntergesaust kam, wobei er ein Loch in den harten Boden schlug und eine gewaltige Staubwolke erzeugte. Das Käfermännchen war schon ein weiteres Dutzend Schritte davongehüpft, als ich ihm nachrief: »Nun aber hinweg mit ihnen, kleiner Beamter, und lassen Sie Ma in Frieden. Ma ist zu groß für Sie, aber lassen Sie sich's nicht verdrießen. Betrachten Sie sie als ein Überbleibsel einer kühneren, grausameren Zeit – eine Fürstin in profaner Umgebung.« Kaum war ich wieder in der Küche, wo Ma und Whitey beim Kaffee plauderten, als Elly, Dicks Frau, mit hellen Koffern in der Hand angezogen aus den Bettkammern kam. Mit einem schmutzigen, dunklen Blick sagte sie: »Hört alle gut zu, denn ich sage es nur einmal: Ich verlasse diesen Ein-Job-Nichtsnutz und gehe zurück zu meinem letzten Mann. Der hat immer noch die drei Jobs wie damals, als ich mich zu verbessern gedachte, indem ich ihn verließ und mich in diese verwahrloste Burg wahnwitzigen Stolzes zu einem schnarchenden Dichterling begab.« Sie rauschte an
mir vorbei, und die silberfarbene Feder ratterte wieder über den Boden, als sie mit dem Fuß daran stieß. »Sie ist einfach nicht imstande, diese einzigartige Persönlichkeit zu begreifen, Meaghan; laß sie gehen«, sagte Ma erhaben zu mir, und ihre Farbe ging wieder auf ladylikes Rosa zurück. Trotzdem wäre ich Elly gefolgt und hätte mich mit ihr auseinandergesetzt – Dick hatte es nicht verdient, verlassen zu werden, wo er doch eben die Fußspitze auf die unterste Sprosse der Leiter gesetzt hatte, was natürlich der Grund war, warum sie ihn verließ, obwohl sie es nicht wußte, die eifersüchtige kleine Null-Job-Mamsell, wenn nicht ausgerechnet in diesem Moment Tom, mein ältester Bruder, aufgekreuzt wäre. Mit breitem Lächeln schob er seine noch breiteren Schultern durch den Türrahmen – seine drei oder vier Jobs sah man ihm an – und sagte: »Hallo, Ma. Elly will Dick wieder verlassen? Wer ist denn das Zwerglein, das da draußen 'rumgeistert? Nochmal einer vom Wohnungsamt, der dich aus dieser Todesfalle 'rauslocken möchte? Hallo, Whitey. Nein, keinen Kaffee, Ma, ich möchte mit Meaghan reden. Ich glaube, ich hab da was für den Burschen!« Natürlich wußte ich, was das bedeutete, und war schon unten auf Händen und Knien, um die Feder wieder am Eisschrank anzumachen – eine Arbeit, die leicht noch den Rest des Tages in Anspruch nehmen konnte, sagte ich mir – als Ma mich mit liebevollem Griff an der Schulter packte und hochzog, wobei sie sagte: »Whitey wird das richten, Meaghan.« Und dann schubsten mich ihre geliebten Klauen zu einem Stuhl am Tisch direkt vor meiner Kaffeetasse, und hinter mir war Toms Gesicht so voll vom gönnerhaf-
ten Grinsen des älteren Bruders, wie eine Tasse mit heißem Kaffee – Ma hatte mir wieder eingegossen und eine Prise Dextrose dazugegeben (das sah ich), um mich ein wenig aufzumöbeln. Die ganze Zeit dachte ich was für einen Job wird er jetzt gefunden haben, der so mies ist, daß er ihn nicht selbst nimmt, sondern mir überlassen will? Er mußte schon ziemlich schlimm sein, denn zuletzt hatte Tom die drei Jobs: Spiegelschleifer für Freizeitastronomen, die keine Zeit hatten, selbst ihre Spiegel zu schleifen; dann Vertreter für eine krebsfreie Zigarette aus Pflanzenfasern mit dem echten Teer-KohleGeschmack und Nikotin-Aroma; außerdem war er noch Antwortmann für einen RoboterAntwortservice in Fällen, wo die Dezibelzahl der Stimme des Anrufers rasende Wut verriet. Dem Mikrofon an seinem Hals nach schließend, hatte er jedenfalls noch diesen dritten Job. »Meaghan«, strahlte er, »nichts Wundersameres gibt es als brüderliche Liebe. Ich hab etwas Großartiges für dich. Übrigens habe ich selbst jetzt schon Nummer vier – ich reise in selbstleuchtender Damenunterwäsche.« Als Ma darob in einen Freudenschrei ausbrach, sah ich mich nach einer Fluchtmöglichkeit um, aber Whitey hockte am Kühlschrank und blockierte den Zugang zur Außenwelt, und seine Schlosserei schien ihn so glücklich zu machen wie eine uralte Küchenschabe (eine davon krabbelte ihm gerade am Bein empor). Ma, die immer noch jauchzte, mich aber keine Sekunde aus den Augen ließ, nahm eine große, wie ein Vulkan dampfende Tasse Kaffee und trug sie in die Schlafkammer – sicher um Harrys poetischen
Genius zu befeuern oder ihn wenigstens auf seine müden Beine zu stellen. »Meaghan ...« begann Tom, aber dann läutete sein Umhängtelefon, und er schaltete es an und ich konnte eine Stimme hören, die brummte wie wütende Wespen. Tom hörte zu und wurde rot im Gesicht – in der Hinsicht gerät er Ma nach – und er sagte: »Gewiß, Ma'am. Allerdings ...« Und dann wurde er puterrot und begann Mundbewegungen zu machen wie ein Fisch. Ich beugte mich über den Tisch hinweg zum Mikrofon und schrie: »Ich liebe Sie innig, Unbekannte, ja, ich liebe Sie so sehr. Innig liebe ich Sie, Madame, bedenken Sie das«, und ich schaltete das Ding aus. »Damit wird sie nicht zufrieden sein«, sagte Tom, als er wieder Atem geholt und seine natürliche Farbe angenommen hatte. »Die nächsten zwanzig Minuten schon«, sagte ich, »und was in dieser unserer Welt hält länger vor?« Und dann fügte ich, leichtfertig geworden, hinzu: »Du wolltest also sagen ...?« »Meaghan«, hub Tom wieder an, »ich weiß, du hattest diesen unbedeutenden Straßenlächler-Job ...« »Nicht so gering oder unbedeutend«, wandte ich ein, obwohl ich das gar nicht wollte. »Die Soziologen haben festgestellt, daß die Leute zu traurig und angespannt dreinsehen, wenn sie zur Arbeit gehen oder von der Arbeit kommen oder einkaufen wollen und so fort, und deswegen haben sie Leute wie mich angeheuert, die sich unter sie mischen und ganz beiläufig mit ihnen reden, um sie ein wenig aufzuheitern. Übrigens nicht die allerschlechteste Idee.« »Ja, aber du gingst zu weit«, erinnerte mich Tom.
»Du hast die Leute ausgehorcht, um ihre wirklichen Schwierigkeiten zu finden und abzustellen. Psychologenarbeit, mein Junge; du kannst diesem erhabenen Stand keinen Vorwurf machen, weil er dir die Konkurrenz verübelte und dich ausschalten ließ.« »Den Leuten, mit denen ich sprach, habe ich aber doch geholfen«, konterte ich hartnäckig. »Ich hätte doch gar nicht mit so vielen reden können, Tom, wenn ich nicht was Handfestes zu sagen gehabt hätte.« »Innig liebe ich Sie, Madam, bedenken Sie das«, sagte Tom. »Handfest!« »Ich setz ihnen nicht zu und stürze sie nicht in Verzweiflung, obwohl es da endlose Möglichkeiten gäbe«, protestierte ich weiter. »Ich hab ihnen nur Mut gemacht, mehr Mut zu Gefühlen zu haben und sich ein erweitertes Bewußtsein zuzulegen und auch die komische Seite der Dinge zu sehen und alles nicht so tragisch zu nehmen.« »Eben, da liegt's!« befand Tom und wedelte mir mit dem Zeigefinger vor der Nase. »Du wolltest mehr tun, als dein Job erfordert, anstatt zu lernen, wie man die Sache mit einem Minimum an Aufwand macht und sich dann noch einen Job dazusucht zur Hebung des Einkommens – und dann noch einen.« Er sah sich rasch um – um sicherzugehen, daß Ma noch nicht zurück war, wie mir gleich klar wurde –, beugte sich dann herüber und flüsterte mir geheimnisvoll zu: »Oh Meaghan, mein Junge, ich habe so viel über die Welt gelernt, seid ich hier wegging und Ma mir nicht mehr mit Vorwürfen und ihrem wilden Ehrgeiz die Hölle heiß macht. Die Welt ist ein nettes, gemütliches Plätzchen, wenn man nur nicht vergißt, daß es darin
auch noch drei Milliarden andere Wahnsinnige gibt – und wenn man nicht mehr tut, als einem gesagt wird und auf jedes Husten seines Vorgesetzten aufpaßt und Augen und Ohren offenhält, damit einem keine Chance entgeht, Geld zu verdienen. Mach dich auf die Socken, hol dir einen kleinen Job zum anderen und vergiß Ma und ihre verrückten Träume. Ach, habe ich dir auch gesagt, daß meine Katie jetzt selbst schon zwei Jobs hat? – Und nicht einen einzigen hätte sie gekriegt, wenn Ma sie weiter unter der Fuchtel gehabt hätte.« »Ma ist schon in Ordnung«, entgegnete ich scharf. »Sie hat mehr Mut, Phantasie und Entschlußkraft, als wir alle vier zusammen jemals haben werden. Und eine so verzehrende Energie, daß man sich wundern muß, wie sie überhaupt noch am Leben sein kann. Wie hättest du je aus einem Loch wie diesem heraus auf eigene Beine kommen können, wenn Ma dir nicht auf die Eisen getreten wäre?« »Stimmt, stimmt«, gab er zu. »Trotzdem, Ma ist eine hoffnungslose Romantikerin. Sie möchte, daß ihre vier Söhne die Höchsten auf dieser Welt werden.« Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Als ich noch Straßenlächler war«, sagte ich, »schüttete mir ein kleiner Mann der sich für einen großen Romantiker hielt, sein Herz aus. Er wollte nur eines: Dem Gefängnis seines Lebens entfliehen, anderen Männern mit blitzendem Schwert gegenübertreten und ihre Frauen mit Liebe erobern – und auch alle alleinstehenden Frauen für sich einfangen. Als wir uns dieses bewegende Bild eine Weile betrachtet hatten, wurde uns klar, was er wirklich wollte. Alle Frauen sollten ihn bemuttern und anfüttern und wie
einen großen roten Ballon mit sich durchs Leben ziehen.« »So ist es bei allen Romantikern, einschließlich Ma«, sagte Tom, der das Argument sofort zu seinen Gunsten verwendete. »Sie will, daß ihre Söhne Fürsten und Könige werden oder zumindest Generaldirektoren, und denkt nicht daran, daß gleichzeitig mit ihnen unzählige Millionen anderer die Erfolgsleiter hinaufwollen, und daß für jeden die Konkurrenz so stark ist, daß er nicht einmal davon träumen kann, unter seinesgleichen mehr als ein Acht- oder höchstens Zehn-Job-Mann zu werden.« Auf dem Fernsehschirm sah man jetzt einen großen Haufen zerknüllter Bettlaken, was mir hübsch, aber irgendwie unwahrscheinlich vorkam. Dann erst bemerkte ich, daß es Wolken waren. Jetzt erschienen im Vordergrund schönstens frisierte Hinterköpfe und dann eine Schrift quer über die Wolken: »RaumUrlaubsreisen für Neun-Job-Helden der Demokratie.« »Hinsichtlich der Konkurrenz hast du recht«, stimmte ich Tom zu. »Ich bin kein Feind der Demokratie, sondern einer ihrer allergrößten Freunde, aber so viel ist sicher: Sie hat das Konkurrenzprinzip weiter getrieben, als es jemals in der Geschichte der Erde der Fall war. Wir haben mehr Maschinen, bessere Gesundheit, größere Bewegungsfreiheit, bessere Ausbildung, mehr Muße, mehr Möglichkeiten, in unserer Freizeit Geld zu verdienen, mehr Gleichheit unter den Menschen und mehr Anreiz, mehr Ansehen und materiellen Gewinn, für den, der es zu etwas bringt. Ergebnis: So sehr die Medizin auch unsere Lebensdauer verlängert, der Konkurrenzkampf höhlt uns derartig aus, daß schließlich alles wieder zunichte
gemacht wird.« »Dich scheint er aber nicht auszuhöhlen«, bemerkte Tom. »Nun hör mal zu, Tom, mein Junge«, fuhr ich fort, langsam in Fahrt geratend. »Man muß doch sagen, daß irgend etwas nicht stimmt in einer Welt, die jeden zum Krämer machen will, ganz gleich, was für ein Typ von Mensch er eigentlich ist – mit einer Welt, sie sogar Wissenschaftler und Dichter und Abenteurer und Soldaten und Priester zu unaufhörlich sich selbst verkaufenden Krämern gemacht hat – mit einer Welt, die eine derart panische Angst hat, Maschinen könnten jegliche Arbeit an sich reißen, daß sie vor lauter Arbeitsbeschaffung und Finanzinvestitionen völlig den Verstand verloren hat. Bei jeder Verringerung der Arbeitszeit kommt es zu einer ebenso großen oder noch größeren Zunahme von Teilzeit- und Nebenbeschäftigungen – in einer Welt, die so sehr aufs Geld versessen ist, daß jemand, der den Blick einen Monat oder einen Tag lang oder auch nur zehn Sekunden vom Dollar wendet ...« »Eine Augenentzündung hast du dir auf diese Weise ja wohl noch nicht geholt«, bemerkte Tom säuerlich. »Außerdem nervst du mich langsam mit diesem Gerede.« Jetzt kam Ma wieder hereingetanzt und fragte Tom: »Was ist denn das für ein toller Job, den du für Meaghan hast? Ich platze allmählich vor Neugier.« Wie wenn sie nicht jedes Wort mitgehört und sich über meine Stänkereien geärgert hätte. Ich stöhnte auf. »Das hätte ich fast vergessen«, sagte Tom lachend. »Wenn Ma von Milliarden von Jobs spricht, denke ich nicht mehr an den einen. Also,
es scheint, daß die Reparatur-Roboter überall ziemlich unberechenbar werden. Auf manche Arbeiten verwenden sie zu viel Zeit, auf andere zu wenig, und wieder andere machen sie überhaupt nicht. Ein Roboter reparierte eine lecke Stelle so gut, daß er eine zwei Meter starke Panzerwand um das Leck und sich selbst herum baute – Fortunata nannte man den. Ein anderer fand ein Loch und machte in alle Rohre, die folgten, dieselben Löcher – bis Tausende davon in alle Richtungen durch die Gegend spritzten. Ein Abbruch-Roboter fing an, Steinquader auf ein neu errichtetes Glastic-Gebäude zu werfen. Trotzdem sind die Schaltkreise dieser Roboter völlig in Ordnung, und bei den Fabriktests machen sie alles richtig. Also muß jedem dieser metallenen Heinzelmännchen auf Schritt und Tritt ein Mann folgen, der jede seiner Bewegungen beobachtet und Tag für Tag sein Verhalten studiert. Manchmal dauert es Wochen, bis sich der Roboter an seine Anwesenheit gewöhnt hat und sich nicht abweichend verhält, um dem Beobachter zu gefallen oder ihn zu verwirren oder ihm gar etwas anzutun. Das ist wirklich ein prima Job – überhaupt keine Arbeit – so was ähnliches wie das, was man in grauer Vorzeit Funktionskontrolle nannte.« »Am meisten Schwierigkeiten«, sagte ich, »haben sie wohl mit den Robotern, die Fernwärmerohre und Abwasserkanäle und andere schöne unterirdische Leitungen reparieren.« »Woher weißt du denn das?« fragte Tom rasch. »Außerdem machen sie aber auch alte verschüttete Überlaufrinnen und Aquädukte und sogar Kamine – manche von denen sind ein paar hundert Meter hoch. Ein selten gesunder Job in ganz prima Luft, mein
Junge – ein richtiger Bergurlaub.« Ich sagte leise: »Ich glaube, ich laß mich lieber in 'nem Kaffeetopf kochen, als Psychiater zu spielen bei einem wahnsinnig gewordenen genialen Roboter, der darauf wartet, daß sein metallenes Bewußtsein ihm die ersten nicht-menschlichen Bilder und Impulse liefert. Die Maschinen erwachen – wußtest du das, Tom. Alle Maschinen ...« »Es ist nur eine Maschine«, unterbrach mich eine verträumte Stimme, die traurig klang wie ein Hauch in dürren Blättern. Die geisterhaft und doch jugendlich wirkende Erscheinung mit Haaren wie blonde Spinnweben, die Mas genialer Poet, mein jüngster Bruder Harry war, kam aus den Bettkammern heraus mehr geschwebt als geschritten. Der Lichtjahre entfernte Blick seiner blauen Augen verriet, daß er seinem Psycher ein paar Tabletten abgeluchst hatte. »Die ganze Erde«, fuhr er fort, »ist eine große metallene Maschine, eine stählerne Murmel zwischen den anderen Planetenkugeln. Würde sie jemand von dort draußen mit irdischen Augen und nicht mit denen eines Raumfahrers betrachten, dann sähe er, daß sie dahinpurzelt wie ein silberner Käfer aus einem Schmuckgeschäft mit Punkten drauf, die Städte sind und da und dort mit Ozeanen. Und die Augen seiner Polareiskappen blitzen, und seine Vulkane rauchen, und seine kralligen Beine bewegen sich im Rhythmus der Mondphasen. Und wenn man ganz genau hinsähe, würde man Millionen von Flöhen erkennen, die von ihm wegspringen und den langen Fall zum Nadir beginnen.« In diesem Moment kam auf dem Bildschirm ein Satellitenbild von Terra und zeigte die ganze mon-
derleuchtete Erde vor dem Hintergrund der Milchstraße, als hätte sie sich in einem diamantglitzernden Spinnennetz verfangen. Ma ließ einen stolzen Seufzer vernehmen, als Harrys Worten so umgehend die Illustration dazu folgte. »Wirst du den Job nehmen?« fragte Tom ungeduldig. »Morgen«, sagte ich. »Eine andere Antwort wirst du von mir nicht kriegen morgen oder irgendwann anders.« Ma stampfte auf und blitzte mich zornig an. »Tom«, sagte sie zu ihm, »wenn Meaghan nicht will, wie wär's mit Harry? Überleg's dir, Harry; du willst doch immer allein sein. Ganz allein kannst du in diesen kühlen Tunnels sein, abgesehen von irgendeiner hirnlosen Maschine, die du in zehn Minuten in- und auswendig kennst. Du hast die ganze Zeit für dich, um zu dichten. Drunten wird deine Dichtung keimen und mächtig wachsen, da bin ich ganz sicher.« »Ma«, sagte Harry, »eher gehe ich noch heute nach Beatsville, als diesen Job zu nehmen.« »Das würdest du nicht tun, Harry«, heulte Ma bedrohlich. »Sag, daß du es nicht tun würdest.« Ganz gleich, in was für einem Slum wir leben und wie nahe an Beatsville, Ma legte immer größten Wert darauf, daß wir niemals dorthin gingen. Mehr noch als in den Vorstädten tun sie in Beatsville so, als seien sie Supermänner oder -tiere, und kriechen jede Nacht an den elektrischen Zaun, um das Futter zu holen, das man dort für sie hinstellt. Aber Harry nickte wieder, und dann begann Ma, Tom anzuschreien, daß er versuche, das zu zerbrechen, was von der Familie noch übrig sei, wobei er
sich selbst als erster abgesplittert habe. Whitey wurde wach und wedelte ängstlich mit den Händen wie ein Torero, der im nächsten Augenblick über die Barriere davonspringen wird. Ich kniff die Augen zusammen, als sei ich drauf und dran, einzuschlafen. Tom wurde so rot wie Ma und sagte zum Teufel mit uns, er gehe jetzt endgültig. Und Ma stampfte herum und schrie bald Harry und mich wegen unserer Faulheit, bald Tom wegen seiner Treulosigkeit an. Dann hob sie die Arme zum Himmel und blieb wie erstarrt stehen. In diesem Augenblick hüpfte das Käfermännchen herein und richtete seine Antennen auf sie. Niemand außer mir sah ihn. Tom wurde immer röter, und mit einem verächtlichen Schnauben drehte er sich auf dem Absatz zur Tür um – genau in dem Moment, als das Käfermännchen sich zur Seite duckte. Kaum war Tom draußen, kam das Käfermännchen wieder herein, ein schwarzgraues Röntgenbild schwenkend. »Mrs. Henley«, piepste er, »ich habe eine sehr gute Aufnahme von Ihrem ganzen Inneren, aber das ist auch alles, was gut daran ist. Sie müssen sofort mit mir in die Klinik kommen. Ihr Herz ist wie eine Wassermelone, und Ihre Aorta und Lunge wie ein vollgesogener Schwamm.« Er fuchtelte mir mit dem Finger vor der Nase herum. »In ganz besonders ernsten Notfällen ist die Diagnose durch einen Medspektor zugelassen.« Ma wurde krebsrot im Gesicht. In diesem Moment spürte ich, wie das ganze Gebäude zu zittern anfing, und einen Herzschlag später kam irgend etwas von oben herunter und traf Tom draußen wie ein Hammer, der einen Nagel in den Boden schlägt.
Ma tat einen furchtbaren Schrei und machte einen Schritt vorwärts und wurde steif und fiel nach hinten, und ich fing sie auf und legte sie flach und schob ein Kissen unter ihren Kopf. Draußen hörte ich das Käfermännchen nach einer Ambulanz rufen – blödsinnigerweise, denn Toms Kopf war völlig zerschmettert. Dann fragte ich mich, wie Toms Blut an Ma gekommen sein konnte, denn auf ihrer Brust war Blut und dann mehr und mehr, wie bei einem Bullen, der vom letzten Stoß gefallen ist und sein Herz auspumpt. Und dann begriff ich, daß es Mas Blut war aus ihrer Lunge, gurgelnd mit jedem Atemzug. Whitey kniete auf der anderen Seite neben ihr nieder. Harry stand zitternd da und starrte uns an, und dann hörten wir von weit her eine Sirene, dann noch eine, und die beiden kamen rasch näher, und während ihr Geheul immer lauter wurde, begann Harry immer stärker zu zittern. Und als die Sirenen mit einem Schlag ohrenzerreißend laut wurden, weil die Ambulanzen um irgendeine Ecke gebogen waren, schrie er: »Ich hau ab nach Beatsville«, und hatte, als er an der Tür war, schon Höchstgeschwindigkeit erreicht. Ich wußte, was nun kommen würde, obwohl ich nichts anderes tun konnte, als Ma zu halten. Dann wußte ich, daß das, was kommen würde, gekommen war, denn man hörte einen Ruf und dann Reifenquietschen und einen Schrei und einen Fall und immer noch Reifenquietschen. Dann hörte Ma auf zu atmen. Immer noch sah sie wütend drein. Es dauerte geraume Zeit, bis irgend jemand her-
einkam. Ich fuhr fort, Ma das Gesicht abzuwischen, obwohl es um keinen Deut weniger rot wurde. Ich hörte, wie eine Ambulanz wegfuhr und dann die andere. Schließlich kam ein Doktor herein und auch das Käfermännchen, und der Doktor warf einen Blick auf Ma und schüttelte den Kopf und sagte, wenn sie nur regelmäßig medkontrolliert worden wäre, dann wäre das nicht nötig gewesen, aber ich sagte: »Sie kannten Ma nicht.« Und das Käfermännchen rief wieder nach einer Ambulanz in sein Halsmikrofon. Ich würgte hervor: »Sie starb tapfer und zuckte nicht vor der Muleta zurück, und mich soll der Teufel holen, wenn ich der Gesellschaft einen einzigen Huf von ihr überlasse, geschweige denn die Hörner oder den Schwanz.« Niemand verstand. Das Käfermännchen glotzte mich an und machte heimlich eine Notiz. Dann unterschrieb ich Papiere und hörte mir dies an und jenes. Als sie dann endlich alle fort waren, die Lebenden und die Toten, und ich allein mit Whitey war, da fiel mir ein, daß wir es Dick sagen mußten. Das Fernsehen zeigte eine große Musikrevue mit Hunderten von hochtalentierten Schauspielern und Schauspielerinnen, alles Sieben-Job-Leute, und das war der achte Job für sie. Wellen des Lächelns wogten über den Bildschirm. Die Betonflocken fielen immer noch auf die nach außen gestellte Jalousie. Whitey und ich stiegen durch das Loch hinaus, das der Felsblock geschlagen hatte, von dem Tom getötet worden war. Die Flocken fielen uns auf Haar und Schultern und Hals. Wie gefiederter Hagel. Dann blieb ich stehen und sah mich um. Die Riesentausendfüßler krochen emsig herum, und der eine
fuhr elegant zur Seite, um den anderen vorbeizulassen. Da und dort hatten sie sich schon bis zum zweiten Stock heruntergenagt. Ich sah in das dunkle Zimmer hinein, wo der Fernsehapparat immer noch flackerte. Und ich fühlte das Bedürfnis, einen kilometerlangen Nagel durch die Mitte dieses Raumes zu schlagen, der ihn für immer dort festhalten sollte. Und auf den Kopf dieses Nagels sollte in kniehohen Lettern stehen: »Hier lebte eine Familie.« Aber das ging ein wenig über meine Fähigkeiten als Ingenieur hinaus. Whitey vor mir herschiebend, machte ich mich auf, es Dick zu sagen. Und lachte und weinte.
Originaltitel: THE GOOD NEW DAYS