»Machen Sie schon! Sie haben nur noch ein paar Sekunden.« Patton packte den UNO-Beauftragten am Handgelenk. Ungläubig l...
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»Machen Sie schon! Sie haben nur noch ein paar Sekunden.« Patton packte den UNO-Beauftragten am Handgelenk. Ungläubig ließ Torgeson sich auf Hände und Knie nieder und legte sich schließlich flach auf den Boden, dicht neben dem Oberst. Ein oder zwei Sekunden lang starrten sich die beiden stumm an. »Herr Oberst, Sie bringen mich in Verle –« Durchs Zimmer donnerte eine ohrenbetäubende Geräuschsalve. Etwas flog durch die Wände; in der Luft pfiff und wimmerte es über den Köpfen der beiden Männer; der metallene Schreibtisch und der Aktenschrank schepperten und dröhnten gespenstisch. Und auf einmal war alles vorbei. Im Zimmer herrschte wieder Stille, bis auf ein schwaches, zischendes Geräusch. Torgeson öffnete die Augen und sah, wie der Oberst aufstand. Die Tür wurde aufgerissen. Drei Unteroffiziere stürzten herein, mit Dichtscheiben und Spezialklebstoff in Tuben bewaffnet. Sie rannten durchs Zimmer und dichteten die mehreren hundert Löcher in den Wänden ab. Langsam kam Torgeson auf die Beine. »Meteore?« Oberst Patton schüttelte den Kopf. »Wie Sie sehen, verläuft unser Leben hier nicht so friedlich, wie man meinen möchte.« FRIEDFERTIG UND GUTEN WILLENS ... von Ben Bova und Myron R. Lewis und weitere moderne Science Fiction Stories bekannter Autoren.
In der Reihe der Ullstein Bücher: SCIENCE-FICTION-STORIES Band 1 bis Band 47 SCIENCE-FICTION-STORIES 48 (Ullstein Buch 3139) Erzählungen von Robert Silverberg, Isaac Asimov, Neal Barrett jr., Clifford D. Simak SCIENCE-FICTION-STORIES 49 (Ullstein Buch 3148) Erzählungen von Larry Niven, Gerald Jonas, Theodore Sturgeon, Ron Goulart, Arthur Sellings SCIENCE-FICTION-STORIES 50 (Ullstein Buch 3153) Erzählungen von Larry Niven, James Tiptree jr., Frederik Pohl SCIENCE-FICTION-STORIES 51 (Ullstein Buch 3159) Erzählungen von Robert Sheckley, Burt Filer, Poul Anderson, Robert Silverberg, Brian W. Aldiss, Damon Knight, Samuel D. Delany, E. G. Von Wald SCIENCE-FICTION-STORIES 52 (Ullstein Buch 3166) Erzählungen von Colin Kapp, R. A. Lafferty, Sidney van Scyoc, Laurence Yep, Ryu Mitsuse SCIENCE-FICTION-STORIES 53 (Ullstein Buch 3178) Vier Erzählungen von Eric Frank Russell SCIENCE-FICTION-STORIES 54 (Ullstein Buch 3187) Erzählungen von Brian W. Aldiss, Fred Saberhagen, Katherine McLean, Terry Carr, H. H. Hollis
Ullstein Buch Nr. 3195 im Verlag Ullstein GmbH Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen von Klaus Fecher Umschlagillustration: ACE Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Alle Stories aus WORLD'S BEST SCIENCE FICTION: 1965 Copyright (31965 by Donald A. Wollheim und Terry Carr Übersetzung © 1975 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1975 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-03195-1
Science-FictionStories 55 von Tom Purdom Ben Bova und Myron R. Lewis Christopher Anvil William F. Temple Edward Jesby C. C. MacApp Josef Nesvadba John Brunner Robert Lory ausgewählt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Gartenstadt Tom Purdom ......................................................
6
Friedfertig und guten Willens ... Ben Bova und Myron R. Lewis .........................
29
Gefährliche Ladung Christopher Anvil ..............................................
39
Ein Platz in der Zeit William F. Temple .............................................
72
Invasion aus der Tiefe Edward Jesby .....................................................
97
Strandgut im All C. C. MacApp ..................................................... 128 Vampir GmbH Josef Nesvadba ................................................... 141 Der letzte Einsame John Brunner ...................................................... 158 Tierkreis-Party Robert Lory ......................................................... 186
Tom Purdom GARTENSTADT Vor den ersten Häusern von Gartenstadt bestieg Nicholson den Rollstuhl und zog die Drogenpistole aus der Hemdtasche. Er rollte den Ärmel hoch und machte den unteren Bizeps frei. Seine Hand zitterte, die Injektionspistole berührte die Haut noch nicht. Er legte die Drogenpistole wieder zur Seite. Mühsam drehte er sich in dem Stuhl um und sah zu dem dahinterstehenden Sek auf. »Hilfst du mir, wenn es zu einem Kampf kommt?« »Für Schlägereien werde ich nicht bezahlt«, sagte der Sek. »So wie du aussiehst, dachte ich, würde es dir vielleicht Spaß machen.« »Ich arbeite für Geld, nicht aus Spaß.« Die Angst saß würgend in seiner Brust, drehte ihm den Magen um. Eine zustimmende Antwort von diesem Brocken von einem Mann hätte ihn sehr beruhigt. Der Sek sah aus wie ein Schläger. Der große, starke Mann blickte finster drein, offenbar ständig unzufrieden mit einer Welt, die mit kräftigen Knochen und Muskeln so wenig anzufangen wußte. Seit der Erfindung des Sprechschreibers waren die herkömmlichen Büroberufe der Stenotypistinnen und Dateneingeber ausgestorben. Es gab nur noch die Seks, auf der untersten Stufe ungelernten Proletariats, die als Statussymbole im Tagelohn für ihren jeweiligen Arbeitgeber Akten und Sprechschreibmaschine herumtragen mußten.
Nicholson setzte sich wieder gerade. Längs der Straße fielen die Strahlen der Nachmittagssonne auf die Rasenflächen und Einfamilienhäuser der Gartenstadt. Kinder schrien beim Spiel, und es roch nach Gras. Was war das, Schmerz? Er konnte sich nicht erinnern. Er hatte Schmerzen nur einmal in seinem Leben ertragen müssen, damals vor vierundzwanzig Jahren – er war gerade zwölf geworden –, damals hatten die Ärzte an seinem linken Auge eine Muskelgruppe ersetzt. War er stark genug? Würde er um Gnade winseln? »Bilde dir bloß nicht ein, daß denen deine letzte Erkundung verborgen geblieben ist«, hatte ihm Bob Dazella gesagt. »Die Boyd-Organisation darf man nie unterschätzen. Jedesmal, wenn in dem Wahlbezirk einer seinen Rasen mäht, geht das auch schon in ihren Computer. Du nimmst dir am besten eine Waffe mit. Glaub mir, wenn du dich unbewaffnet in Gartenstadt sehen läßt, kommst du womöglich als Krüppel wieder heraus.« Am Mittelfinger der linken Hand hatte er einen Neuromixer befestigt – einen Stab von Fingerlänge, der in einem eng begrenzten Bündel Schall- und Lichtwellen aussenden konnte. Wellenlänge und Signalfolge waren so abgestimmt, daß das Nervensystem eines getroffenen Menschen zusammenbrach. In der unteren linken Hemdtasche trug er zwei mit psychoaktivem Gas gefüllte Bomben, und in der Bodenplatte des Rollstuhls hatte er einen Geruchs- und einen Schallgenerator installiert. Er hatte keine Ahnung, wie ihm diese beiden Generatoren von Nutzen werden sollten, wenn es hart auf hart ging, aber andere transportable Verteidigungsmittel waren ihm
nicht eingefallen. In seinem ganzen Arsenal gab es eigentlich nichts, wovon er sich große Hilfe versprochen hätte. MST – Melasynchrotrinad – hatte eine recht nachteilige Nebenwirkung. Die Droge unterband die Muskelkoordination, machte willkürliche Bewegungen unmöglich. Wenn die Wirkung des Medikaments auf sein Nervensystem erst einmal eingesetzt hatte, blieb er für die nächsten vier Stunden ein hilfloser Klumpen Fleisch. Wieder zitterte die Drogenpistole über dem Bizeps. Ärgerlich schüttelte Nicholson den Kopf. Er drückte auf den Auslöser, und zwei Kubikzentimeter der roten Flüssigkeit schossen in seinen Arm. Hinter ihm holte der Sek tief Luft. Er steckte die Injektionspistole wieder in die Tasche. Es war ein spätsommerlicher Samstagnachmittag, wie aus dem Bilderbuch. Noch stand der Rollstuhl im Schatten eines Appartement-Turms, die letzte Wohnmaschine für mehrere Kilometer. Vor ihm dehnte sich Gartenstadt friedlich und lieblich aus. Rasenmäher summten über das Gras, die Eigentümer folgten ihren automatisch gesteuerten Bewegungen mit schläfrigen Blicken. Auf jedem Rasen lag mindestens ein Sonnenhungriger. Gartenstadt war anfangs der siebziger Jahre erbaut worden und zeigte die typischen Merkmale dieser Periode. In jedem Straßengeviert standen weniger als fünfzehn Einfamilienhäuser, und zu jedem Haus gehörten ein Garten und eine Rasenfläche vor dem Haus. Er saß im Rollstuhl und hatte Herzklopfen. Die Angst wirkte auf seine Körperchemie ebenso ein wie das Medikament. Er kam sich vor wie ein Pygmäe,
der mit einer hölzernen Lanze zum Kampf gegen eines jener Ungeheuer antreten muß, wie sie in den Meeren des Jupiter schwimmen. Martin Boyd, Kongreßabgeordneter, war vermutlich der mächtigste Mann in den Vereinigten Staaten. Seit 1952 beherrschte er unangefochten den achten Wahlbezirk. Jetzt, da die medizinische Wissenschaft den Tod bezwungen hatte, oder zumindest die Lebenserwartung der meisten Menschen praktisch unbegrenzt verlängern konnte, konnte seine Partei-Organisation diesen Wahlbezirk durchaus bis in alle Ewigkeit beherrschen. Boyd hatte vor seinem nächsten Konkurrenten nicht nur einen Vorsprung von achtundvierzig Jahren politischer Erfahrung, er konnte auch das in dieser Zeit angesammelte Vermögen und seinen erstklassigen psychologischen Mitarbeiterstab in die Waagschale werfen. Im Kongreß selbst kontrollierte er schließlich neben dem Unterausschuß für Kultur und Erholung den politisch wichtigsten, den Satzungsausschuß. Unter diesen Voraussetzungen und angesichts der so entscheidenden modernen Psychotechnik, hielten Politiker und Sozialwissenschaftler Boyd für unschlagbar. Nicholsons Kopf fiel auf die Seite. Er betrachtete die Wolken und den blauen Himmel, und dabei schätzte er die Windgeschwindigkeit ab und wagte eine Voraussage über das Wetter in Nigeria, wo sich seine Frau zu einem Einkaufsbummel über das Wochenende aufhielt. Plötzlich erschien seine Hand im Blickfeld. Er wollte sie auf die Armlehne zurückbringen, statt dessen schlug er sich so fest auf die nackten Schenkel, daß es weh tat. Er versuchte den Kopf zu senken und Gartenstadt
in den Blick zu bekommen. Doch seine Augen erfaßten den Appartement-Turm zu seiner Rechten; er vermerkte die Anzahl der Stockwerke und die Fensterzahl pro Stockwerk und entwickelte dabei eine sehr originelle Theorie über die Einflüsse des Wohnens in oberen Stockwerken und der gegenwärtigen Toilettengewohnheiten auf den Ödipuskomplex der klassischen Freudschen Psychologie. Ehe der Wohnturm seinen Blicken entschwand, verfaßte sein drogenbeschleunigtes Gehirn einen witzigen Artikel über diese Theorie für seine Kolumne in Moderne Psychologie. »Wir w-wollen ... g... geh ...« Er spürte nichts besonderes an Zunge und Lippen, doch seine Ohren fingen das verstümmelte Gerede auf und sagten ihm, daß die Koordination bereits nachließ. Der Sek schob den Rollstuhl an. Nicholsons Kopf schwankte von einer Seite zur anderen. Vergeblich versuchte er, den Kopf gerade zu halten. Die Landschaft schaukelte durch sein Blickfeld. MST war die stärkste psychoaktive Droge auf dem Markt. Sie vervielfachte die Aufnahme- und Verarbeitungsfähigkeit von Daten und Gedanken um einen Faktor, der zwischen drei und sieben lag. Wer MST nahm, sah Einzelheiten, die ihm zuvor gar nicht aufgefallen wären, und in einer sonst undenkbaren Menge, und sein Verstand entwickelte und verwarf Arbeitshypothesen mit verwirrender Geschwindigkeit. Man kannte die Droge erst seit acht Jahren, doch bereits in dieser kurzen Zeitspanne hatte sie der Wissenschaft zu mehreren wichtigen Durchbrüchen verholfen. Auf Nicholsons eigenem Arbeitsgebiet, der Psychotherapie, hatten vier geniale Theorien – unter
Drogeneinfluß aufgestellt – das Wissen um Jahrzehnte vorangetrieben. Und: Die schwarze Kunst der gesellschaftlichen Manipulation war ebenfalls weiter ausgebaut worden ... Das Geräusch, das die Räder des Rollstuhls auf der Straße verursachten, reizte ihn, die durch Reibung und Schall erzeugte Wärmemenge zu berechnen. Danach stellte er zwei sich widersprechende Hypothesen darüber auf, welchen Einfluß die Bewegung sämtlicher Radfahrzeuge der Erde auf die Jahresdurchschnittstemperatur und die mittlere Regenmenge der Nordostregion Amerikas ausüben könnte. Der Sek unterbrach den Rhythmus seiner Schritte nicht, als er den Rollstuhl ohne Holpern von der Landstraße auf den beginnenden Gehweg schob. Auf dem Rasen des ersten Vorgartens fochten zwei Jungen, die auf elektrischen Elefanten saßen, ein Duell mit Elektrisierschwertern aus. Ein massiger Mann in schmutzigen Shorts und offenem Hemd sah zu, dann fiel sein Blick auf den Rollstuhl und seinen Insassen. Seine Brauen zogen sich zusammen, die Gesichtszüge verhärteten sich, er steckte sich einen Zigarrenstummel in den Mundwinkel, wie um die Fäuste frei zu haben, und dann fiel Nicholsons Kopf wieder auf die andere Seite, und er sah, wie ihn die Leute von der anderen Straßenseite beobachteten. Einige waren sogar aus ihren Sesseln und Liegestühlen aufgestanden. Den ganzen Block entlang starrte ihn jeder an, der über zwölf Jahre alt war. Er kannte diese feindseligen Blicke von der letzten Erkundung her, die er vergangenen Monat an einem Werktagmorgen in einem angrenzenden Stadtgebiet unternommen hatte. Abneigung gegen Fremde und
gegen Psychoerkunder schienen zu der unterschwelligen Manipulation zu gehören, mit der die BoydOrganisation in diesem Wahlbezirk arbeitete. Eine so große Organisation hatte es nicht nötig, Psychoerkundungen so wie er durchzuführen – in aller Öffentlichkeit und unter Drogeneinfluß. Boyds Erkunder konnten mit subtileren Methoden arbeiten: Psychoerkunder, die als Verkäufer und Handwerker auftraten; Festveranstaltungen und Jahrmärkte, bei denen jedes Karussell und jede Attraktion einen Psychotest darstellten; bis hin zu, falls nötig, Verhaftungen – wobei sich die Polizei anschließend vielmals für den Irrtum entschuldigte und die Opfer keine Erinnerung mehr daran hatten, daß sie einer Gehirnwäsche unterzogen worden waren. Nicholsons Organisation bestand nur aus fünf Leuten, und im Augenblick war er der einzige ausgebildete Psychologe in dieser Gruppe. Eine so kleine Organisation konnte nur mit einer MST-Erkundung genug über das Wählerverhalten erfahren, um einen erfolgversprechenden Wahlkampf in dem betreffenden Bezirk führen zu können. Das Heulen eines Turbomotors drang an sein Ohr. »Bullen«, brummte der Sek. Ein offener Einsatzwagen schwang an Nicholsons torkelndem Blick vorbei. Zwei Polizisten auf den Vordersitzen und ein hechelnder Polizeihund blickten ihn an. Die Polizei glitt aus seinem Blickfeld. Einen Augenblick lang starrten er und der Dicke mit der Zigarre sich an. Die Jungen hatten ihr Duell unterbrochen. Mit gespreizten Beinen und vor der Brust verschränkten Armen stand der Mann vor der genauen
Mitte seines Hauses. Es gab eine komische Übereinstimmung zwischen dem Mann und seinem Haus. Beide waren für ihre Größe ziemlich breit. In einem dicken Haus wohnt ein dicker Mann ... »Einen Augenblick. Bleiben Sie stehen.« Die Angst wischte alle anderen Eindrücke aus seinem Bewußtsein, es gab nur noch die Polizisten; ihre äußere Erscheinung prägte sich ihm ein, und er stellte drei Hypothesen über ihre Persönlichkeitsstruktur auf. Seine rechte Hand fuhr himmelwärts und sank neben der Armlehne herab. Er versuchte es nochmal, und diesmal landete sie auf der Lehne. Er schob die Finger vor, bis er die Plastiktasten spürte, mit denen er die Abwehrgeneratoren steuern konnte. Ein beruhigendes Gefühl. »Haaa ... aalt!« Der Sek hielt an. Die Polizisten stiegen aus dem Fahrzeug, einer hielt den Hund an der Leine. Sie bauten sich vor ihm auf. Der ohne den Hund streckte die Hand aus. »Ihren Ausweis bitte.« »Ist das eine Festnahme?« fragte der Sek. »Nur eine Überprüfung.« »Brauchen wir nicht.« »Was brauchen Sie nicht?« fragte der Polizist mit dem Hund. »Sie müssen uns festnehmen und dafür einen Grund angeben. Ohne Festnahme brauchen wir uns nicht auszuweisen.« Nicholson wunderte sich, woher der Sek seine Gesetzeskenntnisse hatte. Der kräftige Mann war vielleicht nicht clever genug, um in einer modernen Wirtschaftsordnung einen festen Arbeitsplatz zu halten,
doch über den Umgang mit Polizisten schien er einiges zu wissen. Nicholson war davon überzeugt, daß die Boydsche Organisation bereits über ihn und fast seine gesamte Lebensgeschichte Bescheid wußte. Wenn man aber gegen moderne Psychotechniken ankämpft, kann auch das geringste Detail von Ausschlag sein. Die beste Regel war, so wenig wie möglich Informationen zu geben. »Was machen Sie hier? Für wen arbeiten Sie?« Der Sek antwortete nicht. Der geifernde Hund sprang in Nicholsons Blickfeld, seine Angst brach neu auf. Ein Muskel in seinem Mund zitterte. »Aaaag ... serrr ... ggg ...« Der Polizist sah den Sek böse an. »Ich habe Sie etwas gefragt.« Der Sek schwieg. Eine knochige Hand ruckte an der Hundeleine. Der Hund knurrte. »Wir sollen euch wohl wegen öffentlicher Ruhestörung einbuchten, wie?« »Wir sind nicht laut. Öffentliche Ruhe wird nur durch Lärm gestört.« »Einen richtigen kleinen Rechtsanwalt haben wir da, nicht?« Die Kontrolltasten für die Generatoren lagen noch unter seinen Fingern. Ein bestimmtes Programm konnte er in seinem Zustand bestimmt nicht eintasten, aber er könnte sie überraschen. Überraschen mit einer Auswahl zwischen Raketenlärm bis zum Gestank von Pferdeäpfeln. Nach dieser Überraschung dann der Neuromixer, und anschließend die Flucht. Aber das bedeutete das Ende der Erkundung, noch ehe sie angefangen hatte. »Schafft sie fort!« schrie ein Mann. »Laßt euch
nichts von denen gefallen.« Den ganzen Block entlang ertönten wütende Rufe. »Schiebt die Kerle ab, dahin, woher sie gekommen sind!« »Hetzt die Hunde auf sie!« Der Polizist wies auf die schreiende Menge. »Das bezeichnen Sie also nicht als öffentliche Ruhestörung?« Über die nächste Rasenfläche lief ein kleines Mädchen auf sie zu. »Geh fort, böser Mann! Geh fort! Böser Mann! Böser Mann!« Ihre Mutter schrie ihr nach, aber das Mädchen lief weiter. An der Rasenkante stolperte sie über den kleinen Entwässerungsgraben und stürzte auf den Gehweg. »Mein Kind!« Das Kind hob sein tränenüberströmtes Gesichtchen und sah Nicholson an und schrie. Die Mutter rannte herbei und beugte sich über das Mädchen. »Mein armer Schatz. Armes kleines Dingelchen.« Sie sah ihn wütend an, dann hob sie das schluchzende Kind auf und trug es fort, auf das Haus zu. »Ist ja schon gut, mein Mädchen. Gleich bekommst du was Schönes. Jetzt sei mal ruhig. Sei still. Möchtest du was Leckeres?« Der Hund knurrte. »Für wen arbeiten Sie?« fragte der Polizist wieder. Der Sek schwieg. Die Polizisten sahen sich an. Der mit dem Hund grinste. »Lassen wir sie weitermachen. Sie wollen's ja nicht anders.« Sie trotteten zum Wagen zurück. Nicholson wartete. Der Einsatzwagen rührte sich nicht vom Fleck. Vor ihm, längs des Gehwegs, standen die Leute an der Grenze ihrer Vorgärten, wie bei
einem makabren Spießrutenlaufen. Nach Plan müßte er an der nächsten Ecke rechts abbiegen und während der nächsten drei oder vier Stunden das Viertel durchfahren. Überall würden die Leute auf ihren Rasen stehen und ihn anschreien. Wie lange noch bis zu den ersten Ausschreitungen? »Lllll ... loos ... uuu ... uunn ...« Der Sek schob den Wagen an. Mochten die Bewohner ihn anschreien und verfluchen – was immer sie auch tun mochten, selbst wenn sie sich im Schlafzimmer versteckten: Sie würden ihm Informationen liefern. Sogar Grundriß und Bauweise der Häuser und das, was sie auf dem Rasen herumliegen hatten, würde ihm etwas über die Bewohner verraten. »Schnüffler!« »Geh doch zurück zu deiner Müllkippe!« Der Einsatzwagen folgte ihm im Schrittempo. Die Angst hinderte ihn. Er beobachtete alles, nahm es auf, aber sein Gehirn weigerte sich, das Gesehene zu Theorien zu verarbeiten. Die Menschen, das ausgeklügelte Spielzeug, die Häuser, Getränke und Eßwaren und Zeitschriften auf Liegedecken und Gartentischen ... während sich das alles seinem Gedächtnis einprägte, arbeitete sein Verstand fieberhaft Fluchtwege aus, Verhaltensmuster für den Fall eines Angriffs. Er konnte an nichts anderes denken. Er versuchte seine Feigheit zu bekämpfen. Seine Selbstachtung verbot ihm, dem Sek den Rückzug zu befehlen, wie er es gern getan hätte. Nichts hätte eine Flucht gerechtfertigt. Zu viel hing von dieser Erkundung ab. Wenn ein Mann früher so viel Macht und Einfluß gewonnen hatte, daß er mit normalen politischen
Methoden nicht mehr abzusetzen war, dann hatte der Tod schließlich doch das Problem gelöst. Seinen Platz hatten dann neue Männer eingenommen, Männer mit etwas fortschrittlicheren Vorstellungen, und die Gesellschaftsordnung war nur etwa eine Generation hinter ihrer normalen Entwicklung zurückgeblieben. Heute aber hatte man den Tod abgeschafft, und dabei beschleunigte sich die technische Entwicklung immer mehr, hatte die gesellschaftliche Entwicklung längst überholt ... Und deshalb saß er, Nicholson, hier in dem Rollstuhl. Weil er davon überzeugt war, daß die einzige Alternative den gesellschaftlichen Zusammenbruch bedeutete. Er versuchte, sein Gehirn zur Arbeit anzuhalten, indem er sich alles in Erinnerung rief, was er über Bodys politischen Werdegang wußte. Sein Gedankengang ließ sich nicht kontrollieren. Bei jeder neuen Stimme, die ihn anschrie, dachte er an Abwehrmöglichkeiten. »Haltet ihn auf! Laßt ihn nicht weitermachen!« Ein Mädchen sprang vor den Rollstuhl. »Der ist von dieser Molkereifirma! Ich hab's im Fernsehen gesehen. Wir sollen schlechte Milch kaufen. Der will uns vergiften!« Der Sek versuchte, um sie herumzusteuern. Sie hob die Arme und tat einen Schritt zurück. Sie tanzte vor dem Rollstuhl her die Straße hinab. »Die wollen unsere Milch vergiften! Die Milch vergiften!« Sie hatte schwarzes Haar und eine biegsame Gestalt, um die ein dunkles Kleid schwang. Zwei an ihrem Hals befestigte Wundersteine warfen zuckende Farben auf ihr Gesicht, tauchten es in Licht und Schatten – der letzte kosmetische Schrei.
Sie hieß Betty Delange. Man hatte ihre Haare gefärbt, und ihr Körper kam ihm reifer vor, aber er hatte lange genug Aufnahmen von Bodys Leuten studiert, um sicher zu sein. Sie war es. Die beste Psychotechnikerin in Boyds Organisation. Der Krieg hatte kaum angefangen, und schon die dicksten Kanonen. »Dieser Mann wird uns so fertig machen, daß wir sein Zeug kaufen! Er bringt uns dazu, sein Gift zu trinken! Schluß damit! Schluß mit ihm!« In ihrer Stimme erhob sich schrille Panik. »Macht doch endlich Schluß mit ihm!« Die Menschen bewegten sich über den Rasen auf die Gruppe zu. Ein paar rannten, aber die meisten kamen langsam heran. Selbst mit einem so gekonnten Schrei ließen sich heutzutage die Leute nicht aus der Reserve bringen. Das Leben war so ruhig und angenehm. Gesichter schwammen an seinem Blick vorüber. Zwanzig oder dreißig Menschen umringten den Rollstuhl. Der Sek versuchte, durch die Menge einen Weg zu bahnen, dann gab er es auf. »Stimmt das?« fragte ein Mann. »Für wen arbeiten Sie wirklich?« Meistens junge Gesichter. In diesen älteren Vierteln gab es viele Teenager. In den Augen der Männer las er Lüsternheit und Gewalttätigkeit zu gleichen Teilen. Einige sahen mehr das Mädchen als ihn an. Die Zunge zitterte ihm im Mund. »Nnnnn...« Vor seinen Augen tauchten seine Hände auf, und er zwang sie herab. Hier stand ihm ein erstklassiger Fachmann gegenüber, und er selbst war hilflos wie ein Krüppel. Von irgendwo aus der Menge vernahm er Musik,
mit einem harten Rhythmus und einer lauten, stampfenden Baßunterlage. Ein junger Mann hatte einen Apparat in der Hand, der wie ein Transistorgerät aussah, aber ein Psychogerät sein mußte. Der Rhythmus entsprach genau dem Wechsel von Licht, Farbe und Schatten auf dem Gesicht des Mädchens. »Woher weiß man denn, daß er von dieser Molkerei-Gesellschaft geschickt wurde?« fragte ein älterer Mann. »Das weiß ich eben. Ich hab's im Fernsehen gehört. Heute morgen, in den Nachrichten.« Rrumm, bumm, bumm. »Wir sollen denen ihr Gift trinken.« Bumm. »Die zwingen uns noch, daß wir ihre schlechte Milch trinken!« Bumm, bumm, bumm. Die Musik wurde lauter. Die Melodie wurde gedämpft, der Beat kam verstärkt. Solche starken Rhythmen gehörten zu den wirkungsvollsten Techniken, die in der psychischen Manipulation angewandt wurden, weil sie die Kritikfähigkeit unterbanden. Sie waren beim primitiven Hexenriten ebenso angewandt worden wie bei der klassischen Gehirnwäsche, und die moderne Abart der alten Medizinmänner ließ sich immer noch gut gebrauchen. Die Menge, die um ihn herumdrängte, bemerkte vermutlich gar nicht, wie dieser Beat ihre Gefühle auf eine gewalttätige Entladung hin trieb. Gesichter starrten ihn an. Angeborene Gewalttätigkeit konnte man nicht aus diesen Zügen lesen. Die Menschen haßten ihn, weil er fremd hier war und ein Spion. Wenn jedoch das Mädchen nicht aufgetaucht wäre, wären sie vermutlich auf ihrem Rasen stehengeblieben und hätten ihren Ärger höchstens mit Beschimpfungen abreagiert.
Immer noch pendelte sein Kopf ziellos umher. Immer noch kreisten seine Gedanken darum, wie er seine Haut retten könnte. Er saß in einer sauberen Falle. Wenn er den Neuromixer oder die Psychogase einsetzte, bevor er angegriffen wurde, würden ihn die Polizisten verhaften wegen Angriffs mit einer gefährlichen Waffe. Wartete er aber, bis man ihn selbst angriff, dann könnte er nur einen oder zwei außer Gefecht setzen, ehe ihn der Rest in Stücke riß. Seine rechte Hand tastete sich an der Armlehne entlang, bis er die Knöpfe für die Generatoren unter den Fingern spürte. Wenn er sich auf winzige Bewegungen konzentrierte, ließen sich seine Muskeln praktisch kontrollieren. Geräusche oder Gerüche würden unter Umständen ausreichen, die ständig wachsende Menschenmenge so lange auseinanderzutreiben, bis er und der Sek durchbrechen und das Weite suchen konnten. Nur, er hatte diese Leute noch nicht lange genug beobachtet, um die richtige Tonund Geruchskombination zu finden. Eine größere Menschenansammlung wirkungsvoll außer Gefecht zu setzen war etwas ganz anderes, als kurzzeitig zwei Polizisten abzuwimmeln. Gerade Gehör- und Geruchssinn mußten präzise stimuliert werden. Ein Angriff auf dieser Ebene setzte voraus, daß man das Ziel erkannte. Eine falsche Kombination konnte durchaus die Aufputschversuche des Mädchens noch unterstützen. Und selbst wenn er vorübergehend Erfolg haben sollte, was würde diese Leute an seiner Verfolgung hindern? Das Mädchen richtete sich auf und wies anklagend mit dem Finger auf ihn. Sie überragte die Figur im Rollstuhl. Sie bog sich ein wenig zurück, und ihre
Brüste richteten sich auf. »Das ist ein Schnüffler!« schrie sie. »Was kümmert's uns, für wen er arbeitet? Wollen wir vielleicht Schnüffler hier bei uns dulden?« Die Menschen sahen sich an. Noch zögerten sie. Vermutlich hatte noch niemand von ihnen jemals zuvor einen Mitmenschen tätlich angegriffen. Ihm wurde übel. Er hatte mit Gewalt gerechnet, als er sich herfahren ließ. Doch jetzt, angesichts der harten Wirklichkeit, ekelte ihn die Skrupellosigkeit an, die Boyds Stab an den Tag legte. Seine umherirrenden Gedanken verfolgten die Frage, welche Persönlichkeitsstruktur dieses Mädchen haben mußte. Er konnte Boyd der irgendeinen von Boyds Leuten einfach nicht verstehen. Er konnte es nicht begreifen. Kapierten die denn nicht? Wenn ein Menschenleben eine Unendlichkeit dauern konnte, dann mußte man es doch noch heiliger halten als bisher. Ein kleiner Junge schob sich durch die Beine der Erwachsenen, die fast alle Shorts trugen. Er stellte sich vor den Rollstuhl und sah Nicholson an, mit den grausamen Augen von Kindern, die den Dorftrottel hänseln. Er hatte eine große Eistüte in der Hand, auf der sich große Klumpen rotgeädertes Vanilleeis türmten. »Wie essen Sie eigentlich? Zeigen Sie mir, wie Sie essen können.« »Schafft den Jungen fort«, sagte ein Mädchen. Der Junge hielt das Eis Nicholson unter die Nase. In einer Schreckreaktion bewegte Nicholson die linke Hand. Das Eis flog dem Jungen aus der Hand und klatschte auf den Gehweg. Der Junge trat zurück und hielt die Hände vors Gesicht, als wollte er einen
Schlag abwehren. »Dem wollen wir's zeigen!« schrie das schwarzhaarige Mädchen. »Worauf wartet ihr noch? Er spioniert unsere geheimsten Gedanken aus. Er vergiftet unsere Milch. Packt ihn! Los! Drauf!« Bumm. Bumm, bumm, bumm. Bumm. Bumm, bumm, bumm. Jemand packte ihn am Kragen. Gesichter bewegten sich auf ihn zu. Augen starrten ihn an, Augen über den glühenden Enden von Zigaretten, die in sich langsam bewegenden Lippen steckten. Mehr als die Hälfte der Menge rauchte. Eine harte Männerhand schlug ihm ins Gesicht, daß ihm die Augen tränten. Er stöhnte und schämte sich im gleichen Augenblick. Die Männerhand ging zurück, ballte sich zur Faust. Nicholsons Finger packten die Armlehne. Der Anteil der Raucher hätte nur fünfzehn Prozent ausmachen sollen. Sein Gehirn arbeitete im Fieber. Die meisten Leute hier waren jung genug und konnten erst nach den großen Antiraucher-Kampagnen der siebziger Jahre herangewachsen sein. Wieso lebten in Gartenstadt mehr Raucher als in dem praktisch identischen Bezirk, den er vor einem Monat erkundet hatte? Die Faust schoß ihm entgegen, der Schlag ließ seinen Kopf erst zurück, dann nach vorn rucken. Vor seinen Augen flog die Welt vorbei, der blaue Himmel, die kauenden Kinnladen, Lippen, die an Zigaretten zogen, das Mädchen mit den künstlichen Rundungen, die Menge, die den Rollstuhl einschloß, die feisten Körper – dieser Junge hatte doch das Eis absichtlich so gehalten, daß er es ihm aus der Hand schlagen mußte! – die satten Rasenflächen, Häuser
wie große, duftige, eßbare ... Orale Typen! Das waren alles Orale! Jeder in Gartenstadt gehörte zum oralen Typus. Das waren alles Leute, denen Mund, Lippen und Geschmacksnerven die Empfindungen vermittelten, die sie unbewußt an die Spitze aller angenehmen Dinge stellten. »Gebt's ihm! Zeigt's ihm! Der soll uns kennenlernen!« War es möglich? Konnte jeder Bewohner eines so großen Viertels zu einem einzigen psychologischen Typus gehören? War Boyds Organisation wirklich so mächtig, daß sie das bewerkstelligen konnte? Kein Wunder, daß sie ihm entgegentraten, bevor er noch einen Straßenblock weit gekommen war! Sie wollten ihn aus dem Stuhl zerren. Er spürte, wie ihm Blut über eine Wange lief. Der hysterische Rhythmus der Musik drang durch sein singendes Trommelfell. Jetzt konnte er keine Zeit mehr mit Theorien verlieren. Die Menge meinte es ernst. Was er bis jetzt erlebt hatte war gar nichts gegen das, was ihn erwartete. Er drückte den Neuromixer auf den Mann ab, der ihn aus dem Rollstuhl zerren wollte. Seine Züge verzerrten sich, zeigten Verwirrung, Staunen. Der Mann schrie und stolperte um sich schlagend in die nachdrängende Masse. Hinter ihm machte der Sek ein eigenartiges Geräusch. Seine Gedanken rasten durch eine logische Entscheidungskette. Nur ein paar Sekunden waren seit dem Faustschlag vergangen. Seine Finger tasteten sich über das Bedienungsfeld in der Armlehne. Formel zweiundachtzig. Nur zwei
Ziffern. Jede Taste wies eine fühlbar verschiedene Oberfläche auf, das hatte er sich ausgedacht, um unter Drogeneinfluß die Generatoren besser einstellen zu können. Zwei kleine Spitzen piekten in den Mittelfinger. Acht also. Er drückte die Taste nieder. Er fuchtelte mit dem Neuromixer in weiten Bögen um sich. Sie würden sich davon nicht auf die Dauer abschrecken lassen, aber nur einige Sekunden sollten genügen. Ein Schlag auf die Achsel jagte Schmerz in den linken Arm. Kräftige Hände packten ihn an den Schultern, stießen ihn hoch und nach vorne. Noch während er aus dem Stuhl fiel, glitt sein Zeigefinger über die glatte runde Kuppe der Taste Zwei. Ein leichter Druck genügte. Er fiel gegen die Leute, die vor dem Stuhl standen. Die Menge stieß einen Triumphschrei aus, sie benahm sich wie ein Lehrbuch. Eine Faust landete in seiner Magengrube. Seine Glieder zuckten unkontrolliert; jemand packte ihn am Arm und stieß ihn herum. Vor Schmerzen schloß er die Augen. Jemand trat ihm gegen die Knöchel. Er machte die Augen auf, und in einem Knäuel kämpfender Leiber sah er den Sek mit einem sonderbaren Lächeln um die Lippen. Der Geruch nach Erbrochenem erfüllte die Luft dieses Sommernachmittags. Überall um ihn herum rangen die Menschen nach Luft, ein Würgen in der Kehle. Auf einmal ließen ihn die Fäuste los. Er fiel zu Boden und strampelte mit Armen und Beinen wie ein Baby. Auch ihn würgte es. Von dem Gestank konnte es jedem normalen Menschen übel werden. Die Wirkung auf eine Menge, die
aus oralen Typen bestand, war furchterregend; ein Beweis, wie leicht der Zusammenbruch der menschlichen Persönlichkeit zu erreichen ist. Die Leute preßten die Hand vor den Mund, vornübergebeugt, und versuchten, aus der Nähe des Rollstuhls zu entkommen. Ein Mädchen kippte um und lag ohnmächtig auf der Straße. Ein älterer Mann floh stolpernd vor dem Geruch, fiel hin aufs Gras und rief würgend um Hilfe. Der Gestank durchdrang die Luft, setzte sich auf den Schleimhäute von Nase und Mund fest. Der dort ausgelöste Nervenreiz drang zum Zentrum der oralen Psyche vor und beschwor Schreckensvorstellungen, die von Kindheit an im Unterbewußtsein versteckt worden waren. Dieser Gestank verkörperte den unentrinnbaren, erstickenden Gegensatz zu allem, was der orale Typus begehrte und benötigte. Hysterisch, sich übergebend floh die Menge in heller Panik, verfolgt von einem Gestank, den niemand wieder vergessen würde. Der Sek reagierte schnell. Starke Arme ergriffen Nicholson, warfen ihn in den Rollstuhl. Die Räder rumpelten über den Gehweg. Das schwarzhaarige Mädchen stellte sich ihnen in den Weg, sprang jedoch schnell wieder zurück, als der Sek sie fast umfuhr. Auch sie kämpfte mit der Übelkeit. Sein schwankender Blick erfaßte nur die Rücken fliehender Menschen. Als erfahrener Psychotherapeut verspürte er das Entsetzen aller dieser Individuen so schmerzhaft wie eine selbst erfahrene Verletzung. Kein kritischer Psychologe würde heutzutage Persönlichkeitstypen mit Hilfe der Freudschen Theorie über die kindliche Entwicklung zu erklären versuchen, doch nach wie vor gab es Verhaltensmuster die
in der Freudschen Terminologie beschrieben werden konnten. Wer seine Lusterlebnisse und seine seelische Sicherheit vornehmlich im Essen fand, der äußerte seinen Ärger und seine Liebe auch überwiegend mit dem Mund und nicht mit den Händen. Solche Leute bevorzugten eine bestimmte Art von Literatur, eine bestimmte Art von Fernsehsendungen – und solche Leute ließen sich am besten manipulieren, wenn man Symbole verwendete, die mit Nahrungsmitteln, mit dem Mund und mit jenen Empfindungen verknüpft waren, die ein wohlgefüllter praller Bauch vermittelt. Heute kannte die Psychotheorie mindestens zehn derartige Persönlichkeitstypen – Freud hatte nur vier beschrieben, doch die Welt hatte sich seitdem verändert, und Freud hatte nie gewußt, daß vier dieser Typen mit Psychologen nichts zu tun haben wollen. Jedenfalls glaubten die Theoretiker, oder hofften es zumindest, daß sich jede vorkommende menschliche Persönlichkeit in eine dieser Klassen einordnen lassen würde. Von Anfang an hätte ihm das auffallen müssen; doch die Vorstellung war zu ausgefallen für eine ernsthafte Erwägung gewesen – bis er sich den erdrückenden Beweisen nicht mehr entziehen konnte. Wie mächtig mußte eine Organisation sein, wenn sie ein ganzes Viertel mit Bewohnern eines einzigen Typus bevölkern konnte! Die Boyd-Organisation mußte zerschlagen werden. Allein was er heute erfahren hatte, reichte aus, einen Fanatiker aus ihm zu machen. Der Einsatzwagen versuchte, die Verfolgung aufzunehmen, doch der Sek schlug sich durch die Gärten
und konnte die Polizisten abschütteln. Auf diesem Fluchtweg konnte Nicholson seine psychologische Erkundung so weit abschließen, daß er seine Theorie bestätigt fand. Am Abend rief er Bob Dazella in Washington an. Sie beide konnten nur den Kopf schütteln. »Bei einem Wahlkampf müssen die sich wie an Weihnachten vorkommen«, sagte Dazella. »Hunderte von Wählern, ein Quadratkilometer am andern, zehn Prozent des ganzen Wahlbezirks – und sie können jeden einzelnen Wähler mit einer einzigen Taktik manipulieren. Möchte mal wissen, wie die das hingekriegt haben.« »Wohnungsanzeigen und Makler – das ist bis jetzt meine beste Theorie. Sie könnten jede Anzeige auf den oralen Typ abgestimmt haben. Kannst du dich nicht mal umtun und herausfinden, ob Boyd je an dem Gartenstadt-Projekt finanziell beteiligt war? Womöglich hat er ein paar Jahre lang den dortigen Immobilienmarkt kontrolliert.« »Gott sei Dank hast du's noch 'rausgefunden, ehe es zu spät war. Die hätten dich umbringen können.« Dazella saß im Kongreß, er bewarb sich erst für die zweite Wahlperiode – heutzutage ein ganz seltener Fall, wo die jüngsten Abgeordneten schon mindestens zehn, zwölf Parlamentsperioden hinter sich hatten. Nachdem er aufgelegt hatte, blieb Nicholson noch in seinem Arbeitszimmer sitzen und dachte an den Wahlkampf vor drei Jahren, der Dazella in den Kongreß gebracht hatte. Damals hatte er zum erstenmal den bitteren Geschmack moderner politischer Methoden auf der Zunge gespürt. Damals hätte Da-
zella fast sein Leben eingebüßt. Damals – das war ein Kinderspiel gegen den kommenden Wahlkampf. Er konnte sich gut vorstellen, welche Anstrengungen Boyds Organisation unternehmen würde, um ihn und seine Freunde zu beeinflussen. Seine eigene Psyche würde das Angriffsziel für jede vorstellbare Waffe aus dem modernen Arsenal werden. Wie in einem Bildschirmdrama sah er den Aufmarsch der Psychotechniker jeder Seite quer durch den achten Wahlbezirk, sah den Kampf und die Wählerpsyche, Manipulation und Gegenmanipulation. Gewalt und Gefahr, und das ganze schmutzige Spiel mit dem Unterbewußtsein der Menschen – ein Spiel, das er ablehnte und das er für immer von der menschlichen Gesellschaft fernhalten wollte. Den ersten Kampf hatte er gewonnen. Doch das hieß nur, daß er nur den Krieg durchstehen mußte, daß er hundert weitere Schlachten zu schlagen hatte. Fast wünschte er, verloren zu haben.
Originaltitel: GREENPLACE
Ben Bova und Myron R. Lewis FRIEDFERTIG UND GUTEN WILLENS ... »Ich hatte gar keine Ahnung«, sagte der UNOBeauftragte beim Betreten der Luftschleuse, »daß der amerikanische Mondstützpunkt so ausgedehnt ist und so hervorragend ausgerüstet.« »Ja, wir haben hier schon einen ziemlichen Apparat«, antwortete Oberst Patton mit leichtem Grinsen. Er fühlte sich in seiner Berufsehre geschmeichelt, das sah man selbst durch die Gesichtsscheibe seines Druckanzugs. Der Luftdruck in der Schleuse erreichte den Stationswert, und sie mühten sich aus den alubeschichteten Schutzanzügen. Patton war von massiger Statur, knapp an der Grenze für Raumpassagiere. Torgeson von der UNO machte einen mickrigen Eindruck, mit schütterem Haar und Brille, und irgendwie ausdruckslos. Aus der Schleuse traten sie in den Korridor, der quer durch die ganze Plastikkuppel verlief, in der das Hauptquartier der US-Stützpunkts auf dem Mond untergebracht war. »Diese vielen Türen«, fragte Torgeson, »was befindet sich dahinter?« Sein Englisch hatte einen leicht plärrenden skandinavischen Akzent, der Patton ein wenig auf die Nerven ging. »Rechts«, antwortete der Oberst prompt, »die Offiziersräume, Küche, Offiziersmesse, verschiedene La-
bors und Büros des Stabes. Links die Computer.« Torgeson sah verblüfft aus. »Wollen Sie damit sagen, daß das halbe Gebäude hier mit Computern belegt ist? Warum um alles in der Welt ... ich meine, wofür benötigen Sie diese Menge? Ist es denn nicht fürchterlich teuer, diese Maschinen hier auf den Mond zu schießen? Ich weiß, daß mein eigener Flug hierher Tausende von Dollar gekostet hat. Diese Computer müssen doch –« »– entsetzlich teuer gewesen sein«, stimmte Patton zu. »Sie waren es. Aber wir brauchen sie. Glauben Sie mir, wir brauchen sie.« Den Rest der Korridorstrecke legten sie schweigend zurück. Pattons Büro lag ganz am Ende. Der Oberst öffnete die Tür und ließ dem UNOBeauftragten den Vortritt. »Ein schönes großes Arbeitszimmer«, sagte Torgeson. »Und sogar ein Fenster!« »Kein Dienstrang ohne Privilegien«, antwortete Patton mit starrem Lächeln. »Der weiße Antennenmast da am Horizont gehört zum russischen Stützpunkt.« »Ah, ja. Natürlich. Morgen werde ich dort meinen Besuch machen.« Oberst Patton nickte und bedeutete Torgeson, Platz zu nehmen. Dann trat er hinter seinen Schreibtisch und setzte sich. »Kommen wir zur Sache«, sagte der Oberst. »Sie sind der erste Mensch, dem man Zutritt zu diesem Stützpunkt gewährt hat, der kein vom Geheimdienst freigegebener, dreifach überprüfter regierungsamtlicher eingeborener Amerikaner ist. Der Himmel allein weiß, wie Sie das Pentagon 'rumbekommen haben,
daß es Ihre Reise bewilligt hat. Aber nun – jetzt sind Sie hier, bloß was wollen Sie eigentlich?« Torgeson nahm seine randlose Brille ab und fingerte daran herum. »Die einfachste Antwort ist vermutlich die beste. Die Vereinten Nationen müssen – verstehen Sie? Wir müssen – unbedingt herausfinden, wie und warum Sie und die Russen es geschafft haben, hier auf dem Mond friedlich zusammenzuleben.« Patton öffnete den Mund, ohne einen Ton herauszubringen. Er schloß ihn wieder mit einem leisen Schnappen. »Amerikaner und Russen«, fuhr der UNO-Mann fort, »haben sich von Satelliten aus gegenseitig beschossen. Am Nordpol haben sie sich Feuergefechte geliefert, und am Südpol auch. Gelernte Diplomaten haben sich wie Preisboxer in den Hallen und Gängen des UNO-Gebäudes geprügelt ...« »Das war mir nicht bekannt.« »Es war so. Natürlich haben wir Meldungen darüber unterdrückt. Doch die Spannungen werden unerträglich. Überall auf der Erde stehen sich beide Seiten bis an die Zähne bewaffnet gegenüber, am Rande der Katastrophe. Selbst in den Weltraum tragen sie den Konflikt hinaus. Und dann, hier auf dem Mond, leben Sie und die Russen mit einem Mal friedlich nebeneinander. Wir müssen einfach wissen, wie Sie das bewerkstelligen!« Patton grinste. »Nun, in dem Fall – Sie sind wirklich am richtigen Tag eingetroffen. Hm, wie kann ich das am besten erklären ... Ja. Wie Ihnen bekannt ist, leben wir hier in einer extrem lebensfeindlichen Umwelt: Vakuum, niedrige Schwerkraft ...«
»Die Umwelt auf dem Mond«, wandte Torgeson ein, »ist nicht lebensfeindlicher als auf den Satelliten. Im Gegenteil, hier haben Sie wenigstens ein bißchen Schwerkraft, einen festen Untergrund, weiträumige Gebäude – viele Vorteile, die künstliche Satelliten nicht bieten können. Und trotzdem haben sich die Satelliten bekämpft – nicht aber die Mondstützpunkte. Vergeuden Sie also nicht meine Zeit mit Plattitüden. Dafür kostet meine Reise die UNO zu viel Geld. Sagen Sie mir die Wahrheit.« Patton nickte. »Das wollte ich ja. Ich habe nochmals überprüft, was uns die Erdstation übermittelt hat: sie haben Grünes Licht bekommen vom Weißen Haus, der Atomenergiekommission, von der NASA und sogar vom Pentagon.« »Na, und?« »Okay. Die ganze, reine Wahrheit ist –« Er wurde von einem melodischen Glockenton unterbrochen, der von einer kleinen Uhr auf dem Schreibtisch erklang. »Oh, Verzeihung. Einen Augenblick.« Torgeson setzte sich bequem zurück und sah zu, wie Patton sorgsam alle Utensilien vom Schreibtisch räumte: Uhr, Kalender, Telefon, Eingangs- und Ausgangskörbchen, Tabakdose und Pfeifengestell, verschiedene Akten und Papiere – alles wurde rasch und säuberlich in den Schreibtischschubladen untergebracht. Darauf erhob sich Patton, ging zum Aktenschrank und schloß gewissenhaft die Metallschübe. Er stellte sich mitten im Zimmer auf und überflog die Szenerie mit offensichtlicher Zufriedenheit, dann warf er einen Blick auf die Armbanduhr. »Okay«, forderte er Torgeson auf. »Legen Sie sich auf den Bauch.«
»Wie bitte?« »So. Wie ich«, sagte der Oberst, und streckte sich auf dem Gummibelag aus. Torgeson sah ihn fassungslos an. »Machen Sie schon! Sie haben nur noch ein paar Sekunden.« Patton griff hoch und packte den UNOBeauftragten am Handgelenk. Ungläubig verließ Torgeson den Stuhl, ließ sich auf Hände und Knie nieder und legte sich schließlich flach auf den Boden, dicht neben dem Oberst. Eine oder zwei Sekunden lang starrten sich die beiden an. Keiner sagte etwas. »Herr Oberst, Sie bringen mich in Verle –« Durchs Zimmer donnerte eine ohrenbetäubende Geräuschsalve. Etwas – und viele davon – flog durch die Wände; in der Luft pfiff und wimmerte es über den Köpfen der lang ausgestreckten Männer; der metallene Schreibtisch und der Aktenschrank schepperten und dröhnten gespenstisch. Torgeson schloß die Augen fest und versuchte, sich im Boden zu verkriechen. Er kam sich vor wie bei einem Feuerüberfall. Und auf einmal war alles vorbei. Im Zimmer herrschte wieder Stille, bis auf ein schwaches, zischendes Geräusch. Torgeson öffnete die Augen und sah, wie der Oberst aufstand. Die Tür wurde aufgerissen. Drei Unteroffiziere stürzten herein, mit Dichtscheiben und Spezialklebstoff in Tuben bewaffnet. Sie rannten durchs Zimmer, von einer Stelle zur anderen, und dichteten die mehreren hundert Löcher in den Wänden ab.
Nur langsam, während sich die Unteroffiziere bei ihrer fieberhaften Arbeit kein Wort erlaubten, fiel Torgeson auf, daß diese Zimmerwände in Wirklichkeit aus einem Strickmuster früher angebrachter Dichtscheiben bestanden. Das Zimmer mußte mehrmals durchsiebt worden sein! Langsam kam er auf die Beine. »Meteore?« fragte er, und seine Stimme kiekste ein bißchen dabei. Oberst Patton schüttelte den Kopf, grunzte etwas Unverständliches und ließ sich wieder hinter dem Schreibtisch nieder. Der Stahltisch war voller Dellen, wie Torgeson jetzt auffiel. Der Aktenschrank auch. »Sie brauchen sich nicht zu wundern«, sagte Patton, »das Fenster ist kugelsicher.« Torgeson nickte und setzte sich. »Wie Sie sehen«, fuhr der Oberst fort, »verläuft unser Leben hier nicht so friedlich, wie man meinen möchte. O nein, mit den Russen kommen wir hervorragend aus – heutzutage. Wir haben gelernt, Frieden zu halten. Es blieb nichts anderes übrig.« »Was waren das für ... für Dinger?« »Geschosse.« »Geschosse? Aber wie –« Die Unteroffiziere beendeten ihre Arbeit, ein bißchen außer Atem geraten, stellten sich an der Tür auf und grüßten. Oberst Patton erwiderte den Gruß, sie machten kehrt und verließen das Büro. Lautlos schloß sich die Tür. »Oberst, offengestanden, ich verstehe das nicht.« »Oh, das ist ganz einfach. Aber machen Sie sich nichts daraus, daß Sie sich haben überraschen lassen. Nur die oberste Führungsspitze im Pentagon weiß etwas davon. Und natürlich der Präsident. Der mußte
eingeweiht werden.« »Ja, aber –« Oberst Patton holte Pfeifenständer und Tabakdose aus der Schublade, wählte eine Pfeife aus und stopfte sie. »Sehen Sie«, sagte er, »die Russen und wir, wir waren nicht immer so friedfertig, hier auf dem Mond. Es gab Zwischenfälle, kleinere Gefechte, wie sonst auch überall.« »Und?« »Nun –« er riß ein Streichholz an, hielt es über den Tabak und paffte ein paarmal – »kurz nachdem wir diese Kuppel für unser Hauptquartier hier errichtet hatten, und nachdem die Russen ihren Stützpunkt aufgebaut hatten, kam es zu ein paar ernsthafteren Auseinandersetzungen.« Er wedelte das Streichholz aus und warf es in den Papierkorb. »Wie Sie wissen, befinden wir uns hier im Oceanus Procellarum, genau am Mondäquator. Mit eine der größten freien Flächen auf diesem luftlosen Steinbrocken. Nun, die Russen behaupteten, dieser ganze verdammte Oceanus gehöre ihnen, weil sie als erste hier eingetroffen waren. Wir hielten dagegen, daß es für solche Besitzansprüche keine Rechtsgrundlage gab, weil gemäß der UNO-Charta und den Ausführungsbestimmungen –« »Verschonen Sie mich mit den juristischen Details! Bitte, sagen Sie mir, was ist tatsächlich passiert?« Patton zuckte die Achseln. »Nun ... es gab eine Schießerei. Ein Posten von denen schoß auf einen Posten von uns. Die andere Seite behauptet natürlich, es sei umgekehrt gewesen. Wie dem auch sein mag, jedenfalls dauerte es keine halbe Stunde, und wir waren mitten in einem regelrechten Gefecht zwischen
beiden Stützpunkten.« Er wies aus dem Fenster zum Horizont. »Kann man im luftleeren Raum denn Feuerwaffen benutzen?« »Oh, klar. Kein Problem. Nein, was anderes kam dazwischen. Keiner von uns hatte damit gerechnet.« »Ach?« »Während des Gefechts wurden nur ein paar Mann verwundet, und keiner davon schwer. Wie immer bei Schießereien, flogen die meisten Kugeln am Ziel vorbei.« »Und?« Patton lächelte grimmig. »Nun, einer unserer Zivilisten, ein Mathematiker, fing aus Langeweile ein bißchen an zu rechnen. Mehrere tausend Hochgeschwindigkeits-Geschosse waren von uns abgefeuert worden. In den luftleeren Raum. Keine Reibung, verstehen Sie? Und in einem schwachen Gravitationsfeld. Diese Kugeln flogen am Feind vorbei, in den Raum, und –« Torgeson dämmerte die Erkenntnis. »Oh, nein!« »Stimmt. Die Kugeln flogen weiter, über die Gebirge hinweg – der Mond hat ja einen kleineren Radius als die Erde und daher diesen verdammt kleinen Horizont –, und folgten dann einer recht exzentrischen länglichen Ellipsenbahn. Tausende kleiner Kugelsatelliten. Ungefähr jede Stunde kommen sie auf dem Perihel, nein, Periluna wieder dicht an die Mondoberfläche zurück, mit der ursprünglichen Mündungsgeschwindigkeit. Zwar an einer anderen Stelle, weil der Mond sich ja um sich selbst dreht, aber alle siebenundzwanzig Tage ist Periluna hier, genau hier, wo die Kugeln abgefeuert wurden. Sie wissen ja, die
Mondrotation dauert siebenundzwanzig Tage. Jedenfalls, wenn sie hier wieder auftauchen, schießen sie unseren Stützpunkt in Fetzen – und den der Russen auch, selbstredend.« »Aber, können Sie nicht ...« »Was sollen wir tun? Den Stützpunkt können wir nicht verlegen. Dafür brauchen wir die Genehmigung des Generalstabs, und der hat sich bis jetzt noch nicht einigen können. Materialien für eine Spezialabschirmung kriegen wir auch nicht hier herauf, das fällt auch unter die Genehmigungspflicht. Computer fallen nicht darunter. Uns bleibt also als bester Ausweg übrig, soviel Computer wie möglich zu requirieren und die Flugbahn der Geschosse zu berechnen und vorherzusagen. Sehen Sie, diese Flugbahn ändert sich nämlich laufend. Jedesmal, wenn die Kugeln durch den Stützpunkt fliegen, werden sie in den Wänden und durch Luftreibung ein bißchen abgebremst und an den Stahlmöbeln in eine andere Richtung abgelenkt. Glauben Sie mir, unsere Rechner haben mehr als genug zu tun, nach jedem Durchgang die neuen Flugbahnen rechtzeitig durchzurechnen.« »Mein Gott!« »Und in der Zwischenzeit trauen wir uns nicht, auch nur eine weitere Salve abzuschießen. Das würde unsere Computer überlasten, und wir würden die Daten über alle bisher erfaßten Kugeln verlieren. Dann müßten wir alle siebenundzwanzig Tage stundenlang auf dem Bauch liegen.« Torgeson saß wie gelähmt da. »Aber keine Angst«, schloß Patton und grinste mit dem Optimismus des Fachmanns. »Ich habe eine kleine Gruppe meiner Leute abkommandiert, die ins-
geheim am anderen Ende des Stützpunkts – wohin die Russen nicht sehen können – eine Steinmauer errichten. Da bleiben die Kugeln drin stecken. Und dann werden wir diese Kriegstreiber ein für allemal ausradieren!« Torgeson fiel der Unterkiefer herab. Gedämpft kam das Glockensignal aus Pattons Schreibtisch. »Legen wir uns besser wieder hin. Zeit für die zweite Salve.«
Originaltitel: MEN OF GOOD WILL
Christopher Anvil GEFÄHRLICHE LADUNG Lieber Sam, ich meine auch, wir sollten unseren Kontakt nicht abreißen lassen. Alte Kameraden müssen zusammenhalten, vor allem wenn beide in Raumfrachterei machen. Ich habe Deinen Brief erhalten, den mit den Tagebuchauszügen über die Fahrt der Starlight mit diesem Quertreiber. Die Spule ist mir offenbar über das halbe bekannte Universum nachgeschickt worden, und ich habe sie gleich in den Betrachter gesteckt. Ich kann Dir sagen, meine Finger haben dabei gezittert, nach allem, was ich im Augenblick selbst mitmachen muß. Ich gebe Dir gerne zu, daß Du harte Tage hinter Dir hast. Aber glaub mir, Sam, ich stecke noch tiefer im Schlamassel. So, wie Du Erster Offizier auf der Starlight bist, habe ich als Erster Offizier auf dem Geölten Blitz angeheuert. Du wirst diesem Raumschiffsnamen entnehmen, daß unsere Gesellschaft nicht ganz so würdevoll ist wie Deine, aber das tut nichts zur Sache. Es hätte schlimmer sein können. Eines unserer Schiffe heißt RTF Trampel. Wie solche Namen entstehen? Einfach. Der Alte beguckt sich die Fahrtunterlagen über das eine oder andere Schiff, läuft plötzlich rot an, haut mit der Faust auf den Tisch, und brüllt: »Sieh sich einer mal dieses beschissene Fahrtenbuch an! Der Kasten nennt sich Stern des Alls? Ha! In den letzten zehn Fahrten haben die sich nicht einmal an den Plan ge-
halten! Quatsch Stern des Alls! Von jetzt ab heißt der Kahn Lahmarsch!« Und damit hat sich's. Bei der nächsten Landung am Ladezentrum kommt eine Arbeitsgruppe mit Pinsel und Farbe heraus, überdeckt das Stern des Alls und malt stattdessen Lahmarsch hin. Den Alten interessieren nur Ergebnisse, und zwar gute Ergebnisse. Wenn Du 'ne Pechsträhne hast, oder wenn auch die ganze Mannschaft ohne eigenes Verschulden mit den schwefelgrünen Sandpocken in der Krankenstation liegt – das ist immer noch keine Entschuldigung. Vom Alten kriegst Du dann nur zu hören: »An Ihren Entschuldigungen bin ich nicht interessiert. Haben Sie den Flugplan eingehalten, oder haben Sie den Flugplan nicht eingehalten?« Und dann lautet die Antwort besser: »Aber Chef, natürlich sind wir auf Plan geblieben!« »Okay. Mehr will ich nicht wissen.« Du verstehst, was ich meine. Da machst Du harte Zeiten durch, wenn ohne Deine Schuld der Gravitator verreckt, noch bevor die Garantie abgelaufen ist; oder wenn sich ein Sprungpunkt aus der Kongruität verschiebt und das Schiff einen Monat lang mitten im Nichts hängenbleibt. Es zählt überhaupt nicht, daß Du auf solche Sachen weniger Einfluß hast als auf die Lichtgeschwindigkeit. Was zählt ist: »Haben Sie den Flugplan eingehalten?« Ich glaube, mehr brauche ich nicht zu sagen. Das hier ist eben kein Laden, wo sie nach jedem Trip die Gehirnwellen der Mannschaft überprüfen oder wo sie Psychologen, Krankenschwestern und Gratisbonbons mitschicken, um uns bei Laune zu halten.
Jetzt zu mir und meinen Schwierigkeiten. Ich muß noch vorausschicken, daß die Arbeitsmethoden des Alten ein bißchen altertümlich sind, je nachdem, wie man's betrachtet. Nun komm bloß nicht auf die Idee, daß da was Lächerliches dran sei. Eine fünfundvierziger Taschenkanone ist auch recht altertümlich, aber wenn da erst mal die großen Bohnen 'rauskommen, Junge, da gibt's nichts mehr zu lachen. Das mußt Du im Auge behalten, wenn ich jetzt erzähle. Altmodisch reagiert der Alte zum Beispiel dann, wenn ihn jemand aufs Kreuz gelegt hat. Vor einiger Zeit gab es da mal einen Dritten Offizier, der eine Ladung erstklassiger Tigerpelze an die falsche Adresse abgestrahlt hat. Am nächsten Ladezentrum ist er abgesprungen und hat glatte achtzigtausend für die Felle und den Ladungscontainer eingesackt. Dieser schräge Vogel investierte dann runde dreißigtausend, um seine krumme Spur zu verwischen. Da kann man ein Vermögen verpulvern, um so jemand wieder aufzuspüren. Nun, ein moderner, smarter Raumfracht-Manager würde sich von seinen Gefühlen nicht den Verstand vernebeln lassen; er würde das Problem in den Computer füttern und die vom Gewinn-VerlustStandpunkt vernünftigste Lösung akzeptieren. Und was tat der Alte? Nun, ich hörte, daß er zuerst mal hinterm Schreibtisch aufsprang, seinen Stuhl packte und ihn über den Kopf an die Wand knallte, und die war zehn Meter weit weg. »Den Schuft krieg ich, und wenn ich dabei draufgehe!« Was nun genau als nächstes passierte, weiß ich
zwar nicht – ich war nicht dabei. Aber zehn Monate später tauchte der Pelzdieb wieder auf, auf einer Raumyacht im Orbit um einen Planeten, mausetot und mit 'ner Eisenstange um den Hals gebogen. Wie gesagt, das ist wirklich eine ganz altmodische Methode – ausgesprochen kindisch –, wenn man eigenhändig den Kerl, der einen betrogen hat, verfolgt und an den Mast nagelt, bildlich gesprochen. Vor allem dann, wenn der sich solche Mühe gegeben hat unterzutauchen, daß allein die Suche den ursprünglichen Verlust vervielfacht. Altmodisch. Aber glaube mir, Sam, auf den nächsten Verbrecher, der den Alten beklauen will, wirkt das direkt entmutigend. Ja, in diesem Laden den Boss aufs Kreuz zu legen, das ist ein rauhes Geschäft. Ehrliche, aber dämliche Fehler sind fast genauso gefährlich. Beispielsweise gab es da einmal einen Ladungs-Kontroller auf einem unserer Frachter – heute heißt das Schiff Idiotenmühle –, drei Fehler hintereinander hatte der gemacht, auf einen einzigen Trip. Erstens übersah er Kaltschimmelflecken bei einer Ladung Nußbohnen. Der Schimmel fraß sich in die Bohnen, erzeugte Wärme und Feuchtigkeit, die Bohnen schlugen aus, und der Container tauchte an der Rematerilisierungsstation mit geborstenen Wänden auf, aus denen die grüne Soße nur so tropfte. Als nächstes okayte er einen DruckplattenSilocontainer, der Korn enthielt. In dem Korn befanden sich aber außerdem noch Bohrkäfereier. Aus den Eiern krochen Maden, die fleißig das Korn fraßen und sich dann zu Panzerquallen verpuppten. Die wieder sahen sich vergeblich nach ein paar schönen Felsen
um, in die sie sich bohren wollten für den nächsten Schritt in ihrem Lebenszyklus. Der nächstbeste Ersatz waren die Druckplattenwände des Silos, und folglich kam der am Materialisierungspunkt an wie ein Sieb, aus dem Korn und Mehl in einer großen Wolke quollen. Du könntest jetzt sagen, das reicht als Pechsträhne für jeden, aber dieser Kontroller war eine Ausnahme. Als weitere Ladung hatten die eine komplette, sich selbst steuernde automatische Fabrik, gebaut für einen erzreichen Planeten, auf dem die Umweltbedingungen für menschliches Leben zu rauh waren. Du weißt ja, wie diese Komplett-Fabriken arbeiten. Diese hatte, grob gesprochen, eine Schürfsektion mit Bohranlagen, Zerkleinerungs- und Transportmaschinerie; dann einen Verarbeitungsteil mit Separatoren, Schmelzöfen, Legierungs- und Reinigungsanlagen; dann kommt die Aufbereitung für die Produktion; und schließlich die Endfertigung für das gewünschte eigentliche Produkt. Dann gibt es noch einen Bereich, wo der Hydreaktor, die Generatoren und der Energieausgleich untergebracht sind, und schließlich das automatische Steuerungszentrum. Außerdem hat das Ganze einen Klapperatismus, mit dem es sich langsam fortbewegt, während die Fabrik die Erzlagerstätten nach und nach auffrißt. Es gibt noch eine Einrichtung dabei, das ist die Empfangs- und Dekodierungsanlage, mit der die Fabrik von außen Befehle empfängt. Wenn Du willst, daß sie das eine Produkt herstellt, dann sendest Du das eine Signal. Soll sie was anderes produzieren, dann sendest Du ein anderes Signal. Was das für Signale sind, und wie sie aussehen, ist ein tiefschwarzes
Geheimnis. Die Steuerapparatur wird in verschiedenen Teilen angefertigt, wobei der eine Hersteller nur den Plan für sein Bauteil kennt, der andere nur den Plan für seins, und keiner weiß, wie das schließlich alles zusammenarbeitet. Aber mit diesen Komplettfabriken hat es was sonderbares auf sich. Als er seine Anweisungen für die Ladungsüberprüfung erhielt, wurde der Kontroller wie folgt instruiert: WARNUNG: DIESE AUTOFAC-62A IST DURCH EINEN BESONDEREN CHEMISCHEN BESCHICHTUNGSPROZESS GEGEN SCHUPPVIREN GESCHÜTZT. VERWENDEN SIE KEINE ELEKTRONISCHE SONDE FÜR DEN SCHUPPTEST. Das »KEINE« in der Warnung war rot und dreimal unterstrichen. Nun, erstens gibt es trotz der Nachfrage keine chemische Beschichtung zu kaufen, die tatsächlich diese Schuppenorganismen stoppt. Wenn wirklich jemand so etwas erfunden hätte, dann wäre das eine Goldmine. Würde er also so etwas geheimhalten? Und zweitens, warum waren diese Leute so verzweifelt daran interessiert, daß der Kontroller seine elektronischen Sonden nicht verwendete? Wie sollte eine solche Sonde eine chemische Schicht beeinträchtigen? Du verstehst. Diese Warnung machte einen verdächtigen Eindruck. Andererseits, irgendeinen Grund mußten die Leute haben. Was glaubst Du hat dieser Ladnungskontroller also getan?
Richtig. Er las sich das drei oder viermal durch, brummte: »Die sind doch nicht ganz dicht«, und ging hin und setzte seine Sonden trotzdem ein. Ich weiß das aus erster Hand vom Ersten Offizier der Idiotenmühle mit dem ich in einem Lustpalast auf einem Grenzplaneten namens Schlangenhölle zusammentraf. Übrigens, die Idiotenmühle befährt eine Frachtlinie, die von Schlangenhölle nach draußen geht. Offengestanden, das war das erste Mal, daß ich davon hörte, daß es jenseits dieses Arschs des Universums noch überhaupt irgend etwas gibt. Doch anscheinend hat der Alte irgendeinen Grund gefunden, so eine Linie für die Idiotenmühle einzurichten. Weiter. Wie Du weißt, gibt es diese automatischen Fabriken in verschiedenen Größen. Die größten davon müssen in Stücken transportiert werden, und Spezialistengruppen fahren dabei mit, um den Dingern Händchen zu halten. Diese Fabrik aber, die die Idiotenmühle übernommen hatte – die übrigens bis dahin Rekordspritze geheißen hatte –, das war das kleine Modell. Ungefähr dreißig Meter lang und in der Mitte fünfundzwanzig breit. Von oben sieht die Fabrik ungefähr wie eine irdische Hufeisenkrabbe aus. Zum Schutz gegen äußere Einflüsse wird dieses Modell in einen Container gesteckt, von der großen Sorte, aus denen sich das Frachtschiff anfangs zusammensetzt, bis es im Verlauf des Trips einen nach dem anderen an die einzelnen Rematerialisierungszentren abstrahlt. In diesem Fall war im Frachtvertrag ein besonderer Container vorgeschrieben worden, dessen Form sich der Fabrik anpassen mußte. Materi-
al: hochlegierter Stahl bester Qualität, und das in enormer Wandstärke. Jeder Raumfahrer sieht da gleich, daß so ein Container übertrieben ist, mehr Stahl und anderer Aufwand als tatsächlich erforderlich. Aber natürlich, die Ingenieure des Fabrikherstellers hatten den Container vorgeschrieben, und was die davon verstehen, kann man mit der Axt auf einen Mikroschaltkreis schreiben. Leider läßt sich da nichts machen, vorgeschrieben ist vorgeschrieben. Zurück zu unserem Ladungs-Kontroller auf der Idiotenmühle. Nachdem er also alles überprüft und nachgesehen hatte, wie es auf der Liste stand, von den riesigen Elastoholz-Abstützungen über die Pneumomatten. Federverspannungen und Stoßabsorber bis zu den Gummischaumhüllen, stieß er auf die erwähnte Warnung. Die Warnung, seine elektronischen Sonden nicht zu benutzen, und das tat er dann trotzdem. Die Sonden zeigten nichts an, und so setzte er sein O.K. auf die Checkliste. Zur gegebenen Zeit wurde der Container abgestrahlt. Die Kontrolldetektoren zeigten an, daß der Sprung durch den Hyperraum geglückt war. Kein Grund zur Sorge also. Nur eine Kleinigkeit. Der Container ging in den Hyperraum, aber am anderen Ende kam er nicht wieder heraus. Was dabei schief lief, ist nicht schwer zu erraten. Als dieser Kontroller die Warnung in den Wind schlug und trotzdem seine Sonde benutzte, hat er das Unheil förmlich herbeigezerrt. Ganz klar, diese Zauberkünstler vom Fabrikhersteller mußten einen Grund gehabt haben, so eine unlogische Warnung
von sich zu geben. Wenn sie die Benutzung der elektronischen Sonden in der Nähe der Fabrik verboten hatten, dann mußten diese Sonden irgendeine unerwünschte Wirkung haben. Der angegebene Grund stimmte natürlich nicht, also mußte ein anderer Grund existieren. Nun überlege mal: welchen Teil der Fabrik konnten die Sondensignale überhaupt beeinflussen? Mit Sicherheit nicht die Bohr- und Schürfanlagen oder die Schmelzöfen. Aber wie wäre es denn damit: Nach all diesen supergeheimen Vorkehrungen für die übersupergeheime Fernsteuerungseinheit – konnte es nicht sein, daß diese Steuereinheit zufällig, rein zufällig von den Sondenstrahlen beeinflußt werden könnte? Natürlich, so würde das nicht bleiben; Abänderungen, Abschirmungen würden kommen. Aber wenn plötzlich ein heißer Auftrag kam, dann mußte man halt die Fabrik so auf den Weg schicken, wie sie im Augenblick aussah – ohne Abschirmung. Das mußte der Grund für diesen Blödsinn über die neue chemische Beschichtung gegen Schuppviren gewesen sein. Jeder Kontroller mit auch nur einem Nasenloch für kommenden Mist hätte diese Warnung auch so verstanden. Nicht für Geld wäre der mit einer Sonde an diese Fabrik gegangen. Jedoch, wie Du dich erinnerst, unser Kontroller tat genau das. Und wie das Leben nun mal ist, er betätigte damit tatsächlich die Steuereinheit. Die Fabrik fing an zu arbeiten. Nun, Aufgabe der Fabrik war es gewesen, Erz zu gewinnen und zu verhütten und mit den eingebauten Arbeitsgängen Eisen- und Stahlprodukte daraus her-
zustellen. Und die ganzen dreißig Fabrikmeter waren in einem Edelstahlcontainer verpackt. Das Bohrwerk, die Brechmaschinen und die Transportanlagen waren dem erwarteten Rohmaterial angepaßt, also dem Erz. Und Du merkst natürlich gleich, daß ein Erz mit der Härte von Edelstahl die Fabrik vor ein gewisses Problem stellen würde. Und schließlich war die Fabrik so programmiert, daß sie aus eigener Kraft zur nächsten Erzlagerstätte laufen sollte. In diesem Fall aber zeigten die Detektoren der Fabrik an, daß das Erz – also der Edelstahlcontainer – in allen Richtungen zu finden war und die Fabrik vollkommen umhüllte. Offenbar benötigten die Fabrikcomputer einige Zeit, das Problem zu lösen. Und daher schien alles in Ordnung und friedlich zu sein, als Fabrik samt Container im Hyperraum verschwanden. Aber nicht lange danach muß die Fabrik wohl mit der Aufgabe klargekommen sein. Sie entwickelte neue Bohrer und Bohrmaschinen, klammerte sich mit Haftmagneten fest und machte sich an die Arbeit. Im Hyperraum vergeht die Zeit ein bißchen anders. Als dort schließlich der Zeitpunkt kam, zu dem der Container wieder ins normale Kontinuum zurückfallen sollte, war von ihm nicht mehr genug übrig, um das zu bewerkstelligen. Die Fabrik hatte ihn aufgezehrt. Als die Empfangsstation Alarm gab, weil die Fabrik nicht erschienen war, wußte niemand genau, was passiert war. Es sah ganz danach aus, als hätte jemand einen Trick gefunden, wie man eine Ladung aus dem Hyperraum klauen kann. Als erstes bereitete das der Raumwaffe ernsthafte
Kopfzerbrechen – sämtliche Raumsektoren wurden alarmiert. Sicherlich hast Du damals diese halbe Mobilmachung mitgekriegt. Und Du wirst Dich erinnern, daß die Raumflotte den Alarm dann wieder abblies, ohne Angabe von Gründen. Daß sie nicht sagten warum, war verständlich. Sie schämten sich. Sie fanden nämlich die Fabrik, umgeben von riesigen Mengen kleiner metallischer Objekte. Davon gab es zwei Arten. Die eine war ein kleiner Hohlzylinder, dessen eines Ende geschlossen war, während das andere Ende, die Öffnung also, sich nach außen wölbte. Das ganze hatte etwa die Abmessungen eines großen Tintenfasses aus dem Altertum, und außen war an einer Seite ein geschwungener Griff und auf der anderen Seite ein eingravierter kleiner Rosenstrauß. Die zweite Art bestand aus kleinen, etwas gewölbten Scheiben mit einem Knopf auf der Mitte der Wölbung. Millionen dieser Dinger, jedes aus dünnwandigem Gußeisen, hingen wie eine Wolke um die Fabrik. Die Raumwaffe, die ja unter höchster Alarmstufe stand, war anfänglich ziemlich nervös – keiner wußte, wozu diese Dinger fähig waren. Schließlich legte sich das, und man wollte die Fabrik aus dem Weg haben. Ein neuer Container wurde herangeschafft, und keiner wußte, daß die Fabrik nur ein Ziel hatte – auch diesen Container zu verzehren und in weitere Millionen dieser kleinen Scheibchen und Zylinder umzusetzen. Da sich alles im Hyperraum abspielte, war jeder ziemlich durchgedreht, als die Fabrik das nächste Mal wieder auftauchte – natürlich wieder von einer Wolke dieser Objekte umgeben.
In der Zwischenzeit versuchte jeder, der zum Nachdenken Zeit hatte, die Funktion der kleinen gußeisernen Zylinder herauszufinden. Die Scheibchen paßten sauber oben auf die Öffnung, aber was für einen Zweck hatte das? Du kannst Dir vorstellen, wie die sich vorkamen, als ihnen die Wahrheit dämmerte. Die automatische Komplettfabrik, dieses Wunder modernster Technologie, hatte es geschafft, einen teuren Edelstahlcontainer in einen riesigen Haufen zu klein geratener gußeiserner Nachtpötte zu verwandeln. Das Schlimmste war, die Fabrik ließ sich nicht abstellen. Der supergeheime Steuergenerator war damals auf einer anderen Route und von einem Konkurrenzunternehmen verfrachtet worden. Und als dann ein Experte des Herstellers damit auftauchte, stellte sich heraus, daß die sich widersprechenden Befehle – die die Sonden zufällig erteilt hatten – und die Schwierigkeiten bei der Ausführung, nämlich Edelstahl auf Gußeisenqualität zu reduzieren, daß das also in der Fabrik eine »Querulanten-Psychose« ausgelöst hatte. Sie war »nicht ansprechbar« geworden und »pervers«. Mit anderen Worten: Der Experte konnte sie nicht mehr abschalten. Im Gegenteil: Die Fabrik schnappte sich seinen Steuersignal-Generator und machte fünfzehn oder zwanzig kleine Nachtpötte daraus. Und daraufhin traute er sich auch nicht mehr in die Nähe, geschweige denn in die Fabriken, aus Angst, sie würde mit ihm dasselbe machen. Wie Du siehst, Sam, eine Zeitlang war das schon ein toller Zirkus. Nun, unterm Strich kam für jeden, der in unserer
Firma arbeitet, und für einige mehr als für andere, folgendes heraus: Als erstes erhielt die Idiotenmühle ihren Namen, dann wurde sie auf diese Route jenseits von Schlangenhölle versetzt, der Ladungskontroller verschwand plötzlich und spurlos von der Bildfläche, und quer durchs Beet wurden alle Löhne und Gehälter um zehn Prozent gekürzt – das schloß auch den Alten ein, bloß machte es ihm nicht so viel aus wie den anderen. Das letztere, die Gehaltskürzung, wurde erforderlich, weil unsere Gesellschaft den Container bezahlen mußte, den die automatische Fabrik gefressen hatte. Außerdem gab es noch einen großen Knatsch wegen der Fabrik und ihrer Psychose. Schadenersatzforderungen wurden angedroht – doch der Alte machte den Herstellern klar, was für ein beschissenes Image sie davon bekämen. Soweit ist nun alles klar, bis auf die Tatsache, daß die Gehaltskürzung immer noch besteht, obwohl der Container längst bezahlt ist. Was ich Dir mit dieser Geschichte klarmachen will, Sam, ist wie schnell man doch zerquetscht werden kann, wenn auch nur etwas schiefgeht; und außerdem wollte ich Dir einen guten Eindruck von der Gefahr vermitteln, die von diesem Kontroller ausgeht, der so plötzlich verschwand, nachdem die Rekordspritze in Idiotenmühle umbenannt worden war. Wenn es wirklich jemand gibt, der Pech wie ein Magnet anzieht, dann ist das der Mann. Als er bei uns anfing, brachte er natürlich die besten Zeugnisse mit, aber die hatte der Personalchef von den Interstellaren Schnelltransporten ausgestellt, und das sind unsere härtesten Konkurrenten – kapierst Du jetzt? Und jetzt, Sam, zu meinen eigenen kleinen Schwie-
rigkeiten. Wie ich schon eingangs sagte: was Dir dieser Quertreiber eingebrockt hat, das war hart. Aber im Vergleich zu dem, was mir bevorsteht, war das ein Ferienspaziergang. Ich habe Dir, glaube ich, bereits gesagt, wie der Alte seine eigene Art hat, aus einer Ecke herauszukommen, in die man ihn gedrängt hat. Wenn Du noch glaubst, daß er sich auf seinen Computer verläßt, um Gewinne zu optimieren und Verluste so klein wie möglich zu halten, dann habe ich mich bisher noch nicht deutlich genug ausgedrückt. Jedenfalls, um das Geschäft weiter anzukurbeln, unterbietet er jeden rostigen Seelenverkäufer, scheucht uns durch immer weiter verkürzte Flugpläne – und er schnappt sich jedes schäbige Geschäft, ohne jede Rücksicht auf uns. Normalerweise sehen wir uns immer ein bißchen vor, was man uns da als Fracht anbietet. Wie Du selbst weißt, gibt es immer wieder verrückte Zoodirektoren, die unbedingt einen kräftigen – und hungrigen – sechzig Meter großen männlichen Kangbar haben wollen; oder irgendein Forschungsinstitut, das unbedingt hinter das Geheimnis dieser radioaktiven Zusammenballungen immuner Bakterien kommen muß, die sich nach der Explosion auf Cyrene IV gebildet haben. Der Transport, den der Alte diesmal übernommen hat, stank nicht ganz so offensichtlich zum Himmel wie meine beiden Beispiele. Oberflächlich betrachtet lag er gerade noch an der Grenze. Sicher, niemand würde sich damit abgeben, der das Geld nicht dringend benötigte. Aber auf den ersten Blick konnte es so aussehen, als ob man ohne größere Verluste und in einem Stück aus der Geschichte wie-
der herauskäme. Unglücklicherweise, als der Frachtvertrag abgeschlossen wurde, war unser Schiff, der Geölte Blitz, gerade in der Nähe und hatte noch Kapazität frei. Das erste, was ich davon hörte, war als unser Zweiter Offizier, Fuller »der Haken«, hereinkam und mir die Nachricht unter die Nase schob. Ich las: FRACHTVERTRAG ABGESCHLOSSEN FÜR TRANSPORT VON FÜNFZIG BANJO-GEIERN STOP LEBEND STOP ZUM FORSCHUNGSZENTRUM AUF ULTIMA STOP EINZELHEITEN FOLGEN STOP ICH VERLASSE MICH AUF SIE STOP MACHEN SIE UNS KEINE SCHANDE Und unten stand der Name des Alten. »Fünfzig lebende Banjo-Geier«, sagte ich. »Was ist ein Banjo-Geier?« Der Haken hat's zwar nicht mit der Grammatik, aber er versteht seinen Job, und er hat ein ausreichend dickes Fell. »Keine Ahnung«, sagte er mißtrauisch, »aber mir klingt das nicht zu gut. Ich spreche mit dem Kapitän, daß er die Gravitatoren kurzschließt und uns entschuldigt, doch der Kapitän hat Angst, der Alte merkt das.« Pete Snyder, der Dritte Offizier, machte einen Vorschlag. »Vielleicht können wir was a n unserem Kopplungsmechanismus abbrechen. Das Material ist schon halb verschweißt und spröde. Dann müssen wir zurück zur Überholung, und Spucknapf kriegt die Ladung.«
»Hat keinen Zweck«, sagte der Haken. »Das Ultima-Forschungszentrum schickt seinen eigenen Spezialcontainer, und der wird nicht normal angekoppelt. Der wird mit Kabeln und Abstandstützen festgemacht.« Die nächste halbe Stunde sitzen wir da und brüten über dem, wie wir uns am besten drücken können. Aber es gab keinen Ausweg, und zur festgesetzten Zeit tauchten wir über einem Pionierplaneten auf, der im Sternatlas »Rastor III« hieß und den die wackeren Pioniere »Armut« nannten. Der Spezialcontainer war auch bereits eingetroffen – auch diese Ausrede war uns genommen. Der Haken, der Kapitän und ich machten noch einen letzten Versuch. Vielleicht kannte Barton, der Ladungs-Kontroller, noch einen Trick. »Hör mal zu«, sagte der Käpt'n zu ihm. »Ich bin auf diese Fracht gar nicht scharf. Zwischen hier und dem Abstrahlpunkt stehen uns ein halbes Dutzend Hyperraum-Sprünge bevor, und einer davon bringt uns wahrscheinlich eine neue Route jenseits von Schlangenhölle ein. Wir müssen die Sprünge mit einem festgezurrten Container machen. Wir müssen auf dem ganzen Trip Kinderschwestern für fünfzig ausgewachsene Riesenvögel spielen. Und nicht nur, daß wir die Biester jetzt beim Start überprüfen müssen, wir müssen die ganze Prozedur auch noch vor jedem Sprung wiederholen. Dazu kommt noch, daß wir hierzu nicht einfach über den Korridor laufen können, dieser Container nämlich läßt sich nicht ankoppeln. Er wird vertäut. Schlimmer: Die Abstandstützen sind so lang, daß der Korridor auch in ausgefahrenem Zustand nicht bis hin reicht. Es gibt keine andere
Möglichkeit vom Schiff zum Container, als die Raumanzüge anzulegen. Mit einem Wort, Barton – der Job stinkt. Hast du nicht etwas, irgend etwas an diesem Container gefunden, was sich beanstanden ließe?« »Sir«, sagte Barton, »ich habe den Container nach allen Regeln der Kunst und den verstaubtesten Bestimmungen überprüft. Das ist der beste, sicherste und sauberste Container, den ich seit Jahren gesehen habe.« »Schuppviren?« »Nicht die Spur. Außerdem wäre das für diesen Trip nicht ausschlaggebend.« »Warum nicht?« »Wir müssen die Vögel abliefern, nicht den Rest. Schuppviren gehen nicht an Vögel. Außerdem gibt's keine.« »Und wie steht's mit all diesen komischen Apparaten für das Narkosesystem, das die Geier einschläfern soll? Irgendwelche schwachen Stellen?« »Nichts was mir aufgefallen wäre. Außerdem läuft alles davon auf Garantie.« »Das heißt nicht, daß keine Schäden auftreten können.« »Nein, das nicht. Aber es heißt, daß wir Schadenersatz bekommen, wenn das Zeug ausfällt. Außerdem kann ich nichts finden, was einen solchen Schadensfall erwarten ließe. Wir können nur auf eines hoffen.« »Und das wäre?« »Wenn der Sprunggenerator des Containers mit unserem nicht ganz genau in Phase ist, können wir das Risiko ablehnen.« »So ein Mist. Das haben wir schon überprüft.« »Dann müssen wir die Fracht übernehmen.«
Der Haken und ich bestürmten Barton, und der Kapitän unterstützte uns, aber er ließ sich nicht beirren. Und ehe wir es uns versahen, holten wir schon im Fährbetrieb die Banjo-Geier vom Planeten hoch und verluden sie in den Container, wo eigentlich jeder Vogel auf seine eigene Liege geschnallt werden sollte, um einen Narkoseschlauch über seine Nasenlöcher gezogen zu bekommen. Das sagt sich so leicht, du mußt aber folgendes berücksichtigen: Jedes dieser Biester ist über einen Meter groß; wiegt etwa sechzig Pfund; hat ein paar kräftige Schwingen, die mit scharfen Haken ausgerüstet sind; verfügt hinten an jedem Bein über fünfundzwanzig Zentimeter lange Sporen; und schließlich hat so ein Vogel ja auch noch Klauen, und was für welche. Du kannst Dir vorstellen, daß wir unsere helle Freude hatten, bis die Bestien sich hinlegten und narkotisieren ließen. Aber das beste am ganzen Geier habe ich noch gar nicht erwähnt. Das ist der Schnabel. Im ganzen Universum haben Vögel, die im großen und ganzen so gebaut sind, einen kurzen, schweren, krummen Schnabel. Bloß diese nicht. Diese haben gerade, schmale Schnäbel, rund sechzig Zentimeter lang, und an der Spitze sind sie nadelscharf. Die Männchen benutzen ihren Schnabel wie ein Rapier, und zu den Erfahrungen, die ich meinem ärgsten Feind gönne, gehört es, sich mit so einem männlichen Geier auseinanderzusetzen. Ach, fast hätte ich noch etwas vergessen. Die gelben Daunenfedern der Männchen – unter Daunen stelle ich mir was anderes vor – bestehen aus unzähligen kleinen Widerhaken, die abbrechen, nachdem Du sie Dir in die Haut gestochen hast. Dort
bohren sie sich tiefer und fangen an zu eitern. Die Kolonisten lieferten die Vögel in einem Ledersack an, nur der Kopf guckte 'raus, aber der Schnabel war zugebunden und zur Sicherheit die Füße im Sack auch. Wir bekamen die Vögel also verhältnismäßig einfach in die Raumfähre und in den Container. Unglücklicherweise gab es keine andere Möglichkeit, das Viehzeug auf die jeweilige persönliche Couch zu schnallen, als es aus den Ledersäcken herauszuholen. Einmal draußen, waren die Flügel frei. Und damit ging's erst richtig los. Ich weiß, ich weiß. Du könntest fragen, warum wir die nicht vorher schon narkotisiert haben. Nun, das Narkosegas sollte die Banjo-Geier ja nur in einer Art leichten Dämmerzustands halten, für den größten Teil der Reise. Das war ein ganz mildes, langsam wirkendes Zeug und fing erst an zu wirken, wenn die Maske mindestens fünf Minuten lang fest an beiden Nasenlöchern anlag. Doch um die Köpfe still zu halten, mußte man die Geier erst einmal anschnallen. Und um sie anzuschnallen, mußte man sie aus den Ledersäcken holen. Und damit bekamen sie die Flügel frei. Gut. Das erste, was ein solcher Vogel mit seinen freien Flügeln machte, war sich die Binde vom Schnabel zu reißen. Mit dieser Waffe beherrschte er dann einen Umkreis von dreihundertsechzig Grad und fast zwei Metern Durchmesser. Wenn ein Banjo-Geier mit seinem Schnabel nach etwas sticht dann legt er seine ganze Kraft genau in Richtung der Spitze. Der Schnabel geht dann durch einen Norm-Raumanzug, durch das Bein des Mannes, der im Raumanzug steckt, und auf der anderen
Seite kommt er aus dem Raumanzug wieder heraus. Wir haben das durch eigene Erfahrung herausgefunden. Das einzige, was einen solchen Geier noch zurückhielt, waren die festverknoteten Riemen um die Beine. Er hatte nicht die Kraft, diese Riemen zu zerreißen, und der Schnabel eignete sich nur zum Stoßen, nicht zum Zerreißen. Immerhin, der Vogel konnte wenigstens ein bißchen herumhopsen – nur bei der geringen künstlichen Schwerkraft in dem Container war das mehr als genug. Na ja, Du ahnst schon, was passierte. Eins kam zum anderen, und einige unsrer Männer, die vor den Schnabelhieben zurücksprangen, ließen ihre Ledersäcke los. Das verschaffte noch ein paar mehr Geiern die Freiheit. Wir fanden bald heraus, daß die Vögel mit ihren Schnäbeln nicht nur auf uns einstachen, sondern sich auch gegenseitig bekämpften. Die Männchen organisieren eine Art Fechtmeisterschaft, stolzieren herum und versuchten, sich gegenseitig den Garaus zu machen, während die Weibchen zirpende Geräusche von sich gaben und heimlich jedes andere Weibchen in der Nähe mit kräftigen Tritten bedachten. Dummerweise lautete unser Vertrag auf fünfzig lebende Vögel, wir konnten also nicht zusehen, wie sie sich gegenseitig umbrachten. Allerdings hatten wir ein kleines Handikap, an das wir nicht im Traum gedacht hätten. Was die Männchen nämlich zum Kampf anregt, ist offenbar die gelbe Farbe der Daunen, oder wie die Federn nun heißen, bei den anderen Männchen. Die Weibchen haben, wie wir feststellten, Daunen von ei-
ner mehr gedeckten Sandfarbe. Unglücklicherweise sind unsere Raumanzüge grellgelb, aus Sicherheitsgründen. Wir hatten die Raumanzüge angelegt, um diese Vögel um so sicherer in den Griff zu bekommen. Das war ein Irrtum gewesen. Da mir nicht die Worte kommen, mit denen ich die Szene in diesem Container richtig beschreiben könnte, laß mich nur sagen, Sam, daß in der ersten halben Stunde oder so die Vögel die Herren der Situation waren. Schließlich schaffte es einer von uns, eine Sekunde lang nachdenken zu können, ohne flüchten und ausweichen zu müssen. Und da kam ihm die Idee, daß sich aus der Angewohnheit der Vögel, auf alles Gelbe loszustechen, etwas machen lassen müßte. Nach etwa einer Stunde steckte ein gutes Dutzend Banjo-Männchen mit den Schnäbeln in einem dicken Brett, etwas mehr als einen halben mal einen Meter groß, das wir im Abstellraum gefunden und gelb angemalt hatten. Ich muß sagen, diese Geier waren jetzt ganz schön friedlich. Bloß – uns fiel ein, daß wir sie jetzt immer noch nicht da hatten, wo sie hin sollten. Und als erstes mußten wir ihre Schnäbel irgendwie wieder aus dem Brett herausbekommen. Wie sich herausstellte, hatten wir uns da auf eine langwierige und delikate Sache eingelassen, wir konnten ja nicht einen Hammer nehmen und auf der anderen Seite auf die Schnabelspitzen hauen. Als wir schließlich soweit waren, hätten wir immer noch Schwierigkeiten gehabt, wenn wir nicht inzwischen unsere Raumanzüge in genau der Sandfarbe angestrichen hätten, die die Daunen der Weibchen auch hatten. Die Männchen waren uns gegenüber von da an
sehr freundlich und ließen sich festschnallen. Nur, wenn wir jetzt auch die Weibchen auf ihre Liegen bekommen wollten, mußten wir uns entweder wieder gelb anmalen – oder uns zusammentreten lassen. Die Banjo-Weibchen kämpfen nicht mit den Schnäbeln. Sie verfügen statt dessen über große keulenartige Sporen – und sie benutzen diese ohne Hemmungen. Bis wir alles fertig hatten, waren wir nicht mehr wiederzuerkennen. Stichwunden, Blutergüsse, Schweiß, braune Farbe, gelbe Farbe, und entzündete Beulen dort, wo die Daunen ihre Widerhaken gelassen hatten – wir waren ein trauriger Haufen. Unser Schiffsarzt befürchtete, die Stichwunden könnten sich infizieren. Seine Gegenmaßnahmen bestanden darin, mit einem Jodbausch bis unten in die Wunde zu fahren. Wir hatten also noch nicht alles überstanden, nachdem die Vögel mit uns fertig waren. Fast so miserabel wie da habe ich mich manchmal am Ende eines unserer Frachttrips gefühlt, Sam, aber nie am Anfang. »Tja«, sagte der Kapitän, der auf dem Rücken in einer Schweißlache lag, während der Arzt seine Tasche schloß, »dieses war der erste Streich. Kinder, das eine sage ich euch, wenn die anderen auch alle so ausfallen, dann gebe ich mein Patent zurück und werde Rentner.« Wir nahmen selbstverständlich an, daß er sich nur abreagieren wollte, und außerdem hatte er so unrecht auch wieder nicht. Haken Fuller befühlte vorsichtig eine blaurote Beule an seiner Wade. »Ich glaube, wir haben uns übern Berg gemacht. Schließlich haben wir die Vögel
jetzt gefesselt.« »Ich hasse Lebendfracht«, knurrte der Käpt'n, als hätte er nicht zugehört, »und ganz besonders hasse ich es, für einen Zoo, ein Museum oder für ein Forschungsinstitut zu arbeiten.« »Wieso das?« fragte ich, und er deutete auf eine Kopie des Frachtvertrags, die oben auf seinem Spind lag. »Reicht mir das Ding 'runter, und ich erklär's euch. Ich wollte nicht darüber sprechen, ehe wir den Anfang hinter uns hatten.« Er faltete die Papiere auseinander, suchte eine Stelle, und las dann laut vor: »Das erstgenannte Transportunternehmen verpflichtet sich hiermit, als zusätzliche Leistung, aus dem gebundenen Zustand zu befreien und individuell mit Nahrung und Bewegung zu versorgen, einmal in jeder terranischen achtundvierzig StundenPeriode, jede und jegliche vorgenannte Einheit des Lebendfrachtguts, wie oben beschrieben. Die Fütterungs- und Bewegungsperiode für jede individuelle Einheit soll nicht weniger als vierzig terranische Standardminuten und nicht mehr als achtzig terranische Standardminuten dauern.« Der Haken klatschte sich die flache Hand an die Stirn, und ich sank kraftlos gegen das Schott. »Wir haben fünfzig Stück«, sagte der Kapitän. »Wenn wir jeden einzelnen Banjo-Geier vierzig Minuten lang alle achtundvierzig Stunden füttern und ihm Bewegungsfreiheit verschaffen, dann müssen wir rund um die Uhr arbeiten. Zu den vierzig Minuten kommt nämlich noch die Zeit, die wir zum Aufwekken brauchen, und die Zeit, die es uns kostet, das
Vieh hinterher wieder anzuschnallen.« »Und warum«, sagte der Haken mit einem Gesicht, als wäre ihm schlecht, »warum können wir diesen Passus im Vertrag nicht einfach übersehen?« »Weil dann«, knurrte der Käpt'n, »die Vögel sterben, weil dann der Frachtvertrag nicht erfüllt wird, und weil dann der Alte mit dem Hammer hinter uns herjagt.« Uns blieb also nichts anderes übrig, als gute Miene zum bitterbösen Spiel zu machen. Bevor wir die halbe Strecke zurückgelegt hatten, fragte ich mich ernsthaft, ob alles, was uns der Alte antun konnte, je so schlimm werden würde wie das, was wir mit den Vögeln durchmachten. Zum einen, es waren einfach zu viel. Wir brauchten mindestens eine Stunde, bis wir einen Vogel losgeschnallt, aufgeweckt, gefüttert laufengelassen, angeschnallt und narkotisiert hatten. Zum anderen, bei dieser Stunde blieb es nur, wenn zwischendurch nichts schief ging. Doch das war die Ausnahme. In neun von zehn Fällen griff der Geier einen anderen schlafenden Vogel an; oder er rammte seinen Schnabel in den Mann, der ihn betreute; oder er sprang in die Luft und knallte entweder dem Mann oder einem auf dem Rücken liegenden Geier die Sporen um die Ohren. Beide Sporen. Nach kurzer Zeit lagen wir alle entweder in der Krankenstation, oder wir kamen gerade auf unsicheren Beinen wieder heraus. Wenn diese Vögel wenigstens im Lauf der Zeit ein bißchen schwächer geworden wären oder nachgiebiger, dann hätten wir's vielleicht ausgehalten. Statt dessen wurden sie immer bösartiger. Wenn wir eine Ermüdungstaktik gehabt
hätten, dann wäre jedenfalls die der Vögel besser als unsere gewesen. Und wegen der scharfen Konventionalstrafen im Frachtvertrag durften wir keine ernsthafte Verletzung eines dieser kostbaren Tierchen riskieren. Der Grund für den ganzen Transport, so hatte man dem Kapitän erläutert, war der, daß die Kolonisten auf dem Planeten herausgefunden hatten, daß die rohe oder gekochte Geierleber eßbar war. Natürlich versuchten die Pioniere alles, was sie in die Finger bekamen, auf seine Eßbarkeit zu untersuchen. Und sie stellten fest, daß sie nach dem Genuß der Leber sich ungeheuer wohl fühlten und auch von außen gesehen einen durchaus gesunden Eindruck machten. Nach etwa einer Woche verschwand die Euphorie, und die Feinschmecker wurden arg müde. Abgesehen von diesem Schlafbedürfnis, das während der folgenden zwei oder drei Nächte die Siedler zwischen zwölf und vierzehn Stunden schnarchen ließ, stellten sich keine üblen Nebenwirkungen ein. Wenn sie die Leber wieder aßen, wiederholte sich alles und wieder ohne sichtbare Nachteile. Das Forschungsinstitut auf Ultima befaßte sich mit Ernährungsfragen und wollte natürlich wissen, was hinter den Erscheinungen steckte. Das Vernünftigste wäre natürlich gewesen, auf dem Kolonialplaneten die Vögel zu schlachten, ihre Leber tiefzufrieren und nur diese dann nach Ultima zu schicken. Doch die Wissenschaftler im Forschungszentrum hatten herausgefunden, daß man leichter einen großen Haufen Geld für ein großes Projekt genehmigt kriegt als eine bescheidene Summe für ein bescheidenes Unternehmen. Also stiegen sie
groß ein. Für die Wissenschaftler war das großartig, aber uns machte es fertig. In der Pause nach dem fünften Sprung, als bereits die Vorbereitungen für den vorletzten Sprung liefen, geschah etwas mit Barton, unserem Kontroller. Er hatte gerade seine Überprüfung beendet, als ein männlicher Vogel auf seinem Rundgang an ihm vorbeikam. Der Geier sah die Unterseite der Klappe über der Tasche, in der Barton gerade sein Notizbuch unterbrachte. Diese Unterseite war gelb. Der Vogel fuhr mit seinem nadelspitzen Schnabel herum und stach zu. Der Schnabel fuhr Barton links oben in den Unterleib, im schrägen Winkel nach oben, und kam hinten recht wieder heraus. Barton brach zusammen. Der Mann, der den Vogel herumführte, hätte ihm fast den Hals umgedreht, aber das ging natürlich nicht, sonst hätten wir eine dicke Vertragsstrafe zahlen müssen. Der Schiffsarzt sagte, er könnte höchstens Bartons Schmerzen etwas lindern, doch ansonsten müßte Barton auf dem schnellsten Weg ins Krankenhaus. Glücklicherweise befand sich ein Kolonistenplanet in der Nähe, unglücklicherweise gab es dort aber kein Krankenhaus. Ein Schlachtschiff der Raumwaffe meldete sich auf unseren Notruf hin, und die verfügten über eine erforderliche Ausrüstung. Ein eifriger Sanitätsoberst untersuchte Barton, dann ließ er ihn aufs Schlachtschiff transportieren und sagte, mit der richtigen Behandlung und viel Ruhe würde es wohl wieder werden. Das letzte, was wir von Barton sahen, war sein Gesicht unter dem Laken, als er auf der
Tragbahre in die Schleuse gebracht wurde. Er lächelte erleichtert. Natürlich waren wir froh, daß Barton durchkommen würde. Aber jetzt hatten wir keinen Kontroller mehr. Und nach den Bestimmungen des Frachtvertrags mußte ein amtlich geprüfter Ladungskontroller die Fracht vor jedem einzelnen Hypersprung nachsehen und ihre Unversehrtheit bestätigen, andernfalls würde die massive Konventionalstrafe den ganzen Gewinn dieser Fahrt aufzehren. Schlimm genug, aber damit fing es erst an. Als nächstes teilte uns der Kapitän mit, daß er drei Tage zuvor seine dreißig Jahre Raumdienst hinter sich gebracht hatte und nun den Dienst quittierte. Er verwies auf eine Bestimmung, die dem in den Ruhestand tretenden Kapitän eines Schiffes das Recht zusprach, unverzüglich auf einem nahegelegenen Planeten seiner Wahl abgesetzt zu werden, mit einer ausreichenden Menge von Gütern des täglichen Bedarfs. Seine Wahl fiel auf den idyllischen Kolonistenplaneten, den wir gerade aufgesucht hatten. Wir versuchten alles, aber er ließ sich nicht überreden. »Nein, Kinder, ich setze mich noch als Kapitän des Geölten Blitz zur Ruhe. Ich wäre doch nicht mehr zu retten, wenn ich weitermachen würde, um dann als Kapitän eines Fliegenden Mülleimers, einer Narrenkutsche oder einer Kretinfarm in Pension zu gehen.« Nun, wir konnten es ihm nur allzugut nachfühlen, und nachdem wir ihm vergeblich das Ohr abgeschwätzt hatten, blieb uns nichts übrig, als ihn gehen zu lassen. Das machte mich natürlich zum kommissarischen
Kapitän, Fuller der Haken wurde Erster Offizier und so die Reihe hinunter. Nur passierte uns das auf einem Schiff, wo eine derartige Beförderung nicht ganz das richtige erhebende Gefühl vermittelte. Ich hätte mich besser gefühlt, wenn ich auf einem Schiff Kapitän geworden wäre, das steuerlos in eine Sonne rasen würde. Da Barton als letzte Tat die Ladung noch überprüft hatte, konnten wir noch genau einen Hypersprung machen. Bis zum Abschluß des Transports waren jedoch zwei Sprünge erforderlich. Der Haken sagte glaubwürdig: »Ich wünschte, ich hätte auch meine dreißig Dienstjahre hinter mir.« Ich nickte trübselig. »Kann ich dir nachfühlen.« »Was machen wir jetzt?« »Mir fällt nichts anderes ein, als den Alten in einer dringenden Meldung um Hilfe zu bitten.« Der Haken schnaufte verächtlich. »Wie könnte der uns schon helfen? Der macht uns höchstens für den Schlamassel verantwortlich.« »Auch Ladungskontrolleur gehen mal in Pension, aber ihre Lizenzen bleiben in Kraft. Wenn der Alte seinen Einfluß geltend macht, kriegt er vielleicht den Kolonisierungsrat oder die Kolonistenvereinigung dazu, ihre gespeicherten Karteien durchzusehen. Auf einem der Planeten in der Nähe sitzt womöglich ein Kontroller im Ruhestand.« Ohne eigentliche Hoffnung warteten wir auf Antwort und beschäftigten uns inzwischen damit, den Vögeln Nahrung und Bewegung zu verschaffen. Die Vögel wurden täglich bösartiger und hinterhältiger. Da wir nun in der Abwehr ihrer Stiche und Tritte ziemliche Übung besaßen, fingen sie nun an, uns mit
der Flügelunterseite zu traktieren. Auf den ersten Blick scheint das gar nicht so schlimm, zumal die Flügel so ziemlich der einzige Körperteil sind, wo den Biestern wirkliche echte Federn wachsen. Nur, längs dem äußeren Rand der Flügelunterseite wachsen ein paar Reihen Federn, die verkümmert sind. Verkümmert zu etwas wie lange scharfe Häkelnadeln mit vielen Haken. Das sind nicht etwa die Widerhaken, die ich früher erwähnt habe, die kommen noch hinzu. Inzwischen trugen wir alle die eine oder andere Art Panzerung unter unseren Raumanzügen, immer in der Furcht, die Vögel könnten sich den Schnabel daran verbiegen und damit zu »beschädigten Exemplaren« werden, was eine weitere Vertragsstrafe gekostet hätte. Als diese Geschichte mit den Flügelschlägen aufkam, als ob wir nicht genug andere Sorgen hätten, standen wir kurz vor dem Zusammenbruch. Dann aber, zu unserem Erstaunen, erhielten wir vom Alten diese Meldung: VOR KURZEM ZUR RUHE GESETZTER LADUNGS-KONTROLLER BEFINDET SICH AUF DER HÖLLE STOP DAS IST DER KOLONISTENNAME FÜR DIESEN PLANETEN STOP IM ATLAS UNTER CASADILLA II ZU FINDEN STOP KEIN UMWEG ERFORDERLICH DIE HÖLLE BEFINDET SICH DICHT BEI IHREM NÄCHSTEN SPRUNGPUNKT STOP VERLIEREN SIE KEINE ZEIT UND BIETET BONUS AN ODER ENTFÜHRT KONTROLLER STOP JEDER KOLONIST SOLLTE FROH SEIN DORT WEGZUKOMMEN WEGEN DES KLIMAS STOP KONTROLLER SOLL SICH IN DER EINZIGEN
STADT DES PLANETEN NIEDERGELASSEN HABEN STOP STADT HAT FÜNFHUNDERT EINWOHNER UND EIN ZENTRUM FÜR ÜBERLEBENSTRAINING DER RAUMWAFFE STOP NAME DER STADT IST SALZSCHWEISS STOP KONTROLLER HEISST JONES STOP HOLT IHN ENDLICH UND VERSCHWENDET NICHT NOCH MEHR ZEIT Wir lasen uns das ein paarmal durch und führten unseren vorletzten Sprung durch. Der Hypersprung verlief normal, und auch sonst hatten wir keinerlei Schwierigkeiten. Das Raumwaffenzentrum half uns, Jones zu finden. Jones war froh, den Planeten verlassen zu können. Er erklärte sich sofort bereit, seinen Ruhestand aufzugeben und bei uns zum Standardgehalt anzuheuern. Wir hatten einen solchen Dusel gehabt, daß uns der Kopf schwamm. Doch irgend etwas machte mich mißtrauisch. Nach allem, was wir durchgemacht hatten, sollte es jetzt so einfach sein? Als dieser Ladungskontroller an Bord kam, in einer Haltung wie ein geprügelter Hund und ohne uns in die Augen sehen zu wollen, schlug bei mir eine Alarmglocke an. Der Kerl hatte so eine verseichte Dynamik an sich – wie jemand, der aus Mangel an Methodik den größten Mist baut und dann versucht, mit übereilten einsamen Entschlüssen aus dem Dreck wieder herauszukommen. Seine Antworten kamen ohne Nachdenken, und manchmal beantwortete er eine Frage schon, noch ehe sie fertig gestellt war. Vermutlich sollte das seine brillante Intelligenz zeigen, aber da er stets auf die falschen Fragen tippte,
war der Effekt nicht eben überwältigend. Nachdem wir ihn aus dem Kontrollraum geschickt hatten, warf Fuller einen Blick in seine Unterlagen. Er fing an zu fluchen. »Das ist dieselbe Tüte, die der Idiotenmühle das eingebrockt hat! Daraufhin hat ihm der Alte die besten Zeugnisse ausgestellt, und er hat bei der KometRaumfracht angeheuert.« Pete Snyder richtete sich auf. »Ich habe mich schon immer gefragt, was bei denen damals los war! Erinnert Ihr euch an diese Doppelkatastrophe und die Explosion?« »Ohhh«, sagte der Haken. »Und dann?« fragte ich, nervös geworden. »Wie gehabt. Komet-Raumfracht gab ihm ein hervorragendes Zeugnis, und er ging zu den WeltallSondertransporten. Mit denen machte er einen Trip mit, und hier steht, daß er freiwillig in den vorzeitigen Ruhestand trat.« »Freiwillig in den vorzeitigen Ruhestand?« »So steht es hier.« Davon hatte ich bisher noch nie etwas gehört. Allerdings weiß jeder, daß die Mannschaften der Weltall-Sondertransporte ein rauhes Volk sind. Du weißt ja, Sam, was man sich so erzählt und daß auf jedem ihrer Frachter an die fünfzig Jahre Zuchthaus wegen Körperverletzung mitfliegen. »Komisch, daß der Alte ihm das nicht besorgt hat.« »Für den Alten waren damals die Komet-Leute Staatsfeind Nummer eins. Heute sind sie's nicht mehr.« »Aber heute«, sagte ich, »haben wir ihn.« »Du meine Güte, ja. Den haben wir jetzt.«
Wie ich schon zu Anfang meines Briefes gesagt habe, Sam – D u hast gewiß eine harte Zeit mit diesem Quertreiber gehabt – aber ich bin in viel größerer Gefahr. Wie ich die Lage sehe, bleiben mir nur vier Möglichkeiten: 1. Dieser Kontroller wird Tag und Nacht, auf Schritt und Tritt bewacht, und im übrigen folgen wir unserem Flugplan. Bloß, wenn Du einen solchen Menschen an Bord hast, passieren meistens Dinge, an die Du nicht im Traum denken würdest. 2. Wir schicken ihn postlagernd nach Casadilla II zurück, noch ehe er Unheil stiften kann. Dann machen wir uns ohne Ladungs-Kontroller auf den Weg, zahlen die hohe Strafe dafür und lassen uns vom Alten in der Luft zerreißen. 3. Ich breche meinen eigenen Anstellungsvertrag, verzichte auf das Gehalt für diesen Trip und lasse mich auf Casadilla II nieder. Was das bedeutet, ist ziemlich klar, nach dem Namen, den die Siedler ihrem Planeten gegeben haben. 4. Wir entscheiden uns für die Piratenlaufbahn. Ich weiß nicht, Sam, was Du in meiner Lage getan hättest, aber nach langem Nachdenken habe ich mich für folgenden Weg entschieden: Der Kerl wird schwer bewacht im sichersten Raum des Schiffs eingeschlossen, bis der letzte Sprung bevorsteht. Dann lassen wir ihn unter strengsten Sicherheitsmaßnahmen gerade lange genug heraus, damit er seine Inspektion machen kann und das auch bestätigt, und dann wird er wieder eingeschlossen. Auf diese Weise sollte er eigentlich nicht allzuviel anstellen können. Nach diesem letzten Sprung durch den Hyperraum strahlen wir unseren Container ab, und ein Nahver-
kehrsfrachter nimmt ihn auf und bringt ihn das letzte Stück nach Ultima. Wir nehmen den gleichen Weg zurück, den wir gekommen sind, und wenn wir hier vorbeikommen, lassen wir unseren Freund mal wieder »freiwillig« in den Ruhestand gehen. Und dann lassen wir uns überholen. Junge, haben wir 'ne Überholung nötig! So, Sam, und jetzt tue ich folgendes: Ich deponiere diesen Brief hier mit dem Auftrag, ihn zurückzuhalten, bis ich wieder auf dem Rückweg vorbeikomme. Nur wenn dem Geölten Blitz irgend etwas zustößt, oder wenn wir plötzlich von der Bildfläche verschwinden und eine ganze Zeit nicht wieder zum Vorschein kommen, soll der Brief an Dich abgeschickt werden. Wenn wir dagegen in einem Stück zurückkommen, fahre ich an dieser Stelle dann weiter fort und berichte Dir, was inzwischen sich alles zugetragen hat. Du wirst also daran, daß mein Brief hier aufhört oder nicht, gleich erkennen, ob wir's geschafft haben oder ob auch uns eine dieser unglaublichen Katastrophen erwischt hat. Ich glaube nicht, daß uns dieser Ladungskontroller viel antun kann, wenn wir ihn Tag und Nacht bewachen. Aber man kann nie wissen. Wie gesagt, Sam, das hier ist schon eine schöne Scheiße. Mit herzlichen Grüßen, wie immer Dein Albert. Originaltitel: BILL FOR DELIVERY
William F. Temple EIN PLATZ IN DER ZEIT Diesmal sollte es ein Maler sein. Meine Art von Maler. Mein Geschmack ist nicht einseitig festgelegt, aber ich unterdrücke meine persönlichen Neigungen nicht. Musik, Literatur, Dichtkunst, Theater, Bildhauerei, Architektur: alles Treppen für meine Seele. Alles Pfade den Hang des Parnaß hinauf. Doch für mich hat der Gipfel nur eine Bedeutung – jene gewisse meisterliche Anordnung der Farben, von Licht und Schatten, die zum innersten Frohlocken aufrührt. Diesmal mußte es Van Gogh sein. Bei den anderen gab es oft Zweifel bei der Wahl des richtigen Augenblicks. Vincents Augenblick war für mich persönlich die Vollendung seines Meisterwerks, das »Gelbe Haus«. Für meinen Dienstherren – das Historische Institut der Universität, Abteilung A. E. (aktive Ermutigung) – lag der Augenblick in Van Goghs früher Periode größter Enttäuschung, in der Borinage. Der Kirchenrat hatte befunden, er sei als Prediger höchst unbefriedigend, und hatte ihn entlassen. Er wußte nicht mehr, welchen Weg er einschlagen sollte. Da besuchte ich ihn. Kurz darauf schrieb er seinem Bruder Theo: »Ich beschloß, den Stift zu nehmen und wieder mit dem Zeichnen zu beginnen, und von diesem Augenblick an sah alles anders aus.«
Damals war er siebenundzwanzig. Und ich war der Mann jenes »Augenblicks«, denn das ist mein Beruf: Ich bin ein HEIMSUCHER. Das ist eine verantwortungsvolle Arbeit, und die Anspannung, zur rechten Zeit das rechte Wort zu finden, spielt den Nerven schon ein wenig mit. Deshalb gestattet mir die Universität, die zuweilen Verständnis aufbringt – nicht immer –, hin und wieder eine außerplanmäßige Reise, nur so zur Erholung. Einen kleinen Urlaub. Und diesen Urlaub wollte ich einen Maler sehen. Meine Art Maler. Ich entschied mich dafür, Vincent acht Jahre nach der Borinage aufzusuchen – acht Jahre seiner Zeit, natürlich. An einem Tag, da die Farbe auf der Leinwand des »Gelben Hauses« noch feucht war ... In meiner Erregung versteuerte ich mich und setzte die Chronokabine mitten in den Rasen des Place Lamartine. Es war jedoch niemand in der Nähe, der hätte beobachten können, wie ich aus dem Nichts auftauchte. Wie immer war ich kostümiert. Dieses Mal spielte ich einen französischen Arbeiter aus der Landwirtschaft. Gesicht und Arme hatte ich mit Walnußsaft braun gefärbt. Man soll nie die Aufmerksamkeit der eingeborenen Bevölkerung erregen. Und da stand es, an der Ecke. Das gelbe Haus selbst, mit der grünen Tür. Die Sonne war darübergegossen, doch das Gelb war hart, ohne die Honigwärme aus Vincents Pinsel. Der Himmel stand darüber in reinem Kobalt, es fehlte der beigemischte Zauber des Schwarz, das er in seinen Himmel hineingearbeitet hatte. Nur ein Meister kann der Natur zeigen, wie sie
aussehen sollte. Weiter fort, zur Rechten, das glitzernde Café de Nuit – angestaubt, angenagt, prosaisch im Licht der Normalität. Und da, die beiden Eisenbahnbrücken, und gerade fuhr – welch rechtzeitiges Geschenk der Zeit! – über die nächstgelegene ein bummelnder, schneckenschwarzer, rauchender und puffender Zug. Das Herz weit geöffnet für jede kostbare Nuance des Lebens, schritt ich langsam über das braune Gras. Dieses Mal mußte ich nicht erklären, daß ich ein HEIMSUCHER sei. Es fällt mir nie leicht, und ich genoß es, diesmal entspannt meine Rolle zu spielen. Vor Vincent Van Gogh lagen noch zwei Jahre – die schrecklichen Jahre –, und ich konnte daran nichts mehr ändern. Die Krankheit hatte bereits tief in seinem Hirn Wurzel gefaßt. Mein Französisch war besser als das seine, und er akzeptierte mich in meiner Rolle. Zugegeben, ein seltsamer Typ: ein landwirtschaftlicher Arbeiter, der etwas von der Malerei und ihrer Technik verstand. Doch Vincent wohnte bereits in einer Phantasiewelt, und für ihn wurde ich einfach zu einem Teil davon. Bei meinem ersten Besuch hatte es mehr Schwierigkeiten gegeben. Man hatte ihm übel mitgespielt. Er war argwöhnisch und hielt mich für einen Agenten des Evangelischen Komitees. Ich besaß schon damals eine ganz gute Sprachfertigkeit, Holländisch jedoch gehörte nicht zu meinen starken Seiten. Er hatte in England als Lehrer gearbeitet – und gepredigt –, und somit verständigten wir uns damals auf englisch. Und damals nahm ich ihn mit nach England – in der Chronokabine. London 1948, im tiefen Winter. Ein dunkler, grauer
Tag an der dunklen, grauen Themse. Unaufhörlicher Nieselregen aus morastigem Himmel. Wir kamen hinter einer Telefonzelle in einer Seitenstraße an, und die Zelle war der einzige sichtbare Farbklecks. Ich führte ihn um die Straßenecke, und dort, auf dem Gehweg stand eine Schlange von mehr als tausend Menschen, die geduldig im Regen warteten. Langsam schob sich die Menge zum Eingang der Tate Gallery vor. Und während die vordersten in dem großen Gebäude verschwanden, schlossen sich andere der Schlange neu an und hielten ihre Länge konstant. »So«, sagte ich zu ihm, »so geht das schon den ganzen Tag. Und gestern war es ebenso. Und morgen, und Tag für Tag, setzt sich das fort. Tausend Menschen in jeder Stunde, Stunde um Stunde. Alle Besucherrekorde für je eine Ausstellung sind schon lange gebrochen. Diese Menschen, gebeugt und müde nach einem langen Krieg, hungern nach Sonne und Farbe. Sie drängen sich hier zusammen, um ihre Seele mit dem Werk eines großen Meisters zu sättigen.« »Rembrandt?« tippte er, in aller Unschuld, und beobachtete dabei den Verkehr staunend, aber mißtrauisch. Heute war es nicht so schlimm, dennoch hatte ich ihn vor dem Straßenverkehr gewarnt. »Nein. Nicht Rembrandt. Du – Vincent Van Gogh.« Er war betäubt, und er fand keine Worte. Diese wilden, fahlblauen Augen rollten schlimmer denn je, und ich befürchtete einen seiner Anfälle. Doch ihn schüttelte nur der Aufruhr angesichts dieser Beweise seines unglaublichen Erfolgs. Wir stellten uns mit an, und schließlich konnte er selbst jene leuchtenden Blumen und Gärten der Zu-
kunft sehen, geschaffen in seinem zukünftigen Stil ... Und nun, in dieser seiner Zukunft, in Arles, bei meinem zweiten Besuch, stand ich wieder mit ihm zusammen. Und ich betrachtete wieder mit ihm einige derselben Gemälde: unverkauft, nicht gefragt, nirgendwo aufgehängt. Die dicke Farbe des »Gelben Hauses« klebte noch wie Zahnpasta auf der Leinwand: Er hatte sie gerade von draußen mit hereingebracht. Ich hätte meinen Daumenabdruck darauf hinterlassen können – theoretisch. Ich lebte diesen historischen Augenblick. Ich stellte mir dieses Häuschen vor, wie zu einer anderen Zeit der Mistral um seine Ecken heulen würde, die klappernden Fenster, die zuschlagenden Türen, eine Pein für Vincents überempfindliche Nerven. Ich besah mir die Schweinerei auf dem Fußboden, heruntergetropfte Farbe und die Kleckse an den Wänden. Nicht lange, und Vincent würde aufräumen, saubermachen, die Wände tünchen. Dann sein Idol, Paul Gauguin, würde ihn besuchen kommen. Und dann, eines Tages, während Gauguins Aufenthalt, würde sich tieferes Rot auf den roten Fliesen ausbreiten, Vincents rotes Blut, und alle Spritzer an der Wand würden nur von dieser einen Farbe sein. Ich warf einen verstohlenen Blick auf sein rechtes Ohr, und wieder schüttelte mich der vertraute Schauer der Nemesis. Wenn man es richtig sah, war meine Chronokabine nur eine Fliege im Weg eines führerlos dahinbrausenden Sattelschleppers. Vielleicht ist das Universum wirklich verrückt. Dann hat man nur die Möglichkeit, die Menschen aufzurichten, ihnen Mut zu geben, auf daß sie sich
dennoch bewähren. Wenn je ein Mensch Zuspruch brauchte, dann war es Vincent. Wenn du blind auf irgendeinen Augenblick seines Lebens tippst, kannst du ziemlich sicher sein, den Augenblick gefunden zu haben, zu dem die Not am größten war. Zum Beispiel hier und jetzt in Arles. Noch immer hatte er kein einziges Gemälde verkauft. In seinem ganzen Leben sollte er nur ein einziges Bild verkaufen, und für unter vierhundert Franken. Was würde es bedeuten, wenn ich ihm erzählte, daß 1957 in Paris ein einziges dieser Gemälde einen Preis erzielt hatte, der zweihundertfünfzigtausend eben dieser Franken entsprach? Und daß um diese Zeit sein Gesamtwerk auf dreißig Millionen Franken geschätzt wurde? Geld und Nahrung hatte er jetzt nötig. Sehr wahrscheinlich würde es ihn verbittern zu erfahren, daß die Kunsthändler, die gleiche ignorante Bande, die ihn sein Leben lang gepiesackt hatte, nach seinem Tod Vermögen über Vermögen an ihm verdienen würden. Also sagte ich nichts. Abgesehen davon konnte ich diesmal eine solche Prophezeiung nicht mit irgendeiner Autorität erhärten. Beim ersten Besuch hatte ich mich zu erkennen gegeben und hatte meine Beweise demonstrieren können. Daß ich nach Abschluß meiner Mission jede Erinnerung daran bei ihm elektronisch löschte, gehörte nur zur Routine. Diesmal jedoch war ich einfach Francois, ein aufgeweckter Landarbeiter, der von einem Meister der Malkunst lernen wollte. Wie ich gehofft hatte, fühlte sich Vincent einsam und vermißte die Diskussion mit Freunden über die-
ses Thema, das er nur in seinen Briefen an den Bruder Theo behandeln konnte. Er brannte darauf, sich zu äußern. Und dann saß er auf dem Bett, rauchte und redete endlos. Derweil ich auf eben jenem Binsenstuhl saß, den er so berühmt machen sollte, und jedes seiner Worte in mich eindringen ließ. Mein Idol, der Genius, dem ich hatte helfen dürfen, erklärte sich und sein Werk mir, mir persönlich, an diesem warmen Abend in Arles, so weit entfernt in Zeit und Raum ... Ein unvergeßliches Erlebnis. Getreulich übertrug ich noch am Tag meiner Rückkehr alles vom Band. Ein zweistündiger Monolog. Wollen Sie erfahren, was Vincent Van Gogh sagte? Sie können es. Lesen Sie nur weiter. Mein Geist, meine Seele sind die eines Künstlers. Sie tasten sich vorwärts wie durch eine Art farbigen Nebel. Sie arbeiten nicht verstandesmäßig, sehen nichts klar und scharf in Schwarz und Weiß. Mathematik hat mich stets unsicher gemacht. Wissenschaftlichtechnische Mechanismen kann ich nicht erfassen. Was mich bewegt, was auf mich einwirkt, sind Form, Ton, Schattierungen ... Wie kam es, daß ein so dahindämmernder Mensch, so ein Träumer wie ich zum HEIMSUCHER erwählt wurde? Nun, auf der einen Seite bin ich natürlich nur für die Künste zuständig, so wie sich mein Kollege Blum auf die Naturwissenschaften beschränkt. Manchmal beneide ich ihn um seinen scharfen, präzisen Verstand. Seine Aufgabe besteht darin, die wissenschaftlichen Genies jener Zeiten zu ermutigen, in denen Aberglauben, Vorurteil oder Unverständnis ih-
re schöpferische Kraft zu ersticken drohen. Er zumindest kann eine logische Erklärung dafür bieten, wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht nur voneinander abhängen, sondern ein unveränderbares Ganzes bilden. Und wie ein erst im Schoß der Zukunft Geborener in bestimmten menschlichen Situationen seine Hand leihen, jenes entscheidende Gran seines Einflusses auf die Waagschale legen kann, wenn ein verzweifelnder schöpferischer Geist ins Schwanken gerät, ob er den Kampf wieder aufnehmen oder ganz aufgeben soll. Wenn meine eigenen Kinder der Unsterblichkeit mich um eine Erklärung des scheinbaren Zeitparadoxons bitten, fange ich zu stottern an. Ich ziehe mich zurück auf: »Das ist eben so. Denn ich bin ja hier. Und als weiteren Beweis führe ich dich durch die Zeit in meine Welt, die auch deine Welt ist: denn du hast dort gesiegt.« Wenn sie erst einmal von der Zukunft gekostet haben und vom – oft erst nach ihrem Tod durchgebrochenen – eigenen Ruhm, haben sie natürlich keine Zweifel mehr. Das könnte den schönen Traum zerstören. Wenn sie erst einmal ihre Gemälde oder Skulpturen im Louvre sehen, wenn sie den rauschenden Beifall für ihre Opern oder Stücke hören, wenn sie in Buchhandlungen und Büchereien die letzte aus der langen Reihe der Ausgaben ihrer Werke in den Händen halten, dann werden sie neu geboren. Ein Beispiel ist der griesgrämige Beethoven, vernachlässigt, unbeachtet, verbittert und in Sorge wegen der zunehmenden Taubheit. Nach dem Besuch der Carnegie Hall verströmte er Wohlwollen und Heiterkeit wie seine Pastorale. Die stille Freude des
gerechtfertigten Glaubens. Ein weiteres Paradox. Der Mensch ist nie ohne Hoffnung, nie ohne Glauben. Wenn er sagt, er habe allen Glauben verloren, dann glaubt er doch etwas – nämlich daß er seinen Glauben verloren hat. Immerhin, der Verlust des Glaubens an sich selbst kann zu einer geistigen Erstarrung führen. Ein Strudel, der die Menschenseele festhält, indem sie ziellos kreist bis zum Ende. Ich beschrieb Ludwig van Beethoven die Tätigkeit eines HEIMSUCHERS: er wirft einen Rettungsring diesen verlorenen Seelen zu. Und, typisch für ihn, sagte er: »Ich bin nicht der einzige. Ich kenne Freunde –« »Ich kann deinen Freunden nicht helfen«, sagte ich. »Selbst wenn ich es versuchte, könnte ich ihnen nicht geben, was ihnen das Schicksal verweigerte. Sie haben Talent, nicht Genie. Die Erfahrung hat uns gelehrt, daß der Genius auf unsere Behandlung anspricht, das Talent jedoch nicht. Ich kann nichts für sie tun.« Daraus entspann sich zwischen uns eine Diskussion über das Wesen des Genies. Nach Beethovens Ansicht ... Sie können Beethovens Ansichten über das Genie erfahren. Es kostet nichts. Lesen Sie weiter. Zu den zauberhaftesten Zeilen der Dichtkunst gehören die, welche den unabänderlichen Ablauf der Zeit beschwören. Shakespeare spürte stärker als andere das Eingebundensein des Menschen in die Zeit. Bei verschiedenen Anlässen nennt er die Zeit: »Den Uhrensteller, diesen kahlen Küster ... den unbestechlichen alten
Schiedsrichter ... das Karussell ... den hochherzigen Gastgeber ... den Menschenkönig ... den Kannibalen der Jugend ... ein Ungeheuer des Undanks ... Zeit, die neidvolle Verleumderin.« Und er fordert uns auf: »Seht die Minuten wie sie verrinnen.« Und fragt: »Welche Hand ist stark, den raschen Fuß zu hemmen, und wer verbietet ihr, die Schönheit zu verwüsten?« Und: »Doch warum führst du nicht mit vermehrter Kraft Krieg mit der Zeit, dem blutigen Tyrann?« Und er erklärt: »Sie, der die ganze Welt zu Füßen liegt, die Zeit, sie muß ein Ende nehmen.« Seine Sonnette sind eine ständige Herausforderung der »gefräßigen Zeit«. Stets von neuem wiederholt er, daß zwar ihn selbst die Zeit verschlingen wird, doch daß seine Zeilen die Zeit besiegen werden. »Marmor nicht und nicht der Fürsten verziertes Standbild überdauern den mächtigen Vers.« Und daraus ergibt sich ein Rätsel. Nachdem er sich in Stratford zur Ruhe gesetzt hatte, unternahm er nicht den geringsten Versuch, auch nur eines seiner Stücke drucken zu lassen. Sein Werk wäre nach seinem Tod verschollen geblieben, hätten nicht einige seiner Freunde alte Arbeitskopien gesammelt, die er bei den Proben benutzte. Hatte sich Shakespeare schließlich mit dem unvermeidlichen Sieg der Zeit abgefunden? Oder wollte er sie nur ein letztes Mal herausfordern? Schon immer wollte ich ihn auf seinem Ruhesitz noch einmal aufsuchen, und eines Tages werde ich das auch tun. Ich muß diese schöne, sanfte Stimme wiederhören,
wie sie seine Zeilen mit jenem faszinierenden Akzent von Warwickshire rezitiert, den er nie ganz los wurde. Man hat sich darüber gewundert, daß er, dem Vernehmen nach, »nie eine Zeile ausstrich«. Natürlich nicht. Shakespeare war ein Schauspieler. Er war es gewöhnt, seine Verse wieder und wieder laut aufzusagen, bis sie richtig klangen. Danach war es reine Schreibarbeit. So ist es verständlich, daß Heminge und Condell vermerken konnten: »Geist und Hand waren bei ihm eins.« Ich hätte angenommen, der Augenblick seiner AEBehandlung sei ziemlich spät in seinem Leben anzusetzen. Etwa, als er in bitterer Verzweiflung über menschliche Undankbarkeit den ätzenden »Timon von Athen« schrieb. Doch die Institutsdirektoren legten ihn in die Sonnett-Periode, als sich ihm die Dunkle Dame so schnippisch versagt hatte und die Enttäuschung ihn niederdrückte. Womöglich hatten sie sogar recht. Jedenfalls stattete ich ihm damals meinen offiziellen Besuch ab. Die geheimnisvolle Dunkle Dame war mit Sicherheit eine femme fatale. Man denke nur an den armen Fortesque, der sich ihretwegen von der Old London Bridge stürzte. Vielleicht wissen Sie, wer die Dame war. Oder auch, wie jene, die vierhundert Jahre lang versucht haben, das Geheimnis zu ergründen, wissen Sie es noch nicht? Sie brauchen nicht ungeduldig zu werden. Auf der letzten Seite dieser Broschüre werden Sie den Schlüssel finden, nicht nur zum Geheimnis der Dunklen Dame, sondern auch zu vielen anderen Geheimfächern der Geschichte. Es war Nacht am 3. März 1875, »Carmen« hatte Pre-
miere in der Pariser Opéra Comique. Das Publikum verströmte eisige Kälte. Es verstand die Oper nicht und langweilte sich folglich. Als der Vorhang fiel, zischte es im Auditorium wie in einer Schlangengrube. Nach einer weitverbreiteten Überlieferung, die auch Bruneau bestätigt hat, lief damals Bizet durch die Straßen von Paris bis zum Morgengrauen, fast hysterisch vor Scham und Verzweiflung. Später bezeugte Halévy, es sei ganz anders gewesen. Bizet sei nach der Aufführung in seiner Begleitung in seine Wohnung zurückgekehrt. Diese Version ist richtig. Ich weiß es. Ich folgte den beiden. In gewisser Hinsicht war dies meine seltsamste Mission. Sie war zum Scheitern verurteilt, und doch war mir bestimmt, den Versuch zu machen. Das ist der Sinn des Lebens, daß wir es alle immer wieder versuchen. Etwas werde ich nie ganz verstehen – wie die Ermutigung, die man nach der Fertigstellung eines Werkes geben kann, seine Entstehung fördert. Blum belehrt mich immer wieder, ich solle mit meiner eindimensionalen Denkweise aufhören, die Zeit nicht als zusammenhängende Linie sehen. Ich solle sie mir dreidimensional vorstellen, etwa wie einen Würfel. Das Wachbewußtsein des Menschen bewegt sich Punkt für Punkt über die Würfeloberfläche, doch sein Unterbewußtsein wirkt unter dieser Oberfläche, schwimmt durch sein Volumen von Seite zu Seite, Kante zu Ecke. Es berührt Ereignisse lange bevor sie in den Bereich bewußter Aufmerksamkeit treten. Das ist natürlich keine moderne Erkenntnis. Ende des neunzehnten und im frühen zwanzigsten Jahr-
hundert fanden experimentelle Wissenschaftler das Phänomen präkognitiven Wissens klar bestätigt. Wie dem auch sei, es bleibt die Tatsache, daß sich das Unterbewußtsein den Augenblick der aktiven Ermunterung zu eigen macht, unabhängig davon, ob dieser Augenblick nun in der Bewußten Zukunft oder in der Vergangenheit liegt. Und das allein gibt den Ausschlag, denn jeder schöpferische Akt nimmt vom Unterbewußtsein seinen Ausgang. Bizet befand sich allein in seinem Zimmer, als ich meinen Besuch in den frühen Morgenstunden machte. Er war noch völlig angezogen und saß am Tisch, eine Champagnerflasche und ein halbvolles Glas vor sich. Er hatte nur wenig getrunken und war ganz nüchtern. Sein unbewegtes Gesicht verfolgt mich jetzt noch manchmal in meinen Träumen. Gerade hatte man ihm einen tödlichen Schlag versetzt, doch er zeigte eine fast übermenschliche Selbstdisziplin. Als Mensch, als Mann hat er mir vielleicht mehr Achtung abgenötigt als irgend jemand anders, dem ich hier oder in der Vergangenheit begegnet bin. Ich habe ihn porträtiert, aus dem Gedächtnis. Das Bild zeigt nur einen blonden Mann mit blondem Bart, der nachdenklich aussieht, und – lieb. (Dieses unbefriedigende, und doch das einzig richtige Wort.) Es ist mir nicht gelungen, in dem Porträt das Wesen, die Essenz des Georges Bizet einzufangen. Ich will es nochmals versuchen. Ich stellte mich vor und erklärte meine Anwesenheit. Er schien mir zu glauben, ohne jeden Beweis, fast als hätte er mich bereits erwartet. Ich sagte: »Tschaikowsky wird 1880 vorhersagen,
daß binnen zehn Jahren ›Carmen‹ die beliebteste, bekannteste Oper der Welt sein wird. Ich versichere Ihnen gern, daß er damit völlig recht behalten wird.« Er lächelte und goß mir ein Glas Champagner ein. »Trinken wir also auf Tschaikowsky.« »Nein«, sagte ich und hob mein Glas, »auf Bizet.« »Danke. Heute nacht sind Sie der einzige Mensch, der einen Toast auf mich trinkt. In diesem Augenblick sind sämtliche Kritiker von Paris damit beschäftigt, ›Carmen‹ mit ihren spitzen Federn zu zerfetzen.« »Ach, Kritiker! Selbst bei den seltenen Gelegenheiten, wo ihr Urteil übereinstimmt, selbst da sind ihre jeweiligen Gründe vollkommen verschieden. Und: Sie haben ›Carmen‹ nicht für diese Leute geschrieben. Sie schrieben die Oper für die Leute.« Er nippte an seinem Glas. »Das ist richtig. Und die Leute haben sie abgelehnt.« »Kommen Sie«, sagte ich und erhob mich, »wir gehen in die Oper. Ich führe Sie ins Jahr 1905, zu dem Abend, da ›Carmen‹ zum tausendsten Mal aufgeführt wird.« Er rührte sich nicht. »Nein, Monsieur Everard. Die nächste Generation geht mich wenig an. Ich werde diese Menschen in meinem Leben nicht kennenlernen. Ich habe meine Musik für diese Generation geschrieben, für meine Zeitgenossen. Und ich habe sie im Stich gelassen.« »Unsinn! Ihre Zeitgenossen haben Sie im Stich gelassen!« »Wir beide, meine Zeitgenossen und ich, haben versagt. Wir haben uns nicht verstanden. Und jetzt ist hier drin etwas – zerbrochen.«
Er zeigte auf seine Brust. Drei Monate später – erst achtunddreißig – war er tot. Eine Herzkrankheit, sagte der Arzt; dabei hatte Bizet zuvor über keine entsprechenden Symptome geklagt. Seine Freunde sagten, ja, sicher habe es an seinem Herzen gelegen: an einem gebrochenen Herzen. Es ist wahr: Wenn die seelische Triebfeder eines Menschen bricht, dann läßt sich das nicht mehr flikken. Das Beste, was man in solchen Fällen tun kann, ist sich dem Schicksal ruhig und mutig zu stellen. Wie Bizet. Ich werde ihn immer um seine menschliche Reife beneiden. Selbstverständlich gab es auch andere Komponisten, unbeachtete »Versager«, die in noch jüngeren Jahren sterben mußten. Wie der von Armut geplagte Mozart: Er erhielt ein Armengrab. Oder der ebenso mittellose Schubert, den zusätzlich eine unglückliche Liebe quälte. Jon Everard sprach mit beiden. In tiefer Bewegung werden Sie seine Beschreibung dieser Begegnungen lesen. Vincent Van Gogh und ich unterscheiden uns ganz und gar in unserem Stil, auch wenn ich ihm viel verdanke. Wenn es überhaupt einen eigenen Everard-Stil gibt, dann ist er am deutlichsten in meinem »Kalvarienberg«. Die Ausführung, die jetzt in meinem Arbeitszimmer hängt, ist in Wirklichkeit mein dritter Versuch – die anderen habe ich vernichtet. Seltsam, daß jeder Bewunderer dieser Bilder annahm, die Gemälde seien meiner Phantasie entsprungen. Tatsache ist, daß alle drei nahe bei Golgatha entstanden sind, und zur entscheidenden Zeit die tatsächliche Szenerie darstellen.
Drei Kreuze auf dem Hügel dort im Hintergrund, die in den stürmischen Himmel ragen ... Warum ich nicht näher herangegangen bin? Ich habe es versucht, doch irgend etwas hielt mich jedesmal zurück. Möglicherweise meine eigene Ehrfurcht. Vielleicht auch irgendeine Kraft, die ich nicht verstehe. Als ich jung war fragte ich mich manchmal mit der unschuldigen Kühnheit der Jugend, ob ich möglicherweise ausersehen war; als demütiges Werkzeug bei der Auferstehung ... Verständlicherweise hoffen wir, daß diese kurzen Auszüge aus dem berühmten TAGEBUCH DES JON EVERARD Ihre Neugier nach dem vollständigen zauberhaften Bericht wecken wird. Wir senden Ihnen gern dieses Werk in zwei leinengebundenen, gediegen ausgestatteten Bänden. Bitte, füllen Sie nur das umrandete Feld unten aus und senden Sie es ein. SCHICKEN SIE KEIN GELD, bis Sie diese einmalige Gelegenheit in Ruhe zu Hause sich angesehen haben. Flüchten Sie sich aus den langen Winterabenden in diese goldenen Reisen – durch die Zeit mit Jon Everard –, und Sie begegnen vielen der größten Menschen der Geschichte, von Angesicht zu Angesicht. Als er die auf glänzendem Papier gedruckte Werbeschrift durchgelesen hatte, legte sie Jon Everard auf den Tisch. Seine Lippen verzogen sich ein wenig. Er sah den HEIMSUCHER an, der gespannt und ein bißchen nervös auf sein Urteil wartete. »Keine sehr sorgfältige Auswahl, Mr. Bernstein, wie ich fürchte. Gewiß nicht das beste, was ich geschrieben habe, und ziemlich unausgewogen. Und
diese billige Tour, Kundenfang mit Ansichtsexemplaren, ist ausgesprochen anrüchig.« Bernstein sah betrübt aus. »Natürlich, Mr. Everard, einige dieser Leute, die Werbetexte schreiben, neigen nicht immer zum besten Geschmack. Aber sie haben die Aufgabe, den größtmöglichen Käuferkreis für dieses Buch anzusprechen. Dazu darf man nicht die Anspruchsvollsten im Auge haben ... Oh, das war nicht sehr taktvoll, oder? Ich sehe schon, ich verpatze alles. Ich dachte, es sei eine gute Idee, die Broschüre mitzubringen. Es sollte Ihnen zeigen, daß Sie der berühmteste und erfolgreichste Tagebuch-Autor seit Pepys geworden sind, sein werden. Vielleicht hätte ich besser eine Prachtausgabe mitbringen sollen, ledergebunden, in Handarbeit ...« »Nein, nein«, unterbrach ihn Everard. »Sie machen Ihre Sache gut. Verzeihen Sie mir meine Nörgelei. Seit einiger Zeit bin ich mit den Nerven ziemlich herunter.« »Ja, ich weiß. Ich bin vermutlich Ihr größter Bewunderer, Mr. Everard; Ihr Werk kenne ich praktisch auswendig. Und in Ihren Berichten etwa aus dieser Zeit lese ich zwischen den Zeilen, am Stil, am Ton, daß Sie eine Art Depression durchgemacht haben müssen, auch wenn Sie das nirgendwo ausdrücklich erwähnen.« »Man merkt's aber trotzdem, wie?« »Ich hatte den Eindruck, als wären Sie in den Fehler verfallen, sich selbst am Maßstab dieser überragenden Menschen zu messen denen Sie begegneten. Das hat Ihr Selbstwertgefühl beeinträchtigt, Sie haben Ihren eigenen Wert zu tief angesetzt. Deswegen habe
ich diese Periode aus Ihrem Leben gewählt, um Sie aus der Zukunft aufzusuchen und Ihnen zu zeigen, daß Sie – wahrscheinlich ganz ohne Vorsatz – an einem Meisterwerk arbeiten. Keiner Ihrer Nachfolger hat Sie auch nur annähernd erreichen können. Ich selbst weiß wohl, daß ich mich nie mit Ihnen werde vergleichen können, obwohl ich ebenfalls ein Tagebuch führe. Ich bin noch ziemlich neu in diesem Job. Offengestanden, ich habe gehofft, von Ihnen ein paar persönliche, praktische Tips zu bekommen – so etwa wie Sie von Van Gogh.« »Dieser Besuch ist eine Ihrer Urlaubsreisen?« »Ja. Die erste. Die Universität bezweifelte, daß Sie eine Ermutigung nötig hätten, und genehmigte daher keine offizielle Heimsuchung. Sie wissen ja, was das kostet. Irgend jemand meckert immer über die Kosten.« Jon Everard nickte. »Dann will ich Ihr Budget nicht noch mehr belasten, etwa indem ich darauf bestehen würde, einen Abstecher in Ihre Welt zu machen. Es hört sich ohnehin so an, als hätte sich nicht allzuviel geändert. Ihr Besuch hat mich gefreut, Mr. Bernstein.« Bernstein beschlich das enttäuschende Gefühl, als habe man ihm die Tür gewiesen. Er zögerte. Everard las ihm die Gedanken vom Gesicht ab, er lächelte verständnisvoll. »Ich würde Ihnen ja gern helfen, aber ich könnte Ihnen nichts erzählen, was Ihnen in der Praxis weiterhelfen würde. Unsere Arbeit ist eine so durch und durch persönliche Angelegenheit, daß jeder einen anderen Weg einschlagen muß – den Weg, der seiner Natur gemäß ist. Der einzige Lehrmeister dabei ist
die Erfahrung. Richten Sie Ihre Anstrengungen also mehr darauf, der erste Bernstein zu werden, als darauf, ein zweiter Everard zu sein. Ihrem Selbstbewußtsein kann das nur gut tun. Es ist zwar kein Tip, aber glauben Sie mir: Noch bei keiner meiner Reisen bin ich schlecht aufgenommen worden ... Was sagt Ihr Chronometer?« Bernstein fuhr zusammen, dann beugte er sich über eine Skala an seinem Bandgerät. »Einundzwanzig Minuten, fünfunddreißig Sekunden.« »Dann gehen Sie lieber auf Nummer sicher und stellen Ihren Erinnerungslöscher auf runde fünfundzwanzig«, riet ihm Everard. Bernstein griff in die Tasche, fummelte herum. Er wurde rot. »Ich bin weiß Gott ein Versager. Ich habe das Ding vergessen. Ich war so Feuer und Flamme, Sie zu treffen, bin Hals über Kopf los, und ... Jetzt muß ich nochmal zurück und den Löscher holen.« »Und weitere fünfzehntausend aus dem Fenster werfen?« »Eher vierzigtausend heutzutage – ich meine, in meinen Tagen«, sagte Bernstein düster. »Die Chefs werden mir gehörig einheizen, eine kostspielige Dußligkeit wie diese, und das noch im bezahlten Urlaub ... Na, egal, selbst wenn sie mich feuern, diesen Besuch werde ich nie bereuen.« Everard lächelte. »Ihre Vorgesetzten brauchen gar nichts zu erfahren. Sie können meinen Löscher benutzen.« Er stand auf und ging zu seiner Chronokabine hinüber. Sie stand in der Ecke und sah aus wie eine Tele-
fonkabine. Diese Tarnung sollte Neugierige von einer zu eingehenden Untersuchung abhalten. Jon Everard gehörte zum ersten Team der offiziellen HEIMSUCHER, und zu dieser Zeit wurden seine Berichte noch »Streng Geheim« gestempelt. Er öffnete eine Tür und schlug auf ein Lederhalfter, das er an der Innenverkleidung angebracht hatte. »Also, doch noch ein Rat: Verstauen Sie Ihren Erinnerungslöscher in der Kabine selbst, und lassen Sie ihn immer drin. Dann können Sie ihn auch nicht vergessen.« »Danke, Mr. Everard, ich werde daran denken.« Everard zog den pistolenförmigen Löscher aus dem Halfter. Eine kleine Skala im Griff spiegelte das Licht. Mit einem Drehknopf stellte er die fünfundzwanzig Minuten ein. »Hier. Immer noch eine Minute Sicherheit.« Bernstein prüfte die Einstellung. »Stimmt.« Everard setzte sich wieder an den Schreibtisch, lehnte sich bequem zurück und sagte: »Diesmal brauchen Sie keine langen Erklärungen abzugeben, eine richtige Wohltat. Ich habe immer Schwierigkeiten damit gehabt. Manchmal haben sie Angst, ich würde sie erschießen, vor allem in der Zeit, in der es schon Feuerwaffen gibt. Denken Sie daran, den Löscher in meine Chronokabine zurückzutun – stecken Sie ihn nicht in die Tasche. Okay. Ich habe mich entspannt. Drücken Sie ab, wenn Sie soweit sind.« Er schloß die Augen, und es war, als habe er gesagt: »Die Audienz ist beendet.« Bernstein dachte: Er will mich nicht mehr sehen. Schon möglich, daß er nie schlecht aufgenommen worden ist, aber mich hat man schon freundlicher be-
grüßt. Noch nicht mal ein Händedruck zum Abschied. Ich erzähle ihm, daß ich ihn verehre – und es macht ihm gar nichts aus. Gewiß, er hat sich nicht übel benommen, aber ich hatte angenommen, wir hätten uns so viel zu erzählen. Den ganzen Tag hatte ich eingeplant. Fünfundzwanzig Minuten! Er stellte sich hinter Everards Stuhl auf, preßte die Mündung des Löschers gegen seinen Nacken und drückte auf den Auslöser. Das Kraftfeld eines Löschers errichtet einen Informationsblock im Vorderhirn, indem es die Neuronenverbindungen unterbricht, die mit der bewußten Aufzeichnung von Ereignissen zusammenhängen. Der in Frage kommende Zeitabschnitt kann willkürlich gewählt werden. Das Unterbewußtsein behält dagegen seine Erinnerung, nur kann diese nie mehr ins Bewußtsein vordringen – die Brücken sind gewissermaßen verbrannt. Everard zeigte keine sichtbare Reaktion, doch das war normal. Nach dem Schock setzt die Gehirnarbeit meist für drei bis vier Minuten aus. Dann würde beispielsweise ein Künstler in seinem Atelier auf der Couch erwachen und annehmen, der Schlaf habe ihn überwältigt. Es spielte keine Rolle, ob er die paar Stunden in seinem Leben nun durch Schlaf oder durch den Löscher verloren hatte. In jedem Fall war seine Traumwelt bereichert worden – und sein Schaffen ist ja die Verwirklichung von Träumen. Bernstein steckte die Broschüre wieder ein, dann warf er einen Blick durch das Fenster auf das in der Sonne glitzernde Meer. Er hatte sich vorgestellt, wie er mit seinem Idol den schmalen Uferstreifen entlang schreiten würde, versunken in ein Gespräch darüber,
was das Leben ist und was die Größe eines Menschen ausmacht, bis unbemerkt die untergehende Sonne das Wasser im Westen blutrot gefärbt hätte. Doch bis zum Abend war noch eine lange Zeit, und so früh schon mußte er Everard und seine Welt verlassen, um ihnen nur noch auf den vertrauten Druckseiten wieder zu begegnen. Er seufzte und warf einen letzten Blick auf das stille, friedliche Antlitz. Dann ging er in die Zimmerecke, wo das hohe Bücherregal stand – und verschwand, als sei er durch eine unsichtbare Tür in eine andere Dimension eingetreten. Und das war ja auch der Fall, denn dort befand sich die unsichtbare Projektion seiner Chronokabine. Fünf Sekunden später erschien er wieder, beschämt und ärgerlich. Er hastete durchs Zimmer zu Everards sichtbarer und stabilen Chronokabine, steckte den Löscher in das Halfter und schloß die Tür. Er machte sich Vorwürfe: Wenn diese Gefühlsduselei mich immer so ablenkt, werfen sie mich doch noch 'raus. Über Everards Lippen huschte ein schwaches Lächeln, Bernstein bemerkte es nicht. Wieder bestieg Bernstein seine Kabine und war endlich verschwunden. Everard wartete darauf. Er vernahm das schwache, höher werdende Summen, das plötzlich mit einem Schnappen abbrach wie eine gerissene Violinsaite. Er öffnete die Augen, doch spiegelte sich darin keine Belustigung. Eher Trauer. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, legte die Ellenbogen auf den Tisch und vergrub den Kopf in den Händen. Schlamperei konnte er sich auch vorwerfen, wie bei
dem Erinnerungslöscher. Die Batterie war leer, und er hatte sie vor dem nächsten Trip erneuern wollen. Doch das war ihm erst wieder eingefallen, als Bernstein begonnen hatte, die Löschpistole auf ihn zu richten. Nur, warum hatte er dann den Bewußtlosen gespielt? Warum hatte er sich nicht einfach entschuldigt und eine neue Batterie eingesetzt? War es Stolz, wollte er vertuschen, daß der große Jon Everard, als Perfektionist bekannt, einen so lächerlichen Fehler begehen konnte wie ein Anfänger – wie Bernstein? War es Mitleid? Wollte er dem jungen Mann weitere Verlegenheit ersparen? Opportunismus? Wollte er aus der Kenntnis der Zukunft Nutzen ziehen? Oder Selbstsucht? Brauchte er das hämische Überlegenheitsgefühl, das Wissen, daß er allein – nicht die Kollegen, nicht die Vorgesetzten – ins Walhall der Großen Geister einziehen sollte? Nein, nein. Nichts davon. Das war absurd. Denn ohne die Erinnerung an die verflossenen fünfundzwanzig Minuten wäre er glücklicher gewesen. Gewiß, er begehrte Ruhm, und Ruhm sollte ihm werden – jedoch der falsche. Der Ehrgeiz seines Lebens hatte darin gelegen, ein großer Maler zu werden. Er hatte seine Seele in jeden Pinselstrich gelegt. Bernstein aber hatte Everard, den großen Maler, überhaupt nicht erwähnt. In der Broschüre hatte kein Wort darüber gestanden. Folglich konnte sein Werk, das er bisher als sein Lebenswerk angesehen hatte, keinen tiefen Eindruck hinterlassen haben. Er hatte
versagt in dem, was seinem Herzen am nächsten lag. Und er besaß nicht die Seelenstärke eines Georges Bizet. Während er über dieser Erkenntnis brütete, verstand er mehr und mehr, warum er sich dafür entschieden hatte, die Erinnerung zu behalten. Bernstein hatte nichts anderes erreicht, als ihm ein Gefühl von Mißerfolg, von Unzulänglichkeit zu geben. Wenn der Löscher funktioniert hätte, dann hätte sich dieses Gefühl in seinem Unterbewußtsein ausgebreitet, er wäre entmutigt worden – das Gegenteil von Bernsteins Absicht. Und weder er noch Bernstein hätten je herausgefunden, was ihn so deprimierte. Der Selbsterhaltungstrieb hatte ihn also veranlaßt, sich bewußtlos zu stellen. Und die gewonnene Selbsterkenntnis bedeutete, daß er nicht hilflos an die Signale seines Unterbewußtseins gekettet blieb. Noch hatte er die Wahl, noch den freien Willen. Bizets Mut, Bizets Stärke, danach mußte er trachten und die unabänderlichen Tatsachen so philosophisch akzeptieren wie der große Franzose. Außerdem, sagte ihm die gleiche Selbsterkenntnis, war da noch ein großer Unterschied: In ihm, »da drin«, war nichts zerbrochen. Er konnte sich anpassen, umstellen. Er konnte lernen, den Pinsel mit der Feder zu vertauschen. Anders als der absolute Musiker konnte er, Jon Everard, sein Künstlertum einer anderen Materie aufprägen. Er ergriff die Feder und öffnete sein Tagebuch. Der Bericht über das Zusammentreffen mit Georges Bizet lag angefangen vor ihm. Er schrieb: »Das ist der Sinn des Lebens, daß wir es alle
immer wieder versuchen.« Er hielt inne, erinnerte sich an die Worte. Die Broschüre erwies sich letztlich doch als hilfreich. Und dennoch ... auch dies war Bestimmung. Die Zukunft trägt die Vergangenheit ebenso wie die Vergangenheit die Zukunft trägt. Ursache und Wirkung entsprachen den beiden Schenkeln eines gotischen Spitzbogens. Es war unsinnig, vorzugeben, das eine sei vor dem anderen dagewesen, sinnlos, danach zu fragen. Die Zeit ist ein Gebäude, ein Ganzes, wie ein großer Dom von perfekter Baukunst. Pfeiler hinter Pfeiler, Bogen hinter Bogen, Myriaden von verknüpfenden tragenden Bögen ... Bald, sagte er sich, muß ich einmal einen Architekten aufsuchen. Etwa Christopher Wren, zu der Zeit, da nach dem Großen Brand die WiederaufbauKommission alles unternahm, seine Pläne für die Vollendung der St. Pauls-Kathedrale zunichte zu machen ...
Originaltitel: A NICHE IN TIME
Edward Jesby INVASION AUS DER TIEFE Greta Hijukawa-Rosen saß am Ufer und sah zu, wie ihr Begleiter ein Luftkissenbrett über die Wellen des Mittelmeers steuerte. Er stand breitbeinig auf der kleinen runden Plattform und balancierte sie mit leichten Bewegungen ein paar Zentimeter über den Kämmen der luftgepeitschten Wellen. Das Brett wurde von den Antennen über dem Schloß mit Fernenergie versorgt, aber nicht ferngesteuert. Er ist eine gute Anlage, dachte Greta und reckte sich, um die Unterseite ihrer kleinen Brüste voll der Sonne auszusetzen. Sie kicherte, wenn sie daran dachte, was ihre Schwestern davon halten würden, daß sie eine Redewendung aus der Geschäftssprache verwendet hatte. Sie zuckte mit den Schultern und verglich abwägend ihre eigene goldene Bräune mit der dunklen Hautfarbe ihres Begleiters. Abuwolowo war erdbraun. »Schwarzglänzend wie ein Blatt im Herbst«, zitierte sie laut, dann stand sie auf und verfolgte, wie er die Plattform auf die Maximalhöhe von sechs bis sieben Metern steuerte. Seine Gestalt schrumpfte rasch zusammen, während er das Brett in weiten Möwenschwüngen hinaus ins Mittelmeer trieb. Eigentlich ist es doch langweilig, entschied sie, eine wirkliche Gefahr bestand nicht. Ein Rufgerät hing an seinem Schwimmgürtel, und wenn er ins Wasser fallen sollte, würde ihn das Brett retten – die Steuerautomatik ließ es dann zum Wasser herabtauchen, um ihn herauszuholen. Jetzt hatte er sich schon
ziemlich weit entfernt, über den Wellen konnte sie nur noch den auf und nieder tanzenden schwarzen Ball erkennen, als den sie sich seinen Kopf vorstellte. »Ich nehme an, eine Empfindung wie von Verlust wäre jetzt angebracht.« In Ihrer Stimme klang Verachtung auf, denn sie wußte, daß Ihre ganze Vorstellung von Verlust auf einer kürzlichen TVSendung beruhte, in der von berühmten Büchern die Rede war. Doch dann schien die Realität um sie her zu verschwimmen, sie atmete schwer, als sie nahe beim Ufer den Kopf entdeckte. Verzweifelt suchte sie nach ihrer FeldstecherLorgnette, sie rief zaghaft: »Abuwolowo?« Doch der Kopf war weiß – nicht einfach die helle Farbe ungebräunter Haut, sondern das flache, leblose Weiß wie bei den Marmorstatuen im Garten der Sommerresidenz. Und dann, zu ihrem weiteren Entsetzen, kroch der Rest der Erscheinung aus dem flachen Uferwasser. Über die blauen Wellen, und abgehoben vom helleren Himmel, ragte eine schwarze Gestalt mit einem kalkweißen Kopf. Sie stolperte durch die Wellen der geringen Brandung und hatte Mühe, die Beine aus dem Wasser zu heben. Als das Lebewesen endlich die Füße freibekam, fühlte sie sich erleichtert. Es trug Schwimmflossen, und sie lief hin, um Hilfe zu leisten. Sie legte die Hand auf den großen weichen Arm und fragte: »Fehlt Ihnen etwas?« Der Mann nickte und stützte sich ein klein wenig auf sie. Sie war dafür dankbar, denn er überragte ihre Einsneunzig um mindestens dreißig Zentimeter, und seine Schultern waren sogar breiter als Abuwolowos nigerisches Kreuz.
Nachdem er festen Sand unter den Füßen hatte, machte der Mann eine Bewegung zu seinem Hals hin und hob seinen Gesichtsschutz ab. Er warf einen raschen Blick zum Himmel, mit dunklen Augen in riesigen Augenhöhlen, und sagte: »Hell.« Er sah hinunter auf den Sand, atmete ein paarmal schwer, und sprach wieder. »Vielen Dank.« Er faßte nach seiner Achselhöhle. Dann fuhr er fort: »Ein Sonnenanbeter hat mich da draußen erwischt.« Jetzt atmete er freier, und war besser zu verstehen. Das gurgelnde Murmeln seiner ersten Worte war verschwunden, und er sah sie jetzt voll an. »Hübsch«, sagte er, »die Schönheit verdient eine Erklärung. Ein Sonnenanbeter fiel mich von hinten an. Irgend etwas hat ihn erschreckt, etwas aus der Luft, und er tauchte weg und sah mich.« »Sonnenanbeter?« fragte sie, auch in dem Wunsch, die fremdartige weiße Musikalität in dieser Stimme zu vernehmen, mit der das Wesen mit dem runden Kopf und den riesigen Augen sprach. »Ein Hai, der sich in der Sonne aalt«, sagte er. »Er schwamm dicht unter der Oberfläche, und dann schoß er nach unten. Mir blieb keine Zeit, ihn zu warnen.« Er fiel nach vorne, sein Atem ging leicht und gleichmäßig, doch sie sah Blut aus einer tiefen Fleischwunde in seinem Rücken wallen. »Entschuldigen Sie«, murmelte er, als sie einen kleinen Schrei ausstieß. Sie wollte helfen, als sie die klaffende Wunde sah, die vom linken Schulterblatt rechts zur Taille verlief und die vom elastischen Material des Schwimmanzugs auseinandergezogen wurde. Sie versuchte, ihn aufzuheben, doch er war zu schwer. Sie erreichte nur, daß er nach hinten in den Sand fiel.
Sie kniete sich über die Gestalt und packte den langen dicken Arm, um ihn umzudrehen. Auch das ging nicht. So flach er auch auf dem Sand zu liegen schien, mit den schlanken langen Beinen und dem flachen Bauch, er hatte trotzdem ein beträchtliches Gewicht. Sie sprang auf und sah aufs Meer hinaus. Abuwolowo näherte sich über den Wellen, und sie rief und winkte heftig und sprang auf und nieder, um ihn aufmerksam zu machen, so daß ihr Zopf in seiner ganzen Länge hin und her flog. Schließlich bemerkte er sie und steuerte das Luftkissenbrett auf den Strand. »Hier liegt ein Verletzter«, sagte sie, dann wandte sie ihm den Rücken zu, bis die Luftdüsen des Bretts keinen Sand mehr aufwirbelten. »Ein Mann?« fragte Abuwolowo, doch er stieß die Luft pfeifend durch die Zähne, als er einen Blick auf den liegenden Koloß warf. »Der ist schwer wie ein Wal. Es hat keinen Zweck, ich gehe hinauf zum Haus und hole Hilfe.« Er lief in langen, fließenden Schritten zum Fahrstuhl in den Klippen. Unter seinen Bewegungen schien sich die Entfernung traumhaft aufzulösen. Sie blieb zurück und wachte über ihrem Patienten. Seine langen Atemzüge faszinierten sie. Die ohne Mühe eingesogene Luft ließ sich wie eine Welle verfolgen, die kein Ende zu nehmen schien. Der nächste Atemzug begann schon, wenn der vorherige noch nicht beendet war. Sie wartete schweigend, ohne ihre gewohnten Selbstgespräche; sie wollte das Protokoll wahren und nicht wie ein Äffchen schnattern, in der Gegenwart des Fremden. Sein Haar hatte die Farbe ausgebleichten Strohs; es bewegte sich nicht; das einzige Lebenszeichen in dem zur Seite gewandten Gesicht waren
die leicht vibrierenden Nasenflügel. Für sie war keine Zeit vergangen, als schließlich Abuwolowo mit vier Dienern zurückkehrte, kräftige, untersetzte Männer von den benachbarten ägäischen Inseln. Ihr Atem ging schwer, und ihre Rücken beugten sich unter der Last, als sie den Verwundeten halb trugen, halb schleiften, bis sie am Fahrstuhl angelangt waren und ihn unter Abuwolowos Anleitung in die enge Kabine schoben. Abuwolowo kletterte über ihn hinweg, stemmte die Beine gegen die Seitenwände und kletterte somit wie ein Bergsteiger an ihnen hoch, bis er über dem die ganze Bodenfläche einnehmenden Körper in der Luft hing. Mit einem kräftigen Zehendruck betätigte er die Aufwärtstaste, die Tür schloß sich, und der Fahrstuhl surrte davon. Mit ungewöhnlicher Sorgfalt hatte sich Greta fürs Abendessen zurechtgemacht, angezogen, geschminkt. Als sie die breite Rampe herabstieg, die in geschwungenem Bogen in die Eingangshalle mündete, hörte sie, wie sich ihr Schwager mit einigen der Gäste unterhielt. Belustigt verhielt sie ihren Schritt. Er führte keine eigentliche Unterhaltung, sondern er führte eine Lehrveranstaltung durch, und sein kirgisischer Akzent schwächte diesen Eindruck keineswegs ab. »Verblüffend«, sagte er, »wirklich verblüffend, über welche Regenerationsfähigkeit diese Leute verfügen. Wir hatten ihn kaum vom Küchenwagen herunter und auf den größten Liegestuhl im Erholungszimmer geschafft, da setzte er sich auch schon auf. Er lächelte mich an. Er reckte sich.« Ihr Schwager unterbrach sich, entweder als Ausdruck seiner beschriebenen Verblüffung, oder um einen Gast zu fixieren, der
selbst etwas dazu hatte sagen wollen. »Wie ich gerade ausführte«, fuhr er mit gemessener Betonung fort, »reckte er sich.« Greta konnte nicht widerstehen, sie schlüpfte die Rampe hinab und ging auf den Sprecher zu. »Er reckte sich, und dann was?« Hauptmann Everezky erwies ihr die in Grenzen gehaltene Höflichkeit seines kalten Lächelns. »Er streckte sich, und sein Schwimmanzug öffnete sich und fiel an ihm herab wie eine Bananenschale. Er griff sich unter den Arm, Sie wissen ja, die Kiemenöffnungen, und stand von der Liege auf. Er beachtete mich nicht, und als er sich umdrehte, war die Wunde geheilt. Nur eine dünne Narbe zeigte, wo der Schnitt verlaufen war.« Greta entfernte sich. Die unvermeidlichen Wiederholungen und Ausschmückungen, mit denen ihr Schwager seine Empfindungen beschreiben würde, brauchte sie nicht zu hören. Sie durchschritt den Bogengang zum Erholungsraum, und es störte sie nicht, daß der Feldvorhang nicht ganz in Ordnung war und ein Luftzug den Saum ihres langen Rocks hochwehte. Der Mann aus dem Meer stand an der Panoramascheibe und sah zu, wie sich der Umfang der Insel langsam daran vorüberdrehte. Der Fluß der Landschaft, in wechselnder Geschwindigkeit und Vergrößerung, gehorchte dem in die Maschine programmierten Geschmack. Gerade änderte sich das Bild und erstrahlte in den Lichtern der Wolkenkratzer von Salonika. Er war in den Anblick vertieft, doch Gretas Vetter Rolf überschüttete ihn mit Fragen, lästig wie immer. Er stand wie ein Zwerg vor dem Fremden und fragte ihn mit hoher Stimme in seinem amerika-
nischen Singsang aus. Als sie näherkam, hörte sie ihn gerade sagen: »Und Sie sind wirklich die ganze Strecke heruntergekommen?« Er fragte das nicht ungläubig, eher freudig – ein Kind, das eine Abenteuergeschichte liebt. »Gewiß«, sagte der Riese, »wie ich gesagt habe. Ich kam aus der Gegend von Stavangafjord hier herunter. Ich bin einer unterseeischen Strömung gefolgt. Ich hatte gehofft, ich würde etwas über die Laichgewohnheiten des Heilbutts erfahren. Aber dann hielt ich es für besser, an der Küste entlang auf die Jagd zu gehen, bis ich hierher kam.« Er wandte sich wieder der Scheibe zu und verfolgte, wie die Stadt immer kleiner wurde, als der Künstler des Programms den Blickpunkt hoch über die Stadt hob. »Und«, sagte er, wieder höflich dem Fragesteller zugewandt, »die Delphine hatten mir berichtet, als ich sie vor der Normandie bei ihren Spielen traf, daß das Meer hier warm sei – und die Frauen schön«, fügte er hinzu, als er Greta sah, »mit blondem Haar und braunen Gliedern.« »Sie sind sehr höflich«, nickte Greta zu dem Kompliment. »Aber ich kenne Ihren Namen nicht.« Er verbeugte sich. »Gunnar Bjornstrom-Cousteau, von der Kuppel Walshaven.« Im Abendanzug sieht er eigenartig aus, dachte sie. Das kurze, offene Jackett, das kaum bis auf die eng anliegenden Hosen reichte, ließ die breite, rechteckige Brust frei – eine glatte fleischige Fläche ohne hervortretende Muskeln. Sie erinnerte sich an die talgähnliche Fettschicht, die von der tiefen Wunde entfernt worden war. Ein leichter Schauder lief ihr über den Rücken, und er fragte: »Stößt mein Gesicht Sie ab?« Jetzt erst fiel ihr auf, daß
seine Haut sich schälte und daß unter seinem Kinn krebsrote Flecke waren. »Es war dumm von mir, auf eine solch lange Reise zu gehen, ohne mich vorher zu Hause unter die UV-Lampen zu legen. Aber damals hatte ich noch nicht vor, das Meer zu verlassen. Ich bin die Sonne nicht gewöhnt.« »UV-Lampen?« fing Rolf wieder an, doch Greta setzte neuerlicher Fragerei ein Ende. »Das Abendessen sollte inzwischen fertig sein.« Sie nahm den Arm des Fremden. »Führen Sie mich zu Tisch?« Rolf folgte ihnen kopfschüttelnd, alle paar Schritte sprang er hoch, um zu sehen, ob er die Höhe des Meeresriesen erreichen könnte. Das Speisezimmer befand sich auf dem Dach des Chateaus, nach allen Seiten offen. Statische Polarisationsfelder boten sicheren Schutz vor dem Wetter, sie waren praktisch unsichtbar, ein optischer Effekt holte die Sterne nahe heran. »Diesen Fisch«, sagte Hauptmann-Everezky auf eine Frage, »den konnte ich ja nicht wieder ins Wasser werfen wie eine zu klein geratene Forelle.« Hatte ihn der Fremde zuvor beeindruckt, so fand ihr Schwager nun wieder zur gewohnten Herablassung. Er machte eine Handbewegung. »Außerdem wird es Zeit, daß wir uns ein bißchen amüsieren. Sonst wird es langweilig.« Greta spürte, wie ihr Begleiter leicht zusammenzuckte, ihr Griff um seinen Arm schloß sich fester. Er beugte sich zu ihr herab und sagte: »Haben Sie keine Angst, ich falle nicht. Ich bin lange Zeit nicht auf festem Boden gegangen. Ich muß mich daran gewöhnen, nicht mehr vom freundlichen Gewicht des Wassers unterstützt zu werden.« Ihr fiel auf, daß er das
Wort »freundlich« betonte. Dabei erinnerte sie sich daran, daß die Unterwassermenschen den Brauch des Duellierens wieder eingeführt hatten – eine der wenigen Tatsachen, die ihr über die Unterwasserleute bekannt waren. Im weiten Raum des Meeres ließ sich ein Leben streng nach dem Gesetz kaum erzwingen, und den Menschen prägten sich die Lehren ein, die ihnen häufige Begegnungen mit Haien und anderen Raubfischen aufdrängten. Ihr Begleiter schien jedoch nicht an tödliche Zweikämpfe zu denken, er begrüßte Everezky und seine Freunde lächelnd mit einem Händedruck und musterte die Frauen nicht ohne Interesse. »Wenigstens gibt es ein paar gute Ausblicke«, sagte er und starrte auf die bemalte Brust ihrer Schwester Margit. Erleichtert nahm Greta seinen Arm, froh, daß der kritische Augenblick vorüber war, und froh, daß sie das blaue Kleid angelegt hatte, das nur Gesicht und Hände nicht verhüllte. »Setzen wir uns, Carl«, fragte sie ihren Schwager. Everezky schritt zur Tafel, wo er Greta den Platz zu seiner Linken und Gunnar den rechten Platz anwies. Das Essen verlief zunächst ruhig genug, die Gespräche drehten sich um die Frage, ob sich eine Investition in die Mondbergwerke jetzt lohne und wie man die Regierung zufriedenstellen könne, ohne allzuviel zu zahlen und trotzdem nicht wie Almosengeber zu erscheinen. Die Herren aus den russischen Gebirgsregionen und den reichen Steppen wußten viele Vorschläge zu machen und Empfehlungen auszutauschen: welche Lobbyisten erfolgreich arbeiteten, welche Gesetze verhindert werden mußten, wie die Korruption zu bekämpfen sei, wenn man sie nicht nutzen
konnte. Rolf erzählte gerade eine Geschichte von einem Beamten, der trotz Bestechung eine Vereinbarung nicht ohne weitere Zahlungen einhalten wollte, so daß die Bestechung schließlich ebenso teuer kam, wie wenn man von vornherein den legalen Weg gegangen wäre. Unter den ihm zugewandten gebräunten Gesichtern fiel ihm Gunnars weißes Gesicht auf. Er schloß seine Geschichte: »Das war wirklich ein ekelhafter kleiner Wurm – ein richtiger Betrüger.« Er sah Gunnar an. »Sie, mein Freund aus dem Meer, haben wohl wenig Ahnung von diesen Dingen?« Bjornstrom-Cousteau mußte lachen. »Ich verstehe nichts von solchen Problemen, aber wir haben andere Schwierigkeiten mit der Regierung.« Er schien Rolf gut leiden zu können, seine Worte waren jedoch an den Gastgeber gerichtet. »Das läßt sich nicht so leicht erklären.« »Vermutlich«, sagte Abuwolowo, »versuchen Sie's trotzdem.« Gunnar zuckte die Achseln, und der massive Tisch zitterte leicht, als er die Beine übereinanderschlug. »Wir sollen weniger auf die Jagd gehen und mehr auf den Meeresfarmen arbeiten.« »Und warum nicht?« fragte Abuwolowo herausfordernd. »In unserer Geschichte hat sich mein Volk auch den geänderten Zeiten angepaßt. Wir haben gelernt, eine leistungsfähige Landwirtschaft aufzubauen und eine konkurrenzfähige Industrie.« »Ja.« Nachdenklich schwieg der Meermann einen Augenblick. »Ja, ich nehme an, auch wir müssen lernen. Doch wie Hagar der Dichter sang –« »Ach, Dichter.« Abuwolowo fegte die Dichter vom Tisch. »Wir sprechen von der Regierung.«
»Hagar sagte«, fuhr der Gast aus dem Wasser fort, unbeirrbar wie die Gezeiten, »die Männer mußten das Meer erleiden, die Luftigen lassen das Leben gleiten.« Er liebte diese Zeilen. Er richtete sich auf, so daß das zur Seite gleitende Jackett noch mehr von seiner bleichen Haut freigab, und sang: »Wir wagen der Wogen Tiefe, nicht Seichtheit, sie sehen die Sonne, lieben die Leichtheit.« Er schwieg und starrte in die Nacht mit unergründlichem Blick. Rolf überspielte die Stimmung, indem er sich die Hände rieb und hörbar schnupperte. »Ah, der nächste Gang – Stallreh!« Wer konnte wissen, was Abuwolowo dem Gast geantwortet hätte. Rolf blieb bei dem Thema. »Unser neuer Gast scheint dem Mahl nicht übermäßig zuzusprechen, obwohl die Küche des Gastgebers über allen Zweifel erhaben ist.« »Das Essen ist gekocht«, sagte Gunnar, als erkläre das alles. Tatsächlich erklärte diese Antwort zu viel. Er stand auf, als er den Ausdruck auf HauptmannEverzkys Gesicht bemerkte. »Ich bin immer noch müde, der Heilungsprozeß hat meine Kräfte beansprucht. Bitte entschuldigen Sie, wenn ich mich jetzt zurückziehe.« Eine Feststellung, keine Bitte. Er verließ den Raum mit müden, schleppenden Schritten; die von keinem Wasserdruck aufgefangene Schwerkraft lastete auf dem massigen Körper. Am nächsten Morgen machte sich Greta als erstes auf die Suche nach dem neuen Gast. Sie hatte die Gesellschaft kurz nach Gunnar verlassen, auf dem Weg zu seinem Zimmer hatte sie jedoch Abuwolowo eingeholt, und sie war mit ihm schlafen gegangen. Nun durchsuchte sie die Gärten, von einer Klimazone zur
anderen. In der subtropischen Abteilung fand sie ihn. Er stand vor einem roten Gummibaum, der tatsächlich auf Baumstärke gezüchtet worden war. Er befühlte ein Blatt, groß wie ein Kanupaddel, und drückte die Fingerspitzen tief in die Oberfläche. Sein Mund war etwas geöffnet. »Wie Fleisch«, sagte er, »Walfleisch.« Er lächelte, als er sie den Pfad entlangkommen sah. »Sie sehen heute morgen sehr schön aus.« »Und Sie haben ausgesehen wie ein Kind, als Sie gerade dieses Blatt anfaßten«, sagte sie, »wie ein Kind, das alles in den Mund stecken muß.« »Es sieht ganz eßbar aus.« Damit drückte er das Blatt ein letztes Mal, so daß etwas Flüssigkeit auf seine Hand tropfte. Er leckte daran und verzog das Gesicht, und sie lachte unbeschwert, als sie die sanften Falten sah. »Es ist aber wirklich bitter«, verteidigte er sich, dann griff er nach ihr und hob sie hoch, bis sie das Blatt erreichte. »Beißen Sie hinein und sehen Sie selbst.« Mit gespieltem Appetit ließ sie die Zähne mehrmals aufeinanderschlagen, er setzte sie wieder ab, und sie rieb sich die Stelle, an denen er sie gepackt hatte. Dann sah sie ernsthaft zu ihm auf. Welche gewaltige Figur! »Ich habe heute morgen etwas über Sie gelesen«, sagte sie. Sie spielte es ihm vor und sah angestrengt mit gerunzelten Brauen vor sich hin, als ginge sie der ungewohnten Beschäftigung nach, die gedruckten Zeilen zu buchstabieren. »Ach, bin ich so berühmt?« »O nein«, sagte sie, »im Lexikon. Da steht, Sie wären ein homo aqua –« »Homo aquaticus, eins von den alten Worten.« Er
berührte ihre Schulter. »Ein gutes Wort.« »Ja, das war das Wort. Homo aquaticus.« Sie schien das Wort abzuschmecken. »Und vor langer Zeit sagte einmal ein Mann, der Cousteau hieß, daß es Sie geben würde.« »Cousteau.« »Ja, Cousteau.« Sie hatte das Wort zunächst wie »Kustëau« ausgesprochen. »Ein Verwandter von Ihnen?« »Cousteau ist schon lange tot. Und mein Familienname wird so ausgesprochen, wie Sie's zuerst getan haben.« »Ist auch egal. Jetzt werde ich Sie hier erst einmal herumführen.« Sie nahm seinen Arm und fing an, die Gärten und ihre Pflanzen zu erläutern. Bald merkte sie, daß sie auch von Botanik nicht sehr viel wußte. Er war von Natur aus schweigsam, und das Gespräch verstummte. Sie richtete ihre Gedanken auf das, was sie im Lexikon gelesen hatte. Darin stand, daß man die ersten Kolonien im Mittelmeer eingerichtet hatte. Der Mensch fühlte sich in dem warmen Wasser wohl, und zwanzig Meter unter der Oberfläche spürte er nichts mehr von den Stürmen des Mistral. Die Unterwasser-Kolonien züchteten Wasserschnecken, ernteten Muscheln, bauten Pflanzen und Früchte an, die man für diesen Zweck herangezüchtet hatte, und bearbeitete Algenfelder. Kleinere Wale jagte man mit Handwaffen. Sie hatte die Seiten sehr schnell überflogen, zumal ihr das Lesen schwerfiel, doch erinnerte sie sich an einige Einzelheiten über Geburten unter Wasser, die sie als Frau interessiert hatten. Die Kinder wurden unter Druckverhältnissen geboren, unter denen sich ihr späteres Leben abspielen sollte; man rü-
stete sie mit kiemenähnlichen Vorrichtungen aus, mit denen sie dem Wasser Sauerstoff entnehmen konnten; und Medikamente sorgten für eine weitere Anpassung an die neuen Lebensbedingungen. »Aber warum leben Sie dann in den kalten Nordmeeren?« fragte sie aus ihren Gedanken heraus. Dennoch schien er zu wissen, was sie meinte. »Wo doch so viele aus meinem Volk hier leben? Eben darum. Mein Urgroßvater fand, daß man sich hier auf dem Meeresgrund fast auf die Füße trat, es wurde ihm zu voll. Außerdem fürchtete er, daß uns das angenehme Dasein verweichlichen würde.« Er wandte den Kopf dem warmen Meer zu, und sie musterte die robbenähnlichen Speckfalten an seinem Nacken. »Und jetzt könnten wir hier gar nicht mehr leben. Unsere Körper sind dem Norden angepaßt, und wir haben gelernt, die Jagd zu lieben.« »Sie sind aber doch in diese Gewässer vor der Insel gekommen.« »Nur ein kurzer Jagdausflug. Ich wäre sehr bald umgekehrt.« Der Anblick flüchtender Gartenarbeiter erregte ihre Aufmerksamkeit und unterbrach die Unterhaltung. Mit aufgerissenen Augen suchten die Leute den Schutz der Büsche auf und bekreuzigten sich dabei, wenn sie nicht das magische Zeichen des gehörnten Stiers machten. Manche verließen sich lieber auf beide Beschwörungen. Die Arbeiter wußten besser als Greta, daß Unfriede herrschte zwischen den Meerleuten und den Landbewohnern. Diener und Leibeigene hören, was in der Politik vor sich geht – achtzehnjährige Töchter aus guter Familie dagegen sind Meister in der Kunst, nichts außer den eigenen Inter-
essen für wichtig zu halten. Die Gärtner hatten von den Hausbediensteten gehört, daß die Weltregierung in Neu-Kiew, an der Ostsee, mehr Tribut von den unabhängigen Meeresstaaten gefordert hatte, Tribut in Form von Algenprotein. Von Verwandten, die in der Flotte dienten, wußte man, daß Boote auf Strafexpeditionen ausgesandt wurden. Die Boote waren mit Greifbehältern ausgerüstet, die die Algenfelder und Wasserschnecken-Weiden abräumen sollten. Solche Unternehmungen erwiesen sich als gefährlich: Die Meermänner warfen sich von unten gegen die Boote und brachten sie zum Kentern, sie kappten die Greifkabel und befestigten unverschämte und beleidigende Mitteilungen an den losen Enden. Was die Flotte schließlich nach Hause brachte, war verdorbene, infizierte oder minderwertige Nahrung. Die unteren Schichten haßten die Meermenschen nicht, sie fürchteten sie nur, wie man die Stürme und Gewalten der Natur fürchtet. Sie achteten die Meermenschen nicht so wie ihre Herren – es waren einfach unnatürliche Naturgegebenheiten. Man konnte mit ihnen nur mit Hilfe der Magie verkehren, deren Praktiken sich während der wenigen barbarischen Jahre nach dem Zweimonatskrieg ausgebreitet hatten. Gunnar hatte sehr wohl eine Vorstellung davon, was die Davongelaufenen dachten, doch diese Seite des Problems interessierte ihn wenig. Die Kuppel, aus der er kam, erzeugte noch nicht genug viel Nahrung, um in den Handelskrieg hineingezogen zu werden. Er warf einen Blick auf Greta. Sie sah immer noch verblüfft auf die Stelle, von der die Arbeiter so unvermutet geflohen waren. Er berührte sie wieder an der Schulter, weil er
wußte, daß körperlicher Kontakt sie beruhigte. »Eine lange Zeit ist vergangen, seit wir ins Meer gegangen sind, und sie erinnern sich nicht mehr an uns. Wir kommen ihnen fremdartig und unheimlich vor.« Ihm fiel auf, daß sie sich an ihn gelehnt hatte und daß ihre Hüften und ihr ganzer Körper Bewegungen ausführten, denen er jedoch keine Bedeutung beimaß. Greta wurde schweigsam und löste sich von ihm. Sie hatte alle die Muskeln bewegt, deren Aktivierung ihre Lehrerinnen mit ihr geübt hatten. Das harte Training in der Jugend sollte sie auf die lustvollen Pflichten des erwachsenen Frauendaseins vorbereiten. Sie zweifelte nicht an ihrem Können, und sein kühler Mangel an Interesse ärgerte sie. Fast hätte sie geglaubt, daß die Meerfrauen ihr überlegen wären. Doch bei nüchterner Betrachtung verwarf sie diese Erklärung wieder: Ihre Lehrerinnen hatten ihr bestätigt, daß sie die Liebeskunst meisterlich beherrschte – auch Abuwolowo hatte es ihr bestätigt. Hadschi Abuwolowo Smyth beobachtete das Paar von einem Schwebebalkon aus, der vom Chateau aus fingergleich über die Gärten ragte. Das Mädchen hat sich in diesen Fisch verknallt, dachte er. Und das nur, weil er anders ist als wir. Er dachte an die langen harten Stunden seines Tanztrainings. Er dachte an die Industriewerke, die von seinen Eltern gemanagt wurden – und an Gretas Schwager, der neue Märkte für seine Werkzeugmaschinen suchte. Er fand, daß er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Er ging ins Haus zurück und ließ sich eine Lockerungsmassage geben – vor dem Mittagessen sollten die Ringerwettkämpfe stattfinden.
Täglich hielten die jungen Männer als Zerstreuung für die anderen Gäste ihre Turniere ab, nur Rolf nahm nicht daran teil. Die Regeln waren eine Kombination von Judo und den weniger gefährlichen griechisch-römischen Griffen. Die jungen Leute waren voller Energie, sie hatten viel Zeit, und mit solchen Spielen verging die Zeit bis zu dem Tag, an dem sie die Verwaltungsposten übernehmen würden, die jetzt noch von den Eltern in den automatischen Fabriken ausgefüllt wurden. Gunnar und Greta kamen gerade die kleine Allee entlang, als die Spiele beginnen sollten. Als sie aus dem Schutz der Bäume traten, fiel ihnen die Sonne voll ins Gesicht, und Gunnar blinzelte. Er blieb stehen. Greta spürte, daß er sich anstrengte, und unter ihren Fingern fühlte sie auf einmal Öl. Seine Haut bewegte sich, wurde wie von innen durchgeknetet, die Poren öffneten sich und ein schimmernder Ölfilm bedeckte seinen Körper. Noch ein paarmal holte er auf diese eigenartige, pressende Weise Atem, und jeder Atemzug verteilte mehr von dieser klaren Schutzflüssigkeit auf seiner Haut. Sie ließ ihn los. »So«, sagte er, »jetzt können wir weitergehen, aber sagen Sie mir erst, was sich hier abspielt.« »Sie ringen«, sagte Greta kurz; entweder ärgerte sie sich immer noch über sein Desinteresse an ihr, oder der Kampf lenkte sie ab. Sie sahen zu, wie Hadschi Abuwolowo seinen ersten Kampf mühelos gewann. Er warf den Gegner mit einem Hüftschwung zu Boden war mit einem Sprung über ihm und hielt ihn fest. Mit dem Grinsen des Siegers lächelte er Greta zu. »Und wie steht es mit
Ihnen, Fisch?« fragte er. »Ringen Sie auch?« »Nicht mit Ihnen«, sagte Gunnar höflich und in der Absicht, angesichts eigener geringer Fertigkeiten seinen Respekt vor Smyths geübter Kunst auszudrükken. »Ich bin also kein ernstzunehmender Gegner?« Abuwolowo wählte das Mißverständnis. »Oder haben Sie womöglich Angst?« Gunnar spürte Gretas schmale Hand in seinem Rücken und folgte dem leichten Druck, er schritt über die sandige Arena, und je näher er kam, desto mehr bereute der Nigerier seine Herausforderung – der Meermann schien über ihn hinauszuwachsen. Abuwolowo ergriff die Initiative und zielte mit einem gewaltigen Sprung auf den Kopf des Gegners. Der Sprung gelang, doch nicht die Ohrklammer, weil es nichts gab, woran er sich hätte klammern können. Gunnar hatte kleine, fast im Schädel verschwindende Ohren mit zurückgebildeten Muscheln, die als Membranen die Gehörgänge bedeckten. Die ölige Haut ließ Abuwolowo abrutschen, der Schwung des beabsichtigten Kniestoßes riß ihn herum, so daß er schließlich mit dem Rücken unsanft im Sand landete. Der lächerliche Fehlschlag brachte ihn in Wut. Mit einer Rolle kam er auf die Beine, ein kurzer Anlauf, und dann flog er mit angezogenen Beinen in flachem Bogen auf Gunnar zu. Gerade als die ganze Wucht des Sprungs und der ausfedernden Beine ihr Ziel treffen sollten, tauchte Gunnar mit aalgleicher Geschmeidigkeit unter der Flugbahn weg. Abuwolowo rutschte durch den Sand und verlor ein bißchen Haut. Als er aufstand und sich umdrehte, sah er Gunnars Rücken. Er hätte darauf wetten können, daß der
Meermann noch nicht einmal die Füße bewegt hatte. Er verlor die Beherrschung, er wollte töten, und dieser überwältigende Trieb machte ihn heimtückisch. Mit kurzen, lautlosen Jagdschritten lief er von hinten auf Gunnar zu. Mit der vollen Kraft seiner breiten Schultern ließ er einen Axtschwung auf den Nacken des Gegners sausen. Die Handkante traf und federte zurück, und Abuwolowo bemerkte mit Genugtuung, daß für einen Augenblick Gunnars Knie weich wurden. »Sie vergessen Ihren Ehrennamen, Hadschi«, sagte Gunnar mit tieferer Stimme als zuvor. Abuwolowo tanzte einen halben Schritt vor – und flog anderthalb Meter zurück, den Schlag mit der offenen Hand hatte er noch nicht einmal im Ansatz gesehen. Er schüttelte den Kopf, und als sich sein Blick geklärt hatte, sah er Gunnar auf der gleichen Stelle unbeweglich warten. Zum Rückzug war es zu spät, und so trug er seinen neuen Angriff vor, doch ohne Hoffnung. Er spürte, wie ihn die langen, geschmeidigen Arme packten, die am Handgelenk den gleichen Umfang hatten wie an der Schulter. Er konnte nichts dagegen unternehmen, obwohl es so aussah, als habe Gunnar sich nur langsam bewegt. Eine Minute lang hielt ihn der Meermann in einer sonderbar leidenschaftlichen Umarmung an sich gepreßt. Er spürte nur noch von weitem, wie er hochgeworfen wurde und eine lange Zeit in der Luft schwebte, doch an seinen Fall konnte er sich nicht mehr erinnern. Hauptmann-Everezky sprang auf und lief in die Arena, doch Gunnar erreichte Abuwolowo vor ihm. Er kniete nieder und untersuchte die reglose Gestalt. »Wache!« schrie Everezky, als der Meermann
Abuwolowo in seinen Händen zu zerbrechen schien, und er stürzte furchtlos auf ihn zu. »Halt.« Gunnars Worte klangen wie ein Befehl, entweder weil sie aus einer unheimlichen Tiefe zu kommen schienen, oder weil sie die Autorität sicheren Wissens in sich trugen: »Ihm ist nichts geschehen, er wird wieder zu sich kommen. Sein Rückgrat war verletzt, aber ich habe es wieder in Ordnung gebracht.« Diese letzten Worte zerbrachen Everezkys Kodex der Gastfreundschaft. Sie klangen zu sehr nach einem Mechaniker, der ein Robotspielzeug repariert hatte. Everezky stotterte wütend und warf aus geschlitzten Augen, die an seine mongolische Abstammung erinnerten, Messerblicke auf den Eindringling. Dessen ruhige, unbeirrte Haltung ließ auch den Gastgeber die Selbstkontrolle wiederfinden. Als erstes mußten die Wachhunde zurückgehalten werden. »Zurück. Zurück! Ruhe jetzt.« HauptmannEverezkys Aussprache verriet immer noch seine innere Erregung, doch seine Stimme traf den Kommandoton, auf den die Bluthunde abgerichtet waren. Die metallenen Kronen ihrer vergrößerten Schädel glitzerten in der Sonne, als die Hunde sich folgsam umdrehten und ihre Plätze an der Mauer des Chateaus einnahmen. Wieder sahen sie dort wie Statuen aus. Jetzt konnte er sich um Gunnar kümmern. »Mein Herr«, sagte er, und seine Stimme klang fest, »Sie haben einen meiner Gäste verletzt. Das wäre zulässig, doch sind Wiederholungen nicht auszuschließen. Zwischen Ihnen und ihm herrscht Feindschaft. Außerdem«, er hielt inne, faßte sich dann wieder, »außerdem muß ich offen gestehen, daß auch ich Ihr Volk nicht liebe. Ich muß Sie bitten, sich zu entfernen.
Wenn Sie das als Beleidigung auffassen wollen, so stehe ich zu Ihrer Verfügung.« »Sie sind ein mutiger Mann«, sagte Gunnar und zeigte plötzlich seine Zähne, »und auch Ihr Fleisch ist kräftig und gesund, so daß die Beute den Kampf rechtfertigen könnte. Doch Ihre Wege sind nicht unsere Wege. Ich kann Sie nicht zu unserer Art Kampf herausfordern.« Er zog die Lippen fast bis zum Nakken zurück und ließ den Kiefer fallen, so daß Everezky in den zähnebewehrten Rachen starrte. »Ich müßte Sie sonst bitten, mit mir ins Wasser zu kommen, um unseren Regeln Genüge zu tun, und«, fragte er mit einem rhetorischen Humor, den außer ihm niemand zu teilen vermochte, »welche Chancen würden Sie sich dann ausrechnen?« »Danke«, sagte Everezky, ohne seine Verachtung für den Kannibalen zu verbergen. »Ich muß Sie dennoch fragen, wann Sie mein Haus zu verlassen gedenken.« »Ich bitte um Ihre Nachsicht, sich bis heute nacht zu gedulden, dann ist die Strömung am günstigsten.« Everezky nickte. Der Meermann wandte sich um und schritt zum Uferpfad, als ob er sich erinnerte, ihn schon einmal benutzt zu haben. Unten am Strand beobachtete Gunnar das Meer. Er hielt Ausschau nach den Zeichen der hereinkommenden Flut, die sich zwar nicht mit der des heimischen Ozeans vergleichen konnte, hier wegen der Meerenge aber doch höher kam als sonst im Mittelmeer. Strandgut würde bald angespült werden, der Abfall der See; ausgespien, um am reinigenden Uferstreifen in die reinen Grundstoffe des Lebens zu zer-
fallen. Tang, tote Fische und Quallen würden bald vor den wachsenden Wellenkämmen dahertreiben, um schließlich die Grenzlinie zwischen seinem und Everezkys Reich zu markieren. »Landtreter«, sagte er gedankenverloren, »du kapierst nichts.« Er schwieg, bückte sich, legte die Hand flach auf den Sand. Er spürte Bodenerschütterungen – Schritte näherten sich. Zwei Diener erschienen, die seinen Schwimmanzug trugen. Mit steifen Rücken und zusammengebissenen Zähnen zeigten sie ihre Angst mehr an, als daß sie sie verbargen. Hinter ihnen tauchten zwei weitere Bedienstete und eine Küchenmagd auf. Die beiden ersten legten ihm den Anzug vor die Füße, doch in einem Abstand, den sie außerhalb der Reichweite seiner Arme wähnten. Dann zogen sie sich einige Schritte zurück und kauerten sich nieder, um auf die anderen zu warten. Mißtrauisch verfolgten sie seine Bewegungen, bis die Frau mit ihren Begleitern herangekommen war. »Meine Grüße an Euch«, sagte Gunnar in der bei solchen Gelegenheiten üblichen Formelsprache, als die Frau stehenblieb. Sie stand breitbeinig da, und ihre Hüften waren stark von den vielen schweren Wassereimern, die sie jahrelang die in den Fels gehauenen Stufen emporgetragen hatte. »Grüße«, sagte sie in einem griechischen Dialekt, der ebenso entstellt war wie die Buchstaben auf alten skythischen Münzen. Sie allein erwiderte seinen Blick mit Gleichmut. »Sprich«, sagte er, während er den vollen Halbkreis von Strand und Horizont absuchte. Seine Augäpfel drehten sich dabei unabhängig voneinander. Er
wußte, was nun kam – dreimal hatte er nun diesen Ritus abgehalten. Sie watschelte auf ihn zu, den Zeigefinger der linken Hand auf sein Gesicht gerichtet. Als sie seinen geschlossenen Mund berührte, verwandelte ein tranceartiger Ausdruck ihre groben Züge, und die attische Unterwerfung unter den Götterwillen beherrschte ihren Geist. Gemäß dem Brauch öffnete er die Lippen und – mit scharfem Schnappen – biß er das erste Fingerglied ab. Der Übelkeit erregende Geschmack nach warmem Blut und dreckigem Fingernagel füllte seinen Mund. Er schluckte rasch, und sprach: »Ich habe das Opfer angenommen. Sprich.« Die Frau ließ es sich nicht nehmen, einen triumphierenden Blick zurück auf ihre Begleitung zu werfen, und Gunnar dachte: »Arme Kerle. Jetzt ist sie also eine ausgewachsene Hexe, häßlich und mit absoluter Macht begabt in allen Dingen.« Sie würde diese Macht rücksichtslos ausnutzen. Ihre Sprache würde aus Befehlen bestehen. Sie brauchte nur die verstümmelte Hand auszustrecken, das Zeichen der abgeworfenen Hörner, und ein Mann würde in ihr Bett kommen, oder ein Mädchen in seins. Jedoch, viel wichtiger als dies alles – ihre Macht würde die Leibeigenen zu einer Einheit zusammenfügen. Zu einer Gruppe, die geschlossen die Anweisungen befolgen würde, die Gunnars Volk – wenn die Zeit reif war – erteilte. Er wußte, daß die Eigentümer und Erben der Erde ihre Welt gut genug verstanden, die abstrakten Zusammenhänge der Pläne und Formeln. Er wußte auch, daß sie in der Praxis keinen Zugang hatten zu den Schaltern, den Ventilen und zu all den simplen
Werkzeugen für die Steuerung. »Lebten deine wahren Gedanken in deiner Rede, als du uns versprachst, Großer Fisch, den Herrn zu vertilgen?« Gunnar gab die festgelegte Antwort: »Ihr habt zu uns gebetet.« »Dämon des Poseidon, möge mein Volk gerettet werden.« Auch sie kannte den Ritus. »Ich bin kein Dämon, ich diene ihm.« Er erhob sich und riß den Mund zu jenem zähnefletschenden Gähnen auf, das Everezky so beeindruckt hatte. »Poseidon wünscht noch mehr Diener, die das Meer lieben.« »Wir sind bereit, das Zeichen zu empfangen.« Gunnar biß sich ein Stück aus der Fettschicht seines Unterarms und spuckte es in ihre zu einer Schale geformten Hände. Sie folgte dem Zeremoniell und küßte es, dann ließ sie es in einer schmutzigen Tasche ihrer Bluse verschwinden. »Wenn sich die Zeit erfüllt, kehre ich wieder.« Er sah ihnen nach. Die Frau hatte die Führung übernommen, die Männer folgten ihr mit gebeugtem Nacken. Gunnar war von Scham erfüllt. Nicht etwa wegen seiner Drohungen gegenüber seinem Gastgeber oder wegen der Folgen dieser Drohungen. Er hatte den Ablauf der Ereignisse sorgfältig geplant, und seine Rolle darin hatte er schon mehrmals gespielt. Sein Volk konnte nicht hoffen, gegen die Landbewohner zu bestehen, wenn den Ausgang des Kampfes Zahl und Ausrüstung bestimmen sollten. Die Meerstädte waren leicht verwundbar. Ferngesteuerte Torpedos einfachster Art konnten die Kuppeln zerstören, und wirtschaftliche Sanktionen würden die Farmer der
Unterwasserplantagen und ihre Städte der notwendigen Lebensgrundlage berauben. Nein, er schämte sich nicht seiner Methoden, sondern der unmännlichen Zimperlichkeit, die ihn überrascht hatte. Übelkeit zu empfinden – und das schon beim geringsten Geschmack von Menschenblut! Gewiß, die stärkereiche Nahrung der Luftatmer und der dunkle Braten ihrer Mahlzeiten verliehen ihrem Fleisch einen fremdartigen, unangenehmen Geschmack. Doch so anders schmeckten sie auch wieder nicht als die Gegner, die er im Duell, nach tagelangen Jagden, in den heimischen Gefilden getötet hatte. Er unterbrach den Gedankenfluß und beobachtete das Meer mit geschärften Sinnen. Es hatte keinen Sinn, sich Sorgen zu machen, was ihn wohl so beunruhigte. Er wußte, daß Entspannung ihm helfen würde, doch er litt immer noch unter dieser seltsamen Beeinträchtigung seiner Fähigkeiten. Er atmete tief, sog die Luft in langen Zügen ein, ohne zwischendurch auszuatmen, bis Bauch und Zwerchfell sich wie eine pralle Blase wölbten. Langsam dann stieß er die Luft durch die Nase aus, lautlos und gleichmäßig. Schließlich veränderte sich die Haltung der im Sand liegenden Gestalt. Sein ganzer Körper wurde schlaff, die Gliedmaßen lagen da, als gehörten sie nicht zu ihm, der Kopf fiel zur Seite. Doch die Augen verrieten Leben. Sie drehten sich in den Augenhöhlen unabhängig voneinander und suchten die Meeresoberfläche ab. Diese Art der optischen Sinneswahrnehmung ging auf Untersuchungen über das Nervensystem der Frösche zurück, aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Eine Rückkopplungsschleife setzte an den Sehnerven an und führte unter Umgehung des Ge-
hirns die optischen Reize wieder dem Auge zu. Jedes Auge steuerte also seine Bewegungen selbst, und nur wichtige Änderungen des empfangenen Bilds wurden dem Gehirn weitergemeldet. Beispielsweise wichtige Änderungen auf der Wasseroberfläche. Nach wenigen Sekunden bereits begannen Gunnars Beine zu zucken, die Augenlider schlossen sich, und die Augen selbst schienen sich in den Schädel zurückzuziehen. Er zog die Knie an und legte die Arme darum. In dieser kindlichen Stellung blieb er einige Zeit sitzen, und während er nachdachte, überzog ein breites Grinsen sein Gesicht. Hauptmann-Everezky war ein Narr, dachte er. Dann stand er auf, seine schlangengleiche Bewegung floß in raschen Lauf über, mit dem er das Meer erreichte. Seine letzten Gedanken vor dem Sprung in die Wellen drehten sich um seinen Hunger, doch nahm er sich auch vor, zur Überprüfung seiner Ansichten über Greta nochmals zum Strand zurückzukehren. Er tauchte in ein Wellental und ließ sich von der Unterströmung zur steilen Untiefe hinter der Brandung tragen. Mit einem freien Salto stieß er sich zu dem mit Felsblöcken übersäten Grund hinab, die Strömung trug ihn zwischen die Felsen. Er schätzte seine Geschwindigkeit ab und bremste seine Fahrt hin und wieder, indem er die Fersen in den Sand stieß. Gleichzeitig änderte er damit leicht seine Richtung zu einem Zickzack-Kurs durch die Blöcke, wie ein Polospieler, der sein Pony mit leichtem Sporendruck leitet. Als er die Taucherkugel bemerkte, die Everezky hatte hinabsenken lassen, wünschte er sich einen Augenblick lang seine Schwimmflossen, doch der Gedanke störte ihn nicht lange. Die Kugel konnte
nicht mehr als drei Männer aufnehmen, dachte er sich, dann schwamm er auf die Schleuse zu. Die drei Wachen sahen ihn, sobald er in den Lichtkreis der Taucherkugel gekommen war. Sie drängten aus der offenen Schleuse heraus. Gunnar packte den ersten im Nacken, kaum daß er die Schleuse verlassen hatte. Die anderen hatten damit gerechnet, daß er im Kampf mit dem ersten Mann genug Zeit verlieren würde, um ihnen ein erfolgreiches Eingreifen zu ermöglichen. Sie hatten nicht mit Gunnars primitiver Taktik gerechnet. Er hielt den Mann wie man eine Katze hält und riß ihm das Mundstück des Sauerstoffgeräts aus dem Gesicht. Dann richtete er ihn nach unten, gab ihm mit der breiten Hand auf den Hinterbacken einen Stoß und bekam ihn so unter seine stampfenden Füße. Der zweite Kämpfer versuchte, ihn mit einem Schuß aus seiner Druckharpune zu erwischen. Obwohl er sich lächerlich langsam vorkam, konnte sich Gunnar rechtzeitig ducken. Er fing das Geschoß knapp über der Schulter ab und rieb den Stab seinem Widersacher in den Magen. Er zerrte ihn am kraftlos herunterbaumelnden Arm aus der Schleuse, ohne sich weiter um den schmerzverkrümmten Mann zu kümmern. Der dritte aus Everezkys Mordkommando zog es vor, sich am Kampf nicht zu beteiligen. Gunnar zeigte ihm an der erleuchteten Luke sein grinsendes Gesicht, dann verschwand er zum Oberteil der Kugel. Er packte den Kabelring, und mit raschen Beinstößen legte er die Taucherkugel auf die Seite. Noch ein paar kleine Korrekturen, und die Schleuse legte sich sauber auf den Schlick. Gunnar überprüfte sein Werk mit Befriedigung, dann schwamm er auf den Mann zu, der mit
zum Magen angezogenen Beinen sich auf dem Meeresgrund wälzte. Vergeblich wehrte er sich mit letzter Kraft, als er spürte, wie er langsam aus dem Taucheranzug gezogen wurde. Nur Zentimeter von seiner Sichtplatte entfernt, beobachtete ein rundes Gesicht friedlich das letzte Zucken seiner Züge. Der Strand lag verlassen da, als Greta endlich dem Chateau entfliehen konnte, um den Meermann zu suchen. Sie fand nichts und stieß ärgerlich mit dem Fuß den Sand in die nächtliche Brise. Gerade wollte sie gehen, da sah sie etwas in dem Schaum der heranrollenden Wellen durch die Wasseroberfläche stoßen. Sekunden später watete Gunnars Gestalt auf den Strand zu. Er bückte sich, griff unter die Oberfläche und holte eine Handvoll Sand heraus, mit dem er sich den Mund abwischte. Als er näherkam, bemerkte sie, wie er mit der Zunge in die Zwischenräume seiner Zähne fuhr. »Hallo«, sagte sie, da ihr im Augenblick nichts anderes einfiel. Sie zog den langen Umhang fester. »Hallo«, sagte er, und als er sie zittern sah: »Kommen Sie, Sie sind die Nachtluft ohne die schützenden Feldschirme nicht gewohnt.« Er ging voran bis zu einer windgeschützten Stelle unter der Klippe. »Was machen Sie hier?« Greta wußte es nicht. Sie wußte nur, daß sie sich von ihm angezogen fühlte und daß dies der erste Mann war, für den sie mehr empfand als nur das Gefühl der Vertrautheit, doch sie sagte: »Nun ja, Sie haben Abuwolowo so mühelos besiegt.« »Tja, für die Ehre der geliebten Dame«, sagte Gunnar mit gespieltem Pathos, doch schloß er keine Frage an.
Greta bedachte ihn mit ihrem verführerischsten Lächeln. »Ich könnte meinen Schwager dazu überreden, Sie bleiben zu lassen. Er ist mir verpflichtet.« Gunnar hätte ihr nun von dem Zwischenfall berichten können, den er gerade hinter sich gebracht hatte, doch wieder ergriff ihn diese seltsame Scheu. »Er würde mich nicht gern in seiner Nähe wissen«, sagte er. Und wiewohl er sonst Nuancen dieser Art nicht wahrnahm, hörte er aus der eigenen Stimme ein uneingestandenes Zögern heraus. »Er denkt aber immer an seine Gäste, sie sollen sich zerstreuen, sich wohlfühlen«, sagte Greta und kicherte leise über etwas, das ihr insgeheim Belustigung zu bereiten schien, »und die Gäste fangen an, sich zu langweilen. Schlimm zu langweilen«, schloß sie entschieden. »Und ich würde sie auch bald langweilen, kleine Greta.« Mit einer Andeutung ungestümer Kraft fuhr er ihr durchs Haar, und sie trat noch einen Schritt auf ihn zu. »Mich würden Sie nicht langweilen. Niemals.« Sie hob das Gesicht, und Gunnar sah die sanft geschwungene Linie ihres Halses. Schlank, doch jugendlich gerundet mit einer appetitlichen Schicht Fett. Nach den erstaunlichsten Regeln seiner Ideologie hätte er sie töten müssen – eine junge Zuchtstute des Feindes. »Nein«, sagte er, als gebe er dem Rat der Alten in der Kuppel unter dem Meer eine Erklärung ab. »Nein, ich weiß etwas besseres.« Greta war es allmählich leid, auf eine Umarmung zu warten, die nie kam. In veränderter Haltung fragte sie irritiert: »Was haben Sie gesagt?«
»Nichts.« Erklärend fügte er hinzu: »Ich muß zurück zu meiner Familie. Ich war lange fort.« »Sie meinen, zurück zu Ihrer Frau.« »Ich bin noch zu jung, um in den Gezeiten der Fortpflanzung zu schwimmen.« Der Sinn dieses Bildes entging Greta, doch an der Oberfläche konnte diese Aussage als Kompliment verstanden werden – ein kleiner Sieg, dennoch. »Kommen Sie zurück, wenn es soweit ist?« Gunnar hatte die Ursache seiner Schwäche gefunden. Irgendwie war es ihr gelungen, ihn die Bedeutung einfacher Worte zu lehren. Er lächelte. »Natürlich. Wohin sonst sollte ich gehen, jetzt?« Greta hatte ihre ganze sorgfältige Erziehung vergessen, die Künste und Tricks, die man ihr beigebracht hatte. Sie strahlte auf, legte die Arme um ihn, preßte den Kopf an seinen Bauch. »Vielen Dank«, sagte sie, in koketter Würdigung der Schmeichelei. »Gern geschehen«, sagte Gunnar, dem es gelang, seiner Stimme keine Heiterkeit anmerken zu lassen. »Aber Sie könnten mir einen Gefallen tun.« Ehe er fortfuhr, betrachtete er aufmerksam die Wasseroberfläche. Es wurde Zeit, sah er, dann wandte er sich ihr wieder zu. »Es ist ganz einfach«, sagte er. »Richten Sie Ihrem Schwager folgendes aus: Krieg wird man an Stellen führen, an die er bis jetzt noch nicht gedacht hat.« »Ja?« sagte Greta verständnislos. »Mehr nicht.« Gunnar tätschelte ihr freundlich den Kopf. Er setzte sich hin, zog sich den Schwimmanzug über, legte die Flossen an. Nachdem er die Maske angelegt hatte, konnte er nicht mehr sprechen – schweigend watete er in die auslaufenden Wogen und ver-
schwand. Ein wenig später, noch in der gleichen Nacht, unterhielt er sich mit den Delphinen, scheuchte eine Herde silbriger Fische ins Mondlicht und tauchte dann in befreiendem Spiel in einen Strudel, dessen Strömungsarme ihn in der Richtung freigaben, in der die Heimat lag. Greta überbrachte Hauptmann-Everezky die mysteriöse Botschaft. Er beachtete sie wenig, und als die Jahre kamen und gingen, dachte sie weniger und seltener an Gunnar. Als ihr das Erlebnis der Jugend wieder einfiel, war es zu spät. Die aus der Brandung auftauchenden Gestalten, denen die Leibeigenen zur Begrüßung entgegenliefen, waren nicht Gunnar. Sie waren triumphierende Sieger. Die Insel war abgeschnitten, hatte keine eigene Streitmacht, die Dienstboten erhoben sich – und die Erinnerung an vergangene Tage bot keinen Schutz. Der Krieg war vorüber – weder sie noch ihr Schwager wußten davon. In den unterirdischen Versorgungstunnels schlugen ohnmächtige Funken aus den herausgerissenen Starkstromkabeln. Wasser strömte aus den herausgerissenen Leitungen. Und weder Klingeln noch Rufe, wie laut oder befehlend auch immer, holten die Dienstboten von ihren Willkommens-Gesängen zurück. Das stets willfährige Gesinde stand nur schweigend dabei und sah mit dunklen, ausdruckslosen Augen zu, wie die Fische kamen und mit Greta ihr Spiel trieben. Originaltitel: SEA WRACK
C. C. MacApp STRANDGUT IM ALL Datum: 5. Juni 1987 An: Kommandant, UdSSR Hauptqurtr. Mars (Persönlich!) Von: Kommandant, UdSSR Pluto Expedition Betrifft: TS Perischka C. Code: Amerikanischer Raumfahrer, irre. Wofka, vorsichtshalber sende ich Dir diese Nachricht »persönlich«, weil die Möglichkeit besteht, daß alles eine offensichtliche Falle ist. Vielleicht wird eine vorsichtige Spionage-Unternehmung auf dem Mars oder der Erde ans Licht bringen, welche Hinterlist die Amerikaner jetzt wieder vorhaben, ehe wir uns in ein Propaganda-Debakel treiben lassen. Vor zwölf Stunden machte die Radarabteilung einen kleinen Flugkörper im Raum aus, dessen Flugbahn ihn ziemlich dicht an uns heranbringen würde, wenn auch mit etwas geringerer Geschwindigkeit. Da ich wußte, daß ein amerikanisches Raumschiff bereits in Plutonähe steht, und daß die bestimmt von unserer Expedition gehört hatten, versetzte ich mein Schiff umgehend in höchste Verteidigungsbereitschaft. Je näher wir kamen, desto deutlicher stellte sich jedoch heraus, daß es sich bei dem Flugkörper nicht um eine Mine oder einen Torpedo handelte, sondern um einen Raumanzug, an dem eine Menge anderer Objekte befestigt waren. Natürlich hätte der Anzug oder die an-
deren Objekte Sprengkörper enthalten können, daher ging ich nur unter Beachtung sämtlicher Vorsichtsmaßregeln vor. Aus nächster Nähe fingen wir ein schwaches Radiosignal auf, eine Sendung in Englisch; doch war die Antenne nicht auf uns gerichtet, sondern anscheinend in die entgegengesetzte Richtung. Wenn es sich um eine verschlüsselte Mitteilung gehandelt haben sollte, so ist es uns nicht gelungen, den Code zu knacken. Unser Dolmetscher, den wir möglicherweise nochmals einer ideologischen Überprüfung unterziehen müssen, konnte uns nur mitteilen, daß die offenbar männliche Stimme einen Kindervers aufsagte: Hänschen klein. Die Deklamation war monoton und wurde ohne Unterbrechung wiederholt. Kurz darauf ergab eine teleskopische Untersuchung folgenden Sachverhalt: 1. 1 Raumanzug, offensichtlich besetzt. 2. 2 Behälter, je 300 Liter geschätztes Fassungsvermögen, mit kurzen, starren Verstrebungen am Anzug befestigt. 3. 4 Bündel, Inhalt etwa 0,5 Kubikmeter, an den Hosenbeinen des Raumanzugs festgezurrt. 4. 1 Behälter, zylindrische Form, Länge rund drei Meter, Durchmesser 0,7 Meter, zwischen den Beinen des Raumanzugs derart angebracht, daß der Insasse des Raumanzugs darauf zu reiten scheint wie auf einem Pferd. 5. 1 Bogen groß, mit dem der Insasse des Raumanzugs Pfeile abfeuerte oder abschoß, Richtung der Geschosse: senkrecht zur Bahnkurve um Pluto (also nicht auf uns), Schußfrequenz: 0,125 Sekunden
hoch minus eins, (also ein Pfeil in acht Sekunden). Erläuterung: Die Pfeile kamen aus dem langen Zylinder, auf dem der Raumanzug ritt. Nachdem er unsere Annäherung bemerkt hatte, hörte der Insasse des Anzugs auf, Pfeile zu verschießen. Er sendete auf Englisch die folgenden abschließenden Worte: »Jungs, wenn Ihr mich noch empfangen könnt – also ich hab Iwan gefunden.« (Daß er meinen Vornamen kannte, ist höchst aufschlußreich!) Diese letzte Meldung wiederholte er einige Male, dann wartete er in anscheinender Ruhe, bis wir ihn aufnahmen. Unsere Untersuchung seiner Ausrüstung verlief negativ in bezug auf Explosivstoffe. Die Bündel enthielten Batterien für die Versorgung des Raumanzugs. Einer der 300-Liter-Behälter war halb mit Brei gefüllt, der andere ebenfalls halb mit Körperausscheidungen. Der flüssige Brei wurde dem Raumfahrer durch einen Plastikschlauch zugeführt, dessen Durchführung durch den vorderen Helmteil abgedichtet war. Er konnte daher Nahrung einfach dadurch aufnehmen, daß er das Schlauchende in den Mund nahm und den Brei einsaugte. Die Abführung der Ausscheidungen erfolgte mittels einer ähnlichen, wenn auch fest angebrachten Einrichtung. Diese zeigte zwar eine überraschende Funktionalität, obwohl sie dem Insassen des Anzugs offensichtlich peinlich und nach seiner Aussage auch unbequem war. Die Lebenserhaltungs-Anlagen des Raumanzugs befanden sich in gutem, gebrauchsfähigem Zustand, und die darin befindliche Luft ließ sich ohne Nachteile atmen, sie war jedoch nicht so frisch wie man es wünschen konnte. Der lange zylindrische Behälter
enthielt zu etwa einem Drittel des Nutzraums Pfeile, den Rest hatte der Raumfahrer verschossen. Die Pfeile sind aus einer Stahlplatte (ähnlich einer Raumschiffshaut) mit einer Bügel-Metallsäge herausgeschnitten. Der Bogen besteht aus Federstahl, und die Sehne aus verdrilltem Feindraht. In beiden Fällen wurden Legierungen verwendet, die in der Kälte des Weltraums elastisch bleiben und nicht verspröden. Ganz offensichtlich dienten die Pfeilschüsse des Raumfahrers dem Zweck, seine ursprüngliche Fahrt mittels Rückstoßwirkung auf einen Wert zu bringen, der ein Rendezvous mit uns erlaubte. Nichtsdestoweniger muß die Berechnung und Ausführung eines derartigen Manövers als mit einem solchen Schwierigkeitsgrad behaftet angesehen werden, daß eine solche Vorstellung unglaubwürdig ist. Nach seinen Angaben hat der Mann »Hänschen klein« aufgesagt, weil er den Rhythmus der Verse als sogenannte Eselsbrücke für die genaue zeitliche Reihenfolge der Pfeilschüsse benutzte. Weiterhin sollen die Pfeile mit einer bestimmten Varianz um ein mittleres Gewicht schwanken, und der Bogen solle den Pfeilen einen reproduzierbaren Impuls mitteilen, wenn die Sehne bis zu einem bestimmten Punkt durchgezogen wird. Auf diese Art und Weise habe er einen berechenbaren Rückstoßwert erzielt. Trotz eingehender und wiederholter Befragung bleibt der Amerikaner bei dieser Aussage und gibt an, er sei geschickt worden, um uns um Hilfe für seine Genossen zu bitten. Diese sollen (wie er behauptet) sich in einer Abteilung ihres Schiffes aufhalten, das eine gefährlich enge Kreisbahn um Pluto beschreibt. Selbstverständlich kaufe ich ihm dieses Märchen nicht ab. Dennoch sehe ich zur Zeit
keine Gefahr darin, mich der angegebenen Stelle zu einer genaueren Untersuchung zu nähern. Ich habe volles Vertrauen, daß wir mit jeder List fertigwerden, die sich die Amerikaner ausgedacht haben könnten. Die Aussage des Gefangenen ist in ihrer Gänze derart lächerlich, daß ich nicht versuchen will, sie zusammenzufassen, sondern sie im Wortlaut beifüge. Ich vertraue darauf, daß Du diese Angelegenheit mit der gleichen Vorsicht behandeln wirst, die mich dazu bewogen hat, Dir diese Mitteilung persönlich zu übersenden. Alte Kameraden müssen zusammenhalten. Unterzeichnet: Iwan Dzbrown, Kommandant Geständnis des irren Amerikaners: Hallo. Nix, ich nicht sprechen Russki. Ich verstehe ein bißchen Baskisch, wenn euch das weiterhilft, von meiner Mutter her. Oh, Sie sprechen Englisch! Donnerwetter, Sie machen das aber gut. Ach, Sie sind in Massachusetts geboren? Hübsche Gegend. Ich war 'ne Zeitlang dort, als ich meinen Doktor machte. Okay, also die Sache ist so: Ihr habt wahrscheinlich gehört, daß wir uns in den Kopf gesetzt hatten, als erste auf Pluto anzukommen. Das hat uns nur vierhundert Milliarden Kiesel gekostet, ha, ha! Ihr hättet den alten Johnson heulen hören sollen, den ExPräsidenten, meine ich. Nun, jedenfalls, wir verabschiedeten uns vom Mars in gar nicht so schlechter Verfassung, und als wir uns in den Orbit um Pluto hängten, ging es uns auch noch Klasse. Aber dann merkten wir, daß die Düsen nicht so richtig wollten, und nach einem Computer-Check und allem Drum
und Dran beschlossen wir, daß jemand besser mal rausginge und sich die Sache beglotzen sollte. Ich war dran, weil ich im Anzug die meiste Erfahrung habe. Deswegen bin ich auch hier. Gut. Kaum kam ich nach hinten, da sah ich schon etwas um die Düsen herum kleben, das auf den ersten Blick wie verbackene Asche oder Ölkohle aussah. Als ich näherkam, sah es eher aus, als hätten sich Trauben, die von der schwarzen Sorte, um die Düsenöffnungen gehängt. Ich bückte mich und wollte nachsehen, da kam doch was angeflogen und verpaßte mir ein gehöriges Ding aufs Hinterteil. Als erstes dachte ich, ein Gott, ein Meteor; aber der Raumanzug hatte kein Loch bekommen, und ich war noch lebendig. Dann sah ich noch mehr davon heransausen, und ich hangelte mich an der Leine von den Düsen weg, denn dahin zielten sie alle. Ich rief den Käpt'n, und der sagte mir, ich sollte draußen bleiben und weiter aufpassen, wenn's nicht zu gefährlich werden sollte. Die Dinger kamen von allen Seiten angeflogen und hängten sich um die Düsen wie Bienenschwärme. Aber so viele waren es eigentlich nicht, wie Bienen, meine ich, und nicht lange, da kam überhaupt nichts mehr. Und nach einer Weile flogen einige sogar wieder fort. Aber nicht alle, und immer noch hingen genug um die Öffnungen, um den Antrieb zu versauen. Ab und zu löste sich mal eins, oder auch zwei, und flog davon, und dafür kamen ein paar andere und setzten sich fest. Ich nahm eins von den Werkzeugen, die wir im Raumanzug haben – ich nehme an, ihr habt so was auch – und hackte an ihnen herum, aber die saßen
bombenfest. Die einzigen, die ich losbekam, waren wahrscheinlich die, die sowieso weggeflogen wären. Na gut, ich griff mir mal eins davon und ließ es aber gleich wieder los, weil ich spürte, daß es sich irgendwie zusammenkrümmte und wand wie ein Wurm. Ich spürte das sogar durch den Handschuh, aber es hatte sich in Wirklichkeit überhaupt nicht bewegt, wie ich feststellte, als ich es losließ. Es sah aus wie ungefähr zwei Drittel von einem Klicker, etwa anderthalb Zentimeter im Durchmesser, na ja, vielleicht spielt ihr keine Klicker, als Kinder, also sagen wir mal, es sah aus wie eine mattschwarze Kugellager-Kugel, von der ein Drittel flach abgeschnitten war. Diese glatte Fläche strahlte in blauem Licht, und das gab dem Ding eine tolle Beschleunigung, und davon hatte ich den blauen Fleck am Hintern bekommen. Zuerst hatte ich ein bißchen Angst, es könnte sich um eine Art Ionen-Strahltriebwerk handeln und mir ein Loch in den Handschuh oder den Anzug brennen, aber das war's nicht. Ich besah mir noch ein paar andere und merkte, daß sie sich in jede Richtung drehen konnten, indem sie an irgendeiner Stelle am Rand der glatten Fläche ihr blaues Licht leuchten ließen, und dann, wenn sie irgendwo hinwollten, knipsten sie halt das ganze Licht an. Wir haben später ein bißchen mit ihnen herumgepopelt und dabei herausgefunden, daß sie eine Beschleunigung von ungefähr ... aber darüber wollen wir jetzt nicht reden. Die Zahlen befinden sich im Schiff, oder was davon übrig ist, und – zum Teufel mit dem Geheimkram – wenn ihr uns rettet, ist es nur recht und billig, wenn wir euch die Unterlagen geben. Zusammenarbeit in der Wissenschaft, ha, ha!
Na gut, ich habe also was riskiert und mir den nächsten geschnappt, der angesegelt kam, und den hab ich dann so gehalten, daß das blaue Licht von meiner Hand wegschien. Ich war ganz schön aufgeregt, ich konnte den Antriebsdruck spüren, aber er reichte nicht aus, mir das Ding aus der Hand zu schlagen. Vielleicht ist das der Grund, warum die da draußen bleiben, wo die Anziehungskraft der Sonne nicht so stark ist und wo die stabilen Kreisbahnen um die Sonne nicht eine so hohe Geschwindigkeit erfordern. Von Pluto waren sie immer noch weit genug weg, so daß der sie nicht einfangen konnte. Als ich dann wieder den Käpt'n an die Muschel kriegte, hielt der mich für total übergeschnappt und rief mich sofort zurück. Aber ich hatte das Ding mitgebracht und konnte es vorzeigen. Das war doch nicht so furchtbar schlau, wie sich bald herausstellte, denn ich mußte wieder raus und beobachten was passierte, wenn die da drinnen die Düsen ein bißchen kitzelten. Ich kann euch flüstern, als die Düsen losfeuerten, dachte ich, jetzt fällt die Klappe für mich. Wie Hornissen kamen die Dinger von allen Seiten dahergeschossen. Ihr wißt ja, wie heiß so ein Düsenrand wird, selbst mit 'nem kleinen Schluck aus der Pulle, und wie schnell es dort wieder kalt wird, so im freien Raum? Ja, hab ich mir gedacht. Nun, jedesmal wenn wir die Düsen auch nur ein kleines bißchen kitzelten, kamen die Dinger angesaust. Ich merkte bald, daß es am gesündesten für mich war, wenn ich ein paar Meter voraus vor den Düsen stand und mich still verhielt, dann flogen sie im Bogen um mich herum. Sowie das Metall abkühlte, flogen ein paar wieder
fort. Aber andere blieben auch sitzen, das waren wahrscheinlich die Faulen. Nun, wir waren ziemlich aufgeregt und haben versucht, den Mars anzufunken – die Erde ist ja im Augenblick von hier aus hinter der Sonne –, aber die schienen uns nicht zu empfangen. Ihr könnt euch ja denken, er schließlich wieder in den Anzug mußte um nachzusehen, was in unsere Antenne gefahren sei. Wenigstens hatte ich eine kleine Verschnaufpause, während sich der Käpt'n und der Funkoffizier gehörig in den Haaren lagen. Aber als ich dann 'rauskam, was denkt ihr wohl, habe ich gesehen? Richtig. Jedesmal, wenn wir auch nur ein bißchen Saft aus der Antenne schicken wollten, kamen diese verdammten abgesägten Klicker und setzte sich auf die Antenne wie Fliegen auf 'nen Scheißhaufen. Das könnt ihr wohl verstehen, wie? Irgendwo hab' ich mal gelesen, daß ihr ziemlich gut in Ackerbau und Viehzucht seid. Allmählich dämmerte es mir, daß diese Dinger vermutlich jede Art Strahlungsenergie aufsaugen konnten, von Radiowellen bis herunter zur Wärmestrahlung – und so war es dann auch. Unsere Untersuchungen haben das bewiesen, aber sie zeigten auch, daß sie hitzebeständig waren. Die ließen sich nicht beeindrucken, bis wir sie auf Weißglut gebracht hatten, und dann sind sie verreckt. Die Schwierigkeit war nur die, daß ein paar zwar in den Düsen verkokt wurden, aber das schweißte sie gleichzeitig auch fest. Die Düsenöffnungen verstopften sich derart, daß wir uns nicht mehr trauten, da noch etwas hindurchzujagen – das Schiff wäre uns sonst um die Ohren geflogen. Sicher, wir haben alles mögliche versucht, wie etwa
die Düsen von Hand freizusägen. Aber alles hatte keinen Zweck. Sowie wir hinten auch nur den kleinsten Strahl herausbliesen, hatten wir den ganzen Schwarm wieder da. Nun wollten wir natürlich nicht steuerlos auf Pluto 'runterplumpsen, deshalb benutzten wir die Stabilisierungsdüsen und die Feinsteuerung, um uns in eine stabile Kreisbahn um Pluto abzubremsen. Die werden ja, wie bei euch auch, mit Druckluft betrieben, darum kümmerten sich die abgesägten Kugeln nicht. Was von unserem Schiff übrig ist, werdet ihr inzwischen auf eurem Radar haben. Wir konnten uns nicht mehr bewegen, und wir konnten keine Hilferufe mehr absetzen; aber empfangen konnten wir noch alles. So hörten wir auch, daß ihr ebenfalls in diese Gegend kommen wolltet, und wir dachten uns, wenn wir euch rechtzeitig warnen könnten, dann könntet ihr hier warten und uns aufnehmen, wenn wir's so weit in Richtung Sonne schaffen. Hier zu euch scheinen sich die Dinger ja noch nicht hinzutrauen, die Anziehungskraft der Sonne wird ihnen wohl bereits zuviel. Wenn ihr Platz für uns habt, schafft es die restliche Mannschaft schon bis hierher. Wie ich sehe, habt ihr da ein schönes, großes Schiff. Weiter. Da wir keinerlei Möglichkeit hatten, euch über Funk zu erreichen, überlegten wir uns, wie wir einen von uns rechtzeitig hierherschaffen könnten. Nach unseren Berechnungen hatten wir aber nicht genug Lufttanks, um eine Druckluftdüse über den ganzen Weg zu betreiben. Wie gesagt, um Luft kümmern sich die Mistkäfer nicht. Wir haben sie Mistkäfer getauft, aber wahrscheinlich wird sich irgendein dämlicher Wissenschaftler die Dinger unterm Ver-
größerungsglas angucken und ihnen dann einen noch dämlicheren Namen geben. Wir hatten noch Zeit, aus den abgehörten Meldungen wußten wir, daß ihr erst nach 'ner Weile hier auftauchen konntet, und so blieb uns also die Möglichkeit, noch ein paar ziemlich haarsträubende Versuche zu machen, die schließlich zu dem Klapperatismus führten, in dem ihr mich habt herkommen sehen. Drei Wochen lang hatte ich noch Zeit, auf der Kiste meinen Führerschein zu machen, ha, ha! Wenn ich eine bestimmte Richtung nehmen will, dann schieße ich meine Pfeile einfach in die entgegengesetzte Richtung. Ihr wißt ja, Actio ist gleich Reactio ... Oh, Pardon, vielleicht bringt man euch die andere Seite der Gleichung nicht bei, ihr habt ja was gegen Reaktionäre. Jedenfalls, Eure Düsen, und unsre auch, arbeiten nach dem gleichen Prinzip. Und wenn ich 'ne Kurve kratzen will, dann schieße ich einen oder mehrere Pfeile nach der anderen Seite, in die ich eigentlich will. Ich bin jetzt ziemlich gut. Offengestanden, ich könnte in dieser Disziplin Weltmeister werden, hm, mal sehen, vielleicht bei den nächsten olympischen Spielen ... Den Rest meiner Ausrüstung habt ihr euch ja eingehend angesehen. So, das wär's, und wenn ich ehrlich sein soll, ich bin verdammt froh, euch zu sehen, selbst wenn ihr eine Bande von ... ich meine, selbst wenn ich nicht russisch kann. Von eurer jetzigen Position aus könnt ihr eine Nachricht an den Rest unseres Schiffs loslassen, und die Jungs werden sich auf die Socken machen. Sie hatten bereits für jeden einen Raumanzug entsprechend ausgerüstet, und inzwischen werden
sie auch genug Pfeile zur Verfügung haben, auch wenn sie dafür unserer guten alten Mühle das halbe Hinterteil entzwei gesägt haben. (Ende der Aussage). Datum: 6. Juni 1987 An: Sicherheitskommissar, UdSSR Hauptqurtr. Mars, (Persönlich) Von: Kommandant, UdSSR Hauptqurtr. Mars Code: STS Babuschka Y. Betrifft: Kommandant, UdSSR Pluto Expedition Nikolai, ich bitte um nochmalige Überprüfung des oben Erwähnten, vor allem auf Anzeichen von geistiger Verwirrung oder Zusammenarbeit mit dem Feinde. Bitte, kümmere Dich darum und versuche herauszufinden, ob er irgendwelche weitere verschlüsselten Meldungen an andere Stellen abgesetzt hat. Auch der Code TS Perischka C. sollte auf mögliche Sicherheitsrisiken überprüft werden. Ich hoffe, Deiner Familie geht es gut. Unterzeichnet: Wladimir Czmith, Kommandant. Datum: An: Von: Code: Betrifft:
10. August 1987 Botschafter UdSSR in den USA Kreml entfällt Kapitalistische Propaganda
Protestieren Sie unverzüglich gegen lächerliche und beleidigende Berichte in amerikanischen Zeitungen über sowjetische Raumfahrer, die Speere werfend und unter Absingen des Wolgaliedes im Raum auf-
gegriffen worden sein sollen. Unterzeichnet: J.
Originaltitel: FOR EVERY ACTION
Josef Nesvadba VAMPIR GMBH Wenn ich an meinen Besuch in England letztes Jahr zurückdenke, erinnere ich mich vor allem an die Autos. Als ob Europa von einer neuen Invasion heimgesucht worden wäre. Eine Invasion von Autofahrern. In Orly, am Flughafen, fiel mir das zum erstenmal auf, als ich den dicken Iren erzählen hörte, dem die Artischocken aus der Tragetasche gefallen waren. Sie kullerten die Rolltreppe hinunter, die Maschine sollte in wenigen Minuten starten, und die Artischocken würden von der Rolltreppe schließlich in die Warteräume für den Nahen Osten, Ekuador und Guadelupe befördert werden. Er mußte sich mit dem Verlust abfinden. Von Orly über den Kanal bis zur Landung trauerte er laut dem entschwundenen Gemüse nach, wenn er nicht versuchte, uns auf die Schrecken der englischen Küche vorzubereiten, oder uns von seiner Tätigkeit zu berichten. »Ich bin Autohändler«, sagte er stolz, »unsere Sportwagen werden alles besiegen, überall auf der Welt.« Mein Begleiter wollte ihm etwas freundliches sagen: »Ich fahre auch einen englischen Wagen, zu Hause. Einen Hillman.« Der Ire mit den rosigen Bakken sagte zunächst gar nichts. Als ob er höflich einen ordinären Ausdruck überhören wollte. Wir flogen erster Klasse, und offensichtlich hatte er uns besseren Kreisen zugerechnet.
»Ein ganz vernünftiges Auto –« er hatte sich wieder gefangen – »für den Preis. Ich selbst verkaufe Jaguar. Ich nehme an, wir werden auch bald hinter den eisernen Vorhang liefern«, fügte er hinzu, nachdem er sich unauffällig aber genau meine Krawatte angesehen hatte. »Unsere Wagen machen aus schlechten Straßen gute Straßen, und auf guten Straßen fühlt man sich wie im Himmel.« Ich fragte ihn nicht nach seinem Glauben an ein Leben nach dem Tode. Wir setzten zur Landung an. Das zweite Mal, daß sich mir Autos ins Bewußtsein drängten, war am selben Abend, als ich die Wohnung einer befreundeten Dame suchte, die in Kensington Terrace liegen sollte. Ich kam aus dem U-Bahnhof herauf und wollte jemand nach dem Weg zu der Straße fragen, die ich in mein Notizbuch geschrieben hatte, aber da war niemand, den ich hätte fragen können. Ich meine, niemand auf dem Gehweg. Auf der Straße, im Schneckentempo, bewegten sich vier endlose Schlangen von Kästen aus Stahl und Glas, in denen der Fahrer so vollständig von der Außenwelt isoliert wurde, daß er weder Fragen noch Rufe gewahr wurde. Und dann hatte ich das interessanteste Erlebnis der ganzen Reise, und davon wollte ich Ihnen eigentlich berichten. Mir kommt es immer noch unglaublich vor. Ich blieb zu lange in der Wohnung meiner Freundin in jener Nacht und trank Johnny Walker. Fünfunddreißig Prozent. Ich merkte das am nächsten Morgen, als ich meinen Begleiter nicht mehr im Hotel vorfand. Man sagte mir, er habe bis zur letzten Minute auf mich gewartet, aber schließlich wollte er den Zug nicht verpassen. Vermutlich hatte er gedacht,
daß ich ihn hätte sitzen lassen. Noch nicht mal eine Nachricht hatte er mir hinterlassen. Ich war allein in dieser Stadt von acht Millionen Einwohnern, in dieser Stadt, in der ich mich nicht auskannte – und ohne einen Penny in der Tasche. Die Dame, bei der ich den letzten Abend verbracht hatte, konnte ich in ihrem Büro nicht erreichen, und zu Hause war sie auch nicht. Mir blieb nur ein Ausweg. Ich mußte versuchen, mich von jemand in seinem Wagen nach Bolster mitnehmen zu lassen, wo die Kommission tagte, deren Mitglied ich sein sollte. Selbst daheim bin ich nie als Anhalter gefahren. Ich bin nicht mehr der Jüngste, und ich bezweifle, daß irgend jemand wegen meines verführerischen Aussehens den Wagen anhalten würde, um mich mitzunehmen. Nach einiger Zeit stolperte ich erschöpft zu einer kleinen Shelltankstelle und sah sehnsüchtig den vorüberfahrenden Autos nach. Sie schienen mir noch weiter entrückt zu ein als am Abend zuvor, auch wenn ich zu Hause selbst einen kleinen Wagen habe. »Kann ich Sie mitnehmen?« fragte mich ein großer, bleicher Mann mit langen Koteletten. Er trug Knikkerbocker und sprach mit dem Akzent der gebildeten Klassen. Ich werde ihn nie vergessen. Und seinen Wagen auch nicht. Das war ein Sportmodell, mit Scheibenbremsen, acht Vorwärtsgängen – im Siebten machte es hundertfünfzig Stundenkilometer –, die Federung war einzigartig, und das Auto schien kein normales Benzin zu verbrauchen, da der Eigentümer nicht an der Tankstelle, sondern an der Bar gegenüber gehalten hatte. »Ich muß nach Bolster«, sagte ich niedergeschlagen. Mir war unverständlich, warum mir der Mann
helfen wollte; ich hatte ihn nie in meinem Leben gesehen. »Sie brauchen ein Auto ...« sagte er ein paar Minuten später, als wir die Autobahn erreicht hatten. Er fuhr auf der linken Seite, wie jeder in England; und so, wie ich an jeder Straßenkreuzung auf eine imaginäre Bremse getreten hatte, hätte ich eigentlich schon längst ein Loch in den Wagenboden gestoßen haben müssen. »Ich muß dort zu einer Konferenz«, sagte ich. »Nur aus dem Grund bin ich überhaupt in England. Ich darf einfach nicht zu spät hinkommen.« Wir hatten die Stadtautobahn verlassen. »Sie wissen, wie man autofährt«, sagte er, wie wenn man eine Tatsache feststellt. Dann hielt er an und stieg stolpernd aus. »Ich hole mir den Wagen in Bolster morgen wieder ab. Mir ist gerade eingefallen, daß ich in der City heute noch etwas erledigen muß.« Er sah bleich aus, daß sein Gesicht aschgrau schien. Wenn er was zu erledigen hat, dann eher auf dem Friedhof als in der City, schoß es mir durch den Kopf. »Ich habe keinen Führerschein dabei und so was. Ich bin Ausländer und ...« wehrte ich schwach ab, ich wollte nicht zugeben, daß ich Angst vor dem Linksfahren hatte. »Mit dem Auto brauchen Sie keine Papiere«, sagte mein Wohltäter, dann hielt er ein Taxi an, das in die andere Richtung fuhr. Mir blieb noch nicht einmal Zeit, ihm richtig zu danken. Mir fiel die Geschichte mit der Millionen-Pfund-Note ein. Sollte ich ihm helfen, eine Wette zu gewinnen? Er hatte vergessen, mir irgend etwas über das Auto mitzuteilen, kleine Eigenheiten, die Bremsen oder Straßenlage betrafen,
wieviele Zylinder der Motor hatte, und ob die Ventile von einer oben liegenden Nockenwelle betätigt wurde wie bei anderen Sportwagen. Wir hatten weder über die Kompression gesprochen noch über Treibstoff. Als ich mich hinters Lenkrad setzte, fühlte ich mich eingeengt, wie in einer Gefängniszelle. Es gab überhaupt wenig Platz im Wagen, ein reiner Zweisitzer. Die Sitze hatten einen besonderen rutschfesten Bezug; unter der Windschutzscheibe enthielt das Armaturenbrett mehrere Instrumente in einer Reihe. Der Zündschlüssel steckte. Ich betätigte den Anlasser. Der Wagen schoß nach vorn wie ein bockendes Pferd; ich kam mir vor, als steuerte ich eine Rakete. Ich machte mir keine Gedanken mehr, wie ich hinter dieses Lenkrad gekommen war, sondern konzentrierte mich darauf, gewissermaßen im Sattel zu bleiben und dem Ungetüm meinen Willen aufzuzwingen. Zuerst war das gar nicht einfach, doch bald merkte ich, daß alle Verkehrsteilnehmer versuchten, mir die Aufgabe zu erleichtern. Autos hielten an, und ihre Fahrer starrten mit bewundernden Blicken. Alle die Austin, Ford und Rolls-Royce, die Morris, die Peugeot, Chevrolet und was sonst noch, gewissermaßen das gemeine Volk der Autohierarchie, standen achtungsvoll zur Seite, um meinen Aristokraten vorbeizulassen. Selbst die Polizisten salutierten. Das hätte von Anfang an mein Mißtrauen erregen sollen. Ich hätte sofort anhalten und aussteigen sollen. Aber ich fuhr weiter. An der nächsten Kreuzung hielt ich sogar an und nahm ein Mädchen mit, eine Anhalterin. Sie hieß Susan, ihre Mutter war Schauspielerin und hatte sie nach modernen Methoden erzogen. Als ich ihr sagte,
daß wir uns in der Tschechoslowakei noch nicht an Sechzehnjährige gewöhnt hätten, die barfuß und mit Ringen am großen Zeh herumlaufen und die ihre Augenlider purpurrot anschmieren, rieb sie sich das Zeug gehorsam ab und holte ein Paar Schuhe mit flachen Absätzen aus ihrer Handtasche. Sie sagte, sie sei hocherfreut, einen echten Roten getroffen zu haben, und sie betrachtete sich mein Gesicht aus der Nähe. Ihre beste Freundin hätte letztes Jahr in einem Urlaubsort an der Küste mit einem Jazz-Schlagzeuger geschlafen und damit die absolute Spitzenposition in der Klasse erreicht. Keine jedoch hätte je einen leibhaftigen Roten erwischt, einen von hinter dem eisernen Vorhang. Ich fing an, Jazz, Schauspielerinnen und ihre ganze Schulklasse zum Teufel zu wünschen. Susan fand ich äußerst anziehend. »Kommen Sie, wir halten mal und trinken eine Tasse Tee«, sagte sie, als wir an einer Tankstelle vorbeikamen; die säumen dort die Straße so dicht an dicht wie die riesigen Reklameschilder, die einem das Geld samt dem Portemonnaie aus der Tasche ziehen wollen. »Sie können mir einen Drink spendieren ...« Da die Gaststättengesetze in England das Trinken von Whisky nur zu bestimmten Tageszeiten erlauben, will sich niemand die Gelegenheit entgehen lassen, zum Beweis, wie groß seine Freiheit ist. Wir gingen hinein, um eine Tasse Tee zu trinken. Ich hoffte, daß sie ein bißchen Kleingeld dabei hatte, sonst mußte ich versuchen, die Rechnung an die Botschaft schicken zu lassen. Schließlich konnte ich mein Vaterland nicht blamieren. Wir stellten uns an eine lange Holztheke, an der sich schon andere Autofahrer drängten. »Großer Gott, das ist ein Bentley. Ein Arnold-
Bristol ist es sicherlich nicht. Scheibenbremsen an allen Rädern. Ein wunderschönes Auto. Kein Morse oder Dellow, auch kein Crossley oder Frazer Nash. Ein Bentley. Das letztemal habe ich einen beim Rennen in LeMans im vorigen Jahr gesehen. Der einzige Wagen in England, der mit meinem Cunningham Schritt hält ...« Ich vernahm die Stimme hinter mir, aber ich merkte nicht gleich, daß es eine Frauenstimme war und daß sie von meinem Wagen sprach. Sie bestellte Hummersuppe, Fisch und Roastbeef. Sie wußte alles über Prag, was man so von Prag wissen kann. Sie wußte sogar, daß Eliska Junková fast die berühmte Targa Florio gewonnen hätte, damals, sechsundzwanzig in Sizilien, daß also die berühmteste Rennfahrerin der Welt eine Tschechin war. »Heute sieht es dort allerdings düster aus. Wie ich höre, fahren die Russen ihre Rennen nur in frisierten Pobeda-Limousinen. Ich nehme an, niemand kann sich dort einen Porsche oder Bugatti kaufen, oder? Wie sind Sie denn an den Wagen gekommen, den Sie draußen stehen haben?« Ich wechselte das Thema und sagte, meiner Meinung nach sei der Autokult, der Wagen als PrestigeSymbol, ein Markstein in der Krise des Individualismus; wo jeder einzelne sein eigenes Transportmittel betreiben möchte, bis alle Überlandstraßen verstopft und die Städte unpassierbar geworden sind, so daß zum Schluß gar nichts mehr geht. Daß ich die Autoschlangen nur für ein Symptom der Krise halte, der Persönlichkeitskrise dieses Zeitalters. Sie verstand nicht, wovon ich redete, und teilte mir mit, daß sie mit ihrem amerikanischen Nachkriegs-Cunningham jeden anderen Wagen überholen könnte. Der Cun-
ningham sei von Millionären drüben für Straßenrennen in Europa gebaut worden – in Amerika dürfe man Rennen nur auf geschlossenen Bahnen fahren. Während der ganzen Unterhaltung sah sie Susan nicht einmal an, und ihre Stimme klang mehr und mehr wie das Ventilgeräusch eines Viertakters; ich hörte nicht mehr zu und stand auf; ich wellte weiterfahren. Der Botschafter wird sich über die Rechnung freuen, dachte ich mir. Und wenn ich nach Prag zurückgekehrt war, würde ich mir ein paar gute Antworten ausdenken müssen. Der Kellner versicherte mir, die Marquesa hätte bereits alles bezahlt. Die Marquesa von Nuvolari, geborene Riley, die einen Verwandten des berühmten Rennfahrers geheiratet hatte, nur um mit dem Namen Eindruck zu machen. Sie lief aus dem bunt angemalten Rasthaus hinter uns her und sprang in ihren Monoposto, dann setzte sie den Helm auf und wartete wie eine echte Sportsfrau, bis wir so weit waren. Wir fuhren gleichzeitig los. Gott sei Dank war es dunkel, und auf der Strecke befanden sich nicht mehr viele Wagen. Wir fuhren ein regelrechtes Rennen. Ich mußte diesem prahlerischen Weib zeigen, wo die Grenze war. Wir überholten sie nach kurzer Zeit; ich weiß nicht, ob wir die bessere Maschine hatten, aber wir ließen diesen amerikanischen Superwagen weit hinter uns. Die Landschaft flog an uns nur noch in verwaschenen Umrissen wie ein abstraktes Gemälde vorbei. Ich bremste vorsichtig, um den Wagen nicht aufs Dach zu legen. Susan warf mir die Arme um den Hals und küßte mich. Sie war erregt. Wir hatten gewonnen. Unsere Mille Miglia. Unsere Targa Florio. Unser LeMans. Unseren Brünner Rundkurs, fügte ich in Gedanken zu meiner
eigenen Genugtuung hinzu. Wir hatten keinen einzigen Zuschauer getötet. Ich war stolz auf mich selbst, und ich war so erschöpft, als hätte ich das Rennen zu Fuß zurückgelegt. Ich erinnere mich noch, daß ich Susan auch küßte, und sie in meine Arme nahm, und dann sackte ich in meinem Sitz zusammen. Als ich wieder zu mir kam, war es Nacht. Susan gab mir Schweppes zu trinken, es schmeckte wie Sprudel mit Chinin. Sie hatte mir den rechten Schuh ausgezogen und rieb mir den Fuß, den sie auf den Schoß gezogen hatte. »Du hast mir gar nicht gesagt, daß du verletzt bist ...« Vor meiner Ausreise hatte ich mich in Prag eingehend ärztlich untersuchen lassen, und ich wußte, daß mir nichts fehlte. Dann zeigte sie mir den frischen Wundschorf auf meiner Fußsohle, so groß wie ihre Handfläche. »Du mußt so bald wie möglich zu einem Arzt«, sagte sie. »Du mußt eine Menge Blut verloren haben.« »Ich war vorgestern beim Arzt, und seitdem habe ich mir den Fuß nicht verletzt. Wo sollte ich auch Blut verloren haben? Man müßte doch etwas davon sehen, oder?« Sie redete dummes Zeug, klar ... Als ich aufstehen wollte merkte ich, daß ich immer noch benommen war; ich mußte mich an der Wagentür festhalten, und ich torkelte ebenso aus dem Auto wie Seine Lordschaft in London, als er mir so unverständlicherweise seinen Wagen überlassen hatte. Ich hatte mit meinem Fuß nichts anderes gemacht als aufs Gaspedal zu treten. Ich runzelte die Stirn. »Weißt du, wie man die Motorhaube von diesem Ding aufbekommt?« fragte ich sie. »Das ist doch dein Auto, oder?« Sie war mißmutig.
Ich brauchte einige Zeit, bis ich die Haube offen hatte. Der Motor sah ganz ungewöhnlich aus. Statt eines Vergasers gab es nur einen großen, ovalen Stahlbehälter, aus dem zwei starke Rohre herauskamen, die zur eigentlichen Maschine führten. Ich wußte, daß es Motoren mit nur einem Zylinder gab, und ich versuchte, das eigenartige Ding aufzubekommen. Nichts zu machen. Ich ging zurück zum Fahrersitz, Susan sah mir schmollend zu. Ich drehte den Zündschlüssel um und versuchte, mit meinem leeren Schuh das Gaspedal niederzudrücken. Nichts passierte. Versehentlich kam ich mit einem Finger ans Pedal, und der Wagen machte einen Satz vorwärts, daß wir mit den Köpfen ans Wagendach knallten. »Was ist denn mit dir los?« fragte Susan, »warum fährst du nicht weiter?« Mit Mühe knipste ich die Innenbeleuchtung an und zeigte ihr meinen Finger. Er wies eine kleine Wunde auf, eher wie ein Bluterguß. »Hier, sieh mal ...« Sie verstand nicht, was ich meinte. »Das hier ist ein ganz besonderes Auto. Es ist weder ein Berkeley noch ein Morse, aber zu guter Letzt bringt dieses Auto seinen Fahrer um, nehme ich an. Der Motor läuft nicht mit Benzin, sondern mit Blut ...« Sie fing an zu lachen und zeigte mir den Herstellernamen: James Stuart, Old Georgetown 26. Der Name stand auf einem gravierten Messingschild an der Lenksäule. »Du glaubst doch wohl nicht, daß dieser Mann Autos speziell für Selbstmörder verkauft? Da sieht man mal wieder, was Ihr Ausländer für Unsinn im Kopf habt. Ein Auto, das mit Menschenblut läuft!« Wir waren inzwischen ausgestiegen und hatten einen Blick unter die Motorhaube geworfen. Jetzt ver-
stummte sie, denn um den seltsamen ovalen Stahlbehälter, der in Wirklichkeit nur das stählerne Herz des Wagens war, ein stählernes Herz mit Adern für den Lungen- und den Körperkreislauf – um dieses Herz herum lagen dünne Äderchen, fast durchsichtig, und jetzt füllten sie sich mit einer dunkelroten Flüssigkeit. Es sah ganz danach aus, als ob ich recht gehabt hätte. Ich erzählte ihr, auf welch seltsame Weise ich an den Wagen gekommen sei, und ich beschrieb Aussehen und Verhalten des vorigen Besitzers in den letzten Minuten, die ich ihn gesehen hatte. Ich war davon überzeugt, daß er mich als nächstes Opfer ausersehen hatte, weil ich als Ausländer niemand hier kannte und weil mich daher auch niemand vermissen würde. »Und was machen wir jetzt?« fragte sie. Mir blieb keine Wahl. Ich mußte zur nächsten Gaststätte laufen und meinen Kollegen in Bolster anrufen. Susan würde sich nach einem anderen Auto zum mitfahren umsehen müssen, am besten eins mit einem zuverlässigeren Fahrer. »Ich werde dich nicht allein in diesem Schlamassel stecken lassen«, sagte sie mit Entschiedenheit. Ich hatte gehört, daß Engländerinnen sehr treu sind, und die Vorstellung bereitete mir etwas Unbehagen. Ich machte ihr klar, daß sie nicht mit mir über Stock und Stein laufen könne, denn wenn ich dieses technische Wunderwerk aufgäbe würden wir keine Bewunderer mehr finden, die uns mit Hummersuppe und Austern verwöhnten. Mein Los sei von nun an das einfache Leben, und das wäre nicht gut für die Blütenträume der Liebe. Sie stellte bald fest, daß ich recht hatte. Wir wanderten drei Stunden lang, wobei wir aus Sicherheits-
gründen der Straße unten an der Böschung folgten. Über uns bohrten sich die Scheinwerfer der vorübersausenden Wagen in die Nacht. Ich wollte niemand mehr anhalten, ich wollte nur das nächste Dorf erreichen und mich ans erste Telefon hängen. »Das ist dumm. Ich kann hinaufgehen und winken, und selbst der Botschafter der Vereinigten Staaten würde für mich anhalten. In der Schule machen wir uns ein Spiel daraus, und ich gewinne immer.« Stolz streckte sie ihre Brüste heraus. Sie waren aufreizend genug, ich glaubte ihr das schon. »Du läufst Gefahr, noch einen Wagen anzuhalten, den die Vampir GmbH gebaut hat, und dann würdest du noch mehr Blut verlieren ...« Sie lachte, die Geschichte erschien ihr bereits unglaubwürdig; sie sah jetzt nur noch die Vorteile des modernen technischen Zeitalters. Jene Vorteile, die auf der Oberfläche zutage liegen und auf den ersten Blick überzeugen. Schließlich gerieten wir in Streit. Ihre Schuhe hatten dünne Sohlen, und sie mußte jeden einzelnen Stein gespürt haben; daß sie es überhaupt so lange ausgehalten hatte, war schon eine Leistung. Ich schrie sie sogar an, weil ich wußte, daß nur so zu erreichen war, was ich wollte: die Trennung und das Vergessen. Daß ich mich nur auf diese Art von dem Mädchen und seiner entschiedenen Anhänglichkeit befreien konnte. Ich half ihr noch die Böschung hinauf, dann hörte ich Bremsen quietschen, und die Scheinwerfer hielten hinter ihr und strahlten ihre Gestalt von allen Seiten an. Mein letztes Bild von ihr ist, wie sie ihre Augen gegen das grelle Licht abschirmte und dabei wie ein liebreizendes blindes Mädchen aussah.
Erst am nächsten Morgen erreichte ich ein Dorf. Im Licht des anbrechenden Tages hatte ich inzwischen gemerkt, daß die Autobahn absichtlich um die Dörfer herumgeführt worden war, damit die Fahrer ihre Geschwindigkeit nicht zu verlangsamen brauchten. Der Ort hieß Old Georgetown und konnte aus einem Traum hierher versetzt worden sein, mit Schloßruine und allem drum und dran. Die Kinder hatten Schuluniformen an, und die Männerhosen waren weit geschnitten. Ich befand mich am Geburtsort meines Autos. Bestimmt war das ein Traum. Ich sah mich nach Haus Nummer sechsundzwanzig um. »James Stuart starb neunzehnhundertzweiunddreißig, mein Herr«, sagte mir eine ältliche Sekretärin mit blondem Knoten, die ich im Büro vorfand. »Die Firma ist seitdem geschlossen. Ich halte hier nur die Stellung für die Bank – wir haben noch keinen Käufer gefunden.« Sie zeigte durchs Fenster, dem ein paar Scheiben fehlten, auf den Hof. Da draußen befand sich ein Friedhof für Rennwagen, mit aufeinandergetürmten Fahrgestellen, mit Wagen, die in Rennen zu Schrott gefahren worden waren, mit Skeletten und der Haut von lauter Autos. Hühner und Enten wanderten in dem kniehohen Gras umher. »Was passierte mit den Wagen, die er gebaut hatte?« fragte ich. »Davon fährt heute keiner mehr«, sagte das alte Mädchen bitter und setzte sich wieder hinter die Schreibmaschine, die aus der Zeit der Jahrhundertwende stammte. »Nicht einer fährt mehr, von den großartigen alten Wagen, die Caracciola selbst gesteuert hat. Sie haben jedes Rennen gewonnen, das sie mitgemacht haben, jedes!« Sie sagte das scharf, als ob
ich etwas dagegen hätte einwenden wollen; dann wies sie auf die staubigen Pokale und Urkunden an der Wand und auf den Regalen. »Die Wirtschaftskrise hat uns fertiggemacht. Es gab keine reichen Leute mehr, die in Handarbeit hergestellte Autos kaufen konnten. Mr. Stuart vollendete den letzten Wagen noch am Tag, ehe ihn die Banken in den Ruin trieben. Er fuhr damit von Old Georgetown los, und man hat nie mehr wieder etwas von ihm gehört ...« Auf einem vergilbten Foto stützte sich Mr. Stuart mit der Hand auf mein Auto. Es handelte sich nicht um den ausgemergelten Mann, den ich in London gesehen hatte. Gott allein weiß, wie vielen Menschen dieses Auto in der Zwischenzeit das Blut ausgesogen hatte. »Ich habe von ihm gehört«, sagte ich in meinem schlechten Englisch, »und ich weiß, wo sich dieser letzte seiner Wagen jetzt befindet ...« Ich bildete mir ein, sie sei ängstlich zusammengezuckt. »Es ist das beste Auto der Welt, mit sechzehn Vorwärtsgängen und zwei Reservebremsen für jedes Rad. Seither hat noch niemand ein Auto gebaut, das eine solche Beschleunigung hatte.« »Aber ein Auto, das einen umbringt ...« sagte ich. »Es wird jedes Rennen für Sie gewinnen, die exklusivsten Kreise werden sich Ihnen öffnen, Sie werden sorglos nur für den Sport leben ...« »Und für den Tod.« Sie verstand mich nicht. Natürlich. Sie wußte über den Wagen genau Bescheid. Womöglich hatte sie sogar diesem Mr. Stuart geholfen, sich an einer Gesellschaft zu rächen, die ihn zum Bettler gemacht hatte, die seinem Genie keine Entfaltungsmöglichkeit gegeben hatte. »Hier, die Schlüssel«, sagte ich und legte sie auf den Tisch. »Ich will
Ihr Auto nicht. Darf ich dafür vielleicht einmal Bolster anrufen ...« »Sie müssen Ausländer sein«, sagte sie, als sie die Schlüssel nahm, so als erkläre das alles. Ich nickte und wartete, bis die Verbindung nach Bolster hergestellt war. Ich mußte den Namen meines Bekannten buchstabieren, und selbst dann brachten sie alles durcheinander. Es dauerte eine halbe Stunde, bis ich ihn an den Apparat bekam. Er versprach, mir jemand zu schikken; nach der ersten Überraschung wurde er ernst, aber ich war trotzdem froh, seine Stimme zu hören. Ich wartete draußen im Stuartschen Hof, und dort fand mich die Marquesa von Nuvolari. »Da ist ja unser Charon«, sagte sie. »Jetzt versuchen Sie bloß nicht mir zu erzählen, Sie seien noch keine Rennen gefahren. Ich würde einiges dafür geben, wenn ich Ihr Können hätte. Und Ihren Wagen. Sie hatten recht, ich werde meinen Cunningham verkaufen. Ich weiß nicht warum, aber die Amerikaner können einfach keine Rennwagen bauen. Ich will Ihren kaufen. Was wollen Sie dafür haben?« Ich schickte sie hinein und dachte, vielleicht wenn sie ihn kauft, kann sich die alte Dame eine neue Schreibmaschine leisten. Ich warnte sie nicht und wartete, bis sie mit den Schlüsseln in der Hand aus dem Büro kam. »Selbstverständlich sage ich Ihnen, wo ich den Wagen stehengelassen habe, aber ich muß Sie warnen – das Auto wird Sie umbringen ...« Und dann erzählte ich ihr alles, was ich über die Angelegenheit wußte. »Sehr interessant«, sagte sie höflich. »Das ist ein Vampir, ich muß Ihnen das ganz eindringlich sagen. Das Gaspedal saugt Ihr Blut ...!« Sie lachte nur.
»Dann war es wirklich ein guter Kauf. Was dachten Sie denn, wovon die anderen Autos fahren? Womit habe ich denn mein Benzin bezahlt, was habe ich denn dafür hingeben müssen? Ich mußte mich selbst zum Opfer bringen, wenn ich diesen Wagen haben wollte. Und das noch auf die komplizierteste Art und Weise. Wenn Sie recht haben, geht es jetzt einfacher und ohne Umwege. Ich will nur eines – einmal in meinem Leben in Le Mans gewinnen, und dort die ganze erste Rennfahrergarde schlagen. Dann kann ich in Frieden sterben. Ich weiß, daß ich gewinnen werde, ich habe gestern Ihre Geschwindigkeit nachgerechnet. Das ist ein wunderbares Auto, ich werde auf der ganzen Linie siegen.« »Sie werden sich dabei umbringen ...« »Das macht nichts.« Und da verstand ich, warum niemand in all diesen Jahren, seit neunzehnhundertzweiunddreißig, den Wagen zurückgebracht hatte; warum jeder Fahrer seine Seele mit Freuden dem Teufel verkauft und den Vampir sein Blut hatte saugen lassen. Warum? Weil sie auf diese Weise alle anderen hinter sich lassen konnten. Später, als mich der Chauffeur der Marquesa in ihrem alten Cunningham nach Bolster fuhr, kam es mir vor, als ob alle die Autos auf dieser dreispurigen Autobahn an diesem großen, allgemeinen, geheimen Rennen teilnähmen – an diesem Rennen, bei dem der Tod nichts ausmacht. Ich erreichte Bolster noch vor der ersten Sitzung. Mein Kollege hatte mich noch nicht unserer Botschaft gemeldet. Alles war wieder in Ordnung, mit einer Ausnahme – ich hatte keine Zeit gehabt, mich zu rasieren.
Und, ich habe Susan Saunders nie mehr wiedergesehen.
Originaltitel: VAMPIRES LTD. Copyright © 1964 by Josef Nesvadba Nach der englischsprachigen Version von Iris Urwin ins Deutsche übertragen
John Brunner DER LETZTE EINSAME »Man sieht Sie hier nicht mehr oft«, sagte Geraghty und stellte mir mein Glas hin. »An die achtzehn Monate«, sagte ich. »Aber meine Frau ist heute nicht da, und ich dachte mir, geh' doch mal rein wie in alten Zeiten.« Ich warf einen Blick über die lange Theke und hinüber zu den abgeteilten Tischen gegenüber an der Wand und fügte hinzu: »Sieht ganz so aus, als sähen Sie niemand hier mehr oft. Ich hab den Laden um diese Zeit noch nie so leer gesehen. Trinken Sie einen mit?« »Sprudel, wenn Sie nichts dagegen haben, Mr. Hale. Vielen Dank.« Geraghty öffnete eine Flasche und goß sich ein. Solange ich ihn kenne, hat er nie etwas stärkeres als Bier getrunken, und das selten. »Die Zeiten haben sich geändert«, fuhr er nach einer Weile fort. »Sie wissen natürlich, warum.« Ich schüttelte den Kopf. »Kontakt selbstverständlich. Seitdem hat sich ja alles geändert.« Einen Augenblick lang sah ich ihn verständnislos an, dann mußte ich leise lachen. Ich sagte: »Mein Gott, ja. Ich wußte, daß es dies und jenes schwer getroffen hat, vor allem die Kirchen. Aber ich hätte mir nicht einfallen lassen, daß Kontakt auch euch mitnimmt.« »O ja, doch.« Er schwang sich auf einen Hocker hinter der Theke; das war etwas Neues seit damals, als ich öfter hier hereinkam. Vor achtzehn Monaten
hätte er den ganzen Abend gar keine Gelegenheit gefunden, sich hinzusetzen; wenn die Bar schloß, hatte er die Beine kaum noch heben können. »Ich reime mir das so zusammen. Durch Kontakt sind die Leute in mancher Hinsicht vorsichtiger geworden, und weniger vorsichtig in anderen Dingen. Aber es hat 'ne Menge Ursachen beseitigt, die einen zum Trinken und in die Bars brachte. Sie wissen ja, wie das war. Ein Barmann war so eine Art berufsmäßiger Zuhörer, der Mann, dem man seinen Kummer anvertraute. Das hielt nicht lange vor, nachdem Kontakt auftauchte. Ich kenne einen weichherzigen Kollegen, der auch nach Kontakt noch eine Weile so weitermachte. Dem standen die einsamen Herzen nachher bis hier – Männlein und Weiblein.« Geraghty legte sich die flache Hand auf den Kopf. »Berufsrisiko«, sagte ich. »Na, jedenfalls nicht lange. Eines Tages dämmerte ihm, was ihm blühen würde, wenn die alle mal heimwärts flögen und an die Tür klopfen würden, also ging er hin und ließ sie alle streichen und fing dann von vorn mit Leuten an, die er sich selbst ausgesucht hatte, wie jeder andere auch. Und ungefähr um diese Zeit hörte es ganz auf. Die Leute kommen nicht mehr 'rein und laden ihren Kummer ab. Sie haben es meistens nicht mehr nötig. Und der andere wichtige Grund, weshalb man in die Bars ging – Gesellschaft, egal wie zufällig zusammengewürfelt –, der Grund ist auch weg. Jetzt, wo die Leute wissen, daß sie vor der letzten größten Einsamkeit keine Angst mehr zu haben brauchen, das macht sie jetzt ruhig, zufrieden, und sie verlassen sich auf sich selbst. Ich selbst sehe mich nach was anderem um.
Überall werden die Bars geschlossen.« »Sie wären kein schlechter Kontakt-Berater«, schlug ich vor, und ich sagte das nur halb zum Spaß. Er nahm's auch nicht von der lustigen Seite. »Ich hab es mir durch den Kopf gehen lassen«, sagte er ernst. »Vielleicht tu ich gerade das. Ja, genau das.« Ich sah mich nochmal um. Jetzt, nachdem wir Geraghty die Augen geöffnet hatte, konnte ich mir gut vorstellen, wie alles gekommen sein mußte. Ich selbst war ein gutes Beispiel, auch wenn mir das bis jetzt noch nicht aufgefallen war. Zu meiner Zeit hatte ich auch meine Sorgen vor Barkeepern ausgebreitet, hatte auch Bars aufgesucht, um meiner Einsamkeit zu entfliehen. Kontakt war vor etwa drei Jahren auf der Bildfläche erschienen; und vor ungefähr zwei Jahren war es ein Hit geworden. Jeder, aber auch wirklich jeder hatte danach Schlange gestanden. Und wieder ein paar Monate später hatte ich aufgehört, hier vorbeizukommen, wo ich doch vorher fast zum Inventar gehört hatte wie Tische und Hocker. Mir war das gar nicht aufgefallen, ich hatte es mir mit meiner Heirat erklärt, damit, daß wir eine Familie gründen wollten und das Geld lieber für etwas anderes ausgaben. Aber das war's nicht. Viel einfacher: das Bedürfnis existierte nicht mehr. Wie es sich gehörte, hing ein langer Spiegel an der Wand hinter der Theke, und in diesem Spiegel konnte ich einige der Sitznischen an der gegenüberliegenden Wand sehen. Alle waren leer, bis auf eine und darin saß ein Pärchen. Der Mann machte keinen außergewöhnlichen Eindruck, aber das Mädchen – nein, die Frau – ließ mich zweimal hinsehen. Sie war gar nicht
mal so jung, um die vierzig 'rum, aber sie hatte etwas an sich. Die Figur war nicht schlecht, und das half, aber es steckte vor allem im Gesicht. Sie war schlank, mit einem lebenslustigen Mund und Lachfältchen um die Augen, und worüber sie auch reden mochte, es machte ihr sichtlich Spaß. Es war hübsch, ihr anzusehen, wie es ihr Spaß machte. Ich behielt sie im Auge, während Geraghty mir unbeirrt seine Ansichten darlegte. »Wie gesagt, es macht die Menschen einmal mehr und in anderer Hinsicht wieder weniger vorsichtig. Vorsichtiger in der Art und Weise, in der sie ihre Mitmenschen behandeln; wenn sie sich nämlich nicht anständig benehmen, könnten ihre eigenen Kontakte sich von ihnen lossagen, und wo sollten sie dann bleiben? Weniger vorsichtig sind sie geworden, was ihre eigenen Personen betrifft, weil sie nicht mehr so viel Angst vorm Sterben haben. Jeder weiß, wenn es schnell passiert und schmerzlos, dann ist der Tod nichts weiter als eine kleine Ohnmacht, aus der man leicht verwirrt wieder aufwacht, um sich dann umzusehen und mit einem anderen Menschen zu verschmelzen. Kein abrupter Abbruch, kein endgültiger Schluß. Haben Sie schon jemand aufgenommen. Mr. Hale?« »Offengestanden, ja«, sagte ich; »meinen Vater, ziemlich genau vor einem Jahr.« »Keine Schwierigkeiten?« »Oh, wie geschmiert. Zuerst ein bißchen unangenehm – wie wenn es einem juckt, wo man sich nicht kratzen kann –, aber so in zwei bis drei Monaten ging das vorbei, und dann vermischte er sich völlig mit mir, und es war erledigt.«
Ich erinnerte mich wieder. Was mir vor allem in Gedächtnis haften blieb war das eigenartige Gefühl zu wissen, wie ich in der Wiege ausgesehen hatte, von außen betrachtet, und solche Sachen. Aber nicht nur eigenartig, auch beruhigend. Jedenfalls gab es nie einen Zweifel daran, wessen Gedächtnis ich gerade benutzte. Alle Erinnerungen, die mit dem Abschluß eines Kontaktfalls ins eigene Bewußtsein übergingen, sie alle waren mit einer Art Aura etikettiert, so daß der eigene Verstand nicht in Unordnung geriet. »Und Sie?« Geraghty nickte. »Einen Kameraden aus der Dienstzeit, beim Militär. Erst ein paar Wochen her. Autounfall. Der arme Kerl lebte noch zehn Tage mit gebrochenem Rückgrat, das war die Hölle. Als er hereinkam, ging's ihm ganz elend. Die Schmerzen – schrecklich!« »Sie sollten Ihren Kongreßabgeordneten anschreiben«, sagte ich, »daß er dafür sorgt, daß sie dieses neue Gesetz durchkriegen. Schon davon gehört?« »Was für eins?« »Euthanasie. Soll erlaubt werden, falls der Betreffende einen intakten Kontakt nachweisen kann. Schließlich hat jeder heutzutage einen oder mehrere Kontakte, warum also nicht?« Geraghty blickte nachdenklich drein. »Ja, ich habe auch davon gehört. Ich war nicht so recht damit einverstanden. Aber seit ich meinen Kameraden aufgenommen habe, mit seiner Erinnerung an die letzten Tage ... Ja, ich glaube, ich werde mir's anders überlegen. Ich schreibe.« Darauf schwiegen wir eine Zeitlang, in Gedanken damit beschäftigt, was Kontakt für die Welt getan
hatte. Geraghty hatte gesagt, er sei zunächst nicht so ganz für das Euthanasie-Gesetz gewesen – na, und? Ich und eine Menge anderer Leute hatten auch zuerst unsere Zweifel an Kontakt selbst gehabt. Dann erkannten wir, welche Möglichkeiten es eröffnete; wir nahmen uns Zeit, die Sache zu durchdenken; und jetzt konnte ich gar nicht mehr verstehen, wie ich den größten Teil meines Lebens ohne Kontakt ausgekommen war. Ich konnte mich einfach nicht mehr in eine Welt zurückversetzen, in der das Sterben den endgültigen Schlußpunkt gesetzt hatte. Furchtbar! Kontakt hatte dieses Problem gelöst. Der Tod bedeutete nicht mehr als etwa das Umsteigen von einem Wagen in den anderen. Man wurde benommen, vielleicht ohnmächtig, aber das mit dem sicheren Wissen, daß man bald die Welt mit den Augen dessen betrachten würde, mit dem man den KontaktVertrag abgeschlossen hatte. Man saß dann zwar nicht mehr am Steuer – um den Vergleich weiterzuführen –, aber die Erinnerungen blieben erhalten, in ihm oder in ihr, je nachdem, mit wem man den Kontakt verwirklicht hatte. Zwei oder drei Monate lang gammelte man dann herum, paßte sich dem neuen Partner an, bis nach und nach sich die eigenen Ansichten ein wenig änderten, mit den vorhandenen verschmolzen, und dann – Klick! Ohne harte Unterbrechung, sondern in einem glatt verlaufenden, stetigen Prozeß begann eine neue Lebensperiode. Ein Leben, das nicht von einem selbst, auch nicht vom anderen, sondern gewissermaßen vom Produkt der beiden gelebt werden konnte. Für den Aufnehmenden, das wußte ich aus Erfahrung, brachte es schlimmstenfalls ein paar Unbe-
quemlichkeiten mit sich; doch für jemand, den man gern hatte, hätte man notfalls auch mehr als nur die Bequemlichkeit geopfert. Ich schüttelte mich, als ich daran dachte, was das für ein Leben gewesen war, ehe Kontakt aufkam. Ich bestellte noch etwas zu trinken – diesmal einen Doppelten. Schon lange her, daß ich draußen mal einen gehoben hatte. Etwa eine Stunde lang hatte ich mich bereits mit Geraghty über Neuigkeiten und die Welt im allgemeinen unterhalten, und ich war beim dritten oder vierten Glas, als die Tür zur Bar aufging und ein Mann hereinkam. Er war nicht groß, nicht klein, ganz normal, nicht schlecht angezogen, und ich hätte gar nicht ein zweites Mal hingesehen, wenn nicht sein Gesichtsausdruck gewesen wäre. Er sah so wütend und gleichzeitig niedergeschlagen aus, ich traute meinen Augen kaum. Er ging zu der Nische, in der das Pärchen saß – das Paar mit der Frau, die ich im Auge behalten hatte – und stellte sich breitbeinig vor ihnen auf. Das ganze anziehende Leuchten im Gesicht der Frau verlöschte, und der Mann bei ihr stand auf, als befürchtete er etwas. »Ob Sie's glauben oder nicht«, sagte Geraghty leise zu mir, »das stinkt. Seit mehr als einem Jahr habe ich hier in der Bar keinen Zirkus mehr gehabt, aber ich kann mich noch erinnern, wie's anfängt.« Er rutschte vorsichtshalber vom Hocker und ging die Theke hinunter, um erforderlichenfalls rasch durch die kleine Schwingtür zu Hilfe kommen zu können. Ich drehte mich auf meinem Hocker um und
konnte Teile der Unterhaltung aufschnappen. Soweit ich etwas davon verstehen konnte, verlief sie so: »Du hast mich streichen lassen, Mary!« sagte der Mann mit dem niedergeschlagenen Ausdruck. »Das stimmt doch, oder?« »Einen Augenblick mal!« unterbrach ihn der andere Mann. »Was sie tut oder nicht tut ist schließlich ihre Privatsache.« »Sie halten sich 'raus«, sagte der Neuankömmling. »Nun, Mary? Stimmt's?« »Ja, Mack, es stimmt«, sagte sie. »Und Sam hatte nichts damit zu tun. Es war ganz und gar mein eigener Entschluß – und deine eigene Schuld.« Ich konnte Macks Gesicht nicht sehen, doch es sah aus, als ob er seine Muskeln anspannte, vor Erregung zitternd, und er streckte die Arme aus, als wollte er Mary vom Sitz zerren. Sam – ich nahm an, daß Sam der Mann aus der Sitznische sei – sprang auf und packte Macks Arm und schrie ihn an. Damit hatte Geraghty sein Stichwort. Er ging hin und befahl ihnen, sofort aufzuhören. Das taten sie dann auch, wennschon ungern, und Mary und S a m tranken ihre Gläser aus und verließen die Bar, und Mack schickte ihnen böse Blicke nach und kam dann zur Theke und setzte sich auf den übernächsten Hokker. »Korn«, sagte er. »am besten 'ne ganze Flasche; ich kann's brauchen.« Er sprach mit einer rauhen und bitteren Stimme. Mir fiel auf, daß ich einen solchen Tonfall seit Monaten nicht mehr gehört hatte. Vermutlich sah man mir meine Neugier an; jedenfalls warf er mir einen Blick zu, begegnete dem meinen, und dann sprach er mich an.
»Haben Sie das mitgekriegt?« Ich zuckte die Achseln. »Korb von der Freundin?« »Schlimmer, viel schlimmer. Und Teufelin wäre besser als Freundin.« Er leerte das erste Glas Korn. Geraghty hatte sich ans andere Ende der Theke verzogen und spülte Gläser. Er hatte es sich wohl abgewöhnt, dem Gejammer anderer Leute zuzuhören, und ich konnte es ihm nicht verübeln. »So sah sie eigentlich nicht aus«, sagte ich, nur um etwas zu sagen. »Nein.« Er goß sich sein Glas wieder voll und trank es aus, dann hielt er es eine Weile in den Fingern und starrte darauf. »Sie haben wohl Kontakte?« sagte er schließlich. Eine sehr sonderbare Frage, und ich beantwortete sie automatisch, ohne nachzudenken, überrascht. »Ja, ja natürlich.« »Ich nicht«, sagte er. »Jetzt nicht mehr. Keinen Kontakt. Dieses verdammte Weibsstück!« Mir lief es kalt den Rücken herunter. Wenn er die Wahrheit sprach – mein Gott, dann war er eine Art lebendes Gespenst! Jeder, den ich kannte, hatte zumindest einen Kontakt; ich hatte drei. Meine Frau und ich hatten gegenseitig einen Kontakt, wie alle Verheirateten; und als Sicherheit für den Fall, daß wir beide gleichzeitig sterben sollten – etwa bei einem Autounfall oder etwas ähnlichem – hatte ich noch einen weiteren mit meinem jüngeren Bruder Joe und einen dritten mit einem früheren Universitätskollegen. Zumindest war ich sicher, daß dieser dritte Kontakt noch gültig war – ich hatte seit einigen Monaten nichts mehr von ihm gehört, und vielleicht hatte er mich streichen lassen. Ich nahm mir vor, ihn
wieder einmal zu besuchen und die Freundschaft am Leben zu erhalten. Ich betrachtete mir den Einsamen. Er hieß Mack, jedenfalls hatte man ihn so genannt. Er mußte zehn Jahre älter sein als ich, also ein Mittvierziger, mehr als alt genug, um Dutzende von Kontakt-Aussichten zu haben. Oberflächlich betrachtet schien er ganz in Ordnung zu sein, bis auf diesen Ausdruck von unsagbarer Niedergeschlagenheit – und wenn er wirklich nicht den geringsten Kontakt hatte, dann überraschte es mich eher, daß er nur niedergeschlagen war und nicht von hellem Entsetzen gepackt. »Hat Mary, hm, hat sie gewußt, daß Sie nur diesen einen Kontakt hatten?« fragte ich. »Oh, natürlich. Das wußte sie. Deswegen hat sie mich ja auch streichen lassen, ohne es mir zu sagen.« Mack goß das Glas wieder voll und hielt mir die Flasche hin. An sich wollte ich ablehnen, aber wenn niemand diesem armen Teufel Gesellschaft leistete, würde er vermutlich die Flasche allein austrinken, womöglich besoffen auf die Straße stolpern, unter ein Auto kommen, und dann – ausgelöscht. Ende. Er tat mir aufrichtig leid. Das wäre jedem so gegangen. »Wie sind Sie denn dahintergekommen?« »Sie – nun, ich wollte sie besuchen, und jemand dort sagte mir, sie sei mit Sam ausgegangen, und Sam geht mit ihr meistens hierher. Und hier fand ich sie dann auch, und als ich es ihr auf den Kopf zusagte, hat sie's zugegeben. Ich glaube, ich kann von Glück reden, daß der Barmann dazwischentrat, sonst hätte ich noch die Beherrschung verloren und ihr irgend etwas angetan.« Ich sagte: »Und wieso war sie Ihr einziger Kontakt?
Haben Sie keine Freunde, niemand?« Und das öffnete die Schleusen. Das arme Schwein – mit vollem Namen hieß er Mack Wilson – war in einem Waisenhaus aufgewachsen, das er hassen lernte; im Flegelalter war er ausgerissen, und wegen einer kleinen Diebstahlsgeschichte oder so was hatte man ihn in die Erziehungsanstalt gesteckt, die er ebenfalls hassen lernte; und als er schließlich alt genug war, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, war er sauer auf die restliche Menschheit. Er hatte sich die beste Mühe gegeben, sich anzupassen und den Mitmenschen zu vertrauen, aber irgendwie hatte er nicht gelernt, wie man das macht. Irgendwann im Verlauf seines Lebens war ihm das Geschick abhanden gekommen, Freunde zu gewinnen. Nachdem er mir die ganze Geschichte erzählt hatte, kam er mir noch bedauernswerter vor als am Anfang. Wenn ich seine Einsamkeit mit meinem eigenen bequemen Dasein verglich, konnte ich mich fast schämen. Vielleicht spielte der Korn dabei eine große Rolle, aber ich merkte davon nichts. Ich wollte vor Mitleid weinen, und auch das kam mir nicht kindisch vor. So gegen zehn oder halb elf, als die Flasche praktisch leer geworden war, schlug er auf die Theke und versuchte, von seinem Hocker herunterzukommen. Er schwankte fürchterlich. Ich hielt ihn fest, aber er schob mich zur Seite. »Nach Hause, das ist es wohl«, sagte er hoffnungslos, »wenn ich's noch schaffe. Wenn ich nicht von irgendeinem glücklichen Idioten überfahren werde, dem es Wurscht ist, ob er mich oder einen
Wolkenkratzer überfährt, weil ihm nichts passieren kann – der hat einen Kontakt hinterm anderen.« Er hatte recht, verdammt recht, da lag tatsächlich der Hund begraben. Ich sagte: »Hören Sie mal, halten Sie es nicht für besser, erst wieder ein bißchen nüchterner zu werden?« »Wie soll ich denn einschlafen können, wenn ich nicht blau bin?« gab er zurück. Und auch damit hatte er vermutlich recht. Er fuhr fort: »Sie können das wohl gar nicht wissen, nehme ich an, wie man sich fühlt, wenn man im Bett liegt, ins Dunkle starrt, und nirgendwo hat man einen Kontakt. Die ganze Welt scheint einem dann schwarz, feindlich, hassenswert ...« »Mein Gott!« sagte ich, denn das traf mich wirklich in der Magengegend. Ein plötzlicher Hoffnungsschimmer kam in seine Augen. Er sagte: »Ich nehme ja nicht an – nein, das wäre nicht fair. Wir kennen uns überhaupt nicht. Vergessen Sie's.« Ich ließ aber nicht locker, denn auch der kleinste Funken Hoffnung auf diesem Gesicht machte mir warm ums Herz. Er zögerte ein bißchen, dann ließ er die Katze aus dem Sack. »Sie würden wohl keinen Kontakt mit mir schließen wollen, nein? Nur für die Zwischenzeit, bis ich einen meiner Bekannten soweit habe? Ich kenne ein paar Kollegen am Arbeitsplatz, die ich wahrscheinlich überreden kann. Nur für ein paar Tage, mehr nicht.« »Nachts um diese Zeit?« fragte ich. So ganz geheuer war mir der Gedanke eigentlich nicht; andererseits – ich hätte ihn auf dem Gewissen gehabt, wenn ich
jetzt nicht mitspielte. »Auf dem LaGuardia-Flughafen gibt es einen Kontakt-Service rund um die Uhr«, sagte er. »Für Leute, die vor einem weiten Flug noch einen zusätzlichen Kontakt haben wollen, um sicher zu gehen. Dahin könnten wir uns wenden.« »Das müßte aber ein Eisenbahn-Kontakt sein«, sagte ich, »keiner auf Gelegenheit. Ich habe keine fünfundzwanzig Dollar übrig.« »Sie würden es tun?« Er sah aus, als traue er seinen Ohren nicht. Dann packte er meine Hand und schüttelte sie gerührt und lange. Er zahlte und nahm mich mit zur Tür, rief ein Taxi, und auf einmal waren wir unterwegs zum Flughafen, noch ehe ich richtig wußte, wie mir geschah. Der Berater am Flughafen versuchte, mir einen gegenseitigen Kontakt aufzuschwatzen, Mack wollte sogar dafür bezahlen. Aber ich ließ mich nicht umstimmen. Ich halte nichts davon, wenn die Leute blinde Kontakte auf ihrer Liste ansammeln, wenn sie schon gute, echte Freunde darauf stehen haben. Wenn mir irgend etwas zustoßen sollte, so dachte ich, und jemand anders als meine Frau, mein Bruder oder mein langjähriger Freund von der Uni würde mich aufnehmen, dann wären alle drei sicherlich sehr verletzt. Da mehrere Kunden warteten, die vor einem Flug nach Europa noch einen zusätzlichen Kontakt abschließen wollten, drängte der Berater nicht allzusehr. Ich habe es immer als ein echtes Wunder empfunden, daß Kontakt in der Praxis so einfach zu handhaben war. Drei Minuten, um die Maschine zu justieren;
eine Minute oder zwei für die Helme, die richtig sitzen mußten; nur Sekunden, bis die zerebrale Abtastung durchgeführt war, während das Gehirn summte vom raschen Wechsel, mit dem Erinnerungsbruchstücke aus dem Nichts hervorgeholt und dem Bewußtsein vorgeführt wurden, wie ein Film, der aus lauter verschiedenen Filmen zusammengesetzt ist ... nur Sekunden; und dann – fertig. Der Berater überreichte uns die üblichen Bescheinigungen und die Garantieurkunde – fünf Jahre Gültigkeit, Wiederholung vorteilhaft, Abhängigkeit von Persönlichkeitsänderungen, Zeit-Ort-Faktor, beim Todesfall unmittelbar Übergang, Anpassungsdauer, bei Vorhandensein mehrere Kontakte gewisse Wahlmöglichkeiten und so weiter. Wir waren fertig. Ich bin aus dem Prinzip, nach dem Kontakt arbeitet, nie richtig schlau geworden. Ich wußte allerdings, daß es vor der Einführung elektronischer Bauteile mit gedruckten Molekülen unmöglich gewesen wäre. Diese Schaltungen brachten die Informationskapazität der Computer auf die Stufe des menschlichen Gehirns – und darüber. Ich wußte auch dunkel, daß das eigentliche Forschungsprojekt mit mechanischer Telepathie zu tun gehabt hatte und daß man stattdessen herausfand, wie sich der gesamte Gehirninhalt abtasten und in ein elektronisches Gedächtnis speichern ließ. Aus der Telepathie wurde nichts, dafür gab es Unsterblichkeit. Worauf es hinauslief, für geistige Fußgänger wie mich, war dies: Nur der Tod versetzte einer Persönlichkeit einen solchen Schock, daß sie auf und davon wollte. Und das wollte sie dann mit der Kraft der Verzweiflung. Wenn vor nicht allzulanger Zeit diese
Persönlichkeit in ihrem damaligen Zustand dem Gehirn einer anderen Person gezeigt worden war, dann gab es dort ein vorbereitetes Plätzchen, wo man hingehen und sich wohlfühlen konnte. Von da ab kam ich mit den Erklärungen nicht mehr mit. Und praktisch jeder andere auch. So eine Art Resonanz spielte dabei mit, vielleicht Sympathieschwingungen zwischen der Seele des Aufnehmenden und jener des Sterbenden – ja, das war ein verständliches Bild, und außerdem funktionierte der Prozeß ja, was wollte man da noch mehr verlangen? Ich kam etwas später als er unter dem Helm hervor. Dies war ja ein Einbahn-Kontakt, sein Gehirn wurde nur abgetastet, was schnell geht, während meins gewissermaßen bedruckt wurde, was ein bißchen länger dauert. Als ich aufstand, versuchte er gerade, von dem Berater eine Auskunft zu erhalten. Der hatte keine Lust, aber Mack ließ sich nicht abwimmeln, er bestand auf einer Antwort. Er erhielt sie, als ich gerade hinzukam. »Nein, ein solcher Einfluß ist nicht bekannt. Nüchtern oder betrunken, Kontakt funktioniert.« An so etwas hatte ich vorher nie gedacht – ob Alkohol die Präzision des Kontakts beeinträchtigen könnte. Bei dem Gedanken an Alkohol fiel mir ein, daß ich eine beträchtliche Menge Korn getrunken hatte; das erste Mal seit vielen Monaten, daß ich mehr als ein, zwei Glas Bier getrunken hatte. Eine Zeitlang fühlte ich mich angenehm von innen gewärmt, teils vom Korn und teils aus dem Bewußtsein heraus, daß dank meiner Hilfe dieser letzte Einsame nun nicht mehr einsam war.
Dann verlor ich den Faden. Ich glaube, es lag daran, daß Mack den Rest der Flasche mitgebracht hatte und darauf bestand, auf unsere neue Freundschaft zu trinken, oder wie er sich ausdrückte. Jedenfalls, ich erinnere mich noch, daß er das Taxi besorgte und dem Fahrer meine Adresse sagte – und dann war es Morgen, und er schlief auf der Couch im Bastel-, Turn- und Allzweckzimmer, und die Türklingel läutete wie die Feuerwehr. Das habe ich mir aber erst später zusammengereimt. Als ich die Tür öffnete, stand Mary da. Die Frau, die gestern Mack von ihrer Kontaktliste hatte streichen lassen. Sie kam sehr höflich herein, doch mit einer Entschlossenheit, der ich in meinem verkaterten Zustand nicht zu widerstehen vermochte. Sie forderte mich auf, mich hinzusetzen, und setzte sich dann selbst. Sie sagte: »Stimmt das, was mir Mack am Telefon gesagt hat?« Ich sah sie verständnislos an. Ungeduldig sagte sie: »Daß er einen Kontakt abgeschlossen hat, mit Ihnen. Er rief mich heute nacht um zwei an und erzählte mir die ganze Geschichte. Ich hätte das Telefon aus dem Fenster schmeißen können, aber ich blieb dran und kriegte Ihren Namen heraus und einen Teil der Adresse – den Rest sah ich im Telefonbuch nach. Denn ich wünsche niemand, daß er sich mit Mack herumschlagen muß. Nicht meinem ärgsten Feind.« Allmählich wurde ich klarer im Kopf. Aber ich hatte nicht viel, was ich hätte vorbringen können. Ich ließ sie weiterreden. »Ich habe einmal eine Geschichte gelesen«, sagte
sie, »ich kann mich nicht mehr erinnern von wem. Vielleicht kennen Sie sie auch. Sie handelt von einem Mann, der einen anderen Mann vor dem Ertrinken gerettet hat. Und der Gerettete war dankbar, beschenkte den Retter, wollte ihm helfen, sagte, er sei sein einziger Freund auf der ganzen Welt, zog in sein Haus – und schließlich hielt es der, der ihn gerettet hatte, nicht mehr aus und stieß ihn wieder in den Fluß. Der Gerettete, das ist Mack Wilson. Und aus dem Grund hat ihn auch jeder wieder streichen lassen, den er in den letzten zwei Jahren in einen Kontakt hineingeschwätzt hat. Ich selbst habe es drei Monate ausgehalten, und nach allem, was ich gehört habe, ist das der Rekord.« Die Türklinke schnappte, die Tür ging auf, und Mack stand da in Hemd und Hose, Marys Stimme hatte ihn im Bastelzimmer aus dem Schlaf geweckt. Sie hatte das erste Wort: »Sehen Sie? Er hat bereits damit angefangen.« »Du ...!« sagte Mack. »Hast du denn nicht schon genug Schaden angerichtet?« Er wandte sich an mich: »Es reicht ihr nicht, daß sie mich gestrichen hat, ohne einen Kontakt in der Welt. Sie muß auch noch herkommen und probieren, ob sie Sie nicht auch herumkriegt! Können Sie verstehen, daß mich irgend jemand so sehr haßt?« Bei den letzten Worten zitterte seine Stimme, und ich sah Tränen in seinen Augen, echte Tränen. Ich strengte meinen wackligen Verstand an und sagte schließlich: »Einen Augenblick mal. Ich habe das alles nur gemacht, weil ich einfach davon überzeugt bin, daß heutzutage niemand ohne Kontakt herumlaufen
sollte. Ich wollte Mack nur über eine Verlegenheit hinweghelfen.« Ich richtete meine Worte hauptsächlich an Mary. »Gestern abend habe ich zuviel getrunken, und er hat mich nach Hause gebracht, und deshalb ist er heute morgen hier. Mir ist es egal, was er angestellt hat oder wer er ist – ich habe meine eigenen Kontakte, ich weiß gar nicht, was ich tun würde, wenn ich dich nicht hätte, und ich spiele sozusagen nur den Bürgen für Mack, bis er vielleicht mit einem Arbeitskollegen etwas ausgemacht hat. Das ist alles.« »So fing es auch mit mir an«, sagte Mary. »Dann zog er zu mir in die Wohnung. Dann fing er an, mich auf der Straße zu beobachten, mir zu folgen, um sicher zu gehen, daß mir nichts geschah. Sagte er.« »Was wäre denn aus mir geworden, wenn dir was passiert wäre?« fragte Mack entrüstet. In dem Augenblick fiel mein Blick auf die Wanduhr, und es war zwölf Uhr mittags. Ich sprang auf. »Großer Gott!« sagte ich. »Meine Frau kommt mit den Kindern um vier zurück, und ich hatte versprochen, in ihrer Abwesenheit die Wohnung in Ordnung zu bringen.« »Ich helfe Ihnen«, sagte Mack. »Wenigstens das bin ich Ihnen schuldig.« Mary stand auf. Sie sah mich an wie einen hoffnungslosen Fall. »Sagen Sie nicht, man hätte Sie nicht gewarnt«, sagte sie. Gut, sollte sie recht haben. Aber auch gut – Mack war eine große Hilfe. Er verstand sich besser auf Hausarbeit als viele Frauen, die ich gekannt habe. Und obwohl wir erst fertig wurden, als meine Frau mit den Kindern vor der Tür stand, hatte er doch glänzende Arbeit geleistet. Sogar meine Frau zeigte
sich beeindruckt. Und weil es bald auf den Abend zuging, bestand sie darauf, daß Mack zum Essen bleiben solle. Er ging für uns Bier holen, und als wir tranken, erzählte er meiner Frau, in welcher Klemme man ihn hatte sitzen lassen, bis ich ihn befreit hätte. Und so gegen neun oder halb zehn sagte er, er wolle früh schlafen gehen, wegen der Arbeit morgen, und dann ging er heim. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Was Mary gesagt hatte, schlug ich mir aus dem Kopf als die Rache einer enttäuschten Frau. Sie tat mir leid; als ich sie gestern abend gesehen hatte, hatte sie gar nicht so ausgesehen, als könnte sie so bitter sein. Etwa drei oder vier Tage später ging mir allmählich das Licht auf. Das war um die Zeit, als es Mode wurde, wieder ins Kino zu gehen und Filme aus der VorKontakt-Zeit anzusehen. Ich glaubte zwar nicht, daß ich großen Spaß daran haben würde zuzusehen, wie sich Soldaten oder Gangster gegenseitig umbrachten ohne sich – damals! – auf Kontakt verlassen zu können, aber alle ihre Freundinnen hatten meiner Frau gesagt, daß sie sich diese gruselige Spannung auf keinen Fall entgehen lassen dürfe. Bloß war da die Schwierigkeit mit den Kindern. Schließlich konnten wir keine elf Monate alten Zwillinge mit ins Kino nehmen. Und unser Babysitter war weggezogen, und als wir herumfragten, war gerade heute abend niemand frei. Ich redete ihr gut zu, sie solle doch allein gehen, aber das gefiel ihr auch wieder nicht. Mir war schon aufgefallen, daß sie keine Filme aus der Vorkontaktzeit mehr im Fernsehen anschaute – das paßte ins Bild.
Also entschlossen wir uns, die Sache fahren zu lassen; ich merkte aber doch, daß sie enttäuscht war. In dem Moment rief Mack an, hörte von unseren Schwierigkeiten und bot sich sofort an, einzuspringen. Großartig, dachten wir. Es schien ihm Spaß zu machen, er kannte sich aus, und offenbar brannte er sogar darauf, sich uns erkenntlich zu zeigen. Wir brauchten uns keine Gedanken zu machen, wenn wir ausgingen. Die Kinder schliefen schon fest, als wir gingen. Wir parkten den Wagen und machten uns auf den Weg zum Kino, denn obwohl es bis zur zweiten Vorstellung noch genügend Zeit hatte, war es in der hereinfallenden Dunkelheit doch empfindlich kühl geworden. Zufällig drehte sich meine Frau einmal um – und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Ein Mann ging mit seinem Jungen dicht hinter uns, und sie fielen fast über meine Frau. Ich entschuldigte mich bei ihnen, und als sie weitergegangen waren, fragte ich, was in aller Welt denn los sei? »Ich habe mir eingebildet, ich hätte Mack gesehen, wie er uns folgte«, sagte sie, »komisch ...« »Sehr komisch«, stimmte ich zu. »Wo?« Ich sah den Gehweg entlang, doch da gab es eine Menge Leute, auch ein paar, die so aussahen und so angezogen waren wie Mack. Ich machte sie darauf aufmerksam, und sie gab zu, daß sie sich wahrscheinlich geirrt habe. Mehr als dieses »wahrscheinlich« konnte ich ihr jedoch nicht abringen. Wir legten den Rest des Weges zum Kino gewissermaßen quer zurück, weil sie ständig nach hinten
schaute. Nach einer Weile machte mich das richtig verlegen, und dann glaubte ich plötzlich, sie zu verstehen. »Eigentlich willst du gar nicht so recht in diesen Film, nicht wahr?« sagte ich. »Was willst du damit sagen?« fragte sie gekränkt. »Ich habe mich die ganze Woche lang darauf gefreut!« »Das kann nicht ganz stimmen«, wandte ich ein. »Dein Unterbewußtsein sträubt sich und spiegelt dir vor, du hättest Mack gesehen, damit du eine Entschuldigung hast, heimzugehen statt dir den Film anzusehen. Wenn wir nur deswegen hier sind, weil dir deine Kaffeetanten den Floh ins Ohr gesetzt haben, und wenn du den Film nicht wirklich sehen willst – komm, dann drehen wir wieder um.« Ich sah ihr an, daß ich zumindest halbwegs das Richtige getroffen hatte. Aber sie schüttelte den Kopf. »Sei nicht kindisch«, sagte sie. »Mack würde es bestimmt ziemlich komisch finden, wenn wir auf einmal wieder nach Hause kämen. Er würde annehmen, daß wir ihm nicht trauen oder so was.« Also gingen wir hinein und hielten die ganze eine Vorstellung hindurch aus und fühlten uns pflichtgemäß daran erinnert, was das für ein Leben war – und schlimmer, was das für ein Sterben war – in jenen ach so längst vergangenen Tagen vor ein paar Jahren, als es Kontakt noch nicht gab. Als vor dem nächsten Film die Lichter kurz angingen, drehte ich mich zu meiner Frau um. »Ich muß schon sagen ...« fing ich an, aber ich kam nicht weiter. Ich starrte sprachlos über den Gang auf die andere Sitzreihe.
Da saß er, und er war es wirklich. Ich wußte, daß ich mich nicht irrte und daß da nicht etwa jemand saß, der nur wie Mack aussah, weil er die Schultern hochzuziehen und sich dahinter zu verstecken versuchte. Ich stieß meine Frau an und zeigte hinüber. Sie wurde kalkweiß im Gesicht. Wir standen auf. Er sah uns und lief hinaus. Ich erwischte ihn noch vor der nächsten Ecke, packte ihn am Arm, riß ihn herum, und sagte: »Was soll das heißen, verdammt nochmal? Das ist doch wirklich der schmutzigste Trick, mit dem mir einer gekommen ist!« Wenn den Kindern irgend etwas zustoßen würde, dann war natürlich der Vorhang 'runter. Ende. Für Kinder gab es keinen Kontakt, ehe sie nicht mindestens im Lesealter waren, allermindestens. Und er besaß noch die Frechheit, sich zu verteidigen, Entschuldigungsgründe zu plappern. Er sagte so was wie: »Es tut mir leid, aber ich machte mir solche Sorgen, ich konnte es nicht mehr aushalten. Ich habe mich vergewissert, daß alles in Ordnung war bei den Kindern, und ich wollte ja auch nur für ein paar Minuten fort, und –« Meine Frau hatte uns mittlerweile erreicht, und sie ging in die vollen. Nie vorher hatte ich auch nur den leisesten Verdacht gehabt, daß sie so viele unflätige Ausdrücke beherrschen könnte. Und jetzt benutzte sie sie sogar, mit Meisterschaft, und zum Abschluß schlug sie ihm ihre Handtasche um die Ohren. Wir liefen zum Wagen. Die ganze Fahrt über erzählte sie mir, was für ein Idiot ich gewesen sei, mich mit Mack überhaupt einzulassen, und ich hielt ihr die reine Wahrheit entgegen – daß ich dem Kerl eben nur einen
Gefallen hatte tun wollen, weil meiner Auffassung nach niemand heutzutage mehr einsam und ohne jeglichen Kontakt sein sollte. Doch, Wahrheit oder nicht, auch mir klang das ein bißchen hohl. Das furchtbarste Geräusch, das ich je in meinem Leben gehört habe, war das Geschrei der Zwillinge, als wir in die Wohnung kamen. Doch es fehlte ihnen nichts, weder dem einen noch dem andern, sie hatten nur Angst gehabt und sich allein gefühlt, und wir trösteten sie und hielten sie auf den Armen, bis sie sich wieder beruhigten. Die Eingangstür ging auf, während wir noch unsere Erleichterung genossen, und da stand er wieder. Wir hatten ihm den Schlüssel beim Weggehen dagelassen, falls er einmal das Haus kurz verlassen wollte, für Zigaretten oder so. Nun, ein paar Minuten ist etwas ganz anderes, als uns zum Kino zu folgen und dort eine ganze Vorstellung lang sitzenzubleiben. Ich verlor die Sprache, als ich sah, wer es war. Nur deshalb konnte er die ersten Sätze herausbringen. Er sagte: »Bitte, Sie müssen das verstehen! Ich wollte ja nur aufpassen, daß Ihnen nichts zustieß! Angenommen, Sie hätten auf dem Weg zum Kino einen Unfall gehabt – was wäre dann aus mir geworden? Ich saß hier und habe mir Sorgen gemacht, bis ich's einfach nicht mehr aushalten konnte, und ich wollte ja auch nur sicher sein, daß Sie das Kino ohne Zwischenfall erreichten, aber als ich erst einmal dort war, machte ich mir Sorgen wegen des Heimwegs und –« Mir blieben die Worte immer noch im Hals stecken vor blinder Wut, aber weil ich mir das nicht länger anhören konnte, nahm ich Maß und landete einen Schlag auf seinem Kinn. Er flog zurück, halb durch
die noch offene Tür, und wenn er sich dort nicht festgehalten hätte, wäre er ganz draußen gelandet. Er verzog das Gesicht wie ein Muttersöhnchen, der in das rauhe Spiel der Jungen von der Straße geraten war, und fing an zu winseln. »Jagen Sie mich nicht fort«, stöhnte er. »Sie sind mein einziger Freund auf der Welt! Jagen Sie mich nicht fort!« »Freund!« sagte ich. »Nach heute abend würde ich Sie nicht Freund nennen, und wenn Sie der letzte Mensch auf der Welt wären! Ich habe Ihnen einen Gefallen getan, und Sie haben mir dafür genau so gedankt, wie Mary es vorausgesagt hat! Scheren Sie sich hier weg, und zwar sofort, und lassen Sie sich nie wieder hier sehen. Das erste, was ich morgen mache, ist zu einem Kontaktbüro zu gehen und Sie streichen zu lassen!« »Nein!« kreischte er. Ich hätte nie gedacht, daß ein Mann so schreien könnte – als hätte man ihm glühendes Eisen ins Gesicht gepreßt. »Nein! Das können Sie nicht tun! Das ist unmenschlich, das –« Ich packte ihn und wand ihm den Schlüssel aus den Fingern. Und so sehr er sich auch an mich klammerte und weiterwinselte, stieß ich ihn schließlich aus der Tür und drehte hinter ihm den Schlüssel herum. In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich wälzte mich im Bett herum, mal hierhin, mal dorthin, und starrte in die Dunkelheit. Nach einer halben Stunde hörte ich, wie meine Frau sich in ihrem Bett aufrichtete. »Fehlt dir was, Liebling?« fragte sie. »Weiß ich auch nicht«, sagte ich. »Vielleicht mache ich mir Vorwürfe, weil ich Mack auf diese Art raus-
geschmissen habe.« »Das ist doch Quatsch!« sagte sie scharf. »Du bist einfach zu weichherzig. Du konntest gar nicht anders, als ihn 'rauswerfen. Einsam oder nicht, er hat uns einen niederträchtigen Streich gespielt – die Zwillinge so mir nichts, dir nichts sich selbst zu überlassen, nachdem er uns versprochen hatte, aufzupassen! Du dagegen hast ihm überhaupt nichts versprochen. Du hast ihm nur vorübergehend aus einer Verlegenheit helfen wollen, und du konntest nicht wissen, wie er sich auf einmal entpuppen würde. So, und jetzt entspann dich und versuche zu schlafen. Ich wecke dich früh, damit du noch vor der Arbeit ein Kontaktbüro aufsuchen kannst.« Genau in dem Augenblick, als hätte er zugehört, kam er zu mir. Ich werde es nie beschreiben können – und wenn ich zwanzig Leben Zeit dafür hätte –, welche schmierigen, hinterhältigen, schäbigen Triumph er ausströmte, als es passierte. Ich könnte es nicht verdeutlichen, dieses Gefühl von »Siehste, da hab ich dich aber reingelegt!«, oder diesen Unterton von »Du weißt, wie du mich behandelt hast – jetzt paß mal auf, wie ich dich behandle!« Ich glaube, ich schrie eine ganze Zeitlang, als mir klar wurde, was geschehen war. Natürlich, so mußte es gekommen sein. Er hatte mich dazu überredet, mit ihm einen Kontakt einzugehen – genau wie er wohl eine Menge anderer Leute zuvor herumbekommen hatte. Nur, die hatten ihn rechtzeitig durchschaut und hatten ihn streichen lassen ohne ihm etwas vorher zu sagen. Wenn er dann dahintergekommen war, hatte er sie nicht mehr so hereinlegen können wie er mich
hereingelegt hatte. Bei den anderen war er zu spät gekommen, doch bei mir ... Ich hatte ihm gesagt, daß ich ihn den nächsten Morgen würde streichen lassen – eine einseitige Entscheidung, nennen das die Juristen, und er hätte keine Handhabe gehabt, mich davon abzuhalten. Etwas in meiner Stimme mußte ihn überzeugt haben, daß ich es ernst meinte. Denn wenn er mich auch nicht davon abhalten konnte, er hatte doch eine Möglichkeit, meine Absicht zu durchkreuzen. Eine einzige. Und die hatte er genutzt. Er hatte sich erschossen. Durchs Herz. Zuerst hatte ich noch Hoffnung. Ich verteidigte mich gegen die schäbige Boshaftigkeit, die in mir Platz genommen hatte. Ich schickte Frau und Kinder übers Wochenende zu den Schwiegereltern, um mich ganz auf meine Abwehr konzentrieren zu können. Ich habe verloren. Eine Zeitlang wurde ich abgelenkt, als ich nachforschte, wieviele Lügen mir Mack erzählt hatte – die Erziehungsanstalt, das Gefängnis, seine unentdeckten Diebereien und die schmierigen Schwindeleien, mit denen der die Leute betrogen hatte, die er seine Freunde nannte, so, wie er mich betrogen hatte ... Und dann rastete etwas ein, und ich mußte meinen Schwiegervater anrufen, um nach meiner Frau zu fragen, und sie war noch nicht angekommen, und ich wurde ganz nervös und rief meinen alten Freund Hank an, und der sagte hallo, alter Knabe! Wie geht's dir denn, ja, natürlich habe ich noch deinen Kontakt, gut daß du anrufst, vielleicht fliege ich nächste Woche nach New York und da könnten wir – Ich war entsetzt. Ich konnte nichts dafür. Vermut-
lich hielt er mich für übergeschnappt, oder jedenfalls für einen unverschämten Idioten, als ich ihm den Flug ausreden wollte. Wir gerieten uns richtig in die Haare, und es hörte damit auf, daß er wütend wurde und sagte, wenn ich einen alten Kameraden so behandelte, würde er den Kontakt löschen lassen. Da geriet ich in Panik, ich mußte meinen jüngeren Bruder anrufen, und Joe war nicht zu Hause – mein Bewußtseinsteil beruhigte mich: Der ist sicher Angeln gegangen übers Wochenende, kein Grund zur Beunruhigung. Doch Macks Bewußtseinsteil bestand darauf, Joe sei vermutlich tot, mein alter Freund würde mich im Stich lassen, und binnen kurzem stünde ich da, ohne irgendeinen Kontakt, und dann würde mein Tod ewig dauern – wie war es denn zugegangen in dem Film gestern abend, Tote überall und jeder ohne Kontakt? Also rief ich die Schwiegereltern nochmals an, ja, sie waren angekommen und sie wollten mit dem Boot, das einem Freund gehörte, auf den See hinausfahren und mir blieb das Herz stehen, und ich versuchte es zu verhindern; das sei zu gefährlich, sagte ich, laßt sie nicht auf den See hinaus, ich komme selbst und halte sie zurück und – Es hat nicht aufgehört. Gott, war das eine Zeit, in der Mack und mein übriges Ich versuchten, sich einander anzupassen. Ich hoffte inständig, wenn die endgültige Verschmelzung käme, würde alles besser werden. Doch es wurde schlimmer. Schlimmer? Nun, ganz sicher bin ich nicht. Ich meine, es trifft natürlich zu, daß ich bis heute, bis vor kurzem die tollkühnsten Risiken eingegangen bin. Wenn ich nur
daran denke – zur Arbeit gehen und meine Frau allein zu Hause lassen! Da hätte ihr doch alles möglich zustoßen können. Und Hank hatte ich auch monatelang nicht gesehen. Und ich hatte versäumt, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit mich über Joes Wohlbefinden zu unterrichten – damit ich sofort für einen neuen Kontakt sorgen könnte, falls er sterben sollte. Jetzt bin ich sicherer. Jetzt habe ich die Pistole, und ich gehe nicht mehr zur Arbeit, und meine Frau lasse ich nie aus den Augen. Wir werden jetzt vorsichtig, ganz vorsichtig zu Joes Wohnung fahren und ihn daran hindern, sich so in Gefahr zu begeben, wie ich das früher getan hatte. Und wenn wir Joe umerzogen haben, besuchen wir Hank und zwingen ihn, diesen unverantwortlichen, gefährlichen Flug aufzugeben. Und dann vielleicht, wird alles besser werden. Nur eines stört mich bei der ganzen Sache: Irgendwann werde ich einmal müde werden und einschlafen, und was dann – was, wenn meinen Kontakten dann etwas passiert, während ich schlafe?
Originaltitel: THE LAST LONELY MAN
Robert Lory TIERKREIS-PARTY Dieser Mord gefällt mir nicht, vor allem auch, weil es nicht dazu gekommen wäre, wenn ich auf Vicky gehört hätte. Wir sollten uns von Hadleys Party fernhalten, hatte sie gesagt. Sie hatte ihre Gründe – keiner davon war der richtige, aber immerhin, sie hatte Gründe. »So was ist immer furchtbar langweilig«, sagte sie, als sie ihr langes blondes Haar aufsetzte. »Mir hängen deine Werbefritzen mit ihrem Schwindelpackungsgehirn zum Hals heraus, die müssen doch immer ihre Charakterrollen spielen«, diesen Grund brachte sie vor, als ich den Wagen anließ. »Das sind doch alles infantile Lüstlinge«, sagte sie, als wir den Fahrstuhl in dem Haus betraten, in dem Hadley wohnte. »Und Hadley ist ein versoffenes Schwein«, erregte sie sich, als der Fahrstuhl im neunten Stock hielt. Ich drückte auf die Klingel, da verschoß Vicky ihr letztes, motziges Argument: »Außerdem riecht er aus dem Mund.« Ich nickte zustimmend, so wie ich bisher auch zustimmend zu allem genickt hatte, was sie sagte. In meinem Verteidigungsplädoyer wies ich darauf hin, daß solche Dinge ein notwendiges Übel sind, wenn man sich unter den Marktschreiern einen anerkannten Platz erobern will: Parties, die Lustmolche und der stinkende Atem. Von Isvara sagte ich überhaupt
nichts. Vicky kannte ihn zwar nicht, aber Isvara – und nur Isvara – hatte uns veranlaßt, bei dieser Party und keiner anderen aufzutauchen. Die Tür wurde aufgemacht, und der Radau von Kumpellustbarkeit brandete in den Korridor. Hadley, fett wie immer, mit Speichel in den Mundwinkeln, auch wie immer, versperrte die Sicht auf das, was sich innen tat. »George, alter Junge! Und die liebe, die liebliche, die liebreizende Vicky!« Wir traten ein, und Hadley torkelte zur Garderobe, dabei ließ er Vickys Mantel fallen, ehe er das Ziel erreicht hatte. Schon wieder blau. »Kaum zu glauben, und wie schön wir doch heute wieder aussehen«, sagte er, als er an Vickys Seite zurückkehrte. Kein Zweifel, das versoffene Loch hatte recht. Er verfügte über nur ein Talent, doch das reichte zum Art Director und zu einem hohen Gehalt. Er wußte, was Schönheit ist. Und Vicky – groß, blond und ganz Figur in dem silbernen Kleid – war heute abend der Inbegriff weiblicher Schönheit. »He, Kinder, seht mal, wer heute hier ist – Georgie Bond. Na, Wunderknabe, wie wundert sich's denn so?« Diese Begrüßung spritzte dem großmäuligsten Kunden-Manager von New York von den Lippen. Wie Breem es fertigbrachte, mit seinen Kunden auszukommen – oder eher umgekehrt –, war mir ein Rätsel. Immerhin, er konnte mit Worten umgehen, also rang ich mir ein Grinsen ab und wartete ab, was er noch an dem »Wunderknaben« aufhängen würde. Und da kam's, mit einer Brechreiz erzeugenden Lache: »Ist es denn kein Wunder, Knabe, wie ausgerechnet du so 'ne Frau erwischt hast, ha, ha, ho!«
Wir ha-ha-hoten uns durch Hadleys Wohnräume, und die Begrüßungen reichten vom halbherzigen Lächeln bis zu schmerzenden Schlägen zwischen die Schulterblätter. Jede Frau auf diesem Stockwerk schien es darauf angelegt zu haben, mir ihre Brüste so dicht wie möglich unter die Nase zu stecken. Ich weiß ja nicht wie die meisten Männer darüber denken, aber meiner Meinung nach sind Brüste großartig – an ihrem angestammten Platz. Und das heißt, nicht so hochgequetscht, daß sie aussehen wie mißgestaltete Schultern. Die ganze menschliche Rasse kotzt mich zuweilen an. Und Vicky geht's nicht anders, vor allem auf Parties. »Amüsierst du dich gut?« fragte sie säuerlich. Ich überlegte mir gerade eine geistreiche Antwort, als ein häßlicher Texter mich am Arm packte und mir ein Pomme-frites-Stäbchen ins Gesicht streckte: »Versuch mal, George! Die Tunke ist hervorragend. Von Marcia selbst gemacht.« Was er Tunke nannte, war eine Mayonnaise, die der Farbe nach schon jemand gegessen haben mußte. Ich schluckte mühsam und rang mir ein Lächeln ab. »Nein Pit, danke. Bin auf Diät, du weißt ja, wie das ist«, sagte ich, indem ich ihm einen herzhaften Schlag auf den Buckel versetzte. So recht von Herzen herzhaft – Pitcorn hustete mindestens drei Pommes frites wieder aus. Mein sadistisches Wohlbefinden wurde unterbrochen, als mich Vicky am Ärmel zupfte. Nachdem wir uns so weit von Pitcorn entfernt hatten, daß er uns nicht mehr hören konnte, sagte sie: »Das war Rettung in höchster Not. Ich glaube, er hatte ein Auge auf mich geworfen.«
»Keine Angst«, sagte ich. »Das Männlein bekäm bei dir einen Herzinfarkt, und er weiß das. Komm, wir trinken was.« Wir näherten uns der Mahagonibar in Hadleys großem Wohnzimmer, und ich ließ meine Blicke über die geröteten, schwitzigen Gesichter schweifen, die rings um uns kicherten und plapperten, hungrig oder glasig starrten. Die Party hatte bereits jenes Stadium erreicht, in dem die Männer ohne Jackett herumliefen und die Kleider der Frauen das aufwiesen, worüber man nicht spricht – Schweißflecke. Ich registrierte das alles als Tatsachen, die mich nicht berührten, während ich versuchte, den Mann ausfindig zu machen, dessen Anwesenheit bei dieser Orgie auch die meine verursacht hatte. »Wer ist es?« fragte Vicky, als ich ihr einen Martini eingoß, »der, nach dem du dich umsiehst, wer?« Ich lächelte. Ein stolzes Lächeln. Wie überlegen war Vicky doch, wie sehr diesen puppenhaften Kreaturen hier überlegen. Welche andere Frau in dieser Gesellschaft würde instinktiv wissen, was ihr Mann gerade dachte? »Wer?« wiederholte sie. »Dort. Der da«, sagte ich erleichtert, als der große hagere Mann durch die Kathedralglastür trat, die vom Zimmer auf den Balkon führte. »Der im Turban. Isvara heißt er.« »Interessanter Name. Sein richtiger?« Wer die religiösen Glaubensbekenntnisse der Menschen eingehend studiert hatte, würde – so wie Vicky – sofort daran denken, daß Isvara einer der Ehrennamen der hinduistischen Obergottheit war. Ob Isvara diesen Namen seit Geburt trug oder ihn anstelle von Ali Baba oder Al Capone angenommen hatte, wußte
ich nicht, und ich sagte Vicky, daß ich es nicht wußte. Wir beobachteten, wie eine pummelige Rothaarige, die ich nicht kannte, Isvara einen Drink anbot. Mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfschütteln lehnte er ab, und während die Rothaarige ihm entrüstet nachstarrte, begab er sich in eine ruhigere Ecke des Zimmers und kauerte sich dort auf die Hacken. »Den Mystiker spielt er nicht schlecht«, sagte Vicky anerkennend. »Wie ist er denn an Hadley geraten?« »Die Agentur. Isvara ist so eine Art Dressman für irgendeine Zigarettenanzeige. Außerdem ist er heute vermutlich deswegen hier, weil er für Unterhaltung sorgen soll. Er deutet den Charakter.« Vicky schlürfte ihren Martini. »Mit einer Kristallkugel, oder liest er aus Teeblättern?« fragte sie, wenig beeindruckt. »Weder noch. Aus den Sternen – so etwas wie Astrologie. Pitcorn hat es mir gesagt. Isvara beobachtet jemand scharf, und aus seiner Haltung und seinen Bewegungen schließt er auf den Planeten oder die Sterne, unter denen er geboren wurde. Die weiteren Schlußfolgerungen sollen dann reine logische Berechnungen sein.« »Und das glaubst du?« »Pitcorn glaubt's. Isvara hat ihm erzählt, daß Pits Leben unter dem dominierenden Einfluß der Tatsache steht, daß er nie den Tod seiner Schwiegermutter verwunden habe. Und wenn er überhaupt jemanden heiraten sollte, dann wäre es am besten, er suchte sich eine ältliche Bibliothekarin aus.« Vicky lachte über die Vorstellung, die sie sich von Pitcorns künftiger Braut gemacht hatte, doch dann wurde ihr Gesicht plötzlich ernst. »Hast du das be-
merkt? Er hat zu uns herübergeschaut. Zu mir.« Jeglicher Kommentar, den ich hätte abgeben können, wurde von einem massiven Schlag auf meine Schulter im Keim erstickt. »Ist das ein Leben, was Georgie? – he!« Hadley brüllte wie ein frustrierter Löwe und stürzte sich auf Vicky. Sie wich seinen griffbereiten Fingern aus, und unser Gastgeber stolperte auf die Couch zu, wo er im Schoß einer blauhaarigen Matrone landete, die gerade ihre persönliche Theorie von Großer Literatur wildentschlossen verteidigt hatte. »Ich glaube, ich habe Angst vor diesem Mann«, sagte Vicky. »Der ist harmlos. Hält sich nur für einen großartigen Liebhaber, mehr nicht.« »Ich meine nicht Hadley. Ihn meine ich.« Sie blickte zu Isvara hinüber. »Ich fühle mich ungemütlich, wenn ich an ihn denke. Und ich bin sicher, daß er mich beobachtet.« »Gewiß«, sagte ich, indem ich ihren ängstlichen Tonfall nachmachte. »Du hast ihn höchstwahrscheinlich tief beeindruckt. Letzten Endes fühlte er sich ja zu den Sternen hingezogen, und für jeden Mann mit einem Rest von Urteilsfähigkeit bist du der Stern dieses Abends.« Vicky murmelte irgendwas davon, daß ihr trotzdem nicht ganz wohl in ihrer Haut sei, als ich zu meinem Schrecken bemerkte, daß mein Glas leer war. Bereits anläßlich meiner ersten Party in der Werbeagentur hatte ich lernen müssen, daß man nur dann ohne größeren geistigen Schaden davonkommt, wenn man sich total betrinkt. »Noch einen?« fragte ich Vicky.
Sie sagte nein, und so mußte ich allein durch die hin und her wogenden Leiber waten, die nach dem Rhythmus irgendeines miserablen Jazzstücks tanzten, wenn man das so nennen kann. An der Bar tauschte ich mein Martini-Normalglas gegen einen vernünftigen Becher um, der auch in eine Männerfaust paßte. Gin und Wermut zogen Schlieren um das Eis und hatten fast den Rand erreicht, als ich bemerkte, daß ein Kunstfritze der Agentur Vicky festgenagelt hatte, dort bei der eingetopften Palme. Mein Gott Goddard, nannte ich ihn. Ein Hampelmann. Wenn immer ich mir ins Gedächtnis rief, daß ich nur deshalb in der Werbung arbeitete, um in der Nähe von Leuten wie Goddard, Pitcorn und so weiter sein zu können, mußte ich an meiner Intelligenz zweifeln. Intelligenz, das war der springende Punkt. Künstler und Texter, Kreative, so hatte ich mir eingebildet, seien intelligenter als andere Menschen, dem Sinn des Lebens und seinem Verständnis nähergekommen. So kann man sich täuschen. Und doch, es gab einen Isvara. Gerade stand er wieder auf, dort in der Zimmerecke. Vielleicht ... ich beschloß, ihm auf den Zahn zu fühlen. Auf meinen Gruß antwortete er: »Ihre Frau ist ein sehr charmantes Wesen.« Ich nickte, aber ich dachte, meine Frau und ihre Vorzüge kann ich jederzeit und mit jedem diskutieren, nur jetzt wollte ich mich über Astrologie mit jemand unterhalten, der vorgab, etwas davon zu verstehen. »Sehr charmant«, wiederholte er, »aber sonderbar.« Mein Bewußtsein schwamm durch Gin und Wermut, tauchte auf und wurde hellwach. »Sonderbar?«
»Ja, sonderbar«, sagte er. »Sie haben von meinen Fähigkeiten gehört, Mr. –?« »Bond. George Bond.« »Mr. Bond. Ich vermute, Sie haben von meiner Fähigkeit reden hören, den menschlichen Charakter aus den Handlungen einer Person zu analysieren. Beispielsweise Sie haben doch den ganzen Abend darauf gewartet, dieses Thema mit mir zu diskutieren, oder nicht? Nun, diese Schlußfolgerung war nicht allzuschwer, dazu genügten nur oberflächliche Beobachtungen. Ernsthaft habe ich mich dagegen auf Ihre Frau konzentriert, Mr. Bond, sie hat Ihnen das ja bereits mitgeteilt.« Vicky hatte also doch recht gehabt. Er hatte sich mit ihr beschäftigt. »Ihre Analyse würde mich interessieren«, sagte ich. Isvara schüttelte den Kopf. »Von einer Analyse ist gar nicht die Rede. Ihre Frau ist ... unergründlich – und das soll keine Plattitüde sein. Denn, Mr. Bond, wenn meine Begabung versagt, wenn sie mir keinen Eingang in die tiefsten Seelengründe eines bestimmten Menschen verschafft, dann ist dieser Mensch eben – unergründlich. Verstehen Sie, was ich meine?« »Nein«, gab ich zu. »Aber ich.« Das war Vickys Stimme. Offensichtlich war es ihr gelungen, Goddard loszuwerden. »Ich verstehe das vollkommen. Mr. – Isvara? – Mr. Isvara also will dir klarmachen, George, daß sein unfehlbares System gar nicht versagen kann, und wenn es doch versagt, dann ist es weder seine Schuld noch die seines Systems. Diese Schuld liegt dann immer beim anderen.« Vicky blinzelte mir zu und lächelte. »Mit anderen Worten, ich bin ein sehr ungezogenes Mädchen.«
Wenn ich zu den Leuten gehört hätte, die leicht erröten, dann wäre ich jetzt rot geworden. Isvara, der einzige Mensch hier in der Gegend, der anfing, mir zu imponieren – und Vicky in ihrer übelsten Katzenlaune. Ich wollte mich gerade entschuldigen, aber Isvara kam mir zuvor. »Mrs. Bond hat völlig recht, selbst wenn Sie eben im Scherz gesprochen haben. Die Schuld liegt wirklich bei Ihnen.« Er sagte das ganz ruhig und überlegen, wie ein Lehrer, der seiner Sexta erklärt, daß sich Wasserstoff und Sauerstoff zu Wasser zusammenfügen. Ich mußte lachen. Das geschah Vicky recht. Ich hätte noch weitergelacht, aber Isvara fuhr fort. »Es stimmt. Ob Sie das nun einsehen oder nicht, Mr. Bond, aber Ihre Frau versucht unter größter Anstrengung als jemand zu erscheinen, der sie nicht ist. Sie spielt uns etwas vor, sie spielt eine Rolle.« »Eine Rolle?« Ich starrte Vicky an. »Theater«, sagte er. »Ihr ganzes Verhalten sagt mir, sie ist ein Steinbock. Ihr Charme, ihre Anziehungskraft, gewisse Spuren, die die Erfahrung hinterlassen hat – alles deutet auf dieses vom Saturn beherrschte Zeichen des Tierkreises hin. Doch was fehlt ist die Würde, ist die Zurückhaltung, die für SteinbockGeborene typisch sind. Sie lächelt zu eifrig, und selbst einem Amateurpsychologen würde so etwas auffallen ... ein falsches Lächeln. Sehen Sie hin, Mr. Bond – sie lächelt jetzt nicht mehr.« Da hatte er allerdings mehr als recht. Vicky machte ein ungerührtes Gesicht, doch in ihrem Innern tobte ein Vulkan, der jede Sekunde ausbrechen konnte. Ich war schließlich ihr Mann, ich erkannte die Anzeichen. Isvara auch.
Sie hatte meinen Gedankengang mitverfolgt, das wußte ich. Laß mich das machen, sagten ihre Augen. Und sie versuchte es. »Mr. Isvara, vielleicht haben Sie mich durchschaut. Ich verstelle mich tatsächlich bei solchen gesellschaftlichen Zusammenkünften, die ich eigentlich nicht ausstehen kann, ich spiele meine Rolle nur, um nicht unfreundlich zu erscheinen. Na und? Viele andere Leute verstellen sich auch. Sie behaupten, ich sei ein Steinbock und stehe unter dem Einfluß des – Saturn, nicht wahr? Nun gut, warum lassen wir es also nicht dabei?« Isvara lächelte, kein angenehmes Lächeln. »Weil Sie sich einer Analyse unter dem Zeichen des Saturn entziehen. Sie kleiden sich wie ein Stier, benehmen sich in der Öffentlichkeit wie ein Widder, und Sie denken wie eine Waage. Nun habe ich zwar für die Populärastrologie nichts als Verachtung übrig, doch jeder Praktiker in diesen Künsten wird Ihnen sagen, daß, sich sowohl Widder wie auch Waage mit Steinbock nicht vertragen.« »Und das bedeutet?« fragte Vicky eisig. »Und das bedeutet, daß Sie entweder unter einer Mehrfachpersönlichkeits-Neurose leiden – was nicht zutrifft –, oder daß Sie in voller Absicht Ihr Leben zu einer grandiosen Lüge gemacht haben.« »Mein Herr!« sagte ich und bemühte mich dabei, Entrüstung durchklingen zu lassen. Es gelang mir nicht, aber ich mußte es zumindest versuchen. »Ich habe das nicht als eine Beleidigung beabsichtigt, Mr. Bond.« Isvara sah mir nun fest in die Augen. »Ich habe Tatsachen aufgeführt. Die Sterne sind Tatsachen. Die Sternpositionen sind Tatsachen, unzwei-
felhaft, auch wenn ihr Einfluß starkem Wechsel unterliegt. Und diese Einflüsse sind ebenfalls Tatsachen, die jeder beobachten kann, der diese Zeichen zu lesen versteht.« »Und ob er die zu lesen versteht!« mischte sich eine neue Stimme ein. Pitcorns Züge hatte ich schon immer abstoßend gefunden, aber noch nie so abstoßend wie jetzt. »Hat er dich in der Mangel, George?« Ich lächelte schwach. »Nein, Vicky.« Pitcorn sagte oh und wies auf mein leeres Glas. »Zeit zum Nachtanken? Komm, wir gehen 'rüber.« »Ja, George – geh' ruhig mit«, sagte Vicky und gab mir auch ihr Glas mit. »Und hab Mitleid mit dem Wermut.« Ihr Lachen klang echt, war es jedoch nicht. »Immer mit der Ruhe, Mann«, sagte Pitcorn, als wir zur Bar schlenderten. »Du siehst ja ganz zitterig aus – wie ein Preßlufthammer.« Er kicherte über seinen Witz. »Zuviel getrunken«, murmelte ich und griff mir eine volle Ginflasche. Das erste Glas trank ich das Zeug pur herunter, dann füllte ich unsere Gläser mit halbwegs ehrbaren Martinis. Als ich einen Blick durchs Zimmer warf, dorthin wo ich Vicky und Isvara zurückgelassen hatte, wurde mein Puls schneller. Sie waren verschwunden. »He, wo willst du denn hin?« fragte Pitcorn, als ich davoneilte und ihn in meiner Panik fast umriß. In Küche und Eßraum blendeten mich mehrere abgrundtiefe Ausschnitte, aber keine Vicky. Zurück in den Wohnraum. Und dort sah ich sie. Sie wollte gerade die Kathedralglastür zum Balkon hinter sich schließen.
»Schnell«, flüsterte sie. »Isvara ist draußen.« Ihre Panik übertraf noch die meine. Ich folgte ihr hinaus. Isvara stand dort, dicht an der Brüstung, und steinkalt. Seine Augen waren leer, sein Herz stand still. Er war tot. Vicky hatte ihn geeist. »Hat er was gewußt?« fragte ich. »Er fing an, etwas zu vermuten.« Nervös blickte sie durch die Scheiben ins Zimmer. »Wir müssen uns beeilen.« Ich entfernte die Starre aus Isvaras Körper und hob ihn auf die Brüstung. »Hol tief Luft für den Schrei«, sagte ich zu Vicky. Neun Stockwerke, und unten Beton. Ich stieß den Körper in die Luft. Vicky schrie. »Er wollte ... er sagte, er wollte die Schwerkraft herausfordern«, schluchzte Vicky, als Hadley und die anderen uns mit Fragen bestürmten. Als die Polizei kam, erzählten wir ihr die gleiche Geschichte. »Er tat einfach einen Schritt hinaus ... und –« Vicky schluchzte hysterisch. »Er war schon ein komischer Heiliger«, fügte ich hinzu, »und vermutlich genau so blau wie wir alle.« Jeder kaufte uns das ab. Ein Original wie Isvara – der Polizeisergeant nannte ihn Weihwasser für die Klapsmühle – dem konnte man schon zutrauen, daß er seine Kräfte messen wollte, indem er vom Balkon spazierte. »Auf so Sachen stoßen wir alle Tage«, beruhigte der Sergeant Vicky, die sich überzeugend schüttelte. Niemand verdächtigte uns. Wir hatten kein Motiv. Natürlich. Niemand wußte, was Isvara zu Vicky gesagt hatte, ehe sie ihm vorschlug auf dem Balkon frische Luft zu schnappen. »Aber«, hatte er gesagt,
»die Sterne würden sich natürlich in anderen Gruppierungen zeigen, wenn ... wenn man sie ... von einer anderen Stelle aus betrachtet.« Er hatte uns durchschaut – oder es hätte wenigstens nicht mehr lange gedauert. Krieg ist Krieg, sicher, aber sein Tod macht mir immer noch zu schaffen. Welche Intelligenz! Und außerdem, wie recht hatte er doch bei Vicky. Sie ist ein Steinbock – jedenfalls steht sie unter dem Einfluß von Saturn. Wie jeder andere auch, sobald unsere Truppen eintreffen.
Originaltitel: THE STAR PARTY