ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 48 von Robert Silverberg Isaac Asimov Neal Barrett jr. Clifford D. Simak
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 48 von Robert Silverberg Isaac Asimov Neal Barrett jr. Clifford D. Simak
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Ullstein Buch 3139 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen von Jannis Kumbulis
Umschlagillustration: Dell Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Stories aus WORLD’S BEST SCIENCE FICTION 1971 Copyright © 1971 by Donald A. Wollheim und Terry Carr Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1975 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1975 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03139 0
Nicht eine Gestalt mit festem Umriß, sondern wie verwischt, so, als hätte jemand vom Himmel Sternenstaub zusammengescharrt und daraus so etwas wie eine Figur geformt, zerfasert, ausgefranst an den Rändern, die immer wieder aus ihrem Umriß ausbrechen wollte und trotzdem einen Rest von Ähnlichkeit mit ihrer vielleicht ursprünglichen Form nicht aufgeben konnte. Es sah aus, wie ein loser Verband von Atomen aussehen mochte, wenn man Atome mit den Augen sehen könnte. Es war ein sanftes Funkeln und Schimmern in der grauen Schneeluft, und obwohl es so völlig ohne Substanz erschien, mußte es doch über ungeheure Kraft verfügen – denn es zog und stemmte sich immer weiter aus dem aufgebrochenen Erdreich heraus bis es endlich frei dastand. Dann schwebte es langsam zur Höhle hinauf. Seltsamerweise verspürte Daniels keine Angst, nur große Neugier. Er überlegte, was dieser schwebenden Gestalt ähneln könnte. Aber er fand keinen passenden Vergleich.
Robert Silverberg DER VERLIEBTE ISMAEL
Sie dürfen mich Ismael nennen. Alle menschlichen Wesen, die mich kennen, tun das. Meine eigene Art benutzt diese Einheitsformel (»Name«) zur Unterscheidung der einzelnen Individuen nicht; aber diesen Namen haben mir die Menschen gegeben und er bewährt sich. Miss Lisabeth Calkins hat mich so getauft. Für sie hege ich beschützend – ritterlich – sexuelle Gefühle (»Liebe«). Es versteht sich, daß während meiner ganzen Erzählung die Bezeichnung »Ismael« sich nur auf mich bezieht. Ich gehöre einer im Meer lebenden, intelligenten Familie der Säugetiere an, die nicht mit den Primaten oder Menschen verwandt ist: den Tursiops truncati, den flaschennasigen Delphinen oder Großen Tümmlern. Ich bin elf Jahre alt, womit ich sagen will, daß ich in jeder Hinsicht erwachsen bin. Ich wiege 175 kg und meine Gesamtlänge beträgt 2,9 m. Angestellt bin ich seit dem 14. August 1994, nach eurer Zeitrechnung, gegen freie Verpflegung, bei der GerardWorzel-Meerwassernutzungsanstalt auf St. Croix, Virgin Islands. Meine Artgenossen finden mich sexuell begehrenswert, und wegen meiner überaus entwickelten Intelligenz stehe ich bei ihnen in hohem Ansehen. Mein Wortschatz ist sehr groß. Ich kann mich mit jedem Mitglied der Gattung H. sapiens recht gut unterhalten. Auch auf mechanisch-technischem Gebiet habe ich große Fortschritte gemacht, was Sie daran erkennen können, mit welchem
Geschick ich dieses elektro-akustische System hier bediene, durch welches ich diese meine Memoiren diktiere. Ich bin ein sehr, sehr einsamer Organismus aus der Klasse der Säugetiere und habe für eure Gattung schon Heldentaten vollbracht. Als Belohnung wünsche ich mir nichts mehr als eine innigere Beziehung (»Liebe«) zu Miss Lisabeth Calkins. Ich überrede oft mitfühlende Angehörige der Gattung H. sapiens dazu, ihr Vorteilhaftes von mir zu erzählen. Ich bin loyal, vertrauenswürdig, zuverlässig, bescheiden und äußerst intelligent. Ich würde mir zutrauen, ihr immer eine anregende Gesellschaft zu sein und die Ansprüche ihres Gefühlslebens (»Glück«) in jeder Weise zu befriedigen, natürlich soweit es in meiner Macht steht. Erlauben Sie mir jetzt, Ihnen die eigentlichen Umstände zu schildern. Abteilung I: Meine Arbeit Die Gerard-Worzel-Meereswassernutzungsanstalt liegt auf einer schmalen Landzunge an der Nordküste von St. Croix im Karibischen Meer. Sie arbeitet nach dem Prinzip der atmosphärischen Verdichtung. Ich weiß das alles von Miss Calkins (»Lisabeth«), die mir die Arbeitsweise unseres Instituts mit großer Genauigkeit beschrieben hat. Der Zweck dieser Einrichtung ist folgender: einen Teil des frischen Wassers – das Gesamtvolumen wird auf 700 Millionen Liter pro Tag geschätzt – zu gewinnen, das als Wasserdampf in den unteren Schichten der Atmosphäre über jedem Kilometer Küste an der dem Wind zugekehrten Seite der Insel lagert. Durch eine Pipeline von 0,9 m Durchmesser wird kaltes Meerwasser aus einer Tiefe von 900 m über eine Entfernung von etwa 2 km zu unserem Institut gepumpt. Ihre Kapazität beträgt etwa 110 Millionen Liter Wasser am Tag. Das Wasser mit seiner Temperatur von 5 Grad Celsius wird in unseren
Kondensor gepumpt, der pro Tag annähernd 1 Milliarde Kubikmeter warmer Tropenluft ansaugt. Die Luft hat eine Temperatur von 25 Grad Celsius und eine relative Feuchtigkeit von 70 bis 80 Prozent. Wird die Luft im Kondensor mit dem kalten Meerwasser zusammengebracht, so sinkt ihre Temperatur auf 10 Grad Celsius ab und ihre Feuchtigkeit steigt auf 100 Prozent an. Auf diese Weise gewinnen wir aus jedem Kubikmeter Luft ungefähr 60 Liter Wasser. Dieses salzfreie (»frische«) Wasser wird in die Wasserversorgung der Insel abgeleitet, denn St. Croix besitzt keine eigenen natürlichen Wasservorräte, die für den menschlichen Konsum geeignet wären. Von hohen Regierungsbeamten, die immer wieder aus den verschiedensten Anlässen unsere Anlagen besichtigen, wird häufig beteuert, daß ohne unsere Arbeit der große industrielle Aufschwung von St. Croix unmöglich gewesen wäre. Aus Gründen der Rentabilität haben wir unserem Unternehmen eine Aquakultur (»die Fisch-Farm«) angeschlossen, die die Abfallprodukte aus unserer Wassergewinnung verarbeitet. Sobald das Meerwasser den Kondensor verlassen hat, muß es aufbereitet werden. Da es aus den tieferen Schichten des Ozeans stammt, ist sein Prozentsatz an gelösten Phosphaten und Nitraten 1500mal höher als der des Wassers an der Oberfläche. Dieses Wasser, das also reich an Nährstoffen ist, wird anschließend in eine kreisförmige Lagune natürlichen Ursprungs (»den Korallen-Corral«) gepumpt, die mit Fischen besetzt ist. In diesem idealen Lebensraum gedeihen die Fische sehr gut, und was hiervon als Speisefisch verkauft wird, deckt bei weitem die Kosten für den Betrieb der Pumpen. (Falsch informierte menschliche Wesen betonen manchmal einen gewissen moralischen Aspekt dieser Fisch-Farm. Ihrer Ansicht nach besteht er darin, daß die Fisch-Farm mit Hilfe
von Delphinen betrieben wird. Sie halten es für entwürdigend, daß wir gezwungen werden, bei der Aufzucht uns verwandter Meeresbewohner mitzuwirken, die dann von den Menschen gegessen werden. Ich darf darauf hinweisen, daß erstens niemand von uns hier unter Zwang steht und daß zweitens keiner meiner Art etwas Unmoralisches dabei sieht, sich von Meerestieren zu ernähren. Wir essen schließlich selbst Fische.) Mein Beitrag zur Arbeit des Gerard-Worzel-Instituts ist von großer Bedeutung. Ich (»Ismael«) bin Vormann der PipelineWartungsmannschaft. Ich führe eine Gruppe von neun Artgenossen an. Zu unserer speziellen Aufgabe gehört es, die Einlaßventile und Filter der Pipeline zu überwachen und sauber zu halten. Sie werden oft unbrauchbar, weil sich an ihnen niedere Organismen ansiedeln, wie Seesterne und Algen; dadurch wird die Leistung der Anlage verringert. In regelmäßigen Abständen tauchen wir hinunter und entfernen diese unerwünschten Kreaturen. Unter normalen Umständen sind dazu nicht einmal werkzeugähnliche Organe (»Finger«) nötig, mit denen wir von Natur aus bedauerlicherweise nicht ausgerüstet sind. (Einzelne Individuen bei euch haben geltend gemacht, daß es nicht vertretbar sei, Delphinen Arbeit zu geben, wo es doch unter den H. sapiens so viele Arbeitslose gebe. Die einzig richtige Antwort darauf ist, daß wir erstens auf Grund unserer Entwicklung für Unterwasserarbeiten hervorragend geeignet sind und keine spezielle Sauerstoffausrüstung brauchen, und zweitens, daß unsere Arbeit auch nur von besonders begabten und geschickten menschlichen Wesen getan werden könnte, und solche sind als Arbeitskräfte bekanntlich schwer zu finden.) Ich bekleide meinen Posten jetzt schon zwei Jahre und vier Monate. In der ganzen Zeit sind an den Filtern und Ventilen keine nennenswerten Störungen aufgetreten.
Als Ausgleich für meine Arbeit (»Lohn«) erhalte ich hier reichlich zu essen. Für diese Menge Essen könnte man einen ausgewachsenen Hai anstellen. Aber über meine tägliche Ration Fisch hinaus genieße ich noch so schwer zu beschreibende Vergünstigungen, wie die Gesellschaft menschlicher Wesen und die Möglichkeit, meinen Verstand und mein Wissen zu erweitern. Ich kann mir jederzeit Tonbänder über verschiedene Wissensgebiete vorspielen lassen, oder Programme zur Vergrößerung meines Wortschatzes, und wie Sie sehen, habe ich aus diesen Möglichkeiten doch ziemlich viel gemacht. Abteilung II: Miss Lisabeth Calkins Ihr Lebenslauf ist hier auf dem Band festgehalten. Über das Lesegerät am Rand des Delphin-Übertragungsbeckens habe ich ihn mir einmal vorspielen lassen. Auf meine gesprochene Anweisung hin wird mir jedes verfügbare Band aus dem Archiv des Instituts vorgespielt. Allerdings bin ich nicht sicher, ob jemand daran gedacht hat, daß sich ein Delphin auch für die Lebensläufe der Angestellten interessieren könnte. Sie ist siebenundzwanzig Jahre alt, also so alt wie die Generation meiner genetischen Vorfahren (»Eltern«). Nun, daß man ältere Frauen keine leidenschaftlichen Gefühle entgegenbringt, ist für mich ein bei vielen H. sapiens verbreitetes gesellschaftliches Tabu, das ich nicht teile. Außerdem wird man feststellen, wenn man die artbedingten Unterschiede berücksichtigt, daß Miss Lisabeth Calkins und ich gleichaltrig sind. Sie hat vor etwa der Hälfte ihres Lebensalters die geschlechtliche Reife erreicht. Bei mir war es genauso. (Ich muß sogar zugeben, daß sie, nach gängigen Vorstellungen, schon etwas über das Alter hinaus ist, in dem sich weibliche Menschen einen ständigen Partner nehmen. Vermutlich hält sie auch nicht viel von vorübergehenden
Paarungen, denn aus ihrem Lebenslauf geht nicht hervor, daß sie Junge zur Welt gebracht hätte. Es ist sogar möglich, daß die Menschen nicht unbedingt bei jeder jährlichen Paarung ein Junges zeugen, ja sogar, daß die Paarung zu beliebiger Zeit vollzogen werden kann und überhaupt keinen Bezug zur Zeugung hat. Das erscheint mir seltsam und irgendwie pervers. Immerhin bestätigen einige Andeutungen diesen Verdacht. Grundlegende Untersuchungen zu den menschlichen Paarungsgewohnheiten sind mir hier allerdings nicht zugänglich. Ich muß auf jeden Fall mehr darüber wissen.) Lisabeth, so habe ich mir erlaubt sie zu nennen, wenn ich ganz allein bin, ist 1,80 m groß und wiegt 52 kg. Ihr Haar ist goldfarben (»blond«) und sie trägt es lang bis auf die Schultern. Ihre Haut ist angenehm hell, obwohl sie dunkel geworden ist, weil sie sich so lange der Sonne ausgesetzt hat. Die Iris ihrer Augen ist blau. Aus Gesprächen, die ich mit anderen Menschen führte, habe ich erfahren, daß man sie für schön hält. Aus anderen Unterhaltungen wieder, die ich zufällig mit angehört hatte, als ich mich im Becken an der Wasseroberfläche aufhielt, entnahm ich, daß die meisten Männer der Station ihr gegenüber starke sexuelle Gefühle hegen. Ich empfinde sie auch als schön, soweit ich überhaupt fähig bin, auf menschliche Schönheit zu reagieren. (Ich denke schon, daß ich es bin.) Ich bin mir nicht sicher, ob es das eigentlich Sexuelle ist, was mich zu Lisabeth hinzieht; was mich so verwirrt, ist eher dieses ganz allgemeine Bedürfnis, sie in meiner Nähe zu haben, sie zu berühren. Ich transponiere das nur ins Sexuelle, um es mir einigermaßen verständlich zu machen. Zweifellos sieht sie ja überhaupt nicht so aus, wie ich mir meine Partnerin vorstelle (kräftiger, ausgeprägter Schnabel, schöngeformte Flossen), und jeder Versuch körperlicher Vereinigung müßte für sie sehr schmerzhaft sein. Und gerade
das will ich nicht. Alles, was sie für die männlichen Wesen ihrer Spezies so anziehend macht (hoch entwickelte Milchdrüsen, leuchtende Haare, schlanke Gestalt, lange Hintergliedmaßen oder »Beine«, usw.) hat für mich überhaupt keine Bedeutung. Im Gegenteil, manchmal stößt es mich direkt ab. Zum Beispiel diese zwei Milchdrüsen, etwa in Brusthöhe, die vom Körper soweit abstehen, daß sie die Schwimmgeschwindigkeit unweigerlich bremsen müssen. Das ist für mich schlechtes Design, und so etwas kann ich nicht schön finden. Aber anscheinend empfindet auch Lisabeth Größe und Lage dieser Drüsen als störend, denn sie ist immer und überall darauf bedacht, sie durch ein schmales Stoffband an den Körper zu pressen. Die anderen auf der Station, alles Männer, haben nur Ansätze zu Milchdrüsen, und dadurch ist der Fluß der Linien des Körpers nicht gestört; deswegen lassen sie ihren Vorderkörper auch unbedeckt. Also was zieht mich so zu Lisabeth hin? Es hängt wohl damit zusammen, daß mir ihre Gesellschaft so unentbehrlich ist. Ich glaube, sie versteht mich besser als jeder meiner Artgenossen, und deswegen fühle ich mich bei ihr auch glücklicher als anderswo. Diesen Eindruck hatte ich schon, als wir uns das erste Mal begegneten. Lisabeth, die Spezialistin auf dem Gebiet der Beziehungen zwischen Menschen und Meeressäugern, kam vor vier Monaten nach St. Croix. Ich sollte meine Pipeline-Wartungsmannschaft nach oben bringen und sie ihr vorstellen. Ich sprang hoch aus dem Wasser und sah sofort, daß sie etwas Feineres war als die Menschen, die ich bisher kennengelernt hatte. Ihr Körperbau war viel zarter und wirkte gleichzeitig zerbrechlich und kraftvoll. Überhaupt ist ihre Anmut mir eine willkommene Abwechslung in der bedrückenden Häßlichkeit der männlichen Wesen, die ich bisher kennengelernt hatte. Sie ist auch nicht von dieser entsetzlichen Körperbehaarung bedeckt, die alle meine
Artgenossen so abscheulich finden. (Anfangs wußte ich nicht, daß dieser Unterschied daher kam, daß sie ein weiblicher Mensch war. Ich hatte zuvor noch nie ein weibliches Exemplar der Gattung gesehen, aber ich bekam es sehr schnell heraus.) Ich schwamm an den Beckenrand und drückte auf den akustischen Transmitter. Ich sagte: »Ich bin der Vormann der Pipeline-Wartungsmannschaft. Meine individuelle Strukturbezeichnung ist TT-66.« »Hast du denn keinen Namen?« fragte sie. »Bitte, was ist das, Name?« »Deine – deine individuelle Strukturbezeichnung – aber doch nicht nur TT-66. Was soll denn das schon heißen. Zum Beispiel heiße ich Lisabeth Calkins. Das ist mein Name. Und ich – « Sie schüttelte den Kopf und sah den Aufseher an. »Haben denn diese Arbeiter keine Namen?« Aber der sah wohl nicht ein, warum Delphine auch Namen haben sollten, im Gegensatz zu Lisabeth, der es sogar sehr wichtig zu sein schien. Und da sie ja in Zukunft mit uns viel zu tun haben würde, gab sie damals jedem von uns auf der Stelle einen Namen. Ich erhielt den Namen Ismael. Sie erzählte mir, daß Ismael ein Mann gewesen sei, der zur See fuhr und viele wunderbare Abenteuer erlebt habe. Die Geschichte gab es auch auf Band und jeder, der etwas auf seine Bildung halte, so sagte sie, müsse sie sich vorspielen lassen. Ich habe mir Ismaels Geschichte – also die des anderen Ismael – auch vorspielen lassen, und ich muß zugeben, sie ist wirklich bemerkenswert. Für ein menschliches Wesen kannte er sich ungewöhnlich gut aus in den Lebensgewohnheiten der Wale. Zwar sind das ziemlich einfältige Kreaturen, und ich persönlich habe wenig Respekt vor ihnen, aber ich bin trotzdem stolz, Ismaels Namen zu tragen. Nachdem sie jedem von uns einen Namen gegeben hatte, sprang sie ins Wasser und schwamm mit uns. Ich will nicht
verhehlen, daß die meisten meiner Artgenossen die Menschen verachten, weil sie so armselige Schwimmer sind. Aber vielleicht ist es ein Zeichen meiner überdurchschnittlichen Intelligenz oder meiner größeren Zuneigung, daß ich dieses Gefühl nicht teile. Ich bewundere euch Menschen für den Eifer und die Energie, die ihr aufs Schwimmen verwendet. Und ihr könnt es ja auch ganz gut, wenn man euren ungeeigneten Körperbau berücksichtigt. Im Vergleich zu mir und meinen Artgenossen bewegt ihr euch im Wasser viel geschickter als wir es umgekehrt an Land könnten. Jedenfalls schwamm Lisabeth gut, nach menschlichen Maßstäben, und wir waren Kavaliere und tolerant genug, unsere Geschwindigkeit der ihren anzupassen. Eine Zeitlang tollten wir im Wasser herum, dann packte sie mich an der Rückenflosse und sagte: »Ismael, laß mich auf dir reiten.« Ich erschauere jetzt noch, wenn ich mich an den Augenblick erinnere, als sich unsere Körper das erste Mal berührten. Sie saß auf meinem Rücken, ihre Beine fest um meinen Leib gepreßt. Ich brauste los, so schnell ich nur konnte. Ich hielt mich immer dicht an der Wasseroberfläche. Ihr Lachen verriet mir, welchen Spaß ihr das machte, als ich immer wieder aus dem Wasser schoß und mit gewaltigen Sprüngen durch die Luft schnellte. Es war reine Prahlerei mit meiner Kraft, von meinen außergewöhnlichen geistigen Fähigkeiten verriet ich vorläufig noch nichts. Ich ließ, wenn Sie es so nennen wollen, den Delphin in mir los. Lisabeths Reaktion darauf war einfach überschwenglich. Selbst wenn ich mit ihr so tief hinabtauchte, daß sie hätte Angst haben müssen, der Druck könnte ihr schaden, hielt sie sich unbeirrt an meiner Flosse fest und zeigte keine Spur von Angst. Als wir dann wieder durch die Wasseroberfläche brachen, jauchzte sie laut vor Begeisterung. Mit dieser rein animalischen Selbstdarstellung hatte ich den ersten Eindruck auf sie gemacht. Ich kenne die Menschen gut
genug, um ihren fröhlich-atemlosen Zustand, als ich sie an Land zurückbrachte, richtig zu interpretieren. Mir ging es aber jetzt darum, sie mit meinen edleren Eigenschaften bekannt zu machen, ihr zu zeigen, daß ich eine selbst für Delphine ungewöhnlich rasche Auffassungsgabe habe, die ungewöhnliche Fähigkeit und den Willen, das Universum zu begreifen. Vom ersten Augenblick an war ich in sie verliebt. In den darauffolgenden Wochen führten wir viele Gespräche miteinander. Ich will mir nicht schmeicheln, aber sie fand sehr schnell heraus, was für ein außergewöhnliches Wesen ich bin. Mein Wortschatz war schon damals sehr umfangreich, als sie ans Institut kam, aber Lisabeths Gegenwart war ein Stimulans, der mehr als alles andere zu seinem ungeahnten Anwachsen beitrug. Ich lernte sehr viel von ihr. Sie verschaffte mir Zugang zu Spulen, von denen niemand gedacht hätte, daß sie sich einmal ein Delphin vorspielen lassen würde. In kurzer Zeit erwuchsen mir Einsichten und Erkenntnisse über meine Umwelt, die mich selbst in Erstaunen setzten. Nach ein paar kurzen entschlossenen Klimmzügen stand ich auf dem jetzigen Gipfel meines Wissens. Sie werden meiner Behauptung zustimmen müssen, daß ich mich beredter ausdrücke als die meisten Menschen. Ich hoffe nur, daß der Computer, der diese Memoiren ausdruckt, den Text, den ich hier spreche, nicht zu sehr entstellt, etwa durch falsche Interpunktionen oder Schreibweise. Meine Liebe zu Lisabeth vertiefte sich und wurde reicher. Zum erstenmal wußte ich, was Eifersucht war, als ich sie Hand in Hand mit Dr. Madison, dem Leiter der Kraftzentrale, über den Strand laufen sah. Ich lernte auch den Zorn kennen, als ich die unanständigen, vulgären Bemerkungen hörte, die die Männer hinter Lisabeths Rücken machten. Meine Leidenschaft führte mich seltsamerweise ganz von allein auf die Wege rein menschlicher Erfahrung. Mit ihr darüber zu sprechen, hatte ich
Hemmungen, aber aus Gesprächen mit anderen Angestellten der Anstalt erfuhr ich doch einiges über dieses Phänomen, das die Menschen »Liebe« nennen. Ich ließ mir auch die Bedeutung der vulgären Ausdrücke erklären, die die Männer nur hinter ihrem Rücken aussprachen: viele von ihnen schienen tatsächlich an eine Paarung mit Lisabeth zu denken (ich nehme sogar an, nur auf sehr temporärer Basis), und ich konnte auch immer wieder äußerst günstige Beurteilungen ihrer Milchdrüsen hören (warum sind eigentlich die Menschen so aggressiv aufdringlich an ihrem Säugertum fixiert?) sowie über diese gerundete Stelle ihres Hinterkörpers, genau dort, wo sich ihr Körper in die beiden Hinterbeine gabelt. Ich muß zugeben, daß diese Stelle auch für mich eine gewisse Faszination hat. Dabei ist es für mich ein unbegreiflich fremdes, ja beängstigendes Phänomen, daß ein Körper von der Mitte an gespalten ist. Ich habe zu Lisabeth niemals von meinen Gefühlen gesprochen. Ich versuchte vielmehr, sie behutsam soweit zu bringen, daß sie meine Liebe von selbst erkennen würde. War das einmal geschehen, konnten wir daran denken, eine gemeinsame Zukunft zu planen. Was war ich doch für ein Narr! Abteilung III: Das Komplott Eine männliche Stimme sagte: »Wie, zum Teufel, willst du denn einen Delphin bestechen?« Eine zweite Stimme, wesentlich gepflegter, antwortete: »Laß das nur meine Sorge sein.« »Was willst du ihm denn geben? Zehn Eimer Sardinen?« »O nein, so primitiv ist der nicht. Er ist ganz außergewöhnlich. Er ist sehr gescheit. Wir können allen Ernstes mit ihm reden.«
Sie wußten nicht, daß ich ihr Gespräch mit anhörte. Ich war im Ruhebassin und ließ mich dicht unter der Wasseroberfläche treiben. Es war gerade Pause zwischen zwei Schichten. Wir Delphine haben nämlich ein sehr feines Gehör und ich war noch dazu in Hörweite. Auf einmal wußte ich, daß da irgend etwas faul war, aber ich rührte mich nicht und tat so, als hätte ich nichts gehört. »Ismael!« rief der eine, »Ismael, bist du es?« Ich schwamm an die Oberfläche und kam an den Beckenrand. Drei Männer standen dort. Einer arbeitete bei uns als Techniker, die beiden anderen hatte ich noch nie gesehen. Sie hatten ihre Körper von den Zehen bis zum Hals hinauf mit Stoff bedeckt, und schon das zeigte, daß sie hier fremd waren. Für den Techniker empfand ich nur Abscheu, denn er gehörte zu denen, die ordinär über Lisabeths Milchdrüsen gesprochen hatten. »Seht ihn euch an, Gentlemen«, so sagte er, »im besten Mannesalter und schon zu Grunde gerichtet. Ein Opfer menschlicher Ausbeutung!« Und zu mir sagte er: »Ismael, diese Herren kommen von der Liga zur Verhütung von Grausamkeiten an intelligenten Lebewesen. Hast du schon von ihr gehört?« »Nein«, sagte ich. »Ihr Ziel ist es, der Ausbeutung der Delphine ein für allemal ein Ende zu setzen. Die einzige intelligente Spezies, die außer uns noch auf diesem Planeten lebt, wird auf verbrecherische Weise zur Sklavenarbeit gezwungen. Sie wollen euch helfen.« »Aber ich bin kein Sklave. Ich werde für meine Arbeit entlohnt«, entgegnete ich. »Was ist das schon, ein paar stinkende Fische!« sagte der bekleidete Mensch neben dem Techniker. »Sie beuten dich doch nur aus, Ismael! Sie geben dir eine schmutzige und noch dazu gefährliche Arbeit und zahlen dir einen Dreck dafür!«
Sein Gefährte sagte: »Das muß aufhören. Wir wollen der Welt zeigen, daß das Zeitalter der versklavten Delphine Vergangenheit ist. Du mußt uns helfen, Ismael. Hilf uns, daß wir euch helfen können.« Unnötig zu sagen, daß ihr ganzer Vortrag in mir Mißtrauen und Feindseligkeit erweckte. Ein etwas naiver Delphin hätte das auch sofort zu erkennen gegeben, und sie wären gar nicht dazu gekommen, ihr Vorhaben zu offenbaren. Aber ich war schlau genug und fragte ganz scheinheilig: »Und was soll ich dabei tun?« »Verstopft die Röhren«, sagte der Techniker sofort. Ich konnte nicht anders. Voller Zorn und Überraschung stöhnte ich laut auf: »Eine mir anvertraute Sache zu verraten? Wie kann ich das?« »Ismael, es ist doch nur euretwegen. Schau, es ist ganz einfach. Du und deine Mannschaft verstopft die Einlaßfilter, und die ganze Arbeit hier kommt zum Stillstand. Auf der Insel bricht eine Panik aus. Menschen werden hinuntertauchen und nachsehen, was los ist. Aber sowie sie die Filter wieder gereinigt haben, wirst du sie wieder verstopfen. Die Insel wird aus der Luft per Schiff mit Wasser versorgt werden müssen. Schließlich werden sich die Augen der Öffentlichkeit auf St. Croix richten, auf die Tatsache, daß das Leben auf dieser Insel von der Arbeit einiger Delphine abhängig ist – unterbezahlter Delphin-Schwerstarbeit. In der dann ausbrechenden öffentlichen Verwirrung werden wir vortreten und der Welt eure Geschichte erzählen. Jedes menschliche Wesen wird seine Stimme erheben und empört sein über die Art und Weise, wie ihr hier behandelt werdet.« Ich sagte ihnen nicht, daß ich keinerlei Empörung in mir fühlte. Statt dessen antwortete ich ganz clever: »Es könnte nicht ungefährlich sein.« »Unsinn!«
»Sie werden mich fragen, warum ich die Rohre nicht sauber gehalten habe. Es ist schließlich meine Aufgabe. Es wird da sicher Schwierigkeiten geben.« Eine Weile diskutierten wir dieses Problem, dann sagte der Techniker: »Hör zu, Ismael, wir wissen ja, daß es ganz ohne Risiko nicht geht. Aber wir wollen dir ja auch eine besondere Belohnung geben, wenn du die Sache übernimmst.« »So, und das wäre?« »Spulen. Alles was du nur hören willst, werden wir dir besorgen. Ich weiß, daß du literarische Ambitionen hast. Schauspiele, Gedichte, Romane, alles was du dir vorstellen kannst. Stundenlang werden wir dir Literatur vorspielen, wenn du uns hilfst.« Ihre Gerissenheit war immerhin bewundernswert. Sie wußten genau, womit sie mich ködern konnten. »Das ist immerhin ein Angebot«, sagte ich. »Du brauchst uns nur zu sagen, was du am liebsten hören möchtest.« »Alles über die Liebe.« »Liebe???« »Ja, Liebe. Zwischen Mann und Frau. Bringt mir Liebesgedichte. Biographien berühmter Liebhaber, Beschreibungen des Liebesaktes. Ich muß das alles genau wissen.« »Er will das Kamasutra«, grinste einer der Fremden. »Dann besorgen wir ihm eben das Kamasutra«, sagte der andere. Abteilung IV: Meine Antwort an die Halunken Natürlich brachten sie mir nicht das Kamasutra. Aber eine ganze Menge anderer brauchbarer Lektüre, unter anderem auch eine Spule, die wenigstens stellenweise aus dem Kamasutra zitierte. Mehrere Wochen lang widmete ich mich einem
intensiven Studium dieser Literatur. Ich stieß dabei auf Stellen, die mich in ihrer Unverständlichkeit fast verrückt machten, und mir fehlt es heute noch an Verständnis für vieles, was sich da zwischen Mann und Frau abspielt. Die Vereinigung der Körper ist natürlich kein Rätsel für mich, aber was sich da an Dialektik abspielt, bis es dazu kommt (der Mann muß die Rolle eines gewalttätigen Räubers spielen, die Frau muß sich verweigern), all das ist für mich erschreckend. Auch das werde ich nicht begreifen, warum zum Beispiel ein zeitlich begrenztes Zusammenleben moralisch anders beurteilt wird als ein dauerndes (»Ehe«). Mir fehlt jeder Sinn für dieses verworrene System von Tabus und Verboten, die sich die Menschen gerade in dieser Hinsicht auferlegt haben. Ich mußte feststellen, daß ich einen Fehler gemacht hatte, denn ich wußte am Ende meiner Studien nicht viel mehr darüber, wie ich mich zu Lisabeth verhalten sollte, als bevor diese Banditen anfingen, mir heimlich die Spulen zu beschaffen, und jetzt kamen sie wieder und verlangten, daß ich meinen Teil des Abkommens erfüllte. Natürlich wollte ich die Arbeit der Station nicht sabotieren, und natürlich wußte ich, daß die Halunken im Grunde keine Gegner der Ausbeutung der armen Delphine waren, als die sie sich ausgaben. Das war nur ein Vorwand. Aus irgendeinem Grund, den ich nicht kannte, wollten sie, daß die Station ihre Arbeit einstellte, das war alles. Sie hatten die Sympathien für meine Spezies nur vorgetäuscht, um mich für ihre Machenschaften zu gewinnen. Ich fühle mich nicht ausgebeutet, aber von ihnen hereingelegt. War es falsch von mir, die Spulen anzunehmen, wenn ich gar nicht die Absicht hatte, ihnen zu helfen? Ich glaube nicht. Sie wollten mich benutzen, und in Wirklichkeit benutzte ich sie. Es gibt Situationen, in denen ein intelligentes Wesen die
weniger intelligenten benutzen muß, um sein eigenes Wissen zu erweitern. Sie kamen also und sagten mir, ich solle heute abend die Filter unbrauchbar machen. Ich sagte: »Ich habe noch nicht begriffen, was ich eigentlich tun soll. Würdet ihr es mir noch einmal erklären?« Ich hatte inzwischen unbemerkt das Tonband eingeschaltet, welches Lisabeth bei ihrem Unterricht mit den anderen Delphinen in der Station benutzte. Sie erzählten mir wieder, wie durch das Verstopfen der Filter die Insel in Panik geraten würde und wie dadurch die Augen der Welt auf die Not der Delphine gerichtet würden. Ich stellte ihnen wiederholt Zwischenfragen und erfuhr so weitere Details. Auch achtete ich darauf, daß die Stimme jedes einzelnen auf das Band kam. Als ich dachte, daß ich genügend Beweise gegen sie hätte, sagte ich: »Gut, bei meiner nächsten Schicht werde ich tun, was ihr gesagt habt.« »Und deine Mannschaft?« »Ich werde ihnen sagen, sie sollen sich nicht um die Rohre kümmern. Es geht jetzt um uns Delphine.« Sie verließen die Station und sahen alle sehr zufrieden aus. Ich drückte auf den Knopf, mit dem wir immer Lisabeth herbeiriefen. Sie kam sofort. Ich deutete auf das Tonband. »Hören Sie sich das an«, sagte ich mit aller Großartigkeit, zu der ich fähig war: »Und dann rufen Sie die Polizei.« Abteilung V: Der Lohn der Tapferen Die Verhaftungen waren vorüber, die drei Männer hatten mit der Ausbeutung von Delphinen natürlich überhaupt nichts zu tun. Sie gehörten zu einer Interessengruppe, die einen arglosen Delphin dazu benutzen wollte, die Insel ins Chaos zu stürzen.
Meine Treue, meine Intelligenz und mein Mut hatten ihre Pläne durchkreuzt. Danach kam Lisabeth zu mir ans Becken. »Ismael, du warst wunderbar. Die Kerle so hereinzulegen und sie noch ihr eigenes Geständnis auf Tonband sprechen zu lassen… Du bist ein reines Wunder unter den Delphinen, Ismael.« Die Freude drohte mich fast wegzuschwemmen. Endlich war der Augenblick gekommen. »Lisabeth, ich liebe dich«, rief ich voller Leidenschaft. Meine Worte schienen in den Lautsprechern zu explodieren, und sie liefen hallend rund um die gekachelten Wände des Bassins. Sie mischten sich mit ihrem eigenen Echo und klangen schließlich mehr wie das alberne Gebelle eines ungebildeten Seehunds. »Liebe dich… liebe dich… liebe dich…« »Aber Ismael!« »Ich kann dir nicht sagen, was du mir bedeutest. Komm zu mir, sei meine Geliebte, Lisabeth, Lisabeth, Lisabeth!« Wahre Sturzbäche an Poesie brachen aus mir heraus, Stürme leidenschaftlicher Rhetorik bahnten sich ihren Weg durch meinen Schnabel. Ich bestürmte sie, zu mir ins Becken zu kommen und sich umarmen zu lassen. Sie lachte und sagte, sie wäre nicht zum Schwimmen angezogen. Das stimmte, sie war gerade aus der Stadt gekommen. Ich bettelte, flehte, beschwor sie, und sie gab schließlich nach. Wir waren allein; sie entledigte sich der Kleider und stieg ins Becken; einen Augenblick lang sah ich sie in ihrer ganzen nackten Schönheit. Der Anblick versetzte mir einen leichten Schock – diese häßlichen, schaukelnden Milchdrüsen, sonst war sie so klug gewesen, sie immer zu verbergen, die Streifen krankhaft weißer Haut an Stellen, wo die Sonnenstrahlen offenbar nie hingelangten, die für mich völlig unerwartete Körperbehaarung – aber so wie meine Liebste im Wasser war, vergaß ich alle
ihre unübersehbaren Mängel und stürmte auf sie zu. »Liebe…« rief ich, »gesegnet sei die Liebe!« Ich schlug meine Flossen um sie, so stellte ich mir wenigstens vor, daß sich die Menschen umarmten, und wir tauchten hinab ins tiefere Wasser. »Lisabeth! Lisabeth!« Zum erstenmal in meinem Leben wußte ich, was wahre Leidenschaft war, Leidenschaft, von der die Dichter singen und die selbst den kühlsten Verstand in Aufruhr bringt. Ich preßte sie an mich. Ich fühlte, wie sie mit den Enden ihrer Vorderfüße (»Fäuste«) gegen meine Brust trommelte, und dachte zuerst, daß meine Leidenschaft bei ihr auf Erwiderung gestoßen sei. Aber dann dämmerte es meinem von Liebe umnebelten Hirn, daß ihr vielleicht die Luft ausgehen könnte. So schnell ich konnte, brachte ich sie wieder an die Oberfläche zurück. Mein Liebling Lisabeth hustete, keuchte und spuckte Wasser und kämpfte sich aus meiner Umarmung frei. Völlig verstört ließ ich sie frei. Sie floh aus dem Wasser und ließ sich erschöpft am Beckenrand nieder. Ihr bleicher Körper zitterte. »Vergib mir«, rief ich. »Ich liebe dich, Lisabeth! Ich habe die Station nur aus Liebe zu dir gerettet!« Sie hob die Mundwinkel in einer Weise, als wollte sie mir zeigen, daß sie mir nicht böse war (ein »Lächeln«). Mit schwacher Stimme sagte sie: »Du hast mich fast ertränkt, Ismael!« »Die Leidenschaft hat mich überwältigt. Komm wieder zurück. Ich werde vorsichtiger sein. Ich verspreche es dir! Du mußt immer bei mir sein – « »Ismael, was sagst du da?« »Ich liebe dich! Ich liebe dich!« Ich hörte Schritte. Der Mann von der Kraftzentrale, Dr. Madison, kam gelaufen. Hastig legte Lisabeth die Hände vor ihre Milchdrüsen und deckte die verstreuten Kleidungsstücke über ihre untere Körperhälfte. Es schmerzte mich, das mit anzusehen. Denn wenn sie es vorzog, solche Dinge vor ihm zu
verbergen, solche häßlichen Dinge, wie sie selbst zuzugeben schien, war das nicht ein Zeichen dafür, daß sie ihn liebte und mich nicht? »Ist dir etwas passiert, Lisabeth? Ich hörte dich rufen.« »Nichts, Jeff. Ismael – er fing an, mich im Becken zu umarmen. Kannst du dir das vorstellen, er liebt mich. Er liebt mich.« Sie lachten beide über die Narrheit eines armen Delphins, den die Liebe wie ein Blitz getroffen hat.
Bevor der Morgen kam, war ich weit draußen im Meer. Ich schwamm, wo Delphine schwimmen sollten, weit weg von Menschen und ihren kümmerlichen Angelegenheiten. Lisabeths Lachen dröhnte noch immer in meinem Kopf. Sie wollte mir sicher nicht wehtun, aber sie kannte mich doch besser als irgend jemand sonst, und sie war doch nicht fähig gewesen, nicht über meine absurden Wünsche zu lachen. Ich leckte meine Wunden, blieb tagelang draußen und vergaß meine Pflichten dem Institut gegenüber. Langsam ließ der Schmerz nach und wurde zu dumpfer, gleichmäßiger Alltäglichkeit. Ich schwamm wieder zur Insel zurück. Unterwegs traf ich ein Weibchen meiner eigenen Gattung. Sie war gerade wieder in ihre Zeit gekommen und bot sich mir regelrecht an. Ich sagte ihr, sie solle mir folgen, und sie tat es. Ein paarmal mußte ich andere Männer verscheuchen, die es mit ihr treiben wollten. Ich brachte sie zur Station, in die Lagune, die wir Delphine meistens für unsere Spiele benutzten. Einer aus meiner Mannschaft – es war Mordred, schwamm neugierig auf uns zu, und ich sagte ihm, er solle Lisabeth läuten und ihr sagen, daß ich wieder da sei. Lisabeth kam an den Strand. Sie winkte mir, lächelte und rief meinen Namen.
Vor ihren Augen tollte ich mit dem Weibchen durchs Wasser. Wir tanzten den Hochzeitstanz. Wir durchbrachen die Wasseroberfläche, peitschten sie mit unseren Flanken zu Schaum, schnellten weit durch die Luft und schrien vor Vergnügen. Lisabeth sah uns aufmerksam zu. Mein einziger Gedanke war: ›Laß sie doch um Gottes willen eifersüchtig werden.‹ Ich packte meine Gefährtin und zog sie hinunter in die Tiefe des Ozeans. Dort nahm ich sie, und dann schickte ich sie fort. Sie sollte mein Kind woanders zur Welt bringen. Ich suchte Mordred. »Sag Lisabeth, daß ich eine andere Liebste gefunden habe, aber daß ich ihr eines Tages vergeben werde.« Mordred sah mich etwas begriffsstutzig an und schwamm zur Küste zurück. Meine Taktik war falsch gewesen. Lisabeth ließ mir ausrichten, daß sie mich gern zur Arbeit zurück hätte, und daß es ihr leid täte, wenn sie mich verletzt hätte. Nichts von Eifersucht. Meine Seele war nur noch ein Haufen faulendes Seegras. Ich werde wieder die Röhren sauber halten. Ich, das gutmütige Tier, ich, Ismael, der Keats und Donne gelesen hat. »Lisabeth! Lisabeth, fühlst du denn nicht meinen Schmerz!« Nachts habe ich euch meine Geschichte erzählt, als alles dunkel war. Ihr hört sie, und wer immer ihr seid, helft einem einsamen Wesen, einem Säugetier, einem Meeresbewohner, der sich nichts anderes wünscht als eine innigere Beziehung zu einem weiblichen Wesen einer anderen Gattung. Sprecht freundlich von mir zu Lisabeth. Erzählt ihr von meiner Klugheit, von meiner Treue und von meiner grenzenlosen Zuneigung. Sagt ihr, daß ich ihr noch einmal eine Chance gebe. Sie soll meine Partnerin sein in einem aufregenden, einzigartigen Experiment. Ich werde auf sie warten, morgen nacht, hier am Riff. Sie soll zu mir herausschwimmen. Sie soll den armen,
einsamen Ismael in ihre Arme schließen. Sie soll zu ihm Worte der Liebe sprechen. Aus den tiefsten Tiefen meiner Seele, Lisabeth… aus den tiefsten Tiefen, schickt dir dieses närrische Tier seinen Gutenachtgruß, im grunzenden Baß, dem Zeichen seiner tiefsten und aufrichtigsten Liebe.
Isaac Asimov PROJEKT GROSSE WELT
I Stephen Demerest blickte auf zu einem Himmel, der ihm unendlich dicht vorkam. Er fand das Blau undurchdringlich und abstoßend. Angewidert blickte er in die Sonne. Es gab nichts, womit er dieses Licht abstellen konnte. Voller Panik wandte er seine Augen ab. Nicht, daß sie ihn geblendet hätte, aber sein ganzes Gesichtsfeld wurde undeutlich und zerfloß in eine Kette von Nachbildern. Selbst die Sonne schien sich aufzulösen. Ohne daß er es wollte, dachte er an das Gebet Ajax’ in der Ilias: ›Mache den Himmel klar, laß uns mit unseren Augen schauen! Töte uns im reinen Licht, so es dir gefällt, uns zu töten!‹ Er dachte: ›Töte uns im Licht…‹ ›Töte uns in dem reinen Licht auf dem Mond, wo der Himmel schwarz und sanft ist, wo die Sterne ihr hellstes Licht ausstrahlen, wo die reine Klarheit des Vakuums unseren Blick schärft…‹ … nur nicht in diesem erdrückenden verwaschenen Blau. Ihn schauderte. Das war die physische Wirklichkeit – sein langer hagerer Körper wurde von ihr geschüttelt, und er ärgerte sich darüber. Er würde bald sterben, soviel war sicher. Und nicht unter diesem blauen Himmel, sondern unter einem schwarzen, – und man konnte es eigentlich auch nicht Himmel nennen.
Es war fast eine Bekräftigung seines Gedankens, als der Pilot der Fähre, ein kurzer, dicklicher, kraushaariger Mann zu ihm kam und sagte: »Sind Sie fertig, Mr. Demerest, für unsere Reise in die Nacht?« Demerest nickte. Er überragte den anderen bei weitem – wie er fast alle Menschen auf der Erde überragte. Sie waren kurz und dick, und mit ihren schnellen, kleinen Schritten schien ihnen das Gehen leicht zu fallen. Er merkte, wieviel Mühe ihn jeder Schritt kostete, den Fuß langsam und bewußt durch die Luft zu führen – die Schwere, die ihn am Boden festhielt, kam ihm unsagbar dicht vor. »Ich bin soweit«, sagte er. Er holte tief Luft und blickte wieder in die Sonne. Dieses Mal ohne in Panik zu geraten. Sie stand noch tief und ganz verwaschen am diesigen Morgenhimmel. Sie würde ihn bald nicht mehr blenden. Er rechnete nicht damit, daß er sie jemals wieder sehen würde. Noch nie zuvor hatte er ein Bathyscaph gesehen. Er hatte davon nur gewisse prinzipielle Vorstellungen von Prototypen – etwa die eines zeppelinförmigen Schwimmtanks mit einer kugelförmigen Gondel an der Unterseite. So, wie wenn er sich ein Raumschiff vorstellte als ein bizarres Fahrzeug, das Tonnen von Treibstoff verbrannte und ausspie und sich wie eine Spinne seinen Weg zur Mondoberfläche ertastete. Nun, dieser Bathyscaph sah jedenfalls ganz anders aus, als er ihn sich vorgestellt hatte. Unter seiner Außenhaut mochten zwar die Schwimmtanks und die Gondel stecken, aber die Ingenieure hatten dem Gerät ein elegantes und gefälliges Äußeres verliehen. »Ich heiße Javan«, sagte der Pilot der Fähre. »Omar Javan.« »Javan?« »Ja, kommt Ihnen wohl komisch vor? Der Abstammung nach bin ich Iranier – und der Erde bin ich aus Überzeugung treu geblieben. Aber wenn Sie einmal da unten sind, verlieren
Nationalitäten ihre Bedeutung.« Er grinste, und sein Gesicht wirkte noch dunkler durch die strahlend helle Ebenmäßigkeit seiner Zähne. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, können wir in einer Minute starten. Sie sind mein einziger Passagier. Ich nehme an, Sie haben Gepäck bei sich.« »Ja«, sagte Demerest trocken, »wenigstens hundert Pfund mehr als ich sonst bei mir habe.« »Sie sind vom Mond? Ich dachte es mir schon, als ich Ihren seltsamen Gang sah. Ist es denn wirklich so beschwerlich?« »Unbeschwerlich ist es gerade nicht, aber ich komme schon zurecht. Wir haben dafür ja ein spezielles Training.« »Also, kommen Sie schon an Bord.« Er trat zur Seite und ließ Demerest über die Gangway vorausgehen. »Mich würden keine zehn Pferde auf den Mond bringen.« »Dafür tauchen Sie zur Tiefseestation hinunter.« »Schon zum fünfzigstenmal. Aber das ist etwas anderes.« Demerest sah sich an Bord um. Es war nicht viel Platz, aber das störte ihn nicht. Das Innere glich in etwa dem einer Raumfähre, nur daß es eben – dichter war – ja, genau das. Da war dieses schöne Wort schon wieder. Die Masse schien überhaupt keine Rolle zu spielen. Sie einfach da – – mußte nicht demonstriert werden. Durch die klaren, dicken Glasscheiben erschien der Himmel grün. »Sie brauchen sich nicht anzuschnallen«, sagte Javan. »Hier gibt es keine Beschleunigung. Wir sinken sanft wie eine Feder. Es dauert auch nicht lange – eine knappe Stunde. Rauchen dürfen Sie allerdings nicht.« »Ich rauche sowieso nicht.« »Hoffentlich leiden Sie nicht unter Platzangst.« »Die gibt es bei uns Mondleuten nicht.« »Aber dieser ganze freie…«
»Nicht in unseren Bunkern. Wir leben nämlich in einem…«, er suchte nach einem geeigneten Ausdruck »… in einer Tiefenstation dreißig Meter unter der Mondoberfläche.« »Dreißig Meter tief?« Der Pilot schien belustigt, obwohl er nicht lächelte. »Gleich geht es abwärts.« Das Innere der Gondel wurde von den Armaturen in rechtwinklige Nischen unterteilt. Ein freigebliebenes Stück Wand hier und dort hinter den Instrumenten kam ihm wie eine Verlängerung seiner Arme vor. Leicht, fast zärtlich berührte er sie mit seinen Fingern und Blicken. »Die Überprüfung des Tauchgeräts ist zwar schon beendet«, sagte er, »aber ich überzeuge mich gerne selbst nochmal kurz vor dem Tauchen. Es sind immerhin tausend Atmosphären da unten.« Er drückte auf einen Knopf und die kreisrunde Einstiegstür schwang sich von außen schwerfällig und massiv in ihren Falz. »Je höher der Außendruck ist, desto dichter schließt sie ab. Sehen Sie sich noch einmal die Sonne an, Mr. Demerest.« Ihr Licht drang noch immer durch das dicke Panzerglas, aber es war jetzt unruhig und schwankte hin und her. Sie waren schon unter Wasser. »Der letzte Blick?« sagte Demerest. Javan kicherte. »Wohl nicht der letzte. Ich meine nur für die Dauer Ihres Ausflugs. Ich vermute, Sie sind das erste Mal in einem Bathyscaph.« »Stimmt. Hatten Sie schon viele Passagiere?« »Ganz wenige. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Es ist nichts als ein Unterwasserballon. Seit dem ersten Bathyscaph sind gut eine Million Verbesserungen dazugekommen. Wir haben atomgetriebene Motoren und können uns in gewissen Grenzen frei im Wasser bewegen. – Natürlich, im Grunde genommen ist es immer noch eine kugelförmige Gondel unter Schwimmtanks, und es muß auch immer noch von einem
Mutterschiff auf See gebracht werden. Seine eigene Energie braucht er fürs Tauchmanöver, sie reicht nicht aus, um damit Fahrten an der Oberfläche zu unternehmen.« Das Verbindungskabel mit dem Mutterschiff wurde gelöst und das Bathyscaph sank langsam tiefer und tiefer, während das Wasser in die Schwimmtanks eindrang. Für kurze Zeit geriet es in eine Oberflächenströmung und schwankte etwas. Dann war nichts mehr als absolute Ruhe. Man konnte nicht sagen, ob es sich bewegte oder nicht. Das Bathyscaph sank langsam in ein immer dunkler werdendes Grün. Javan machte es sich in seinem Sessel bequem. »John Bergen ist der Chef der Tiefseestation. Sie sind sicher mit ihm verabredet.« »Das ist richtig.« »Er ist ein feiner Kerl. Seine Frau ist auch bei ihm.« »Tatsächlich?« »Selbstverständlich. Es sind immer Frauen unten. Sind ja eine ganze Menge Leute, ungefähr fünfzig. Einige bleiben für Monate unten.« Demerest legte seinen Finger auf die dünne, fast unsichtbare Fuge zwischen der Schiffswand und der Tür. Er zog ihn wieder zurück und betrachtete die Fingerkuppe. »Da tritt Öl aus.« »Das ist Silikon, kein Öl. Durch den Außendruck wird immer etwas herausgepreßt. Das ist einkalkuliert. Eine Panne ist völlig ausgeschlossen. Sowie etwas nicht hundertprozentig funktioniert, und sei es noch so nebensächlich, werfen wir automatisch Ballst ab und steigen wieder nach oben.« »Es hat also noch nie Unfälle mit diesem Bathyscaph gegeben, wollen Sie damit sagen?« »Was kann denn schon passieren?« Der Pilot sah seinen Passagier von der Seite an. »Sobald wir einmal tiefer sind, als die Pottwale tauchen, kann gar nichts mehr schiefgehen.« »Pottwale?« Demerests schmale Stirn runzelte sich.
»Sicher. Sie tauchen fast tausend Meter tief. Wenn sie so ein Bathyscaph anstoßen – na ja, die Schwimmtanks sind nicht besonders stark gebaut, müssen sie auch gar nicht sein, wissen Sie. Sie haben ja eine Öffnung für das Wasser, und wenn das Gas, das unser Gleichgewicht hält, komprimiert wird, strömt Meerwasser in die Tanks.« Die Dunkelheit war mittlerweile körperhaft fühlbar geworden. Demerests Blick blieb an der großen Sichtscheibe hängen. Obwohl das Innere der Gondel erleuchtet war, war die Scheibe völlig schwarz, und es war nicht die Schwärze des Raumes, die er kannte: die Schwärze hinter der Scheibe war dicht und kompakt. Mit ruhiger Stimme sagte er: »Sagen wir es also ganz konkret, Mr. Javan. Wir sind machtlos, wenn uns ein Pottwal angreift, und wahrscheinlich sind wir auch einer Riesenkrake gegenüber hilflos. Hat es schon einmal Zwischenfälle dieser Art gegeben?« »Also, das ist so…« »Erzählen Sie mir keine Märchen und versuchen Sie vor allem nicht, ein Greenhorn an der Nase herumzuführen. Ich frage aus rein beruflichem Interesse. Ich bin der erste Sicherheitsingenieur auf Luna-City und ich möchte wissen, welche Sicherheitsmaßnahmen dieser Bathyscaph bei einem Zusammentreffen mit Riesenlebewesen treffen kann.« Javan sah ihn überrascht an. Er murmelte: »Bis jetzt hat es noch keine Zwischenfälle dieser Art gegeben.« »Aber rechnet man wenigstens damit? Selbst wenn es noch so unwahrscheinlich erscheint?« »So gesehen ist natürlich alles möglich. Aber Pottwale sind zu intelligent, um sich mit uns anzulegen, und Riesenkraken sind zu scheu.« »Können sie uns sehen?« »Natürlich, wir sind ja beleuchtet.«
»Haben wir Flutlichtscheinwerfer?« »Wir haben zwar die Zone mit den größeren Lebewesen passiert, aber ich will sie für Sie gern mal einschalten.« Hinter der schwarzen Fensterscheibe wurde plötzlich ein Schneetreiben sichtbar, allerdings in umgekehrter Richtung, der Schnee schien aufwärts zu fallen. Die Schwärze belebte sich mit Sternen, wurde räumlich, und alles bewegte sich nach oben. »Was ist das?« fragte Demerest. »Staub, organischer Staub, Mikroorganismen. Sie lassen sich im Wasser treiben. Selbst bewegen sie sich kaum. Aber sie fangen das Licht auf. Wir fallen durch diese Schicht hindurch, deswegen scheinen sie sich nach oben zu bewegen.« Demerest gewöhnte sich langsam an die neue Perspektive und fragte: »Fallen wir nicht zu schnell?« »Nein. Wenn es so wäre, könnte ich die Atommotoren einschalten – vorausgesetzt, ich wollte Energie vergeuden – oder ich könnte Ballast abwerfen. Das werde ich später sowieso tun müssen. Aber jetzt ist alles in bester Ordnung. Ruhen Sie sich etwas aus, Mr. Demerest. Dieses Schneetreiben wird auch langsam nachlassen, und etwas Sensationelleres werden wir kaum mehr zu sehen bekommen. Es gibt hier unten zwar noch kleine Anglerfische, aber sie sind scheu und weichen uns aus.« »Wie viele Leute nehmen Sie denn in der Regel auf einmal hinunter?« fragte Demerest. »Ich hatte schon bis zu vier Leute in der Gondel. Aber dann wird es eng. Wir können zwei Bathyscaphen zu einem Tandem zusammenkoppeln und zehn mit hinunternehmen, aber dann sind wir weniger manövrierfähig. Was wir tatsächlich brauchen, sind ganze Gondelzüge, natürlich mit schweren Atommotoren und leichteren Schwimmern. Man hat mir
gesagt, daß am Reißbrett schon daran gearbeitet wird. Aber das sagen sie mir schon seit Jahren.« »Dann gibt es also Pläne für einen Ausbau der Tiefseestation?« »Aber sicher, warum nicht? Wir haben Städte auf dem Kontinentalschild, also warum nicht auch auf dem Meeresboden? Ich sehe das so, Mr. Demerest: Was immer der Mensch erreichen kann, das erreicht er eines Tages. Die Erde ist unser Planet, und wir sollen ihn besiedeln – und wir werden ihn besiedeln. Alles was wir brauchen, um den Meeresboden zu besiedeln, sind manövrierfähigere Scaphen. Die Schwimmtanks setzen unsere Geschwindigkeit herab, sie komplizieren das Steuern, und sie sind unsere Achillesferse.« »Aber sie sind auch euer Rettungsanker. Wenn irgend etwas schiefgehen sollte, wird euch das Gas in den Tanks immer an die Oberfläche bringen. Was würden Sie tun, wenn die Atommotoren aussetzten und Sie hätten keinen Auftrieb mehr?« »Sollte es einmal dazu kommen –, nun, Sie können niemals die Möglichkeit eines Unfalles vollständig ausschließen, auch nicht die eines tödlichen.« »Das weiß ich nur zu gut«, sagte Demerest nachdenklich. Javan blickte zu Boden, der Ton seiner Stimme änderte sich. »Es tut mir leid. Ich habe damit nichts Spezielles gemeint. – War schon schlimm, dieses Unglück.« Fünfzehn Männer und fünf Frauen waren auf dem Mond ums Leben gekommen. Einer von ihnen, er wurde unter der Rubrik »Männer« geführt, war erst vierzehn Jahre alt. Man hatte als Erklärung die vielsagende Floskel »menschliches Versagen« gewählt. Was sollte der erste Sicherheitsoffizier dem hinzufügen? »Ja«, sagte er schlicht.
Eine Wand hatte sich zwischen sie geschoben. Eine Wand, so dick und mächtig wie das zusammengepreßte schwarze Wasser draußen. Wie konnten auf einmal Panik, Verstörtheit und Depressionen so von einem Menschen Besitz ergreifen? Da gab es den Mond-Blues, ein blöder Name, aber dieser psychische Kollaps überfiel die Menschen auf dem Mond oft ganz plötzlich. Man merkte es meist nicht einmal, man wurde nur apathisch, und die Reaktionen wurden langsamer. Wie oft hatte schon ein größerer Meteorit die Mondbahn gekreuzt, und immer hatte man ihn ablenken oder abbremsen können. Wie oft hatte schon ein Mondbeben Schaden angerichtet, aber immer hatte man es unter Kontrolle gebracht. Und wie oft wurden schon Anzeichen menschlicher Schwäche und menschlichen Versagens rechtzeitig entdeckt und ausgeglichen. Wie oft war ein Unglück gar nicht erst passiert? Aber ein Unglück, das nicht passiert ist, zählt nicht. Jetzt war eins passiert, und zwanzig Menschen waren ums Leben gekommen.
II Javan sagte – nach wievielen qualvollen Minuten eigentlich? – »Da unten sind die Lichter der Station.« Demerest konnte sie nicht auf Anhieb entdecken. Er wußte nicht, wo er sie suchen sollte. Leuchtfische waren vorhin zweimal in einiger Entfernung an ihnen vorbeigezogen, und da das Flutlicht abgeschaltet war, hatte Demerest schon gedacht, die ersten Zeichen der Station zu entdecken. Jetzt sah er gar nichts mehr. »Dort unten«, sagte Javan, ohne jedoch in eine bestimmte Richtung zu zeigen. Er hatte alle Hände voll zu tun, den Fall abzubremsen und den Scaph zu steuern.
Demerest hörte ganz entfernt das feine Pfeifen der Wasserdüsen. Sie wurden von heißem Dampf angetrieben, der durch die Hitze der Kernfusionen in den Atommotoren entstand. Demerests Denken lief wie hinter einem Film ab. ›Deuterium ist ihr Treibstoff, und es ist überall, Wasser ihr Abfall, und es ist überall…‹ Javan warf etwas Ballast ab und plauderte leutselig vor sich hin. »Wir hatten früher Stahlkugeln, die wir mit Elektromagneten an der Außenwand hielten. Bis zu fünfzig Tonnen haben wir bei jeder Fahrt gebraucht. Ein paar Umweltschützer haben sich deswegen aufgeregt, daß wir rostenden Stahl auf dem Meeresboden abladen, also sind wir auf ein Metall ausgewichen, das auf dem Kontinentalschild gewonnen wird. Wir haben es mit einem Eisenmantel umgeben, der so dünn ist, daß er gerade noch auf unsere Elektromagneten anspricht. Es kommt also nichts mehr auf den Meeresgrund, was nicht schon vorher dort gewesen wäre. Ist schließlich auch billiger, aber wenn wir einmal unsere richtigen Atomscaphen haben, werden wir überhaupt keinen Ballast mehr brauchen.« Demerest hatte kaum hingehört. Die Lichter der Station waren jetzt deutlich zu sehen. Javan hatte das Flutlicht eingeschaltet und unter ihnen tauchte der schlammige Boden des Puerto-Rico-Grabens auf. Auf ihm lag, wie eine Ansammlung schlammbedeckter Perlen, die Kugelstadt OceanDeep. Jede Einheit war eine Kugel ähnlich jener, mit der Demerest der Stadt entgegenschwebte, nur viel größer. In dem Maß, wie Ocean-Deep wuchs und sich ausdehnte, wurden neue Kugeln angekoppelt. Sie sind nur fünfeinhalb Meilen von zu Hause entfernt, und nicht eine Viertelmillion.
»Wie kommen wir jetzt durch?« fragte Demerest. Der Bathyscaph hatte Kontakt mit einer der Kugeln. Demerest hatte es an dem typischen dumpfen Klang gemerkt, der entsteht, wenn metallene Hohlkörper aneinanderstoßen. Minutenlang hörte er nichts als ein gelegentliches Kratzen und Reiben, während Javan sich voll Spannung über sein Instrumentenpult beugte. »Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen«, sagte er endlich. »Es dauert nur deswegen so lange, weil wir uns absolut genau einpassen müssen; nämlich exakt auf ein kreisrundes elektromagnetisches Feld. Erst dann sind wir über dem Eingang.« »Und der öffnet sich dann?« »Sicher, wenn auf der anderen Seite auch Luft ist. Aber da ist zunächst keine. Da ist Meerwasser, und das muß erst herausgepumpt werden. Dann erst können wir die Luke öffnen.« Demerest prägte sich diese Tatsache genau ein. Er war hierher gekommen an dem Tag, der sein letzter sein sollte und – der seinem Leben einen Sinn geben sollte; und deswegen war er entschlossen, sich jede Einzelheit einzuprägen. »Warum diese zusätzliche Vorkehrung?« fragte er. »Warum bleibt diese Luftschleuse – wenn es tatsächlich eine ist – nicht immer mit Luft gefüllt?« »Aus Sicherheitsgründen, haben sie mir gesagt. Eigentlich Ihr Fach. Auf der Zwischenschicht lastet ständig derselbe Druck von innen wie von außen. Mit einer Ausnahme: wenn sie von Menschen durchquert wird. Diese Tür ist tatsächlich der schwächste Punkt im ganzen System, sie ist beweglich, hat Scharniere und Fugen – Sie wissen was ich meine?« »Ja, ich verstehe«, murmelte Demerest. Er entdeckte einen Fehler in dieser ganzen Logik, und da konnte er möglicherweise – »Warum warten wir jetzt?« fragte er.
»Die Schleuse wird geleert. Das Wasser wird herausgepumpt.« »Mit Luft?« »Zum Teufel, nein. So verschwenderisch können die mit ihrer Luft auch nicht umgehen. Um das Wasser aus der Kammer zu pressen, wären allein tausend Atmosphären Druck nötig, und das ist mehr als sie sich, selbst für eine kurze Zeitspanne – leisten können. Sie machen es ganz einfach mit Wasserdampf.« »Ah, ja, natürlich.« Eifrig fuhr Javan fort: »Man erhitzt das Wasser, und es gibt auf der ganzen Welt keinen Druck, der hoch genug wäre, um eine Dampfbildung bei weniger als 374° C zu verhindern. Und der Dampf drückt das Meerwasser durch ein Einwegventil hinaus.« »Noch ein schwacher Punkt«, sagte Demerest. »Das würde ich auch sagen. Aber bis jetzt hat es immer geklappt. Das Wasser in der Schleuse wird jetzt hinausgepreßt. Wenn die heißen Dampfblasen aus dem Ventil aufsteigen, wird der Vorgang automatisch unterbrochen, und die Schleuse ist voll von überhitztem Dampf.« »Und dann?« »Dann? – Dann haben wir den ganzen Ozean, um den Dampf abzukühlen. Wenn das geschehen ist, können sie ganz normale Luft mit einer Atmosphäre Druck einströmen lassen. Und dann erst öffnet sich die Tür.« »Und wie lange müssen wir noch warten?« »Nicht mehr lange. Wenn irgend etwas schiefgegangen wäre, würden wir Sirenen hören. Behaupten sie wenigstens. Aber ich habe noch nie eine gehört.« Die Stille hielt noch ein paar Minuten lang an. Dann verspürten sie einen plötzlichen harten Aufprall, der Demerest beinahe zu Boden geworfen hätte.
»Tut mir leid«, sagte Javan. »Ich hätte es Ihnen rechtzeitig sagen sollen. Wenn sich die Türe öffnet, werfen uns tausend Atmosphären Außendruck gegen das Metall der Kugel. Es sind zwar nur ein paar Hundertstel Zentimeter, aber kein Elektromagnet kann diesen Aufschlag bremsen.« Demerest öffnete seine verkrampften Fäuste und stieß die Luft durch die Zähne aus. »Ist alles in Ordnung?« fragte er. »Die Wände haben’s ausgehalten, wenn Sie das meinen. Man könnte schon meinen, die Welt ginge unter, stimmt’s? Wenn ich wieder ablege, und das Wasser stürzt in die Schleuse, ist es sogar noch schlimmer. Denken Sie daran.« Demerest fühlte sich plötzlich sehr müde. Gehen wir doch endlich –, ich möchte es hinter mich bringen! »Können wir jetzt durch die Schleuse?« fragte er. »Ja, wir können durchsteigen.« Der Ausstieg war rund und klein, noch kleiner als das Loch, durch das er den Scaph betreten hatte. Javan wand sich hindurch, fluchte leise und sagte, daß er sich dabei immer wie ein Korken in einem Flaschenhals vorkäme. Seitdem er auf dem Scaph war, hatte Demerest kein einziges Mal gelächelt, aber jetzt zuckten seine Mundwinkel doch belustigt bei dem Gedanken, daß dieses Loch einem hageren Mondmenschen wohl keine Schwierigkeiten bereiten dürfte. Er schob sich hindurch und fühlte, wie Javan ihn fest an der Hüfte packte und ganz hinüberzog. »Hier ist es dunkel«, sagte Javan. »Elektrische Leitungen für eine Beleuchtung wären ein zusätzlicher Unsicherheitsfaktor, aber dafür haben wir ja Taschenlampen.« Demerest sah, daß er auf einem Metallrost stand, dessen nacktes Metall einen trüben Schimmer verbreitete. Durch das Gitter hindurch sah er Wasser. »Aber die Kammer ist ja noch gar nicht leergepumpt.«
»Es geht nicht besser, Mr. Demerest. Wenn sie sie mit Dampf leerpumpen, dann bleibt ihnen schließlich immer der Dampf übrig. Um den nötigen Druck zu erreichen, das Wasser hinauszupressen, müssen sie den Dampf auf ein Drittel der Dichte des Wassers komprimieren. Wenn er dann wieder kondensiert, ist die Kammer folglich zu einem Drittel mit Wasser gefüllt. Aber es ist Wasser unter dem normalen Druck von einer Atmosphäre. – Gehen wir weiter, Mr. Demerest.« Das Gesicht John Bergens war Demerest nicht unbekannt. Er erkannte ihn sofort. Bergen war jetzt seit zehn Jahren der Chef von Ocean-Deep, und dem Fernsehpublikum auf der Erde waren die Gesichter der Leiter von Ocean-Deep ebenso vertraut wie diejenigen der Leiter von Luna-City. Demerest hatte ihn im Fernsehen zwei- und dreidimensional gesehen. Schwarzweiß und in Farbe, so daß die Tatsache, ihn jetzt leibhaftig vor sich zu sehen, kaum Neues brachte. Wie Javan war auch Bergen klein und untersetzt, seine Hautfarbe war allerdings viel heller, und sein Gesicht war auffallend asymmetrisch. Vielleicht deswegen, weil seine dicke, kräftige Nase ein wenig nach rechts gebogen war. Hübsch war er nicht. Kein Mondmensch würde das behaupten. Aber dann lächelte er und streckte die Hand aus und sofort strahlte er eine einnehmende Wärme und Freundlichkeit aus. Demerest streckte ihm seine Hand hin und war auf einen kräftigen Händedruck gefaßt, aber Bergen ergriff sie nur leicht, schüttelte sie und ließ sie sofort wieder los. »Ich bin froh, daß Sie da sind. Viel Luxus können wir Ihnen hier unten allerdings nicht bieten, wenigstens keinen, der unserer Gastfreundschaft in irgendeinem Baedecker ein paar Sterne einbringen würde. Wir können nicht einmal den heutigen Tag Ihretwegen zum Feiertag machen, obwohl uns
ganz danach ist, aber ich heiße Sie im Namen der ganzen Station willkommen.« »Ich danke Ihnen«, sagte Demerest leise. Nach einem Lächeln war ihm nicht zumute. Er wußte, daß er vor seinem Gegner stand. Und Bergen wußte es sicher auch. Sein Lächeln war also Verstellung. In diesem Moment erbebte die Kammer unter einem ohrenbetäubenden Knall. Demerest taumelte erschrocken zurück und fiel gegen die Wand. Bergen hatte sich keinen Millimeter vom Platz gerührt. Er sagte ruhig: »Der Bathyscaph hat abgelegt, und das Wasser ist wieder in die Schleuse gestürzt. Javan hätte Sie darauf aufmerksam machen müssen.« Demerest hatte sich wieder aufgerappelt und versuchte, sein wie verrückt schlagendes Herz zu beruhigen. »Javan hat mich davor gewarnt. Es war nur die Überraschung.« »Nun ja, eine Zeitlang werden Sie nun davon verschont bleiben. Wir empfangen nämlich nur selten Besuch. Wir sind nicht dafür eingerichtet, wissen Sie, und wir versuchen so gut es geht, alle diese Wichtigtuer abzuwimmeln, die meinen, ein Besuch bei uns hier unten täte ihrer Karriere gut. Vor allem natürlich Politiker jeder Färbung. Aber Ihr Fall liegt natürlich anders.« »Tut er das wirklich?« Demerest staunte. Die Erlaubnis zu dieser Reise hatte ihn Mühe genug gekostet. Seine Vorgesetzten in Luna-City hatten sich anfangs ganz entschieden gegen die Vorstellung gewehrt, daß ein diplomatischer Gedankenaustausch (so hatten sie es jedenfalls genannt) von irgendeinem Nutzen sein könnte. Und als er sie endlich vom Gegenteil überzeugt hatte, stieß er prompt auf den Widerstand von Ocean-Deep. Nur seiner Hartnäckigkeit verdankte er es, daß er jetzt hier unten war.
»Sie haben wohl auf Luna-City ähnliche Probleme mit ungebetenen Politikern?« fragte Bergen. »Nun, der Durchschnittspolitiker, den Sie meinen, hat offenbar weniger Angst vor einer Fahrt zum Mond als auf den Meeresboden.« »Das sehe ich ein«, gab Bergen zu, »und außerdem ist es natürlich zum Mond teuerer. Jedenfalls ist das das erste Treffen zwischen Leitern der beiden Projekte. Soviel ich weiß, ist noch keiner von uns Ozeanmenschen zum Mond geflogen, und Sie sind der erste Mondmensch, der eine Unterwasserstation besucht. Kein Mondmensch war jemals in einer der Siedlungen auf dem Kontinentalschild.« »Also gewissermaßen ein historisches Treffen«, sagte Demerest und versuchte seinen Sarkasmus zu verbergen. Wenn es ihm nicht ganz gelungen war, Bergen ließ sich jedenfalls nichts anmerken. Er rollte seine Ärmel auf, als ob er der Bereitschaft, Demerest alles zu zeigen, noch Nachdruck verleihen wollte (oder der Tatsache, daß sie sehr viel Arbeit hatten und für Besucher eigentlich nur wenig Zeit?). »Möchten Sie Kaffee?« fragte er. »Ich nehme an, gegessen haben Sie schon. Möchten Sie sich noch etwas ausruhen, bevor ich Sie herumführe. Oder wollen Sie sich für diesen besonderen Anlaß etwas vorbereiten, wie man so schön sagt?« Sofort wurde Demerest neugierig, aber es war nicht irgendeine Neugierde, sondern eine ganz bestimmte. Alles, was das Innere von Ocean-Deep mit der Außenwelt verband, konnte für ihn wichtig sein. »Wie machen Sie es hier mit den Abfällen der sanitären Einrichtungen?« fragte er vorsichtig. »Sie werden umgewandelt – wie auf dem Mond. Ich nehme wenigstens an, daß es bei Ihnen genauso gemacht wird. Wir können sie natürlich auch ausstoßen, wenn wir wollen oder dazu gezwungen sind. Der Mensch hat zwar seit langem den
schlechten Ruf, daß er seine Umwelt zugrunde richtet, aber sicher richtet das, was wir auf dem Meeresboden ausstoßen, keinen Schaden an. Im Gegenteil, ein Plus an organischer Materie.« Er lachte. Das Lachen blieb bei Demerest ohne Widerhall. Es wurde Materie ausgeschieden. Also existierten dafür bestimmte Einrichtungen, die für ihn interessant sein konnten. Als Sicherheitsingenieur war es sein gutes Recht, sich dafür zu interessieren. »Ich fühle mich jetzt eigentlich ganz wohl«, sagte er, »aber wenn Sie etwas anderes zu tun haben…« »Das stimmt schon. Wir sind immer beschäftigt, aber ich bin der letzte, der… verstehen Sie. Nehmen wir an, ich würde Sie überall vorstellen. Es sind immerhin fünfzig Einheiten, jede ist mindestens so groß wie diese hier, einige sind sogar noch erheblich größer.« Demerest sah sich um. Überall Winkel und Wände, aber dennoch ließ sich die Kugelgestalt nicht verleugnen, die der Einrichtung und Einteilung überall zugrunde lag. Fünfzig Einheiten! »Lassen Sie mal eine ganze Generation an einer Sache arbeiten«, fuhr Bergen fort. »Die Einheit, in der wir uns jetzt befinden, ist die älteste in dem ganzen Komplex. Man spricht sogar schon davon, daß wir sie zerstören sollen und durch eine neue ersetzen. Einige behaupten sogar, wir wären schon reif für die Einheiten der zweiten Generation, aber ich bin da nicht ganz sicher. Es würde teuer werden – hier unten kostet überhaupt alles viel Geld –, und um vom Rat für Raumforschung mehr Geld zu bekommen, muß man ziemlich gute Nerven und sehr viel Geduld haben.« Demerest fühlte seine Nasenflügel beben, und heiße Wut stieg in ihm auf. Das war natürlich eine Drohung. Bergen
wußte sicher, daß Luna-City im Augenblick beim RRF keine großen Sympathien genoß. »Wissen Sie, ich hänge am Alten – ein bißchen jedenfalls. Dies ist die erste Einheit, die gebaut und abgesenkt wurde, die Urzelle von Ocean-Deep sozusagen. Hier verbrachten zwei Menschen die erste Nacht auf dem Meeresboden. Sie hatten kaum mehr bei sich als eine primitive tragbare Atombatterie und die nötigen Regeleinheiten für die Schleusenkammer. Reguera und Tremont, so hießen die beiden. Sie sind seitdem nicht mehr unten gewesen, haben nur noch oben Dienst getan. Jedenfalls haben sie ihre Aufgabe damals erfüllt, und jetzt sind beide schon lange tot. Aber heute arbeiten fünfzig Menschen hier unten, jeweils für volle sechs Monate. Ich war in den letzten eineinhalb Jahren nur zwei Wochen oben.« Er winkte Demerest zu, ihm zu folgen. Er schob eine Tür auf, die fast fugenlos in der Wand verschwand und den Eingang zur nächsten Einheit freigab. Demerest blieb stehen und untersuchte die Öffnung. Beide Einheiten schienen nahtlos ineinander überzugehen. Bergen sah es und sagte: »Die Einheiten werden unter so hohem Druck zusammengeschweißt, daß man fast sagen kann, sie sind aus einem Stück. Darüber hinaus sind die Nahtstellen noch besonders verstärkt. Wir können kein Risiko eingehen, das werden Sie sicher verstehen.« »Das stimmt«, sagte er. »Wir auf dem Mond beneiden euch um eure Unfallstatistik.« Bergen zuckte mit den Schultern. »Wir haben Glück gehabt. Ich möchte Ihnen übrigens unsere Anteilnahme ausdrücken für das verdammte Pech, das ihr kürzlich gehabt habt. Ich meine diesen tödlichen…« Demerest fiel ihm ärgerlich ins Wort. »Ja, danke.«
Bergen war entweder von Natur aus gesprächig, oder er überschüttete ihn absichtlich mit diesem Wortschwall und wollte ihn loswerden. »Die Einheiten sind, bildlich gesprochen, wie ein weitverzweigter Baum angeordnet. Dreidimensional selbstverständlich. Ich habe einen Plan, den ich Ihnen zeigen kann, wenn Sie sich dafür interessieren. Die äußeren Einheiten sind zu Wohn- und Schlafräumen ausgebaut. Fürs Privatleben sozusagen. Die Arbeitsräume haben sich schon auf die Korridore ausgedehnt. Das ist eine der Unbequemlichkeiten, mit denen wir hier leben müssen.« Er winkte Demerest wieder, ihm zu folgen. »Hier ist unsere Bibliothek, jedenfalls ein großer Teil davon. Nicht sehr groß, aber alle unsere Untersuchungen und Berichte sind hier genauestens aufgeschlüsselt und auf Mikrofilm festgehalten. Sie ist in ihrer Art nicht nur die größte, sondern auch die beste Bibliothek der ganzen Welt. Und wir haben einen Computer, der eigens für diese Aufgabe konstruiert wurde. Er sammelt alle anfallenden Daten, selektiert, koordiniert, vergleicht selbständig, und druckt dann das Ergebnis aus. Wir haben auch noch eine zweite Bibliothek: Buchfilme und sogar noch einige alte gedruckte Bücher, aber sie dient mehr der Unterhaltung der Leute hier.« Eine Stimme unterbrach Bergens fröhlich-selbstbewußten Redestrom. »John? Darf ich stören?« »Annette – ich wollte dich schon holen. Das ist Stephen Demerest von Luna-City. Mr. Demerest, darf ich Ihnen meine Frau vorstellen.« Er antwortete steif, fast etwas mechanisch: »Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mrs. Bergen.« Annette Bergen schien Anfang der Dreißig zu sein. Ihr dunkles Haar war einfach gekämmt, und sie trug kein Make-
up. Attraktiv war sie, aber nicht schön, stellte er flüchtig fest. Sein Blick blieb unwillkürlich an ihren Hüften hängen. Sie lächelte, als sie es bemerkte. »Ja, Mr. Demerest. Ich bin schwanger. In etwa zwei Monaten wird es soweit sein.« »Verzeihen Sie mir«, murmelte Demerest. »Ich war so unhöflich – aber ich hatte nicht erwartet…« Er brachte den Satz nicht zu Ende, und es war ihm, als hätte ihm jemand einen Schlag versetzt. Er hatte merkwürdigerweise nicht erwartet, hier Frauen zu finden – er wußte allerdings nicht, aus welchem Grund. Er hätte sich ja denken können, daß es in Ocean-Deep Frauen geben mußte, und er erinnerte sich, daß der Pilot der Fähre gesagt hatte, daß Bergens Frau auch unten sei. Annette Bergen hatte nichts weiter gesagt, und Demerests Stimme klang unsicher, als er fragte: »Wie viele Frauen sind denn hier unten in Ocean-Deep, Mrs. Bergen?« »Im Augenblick sind es neun«, sagte Bergen. »Alle verheiratet. Ich kann mir vorstellen, daß das Verhältnis bald eins zu eins sein wird. Aber jetzt brauchen wir in erster Linie Techniker und Wissenschaftler, und solange nicht auch Frauen gewisse wichtige Qualifikationen besitzen…« »Sie haben alle gewisse wichtige Qualifikationen, mein Lieber«, unterbrach sie ihn. »Du könntest die Männer viel länger hier unten halten, wenn…« Bergen lachte. »Meine Frau ist eine überzeugte Feministin, aber sie benutzt ihr Geschlecht wenigstens nicht als Vorwand, um die Gleichberechtigung mit Gewalt durchzusetzen. Ich sage ihr immer, das sei der feminine Weg und nicht der feministische, und sie antwortet jedesmal, daß sie ja deswegen schwanger sei. Sie denken vielleicht, es wäre Liebe gewesen oder eine plötzliche Laune, daß sie unbedingt Mutter werden wollte. Nichts dergleichen! Aus einer ganz bestimmten, ich
möchte fast sagen philosophischen Überlegung heraus, will sie hier unten in Ocean-Deep ein Kind zur Welt bringen.« »Warum auch nicht«, antwortete Annette kühl. »Entweder werden die Menschen hier unten eines Tages heimisch, oder sie werden es nie. Wenn sie die Tiefsee als Lebensraum akzeptieren, dann wird es auch Babies hier unten geben; also warum soll ich nicht den Anfang machen. Ich möchte, daß hier unten ein Kind zur Welt kommt. Auf Luna-City werden doch auch Babies geboren, nicht wahr, Mr. Demerest?« Demerest holte tief Atem. »Ich wurde in Luna-City geboren, Mrs. Bergen.« »Das hat sie doch gewußt«, murmelte Bergen. »Und Sie sind Ende Zwanzig, schätze ich.« »Ich bin neunundzwanzig«, sagte Demerest. »Und auch das hat sie gewußt«, sagte Bergen lachend. »Sie können darauf wetten, daß sie sich alle nur erreichbaren Informationen über Sie besorgt hat, seitdem sie gehört hat, daß Sie zu uns kommen.« »Darauf kommt es ja gar nicht an«, sagte Annette. »Worauf es ankommt, ist, daß seit mindestens neunundzwanzig Jahren in Luna-City Kinder zur Welt kommen, aber noch kein einziges in Ocean-Deep geboren wurde.« »Luna-City wurde auch schon viel früher errichtet, meine Liebe. Vor über fünfzig Jahren – und Ocean-Deep ist noch nicht einmal zwanzig Jahre alt.« »Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Ein Baby braucht nur neun Monate.« Demerest unterbrach sie. »Gibt es Kinder in Ocean-Deep?« »Nein«, sagte Bergen. »Aber eines Tages sicher.« »Jedenfalls in zwei Monaten«, sagte Annette zuversichtlich.
III In Demerest war die Spannung beträchtlich gestiegen, und er war froh, als sie wieder in den Raum zurückkehrten, in dem ihn Bergen empfangen hatte, und er sich setzen konnte. Er war dankbar, als man ihm eine Tasse Kaffee brachte. »Wir werden bald essen«, sagte Bergen. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, ausgerechnet in dieser Einheit zu sitzen. Wie gesagt, es ist die erste Einheit, die gebaut wurde, und sie dient eigentlich nur noch zum Anlegen der Scaphen, die zu uns herunterkommen. Ich hoffe allerdings nicht, daß wir durch ein derartiges Ereignis gestört werden. Wenn Sie wollen, können wir uns hier unterhalten.« »Das will ich sicher«, sagte Demerest. »Ich hoffe, daß ich bei dieser Unterhaltung nicht unwillkommen bin«, meinte Annette. Demerest sah sie zweifelnd an, aber Bergen sagte: »Sie dürfen es ihr nicht abschlagen. Sie ist begeistert von Ihnen; von Mondmenschen überhaupt, sie glaubt… äh, sie glaubt, Sie seien eine ganz neue Gattung Mensch. Wenn sie es einmal satt hat, eine Tiefseefrau zu sein, wird sie sicher eine Mondfrau werden wollen.« »Ich wäre froh, wenn es mir gelänge, ein oder zwei Argumente zu der Unterhaltung beizusteuern, und dann möchte ich hören, was Mr. Demerest dazu zu sagen hat. Was halten Sie eigentlich von uns, Mr. Demerest?« Er antwortete ausweichend: »Ich habe darum ersucht, hierher zu kommen, weil ich ein Sicherheitsingenieur bin, Mrs. Bergen. Ich sagte schon, daß Ocean-Deep eine beneidenswerte Unfallstatistik hat.« »In fast zwanzig Jahren nicht einen tödlichen Unfall«, sagte Bergen stolz. »Nur einen einzigen in der Siedlung auf dem C-
Schild und keinen im Transitverkehr. Ich wollte, ich könnte sagen, daß das allein auf unsere Vorsicht zurückzuführen wäre. Natürlich tun wir unser Bestes, aber das Glück war schon auch auf unserer Seite…« »John, wäre es nicht besser, wenn du Mr. Demerest sprechen ließest?« »Ein Sicherheitsingenieur kann es sich natürlich nicht leisten, sich auf das Glück zu verlassen«, sagte Demerest. »Wir können weder Mondbeben verhindern, noch daß Luna-City von großen Meteoriten getroffen wird. Aber wir sind so konstruiert, daß der Schaden so niedrig wie möglich bleibt. Für menschliches Versagen gibt es keine Entschuldigung, oder sollte es zumindest keine geben. Und dieses Versagen haben wir in Luna-City nicht verhindern können. Unsere Unfallstatistik«, fuhr er fort, und seine Stimme wurde dabei merklich leiser, »sieht in der letzten Zeit sehr schlecht aus. Wir wissen alle, daß der Mensch nicht vollkommen ist, und deswegen soll eine Technik entwickelt werden, die dieser Tatsache Rechnung trägt. Wir haben, ohne daß es notwendig gewesen wäre, zwanzig Männer und Frauen verloren.« »Ich weiß. Aber Luna-City hat immer noch eine Bevölkerung von annähernd tausend Menschen. Euer Überleben ist in keiner Weise gefährdet.« »Die Bevölkerungszahl von Luna-City beträgt genau neunhundertzweiundsiebzig, mich eingerechnet, aber unser Fortkommen ist trotzdem gefährdet. Wir hängen nämlich in wichtigen Dingen vollkommen von der Erde ab. Das muß nicht immer so sein. Und es wäre jetzt ganz bestimmt nicht so, wenn der Rat für Raumforschung der Versuchung widerstehen könnte, Geld für unwichtigere…« »Jawohl, Mr. Demerest«, sagte Bergen, »und hier werden die Fronten ganz klar. Wir tragen uns auch nicht selbst, wir könnten es aber. Das Problem ist nur, daß wir uns so lange
nicht sinnvoll vergrößern können, solange wir bei den Scaphen noch am Schwimmtank-Prinzip festhalten. Der Transport von der Oberfläche zum Meeresboden geht viel zu langsam – zu langsam für Menschen und noch langsamer bei Gütern. Ich habe darauf gedrängt, Mr. Demerest…« »Ja, und Sie werden es auch bekommen. Mr. Bergen. Oder etwa nicht?« »Ich hoffe es jedenfalls. Aber warum sind Sie da so sicher?« »Entschuldigen Sie, Mr. Bergen, reden wir nicht um den heißen Brei herum. Sie wissen genausogut wie ich, daß die Regierung einen festen, begrenzten Betrag für Projekte zur Verfügung stellt, die den menschlichen Lebensraum erweitern sollen. Und dieser Betrag ist lächerlich gering. Auf der Erde sind sie nicht sehr davon begeistert, Geld für Projekte zu bewilligen, die den Weltraum oder den Meeresboden als zukünftigen Lebensraum erschließen sollen, wenn sie dabei befürchten müssen, daß ihre bequeme und gewohnte Lebensweise in ihrem ursprünglichen Lebensraum, den Festlandkontinenten, Einbuße erleidet.« »Sie stellen diese Menschen aber wirklich als sehr hartherzig und eigennützig hin, Mr. Demerest«, unterbrach ihn Annette. »Finden Sie das nicht auch ungerecht? In Sicherheit zu leben ist doch ein ganz menschliches Bedürfnis, oder nicht? Die Erde ist nun einmal überbevölkert, und sie erholt sich nur sehr langsam von dem Schaden, den ihr dieses wahnsinnige zwanzigste Jahrhundert zugefügt hat. Selbstverständlich hat der ursprüngliche Lebensraum des Menschen den Vorrang vor jedem Luna-City oder Ocean-Deep. Um Himmels willen, natürlich ist Ocean-Deep fast ein Zuhause für mich, aber ich möchte nicht, daß es seinen Wohlstand einer unterentwickelten Erdoberfläche verdankt.« »Mrs. Bergen, hier gibt es kein Entweder-Oder«, sagte Demerest ernst. »Wenn der Ozean und der Weltraum intensiv,
gründlich und vor allem sinnvoll erforscht werden, kann das letzten Endes nur zum Wohl der ganzen Erde sein. Kleinere, willkürlich verstreute Investitionen sind dann nämlich tatsächlich zum Fenster hinausgeworfenes Geld. Nur ein gezielter großer Einsatz kann den gewünschten Gewinn bringen.« Bergen warf die Arme hoch. »Aber das wissen wir doch alle, Mr. Demerest! Darüber brauchen wir uns nicht zu streiten. Kommen Sie, essen wir. Ich habe eine gute Idee: Wir werden hier essen. Wenn Sie über Nacht bleiben wollen – oder auch einige Tage –, Sie sind uns herzlich willkommen. Und Sie werden Zeit genug haben, jedes Mitglied unserer Station kennenzulernen. Vielleicht sollten Sie sich im Moment keine solchen Gedanken machen.« »Vielleicht«, antwortete Demerest. »Ich will tatsächlich hierbleiben. Ich wollte Sie auch schon fragen, warum wir so wenig Leute getroffen haben, als wir durch die verschiedenen Einheiten gingen.« »Das ist leicht zu erklären«, sagte Bergen. »Zu jeder Zeit schlafen etwa fünfzehn unserer Leute. Fünfzehn andere sehen sich vielleicht Filme an oder spielen Schach, oder wenn ihre Frauen hier unten sind…« »Ja, John«, sagte Annette. »… nun, es ist nicht üblich, sie dabei zu stören. Ihre Räume sind abgeschlossen. Was einer sich hier an Privatleben leisten kann, es ist sowieso nicht viel, wird voll respektiert. Ein paar sind draußen im Ozean – ich glaube es sind drei im Augenblick. Bleiben also noch zwölf, die hier gerade arbeiten, und die haben Sie alle kennengelernt.« »Ich werde mich ums Essen kümmern«, sagte Annette und erhob sich. Sie lächelte und verschwand durch die Tür, die sich automatisch hinter ihr schloß.
Bergen sah ihr nach. »Da hat sie aber ein ganz großes Zugeständnis gemacht. Sie spielt die Hausfrau nur, weil Sie hier sind. Normalerweise hätte das genausogut ich machen können. Hier spielt das Geschlecht keine Rolle, sondern nur der Zufall, wer sich um das Essen kümmert.« »Die Türen zwischen den Einheiten scheinen mir gefährlich schwach bemessen zu sein«, sagte Demerest. »Tatsächlich?« »Ja, nehmen Sie an, es passierte etwas, eine Einheit würde getroffen…« Bergen lächelte. »Hier unten gibt es keine Meteoriten.« »Ach so, ja. Ich habe mich nicht ganz richtig ausgedrückt. Nehmen wir aber an, es entstünde irgendein Leck. Könnte dann eine Einheit oder eine Gruppe gegen den ungeheuren Außendruck abgesichert werden?« »Sie meinen, ob es hier ähnliche Vorkehrungen gibt wie auf Luna-City, wo sich im Falle eines Meteoriteneinschlags die noch intakten Einheiten automatisch abriegeln, und der Schaden praktisch nur auf die getroffene Einheit beschränkt bleibt.« »Ja«, sagte Demerest mit einer Spur von Bitterkeit. »Wie es eben kürzlich nicht geschehen ist.« »Theoretisch ist das durchaus möglich, aber Unfälle dieser Art sind fast ausgeschlossen. Wie ich schon sagte, wir haben hier unten keine Angst vor Meteoriten, und Strömungen oder Wirbel gibt es in dieser Tiefe nicht. Selbst ein Erdbeben, dessen Zentrum direkt unter uns läge, könnte bei uns keinen Schaden anrichten, da wir mit dem Boden nicht fest verbunden sind. Wir liegen gewissermaßen auf einem Wasserkissen, und das schützt uns gegen jeden Erdstoß. Wir können uns also mit etwas Glück darauf verlassen, daß wir von solchen direkten Einwirkungen verschont bleiben.«
»Und wenn es doch einmal dazu käme?« »Dann könnte es sein, daß wir verloren sind. Es ist nämlich nicht so einfach, hier ganze Gruppen von Einheiten abzuriegeln. Der Druckunterschied auf dem Mond beträgt nur eine Atmosphäre: Null draußen, im Vakuum, und eine Atmosphäre drinnen, in Luna-City. Hier in Ocean-Deep haben wir es mit einem Druckunterschied von tausend Atmosphären zu tun. Bei diesen Verhältnissen einen totalen Sicherheitsmechanismus einzubauen, würde sehr viel Geld kosten. Und Sie sagten schon, wie schwierig es ist, von der RRF Geld zu bekommen. Wir spielen also etwas mit dem Glück: und bis jetzt war es auf unserer Seite.« »Auf der unseren war es nicht«, sagte Demerest bitter. Bergen sah reichlich verlegen aus, aber als Annette mit dem Essen eintraf, besserte sich die Stimmung etwas. »Ich hoffe, Mr. Demerest, Sie haben sich auf eine spartanische Mahlzeit eingerichtet«, sagte sie. »Unser Essen in Ocean-Deep ist schon vorgekocht und abgepackt. Wir müssen es nur noch erhitzen. Unsere Spezialität ist eine milde, nicht sehr abwechslungsreiche Kost. Die heutige milde Einfallslosigkeit besteht aus einem Huhn à la King, Karotten, gekochten Kartoffeln, einem Stück Gebäck, und natürlich Kaffee, soviel Sie wollen.« Demerest stand auf und nahm sein Gedeck in Empfang. Er versuchte zu lächeln. »Sieht so aus wie unsere Diät auf dem Mond, Mrs. Bergen. Ich bin damit aufgewachsen. Wir gewinnen zwar aus gewissen Mikrokulturen unsere eigene Nahrung, und es ist sehr patriotisch, sie zu essen, aber ehrlich gesagt, sie schmeckt nicht sehr gut. Ich hoffe, daß wir sie im Lauf der Zeit verbessern können.« »Das wird Ihnen sicher gelingen.«
Demerest aß langsam und bedächtig. »Es ist mir peinlich, aber ich muß schon wieder auf mein Spezialgebiet zurückkommen. Wie sicher ist eigentlich der Luftschleuseneingang?« »Die Schleusenkammer ist tatsächlich die schwächste Stelle von Ocean-Deep. Aber wir haben ja zusätzlich diese Zwischenkammer. Der Mechanismus der Einstiegsluke funktioniert automatisch, und er ist so sicher, wie man sich ihn nur denken kann. Erstens: Jeder Punkt in einem bestimmten Kreis um die äußere Luke muß Kontakt bekommen, bevor der Kerngenerator anfängt, das Wasser in der Schleuse zu erhitzen. Und es muß ein metallischer Kontakt von genau der magnetischen Eigenschaft sein, wie sie das Metall unserer Scaphen besitzt. Angenommen, ein Felsblock oder irgendein sagenhaftes Tiefseeungeheuer legte sich davor und würde zufällig genau die richtigen Kontakte auslösen, dann würde also – gar nichts geschehen. Und noch etwas, die äußere Luke öffnet sich nur, wenn der Dampf das Wasser hinausgedrückt hat und selbst kondensiert ist – also mit anderen Worten: nicht eher, als Druck und Temperatur unter einen bestimmten Grenzwert gefallen sind. Wenn sich dann die äußere Luke öffnet, so genügt schon eine geringe Druckzunahme in der Kammer, etwa wenn Wasser eindringt, und sie schließt sich automatisch wieder.« »Aber sobald Menschen die Schleuse passiert haben, und die innere Luke sich hinter ihnen wieder geschlossen hat, wird die Kammer doch wieder mit Wasser gefüllt. Können Sie diesen Vorgang, wo doch der gesamte Druck des Ozeans auf einmal wirksam wird, etwas abbremsen?« »Nein«, sagte Bergen und lächelte. »Es hat keinen Sinn, sich dem Ozean zu hartnäckig entgegenzustellen. Diesen Schlag müssen wir schon aushalten. Immerhin, ein Zehntel seiner Wucht haben wir ihm schon genommen, aber es klingt immer
noch wie ein Kanonenschuß – noch lauter, wie ein Donnerschlag oder Wasserschlag, wenn Ihnen das lieber ist. Die Innenluke hält das schon aus, und allzuoft ist sie dieser Beanspruchung ja nicht ausgesetzt. Sie haben diesen Schlag ja gehört, als Javan mit dem Scaph ablegte. Erinnern Sie sich?« »Allerdings. Aber da ist noch etwas, was ich nicht verstehe. Die Schleuse ist die ganze Zeit mit Wasser gefüllt, das unter demselben hohen Druck steht wie der Ozean draußen. Das entlastet zwar die äußere Luke, aber der ganze Druck liegt doch dafür auf der inneren. Irgendwo muß der Druck ja aufgefangen werden.« »Das stimmt. Aber wenn die äußere Luke bei diesem Druckunterschied von tausend Atmosphären bricht, dann würde der ganze Ozean mit seinen Milliarden Kubikmeilen Wasser hereinbrechen und wir wären rettungslos verloren. Wenn aber die innere Luke bricht, würde der Schaden zwar auch groß sein, aber es wäre nur das Wasser aus der Schleuse, und das würde schnell an Druck verlieren und sich verlaufen. Wir hätten dann genügend Zeit für die Reparaturen, denn die äußere Luke hält dem Druck sicher längere Zeit stand.« »Und was ist, wenn beide brechen?« »Dann sind wir allerdings am Ende mit unserer Weisheit. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß es so etwas wie eine absolute Gewißheit und eine absolute Sicherheit nicht gibt. Mit einem kleinen kalkulierten Risiko müssen wir hier unten schon leben. Aber die Wahrscheinlichkeit eines doppelten und gleichzeitigen Versagens ist so mikroskopisch klein, daß wir, ehrlich gesagt, dieses Risiko gern in Kauf nehmen.« »Und wenn Ihre mechanischen Einrichtungen versagen?« »Die sind absolut sicher«, sagte Bergen hartnäckig. Demerest nickte. Er war mit seinem Huhn fertig, und Mrs. Bergen begann den Tisch abzuräumen.
»Ich hoffe, Sie entschuldigen meine vielen Fragen, Mr. Bergen.« »Oh, fragen Sie nur. Man hat mich tatsächlich über den Grund Ihrer Reise im unklaren gelassen, Datensammeln ist ein ziemlich weiter Begriff. Ich kann mir gut vorstellen, daß auf dem Mond die Verstörung nach dem letzten Unglück sehr groß ist, und Sie als verantwortlicher Sicherheitsingenieur sehen natürlich die Notwendigkeit, ihre Sicherheitsmaßnahmen zu verstärken und möglichst aus unseren Erfahrungen und den Techniken, die wir anwenden, zu lernen.« »Genauso ist es. Aber angenommen, Ihre automatischen Steuerungen würden versagen, aus irgendeinem Grund versagen, etwa der Schleusenmechanismus, so hätten Sie zwar unmittelbar nichts zu befürchten, aber der Ausstieg wäre Ihnen versperrt. Sie wären in Ocean-Deep gefangen und sähen einem langsamen, qualvollen Tod entgegen. Das wollte ich vorhin sagen.« »Es ist unwahrscheinlich, daß dieser Fall eintritt. Aber dann hoffe ich immer noch, daß wir den Schaden beheben können, bevor unser Luftvorrat zu Ende geht. Und außerdem können wir die Schleuse auch mit der Hand betätigen.« »Mit der Hand?« »Aber natürlich. Als Ocean-Deep errichtet wurde und diese erste Einheit unten war, in der wir uns gerade aufhalten, gab es zunächst nur manuelle Steuerung. Das war natürlich ein Unsicherheitsfaktor, wenn Sie es so wollen. Übrigens, sie befindet sich genau hinter Ihnen, hinter dieser Scheibe aus Sicherheitsplastik.« »Im Notfall Scheibe einschlagen«, murmelte Demerest, als er die Anlage untersuchte. »Was meinten Sie?« »Das ist ein Ausdruck, der früher auf allen altmodischen Notrufsäulen zu lesen war. Aber sagen Sie, funktioniert diese
Einrichtung denn überhaupt noch, oder ist sie nicht in den zwanzig Jahren unter der Plastikscheibe völlig unbrauchbar geworden, – und niemand hat es gemerkt?« »Ganz im Gegenteil. Sie wird regelmäßig überprüft, wie alle unsere Systeme. Das gehört zwar nicht zu meinen Aufgaben, aber ich kann mich darauf verlassen, daß es geschieht. Wenn irgendein elektrischer oder elektronischer Schaltkreis unterbrochen ist oder aus irgendeinem Grund nicht voll arbeitet, leuchten Warnlampen auf, akustische Signale ertönen, – alles darf geschehen, nur nicht, daß unser Kernreaktor außer Kontrolle gerät. Im übrigen, Mr. Demerest, sind wir auf LunaCity genauso neugierig wie Sie auf Ocean-Deep. Ich glaube, Sie hätten wohl nichts dagegen, jemand von unseren jüngeren Leuten einzuladen und…« »Wie wäre es mit einer jungen Frau?« warf Annette ein. »Ich glaube, ich weiß, an wen du dabei denkst, meine Liebe. Du scheinst vergessen zu haben, daß du hier unten ein Baby zur Welt bringen und es auch noch einige Zeit nach der Geburt hier behalten wirst. Damit scheidest du gewissermaßen aus der Liste der Bewerber aus.« »Wir hoffen, daß Sie Leute zu uns auf den Mond schicken werden«, sagte Demerest ein wenig steif. »Wir sind nämlich sehr erpicht darauf, daß sie unsere Probleme aus eigener Anschauung kennenlernen.« »Ja, ein gegenseitiger Erfahrungsaustausch, und um sich mal richtig an der Schulter des anderen auszuweinen, das wäre für uns alle wahrscheinlich viel besser. Sie haben zum Beispiel einen Vorteil in Luna-City, um den ich Sie wirklich beneide. Mit der geringen Schwerkraft und dem niedrigen Druckunterschied können Sie praktisch Ihren Bauten jede beliebige Form geben, wie es Ihrem ästhetischen Gefühl entspricht, oder der Zweckmäßigkeit. Hier unten sind wir auf die Kugelform angewiesen – wenigstens für die voraussehbare
Zukunft. Und unsere Designer haben aus diesem Zwang heraus eine Abneigung, ja einen Haß gegen alles Kugelförmige entwickelt, der jede Vorstellung übersteigt. Das ist gar nicht so komisch, wie es klingt. Diese gewölbten Flächen fallen jedem auf die Nerven. Lieber geben sie es auf, als daß sie konsequent sphärisch weiterarbeiten.« Bergen schüttelte ungläubig den Kopf und lehnte sich mit seinem Stuhl zurück. »Sie wissen ja, Beebes erste Tiefseekapsel war eine Kugel, die von einem Mutterschiff aus ein paar hundert Meter ins Meer hinabgelassen wurde. Sie hatte keine Schwimmtanks und keinen eigenen Antrieb. – Wenn das Kabel gerissen wäre, na dann gute Nacht. Aber, was wollte ich sagen? Ja, Beebe wollte diese Kapsel ursprünglich zylindrisch bauen. So, daß ein Mann bequem drin stehen konnte. Vereinfacht gesehen ist der Mensch in geometrischer Hinsicht ein Zylinder. Ein Freund hat ihm diese Idee ausgeredet und ihn von der Kugelform überzeugt. Aus dem einfachen Grund, weil eine Kugel einem allseitigen Druck besser widersteht als jeder andere geometrische Körper.« Demerest dachte kurz darüber nach, sagte aber nichts. Er beharrte auf seinem ursprünglichen Thema. »Es wäre uns sogar nur allzu recht, wenn jemand von OceanDeep Luna-City besuchen würde. Es könnte dazu führen, daß ihr von Ocean-Deep einseht, daß sich euer Projekt in einer Situation befindet, die beträchtliche Opfer von ihm verlangt.« »Sagen Sie das nochmal!« Bergens Sessel kam mit einem Ruck auf alle vier Füße zu stehen. »Habe ich Sie richtig verstanden?« »Ocean-Deep ist eine einzigartige Errungenschaft – und ich möchte davon nichts abstreiten. Ich kann mir gut vorstellen, wie es wächst und größer wird, ein weiteres Weltwunder. Aber…« »Aber?«
»Aber die Ozeane sind nun einmal ein Teil der Erde. Der größere, aber immerhin doch nur ein Teil. Und der Meeresboden ist wieder nur ein Teil des Ozeans. Es ist alles Innenraum – jede Ausbreitung verläuft nach innen, wird schmäler, konvergiert schließlich zu einem Punkt.« »Ich nehme an«, sagte Annette sehr entschlossen, »daß Sie nun über Luna-City auch ein paar Worte sagen wollen?« »Eben das wollte ich. Luna-City steht für den äußeren Raum, den Weltraum. Er ist unendlich. Auf längere Sicht gesehen sind hier unten die Möglichkeiten beschränkt – draußen sind sie unbeschränkt.« »Wir urteilen nicht allein nach Größe und Volumen, Mr. Demerest«, sagte Bergen. »Der Ozean ist zwar nur ein Teil der Erde, das stimmt, aber aus genau diesem Grund ist er auch den fünf Milliarden Menschen auf ihr viel näher. Ocean-Deep ist vorläufig nur ein Experiment, aber die Siedlungen auf den Kontinentalschildern verdienen durchaus schon den Namen Städte. Und unsere Arbeit auf dem Meeresboden wird es der Menschheit einmal ermöglichen, den Erdball ganz zu besitzen.« »Den Erdball noch mehr zu Übervölkern, ja«, rief Demerest erregt dazwischen, »ihn auszubeuten, zugrunde zu richten. Jedes Bestreben, das sich heute noch auf die Entwicklung der Erde als Lebensraum richtet, ist schädlich und letzten Endes verhängnisvoll. – Wenn nicht mindestens im gleichen Maß der Blick sich auf die äußeren Grenzen richtet.« »Hinter diesen äußeren Grenzen ist nichts«, sagte Annette, und das Wort klang wie ein Peitschenknall. »Der Mond ist tot. Alle anderen Welten draußen sind tot. Und wenn einige von ihnen leben würden, Lichtjahre von uns entfernt, könnten wir sie nicht erreichen. Der Ozean lebt aber, und er ist nah.« »Auch der Mond lebt, Mrs. Bergen. Er würde sogar eine eigene unabhängige Welt werden, wenn es Ocean-Deep
zuließe. Wir, wir vom Mond, würden daran arbeiten, daß auch andere Planeten für die Menschen erreichbar und bewohnbar würden. Die Menschheit muß Geduld haben; wir sind an den Weltraum, an die Schwerelosigkeit gewöhnt, an das Leben in Kellern tief unter der Oberfläche von Himmelskörpern, an eine total technisierte Umgebung; wir könnten es mühelos in einem Raumschiff aushalten, das vielleicht Hunderte von Jahren zu dem nächsten Stern unterwegs ist.« »Aber halt, halt Demerest! So beruhigen Sie sich doch. Was meinen Sie eigentlich damit – wenn Ocean-Deep es zuließe? Was haben wir denn damit zu tun?« »Sie sind unser Gegner, Mr. Bergen. Vielleicht ungewollt. Aber der Rat für Raumforschung wird Ihrem Projekt zustimmen, Ihnen mehr Geld geben und uns weniger. Wenn man es so kurzsichtig betrachtet wie Ihre Frau, dann lebt der Ozean natürlich, und der Mond nicht, abgesehen von den tausend Menschen, die schon darauf leben – und die Entfernung zu euch beträgt nur ein halbes Dutzend Kilometer und zu uns fast eine halbe Million. Bei euch kann man in einer Stunde und bei uns erst in drei Tagen sein. Und außerdem verfügen Sie über eine makellose Unfallstatistik und wir über Unfälle.« »Also, das letzte Argument ist lächerlich, das müssen Sie zugeben. Unfälle kann es jederzeit und überall geben.« »Aber man kann auch das Lächerliche für seine Zwecke gebrauchen«, rief Demerest erregt. »Man kann damit Gefühle, ablehnende Gefühle wecken. Für Menschen, die keine Ahnung haben von der Wichtigkeit der Weltraumforschung, ist der Tod von Mondmenschen natürlich Beweis genug dafür, wie gefährlich die ganze Sache ist, und daß letzten Endes die ganze Kolonisation auf dem Mond keinen Sinn hat. Warum auch nicht? Ein guter Grund für sie, Geld zu sparen; und um ihrem Gewissen doch etwas zu schmeicheln, stecken sie einen Teil
davon in das Projekt Ocean-Deep. Deswegen habe ich gesagt, daß dieses Unglück Luna-City in ihrer Existenz bedroht, obwohl nur zwanzig Menschen von fast tausend dabei ums Leben gekommen sind.« »Das ist doch kein Argument, Mr. Demerest. Jahrelang war doch für uns beide Geld da.« »Jetzt ist es eben zu wenig. Darum geht es. Und es hat auch in all den Jahren nie dazu gereicht, daß wir uns vollkommen selbständig machen konnten. – Jetzt wird man diese Abhängigkeit von ihrem Geldbeutel gegen uns auslegen. – Es hat ja auch nicht dazu gereicht, daß Sie sich davon unabhängig machen konnten – Sie aber können jetzt bewilligt bekommen, was Sie brauchen – wenn man uns ganz fallen läßt.« »Und Sie glauben, dieser Fall wird eintreten?« »Ich bin fast sicher – es sei denn, Ocean-Deep würde, was die Zukunft der Menschheit betrifft, einen Weitblick entfalten, der dem eines großen Staatsmannes würdig wäre.« »Und wie?« »Indem Sie die Annahme weiterer Mittel verweigern. Indem Sie den Wettstreit mit Luna-City aufgeben, das Wohl der gesamten Menschheit über Ihr eigenes Interesse stellen.« »Sie glauben doch nicht im Ernst, daß wir uns…« »Das ist doch gar nicht nötig, sehen Sie das denn nicht ein? Unterstützen Sie unser Anliegen, Luna-City, die Raumforschung, weisen Sie darauf hin, daß hier allein die Zukunft der Menschheit liegt, und sagen Sie, daß Sie vorläufig warten und sich einschränken werden, wenn es nötig sein sollte.« Bergen sah seine Frau an und runzelte die Stirn. Sie schüttelte erregt den Kopf. »Ich glaube, Sie haben eine ziemlich romantische Vorstellung von der RRF«, seufzte Bergen. »Selbst wenn ich jetzt edelmütige, selbstverleugnende Reden vor der
Versammlung halten würde, wer, glauben Sie, würde mir zuhören? An Ocean-Deep hängt ein gut Teil mehr, als daß es auf meine Meinung oder Wünsche ankäme. Es sind wirtschaftliche Überlegungen – und Rücksichtnahme auf die öffentliche Meinung. Denken Sie doch einmal nicht daran, Mr. Demerest. Ruhen Sie sich etwas aus. Luna-City wird nicht aufhören zu existieren. Sie werden Ihre Subventionen weiter erhalten, dessen bin ich ganz sicher. Bestimmt! Und jetzt lassen Sie uns dieses Thema beenden…« »Nein. Ich muß Sie überzeugen. So oder so. Ich meine es verdammt ernst. Und wenn es sein muß, dann muß eben Ocean-Deep seine Arbeit einstellen – wenn der RRF nicht genügend Mittel für beide bereitstellt.« »Mr. Demerest, sind Sie eigentlich offiziell beauftragt, diese Dinge vorzubringen? Sprechen Sie im Auftrag von Luna-City, oder ist das Ihre private Meinung?« »Es ist meine persönliche Überzeugung, die ich hier ausspreche – aber das müßte eigentlich genügen, Mr. Bergen.« »Ich glaube, da irren Sie sich. Es tut mir leid, das sagen zu müssen. Aber die Unterhaltung wird langsam etwas peinlich. Ich würde vorschlagen, Sie fahren mit dem nächsten Scaph wieder nach oben zurück.« »Noch nicht! So schnell nicht!« Enttäuschung und Verzweiflung glomm in Demerests Augen auf. Er fuhr aus seinem Sessel hoch, kam unsicher auf die Beine und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Er war etwas zu groß, um in diesem Raum völlig aufrecht stehen zu können. Er hatte das Gefühl, als würde sein Leben schrittweise von ihm zurückweichen. Noch einen Schritt weiter und die Brücke würde einstürzen.
IV Er hatte ihnen schon auf dem Mond gesagt, daß es zwecklos sein werde, nur zu reden, zu verhandeln. Es ging schließlich darum, wer den größeren Anteil bekam. Und Luna-City durfte nicht aufgegeben werden – nicht für ein Ocean-Deep, und auch nicht für die Erde – nein, nicht um alles in der Welt. Der Weltraum war die Zukunft. Der Mensch mußte über sein Schicksal hinauswachsen, auch wenn er zu bequem und zu gedankenlos war, dies zu begreifen. Demerest hörte, wie sein heftiger Atem laut in der Stille zu hören war, er merkte, wie seine Gedanken sich in ihrer Hast überschlugen. Die beiden sahen ihn besorgt an. »Ist Ihnen nicht wohl, Mr. Demerest?« fragte Annette. »Nein, mir fehlt nichts. Setzen Sie sich wieder. Ich bin Sicherheitsingenieur, und ich möchte Ihnen nun etwas über Sicherheit sagen. Setzen Sie sich doch, Mrs. Bergen.« »Setz dich, Annette«, sagte Bergen. »Ich werde das schon machen.« Er stand auf und trat einen Schritt vor. »Nein! Bewegen Sie sich nicht! Bleiben Sie, wo Sie sind, Mr. Bergen! Sie haben nicht die Gefahren einkalkuliert, die Ihnen von Menschen drohen. Dazu waren Sie zu naiv. Ich bin bewaffnet, Bergen. Sie hätten Ihren Besucher durchsuchen müssen.« Jetzt war es heraus. Er hatte den entscheidenden letzten Schritt getan, es gab kein Zurück mehr. Er war so gut wie tot – aber er hatte auch seine Ruhe wiedergefunden. Bergen hatte sich schützend vor seine Frau gestellt. »Eine Waffe? Ist das Ding, das Sie da in der Hand halten, eine Waffe? – Nun aber mal langsam, Demerest, langsam! Das
ist doch wahrhaftig kein Grund, daß wir… wir können doch miteinander reden, verdammt nochmal! – Was ist das?« »Nichts Aufregendes. Nur eine Laserpistole.« »Und was wollen Sie damit?« »Ocean-Deep zerstören.« »Aber das können Sie nicht, Demerest. Das wissen Sie doch. Die Energie der Waffe, die Sie da in Ihrer Hand halten, wird niemals ausreichen, ein Loch in die Wände von Ocean-Deep zu schneiden.« »Das weiß ich. Aber täuschen Sie sich nicht. Sie ist stärker als Sie denken. Sie ist auf dem Mond gemacht, und es ist sehr viel einfacher und praktischer, solche Energiespeicher im Vakuum herzustellen. – Aber Sie haben trotzdem recht. Ihr Wirkungsgrad reicht nur für kleinere Arbeiten, und sie muß oft aufgeladen werden. Aber ich will auch kein Loch in die Stahlhülle schneiden. Ich werde damit Ocean-Deep gewissermaßen indirekt vernichten. Die Energie der Waffe reicht jedenfalls aus, um zwei Menschen zu töten.« »Sie werden uns nicht töten«, sagte Bergen mit fester Stimme. »Sie haben gar keinen Grund dazu.« »Was das anbetrifft, so unterstellen Sie mir damit, daß ich ein vernunftloses Wesen sei, das seine Verrücktheit doch irgendwie einsähe. Aber lassen wir das. Ich habe meine Gründe, Sie zu töten, und ich werde es tun. Wenn es sein muß mit dem Laserstrahl, obwohl ich es lieber nicht möchte.« »Aber was haben Sie davon, wenn Sie uns töten? Das verstehe ich nicht. Deswegen, weil ich mich geweigert habe, Ocean-Deep zu opfern? Ich habe doch überhaupt keinen Einfluß darauf. Selbst wenn ich es wollte; ich treffe doch die Entscheidungen nicht. Und wenn Sie uns töten, werden Sie die Entscheidung des RRF sicher nicht zu Ihren Gunsten verändern. Ich glaube eher, daß das Gegenteil der Fall sein
wird. Ein Mondmensch als Mörder! Glauben Sie, damit Sympathien für Luna-City zu gewinnen? Bedenken Sie doch!« Annettes Stimme klang etwas schrill, als sie sagte: »Auf der Erde wird man sagen, die Sonnenstrahlung auf dem Mond habe schädliche Wirkungen auf das Gehirn. Die gezielten genetischen Eingriffe, die euren Körperbau verändert haben, hätten euer seelisches Gleichgewicht verändert. Überlegen Sie doch einmal, Mr. Demerest: mondsüchtig! Die Menschen haben schon immer daran geglaubt, daß der Mond jemand verrückt machen kann.« »Ich bin aber nicht verrückt, Mrs. Bergen.« »Das ist nicht entscheidend«, sagte Bergen. »Auf der Erde wird man sagen, ein Mondmensch ist es gewesen. Ja noch mehr, daß alle Mondmenschen so seien. Das Projekt Luna-City würde der Vergangenheit angehören. Jede weitere wissenschaftliche Arbeit auf dem Mond würde vielleicht für immer eingestellt. Und das wollen Sie im Ernst?« »Wenn die Menschen auf den Gedanken kämen, ich hätte Ocean-Deep vernichtet, würden Ihre Schlüsse zweifellos richtig sein. – Aber es wird wie ein Unfall aussehen.« Mit seinem linken Ellenbogen zerschlug Demerest die Plastikscheibe über der manuellen Steuerung. »Ich weiß, wie solche Einheiten konstruiert sind. Und ich weiß genau, wie sie funktionieren. Normalerweise müßte jetzt eine Warnlampe aufleuchten, nachdem ich die Scheibe zerbrochen habe, denn sie könnte ja auch durch einen Zufall zerbrochen worden sein. Jemand würde herkommen und nachsehen – oder noch besser: der Schleusenmechanismus würde automatisch verriegelt, bis festgestellt wäre, daß die Scheibe nicht willkürlich eingeschlagen wurde. – Aber ich glaube, es wird niemand kommen. Und es hat auch kein Warnsignal gegeben. Sie waren sich zu sicher, daß diese Einheit niemals mehr gebraucht werden würde.«
»Was haben Sie vor?« fragte Bergen. Demerest wußte, daß Bergen auf dem Sprung war, und ließ ihn nicht aus den Augen. »Wenn Sie mich angreifen wollen, werde ich schießen. – Sie können mich nicht daran hindern, mein Vorhaben auszuführen.« »Zu verlieren hätte ich dann sowieso nichts mehr.« »Sie würden Zeit verlieren. Stören Sie mich nicht bei meiner Arbeit – und Ihnen bleiben noch ein paar Minuten, mir die Sache auszureden. Ich gebe Ihnen so Möglichkeit, mich doch noch von meinem Vorhaben abzubringen. Das ist doch ein fairer Vorschlag.« »Aber was haben Sie vor?« »Das!« Er brauchte nicht hinzusehen. Er streckte seine linke Hand aus, fand den Schalter. »Ihr kleiner Reaktor wird jetzt das Wasser in der Schleuse zum Kochen bringen, und der Dampf wird das Wasser aus der Schleuse pressen. Das wird ein paar Minuten dauern. Und dann – dann bin ich überzeugt, daß hier irgendwo ein rotes Lämpchen aufleuchten wird.« »Aber wollen Sie denn…« »Warum fragen Sie? Sie mußten doch wissen, nachdem ich soweit gegangen war…« »Aber warum denn? Warum, verdammt nochmal?« »Es – es würde eben ein Unfall sein. Verstehen Sie? Die Statistik wird dann etwas zuungunsten von Ocean-Deep ausfallen. Es wird sogar eine totale Katastrophe werden – Ocean-Deep wird ausgelöscht sein. Der RRF wird dieses Projekt fallenlassen, und wir werden die Mittel erhalten. Wir werden weiterarbeiten können. Ich wollte, ich könnte das anders bewerkstelligen. Aber die Interessen von Luna-City sind im Grunde genommen die der ganzen Menschheit. Und die haben den Vorrang.« »Aber Sie werden auch sterben«, sagte Annette.
»Natürlich. Oder glauben Sie, ich möchte noch weiterleben, nachdem ich das tun mußte? Ich bin kein Killer.« »Aber Sie sind im Begriff einer zu werden! Wenn Sie diese Einheit fluten, fluten Sie ganz Ocean-Deep. Alle, die sich hier aufhalten, werden sterben. Und die gerade draußen arbeiten, sind zu einem langsamen, qualvollen Tod verurteilt. Fünfzig Menschen. Männer und Frauen – und ein ungeborenes Kind.« »Ich kann es nicht ändern«, sagte Demerest, und die ganze Qual der Entscheidung stand ihm im Gesicht geschrieben. »Ich hatte nicht erwartet, hier eine schwangere Frau zu finden. Aber auch dieser Umstand kann mich nicht mehr von meinem Vorhaben abbringen.« »Aber Sie müssen es aufgeben«, sagte Bergen. »Ihr Plan funktioniert doch nur, wenn das Ganze eindeutig wie ein Unfall aussieht. Man wird Ihre Leiche finden – mit der Laserpistole in der Hand und vor der Handsteuerung. Glauben Sie nicht, daß man dann die Wahrheit sehr schnell herausfinden wird?« Demerest fühlte sich sehr müde. »Das hört sich an wie eine letzte verzweifelte Anstrengung, die Sie da unternehmen, Mr. Bergen. Wenn sich die äußere Luke öffnet, wird das Wasser mit einer Gewalt von tausend Atmosphären hereinbrechen. Es wird einen furchtbaren Schlag geben. Die Außenwände von Ocean-Deep werden ihn aushalten. Aber im Innern wird alles bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert sein, die Menschen zermalmt, zerrissen wie Zeitungspapier. Dieser Tod wird plötzlich sein, keiner wird ihn fühlen. Selbst wenn ich Sie vorher mit dem Laserstrahl verbrennen müßte, nichts mehr wird von Ihnen da sein, das einen Beweis liefern würde. Sehen Sie jetzt, daß ich nicht den geringsten Grund habe, mit dem Schießen zu zögern. Auch diese Handsteuerung wird zerschmettert werden. Ich kann tun,
was ich will, dieser Wasserschlag wird alle Spuren auslöschen.« »Aber die Laserpistole. Man wird sie auch noch als verbogenes Stück Metall identifizieren«, sagte Annette. »Auf dem Mond ist sie ein vielgebrauchtes Werkzeug, Mr. Bergen, gewissermaßen so etwas wie ein Klappmesser auf der Erde. Sehen Sie, ich könnte Sie auch mit einem Klappmesser töten. Wenn ein Mann mit einem Klappmesser gefunden wird, würde man noch lange nicht annehmen, daß er jemanden ermorden wollte. Und außerdem, dieser Mondlaser verschießt ja keine Kugeln. Er muß keine Explosionen, keinen Rückstoß aushalten und kann deshalb aus ganz dünnem Metall sein. Ich bezweifle, ob nachher noch viel von ihm übrig sein wird.« Als Demerest diese Argumente aufzählte, brauchte er nichts zu überlegen. Sie waren das Ergebnis monatelangen Nachdenkens und Planens. »Und wie will denn die Untersuchungskommission jemals herausfinden, was hier unten geschehen ist? Sie werden ein paar Scaphen hinunterschicken, um zu sehen, was von OceanDeep übriggeblieben ist. Aber um hineinzugelangen, müßten sie ja erst das Wasser auspumpen. Um das zu können, müßten sie daneben ein neues Ocean-Deep bauen. Und wie lange würde das dauern? Und dann bedenken Sie, wie gern die Öffentlichkeit ihr sauer verdientes Geld einer sowieso schon verlorenen Sache hinterherwirft. Man wird sich also damit zufrieden geben, an der Stelle, wo Ocean-Deep stand, einen Kranz ins Meer zu senken.« »Aber auf Luna-City wird doch jemand wissen, was Sie vorhatten«, sagte Bergen. »Und der wird ein Gewissen haben. Die Wahrheit wird an den Tag kommen.« »Eine Wahrheit ist zum Beispiel die, daß ich nicht der Narr bin, für den Sie mich halten. Niemand in Luna-City weiß, was ich vorhatte, und niemand wird Verdacht schöpfen. Man hat
mich zu Verhandlungen hierher gesandt – eben über finanzielle Zugeständnisse. Ich sollte Ihnen unsere Lage schildern – und sonst gar nichts. Nicht einmal eine Laserpistole wird in LunaCity fehlen. Ich habe sie selbst zusammengebaut. Und sie funktioniert. Ich habe sie ausprobiert.« »Sie haben Ihren Plan aber doch nicht ganz zu Ende gedacht«, sagte Annette langsam. »Wissen Sie eigentlich, was Sie da tun?« »Ich habe es mir genau überlegt. Und ich weiß, was ich tue. Ich weiß auch, daß Sie beide genauso wie ich das Lichtsignal gesehen haben, welches jetzt aufgeleuchtet ist. Die Schleuse ist also leer, und ich fürchte, die Zeit ist um.« Er hob die Waffe und hielt sie auf die beiden gerichtet. Mit der anderen Hand betätigte er einen zweiten Schalter der Handsteuerung. Mit einem feinen Knistern bildete sich ein kreisrunder Ausschnitt in der Wand. Der innere Lukendeckel schob sich langsam zur Seite. Aus den Augenwinkeln erspähte Demerest die gähnende Schwärze hinter der Luke. Aber er sah nicht hin. Der Geruch von feuchtem Salz drang aus der Öffnung, der seltsam dumpfe Geruch von kondensiertem Wasserdampf. Er meinte sogar, das Plätschern des Wassers am Boden der Schleuse zu hören. »Die äußere Luke müßte jetzt felsenfest verschlossen sein, wenn die Handsteuerung einigermaßen vernünftig konstruiert wäre. Solange die innere Luke geöffnet ist, müßte es unmöglich sein, die äußere zu öffnen. Aber ich vermute, daß diese Steuerung viel zu hastig zusammengebaut und auf solche Überlegungen keine Rücksicht genommen wurde. Und wenn ich noch einen Beweis bräuchte, so kann ich ihn an ihren Mienen und an Ihrer Haltung ablesen. Die äußere Luke läßt sich öffnen. Ich brauche nur noch einen Kontakt zu schließen, und der Wasserschlag wird alles zermalmen. Wir werden nichts spüren.«
»Schließen Sie ihn noch nicht«, sagte Annette. »Ich muß Ihnen noch etwas sagen. Sie sagten doch, wir hätten Zeit, Ihnen die Sache auszureden.« »Ja, solange die Schleusenkammer geleert wurde.« »Nur noch das eine. Eine Minute nur. Eine einzige Minute. Ich sagte Ihnen schon, Sie wüßten nicht, was Sie tun. Und ich hatte recht. Mit Ocean-Deep zerstören Sie ein ganzes Weltraumprogramm. Ein Weltraumprogramm!« Ihre Stimme klang schrill. »Wovon reden Sie? Seien Sie vernünftig, oder ich bringe die Sache sofort zu Ende. Ich bin müde. Ich möchte, daß es endlich vorbei ist.« »Sie gehören nicht zu den inneren Gremien des RRF. Mein Mann auch nicht. Aber ich. Oder trauen Sie mir das nicht zu, weil ich eine Frau bin? Sie, Mr. Demerest, sind völlig einseitig auf Luna-City fixiert. Mein Mann genauso auf Ocean-Deep. Sie wissen alle beide nicht, was eigentlich vorgeht. Angenommen, Sie hätten das Geld, das Sie bräuchten, was würden Sie damit tun, Mr. Demerest? Zum Mars fliegen? Zum Asteroidengürtel? Zu den Satelliten der großen Planeten? Das sind doch alles winzige Welten – verdorrter, nackter Boden unter einem leeren Himmel. Es kann noch Generationen dauern, bis wir die Sterne erreichen, und bis dahin sind wir wahrscheinlich auf Pygmäengröße geschrumpft. Wollen Sie das wirklich, Mr. Demerest? Mein Mann ist auch nicht besser. Er träumt davon, den Lebensraum des Menschen auf den ganzen Meeresgrund auszudehnen. Ein Gebiet, das letzten Endes nicht größer ist als die Oberfläche des Mondes, oder die der anderen Zwergwelten. Wir im RRF haben uns schon längst andere Gedanken gemacht – mit einem Knopfdruck würden Sie den größten Traum der Menschheit zunichte machen.« Es war ihr gelungen, Demerests Interesse zu wecken. Trotzdem sagte er: »Das ist doch alles nur Geschwätz.«
Er wußte, daß sie vielleicht irgendeine Möglichkeit gefunden hatten, die anderen in Ocean-Deep zu warnen. Jeden Moment konnte jemand hereinkommen und versuchen, ihn niederzuschießen. Er hielt seinen Blick unbeirrt auf die Tür gerichtet. Um den letzten Kontakt zu schließen, brauchte er nicht einmal hinzusehen. Es würde nicht einmal eine Sekunde dauern. »Ich schwätze nicht, Mr. Demerest. Sie wissen genau, daß zur Kolonisation des Mondes mehr erforderlich war als nur genügend schubstarke Raketen. Daß die Kolonie am Leben blieb, hing letzten Endes davon ab, daß es gelang, die Menschen so zu verändern, daß sie sich der geringeren Schwerkraft anpassen konnten. Sie selbst sind ja ein Produkt dieser genetischen Planung.« »Ja und?« »Könnte nicht irgendeine genetische Planung den Menschen ebenso an eine erheblich größere Gravitation als der irdischen anpassen? Etwa der des Jupiter! – Er hat den elffachen Erddurchmesser – den vierzigfachen des Mondes. Seine Oberfläche ist hundertzwanzigmal größer als die der Erde und sechzehnhundertmal größer als die des Mondes. Dort herrschen Bedingungen, die von den irdischen so verschieden sind, daß jeder Wissenschaftler sein halbes Leben hergeben würde, um sie aus der Nähe zu studieren.« »Aber der Jupiter ist ein unmögliches Ziel.« »Tatsächlich? Genauso unmöglich wie der Mond? So unmöglich wie das Fliegen? Warum soll es denn so unmöglich sein? Eine genetische Planung könnte Menschen schaffen mit kräftigeren Muskeln. Nach denselben Prinzipien, wie sich Luna-City vor dem Vakuum schützt und Ocean-Deep vor dem Meer, könnte sich doch eine zukünftige Jupiter-Station vor einer Atmosphäre aus Ammoniak unter hohem Druck schützen.«
»Aber die Gravitation…« »Die atomgetriebenen Raumschiffe, die dieses Problem meistern werden, sind schon im Entwurf fertig. Sie konnten das nicht wissen, Mr. Demerest. Aber ich weiß es.« »Wir wissen nicht einmal, wie tief die Atmosphäre ist. Und der Druck…« »Der Druck? Aber Mr. Demerest, sehen Sie sich doch um. Warum, meinen Sie, wurde Ocean-Deep gebaut? Um der Menschheit auch den tiefen Ozean zu erobern? Die Siedlungen auf dem Kontinent erfüllen diesen Zweck ebenso. Um mehr über das Leben auf dem Meeresgrund zu erfahren? Das könnte man auch mit den Scaphen, und die Hundert Millionen Dollar für Ocean-Deep hätte man sich sparen können. Sehen Sie denn nicht, Mr. Demerest, daß Ocean-Deep einen ganz anderen Zweck haben muß? Nämlich den, die geeigneten Fahrzeuge und Techniken zu entwickeln, mit denen die Erforschung und Kolonisierung des Jupiter erst möglich wird. Sehen Sie sich um. So ungefähr wird die neue Umgebung der Menschen auf dem Jupiter aussehen. Wenigstens so gut wir sie auf der Erde simulieren können. Es ist wahrscheinlich noch nicht sehr beeindruckend, aber es ist ein Anfang. Zerstören Sie es, Mr. Demerest, und Sie zerstören jede Hoffnung, auch die großen Planeten des Sonnensystems zu erforschen. Oder lassen Sie uns leben, und wir werden zusammen alle Schwierigkeiten meistern und unser Sonnensystem besiedeln. Und bevor wir noch den Jupiter ganz erforscht haben, werden wir in der Lage sein, die fernen Sterne zu erreichen. Luna-City wird niemals aufgegeben werden, denn für dieses ferne Ziel sind alle beide wichtig.« Im Augenblick dachte Demerest nicht mehr an die Handsteuerung und den letzten Knopf, der noch zu drücken war. »Niemand in Luna-City hat je von diesem Projekt gehört.«
»Sie haben nichts davon gehört. Es gibt auch in Luna-City einige Eingeweihte. Wenn Sie denen von Ihrem Plan, OceanDeep zu zerstören, erzählt hätten, würden sie es ihnen längst ausgeredet haben. Selbstverständlich sollen diese Pläne jetzt noch nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Deswegen ist der Kreis der Eingeweihten sehr klein. Die Öffentlichkeit unterstützt ohnehin nur sehr widerstrebend die Projekte, die jetzt gerade laufen. Und wenn der RRF geizig ist, dann nur, weil ihm die öffentliche Meinung Grenzen setzt. Was glauben Sie, wie die Öffentlichkeit reagieren würde, wenn wir sagten, wir wollen auf den Jupiter? Welch ein Riesenunfug das in ihren Augen wäre. Aber wir werden weitermachen, und was uns an Geld übrigbleibt, das stecken wir in die verschiedenen Vorarbeiten zum Projekt Große Welt.« »Projekt Große Welt?« »Ja«, sagte Annette. »Und jetzt wissen Sie alles, – und ich habe einen ziemlich schweren Vertrauensbruch begangen. Aber das macht jetzt nichts mehr aus; oder macht es noch etwas aus? Wir sind doch alle schon so gut wie tot, nicht wahr, Mr. Demerest? Und mit uns auch das ganze Projekt.« »Warten Sie, Mrs. Bergen.« »Wenn Sie jetzt von Ihrem Vorhaben zurücktreten, Mr. Demerest, denken Sie nur nicht, Sie könnten jemals über das Projekt Große Welt mit jemand anderem sprechen. Damit wäre das Projekt ebenso sicher zum Scheitern verurteilt, als wenn Sie Ocean-Deep zerstören würden. Und sowohl Ihre als auch meine Karriere hätten damit ein Ende. Und – es könnte auch das Ende von Luna-City und auch Ocean-Deep sein. Es macht also keinen Unterschied. Sie könnten jetzt genausogut den Knopf drücken.« Demerests Stirn war zerfurcht, er blickte Annette unsicher an. Monatelang hatte er diesen Augenblick geplant. Nun war er da, und…
»Ich weiß nicht…«, murmelte er. Als Demerests angespannte Wachsamkeit nachließ, wollte Bergen zum Sprung ansetzen, aber Annette hielt ihn zurück. Nach einer langen Pause streckte ihnen Demerest seine Laserpistole hin. »Nehmen Sie sie an sich«, sagte er. »Ich gebe auf. Stellen Sie mich unter Arrest.« »Wir können Sie nicht unter Arrest stellen. Das würde die ganze Geschichte an die Öffentlichkeit bringen. Es dürfte genügen, wenn Sie nach Luna-City zurückkehren und den Mund halten. Bis dahin werden wir Sie hier unter Aufsicht behalten.« Bergen war an die Handsteuerung gegangen. Die innere Luke schloß sich langsam, und dann kam der berstende Knall, als das Wasser wieder in die Schleuse schoß. Erst als Demerest unter der Aufsicht von zwei Männern von der Station in sein Zimmer gebracht worden war, wagten sie wieder zu sprechen. Der unerwartete Wasserschlag hatte natürlich die ganze Besatzung in Alarm versetzt, aber eine harmlos-plausible Erklärung Bergens beruhigte sie wieder. Die Handsteuerung wurde wieder verriegelt, und Bergen nahm sich vor, sie so bald als möglich narrensicher konstruieren zu lassen; außerdem sollten Besucher in Zukunft durchsucht werden. »O John«, sagte Annette. »Manchmal glaube ich wirklich, daß die Menschen verrückt sind. Da standen wir da und hatten den Tod vor Augen. Alles wäre aus gewesen. Und ich hörte einfach nicht zu denken auf, ich durfte nicht, ich durfte keinen Fehler machen.« »Du bist wunderbar ruhig geblieben. Du hast dich überhaupt prächtig gehalten. Ich meine den Einfall mit dem Projekt Große Welt! Ich habe noch nie von so einem Projekt gehört,
aber beim Jupiter, es ist das beste, was ich seit langem gehört habe. Einfach großartig!« »Es tut mir leid, daß ich das alles sagen mußte, John. Es war nur eine Täuschung. Ich habe es einfach erfunden. Demerest wartete ja darauf, daß ich etwas erfinde. Im Grunde seines Herzens ist er ja gar kein Killer, er wollte gar nicht zerstören – er war mit seinen ganzen überhitzten Ideen einfach so etwas wie ein Patriot von Luna-City. Und er hat sich wahrscheinlich eingeredet, er müßte das eine zerstören, um das andere zu retten. Eine ziemlich verbreitete Ansicht bei denen, die nicht weit genug denken können. Aber er hat uns Zeit gegeben, ihm die Sache auszureden, und ich glaube, er hat darum gebetet, daß es uns gelingt. Im Grunde hoffte er darauf, daß uns etwas einfallen würde, das ihm einen Grund gab, sein Vorhaben aufzugeben. Und mir ist eben etwas eingefallen. Es tut mir leid, daß ich dich zum Narren halten mußte, John.« »Aber du hast mich nicht zum Narren gehalten.« »Nicht?« »Ich wußte ja, daß du kein Mitglied des RRF bist.« »Wieso? Denkst du, weil ich eine Frau bin…« »Keineswegs. Aber ich bin ein Mitglied, Annette. Und wenn du nichts dagegen hast, werde ich genau das in Gang bringen, was du vorgeschlagen hast. Das Projekt Große Welt.« »Aha!« sagte Annette. »Also haben wir Frauen doch auch manchmal gute Ideen.« »Das ist etwas, woran ich nie gezweifelt habe«, sagte Bergen lächelnd und legte seinen Arm um ihre Schulter.
Neal Barrett jr. GREYSPUNS GESCHENK
Mary-Anne-Liebling stand da und schaute. Der rosa Mini war aber auch süß. Groß-Charlie würde begeistert sein. Er war überhaupt von allem begeistert, wenn nur Mary-Anne-Liebling darin steckte. Sogar Klein-Charlie gab Geräusche von sich, die nach Zustimmung klangen. »Du bist genau der gleiche Schwerenöter wie dein Vater, und du wirst viele Mädchen glücklich machen und noch mehr Mädchenherzen brechen. Skorpione sind nun mal so, weißt du.« Klein-Charlie nickte verständig und kaute weiter am Chromgestell seines Kinderwagens. Sie klemmte die Schachtel unter ihren Arm und betrachtete ihr Spiegelbild in einer frisch geputzten Schaufensterscheibe. Sie war klein, zierlich und hübsch – nicht schön, wenigstens nicht im Sinne unserer Illustriertenschönheiten. Aber so wie sie war, erfreute sie sich Groß-Charlies uneingeschränkter, begeisterter Wertschätzung, und das erfüllte sie jedesmal mit Wärme und Zufriedenheit, wenn sie daran dachte. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu. Noch heute morgen hatte er ihr beim Weggehen gesagt, sie sähe aus wie ein verlorengegangener Engel von der großen Wachparade auf der Plaza, und sie solle sich einen schönen Tag machen und gut auf sich aufpassen. Und das war wieder so ein wunderbar verrückter Ratschlag, wie ihn nur Groß-Charlie geben konnte.
Sie strich sich die Haare zurück und wischte sich ein Kleckschen Wimperntusche von der Nase. Da bemerkte sie aus den Augenwinkeln das Spiegelbild eines Mannes im Schaufenster. Zuerst starrte Mary-Anne-Liebling das Spiegelbild an, dann drehte sie sich um und setzte Klein-Charlie in seinem Kinderwagen zurecht. Aber eigentlich wollte sie sich nur den Mann genauer ansehen. Er saß allein auf einer Bank auf der anderen Straßenseite. Er war der längste und dünnste Mann, den sie in ihrem Leben je gesehen hatte. Selbst im Sitzen war er nicht viel kleiner als die Menschen, die an ihm vorbeigingen. Mary-Anne-Liebling war er sofort sympathisch. Er schien einfach nicht hierher zu gehören. Die ganze 5th Avenue glitzerte und funkelte wie frisch gewaschen, und das Grün vom Central Park war noch grüner als auf den Ansichtskarten. Und der große dünne Mann sah überhaupt nicht nach Frühling aus, eigentlich nach gar nichts. »Das ist doch seltsam«, sagte sie zu sich selbst und blieb stehen. Charlie würde sicher nicht damit einverstanden sein. Nicht, daß jemals etwas geschehen würde, im Grunde war ja auch alles immer gut gegangen. Aber sie mußte selbst zugeben, daß sie Sachen anstellte, mit denen Groß-Charlie nicht immer einverstanden wäre. Zum Beispiel brachte sie den Männern, die vor dem Pegglar-Dale, wo Charlie arbeitete, einen Kanal gruben, öfters einen Picknick-Korb. Oder sie verkaufte Bleistifte, nur um zu sehen, wie es war, wenn sie für eine Blinde gehalten wurde. Und da sie ja doch etwas mehr als nur hübsch war – sogar mit der Brille mit den dunkel getönten Gläsern – also gut, Charlie bezahlte von den $ 81.32, die sie eingenommen hatte, die Strafe, weil sie ohne Lizenz gebettelt hatte, und verschenkte den Rest.
Aber es war doch alles gut gegangen, oder? Jeder hatte ein bißchen dazugelernt. Aber Groß-Charlie starrte nur die Wohnzimmerdecke an, als ob er mit jemand sehr hoch über ihm sprechen würde, und sagte gar nichts. Sie ging über die Straße, sah überall hin, nur nicht zu dem großen dünnen Mann, und setzte sich ganz zufällig neben ihn. »Gestatten Sie«, sagte sie. Ohne sie anzusehen, sagte er: »Aber bitte, gewiß doch.« Er hatte eine tiefe und sehr angenehme Stimme, aber aus der Nähe sah er entschieden – noch ungewöhnlicher aus. Sein schwarzer Anzug war ihm an den unmöglichsten Stellen entweder zu eng oder zu weit. Er trug weiße Baumwollhandschuhe, aber keine Socken. Seine Handgelenke und seine Knöchel waren – nun ja, »behaart« war das einzige, was ihr zunächst einfiel. Sie waren behaart wie bei einem Affen. Nur – und sie schauderte etwas bei dem Gedanken – es war eigentlich schon mehr ein Pelz, wie bei einer Spinne. Er drehte sich um und sah sie an. Er trug eine alte LyndonB.-Johnson Karnevalsmaske. Sie erinnerte sich, daß die so im Oktober 64 zu haben gewesen waren, und sie wunderte sich, wo, zum Teufel, er die wohl aufgetrieben hatte. »Hören Sie«, sagte sie ernst, »Sie tragen eine Maske, aber zur falschen Zeit. Jetzt ist kein Fasching.« Sie überlegte eine Zeitlang, dann sagte sie: »Ich bin mir gar nicht sicher, ob Sie überhaupt wissen, welche Jahreszeit wir haben, oder?« Er schien in seinem Anzug und hinter seiner Maske sichtlich zusammenzuschrumpfen. »Ich glaube, die haben alles falsch gemacht. Ich sehe doch überhaupt nicht wie ein Mensch aus? Oder doch ein klein wenig?« Mary-Anne-Liebling schüttelte nur ihren Kopf. »Nicht sehr, fürchte ich.«
Er seufzte. »Das habe ich mir schon gedacht. Ich habe mich darin nie so richtig wohl gefühlt.« Sie sah, daß er in der Hand eine rot-weiß gestreifte Tüte mit Fliegen trug. Groß-Charlie hatte schon immer gesagt, daß man in New York alles haben konnte, wenn man nur die richtige Adresse wußte. Und er hatte, wie immer, recht. Mary-Anne-Liebling kaute an ihrer Unterlippe herum und musterte ihn nachdenklich. Sie versuchte, möglichst nicht an die Fliegen zu denken. »Ich denke«, sagte sie dann, »Sie sollten erst einmal die Maske abnehmen. Sie sehen doch darunter einigermaßen o. k. aus, oder?« Er schüttelte den Kopf. »Ziemlich häßlich, fürchte ich.« Mary-Anne-Liebling hob die Schultern. »Wir sind hier in New York. Niemand wird es unangenehm auffallen. Ehrenwort!«
Plötzlich fiel ihr die Farm ihrer Großeltern ein, draußen auf dem Land, mit ihren Ställen und Heuschuppen und dem Duft frischer Erde. Da gab es einen Werkzeugschuppen, in den jeder hineinwarf, was ihm irgendwie und irgendwann noch brauchbar erschien. Und dort stand auch ein älter Schaukelstuhl. Großvater hatte einmal mit der Schrotflinte auf das Sitzkissen gezielt, und seitdem war es ein Chaos von Büscheln aus Roßhaarfüllung, zusammengehalten nur durch zwei kleine rote Knöpfe. Kurz gesagt, das hatte die größte Ähnlichkeit mit dem, was unter der LBJ-Maske zum Vorschein kam. »Was meinen Sie dazu«, fragte er betrübt. Mary-Anne-Liebling schluckte zweimal und lächelte höflich. »Ach, es wird schon gehen. Nun – wissen Sie, irgendwie, wenn Sie es nach unten bürsten könnten.« Sie zeigte ihm, was
sie meinte, indem sie mit den Fingern über ihr Kinn strich. »Gut«, sagte sie. »Jetzt sehen wir weiter.« Sie kramte in ihrer Handtasche herum und brachte eine große, blaue, sehr modische Sonnenbrille zum Vorschein. Sie reichte sie ihm hin, aber er wußte nicht, wohin damit. Sie zeigte es ihm. Aber er hatte weder Nase noch Ohren, wo er sie befestigen konnte. Weitere Gedanken über anatomische Absonderlichkeiten schob sie schnell beiseite. »In Ordnung«, sagte sie. »Wie ein großer hungriger Rabbi vielleicht. Ja, genau das: ein sehr großer, hungriger, verrückter Rabbi.« »Was?« »Nichts. Jetzt brauchen wir natürlich noch Socken. Aber ich glaube, da können wir von Groß-Charlie ein Paar nehmen. Und Sie können nicht länger mit diesen unmöglichen MickeyMaus-Handschuhen herumlaufen.« Sie schüttelte den Kopf. »Bei L. A. vielleicht, oder in der Village, aber in der 5th Avenue glaube ich weniger. Vorläufig lassen Sie die Hände am besten in Ihren Hosentaschen.« »Wie bitte?« Mary-Anne-Liebling lachte hell auf. »Na die seitlichen kleinen Schlitze in Ihrer Hose. Sie stellen sich aber an.« »Hose?«
Sie gingen außen am Park entlang. Er war nicht einmal so groß wie sie angenommen hatte. Vielleicht einsneunzig, aber kaum größer. Immerhin, groß genug. Aber sie hatte ihm ja schon zu verstehen gegeben, daß wesentlich mehr dazugehörte als ein einsneunzig großer verrückter Rabbi, um in New York einen Menschenauflauf zu verursachen. Einige drehten sich aber doch nach ihnen um.
»Leute«, sagte er ernst, »deswegen bin ich hier. Ich suche sie. Sie sind die erste Leute, mit der ich gesprochen habe.« »Person«, korrigierte sie ihn. »Die erste Person, mit der ich gesprochen habe.« »Ja. Personen interessieren mich sehr. Das ist hier sozusagen meine Arbeit. Ich möchte Personen kennenlernen. Ich möchte dabei zusehen, wie sie das tun, was sie tun.« Mary-Anne-Liebling zuckte die Achseln. »Ich schätze, das ist ein ziemlich großer Auftrag. Also, Personen – Leute tun eine ganze Menge Dinge.« »O nein, nein, nein!« Er blieb stehen und sah sie an. »Sie verstehen mich nicht ganz, nicht wahr? Ich meine nicht, was sie so den ganzen Tag lang tun – ganz gewöhnlich, alltäglich. Ich will wissen, was sie tun. Was sie wirklich tun. Verstehen Sie?« »Ich fürchte, nein«, sagte sie. »Aber vielleicht wird es GroßCharlie verstehen. Darin ist Charlie wirklich ganz groß.« Sie blieb an einem kleinen Springbrunnen stehen und zog einen Pappbecher aus ihrer Handtasche. Für Klein-Charlie natürlich. Er hustete und spuckte, und sie klopfte ihm auf den Rücken. »Hören Sie mal«, sagte sie plötzlich. »Wie soll ich Sie denn nennen. Sie haben mir noch gar nicht – o, Verzeihung, – ich ja auch nicht.« Sie kniete neben Klein-Charlie nieder und trocknete ihm das Kinn ab. Sie sah zu dem Fremden hinauf, und es kam ihr vor, als müßte sie sehr weit nach oben blicken, so etwa, als ob sie sich mit einer riesigen ausgedörrten Sequoia unterhielte. »Mich nennen?« Die Frage schien ihn etwas zu verwirren. »Klar.« Sie stand auf. »Verstehen Sie. Einen Namen. Sie haben doch einen Namen, oder?« »Ich weiß nicht. Könnte schon sein.« Mary-Anne-Liebling wußte nicht recht, was diese Antwort bedeuten sollte.
»Ich zum Beispiel, ich heiße Mary-Anne. Nur mein Mann nennt mich Mary-Anne-Liebling. Aber das wird Sie sicher verwirren. Mein Mann heißt Groß-Charlie, und das hier ist Klein-Charlie. Klein-Charlie ist elfeinhalb Monate alt.« Er sah auf Marie-Anne-Liebling herab, und dann, noch weiter, auf Klein-Charlie. Dann kratzte er sich im Gesicht und blickte in die Ferne. »Ist das dort ein Name?« sagte er schließlich. »Was?« Er deutete über die Straße, und Mary-Anne-Liebling blickte in die angegebene Richtung. Sie sah ein Schaufenster mit aufgemalten goldenen Buchstaben. Ihr waren solche Fenster in der 5th Avenue noch nie aufgefallen. »Nun ja«, sagte sie, »so ungefähr.« »Gut«, sagte er entschlossen. »Dann ist das mein Name. Mary-Anne-Liebling und Klein-Charlie, es ist mir eine große Freude eure Bekanntschaft gemacht zu haben. Ich bin T. A. Greyspun – Kleinkredite – Ratenzahlung.«
Es überraschte Groß-Charlie nicht im geringsten, daß MaryAnne-Liebling eine behaarte Bohnenstange mit dem Namen T. A. Greyspun-Kleinkredite-Ratenzahlung mit nach Hause gebracht hatte. Sollten sich in dieser Stadt irgendein einsames, pensioniertes Mafiamitglied, oder eine Eskimononne, oder ein syrischer Armbrustgroßhändler herumtreiben, er war fest davon überzeugt, daß das Schicksal und Mary-Anne-Liebling sie irgendwann einmal an Charlies Abendbrottisch bringen würde. »Sehr angenehm, Mr. Ratenzahlung«, sagte er, und MaryAnne-Liebling schoß ihm einen warnenden Blick zu. »Du kannst ihn auch Greyspun nennen, Charlie. Er ist von außerhalb – zu Besuch.«
Charlie gab sich wirklich Mühe, überrascht auszusehen. »Nein, das darf nicht wahr sein? Sie sind also kein gebürtiger New Yorker?« »Charlie!«
Das nun folgende Abendessen war etwas, das Charlie lieber vergessen wollte. Er hatte sich zwar selbst nie für einen Exzentriker oder besonders pingelig gehalten, was Tischmanieren anbetraf, aber Greyspun beim Essen zuzusehen war etwas ganz anderes. Manch mal schaffte er es, MaryAnne-Liebling einen Blick zuzuwerfen, der soviel hieß wie: das ist jetzt schon das soundsovielte Mal, aber Mary-AnneLiebling lächelte nur lieblich zurück und dachte sich, daß es vielleicht doch ganz gut war, daß sie den rosa Mini gekauft hatte. Vielleicht konnte sie ihn sogar noch ein, zwei Zentimeter kürzen. »Charlie«, sagte sie später in der Küche. »Du machst nicht den Eindruck, als wolltest du ein besonders guter Gastgeber sein.« Plötzlich riß sie die Augen weit auf, biß sich in die Unterlippe und runzelte die Stirn. »Charlie! Was machst du denn da?« »Das siehst du ja. Ich gieße mir einen Drink ein.« »Das soll ein Drink sein?« Das Zahnputzglas war fast randvoll mit Bourbon. »Aber – Charlie, du trinkst doch nicht!« »Ich trinke nicht allzu häufig«, verbesserte er sie. »Aber wenn ich trinke, dann nur, weil ich mich mit der Reinkarnation von Oliver Cromwell oder diesem T. A. GreyspunKleinkredite-Ratenzahlung unterhalten muß.« Er blickte sie kopfschüttelnd und völlig fassungslos an. »Um Himmels willen, Liebling – wo hast du denn den aufgelesen?« »Charlie, – so anders ist er nun auch wieder nicht.«
»Mary-Anne-Liebling, aber ich hab doch die Tüte mit den Fliegen gesehen.« »O.« Daß Greyspun seiner festen Überzeugung nach in jedem Hosenbein oder Ärmel mindestens zwei Beine beziehungsweise Arme hatte, sagte er ihr aber nicht. »Was macht er denn jetzt?« Mary-Anne-Liebling blickte zur Decke hinauf. »O – er hat sich gerade hingesetzt.« »Wo hingesetzt?« »Er scheint sich deinen Lieblingsplatz ausgesucht zu haben. Er sieht fern, mit Klein-Charlie.« Groß-Charlie nickte bedächtig. »So, scheint sich meinen Lieblingsplatz ausgesucht zu haben und sieht fern mit KleinCharlie…« Mary-Anne-Liebling lächelte hoffnungsvoll. »Ja, glaub mir, Klein-Charlie ist ganz verrückt nach ihm.« Aus der Art, wie er das noch halbvolle Glas Whisky leerte, schloß sie, daß sie nicht ganz das Richtige gesagt hatte.
»Groß-Charlie«, fragte Greyspun, »was tun Sie eigentlich?« Greyspun hatte sich in Charlies Lieblingsfernsehsessel ausgebreitet. Wie er so dasaß, erinnerte er Charlie an eine ausgestopfte Erbsenschote. Klein-Charlie kletterte auf seinem Schoß herum und riß ihm, übermütig vor Begeisterung, große Flocken Roßhaar aus dem Gesicht. Unter Mary-Anne-Lieblings strengen Blicken versuchte er, aufrichtig und so gut es ging, Greyspun das Börsengeschäft zu erklären. »Nein, nein. Ich will wissen, was sie wirklich tun. – Als einer von den Leuten?«
»Nun – von den Leuten?« Charlie sprach schon ziemlich gepreßt. »Wissen Sie, die Börse hält mich ganz schön in Atem, und für etwas anderes hab ich nicht viel Zeit, Greyspun.« Er vermied es, Mary-Anne-Liebling anzusehen, aber ihre mißbilligenden Blicke konnte er auch spüren, ohne daß er sich umdrehte. Greyspun schüttelte den Kopf. »Ich versuchte es schon MaryAnne-Liebling zu erklären. Sie meinte, Sie würden mich verstehen und mir helfen, mein Wissen etwas zu erweitern.« »Oh, tatsächlich. Hat sie das gesagt?« »Ja. Schauen Sie, Groß-Charlie: Alle Personen, alle Völker überall im Universum tun etwas. Etwas, das nur sie allein tun können. Zum Beispiel die Zalii sind ganz ausgezeichnete dhin.« Er machte eine lange Pause um nachzudenken. »Es gibt eigentlich kein geeignetes Wort dafür. Konstruieren kommt dem ziemlich nahe, aber dhin und konstruieren sind nicht ganz dasselbe.« Groß-Charlie sah Mary-Anne-Liebling an und runzelte die Stirn – etwa: ›Das soll einer verstehen.‹ »Aber die Cephiden, die sind ein gutes Beispiel. Wirklich schöne Geschöpfe wie…«, er suchte angestrengt nach einem Wort, einem Vergleich. »…ja, wie Austern, große blaue Austern, mit wunderbar dicken Augen. Jedesmal, wenn sie eine neue Farbe visualisiert haben, einen Gedanken, eine Form, die wir noch nie gesehen haben, oder ein Wort, das wir noch nie gehört haben, kommen sie aus den purpurnen Tiefen des Meeres an die Oberfläche.« Über eine Stunde lang erzählte ihnen Greyspun von den blaßgrünen Cephiden von Morad, und wie sie frippten. Er erzählte ihnen von dem riesenhaften Sakun und den winzigen Papeen – und von hundert anderen Wundern mehr. Sogar Groß-Charlie war beeindruckt. »Und Sie, Greyspun, was tun Sie?«
Greyspun seufzte zufrieden und tätschelte zärtlich KleinCharlie, der auf seinem Schoß eingeschlafen war. »Ja, Groß-Charlie, wir M’arachnae haben eine ganz besondere Aufgabe.« Seine roten Knopfaugen funkelten durch das Gestrüpp seines Gesichts. »Wir sind bahei – und ihr habt sogar das richtige Wort dafür, genießen nämlich. Wir M’arachnae genießen das, was andere tun, und wir berichten den Om darüber, was wir gesehen und gehört haben. Denn alles Neue ist für die Om interessant.« »Die Om?« fragte Mary-Anne-Liebling. Greyspun schüttelte bedauernd den Kopf. »Es tut mir wirklich leid. Ich konnte euch ja nicht einmal so einfache Begriffe wie dhin oder frippen erklären. Ich käme noch mehr in Verlegenheit, wenn ich euch auch noch die Om erklären müßte.« Greyspun beugte sich vor, und Mary-Anne-Liebling stand auf, nahm ihm Klein-Charlie vom Schoß und brachte ihn ins Bett. »Aber, Groß-Charlie, Sie haben doch jetzt verstanden, was ich mit tun meine?« »Ich denke schon, aber – « »Dann werden Sie mir also sagen, was die einzelnen Leute so tun?« »Das ist eben die Schwierigkeit, Greyspun. Ich habe die ganze Zeit nachgedacht, während Sie gesprochen haben. Ich glaube nicht, daß die Leute wirklich in dem Sinne, wie Sie es meinen, etwas tun. Natürlich tun sie den ganzen Tag über eine Menge, ganz klar, aber nicht etwas Bestimmtes, wenigstens nichts, was ich mir darunter vorstellen kann.« Greyspun schüttelte heftig den Kopf. »Groß-Charlie, das kann nicht sein.« Charlie zuckte mit den Schultern, und Mary-Anne-Liebling trat hinter ihn und legte ihm die Hände auf die Schultern.
»Ja, ist es denn möglich, daß wir tatsächlich nichts – nichts Eigentliches tun?« fragte sie. Greyspun war sichtlich erschüttert. »Es wäre sehr sehr schlimm, wenn es so wäre, Mary-Anne-Liebling. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie recht haben können. Und ich weiß, die Om würden es mir niemals glauben, wenn ich ihnen das erzählte.«
Charlies Kunden schrieben sich den 15. Mai als schwarzen Dienstag in ihren Kalender. An diesem Tag gab ihnen Charlie den guten Rat, American Drift nicht zu kaufen, dafür aber alles, was sie an Consolidated Scow erwischen könnten. An diesem Tag stiegen die Drift-Aktien prompt um 12 Punkte, und die Scow fielen um 16. Wie der alte Drake Pegglar selbst stoisch bemerkte, war das etwas, was jedem passieren konnte, aber es würde nicht wieder vorkommen, nicht wahr, Charlie? Und beinahe war es in weniger als einer Stunde wieder passiert. Charlie war einfach nicht mehr der alte. Als er morgens in die Arbeit gegangen war, hatte ihm Mary-AnneLiebling gesagt, daß sie und Klein-Charlie Greyspun in die Stadt begleiten würden. Als Fremdenführer gewissermaßen. Greyspun wollte die Art, wie »Leute« leben, noch besser kennenlernen, vielleicht noch ein paar Bücher lesen, und noch mehr »Personen« fragen, was sie eigentlich täten. »Hältst du das wirklich für einen guten Einfall?« »Vielleicht ist er tatsächlich nicht besonders gut, aber du weißt doch, wie er ist, Charlie. Wenn er allein ausgeht, wird er sicher im Gefängnis landen – oder weiß Gott wo.« »Da bin ich aber sehr erleichtert. Wenn Greyspun im Gefängnis sitzt, dann weiß ich wenigstens, daß meine Frau und mein Sohn bei ihm sind.«
»Es ist schon sieben vorbei – warum, zum Teufel, hast du denn nicht wenigstens angerufen?« Sie stand unter der Haustür und sah sehr erschöpft aus. KleinCharlie weinte. Er war über und über mit einem orangefarbenen, klebrigen Zeug bedeckt. Nur Greyspun sah noch wie Greyspun aus. Er hielt einen weißen und einen blauen Luftballon in der Hand, auf denen stand: Panama den Panamesen. Mary-Anne-Liebling ließ sich in einen Sessel sinken. Ganz abwesend streckte sie die Hand aus, nahm Charlie das Wasserglas aus der Hand und leerte es auf einen Zug. »Hoffentlich ist dein Hunger nicht zu groß«, seufzte sie. »Es war ein ziemlich anstrengender Tag.« »O ja«, strahlte Greyspun. »Wir haben sehr viel Interessantes gesehen. Ich weiß zwar immer noch nicht genau, was die Leute eigentlich tun – aber ich glaube, daß wir immerhin auf der richtigen Spur sind. Morgen vielleicht…« Charlie sah Mary-Anne-Liebling an. »Greyspun«, sagte er düster. »Es wird kein Morgen geben. Ich kann Ihnen genau sagen, was »Personen« tun – sie werden müde. Greyspun natürlich nicht, aber die Leute.« »Aber Groß-Charlie…« Mary-Anne-Liebling lächelte matt. »So schlimm war es nun auch wieder nicht. Ich muß mich nur ein bißchen ausruhen, das ist alles.« Charlie explodierte. »Ein bißchen ausruhen? Hör zu, Baby…« Aber Mary-Anne-Liebling war schon eingeschlafen, oder – und er entschied sich für das letztere – das Wasserglas voll Bourbon war ihr zu schnell zu Kopf gestiegen.
»Charlie?« »Hmhm.«
Sie setzte sich auf. »Wie bin ich denn hier herein gekommen?« »Du warst eingeschlafen, und ich hab dich ins Bett gebracht. Ist doch nichts dabei, wenn ein Mann seine Frau ins Bett bringt, oder?« Sie lachte schläfrig. »Das war sogar eine großartige Idee. Es tut mir nur so leid…« »Ja, mir auch. Möchtest du etwas Suppe?« Er stopfte ihr ein paar Kissen in den Rücken und brachte von der Anrichte eine Suppenschüssel. »Klein-Charlie und Greyspun hielten sie für ausgezeichnet. Ist auch mein Rezept.« Mary-Anne-Liebling mußte niesen und sah Groß-Charlie stirnrunzelnd an. »Welche Art von Suppe ist denn das, Charlie?« »Ach, in der Hauptsache sind es Bananen und Würstchen – eine gute Prise Knoblauchsalz und Zimt und noch ein paar andere Sachen. Weißt du, gute Köche haben das richtige Würzen im Gefühl, die wiegen da nicht lange ab. Wie schmeckt sie dir denn?« »Sie ist – gut. Aber ich glaube, ich bin doch noch etwas müde.« Charlie machte ein langes Gesicht. »Also scheußlich, nicht wahr?« Dann lachte er und nahm die Schüssel fort. »Jetzt erzähl mir, was geschehen ist.« Mary-Anne-Liebling seufzte. »Also, wir haben uns ein paar Sachen angesehen, das Metropolitan, den Times Square, die UBahn und den Zoo. Dort mußten wir schauen, daß wir schnell wieder herauskamen. Die Tiere waren nämlich von Greyspun gar nicht begeistert. Dann hat er sich in der Bibliothek eine lange Liste mit Beschäftigungen aufgeschrieben, was die Menschen alles so tun. Das hat ihn, glaube ich, ziemlich durcheinandergebracht. Aber meistens haben wir Leute angesprochen.«
Sie sah ihn hilflos an. »Charlie, die Leute lassen sich nun einmal nicht gerne darüber ausfragen, was sie so tun. Und Greyspun macht noch dazu keinen besonders einnehmenden Eindruck, wenn man ihn nicht länger kennt, meine ich.« »So, man kann sich also an ihn gewöhnen?« »Er ist wirklich sehr nett, wirklich. Es ist nur – also, da war im Village oben ein Mädchen, und Greyspun fragte es, was es denn so täte, und sie antwortete: ›Irgendwas, Mann, einfach irgend etwas…‹ Greyspun war überzeugt, daß er einen Treffer gemacht hatte, und ich konnte ihm nicht klarmachen, daß er sich geirrt hatte. Es war furchtbar schwer, ihn von dort wegzubekommen.« Charlie lachte und schüttelte den Kopf. »Das war das letzte Mal, Liebling«, sagte er, »und ich meine das genauso, wie ich es sage.« »Charlie.« Sie zog seinen Kopf herunter und gab ihm einen Kuß. »Mir fehlt doch nichts. Ich bin nur etwas müde. Wir müssen ihm doch einfach helfen, meinst du nicht auch?« »Wir müssen ganz einfach gar nichts tun, verdammt nochmal! Dir fehlt vielleicht nichts, – aber mir! Ich kann nicht einen Tag länger ins Pegglar Dale gehen, wenn ich dauernd daran denken muß, daß du und Klein-Charlie und Greyspun in der Stadt herumrennt. Und ich möchte nicht, daß dieser Monat in die Geschichte eingeht, als der Monat, in dem Groß-Charlie wahnsinnig wurde. Und jetzt leg dich schlafen, ich werde aufräumen. Die Küche ist, glaube ich, im großen und ganzen noch zu retten.«
Groß-Charlie fiel ein schwerer Stein vom Herzen, als ihn Mary-Anne-Liebling aus dem Still-Waters-Beerdigungsinstitut
in Queens anrief. Er wußte, daß ein Anruf kommen würde, nur nicht wann, und von wo. »Man hat Greyspun erschossen, stimmt’s? Das tut mir wirklich leid, Mary-Anne-Liebling. Es mußte ja so kommen, aber vielleicht ist es für ihn das Beste gewesen. Hoffentlich hat er nicht lange gelitten.« »Unsinn! Niemand hat Greyspun erschossen. Aber Charlie, bitte, bitte komm her, jetzt gleich!« Im Hintergrund hörte Charlie Stimmengewirr. Vor Still Waters waren eine Menge Leute, und die meisten von ihnen, fiel Charlie auf, waren Polizisten. Es war nicht schwer, Greyspun zu finden. Er saß ganz steif neben MaryAnne-Darling. Er starrte durch seine modischen blauen Sonnenbrillengräser geradeaus in die Ferne und zitterte am ganzen Körper. Er zitterte so heftig, daß ganze Haarbüschel aus seinem Gesicht fielen. Ein Polizist mußte laut niesen. Er scheint zu frieren, dachte Charlie, aber das konnte doch nicht sein. Eher mußte ihn etwas furchtbar erregt haben. »Geht’s dir gut«, fragte er Mary-Anne-Liebling. Sie wirkte ganz abwesend und tätschelte Greyspuns Arm. Klein-Charlie saß auf ihrem Schoß und kaute an einer blauen Broschüre herum: Wenn der Schmerz am größten, lautete der Titel. »Was war denn los«, fragte Charlie, aber bevor sie antworten konnte, drehte sich ein großer, dicker Polizist nach ihm um. »Ein Freund von Ihnen?« sagte er und sah Charlie sehr mißtrauisch an. Charlie zog seine Karte heraus und gab sie ihm. »Was hat er denn angestellt?« Der Blick des Beamten wurde ganz seltsam. »Er hat einen Leichnam belästigt.« Charlie klappte die Unterkiefer herab. »Einen was belästigt?«
»Er hat ihn sich nur angesehen«, protestierte Mary-AnneLiebling. Der Beamte zog tief die Luft ein und sah zur Decke. »Sie müssen schon entschuldigen, meine Dame, aber er hat mehr getan, als nur geschaut. Er hat ihn auch angefaßt. Sie gehen ja auch nicht herum und fassen die sterblichen Überreste der teuren Verblichenen fremder Leute an, oder?« fragte er drohend. Charlie sah Greyspun an. »Warum zittert er denn so? Habt ihr ihm etwas getan?« Der Beamte verzog schmerzlich das Gesicht. »Mister, wir haben ihm kein Haar gekrümmt. Könnte aber schon sein, daß wir etwas mit ihm anstellen. Hängt allerdings nicht von mir ab. Verstehen Sie?« Er sah Charlie fragend an. »Was ist er denn für einer? Sicher irgendein Ausländer, nicht wahr?« »Ja, er ist, äh – Albanier.« Der Beamte kniff die Augen zusammen. »So?« Er machte sich mit seinem zerkauten Bleistiftstummel eine Notiz. »Ein Roter also, ha?« »Die Kommunisten sitzen doch in Nord-Albanien«, sagte Charlie schnell. »Die im Süden gehören ja zu uns. Ist genauso wie in Korea oder Vietnam.« »Hm.« Der Beamte sah Charlie zweifelnd an und warf Greyspun einen verachtungsvollen Blick zu. »Er ißt Fliegen. Das wissen Sie doch«, setzte er angewidert hinzu. »Ich sehe nicht ein, was die Eßgewohnheiten unserer Alliierten uns angehen sollten«, sagte Charlie sehr förmlich. »Schon möglich«, murmelte der Polizist mürrisch. »Er sieht jedenfalls wie ein Roter aus.« Er zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf. »Wie will einer genau wissen, auf welcher Seite diese Brüder gerade stehen?« Weder die Angehörigen der Verblichenen noch die Leitung von Still Waters wollten Anzeige erstatten. Sie wollten nur,
daß Greyspun so schnell wie möglich verschwand und unter keinen Umständen mehr die Queensborough-Brücke überschritt. Greyspun sagte gar nichts. Er zitterte zwar nicht mehr, aber er sprach auch nicht. Charlie versuchte, ihn im Taxi auszufragen, aber er gab keine Antwort. Zu Hause versuchte er es wieder, aber Greyspun stand nur da und starrte ins Leere, ein schwarz gestrichener Totempfahl, gekrönt von einem zerrauften Haarbüschel. »Was zum Teufel ist denn geschehen?« fragte er immer wieder. Greyspun weigerte sich auch, zu essen. Er saß im Gästezimmer und hatte die Tür verschlossen. Mary-AnneLiebling hatte den weinenden Klein-Charlie zu Bett gebracht. Er weinte, weil er zu seinem Greyspun wollte. »Ich weiß nicht einmal, warum wir eigentlich nach Queens gegangen sind«, sagte sie ihm schließlich. »Aber das macht doch nichts«, wischte er ihre Worte gewissermaßen beiseite und goß zwei große Drinks ein. »Was war denn mit Greyspun los?« Das einzige, woran Mary-Anne-Liebling sich erinnern konnte, war, daß sie die Straße entlang gingen, in BonbonLäden hineingingen, in Waffenläden, in Porzellanläden, in Samenläden, in jede nur denkbare Art von Läden. An dem Beerdigungsinstitut ging sie vorbei. »Klar«, sagte sie Charlie. »Wer geht denn da schon freiwillig rein.« Aber Greyspun ging nicht daran vorbei. Greyspun, und das hätte sie wissen müssen, ging an nichts achtlos vorüber. Und bevor sie ihn aufhalten konnte, war er schon drin und untersuchte die ausgestellten Särge, Grabsteine und Blumengebinde. Er untersuchte sie mit genau demselben intensiven Interesse wie vorher Gummidrops, Wedgewood-
Porzellan, Smith & Wesson-Revolver und die Tüten mit dem Rosmarin- und Selleriesamen. Dann schrie plötzlich jemand, dann noch jemand, und dann war draußen ein Haufen Polizei – und den Rest wußte Charlie ja. Mary-Anne-Liebling gähnte und schlüpfte zu Groß-Charlie ins Bett. »Ich glaube, Charlie, die Polizisten haben ihn so aufgeregt. Sie haben ihn sogar angeschrien. Es dürfte wohl das erste Mal gewesen sein, daß man ihn wegen Leichenschändung verhaften wollte.« »Das glaube ich auch«, sagte Charlie schläfrig. Er schlug ein Auge auf. »Schau, Mary-Anne-Liebling, Greyspun muß fort. Am besten gleich morgen früh. Es tut mir leid.« »Charlie…« »Liebling«, sagte er geduldig, »weißt du noch, letztes Jahr? Der tibetanische Mönch, der Tiefseetaucher werden wollte? Nur war er allergisch gegen Wasser. Und wie wir ihm helfen wollten? Und was geschah dann?« »Ja, Charlie«, sagte sie schüchtern. »Es tut mir leid, Charlie.« Sie wußte gar nicht, warum sie eigentlich aufgestanden war. Es ging ihr oft so, mitten in der Nacht. Vielleicht schmeckten die Reste vom Abendessen so gut, oder die Küche sah so anheimelnd aus, wenn das Licht im Kühlschrank brannte, oder sie wollte noch Klein-Charlie sehen, oder wissen, wie der Roman ausging… Sie dachte gerade an ein ganz kleines belegtes Brötchen, das noch im Kühlschrank sein mußte, als sie den Zettel fand. Er war an den Toaster geheftet, und noch bevor sie ihn in die Hand nahm, wußte sie, daß er von Greyspun war. Lieber Groß-Charlie und liebe Mary-Anne-Liebling, ich bin sehr traurig, daß ich euch verlassen muß, aber seitdem ich weiß, daß ihr auch eines Tages in Still Waters liegen werdet, kann ich euch nicht mehr ins Antlitz sehen. Und ich mache
Euch auch keine Vorwürfe, daß ihr mir nichts davon gesagt habt. Die Om haben zwar meinen Berichten immer Glauben geschenkt, aber ich bezweifle, daß sie mir diesen glauben. Daß die Leute so etwas tun, einfach aufhören zu sein. Immerhin, jedes Ding hat auch seine guten Seiten. Dankt mir bitte nicht, wenn ihr dieses lest. Die Om schulden mir noch einen Wunsch. Das ist zwar schon einige tausend Jahre her, aber ich denke nicht, daß sie ihn mir verweigern werden. Ihr könnt beruhigt sein, solange Klein-Charlie bei seinem Freund T. A. Greyspun-Kleinkredite-Ratenzahlung ist, wird er niemals in das Still-Waters-Beerdigungsinstitut kommen und…
Mary-Anne-Liebling glitt der Zettel aus der Hand, und GroßCharlie hörte, wie sie laut schluchzte. Er sprang sofort aus dem Bett und lief zu ihr in die Küche.
Clifford D. Simak DAS DING IM STEIN
I Er ging über die Hügel, und die Hügel erzählten ihm von den geologischen Zeitaltern. Er hörte den Sternen zu und sprach aus, was die Sterne sagten. Er hatte die Kreatur entdeckt, die im Felsen gefangen lag. Er war den Baum hinaufgeklettert, den in längst vergangenen Zeiten Wildkatzen hinaufgeklettert waren, um zu der Höhle zu gelangen, die in Jahrtausenden Wind und Wetter in den kahlen Stein geschliffen hatten. Er lebte einsam auf einer heruntergewirtschafteten Farm, die sich auf einem schmalen Plateau an die Felsen schmiegte, hoch über dem Zusammenfluß zweier Flüsse. Und sein nächster Nachbar, ein Mann, der keinen besonders guten Ruf hatte, machte sich eines Tages die dreißig Meilen auf den Weg, nur um dem Sheriff zu sagen, daß dieser Entzifferer der Hügel, dieser Lauscher der Sterne, ein Hühnerdieb sei. Nach einer Woche oder so kam der Sheriff vorbei. Er ging quer über den Hof zur Veranda, auf der in einem Schaukelstuhl der Mann saß und die Hügel am Fluß betrachtete. Vor den Stufen, die zur Veranda hinaufführten, blieb der Sheriff stehen. »Ich bin Sheriff Harley Shepherd«, sagte er. »Ich komme eben zufällig hier vorbei. Sind ja schon Jahre her, daß ich das letzte Mal in dieser Ecke der Wälder war. Sie sind neu hier, nicht wahr?«
Der Mann stand auf und bot ihm einen Stuhl an. »Ich bin schon ungefähr drei Jahre hier«, sagte er. »Ich heiße Wallace Daniels. Kommen Sie rauf und setzen Sie sich eine Weile hin.« Der Sheriff stieg die Stufen hinauf, die beiden schüttelten sich die Hand, und dann setzten sie sich in ihre Schaukelstühle. »Sie bewirtschaften das Land nicht?« fragte der Sheriff. Die völlig mit Unkraut überwucherten Wiesen reichten bis an den Zaun, der den Farmhof umgab. Daniels schüttelte den Kopf. »Reicht gerade für mich, könnte man sagen. Ein paar Hühner für die Eier, ein paar Kühe für Milch und Butter. Schweine – die Nachbarn helfen mir schlachten – ein kleiner Gemüsegarten, aber das ist auch schon alles.« »Dachte ich mir schon. Die Gegend ist ziemlich heruntergekommen. Der alte Arnos Williams hat alles vergammeln lassen. Der war alles andere, nur kein Farmer.« »Das Land erholt sich wieder. Geben wir ihm zehn – oder noch besser – zwanzig Jahre, und es wird sich wieder erholt haben. Jetzt taugt es nur für Kaninchen, Maulwürfe und Feldmäuse, und ein Haufen Vogelzeug gibt es natürlich. Ich habe hier vielleicht die beste Wachtelkolonie, die Sie sich vorstellen können.« »War auch immer schon gut für Eichhörnchen, das Land hier. Und natürlich Waschbären. Sie haben doch sicher auch Waschbären. Jagen Sie auch, Mr. Daniels?« »Ich besitze nicht einmal eine Büchse.« Der Sheriff machte es sich in seinem Stuhl bequem und fing an, langsam zu schaukeln. »Wirklich schönes Land hier. Besonders wenn die Blätter bunt werden. Viel Laubwald, aber das macht es ja so bunt. Eine höllisch rauhe Gegend. Ihr Land, immer rauf und runter, zum größten Teil wenigstens. Aber schön.«
»Es ist altes Land. Es ist schon mehr als vierhundert Millionen Jahre her, daß es das letzte Mal vom Meer bedeckt war. Seit Ende des Silurs ist es immer trocken gewesen. Sie müßten schon hinaufgehen bis zum Kanadischen Schelf, um eine Gegend zu finden, die so alt ist wie dieser hier.« »Sind Sie Geologe, Mr. Daniels?« »Nicht eigentlich. Es interessiert mich, das ist alles. Der reinste Amateur, sozusagen. Ich brauche etwas, um meine Zeit auszufüllen. Wissen Sie, ich wandere viel herum, steige alle Hügel hinauf, und da stößt man ja direkt mit der Nase auf die Geologie. Jedenfalls wurde mein Interesse geweckt. Ich habe ein paar versteinerte Brachiopoden gefunden und wurde neugierig. Also ließ ich mir Bücher schicken und habe sie gelesen. So kam eins zum andern.« »Brachiopoden? Sind das Dinosaurier, oder was? Ich habe nie gedacht, daß es hier mal Dinosaurier gegeben hat.« »Keine Dinosaurier, noch viel älter, wenigstens die, die ich gefunden habe. Sie sind ganz klein, vielleicht so groß wie Venusmuscheln oder Austern. Aber die Schalen hängen anders zusammen. Das waren ganz alte, schon vor Millionen Jahren ausgestorben. Übrigens gibt es heute auch noch Brachiopoden, aber nicht mehr viele Arten.« »Das muß doch sehr interessant sein.« »Ich denke schon.« »Kannten Sie eigentlich den alten Arnos Williams?« »Nein, er war schon tot, bevor ich hierher kam. Ich habe das Land von der Bank gekauft, die seine Geschäfte geführt hat.« »Ein komischer Kerl. Hat mit allen seinen Nachbarn Streit gehabt, besonders mit Ben Adams. Die beiden führten jahrelang Krieg wegen eines Weidezauns. Ben sagte, Arnos weigerte sich, den Zaun instand zu halten. Dann behauptete Arnos, Ben hätte den Zaun niedergerissen. Und dann hat er, unbekümmert wie er war, sein Vieh über den Zaun in Bens
Wiesen gehen und weiden lassen. Wie kommen Sie eigentlich mit Ben aus?« »Ach, ganz gut. Wir haben keine Schwierigkeiten. Ich kenne ja den Mann kaum.« »Ben arbeitet auch nicht viel auf der Farm. Lieber geht er jagen oder fischen. Sucht Ginseng-Wurzeln. Im Winter stellt er Fallen. Ab und zu sucht er nach Erz.« »Es gibt Erz in den Hügeln, Blei und Zink. Aber das zu fördern, würde mehr kosten als es einbringt. Bei den jetzigen Preisen.« »Ja, irgendeinen Plan hat er immer im Kopf, der Ben. Immer hinter den Wildgänsen her. Und er ist von Natur aus streitsüchtig. Hat seine Nase überall, wo sie nicht hingehört. Ja – er sucht immer Streit. Ist nicht gut, den Mann zum Feind zu haben. Er hat mir übrigens vor ein paar Tagen erzählt, daß man ihm ein, zwei Hühner gestohlen hätte. Fehlen Ihnen vielleicht auch welche?« Daniels grinste. »Da gibt es einen Fuchs in den Hügeln, der holt sich so ab und zu seinen Tribut aus den Hühnerställen. Ich träge es ihm nicht allzusehr nach.« »Das ist doch komisch: nichts kann einen Farmer so aufregen wie ein kleiner Hühnerdiebstahl. Sie greifen natürlich nicht gleich zum Gewehr, aber richtig wütend werden sie schon.« »Wenn Ben Hühner verloren hat, ist wahrscheinlich mein Fuchs daran schuld.« »Ihr Fuchs? Sie sprechen, als würde er Ihnen gehören.« »Natürlich tut er das nicht. Ein Fuchs gehört niemandem, aber er lebt mit mir in diesen Hügeln. Ich nehme an, wir sind sogar Nachbarn. Ab und zu beobachte ich ihn. Vielleicht kann ich deshalb sagen, daß er ein bißchen mir gehört. Es würde mich aber nicht wundern, wenn er mich mehr beobachtete als ich ihn. Er bewegt sich auch viel schneller.« Der Sheriff stemmte sich aus dem Sessel hoch.
»Ich gehe wirklich ungern. Es war ausgesprochen beruhigend, hier zu sitzen, mit Ihnen zu reden und die Hügel zu betrachten. Sie betrachten sie doch sehr oft, nehme ich an.« »Ja, sehr oft.«
Er saß auf seiner Veranda und sah dem Wagen des Sheriffs nach, wie er langsam den Serpentinenweg abwärts fuhr und dann aus seinem Gesichtsfeld verschwand. Was sollte das heißen, fragte er sich. Der Sheriff war wirklich nicht zufällig vorbeigekommen. Er war aus einem bestimmten Grund hier gewesen. Und das ganze freundliche, nichtssagende Geschwätz war auch nicht grundlos gewesen. Der Sheriff hatte eigentlich eine Menge Fragen gestellt. Vielleicht war irgend etwas mit Ben Adams? Allerdings, viel würde man gegen Adams nicht vorbringen können. Der Kerl war einfach zu faul. – Andererseits war er auch noch sehr gewitzt. Schon möglich, daß der Sheriff von Adams’ ›Mondschein-Unternehmen‹ Wind bekommen hatte und sich bei den Nachbarn Gewißheit verschaffen wollte. Natürlich würde ihm niemand etwas verraten, es ging sie ja auch gar nichts an. Und das ›Mondschein-Unternehmen‹ belästigte ja niemanden. Das bißchen Schnaps, das Ben da brannte, war es wirklich nicht der Mühe wert. Wie gesagt, er war zu faul, um irgend etwas anzufangen, das der Mühe Wert gewesen wäre. Vom Fuß der Hügel hörte er Schellengeläut. Die beiden Kühe kamen langsam zu ihrem Stall zurück. Es mußte schon später sein, als er gedacht hatte. Nicht, daß er sich etwa nach einer Uhrzeit richtete. Das tat er schon monatelang nicht mehr; genaugenommen, seitdem er von einem Felssims gestürzt war und seine Uhr dabei in Brüche gegangen war. Er hatte sie auch nicht wieder reparieren lassen. Er brauchte keine Uhr. In der Küche stand zwar noch ein alter Wecker, aber der führte ein so
eigensinniges Innenleben, daß man sich nicht auf ihn verlassen konnte. Er beachtete ihn auch kaum. Eine kleine Weile noch, dachte er, und er würde aufstehen müssen und die täglichen Arbeiten erledigen – die Kühe melken, die Schweine und die Hühner füttern, die Eier einsammeln. Seitdem der Garten vorbereitet war, gab es dort auch nicht mehr viel zu tun. An einem der nächsten Tage mußte er noch die ausgepreßten Säfte in den Keller bringen, – und da waren noch drei oder vier große Kürbisse, die er den Perkins-Kindern hinunterbringen wollte, daß sie rechtzeitig zum letzten Oktoberabend ihre Laternen basteln könnten. Er überlegt noch, ob er sie vorher aushöhlen und die Löcher hineinschneiden sollte, oder ob er das besser den Kinder überließ. Aber die Kühe waren noch ziemlich weit unten, und er hatte noch Zeit. Er saß bequem in seinem Schaukelstuhl und blickte wieder auf die Hügel. Und sie verschoben sich und veränderten ihre Gestalt, als er sie so anstarrte. Als er dieses Phänomen das erste Mal erlebt hatte, dachte er, er müßte verrückt werden. Aber jetzt hatte er sich schon daran gewöhnt. Und während er länger hinsah, waren die Hügel mit einemmal nicht mehr dieselben wie vorher. Sie trugen eine ganz andere Vegetation und fremdartiges Leben. Dieses Mal erspähte er Dinosaurier. Eine ganze Herde, aber keine sehr großen. Mittleres Trias, schätzte er und war sich ziemlich sicher. Und dieses Mal sah er es tatsächlich nur aus der Ferne, nur als Zuschauer, nicht als Beteiligter. Sonst war es nämlich meistens so, daß er sich mitten unter all diesen Lebewesen, in Urwäldern aus längst vergangenen Erdepochen befand.
Es war ihm heute ganz recht so. Er hatte ja noch seine Tagesarbeit zu tun. Er überlegte sich, was er tun könnte. Nicht wegen der Dinosaurier oder der noch älteren Amphibien. Was ihm zu schaffen machte, war dieses andere Lebewesen, das tief unter dem Platteville-Kalkfelsen gefangen lag. Irgend jemand mußte davon in Kenntnis gesetzt werden. Dieses Wissen mußte erhalten bleiben für die Zukunft. Vielleicht würde es noch hundert Jahre dauern, bis die Technologie dieses Problem meistern konnte, Kontakt aufzunehmen mit diesem Einsiedler im Fels, ihn vielleicht sogar zu befreien. Natürlich würden Aufzeichnungen da sein, handgeschriebene Aufzeichnungen, dafür würde er schon sorgen. Und sie wurden auch schon geschrieben, wöchentlich, manchmal sogar täglich. Alles, was er gesehen, gehört oder irgendwie erfahren hatte. Drei dicke Bände waren schon vollgeschrieben mit seiner sorgfältigen, gestochenen Handschrift, einen vierten hatte er angefangen. Alles so ausführlich, genau und ehrlich niedergeschrieben, wie er dazu in der Lage war. Aber wer würde glauben, was er da aufgezeichnet hatte? Oder noch einfacher: wer würde es überhaupt lesen? Es war ja vorstellbar, daß diese Bände auf irgendeinem Bücherbrett verstauben würden bis ans Ende aller Zeiten, ohne daß eine menschliche Hand sie jemals herunterholen würde. Und selbst wenn sie jemand in ferner Zukunft zufällig einmal in die Hand nahm, die dicke Staubschicht wegblies, würde er – oder sie – dem Inhalt Glauben schenken? Die Antwort war klar, er mußte versuchen, jemanden zu überzeugen – und zwar jetzt. Worte, niedergeschrieben von einem Mann, der schon lange tot und keine Berühmtheit war, konnten leicht als Produkte einer neurotischen Geisteshaltung beiseitegewischt werden.
Aber wenn er irgendeinen anerkannten Wissenschaftler dazu brachte, ihn anzuhören, seine Aufzeichnungen anzuerkennen, dann würden die Vorkommnisse in den Hügeln auf sicherem Boden stehen, und man würde in der Zukunft vielleicht einmal ernsthafte Nachforschungen anstellen. Aber an wen sollte er sich wenden? An einen Biologen, einen Psychologen, oder an einen Paläontologen? Vielleicht war es gar nicht wichtig, welchem Zweig der Wissenschaft dieser Mann angehörte. Hauptsache, er hörte zu und lachte ihn nicht aus. Das war nämlich das Wichtigste, daß er ihm zuhörte – ohne zu lachen. Er saß immer noch auf der Veranda und sah zu den Hügeln hinüber, die gesprenkelt waren mit grasenden Dinosauriern. Und der Lauscher der Sterne erinnerte sich daran, wie er mit dem Paläontologen gesprochen hatte.
»Ben«, sagte der Sheriff, »du bist auf der falschen Fährte. Dieser Daniels würde niemals Hühner stehlen. Er hat selber welche.« »Ja«, sagte Adams. »Die Frage ist aber, wie ist er zu seinen Hühnern gekommen?« »Das ist doch Unsinn. Er ist ein Gentleman. Das hörst du sofort, wenn du dich mit ihm unterhältst. Und gebildet ist er auch.« »Wenn er ein Gentleman ist, was macht er dann hier draußen? Das ist keine Gegend für einen Gentleman. In den ganzen zwei bis drei Jahren, die er jetzt hier ist, hat er nicht einen Handstreich getan. Die ganze Zeit spaziert er in den Hügeln herum.«
»Er ist Geologe, oder zumindest interessiert er sich dafür; so eine Art Hobby von ihm. Er sucht Fossilien, hat er mir gesagt«, erwiderte der Sheriff. Adams nahm die Haltung eines Hundes an, der soeben ein Kaninchen erspäht hat. »So, das ist es also. Ich wette, es sind nicht Fossilien, die er sucht.« »Nicht?« »Nein, er sucht nach Erz. Er ist ein Prospektor. Diese Hügel stecken voll Erz. Du mußt nur wissen, wo du es suchen mußt.« »Du suchst ja selbst schon ziemlich lange.« »Ich bin kein Geologe. Ein Geologe ist da gewaltig im Vorteil. Er kennt das Gestein.« »Es sieht aber nicht so aus, als würde er Erz suchen. Er ist rein an der Geologie interessiert. Er hat ein paar versteinerte Muscheln gefunden.« »Vielleicht sucht er nach vergrabenen Schätzen. Er könnte ja eine alte Zeichnung haben.« »Du weißt verdammt genau, daß es hier keine Schatzhöhlen gibt.« »Es müssen aber welche da sein. Hier waren doch vorher die Spanier und Franzosen. Die haben überall nach Gold- und Silberminen gesucht. Und meistens haben sie ihre Schätze in Höhlen versteckt. Da ist doch diese Höhle überm Fluß drüben, in der man das Skelett eines Mannes in spanischer Rüstung gefunden hat und daneben das eines Bären mit einem rostigen Schwert in der Brust.« »Das war doch ein Märchen. Irgendein Narr hat dieses Gerede aufgebracht, und es war überhaupt nichts dahinter. Waren sogar mal Leute von der Universität hier und haben nachgeforscht. Kein Wort ist daran wahr gewesen.« »Aber Daniels stochert immer in den Höhlen herum. Ich habe ihn doch selbst gesehen. Die meiste Zeit ist er oben am
Katzenloch. Man muß einen Baum hinaufklettern, um dorthin zu kommen.« »Hast du ihn dabei beobachtet?« »Natürlich habe ich ihn dabei beobachtet. Er ist hinter etwas her. Ich möchte nur wissen, was das ist.« »Ich würde mich an deiner Stelle nicht von ihm erwischen lassen.« Adams beschloß, das Thema lieber fallenzulassen. »Na ja, wenn es hier auch keine Schatzhöhlen gibt, so gibt es doch immerhin eine Menge Blei und Zink. Der Mann, der das findet, wird Millionen machen.« »Wenn er jemand findet, der ihm das nötige Kapital vorstreckt.« Adams fuhr mit seinem Absatz durch den Kies. »Du glaubst also, er ist in Ordnung?« »Er hat mir gesagt, ein paar seiner Hühner hätte der Fuchs geholt. Sieht verdammt so aus, als ob es den deinen nicht anders gegangen wäre.« »Wenn es ein Fuchs war, warum erschießt er ihn dann nicht?« »Er regt sich deswegen nicht auf. Er nimmt wohl an, ein Fuchs hätte nun mal das Recht dazu. Außerdem hat er kein Gewehr.« »Gut, wenn er schon kein Gewehr hat und sich nichts aus der Jagd macht, warum läßt er dann die anderen nicht jagen? Er läßt mich und meine Jungens mit den Gewehren nicht auf sein Land. Er hat alles abgezäunt. Das halte ich nicht für sehr nachbarlich. Mit dem alten Arnos kam man ja wirklich nicht gut aus, aber er hatte nichts dagegen, daß wir auf seinem Land jagten. Wir haben immer schon hier gejagt, und keiner hat etwas dagegen gehabt. Die Jagd sollte überhaupt frei sein. Ein Mann sollte das Recht haben, zu jagen, wann und wo er Lust dazu hat.«
Der Sheriff saß auf der Bank vor dem halbzerfallenen Farmhaus und sah an Adams vorbei auf den hartgetretenen Boden des Farmhofs. Ein paar Hühner scharrten lustlos im Staub herum, im Schatten schlief ein magerer Hund; sein Fell zuckte ab und zu, und ein paar aufgescheuchte Fliegen summten in der Luft. Ein Strick war zwischen zwei Bäumen gespannt, vollgeklammert mit trocknender Wäsche. An die Hauswand gelehnt standen ein Waschzuber und ein Waschbrett. Himmel, dachte er, der Mann sollte doch fähig sein und sich die Zeit nehmen, eine anständige Wäscheleine anzubringen, und nicht einen ausgefransten Strick zwischen zwei Bäumen. »Ben«, sagte er, »du suchst ganz einfach Streit. Du hast etwas gegen Daniels, der auf einer Farm lebt, die er nicht bewirtschaftet, und du bist sauer, weil er euch nicht auf seinem Land jagen läßt. Er hat das Recht, überall zu leben, wo es ihm paßt, – und er hat das Recht, euch nicht auf seinem Land jagen zu lassen. Wenn ich du wäre, würde ich ihn in Ruhe lassen. Du brauchst ihn nicht zu mögen, du brauchst mit ihm nichts zu tun haben – aber lauf nicht herum und erzähl Lügen über den Mann. Er könnte dich dafür vors Gericht bringen.«
II Er hatte damals den Paläontologen in seinem Büro aufgesucht. Er hatte ihn zuerst gar nicht gesehen, so versteckt war er hinter seinem Schreibtisch, auf dem sich Papierstöße und Bücher in hohen Stapeln türmten. Der ganze Raum war damit vollgestopft. Auf langen Tischen lagen Gesteinsproben, Fossilien und dazwischen immer wieder Stapel von Papier. Das Büro war ziemlich groß, aber schlecht beleuchtet. Ein stickiger, deprimierender Ort.
»Doktor? Sind Sie Dr. Thorne?« Der Mann legte eine Pfeife in einen überfüllten Aschenbecher und stand auf. Er war groß und muskulös und hatte graues Haar, das ihm in einer wilden Mähne vom Kopf stand. Sein Gesicht war faltig und vom Wetter gegerbt. Wenn er ging, ließ er die Füße schleifen wie ein Bär. »Sie müssen Daniels sein«, rief er. »Natürlich, das sieht man. In meinem Terminkalender stehen Sie für drei Uhr. Es freut mich, daß Sie gekommen sind.« Daniels Hand verschwand fast in seiner Pranke. Er wies auf einen Sessel neben dem Schreibtisch. Dann setzte er sich selbst, nahm seine Pfeife wieder und fing an, sie aus einem mächtigen Tabaktopf, der auch noch auf dem Tisch Platz gefunden hatte, zu stopfen. »In Ihrem Brief stand, daß Sie mich in einer wichtigen Sache sprechen wollten. Aber das sagen sie ja fast alle. Irgend etwas war in Ihrem Brief – etwas Drängendes, eine Aufrichtigkeit. Ich habe nämlich nicht so viel Zeit, daß ich jeden persönlich empfangen kann, der mir schreibt, müssen Sie wissen. Alle haben sie irgend etwas gefunden oder ausgegraben. Also, Mr. Daniels, was ist es in Ihrem Fall?« »Doktor, ich weiß nicht recht, wie ich damit anfangen soll. Am besten erzähle ich Ihnen erst einmal, was mit meinem Gehirn geschehen ist.« Thorne zündete sich seine Pfeife an und antwortete undeutlich aus gewaltigen Qualmwolken. »In diesem Fall sind Sie vielleicht bei mir an der falschen Stelle. Es gibt da andere…« »Nein, nein, das meine ich nicht. Ich suche keine Hilfe. Physisch und geistig bin ich völlig in Ordnung. Vor ungefähr fünf Jahren hatte ich auf der Autobahn einen Unfall. Meine Frau und meine Tochter wurden getötet, ich selbst schwer verletzt…«
»Das tut mir leid, Mr. Daniels.« »Danke – aber das gehört alles der Vergangenheit an. Eine Zeitlang ging es mir sehr schlecht, aber irgendwie kam ich durch. Wie gesagt, deswegen bin ich aber nicht hier. Ich erzählte Ihnen schon, daß ich schwer verletzt wurde…« »Irgendein Schaden am Gehirn?« »Geringfügig ja, wenigstens dem medizinischen Befund nach. Eine geringfügige Verletzung, die sehr schnell zu heilen schien. Das Schlimmste waren der eingedrückte Brustkorb und die Verletzungen der Lunge.« »Aber jetzt sind Sie doch wieder in Ordnung?« »So gut wie neu. Aber seit dem Unfall arbeitet mein Gehirn anders. So, als ob ich ganz neue Sinnesorgane hätte. Ich sehe und begreife Dinge, die unmöglich erscheinen.« »Sie meinen, Sie haben Halluzinationen?« »Nein, eben keine Halluzinationen, da bin ich ganz sicher. – Aber ich kann die Vergangenheit sehen.« »Wie meinen Sie das – die Vergangenheit sehen?« fragte Thorne erstaunt. »Lassen Sie mich versuchen, Ihnen zu erklären, wie es angefangen hat. Vor einigen Jahren kaufte ich eine verlassene Farm im Südwesten von Wisconsin. Ein Plätzchen, an dem ich zurückgezogen leben und mich bis zu meiner völligen Genesung verstecken konnte. Nachdem meine Frau und meine Tochter tot waren, dachte ich, ich müßte mich vor der Welt zurückziehen. Als ich den ersten Schock überwunden hatte, brauchte ich einen Platz, wo ich ungestört meine Wunden lecken konnte. Das hört sich zwar an, als würde ich mich bemitleiden, – aber so habe ich es nicht gemeint. Ich versuche nur, so genau wie möglich festzustellen, warum ich mich so verhielt, warum ich die Farm kaufte.« »Ja, ich verstehe. Ich bin mir allerdings gar nicht so sicher, ob das Verstecken in Ihrem Fall das Vernünftigste war.«
»Vielleicht haben Sie recht, aber mir schien es damals der beste Weg zu sein. Und es hat ja auch zum Guten gewirkt. Ich habe mich in diese Landschaft verliebt. Dieser Teil Wisconsins ist ja uraltes Land. Seit vierhundert Millionen Jahren von keinem Ozean mehr berührt, aus irgendeinem Grund auch von den Eismassen des Pleistozän verschont, – natürlich hat es sich auch verändert, aber nur durch Witterungseinflüsse. Es hat keine großen geologischen Umwälzungen in der Gegend gegeben, keine starke Erosion – nichts, was es wesentlich verändert hätte.« »Mr. Daniels«, sagte Thorne etwas gereizt, »ich sehe nicht ein, was das mit Ihnen zu tun hat…« »Das tut mir leid, aber ich wollte nur eine Art Hintergrund schaffen für das, was ich Ihnen erzählen will. – Zuerst ist es sehr langsam gekommen, und ich dachte, ich würde verrückt, ich hätte Visionen, dachte, daß mein Hirn doch mehr Schaden genommen hätte als allgemein angenommen, – oder daß es mit mir vollkommen zu Ende ginge. Ich bin dann viel in den Hügeln herumgelaufen, verstehen Sie. Das Land ist wild und zerrissen – aber schön. Dort ist man draußen ganz gut aufgehoben. Das Gehen machte mich müde, und ich konnte nachts wieder schlafen. Aber manchmal veränderten sich die Hügel. Zuerst nur wenig, aber dann wurde ein Land daraus, das ich noch nie gesehen hatte, das noch niemand gesehen hatte.« Thorne runzelte die Stirn und sagte: »Sie wollen damit sagen, daß das Land sich in die Vergangenheit zurückverwandelt hätte?« Daniels nickte. »Eine ganz fremdartige Vegetation, seltsam aussehende Bäume. Überhaupt kein Gras natürlich, in den noch älteren Zeiten. Eine Art Unterholz aus Farnen und Lianen, und seltsame Tiere, seltsame Dinge am Himmel, Säbelzahntiger, Mastodons, Pterosaurier und…«
»Alle zur selben Zeit?« unterbrach ihn Thorne. »Alle so durcheinandergemischt wie Sie es eben erzählten?« »Ganz und gar nicht. Die Epochen, die ich jeweils sehe, sind in sich völlig stimmig. Nichts ist am falschen Platz. Zuerst wußte ich es natürlich nicht, aber als ich mich überzeugt hatte, daß es keine Halluzinationen waren, ließ ich mir Bücher kommen. Ich habe sie genau studiert. Ich werde natürlich nie ein richtiger Fachmann werden – ein Geologe, oder ein Paläontologe, aber ich lernte soviel, daß ich die einzelnen Perioden voneinander unterscheiden konnte. Daß ich wenigstens einen Begriff von dem hatte, was ich da vor mir sah.« Thorne nahm die Pfeife aus dem Mund und drückte sie wieder in den Aschenbecher. Er fuhr sich mit seiner schweren Hand nervös durch die Haare. »Es ist unglaublich«, sagte er. »Es kann einfach nicht wahr sein. Und Sie sagten, das sei alles ganz langsam gekommen?« »Ja. Anfangs war es wie ein Dunstschleier. Die Vergangenheit legte sich wie ein Nebel über die Gegenwart, dann wurde die Gegenwart langsam undeutlich und verschwand, und die Vergangenheit stand real und greifbar da. Jetzt ist es etwas anders. Manchmal gibt es noch ein kurzes Zögern, bevor die Gegenwart der Vergangenheit weicht, aber im allgemeinen vollzieht sich der Wechsel so schnell wie wenn jemand mit den Fingern schnalzte. Rings um mich ist Vergangenheit. Nicht die geringste Spur von Gegenwart ist übriggeblieben.« »Aber Sie sind doch nicht wirklich in der Vergangenheit, physisch meine ich.« »Es gibt Zeiten, da ist es ganz anders, da stehe ich in der Gegenwart, und nur die Hügel in der Ferne und das Flußtal verändern sich. Aber meistens ist es schon so, daß sich alles um mich herum verändert, und das Komische ist, wie Sie
schon gesagt haben, daß ich nicht wirklich da bin. Ich kann es zwar sehen und es erscheint mir wirklich genug, daß ich darin herumgehen kann. Ich kann über einen Baumstamm klettern, meine Hand darauf legen und fühlen, daß der Baum da ist. Aber ich scheine überhaupt keine Spuren in der Vergangenheit zu hinterlassen. Es ist, als wäre ich gar nicht da. Ich habe mich bis auf ein paar Meter an Dinosaurier herangepirscht, aber sie sahen mich nicht, sie hörten mich nicht und sie hatten offenbar auch keine Witterung von mir, denn wenn sie sie gehabt hätten, wäre ich vielleicht schon längst tot. Es ist, als ob ich durch die Leinwand in einen dreidimensionalen Film hineinginge. Zuerst habe ich mir Sorgen gemacht über die veränderte Bodenbeschaffenheit. Ich wachte aus Alpträumen auf; ich träumte, ich wäre in der Vergangenheit gewesen und käme nun nicht mehr zurück, weil ich bis zu den Hüften in Treibsand oder in einem Sumpf steckte, den die Erosion bis heute längst ausgetrocknet hat. Aber es war alles ganz anders. Ich befinde mich eben noch in der Gegenwart und im nächsten Augenblick bin ich in der Vergangenheit, – als ob ich eine Türschwelle überschreiten würde. Ich sagte Ihnen schon, es ist nicht wirklich so, als ob ich tatsächlich in der Vergangenheit wäre, aber in der Gegenwart bin ich genauso wenig. Ich versuchte irgendeinen Beweis zu erhalten. Ich nahm einen Photoapparat mit und machte eine Menge Aufnahmen. Als der Film entwickelt war, war nichts darauf zu sehen, weder die Vergangenheit noch – was noch viel merkwürdiger ist – die Gegenwart. Wenn ich an Halluzinationen gelitten hätte, dann hätte die Kamera doch mindestens Bilder der mir vertrauten Gegenwart liefern müssen, aber offenbar war überhaupt nichts da, was sie hätte aufnehmen können. Ich dachte, der Apparat hätte einen Fehler, oder es wäre ein defekter Film gewesen, aber ich habe noch andere Kameras ausprobiert, und die verschiedensten Filme, alles mit demselben Ergebnis: ich
erhielt keine Bilder. Ich versuchte irgend etwas zurückzubringen. Ich pflückte Blumen, wenn welche da waren. Es machte mir überhaupt keine Schwierigkeiten, sie zu pflücken, aber als ich wieder in der Gegenwart war, stand ich mit leeren Händen da. Ich versuchte es mit anderen Dingen. Ich dachte, vielleicht weil es lebendige, organische Dinge waren, konnte es nicht gelingen. Also versuchte ich es mit anorganischen Dingen, Gesteine, aber auch das mißlang.« »Haben Sie es mit einem Skizzenbuch versucht?« »Ich hatte auch schon daran gedacht, aber ich habe nie eins benutzt. Ich bin kein guter Zeichner, wissen Sie. Und ich konnte mir schon vorstellen, was dabei herauskommen würde. Ich würde lauter weißes Papier mit nach Hause bringen.« »Aber Sie haben es nie versucht.« »Nein, das stimmt, noch nie. Ab und zu mache ich aber Skizzen, wenn ich wieder in der Gegenwart bin, aus der Erinnerung. Aber ich bin eben kein guter Zeichner.« »Ich weiß nicht«, sagte Thorne. »Ich weiß wirklich nicht. Das klingt alles so unglaubhaft, aber wenn wirklich etwas dran sein sollte… Sagen Sie, haben Sie sich jemals gefürchtet? Sie scheinen jetzt ganz ruhig und gefaßt zu sein, aber als Ihnen das zum ersten Mal passierte, waren Sie doch sicher furchtbar erschrocken.« »Erschrocken? Ich war wie versteinert. Nicht nur, daß ich physische Angst hatte, Angst um mein Leben, Angst, ich könnte nie mehr aus dieser Wildnis zurück, – ich hatte auch Angst, ich wäre verrückt geworden. Und da war noch die Einsamkeit.« »Wie meinen Sie das – die Einsamkeit?« »Vielleicht ist das nicht das richtige Wort. Ich gehörte da einfach nicht hin, ich hatte kein Recht, dort zu sein. Ich war in einer Zeit, in der der Mensch noch nicht aufgetaucht war, erst nach Millionen Jahren auftauchen würde. In einer Welt, die so
vollkommen fremd war, daß ich mich am liebsten auf die Erde gekauert und nur noch gezittert hätte, denn ich war der Fremdling, war wie ein Einbrecher. Ab und zu habe ich dieses Gefühl heute noch. Aber jetzt ist es mir inzwischen vertraut, und ich bin besser dagegen gewappnet. In der Luft und in der Sonne jener anderen Zeit bin ich der Fremdling – alles Einbildung natürlich.« »Nicht unbedingt«, sagte Thorne. »Aber meine größte Angst ist, Gott sei Dank, verschwunden. Völlig verschwunden. Die Angst, ich wäre verrückt. Ich weiß jetzt, daß ich es nicht bin.« »Und was hat sie davon überzeugt? Wie kann ein Mensch darüber selbst Gewißheit erlangen?« »Es sind die Tiere, die Lebewesen, die ich sehe…« »Sie meinen, Sie erkennen sie nach den Illustrationen in den Büchern wieder?« »Nein, so nicht, im Gegenteil. Natürlich haben mir die Bilder sehr geholfen, aber in Wirklichkeit ist es anders. Nicht die Ähnlichkeit, sondern die Verschiedenheit ist es. Keines der Lebewesen sieht exakt so aus, wie sie in den Büchern gezeichnet sind. Manche sehen sogar völlig anders aus, nicht so, wie sie die Paläontologen rekonstruiert haben. Wenn sie so ausgesehen hätten, hätte ich ja immer noch denken können, ich litte an Halluzinationen und das, was ich sah, sei nichts weiter als eine Projektion dessen, was ich in den Büchern gesehen hatte. Meine Phantasie würde sich aus vorhandenem Wissen nähren, aber da das nicht der Fall war, schien es logisch, anzunehmen, daß das, was ich sah, wirklich war, denn wie hätte ich mir vorstellen können, daß der Tyrannosaurier am Hals einen Hautsack hat, der in allen Farben des Regenbogens leuchtet? Daß die Säbelzahntiger an ihren Ohren Haarbüschel wie die Luchse haben? Oder wie hätte irgend jemand darauf
kommen können, daß die Riesentiere des Eozän in Wirklichkeit gefleckt waren wie Giraffen?« »Mr. Daniels, ich habe sehr große Vorbehalte gegen alles, was Sie mir da erzählen. Jede Fiber meines trainierten Verstandes sträubt sich dagegen. Ich habe das Gefühl, daß ich meine Zeit nicht länger vergeuden sollte. Aber genauso unzweifelhaft glauben Sie, was Sie mir erzählen. Und Sie machen einen ehrlichen Eindruck. Haben Sie schon mit anderen Menschen darüber gesprochen? Mit einem anderen Paläontologen oder Geologen? Oder vielleicht mit einem – Psychiater?« »Nein, Sie sind der erste. Und ich habe Ihnen noch längst nicht alles erzählt. Das ist gewissermaßen nur der Hintergrund.« »Was soll das heißen: nur der Hintergrund?« »Ja, nur der Hintergrund. Denn, sehen Sie, ich höre auch die Sterne sprechen.« Thorne erhob sich langsam aus seinem Sessel und fing an, einen Stapel Papiere zu ordnen. Er nahm die Pfeife wieder aus dem Aschenbecher und steckte sie entschlossen in den Mund. Mit einer gänzlich unbeteiligten Stimme sagte er nur noch: »Ich danke Ihnen, daß Sie mich aufgesucht haben. Es war ein äußerst interessantes Gespräch.«
III Und das war der Fehler, den er begangen hatte, warf sich Daniels zum soundsovielten Mal vor. Er hätte niemals das mit den Sternen erwähnen dürfen. Bis dahin war nämlich alles ganz gut gelaufen. Thorne hatte ihm zwar nicht geglaubt, aber sein Interesse hatte er geweckt. Er hätte weiter zugehört und
wäre der Sache vielleicht nachgegangen. Natürlich nicht offiziell, und mit größter Vorsicht. Das Verhängnis war – das wußte Daniels – sein ausschließliches Interesse für diese Kreatur unter dem Felsen. Die Vergangenheit war ja nichts im Vergleich dazu, wichtig war das Wesen im Fels; und um es zu erklären, und wie er überhaupt dazu kam, davon zu wissen, mußte er sagen, wie er dem Flüstern der Sterne lauschte. Er hätte es besser wissen müssen, sagte er sich. Er hätte den Mund halten sollen. Aber da war ein Mann gewesen, der, obwohl er zweifelte, doch gewillt war, zuzuhören, und ihn nicht auslachte. Und in seiner Dankbarkeit hatte Daniels zuviel geredet. Das Licht der Öllampe auf dem Küchentisch flackerte im Luftzug durch die Ritzen der schlecht schließenden Fenster. Als er mit seiner täglichen Arbeit fertig gewesen war, war Wind aufgekommen, der jetzt mit kräftigen Stößen ums Haus fuhr und Türen und Fenster erbeben ließ. Von der anderen Seite des Raums her warf das Holzfeuer im Küchenherd ein freundlich flackerndes Licht über Boden und Wände, im Rhythmus der gurgelnden, saugenden Geräusche des Windes im Schornstein. Thorne hatte am Schluß erwähnt, er solle einen Psychiater aufsuchen, erinnerte sich Daniels. Vielleicht war das die richtige Instanz, an die er sich wenden sollte. Oder wäre es noch besser, selbst herauszufinden, warum er das alles sehen und hören konnte, bevor er sich an jemand wandte? Aber ein Mann, der die Funktion des Gehirns studiert hatte, könnte ihm vielleicht einige aufschlußreiche Antworten geben. – Wenn es überhaupt welche gab. Hatte dieser Schlag sein Gehirn so verändert, daß er nun über neue Fähigkeiten verfügte? Oder war es möglich, daß sein Denkvermögen, sein Sensorium so aufgebrochen, so
durcheinander gebracht worden war, daß verborgene Talente an die Oberfläche kamen, die innerhalb der Menschheit sich erst in einer Tausende von Jahren dauernden Evolution entwickeln sollten? Hatte dieser Gehirnschaden vielleicht die Evolution kurz geschlossen und ihm damit Fähigkeiten verliehen, Millionen Jahre vor der Zeit? Es schien nicht gerade logisch – aber immerhin eine mögliche Erklärung. Ein Fachmann würde vielleicht dafür eine andere finden. Er schob den Sessel vom Tisch zurück und ging zum Herd hinüber. Mit einem Haken hob er den Eisendeckel des alten wackligen Küchenherds hoch. Das Holz war zu schwach glühender Holzkohle verbrannt. Er stocherte darin herum und legte Holz nach. An einem der nächsten Tage, sagte er sich, würde er sich mal den Ofen vornehmen. Dann ging er auf die Veranda und sah zu den Hügeln hinüber. Der Wind wehte in heftigen Böen aus dem Norden. Er strich heulend um die Hausecken und stöhnte tief auf in den Senken, wo es zum Fluß hinunterging. Aber der Himmel war sternenklar, leergefegt vom Wind, das Licht der Sterne zitterte in der unruhigen Atmosphäre. Er sah zu den Sternen hinauf – was sie wohl sagten, aber er versuchte nicht hinzuhören. Es kostete viel Mühe und Konzentration ihnen zuzuhören. Das erste Mal hatte er ihnen zugehört, es war eine Nacht wie diese gewesen, er stand auf der Veranda und fragte sich, was sie wohl sagten, ob sie sich wohl miteinander unterhielten. Ein verrückter, ein flüchtiger Gedanke, eine absurde Vorstellung, aber da sie ihn schon überkommen hatte, versuchte er auch zu hören. Er wußte, es war verrückt, aber so verrückt, daß es schon wieder seinen eigenen Reiz hatte, und er sagte sich, daß er so glücklich war, sich den Luxus leisten zu können, zu glauben, daß die Sterne redeten, – so wie die Kinder an den Weihnachtsmann und an
den Osterhasen glaubten. Er lauschte, und er hörte etwas, und noch während sein Erstaunen wuchs, gab es keinen Zweifel mehr, keinen Zweifel, daß dort draußen Wesen miteinander redeten. Es war ihm, als hörte er aus größerer Entfernung einer Partygesellschaft zu, einer Partygesellschaft allerdings, die ihre Unterhaltung über Millionen oder Milliarden von Lichtjahren führte. Natürlich nicht direkt Worte, aber etwas (Gedanken vielleicht) was genauso bildhaft war. Es war nicht alles verständlich – sogar ziemlich viel davon nicht – vielleicht, weil seine Bildung und sein Wissen nicht ausreichten. Er kam sich vor wie ein australischer Eingeborener, der zwei Atomphysikern zuhörte, die eine neue Theorie diskutierten. Und nicht lange danach, als er die kleine Höhe am Katzenloch untersuchte, bemerkte er zum ersten Mal das Wesen, das unter dem Felsen verschüttet lag. Er dachte, daß er vielleicht, wenn er nicht den Sternen zugehört, wenn er nicht gewußt hätte, daß er den Sternen zuhören konnte, wenn er nicht schon darin geübt gewesen wäre, das Wesen, das tief unter dem Kalkfelsen lag, nie vernommen hätte. Er stand da und hörte dem Wind zu. Er sah die Sterne an, und weit überm Fluß, auf der Straße, die sich durch eine Hügelkette zum Horizont wand, bemerkte er einen schwachen, flüchtigen Schimmer; ein Auto vielleicht, das sich seinen Weg durch die Nacht suchte. Der Wind hatte für einen Augenblick nachgelassen, als ob er Atem holen wollte, und in diesem kleinen Intervall hörte er ein Geräusch, als ob eine Axt in einen Baum geschlagen würde. Er hörte genauer hin, und das Geräusch kam wieder, aber vom Wind so zerrissen, daß er die Richtung nicht genau feststellen konnte. Er mußte sich getäuscht haben, dachte er. Nicht einmal ein Narr würde in dieser Nacht hinausgehen und Bäume fällen. Vielleicht waren es Jäger, auf Waschbärenjagd. Manchmal schlugen die einen Baum um, wenn sie ein zu gut getarntes
Versteck vermuteten. Diese Art von Jagd war zwar typisch für Ben Adams, und wahrscheinlich auch für seine schlaksigen, hochaufgeschossenen Söhne, aber es war eigentlich auch nicht die richtige Nacht, um auf Waschbärenjagd zu gehen. Der Wind würde jeden Geruch auslöschen, und die Hunde würden keine Spur aufnehmen können. Und es würde auch keiner so verrückt sein, bei diesem Wind einen Baum zu schlagen, wo leicht ein Windstoß sich in der Krone verfangen und ihn auf die Jäger werfen konnte. Er horchte, aber das Geräusch war nicht mehr zu vernehmen. Der Wind hatte wieder zu heulen angefangen, noch stärker als zuvor, und es war unmöglich, in diesem Fauchen und Winseln ein anderes Geräusch zu hören. Der nächste Morgen zog weich und grau herauf, und vom Wind war nicht mehr geblieben als ein Flüstern. Einmal war Daniels in der Nacht aufgewacht und hatte ihn an den Fensterläden rütteln gehört, wie unter seinen Schlägen das Haus stöhnte, und wie er über den Windbrüchen am Fluß laut aufheulte. Als er dann das zweite Mal erwachte, war alles still, und vor den Fenstern lag ein dämmriges graues Licht. Er zog sich an und ging nach draußen. Das Land lag in tiefem Frieden vor ihm, die Wolkendecke hing tief und war so dicht, daß man den Stand der Sonne nicht erkennen konnte. Die Luft war frisch, wie gewaschen, aber schwer von der Feuchtigkeit, die über dem ganzen Land lag. Das Herbstlaub der Bäume auf den dicht bewaldeten Hügeln leuchtete noch intensiver und reiner als an Tagen, wenn die warmen Strahlen der Herbstsonne darauf fiel. Als er seine Arbeit getan und gefrühstückt hatte, machte er sich auf den Weg in die Hügel. Er ging gerade den Abhang hinunter in Richtung einer Bodensenke, als er sich bei dem Gedanken ertappte, daß es ihm nur recht wäre, wenn heute der Vorhang vor dem Schauspiel der Erdgeschichte geschlossen
bliebe. Das Spektakel fand beileibe nicht jeden Tag statt; und es gab eigentlich keinen Grund dafür – und keinen dagegen, warum es nicht so sein sollte. Zeitweise hatte er versucht, den Grund dafür herauszufinden. Er hatte sich alles sorgfältig notiert, wie er sich vorher jeweils gefühlt hatte, was er getan hatte, ja sogar welchen Weg er eingeschlagen hatte; aber er konnte darin keine Zusammenhänge erkennen. Der Anlaß, der diese neue Fähigkeit jeweils in ihm auslöste, mußte in seinem Gehirn selbst liegen. Aber das Phänomen war ebenso zufällig wie unfreiwillig. Er hatte überhaupt keine Kontrolle darüber – wenigstens keine bewußte. Manchmal hatte er es versucht, das Spektakel irgendwie herbeizuführen, es war jedes Mal mißglückt. Entweder wußte er nicht, wie er es anstellen mußte, oder es war tatsächlich reiner Zufall. Heute jedenfalls hoffte er, daß sein spezielles Talent nicht mit ihm durchging, denn er wollte in den Hügeln spazieren gehen. So wie sie heute waren, gefielen sie ihm am besten, sanft, melancholisch, ihre ganze Rauheit wurde durch das graue Licht gemildert, die Bäume standen ruhig da, wie alte treue Freunde, die einen erwarteten, der feuchte, modrige Waldboden dämpfte jeden Schritt. Er ging bis an den Rand der Senke und setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm neben einer Quelle, die ihr Wasser durch eine mit Felsbrocken übersäte Bachrinne ins Tal schickte. Im Mai blühten hier Dotterblumen, und die sanften Hänge hinauf zogen sich pastellfarbene Teppiche von Leberblümchen. Aber jetzt sah er – nichts von alledem. Der Boden war mit Ästen und Zweigen bedeckt. Die Sommer- und Herbstblumen waren schon verblüht, oder sie waren gerade am Verblühen, und die abgefallenen Blätter sammelten sich schon zu einer wärmenden Decke gegen Eis und Schnee. Daniels dachte, hier berührten ihn die Geister der Jahreszeiten von Millionen Jahren. Doch es war nicht immer
so gewesen. Viele Millionen Jahre hindurch, weit in der Vergangenheit, brütete über diesen Hügeln ein ewiger Sommer. Und vor noch nicht zehntausend Jahren baute sich nördlich dieser Hügel eine kilometerhohe Eisbarriere auf. Jemand, der dort gestanden hätte, wo jetzt sein Haus stand, hätte in der Ferne eine blauschimmernde Linie gesehen – den oberen Rand des Gletscherabbruchs. Aber selbst damals, als die Durchschnittstemperaturen viel niedriger waren, hatte es hier schon Jahreszeiten gegeben. Daniels stand von seinem Baumstamm auf und ging die Senke hinunter. Er folgte einem schmalen Pfad, der sich an den Abhang des Hügels schmiegte. Weidende Kühe hatten ihn vor langer Zeit ausgetreten, als es noch mehr Kühe auf dieser Weide gab, als nur die zwei von Daniels. Jedesmal, wenn er diesen Pfad beschritt, bewunderte er die geniale Ökonomie dieser Tiere, mit der sie seinen Verlauf bestimmt hatten wie Straßenbauingenieure. Kurz hinter einer hohen weißen Eiche, um die der Pfad eine Krümmung machte, blieb er stehen, um die riesige dreiblättrige Zeichenwurz anzuschauen. Schon jahrelang beobachtete er sie. Ihre grün-purpurne Haube war längst verwelkt, nur der scharlachrote Fruchtstamm war noch da. In den harten Monaten, die jetzt kamen, ein Fressen für die Vögel. Er ging den Pfad weiter, er führte immer tiefer zwischen die Hügel hinein. Die Stille wurde noch größer, das Grau noch dichter, – bald glaubte er, in einer abgeschlossenen Welt zu sein. Dort über dem Bachbett lag die Höhle. Unterhalb einer verkrüppelten und gewundenen Zeder gähnte eine gelbe Öffnung. Dort hatte er im Frühjahr junge Füchse beim Spielen beobachtet. Weiter unten, im Flußtal, war ein kleiner Teich. Von dort her klang das Gequake von Enten herauf. Und über ihm, in einem steilen Felsvorsprung, war undeutlich das
Katzenloch zu erkennen. Die langsam mahlenden Kräfte des Windes und der Wetterwechsel hatten die Höhle in den nackten Fels geschliffen. Aber irgend etwas stimmte heute nicht. Er stand auf dem Pfad und sah nach oben. Sein Gefühl sagte ihm, daß etwas nicht wie sonst war, aber er konnte nicht sagen, was es war. Die Felswand erschien ihm größer, irgend etwas fehlte. Der Baum war nicht mehr da! Der Baum, über den jahrelang die Wildkatzen in ihre Höhle gelangt waren, über den sie ihre nächtliche Beute hinauf zu ihren Jungen gezerrt hatten und über den später Menschen gestiegen waren, die die Höhle erkunden wollten. Natürlich gab es keine Wildkatzen mehr – schon seit vielen Jahren nicht. In den Pioniertagen waren sie fast ausgerottet worden, weil sie die üble Angewohnheit hatten, ab und zu ein Lamm zu reißen. Jeder, der sich aufmerksam in der Höhle umsah, konnte Spuren finden, die ihre einstigen Bewohner hinterlassen hatten. Die Höhle war nicht sehr tief, aber in kleinen Nischen und überdachten Simsen lagen überall noch Knochen, Schädelfragmente kleinerer Säugetiere, die Aufschluß gaben, welche Beutetiere die Katzen ihren Jungen mitgebracht hatten. Der Baum war sehr alt gewesen und knorrig, und er hatte vielleicht schon Hunderte von Jahren dort gestanden. Ihn umzuschlagen, wäre jedem vernünftigen Menschen sinnlos erschienen, denn das alte verwundene Holz hatte bestimmt keinen Nutzen, und den Baum von hier wegzubringen, war unmöglich. Aber in der vergangenen Nacht, als er auf der Veranda stand, hatte er doch so etwas wie Axtschläge gehört – und heute war der Baum weg. Er wollte es nicht glauben, und er kletterte den Abhang hinauf, so schnell er konnte. Stellenweise betrug die Steigung fast fünfundvierzig Grad, so daß er sich auf Händen und Knien hocharbeiten mußte. Er tat es aus einer scheinbar unlogischen
Angst heraus, die tiefere Gründe hatte als das Verschwinden eines Baums. Im Katzenloch nämlich konnte man die Kreatur hören, die unter dem Felsen eingeschlossen war. Er erinnerte sich genau an den Tag, an dem er zum ersten Mal die Kreatur gehört hatte und glaubte, seinen Sinnen nicht trauen zu dürfen. Er war sicher, daß es eine Ausgeburt seiner überhitzten Phantasie war, weil er manchmal unter Dinosauriern lebte und den Sternen lauschte. Als er zum erstenmal hier war, hatte er nichts bemerkt. Er kletterte den Baum hinauf zu der Höhle, die ein idealer Schlupfwinkel war. Er war dann öfters dorthin zurückgekehrt, und es hatte ihm immer ein fast kindliches Vergnügen bereitet, ein so unerwartetes Versteck gefunden zu haben. Er setzte sich meistens auf eine Felsplatte vor der Höhle und blickte über das dichte Gewölk der Baumwipfel unter ihm und manchmal auf den kleinen See in den Flußniederungen. Den Fluß selbst sah er nicht, dazu hätte er höher steigen müssen. Er liebte diese Höhle und die Felsplatte davor. Sie gab ihm das Gefühl der Abgeschiedenheit, es war ein Platz, der von der Welt abgetrennt schien und von dem aus er dennoch einen kleinen Winkel dieser Welt überblicken konnte, – ohne von ihr gesehen zu werden. Diese Tatsache hatte wahrscheinlich auch die Wildkatzen bewogen, sich hier einzunisten. Für sie bedeutete es ja nicht nur Abgeschiedenheit, sondern auch Sicherheit – besonders für ihre Jungen. Zur Höhle gab es nur den einen Weg – über den Baum. Zum erstenmal hatte er die Kreatur verspürt, als er am hintersten Ende der Höhle einen kleinen Haufen Knochen untersuchte, die Überbleibsel eines Festmahls der Wildkatzenbabies. Als er dort kauerte, wie vielleicht damals die Wildkatzenbabies auch, durchströmte von tief, tief unten, aus dem Fels kommend, ein Gefühl seinen Körper, als lebte
dort unten ein anderes Wesen. Nur, daß etwas Lebendiges da war, hatte er gefühlt, daß dort unten etwas war. Anfangs war er skeptisch gewesen, dann hatte er daran geglaubt. Mit der Zeit war aus dem Glauben Gewißheit geworden. Er hörte natürlich keine Worte, denn er hatte niemals auch nur den geringsten Laut vernommen. Aber das, was er verstanden hatte und was er wußte, kam aus dem Felsen und strömte durch seinen Körper, durch die Finger, die er auf dem Felsboden gespreizt hatte, durch die Knie, die sich auf den Boden preßten. Er nahm es auf, ohne es zu hören, und je mehr er davon aufnahm, desto mehr war er davon überzeugt, daß tief unten in irgendeiner Schicht des Kalkfelsens eine fremdartige Intelligenz in der Falle saß, gefangen war. Und schließlich kam die Zeit, wo er Fragmente von Gedanken registrierte – und damit hatte er die Gewißheit, daß dieses Bewußtsein, das wie eine Zyste im Fels eingeschlossen war, tatsächlich lebte. Aber was seine Sinne aufnahmen, konnte er nicht verstehen. Dieser völlige Mangel an Verständnis war auffallend. Wenn er etwas verstanden hätte, dann hätte er sich von seiner Entdeckung ein Bild machen können. Aber so wie die Dinge jetzt lagen, hatte er gar nicht das Wissen, das ihm möglicherweise als Sprungbrett zu einer bildhaften Vorstellung hätte dienen können. So empfing er Andeutungen einer komplizierten Lebensform, unter der er sich nichts vorstellen konnte. Es waren winzige, komplizierte Bruchstücke einer schockierenden und dennoch einfachen Information, die kein menschlicher Verstand verarbeiten konnte. Und er erfuhr etwas von Entfernungen, die so gewaltig waren, daß sein Geist darüber ins Taumeln geriet, und von der erbarmungslosen Leere, in welche diese Entfernungen projiziert wurden. Selbst wenn er den Sternen lauschte, hatte sich keine so erschreckende Vorstellung des Außerirdischen damit verbunden. Dann gab es andere Informationen, kleine Partikel,
bei denen er das undeutliche Gefühl hatte, sie paßten zum menschlichen Wissen. Aber es waren nie so viele, daß sie sich richtig einsortieren ließen. Der weitaus größte Teil dessen, was er fühlte, lag jedoch in einem Bereich, zu dem er keinen Zugang hatte, und wahrscheinlich nicht nur er, sondern alle Menschen. Aber dennoch nahm sein Geist es auf, behielt es in seiner ganzen Unbegreiflichkeit, und dort blieb es liegen, ein Fremdkörper inmitten seines menschlichen Denkens. Sie oder es, das wußte er genau, versuchten nicht mit ihm zu sprechen. Vielleicht wußten sie – oder es – gar nicht, daß es so etwas wie Menschen gab, geschweige denn, daß es ihn gab. Ob aber diese Kreatur (oder Kreaturen – er fand jedenfalls den Singular passender und verständlicher) nur vor sich hindachte, in ihrer Einsamkeit Selbstgespräche führte, oder mit jemand anderem Kontakt aufnehmen wollte, das konnte er nicht sagen. Er saß auf der Felsplatte vor der Höhle und dachte darüber nach. Er versuchte, sich seine Entdeckung logisch zu erklären, vor allem, wie er das Vorhandensein dieser Kreatur unter dem Fels am besten erklären konnte. Gewißheit würde er wohl nicht erlangen, dazu fehlte ihm jede Möglichkeit, aber er stellte sich vor, daß in irgendeinem längst vergangenen geologischen Zeitalter, als dieses Land mit Wasser bedeckt war, ein Raumschiff ins Meer stürzte und im Schlamm des Meeresbodens stecken blieb. In den folgenden Jahrtausenden war dieser Schlamm zu Kalkstein geworden, und das Schiff wurde darin eingeschlossen. Er sah, daß seine Überlegungen nicht ganz fehlerlos waren – zum Beispiel, der Druck, bei dem aus dem Schlamm Kalkstein wurde, hätte unweigerlich jedes Raumschiff zerdrückt – es sei denn, es wäre aus einem Material gewesen, von dem die menschliche Technologie keine Ahnung hatte. War es ein Unfall, fragte er sich, oder hatte sich jemand verbergen wollen? War es geplant oder waren sie gefangen?
Wie sollte er das jemals wissen, und weitere Spekulationen waren absurd, da auch sie nur auf unsicheren Annahmen fußen würden. Er kletterte weiter den Hügel hinauf und erreichte schließlich die Stelle, von der aus er sah, daß der Baum tatsächlich gefällt worden war. Er war hügelabwärts gefallen und noch etwa zehn Meter den Hang hinunter gerutscht, bevor er liegen geblieben war. Seine Äste hatten sich in denen anderer Bäume verfangen und seinen Sturz gebremst. Der Baumstumpf stand in seiner ganzen Nacktheit da, das helle Holz leuchtete im grauen Licht des Tages. In der Fallrichtung hatten sie eine tiefe Kerbe geschlagen, den Rest hatten sie mit der Säge erledigt. Häufchen von braunen Sägespänen lagen zu beiden Seiten des Stumpfs. Eine Zweimannsäge, stellte er fest. Hinter ihm fiel der Hügel steil ab, aber auf der anderen Seite des Baumstumpfs war eine eigenartige Aufschüttung. Wahrscheinlich war in früherer Zeit einmal ein großer Teil der Felswand weggebrochen und am Fuß des Hangs liegengeblieben. Mit der Zeit hatte sich aus dem nahen Wald Laub darübergelegt, das verwitterte, und ein paar Birken waren darauf gewachsen, deren weiße Stämme gegen den schwarzen Wald wie ein sich zusammendrängendes Häufchen Gespenster aussahen. Den Baum zu fällen, war im Grunde eine sinnlose Arbeit gewesen, sagte er sich wieder. Der Baum an sich war wertlos; er hatte nur den einen Zweck gehabt, daß man über ihn zur Höhle gelangen konnte. Hatte vielleicht jemand davon gewußt und ihn aus Böswilligkeit gefällt? Oder vielleicht hatte jemand etwas in der Höhle versteckt und dann den Baum gefällt, damit niemand mehr zur Höhle gelangte. Aber wer könnte ihm so übel gesonnen sein, daß er sich in einer sturmgepeitschten Nacht aufmachte, um beim Schein einer Windlaterne und unter Lebensgefahr den Baum zu
schlagen. Ben Adams vielleicht? Ben war natürlich sauer, weil Daniels ihn nicht auf seinem Grund jagen ließ. Aber das konnte doch nicht der Anlaß sein, daß jemand eine so mühselige Arbeit auf sich nahm, nur um ihm eines auszuwischen. Die andere Möglichkeit – daß etwas in der Höhle verborgen wurde, und daß man den Baum deswegen gefällt hatte – erschien wahrscheinlicher, obwohl die Tatsache, daß der Baum gefällt worden war, die Unauffälligkeit des Ortes entschieden beeinträchtigte. Daniels stand da und schüttelte verwirrt den Kopf. Dann überlegte er, wie er sich wohl Aufklärung verschaffen könnte. Es war noch früher Vormittag, und er hatte ja sonst nichts zu tun. Er machte sich auf den Weg zu seiner Farm, um ein paar Seile zu holen.
IV In der Höhle war nichts. Sie war genauso, wie sie immer gewesen war. Der Wind hatte ein paar Herbstblätter hereingeweht. Von dem überhängenden Felsen waren ein paar verwitterte Steinchen heruntergefallen, ein Hinweis auf die ewig nagenden Kräfte der Erosion, die einst diese Höhle geschaffen hatten und sie vielleicht in weiteren tausend Jahren wieder vernichten würden. Er stand auf der schmalen Felsplatte vor der Höhle und blickte über das Tal. Er war überrascht über den veränderten Ausblick, den er nun hatte, seitdem der Baum nicht mehr da war. Der Blickwinkel schien ihm ein anderer zu sein, und selbst der Hügel schien sich verändert zu haben. Überrascht betrachtete er den Abhang und stellte schließlich beruhigt fest,
daß ihm dieser neue Anblick nur ungewohnt war. Er sah auf einmal Bäume und Einzelheiten, die früher durch den Baum verdeckt worden waren. Sein Seil hing von der Felsnase, die zugleich das Dach der Höhle bildete, herunter. Es schaukelte leicht hin und her, und Daniels fiel auf, daß am Morgen kein Wind geweht hatte. Ein Westwind war ganz plötzlich aufgekommen. Unter ihm bogen sich die Baumwipfel. Er wandte den Kopf nach Westen und ließ sich den Wind ins Gesicht wehen. Er fühlte einen kühlen Schauer auf seiner Haut. Der Wind beunruhigte ihn, eine Art Urinstinkt schien ihn zu warnen, der noch aus jenen Tagen stammen mochte, als nackte, wild umherstreifende Horden von Urmenschen ihre Nasen in den Wind richteten, um das kommende Wetter zu riechen. Der Wind schien tatsächlich einen Wetterwechsel anzudeuten, und vielleicht wäre es das beste, wenn er wieder das Seil hinaufkletterte und zur Farm zurückging. Aber er empfand eine eigentümliche Abneigung, diesen Platz zu verlassen. Er erinnerte sich, daß es eigentlich immer schon so gewesen war. Hier fühlte er sich wie in einem natürlichen Versteck, vor dessen Schranken die Welt halt machte. Nur seine eigene kleine, unkomplizierte Welt hatte darin Platz. Ein Schwarm Enten stieg mit kräftigen Flügelschlägen von dem kleinen Teich auf, schoß pfeilschnell über die Baumwipfel dahin, schwang sich die Klippe hoch und bog elegant wieder zum Fluß zurück. Er folgte ihnen mit seinem Blick, bis sie hinter den Bäumen am Flußufer verschwunden waren. Es war Zeit, aufzubrechen. Es hatte keinen Sinn, noch länger zu warten. Er war ein Narr gewesen, anzunehmen, daß irgend etwas in der Höhle versteckt sein könnte. Er drehte sich um und griff nach dem Seil, – aber es war verschwunden.
Einen Augenblick starrte er verblüfft auf die Stelle, wo das Seil gehangen hatte. Dann fing er an zu suchen, obwohl es nicht viel zum Suchen gab. Das Seil hätte höchstens entlang der überhängenden Felswand etwas verrutschen können, aber niemals so weit, daß er es nicht mehr hätte sehen können. Das Seil war neu und fest, und er hatte es sicher um die Eiche gebunden, die auf dem Gipfel über der Felsnase wuchs. Er hatte die Schlingen eng um den Stamm gelegt und den Knoten genau überprüft. Der Knoten konnte sich unmöglich gelöst haben. Und trotzdem war das Seil fort. Hier mußte eine menschliche Hand im Spiel gewesen sein. Jemand war vorbeigekommen, hatte das Seil hängen sehen und es hinaufgezogen. Jetzt lag dieser Kerl vielleicht über ihm auf der Klippe und wartete auf seinen erschreckten Aufschrei. Das war genau die Art von Lausbubenstreich, den die meisten Menschen für einen genialen Witz halten. Was er selbst jetzt zu tun hatte, war natürlich, der ganzen Sache keine Aufmerksamkeit zu schenken. Er mußte warten, bis es dem Spaßvogel zu langweilig wurde. Also kauerte er sich an den Felsen und wartete. In zehn Minuten, höchstens eine Viertelstunde, würde die Geduld des Kerls erschöpft sein. Er würde das Seil wieder herunterlassen, dann könnte er hinaufklettern und nach Hause gehen. Vielleicht würde er ihn sogar noch zu einem Drink einladen, sie würden zusammen in der Küche sitzen und über die ganze Angelegenheit lachen. Kam ganz darauf an, wer der Witzbold war. Ihm fiel auf, daß er unwillkürlich seine Schultern etwas höher gezogen hatte, gegen den Wind, der jetzt schneidender, kälter geworden war. Er hatte nach Norden gedreht, und das verhieß nichts Gutes.
Auf seiner Jacke hatten sich kleine Tropfen gebildet – kein Regen, aber die Feuchtigkeit der Luft schlug sich allmählich nieder. Wenn die Temperatur noch weiter fiel, würde es schlimmes Wetter geben. Die Jacke fest um sich gezogen, hockte er da und wartete – auf irgendein Geräusch, ein Scharren von Füßen im Laub, auf das Knacken eines Astes, auf alles, was die Anwesenheit eines anderen Menschen verraten könnte. Aber er hörte kein Geräusch. Der Tag war wie unter Tüchern erstickt. Selbst die vom Wind bewegten Bäume unter ihm schüttelten ihre Äste ohne das gewohnte Ächzen und Knarren. Die Viertelstunde mußte schon längst vergangen sein, und noch immer war kein Laut von oben zu hören. Der Wind hatte an Stärke zugenommen, und als er den Kopf nach oben wandte, fühlte er, wie Nässe gegen seine Wange schlug. Er durfte nicht mehr länger warten, nur in der Hoffnung, daß dem Kerl der Spaß langweilig wurde. Ein wenig Angst überkam ihn, als er dachte, die Zeit könnte ihm davonlaufen. »He, dort oben!« rief er. Er wartete, aber niemand antwortete. Er rief wieder, dieses Mal lauter. Die überhängende Klippe über der Höhle hätte eigentlich ein Echo zurückwerfen müssen. Aber es war kein Echo zu hören, und auch seine Stimme kam ihm gedämpft vor. Fast schien es, als hätte diese verlassene Wildnis eine Art Mauer um ihn herum errichtet. Er rief nochmals, doch die treibenden Nebel schluckten seine Stimme und erstickten sie. Ein zischelndes Geräusch drang an sein Ohr. Es waren winzige Eiskristalle, die durch das welke Laub der Bäume fuhren. Schlagartig hatten sich die Nebelschwaden in Eiswolken verwandelt.
Er fing an, auf der Felsplatte auf und ab zu gehen. Mehr als sechs Meter Raum hatte er nicht. Nach einem Ausweg zu suchen, war so gut wie sinnlos, denn der Sims endete im Nichts; darunter lag der steile Felsabhang. Er saß ganz schön in der Falle. Er ging in die Höhle zurück und setzte sich in eine Ecke. Dort war er wenigstens vor dem Wind geschützt. Trotz seiner wachsenden Besorgnis fühlte er sich hier fürs erste wohl und geborgen. Die Kälte war noch nicht bis in die Höhle gedrungen. Aber die Temperatur mußte immer schneller fallen, sonst wäre der Nebel nicht so schnell zu Eis geworden. Er hatte nur eine leichte Jacke an und konnte kein Feuer machen. Er war Nichtraucher und hatte nie Streichhölzer in der Tasche. Zum erstenmal wurde ihm bewußt, wie ernst seine Lage war. Es konnten Tage vergehen, bis ihn jemand vermißte. Er hatte nur wenige Besucher und die paar, die er hatte, kümmerten sich nicht um ihn. Und selbst wenn jemand sein Fehlen bemerkte und einen Suchtrupp losschickte, wie groß wären wohl die Chancen, daß man ihn fände? Wer würde daran denken, ihn in dieser Höhle zu suchen? Und wie lange, fragte er sich, konnte es ein Mensch in dieser Kälte und ohne Nahrungsmittel aushalten? Und wenn er hier nicht herauskam, und zwar bald, was würde dann aus seinem Vieh werden? Die Kühe kamen von der Weide zurück, suchten Schutz vor dem Sturm, und niemand ließ sie in den Stall. Und wenn sie nicht mindestens jeden zweiten Tag gemolken wurden, würden ihre geschwollenen Euter zu schmerzen beginnen. Die Schweine und Hühner würden kein Futter bekommen. Ein Mensch wie er, der für so viele Lebewesen zu sorgen hatte, besaß eigentlich nicht das Recht, so mit seinem Schicksal zu spielen, sagte er sich. Er legte sich auf den Bauch, zwängte sich in den hintersten Winkel der Höhle hinein und preßte sein Ohr gegen den Fels.
Das Wesen war noch da – natürlich, wie sollte es auch nicht. Es saß ja noch schlimmer in der Falle als er, unter einer fünfzig Meter dicken Felsplatte, die in Millionen von Jahren über ihm gewachsen war. Seine Gedanken veränderten sich plötzlich, er nahm fremde Eindrücke wahr. Ein Teil der Vision war nur undeutlich und verschwommen, während der Rest sich bemerkenswert klar herausbildete. Ein weites, schwarzes Felsplateau, das sich bis an den Horizont erstreckte, eine aufsteigende rötliche Sonne über eben diesem Horizont, und undeutlich vor der großen roten Scheibe die Andeutung eines hohen Turms. Er ließ ebensogut auf eine Stadt schließen als auch auf eine einzelne Felsnadel. Es war unmöglich, genaueres zu erkennen, ja, er war nicht einmal ganz sicher, ob dort überhaupt etwas war. Heimat? War diese schwarze, nackte, felsige Einöde etwa der Raumflughafen seines Heimatplaneten? Es könnte aber auch ein Ort gewesen sein, den das Wesen gesehen hatte, bevor es auf die Erde kam. Jedenfalls war der Ort so phantastisch, daß die Erinnerung in seinem Gedächtnis haften geblieben war. Andere Dinge mischten sich jetzt in die Wahrnehmung, die an andere Wesen denken ließen, an Leben, Gerüche, Geschmack. Natürlich konnte er sich irren, aber was blieb ihm anderes übrig, als diesem fremden, gefangenen Wesen sein eigenes, menschliches Begriffs- und Gefühlsinstrumentarium unterzuschieben. Und da, als er die Erinnerung an dieses schwarze, endlos flache Felsplateau, an die aufgehende Sonne und an die aufragende seltsame Konstruktion vor der Sonnenscheibe immer mehr zu seiner eigenen machte, tat Daniels etwas, was er vorher noch nie unternommen hatte. Er versuchte, diesem begrabenen Wesen zu antworten, es wissen zu lassen, daß ihm jemand zuhörte, daß man es gehört hatte, daß es nicht so einsam und isoliert war, wie es sich das vielleicht vorstellte.
Natürlich formulierte er die Worte nicht mit dem Mund, das wäre wohl ziemlich sinnlos gewesen. Kein Laut würde durch diese Felsschichten dringen. Er versuchte vielmehr mit Gedanken zu sprechen. ›Hallo, du da unten‹, dachte er. ›Ich bin dein Freund. Ich habe dir lange, lange Zeit zugehört. Ich hoffe, daß du mich verstehen kannst. Wenn du mich verstehen kannst, dann laß uns doch miteinander reden. Ich will versuchen, dir zu erklären, wer ich bin und was das für eine Welt ist, in der ich lebe, und du sagst mir, wer du bist, und – welches deine Welt ist, und wie du hierher gekommen bist. Vielleicht kann ich irgend etwas für dich tun – vielleicht kann ich dir helfen.‹ Das sagte er, dachte es laut, und kein Wort mehr. Als er das gesagt hatte, preßte er sein Ohr noch fester gegen den Felsen und lauschte, ob die Kreatur seine Gedanken vielleicht vernommen hätte. Aber offenbar hatte sie es nicht bemerkt, oder sie beachtete ihn nicht. Sie dachte immer noch an das Plateau, wo eine große rote Sonne langsam vom Horizont aufstieg. Es war verrückt gewesen, vielleicht sogar frech und aufdringlich. Er hatte es vorher noch nie versucht. Er hatte nur immer zugehört. Genauso, wie er noch nie versucht hatte, zu den Sternen zu sprechen – auch dort hatte er sich begnügt, nur zu lauschen. Was war geschehen? Was hatte ihn veranlaßt, das Wesen anzusprechen? War es vielleicht die Einsicht, daß sein Leben hier in dieser Höhle enden würde? Und die Kreatur dort unten war vielleicht diesem Gesetz des Sterbens gar nicht unterworfen – vielleicht war sie unsterblich. Er kroch wieder aus der Nische heraus und suchte sich einen Platz, wo er sich hinsetzen konnte. Draußen hatte der Sturm an Gewalt zugenommen, und in dem Eisnebel tanzten schon die ersten Schneeflocken. Die
Temperatur war noch weiter gefallen. Die Felsplatte vor der Höhle war mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Auch nur einen Fuß darauf zu setzen, würde den sicheren Tod bedeuten. In den heftigen Böen schnellten die Baumspitzen vor und zurück, und ganze Wolken bunter Blätter wirbelten im Wind hügelabwärts. Von seinem Platz aus konnte er die obersten Spitzen einer Gruppe Birken sehen, die auf derselben kleinen Erhebung standen, wo auch der Baum gestanden hatte, über den man in die Höhle gelangte. Die Birkenzweige schienen sich aber viel heftiger zu bewegen, als es durch den Wind verursacht sein konnte. Sie schwankten wild von einer Seite zur anderen, und je öfter er hinsah, desto höher schienen sie sich zu recken; es sah fast so aus, als ob die Bäume in höchster Not flehend ihre Äste hochreckten. Auf Händen und Knien kroch er bis an den Rand der Höhle und streckte den Kopf über die Felsplatte, um zu sehen, was am Fuß der Felswand los war. Es waren nicht nur die obersten Äste, die so wild hin- und herschlugen, sondern die ganze Baumgruppe schien in Bewegung zu sein; sie schwankte hin und her, als ob eine unsichtbare Faust versuchte, sie aus dem Boden zu reißen. Und als er sich noch darüber wunderte, geriet auch der Boden unter den Birken in Bewegung. Er hob sich, brach auf, als würde man das Entstehen und Aufbrechen einer Frostbeule im Zeitraffer sehen. Der Boden hob sich immer höher und die ganze Baumgruppe mit ihm. Langsam begannen sich Erdbrocken und Kies zu lösen und rollten den Abhang hinunter. Ein größerer Felsbrocken war losgebrochen und rollte, Büsche und Unterholz niederwalzend, zu Tal. Daniels sah wie gebannt dem schrecklichen Schauspiel zu. War er etwa Zeuge eines ungeheuer beschleunigten geologischen Prozesses? Er fragte sich, welche Art von Vorgang hierfür wohl am ehesten zuträfe; einen wußte er, der
dafür in Frage kommen könnte. Der Hügel hatte immer noch nicht aufgehört zu wachsen. Schließlich brach er in der Mitte auf und eine Flut losen Erdreichs ergoß sich ins Tal. Auf dem frischgefallenen Schnee hinterließ sie eine breite dunkelbraune Spur. Die Birken, die jetzt keinen Halt mehr im Boden hatten, kippten um und glitten langsam den Abhang hinunter. An der Stelle, wo sie gestanden hatten, tauchte eine seltsame Gestalt auf. Nicht eine Gestalt mit festem Umriß, sondern wie verwischt, so, als hätte jemand vom Himmel Sternenstaub zusammengescharrt und daraus so etwas wie eine Figur geformt, zerfasert, ausgefranst an den Rändern, die immer wieder aus ihrem Umriß ausbrechen wollte und trotzdem einen Rest von Ähnlichkeit an ihre vielleicht ursprüngliche Form nicht aufgeben konnte. Es sah die Gruppe Birken schwanken, die auf derselben kleinen Erhebung standen. Er überlegte, wem diese schwebende Gestalt ähneln aus, wie ein loser Verband von Atomen aussehen mochte, wenn man Atome mit den Augen sehen könnte. Es war ein sanftes Funkeln und Schimmern in der grauen Schneeluft, und obwohl es so völlig ohne Substanz erschien, mußte es doch über ungeheure Kraft verfügen – denn es zog und stemmte sich immer weiter aus dem aufgebrochenen Erdreich heraus, bis es endlich frei dastand. Dann schwebte es langsam zur Höhle herauf. Seltsamerweise verspürte Daniels keine Angst, nur große Neugier. Er überlegte, wem diese schwebende Gestalt ähneln könnte. Aber er fand keinen passenden Vergleich. Als es die Felsplatte erreicht hatte und auf ihr langsam heranglitt, zog er sich in die Höhle zurück. Die Figur blieb auf der Felsplatte stehen, – entweder blieb sie direkt darauf stehen oder sie schwebte ein paar Zentimeter darüber, so genau konnte er das nicht feststellen.
›Du hast gesprochen‹, sagte die funkelnde Erscheinung zu Daniels. Das war eigentlich weder eine Frage noch eine Feststellung, und man konnte auch nicht sagen, daß etwas gesprochen worden war. Es klang genauso wie die Gespräche, die zwischen den Sternen hin und her gingen und denen Daniels immer gelauscht hatte. ›Du hast zu ihm gesprochen, als ob du ein Freund seist‹ (natürlich gebrauchte er nicht das Wort Freund, sondern etwas anderes, umfassenderes, etwas das Wärme und Freundschaft ausstrahlte). ›Du hast ihm Hilfe angeboten. Kannst du ihm helfen?‹ Die Frage war auf jeden Fall deutlich genug. »Ich weiß nicht«, sagte Daniels. »Jetzt auf jeden Fall nicht. Jetzt gibt es keine Hilfe. Aber vielleicht in hundert Jahren, vielleicht – hörst du mich? Verstehst du, was ich sage?« ›Du sagst, daß es Hilfe gibt. Aber erst nach einiger Zeit. Bitte sag mir, nach wieviel Zeit?‹ »Hundert Jahre«, sagte Daniels. »Wenn der Planet hundertmal den Fixstern umkreist hat.« ›Einhundert?‹ fragte die Kreatur. Daniels streckte alle zehn Finger in die Höhe. »Kannst du meine Finger sehen? Die Anhängsel an den Enden meiner Arme?« ›Sehen?‹ »Fühlen, zählen?« ›Ja, ich kann sie zählen.‹ »Es sind zehn. Und zehnmal soviel sind hundert.« ›Das ist keine große Zeitspanne. Und welche Hilfe gibt es dann?‹ »Weißt du, was Genetik ist? Wie etwas Lebendiges entsteht, und wie dieses Lebendige weiß, was es werden wird; wie es weiter wächst und wie es zu wachsen versteht und das wird,
was es werden soll. Der Schlüssel dafür liegt bei den Aminosäuren, aus denen die Ribonucleinsäuren bestehen, und sie bestimmen, in welcher Weise eine Zelle wächst und welche Funktionen sie einmal übernehmen wird.« ›Deine Begriffe sind mir fremd, aber ich verstehe dich. Du weißt also darüber Bescheid. Und du bist auch nicht eines jener stumpfen einfachen Lebewesen, die nur dastehen, oder auf dem Boden herumlaufen, sich Löcher graben oder diese stehenden, aufragenden Lebensformen hinaufklettern.‹ So hörte er es natürlich nicht. Die Wörter waren zwar da – oder vielmehr die Begriffe, die den Wörtern entsprachen; es waren Bilder von Bäumen, Mäusen, die in ihren Löchern verschwanden, Eichhörnchen, Kaninchen und Füchsen. »Ich weiß nur sehr wenig darüber. Aber andere von meiner Art. Die beschäftigen sich ein Leben lang mit diesen Dingen.« Der oder das Andere harrte reglos auf der Felsplatte aus und sagte kein Wort mehr. Der Wind peitschte die Wipfel der Bäume, und das Schneegestöber war dichter geworden. Daniels fror, und er zog sich tiefer in die Höhle zurück. Er fragte sich, ob dieses Ding vor ihm nicht etwa doch nur eine Halluzination war. Inzwischen hatte es wieder angefangen zu sprechen. Allerdings – – so schien es, nicht zu ihm. Es war vielmehr so, wie er die Kreatur aus dem Felsen hatte sprechen hören – Bilder aus der Erinnerung. Es war eine Übertragung von Inhalten, die ihn eigentlich nichts angingen, nur war es ihm unmöglich, sich aus diesem Kreis auszuschließen. Die Begriffe, die Bilder strahlten von dem anderen Wesen zu ihm, bohrten sich in sein Gehirn, füllten es vollkommen aus – kein anderer Gedanke war mehr möglich. Es war so, als wären es seine eigenen Erinnerungen und nicht die jenes anderen Wesens.
V Zuallererst war der Raum da – endlos, grenzenlos, so anders als jede Vorstellung, die er sich von ihm gemacht hatte, so grausam unberührbar und leer, daß jedes Denken davor versagte. Nicht so sehr aus Angst oder dem Gefühl der Verlassenheit, sondern daß dieses Ding, das er selbst war, vor dieser Ewigkeit von Raum, in seiner Winzigkeit nicht mehr meßbar war. Und dann – so weit entfernt von der Heimat, verloren, ohne Richtung – und doch nicht ganz ohne Richtung, denn Zeichen waren da, die Andeutung einer Spur, eine Witterung, eine Gewißheit, für die es in unseren menschlichen Denkkategorien keinen Ausdruck gab, die nicht verstanden, ja nicht einmal erraten werden konnte. Eine Fährte, eine Witterung wiesen den Weg, ungeachtet wie verschwommen, wie aussichtslos, aber jemand hatte diese Spur vor langer Zeit hinterlassen. Eine Bestimmung, die kein Nachdenken zuließ, eine unbeirrbare Hingabe und eine tiefe Überzeugung ließen ihn diese unsichere Spur verfolgen. Er fragte nicht, wohin sie führte, und wäre es ans Ende der Zeiten und des Raums. Er würde dieser Spur unablässig folgen, bis er ihr Ende gefunden oder bis der Wind sie ausgelöscht hatte, – sollte in diesem leeren Raum jemals so etwas wie ein Wind wehen. Irgend etwas war an dem Fremden, sagte sich Daniels, das trotz aller Fremdheit immer noch vertraut war, ein Faktor, der sich irgendwann einmal in menschliche Begriffe übersetzen ließ, der ein Bindeglied sein konnte zwischen dieser fremden, sich erinnernden Intelligenz und seinem eigenen menschlichen Denken. Der leere Raum, die Stille, die kalte Teilnahmslosigkeit dauerten immer noch an, schienen kein Ende zu nehmen. Langsam begriff er aber, daß es doch ein Ende geben mußte
und daß dieses Ende hier in den unwegsamen Hügeln über dem Fluß lag. Nach der endlos langen Zeit der Finsternis und der Gleichgültigkeit eine ebenso endlose Zeit des Wartens. Er hatte das Ende erreicht, er war so weit gegangen, wie nur irgend jemand gehen konnte. Er hatte sich hingesetzt und wartete, wartete mit jener zeitlosen Geduld und Ruhe, die niemals an sich zweifelte. ›Du hast von Hilfe gesprochen‹, sagte das Wesen zu ihm. ›Warum? Du kennst doch diesen anderen nicht. Warum solltest du ihm helfen wollen?‹ »Es ist lebendig«, sagte Daniels. »Es lebt und ich lebe. Ist das nicht Grund genug?« ›Ich weiß es nicht.‹ »Ich denke schon.« ›Und wie könntest du helfen?‹ »Ich habe dir das mit der Genetik gesagt. Ich weiß nicht, ob ich es dir genau erklären kann…« ›Ich erkenne die Begriffe in deinem Denken. Der genetische Code.‹ »Würde dieses andere Wesen, das unter dem Fels, das du bewachst…« ›Nicht bewachen‹, sagte die Kreatur. ›Der, auf den ich warte.‹ »Du wirst lange warten müssen.« ›Ich kann warten. Ich habe lange Zeit gewartet, und ich kann noch viel länger warten.‹ »Eines Tages wird die Erosion den Felsen abgetragen haben, aber so lange wirst du nicht warten müssen. Kennt dieses andere Wesen seinen genetischen Code?« ›Gewiß kennt es ihn. Es weiß viel mehr als ich.‹ »Aber kennt es ihn ganz genau? Bis in die letzte Verzweigung und die kleinsten Bestandteile? Kennt es die Reihenfolge all dieser Milliarden von…«
›Es kennt sie. Die Grundvoraussetzung jeden Lebens ist es, daß es sich selbst begreift.‹ »Und wäre es bereit, uns diese Information zu geben – seinen genetischen Code?« ›Du bist vermessen‹, sagte die funkelnde Erscheinung (und es war wohl mehr gemeint als nur Vermessenheit). ›Diese Information teilt niemand einem anderen mit. Das tut man nicht, es ist entblößend. Damit gibt man sein Selbst aus der Hand. Das kommt einer endgültigen und sinnlosen Selbstaufgabe gleich.‹ »Keine Selbstaufgabe«, sagte Daniels. »Nur eine Möglichkeit, aus dem Kerker zu entkommen. Im Lauf der Zeit, in den hundert Jahren, die ich nannte, könnten Menschen meiner Rasse aufgrund dieses genetischen Codes ein Wesen konstruieren, das jenem gefangenem im Felsen aufs Haar gleicht. Ein echtes Duplikat.« ›Aber das andere wäre noch immer im Felsen.‹ »Ja, aber nur eins, das Original. Das könnte warten, bis die Erosion den Felsen abträgt. Aber das andere, das Duplikat, könnte leben.« Und was wäre, fragte sich Daniels, wenn die Kreatur im Felsen gar nicht befreit werden wollte? Was, wenn es sich freiwillig in diese Lage begeben hätte! Schutzsuchend oder als freiwilliges Opfer? Und vielleicht konnte es sich daraus genauso leicht befreien wie das andere, dieses funkelnde Ding, das den Hügel aufgebrochen hatte. ›Nein, das kann es nicht‹, sagte das Wesen. ›Es ist meine Schuld. Ich habe nicht aufgepaßt. Ich habe mich schlafen gelegt, während ich wartete, und ich habe zu lange geschlafen.‹ Das mußte ein langer Schlaf gewesen sein, sagte sich Daniels. Lose Erdkrumen hatten sich über ihn angehäuft. Steinbrocken, vom Frost aus der Felswand gesprengt, waren
darauf gefallen. Eine Gruppe Birken hatte Wurzeln geschlagen und war zehn Meter hoch gewachsen. Er fand sich einem Zeitverständnis gegenüber, das er nicht begriff. Aber etwas anderes hatte er begriffen, gefühlt – Treue und unendliche Geduld, mit der dieses Wesen das andere unter den Sternen aufgespürt hatte. Er wußte, daß er sich nicht getäuscht hatte, denn das Denken und Fühlen dieses treuen Sternenhundes, der draußen auf der Felsplatte hockte, kam über ihn, drang in ihn ein und setzte sich in seinem Gehirn fest. Die beiden so fremden und verschiedenen Intelligenzen verschmolzen in einem Denken, in eine Art Kameradschaft, in ein wortloses Einanderverstehen. Zum ersten Mal, wahrscheinlich seit Millionen von Jahren, hatte dieser knurrende Sternenhund aus den Weiten des Alls jemanden gefunden, der ihn, seine Aufgabe, seinen Zweck begriff. »Wir können versuchen, ein Loch zu graben«, meinte Daniels. »Ich habe natürlich schon früher daran gedacht, aber ich hatte Angst, ihm könnte dabei etwas passieren. Außerdem würde es schwierig sein, ihm zu erklären…« ›Nein, ein Loch zu graben, hilft gar nichts. Und da ist noch vieles, was du nicht verstehst. Aber dieser andere Vorschlag, der ist nicht schlecht. Du sagst, daß du nicht soviel von Genetik verstehst, daß du es jetzt schon machen könntest. Hast du schon zu anderen von deiner Art darüber gesprochen?‹ »Ja, zu einem. Er wollte nicht zuhören. Er dachte, ich sei verrückt, und es war wohl auch nicht der richtige Mann, zu dem ich darüber hätte sprechen sollen. Ich könnte zu anderen gehen, aber im Moment wohl nicht. Ich möchte zwar sehr gerne, aber ich kann nicht. Sie würden mich auslachen, und ich kann ihr Lachen nicht ertragen. Aber in hundert Jahren, oder vielleicht schon etwas früher, könnte ich…«
›Aber du wirst nicht mehr hundert Jahre leben. Ihr seid eine sehr kurzlebige Spezies, was vielleicht auch euren rapiden Aufstieg erklärt. Jedes Leben ist hier sehr kurz bemessen, und das gibt der Evolution die Möglichkeit, Intelligenzen hervorzubringen. Als ich hierher kam, fand ich nur Zellkolonien ohne Intelligenz…‹ »Du hast recht. Ich werde keine hundert Jahre mehr leben. Selbst wenn ich eben erst geboren würde, könnte ich das kaum. Und mehr als die Hälfte meines Lebens ist schon vergangen, vielleicht schon mehr als die Hälfte. Und wenn ich aus dieser Höhle nicht herauskomme, werde ich ohnehin in ein paar Tagen tot sein.« ›Streck deine Hand aus. Strecke sie aus und berühre mich.‹ Langsam streckte Daniels seine Hand aus. Sie ging durch den funkelnden Schein hindurch, er spürte keinen materiellen Widerstand. Es war, als ob er die Hand nur durch die Luft geführt hätte. ›Siehst du, ich kann dir nicht helfen. Unsere Energien können nicht zusammenwirken. Es tut mir leid, Freund.‹ (Es sagte zwar nicht Freund, aber was er meinte, war mindestens ebenso gut, wenn nicht viel, viel besser, dachte Daniels.) »Mir tut es auch leid. Ich würde gerne noch länger leben.« Stille senkte sich zwischen sie. Die sanfte, weiche Stille eines im Schnee erstickten Nachmittags, den sie mit den Bäumen, den Felsen und den verborgenen, schutzsuchenden kleinen Lebewesen unter der Erde teilten. Dann war es also umsonst gewesen, dachte Daniels. Er hatte dieses Wesen aus einer anderen Welt kennengelernt, und es war nichts mehr zu machen, – wenn er nicht irgendwie von dieser Felsplatte herunterkam. Warum sollte er sich Gedanken machen, wie er diese Kreatur aus dem Fels befreien könnte? Für ihn war es doch wichtiger, sich damit zu befassen, wie er
hier herauskam, weil sein Tod dem Wesen jede Hoffnung auf eine mögliche Befreiung nehmen würde. »Aber es ist vielleicht doch nicht umsonst«, sagte er. »Jetzt, wo du weißt…« ›Mein Wissen wird keine Wirkung haben‹, sagte das Wesen. ›Da sind noch andere, auf fernen Sternen, die auch das Wissen haben. Aber selbst wenn ich mit ihnen in Verbindung träte, sie würden mich nicht beachten. Meine Stellung ist zu gering, als daß ich die Höheren ansprechen dürfte. Meine einzige Hoffnung sind Wesen deiner Art, und wenn ich mich nicht täusche, vielleicht nur du allein. Ich meine nämlich, daß du der einzige bist, der wirklich versteht. Kein anderer deiner Rasse wäre in der Lage, meine Anwesenheit zu entdecken.‹ Daniels nickte. Das war die Wahrheit. Es gab kein anderes menschliches Wesen, dessen Gehirn so vorteilhaft verändert worden war, daß es dieselben Fähigkeiten besaß wie seines. Für die Kreatur im Fels war tatsächlich er die einzige Hoffnung, und selbst die war mehr als schwach. Wenn er niemanden fand, der ihm zuhörte und glaubte, war auch sie umsonst. Der Glauben und das Vertrauen mußten noch dazu so stark sein, daß sie die Jahre überdauerten, bis sich die genetische Technik weit über ihren gegenwärtigen Stand hinaus entwickelt hatte. ›Wenn es dir gelänge, die gegenwärtige Krise zu meistern, dann könnte ich vielleicht gewisse Energien und Techniken aufbringen, die unserem Vorhaben nützen würden. Aber du mußt verstehen, aus deiner jetzigen Lage kann ich dir nicht helfen.‹ »Irgend jemand wird schon vorbeikommen. Wenn ich ab und zu laut rufe, werden sie mich schon hören.« Er fing an, in Abständen laut zu rufen, erhielt aber keine Antwort. Der Sturm erstickte seine Rufe, und er wußte auch
nur zu gut, daß bei diesem Wetter niemand hier draußen war. Alle saßen jetzt gemütlich zu Hause vor dem Kamin. Die funkelnde Gestalt hockte noch immer draußen auf der Felsplatte und leuchtete wie ein Christbaum, der schief und auf einer Seite überladen im Schnee steckte. Daniels ließ sich wieder zurückfallen. Er durfte nicht einschlafen, sagte er sich. Höchstens einen Augenblick die Augen schließen und sie dann gleich wieder öffnen. Wenn er sie länger geschlossen ließ, würde er unweigerlich einschlafen. Eigentlich sollte er ja aufstehen und sich die Arme über die Brust schlagen, daß ihm warm würde, aber die Arme waren schwer und gehorchten seinem Willen nicht. Er fühlte, wie es ihn unwiderstehlich vornüber auf den Felsboden zog, und er mußte sich anstrengen, gerade sitzen zu bleiben. Aber sein Wille war schwach, und der Felsboden verlockend bequem. So bequem, dachte er, daß er es sich einen Moment leisten könnte, sich darauf auszustrecken, bevor er sich wieder gerade hinsetzte. Aber seltsamerweise war der Boden der Höhle mit einem Mal schlammiges Wasser, die Sonne schien und es wurde ihm warm. Er sprang auf und sah sich um. Eine endlose Wasserfläche dehnte sich bis zum Horizont. Das Wasser ging ihm bis zu den Knöcheln und unter seinen Sohlen war schwarzer weicher Schlick. Es gab keine Höhle mehr und auch keinen Hügel. Nur diese weite Wasserfläche, und hinter ihm, vielleicht zehn Meter entfernt, den schlammigen Strand einer winzigen Insel. Es war eine schlammbedeckte felsige Erhebung, gesprenkelt mit dünnen Spuren mageren Grüns. Er war wieder in einer anderen Zeit, das wußte er, aber es war derselbe Ort. Jedesmal, wenn er in eine andere Zeit versetzt wurde, fand er sich genau an demselben Punkt der Erdoberfläche wieder, an dem er sich vor der Zeitverschiebung
befunden hatte. Und er wunderte sich jedesmal von neuem, welcher Mechanismus dafür sorgte, daß er sich nicht einmal unter zwanzig Meter hohen Felsen begraben fand, oder das andere Mal aus zwanzig Meter Höhe zu Boden stürzte. Aber er durfte jetzt nicht lange nachdenken. Durch einen glücklichen Zufall war er jetzt aus der Höhle und mußte zusehen, daß er so schnell wie möglich von hier wegkam. Es war ja durchaus möglich, daß er in wenigen Augenblicken wieder in die Gegenwart zurückversetzt würde, er mußte sich also beeilen und rasch eine Ortsveränderung vornehmen. Er drehte sich schwerfällig um, denn es bereitete Mühe, sich durch den Schlamm zu bewegen, und ging auf die Küste zu. Schwieriger als durch den Schlamm zu waten war, sich über die von Algen bedeckten, glitschigen Felsen hinaufzuziehen, und es dauerte endlose Minuten, bis er soweit oben war, daß er sich auf einen trockenen Felsen setzen konnte. Sein Atem ging schwer. Er zog ein paarmal tief Luft in die Lungen, aber die Luft schmeckte seltsam, nicht wie normale Luft. So saß er also keuchend auf dem Felsen und blickte über die weite Wasserfläche. Die Sonne stand hoch und in ihrem warmen Licht glänzte die Wasserfläche wie ein Spiegel. Weit draußen entdeckte er eine langgezogene flache Welle. Sie kam langsam näher und als sie die Insel erreicht hatte, schwappte der Schlamm fast bis zu ihm herauf. Draußen hatte sich inzwischen eine zweite Welle gebildet und rollte heran. Die Wasserfläche war größer als er zuerst gedacht hatte. Und es war überhaupt das erste Mal, daß er auf Streifzügen durch die Erdgeschichte an eine so große Wasserfläche gekommen war. Bisher hatte er sich immer auf festem Land wiedergefunden, dessen Umrisse er kannte – und auch der Fluß war immer durch die Hügel geflossen.
Hier erkannte er nichts von der Landschaft wieder. Sie bot ein völlig verändertes Bild, und es bestand kein Zweifel, daß er diesmal weiter in die Vergangenheit zurück projiziert worden war als je zuvor. Zurück in die Zeit der großen epikontinentalen Ozeane, in die Zeit, als die Atmosphäre noch viel weniger Sauerstoff hatte als in den folgenden Äonen. Es sah fast so aus, als wäre er diesmal hart an jener Grenze gelandet, hinter der das Leben für Wesen wie ihn unmöglich war. Der Sauerstoff schien hier gerade noch auszureichen, obwohl er schon viel mehr Luft in seine Lungen pumpen mußte als sonst. Ein paar Millionen Jahre weiter zurück, und der Sauerstoffanteil würde unterhalb der kritischen Grenze liegen, – oder es gab überhaupt keinen freien Sauerstoff mehr in der Luft. Er betrachtete den Strand zu seinen Füßen, kleine Lebewesen huschten hin und her, suchten Schutz in dem angeschwemmten, mit weißem Schaum bedeckten Schlick oder verschwanden blitzschnell in winzigen Löchern. Er legte seine Hand auf den Felsen, auf dem er saß, und rieb leicht über eine der grünen Stellen. Sie löste sich leicht von der rauhen Oberfläche und blieb an seiner Haut kleben, eine schleimige, gelatineartige Masse, die sich unangenehm anfühlte. Das also war das allererste Leben, das es sich auf dem Land heimisch machte – noch kaum richtige Lebewesen, immer noch in der Nähe des Wassers, furchtsam und nicht ausgerüstet, sich allzuweit von jener sanften, wiegenden Mutter zu entfernen, die von Anfang an das Leben in ihrem Schoß gehütet hatte. Selbst die Pflanzen hatten sich noch nicht weiter ins Land gewagt. Sie klammerten sich an Felsen dicht am Strand, daß sie immer noch der gelegentliche Spritzer einer Welle erreichen konnte. Daniels merkte, daß ihm jetzt das Atmen etwas leichter fiel. Es war nur die Anstrengung gewesen, die ihm in dieser
sauerstoffarmen Luft so zu schaffen gemacht hatte. Jetzt, da er ruhig auf seinem Felsen saß, ging es wieder ganz gut. Das Blut pochte auch nicht mehr so hart gegen seine Schläfen, und er merkte, wie still es um ihn herum war. Nur ein einziges Geräusch: der sanfte Schlag des Wassers gegen die Felsen, ein so winziges Geräusch, daß es die Stille eher unterstrich als zerstörte. Er erinnerte sich nicht, in seinem Leben je eine solche Stille vernommen zu haben. In den anderen Welten und Erdzeitaltern, in denen er gewesen war, war immer voll Geräusch gewesen, und nicht nur eins, sondern viele, selbst an den stillsten Tagen. Aber hier gab es nichts, was ein Geräusch verursachen konnte – keine Bäume, keine Tiere, Insekten, Vögel. Nur das Wasser war da, endlos, bis zum Horizont, und die helle, warme Sonne. Zum ersten Mal seit vielen Monaten kam er sich wieder wie ein Eindringling vor. Da, wo er sich jetzt befand, war er nicht erwünscht, er hatte nicht das Recht, hier zu sein: er war in eine Welt eingedrungen, die ihm verboten war, nicht nur für ihn, sondern für alles, was komplexer war und vernunftbegabter als diese winzigen primitiven Strandläufer. Er saß unter einer fremden Sonne, umgeben von fremden Gewässern und sah diesen kleinen Wesen zu, die in den folgenden Äonen die Entwicklung einleiteten zu komplexen Lebensformen, zu denen er gehörte. Er versuchte, irgendwo in seinem Inneren verwandtschaftliche Gefühle für sie zu entdecken, aber es gelang ihm nicht. Da drang in die friedliche Stille mit dem fast lautlosen, sanften Schlag der Wellen plötzlich ein pulsierendes, dumpf pochendes Geräusch, zuerst schwach, aber deutlich, dann immer lauter werdend, es senkte sich aufs Wasser nieder, es schlug gegen die Felsen der kleinen Insel – es kam aus der Luft.
Daniels sprang auf und sah nach oben. Er sah ein Schiff, das sich geradewegs der Insel näherte, auf der er sich befand. Nicht ein Schiff irgendeiner bestimmten Form, es war nur undeutlich auszumachen, weil es aus Lichtflächen willkürlich zusammengesteckt zu sein schien. Das Pochen, das von ihm ausging, versetzte die Atmosphäre in Aufruhr, die Lichtflächen veränderten ständig ihre Form, Größe und Lage, so daß dieses seltsame Gefährt von einem Augenblick zum andern immer wieder verschieden aussah. Zuerst war es ziemlich schnell herabgesunken, aber dann hatte es anscheinend seinen Fall gebremst und bewegte sich nun langsam und schwerfällig genau auf die Insel zu. Daniels merkte, wie er sich zusammenkrümmte, aber er konnte seine Augen nicht vor dem Lichtbündel verschließen, und es half auch nichts, daß er sich die Ohren zuhielt vor dem entsetzlichen Donner. Selbst im vollen Licht der Sonne warf diese Erscheinung noch zusätzliche Reflexe auf Wasser, Schlamm und Felsen. Mit zusammengekniffenen Augen erkannte Daniels, daß das Ding nicht auf seiner Insel landen würde, wie er zuerst befürchtet hatte, sondern etwa fünfzig Meter weiter draußen im Meer. Knapp fünfzehn Meter über der Wasseroberfläche blieb das Ding stehen und schwebte auf der Stelle. Ein helles funkelndes Etwas wurde ausgestoßen und fiel klatschend ins Wasser. Es ging aber nicht unter, sondern schwamm etwa zur Hälfte eingetaucht in der schlammigen Brühe. Es war eine hellstrahlende Kugel, die im Mittelpunkt der konzentrischen Wellenkreise auf und ab tanzte. Selbst im Donner, der die ganze Atmosphäre um ihn herum erschütterte, konnte er sich vorstellen, wie das Wasser leise und sanft an ihre Außenwand schlug.
Dann sprach eine Stimme in dieser leeren, verlassenen Welt, die lauter war als das Donnern des Schiffs, eine monotone Stimme, eine Stimme des Gerichts. Aber es konnte eigentlich keine Stimme sein, denn es gab nichts, was dieses Donnern übertönen konnte. Aber die Worte waren da, und an ihrem Sinn gab es keinen Zweifel: ›In Übereinstimmung mit dem Urteil, das dir verkündet wurde, und der Strafe, die ausgesprochen wurde, haben wir dich hierher deportiert und setzen dich jetzt auf diesem nackten Planeten aus. Wir hoffen, daß du hier Zeit und Gelegenheit finden wirst, über deine Sünden nachzudenken und besonders über die (und nun folgten Worte und Vorstellungen, die Daniels nicht verstand, nicht verstehen konnte, es war gewissermaßen nur Geräusch, aber von einer Art, die sein Blut zu Eis erstarren ließ, und ihn mit Abneigung und Abscheu erfüllte, wie er es noch nie gekannt hatte). Vielleicht sollten wir es bedauern, daß du gegen den Tod gefeit bist, so sehr wir uns deshalb verachten müßten, aber es wäre besser gewesen, deinem Sein ein Ende zu setzen, im Sinne der Strafe, welche besagt, daß du keine Möglichkeit mehr haben sollst, mit einem lebenden Wesen Kontakt aufzunehmen. So haben wir dich hierher gebracht, abseits der intergalaktischen Routen, auf diesen unbewohnten Planeten, von dem wir nur hoffen können, daß er dem Zweck entsprechen wird. Wir erlegen dir diese Selbsterforschung auf, weil dennoch die geringe Möglichkeit besteht, daß du in ferner Zukunft einmal aus Unwissenheit oder bösem Willen aus deinem Gefängnis befreit wirst. Und dann sollst du in der Lage sein, dein Leben so zu führen, daß du nicht ein zweites Mal diese Strafe verdienst. Und jetzt, so will es das Gesetz, sei es dir erlaubt, ein paar Worte zu sprechen, wenn du es willst.‹
Die Stimme war verstummt und nach einer Pause ertönte eine andere, und obwohl die Terminologie sicher etwas subtiler gewählt war, als Daniels erfassen konnte, ließ sich die Antwort einfach in die menschliche Sprache übersetzen. ›Haut doch ab!‹ sagte sie, mehr nicht. Das Pochen wurde lauter, und das Schiff stieg, immer schneller werdend, senkrecht in den Himmel. Daniels sah ihm nach, bis der Donner nicht mehr zu hören war, und das Schiff selbst nur noch ein schwacher leuchtender Punkt im Blau des Himmels war. Er richtete sich aus seiner geduckten Stellung auf und stand da, zittrig und schwach. Er tastete umher, bis er einen Halt fand, und setzte sich hin. Es war wieder still, bis auf das leise Schlagen der Wellen. Nicht einmal ein Wellenschlag an der Außenwand der Kugel, wie er sich eingebildet hatte, war zu hören. Sie schaukelte noch immer in etwa dreißig Meter Entfernung draußen im Wasser. Die Sonne spiegelte sich auf der goldglänzenden Außenhaut, und Daniels merkte, daß er wieder tiefer Luft holen mußte. Es gab keinen Zweifel, draußen im seichten Wasser über der Schlammbank schwamm diese Kreatur, die nun im Fels eingeschlossen war. Aber wie war es möglich, daß er durch Hunderte von Jahrmillionen zurück an genau den Zeitpunkt, die Minute versetzt worden war, die die Antwort auf alle Fragen enthielt, die er sich über das Lebewesen unter dem Kalkfelsen gestellt hatte. Ein reiner Zufall konnte es nicht gewesen sein, einen Zufall dieser Größenordnung und Präzision gab es nicht. Hatte er, vielleicht unbewußt, doch mehr Wissen von diesem Wesen, das da vor ihm auf der Felsplatte gehockt hatte, übernommen? Er erinnerte sich, einen Augenblick hatte sich ihr Denken vermischt, war eins geworden, hatte diese Übertragung von Wissen in diesem Moment stattgefunden, unerkannt, und jetzt in irgendeinem
Winkel seines Selbst verankert? Oder war er das Objekt eines psychischen Warnsystems, das ihn zum Werkzeug machte, ihn dazu auserwählt hatte, zu verhindern, daß irgendeine künftige Intelligenz auf den Gedanken kam, dieses verlorene und verdammte Wesen zu befreien? Und was war mit dieser anderen, funkelnden Gestalt? Steckte vielleicht doch ein verborgenes, noch nicht entdecktes Gute in diesem Wesen in seiner goldenen Kugel? – Daß es damit die Treue und die Hingabe des anderen, draußen auf der Felsplatte, herausgefordert hatte, über alle Zeiten hinweg, bis die Erosion die Kugel wieder freigelegt hatte. Diese Frage brachte eine zweite mit sich: Was war gut und was war böse? Und wer sollte darüber befinden? Das Vorhandensein dieser anderen funkelnden Kreatur war darauf natürlich keine Antwort. Kein menschliches Wesen konnte jemals von seinesgleichen so ausgestoßen sein, daß es nicht noch hoffen könnte, wenigstens einen Hund zu finden, der ihm folgte und bis zu seinem Tod die Treue hielt. Aber noch viel seltsamer war, was in seinem verdrehten Gehirn geschehen sein mußte, daß es ihn so unfehlbar an den Zeitpunkt genau dieses Geschehens geschickt hatte. In welche Verwirrung und in welches Staunen würde es ihn in Zukunft noch stürzen? Bis zu welchem letzten Verstehen würde es ihn noch führen? Und welcher Zweck lag darin verborgen? Er saß auf dem Felsen und rang nach Luft. Das Meer lag ruhig und fast reglos unter der hellen Sonne. Eine kaum wahrnehmbare Dünung hob und senkte die Kugel. Die winzigen flinken Lebewesen liefen noch immer über den Schlamm. Er rieb seine Handflächen an der Hose und versuchte, das grüne, schleimige Zeug von seinen Handflächen wegzureiben. Er könnte natürlich hinauswaten und sich die Kugel genauer ansehen, aber das würde ein ziemlich langer Weg werden in
dieser sauerstoffarmen Atmosphäre. Und er konnte ihn auch nicht wagen, denn es war besser, wenn er weit weg von der Kohle jener unendlich fernen Zukunft war, wenn er unversehens wieder in die Gegenwart zurückversetzt wurde. Nachdem die Erregung sich gelegt hatte, genau zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort zu sein, unerwünschter, fremder Augenzeuge, wurde ihm diese winzige, schlammbedeckte Insel bald langweilig. Es war ja nur der Himmel da, und der schlammbedeckte Strand, nicht sehr viel für das menschliche Wahrnehmungsvermögen, und es würde wohl auch nichts mehr zu sehen geben, nachdem das Schiff fort war, das einzige herausragende Ereignis in jener äonenfernen Vergangenheit. Natürlich geschah unendlich viel, was in einer fernen Zukunft einmal zum Tragen kommen würde, aber es geschah im Verborgenen, auf dem Grund dieses flachen Ozeans. Diese winzigen, flinken, kleinen Lebewesen waren die kühnen, gesichtslosen Pioniere für diese Zukunft. Sie flößten ihm eine gewisse Ehrfurcht ein, aber besonders interessant war es nicht, ihnen zuzusehen. Mit seiner Stiefelspitze versuchte er absichtslos, eine Linie in den Schlamm zu zeichnen, irgendein Zickzackmuster, aber der Schlamm war zu zäh, blieb an seinen Schuhen hängen. Und den Bruchteil einer Sekunde später kratzte er nicht mehr im Schlamm herum, sondern auf mit gefrorenem Laub und Schnee bedecktem Boden. Die Sonne war verschwunden, und es war überall dunkel, mit Ausnahme eines schwachen. Lichtscheins, der von dem Wäldchen unterhalb des Hügels, auf dem er saß, ausging. Blätter und Schneeflocken wirbelten ihm ins Gesicht, und er fröstelte. Er zog seine Jacke fester um sich und knöpfte sie zu. Bei diesem Wetter konnte man sich wirklich den Tod holen, dachte er, von dieser warmen, feucht dampfenden Schlammbank zurück in die beißende Kälte eines Blizzards.
Der gelbliche Schimmer unterhalb des Abhangs war immer noch da, und er konnte menschliche Stimmen hören. Was ging dort vor sich? Er wußte ziemlich genau, wo er im Augenblick war, etwa dreißig Meter über der Stelle, wo der Abhang in eine steile Felswand abbrach. Eigentlich sollte niemand dort unten sein, also auch kein Licht. Er ging zögernd einen Schritt den Hügel hinunter. Sollte er nicht besser sofort nach Hause gehen? Das Vieh wartete vor dem verschlossenen Stall, aneinandergedrängt, Schutz suchend vor dem Sturm, das Fell eisverkrustet. Es suchte die Wärme und den Schutz des Stalles. Die Schweine und Hühner hatten noch kein Futter bekommen. Ein Mann muß sich über seine Aufgaben und Pflichten Gedanken machen. Aber dort unten war jemand mit einer Laterne, fast am Rand der Felswand. Wenn der verdammte Narr nicht aufpaßte, würde er sich zu Tode stürzen. Wahrscheinlich auf Waschbärenjagd, obwohl das gewiß nicht das richtige Wetter dazu war. Die Waschbären hatten sich längst in ihre Schlupfwinkel verkrochen. Wer immer es sein mochte, er mußte hinunter und ihn warnen. Er hatte schon den halben Weg zurückgelegt, als die Laterne, die bis jetzt offenbar auf dem Boden gestanden war, hochgehoben wurde. Daniels erkannte das Gesicht des Mannes, der sie hielt. Daniels eilte ihm entgegen. »Sheriff, was tun Sie denn hier?« Aber er hatte dabei das beschämende Gefühl, daß er es ja wußte. Daß er es von Anfang an, als er den Schein der Lampe gesehen hatte, hätte wissen müssen. »Wer ist dort?« rief der Sheriff. Er schwenkte die Laterne schnell herum, so daß ihr Schein auf Daniels Gesicht fiel. »Daniels«, keuchte er. »Mann Gottes, wo haben Sie denn die ganze Zeit gesteckt?«
»Ich war unterwegs – bin herumgelaufen.« Das klang nicht sehr überzeugend, war im Grunde auch alles andere als eine Antwort, aber wie konnte er auch irgend jemand plausibel machen, daß er von einer Reise durch Jahrmillionen zurückgekehrt war. »Verdammt nochmal! Wir haben Sie die ganze Zeit gesucht. Ben Adams hat sich Sorgen gemacht. Er war auf Ihrer Farm, und Sie waren nicht dort. Er wußte, daß Sie oft allein in den Wäldern herumschnüffeln und hatte Angst, Ihnen könnte etwas zugestoßen sein. Er hat mich angerufen, und er und seine Jungs haben sich auf die Suche nach Ihnen gemacht. Wir hatten schon Angst, Sie wären abgestürzt und lägen irgendwo verletzt und hilflos herum. Bei so einem Sturm geht doch kein Mensch aus dem Haus.« »Wo ist Ben jetzt?« fragte Daniels. Der Sheriff deutete den Hügel hinunter und Daniels sah zwei Männer, vermutlich Adams Söhne, die ein Seil um einen Baum geschlungen hatten, und daß dieses Seil über die Felswand hinunterhing. »Er ist unten am Seil«, sagte der Sheriff. »Er sieht sich in der Höhle um. Er hatte das Gefühl, Sie seien da drin.« »Er hatte gar nicht so unrecht…«, sagte Daniels, aber er hatte den Satz noch nicht beendet, als die Nacht von einem schrecklichen Schrei zerrissen wurde, und das Schreien nahm kein Ende. Der Sheriff drückte Daniels die Laterne in die Hand und rannte hinunter. Er hatte doch nicht ganz die Nerven für diese Sache gehabt, dachte Daniels. Ihm erst das Seil wegzunehmen, in der Höhle praktisch auszusetzen, ihn dem Tod zu überlassen, und dann den Sheriff anzurufen, um eine gute Ausrede zu haben. Ein solcher Mann hatte wirklich nicht die Nerven für so einen Job. Aus dem Schreien war ein Wimmern geworden. Der Sheriff zog mit einem von Adams Söhnen das Seil hoch. Kopf und
Schulter eines Mannes wurden über dem Rand der Klippe sichtbar, und der Sheriff griff zu und zog ihn ganz herauf. Ben Adams blieb jammernd auf dem Boden liegen, aber der Sheriff zog ihn hoch und versuchte, ihn auf die Füße zu stellen. »Was ist denn los, Ben?« »Da ist etwas«, heulte Adams auf. »Etwas ist in der Höhle…« »Etwas? Verdammt, was denn? Eine Wildkatze, ein Puma?« »Ich hab’ es überhaupt nicht gesehen. Aber ich wußte, daß etwas da war. Ich hab’s gefühlt. Es hatte sich im hintersten Winkel der Höhle verkrochen.« »Wie kann denn dort etwas sein. Jemand hat den Baum umgesägt. Wie kann denn da noch irgend etwas in die Höhle gelangen?« »Ich weiß es auch nicht. Es könnte ja schon in der Höhle gewesen sein, als der Baum umgesägt wurde, und jetzt sitzt es in der Falle.« Einer der Söhne hielt Ben aufrecht, und der andere holte das Seil ein und rollte es säuberlich zusammen. »Noch etwas anderes«, sagte der Sheriff. »Wie seid ihr denn auf den Gedanken gekommen, daß Daniels in der Höhle sein könnte, wenn doch der Baum umgesägt war? Er hätte ja gar nicht mehr hinaufklettern können. Und so wie ihr es mit dem Seil gemacht habt, konnte er es nicht gemacht haben, denn es war ja kein Seil da. Wenn er mit dem Seil hinuntergeklettert wäre, hätte das Seil ja noch da sein müssen. Ich möchte wissen, was hier gespielt wird! Du stöberst in der Höhle herum, und Daniels kommt einfach aus dem Wald spaziert. Ich wollte, jemand würde mir das erklären.« Jetzt erst sah Adams, daß Daniels auch hier war. Wie angewurzelt blieb er stehen. »Wo sind Sie denn hergekommen? Wir schuften uns hier zu Tode, um Sie herauszuholen, und Sie…«
»Ach, haut ab, geht endlich nach Hause!« sagte der Sheriff angewidert. »Die ganze Sache stinkt doch zum Himmel. Es wird wohl seine Zeit dauern, bis ich da ganz klar sehe.« Daniels streckte die Hand nach dem Jungen aus, der das Seil einrollte. »Ich denke, das ist mein Seil«, sagte er. Überrumpelt reichte es ihm der Junge widerspruchslos. »Ich denke, wir gehen gleich durch den Wald«, sagte Ben kleinlaut. »Da ist es näher nach Hause.« »Gute Nacht, Leute«, sagte der Sheriff. Langsam stiegen er und Daniels den Hügel hinauf. »Daniels, Sie sind doch gar nicht in diesem Sturm draußen gewesen. Da hätten Sie mehr Schnee auf Ihrer Kleidung haben müssen. Aber Sie sehen ja aus, als wären Sie gerade aus dem Haus getreten.« »Vielleicht war ich – genau genommen – gar nicht draußen.« »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu sagen, wo Sie waren? Wissen Sie, es stört mich nicht, wenn ich meine Arbeit so erledige, wie ich es für richtig halte, aber ich habe etwas dagegen, wenn ich mich dabei zum Narren mache.« »Sheriff, es tut mir leid, aber ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich kann es Ihnen einfach nicht sagen.« »Ist schon in Ordnung. Und was ist mit dem Seil?« »Das ist mein Seil. Ich habe es am Nachmittag verloren.« »Und dazu werden Sie mir ja wohl auch nichts sagen können.« »Nein, ich glaube nicht.« »Wissen Sie, ich habe die Jahre über ziemlich viel Ärger mit Adams gehabt. Und der Gedanke, mit Ihnen vielleicht auch noch Ärger zu bekommen, paßt mir gar nicht.« Inzwischen hatten sie Daniels Farm erreicht. Der Sheriff hatte seinen Wagen auf der Straße geparkt.
»Möchten Sie nicht noch hereinkommen? Ich bin sicher, daß ich irgendwo noch einen Drink finde.« Der Sheriff schüttelte den Kopf. »Ein anderes Mal. Vielleicht sogar bald. Glauben Sie, daß da wirklich etwas in der Höhle war? Oder hat er sich das nur eingebildet? Man kann sich nicht so recht auf ihn verlassen.« »Es ist schon möglich, daß gar nichts da war. Aber wenn Ben gemeint hat, da war etwas, was macht das schon für einen Unterschied? Der Gedanke, daß etwas dort gewesen sei, könnte für ihn ebenso erschreckend gewesen sein, als wenn wirklich etwas dort gewesen wäre. Sheriff, wir alle leben mit Dingen, die neben uns einhergehen und die kein anderer sehen kann.« Der Sheriff warf ihm einen kurzen Blick zu. »Was ist mit Ihnen los, Daniels? Was geht neben Ihnen her, oder schnüffelt an Ihren Absätzen herum? Warum haben Sie sich überhaupt an diesem gottverlassenen Fleck begraben. Was geht überhaupt vor?« Es schien, als ob er keine Antwort darauf erwartete, denn er stieg in den Wagen, ließ den Motor an und fuhr langsam die Straße hinunter. Daniels stand da und wartete, bis die Schlußlichter im Schneetreiben nicht mehr zu sehen waren. Er schüttelte verwundert den Kopf. Der Sheriff hatte ihm eine Frage gestellt und dann nicht einmal auf die Antwort gewartet. Vielleicht, weil es eine Frage war, auf die er gar keine Antwort wollte? Daniels drehte sich um und ging den zugeschneiten Weg zurück zum Haus. Ein Kaffee würde ihm jetzt gut tun, und eine Kleinigkeit zum Essen, aber zuerst mußte er noch die Arbeit tun, Kühe melken und die Schweine füttern. Die Kühe warteten sicher schon vor dem Eingang zum Stall. Sie warteten sicher schon lange, und es war nicht richtig, sie warten zu lassen. Er öffnete die Tür und trat in die Küche.
Jemand hatte auf ihn gewartet. Es saß auf dem Tisch, oder es schwebte zumindest so dicht darüber, daß es aussah, als säße es. Das Feuer im Herd war ausgegangen, und der Raum war dunkel. Aber die Kreatur funkelte. ›Hast du gesehen?‹ fragte sie. »Ja, ich habe gesehen und gehört. Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Was ist richtig, und was ist falsch? Und wer weiß, was richtig ist, und was falsch?« ›Du nicht, und ich nicht. Ich kann nur warten. Ich kann nur die Treue halten.‹ Vielleicht auf einigen von diesen Milliarden Sternen, dachte Daniels, wohnten die, die wußten. Vielleicht, wenn er ihnen weiter lauschte, vielleicht konnte er sich an dieser Konversation beteiligen, Fragen stellen, und er würde vielleicht eines Tages die Antwort erhalten. Etwa eine Aufzählung der Gebote des Universums. Es mußten ja nicht gerade zehn sein. Vielleicht nur zwei oder drei, aber die Anzahl würde ja keine Rolle spielen. »Ich kann jetzt nicht hier herumstehen und reden«, sagte er. »Ich habe Tiere, um die ich mich kümmern muß. Könntest du nicht hier in meiner Nähe bleiben? Wir könnten dann später miteinander reden.« Er nahm die Laterne und Streichhölzer von dem Wandregal und zündete sie an. ›Du hast andere, die du versorgen mußt? Andere, die nicht so sind wie du? Die dir vertrauen und die nicht deine Intelligenz besitzen?‹ »Ich denke, man kann es ungefähr so sagen, obwohl ich es so formuliert noch nie gehört habe.« ›Könnte ich dich begleiten? Mir kommt es vor, als ob wir uns in vielem sehr ähnlich sind.‹ »Sehr sogar…« Daniels sprach den Satz nicht zu Ende.
Nicht ein Hund, sagte er sich. Nicht der treue Hund, sondern der Hirte. Könnte es nicht das sein? Nicht der Hirte, sondern das verlorengegangene Lamm? Mit einer kurzen Geste des Verstehens streckte er die Hand nach der Kreatur aus, zog sie aber sofort wieder zurück, als ihm einfiel, daß es da nichts gab, was er berühren konnte. Er nahm die Laterne und wandte sich zur Tür. »Komm«, sagte er. Und dann gingen sie durch den Sturm zum Stall hinüber zu den Kühen, die warteten.